BERTE BRATT
Das Herz auf dem
rechten Fleck
Eine junge, hübsche und intelligente Schneiderin, Bernadette Bonassi, die...
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BERTE BRATT
Das Herz auf dem
rechten Fleck
Eine junge, hübsche und intelligente Schneiderin, Bernadette Bonassi, die einen italienischen Vater und eine norwegische Mutter hat, reist jeden Sommer von Norwegen nach Italien zu ihrer Familie in ein idyllisches Alpendorf, wo sie sich zwischen den fröhlichen und temperamentvollen Südländern richtig wohlfühlt. Während einer dieser Sommerferien trifft sie einen Riesen von einem norwegischen Filmfotografen, Asbjörn Grather, den sie ein einziges Mal vorher zuhause getroffen hat, und die beiden verlieben sich in einander. Sie wird sein Scriptgirl und unentbehrlicher Mitarbeiter bei seinen vielen gefahrvollen Tier- und Naturaufnahmen. Trotz verschiedener Unstimmigkeiten zwischen dem jungen Paar kann Bernadette doch zum Schluß ihre ganze Liebesgeschichte in diesen paar Worten zusammenfassen: "Das ist eine ganz einfache Geschichte über einen glücklichen Sommer im Leben eines glücklichen jungen Mädchens"
Übertragung aus dem Norwegischen von Werner von Grünau Erscheint auch in Dänemark Umschlag und Illustration: Lilo Rasch-Nägele Schrift: 10/11 Punkt Palatino Druck: Appl, Wemding Bestell-Nummer: 6648 ISBN 3505066486 Alle Rechte dieser deutschsprachigen Ausgabe vorbehalten für Franz Schneider Verlag, München – Wien
Für Bernadette in Chalet „Frohsinn“
Zweieinhalb Muttersprachen Ich habe drei Vaterländer und weiß nicht, wo ich geboren bin. Ich habe drei Muttersprachen oder jedenfalls zweieinhalb. Ich heiße Bernadette Bonassi, und von Beruf bin ich Schneiderin. Fast habe ich das Gefühl, daß ich es wie ein Kriminalschriftsteller mache: Zunächst einmal zählt er alles auf, was es an Geheimnisvollem gibt, wartet aber mit der Lösung bis zur letzten Seite. So lange will ich freilich nicht warten, denn dies ist ja kein Kriminalroman. Es ist nur die einfache Schilderung eines glücklichen Sommers im Leben eines glücklichen jungen Mädchens. Aber ich muß bei meinen Eltern anfangen. Meine Mutter war ein ganz normales, nettes norwegisches Mädchen in einer ganz normalen norwegischen Kleinstadt. Das einzig Ungewöhnliche bei ihr bestand darin, daß sie eine sehr gute Turnerin und Skiläuferin war. Für sie war der Turnverein alles, und zu der Zeit, als sie meinen Vater kennenlernte, war sie längst eine Spitzenturnerin. Und dann trat jenes Ereignis ein, dem ich es verdanke, daß es mich überhaupt gibt. In die Stadt kam ein Zirkus. Unter den Artisten befand sich ein italienischer Trapezkünstler, dessen Kunststücke allen Zuschauern den Atem verschlugen, sogar den Eliteturnern.
Als der Zirkus Weiterreisen sollte, setzte an der Küste dichter Nebel ein; jeder Verkehr wurde eingestellt, die Artisten gingen in Heirevik umher und langweilten sich. So kam es, daß der Trapezkünstler Bernardo Bonassi sich einverstanden erklärte, zum Jubiläumsfest des Turnvereins eine Vorstellung zu geben. Und da geschah es auch, daß ein Paar braune italienische Augen einem blauen norwegischen Augenpaar begegneten. Was danach geschehen ist, weiß ich nicht so genau. Ich weiß nur, daß Ester Bruland einen schweren Kampf mit ihren Eltern durchzustehen hatte, bevor sie sich zögernd und händeringend damit einverstanden erklärten, daß Ester den italienischen Zirkusartisten heiratete. Wahrscheinlich war es Bernardo Bonassis unwiderstehlicher Charme, der schließlich Esters Eltern gewann. Jedenfalls verließ sie eines Tages Heirevik und folgte ihrem Mann in seine Heimat, nach Norditalien. Bestimmt fühlten sich die Eltern sehr erleichtert, als Ester schrieb und von ihrem neuen Heim erzählte. Sie war auf den Hof der Schwiegereltern gekommen, einem schönen Hof, auf dem alles durchaus normal vor sich ging und von der Welt der Artisten nichts zu spüren war. Es war ein kleiner, gut bewirtschafteter Bauernhof in Norditalien. Der Schwiegervater war ein heiterer, lebensfroher Mensch, und die Schwiegermutter, die aus Frankreich stammte, eine freundliche, herzensgute Frau. In dieser Gegend Italiens war man so an Ehen mit Ausländern gewöhnt, daß Bernardos Entschluß gar kein besonderes Aufsehen erregte. Neu und seltsam war nur, daß ein blondes, blauäugiges Wesen auftauchte, das mit seinem Mann englisch sprach, Norwegisch als Muttersprache hatte und sich fleißig abrackerte, um Italienisch zu lernen. Im übrigen war die Grenze so nah, sowohl nach der Schweiz als auch nach Frankreich zu, daß es durchaus normal war, wenn die Bräute von Norden kamen oder die Mädchen auf die andere Seite der Grenze hinüberheirateten. Das hatte auch Bernardos Schwester getan, die nun in ihrem neuen Heim in der kleinen Stadt Villeverte im südlichen Wallis wohnte. Und Bernardos Mutter selber war also aus Frankreich gekommen. Ein glücklicher Menschenschlag, heitere Menschen, die niemals etwas schwernahmen, solange es eine Möglichkeit gab, die Dinge leichtzunehmen. Über Bernardo hatten sie den Kopf geschüttelt, weil er es vorzog, von der Kraft seiner Muskeln und von seiner Gewandtheit zu leben, anstatt sich um den Hof seines Vaters zu
kümmern. Graue Haare ließen sich die Eltern deswegen nicht wachsen. „Eines Tages bist du für diese Kunststücke doch zu alt“, meinte Vater Bonassi. „Dann wirst du schon nach Hause kommen und den Hof übernehmen!“ Doch einstweilen reiste Bernardo mit seinem Zirkus umher und kam nur ab und zu auf seinen Hof, um seine kleine, blonde Frau zu besuchen, die inzwischen ihre Schwiegereltern richtig lieb gewonnen hatte. Als der Sommer nahte und Ester ein Kind erwartete, ihr Mann jedoch ein paar Monate lang in Frankreich auftreten sollte, gab sie den Bitten ihrer Eltern nach, nach Norwegen zu kommen und dort ihr Kind zur Welt zu bringen. Sie bestieg den Zug, und ausgerechnet sie mußte dabei stolpern und hinfallen. Man half ihr wieder auf und zu ihrem Platz, und dann ging es nach Norden. Aber dieser Sturz war nicht gut. Kurz bevor der Zug in den Simplontunnel einfuhr, wurde nach dem Zugbegleiter gerufen, nach einem Arzt – oder befand sich vielleicht eine Krankenschwester oder noch besser eine Hebamme unter den Fahrgästen? Und als der Zug auf der anderen Seite aus dem Simplontunnel hinausfuhr, hatte er einen Passagier mehr als bei seiner Einfahrt. Der Passagier – war ich. In der ganzen Aufregung hatte niemand auf die Uhr geblickt, und so hatte sich niemand gemerkt, ob das große Ereignis auf der italienischen oder auf der Schweizer Seite der Grenze vor sich gegangen war. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde ich in der Schweiz geboren. Mit Sicherheit weiß das jedoch niemand. Die ersten zwei Wochen meines Lebens verbrachte ich in einer Klinik in Lausanne, und dann ging es weiter nach Heirevik in Norwegen. Dort wartete Großmutter mit rotgeweinten Augen und einem Telegramm. Bernardo Bonassi war abgestürzt und auf der Stelle tot. Wäre ich ein Junge gewesen, hätte mich meine Mutter bestimmt Bernardo genannt. Nun wurde daraus also Bernadette, und dieser Name verwandelte sich sehr schnell in Benny. Denn erst eine Reihe von Jahren später wurde der Name Bernadette durch Franz Werfels Buch über Bernadette von Lourdes weltberühmt. Die Verzweiflung und der Kummer meiner Mutter verloren
jedoch im Vergleich zu dem, was einige Monate später geschah, an Bedeutung. Denn da brach der Krieg aus. Meine Mutter und ich blieben in Norwegen, und ich war sieben Jahre alt, bevor ich die Familie meines Vaters kennenlernte. Von meinem dritten Lebensjahr an hatte Mutti italienisch mit mir gesprochen – sie selber hatte sich mit Hilfe von Büchern, Schallplatten und Sprachenschule weitergebildet. Sie wollte, daß ich die Sprache meines Vaters beherrschte. Und so reisten meine Mutter und ich eines Tages im Frühsommer durch halb Europa und über fünf Ländergrenzen zu den Eltern meines Vaters, die so lange darauf gewartet hatten, ihr einziges Enkelkind zu sehen. Tante Cosima in Villeverte hat keine Kinder. Kinder lernen schnell. Ich war knapp eine Woche bei meinen Großeltern, da plapperte ich italienisch, was das Zeug hielt, lief, meine Hand in Großvaters Hand, überall auf dem Hof herum, streichelte alle Tiere und lernte die Nachbarn und ihre Kinder kennen. In der Küche stopfte mir die Großmutter – oder Grand’mère, wie ich sie immer nannte – alle möglichen Leckerbissen in den Mund, und ich wurde nach Strich und Faden verwöhnt. Das war der erste einer ganzen Reihe von Besuchen in Norditalien. Jeden Sommer reisten wir los, sozusagen gleich von der Schulfeier zum Zug. Nach Hause kamen wir gerade noch so rechtzeitig, daß ich am ersten Schultag nach den Ferien meinen Platz einnehmen konnte. Mein Vater hatte gut verdient, und seine Eltern hatten seine Hinterlassenschaft getreulich verwaltet. Plötzlich konnten Mutti und ich uns etwas leisten. Diese alljährlichen Reisen durften wir uns erlauben, ohne uns deswegen Vorwürfe machen zu müssen. Außerdem hatte Mutti ihre sicheren Einnahmen als Turn- und Handarbeitslehrerin. Und sie hatte ebenso wie ich die gesegnet langen Ferien. Als ich zwölf Jahre alt war, starb mein Großvater, und Grand’mère zog auf die andere Seite der Grenze nach Villeverte zu Tante Cosima. Der Hof in Norditalien wurde verkauft, und wieder floß Geld auf mein Bankkonto. Noch immer reiste ich jeden Sommer nach Süden, aber von meinem fünfzehnten Lebensjahr an reiste ich allein. Ich fuhr zu Tante Cosima in Villeverte, lernte Französisch plappern und konnte mich auch auf deutsch verständlich machen. Denn in Villeverte reden alle Menschen alle Sprachen. Villeverte lebt von seinen
Touristen. Die Menschen, die ständig dort wohnen, haben nur im Oktober und November etwas Zeit zum Atemholen, und dann beginnt in allen Häusern das Großreinemachen. Sobald die Sommergäste verschwunden sind, wird repariert und gemalt und alles für die Wintergäste vorbereitet. Die übrige Zeit des Jahres strömen die Touristen nach Villeverte, die Hotels sind überfüllt, und jedes Haus nimmt Gäste auf. Auch bei Tante Cosima ist es so. Sie und Onkel Ferdinand besitzen ein „Chalet“ – ein großes Holzhaus mit sechs kleinen Wohnungen und einer etwas größeren. In der größeren Wohnung leben sie selber, die anderen sechs vermieten sie möbliert an Gäste. Und nicht nur möbliert, sondern mit Laken, Bettdecken, Küchentüchern und Geschirr ausgestattet – „alles vorhanden mit Ausnahme der Zahnbürste“, sagt Tante Cosima oft lachend, wenn sie mit einem prüfenden Blick durch diese Wohnungen geht und frische Wäsche für neue Gäste zurechtlegt. Ach, Tante Cosimas Lachen! Sie ist der fröhlichste Mensch, den ich kenne, und wir sind die besten Freunde. Sie würde es schwer vermissen, wenn ich jemals in einem Sommer nicht nach Villeverte käme. Dort habe ich meine eigene kleine Kammer, meine Sommersachen hängen in einem Schrank, und wenn ich komme, steht Tante Cosima an der Haltestelle vom Autobus, winkt und ruft mir zu: „Willkommen daheim, Bernadette!“ Ich werde nämlich nur in Norwegen Benny genannt. Dort nennt man mich sogar Bruland, das ist einfacher. Nur auf offiziellen Papieren steht der Name Bonassi – in meinem Paß, auf dem Taufschein, auf Zeugnissen und dergleichen. Heirevik ist meine Heimat, aber Villeverte ist es auch. Und im Lauf des Sommers unternehme ich stets einige Abstecher über die Grenze nach Italien, um dort meine vielen Freunde zu besuchen. Hier sitze ich nun und sehe mir an, was ich bisher erzählt habe. Die Vorgeschichte ist ziemlich lang geworden. Doch das alles habe ich erzählen müssen – ebenso wie man bei einer Strickarbeit zunächst einmal die Maschen aufschlagen muß, bevor man daran denken kann, ein Muster zu stricken. Jetzt bin ich auch bald damit fertig. Nur noch von einem muß ich erzählen: wie ich nämlich zu meinem Beruf gekommen bin. Ich habe nur zwei Begabungen. Ich bin geschmeidig wie eine Katze und leiste in Gymnastik und Sport wirklich etwas. In dieser Beziehung bin ich ja gleich von zwei Seiten erblich belastet, von meiner Mutter und meinem Vater her. Außerdem habe ich ein Talent
fürs Nähen. Das zeigte sich schon sehr früh. Bereits als kleines Mädchen befaßte ich mich mit meinen Kleidern und brachte tatsächlich etwas Brauchbares zustande. Als ich sechzehn war und die Prüfung für die mittlere Reife ablegen sollte, kam meine Freundin Sigrid sehr unglücklich zu mir, ihre Schneiderin hatte sie sitzenlassen. Sie fragte, ob ich ihr nicht helfen könnte, ein Kleid für das Examensfest zu schneidern, sie hätte einen so hübschen Stoff. Ja, warum nicht? Ich ging an die Arbeit, und es machte mir riesigen Spaß. Und damit war die Lawine ins Rollen gekommen. Als ich die Schulprüfung bestanden hatte und aus Villeverte wieder nach Hause zurückgekehrt war, warteten bereits Sigrid und drei andere Freundinnen auf mich, sozusagen die Arme voller Stoff und mit Kleidern, die ich umarbeiten sollte. Wollte ich nicht so nett sein? Ich nähte, daß unsere alte Nähmaschine sich heißlief. „Hör zu“, sagte Mutti eines Tages zu mir. „Deine Näherei ist recht ordentlich. Aber wenn du die Absicht hast, darin weiterzumachen, solltest du die Sache von Grund auf erlernen.“ Das habe ich getan. Mit achtzehn Jahren hatte ich bereits so viele Kundinnen, wie ich mir überhaupt nur wünschen konnte. In diesem Jahr heiratete Mutti Onkel Thomas. Onkel Thomas ist ein feiner Kerl, ich mag ihn gern, und Mutti und er sind glücklich miteinander. Aber ich hatte nicht gerade Lust, bei ihnen mitten in ihrem Flitterwochenglück zu wohnen. Deshalb war ich froh, als ich in der nächsten Straße eine kleine Einzimmer-Wohnung unter dem Dach fand. So blieb ich in Muttis Nähe und konnte sie sehen, so oft ich nur wollte. Selbstverständlich aß ich auch jeden Sonntag bei Mutti und Onkel Thomas zu Mittag. Aber trotzdem war ich ein freier Mensch. Sigrid brachte mich auf den Gedanken, in Häuser zu gehen und dort zu nähen. „Alle Menschen sind begeistert, wenn sie die Schneiderin bei sich im Haus haben können“, meinte Sigrid. „Und stell dir vor, was du dir da alles sparst, Mädchen! Du bekommst zu essen, hast einen geheizten Raum, eine Nähmaschine und obendrein gute Bezahlung. Da kannst du dir viel Geld sparen.“ Das war richtig und gut überlegt. Das Wichtigste hatte Sigrid gar nicht erwähnt: Ich konnte mir soviel zusammensparen, daß ich jedes Jahr lange Sommerferien machen konnte. Die Kunden standen sozusagen Schlange. Ich ging von Haus zu
Haus und nähte immerfort. Bis zum Juni… dann war Schluß bis September! Es kam das Jahr, in dem ich zwanzig wurde. Und damit habe ich die Maschen vom Strickzeug aufgeschlagen. Denn in dem Sommer, in dem ich zwanzig wurde, begann das Muster meines Lebens sich zu formen.
Ein blauer Anorak Es war Montag, der neunte Mai. Nach meinem Terminkalender sollte ich zur Witwe Grather auf dem Kleinen Waldweg nähen gehen. Ich trabte also in der Frühlingssonne los und wünschte mir eigentlich, in den Wald gehen und Anemonen pflücken zu dürfen; es graute mir ein wenig davor, Frau Grather zu beraten, was sie anziehen sollte, und mir ihr Geschwätz anhören zu müssen. Frau Grather war nämlich stets sehr redselig. Wohl war sie nett und freundlich, aber wenn es ein Haus gab, in dem ich auf das achtete, was ich sagte, so gewiß dort. Bevor ich als Hausschneiderin anfing, hatte Mutti gesagt: „Erzähl niemals etwas, das du nicht auch der ganzen Stadt erzählen könntest. Du weißt doch, wieviel getratscht und geklatscht wird, und eine Schneiderin, die von Haus zu Haus geht, wird leicht zum Gesprächsthema, denn alle kennen sie. – Und noch eins, Benny: Leg dir selber Schweigepflicht auf! Erzähl niemals einer Kundin etwas von einer anderen! Laß es niemals dahin kommen, daß eine Kundin sagt: ,Das habe ich von unserer Schneiderin gehört.’“ Mutter hatte mir schon so manches Kluge gesagt, und ich versuchte, nach ihrem Rat zu leben. Wie richtig war es, was sie mir gesagt hat! Denn wenn ich dort mitten in einer Familie saß, war es gar nicht zu vermeiden, daß ich Einblick in manches erhielt, in glückliche und unglückliche Schicksale, gar nicht zu reden von wirtschaftlichen Verhältnissen. So hielt ich also den Mund. Im übrigen war Frau Grather eine von den Kundinnen, bei denen es Spaß machte zu arbeiten. Sie hatte nämlich einen Schwager oder Vetter oder was er nun sein mochte, der eine große Weberei betrieb und recht freigebig mit Geschenken war. Wies ein Stoff einen kleinen Webfehler auf, so bekam ihn Frau Grather, und meine schöne Aufgabe war es dann, ihn so zu verarbeiten, daß der Webfehler durch ein listiges Volant oder eine kunstvoll angebrachte Falte verdeckt wurde. Als ich bei Frau Grather geklingelt hatte, hörte ich drinnen schnelle Schritte, aber sie klangen ganz anders als das Getrippel, das ich sonst vernahm. Die Tür wurde geöffnet, und ich stand nicht der mageren, kleinen Frau Grather gegenüber, sondern einem Riesen von fast zwei Metern – einem blonden blauäugigen Hünen.
„Guten Tag“, sagte ich. „Guten Tag“, antwortete der Riese und sah mich unsicher an. „Wollen Sie vielleicht zu Frau Grather?“ „Ja, deswegen habe ich geklingelt“, sagte ich. Da lächelte der Riese, und ich lächelte ebenfalls. „ Frau Grather ist nämlich im Augenblick nicht zu Hause.“ „Nicht zu Hause? Aber sie hat mich doch für heute herbestellt…“ „Herbestellt?“ wiederholte der Riese und betrachtete aus blauen, fragenden Augen mich kleine Portion. „Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß Sie die Schneiderin sind?“ „Doch, das möchte ich allerdings mit größter Bestimmtheit behaupten“, entgegnete ich. „Entschuldigen Sie, kommen Sie doch bitte herein. Meine Tante wird bald wieder da sein, sie wollte nur noch eine Besorgung machen. Ich dachte, Sie wären höchstens fünfzehn Jahre alt. Ich hatte mir eingebildet, eine Hausschneiderin sähe ganz anders aus.“ Ich mußte lächeln. Für mich war das nichts Neues. Es ist heutzutage ohnehin oft nicht leicht, eine Fünfzehnjährige von einer Zwanzigjährigen zu unterscheiden, und außerdem bin ich die Miniaturausgabe einer Schneiderin, denn ich messe nur 1,56 – in Strümpfen. Der Riese nahm meine Jacke und hängte sie auf. „Treten Sie doch näher, das Frühstück für Sie steht schon bereit, und meine Tante hat mich beauftragt, für Sie Kaffee zu kochen. Stark oder schwach?“ „So wie Sie es immer machen, bitte. Ich esse alles und trinke alles, Herr…?“ „Ach, entschuldigen Sie. Grather. Asbjörn Grather. Neffe dieses Hauses und zu Besuch hier.“ „Benny Bruland.“ „Ja, das wußte ich schon.“ Er hielt mir die Tür zum Wohnzimmer auf. „Nehmen Sie einen Augenblick Platz, der Kaffee kommt sofort!“ Im Wohnzimmer fanden sich weder Modejournale noch Stoffe. Sonst waren beide massenhaft überall ausgebreitet, wenn ich kam. Aber wahrscheinlich würde Frau Grather bald erscheinen, und in der Zwischenzeit konnte ich frühstücken. Asbjörn trat mit dem Tablett in die Tür. Nachdem er mir Kaffee eingeschenkt hatte, fragte er unvermittelt: „Können Sie einen Anorak nähen?“
„Einen Anorak? Ja, das hoffe ich doch!“ „Ich auch. Ich muß Ihnen nämlich ein Geständnis machen. Meine Tante hat Sie mir sozusagen geschenkt. Sie ist bereit, mit ihrem Sommerkleid bis zum nächsten Mal zu warten, und ich soll Sie grüßen und Sie sehr bitten, ob Sie statt dessen einen Anorak für mich nähen würden. Ich habe nämlich von meiner Tante einen Stoff geschenkt bekommen, und ich will ins Gebirge.“ Er legte einen herrlich blauen Popelinestoff vor mich hin. „Ja“, meinte ich, „das kann ich bestimmt. Das heißt, wenn Sie eine Leiter im Hause haben, denn sonst weiß ich nicht, wie ich bei Ihnen Maß nehmen soll!“ Da lachten wir beide. Ich trank meinen Kaffee aus und stieg dann auf einen Schemel, um Maß zu nehmen. Bald darauf war ich bereits mit Schneiderkreide und Schere an der Arbeit. Woher in aller Welt war plötzlich dieser Neffe aufgetaucht? fragte ich mich. Was war er und was tat er in dieser Welt? Wie war es möglich, daß ein junger Mann, der geradezu vor Gesundheit und Kraft strotzte, sich in der Wohnung seiner Tante in Heirevik herumtrieb, anstatt sich seinen Lebensunterhalt in einer Werkstatt oder in einem Büro zu verdienen? Als Frau Grather unter tausend Entschuldigungsworten wegen der Verspätung das Haus betrat und ihrem Redeschwall freie Bahn ließ, erhielt ich die Erklärung. „Ja, Sie waren wohl erstaunt, als Ihnen mein Neffe heute die Tür öffnete? Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, auch einmal etwas für einen Mann zu nähen. Sie hätten nur seinen alten Anorak sehen sollen, verschmiert mit Skiwachs und weiß Gott was, und da habe ich zu Asbjörn gesagt, Montag kommt Fräulein Bruland, habe ich gesagt, da werden wir sie bitten, für dich zu nähen – ja, ich habe ihm erzählt, wie tüchtig Sie sind, denn das sind Sie, Fräulein Bruland, und vielleicht haben Sie etwas später im Monat noch einen Tag Zeit für mich – verstehen Sie, Asbjörn hat keine Eltern mehr und hat früher bei uns gewohnt, das heißt, bevor mein Mann starb, und jetzt hat er in Deutschland studiert – ich meine Asbjörn, und Sie können mir glauben, daß er ein sehr gutes Examen gemacht hat – aber jetzt ist er sehr erschöpft und müde und soll sich richtig ausruhen, das soll er, ja, er ist so begabt, das liegt in der Familie meines Mannes…“ Der Redestrom ging unaufhörlich weiter, und ich heftete derweil, und als schließlich eine Pause eintrat, weil Frau Grather Atem holen mußte, fragte ich, ob der Neffe die Schultern gepolstert haben wollte.
„Asbjörn, willst du die Schultern gepolstert haben?“ rief Frau Grather ins Nebenzimmer hinüber. Asbjörn erschien in der Tür. „Meinen Sie nicht, daß meine Schultern breit genug sind?“ fragte er lächelnd. „Doch“, antwortete ich. „Was die Schulterbreite betrifft, schlagen Sie unter meinen Kunden alle Rekorde. Aber als Skiläufer werden Sie wohl hin und wieder die Skier auf den Schultern tragen – und vielleicht haben Sie auch einen Fotoapparat oder etwas anderes Schweres…“ „Richtig! Beides trifft zu! Ja, danke, ich stelle mich also positiv zu Ihrem Vorschlag.“ „Dann brauche ich aber etwas Schaumgummi.“ „Ich gehe schon. Sagen Sie mir nur genau, was ich verlangen soll.“ Ich erklärte es ihm und bat ihn, gleichzeitig Reißverschlüsse zu besorgen. Frau Grather ging in die Küche hinaus, und ich setzte mich an die Nähmaschine und nähte meterweise genaue, doppelte Nähte, denn ein solcher Anorak muß einiges aushalten. Selten hatte mir die Arbeit solche Freude gemacht wie an diesem Tag. Die Frühlingssonne schien zum Fenster herein, und der blaue Stoff war schön fest und so gut zu verarbeiten. Ich wußte nicht warum, aber solch einen Männeranorak zu nähen, machte mir mehr Spaß als ein kleingeblümtes Sommerkleid für Frau Grather. Was mochte Asbjörn in Deutschland studiert haben? Auch dieses Rätsel wurde gelöst. „Ist die Polsterung zu dick?“ fragte ich, als er den Anorak anprobierte. Ich stand auf meinem Schemel und schob den Schaumgummi auf seinen Schultern zurecht. „Warten Sie mal, ich werde es ausprobieren“, erwiderte er, verschwand im Nebenzimmer und kam mit einer großen, vierkantigen braunen Tasche zurück, die er sich über die Schulter hängte. Sie drückte sich kräftig in die Polsterung ein. „Wenn Sie mit einem solchen Gewicht herumlaufen, sollte ich die Einlage wohl etwas dicker machen“, sagte ich und schob ein dickes Stück Schaumgummi unter. „Es bleibt mir kaum etwas anderes übrig“, erklärte Asbjörn. „Ich trabe sozusagen mit meinem Beruf auf der Schulter herum, verstehen Sie. Eine Filmkamera“, fügte er hinzu. „Ach, sind Sie Kameramann beim Film?“
„Ja, das bin ich.“ „Ich habe immer geglaubt, solche Kameraleute hätten ein Auto voller Apparate, Stative und dergleichen“, sagte ich und half ihm aus dem Anorak heraus. „Das wohl, ich habe auch eine Art Auto, eine Miniaturausgabe – aber wenn ich weit oben im Gebirge filme, muß ich das Zeug schon selber tragen.“ „Sie können mir glauben, daß mein Neffe schöne Filme macht!“ mischte sich Frau Grather wieder ein. „Einige von ihnen waren schon im Fernsehen in Deutschland, stellen Sie sich das vor, und einer in England…“ „Nur nicht übertreiben, liebe Tante“, sagte Asbjörn, „ich bin noch immer ein Anfänger. Können Sie die Taschen recht groß machen, Fräulein Bruland?“ „Natürlich. Mache ich.“ Die Stunden verstrichen, und ich nähte, während Frau Grather das Mittagessen zubereitete. Da war der Webfehler! Schon gut, ich konnte aus dem Stück die Taschen machen, denn die kamen ja nach innen. Als wir beim Kaffee saßen, unterbrach Frau Grather unversehens ihr eigenes Geschwätz und wandte sich an ihren Neffen: „Könntest du nicht Fräulein Bruland deinen Baum zeigen, Asbjörn?“ „Seinen Baum?“ fragte ich, ohne zu verstehen. Asbjörn sah verlegen aus. „Es ist nichts Besonderes, Fräulein Bruland, nur meine Tante findet etwas daran. Es handelt sich um einen Filmstreifen, den ich als Schuljunge einmal gedreht habe.“ „Ich würde ihn wohl brennend gern sehen“, versicherte ich ihm, „aber das ist mitten in meiner Arbeitszeit…“ „Ach was, der Film dauert ja nur ein paar Minuten. Wir trinken doch noch eine Tasse Kaffee, nicht wahr, und in der Zeit können wir uns den Film ansehen. Sei so nett, mein Junge, tu es mir zuliebe, Asbjörn.“ Ein wenig zögernd erhob er sich, ging aus dem Zimmer und kehrte mit einer zusammengerollten Leinwand und einem kleinen Projektionsapparat zurück. „Es ist nur ein Acht-Millimeter-Film. Mit meiner ersten Kamera aufgenommen. Sie dürfen also nicht mit allzu großen Erwartungen herangehen, Fräulein Bruland. Es handelt sich nur um ein Experiment.“ „Das ein ganzes Jahr in Anspruch genommen hat!“ fügte Frau
Grather hinzu. Er zog das Rollo herunter, hängte die Leinwand auf und setzte den Projektor in Gang. Es war ein Farbfilm, und auf der Leinwand war nichts anderes zu sehen als ein Baum. Ein kahler Kastanienbaum an einem kalten Frühjahrstag. Aber dann – vor meinen Augen begannen sich die Knospen des Baumes zu entwickeln. Es folgte eine Großaufnahme, man sah die Knospen wachsen, sich langsam, ganz langsam öffnen und zu grünen Blättern entfalten. Dann kam noch ein neuer Farbton dazu, ein rosa Schimmer im Grün. Es waren die Blütenknospen, die sich entwickelten, sich färbten und öffneten – und dann stand der Baum in seinem reichen, farbigen, prächtigen Sommerkleid da. Es ging weiter. Die Blüten verwelkten, es bildeten sich die Früchte, sie saßen dicht am Baum und fielen zur Erde. Die Blätter färbten sich gelb. Immer durchsichtiger wurde das Laub, und der Baum bog sich in den Herbststürmen. Schließlich setzte Regen ein – und da stand er nun naß und dunkel, kahl und trostlos. Ohne Pause ging es weiter. Der schwarze Baum wurde weiß. Schnee war gefallen. Immer dichter und dichter, bis der Baum von großen, weißen Schneekissen bedeckt war. Dann taute der Schnee, und es tropfte und tropfte. Es kam der Kahlfrost und wieder stand der Baum da, dunkel und steif vor Kälte. Das Licht veränderte sich. Es sah aus, als verlöre der Baum seine Härte, Leben erwachte in ihm, und erneut war er von einem schwachen, grünen Schimmer umgeben, der vor unseren Augen immer stärker wurde. Und dann war der Film zu Ende. „Wie in aller Welt…“, sagte ich und wandte mich zu Asbjörn um. Er lächelte, während er die Filmspule aus dem Projektor nahm. „Ach, es war eben eine Idee, die ich eines Tages bekam. Ich habe die Kamera in der Fensternische festgeschraubt. Der Baum stand vor einem Fenster unserer Wohnung in Oslo. Drei- oder viermal am Tag habe ich ein paar Zentimeter Film aufgenommen, und als die Knospen kurz vor dem Aufspringen waren, habe ich mehrere Einzelaufnahmen am Tag gemacht. Weiter keine Kunst, ich mußte nur daran denken, jeden Tag ein bißchen aufzunehmen. Jeden Morgen, bevor ich zur Schule ging, dann sauste ich in der großen Pause nach Hause, und gleich nach der Schule stürzte ich heim.“ „Und die Sommerferien hast du dafür geopfert“, fügte Frau
Grather hinzu. „Ja, das mußte ich doch. Und als ich mit Grippe und hohem Fieber im Bett lag, bin ich ein paarmal am Tag aus dem Bett gekrochen, um zu filmen – und als ich im Examen stand, hatte meine Tante strengsten Auftrag, jede zweite Stunde auf den Auslöser zu drücken – weißt du noch, Tante?“ „Und ob ich mich daran erinnere! Und wie gespannt wir waren, als du den Film zum Entwickeln weggeschickt hattest!“ „Ich finde ihn phantastisch“, sagte ich. „Haben Sie ihn denn niemals verwertet… ich meine, ihn niemals verkauft?“ „Das ist ein bißchen kompliziert, weil es sich um einen AchtMillimeter-Film handelt“, sagte Asbjörn. „Einmal wurde er im norwegischen Fernsehen gezeigt, in einem Jugendprogramm.“ Er brachte seine Filmsachen aus dem Zimmer, und ich wandte mich wieder dem Anorak zu. Was für eine Geduld, dachte ich, ein Jahr darauf zu verwenden, einen Film zu drehen, der nicht länger dauerte als das Trinken einer Tasse Kaffee. Und wie bescheiden er war! Ich wäre vor Stolz geplatzt, hätte ich so etwas fertiggebracht! Im Grunde gefiel mir dieser große, bescheidene junge Mann sehr. Es war viel Arbeit an diesem Riesenanorak, und ein wenig ungewohnt war sie für mich auch. So blieb ich noch bis spät in den Abend hinein daran sitzen. „Das ist doch sinnlos“, meinte Asbjörn vorwurfsvoll, „könnten Sie nicht den Rest an einem anderen Tag fertig machen?“ „Ich habe auf lange Zeit hinaus keinen freien Tag mehr“, entgegnete ich. „Außerdem bin ich jetzt bald fertig. Könnten Sie vielleicht das Bügeleisen für mich aufstellen?“ So tat ich endlich den letzten Stich, bügelte den Anorak, und Asbjörn zog ihn an. Er saß tadellos. „Ein Jammer, daß ich nicht öfter eine Schneiderin brauche“, meinte er lächelnd. „Wenn du heiratest, kann Fräulein Bruland für alle deine Kinder nähen!“ meinte Frau Grather. Wenn er heiratet, dachte ich. Aha, da ist er wohl verlobt. Irgendwie fand ich diesen Gedanken nicht besonders amüsant. „Als ich klein war, habe ich immer gesagt, ich wollte zwölf Kinder haben“, schmunzelte Asbjörn. „Dann wäre Fräulein Bruland auf viele Jahre hinaus mit Arbeit eingedeckt!“
„Ich nähe liebend gern Kinderkleider“, sagte ich. Ich lächelte dabei, aber meine frohe, unbeschwerte Stimmung war wie weggeblasen. Asbjörn bestand darauf, mich nach Hause zu fahren. Es war schon ein äußerst seltsames Gefährt, in dem wir da fuhren, eine sonderbare Mischung von einer Isetta mit einem Kabinenroller und einem Spielauto. Es ähnelte am ehesten einer etwas verunglückten Seifenblase. „Hausgemacht“, erklärte Asbjörn. „Von einem Freund. Ich habe das Ding für ein Butterbrot bekommen, aber es hat mir schon manchen großen Dienst erwiesen.“ Bis er vor meiner Haustür hielt, sagte er dann nichts mehr. „Vielen Dank für Ihre Hilfe, Fräulein Bruland. Wenn ich das nächste Mal einen Anorak brauche, melde ich mich bei Ihnen!“ „Tun Sie das“, lächelte ich. „Aber es dürfte wohl eine Weile dauern, denn an dem können Sie viele Jahre Ihre Freude haben!“ „Das glauben Sie“, meinte Asbjörn lächelnd. „Ich verarbeite mindestens einen im Jahr. Vielleicht brauche ich bereits zum Winter einen neuen.“ „O. K. ich werde ihn nähen. Vielen Dank für das Nachhausebringen – und tausend Dank für den Film.“ „Hat er Ihnen wirklich gefallen?“ „Ja, das hat er! Er hat mir sehr imponiert.“ Er hatte mir tatsächlich imponiert. Als ich eine Stunde später im Bett lag, mußte ich an diesen Kastanienbaum denken und an den zähen Willen, die Geduld und die Zielstrebigkeit, die dahinter standen. Außerdem dachte ich auch an die breiten Schultern und die blauen Augen – und an Frau Grathers Worte: „Wenn du heiratest…“ Nun reiße dich aber zusammen, Bernadette, sagte ich zu mir selber. Man sollte meinen, du wärst noch niemals zuvor einem hübschen jungen Mann begegnet. Einem blonden jungen Kameramann einen Anorak zu nähen ist eine äußerst nüchterne Begebenheit, und deswegen brauchst du dich nicht gleich zu verlieben, du Schafskopf! Als ich endlich eingeschlafen war, träumte ich, ich säße unter einem blühenden Kastanienbaum und nähte blaue Kinderanoraks.
Villeverte Ich will nicht behaupten, daß mein Dasein während der nächsten paar Wochen von dem Gedanken an einen blauäugigen Kameramann erfüllt war. Dazu hatte ich allzu viel zu tun. Aber trotz allem: Wenn ich dasaß und lange, langweilige Nähte heftete, nicht zu reden von acht Metern Säumen eines Glockenrockes, flogen die Gedanken, wohin sie wollten, und sie flogen recht oft zu dem blauäugigen Kameramann. Wo mochte er sein? Er wollte ins Gebirge, hatte er gesagt – vielleicht kraxelte er in Jotunheim umher oder in Rondane und filmte Rentierherden, Sonnenaufgänge und schneebedeckte Gipfel. Und dann wanderten meine Gedanken zu anderen Bergen, zu meinen Bergen – zur Aiguille d’Or oder zur Aiguille d’Argent – zur Goldnadel oder Silbernadel, die sich hoch, spitz und schimmernd über Villeverte erhoben. Meine geliebten Berge, in denen ich seit meinem zwölften Lebensjahr in Onkel Ferdinands Schlepptau umhergewandert war. Ja, denn Onkel Ferdinand ist Bergführer und kennt das Gelände um Villeverte herum wie seine eigene Tasche. „Komm doch mit, Bernadette“, sagt Onkel Ferdinand, wenn er nur zwei bis drei Touristen zu führen hat. „Das Seil ist lang genug, und außerdem kennst du unsere Berge ja so gut, daß du mir nicht in eine Spalte stürzt.“ So trabe ich also oft mit. Zuweilen helfe ich auch Onkel Ferdinand beim Tragen. Denn man sollte nicht meinen, wieviel die Touristen in seinen Rucksack stopfen. Manchmal übernehme ich den Proviant, während Onkel Ferdinand sich mit schweren Fotoapparaten und Filmkameras abschleppt – die übrigens immer noch leichter sind als das schwere Biest, das Asbjörn hatte. Da haben wir’s! Schon war ich wieder bei Asbjörn. Die Tage flogen dahin, und endlich war Schluß mit dem Nähen. Es war herrlich, die Plackerei hinter sich zu haben. Zu wissen, daß meine Kundinnen in meinen sommerlichen Wunderwerken umherscharwenzelten, daß meine Wohnung abgeschlossen war, daß es auch Mutti gutging und sie vergnügt war. „Möglicherweise reisen wir später im Sommer nach Süden“, sagte meine Mutter. „Thomas hat von einer Ausstellung in Düsseldorf gesprochen; vielleicht verbinden wir das mit einem Urlaub von vierzehn Tagen.“
„Und dann verabreden wir uns an einem Punkt an der Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz“, rief ich lachend. „Du mußt mir nur rechtzeitig schreiben, wann ihr abreisen und wie weit nach Süden ihr fahren wollt.“ Damit umarmte ich Mutti, drückte Onkel Thomas die Hand und zog meines Weges. Ich saß im Flugzeug und lächelte beim Gedanken, wie viele großgeblümte Sommerkleider, wie viele Blusen und Strandanzüge ich nähen mußte, bis ich genug Geld für die Flugkarte beieinander hatte. Gewiß, ich besaß auch noch etwas auf der Bank, das Geld aus Italien. Das Geld, das mein Vater auf sehr viel gefährlichere Weise verdient hatte. Geld, für das er am Ende mit seinem Leben hatte bezahlen müssen. Ich war bisher erst ein einziges Mal geflogen, und ich drückte meine Nase ans Fenster. Ich begreife nicht, wie es Menschen geben kann, die beim Fliegen lesen oder Geschäftspapiere durchsehen, wie der dicke Mann neben mir es tat! In Düsseldorf machten wir eine Zwischenlandung, und bald darauf strömte der Rhein unter uns dahin – der Rhein mit weißen Schiffen und langen, schweren Lastkähnen, der Rhein mit Weinbergen, Riffen im Strom und Burgruinen an den Ufern. Eines Tages wollte ich auch eine Fahrt auf dem Rhein machen. Ich wollte alles aus nächster Nähe betrachten, was ich nun aus der Luft sah. Ich wollte mir den Loreleifelsen anschauen und den Kölner Dom – einmal würde ich Villeverte im Stich lassen, um ein wenig mehr von Europa zu sehen. Denn das ließ sich nun einmal nicht leugnen – diese alljährlichen Reisen nach Villeverte waren schuld daran, daß ich niemals etwas anderes zu sehen bekam – mein Dasein war ein ständiges Hin-und-Her-Pendeln zwischen Villeverte im Wallis und Heirevik in Norwegen. Einmal würde ich in große, berühmte Städte reisen. Eines Tages würde ich Schlösser, Museen, breite Straßen und prächtige Kirchen sehen, Kunstwerke und Bilder. Ich, die ich nichts weiter als die Nationalgalerie in Oslo kannte, aber Farben liebte und Kunstbücher sammelte. Wie gern hätte ich alle diese Dinge im Original erlebt, diese wunderbaren Bilder aus meinen Büchern. Ich wollte auch in den Louvre und die Mona Lisa sehen – ich wollte nach London und die National Gallery kennenlernen – und ich wollte nach Colmar, zum Isenheimer Altar. Colmar war noch am leichtesten von Villeverte aus zu erreichen, das könnte ich vielleicht schaffen.
Vielleicht konnte ich mich dort mit Mutti und Onkel Thomas treffen? Ich glaube, Tony war es, der mir die Augen für die Malerei öffnete. Tony ist der Sohn eines Kunstmalers und lebt in Villeverte. Es ist allerdings nicht so, daß Tony und seine Eltern vom Malen leben. So weit hat sein Vater es nicht gebracht. Sie besitzen ein kleines Hotel, das ihnen den Lebensunterhalt sichert, und das Malen ist nur ein Hobby. Aber bei Tony daheim habe ich gute Bilder und viele Farbdrucke gesehen, und Tonys Vater hat mir von Museen im Ausland erzählt und Bilder erklärt. Ob Tony wohl in Villeverte war? Tony und ich waren immer die besten Freunde gewesen. Er ist zwei Jahre älter als ich, und während meines ersten Sommers in Villeverte bekam ich einen jungen Hund von ihm geschenkt. Damit hatte er sich meine Ergebenheit auf ewig gesichert. Der Hund blieb dann bei Tante Cosima, wo er noch immer ist, eine gesetzte, lebenserfahrene Hundedame von acht Jahren. Man hat allen Grund, ihre Rassereinheit in Zweifel zu ziehen. Ich habe ihre Pudelmutter im Verdacht, ihr Herz an einen Drahthaarterrier verloren zu haben. Trotzdem ist Mouche für mich der wunderbarste Hund auf der Welt. Im vergangenen Sommer hatte Tony mir gefehlt. Er war in Paris, wo er im Hotelfach ausgebildet wurde – und ich bin fest überzeugt, daß er dort den Malerpinsel mit größerer Begeisterung handhabte als etwa das Reibeisen oder den Schaumschläger. Aber auf jeden Fall befand er sich nicht in Villeverte, und ich kam mir oft recht vereinsamt vor. Ich war nicht in ihn verliebt. Oder… war ich es vielleicht – ein ganz klein wenig? Als wir uns vor zwei Jahren voneinander verabschiedeten, hatte er mir einen Kuß gegeben. Einen lächelnden Kuß, der nichts verlangte und nichts versprach. Verliebt? Ach, Unsinn! Es war doch klar, daß ich nicht verliebt war. Wäre ich es gewesen, hätte mir wohl dieser elende Kameramann in seinem blauen Anorak nicht so viel im Kopf herumgespukt. „Meine Damen und Herren, in einigen Minuten landen wir in Basel. Bitte anschnallen…“ Fünf Minuten später rollten wir die Landebahn auf dem Flugplatz von Basel entlang. Anderthalb Stunden später saß ich bereits im Zug nach Martigny, und dort hatte ich Anschluß an den Bus nach Villeverte, meinem Sommerparadies!
Der gelbe Bus kroch immer höher die wohlbekannte Straße entlang. Der Fahrer, mein alter Freund Alexander, hatte mir die Hand gegeben und „Willkommen daheim“ zu mir gesagt. Neben mir saß Onkel Ferdinands Schwester Aloysia. Sie besitzt in Villeverte einen Andenkenladen und erzählte mir, daß das Geschäft bereits großartig ginge. Nun tauchten die ersten Häuser auf – und die schneebedeckten Gipfel hoben sich gegen den blauen Himmel ab. Eine silbrig schimmernde Kabine der Seilbahn schwebte nach oben. Wir haben in Villeverte nämlich auch eine Seilbahn, wir haben sogar zwei. Eine alte bescheidene bis zum Fuß der Silbernadel und eine moderne, sehr schöne zur Goldnadel. Und dann rollte der Bus auf den asphaltierten Platz zwischen den ersten Häusern von Villeverte. Weiter darf er nicht fahren; dort müssen auch die Touristen ihre Wagen parken, denn in den engen Straßen von Villeverte ist jeder Autoverkehr verboten. „Hallo, Bernadette, willkommen, ma petite – willkommen daheim!“ Ma petite… meine Kleine… wie vertraut klang das! Ja, ich war daheim. Tante Cosima schlang ihre Arme um mich und küßte mich wie immer auf beide Wangen. „Ferdinand ist in den Bergen – wir werden also das Gepäck selber tragen müssen – hallo, Aloysia, bist du in der Stadt gewesen? Hast du etwas, das wir auf den Wagen legen könnten? Schon gut, Mouche, du darfst doch Bernadette nicht umbringen!“ Die letzten Worte galten dem Hund, der sein Äußerstes tat, mir aus lauter Wiedersehensfreude die Kleider vom Leib zu reißen. Wir legten meine beiden Koffer auf die kleine, leichte Karre mit den Gummirädern und machten uns auf den Weg. Die Luft war noch immer kühl, wir hatten ja erst Anfang Juni. Aber die Sonne goß ihr Licht über Villeverte und die weißen Berggipfel aus; rechts und links grüßten mich alte Freunde. Der Metzger stand in der offenen Tür seines Ladens und winkte mir mit seinem größten Messer zu, Marietta vom Papiergeschäft lachte mich an, die Kinder des Bäckers liefen quer über die Straße, um mich zu umarmen, und da kam sogar Franz, der Maultiertreiber, mit seinen beiden hochbepackten Tragtieren des Weges. „Nein, Franz, lebt tatsächlich der alte Bruno immer noch?“ und ich streichelte den warmen, dunkelbraunen Hals des Tieres.
„Der lebt nur aus Trotz, wie du dir denken kannst. Er will dich wieder tragen, wenn du dir das nächste Mal den Fuß verstauchst!“ grinste Franz. Das war nämlich vor drei Jahren geschehen. Da war ich weit oben in den Bergen gestürzt, und mein Knöchel hatte wie ein Fußball ausgesehen. Lächeln und Sonnenschein auf allen Seiten, frohe Menschen, gute alte Freunde – ja, nun war ich wieder in meinem geliebten Villeverte. Es war Sommer, ich hatte Ferien, und das Leben war herrlich! Ich hatte die norwegischen Konserven, das Knäckebrot und den Ziegenkäse ausgepackt und sie Tante Cosima gegeben. Grand’mère hatte mich umarmt, und ich sah, wie sie sich ein paar Freudentränen aus den Augen wischte – das geschah stets, wenn ich kam. Und nun beeilte ich mich, meine Sachen auszupacken. In meinem Schrank hingen die Bügel, die Schubladen waren mit neuem Papier ausgelegt, am Fenster hingen neue, kleingeblümte Gardinen. Mein Herz schlug warm für diese lieben Menschen, Menschen von meinem eigenen Fleisch und Blut, meine eigene Familie. Zu ihnen gehörte ich, obwohl Meer und Länder uns drei Viertel des Jahres voneinander trennten. Tante Cosima rief mich zu Tisch. Ich strahlte, als ich den Spirituskocher und die Kasserolle auf dem Tisch erblickte. Also hatte Tante Cosima eine Fondue gemacht – sie wußte genau, wie gern ich sie aß. Onkel Ferdinand kam, und wir saßen am Küchentisch und spießten Brotstücke auf die langen Gabeln, drehten sie in der heißen Käsemasse herum, und es schmeckte himmlisch. Wir plauderten und tranken Tee – denn nur die ausländischen Touristen trinken Wein zur Fondue. „Wir Eingeborenen“ wissen, daß Tee oder Kaffee das Richtige ist, sonst liegt die Fondue allzu schwer im Magen. Ich mußte von der Reise erzählen; die anderen erkundigten sich nach Mutti und freuten sich, weil sie in ihrer neuen Ehe glücklich war. „Deine liebe kleine Mutter“, sagte Grand’mère. „Ich erinnere mich so gut, wie sie das erstemal zu uns kam – und wie hat Bernardo sie geliebt!“ Tante Cosima nickte. „Dann war sie mit dreiundzwanzig Jahren Witwe – arme, kleine Ester. Wie schön, daß sie nun ein zweites Mal glücklich wurde.“
Ja, so ist meine Familie. Diese Menschen sind selber glücklich, deshalb gönnen sie auch anderen das Glück. „Schluß mit der Ruhe“, seufzte Onkel Ferdinand. Es hatte an der Küchentür geklopft, und er stand auf. Draußen stand ein Ehepaar, das in einem der Hotels wohnte. Sie wollten so gern auf die Silbernadel – stimmte es, daß sie hier einen Führer haben könnten? Onkel Ferdinand ging mit ihnen ins Wohnzimmer hinüber. Ich erkundigte mich, was sich in der Zwischenzeit im Dorf ereignet hatte. Hatte sich Marietta endlich mit dem Portier vom Hotel Glacier verlobt, war bei Theo und Jeanne ein Junge oder ein Mädchen gekommen – und Tony, wie stand es mit ihm, war er immer noch in Paris oder…? „Tony kommt morgen“, sagte Tante Cosima. „Er war zu Ostern eine Weile hier. Er ist ein hübscher Kerl geworden, ganz erwachsen – er ist auch schon zweiundzwanzig Jahre alt. Nun wird er seinen Vater ablösen, so daß der auch endlich einmal Ferien machen kann. Die hat er seit zehn Jahren nicht mehr gehabt – und Tony sollte wohl in der Zeit das Hotel allein führen können.“ Ein wenig klopfte mir das Herz. Als ich mich im August vor zwei Jahren von Tony verabschiedete, war er noch ein schmächtiger, hochaufgeschossener Junge – und nun sollte ich also einem jungen Mann begegnen, einem erwachsenen Mann, der in Paris gelebt hatte! Vielleicht lag es an der Umgebung hier, daß ich an Tony anders dachte als früher. Daheim in Norwegen gehörte Tony sozusagen nicht in meine Gedankenwelt. Mit Tony verband sich die Vorstellung von Sommer, Sonne und Ferienglück. Mit meinem Alltag in Heirevik hatte er nichts zu tun. Aber jetzt – jetzt loderte eine große warme Freude in mir auf, denn morgen sollte ich ihm wieder begegnen, dem frohen, heiteren Freund aus meiner Kindheit. Aber wir waren keine Kinder mehr. Ich war zwanzig und Tony zweiundzwanzig. Und ich dachte an Tony auf eine andere Weise als früher.
Corinne „Bernadette“, sagte Tante Cosima am nächsten Nachmittag zu mir, „würdest du so lieb sein, für mich ein Paket am Bus abzuholen?“ „Doch, Tante Cosima, so lieb bin ich. Soll ich den Wagen nehmen, oder kann ich es tragen?“ „Du kannst auf jeden Fall den Wagen nehmen. Es werden etwa sechs bis sieben Kilo sein.“ Also nahm ich den Wagen, karrte mit ihm davon und wußte, daß ich nun mit 99 Prozent Wahrscheinlichkeit Tony begegnen würde. Denn wenn er sich bei uns noch nicht gezeigt hatte, so war er noch nicht angekommen und würde also mit dem Nachmittagsbus eintreffen. Ich mußte über mich selber lachen. Da stand ich und hatte wahrhaftig Herzklopfen – Herzklopfen wegen Tony! Tony, mit dem ich Federball gespielt, mich geschlagen, mich gezankt hatte und mit dem zusammen ich in die Berge gegangen war; Tony, mit dem ich aus dem Keller seiner Eltern Pfirsichmarmelade gestohlen hatte; Tony, der einmal eine weiße Maus in den Ausschnitt meines Kleides gesteckt hatte… was in aller Welt hatte mich gepackt? Ich hörte langsam den Bus nahen, und wie er sich im ersten Gang um die letzte Kurve herumquälte. Und dann kam er in Sicht. Gleich darauf erblickte ich Tony, und mein Herzklopfen wurde einfach aufdringlich. Wie recht Tante Cosima hatte! Tony war nicht nur ein hübscher Kerl geworden, er war einfach bildschön. Und wie breitschultrig er war! So erwachsen, so… Noch hatte er mich nicht entdeckt. An der Tür blieb er stehen und streckte die Hand aus, um jemandem hinauszuhelfen. Einem jungen Mädchen. Einem sehr gut aussehenden jungen Mädchen, es war viel größer als ich – dazu gehört im übrigen nicht viel – , einem jungen Mädchen mit kastanienbraunem Haar, einem traumhaften Reisekostüm und schlanken Beinen in Schuhen mit Pfennigabsätzen. Mich durchfuhr ein Gefühl des Unbehagens. Doch dann überlegte ich: es konnte sich ja um eine zufällige Reisebekanntschaft handeln, und es war nicht das erstemal, daß sich Tony Touristen gegenüber höflich erwies. Aber nein… wenn es sich wirklich nur um Höflichkeit handelte, so ging sie ziemlich weit. Denn keine Höflichkeit auf Erden konnte Tony vorschreiben, den Arm um die Schultern einer jungen Dame zu
legen und mit der anderen Hand vorsichtig eine kastanienbraune Strähne aus ihrer Stirn zu streichen. Jetzt fühlte ich mich ganz und gar nicht wohl. Ich kam mir sehr klein, sehr unschick und sehr langweilig vor in meinen alten langen Hosen vom letzten Jahr und meinen bequemsten, ausgetretenen Sandalen und mit einem Band um meinen dunklen Wuschelkopf. Jetzt sah mich Tony. Er ließ das bildschöne Mädchen los, und sein Gesicht strahlte, als er mit ausgestreckter Hand auf mich zukam. „Was, Bernadette, bist du da, mein Mädchen! Wie schön, dich wiederzusehen! Bist du schon lange hier?“ „Seit gestern. Aber Tony… wie groß du geworden bist!“ Er sprach französisch mit mir, und ich antwortete auf italienisch. Tonys Eltern sind Italiener, und wir hatten immer italienisch miteinander gesprochen. Es kam mir merkwürdig fremd vor, daß er in einer anderen Sprache mit mir redete. „Groß?“ rief er lachend. „Ja, von dir kann ich das aber nicht behaupten; du bist noch immer das gleiche kleine Püppchen.“ Er wandte sich zu dem fremden Mädchen um. „Chérie, das hier ist Bernadette, meine beste Jugendfreundin. Weißt du, die einmal eine Schüssel mit Wasser über mich goß, nachdem ich ihr eine weiße Maus ins Kleid gesteckt hatte. Bernadette, das ist Corinne Rameau, direkt aus Paris importiert, die große Überraschung für meine Eltern; laß mir deine Tasche, Corinne, damit du Bernadette die Hand geben kannst.“ Eine schmale Hand mit langen, perlmuttfarben lackierten Nägeln ergriff meine derbere mit den kurzgeschnittenen Nägeln und den Spuren des Gemüseputzens vom Vormittag. Es durchzuckte mich – „tu“ – Tony hatte „du“ zu Corinne gesagt. Ich wußte ganz genau, wie vertraut das französische „tu“ ist. Es war ja eine ganz besondere Vergünstigung, daß ich Grand’mère mit „tu“ anreden durfte. „Willkommen in Villeverte, Madame“, sagte ich auf französisch. Tony lachte auf. „Corinne ist keine Madame – noch nicht! Aber du hast richtig geraten, Bernadette, sie wird es bald. Hast du nicht Lust, die erste zu sein, die uns gratuliert?“ Lust? Ich hatte Lust, Corinne die Augen mit ihren eigenen Pfennigabsätzen auszukratzen. „Was für eine Überraschung, Tony!“ rief ich. „Ich gratuliere dir
herzlich!“ Es ist unglaublich, was eine Frau an Selbstbeherrschung aufzubringen vermag, wenn es sein muß. Und nun mußte es sein! „Wie schön, daß du den Wagen dabei hast, Bernadette; dann können wir gleich unser Gepäck drauflegen.“ Auch das noch! Aber da stand ich, lächelnd und hilfsbereit, nahm Tonys braunen Koffer, einen schneeweißen Lederkoffer, ein ebenso schneeweißes Toilettenköfferchen und einen rosa Mantel in einer Plastikhülle in Empfang. Das Paket für Tante Cosima hätte ich vergessen, hätte mich nicht Alexander angerufen. Auf dem Wagen war dafür kein Platz mehr. „Ich werde den Wagen schieben, Bernadette – oder wart einmal, das Paket ist bestimmt zu schwer; das nehme ich. Für dich ist es leichter, den Wagen zu schieben.“ Dazu war ich also gut genug: für Tony und seine Geliebte den Gepäckträger zu spielen! Doch da legte sich eine schmale kleine Hand neben meine auf den Handgriff. „Ich werde Ihnen helfen, Bernadette – ich darf Sie doch Bernadette nennen, nicht wahr?“ Ich war ganz benommen von ihrer Stimme. Die war sanft und warm, leise und melodisch. Und das Lächeln, mit dem sie mich ansah, war freundlich und herzlich. „Selbstverständlich, Corinne.“ „Ich weiß, was für gute Freunde Sie und Tony waren, er hat mir viel von Ihnen erzählt. Ich möchte mich auch mit Ihnen anfreunden.“ So zogen wir nebeneinander los und schoben den Wagen, während Tony lächelnd ein paar Schritte vor uns herging. „Natürlich müssen wir gute Freunde werden“, antwortete ich. „Es ist so, als ob ich – wie soll ich sagen – als ob ich eine… eine ach Tony, was heißt Schwägerin auf französisch?“ Ich komme zwar mit Französisch ganz gut zurecht; aber es gibt doch Wörter, die ich nicht kenne, weil ich sie niemals gebraucht habe. „Bellesceur“, half Tony ein. „Ich beneide Sie darum, so viele Sprachen zu können“, meinte Corinne. „Wir Franzosen sind in dieser Hinsicht furchtbar. Sie sind Norwegerin, wie mir Tony erzählte?“ Wir plauderten weiter, und ich betrachtete sie verstohlen. Sie war hübsch, aber sie war mehr als das. Sie hatte ein Gesicht, das – ja, so muß ich wohl sagen – beseelt war. Sie strahlte Wärme und Güte aus. Plötzlich hatte ich keine Lust mehr, ihr die Augen auszukratzen. Im Gegenteil. Ich wünschte
heftig, mich mit ihr anzufreunden. Wir hielten vor dem Seiteneingang des Hotels „Chamois“ – Tonys Elternhaus. Die Tür wurde aufgerissen, und Tonys Mutter stand mit ausgebreiteten Armen da. Ich fühlte mich überflüssig, nickte nur zum Abschied und trollte mich mit meinem Paket auf dem Wagen weiter. So standen also die Dinge. Tony war verlobt, und ich hatte meinen getreuen Gefolgsmann und Ferienkameraden verloren. Aber bereitete mir das Kummer? Nein, im Grunde genommen nicht. Im ersten Augenblick eine Enttäuschung, gewiß. Aber Corinne war wirklich süß, und ich freute mich darauf, sie näher kennenzulernen. Was für einen Unsinn hatte ich da vorher in mir zusammengebraut? Wäre ich wirklich in Tony verliebt gewesen, hätte ich es doch schon früher entdecken müssen. Erst sehr viel später begriff ich, wie es eigentlich war. „Ich soll dich von Tony grüßen“, sagte ich, als ich mit dem Paket bei Tante Cosima eintrat. „Er hat sich verlobt!“ „Was sagst du da?“ rief Tante Cosima. „Und ich hatte immer geglaubt…“ Da gelang es mir doch tatsächlich zu lachen. „Da hast du dich eben geirrt, Tante Cosima! Du glaubst doch wohl nicht, daß man sich in einen Jungen verlieben kann, der einem weiße Mäuse ins Kleid steckt. Ich habe seine Verlobte kennengelernt. Sie ist bezaubernd.“ Ich weiß nicht, wie sich dieses Gespräch noch weiter entwickelt hätte, denn wir wurden unterbrochen. Zwei von Tante Cosimas Gästen gingen am Küchenfenster vorbei und nickten uns durch die Scheiben zu. „Seltsame Leute, dieses Ehepaar“, sagte Tante Cosima. „Sieh dir nur die Rucksacke an! Kannst du verstehen, daß man so viel auf eine Tagestour mitschleppt?“ Die Rucksäcke schienen geradezu aus den Nähten zu platzen. „Vielleicht sind sie nur voller Strickjacken und Strümpfen zum Wechseln“, meinte ich. „Besonders schwer sehen sie eigentlich nicht aus.“ „Aber so bepackt ziehen sie jeden Morgen los“, erzählte Tante Cosima. „Bei jedem Wetter, am Sonntag wie in der Woche. Nun, das ist ja ihre Sache; mich geht das nichts an.“ „Welche Wohnung haben sie denn?“ fragte ich. „Nummer fünf. Im Ostgiebel.“ Ich kannte die
sechs Wohnungen im Haus sehr gut. Nummer fünf war klein und bescheiden, ein Zimmer und eine ganz kleine Küche. Die billigste Wohnung im Haus. Ich ging in mein Zimmer, um mich umzuziehen. Im Treppenhaus stieß ich mit dem Fuß gegen ein Moosbüschel. Moos? Was hatte das zu bedeuten? Waren es die Kinder von der Wohnung Nummer drei? Nein, wo sollten sie auch das Moos herhaben? Der Weg zu den Stellen, wo man Moos fand, war ziemlich weit. Ach, jetzt fiel es mir ein. Es mußte das Ehepaar aus Nummer fünf sein. Vielleicht waren es Botaniker und sammelten in ihren Rucksäcken Pflanzen aus den Alpen. Ich warf das Moos aus dem Fenster und dachte vorläufig nicht mehr an das Ehepaar von Nummer fünf. Ein paar Tage verstrichen. Ich fühlte mich etwas einsam. Tony fehlte mir wahrhaftig. Alle diese Sommer hindurch hatten wir wie Pech und Schwefel zusammengehalten, und jetzt bekam ich weder ihn noch Corinne zu Gesicht. Dann traf ich seine Mutter in einem Laden. Sie ergriff meine beiden Hände und begrüßte mich herzlicher als je zuvor. „Bernadette, wie schön, dich wiederzusehen! Du hast uns so sehr gefehlt!“ Ich beglückwünschte sie zur Schwiegertochter, und da entrang sich ihr ein tiefer Seufzer. „Ach ja, Bernadette, ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll. Corinne ist ein reizendes Mädchen, aber… aber…“ „Da gibt es doch kein ,aber’, Tante Rachele“, erwiderte ich. „Weißt du, um ganz ehrlich zu sein, wir hatten immer gehofft, du würdest es sein, die…“ Seltsam, wie alle das gehofft haben, dachte ich. „Aber ich bitte dich, Tante Rachele, Tony und ich waren doch niemals etwas anderes als gute Kameraden. Wo treiben sich die beiden eigentlich herum? Man sieht sie nie!“ „Tony muß doch arbeiten. Er muß seinen Vater vertreten; der ist gestern abgereist. – Ich finde, es war von Tony recht unbedacht, Corinne gerade jetzt mitzubringen. Ich weiß wirklich nicht, was ich mit dem Mädchen anfangen soll. Sie sitzt im Garten und malt fast den ganzen Tag…“ „Ist sie denn Malerin?“ „Auf jeden Fall glaubt sie, es zu werden. Sie haben einander im Louvre getroffen, wo sie beide einen Delacroix kopierten.“ Ich
lachte auf. „Genauso habe ich es mir gedacht, Tante Rachele! Tony hat sicher in Paris das Maien eifriger studiert als die Kochkunst!“ „Der arme Kerl, er ist erblich belastet“, seufzte Tante Rachele mit einem leichten Lächeln. „Sonst ist Tony ein guter Junge und hat auch Pflichtgefühl, das muß ich ihm lassen. Er schmeißt jetzt den ganzen Laden, und unsere Gäste mögen ihn gern. Aber wie gesagt, Corinne…“ „Kann ich vielleicht etwas für sie tun, meinst du? Ich mag sie gern und habe soviel Zeit!“ „Es wäre großartig, Bernadette, wenn du dich ihrer etwas annehmen könntest. Ich habe alle Hände voll zu tun, wie du weißt.“ Ich begleitete Tante Rachele nach Hause, und Corinne begrüßte mich mit ihrem hübschen Lächeln. Ja, es stimmte, daß sie viel allein sei. Aber wenn ihr zukünftiger Schwiegervater in vierzehn Tagen wiederkäme, würde es sicherlich anders. „Du mußt dich in Villeverte ein bißchen umsehen“, sagte ich. „Wollen wir zusammen Spazierengehen? Ich bin doch auch allein. Wenn du also Lust hast…“ Und ob sie wollte! Villeverte ist es wert, daß man es kennenlernt. Es ist ein hübsches Dorf. Wir haben zahllose Hotels, sehr moderne, elegante Hotels, die dicht beieinanderliegen und Villevertes Zentrum bilden. Wir haben eine Post, einen Arzt und einen Zahnarzt, eine Apotheke und sehr viele Geschäfte. Mehr zum Ortsrand hin liegen die kleinen, alten, verwitterten Häuser, die erste Ansiedlung von Villeverte. Vor den Fenstern hängen rote und grüne Blumenkästen. Durch die engen kleinen Gassen werden die Kühe getrieben. Es gibt auch gutgepflegte Gärten mit Mangold und Blumenkohl, Mohrrüben und Salat, und diese Gemüse haben dort ein Aroma, wie man es in den Niederungen niemals findet. Corinne war Feuer und Flamme. „Nein, Bernadette, wie schön es hier ist! Was für herrliche Motive!“ „Ach richtig, du willst ja malen, erzählte Tante Rachele.“ „Ich versuche es wenigstens. Interessierst du dich fürs Malen?“ „Und ob! Ich bekomme zwar selber keine zwei Striche zusammen, aber die Malerei interessiert mich sehr. Wie war’s, wollen wir die Seilbahn zur Cabane d’Argent nehmen? Dort könnten
wir Kaffee trinken und haben das ganze Tal vor uns liegen. Dann siehst du Villeverte auch einmal von oben.“ „Ja, nur zu gern.“ Es ist eine rührende alte Bahn, die auf dieser Strecke fährt. Solange sie in Betrieb ist, bleiben die Kabinen niemals stehen. Wenn sie unten in Villeverte eintreffen, fahren sie einen Bogen aus. Dort steht Maro, der Sohn des Maultiertreibers Franz, und hilft den Passagieren beim Aussteigen. Die nächsten, die hinauffahren wollen, müssen in aller Eile einsteigen. – Und so rumpelt man nach oben. Die Kabinen schweben über Baumwipfel hinweg; dann kommt eine Geröllhalde, wo die Murmeltiere unter uns umherspringen und pfeifen; von da ab geht es an einem Wasserfall vorbei, der so ohrenbetäubend braust, daß man nicht miteinander reden kann. Dann über ein Stück kahlen Felsen hinweg, gleich darauf kommt der Augenblick, wo es in der Trosse „knack“ macht, so daß alle, die zum erstenmal mitfahren, ein erschrecktes „Oh!“ ausstoßen. Und endlich liegt die weiße Fläche vor uns, wir sehen den ewigen Schnee. Nun schweben wir, nachdem es noch ein paarmal geknackt hat, ins Stationsgebäude hinein, wo uns Maros Großvater, der freundliche alte Carlo, aus den Kabinen hilft. Die Bahn zur Aiguille d’Argent ist sozusagen ein reines Familienunternehmen – das heißt: Besitzer ist wohl der Staat oder vielleicht die Gemeinde, aber Großvater Carlo und Enkel Maro halten die Bahn in Ordnung. Ich zeigte Corinne alles und erklärte es ihr. Uns gegenüber in der Kabine saßen zwei junge Italiener; ab und zu ging ich auf Italienisch über und erklärte es auch ihnen. Wieder seufzte Corinne auf und beneidete mich um meine Sprachkenntnisse. „Ich kann ein wenig Deutsch“, sagte sie. „Aber wenn ich daran denke, daß ich später einmal hier in diesem Sprachengewirr Hotelwirtin werden soll, wird mir schwindlig.“ „Will also Tony das Hotel übernehmen?“ fragte ich. „Selbstverständlich will er das. Er wird es wohl wie sein Vater machen, glaube ich: vom Hotel will er leben und in seiner freien Zeit malen.“ Unter uns sahen wir jetzt den Pfad, der zum Berg hinaufführt. In diesem Augenblick tauchte gerade Franz mit seinen beiden Maultieren auf. Ich erzählte Corinne, daß er seit zwanzig Jahren jeden Sommer die gleichen Wege ging und Verpflegung, Getränke und Geräte aller Art auf die Hütten oben in den Bergen brachte.
Jeder Bissen Brot und jede Gulaschportion, die man in der Steinbockhütte, in der Goldkammhütte und in der Firnhütte zu essen bekommt, wird auf Maultierrücken hinaufgebracht. Nur die Cabane d’Argent, die Silberhütte, erhält ihren gesamten Nachschub mit der Seilbahn. Denn die Silberhütte liegt nur zehn Schritt von der Endstation entfernt. Auf dem Speicher der Silberhütte hat der alte Carlo eine Kammer, in der er den ganzen Sommer hindurch wohnt, damit er gleich bei seiner Arbeitsstelle ist. Wenn abends die letzte Kabine nach unten unterwegs ist, telefoniert er: „Da kommen Leute mit Nummer vier, und jetzt machen wir Schluß für heute.“ Dann schließt er alles ab, während die Kabine Nummer vier in der Dunkelheit hinunterschwebt, geht in die Silberhütte hinüber und ißt einen Teller Suppe, bevor er sich zu Bett legt. Das erzählte ich Corinne. Und dabei schwebten wir unter das Dach der Endstation, wo das Gesicht des alten Carlo aufstrahlte, als er mich erblickte. „Jetzt ist der Sommer nach Villeverte gekommen, wenn Bernadette da ist!“ rief er lächelnd. „Warum bleibst du nicht immer hier, Bernadette? Ja, vielleicht – jetzt ist Tony doch ein erwachsener Mann und…“ „Carlo“, unterbrach ich ihn, „diese Dame mußt du unbedingt kennenlernen. Sie heißt Corinne und ist mit Tony verlobt. Und Carlo mußt du ganz besonders gern haben, Corinne. Ohne ihn hättest du deinen Tony nicht. Denn Carlo war es, der ihn in letzter Sekunde erwischte, als er sich auf das Dach einer Kabine schleichen wollte, um kostenlos mit der Bahn zu fahren.“ „Und niemals zuvor hat ein Junge in Villeverte solche Prügel bezogen wie damals Tony“, schmunzelte Carlo. Meine Worte hatten ihm Zeit gegeben, sich über die Bedeutung der Nachricht klarzuwerden und sie zu verdauen. Er richtete seine alten, klugen Augen auf Corinne, und ich stellte fest, daß er äußerst zufrieden nickte. „Willkommen in Villeverte, Mademoiselle. Und meinen herzlichen Glückwunsch! Ja, ja, die Zeit vergeht. Will der kleine Tony also heiraten. Und du, Bernadette? Was ist mit dir? Hast du vielleicht einen Freund dort oben in deinem kalten Eisbärland?“ „Wer weiß?“ rief ich lachend. „Aber wie oft soll ich dir noch sagen, Carlo, daß es in Norwegen ebensowenig Eisbären gibt wie in den Alpen. – Achtung – da kommt schon die nächste Kabine! Paß nur auf, daß deine Passagiere nicht im gleichen Schwung wieder
hinunterfahren!“ Corinne und ich gingen in die Silberhütte hinein und fanden einen Tisch an einem Fenster. Sie war von der Aussicht überwältigt. Sie war mitten in Paris aufgewachsen und hatte niemals Berge gesehen. Ihr Vater war gestorben, und ihre Mutter hatte ein Parfümeriegeschäft, in dem auch Corinne arbeitete, wenn sie nicht gerade malte – „oder ich male zwischen Puder und Lippenstiften“, meinte sie lächelnd. Kein Wunder, daß sie perlmuttfarbene Nägel hatte und vor Gepflegtheit strahlte, dachte ich. Sie muß wohl für ihren Beruf Reklame machen, genau wie ich für meinen. Von den Bergen kamen Leute herunter, die bereits eine lange Wanderung hinter sich hatten und nun mit der Bahn abfahren wollten. Ich erklärte Corinne, daß die Silberhütte der Ausgangspunkt für die Besteigung der Aiguille d’Argent sei. Hier seilten sie sich an und brachen zu einem anstrengenden Marsch von drei Stunden auf. Der Anstieg zum Gipfel war steil. „Bist du selbst schon einmal oben gewesen?“ fragte Corinne. „O ja, sogar oft. Mein Onkel ist nämlich Bergführer.“ Corinnes Blicke betrachteten sehnsuchtsvoll das Gelände. „Wenn ich doch auch einmal hinkäme!“ „Selbstverständlich kannst du das. Du mußt dich nur zuerst auf kürzeren Touren darauf trainieren. Dann kannst du dich von Tony führen lassen; er kennt die Berge hier wie seine eigene Tasche.“ Corinne schwieg eine Weile. Sie hatte irgend etwas auf dem Herzen. „Du… du kennst doch Tony so gut… und seine Eltern. Sie sind… nicht wahr, sie sind sehr nett, die Eltern?“ „Ja, das sind sie. Oder hast du etwa andere Erfahrungen gemacht?“ „Nein. Aber ich glaube, es war vielleicht dumm von Tony, daß er sie mit unserer Verlobung förmlich überfallen hat. Er hat mich sozusagen als Schwiegertochter auf einem Tablett serviert, ohne daß sie etwas ahnten.“ Ich mußte lächeln. „Das ist ganz Tony. Er war schon immer so impulsiv.“ „Ja“, meinte Corinne. Anschließend wollte sie noch etwas sagen, überlegte es sich dann jedoch anders. Nicht nur Tony ist impulsiv. Ich bin es auch. Und nun legte ich meine Hand auf ihre. „Paß auf, Corinne, du kennst mich nicht, aber du weißt, daß Tony und ich seit vielen Jahren gute Kameraden sind. Ich kenne ihn und
seine Familie, und ich kenne auch Villeverte und alle Menschen hier. Wenn ich dir in irgend etwas behilflich sein kann, tue ich es nur zu gern. Das habe ich dir sagen wollen – und noch eins: Du kannst dich auf mich verlassen. Mein Wort darauf.“ Corinne lächelte ihr strahlendes, warmes Lächeln und drückte mir die Hand. „Ich verlasse mich auf dich, Bernadette. Tony hat mir viel von dir erzählt, und er hat dich immer als guten Kameraden gerühmt. Die Sache ist eben die, daß ich mich hier fremd fühle. Ich glaube, es war von Tony sehr unbedacht, darauf zu bestehen, daß ich in diesem Sommer mit ihm her fuhr, so völlig unangemeldet – außerdem ausgerechnet in dem Augenblick, in dem alles auf dem Kopf stand, weil der Vater wegreisen und seine ganze Arbeit Tony überlassen wollte. Es sind keine großen Probleme, mit denen ich zu kämpfen habe, verstehst du, es läuft darauf hinaus, daß ich das Gefühl habe, überflüssig zu sein. Als ob ich meiner Schwiegermutter nur im Weg bin…“ „Aber liebe Corinne, dann sieh doch nur zu, mit ihr Kontakt zu bekommen! Tante Rachele ist ein gütiger Mensch. Und sie liebt natürlich Tony über alles. Wenn sie einmal etwas Zeit hat, bitte sie doch, dir von Tony zu erzählen, wie er als Kind war. Da gibt es genug zu erzählen, und sie wird nichts lieber tun. Biete ihr außerdem deine Hilfe an. Bestimmt hat sie viel um die Ohren, solange Tonys Vater nicht da ist. Hilf ihr mit… ich weiß zwar nicht, was sie im allgemeinen tut – aber hilf ihr beim Wäschezählen oder beim Stopfen der Handtücher oder bei der Auswahl der Menüs oder in der Buchführung – ach nein, die Bücher führt wohl Tony selber.“ Corinne sah nachdenklich drein. „Ja, wenn ich es nur richtig mache. Ich habe eigentlich ein wenig Angst, verstehst du…“ „Du mußt eben von Tony lernen, etwas impulsiv zu sein!“ meinte ich. „Du mußt deine künftige Schwiegermutter überrumpeln; du mußt zu ihr sagen: Jetzt werde ich die Handtücher zählen, Schwiegermutter’, oder ,Laß mich doch die Gläser nachschauen’, und wenn es etwas gibt, worin du besonders tüchtig bist außer dem Malen und dem Verkaufen von Parfüms und Lippenstiften, so zeig es ihr! Was kannst du denn sonst noch?“ Corinne schmunzelte. „Ich habe eine besondere Begabung dafür, Geld zu sparen! Weißt du, als mein Vater starb, hatten wir es schwer. Er hatte gerade mit dem Geschäft angefangen und hatte viele Verpflichtungen – da starb
er. Meine Mutter mußte alles übernehmen, und ich half ihr, so gut ich konnte. Wir mußten doch anständig gekleidet sein, und mußten das mit möglichst geringen Kosten schaffen. Wir mußten auch so essen, daß wir gesund und arbeitsfähig blieben, aber gleichzeitig konnten wir uns keine großen Ausgaben für die Mahlzeiten leisten. Ja, sparen kann ich also.“ „Aber liebe Corinne, da bist du für eine Hotelwirtin Gold wert! Tante Rachele hat wohl einen guten Koch, aber sie führt in der Küche selber die Aufsicht. Zeig dich interessiert und gib ihr Tips aus deiner eigenen Erfahrung. Tante Rachele ist sehr auf sparsame Wirtschaft bedacht, und das ist etwas, was Tony nicht von ihr geerbt hat.“ „Nein, bestimmt nicht“, seufzte Corinne. „Weißt du, manchmal habe ich das Gefühl, daß ich für Tony eine scheußliche Bremse bin; als erstickte ich alle seine kleinen Freuden, die seinem Leichtsinn entspringen, denn ich bin schrecklich vernünftig. Auf der Reise hierher war der Zug zum Beispiel so voll, und was tat Tony? Er schleppte mich in die Erste Klasse und bezahlte den teuren Zuschlag. Er faselt auch davon, ein Auto zu kaufen, und zum Geburtstag hat er mir den teuren Lederkoffer und obendrein das Toilettenköfferchen geschenkt.“ „Das alles ahnt ja niemand, Corinne“, unterbrach ich sie. „Du siehst wie eine sehr elegante Pariserin aus, und niemand kann wissen, daß du ein so vernünftiges, sparsames Mädchen bist. Je eher deine Schwiegermutter es merkt, desto besser. Aber wie kannst du eigentlich deine Vernunft mit deiner Malerei in Einklang bringen?“ „Bis vor zwei Jahren habe ich noch gar nicht richtig gemalt. Aber damals hatten wir uns ganz schön hinaufgearbeitet, und zu Weihnachten bekam ich ein wunderbares Geschenk von meiner Mutter. Sie gab mir das Geld für ein Jahr Unterricht an der Akademie. Sie wußte, wie gern ich malen würde – bis dahin hatte ich immer nur Plakate oder dergleichen für das Geschäft gemalt. So begann ich mit dem Unterricht, und das Seltsame ist, daß ich anscheinend wirklich Talent habe – ich möchte nicht unbescheiden wirken, aber…“ „Es ist doch nicht unbescheiden, wenn jemand zugibt, daß er Talent hat. Das ist doch etwas, wofür man gar nichts kann. Ich gebe zum Beispiel gern zu, daß ich Talent zum Schneidern habe.“ „Ja, aber Schneidern ist etwas Praktisches, da steht man mit
beiden Füßen auf der Erde. Könnte ich meiner Schwiegermutter erzählen, daß ich vom Nähen lebe, wäre die Sache schon ganz anders.“ „Unsinn. Laß nur deine Schwiegermutter dich als das vernünftige, nüchterne Mädchen kennenlernen, das du bist. Hilf ihr und sprich mit ihr. Sie wäre bestimmt der letzte Mensch auf der Welt, der etwas dagegen hat, daß du malst! Sie sagt ja von sich selber, daß sie mit einer Palette und einer Staffelei verheiratet ist. Sie ist sehr stolz auf das Talent ihres Mannes und auch auf Tonys. Aber sie besitzt ebenso eine tüchtige Portion nüchternen Sinn für die Wirklichkeit. Sie vertritt die Vernunft in der Familie. An ihre Vernunft mußt du appellieren, damit sie begreift, wieviel du selbst davon zu bieten hast. Du wirst sehen, dann läuft die Sache wie geschmiert!“ Corinne drückte nochmals meine Hand. „Du bist wahrhaftig der beste Kamerad, den man sich nur denken kann, Bernadette! Und nun weiß ich, daß ich zumindest einen Freund in Villeverte habe.“
Ein Webfehler „Bernadette“, sagte Onkel Ferdinand, „hast du Lust, morgen früh mit auf den Goldkamm zu kommen?“ „Ja, sehr gern, Onkel. Hast du viel zum Tragen oder soll ich nur mitkommen, um dir Gesellschaft zu leisten?“ „In erster Linie kommt es mir auf die Gesellschaft an, glaube ich. Hättest du die beiden Damen gesehen, die ich mitschleppen muß, wäre dir klar, daß ich dich brauche.“ „Schäm dich, Onkel Ferdinand. Auch wenn deine Damen vielleicht nicht mehr die jüngsten sind…“ „Nein, das sind sie wahrhaftig nicht.“ „Armer Onkel Ferdinand, wie schwer du es hast. Wann brechen wir auf?“ „Um halb acht. Wir nehmen die erste Kabine, die Maro nach oben schickt.“ „Und das nennt ein Mensch Ferien“, seufzte ich. „Aber ‘ einverstanden, was tut man nicht alles für einen alten Onkel!“ „Frech bist du wirklich, du Gör. Ich werde deiner Mutter schreiben, daß sie dich zu selten übers Knie gelegt hat.“ „Du solltest nur wissen, wie energisch sie mich überlegte, als ich Feigen im Pfarrgarten gestohlen hatte!“ lachte ich. „Frage Grand’mère, sie und ich haben um die Wette geweint. Außerdem mußte ich noch zum Pfarrer gehen und mich entschuldigen.“ „Das ist dir ganz recht geschehen. Aber das andere wäre also abgemacht.“ Ich machte mich daran, meine Bergstiefel zu putzen, und holte meinen Eispickel hervor – ja, ich bin wirklich die stolze Besitzerin eines Eispickels! Mit dreizehn Jahren habe ich ihn von Onkel Ferdinand geschenkt bekommen. Damals wäre ich vor Einbildung fast geplatzt. Der Morgen war still und kühl. Onkel Ferdinand und ich sollten uns mit den Damen an der Seilbahn treffen. Als wir am Hotel Chamois vorbeigingen, wurde gerade ein Fenster geöffnet. „Guten Morgen, Bernadette!“ Ich wandte den Kopf und winkte. „Guten Morgen, Corinne! Schon so früh auf?“ „Ja, wir bekommen heute fünf neue Gäste, da habe ich noch wahnsinnig viel zu tun!“
Ihre Stimme klang froh und glücklich. Und da erschien auch schon Tante Rachele am Fenster, legte den Arm um Corinnes Schulter und nickte mir zu. Mir war froh und leicht ums Herz, als wir weitergingen. Es sah aus, als hätten meine Ratschläge tatsächlich geholfen. Dann schwebte ich wiederum zur Cabane d’Argent hinauf. Dort seilte uns Onkel Ferdinand an. „Ach, du liebe Zeit!“ rief da eine der beiden Damen, „jetzt habe ich die Apfelsinen vergessen! Glauben Sie, wir könnten hier in der Hütte Apfelsinen bekommen?“ „Ich gehe hinein und kaufe welche“, antwortete ich. „Wie viele wollen Sie haben?“ Sie gab mir Geld, und ich ging hinein. So früh am Morgen waren bestimmt noch keine Gäste da. Es war still und ruhig. Aber wahrhaftig, im Gang hing ein Anorak. Ich mußte ein wenig über mich lächeln, denn warum in aller Welt machte mein Herz jedesmal einen kleinen Sprung, wenn ich einen blauen Anorak sah? Der nächste Sprung meines Herzens war schon nicht mehr klein. Denn als ich auf dem Weg zur Küchentür am Anorak vorbeiging, heftete sich mein Blick auf einen bestimmten Punkt. Der Anorak hing mit der Innenseite nach außen. Und dort – dort mitten auf einer der eingesetzten Taschen war ein Webfehler. Ganz deutlich ein Webfehler. Ich blieb stehen und schnappte nach Luft. Ob es tatsächlich zwei große, blaue Männeranoraks auf der Welt gab, die beide einen Webfehler genau in der Mitte der linken, eingesetzten Tasche aufwiesen? Ich entsann mich dieses Fehlers so gut, denn er hatte mir einiges Kopfzerbrechen bereitet. Ich wußte auch, daß er auf der Innenseite noch deutlicher war; dort fühlte er sich wie ein fester Knoten im Stoff an. Ich dachte nicht nach, was ich tat, als ich meine Hand in die linke Tasche des Anoraks gleiten ließ. Dort berührte sie etwas Festes, Glattes. Ich holte es hervor und sah es mir an: ein Lichtmesser in einem Lederetui. Meine Hand suchte weiter. Ja, da war er, ein fester, zusammengeschnurrter kleiner Knoten im Stoff. In diesem Augenblick wurde mir klar, wie oft und wie sehr ich im Grunde an Asbjörn Grather gedacht hatte – in diesem
Augenblick, als ich mit der rechten Hand in seine Tasche fuhr und in der linken Hand den Lichtmesser hielt. Wenn dies nicht ein richtiges Märchen war… Ich hatte die Schritte hinter mir nicht gehört, aber nun schrak ich zusammen. Eine schwere Hand legte sich auf meine Schulter. „Hallo, kleines Fräulein, was suchen Sie hier? Spielen Sie Taschendieb in einer friedlichen Hütte? Gibt es dafür keinen lohnenderen Ort?“ Es war Deutsch, ein ausgezeichnetes, fast akzentfreies Deutsch. Aber diese Stimme hätte ich erkannt, auch wenn sie mesopotamisch geredet hätte! Ich wandte mich nicht um. Ganz still blieb ich stehen, schluckte und sagte auf norwegisch: „Ich bin kein Taschendieb, Herr Grather. Ich habe nur nach einem Webfehler gesucht.“ Dabei drehte ich mich um. Wieder kam ich mir winzig klein vor gegenüber dem Riesen, der mich fassungslos ansah. „Wahrhaftig!“ rief er, „das ist ja meine kleine Nähkünstlerin aus Heirevik. Oder hast du eine Zwillingsschwester?“ Ob er wohl selber gemerkt hatte, daß er „du“ sagte? „Nein“, sagte ich. „Ich bin ich. Ich bitte um Verzeihung dafür, daß ich mit der Hand in die Tasche gefahren bin. Es war wegen des Webfehlers…“ „Jetzt erinnere ich mich – Bruland heißt du. Benny Bruland, nicht wahr? Ich habe an dich stets nur als an die reizende kleine Schneiderin gedacht.“ Er hatte „stets“ an mich gedacht! Langsam kam ich wieder zu mir. „Ja“, sagte ich. „Aber hier heiße ich nicht so. Hier gebrauche ich meinen wirklichen Namen.“ „Dann führst du also eine Art Doppelleben? Wie heißt du denn hier?“ „Bernadette Bonassi.“ „Berna… jetzt muß ich mich hinsetzen. Du bist Bernadette Bonassi?“ „Ja, wieso…?“ „Das will ich dir erzählen. Komm herein und trink einen Kaffee mit mir. Ich wollte gerade nur meine Zigaretten aus dem Anorak holen – das heißt, wenn du sie nicht gestohlen hast!“ „Einen Augenblick bitte! Ich muß nur vier Apfelsinen kaufen und schnell Bescheid sagen, daß ich nicht mit auf die Tour gehe.“ „Es hängt so zusammen“, begann Asbjörn, nachdem er auch für
mich einen Kaffee bestellt hatte und wir friedlich und ungestört in der Gaststube saßen, „ich wohne im Hotel Glacier in Villeverte.“ „Da mußt du aber gut bei Kasse sein“, warf ich ein. „Nein, eben nicht! Aber ich mußte nach Villeverte, das heißt, ich mußte Hals über Kopf in die Alpen, und mein Chef schlug Villeverte vor.“ „Wer ist denn dein Chef?“ „Das erzähle ich dir später. Ich mußte also nach Villeverte, und hier waren alle Privatzimmer schon besetzt, ebenso die kleinen Pensionen. So mußte ich wohl oder übel ein Zimmer im Hotel Glacier nehmen. Dann habe ich in Geschäften herumgefragt, ob jemand von einem freien Zimmer oder einer billigen kleinen Wohnung in einem Chalet wüßte. Da hat mir das nette Mädchen mit dem Schönheitsfleck im Papiergeschäft…“ „Marietta“, nickte ich. „Ja, sie hat mir also gesagt, im Chalet ,Cosima’ gäbe es ein paar recht billige, kleine Wohnungen. Aber sie wußte nicht, ob sie für den ganzen Sommer vermietet wären. Ich sollte doch nachfragen – und dann fügte sie hinzu, in dem Haus könnte ich auch skandinavisch sprechen. Dort wohnte eine junge Italienerin mit Namen Bernadette Bonassi, die Schwedisch beherrschte…“ Ich lachte auf. „Hier wirft man immer Norwegisch, Dänisch und Schwedisch in einen Topf und nennt es Skandinavisch.“ „Aber Italienerin hat sie doch gesagt! Du bist doch keine Italienerin?“ „Doch, zu fünfzig Prozent. Die anderen fünfzig sind norwegisch.“ „Also führst du tatsächlich eine Art Doppelleben? Während des Sommers kriechst du in den Alpen herum und heißt Bernadette…“ „… und im Winter gehe ich in Heirevik von Haus zu Haus, nähe und nenne mich Benny“, sagte ich. „Ja, das stimmt.“ „Und jetzt wollte ich also runterfahren und schnurstracks zum Chalet Cosima…“ „Ja, es stimmt schon, daß Tante Cosima ein paar kleine, billige Wohnungen hat, aber die sind leider besetzt. Doch warte mal – überlegen wir einmal!“ Ich rührte meinen Kaffee um und dachte nach. Vor zwei Jahren hatte Tante Cosima in der Dachkammer ein Feldbett für mich aufgestellt, da mein Zimmer besetzt war. Es wäre also möglich, dort oben wieder etwas einzurichten.
„Ich werde Tante Cosima fragen“, erklärte ich. „Komm mit mir nach Hause, dann können wir es versuchen. Es käme darauf an, ob du bereit wärst, sehr primitiv zu wohnen – selbstverständlich auch sehr billig!“ „Du liebe Zeit! Wenn ich nur ein Bett habe und eine Ecke, in der ich meine Filmsachen verstauen kann, bin ich mehr als zufrieden!“ „Aber erkläre mir nun, wieso du hier bist? Ist deine Geographie durcheinandergeraten, und hast du Jotunheimen mit den Alpen verwechselt?“ „Nein, paß mal auf: Gleich nachdem du meinen Anorak genäht hattest, fragte eine Filmgesellschaft aus Frankfurt bei mir an, ob ich nicht für sie arbeiten wollte. Die Gesellschaft hat gerade erst angefangen, ist also nichts Großes und Bekanntes; ihre Spezialität sind Reklamefilme und kurze Naturfilme fürs Fernsehen. Der Leiter dieser Gesellschaft hatte einige von meinen Naturfilmen gesehen, und die hatten sein Interesse geweckt. So bin ich also statt nach Norden nach Süden geflitzt, und mein erster Auftrag besteht darin, einen Film in den Alpen aufzunehmen. Naturbilder, Tiere, die Alpenflora, das Leben der Touristen und dergleichen. Villeverte kannte er, und er schlug es mir als Hauptquartier vor. So sind die Dinge gelaufen.“ „Nur eins begreife ich nicht“, antwortete ich. „Jetzt bin ich seit einer Woche hier und bin dir nicht ein einziges Mal begegnet!“ „Erstens liegt das Hotel Glacier auf der anderen Seite von Villeverte, und außerdem verläuft mein Tag nicht im normalen Rhythmus. Vor Sonnenaufgang stehe ich auf und treibe mich in den Bergen herum; denn wenn man Tiere filmen will, muß man mächtig früh draußen sein. Dann frühstücke ich irgendwo, gehe nach Hause und mache mir meine Notizen. Und mitten am Tag, wenn die Sonne am heißesten herabbrennt, schlafe ich.“ „Heute bist du also schon vor Sonnenaufgang unterwegs gewesen?“ „Ja – in meiner Naivität habe ich geglaubt, ich würde Steinböcke zu sehen bekommen, aber…“ „Ja, da warst du wirklich naiv. Da mußt du warten, bis es eines Tages ein Mordsunwetter mit Gewitter und Regen gibt. Dann ziehen sie tiefer. Wenn du dann am nächsten Morgen frühzeitig unterwegs bist, hast du die Möglichkeit, sie auf der Ostseite der Aiguille d’Or zu beobachten.“ „Du scheinst dich hier gut auszukennen! Wenigstens habe ich
heute einen prachtvollen Sonnenaufgang filmen können; danach habe ich mucksmäuschenstill zweieinhalb Stunden vor einem Steinhaufen gesessen und auf ein Wiesel gewartet – aber als das kleine Biest endlich erschien, bekam es Witterung von mir und verschwand wie der Blitz, bevor ich auch nur einen Zentimeter Film aufgenommen hatte.“ „Du mußt eine sagenhafte Geduld besitzen“, meinte ich und dachte wieder an seinen Kastanienbaum. Asbjörn lächelte. „Hat man keine Geduld, braucht man mit dem Filmen gar nicht erst anzufangen“, antwortete er. „Geduld und kräftige Muskeln, die braucht man – mindestens, wenn man in den Bergen filmt. – Und schwindelfrei muß man auch sein.“ „Bist du das?“ „Ja, Gott sei Dank.“ „Ich auch.“ „Das ist gut. Hast du auch Geduld?“ „Ja, wenn es darauf ankommt, kilometerlange Säume zu nähen und tausend kleine Falten an einer Bluse anzubringen.“ „Und sonst nicht?“ „Nein, absolut nicht! Bei mir geht immer alles schnell und wie der Teufel.“ „Schade“, meinte Asbjörn, „es wäre sonst so nett gewesen, wenn du mich einmal früh begleitet hättest, um auf das Wiesel zu warten.“ „Aber das kann ich doch trotzdem.“ „Ohne Geduld?“ „Tja“, sagte ich, „vielleicht könntest du es mir beibringen, geduldig zu sein?“ Seine Augen fanden die meinen, und er lächelte mich über den Tisch hinweg an. „Eigentlich ist es komisch, Bernadette“, meinte er. „Wir haben uns vorher nur ein einziges Mal getroffen, und nun sitze ich hier und habe das Gefühl, als wäre ich einer guten, alten Freundin begegnet!“ „Das Gefühl habe ich auch. Aber so ist es wohl immer, wenn man im Ausland Landsleuten begegnet.“ „Das möchte ich nun nicht unbedingt behaupten. Was haben wir das letzte Mal abgemacht? Daß du zum Herbst einen neuen Anorak für mich nähen solltest?“ „Ja, und daß ich Kleider für alle deine Kinder nähe, wenn du heiratest.“ „Wenn ich heirate? Das ist doch wohl ein närrischer Gedanke.
Wer sagt denn, daß ich heiraten werde?“ „Deine Tante hat damals davon geredet, ,wenn du heiratest’.“ „Ach, meine Tante! Das hat sie so dahergeredet! Nein, am ganzen Horizont ist keine Braut zu sehen. Du mußt noch eine gute Weile warten, bis du diese Kinderkleider nähen kannst.“ „Dann werde ich mich also auf einen Anorak im Jahr für dich beschränken müssen“, antwortete ich. Plötzlich war mir wunderbar leicht ums Herz. „Man stelle sich nur vor“, sagte Asbjörn, als er den Anorak anzog, „daß wir einander vielleicht niemals begegnet wären, hätte es nicht diesen Webfehler gegeben!“ „Bestimmt nicht“, erwiderte ich. „Denn da wäre ich in die Küche direkt zu Lisette gegangen, hätte die Apfelsinen gekauft und nicht geahnt, daß ein Landsmann von mir in der Gaststube saß!“ „Ich sage ja“, lächelte Asbjörn, „nichts geht über diese Stoffe mit Webfehlern!“ Er hängte sich die schwere Kamera über die Schulter, und ich holte mir meinen Eispickel aus der Ecke. Zusammen traten wir in den Sommertag hinaus, in die schimmernde weiße Welt der Alpen, die ich so sehr liebe. Die Sonne stand schon hoch am Himmel; ihre Strahlen fielen auf den Gipfel der Aiguille d’Or. Dieser goldene Schimmer, den er im Morgenlicht erhält, hat dem Berg seinen Namen gegeben. „Sollen wir die Bahn nehmen, oder magst du laufen?“ fragte Asbjörn. „Ich mag laufen. Und wenn wir sehr großes Glück haben, begegnen wir auf der Wegbiegung unterhalb des Wasserfalls zwei schwarzen Eichhörnchen. Ich habe sie schon oft dort gesehen. Wenn du also Lust hast, Eichhörnchen zu filmen…“ „Im Augenblick habe ich Lust auf alles“, sagte Asbjörn und nahm meine Hand. So gingen wir Hand in Hand den schmalen Pfad entlang hinunter. Tief unter uns lag Villeverte und leuchtete in der Junisonne.
Hermelin und Sonnenaufgang Das habe ich schon immer gesagt: Tante Cosima ist die beste Tante der Welt. Selbstverständlich, es ließe sich schon machen, daß in der Kammer auf dem Speicher eine Art Notlager aufgeschlagen wurde, hatte sie gemeint. Falls Herr Grather wirklich mit etwas so Primitivem zufrieden sei? Das war Herr Grather. „Ich muß nur einen Tag Zeit bekommen, um alles etwas umzuräumen“, meinte Tante Cosima. „Du wirst mir dabei helfen, Bernadette, denn mit Ferdinand kann ich doch im Augenblick nicht rechnen.“ „Aber mit mir, Madame“, warf Asbjörn ein. Er sprach mit Tante Cosima ein zwar etwas unbeholfenes, jedoch verständliches Französisch. Natürlich versteht sie auch Deutsch, aber aus Rücksicht auf Grand’mère, die dabeisaß und Asbjörn mit unverhohlener Begeisterung betrachtete, redeten sie französisch. Wie so viele Südländer hatte sie eine Schwäche für jeden, der groß, blond und nordisch war. „Wenn ich Sie so überrumpele, kann ich zumindest beim Tragen der schweren Sachen helfen“, fuhr Asbjörn fort. „O.K!“ antwortete ich. „Dann komm mit hinauf. Du brauchst dich nicht darum zu kümmern, Tante Cosima, das schaffen wir beide allein.“ So gingen wir die Treppe zum Speicher hinauf. Asbjörn räumte schwere Kisten, ein altes Bücherregal, einen zerbrochenen Schaukelstuhl und all das andere Zeug weg, das sich im Lauf der Zeit in einer Bodenkammer ansammelt. Dann holten wir das Feldbett und stellten es auf. „Alles übrige schaffe ich schon“, versicherte ich ihm. „Jetzt sind es nur noch die Kleinigkeiten, mit denen eine weibliche Hand am besten fertig wird.“ Als wir wieder herunterkamen, stand Grand’mère am Herd. Sie kocht leidenschaftlich gern, und niemals sieht sie so restlos glücklich aus, wie wenn sie sich in Kochbücher und Kochtöpfe versenkt. „Was machst du, Grand’mère?“ „Pizza.“ „Himmlisch! Deine Pizza ist die beste auf der ganzen Welt!“
„Ich habe gedacht, dein norwegischer Freund würde vielleicht bei uns zu Mittag essen“, meinte Grand’mère hoffnungsvoll. „Denn oben in der Bodenkammer kann er wahrhaftig nicht kochen!“ „Grand’mère, du bist eine Heuchlerin!“ rief ich lachend. „Das sagst du nur, weil du einen neuen Bewunderer deiner Pizza suchst!“ „Das auch“, gab Grand’mère zu. Sie lächelte Asbjörn an. „Nicht wahr, Sie bleiben doch zum Essen?“ „Es ist zu liebenswürdig, Madame. Nur zu gern.“ „Weißt du was, Asbjörn?“ sagte ich. „Jetzt leihst du dir unseren Handwagen aus und holst gleich deine Siebensachen aus dem teuren Hotel. Inzwischen lege ich eine letzte Hand an deine Fürstensuite dort oben.“ „Geht bei dir alles immer so schnell?“ fragte Asbjörn und lächelte. „Immer! Soll etwas geschehen, so muß es sofort sein.“ „Ja, so ist Bernadette“, sagte Grand’mère. „Ich sage immer…“ Sie unterbrach sich, und ich mußte lächeln. Ich wußte nämlich, womit sie beinah herausgeplatzt wäre. „Wenn du eines Tages Kinder bekommst, Bernadette, schaffst du es in zwei Monaten! Niemals bringst du die Geduld auf, neun Monate zu warten.“ Aber das hatte sie also nicht gesagt, denn Grand’mère hat ab und zu ein sehr starkes Empfinden für das, was sich schickt. Als Asbjörn mit dem Koffer, dem Rucksack, einem kleinen zusammengerollten Zelt und einem Schlafsack zurückkam, hatte ich sein Bett bereits bezogen, eine Decke auf den provisorischen Nachttisch gelegt, eine Lampe aus meinem eigenen Zimmer geholt und ein paar Nägel in die Wand geschlagen. „Deine Sachen mußt du dort draußen in die Kommode auf dem Speicher legen“, erklärte ich ihm. Asbjörn versicherte mir, er sei von seiner Fürstensuite begeistert. Strahlende, glückliche Tage, eine frohe Stimmung im Haus, Scherze und muntere Worte. Niemals hatte ich einen so schönen Sommer verbracht. Mit größter Selbstverständlichkeit wurde Asbjörn wie ein Familienmitglied aufgenommen. „Wir können doch gut für noch eine Person kochen und decken“, meinte Tante Cosima. Grand’mère nickte überglücklich und nahm ihr großes französisches Kochbuch mit sich auf ihr Zimmer, als sie sich nach dem Mittagessen zurückzog. „Eine solche Familie habe ich noch nicht erlebt!“ sagte Asbjörn
zu mir. „Ich auch nicht“, erwiderte ich lachend. Onkel Ferdinand fand es herrlich, daß noch ein Mann im Hause war. Wenn er abends heimkam und wir alle in der Küche bei Tisch saßen, war es unbeschreiblich gemütlich und lustig. Es kam vor, daß wir in vier Sprachen gleichzeitig redeten, und bevor zwei Tage verstrichen waren, hatten es alle gelernt, sich auf norwegisch für das Essen zu bedanken. „Für ein solches Essen muß man sich doch bedanken!“ sagte Asbjörn, und Grand’mère strahlte wie eine Sonne. Ganz selbstverständlich übernahm Asbjörn alle schweren Männerarbeiten im Hause. Er trug den Abfalleimer weg, holte die Pakete vom Bus und trug den schweren Korb mit der Plättwäsche. Ja, schleppen konnte er! Er hatte Muskeln wie ein Bär, und das sei sein Glück, meinte er, denn seine Filmsachen hatten wirklich ein Mordsgewicht. „Heute hätten Sie dabeisein sollen, Grather“, sagte Onkel Ferdinand eines Tages. „Stellen Sie sich vor, wir haben auf eine Entfernung von hundert Metern ein Gamsrudel gesehen! Hätten meine verflixten Touristen nur den Mund gehalten und wären stehengeblieben, wären wir vielleicht näher an das Rudel herangekommen. Der Wind stand nämlich uns entgegen – aber natürlich mußten diese Leute rufen und einander Zeichen machen, und da war es aus!“ „Ich glaube, ich muß Sie bitten, mich eines Tages zu führen“, bat Asbjörn. „Ja!“ rief ich. „Da komme ich mit. Sag mal, Onkel, glaubst du, es wäre möglich, dem Adlerhorst so nah zu kommen, daß man ihn filmen könnte?“ „Möglich ist es“, meinte Onkel Ferdinand. „Aber nur falls Herr Grather ein wenig klettern kann und schwindelfrei ist.“ So planten die Männer eine Tour zu einem Absatz auf der Nordseite der Aiguille d’Argent. Tante Cosima plante die Einkäufe des nächsten Tages. Grand’mère plante ganz bestimmt das Sonntagsessen, und ich plante überhaupt nichts. Ich saß nur da und war glücklich! Niemals werde ich die erste Tour zu einem Sonnenaufgang zusammen mit Asbjörn vergessen. Villeverte lag noch in nächtlicher Stille und wie ausgestorben da, als wir loswanderten, er mit Kamera und Stativ und ich mit belegten Broten und Thermos-Kaffee im Rucksack. Es war kalt wie stets vor
Sonnenaufgang, aber die Luft war wunderbar frisch, rein und klar! Noch war es Nacht. Wir waren gräßlich früh aufgebrochen, denn wir mußten den Anstieg zu Fuß machen. Maro und Carlo lagen noch in süßem Schlaf, und die Kabinen der Seilbahn hingen verlassen an ihren Stahltrossen. „Du bist gut zu Fuß, Bernadette“, meinte Asbjörn. „Vielen Dank für das Kompliment“, antwortete ich lachend. „Onkel Ferdinand hat mich seit meinem zwölften Lebensjahr trainiert!“ „Aber daheim in Norwegen kommst du wohl nicht viel zum Wandern.“ „Doch, am Sonntag. Außerdem mache ich morgens immer Freiübungen, um nicht einzurosten.“ Er sah mich lächelnd an. „Ich könnte mir denken, daß du auch bei den Freiübungen was taugst.“ „Das wohl, aber meine Mutter ist noch besser.“ „Deine Mutter?“ „Ja. Bis sie wieder heiratete, war sie Turnlehrerin.“ „Tatsächlich? Und was war eigentlich dein Vater? Er ist doch sehr früh gestorben, nicht wahr?“ „Ja. Vierzehn Tage nach meiner Geburt. Er war Zirkusartist.“ Asbjörn blieb jäh stehen. „Bitte?“ „Zirkusartist, sagte ich. Trapezkünstler. Er ist bei einer Vorstellung in Paris abgestürzt.“ „Da soll doch… du hast doch immer neue Überraschungen, Bernadette!“ „Findest du das denn so seltsam? Daß mein Vater Artist war, meine ich? Die muß es ja auch geben!“ „Gewiß, natürlich… aber weißt du, wenn man selber in einer so unbeschreiblich bürgerlichen Familie aufgewachsen ist…“ „Bist du das? Vielleicht ein wenig zu bürgerlich?“ „O ja, so kann man wohl sagen.“ „Aber die Familie meines Vaters ist bestimmt sehr ordentlich und bürgerlich. Mein Großvater hatte einen Hof in Norditalien, wo er Obst anbaute, Kühe und Pferde hielt und jeden Sonntag in die Kirche ging.“ „Und was haben dein Großvater und deine entzückende Großmutter dazu gesagt, daß dein Vater Zirkusartist wurde?“ „Sie haben es sehr ruhig aufgenommen. Sie nehmen ja alles mit der Ruhe und so, wie es gerade kommt.“
„Ja, das stimmt“, meinte Asbjörn. Er schwieg eine Weile, und wir trotteten in stetigem Schritt bergauf. Dann wandte er den Kopf und lächelte mich an. „Weißt du, ich glaube, das ist der Charme deiner Familie: diese unbeschwerte Selbstverständlichkeit in allem. Diese Menschen haben etwas an sich, das mich sofort für sie einnimmt.“ „Sind wir dir also nicht allzu impulsiv?“ „Impulsiv seid ihr, das stimmt. Sogar bezaubernd impulsiv. Ich weiß nur nicht, ob das am Menschenschlag oder an deiner Familie liegt.“ „An beidem“, sagte ich lachend. – Wir hatten die Absicht, wieder zu dem Bau des Wiesels zu gehen, wo Asbjörn zuvor vergeblich gewartet hatte. Wir hatten schon fast die Silberhütte erreicht. Von dort aus mußten wir an einem steilen Hang entlang nach Osten weiter. Dort besitzt die Sonne eine solche Kraft, daß der Schnee niemals lange liegen bleibt. „Sonderbar, daß diese Tiere in solcher Höhe leben“, sagte ich. „Sie gehen bis zur Schneegrenze“, erklärte Asbjörn. „Wenn ich mich nicht sehr irre, ist mein verflixtes Wiesel von neulich sogar ein echtes Hermelin. Im übrigen ein übler Räuber, aber ein schönes Tier. Und entsetzlich scheu. Immerhin ist es seltsam, daß man die Wiesel sowohl im Hochgebirge als auch in der Tiefebene findet. Sie müssen ein großes Anpassungsvermögen besitzen.“ „Was du alles weißt!“ sagte ich. „Ist es nun der Tierfreund oder der Kameramann, der das Leben der Tiere so studiert?“ „Ich glaube, der Tierfreund“, antwortete Asbjörn lächelnd. „Aber die Kenntnisse des Tierfreundes kann der Kameramann ausnutzen.“ Daß Asbjörn ein echter Tierfreund war, hatte ich in Villeverte sofort festgestellt. Niemals zuvor hatte ich es erlebt, daß meine alte, vernünftige Mouche bei einer neuen Bekanntschaft eine solche Begeisterung an den Tag legte. Augenblicklich und ohne den geringsten Vorbehalt hatte sie Asbjörn anerkannt; sie hatte ihren Kopf auf sein Knie gelegt, sich streicheln lassen und ihre Augen in seliger Dankbarkeit zu ihm erhoben, wenn er mit ihr sprach. Für Asbjörn schien das etwas Alltägliches zu sein. „So ist das nun einmal“, hatte er lächelnd zu mir gesagt, als ich mich darüber wunderte. „Die Tiere haben Instinkt. Sie wissen ganz genau, wer sie mag. Ich bin es gewohnt, daß Hunde zu mir kommen, um sich von mir streicheln zu lassen; Katzen springen mir auf den Schoß, und Pferde strecken mir den Kopf entgegen.“
Während ich darüber nachdachte, gingen wir weiter. Der Aufstieg lag hinter uns, wir mußten den sehr steilen, unwegsamen Hang überqueren. Asbjörn blieb stehen und deutete mit der Hand. „Siehst du den Steinhaufen rechts? Dort ist es. Und nun müssen wir den Mund halten, Bernadette, und ganz leise gehen!“ Ich nickte und sagte kein Wort mehr. Wir waren angelangt, wo Asbjörn bereits vor einigen Tagen einen Platz für die Kamera hergerichtet hatte. Er stellte das schwere Stativ auf, und wir setzten uns hinter einem Stein in einem wirren Alpenrosengestrüpp nieder. Über den Felsblock hinweg konnten wir den Steinhaufen genau im Auge behalten. Er lag ein gutes Stück entfernt, aber Asbjörn filmte mit einem Teleobjektiv. Asbjörn bewegte sich völlig lautlos. Nun holte er eine Tafel und einen Griffel aus der Kameratasche, schrieb groß und deutlich „147“ darauf, hielt sie mit der einen Hand einen halben Meter vor die Kamera und drückte mit der anderen auf den Auslöser. Jetzt hatte ich begriffen! Szene Nr. hundertsiebenundvierzig, selbstverständlich! Und dann mußte er sich Notizen machen und aufschreiben, wo und wann die Szene hundertsiebenundvierzig aufgenommen wurde, vielleicht auch die Einstellung der Blende und die genaue Uhrzeit. Das paßte genau zu ihm, zu seiner Gründlichkeit. Zielbewußt und gründlich. Wieder wanderten meine Gedanken zum Kastanienbaum und zu dem Jungen, der seine Ferienreisen und tausend andere Dinge ein ganzes Jahr lang geopfert hatte, um diese Idee durchzuführen. Er liebte Tiere. Natürlich taten das andere Menschen auch. Aber wenn Asbjörn Tiere liebte, so begnügte er sich nicht damit, ein Pferd zu streicheln oder einen Hund zu kraulen. Nein, er setzte sich hin und las alles, was es darüber zu lesen gab. Ich war fest davon überzeugt, daß er über alle anderen Tiere der Alpen ebenso gut Bescheid wußte wie über das Hermelin. Ich sollte recht behalten. Asbjörn ergriff meinen Arm, nickte und deutete nach Osten. Dort verwandelte sich das rote Licht in einen goldenen Schimmer – eine schmale, goldene Sichel erschien, eine blendende Sichel, so blendend, daß ich sogleich meine Sonnenbrille aufsetzen mußte. Nun hatte ich acht Sommer in Villeverte verbracht. Acht Sommer mit Bergwanderungen und kleinen Ausflügen, acht Sommer in den
Alpen. Aber es war das erste Mal, daß ich einen Sonnenaufgang erlebte, das erste Mal, daß ich mit eigenen Augen sah, wie die Natur nach einer Sommernacht erwachte. Rings um uns her erwachte sie. Ein Schneefink begann weiter oben am Hang zu zwitschern, irgendwo zwischen Steinen und Gestrüpp raschelte es – vielleicht war es eine Maus, vielleicht eine Schlange? Dann war von unten herauf ein schrilles Pfeifen zu hören. Diesen Laut kannte ich: der Warnruf der Murmeltiere. Asbjörn sagte nichts, sondern reichte mir den Feldstecher und deutete nach oben. Aha, daher der Warnschrei! Ein Steinadler segelte in großen, gemächlichen Kreisen durch die Luft. Nun tat er einen Flügelschlag – schoß senkrecht hinab, immer tiefer… und verschwand aus unserem Blickfeld. Wenn er nur nicht ein kleines Murmelchen geschlagen hatte – oder eins der süßen, schwarzen Eichhörnchen! Aber hatte ich ein Recht, mir das zu wünschen? Mußte nicht die Natur ihren Gang nehmen? Mir erschien es grausam, wenn sich der Adler einen Junghasen holte. Doch aß ich nicht selber mit größtem Vergnügen Hasenbraten? Und waren wir nicht vielleicht stolz auf unseren Adlerhorst, wir in Villeverte? Sahen wir es nicht gern, daß sich die Adler vermehrten und am Leben blieben? Asbjörn saß regungslos und starrte eine Öffnung im Steinhaufen an. Die Minuten verstrichen. Nichtsahnend kam ein Murmeltier aus seinem Loch heraus und begann sich zu putzen. Es war nicht so sehr weit entfernt, man konnte es bestimmt filmen. Ich zupfte Asbjörn am Ärmel und zeigte auf das Tier. Er nickte und lächelte, rührte aber die Kamera nicht an. Seltsam, daß er eine solche Gelegenheit vorbeigehen ließ; was für eine reizende Szene wäre das geworden! Seine Augen kehrten jedoch zum Steinhaufen zurück. Die Minuten wurden zu einer Viertelstunde, zu einer halben Stunde. Einmal wandte er kurz den Kopf und lächelte mich an. Ich erwiderte sein Lächeln, und dann näherte sich seine Hand und strich mir über die Wange. Ein kleines, leichtes Streicheln mit dem Handrücken. Da mußte ich nochmals lächeln. Nun legte er seinen Arm um meinen Nacken und ließ die Hand auf meiner Schulter ruhen. So blieben wir sitzen. Plötzlich fiel mir die Wartezeit gar nicht mehr schwer. Stundenlang hätte ich so sitzen können, mit der großen, beruhigenden Hand auf meiner Schulter.
Auf einmal zog er die Hand zurück, machte mir ein warnendes Zeichen und griff nach dem Auslöser. Sein Auge wich nicht mehr vom Sucher. Da! Ein schlanker, langgestreckter, geschmeidiger Tierkörper. Ein spitzes, kleines Gesicht mit aufgeweckten, wachsamen Augen. Leise schnurrte die Kamera. Glücklicherweise stand der Wind gegen uns, und das Tier merkte nichts. Inzwischen war es ganz aus seinem Bau hervorgekrochen, spähte nach rechts und links, lief, den langen Körper an den Boden gedrückt, einige Schritte und sprang dann in zwei, drei riesigen Sätzen vorwärts. Nun befand es sich außerhalb unseres Blickfeldes, und die Kamera hörte auf zu surren. Ich wollte etwas sagen, aber Asbjörn legte einen Finger auf den Mund. Die Tafel war in seiner Nähe liegengeblieben. Er schrieb etwas darauf und reichte sie mir: „Still! Das Tier kommt sicher zurück!“ So mußten wir also wieder warten. Asbjörn schraubte etwas an seiner Kamera, blickte wieder durch den Sucher – und wartete. Das Warten schien ewig zu währen. Aber dann war etwas zu vernehmen! Ein schwacher, kleiner Laut, ein leises Rascheln – wieder tauchte der schlanke Körper auf. Das Tier hielt den Kopf hoch. Ich konnte es ganz deutlich sehen: in seinem Maul trug es eine tote Maus. Die Kamera surrte, und dieses Mal war das Geräusch etwas deutlicher zu hören. Das Wiesel lauschte und war unruhig. Ohne seine Beute fallen zu lassen, war es wie der Blitz am Eingang seines Baues angelangt, warf noch einen Blick um sich her und verschwand zwischen den Steinen. Fragend sah ich Asbjörn an. Durfte ich jetzt etwas sagen? Bei weitem nicht. Wieder bekam ich die Tafel in die Hand. „Es hat uns entdeckt, weil ich mit Zeitlupe gefilmt habe, da surrt die Kamera lauter. Kannst du noch etwas warten?“ „So lange du willst“, schrieb ich und fügte zur Sicherheit drei Ausrufezeichen hinzu. Wir warteten eine halbe Stunde. Aber es hätte sich gelohnt, selbst wenn es zehn Stunden gedauert hätte. Ich traute meinen eigenen Augen nicht. Aus dem Steinhaufen trippelte eine Reihe kleiner Hermelinjungen heraus, mit weichem, schimmerndem Fell, schwarzen, blanken Augen und kleinen Schwänzen mit schwarzen Spitzen. Ich begann zu zählen. Sechs Stück waren es. Asbjörn hatte wieder die normale Geschwindigkeit eingestellt,
die Tiere hörten das schwache Surren anscheinend nicht. Sie spielten, rollten umher, bissen einander in Ohren und Schwänze und sprangen auf einen größeren Stein hinauf, wo sie für uns eine Vorstellung gaben. Ein Schwarm kleiner Tierkinder, ein weiches, warmes, goldbraunes Bündel Leben. Und dann… Jäh war ich aufgesprungen und schrie. Ich schrie, daß es von den Bergen widerhallte. Ein mächtiger Schatten stieg empor, von meinem Schrei erschreckt. Die Hermelinfamilie war im Bruchteil einer Sekunde verschwunden, und der Adler entfernte sich unverrichteter Sache. Eins war sicher: die Hermelinmutter hätte jetzt zu mir kommen sollen, Männchen machen und Pfötchen geben müssen zum Dank dafür, daß ich mindestens eins ihrer Jungen gerettet hatte. „Du Dummkopf!“ sagte Asbjörn. „Ich weiß es“, antwortete ich, „aber ich hätte es nicht ertragen können, Asbjörn! Ich weiß, es hätte eine einzigartige Szene ergeben, stell dir nur vor, ein Steinadler, der ein junges Hermelin schlägt. Wer hat schon mal so etwas gefilmt! Aber das konnte ich nicht, nachdem wir hier gesessen und diese bezaubernden Tiere betrachtet hatten.“ „In einem Jahr sind die Jungen so bezaubernd, daß sie den Hühnern in Villeverte die Gurgel durchbeißen – wirst du dann auch schreien?“ „Höchstwahrscheinlich! Ganz bestimmt würde ich Partei für das Huhn ergreifen und mich gegen das Hermelin wenden!“ „Da siehst du, wie unlogisch du bist.“ Ich sah Asbjörn verstohlen an und fühlte mich etwas unsicher. „Bist… bist du mir böse?“ Er lächelte. Es war ein kleines Lächeln, das ebenso das eine wie das andere bedeuten konnte. „Ja und nein. Der Kameramann in mir ist natürlich wütend, weil du mir eine Szene verdorben hast, die ich nie mehr werde aufnehmen können. Eine solche Gelegenheit bietet sich nur einmal im Leben. Aber der Tierfreund in mir ist dankbar im Namen der Hermeline und wiederum zornig im Namen des Adlers, der um sein Frühstück geprellt wurde.“ „Und der Mensch in dir, Asbjörn?“ Nun war sein Lächeln voll Sicherheit, strahlend und warm. „Der Mensch in mir ist nicht im geringsten böse. Der Mensch freut sich, weil du unlogisch und warmherzig bist und keine Grausamkeit mit ansehen kannst – selbst wenn es sich um eine
Grausamkeit innerhalb der Naturgesetze handelt.“ „Gott sei Dank!“ Ich seufzte erleichtert auf. „Aber merk dir eins, Bernadette, bei diesen morgendlichen Expeditionen ist es der Kameramann in mir, der den Ton angibt.“ „Also bist du doch böse?“ „Der Kameramann packt jetzt zusammen“, antwortete Asbjörn ruhig und begann, seine Kamera vom Stativ abzuschrauben. „Jetzt bin ich nur noch ein Mensch. Nebenbei bemerkt, ein hungriger Mensch.“ Ich nahm unseren Proviant aus dem Rucksack, und dann frühstückten wir, ganz allein dort oben in den Bergen, während die Sonne immer höher stieg. Durch den Feldstecher konnten wir sehen, wie Villeverte nach und nach erwachte. Fenster wurden geöffnet, die Kühe auf die Weide getrieben, die Ladentüren aufgestoßen, der erste Morgenbus setzte sich in Fahrt. „Du hast dich wunderbar still verhalten“, sagte Asbjörn anerkennend. „Behaupte nur nicht mehr, du hättest keine Geduld! Die hast du und hast es wahrhaftig bewiesen!“ Ich errötete vor Freude über dieses Lob. „Aber Asbjörn! Warum hast du eigentlich nicht das Murmeltier gefilmt, das da saß und sich in der Morgensonne putzte? Das hätte doch ein paar ausgezeichnete Bilder ergeben.“ „Bestimmt. Und dann wäre das Hermelin genau in dem Augenblick aus seinem Bau herausgekommen, in dem ich die Kamera auf das Murmeltier eingestellt hatte. Und damit hätte ich diesen Film nicht drehen können. Ach nein, man muß schon sehr viel opfern und vielen Versuchungen widerstehen, wenn man filmt. Heute stand das Hermelin auf dem Programm, der Wind war günstig und das Licht gut…“ „Und wenn du also Hermeline filmen willst, filmst du Hermeline; und willst du Kastanienbäume filmen, so sind eben die Kastanienbäume dran! Bist du in allem, was du dir vornimmst, so zielbewußt?“ „Ja“, antwortete Asbjörn. Es klang sicher und entschieden. Ich weiß nicht, wieso es kam, aber dieses sichere „Ja“ ließ eine heiße Welle in mein Gesicht steigen. Ich begann, die Thermosflasche und die leeren Bakelittassen wieder in den Rucksack zu packen. Plötzlich wagte ich es nicht mehr, Asbjörn in die Augen zu blicken. Dann fühlte ich seine Hand, die mir sanft den Rucksack
wegnahm. „Bernadette“, sagte er leise. Sein Arm lag um meine Schulter. Er zog mich näher an sich heran – sacht, behutsam – , aber absolut zielbewußt. „Bernadette“, wiederholte er, aber dieses Mal war es nur noch ein Flüstern. Als er sich über mich beugte und mich küßte, schloß ich die Augen und wußte, ohne zu denken, ohne zu überlegen und ohne mich auch nur über mich zu wundern, daß es dies war, wonach ich mich im Grunde meines Herzens gesehnt hatte… seit jenem Tag, an dem ich in Frau Grathers Wohnung in Heirevik saß, einen blauen Anorak nähte und den Film von einem Kastanienbaum sah.
Das Moosbüschel Mouche und ich machten Besorgungen. Mit einem vollen Netz trat ich aus einem Laden, und Mouche trug ein Päckchen im Maul. Immer will sie etwas tragen. „Hallo, Bernadette, lebst du wirklich noch?“ „Hallo, Corinne! Und ob ich lebe! Niemals zuvor habe ich das Leben so genossen wie jetzt!“ Corinne lachte auf. „So etwas habe ich schon geahnt. Aber wo hast du den Grund deiner Lebensfreude gelassen?“ „Er schläft. Er war seit heute morgen um halb vier unterwegs. Jetzt ist er vor lauter Müdigkeit wie ein nasser Lappen in sich zusammengesunken. Und du? Wie geht es dir?“ „Phantastisch. Weißt du, Bernadette, dein Rat war ganz einfach der Schlüssel zum Herzen meiner Schwiegermutter. Sie ist geradezu bezaubernd und erzählt mir zehnmal am Tag, daß ich für Tony genau die Richtige bin!“ „Und Tony?“ „Tony befehligt das Personal und verdreht den weiblichen Gästen den Kopf“, lächelte Corinne. „Aber übermorgen kommt mein Schwiegervater wieder nach Hause. Dann werden wir richtig Ferien machen.“ „Hast du dich also mit Villeverte ausgesöhnt?“ „Absolut! Aber ich muß weiter, Bernadette, habe noch viel zu tun. Ich helfe Tony bei der Buchführung, und heute erwarten wir neue Gäste. Laß es dir gut gehen, grüß deinen Fotografen. Er sieht gut aus… sicher und zuverlässig. Aber jetzt muß ich laufen!“ Sicher und zuverlässig, hatte Corinne gesagt. In tiefe Gedanken verloren wanderte ich nach Hause. Ja, Asbjörn war sicher und zuverlässig. Ruhig und gründlich – wahrhaftig, so gründlich. Und so auf seine Arbeit konzentriert. Wie lieb ich ihn hatte! Diese Wanderungen in aller Frühe, bei denen wir ganz still nebeneinander saßen, ohne ein Wort zu sagen – wie liebte ich sie! Und wie gut man einen Menschen kennenlernen kann, wenn man nur miteinander schweigt. Asbjörn mochte mich gern – er war in mich verliebt – , aber war es bei ihm auch mehr? Dieser liebe, gründliche, langsame und vorsichtige Asbjörn – wenn es um die Liebe ging, war er wohl ebenso gründlich wie in allem anderen. Ich mußte mich also mit
Geduld wappnen. Vielleicht würde Asbjörn mich fragen, ob wir heiraten wollten. Aber bestimmt jetzt noch nicht. Ganz gewiß jetzt nicht. Ich mochte ihn schrecklich gern. Die Antwort hielt ich schon bereit, die Antwort auf die Frage, die er mir nicht gestellt hatte. Aber da war etwas – eine kleine Unruhe in mir, eine kleine Enttäuschung – , eine winzige Enttäuschung, das Ganze war so lächerlich, aber da war eine Kleinigkeit, die mir weh tat. Was hatte Corinne gesagt? „Ich helfe Tony bei der Buchführung“ – das klang so selbstverständlich; natürlich half sie dem Mann, den sie liebte. Gestern hatte Asbjörn lange gesessen und vor lauter Müdigkeit bei der Reinschrift seiner Notizen immer wieder gegähnt. Er hatte mir gesagt, daß jede einzelne Szene, die er gefilmt hatte, einen erklärenden Text erhalten sollte. Der Film sollte synchronisiert werden, und da brauchte der Sprecher Stoff, er mußte für jede Szene genaue Angaben machen können. Jedesmal wenn ein Film fertig war, wurde er zusammen mit einigen sauber maschinegeschriebenen Seiten nach Frankfurt geschickt. Asbjörn widerte die Schreibarbeit an. Er benützte zum Schreiben mein Zimmer. Dort stand seine kleine Reiseschreibmaschine, dort lagen auch seine Notizbücher und Papiere. Denn oben in der kleinen Kammer auf dem Speicher war kein Platz für Schreibarbeiten. „Kann ich dir nicht dabei helfen?“ hatte ich gestern vertrauensvoll und gutgelaunt gefragt. „Vielen Dank, Bernadettchen, das muß ich selber tun.“ „Aber Asbjörn, andere Filmleute haben doch auch ein Skriptgirl, und ich melde mich zum Dienst bei dir! Du brauchst es mir nur zu zeigen, ich werde es schon richtig machen.“ „Das ist sehr nett von dir, Bernadette, aber ich habe mein eigenes System; kein Mensch kann aus meinem Durcheinander schlau werden; außerdem muß alles auf deutsch geschrieben sein.“ „Ich kann doch Deutsch“, wandte ich ein. Asbjörn antwortete gar nicht darauf, und so ging ich aus dem Zimmer. Natürlich war es lächerlich, aber ich war schwer enttäuscht. Warum sagte er nein, ohne auch nur darüber nachzudenken? Das verstand ich nicht. Andere Menschen hatten Sekretärinnen und Skriptgirls; war ich denn dümmer als andere Mädchen? Als ich nach Hause kam, schlief Asbjörn noch immer. In meinem Zimmer stand die Schreibmaschine, da lagen auch sein Notizbuch und ein paar fertig geschriebene Bogen.
Ich setzte mich hin, studierte sie und verglich die fertig geschriebenen mit den hastig hingekritzelten Notizen. Du liebe Zeit, das war doch wirklich nicht so schwierig! Erst das Datum und dann die Uhrzeit. Bl. elf – was sollte das nun heißen? Ach ja, natürlich: Blende elf. Ortsangabe, Höhe über dem Meer. Und das Motiv. Ich legte einen Bogen in die Maschine. Eine besonders schnelle Maschinenschreiberin bin ich bestimmt nicht, aber im Lauf der Zeit hatte ich doch ziemlich viele Briefe für Onkel Ferdinand heruntergehämmert, so daß ich nicht völlig hilflos war. So schrieb ich nun sauber und ordentlich: 30. Juni, 6.15 Uhr, Szene 171. Neben dem Wasserfall oberhalb des Dorfes Villeverte. Höhe über dem Meer: 1900 Meter, gleich unterhalb der Baumgrenze. Der Wasserfall entsteht aus dem „Silberbach“ und zeigt sich gerade in dieser Jahreszeit in all seiner Pracht. Szene 172. Ort, Zeit und Blende wie oben. Eichhörnchen im Wipfel einer Arve, einer Kiefernart, von der es in dieser Gegend noch viele Exemplare gibt. Die Eichhörnchen von der selteneren schwarzen Art. Ich schrieb und schrieb; seine Notizen waren recht genau, und außerdem konnte ich sie noch etwas ergänzen, da ich die Umgebung hier so gut kannte. Ich sagte nichts, legte nur die Bogen neben die Schreibmaschine und ging meines Weges. Ich hatte Grand’mère versprochen, ihre Schuhe beim Schuster abzuholen. Das bedeutete einen Gang quer durch ganz Villeverte, denn der Schuster wohnte gleich hinter dem Hotel Glacier. Als ich um das Hotel herumkam, lag ein kleiner Parkplatz vor mir. Jetzt, während der Hauptsaison, war Villeverte förmlich von einem Kranz Autos umgeben, die nicht in den Ort hineinfahren durften. Dort hinter dem Hotel Glacier standen sie zwischen Bäumen und Felsblöcken. Hier stand auch Asbjörns seltsame kleine Seifenblase. „Dort steht der Wagen gut, ich bin nur froh, daß ich einen Platz für ihn gefunden habe“, hatte Asbjörn gesagt, als ich ihn gefragt hatte, ob er ihn nicht auf den anderen Parkplatz fahren wollte, näher ans Chalet Cosima. Es stieg gerade eine Dame aus einem Auto aus und schloß es hinter sich ab. Sie nickte mir zu. Ach ja, das war ja die Dame aus der Wohnung Nummer fünf, dieselbe, die jeden Tag mit entsetzlich großem Rucksack zusammen mit ihrem Mann auf Wanderung ging.
Ich grüßte ebenfalls. Sie sagte ein paar Worte über das schöne Wetter und: „Uff, es ist doch schrecklich, mit wieviel überflüssigem Zeug man sich im Grunde abschleppt.“ Ich nickte, und damit war das zu Ende. Als ich vom Schuster zurückkam, waren keine Menschen mehr auf dem Parkplatz. Ich muß zugeben, daß ich neugierig war, nicht etwa „interessiert“, sondern schlecht und recht neugierig, und so ging ich zum Auto hin. Warum in aller Welt hatten sie ihren Wagen hier stehen, wo sie doch auf der entgegengesetzten Seite wohnten? Ich warf einen Blick auf die Nummer. An dem B erkannte ich, daß der Wagen aus Belgien war. Dann mußte ich lächeln. Die Nummer ergab nämlich das Datum meines eigenen Geburtstages. Im übrigen hatte die Dame recht. Es war entsetzlich, womit sie sich alles abschleppten. Das Auto war mit Beuteln und Päckchen, mit Säcken und Kartons vollgeladen. Seltsame Menschen. Aber man kommt ja mit den wunderlichsten Typen zusammen, wenn man Ferienwohnungen vermietet. Dann dachte ich nicht mehr weiter darüber nach. Ich rief Mouche, und wir trabten wieder nach Hause. Am Kaffeetisch saß Asbjörn und plauderte mit Grand’mère. Sie strahlte über den „netten, höflichen jungen Mann“. Es tat mir richtig wohl, zu sehen, wie freundlich er mit ihr sprach. Er war alten Menschen gegenüber höflich und zuvorkommend, liebte Tiere, mochte Kinder gern, war in seiner Arbeit gewissenhaft und so lieb zu mir – verdiente ich da nicht Schläge, wenn ich mich wegen einer so lächerlichen Kleinigkeit wie des „Nein“ auf mein Hilfsangebot enttäuscht fühlte? Er erhob sich und lächelte mich an. „Du bist wirklich phantastisch, Bernadette! Ich hätte es mir nicht träumen lassen, daß du diese Arbeit so gut schaffen könntest. Ich danke dir vielmals, es war herrlich, daß ich es nicht selber tun mußte!“ Ich schluckte, bevor ich antworten konnte: „Es freut mich, daß du das sagst! Ich mag solche Arbeit gern. Darf ich denn weitermachen – als Skriptgirl für dich?“ „Ja, wenn du das wirklich willst.“ „Natürlich will ich. Aber warum hast du nicht gleich ja gesagt?“ „Ich habe doch nicht geahnt, daß du dich so gut zurechtfindest.“ „Nein, ahnen kann man nie, man muß schon versuchen“, sagte ich. Diese Worte von mir sollten in der folgenden Zeit oft in meinen Gedanken auftauchen.
Am nächsten Morgen waren wir wieder früh auf. Wir gingen den steilen Pfad zur Ziegenhütte hinauf. Heute sollte Asbjörn Walliser Ziegen filmen, diese putzigen Tiere, die vorn schwarz und hinten weiß sind und in ihrem Spiel oder bei ihren übermütigen Kämpfen drollig anzusehen sind. An diesem Tag durfte ich das Notizbuch führen. Es machte mir Spaß, aktiv an der Arbeit teilzunehmen, und ich paßte auf wie ein Luchs, daß mir nichts entging. Als der Film fast gefüllt war mit Ziegen, die sich gegenseitig stießen, und mit spielenden Zicklein, und wir auch die alte Theodoline beim Melken aufgenommen hatten, dazu noch eine unvorhergesehene Einlage: Murmeltiere, die sich balgten, stiegen wir ein Stück höher. Es war noch früh am Tag. „Nun mußt du mir einige besonders schöne Alpenrosen verschaffen, Bernadette“, bat Asbjörn mit einem Lächeln. „Du glaubst wohl, du hast einen Scherz gemacht, aber das kann ich wirklich“, sagte ich. „Das heißt, ich weiß nicht, ob sie bereits aufgeblüht sind. Aber ich kenne einen Felsvorsprung, wo sie in einem dichten Teppich wachsen. Es ist ein wenig schwierig hinzukommen, aber…“ Schwierig war es. Meine privaten Alpenrosen wachsen nämlich auf einem kleinen Vorsprung in der Felswand. Ist man gewandt und versteht zu klettern, kommt man schon hin, aber die Touristen haben diesen Vorsprung immer in Frieden gelassen; deshalb gedeihen die Alpenrosen dort besonders gut. Die Sonne brennt auf die Felswand gleich hinter dem Vorsprung; ein Bach in der Nähe gibt ihnen die nötige Feuchtigkeit – ist es ein Wunder, wenn sie so üppig wachsen? Die Frage war nur, wie wir die Kamera hinaufschaffen konnten. Asbjörn hatte kein Traggestell mit, wie er es sonst beim Klettern benutzt. Dann nimmt er Kamera und Stativ auf den Rücken. „Nicht weiter schwierig!“ erklärte ich. „Der Vorsprung liegt ja nicht besonders hoch, es geht nur steil hinauf. Du gibst mir jetzt einfach alles, was du an Riemen und dergleichen hast – dein Gürtel geht zum Beispiel gut, und ich habe auch einen – und damit klettere ich hinauf und lasse das Ganze zu dir hinunter. Daran befestigst du dein Zeug, und wir ziehen es hinauf.“ „Das geht nie!“ meinte Asbjörn. „Denk doch an die teure Kamera.“ „O. K. – Wir machen eine Generalprobe mit dem Rucksack. Die Thermosflasche und die Brote können wir ja aufs Spiel setzen!“
„Die Kamera ist viel schwerer“, wandte Asbjörn ein. Diese Schwerfälligkeit sollte der Teufel holen! Ich ärgerte mich. Jedes Kind mußte doch sehen, wie leicht es sich machen ließ. Ich öffnete den Rucksack, legte ein paar schwere Steine hinein, zog mir den Gürtel aus, brachte Asbjörn dazu, mir den seinen zu geben, kletterte auf den Vorsprung und ließ das eine Ende des Riemens hinab. Asbjörn machte den bleischweren Rucksack daran fest, und es ging großartig. Die Kamera jedoch wollte er selber hochziehen. Na schön, von mir aus! Ich ließ also den Riemen wieder hinunter, blieb stehen und hielt ihn fest, bis Asbjörn nach oben gekommen war und ungemein langsam und vorsichtig die schwere Last nach oben holte. „Da, siehst du“, sagte ich. „Du brauchst nicht immer zu allem, was ich vorschlage, nein zu sagen.“ „Du weißt doch, wie impulsiv du bist, Bernadette“, entgegnete Asbjörn lächelnd. Er brachte die Kamera ganz hinten an der Felswand in Sicherheit. „Nun sieh dich erst einmal um“, forderte ich ihn auf. Das tat er. Lange und gründlich. Er sah immer nachdenklicher aus. „Asbjörn“, rief ich, „ich weiß, woran du denkst! Eine Wiederholung des Films vom Kastanienbaum. Du willst Einzelaufnahmen der Alpenrosen machen von dem Augenblick an, in dem sie in Knospen stehen, bis zu ihrem völligen Aufblühen!“ „Gedankenleserin“, lächelte Asbjörn. „Die Sache ist nur die, daß ich die Kamera nicht verlassen kann.“ „Und das bedeutet, daß du hier im Zelt liegen müßtest? Du müßtest auf dem Vorsprung wohnen, bis die Rosen aufgeblüht sind?“ „Richtig.“ „Dann tu es doch! Du hast das Zelt, und ich komme jeden Tag mit Verpflegung. Wasser hast du im Bach. Deine Rasiersachen und dein Waschzeug nimmst du mit her – und wie gesagt, jeden Morgen komme ich mit dem Frühstück. Grand’mère werde ich bitten, mit ihrem ganzen Repertoire an Eintopfgerichten aufzuwarten, und die sollst du heiß im Thermosbehälter bekommen!“ Natürlich hatte Asbjörn noch immer ein paar Einwände, aber die Lust, diese Alpenrosen zu filmen, behielt die Oberhand. Noch am gleichen Nachmittag nahmen wir den Umzug vor. Asbjörn trug das Zelt und die Filmausrüstung, während ich den Schlafsack und einen Brotbeutel voller Toilettesachen, Handtücher
und Strümpfe zum Wechseln schleppte. Mouche bildete die Nachhut mit einem Päckchen im Maul – die Zahnpaste, die wir unterwegs noch gekauft hatten. Ich half Asbjörn, das Zelt aufzuschlagen; wir aßen dort oben auf dem Vorsprung zu Abend, und ich saß in seinen Arm geschmiegt und war glücklich. Vergessen waren die kleinen Mißstimmungen; alles war wunderbar, wir waren jung und mochten einander von Herzen gern. Erst als die Sonne unterging, trabten Mouche und ich zurück nach Villeverte… Am nächsten Morgen um sechs waren wir schon wieder unterwegs. Mouche hatte mich erwartungsvoll angesehen, als ich die Thermosflasche mit Kaffee füllte und einen Haufen belegter Brote einpackte. Ich hatte Asbjörn versprochen, ihm seine Sonnenschutzcreme aus dem Auto zu holen. Also machte ich einen kleinen Umweg über den Parkplatz hinter „Glacier“. Ich steckte den Kopf in den Wagen und kramte im Handschuhfach nach der Creme, als ich Schritte vernahm. Ich blickte auf. Wahrhaftig, da waren doch schon wieder die seltsamen Gäste aus Nummer fünf. Sie standen neben ihrem Wagen, verstauten ihre Rucksäcke in seinem Innern und setzten sich dann selber hinein. Was in aller Welt – wollten sie mit diesen Rucksäcken nun auch fahren? Und warum zogen sie mit einem so vollbepackten Wagen auf Tour… und warum…? Da blitzte ein Gedanke in mir auf. Ein völlig wahnsinniger Gedanke – vielleicht – , aber trotzdem, trotzdem… Sie fuhren los, und ich blickte ihnen nach. Das Auto bog nun nicht etwa nach rechts ein, wo die Straße zum nächsten Dorf weiterführt. Sie schlugen die Richtung zur Hauptstraße nach Martigny ein. In drei Sekunden hatte ich mir alles überlegt. Dann tauchte ich wieder in den Wagen hinein. Ja, Gott sei Dank. Dort lag ein „Fahrtenbuch“, und im Heft steckte innen ein Kugelschreiber. Ich riß eine Seite heraus und kritzelte: „Verspätung unvermeidlich. Komme so bald wie möglich.“ Ich wickelte das Papier um die Tube, band das ganze an Mouches Geschirr fest, zusammen mit vier Butterbroten in einem Plastikbeutel, und sagte eindringlich: „Mouche! Lauf zu Asbjörn! Beeil dich, schnell, schnell, zu Asbjörn! Hörst du, Mouche? Lauf zu Asbjörn!“ Mouche sah mich einen Augenblick lang forschend an, dann
zeigte ich hinauf, rief nochmals „Asbjörn“ und versetzte ihr einen kleinen Schubs. Da sauste sie davon. Mit zitternden Händen schloß ich das Auto ab, rannte quer durch Villeverte und nach Hause. „Wo brennt’s denn?“ rief Tante Cosima, als ich zu Hause anlangte. Ich war von Schweiß bedeckt, das Herz schlug mir im Halse. Ich rang nach Atem, eilte zur Schlüsseltafel neben der Tür und holte mir den Schlüssel zur Nummer fünf. „Aber Bernadette, was ist denn los?“ rief Tante Cosima hinter mir her. Während ich hinaufstürzte, hörte ich ihre Schritte hinter mir auf der Treppe. Ich hatte recht. Die Küche war so gut wie leer. Nicht ein Löffel, nicht eine Gabel mehr in der Schublade. Ich riß den Schrank auf, wo Tante Cosima stets ausreichend Handtücher und Bettwäsche für die ganze Mietzeit hinlegte. Nicht ein Fetzen! Und drinnen im Zimmer! Die abgezogenen Matratzen leuchteten mir entgegen, Kopfkissen, Federbetten – alles verschwunden. Sogar die Nachttischlampen! Tante Cosima war neben mich getreten. „Du liebe Zeit…!“ „Ruf die Polizei in Martigny an, Tante Cosima! Sie sind erst vor zehn Minuten abgefahren. Ein grauer Wagen, ich glaube, ein kleiner Citroën – belgisches Kennzeichen – die Nummer weiß ich auch…“ Nun kam Tante Cosima in Fahrt. Sie rief in Martigny und bei der Polizei im nächsten Dorf unterhalb von Villeverte an. Ich stand dicht neben ihr und hörte mit. „Wir werden versuchen, die Leute zu erwischen, Madame. Sollten sie schon vorbei sein, verständigen wir unsere Kollegen in Villeblanche.“ Tante Cosima war vor Aufregung ganz blaß. „Aber Bernadette, wie bist du denn auf den Gedanken gekommen?“ „Es war ein Moosbüschel“, antwortete ich. „Ein Moosbüschel auf der Treppe vor etwa einer Woche. Plötzlich fiel es mir wieder ein. Und ich entsann mich der schweren Rucksäcke, mit denen sie immer loszogen…“ „Aber die waren doch abends, wenn sie nach Hause kamen, ebenso voll“, warf Tante Cosima ein. „Ja, voll Moos und Gras!“ rief ich. „Auf einmal dachte ich an den Abend, als du mich auf diese seltsamen Leute aufmerksam machtest.
Ich weiß, daß ich damals sagte, die Rucksäcke sähen eigentlich nicht besonders schwer aus. Danach fand ich auf der Treppe ein Moosbüschel. Ich wette zehn gegen eins; Tante Cosima, daß wir ein Lager von Moos, Heidekraut und dergleichen finden, wenn wir genauer nachschauen!“ Wir sahen genauer nach. Wieder behielt ich recht. Der Schrank in der Küche und der Kleiderschrank waren voll Moos und ähnlichem Zeug. Es war eine Stunde verstrichen, als das Telefon klingelte. Ich ging ran. Es war die Polizei von Villeblanche. „Wir haben sie, Madame. Könnten Sie bitte so bald wie möglich herkommen?“ Ich gab mir nicht erst die Mühe, ihnen zu erklären, ich sei nicht Madame, sondern sagte nur tausend Dank und „Ja, mit dem NeunUhr-Bus“ und legte den Hörer auf. Tante Cosima war so erregt, daß sie in Pantoffeln zum Bus gegangen wäre, hätte ich nicht aufgepaßt. Nachdem sie fort war, ging ich in den Keller und holte eine Dose Fleisch herauf. Das wärmte ich zusammen mit einigen Kartoffeln vom Vortag auf, schüttete das Ganze in den großen Thermosbehälter, steckte noch eine Büchse Ananas in den Rucksack, füllte eine Thermosflasche mit Kaffee, dachte im letzten Augenblick daran, auch für Mouche etwas zum Fressen mitzunehmen, und dann machte ich mich wieder auf den Weg in die Berge, schwer bepackt mit Rucksack und sensationellen Neuigkeiten. Hinauf zu meinen Alpenrosen, meinem Hund und meinem – na ja – meinem besten Freund auf der Welt!
Alpenrosen Asbjörn lauschte mir mit offenem Mund, und mein eigener lief wie eine Pfeffermühle. Während ich ihm alles berichtete, schmierte ich seinen Rücken mit Sonnencreme ein. Er saß mit nacktem Oberkörper in der glühenden Sonne an der Kamera. „Und da fiel mir das Moosbüschel ein, verstehst du, und die vollen Rucksäcke – und dann habe ich das eine zu dem anderen in Beziehung gesetzt, und es stellte sich heraus, daß es richtig war.“ „Du bist ja direkt hell in der Denkmaschine!“ sagte Asbjörn anerkennend. Ich lachte. „Kann ich das schriftlich bekommen?“ „Meinetwegen. Schreib es selber. Du bist doch mein Skriptgirl.“ „Das Gehalt haben wir aber noch nicht abgemacht!“ „Was du nicht sagst. Hast aber recht. Was hältst du von einem Kuß die Stunde?“ „Einverstanden. Aber wird die Arbeit zu anstrengend, verlange ich Gehaltserhöhung!“ Es folgte eine Pause. Ich erhielt auf ein paar Tage hinaus eine Vorauszahlung. So saßen wir nebeneinander, hielten einander an der Hand und waren nichts weiter als glücklich. Wir hatten den Felsvorsprung mit den Rosen ganz für uns allein, wir saßen im hellen Sonnenschein, und es war warm und still um uns her. Mouche hatte sich ins Zelt zurückgezogen und gab sich einem wohlverdienten Schlummer hin. Die brave Mouche, sie war spornstreichs mit der Sonnencreme und meiner Nachricht zu Asbjörn gelaufen. „Du behauptest, dein Hund sei eine Mischung von Pudel und Terrier. Aber ich glaube, ein Schuß Gemse muß auch noch in ihm stecken, so wie er hier heraufklettert!“ „In den Alpen geboren“, sagte ich lachend, „ebenso wie ich.“ „Aber nun zurück zu diesem feinen Ehepaar, Bernadette. Seid ihr sicher, daß sie nicht mehr gestohlen haben? Zum Beispiel… du grüne Neune!“ „Nein, eine grüne Neune haben sie bestimmt nicht gemopst. Aber woran denkst du?“ „Meine Gummilinse!“ „Hast du eine Linse aus Gummi?“ „Unsinn! Entschuldige, ich meine – das Objektiv ist zwar nicht
aus Gummi, aber man nennt es so, weil es elastisch ist – vom breitesten Weitwinkel bis zum fernsten Tele… oh, Bernadette, wenn sie das gestohlen haben – und ich Idiot habe doch die Tür zur Kammer nicht abgeschlossen.“ „Ist es denn so wertvoll?“ „Ja. Die nette kleine Summe von tausend deutschen Mark.“ „Warum aber sollten sie es genommen haben?“ „Weil ich als der Riesenidiot, der ich bin, es auf dem Tisch habe liegenlassen! Für meine Rosenaufnahmen brauchte ich es nicht. Es tut mir zwar furchtbar leid, aber ich glaube, ich muß tatsächlich dieses ganze Vorhaben mit den Alpenrosen abbrechen – ich habe ganz einfach nicht die Ruhe, jetzt weiterzuarbeiten, verstehst du!“ „Nun fahr nicht gleich aus deiner Haut – aus deiner von mir so sorgsam eingeschmierten Haut – und geh lieber deinen Pflichten nach. Ich lasse dich jetzt am besten allein, denn Tante Cosima wird inzwischen zurückgekehrt sein, und hoffentlich hat sie die gesamte Diebesbeute bei sich. Ich werde alles durchsehen – auch deine Fürstensuite. Könnten sie dir sonst etwas geklaut haben?“ Asbjörn dachte nach. „Das glaube ich nicht. Den Rest meiner bescheidenen Habe hatte ich in der Kommode auf dem Gang eingeschlossen.“ „O. K. Ich laufe jetzt – obwohl ich sehr viel lieber hier bliebe. Ich schicke dir Mouche mit einer Nachricht. Heute abend habe ich nämlich noch viel zu tun – ich soll in Nummer fünf aufräumen und die Wohnung für dich herrichten.“ „Tatsächlich?“ „Ja, tatsächlich! Du möchtest sie doch gern haben, nicht wahr?“ „Und ob! Nur. „Sie ist die billigste im ganzen Haus“, sagte ich schnell. „Ja – darum geht es nicht – , aber dann habe ich doch keinen Grund mehr, bei euch in Vollpension zu leben.“ „Darüber mußt du dich mit Grand’mère einigen“, sagte ich lachend. „Niemand im ganzen Haus hat für dich eine solche Schwäche wie sie!“ Asbjörn lächelte – jenes gute, herzliche Lächeln, das mich ganz schwach und weich in den Knien macht. „Niemand, Bernadette?“ „Niemand… außer…“ „Außer…?“ „Außer Mouche!“ entgegnete ich lachend, erhob mich, nahm
Rucksack und Jacke, rief Mouche und begann mit dem Abstieg. Daheim angelangt, sah ich ein Polizeiauto vor der Tür; in der Küche stand Tante Cosima mit einem Polizeibeamten aus Villeblanche zusammen. „Sieh mal her, Bernadette!“ sagte Tante Cosima. Nichts hätte ich lieber getan. Der ganze große Küchentisch war mit Diebesgut bedeckt. Handtücher, Laken, Kissenbezüge und Küchentücher – und noch dazu Anzüge von Onkel Ferdinand, Schuhe und die Pelzmäntel von Grand’mère und Tante Cosima! „Weißt du, sie müssen den Kleiderschrank auf dem Speicher mit einem Dietrich geöffnet haben! Alle unsere Wintersachen! Und weiß der Himmel, ob sie nicht auch bei Grather in der Kammer gewesen sind – schau mal, Bernadette, weißt du, was das ist?“ Ich schrie laut. „Und ob ich es weiß! Das ist das Objektiv! Hatten sie auch das mitgenommen! Und wo sind sie jetzt?“ „In sicherem Gewahrsam in Villeblanche“, antwortete der Polizeibeamte. „Meine Kollegen hängen an der Strippe und versuchen einiges aufzuklären. Zunächst einmal die Nationalität und die Identität dieser Personen.“ „Sind sie denn nicht Belgier?“ „Das ist äußerst zweifelhaft. Beide hatten sie drei Pässe – einen belgischen, einen deutschen und einen französischen. Vielleicht sind sie nichts von allem.“ „Meiner Nichte verdanken wir, daß sie überhaupt geschnappt wurden!“ sagte Tante Cosima und legte den Arm um meine Schultern. „Ich hätte nicht den geringsten Verdacht geschöpft; wahrscheinlich wäre es mir erst morgen aufgefallen, daß sie in der Nacht gar nicht ins Haus zurückgekehrt waren.“ „Und morgen hätten sie bereits die Grenze nach Frankreich, Deutschland oder Italien überschritten“, fuhr der Polizeibeamte fort. „Aber wie ist Ihnen denn überhaupt dieser Verdacht gekommen, Mademoiselle?“ Nun hörte ich zum drittenmal an diesem Tag diese Frage. Es fing an, ein wenig langweilig zu werden, von den Rucksäcken und dem Moosbüschel zu erzählen. Leider war es nicht das letzte Mal, daß ich davon berichten mußte. Es wurde die Sensation von Villeverte, und die Fragen prasselten nur so auf mich nieder. Als unser Uhrmacher vier wertvolle Uhren zurückerhielt und die „Heimindustrie Villeverte“ ein paar ihrer feinsten, handgestickten
Blusen, war die Freude groß. Aber am allerfrohesten war bestimmt Asbjörn, als Mouche ihren zweiten selbständigen Gang in die Berge an diesem Tag zurückgelegt hatte, mit einer Nachricht von mir an ihrem Geschirr: „Das Objektiv ist sichergestellt! Gruß B.“ In dieser Nacht schlief Mouche ihren wohlverdienten Schlaf bei Asbjörn im Zelt. Glückliche Mouche! Die Wohnung Nummer fünf war saubergemacht und wartete nur auf Asbjörn, und Tante Cosima war um eine Erfahrung reicher. „Ich habe schon so manches mit meinen Mietern erlebt“, erklärte sie. „Sie haben ihre Schuhe mit den Handtüchern geputzt und vergessen, die Kochplatte abzustellen, bevor sie auf Sonntagstour gingen; sie haben beim Weggehen Essenreste stehenlassen, so daß die ganze Wohnung danach stank, sie haben Tassen und Gläser zerschlagen und heiße Bügeleisen auf polierte Tische gestellt. Aber dies geht ja über die Hutschnur!“ Tante Cosima war bis auf den Grund ihrer ehrlichen Seele erschüttert. Doch das tägliche Leben ging seinen Gang, alles kam wieder in sein altes Gleis, und ich verbrachte den ganzen Tag bei Asbjörn und den Alpenrosen. Asbjörn hatte bald einen ganzen Film mit Einzelbildern aufgenommen. Ich brachte ihn zur Post und schickte ihn nach Frankfurt. „Jetzt bin ich aber gespannt“, sagte Asbjörn. „Wie werde ich erleichtert sein, wenn ich erst einmal weiß, daß der Film gelungen ist!“ Einstweilen arbeitete er weiter, und nun wurde es wirklich spannend. Denn nun waren die Knospen am Aufbrechen, Hunderte von Knospen, und Asbjörn wich nicht mehr von der Kamera. Knips, knips und hin und wieder ein gleichmäßiges, langsames Surren. Er ließ die Kamera in der langsamsten Geschwindigkeit laufen, um auch wirklich den Augenblick zu erwischen, in dem sich die Blüte öffnete, den Augenblick, in dem sich die Blütenblätter streckten, auseinanderstrebten und die Blume ihre Staubgefäße dem Licht zuwandte und ihr geheimnisvolles Innere der Sonne offenbarte. Diese Augenblicke waren voller Andacht. Da saß ich neben Asbjörn, wir sprachen nicht mehr, sondern blickten nur noch auf dieses Wunder der Natur. Diese Tage auf dem Felsvorsprung waren die schönsten, die ich jemals erlebt hatte. Dort konnten wir miteinander reden, dort störte
uns niemand, und dort konnten wir einander wirklich kennenlernen. Wir hatten keine Eile, brauchten nicht schnell und angespannt voneinander berichten. Wir hatten Zeit! Die Worte fielen gemächlich, und zwischen ihnen lagen große Pausen. Es kam vor, daß wir lange Zeit nur dasaßen, schweigend und glücklich; glücklich einfach, weil wir auf der Welt waren. In diesen Stunden erfuhr ich auch mehr über ihn. Er erzählte, wie es ihm gerade einfiel, ein bißchen von diesem, ein wenig von jenem. Er war gerade erst zehn Jahre alt, als er seine Eltern verlor und zu seinem Onkel und seiner Tante kam, die damals noch in Oslo wohnten. Dort war er aufgewachsen. Ja, freundlich waren sie wohl zu ihm gewesen, aber doch schon recht alt, jedenfalls zu alt für einen so jungen Pflegesohn. Es war alles sehr gut gemeint, aber die Tante hatte ihn behandelt, als sei er fünf Jahre alt. Sie ordnete und bestimmte alles für ihn, hatte ihm geholfen und – war ständig hinter ihm her gewesen. „Seitdem habe ich einen Komplex bezüglich Kindermädchen“, meinte Asbjörn. „Ich reagiere irgendwie allergisch auf jede Hilfsbereitschaft!“ „Deshalb also“, sagte ich. Ich dachte an seine ablehnende Haltung, als ich seine Notizen schreiben wollte. „Aber – nun findest du dich doch damit ab, daß ich Besorgungen für dich mache und dir das Essen und dergleichen bringe…“ „Nun ja, ganz blöde bin ich ja auch nicht. Außerdem…“ „Außerdem – was?“ „Außerdem bist ja du es!“ Er sagte es so einfach, und es klang so selbstverständlich. Ganz still blieb ich sitzen und ließ das beglückende Gefühl bis auf den Grund meines Herzens sinken. Plötzlich mußte ich lächeln. „Warum lächelst du?“ „Ich habe keinen besonderen Grund, ich lächele ganz einfach nur.“ „Und wen oder was lächelst du an?“ „Ich glaube, das Dasein. Das Schicksal, das es so gut mit mir meint. Ich lächele, weil ich glücklich bin. Ja, weißt du, Asbjörn, ich habe fast das Gefühl, daß ich den lieben Gott dankbar anlächele.“ Was ich sagte, entsprach der Wahrheit. Aber es gab noch etwas anderes, von dem ich nicht redete. Ich mußte auch über etwas anderes lächeln, nämlich über mich selber, wie ich damals an der Bushaltestelle gestanden und auf Tony gewartet hatte. Wie ich mir
eine Art Liebe zu Tony eingeredet hatte. Nun war mir auf einmal klar, was damals bei mir nicht gestimmt hatte. Ich hatte mich ganz einfach auf den ersten Blick in Asbjörn verliebt. Ich hatte von Filmen und Kastanienbäumen, blauen Anoraks und einem ulkigen hausgemachten kleinen Auto phantasiert, bis ich mich selber am Ärmel hatte zupfen und mir vernünftig zureden müssen. Daraufhin hatte ich unbewußt nach einem Ersatz für Asbjörn gesucht, nach einem Menschen, dem ich meine unbändige, jäh erwachte und seltsame Liebe zuwenden konnte. Und ausgerechnet Tony! Der fröhliche, nette Tony, der im Grunde für mich niemals etwas anderes sein konnte als eben der „fröhliche, nette Tony“. Wir Menschen sind nun einmal merkwürdige Wesen. Asbjörn legte den Arm um mich. „Jetzt fängt es an kalt zu werden, Mäuschen. Jetzt mußt du dein Raubtier mitnehmen und nach Hause gehen. Ich glaube fast, daß wir morgen hier fertig werden – es war eine sehr schöne Woche, Bernadette, und die verdanke ich dir. Aber nun gibt es zwei Dinge, auf die ich mich freue!“ „Das eine dürfte wohl ein normales Bett sein“, sagte ich. „Und das andere?“ „Eine Badewanne mit viel heißem Wasser! Gute Nacht, mein Schatz!“ Der Rucksack war schwerer als jemals zuvor. Denn heute wollten wir auf unserem Rosenvorsprung ein Abschiedsfest feiern. Wie ein Kuli mühte ich mich den Pfad hinauf ab; Mouche jagte vor mir her. Den bleischweren Rucksack würde ich die letzten drei Meter nicht mehr schaffen. Dort ging es sehr steil hinauf, und man mußte sich mit Armen und Beinen festklammern. „He, Asbjörn!“ Ich blieb unterhalb des Felsbrockens stehen. Ein schlaftrunkenes Gesicht unter zerzaustem Haar kam über der Felskante zum Vorschein. „Bernadette, wahrhaftig, ich habe mich verschlafen! Einen Augenblick!“ Es folgte dort oben eine eilige Geschäftigkeit: Knips, knips! Dann kam das Gesicht wieder zum Vorschein. „Kommst du nicht herauf?“ „Der Rucksack ist so schwer. Laß doch deinen Gürtel und den
Riemen von der Tragtasche, und was du sonst noch hast, herunter.“ Asbjörn tat es. Mouche und ich kletterten hinauf. Nur der letzte Meter war für Mouche immer zu schwierig. Da blieb sie stehen und winselte, so daß sich Asbjörn auf den Bauch legen, die Hand ausstrecken und sie am Genick packen mußte. „Guten Morgen, ihr beiden – entschuldige mich…“ Wieder zurück zur Kamera. Die Sonne war gerade aufgegangen, und es kam Leben in unsere Blumen. Während ich das Frühstück auspackte, war Asbjörn zum Bach geeilt, wusch sich Gesicht und Hände und kehrte auch schon wieder zurück. Knips, knips! Klick, klick! Er nahm das Auge nicht mehr vom Sucher. „Komm, trink deinen Kaffee, Asbjörn.“ „Ja, warte nur – siehst du nicht, Bernadette, die letzte Blüte wird sich jetzt öffnen – weg mit dir, Mouche – es ist die große dort ganz rechts – paß auf – siehst du, wie sie sich bewegt…“ Hastig drehte er die Kamera herum, die nun langsam, ganz langsam surrte, das kostete Film, Meter um Meter – und jetzt streckten sich alle die kleinen Kelche – und es sah so aus, als ob sie erzitterten. Ich hielt Mouche ganz fest. Nun durfte sie uns nicht stören, jetzt, in diesem heiligen Augenblick. Ein Zittern – und da glitten die Spitzen der Blütenblätter auseinander – die Blätter wichen zur Seite und ließen einen Sonnenstrahl bis auf den weichen, rosigen Grund der Blüte fallen – ein Becher und noch einer und noch einer… Asbjörn nahm die Hand vom Auslöser und wandte mir ein strahlendes Gesicht zu. Er sagte nichts. Er legte nur den Arm um mich und drückte mich an sich. Lange blieben wir so stehen. Schließlich aber wurde Mouche ungeduldig. Sie begann, eins der Butterbrotpäckchen zu öffnen. Da waren wir rasch in die Wirklichkeit zurückgekehrt. „Ja“, sagte Asbjörn nach einer Weile, „das wäre geschafft. Und das verdanke ich dir, Bernadette.“ „Unsinn!“ „Gar kein Unsinn! Hättest nicht du alle Besorgungen für mich gemacht, mir das Essen und die Decken hergeschafft und…“ „Und die Anregung gegeben“, warf ich ein. „Ja, die besonders, und noch dazu alle deine Zeit für mich geopfert…“ „‚Geopfert’ ist gut!“
„Obwohl du alle Hände voll damit zu tun hattest, Einbrecher zu stellen…“ „Und in der von ihnen verlassenen Wohnung sauber zu machen…“ „Dann hätte ich nicht hier eine Woche lang herumlungern und den Film meines Lebens drehen können!“ „Komm jetzt und trink deinen Kaffee“, sagte ich und reichte ihm die volle Tasse. „Aber, Bernadette, jetzt habe ich doch tatsächlich vergessen, dich etwas zu fragen.“ „Da siehst du es, du denkst nur noch an deine Alpenrosen. Und was hattest du mich fragen wollen? Was wir zum Mittagessen haben?“ „Nein, Bernadette, aber ganz ernsthaft: Wann, meinst du, könnten wir heiraten?“ Da fiel mir die Kaffeetasse aus der Hand, mitten in das geöffnete Brotpäckchen.
Eine Schachtel Streichhölzer Alles klappte. Alles war wunderbar. Wie lange wir an unserm Verlobungstag dort oben sitzen blieben, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß wir zum allerersten Mal Ruhe hatten. Die Kamera lag verpackt im Zelt. Asbjörn hatte aus dem Schlafsack eine bequeme Rolle gemacht, auf der wir saßen und miteinander redeten, Pläne machten und aus unserem Leben erzählten. „Ich ahne nicht, was für eine Zukunft ich dir versprechen kann“, sagte Asbjörn. „Wenn mein Chef die Absicht hat, mir noch weitere Kulturfilmaufträge zu geben, weiß ich doch nicht, wohin ich geschickt werde.“ „Vielleicht in die Antarktis, um Pinguine zu filmen!“ schlug ich vor. „Nein, das glaube ich nun nicht. Aber möglicherweise nach Lappland. Oder – aber diese Möglichkeit ist noch geringer – nach Afrika!“ „Ach, Asbjörn! Mir schwindelt! Kannst du mich da mitnehmen?“ „Selbstverständlich nehme ich dich mit. Ich kann doch ohne mein Skriptgirl nicht zurechtkommen.“ „Und du meinst, bevor wir uns unter die Löwen und Schlangen begeben, werden wir heiraten?“ „Ja, das müssen wir doch! Hast du etwas dagegen?“ Etwas dagegen! Etwas dagegen zu haben, daß einem das Glück auf silbernem Tablett gereicht wurde! „Die Sache ist nur die, daß ich die feierliche Einwilligung meiner Mutter brauche. Ich bin noch nicht mündig.“ „Glaubst du, daß du sie bekommst?“ „Ja, das glaube ich! Wenn meine Mutter die Erlaubnis ihrer Eltern erhielt, einen italienischen Zirkusartisten zu heiraten, nehme ich doch an, daß ich mich mit einem solchen Prachtexemplar eines norwegischen Kameramanns verheiraten darf.“ „Prachtexemplar? Hältst du mich für ein Prachtexemplar?“ „Ja, das bist du, Asbjörn. So tüchtig, zielbewußt und selbständig und… und…“ „Und was noch?“ „Ja – und ein wenig eigensinnig. Das bist du nämlich.“ „Auf jeden Fall hast du jetzt ja gesagt, Bernadette. Und da du behauptest, du magst mich gern, was an sich ziemlich verwunderlich
ist – dann magst du mich wohl, wie ich bin, einschließlich dem Eigensinn?“ „Das tue ich, wahrhaftig! Und du magst mich auch, sogar mit meiner ganzen impulsiven Art?“ „Unbedingt. Ich mag dich so, wie du bist, mit deinen Fehlern und Vorzügen, mit deiner guten Laune, deinem Humor und der wunderbaren Fülle an Güte und Nächstenliebe.“ „Habe ich das?“ „Ja, das hast du. Ebenso wie deine ganze Familie. Du hältst es zum Beispiel gar nicht für etwas Besonderes, zwei- bis dreimal am Tag einem filmenden Mann Essen zu bringen…“ „Kunststück, wo ich doch in diesen Kameramann so bodenlos verliebt bin!“ „Aber ich glaube, Bernadette, du hättest es auch getan, wäre es ein anderer gewesen. Nicht wahr? Überleg mal. Zum Beispiel dein Freund Tony – oder ein ganz Fremder…“ „Ja, ich glaube, ich hätte es getan. Ich habe ja massenhaft Zeit, und warum sollte ich nein sagen, wenn ich ebensogut ja sagen kann?“ Asbjörn lächelte. „Was du da eben sagtest, könnte, glaube ich, als Wahlspruch für deine ganze Familie gelten. Ihr sagt so fröhlich ja zu allem. Ihr habt einen Überfluß an Lebensfreude und Güte, ein Füllhorn, das immer überläuft. Komme ich zu euch und möchte bei euch wohnen, so sagt deine Tante ja und räumt eine Kammer auf dem Boden für mich aus. Will ich in die Berge und möchte, daß dein Onkel mir einen Adlerhorst zeigt, so sagt er ja, obwohl er weiß, es wird ihn einen seiner seltenen freien Tage kosten. Wenn Grand’mère meint, wir hätten Lust auf das eine oder andere Gericht, so macht sie sich sogleich an die Arbeit, obwohl sie sich eigentlich etwas ganz anderes vorgenommen hatte. Stimmt’s oder nicht?“ „Ja“, antwortete ich. „So ist es wahrscheinlich. Aber ist es nicht sehr schön so? Warum sollte man sich nicht das Leben so erfreulich wie möglich machen?“ „Natürlich soll man das. Aber bist du dir darüber im klaren, wie selten man Menschen mit solchen… solchen… Füllhörnern begegnet?“ „Und du selbst?“ Asbjörn schüttelte den Kopf. „Ich gehöre nicht dazu. Ich habe mir selbst meinen Weg suchen müssen, alles selber bestimmt und sah mich gezwungen, mit meinem Geld sehr vorsichtig
umzugehen. Da blieb dann nur noch sehr wenig für Freude und Wärme übrig.“ „Du hast eben deine Eltern zu früh verloren“, sagte ich. „Ja, was das bedeutet, weiß nur, wer es durchgemacht hat. Du hast wenigstens deine Mutter.“ „Ja, und sogar eine sehr liebe Mutter.“ „Das glaube ich dir gern. Ich freue mich schon darauf, sie kennenzulernen.“ Diese Freude sollte Asbjörn schneller zuteil werden, als wir geahnt hatten. Denn als wir an diesem Nachmittag mit Kamera, Rucksack, Schlafsack, Reisedecke und Hund zurückkehrten, wartete bereits Post auf uns. Ein Brief meiner Mutter an mich und einer für Asbjörn von seiner Filmgesellschaft in Frankfurt. Wir lasen um die Wette. „Das mußt du hören!“ riefen wir am Ende wie aus einem Mund. Asbjörn wollte nun als erster hören. „Mutti und Onkel Thomas sind in Kopenhagen, das heißt, jetzt im Augenblick befinden sie sich irgendwo in Deutschland – sie wollen weiter nach Italien und kommen hier vorbei. Mutti hat mich gebeten, ihr ein Zimmer bei Tony zu besorgen, denn sie nimmt von vornherein an, daß unser Haus besetzt ist.“ „Aber das ist es ganz und gar nicht! Ich bleibe auf dem Speicher, und meine künftigen Schwiegereltern bekommen die Wohnung Nummer fünf.“ „Asbjörn, ich freue mich so sehr! Ich freue mich so sehr darauf, daß ihr einander kennenlernt!“ „Ich auch. Und jetzt bin ich an der Reihe: Feldmann – mein Chef, also – ist zunächst einmal hell begeistert von dem, was er bisher vom Film gesehen hat. Und er bittet uns, wir sollten nach Zermatt fahren und einige Meter Film am Matterhorn drehen. Ohne das Matterhorn sei kein Film aus den Alpen vollkommen, meinte er…“ „Einen Augenblick: bittet er uns?“ „Ja, das heißt, mich; er weiß doch noch nicht, daß aus mir ein ,Wir’ geworden ist. Dann sollen wir zum St. Bernhard und Hunde filmen.“ „Wunderbar! Stell dir nur vor, einmal Tiere filmen zu können, denen man nicht stundenlang auflauern muß.“ „Richtig, aber hör zu, es kommt noch mehr!“ „Wenn er etwa von uns verlangt, wir sollen den Monte Rosa besteigen…“
„Nein, das bleibt uns erspart. Aber sobald wir die Hunde und das Matterhorn hinter uns haben, meint er, sollte ich eine Pause einlegen. Er möchte, daß ich auf ein paar Tage nach Frankfurt komme…“ „Du oder wir?“ „Natürlich wir! Kennst du Frankfurt?“ „Ja, vom Geographieunterricht in der Schule her.“ „So ist es höchste Zeit, daß du einmal wirklich hinkommst.“ „Asbjörn, jetzt dreht sich bald alles um mich her. Ich soll mit dir auf den Großen St. Bernhard und zum Matterhorn…“ „Das ist ein wenig übertrieben, nur zum Gornergrat, um von dort aus das Matterhorn zu sehen.“ „Schon gut, also mit dir zum Gornergrat – und mit dir nach Frankfurt!“ „Und mit mir in alle anderen Gegenden auf der Welt, wohin Feldmann mich schickt.“ „Asbjörn, kneif mich in den Arm! Ich kann mir kaum vorstellen, daß das alles wahr ist. Wie in aller Welt habe ich ein so großes Glück verdient? Warum ist das Schicksal zu mir so gut?“ Asbjörn lächelte. „Vielleicht, weil du selber so gut bist, kleine Bernadette!“ Grand’mère weinte vor Rührung und Seligkeit. Sie nahm Asbjörn fest in ihre Arme und nannte ihn ihren Jungen; er sollte sie nun, ebenso wie ich, mit „tu“ anreden dürfen. Tante Cosima strahlte, und auch ihre Augen schimmerten ein wenig feucht. Onkel Ferdinand schlug Asbjörn auf die Schulter und hieß ihn innerhalb der Familie willkommen. Wir mußten uns bald auf den Weg machen und fuhren mit unserem Auto davon. Wie üblich waren wir vor Sonnenaufgang auf den Beinen. In St. Nicolaus ließen wir unseren Wagen stehen, denn in Zermatt ist es ebenfalls nicht erlaubt, mit dem Wagen in den Ort hineinzufahren. Die Touristensaison war jetzt auf ihrem Höhepunkt angelangt. Am Zug in St. Nicolaus wimmelte es von Menschen, die in einer langen Schlange auf den Zug nach dem Gornergrat warteten. Menschen mit Eispickeln und Bergstiefeln, alte Damen mit Sonnenhüten und Sonnenschirmen, ältere Herren mit Feldstechern und Spazierstöcken und junge Leute mit Kofferradio. Und dann selbstverständlich die unvermeidlichen jungen Damen, die keine Ahnung haben, was Berge sind, und mit leichten Sandalen und in ärmellosen Sommerkleidern losziehen.
Asbjörn filmte auch diese Schlange und machte einige Aufnahmen vom Leben in Zermatt. Als wir zur Gedenktafel für Edward Whymper, dem Erstbesteiger des Matterhorns, kamen, filmte er sie auch. Dann erzählte er mir von der tragischen Erstbesteigung, die vier Menschen das Leben kostete. So war Asbjörn. Kaum hatte er den Auftrag erhalten, einen Film von den Alpen zu drehen, als er sich auch schon auf die Literatur über die Alpen stürzte. Was er von Triumphen und Tragödien unter den Bergsteigern, was er von der Flora und Fauna nicht wußte, war auch nicht des Wissens wert. Dann standen wir hoch oben auf dem Gornergrat, unter Hunderten urlaubsfroher Touristen und betrachteten dieses Wunder der Natur – das Matterhorn. Das Matterhorn, das sich jäh aus einem Bergmassiv erhebt und in majestätischer Einsamkeit kühn in den Himmel ragt. Beide schwiegen wir und faßten uns unwillkürlich an der Hand. Es war überwältigend schön. Schließlich begann ich zu reden, und ich sprach ganz leise, obwohl bestimmt niemand in der Nähe war, der Norwegisch verstand. Aber dieser Augenblick war so feierlich, daß ich nicht anders konnte: ich mußte leise sprechen. „Asbjörn“, sagte ich. Er antwortete mir mit einem Händedruck. „Weißt du, Asbjörn, ich glaube, das ist mit das Schönste, was ich in meinem Leben gesehen habe. Und ich werde meinem Schicksal ewig dankbar dafür sein, daß ich das mit dir zusammen habe erleben dürfen.“ „Genauso empfinde auch ich es“, antwortete Asbjörn, und auch er sprach leise. „Weißt du, ich glaube, daß zwei Menschen, die etwas so überwältigend Schönes erlebt haben, sich auf ganz andere Weise miteinander verbunden fühlen müssen – miteinander haben sie etwas wie eine Offenbarung erlebt… bestimmt drücke ich mich sehr dumm und unklar aus…“ „Nein, Bernadette. Ich verstehe dich sehr gut.“ „Wrenn wir jemals böse aufeinander werden sollten, Asbjörn, wenn es jemals dahin käme, daß wir einander verletzen oder ärgern – dann sagen wir ganz einfach ,Matterhorn!’ und denken an diesen Augenblick zurück, und dann wissen wir, wie sehr wir einander lieben und wie vieles wir miteinander gemeinsam haben. Wir werden sofort wissen, daß die kleinen Ärgernisse des Alltags im Grunde nichts zu bedeuten haben und zwei Menschen, die einander so
nahestehen, stets über alles sprechen und alles verstehen können…“ Ich blickte ihm nun ins Gesicht, in dieses liebe, geliebte Gesicht. Er lächelte. Niemals zuvor war sein Lächeln so liebevoll und zärtlich gewesen. „Abgemacht, Bernadette! Tu ich dir einmal weh, sagst du nur ,Matterhorn!’.“ „Nein, du bist es, der es sagen muß. Derjenige, der den anderen verletzt hat, muß es sagen, denn es bedeutet doch in gewisser Weise: Verzeihung.“ „Hauptsache ist, daß einer von uns es ausspricht.“ „Einverstanden. Auf jeden Fall bedeutet es den Wunsch, Mißverständnisse aus dem Weg zu räumen.“ „Gut. Aber jetzt muß ich an meine Aufgaben denken. Guck bitte mal auf den Belichtungsmesser.“ Ich war inzwischen zum „Beleuchter“ aufgerückt. Es hatte mich Mühe und sehr viel Überredungskunst gekostet, und erst nachdem ich unzählige Male zur Probe abgelesen hatte, wagte Asbjörn, mir diese Arbeit zu überlassen. Die Aufnahmen kosteten Zeit, denn es sammelten sich einige Wolken zu einer dichteren Schicht, die zum Matterhorn hin zog, sich an die steile, weiße Felswand schmiegte und an ihr entlang sacht aufstieg. Asbjörn filmte und machte Einzelaufnahmen, wartete und knipste erneut, wechselte auf das Teleobjektiv über und zog sozusagen die gesamte Wolkenformation in die Kamera hinein. Geduldig wie immer. Alles, was ein Kameramann durch Geduld zu erreichen vermag, das holt Asbjörn heraus. Der Kastanienbaum, die Alpenrosen, stundenlanges Warten auf ein Hermelin, einen Fuchs oder ein Murmeltier. Bei ihm haperte es nur etwas mit den blitzschnellen Schnappschüssen. Er verstand es nicht, die Kamera ans Auge zu reißen und loszufilmen, wenn er unerwartet und plötzlich ein gutes Motiv vor sich hatte. Lief ihm ein Tier über den Pfad, ließ er es laufen, denn bevor er Abstand, Blende und dergleichen eingestellt hatte, war es schon über alle Berge. „Versuch’s doch!“ rief ich ihm manchmal zu, aber Asbjörn schüttelte nur den Kopf. So kam es, daß er wohl großartige Aufnahmen machte und bestimmt keinen Film vergeudete, aber er verpaßte auch viele hübsche Augenblicksmotive. Es dauerte gut über eine Stunde, bis er zufrieden war. „Bleib du ein wenig hier, Bernadette“, bat er mich. „Ich gehe nur
auf die andere Seite und werfe einen Blick auf den Monte Rosa, vielleicht kann ich auch von dort ein paar Meter aufnehmen.“ Ich wartete – und hin und wieder blickte ich durch das Teleobjektiv. Es war wie ein Feldstecher, und es machte mir Spaß, die Berge so nah heranzuholen, daß ich alle Einzelheiten gut sehen konnte. Ich drehte die Kamera herum, und jetzt hatte ich das Breithorn im Sucher. Seine weißen Hänge lagen in Licht getaucht vor mir. Plötzlich kam unerwarteterweise Leben ins Bild. Der Schnee bewegte sich. Mein Herz klopfte heftiger: eine Lawine ging nieder. Bevor ich noch wußte, wie es geschah, hatte ich mit dem Finger auf den Auslöser gedrückt, und die Kamera surrte. Mein Auge wich nicht mehr vom Sucher. Mit der anderen Hand tastete ich nach dem Schalter für Zeitlupe. Da hatte ich ihn. Nun surrte die Kamera schneller und mit einem eindringlichen Geräusch: eine neue Schneemasse wälzte sich zu Tal, und über ihr stand eine weiße Wolke. Mein Herz klopfte, daß ich es hören konnte. Die Feder war abgelaufen. Ich stellte wieder auf normale Geschwindigkeit um, zog die Feder auf und richtete die Kamera erneut auf das Matterhorn. Bald darauf kehrte Asbjörn zurück, und ich half ihm die Sachen auf die andere Seite hinüberzutragen, von wo aus Asbjörn noch einige Meter Film vom Monte Rosa aufnahm. Erst spät am Nachmittag kamen wir nach Zermatt zurück. Auf der Fahrt hinunter mußten wir in der Bahn stehen. Es war gestopft voll, und wir standen so dicht, daß man von der Aussicht nicht viel zu sehen bekam. Also plauderten wir. Ich erzählte vom Hof meiner Großeltern in Italien und schilderte meine Besuche bei dem Pfarrer und meinen Feigendiebstahl in seinem Garten, der so traurige Folgen für mich hatte. Ich beschrieb ihm das gemütliche Arbeitszimmer des Pfarrers, wo er bunte Wachsstreichhölzer auf dem Tisch stehen hatte. Mir machte es einen Riesenspaß, ein solches Streichholz an der Unterseite des Tisches oder an meinen eigenen Schuhsohlen anzuzünden. Ich sprach von tausend Dingen, und Asbjörn hörte mir lächelnd zu. In Zermatt strömten die Menschen zum Zug. Plötzlich hielt ich am Kiosk vor dem Bahnhof an. „Wart ein bißchen, Asbjörn! Sieh mal, dort gibt es genau die Streichhölzer, von denen ich dir erzählte. Sogar in der gleichen Schachtel! Die muß ich kaufen!“
„Nicht jetzt, Bernadette. Wir müssen uns beeilen, um noch Platz im Zug zu bekommen!“ „Geh du nur voraus und beleg Plätze, ich komme gleich nach!“ „Wie sollen wir uns denn in dieser Menschenmasse wiederfinden? Komm jetzt, ich will nicht wegen ein paar Streichhölzern bis St. Nicolaus stehen müssen!“ Gut, ich folgte ihm. Aber etwas von der Freude dieses Tages war von mir gewichen. Die Erinnerungen an die Kindheit waren plötzlich so lebendig gewesen; Und jene glücklichen Sommer verbanden sich hier irgendwie mit diesem glücklichen Sommer. Da paßte die kleine bunte Streichholzschachtel mit den Wachsstäbchen so gut hinein, ich hätte sie so gern gehabt und ich wollte sie jetzt haben! Was hatte Corinne über ihre eigene Vernunft gesagt? Daß sie wie eine Bremse auf Tony wirke, als ob sie ihm die kleinen, unvernünftigen Freuden verdürbe. Ja. Auch Asbjörn hatte mir eine winzig kleine Freude zerschlagen. Eine helle, wärmende, kleine Freude. Ich war nicht länger in überglücklicher Stimmung, war nicht mehr in einem schimmernden Märchenland. Ich saß auf einer harten Bank in einem überfüllten Abteil und war müde von all dem Gehen und Stehen. Außerdem war es in diesem Gedränge unerträglich heiß. „Matterhorn“ dachte ich plötzlich. Hatten wir nicht verabredet, in einem solchen Augenblick „Matterhorn“ zueinander zu sagen, uns über alles auszusprechen und keine Mißstimmung aufkommen zu lassen? Das wohl – aber das setzte voraus, daß der andere Teil überhaupt wußte und verstand, es sei etwas geschehen. Und Asbjörn hatte keine Ahnung. Froh und glücklich saß er mir gegenüber und lächelte sein gutes, heiteres Lächeln, das mir ohne alle Worte sagte: „Ich liebe dich so sehr, Bernadette!“ War nicht vielleicht das die Hauptsache? Und war ich nicht sehr töricht, wegen ein paar lächerlichen, kleinen Wachsstäbchen enttäuscht zu sein? Unsinn! Was war aus meiner guten Laune geworden? War es wirklich nötig, daß ich mir diesen wunderbaren Tag wegen einer Schachtel Streichhölzer verderben ließ? Da schüttelte ich alles ab. Als wir nach St. Nicolaus gelangten, war ich wieder ich selber, ich kroch in Asbjörns urkomisches kleines Auto hinein, beugte mich vor und küßte seine Hand, die auf dem Steuer lag.
Gewitter und Steinböcke „Der Teufel hole alle diese Sprachen!“ seufzte Asbjörn. „Wieso denn? Hast du etwa im Papiergeschäft um Klopapier gebeten statt um Schreibpapier?“ „Nein, das nicht gerade, aber ich habe Tony und Corinne getroffen; sie wollten nett zu mir sein und haben deutsch mit mir gesprochen, aber da habe ich tatsächlich nicht gewußt, ob ich mit ihnen auf Sie oder du stehe! Im Französischen ist das sehr viel einfacher!“ „Selbstverständlich seid ihr auf du.“ „Das ging mir auch langsam auf, als Tony endlich du sagte. Im übrigen sollte ich grüßen und dich fragen, ob es recht wäre, wenn sie heute abend bei uns vorbeikämen.“ „Ich hoffe, du hast ja gesagt!“ „Ich habe gesagt, ich würde fragen.“ „Dann saust du jetzt wie ein geölter Blitz hin und sagst, daß es paßt. Es paßt sogar ausgezeichnet.“ „Gut, meine Gnädige! Bitte sehr!“ „Ach, Asbjörn, du bist ein Engel!“ Ich nahm die Tafel Schokolade, die er mir auf den Tisch gelegt hatte. „Ich knabbere doch so gern Schokolade, wenn ich nähe!“ „Was nähst du denn?“ „Einen Rock, wie du siehst. Aber lauf jetzt und sag ihnen in irgendeiner Sprache, daß sie heute abend kommen sollen. Ich kann Grand’mère keine größere Freude machen, als sie zu bitten, etwas Schönes für uns vorzubereiten!“ Asbjörn verschwand, und ich nähte weiter. Ich hatte Marietta versprochen, ihr bei diesem Rock zu helfen; sie wollte am nächsten Tag mit ihrem Nino ausgehen und setzte alle Segel, um ihn zu bezaubern. Eins dieser Segel war ein geblümter Rock von unwahrscheinlicher Weite. Ich nähte und aß Schokolade, und als ich Grand’mère erzählte, wir bekämen Gäste, strahlte sie und holte sich ihr Kochbuch. Grand’mère ist immer bester Laune, wenn sie rühren, hacken und kneten kann, und wenn sie eine gelungene Torte aus dem Backofen holt, hat sie einen Ausdruck wie ein verliebter Teenager. Wir hatten „schulfrei“, wie Asbjörn sagte. Der Himmel war bewölkt, und das Wetter eignete sich nicht zum Filmen. So blieben
wir zu Hause. Ich nähte, und Asbjörn nahm Tante Cosima einige Arbeiten ab, holte ihr Kartoffeln aus dem Keller, trocknete Geschirr ab und half schließlich Grand’mère, einen zähen Kuchenteig zu rühren. Wenn er sich so zwischen uns bewegte und überall, wo es nötig war, hilfreich Zugriff, stets freundlicher und guter Laune, war ich ganz besonders in ihn verliebt. Während ich dort saß und arbeitete, mußte ich vor mich hin lächeln. An diesem Tag hatten wir ein Telegramm von meiner Mutter bekommen. Morgen sollten die beiden gegen Abend eintreffen. Sie konnten nur fünf Tage bleiben, denn Onkel Thomas hatte nicht so ausgiebig Ferien wie wir, und sie wollten noch nach Rom. Aber meine Mutter freute sich bestimmt wie ein Kind auf die Tage in Villeverte, und das tat ich auch. „Ma petite“, sagte Grand’mère, und ihr Gesicht hatte einen ernsten, gespannten Ausdruck. „Was hältst du von Geflügelsalat und Weinbergschnecken als Vorgericht? Und danach Schaschlik?“ „Herrlich, Grand’mère! Und zum Nachtisch?“ „Baisers mit Erdbeereis.“ „Grand’mère, wenn ich heirate, stelle ich dich bei mir als Köchin ein! Bevor vierzehn Tage um sind, müssen Asbjörn und ich zu einer Abmagerungskur!“ Grand’mère zog sich zurück, um mit ihren kulinarischen Meisterwerken zu beginnen. Ich arbeitete weiter. Der Stoff war schrecklich, so locker im Gewebe, daß einem die Nähte ausrutschten, bevor man bis drei gezählt hatte. Es war unmöglich, die Maschine zu benutzen. Das ganze Zeug mußte mit der Hand genäht werden. Meinetwegen. Ich konnte auch weiternähen, wenn Tony und Corinne bei uns waren. Die Stunden verflogen, Marietta kam zwischendurch einmal, so daß ich anprobieren konnte, und dann nähte ich weiter. Aus der Eßecke in der Küche klirrte es vielversprechend. Dort essen wir alle unsere Mahlzeiten, auch wenn wir Gäste haben. Ehe die beiden kamen, gelang es mir gerade noch, mein Haar zu bürsten und die langen Hosen und die Bluse gegen ein hübsches Kleid auszutauschen. Tony trug eine Schachtel unter dem Arm. „Hast du deine Verpflegung mitgebracht, Tony, oder ein Buch zum Vorlesen?“ „Richtig. Ein Buch über das Problem des Glücklichwerdens in der Ehe“, sagte Tony lachend. „Nein, es ist das Mah-Jongg-Spiel. Ich habe Corinne versprochen, es ihr beizubringen, und da habe ich
gedacht, wir könnten zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und es auch Asbjörn zeigen, falls er es, noch nicht kann.“ „Ich kann es nicht“, erklärte Asbjörn. „Wenn meine bescheidene Intelligenz dazu ausreichen sollte, dann…“ „Ich bitte dich! Wenn Bernadette es geschafft hat, sie mit ihrem Zwerghirn…“ „Tony! Denk an den Wassereimer! Und wenn du nicht brav bist, werde ich Grand’mère bitten, das Essen anbrennen zu lassen!“ „Das tut sie nie!“ rief Tony. „Hätte man nur eine solche Köchin wie Grand’mère! Meinst du nicht, ich könnte sie bezaubern, eine Stellung bei uns anzunehmen?“ „Unmöglich, Tony. Sie ist bereits so verzaubert, daß andere keine Chance mehr haben. Sie vergöttert Asbjörn!“ „Sie auch! Was für einen Film du da machen könntest, Asbjörn: ,Meine Großmutter nahm mir meinen Geliebten! Spannendes Drama aus den Alpen…’“ „Hör mit dem Unsinn auf, Tony. Was treibst du eigentlich den ganzen Tag, wo jetzt dein Vater wieder da ist? Hast du Ferien, oder machst du etwas Vernünftiges?“ „Ich tue immer nur Vernünftiges. Ich bin darin von meiner Zukünftigen angesteckt. Sie ist so entsetzlich vernünftig. Wäre sie vom Malen nicht ebenso besessen wie ich, könnte ich es mit ihr nicht aushalten!“ Er legte einen Arm um Corinne und gab ihr einen Kuß. „Wißt ihr, was dieses Prachtexemplar gestern angestellt hat? Ich hatte eine Flasche Champagner auf Eis gelegt – ich war zu einem ganz gemeinen Dieb geworden und hatte ihn aus dem väterlichen Keller gestohlen; ich wollte das viermonatige Jubiläum jenes Tages feiern, als ich im Louvre einen Tiger von Delacroix bewunderte, bis ich ein Mädchen neben mir bemerkte und darüber den Tiger vergaß. Ihr seht, was das nach sich gezogen hat – und dann erklärt mir doch dieses Ungeheuer, an das ich mich für die Dauer meines Lebens gebunden fühle, sie müßte einen Brief schreiben! Den ganzen Abend schreiben!“ „Aber Tony!“ wandte Corinne ein, „das hast du doch vorher gewußt! Du weißt, daß meine Mutter jeden Samstag einen Brief von mir erwartet…“ „Und so schreibst du jeden Donnerstagabend, das weiß ich, du mein persönlicher Kalender! Und so läßt du deinen angeblichen Geliebten den ganzen Abend sitzen und verdursten – ja, ich frage
euch, ist sie nicht abscheulich?“ Ich betrachtete Tony. In seiner Stimme lag keine Bitterkeit, auch nicht in seinem Gesicht. Es versetzte mir einen Stich. Glücklicher Tony, der sich ohne weiteres über die kleinen Enttäuschungen hinwegzusetzen vermochte, die das Leben und Corinne ihm brachten. Glücklicher Tony, der darüber reden konnte! „Aber Tony“, warf Asbjörn mit seiner ruhigen Stimme ein, „warum mußt du denn auch ausgerechnet an dem Tag, an dem Corinne ihren Brief schreibt, auf den Champagner verfallen?“ „Auf den Champagner verfallen! Solche Einfälle kommen doch plötzlich, ohne Rücksicht auf Verpflichtungen und Wochenprogramme!“ Corinne wandte sich an mich. „Was hättest du an meiner Stelle getan, Bernadette?“ „Tony geküßt und den Champagner getrunken“, erwiderte ich, und ich fürchte, meine Stimme hatte einen etwas scharfen Nebenton. „Und ich hätte auf eine Karte geschrieben: ,Liebe Mutter, es geht mir ausgezeichnet, heute viel zu tun, schreibe morgen einen Brief, Deine Corinne.’“ „Richtig!“ rief Tony. „Bernadette, du bist ein kluges Mädchen, und ich muß das zurücknehmen, was ich vorhin über das Zwerghirn gesagt habe. Du hast ein stark entwickeltes Gehirn…“ „… und ein noch stärker entwickeltes Herz“, warf Corinne mit ihrer sanften, warmen Stimme ein. „Ich glaube, ich werde bei dir in die Lehre gehen müssen, Bernadette!“ „Tu das, Corinne“, meinte Tony lachend. „Ich werde dir den Unterricht bezahlen. Aber die Tatsache bleibt bestehen, daß ich dich seltsamerweise so liebe, wie du bist. Wie – sollen wir bereits essen? Da muß ich mir noch die Hände waschen, das Mah-Jongg-Spiel war ziemlich staubig. Bin gleich wieder da.“ Asbjörn ging in die Küche hinüber, und Corinne und ich blieben einen Augenblick allein. „Corinne“, sagte ich, und ich hörte, wie eindringlich meine Stimme klang. „Denk an das, was du selber zu mir gesagt hast, daß du Tony die kleinen, unvernünftigen Freuden verdirbst. Tu es nicht, Corinne! Du weißt nicht, wie es ist, wenn die dürre Vernunft so eine kleine, dumme, leichtsinnige Freude erstickt!“ Corinne hatte einen fast schuldbewußten Ausdruck. „Ich versuche, daran zu denken, Bernadette – aber nur zu oft ist Tony über alle Maßen unvernünftig…“ „Dann beschränke dein Bremsen auf die absolut notwendigen
Male! Brems nicht, wo es sich irgendwie vermeiden läßt! Sag niemals nein, falls sich auch nur die geringste Möglichkeit bietet, ja zu sagen.“ Corinne sah mich nachdenklich an. „Das ist schwierig, wenn man nun einmal einen ganz anderen Charakter hat“, erklärte sie langsam. „Aber das Letzte, was du da sagtest, Bernadette, werde ich beherzigen. Ich will versuchen, so oft wie nur möglich ja zu sagen…“ Forschend sah sie mich an, als wollte sie ergründen, woher ich meine Erfahrungen hätte. Aber nun kamen Asbjörn und Tony, und Grand’mère wartete bereits mit dem Essen. „Schnecken!“ rief Tony. „Geliebte Grand’mère, hätte ich nicht Corinne, würde ich jetzt um deine Hand anhalten.“ Wir alle stürzten uns auf die Schnecken mit Ausnahme von Asbjörn. „Greif zu, Asbjörn, beeil dich, solange noch etwas da ist…“ „Danke, nimm nur, ich nehme lieber vom Geflügelsalat.“ „Aber magst du denn keine Schnecken, Asbjörn?“ „Nein, ich…“ „Wie schade! Warum magst du sie denn nicht?“ „Ach, ich weiß nicht…“ „Hast du sie denn überhaupt jemals versucht?“ „Nein…“ „So ein Angsthase!“ rief Tony lachend. „Da weißt du gar nicht, ob sie dir schmecken oder nicht. Erst mußt du sie doch versuchen! Man kann nicht über etwas mitreden, das man nicht kennt!“ „Aber ich kenne Grand’mères Geflügelsalat, und kennen und lieben ist in diesem Fall dasselbe!“ Asbjörn sagte es lächelnd, doch seine Stimme hatte einen ungewohnten, sehr bestimmten Unterton. Ich ärgerte mich. Warum war er ein solch sturer Dickkopf? Danke, ich muß schon selber meine Notizen ins reine schreiben. Ein Nein, ohne es versucht zu haben. Das geht nie, die Kamera auf den Vorsprung hochzuholen… Aber es ging ausgezeichnet. Von vornherein hatte er nein gesagt, ohne darüber nachzudenken, ob dieses Nein Sinn hatte. – Nein, danke, ich esse keine Schnecken. Niemals hatte er sie versucht. Er hatte keine Ahnung, was er da ablehnte. Was hatte Tony soeben zu Corinne gesagt? „Aber die Tatsache bleibt bestehen, daß ich dich seltsamerweise so liebe, wie du bist.“
Liebte nicht auch ich Asbjörn so, wie er war? Liebte ich nicht diesen großen, blonden Dickkopf, der dort saß und Grand’mères Geflügelsalat in sich hineinschaufelte? Und ob ich ihn liebte! Und wie ich ihn liebte! Dann aßen wir Schaschlik und Erdbeereis. Die Stimmung war glänzend. „Ihr müßt nun leider ohne mich Mah-Jongg spielen“, erklärte ich. „Ich muß unbedingt nähen, aber trotzdem kann ich sehr unterhaltend sein!“ „Ach, Unsinn, mit dem Rock ist es doch nicht so eilig!“ „Doch! Frag Marietta! Sie will morgen mit Nino ausgehen.“ „Ist es denn für Marietta?“ fragte Asbjörn. „Natürlich; du glaubst doch nicht, daß ich mit solchen Farben herumlaufen würde?“ „Nun hör mal zu, Bernadette, es ist schon sehr nett von dir, daß du dich für Marietta plagst. Sie kann froh sein, daß du überhaupt für sie nähst. Sie bekommt eben den Rock, sobald er fertig ist, so wie es dir paßt!“ „Es paßt mir, daß sie ihn morgen bekommt, denn da braucht sie ihn“, antwortete ich, und jetzt klang meine Stimme so entschlossen wie niemals zuvor. „Selbst wenn du deswegen nicht mit uns spielen kannst?“ „Genau. Mah-Jongg kann ausgezeichnet auch von drei Personen gespielt werden. Siehst du, Asbjörn, für mich entscheidet hier nur eines: Was ist wichtiger: daß ich ein paar Stunden lang Mah-Jongg spiele, oder daß sich Marietta morgen schön und unwiderstehlich vorkommt, wenn sie einmal mit Nino ausgeht? Welche Freude ist größer, die meine beim Mah-Jongg-Spiel oder Mariettas am Rock?“ „Du übertreibst deine Freundlichkeit, Bernadette!“ „Das hat nichts mit Freundlichkeit zu tun, sondern ist nur eine Frage der Logik! Habe ich nicht recht? Was meint ihr?“ Ich sah Tony und Corinne an. „Selbstverständlich hast du recht“, meinte Tony und nickte. „Asbjörn hat recht“, erklärte Corinnne, und ihre Augen funkelten mich an. „Asbjörn hat recht, aber Bernadette handelt richtig!“ „Du sprichst in Rätseln, Königin meines Herzens“, sagte Tony. „Aber Bernadette versteht mich“, entgegnete Corinne. „Ich auch“, sagte Asbjörn. „Aber wie schwierig ist es für einen gewöhnlichen Mann, mit einem Engel auf Erden verlobt zu sein!“ „Engel!“ schrie Tony. „Hast du Engel gesagt? Warte nur, bis sie dir eiskaltes Wasser über den Kopf geschüttet hat! Warte nur, bis sie
dir einen nassen Schwamm auf den Stuhl gelegt hat, auf den du dich nichtsahnend setzt! Warte nur, bis sie die Ärmel deines Anoraks mit winzig kleinen Stichen zugenäht hat, die du mühsam in zwei Stunden auftrennen mußt! Warte nur, bis…“ „Mit all dem warte ich, bis Asbjörn weiße Mäuse in den Ausschnitt meines Kleides gesteckt, Salz in meinen Tee getan und…“ „Hör auf!“ lachte Corinne. „Das Ende wird noch sein, daß ich nicht wage, mich mit Tony zu verheiraten.“ „Das kannst du ruhig tun“, meinte ich. „Ich kenne ihn seit acht Jahren, er ist gewiß entsetzlich, aber er ist ein lieber Kerl und hat einen Humor, den nichts zu untergraben vermag!“ „Bekomme ich das schriftlich, Bernadette?“ „Das kannst du haben. Und jetzt könnt ihr anfangen zu spielen, wenn du wirklich die Absicht hast, deinen beiden Schwachbegabten Schülern dieses Spiel in den Kopf einzuhämmern!“ Ich saß daneben und nähte und half ein wenig beim Übersetzen, als Tony das Spiel erklärte. Asbjörn verstand gar nicht so wenig Französisch, aber diese Spezialausdrücke waren für ihn doch etwas schwierig. Ich nähte und übersetzte, übersetzte und nähte, und das Spiel konnte beginnen. Asbjörn begriff es schnell, aber bei Corinne dauerte es etwas länger. Plötzlich hielt sie inne und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Hast du dich etwa überanstrengt, Corinne?“ fragte Tony lächelnd. „Nein, aber es ist schrecklich warm!“ „Ja, heute abend ist es ziemlich schwül“, gab Asbjörn zu. Und kaum hatte er das gesagt, als es blitzte. „Ach!“ rief Corinne. „Hast du etwa Angst vor Gewitter?“ „Ja“, kam es kläglich. „Ich kann nichts dafür… ich…“ Der Donner rollte so kräftig, wie er dies nur zwischen Bergen tun kann. Der Schall wurde von einer Bergwand zur anderen zurückgeworfen, und bevor er verhallt war, zuckte schon der nächste Blitz. Im Haus wurde es lebhaft. Schnelle Schritte waren zu hören, und Fenster wurden geschlossen. Noch ein Blitz und wieder Donner. Die arme Corinne. Sie war ganz blaß und zitterte wie Espenlaub. Tony legte den Arm um sie. „Schon gut, mein Schatz. Trifft dich jetzt der Blitz, so trifft er
auch mich, ist das nicht ein Trost?“ Corinne lächelte blaß. Auch Onkel Ferdinand kam herein. „Hast du das Fenster bei dir geschlossen, Asbjörn?“ „Nein, richtig…“ Asbjörn lief hinauf und schloß das Fenster. Als er zurückkam, trug er ein zweijähriges Kind im Arm, und die Mutter des Kindes folgte ihm; sie war fast ebenso bleich wie Corinne und hielt ein größeres Kind in der Hand. Es waren die Mieter aus Wohnung Nummer drei. „Entschuldigen Sie, Madame, aber dürfen wir hier bei Ihnen sitzen – die Kinder haben solche Angst, und ich… ach, mein Gott!“ In diesem Augenblick blitzte und donnerte es gleichzeitig. Der sechsjährige René schrie auf. „Du brauchst keine Angst zu haben“, redete Asbjörn ihm gut zu. „Weißt du, im Sommer haben wir häufig Gewitter, aber es geht schnell vorbei, und morgen scheint die Sonne wieder.“ Wir saßen um den Tisch im Wohnzimmer, die Familie, die Gäste und die Mieter. Nun kam auch noch das Ehepaar aus Nummer vier hinzu. Das war für uns nichts Neues: Menschen, die zum erstenmal ein richtiges Gewitter in den Bergen erleben, sind oft außer sich vor Angst. Und dieses Gewitter hatte es in sich. Ich betrachtete Asbjörn. Er hatte das zweijährige Kind der Mutter gegeben und hielt René auf dem Schoß. Er war ruhig, lächelte und strahlte Sicherheit aus. Der Kleine schmiegte sich an ihn, und jedesmal, wenn es blitzte, verbarg er sein Gesicht an seiner Brust. Asbjörn lächelte mich an. „Du hast keine Angst, Bernadette?“ „Aber nein. Ich habe es doch schon oft genug erlebt.“ Ich nähte weiter. „Schade“, sagte Asbjörn auf norwegisch. „Wieso ist es schade?“ „Weil es nett wäre, dich zu trösten!“ Ich mußte lächeln. „Sei froh, solange du mich nicht zu trösten brauchst.“ Im Morgenmantel und Pantoffeln erschien Grand’mère. Sie hatte für Gewitter gar nichts übrig. Um ganz aufrichtig zu sein: mir war auch nicht besonders wohl zumute. Aber jetzt waren schon so viele nervöse Menschen im Zimmer, daß es völlig genügte. Ich beherrschte mich also und nähte so schnell, daß ich den Rock fertig bekam. Mouche war vom Gang hereingekommen, wo sie ihr Körbchen hatte. Spornstreichs lief sie auf Asbjörn zu, stieß ihn mit ihrer Schnauze an und wollte gestreichelt werden. Ich sah Asbjörn an. Groß, stark und breit, wunderbar sicher saß er dort mit Kind und
Hund. Ja, das war der Asbjörn, den ich liebte. Das war der Mann, an den ich mich ein Leben lang zu binden wagte. Der Mann, mit dem ich gern Kinder hätte. So wollte ich ihn eines Tages mit seinem eigenen Kind, mit unserem Kind sitzen sehen! Dieser Gedanke war so schön, daß ich das Gefühl des Unheimlichen völlig vergaß. Jetzt entfernte sich auch das Gewitter ein wenig. Noch immer blitzte und donnerte es stark, aber es gab Pausen zwischen Blitz und Donner. Plötzlich rauschte der Regen nieder, es prasselte gegen die Scheiben und hämmerte gegen die Wände. Corinne richtete sich auf, strich sich über das Haar und lächelte ein wenig betreten. „Ich bin ein schrecklicher Angsthase…“ „Unsinn. Vielleicht hast du Angst, aber es gelingt dir sehr gut, dich zu beherrschen“, meinte Tante Cosima und erhob sich. „Und nun, meine Herrschaften, wie wäre es mit einem Gewitterkaffee?“ „Gewitter… wie hieß das?“ „Gewitterkaffee! Das ist in diesem Haus Tradition. Wenn wir hier zitternd zusammen gesessen haben, wollen wir es doch zum Schluß gemütlich haben. Und du“ – sie lächelte den Jungen auf Asbjörns Schoß an, „du bekommst Brauselimonade!“ Die Gesichter der Mieter leuchteten auf. Der Junge auf Asbjörns Schoß streckte sich, wich aber noch immer nicht von seinem sicheren Platz. Asbjörn unterhielt sich mit Onkel Ferdinand über Steinböcke. Onkel Ferdinand hatte sich die Pfeife angezündet und erklärte Asbjörn, wie er am besten auf die Ostseite der Aiguille d’Or gelangen könnte. „Du mußt aber früh aufbrechen“, sagte er. „Es ist ein langes Stück, und bei Sonnenaufgang mußt du dort sein.“ „Da werden wir wohl auf den Schlaf verzichten müssen“, meinte ich. „Gut, daß Tante Cosima einen so starken Kaffee gemacht hat!“ Asbjörn sah mich nachdenklich an: „Ist es nicht am besten, du bleibst zu Hause, Bernadette? Vergiß nicht, daß deine Mutter kommt, und du solltest doch ausgeruht sein. Und bekomme ich erst einmal diese Steinböcke zu fassen, lasse ich mir Zeit. Das muß ich, und das weißt du!“ „Ich pfeife auf jedes Ausgeruhtsein!“ entgegnete ich. „Glaubst du etwa, ich lasse dich diesen langen Marsch allein machen?“ „Ich habe nichts dagegen, allein zu gehen“, sagte Asbjörn. „Bleib du zu Hause, ruh dich aus und hilf Tante Cosima. Ich bin auch viel ruhiger, wenn ich allein bin und nicht ständig an den Rückweg
denken muß!“ Ich schluckte. Nicht ein Wort davon, daß es ihm leid täte und er mich vermissen würde. Nicht ein Wort, er hätte mich gern dabei. Und wie hatte ich mich auf die Steinböcke gefreut! Wie oft hatten wir von ihnen gesprochen! Na schön, wollte er allein gehen, dann konnte er schwarz werden, bevor ich ihn anbettelte, mitgehen zu dürfen! Aber wie enttäuscht war ich! Warum in aller Welt konnte er nicht sagen: „Ja, komm doch mit, Mäuschen, und dauert es zu lange, kannst du ja schon vor mir mit der Bahn abfahren!“ Meine gute Laune war wie weggeblasen. Ich war froh, als die anderen aufbrachen und ich mich in mein Zimmer zurückziehen konnte. Aber es war mir unmöglich, einzuschlafen. Mäuschenstill lag ich im Bett und lauschte. Als es drei Uhr schlug, stand ich auf, schlich in die Küche hinaus und begann, die Brote für Asbjörn zu streichen. Ich hatte das Päckchen gerade fertig, als ich seine behutsamen Schritte auf der Treppe hörte. „Guten Morgen, Asbjörn. Bitte, da hast du deine Verpflegung!“ „Aber wieso schläfst du denn nicht?“ Seine Stimme klang sanft und warm. Er umarmte mich und küßte mich. „Was ist denn, Mäuschen? Ist dir etwas in die Quere gekommen?“ „Nein, nicht im geringsten. Aber wenn du am liebsten allein gehen willst – so oft haben wir von diesen Steinböcken gesprochen…“ „Aber Bernadette!“ Seine Stimme klang ehrlich entsetzt. „Was ist das für ein Unsinn! Du weißt doch, wie gern ich dich dabei hätte – immer und überall. Ich habe wirklich nur daran gedacht, daß du doch hier sein mußt, wenn deine Mutter kommt, und daß ich…“ „Das kann ich doch aber! Sollte es bei deinen Bockviechern zu lange dauern, brauche ich nur die Bahn zu nehmen und kann heimkommen, wann ich will!“ Asbjörns Gesicht strahlte auf. „Kannst du das? Und bist du nicht zu müde?“ „Müde? Keine Spur. Wenn du wüßtest, wie viele Nächte ich damit verbracht habe, blöde Kleider für gleichgültige Menschen zu nähen – und da sollte ich zu müde sein, um mit dir ins Gebirge zu gehen und Steinböcke zu filmen! Da, nimm die Verpflegung, füll die Thermosflasche mit heißem Wasser aus dem Behälter, denn ich habe
keine Zeit mehr, Kaffee zu machen – dort in der kleinen Büchse ist Nescafe – und bis du alles in den Rucksack gesteckt hast, bin ich fertig!“ Es stimmte. Ich zog mir die Wolljacke und den Anorak an, griff schnell ein Kopftuch, und dann wanderten wir davon. Es war ein langer Aufstieg bis zu dem Punkt, wo wir uns mit der Kamera niederlassen mußten. Die Ostwand der Aiguille d’Or endet in einem engen Tal; daher mußten wir mit unseren Filmsachen auf der anderen Seite des Tales einen Platz finden. Es wäre noch einigermaßen einfach gewesen, hätten wir die Seilbahn nehmen können. Aber bis die Bahn am Morgen den Betrieb aufnahm, waren die Steinböcke vielleicht längst über alle Berge. Also gingen wir zu Fuß und rackerten uns wie üblich ab. Nach dem Gewitter war die Luft wunderbar frisch. Noch immer tropfte es ein wenig von den Bäumen. Als wir über die Baumgrenze gelangt waren, schlug uns das nasse Gestrüpp und das Krüppelholz mit seinen Zweigen um die Beine. Ich ging voraus, denn ich kannte mich dort am besten aus. Hin und wieder wandte ich mich um und lächelte Asbjörn an. Als der Pfad nicht mehr so steil anstieg und wir auf eine fast ebene Stelle gelangt waren, blieb er stehen. „Wollen wir eine Minute verschnaufen?“ „Ja, das tun wir.“ Wir blieben nebeneinander stehen und blickten zurück über das steile Gelände, das wir hinter uns gebracht hatten. „Du bist wunderbar gut zu Fuß“, meinte Asbjörn. „Ich bin die Tochter meines Vaters und Onkel Ferdinands Nichte“, antwortete ich. „Das ist wohl die Erklärung. Außerdem…“ „Was außerdem?“ „Außerdem bin ich in dich verliebt, du Scheusal. Aber sag, Asbjörn, warum wolltest du mich eigentlich nicht mitnehmen?“ „Wollte ich nicht? Was ist das für ein Unsinn!“ „Du hast gesagt, du gingst gern allein.“ „Das tue ich doch auch. Am liebsten mit dir, und wenn das nicht geht, gehe ich gern allein.“ „Aber es ließ sich doch machen. Du hättest nicht nein zu sagen brauchen.“ „Das konnte ich doch nicht wissen, Bernadette!“ „Aber Asbjörn, wenn du mich wirklich gern mitgenommen hättest, hättest du darüber nachgedacht und mich gefragt, ob ich
nicht vielleicht allein mit der Seilbahn nach Hause fahren könnte – du hättest dir alle Möglichkeiten zurechtgelegt…“ Jetzt sah Asbjörn mich ernst an. „Paß auf, Bernadette, weißt du eigentlich, daß du schrecklich empfindlich bist?“ „Bin ich das?“ „Ja, Mäuschen, das bist du. Du bist ein richtiges Sonnenkind und das liebevollste Wesen, dem ich jemals begegnet bin; unendlich nachgiebig, wenn es darum geht, dich nach den Wünschen anderer zu richten, ob das nun Mariettas Rock ist oder etwas anderes. Aber – du wirst doch nun nicht beleidigt sein?“ „Das glaube ich nicht. Nur heraus damit!“ „Bist du nicht sehr verwöhnt? Bist du es nicht gewohnt, daß deine Wünsche ebenso selbstverständlich erfüllt werden, wie du auf die Wünsche anderer eingehst?“ Ich starrte ihn an. Was er da sagte, war für mich ganz neu. „Das… das ist möglich, Asbjörn. Ich weiß es nicht.“ „Siehst du, du hast doch auf diese Tour mitkommen wollen. Du hast gewollt, ich sollte sofort ja sagen – und was du dir einmal in dein Köpfchen gesetzt hast, muß durchgeführt werden. Stimmt’s?“ „Ich… ich weiß es nicht, Asbjörn. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich glaube, ich kann auf etwas verzichten, wenn ich dadurch anderen eine Freude bereite. Aber…“ „Aber – die erhabene Kunst des Verzichtens hast du noch nicht erlernt, mein Schatz!“ Ich dachte angestrengt nach. Für mich war das neu und schwierig. Bis dahin war in meinem Leben immer alles glatt und leicht gegangen. Kein Mensch hatte verlangt, ich sollte über mich selber und meine eigenen Fehler und Schwächen nachdenken. Die Sache war nur die, wenn Asbjörn mich wirklich liebte – mich so grenzenlos liebte wie ich ihn, dann… „Was ist? Die Falten auf deiner Stirn stehen dir nicht.“ „Nein, das tun sie vielleicht nicht…“ Es fiel mir schwer, mit dem fertig zu werden, was Asbjörn mir soeben gesagt hatte. Ich könnte nicht verzichten – was ich wollte, wollte ich – ich wäre verwöhnt… Da kam eine große warme Hand und schloß sich um die meine. „Bernadette!“ „Ja?“ „Matterhorn!“ Ich hob den Kopf und blickte ihm ins Gesicht. Und da war alles Schwere wie weggeblasen. Ich sprang hoch und
schlang die Arme um seinen Hals. „Ach, Asbjörn! Ich liebe dich so sehr!“ „Und ich dich!“ „Und jetzt müssen wir zu den Steinböcken!“ „Das müssen wir.“ Es war mühsam, die letzten Meter hinaufzukriechen. Aber dafür hatten wir nun die Felswand genau gegenüber und konnten das Stativ aufstellen. Ich blickte durch den Feldstecher, während Asbjörn die Kamera herrichtete. Dann zupfte ich ihn am Ärmel, machte ihm ein Zeichen und gab ihm den Feldstecher. Wir hatten uns eine Art Zeichensprache zugelegt; Asbjörn machte die Handbewegung, die bedeutete: „Zu weit weg, wir müssen warten.“ Hier oben war es naß, zu naß, um sich zu setzen. Es ist sehr ermüdend, Minute um Minute still zu stehen, eine Viertelstunde nach der anderen am gleichen Fleck. Abwechselnd blickten wir durch den Feldstecher. Dort drüben rührte sich etwas, richtig – ein paar prachtvolle lange Hörner, ein Kopf, der hinter einem Stein auftauchte – wir standen mindestens zweihundert Meter entfernt, aber trotzdem wagten wir kaum zu atmen. Dort! – Nun fielen die Strahlen der Sonne auf den Mittelteil der Bergwand – und fast hätte ich einen Schrei ausgestoßen. Denn jetzt trat der große Steinbock völlig hervor und ging ein Stück weiter abwärts, auf die Mitte der Felswand zu – und hinter ihm kamen noch mehr – wahrhaftig: ein Muttertier mit einem Jungen. Auf einem Vorsprung fanden sie etwas Gras und begannen friedlich und in aller Ruhe zu äsen. Die Kamera surrte ihre leise Melodie, gleichmäßig und beruhigend. Nun tat das Junge ein paar Sprünge, und das Teleobjektiv folgte jeder Bewegung. Das Rudel zog sich zurück und entfernte sich aus unserem Blickfeld. Asbjörn lächelte mich an, und ich drückte seine Hand. Weit in der Ferne hörten wir das schwache Geräusch der Seilbahn. Die erste Kabine schwebte nach oben. Ich blickte auf die Uhr. Halb neun. Ich flüsterte Asbjörn ins Ohr: „Du! Ich brauche eine Stunde bis zur Zwischenstation Écueil Marmotte, weißt du, ich glaube, ich muß jetzt aufbrechen.“ „Ich danke dir, daß du mitgekommen bist, Liebling, und denk an das, was ich dir gesagt habe!“
„Was hast du gesagt?“ Da flüsterte er mir ganz leise ins Ohr: „Matterhorn!“ Um mich her waren die Frische des Morgens und Sonnenschein, Berggipfel und springende Bäche. Einmal huschte eine Kreuzotter über den Pfad. An einem Bach legte ich mich auf den Bauch und trank; ich trank wie ein Tier, mit dem Mund in dem eiskalten, sprudelnden Wasser. Nicht weil ich durstig war, sondern weil das reine Bergwasser so wunderbar schmeckt. Zum erstenmal ging ich allein so weit oben in den Bergen. Bis dahin war ich stets mit Onkel Ferdinand oder mit Tony gegangen – oder mit Asbjörn. Ich kam mir dort klein vor, so demütig klein in der überwältigenden Natur. Ich war in einer sonderbaren Stimmung. Ein tiefes, inniges Glück erfüllte mich. Ein ganz neues Glücksgefühl, wie ich es niemals zuvor erlebt hatte. Auf einmal blieb ich stehen. Plötzlich verstand ich Asbjörn. Ich verstand, daß er gern allein durch die Berge ging. Denn diese erhabene Einsamkeit, dieser Kontakt mit der Natur und diese unfaßbare Stille – sie ließen sich mit nichts vergleichen. Ich ging langsamer. Ich wollte diese Wanderung in die Länge ziehen, sie so lange wie möglich genießen. Und trotz allem – eine tiefe Freude durchzog mich – , trotz allem wollte Asbjörn mich doch am allerliebsten bei sich haben! Ich lächelte vor mich hin, während ich den schmalen gewundenen Pfad entlang ging. Ich war nun auf den Hauptpfad gelangt, der in vielen steilen Kurven nach Villeverte hinabführte. Ich spürte die Anstrengung schon in den Beinen. Und im Grunde war ich ganz froh, daß ich nun die Seilbahn nehmen konnte. Die Seilbahn! Ich hatte kein Geld bei mir! Auch das noch! Das hatte ich völlig vergessen. Hätte es sich um die liebe kleine Bahn zur Silberhütte gehandelt, wäre es kein Problem gewesen, Carlo hätte mir bestimmt Kredit gegeben – aber mit der feinen Bahn nach der Aiguille d’Or stand ich nicht so auf Du und Du – das war eine schöne Bescherung! Es blieb mir nichts übrig, als zu gehen. Ich ging und ging. Nun schwebte eine Kabine über meinem Kopf hinweg hinab. Eine große Kabine für zwanzig Fahrgäste. Sie war leer und sollte, hinab, um die ersten Touristen dieses Tages heraufzuholen. Ja, die konnten lachen! Mitten in einer Kurve begegnete ich Franz mit seinen Maultieren. „Sehe ich richtig! Fängst du jetzt etwa an, in den Bergen zu übernachten, Bernadette? Und wo ist dein Verlobter?“
„Ach, der liegt ganz oben in den Bergen und filmt Steinböcke.“ „Damals hätte er mit seiner Kamera dabeisein sollen, als wir dich auf Brunos Rücken hinunterverfrachteten“, meinte Franz. „Das wäre eine schöne Aufnahme geworden! Na, mach’s gut, ich muß hinauf!“ Ich ging, in tiefe Gedanken versunken, weiter. Franz hatte mir einen Gedanken eingegeben. Wenn wir den ganzen Unglücksfall von damals rekonstruierten – wir könnten Tony mitnehmen, er könnte meinen Fuß verbinden, und dann müßte Franz Bruno festhalten, während Tony mich hinaufhob – und dann die Bilder von Bruno, wie er die steilsten Hänge hinabtrottete, im Hintergrund die schneebedeckten Gipfel und ich auf Brunos Rücken – wäre nicht das eine gute Einlage in einem Alpenfilm?
Ein Brief aus Frankfurt „Ja“, sagte Mutti lächelnd. „Ich habe ehrlich gesagt keine Übung darin, Schwiegersöhnen zu begegnen; ich weiß daher nicht richtig, wie man so etwas macht. Ich glaube, man sagt von Anfang an du, nicht wahr?“ „Ja, wenn man den Schwiegersohn anerkennt“, antwortete Asbjörn lachend. „Ich möchte hinzufügen, daß alle im Haus sofort du zu mir sagten – ich bin sogar mit Grand’mère per ,tu’!“ „Damit wäre die Sache erledigt“, sagte meine Mutter. „Nun sollte ich dich in die Arme nehmen, Asbjörn, aber du bist mir um ein paar Nummern zu groß!“ „Wir können es umgekehrt machen“, schlug Asbjörn vor, schlang seine Arme um Mutti und hob sie in die Luft, als wäre sie eine Puppe. „Mein Problem ist viel schwieriger“, erklärte er, als er sie wieder auf den Boden gestellt hatte. „Wie in aller Welt soll ich dich nennen? Ich kann doch nicht zu etwas so Kleinem und Zartem Schwiegermutter sagen!“ „Nenn mich doch Ester“, meinte Mutti. „Das tue ich, bis mir was Besseres einfällt!“ Ich stand dabei und lächelte glücklich. Gibt es etwas Schöneres, als wenn zwei Menschen, die man liebt, zusammenkommen und sich verstehen? Und dies war ein voller Erfolg. „Nur eins wundert mich, Mutti“, sagte ich, als wir uns bald darauf zum Abendessen an den Tisch setzten, „du schienst nicht die Spur erstaunt, daß ich mich sozusagen Hals über Kopf mit Asbjörn verlobt habe!“ „Sie war es ja auch nicht!“ schmunzelte Onkel Thomas. „Sie hat nur eine Träne der Rührung weggewischt und dann die denkwürdigen Worte gesprochen: ,Ich wußte doch gleich, daß das so ausgehen würde!’“ „Hast du denn einen sechsten Sinn, Mutti?“ fragte ich. „Nein“, antwortete meine Mutter. „Aber ich habe dein Gesicht gesehen an dem Tag, nachdem du bei Frau Grather gewesen warst und einen Anorak für ihren Neffen genäht hattest.“ „Mein Gesicht? Na und?“ „Nichts weiter. Eine Mutter kann in dem Gesicht ihrer Tochter
ziemlich viel lesen.“ „Und was hast du gelesen?“ „Daß du, kurz gesagt, bis über beide Ohren verliebt warst. Und dein Gesicht hat sich seitdem nicht sehr verändert“, fügte sie hinzu. Im Chalet Cosima ging es nun noch lebhafter und lustiger zu als jemals zuvor. Da saßen wir, eine große, bunt zusammengewürfelte Familie aus sieben Mitgliedern, unterhielten uns und amüsierten uns köstlich – und das, obwohl uns nicht eine einzige Sprache gemeinsam war! Alle konnten zwar mit allen reden, nur nicht gleichzeitig! Mutti redete norwegisch nach rechts und italienisch nach links, Asbjörn wechselte zwischen Norwegisch, Deutsch und Französisch hin und her – kurz gesagt, es ging bei uns sehr lebhaft und munter zu. Daß Asbjörn in der allgemeinen Begeisterung auf norwegisch sagte „Grand’mère, es schmeckt märchenhaft“, das machte schon gar nichts mehr aus, denn diese Worte hätte sie verstanden, und hätte er sie auf eskimoisch gesagt. „Erzählt mir jetzt nur noch eins, ihr beiden“, fragte Mutti, als wir beim Kaffee saßen. „Wann habt ihr eigentlich vor zu heiraten?“ „So bald wie möglich, wenn du mir die Erlaubnis dazu gibst“, antwortete ich. „Erlaubnis?“ wiederholte Mutti und sah wie ein lebendiges Fragezeichen aus. „Seit wann hast du eigentlich damit angefangen, mich um Erlaubnis zu fragen?“ „Heute“, sagte ich. „Ich bin doch nicht volljährig.“ „Du bist noch nicht volljährig!“ lachte Mutti. „Ich habe das Gefühl, das bist du dein ganzes Leben lang gewesen. Wenn ihr beiden euch wirklich liebt, so heiratet nur. Und wenn ihr es in Norwegen machen könntet, würden wir uns sehr darüber freuen, nicht wahr, Thomas?“ Onkel Thomas nickte zustimmend. „Es wird wohl das einzige Mal sein, daß wir Gelegenheit kriegen, eine Hochzeit auszurichten“, meinte er. „Du kannst es zur Bedingung machen, Ester! Hochzeit in Norwegen oder ein Jahr warten!“ Asbjörn lachte. „Es wird kaum notwendig sein, Bedingungen zu stellen. Mir paßt es nämlich sehr gut, so ungefähr im Oktober nach Norwegen zu fahren. Wenn also Bernadette bis dahin ihre Aussteuer fertig haben könnte…“ „Und ob ich das kann! Weißt du nicht, daß du mit einer Schneiderin verlobt bist?“
„Doch, mir schwant so was.“ „Also gut“, meinte Mutti. „Sagen wir im Oktober. Das genaue Datum könnt ihr uns später mitteilen.“ Ich hatte die ganze Zeit über für die anderen übersetzt, und Tante Cosima sah nun nicht ganz glücklich aus. „Es ist doch ein Jammer, daß wir Bernadette nicht als Braut sehen sollen!“ „Kommt doch! Ihr seid herzlich willkommen“,versicherte Mutti. „Du hast gut reden! Die teure Reise! Außerdem ist Grand’mère doch nicht mehr die jüngste, und zwei bis drei Tage auf der Eisenbahn herumrutschen…“ Da erhob Grand’mère ihre Stimme. „Wenn ihr glaubt, daß ich mein einziges Enkelkind heiraten lasse, ohne selber dabei zu sein, so irrt ihr euch“, erklärte sie energisch. „Ich habe noch etwas Geld in einem Strumpf, und das wird jetzt für eine Flugkarte nach Norwegen verwendet!“ „Grand’mère!“ rief Asbjörn. „Du bist doch nicht zu schlagen! Ich hole dich mit dem Auto in Oslo ab und fahre dich nach Heirevik…“ „Hm“, meinte Grand’mère, „mein Mut langt zwar zu einer Flugreise, aber ob er für eine Fahrt mit deinem sogenannten Auto ausreicht…“ „Grand’mère, willst du Asbjörn beleidigen?“ Da lächelte Grand’mère ihr schalkhaftes Jungmädchenlächeln und streichelte Asbjörns Wange. „Es war doch nur ein Scherz. Komm du nur zum Flugplatz und hol mich ab, und du wirst sehen, wie schön wir beide zusammen nach Heirevik gelangen…“ „Wir sparen die Kochhilfe, Thomas“, rief Mutti. „Grand’mère läßt sich um nichts in der Welt die Gelegenheit nehmen, selber das Hochzeitsessen zu kochen!“ „Stimmt“, antwortete Grand’mère. „Ich habe an Schwalbennestersuppe und Bachforellen Gourmet gedacht, Rebhühner à la Diana und gefüllte Pfirsiche.“ „Ob sie wohl auch daran gedacht hat, wer es zahlen soll?“ murmelte Onkel Thomas leise auf norwegisch. Onkel Thomas ist ein alter Jotunheimwanderer und hatte Lust auf eine Tour in den Alpen. Asbjörn hatte seinen Adlerhorst noch nicht gefilmt. So beschlossen die drei Männer, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden: sie zogen eines Morgens um drei mit Eispickeln und Seilen los; Asbjörn und seine Apparate sollten auf einen Felsvorsprung oberhalb des Adlerhorstes hinabgelassen
werden. Dort wollte er bleiben, während die beiden anderen ihre Tour fortsetzen und meinen Kameramann auf dem Rückweg abholen würden. So machten wir Frauen uns einen gemütlichen Tag zu Hause. Es war schön, wieder mit Mutti zusammen zu sein. Wir machten Besorgungen miteinander. Danach saßen wir in meinem Zimmer und unterhielten uns, während Grand’mère kochte und Tante Cosima abwechselnd Gemüse einweckte und sich um Gäste kümmerte, die abreisten, und um die neuen, die eintrafen. „Nur eins ist mir unklar“, sagte Mutti. „Wo werdet ihr wohnen?“ „Das ist mir auch unklar“, lächelte ich. „Auf jeden Fall behalte ich vorläufig meine Bude in Heirevik. Mit gutem Willen und viel Liebe ist sie groß genug für zwei, und so haben wir einen Unterschlupf, etwas, das uns ganz allein gehört – später müssen wir dann sehen, wie es weitergeht. Wahrscheinlich wird Asbjörn ohnehin in die seltsamsten Gegenden auf dieser Welt geschickt, und ich werde ihn begleiten, so daß wir zunächst einmal am allerwenigsten einen festen Wohnsitz brauchen!“ „Ist er denn in Frankfurt fest angestellt?“ „Ja. Es ist also nur noch eine Frage der Zeit, wann wir uns dort eine Wohnung besorgen werden.“ „Aber wenn die Kinder kommen, Bernadette?“ „Das überlegen wir uns dann! Entweder wird mein Erstgeborenes ein Heirevik-Kind oder ein Frankfurter Würstchen – vielleicht auch etwas ganz anderes. Denk doch an dich selber, in was für ein vaterländisches Durcheinander du mich gebracht hast!“ Mutti lächelte. Dann fragte sie nach Asbjörns Arbeit, und nur zu gern packte ich aus, bis wir von Tante Cosima unterbrochen wurden. Mutti sollte in die Küche kommen und Grand’mère erklären, wie man die eingelegten Berghimbeeren anrichten sollte, die Onkel Thomas mitgebracht hatte. Und für mich sei ein Brief da. Ich drehte den Brief hin und her. Deutsche Briefmarken, Poststempel Frankfurt. Komisch. In Frankfurt kannte ich doch niemanden. Als ich den Brief öffnete und einen Blick auf die Unterschrift warf, platzte ich schon beinah vor Neugier. „Mit freundlichen Grüßen Ihre dankbare Elsbeth v. Krohn.“ Ich hatte keine Ahnung, daß es einen Menschen mit Namen Elsbeth von Krohn gab, und noch weniger ahnte ich, warum die
Dame mir dankbar war. So setzte ich mich also hin und las: Sehr geehrtes Fräulein Bonassi! Es hat mich viel Mühe gekostet, Ihren Namen und Ihre Adresse in Erfahrung zu bringen, aber dies ist mir schließlich mit Hilfe der hiesigen Kriminalpolizei gelungen, die sich mit der Polizei in Villeblanche in Verbindung setzte. Ich weiß nicht einmal,- ob Sie Deutsch verstehen; nach Ihrem Namen zu schließen, sind Sie wohl Italienerin? Als ich mein Brillantenkollier zurückerhielt, das mir im Juni in einem Hotel in der Schweiz gestohlen wurde, war ich denkbar glücklich. Ich will nicht verheimlichen, daß es sich dabei um einen sehr wertvollen Schmuck handelt, außerdem hat er für mich einen unbezahlbaren ideellen Wert. Von der Polizei erfuhr ich, ein junges Mädchen im Wallis habe den Dieben gegenüber Verdacht geschöpft – sie sollen bei Ihnen in einem Chalet gewohnt haben – , und bei einer gründlichen Untersuchung ihres Wagens wurde mein Schmuck wie ein großer Teil anderer gestohlener Sachen gefunden. Wenn ich Ihnen jetzt schreibe, so geschieht dies aus drei Gründen. Zunächst einmal, um Ihnen meinen herzlichsten Dank auszusprechen. Zweitens um Sie zu fragen, in welcher Form ich Ihnen zum Dank eine Freude machen kann. Selbstverständlich will ich mich Ihnen gegenüber auf die eine oder andere Weise erkenntlich erweisen, aber da ich nichts von Ihnen weiß, ahne ich nicht, ob Ihnen mit einem Barbetrag gedient ist, oder ob Sie sich vielleicht über einen Fernsehapparat freuen würden? Mein Sohn ist nämlich Fabrikant von Radio- und Fernsehapparaten. Und der dritte Grund ist der, daß ich einfach neugierig bin. Wie in aller Welt wurden Sie mißtrauisch und wie konnte dieses Diebespaar gestellt werden? Wären Sie so nett, mir mit ein paar Zeilen zu antworten? Es würde mich sehr freuen. Mit freundlichen Grüßen Ihre dankbare Elsbeth v. Krohn Mit offenem Mund blieb ich sitzen. So etwas! Da hatten wir also wochenlang ein durchtriebenes, berufsmäßiges Diebespaar
beherbergt! Erst stopften sie den Wagen mit Diebesbeute voll, dann nahmen sie sich eine äußerst bescheidene Wohnung in einem einfachen Chalet, während sich die Polizei an allen Grenzübergängen und auf allen Hotellisten vergeblich nach ihnen umsehen mußte. Wären sie nicht so unersättlich gewesen, auch die Wohnung Nummer fünf ausrauben zu müssen, so hätten sie nach einiger Zeit über die Grenze entwischen können. Mein erster Gedanke war, in die Küche zu stürzen und den anderen von Elsbeth von Krohn zu erzählen, aber dann überlegte ich es mir anders. Ich wollte vorläufig nichts verraten und später alles berichten. Ich holte mein feinstes Briefpapier hervor und schrieb: Sehr geehrte gnädige Frau! Tausend Dank für Ihren Brief. Ich verstehe Deutsch sehr gut, kann es aber nicht so gut schreiben. Ich würde Ihnen so gern die ganze Geschichte von den beiden Dieben erzählen, befürchte aber, daß „der, die und das“ beim Schreiben oft durcheinanderpurzeln würden. Nächste Woche muß ich nach Frankfurt reisen. Falls Sie nichts dagegen haben, werde ich mir erlauben, Sie dann aufzusuchen, so daß Sie die ganze Geschichte mündlich von mir erfahren. Es ist außerordentlich liebenswürdig von Ihnen, mir eine Belohnung geben zu wollen, aber ich freue mich so sehr darüber, daß der Zufall mir geholfen hat, diese beiden Diebe entlarven zu können. So liegt in der Freude allein eine ausreichende Belohnung. Auch ich bin sehr neugierig darauf, mehr über unsere feinen Mieter zu erfahren! Darf ich also „Auf Wiedersehen“ sagen? Mit ergebenem Gruß Ihre Bernadette Bonassi Ich las den Brief dreimal durch und überzeugte mich davon, daß auch wirklich „die Geschichte“ und „der Zufall“ dastand, und lief zur Post. Tante Cosima gegenüber behauptete ich, der Brief sei ein Gruß von einer Schulfreundin, die ihre Ferien in Frankfurt verbrachte.
Dann lachte ich vergnügt in mich hinein. Klar, daß ich Elsbeth von Krohn in Frankfurt aufsuchen würde, während Asbjörn mit seinem Filmdirektor zu tun hatte! Gegen Abend kamen die Männer nach Hause; müde und erschöpft, aber sehr mit sich und ihrem Tag zufrieden. Asbjörn hatte den größten Teil des Tages auf einem winzigen Felsvorsprung verbracht und mit Hilfe seines größten Teleobjektivs einen ganzen Film von den Adlerjungen gedreht; sogar von der Adlermutter, die ihnen ihre Beute brachte. „Aber den wirst du dir nicht ansehen können, Bernadette“, fügte er hinzu. „Denn diese Adlermutter hat ihren Kindern frischgefangene Murmeljunge serviert.“ Ich erschauerte. Ich weiß sehr wohl, wie unbarmherzig die Natur ist; ich weiß, daß Raubtiere und Raubvögel andere Tiere töten müssen, um zu leben – aber wenn ich an die süßen, kleinen Murmelchen dachte… „Du hast dich doch hoffentlich festgebunden, Asbjörn?“ fragte ich streng. „Natürlich. Onkel Ferdinand hatte es mir befohlen. Ich wurde am Seil herabgelassen, nachdem er mir eingeschärft hatte, ich dürfte dieses Seil erst lösen, wenn ich mich mit einem anderen festgebunden hatte. Ich habe also den ganzen Tag über wie ein Kettenhund dagestanden – du hast alle Ursache, mich zu bemitleiden.“ „Mein Mitleid ist grenzenlos! Grand’mères ebenfalls. Sie hat etwas gekocht, was sie ,Bollito misto’ nennt, und zum Nachtisch gibt es Berghimbeeren mit Sahne!“
Barry Nun fehlten uns nur noch die Bernhardiner, dann wollten wir nach Frankfurt fahren, wo Asbjörn weitere Anweisungen bekommen sollte. Und wir würden uns dort ansehen, was bisher gedreht war. Ich war wahnsinnig gespannt. Lieber Gott, bitte, bitte, laß meine Lawine gut gelungen sein! betete ich innerlich jedesmal, wenn ich an mein heimliches Filmen auf dem Gornergrat dachte. Mutti und Onkel Thomas wollten ebenfalls über den Großen St. Bernhard fahren, und so brachen wir gemeinsam auf – die beiden vornweg in Onkel Thomas’ großem Wagen, und wir hinterher in der Seifenblase. Wir waren ein wenig zu spät weggekommen und konnten daher erst im Laufe des Nachmittags dort eintreffen. Ich machte mir Sorgen um Asbjörn; er saß nur in Hemdsärmeln in dem offenen Wagen, und Onkel Ferdinand hatte mich vor dem Abendnebel auf dem St. Bernhard gewarnt. Er legt sich wie eine eiskalte feuchte Decke über die Berge, das Quecksilber im Thermometer fällt ungemein schnell, und man schnattert vor Kälte. Die letzten Kurven fielen unserer armen, kleinen Seifenblase sehr schwer. Wir mußten im ersten Gang hinaufschleichen. Ich zog den Reißverschluß meines Anoraks ganz hoch und band mir ein Wolltuch um den Kopf. „Asbjörn, willst du dir nicht etwas anziehen?“ „Ich kann hier nicht anhalten.“ „Aber dann bei der ersten Gelegenheit – du wirst dich erkälten, denn es wird mit jeder Minute kälter…“ „Stör mich jetzt nicht, Bernadette, diese Fahrerei ist wahrhaftig nicht so leicht…“ So ein Dickkopf! Ich streckte meinen Arm nach hinten aus und suchte in meiner Tasche, bis ich einen Pullover gefunden hatte. Den legte ich ihm um die Schultern. Er schüttelte sich ärgerlich. „Laß das doch sein, der rutscht nur runter…“ Seine Stimme klang so schroff, daß ich es nicht wagte, ihm zu widersprechen. Ich hätte ihm leicht die Ärmel vorn auf der Brust zusammenknüpfen können, so daß der Pullover zumindest seinen Rücken gewärmt hätte – aber das getraute ich mich nicht. Allmählich lernte ich Asbjörn besser kennen. Wenn er sich auf eine Sache
konzentrierte – ob Filmen, Fahren – war er davon so hundertprozentig in Anspruch genommen, daß jede Ablenkung ihn störte. Aber ich war so unglücklich, wenn er diesen harten, ungeduldigen Ton anschlug. Nun kroch der Nebel grau und feuchtkalt über die Berge, kam immer näher und versperrte die Aussicht. Ein unheimliches Gefühl beschlich mich. Ich war unsagbar erleichtert, als die Mauer des Klosters vor uns auftauchte. Wir waren völlig durchgefroren und von Herzen froh, daß wir uns telefonisch Zimmer bestellt hatten. Aber im Hotel empfing man uns mit erstaunten Augen. Wie bitte? Drei Zimmer? Aber hatten wir nicht entweder ein Doppelzimmer oder zwei Einzelzimmer bestellt? Ein Doppelzimmer war reserviert, aber außer diesem fand sich nicht ein einziges freies Zimmer, das Hotel war überbelegt! Es nützte nichts, den Leuten zu erklären, daß wir nicht „entweder, oder“ bestellt hatten, sondern beides. Daß das französische „et“ als ein „ou“ aufgefaßt worden war. „Aber vielleicht können die Herren im Kloster übernachten!“ tröstete uns die Sekretärin beim Empfang. Onkel Thomas und Asbjörn gingen über die Straße hinüber, und gleich darauf kehrte Onkel Thomas zurück. Ja, sie könnten ein Zimmer im Kloster bekommen. „Und wo ist Asbjörn abgeblieben? Ist er für immer ins Kloster gegangen?“ fragte ich. „Das erscheint mir nicht unmöglich. Auf jeden Fall stand er, als ich wegging, in ein Gespräch mit einem Mönch vertieft. Er wird schon noch kommen. Sehen wir nur um Himmels willen zu, daß wir etwas Warmes in den Magen bekommen. Ich habe Asbjörn gesagt, er könnte uns im Speisesaal finden!“ Wir hatten bereits die warme Suppe gegessen, als Asbjörn erschien. Er war zufrieden, munter und mitteilsam. Ja, diesen Nebel hätten sie jeden Abend; das sei der Preis, den sie für die strahlenden Vormittage zahlen müßten, hätte ihm der junge Mönch erklärt. Und das Filmen der Hunde? Tja, das sei nicht so einfach. Die Hunde wären den ganzen Tag über in ihren Boxen und kämen nur am Morgen und am Abend eine Stunde heraus. Jetzt während der Reisesaison könnte man sie unmöglich frei laufen lassen. Im Winter sei das etwas anderes. Aber Asbjörns neuer Freund wollte zusehen, was sich machen ließe. Er war selber Hundespezialist und liebte
seine Hunde sehr. Wenn Asbjörn am nächsten Tag kurz vor Sonnenaufgang da sein könnte, so dürfte er eine Stunde lang filmen, soviel er wollte. „Ein wirklich netter Kerl“, versicherte Asbjörn. „Unglaublich belesen. Was der alles wußte! Und denkt nur, diese Mönche – oder Augustiner-Chorherren, wie sie eigentlich heißen – sind alle miteinander ausgebildete Bergführer und große Skiläufer! Ich glaube, ich muß meine Ansichten von den Mönchsorden revidieren. Und wie heiter er war, mein Freund! Keine Spur von strenger Feierlichkeit oder dergleichen. Wenn wir morgen früh mit dem Filmen fertig sind, will er uns das Museum im Kloster zeigen. Es soll sehr interessant sein.“ Asbjörn war wieder ganz er selber, freundlich und fröhlich. Er ahnte nicht, wie mürrisch und unfreundlich er auf der Fahrt gewesen war. Aber das war nun etwas, woran ich mich gewöhnen mußte. Ich mußte lernen, ihn nicht zu stören, wenn er von einer Arbeit sehr in Anspruch genommen war. Ich mußte lernen, ihn nicht zu reizen. Dieser Gedanke tat mir weh: daß ich ihn anscheinend hin und wieder reizte – so gern wir einander auch hatten! Das verstand ich nicht. Hätte mich selber eine Arbeit sehr beschäftigt und Asbjörn wäre gekommen und hätte mich gestört, wäre ich nicht böse geworden und hätte mich niemals ungeduldig gezeigt. Ich würde ihn anlächeln und nett zu ihm sagen, ich sei im Augenblick sehr beschäftigt; ob er nicht einen Augenblick warten könne? Und dann würde ich ihm schnell einen Kuß geben, bevor ich in meiner Arbeit fortführe… Aber immerhin… Man konnte schließlich nicht verlangen, daß er mich küßte, während er gleichzeitig den Wagen durch Haarnadelkurven und im Nebel zum Großen St.Bernhard hinauffuhr! Ich mußte über mich lächeln und schüttelte wieder einmal die kleine Unruhe ab, die mich beschlichen hatte. Mutti und ich bekamen ein geradezu rührend altmodisches Hotelzimmer mit hohen Betten und einem Waschtisch mit Waschschüssel und Krug. Dazu Wärmflaschen in den Betten, und diese Wärmflaschen waren das Allerschönste! Wir verpackten uns von oben bis unten in Wolle, man hätte meinen können, wir wären am Nordpol und nicht an der Grenze zwischen der Schweiz und Italien!
Sofort war ich auf, als um fünf Uhr der Wecker klingelte. Vor dem großen Hundezwinger traf ich Asbjörn und den jungen, schwarzgekleideten Mönch. Er hatte ein schönes, fast klassisches Gesicht und leuchtende, kluge Augen. Mit Asbjörn sprach er fließend Deutsch, wandte sich dann zu mir und redete französisch; aber als er erfuhr, ich sei eine halbe Italienerin, wechselte er auf diese Sprache über – und jede beherrschte er ebenso fließend und fehlerfrei. Die Tür ging auf, die herrlichen Bernhardiner stürzten heraus und füllten das eingezäunte Gelände mit Leben und ihrem Spiel. Unter ihnen waren auch ein paar Welpen, und etwas Süßeres und Tolpatschigeres als so einen zottigen Bernhardiner-Welpen kann man sich gar nicht vorstellen. Zehn Minuten lang durften sie sich austoben. Dann kam der Hundewärter, bürstete und striegelte sie, während Asbjörns Kamera surrte, denn jetzt war gerade die Sonne aufgegangen. Dann durften wir zu ihnen hinein. Es waren liebe, gutmütige Hunde. Sie schnüffelten an uns herum und ließen sich nur zu gern streicheln – der kleinste in der Gesellschaft kaute begeistert an einem meiner Schnürsenkel. Aber Asbjörn stand drüben bei dem Senior der Gesellschaft, dem riesigen „Barry“. Der Zuchtrüde heißt immer Barry, erklärte der Mönch. Asbjörn streichelte das dichte Hundefell, und der Hund schmiegte den Kopf an ihn, so wie auch Mouche es tat. „Weißt du“, sagte Asbjörn, und nun klang seine Stimme so sanft wie niemals zuvor, „weißt du, daß mir in diesem Augenblick ein Wunsch erfüllt wird, den ich seit achtzehn Jahren mit mir herumschleppe? Als ich sechs Jahre alt war, erzählte mir meine Mutter von dem klugen Hund Barry – das war also Barry L, der so viele Menschen vom Tod im Schnee errettet hatte. Von diesem Augenblick an wünschte ich mir brennend, diese Hunde einmal zu sehen, sie lebend vor mir zu haben – und nun stehe ich also hier mit Barry persönlich!“ Es sah aus, als habe der Hund ihn verstanden. Er stellte sich auf die Hinterbeine und legte die Vorderpfoten auf seine Brust. „Sie verstehen sich wahrhaftig auf Hunde“, sagte der Mönch. „Der gute Barry ist sonst ein sehr reservierter Herr. Wollen wir einmal versuchen, ob wir Barry dazu überreden können, seine Pfoten auf Mademoiselles Schultern zu legen? Mademoiselle ist so klein, das würde einen guten Eindruck von Barrys Größe geben.“
Asbjörn ging zur Kamera; der Mönch redete freundlich auf Barry ein. Der stellte sich anfänglich etwas skeptisch – aber dann entschloß er sich, erhob sich nochmals und legte seine riesigen Pfoten auf meine Schultern. Da blickte er hinab – ja, hinab! auf mein Gesicht. Das also war mein Debüt als Filmstar. Mit zerzaustem Haar, einem zerknitterten Anorak und halb zur Erde gedrückt von einem Hund, der so groß wie ein Löwe war! Aber Spaß machte es, und Barry war entzückend. Dann spielten der Mönch und ich mit den Kleinen. Der kleinste fuhr mir mit der Zunge über die Nase und schnappte nach allem, wonach sich nur schnappen ließ. Und schließlich bekam Barry ein breites Halsband mit der traditionellen kleinen Branntweintonne umgelegt und ging gravitätisch neben dem Mönch spazieren. Alles wurde gefilmt. Früher oder später sollte ich also Gelegenheit erhalten, mich selber im Fernsehen zu bewundern! Wir hatten nicht bemerkt, daß Mutti und Onkel Thomas gekommen waren. Sie standen still draußen vor dem Zaun, um uns nicht zu stören. Nun tauchten auch einige Touristen auf, und damit fanden das Spielen und das Filmen ihr Ende. Die Hunde kehrten gehorsam in ihre Boxen zurück. Barry blieb einen Augenblick oben auf der Treppe stehen. Er wandte den großen Kopf, richtete seinen Blick auf Asbjörn, schüttelte sich ein wenig und verschwand dann in seinem Stall. Asbjörn blickte ihm noch immer nach, und ich trat auf ihn zu. „Weißt du, daß du Barry ähnelst?“ „Wirklich?“ „Ja. So ruhig, so schwer und stark und… und… so lieb!“ „Ach was? Auch lieb?“ „Doch. Aber ich glaube, daß Barry hin und wieder ziemlich eigensinnig sein kann!“ „Und wem ähnelst du?“ „Ich? Das weiß ich nicht. Doch, vielleicht Mouche.“ „Nicht so schlecht. Du bist ebenso munter und vergnügt, klein und lebhaft wie Mouche. Und von einer Mischrasse bist du auch!“ „Das Wichtigste hast du vergessen!“ „Was denn?“ „Daß sich Mouche auf den ersten Blick in dich verliebt hat!“ Asbjörn lächelte. „Du Schätzchen!“ Dann packte er seine Filmausrüstung
zusammen, und wir gingen frühstücken. Wir standen vor dem Hotel und winkten Mutti und Onkel Thomas nach. Am Schlagbaum an der Grenze hielten sie an, und als sie weiterfuhren, steckte Mutti den Kopf zum Fenster hinaus und winkte – sie war in Italien und ich in der Schweiz, und wir konnten einander ganz deutlich sehen. Es war ein wunderbarer Tag. Es schien unglaublich, daß der Nebel vor zwölf Stunden wie ein graues Eistuch hier gelegen hatte. Nun war keine Wolke am Himmel, die Sonne strahlte und schimmerte auf dem kleinen See, dessen nördlicher Teil zur Schweiz und dessen südlicher zu Italien gehört. Die roten Sessel der Sesselbahn zur Chenalette schwebten hinauf und hinunter. Richtig, das hatte uns der Mönch auch erzählt, daß dies der am höchsten gelegene Sessellift Europas sei. „Asbjörn, ich habe so schreckliche Lust, zur Chenalette hinaufzufahren. Wollen wir?“ „Hat denn das einen Sinn? Ich möchte mir lieber das Museum ansehen. Aber wenn du Lust hast, kannst du doch hinauffahren!“ Er sagte es ganz und gar nicht unfreundlich, nur sachlich. „Ich will mir doch auch das Museum ansehen. Aber wir haben Zeit für beides. Wenn du willst, können wir gern zuerst ins Museum.“ Darauf antwortete er nicht, und so gingen wir ins Kloster hinein und verbrachten eine sehr interessante Stunde in dem kleinen Museum, wo man Vertreter des gesamten Bestandes von Kleintieren in den Alpen in Glaskästen ausgestopft antraf – dazu alle möglichen historischen Erinnerungen an Napoleon. Nicht zu reden von einem Kupferstich von Barry I. Barry III. war ausgestopft und stand in einem weiß getünchten Gang auf einem Brett. Es war noch nicht zwölf Uhr, als wir wieder in den Sonnenschein hinaustraten. Die roten Sessel schwebten noch immer an der graugrünen Felswand entlang hinauf und zeichneten sich deutlich gegen den tiefblauen Himmel ab. „Wir sollten jetzt machen, daß wir wegkommen“, sagte Asbjörn. „Wir haben noch eine lange Fahrt vor uns.“ „Aber… La Chenalette? Können wir nicht ganz einfach hinauffahren, uns einen Augenblick die Aussicht ansehen und dann wieder hinunter?“ „Das ist doch sinnlos, Bernadette. Hätten wir einen ganzen Tag für hier, dann herzlich gern. Aber jetzt müssen wir an den Aufbruch
denken. Holst du deine Koffer, während ich die Filmsachen verstaue?“ Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Ich konnte ihn zum Beispiel daran erinnern, daß wir zur Herfahrt nur wenig mehr als vier Stunden gebraucht hatten, obwohl wir das letzte Stück im Schneckentempo gefahren waren. Ich hätte ihm erklären können, daß wir noch massenhaft Zeit hatten, selbst wenn wir eine Stunde auf La Chenalette verwandten. Ich hätte wiederholen können, ich hätte solche Lust, auf diesen Gipfel zu fahren und in die italienischen Alpen hineinzublicken. Ach, es gab so viel, was ich hätte sagen können. Statt dessen wandte ich mich um, ging ins Hotel und hinauf in mein Zimmer, suchte meine Sachen zusammen und kam wieder herunter. Der Morgen war herrlich gewesen, und es war ein so strahlender Tag. Es war ein Erlebnis, diesen weltberühmten Hunden zu begegnen, sie zu streicheln, mit ihnen zu spielen und mit ihnen gefilmt zu werden. Jetzt aber war alle Freude in mir erloschen. Und wieder hörte ich Corinnes Stimme: „Ich habe das Gefühl, daß ich seine kleinen Freuden töte…“ Auch Asbjörn tötete meine kleinen harmlosen Freuden. Aber er ahnte es nicht. Er tötete sie und ging fröhlich weiter, so wie man weitergeht, wenn man ein Insekt auf dem Weg zertreten hat – man geht weiter, ohne Ahnung, getötet zu haben; man geht weiter, ist guter Laune und gut Freund mit dem lieben Gott, der Welt und mit sich selber, ahnt aber nicht, daß man ein kleines Leben unter der Schuhsohle zerdrückt hat. Eine winzig kleine, törichte Freude. Asbjörn startete den Wagen, und wir rollten in der glühenden Augustsonne durch die Kurven bergab. Schüttele es ab, Bernadette, sagte ich. Du liebst Asbjörn, er liebt dich und ahnt nicht, daß er dir wehgetan hat – ein winziges bißchen weh – das Ganze ist eine Bagatelle, schüttele sie ab! Aber, sagte eine andere Stimme in mir, er hat doch gewußt, daß du so große Lust darauf hast. Warum hat er da nein gesagt, ohne sich auch nur zu bedenken? Warum hat er nein gesagt, obwohl es keinen zwingenden Grund dafür gab? Ich wußte, daß ich niemals nein sagen würde, wenn es sich darum handelte, Asbjörn einen Wunsch zu erfüllen, solange es eine Möglichkeit gab, ja zu sagen.
Unsinn, Bernadette. Mach aus einer Mücke keinen Elefanten. Denk an etwas anderes! Richtig, ich hatte eine Idee, von der ich Asbjörn hatte sprechen wollen – sie sollte ihn eigentlich interessieren, denn sie hatte mit seiner Arbeit zu tun! „Nun, Mäuschen! Du bist so schweigsam!“ „Ja, darf ich denn mit dir reden? Ich möchte dich nicht beim Fahren stören…“ „Sehr klug von dir, aber nun haben wir die schlimmsten Kurven hinter uns.“ „Weißt du, ich denke nach. Ich habe eine Idee!“ „Schon wieder? Pack aus!“ „Du hast doch die Maultiere von Franz gefilmt, nicht wahr?“ „Ja, ein paar Meter mit Maultieren habe ich, das stimmt. Das mußt du ja wissen als mein Skriptgirl!“ „Ja, paß mal auf: Du weißt, ich wurde einmal auf dem Rücken des alten Bruno hinuntergeschafft, als ich mir den Fuß verstaucht hatte. Wie wäre es, wenn wir den ganzen Unfall rekonstruierten? Ich könnte stürzen wie damals und verbunden werden; dann kommt Franz mit den Maultieren und hebt mich auf Brunos Rücken – wäre das nicht eine nette Einlage?“ „Du hast wohl Blut geleckt und möchtest noch mehr vor der Kamera stehen?“ neckte Asbjörn. „Weißt du, das hört sich alles ganz einfach an, aber du hast keine Ahnung, wieviel Arbeit eine solche Szene kostet, und noch eins: es ist fast unmöglich, Amateurschauspieler dazu zu bringen, sich natürlich zu benehmen. Darin habe ich schon bittere Erfahrungen gemacht.“ „Ich kann es, das versichere ich dir. Und Franz ist es so sehr gewöhnt, fotografiert und gefilmt zu werden, er wird den ganzen Sommer über von allen Seiten geknipst. Ich glaube, das könnte sehr gut werden!“ Ich war so eifrig und begeisterte mich im Reden immer mehr für die Sache. Ich sah das Ganze deutlich vor mir. „Tja“, sagte Asbjörn. „Möglich. Wenn ich Zeit dafür finde. Aber offen gesagt, bin ich ziemlich skeptisch!“ Da schwieg ich und schluckte. Schluß damit! Kein Vorschlag von meiner Seite mehr! Nicht eine Bitte mehr um irgend etwas! Eine kleine goldene Freude war zerschlagen. Ein kleiner glänzender Marienkäfer von einer Schuhsohle zertreten. Warum hatte er nicht sagen können: „Eine gute Idee, Bernadette, wir wollen versuchen, sie zusammen auszuarbeiten.“ Warum konnte
er nicht ein ganz klein wenig Interesse zeigen? Ich schwieg. „Bist du müde, Bernadette? Dein Gesicht sieht ganz klein und schmal aus!“ „Ja, ich bin müde.“ „Das ist diese glühende Sonne. Wir waren auch schon so früh auf. Kannst du nicht ein wenig beim Fahren schlafen?“ „Ja, vielleicht.“ Da war er wieder der gute, freundliche, rührende Junge. Er schob mir ein Kissen unter den Kopf, ließ den Sitz ein Stück zurückgleiten, so daß ich die Beine ausstrecken konnte, und streichelte mir zum Schluß die Wange. Dieses Mal wurde kein Tierchen zertreten. Ich schloß die Augen. Schlafen konnte ich nicht, aber Asbjörn glaubte, ich schliefe. Und ich war froh. Im Augenblick war mir nicht nach Reden zumute.
Ein Dutzend Weinbergschnecken Die Zeit heilt alle Wunden. Die kleinen Wunden schließen sich sogar sehr schnell. Die meinen waren natürlich winzig klein. Was war es? Eine etwas schroffe, ungeduldige Stimme, als ich versuchte, in der rauhen Luft Asbjörns Rücken mit einem Pullover zuzudecken; ein kleiner Mangel an Verständnis, als ich mit der Schwebebahn gern einen kurzen Ausflug gemacht hätte; ein wenig kühle Sachlichkeit, die einer Filmidee allen Glanz nahm – alles nur Kleinigkeiten – , dumm, überhaupt an so etwas zu denken! Zu Haus gab es so vieles andere zu überlegen. Als erstes traf eine freundliche Karte von Frau Elsbeth von Krohn ein. Sie freue sich, mich kennenzulernen. Sie sei immer zu Hause. Kränkliche alte Dame, dachte ich. Sonst wäre sie nicht immer zu Hause. Die Karte unterschlug ich der übrigen Familie gegenüber. Ich half Asbjörn, sich in der Wohnung Nummer fünf einzurichten, nachdem er feierlich gelobt hatte, weder Bettwäsche noch Küchengeschirr zu stehlen. Grand’mère rückte mit den feinsten Leinenlaken des Hauses heraus, die sonst nur privaten Gästen vorbehalten waren, und sie begab sich auch persönlich ins Geschäft der „Heimindustrie Villeverte“, um dort ein neues Tischtuch für den Küchentisch zu besorgen. Grand’mère war eben ganz einfach in Asbjörn verliebt… Dann machten wir uns auf nach Frankfurt. Wir würden etwa eine Woche wegbleiben, in der einen oder anderen Jugendherberge übernachten und am nächsten Tag in Frankfurt einrollen. Und dort hatte Asbjörn auch eine Freundin – sie ist über siebzig, beruhigte er mich. Es war eine Dame, die Zimmer an Studenten vermietete. Asbjörn hatte schon früher bei ihr gewohnt, und nun hielt sie auch für mich ein Zimmer bereit, denn ihre Studenten waren noch in den Ferien. Der Film mit den Hunden war bereits nach Frankfurt abgesandt. Unserer Abreise stand nichts mehr im Weg. Es war meine erste längere Reise mit dem Auto. Ich freute mich wie ein Kind darauf. Ich fahre zu gern Auto, und noch dazu mit Asbjörn! Und dann eine solche Fahrt durch dieses wunderbar schöne Land, von dem ich bisher viel zuwenig gesehen hatte! Die Straße an der Rhone entlang lagen Obstgärten, Kilometer um
Kilometer Aprikosen- und Pfirsichplantagen. Immer wieder sahen wir Schilder mit der Aufschrift: „Frischgepflückte Aprikosen zu verkaufen“ – „Frische Pfirsiche direkt vom Baum“. Ich habe das Gefühl, als hätte ich mich durchs Rhonetal hindurchgegessen. Denn wer könnte solchen voll ausgereiften, frischgepflückten Früchten widerstehen? Asbjörn war schweigsam. Jetzt arbeitete es wieder in seinem Kopf. Nun legte er sich alles zurecht, was er in Frankfurt unternehmen wollte. Einen Tag vor der Abreise hatte er einen dicken Brief mit allen möglichen Fragen und Vorschlägen erhalten. Die Gesellschaft hatte ihren besten Kameramann für Reklamefilme verloren; er war nach Amerika gegangen – ob Asbjörn wohl Erfahrungen in Reklamefilmen hätte? Ich schwieg und sah ihn verstohlen von der Seite her an. Sein Gesicht wirkte so erwachsen und entschlossen. Wenn er so angestrengt nachdachte, bekam er breite Backenknochen und ein energisches Kinn. Nun wandte er mir das Gesicht ein wenig zu und lächelte. „Mäuschen, wie geht es dir?“ „Großartig. Möchtest du eine Aprikose?“ „Ja, wenn du die eine Hälfte abißt und auch den Kern wegnimmst!“ Ich aß also ein Stück ab und steckte die andere Hälfte Asbjörn in den Mund. Ein paar Kilometer verstrichen mit dem Essen von Aprikosen. Für beide sehr unterhaltend. „Wie gut es uns geht, Asbjörn!“ „Das kann man wohl sagen!“ „Denkst du sehr an deinen Chef in Frankfurt?“ „Ja, kannst dir vorstellen, warum! Ich frage mich, ob ich mich auf dieses Feld des Reklamefilms vorwagen soll. Ich habe schon in solchen Sachen gearbeitet, aber ich hätte viel größere Lust, mich auf Natur- und Tierfilme zu spezialisieren.“ „Aber sag mal, wenn du jetzt Reklamefilme machen solltest, bleibst du doch wohl vorläufig in Frankfurt, und da müssen wir eine Wohnung dort haben.“ „Genau das müßten wir. Und wenn du glaubst, daß das einfach ist…“ „Nein, das glaube ich keineswegs! Aber wir sollten es auf jeden Fall versuchen.“ „Tja.“ Wenn Asbjörn ein Ja sagte, das mit einem T begann,
wußte ich Bescheid. Da waren seine Gedanken ganz woanders. Das konnte ich verstehen. So schwieg ich und überließ ihn seinen Gedanken, tauschte die Aprikosentüte gegen eine mit Pfirsichen aus und dachte, daß diese Pfirsiche ebenso himmlisch schmeckten wie damals die Feigen, die ich aus dem Pfarrgarten gemopst hatte, wofür ich übergelegt wurde. Es war das einzige Mal, daß ich eine Strafe bekam, und Grand’mère und Großvater hatten laut protestiert. Man stelle sich nur vor, daß Mutti ihr armes Kind schlagen konnte! Das unschuldige Kind. La petite, den kleiner. Engel! Grand’mères Augenstern, Großvaters Liebling! Ja, verwöhnt hatten sie mich. Das stimmte. Bat ich um etwas, bekam ich es. Wollte ich mich um etwas drücken, so brauchte ich es nicht zu tun. Hatte ich Lust, etwas Bestimmtes zu tun, durfte ich es. Kam ich von den Ferien in Italien nach Norwegen zurück und erzählte meiner Großmutter dort, wie schrecklich lieb Grand’mère und Großvater waren, hielt sie es für unerläßlich, mich auch zu verwöhnen. Ich sollte doch wahrhaftig zu spüren bekommen, daß ich auch in Norwegen eine liebe Großmutter hatte. Und Mutti war gewiß nicht hart. Tatsächlich hatte sie mich nur dieses eine Mal, als es um die pfarrherrlichen Feigen ging, mit strenger Hand gestraft. Im übrigen aber war sie immer nachgiebig. Hatte es mir geschadet? Hatten sie nicht alle mir beigebracht, froh und freundlich zu sein? Wenn ich so viel Liebe und Güte empfing, war es doch nur natürlich, daß ich auch viel zu geben hatte. Aber stimmte es, was Asbjörn mir vorgeworfen hatte, ich sei zu empfindlich und nähme mir alles zu sehr zu Herzen? Wahrscheinlich war es wirklich meine törichte Empfindlichkeit, daß ich so unglücklich wurde, sobald Asbjörns Stimme etwas schroff klang, er mir eine Bitte abschlug oder einen meiner Vorschläge ablehnte. Ja, ja, man kann über so manches nachdenken, wenn man in einem kleinen Auto sitzt und an einem heißen Sommertag quer durch die Schweiz fährt. „Weißt du was“, sagte Asbjörn, als wir durch die Außenbezirke Basels fuhren, „wenn wir auf der Rückreise Zeit hätten, würde es mir Spaß machen, einige Stunden hier zu verbringen. Hier gibt es nämlich einen hübschen Zoo, den ich mir gern ansehen möchte.“ „Du und deine Tiere!“ lächelte ich. „Aber in Frankfurt ist doch auch ein Zoo?“
„Ja, und was für einer! Dahin gehen wir, auch wenn ich mir die Zeit dazu stehlen muß! Du hast doch Lust dazu, Bernadette?“ „Und ob ich sie habe! Erstens liebe ich Tiere, und zweitens habe ich zu allem Lust, wozu du Lust hast!“ „Was für eine prächtige Frau du abgeben wirst. Worüber lächelst du?“ „Aus… aus Freude, könnte man sagen. Es ist so unsagbar schön, wenn wir das gleiche wollen und an den gleichen Dingen unsere Freude haben.“ „Das wollen wir doch immer“, antwortete Asbjörn. Es sei denn, ich will auf die Chenalette oder einen Film mit Maultieren drehen, dachte ich, sprach es jedoch nicht aus. Wir hatten es so gemütlich, und außerdem war ich nach der langen Autofahrt ein wenig müde und keinesfalls zu einer Auseinandersetzung mit Asbjörn aufgelegt. Einmal aber würde ich mich mit ihm aussprechen. Ich würde ihm von den kleinen Freuden erzählen, die kein Mensch einem anderen zerstören darf. Einmal, wenn wir Zeit und Ruhe zum Reden hatten. Asbjörn holte eine Karte hervor, auf der alle Jugendherbergen verzeichnet waren. Bis zur nächsten war es nicht mehr sehr weit. In der Nacht schlief ich in einem Oberbett mit sieben anderen Mädchen verschiedener Nationalität in einem Zimmer. Ich schlief wie ein Stein und träumte, ich führe mit einer Schwebebahn von Villeverte nach Frankfurt. „Daß du es wagst!“ sagte ich. „Daß ich was wage?“ fragte Asbjörn. „In diesem Verkehr zu fahren! Ich würde durchdrehen!“ „Ja, der Verkehr in Frankfurt ist schlimm. Aber jetzt kenne ich die Stadt einigermaßen, da schaffe ich es.“ Mir gingen die Augen über. Trotz meinen Reisen war ich fast niemals in einer Großstadt gewesen, und es prickelte mir vor Erregung unter der Haut. So kamen wir zu unserer Pension. Ich konnte mich waschen und mir mein hübschestes Sommerkleid anziehen. Mein Herz klopfte. Gleich sollten wir den Film zu sehen bekommen. Unseren Film. Die Alpenrosen und die Hermeline, die Murmeltiere und das Matterhorn – und meine Lawine! „Da sind Sie ja, Herr Grather! Es freut mich, Sie wiederzusehen! Bitte, Ihre Verlobte? Meine herzlichen Glückwünsche! Soso, man schickt Sie zum Arbeiten, und da verloben Sie sich. Nur ein Glück, daß wir Sie nicht nach Grönland entsandt haben. Sie sind also
Fräulein Bonassi, und Sie haben die Listen so ausgezeichnet geführt? Wunderbar! Das wird uns beim Synchronisieren des Films sehr helfen. Wollen wir jetzt hineingehen und ihn uns ansehen? Nein, geschnitten ist er noch nicht, wir haben ihn nur nach und nach zusammengesetzt. Die letzten Filme habe ich, das muß ich zu meiner Schande gestehen, selber noch nicht einmal gesehen – hier entlang bitte; darf ich vorausgehen, Fräulein Bonassi?“ Direktor Feldmann war ein freundlicher, jovialer Mann. Gleich darauf saßen wir alle drei nebeneinander in einem langen, schmalen Raum mit einigen Stühlen und einer großen Leinwand am anderen Ende. Mein Herz klopfte so stark, daß ich es hören konnte. Da lag Villeverte vor mir – dort die Aiguille d’Or in der Vormittagssonne – Touristen, die angeseilt zur Silberhütte aufstiegen – und dort, dort war unsere Hermelinfamilie. Nein, etwas so Fabelhaftes! Sie waren so weit entfernt gewesen, daß wir den Feldstecher hatten benutzen müssen – und nun hatte das Teleobjektiv sie so nah herangeholt, daß sie die ganze Leinwand ausfüllten! „Schade“, sagte der Direktor, als die Hermelinmutter und die Kleinen blitzartig verschwanden, „etwas muß sie erschreckt haben.“ Asbjörn war nett. Er erzählte nicht, daß ich aufgeschrien hatte. Weiter lief der Film, und ich saß, Mund und Augen aufgesperrt, und sah alle Bilder an mir vorbeiziehen, an deren Aufnahmen ich mitgewirkt hatte. Aber was in aller Welt war denn das? Ein Mädchen, das mit Händen und Füßen eine Felsspalte hinaufkletterte – liebste Zeit! – das war ja ich selber! „Du alter Schuft!“ flüsterte ich Asbjörn zu. Dann kamen die Aufnahmen von den Alpenrosen. Sie waren gelungen. Die blaßrosa Knospen wuchsen, öffneten sich, eine nach der anderen, dort zwei gleichzeitig – sie entfalteten sich zu Blüten, zu großen, leuchtend roten Blumen – und dann war Schluß. „Aber…“, begann ich. „Das war die Arbeit einer Woche“, erklärte Asbjörn. „Sehr schön, Herr Grather. Wirklich schön“, sagte Feldmann. Er lehnte sich zurück und machte sich Notizen. Zermatt tauchte auf. Die Menschenschlange an der Bahn zum Gornergrat. Das Matterhorn. Richtig – und dort hatte Asbjörn das Objektiv ausgewechselt; jetzt holte sein längstes Teleobjektiv den Gipfel des Matterhorns ganz dicht an uns heran. Die Wolken näherten sich und zogen über den Gipfel hinweg… und da…
Da stürzte der Schnee über eine Felswand herab – wälzte sich langsamer voran, kroch geradezu über den Hang hinunter, man sah, wie der Schneestaub emporwehte und sich langsam wieder setzte. „Was zum Teufel…“, stieß Asbjörn leise hervor. „Sag nichts! Das war ich!“ flüsterte ich ihm auf norwegisch zu. „Donnerwetter, Herr Grather, da hatten Sie aber Glück!“ sagte Feldmann. „Richtigen Dusel! Eine solche Lawine in einem Alpenfilm ist Gold wert!“ Asbjörn schluckte. „Ja – hm – das war tatsächlich ein glücklicher Zufall…“ Ich merkte, wie er mir das Gesicht zuwandte und mich einen Augenblick lang ansah. Dann drückte er fest meine Hand. Auch der Adlerhorst war gut gelungen – selbst wenn ich erschauerte, als ich den großen Adler mit einem Murmeljungen, das noch zuckte, in den Fängen heranschweben sah. Es blieben nur noch die Bernhardiner. Ich mußte auflachen, als ich mich selber wie eine kleine Puppe neben dem riesigen Barry stehen sah. Der Film war zu Ende. „Wirklich großartig, Herr Grather“, sagte Feldmann. „Und Ihre Lawine war einzigartig. Nun wollen wir mal sehen – einiges wäre zu schneiden, darüber reden wir noch – aber wenn Sie jetzt zurückreisen – ja richtig! Sie haben da eine hübsche Aufnahme von einem Maultierführer. So etwas ist nicht schlecht: Aufnahmen von Personen bringen immer etwas Abwechslung herein. Könnten Sie diese Szene nicht ausbauen? Eine etwas dramatische Entwicklung – vielleicht ein Krankentransport oder ähnliches? – Ein Mensch, der zu Schaden gekommen ist und auf dem Rücken eines Maultiers weggeschafft wird?“ „Das ließe sich machen“, antwortete Asbjörn. „Fräulein Bonassi hat bereits genau das gleiche vorgeschlagen.“ „Da, sehen Sie, die junge Dame hat den richtigen Blick dafür! Ausgezeichnet! Sie sollten immer wieder auf Laien hören, Herr Grather, das tue ich auch, denn unser Publikum besteht doch aus Laien. Dann wollen wir jetzt Ihre Aufzeichnungen durchgehen, und so bliebe noch die Sache mit dem Reklamefilm…“ Jetzt war der Augenblick gekommen, an dem ich mich verabschieden konnte. So sagte ich „Auf Wiedersehen“, versicherte Asbjörn, ich würde mich nicht überfahren lassen und auch sonst nichts Schlimmes anstellen, und wanderte allein, einen Plan von
Frankfurt in meiner Tasche, in die Stadt hinein. Im übrigen wanderte ich nicht sehr lange, sondern nur bis zum nächsten Taxistand, und dann fuhr ich zu Frau Elsbeth von Krohn. Eine alte, schöne Villa am Rand der Stadt, in einer friedlichen Straße mit hohen Linden. Als ich an der Tür klingelte, war Hundegebell zu hören, und als sie geöffnet wurde, stürzte ein kleiner brauner Dackel heraus und meldete mit lautem Gekläff meine Ankunft an. „Schon gut, Hundchen, nur mit der Ruhe!“ Ich beugte mich nieder, streichelte das weiche Fell, und der Hund beruhigte sich. „Verzeihung“, sagte eine Stimme, „ich hatte nicht bemerkt, daß Dotty frei war.“ Ein Hausmädchen in Schwarz und Weiß stand vor mir, und ich nannte meinen Namen. „Ach, Fräulein Bonassi – ja, die gnädige Frau hat bereits Bescheid gesagt. Bitte, gnädiges Fräulein, ich melde Sie sogleich. Würden Sie bitte solange Platz nehmen!“ Hoppla! Nun hatte ich es auch schon zu einer Gnädigen gebracht! Die kleine Schneiderin Benny Bruland aus Heirevik war zu einem gnädigen Fräulein geworden, saß in einem geschnitzten alten Stuhl in einer großen Halle und kraulte einen aristokratischen Hund hinterm Ohr. „Die gnädige Frau läßt bitten!“ Immer feiner… In einem großen, hellen Salon trat eine alte Dame auf mich zu. Eine kleine, schlanke, weißhaarige Dame, die sich auf einen Stock stützte. „Wie liebenswürdig von Ihnen, daß Sie sich die Mühe gemacht haben, Fräulein Bonassi. Bitte, so setzen Sie sich doch. Ich bin sehr gespannt darauf, Ihre Geschichte von den Dieben zu hören.“ Sie lächelte ein junges, schalkhaftes Lächeln. „Wissen Sie, man entwickelt mit der Zeit eine geradezu fürchterliche Neugier, wenn man so alt und so unbeweglich wird wie ich. Man kostet alle Sensationen aus.“ Sie wandte den Kopf und rief zu einer halbgeöffneten Tür hin: „Komm nur herein, Udo. Du darfst auch hier drin rauchen!“ Dann wandte sie sich wieder mir zu und erklärte: „Mein Sohn wohnt augenblicklich bei mir, während seine Frau und seine Kinder noch in den Ferien sind. – Udo, das ist also Fräulein Bonassi aus dem Wallis…“ „Aus Norwegen, gnädige Frau“, warf ich ein, „um ganz genau zu sein.“
„Wie bitte? Aus Norwegen? Aber Sie sind doch…“ „Ja, ich bin Bernadette Bonassi und komme jetzt aus Villeverte, aber ich wohne in Norwegen und bin zur Hälfte Norwegerin.“ „Welche Sprache sollen wir denn da sprechen?“ fragte Udo von Kohn, ein hochgewachsener, gut aussehender Fünfzigjähriger. „Welche ist Ihnen am liebsten?“ „Französisch, Italienisch oder Norwegisch!“ lächelte ich. „Mit Französisch stehen wir Ihnen zur Verfügung.“ Da war ich froh. Denn nun, da ich von dem Moosbüschel und den prallen Rucksäcken, dem vollgestopften Wagen und der ausgeplünderten Wohnung erzählen sollte, war es leichter für mich, nicht mehr bei jedem Satz an Nominativ, Dativ und Akkusativ denken zu müssen. Beide hörten mir mit gespannten, interessierten Gesichtern zu. Und während ich erzählte, rollte das Stubenmädchen einen Kaffeetisch herein. Nach dem aufregenden Vormittag schmeckte der Kaffee herrlich. Dann bekam ich den übrigen Teil der Geschichte zu hören. Wie die verhältnismäßig harmlose Stehlerei in Villeverte dazu geführt hatte, daß das ganze Auto gründlich durchsucht wurde. Dabei hatte man Schmuckstücke gefunden, die in den Polstern des Wagens eingenäht waren – Juwelen, die zum Teil schon seit Monaten vermißt wurden. Und das schönste von diesen Stücken war das Kollier, das Frau von Krohn gehörte. „Glauben Sie nur nicht, diese Schurken wären Belgier“, sagte Herr von Krohh. „Das B auf dem Auto wechselte mit D und F und allen möglichen anderen ab; diese Leute hatten eine ganze Sammlung von Nummern- und Länderschildern und eine große Auswahl an Pässen. Aber daß sich ein paar so durchtriebene Existenzen überhaupt damit abgaben, eine kleine Ferienwohnung in einem Chalet zu plündern!“ „Vielleicht haben sie es aus Langeweile getan“, meinte Frau von Krohn. „In ihrem selbstgewählten Gefängnis war es ihnen wahrscheinlich zu eintönig. Aber jetzt sagen Sie mir, Fräulein Bonassi: Was darf ich für Sie tun?“ Ich mußte lächeln. „Ich will doch keine Belohnung dafür haben, Frau von Krohn, daß ich ein Moosbüschel auf der Treppe entdeckt habe! Meine Belohnung bestand schon darin, daß wir das teuerste Objektiv meines Verlobten zurückerhielten, das sich auch unter den Sachen befand.“ „Ach, Sie sind verlobt. Mit einem Norweger?“
„Ja, aber er ist hier in Frankfurt angestellt, und wir werden hier wohnen. Er ist Kameramann beim Film.“ „Wie interessant! Und werden Sie bald heiraten?“ „Im Herbst. Wenn Sie mich also fragen, was mir die größte Freude bereiten könnte, so wäre es ein hübsches kleines Päckchen, mit einer Zweizimmerwohnung drin.“ Da wechselten Mutter und Sohn einen Blick. Herr von der Krohn stellte die Kaffeetasse ab und sah mich aufmerksam an. „Sie sind auf der Jagd nach einer Wohnung? Und mit zwei Zimmern wäre Ihnen gedient?“ „Bestimmt. Aber wenn wir überhaupt etwas bekommen, so nehmen wir, was da ist, ob es nun ein Raum ist oder vier.“ „Wie lange werden Sie in Frankfurt bleiben, Fräulein Bonassi?“ „Ich glaube etwa eine Woche.“ „Kann ich Ihre Adresse bekommen? Und den Namen Ihres Verlobten?“ Ich nannte ihm beide, und er schrieb sie sich auf. Bestimmt sah ich aus wie ein lebendes Fragezeichen. „Ich rufe Sie oder Ihren Verlobten morgen an“, versprach Herr von Krohn. „Wo in aller Welt hast du denn gesteckt?“ fragte Asbjörn, als wir uns in unserer Pension wieder trafen. „Ich hatte schon Angst um dich – ich glaube, ich hätte die Polizei angerufen, hätte es noch eine halbe Stunde länger gedauert!“ „Mein Geliebter, deine Worte legen sich wie Balsam auf meine wunde Seele!“ lachte ich und küßte ihn. Ich war strahlender Laune. „Wenn du wüßtest, was ich alles erlebt habe! Aber jetzt bin ich auch hungrig wie ein Wolf! Wie spät ist es denn? Was sagst du, vier Uhr? Wie ist das möglich?“ „So wie üblich: die Erde hat ihre Bahn um die Sonne fortgesetzt. Komm jetzt, du Ungeheuer, wir gehen in die Stadt und sehen zu, ob wir nicht noch irgendwo eine Bratkartoffel auftreiben!“ „Denkst du! Heute will ich fein essen, daß du es nur weißt!“ „Ja, dann komm. Aber bring erst dein Haar in Ordnung, du siehst so frisch geküßt aus. Und dann erzähl mir, was du erlebt hast?“ „Zuerst du!“ „Meinetwegen, aber dann mußt du warten, bis wir bei Tisch sitzen. Beim Fahren kann ich nicht erzählen!“ Wieder wand sich die Seifenblase durch den entsetzlichen Großstadtverkehr. Wir hielten vor einem Hotel, das so groß und fein
war, daß es auf internationale Essenszeiten eingestellt war. Aber selbst bei großzügigster Auslegung der Begriffe war dies eine etwas außergewöhnliche Zeit, um Mittagbrot zu essen. Wir saßen allein an einem Ecktisch in einem großen Speisesaal mit befrackten Kellnern und blütenweißem Damast. „Ein Glück, daß ich die Seifenblase nicht vor der Tür habe stehen lassen“, sagte Asbjörn. „Unter Mercedes oder Jaguar geht’s hier gar nicht. Aber nun werden wir dafür wie Jaguare essen – oder zumindest doch wie Jaguarbesitzer. Du sollst ein anständiges Honorar für deine schöne Lawine erhalten, du durchtriebenes Mädchen. Und da hätten wir die Karte, such dir aus, was du haben willst und erweise dich als die echte Enkelin deiner Grand’mère!“ „Weißt du, was du sagst? Wieviel Geld hast du bei dir?“ „Genug! Außerdem einen Vertrag in der Tasche. Also such dir aus!“ „Ich bin, wie gesagt, hungrig wie ein halber Zoo. Kann ich ein Vorgericht bekommen, ein Hauptgericht und einen tollen Nachtisch?“ „Nur zu!“ „Schnecken!“ sagte ich. „Ein Dutzend Weinbergschnecken und Kalbsmedaillon mit Champignons und Salat und… und ,Birne Esmeralda’.“ „Was ist denn das?“ „Das ahne ich nicht. Deswegen will ich es haben. Ich liebe die Spannnung!“ „Ja, Mut hast du – oder du bist neugierig, wie du willst.“ Asbjörn bestellte. Er war auch für das Kalbsmedaillon, nahm aber Krabben als Vorspeise. „Kannst du nun endlich erzählen?“ „Zunächst einmal ein Gruß von Feldmann an dich. Ich habe die Sache mit der Lawine gebeichtet. Seine Glückwünsche! Ebenso nochmals seinen besonderen Dank für deine Notizen. Sie seien mustergültig gewesen, sagt er.“ „Das geht mir glatt herunter!“ „Und dann habe ich mich damit einverstanden erklärt, einige Reklamefilme zu drehen. Feldmann ist wirklich in der Klemme, und für Reklamefilme besteht zur Zeit ein großer Markt. Er findet meine Einzelaufnahmen so gut, daß ich eigentlich kleine Trickfilme machen könnte, solche mit Puppen und Spielzeugtieren, die sich bewegen.“
„Das wäre ein Riesenspaß!“ „Und eine Kuliarbeit. Denk an meinen Kastanienbaum. Die Arbeit eines Jahres, die dann in acht Minuten abrollt. Denk an die Alpenrosen. Eine Woche im Zelt in den Bergen, und zwei Minuten auf der Leinwand. Fast nicht der Mühe wert.“ Ich sah ihn an. „Meinst du das wirklich, Asbjörn? War nicht die Woche auf dem Felsvorsprung der Mühe wert?“ Seine Augen fanden die meinen. „Privat – ja! Das war noch viel mehr wert, du Strolch! Jedenfalls habe ich auch den Vertrag unterschrieben und sogar einen Vorschuß erhalten, von dem wir jetzt einen Teil aufessen werden.“ „Und dann bleiben wir vorläufig in Frankfurt – ich meine, vom Oktober ab und auf einige Zeit hinaus?“ „Ja, wenn der liebe Gott uns eine Wohnung vom Himmel fallen läßt. Sonst…“ „Ja, sonst sieht es schwarz aus. In der Pension auf unbestimmte Zeit hinaus zu wohnen, dürfte uns wohl ruinieren. Aber ich könnte doch bei den Finanzen ein wenig helfen. Denn auch in Frankfurt wird man Schneiderinnen brauchen können.“ „Danke, ich möchte aber lieber, daß du mir bei den Filmen hilfst.“ „Ich? Bei den Filmen?“ „Ja. Du und bei den Filmen. Du hast Begabung dafür. Und wenn ich Trickfilme drehen soll, brauche ich dafür einen Assistenten.“ „Aber Asbjörn! Und das sagst du so ohne weiteres! Noch dazu hier, wo ich dir nicht um den Hals fallen kann!“ „Feldmann mußt du um den Hals fallen. Sein Vorschlag war es.“ „Ach – Feldmann war es!“ Meine unbändige Freude fiel in sich zusammen. Nein, Asbjörn wäre von sich aus wohl niemals auf diesen Gedanken gekommen – und wäre der Vorschlag von mir gekommen, hätte er nein gesagt. Nur jetzt nicht schlechter Laune werden! Jetzt, da alles sich so gut anließ! Der Ober kam mit meinen Schnecken. „Asbjörn, wenn wir nun noch eine Wohnung fänden?“ „Dann wäre alles in schönster Ordnung. Aber kannst du uns vielleicht eine Wohnung verschaffen?“ „Ja, vielleicht.“ „Das ist doch ein Scherz?“ „Nein. Ich habe begründeten Verdacht, ich könnte es.“ Ich steckte mir eine große Schnecke in den Mund und biß vom Toastbrot
ab. „Erklär das etwas genauer!“ So erzählte ich alles. Von dem Brief der Frau von Krohn, von meinem Besuch bei ihr, von dem Blick, den Mutter und Sohn miteinander gewechselt hatten, als ich das Wort „Wohnung“ fallen ließ, und von Herrn von Krohn, der uns rufen wollte. Hatte ich geglaubt, Asbjörn würde sich vor Freude überschlagen, so hatte ich mich geirrt. Er machte lediglich ein bedenkliches Gesicht. „Was fehlt dir denn jetzt? Freust du dich nicht?“ „Tja“ (ach, wie haßte ich dieses Ja, das mit einem T anfing), „sollte etwas daraus werden… man kann doch keine Wohnung mit Kußhand annehmen, ohne sie gesehen zu haben…“ „Das ist doch albern! Wer behauptet denn, daß du unbesehen eine Wohnung nehmen sollst? Es ist klar, daß wir sie uns zuerst ansehen müssen.“ „Und gezwungen sind, sie zu nehmen, wie sie auch sein mag – nur aus Dankbarkeit. Offen gesagt, Bernadette, du hättest vorher mit mir über deinen Besuch reden und ihnen gegenüber die Wohnung gar nicht erwähnen sollen…“ „Und du – du solltest dich um die Mitgliedschaft im Klub der Pessimisten und Freudetöter bewerben! Man nimmt dich als Ehrenmitglied auf!“ fauchte ich. „So etwas habe ich doch noch nicht gehört! Schlage ich vor, einen Maultiertransport zu filmen, antwortest du mit einem mürrischen Nein! Bitte ich, deine Eintragungen übernehmen zu dürfen, sagst du nein! In beiden Fällen hat es sich erwiesen, daß ich recht hatte. Meine ich, wir sollten die Kamera auf einen Felsvorsprung hochziehen, heißt es nein – nein und wieder nein, von vornherein nichts anderes als nein! Bietet man dir einen Leckerbissen an, den du nicht kennst, sagst du nein! Und nun sagst du ausgerechnet auch noch nein zu dem, was wir auf dieser Welt am dringendsten brauchen – einer Wohnung! Ich wäre dankbar, wenn wir eine Hundehütte bekämen, in die wir kriechen könnten, aber du sitzt da und hast Angst, ob dieses Gottesgeschenk für dich paßt.“ Ich mußte innehalten und Atem holen. Und während ich es tat, wurde mir bange. Wie würde Asbjörn diese Salve aufnehmen? Würde er zornig werden? Beleidigt? Würde er mir eine Standpauke halten? Nichts dergleichen trat ein. Er sah mich an – zunächst verblüfft
und dann nachdenklich. Dann streckte er die Hand aus und nahm eine Schnecke von meinem Teller. Er aß sie, machte ein verwundertes Gesicht und nahm noch eine. Dann drehte er sich um. „Herr Ober! Bringen Sie mir doch bitte auch ein Dutzend Schnecken!“ Damit waren Worte überflüssig. Ich mußte lächeln. Und nachdem Asbjörn die Hälfte seiner Schneckenportion verzehrt hatte, erklärte er mit seiner gewohnten, lieben, ruhigen Stimme: „Wir dürfen nicht vergessen, Frau Müller zu sagen, daß wir einen Telefonanruf erwarten. Damit sie Bescheid annehmen kann, wenn Herr von Krohn anruft.“ Und er aß die restlichen Schnecken. Es gibt allerlei Arten, um Verzeihung zu bitten.
Eine Freude und eine Enttäuschung Ich sage es immer wieder: Hunde und alte Damen lieben Asbjörn. Als Herr von Krohn anrief und uns bat, seine Mutter wieder aufzusuchen, sprang mein Herz vor Freude. Es waren keine leeren Worte gewesen – sie hatten wirklich die Absicht, etwas für uns zu tun. So fuhren wir also in unserer Seifenblase zu der vornehmen Villa; und wieder war es Dotty, die uns mit lautem Gekläff empfing. Dann beschnüffelte sie Asbjörn und wich von dem Augenblick nicht mehr von seiner Seite. Mit Frau von Krohn war es ähnlich. Ich weiß nicht, ob Asbjörn etwas an sich hat, das an die Mutterinstinkte in alten Damen rührt – oder ist es seine ruhige Höflichkeit, mit der er sie für sich gewinnt? Auf jeden Fall war es sonnenklar, daß er Frau von Krohn ungemein gefiel. Ob es uns etwas ausmachte, mit ihr zu gehen? Asbjörn bot ihr höflich den Arm und half ihr die Treppe hinunter. Wir gingen in den Garten hinaus und um das Haus herum, das an einem Hang lag, so daß der hintere Teil ein Stockwerk mehr hatte als der vordere. Dort auf der Rückseite gelangten wir vor eine Eingangstür aus polierter Eiche, an der sich noch schwach die Spur eines Schildes abzeichnete. „Die Sache ist die“, erklärte Frau von Krohn, „wir haben gleich nach dem Krieg eine Art Notwohnung hier ausbauen müssen, und es wurden zwangsweise Mieter eingewiesen. Offen gesagt, waren wir recht froh, als sie schließlich auszogen, und da wir mit unseren Mietern kein großes Glück gehabt hatten, beschlossen wir, niemals wieder zu vermieten. Aber da wußten wir ja nicht…“, sie lächelte mich an, „daß eines Tages eine reizende junge Dame auftauchen würde, der wir gern eine Freude machen wollten! Inzwischen sind diese Zimmer als Abstellräume verwendet worden; sie sehen also nicht sehr schön aus; aber Sie haben ja noch Zeit, und bis Oktober wird alles gestrichen und tapeziert sein. Doch sehen Sie es sich selber an.“ Uns gingen die Augen über! Ein großes, helles Zimmer zum Garten hinaus, ein kleineres mit dem Fenster nach einer Seite. Eine kleine, praktische Küche, ein Duschraum und hinter der Wohnung ein geräumiger Kelleraum. Ich betrachtete Asbjörn verstohlen. Sein Gesicht leuchtete immer mehr auf.
„Gnädige Frau, das ist ja märchenhaft – wir brauchen Ihnen wohl nicht erst zu sagen, wie gern wir die Wohnung haben möchten. Wir würden Ihnen dafür ewig dankbar sein!“ „Ich bin die Dankbare, Herr Grather. Ja, dann können wir also die Handwerker bestellen!“ „Aber gnädige Frau, Sie sollen sich keine Mühe machen…“ Sie unterbrach ihn durch eine Handbewegung. „Eine nicht hergerichtete Wohnung vermiete ich nicht. Aber wir haben oben auf dem Boden noch ein paar Rollen Tapete; bevor Sie weggehen, können wir uns die einmal ansehen. Da können Sie sich etwas aussuchen, falls sie noch brauchbar sind.“ Das waren sie: eine helle, elfenbeinfarbene für das Wohnzimmer und eine reizende, kleingeblümte für das Schlafzimmer. „Und wann soll die Wohnung fertig sein?“ „Ja – ich bleibe wohl hier in Frankfurt; ich reise nur im Oktober nach Norwegen hinauf, um zu heiraten…“ „Da werden wir die Sache gleich in die Hand nehmen, so daß Sie vielleicht noch als Junggeselle einziehen können. Und das Geschäftliche besprechen Sie mit meinem Sohn. Könnten Sie so freundlich sein, ihn morgen vormittag in seinem Büro aufzusuchen?“ Und ob wir so freundlich sein wollten! „Wir haben eine Wohnung, wir haben eine Wohnung!“ sang ich aus vollem Hals. „Pst, bist du verrückt, Mädchen? Was sollen denn die Leute von uns denken?“ rief Asbjörn lachend. „Wir haben eine Wohnung, wir haben eine Wohnung…“, sang ich ein wenig gedämpfter. „Ein Punkt für dich“, meinte Asbjörn. „Was willst du damit sagen?“ „Du hattest recht, das wollte ich damit sagen“, antwortete Asbjörn. „Ach so. Ja, das habe ich doch meistens!“ „So etwas Eingebildetes wie dieses Mädchen! Und so etwas soll ich heiraten!“ „Du hast selber gewählt!“ „Ja, im Grunde wohl. Ist dir aber klar, daß eine Frau ihrem Mann überallhin zu folgen hat?“ „Zu Steinböcken, Murmeltieren und Alpenrosen“, sagte ich. „Doch, das weiß ich. Und wohin soll ich dir jetzt folgen?“ „Zum Zoo.“
„Natürlich! Ein anderer würde aus einem solchen Anlaß Champagner trinken, du aber berauschst dich an Tieren!“ „Das eine schließt das andere doch nicht aus. An den Tieren aber kann ich mich den ganzen Tag lang erfreuen; mit dem Alkohol muß ich bis zum Abend warten, wenn ich nicht mehr Auto fahre!“ „Richtig! Absolut richtig! Also fahr auf dem kürzesten Weg zu deinen Löwen und Tigern!“ Asbjörn lächelte. „Bei Löwen fällt mir übrigens ein: Weißt du, es hat hier in Frankfurt vor Jahren einen Raubtierwärter gegeben, der eine solche Angst vor seiner Frau hatte, daß er, als er eines Abends nicht mehr ganz sicher auf den Beinen stand, sich zum Schlafen im Löwenkäfig niedergelassen hat, um nicht zu seiner Frau nach Hause zurückkehren zu müssen!“ „Das wirst du bestimmt auch mal tun. Immerhin: Gut, daß ich weiß, wo ich dich zu suchen habe. Im übrigen aber paßt du besser in den Affenkäfig, du Pavian!“ „Und du zu den Papageien! So, da wären wir. Und nun sollst du Tiere zu sehen bekommen, von denen du nicht einmal ahnst, daß es sie gibt.“ Asbjörns Stimme klang froh und glücklich; er war wie ein großer Junge, der zu Weihnachten eine Überraschung für seine Mutter bereit hat. Aber er hatte recht. Es war tatsächlich ein schöner Zoo; wie viele seltsame und interessante Tiere gab es dort. Ich hatte nicht weiter als bis zu den Löwen und Tigern gedacht, oder wußte ich vielleicht, daß es so etwas wie einen Schneeleoparden gab? Ahnte ich etwas von einem so merkwürdigen, seltenen Tier wie dem Okapi? Kannte ich den Unterschied zwischen einer Elchantilope und einem Kudu? Und bis dahin war für mich ein Affe ein Affe gewesen. Aber nun stand ich plötzlich einem sonderbaren Exemplar der Affenfamilie gegenüber – einem schwarzen Tier mit schneeweißer Mähne, und auf dem Schild las ich, es sei ein Guereza – als ob ich daraus schlau würde! Aber Asbjörn wußte sehr viel; er deutete hierhin und dorthin, erklärte und erzählte; niemals hatte ich ihn so gesprächig erlebt. Es machte Spaß, alle diese schönen, seltenen und gut gepflegten Tiere zu sehen, aber noch größeres Vergnügen bereitete es mir, Asbjörn dabei zu beobachten und die strahlende Freude in seinen Augen zu sehen und seine lebhafte, eifrige Stimme zu hören, wie er erklärte und erzählte. „Du, solch eine kannst du mir zu Weihnachten schenken“, sagte
ich, „diese gelbe Muschi dort drüben!“ „Diese Muschi ist ein Serval“, antwortete Asbjörn. „Und das Seltsame ist, es liegt im Bereich der Möglichkeiten, daß ich dir im Lauf der Zeit einmal eine schenken könnte. Den Serval kann man nämlich wirklich als Haustier halten. Es kommt von Zeit zu Zeit vor, daß man ein Junges kaufen kann – allerdings fürchterlich teuer. Doch jetzt – ich sehe es dir an, jetzt bekommst du sofort etwas zu essen. Du bist gewiß völlig ausgehungert. Nur noch ein Tier sehen wir uns vorher an – nämlich mein Lieblingstier!“ „Ich dachte, das sei ich!“ „Ja, also das, das gleich nach dir kommt.“ Asbjörns zweites Lieblingstier erwies sich als eine Giraffengazelle. Als wir vor ihrem Gehege standen, konnte ich Asbjörn verstehen. Ein schöneres Tier hatte ich niemals gesehen. Es hatte die ganze Anmut einer Gazelle, diesen sanften, schönen Blick eines Tieres der Wildnis, stählerne Muskeln und einen wunderbaren, schlanken Körper – kurz gesagt, eine Offenbarung der Schönheit. Wer so etwas malen könnte! dachte ich. „Wer so ein Tier in der Wildnis filmen könnte!“ sagte Asbjörn. „Stell dir vor, man käme nach Afrika und würde diese Tiere in Freiheit sehen – auf der Steppe, im Urwald und an Flußufern – ohne jedes Gitter, scheu, wachsam und flüchtig…“ Ich nickte. „Vielleicht gelingt es dir einmal, Asbjörn. Vielleicht werden wir sie einmal miteinander beobachten. Aber solange uns das nicht vergönnt ist, ist es doch wunderbar, daß es Zoologische Gärten gibt, in denen wir sie fast so wie in der Natur zu sehen bekommen.“ „Ja, das ist es! Und kannst du verstehen, daß ich, der Tiere so liebt, gern gute Tierfilme drehen möchte? Ich möchte, daß so viele Menschen wie möglich diese schönen Geschöpfe kennenlernen.“ „Ja, Asbjörn. Das kann ich verstehen. Es gibt so vieles, was ich noch von dir lernen möchte – aber das in erster Linie. Du mußt mir alles beibringen, was du von Tieren weißt, mir alles erzählen. Natürlich liebe ich Tiere auch, das habe ich immer getan, aber du machst eine Wissenschaft daraus, und für dich sind die Tiere, glaube ich, mit das Wesentlichste in deinem Leben.“ „Ja“, antwortete Asbjörn, „das sind sie.“ „Bist du immer so gewesen?“ „Ich glaube, im Lauf der Jahre ist es in mir immer stärker geworden. Unter Menschen habe ich mich oft einsam gefühlt – aber im Zusammensein mit Tieren habe ich diese Einsamkeit niemals
verspürt.“ „Aber jetzt fühlst du dich nicht mehr einsam, Asbjörn?“ „Nein, mein kleiner Liebling. Jetzt nicht mehr.“ Wir warfen noch einen Blick auf die beiden herrlichen Giraffengazellen, und dann gingen wir ins Zoorestaurant essen. „Ich glaube, ich muß etwas Vegetarisches nehmen“, seufzte ich. „Denn nachdem ich alle diese schönen Tiere gesehen habe, kann ich nicht mehr daran denken, daß ein Geschöpf hat sterben müssen, nur damit ich etwas zu essen habe.“ „Iß einen Rinderbraten“, schlug Asbjörn vor. „Vielleicht ist es das Fleisch von einem bösen Ochsen, der dich eines Tages auf die Hörner genommen hätte, falls er am Leben geblieben wäre!“ Es war ein wunderbarer, ein unglaublich schöner Tag! Wir sprachen von Tieren, von der Wohnung und von der guten, alten Frau von Krohn. Und nachdem wir den bösen Ochsen gegessen hatten, gingen wir ins Exotarium und sahen Pinguine unter Wasser schwimmen, und wir sahen die seltsamsten Fische und Krebse, zuletzt auch seltene Schlangen und Insekten. Als ich an jenem Abend ins Bett kroch, schämte ich mich, daß ich ab und zu niedergeschlagen und schlechter Laune war. Ein Tag wie dieser wog doch Tausende dummer, kleiner Enttäuschungen und Ärgernisse auf. Das glaubte ich jedenfalls! Die kleinen Enttäuschungen und Ärgernisse seilten sich ein. In Frankfurt war Sommer aus verkauf; die Geschäfte lockten mit so niedrigen Preisen, daß ich meinen Augen kaum zu trauen glaubte. Und wir, die wir nun alles brauchten – Gardinen und Tischtücher, Handtücher und Bettzeug, Möbelbezüge und Küchengeschirr! Wäre es nach meinem Kopf gegangen, wären wir drei Tage lang nur noch durch Geschäfte gewandert, wir hätten uns damit abgefunden, geknufft und gestoßen zu werden, wir hätten uns mit anderen Kunden um billige Reste gerauft und unsere Wohnung mit allem ausgestattet, was wir an Textilien brauchten. Aber es ging nicht nach meinem Kopf. Wir kauften zwar ein paar Meter Gardinenstoff, doch damit hatte Asbjörn genug. „Nein, tausend Dank!“ sagte er. „Da haben wir noch ein paar kostbare Sommertage zusammen, und die sollen wir damit vergeuden, daß wir in großen Kaufhäusern Schlange stehen? Nein, ohne mich!“ „Aber Asbjörn, wir haben doch hoffentlich noch viele, viele
schöne Tage vor uns – Tage, an denen kein Ausverkauf ist – und gerade jetzt sollten wir die Gelegenheit beim Schopf packen!“ „Ach was, so groß ist der Preisunterschied bestimmt nicht.“ So blieb es beim Gardinenstoff. „Sag, Asbjörn, gibt es in Frankfurt nicht auch eine gute Bildersammlung?“ „Bestimmt. Aber du willst doch nicht etwa bei diesem schönen Wetter in Museen gehen?“ Nein, also gut, keine Museen. Ich konnte auch im Winter in Museen gehen, das stimmte. Aber ich hatte Asbjörn nicht erwidert, er könnte auch im Winter, so viel er nur wollte, in den Zoo gehen, damit könnte er warten; wir sollten lieber für unseren Hausstand etwas einkaufen. Ich gönnte ihm von Herzen die Freude, zu seinen lieben Tieren zu gehen und sie mir zu zeigen. Wie schön wäre es gewesen, wenn er mir ein paar Stunden in einer Gemäldegalerie gegönnt hätte! Wir verbrachten in Frankfurt eine sehr schöne Zeit, daran ist nicht zu zweifeln. Wenn Asbjörn zu Feldmann mußte, wanderte ich in der Stadt umher und lernte sie kennen. Eines Tages ging ich auch in eine Galerie, aber ich kam mir dort so einsam vor. Wenn Asbjörn seine lieben Tiere besuchte, war ich mit ihm zusammen, und diese Besuche waren für uns eine gemeinsame Freude – so gern hätte ich mir mit ihm zusammen auch Kunstwerke angesehen. Dafür hatten wir andere gemeinsame Freuden. So saßen wir in einem gemütlichen Gartenrestaurant am Main und tranken einen leichten Wein – so leicht war er, daß sogar Asbjörn trotz Autofahren ihn trinken konnte. Wir waren im Goethehaus, und als sich Asbjörn eines Tages in einen alten Schrank in einem Möbelgeschäft verliebte, wo kein Ausverkauf war, sondern vornehme Ruhe herrschte, gingen wir hinein, sahen ihn uns an und kauften ihn. Aber wenn ich die eine oder andere Kleinigkeit sah, auf die ich nun Lust hatte, schwieg ich. Ich dachte an die Wachsstäbchen in Zermatt und an den Sessellift am Großen St. Bernhard. Ich wollte kein Nein hören, oder ein „nicht jetzt“ oder „wozu denn?“. „Jetzt braucht Feldmann mich nicht mehr“, sagte Asbjörn eines Tages. „Wir müssen wieder hinunterfahren, damit ich diesen Unfall filme, den ihr haben wollt, Feldmann und du… Was hältst du davon, wenn wir morgen langsam wieder nach Süden zuckeln? Ich hätte so gern ein wenig mehr Zeit bei dieser Fahrt, daß wir uns nicht so
abzuhetzen brauchen wie auf der Fahrt herauf. Es gibt auf dieser Strecke so viel zu sehen. Der Zoo in Basel, weißt du…“ „Und vielleicht kennst du eine Katze in Lörrach und ein altes Schaf in Bern…“ „Nein, aber ich kenne das Münster in Freiburg, das heißt, ich kenne es eben nicht, weiß nur von ihm und würde es so gern einmal sehen. Und du, Bernadette, hast du einen besonderen Wunsch für diese Reise?“ „Ja!“ rief ich. „Ach, Asbjörn, ich habe einen brennenden Wunsch! Du darfst alles bestimmen, jeden Tag und jede Stunde – ich bitte dich nur um drei Stunden unserer Ferien! Wenn wir in Freiburg sind, ist es nur noch ein kleiner Sprung nach Colmar – ich möchte so wahnsinnig gern den Isenheimer Altar sehen.“ „Colmar?“ wiederholte Asbjörn verwundert. „Aber liebes Kind, wir fahren doch nicht nach Frankreich!“ Da stieg eine Angst in mir auf – er würde doch jetzt nicht nein sagen? Nachdem ich soeben erst erklärt hatte, ich hätte einen brennenden Wunsch? Es war das einzige, was ich mir wirklich wünschte. „Was ist denn? Die Entfernung wird doch nicht dadurch größer, daß wir über eine Grenze müssen! Ich weiß, es ist nur ein kurzes Stück – eine Stunde hin und eine zurück und eine Stunde für den Isenheimer Altar!“ „Ich fürchte, deine Berechnung wird nicht ganz stichhaltig sein“, meinte Asbjörn. „Es klingt ein wenig unwahrscheinlich – Freiburg – Colmar hin und zurück und dann Kunstgenuß, und das alles in drei Stunden! Außerdem weiß ich nicht, ob man in Frankreich nicht den Internationalen Führerschein braucht, und den habe ich nicht.“ „Dann laß das Auto in Freiburg stehen. Wir können einen Bus nach Colmar nehmen.“ „Einen Bus, wo wir das Auto haben! Du bist ja gut! Nein, mein Liebling, wünsch dir lieber etwas anderes!“ Ich hatte keinen Kloß im Hals, keine Tränen in den Augen. Ich war bis in mein Innerstes hinein kalt und tot. Und ganz ruhig. „Ich will es versuchen“, sagte ich und erhob mich. „Aber wenn wir morgen früh aufbrechen wollen, habe ich noch einiges zu tun. Ich muß ein Kleid bügeln und eine Bluse waschen.“ „Tu das, mein Schatz. Könntest du bitte auch gleich ein Nylonhemd für mich mitwaschen?“ „Selbstverständlich.“
Ich stand in Frau Müllers Badezimmer und wusch. Ich war durch und durch kalt und wie erstarrt. Etwas in mir war getötet – und dieses Mal war es nicht nur ein kleines Marienkäferchen. Schüttele es ab, sagte ich aus alter Gewohnheit zu mir. Nein, ich konnte es nicht. Denn dies nagte an meiner Seele und fraß sich immer tiefer und tiefer hinein… Es handelte sich nicht darum, daß ich den Isenheimer Altar nicht zu sehen bekommen sollte – obwohl ich ihn so gern besucht hätte. Aber daß Asbjörn mir einen so brennenden Wunsch abschlug – daß er nein sagte, nachdem ich ihm vertrauensvoll auf seine eigene Frage geantwortet hatte – , daß er nein sagte, ohne im geringsten nachzudenken, ob sich mein Wunsch erfüllen ließe! Internationaler Führerschein? Er hätte nur einen Automobilklub anzurufen und zu fragen brauchen. Ach, warum hatte er nicht lächelnd gesagt: „Was für komplizierte Wünsche du aber auch hast, du kleiner Racker! Nun, wir wollen mal sehen. Hol die Karte her, und dann rechnen wir uns aus, wie weit wir nach Frankreich hinein müssen. Und wenn mein Führerschein dort wirklich nicht gilt, dann eben nicht. Es werden bestimmt den ganzen Tag über Busse verkehren, das können wir in Freiburg feststellen. Selbstverständlich sollst du deinen Altar zu sehen bekommen…“ Warum hatte er nicht gelacht und gesagt: „Du bist aber gut, du mit deinen drei Stunden – ich kenne dich, mein Schatz; zunächst einmal wirst du mindestens zwei Stunden vor dem Altar stehen, außerdem wirst du bestimmt Andenken und Obst kaufen und dich in Colmar umsehen wollen. Ich glaube, wir setzen dafür lieber einen ganzen Tag ein – und den gönne ich dir von Herzen!“ Das alles hätte er sagen können. So leicht wäre es gewesen. So hätte Tante Cosima geantwortet. So hätten auch Mutti, Onkel Ferdinand und Tony reagiert – ja, Tony zuallererst. So hätte auch ich geantwortet. Niemals hätte ich es über mich gebracht, nein zu sagen, wenn ein anderer Mensch sich etwas brennend wünschte. Etwas in mir war gestorben. Was hatte Asbjörn damals gesagt: „Ihr habt ein Füllhorn, das immer überläuft.“ Es lief nicht mehr über. Aus dem Füllhorn hatte ich die Kräfte geholt, um mit tausend kleinen, dummen, unbedeutenden Enttäuschungen und Ärgernissen fertig zu werden. Nun, da ich so dringend etwas von der Freude und dem Überfluß brauchte, war mein Füllhorn leer. Ich hängte die Bluse und das Hemd auf die Schnur im Bad, ging
ins Zimmer zurück und begann zu packen. Ich packte ganz still und langsam – nicht wie damals, als wir von Villeverte aufbrachen. Damals war ich so froh, ich sang und trällerte, während ich die Sachen in einem wilden Durcheinander in den Koffer warf. Immer wieder sagte ich mir, Asbjörn sei ein prachtvoller Kerl. Alle mochten ihn gern. Offen und ehrlich, gewissenhaft und lieb. Lieb? War er das wirklich? War er nicht im Grunde seines Herzens ein riesengroßer Egoist? Es stimmte durchaus, daß er zu mir sehr lieb und Verständnisvoll sein konnte. Aber ein grenzenloser Egoist kann doch auch verliebt sein. Ein Egoist kann ein so bezauberndes Wesen haben, daß alle ihn mögen. Aber ich – sollte ich einen solchen Egoisten heiraten? Sollte ich mich auf ein Dasein voll kleiner und immer größerer Enttäuschungen einlassen – sollte mein Lebensweg mit kleinen, abgetöteten Freuden bedeckt sein? Sollte ich es wagen, einen Mann zu heiraten, der mir ohne jede Hemmung, ohne eine Spur von Gewissensbissen einen brennenden Wunsch abschlug, einen Mann, der sich nicht einmal die Mühe machte, näher zu untersuchen, ob eine Möglichkeit bestand, meinen Wunsch zu erfüllen? Ich hätte mir diese Fahrt nach Colmar erbetteln können. Ich hätte sie durch Tränen erreichen können. Ich hätte sie mir ernörgeln können. Aber ich wollte nicht betteln, weinen oder nörgeln. Die Freuden, die Asbjörn mir schenkte, sollten seinem freien Willen entspringen; sie sollten ihm selber Freude machen, sie sollten aus dem Wunsch hervorgehen, mich froh zu sehen und etwas für mich zu tun. So wie auch ich von Herzen gern Asbjörn erfreuen wollte. Schüttele es ab, Bernadette… Nein. Ich konnte es nicht. Als ich mich am Abend ins Bett legte und es um mich her dunkel und still war, kamen die Tränen. Sie galten nun nicht länger Colmar. Sie galten nicht diesem einen Fall. Dieser Fall war nur ein Symptom für das, was in meinem Herzen nagte und mit jedem Tag, seit Asbjörn und ich uns verlobt hatten, immer größer wurde – das, was ich immer wieder von mir abgeschüttelt hatte, über das ich hinweggegangen war, das ich mit Hilfe meiner Heiterkeit und meinem Verlangen nach Harmonie zu unterdrücken vermocht hatte. Nun wurde vor mir wieder alles lebendig, und mir wurde
entsetzlich bang. Ich hatte Angst, das Leben anzupacken, das vor mir lag. So begann die Reise nach Süden; ich war ruhig und beherrscht und antwortete freundlich auf alles, was Asbjörn sagte. Aber das Herz lag mir wie ein Stein in der Brust. Nur ein einziges Mal begann es zu leben. Das war in der Nähe von Freiburg, wo eine Straße nach Westen abzweigte und ein großes gelbes Schild genau anzeigte, wohin sie führte: COLMAR stand auf dem Schild. Da zuckte eine verzweifelte kleine Hoffnung in meinem Herzen auf. Vielleicht – vielleicht biegt er jetzt nach rechts ab – vielleicht will er mich überraschen – vielleicht… Schon waren wir am Schild vorbei und fuhren weiter nach Süden. Ja, wir sahen das Freiburger Münster, und Asbjörn kaufte mir eine echte Schwarzwälder Kuckucksuhr. Wir kamen nach Basel und gingen in den Zoologischen Garten. Gewiß war er schön, und Asbjörn war in seinem Element, so wie er es auch in Frankfurt gewesen war. Am nächsten Abend rollten wir in Villeverte ein. „Aber Petite, wie blaß du bist!“ sagte Grand’mère. „Ist dir nicht wohl?“ „Doch, doch, Grand’mère. Nur müde bin ich.“ „Dein Gesicht ist ja kreideweiß, du siehst aus wie Buttermilch und Käse“, drückte Onkel Ferdinand sich aus. „Hast du sie schlecht behandelt, Asbjörn? Hast du bereits angefangen, sie zu verhauen? Damit mußt du warten, bis ihr verheiratet seid!“ Ich lächelte ein kraftloses Lächeln. Dann aber riß ich mich gewaltig zusammen, erzählte von Frau von Krohn und der Wohnung. Die Familie schlug die Hände zusammen, und jeder überschrie den anderen, was für unvorstellbares Glück wir hätten – und wie glücklich ich sein müßte! Glücklich? – Ob ich wohl jemals wieder glücklich sein könnte? So richtig hemmungslos, vollkommen glücklich? Ich weinte nicht mehr. Das hatte ich in der letzten Nacht in Frankfurt hinter mich gebracht. Nur ein dumpfer, quälender Schmerz war zurückgeblieben. Ich wußte, daß ich mich mit Asbjörn aussprechen mußte. Und es hatte bald zu geschehen. Bei der ersten Gelegenheit. Denn diesen Zustand hielt ich nicht aus.
Kabine Nummer sechs Die Gelegenheit fand sich schneller als erwartet. „Du!“ sagte Asbjörn beim Frühstück. „Wo befindet sich Franz heute mit seinen Maultieren?“ „Heute – Donnerstag? Da geht er zur Steinbockhütte hinauf.“ „Glaubst du, wir könnten ihn treffen, wenn wir die Bahn hinauf nehmen und ein Stück in die Berge hineingehen? Ich meine nicht angeseilt zur Aiguille d’Argent, sondern durch die Schlucht hinauf?“ „Ja, früher oder später müssen wir ihm bestimmt dort begegnen.“ „Weißt du, ich habe mir nämlich gedacht, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden. Das Angenehme wäre, einmal eine schöne Tour zu machen, ohne dabei nur an das Filmen denken zu müssen; und das Nützliche wäre, Franz zu treffen und ihn zu fragen, ob er sich für solche Filmaufnahmen zur Verfügung stellen würde.“ „Das läßt sich ganz bestimmt vereinen!“ So nahmen wir die Bahn hinauf. Das war für uns ein neuer Luxus, denn wir waren sonst stets vor Sonnenaufgang auf unseren Beinen in die Berge hinaufgewandert. „Was, Bernadette, lebst du noch?“ rief der alte Carlo. „In diesem Sommer hast du mich ganz im Stich gelassen; ich habe dich nur ein einziges Mal gesehen!“ Ich erklärte ihm den Zusammenhang. „Aber wie geht es dir selber, Carlo?“ fragte ich. „Du siehst so blaß aus!“ „Ja, ich bin nicht so ganz auf Draht. Die Jahre melden sich – dazu habe ich mich richtig erkältet; ich habe wohl ein wenig Fieber. Aber das geht schon wieder vorbei; bisher habe ich noch jeden Stoß ausgehalten. Ich wünsche euch nun eine schöne Tour. Und wenn ihr mit der Bahn hinunter wollt, kommt rechtzeitig, denn ich schließe den Laden, sobald es dunkelt.“ „Wir sind das Laufen gewohnt“, lachte ich. „Bis nachher, Carlo, und gute Besserung!“ So stiegen wir durch die Schlucht auf, ich vorn weg, hinter mir Asbjörn auf dem schmalen Pfad. Ich wußte, daß ich mich an diesem Tag mit ihm aussprechen mußte. Heute war die Gelegenheit da. Beim Gehen überlegte ich mir, wie ich es anfangen sollte – und ich hatte Herzklopfen, ich hatte Angst – ganz einfach Angst vor dem Mann, den ich liebte. Ja, denn ich liebte ihn. Liebte ihn so heiß, wie ich es die ganze Zeit über getan hatte. Ich hatte ihn so verzweifelt, so
schmerzlich lieb. Jetzt – jetzt hatte ich wieder den Kloß im Hals. Das durfte nicht sein – ich mußte ruhig mit ihm sprechen können… „He, wart einen Augenblick, Bernadette!“ Ich blieb stehen. Asbjörn stand mit dem Feldstecher vor den Augen da. „Sieh mal, dort oben kommt Franz!“ Er reichte mir den Feldstecher. Natürlich war es Franz, der bereits abstieg. „Er ist heute schon früh unterwegs!“ „Oder wir sind spät dran“, meinte Asbjörn. „Ist dir klar, daß schon bald Mittag ist?“ Nun – ich beschloß zu warten. Erst mußten wir diese Sache mit Franz erledigen. In den Bergen sind die Entfernungen groß. Es dauerte eine Stunde, bevor wir einander begegneten. Danach gingen wir in ein Seitental. Dort lief ein Bach, dort konnten wir auf unserem Spirituskocher Kaffee kochen und unseren Proviant essen. Erst nachdem wir gegessen hatten, überwand ich mich dazu, mit Asbjörn zu reden, und eigentlich war er es, der anfing. Er sah mich forschend an: „Stimmt etwas nicht, Bernadette?“ „Wieso glaubst du das?“ „Du bist so still – und so ernst. So habe ich dich noch niemals gesehen. Wo ist deine strahlende Lebensfreude geblieben? Wo ist dein Füllhorn?“ „Du hast den Nagel genau auf den Kopf getroffen. Gerade das ist es nämlich. Mein Füllhorn ist leer. Leergekratzt.“ „Aber dann erzähl doch, Liebling, was ist mit dir los?“ „Ich… ich…“ ach, mein Gott, schon kamen die Tränen, und ich konnte sie nicht zurückhalten, ich zitterte am ganzen Körper. Warum nur konnte ich nicht ruhig bleiben? Aber nein, das konnte ich nicht. Meine Lippen bebten, als ich endlich die Worte hervorbrachte: „Ich traue mich nicht, dich zu heiraten, Asbjörn!“ Ich weiß nicht, was Asbjörn antwortete, oder ob er überhaupt geantwortet hat. Ich weiß nur, daß meinen Worten eine lange Stille folgte. Er ließ mir Zeit, mich zu sammeln. Nachdem ich ein wenig ruhiger geworden war, legte er den Arm um mich. „Schon gut, Mäuschen. Jetzt aber mußt du versuchen zu reden. Erklär mir alles von Anfang an. Habe ich dir irgendwann weh getan?“ „Ja, Asbjörn. Tausend kleine Nadelstiche – lächerliche, kleine
Nadelstiche, die nichts zu bedeuten gehabt hätten, wären es nicht so viele gewesen – und es war mir gelungen, mich über sie hinwegzusetzen – sie mit einem Lachen zu erledigen – bis… bis…“ „Bis… Bernadette?“ Seine Stimme klang gedämpft und ruhig. Dann erzählte ich ihm, was mir in der letzten, schrecklichen, schlaflosen Nacht in Frankfurt durch den Kopf gegangen war. Wenn er mich fragen konnte, was ich mir wünschte, und ich einen Wunsch aussprach, sogar einen brennenden Wunsch, und er diesen mit einem Nein abschlug, obwohl er so leicht zu erfüllen gewesen wäre – da gab es für mich nur eine Erklärung: er liebte mich nicht, er liebte mich nicht richtig, er liebte mich nicht so stark, wie man einen Menschen lieben muß, den man heiraten will. Noch immer saß er regungslos da. „Sag mir zunächst einmal eins, Bernadette: Liebst denn du mich?“ Da blickte ich ihm in die Augen, obwohl ich ihm dabei mein scheußlich verweintes Gesicht zuwenden mußte. „Ja, Asbjörn, ich liebe dich über alles auf der Welt. Wäre das nicht der Fall, gäbe es ja gar keine Schwierigkeiten.“ „Und ich liebe dich, Bernadette. Wird da nicht alles andere belanglos? Ist es nicht eine Bagatelle, ob du da nach Colmar kommst oder nicht? Ist es nicht ohne jede Bedeutung, ob wir die Sachen für die Wohnung in Norwegen oder bei einem Ausverkauf in Frankfurt kaufen?“ Ach, er hatte nichts von allem begriffen! Ich holte tief Atem: „Richtig, es sind Bagatellen. Und hätte ich dir dadurch etwas Gutes antun können, daß ich die Reise nach Colmar aufgab – ich bitte dich, mit Freuden hätte ich sie geopfert, mit tausend Freuden. Ich rede doch nicht von Colmar, Asbjörn. Sondern es handelt sich darum, daß du nicht das Verlangen verspürst, mir eine Freude zu bereiten. Es macht dir nichts aus, mich zu enttäuschen. Du selber merkst nicht einmal, daß du es tust. Du gehst deinen abgesteckten Weg durch das Dasein, machst deine Filme, denkst an deine Arbeit und konzentrierst dich auf sie – und außerdem bist du auch in mich verliebt, und es ist für dich sehr nett, mich mit in dein Dasein und in deine Arbeit einzubauen – , aber wehe, wenn ich mir etwas wünsche, das auch nur eine Spur abseits von deinem abgesteckten Weg liegt! Da kennst du nichts anderes, als sofort nein zu sagen und mich auf
den Weg zurückzuholen, den du bestimmt hast…“ „Und du bist es nicht gewöhnt, daß dir jemand nein sagt“, entgegnete Asbjörn. „Nein, das bin ich nicht gewöhnt! Und ich bin es auch nicht gewöhnt, selber nein zu sagen! Mein Lebensweg ist keine schnurgerade abgesteckte Linie! Da gibt es tausend kleine Seitenwege…“ „Und so huschst du in diese kleinen Nebenwege hinein, um einen Rock für Marietta zu nähen – oder Proviant für mich zuzubereiten – oder Tonys Mutter bei einem Kleid zu helfen – oder um fünf Uhr morgens mein Skriptgirl zu sein – ja, das ist mir klar. Mir ist vieles klar von dem, was du da sagst, Bernadette; aber ich muß darüber nachdenken, ich muß es ganz einfach erst einmal verdauen. Etwas in mir sagt, daß irgendwo etwas nicht stimmt. Ein Mensch sollte doch solche kleinen Enttäuschungen ertragen können, ohne sich davon gleich so niederdrücken zu lassen – ohne seinen Lebensüberschuß gleich einzubüßen. Das hast du niemals gelernt, Bernadette. Du hast es gelernt, Freuden zu empfangen und Freuden zu geben, das gewiß – aber du mußt es lernen, auch Enttäuschungen hinzunehmen!“ Ich zuckte die Achseln. Er verstand mich also nicht. Plötzlich bemerkte ich, daß die Sonne nicht mehr schien. Ich fröstelte. „Wir müssen uns beeilen, Asbjörn, wenn wir die Bahn hinunter noch erreichen wollen. Und ich bin keineswegs dazu aufgelegt, den ganzen Weg nach Hause zu Fuß zu gehen!“ So machten wir uns rasch auf den Heimweg und beeilten uns. Bald hörte ich das gleichmäßige Surren von der Bahn her. Sie war also noch in Betrieb. Aber in der Tür zur Station begegneten wir Carlo, der gerade heraustrat. „Ach, lieber Carlo, ist denn schon Schluß – kannst du nicht noch eine einzige Kabine hinunterschicken – wir sind so müde! Und die Maschinen laufen doch noch!“ „Ja, Nummer drei ist noch unterwegs. Ein müder Mensch darf wohl heute überhaupt nicht mehr ins Bett – nun ja, weil du es bist! Sieh mal, da kommt noch jemand…“ Eine junge Mutter eilte mit einem kleinen mürrischen Jungen herbei, und da kam auch ein älterer Mann am Stock. „Was haben wir für ein Glück – wir hatten solche Angst, die letzte Kabine sei bereits abgefahren…“ „Das ist sie auch“, murmelte Carlo ein wenig verdrossen. „Und
nun hinein mit euch und gute Fahrt! Jetzt geh ich mich hinlegen.“ „Vergiß nur nicht, unten anzurufen, daß wir noch kommen“, rief ich ihm zu. Carlo lächelte und winkte, wandte sich um und ging zum Telefon. Dann hatte die Kabine das Stationsgebäude verlassen, und ich verlor ihn aus den Augen. „Wir hatten die Zeit völlig vergessen“, erklärte die junge Mutter. „Der Kleine wollte unbedingt Enzian pflücken – dann wurde er durstig und wollte Brause haben – armer Kerl, nun friert er auch noch…“ Kein Zweifel, daß der Junge fror. Er trug Wadenstrümpfe und Sandalen, und seine Knie waren blaugefroren. Wenn es nämlich bei uns gegen Abend kalt wird, ist es gleich hundekalt. Der ältere Mann fror ebenfalls. Ja, er hatte am frühen Nachmittag die Bahn nach oben genommen, das Wetter hatte ihn verlockt, es war so schön gewesen – aber vielleicht hätte er es doch nicht tun sollen. Er litt an Asthma und hatte ein schwaches Herz. Jedoch hatte er geglaubt, wenn er die Bahn hinauf und hinunter nähme, dann… aber dann hatte er einen Hustenanfall bekommen und hatte sich so lange ausruhen müssen… Jetzt war er von Herzen froh, daß er die Bahn noch erreicht hatte. Uff, wie kalt es war! Und so dunkel. Diese Augustnächte in Villeverte – wie gut ich sie kenne! Im Handumdrehen ist der Tag zu Ende, die Dunkelheit kriecht aus allen Winkeln hervor und legt sich wie eine Decke über alles. Bevor man sich umsieht, ist es bereits Nacht. Und zusammen mit der Nacht kommt die Kälte. Wieder sah ich die blaugefrorenen Knie des Jungen an. Daß diese Touristen es auch niemals lernen konnten, sich richtig anzuziehen, wenn sie in die Berge hinaufzogen! Nun hörten wir das Dröhnen des Wasserfalls unter uns, es wurde immer stärker. Bald würde es so stark sein, daß wir kaum noch unsere eigene Stimme hören konnten. Plötzlich blieb die Kabine stehen. Nanu? Hier anzuhalten? Wahrscheinlich aber war Nummer drei unten angelangt, vielleicht waren alte Leute drin, und Maro hielt die Maschinen an, um ihnen Zeit zum Aussteigen zu geben. Aber nein. Wir blieben hängen, der Wasserfall dröhnte uns in den Ohren. „Das ist merkwürdig“, sagte Asbjörn. „Carlo kann doch nicht vergessen haben, unten Bescheid zu geben!“
„Auf keinen Fall, ich habe ihn doch noch zum Telefon gehen sehen.“ Ich horchte. Nur das Brausen des Wasserfalls. Kein singender Laut in den Drahtseilen. Langsam wurde es mir entsetzlich klar: Maro hatte für heute aufgehört. Die Kabine Nummer drei war unten angekommen – die Nummern eins und zwei, vier, fünf und sechs hingen am Drahtseil und würden bis morgen früh hängen bleiben – und wir saßen in der Nummer sechs. Wie hatte das geschehen können? Carlo war doch zum Telefon gegangen – Carlo würde uns um nichts in der Welt die ganze Nacht dort hängenlassen – was war wirklich geschehen? „Was ist los?“ fragte die junge Mutter. „Ich weiß es nicht“, antwortete ich. „Vielleicht ein Versagen der Maschinerie. Aber man wird uns schon zu Hilfe kommen. Selbst wenn man uns durch Handantrieb hinunterholen muß!“ Minuten verstrichen. Eine halbe Stunde verging. Wir froren so, daß unsere Zähne aufeinanderschlugen. „Asbjörn“, sagte ich auf norwegisch, „verstehst du, was geschehen sein kann?“ „Ja, wahrscheinlich ist es Carlo nicht gelungen, unten Bescheid zu geben…“ „Carlo fühlte sich heute morgen nicht wohl. Angenommen, er ist bewußtlos geworden oder hat einen Schlaganfall bekommen, bevor es ihm zu telefonieren gelang…?“ „Du liebe Zeit!“ „Sag nur den anderen nichts davon. Aber was in aller Welt sollen wir jetzt tun?“ „Wie hoch sind wir denn über dem Boden?“ „Auf jeden Fall zu hoch, um hinunterzuspringen. Warte mal, ich kenne doch diese Strecke wie meine eigene Tasche. Wir sind hier ganz nah vom Fall, da sind wir also nicht sehr hoch, gerade über den Baumwipfeln – höchstens zehn bis zwölf Meter. Ach, Asbjörn…“ „Was ist?“ „Paß auf! Wie viele Riemen, Gürtel und dergleichen können wir zusammenbekommen? Könnten wir ein etwa zwölf Meter langes Tau knüpfen, das sechsundvierzig Kilo aushält?“ „Sechsundvierzig Kilo?“ fragte Asbjörn. „Ja, richtig. Ich wiege nämlich 46 Kilo. Käme ich nur hinunter, würde ich ins Dorf rasen, Maro verständigen und euch im
Handumdrehen herunterholen!“ „Das verbiete ich dir!“ erklärte Asbjörn bestimmt. Da brauste ich auf. Aber ich schrie nicht, ich flüsterte es ihm ins Ohr, so daß die anderen an meiner Stimme nicht erkennen sollten, wie wütend ich war. „Ich pfeife auf das, was du mir verbietest. Ich will nicht hier sitzen bleiben und zusehen, wie vier Menschen sich den Tod holen und der arme alte Mann einen Herzanfall bekommt – sieh nur, wie elend er sich schon fühlt. Wir müssen etwas unternehmen, zum Teufel. Denk nach! Du hast einen Ledergürtel. Wir haben Riemen am Rucksack, am Feldstecher und an der Kamera. Dein Anorak ist ziemlich lang, von einem Ende des Ärmels bis zum anderen gerechnet. Ich habe ebenfalls eine feste Jacke und einen Gürtel, der alte Mann hat einen Stock. Das alles müssen wir doch aneinanderknüpfen können! Dazu noch dein Hemd und meine Bluse…“ „Ich selber würde es gern tun, Bernadette…“ „Ja, ausgerechnet du mit deinen fünfundachtzig Kilo! Und nun hilf mir! Und tust du es nicht, so versichere ich dir, daß ich dich mein ganzes Leben lang verachten werde, und du kannst allein in deiner Wohnung in Frankfurt sitzen, denn ich heirate dich nicht. Mir ist es todernst!“ „Du willst mir also drohen und mich zwingen, gegen mein eigenes Gewissen zu handeln?“ „Ich pfeife auf dein Gewissen. Das hat es ausgehalten, mir so viele Freuden zu zerschlagen; ich glaube, das erträgt es auch noch, wenn ich mich diese lächerlichen zwölf Meter hinablasse. Und jetzt erzähle ich den anderen von diesem Vorschlag, da kannst du meinetwegen mit deinen Protesten verschimmeln!“ „Bernadette, ich…“ „Halt den Mund, Feigling!“ Ich wandte mich an den alten Mann, erklärte meinen Plan und fragte: „Was haben Sie alle an festen Gürteln, Riemen und an Sachen bei sich, die wir so zusammenknüpfen könnten, daß ich mich an ihnen hinablassen könnte?“ Nun kam Leben in sie. Der Alte hatte einen starken Gürtel und – gesegnet sei sein Pessimismus – er hatte noch dazu Hosenträger! Alte Witze fallen einem in den seltsamsten Situationen im Leben ein. Nun mußte ich an die scherzhafte Erklärung eines Pessimisten denken: ein Mann, der sowohl einen Gürtel als auch einen
Hosenträger trägt. Ohne ein Wort löste Asbjörn seinen Gürtel. Mit dem Taschenmesser schnitt er die Riemen vom Rucksack. Dann zog er den Anorak aus. Es war richtig, er hatte wirklich eine riesige Rückenbreite und ungewöhnlich lange Ärmel. Und der Stoff war gewiß fest genug, um mich auszuhalten, das wußte ich. Dann löste er den Riemen von der Kamera und holte zum Verschnüren festen Bindfaden aus den Taschen. Wir knüpften und schnallten aneinander. Ich zog meine Stiefel aus – die wogen sicher ein Kilo; wozu sollte ich mich schwerer machen als ich war? „Wir müssen die Höhe ausprobieren“, sagte Asbjörn. Die Stiefel waren am äußersten Ende angebunden und hinabgelassen. Nein, sie reichten nicht bis hinunter. „Wart“, rief ich, „so viel kann gar nicht mehr fehlen. Binde noch deine Schnürsenkel an, dann versuchen wir es noch einmal! Wenn nur etwa ein Meter fehlt, geht es gut. Da klettere ich ganz bis zum Ende hinunter und dann lasse ich mich fallen.“ Wir fügten noch einen Meter Schnürsenkel hinzu. Und siehe da, wir berührten den Boden! „Steck dir meine Taschenlampe ein“, schlug Asbjörn vor. Seine Stimme klang sehr ruhig, sehr sachlich, so wie es bei Menschen der Fall ist, die sich bis zum Äußersten beherrschen. „Wenn du unten bist, gib mir ein Zeichen mit der Lampe.“ „Ja“, antwortete ich. „Und du holst das Tau wieder ein und ziehst deinen Anorak an. Ich brauche eine Stunde bis zum Ort und eine viertel Stunde, um Moro zu wecken und mit ihm zur Station zu laufen. In etwa anderthalb Stunden also werden wir auch euch runterholen!“ Nun band Asbjörn das Ende des Taus fest und schob das Fenster ganz hinunter. Die Türen ließen sich nicht öffnen. Sie wurden bei der Abfahrt der Kabine geschlossen, nur Maro und Carlo konnten sie öffnen. Asbjörn hob mich bis zur Höhe des Fensters hoch. „Bernadette – ich liebe dich!“ Seine Stimme klang seltsam belegt. „Und ich dich, Asbjörn. So, jetzt habe ich das Tau fest – nein, laß mich richtig heraus, die Beine zuerst – ja so – jetzt halte ich mich am Fensterrahmen fest – laß mich los, halt das Tau lieber ein bißchen ab – nun geht es gut! Leb wohl, ich mache nicht lange!“
Asbjörn wußte, daß ich eine gute Turnerin bin. Tauklettern ist für mich ein Kinderspiel. Aber sich an einem Tau herabzulassen, das aus Riemen, Kleidungsstücken und Hosenträgern besteht, einem Tau, das im Nachtwind hin und her schwingt und noch dazu an einer ziemlich stark schaukelnden Kabine hängt, ist doch eine andere Sache. Rings um mich her war pechschwarze Nacht. Ich hatte meine Beine um das Tau geschlungen und ließ mich mit so langen Griffen wie möglich hinunter, aber vorsichtig, um nicht zu heftig an dem Tau zu zerren. Meter um Meter – nein, wie es hin und her schwang – ich klammerte mich so fest, daß meine Hände weh taten. Ein Griff und noch ein Griff – und da gab es einen Ruck, das Tau riß, und ich stürzte hinab. Ich fiel, die Hände um einen harten Riemen verkrampft. Da lag ich nun. Ein Bein tat mir schrecklich weh und - mit Respekt zu sagen – mein Allerwertester auch. Aber ich vermochte aufzustehen. Ich konnte gehen. Ich hatte mir nichts gebrochen, nichts verstaucht. Ich war bestimm» nicht aus größerer Höhe als zwei Meter herabgestürzt. Aber das Tau war ziemlich weit oben zerrissen. Armer Asbjöm, nun konnte er seinen Anorak nicht zurückbekommen, denn der lag neben mir in der Dunkelheit. Die Taschenlampe! Jetzt mußte ich ihm ein Signal geben. Hatte Asbjöm bemerkt, daß das Tau gerissen war, war er nun außer sich vor Angst. Ich knipste. Kein Licht. Wieder versuchte ich es. Aber nein, nichts. Beim Sturz war die Birne zerbrochen. Ich legte die Hände an den Mund und schrie aus allen Kräften: „Ich bin O. K.! Jetzt gehe ich!“ Aber der Wasserfall übertönte meine Worte. So saß ich in der Dunkelheit, löste meine Stiefel vom Tau und zog sie rasch an, nahm Kurs auf die Lichter von Villeverte, versuchte auszurechnen, wo ich auf den Pfad treffen könnte, und trottete durch die Nacht davon. Der kleine Junge in der Kabine würde wohl meine Strickjacke bekommen, und ich wanderte nun in Asbjörns Anorak los – im blauen Anorak mit dem Webfehler. Was bei diesem Marsch in meinem Kopf vorging, ist nicht zu schildern. Diese merkwürdige Tour in der dunklen Nacht, in der ich
schrecklich schnell und doch gleichzeitig vorsichtig gehen mußte. Es durfte mir nichts zustoßen, denn von mir hing es jetzt ab, ob die vier dort oben Hilfe bekommen würden – diese vier Menschen, die in der eiskalten, dunklen Nacht in einer kleinen zugigen Kabine hingen. Nicht eine Hand konnten sie jetzt vor Augen sehen – und wie mußten sie in dem kalten Hauch des Wasserfalls frieren! Nun hatte ich den festen Pfad unter den Füßen und konnte schnell gehen. Dann wurde der Pfad zum Weg, und da wagte ich zu laufen. Immer schneller und schneller – fast so schnell wie in der Schule, damals, als ich den 100-Meter-Lauf gewann. In Franzens Haus war alles still. Ich hörte nur ein Schnaufen und einen Stoß aus dem Maultierstall. Mit aller Kraft hämmerte ich gegen die Tür, lief dann um das Haus herum und klopfte auch gegen das Fenster des Schlafzimmers. „Was zum Teufel…“ Zerzauste Haare und ein Gesicht tauchten am Fenster auf. „Franz, ich bin es – Bernadette. Du mußt sofort Maro wecken! Vier Menschen sitzen in der Kabine Nummer sechs, sie hängt in der Nähe vom Wasserfall – sie frieren zu Tode…“ „Um Gottes willen, wir kommen, Bernadette!“ Einen Augenblick später war Maro da, die bloßen Füße in den Schuhen und auch sonst nur notdürftig bekleidet. Ich erklärte ihm das Wichtigste. Die Hauptsache hatte er auf jeden Fall begriffen: daß Kabine Nummer sechs herunter mußte, und das so schnell wie möglich! Sein Schlüsselbund klirrte, während wir zur Station liefen, und mir klang dieses Klirren wie die schönste Musik. Die Tür aufgerissen – das Licht eingeschaltet – und einen Augenblick später sang es schon in den Stahltrossen – welch wunderbarer gesegneter Laut! Da kam Nummer vier, fuhr herum und wieder hinauf – es kam Nummer fünf – ich starrte hinauf in die Finsternis und starrte, bis mir die Augen weh taten. Ja, da tauchte etwas Dunkles auf, nahm Gestalt an – es war Kabine Nummer sechs! Maro hielt die Maschine an, als die Kabine waagrecht in der Höhe mit dem Boden hing. Mit zitternden Händen schloß er auf. Der alte Mann mußte gestützt und es mußte ihm hinausgeholfen werden. Asbjörn hielt das Kind und reichte es der Mutter. Und dann fanden seine Augen die meinen. „Bernadette… Bernadette…“ Da lag ich schon in seinen Armen, fest, warm und sicher in
seinen Armen. Aber was war das – was war mit Asbjörn – ein so seltsamer Laut – es war doch wohl nicht etwa, daß… Asbjörn weinte doch nicht? „Bernadette – meine geliebte… kleine Geliebte…“ Kabine Nummer sechs glitt nach oben in die Nacht davon, ruhig und sicher. Franz und ich saßen darin. Asbjörn hatte den alten Mann ins Hotel begleiten müssen, der Arme hatte sich verzweifelt an Asbjörn angeklammert. Franz war hinter uns hergerannt; er wollte hinauf und feststellen, was mit seinem Vater los war. „Ich verstehe gar nichts“, erklärte Maro. „Großvater rief mich an und sagte durch, er schicke Kabine drei hinunter und mache dann Schluß für heute. Kabine drei kam, ich ließ die Leute aussteigen, alles war in Ordnung – und seitdem habe ich nicht einen Tön mehr gehört!“ „Ich begleite dich, Franz“, sagte ich. „Vielleicht brauchst du Hilfe. Armer Carlo, ich habe solche Angst um ihn!“ So fuhren Franz und ich mitten in der dunklen Nacht hinauf. Die Kabine war nicht abgeschlossen, wir konnten ohne Hilfe aussteigen. Auf dem Fußboden der Station lag Carlo – bleich und regungslos. „Ach, Franz!“ Wir beugten uns über den Alten. Doch – sein Herz schlug noch, und er atmete. Er bemühte sich zu sprechen, aber nur ein unverständliches Murmeln war zu vernehmen; er vermochte die Lippen nicht zu bewegen. Den armen, alten Carlo hatte der Schlag getroffen. Ich rief Maro an. Der Arzt sollte so schnell wie möglich nach oben kommen. Wir wagten nicht, Carlo zu transportieren, sondern hatten nur einige Decken aus der Silberhütte geholt, damit er nicht fröre. „Aber ich darf nicht die Station verlassen, solange die Bahn in Betrieb ist“, sagte Maro. „Kannst nicht du mit der nächsten Kabine herunterkommen und den Arzt holen?“ Ja, das tat ich also. In jener Nacht setzten die Kabinen Stunde um Stunde ihre Fahrt fort, bis der Arzt zur Station Silberhütte hinaufgefahren war, Carlo ins Bett gebracht und ihm eine Spritze gegeben hatte. Lisette aus der Silberhütte saß mit feuchten Augen neben Carlo und hielt Nachtwache, bis Franzens Frau kommen würde, um sie abzulösen. Die silbrig schimmernden Kabinen aber fuhren unermüdlich hinauf und hinunter.
Todmüde schleppte ich mich schließlich heim in das Chalet Cosima. In tiefer Stille lag es da. Niemand ahnte etwas von den Geschehnissen in dieser Nacht. Aber in dem ersten schwachen Licht der Morgendämmerung sah ich etwas auf der Straße vor mir sich bewegen, nur ein paar Meter vom Haus entfernt. Es kam näher. Etwas Kleines, Zottiges. Wahrhaftig – es war Mouche. „Mouche! Du kleiner Nachtschwärmer, was treibst denn du dich herum?“ sagte ich. Es sah aus, als hätte Mouche einen Auftrag. Sie trug etwas in der Schnauze. Nun setzte sie sich vor mich hin und wedelte stolz, wie sie es immer tat, wenn sie einem etwas „brachte“. Ich nahm ihr ab, was sie da trug – ein Stück festes Papier. Im Schein einer der Straßenlaternen von Villeverte konnte ich erkennen, was es war. Eine Ansichtskarte. Ein Bild des Matterhorns.
Nach Norden Wir entflohen. Wir setzten uns in den Wagen und fuhren ganz einfach davon. Jetzt mußten wir allein sein. Ohne Menschen um uns her, ohne die Filmsachen und ohne die liebe Familie. Und ohne Fremde, die mich auf der Straße anhielten und sagten: „Mein Gott, das waren ja Sie, die…“ Ja, ich war es gewesen, die sich hinuntergelassen und Hilfe geholt hatte, das stimmte; aber solch Heldenstück war das nun auch nicht; ich konnte es nicht mehr anhören! Ich errötete bis in meine Zehenspitzen hinein wegen all dieses törichten, unverdienten Lobes. Das hatte ich unseren Mitfahrern zu verdanken. Die Mutter mit dem kleinen Jungen hatte es in ganz Villeverte herumposaunt und eine Heldentat daraus gemacht. „Ich fange beinah an, es zu bereuen, daß ich sie nicht die ganze Nacht habe sitzen lassen!“ seufzte ich. „Jetzt wage ich mich ganz einfach nicht mehr in Geschäfte oder auf die Straße, die Leute sind ja verdreht!“ Da waren wir ausgerückt. Zuerst nach Villeblanche, von dort aus in ein kleines Seitental, wo wir den Wagen stehen ließen und zu Fuß weitergingen. Im Schatten einer alten Arve setzten wir uns nieder. Asbjörn sah mich lange an. Sein Gesicht war bleich, und er wirkte abgehärmt. In zwei Tagen schien er um fünf Jahre älter geworden zu sein. „Ja, Bernadette – wo sollen wir anfangen?“ „Bei meinem Wutausbruch in der Bahn“, schlug ich vor. „Nein, der Anfang liegt viel weiter zurück. Alles hat damit begonnen, daß ich meine Eltern verloren habe.“ „Was hat da begonnen?“ „Da begann ich mich für einen einzigen Menschen auf dieser Welt zu interessieren, nämlich für den Schüler Asbjörn Grather. Ich stand allein auf der Welt, und ich gewöhnte mich daran, mir meine eigenen Ziele zu setzen und meinen eigenen Plänen zu folgen, ohne mich dabei von anderen stören zu lassen. Meine Tante und mein Onkel waren bestimmt sehr nett, aber… du kennst doch meine Tante. Sie mischt sich in alles ein und gibt einem unendlich viele wohlgemeinte, aber törichte Ratschläge – da habe ich gelernt, nicht hinzuhören und meinem eigenen Weg zu folgen. Hätte ich nämlich ihre Ratschläge beherzigt, wäre niemals etwas aus mir geworden. Da
hast du es, Bernadette, das ist bei mir hängengeblieben: ich stand in Opposition zu allem, was mir vorgeschlagen wurde, zu jedem gutgemeinten Rat – ich war mißtrauisch allem gegenüber, das ich nicht kannte, allem gegenüber, wozu andere Leute mich überreden wollten. Da bin ich dir begegnet, du mein Sonnenschein! So voll Lebensfreude, und so unsagbar voll Vertrauen; du warst ganz darauf eingestellt, selber gut zu sein, aber auch Güte von anderen zu empfangen.“ Asbjörn machte eine Pause, biß sich auf die Lippe und fuhr dann mit sonderbarer, gepreßter Stimme fort. „Jetzt verstehe ich, Bernadette, was man mit dem Ausdruck ‚visionäre Klarheit’ meint. Die entsetzlichen Stunden in der Kabine Nummer sechs, als ich nicht wußte, ob du noch lebtest oder tot warst – ich wußte nur, daß das Tau gerissen war, und zwar schon hoch oben. Ich wußte nicht, ob du einen oder zehn Meter hinabgestürzt warst. Ich saß nur da und konnte dir nicht helfen, konnte nicht das geringste für dich tun. Ich begreife nicht, daß mein Haar in diesen Stunden nicht weiß wurde. Und als sich die Kabine wieder in Bewegung setzte, als ich dich dort gesund und munter neben Maro stehen sah, Bernadette, hätte ich Gott auf den Knien danken können… Dort oben in der Kabine habe ich plötzlich alles verstanden. Ich habe mit deinen Augen gesehen, mit deinem Herzen gefühlt; ich sah deine frohen Augen vor mir und wußte auf einmal, wie oft ich das Licht der Freude in ihnen erstickt hatte. Kleinigkeiten, gewiß. Aber ich hatte dein Vertrauen zu mir zerstört. In der letzten Zeit hatte deine Stimme jedesmal, wenn du mich um etwas batest, einen ängstlichen, unsicheren Unterton. Früher habe ich das nicht gehört – aber als ich dort oben in der schrecklichen Kabine gefangen saß, hörte ich deine Stimme so wie damals, als du so gern auf die Chenalette wolltest oder nach Colmar. Erst hinterher ging es mir auf, was du damals gesagt hattest, ich könnte gern alles bestimmen, wenn du nur drei Stunden bekämst, du hättest den brennenden Wunsch, den Isenheimer Altar zu sehen. Aber ich habe nein gesagt – kannst du mir erklären, warum?“ „Weil es Mühe gemacht hätte“, antwortete ich. „Ich pfeife auf alle diese Mühen. Ich habe mich durch ein paar lächerliche kleine Schwierigkeiten daran hindern lassen, dem Menschen, den ich liebe, einen brennenden Wunsch zu erfüllen!
Jetzt verstehe ich dich, Bernadette, ich verstehe dich viel besser, als wenn du mir das alles vierundzwanzig Stunden lang hintereinander erklärt hättest. Denn jetzt verstehe ich dich mit dem Herzen, ohne Erklärungen.“ „Aber Asbjörn“, sagte ich, „ich verstehe auch manches. Einmal hast du zu mir gesagt, ich müßte lernen zu verzichten. Es stimmt, daß ich das niemals gelernt habe, weil alle Menschen mich verwöhnt haben. Und ich muß es lernen. Ich muß lernen, eine abschlägige Antwort hinnehmen zu können. Aber natürlich soll sie begründet sein, sie soll einen Sinn haben! Zum Beispiel hätte ich damals deine Ablehnung hinnehmen sollen, als du allein zu den Steinböcken gehen wolltest, weil ich Mutti abholen sollte. Das war dumm von mir. Und du sollst mich auch darauf aufmerksam machen, wenn ich maule und übertrieben empfindlich bin. Und ich werde dich mit der Nase darauf stoßen, wenn du grundlos dickköpfig und skeptisch bist!“ „Abgemacht, Bernadette! Aber sag mir eins…“ Er blickte mir ins Gesicht, und seine Augen leuchteten. Um seinen Mund lag ein kleines Lächeln. „Sag mir eins, Bernadette, wagst du es, mich trotzdem zu heiraten?“ „Ja, Asbjörn, jetzt wage ich es!“ An einem kühlen Tag Anfang September rollten wir in unserer Seifenblase wieder nach Norden. In unserem Gepäck hatten wir den fertigen Film von mir mit verstauchtem Fuß auf Brunos Rücken. Franz hatte sich als eine schauspielerische Naturbegabung erwiesen, Tony und Corinne hatten großartig geholfen. Zusammen mit mir waren sie als Bergwanderer aufgetreten. Corinne hatte nach allen Regeln der Kunst meinen Fuß verbunden, Tony hatte mich auf dem Rücken getragen und einen Zustand völliger Erschöpfung vorgetäuscht. Als wir dann Franz und Bruno trafen, waren wir glücklich und erlöst. Nun sollte also Asbjörn nach Frankfurt und ich nach Norwegen. „Kannst du nicht mit nach Frankfurt kommen?“ hatte Asbjörn gefragt. „Es ist so langweilig, allein zu fahren, und das Flugzeug kannst du dort ebensogut nehmen wie in Basel!“ Selbstverständlich ließ sich das machen. Außerdem wollte ich mir gern die Wohnung ansehen, nachdem sie gestrichen und tapeziert war. Die Seifenblase rollte lieb und zuverlässig durch die kleinen, malerischen Städte, an den weiten Weinbergen entlang, die nun in
goldener Pracht dalagen. Überall waren die Leute bei der Weinernte. Wir waren sehr früh aufgebrochen und wollten versuchen, noch am gleichen Tag zum Ziel zu kommen. Am frühen Nachmittag fuhren wir über die Grenze, und dann ging es nach Norden, durch Müllheim und weiter nach… „Nein, Asbjörn, jetzt fährst du falsch!“ „Nein, ich fahre richtig!“ „Aber, ich bitte dich, siehst du denn nicht die Schilder – geradeaus geht es nach Freiburg, aber du fährst nach links!“ „Ich fahre nicht nach Freiburg.“ „Wohin denn?“ „Natürlich nach Colmar.“ „Oh, Asbjörn, du bist verrückt – ich muß doch morgen mittag das Flugzeug nehmen…“ „Pfeif drauf. Wir können auch nachts fahren.“ „Aber Asbjörn – morgen früh um zehn sollen wir bei Frau von Krohn sein.“ „Bis dahin haben wir noch achtzehn Stunden!“ „Du bist doch der unvernünftigste Mann, den der liebe Gott jemals erschaffen hat!“ Da bremste Asbjörn so heftig, daß ich nach vorne flog. „Bernadette, sag das noch einmal!“ „Daß du unvernünftig bist?“ „Ja! Meinst du es?“ „Ja! Du bist unmöglich und unlogisch, unvernünftig und grenzenlos leichtsinnig!“ Asbjörn lächelte und legte den Gang ein. „Das klingt wie Musik in meinen Ohren, Bernadette. Es ist das Schönste, das du mir jemals gesagt hast!“ Und mit einem glücklichen Lächeln fuhr er weiter nach Colmar.