Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Toelcke, Werner Das Gesicht des Mörders
Kriminalroman
...
19 downloads
799 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Toelcke, Werner Das Gesicht des Mörders
Kriminalroman
Diese Geschichte ist in der BRD angesiedelt und lotet in die Vergangenheit. Ein Mann, der sich seinerzeit fremdes Eigentum aneignete, indem er dessen Besitzer umbrachte, hat jetzt Grund, um sein Leben zu fürchten. Er muß verschwinden, und zwar spurlos. Damit das gelingt, soll ein anderer an seine Stelle treten und unter seinem Namen mit seinem Gesicht sterben. Wie sich dieser andere dagegen wehrt und dabei seine Persönlichkeit entdeckt, davon handelt dieser Kriminalroman.
Werner Toelcke
Das Gesicht des Mörders
Verlag Das Neue Berlin
1. Dichter Nebel zog durch die Straße und erschwerte die Sicht. Der Mann, der aus großer Höhe hinabblickte, konnte kaum etwas erkennen. Deutlicher hörte er die Geräusche: das Kreischen einer Straßenbahn und das Hupen von Autos. Aber dann riß der Nebel allmählich auf, und er nahm die Gegenstände immer besser wahr. Er sah nun den kleinen Jungen im Matrosenanzug und den schweren Mann daneben mit dem wiegenden Gang der Seeleute. Unter seinem Arm klemmte ein Violoncello, das er wie ein Spielzeug trug. Es war zwar nur ein Viertelinstrument, aber für den kleinen Jungen wäre es viel zu schwer gewesen. Mit unglücklichem Gesichtsausdruck trippelte er neben dem Vater her. Sie überquerten einen Damm, wo Straßenbahnen verkehrten, und marschierten weiter. Die Häuser links und rechts waren hier älter und wirkten verfallener als im oberen Teil, von woher sie kamen. Auf dem Fahrweg fuhren nur wenige Autos, eine blaue Wandererlimousine und ein dreirädriger Tempolieferwagen. Weit hinten folgte ein Kabriolett von Opel mit heruntergeklapptem Verdeck; es war heiß an diesem Nachmittag. Besonders gefiel dem Jungen das offene Kabrio, ein hochmodernes, schnittiges Auto, Bau6
jahr 1931. Er kannte alle Wagentypen, besser jedenfalls als die Griffe auf seinem Violoncello. Sie hatten es nicht mehr weit, im nächsten Block befand sich bereits das Haus, in dem der Musiklehrer Kaufmann wohnte. Der war ein schmächtiger älterer Herr mit freundlichem Lächeln, in das sich Mitleid mischte, wenn er die Griffe des Jungen auf dem Instrument korrigierte. Und das tat er unerbittlich; denn der Vater blieb während der Übungsstunde im Zimmer. Jedesmal saß er in dem einzigen Lehnstuhl beim Fenster und musterte Lehrer und Schüler mit mißtrauischen Blicken. Die Stunde kostete zwar nur eine Mark, aber das war viel Geld im Jahr der großen Arbeitslosigkeit. Und diese Summe wurde abgezweigt von siebzehn Mark Stempelgeld, die sie in der Woche bekamen. Der kleine Junge wußte das, und er wußte auch, daß der Vater das Rauchen aufgegeben hatte. Seinetwegen. Das machte den wöchentlichen Gang zum Musiklehrer Kaufmann nur noch schwerer. Die Sonne knallte mitten in die Häuserschlucht hinein. Der kleine Junge, der ihr entgegenging, mußte blinzeln in dem flirrenden Licht. Die Strahlen blendeten aber auch den Beobachter der Szene. Er konnte sich nicht recht zusammenreimen, von wo er die Bilder erblickte. Es schien eine entfernte Position zu sein. Aber er sah alles überdeutlich, die blaue Wandererlimousine und den dreirädrigen Tempolieferwagen und das offene Kabriolett von Opel. Vor allem aber sah er den schwerwüchsigen Seemann und dessen kleinen Sohn. Ab und zu glitt eine Hand mit einem Tuch über sein Gesicht und wischte ihm den Schweiß von der Stirn. Das nahm er dankbar hin. Er vermutete, daß die Hitze in seinem Inneren von der Sonne herrührte. Aber eigentlich begriff er nicht, wieso die Hand immer wieder über ihm erschien. Sie gehörte nicht in das Bild von der Straße mit dem Jungen, dem Vater und dem Violoncello. Er 7
nahm sich vor, ihren Weg zu verfolgen, wenn sie aus seinem Blickfeld verschwand. Er konnte es jedoch nicht. Er brachte es nicht fertig, den Kopf auch nur einen Zentimeter zur Seite zu bewegen. Ganz allmählich dämmerte ihm, daß er in einem Bett lag. Seine Hände, die über Tücher strichen, signalisierten es. Aber wo stand das Bett? Er hatte keinen blassen Schimmer. Er ahnte ja nicht einmal wesentlichere Dinge, wer er war zum Beispiel, oder wie er hieß. Sosehr er auch darüber grübelte, er wußte es nicht. Das schien ihm lächerlich, und gern hätte er laut gelacht. Aber auch das konnte er nicht, es war ihm nicht möglich, den kleinsten Muskel im Gesicht zu bewegen. Das kam ihm so unwirklich vor, wie die ebenfalls aus einer Geisterwelt zu stammende Hand, die immer wieder seine Stirn abtrocknete. Viel gegenständlicher war dann doch das Bild von der im Sonnenlicht liegenden Straße. Und wenn es überhaupt eine Identität für ihn gab, begriff er, dann war es die des kleinen Jungen dort unten. Eben verschwand der mit seinem Vater und dem Violoncello im Haus des Musiklehrers Kaufmann. Er wußte plötzlich, daß es Bilder aus seiner Kinderzeit waren, die er vor Augen hatte. Und dann begann er Töne zu hören, es mußte eine Folge aus einer der Solosuiten für Violoncello von Johann Sebastian Bach sein. Als diese Musik erklang, verstand er endlich den tieferen Sinn der Erinnerungsbilder. Da begriff er, daß er im Sterben lag. Professor Liebscher sagte: „Nach Meinung des Neurologen handelt es sich um eine Contusio cerebri, eine Hirnquetschung, die durch stumpfe Gewalteinwirkung auf den Schädel hervorgerufen wurde. Natürlich habe ich eine Fachkraft zugezogen, und Herr Schöller bestätigte im wesentlichen meine Diagnose. Es wäre angebracht, den Patienten ins Universitätskrankenhaus zu verlegen, 8
nur halten wir einen Transport gegenwärtig nicht für möglich. Die akuten Symptome bestehen hauptsächlich aus Bewußtseinsstörungen, wir nennen es ein delirantes Syndrom. Der Kranke befindet sich in einem dämmrigen Zustand und ist nur bedingt ansprechbar.“ Der Professor saß hinter dem Schreibtisch seiner Ordination. Die gefalteten Hände lagen auf der Tischplatte, sie strahlten Ruhe und Sicherheit aus. Der Arzt war über sechzig und hatte schlohweißes, volles Haar, das in dichten Wellen seinen Schädel einrahmte. Er trug eine Brille mit getönten Gläsern. Dahinter befanden sich Augen, die ein bißchen wirkten, als hätten sie zuviel ansehen müssen, und denen es geraten schien, zwischen sich und den Partnern Barrieren aufzurichten. In diesem Fall handelte es sich um drei Besucher, zwei Männer und eine Frau, die in der Sitzgruppe des Sprechzimmers Platz genommen hatten. Professor Liebscher fuhr fort: „Ich bezweifle, daß es etwas bringt, wenn Sie sich den Patienten anschauen. Weder Sie, noch der Kranke haben etwas davon.“ Die Augen wanderten hinüber zu den Gästen, von einem zum anderen, blieben schließlich bei der Frau hängen, musterten sie lange. Niemand sagte etwas. Schließlich fragte der Arzt: „Sie sind eine nähere Verwandte von Herrn Rosenau?“ Die Frau wich den Augen aus und wandte sich ihrem älteren Begleiter zu, aber der beschränkte sich darauf, ihr beruhigend zuzulächeln. Sie antwortete: „Es mag Ihnen merkwürdig erscheinen, aber ich weiß es nicht.“ „Sie wissen nicht, ob Sie seine Verwandte sind?“ „Nein.“ „Aber Sie tragen denselben Namen.“ „Vielleicht ist alles nur ein merkwürdiger Zufall, nicht wahr …“ Sie stockte. „Was soll ein Zufall sein?“ „Nun, ich komme in sein Haus, weil ich etwas Wichti9
ges von Herrn Rosenau erfahren möchte, und da höre ich, daß er nur wenige Stunden zuvor verunglückte und in Ihrer Klinik liegt.“ Wieder schwieg sie und wandte sich dem älteren Begleiter zu. Diesmal sprang ihr der jüngere Mann bei. „Frau Rosenau kam schon einmal zu uns und bat um eine Unterredung. Das war vor etwa vier Wochen. Damals hielten wir uns jedoch in Brasilien auf. Ich erklärte ihr schon, daß uns die Geschäfte dort stark in Anspruch nehmen.“ Der Professor sagte bekümmert: „Rosenau hat immer Raubbau getrieben. Er ist nicht mehr so jung, wie er gern sein möchte. Die ständigen Flugreisen zwischen den Kontinenten, die damit verbundenen Zeitverschiebungen. Der Wechsel zwischen tropischem und unserem Klima – alles Gift bei seinem chronischen Herzleiden!“ „Können Sie uns etwas über den Hergang des Unfalls sagen?“ meldete sich der Ältere von beiden Männern zu Wort. Er sprach mit deutlich angelsächsischem Akzent. „Herr Rosenau stürzte in seinem Haus die Treppe hinab. Gottlob war der Sekretär anwesend. Herr Wilhelm rief uns zu Hilfe, und so konnten wir den Patienten gleich fachgerecht versorgen.“ „Und wie kam es zu dem Sturz?“ Der Engländer wandte sich dem jüngeren Mann zu. Herr Wilhelm antwortete: „Es geschah kurz nachdem wir aus Brasilien zurückkehrten. Herr Rosenau war nach oben gegangen, er wollte sich frisch machen. Ich hielt mich im Arbeitsraum auf, um Papiere vorzubereiten. Da hörte ich Gepolter aus der Halle, lief hinaus und sah ihn liegen.“ „Die Herzanfälle kommen plötzlich“, erklärte Professor Liebscher. „Eine Benommenheit zunächst, dann Schwäche und starkes Schwindelgefühl. Es muß ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen haben.“ „Wird er durchkommen?“ fragte der Engländer. „Wir können nicht sagen, wie weit sich die inneren 10
Blutungen ausgebreitet haben und zu welchen Narbenbildungen es kommen wird. Wir wissen also nicht, ob die neurologischen Symptome reparabel sind oder nicht. Und sind sie es, bleibt die Frage nach dem Herzen des Patienten. Bedeutende Anstrengungen stehen noch bevor.“ „Wird er durchkommen?“ fragte der Engländer noch einmal. Die beiden älteren Männer sahen sich lange in die Augen. Schließlich sagte der Arzt: „Ob er es überstehen wird, liegt allein in Gottes Hand.“ Das Krankenzimmer befand sich gleich neben dem Ordinationsraum des Klinikchefs. Das Bett stand zwischen zwei Fenstern, die Vorhänge waren zugezogen. Ein Pfleger, der den Patienten nicht aus den Augen ließ, erhob sich, als sie hereinkamen. Professor Liebscher setzte sich neben das Bett, nahm flüchtig den Puls und sah dem Kranken ins Gesicht. Auf dessen Stirn lag Schweiß. Er hielt die Augen offen, den Blick zur Decke gerichtet. Er war unruhig, zitterte, und die Lippen bewegten sich unablässig. „Sieht so aus, als ob er sich mit jemandem unterhielte, nicht wahr? Irgendwelche Phantasien?“ Der Engländer kam interessiert näher. Der Patient schien die Bewegung im Raum aufzunehmen. Plötzlich formten seine Lippen Worte. Auch der Sekretär trat ans Bett, und sie starrten gebannt auf den Mund des Kranken. Aber außer einem Lallen verstanden sie nichts. Dann begann der Blick zu flackern, schließlich bäumte sich der Körper auf. Der Arzt drückte ihn zurück, benetzte die Lippen mit einem feuchten Tuch und wischte ihm den Schweiß von der Stirn. „Scheinen nicht gerade angenehme Bilder zu sein“, sagte der Engländer. „Er hat Angst!“ „Hm – vielleicht“, erwiderte der Arzt. 11
„Was geht in ihm vor?“ „Schwer zu erklären!“ Die Augen des Professors suchten die junge Frau, die neben der Tür zurückgeblieben war. „Möglicherweise meint er, ein anderer zu sein. Vielleicht fühlt er sich in seine Kindheit zurückversetzt. Wirklich schwer zu deuten.“ „Über den Unfallhergang weiß er nichts?“ „Mit Sicherheit nicht! Überhaupt nichts über seine unmittelbare Gegenwart. Wo er sich befindet, wo er herkommt; direkte Bezüge existieren nicht. Er weiß nicht einmal, wer er ist, kennt nicht seinen Namen. Das alles kommt erst später zurück.“ Und etwas vage schloß Professor Liebscher: „Wir müssen es zumindest hoffen.“ Wieder benetzte er die Lippen und tupfte den Schweiß von dem Gesicht. Dann ließ er seine Hand für eine Weile auf der Stirn liegen. Das schien den Kranken zu beruhigen. Seine Miene verzog sich zu etwas, das wie ein Lächeln aussah. Und plötzlich drangen Töne über die Lippen. „Er erinnert sich an seine Musik“, sagte der Sekretär aufgeregt. „Das sind Töne!“ „Hört sich so an.“ „Aber das ist doch positiv, das muß einfach ein gutes Zeichen sein.“ „Möglich“, erwiderte der Arzt. Und erklärend setzte der junge Mann hinzu: „Herr Rosenau spielt Klavier, müssen Sie wissen. Er hat nur noch wenig Gelegenheit, aber wenn er erschöpft ist oder ein Problem hat, setzt er sich manchmal an den Flügel. Früher soll er phantastisch gespielt haben. In seiner ersten Zeit in Brasilien hat er regelrechte Konzerte gegeben, im kleinen Kreis natürlich, vor privatem Publikum. Aber es muß ein gutes Zeichen sein, wenn er sich an seine Musik erinnert!“ „Wir wollen es hoffen!“ meinte der Arzt zuversichtlich, aber der Ausdruck in den merkwürdig leblosen Augen bekräftigte den Optimismus nicht. 12
Einige Augenblicke lauschten sie den Tönen. Sie standen ein wenig betreten da und genierten sich, weil ihnen der Kranke so schutzlos ausgeliefert war. Professor Liebscher beobachtete die Besucher, schließlich sagte er: „Warum kommen Sie nicht näher, Frau Rosenau? Sie wollten sich meinen Patienten doch anschauen, nun haben Sie Gelegenheit dazu!“ Die junge Frau trat widerwillig an das Bett heran. Ihr Blick wich dem Gesicht des Kranken aus, obwohl sie nicht viel davon erkennen konnte. Der Kopf war in Binden gehüllt, selbst über der Nase lag ein Pflaster. Am Fußende des Bettes war ein Gerüst aufgebaut, daran hing das linke Bein im Streck. Verwirrt starrte die Frau auf den hochgezogenen Fuß. Professor Liebscher erklärte: „Um das Maß voll zu machen, hat er sich bei dem Sturz auch noch das Bein gebrochen. Aber es ist ein glatter Bruch, und den kriegen wir schon wieder hin. Wenn nur alles so leicht zu behandeln wäre! Nun, Frau Rosenau, erkennen Sie ihn?“ „Nein.“ „Meinen Sie damit, daß Sie ihm zum ersten Mal gegenüberstehen?“ „Ja.“ „Was soll dann Ihr plötzliches Interesse? Wollen Sie mir das nicht endlich erklären?“ Die junge Frau antwortete nicht, sie befand sich in starker Erregung. Nun trat der Engländer neben sie und legte seine Hand auf ihre. Dann sagte er sehr höflich, aber auch sehr kühl: „Wir haben Grund zu der Annahme, daß Frau Rosenau die Tochter Ihres Patienten ist, Professor!“ Der Junge: „Wenn ich groß bin, werde ich dieses verdammte Cello nicht mehr anfassen!“ Die Mutter: „So darfst du nicht reden, Bübchen!“ 13
Der Junge: „Ich stell’ es in die Ecke und seh’ es nicht mehr an.“ Die Mutter: „Aber du liebst die Musik.“ Der Junge: „Ich will Klavier spielen!“ Die Mutter: „Ein Klavier können wir nicht kaufen, Bübchen, das weißt du ganz genau.“ Der Junge: „Ich muß auf diesem Ding lernen, weil Vater Musiker werden wollte. Aber er wurde es nicht!“ Der Junge stand vor dem Notenständer mit dem aufgeschlagenen Übungsheft. Dahinter lehnte das Cello gegen die Sitzfläche des Stuhls. Draußen schien die Sonne. Es war Nachmittag, ein freundlicher, wunderschöner Sommernachmittag. Die Mutter hatte die Balkontür herangedrückt, sie hatte sogar die Vorhänge halb zugezogen. Trotzdem hörte er das Lärmen der Kinder aus dem Hof. Der Junge fühlte Haß in sich aufsteigen, und da er noch klein war, kam der ungehemmt, in zügellosen Wellen. In dem kleinen Zimmer roch es nach feuchter Wäsche. Hinter ihm hatte die Mutter das Bügelbrett aufgebaut und plättete Oberhemden. Das tat sie an jedem Nachmittag, wenn er üben mußte. Sie hatten minutenlang geschwiegen, ebensolange hatte der Junge in kalter Wut das Cello angestarrt. Jetzt nahm er das Instrument, setzte sich und langte nach dem Bogen. Er probierte ein paar Griffe, jagte einige Läufe über die Saiten. Das Cello hatte einen warmen Ton. Er war selbst überrascht, wie gut es klang. Die Mutter blickte von ihrer Arbeit auf. „Du hast in den letzten Tagen Fortschritte gemacht, Bübchen, das mußt du doch selber merken.“ „Du und Vater“, sagte er grimmig, „ihr werdet es noch so weit bringen, daß ich eines Tages Konzerte gebe.“ Die Mutter begann zu träumen. „In der Musikhalle, Bübchen! Ich werde in der ersten Reihe sitzen und nur dich anschauen.“ „Und wie sollen die Leute die Eintrittskarten bezahlen? Sie haben nicht mal Geld, um Brot zu kaufen.“ 14
„Die Zeiten bleiben nicht so, die werden auch wieder besser.“ Die Mutter nahm das nächste Oberhemd, begann mit dem gestärkten Kragen und den gestärkten Manschetten. Sie holte sich die Hemden aus einer kleinen Wäscherei und bügelte sie für einen Hungerlohn. Es war Schwarzarbeit. Es durfte niemand etwas davon wissen, weil sie sonst weniger oder überhaupt kein Stempelgeld bekommen hätten. Die Mutter war keine Plätterin. Früher, als noch nicht alle Schiffe im Hafen festlagen, fuhr der Vater zur See, und die Mutter hatte in einem kleinen Laden gearbeitet. Der gehörte ihr selbst. Er lag in derselben Straße, schräg gegenüber von ihrer Wohnung. Der Junge war oft mit im Geschäft gewesen und hatte zugesehen, wenn verkauft wurde. Manchmal durfte er das Geld entgegennehmen und in die Kasse tun. Aber was waren das für Sachen, welche die Kunden mitnahmen? Er kam nicht darauf. Sosehr er sich abmühte, es fiel ihm nicht ein. Aber er erinnerte sich noch genau an den Tag, als sie ihr Geschäft zumachen mußte. In den letzten Wochen waren immer weniger Kunden gekommen, und schließlich bimmelte die Ladenglocke überhaupt nicht mehr. Die Mutter hatte geweint, und er hatte mitgeweint, obwohl er nicht verstand, weshalb keine Kunden mehr kamen. Die Mutter erklärte ihm, daß es an der Arbeitslosigkeit läge. Das war auch die Zeit, als der Vater seine Aufmerksamkeit auf ihn konzentrierte und er mit dem schrecklichen Cellospielen beginnen mußte. Vier Stunden hockte er nachmittags vor dem Notenpult, das schwere Instrument zwischen den Knien. Und immer wieder die gleichen langweiligen Übungen, die gleichen Passagen und Läufe. Vier Stunden lang. Daran schlossen sich die Schulaufgaben, und hinterher ging es mit schmerzenden, verkrampften Fingern ins Bett. Oft weinte er, wenn er endlich darin lag. Die Mutter kam regelmäßig, um ihn 15
zu trösten, und so weinte er auch manchmal, wenn ihm nicht sosehr danach zumute war. Sie setzte sich neben ihn, legte ihre Hand auf seine Stirn. Sie flüsterten nur miteinander, denn die Wände waren dünn, und nebenan hockte der Vater über einem Kreuzworträtsel. Ja, die Mutter war gut. Eine sanfte und zarte Frau. Unter dem riesenwüchsigen Mann, der sein Vater war, litt sie ebenso wie er. Wenn er ihre Hand auf seiner Stirn fühlte, beruhigte er sich schnell. Dann kamen ihre schlanken, leichten Finger, glitten über sein Gesicht und wischten die Nässe fort. Und dann beugte sie sich herab und küßte ihn auf den Mund. Manchmal war er da bereits eingeschlafen, immer beruhigt und irgendwie auch glücklich. Sterben war gar nicht so schwer, wie er geglaubt hatte. Wenn sich der Tod auf leisen Sohlen ins Zimmer schlich, wie in seinem Fall, schien es ein schwereloser, beinahe heiterer Zustand zu sein. Wie ein Schweben in lichten Höhen, in unermeßlichen Weiten. Er fühlte keinen Schmerz, höchstens ein wenig und ganz gedämpft in der Nase, durch die er keine Luft bekam. Er mußte durch den Mund atmen, und daher rührte auch das Röcheln, das aus seiner Kehle drang. Manchmal wurde es so laut, daß er darüber zur Besinnung kam. Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Ihm schien es, als ob sich etwas aus seinem Körper loslöste, ganz zart und behutsam. Dieses Etwas stieg langsam auf im Raum, schwebte über dem Bett immer höher hinauf, bis es an der Decke anstieß. Dann war ihm zumute, als ob er auf sich selbst herabschauen konnte. Er sah seinen Körper im Bett liegen, den Kopf in Verbände gehüllt und die Nase mit Pflastern verklebt. Er hatte kein besonderes Interesse an dem Mann. Ebensowenig kümmerten ihn die Menschen, die um das Bett standen und ihn anstarrten. Er hörte deutlich ihre Stimmen. „Nun, Frau Rosenau, erkennen Sie ihn?“ fragte eine. Und eine andere erwiderte: „Nein.“ 16
„Meinen Sie damit, daß Sie ihm zum ersten Mal gegenüberstehen?“ „Ja.“ Es war eine Frauenstimme, die er hörte, und er gab sich große Mühe, etwas von ihrem Gesicht zu erkennen, denn die Stimme gefiel ihm. Aber es gelang nicht. So deutlich er sich selber im Bett liegen sah, von seiner Umwelt erkannte er nichts, und so verschwammen auch die Züge der jungen Frau in einer gesichtslosen, überhellen Wolke. Dann hörte er die Stimme eines Mannes: „Wir haben Grund zu der Annahme, daß Frau Rosenau die Tochter Ihres Patienten ist, Professor!“ Die Tochter des Patienten! Also seine Tochter! Das schien völliger Blödsinn zu sein, denn er konnte sich einfach nicht vorstellen, daß er jemals eine Tochter gehabt hatte. In diesem Augenblick verlor er alle Neugier an den Leuten im Raum und an dem Mann im Bett. Und dieses Etwas über ihm, was immer es auch sein mochte, war vom vielen Schweben müde geworden. Langsam senkte es sich herab und tauchte in seinen Körper ein. Gleich darauf spürte er die Hand seiner Mutter auf der Stirn, und ihre Stimme flüsterte: „Es bleibt nicht, wie es ist, Bübchen! Es kommen auch wieder bessere Zeiten.“
2. Yvonne Rosenau und ihr englischer Begleiter hatten Zimmer in einer kleinen Pension am Bellevue genommen, ganz in der Nähe der Stelle, wo der Lange Zug in die Außenalster einmündet. Das Haus lag versteckt hinter Bäumen in einem parkähnlichen Gelände. Sie waren spät aus der Klinik zurückgekehrt, und so wurde ihnen nur noch Aufschnitt angeboten. Aber auch davon aßen sie wenig. Sie hatten anstrengende Stunden hinter sich. 17
Nach einer halben Scheibe Brot, die Yvonne hinuntergewürgt hatte, fragte Mr. Patters, ob er eine Flasche Wein bestellen sollte. Sie lehnte ab, und er drängte sie nicht. Während der ganzen Zeit, in der sie ihn kannte, hatte er nichts von seiner Zurückhaltung aufgegeben. Dabei war er Frauen gegenüber sicher nicht unempfindlich, das verrieten die Augen. Ihr gefielen ältere Männer, auch wenn sie so alt waren wie Mr. Patters. Ohne weiteres hätte er ihr Vater sein können. Er begleitete sie aus der Restauration nach oben. Vor der Tür legte er ihr die Hand auf die Schulter, ließ sie dort für eine Minute, als ob er sie vergessen hätte, aber schließlich beschränkte er sich darauf, ihr zuzulächeln und ihr eine gute Nacht zu wünschen. Danach ging er zu seinem Zimmer, das neben ihrem lag. Yvonne machte sich nur ein wenig frisch; sie war viel zu müde, um noch zu duschen oder ein Bad zu nehmen. Sie stieg ins Bett, löschte das Licht und lag im Dunkeln. Es war Herbst. Sie hörte die Blätter in den Kronen der alten Bäume rauschen. Sie hatte Mr. Patters in einer schweren Phase ihres Lebens kennengelernt. Kurz vorher war die Scheidung von Philip ausgesprochen worden. Sie erinnerte sich genau an jenen Vormittag, als Patters zum ersten Mal in ihr Wiener Büro trat. Im Frühsommer war es gewesen. Er hatte sich lächelnd einen Stuhl vor ihren Schreibtisch gezogen und eine flache Brieftasche aus Krokodilleder auf die Platte gelegt. Hervor kam ein Scheck in Höhe von 75 000 Schilling. Eine phantastische Summe, zumindest für ihre Verhältnisse und für die Verhältnisse des Heimes, das sie leitete. Und sie konnten wirklich jedes Geld gut gebrauchen. „Was soll das?“ fragte sie, nachdem sie lange auf den Scheck gestarrt hatte. „Wie kommen Sie dazu, Mister …“ „Patters!“ erwiderte der Engländer und lächelte freundlich. „Archie Patters!“ 18
Yvonne erwiderte das Lächeln nicht, zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Sie fragte ernsthaft: „Wie kommen Sie dazu, Mister Patters, uns so viel Geld anzubieten?“ „Schon mal was von der ‚anti-alcohol-corporation‘ gehört?“ fragte Archie Patters grinsend. „Nicht ein Wort!“ „Aber Sie behandeln doch Alkoholiker in Ihrem Heim?“ „Alkoholiker und Tablettenabhängige. Vor allem aber ehemalige Fixer.“ „Dann ist die Adresse schon richtig.“ Archie Patters deutete auf den Scheck, der zwischen ihnen lag. „Vor reichlich einem Jahr verstarb unsere allseits verehrte Lady Chessman. Sie hinterließ eine Anzahl von Neffen und Nichten und rundgerechnet achthunderttausend Pfund Sterling. Zeitlebens hatte sie sich über ihre Verwandtschaft ärgern müssen, und so beschloß sie am Ende, es der Sippe zu besorgen. Sie gründete die ‚antialcohol-corporation‘ und ließ ihr Vermögen in sie eingehen. Eine der Satzungen besagt, daß jährlich eine Einrichtung auf der Insel oder dem Kontinent, die sich auf dem Gebiet besonders hervorgetan hat, mit einer bestimmten Summe zu bedenken sei. In diesem Jahr wurde die ‚Wiener Drogenhilfe e. V.‘ von der Foundation ausgewählt.“ „Aber warum gerade wir?“ „Wissen Sie nicht, daß Ihr Verein in letzter Zeit viel Publicity hatte, Frau Rosenau?“ Es stimmte schon. Die Zeitungen hatten über sie geschrieben, auch Blätter außerhalb von Österreich. Kaum zu bewältigen war die Flut von Anträgen jener Leute, die in das Heim aufgenommen werden wollten. Sie hatten an die siebzig Süchtige unterbringen können und waren bis unter das Dach voll. Die Aufnahmegespräche verliefen inquisitorisch. Sie wollten sich auf solche Abhängige beschränken, von denen sie glaubten, daß sie von dem Gift wirklich loskamen. Die Kosten jeder einzelnen Re19
habilitation lagen hoch, etwa so hoch, wie die Summe des Schecks da vor ihr auf dem Schreibtisch auswies. „Hätten Sie etwas dagegen“, fragte Archie Patters, „wenn ich mich mal auf dem Gelände umsehe?“ Yvonne Rosenau ließ ihren Blick zwischen dem Besucher und dem Scheck hin- und hergehen, schaute auf die Uhr an ihrem Gelenk. Dabei erschien eine Falte an ihrer Nasenwurzel, die sich allerdings noch nicht allzu tief eingegraben hatte. Schließlich erhob sie sich, machte Mr. Patters ein Zeichen, und gemeinsam wandten sie sich zur Tür. Dort blieb sie stehen und blickte zum Schreibtisch. Auf der Platte lag noch der Scheck. Sie ging zurück, öffnete die Schublade, tat das Papier hinein und schloß das Fach mit einer energischen Bewegung zu. Den Schlüssel ließ sie in die Tasche ihres karierten Hemdes gleiten. Dort ruhte er auf ihrem Busen, der prächtig entwickelt war. Die „Wiener Drogenhilfe e. V.“ hatte im vergangenen Jahr zwei halbverfallene Häuser angemietet. Die befanden sich in Weidlingsbach, im Nordwesten von Wien, und hatten früher einem Kloster gehört. Sie stammten aus dem sechzehnten Jahrhundert. Die Häuser waren überwiegend durch Selbsthilfe instand gesetzt worden. Unter der Anleitung eines Poliers arbeiteten verschiedene Bautrupps, die von Patienten gebildet wurden. So konnten sie einen Teil der Reparaturen aus eigener Initiative erledigen und sparten Geld. Außerdem gehörte diese Beschäftigung zu dem ausgeklügelten Programm einer ganzen Therapiekette. An einer Gebäudeseite hantierten junge Leute auf mehreren Plattformen eines Gerüstes. Die Vorderfront des Hauses war bereits renoviert bis auf Fenster und Türen, die gerade gestrichen wurden. „Alles Patienten?“ fragte Archie Patters. „Ja, ja, natürlich!“ „Die machen einen akzeptablen Eindruck, nicht so, als ob sie jemals süchtig waren.“ 20
„Es sind Fortgeschrittene“, erwiderte Yvonne. „Wenn sie zu uns kommen, wirken sie etwas anders.“ Sie gingen an der eingerüsteten Gebäudeseite vorüber. Die jungen Leute grüßten höflich und wurden von Yvonne dafür mit einem Lächeln beschenkt. Das schien ihren Einsatz zu verdoppeln. Die Frau führte ihren Besucher zu einer Mauer aus aufgeschichteten Feldsteinen, in die eine Tür eingelassen war. Als sie hindurchtraten, sahen sie ein etwa zehntausend Quadratmeter großes Gelände vor sich. Auf den sauber angelegten Beeten wurden Gemüse, vor allem aber Blumen gezogen. Im Hintergrund erhoben sich zwei Gewächshäuser, ein drittes befand sich im Bau. Auch hier arbeiteten mehrere Gruppen von Jugendlichen. Mr. Patters war beeindruckt. „Ich seh’ schon, daß wir unser Geld nicht besser hätten anlegen können.“ „Und wir haben auch jeden Schilling nötig.“ Yvonne sah ihren Begleiter an, und ihr Lächeln wurde offener. „Wir sind Ihnen dankbar, Mister Patters! Und noch mehr wären wir es, wenn Sie mit der Übergabe des Schecks keine Auflagen verbänden.“ „Auflagen welcher Art?“ „Nun, wie wir unsere Arbeit noch effektiver gestalten sollten, denke ich. An wohlgemeinten Ratschlägen fehlt es ja niemals auf dieser Welt.“ Archie Patters grinste. „Seien Sie unbesorgt, Frau Rosenau! Ich habe nur den Auftrag, bei Ihnen den Weihnachtsmann zu spielen. Staatliche Unterstützung erhalten Sie auch?“ „Ja, schon, aber damit könnten wir nicht überleben. Wir schaffen es auch nur, weil die Patienten während der Dauer ihres Aufenthaltes die Kosten in ansteigendem Maße selber finanzieren. Sie arbeiten mit auf dem Gelände, in der Gärtnerei, zuletzt sogar in Werkstätten und Betrieben der näheren Umgebung. So schlagen wir uns durch.“ „Das Ganze war Ihre Idee?“ 21
„Am Anfang schon, aber inzwischen sind wir hier ein schwaches Dutzend Sozialarbeiter. Ein eingespieltes Team, und da sprießen Einfälle und Gedanken.“ „Aber gestartet haben Sie es?“ Und als Yvonne nickte, fragte er: „Warum?“ Yvonne blickte über die Felder der Gärtnerei. Im Vordergrund wiegten sich Tausende von Margeriten im Sommerwind. „Ich glaube, daß die Beschäftigung mit dieser Art von Blumen schöner ist. Ich kann nicht einsehen, weshalb sich Menschen mutwillig zugrunde richten, besonders so junge Menschen.“ „Sie kommen nicht etwa selbst aus der Szene?“ „Sie sind neugierig, Mister Patters!“ „Unangenehm?“ „Nein, nein.“ Sie standen nah voreinander, und sie spürte, wie er sie einzuschätzen versuchte. Anscheinend gefiel sie ihm, sie merkte es an seinen Augen. Der Mann hatte Charme, trotz seines Alters – oder gerade deswegen? Das wußte sie nicht so genau. „Eines Tages werde ich Ihnen meine Story erzählen“, sagte sie. „Eines Tages, wenn Sie uns den nächsten Scheck bringen.“ „Oder den übernächsten?“ „Oder so!“ Sie lächelten sich an, dann nahm sie seinen Arm und führte ihn ins Haus zurück. Im Aufenthaltsraum trafen sie auf eine Gruppe von Patienten und Sozialhelfern. Stühle waren zu einem Kreis zusammengerückt worden, und in dessen Mitte hockte ein Junge, der sich von den anderen unterschied. Er trug grellbunte Kleidung, die Haare hingen ihm weit in den Nacken. Die Blicke aus der Runde, die ihn von allen Seiten trafen, waren nicht gerade freundlich. Yvonne Rosenau ging durch den Raum, bis sie ihm ins Gesicht schauen konnte. Es war sehr still; niemand hatte gesprochen, seit sie hereingekommen waren. Yvonne brach das Schweigen. „Wie alt bist du?“ 22
Bei der klaren, sehr bestimmten Frauenstimme, hob der Junge den Blick. „Wie wär’s mit einer Zigarette, meine Dame?“ „Das Rauchen wirst du dir abgewöhnen müssen, Kleiner. Das und vieles andere. Aber mit dem Rauchen ist es wohl am einfachsten.“ „Leck mich!“ „Wo hättest du es gern, Bonny?“ Yvonne Rosenau fragte es ganz sachlich, und es war auch nicht als Scherz gemeint, das merkte selbst der Junge auf dem Stuhl. Niemand lachte. Der Junge starrte sie provozierend an, aber er antwortete nicht. „Wie alt bist du, Kleiner?“ wiederholte Yvonne ihre Frage. Der Junge gab keine Antwort. Einer der Sozialhelfer, ein Mann von etwa dreißig Jahren, sagte: „Er ist neunzehn. Fixt seit zwei Jahren, bis zum vorigen Herbst hat er das Gymnasium besucht. Seitdem ist er ohne festen Wohnsitz und auf dem Trip.“ „Hat er keine Eltern?“ „Die können mich!“ „Ich weiß schon, was sie dich können, dein Wortschatz scheint nicht allzu groß zu sein.“ Der Sozialhelfer sagte: „Die Eltern haben ihn weggeschickt, eine schwierige Situation. Aber nun will er aus allem heraus.“ „Einen Scheiß will ich. Alles, was ich will, ist eine Zigarette!“ „Natürlich willst du ’raus, Bonny, sonst wärst du ja nicht hier.“ Yvonnes Stimme klang hart. „Die ‚Königin‘ hat dich bitter enttäuscht Kleiner, du weißt es! Und du weißt auch, daß sie dich immer wieder enttäuschen wird. Du mußt heraus, wenn du nicht krepieren willst. Und das will keiner, nicht einmal du willst es.“ „Was für eine … ‚Königin‘?“ fragte der Junge stockend. „Was soll das sein, dieser Blödsinn von der ‚Königin‘?“ 23
„Du kennst sie doch! Diese wunderschöne Person mit duftendem Haar und fließenden Gewändern. Die alles versprochen und nichts gegeben hat. Kein echtes Gefühl, keine Liebe, nicht einmal Sex. Auch keine Freundschaft. Nichts hat sie dir gegeben, sondern alles genommen! Dazu jede Selbstachtung, jede Freude, sogar die Gesundheit. Aber auch den Frühling, den Sommer und den Winter. Nichts hat sie dir gelassen, Kleiner, du weißt es doch. Was für ein Preis, wenn man dafür zu einem lebendigen Toten wird. Wenn man nur zum Leben aufwacht, sobald der Stoff aus dem Körper herausgeht, zu einem schmerzhaften Leben mit allzu grellen Farben und allzu schrillen Tönen. So daß man froh ist, wenn man nach dem nächsten Schuß ins Schattenreich zurückkehrt. Lohnt es sich um eine solche ‚Königin‘, Kleiner?“ „Ich hab’s so schwer …“ Plötzlich fing der Junge an zu schluchzen. „Diese Leute zu Haus … meine Eltern … diese Pauker … Ich hab’s so verdammt schwer.“ „Es gab mal eine Zeit, da hatten es Leute wirklich schwer“, erwiderte Yvonne kalt. „Dir geht es gut, du ertrinkst nur im eigenen Selbstmitleid.“ „Sie reden wie meine alte Dame zu Haus.“ Der Sozialarbeiter fragte: „Was soll mit ihm geschehen?“ Yvonne Rosenau und der Mann wechselten einen Blick, dann sagte sie: „Schickt ihn weg! Wann wird er sich zuletzt gewaschen haben, vom Friseur wollen wir ja gar nicht reden. Riecht ihr nicht, wie sehr er stinkt? Schmeißt ihn also ’raus!“ Yvonne wandte sich ab und ging zu dem Engländer, der bei der Tür stehengeblieben war. Als sie ihn erreicht hatte, stoppte sie ein Aufschrei. „Nein!“ Vehement brach die Hilflosigkeit aus dem Jungen heraus. „Keiner hat Verständnis für mich. Keiner auf dieser verdreckten und verschissenen Welt.“ 24
„Verständnis schon“, erwiderte Yvonne kühl. „Aber kein Mitleid!“ „Was soll ich tun?“ „Du wirst dir noch heute die Haare abschneiden. Selbst! Und du wirst eigenhändig deine stinkenden Klamotten verbrennen. Ab morgen wirst du um fünf Uhr aufstehen und bis zur völligen Erschöpfung arbeiten. Und das von nun ab jeden Tag. Bist du dazu bereit?“ Der Prüfling schaute verzweifelt in die Runde und wirkte auf einmal um fünf Jahre jünger. Er nickte mehrmals mit dem Kopf. „Was soll mit ihm geschehen?“ fragte der Sozialarbeiter noch einmal. Yvonne erwiderte: „Sie wissen doch, daß es die Entscheidung der Gruppe ist.“ Mehrere Minuten blieb es still, eine unheimliche, bedrückende Stille; der Junge in dem Kreis wagte sich nicht zu rühren. Endlich sagte einer, der nicht viel älter als der Neue war: „Wir sollten es riskieren mit ihm.“ „Na, schön! Wenn ihr meint, daß ihr es schafft, soll es uns recht sein.“ Auf Yvonnes Gesicht erschien ein kleines, triumphierendes Lächeln, aber da hatte sie sich schon abgekehrt. Und so sah es nur Mr. Patters. Er bemerkte aber auch den leichten Schweiß auf ihrer Stirn. Als er ihr die Tür aufmachte, tat er es mit Respekt. Am nächsten Abend gingen sie zusammen ins Burgtheater. Dort wurde der „Misanthrop“ von Molière gegeben, mit Joseph Meinrad in der Titelrolle. Sie saßen in einer der Logen im ersten Rang, nahe dem Proszenium. Es war schwierig, Karten für die Aufführung zu bekommen, besonders so gute, aber Yvonne hatte Beziehungen zu dem Theater. Sie selbst hatte die Inszenierung schon über ein dutzendmal gesehen. Nach dem Abend bat Mr. Patters Yvonne, noch ein wenig mit ihm zusammenzubleiben, und sie sagte zu. Sie gingen in eine kleine Bar in 25
der Nähe der Kärntnerstraße. Beim Tanzen brachte er die Rede auf das Theater. „Eine wirklich gute Aufführung“, meinte er. „Von geradezu atemberaubender Dichte. Ich habe das Stück noch nie mit so direkten Bezügen zu uns gesehen. Es waren Menschen wie wir, finden Sie nicht?“ „Die wirklichen Probleme in den Beziehungen ändern sich ja nicht.“ „Die Wiener können sich freuen, daß sie diesen Philip Krafft in ihrer Stadt haben. Von dem Regisseur läßt sich noch viel erhoffen.“ „Nichts läßt sich da mehr erhoffen.“ „Wieso nicht?“ „Weil er nach dieser Inszenierung alles hingeschmissen hat und auf und davon ist.“ „Wohin?“ „Nach Israel.“ „Aber warum?“ „Wer weiß es?“ Eine ganze Weile tanzten sie schweigend. Archie Patters verstand sich darauf, er hatte Rhythmus und führte gut. Wieder spürte sie, daß er mit Frauen umgehen konnte. Nach einer Weile sagte er: „Eines begreife ich nicht, Frau Rosenau!“ „Ja, Mister Patters?“ „Ich habe gestern beobachten können, wie Sie den kleinen Jungen zur Besinnung brachten.“ „Das ist mein Beruf!“ „Eben! Wieso gelang es Ihnen da nicht, jenen Philip Krafft zurückzuhalten, daß er nicht alles hinwarf?“ Plötzlich hörte Yvonne zu tanzen auf. „Sie wissen …?“ fragte sie und stockte. „Aber natürlich weiß ich das“, erwiderte Archie Patters gelassen. „Natürlich weiß ich, daß dieser wundervolle Regisseur Ihr Mann ist.“ Yvonne Rosenau wandte sich um und kehrte an den 26
Tisch zurück. Der Kellner kam und schenkte ihnen aus der Flasche nach. Als er gegangen war, fragte die junge Frau: „Sie scheinen allerlei zu wissen, Mister Patters!“ „Ja.“ „Gestern vormittag habe ich Ihnen gesagt, ich würde Ihnen vielleicht einmal meine Story erzählen.“ „Nach dem nächsten oder übernächsten Scheck für Ihr Heim.“ „Heute glaube ich, daß Sie mir meine Geschichte besser erzählen könnten als ich selbst. Ist es nicht so?“ „Vielleicht.“ Yvonne griff nach den Zigaretten auf dem Tisch, und der Engländer reichte ihr Feuer. Über den Rauch hinweg sah sie zu ihm hin. Schließlich sagte sie: „Fangen Sie schon endlich an!“ „Sie sind Jüdin!“ „Natürlich!“ „Und Sie sind Französin, in Paris geboren.“ „Weiter!“ „Aber Sie haben deutsche Eltern. Papa und Mama kamen im Jahre achtunddreißig nach Frankreich, wissen Sie, woher?“ „Aus Deutschland, das sagten Sie bereits, Mister Patters.“ „Ja, ja! Aber woher dort, aus welcher Stadt?“ Yvonne antwortete nicht, sie starrte ihr Gegenüber nur unverwandt an. „Sie wissen es nicht?“ „Nein!“ „Sie kamen aus Hamburg, zumindest vermute ich das. Im Jahre zweiundvierzig brachten Ihre Eltern Sie in einem Kinderheim in der Nähe von Paris unter. Das geschah bereits während der Naziokkupation, und deshalb gab es auch keine schriftlichen Unterlagen über Sie. Es wurde gerade mal Ihr Name, nämlich Yvonne Rosenau, und Ihr Geburtsdatum bekannt. Sie selbst waren damals 27
ein Jahr alt, und Sie haben die Eltern nicht wiedergesehen. Stimmt das?“ „Es stimmt!“ „Und weil Sie damals noch so klein waren, haben Sie auch keine Erinnerung an beide, nicht an die Mutter und nicht an den Vater. Richtig?“ Yvonne antwortete nicht. Auf ihrer Stirn zeichnete sich die steil aufragende Falte zwischen den Brauen ab, diesmal schien sie sich tiefer einzugraben. Nach einer Weile sagte sie: „Sie müssen mir eine Frage beantworten!“ „Jede, Frau Rosenau!“ Archie Patters lächelte warmherzig. „Weshalb sind Sie gestern zu mir gekommen? Weshalb haben Sie mir diesen Scheck überreicht? Sind es wirklich das Heim und dessen Insassen, die Sie interessieren? Oder bin vielmehr ich es und meine Vergangenheit?“ Mr. Patters schüttelte den Kopf, und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Sachlich erklärte er: „Das Interesse für Sie kam später, Frau Rosenau! Wir verwalten die Hinterlassenschaft von Lady Chessman, und wir müssen das mit Verantwortung tun. Deshalb ziehen wir Erkundigungen ein über die Personen, denen wir das Geld übergeben. Wir wollen sicher sein, daß es in gute Hände kommt; das müssen Sie verstehen.“ Yvonne schien sich zu fragen, ob sie dem Mann vertrauen konnte. Ihr Blick glitt über die gefalteten und wettergegerbten Partien seines Gesichts zu den Augen. Nach einer langen Pause sagte sie widerstrebend: „Das ist wohl okay, Mister Patters. Und was wissen Sie noch?“ „Ich habe Ihre Eltern gefunden!“ Seine Stimme klang plötzlich sehr nackt. Nicht, weil er brutal sein wollte, sondern weil er einen scharfen, schnellen Schnitt sicher für heilsam hielt. Er fuhr fort: „Nicht Ihre Mutter, denn 28
die lebt nicht mehr. Wohl aber Ihren Vater! Zumindest halte ich es für möglich, daß er es ist.“ Yvonne antwortete nicht. Sie kam hoch, und ihr Körper lehnte sich auf dem Stuhl weit zurück. Dadurch verschwand das Gesicht aus dem Lichtkreis der Tischlampe und begann in Dunkelheit zu verschwimmen. Mr. Patters sagte: „Ihr Vater ist nach Deutschland zurückgekehrt und lebt jetzt wieder in Hamburg.“ „Ich kann das nicht glauben. Meine Eltern sind tot, ich weiß es!“ Mr. Patters’ Eröffnung löste ein Chaos in ihr aus. Plötzlich wurde alles, was mit der Scheidung von Philip zu tun hatte, in den Hintergrund gedrängt. Ebenso schien ihr die Arbeit im Drogenzentrum nicht mehr wichtig zu sein. Tagelang kam sie hinter dem Schreibtisch in ihrem Büro kaum hervor, und wenn sie es tat, ging sie mit abwesendem Gesichtsausdruck über das Gelände. Sie wußte, daß die Jüdische Gemeinde von Paris ihre Eltern gesucht hatte, kurz nach dem Krieg. Sie war gerade sieben Jahre alt gewesen, und so richtig hatte sie nicht begriffen, worum es damals ging. Das wurde ihr erst später klar, und dann mußte sie sich damit abfinden, daß ihre Eltern von den Faschisten ermordet worden waren. Besonders quälend war die Vorstellung, daß sie nicht erfuhr, wo es geschah. Sie konnte nicht einmal an das Grab gehen. Mit den Jahren gelang es, diese Gedanken zu verdrängen. Sie redete mit niemandem mehr darüber, auch mit ihrem Mann nicht. Vielleicht hielt Philip sie für gefühlskalt, aber das war sie nicht. Es war eher so etwas wie ein Schutzwall, mit dem sie sich umgeben hatte. Und nun kam dieser Engländer und rührte alles wieder auf. Niemals konnte sie glauben, daß jener David Rosenau in Hamburg ihr Vater war, aus ganz bestimmten Gründen nicht. Das sagte sie Mr. Patters, und er erwiderte, der einzige Weg, das herauszufinden, sei, nach Hamburg zu fahren. Das sah sie schließlich 29
ein, und so machte sie sich mit zwiespältigen Empfindungen auf den Weg. Die Anwaltspraxis befand sich in der Dammtorstraße gegenüber dem Opernhaus. Yvonne und Mr. Patters mußten über eine halbe Stunde im Vorzimmer warten, ehe sie vorgelassen wurden. Der Rechtsanwalt kam ihnen bis in die Mitte des Raumes entgegen, schüttelte ihnen die Hand und führte sie zu Stühlen vor seinem Schreibtisch. Darauf versank er in einem hochlehnigen Ledersessel dahinter. „Sie können sich ausweisen?“ fragte er. „Ich hoffe nur, daß Sie es nicht als besonderes Mißtrauen auffassen.“ „Das ist okay“, meinte Mr. Patters und legte seinen britischen Paß auf den Schreibtisch. Yvonne Rosenau tat ihren österreichischen dazu. Der Anwalt musterte seine Besucher. Von dem Engländer wurden die Blicke ebenso kühl und abschätzend erwidert, aber auch Yvonne gab sich reserviert. Der Mann ließ nicht erkennen, ob ihn die gutaussehende junge Frau beeindruckte. Er öffnete eine Zigarettendose und schob sie in Richtung seiner Gäste. Dann nahm er die Pässe auf. Den des Engländers durchblätterte er flüchtig, mit dem Yvonne Rosenaus beschäftigte er sich länger. Immer wieder drehte er die Seiten hin und her, verglich das Paßfoto mit dem Gesicht seines Gegenübers. Er lächelte nun zwar, aber es lag nicht viel Wärme darin. Dann begann er zu erklären: „Herr Wilhelm hat Sie mir avisiert und mich über Ihre Wünsche informiert. Schließlich habe ich unserer Begegnung zugestimmt. Aber über Herrn Rosenaus Vermögenslage kann ich Ihnen nicht viel sagen, weil es meine Kompetenz überschritte. Nur vielleicht soviel: Das Vermögen ist beträchtlich. Es gibt Werke in der Bundesrepublik und in 30
Südamerika. Ich begehe keine Indiskretion, wenn ich darüber spreche, denn dieses Wissen ist jedermann zugänglich. Ebenfalls ist richtig, daß Herrn Rosenaus Testament bei mir verwahrt wird. Darin sind ein paar Legate für enge Mitarbeiter enthalten, nicht sehr hoch, mehr als ideelle Anerkennung gedacht; auch Bücher, Porzellane, einige Bilder. Der überwiegende Teil der Erbmasse geht an eine allgemein nützliche Hilfsorganisation, über die ich keine Auskunft geben möchte. Herr Rosenau hat alles so verfügt, weil er keine lebenden Verwandten besitzt.“ Plötzlich lag das Mißtrauen wie eine trübe Dunstglocke über dem elegant eingerichteten Büro. Der Rechtsanwalt schob den österreichischen Paß in Yvonnes Richtung. Ob er den für echt oder gefälscht hielt, wurde aus seiner Miene nicht ersichtlich. Dann meldete sich Mr. Patters zu Wort. „Es geht nicht um Erbschaft und um eventuelle Ansprüche daraus. Die junge Dame lebt auch ohne Verwandten, und sie möchte lediglich wissen, ob es zwischen ihr und Herrn Rosenau irgendeine Verbindung geben könnte.“ Der Rechtsanwalt schaute dem Engländer mit kühlem Interesse in die Augen. „Und an was für eine Verbindung denken Sie?“ „An die Verbindung eines Vaters zu seiner Tochter, daran denken wir.“ Der Anwalt nickte, als habe er nichts anderes erwartet. „Finden Sie es nicht merkwürdig, daß sich die junge Dame genau zu dem Zeitpunkt meldet, in dem mein Mandant in Lebensgefahr schwebt, Mr. Patters?“ „Ganz so liegen die Dinge nicht“, antwortete Archie Patters höflich. „Und das wissen Sie auch, denn Herr Wilhelm wird Sie ja sicher in Kenntnis gesetzt haben. Frau Rosenau hat bereits vor Wochen in Hamburg vorgesprochen. Damals hielt sich Ihr Mandant in Brasilien auf, und zu der Zeit erfreute er sich bester Gesundheit. 31
Sie hinterließ eine Nachricht und fuhr nach Wien zurück. Eines Tages bekam sie dann einen Brief von Herrn Rosenau, in dem er sie praktisch zu sich nach Hamburg einlud. Erst darauf reiste sie ein zweites Mal her.“ „Dieser Brief …?“ fragte der Rechtsanwalt. „Ja, wollen Sie ihn sehen?“ „Merkwürdig, von einem Brief wußte ich bisher nichts.“ „Haben Sie ihn dabei?“ Mr. Patters wandte sich an Yvonne. Sie öffnete die Handtasche, aber der Rechtsanwalt winkte ab. „Lassen Sie das, um Gottes willen, ich glaub’ es Ihnen auch so.“ Yvonne starrte auf ihre Tasche und knetete deren weiches Leder. Ebenso wie gestern im Krankenhaus wirkte sie gehemmt und sehr viel jünger, als sie eigentlich war. „Eines verstehe ich nicht“, meinte der Rechtsanwalt nach einer Weile. „Und was?“ fragte Archie Patters. „Warum meldet sich die junge Dame erst jetzt, nach so vielen Jahren?“ Mr. Patters erklärte: „Sie konnte es gar nicht eher. Sie hatte keinerlei Kenntnis von Herrn Rosenau in Hamburg. Ich habe sie erst darauf aufmerksam gemacht. Es ist ein eigenartiges Schicksal, das man nur aus der Zeit des Krieges und des Unrechts heraus begreift. Frau Rosenaus Eltern waren deutsche Emigranten. Juden. Vor den Verfolgungen der Nazis flohen sie im Jahre achtunddreißig nach Frankreich. Sie lebten in Paris. Da ihre Tochter dort zur Welt kam, erhielt sie die französische Staatsbürgerschaft. Dann marschierten die Nazis in Frankreich ein, und die Rosenaus gingen in den Untergrund. In dieser Zeit war Yvonnes Mutter schwanger. Sie hat das Kind wohl unter sehr schwierigen Bedingungen zur Welt gebracht. Als das kleine Mädchen ein Jahr alt wurde, gaben es die Eltern in ein Heim und ließen es 32
dort zurück. Nach dem Kriege wurden Ermittlungen über deren Aufenthaltsort angestellt, aber sie blieben ohne Erfolg. So begann Frau Rosenau mit dem Gedanken zu leben, daß ihre Mutter und ihr Vater in einem Konzentrationslager der Nazis umgekommen seien. An dieser Vorstellung hat sich bis heute nichts geändert. Als sie aber nun von einem Herrn Rosenau erfuhr, der hier in Hamburg lebt, entstand in ihr der Wunsch, zu erfahren, ob es zwischen ihm und ihr nicht irgendeine Verbindung geben könne. Ist dieser Wunsch so unverständlich?“ „Nein, das ist er nicht!“ Der Rechtsanwalt hatte seinen Sessel zur Seite gedreht und angekippt. Er sah zum Fenster hinaus, beobachtete die schwächlichen Sonnenstrahlen, die sich durch die Vorhänge ins Zimmer schlichen. Mr. Patters fuhr fort: „Von Herrn Rosenaus Sekretär, Herrn Wilhelm, wissen wir, daß sein Arbeitgeber lange in Brasilien gelebt hat. Und von Ihnen kam die Bestätigung, daß er noch heute dort Fabriken unterhält. Könnten Sie uns nicht wenigstens sagen, wann Rosenau nach Südamerika ging und ob er dies von Frankreich aus tat?“ Eine Weile blieb es still. Der Rechtsanwalt hatte sich nicht gerührt in seinem Sessel. Aber er hatte zugehört, und sie sahen auch, daß er intensiv nachdachte. Mr. Patters griff nach den Zigaretten, reichte Yvonne eine hin, und gemeinsam zündeten sie sich die an. Sie rauchten schweigend. Schließlich sagte der Rechtsanwalt: „Ich kenne Herrn Rosenau ziemlich gut, wir arbeiten seit Jahren zusammen. Ein integrer, vornehmer Mann. Ich kann mir nicht denken, daß er irgendwo ein Kind zurückläßt und sich dann nicht mehr darum kümmert.“ „Die Leute befanden sich in Lebensgefahr.“ „Ja, ja, ich versteh’ schon. Aber der Krieg ging zu Ende und die Zeiten wurden wieder normal. Warum sollte 33
Herr Rosenau dann nicht alles unternommen haben, seine kleine Tochter wiederzufinden und in seine Arme zu nehmen? Wenn er eine hatte!“ Mr. Patters und Yvonne blickten sich an, und der Engländer spürte, daß sie in das Gespräch eingreifen wollte. Denn dies war der Punkt, über den sie in Wien lange gestritten hatten. Er legte seine Hand auf ihren Arm und antwortete für sie: „Das ist es gerade, was wir erfahren möchten.“ Der Anwalt fragte: „Kann ich jetzt doch einmal den Brief sehen?“ Yvonne öffnete ihre Tasche und zog ein Kuvert hervor, das sie über die Platte in Richtung der Anwaltshände schob. Dort blieb es liegen. Es war ein schmaler Umschlag aus blütenweißem, teurem Papier. Der Anwalt starrte darauf, dann nahm er ihn vorsichtig und mit spitzen Fingern, so als ob er keine Spuren hinterlassen wollte. Er überflog das Schreiben. „Es ist seine Schrift“, sagte er schließlich. „Aber der Inhalt ist ganz allgemein gehalten, kein Hinweis auf Ihr eigentliches Anliegen, Frau Rosenau.“ „Was haben Sie denn erwartet?“ fragte Mr. Patters. Der Anwalt beachtete den Einwurf nicht. Er sagte: „Es paßt ganz und gar zu Herrn Rosenau. Zu der Verantwortung, die er allem gegenüber empfindet. Er hat Ihren Kummer gespürt. Vielleicht wollte er Sie empfangen, um Sie zu beruhigen.“ Der Engländer fragte: „Ist Ihnen bekannt, ob Herr Rosenau bis Anfang der vierziger Jahre in Frankreich gelebt hat?“ „Haben Sie mit Herrn Wilhelm darüber gesprochen?“ „Er hat keinerlei Kenntnisse über diese Zeit.“ „Ich würde Ihnen wirklich gern helfen, Frau Rosenau“, sagte der Anwalt direkt in Yvonnes Richtung. Er stockte. „Warum tun Sie es dann nicht?“ fragte Mr. Patters. 34
Der Anwalt wandte seinen Blick zu dem Engländer. „Ich habe heute morgen mit der Klinik telefoniert. Ich nehme an, Sie taten es auch?“ „Ja.“ „Dann wissen Sie, daß Herr Rosenau die Nacht überlebt hat. Der Professor hat jetzt sogar mehr Hoffnung als gestern.“ „Aber er kann nicht sagen, wann der Patient ansprechbar ist, ob er überhaupt wieder zu klarem Bewußtsein kommt.“ „Wollen wir es nicht abwarten?“ Der Rechtsanwalt lächelte verbindlich. „Frau Rosenaus Fragen blieben so lange Zeit unbeantwortet, da kommt es doch auf ein paar Tage nicht an. Ich denke mir, daß alle in diesem Raum dem Kranken nur Gutes wünschen. Wollen wir nicht darauf hoffen und darum bitten? Und wenn es dann soweit ist, kann Frau Rosenau alle ihre Fragen dem Patienten selbst stellen.“
3. Sie hörten das Kratzen, als sie in der Küche beim Abendbrot saßen, es kam von der Etagentür. Draußen wurde es zeitig dunkel im Herbst 1932. Sie achteten nicht auf das Geräusch; vielleicht war es die Katze, welche die Leute über ihnen hielten. Auch die Katze bekam nicht genug zu fressen und wanderte im Haus umher, um zu betteln. Manchmal stellten sie ihr ein Schüsselchen mit Magermilch hin, denn die Mutter hatte mit jedem Mitleid. Das Kratzen an der Tür hörte nicht auf, kurz darauf klapperte es am Briefkasten. Die Katze konnte es also nicht sein, denn bis dahin langte sie nicht hinauf. Das Klappern hielt an, es war ein sanftes, zaghaftes Geräusch, nicht viel mehr, als ob ein Windhauch 35
über den Deckel strich. Schließlich stand der Junge auf, ging über den Korridor und öffnete. Draußen saß der Vater und fiel mit der Tür in den Flur hinein. Im ersten Moment dachte der Junge, er sei betrunken, wie es hin und wieder vorkam, wenn er das Geld von der Stempelstelle holte, aber dann entdeckte er das Blut. Die Mutter, die ebenfalls aus der Küche gekommen war, sah es auch. Sie schrie nicht auf, weinte und jammerte nicht. In der letzten Zeit war so viel geschehen, daß einen nichts mehr überraschte. Auch der Junge blieb stumm. Sie starrten nur auf das Blut, das überall hervorquoll und auf das Linoleum im Korridor tropfte. Gemeinsam schleppten sie den Vater ins Wohnzimmer und betteten ihn auf die Couch. Vorsichtig zogen sie ihm die Kleider vom Körper, dann holte die Mutter eine Schüssel mit Wasser und wusch die Wunden aus. Nazis hatten dem Vater im Hausflur aufgelauert, ihn in den Keller geschleppt und brutal zusammengeschlagen. Groteskerweise hatte die Prügel gar nicht ihm gegolten, sondern dem Nachbarn, der Kommunist war. Der Vater hatte sich bisher weder für die Roten noch für die Braunen besonders interessiert, aber seit dem Erlebnis im Keller ging eine Veränderung in ihm vor. Ohne sich direkt zu binden, nahm er von jetzt ab mehr Partei für die Kommunisten. Bei der nächsten Wahl, in jener Zeit mußte man oft wählen, machte er sogar sein Kreuz in deren Liste. Der Mann wunderte sich, wie gestochen scharf er diese Bilder sah. Er erkannte sie deutlicher als die Gegenstände des Zimmers, in dem er lag. Wie lange? Er wußte es nicht. Es mochten Tage oder Wochen sein. Die Zeit war ein endloses, trübes Band, kam aus der Unendlichkeit, zog an ihm vorbei und ging dorthin zurück. Es hatte keine Markierungen. Und das schien auch nicht wichtig. Von Interesse waren nur die Bilder aus seiner Kinderzeit 36
und die Erinnerungen, die sie weckten. Manchmal dachte er, daß es verdammt lange dauerte, bis man starb. Oder war es vielleicht so, daß sich die Zeit nur für ihn zerdehnte und daß in Wirklichkeit nur Stunden vergangen waren, seit man ihn hierhergebracht hatte? Meistens schlief er ohnehin. So kam es ihm zumindest vor. Wenn er aus den Tiefen seines Unterbewußtseins auftauchte, langsam und irgendwie taumelnd in immer höhere Schichten emporstieg, meldete sich zuerst der Schmerz. Dann empfand er Durst. Auch Schwindel. Der kam sicherlich vom Klettern aus der unermeßlichen Tiefe, in die sein Ich geworfen war. Der Durst wurde stärker. Und auch der Schmerz. Er versuchte die Augen zu öffnen, tat es blinzelnd. Die Umwelt empfing ihn mit grellem Licht. Nur schemenhaft nahm er die Gegenstände im Zimmer wahr. Einen Schrank. Daneben ein Waschbecken mit dem Spiegel darüber. Er hätte was dafür gegeben, einmal hineinschauen zu können. Sein Kopf war von Verbänden umhüllt; auch die Nase, die besonders weh tat, hatte man verklebt. Über dem Fußende des Bettes schwebte etwas. Er brauchte lange Zeit zwischen Schlaf und Wachsein, bis er herausfand, um was es sich handelte. Es war sein Bein. Sie hatten sein Bein aufgehängt. Ja, das gab es auch! Wenn sie sich besonders brutal gaben und perverse Lust am Töten hatten, hängten sie die Menschen an den Füßen auf. Lange hielt das keiner aus, er hörte die Schreie gellen. Diese Bilder existierten ebenfalls in ihm, aber er sah sie nicht so klar wie die aus seiner Kinderwelt. Es mußte eine Vorwegnahme auf eine spätere Zeit sein, die wohl auch zu ihm gehörte. Bisher lief der Film der Erinnerungen ganz chronologisch ab, und er fürchtete, daß er jene Bilder mit den Erhängten einmal so deutlich sehen könnte wie die anderen. Der Schmerz wurde stärker, auch der Durst und das Schwindelgefühl. Sicher kam es daher, weil er sich so 37
stark konzentrierte. Er versuchte sich zu besinnen, wer er war, wie er hieß. Plötzlich kriegte er keine Luft mehr, und es drang ein Schrei aus seiner Kehle. Er lag mit weit aufgerissenen Augen im Bett. Dann schwebte wie auf einer Wolke ein Kopf heran, der Kopf einer Frau. Er konnte sie nicht richtig erkennen, denn die Konturen des Gesichts verschwammen und zerfaserten an den Rändern. Schon einmal in der Endlosigkeit, die er hier zubrachte, war eine Frau in diesem Raum gewesen. Er erinnerte sich an die Stimme, warmherzige, gute Töne. Von Tönen verstand er etwas. Handelte es sich um die gleiche Person? Auch die Hände, die über sein Gesicht hinfuhren und ihm den Schweiß fortwischten, wirkten angenehm. Ein bißchen erinnerten sie ihn an die Mutter. Oder waren es die Hände seiner Mutter? Er versank in Bewußtlosigkeit. Die Stimme sagte: „Erkennen Sie die junge Dame, Herr Rosenau? Schauen Sie sich sie gut an, und versuchen Sie sich zu erinnern. Es ist wichtig! Geben Sie sich Mühe, auch wenn es anstrengt. Versuchen Sie sich zu erinnern!“ Eine zweite Stimme sagte: „Ist er nicht bei Bewußtsein?“ Und eine dritte Stimme sagte: „Aber er hat doch die Augen offen.“ Das stimmte. Er hatte die Augen offen, und er war auch bei Bewußtsein oder was man dafür halten mochte. Er erkannte eine Gruppe von Menschen um das Bett, aber er sah alles wie durch einen Schleier. Ein Kopf näherte sich langsam, hielt dicht vor seinen Augen an. Er blickte in die Pupillen des anderen und wußte, daß es sich um einen Mann handelte. Er hatte weißes, welliges Haar, das den Schädel wie einen Heiligenschein umrahmte. Plötzlich zerriß der Schleier, und er sah den Mann mit einer Deutlichkeit, wie man sie sonst nicht hat. Er kannte das Gesicht nicht, er hatte es niemals 38
vorher gesehen. Dann entfernte sich der Kopf, und er schloß, müde geworden, die Augen. Die Stimme sagte: „Zweifellos befindet sich der Patient in einem Durchgangssyndrom, das durch die Contusio hervorgerufen wurde. Seine Merkfähigkeit und sein Gedächtnis sind gestört. Daraus ergibt sich eine mangelhafte Orientierung, sowohl in zeitlicher als auch in örtlicher Beziehung. Dabei kann älterer Gedächtnisbesitz zur Verfügung stehen, während zuletzt erworbene Gedächtnisinhalte verlorengingen. Fehlender Gedächtnisbesitz wird nun meist durch freie Erfindung, die sogenannte Konfabulation, ausgefüllt.“ Darauf trat Stille ein, die wohltat. Eigentlich wünschte der Mann in seinem Bett nichts anderes, als zu schlafen und in seine Traumwelt zurückzukehren. Aber sie ließen es nicht zu. Die Stimme sagte: „Bitte, öffnen Sie die Augen, Herr Rosenau!“ Anscheinend tat er es, denn die Stimme lobte ihn. „So ist es gut! Können Sie mich erkennen?“ Auf einer Wolke schwebte der von weißen Haaren umflossene Schädel vor ihm, und der Mund darin sagte: „Schauen Sie sich einmal die junge Dame hier an!“ Langsam wandte er den Kopf, es war ein weiter, von Schmerzen begleiteter Weg. Neben seinem aufgehängten Bein schwebte ein Frauenkopf, ebenfalls auf einer Wolke. Seine Lippen bewegten sich, aber seltsamerweise hörte er keinen Laut. Die Stimme sagte: „Sie können sie nicht erkennen, nicht so, wie sie jetzt vor Ihnen steht. Sie haben sie zuletzt gesehen, als sie noch ein kleines Mädchen war. Aber wenn ich Ihnen sage, daß die junge Dame ihre Tochter ist, die Sie in Paris zurücklassen mußten, damals vor vielen Jahren, löst das etwas aus in Ihnen?“ Er unternahm die Anstrengung und begann die Lippen zu bewegen. Er fragte die Leute, wer er denn selber sei, aber wieder hörte er seine Stimme nicht. 39
Sie verstanden ihn jedoch auch so. „Wer Sie sind, fragen Sie?“ Der Mann nickte. Es war eine weite Strecke, die sein Kopf zurücklegen mußte, wirklich sehr weit. „Sie sind David Rosenau!“ „Ro… Ro…“ Auf einmal war der Mann glücklich, denn zum ersten Mal hörte er Laute aus seiner Kehle dringen. „David Ro-senau! Wissen Sie, in welcher Stadt Sie gerade sind?“ „M… m… Ha-m…“ „Ja, Sie leben in Hamburg, Herr Rosenau! Sehr richtig und sehr gut! Und nun noch einen Augenblick der Konzentration! Schauen Sie sich die junge Dame an! Ist es nicht Ihre Tochter, die Sie zuletzt als. kleines Mädchen in Paris gesehen haben? Könnte es nicht so sein?“ Vor langer Zeit war ihm gewesen, als ob sich etwas aus seinem Körper loslöste. Er hatte dieses Etwas für seine Seele gehalten, die aufstieg und frei über dem Raum schwebte. Aus großer Höhe hatte er herabblicken können auf das Bett und auf die Menschen, die sich darum scharten. Das gelang nicht mehr. Was sollte das heißen? Bedeutete es, daß er gar nicht im Sterben lag? Würde er weiterleben? In immer größeren und stärkeren Wellen jagte der Schmerz durch seinen Körper. Er schloß stöhnend die Augen. Den Einstich der Nadel fühlte er nur noch schwach, und er beruhigte sich auch schon, weil es gleich vorüber sein würde. „Schade, ich hatte mir von der Wirkung mehr versprochen. Nun, es war ein Experiment. Vielleicht sollten wir den Versuch in den nächsten Tagen wiederholen.“ Es war die Stimme des weißhaarigen Mannes, die da sprach. Er hörte deutlich das Bedauern aus ihr. Aber dann verlor er alles Interesse an seiner Umwelt. Beinahe heiter begann er in die Welt seiner Träume zu versinken.
40
4. „Ich nehme an, daß die Jüdische Gemeinde von Paris Nachforschungen über den Verbleib Ihrer Eltern angestellt hat“, meinte die alte Frau. „Ja, natürlich“, bestätigte Yvonne. „Und wann war das? Können Sie sich daran erinnern?“ „In den ersten Jahren nach dem Krieg. Bis in die fünfziger Jahre hinein.“ „Und?“ „Nichts! Ohne jeden Erfolg!“ „Haben sich die Nachforschungen auch nach Übersee erstreckt? Nordamerika, Mexiko? Oder nach Südamerika? Dorthin gingen auch manche.“ Yvonne schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht mehr. Ich selbst war damals ein kleines Mädchen, nicht einmal zehn Jahre alt.“ „Verstehe!“ Die alte Frau saß ihnen am Schreibtisch gegenüber. Der befand sich in einem karg eingerichteten Büro in der Hamburger Innenstadt. Es roch muffig, nach alten Akten. Es war nicht dreckig im Raum, es lag nicht einmal Staub, aber den leichten Modergeruch von angejahrtem Papier vertreibt man nicht so leicht. Die alte Frau hatte einen Bogen vor sich. Darauf malte sie kleine Kreise, einen hinter den anderen. Mehrere Reihen hatte sie bereits angefertigt. Sie tat es ordentlich und dieser Beschäftigung schien sie sich ganz hinzugeben. Wenn sie doch einmal aufsah, kam ein erstaunlich klarer Blick aus jung wirkenden Augen über den Schreibtisch. Die Frau war von unbestimmbarem Alter und ziemlich dick. Auf ihr Äußeres schien sie keinen Wert zu legen. Sie trug ein dunkles Kleid von sackartigem Zuschnitt, darüber eine braune, wahrscheinlich selbstgestrickte Wolljacke. Es war kühl in dem Büro, entweder funktionierte die Heizung nicht richtig, oder man hatte sie noch nicht ange41
stellt. Die Frau fröstelte. Ihrer Frisur schien sie ebenfalls keinerlei Beachtung zu schenken. Strähnen von grauem Haar fielen auf die Schultern und in die Stirn, denn sie saß vorgebeugt über dem Bogen Papier mit den Kreisen. Auch auf diesem Schreibtisch lagen Mr. Patters britischer und Yvonnes österreichischer Paß. Aber die alte Frau hatte diese kaum beachtet. Vielleicht hielt sie nicht viel von solchen Dokumenten, weil man die nur allzu leicht fälschen konnte. Sie schien mehr auf die Stimmen ihrer Besucher zu achten. „Wissen Sie, in welcher Stadt Ihre Eltern gelebt haben“, fragte sie, „bevor sie aus Deutschland hinaus mußten?“ „Nein.“ „Aber es waren doch Deutsche?“ „So haben es mir meine Leute in Paris zumindest gesagt. Ich selbst habe mich natürlich niemals als Deutsche gefühlt.“ „Verstehe!“ Wieder kam ein Blick über den Schreibtisch und darauf ein Lächeln. Dann sagte die alte Frau: „Aber Sie beherrschen die deutsche Sprache gut.“ „Ich habe einen Österreicher geheiratet und ging mit ihm nach Wien. Dort habe ich es gelernt.“ „Sie sind zum ersten Mal in der Bundesrepublik Deutschland?“ „Zum zweiten.“ „Und wie gefällt es Ihnen hier?“ Darauf antwortete Yvonne nicht. Das Lächeln auf dem Gesicht der alten Frau verstärkte sich und begann ihr offensichtliches Alter immer weiter zurückzudrängen. Sie schenkte den Kreisen auf dem Bogen keine Aufmerksamkeit mehr, obwohl nur noch zwei oder drei Reihen davon herzustellen waren. Sie faltete die Hände über dem Papier, alte und runzelige Hände und ohne jeden Schmuck natürlich, und saß ganz friedfertig da. Dann fragte sie: „Und Sie, Mr. Patters, was treiben Sie in der Geschichte?“ 42
Archie Patters lächelte freundlich. „Ich brachte Yvonne Rosenau einen Scheck von einer Foundation, die ich mitverwalten helfe. Natürlich ziehen wir Erkundigungen über die Leute ein, denen wir Geld aus unserer Stiftung geben. So erfuhr ich von ihrer Vergangenheit. Durch einen kuriosen Zufall wußte ich aber auch von David Rosenaus Existenz hier in Hamburg.“ „Können Sie uns Näheres über die Kuriosität dieses Zufalls berichten?“ Die beiden alten Leute beobachteten sich mit heiter abschätzenden Blicken. Archie Patters zuckte schließlich die Achseln. „David Rosenaus Unternehmungen in der Bundesrepublik und in Brasilien bleiben auch auf den Inseln nicht ohne Interesse.“ „Sie selber sind kein Jude?“ Die Frage der alten Frau klang mehr wie eine Feststellung. „Nein.“ „Aber Sie sind an den Schicksalen jüdischer Menschen interessiert?“ „Ja. Haben Sie jemals mit dem Hamburger Rosenau zu tun gehabt?“ „Hab’ ich!“ „Dann müßten Sie uns doch Auskunft geben können. Alles was wir brauchen ist, ob er sich mit seiner Frau im Jahre einundvierzig, zweiundvierzig in Paris aufgehalten hat. Damals wurde Yvonne geboren, und ein Jahr später brachten die Eltern sie in ein Kinderheim.“ „Das ist lange her, als sich das Wiedergutmachungsbüro mit Rosenaus Fall beschäftigte“, sagte die alte Frau nachdenklich. „Über zehn Jahre. War es nicht in der Zeit der Flutkatastrophe? Ja, so etwa, aber ich erinnere mich nicht genau.“ „Auch nicht an David Rosenaus Geschichte?“ „Nicht in ihren Einzelheiten.“ „Aber Sie müssen doch Unterlagen haben.“ 43
Die Frau nickte. Ihre Augen hingen schon eine ganze Weile an Yvonne Rosenau. Aber ihr Blick, der sich mehr und mehr verschleierte, schien durch das Mädchen hindurchzugehen. Dahinter mußte eine Welt liegen, durch die sie vor langer Zeit selbst einmal gewandert war. Schließlich fragte sie: „Herr Rosenau liegt in einer Klinik, weil er einen Unfall hatte?“ „Ja.“ „Und er ist nicht ansprechbar?“ „Nein, gestern war er es zumindest noch nicht. Der Arzt gibt sich zwar hoffnungsvoll, aber wer weiß …?“ Niemand sprach, alle hingen ihren Gedanken nach. Schließlich sagte Archie Patters: „Solche Hirnquetschungen können heimtückisch verlaufen. Niemand weiß, ob er jemals wieder zu Bewußtsein kommt und Fragen beantworten kann.“ Die alte Frau nickte verständnisvoll. „Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Yvonnes plötzlichem Auftauchen in Hamburg und Herrn Rosenaus plötzlichem Unfall?“ „Nein, natürlich nicht!“ Yvonne sagte es beinahe empört. Und dann etwas schwächer: „Wie kommen Sie darauf?“ Die Frau antwortete mit einem Lächeln, das beinahe so alt war wie die Welt. „Gutes Kind! Wenn David stirbt und Sie seine Tochter sind, werden Sie eine bemerkenswert reiche Frau sein. Viele, sehr viele Millionen, ja, ja!“ Dann wandte sie sich dem Engländer zu und fragte sachlich: „Wer erbt?“ „Eine gemeinnützige Hilfsorganisation.“ „Welche?“ „Das wollte uns der Rechtsanwalt nicht sagen.“ „Natürlich nicht.“ Die alte Frau schien die Antwort vorausgesehen zu haben. „Sie können noch ein paar Tage warten, nicht wahr? Mal sehen, ob David aus dem Delir zurückfindet.“ 44
„Ich bin in London zu Hause und Yvonne in Wien“, antwortete Archie Patters. „Eigentlich müßten wir längst an unsere Arbeit zurück. Ist es nicht so?“ Yvonne nickte. Die alte Frau sagte: „Sie könnten mit der Klinik in Verbindung bleiben und in Stunden wieder hier sein. Es gibt Flugzeuge. In dieser Hinsicht hat sich die Welt ja fortentwickelt.“ „Ich kann nicht mehr warten“, sagte Yvonne leise. „Ich muß es jetzt wissen.“ Sie saß mit hängenden Schultern auf dem Stuhl und sah plötzlich wie ein kleines Mädchen aus. Und sehr hilflos. Die alte Frau schaute auf den Bogen Papier mit den Kreisen. Irgendwie wirkte er unvollkommen mit den zwei oder drei fehlenden Reihen darauf. Sie kniffte ihn sorgfältig in der Mitte, nahm ihn und zerriß ihn in mehrere Streifen. Die Schnipsel warf sie in den Papierkorb. Dann stand sie auf und wandte sich zur Tür. Als sie sich erhob, sahen sie erst richtig, wie dick sie war. Eigentlich hätte sie watscheln müssen wie eine Ente, aber sie tat es nicht. Merkwürdigerweise lag in ihrem Gang so etwas wie Musik. Auch Kraft. Und Dynamik. Mit einem Schwupp fiel die Tür hinter ihr ins Schloß. „Eine beeindruckende alte Dame“, sagte Archie Patters und zog Zigaretten hervor. „Sie werden sehen, daß wir hier an der richtigen Adresse sind.“ Yvonne antwortete nicht, nervös sog sie an ihrer Zigarette. Archie Patters, der sie beobachtete, fuhr fort: „Lausig kalt hier drin, und die schalten die Heizung nicht ein. Scheinen zu sparen, oder diese Organisation besitzt nicht viel Geld. Was meinen Sie?“ Wieder antwortete Yvonne nicht, und sie rauchten schweigend. Schließlich meinte der Engländer: „Ich muß mich über Sie wundern, meine charmante Freundin.“ „Warum?“ Yvonne gab sich alle Mühe, sein Lächeln zu erwidern. 45
„Die junge Dame, die ich in Wien beobachten konnte, war eine ganz andere Person. Voller Verve! Mit viel Esprit! Sie scheinen sich in wenigen Tagen um Jahre rückentwickelt zu haben.“ „Und diese Yvonne gefällt Ihnen nun nicht mehr?“ „Das könnte ich nicht sagen. Sie gefällt mir auf eine andere Weise.“ „Das kann ich mir denken. Hilflosigkeit ist doch etwas, das die Männer an Frauen besonders lieben.“ Sie stand auf und ging zum Fenster. Das Büro lag in einer der oberen Etagen des alten Geschäftshauses. Man sah auf ein Fleet hinunter, einen jener engen Kanäle, die die Hafenstadt durchziehen. Yvonne wurde am 21. März 1941 in Paris geboren. Das Heim, in dem sie aufwuchs, lag am Rande der Stadt. Es war eine ziemlich große Anlage, mehrere Häuser gehörten zu ihr. Dazwischen standen Bäume mit ausladenden Kronen, die im Sommer Schatten spendeten. Im Herbst sammelten sie Eicheln und Kastanien darunter, füllten sie in Säcke und brachten sie in den Tierpark. Es gab Wiesen, auf denen man toben oder sich sonnen konnte, und einen kleinen Teich mit Goldfischen. Und dann der große Gemüsegarten. Dort zogen sie Blumen und alle Sorten Gemüse, das in der Küche verarbeitet wurde. Die Beschäftigung im Schulgarten, in dem auch die Kleinen schon mithalfen und den die Großen in eigener Verwaltung hatten, gehörte zum Lernprogramm. Als sie Jahre später in Wien die Drogenhilfe gründete, flossen viele Erfahrungen aus ihrer Kindheit dort ein. Vielleicht wäre sie gar nicht auf die Idee mit dem Heim gekommen, wahrscheinlich hätte sie aber nicht den Erfolg gehabt, wenn sie nicht so aufgewachsen wäre. Eines Tages wurde sie in das Büro der Direktorin gerufen – auch jene Anstalt wurde von einer Frau geleitet –, und dort traf sie auf zwei freundliche ältere Herren. Die 46
schauten sie lange an und strichen ihr übers Haar. Sie hatten ernste Gesichter und irgendwie traurige Augen, daran erinnerte sie sich genau. Diese Traurigkeit bedrückte sie, denn draußen war Sommer, und die Sonne schien, und sie war, erhitzt vom Versteckspielen, in das Büro gerufen worden. Aber Yvonne war ein braves Mädchen, und so machte auch sie ein ernstes, bekümmertes Gesicht. Zum ersten Mal wurde die Frage nach ihren leiblichen Eltern gestellt, und mit großer Wahrscheinlichkeit waren die ermordet worden. Man sagte ihr das zwar nicht direkt, aber sie hörte es heraus, denn sie hatte feine Ohren, Yvonne lächelte. Unvorstellbar, wie sehr erwachsene Menschen das Gehör von Kindern unterschätzen. Als ob sie vergessen hätten, daß sie selbst einmal jung und ebenso empfindsam gewesen waren. Vom Krieg und dessen Ausgang, von der Befreiung durch die alliierten Truppen hatte Yvonne wenig mitbekommen. Sie erinnerte sich nur dunkel an Fahnen und Musik und daran, daß sich die Erwachsenen in den Armen lagen. Sie hatte fleißig mitgemacht, denn wenn es Grund zum Jubeln gibt, sind die Kinder dabei. Nur daß es der Ausgang des Krieges war, den sie bejubelten, davon verstand sie nicht viel. Und gerade in diesem Krieg sollten ihre Eltern ermordet worden sein. Sie erlitt bei der Nachricht keinen Schock. Sie erinnerte sich genau, daß das betroffene Gesicht, das sie machte, geschauspielert war. Bei allem Mitleid blieb es eine Geschichte, die sie über fremde Menschen hörte. Und doch bedeutete der Besuch jener alten Männer einen Einschnitt in ihrem Leben. Die Herren kamen von der Jüdischen Gemeinde von Paris, und auch sie selber, erfuhr sie, sollte Jüdin sein. Das sagte ihr wenig, aber damals erlebte sie zum ersten Mal, daß neben den Menschen im Heim noch andere existierten, die sich um sie kümmerten. Regelmäßig wurde sie nun an Festtagen abgeholt und verbrachte sie in den Räumen der Jüdi47
schen Gemeinde. Manchmal verlebte sie auch ein gewöhnliches Wochenende mit Leuten, die sie von dorther kannte. In den Ferien wurde sie mit aufs Land genommen, einmal sogar bis nach Spanien. In diesen Familien gab es ebenfalls Kinder, und sie erinnerte sich genau daran, wie sehr sie die bedauerte. Denn jene Kinder hatten keine oder nur wenige Geschwister, und sie hatte so viele. So vergingen die Jahre, und ihre leiblichen Eltern wurden niemals gefunden. Yvonne wollte Erzieherin werden. Es gehörte zum Programm des Heimes, daß sich die älteren Zöglinge mit den jüngeren abgaben. Yvonne leitete mit zwei oder drei anderen den Gemüsegarten, der machte ihr am meisten Spaß. Am frühen Morgen mußte sie mit Bus und Metro zur Stadt in eine andere Schule fahren, um sich auf das Abitur vorzubereiten. Und dann wurde sie eines Tages wieder in das Büro der Direktorin gerufen, die inzwischen um einige Jahre älter geworden war. Und die beiden Herren – es handelte sich auch bei denen noch um dieselben – waren nun sehr alt. Auf dem Schreibtisch der Leiterin lagen Yvonnes Zeugnisse. Die konnten sich sehen lassen. Ihr wurde eröffnet, daß sich die Jüdische Gemeinde entschlossen hatte, ihr das Studium der Pädagogik zu finanzieren. Yvonne war dankbar. Und sehr glücklich, weil es so viel Wärme unter den Menschen gab. Nach dem Abitur zog sie aus dem Heim aus und kam in einer kleinen möblierten Bude unter. Da sie es geschenkt bekam, nahm sie ihr Studium sehr ernst. Sie las viel, und sie ging nun auch oft ins Theater. Aber diese Besuche waren teuer, und so erfand sie einen Ausweg. Eines Tages ließ sie sich am TNP als Komparsin anstellen. Auf die Art kam sie auch ihrer großen Liebe Gérard Philipe näher, der an jenem Theater arbeitete, wenn er nicht gerade filmte. Einmal durfte sie ihm in einer Aufführung sogar eine Schüssel reichen, aus der er trank. 48
Die Schüssel war leer, aber sie stellte sich jedesmal vor, es sei ihre Liebe darin, die er gierig schlürfte. Yvonne lächelte. Nichts hatte sie von dem Gefühl vergessen, das sie dabei empfand. Gérard Philipe beachtete sie nicht besonders. Dafür tat es Philip Krafft, der am TNP als Regieassistent arbeitete, um so mehr. Das fiel ihr zunächst nicht auf. Und als es das endlich tat, kam es mehr durch den gleichen Namen, denn irgendwie waren die beiden ja Namensvettern. Aber darin erschöpfte sich jede Ähnlichkeit. Krafft hatte nichts von dem alles überwältigenden, jungenhaften Charme des großen Philipe. Zum anderen war er sehr viel älter als sie. Und doch wurde Philip Krafft zu ihrer großen Liebe. Yvonne lächelte. Und wahrscheinlich auch zu ihrer einzigen. Philip Krafft war österreichischer Jude. Als die Nazis kamen, um seine Eltern zu holen, hielt er sich gerade bei Verwandten in der Steiermark auf. In der Sommerfrische. Er ging nicht nach Wien zurück. Irgendwie gelang es ihm, sich in die Schweiz durchzuschlagen und von dort nach England. Während der Kriegszeit arbeitete er bei der BBC als Sprecher für deutschsprachige Sendungen. Und danach erfuhr er, daß seine Eltern und Geschwister, aber auch alle Onkel und Tanten, die ganze Familie eben, im Gas umgekommen waren. Yvonne teilte das gleiche Schicksal mit ihm, nur wußte sie nicht, wo ihre Eltern ermordet wurden. So entstand die erste Bindung zwischen ihnen. Mit der Zeit lernte sie ihn immer besser kennen, und eines Tages wußte sie, daß sie ihn liebte. Inzwischen hatte sie ihr Studium beendet und arbeitete in einem Heim für elternlose Kinder. Nicht im eigenen, das hielt man nicht für richtig, für die erste Zeit zumindest nicht. Aber sie nahm Philip mit dorthin. Sie verbrachte noch viel freie Zeit in der vertrauten Umgebung. Sie zeigte ihm alles. Das Bett, in dem sie geschla49
fen hatte. Den Tagesraum und ihre erste Schulklasse. Und natürlich den Gemüsegarten. Er ging mit merkwürdig abwesendem Gesichtsausdruck umher, und sie konnte nicht genau erkennen, was er empfand. In jenen Stunden begriff sie, daß sie in ihren Kinderjahren sehr viel Glück gehabt hatte. Den wenigsten Leuten war es so gut ergangen wie ihr. Außerdem war er zwanzig Jahre älter, und so hatte er die Zeit der Verfolgungen anders erlebt. Er konnte nichts vergessen. Möglicherweise rührte die Düsterkeit, die von ihm ausging, von diesen Erlebnissen her. Damals glaubte sie noch, daß er sich allmählich verändern könnte, und sie fühlte sich stark genug, ihm dabei zu helfen. Mit den ersten eigenen Inszenierungen, noch in Paris, hatte er viel Erfolg. Er galt als moderner Regisseur und als eine der Hoffnungen für das Theater. Eines Tages erhielt er den Ruf, nach Österreich zu gehen. Es war keine Frage, daß sie mit ihm ging, und damit alles seine Ordnung bekam, heirateten sie kurz vorher. Alles schien also gut zu sein. Nur in einem irrte sie sich: sein pessimistisches Lebensgefühl verließ ihn nicht. Das schien ein unveränderlicher Teil von ihm zu sein. An seinem Arbeitsplatz, in der neuen Wiener Wohnung, stand die lädierte Fotografie seiner Eltern. Die hatte er in der Brieftasche, als er damals aus Österreich floh. Es war der einzige gerettete Besitz aus jener Zeit. Sie sprachen wenig über den Krieg, die Nazis und all das, was die über ihre Leute gebracht hatten. Er hatte es zwar versucht, aber bald gemerkt, daß sie kühl darauf reagierte. Das mußte ihn sehr enttäuscht haben. Der Einschnitt der Generationen ging wohl gerade durch sie hindurch. Es schien ihn aber auch zu desillusionieren, weil ihre Frische ihm nichts von der eigenen Jugendlichkeit zurückbrachte. Sie lebten zwar gut miteinander, aber ein Rest blieb. Und eines Tages verstand Yvonne plötzlich, weshalb sie sich einen so viel älteren Mann genommen 50
hatte. Tief in ihrem Inneren mußte es das Suchen nach dem eigenen Vater gewesen sein. So schloß sich der Kreis. Yvonne stand noch beim Fenster und sah auf das Fleet hinunter. Heute war kein schöner Tag. Es regnete zwar nicht, aber ein Dunstschleier lag über der Stadt, der tief herabreichte und ins Wasser eintauchte. Mr. Patters hatte Yvonne nicht in ihren Gedanken gestört. Er saß still an seinem Platz, rauchte mehrere Zigaretten und beobachtete die junge Frau. Es verging eine reichliche halbe Stunde, bis die alte Dame zurückkehrte. Als sie hereinkam, trug sie einen prall gefüllten, mit Schnüren umwickelten Schnellhefter bei sich. Den legte sie auf den Schreibtisch und löste die Bänder. Dann setzte sie sich. Sie warf einen entschuldigenden Blick auf den Engländer und auf Yvonne, die unverändert am Fenster stand. Dann begann sie zu lesen. Seite für Seite blätterte sie um, und das dauerte weitere zehn Minuten. Als sie endlich fertig war, klappte sie die Akte zusammen. In ihr lag eine Geschichte aufgezeichnet, von der sie nicht recht zu wissen schien, ob die ihr Ende gefunden hatte. Mehrere Minuten starrte die Frau vor sich hin, niemand sagte etwas. Dann sog sie Mr. Patters’ Zigarettenrauch ein und schnüffelte. Schließlich meinte sie mit einigem Widerstreben: „Geben Sie mir mal so ein Ding. Ich hab’s zwar schon vor Jahren aufgegeben, aber hin und wieder hat man ein Gelüst darauf.“ Der Engländer reichte ihr lächelnd Schachtel und Feuer, und sie begann zu rauchen. Das dauerte wieder einige Minuten. Yvonne hatte sich längst abgekehrt und starrte zum Fenster hinaus. Dann zerdrückte die alte Dame unwillig die halbgerauchte Zigarette im Ascher. In die Stille hinein, die schwer über dem Raum lastete, sagte sie: „Kommen Sie her, Mädchen! Es macht mich närrisch, wenn Sie dort beim Fenster stehen.“ 51
Yvonne kam zurück und setzte sich der alten Frau gegenüber. Die hatte ihre Hände über der Akte gefaltet und blickte Yvonne mit undurchdringlicher Miene an. Sie sagte: „Sie sind zum zweiten Mal in Hamburg, nicht wahr, das haben Sie mir vorhin erzählt.“ „Ja.“ „Nicht erzählt haben Sie mir allerdings, wie es Ihnen hier gefällt.“ Yvonne antwortete nicht, sie zuckte nur mit den Achseln. „Vielleicht sollten Sie ein paar Tage länger bleiben und versuchen, die Stadt kennenzulernen. Sie ist nämlich schön. Die Rosenaus kommen von hier, und wenn Sie zu diesen Leuten gehören, mein Kind, dann ist es die Stadt Ihrer Väter. Sehr oft sind die Städte nicht gut zu einem, und doch reichen unsere Wurzeln in sie hinein.“ „Die Städte sollen nicht gut sein?“ fragte Yvonne verwundert. „Sie meinen die Menschen?“ „Ja, ja“, erwiderte die alte Dame, „das alles zusammen meine ich. Die Rosenaus waren eine alteingesessene Familie hier. Mit so etwas wie Tradition. Nur David ist übriggeblieben – und nun auch Sie, vielleicht. Sie haben am Eppendorfer Marktplatz ein Juweliergeschäft gehabt. David, der gleich nach dem ersten Weltkrieg geboren wurde, hat das Geschäft früh von seinen Eltern übernommen, aber er hat es nicht lange geführt. Obwohl die Rosenaus in den ersten Nazijahren nicht viel auszustehen hatten. Bis die Kristallnacht kam. Sie wissen, was damals in Deutschland geschah?“ „Ja, ja!“ erwiderte Yvonne. „Als die Synagogen brannten und die SA-Schläger die jüdischen Geschäfte schleiften, sagte David sich, daß die Zeit gekommen sei. Er nahm seine Frau, er hatte nämlich jung geheiratet, wahrscheinlich konnte er es nicht erwarten, jedenfalls nahm er seine Esther und ging mit ihr nach Frankreich.“ 52
„Also doch!“ entfuhr es Mr. Patters. „Ja, soweit paßt alles zusammen“, bestätigte die alte Dame. „Im November neunzehnhundertachtunddreißig zogen David und Esther nach Paris. Bis dahin hatten sie, wie gesagt, nicht gerade üppig, aber doch mehr oder weniger unbehelligt in Hamburg gelebt. Die Vergangenheit von Davids Papa hatte das bewirkt. Der ist nämlich im ersten Weltkrieg ein berühmter Seeoffizier gewesen. Als Kommandant eines Kanonenbootes hat er in der Skagerrakschlacht einen heldenhaften Einsatz, wie es so hübsch heißt, gefahren. Dafür bekam er den Pour le mérite, so ein Ding, das die Helden um den Hals trugen. Als Deutschnationaler und ehemaliger Vaterlandsverteidiger fühlte er sich sicher, und so mochten die alten Rosenaus dem Sohn und der Schwiegertochter nicht in die Emigration folgen. Schließlich hat der Pour le mérite dem gedienten Seeoffizier aber nichts genützt, auf den Dank des Vaterlandes ist eben kein Verlaß. Im Jahre dreiundvierzig mußten er und seine Frau nach Auschwitz und ins Gas.“ Die alte Dame sagte es ganz nebenbei, wie selbstverständlich. Diese Geschichten waren das Brot ihrer frühen und späten Jahre gewesen. Und während die Menschen um sie her gedankenlos und leichtfertig zur Tagesordnung übergingen, konnte sie es nicht. Sie lebte mit den Schicksalen ihrer Leute, die sich in dem von ihr betreuten Archiv stapelten, weiter. Und die Akte Rosenau war nur eine unter Tausenden. „Was geschah mit David und seiner Frau?“ fragte der Engländer nach einer Weile. „Sie wohnten seit achtunddreißig ständig in Paris, und es ging ihnen gar nicht schlecht. Die Familie war ja vermögend gewesen, und die Leute hatten seit eh und je ein Konto in der Schweiz gehabt. Also keinerlei Not, wenn man vom Verlust der Heimat und der Trennung von den Eltern absieht. Aber dann kam der Krieg, und eines Tages marschierten die Deutschen auf Paris. Da wurde es na53
türlich brenzlig für David und Esther. Als deutsche Juden mußten sie mit sofortiger Deportation rechnen. Sie gingen in den Untergrund. Das ist in großen Städten immer möglich, besonders wenn man Geld hat. Damals wurde Frankreich in zwei Zonen aufgeteilt, eine wurde von deutschen Truppen besetzt, die andere nicht.“ Die alte Dame sah Yvonne fragend an. „Sie müßten es im Geschichtsunterricht gelernt haben. Haben Sie?“ „Natürlich.“ „Na ja, dann haben Sie vielleicht auch erfahren, daß viele Emigranten versuchten, in die unbesetzte Zone zu entkommen. Manchen gelang es, so auch David mit seiner Frau. Viele Flüchtlinge hockten damals in Marseille und warteten auf die Gelegenheit, eines der Schiffe nach Übersee zu besteigen. Dazu brauchte man Geld, um die Passage zu bezahlen. Geld hatten David und Esther, aber man brauchte auch ein Affidavit, damit man in das Gastland hineinkam. Das war so eine Genehmigung, in der jemand im neuen Land für den Flüchtling gutsagte. Natürlich sollten die Leute den Behörden nicht zur Last fallen. Na, dieses Affidavit bekamen die Rosenaus schließlich von einem Freund, und eines Tages bestiegen sie ein Schiff in Richtung Brasilien. Der Dampfer kam wohlbehalten an, was wegen der deutschen U-Boote auf dem Atlantik auch eine Unsicherheit war. David, der Werte mit hinübergerettet hatte, beteiligte sich an Wirtschaftsunternehmen, und mit den Jahren wurde er ein reicher Mann. Und Esther? Ja, die kam im Jahre vierundvierzig bei einem Jagdunfall ums Leben. David hat nicht wieder geheiratet.“ Die alte Dame war am Ende ihres Berichts angelangt. Aber da blieb ein Rest, ein ziemlich großer sogar. Sie merkte es an den Gesichtern ihrer Besucher, und sie selbst schien auch alles andere als zufrieden zu sein. „Das steht alles darin?“ Archie Patters deutete auf den Aktendeckel unter ihren gefalteten Händen. 54
„Ja, ja“, erwiderte sie. „Als David im Jahre einundsechzig zu uns kam, es war doch nach der Flutkatastrophe, und einen Antrag auf Wiedergutmachung stellte, hat er uns alles erzählt. Und wir haben es aufgeschrieben. Die Abfindungssumme ist übrigens hoch gewesen, aber schließlich hatte die Familie Rosenau viel an Vermögenswerten verloren.“ Die alte Dame schwieg. Die eine Frage, die bisher nicht berührt wurde, lastete schwer über dem Raum. Schließlich stellte sie der Engländer. „Und das kleine Mädchen, das die Rosenaus in Paris zurücklassen mußten? Was ist mit dem?“ Die alte Dame erwiderte knapp: „Von einer Tochter ist keine Rede! Der Name Yvonne taucht in diesen Unterlagen nicht auf.“ Das Juweliergeschäft am Eppendorfer Marktplatz hatte Schaufenster und Türen aus metallgefaßten Rahmen. Auch die Fassade des Hauses wurde nach dem Krieg renoviert, sie erstrahlte in sauberem Glanz. Auf den früheren Besitzer von Haus und Laden deutete nichts. Schon seit einer Weile standen Archie Patters und Yvonne vor den Auslagen. Es war um die Mittagszeit, und in dem Geschäft hielt sich kein Kunde auf. Schließlich gingen sie hinein. Der Laden war nicht allzu groß. Flauschige Auslegware reichte bis in die entfernten Winkel. Darauf standen Hocker vor den Verkaufstischen. In den Schaukästen ruhten unter Glasplatten nur wenige Stücke auf samtenen Unterlagen. Lampen an Schnüren reichten herab bis knapp über die Tische. Sie hatten starke Birnen und vertrieben das Tageslicht aus dem Geschäft. Mr. Patters geleitete Yvonne zu einem Hocker, zog sich einen zweiten heran und setzte sich ebenfalls. Ein älterer Verkäufer, vielleicht der Besitzer, kam lächelnd näher. Archie Patters sagte: „Sie haben da einen netten klei55
nen Anhänger im Schaufenster. Kreisrund und mit seltsamen Zeichen darauf. Vielleicht Schriftzeichen?“ „Sie meinen den Mayakalender?“ „Wahrscheinlich den.“ „Der ist wirklich recht hübsch, ich hol’ ihn mal eben.“ Yvonne schaute Mr. Patters verblüfft an, denn zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, hörte sie ihn englisch sprechen. Und der Verkäufer erwiderte es fließend. Er brachte den Anhänger und legte ihn vor sie auf ein Tablett nieder. Er hatte die Größe eines mittleren Geldstücks. Die Platte war aus Silber gearbeitet, und in einzelnen Segmenten befanden sich jene merkwürdigen Zeichen. „Es soll eine Art Souvenir sein“, meinte Archie Patters. „Eine Erinnerung an Ihre Stadt. Das heißt, wenn es meiner Begleiterin gefällt.“ Yvonne antwortete nicht. „Sind Sie zum ersten Mal in Deutschland?“ „So kann man sagen! Denn das letzte Mal, ich weiß nicht recht, ob das noch zählt. Es war zur Olympiade.“ „Aber das ist doch nicht lange her.“ „Nicht die von München! Die andere, meine ich, die von sechsunddreißig in Berlin.“ Über dem Gesicht des Verkäufers breitete sich Lächeln aus. „Ja, damals waren wir noch jung!“ „Auf der Rückfahrt von Berlin kam ich nach Hamburg, und ob Sie es glauben oder nicht, ich kam sogar in diesen Laden.“ Der Engländer sah sich um, als ob er sich besinnen müßte. „Aber damals sah es hier anders aus.“ „So wie wir auch! Es ist, lassen Sie mich rechnen, ja, es ist genau fünfunddreißig Jahre her.“ „Waren Sie damals schon hier?“ „Nein.“ „Sind Sie der jetzige Besitzer?“ Der Mann lächelte. „Ich bin eine Verkaufskraft, Sir!“ 56
Archie Patters schien sich immer besser zu erinnern. „Auch der Name über dem Geschäft war ein anderer. Er hatte, glaub’ ich, etwas mit Rosen zu tun.“ Das Lächeln des Mannes blieb unverbindlich. „Sie erinnern sich aber gut, Sir!“ „Ja“, meinte Archie versonnen und blickte sich wieder um. „Damals standen hier überall Rosen, langstielige in Bodenvasen und Teerosen auf den Tischen. Der Besitzer sagte mir damals, dies sei seine Rosenaue, und so hieß er auch – Rosenau! Ich habe mich lange mit ihm unterhalten, ein freundlicher alter Herr, älter als wir beide heute. Ich glaub’, er war Jude.“ „Möglich“, erwiderte der Mann gleichgültig. „Der jetzige Besitzer heißt Steinkopf.“ „Sie haben den alten Herrn nicht zufällig noch gekannt?“ „Nein, Sir! Ich kam erst nach dem Krieg her, Anfang der Fünfziger, um präzis zu sein, als es mit Deutschland wieder nach oben ging.“ „Na ja“, meinte Archie, „es ist ja auch nicht so wichtig.“ „Nein, Sir, das ist es sicher nicht!“ Sie gingen zu Fuß zu ihrer Pension zurück. Es war ein ziemlicher Weg, den Patters sich von dem Mann hatte erklären lassen, aber Yvonne wollte kein Taxi. Sie gingen den Leinpfad hinunter, der entlang der Alster verläuft. Die war hier nicht breiter als die anderen Kanäle in der Stadt. Erst einige hundert Meter weiter ergoß sie sich in das mächtige Becken der Außenalster. Den Anhänger hatte Patters schließlich einpacken lassen, und da ihn Yvonne nicht nehmen wollte, hatte er ihn in die eigene Tasche gesteckt. „Waren Sie damals zur Olympiade in Berlin?“ fragte Yvonne, nachdem sie eine Weile gelaufen waren. „Natürlich nicht, wo denken Sie hin?“ „Es klang ziemlich zwingend, was Sie über die Rosen erzählten. Sie scheinen eine reiche Phantasie zu haben.“ 57
„O ja!“ Archie Patters lächelte. „Und ich glaube, der Mann im Laden hat sie auch.“ „Wieso?“ „Nun, ich könnte mir denken, daß er sehr wohl der Besitzer ist!“ Sie liefen einige Minuten schweigend, dann sagte Yvonne: „Wir hätten nicht hingehen sollen!“ „Sie müssen die Dinge nüchterner sehen“, antwortete Archie Patters. „Der kleine Anhänger kann ja nichts dafür.“ „Das meine ich nicht.“ „Ich weiß schon, was Sie meinen. Aber was glaubten Sie denn zu finden? Etwas von der Atmosphäre einer früheren Zeit? Die Vergangenheit ist tot, meine Freundin, sie starb mit den Leuten von damals.“ „Wer bekam jenen Besitz, den man den Juden raubte?“ „Parteigänger der Nazis natürlich, die kauften ihn für ein Butterbrot. Ich glaube, man nannte es Arisierung.“ Sie hatten etwa eine halbe Stunde zu marschieren, bis sie in die Pension zurückkamen. Auf dem Flur vor den Zimmern trennten sie sich. Eine Weile lang stand Yvonne mitten im Raum. Das Bett war gemacht, ihr Koffer befand sich auf der Gepäckablage. Alle Reiseutensilien lagen über das Zimmer verstreut, denn Yvonne war nicht besonders ordentlich. Das Stubenmädchen hatte zwar saubergemacht, aber die persönlichen Dinge so gelassen. Yvonne mußte plötzlich lächeln, weil sie an Philip dachte. Ihre Unordnung war einer der heißesten Streitpunkte ihrer Ehe gewesen. Um unwesentliche Dinge streitet man ja besonders laut. Sie wußte nicht recht, was sie jetzt anfangen sollte, und da es sich um einen Entschluß handelte, der leicht zu fassen war, ging sie erst einmal unter die Dusche. Während sie sich später frottierte, wanderten ihre Gedanken über die Alster in die Innenstadt bis zu jenem 58
Geschäftshaus, wo die alte Dame in dem Büro saß. Die Frau hatte ihr gefallen. Bei aller gedanklichen Schärfe hatte sie auch Mütterlichkeit gespürt. Dazu fühlte sie sich hingezogen, und ein bißchen wehmütig dachte sie daran, wieviel von solcher Empfindungsfähigkeit in ihr selbst brachlag. Die alte Dame erinnerte sich aber auch an die Frauen, die sie von der Gemeinde in Paris her kannte. Sie gehörte zu ihren Leuten. Yvonne machte ein paar Schritte vor dem Spiegel, blickte über den Rücken auf ihren Hintern. Sie ertappte sich dabei, daß sie den Gang der alten Dame nachahmte. Trotz ihrer Fülle hatte viel Musikalität in deren Bewegungen gelegen; die konnte sie an sich nicht entdecken und war ein bißchen enttäuscht. Während sie sich mit raschen und zielstrebigen Bewegungen anzog, kam sie zu einem Entschluß. Als es kurze Zeit später an der Tür klopfte und Archie Patters hereinkam, stand sie erneut vor dem Spiegel und kämmte sich. Der Engländer ging langsam durch den Raum, sah auf die verstreuten Gegenstände, stieg über das Badetuch am Boden, räumte Bücher, Zeitungen und ein aufgeklapptes Necessaire von einem Sessel und setzte sich. Yvonne beobachtete ihn durch den Spiegel. „Mir ist etwas eingefallen“, sagte Archie Patters. Yvonne fragte nicht, was. Der Engländer fuhr fort: „Bei dem Anwalt kam ja zum ersten Mal jene Hilfsorganisation zur Sprache, der David Rosenau sein Geld hinterläßt. Sie erinnern sich doch?“ „Ja“, meinte Yvonne gleichgültig. „Heute ließ nun die Dame im Wiedergutmachungsbüro anklingen, ob es nicht zwischen dem Unfall und unserem Erscheinen in der Stadt einen Zusammenhang geben könne. Sie hielten das nicht für möglich.“ „Nein.“ „Allen Ernstes nicht?“ „Ich hab’ nicht darüber nachgedacht.“ 59
„Dann tun Sie es doch mal!“ Yvonne stand mit ihrer Zigarette am Fenster und sah hinaus. Es hatte aufgeklart, und nun lag Sonne über dem Park und brachte die herbstlichen Blätter zum Leuchten. Yvonne schwieg sich gründlich aus. „Diese Hilfsorganisation“, sagte der Engländer nach einer Weile, „hat sich jahrelang an dem Gedanken gewärmt, David zu beerben. Und dann kommen plötzlich Sie und wollen seine Tochter sein. Das paßt den Leuten nicht, könnten Sie das nicht verstehen? Unter diesem Aspekt sollten wir den Unfall sehen.“ Yvonne antwortete nicht darauf, auch der Engländer sprach nicht weiter, und so ließen sie den Gedanken im Raum hängen. Dann ging Yvonne zum Schrank, der offenstand, holte Unterwäsche, ein zweites Kleid und ein Paar Schuhe hervor und schmiß alles in den Koffer. Etwas hilflos schob sie die Sachen hin und her, aber das machte noch keine Ordnung. Schließlich gab sie es auf und trat einen Schritt zurück. Archie Patters lächelte. „Was tun Sie da überhaupt?“ „Sie sehen wohl, daß ich zusammenpacke.“ „Und warum?“ „Ich geh’ nach Wien zurück!“ Yvonne klappte den Deckel herunter, stopfte Kleiderenden und Wäschestücke, die über den Rand hingen, in den Koffer hinein, und bekam tatsächlich die Schlösser zu. „Ich glaub’s nämlich nicht“, sagte sie, „daß ich etwas mit dem Hamburger David Rosenau zu tun habe. Das versuchte ich Ihnen schon bei unseren Gesprächen in Wien zu erklären. Und diese Akte im Wiedergutmachungsbüro gibt mir so etwas wie eine Bestätigung!“ Sie wurde unsicher unter Archie Patters Blick und begann im Zimmer hin und her zu gehen. „Die Juweliere Rosenau müssen nach meinem Verständnis eine intakte Familie gewesen sein. Viel geordnete Bürgerlichkeit, die alte Dame sprach von Tradition, vielleicht erinnern Sie sich. Da60
vid und Esther emigrieren nach Frankreich, während die alten Leute in der Stadt zurückblieben. Ich nehme es hin, wenn es mich auch wundert. Aber wir Nachgeborenen haben es ja immer leicht, uns über den Unverstand der Väter zu mokieren. David und Esther gehen also nach Paris, und sie bringt dort eines Tages ein Kind zur Welt. Hier beginnt schon mein Mangel an Verständnis, denn ich weiß nicht recht, ob man in solchen Zeiten überhaupt Kinder kriegen sollte. Nun werden aber die beiden nicht etwa von der SS gefaßt, wie wir immer gedacht haben. Nein, sie können fliehen. Sie gelangen in die unbesetzte Zone und lassen ihr kleines Kind in Reichweite der Deutschen zurück? Nein, Mister Patters, das kann ich mir einfach nicht vorstellen!“ Sie blieb vor dem Engländer stehen und sah ihm ins Gesicht. „Und nun kommt der Gipfel des Unmöglichen! David überlebt das Grauen, kehrt sogar nach hier zurück, ins Land der Mörder! Na, damit muß er fertig werden, ich nicht. Aber während der ganzen Zeit fragte er nicht ein einziges Mal nach seiner Tochter?“ Der Engländer erwiderte nichts. „Man mag uns Juden manches nachsagen, nur eines nicht!“ „Und was?“ „Wir hätten keinen Familiensinn. Wir haben ihn, sehr ausgeprägt sogar!“ Und da sie ihn lächeln sah, fragte sie aggressiv: „Sie glauben mir nicht, Mister Patters?“ „Aber ja, Yvonne!“ Sie griff hastig nach der Zigarette, die er ihr reichte, und zündete sie an. Dann nahm sie ihre Wanderung wieder auf. „Dieser Familiensinn ist aus unserer Geschichte erwachsen. Für Leute, die seit Jahrhunderten verfolgt werden, ist die Familie ein Refugium. Und die Kinder sind die einzige Hoffnung aufs Überleben. Denn die Art muß erhalten bleiben. Schauen Sie in die Natur, Mister Patters, dort ist es ebenso. Nein, nein! Diese Rosenaus waren niemals meine Eltern!“ 61
Sie schwieg. Nach einer langen Pause sagte der Engländer: „Haben Sie den Unfall vergessen, Yvonne? Das soll also nur ein Zufall sein, daß der gerade in dem Augenblick geschieht, als Sie nach Hamburg kommen?“ „Es ist mir egal“, antwortete Yvonne. „Natürlich tut mir der Mann leid im Krankenhaus, aber eines weiß ich: Mein Vater ist das nicht.“ „Er heißt Rosenau, genau wie Sie!“ Yvonne schüttelte den Kopf. „Was will das schon besagen. Als Sie heute morgen mit der Klinik telefonierten, habe ich mir die Mühe gemacht, im Hamburger Telefonbuch zu blättern. Der Name Rosenau taucht sechzehnmal auf. Es ist also kein ungebräuchlicher Name. Und niemand weiß mit letzter Sicherheit, ob ich wirklich Rosenau heiße. Meine Eltern, die mich im Kinderheim ablieferten, taten es in einem fremden Land. Es kann ein Schreibfehler unterlaufen sein, und da genügt ja eine Silbe. Statt Rosenau vielleicht Rosenbauer. Oder so ähnlich. In diesem Telefonbuch stehen Hunderte, die alle etwas mit Rosen zu tun haben. Da gibt es Bäche, Berge, Täler, Bäume, Felder, die alle Rosen vorneweg haben. Es gibt sogar den Namen Rosenkugel, was doch ein echter Schwachsinn ist. Das geht so über elf Spalten, ich habe sie gezählt. Hunderte von Namen, wie gesagt. Und ebenso wird es in anderen deutschen Städten sein. Niemand weiß doch wirklich, aus welcher Gegend meine Eltern kamen. Nein, nein, es ist ganz sinnlos, krampfhaft nach einer Verbindung zu suchen, wo keine vorhanden ist. Und deshalb will ich nach Wien zurück.“ Archie Patters sagte: „Es gibt noch eine ganz andere Möglichkeit!“ Aber sie hörte ihn nicht und fuhr fort: „In Wien wartet Arbeit auf mich. Unentwegt denke ich an meine Kinder dort, ich will sie nicht länger vernachlässigen.“ Der Engländer lächelte bei dem Gedanken, daß sie die 62
Drogenabhängigen für ihre Kinder ansah. Dann wiederholte er: „Es gibt noch eine andere Möglichkeit.“ Endlich hörte sie auf ihn. „Und welche?“ Archie druckste herum, offensichtlich fiel es ihm schwer, den richtigen Anfang zu finden. „Welche, Mister Patters?“ Der Engländer lächelte schief. „Sie ist vielleicht etwas unorthodox. Sie selbst, Yvonne, mögen Sie sogar für ungeheuerlich, halten.“ „Sagen Sie es schon!“ „Um es Ihnen plausibel zu machen, müßten Sie mir nach London folgen.“ Yvonne stieß schnaubend Luft aus. „Ganz undenkbar, Mister Patters!“ „Waren Sie mal dort?“ „Nein.“ „Na, sehen Sie! Sie haben mir so freundlich Wien gezeigt. Jetzt sind wir in dieser Stadt, in die vielleicht Ihre Wurzeln reichen, wie sich die alte Dame ausdrückte. Nun möchte ich Ihnen gern London zeigen, es ist eine hübsche, kleine Stadt!“ „Es ist ganz ausgeschlossen, Patters! Keine Stunde länger schwänze ich meine Arbeit.“ „Aber Sie haben sich acht Tage von Ihrem Jahresurlaub genommen, Sie härten also sehr wohl noch in paar Tage. Und wer weiß, vielleicht sind die Leute in Wien ganz froh, ihren Zerberus mal für eine Weile los zu sein.“ Sie grinsten beide, aber in Yvonnes Augen schien auch eine Frage zu liegen. Vielleicht überlegte sie, inwieweit es dem Engländer um die Sache ging oder lediglich um ihre Person. Der Ton, in dem sie miteinander sprachen, war mittlerweile recht intim geworden. Möglicherweise wollte er sie nach London mitnehmen, weil er sich ein paar unterhaltsame Tage erhoffte? Wer kannte sich schon aus in den Männern, sie jedenfalls nicht. Da hatte es neben Philip nicht viele andere gegeben. 63
„Wir könnten mal runtergehen in die Restauration und den Tee nehmen“, meinte er schließlich, weil sie gar nichts sagte. „Von mir aus auch Kaffee, wie Sie das von Wien her kennen.“ „Ich will jetzt keinen Kaffee“, sagte sie. Archie Patters lächelte. „Was wollen Sie dann, Yvonne?“ „Sie sollen mit mir über die andere Möglichkeit sprechen! Und ich sage Ihnen gleich, es müssen gewichtige Gründe sein, wenn ich Ihnen nach London folgen soll.“ Archie Patters zuckte gelassen die Achseln. „Also gut, ich will es mal so sagen! Ich habe auch daran gedacht, daß jener Kranke nicht Ihr Vater ist.“ „Na, was wollen Sie dann eigentlich? Das ist doch meine Rede die ganze Zeit!“ „Stopp, Yvonne, nicht so schnell! Jener David Rosenau, der achtunddreißig Deutschland verließ und dessen Ehefrau im Jahre einundvierzig in Paris ein Kind zur Welt brachte, ist schon Ihr Vater, da bin ich seit unserem Besuch im Wiedergutmachungsbüro sicher. Denn so viele Rosenaus, oder wie sie auch alle geheißen haben mögen, auf die jene Daten passen, kann es gar nicht geben. Und weshalb in jenen Unterlagen Ihr Name nicht auftaucht, das hätte eben einen anderen Grund.“ „Und welchen?“ „Es käme daher, weil jener Mann in der Klinik nicht Ihr Vater ist.“ „Und wer sonst sollte es sein?“ „Einer, der irgendwann einmal in die Figur des David Rosenau geschlüpft ist. Einer, der skrupellos genug ist, diese Rolle immer weiterzuspielen. Ein Verbrecher also!“
64
5. Genaugenommen war es der eigene Vater, der ihn den Nationalsozialisten in die Arme trieb. Und das geschah so! Eines Tages kehrte er von einer Reise aus Südamerika zurück, und der Junge mußte das Cello aus der Ecke holen und vorspielen. Der Vater stand auf dem Balkon, während er sich mit dem Instrument abquälte. Es gelang ihm nichts an diesem Tag, nicht die einfachsten Griffe gelangen, nicht die lächerlichsten Passagen. Der Vater sagte zunächst nichts. Er nahm den Sohn und ging mit ihm zum Musiklehrer Kaufmann. Wieder marschierten sie schweigend die Straße hinauf in jenen Teil, wo die Häuser viel verfallener wirkten. Es war ein ähnliches Bild, wie es der Mann in seinem Bett schon einmal gesehen hatte, nur fuhren diesmal mehr Autos auf dem Fahrdamm. Es ging ja wieder aufwärts mit Deutschland. Und noch etwas war anders. Zu diesem Zeitpunkt mußte der Junge das Violoncello bereits selber tragen. Der Musiklehrer Kaufmann war noch immer derselbe freundliche und ein wenig mitleidige Herr. Er machte viele Ausflüchte, was jedoch nichts half. Schließlich mußte er mit der Wahrheit heraus, und er fragte, ob es denn niemanden gäbe, der den Jungen beim Üben beaufsichtige? Nein, den gab es nicht! Der Vater fuhr schon wieder lange zur See, kam nur hin und wieder nach Hause. Eigentlich hätten es fröhliche Tage sein können, denn der Vater lud abenteuerliche Dinge ab. Kisten mit Apfelsinen. Bananenstauden. In Leinwandsäckchen befand sich Rohkaffee. Der wurde in eine rauchgeschwärzte schwarze Trommel getan und über Feuer geröstet, wobei ein köstliches Aroma durch das ganze Haus zog. Auf dem Küchentisch lagen Dutzende von Hühnern und Enten, deren Bäuche zusätzlich mit Geflügelleber vollgestopft waren. 65
Einer jener dreirädrigen Tempolieferwagen mußte angemietet werden, damit die Dinge transportiert werden konnten. Die Mutter stand jedesmal hilflos inmitten des Warenlagers und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. In vielen Dingen war der Vater maßlos. Er konnte nicht verstehen, daß nicht alle Leute zu einer Mahlzeit eine Ente aufaßen. Es wurden auch bunte Stoffe ausgepackt, Kleider und Blusen in seltener Farbenpracht. Schuhe aus geflochtenen Lederriemen, wie die Brasilianer sie trugen. Ein Hauch von Abenteuer und Exotik zog in die kleine Wohnung ein. Es hätten heitere Tage werden können. Wenn nur nicht dieses schreckliche Cellospiel gewesen wäre. Die Mutter hatte längst ihren Laden geöffnet. Die Leute besaßen wieder Geld, um sich die Dinge dort zu kaufen. Aber um was es sich dabei handelte, wußte der Mann in seinem Bett noch immer nicht. Er erinnerte sich nur, daß er jeden Mittag nach der Schule in dem Geschäft auftauchte und herumstand, bis ihn die Mutter sanft zur Ladentür hinausschob und über die Straße schickte, wo ihre Wohnung lag. Dort strich er eine Weile um das Cello herum, aber meistens rührte er es nicht an. Wenn das Ding nur ein Klavier hätte sein können, dachte er. Oft stand er auf dem Balkon und sah den anderen Kindern beim Spielen zu, und manchmal ging er auch in den Hof, um mitzumachen. Aber diese Versuche scheiterten kläglich. Er spürte, daß er ein Einzelgänger war, und fand sich damit ab. Die größte Freude waren seine Bücher, besonders liebte er Reiseschriftsteller. Noch immer wollte er später auch so ein Leben führen, er wollte nach Übersee. Die Katastrophe kam, als sie vom Musiklehrer Kaufmann nach Hause zurückkehrten. Der Vater schlug ihn brutal zusammen. Als er bereits am Boden lag, tobte der Mann immer weiter, schimpfte den Jungen einen Feig66
ling und Schwächling, der es zu nichts bringen würde. Darauf ging er aus der Wohnung und schmiß die Tür hinter sich zu, daß das Haus erzitterte. Der Junge lag lange auf dem Linoleum im Korridor; er spürte, wie sich der Schmerz in seinem Körper ausbreitete. Endlich konnte er sich aufraffen, kroch auf allen vieren in sein Zimmer, zog sich am Bettpfosten hoch und ließ sich auf die Kissen fallen. In ihm war nur ein Gedanke. Er wollte sich an dem Vater rächen! Inzwischen wußte der Mann, daß er nicht sterben würde. Er fühlte keine Erleichterung deswegen, eher so etwas wie Entmutigung. Bei aller Unwissenheit ahnte er dunkel, daß sich das Leben für ihn nicht richtig gelohnt hatte. Und so wäre es vielleicht nicht schlecht gewesen, sich auf die Art daraus fortzustehlen. Immerhin mußte er ein ziemlich bedeutender Mann sein. Sein klarer werdender Blick wanderte durch den Raum. Er lag allein. Dies hier war sicher eine teure Privatklinik; denn staatliche Krankenhäuser boten nicht den Luxus von Kühlschrank und Fernseher und Telefon am Krankenbett. Und Auslegware auf dem Boden und lichtblaue Vorhänge an den Fenstern. Wodurch hatte er sich den Reichtum erworben? Er wußte es nicht. Sosehr er grübelte, die Kenntnis darüber befand sich in einem Raum mit einer festverriegelten Tür. Der Tresor einer Bank konnte nicht gesicherter sein. Er hatte kaum eine Gegenwart und gar keine Vergangenheit; nur die ganz frühe, aber die zählte ja nicht. Die Reinheit und Sauberkeit der Kinderseele! Diese verzauberte Welt, in der es das Böse nur im Märchen gibt. Aber was kam dann? Was für ein Mensch war er? Der Mann hatte schon seit Tagen zu dieser Art von Bewußtsein zurückgefunden. Außer dem Kopfschmerz, der immer wieder auftauchte, hatte er kaum Schmerzen. Die Nase fühlte sich noch geschwollen an, aber sie tat 67
nicht mehr weh. In seinem Bein, das im Streck hing, spürte er überhaupt nichts. Stundenlang lag er im Bett und starrte darauf. Der Knöchel war mit Leukoplast umwickelt, und von dort führten Stricke zu einer Art Gerüst. Das Ding hatte verfluchte Ähnlichkeit mit einem Galgen. Diese Vorstellung war so zwingend, daß sie eine andere hervorrief. Die Assoziation hatte was mit toten Menschen zu tun. Aber in welcher Beziehung stand er zu ihnen? Sie tauchten auch nachts in seinen Träumen auf, grauenhafte Szenen. Sie waren so erdrückend, daß er schreiend aufwachte. Dann saß er schweißgebadet da und starrte ins Dunkel des Zimmers, das nur schwach von einer Nachtlampe erhellt wurde. Und wie Wasser aus einem Becken läuft und gurgelnd im Abfluß verrinnt, verschwanden die Bilder in seinem Unterbewußtsein. Zurück blieb etwas Dumpfes, nur Geahntes. Diese Erinnerungen mußten noch einige Stockwerke tiefer in ihm ruhen. Eines Tages würden sie emporsteigen und die Tür aufstoßen, und dann würde er wissen, wer er war. Immer mehr begann er diesen Tag zu fürchten. „Sie dürfen nicht soviel nachdenken, Herr Rosenau“, sagte der Wärter. „Tue ich das denn?“ Der Mann konnte schon seit einiger Zeit zusammenhängend reden. „Aber ja! Man sieht es Ihnen an.“ Der Wärter war ein junger Mann von Mitte Dreißig, ein stämmiger, bulliger Typ. Der junge Mann kam interessiert näher. „Stimmt es, daß Sie alles vergessen haben?“ „Ja.“ „Und in Ihrem Kopf ist – nichts?“ Der Mann lächelte. „O doch! Die ganze Kindheit zum Beispiel.“ Der Pfleger stand am Fußende des Bettes und blickte Rosenau interessiert an. „Und war sie schön, die Kindheit?“ 68
„Ja, natürlich.“ Der Mann dachte an den Korridor der kleinen Wohnung, der mit Linoleum ausgelegt war. Und er sah sich darauf liegen. Er lächelte. „Außerdem sieht man die Dinge im Alter etwas anders.“ Der Pfleger sagte nachdenklich: „Es muß herrlich sein, wenn man mal alles vergessen kann und nur die Jugend übrigbleibt.“ „Nun, in Ihrem Leben, Herr … Wie heißen Sie eigentlich?“ „Sagen Sie Heinz zu mir!“ „Nun, Herr Heinz …“ „Einfach Heinz, Herr Rosenau, das ist mein Vorname.“ „Also gut, Heinz! Ich denke mir, in Ihrem Leben wird nicht allzuviel Böses passiert sein.“ „Trübes, das man gern vergessen möchte, gibt es in jedem Leben!“ Der Pfleger entstaubte den Nachttisch. Dann nahm er die Blumen und gab ihnen frisches Wasser. Es stand immer eine Vase neben dem Bett, und es waren immer Rosen darin. Vielleicht, weil er Rosenau hieß? Trotz des verstärkten Kopfschmerzes lächelte der Mann. „Wo wohne ich eigentlich, Heinz? Ich meine, wenn ich mir gerade nicht den Kopf aufgeschlagen habe und in einer Klinik liege? Wissen Sie das?“ „Aber natürlich, Herr Rosenau! Es ist auf dieser Straße, nur ein paar Grundstücke weiter. Deshalb waren wir ja auch gleich zur Stelle, ein Glück für Sie! Es geschah am späten Abend, und hier in der Klinik war kaum noch einer. Außer dem Professor, der ist ja immer da, und ich. So nahm er mich mit. Es war kein schöner Anblick, wie Sie unten an der Treppe lagen.“ Der Kranke horchte auf das pochende Blut in den Schläfen. Dann wanderte sein Blick zur offenen Tür, in der die Assistenzärztin stand. Sie hatte die letzten Sätze mit angehört. 69
„Sie sollen nicht soviel reden, Herr Müller. Sie müßten wissen, daß es den Patienten anstrengt.“ Der Pfleger antwortete nicht. Er ging zur Tür, und da ihm die Ärztin den Rücken zukehrte, tippte er sich gegen die Stirn. Dann verließ er grinsend das Zimmer. Die Ärztin war jung, noch unter Dreißig. Ein hübsches blondes Ding mit blühender Gesichtsfarbe. Viel hatte das Leben da noch nicht hineingemalt, wenig Kummer und noch weniger Erfahrung. Vielleicht gab sie sich deshalb besonders streng. „Stand es wirklich so schlimm mit mir?“ fragte der Mann. Die junge Frau setzte sich zu ihm und nahm den Puls. „Wir sind mit dem Verlauf zufrieden, Herr Rosenau, und Sie können es auch sein.“ „Aber ich erinnere mich an nichts.“ „Ein Durchgangsstadium, das vergehen wird. Normal bei einer Contusio.“ „Contusio? – Was soll das sein?“ „So nennt man das, was Sie erleiden mußten.“ Sie sah ihn so streng an, daß er trotz der Kopfschmerzen lachen mußte. „Was ist so lustig, Herr Rosenau?“ „Meine Güte, ich weiß nicht einmal, wie alt ich bin. Aber ich nehme trotzdem an, daß Sie bequem meine Tochter sein könnten, Mädchen!“ Das verwirrte sie. Sie griff nach dem Stethoskop um ihren Hals, ging mit der flachen Scheibe unter sein Pyjama und drückte ihm die Membrane gegen die Brust. In der Höhe seines Herzens. „Könnten Sie es nicht sein?“ fragte er. „Was?“ „Meine Tochter? Ich meine, was das Alter angeht.“ „Reden Sie nicht, Herr Rosenau, ich höre sonst nichts.“ Er schwieg also, und sie beendete die Untersuchung. Sie zog die Hörer aus den Ohren, ließ sie auf die Schultern gleiten. Sekundenlang saß sie schweigend da und 70
schien über etwas nachzudenken. Irgend etwas mußte ihr an seinen Herztönen nicht gefallen haben. Soweit war sie also noch nicht, das junge Ding, sie hatte noch nicht gelernt, ihre Gedanken zu verbergen. „Außerdem lassen die Kopfschmerzen nicht nach“, begann er zu nörgeln. Sie antwortete kurz angebunden: „Dafür bekommen Sie Ihre Medizin.“ „Aber die hilft nicht! Oder nur kurz! Auch die Spritze, die Sie mir abends geben, taugt nichts. Ich soll schlafen danach, aber es ist ein flacher, merkwürdiger Schlaf …“ Er stockte, weil er an die wirren Träume dachte. Sie ging darauf nicht ein, reichte ihm zwei Tabletten und ließ Wasser nachtrinken. Dann wandte sie den Blick zum Fußende. Eine Weile blickten sie beide schweigend auf das gebrochene Bein, das aufgehängt schwebte. „Und was ist mit Ihrem Oberschenkel?“ fragte sie schließlich. „Lächerlich! Dort hat es niemals weh getan.“ Sie erhob sich. „Wir sind mit dem Krankheitsbild zufrieden, Herr Rosenau. Und wenn wir es sind, sollten Sie es auch sein.“ Damit ging sie hinaus. Sie lächelte nicht dabei, und sie sagte auch nicht auf Wiedersehen. Der Mann schaute ihr nach und wußte nicht recht, ob sie über ihn und seine Krankheit wirklich so beglückt war. Er legte sich zurück und starrte zur Decke hinauf. Die Tabletten begannen bereits zu wirken. Der Kopfschmerz ließ nach. Es stimmte schon, was er dem Pfleger Heinz Müller vorhin gesagt hatte: In reiferen Jahren sieht man die Dinge aus der Kindheit in einem anderen Licht. Und je länger er darüber nachdachte, desto besser begriff er seinen Vater. Der hatte wohl nur etwas aus ihm machen wollen. Er sollte erreichen, was ihm selbst verschlossen geblieben war. Als kleiner Junge hatte er die Einsicht aller71
dings nicht. Besonders an jenem Tag nicht, als er auf dem Linoleum im Korridor lag. Damals war nur ein Gedanke in ihm – der Gedanke an Rache. Und eines Tages fand er heraus, wie er es dem Vater heimzahlen konnte. Als er von seiner nächsten Reise zurückkehrte, überraschte er ihn mit einer Nachricht. „Er hätte endlich erreicht“, sagte er, „was er sich immer gewünscht habe: Er sei in die Segelflieger-HJ aufgenommen worden.“ Das war eine Eliteeinheit der Hitlerjugend, und die nahmen keine, die schwach und feige waren. Auch keine Versager! Es wurden keine schönen Tage mit dem Vater. Zwar hielt auch diesmal der dreirädrige Tempolieferwagen vor der Tür, und Kisten mit Apfelsinen und Bananen wurden abgeladen. Säcke mit Kaffee und vollgestopftem Geflügel. Aber diesmal lachte der Vater nicht über das entsetzte Gesicht der Mutter. Mißmutig stampfte er durch das Warenlager, und als sie ihn aufforderte, sich eine Schürze umzubinden und ihr zu helfen, erwiderte er nur, sie solle ihren Scheiß alleine machen. Darauf nahm er seine Jacke, schmiß die Wohnungstür zu und marschierte in die Eckkneipe. Die Mutter, die ihm hinter der Scheibengardine des Küchenfensters nachsah, wandte sich um. Vorwurfsvoll sagte sie: „Junge, Junge, warum hast du das nur getan?“ „Was?“ fragte er harmlos, obwohl er es recht gut wußte. Darauf antwortete sie nicht. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und dann sank ihr Kopf auf den Tisch, mitten zwischen die gerupften Hühnerleiber. Das hatte der Junge nicht gewollt. Und etwas vertrug er ganz und gar nicht. Er konnte die Mutter nicht weinen sehen. Über die Nationalsozialisten wurde in der Familie nicht gesprochen, aber der Junge wußte, daß der Vater die neuen Machthaber verabscheute. Und so hielt er seine Rache für gelungen. Der Vater konnte gegen sein Vorhaben nichts tun. Die Eltern unternahmen nichts, wenn sich 72
die Kinder politisch betätigten. Im Sinne des Regimes, versteht sich. Zum offenen Protest hatten die wenigsten Mut. Sie mußten damit rechnen, daß sie angezeigt und abgeholt wurden. In den nächsten Jahren tat er sich in der Segelflieger-HJ hervor und gewann viele Preise. Aber was folgte darauf? Was geschah in der Zeit, die zwischen jenen Erlebnissen und dem Heute lag? Sie war in völliges Dunkel gehüllt. Er konnte sich an nichts erinnern!
6. Reg.-Nr. 42-17-04 Klemm, Walter SS-Obersturmführer Geboren 1918, Hamburg, Deutschland Nationalität: deutsch Pässe: Kennkarte Deutsches Reich, ausgestellt ’37 in Hamburg. Mitgliedsausweis der SS, Nr. 1 546 480, ausgestellt in Hamburg. / Dienstausweis Reichssicherheitshauptamt, Nr. D 653 714, ausgestellt ’41 in Berlin. / Diplomatenpaß, ausgestellt ’42. Lebenslauf: Oberrealschule, Abitur, Hitlerjugend, SS, Polizeischule, GESTAPO. Dienstrang: Oberkommissar. Nicht verheiratet. Arbeitsbereich: Reichssicherheitshauptamt Berlin. Im Jahre ’41 Versetzung in GESTAPO-Leitzentrale Paris. Referat Judenfrage. Interessen: Modellflugzeuge, Briefmarken, Musik, spielt Klavier. Persönliches: Geliebte Marion Schneider, Paris, Rue Blanche. (Achtung! Die Frau nicht gefährden, hat Kontakte zum Widerstand.) Antialkoholiker, Nichtraucher. 73
Vertraulich: Homophile Neigungen möglich, nicht nachgewiesen. Bestechlichkeit möglich, nicht nachgewiesen. Yvonne Rosenau ließ das Blatt Papier sinken. Es sah alt und vergilbt aus und hatte zwei Löcher an der linken Seite. Wahrscheinlich hatte es seit Jahrzehnten in einem Ordner gelegen, und der hatte in einem Archiv geruht. Bis er nun ans Tageslicht kam. „Ja, und warum geben Sie mir das?“ fragte sie unsicher. „Was soll ich damit?“ Mr. Patters erwiderte: „Wir glauben, daß dieser SSObersturmführer Walter Klemm Ihre Eltern gekannt hat, Yvonne. Wir halten sogar für möglich, daß er an deren Ermordung beteiligt war.“ Sie schob das Papier mit den Daten des SS-Führers über den Tisch in Patters’ Richtung, als ob es sich um ein Stück Unrat handelte. Dort lagen noch andere Akten. Patters fuhr fort: „Es gibt zwar weitere, die uns interessieren, ein gewisser Kodelke, ein gewisser Handtner, aber dieser Klemm hat für uns immer etwas von einem Drahtzieher gehabt.“ Er reichte Yvonne einen zweiten Bogen, den sie widerstrebend nahm. Zwei Fotos in Postkartengröße waren auf das Papier geklebt. Sie zeigten denselben Mann, in schwarzer SS-Uniform und in Zivil. Die Bilder schienen aus größerer Entfernung mit einer Kleinbildkamera aufgenommen und vergrößert worden zu sein. Sie waren nicht sehr scharf. Man erkannte darauf ein junges, etwas fades Gesicht. Unter den Fotos befanden sich weitere Angaben zur Person: Größe: 1,79 m. Gewicht: 66 kg. Blutgruppe: AB Zähne: Fehlen sämtlicher oberer Schneidezähne durch Unfall. Ersatz mittels Frontzahnbrücke. Alle vier Weis74
heitszähne vorhanden. Goldkrone rechts oben sechs. Ein rechter unterer Prämolar nicht angelegt. Narben: Blinddarm entfernt 1928. Narbenbildung vergrößert durch Verwachsungen. Yvonne schob auch diese Akte über den Tisch zurück. „Kommt Ihnen der Mann bekannt vor?“ fragte Mr. Patters. Yvonne schüttelte den Kopf. „Sollte er das?“ „Ich frage ja nur.“ Archie Patters lächelte freundlich. „Die Aufnahmen wurden in Paris gemacht. Etwa zu der Zeit, als Sie geboren wurden.“ „Wie könnte ich ihn also gekannt haben?“ „Damals nicht!“ Yvonne lauschte dem hintergründigen Ton in der Stimme des Engländers. Dann fragte sie stockend: „Sie meinen …?“ Darauf antwortete Archie Patters nicht, und seine Miene blieb undurchdringlich. Neben Patters saß noch ein zweiter Mann im Büro, der ihr als Reginald Sayers vorgestellt wurde und der außer einem „Hallo“ bisher nichts gesagt hatte. Er war im gleichen Alter mit Patters, ebenfalls grauhaarig und ebenso unauffällig konservativ gekleidet. Irgendwie sah er wie ein langgedienter Offizier aus, und ganz merkwürdig: in dieser Nachbarschaft wirkte Archie Patters plötzlich ebenso. Natürlich war Yvonne Rosenau schließlich doch mit dem Engländer nach London geflogen. Er brachte sie ins Heathrow-Hotel, das am Flughafen lag und in dem er für sie noch von Hamburg aus ein Zimmer gebucht hatte. Dann verabschiedete er sich, sagte, er würde sich im Laufe des nächsten Tages bei ihr melden. Bis dahin hätte er einige Dinge zu regeln. Sie ging gleich auf das Zimmer, nahm ein Bad und legte sich zu Bett. Ihr Abendbrot hatte sie im Flugzeug bekommen. Wider Erwarten schlief sie schnell ein, und sie wachte auch während der Nacht nicht auf. Die letz75
ten Tage in Hamburg waren anstrengend gewesen. Geweckt wurde sie am nächsten Morgen durch den Regen, der gegen das Fenster klatschte. Das sprichwörtliche Londoner Wetter hatte sie empfangen. Nach dem Frühstück saß sie in der Halle herum. Die Anonymität des modernen Heathrow-Hotels gefiel ihr. Niemand kümmerte sich um sie, und sie konnte die Ansammlung verschiedenster Hautfarben und Rassen beobachten. In einem hatte sie Archie Patters unrecht getan. Er war nicht mit ihr hergereist, um ein paar flotte Tage zu verbringen. Ganz im Gegenteil, er schien sie total vergessen zu haben. Gegen zehn hatte Yvonne das Warten satt. Sie hinterließ eine Nachricht an der Reception und fuhr mit Bus und U-Bahn in die City hinein. An der Victoria Station stieg sie aus, wanderte eine Straße hinunter und stand plötzlich an der Westminster Bridge, die sie sofort erkannte. Auf vielen Bildern hatte sie die gesehen. Verblüfft schaute sie auf die Themse. Für Sekunden kam ihr alles so vertraut vor, als sei sie bereits oft hier gewesen. Der Regen hatte inzwischen nachgelassen, aber es war alles andere als freundlich, es wehte ein scharfer, kalter Wind. Ihr Vertrautsein mit London hielt nicht lange an, und so wanderte sie auf derselben Straße zurück. Bei der Victoria Coach Station überlegte sie eine Weile, bis sie sich entschloß und einen Bus der „Sightseeing Tour“ bestieg. Darin waren noch Plätze frei, und bequem und warm war es auch. Nun ließ sie sich am Trafalgar Square, an Westminster und der Bank of England vorüberkutschieren. Schnell nahm sie das bunte Gewimmel in den Straßen gefangen. Auch der Charakter der Bauten, auf die sie hingewiesen wurde. Die Hauptstadt eines Weltreiches, empfand sie, wenn auch eines vergangenen, aber die Tradition spürte sie an jeder Straßenecke. Die Fahrt dauerte etwa zwei Stunden. Anschließend fuhr sie mit der Piccadilly-Linie nach Heathrow zurück, und 76
in der Hotelhalle traf sie auf Mr. Patters. Sie entschuldigte sich bei ihm, und er erwiderte, das bedeute gar nichts. Aber nun wollten sie mal schnell in sein Büro fahren, denn dort würden sie bereits erwartet. Sie sagte jedoch, sie habe seit dem Frühstück nichts weiter gehabt und müsse erst etwas essen. Auch das nahm er hin. Schließlich brachte sie ein Taxi nach Covent Garden in die Nähe des Leicester Square. In einem alten Geschäftshaus hatte Mr. Patters sein Büro. An der Tür fand sich seine Visitenkarte, sonst nichts. Kein Hinweis auf die Art von Geschäft, das er betrieb. Der Raum war altväterlich eingerichtet, aber irgendwie schien es zu Mr. Patters zu passen. Es gab einen Schreibsekretär mit geriffelten Rolladen, einen Arbeitstisch am Fenster, mit einem hochlehnigen Stuhl dahinter. Einen weiteren runden Tisch und Stühle, auf denen man merkwürdigerweise bequem sitzen konnte. Warm war es übrigens auch. Als sie hereinkamen, erhob sich Reginald Sayers, schüttelte ihr die Hand und sagte sein „Hallo“. Nun saßen sie bereits eine Weile zusammen, und Yvonne hatte die Papiere mit den Daten des SS-Obersturmführers Walter Klemm lange angesehen. „Kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges“, erklärte Mr. Patters, „war Paris mit Emigranten vollgestopft. Sozialisten und Kommunisten, Intellektuelle aller Schattierungen hatten sich versammelt. Wissenschaftler, Maler, Schriftsteller, Musiker und Schauspieler. Man kann ohne Übertreibung sagen: Ein wesentlicher Teil der geistigen Oberschicht Deutschlands war vertrieben worden, ein elitärer Kreis. Wir wollten es damals kaum glauben, denn kein Land kann sich solchen Aderlaß leisten, ohne Schaden zu nehmen. Das Leben in einer Gesellschaft erstirbt, wenn sie ihre kritischen Köpfe entläßt. Es waren auch viele Juden darunter, die allein wegen ihrer Rasse verfolgt wurden. So wie Ihre Eltern, Yvonne.“ Archie Patters unterbrach sich, sah zu der jungen Frau 77
hinüber, ob sie etwas sagen wollte, aber das wollte sie nicht. Auch Reginald Sayers hockte still und bescheiden auf seinem Stuhl. Patters deutete auf ihn. „Reginald und ich kannten uns schon damals. Wir saßen in einem Büro, diesem hier nicht unähnlich, und arbeiteten zusammen.“ „Was arbeiteten Sie damals, Mister Patters?“ fragte Yvonne beinahe wider Willen. Archie Patters lächelte gewinnend. „Wir registrierten unter anderem Flüchtlinge. Nicht gerade namentlich, so daß uns beispielsweise der Name Ihrer Eltern bekannt geworden wäre. Aber wir wußten über Tendenzen Bescheid, über die Schichten, aus denen sich der Exodus zusammensetzte. Prominente Leute, besonders Wissenschaftler und Künstler, kannten wir natürlich genau, wir wußten sogar deren jeweiligen Aufenthaltsort. Zunächst flüchteten nur Deutsche, aber dann legten die Nazis ihre Hand auf Österreich und die Tschechoslowakei, weil die Völker Europas dem nicht energisch genug widerstanden, und so veränderte sich das Bild an den Flüchtlingstreffs. In Westeuropa war die Insel hier, die Schweiz und Frankreich oft ihre letzte Zuflucht. Aber schon die Schweiz tat sich schwer mit den Emigranten. Die war ein kleines Land, und dort wollte man Nazideutschland nicht allzusehr reizen. Viele versuchten auch nach Übersee zu entkommen. Aber dazu brauchte man Geld und eine Einreisegenehmigung der amerikanischen Länder. Also blieb man, wo man gerade war, und hoffte, daß ein Brand nicht ausbrechen würde. Man konnte sich nicht vorstellen, daß Hitler wahnsinnig genug sei, einen Krieg gegen die ganze Welt anzuzetteln. Aber er war so wahnsinnig, und eines Tages standen deutsche Truppen in Paris. Sie wissen ja, Yvonne, was darauf geschah. Frankreich wurde geteilt. Nun zog ein Teil des Flüchtlingsstroms, nämlich der, der entwischen konnte, über die Demarkationslinie nach Südfrankreich und in die Hafenstädte am Mittelmeer. Nach den Unterlagen im Hamburger Wiedergutma78
chungsbüro müssen sich auch Ihre Mutter und Ihr Vater unter diesen Leuten befunden haben.“ Wieder schwieg Mr. Patters und sah Yvonne fragend an. „Weiter, Mister Patters!“ sagte sie schließlich. „Ich möchte, daß wir noch einmal über Ihre Eltern sprechen, Yvonne. Ich hoffe nur, es ist Ihnen nicht unangenehm, wenn ich es vor Mister Sayers tue. Aber er ist diskret, das versichere ich Ihnen, und er ist mit der Materie vertraut.“ Reginald Sayers war sogar sehr diskret, noch immer hatte er den Mund nicht aufgetan. „Reden Sie schon, Patters!“ stieß Yvonne hervor. Der Engländer lächelte ein wenig schief, er schien verlegen zu sein. „In einem unserer Gespräche, Yvonne, sagten Sie mir, Sie glaubten nicht, daß Ihre Eltern Sie in einem Kinderheim ablieferten und sich dann nicht mehr blicken ließen. Aber genau das haben sie wohl getan, und ich meine sogar, daß es das Beste war, was sie in jener Situation machen konnten. Ihre Eltern lebten im Untergrund. Aber was war das für ein Leben! In ständiger Furcht vor Spitzeln und Razzien. In der Gewißheit, daß es eines Tages aus sein würde. Ohne Lebensmittelkarten! Ja, auch die gab es damals, und nichtregistrierte Personen erhielten natürlich keine. Wie denn auch? Woher also die tägliche Milch für das Baby nehmen? Nein, es war schon vernünftig, daß man Sie ins Heim brachte, denn vor Ihren Eltern hatten Sie einen entscheidenden Vorteil. Durch Ihre Geburt in Frankreich wurden Sie französische Staatsbürgerin. Und wahrscheinlich haben die Leute im Heim Sie in den Jahren der Okkupation als nichtjüdisches, französisches Findelkind in den Listen geführt. Sie waren dort also – im wörtlichen Sinne – wohl behütet!“ Plötzlich hatte Yvonne Tränen in den Augen. Sie zerrte ein Taschentuch hervor und schnaubte hinein. Dabei schluchzte sie: „Entschuldigen Sie, bitte!“ 79
Patters antwortete: „Scheuen Sie sich nicht zu weinen, mein Kind! Wir können Ihre Erschütterung gut verstehen.“ Der Engländer stand auf und holte Zigarren vom Schreibtisch, die sich Sayers und er anzündeten. Darüber verging Zeit. Schließlich fragte Yvonne: „Und meine Eltern?“ „Lebten wohl weiterhin im Untergrund. Aber sie konnten dort nicht bleiben, und da gab es nur noch die Flucht über die grüne Grenze ins unbesetzte Frankreich. Eines Tages werden sie den Sprung gewagt haben. Und auch mit Ihnen, Yvonne, hatten sie sicher ihren Plan.“ „Welchen?“ „Mit meinem Wissen über die Dinge hätte ich an Stelle Ihrer Eltern folgendes getan: Glücklich in Marseille gelandet, hätte ich alles versucht, meine kleine Tochter nachkommen zu lassen. Das war selbst unter der deutschen Besatzung möglich. Hin und wieder wurden nämlich Transporte mit Kindern zusammengestellt, die man ins unbesetzte Frankreich hinüberleitete. Zwar ließ man keine Juden hinaus, aber in meinem Fall hätte es sich ja um ein arisches, in den Wirren des Krieges verlorengegangenes französisches Kind gehandelt.“ „Und im Fall meiner Eltern?“ fragte Yvonne. „Aus ihren Papieren ging doch hervor, daß sie Juden waren.“ „Die Beamten in Marseille hätten wohl mitgemacht. Und wennschon nicht aus Patriotismus, dann eben gegen ein entsprechendes Salär. Außerdem gibt es in Hafenstädten wie Marseille falsche Pässe jeder Art.“ „Aber meine Eltern haben das alles nicht versucht.“ Der Engländer seufzte. „Nein.“ „Und warum nicht?“ „Weil sie leider nicht bis nach Marseille gekommen sind!“ Yvonne stand auf. Es waren nur wenige Schritte zwischen der Tür und dem Fenster, und die ging sie mehr80
mals hin und her. Sie schien eine Menge Fragen zu haben, aber offensichtlich scheute sie sich, die zu stellen. Dann blieb sie vor dem Schreibtisch stehen und starrte abwesend auf einen Topf mit Tauchsieder darin. „Möchten Sie vielleicht Tee?“ fragte Patters. „Ja.“ Der Engländer nahm den Topf, verschwand auf den Flur und kam mit Wasser zurück. „Ich habe zwar nur Beuteltee“, meinte er mit forcierter Heiterkeit, „und der ist ganz abscheulich. Aber er ist wenigstens heiß.“ Patters holte Tassen und Tee und stellte alles hin. „Sahne hab’ ich auch nicht“, sagte er. „Nur Zucker. Ich gebe zu, daß es ein schlechtgeführtes Haus ist.“ Inzwischen kochte das Wasser, und Patters goß es in die Tassen. Dann tranken sie eine Weile schweigend, und Yvonne stellte ihre Fragen noch immer nicht. Schließlich brach der Engländer das Schweigen. „Damals saßen Reginald und ich in irgendeinem Büro irgendeines Ministeriums. Sagen wir mal, es war ein Büro für besondere Aufgaben. Eine schlimme Zeit, Yvonne, auch für uns! Wir hatten unsere Jungens zurücknehmen müssen, Dünkirchen war eine arge Schlappe. Eine Weile dachten wir sogar, die Nazis würden über den Kanal kommen. Aber sie wagten es dann doch nicht, dafür schickte uns Göring seine Bomber. Wir saßen also da und starrten nach Frankreich hinüber. Und dieser schweigsame Reginald war damals mein Boß.“ Er stieß Sayers in die Seite, und auch Yvonne wandte ihre Aufmerksamkeit dem anderen Mann zu. Und da tat er endlich den Mund auf; immerhin konnte er reden, ziemlich flüssig sogar. Er sagte: „Der Widerstand im besetzten Frankreich entwickelte sich nicht schlecht. Es gab tüchtige, waghalsige Leute. Sie arbeiteten in verschiedenen Gruppen. Unsere Aufgabe bestand darin, die Aktivitäten dieser Teams zu koordinieren, auch zu lenken, soweit das bei der Animosität der Franzosen uns 81
gegenüber möglich war. Wir hielten Funkkontakt, und wir schickten Flugzeuge hinüber. Die warfen Lebensmittel, Medikamente, Verbandstoffe ab. Vor allem aber Waffen und Dynamit. Die Nazis sollten es schwer haben. Und natürlich sammelten wir alles Material über Hitlers Leute, das wir nur kriegen konnten. Bei dieser Arbeit hat uns Mademoiselle Schneider sehr geholfen, Sie erinnern sich vielleicht?“ Reginald Sayers suchte den Bogen mit den Daten des SS-Obersturmführers Klemm heraus und deutete auf eine Stelle. Dort stand: ‚Persönliches: Geliebte Marion Schneider, Paris, Rue Blanche. (Achtung! Die Frau nicht gefährden, hat Kontakte zum französischen Widerstand.)‘ „Es war uns gelungen, diese Frau direkt in der Gestapo-Leitzentrale zu placieren“, fuhr Sayers fort. „Sie ließ sich als Kontaktperson anwerben. Die Familie stammte aus dem Elsaß und war deutschfreundlich. Marion Schneider beherrschte auch die deutsche Sprache. Sie fiel dem SS-Führer Klemm auf; nur kurze Zeit später war sie seine Geliebte und blieb es, bis er im Jahre vierundvierzig spurlos verschwand. Eines Tages konnte sie uns die Fotografie einer Landkarte herüberschicken. Auf ihr war die Demarkationslinie, die den besetzten Teil Frankreichs vom unbesetzten trennte, vermerkt. An bestimmten Punkten waren Kreise eingezeichnet, nachträglich, mit einem Stift. Wir haben damals lange gerätselt, was die Markierungen bedeuten könnten. Die Lösung fand sich erst sehr viel später.“ Der Mann schwieg. „Und?“ fragte Yvonne nach einer Weile. „Wie sah die Lösung aus?“ Nun fuhr Archie Patters fort: „Im Jahre vierundvierzig landeten die alliierten Truppen in der Normandie, und Reginald und ich gingen gleich mit unseren Jungens hinüber. Wir hatten die Fotografie jener Landkarte in unserem Gepäck, und sobald es möglich war, fuhren wir zur Demarkationslinie. Bei den Markierungen han82
delte es sich um Waldgebiete, weitab von Dörfern oder einzeln stehenden Gehöften. Wir ließen graben und stießen auf Leichen. Alle waren unbekleidet, also fehlten die äußeren Identifizierungsmerkmale. Die meisten lagen seit Jahren dort, und so war auch die Verwesung weit fortgeschritten. Sie können sich denken, um was für Menschen es sich handelte?“ Yvonne sah Patters entsetzt an, sie war unfähig zu sprechen. Der Engländer fuhr fort: „In den Registrierungslisten der französischen Verwaltung wurden keine Personen vermißt, zumindest nicht in dieser Anzahl. Es mußte sich also um im Untergrund lebende Flüchtlinge handeln, die ins unbesetzte Frankreich hinüber wollten und an der Demarkationslinie ermordet wurden. Aber wer waren die Täter? Wir wußten, daß sich die französische Unterwelt mit solchen Schleusungsaktionen befaßte. Hatten Gangster diese armen Menschen dorthin gelockt? Wir glaubten es nicht, denn wir erhielten die Karte ja von Marion Schneider. Nun konnte es allerdings so sein, daß Klemm mit der Aufdeckung jener Verbrechen beauftragt wurde. Aber diesen Gedanken verwarfen wir schnell, denn solche Recherchen gehörten nicht in das Ressort jenes SSObersturmführers. Er saß in der Gestapo-Leitzentrale von Paris und war mit der Deportation von Juden befaßt. Er ließ Razzien veranstalten, und durch seine Verbindung zur französischen Unterwelt hatte er intime Kenntnisse über nichtregistrierte Personen. Gab er ihnen vielleicht über diese Kanäle zu verstehen, er könne sie retten? Gegen entsprechende Bezahlung natürlich? Fuhr er mit ihnen zur Demarkationslinie und brachte sie um? Waren er und zwei weitere Personen, die wir als Kodelke und Handtner kennen, die Mörder?“ Wieder schwieg der Engländer und sah Yvonne nachdenklich an. „Und? Waren sie es?“ stieß sie hervor. Archie Patters zuckte die Achseln. „Wir konnten sie 83
nicht befragen. Kurz vor der Invasion unserer Truppen verschwanden die Verbrecher spurlos. Und das blieben sie bis heute!“ Archie Patters stand auf, brachte das Teewasser wieder zum Kochen und füllte die Tassen noch einmal. Dann steckten sich die beiden alten Herren neue Zigarren an. Als sie rundherum brannten, sagte Reginald Sayers: „Eines Tages, gar nicht lange her, besuchte mich Archie Patters in meinem Büro. Ich glaube, wir hatten uns Jahre nicht gesehen. Er fragte, ob ich mich an die SS-Banditen Klemm und Konsorten erinnere. Natürlich tat ich es. Darauf erzählte er mir von Ihnen, Madam, und von dem Schicksal Ihrer Kindheit. Und dann saß da in Hamburg ein Mann, der sich ebenfalls Rosenau nannte und der erst vor zehn Jahren aus Südamerika heimgekehrt war. Ein ehemaliger jüdischer Emigrant. Konnte es sich bei dem um Ihren Vater handeln? Schließlich trug er denselben Namen. Wir mußten also herausfinden, ob er Anfang der vierziger Jahre in Paris gelebt hatte. Und siehe da, es stimmte. War es dann aber nicht unglaublich, daß er niemals nach Ihnen gefragt hatte? Inzwischen sind dreißig Jahre vergangen. Er konnte also doch nicht Ihr Vater sein.“ „Klemm …?“ Yvonne fragte es mit schwerem Anlauf. „Ja!“ Sie griff nach den Akten auf dem Tisch, zog das Blatt mit den Bildern hervor. Sie starrte darauf. Schließlich sagte sie: „Ich erkenne ihn nicht.“ „Ein Gesicht verändert sich in so langer Zeit“, antwortete Archie Patters. Wieder einmal legte er seine Krokodilledertasche auf den Tisch, klappte sie auf. Hervor kamen andere Bilder in Postkartengröße, diesmal farbig und in gestochener Schärfe. Sie zeigten einen seriös wirkenden Herrn in mittleren Jahren. Die Bilder waren auf einem Flugfeld aufgenommen worden und stellten den Mann in verschiedenen Positionen dar. Einmal stieg er 84
gerade die Gangway herab, auf einem anderen ging er zu einem wartenden Bus. Jedesmal befand sich dicht hinter ihm der Sekretär Wilhelm. Eines der Fotos schien eine Vergrößerung aus einem der anderen zu sein. Sie zeigte den Kopf des Mannes allein. Eigentlich war es ein nichtssagendes Gesicht. Nicht einmal unsympathisch. Oder doch? Yvonne legte die Bilder neben jene aus der Akte. Sie starrte darauf, dann hob sie unsicher den Blick. „Ich sehe keine Ähnlichkeit.“ „Natürlich nicht“, meinte Archie Patters. „Zwischen den Aufnahmen besteht ein Abstand von dreißig Jahren.“ „Ich könnte nicht einmal sagen, ob dies der Mann aus dem Krankenhaus ist.“ Yvonne tippte gegen die Farbfotos. „Sie haben ihn mit Verbänden um den Kopf gesehen. Selbst die Nase war mit einem Pflaster verklebt. Aber in einem kann ich Sie beruhigen. Dieser Mann auf dem Flugplatz ist derselbe, der in der Hamburger Klinik liegt.“ Patters zog das Farbbild mit der Vergrößerung zu sich herüber. „Das Leben geht manchmal seltsame Wege, Yvonne!“ sagte er nach einer Weile. „Als ich in Lady Chessmans Auftrag zu Ihnen kam, wußte ich noch nicht, daß ich über diesen Umweg auf einen Mörder treffen würde. Jahrelang hatte ich geglaubt, er sei uns entkommen. Und nun ist er es doch nicht. Und mit Ihrer Hilfe fassen wir ihn noch. Sie werden uns helfen, nicht wahr, Yvonne?“ „Wenn er der Mörder meiner Eltern ist, ja!“ „Er ist es!“ erklärte Archie Patters überzeugt. „Es kann gar nicht anders sein.“ „Und wie soll meine Hilfe aussehen?“ „Dazu kommen wir noch, Yvonne! Um Ihnen die Dinge ganz klarzumachen, lassen Sie uns in Gedanken noch einmal in jene Kriegszeit zurückgehen! Die SS-Leute 85
Klemm und Konsorten waren nicht nur besonders skrupellos, sie waren auch clever. Sie mußten schnell erkannt haben, daß da etwas mit dem deutschen Vormarsch in Rußland nicht stimmte. Da war der Winter einundvierzig vor Moskau. Im folgenden Jahr siegten sich die deutschen Armeen zu Tode – dies muß schon die Zeit gewesen sein, in der sie Vorsorge für sich selbst trafen –, und dann kam Stalingrad! Unsere russischen Verbündeten versetzten den Deutschen Schläge, von denen sie sich nicht mehr erholten. Und endlich gingen auch unsere Jungens in die Normandie hinüber. Als das geschah, wußte Klemm, daß es aus war für ihn. Wenn er entkommen wollte, mußte er denselben Weg nehmen, den kurz vorher so viele Flüchtlinge gegangen waren. Er mußte nach Südamerika.“ „Und er ging als David Rosenau?“ fragte Yvonne mit tonloser Stimme. „Ob er es gleich unter diesem Namen tat und sich in Brasilien so registrieren ließ, wird sich wohl nicht aufklären lassen. Die südamerikanischen Behörden haben sich nie kooperativ gezeigt, wenn es um die Verfolgung von Nazis ging. Außerdem muß Klemm viele Pässe in seinem Gepäck gehabt haben. Fest steht allerdings, daß der Name Rosenau erst zu Beginn der fünfziger Jahre in Erscheinung trat. Im öffentlichen Leben, meine ich. Das war also lange nach dem Krieg, und die Jüdische Gemeinde wird ihre Nachforschungen zu dieser Zeit längst aufgegeben haben. Nun gingen die Jahre ins Land, und Rosenaus Werke in Brasilien begannen zu florieren. Es entwickelte sich aber auch die Bundesrepublik Deutschland. Es lohnte sich durchaus, dort zu investieren. Und noch etwas anderes konnte man beobachten. Für uns war es geradezu ein Phänomen. Nach einer kurzen Spanne, in der die Deutschen im Bewußtsein der Schande über die Nazigreuel lebten, restaurierten sich die alten Kräfte. Sie krochen aus ihren Schlupflöchern, lebten frei und unbehelligt. Es gab 86
sie überall in Wirtschaft und Politik, als Richter und Lehrer. Warum sollte also Klemm, der sich nun Rosenau nannte, nicht in die Bundesrepublik Deutschland zurückkehren? Möglicherweise wird er sich geniert haben, daß er es als Jude und Verfolgter der Nazis tun mußte. Aber diese neue Identität hatte er nun einmal, und sie war auch nicht mehr rückgängig zu machen. Und er muß sich sehr sicher gefühlt haben, denn er stellte ja sogar einen Antrag auf Wiedergutmachung. Nur eines, Yvonne, wußte jener angebliche David Rosenau eben nicht, und diese Unwissenheit wird ihm nun das Genick brechen. Er wußte nämlich nicht, daß er eine Tochter hatte! Als Klemm im Jahre zweiundvierzig Kontakt mit Ihren Eltern aufnahm, werden die ihm nichts von ihrem Baby erzählt haben. Übermächtig muß der Trieb in ihnen gewesen sein, Sie zu beschützen, Yvonne! Sie lebten sicher in einem Heim, und Sie sollten nicht gefährdet werden. Es kann sich anders gar nicht abgespielt haben. Denn hätte er es gewußt, daß es da noch ein kleines Mädchen gab, hätte er später nicht den Namen Rosenau angenommen. Dieses Risiko, daß da irgendwann ein Mensch auftauchen könnte, um unbequeme Fragen zu stellen, wäre er niemals eingegangen. Aus der Fülle von Pässen hätte er sich einen anderen herausgesucht. Er besaß ja genug!“
7. Der Mond ist eine kreisrunde Scheibe, die ihnen ein milchiges Licht entgegenschickt. Sie marschieren durch einen Wald. Es muß Mischwald sein, mit Unterholz und Büschen unter hohen Bäumen. Es ist eine einsame Gegend, weitab von menschlichen Siedlungen. Sie sind mit Autos hergebracht worden. Hinter dem letzten Dorf, durch das sie kamen, stiegen sie aus. Nirgendwo brannte 87
Licht, es war mitten in der Nacht. Nur ein paar aufgescheuchte Hunde begannen zu bellen, Menschen ließen sich nicht blicken. Das Hundegebell erinnerte an das Heulen von Wölfen, die Hunger hatten. Vielleicht hatte das Heulen auch weniger ihnen als dem Mond gegolten, dieser blassen, kreisrunden Scheibe. Zunächst sind sie ganz optimistisch gewesen, in freudiger Erwartung, weil bald alles ausgestanden sein würde. Aber dieses Gefühl weicht schnell einer beklemmenden Leere, denn der Marsch wird immer beschwerlicher. Bei jedem Schritt peitschen ihnen Zweige ins Gesicht, die Füße stoßen gegen herabgebrochene Äste, gegen Baumwurzeln. Sie schwitzen stark. Der Schweiß perlt auf der Stirn, läuft den Körper hinab. Dabei ist es empfindlich kühl in dieser Frühlingsnacht. Aber sie haben Gepäck dabei, in jeder Hand einen schweren Koffer; dazu noch Taschen, die sie an Gurten um den Hals tragen. Esther, die neben ihm geht, wird es nicht lange durchhalten, denkt er. Esther ist eine grazile Person, hat niemals besondere Körperkraft besessen. Schon jetzt knickt sie mit jedem Schritt ein. Er wird ihr sagen, daß sie das Gepäck fallen lassen soll. Es ist sehr still in diesem Wald. So wird das Knacken der Zweige zu einem überlauten Geräusch. Es muß sie verraten, denkt er. Schließlich wird es Wächter geben an dieser Grenze, der sie sich mit jedem Schritt nähern. Besorgt schaut er auf Esther, ihr Atem wird immer kürzer, immer gepreßter. ––– Halt –! ––– Das ist ein scharfer Befehl. Aber er kommt nicht von vorn, nicht aus Richtung der blassen Mondscheibe; der Befehl kommt von hinten! ––– Die Stimme: Warum verlangen Sie denn so etwas von 88
uns, meine Herren? Sie haben versichert, daß Sie uns über die Grenze bringen. Sie wollten unser Leben retten. Warum sollen wir uns jetzt ausziehen? Mitten im Wald? Und wozu? Meine Frau kann sich doch nicht vor Ihnen entkleiden, meine Herren, das müssen Sie einsehen. Und lassen Sie den Revolver! Wir sind auch unbewaffnet. Sei ganz ruhig, Esther, ich bin ja bei dir! Ich bin sicher, daß uns die Herren nichts Schlimmes antun werden. Sie waren die ganze Zeit über hochanständig. Komm, Esther, ich werde dir helfen. Ja, wir knien uns nieder. Gib mir deine Hand, Esther, halte sie fest, ich bin bei dir! Schau mir in die Augen, dann wird alles ganz leicht für uns. Ich liebe dich, mein Herz, ich habe dich … ––– Der Schuß –! ––– Er spürt überhaupt nichts. Er hört nur die Explosion. Und er sieht die blasse Scheibe des Mondes grell aufblitzen. Der Mond verwandelt sich in einen riesigen feuerroten Ball. Und dann beginnt er zu fliegen. Sein Körper wird von einer elementaren Gewalt emporgeschleudert, und er fliegt direkt auf den Mond zu. Und dann ist der plötzlich nicht mehr über, sondern unter ihm. Der Mond beginnt sich aufzulösen und zu zerfließen; er wird zu einem einzigen wabernden Feuermeer. Und er schwebt darüber. Er sieht Flammen aufzucken, einzelne schlagen hoch und greifen nach ihm. Das Licht wird immer greller, so gleißend, daß er die Augen schließen muß. Und er spürt die gewaltige Hitze. Und dann beginnt er zu fallen. Er fliegt nun nicht mehr, er fällt, langsam erst, dann schneller und immer schneller. Bis ihn das Flammenmeer umfängt und er darin versinkt. Und da weiß er, daß er tot ist. ––– Die Stimme: Warum haben Sie uns das angetan? Sie wollten unser Leben retten, meine Herren, das hatten Sie versprochen, und nun haben Sie uns erschossen! 89
––– Nein –! Er ist gar nicht der, der erschossen wurde! Er hat deutlich die Stimme gehört, und ein Toter redet nicht. Aber wer ist er, wenn nicht der Mann am Boden? Und dann beginnt er etwas zu ahnen, und das wird schließlich zur schrecklichen Gewißheit. Er ist der andere, der geschossen hat! Er will sich umwenden, um in das Gesicht des Mörders zu sehen. Aber hinter ihm steht niemand mehr. Er kann in das Gesicht nicht blicken, weil es sein eigenes ist. Er sieht nur den Toten, nackt und bloß auf dem Waldboden, und er hat ihn erschossen! ––– Der Mann saß hochaufgerichtet im Bett. Schweißgebadet. Seine Augen starrten ins Dunkel des Zimmers. Der Mond mit seinem blaßroten Schein war das Milchglas der Nachtlampe über der Tür. Er sank auf das Kopfkissen zurück, das von Schweiß durchtränkt war. Von seinem Angstschweiß! Dann begann er heftig zu zittern, seine Glieder schlugen, auch das Bein im Streck. Es war sehr still im Zimmer, in der ganzen Klinik. Es war mitten in der Nacht. Die Geräusche, die er gehört hatte, waren aus seinem Innern gekommen. Das Knacken der Zweige. Und der Schuß! Und diese Stimme! Diese gepeinigte und gequälte und in ihrer Hilflosigkeit erbarmungswürdige Stimme! Irgendwann, vor sehr langer Zeit, mußte er sie gehört haben. Schließlich war sie aus seinem Unterbewußtsein wiederaufgetaucht. Der Mann wußte nun, daß er ein Mörder war! „Sie müssen aufwachen, Herr Rosenau! Es ist schon acht Uhr. Machen Sie die Augen auf, und sehen Sie nur mal, was wir für feines Wetter haben. Draußen scheint die Sonne!“ Der Pfleger stand vor seinem Bett. Unter halbgeschlos90
senen Lidern hatte er ihn mit dem Frühstückstablett hereinkommen sehen. „Machen Sie die Augen auf, Herr Rosenau, ich weiß, daß Sie wach sind. Und es hilft Ihnen nichts, essen müssen Sie doch etwas!“ Der Mann hob langsam die Augendeckel, blinzelte. „Ich habe nicht den geringsten Hunger!“ würgte er hervor. „Und was soll ich dem Professor sagen, wenn er fragt? Und das tut er. Er erkundigt sich genau, ob Sie Ihre Mahlzeiten nehmen oder nicht. Und ich bekomme es dann ab. Sie haben in den letzten Tagen so schöne Fortschritte gemacht. Aber heute morgen gefallen Sie mir gar nicht. Sie wollen doch keinen Rückfall haben, oder? Also müssen Sie essen!“ Der Pfleger hatte recht. Er mußte zu Kräften kommen und gesund werden, denn er wollte aus dem Krankenhaus heraus. Jeder Tag, den er unter den Augen dieser Leute zubrachte, vergrößerte die Gefahr, in der er sich befand. Das wußte er seit der letzten Nacht. „Also gut!“ sagte er und versuchte zu lächeln. „Geben Sie mir was von dem verdammten Brot!“ „So ist es richtig, Herr Rosenau! Aber vorher wollen wir uns ein bißchen frisch machen.“ Der Pfleger kam mit einer Schüssel ans Bett und half dem Mann beim Waschen. Darauf träufelte er Honig auf Toastscheiben und reichte sie dem Patienten. Er blieb im Raum und wartete, bis alles vom Tablett verschwunden war. Danach schlief der Mann fast augenblicklich ein. Er fiel geradezu in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Er wußte nicht, wie lange, aber plötzlich wurde er von einer Sekunde zur anderen hellwach. Jemand saß an seinem Bett und schaute ihn an. Obwohl er die Augen geschlossen hielt, spürte er es deutlich. Und irgend etwas signalisierte ihm, daß es eine Frau sein müsse. Er wagte noch immer nicht, die Augen 91
zu öffnen. In ihm war eine große, schlotternde Angst. Er mußte aus dieser Klinik heraus. Aber wie? Welcher Arzt würde ihn gehen lassen? Mit einer Kontusion, den Kopf voller Verbände und das gebrochene Bein im Streck? Er fühlte sich ausgeliefert. „Herr Rosenau?“ fragte eine weibliche Stimme. In der Frage lag die deutliche Aufforderung, die Augen zu öffnen. Er hatte sich also nicht geirrt. Es saß eine Frau neben dem Bett. Er hörte die sachliche, beinahe strenge Stimme der Assistenzärztin. Er öffnete schließlich die Augen, und sie sahen sich an. Ihr Blick war ebenso streng wie ihre Stimme. Wußte sie etwas? „Wie spät ist es?“ fragte er, nur um etwas zu sagen. „Zehn Uhr.“ „Habe … ich gesprochen?“ fragte er stockend. Sie blickte ihn verständnislos an. „Im Schlaf, meine ich. Habe ich etwas gesagt?“ „Nein, das haben Sie nicht!“ Er wußte nicht, ob sie die Wahrheit sagte. Schließlich redete er im Schlaf. In der vergangenen Nacht war er von der eigenen Stimme aufgewacht. Wenn jemand von diesen Dingen hörte, die aus seinem Unterbewußtsein an die Oberfläche drangen, könnten sie als Geständnisse gewertet werden. Als Mordgeständnisse! „Sie haben nicht gesprochen, Herr Rosenau, sondern fest geschlafen. Aber wie ist es nachts? Ist es da ebenso? Ober haben Sie Träume? Liegen Sie wach?“ Der Mann antwortete knapp: „Ich schlafe sehr gut!“ „Ich weiß nicht“, meinte sie. „Sie lagen wie in tiefer Erschöpfung. Ich bin schon eine Weile hier und habe Sie beobachtet. Das brachte mich auf den Gedanken, daß Sie nachts nicht so schlafen, wie sie sollten. Wir geben Ihnen Mittel, damit Sie still und traumlos ruhen. Ihr Organismus soll sich kräftigen.“ Der Mann wiederholte ebenso wie vorher: „Ich schlafe nachts sehr gut! Still und traumlos!“ 92
Auf ihrem Gesicht lag ein skeptisches Lächeln. Oder war es blanker Hohn? Er wußte es nicht, Sie sagte: „Gestern beklagten Sie sich, daß die Spritze vor dem Einschlafen nicht richtig wirke. Sie verfielen in einen flachen, merkwürdigen Schlaf. Das jedenfalls haben Sie gestern behauptet. Was ist denn nun richtig?“ „Was stellen Sie hier eigentlich mit mir an? Ein Verhör?“ „Ich versuche, mir über Ihren Gesundheitszustand ein Bild zu machen. Weiter interessiert mich nichts.“ „Und ich bin nicht gewohnt, daß man in diesem Ton mit mir spricht, mein Kind!“ Er erschrak über die eigene Stimme; sie klang hart und irgendwie befehlsgewohnt. Wieder hatte er etwas Neues an sich entdeckt. Sie antwortete nicht, und wenn sie verletzt war, zeigte sie es nicht. Sie griff nach dem Stethoskop an ihrem Hals und ging mit der Membrane unter seine Pyjamajacke. Unterdessen betrat der Pfleger das Zimmer. Er brachte ein Glas Orangensaft herein, das er auf den Tisch neben dem Bett stellte. Dann trat er zurück und blieb abwartend stehen. „Ist noch was, Herr Müller?“ fragte sie. „Gar nichts, Frau Doktor“, meinte der Pfleger gutmütig. Sie zog die Membrane hervor und wandte sich um. „Worauf warten Sie dann noch?“ Einige Sekunden lang schauten sich die beiden an. Der Mann, der sie beobachtete, spürte die Rivalität zwischen ihnen. Waren es Spannungen, wie sie manchmal zwischen den Geschlechtern entstanden? Oder handelte es sich um anderes? Wollte ihn der Pfleger vor der Frau in Schutz nehmen? Plötzlich hatte er den Eindruck. Dann machte der Pfleger auf dem Absatz kehrt und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen, aus dem Zimmer. Als die Tür hinter ihm ins Schloß fiel, spürte der Mann eine entsetzliche Leere in sich. Wieder hatte er das Gefühl 93
des Ausgeliefertseins. Die Ärztin fuhr in ihrer Untersuchung fort. Wie schon gestern hörte sie den Herzbereich gründlich ab, und wieder schien sie mit dem Ergebnis nicht zufrieden zu sein. Plötzlich sagte er: „Ich lebe mit dieser Herzklappe schon lange Zeit. Machen Sie sich also keine Gedanken deswegen!“ „Sie wissen, daß Sie herzkrank sind?“ „Natürlich!“ „So natürlich ist das nicht. Denn Sie erinnern sich doch an nichts. Oder?“ Er lag wie erstarrt da. Wieder hatte sich ein Stückchen aus seinem Unterbewußtsein losgerissen. Aber es war nur ein winziger Stein aus einem Mosaik, von dem er nicht wußte, wohin er gehörte. Ja, er war herzkrank! Aber wie lange? Und war er deswegen in Behandlung gewesen? Er hatte keinen blassen Schimmer. Die Ärztin sagte: „Ich glaube, es ist ein gutes Zeichen, Herr Rosenau, wenn Sie sich an dieses Leiden erinnern. Ein erster Fortschritt, wie ich meine, ich werde es gleich Professor Liebscher mitteilen. Und Sie werden sehen: Mit der Zeit kommt Ihnen auch die Erinnerung an all das andere wieder.“ An all das andere! Er starrte in ihr lächelndes Gesicht, und er hörte auf ihre Stimme, aus der ihm Sarkasmus entgegenzuklingen schien. „Und was macht der Kopf heute morgen? Sind Sie schmerzfrei? Bitte, antworten Sie nur, wenn Sie sich nicht von mir verhört glauben.“ Ihr Lächeln wurde offener, fast ein wenig mädchenhaft. Er erwiderte es mit Anstrengung. „Ich habe keine Schmerzen!“ Das war eine Lüge. „Gestern hatten Sie noch starke.“ „Gestern vielleicht, heute nicht!“ „Nun, auch das ist sicher ein gewisser Fortschritt.“ Er 94
wußte nicht, ob sie ihm glaubte oder nicht. Dann fuhr ihre Hand leicht über das Pflaster, mit dem seine Nase verklebt war. „Und hier?“ „Keine Schmerzen, schon seit Tagen nicht mehr.“ „Sehr schön!“ Sie erhob sich. Eine Weile lang starrte sie auf sein Bein, und er folgte ihrem Blick. Jedesmal, wenn er auf den Fuß schaute, der im Streck hochgezogen war, kam ihm der Gedanke an aufgehängte Menschen. Bisher hatte er sich darüber gewundert, aber seit der letzten Nacht wunderte er sich über nichts mehr. Plötzlich faßte sie an seinen Oberschenkel und drückte fest zu. „Tut es hier weh?“ „Nein, auch das habe ich Ihnen schon gesagt.“ „Manche Dinge will der Arzt immer wieder hören, Herr Rosenau“, erwiderte sie lächelnd. Wenn sie es so mädchenhaft tat, sah sie beinahe gut aus. Dann ging sie zur Tür. „Frau Doktor …?“ rief er ihr nach. „Ja –?“ Sie blieb stehen und wandte sich um. „Ich … weiß nicht, wie Sie heißen!“ „Ellen Reinhardt! Aber das wollten Sie mich eigentlich nicht fragen.“ „Nein.“ „Was sonst?“ „Ist es ernst zu nehmen, das mit meinem Herzen?“ „Nicht sehr! Eine leichte Dysregulation, nichts weiter.“ Er wußte, daß sie log. Er sah es nicht nur am Ausdruck ihres Gesichts, aus dem das Lächeln verschwunden war. Irgend etwas in dem Dunkel seines Innern sagte ihm, dieser Schaden an der Herzklappe sei ernster zu nehmen. Er beobachtete, wie sie aus dem Zimmer ging. Dann starrte er lange an dem aufgehängten Bein vorbei auf das weißlackierte Türblatt. Er befand sich in großer Gefahr. Jeder Tag, den er weiter in der Klinik zubrachte, vermehrte sie. Er sprach 95
im Schlaf! Letzte Nacht war er allein gewesen. Aber das mußte nicht immer so sein. Wie leicht konnte der Pfleger mit anhören, was in seinen Träumen aus ihm hervorbrach. Oder die Assistenzärztin, wenn sie Nachtdienst hatte. Diese Träume! Noch jetzt stand ihm die scheußliche Szene aus dem Wald vor Augen. Er wollte die Bilder abschütteln, aber er konnte es nicht. In welcher Zeit mochte sich das abgespielt haben? Er wußte es nicht. Plötzlich fiel ihm ein, daß seit jenen Morden viele Jahre verstrichen waren. Und er war entkommen! Warum sollte es diesmal nicht gelingen? Er mußte sich nur an alles erinnern, um sich darauf einzurichten. Und er mußte schnell gesund werden und aus diesem Krankenhaus heraus, dann könnte sicher alles weiterlaufen wie bisher. Damals ging er nach Brasilien. Der sympathische Pfleger erzählte ihm, daß er dort gelebt hatte. Aber er war als Mörder geflohen! Oder nicht? War er nicht der Mörder in dieser Szene, sondern das Opfer? Er sah sich kofferschleppend durch den Wald laufen, und Esther, seine Frau, neben sich. Sie knieten nieder, und er faßte nach ihrer Hand. Dann der Schuß! Er fühlte, wie er emporgenommen und niedergerissen wurde. Von diesem Schuß! Und er wußte, daß er tot war. Auf einmal war er dann der andere, der geschossen hatte. Im Traum war er beides zugleich gewesen, Mörder und Opfer! Sollte er, durch den Unfall ausgelöst, verrückt geworden sein? Hatte sich seine Persönlichkeit gespalten? Alles schien möglich. Der Mann begann zu stöhnen. „Können Sie mir sagen, was eine Konfabulation ist, Doktor?“ „Wie kommen Sie auf Konfabulation, warum wollen Sie das wissen?“ „Irgendwann war einmal die Rede davon. Ich bin fast sicher, daß Sie es damals anderen Leuten erklärten.“ 96
„Daran erinnern Sie sich?“ „Ja.“ Es war am Nachmittag, und Professor Liebscher saß an seinem Bett. Der Arzt kam immer zu dieser Zeit, um den Patienten zu untersuchen und mit ihm zu sprechen. Der alte, weißhaarige Herr sah den Mann im Bett eine Weile lang nachdenklich an. Schließlich fragte er: „Wie verbringen Sie die Nächte?“ Der Mann wurde plötzlich sehr wachsam. Er erwiderte: „Gut!“ „Haben Sie Träume?“ „Nein! Zumindest erinnere ich mich an keine!“ „Doktor Reinhardt sagte mir, Sie ruhten vielleicht nicht so, wie Sie sollten.“ „Die junge Frau irrt sich.“ „Ja, ja! Sie ist jung und besonders beflissen. Ich denke auch, daß sie sich irrt. Denn Sie machen mir einen ganz gekräftigten Eindruck, mein Freund.“ „Was ist eine Konfabulation, Doktor?“ Der Ausdruck in den Augen des Arztes schien auf Distanz zu gehen, und der Mann spürte, wie er diesen Blick ebenso erwiderte. So schauten sie sich eine Weile lang an. „Es ist reine Spinnerei“, sagte der Professor endlich. „Eine Konfabulation?“ „Ja, ja!“ Der alte, weißhaarige Herr nickte. „Sie müssen sich das so vorstellen: Ihr Gedächtnis ist wie ein leerer Bogen, ein Stück weißes Papier, sonst nichts. Sie starren darauf, mein Freund, und ganz allmählich erscheinen ein paar Zeichen. Mal hier ein Satz, mal dort. Oft sind es nur einzelne Wörter, manchmal nur Buchstaben. Und sie stehen nicht etwa in einer Reihe, wie es sich gehört. Nein, so ist es nicht. Manche befinden sich auf Zeile drei, andere auf Zeile vierzehn. Dazwischen klaffen leere Räume, weißes Papier eben. Was Sie also notdürftig zusammenbuchstabieren, ergibt wenig Sinn. 97
Und dieser Zustand macht Sie kribbelig. Sie versuchen nun, in die Zwischenräume etwas hineinzuschreiben, damit alles einen Zusammenhang bekommt. Und genau das nennt man eine Konfabulation.“ Auf einmal war eine große Last von seiner Brust genommen. Der Mann spürte es körperlich, und er begann zu lachen. „Finden Sie es erheiternd, was ich Ihnen erzähle?“ fragte der Arzt verwundert. „Ja, Doktor, ich finde es einigermaßen lustig!“ Es war so einfach! Die Bilder aus der Kindheit signalisierten den Kindheitstraum, nach Südamerika zu gehen. Später hörte er, er habe dort gelebt, sei mit dem Flugzeug dauernd hin- und hergeflogen. Das mußten die Zeilen drei und vierzehn sein. Und weil er sich nicht vorstellen konnte, wie er nach Amerika gekommen war, hatte er den Zwischenraum auf diese Weise ausgefüllt. Mit solchen mörderischen Bildern? Ja, und nochmals ja! Sein Hirn war gequetscht, die Nase aufgeschlagen, das Bein gebrochen. Wenn man etwas seelischen Streß nannte, dann entstand er wohl aus solchem Zustand! Alles in ihm hatte sich von Anfang an dagegen gesträubt, daß er ein Mörder sein sollte. Nein, er mußte der andere sein, dieser Rosenau! Und die Bilder seiner Ermordung! Vielleicht war es so gewesen, daß er damals nur knapp dem Tode entronnen war. Ja, genau so! Schließlich fragte der Mann: „Wir kennen uns schon lange Zeit, nicht wahr, Doktor?“ „Gleich nachdem Sie aus Brasilien heimkehrten“, erwiderte Professor Liebscher. „Sie haben sich in der Nähe angesiedelt und suchten mich wegen Ihres Herzleidens auf.“ „Haben wir auch gesellschaftlichen Umgang, wie man sagt?“ Der Arzt lächelte. „Wir haben manche Flasche Rotwein in Ihrem Haus getrunken.“ 98
In seinem Haus! Er hatte keinen Schimmer, wo das lag und wie es aussah. „Sie erinnern sich nicht?“ Der Mann schüttelte den Kopf. „Aber wenn wir uns näher kennen, muß ich Ihnen etwas von meiner Vergangenheit erzählt haben, das ergibt sich doch so. Außerdem sind Sie seit Jahren mein Arzt, also eine Vertrauensperson.“ „Was Ihre Vergangenheit angeht, waren Sie immer zugeknöpft, David. Und Vertrauensseligkeit liegt nicht in Ihrer Natur.“ Der Arzt formulierte vorsichtig, wie der Mann empfand. Zu vorsichtig? Wußte er mehr, als er sagte? „Ich nehme an, daß ich unverheiratet bin“, sagte er nach einer Weile, in der sie sich ansahen. „Wieso nehmen Sie das an?“ „Nun, meine Frau war noch nicht an meinem Bett.“ Der Mann lächelte. „Ja, es ist richtig. Sie leben allein!“ „War ich verheiratet?“ „Ihre Frau ist tot!“ Esther –! Gib mir deine Hand, Esther, halte sie ganz fest, ich bin ja bei dir! „Kinder –?“ fragte er. „Sie leben allein, David!“ Das war nur eine halbe Antwort und klang wie eine Ausflucht. Natürlich wußte der Arzt mehr, als er sagte. Denn er erinnerte sich genau daran, daß in diesem Raum von einer Tochter gesprochen wurde. Die war in den ersten Tagen sogar an seinem Bett erschienen. „Sie wissen nichts von alledem?“ Der Mann schüttelte den Kopf. „Ich erinnere mich ziemlich deutlich meiner Kindheit.“ „Wieweit reicht die an das Heute heran?“ „Überhaupt nicht, leider! Ich war ein kleiner Junge damals. Dann gibt es Bruchstücke, die etwas später liegen, damals war ich vielleicht fünfzehn, sechzehn.“ 99
„Sie wissen also gar nicht, daß wir unter anderem auch einen Krieg hatten?“ „Hatten wir den?“ fragte der Mann leichthin. „Und was habe ich damals gemacht? War ich Soldat?“ „Sie sind schon vorher aus Deutschland hinausgegangen, im Jahre achtunddreißig. Der Krieg kam erst ein Jahr später.“ „Ich wollte immer nach Übersee“, erwiderte er beinahe fröhlich, weil alles so gut zusammenpaßte. „Es war ein Jugendtraum von mir.“ „Sie mußten auch gehen!“ „Ich mußte? Wieso?“ „Sie sind Jude, David!“ Ja, natürlich, er war Jude! Dieser Name – David Rosenau. Es kam ihm wie selbstverständlich vor. „Meine Mutter hat ein kleines Geschäft besessen“, sagte er. „Seit Tagen zermartere ich mir den Schädel, aber es fällt mir nicht ein, was sie dort eigentlich verkaufte.“ „Schmuck!“ erwiderte der Arzt. „Ihre Eltern sind Juweliere gewesen.“ Der Mann schüttelte den Kopf. „Mein Vater war Seemann!“ „Richtig! Aber bereits im ersten Weltkrieg. Damals war er sogar so etwas wie ein Kriegsheld.“ Darauf antwortete er nicht, denn offensichtlich stimmte hier etwas nicht mit seiner Vorstellung überein. Er glaubte sich zu erinnern, daß sein Vater auch später zur See gefahren war. Der Arzt fuhr fort: „Und auch Sie selbst, David, haben das Goldschmiedehandwerk erlernt!“ Der Mann, den ein ungutes Gefühl beschlichen hatte, fühlte sich plötzlich erleichtert. Irgend etwas löste die letzte Bemerkung des Arztes in ihm aus. Goldschmiedehandwerk! Ja, das war es! Er sah sich in einem kleinen Zimmer sitzen, über einen Tisch gebeugt. Hatte er nicht eine Lupe ins Auge geklemmt? Stand nicht ein Mikro100
skop herum? Arbeitete er nicht mit kleinen Gerätschaften, die angenehm in der Hand lagen, an einem Material, das ebenfalls winzig war? Ja, natürlich! Aber er befand sich im Augenblick noch sehr weit weg von dem Raum, sah aus großer Entfernung zur Tür hinein. Und in dem Raum war nur wenig Licht. Professor Liebscher zog einen Brief aus der Anzugtasche und legte ihn auf die Bettdecke. „Hier habe ich etwas für Sie, David! Sehen Sie mal zu, was Sie damit anfangen können. Das Schreiben ging an Ihre Privatadresse, und Herr Wilhelm brachte es her.“ „Herr Wilhelm?“ „Ihr Sekretär! Er meinte, das würde Ihnen Freude machen.“ Es war ein größerer Umschlag aus festem, braunem Papier. Er nahm ihn zögernd, öffnete ihn und sah hinein. Es steckte ein weiteres Kuvert darin, das zog er hervor. Er erblickte eine Briefmarke, auf der ein Gebäude abgebildet war. Er starrte lange darauf, und plötzlich spürte er, daß etwas in ihm zu klingen begann. Auch der Stempel war schön, deutlich zu lesen und akkurat ins untere linke Drittel der Marke gesetzt. Der Mann spürte, daß er von dem Arzt aufmerksam beobachtet wurde. Sie sahen sich an. Es war das erste Mal, daß er Post im Krankenhaus empfing, irgend etwas mußten sie damit bezwecken. Ein Experiment vielleicht? „Warum schauen Sie nicht nach, David, was in dem Umschlag ist?“ fragte Professor Liebscher. Er tat es schließlich. Es befanden sich eine Steckkarte mit weiteren Briefmarken und ein Begleitschreiben darin. „Mexikanische …“, sagte er nachdenklich. Er begann sich zu freuen. Auf einmal war ihm zumute, als ob er auf diese Marken lange gewartet hatte. Dann griff er nach dem Briefbogen. Jemand schrieb ihm, er wolle seinen lieben Freund David überraschen. Er sei nach Brasilia 101
hinübergeflogen, um die Gedenkmarke mit dem Ersttagsstempel zu bekommen. Auch die mexikanischen Einzelwerte habe er endlich ergattert. Und da er wünsche, daß sein lieber Freund David sie gleich in Besitz nähme, warte er nicht darauf, bis sie sich in Rio wiedersähen, sondern schicke sie über den großen Teich. „Eine gute Nachricht, nicht wahr? Ich sehe es Ihrem Gesicht an.“ Der Mann wußte es nicht genau, er spürte nur so etwas wie Freude in sich. Noch immer starrte er auf den Bogen. Er hatte keine Ahnung, wer jener Schreiber war, der sich Senhor Sanchez nannte. Und dann merkte er, daß der Brief in portugiesisch abgefaßt wurde und daß er die Sprache fließend lesen und verstehen konnte. Es kam ihm seltsam vor, aber es brauchte ihn wohl nicht zu wundern, denn schließlich hatte er jahrelang in Brasilien gelebt. „Haben Sie mal eine Pinzette, Doktor?“ fragte er. Der Arzt gab ihm eine, und er fuhr damit unter die Folie. Er tat es vorsichtig, weil die Pinzette spitz war und man für diese Arbeit eigentlich eine mit abgeplatteten Enden benötigte. Er zog einen Wert hervor, wendete ihn, hielt die Marke gegen das Licht und prüfte die Zahnung. Er wunderte sich noch, mit welchem Sachverstand er es tat, aber da zuckte urplötzlich ein Blitz in ihm auf, und der zog eine Spur durch sein Hirn wie ein weißglänzender Pfeil. So hell und grell, daß sein Kopf zu schmerzen begann. Die Mutter: „Was suchst du da in den Alben mit den altdeutschen Marken?“ Der Junge: „Ich suche nach der ‚Sachsen-Drei‘, kann sie aber nicht finden.“ Die Mutter: „Aber Bübchen! Du weißt doch schon, daß die ‚Sachsen‘ zu den wertvollsten Marken überhaupt gehört. Wie könnten wir die wohl haben?“ 102
Der Junge: „Und wenn ein Kunde sie verlangt?“ Die Mutter: „Wenn das geschehen sollte, würde ich versuchen, eine aufzutreiben. Aber sei unbesorgt! In unserer Gegend kauft niemand solche Marken.“ Der Junge: „Wenn ich groß bin, werde ich eine ‚Sachsen-Drei‘ haben!“ Die Mutter: „Natürlich wirst du das, Bübchen! Da bin ich ganz sicher!“ Er sah das gütige Lächeln auf dem Gesicht seiner Mutter. Sie stand hinter der Theke des kleinen Ladens. Seit Stunden schon hatte die melodische Glocke über der Tür kein einziges Mal mehr gebimmelt. Seine Mutter hatte keinen Schmuck in ihrem Geschäft verkauft, und er hatte niemals das Goldschmiedehandwerk erlernt! Auch war sein Vater nicht als Kriegsheld zur See gefahren! Er war nicht dieser David Rosenau! Er teilte mit dem nur die Vorliebe für Briefmarken. Und was teilte er sonst mit ihm? Worin waren sie sich noch ähnlich? Irgendwann mußte er in die Rolle des Mannes geschlüpft sein, hatte dessen Leben weitergeführt. Das konnte nur heißen, daß David Rosenau tot war. Und er hatte ihn umgebracht! Es hatte sich alles abgespielt, wie er es in seinen nächtlichen Träumen wiedererlebt hatte. „Was ist mit meiner Tochter?“ fragte er. „Ich verstehe Sie nicht, David?“ antwortete der Arzt. Der Mann war auf einmal eiskalt. Er sagte: „Vor ein paar Tagen ist eine junge Frau hier im Zimmer gewesen. Habe ich das nur geträumt?“ Und zögernd von dem Arzt: „Nein –!“ „Ist sie meine Tochter?“ „Sie behauptet es.“ „Es stimmt aber nicht?“ Und da der Professor weiterhin zögerte, sagte er fordernd: „Rücken Sie schon heraus damit!“ „Ich habe es zunächst für möglich gehalten, David. Ich 103
weiß wenig über Ihre Vergangenheit; so habe ich Ihnen die junge Dame gegenübergestellt, weil ich hoffte, daß durch den plötzlichen Anstoß Ihr Erinnerungsvermögen zurückkehren könnte. Leider blieb es ohne Erfolg.“ „Das kann nur eins bedeuten!“ „Und was?“ „Sie ist nicht meine Tochter!“ „Das denke ich auch.“ „Und weshalb gab sie sich dafür aus?“ Auf dem Gesicht des Arztes lag ein Lächeln, nur die Augen hinter den getönten Brillengläsern lächelten nicht mit. Professor Liebscher sagte: „Sie sind ein reicher Mann, David! Und in den ersten Tagen haben wir kaum zu hoffen gewagt, daß Sie den Unfall überstehen könnten. Ich nehme an, die junge Frau wollte den Versuch unternehmen, an Ihr Vermögen heranzukommen.“ Der Arzt irrte sich. Natürlich war die junge Frau seine Tochter. Das heißt David Rosenaus Tochter! Des Mannes, den er getötet hatte. Der schöne euphorische Gedanke, er könne kein Mörder sein, war zerstoben. Er war es also, und merkwürdigerweise fand er sich rasch damit ab. Der Wunsch, aus allem heil herauszukommen, wurde übermächtig. Was wußte er schon von sich und von den Situationen, in denen er gesteckt hatte. Nur einen Fehler hatte er damals gemacht. Wenn er schon diesen David Rosenau töten mußte und dessen Ehefrau Esther sicher auch, weshalb hatte er dann die Tochter leben lassen? Das war ein verhängnisvoller Fehler gewesen, denn er spürte, daß ihm von dieser Frau Gefahr drohte.
8. Die Maschine schwebte vom Meer herein. Yvonne Rosenau, die am Fenster saß und hinausschaute, hatte plötz104
lich Angst, weil sie das Wasser so nahe kommen sah. Und trotzdem konnte sie sich dem Anblick nicht entziehen. Unter ihr lag die Côte d’Azur. Das Flugzeug vollführte eine mächtige Schleife, setzte auf der Landebahn auf, bremste ab und rollte aus. Mr. Patters und sie waren in Nizza gelandet. Als sie vor dem Flughafen in ein Taxi stiegen und sich in den Polstern zurücklehnten, spürte Yvonne zum ersten Mal die Hitze. Der Fahrer hatte alle Fenster heruntergekurbelt und saß im offenen Hemd da. Sie waren viel zu warm angezogen, dachte Yvonne. Sie sah ins flirrende Sonnenlicht hinaus und entdeckte überall Blumen, die in allen möglichen Farben blühten. Die Autostraße führte am Meer entlang. Immer wieder passierten sie Badestrände, und die waren auch noch zur Nachsaison besetzt. Die Sonne stand über dem Estérel-Gebirge, sie fuhren ihr direkt entgegen. Der Fahrer hatte die Sonnenblenden heruntergelassen und bahnte sich hupend den Weg, denn der Verkehr war dicht auf dieser Küstenstraße. Nach einer knappen Stunde kamen sie nach Cannes und erreichten das „Imperial“, in dem Mr. Patters Zimmer gebucht hatte. Es war eines jener Luxushotels mit Superbreiter Terrasse und Swimmingpool. Auch hier befanden sich ihre Zimmer nebeneinander. Nachdem sie Mr. Patters versprochen hatte, sich beim Umkleiden zu beeilen, fiel die Tür hinter ihr ins Schloß, und sie war allein. Noch niemals vorher hatte sie in einem solchen Hotel übernachtet, das hatte ihre Verhältnisse überstiegen. Seidentapeten an den Wänden und Teppiche, durch die man waten mußte. Als ihr Blick auf das breite Bett fiel, mußte sie merkwürdigerweise an Philip denken. Mit ihrem Mann war sie nicht in Urlaub gefahren. Doch, einmal! Von Wien aus in die Steiermark. Er wollte den Ort wiedersehen, von dem aus seine Flucht begann. Es wurde nicht lustig. Er lief die ganze Zeit über mit trübem Gesicht herum, und es waren nicht 105
einmal sosehr die Erinnerungen, die ihn quälten. Ihm hatte das Theater gefehlt. Philip war ohne Regiepult nicht denkbar; erst hinter der kleinen Lampe, unter der das Textbuch mit den vielen Eintragungen lag, entspannten sich seine Züge. Yvonne lächelte. Armer Philip! Sie ging nur kurz unter die kalte Dusche und suchte sich danach etwas Leichtes aus ihrem Koffer heraus. Wieder einmal wartete Mr. Patters in der Halle auf sie. Sie traten ins Freie, und der Portier winkte ihnen ein Taxi. Als sie in die Avenue du Gérard einbogen, mußte Yvonne an den Schwarm ihrer Mädchenjahre denken. An den großen Philipe, dem sie auf der Bühne eine leere Schüssel reichen durfte, aus der er dann ihre Liebe trank. Wie unbeschwert war sie damals gewesen. Wirkliche Ernsthaftigkeit kam erst mit dem anderen Philip in ihr Leben, der sich von dem charismatischen Schauspieler so grundlegend unterschied. Armer Philip? Ach, nein! Sie glaubte nicht, daß sie sich ohne ihren Mann jemals für die Drogenhilfe entschieden hätte. Sie wollte ihm auch dankbar sein. Der Wohnklotz erhob sich direkt vor ihren Augen. Die übereinandergetürmten Etagen waren jeweils um einige Meter nach rückwärts versetzt. Ein bißchen wirkte es, als würde das Haus vor ihrer Ankunft zurückweichen. Sie schritten durch die Halle und fuhren im Lift in die sechzehnte Etage hinauf. Sie wanderten einen endlos scheinenden Gang entlang, sahen nach den Namenschildern neben den Türen. Schließlich blieben sie stehen und läuteten. Aus dem Appartement drang laute Musik, dann brach die plötzlich ab, und es fielen zwei Schüsse. Darauf war es totenstill. Yvonne griff unwillkürlich nach Mr. Patters’ Arm. Gleich darauf hörten sie die Salve aus einer Maschinenpistole. Danach war es wieder still. 106
Die Hand des Engländers streckte sich aus, und Yvonne sah, daß sie nicht zitterte. Auch in seinem Gesicht rührte sich kein Muskel. Innen blieb alles ruhig, und so läutete Mr. Patters, gelassen wie immer, zum dritten Mal. Gleich darauf wurde die Tür geöffnet. Im Rahmen stand eine etwa fünfzigjährige Frau und blickte sie höflich lächelnd an. „Madame Carpentier?“ fragte der Engländer und deutete auf das Türschild. „Ja, Monsieur?“ „Ich bitte um Vergebung, daß wir so unangemeldet kommen. Wie bei einem Überfall …“ Archie Patters lächelte. Aus dem Appartement drang erneut die Salve einer Maschinenpistole, diesmal wesentlich lauter, da die Tür offenstand. Yvonne starrte erschrocken in die Wohnung hinein. Die Frau sagte: „Machen Sie sich nichts daraus. Es ist nur dieses entsetzliche TV. Und was wünschen Sie, Madame, Monsieur?“ „Ich bin Archie Patters“, sagte der Engländer. „Ja, und?“ „Natürlich wissen Sie nicht mehr, wer ich bin. Man wird älter, obwohl man das von Ihnen nicht sagen kann.“ Es war nicht nur ein Kompliment. Die Frau trug Shorts, die ihre gutgewachsenen und braungebrannten Beine erkennen ließen. Die oberen Knöpfe der Bluse standen offen und gewährten einen großzügigen Blick auf ihren Busen. Sie hatte schulterlanges Haar von tiefem Schwarz. Wahrscheinlich färbte sie es, denn sie mußte wohl längst grau sein. Auf ihrem Gesicht lag ein dezentes Make-up. Sie lächelte. „Müßte ich mich denn erinnern, Monsieur?“ „Eigentlich schon“, meinte Archie bescheiden. „Wir lernten uns in Paris kennen.“ „Da habe ich lange Zeit gelebt.“ 107
„Es war vierundvierzig, als der Krieg zu Ende ging.“ Die Frau nickte, als ob sie es geahnt hätte. Das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden und machte einem gequälten Ausdruck Platz. „Sie sind Engländer.“ „Ja, Madame!“ Für einen Moment hatte Yvonne den Eindruck, als wollte ihnen die Frau die Tür vor der Nase zuschlagen. Aber sie tat es nicht. Sie schien zu wissen, daß dies keine Lösung für das Problem brachte, das sie auf sich zukommen sah. Sie öffnete die Tür ein Stück weiter und forderte ihre Besucher auf: „Treten Sie näher, Madame, Monsieur!“ Sie kamen in eine Wohnhalle, und hier war der Lärm ohrenbetäubend; der Fernseher war voll aufgedreht. Davor hockten zwei Kinder, etwa zehn und zwölf Jahre alt, ein Knabe und ein Mädchen. „Françoise!“ brüllte die Frau. „Stell sofort dieses scheußliche TV aus! Wenn Papa aufwacht, gibt es ein Donnerwetter.“ „Für Papa ist es längst Zeit aufzustehen“, erwiderte das Mädchen. Madame Carpentier zuckte resigniert mit den Schultern. „Kommen Sie auf die Terrasse hinaus! Wollen mal sehen, ob wir dort unser eigenes Wort verstehen können. Sind das nicht schreckliche Kinder, Monsieur? Ich weiß nicht, wir waren früher anders.“ Sie gingen auf die Terrasse, die sich über die gesamte Fläche des Appartements erstreckte. Der Ausblick war von großer Schönheit. Yvonne lehnte an der Brüstung und sah tief unter sich die Bucht von Cannes und dahinter das tiefblaue Meer liegen. Von ebensolcher Farbe war auch der Himmel. Noch immer stand die Sonne über dem Estérel-Gebirge, aber die Hitze hatte inzwischen nachgelassen. Unter einem großen orangefarbenen Sonnenschirm befand sich ein Tisch mit Korbstühlen. Die Terrasse glich 108
einem blühenden Garten. Es gab Petunien und Geranien in Krügen, Hortensien und Rosen. In Kübeln standen Oleanderbüsche, und an der Hauswand rankten Klettergehölze, Efeu und Geißblatt und Clematis. Sie setzten sich unter den Sonnenschirm. Die Frau nahm einen Stuhl mit Blick auf die Kinder. Archie Patters fragte lächelnd: „Und Sie erkennen mich wirklich nicht, Madame?“ Sie erwiderte knapp und ohne sein Lächeln zu erwidern: „Doch!“ „Es tut mir leid, Madame, aber wir müssen über Vergangenes sprechen. Über Situationen, die Sie durchlebten, als Sie noch Marion Schneider hießen.“ „Ich dachte mir schon, Monsieur, daß Sie aus diesem Grund kommen. Ich habe es gleich gewußt, als ich die Tür öffnete und in Ihr Gesicht sah.“ Archie Patters legte seine Krokodilledertasche auf den Tisch und zog die Farbfotos hervor, die den SS-Obersturmführer Walter Klemm auf dem Flugplatz zeigten. Er schob die Aufnahmen in ihre Richtung, und sie warf einen Blick darauf. Ihr Gesicht blieb eine einzige undurchdringliche Maske. Schließlich griff sie nach der Vergrößerung mit dem Gesicht des Mannes. Sie wollte es gar nicht, aber ihre Hände gehorchten ihr einfach nicht. Sie starrte lange darauf. „Erkennen Sie ihn?“ fragte Archie Patters. Sie schüttelte den Kopf, reden konnte sie in diesem Moment nicht. Der Engländer zog zwei weitere Bilder hervor, die den jungen SS-Führer in Uniform und Zivil zeigten. Er legte die alten Fotos neben die neuen. „Und den hier?“ Sie warf nur einen Blick darauf, dann erhob sie sich. „Ich denke, Sie nehmen eine Erfrischung. Tonic-water oder Bitter Lemon? Mit ein wenig Alkohol?“ Mr. Patters sah Yvonne an und erwiderte: „Warum nicht?“ 109
Die Frau ging zu einem Bartisch und füllte Gläser, tat Eis aus einer Kühlbox hinzu. Damit kam sie zurück, und sie tranken. Darauf zündeten sie sich Zigaretten an, filterlose Gouloise, die ihnen die Frau reichte. Dann sagte sie: „Er hat es also überlebt?“ „Wenn es der Mann auf den Farbfotos ist, dann hat er es!“ „Er ist es!“ „Ich dachte mir schon, daß Sie ihn für uns identifizieren könnten.“ „Sieht erstaunlich gut aus, nicht wahr? Scheint ein feiner Herr geworden zu sein.“ „Geschäftsmann!“ sagte Archie Patters. Und sie erwiderte: „Natürlich!“ Sie blickten sich mit unbewegten Gesichtern an. Dann wandte sich die Frau Yvonne zu. „Und Sie, Madame, sind Sie auch Engländerin?“ „Ich bin Französin“, erwiderte Yvonne. „Ich heiße Yvonne Rosenau.“ Über das Gesicht der Frau huschte der Anflug eines Lächelns, erstarb aber schnell. „Stammen Sie etwa auch aus dem Elsaß?“ „Nein.“ Madame Carpentiers Blick kehrte zu dem Engländer zurück. „Und was wünschen Sie nun von mir, Monsieur?“ „Ich deutete es schon an! Wir wollen Sie bitten, diesen Mann für uns zu identifizieren!“ „Und wo soll das stattfinden?“ „Bei einem zu erwartenden Prozeß.“ „Nein!“ „Nein? Was heißt das: nein?“ „Das heißt, ich werde bei einem Prozeß nicht als Zeugin auftreten.“ „Sie wollen nicht, daß dieser Mann für seine Verbrechen zur Verantwortung gezogen wird?“ „Natürlich! Aber ich sage trotzdem nein!“ 110
Der Engländer sah zu Yvonne hinüber, die weit zurückgelehnt saß und an ihrem Glas nippte. Ganz offensichtlich wollte sie sich nicht an dem Gespräch beteiligen. Ihr Blick ging in den Himmel der Côte d’Azur hinauf. Aus dem senkte sich gerade eine Passagiermaschine im Landeanflug auf Nizza herab. Auch dieses Flugzeug schwebte über das Meer herein. „Warum wollen Sie uns nicht helfen, Madame?“ hörte sie Archie Patters fragen. „Möchten Sie uns nicht die Gründe nennen?“ Die Frau antwortete sehr höflich und sehr entschieden: „Ich muß nicht einmal mit Ihnen reden. Kommen Sie im Auftrag einer Behörde?“ „Nein.“ „Na, sehen Sie!“ In diesem Augenblick stürmten die beiden Kinder auf die Terrasse. Wenn es ihre eigenen waren, mußte sie die erst spät bekommen haben. Besonders der kleine Junge sah ihr ähnlich. „Das sind Françoise und Marius, ganz drollig, auch artig, wenn man einmal von dieser scheußlichen Televisionsgeilheit absieht. Gebt den Herrschaften die Hand, Kinder!“ Das Mädchen und der Junge taten es höflich, dann stellten sie sich seitlich neben den Stuhl der Mutter. Auf einmal war in deren Gesicht ein weicher Zug zurückgekehrt. Sie fragte: „Und jetzt?“ „Wir möchten baden gehen“, bat Françoise. „Schulaufgaben?“ „Keine!“ „Soll ich nachschauen?“ „Aber Mama –!“ „Geht schon endlich!“ Die Kinder umarmten die Mutter leidenschaftlich, hingen an ihrem Hals und gaben ihr Küsse. Dann ließen sie ebenso schnell ab und stoben über die Terrasse davon. Die 111
Frau schien erleichtert zu sein, weil sie aus dem Appartement verschwanden. Sie wandte sich wieder den Gästen zu und fing einen Blick von Yvonne auf. Sie hatte den Kindern mit einem seltsamen Ausdruck hinterhergeschaut. Madame Carpentier sagte: „Vielleicht sind Sie überrascht, daß ich so kleine Kinder habe? Ich habe sehr spät geheiratet. Das hat mit meiner Vergangenheit zu tun.“ „Wir empfinden Ihr Glück mit Ihnen, Madame“, meinte Archie Patters. „Wir wollen, daß Sie es genießen, mit Ihrem Mann, mit Ihren entzückenden Kindern. In dieser schönen Wohnung, in dieser wirklich luxuriösen Umgebung …“ Sie lauschte auf den Klang seiner Stimme. „Wie Sie das sagen, Monsieur, klingt es beinahe wie eine Drohung.“ „Aber es ist eine Drohung, Madame!“ antwortete Archie Patters gelassen. Die Frau griff nach den Zigaretten, zündete sich eine an. Ihre Hände zitterten leicht. Ihr Ton dagegen blieb fest, beinahe hochmütig. „Lassen Sie mal hören, ob Sie das überhaupt können.“ „Ihr Mann arbeitet im Spielcasino als Croupier.“ „Ja, und?“ „Es ist eine sehr gut bezahlte Stellung. Hinzu kommen phantastische Trinkgelder. Und es ist vor allem eine Vertrauensstellung, der eines Bankbeamten nicht unähnlich.“ „Sie haben sich natürlich erkundigt.“ „Ja.“ „Der gute, alte Geheimdienst, nicht wahr?“ Archie Patters grinste nur. „Und was wissen Sie noch, Monsieur?“ „Wir wissen, daß Ihr Mann von Ihrem Vorleben keine Ahnung hat. Keinen Schimmer von den Begebenheiten, die Mademoiselle Schneider bis in die GestapoLeitzentrale in Paris geführt haben.“ Auf einmal saß Madame Carpentier kerzengerade auf112
recht. Wie zwei Bollwerke reckten sich ihre Brüste dem Engländer entgegen. Ihr Gesicht glich einer wächsernen Maske. „Monsieur …!“ Sie stockte. Und dann mit etwas festerer Stimme: „Ich habe für mein Land gearbeitet!“ „Natürlich, Madame, niemand weiß es besser als ich. Aber Sie haben nicht gerade Brücken gesprengt, nicht wahr? Keine Züge zum Entgleisen gebracht.“ „Seien Sie still, Monsieur!“ Archie Patters folgte ihrem Blick, und da sah er einen Mann durch die Wohnhalle gehen. Er trug ein Badetuch um die Lenden gewickelt, sonst nichts. „Du hast Besuch, Chérie? Ich beeil’ mich, nur ein paar Minuten!“ Damit verschwand er durch eine Tür. „Wir können hier nicht reden, Monsieur!“ Die Stimme der Frau hatte plötzlich einen flehenden Klang. Archie Patters fuhr ungerührt fort: „Ich nehme sicher an, daß Ihr Mann zu Ihnen hält, wenn etwas von Ihrer Liaison mit einem hohen SS-Offizier bekannt wird, einem gemeinen Mörder. Aber was wird die Casinoleitung sagen? Sie wissen doch, daß auf das Privatleben der Angestellten nicht einmal die Andeutung eines Verdachtes fallen sollte. Nicht eine Winzigkeit darf es von den Normen gesetzter Bürgerlichkeit abweichen. Das wissen Sie doch alles, Madame!“ „Um Gottes willen, hören Sie auf, Monsieur!“ „Es geht um die Entlarvung eines Mörders, Madame Carpentier, und da müssen Sie uns helfen. Sie sollten nur sehen, daß es mir ernst ist.“ „Madame, Monsieur, ich muß Sie bitten zu gehen. Wir können hier nicht sprechen.“ „Wo –?“ „Ich weiß es nicht.“ „Wann und wo? Aber es muß noch heute sein.“ Die Frau dachte einige Sekunden nach. Dann fragte sie: „Kennen Sie sich aus in Cannes?“ 113
„Wir finden uns schon zurecht.“ „Treffen wir uns bei ‚Felix‘. Das ist auf der Croisette. Sie können es gar nicht verfehlen.“ „Gut, Madame! Und wann?“ „Ich werde gegen neun Uhr kommen. Da ist mein Mann zum Dienst, und die Kinder sind im Bett.“ „Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen, Madame!“ Archie Patters hatte zu seinen Manieren zurückgefunden. „Und ich will Ihnen versichern, daß wir alles mit äußerster Diskretion unternehmen werden.“ Die Frau antwortete nicht. Sie erhob sich, und die beiden anderen mit ihr. Als sie durch die Wohnhalle schritten, kam ihnen der Mann wieder entgegen. Diesmal trug er eine Segeltuchhose und darüber ein leichtes, offenes Hemd. Er lächelte. „Sie wollen doch nicht schon gehen?“ „Wir müssen, leider.“ Auch Archie Patters strahlte. „Wir sind ohnehin viel zu lange geblieben.“ „Die beiden haben Grüße von den Pelletiers gebracht“, sagte die Frau, ebenso heiter und unbeschwert. „Aus Paris, weißt du? Madame Rosenau, Monsieur Patters, sie sind auf der Durchreise.“ Sie schüttelten sich die Hände. Der Mann hatte eine Glatze wie Yul Brunner, aber das Gesicht wirkte jugendlich. Er war mindestens fünf Jahre jünger als seine Frau. „Ich habe verdammt gut geschlafen“, sagte er und legte den Arm um ihre Schulter. „Aber trotzdem, habe ich nicht Schüsse gehört? Fand nicht mal wieder eine dieser Metzeleien statt?“ „Das war im TV. Du solltest mit den Kindern ein ernstes Wort reden.“ „Wozu, Chérie? Laß ihnen doch den kleinen Spaß!“ Von dem Appartement der Carpentiers brachte sie ein Taxi in die Stadt zurück. Im Wagen fragte Archie Patters: „Was hielten Sie davon, wenn wir ein Stück hinaus114
schwimmen? Irgendwie müssen wir die Zeit bis zum Abend hinbringen.“ „Von mir aus können Sie allein baden gehen, Patters“, sagte Yvonne so leise, daß der Fahrer sie nicht hörte. „Von mir aus können Sie sich auch im Meer ertränken.“ Der Engländer lachte vergnügt. „Ohne Sie macht mir nicht einmal das Spaß, meine charmante Freundin.“ Sie verließen das Taxi beim Alten Hafen und gingen ein Stück zu Fuß. Viele Segelboote lagen hier vertäut, es roch nach brackigem Wasser. Dahinter kamen sie an den Strand. Yvonne stürmte an Fischerbooten vorbei, die auf den Sand gezogen waren, vorbei an zum Trocknen aufgehängten Netzen. Unterdessen entlud sich ihre Wut. „Sie haben sich ganz abscheulich benommen, Mr. Patters!“ Der Engländer, der kaum mit ihr Schritt halten konnte, lächelte gütig. Wahrscheinlich war er viel zu alt, um sich zu erregen. „Diese Geheimdienste –!“ Yvonne zitterte vor Empörung. „Wenn die Maske fällt, sieht man die Fratze der nackten und brutalen Erpressung.“ „Sicher meinen Sie unser kleines Gespräch mit Madame Carpentier. Ich mußte die Frau aus ihrer Bürgerlichkeit aufschrecken. Ich verstehe, daß sie ruhen lassen möchte, was vergangen ist, aber es geht eben nicht. Unsere Sache ist zu wichtig.“ „Die Frau hat zwei kleine Kinder“, stieß Yvonne hervor. „Ich werde nicht zulassen, daß sie in Schwierigkeiten kommt.“ „Ja, sie hat eine nette Familie“, bestätigte Patters. „Und was haben Sie, Yvonne?“ Darauf erwiderte sie nichts, denn mit seinem letzten Satz hatte er ihren Nerv getroffen. Am Rande des Strandes sah sie zur Straße hin eine Bank. Darauf ging sie zu und setzte sich. Die Sonne sank immer tiefer und hüllte die Felsen des Estérel-Gebirges in bläuliches Licht. Es war aber noch immer sehr warm. 115
Yvonne fühlte sich erschöpft, ziemlich nah am Rande ihrer Kraft. Sie hatte sich nie für leichtfertig gehalten. Wie kam es dann aber, daß ihr erst seit dem Gespräch in London bewußt wurde, wie sehr ihre Eltern gelitten hatten? In der Emigration. Unter Okkupationstruppen, die auch Deutsche waren. Mit einem kleinen Kind, das sie vor den Mördern retten wollten. Was für Qualen waren das gewesen. Und was für ein Schicksal am Ende! Mußten wirklich erst diese Engländer kommen, um ihr das deutlich zu machen? Seitdem verstand sie auch Philip besser. Hatte sie ihn nicht mit diesen Problemen allein gelassen? Hatte er nicht etwas erwartet von ihr, was sie ihm nicht gegeben hatte? Obwohl darin sicher nicht der Grund für ihre Trennung lag. Sie hatten keine Kinder miteinander, und ohne Kinder entstand keine Familie. Das war ihre Überzeugung. Aber gerade deshalb würde sie nicht zulassen, daß den Carpentiers etwas geschah. Trotz allem nicht! Sie verstand Marion sehr gut. Der Prozeß würde Aufsehen erregen. Die Zeitungen würden sich darauf stürzen, die Illustrierten! Und diese Frau im Mittelpunkt einer Fortsetzungsreihe. Als Geliebte eines SS-Mörders! Und ihr Mann? Ihre Kinder? Nein, sie begriff, daß Marion ihr Inkognito schützen wollte. Und sie würde ihr dabei helfen. Yvonne und Patters saßen schon seit einer Weile schweigend auf der Bank. Der Engländer hatte die Beine von sich gestreckt und den obersten Hemdenknopf geöffnet, er schien zu dösen. Tat sie aber nicht auch dem alten Mann unrecht? Trotz seiner rüden Methoden? Im Grunde machte er alles ihretwegen. Und dennoch mußte er erkennen, daß sie seine Unterstützung unter solchen Bedingungen nicht akzeptieren konnte. Ihr Zorn war längst verraucht, und sie begann zu lächeln. „Mister Patters?“ fragte sie. Er öffnete die Augen. „Ja, Yvonne?“ 116
„Ein Geheimdienstmann bleibt man für immer, nicht wahr?“ „Gewissermaßen.“ „Und eine Lady Chessman hat es nie gegeben!“ Es entstand eine Pause. Schließlich sagte er: „Ich glaube, daß wir das Geld in Ihrer Drogenhilfe gut angelegt haben.“ Er drehte den Kopf in ihre Richtung, und eine ganze Weile schauten sie sich an. „Ich mußte mit Ihnen in Kontakt kommen, Yvonne, weil Sie beweisen können, daß jener Mann in Hamburg nicht der jüdische Emigrant David Rosenau ist.“ „So wie Madame Carpentier die Verbindung zwischen ihm und dem SS-Mörder Klemm herstellen kann?“ „Ja.“ „Bei mir haben Sie es mit Bestechung gemacht und bei der anderen mit Erpressung. Ein feiner Job!“ „Ein mieser Job, aber leider notwendig.“ „Ich will nicht, daß diese Familie in Schwierigkeiten kommt.“ Er antwortete nicht. „Haben Sie gehört, Patters? Damit ist es mir ernst.“ „Wer weiß, wann es zu einem Prozeß kommt“, meinte er schließlich. „Und ob überhaupt? Wer kann das sagen?“ „Wieso denn das?“ „Um Politik kümmern Sie sich nicht allzusehr?“ „Nein.“ „Ich habe es mein Leben lang getan, Yvonne, und der Nazismus ist so etwas wie ein Spezialgebiet von mir. Hängt wohl mit der Arbeit meiner frühen Jahre zusammen. Die bürgerliche Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland hat sich immer schwer getan mit der Abrechnung des Nazismus.“ „Sie meinen wohl, die haben es sich zu leicht gemacht?“ „Oder so! Aber in diesem Fall gibt es vielleicht doch 117
eine Chance. Klemm kann sich nicht auf Befehlsnotstand oder ähnlichen Blödsinn herausreden. Er ist ein gemeiner Mörder, nichts weiter!“ Vor dem Restaurant „Felix“ standen Tische unter einer Markise, und die meisten von ihnen waren frei. Yvonne, die an der frischen Luft bleiben wollte, ließ sich in einer Ecke nieder. Sie bestellten Bouillabaisse, die hervorragend schmeckte, und Wein. Während der Mahlzeit sprachen sie nicht. Sie hingen ihren Gedanken nach, aber im Grunde warteten sie. Madame Carpentier kam auf die Minute pünktlich. Sie glitt schweigend auf den Stuhl, den Patters ihr zurechtschob. „Möchten Sie etwas zu essen?“ fragte er. „Nein, danke!“ „Wir haben hier einen feinen Bordeaux, scheint nicht mal gepanscht zu sein.“ „Nicht bei ‚Felix‘!“ „Möchten Sie von dem?“ „Mir ist alles recht.“ Archie Patters schenkte ihr ein Glas ein. „Ich hoffe nicht, daß Sie Feinde in uns sehen, Madame.“ „Nein, ich hatte ja Zeit zum Überlegen. Aber ich weiß natürlich, daß Sie mich in große Schwierigkeiten bringen werden.“ Patters schüttelte lächelnd den Kopf, reichte ihr eine Schachtel Zigaretten hin, aber sie bestand auf ihren Gouloise. Während er ihr Feuer gab, sagte er: „Ich habe Sie während des Krieges bewundert, Madame! Wir saßen in London in relativer Sicherheit, aber Sie taten es nicht! Ich habe Ihren Mut bewundert!“ „Ich war damals verdammt jung. Und vielleicht hat mich das angenehme Leben inzwischen feige gemacht.“ „Nicht Sie, Madame!“ Archie Patters sagte es mit Überzeugung, und plötz118
lich begann sie zu lächeln. Irgendwie schien das Eis zwischen ihnen brüchig zu werden. „Bevor wir ins Gespräch kommen, Monsieur Patters“, meinte sie, „möchte ich etwas über Ihre Begleiterin erfahren.“ Der Engländer antwortete: „Sie ist die Tochter jüdischer Emigranten.“ Madame Carpentier wandte sich Yvonne zu. „Ich denke, Sie sind Französin, Madame, sagten Sie das nicht?“ „Ich bin in Paris geboren“, erwiderte Yvonne. „So wurde ich französische Staatsbürgerin.“ Und nach einer Pause setzte sie leise hinzu: „Ich bin Französin wie Sie, Marion!“ Die beiden Frauen blickten sich in die Augen. Immer weiter schien das Eis aufzubrechen. „Und was hatten Sie mit dem SS-Führer Klemm zu tun?“ Der Engländer antwortete für Yvonne: „Wir halten ihn für den Mörder ihrer Eltern.“ „Sie meinen, daß er sie deportieren ließ?“ „Nein, wir halten für möglich, daß er sie eigenhändig umbrachte.“ „In den Kellern unter der Gestapo-Leitzentrale?“ „Nein, an der Demarkationslinie.“ Etwas schien in Marion Carpentier aufzuzucken, ein Gedanke, eine Erinnerung, die sie erst einordnen mußte. Schließlich sagte sie leise: „Sie meinen die Fotokopie der Landkarte, die ich Ihnen schickte?“ „Ja.“ Marion dachte nach. „Es ist wirklich lange her, und ich war schließlich froh, als ich es vergessen konnte. Außerdem habe ich damals alles zu Protokoll gegeben. Berge von Akten.“ „Die haben wir nicht mehr zu Gesicht bekommen“, meinte Archie Patters. „Die Sûreté hat uns die Angelegenheit aus den Händen genommen.“ 119
Marion lächelte. „De Gaulle –!“ Patters lächelte ebenso. „Ja!“ „Sie waren auch zu mir nicht besonders nett. Sie haben mir zwar nicht das Haar abgeschnitten, aber einen Orden gaben sie mir auch nicht.“ Sie drückte die Zigarette aus und griff nach einer weiteren. „Er machte viele Reisen damals, seit zweiundvierzig etwa. Er sagte mir immer, er müsse nach Berlin ins Reichssicherheitshauptamt, aber es stimmte wohl in den seltensten Fällen.“ Sie schwieg. „Vielleicht fangen Sie ganz am Anfang an“, bat Archie Patters. „Wie meinen Sie das?“ „Wie Sie ihn kennenlernten, Marion, denke ich. So kommen die Erinnerungen am besten.“ „Am Anfang, ja, ja –!“ Sie schaute auf die Croisette hinaus. Draußen vor dem Restaurant hatte man Rabatten angelegt, die Blumen blühten prächtig unter den hohen Palmen. „Meine Familie stammt aus dem Elsaß, die eine Großmutter war Deutsche. Ich bin zweisprachig aufgewachsen, sprach deutsch wie meine Muttersprache. Nach dem Krieg habe ich es irgendwie verlernt. Mein Vater hatte eine Exportfirma, seine Geschäfte wickelte er überwiegend mit Deutschland ab. Im vergangenen Herbst ist er verstorben, Gott hab ihn selig. Er war als deutschfreundlich bekannt, ich meine die Zeit vor dem Krieg und auch während des Krieges. Ich war es nicht. Ich war eine glühende Patriotin, wie es sich für einen sehr jungen Menschen gehörte. Meine Gruppe befahl mir, die Gestapo anzugehen. Durch meine Herkunft schienen die Voraussetzungen geradezu ideal zu sein. Ich ließ mich als Spitzel anwerben. Bald darauf lernte ich Klemm kennen, und wenig später lag ich in seinem Bett. Geben Sie mir noch einen Schluck zu trinken!“ Der Engländer füllte ihr das Glas voll, und sie nahm davon. Dann fuhr sie fort: „Ganz so unkompliziert ging 120
es dann allerdings doch nicht ab. Ich hatte eine ziemlich lebhafte Auseinandersetzung mit dem Leiter meiner Gruppe. Er bat mich dringend. Er war selbst ein guter Mann, waghalsig, er schonte sich auch nicht. Ich konnte es ihm also gar nicht abschlagen.“ „Lebt er noch?“ Im Gesicht der Frau stand plötzlich ein feines Lächeln. „Ich weiß es nicht, Monsieur!“ Archie Patters wechselte das Thema. „Wollen wir mal auf Klemm kommen. Was war er für ein Mensch? Auch ein Mörder läuft schließlich nicht immer schiefmäulig herum.“ „Er hatte durchaus Charme.“ „Haben Sie etwas für ihn empfunden?“ „Natürlich, Monsieur! Wie hätte ich ihn sonst nehmen können, über Jahre! Das wäre nicht gegangen. Sie müßten es ohnehin aus dem kleinen Brevier für angehende Spione wissen.“ Archie Patters lächelte nicht über den blanken Zynismus, er blieb eher nachdenklich. „Verstehe!“ „Natürlich verstehen Sie, Monsieur! Und Sie, Yvonne, verstehen Sie es auch?“ „Ich gebe mir Mühe!“ „Scheißpatriotismus!“ Sie griff nach dem Glas und trank einen großen Schluck. Darauf wurde sie wieder sachlich. „Man versucht zu kompensieren! So spielte er zum Beispiel Klavier. Er klimperte nicht nur herum, sondern er spielte großartig. Chopin! Ja – und Tschaikowski! Man stellt sich die Nazigrößen immer mit Wagner vor. Aber er liebte Tschaikowski heiß und innig. Ich glaube, er war reichlich sentimental. Wenn er am Flügel saß, hatte er ein anderes Gesicht. Er wollte mich auch heiraten, er liebte mich wohl wirklich. Nach dem deutschen Endsieg, sagte er, sei die Vermischung von Rassen möglich. Außerdem hätte ich eine deutsche Großmutter.“ „Hätten Sie ihn geheiratet?“ 121
„Natürlich, Monsieur! Und in der Hochzeitsnacht hätte ich ihn mit diesen meinen Händen erwürgt.“ Plötzlich lachte sie auf, laut und ungeniert. Yvonne begriff die widerstreitenden Gefühle der Frau. Irritiert wandte sie sich ab. Das Meer hinter der Croisette war längst in dunkle Nacht gehüllt. Marion Carpentier fuhr fort: „Alles in allem war es eine Profession, um die ich kein Mädchen beneiden möchte. Und mir selbst habe ich auch nur vergeben, weil wir einigen Leuten wirklich halfen. Es gelang, geplante Razzien aufzudecken, manche Personen konnten wir direkt warnen. Ich weiß von welchen, die entkamen. Nach dem Krieg habe ich sie getroffen. Ich glaub’ schon, daß sie mir auch dankbar gewesen wären.“ „Haben Sie es Ihnen denn nicht gesagt?“ „O nein, Monsieur! Nach dem Krieg, als alles publik wurde, habe ich mich sehr geschämt.“ Archie Patters nickte nachdenklich, und eine Weile schwiegen sie. Dann fragte er weiter: „Haben Sie andere SS-Führer aus seiner Umgebung kennengelernt?“ „Ich erinnere mich an zwei, mit denen er privat Umgang hatte. Ich wohnte ja bei ihm und mußte die Hausfrau machen, wenn sie zu Besuch kamen.“ „Handtner, Kodelke?“ „Ich weiß nicht mehr, Monsieur, kann sein. Einer war jedenfalls Arzt. Ich wunderte mich, was der im Judenreferat zu tun hatte. Wahrscheinlich untersuchten sie ihre Opfer, damit sie die Fahrt in die Vernichtungslager überstanden. Die Deutschen sind ja sehr korrekt. Kodelke –? Ja, möglicherweise hieß er so. Die Landkarte, von der Sie vorhin sprachen, fand ich übrigens zwischen Buchreihen. Es war eine Rilkeausgabe, das weiß ich genau. Sehr schöne Gedichte!“ Sie schwiegen, weil der Kellner mit einer zweiten Flasche Bordeaux an den Tisch trat. Sie warteten, bis er eingeschenkt hatte und wieder gegangen war. 122
„Jene Dienstreisen“, fragte Archie Patters dann, „begannen im Jahre zweiundvierzig?“ „So etwa. Und sie hielten an, bis er verschwand. Zur Demarkationslinie also –! Fand man nicht in jener Gegend …“ Sie stockte. „Ja, Madame!“ „Oh, mein Gott!“ Eine ganze Weile schauten sie sich nicht an. Dann griff sie entschlossen nach den Zigaretten und zündete sich eine an. Sie schien sich einen Ruck zu geben. Sie wollte wohl durch die Geschichte, in die sie sich zurückgerissen fühlte, möglichst schnell hindurch. „Eines Tages gelang es mir, seinen Safe zu öffnen. Es lagen Schmuck und Geld darin – und Briefmarken! Ja, so war es! Damals hatten wir Stalingrad erreicht. Schon lange vorher wußte er, daß es eines Tages aus sein würde. Er war alles andere als dumm, müssen Sie wissen. Und karrierebewußt! Schauen Sie mal, er war ja nicht viel älter als ich. Eine dieser schnellen Karrieren, die es manchmal gibt. Man müßte Vorsorge treffen für die Zeit nach dem Krieg, sagte er. Es gäbe viele Länder, in denen es sich leben ließe, und die brauchten nicht einmal in Europa zu liegen. Nach Stalingrad betrank er sich manchmal. Das hatte er vorher nie getan, auch nicht geraucht, plötzlich tat er beides. Einmal lag er im Vollrausch, und da kam ich an seine Schlüssel heran. Ich öffnete den Safe. In einem Lederbeutel fand ich Steine, Edelsteine, die offensichtlich aus ihren Fassungen herausgebrochen waren. Durch meine Familie verstand ich etwas von Schmuck. Die Steine waren von großem Wert. Und dann das Geld! Dollars, englische Pfunde, Gulden und Schweizer Franken. Sehr viele Währungen, außer der französischen und deutschen. Ich weiß nicht, wieviel, aber es muß ein Vermögen gewesen sein. Und schließlich viele alte Briefmarken! Aber davon verstand ich nichts.“ 123
„Was wußten Sie über seine Arbeit?“ „Er war so etwas wie ein Geheimdienstmann, Monsieur! Mehr muß ich Ihnen wohl nicht sagen. Meine Kenntnisse blieben also durchaus an der Oberfläche. Ich wußte aber immerhin, daß er Transporte mit Juden zusammenstellte.“ „Wohin kamen die?“ „Das dürfte Ihnen bekannt sein, Monsieur!“ Plötzlich wurde ihre Stimme eisig. „Was dachten Sie damals, Madame?“ „Er sagte mir, die Juden würden nach Osteuropa ausgesiedelt, wohin sie gehörten.“ „Glaubten Sie ihm?“ „Ja. Was wirklich geschah, war für ein normales Gehirn nicht faßbar.“ „Aber er hat es gewußt?“ „Natürlich!“ „Da sind Sie sicher?“ „Warum hätte er sonst auf diese Weise Vorsorge für sich treffen sollen?“ Sie überlegte einen Moment. „Ich habe eigentlich immer geglaubt, daß er einige Juden laufenließ, reiche natürlich nur. Als Rückversicherung und um Schätze für sich anzuhäufen. Ich hätte nicht gedacht, daß er eigenhändig … Sie haben Beweise dafür?“ „Madame Rosenau ist der Beweis!“ Sie blickte nachdenklich zu Yvonne hinüber. „Verstehe! Und nun lebt er ganz unbescholten? Auf den Fotos, die Sie mir zeigten, sieht er recht bedeutsam aus.“ „Er ist ein großer Mann geworden.“ „Und reich –!“ „Versteht sich!“ „Vom Geld der Leute, die er umbrachte!“ Sie schwieg und starrte lange vor sich nieder. Und dann, ohne den Blick zu heben, sagte sie: „Greifen Sie ihn, Monsieur! Nehmen Sie keine Rücksicht auf mich! Auch nicht auf meine Familie! Mein Mann und ich, wir 124
lieben uns, und in schweren Zeiten muß sich die Liebe beweisen. Ich komme zu Ihrem Prozeß. Und es wird mir eine Ehre sein, mit dem Finger auf ihn zu weisen!“
9. Der Mann in seinem Bett hatte die Straßen genau vor sich, durch die er als Junge gelaufen war. Er sah sie überdeutlich. Nur eins war eigenartig, er hatte alle Namen vergessen. Und er wußte auch nicht, in welcher Gegend der Stadt sich alles abspielte. Aber den Weg zur Hochbahn kannte er genau. Die lag in einer Wohnstraße, wurde von hübschen, modernen Backsteinhäusern eingerahmt. Zwei Fahrbahnen gab es, mit einem grünen Mittelstreifen, auf dem Kastanien standen. Der Junge lehnte an einem dieser Bäume, etwas abseits, gegenüber einer Eckkneipe, in die sein Vater sicher hineingehen würde. Kurz vorm Eingang wollte er ihn abfangen, und er freute sich schon auf das enttäuschte Gesicht. Er wartete lange unter der Kastanie. Jeder Hochbahnzug spuckte Familienväter aus, die von ihren Geschäften aus der Innenstadt heimkehrten. Der Vater kam nicht. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal den Weg bis zur Bahn geschafft. Der Junge wollte gerade aufgeben, als er ihn dann doch noch auftauchen sah. Und an diesem Nachmittag steuerte er auch nicht die Wirtschaft an der Ecke an, sondern ging in entgegengesetzter Richtung davon. Er hatte einen energischen, ausholenden Gang, und daran erkannte der Junge, daß der Vater stocknüchtern war. Verblüfft folgte er ihm. Die Wohnstraße war noch etwa zweihundert Meter lang, dann hörte die Bebauung auf. Daran schloß sich ein großes Parkgelände an. Der Mann in seinem Bett erinnerte sich nicht, wie es hieß, aber er sah mit eigentümlicher, gläserner Klarheit 125
die Anlagen vor sich. Bäume und Büsche, Blumenrabatten. Dazwischen Parkwege. Sauber und gepflegt wie alles in dieser Stadt. Ein Wasserturm. Eine Liegewiese, saftiges Grün. Ein Planschbecken mit lärmenden Kindern. Dort standen Bänke, auf denen Mütter saßen und ihren Kindern zuschauten. Auf einer Bank hockte ein Mann allein. Der Vater ließ sich am anderen Ende nieder. Die beiden sprachen nicht miteinander, waren sich also fremd. Der Vater rauchte eine Zigarette, Golddollar, wie der Junge wußte, mit Virginiageschmack. Das war seine Marke. Auf einen Fremden mochte es wirken, als beaufsichtige er eins der Kinder im Planschbecken. Aber der Junge, der vom Rand der Liegewiese her alles beobachtete, wußte, daß es nicht so war. Nach einer Weile stand der zweite Mann auf und ging davon. Der Vater schaute ihm nicht einmal nach, er sog an seiner Golddollar und verfolgte das lärmende Treiben der Kinder. Schließlich warf er die Zigarette fort und erhob sich gleichfalls. Und als er nun zurückkam, sah der Junge, daß er eine schmale Aktentasche bei sich hatte. Er war ohne sie in den Park hineingegangen, und mit ihr kam er zurück. Er folgte ihm in großem Abstand durch die Straßen und schließlich ins Wohnhaus. Sie wohnten Parterre. Er stieg die wenigen Stufen hinauf und lauschte am Briefkasten. Er hörte von innen keine Stimmen. Da ging er die Treppe hinauf bis zum halben Absatz der ersten Etage. Der Vater kam wenige Minuten später aus dem Keller, die Aktentasche hatte er nicht mehr dabei. Sie bewahrten Eingemachtes dort unten auf, allerlei Gerümpel und Briketts. Er fand die Tasche hinter den Kohlen. Und in der Mappe Papiere. Einen ganzen Stoß. Er wußte nicht, was dies alles bedeuten sollte, aber irgendwas begann ihm zu dämmern. Und dann war auch plötzlich der Vater wieder im Keller. Kein Wort folgte, keine Erklärung. Aber auch keine Strafe wegen der Schnüffelei. Der Vater nahm ihm nur ruhig die Tasche 126
fort. Gemeinsam stiegen sie in die Wohnung hinauf. Der Vater legte die Tasche in den Schreibtisch, sperrte aber nicht ab. Der Junge lehnte in der Tür und schaute zu. Dann ging der Vater an ihm vorbei an sein Abendessen. Der Junge wußte, daß der „Antonio Delfino“ zwei Tage später vom Kai ablegen würde. Mit diesen Papieren in der schmalen Aktentasche? An dieser Stelle brach jede Erinnerung ab. Alles, was darauf geschah, war in Dunkel gehüllt. Und die Geschichte mußte ja Folgen gehabt haben, denn dieses Treffen im Park und das Verstecken jener Aktentasche hinter den Kohlen sah verdammt nach Konspiration aus. Und mit Leuten, die sich solcher Vergehen schuldig machten, fackelten die Nationalsozialisten nicht lange, deren Kopf fiel unter dem Beil. Der Kopf seines Vaters auch? Er wußte es nicht, sosehr er sich auch das Hirn zermarterte. Hatte er den Vater angezeigt? Möglich war es. Jeder war damals verpflichtet, solche Verbrechen zu melden, und Rücksichten auf die eigene Familie gab es nicht. Hatte er es getan? Er erinnerte sich nicht. Er spürte nur dumpf, daß er den Vater seit jenem Tag nicht wiedergesehen hatte. An diesem Vormittag erschienen gegen zehn Uhr statt der jungen Assistentin Professor Liebscher und der Pfleger Müller. Aufgekratzt kam der Arzt herein. „Heute ist ein wichtiger Tag, David!“ sagte er. „Wir werden die Verbände abnehmen und gucken, wie es darunter aussieht. Wie haben Sie geschlafen, mein Freund?“ „Gut!“ Es stimmte sogar, zumindest teilweise. Zwar hatte er diesen Traum wieder gehabt, aber kurz darauf war er erneut und irgendwie befreit fest eingeschlafen. Wahrscheinlich aus Erleichterung, weil er es hinter sich gebracht hatte. Denn der Traum kam regelmäßig jede 127
Nacht, wiederholte sich auf die gleiche Weise. Jedesmal mußte er als David Rosenau durch den Wald laufen und die schweren Koffer tragen. Er empfand die gleiche Angst um Esther, die ihm immer vertrauter wurde. Er sah sie niederknien und hielt ihre Hand und sagte jene sanften Worte. Darauf folgte der Schuß. Er fühlte sich emporgenommen und flog dem Mond entgegen. Der Mond verwandelte sich in ein Flammenmeer, das sich plötzlich unter ihm befand, und er stürzte mitten hinein. Darauf hörte er sich sprechen und wußte doch gleichzeitig, daß es die Stimme eines Toten war. Das war alles schlimm genug, aber der Schluß des Traums bot noch einmal eine grauenhafte Steigerung. Er wollte sich umdrehen, um in das Gesicht des Schützen zu blicken. Aber hinter ihm stand niemand mehr. Er hatte es selbst getan! Und in das Gesicht des Mörders konnte er nicht sehen! „Was macht der alte Schädel, David?“ hörte er Professor Liebscher fragen. „Sind wir auch da schmerzfrei wie in den vergangenen Tagen?“ „Völlig!“ Das war eine Lüge! Denn natürlich hatte er Schmerzen. Aber er gab es nicht mehr zu. Wie ein Gefangener lag er in dieser Klinik, mit den Verbänden um den Kopf und dem aufgehängten Bein im Streck. Er sprach im Schlaf, und ihn peinigte der Gedanke, jemand könnte es anhören und ihn verraten. Professor Liebscher setzte sich auf die Bettkante, und der Pfleger reichte ihm eine Schere. Der Mann fühlte zwei scharfe Schnitte in der Gegend seiner Schläfe, und dann fielen die Binden. Dabei plauderte der Arzt: „Ich hab’s Ihnen ja schon gesagt, David, daß wir uns bei dem dämlichen Sturz den Schädel aufgeschlagen haben. Aber der äußere Schaden war niemals prekär, ist auch inzwischen ganz verheilt, wie ich sehe. Und das andere Handicap, das ein wenig tiefer sitzt, dem kommen wir auch 128
noch bei. Sie sind ja in guten Händen, mein Freund, und können sich auf mich verlassen.“ Der Mann schaute Professor Liebscher an. Was wußte der schon von seiner Angst! Oder wußte er etwas? Er mußte auf der Hut sein, nur so würde er davonkommen. Der Arzt sagte weiterhin fröhlich: „Wollen wir uns nun mal Ihre Nase anschauen, David? Was meinen Sie?“ Der Mann fühlte einen heftigen Schmerz, als das Pflaster abriß, und verzog das Gesicht. „Ist schon vorbei, David“, beruhigte ihn Professor Liebscher. Mit den Mullagen darunter ging er vorsichtiger um. Er warf sie in eine Schale, die ihm der Pfleger reichte, dann beugte er sich zurück und sah seinem Patienten aufmerksam ins Gesicht. „Wirklich hübsch, David! Eine niedliche kleine Nase haben wir da, alles gut abgeheilt.“ „Geben Sie mir einen Spiegel!“ sagte der Mann. Wieder wunderte er sich über seinen befehlsgewohnten Ton. Professor Liebscher schüttelte den Kopf. „Warum nicht?“ „Es wäre nicht gut, David!“ „Warum nicht?“ Der Arzt überlegte einen Moment. „Haben Sie eine Vorstellung davon, wie Sie aussehen, mein Freund?“ Der Mann schaute ihn zweifelnd an. „Bitte! Ich möchte, daß Sie sich von innen her zum ersten Mal wiedersehen. Und das geschieht in dem Augenblick, sobald Ihr Erinnerungsvermögen zurückgekehrt ist.“ Es war irgendwie einleuchtend. Und dennoch fühlte sich der Mann unzufrieden. Außerdem wurde auch der Kopfschmerz wieder bohrender, und er wagte nicht, um ein Medikament zu bitten. Er fragte mißgelaunt: „Was ist mit meinem Bein?“ Der Arzt verstand ihn nicht. „Wieso? Was soll damit sein?“ 129
„Wann kommt der Streck ab?“ Professor Liebscher lächelte. „Nun, da müssen Sie sich noch vierzehn Tage gedulden.“ „Ich scheine keinerlei berufliche Verpflichtungen zu haben“, nörgelte der Mann. „Ihre Geschäfte sind bei dem Arbeitsteam, das Herr Wilhelm anleitet, in guten Händen, David! Er sagt es, und soweit ich es beurteilen kann, stimmt es auch.“ „Warum kommt der Mann niemals her?“ „Weil ich es ihm verboten habe! Sie müssen erst einmal gesund werden, das ist zur Zeit Ihre Aufgabe!“ Der Professor ging zur Tür, dort wandte er sich lächelnd um. „Ich schaue nachmittags noch einmal herein.“ Die Tür fiel ins Schloß. Dieses stereotype Lächeln und diese beruhigenden Worte machten den Mann erst wirklich krank. Er beobachtete den Pfleger, der auf leisen Sohlen durchs Zimmer strich und Binden, Pflaster und Verbandmull zusammenräumte und in den Abfalleimer warf. Der Mann öffnete die Lade an seinem Nachtschränkchen. Unter dem Kuvert mit den mexikanischen Marken lag seine Brieftasche, und in der befand sich ein Bündel Banknoten, alles Hunderter, genau 1 800 Mark. Vor ein paar Tagen hatte er es in der Hand gehabt und nachgezählt. Damals hatte er sich gewundert, weshalb er eine solche Menge Geld mit sich herumschleppte. Er mußte es bei dem Unfall dabei gehabt haben. Wahrscheinlich hatten sie den Anzug in den Schrank gehängt und die Brieftasche in die Schublade gelegt. Er zog einen der Hunderter hervor und legte ihn auf die Bettdecke. Der Pfleger war inzwischen mit seiner Arbeit fertig und wandte sich zur Tür. Der Mann sagte: „Heinz!“ Der Pfleger blieb stehen. „Ja, Herr Rosenau?“ „Ist das viel Geld?“ Der Mann wußte es wirklich nicht genau. „Ich muß eine Weile dafür arbeiten“, antwortete der Pfleger. 130
„Es gehört Ihnen!“ „Aber, Herr Rosenau –?“ Der Pfleger Müller kam langsam näher und blieb am Fußende des Bettes stehen. Zwischen ihnen befand sich das aufgehängte Bein und der Hundertmarkschein. „Ich will, daß Sie mir einen Spiegel bringen!“ Heinz Müller starrte das Geld an. „Das kann ich nicht machen, Herr Rosenau! Sie haben gehört, was der Professor gesagt hat.“ „Quatsch! Wir sind schließlich keine kleinen Kinder!“ Der Pfleger konnte keinen Blick von dem Geld lassen. Der Mann griff noch einmal in die Tasche und legte einen zweiten Schein daneben. „Wie soll ich denn so rasch an einen Spiegel kommen, Herr Rosenau?“ „Nehmen Sie den vom Waschbecken!“ Noch immer zögerte der Pfleger. „Nun aber endlich los, verdammt noch mal!“ Das war ein scharfer Befehl. Müller zuckte zusammen, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zum Waschbecken. Der Mann beobachtete, wie der Pfleger den Spiegel herunternahm und zurückkehrte. Nah vor dem Bett blieb er stehen. In dem Augenblick, als er ihn herumdrehte, schloß der Mann die Augen. Plötzlich überfiel ihn Furcht. Und der Schmerz hinter seinen Schläfen wurde so bohrend, daß er ihn kaum ertragen konnte. Sehr lange, wie ihm schien, hielt er die Augen geschlossen. Er mußte an den nächtlichen Traum denken und an das Gesicht des Mörders. Dann hob er die Lider. Minutenlang blickte er in den Spiegel. Daraus sahen ihn völlig fremde Züge an. Diesen Mann, der ihn da anstarrte, das wußte er genau, hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen.
131
10. Die Assistenzärztin Doktor Ellen Reinhardt beobachtete die Abfahrt des Professors vom Fenster aus. Es war früher Nachmittag. Der Pfleger Müller chauffierte den Chefarzt, das tat er immer, wenn Liebscher in die Stadt fuhr. Sie wußte, daß sie mindestens zwei Stunden lang Zeit haben würde. Das Fenster, von dem Sie der Abfahrt zusah, befand sich in der Ordination des Professors. Natürlich durfte sie sich in dem Raum nicht aufhalten, deshalb ging sie zur Tür und drehte den Schlüssel im Schloß herum. Etwas stimmte nicht an dem Krankheitsbild des Industriellen David Rosenau. Sie wußte nur noch nicht genau, was. Schon die Ankunft vor beinahe vierzehn Tagen gestaltete sich mysteriös; es war am späten Abend gewesen, und sie wollte gerade das Haus verlassen. Professor Liebscher und der Pfleger Müller brachten den Verunglückten im Mercedes des Arztes. Sie trugen ihn durch die Halle, in der nur noch die Nachtbeleuchtung brannte. Man konnte kaum etwas erkennen. Sie wollte mit anfassen, aber Liebscher lehnte ab. Sie kämen allein zurecht, sagte er. Er schickte sie also nach Hause, obwohl es ihr zugekommen wäre, ihm zu assistieren, und nicht dem Pfleger Müller. Das ganze Ausmaß des Unfalls erfuhr sie am nächsten Vormittag. Der Verunglückte hatte sich den Oberschenkel gebrochen, und neben den äußeren Verletzungen an Schädel und Nase handelte es sich immerhin um eine Contusio cerebri. Dies wurde ihr eröffnet, als Professor Liebscher sie zu sich rufen ließ. „Eine Hirnquetschung“, hatte sie gesagt und ein bedenkliches Gesicht gemacht. „Können Sie die hier behandeln?“ Und der Professor erwiderte: „Als wir es gesichert diagnostizierten, trauten wir uns nicht, ihn nach Eppendorf zu transportieren.“ 132
„Wir?“ fragte Ellen. Sie dachte daran, daß der Professor den Patienten unter der Assistenz des Pflegers verarztet hatte. Liebscher lächelte. „Ich habe noch in der Nacht Professor Schöller aus Eppendorf hergebeten. Er ist Neurologe. Auch er riet wegen des Allgemeinzustandes von einer Verlegung ab, zumindest in den ersten Tagen.“ „Das Herz –?“ „Ja.“ Ellen Reinhardt erinnerte sich. Der Geschäftsmann Rosenau kam regelmäßig in die Klinik, um eine EKGKontrolle vornehmen zu lassen. Und der Chefarzt war mit dem Ergebnis selten zufrieden, besonders dann nicht, wenn der Mann gerade aus Brasilien heimkehrte. Professor Liebscher fuhr fort: „Wenn er die nächsten Tage übersteht, hat er eine Chance durchzukommen. Sie ist zwar nicht besonders groß, aber er hat sie. Außerdem will Professor Schöller täglich hereinschauen.“ Es entstand eine Pause, in welcher der Chefarzt seine Assistentin nachdenklich ansah. Die Augen hinter den getönten Brillengläsern wirkten eigentümlich leblos. Schließlich sagte er: „Ich denke mir, Ellen, daß ich mich auf Sie verlassen kann.“ „Natürlich, Herr Professor.“ Sie fühlte sich hilflos unter seinem Blick. „Sie sind schon eine ganze Weile in der Klinik, und ich möchte Sie nur zu gern bei mir halten. Aber ich weiß, daß Sie nach Flensburg zurück wollen, um sich dort niederzulassen. Der Tag ist vielleicht sehr viel näher gerückt, als Sie es für möglich halten.“ Ellen lächelte. Es stimmte schon, der Professor wollte sie bei der Einrichtung einer eigenen Praxis unterstützen. Aber diese Hilfe war an die Bedingung geknüpft, zu dem alten Mann ins Bett zu steigen. Und das hielt sie nicht für die Grundlage, auf die sie ihren beruflichen Aufstieg stellen wollte. 133
Professor Liebscher deutete ihr Lächeln richtig und sagte geschäftsmäßig: „Herr Rosenau wird sich erkenntlich zeigen, wenn Sie tun, was wir Ihnen sagen.“ „Und was verlangen Sie von mir?“ „Niemand soll erfahren, daß dieser Patient in unserer Klinik liegt.“ Ellen sah den Chefarzt verständnislos an. Der Professor erklärte: „Es ist ganz einfach, Ellen! Rosenau besitzt Werke in Südamerika und hier. Dabei handelt es sich um weitverzweigte Unternehmen. Wenn nur das Geringste durchsickert, daß der Industrielle im Sterben liegt – und das tut er ja, leider –, würde es zu einer Katastrophe an der Börse führen. Der arme Mann könnte eines Tages aus dem Koma aufwachen und sich ruiniert finden. Das muß zunächst verhindert werden. Verstehen Sie, Ellen?“ „Ja.“ „Nur drei Personen im Klinikbereich werden überhaupt wissen, daß sich der Patient hier aufhält, nämlich ich, unser Heinz Müller und Sie. Wenn es dabei bleibt, soll es Ihr Schaden nicht sein.“ Sie verließ den Chefarzt an jenem Vormittag reichlich verwirrt. Einmal des Patienten wegen, zum anderen wegen der eigenen Aussichten, die ihr eröffnet wurden. Als sie durch die Halle schritt, kam ihr der Gedanke, sie habe von Rosenaus Aufenthalt nur deshalb etwas erfahren, weil sie zufällig Zeuge seiner Ankunft wurde. Der Patient erholte sich erstaunlich rasch. Bereits drei Tage später befand er sich außer Lebensgefahr, zumindest das Herz hatte die Hürde genommen. Das Koma wurde vom deliranten Syndrom abgelöst, in dem sich Bewußtseinstrübung, Desorientiertheit und psychomotorische Unruhe zeigten. Alles nicht mehr sehr dramatisch. Man wußte zwar noch nicht, ob die Symptome der Contusio reparabel waren, aber akute Lebensgefahr bestand nicht mehr. Insgesamt also ein ziemlich günstiger Verlauf. 134
Und trotzdem, irgend etwas stimmte nicht! Zuerst war es nicht mehr als ein Gefühl in ihr. Es entstand, als sich zwei Personen Zutritt zu dem abgeschirmten Industriellen verschafften. Ein englisch wirkender Mann, er sprach mit Akzent, und dessen wesentlich jüngere Begleiterin, die sich für die Tochter des Herrn Rosenau ausgab. Und es zweifellos doch nicht war! Damals hatte sie das seltsame Gefühl, der Patient habe sich aus Furcht vor seiner angeblichen Tochter ins Krankenbett gelegt. Ein Mann auf der Flucht sozusagen! Wenn es so war, mußte die Krankheit vorgetäuscht sein. Dem widersprachen jedoch die Symptome, und in der Art und Weise, wie sie auftraten, konnte Rosenau sie nicht simulieren. Nein, der Patient zeigte schon eine delirante Symptomatik. Aber trotzdem stimmte etwas nicht! Denn niemals ließ sich Professor Schöller hier blicken. Das war jener Neurologe, der jeden Tag einmal hereinschauen wollte. Schließlich raffte sich Ellen Reinhardt auf und wälzte das Hamburger Telefonbuch. Es standen acht Schöller darin, und einer von ihnen wies sich auch als Doktor aus. Aber als sie dort anrief, stellte er sich als wissenschaftlicher Assistent der theologischen Fakultät vor. Nun wollte sie es ganz genau wissen. Sie klingelte direkt in der neurologischen Klinik von Hamburg-Eppendorf an und erhielt endlich die Auskunft, die sie brauchte. Ein Professor Schöller existierte gar nicht. Im Grunde bestätigte dieser Anruf ihr Gefühl und auch die Wahrnehmungen, die sie von dem Patienten selbst gemacht hatte. So klagte er ständig über Kopfschmerzen, zumindest tat er es noch bis vor wenigen Tagen. Und als er damit aufhörte, glaubte sie ihm nicht. Warum gab er sie nicht zu? Sie gehörten ja zu dem Krankheitsbild, und sie spritzte ihn deswegen jeden Abend, damit er ruhige Nächte hätte. Der Pfleger Müller zog die Spritzen auf und schob die leere Ampulle über die Kanüle. 135
Stimmte etwas nicht mit dem Medikament oder seiner Dosierung? Als sie es zuerst beobachtete, damals hatte sie lediglich ein ungutes Gefühl, noch keinen Verdacht, sprach sie mit Professor Liebscher darüber. Er beruhigte sie. Sowohl das Medikament als auch die Dosierung seien richtig! Natürlich, er hatte es ja so verordnet. Sie hätte sich die Zunge abbeißen mögen. Einmal, als sie Nachtdienst hatte, kontrollierte sie die Wirkung des Medikaments. Sie trat ins Zimmer und sah Rosenau im Bett sitzen und die Nachtlampe über der Tür anstarren. Er erkannte sie nicht. Er sprach laut. Vom Mond war die Rede, von Schüssen und vom Ausziehen. Typisch Mann! Es waren alle Symptome des deliranten Syndroms vorhanden: Desorientiertheit, psychomotorische Unruhe, Angst und Halluzination. Bestes Demonstrationsmaterial für das, was sie in den letzten Tagen über die Contusio cerebri nachgelesen hatte. Nur hätte das Medikament, das sie ihm vor dem Einschlafen gegeben hatte, diese Unruhe dämpfen müssen! Zum anderen klagte er niemals über sein Bein. Dabei war der Oberschenkel gebrochen und hätte heftig schmerzen müssen. Auch bei der Behandlung des Bruches irritierte sie etwas. Es war kein Nagel durch die Ferse geschlagen worden, um das Bein ruhig zu legen. Der Professor hatte den Fuß mit Leukoplast umwickelt und daran die Schnüre zur Aufhängevorrichtung befestigt. Eine reichlich veraltete Methode. Sie hatte kopfschüttelnd davorgestanden. Und wieder einmal hatte sie sich gefragt, wie der Professor zu seinem Ruf und dem exklusiven Patientenkreis gekommen war. Nein, sie hatte ernste Zweifel an den Künsten dieses Medizinmannes, und das schien ihr ein Grund mehr zu sein, daß sie schleunigst nach Flensburg und in die eigene Praxis kam. Die Assistenzärztin Doktor Ellen Reinhardt hatte alle Röntgenaufnahmen, die sie entdecken konnte, auf dem Schreibtisch sortiert und durchgelesen. Diese Arbeit dau136
erte etwa zwanzig Minuten. Es waren ganze Stöße, aber Aufnahmen vom Patienten David Rosenau fanden sich nicht darunter. Das konnte nur eins bedeuten! Der Industrielle David Rosenau war nicht geröntgt worden. Weder sein Schädel noch das Bein! Im ersten Augenblick kam es ihr ganz ungeheuerlich vor, aber dann begann sie zu verstehen. Der Mann befand sich wirklich auf der Flucht, möglicherweise vor jenem Engländer und dessen Begleiterin, und die Contusio wurde vorgetäuscht. Und jene Nacht, in der sie in sein Zimmer kam und ihn phantasieren sah? Er war nicht ansprechbar gewesen, und er hatte alle Symptome eines deliranten Syndroms gezeigt. Ja, natürlich, auch das medizinische Personal mußte getäuscht werden, also der Pfleger Müller und sie selbst. Nein, der Müller nicht, der hatte eine recht eigenartige Vertrauensstellung in dieser Klinik und mußte eingeweiht gewesen sein. Konnte man aber eine Contusio überhaupt simulieren? Ellen Reinhardt überlegte lange. Dabei wanderte sie im Raum hin und her. Sie hatte starkes Bedürfnis zu rauchen, aber sie versagte es sich, denn der Professor war Nichtraucher und könnte es später merken. Dann stand sie eine Weile am Fenster und sah hinaus. Psilocybin, dachte sie! Oder Meskalin! Das waren Psycholytika, die Halluzinationen und Visionen, auch Störungen im Raum- und Zeitempfinden hervorriefen. Sie hatte dem Patienten also niemals Beruhigungsmittel, sondern immer Phantastica gespritzt. Dieser Müller, der die Spritzen aufzog, mußte jedesmal eine falsche leere Ampulle über die Kanüle geschoben haben. So bekam alles seinen Sinn. Und doch nicht! Es kam ihr alles zu abenteuerlich vor. Wieso sollte sich ein Mann wie Rosenau den Strapazen einer Pseudocontusio aussetzen. Da mußte es auch andere Wege geben, wenn er fliehen wollte. Zum Beispiel im Flugzeug nach 137
Hongkong. Eine Gegend, die sie sich gern einmal angesehen hätte. Höchst unzufrieden räumte Ellen Reinhardt die Röntgenaufnahmen in den Karteischrank zurück. Dann machte sie sich an die Krankenblätter. Sie hatte in den letzten Tagen mehrfach den Herzbereich des Patienten abgehört. Dabei war ihr der hebende Herzspitzenstoß und ein lautes systolisches Geräusch über der Herzspitze aufgefallen. Wahrscheinlich hatte Rosenau als Jugendlicher eine akute rheumatische Erkrankung durchgemacht und davon den Herzklappenfehler zurückbehalten. Die Krankenblätter fand sie übrigens rasch, und auf den ersten Blick schienen die auch sorgfältig geführt worden zu sein. Es handelte sich um mehrere Karteikarten. Die erste Eintragung stammte noch aus dem Jahre 1962. Sie zog sich mit den Blättern in den bequemen Sessel des Chefarztes zurück und begann zu lesen. Die Beschwerden des Patienten wurden ausführlich beschrieben, darauf folgte die erste Diagnose durch Professor Liebscher. Es waren auch die Ergebnisse der jeweiligen EKGs beigefügt. Zunächst verstand es die Assistenzärztin Doktor Ellen Reinhardt überhaupt nicht. Sie starrte auf die Karteikarten, wendete sie hin und her. Dabei spürte sie, wie sie immer blasser wurde. Sie mußte mehrmals schlucken, weil ihre Kehle ganz ausgetrocknet war. Sie ließ die Blätter sinken. Eine Weile lang saß sie untätig hinter dem Schreibtisch. Dabei begann ihr allmählich etwas zu dämmern. Und schließlich hatte sie die Lösung gefunden. Auf einmal wußte sie, wie abenteuerlich es auch scheinen mochte, wie sich alles abgespielt hatte.
138
11. Der Mann sah die spitze Nadel auf sich zukommen. Sie war besonders fein, und er glaubte den Einstich schon lange vorher zu spüren. Er wollte die Spritze nicht, weil er die Nacht und die Träume, die sie brachte, fürchtete. Aber er wagte nicht zu protestieren. Wie hypnotisiert starrte er auf die Nadel, die sich seinem Arm näherte. Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Kurz bevor sie die Haut berührte, wurde die Spritze angehalten. Der Mann hob den Blick. Nah vor seinem Bett saß die junge Assistenzärztin. Ihre Augen waren eindringlich auf ihn gerichtet, und dann formten ihre Lippen Worte. Sie taten es lautlos, aber er verstand sie. Es bedeutete etwa: ‚Sagen Sie nichts! Bleiben Sie ganz still!‘ Hinter der Ärztin stand der sympathische Pfleger Heinz Müller; den Einstich der Nadel konnte er aber nicht wahrnehmen, weil sie ihm den Blick darauf mit dem Rücken verwehrte. Und dann fühlte der Mann, wie Flüssigkeit an seinem Arm herunterlief. Die Ärztin hatte den Inhalt in die Luft entleert. Sie streifte den Pyjamaärmel herunter und erhob sich. „Fertig!“ sagte sie. Sie reichte dem Pfleger die Spritze und beobachtete, wie er sie zusammen mit der leeren Ampulle, die er die ganze Zeit über gut sichtbar gehalten hatte, auf einem Tablett ablegte. Die Ärztin fragte: „Wer macht heute nacht Bereitschaft?“ Der Pfleger antwortete: „Der Professor.“ „Und Sie, Herr Müller?“ „Ich will mal ins Kino.“ „Was sehen Sie?“ „ ‚Den letzten Tango von Paris‘!“ Ellen Reinhardt schien zu überlegen. „Ist das nicht mit dem Marlon Brando?“ 139
„Ja. Aber da spielt noch eine junge Schauspielerin mit, die soll nicht ohne sein. Oder besser gesagt: Mit sehr viel ‚ohne‘!“ Der Pfleger grinste. „Schneider heißt sie.“ „Hab’ davon gehört. Am liebsten würde ich mitkommen.“ Der Pfleger schaute sie überrascht an, so freundliche Worte hatte er lange nicht von der jungen Frau gehört. „Warum tun Sie es nicht?“ „Wenn Sie es nur früher gesagt hätten, Herr Müller! Leider habe ich eine andere Verabredung.“ Die Ärztin sah den Mann im Bett nicht an, aber er spürte, daß sie mit dieser Verabredung ihn meinte. Die beiden wünschten ihm eine ruhige Nacht, dann verließen sie das Zimmer. Eine ruhige Nacht! Der Mann wurde von neuen Ängsten geschüttelt, seit er in den Spiegel gesehen hatte. Sein Gesicht – das Gesicht des Mörders – war ihm völlig fremd! Wie kam es nur, daß es nicht die leiseste Erinnerung weckte? Er fragte sich ernsthaft, ob er verrückt geworden war. Und bei allem durfte er sich nichts anmerken lassen. Das gelang nur teilweise. Als sich Professor Liebscher am Nachmittag an sein Bett setzte, blieb er einsilbig. Er konnte nicht reden. Beim Abendbrot hatte er keinen Appetit, aber er aß! Sogar reichlich! Er mußte zu Kräften kommen! Und dann erschien die Ärztin mit der Spritze, und das Unfaßbare geschah! Sie gab ihm die Injektion nicht. Der Mann rätselte, was das zu bedeuten hatte. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Die Zeit verrann, in der er hilflos im Bett lag. Und wach! Sonst wurde er nach der Spritze schnell schläfrig und dämmerte ein. Doktor Ellen Reinhardt erschien gegen neun Uhr, sie hatte noch ihren Kittel an. Sie schloß behutsam die Tür und lehnte sich dagegen. Sie schauten sich in die Augen. „Warum haben Sie mich nicht gespritzt?“ brachte der Mann endlich hervor. 140
„Später, Herr Rosenau! Wie fühlen Sie sich?“ „Gut!“ Das entsprach der Wahrheit. Er fühlte sich seltsam wach, auch erleichtert. Trotz alledem! Und er spürte nicht den geringsten Kopfschmerz. „Der Professor sitzt über seinen Büchern, Geschäftsbüchern – seine liebste Lektüre. Und über französischem Kognak, den er nicht minder liebt. Ich denke, wir haben nichts zu befürchten von ihm. Wir müssen miteinander reden, Herr Rosenau!“ Sie zog einen Stuhl neben sein Bett und setzte sich. Aus der Kitteltasche nahm sie ein Päckchen Zigaretten. „Stört es Sie, wenn ich rauche?“ Er schüttelte den Kopf, sah zu, wie sie die Zigarette anzündete und den Rauch einsog. Plötzlich sagte er: „Ich möchte auch eine!“ Ellen Reinhardt reichte sie ihm und hielt Feuer gegen das Ende. Zum Glück lag er im Bett, weil ihn der erste Zug glatt umgeschmissen hätte. Fast augenblicklich fühlte er kalten Schweiß auf der Stirn. Er schloß die Augen. „Ich bin eine schlechte Ärztin“, hörte er sie sagen, „denn natürlich dürfen Sie in Ihrem Zustand nicht rauchen.“ Er hob die Augenlider und sah sie an. Auf ihrem Gesicht erschien ein merkwürdiges Lächeln. „Lassen Sie mal“, sagte er und nahm einen weiteren Zug. „Mit dem geht es schon besser.“ „Wahrscheinlich sind Sie starker Raucher!“ „Ja, wahrscheinlich!“ erwiderte er. Sie beobachtete, wie er einen dritten und vierten Zug machte und dabei vorsichtig inhalierte. Sie lächelten beide, und ein bißchen hatte er das Gefühl, als seien sie Verschwörer. Und dann sagte die Assistenzärztin Doktor Ellen Reinhardt: „David Rosenau hat niemals geraucht!“ Es entstand eine lange Pause, in der sie sich anstarr141
ten. Der Mann führte die Zigarette an die Lippen und zog noch einmal daran. Sie tat ihm wirklich nicht gut, merkte er, aber gleichzeitig wußte er auch, daß er immer geraucht hatte. Die Ärztin fuhr fort: „David Rosenau durfte es wegen seiner Angina pectoris nicht, aber das brachte keine Probleme für ihn. Er ist nämlich immer Nichtraucher gewesen. Sie verstehen, was ich damit sagen will?“ Der Mann schüttelte den Kopf. Und Ellen Reinhardt spürte, daß er es wirklich nicht wußte. Dann sagte sie: „Sie sind nicht David Rosenau!“ Darauf nahm sie ihm die Zigarette fort, drückte auch die eigene aus und warf die Enden nebst der Asche in den Abfalleimer. Dann öffnete sie das Fenster und ließ frische Luft herein. Einige Minuten, deren Sekunden lang und schwer vorübertickten, blieb sie dort und atmete tief ein und aus. Der Mann in seinem Bett tat es auch. Endlich schloß sie das Fenster und setzte sich ans Bett zurück. Wieder schauten sie sich an, und immer noch fiel kein Wort. Dann sagte Ellen Reinhardt: „Ich bin ebenso hilflos wie Sie, Herr … Rosenau! Ich kenne Sie recht gut, denn Sie kamen oft her, um ein EKG machen zu lassen. Der Professor hat mich zwar niemals da rangelassen, will sagen, er hat Sie immer selbst behandelt, aber ich habe Sie doch oft gesehen. Seit drei Jahren etwa, solange arbeite ich in dieser Klinik. Bis heute nachmittag hätte ich jeden Eid geschworen, daß Sie Rosenau sind.“ „Und nun nicht mehr?“ „Nein!“ „Warum nicht?“ „Weil David Rosenau an Angina pectoris leidet, darum nicht!“ Der Mann antwortete spontan: „Bei mir stimmt etwas mit der Herzklappe nicht!“ 142
„Daran erinnern Sie sich?“ Der Mann nickte. „Und woran noch?“ „An sehr wenig!“ „Keine Spur, wie es zu dem Unfall kam?“ „Ich stürzte in meinem Haus die Treppe hinab!“ „Das hat man Ihnen gesagt!“ Der Mann nickte. „Wie sieht es aus in Ihrer Villa?“ „Ich weiß es nicht!“ Sie sah ihn forschend an. Der Mann wiederholte: „Ich habe wirklich keinen blassen Schimmer!“ „Sie stürzten also, schlugen sich Nase und Schädel auf. Und Sie brachen sich den Oberschenkel.“ Sie sahen beide zu dem aufgehängten Bein hin. Und schwiegen. Dann zog die Ärztin eine Schere aus der Kitteltasche und näherte sich den Schnüren, die zur Aufhängevorrichtung führten. Der Mann folgte gebannt ihren Bewegungen. Er war unfähig, etwas zu sagen, er konnte sich nicht einmal bewegen. Er schaute nur wie hypnotisiert zu, was sie tat. Mit zwei energischen Schnitten durchtrennte sie nämlich die Stricke, und sein Bein fiel auf das Bett herunter. Es war wie bei einem Zaubertrick im Variete. Und doch handelte es sich um die Wirklichkeit, und die schmeckte reichlich bitter. Der Mann spürte es an seinem Bein, in das der Schmerz hineinfuhr. Auf dem Gesicht der Ärztin erschien so etwas wie Unsicherheit, beinahe Angst. „Tut es weh?“ fragte sie. „Ja –!“ stöhnte der Mann. „Wo?“ Der Mann, der nun aufrecht im Bett saß, faßte mit beiden Händen gegen die Wade. „Hier!“ „Es klopft?“ „Ja.“ 143
„Das ist normal“, meinte sie erleichtert. „Es ist das Blut, das wieder voll zirkuliert. Und der Oberschenkel?“ „Nichts! Ich habe immer wieder gesagt, daß ich dort keine Schmerzen habe.“ „Ja, und deshalb wollte ich mir heute mal die Röntgenaufnahmen anschauen. Es existieren aber keine. Ganz unwahrscheinlich bei einem Oberschenkelbruch. Es kann nur bedeuten, daß Ihr Bein niemals gebrochen war.“ Der Mann hockte verschreckt da und konnte nicht antworten. „Weshalb haben die das mit Ihnen gemacht? Es sieht aus, als ob man Sie möglichst unauffällig ans Bett fesseln wollte. Warum? Und wieso liegen Sie überhaupt hier?“ Der Mann starrte auf sein Bein, das sich heiß anfühlte. Das Blut in den Adern schien zu kochen. Mit gepreßtem Atem sagte er: „Möglicherweise bin ich hier, weil Rosenau ein Verbrecher ist.“ Aber dann fiel ihm ein, daß die nächtlichen Angstträume ja nicht die von David Rosenau, sondern seine eigenen waren. Nicht Rosenau, er war der Verbrecher! Und gleichzeitig sah er sich im Stadtpark hinter seinem Vater herschleichen. Ja – Stadtpark hießen die Anlagen, plötzlich fiel es ihm ein. Aber wo lag der? Wo genau in der Stadt? Den Vater mit der Aktenmappe, den er dort verfolgte, hatte er ihn angezeigt? Ja, er hatte es! Er glaubte es auf einmal ganz sicher. Er war der Verbrecher, nicht Rosenau, er allein! „Ich verstehe das alles nicht“, hörte er die junge Frau sagen. „Sie müssen ein Doppelgänger sein. Aber so etwas von Ähnlichkeit gibt es eigentlich nicht.“ Sie starrten auf das Bein, an dem der Mann herumrieb. „Tut es sehr weh?“ „Ja.“ „Wir lassen morgen eine Masseuse kommen.“ 144
„Morgen –?“ Der Mann lachte laut auf, trotz seiner Schmerzen. „Glauben Sie, daß der Herr Professor mit dieser Therapie einverstanden sein wird?“ Sie sah ihn entsetzt an. Zum ersten Mal schien sie sich zu fragen, wie es weitergehen sollte. Der Mann sagte: „Ich muß verschwinden! Schnellstens!“ „Sie werden nicht laufen können!“ „Ich muß!“ Sie nickte. Dann begann sie mit leichten Bewegungen über das Bein zu streichen. Ihre Griffe wurden fester, bis er es schließlich kaum noch aushielt. „Sie müssen einen Bruder haben“, sagte sie dabei. „Und zwar einen Zwillingsbruder, ein gewöhnlicher reicht bei weitem nicht. David Rosenau und Sie müssen Zwillinge sein. Haben Sie einen Bruder?“ „Ich weiß es nicht.“ „Verdammt noch mal!“ Sie hielt erschöpft ein. „Irgendwelche Erinnerungen müssen Sie doch haben?“ „Die liegen weit zurück, in der Kinderzeit. Ich habe Cello gespielt.“ „Taten Sie es gern?“ „Nein, mein Vater zwang mich dazu.“ „Woran erinnern Sie sich noch?“ „An meine Mutter!“ „Hatten Sie eine starke Bindung?“ „Ja.“ Bis zu diesem Moment war es ihm nicht klar bewußt gewesen. Leise setzte er hinzu: „Ja, sehr stark!“ „Sie müssen in Ihrer Jugend eine akute rheumatische Erkrankung durchgemacht haben. Daher stammt wahrscheinlich der Herzklappenfehler. Fällt es Ihnen ein?“ „Nein!“ „Es kann sich nicht stark eingegraben haben. Zur Zeit scheinen Sie sich nur an so etwas wie Schlüsselerlebnisse zu erinnern. Kommen Sie mal hoch jetzt?“ Er sah sie hilflos an. 145
Sie forderte energisch: „Na, los doch! Setzen Sie das Bein auf den Boden!“ Er tat es. „Und nun stehen Sie auf!“ Er tat auch das, belastete das Bein und fiel geradewegs in ihre Arme. In diesem Augenblick hörten sie Professor Liebscher sagen: „Du gehst durch den Wald, David, erinnerst du dich? Du hast schwer zu tragen, du trägst in jeder Hand einen Koffer. Die Koffer sind schwer. Du wirst es schon schaffen, David, aber Esther an deiner Seite, wird sie es auch …?“ Der Mann und die Frau standen engumschlungen wie ein Liebespaar, sie waren starr vor Schreck. Unterdessen füllte Professor Liebschers Stimme den Raum, sie klang leise und sehr eindringlich. Er sagte: „Du hast es nicht mehr weit, David, nur noch wenige hundert Meter. Du bist gleich da. Aber sei um Gottes willen vorsichtig! Du darfst nicht auf die Zweige treten. Das Geräusch kann dich verraten. Die Grenze wird bewacht …“ Langsam lösten sich der Mann und die Frau voneinander. Er torkelte zum Bett und fiel darauf. Die Stimme des Professors, die immer weiterredete, schien aus dem Nichts zu dringen. Für einige Sekunden glaubte der Mann, nur er hörte sie, in seiner Phantasie nämlich. Aber dann sah er am Gesicht der Frau, daß sie ebenso entsetzt war wie er. Plötzlich drehte sie sich um, lief zur Tür und auf den Gang hinaus. Sie ließ ihn allein. In seiner Angst! Professor Liebschers Stimme sagte: „Und nun der Schuß, David! Hörst du ihn? Hörst du diesen Schuß? Du bist getroffen, aber du fällst nicht! Du fällst nicht, David, du beginnst zu fliegen! Der Mond ist eine blaßrote Scheibe, und du fliegst ihr entgegen. Du kommst ihr immer näher, David, siehst du es? Und nun beginnt sie 146
zu zerfließen, diese Scheibe, und sie ist auch nicht mehr über, sondern unter dir. Es ist ein riesiges Flammenmeer, David, und du fällst mitten hinein. Aber du sprichst noch! Hörst du, was du sagst? Du sagst: ‚Warum haben Sie uns das angetan? Sie wollten unser Leben retten, meine Herren, das hatten Sie versprochen, und nun haben Sie uns erschossen …‘ “ Die schreckliche Stimme sprach weiter, aber der Mann hörte sie schon längst nicht mehr. Er lag hingestreckt auf dem Bett. Er konnte nicht mehr denken. Und er wußte auch nicht, wieviel Zeit verstrich, bis er wieder eine Stimme hörte, diesmal eine andere. Sie sagte lapidar: „Diese Schweine!“ Und nach einer Weile fuhr sie fort: „Der Herr Professor sitzen ruhig über seinen Büchern und dem Kognak. Ich bin ums Haus gelaufen und hab’ durchs Fenster geguckt. Er braucht wohl nur auf den Knopf eines Abspielers zu drücken. Irgendwo haben sie hier einen Lautsprecher versteckt. Und er scheint sicher zu sein, daß alles funktioniert, denn er rührt sich nicht von der Stelle.“ Die Assistenzärztin stand am Fußende des Bettes und beobachtete den Mann. Er kam ein Stück hoch, fiel aber gleich zurück. „Was …“, keuchte er. „Was … was …?“ Er wußte nicht, was er fragen wollte. Sie kam zu ihm, und er streckte sich ihr entgegen. Sie nahm seinen Kopf an ihre Schulter und begann ihn zu streicheln. Sein Kopf rutschte herunter, immer tiefer und lag in ihrem Schoß. Sie streichelte ihn weiter. Sie flüsterte: „Es ist vorbei, mein Lieber, du hast es hinter dir!“ Plötzlich wußte er wieder, was er fragen wollte: „Was … sollte das?“ „Sie haben dein Gehirn gefüttert. Wie einen Computer. Du solltest für etwas geradestehen, was du nicht getan hast!“ „Un… Unsinn! So etwas … das gelingt … doch nicht.“ 147
Sie streichelte ihn noch immer. „Es ist gelungen, und es gelingt immer wieder. Die Menschen sind Experten darin, sich zu quälen. Sie nennen es Gehirnwäsche.“ Er lag in ihrem Schoß, und er fühlte ihre Hand. Niemals hatte ihm die Hand einer Frau so wohlgetan, außer der seiner Mutter vielleicht. Aber noch nie, das wußte er, hatte er sie so bitter nötig gehabt. Er spürte, wie er zu Kräften kam. Sie sprach weiter: „Du bist wahrscheinlich eine Treppe hinabgestürzt und hattest eine Gehirnerschütterung. Keine Contusio, verstehst du? Nur eine Gehirnerschütterung! Darauf haben sie aufgebaut. Ich habe dich jeden Abend spritzen müssen, vielleicht mit Meskalin? Ich weiß es nicht. Ich meinte nämlich, es sei ein Dämpfungsmittel. Der Pfleger hat die Ampullen vertauscht. Diese Phantastica erzeugen Halluzinationen, und du hast gedacht, es sei dein Traum. Ein Stück deiner Wirklichkeit, an die du dich zu erinnern glaubtest. Hattest du den Traum jede Nacht?“ Er nickte in ihrem Schoß. Sie streichelte ihn noch immer. „Es ist vorbei! Die Gehirnerschütterung ist vierzehn Tage alt, die zählt schon nicht mehr.“ „Aber ich erinnere mich an nichts! Ich weiß nicht einmal, wie ich heiße.“ „Das kommt jetzt schnell zurück. Die letzte Spritze hast du vor über vierundzwanzig Stunden bekommen. Du wirst sehen, wie die Erinnerungen ins Kraut schießen werden!“ Er kam hoch aus ihrem Schoß und blickte in ihr Gesicht. Sie lächelte. Dann nahm sie ein Stück vom Laken und wischte ihm die Nässe fort. Er stand auf und war verwundert darüber, daß es ging. Er spürte gar keinen Schmerz im Bein. Die Wut deckte alles zu. Er humpelte zum Schrank hinüber. Er zog den Anzug, der darin hing, über den Pyjama. Dann 148
humpelte er zum Nachttisch neben dem Bett, in dem er vierzehn Tage zugebracht hatte, vielleicht die schwersten seines Lebens, wer weiß es? Er nahm den Umschlag mit der brasilianischen Marke und die Brieftasche darunter mit dem Geld. Er steckte beides zu sich. Dann humpelte er zur Tür, und dort fiel ihm ein, daß er etwas vergessen hatte. Er kam zurück, beugte sich ’runter zu ihr und küßte sie auf die Wangen. „Danke!“ sagte er. Als er wieder bei der Tür war, wandte er sich noch einmal um. Sie saß auf dem Bett und lächelte hilflos. Sie hatte ihm alle Kraft gegeben. Sie schien ihm nun elender zu sein als er selbst!
12. Der Mann stand im Freien und sog die herbstliche Nachtluft ein, sie war frisch und kühl. Mit dem Bein ging es besser, als er erwartet hatte. Auch mit seinem Kopf, obwohl er noch immer sehr verwirrt war. Auf dem Weg durch die Klinik hatte er überlegt, ob er Professor Liebscher gleich seine Aufwartung machen sollte. Aber er ließ es. Er wollte sich erst Klarheit darüber verschaffen, was eigentlich mit ihm geschehen war. Er holte den Briefumschlag aus der Tasche und hielt ihn ins Licht der Lampe vor der Eingangstür. Senhor David Rosenau, las er. Und: Hamburg-Poppenbüttel, Ginsterbuschweg 51. Das Grundstück befand sich auf dieser Straße, hatte ihm der sympathische Pfleger gesagt. Auf dem Nummernschild neben der Tür stand 39, es schien also wirklich nicht weit zu sein. Der Mann machte sich auf den Weg. Irgendwie mußte er in Rosenaus Haus hinein. Dort hatte alles seinen Anfang genommen, und er wollte der 149
Person gegenübertreten, der er gleichen sollte wie ein eineiiger Zwilling. Die Straßenbeleuchtung reichte aus, um die Nummernschilder zu erkennen. Am Tor des nächsten Grundstücks las er 37. Er kehrte also um, wanderte wieder an der Klinik vorbei und war überrascht, wie gut er mit dem Bein auftreten konnte. Und dann stand er vor dem Eingang zum Grundstück Ginsterbuschweg 51. Das Tor war fest verschlossen. Er ging ein paar Meter weiter und prüfte den Zaun. Der bestand aus ziemlich hohen Eisenstäben, die in spitzen Enden ausliefen. Er zweifelte, daß er mit dem Bein darüber hinwegkam. Natürlich könnte er läuten, denn er sah Licht brennen, aber lieber wollte er die Leute überraschen. Er zog einen Schlüsselring hervor, den er neben einem Taschentuch und einer Handvoll Münzen in der Hosentasche gefunden hatte, und probierte ihn durch. Einer der Schlüssel paßte. Er schloß hinter sich sorgfältig ab, ganz so, wie er es bei sich zu Hause wohl ebenfalls getan hätte. Bei sich zu Hause! Auch hier lag das Gebäude zurück, und er lief über einen hellen Kiesweg darauf zu. Als er vor der Eingangstür anhielt, verblüffte ihn die kalte Ruhe in ihm. Er war nicht eine Spur erregt. Verhielt er sich so im Augenblick der Gefahr? Noch immer wußte er sehr wenig über sich. In der Tür war geriffeltes Glas eingelassen, und dahinter brannte Licht. Wieder paßte einer der Schlüssel an dem Ring; es schien also alles höchst einfach zu sein! Er kam in eine Halle mit holzgetäfelten Wänden, an denen alte Bilder hingen. Links und rechts gingen Türen ab, mehrere davon zweiflügelig. Alle fest verschlossen. Im Hintergrund führte eine Treppe zum Obergeschoß hinauf. Es war sehr still in der Halle. Eine tödliche Stille! Es roch leicht muffig, und für Sekunden hatte der Mann den Eindruck, das Haus sei unbewohnt. Aber das konnte nicht sein, denn schließlich brannte Licht. Er starrte zur 150
Treppe hinüber. Dort mußte es passiert sein. Er hatte nicht die geringste Erinnerung. Alles war ihm total fremd. Er hatte den Eindruck, als käme er zum ersten Mal hierher. Und dennoch: Wenn alles einen Sinn ergeben sollte, mußte er dort heruntergestürzt sein. Mit langsamen Schritten ging er auf die Treppe zu. Trotz der Spannung, die sich nun doch regte, beobachtete er sich genau. So stellte er auch fest, daß er auf dem linken Bein nicht mehr humpelte. Am Fuß der Treppe blieb er stehen. Blickte empor. Keinerlei Erinnerung! Und da hörte er in seinem Rücken eine Stimme. Sie sagte: „Da wird mich aber gleich der Schlag treffen!“ Es war eine ältliche resolute Stimme. Sie fuhr fort: „Wieso sind Sie schon zurück, Herr Rosenau?“ Langsam drehte er sich herum. Es war eine Frau, weit über Siebzig, ziemlich groß und kräftig. Sie hielt sich gerade wie ein Armeegeneral. Sie hatte auch die gleiche mächtige Brust, nur fehlten die vielen hundert Orden darauf. Sie sah ihn aufmerksam an, schien jede Einzelheit in seinem Gesicht und an seiner Kleidung zu überprüfen. Dann sagte sie kopfschüttelnd: „Sie wollten erst kommende Woche zurück sein!“ Es klang beinahe wie ein Vorwurf. „Ich hab’ nicht mal ordentlich zu essen im Haus.“ „Hab’ schon im Flugzeug“, brummte er. Sie horchte auf seine Stimme, und sie schien sie ebenso zu akzeptieren wie sein Äußeres. „Ich werde Ihnen gleich Tee machen, und dazu nehmen Sie ein Butterbrot!“ „Keinen Hunger!“ „Sie essen, was ich Ihnen auftue, Herr Rosenau!“ Sie mußte ein scharfes Regiment führen. Sein Eindruck von dem General stimmte schon, nur fehlten eben die Tapferkeitsmedaillen, die jene Brüste so bedeutsam machen. Er blickte sich in der Halle um und sah eine 151
Garderobe. Dort hing ein dunkler Mantel, auf der Ablage darüber lag ein ebenso dunkler Hut. „Sie vergessen immer wieder, daß wir hier anderes Wetter haben, Herr Rosenau, und dann frösteln Sie. Und Sie sind sehr krank, wenigstens das sollten Sie beachten!“ Sie kam auf ihn zu und blieb nah vor ihm stehen. Sie blickte ihm kritisch in die Augen. „Geben Sie zu, daß Ihnen kalt ist?“ „Ja“, log er. „Und dieses Hemd!“ Sie zerrte am Kragen der Pyjamajacke, die er unter dem Anzug trug, und schloß den obersten Knopf. Dabei räsonierte sie: „Die Brasilianer haben nicht den geringsten Geschmack, und Sie kaufen sich dort Hemden. Nun gehen Sie mal ’rauf und machen sich frisch! Ziehen Sie sich etwas anderes an, vor allem ein weißes Hemd und eine Krawatte, wie es sich gehört. Dann ist auch der Tee soweit!“ Er war froh, aus ihrer Nähe zu kommen, und stieg die Stufen hinauf. Aber sie stoppte ihn noch einmal. „Wann kommt Herr Wilhelm?“ „Später!“ Auch sein Ton war höchst unfreundlich, man lernt eben schnell als Mensch. Er sah die Frau am Fuß der Treppe stehen und lächeln. Er erwiderte es nicht, aber im Grunde mußte wohl ihr und Rosenaus Verhältnis ganz drollig sein. Wenn man sich nur erst daran gewöhnt hatte. Als er oben anlangte, war die Frau verschwunden. Still und einsam lag die Halle unter ihm. Er fühlte sich plötzlich verwirrt, und er fragte sich, ob diese Begegnung wirklich stattgefunden oder ob er sie sich nur eingebildet hatte. Es war ja viel geschehen in den letzten Tagen, vieles schien möglich zu sein, an was er früher nie geglaubt hätte. Früher? Aber es war kein Traum gewesen! Etwas hatte sich verändert unten. Die große, zweiflügelige Tür zum Zimmer rechts stand offen. Innen brannte Licht. Viel konnte er nicht erkennen, weil er 152
weit oben stand, er sah lediglich die Enden von Regalen mit Büchern darauf. Es mußte so etwas wie eine Bibliothek oder ein Arbeitszimmer sein. Die Stufen führten ziemlich steil hinab. Der Blick, den er von hier hatte, war ein ganz anderer als der von unten herauf. Hier war es also geschehen? Von hier stürzte er die Treppe hinab? War es so –? Ja –? Ja –! Auf einmal merkte er, wie etwas in ihm einrastete. Und dann begannen die Erinnerungen zu fließen. Es war wie beim Tauwetter, wenn sich eine Lawine löst. Er sah sie kommen und fühlte, wie er unter ihr begraben wurde. „Herr Drenckmann?“ fragte der Mann am anderen Ende der Leitung. „Ja.“ „Herr Gerhard Drenckmann? Briefmarkenprüfer und Briefmarkenhandel?“ „Ja, ja!“ „Mein Name ist Wilhelm, ich bin Sekretär bei David Rosenau. Wir hatten bisher keine Geschäftsverbindung, sind aber durch Freunde auf Sie hingewiesen worden.“ „Was für Freunde?“ „Zum Beispiel Senhor Sanchez aus Rio de Janeiro, erinnern Sie sich?“ „Kann sein. Und was wünschen Sie?“ „Sind Sie an einigen Marken interessiert?“ „Das ist mein Beruf?“ „Wollen Sie unsere Marken übernehmen?“ „Kommt darauf an.“ „Es handelt sich um einige Posten Altdeutschland. Auch deutsche Kolonien. Um korrekt zu sein: Es sind mehrere Sammlungen, und sie sind komplett.“ „Das scheint ein ziemlich großer Fisch zu sein.“ „Das kann man ohne Übertreibung sagen. Bekommen Sie keinen Appetit?“ 153
„Appetit schon. Sagen Sie etwas über den ungefähren Wert!“ „Ich weiß nicht, nicht so auf Anhieb, nicht wahr, das ist zweifellos …“ „Sagen Sie es ungefähr!“ „Sicher nicht unter achtzigtausend, aber das ist nur eine vage untere Grenze.“ „Ich muß Sie zunächst auf etwas hinweisen, Herr …“ „Wilhelm –! Sekretär bei Herrn David Rosenau!“ „Gut, Herr Wilhelm! Also erst einmal: Die Bezeichnung ‚Handel‘ auf meinem Geschäftspapier ist nicht besonders treffend. Ich beschäftige mich mehr mit der Echtheitsprüfung von Objekten, auch mit Reparaturen, aber immer weniger mit Handel. Sie sollten vielleicht eins der großen Markenhäuser in der Innenstadt aufsuchen, dort wären Sie an einer besseren Adresse.“ „Wir glauben eher, daß wir es bei Ihnen sind, Herr Drenckmann! Sie genießen ja als Prüfer großes Ansehen … Ist es nicht so?“ „Kann sein.“ „Na also! Natürlich haben wir vor diesem Anruf ein bißchen herumgehört.“ „Herr Wilhelm, ich kann Ihre Sammlungen nicht übernehmen! Der Wert übersteigt meine Mittel!“ „Nehmen Sie keine Ware in Kommission?“ „Hin und wieder schon.“ „Bitte! Bei Ihren Verbindungen dürfte selbst ein Objekt dieser Größenordnung seine Chance haben … Hallo, Herr Drenckmann, sind Sie noch in der Leitung?“ „Ich überlege …“ „Ich wußte schon, daß Sie gar nicht nein sagen können. Sollen wir zu Ihnen kommen?“ „Mit den Marken?“ „Ja, natürlich!“ „Sind Sie wahnsinnig? Es hat tagelang geregnet. Die Luftfeuchtigkeit schadet den kleinen Dingern.“ 154
„Natürlich, Herr Drenckmann, entschuldigen Sie, daran habe ich jetzt nicht gedacht. Könnten Sie dann vielleicht zu uns herauskommen?“ „Wann?“ „Sobald Sie Zeit haben.“ „Am besten gleich.“ „Das wäre günstig. Sollen wir Sie abholen lassen?“ „Ich komme schon selbst.“ „Wir ersetzen natürlich alle Auslagen, berechnen auch Ihre Zeit.“ „Ist gut. Also – bis dann!“ „Moment! Moment, Herr Drenckmann, Sie wissen ja nicht, wo wir wohnen.“ „Richtig!“ „Es ist in Poppenbüttel, und zwar ziemlich nördlich, nahe dem Landschaftsschutzgebiet, Ginsterbuschweg einundfünfzig. Wir freuen uns, Herr Drenckmann!“ „Tschüs!“ Wenn es klappte, könnte es ein großes Geschäft werden. Er hielt sich zwar nicht für besonders geldgierig, aber hin und wieder biß er schon ganz gern ein Stück vom Kuchen ab. Auf der Arbeitsplatte vor ihm lag eine alte „Sachsen“, zwar nicht gerade der Dreier, aber auch bei der hier handelte es sich um ein freundliches kleines Ding. Er war mit der Reparatur gerade fertig geworden, als der Anruf kam. Trotz des winzigen Reparaturzeichens auf der Rückseite der Marke hatte sie einiges von ihrem früheren Wert wiedererlangt. Das machte schon sein Stempel, der so etwas wie eine Gütemarke in der Branche war. Die Tür vom Hinterzimmer zum Laden stand offen, und er konnte hinausschauen. Er sah die große Scheibe und die Straße dahinter. Auf der anderen Seite befanden sich Häuser, und er wohnte gleich gegenüber. Die Ladentür war versperrt wie immer. Es lohnte sich gar nicht, sie aufzuschließen, weil so gut wie keine Kundschaft kam. 155
Dies war nie eine gute Geschäftslage gewesen. Als seine Mutter den Laden noch führte, hatte sie einmal sogar für lange Zeit zumachen müssen, während der großen Arbeitslosigkeit damals. Er erinnerte sich genau daran. Heute besuchten ihn meistens Schuljungens, sie drückten sich die Nasen an der Scheibe platt, und wenn er sie nicht gleich sah, klopften sie. Sie blätterten in den Steckalben, stöberten in Kartons, in denen Marken aus aller Herren Ländern lagen und die nur grob sortiert waren. Er hatte sie säuberlich von den Briefen abgetrennt, die er von überallher bekam. Es machte ihm Spaß, wie die kleinen Rotznasen die Groschen in ihren nicht sehr sauberen Händen festhielten. Meistens schenkte er ihnen die Marken, soweit wie möglich zumindest. Die Bengels wußten es und nutzten ihn schamlos aus. Er hatte Kinder gern, leider besaß er keine eigenen. Geschäftlich kam er dennoch gut zurecht. Seine Expertisen waren gefragt, seine Reparaturen auch. Trotzdem, ein Fisch wie jener, der ihm eben durch das Telefon annonciert wurde, kam nicht jeden Tag geschwommen. Da mußte man schon mal zuschnappen. Er seufzte tief und lang. Drenckmann verließ sein Geschäft durch die Hintertür, die im Wohnhaus einer Seitenstraße lag. Er ging nach vorn zur Ladentür und rüttelte an der Klinke. Es war zugesperrt, wie er wußte, aber er kontrollierte es auf alle Fälle! Wie es sich für einen ordentlichen Mann gehörte. Das Wetter erwies sich als obermies; es regnete, und es kam ein kalter Wind von See herein. Drenckmann schlug den Kragen seines Trenchcoats hoch und sah zum Haus hinüber, in dem er parterre wohnte. Er überlegte, ob er die Gasheizung einschalten sollte, ließ es aber dann doch. Er wußte es zwar nicht genau, aber er wollte rasch zurück sein. Er lief die Straße hinauf. Diesen Weg war er seit seiner Kinderzeit oft gegangen. Als Schuljunge und auch schon davor. Mit dem Cello un156
term Arm, das er an sich preßte wie eine Geliebte. Nur hatte er das Ding niemals geliebt. Er kam an eine Kreuzung, wo stärkerer Verkehr herrschte. Als er um die Ecke bog, sah er, daß an der Tankstelle dort wenig Betrieb herrschte. Nur ein Taxi wurde aufgetankt. Eigentlich wollte Gerhard Drenckmann öffentliche Verkehrsmittel benutzen, aber gerade jetzt peitschte ihm der Wind den Regen ins Gesicht, und der eigene Wagen stand mal wieder in der Werkstatt. Kurz entschlossen machte er auf dem Absatz kehrt und ging zur Tankstelle und dem Taxi zurück. Die Fahrt nach Poppenbüttel dauerte nur eine knappe halbe Stunde, und der Ginsterbuschweg stellte sich als gute Wohngegend heraus. Große Häuser in großen Gärten. Die Nummer 51, vor der er stand und läutete, hatte das gleiche Ausmaß. „Ja, bitte?“ hörte er eine Stimme über den Rufer, die er kannte. Gerade vor einer Stunde hatte er noch mit ihr telefoniert. Er sagte: „Ich bin’s, Drenckmann!“ „O ja, Herr Drenckmann, sofort!“ Ein Schnarren ertönte, und er drückte gegen das Tor, das nachgab. Sorgfältig ließ er es von der anderen Seite ins Schloß zurückgleiten. Dann ging er über den Kies den leicht ansteigenden Weg zum Haus hinauf. In der Tür wurde er von einem jungen Mann erwartet. Alles an dem war ordentlich und gepflegt, der Anzug, das Hemd, die Krawatte. Das dunkle Haar war sorgfältig gescheitelt und lag glatt nach beiden Seiten. Da tanzte keine Strähne aus der Reihe. Die braunen Augen blickten freundlich lächelnd. „Ich bin der Sekretär“, sagte der junge Mann. „Meinen Namen wissen Sie ja schon.“ Sie schüttelten sich die Hand. „Ich freu’ mich wirklich, daß Sie so schnell kommen konnten.“ 157
„Hm –!“ machte Drenckmann und betrat das Haus. Er kam in eine Halle mit Holztäfelungen an den Wänden und Bildern daran. Rechts und links gingen Türen ab. Im Hintergrund führte eine Treppe nach oben. Es war merkwürdig still im Haus, irgendwie wirkte es unbewohnt. Einige Sekunden lang fragte sich Drenckmann, ob an dieser Geschichte alles astrein war. Der Sekretär, der ihn beobachtete, schien feinnervig zu sein. Er sagte: „Wir halten uns selten hier auf, Herr Drenckmann. Überwiegend wickeln wir unsere Geschäfte von New York, Paris und Rio de Janeiro aus ab.“ Drenckmann lächelte. Brasilien gehörte zu den Gegenden, in die er immer gewollt und niemals gekommen war. Der Sekretär öffnete eine Flügeltür, und sie traten in eine Art Bibliothek. Selten hatte Drenckmann so viele Bücher an einem Fleck gesehen. Alle Wände waren mit Regalen vollgestellt, die bis zur Decke hinaufreichten. Herr Wilhelm hatte schon alles vorbereitet. Auf dem Schreibtisch lagen Alben, alle aufgeklappt. Gerhard Drenckmann blickte darauf, blätterte hier und da weiter. Bereits der erste flüchtige Eindruck genügte ihm. Phantastisch! Überwältigend geradezu! Jedes Stück schien ohne Makel und geradezu liebevoll gepflegt zu sein. So schätzte er den Umgang mit dem Material. „Setzen Sie sich doch!“ sagte der Sekretär. Drenckmann ließ sich hinter dem Schreibtisch nieder und schaute den jungen Mann lange an. Herr Wilhelm erklärte: „Ich muß Herrn Rosenau entschuldigen. Er hetzt von einer Konferenz zur anderen, dabei sollte er es nicht mit seinem Herzen.“ „Kenn’ ich“, antwortete Drenckmann. „Sie auch?“ „Hm –!“ „Dann wird Ihnen ein Glas Portwein guttun, das öffnet die Gefäße. Oder möchten Sie lieber einen Kognak?“ „Geben Sie mir den Wein!“ 158
Während sich der Sekretär damit beschäftigte, beugte sich Drenckmann erneut über die Marken. Seine erste Wahrnehmung vertiefte sich. Er blätterte mal hier, mal dort, weil er gar nicht wußte, wo er beginnen sollte. Wenn er wirklich alles durchsehen würde, brauchte er viel Zeit dafür. Aber – und auch das wußte er schon – es würde eine feine, beinahe lustvolle Arbeit werden. Er griff nach dem Glas, das plötzlich neben ihm stand, schnüffelte und nahm einen Schluck. Auch der Portwein schmeckte vorzüglich. „Warum will Herr Rosenau verkaufen? Braucht er Geld?“ Schon bei der Frage merkte Drenckmann, daß sie so etwas wie einen Lapsus bedeutete. Über Geld sprach man in diesen Kreisen wohl nicht. Er blieb über die Alben gebeugt, nahm einen weiteren Schluck und fuhr fort: „Briefmarken sind eine gute Kapitalanlage, waren sie immer. Ziemlich wertbeständig.“ „Vor allem wünscht Herr Rosenau, daß sie in gute Hände kommen“, meinte der Sekretär. „Sie sehen ja, wie gepflegt sie sind. Kinder könnte man nicht besser umsorgen.“ Warum wollte er sie dann weggeben? fragte sich Drenckmann. Er würde es mit den eigenen Kindern nicht gern tun, soviel wußte er. „Wir glauben“, hörte er den Sekretär sagen, „daß Sie diesen kleinen Schatz in ein ordentliches Haus vermitteln könnten.“ Drenckmann kam hoch mit seinem Blick und dachte dabei an Leute in München, die er kannte. Oder besser noch in Düsseldorf, dort befand sich mehr flüssiges Geld. „Ist es nicht so bei Ihren Verbindungen?“ fragte Herr Wilhelm. „Könnte sein.“ „Vorher möchte Herr Rosenau allerdings, daß Sie alles aufnehmen, auch katalogisieren oder wie man das nennt.“ 159
Gerhard Drenckmann blickte auf das Glas, das bereits leer war. Der Wein schmeckte wirklich gut. „Und dann sollten Sie eine Expertise anfertigen, wünscht Herr Rosenau. Ein Urteil von Ihnen würde ihm viel bedeuten. Sagt er. Möchten Sie vielleicht noch ein Gläschen?“ „Könnte nicht schaden.“ Der Sekretär kam mit der Flasche und füllte nach. Als er vom Schreibtisch zurücktrat, stolperte er, versuchte sich zu halten, verlor aber das Gleichgewicht. Er fiel gegen die Kante, und dabei stieß er das Glas um. Der Wein ergoß sich über Drenckmanns Hände und sickerte schnell in den Stoff der Hose ein. Unglücklich starrte Drenckmann auf seine Hände, die sich klebrig anfühlten; der Sekretär jedoch war geradezu entsetzt. „Oh, Herr Drenckmann, wie schrecklich! Ich entschuldige mich vieltausendmal!“ „Lassen Sie!“ Drenckmann zog ein Taschentuch hervor. „Den Marken ist wenigstens nichts geschehen.“ „Ja, aber Ihnen!“ Auch der Sekretär zog ein Taschentuch hervor, jenes aus der oberen Tasche seines Anzugs, das mit einem schmalen Streifen dort hervorlugte; korrekt wie alles an dem jungen Mann. Er rieb seinerseits an Drenckmanns Händen herum, hörte aber bald damit auf. „So wird es nichts, ist ja ganz klebrig das Zeug! Wir wollen nach oben gehen und uns ein bißchen waschen!“ Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf, wobei der Sekretär einen Schritt vorausging. Die Stufen waren ziemlich steil. Oben angelangt, öffnete Herr Wilhelm die Tür zu einem Schlafzimmer. Drenckmann blieb auf der Schwelle stehen, und wieder beschlich ihn ein ungutes Gefühl. „Es ist mir außerordentlich peinlich“, hörte er den feinnervigen Sekretär sagen. „Aber unten im Gäste-WC haben wir einen Rohrbruch. Wie es so zugeht in alten 160
Häusern. Hier entlang, bitte!“ Herr Wilhelm schritt voran und öffnete eine zweite Tür, die ins Bad führte. Über dem Waschbecken wurde es Drenckmann zum ersten Mal schlecht. Mühsam kam er hoch und sah im Spiegel sein verzerrtes Gesicht, es war kreideweiß. „Um Gottes willen, Herr Drenckmann, ist Ihnen etwas?“ fragte Herr Wilhelm besorgt. „Es geht schon wieder“, keuchte Drenckmann. Und das tat es wirklich, der Anfall schien vorbeizugehen. „Ihr Herz?“ Drenckmann bemerkte die ängstlich geweiteten Augen des Sekretärs hinter sich im Spiegel. Er sagte: „Hab’ ich manchmal bei dem Wetter.“ „Genau wie bei Herrn Rosenau!“ Drenckmann ging an Herrn Wilhelm vorbei durchs Schlafzimmer und auf den Flur hinaus. Er setzte den Fuß auf die Treppe, sah hinab und fand, daß die Stufen verdammt steil waren. „Seien Sie nur ganz vorsichtig, Herr Drenckmann!“ hörte er den jungen Mann sagen. „Warten Sie, ich werde mal eben mit anfassen.“ Tat er das eigentlich, dieser besorgte Sekretär, fragte sich Gerhard Drenckmann noch. Dann wurde ihm wieder schlecht, und diesmal weit schlimmer. Die Halle unten drehte sich wie ein Karussell, die Bilder an den Wänden flitzten vorbei. Oder stand die Halle still und saß er in einer Gondel, die es auf Jahrmärkten gab? Mal war die Treppe unter, mal über ihm. Dann sah er das große schwarze Loch vor sich, in das er stürzte. Dunkle Nacht begann ihre Tücher über ihn zu breiten. Alles wurde leise und still, und er war sehr zufrieden damit. Wieder stand Gerhard Drenckmann vor dem Spiegel in jenem Badezimmer. Er hatte sich inzwischen aus Herrn David Rosenaus Wäscheschrank bedient. Das weiße Hemd und die Krawatte kleideten ihn vorzüglich. Gera161
de kämmte er sein Haar, das an den Schläfen schon sehr grau wurde. Er wußte nun immerhin, daß er Drenckmann hieß und ein Fachmann in Sachen Briefmarken war. Und sie hatten ihn in dieses Haus gelockt! Das Mittel, das ihn austrickste, mußte sich aufgelöst im Wein befunden haben. Offensichtlich sollte er Rosenaus Platz einnehmen. Wozu? Und was sollte mit dem echten Rosenau geschehen? Aber er wußte auch andere Dinge noch nicht. So fiel ihm der Name der Straße nicht ein, in der er wohnte. Er hatte die Topographie der ganzen Gegend vor Augen, nur die dazu gehörenden Straßennamen fehlten. Und sein Gesicht, das er im Spiegel sah! Es kam ihm absolut fremd vor, und das war doch absurd. Aber es löste nun keine Panik mehr in ihm aus wie noch vor Stunden oder Tagen. Man mußte den Dingen Zeit lassen, soviel hatte er inzwischen gelernt. „Hallo!“ sagte er zu dem fremden Gesicht und grinste. Und dann ging er aus dem Bad hinaus. Auf der Treppe verhielt er sich vorsichtig. Er faßte am Geländer an und stieg die Stufen behutsam hinunter. In der Bibliothek setzte er sich an David Rosenaus Schreibtisch. Auf der Platte standen eine Teekanne samt Tasse und Zuckerdose, alles feines chinesisches Porzellan. Auf einem Teller lag eine Scheibe Brot, dick mit Butter bestrichen. Er griff danach, obwohl er keinen Hunger hatte. Was er in der nächsten Zeit am dringendsten brauchte, waren neue Kräfte. Er sah es ein. Natürlich fand er den Schreibtisch abgeschlossen, und der Schlüssel steckte nicht. Er beugte sich hinunter und untersuchte das Schloß. Es würde keine Schwierigkeiten machen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes sah er ein Tischchen mit einer Schreibmaschine nebst weiterem Zubehör. Bevor er hinüberging, warf er einen Blick in die Halle. Niemand dort! Er lauschte. In diesem Haus herrschte wirklich eine Grabesstille. Der weibliche General schien das einzige lebende Wesen zu 162
sein, wahrscheinlich lag sie irgendwo anders auf der Lauer. Neben der Schreibmaschine entdeckte er eine Schale, in der sich Büroklammern befanden. Er suchte einige größere, stabil wirkende heraus und ging zum Schreibtisch zurück. Als er eine aufbog und als Dietrich verformte, fiel ihm auf, wie gut es ihm gelang. Die Dinge kamen wie selbstverständlich aus ihm heraus. Was war er denn noch außer einem renommierten Briefmarkenprüfer? Vielleicht ein kunstfertiger Einbrecher? Der Mann grinste in sich hinein. Das Schloß gab schnell jeden Widerstand auf, und er zog die Schublade hervor. Er fand eine Menge Papiere. Bevor er sich daranmachte, griff er nach der Teekanne und goß ein. Am Duft merkte er, daß es „Earl Grey“ war. Seine Lieblingsmarke! Auch das wußte er. Wieso fiel ihm dann nicht der Name seiner Straße ein? Das war doch albern! Er tat Zucker zu dem Tee, rührte um, nahm einen Schluck. Wie denn, wenn auch mit diesem Tee etwas nicht stimmte? Er bekam einen Schreck, aber dann lächelte er. Nein, das denn doch nicht, ein zweites Mal nicht! Er trank wieder, und der Tee schmeckte wunderbar. Dann biß er in das Butterbrot. Unter den Papieren im Schreibtisch befand sich eine Liste, die ihn gleich interessierte. Sie enthielt etwa ein Dutzend Namen, seinen eingeschlossen. Sie bestand aus mehreren Blättern, weil es unter den einzelnen Namen nähere Angaben zu den Personen gab. Er erfuhr etwas über sein Alter, seine Größe und sein Gewicht. Er las über Schulbildung und Beruf nach. Ebenfalls wurde vermerkt, daß er weder Frau noch Kinder hatte. Und es stand auch sein Herzklappenfehler darin. Und die Blinddarmoperation! Erschrocken griff Drenckmann zur Leistengegend, denn die hatte er vergessen. Aber nun fiel es ihm wieder ein. Er war als Kind operiert worden, und gleich darauf hatte ihm der Vater das Cello ge163
schenkt. Aus Freude über die Genesung sozusagen. Auf alle Fälle ergaben die Aufzeichnungen ein gutes Bild von seiner Person, seinen Verhältnissen und seiner beruflichen Stellung. Nur über seine Gedanken wurde nichts vermerkt, vielleicht erfaßte ein Computer die nicht. Wieder durchzuckte es ihn wie ein Blitz. War es ein Computer? Gerhard Drenckmann verglich seine Daten mit denen der anderen Kandidaten. Auf einen Blick schienen alle deckungsgleich, alles Zwillinge oder Viellinge, oder wie das heißen mochte. Nur bei einem fehlte die Blinddarmnarbe, aber die Herzschwächen, wie sie sich im einzelnen auch unterschieden, waren bei jedem vorhanden. Das Alter variierte in einer Spanne von etwa zwei Jahren. Sie hatten alle ungefähr die gleiche Größe, das gleiche Gewicht. Und sie besaßen weder Frau noch Kinder. Bei dem katholischen Priester war es einzusehen, dachte Gerhard Drenckmann, bei ihm jedoch nicht ganz. Aber warum hatten sie aus der Fülle des Angebots gerade ihn gefischt? War es Zufall? In einem Kuvert fand er die Fotos der Todeskandidaten. Todeskandidaten? Ja, was denn sonst! Gestochen scharfe Farbaufnahmen in Postkartengröße. Das Bild von ihm lag obenauf. Er stand vor seinem Laden, verschloß gerade die Eingangstür und schaute direkt in die Kamera. Er hatte nicht den leisesten Schimmer, wann es aufgenommen wurde. Lange starrte Drenckmann auf das Foto, und dann war ihm plötzlich zumute, als ob sich seine Nackenhaare langsam aufrichteten. Das war er ja gar nicht, der dort die Ladentür abschloß? Er hatte noch vor ein paar Minuten im Spiegel sein Gesicht studiert. Der Mann auf dem Bild sah anders aus! Drenckmann schmiß die Aufnahmen zwischen das Teegeschirr und lehnte sich zurück. Nur nicht verrückt werden, dachte er, nicht durchdrehen so kurz vor dem Ziel! Langsam griff er zur Teekanne, goß ein, rührte um. Er 164
trank in bedächtigen Schlucken und aß dazu den Rest des Butterbrotes. Dann langte er zur Federschale und nahm die Lupe heraus. Wieder beugte er sich über das Foto. Die Nase des Mannes war größer. Wesentlich größer! Und auf einmal hatte er eine Erinnerung. Schon als Junge wurde er mit seiner Nase aufgezogen. Das blieb auch später so. Nachdenklich strich er über diese Nase, die sich nun viel kleiner anfühlte. Auf einmal wurde die Sache ziemlich klar. Sie hatten ihm das Ding wegoperiert! Aber auch mit den Augen stimmte etwas nicht, es schien die Stellung zu sein. Vielleicht hatten sie kleine Schnitte gemacht und die Kopfhaut angezogen. Er fuhr mit den Fingern durch sein Haar, konnte aber keine Narben ertasten. Der Herr Professor mußte ein Meister seines Fachs sein. Deshalb wurde er also ans Bett gefesselt! Er dachte an die Verbände um den Kopf, an das Pflaster auf der Nase. Sie mußten warten, bis die Wunden geheilt waren, ehe sie ihn präsentieren konnten. Und als was wollten sie das tun? Als Leiche vielleicht? Eigentlich gab es keine andere Erklärung. Vieles schien ihm klar, und doch nicht alles. Was hatten sie beispielsweise mit den nächtlichen Träumen bezweckt? Gerhard Drenckmann tat die Aufnahmen in das Kuvert zurück und steckte es in die Tasche. Ebenso die Blätter mit der Namenliste. Er beeilte sich. Er fand noch David Rosenaus internationalen Führerschein, den er gleichfalls zu sich nahm. Und dann stieß er auf ein Schlüsselbund. „Brav von Ihnen, daß Sie aufgegessen haben!“ Drenckmann schreckte hoch. In der Tür stand der weibliche Armeegeneral ohne Orden. Dieses Schlüsselbund, wußte er plötzlich, war sein Eigentum. Der kleinere Sicherheitsschlüssel gehörte zum Hintereingang und der größere zur Ladentür, die beiden anderen zum Treppenhaus und zur Tür seiner Wohnung. Seine Finger schlossen sich darum wie um einen Schatz. 165
„Ich wollte nur fragen, wann Sie sich niederlegen, Herr Rosenau? Ob Sie mich noch brauchen. Ich würde sonst auch schlafen gehen.“ „Lassen Sie sich nicht aufhalten“, erwiderte er. Sie starrten sich an. Und plötzlich, er wußte selbst nicht, wieso, forderte er: „Machen Sie vorher das Licht draußen an, und schließen Sie die Garage auf!“ „Sie wollen noch einmal fort?“ „Ja.“ „Das geht nicht! Sie dürfen nicht kutschieren, mit Ihrem Herzen nicht! Das wissen Sie doch, Herr Rosenau. Ich werde ein Taxi rufen.“ „Quatschen Sie nicht!“ sagte er knurrend. Und als sie ihn perplex ansah, schnauzte er: „Kehrtum, marsch!“ Sie begann zu kichern. „Wenigstens merke ich an Ihrem Ton, daß es Ihnen gut geht. Und da kann ich es wohl riskieren.“ Sie drehte sich um und marschierte hinaus. Auch er erhob sich. Er war in merkwürdig leichter Stimmung. Mit den Schlüsseln in der Hand hatte er ein Stück seiner Heimat zurückerobert. Er trat in die Halle. Die Tür zum Garten stand offen, und draußen brannte bereits Licht. Noch einmal wanderte sein Blick die Treppe hinauf, wo alles angefangen hatte. In den letzten vierzehn Tagen war er eine weite Strecke seines Wegs gegangen. Irgend etwas in ihm sagte ihm das. Dann griff er sich den Mantel von der Garderobe, zog ihn an. Er setzte sich auch den Hut auf. Er befand sich schon nah beim Ausgang, als in der Bibliothek das Telefon zu läuten begann. Er blieb stehen. Er hörte es wieder klingeln und zögerte. Dann ging er entschlossen in den Raum zurück und nahm den Hörer ab. Mit fester Stimme sagte er: „Hier spricht David Rosenau!“
166
13. „Archie Patters, meinen Glückwunsch! Wie Sie die Angelegenheit angepackt haben, ist einzigartig, mir fehlen die Worte, Sie sind ein Könner, durch und durch ein Professional!“ Arthur Masham stand in der Mitte des weitläufigen Raumes. Er meinte, was er sagte, das sahen sie an seinem Ausdruck. Archie Patters saß bescheiden in einer Ecke und hielt den Blick gesenkt. Aber der wesentlich jüngere Connors starrte seinen Chef mit geweiteten Augen an. Er schien über den Gefühlsausbruch wohl auch amüsiert, vor allem aber war er verwirrt. Noch niemals hatte er Masham mit solcher Emphase reden hören. Der kühle, beherrschte Masham! Der Gewaltige, wie sie ihn auch nannten. Dieser Zweizentnermann, der über Tausende von Menschen in Werken und Fabriken herrschte. Der Zwingherr der Elektronikbranche im Land. Das Gespräch fand in der Konzernleitung statt, in einer der oberen Etagen eines Hochhauses, mit denen sie nun auch diese City verschandelten. Masham fuhr fort: „Ihr Honorar haben Sie schon, Archie, jetzt werden wir es verdoppeln! Die Angelegenheit könnte nicht in besseren Händen sein.“ Archie Patters fühlte sich sehr müde. Die Anstrengungen der letzten Tage waren zuviel für sein Alter. Eigentlich wollte er nichts weiter als nach Hause und ins Bett. Dort wollte er für die nächsten Tage bleiben. Er starrte unglücklich auf das Glas Whisky vor sich, nicht einen Schluck hatte er davon getrunken. Außerdem drückte sich Masham zu blumig aus. Wenn es zu solchen Elogen kam, war etwas faul an einer Sache. Das wußte er aus dem Erfahrungsschatz eines langen Lebens. Er sagte: „Ich dachte, der Job sei vorbei.“ „Er fängt erst an, Archie, wir stehen am Anfang!“ „Und was soll ich noch für Sie tun, Arthur?“ 167
„Sie sollen wieder nach Hamburg ’rüber, möglichst schon mit der nächsten Maschine!“ Archie Patters verzog den Mund, aber das sah Masham nicht; er stampfte durch die Weiten seines Arbeitszimmers und fuhr fort, sein Lied zu singen. „Wir sitzen da und starren auf die Werke Rosenau. Ein Mann, so rein wie frischgefallener Schnee. Nicht nur ein besonders fähiger, kluger Kopf, nicht nur eine besonders glückliche Hand, nein, nein! Ein Opfer! Ein grauenhaft Gepeinigter in dieser merkwürdigen Zeit. Und dann nehmen Sie sich der Sache an, Archie, und alles kehrt sich um! Aus dem Geschändeten wird eine ehemalige Nazigröße! Archie, wenn Sie nur zehn Jahre jünger wären, meine Tochter müßte Sie heiraten. Sie sollten mit in dieses Zimmer und ganz einfach neben mir sitzen.“ Plötzlich stand ein Kichern im Raum, es kam von Connors, dem es gegen seinen Willen entfuhr. Entsetzt starrte er den Chef an, aber der hatte es gar nicht gehört. Archie Patters sehr wohl, und er begann zu grinsen. Der Witz lag darin, daß Arthur Masham überhaupt keine Kinder hatte. Aber abgesehen davon, mußte Patters an seine Frau Anne denken, die vor Jahren an Krebs verstarb. Sonntags ging er manchmal hinaus, setzte sich an das Grab und redete mit ihr. Nein, er wollte gewiß nicht wieder heiraten, auch nicht, wenn er jünger gewesen wäre. Arthur Masham segelte durch den Raum zurück und ließ sich am Tisch nieder. „Und nun erzählen Sie uns, alter Junge, wie Sie diesen Fisch an Land gezogen haben.“ Archie Patters starrte den Firmengewaltigen an, er antwortete nicht. Arthur Masham lächelte. „Ich versteh’ schon, Archie, die Leute vom Geheimdienst sind diskret. Sie machen ihre Arbeit im verborgenen und schweigen.“ Was wußte der Affe schon von seiner Arbeit, dachte Archie Patters. Es war ja nur stumpfsinniger Kram am 168
Schreibtisch. Dieser blödsinnige Fleming mit seinem noch blödsinnigeren James Bond hatte das ganze Corps in Verruf gebracht. Nein, es war Stubenhockerei, mit ein wenig Phantasie vielleicht. Manchmal mit so etwas wie Intuition. Und mit Glück! In dieser Sache hatte er viel Glück gehabt! „Nun, die Hauptsache ist, wir haben es in den Griff bekommen“, sagte Arthur Masham. Archie Patters erwiderte: „Sogar wasserfest! Die kleine Rosenau wird es bezeugen, und Madame Carpentier aus Cannes wird es auch. Und selbst Klemm hat sich als jener David Rosenau aus Paris festgelegt, als er das Wiedergutmachungsgeld forderte und nahm. Da hat die Falle schnapp gemacht. Die Deutschen können die Angelegenheit nicht unter den Teppich kehren. Er ist keiner dieser sogenannten Schreibtischtäter, er ist ein gewöhnlicher Krimineller, der aus Habgier gemordet hat. Ein Killer, nichts weiter! Die Deutschen müssen ihm den Prozeß machen.“ „Nein, Archie, um Gottes willen keinen Prozeß!“ „Wie? Kein Prozeß? Was meinen Sie damit?“ Der alte Mann glaubte sich verhört zu haben. Er sah in Mashams Gesicht, das in Glückseligkeit schwamm. „Archie! Wir wollen die Rosenau-Werke aufkaufen, aber sie müssen stubenrein in unseren Verbund kommen! Kein Makel darf auf ihnen liegen, das werden Sie verstehen!“ Irgend etwas fühlte Patters in sich vereisen. Gleichzeitig wußte er, daß er von nun ab sehr vorsichtig sein mußte, denn der Mann konnte ihn zwischen den Daumennägeln zerknacken. Und er würde es tun, ohne mit der Wimper zu zucken. Arthur Masham fuhr fort: „Rosenau oder Klemm, oder wie er auch heißen mag, hat das Stammwerk in Hamburg Anfang der fünfziger Jahre aufkaufen lassen. Über Strohmänner! Er hat den Ramsch für ein Butter169
brot bekommen. Damals arbeiteten nur etwa hundert Leute dort. Inzwischen hat sich das Unternehmen über die Bundesrepublik ausgebreitet, es verfügt über Montagewerke in Hamburg, über Zweigwerke am Rhein und in Bayern, über Zulieferfirmen im Ausland. Die Beschäftigungszahl geht jetzt in die Hunderttausende. Es ist zu einer der großen Herstellerfirmen von elektronischem Gerät geworden. Die ‚Rosenaus‘ stellen nicht nur Fernseher und ähnlichen Kram her, das Schwergewicht liegt auf Teilen für das Satelliten- und Weltraumprogramm. Wenn wir diesen Fisch überschlucken, können wir ein gutes Wort auf dem Markt mitreden. Begreifen Sie, Archie, wie wichtig uns die Sache ist?“ Der alte Mann verstand es nur zu gut. Er erinnerte sich an die Zeit, als er den Mörder Klemm gejagt hatte, einen Teil seines Lebens hatte er damit zugebracht. „Der Jahresumsatz wird in die Milliarden gehen“, sagte er und dachte an etwas anderes. „Weltweit gesehen, ja! Ulkig an der Sache ist, daß Rosenau in der Bundesrepublik Deutschland keine allzu großen Gewinne macht. Er gibt sich dort als besonders sozialer Unternehmer. Wirklich abschöpfen tut er in den ausländischen Firmen. In Ländern mit geringer Steuerbelastung und niedrigsten Arbeitslöhnen. Er besitzt einen privaten Düsenklipper, mit dem er herumreist, und er hat außer seinem Wohnsitz in Rio auch Appartements in New York und Paris. In Hamburg hält er sich nur selten auf. Bisher haben wir uns darüber gewundert, aber nach Ihren Recherchen, Archie, verstehe ich es. Warum trinken Sie nicht mal einen Schluck, Sie haben ihn sich doch wirklich verdient.“ Der Firmenboß hob sein Glas und prostete Patters zu. Der alte Mann griff nach dem Whisky und nippte daran, er mußte einen klaren Kopf behalten. „Wie alt sind Sie, Archie?“ fragte Masham. „Zu alt!“ 170
„Ich denke mir, Sie haben die Sechzig hinter sich. Haben Sie nicht mal daran gedacht, sich zurückzuziehen? Was hielten Sie von einem Landsitz in Wales? Ein Cottage, nicht allzu klein, ein bißchen Wald und einen Fischgrund. Was sagen Sie dazu, alter Junge?“ „Ich bin kein Waliser“, antwortete Archie Patters. „Ich stamme aus Edinburgh.“ „Phantastisch, Archie! Auch im Hochland gibt es schöne Gegenden. Sie werden nach dieser Transaktion völlig unabhängig sein, können tun und lassen, was Sie wollen. Wenn Sie dieses Geschäft für uns abgewickelt haben, wird es niemals mehr einen über Ihnen geben. Sie haben mein Wort, Archie!“ Der alte Mann sah den Gangster, der ihm gegenübersaß, lange an. Woher wußte der so viel über seine geheimsten Wünsche? Auf seinem Gesicht lag ein sanftes Lächeln. Arthur Masham faßte es als Zustimmung auf. Er fuhr fort: „Ich will Ihnen noch anvertrauen, Archie, warum wir gerade jetzt zupacken müssen, und ich verlasse mich auf Ihre Diskretion! Man wird bald unser Pfund freigeben, man wird floaten.“ „Das bedeutet Abwertung?“ fragte Archie Patters überrascht. „Hm –!“ „Um wieviel?“ Arthur Masham lächelte. „Ich nehme an, daß es auf etwa zehn Prozent hinauslaufen wird. Eines Tages, in nicht mehr allzu ferner Zeit, bleibt uns nichts weiter übrig, und wir müssen in die EG hinein. Wir müssen erfahren, wie es um unser Pfund tatsächlich steht, deshalb floaten wir. Wir wollen also das Geschäft mit Rosenau schnell unter Dach und Fach bringen. Jetzt können wir noch zum alten Kurs kaufen. Wenn uns dieser Coup gelingt, Archie, sollen auch Sie tüchtig abbeißen. Und Ihr Honorar wie auch die Prämie erhalten Sie natürlich in 171
jeder gewünschten Währung. Ich persönlich würde Ihnen zum Schweizer Franken raten.“ Der alte Mann antwortete nicht, und eine Weile blieb es still im Raum. Dann sagte Arthur Masham: „Irgendwas gefällt Ihnen nicht, Archie! Sagen Sie, was! Wir wollen frei und offen reden!“ Der alte Mann schwieg beharrlich. „Ist es dieser Prozeß, den Sie der Nazigröße wünschen?“ Archie Patters nickte still. „Aber dieser Klemm soll doch abgeschossen werden, alter Junge! Und zwar auf eine Weise, die ihn viel empfindlicher treffen wird. Glauben Sie denn wirklich, der macht sich was aus der Androhung von so einem Scheißprozeß? Darüber lacht der doch nur, Archie, und ich tue es auch!“ Der Firmengewaltige lachte tatsächlich, und Connors neben Patters stimmte pflichtschuldigst mit ein. Nur der alte Mann verzog keine Miene. Wieder ernst werdend, fuhr Masham fort: „Ich bin kein Nazifreund, Archie, war es nie! Jeder weiß es, also dürfte es auch Ihnen bekannt sein. Außerdem wußten Sie doch immer alles über uns einfache Menschen.“ Masham hob den Zeigefinger und drohte Patters scherzend. „Ich empfinde ebensolchen Widerwillen gegen den SS-Führer wie Sie. Nie würde ich mit dem an einen Tisch gehen. Und sobald wir in dessen Direktion einziehen, werden wir alles Inventar daraus entfernen lassen, damit wir uns nicht zufällig auf einen Stuhl setzen, auf dem der Verbrecher vielleicht einmal gesessen hat. Was wollen Sie eigentlich noch, Archie? Bleibt das Geld, mit dem der Mann sein Unternehmen aufgebaut hat. Glauben Sie mir, dieses Geld ist durch die Zeiten geflossen und durch eine Menge Hände gegangen. Es wurde dabei vielmals geklärt und ist wieder ganz sauber.“ Der alte Mann nahm nun doch einen tiefen Schluck aus seinem Whiskyglas. Dann blickte er hinüber zu Connors. Der hatte während des langen Gesprächs nicht 172
einmal den Mund aufgetan. Aber das sollte er wohl auch gar nicht. Arthur Masham, der Herr über Fabriken und Menschen, brauchte sicher nur Figuren, die ihm still und ergeben zuhörten. Am meisten tat Archie Patters die kleine junge Frau leid. Sie hatten sich in Orly voneinander getrennt. Seine Londoner Maschine war vor ihrer gestartet, und zuletzt sah er sie, als sie auf dem Besucherbalkon stand und ihm zuwinkte, während er die Gangway hinaufstieg. Kurz zuvor hatte er ihr die Akten von Klemm, Handtner und Kodelke gegeben, um die sie ihn bat. Als reichlich makabres Abschiedsgeschenk. Sie sollte nach Wien zurückfliegen und dort auf eine Nachricht von ihm warten. Wie es jetzt aussah, würde sie die niemals bekommen. Archie Patters lag in der Badewanne seiner Kensingtoner Wohnung, gar nicht weit vom Hyde Park entfernt. Er lag schon seit einer reichlichen Stunde im Wasser, still und friedlich, ließ nur manchmal heiß zulaufen. Auf einem Stuhl daneben stand eine Flasche Scotch und ein Glas, aus dem er hin und wieder einen Schluck nahm, vorsichtig allerdings. Er dachte nach. Ja, Yvonne Rosenau tat ihm bei allem am meisten leid, denn sie war ihm in den letzten Wochen ans Herz gewachsen. Er hatte so etwas wie eine Tochter in ihr gesehen. Auch er war ihr nicht gleichgültig geblieben, und nun würden sie einander nie mehr begegnen. So ging es zu in diesem blödsinnigen Job. „Ein Geheimdienstmann bleibt man für immer?“ hatte sie ihn in Cannes gefragt. Ja, natürlich blieb man es, obwohl er seit Jahren in der Branche nicht mehr tätig war. Er hatte sich aus dem offiziellen Dienst zurückgezogen und übernahm Aufträge dieser und jener Art. Meistens wurde er für die Industrie tätig, immer dann, wenn seine Auftraggeber nicht direkt in Erscheinung treten wollten. Es war ein Einmannbetrieb, ohne Sekre173
tärin, ohne Büro. Selbst der Raum am Leicester Square gehörte ihm nicht, er hatte dort nur mal kurz seine Visitenkarte an die Tür geheftet. Sayers hatte ihm den zur Verfügung gestellt. Es war einer jener Plätze, den der Dienst benutzte, wenn man sich mit Leuten an einem dritten Ort treffen wollte. Natürlich hatte Patters seine Verbindungen zum früheren Arbeitskreis nicht abreißen lassen, und so waren ihm alle Unterlagen über Klemm und Konsorten zugänglich gemacht worden. Bei den Akten, die er Yvonne auf dem Pariser Flughafen gab, handelte es sich natürlich nur um Abschriften. Und wie es aussah, waren die nun Makulatur. Wenn Masham es nicht wollte, würde es zu keinem Prozeß kommen. Industriegrößen dieses Formats verfügten letztlich über mehr Macht als wählbare Regierungen und deren Apparat samt der Justiz. Auch der kleine Archie Patters hatte sich damit abzufinden. Er hatte hübsch bescheiden dagesessen in der Direktion und den Mund gehalten. Worüber hätte er mit dem Schwein auch reden sollen? Über einige Gräber entlang der französischen Demarkationslinie, in denen sie vor reichlich fünfundzwanzig Jahren unbekleidete Leichen fanden? Über so etwas wie Schuld und Sühne? Ach, du liebes bißchen! Archie Patters’ Hand tauchte aus dem Schaum des Badewassers auf und griff nach dem Whiskyglas. Er trank einen Schluck. Und doch gab es so etwas wie Schuld und Sühne! Ein Jammer, daß sich andere darum kümmern mußten. Und half es etwas, wenn man die RosenauWerke mit ihren vielen tausend Arbeitsplätzen zertrümmerte? Half es den Opfern von der Demarkationslinie? Zweifellos nicht! Schaden nehmen würden die Leute, die in den Werken arbeiteten. Archie Patters grübelte. Er sah das Geld durch die Zeiten und durch die Hände fließen. Konnte Geld geklärt und sauber werden? Ein grandioser Schwachsinn! 174
Blieb sein Cottage, das natürlich nicht in Wales, wohl aber im Umkreis von Edinburgh stehen würde. Er träumte von einem sehr hohen Zaun, den er errichten lassen würde. Bevor er endlich aus dem Badewasser stieg, überlegte er, ob er seine Frau Anne nach dort umbetten könnte. Archie Patters flog noch mit der Nachmittagsmaschine über die Nordsee. Er nahm ein Appartement im Hamburger Hotel „Vier Jahreszeiten“, das an der Binnenalster, nahe dem Jungfernstieg, lag. Wenn es sich einrichten ließ, wohnte Patters gern komfortabel, und sie hatten ihm ein Spesenkonto in unbegrenzter Höhe eingerichtet. Er bestellte das Abendessen herauf und aß gut und ein wenig zu reichlich. Dabei studierte er die deutschen Abendblätter. Natürlich las er nichts über einen britischen Beitritt zur EG, der in absehbarer Zeit erfolgen sollte. Nichts fand er über ein bevorstehendes Floating. Aber zumindest brachte ihn dieses Verschweigen auf eine Idee. Er mußte schleunigst seine Konten auf der Insel auflösen und das Ersparte in die Schweiz bringen. Viel war es ohnehin nicht, aber wennschon abgewertet würde, sollten zumindest nicht seine Pfunde davon betroffen sein. Die Verdauungszigarre rauchte er am offenen Fenster, sah dabei auf. die Alster hinunter. Es war längst später Abend. Die Leuchtreklamen vom Jungfernstieg legten auf das Wasser ein funkelndes, glitzerndes Band. Er hielt sich gern in dieser Stadt auf. Von den Deutschen, die er nicht besonders schätzte, waren ihm die Hamburger am liebsten. Von irgendwoher schlug es gerade elfmal, als er zum Telefon griff. „Man will Sie nicht physisch auslöschen, Herr Rosenau, in dieser Hinsicht können Sie beruhigt sein“, erklärte Archie Patters. „Man will nur Ihre Werke, nicht Ihr Leben! Man will sie Ihnen auch nicht stehlen, Sie sollen 175
schlicht und einfach verkaufen. Mit dem Erlös können Sie sich ins Privatleben zurückziehen. Vielleicht in die Karibik? Oder nach Panama? Mit dem Geld aus dem Verkauf bekommen Sie sicher schon eine kleine Insel.“ Archie Patters und sein Besucher saßen sich in der Hotelhalle gegenüber. Endlich sah der Engländer dem Mann, den er viele Jahre gejagt hatte, ins Gesicht. Das Foto von ihm im dunklen Mantel und dunklen Hut trug er nach wie vor auf seiner Brust, immer wieder hatte er es in letzter Zeit hervorgezogen. Nur ganz so hatte er sich die Begegnung nicht vorgestellt. Er hatte wirklich geglaubt, daß jemand von der deutschen Staatsanwaltschaft mit dabeisein würde. „Und wenn ich nicht verkaufen will?“ fragte der Mann. Der Engländer blickte in das Gesicht des Mörders, das allerdings auch nicht anders aussah als jedes andere Dutzendgesicht. Archie Patters antwortete schließlich: „Ich denke mir, daß Sie verkaufen werden, Rosenau!“ Der Engländer nahm einen Schluck von dem Champagner. Auf dem Tisch zwischen ihnen befand sich eine Flasche Dom Perignon; auch vor David Rosenau stand ein Glas, aber er hatte noch nicht getrunken davon. Archie Patters hatte den Champagner mit Bedacht ausgewählt. Immerhin war es ein besonderer Tag, den er auch festlich begehen wollte, auf das Spesenkonto von Arthur Masham hin. Der Mann sagte: „Eingangs sprachen Sie von Beweisen gegen mich. Ich denke mir, Sie haben die wirklich.“ „O ja –!“ erwiderte Archie Patters träumerisch. „Und Sie werden mir die wohl auch zeigen?“ „Natürlich!“ Archie Patters nickte. „Sie haben mehrere Fehler gemacht, Klemm!“ Auf einmal kehrte der Engländer zum ursprünglichen Namen des Mannes zurück. „Der erste liegt vor langer Zeit und geschah, als Sie sich aus der Fülle der Pässe, die Ihnen zweifellos zur Verfügung standen, gerade den von David Rosenau herausge176
sucht haben. Die echten Rosenaus mußten ein kleines Mädchen in Paris zurücklassen, einjährig damals. Das Mädchen wuchs in einem Kinderheim auf und ist nun dreißig Jahre. Sie fragt nach ihrem Vater, Klemm! Damals hätten Sie gründlicher recherchieren müssen!“ Archie Patters dachte an die Recherchen, die er selbst ein Leben lang geführt hatte. Wäre ihm eine solche Pfuscherei passiert? Sicher nicht! Sein Gegenüber verzog keine Miene. „Sagen Sie etwas über den zweiten Fehler!“ „Sie hätten die Summe vom Wiedergutmachungsbüro nicht nehmen dürfen! Ich weiß nicht, warum Sie es taten, denn Sie brauchten das Geld ja nicht. War es reine Gier, nicht genug kriegen zu können, oder geschah es aus Vorsicht, weil zum echten Rosenau auch die Wiedergutmachung gehörte? Auf alle Fälle war es falsch, denn nun haben Sie es aktenkundig gemacht, daß Sie als David Rosenau über Paris nach Brasilien gingen. Der grundlegende Fehler allerdings liegt noch tiefer. Niemals hätten Sie zurückkehren dürfen! Ich habe lange nachgedacht, weshalb Sie es taten. Ich glaube es jetzt zu wissen. Dieses Deutschland hat ja nach dem Krieg eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht. Wirtschaftlich gesehen! Wahrscheinlich hätten die Rosenau-Werke ohne die hiesige Arbeitskraft ihren heutigen Stand nicht erreicht. Es spricht für Ihre Cleverness, daß Sie es zu einem sehr frühen Zeitpunkt erkannten und über Strohmänner das erste Hamburger Werk erwarben.“ Das Gegenüber lächelte. „Und nun muß ich verkaufen. Sie sagten doch: verkaufen?“ „Ja.“ „Ich nehme an, Sie haben die Modalitäten bereits parat.“ Archie Patters sagte geschäftsmäßig: „Das habe ich. Oben in meiner Suite liegen zwei vorbereitete Papiere. Ich hole sie dann gleich herunter. Auf dem ersten erklä177
ren Sie sich mit Ihrer Unterschrift zu den von Ihnen begangenen Verbrechen. Auf dem anderen geben Sie das erste pauschale Einverständnis zur Abtretung Ihrer Aktienmehrheiten an den Rosenau-Werken.“ Der Mann sagte: „Ich nehme ferner an, daß darin nichts über die Höhe der Abfindung vermerkt ist.“ „Ich kabel Ihre Einwilligung nach London ’rüber. Wir lassen Ihnen genau vierundzwanzig Stunden, es sich zu überlegen. Darauf wird Ihnen die Summe genannt.“ „Ich denke, sie wird unter dem Nennwert der Aktien liegen.“ „Das denke ich auch. Trotzdem wird Ihnen genügend bleiben, um einen beschaulichen Lebensabend zu genießen.“ „Was geschieht, wenn ich mich weigere?“ „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Sie es tun werden. Obwohl ich mir persönlich nichts sehnlicher wünsche.“ „Und warum wünschen Sie es sich, mein Herr?“ „Weil Ihnen dann der Prozeß gemacht wird!“ Der Mann, der sich David Rosenau nannte, war überrascht von der Welle des Hasses, die ihm plötzlich entgegenschlug. Aber dann sah er, wie sich der Ausdruck im Gesicht des Engländers veränderte. Die Augen wurden immer größer, und sie blickten ihn auch nicht mehr an, sahen vielmehr über seine Schulter. Er wandte sich um. Durch die Halle schritt eine junge Frau. Sie war ziemlich groß, hatte dunkles Haar und ein schönes Gesicht. Eine Frau, die sich in Luxushotels zu Hause fühlte, wie es dem Mann schien. Und während sie immer näher kam, wußte er plötzlich, daß sie niemand sonst als David Rosenaus Tochter war. Neben dem Tisch blieb sie stehen und schaute den Engländer unverwandt an; ihn daneben beachtete sie nicht. Dann sagte sie mit einem merkwürdigen Lächeln: „Hallo, Archie!“
178
14. Nach einer endlos scheinenden Weile gelang es Patters, sich aus seinem Sessel zu erheben. Aber die junge Frau setzte sich ohne seine Hilfe. Wie aus dem Nichts stand ein Kellner neben ihr. „Ein Glas!“ sagte sie, ohne ihn anzusehen, ihr Blick war unausweichlich auf den Engländer gerichtet. Der Kellner brachte das Glas, füllte es und verschwand. Dann sagte sie: „Sie haben mir einiges zu erklären, Archie!“ „O nein, Yvonne“, brachte Patters hervor. „Sie müssen erklären! Wir hatten uns in Orly getrennt, und Sie versprachen, nach Wien zurückzukehren. Dort wollten Sie auf ein Zeichen von mir warten!“ Auf dem Gesicht der jungen Frau lag noch dieses merkwürdige Lächeln. „Ich hatte in Paris plötzlich eine Idee, Archie! Meine AUA flog ja eine Stunde später als Ihre Maschine, und so hatte ich Zeit für einige Überlegungen. Schließlich telefonierte ich mit Wien und bat um eine weitere Woche Urlaub. In Hamburg entscheidet sich nun viel, nicht wahr, Archie? Und da dachte ich einfach, ich müsse hiersein. Ist das nicht richtig?“ „Yvonne, ich bitte Sie!“ Der Engländer stammelte beinahe, wahrscheinlich ein seltener Moment in seinem Leben. „Yvonne, gehen Sie jetzt! Ich erkläre Ihnen alles später!“ „Ich will es jetzt wissen, Archie!“ Die Frau sagte es in einer Art von tödlicher Heiterkeit. „Vielleicht kann ich es Ihnen erklären“, sagte der Mann, der sich David Rosenau nannte. Die junge Frau beachtete ihn überhaupt nicht. Sie forderte den Engländer auf: „Sagen Sie es mir, Archie!“ Patters war gar nicht in der Lage zu antworten. Es schien wirklich ein seltener Augenblick in seinem Leben zu sein. 179
Der Mann daneben nahm es ihm ab. „Mister Patters ist dabei, mit mir über die Abtretung meiner Aktienmajorität zu verhandeln. Wenn ich auf sein Angebot eingehe, will er Belastungsmaterial gegen mich unter den Tisch fallenlassen. Ich darf auf einer Südseeinsel meinen Lebensabend genießen.“ „Sagen Sie, daß es nicht wahr ist, Patters!“ Der Engländer antwortete nicht. „Es ist wahr!“ meinte der Mann, der sich Rosenau nannte. Er sprach mit so großer Überzeugung, daß niemand, auch die Frau nicht, an seinen Worten zweifelte. Noch immer schenkte sie ihm keinen Blick. Dafür nahm sie das Glas Champagner, von dem sie nicht getrunken hatte, und goß es dem Engländer ins Gesicht. Das erregte in der Hotelhalle, in der man an Kapricen gewöhnt sein mochte, Aufsehen. Wieder stand der Kellner an dem Tisch. „Ist etwas nicht in Ordnung, Mister Patters?“ fragte er. Der Champagner rann über das Gesicht des Engländers, tropfte von seinem Kinn, lief ihm von den Ohren in den Kragen hinein. Patters saß aufrecht wie eine Statue und rührte sich nicht. Es schienen Minuten zu verstreichen, in denen nicht gesprochen wurde, aber niemand wußte genau, wie lange. Dann erhob sich Mr. Patters. Sehr leise und sehr beherrscht sagte er dem Kellner: „Es ist nichts! Bitte, kein Aufsehen! Es ist meine Schuld! Ich habe mich der Dame gegenüber nicht korrekt verhalten.“ Damit wandte sich Archie Patters um, und beinahe wankend schritt er durch die Halle davon. Eine vergleichbare Situation hatte es wohl noch niemals in seinem Leben gegeben. Nun saß Yvonne wie eingefroren auf ihrem Stuhl. Einerseits war sie erschrocken über sich, denn das hatte sie gar nicht gewollt, es kam einfach so aus ihr heraus. Andererseits freute es sie, daß sie zu sich selbst zurück180
gefunden hatte. Impulsivität gehörte zu ihrem Leben, und sie bekannte sich dazu. Sie wollte nur schnell aus der Hotelhalle und weg von diesem Mann. Sie mußte die Polizei rufen, damit die den Verbrecher festnahm. Aber in den ersten Minuten konnte sich Yvonne einfach nicht rühren, sie starrte vor sich hin. Der Kellner verzog sich, blieb jedoch in Reichweite. Und dann sagte der Mann, den sie noch immer nicht angeschaut hatte: „Ich denke mir, daß Sie David Rosenaus Tochter sind, und Sie glauben, ich hätte Ihre Eltern umgebracht. Aber es ist nicht so! Ich bin nicht dieser Klemm! Ich sehe nicht einmal aus wie der. Das heißt: Ich habe nicht so ausgesehen. Früher einmal!“ Der Mann stockte. Yvonne Rosenau lauschte der Stimme, und dann wandte sie sich ihm zum ersten Mal zu. Er war zweifellos derselbe, den sie von den Fotos her kannte. Und trotzdem sagte etwas in ihr, daß er sie nicht anlog. „Ich heiße Gerhard Drenckmann“, erklärte er. „Ich weiß, es ist eine unglaubliche, mysteriöse Angelegenheit.“ Sie blickte ihn nur schweigend an. Er griff in die Tasche und zog einen Umschlag hervor, dem er mehrere Postkartenbilder entnahm. Eins davon schob er ihr hinüber. „Das bin ich“, sagte er. „Ich stehe gerade vor meinem Laden und schließe ab. Ich bin Briefmarkenhändler. Nicht die geringste Ähnlichkeit, nicht wahr?“ Yvonne wandte ihre Aufmerksamkeit dem Foto zu und schaute es lange an. Schließlich meinte sie: „Ich glaube schon, daß da Ähnlichkeit ist!“ Der Mann schüttelte ungläubig den Kopf. „Finden Sie wirklich?“ Gemeinsam beugten sie sich über das Bild. „Doch, doch“, sagte sie. „Die Nase ist zwar wesentlich größer. Und die Augen sind irgendwie anders. Aber sonst? Nein wirklich, große Ähnlichkeit!“ 181
Noch immer schaute Gerhard Drenckmann skeptisch auf das Foto. Sie hatte ihn nicht überzeugt, aber er wollte nicht streiten. Meinungen waren eben immer subjektiv. Er sagte: „Vielleicht haben die mich deshalb unter den anderen herausgesucht.“ „Gab es denn andere?“ Er breitete die übrigen Bilder auf dem Tisch aus, und wieder beugten sie sich darüber. „Alle sind etwa im gleichen Alter, haben ähnliche Personenkennzahlen. Das geht bis zur Herzkrankheit und Blinddarmnarbe. Und vor allem: Keiner der Kandidaten hat Familie, die nachfragen könnte.“ „Man hat sie gekidnappt?“ „Sie haben mich in Rosenaus – Pardon, in Klemms Haus gelockt und mir etwas in den Wein getan. Von da an wußte ich nichts mehr, bis ich in der Klinik aufwachte.“ Sie blickte ihn interessiert an. „Mit Verbänden um den Kopf und Pflaster im Gesicht. So habe ich Sie dort gesehen. Erinnern Sie sich daran?“ „Nur sehr dunkel. Von den ersten Tagen habe ich wenig Ahnung, weil sie mich unter Drogen hielten. Irgendwelche Psychomittel. Damals müssen sie auch alles hinoperiert haben.“ „Und Ihr Bein?“ fragte sie nachdenklich. „Das habe ich im Streck gesehen.“ „Es war nicht gebrochen. Nur so eine raffinierte Art, mich ans Bett zu fesseln, bis das Gesicht abheilte.“ „Und dann sollten Sie Klemms Stelle einnehmen, ich verstehe! Als völlig Unschuldiger!“ Er antwortete nicht, denn so völlig unschuldig kam er sich nicht vor. Auch er war in der Flieger-HJ gewesen. Und darauf? Noch immer gab es große Bezirke in ihm, die im Dunkeln lagen. Hier und da fühlte er es aufhellen, aber er konnte nicht sagen, was er in wichtigen Abschnitten getrieben hatte. Sicher wurde auch aus ihm 182
ein Nazi! Es mußte doch so sein! Später übernahm er das Geschäft seiner Mutter, das war klar, aber in den Jahren des Krieges, was hatte er da gemacht? Er wußte es nicht. Und sein Vater? Sein Vater war umgekommen! Ja, das sah er deutlich. Er kam um! Hatte er ihn angezeigt? Es konnte gar nicht anders gewesen sein! Er hatte also nicht den geringsten Grund, sich unschuldig zu fühlen. „Wie sind Sie aus der Klinik herausgekommen?“ hörte er die junge Frau fragen. „Jemand half mir“, antwortete er zerstreut. „Jemand?“ „Ja, da war so eine Assistenzärztin, sehr nette Person!“ Er konzentrierte sich auf Yvonne und fuhr fort: „Allein hätte ich es nicht geschafft. Aber dieser Ärztin war manches spanisch vorgekommen, und so begann sie nach Röntgenaufnahmen von Kopf und Bein zu suchen, fand aber keine.“ „Und weshalb schöpfte sie überhaupt Verdacht?“ „Rosenau – also, dieser Klemm – leidet an Angina pectoris. Und bei mir ist es ein Herzklappenfehler. Sie hörte mich öfter ab und stellte ein entsprechendes Geräusch fest.“ „So einfach also!“ Yvonne schüttelte den Kopf. „Es ist kaum zu glauben! Sie müssen den Plan gefaßt haben, als ich mich vor Monaten zum ersten Mal bei Klemm meldete. Seit der Zeit haben sie wohl nach einem geeigneten Kandidaten gesucht und fanden den schließlich in Ihnen! Sicher wollte man Sie mir dann später als … Leiche präsentieren.“ „Ich weiß nicht recht …“ Der Mann brach ab. „Ist da noch etwas?“ „Ja. Und es klingt ebenso ungeheuerlich.“ „Was ist es?“ „Ich habe … wie soll ich es sagen?“ begann Gerhard Drenckmann zögernd. „Ich habe … die Ermordung Ihrer 183
Eltern im Traum erlebt. Es geschah in einem Wald an der damaligen Demarkationslinie in Frankreich.“ Er sah in das Gesicht der jungen Frau und brach wieder ab. „Weiter!“ sagte sie nach einer Pause. „Man hat mich die ganze Zeit über mit irgendwelchen Mitteln gespritzt, die Ärztin nannte sie Psycholytika. Und dann wurde mir nachts ein Tonband vorgespielt, das Liebscher besprochen hatte. Darauf wurde minutiös die Ermordung Ihrer Eltern geschildert.“ „Und Sie glaubten, Sie hätten die Tat begangen?“ „Ja.“ „Haben Sie die Stimme des Arztes erkannt?“ „Heute abend, ja! Da hatte mir die Ärztin die Spritze nicht mehr gegeben, und ich schlief nicht. Wir hörten die Stimme beide.“ „Kodelke –!“ „Wie?“ Yvonne saß grübelnd da. Schließlich sagte sie: „Der Arzt muß Kodelke sein! In der Gestapo-Leitzentrale von Paris saßen drei Männer, die zusammenhielten – wie Komplizen! Klemm, ein gewisser Handtner und ebendieser Kodelke! Kodelke war Arzt. Wenn er so genau über den Hergang Bescheid weiß, muß er dabeigewesen sein. Zumindest brachte ihm Klemm absolutes Vertrauen entgegen. Er könnte also jener Kodelke sein!“ Sie blickte Gerhard Drenckmann skeptisch an. „Sie haben wirklich geglaubt, daß Sie der Mörder seien?“ „Ja.“ „Sie waren unter Drogen zu dem Zeitpunkt. Später jedoch hätte diese Geschichte der Wirklichkeit kaum standgehalten!“ „Wer weiß es? Die Ärztin meinte, das gäbe es manchmal. Sie nannte es Gehirnwäsche.“ Yvonne blickte Gerhard Drenckmann lange an, dann erschien auf ihrem Gesicht so etwas wie ein Lächeln. „Armer Mann!“ sagte sie. 184
Gerhard Drenckmann lächelte zurück. Yvonne sagte: „Wir werden eine Strecke gemeinsam gehen müssen!“ „Ja.“ „Wir sind beide beteiligt.“ „Ja.“ „Wir müssen zur Polizei.“ „Ja.“ „Das wollen Sie doch?“ „Was denken Sie denn?“ Yvonnes Lächeln wurde offener. „Gut, gut! Sagen Sie mir noch, was Sie taten, nachdem Sie aus der Klinik flüchteten?“ „Ich ging in Klemms Haus. Zu diesem Zeitpunkt wußte ich noch nicht einmal, wie ich hieß. Ich dachte, es könnte mir einfallen, wenn ich den Ort wiedersah, wo es passiert ist. Und so geschah es auch. Ich blickte die Treppe hinab, auf der ich stürzte oder gestoßen wurde. Und plötzlich kam alles zurück!“ Drenckmann brach ab. Er dachte an die anderen Dinge. Was wurde zum Beispiel aus seinem Vater? „Klemm war nicht zu Hause, denke ich mir“, hörte er die junge Frau sagen. „Nur die Wirtschafterin!“ „Klemm hat Wohnungen überall auf der Welt. Er hält sich selten in Hamburg auf.“ „Ich durchsuchte seinen Schreibtisch und fand einige Dinge. Auch die Liste jener Männer, die mit mir die gleichen Merkmale haben. Und dann die Bilder hier! Gerade als ich gehen wollte, kam ein Anruf!“ „Sie meldeten sich als Klemm?“ „Als Rosenau!“ „Ja, natürlich. Und wer rief an?“ „Ein Mister Patters, mit dem ich mich dann hier traf.“ „Er war überzeugt, Sie seien Klemm?“ „Ja, sicher! Wie die Wirtschafterin auch.“ 185
„Die Maske scheint perfekt zu sein!“ Yvonne Rosenau blickte ihr Gegenüber an, und dann begann sie zu lachen. „Warum lachen Sie denn?“ fragte Gerhard Drenckmann unglücklich. „Die Vorstellung, daß ein Mann wie Archie Patters darauf hereinfällt, ist riesig!“ Es war kein schönes Lachen, und es wurde immer lauter. Wieder gerieten sie ins Interesse der anderen Leute, und gleich darauf erschien der Kellner. „Ich nehme nicht an, Madame, daß Sie Gäste unseres Hauses sind!“ sagte er. Yvonne, noch immer lächelnd, schüttelte den Kopf. „Ich fordere Sie auf, unser Hotel zu verlassen! Meine Dame, mein Herr!“ „Sofort, guter Mann, sofort!“ antwortete Yvonne. Und Gerhard Drenckmann holte Klemms Brieftasche hervor, nahm einen von den Hundertern und legte ihn hin. „Für das Tischtuch“, sagte er. „Und für Ihre Mühe!“ Dann standen sie auf und gingen durch die Halle davon. Sie schritt hochaufgerichtet, den Kopf leicht zurückgeworfen, und er hielt sich an ihrer Seite. Er war ein gutes Stück größer als sie, und ein bißchen wirkten sie wie ein glückliches, zufriedenes Paar. Nur waren sie es eben nicht! Gerhard Drenckmann stoppte vor der Reception. Er zog das Foto hervor, das ihn vor der Tür seines Ladens zeigte. Auf der Rückseite waren Name und Adresse notiert. „Können Sie mir sagen, wo die Semperstraße liegt?“ fragte er jemand beim Empfang. „Das weiß ich leider nicht!“ Es war ein netter, schon älterer Mann. Natürlich hatte er die Vorgänge am Tisch beobachtet, und wahrscheinlich hielt er Yvonne für hoffnungslos betrunken. Aber in seinem Gesicht stand nicht das winzigste Lächeln, und er zeigte sich auch nicht schockiert; er hatte vollendete Manieren. 186
„Es muß Hamburg neununddreißig sein“, sagte Gerhard Drenckmann. „Ist das nicht in Winterhude?“ fragte der Mann. „Winterhude –! Ja, natürlich, die Semperstraße liegt in Winterhude!“ „Und wie kommen Sie nun dorthin, nicht wahr? Das haben wir gleich, mein Herr, ich zeig’ es Ihnen eben auf der Karte!“ Der Angestellte zauberte sie herbei, breitete sie aus, und gemeinsam beugten sie sich darüber. Drenckmann hatte seine Gegend ja im Kopf, er sah sie nach wie vor aus der Vogelperspektive. Und als sie die Straße schließlich auf der Karte fanden, ordnete sie sich wie von selbst in die Vorstellung ein, die er von der Stadt hatte. „Danke!“ sagte er und wandte sich zum Gehen. „Wollen Sie den Plan nicht mitnehmen? Ich geb’ Ihnen den gern.“ Und dann konnte der Mann sich nicht verkneifen zu sagen: „Ein Geschenk des Hauses!“ Auch Gerhard Drenckmann lächelte. „Ist nicht nötig! Nun weiß ich es wieder!“ Als sie zum Ausgang gingen, fragte Yvonne: „Sie hatten wirklich vergessen, wo Ihre Straße liegt?“ Gerhard Drenckmann nickte nur. Er hatte noch sehr viel mehr vergessen, und er fürchtete den Augenblick, in dem es in seinem Kopf auftauchen würde. Der Portier hielt ihnen die Tür auf, und sie traten hinaus. Der Mercedes parkte auf der anderen Straßenseite, die an der Binnenalster entlangführte. Als sie einstiegen, sagte Yvonne: „Ein hübsches Auto haben Sie!“ „Ja“, meinte er und dachte an sein eigenes, das noch immer in der Werkstatt stand. Er sagte ihr nicht, daß dies Klemms Wagen sei. Wahrscheinlich verfügte er auch über so etwas wie Takt. Sie fuhren über die Kennedybrücke und auf der anderen Seite die Außenalster hinauf. In der Richtung lag Winterhude. Es ging wie von selbst. Schließlich war Ger187
hard Drenckmann diese Strecke oft gefahren. Früher, in einem anderen Leben. Ja, wirklich, es mußte wie ein anderes Leben gewesen sein. Als er vor dem Haus Semperstraße 68 den Motor ausschaltete, lehnte er sich zurück und blieb hinter dem Lenker sitzen. Yvonne wandte sich ihm zu und spürte die Spannung in ihm. „Haben Sie was zu rauchen?“ fragte er. Sie gab ihm eine Zigarette, zündete sich auch eine an, und sie rauchten schweigend. Er schaute zu der Wohnung im Parterre. Die Fenster lagen ebenso im Dunkeln wie die der anderen Wohnungen. Inzwischen war es tiefe Nacht geworden. Als er zum letzten Mal hinüberblickte, hatte er überlegt, ob er die Gasheizung anstellen sollte, und es dann doch nicht getan. „Sie kommen zum ersten Mal zurück?“ fragte Yvonne. Er nickte. Und schließlich sagte er: „Na, wollen wir mal!“ Sie stiegen aus. Bis zum Treppenabsatz im Parterre waren es acht Stufen, er hätte sie im Schlaf gehen können, denn seit er denken konnte, war er sie hinaufgestiegen. Als Junge oft springend und hüpfend und hin und wieder eine Stufe auslassend. Mit den Jahren wurden seine Schritte dann bedächtiger. Die Wohnung lag linker Hand. Er hatte niemals das Bedürfnis gehabt, hier auszuziehen. Auch damals nicht, als seine Mutter starb. Als er die Tür aufschloß, kam ihm ein vertrauter Duft entgegen. Auf einmal fühlte er sich sicher, denn er war nach Hause zurückgekehrt. Im Korridor lag noch das uralte Linoleum, auf das mehrfach Blut getropft hatte, aber darüber hatte er Kokosmatten gelegt. Sonst wurde nicht viel verändert. Es standen ein paar neue Möbel in den Räumen, und aus dem Schlafzimmer seiner Eltern hatte er einen zweiten Wohnraum gemacht. Auf alle Fälle gab es genügend Platz, um die junge Frau für eine Nacht unterzubringen; am nächsten Vormittag würden sie gemeinsam zur Polizei gehen. 188
Er machte die Türen zur Küche und zum Bad auf und knipste Licht an. „Wenn Sie sich frisch machen wollen“, sagte er. „Ich denke, wir legen uns gleich hin. Ich bin nun doch ein bißchen ab, und morgen wird es sicher anstrengend. Ich werde Ihnen ein Bett beziehen.“ „Keine Umstände!“ „Sie können ja helfen dabei.“ Sie blickten sich an, und er überspielte seine Unsicherheit mit betonter Geschäftigkeit. Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer, weil dort der Schrank mit der Wäsche stand, und als er Licht anmachte, sah er Professor Liebscher und den Pfleger Heinz Müller. Sie saßen friedlich in den beiden Sesseln, gleich neben dem Notenständer und dem Cello, das noch immer in der Ecke lehnte. Aber natürlich waren sie nicht in friedlicher Absicht gekommen, warum hätten sie sonst im Dunkeln warten sollen. Auch ihre Gesichter wirkten nicht vertrauenerweckend, und der weißhaarige Professor mit den merkwürdigen Augen hinter getönten Brillengläsern hielt eine Pistole im Schoß, auf die er einen Schalldämpfer montiert hatte. Der Mann schien umsichtig zu sein, er dachte eben an alles. Die Waffe war direkt auf Gerhard Drenckmann und Yvonne Rosenau gerichtet. „Kommen Sie herein, David, und schließen Sie die Tür!“ Der Mann und die junge Frau machten zwei Schritte in den Raum, und damit war der schon beinahe überfüllt. Im gleichen Moment erhob sich der Pfleger, drückte sich an ihnen vorbei, schloß die Tür und lehnte sich dagegen. Die Waffe pendelte jetzt ein wenig zwischen beiden hin und her. Der Schalldämpfer machte sie so gemein, und Gerhard Drenckmann hatte den Eindruck, daß der Arzt kaltblütig schießen würde. „Wir haben uns gedacht, daß Sie herkommen würden, David, deshalb haben wir hier auf Sie gewartet.“ 189
Gerhard Drenckmann wußte absolut nicht, was er beginnen sollte, und so sagte er etwas töricht: „Nennen Sie mich nicht David!“ Der Arzt fuhr ungerührt fort: „Nicht erwartet haben wir allerdings, daß Sie so schnell Kontakt zu Ihrer Tochter aufnehmen könnten.“ „Dieser Mann ist nicht David Rosenau“, erwiderte Yvonne. Sie blieb merkwürdig gelassen. „Und er ist auch nicht Walter Klemm!“ Professor Liebscher schüttelte den Kopf. „Ein Walter Klemm ist mir nicht bekannt, aber ich weiß, daß dieser Herr David Rosenau ist. Schauen Sie, wir wurden vor etwa vierzehn Tagen in Rosenaus Haus gerufen, der Pfleger kann es bezeugen, und da sahen wir ihn bei der Treppe liegen.“ Gerhard Drenckmann überlegte fieberhaft, wie er sich und die junge Frau heil aus dem Zimmer herausbrächte. Aber er sah keinen Ausweg. Unterdessen fuhr der Arzt beinahe gemütlich fort: „Sie dürfen nicht so herumlaufen, David, es könnte schlimm für Sie ausgehen. Sie haben eine Contusio!“ „Die habe ich nicht!“ Das war alles, was Drenckmann dazu einfiel. „Sicher sind Sie zu dieser Erkenntnis durch Doktor Reinhardt gekommen. Nun, das ist noch eine junge und unerfahrene Ärztin, David! Sie wird Ihnen wohl auch gesagt haben, daß sie es annahm, weil sie keine Röntgenbilder von Ihnen fand. Ich hatte die an anderer Stelle aufbewahrt. Inzwischen habe ich sie Frau Reinhardt gezeigt, und sie ist jetzt überzeugt, daß Sie sehr krank sind. Wir werden Ihnen gleich mal eine Injektion machen, David! Sie werden gar nichts merken und rasch einschlafen. Und dann werden wir Sie in die Klinik zurückbringen. Ihr Bett wartet schon auf Sie!“ Gerhard Drenckmann machte einen Schritt zur Seite; er bewegte sich vorsichtig wegen der Waffe, die auf ihn 190
gerichtet war. Er sah die Spritze in der Hand des Pflegers, und plötzlich wirkte der wieder auf ihn wie in den allerersten Tagen im Krankenhaus. Er glaubte in das Gesicht seines Vaters zu schauen, und zwar zu einer Zeit, als er den sehr gehaßt hatte. Kurz bevor er ihn den Nationalsozialisten ausgeliefert hatte! Und dann passierte etwas höchst Merkwürdiges! Gerhard Drenckmann wußte nicht, wie es geschah, aber auf einmal flog er dem Mann entgegen. Ja, er flog tatsächlich durch den kleinen, engen Raum, und zwar mit den Beinen vorneweg. Er traf den Pfleger mit dem Schuhabsatz seitlich am Hals. Heinz Müller ging lautlos zu Boden. Mit der gleichen Bewegung flog Drenckmann aber auch auf Liebscher zu und schlug ihm die Pistole aus der Faust. Die Waffe fiel polternd zu Boden und rutschte unter die Liege. Drenckmann selbst kam auf dem Sofa zum Sitzen. Ein bißchen sah es aus, als ob er sich hingesetzt hätte, um sich nett mit dem Arzt zu unterhalten. Es geschah alles in den Bruchteilen einer Sekunde, und es war durchaus nicht ohne Komik. Alle starrten bleich vor Schreck, bis auf den Pfleger Heinz Müller, der bewußtlos am Boden lag. Sie waren alle überwältigt von der Aktion, aber am meisten war es wohl Gerhard Drenckmann selbst. Und da hatte er eine Vision! Er sah sich in einem Ausbildungslager im Schwarzwald. Es passierte mitten im Krieg, und die deutschen Armeen befanden sich längst auf dem Rückzug. Aber das Oberkommando züchtete noch immer Fallschirmjäger heran, um die Welt aus der Luft zu besiegen. Sie wurden so geschleift, daß ihnen das Wasser zur Hose herauslief. Tag für Tag und Nacht für Nacht. Es gab keine härtere Ausbildung als diese, und zu ihr gehörte die Kunst des Überlebens ebenso wie die Kunst des lautlosen Tötens. In der Sekunde der Gefahr war jenes Wissen in ihn zurückgekehrt. 191
Aber Gerhard Drenckmann war nicht mehr achtzehn oder zwanzig wie damals, es ging auf die Fünfzig mit ihm. Und so brauchte er eine ganze Weile, um zu verschnaufen. Er atmete heftig. Während dieser Zeit sprach niemand ein Wort. Sie blieben alle an ihrem Fleck. Yvonne in der Mitte des Zimmers, mit einem höchst albernen Lächeln auf ihrem schönen Gesicht. Der Professor im Sessel und der Pfleger Heinz Müller auf dem Boden neben der Tür. Zuerst rührte sich Gerhard Drenckmann selbst. Schwerfällig stand er auf und ging zur Tür. Dort beugte er sich über den Pfleger. Der Mann würde noch eine Weile brauchen, bis er zu sich kam, aber er würde es überleben. Drenckmann griff nach der Spritze und entleerte sie auf den Teppich. Er tat es ungern, weil er ein ordentlicher Mensch war, aber er wußte nicht, wohin mit dem Zeug. Dann sah er den Professor an, der alles mit einem verblüfften Ausdruck verfolgte. Drenckmann sagte nur ein Wort: „Raus!“ Professor Liebscher erhob sich, machte die wenigen Schritte zur Tür, stieg über den Pfleger Heinz Müller und ging hinaus. Gerhard Drenckmann hievte sich den Bewußtlosen, der sehr schwer war, über die Schulter und lief hinter dem Arzt her. Liebschers Mercedes parkte auf der anderen Straßenseite direkt vor dem Briefmarkenladen. Drenckmann warf den Pfleger auf den Rücksitz, dann drückte er die Wagentür heran und blickte über das Dach. „Wenn Sie sich noch einmal hier sehen lassen“, sagte er ruhig, „bring’ ich Sie um!“ Professor Liebscher antwortete nicht. Er stieg in das Auto und fuhr in Richtung Barmbeker Straße davon. Ja, es war die Barmbeker Straße, die zweihundert Meter weiter die Semperstraße kreuzte. Auch das wußte Gerhard Drenckmann nun wieder. Yvonne Rosenau stand in der offenen Tür des Treppenhauses, hinter ihr brannte das Dreiminutenlicht. Auf 192
ihrem Gesicht lag noch immer der Widerschein einer bodenlosen Verblüffung. Anscheinend bewunderte sie ihn, weil er so problemlos mit der Situation fertig geworden war. Gerhard Drenckmann, der ihr entgegenging, merkte, daß er auf dem linken Bein erneut humpelte. Auch der Kopf schmerzte plötzlich. Ein Held? Nein, das war er nicht! Und er war es wohl auch niemals gewesen!
15. Am nächsten Vormittag saßen sie im Präsidium beim Berliner Tor einem Beamten gegenüber. Der Kommissar hieß Schnabel, und er empfing sie in seinem Dienstzimmer im Polizeihochhaus. Der Mann ließ sie nicht allzulange warten, und obwohl er überlastet war, wie sie schnell merkten, nahm er sich Zeit für sie. In aller Ruhe – zumindest schien es so –, hörte er sich ihre Geschichte an. Vieles an dem Mann schien merkwürdig. Er wog weit über zwei Zentner und wirkte grobschlächtig. Der Körper mit dem dicken Bauch, aber auch die massigen Partien seines Gesichtes. Sicherlich aß und trank er zuviel. Die Wangen bildeten leichte Taschen, noch einige Jahre weiter, und sie würden herabfallen und sich mit einigen Kinnpartien am Hals vereinigen. Der Mann war nicht viel älter als vierzig Jahre. Auf seiner Nase hockte eine schmal gearbeitete Brille aus Edelstahl, die nicht in das grobschlächtige Gesicht paßte. Er trug einen dunkelbraunen Anzug aus gutem Stoff, auch das Hemd darunter war modisch, und die Krawatte hatte er mit Sorgfalt gebunden. Er rauchte eine Dunhillpfeife. Der Rauch zog in Kreisen und Schlieren durch das Zimmer und roch angenehm. Yvonne Rosenau, die den Kommissar beobachtete, 193
merkte schnell, daß der Koloß allerlei tat, um den nicht sehr ansehnlichen Körper aufzuwerten. Sie spürte es als Frau. Vor allem begriff sie, daß der Mann alles andere als träge war, auch wenn er sich diesen Anschein gab. Die Augen hinter den Brillengläsern wirkten recht sensibel. Yvonne hatte wie selbstverständlich das Gespräch an sich genommen, und die Männer hörten ihr zu. Hin und wieder unterbrach sie sich, sah zu Gerhard Drenckmann hin, der neben ihr saß, stellte eine kurze Frage oder bat um eine Bestätigung. Der gab sie widerwillig, denn er fühlte sich schlecht an diesem Morgen. Die Medikamente, die sie in ihn hineingepumpt hatten, schienen nachzuwirken. Ihm war zumute, als ob er tagelang getrunken hätte und nun alle Schmerzen der Ausnüchterung durchlitt. Besonders tat ihm das Herz weh. Kommissar Schnabel hatte seine Fleischmassen hinter dem Schreibtisch auf einem besonders festen Stuhl plaziert. Er stellte keine Zwischenfragen, hörte nur interessiert zu und sog an seiner Dunhill. Er schaute seine Besucher aufmerksam an, mal die Frau, mal den Mann, aber meistens fixierte er einen Punkt im Raum, der weit hinter beiden lag. Nachdem Yvonne zum Ende gekommen war, blieb es lange still. Noch immer dachte der dicke Kommissar nicht daran, eine Bemerkung zu machen. Und da sagte Yvonne schließlich: „Ich würde mich nicht einmal wundern, wenn Sie uns diese Geschichte nicht glaubten.“ Kommissar Schnabel lächelte sanft. „Fragen Sie mich nicht nach meinem Glauben, Frau Rosenau! Fragen Sie mich lieber, ob ich es mir vorstellen kann.“ „Können Sie es sich vorstellen, Herr Kommissar?“ „Sagen Sie bitte Schnabel zu mir!“ „Können Sie es sich denken, Herr Schnabel?“ „Natürlich, Frau Rosenau! Die Menschen lassen sich oft ausgeklügelte Ideen einfallen. Aber mit diesem soge194
nannten Raffinement werden wir schnell fertig. Mehr Kummer machen uns Fälle, wo es zwischen Täter und Opfer keine oder scheinbar keine Beziehung gibt.“ Yvonne lauschte der milden Stimme des Kommissars. Sie spürte, daß sie auf den Koloß wirkte, auch wenn er alles tat, um es zu verbergen. Unterdessen wandte sich Schnabel Gerhard Drenckmann zu. „Sie hätten niemals in das Haus dieses Rosenau, oder wie er auch heißen mag, gehen dürfen!“ „Und was sonst?“ Gerhard Drenckmann fragte es beinahe knurrend. „Sie hätten uns auf der Stelle alarmieren müssen!“ „Ich hatte zu dem Zeitpunkt nicht viel Ahnung, daß es überhaupt so etwas wie eine Polizei gibt. Ich wußte ja nicht einmal meinen Namen, und ich dachte …“ Drenckmann brach ab, das Sprechen strengte ihn offensichtlich an. „Ich weiß, was Sie dachten, Herr Drenckmann. Aber ein Fehler war es trotzdem! Inzwischen hatten die Leute Zeit, sich etwas zurechtzulegen. Besonders nach dem netten Erlebnis bei Ihnen in der Semperstraße werden sie von der Notwendigkeit überzeugt sein. Ich sehe es vor mir, wie rührig die inzwischen gewesen sind.“ Der Kommissar begann in seiner Pfeife zu stochern. Er tat es vorsichtig mit einem Pfeifenbesteck. Darauf klopfte er die restliche Asche hervor und legte sie zum Auskühlen beiseite. Aus der Schreibtischschublade holte er eine neue Pfeife hervor, wieder eine Dunhill, und stopfte „Prinz Albert“ hinein. Er hatte mächtige Pranken mit dicken Wurstfingern, aber er konnte geschickt mit ihnen umgehen. Er griff nach Streichhölzern. Alles tat er bedächtig. Im Gegensatz zu seinen Besuchern schien der Kommissar über unbegrenzte Zeit zu verfügen. Schließlich fragte er: „Und er wurde mit beiden Männern fertig? Sprang nur mal eben in die Luft und machte sie kampfunfähig?“ Er stellte die Frage der jungen Frau. 195
„Ja“, erwiderte Yvonne. Der Kommissar beobachtete Gerhard Drenckmann interessiert über das brennende Streichholz hinweg. Er fragte: „Karate?“ Drenckmann brummte irgendwas. „Karate ist gefährlich“, meinte Schnabel. „Sie hätten den Mann mit Ihrem Fuß an seinem Hals glatt umbringen können.“ „Vielleicht sollten Sie mich wegen Körperverletzung festnehmen.“ Der Kommissar lächelte nur. Yvonne sagte: „Aber ich bitte Sie, Herr Schnabel! Die beiden Männer bedrohten uns, und der Pfleger ging mit einer Injektionsspritze auf Herrn Drenckmann los.“ Gerhard Drenckmann hörte Yvonne von der Spritze reden, aber er vernahm nichts von einer Pistole, auf die ein ekelhafter Schalldämpfer montiert war. Er fühlte sich jedoch viel zu schwach, um sich ins Gespräch einzumischen. Schnabel entlockte seiner Pfeife zunächst mächtige Tabakswolken, dann drückte er den Tabak fest und machte nur noch leichte Züge, um die Dunhill nicht zu überhitzen. Diese Pfeifen schienen seine Welt zu sein. Er sagte: „Wir haben es mit drei Tätern zu tun. Wenn ich Ihrer Version folge, und das muß ich ja zunächst, ergibt sich folgendes Bild: Wir haben einen Mann, der sich Rosenau nennt und der nach Ersatz für sich sucht. Er findet ihn schließlich, aber er muß ihn … wie soll ich sagen: er muß ihn präparieren. Und das führt uns zu Täter zwei.“ „Zu Kodelke!“ warf Yvonne ein. „Sagten Sie nicht, der Professor heißt Liebscher?“ „Es ist Kodelke!“ Der Kommissar lächelte. „Einigen wir uns zunächst auf Liebscher, meine Dame! Was sind schließlich auch Namen!“ 196
„Es ist Kodelke!“ beharrte Yvonne. „Die Ärztin, Frau Doktor Reinhardt, und Herr Drenckmann haben das Tonband gehört, das einem Mordgeständnis gleichkommt. Glauben Sie wirklich, Klemm hätte dem Arzt etwas über den Tathergang gesagt, wenn der nicht Kodelke wäre?“ Der Kommissar wandte sich Gerhard Drenckmann zu. „Sehen Sie, das ist es eben! Wenn Sie uns gerufen hätten, als Sie noch in der Klinik waren, hätten wir dieses Tonband zweifellos in die Hand bekommen. Wenn wir jetzt hingehen, werden wir es nicht mehr finden, und damit fehlt uns ein wichtiges Beweisstück.“ Schnabel schmauchte an seiner Pfeife und schloß etwas vage: „Wenn wir überhaupt hineinkommen!“ „Was soll denn das heißen?“ Yvonne saß plötzlich wie auf dem Sprung. Der Kommissar blieb gelassen und heiter. „In diesem Land leben wir in einer Demokratie, Frau Rosenau. Der private Bereich eines Menschen ist gesetzlich geschützt. Ich muß den Staatsanwalt überzeugen, damit er mir einen Durchsuchungsbefehl gibt. Und der Staatsanwalt wiederum muß überzeugt sein, daß die Aufhellung des Geschehens im öffentlichen Interesse liegt.“ „Und die Aufhellung dieses Geschehens liegt natürlich nicht im öffentlichen Interesse“, meinte Yvonne sarkastisch. „Ich weiß schon, was Sie meinen, Frau Rosenau“, entgegnete der Kommissar sanft, „aber lassen wir das mal! Vorerst zumindest! Gehen wir in der Sache weiter! Jener Mann, der sich Rosenau nennt, sucht nach einem Ersatz für sich! Und er hat einen Partner, der bereit ist, ihm bei einer makabren Manipulation zu helfen. Dazu brauchen sie eine Person, die annähernd die gleichen Merkmale wie der alias Rosenau hat. Wie kommen sie aber an eine solche Person heran? Es ist nicht ganz einfach, wissen Sie. Und das führt uns zu Täter drei!“ 197
„Zu Handtner –!“ sagte Yvonne. „Natürlich, auch der hat es überlebt!“ Kommissar Schnabel antwortete: „Wie dieser Mann heißt, gnädige Frau, das wissen nun nicht einmal Sie! Zumindest nicht, wie er sich heute nennt. Aber eines, wenn wir Ihrer Version folgen, können wir zumindest ahnen.“ „Und was?“ „Der Mann muß weit oben angebunden sein! Und das macht die Geschichte nicht einfacher!“ Es entstand ein langes Schweigen, das über dem Raum zu lasten begann, drückender als die Tabakswolken des Kommissars. Der hatte sich noch einmal die Namenliste vorgenommen, die Gerhard Drenckmann in der Villa gefunden hatte. Ausgebreitet auf dem Schreibtisch lag auch die Reihe der Fotos. Der Kommissar schaute darauf. Dann sagte er: „Die Leute müssen sich lange vorbereitet haben. Sie wissen nicht, wann das Bild von Ihnen aufgenommen wurde?“ Gerhard Drenckmann schüttelte den Kopf. Yvonne sagte: „Ich habe mich schon vor Monaten bei Klemm gemeldet.“ „Ja, Sie sagten es schon!“ Der Kommissar legte seine Hand auf die Personenbeschreibung. „Ich bin fast sicher, daß es sich um Computerunterlagen handelt. Solche Daten gibt es zum Beispiel beim Verfassungsschutz, beim Bundeskriminalamt. Die Angaben gehen wirklich ins Detail. Wissen Sie, was ich meine? Die Person, die das besorgt hat, muß weit oben sitzen!“ In diesem Augenblick läutete das Telefon. Der Kommissar griff nach dem Hörer, hob ab und lauschte. Dann sagte er: „Er soll noch eine Weile warten, es wird nicht mehr lange dauern.“ Wieder horchte der Kommissar auf die Stimme am anderen Ende, und dann: „Aber das ist doch nichts Neues, der Mann ist immer aufgeregt. Geben Sie ihm was zu lesen, vielleicht die Bild-Zeitung, das muß ihn ja beruhigen.“ 198
Die Wurstfinger des Kommissars legten den Hörer mit einer erstaunlich zarten Bewegung auf die Gabel zurück. Dann wandte er sich erneut an Yvonne Rosenau. Er sagte: „Dieser Engländer, der sich Archibald Patters nannte, suchte Sie also vor Monaten in Wien auf, und er tat es unter dem Vorwand, er brächte Ihnen einen Scheck aus der Stiftung einer gewissen Lady Chessman, nicht wahr?“ „Der Mann ist beim Geheimdienst!“ erklärte Yvonne. „Er ließ es später in Cannes durchblicken, zumindest indirekt.“ „Ich gebe zu, dieses obskure Büro am Leicester Square stinkt geradezu nach einem konspirativen Treff“, meinte der Kommissar gedankenvoll. „Aber ich glaube nicht, daß Mister Patters beim Geheimdienst arbeitet, zumindest heute nicht mehr.“ „Wie kommen Sie darauf?“ „Es ist ziemlich simpel, Frau Rosenau! Der Geheimdienst hat jetzt andere Aufgaben, die Zeiten haben sich geändert. Ihre Sache gehört zu den sogenannten ollen Kamellen. Auch wenn es in Ihren Ohren bitter klingen muß, es ist so! Die Europäer zeigen uns zwar gern in ihren Filmen und Fernsehsendungen als Bauchaufschlitzer. Sie tun es auch in ihren Schulbüchern, weil es ja immer hübsch ist, einen Buhmann zu haben, wenn er nur in einem anderen Land sitzt, aber im Grunde lassen sie uns in Ruhe. Wir stehen in einem Bündnissystem zusammen, Frau Rosenau, die Zeiten haben sich eben geändert!“ „Sind es die Deutschen denn nicht?“ fragte Yvonne. „Was, Frau Rosenau?“ „Bauchaufschlitzer, wie Sie es nannten?“ „Ich bin es nicht, gnädige Frau!“ sagte Schnabel bedachtsam, „und ich war auch kein Nazi! Ich wurde neunzehnhundertdreißig geboren. Bei Kriegsende war ich noch nicht mal fünfzehn. Ich wurde es dann im Sommer, 199
als es nichts zu essen gab. In dem Alter hat man besonders viel Hunger.“ Yvonne blickte den Kommissar kalt an. Sie erinnerte sich der Bilder von ihren Leuten aus den Lagern. Aufnahmen von denen, die es überlebt hatten. Es waren auch Kinder darunter gewesen. Sie dachte an die Gesichter mit den übergroßen Augen vor der Kamera. Sie fragte: „Und Ihr Vater, Herr Schnabel, war natürlich auch niemals Nazi!“ Der Kommissar blieb gelassen. „Mein alter Herr war ein Schulmann, SPDer, kein Roter, mehr so rosa, wenn Sie sich was darunter vorstellen können. Als sich die braune Pest ausbreitete, kam er nicht gerade ins KZ, aber sie schmissen ihn aus dem Schuldienst. Er ist dann mit einem Musterkoffer durch Schleswig-Holstein und Niedersachsen gezogen und hat Hühnerfutter verkauft. Im Grunde hatte er viel Glück. Ich nicht so sehr, weil ich bald zu seinem einzigen Schüler wurde. Ich genoß durch ihn so etwas wie eine humanistische Bildung. Darauf pfiffen die Faschisten ja, die hatten ihre Ideologie!“ Zum ersten Mal während des Gesprächs hatte Gerhard Drenckmann aufmerksam zugehört. Er sah den Kommissar an, und der erwiderte den Blick. Sie lächelten beide. Unterdessen klopfte Schnabel seine Pfeife aus und legte sie akkurat neben die vorige. Dann ging er zum Fenster und öffnete es. Er fuhr fort: „Natürlich wird es Ihnen wenig bedeuten, Frau Rosenau, daß es Leute in Deutschland gab, die den Politgangstern Widerstand entgegensetzten. Ich weiß, die Opportunisten und Karrieristen überwogen, das tun sie ja immer, aber es gab auch andere. Na ja, das sind Geschichten, die hier nicht besonders interessieren.“ Er schloß das Fenster und kam zum Schreibtisch zurück. Er blickte auf die beiden Pfeifen, überlegte, ob er sich eine weitere anzünden sollte, versagte es sich aber. „Ich nehme an, daß jener Mister Patters für die Indust200
rie tätig ist“, sagte er schließlich. „Sein Gespräch mit Herrn Drenckmann in den ‚Vier Jahreszeiten‘ macht den Schluß zwingend. Und diese Tatsache führt uns nur noch tiefer in das Dickicht des Falles, macht es ziemlich undurchdringlich.“ Yvonne schnappte förmlich nach Luft. „Hier ist schließlich ein Kapitalverbrechen geschehen. Ich will nicht von der Ermordung meiner Eltern sprechen, das sind ja nur alte Geschichten, die niemand interessieren. Aber Herr Drenckmann wurde entführt, mißhandelt und unter Drogen gesetzt. Und wenn er nicht durch einen Zufall entkommen wäre, hätte man ihn umgebracht. Zählt das alles nicht bei Ihnen in Deutschland?“ „Es zählt, Frau Rosenau! Ich versuchte Ihnen nur klarzumachen, daß ein Berg vor uns liegt und ein steiler, dorniger Weg hinauf. Hier scheint es um hohe Beträge zu gehen, und wenn sich die Industrie dieser Größenordnung einer Aufhellung entgegenstellt, werde ich es mit meiner kleinen Mannschaft schwer haben.“ „Was wollen Sie unternehmen?“ fragte Yvonne ungerührt. „Ich werde mit Professor Liebscher sprechen, darauf mit dem Pfleger Müller und Frau Doktor Reinhardt. Zumindest die junge Ärztin scheint ja eine echte Zeugin zu sein.“ Wieder blickte er Gerhard Drenckmann kopfschüttelnd an. „Wirklich, wenn Sie uns sofort gestern abend angerufen hätten, wäre alles viel leichter für uns.“ Drenckmann nickte, weil er es plötzlich einsah. „Ich war viel zu konfus!“ Und der Kommissar erwiderte: „Natürlich!“ „Wann werden Sie mit den Leuten sprechen, Herr Schnabel?“ fragte Yvonne, die hart an der Sache blieb. „Bald“, erwiderte der Kommissar. „Bald“, echote Yvonne. Schnabel lächelte höflich. „Ja, bald, gnädige Frau, das heißt möglichst noch heute, spätestens aber morgen!“ 201
„Übereilen Sie es nur nicht!“ „Wie soll ich es Ihnen erklären, Frau Rosenau! Zur Zeit laufen in meiner Abteilung drei Mordsachen, und die habe ich mit einem ziemlich kleinen Team zu bearbeiten.“ „Wir möchten eine Anzeige machen, Herr Kommissar!“ Schnabel blickte die junge Frau verständnislos an. „Ja, natürlich, so habe ich es aufgefaßt.“ „Wir möchten es ganz offiziell tun“, bestand Yvonne. „Wenn Sie es mir sagen, wie Sie es taten, dann ist es offiziell!“ „Sie haben nichts aufgeschrieben!“ „Frau Rosenau, Sie werden noch tagelang über Protokollen sitzen. Es wird Ihnen zu den hübschen Ohren herauswachsen. Wir wollen es langsam angehen!“ „Ich bin mit dieser Handlungsweise nicht einverstanden.“ „Es bleibt Ihnen natürlich der offizielle Beschwerdeweg, gnädige Frau. Wenn Sie es wünschen, werde ich Sie in die Hauptverwaltung begleiten.“ Die junge Frau schwieg endlich still, aber sie schien krampfhaft zu überlegen. Kommissar Schnabel fuhr fort: „Ich kann verstehen, Frau Rosenau, daß Sie einem Deutschen nicht viel Vertrauen entgegenbringen. Aber wenn wir miteinander auskommen wollen, müssen Sie sich überwinden! Ich jedenfalls werde den Fall auf meine Weise lösen. Sie hören von mir, sobald ich in der Sache tätig wurde und erste Ergebnisse habe.“ Er wandte sich Gerhard Drenckmann zu. „Sind Sie mit der Absprache einverstanden?“ „Wir verlassen uns auf Sie, Kommissar!“ „Soll mich freuen!“ Schnabel raffte die Fotos auf dem Schreibtisch zusammen, ordnete die Blätter mit den Personenangaben und verstaute alles in der Schreibtischschublade. Dann 202
erhob er sich. Bevor er die Tür öffnete, wandte er sich noch einmal seinen Besuchern zu. Er sagte: „Wir hatten ein ziemlich offenes Gespräch. Besonders was die Hintergründe der Geschichte angeht, war es offen. Es ist meine Art, laut zu denken. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß sich die Gedanken so ganz gut ordnen lassen. Am besten ist, Sie vergessen, was wir alles gesagt haben!“ Der Kommissar ging mit seinen Gästen ins Vorzimmer. Draußen lief ein Mann ruhelos auf und ab. Auf einem Tisch lag die aufgeschlagene Bildzeitung. Der Mann beachtete die beiden Besucher nicht, er stürzte auf den Kommissar los. Aufgebracht sagte er: „Ich habe lange gewartet, Herr Schnabel!“ Der Kommissar schien ein Felsen in einer schäumenden Brandung zu sein. Gütig antwortete er: „Ja, Herr Ahrens, leider! Aber jetzt habe ich Zeit für Sie! Kommen Sie in meine Klause. Wir wollen uns mal in aller Ruhe unterhalten!“
16. Auf dem Parkplatz vor dem Polizeihochhaus stand Gerhard Drenckmanns eigener Wagen. Er hatte den Opel am Morgen aus der Werkstatt abgeholt und den KlemmMercedes vor der Haustür in der Semperstraße gelassen; mochte er dort verrotten. In der Werkstatt gab es Scherereien, weil er so spät kam. Außerdem erkannten sie ihn nicht. Er redete wortreich von einem Unfall und einer notwendigen Gesichtsoperation. Auch seine Wohnungsnachbarin dachte, er sei ein Fremder, als sie sich im Treppenhaus begegneten, aber der erklärte er nichts. Sein verändertes Gesicht würde viele Probleme mit sich bringen, vor allem für ihn selbst. Er merkte es beim Ra203
sieren, als er in den Spiegel schauen mußte. Er rätselte auch, wie sie es gemacht hatten. Wahrscheinlich wurde die Nase von innen her operiert, denn er konnte keine Narben entdecken. Aber wie hatten sie es mit den Augen angestellt? Er stand vor einem Rätsel. Während er und Yvonne mit dem Lift hinunterfuhren und durch die Halle des Präsidiums schritten, sprach die junge Frau kein Wort. Gerhard Drenckmann spürte jedoch deutlich, daß sie noch immer überlegte. Bevor er den Motor in Gang setzte, sagte er: „Sie müssen für den Kommissar Verständnis haben, Frau Rosenau!“ „Warum sollte ich?“ fragte sie kurz angebunden. „Es war ziemlich schlüssig, was er darlegte, und wir waren ja schon vorher zu ähnlichen Überlegungen gekommen. Die Sache scheint wirklich hochkarätig zu sein. Was soll der Mann also tun?“ „Das fragt ihr Deutschen ja immer!“ „Was?“ „Was sollen wir tun? Dem Terror und der Gewalt widerstehen, das sollt ihr tun in Deutschland!“ Sie riß mit heftigen Bewegungen ein Päckchen Zigaretten auf. In ihrem Gesicht stand ein harter, böser Ausdruck. Gerhard Drenckmann fuhr über Adenauerallee und Hauptbahnhof in die Mönckebergstraße hinein. Auf dem Parkdeck von „Hertie“ fanden sie Platz. Yvonne brauchte frische Wäsche, auch eine neue Bluse; sie war auf eine so lange Abwesenheit von Wien nicht vorbereitet gewesen. Drenckmann hatte ihr angeboten, sie könnte alles in seiner Badewanne ausdrücken, auch die Waschmaschine benutzen, aber sie wollte es nicht. Als sie in der Abteilung für Unterwäsche zu kramen begann, ging er ein Stück beiseite und setzte sich. Mit seinem Herzen fühlte er sich noch immer nicht besser. Er holte ein Beruhigungsmittel hervor und schluckte zwei der winzigen Perlen. Er hatte solche Schwierigkeiten öfter, besonders wenn das Wetter wechselte, diesmal 204
schob er es auf den Medikamentenmißbrauch. Er beobachtete Yvonne von weitem. Sie führte mit der Verkäuferin ein langes Gespräch. Natürlich über Wäsche. Wenn es ans Einkaufen ging, versank für Frauen die Welt. Später begleitete er sie in eine andere Abteilung, sah zu, wie sie zwei Blusen und eine lange Hose kaufte. Die Hose behielt sie gleich an, sie war aus feingeripptem beigefarbenem Kordsamt. „Ich mag keine Kleider“, sagte sie lächelnd. Tatsächlich, sie lächelte wieder. „Ich komme mir als Dame verkleidet vor. Was meinen Sie?“ Er nickte zerstreut. Ihm hatte sie auch im Kleid gefallen, aber darauf kam es sicher nicht an. Darauf gingen sie in das Restaurant von „Hertie“ und aßen zu Mittag. Yvonne hatte sich zu einer Scholle entschlossen, die so groß war, daß sie über den Teller lappte. Er trank nur eine Fleischbrühe mit Ei, weil er seinen Magen nicht überlasten wollte. Beim Essen kam er noch einmal auf sein Angebot zurück. „Schließlich sind es zwei Räume“, sagte er. „Wir brauchen uns nicht einmal in die Quere zu kommen. Wer weiß, wie lange Sie noch in der Stadt bleiben müssen. Sie könnten auch die Hotelrechnung sparen.“ Sie schüttelte lächelnd und kauend den Kopf und sagte: „Die Scholle ist wirklich ausgezeichnet.“ „Fisch schmeckt an der Küste immer am besten. Meinten Sie nicht, daß wir ein Stück Wegs gemeinsam gehen müßten?“ „Ja, aber wir brauchen es ja nicht so hautnah zu tun!“ „Ich hoffe, Frau Rosenau, Sie haben mein Angebot richtig aufgefaßt.“ „Natürlich, Herr Drenckmann, und ich danke Ihnen für die Einladung. Wirklich! Sie scheinen ein feiner Mann zu sein.“ Darauf antwortete er nicht mehr, löffelte nur mit krauser Stirn an seiner Suppe. Nun war sie es, die ihn 205
beobachtete, und ihre Schroffheit schien ihr leid zu tun. Nach einer Weile sagte sie: „Ich kann mir vorstellen, daß es schwer werden wird für Sie … mit dem veränderten Gesicht.“ Er sah nicht auf, löffelte schweigend. Sie fuhr fort: „Man kann es auch nicht fortwerfen wie einen Anzug, den man nicht mag. Aber Sie werden sich gewöhnen, Herr Drenckmann, und wer weiß, eines Tages werden Sie vielleicht sogar an der neuen Nase Geschmack finden.“ Er antwortete nicht, sah sie auch nicht an. Und da merkte sie, daß sie ihn gekränkt hatte. Dabei wollte sie ihn nur trösten. Sie beendeten die Mahlzeit schweigend. Anschließend holten sie den Opel vom Parkdeck. Beim Hauptbahnhof ließ er sie aus dem Wagen heraus. „Kann ich Sie heute abend anrufen?“ fragte sie. „Ich bin zu Hause.“ „Und vielleicht komm’ ich morgen mal vorbei?“ „Wenn Sie mich in der Wohnung nicht finden, gehen Sie über die Straße und klopfen gegen die Schaufensterscheibe.“ „Mach’ ich, Herr Drenckmann! Adieu!“ „Tschüs!“ Die Wagentür klappte, und der Motor heulte auf. Der Opel schoß davon. Er fuhr über Berliner Tor nach Winterhude. Auf der Höhe von Mundsburg hätte er zur Barmbeker Straße hinüber müssen, aber er nahm die Abzweigung nach rechts. Er erreichte schnell die Bramfelder Chaussee und rollte auf ihr bis Poppenbüttel. Als er dort anlangte, bog er in den Saseler Damm ein. Er fand den Weg zum Landschaftsschutzgebiet und kam in den Ginsterbuschweg. Kurz vor der Klinik stoppte er und schaltete den Motor aus. Er lehnte sich in den Polstern zurück und machte sich auf ein langes Warten gefaßt. Unterwegs hatte er sich von einem Kiosk das „Hamburger Abendblatt“ geholt. Nun blätterte er die vielen 206
Seiten hin und her, aber nichts von dem, was drinstand, interessierte ihn. Er zündete sich eine Zigarette an, machte sie aber schnell wieder aus; er spürte bereits den ersten Zug in der Gegend seines Herzens. Dabei hätte er auf eine Art zufrieden sein können. Er war niemals Nazi gewesen! Und auch kein Verbrecher! Als er am Morgen in seinem eigenen Bett aufwachte, lag sein ganzes Leben vor ihm ausgebreitet wie ein hübscher Bilderteppich. Zwar war so gut wie nichts besonders daran, aber es war eben sein Leben! Er hatte den Vater nicht angezeigt! Es stürzte ihn zwar in eine Konfliktsituation, vielleicht in die stärkste seines Lebens überhaupt. Aber er hatte es nicht fertiggebracht. Wochenlang lief er damals herum, konfus, nicht ansprechbar, und nannte sich einen erbärmlichen Feigling. Ebenso wie es der Vater vorher getan hatte. Aber er ging nicht zur Gestapo, um das von der Aktentasche zu erzählen. Heute wußte er, daß dieses Verschweigen zu den guten Dingen in seinem Leben gehörte. Denn natürlich glaubte er in jener Zeit an den Nationalsozialismus. Sein Vater starb gleich zu Beginn des Krieges. Der Dampfer, auf dem er fuhr, wurde in Argentinien vom Ausbruch überrascht. Die Mannschaft verließ Buenos Aires mit dem Schiff bei Nacht und Nebel. Auf hoher See kappten sie die Masten und bauten Attrappen, die wie Geschützaufbauten wirkten, von weitem zumindest. Sie strichen den Dampfer grau an, der darauf Ähnlichkeit mit einem Hilfskreuzer bekam. Es half aber nichts! In der Nordsee wurden sie von einem englischen Unterseeboot gestellt und versenkt. Niemand überlebte. Ja, so war es mit seinem Vater gewesen. Er selbst ging nach dem Abitur zu den Fallschirmjägern. Aber es gab bald nichts mehr zu erobern, und so wurde er auf eine Pilotenschule abkommandiert. Zu dieser Zeit beherrschten die Anglo-Amerikaner bereits den Luftraum über Deutschland. Sie erschienen in großen 207
Pulks, Tausende von Maschinen. Die Deutschen besaßen noch Flugzeuge, sogar die ersten Düsenjäger, sie hatten auch noch Piloten, aber es fehlte an Treibstoff. Ab und zu stiegen sie dennoch auf. Sie kamen aus der Sonne. Nachts hingen sie sich von hinten an die Pulks, das war ihre Chance. Sie schossen wild drauflos. Auch Munition gab es seltsamerweise noch. Wenn sie landeten, waren ihre lammfellgefütterten Lederjacken durchgeschwitzt. Vor Angst! In den Bereitschaftsräumen fielen sie auf die Betten. Kaum einer war viel älter als zwanzig. Manche weinten. Er auch. Nein, ein Held wurde aus ihm nicht. Er schiß auf die Helden, von denen es in der Literatur wimmelte. Die Wirklichkeit war anders. Als er nach dem Krieg heimkehrte, lebte die Mutter noch. Es ging ihr nicht einmal schlecht. In jenen Zeiten gab es kaum etwas, aber Briefmarken gab es reichlich. Und die Menschen müssen immer was zum Kaufen haben. Selbst in ihrem Laden bimmelte die Ladenglocke für eine Weile ununterbrochen. Die Mutter und er blieben zusammen. Sie machte den Verkauf, und er spezialisierte sich auf Reparaturen. Später kamen die Expertisen hinzu. Bald wußte er alles über Briefmarken und wurde in der Branche zu einem gefragten Mann. Die Mutter verstarb Anfang der sechziger Jahre, er pflegte sie bis zum Tod. Gerhard Drenckmann, in seinem Wagen sitzend, dachte an das alles. Er grübelte. Es war eigentlich alles ganz ordentlich gewesen in seinem Leben, und dennoch – er ahnte es dunkel –, irgend etwas hatte er falsch gemacht. Was war das nur gewesen? Seine Geduld wurde auf eine lange Probe gestellt. Endlich, weit über eine Stunde mochte vergangen sein, sah er ein Taxi im Ginsterbuschweg auftauchen. Es war eine einsame Gegend mit wenig Verkehr. Selbst vor dem Krankenhaus blieb alles ruhig. Nur hin und wieder sah er eine Schwester vorüberhuschen. Seltsamerweise hatte 208
er in den vierzehn Tagen, als er hier lag, keine zu Gesicht bekommen. Das Taxi hielt an, und die Frau, auf die er gewartet hatte, stieg aus. Yvonne Rosenau! Er war schon neben ihr, ehe sie bezahlt hatte. Sie zeigte sich überrascht, als sie ihn bemerkte. „Sie –?“ fragte sie. „Was wollen Sie?“ Er antwortete: „Ich habe auf Sie gewartet!“ Sie blickten dem davonfahrenden Taxi nach. „Ich muß zu ihm“, sagte sie. „Er hat meine Eltern umgebracht.“ „Klemm hat es getan!“ „Er war dabei! Ich muß zu ihm!“ Sie schaute ihn an. „Was werden Sie tun?“ „Ich komm mit dir!“ Als sie auf den Eingang zugingen, wunderte es ihn, daß er sie einfach geduzt hatte. Der weißhaarige Professor Liebscher stand vor einem geöffneten Fach mit französischem Kognak, als sie hereinkamen. In der einen Hand hielt er die Flasche, in der anderen den Schwenker. Der Mann schien Probleme zu haben, und wahrscheinlich hatte er die Flasche an diesem Nachmittag bereits öfter zu Rate gezogen, denn seine Wangen waren gerötet, ebenso die Augen. Yvonne Rosenau ging an dem Arzt vorbei zum Schreibtisch und lehnte sich in der Nähe des Telefons gegen die Kante. Gerhard Drenckmann blieb neben der Tür stehen. Liebscher stellte die Flasche in den Schrank zurück, drückte die Tür heran. Das Glas behielt er in der Hand. Sein Blick wanderte zwischen den Eindringlingen hin und her. Bis zu diesem Augenblick war noch kein Wort gesprochen worden. Das Erscheinen der beiden mochte dem Arzt unangenehm sein, aber offensichtlich nahm er sie nicht ernst. Trotz des Ausdrucks in Yvonnes Gesicht, das wie bei einer Maske erstarrt wirkte. 209
„Was wollen Sie?“ fragte er schließlich. „Ich habe nicht viel Zeit, weil ich zu einer Verabredung in die Stadt muß.“ „Sie werden sich Zeit nehmen, Herr Liebscher“, erwiderte Yvonne. Im Gegensatz zu ihrem maskenhaften Gesicht klang ihre Stimme beherrscht. „Sie können natürlich alles abkürzen, wenn Sie nicht lange herumreden.“ „Was wollen Sie wissen?“ „Die Wahrheit, Herr Liebscher!“ „Die Wahrheit?“ Um den Mund des Arztes lag ein kleines, geringschätziges Lächeln. „Sie müssen noch viel älter werden, mein Kind, um zu begreifen, daß die nicht mehr bedeutet als ein leeres Geschwätz!“ An der Art, wie er sprach, merkten sie, daß der Mann betrunken war. Er starrte in das Glas mit dem Kognak, überlegte, ob er einen weiteren Schluck nehmen sollte, tat es dann aber nicht. „Herr Drenckmann war gestern abend in Klemms Haus“, erklärte Yvonne. „Er ging gleich hin, nachdem er aus der Klinik fliehen konnte.“ „Ich kenne keinen Herrn Klemm“, warf der Arzt ein. „Das habe ich Ihnen schon einmal gesagt.“ Yvonne fuhr ungerührt fort: „Er fand Computerunterlagen dort und einige Fotos. Von Leuten mit beinahe identischen Merkmalen. Herr Drenckmann stieß auf die Angaben zur eigenen Person sowie auf ein Foto von sich. Darauf sieht er allerdings anders aus als heute. Trotzdem haben Sie sich ihn unter den anderen herausgesucht, und wir nehmen an, Sie taten es, weil er von allen Klemm am ähnlichsten war. Sie sollen nun sagen, was Klemm mit diesem Personentausch bezweckte. Und Sie sollen weiter sagen, wieso er Sie zu der Gesichtsoperation überreden konnte.“ „Ich erkenne nicht, daß jener Herr überhaupt operiert wurde. Und wenn es geschah, dann sicher nicht durch mich.“ Professor Liebscher nahm nun doch einen Schluck 210
von dem Kognak, und der Alkohol ließ ihn wohl auch so etwas wie Spaß an der Situation finden. „Erklären Sie uns, weshalb Sie gestern abend auf Herrn Drenckmann warteten, wenn Sie ihn nicht operiert haben!“ „Kleine Frau!“ meinte der Professor. „Ich habe meine Klinik während des Abends und der Nacht nicht für eine Stunde verlassen. Dafür gibt es viele Zeugen.“ „Sie scheinen zu vergessen, daß auch wir Zeugen haben!“ sagte Yvonne. Sie sprach noch immer beherrscht, aber es war eine merkwürdige Ruhe in ihr, die Ruhe vor einem Ausbruch. „Was für Zeugen?“ fragte der Arzt. „Ein Herr aus England, der sich Ihnen als Archibald Patters vorstellte.“ Für einen Moment verschwand das alberne Grinsen von Liebschers Gesicht. „Und weiter?“ „Den Sekretär Wilhelm!“ „Der hält sich seit Wochen in Rio auf. Wen haben Sie noch?“ „Den Pfleger Müller und Frau Doktor Reinhardt!“ „Na, dann fragen Sie die Leute doch!“ Auf einmal kehrte der sorglose Ausdruck in Liebschers Gesicht zurück. Er nahm noch einen Schluck aus dem Glas, das darauf noch immer nicht leer war. Yvonne und Gerhard Drenckmann sahen sich an. Irgendwas stimmte nicht, denn die Sorglosigkeit des Arztes war nicht gespielt. Es mußte etwas geschehen sein, von dem sie nichts wußten. Der Mann trank den Rest aus dem Glas, und allmählich zeigte der Alkohol auch Wirkung. „Fragen Sie, mein schönes Kind“, schwadronierte er, „fragen Sie die Leute doch!“ „Die Polizei wird es tun“, erwiderte Yvonne. Für Sekunden war sie verwirrt, und sie blickte hilfesuchend zu Gerhard Drenckmann hin, aber der wollte sich offensichtlich nicht an dem Gespräch beteiligen. Sie fuhr fort: 211
„Wir waren schon auf dem Präsidium, Herr Liebscher! Wir haben die Computerunterlagen und die Fotos dort gelassen. Sie glauben doch nicht ernsthaft, daß Sie aus dieser Sache herauskommen.“ „Sie scheinen nicht viel Vertrauen zur Polizei zu haben, denn sonst würden Sie sich wohl kaum in deren Arbeit einmischen.“ „Ich glaube allerdings nicht, daß die Leute allzusehr an den Hintergründen interessiert sind“, erwiderte Yvonne. „Was meinen Sie mit … Hintergründen?“ „Die Ermordung meiner Eltern!“ „Und Sie glauben, ich könnte Ihnen etwas dazu sagen?“ „Ja.“ „Und Sie könnten mich dazu zwingen?“ „Auch das!“ Professor Liebscher schüttelte über so viel Unverfrorenheit den Kopf. „Hören Sie, mein Kind, ich werde jetzt an das Telefon gehen und ein Taxi rufen.“ „Sie werden kein Taxi rufen, Herr Liebscher!“ Auf einmal schien der Arzt genug von dem Spiel zu haben. „Ich möchte sehen, wie Sie mich abhalten wollen“, sagte er und machte einen Schritt auf sie zu. Yvonne Rosenau trug einen karierten Wollmantel in Brauntönen, der von einem Gürtel gehalten wurde. Sie löste die Schlaufe, und die Mantelhälften glitten auseinander. Darunter hatte sie die neue beigefarbene Kordsamthose, die ihr knapp an den Hüften saß. In den Hosenbund hineingezwängt, steckte Professor Liebschers Pistole vom gestrigen Abend. Gerhard Drenckmann beobachtete alles von der Tür her, und plötzlich verstand er, wieso Yvonne bei dem Gespräch mit dem Hauptkommissar Schnabel nichts von dieser Waffe erzählt hatte. Von einer Injektionsspritze war die Rede gewesen, mit der Müller sie bedroht hätte, 212
aber nicht von einer Pistole. Schon zu dem Zeitpunkt mußte sie vorgehabt haben, damit zu dem Arzt zu gehen. Drenckmann selbst hatte das Ding, das unter die Liege in seinem Wohnzimmer rutschte, total vergessen. Erst im Polizeipräsidium erinnerte er sich. Nun beobachtete er, wie Yvonne die Waffe hervorzog. Sie tat es in aller Ruhe, und gerade daran merkte Gerhard Drenckmann, daß sie sich entschlossen hatte, die Pistole zu benutzen. Dies schien auch ins Bewußtsein des Arztes zu rücken. Er war mitten im Schritt stehengeblieben, jetzt machte er den ebenso zurück und lehnte sich gegen den Schrank. Er sah plötzlich kreideweiß aus. Die Waffe war auf ihn gerichtet, und wieder wirkte sie durch den Schalldämpfer, der den Lauf verlängerte, gemein und hinterhältig. Man konnte sie praktisch überall benutzen, wenn man es wollte. Und Yvonne wollte es, sie sahen es an ihrem Gesicht. Alles Maskenhafte war daraus verschwunden, sie schien gelockert und irgendwie befreit. Sie hatte die Schwelle überschritten. Lange war es totenstill im Raum. Dann flüsterte der Arzt: „Sie werden nicht schießen!“ „Warten Sie es ab!“ „Sie können gar nicht umgehen damit!“ „Auch darauf würde ich mich nicht verlassen!“ Sie hielt die Pistole in der rechten Faust und stützte die mit der untergelegten linken Handfläche ab. Ihre Beine waren leicht gespreizt, so hatte sie einen guten Stand. Es sah alles verdammt professionell aus. Nun legte sie mit dem Daumen den Sicherungsflügel um. Das Klicken knallte in die Stille des Raumes hinein. Der Arzt wagte sich nicht zu rühren, aus den Augenwinkeln sah er zu Gerhard Drenckmann hin. „Tun Sie doch was, Mann!“ flüsterte er. „Sehen Sie denn nicht, daß sie verrückt geworden ist?“ Plötzlich hatte Drenckmann Angst, nicht wegen des Arztes, sondern um die junge Frau. Er wußte, daß sie 213
nur um Haaresbreite davon entfernt war, sich in ihr eigenes, nicht wiedergutzumachendes Unglück zu stürzen. „Bitte, Yvonne! Bitte, nicht!“ Auch er flüsterte, genau wie der Arzt. Und dann löste er sich vorsichtig von der Tür. Sofort wanderte die Mündung der Pistole halb in seine Richtung. „Bleiben Sie stehen, Drenckmann!“ Eine Grabeskälte schien aus ihr zu kommen, die sich über den Raum und auf die Männer legte. Der Arzt stöhnte. „Sie ist wahnsinnig geworden.“ Yvonne antwortete: „Ich glaube, ich bin eher zur Besinnung gekommen. Ich habe jahrelang in den Tag hineingelebt, ohne daran zu denken, daß zwischen Ihnen und meinen Leuten viele Rechnungen offen sind.“ „Yvonne –!“ Gerhard Drenckmann zwang sich mit großer Anstrengung zur Ruhe. „Yvonne, doch nicht so!“ „Seien Sie still, Drenckmann, ich will kein Wort hören.“ Sie schaute nicht einmal zur Tür, ihr Blick war auf den Arzt gerichtet. „Haben Sie die Gesichtsoperation vorgenommen? Zuerst einmal das!“ Liebscher antwortete nicht. Er beobachtete die Hand mit der Pistole und sah, wie sich ihr Zeigefinger um den Abzug krümmte. Die ganze Spannung der Frau lag in diesem Zeigefinger. „Ja oder nein?“ fragte sie. Der Mann öffnete den Mund, wollte etwas sagen und konnte es nicht; da kam nur ein knarrendes Geräusch aus ihm heraus. „Ja oder nein?“ Der Mann schluckte schwer, und dann stammelte er: „Rosenau kam zu mir … er bat mich …“ „Dieser Mensch heißt nicht Rosenau, das wissen Sie doch!“ „Bitte, nicht schießen! Nehmen Sie die Waffe weg!“ „Er heißt Klemm! Stimmt das?“ Der Arzt nickte. 214
„Sagen Sie es!“ „Er ist der ehemalige SS-Obersturmführer Walter Klemm! Bitte, nehmen Sie die Waffe weg!“ Für einen Moment war die junge Frau verblüfft; denn nach einem SS-Führer wurde nicht gefragt. Der Arzt hatte sich in seiner Angst verraten. Sie warf einen Blick zu Gerhard Drenckmann hinüber, der bei der Tür stand, unfähig, irgendwas zu unternehmen. Er wußte, daß sie sich von dem Entschluß, die Waffe zu gebrauchen, nicht einen Millimeter entfernt hatte. Auch der Arzt wußte es. Wie gebannt starrte er auf das dunkle Loch in der Mündung. Yvonne sagte: „Klemm kam also zu Ihnen und forderte diese Operation?“ „Ja.“ „Und Sie taten es?“ „Ja.“ „Obwohl es so etwas wie eine schwere Körperverletzung bedeutete. Sie taten es einfach?“ „Ich wollte es nicht, das schwöre ich! Besonders Ihnen, Herr Drenckmann, schwöre ich es! Und ich will es gutmachen. Ich werde Ihnen eine angemessene Summe zahlen, eine hohe Summe! Wir werden uns verständigen. Nur sagen Sie dieser … Frau, daß sie nicht schießen darf!“ Plötzlich konnte der Mann zusammenhängend reden, das bewirkte der Augenblick höchster Gefahr. Und nun sabberten auch nicht nur die Worte aus ihm heraus; es floß reichlich Speichel, lief ihm übers Kinn und tropfte aufs saubere weiße Hemd. Vielleicht hätte man Mitleid haben müssen mit dem alten Mann, aber Gerhard Drenckmann hatte keins. „Sie können gar nichts gutmachen“, sagte er. „Vielleicht kommen Sie davon, wenn Sie die Wahrheit sagen.“ „Das will ich! Das will ich ganz bestimmt!“ Der Mann nickte heftig und übertrieben mit dem Kopf. Sein Blick 215
hing, wie magisch angezogen, an der Mündung der Pistole. „Warum haben Sie die Operation vorgenommen?“ fragte Yvonne. „Also, das war so! Eines Tages kam Ro…, also, da kam dieser Mensch zu mir und sagte, er müsse verschwinden. Und es genüge nicht, daß er irgendwohin ginge, ich weiß nicht, wohin. Die Welt sei klein geworden heutzutage. Sie würden ihn überall finden. Und die Leute, die hinter ihm her wären, hätten Mittel, ihn aufzuspüren. Und deshalb sollte jemand anderer an seiner Stelle sterben. Man müsse eine Leiche präsentieren, die aussähe wie er, damit sich die Leute zufriedengäben. Natürlich habe ich abgelehnt. Dann kam er mit dem Vorschlag, ob es nicht möglich sei, diese Person, also Herrn Drenckmann, mit Informationen aus Klemms Leben zu füttern. Na, und das haben wir dann eben gemacht.“ „Wäre es nicht besser gewesen, Herrn Drenckmann gleich zu töten?“ „Aber nein, Frau Rosenau!“ Der Arzt schaute mit geweiteten Augen auf die Mündung der Pistole. „Liebe, gnädige Frau, hören Sie mir nur eine Minute zu! Solche Informationen unter Hypnose oder unter gewissen Mitteln aus der Reihe der Psycholytika halten niemals vor. Immer setzt sich später, wenn es darauf ankommt, die gesunde Persönlichkeit des Patienten durch. Glauben Sie mir, ich sage es Ihnen als Arzt.“ „Sie wollten diesen Klemm also nur hinhalten?“ „Ja, genau so!“ „Weil Sie glaubten, damit Herrn Drenckmann retten zu können?“ „Jawohl!“ „Aber trotzdem haben Sie operiert? Allein das ist schon ein Verbrechen!“ „Ja, ich weiß. Und ich bereue es tief. Und ich will es gutmachen.“ 216
„Warum haben Sie operiert?“ Liebscher antwortete nicht. „Wie lange kennen Sie diesen Klemm?“ „Er kam vor etwa zehn Jahren in meine Klinik. Er hatte sich hier niedergelassen, und es war sehr bequem für ihn. Er kränkelte. Etwas mit dem Herzen. Angina pectoris, wenn Sie es genau wissen wollen. Ich nahm …“ „Hören Sie zu schwafeln auf … Herr –!“ „Jawohl!“ „Weshalb haben Sie Herrn Drenckmann operiert?“ Liebscher starrte auf die Pistole. Aber größer war die Furcht zu reden. „Weshalb?“ Der Arzt antwortete nicht. Plötzlich stieg kräuselnder Rauch aus dem hochnoppigen Teppich auf, und es begann nach Kordit zu riechen. Das Geräusch war nicht laut, etwa so, als zöge man einen Korken aus einer Flasche, ein leichtes Plopp – nicht mehr. Das Geschoß war direkt vor Professor Liebschers Beinen in den Teppich gefahren. Die beiden Männer starrten entsetzt auf den rauchgeschwärzten Fleck im Teppich. Und sie begriffen, daß Frauen sehr viel eher bis an die Grenze gingen. Und darüber hinweg! Yvonne sagte: „Ich schieße die Wahrheit aus Ihnen heraus, Herr Liebscher! Jede weitere Kugel wird Sie ein Stück töten. Aber langsam, das verspreche ich Ihnen. Und jedesmal wird vielleicht ein Gesicht von meinen Leuten in Ihnen wach, das Sie gekannt haben. Wenn Sie über so viel Phantasie verfügen. Aber in einem können Sie sicher sein: Ich werde Sie zusammenschießen!“ Der Mann rutschte am Schrank, gegen den er lehnte, herunter und kam auf dem Teppich zum Sitzen. Merkwürdigerweise hielt er das Kognakglas noch immer in seiner Hand. Nun stellte er es auf dem Teppich nieder. Dann schlug er die Hände vor das Gesicht und begann zu schluchzen. Er weinte wirklich, und die Tränen ver217
mischten sich mit dem Speichel aus seinem Mund. Es war widerlich. Es war so, als ob sich eine Ratte auf der Flucht in einem letzten Winkel verkröche. „Klemm … hat uns … erpreßt“, stammelte er. „Wen, uns?“ „Handtner und mich!“ Endlich war dieser Name gefallen. Irgendwie schien es auch den Arzt zu erleichtern, er fuhr zusammenhängend fort: „Klemm kam zu uns und sagte, man habe ihn erkannt. Wir müßten ihm helfen. Handtner sollte die Computerunterlagen besorgen, und ich sollte operieren.“ „Wieso konnte Klemm Sie zwingen, so etwas Abscheuliches zu tun?“ „Wir waren …“ Der Arzt schluckte schwer. „Wir waren als Soldaten in Frankreich zusammen. Wir haben in einer Einheit gedient.“ „ ‚Dienen‘ nennen Sie das …? Sie waren bei der SS!“ „Ja.“ „Und Ihr Name ist nicht Liebscher! Richtig?“ „Ja.“ „Sie heißen Kodelke!“ „Ja.“ Der Mann saß mit hochgezogenen Schultern und hatte die Unterarme um den Kopf gelegt, als ob die Schutz vor der Pistole bieten könnten. Gerhard Drenckmann schaute verwirrt auf diesen Haufen Unrat. Was für eine Macht hatten solche Leute gehabt, und wie bedenkenlos hatten sie die ausgeübt! Aber stärker als der Gedanke war seine Angst um Yvonne. Er sah den gekrümmten, nun weiß gewordenen Finger am Abzugsbügel, und er spürte, sie hatte nur einen Wunsch – endlich abzudrücken. Sie sagte: „Sie und dieser Handtner und dieser Klemm sind also für die Gräber an der Demarkationslinie verantwortlich. Sie haben die angelegt!“ „Nein –!“ Es war ein entsetzter Aufschrei. „Nein, ich 218
doch nicht! Und auch der andere nicht. Klemm hat es allein gemacht. Wir erfuhren erst ganz spät davon, erst als schon alles vorüber war, kurz bevor er verschwand. Wir doch nicht! Wir sind unbeteiligt an diesen … Scheußlichkeiten!“ „Weshalb konnte er Sie dann erpressen nach so vielen Jahren?“ „Weil ich bei der SS war. Weil ich nach dem Krieg meinen Namen änderte, darum!“ „Und Sie haben natürlich auch keine Verbrechen begangen in Frankreich?“ „Natürlich nicht! Wo denken Sie hin?“ „Worin lag dann Ihre Profession? Womit haben Sie sich beschäftigt?“ „Ich bin Arzt gewesen, gnädige Frau, ich habe Menschen behandelt.“ „Menschen also! Was für Menschen?“ Der Mann antwortete nicht. Der letzte Rest seiner Kraft war verbraucht. Er hielt die Hände nicht mehr schützend gegen den Kopf, sie lagen zu beiden Seiten des Körpers auf dem Boden. Die junge Frau fragte: „Waren es nicht Häftlinge, die Sie in Lagern hielten? Menschen, die auf den Abtransport nach Polen warteten? Waren die Ihre Patienten?“ Der Mann nickte. „Was haben Sie mit denen gemacht?“ „Ich … ich …“ „Haben Sie die auf ihre Transportfähigkeit überprüft?“ Der Mann nickte. „Und waren sie es? Waren sie transportfähig?“ „Nicht alle …“ „Haben Sie vielleicht welche von ihnen … reiseuntauglich geschrieben?“ „Das … das half nichts! Da kam immer ein höherer Dienstrang. Diese … diese Untersuchungen geschahen der Form wegen.“ 219
„Aber Sie waren Arzt! Verantwortlich für die Gesundheit von Menschen. Dafür wollten Sie ja eintreten. Das hatten Sie ja einmal auf Ihren Eid genommen.“ Der Mann antwortete nicht. „Ist es so?“ Der Mann nickte schwer mit dem Kopf. „Gab es nicht alte Menschen unter diesen Reisenden nach Auschwitz? Waren nicht achtzigjährige Greise darunter?“ Yvonne wartete auf keine Antwort, sie sah, daß der Mann nicht mehr antworten konnte. „Und gab es nicht auch Kinder unter ihnen? Waren die nicht schon von den Eltern getrennt? Waren nicht auch dreijährige Kinder darunter? Schickten Sie die nicht allein auf diese Reise? In einem Viehwaggon? Mit einem trockenen Stück Brot in der Hand?“ Es war soweit! Nun wollte sie den Mann erschießen! Gerhard Drenckmann spürte es, ihr Entschluß lag drückend über dem Raum. Aber manchen Menschen fällt es schwer, selbst Ungeziefer zu töten. Und sie gehörte zu denen. „Yvonne –!“ Drenckmanns Stimme klang leise, aber er merkte, daß sie in ihr Bewußtsein drang. „Yvonne –!“ sagte er noch einmal. Er sah, wie ihre Augenlider zu flattern begannen. Mutiger fuhr er fort: „Du hast nichts davon! Es befreit dich nicht! Was wird morgen sein?“ Drenckmann holte tief Luft, er hatte sehr lange nicht geatmet. „Er soll es auf Tonband sprechen!“ sagte er dann. „Er soll ein Geständnis machen. Ist das nicht besser? Vor allem nützlicher?“ Zum ersten Mal glitt ihr Blick von dem Mann am Boden zu Drenckmann. Für Sekunden schauten sie sich an. Aber vielleicht war es auch eine Ewigkeit. „Wollen Sie es tun?“ fragte Gerhard Drenckmann schließlich. „Wollen Sie alles auf Band sprechen, was Sie uns eben gesagt haben?“ 220
Der Kopf, der auf der Brust des Mannes lag, nickte mehrmals. „Dann stehen Sie jetzt auf! Gehen Sie zum Schreibtisch! Nehmen Sie das Diktiergerät, und sprechen Sie darauf!“ Es kam auf die nächsten Sekunden an. Auf die Reaktion des Arztes. Er begann sich zu bewegen. Er wälzte sich herum und hockte schließlich auf Händen und Füßen. Yvonne schoß nicht! In diesem Moment bewegte sich auch Gerhard Drenckmann. Immer im Blick mit der Frau, ging er langsam auf sie zu. Nach wenigen Schritten befand er sich zwischen dem Mann am Boden und ihr. Als er sie erreichte, fiel sie in seine Arme. Ein trockenes Husten kam aus ihrer Kehle, aber vielleicht war es auch ein Schluchzen. Er nahm ihr die Pistole fort. Dann führte er sie zur Sitzecke, und sie glitt hinab. Dann wandte er sich um. Der Arzt, inzwischen auf die Beine gekommen, lehnte am Schrank. „Was ist los?“ fragte Drenckmann. „Wollen Sie nicht? Es hat sich nichts geändert.“ Der Arzt starrte auf die Pistole, die locker an Drenckmanns Seite herabhing, und dann schaute er in das Gesicht des Mannes. Und da wußte er, daß es so war. Er wankte zum Schreibtisch und ließ sich in den Stuhl dahinter fallen. Er rückte das Diktiergerät vor sich. „Fahren Sie das Band zurück, und dann machen Sie eine Sprechprobe!“ Der Arzt drückte auf einen Knopf, das Band spulte zurück. Er drückte wieder auf einen Knopf, nahm das Mikrofon zur Hand und sprach: „Eins … zwei … drei …“ Er stoppte das Gerät, ließ zurücklaufen und drückte auf Wiedergabe. Sie hörten die Stimme des Arztes: „Eins … zwei … drei …“ Liebscher schaltete das Gerät aus, und es entstand eine Pause. Er sah lange in die Richtung der Pistole, dann 221
nahm er das Mikrofon hoch und begann zu sprechen: „Mein wirklicher Name ist … Karl Kodelke. Ich mache hier eine Aussage. Und ich tue es freiwillig …“
17. Vielleicht wird es ein Kind, dachte Yvonne. Sie lag mit geschlossenen Augen und grübelte. Dann begann sie zu rechnen. Ja, möglicherweise wurde es eins, sie wünschte sich nichts sehnlicher. Schon als ganz junges Mädchen! Und als sie Philip heiratete, dachte sie, nun sei es bald soweit. Aber sie bekam keins. Zunächst wunderte sie sich nur, dann vermischte sich das Gefühl mit Scham. Sie müßten wohl etwas falsch machen, nahm sie an. Yvonne lächelte, weil sie sich erinnerte, wie unerfahren sie damals gewesen war. Schließlich ging sie zum Arzt. Nach der Untersuchung wurde ihr mitgeteilt, daß sie Kinder haben könne und sie solle mal den Herrn Gemahl schicken. Es war ein alter Mann gewesen, Professor und Hofrat oder ähnliches, zu einem jüngeren Arzt hatte sie nicht gehen mögen. Die Konsultation fand in Wien statt. Der Mann hatte ihr die Hand geküßt und freundlich und behutsam mit ihr gesprochen. In der Art vielleicht, wie ein Vater mit seinem Kind spricht. Wenn er ein guter Vater ist. Über den Besuch hatte sie Philip zunächst nichts mitgeteilt. Er steckte damals in einer Inszenierung. Als die schließlich hinter ihm lag – es wurde übrigens ein starker Erfolg –, faßte sie sich ein Herz. Das geschah während ihres Urlaubs in der Steiermark. Sie saßen an einem Abhang, und ihr Blick ging über Wiesen und ein Dorf im Tal. In der Ferne erhoben sich höhere Berge, der Speikkogel darunter, und dahinter mußte Graz liegen. Philip hörte ihr zu, und er war auch interessiert, was 222
nicht allzuoft geschah. Aber sein Interesse galt gar nicht so sehr ihr, das spürte sie bald. Er beobachtete sie wie eine der Personen, die in seinen Stücken auftraten, und er schien zu überlegen, wie dieser Kinderwunsch einer Frau am besten in Szene zu setzen sei. Natürlich würde er die Dekoration verändern, versachlichen. Dieser Sommertag und die dörfliche Idylle waren reiner Kitsch. Nein, man müßte den nackten Gedanken in den Raum stellen. Möglicherweise könnten die Schauspieler auf Stühlen nahe der Rampe sitzen. Und sie schauten sich auch nicht an während des Grundsatzgesprächs. Sie blickten ins Publikum. Nicht der andere müsse Partner sein, sondern vielmehr der namenlose Zuschauer. Yvonne, die ihren Mann beobachtete, wußte nicht genau, was er in jenen Minuten dachte, aber etwas dieser Art mochte es gewesen sein. Und dann hörte sie ihn lachen. Dieses Lachen verletzte sie tief, und sie vergaß es nicht. Und dann hörte sie ihn sagen: „Aber, Chérie, in diese Welt setzt man keine Kinder!“ Sie sprachen übrigens nur französisch, wenn sie allein waren. Yvonne öffnete die Augen, blinzelte zu dem zweiten Kopfkissen neben sich, aber der Platz war leer. Der Mann, mit dem sie die letzte Nacht verbrachte, mußte sich leise fortgeschlichen haben. Sie hatte es nicht bemerkt. Gegenüber in der Ecke lehnte ein Cello an der Wand. Daneben stand ein Tischchen, und darauf lag ein Stoß Notenhefte. Sie sah auch einen Bilderrahmen mit einem Foto und eine Vase mit frischen Blumen daneben. Es mußte seine Mutter sein, dachte sie. Yvonne begann zu lächeln. Dann streckte sie einen Fuß zum Bett hinaus. Es war warm im Zimmer, weil sie die Gasheizung über Nacht nicht ausgestellt hatten. Entschlossen schmiß sie die Bettdecke zurück und stand auf. Sie streckte sich. Dann ging sie zur Balkontür, die einen Spalt offenstand. Sie trat auf einen engen Balkon, eine Steinwand trennte den von der Nachbarwohnung. Neugierig schaute sie 223
hinüber. Die Vorhänge im Zimmer drüben waren vorgezogen. Ihr fiel ein, daß Sonntag war, und ein Blick zur Uhr am Arm zeigte ihr, es wurde gerade acht. Sie begann zu frösteln. Es war ein klarer und ziemlich kalter Herbstmorgen. Sie warf noch einen Blick auf den Hof. Die Häuser standen in einem Rechteck um eine weite Rasenfläche, es gab Platz zum Spielen und zum Wäschetrocknen. Sie fröstelte stärker und ging ins Zimmer zurück. In der Wohnung war es sehr still. Yvonne wanderte durchs Zimmer bis zur Tür, lehnte sich dagegen. Sie hörte keinen Laut. Die ganze Umgebung war ihr ungewohnt und fremd. Schließlich ging sie zur Liege zurück, legte sich nieder und zog die Decke bis unter das Kinn. Sie schloß die Augen. Merkwürdigerweise sah sie nicht das Gesicht des Mannes vor sich, der letzte Nacht neben ihr gelegen hatte. Plötzlich tauchten wieder Philips Züge auf, sie sah sie in eindringlicher Klarheit. „Wie meinst du das, Philip?“ hatte sie ihn gefragt. „Wieso setzt man in diese Welt keine Kinder?“ Dieses Gespräch, ihr letztes Gespräch übrigens, fand Monate später in der Wiener Wohnung statt. Er arbeitete an seiner Molière-Inszenierung vom „Misanthrope“. Eigentlich war er nicht bereit, jetzt über Dinge zu reden, die außerhalb vom Theater und Molière lagen, aber darauf nahm sie keine Rücksicht mehr. Sie forderte die Aussprache von ihm. Und er schien sich auch sofort an ihr Urlaubsgespräch in der Steiermark zu erinnern. Auf seinem Gesicht erschien ein abgeklärtes Lächeln, das Reife und Wissen mehr vortäuschte. Zumindest für ihr Gefühl. Seit einiger Zeit drang ihr Blick immer tiefer in sein Wesen ein. „Was soll heutzutage aus den Kindern werden, Chérie?“ fragte er. Wieder sprachen sie französisch. „Du siehst es an den Jammergestalten in deinem Heim. Wo sind die Leitbilder in der Gesellschaft, damit sie nicht ausflippen?“ 224
„Ich denke mir, du und ich könnten sie unseren Kindern geben.“ „Ma petite –! Denkst du nicht auch, die meisten Eltern wünschen sich das für ihre Kinder? Und kommen die Fixer nicht aus scheinbar geordneten Verhältnissen? Ich muß es dir doch nicht erst sagen, du weißt es besser als ich.“ Er spazierte durch die drei Vorderzimmer ihrer Wohnung am Graben. Die Flügeltüren, die alle Räume miteinander verbanden, standen offen. Er lief gern hin und her, wenn er redete oder nachdachte. Es war beinahe der einzige Auslauf, den er hatte. Kilometer legte er auf die Art zurück. Sie saß still im mittleren Zimmer beim Fenster und sah ihm zu. Beobachtete ihn, wenn er vorbeikam. Jenes Lachen hatte sie schon vor Wochen in der Steiermark tief verletzt, und jene Worte – ‚In diese Welt setzt man keine Kinder‘ – hatte sie wie einen Verrat an sich und ihrer Ehe empfunden. Von dem Tag an sah sie ihn mit anderen Augen. „Wir wollen ja nicht von den Verfolgungen reden, denen unsere Leute permanent ausgesetzt waren“, sagte Philip. „Und ich will dich nicht fragen, woher du die Sicherheit nimmst, daß dieser Antisemitismus, der jetzt nur latent, aber immer gegenwärtig ist, nicht wieder zu Formen eskaliert, wie wir sie erlebt haben. Möchtest du deine Kinder dieser Gefahr aussetzen?“ Yvonne war anderer Meinung, aber über den Punkt wollte sie nicht mit ihm streiten. Sie wußte, daß diese Ängste einem echten Gefühl entsprangen. „Wir wollen auch nicht von der andauernden Kriegsgefahr reden“, fuhr Philip fort. „Und wir können nicht sicher sein, ob nicht einer dieser blödsinnigen Politiker eines Tages durchdreht und auf den Atomknopf drückt. Aber laß uns reden von dem Dreck, den die Menschen in den Himmel jagen und in die Flüsse schicken. Laß uns reden von der Zerstörung der Natur. Von den fehlenden 225
Rohstoffen und der gedankenlosen Vergeudung der letzten Reserven. Und weißt du nicht auch, daß sich die Menschheit in immer kürzeren Abständen verdoppelt? Nur noch wenige Generationen, und sie wird diesen Planeten wie ein Krebsgeschwür erdrückt haben.“ Er blieb dicht vor ihr stehen und sah sie an. Die selbstquälerischen Falten hatten sich tief in sein Gesicht gegraben. „Das meinte ich damit, als ich sagte, in diese Welt setzt man keine Kinder.“ Sie antwortete nicht, erwiderte nur stumm seinen Blick. „Nun sag etwas!“ forderte er sie auf. „Laß es uns klären!“ Yvonne lächelte. „Und wenn morgen die Welt unterginge, so würde ich doch heute einen Apfelbaum setzen!“ „Was soll der Blödsinn?“ „Hat ein großer Mann gesagt.“ „Welcher großer Mann?“ „Ich weiß nicht. König David vielleicht?“ „Du bist unbezahlbar, Chérie!“ Philip lachte, und diesmal war es ein nettes Lächeln. „König David hat sehr schöne Lieder gemacht. Sagt man wenigstens. Aber diesen Schwachsinn vom Apfelbaum hat der Luther erzählt. Kennst du ihn?“ „Ach ja, Philip, ich bin doch auch zur Schule gegangen.“ „Und das Wort von diesem Gojim bedeutet dir etwas?“ „Jedes Wort bedeutet mir etwas, es muß nur wahr sein.“ Darauf sagte er nichts. Er nahm seine Wanderung durch die Räume wieder auf, und sie beobachtete ihn dabei. Sie schwiegen eine ganze Weile. Als er wieder einmal vorbeikam, sagte sie: „Es sind andere Gründe, weshalb du keine Kinder willst.“ „Nenne sie!“ „Du bist im Grunde feige, Philip, und du siehst nur dich! Du bist ganz einfach ein Egozentriker!“ 226
Die Worte verletzten ihn. Sie spürte es, und genau das wollte sie nun auch. Sie wollte ihn treffen. Wieder war er vor ihr stehengeblieben und starrte sie an. „Weiter!“ brachte er schließlich heraus. „Sag alles!“ „Und du scheust dich vor der Verantwortung!“ Er erwiderte beherrscht: „Verantwortung übernehme ich mit jeder meiner Inszenierungen!“ „Das ist nicht viel mehr als Spielerei, Philip, und du weißt es! Und es ist Ausflucht!“ Er starrte sie lange an, wußte nicht, was er antworten sollte. Viel lag ihm auf der Zunge, und nichts davon sagte er. Dann wandte er sich ab und lief in sein Zimmer. Die zweiflügelige Tür schloß er hinter sich. Yvonne blieb noch lange beim Fenster sitzen. Dumpf ahnte sie, daß dieses Gespräch den Schlußpunkt ihrer Ehe bedeutete. Dann erhob sie sich, ging an die Tür und öffnete sie. Sie sagte in die Richtung des Schreibtisches, an dem er saß: „Übrigens meinte dieser Gojim Luther mit seinem Spruch über den Apfelbaum etwas anderes, Philip! Es sollte ein Gleichnis sein. Bis zum allerletzten Ende seiner Zeit wird der Mensch schöpferisch bleiben, meinte er. Er muß es einfach, denn so hat Gott ihn geschaffen. In größter Not und in höchster Gefahr haben Mütter ihre Kinder auf diese Welt gebracht. Auch in den Ghettos und selbst in den Lagern wurden welche geboren. Es ist die wunderschönste aller Hoffnungen! Das meinte jener Goi mit dem Apfelbaum. Es steckt tiefe Weisheit darin!“ Es war gegen halb neun, als Yvonne schließlich aufstand. In dem viel zu großen Schlafanzug, den Drenckmann ihr gegeben hatte, tappte sie durch das Zimmer und trat auf den Flur. Sie hörte nun Geräusche aus dem Haus, aber in der kleinen Wohnung blieb alles still. Die Tür zur Küche stand offen, die zum Bad war geschlossen. Vielleicht steckte er darin? Sie trat an die Tür, klopfte leise. 227
„Hallo, Gérard, bist du hier?“ „In der Badewanne! Schon sehr lange, möchtest du partizipieren?“ Auf ihrem Gesicht erschien ein kleines, nachdenkliches Lächeln. Dann hörte sie ihn wieder: „Ich bin gleich fertig, vielleicht gehst du schon mal in die Küche, trinkst eine Tasse Kaffee, rauchst eine Zigarette. Ich räum’ sofort das Feld.“ „Ist gut, Gérard!“ Ihr Lächeln verstärkte sich, denn auf einmal mußte sie an den anderen denken, an den großen Gérard. Meine Güte, wie weit hatte sie sich mit ihren Männern von dem Schwarm der Mädchenjahre entfernt. Sie spazierte zur Küche und in sie hinein. Die Umgebung war ihr unsagbar fremd, wurde nur ein wenig durch die Wärme gemildert, die aus der Gasheizung kam; sie konnte barfuß laufen. Dann sah sie den gedeckten Frühstückstisch. Die Brötchen lagen aufgeschnitten in einem Korb mit einer Serviette darunter. Marmelade und Käse und Wurst standen auf dem Tisch. Der Kaffee dampfte auf der Wärmeplatte der Espressomaschine. Er hatte nicht einmal die Zigaretten und den Ascher und das Gasfeuerzeug vergessen. Auch eine kleine Blumenvase gab es mit bunten Astern. Der Mann muß ordentlich sein, dachte Yvonne, und das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde immer vergnügter. Aber dann überkam sie so etwas wie Rührung, denn noch niemals hatte ein Mann für sie den Frühstückstisch gedeckt. Sie griff nach den Zigaretten. Er hatte eine frische Schachtel angerissen und die ersten Zigaretten halb hervorgezogen. Sie zündete eine an. Eigentlich rauchte sie nicht vor dem Frühstück, aber in letzter Zeit war ja kaum noch etwas wie gewohnt. Immer mehr gerieten die Dinge außer Kontrolle. Sie goß Kaffee ein, nahm viel Milch dazu, wie sie es von jeher tat. Der Kaffee war aromatisch. Auch das Geschirr gefiel ihr. Es bestand aus Keramik, irgendwie rustikal, mit großen Tassen. Der Mann schien auch Ge228
schmack zu haben. Nachdenklich trat Yvonne ans Küchenfenster. Sie trank in kleinen Schlucken und rauchte. Vor ihr lag eine schmale Wohnstraße. So weit sie blicken konnte, sah sie Autos stehen, heute war Sonntag. Auf dem Damm gab es so gut wie keinen Verkehr. Gegenüber lag das Briefmarkengeschäft; sie erkannte die Eingangstür, die sie bereits auf einem Foto gesehen hatte. „Hallo –?“ sagte er plötzlich hinter ihr. Sie drehte sich herum, und eine Weile schauten sie sich an. Er trug nur Hose und Hemd und sah eigentlich ganz gut aus. Fand sie. Besonders gefielen ihr seine Augen. Den Ausdruck in den Augen eines Menschen, dachte sie, konnte ja ein Fremder nicht verändern. „Etwas ist merkwürdig“, sagte er. „Was, Gérard?“ „Ich scheine in einer Rakete zu sitzen und bin schon Lichtjahre von jener Klinik entfernt. Ich fühle mich einfach wohl. Wird sicher an dem langen Bad liegen. Was meinst du?“ „Sicher!“ „Willst du dich erst frisch machen, oder wollen wir gleich frühstücken?“ „Wenn du mich so akzeptierst?“ „Ich glaube, du gefällst mir in dem Pyjama besonders gut.“ „Dann laß uns essen, denn du mußt Hunger haben. Wasser zehrt ja bekanntlich stark.“ Sie setzten sich. Er reichte ihr die Brötchen und alles andere, und sie beobachtete ihn dabei. Er tat es mit großer Aufmerksamkeit, vielleicht sogar ein bißchen übertrieben, und trotzdem gefiel es ihr. Viel hing von der ersten Stunde am Morgen ab, das spürten beide. Sie waren ziemlich gehemmt. „Dieses Cello –?“ fragte sie schließlich, nur um etwas zu sagen. „Ja, was ist damit?“ 229
„Hast du das Spielen ernsthaft betrieben?“ „Früher schon. Als ich ein Kind war und etwas später noch.“ „Und warum hast du es nicht zu deiner Profession gemacht?“ Er zuckte mit den Schultern, als ob er es wegwischen wollte. Aber sie bestand. „Warum steht es dort, wenn du nicht mehr darauf spielst?“ „Das hat wohl mehr mit meiner Mutter zu tun. Sie wollte, daß ich Cellist würde. Mein Vater übrigens auch, aber irgendwie hat er es falsch angefangen. Später, nach dem Krieg, hab’ ich meiner Mutter noch manchmal vorgespielt. Es war nicht gerade die Art von Konzerten, von denen sie geträumt hatte, aber sie gab sich schließlich zufrieden damit.“ „Wie lange hattest du Unterricht?“ „Zehn Jahre, zwölf? Ich weiß nicht genau.“ „Du hättest mehr daraus machen sollen.“ „Vielleicht.“ „Ist die Musik nicht schöner als eine Beschäftigung mit Briefmarken?“ „Ach, weißt du!“ Er lächelte. „Briefmarken sind niedliche kleine Dinger. Und sehr harmlos.“ Yvonne griff nach den Zigaretten und dem Feuerzeug. Sie tat es umständlich. Dabei fragte sie: „Und im Krieg? Was hast du da gemacht?“ „Glücklicherweise war ich nicht lange dabei, nur knapp zwei Jahre.“ „Und was hast du gemacht?“ „Ich war bei den Fliegern.“ „Bomben …?“ Er lächelte. „Ich versuchte die Engländer zu hindern, daß sie welche warfen.“ „Du warst ein Luftheld?“ „Ich war ein Kind, Yvonne!“ Auch er griff nach einer Zigarette. „Das Scheußliche ist, daß sie immer sehr jun230
ge Menschen losschicken. Sie setzen sie an Apparate, von denen sie nicht mehr begreifen als deren bloße Funktion. In dem Alter sollte man das Leben lernen, und man lernt das Töten! Es hat sicher auch andere gegeben, aber in mir war damals jedes Gefühl gestorben, außer dem Gefühl der Angst. Als ich nach Hause kam, konnte ich lange Zeit nicht in einem Bett schlafen; ich baute mir irgend etwas aus Decken davor zurecht. So war ich es gewohnt. Oft schreckte ich hoch, weil ich die Sirenen hörte, und kletterte in meine Maschine. Manchesmal holte mich meine Mutter vom Küchenschrank herunter. Weißt du, wir hatten damals andere Möbel hier. Entschuldige, daß ich solchen Blödsinn rede. Ich habe selten darüber gesprochen, eigentlich nie, ich weiß nicht, warum ich es jetzt tue.“ Sie schauten sich in die Augen. Viel von dem fremden Gefühl, das sie in dieser Umgebung gespürt hatte, war verschwunden. Sie fragte: „Du hast dann mit deiner Mutter gelebt?“ „Ja.“ „Nicht geheiratet?“ „Das hat sich irgendwie nicht ergeben.“ Sie schauten sich noch immer an. Nein, dachte Yvonne, sie brauchte die letzte Nacht wohl nicht zu bedauern. „Weißt du, in solcher Zeit kann dir Musik etwas bedeuten“, sagte er. „Aber nicht Musik, die du selber praktizierst. Die Arbeit am Cello ist ziemlich hart.“ „Verstehe!“ Yvonne sagte es nachdenklich. Dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus und weckte einen Widerschein auf seinem. Plötzlich klingelte es an der Wohnungstür. „Entschuldige“, sagte er und erhob sich. Aber noch am Tisch blieb er stehen. „Soll ich öffnen?“ „Aber natürlich, Gérard!“ Vielleicht würde es ein Kind, dachte sie und beobachtete, wie er aus der Küche ging. Ihre Eltern kamen aus 231
dieser Stadt, das hielt nun auch sie beinahe für sicher. Es war eine Landschaft, von der sie bisher nichts wußte. Wieso sollte der Vater ihres Kindes nicht von hier stammen? Schon lange Zeit hatte sie den Gedanken, ein fremdes Kind anzunehmen, aber natürlich wäre ein eigenes schöner. Und wenn ihre Wurzeln in diese Stadt reichten, warum sollte dann nicht er der Vater sein? Außerdem würde er niemals etwas davon erfahren. Es würde ganz allein ihr Kind sein! Und dann stand er wieder in der Küche. „Es ist Kommissar Schnabel“, sagte er. „Wo?“ „Im Treppenhaus! Es wäre nicht schlecht, wenn du dir etwas anziehst.“ Sie trat an ihn heran. Ihre Hand glitt über seinen Nacken und die Schultern. Sie fuhr unter sein offenes Hemd und über seine Brust. „Gib ihm eine Tasse Kaffee“, sagte sie. „Ich bin in fünf Minuten soweit!“ Kommissar Schnabel trat in die Küche, schaute lange auf den für zwei Personen gedeckten Frühstückstisch, sog den Kaffeeduft ein. „Möchten Sie eine Tasse?“ fragte Gerhard Drenckmann. „Wäre vielleicht nützlich“, antwortete der dicke Kommissar. Drenckmann schenkte ihm ein. „Milch, Zucker?“ „Von beidem!“ „Bitte, bedienen Sie sich!“ Der Kommissar tat es mit zarten Fingern, rührte um, nahm einen Schluck. „Gut, wirklich gut!“ Er ging mit der Tasse zum Fenster und schaute hinaus. „Wissen Sie, ich hatte in Ihrer Nähe zu tun. Auch so eine merkwürdige Geschichte. Irgendwie scheine ich kuriose Fälle anzuziehen. Ist Ihnen bekannt, daß wir Millionen ausländischer Arbeitskräfte im Lande haben?“ Gerhard Drenckmann nickte. „Können Sie mir erklären, was aus dieser Überfremdung eines Tages werden soll!“ 232
„Zur Zeit habe ich anders gelagerte Probleme, Herr Schnabel!“ Der dicke Kommissar sagte nachdenklich: „Ja, natürlich, Herr Drenckmann, entschuldigen Sie! Na, jedenfalls hatte ich in der Gegend zu tun, und da dachte ich, es könne nicht schaden, wenn ich mal bei Ihnen hereingucke.“ „Und? Haben Sie schon ein erstes Ergebnis?“ Der Kommissar sah sein Gegenüber über die Tasse mit dem dampfenden Kaffee hinweg an. „Vielleicht warten wir, bis auch Ihre reizende Partnerin an dem Gespräch teilnehmen kann.“ „Wie Sie wünschen!“ Drenckmann setzte sich und griff nach den Zigaretten. „Auch eine?“ „Ich rauche nur Pfeife.“ „Na, dann zünden Sie sich doch eine an!“ „Ich habe keine dabei.“ Der fette Mann starrte unglücklich auf den sich kräuselnden Rauch. Schließlich kam er vom Fenster zurück, setzte sich zu Drenckmann und griff nach den Zigaretten. Sie rauchten und schwiegen, und es vergingen noch etwa zehn Minuten, bis Yvonne zurückkehrte. Sie trug die beigefarbene Kordsamthose und eine straff gespannte Bluse darüber. Sie hatte das Haar nach hinten gesteckt, so daß ihre Ohren zu erkennen waren. Merkwürdigerweise wirkte sie so um Jahre jünger, beinahe mädchenhaft. Sie sah sehr gut aus. Sie setzte sich zu den Männern an den Tisch, und Drenckmann schenkte ihr Kaffee nach, schob auch die Zigaretten in ihre Richtung. „Nun, Herr Schnabel?“ fragte sie offensichtlich gutgelaunt. „Was haben Sie uns zu sagen?“ Der Kommissar ließ seinen Blick zwischen beiden hin- und hergehen, sah ihnen tief in die Augen. Fast hatte es den Anschein, als fühle er sich wohl in dieser Küche, aber so ganz sicher konnte man nicht sein. Der dicke Mann war zur Sachlichkeit erzogen und verstand es 233
ziemlich gut, seine Empfindungen zu verbergen. Er antwortete: „Ich kann nicht viel sagen – und vor allem nichts Gutes!“ Schnabel machte eine Pause, und da niemand antwortete, fuhr er fort: „Ich habe noch gestern mit Professor Liebscher gesprochen, spät am Abend. Er kennt Sie beide überhaupt nicht. Sagt er. Hat niemals mit Ihnen zu tun gehabt!“ Yvonne schüttelte ungläubig den Kopf. „Na ja“, meinte sie nach einer Weile und lächelte. „Ich nehme an, Sie haben auch mit dem Pfleger, vor allem aber mit der Assistenzärztin gesprochen.“ Der Kommissar antwortete bekümmert: „Leider nicht, Frau Rosenau! Das ist ebenfalls mysteriös. Die beiden sind nicht greifbar. Für den Moment jedenfalls nicht. Herr Müller ist auf ein verlängertes Wochenende zu seinen Eltern nach Bremen gefahren, und Frau Doktor Reinhardt hat gerade ihren Jahresurlaub angetreten. Danach kehrt sie nach Auskunft des Arztes nicht an ihren alten Arbeitsplatz zurück. Sie wird sich mit einer eigenen Praxis in Flensburg niederlassen. Sagt der Professor.“ „Es muß ihm gelungen sein, die Leute zu bestechen“, sagte Yvonne. Und der Kommissar erwiderte: „Schon möglich.“ Es entstand eine längere Pause. Gerhard Drenckmann war es, der sich zuerst fing. „Wie es im Moment aussieht, werden Sie unserer Geschichte vielleicht gar nicht glauben wollen?“ „Das würde ich nicht sagen, Herr Drenckmann.“ Der dicke Mann lächelte sanft. „Schauen Sie, das alles ist zu ausgefallen, so etwas erfindet man nicht. Haben Sie inzwischen Ihre Personalpapiere entdeckt? Ihren Paß?“ Drenckmann schüttelte den Kopf. „Ist alles verschwunden. Zur Zeit habe ich nur einen internationalen Führerschein auf den Namen David Rosenau.“ Der Kommissar lächelte. „Na, der tut’s schon mal 234
für die nächsten Tage. Nein, warum sollte ich Ihnen nicht glauben? Ich brauchte Sie ja nur den Leuten aus Ihrer Nachbarschaft gegenüberzustellen und mir bestätigen lassen, daß da etwas mit Ihrem Gesicht geschehen ist. Nur, eine Möglichkeit gibt es immerhin, wenn man die Sache von einer ganz anderen Seite beleuchten will.“ „Was für eine Möglichkeit?“ fragte Gerhard Drenckmann. „Na ja, lassen Sie uns mal ein bißchen spinnen!“ Der Kommissar griff nach der Kaffeekanne und goß allen ein. Dabei erklärte er: „Sie hätten sich sozusagen aus eigenem Antrieb das Gesicht operieren lassen können.“ „Bei Liebscher?“ „Nein, natürlich nicht! Irgendwo anders. Kosmetische Chirurgie gibt es überall in Europa, ein Riesengeschäft!“ Gerhard Drenckmann schaute den Kriminalbeamten sprachlos an, und Yvonne fragte endlich: „Wozu hätte er das tun sollen?“ „Na, Sie sind vielleicht ulkig, mein schönes Kind! Um an Rosenaus Geld heranzukommen, versteht sich. Sie hätten beide einen Coup planen können. Vielleicht hatten Sie erfahren, daß Rosenau sich selten im Lande aufhält. Ich hab’ mit seinem Anwalt gesprochen, und er hat mir gesagt, Sie seien bei ihm gewesen. Sie hätten verdächtiges Interesse an Rosenaus Vermögenslage gezeigt. Er habe Ihnen aber keine Auskunft gegeben.“ „Sie glauben aber nicht ernsthaft an solchen Blödsinn?“ fragte Gerhard Drenckmann schließlich. „Nein, nein!“ Der Kommissar rührte in der Kaffeetasse. Und die beiden anderen schauten zu, wie zart er mit dem Löffel hantierte, der zwischen seinen Wurstfingern kaum zu sehen war. „Sie sind wohl nicht der Typ, die Sache auf die Art anzugehen! Mit den Jahren entwickelt man ein Gespür für solche Kandidaten.“ „Natürlich sind wir Ihnen verpflichtet für Ihre nette 235
Meinung über uns, Herr Kommissar!“ Yvonne lächelte ironisch. „Gern geschehen, mein Kind.“ „Außerdem hätten wir ja noch einen Zeugen. Sie erinnern sich wohl an Archie Patters, von dem wir Ihnen erzählten.“ „Natürlich!“ Der Kommissar nickte. „Aber mit dem sind auch merkwürdige Dinge passiert. Er hatte das Appartement in den ‚Vier Jahreszeiten‘ für eine Woche gemietet. Aber am nächsten Morgen reiste er bereits ab. Also direkt nach jenem Auftritt in der Hotelhalle. Er ließ vom Hotel einen Flug nach London buchen. Den trat er jedoch nicht an. Er hat das Ticket auch nicht zurückgegeben, sondern einfach verfallen lassen. Möglicherweise dachte er, wir würden nicht nachprüfen. Ich habe es jedoch getan. Er hat direkt vom Flughafen Fuhlsbüttel eine Maschine nach Frankfurt genommen. Frankfurt gab dann Auskunft, daß er von dort aus eine weitere Buchung vornahm. Erraten Sie, wohin?“ Yvonne starrte den Kommissar an, schüttelte den Kopf. „Nach Rio de Janeiro, Frau Rosenau! Es ist doch wirklich ganz einfach. Er muß schnell herausgefunden haben, daß er mit dem falschen Rosenau gesprochen hat. Er ist also über den Teich gesegelt zum echten. Mir bestätigt nun die Geschäftigkeit des Mister Archie Patters Ihre Version, die sie von der Geschichte geben. Hier scheint wirklich ein ganz großes Ding im Gange zu sein!“ „Wie gut, Gérard“, sagte Yvonne, „daß wir das Tonband mit Kodelkes Geständnis haben!“ Zum ersten Mal zeigte sich der Kommissar überrascht. „Was denn für ein Geständnis?“ fragte er. „Von was für einem Tonband reden Sie da?“ Yvonne erklärte: „Das war so, Herr Schnabel! Gestern nachmittag konnte ich Herrn Drenckmann überzeugen, daß es ganz gut sei, wenn wir noch einmal in die Klinik 236
führen, um mit dem Arzt zu sprechen. Und das machten wir dann schließlich.“ „Und dabei legte der Professor ein Geständnis ab?“ „Ja.“ Der Kommissar schien immer fassungsloser. „Und das tat er freiwillig?“ „Herr Schnabel!“ meinte Yvonne und sah dem Kommissar in die Augen. „Glauben Sie etwa, ich könnte jemand zu etwas zwingen?“ Der Fleischberg seufzte. „Ich will nur hoffen, daß Sie nicht allzuviel Blödsinn angestellt haben. Ich will es für Sie hoffen!“ Yvonne lächelte. „Auf der Kassette spricht er davon, daß er dieses Geständnis aus freien Stücken abgibt.“ „Meine Güte, wo ist sie denn?“ Nun stöhnte der Kommissar. „Wollen Sie die mir wohl endlich zeigen?“ „Sofort, Herr Schnabel!“ Yvonne erhob sich und ging aus der Küche. Minuten verstrichen in brütendem Schweigen, während der Kommissar ein Taschentuch hervorzog und sich die Stirn rieb. Dann kehrte Yvonne mit der Tonkassette zurück, die sie auf den Küchentisch legte. Der Kommissar starrte eine Weile darauf. „Mit seiner Stimme?“ fragte er endlich. „Ja.“ „Und ein Geständnis, sagten Sie?“ Yvonne nickte. Der Blick des Kommissars ging hinüber zu Gerhard Drenckmann. „Und? Werde ich es auch zu hören kriegen? Haben Sie ein Abspielgerät?“ Gerhard Drenckmann ging aus der Küche und kam mit einem Recorder zurück. Er legte die Kassette ein, drückte auf den Abspielknopf. Das Gerät begann zu laufen, aber es geschah nichts. Sie starrten wie gebannt auf den Apparat. Nach einer Weile sagte Yvonne: „Du wirst den Lautregler nicht aufgedreht haben, Gérard!“ 237
Drenckmann fingerte nervös an dem Knopf, drehte ihn ganz nach rechts. Sie hörten ein verstärktes Rauschen, aber sonst nichts. Vor allem nicht Liebschers Stimme. Wieder war es Yvonne, die zuerst sprach, aber jetzt merkten die Männer, wie sehr sie sich zur Ruhe zwang. „Es wird auf der anderen Seite sein, Gérard!“ Drenckmann nickte und ließ das Band vorlaufen. Dabei vergegenwärtigte er sich die Situation vom vergangenen Nachmittag. Er war sicher, daß Liebscher das Band nicht vor-, sondern zurücklaufen ließ. Nachdem der Apparat das Band stoppte, legte Drenckmann die Kassette um und drückte erneut die Wiedergabetaste. Minutenlang starrten sie auf das Gerät. Der Ausdruck in Yvonnes Gesicht vereiste immer mehr. Auch die zweite Seite des Bandes war völlig leer.
18. Gerhard Drenckmann stand die Szene vor Augen, er wußte minutiös, wie es sich abgespielt hatte. Nachdem Liebscher mit seiner Aussage fertig war, ließ er das Band zurücklaufen, nahm die Kassette aus dem Diktiergerät und reichte sie über den Schreibtisch. In diesem Augenblick trat Drenckmann heran, gerade so weit, daß er sie erreichen konnte, und griff danach. Dabei richtete er zum ersten Mal die Pistole direkt auf den Arzt. Er gab die bespielte Kassette weiter an Yvonne, die sie in die Handtasche steckte. Darauf nahm Drenckmann das Magazin aus der Pistole, holte das Geschoß aus dem Lauf und ließ die Waffe auf den Teppich fallen. Sie gingen ohne ein Wort aus dem Sprechzimmer und aus der Klinik. Auf der Fahrt in Richtung Innenstadt beobachtete er Yvonne und sah, daß sie am Ende ihrer Kraft war. Er wiederholte seine Einladung, und diesmal sagte sie zu. Es 238
schien undenkbar, daß sie in den nächsten Stunden allein blieb. Kurz vor der Brücke, die über den Goldbekkanal führte, stoppte Drenckmann den Wagen. Er sprang hinaus, lief auf die Brücke und warf das Magazin und das einzelne Geschoß ins Wasser hinunter. „Kann er die Kassette ausgetauscht haben?“ fragte Kommissar Schnabel nach einer Weile. Gerhard Drenckmann hatte den Recorder längst ausgeschaltet. Er blickte zu Yvonne hin. Stand nicht deutliches Mißtrauen in ihrem Gesicht? „Du hast es doch verfolgt, Yvonne!“ sagte er. „Ja, natürlich!“ Sie versuchte zu lächeln. „Entschuldige, Gérard! Er gab dir die Kassette, und du reichtest sie mir, ich steckte sie in meine Tasche. Es ist also das Band!“ „Und es ist nichts darauf!“ meinte der Kommissar. „Was für eine Sorte Gerät wurde für die Aufnahme benutzt?“ Gerhard Drenckmann überlegte einen Moment. „Nun, es war ein ganz normales Diktiergerät, denke ich.“ „Eingebautes Mikro?“ „Nein, nein! Es befand sich an einer langen Schnur, damit man sich beim Diktieren hin und her bewegen kann. Ich stehe vor einem Rätsel. Wir hatten nämlich vorher eine Mikrofonprobe gemacht und die abgespielt. Wir hörten deutlich seine Stimme, du hast sie doch auch gehört, Yvonne!“ Die junge Frau nickte abwesend; möglicherweise grübelte sie darüber, was sie am letzten Nachmittag falsch gemacht haben könnte. Der Kommissar, der sie beobachtete, meinte schließlich: „Sie sollten sich nichts daraus machen. Solche Tonbandgeständnisse bedeuten nicht viel, vor allem erzwungene tun es nicht!“ Niemand antwortete darauf. Endlich erhob sich der Kommissar, trat ans Fenster und drehte ihnen den Rü239
cken zu. Schließlich sagte er, und seine Stimme klang bekümmerter denn je: „Ich will nicht fragen, auf welche Weise Sie das Geständnis erhielten. Vielleicht hatten Sie eine Waffe in der Hand? Nein, ich will nicht fragen, weil ich sonst auch gegen Sie ermitteln müßte. Und das möchte ich nicht. In keinem Fall möchte ich das gegen Sie, Frau Rosenau! Vielleicht fühlte sich der Arzt bedroht, fürchtete um sein Leben. Und ging scheinbar auf Ihre Forderung ein. Während der Sprechprobe drückte er auf eine Taste am Mikrofon, aber während der entscheidenden Aufnahme dann nicht. Solche Mikros gibt es ja, bei denen während der Aufnahme ein Knopf gedrückt werden muß. Nein, ich will Sie wirklich nicht fragen.“ „Ich hielt eine Pistole in der Hand!“ antwortete Yvonne. „Und wie kamen Sie an die?“ „Der Arzt ließ sie hier, als er mit dem Pfleger auf uns wartete. Er hatte uns damit bedroht.“ „Auf dem Präsidium sprachen Sie von einer Injektionsspritze, aber kein Wort von einer Pistole.“ „Richtig!“ „Sie hatten schon damals vor, mit dem Ding zu dem Mann zu gehen!“ „Ja!“ „Und warum?“ „Ich habe nicht viel Vertrauen zu hiesigen Behörden!“ Darauf blieb es eine Weile still. Schließlich drehte sich der Kommissar herum und sah zu Yvonne hin, die seinen Blick kühl erwiderte. Er seufzte. „Sie scheinen es nicht zu wissen, Frau Rosenau, aber es gibt Leute, die auf einen solchen Zwischenfall nur warten. Wollen Sie sich vor denen ins Unrecht setzen? Vor den Buchstaben des Gesetzes, meine ich. Ich zumindest bin riesig froh, daß ich Sie zu diesem Vorgang gar nicht erst befragt habe. Und jetzt würde ich Sie beide gerne mit mir nehmen!“ 240
„Wohin?“ fragte Gerhard Drenckmann. „In die Klinik! Ich möchte Sie dem Professor gegenüberstellen.“ Sie fuhren im Dienstwagen des Kommissars, den Schnabel selber lenkte. Sie kamen schnell voran, denn an diesem Sonntagvormittag waren die Straßen besonders in den Randgebieten wie leergefegt. Während der Fahrt sprachen sie nicht miteinander. Yvonne und Drenckmann saßen hinten, jeder soweit wie möglich in seine Ecke gerückt. Innerlich jedoch hätten sie gar nicht entfernter sein können. Die Begegnung zwischen ihnen in der letzten Nacht schien es nicht gegeben zu haben. Drenckmann wußte ohnehin nicht genau, wie es dazu gekommen war. Irgendwie zwischen Gesprächen, Schallplatten und einer Flasche Wein geschah es einfach. Und durch das Auftauchen des Kriminalbeamten wurde das feine Gewebe, das gerade entstehen wollte, wieder zerrissen. Sie erreichten den Ginsterbuschweg, fuhren an der Klemm-Villa vorbei, die still und verlassen dalag, rollten die Einfahrt zum. Klinikgebäude hinauf und hielten an. In der Halle trafen sie auf eine Krankenschwester, die Schnabel zu kennen schien. Er sprach kurz mit ihr und erfuhr, daß Professor Liebscher auf Visite sei. Es könne aber nicht mehr lange dauern. Sie führte die Besucher in das Sprechzimmer und ließ sie allein. Gerhard Drenckmann schaute auf die Stelle im Teppich, in die gestern das Geschoß gefahren war, aber er sah weder einen Fleck noch ein Loch. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, daß ein anderer Teppich auf dem Boden lag. Yvonne schien ebenso verwundert wie er. Kommissar Schnabel beobachtete beide. Der Mann mußte ein entwickeltes Einfühlungsvermögen haben, denn plötzlich ging er zu der Stelle und schlug den Teppich zurück. Und da sahen sie das Loch im Kunststoff241
boden. Es war nicht mehr als eine eingekerbte Stelle, das Projektil hatte der Arzt herausgepolkt. Der Kommissar kam ächzend auf die Beine und schaute den Mann und die Frau nur an, er sagte nichts. Kopfschüttelnd ging er zum Schreibtisch. Das Diktiergerät stand an seinem Platz, und das Mikrofon an der langen Schnur befand sich daneben. Der Kommissar nahm es hoch und demonstrierte, wie der Knopf während der Aufnahme hineinzudrücken war. Noch immer sagte er nichts, und Gerhard Drenckmann zuckte resigniert mit den Schultern. Dann blickte er zu Yvonne hin. Vielleicht lag in ihrem Gesicht ein Ausdruck, als gäbe sie ihm die Schuld an der verpatzten Aufnahme, aber so genau wußte er es nicht. Dann trat Professor Liebscher ins Zimmer. „David –?“ sagte er. Es war eine halbe Frage und eine beachtliche schauspielerische Leistung. Im Gegensatz zu gestern hatte sich der Arzt wieder in der Gewalt. „Es ist faszinierend, zumindest auf den ersten Blick. Wenn Sie mich nicht gestern abend vorbereitet hätten, Herr Kommissar, würde ich meinen, Herrn David Rosenau vor mir zu sehen!“ Niemand antwortete darauf; alle wohnten der Vorstellung bei, die ihnen der Mann gab. Er fuhr fort: „Sie sollen sich einer Gesichtsoperation unterzogen haben, mein Herr? Es ist gute Arbeit, soweit ich das beurteilen kann. Wollen Sie mir sagen, welcher Kollege die vornahm?“ Gerhard Drenckmann wurde von der Abgebrühtheit des Arztes allzusehr überrascht, wollte wohl auch gar nicht antworten, und so tat es Kommissar Schnabel für ihn. „Herr Drenckmann behauptet, die Operation sei in dieser Klinik vorgenommen worden.“ „Davon müßte ich wissen, nicht wahr?“ Der Professor schien das Ganze als einen Ulk aufzufassen. „Hören Sie, Herr Kommissar, solche Operationen macht man nicht 242
zwischen Tür und Angel. Der Herr müßte also für einige Tage fest gelegen haben.“ Schnabel antwortete ungerührt: „Vierzehn Tage lang, sozusagen an ein Bett gefesselt! Und er soll täglich mit Rauschmitteln gespritzt worden sein.“ „Ja, ja, Herr Kommissar, das erklärten Sie mir schon gestern.“ Der Arzt zeigte erste Zeichen von Ungeduld. „Nun gehört aber zu einer medizinischen Versorgung eine Reihe von Dienstleistungen. Wir sollten zu den Schwestern gehen und jede einzelne befragen.“ „Herr Drenckmann behauptet, er hätte niemals eine zu Gesicht bekommen.“ „Das klingt abstrus, nicht wahr, um es mal gelinde auszudrücken. Wer besorgt die Sauberkeit im Krankenzimmer? Wer schafft Essen heran, bringt Flasche und Schieber fort? In meiner Klinik sind dafür Schwestern zuständig.“ Der Kommissar antwortete: „Er will während der Zeit nur mit zwei Personen außer Ihnen Kontakt gehabt haben. Einmal mit Ihrer Assistenzärztin und weiterhin mit dem Pfleger Müller.“ „Dann müssen Sie den Müller befragen, Kommissar, nichts einfacher als das!“ „Er ist aber nicht hier.“ „Er ist zu einem Wochenendbesuch in die Bremer Gegend gefahren, und das ist nicht aus der Welt.“ „Wann kommt er zurück?“ „Sein Dienst beginnt morgen früh fünf Uhr. Er muß noch im Laufe des Nachmittags eintreffen.“ „Und Frau Doktor Reinhardt?“ fragte Schnabel. „Können Sie mir inzwischen sagen, an welchem Urlaubsort sie sich aufhält?“ „Es muß irgendwo in Österreich sein, aber wo genau, ich weiß es nicht.“ „Der Entschluß, in den Urlaub zu fahren, kam nicht etwas plötzlich für Sie, Professor?“ 243
„Natürlich nicht! Das ist nirgendwo möglich, schon gar nicht in einem Klinikbetrieb.“ Es entstand ein langes Schweigen, das der Arzt schließlich brach. „Und wie soll es weitergehen?“ Der dicke Kommissar lächelte sanft. „Ich weiß es nicht.“ „Vielleicht kann ich Ihnen helfen?!“ „Das wäre allerdings liebenswürdig!“ „Herr Drenckmann will sich mehrere Tage in meiner Klinik aufgehalten haben. Soll er uns doch das Zimmer zeigen, in dem er gelegen hat.“ „Warum nicht“, meinte der Kommissar seufzend, offensichtlich froh darüber, daß die Sache voranging, „Das wird ganz nützlich sein.“ Der Arzt ging zur Tür, öffnete sie, und Schnabel machte eine auffordernde Geste. Gerhard Drenckmann blieb stehen. Hilflos sagte er: „Ich kann es nicht!“ „Wie –?“ Nun war selbst der Kommissar überrascht. Drenckmann zuckte die Achseln. „Nein, ich kann es nicht! An jenem Abend, als ich die Klinik verließ, war ich ziemlich geschockt. Ich hatte ungeheuerliche Dinge gehört und erfahren. Über mich und über das, was man offensichtlich mit mir vorhatte. Nein, ich kann es beim besten Willen nicht sagen. Ich lief einen Gang entlang, kam an Türen vorbei, schließlich in eine Halle und ins Freie.“ Der Professor lächelte gütig. „Gänge und Türen gibt es in jedem Haus, nicht wahr? Vielleicht liegen die, von denen Sie erzählen, in einem anderen Haus, in einer völlig anderen Stadt?“ „Das Zimmer ist gleich nebenan“, sagte Yvonne. Zum ersten Mal mischte sie sich in das Gespräch. Bis dahin hatte sie die Männer in beinahe fassungslosem Staunen angeschaut. „Ich war mit Herrn Patters zweimal in der Klinik. Wir wurden an ein Bett geführt, in dem Herr Drenckmann lag; allerdings wurde er uns damals als David Rosenau vorgestellt. Ich kann Ihnen das Zimmer zeigen!“ 244
Sie trat auf den Arzt zu, der die Tür freigab, und ging hinaus. Die Männer folgten ihr. Sie hatten es nicht weit. Nur wenige Schritte entfernt befand sich eine weitere Tür, die sie aufstieß. Es war überhaupt kein Krankenzimmer, in das sie blickten! Es standen Sessel und Sitzbänke darin. Auch mehrere Tische, auf denen Illustrierte lagen. Irritiert wandte sich Drenckmann Yvonne zu. „Aber natürlich war es hier!“ erklärte sie und ging in das Zimmer hinein. Dann sah Drenckmann die blauen Vorhänge an den Fenstern. Es gab zwei davon, und genau zwischen ihnen hatte sein Bett gestanden. Wenn die Sonne am Vormittag schien, begann das Blau zu leuchten. Eigentlich mochte er die Farbe nicht, sie war ihm zu kalt, aber dieses intensive und leuchtende Blau im Sonnenlicht gefiel ihm schließlich. Oft und lange starrte er es an, denn es blieb ihm eine Menge Zeit in jenen Tagen, als er hier über sich nachdachte. Das Waschbecken befand sich noch am selben Fleck, nur war jetzt eine spanische Wand davor aufgestellt. Auch der Spiegel hing noch an der Stelle. In ihm hatte er zum ersten Mal dieses Gesicht gesehen, das Gesicht des Mörders. Und das Milchglas der Lampe über der Tür, das während der Nacht rötlich leuchtete. Nein, es war das Zimmer! Professor Liebscher verfolgte alles mit höflichem Interesse, aber der Kommissar fand es nicht der Mühe wert, näher zu kommen. Er lehnte gegenüber an der Wand, hatte die Hände über seinem fetten Bauch gefaltet und grinste still in sich hinein. Und dann rief der Arzt: „Ach, Schwester Beate, wollen Sie einmal herkommen?“ Auf dem Gang erschien eine ältere Krankenschwester. „Bitte, Herr Professor?“ Liebscher machte eine Handbewegung in Richtung des gemütlichen dicken Mannes an der Wand. „Ober245
schwester, können Sie dem Herrn sagen, was das für ein Zimmer ist, vor dem wir gerade stehen?“ „Es ist der Warteraum zu Ihrer Ordination, Herr Professor!“ „Können Sie sich erinnern, daß er jemals anders genutzt wurde?“ Die ältliche Oberschwester sah ihrem Chefarzt seltsam berührt in die Augen. Sie schien zu schnüffeln. Möglich, daß sie ihn für betrunken hielt, aber sie sah ihn nur an der Tür lehnen und freundlich lächeln. Ihr Blick ging hinüber zu dem übergewichtigen Mann, und der lächelte ebenso. „Dies ist immer der Warteraum für Ihre ambulant zu behandelnden Patienten gewesen“, erklärte sie feierlich. Alle spürten, daß sie die Wahrheit sprach. Auch Gerhard Drenckmann, der wieder einmal glaubte, an sich und den Umständen irre werden zu müssen. Und dann fühlte er plötzlich den Blick der Oberschwester, die sich ihm zuwendete. Auf dem ältlichen Gesicht breitete sich Lächeln aus. „Aber das ist eine Freude, Sie einmal wiederzusehen, Herr Rosenau!“
19. „Ich weiß nicht, was du dir denkst, Gérard! Meinst du, wir könnten uns auf die Insel deiner kleinen, niedlichen Wohnung zurückziehen, während die Kriminalpolizei ermittelt? Wenn sie es tut? Glaubst du, wir könnten inzwischen so eine Art Idylle haben? Eine love-story? Sag mir, was du dir gedacht hast!“ „Ich weiß es nicht!“ antwortete er. „Irgend etwas mußt du dir denken!“ Das klang unsagbar verächtlich. Er nahm es hin. Und da er es tat, explo246
dierte sie plötzlich. „Ihr deutschen Männer! Steht da in der Klinik vor dem Verbrecher, seht der widerlichen Theateraufführung zu, die der Mann veranstaltet, und tut nichts! Einfach nichts! Der Gedanke, daß mein Vater Deutscher war, macht mich krank!“ „Dein Vater war Jude!“ „Wenn David Rosenau mein Vater war, hat die Familie hier gelebt. Er war also Deutscher, oder wie siehst du das?“ „Er war es!“ Gerhard Drenckmann stand am Fenster in der Küche und schaute ihr beim Packen zu. Sie hatte alles herbeigeholt, was sie gestern gekauft hatte. Die Blusen und die Unterwäsche und das Kleid, das sie trug, ehe sie die beigefarbene Kordsamthose anzog. Sie war im Begriff zu gehen. Kommissar Schnabel hatte sie in die Semperstraße zurückgebracht. Die Gegenüberstellung in der Klinik hatte nichts ergeben, und die Rückfahrt verlief in ebenso eisigem Schweigen wie die Hinfahrt. Sie fragte: „Wie soll es weitergehen?“ „Du könntest hierbleiben“, antwortete er, obgleich er wußte, daß sie etwas anderes meinte. „Ich kann nicht mit dir schlafen, wenn du dir in dieser Richtung etwas ausgerechnet hast.“ „Ich bin kein großer Rechner.“ „Wie ist es überhaupt dazu gekommen?“ „Ich weiß es nicht!“ Sie schaute ihn an und sah, er wußte es wirklich nicht. Und dann dachte sie daran, daß es ihr ebenso erging. Sie begann zu lächeln. Und dann spürte sie plötzlich den Stich in der Leistengegend. Nein, es war der Unterleib! Meine Güte, wenn sie schwanger war! Immer noch Auge in Auge mit ihm, sagte sie sich, dieser Gedanke sei völlig blödsinnig am ersten Tag danach. Sie schimpfte sich eine hysterische Ziege. Aber der Schmerz im Unterleib hielt an. Sie mußte sich sogar setzen. An den Frühstückstisch, wo noch das Geschirr vom Vormittag stand. 247
Gerhard Drenckmann hatte schon eine Weile unglücklich darüber hingeblickt. Sie griff nach der Kaffeekanne, in der noch ein Rest war. „Soll ich frisch machen?“ fragte er. Sie antwortete: „Ich will überhaupt keinen Kaffee trinken!“ Meine Güte, wenn es ein Kind würde! Natürlich müßte sie das alles aufgeben – Kaffee und Zigaretten und Alkohol! Wenn es ein Kind würde! Oh, mein Gott! „Aber es macht doch gar nichts aus, und es geht schnell!“ „Ich will keinen Kaffee!“ Es verstrich eine ganze Zeit, in der sie sich in die Augen sahen, dann fragte sie: „Was bist du eigentlich für ein Mensch?“ Er zuckte mit den Schultern, weil er nicht wußte, was er darauf antworten sollte. „Fühlst du nicht, daß du etwas unternehmen müßtest?“ fragte sie. „Man setzt dir diese Maske auf. Erklär mir, wie du weiterleben willst damit!“ Er lehnte stumm gegen das Fensterbrett, hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und starrte zu Boden. Sie fuhr fort: „Zweimal stehst du dem Mann gegenüber, und es geschieht von deiner Seite nichts. Wirklich, du hättest ihm nur noch die Hände schütteln und dich bedanken müssen. Und wie war es in den Jahren davor? Komm, sag mir das! Hast du all die Orte bereist, die du auf der hübschen Karte markiert hast?“ An der Wand über dem Küchentisch hing eine Abbildung mit den beiden Hälften der Erdkugel. Von Hamburg aus führten Schnüre zu den verschiedensten Punkten der Erde, die mit Stecknadeln befestigt waren. Die Nadeln trugen große, bunte Köpfe, auch die Schnüre waren von verschiedenen Farben. Gerhard Drenckmann hatte die Arbeit mit offensichtlicher Liebe ausgeführt. 248
„Ich habe geschäftlichen Kontakt mit Leuten in jenen Städten.“ „Was für einen geschäftlichen Kontakt?“ „Briefmarken! Sammler gibt es überall auf der Welt.“ Er lächelte. „Bist du selber auch mal hingereist zu all den Punkten?“ „Nein.“ „Hast immer still in deinem Laden gesessen und in deiner Wohnung, wo alles so ordentlich ist, nicht wahr? Ich will dir etwas sagen, obwohl du es sicher nicht gerne hörst! Irgendwann hat dein Leben einen Knacks bekommen, und du hast dich nicht davon erholt. Du hast dich in dich selbst verkrochen und aufgegeben. Weißt du, daß du ein entsetzlich feiger Mensch bist? Du siehst dich und deinen Kummer wie alle Egozentriker. Und du willst auch keine Verantwortung übernehmen für den Umkreis, in dem du lebst. Dein Leben ist Ausflucht, merkst du das nicht? Du bist ein Versager. Dir genügt dein Theater, und du glaubst, das sei die Welt. Sie ist es aber nicht. Es ist nur eine Vorstellung davon, und oft eine falsche!“ Sie schwieg überrascht und sehr verwirrt. Und dann drang in ihr Bewußtsein, daß sie die ganze Zeit über mit Philip gesprochen hatte. Sie hatte zwar den Mann beim Küchenfenster angesehen, aber gemeint hatte sie den anderen. Eine Weile blieb es still. Drenckmann stand immer noch mit vergrabenen Händen da und starrte zu Boden. Er antwortete nicht. Schließlich erhob sie sich und trat an ihn heran. „Entschuldige, Gérard, ich bin ungerecht!“ Mit den Fingerkuppen fuhr sie ihm sacht über Stirn und Wangen. „Und es ist nicht dein Gesicht, das mich stört, obwohl es auch für mich ein bißchen kompliziert ist. Als ob man ein Buch in einer fremden Sprache liest und dauernd übersetzen muß. Nein, stören tut mich etwas anderes an dir.“ 249
Er hob den Blick und sah sie an. Sie erkannte den Kummer in seinen Augen und auch etwas von einer Sensibilität, die ihr gefiel. „Bring mich jetzt in meine Pension, Gérard! Ich find’ mich schwer zurecht in dieser Stadt.“ Der Klemm-Mercedes stand noch immer vor der Haustür in der Semperstraße, niemand schien sich für den zu interessieren. Drenckmann tat es auch nicht. Sie setzten sich in den Opel und fuhren los. Sie brauchten nicht einmal zehn Minuten bis zu der kleinen Pension an der Außenalster. Als sie ankamen, griff Yvonne nach den Einkaufsbeuteln auf dem Rücksitz, stieg dann aber doch nicht aus. „Du wirst sehen“, sagte sie, „daß dieser Arzt davonkommt.“ „Das möchte ich nicht glauben.“ „Schließlich wird der Fettsack von einem Kommissar nichts unternehmen.“ „Ein bißchen Zeit müssen wir ihm schon lassen, finde ich. Bis er mit dem Pfleger und der Ärztin gesprochen hat.“ „Die sind bestochen, Gérard, hast du es nicht mitgekriegt? Auf den erbärmlichen Patters können wir auch nicht rechnen, und so steht deren Wort gegen unseres. Nein, er wird davonkommen, und ich wünschte, ich hätte gestern nachmittag abgedrückt.“ „Du hättest es gar nicht können! Deine Vorstellungskraft ist zu groß und dein Mitleid schließlich auch.“ Sie zerdrückte heftig den Rest ihrer Zigarette, dann stieg sie aus. Sie öffnete das große Eisentor und schloß es von der anderen Seite. Dann lief sie über den Plattenweg auf die Pension zu. Sie hatte sich nicht von ihm verabschiedet, winkte nicht und drehte sich auch nicht um. Er starrte ihr nach, ohne die geringste Lust, nach Hause zu fahren. Liebte er diese Frau? Möglich, aber er wußte es nicht genau. Die merkwürdigen Umstände ih250
rer Begegnung konnten so ein Gefühl vielleicht entstehen lassen. Sie war schon seit einer Weile verschwunden, und er saß noch immer regungslos hinter dem Lenker. Er grübelte. Was hatte sie nur vorhin mit dem Theater gemeint? Wieso sollte ihm die Welt seines Theaters genügen? Er war doch kein Schauspieler. Und er hatte auch nichts übrig dafür. Hin und wieder ging er mal ins Kino, aber im Schauspielhaus war er vielleicht vor fünfzehn Jahren zuletzt gewesen. Gerhard Drenckmann seufzte. Trotz der Mühe, die er sich gab, fiel es ihm schwer, diese Frau zu verstehen. Während der folgenden drei Tage sah er Yvonne Rosenau nicht wieder. Den Kriminalkommissar Schnabel übrigens auch nicht. Gerhard Drenckmann selbst verhielt sich im Rahmen jenes Musters, das Yvonne von ihm gestrickt hatte. Sein Weg führte ihn aus der Wohnung in den Laden und zurück. Er suchte nicht die Geschäfte in der Umgebung auf, um einzukaufen, und er ging den Nachbarn aus dem Weg. Er hatte nicht die geringste Lust, Fragen nach seinem veränderten Aussehen zu beantworten. Er versorgte sich aus der Tiefkühltruhe, die prall gefüllt war, und Luft schnappte er am Abend, wenn es dunkel wurde. Meist lief er den Goldbekkanal hinauf zum Wiesendamm und den entlang bis zur Meerweinstraße. Dort stand noch die alte Volksschule, in die er als Siebenjähriger kam. Auf dem gewohnten Schulweg spazierte er in seine Wohnung zurück. Viel ging ihm durch den Kopf. Schließlich dämmerte ihm, daß es sich um eine Art von Bilanz handelte; er war dabei, die Dinge seines Lebens gegeneinander aufzurechnen. Auch an Yvonne dachte er, ihr Gesicht stand mit überdeutlicher Klarheit vor ihm. Dabei tat er eine ganze Menge. Stöße von Post hatten sich angesammelt, und die beantwortete er. Allen Ge251
schäftsfreunden teilte er mit, daß er sich in der kommenden Zeit nicht in der Lage sähe, irgendwelche Aufträge zu übernehmen. Am Abend des zweiten Tages kramte er seine Geschäftsbücher hervor, sah auch die Konten durch. Alles wurde zwar höchst ordentlich geführt, aber über die Höhe der Summen hatte er sich nie Gedanken gemacht, wahrscheinlich deshalb nicht, weil Geld ihm wenig bedeutete. Wie kam es nur, daß sich solche Beträge angesammelt hatten? Am Morgen des dritten Tages stand er in der Küche und starrte auf die Karte mit den beiden Erdhälften. Der Frühstückstisch war bereits gedeckt, das tat er immer ordentlich, auch wenn er meistens allein daran saß. Sein Blick fixierte immer wieder den Punkt in Südamerika, zu dem auch eine der farbigen Schnüre hinführte. Rio de Janeiro. Er hatte dort den Senhor Sanchez sitzen. Es war derselbe Mann, der David Rosenau den Brief mit der Sondermarke und die mexikanischen Einzelwerte ins Krankenhaus geschickt hatte. Manchmal vollführte das Leben die tollsten Kapriolen. Gerhard Drenckmann nahm die Kanne von der Espressomaschine und schenkte ein. Senhor Sanchez würde sich bestimmt über seinen Besuch freuen, und er würde ihn auch mit David Rosenau zusammenbringen können. Mehr als dem Arzt gab er jenem Mann die Schuld an allem. Und wenn man überhaupt an so etwas Abgeschmacktes wie Rache denken wollte, meinte er, ging es nicht um ihn und sein verändertes Gesicht als vielmehr um den SS-Mann Klemm und um das, was der vor langer Zeit verbrochen hatte. Dann fiel ihm schließlich der junge Engländer aus dem Jahre vierundvierzig ein. Sie waren sich in dreitausend Meter Höhe begegnet und saßen beide in ziemlich engen Kisten. Als die Spitfire Feuer fing und mit einer gewaltigen Rauchfahne wegsackte, hatte er für Sekunden in das verzerrte Gesicht des Piloten geblickt. Ein 252
junger Bursche, nicht älter und nicht erfahrener als er selbst. Er, Drenckmann, hatte nur ein kleines bißchen mehr Glück gehabt. Arme Yvonne, dachte er und sah sie mit der Pistole vor dem Arzt stehen. Sie hatte sich verzweifelte Mühe gegeben, das Ding abzudrücken. Nein, auch das Töten wollte gelernt sein. Nach dem Frühstück suchte Drenckmann aus dem Werkzeugkasten in der Speisekammer eine Kneifzange hervor. Er montierte die vielfarbigen Schnüre ab, die Hamburg mit der übrigen Welt verbanden, und ordnete sie sorgfältig mit den Stecknadeln zusammen in eine leere Zigarrenkiste. Die Karte nahm er von der Wand, rollte sie zusammen und stellte sie in eine Ecke. Dann klappte er die Zigarrenkiste zu und wußte nicht, wohin damit. Schließlich warf er sie in den Abfalleimer. Nachdem er den Deckel draufgelegt hatte, hochkam und sich umwandte, sah er den leeren Fleck über dem Küchentisch. Das gab ihm einen schmerzenden Stich. Minutenlang wanderte er durch die Wohnung, bis er plötzlich einen Einfall hatte. Er suchte ein Plakat hervor und heftete es an die leere Stelle. Es war die Abbildung eines Cellos und zweier Hände. Die eine hielt gespannt den Bogen, die andere lag flach über den Saiten. In der Darstellung drückten sich Ruhe und Bewegung zugleich aus. Den unteren Teil der Graphik füllte der Name – Pablo Casals. Es war die Vorankündigung eines Konzerts, das er besuchte, und weil ihn das Plakat damals so beeindruckte, hatte er es sich besorgt und aufgehoben. Zufrieden verließ Gerhard Drenckmann seine Wohnung. Der Vormittag verlief still und friedlich. Wie gewohnt. Kein Telefon und keine Nachricht von der Kriminalpolizei, daß die Ermittlungen in Gang gekommen seien. Die ersten Kunden betraten am Nachmittag den Laden, drei kleine Rotznasen aus der Nachbarschaft. Sie begannen in den Kartons mit den Abfallmarken zu kramen und fragten nach Herrn Drenckmann. 253
Das ginge schon in Ordnung, sagte er ihnen, er sei die Vertretung. Er saß still da und sah zu, wie sie mit ihren nicht sehr sauberen Fingern in den Marken wühlten. Und dann bimmelte die Ladenglocke erneut. Das war so ungewöhnlich, daß selbst Gerhard Drenckmann aufblickte. Und da stand sie plötzlich mitten in seinem Geschäft. „Sie haben hier Briefmarken zu verkaufen, nicht wahr?“ fragte Yvonne. „Das steht draußen dran, gnädige Frau!“ „Na, dann zeigen Sie mir mal welche!“ „Und an was haben Sie da so gedacht? Soll es etwas Besonderes sein?“ „Natürlich, was meinen Sie denn? Ich möchte eine vom Kilimandscharo. Natürlich weiß ich nicht, ob Sie solche führen.“ Er griff beinahe blindlings in ein Regal hinter sich und zog ein Steckalbum hervor. Er schlug eine Seite auf, und sie beugte sich darüber. Sie war wirklich überrascht, denn sie sah viele Abbildungen von jenem Berg, den die Afrikaner den Berg des bösen Geistes nennen, in vielfältigen Ausgaben aus verschiedenen Ländern. In diesem Album hatte Drenckmann die Marken nach Sachgebieten geordnet. Es war nur ein kleiner und etwas billiger Triumph, aber er kostete ihn voll aus. Sie kam hoch mit den Augen, und sie sahen sich an. Und im selben Moment begannen sie zu lächeln. Auch die Jungs hatten sich über die Seiten gebeugt und blätterten weiter. Drenckmann nahm ihnen das Album weg. „Die hier sind etwas teurer“, sagte er. „Außerdem habt ihr eure Marken; nehmt sie und verschwindet!“ „Wir haben noch nicht bezahlt.“ „Das tut ihr doch nie.“ „Ja, bei Herrn Drenckmann!“ 254
„Er hat mir gesagt, daß ich euch kein Geld abknöpfen darf.“ Sie gingen zögernd hinaus, und die Ladenglocke bimmelte. Yvonne blickte ihnen durch das Schaufenster nach. Sie hatte genau den Ton im Ohr, in dem er mit den Kindern gesprochen hatte. Erst nach einer Weile drehte sie sich um, und er wunderte sich über den Ausdruck in ihrem Gesicht, den er nicht deuten konnte. „Hast du heute Zeitungen gelesen?“ fragte sie schließlich. „Nein.“ „Tust du es jemals?“ „Selten.“ Sie sahen sich an und schwiegen. Er war sehr froh, daß sie gekommen war. „Ich würde gern einen Kaffee trinken bei dir, du kochst ihn so gut. Aber du wirst nicht wegkönnen, mitten in der Geschäftszeit?!“ „Ach, weißt du“, sagte er und begann zu lächeln, „ich fühle mich als freier Unternehmer. Ich kann kommen und gehen, wann ich will.“ Als sie in die Küche traten, fiel ihr sofort das Plakat von Pablo Casals auf, es hing ja auch direkt über der Espressomaschine. Sie sagte kein Wort. Unterdessen setzte er Wasser und Kaffeepulver an, dann reichte er ihr die Schachtel Zigaretten, beobachtete, wie sie zögerte, schließlich aber doch eine nahm. Mit der Zigarette ging sie durch die Wohnung, stiefelte ungeniert in den Räumen umher. Er folgte ihr. Merkwürdigerweise trug sie keine Hose an diesem Tag, sondern einen Rock mit Bluse. In dem Balkonzimmer erblickte sie das Kursbuch auf dem Couchtisch neben der Liege. Die Seite mit den Flügen nach Südamerika war aufgeschlagen, die Stadt Rio de Janeiro rot unterstrichen. „Willst du verreisen?“ fragte sie endlich. „Ja, ich denke!“ 255
„Was willst du dort?“ „Ach, sieh mal …“ „Was –? Was soll ich sehen?“ Er wußte nicht, wie er es ausdrücken sollte. Sie sagte schließlich: „Ich will nicht, daß du dort hinfliegst! Außerdem ändert es kaum etwas!“ Sie kam auf ihn zu, und er fühlte, wie sie ihn küßte. Er stand starr und steif. Dann hörte er sie sagen: „Wenn du ihn übrigens treffen willst, brauchst du nur nach London zu reisen!“ Sie ging zum Tisch und breitete das „Hamburger Abendblatt“ aus. Auf der ersten Seite fand sich ein kleiner Kasten, allerdings mit dem Hinweis auf den Wirtschaftsteil im Inneren der Zeitung. In dem Kasten stand: „David Rosenau verkauft sein Imperium“. Drenckmann blätterte weiter. In einem ausführlichen Bericht las er, daß der Unternehmer von Rio de Janeiro nach London geflogen sei. In langen Verhandlungen habe er die Aktienmajorität an seinen Werken an einen bekannten britischen Konzern verkauft. Drenckmann las alles Wort für Wort, dann sagte er: „Der Weg nach London ist viel kürzer!“ Er fühlte ihre Brust an seiner. Und dann hörte er sie sagen: „Vielleicht solltest du dir mehr Gedanken über die Länge des Weges zwischen uns beiden machen, findest du nicht auch?“
20. „Es ist eine ungeheuerliche Geschichte! Wie konnten diese Männer nur annehmen, sie würden damit durchkommen?“ Der alte Herr saß, in Decken gehüllt, auf der Terrasse seines Bramfelder Hauses. Es war einer der letzten lau256
en Abende in diesem Herbst. Neben ihm stand eine Flasche Rotwein und ein Glas, und er rauchte die große Havanna, die ihm sein Sohn als Geschenk mitgebracht hatte. Der alte Herr war bereits über achtzig, aber noch immer von geistiger Frische und Klarheit. Manchmal kam der Hauptkommissar Schnabel in sein Elternhaus, wenn er nicht recht weiter wußte. Dabei ging es ihm nicht sosehr um den Rat des Vaters als vielmehr darum, die eigenen Gedanken zu entwickeln und auszusprechen. Der alte Herr war ein guter Zuhörer. „Du beguckst die Geschichte von der falschen Seite, Vater“, meinte er und fummelte an seiner Dunhill. Es wehte leichter Wind, und er versuchte es gerade mit dem dritten Streichholz. „Du mußt es von der Seite des Täters sehen, und zwar zu dem Zeitpunkt, da er seinen Coup plant. Und wäre er gelungen, hätte die Sache beinahe alles von ihrer Ungeheuerlichkeit verloren. Da wäre nur ein bedeutender Unternehmer nach einem Unfall in einer Hamburger Klinik verstorben. Eine Trauerfeier mit Pomp und Trara, ein Nachruf in den Zeitungen und im Fernsehen. Aus! Ende! Eine Woche später hätte die Öffentlichkeit den Vorgang vergessen.“ Der alte Herr schnüffelte am Rotwein und dachte nach. „Eines kann ich nicht verstehen. Wieso sind die beiden anderen das Risiko eingegangen und haben den Klemm unterstützt? Sind doch respektierliche Männer, wenigstens heute, dieser Arzt und der andere, der die Computerunterlagen besorgte. Wer ist das überhaupt?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete Schnabel. „Sitzt vielleicht im Bundeskriminalamt oder beim Verfassungsschutz. In irgendeiner Landesregierung? Ich weiß nicht. Aber er muß Einfluß haben, wenn er an den Computer herankam.“ Der Kommissar sah den alten Herrn über die Dunhill hinweg, die nun endlich brannte, an. In seinem Gesicht lag ein leicht zweiflerischer Ausdruck. Er fuhr fort: „Übri257
gens, respektierliche Leute sind sie ja nun nicht, Vater! Immerhin änderten sie nach dem Krieg ihre Namen, und das tut keiner ohne Notwendigkeit. Klemm wird sie erpreßt haben, und so mußten sie sich auf die Sache einlassen. Und als Drenckmann aus der Klinik fliehen konnte, gerieten sie in Zugzwang. Das ist übrigens auch der Aspekt, unter dem du den Mord an dem Pfleger Müller betrachten mußt.“ Ja, es war ein Mord geschehen! Nicht ein geplanter wie bei Gerhard Drenckmann, sondern ein vollendeter diesmal. Der fette Kommissar erfuhr davon, als er nach einer durchwachten Nacht in seinem Dienstzimmer erschien, in der Poppenbütteler Privatklinik anrief und den Pfleger Heinz Müller zu einer Befragung ins Präsidium bestellen wollte. Es wurde ihm lapidar mitgeteilt, daß der Mann auf der Rückfahrt von Bremen tödlich verunglückt sei. Kommissar Schnabel starrte lange auf das Telefon. Er führte einen Kampf mit sich. Eigentlich war er nur ins Amt gekommen, um einen Abschlußbericht zu schreiben; dann wollte er nach Hause und ins Bett. Er fühlte sich unendlich müde. Gerade in den Morgenstunden hatte er einen Fall abgeschlossen. Darin waren ein Oberstaatsanwalt sowie dessen Tochter und ein Barkassenführer aus dem Hafen verwickelt gewesen. Die letzten Tage hatten ihn herumgewirbelt, und er brauchte endlich Schlaf; nicht einmal die Dunhill schmeckte ihm. Was sollte er also tun? Eine reichliche halbe Stunde, in der er zu dösen schien, verbrachte er hinter dem Schreibtisch, darauf bestellte er über die Sprechleitung einen Kaffee. Nicht diesen Pansch aus dem Automaten, sondern einen Mokka, in dem der Löffel stand. Als er sich den einverleibt hatte, fühlte er sich besser, zumindest redete er sich das ein. Er orderte den Dienstwagen und fuhr über die Autobahn nach Bremen hinüber. Die Eltern des Pflegers wohnten am Rande der Stadt, 258
dort, wo sich deren Ausläufer vorsichtig in mooriges Gebiet hineintasteten. Auf dem Grundstück stand ein einfaches Häuschen, mehr eine Kate. Davor saßen die alten Leute in der Herbstsonne, die kaum noch Wärme gab. Die Frau in ihrem dünnen Trauerkleid fröstelte. Eine abgründige, unausweichliche Kälte schien sich in ihr ausgebreitet zu haben. Ohne Interesse blickten die beiden dem fetten Kommissar entgegen. Die von der Behörde seien bereits dagewesen, meinte der alte Mann, man sollte sie endlich in Ruhe lassen. Er käme aus Hamburg, erwiderte Schnabel, suche sie auf Bitten von Professor Liebscher auf, sein Kommen sei also mehr privater Natur. Der Name des Poppenbütteler Klinikchefs zauberte so etwas wie einen freundlichen Schimmer auf das zerknitterte Gesicht des Mannes. Nur die Frau an seiner Seite reagierte nicht. In ihrem Schoß lag ein Taschentuch, das sie mit den Fingern knetete. Es hatte eine umhäkelte Spitze, wahrscheinlich Handarbeit, und die war das einzige Farbige an ihr. Der Kommissar hatte sich einen Hocker in die Nähe der Bank gerückt und vorsichtig darauf niedergelassen. Ebenso vorsichtig stellte er seine Fragen. Ja, der Heinz sei ihr einziges Kind, erklärte der Mann, ein anhänglicher und vor allem anständiger Junge. Niemals habe er ihnen Schande gemacht. Gerade deshalb hätten sie die Fragen, die die von der Behörde stellten, so empört. Natürlich habe der Heinz vor der Rückfahrt keinen Alkohol getrunken oder Tabletten eingenommen. Der schwergewichtige Kommissar nickte mehrmals, dann verlagerte er sein Gewicht von der einen Seite auf die andere. Er war dankbar für den harten Schemel; zumindest hinderte der ihn, übermüdet wie er war, ganz einfach einzuschlafen. Unterdessen fuhr der alte Mann fort. Immerhin müsse jedoch etwas passiert sein mit ihrem Sohn. Aber was? 259
Es herrschte kein besonderer Verkehr zu dieser frühen Nachmittagsstunde, und der Heinz kannte jeden Kilometerstein auf der Strecke. Wie habe er da gegen eine Autobahnbrücke rennen können? Das sei ein völliges Rätsel. Kommissar Schnabel fragte, ob sich der Heinz während seines Hierseins tatsächlich wohl gefühlt habe? Ja, natürlich! Oder ob vielleicht sonst etwas Bemerkenswertes vorgefallen sei? Nein! Bis auf den unangemeldeten Besuch am Vormittag sei nichts Außergewöhnliches passiert. Auf einmal war der Kommissar, dessen Kopf immer tiefer gesunken war, hellwach. Er hob die Lider, wobei die Augen jedoch den eher schläfrigen Blick beibehielten. „Was für ein Besuch – Mann oder Frau?“ fragte er. Und: ob er die Person gekannt habe. Der Alte schüttelte den Kopf. Er nähme sogar an, daß der Herr selbst seinem Sohn fremd gewesen sei. Der käme aus anderen Kreisen, ein dunkler Mercedes habe vor dem Grundstück geparkt. Heinz sei mit dem Herrn etwa eine halbe Stunde lange über das Gelände spaziert. Ob er etwas über den Inhalt des Gesprächs wisse? Nein! Darauf gab der Kommissar eine genaue Beschreibung von Professor Liebscher. Der Alte schüttelte den Kopf. Darauf schilderte er ihm Gerhard Drenckmanns Äußeres, denn dessen neues Gesicht paßte ja nun auf das von Walter Klemm. Er glaubte zwar nicht, daß der sich gerade jetzt hier sehen lassen würde, aber er gab die Beschreibung trotzdem. Nochmaliges Kopfschütteln! Der Besucher sei ebenfalls in den besten Jahren gewesen, sechzig oder schwach darüber. Aber nur mittelgroß und ziemlich dick. Auch habe er kein volles, schlohweißes Haar gehabt. Nein, er könne sich an eine spiegelnde Glatze erinnern und an einen grauen Haarkranz drum herum. Der Kommissar hob seine übermüdeten Glieder vom Schemel und verabschiedete sich. Auch die alte Frau ließ 260
für einen Moment das Taschentuch und reichte ihm ihre Hand, die ohne Kraft war. Während des langen Gesprächs hatte sie nicht einmal den Mund aufgetan. Dann trottete Schnabel zu seinem Wagen zurück. Auf der Rückfahrt nach Hamburg sah er zum ersten Mal so etwas wie einen Lichtschimmer. „Wer ist dieser Fremde gewesen, Sohn?“ fragte der alte Herr auf der Terrasse seines Bramfelder Hauses, eingemümmelt in Decken und am leeren Rotweinglas schnüffelnd. Nach dem Bericht des Kommissars hatten sie eine Weile geschwiegen. „Wenn es Liebscher nicht war und Klemm auch nicht“, antwortete Schnabel, „dann bleibt eigentlich nur Handtner übrig. Es ist eine vage Spur, aber ich werde ihr nachgehen. Ich muß noch einmal hinüber nach Bremen, und ich werde einen Polizeizeichner mitnehmen. Vielleicht erleben wir eine Überraschung, wenn wir das Phantombild sehen.“ Wieder schwiegen sie, und der fette Kommissar beobachtete seinen Vater, dessen Nase über dem leeren Glas hing. Dann griff er nach der Flasche mit dem französischen Burgunder, den der alte Herr so liebte, und schenkte nach. „Ein Gläschen verträgst du wohl noch, Vater?“ „Ich kann jede Menge saufen, mein Sohn, wir dürfen es nur die Mutter nicht sehen lassen. Aber solange sie den Abwasch macht, besteht nicht die geringste Gefahr. Verwöhn mich nur ein bißchen!“ „Ich würde es gern öfter tun!“ „Du wirst viel Arbeit haben.“ „Ich steck’ bis über die Ohren drin, Vater!“ „Wenn der Pfleger ermordet wurde, wie du sagst, besteht dann für die junge Ärztin nicht die gleiche Gefahr? Sie war immerhin die zweite Person, die mit dem Patienten in der Klinik Kontakt hatte.“ Der Hauptkommissar nickte. „Sie ist in höchster Ge261
fahr, Vater. Ich habe inzwischen von ihren Verwandten die Urlaubsadresse in Österreich erhalten, und ich habe gestern einen meiner Leute dorthin geschickt. Er soll ihr die Lage auseinandersetzen, und vielleicht kann er sie überreden, damit sie den Urlaubsort wechselt und für eine Weile von der Bildfläche verschwindet. Weißt du, das Schlimme ist, daß ich sie nicht einmal offiziell vorladen und befragen kann.“ „Wieso nicht?“ „Weil ich noch keinen Bericht über die Vorgänge in der Klinik gemacht habe.“ „Ist das nicht gegen jede Dienstvorschrift?“ „Ich tanze auf sehr brüchigem Eis, Vater!“ Der alte Herr ließ seinen Blick über die Fleischmassen des Sohnes gleiten und grinste still in sich hinein. „Sowie ich einen Bericht mache, wird meiner Behörde die Sache aus der Hand genommen, das muß ich fürchten. Und alles wird im Sande verlaufen. Leute von der Industrie stehen dahinter, weißt du. Und zwar nicht irgendeine Klitsche, nein, diese Männer haben Einfluß, politischen Einfluß. Ich müßte mal schnell nach London ’rüber. Der englische Geheimdienst hat über die drei SSMänner Material gesammelt, damals noch während des Krieges. Wenn ich an die Akten herankäme, wäre ich ein Stück weiter. Von der Seite her könnte man die Sache auftrieseln. Da käme ich vielleicht sogar an den dritten Mann im Hintergrund heran, an den mit dem Computer. Aber natürlich müßte es schnell gehen, und ich müßte unumstößliche Beweise auf den Tisch packen, ehe sie mir die Beine weghacken. Und vielleicht tun sie es trotzdem, Vater, wer kann es sagen? Was soll ich also tun?“ „Du bist erwachsen, Sohn, du mußt es selber wissen. Die Zeiten, in denen ich dir etwas beibringen konnte, sind ja nun vorüber.“ Der fette Kommissar begann zu lächeln. Er dachte an 262
die dreißiger Jahre, in denen sein Vater tagsüber mit dem Musterkoffer in Sachen Hühnerfutter unterwegs war und abends mit ihm Latein und Griechisch und die Geschichte des Altertums büffelte. Der alte Herr fragte sachlich, während er einen Schluck von dem Rotwein nahm: „Wann fliegst du also, Sohn?“ „Morgen mit der Frühmaschine“, antwortete der Kriminalkommissar und lächelte noch immer. Kommissar Schnabel las die Meldung in der „Hamburger Morgenpost“, und sie überwältigte ihn nicht weniger als Yvonne Rosenau und Gerhard Drenckmann wenige Stunden später. An diesem Morgen mußte die Meldung brandneu sein und war offensichtlich auf der ersten Seite eingeschoben worden. Es wurde lediglich mitgeteilt, daß der Industrielle Rosenau seine Aktienmajorität an den „Rosenau-Werken“ an einen britischen Konzern verkauft habe. Der fette Mann hatte seine Körpermassen in einen stabilen Sessel fließen lassen, der vor einem der bis zum Boden reichenden Fenster stand, und sah aufs Flugfeld hinaus. Der Start der Frühmaschine verzögerte sich wegen Nebels. Die Leute waren schnell, dachte Schnabel, und Rosenau alias Klemm konnte keine Sperenzchen gemacht haben, denn es waren ja nur wenige Tage vergangen, seit Archie Patters sich von Hamburg nach Brasilien auf den Weg gemacht hatte. Der Kommissar stützte sich auf den Sessellehnen ab, gab seinem Körper einen Schwung und kam ächzend auf die Beine. Darauf trottete er zum Zeitschriftenstand hinüber. Er ließ sich die „Financial Times“ vom Vortage geben und fand in ihr einen ausführlichen Bericht. Die Weitsicht und Geschäftstüchtigkeit der Briten wurden gelobt. Viel war zu lesen über die Bedeutung der „RosenauWerke“ als Zulieferer für Weltraumprojekte. Diese Fusion gäbe dem britischen Konzern einen beträchtlichen 263
Machtzuwachs. Es wurde mit Prozentzahlen jongliert, die den europäischen Markt betrafen. Ebenfalls wurden mögliche Auswirkungen auf Nordamerika angedeutet. Der Kommissar stand noch über die Zeitung gebeugt, als schließlich sein Flug aufgerufen wurde. In der Maschine über der Nordsee grübelte er, daß diese Nachricht einen Wink des Schicksals bedeutete. Er sollte dem SS-Mann gegenübertreten, dachte er, falls der sich noch in London aufhielt. Aber natürlich müßte er es mit alten Akten aus dem MI-5 tun. Er durfte also nicht viel Zeit versäumen, bis er mit Archie Patters in Kontakt kam. Zwei Tage vorher hatte Schnabel den Assistant Commissioner Keat von Scotland Yard angerufen, und zwar nicht in dessen Büro, sondern am Abend zu Hause. Über den sogenannten Old-Boy-Draht, den man benutzte, wenn man den Dienstweg umgehen wollte. Er sagte Keat, daß er das Londoner Adreß- und Telefonbuch vergeblich nach einem Mann durchforscht habe. Was für ein Mann, hatte der Commissioner gefragt, und Schnabel hatte geantwortet: Einer von der Schmutzkonkurrenz. Darauf war es lange still gewesen am Telefon, und der Kommissar in Hamburg hatte gewußt, daß der Hinweis verstanden worden war. Mit der Schmutzkonkurrenz konnten nur Leute vom Geheimdienst gemeint sein. Schnabel wußte aber auch, daß der Engländer die Adresse besorgen würde. Erst im vergangenen Jahr war ihm Schnabel in einer ähnlich heiklen Sache behilflich gewesen, ebenfalls unter Umgehung des Dienstweges. Schließlich drang ein Seufzer über den Old-Boy-Draht, und dann fragte der Commissioner nach dem Namen seines Konkurrenten, und als er den hatte, sagte er, Schnabel solle nur kommen, er würde das mögliche tun. Und so saß der dicke Kommissar in einer dieser Maschinen, die er auf dem Grunde seines ängstlichen Wesens verabscheute, und ließ sich über die Nordsee schmeißen. 264
Den Dienstreiseauftrag hatte er problemlos erhalten, man hatte nicht viele Fragen gestellt. Erst vor wenigen Tagen stand der dicke Kommissar vor einer Leiche. Daran war nichts Besonderes, denn das gehörte zu seinen Aufgaben. Aber die Leiche eines Oberstaatsanwalts, der sich selbst umbrachte, war schließlich doch nichts Alltägliches. Und er hatte das ungeliebte Schwein zur Strecke gebracht! Seitdem war er mit so etwas wie einem Heiligenschein durch die Gänge im Präsidium gewandelt, er, Schnabel, der Superstar. Möglicherweise hätte er ohne dieses Faustpfand den Ausflug nach London gar nicht riskiert, zumindest aber hätte er seine Behörde wohl etwas genauer informiert. Die Maschine kam in Heathrow glücklich herunter, was Schnabel dankbar vermerkte, während er sich den Schweiß von der Stirn rieb. Ein Expreß-Bus und die U-Bahn brachten ihn schnell ins Zentrum. In der Nähe der Waterloo Station hatte er in einem kleinen Hotel ein Zimmer gebucht. An der Reception wurde ihm mit dem Zimmerschlüssel ein verschlossener Umschlag überreicht. Er riß ihn auf und fand Archibald Patters’ Adresse und Telefonnummer darin; der Assistant Commissioner Keat hatte Wort gehalten. Schnabel fuhr in sein Zimmer hinauf, warf die Reisetasche auf das Bett, und noch in Hut und Mantel wählte er die Kensingtoner Nummer an. Und was er nicht für möglich gehalten hatte, geschah: Bereits nach dem zweiten Zeichen wurde der Ruf angenommen. „Hallo –?“ hörte er eine Stimme, es war die Stimme eines älteren Mannes. „Ich soll Sie schön grüßen von Mistreß Rosenau …“ Eine kleine Pause, und dann: „Eine solche Dame ist mir nicht bekannt.“ „Sie meint“, fuhr Schnabel ungerührt fort, „wir sollten uns mal über einen Mann unterhalten, der Klemm heißt.“ „Ich kenne auch keinen Mister Klemm.“ 265
Darauf antwortete Schnabel nicht, und es entstand ein langes Schweigen. Schließlich beinahe flüsternd vom anderen Ende der Leitung: „Wer sind Sie?“ „Mein Name ist Schnabel!“ „Haben Sie auch einen Beruf?“ Schnabel erwiderte sachlich: „Hamburger Kriminalpolizei, Hauptkommissar bei der Mordkommission!“ Darauf kam nichts mehr durch die Leitung, und schließlich wurde der Hörer aufgelegt. Schnabel hatte es gar nicht anders erwartet, aber er wußte nun immerhin, daß sich Archibald Patters zu Hause aufhielt, und das war eine ganze Menge. Wieder brachte ihn die U-Bahn rasch an sein Ziel. Der ehemalige Geheimdienstmann wohnte in einer stillen Seitenstraße, und zu Schnabels Glück befand sich an der Ecke eine Telefonzelle und daneben eine Bank. Das Wetter war gerade so, daß man sich setzen konnte, aber als er die müden Beine von sich streckte, spürte der Kommissar den gewaltigen Hunger in seinem Bauch. Das Frühstück in der englischen Maschine war lausig gewesen, und unterwegs nach Kensington war Schnabel gar nicht der Gedanke gekommen, sich etwas zu besorgen. Vor lauter Furcht, den netten Mr. Patters zu verpassen! In den folgenden zwei Stunden geschah auf der stillen Seitenstraße nicht viel. Schnabel sah einen Wäschewagen kommen und vor jeder zweiten Haustür anhalten. Etwas später erschien der Postbote. Kommissar Schnabel guckte beiden bei der Arbeit zu und fand, daß sie sich nicht gerade überanstrengten. Und dann erschien endlich Archie Patters. Es konnte niemand anderes sein, dachte Schnabel, Leute in diesem Beruf riechen sich gegen den Wind. Der Mann kam über die Straße geradewegs auf ihn zu. Er ging an der Bank vorüber, ohne einen Blick in die Richtung zu werfen. Der Kommissar erhob sich ächzend und stiefelte mit knurrendem Magen hinter Patters her. Mittag war 266
längst vorüber. Sie liefen die Holland Street hinunter, Patters vorneweg und Schnabel in geringem Abstand hinterdrein. Glücklicherweise hatten sie es nicht weit. Nach wenigen hundert Metern kamen sie in einen Park, gingen an einem Theater vorüber und betraten ein Lokal. Es war kaum jemand darin, und Schnabel setzte sich so, daß der Engländer ihn gut sehen konnte. Die Laune des Kommissars hatte sich merklich gebessert, weil sie sich in einem Speiserestaurant befanden. Er achtete darauf, was Patters bestellte, und orderte das gleiche Essen. Er wurde reich belohnt. Sie tranken eine Schildkrötensuppe, aßen eine Scheibe Toast mit geräuchertem Lachs und schließlich ein Steak, das mit in Butter geschwenkten Mandarinen belegt war. Und weil er dem englischen Bier mißtraute, bestellte sich Schnabel zu dem Essen einen Schoppen Wein. Sie genossen die Mahlzeit mit Appetit, und sie musterten sich dabei mit keinem Blick. Darauf zündete sich Patters eine Zigarre an, und Schnabel setzte seine Dunhill in Brand. Und nachdem sie die ersten Züge gemacht hatten, stand der Engländer auf und trat an den Tisch des Deutschen. „Archie Patters“, sagte er und setzte sich. „Schnabel!“ antwortete der Kommissar lächelnd. Er war satt und zufrieden. „Was wollen Sie von mir?“ fragte der Engländer. Der Deutsche antwortete: „Ich hab’s schon gesagt. Ich möchte Grüße von Yvonne Rosenau ausrichten. Ich hab’ lange mit ihr gesprochen, und ich finde, wir dürfen sie nicht enttäuschen!“ „Sie sehen schlecht aus“, sagte der Engländer. Ohne es zu merken, waren sie zum Deutsch hinübergewechselt; die Verständigung wurde so besser. Schnabel antwortete: „Ich hab’ gerade einen Fall abgeschlossen. Irgendwas mit einem Gastarbeiter.“ „Das kennen wir hier auch.“ 267
„Ja, bei Ihnen ist es ein Relikt aus der Kolonialzeit. Aber was ist das bei uns?“ „Es geht Ihnen zu gut in der Bundesrepublik.“ Und nach einer Pause: „Was will Yvonne von mir?“ „Ich will es mal so sagen“, erwiderte Schnabel und sog behaglich an seiner Verdauungspfeife. „Das Mädchen versteht nicht, daß Sie alles mögliche unternehmen, um den Klemm in die Finger zu bekommen, und in dem Moment loslassen, als Sie ihn endlich so gut wie sicher haben. Das kann die kleine Frau nicht begreifen.“ „Und Sie?“ fragte Archie Patters. „Verstehen Sie es?“ „Ich denke mir, daß Ihre Auftraggeber Sie zurückgepfiffen haben. Und Sie müssen sich einfach scheußlich fühlen deswegen. Ich sehe es Ihnen an, mein Lieber.“ „Es stecken einflußreiche Leute dahinter“, erklärte Archie Patters mit dem Anflug eines wehmütigen Lächelns. „Und die brauchen nur mit dem Finger auf Sie zu deuten, und Sie sind Ihren Posten und Ihren Pensionsanspruch los. Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Fliegen Sie nach Hamburg zurück, und vergessen Sie das Ganze!“ Schnabel lächelte nun auch und schüttelte dann den Kopf. „Sie sitzen auf einer Sprengladung, mein Herr, und halten den Zünder in der Hand. Wollen Sie wirklich draufdrücken?“ Der dicke Kommissar lächelte immer weiter. „Warum?“ fragte Archie Patters. „Es hat etwas mit der Geschichte des Altertums zu tun“, erklärte Schnabel gemütlich. Und da er den verständnislosen Blick des Engländers sah, fuhr er fort: „Mein Vater war so etwas wie ein roter Schulmann, und als die Nazis drankamen, warfen sie ihn auf die Straße. Der Schulunterricht war sein ganzes Leben, er war mit Leib und Seele Lehrer, und zwar ein guter. Und da er nun keine Schüler mehr hatte, konzentrierte er sich auf 268
mich. Damals entstand in mir ein wilder Haß auf die Nazis. Der war natürlich unausgegoren, kindlich eben, aber er bildete eine gute Grundlage für die spätere gedankliche Auseinandersetzung mit dem Faschismus. Mein Vater hat sich übrigens niemals so richtig von den zwölf Jahren erholt. Er stand damals im besten Mannesalter, und so ein Berufsverbot hat ja etwas von einem Kastrationseffekt! Ich jedenfalls hab’ mir immer geschworen: Wenn ich einmal welche von der Bande in die Finger bekommen, ich drehe ihnen den Hahn ab.“ Archie Patters hatte interessiert zugehört, sagte aber nichts dazu, als der Kommissar nun schwieg. Er winkte jedoch dem Ober und bestellte Tee für sie beide. Schnabel fuhr fort: „Klemm muß schon seit einer Weile gewußt haben, daß Sie hinter ihm her waren. Wie er das erfahren konnte, weiß ich nicht, und Sie werden es wohl auch nicht wissen. Jedenfalls spannte er die alten Komplicen vor seinen Karren. Sie wollten einen anderen Mann an seiner Stelle sterben lassen, jenen nämlich, mit dem Sie gesprochen haben und den Sie auch tatsächlich für Klemm hielten. Für eine Weile zumindest. Der ehemalige Handtner hat Computerunterlagen besorgt, mit denen sie einen geeigneten Kandidaten fanden, und der ehemalige Kodelke, der sich heute Liebscher nennt, hat die notwendige Gesichtsoperation vorgenommen. Das alles kann ich natürlich nicht beweisen. Aber ich könnte es wahrscheinlich, wenn Sie mir die alten MI-5-Akten besorgen. Und deshalb spreche ich mit Ihnen, Herr Patters!“ Der Engländer antwortete auch hierauf nicht. Schon seit einer Weile rührte er in seinem Tee, und Schnabel, der ihn beobachtete, ließ ihm Zeit. Schließlich sagte Archie Patters: „Die kleine Yvonne hat Abschriften dieser Akten!“ Und als er den sprachlosen Blick des Deutschen sah, fuhr er fort: „Sie hat es Ihnen nicht erzählt?“ „Nein! Dieses kleine Ding!“ 269
„Was hat sie damit vor?“ „Ich weiß es nicht. Aber sie wird allerhand Blödsinn anstellen, wenn wir nichts unternehmen, das ist ziemlich sicher. Schon einmal hat sie mit einer Pistole vor dem Liebscher herumgefuchtelt. Wir dürfen es nicht zulassen, Patters, daß sich das Mädchen ins Unglück bringt. Und die Geschichte hat noch einen Aspekt! Ihre Eltern wurden von der SS ermordet und mit ihnen viele andere an der damaligen Demarkationslinie. Wollen wir diese armen Menschen dreißig Jahre später noch einmal verraten? Das haben die ja nun wirklich nicht verdient. Wollen wir uns selbst zu Komplicen von diesem Klemm und seinen Leuten machen?“ „Yvonne hat die Abschriften“, meinte Patters schwerfällig. „Ach, kommen Sie! Was soll ich mit dem Fummel. Was ich brauche, sind die Originale, das wissen Sie doch sehr gut!“ Eine Weile blieb es still am Tisch. Archie Patters hockte unglücklich da und starrte in seinen Tee. Schließlich fragte er: „Wo wohnen Sie?“ „Im ‚Falcon‘ in der Addington Street.“ „Ist das nicht bei der Waterloo Station?“ „Ja.“ „Fahren Sie in Ihr Hotel, und bleiben Sie auf dem Zimmer! Ich nehme an, daß man Sie bald anrufen wird.“ Kommissar Schnabel fühlte sich viel zu abgeschlafft, um noch einmal die Strapazen eines Fußmarsches und die Fahrt mit der U-Bahn auf sich zu nehmen. Er ließ ein Taxi kommen, und das brachte ihn ins Hotel zurück. Auf dem Zimmer sank er angezogen auf das Bett und fiel in einen bleiernen Schlaf. Es wurde draußen bereits dunkel, als ihn das Telefon daraus erweckte. Eine Weile tatschte er nach dem Hörer, kriegte ihn endlich zwischen seine dicken Finger und sagte: „Hallo –?“ 270
„Nennen Sie Ihren Namen!“ drang es sachlich durch die Leitung. „Schnabel!“ „Woher kommen Sie?“ Der Kommissar gähnte herzhaft, wobei er den Hörer abdeckte. Dann sagte er: „Hamburg!“ Die Stimme: „Ich bin am Leicester Square sieben, vierter Stock, Zimmer fünfzehn. Nehmen Sie ein Taxi! Ich warte noch etwa dreißig Minuten auf Sie!“ Kommissar Schnabel schaffte es sogar in der Hälfte der angegebenen Zeit. Es war nur eben über die Westminster Bridge und ein Stück Whitehall hinauf. Er fand das Haus und das Zimmer genau, wie Yvonne Rosenau es ihm beschrieben hatte, ein etwas obskurer Geheimdiensttreff. In dem hohen Lehnstuhl hinter dem Schreibtisch saß ein älterer Mann, der einige Ähnlichkeit mit Archie Patters hatte; ein bißchen wirkten beide wie langgediente Offiziere im Ruhestand. „Herr Schnabel?“ fragte der Mann, ohne sich selbst vorzustellen. Und als Schnabel nickte, fuhr er fort: „Sie haben sich heute mittag im Holland Park mit einem Herrn unterhalten?“ „Ja, mit Mister Archibald Patters“, erwiderte Schnabel. „Möchten Sie meinen Ausweis sehen?“ Und entsetzt von dem Mann hinter dem Schreibtisch: „Wozu denn das? Ich will gar nicht wissen, wer Sie sind.“ Sie sahen sich in die Augen, und der Mann fuhr fort: „Im Grunde sprechen wir überhaupt nicht miteinander, haben uns auch niemals gesehen. Sie verstehen?“ „Völlig!“ erwiderte Schnabel todernst, obwohl ihm eher nach Gelächter zumute war. „Das Material finden Sie dort!“ In der Nähe des Schreibtisches stand ein runder Tisch mit Stühlen darum herum, und auf der Platte sah er einen Stoß vergilbter Akten liegen! Der Kommissar ließ sich auf einen der Stühle nieder, der sich wider Erwarten 271
als außerordentlich bequem erwies. In den folgenden Minuten las er die Akten über Klemm und Konsorten, die Archibald Patters in jungen Jahren zusammengetragen hatte. Dabei hörte er, wie der Mann mit dem albernen Geheimdienstgetue vom Schreibtisch aufstand und hinter ihm im Raum auf und ab zu gehen begann. Das machte Schnabel nervös, und ihm fiel auf, daß er sich gegen jede Polizeiregel gesetzt hatte, nämlich mit dem Rücken zum Zimmer. Er wäre gern aufgestanden und um den Tisch herumgegangen. Aber einerseits fand er es zu umständlich, zum anderen sah er schon das grinsende Gesicht des Service-Mannes, und so ließ er es. Das Material war gut, er würde eine Menge damit anfangen können. Wenn man es ihm überließ, so recht mochte er noch nicht daran glauben. Klemm war Hamburger, was Schnabel als besonders unangenehm empfand. Und er war als junger Kerl in den Polizeidienst gekommen und schließlich nach Berlin ins Reichssicherheitshauptamt. Von dort führte ein gerader Weg in die Gestapo-Leitzentrale von Paris. Die Schulbildung war typisch, ebenso die Spezialausbildung. Mit Entsetzen fiel ihm ein, sein eigener Vater hätte Klemms Lehrer gewesen sein können, und er beglückwünschte sich, weil er gute zehn Jahre später auf die Welt gekommen war. Aber dann dachte er daran, daß das Elternhaus bei allem wohl keine unbedeutende Rolle spielte. Plötzlich hörte er den Mann hinter sich sagen: „Er ist übrigens tot!“ „Wer ist tot?“ fragte Schnabel und war mit den Gedanken in seiner eigenen Kinderzeit. „Klemm“, sagte der Mann hinter ihm. „Oder auch Rosenau, wie er sich in den letzten dreißig Jahren genannt hat.“ Der fette Kommissar fuhr mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf seinem Stuhl herum. Sie starrten sich sekundenlang an, dann erschien auf dem Gesicht des Englän272
ders ein stilles Lächeln. Er sagte: „Er starb vor knapp zwei Stunden in seiner Hotelsuite, kurz vor dem Abflug mit einer BOAC nach Tokio.“ „Umgebracht?“ Es war ein Kratzen in Schnabels Stimme, und er mußte mehrmals schlucken. „Ja und nein! Nicht mit Messer oder Feuerwaffe. Auch nicht durch Gift, falls Sie an so etwas denken. Aber umgebracht schließlich schon. Er wußte, daß wir ihm auf die Spur gekommen waren. Und dann der Verkauf seiner Fabriken, die er wohl als so etwas wie ein Lebenswerk angesehen hatte. Er litt an Angina pectoris. Aber schließlich hätte das Schwein bis Tokio warten können und nicht unsere gute alte Insel mit seinem Leichengestank verpesten müssen.“ Kommissar Schnabel hätte dem Geheimdienstaffen beinahe ins Gesicht gelacht. ‚Warum haben Sie den Mann nicht sofort verhaftet?‘ wollte er fragen. Das hätten sie doch tun müssen, diese piekfeinen englischen Gentlemen. Die und ihre gute alte Insel! Aber er unterdrückte das alles; andere Dinge wurden wichtiger, zum Beispiel Klemms Körpermerkmale! Der Kommissar wandte sich der Akte zu und blätterte. Schließlich fand er es: Blutgruppe AB! Und hier: Blinddarm entfernt 1928, Narbenbildung vergrößert durch Verwachsungen. Und die oberen Schneidezähne fehlten. Mein Gott, dachte er, gib, daß die Eckzähne, die die Brückenpfeiler bildeten, bis heute gehalten hatten! „Hat man die Leiche schon auf Zähne und Narben untersucht?“ fragte Schnabel nach einer Weile, und als er keine Antwort erhielt, drehte er sich herum. Er war allein im Zimmer! Der seriöse Herr vom britischen Geheimdienst hatte sich auf leisen Sohlen davongemacht. Wie ein Blitz war Schnabel vom Stuhl und bei der Tür. Er wunderte sich, welche Fixigkeit er noch immer entwickeln konnte. Der Gang lag still und friedlich vor 273
ihm. Es war längst nach Geschäftsschluß, und es brannten nur wenige Lampen. Ganz am Ende des Ganges sah er eine Reinemachfrau den Boden aufwischen. Geräuschlos schlich Schnabel zum Tisch zurück, das konnte er schließlich auch, und klemmte sich die MI-5-Akten unter den Arm. Darauf schwebte er wie ein zarter Frühlingswind aus dem Zimmer und aus dem Haus. Er war niemals hier gewesen. Viel schwieriger als alles Vorangegangene erwies es sich, den Assistant Commissioner Keat aufzuspüren. Er fand ihn in dessen Klub, und als er ihn in die Halle bitten ließ, sah er ihn bald mit griesgrämiger Miene die Treppe heruntersteigen. „Entschuldigen Sie, Mister Schnabel, ich hatte einen argen Tag. Jetzt esse ich gerade zu Abend. Wollen Sie mir Gesellschaft leisten?“ Schnabel wollte es, und gemeinsam stiegen sie in den Speiseraum hinauf. Während der Mahlzeit ließ er den Engländer in Ruhe, denn er wußte, daß der anstrengende Arbeitstag des Commissioners gerade erst begann. Nach dem Essen gingen sie in die Bibliothek und tranken Tee. Und dabei erzählte der Deutsche dem Engländer die Geschichte des SS-Obersturmführers Walter Klemm, der sich später David Rosenau nannte. Der Kommissar beobachtete, wie die Gesichtsfarbe des Commissioners von tiefer Blässe zu plötzlicher heftiger Röte hinüberwechselte. Auch der Ausdruck änderte sich mehrmals. Schnabel sah Erstaunen, auch Unglauben und schließlich so etwas wie Entsetzen. „Großer Gott!“ Das war alles, was der Engländer hervorbrachte. Und nach Minuten des Schweigens erklärte der Commissioner, daß er seinen Freund Schnabel allein lassen müßte, es gäbe einiges zu erledigen. Schnabel erhob sich ächzend, nachdem Keat gegangen war, und trottete zu den Bücherregalen hinüber. 274
Ihm blieb die Wahl zwischen Milton, Dickens und Agatha Christie, die merkwürdigerweise dicht beieinander standen. Er entschied sich für die große alte Dame des Kriminalromans. Es war kaum Betrieb in der Bibliothek, und der Ledersessel, zu dem er zurückkehrte, bot ihm eine Menge Trost. Er schlug das Buch auf und fand, daß es eine Geschichte über den Orient-Expreß zum Inhalt hatte. Fuhr das Ding überhaupt noch, fragte er sich und ließ den Band nach der ersten Seite sinken. Darauf dachte er noch: Verdammt, die letzten Tage waren wirklich happig gewesen. Und dann schlief der fette Kommissar einfach ein. Er schreckte hoch, als jemand seinen Arm berührte. Er schaute in das Gesicht des Commissioners Keat, das sich über ihn beugte, und in das eines jüngeren Beamten dahinter. Sein nächster Blick galt der Uhr, es war kurz vor zwölf, und er hatte etwa drei Stunden fest geschlafen. „Ich glaube, Kaffee ist für Sie jetzt richtig“, sagte Keat, „ich hab’ ihn schon bestellt. Darf ich Sie mit Superintendent Allan Murphy von Special Branch bekannt machen?“ Die Herren nickten sich zu. Schnabel wußte, daß Special Branch die Sicherheitsabteilung von Scotland Yard war. Der Commissioner hatte also an den richtigen Drähten gezupft. Die Engländer setzten sich ihm gegenüber, und gleich darauf kam auch der Kaffee. Der war gut und stark, und Schnabel trank eine Tasse. Darauf fühlte er sich ziemlich frisch. Der Superintendent eröffnete auf einen Wink von Keat das Gespräch. „Er ist der Mann, den Sie suchen, Herr Schnabel!“ „Klemm?“ „Wir kennen ihn natürlich nur unter dem Namen Rosenau. Aber die Blutgruppe stimmt, und die vergrößerte Blinddarmnarbe auch. Das Gebiß ist gut erhalten, und 275
so existiert auch die Brücke mit den oberen Schneidezähnen noch. Allerdings sind inzwischen einige Goldkronen hinzugekommen.“ Schnabel nickte still vor sich hin. Er antwortete nicht, goß sich statt dessen eine zweite Tasse Kaffee ein. Von den Körpermerkmalen des Klemm hatte er dem Commissioner vorhin nichts gesagt. Er wollte aus Fairneßgründen die MI-5-Quelle nicht preisgeben. Und nun wußten sie es auch so. Nach einer längeren Pause sagte Superintendent Murphy: „Sie können ihn übrigens mitnehmen, wenn Sie wollen.“ „Einfach so?“ fragte Schnabel überrascht. Murphy nickte. „Mister Rosenau ist Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland. Er ist ohne Begleitung auf die Insel gekommen, als so eine Art Tourist, oder wie sehen Sie das?“ „Ich finde, daß er ein gemeiner Mörder war, und ich hätte ihn gern lebendig gehabt, um ihm das Genick zu brechen.“ Die Bemerkung war albern und abgeschmackt, Schnabel wußte es selbst, und die Herren gegenüber verzogen keine Miene. Der Kommissar fuhr fort: „Ich hätte gern etwas über die Todesursache gewußt.“ „Ein normaler Infarkttod“, antwortete Murphy. „Wir haben schon die Autopsie gemacht, und wir händigen Ihnen den Bericht aus.“ Die Briten konnten verdammt schnell sein, dachte Schnabel und begann zu lächeln. „Und ich kann ihn mitnehmen?“ vergewisserte er sich. „Aber ja, Kommissar, wenn Sie wollen?“ Murphy lächelte nun auch. „Jedenfalls steht morgen früh eine Sondermaschine für Sie bereit.“ In diesem Fall mußten das MI-5 und Special Branch einmal gut zusammengearbeitet haben. Und es mußte ein Wink von sehr weit oben gewesen sein, damit sie den Toten auf bequeme Weise los würden. Die Freude dar276
über, den Deutschen den Schwarzen Peter hinzuschieben, stand in ihren Gesichtern zu lesen. Er hörte den Superintendent Murphy sagen: „Wir würden uns jedenfalls freuen, wenn Sie Herrn Rosenau in seine Heimat zurückbrächten. Wollen Sie?“ Kommissar Schnabel dachte daran, was ihn erwartete, wenn er mit der Leiche an Bord über der Nordsee einschwebte. Er sagte grimmig: „Ja, ich will es!“
21. An diesem Morgen hatte Yvonne den Frühstückstisch gedeckt, und zwar mit aller Akkuratesse, zu der sie sich aufraffen konnte. Selbst Gerhard Drenckmann hätte es nicht besser hingekriegt. Er sah es gleich, als er aus dem Bad kam. Und er dachte: Nun haben wir uns doch auf die kleine Insel zurückgezogen, in die Idylle. „Wir könnten heute mal zu den Landungsbrücken ’runter, wenn du Lust hast“, sagte er. „Ich wette, du hast noch keinen richtigen Hafen gesehen.“ „Wir haben in Wien auch einen“, antwortete sie lächelnd. „Den von der Donaudampfschiffahrtgesellschaft?“ „Ja, den! Aber ich merk’ schon, daß du deinen Hafen liebst.“ Yvonne seufzte und sah ihn über die Kaffeetasse hinweg an. Sie gingen vorsichtig miteinander um, vielleicht so, wie man es mit teurem Porzellan tut, das man zu besonderen Anlässen aus dem Schrank holt. Es fiel ihr jedoch nicht einmal schwer, und das wunderte sie am meisten. Mit jedem weiteren Tag, den sie Drenckmann nach ihrem überstürzten Abschied nicht gesehen hatte, schien sie sich mehr zu verändern. Natürlich gingen ihr die Ge277
danken an die Eltern nicht aus dem Kopf. Und sie hatte auch schon eine Idee, wie sie die Sache in Bewegung bringen könnte, wenn es der hiesigen Polizei nicht gelang. Das würde von Wien aus geschehen, und deshalb mußte sie so schnell wie möglich nach Hause zurück. Aber gleichzeitig wuchs etwas anderes in ihr. Das war wie ein Geheimnis – eins, das nur Frauen verstanden, ohne es sich vielleicht besonders klarzumachen. Das Ziehen in der Leistengegend hielt an. Sie lachte über sich und ihre Hysterie. Sicher kam es daher, weil sie sich diesen Ort in ihrem Körper besonders bewußt machte. Sie ging viel in der Stadt umher, und die gefiel ihr immer besser. Dabei dachte sie an den tieftraurigen Mann, der in seinem Laden hockte. Am Nachmittag des dritten Tages hielt sie es schließlich nicht mehr aus, sie setzte sich in die Hochbahn und fuhr zu ihm in die Semperstraße. „Du hörst mir gar nicht zu“, hörte sie ihn endlich sagen. „Wiederholst du es noch einmal, Gérard?“ Sie lächelte. Auch er lächelte. „Ich sprach über den Hafen, und ich fragte dich, ob du dir wie eine Touristin vorkommst.“ „Ein bißchen schon!“ Sie sog den Rauch der Zigarette ein, die er sich angezündet hatte, und spürte heftiges Verlangen. Sie unterdrückte es, denn seit einigen Tagen rauchte sie nicht mehr. Plötzlich sagte sie: „Wir sollten alles hinschmeißen und abfahren.“ Er sah sie lange an. Schließlich fragte er: „Wie meinst du das?“ Yvonne antwortete: „Es kommt auf dich an, Gérard! Und darauf, wie ernst es dir mit deinem Entschluß von gestern ist.“ Gestern, das war ein tändelndes Spiel gewesen. Auf einmal hatte er sich hingesetzt und das Cello genommen. Er begann mit ein paar Passagen und Läufen, mit leichten Übungen, aber dann steigerte er sich bis zu Meister Bach. Es blieb alles stümperhaft, obwohl irgendwas ihn zu beflügeln schien. Wahrscheinlich diese 278
Frau, die still auf der Couch lag und zuhörte. Darauf hatte er bis spät in die Nacht hinein geredet. Mit dem Cellospiel sei es vorbei, sagte er, diese Chance habe er verpaßt. Aber viel von der Musik und ihrer Theorie sei doch geblieben. Und er könnte es jungen Leuten vermitteln, das wüßte er. Und vielleicht sei das eine Farbe, die dem Drogenzentrum Weidlingsbach noch fehlte. Sie hatte nichts darauf erwidert. Bis zum heutigen Morgen. Er sah in ihre Augen und in das Lächeln darin. „Würdest du mich denn mitnehmen, Yvonne?“ fragte er. „Warum nicht?“ Männer wie Philip und dieser Gérard, die sich von den Zöglingen in Weidlingsbach nicht viel unterschieden, waren vielleicht ihr Schicksal. „Wie lange brauchst du zum Packen?“ Er war wie elektrisiert. „Nicht einen Tag!“ „Deine Kleidung übernehme ich.“ „Und Kommissar Schnabel?“ „Aber ich bitte dich, Gérard!“ Sie sagte es in einem verächtlichen Ton, und zweifellos hatte sie recht damit. Sie hatten gestern wieder im Präsidium angerufen, um etwas über den Stand der Ermittlungen zu erfahren. Sie kriegten den Kommissar nicht einmal an den Apparat. Es wurde ihnen erklärt, Schnabel sei verreist, aber sie nahmen an, daß er sich lediglich verleugnen ließ. Als Gerhard Drenckmann mit den Koffern vom Boden herunterkam, hatte Yvonne den halben Kleiderschrank ausgeräumt. „Ich denke mir, du suchst dir aus, was du behalten willst. Das andere schmeißen wir am besten weg.“ Seine Augen gingen über die Anzüge, die auf Sesseln und Stühlen lagen. „Aber die sind doch alle sehr fein.“ „Ja, das sind sie. Und wirklich ordentlich gepflegt.“ Sie lächelte. „Aber sie sind ein bißchen großväterlich, findest du nicht? Wenn du gestattest, würde ich ein paar Dinge für dich besorgen, ich kaufe leidenschaftlich gern ein.“ 279
Er nahm sie in seine Arme. „Du hältst mich für einen Opa, ja?“ Sie schaute ihn an, antwortete aber nicht. „Los, sag’s schon!“ Sein Griff wurde fester, und er sah, daß Ihre Augen um eine Spur dunkler wurden, als sie es ohnehin waren. „Ich weiß nicht“, antwortete sie, „es ist so lange her.“ Etwa eine Stunde später ging er hinüber ins Geschäft. Die Alben mit den wertvollsten Marken packte er in einen Koffer. Er wollte damit zur Bank und sich ein Fach mieten. Den Rest tat er in sein Geschäftssafe. Er arbeitete schnell und umsichtig und war schon nach kurzer Zeit fertig. Er hoffte nur, dieser Schwung, der ihn zu schnellen Entschlüssen ermunterte, würde lange anhalten. Dann fuhr er zur Bank, deponierte den Koffer mit den Marken und hob eine Summe von seinem Konto ab. Einen Teil davon ließ er sich in österreichischen Schillingen auszahlen. Darauf fuhr er in die Semperstraße zurück. Auf diesem Weg kannte er jedes Haus, jeden Laden und jede Straßenecke. Merkwürdigerweise fühlte er nicht das leiseste Bedauern, sich von der vertrauten Umgebung zu trennen. Er parkte seinen Opel hinter dem Klemm-Mercedes, um den sich noch immer keiner gekümmert hatte. Leichtfüßig sprang er die acht Stufen zur Wohnung hinauf. Yvonne erwartete ihn bereits in der Tür, sie schien ihm ziemlich aufgeregt. „Kommissar Schnabel hat angerufen“, sagte sie. „Wir sollen gleich aufs Präsidium kommen.“ Es war ähnlich wie beim ersten Mal. Der fettleibige Kriminalkommissar empfing sie in seinem Dienstzimmer, eingehüllt in Tabakswolken, die aus seiner Dunhillpfeife aufstiegen. „Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen“, erklärte er zu Beginn. „Ich weiß nicht, was Sie sich dachten. Vielleicht, daß ich meine Tage verschlafen habe?“ 280
Yvonne und Drenckmann antworteten nicht, aber auf ihren Gesichtern lag eine deutliche Bestätigung. Schnabel fuhr fort: „Es ist sogar etwas daran. Ich war in London, und einen Teil des Aufenthaltes habe ich tatsächlich verschlafen. Trotzdem konnte ich einiges erledigen, und ich bin auch nicht allein zurückgekommen. Ich habe ihn mitgebracht.“ Schnabel schwieg und sah seine Besucher mit einem geheimnisvollen Lächeln an. „Wen … haben Sie mitgebracht?“ fragte Yvonne. „Doch nicht etwa …“ Sie stockte erneut. „Ja, genau den! Klemm!“ Sekundenlang beobachtete der dicke Kommissar die Überraschung seiner Besucher, dann fuhr er fort: „Leider lebt er nicht mehr.“ Plötzlich war Yvonne kreideweiß, und ihre Hände begannen zu zittern. Drenckmann legte seinen Arm um ihre Stuhllehne. Kommissar Schnabel sagte: „Sie konnten es nicht wissen, denn es stand ja bisher in keiner Zeitung, in englischen übrigens auch nicht. Aber ich meine, wenn jemand ein Anrecht darauf hat, es zu erfahren, dann sind Sie es.“ „Er wurde umgebracht, nicht wahr?“ fragte Yvonne. Es war fast ein Flüstern. „Das war auch meine erste Vermutung, Frau Rosenau! Wahrscheinlich liegt es daran, weil man dem Verbrecher keinen normalen Tod gönnt. Aber es war ein Infarkt. Die englische Polizei hat eine Autopsie gemacht, und wir in Hamburg haben die gleich gegengecheckt. Herzinfarkt, wie gesagt! Aber vielleicht war sein Tod doch nicht so ganz normal. Klemm wußte immerhin, daß man ihm auf die Schliche gekommen war. Hinzu kam, daß die Briten ihn zum Verkauf seines Unternehmens preßten. Diese Aufregungen waren wohl zuviel für ihn. Er litt ja an Angina pectoris.“ Der Kommissar legte seine Pfeife weg und erhob sich 281
ächzend. Er ging zum Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Eine Weile stand er mit dem Rücken zu ihnen und blickte auf die Straße hinunter. Dann sagte er: „Wir werden uns jetzt den Liebscher greifen. Und darauf den Handtner, den Mann, der die Computerunterlagen beschaffte.“ „Und wie kommen Sie an den heran?“ fragte Yvonne. „Über den Arzt, denke ich.“ „Sie haben doch nicht einmal eine Handhabe gegen den!“ Der Kommissar schloß das Fenster, ging zum Schreibtisch zurück und setzte sich. Er blickte Yvonne nachdenklich an. Yvonne fuhr fort: „Wo Klemm nun tot ist, haben Sie die noch viel weniger!“ „Warum haben Sie mir nicht gesagt, daß einige Akten mit Ermittlungsergebnissen des englischen Geheimdienstes in Ihren Händen sind?“ „Warum hätte ich es sagen sollen?“ „Was wollen Sie mit dem Material machen?“ „In Wien gibt es ein Büro, das sich mit den Verbrechen an meinen Leuten befaßt. Dort werde ich es hingeben.“ „Es sind nur Abschriften!“ „Es ist besser als nichts!“ „Sie haben kein Vertrauen zu mir, nicht wahr?“ Darauf antwortete sie nicht. Er fragte: „Interessiert es Sie zu hören, daß ich die Originale dieser Akten habe?“ „Ach –!“ Das war alles, was Yvonne hervorbrachte. „Ich war ja in London, und da habe ich auch mit Mister Archibald Patters gesprochen. Er läßt Sie übrigens grüßen. Sie sollten nicht schlecht von ihm denken, Frau Rosenau! Das Leben ist ein Ding mit vielen Haken und Ösen. Wollen Sie ihn verurteilen, weil er nicht recht wußte, welcher Haken wohinein gehört? Auf jeden Fall 282
hat er die Originalakten besorgt, und das ist, finde ich, entscheidend.“ „Na schön“, erwiderte Yvonne. Sie schien von Archie Patters’ Hilfe nicht sehr beeindruckt zu sein. „Sie haben nun die Originaldokumente, und Sie werden damit zu dem SS-Arzt Kodelke gehen. Meinen Sie wirklich, er wird dadurch angeregt, die Operation an Herrn Drenckmann zuzugeben? Nein, Herr Schnabel! Patters hätte selber herkommen müssen, um als Zeuge auszusagen. Denn andere Zeugen haben Sie ja nicht.“ Schnabel drückte auf einen Knopf seiner Sprechleitung und sagte: „Sie können sie jetzt hereinschicken!“ Darauf öffnete er seine Schreibtischschublade und holte eine neue Pfeife hervor. Er begann sie zu stopfen. Und diese Beschäftigung nahm ihn so in Anspruch, daß er seine Besucher darüber vergaß. Dann klopfte es gegen die Tür. „Herein!“ sagte Schnabel, ohne aufzublicken. Ins Zimmer trat die Assistenzärztin Ellen Reinhardt. Gerhard Drenckmann stand langsam von seinem Stuhl auf, und sie blickten sich in die Augen. Der Kommissar, der sie beobachtete, hielt ein Streichholz gegen die Pfeife. Dann sagte er: „Na, da hätten wir unsere Mannschaft ja beisammen!“
22. Nachdem Kommissar Schnabel aus London zurückkehrte, war er von einer Besprechung in die andere gehetzt. Alle betrafen den Fall Drenckmann, der sich inzwischen zum Fall des SS-Verbrechers Klemm und Konsorten ausgeweitet hatte. Er ließ es sich auch nicht nehmen, der Leichenöffnung beizuwohnen. Die englischen Kollegen hatten sauber gearbeitet, ohne Tricks. Die deutsche Untersuchung bestätigte die der Briten in allen Einzelheiten. 283
Der Polizeipräsident, bei dem er mit allen Unterlagen, einschließlich der Originalakten aus dem MI-5, vorstellig wurde, zeigte sich ähnlich erschüttert wie der Assistant Commissioner Keat in London. Nur fehlte bei dem Hamburger jene Komponente der Schadenfreude, die Keat und Murphy am Ende ihres Beisammenseins hatten durchschimmern lassen. „Zunächst, Herr Schnabel, bestätige ich die Vorsicht und Diskretion, mit der Sie an die Sache herangegangen sind.“ Der schlanke und etwas smarte Herr zauberte eine Flasche Scharlachberg und zwei Gläser auf den Schreibtisch. Wahrscheinlich hatte er einen Schnaps nötig. Auch der Kommissar Schnabel war nicht abgeneigt. Es erleichterte ihn, daß sein Alleingang sozusagen im nachhinein abgesegnet wurde. Als sie getrunken hatten, sagte der Präsident. „Es bringt sicher nichts, mit der Sache in der Öffentlichkeit zu zündeln!“ Trotz des Schnapses widersprach der Kommissar. „Wir dürfen nicht Herrn Drenckmann vergessen, an dem herumoperiert wurde.“ „Natürlich nicht“, antwortete der Präsident. „Eine scheußliche Sache, ganz und gar widerlich!“ „Und dann die Opfer von der Demarkationslinie in Frankreich! Sie verstehen sicher, daß ich mich, was Frau Rosenau angeht, ein bißchen in die Rolle eines Anwalts gedrängt sehe.“ „Aber was bringt das noch, Herr Schnabel? Ich meine, wo dieser Klemm nun tot ist.“ Schnabel blickte seinem Chef direkt in die Augen. „Der Liebscher alias Kodelke und der Handtner leben noch. Handtner ist zweifellos jener ominöse Besucher in Bremen gewesen. Er konnte keinen anderen schicken, denn wem sollte er sich in dieser Sache anvertrauen? Nein, er mußte es schon selbst tun.“ „Was?“ fragte der Polizeipräsident. 284
„Den Zeugen Müller umbringen natürlich“, erwiderte der fette Kommissar gelassen. „Und wie?“ „Irgendwo wird er zu dem Krankenwärter in den Wagen gestiegen sein, denke ich mir. Irgendein Mittel im Kaffee oder im Whisky, den er in einem Flachmann hatte.“ „Aber die Bremer Polizei hat bei der Autopsie nicht die geringsten Spuren eines Rauschmittels entdeckt.“ „Wir müssen den Mann finden, Herr Präsident! Dann werde ich schon aus ihm herausholen, wie er es gemacht hat. Immerhin war dies kein Unfall. Es war Mord!“ Der Polizeipräsident goß die Gläser voll, und sie tranken noch einmal. „Dieser Handtner – wer mag das sein? Wo steckt der?“ Schnabel zuckte die Achseln, und es entstand ein langes Schweigen. Der Kommissar beobachtete den smarten Herrn hinter dem Schreibtisch, und er glaubte zu wissen, was in dem vorging. Wenn in den vergangenen Jahren Nazigrößen aus der Versenkung auftauchten, so fanden sich die überwiegend in den Reihen der Opposition. Und wenn aus dem braunen Handtner ein Schwarzer geworden war, würde die Hamburger Regierungsmannschaft erleichtert aufatmen. Aber konnte man in jedem Fall sicher sein? Dies hier war eine hochpolitische Angelegenheit. Kommissar Schnabel brach endlich das Schweigen. „Ich möchte diesen Arzt mit den alten englischen Akten konfrontieren. Das wird ihn unter Druck setzen, und er wird nicht umhin können, Handtners neue Identität preiszugeben. Ich denke doch, Herr Präsident, daß wir den Vorgang als gewöhnlichen Kriminalfall ansehen.“ Der Herr hinter dem Schreibtisch nickte seufzend. Er dachte an den Oberstaatsanwalt Pohl, der sich vor einigen Tagen erschoß, weil Schnabel ihn zur Strecke brachte. Er wußte, daß dieser Kommissar nicht loslassen wür285
de, nachdem er sich einmal festgebissen hatte. Scheißdemokratie, dachte er. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu dem fetten Mann ins Boot zu steigen. Hoffentlich gingen sie nicht unter. Aber er konnte ihm kaum verbieten, in der Sache weiterzuermitteln. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn die Zeitungen vorzeitig Wind bekämen. Scheißdemokratie, dachte er noch einmal. „Ich werde zunächst den Generalstaatsanwalt informieren“, sagte er schließlich. „Und Sie muß ich bitten, Herr Schnabel, sich zu meiner Verfügung zu halten.“ Der Kommissar ging ins Kasino und trank einen Kaffee. Darauf setzte er sich hinter seinen Schreibtisch und stopfte eine Pfeife. Er saß still da, dachte nach und rauchte. Er war entschlossen, die Sache bis zum bitteren Ende durchzustehen. Dann kam ein Anruf aus der Chefetage, und nur kurze Zeit später befanden sie sich auf dem Weg zur Staatsanwaltschaft. Die Unterredung verlief ähnlich wie die beim Polizeipräsidenten, nur daß Schnabel hier keinen Kognak bekam. Trotzdem wurde der fette Kommissar mit so etwas wie Glacéhandschuhen angefaßt. Dieser Fall Pohl, dachte Schnabel, wurde immer mehr zu einem Pfund, mit dem er wuchern konnte. Am Schluß der Unterredung teilte der Generalstaatsanwalt seinen Besuchern mit, daß er den Innensenator informieren wolle. Bis dahin, und darum müsse er bitten, könne in der Sache nicht vorgegangen werden. Am Nachmittag saß Kommissar Schnabel über Berichten seiner Leute zu anderen Fällen. Und mittendrin erlebte er eine Überraschung. Der Mann, den er nach Österreich geschickt hatte, kehrte zurück, und in seiner Begleitung befand sich Frau Doktor Ellen Reinhardt. Das wertete der dicke Kommissar als ein günstiges Zeichen. Am nächsten Vormittag kam die Nachricht aus der Senatskanzlei, der Fall Drenckmann sei wie ein gewöhn286
liches Verbrechen zu behandeln und aufzuklären. Gleich darauf rief der Kommissar in der Semperstraße an. Doktor Ellen Reinhardt sagte: „Ich schäme mich so, Herr Drenckmann!“ Er erwiderte: „Ich weiß nicht einmal, wovon Sie reden.“ „Doch, doch, Sie wissen es, und ich möchte Sie um Entschuldigung bitten!“ Kommissar Schnabel hatte sie in seinem Dienstzimmer allein gelassen. Er hatte ihnen sogar Kaffee besorgt, den sie aus Pappbechern tranken und der ganz abscheulich schmeckte. „In jener Nacht, Herr Drenckmann, als Sie aus der Klinik fortliefen, hat der Professor stundenlang auf mich eingeredet. Bis zum frühen Morgen etwa. Am Ende war ich ganz konfus. Und ich hatte auch Angst, das will ich zugeben. So ließ ich mich praktisch in den Zug setzen. Zur Besinnung kam ich wohl erst in Österreich. Und als jener junge Mann erschien, den Herr Schnabel geschickt hatte, bedurfte es keiner Frage, daß ich mit ihm zurückging. Ich hatte mich schon vorher entschieden.“ Gerhard Drenckmann wußte nicht, ob es sich in allen Einzelheiten so abgespielt hatte, aber er hielt es nicht für wichtig. Er wollte nicht vergessen, daß sie es war, die ihm aus dem Krankenhaus geholfen hatte, und das sagte er ihr auch. Dann erschien Kommissar Schnabel und schwenkte ein Papier. „Ich habe hier einen Haftbefehl“, sagte er. „Und ich möchte, daß Sie mich alle in die Klinik begleiten. Es geht mir dabei um so etwas wie eine Rekonstruktion am Tatort.“ Sie fuhren durch die Stadt nach Poppenbüttel hinaus. Als sie bei der Klinik ankamen und durch die Halle liefen, fiel ihnen die merkwürdige Ruhe auf. Das Pult am Empfang war nicht besetzt, und sie sahen auch niemand 287
auf dem Weg zu Liebschers Ordination. Seltsam berührt, schauten sie sich an und lauschten den eigenen Schritten, die von den Wänden hallten. Irgendwie hatten alle ein ähnliches Gefühl. Es kam ihnen vor, als befänden sie sich allein in dem großen Haus. Die Tür zum Sprechzimmer stand sperrangelweit offen. Je näher sie kamen, desto verhaltener wurden ihre Schritte, auch das fanden sie merkwürdig. Kommissar Schnabel, der voranging, blieb stehen, sobald er das Innere überblicken konnte. Gerhard Drenckmann folgte als nächster und sah dem Beamten über die Schulter. So bot sich ihm dasselbe Bild. In der Besucherecke der Ordination hockte die ältliche Oberschwester Beate. Aus weitgeöffneten Augen schaute sie auf den weißhaarigen Professor, der ihr gegenübersaß. Aber sie konnte nicht viel erkennen, denn über ihre Augen hatte sich ein dichter Tränenschleier gesenkt. Auch der Chefarzt, der ihren Blick zu erwidern schien, sah nichts mehr. Er war tot. Sein rechter Arm hing über der Sessellehne, darunter lag auf dem Teppich die sattsam bekannte Pistole, diesmal ohne Schalldämpfer. In seiner Schläfe befand sich ein Loch, und aus dem offenstehenden Mund war Blut ausgetreten. Er hatte die Brille mit den getönten Gläsern nicht auf. Gerhard Drenckmann sah in die farblosen, nun gänzlich starren Augen des Mannes und fand, daß sie vorher auch nicht lebensvoller gewirkt hatten. Er flüsterte am Ohr des Kommissars: „Da hat er sich also davongemacht!“ Kommissar Schnabel antwortete nicht. Er dachte an die Gespräche mit dem Polizeipräsidenten und dem Generalstaatsanwalt. Er wußte, einigen Leuten war das große Zittern gekommen, seit er mit dem toten Klemm hanseatischen Boden betreten hatte. Na, nun könnten die Herren aufhören damit. Und da hatte Gerhard Drenckmann so etwas wie eine 288
Eingebung. Er sagte, noch immer am Ohr des Kommissars: „Gerade zur rechten Zeit hat er den Löffel abgegeben. Da wird sich der Herr Handtner aber freuen.“ In diesem Moment wandte sich Schwester Beate ihnen zu und sagte: „Er war ein so guter Mensch!“ Der Kommissar machte seinen Begleitern deutlich, daß sie den Raum nicht betreten sollten. Dann ging er selbst hinein. Am Telefon wählte er eine Nummer. „Rufen Sie mir Janover!“ sagte er. Und mit dem Hörer am Ohr fragte er die Oberschwester: „Wann haben Sie ihn gefunden?“ Die Schwester erwiderte: „Er war ein so guter Mensch!“ „Ja, das sagten Sie schon! Wann fanden Sie ihn?“ „Ich weiß nicht!“ „Vor fünf Minuten oder zehn? Vor einer halben Stunden?“ „Ich weiß nicht.“ „Janover?“ Der Kommissar drückte den Hörer gegen sein Ohr. „Ich muß Sie bitten, nach Poppenbüttel zu kommen. Ja, in die Klinik! Und stellen Sie ein Team zu zusammen! Wir haben eine Leiche hier.“ Er legte den Hörer auf und wandte sich wieder der Schwester zu. „Oberschwester, bitten Sie das gesamte Personal in die Halle. Ich will mit allen Leuten reden!“ Die ältliche Oberschwester stand auf. Bei der Tür wandte sie sich um und sagte: „Es ist immer dasselbe, Herr Kriminalkommissar, ich habe es oft erlebt: Die guten Menschen sterben viel zu früh!“ Eine halbe Stunde später hatten sich etwa ein halbes Dutzend Krankenschwestern in der Halle versammelt. Zur Zeit lagen auch nicht viel mehr Patienten in den Zimmern der kleinen Privatklinik, wie sie erfahren hatten. Es gab keinen weiteren Arzt und auch kein männliches Pflegepersonal mehr. Das Pult am Empfang war aus Krankenheitsgründen bereits den zweiten Tag unbe289
setzt. Niemand hatte etwas Auffälliges wahrgenommen, und keine der Schwestern hatte einen Schuß gehört. Kommissar Schnabel, der in betroffene Gesichter sah, glaubte ihnen sogar. Er hielt es kaum für möglich, daß eine so umfassende Absprache stattgefunden haben sollte. Er fragte: „Ist Ihnen heute etwas an dem Chefarzt aufgefallen?“ Oberschwester Beate, die sich inzwischen gefaßt hatte, schüttelte den Kopf. „War der Professor anders als sonst? Irgendwie aufgeregt? Hatte er schlechte Laune?“ „Stimmungen gibt es nicht bei unserem Professor!“ Die Oberschwester sagte es empört. „Er ist … er war im Umgang mit uns von stets gleichbleibender Freundlichkeit.“ „Wie verlief der Arbeitstag?“ „Normal! Am Morgen die wöchentliche Arbeitsbesprechung, daran anschließend die Visite. Dort sah ich ihn zum letzten Mal; lebend, meine ich.“ Die Oberschwester knetete das Taschentuch in ihrer Hand. „Diese Arbeitsbesprechung! Wer nahm daran teil?“ „Lediglich ich und Frau Voigt vom Labor.“ Die Oberschwester deutete auf eine Person mittleren Alters, die ebenfalls in die Halle gekommen war. „Was wurde besprochen?“ „Ach, nichts Besonderes. Wir sind im Moment nicht ausgelastet.“ „Schwester Martas Geburtstag!“ meldete sich die Laborantin zu Wort. Der Kommissar wandte sich der Frau zu. „Ja, was ist damit?“ „Schwester Marta wird in der kommenden Woche sechzig Jahre alt. Der Professor wollte ihr eine kleine Feier ausrichten und eine Rede halten. Er ließ sich von uns Stichpunkte geben und notierte die.“ 290
„Und das finden Sie merkwürdig?“ „Allerdings“, erwiderte Frau Voigt resolut. „Warum tat er das, wenn er sich nur kurze Zeit darauf das Leben nehmen wollte?“ Es entstand ein eisiges Schweigen in der Halle. Den Schwestern schien zu dämmern, daß noch manches mehr an dem Tod des Chefarztes unbegreiflich war. Und dann hörten sie in die Stille hinein die tränenerstickte Stimme der Oberschwester: „Er war ein so gütiger Mensch.“ Und eine andere, die erwiderte: „Das war er ganz und gar nicht!“ Schwester Beate fuhr herum und sah Ellen Reinhardt ins Gesicht. „Aber Frau Doktor –!“ Die Ärztin sagte: „Ihr gütiger Professor ist ein Verbrecher gewesen!“ „Wie … können Sie etwas so … Ungeheuerliches behaupten, Frau Doktor?“ „Und er hieß auch nicht Liebscher! Er mußte seinen wirklichen Namen ändern, weil er bei der SS gewesen ist.“ „Was reden Sie denn da?“ Kommissar Schnabel sagte: „Es ist schon so, Oberschwester, er war bei der SS. Haben Sie das gewußt?“ „Nein, Herr Kommissar, und es ist mir auch einerlei.“ „Er hat in Frankreich Verbrechen an Juden begangen!“ Ellen Reinhardt stand direkt vor der Oberschwester und blickte ihr in die Augen. Aber die ältliche Frau beachtete die Ärztin nicht mehr. Sie wandte sich hilfesuchend an Gerhard Drenckmann. „Nun sagen Sie doch etwas, Herr Rosenau! Schließlich waren Sie sein Freund. Der einzige Freund, den unser Professor hatte!“ „Dieser Herr ist nicht Rosenau!“ rief Ellen Reinhardt. Immer mehr geriet sie in Erregung. „Ist nicht …“, stotterte die Oberschwester. 291
„Nein! Und das ist das letzte Verbrechen, das Ihr gütiger Professor …“ „Einen Moment, meine Damen!“ Der Kommissar trat dazwischen. „Oberschwester, ich möchte, daß Sie und das gesamte Personal an die Arbeit zurückgehen! Wir werden noch ausreichend Gelegenheit haben, miteinander zu sprechen.“ Die Frauen verließen die Halle, als letzte die Oberschwester. Aber sie blieb noch einmal stehen. Mit fester Stimme sagte sie: „Ich glaube nicht, was Sie über unseren Professor sagten. Ich habe ihn lange gekannt, ein solcher Mensch kann kein Verbrecher sein.“ Der Kommissar erwiderte barsch: „Verlassen Sie die Halle, Schwester!“ „Bei der SS! Was will das schon heißen?!“ Sie lachte laut und schrill. „Unsere Männer haben ihr Vaterland verteidigt, und nun sollen sie Verbrecher gewesen sein.“ Sie wandte sich um und ging in kerzengrader Haltung davon. Schnabel knurrte etwas in sich hinein. Er stampfte durch die Halle, wobei er vermied, in Yvonnes Richtung zu sehen. Bei der Eingangstür blieb er stehen und blickte ins Freie, aber die Wagen mit seinen Leuten vom Erkennungsdienst waren noch nicht eingetroffen. „Das ist kein Selbstmord, nicht wahr?“ fragte Yvonne im Rücken des Kommissars. Schnabel antwortete nicht. Irgendwo mußte eine undichte Stelle sein, dachte er. Aber wo? Die Zeitungen hatten bisher nichts über Klemms Tod gebracht. Da existierte zwar noch jener Sekretär Wilhelm, der bisher nirgendwo aufgetaucht war, aber da gab es auch den Weg vom Polizeipräsidium über die Staatsanwaltschaft bis hin zum Senat. Der Arzt war aus kürzester Entfernung erschossen worden. Er mußte also den Täter gekannt und ihm vertraut haben. War es jener ominöse Handtner selbst gewesen? 292
„Warum antworten Sie nicht, Herr Schnabel?“ fragte Yvonne. Der Kommissar wandte sich schwerfällig um und sah ihr ins Gesicht. „Ich kann mich nicht äußern, Frau Rosenau, es wäre nicht seriös. Sie müssen schon die Untersuchung abwarten.“ „Dann werden Sie es mir sagen?“ „Natürlich!“ „Wissen Sie, was ich glaube, Herr Schnabel?“ „Ja, bitte?“ „Wir sind von einer falschen Überlegung ausgegangen. Wir haben geglaubt, Klemm sei der gefährlichste von den dreien gewesen, und das ist vielleicht unrichtig. Handtner ist es, war es von Anfang an. Wer weiß? Und nach dem Tod seiner Komplicen werden Sie diesen Mann nun nicht mehr finden.“ Der Kommissar antwortete erst nach einer Weile. Dann sagte er: „Ich kriege ihn, Frau Rosenau! Ich werde alles nur Mögliche unternehmen, das verspreche ich Ihnen. Und Sie sollten nicht vergessen, daß uns von der Polizei auch Computer zur Verfügung stehen.“ Yvonne erhob sich. „Auf mich werden Sie von nun an verzichten müssen. Und auf Herrn Drenckmann auch. Wir gehen nach Wien!“ Schnabel wandte sich überrascht dem Mann zu. „Ist das richtig?“ Gerhard Drenckmann antwortete nicht. Der Kommissar ließ seinen Blick zwischen beiden hin- und hergehen, dann erschien auf seinem Gesicht ein Lächeln. „Ja, ich verstehe! Nun, es gibt ja Flugzeuge, denn ich werde Sie sicherlich noch brauchen, Herr Drenckmann!“ „Ich kann dich nicht begleiten, Yvonne!“ „Was soll das heißen, Gérard?“ „Ganz einfach, ich kann nicht mit dir nach Wien kommen.“ 293
Sie saßen vor der Klinik im Wagen, und der Motor lief schon. Er spürte ihren Blick, aber er brachte es nicht fertig, seinen Kopf in ihre Richtung zu drehen. Langsam tastete seine Hand nach dem Zündschloß und schaltete den Motor wieder aus. „Du hast ja die Oberschwester gehört“, sagte er. „Vergiß es!“ „Nein, Yvonne! Sie ist sicher keine schlechte Frau, so im landläufigen Sinn. Und wie sie denken viele. Ja, ich glaube sehr viele! Sie schweigen die Vergangenheit tot. Aus Feigheit. Aus Bequemlichkeit. Oder auch nur aus Unwissenheit. Ist das nicht schrecklich? Ich habe auch nicht viel nachgedacht bis zu den letzten Ereignissen.“ Er schaute zum Krankenhaus hinüber, in dem der fette Kriminalkommissar seiner unerquicklichen Arbeit nachging. Es lag in gespenstischer Stille vor ihnen. Dann hörte er Yvonne sagen: „Weißt du, was ich glaube, Gérard?“ „Was?“ „Du hast einfach Angst, in Wien neu anzufangen.“ Sie sagte es ganz ruhig, und er war nicht sicher, ob sie ihn nicht nur provozieren wollte. Sollte sie es, dachte er. Ihr gegenüber fiel ihm Offenheit nicht mehr schwer. Er erwiderte: „Ja, ich bin feige, ich weiß es! Ich bin mein Leben lang davongelaufen, und gerade wollte ich es wieder tun. Ich denke, es wäre ziemlich einfach, hier alles stehen- und liegenzulassen, zumal ich es mit etwas Schönem verbinden könnte. Denn mit dir zu leben, und wenn auch nur auf Zeit, empfände ich als schön. Aber es geschähe eben nicht zuletzt aus Feigheit. Ich habe nämlich Angst davor, daß die Leute mir ins Gesicht blicken und Fragen stellen werden. Und darauf muß ich dann ja antworten. Ich meine, richtig antworten!“ „Und was willst du nun anfangen?“ fragte sie nach einer Weile. Er wollte ihr vieles sagen. Zum Beispiel war er noch nicht zum Kern seines Wesens vorgedrungen. Meinte er. 294
Er hatte längst nicht alle Bezirke in sich abgeschritten und war auch selten an Grenzen gekommen. Gerade das wollte er versuchen. Und wenn auch nur aus Neugier, um zu sehen, wie es dahinter aussah. Alles das hätte er ihr gern gesagt, aber er scheute sich, es auszusprechen. Und so sagte er nur: „Ich will mich dem Kommissar zur Verfügung halten. Dieser Kriminalfall ist ja längst nicht abgeschlossen.“ Ihre Hände griffen nach seinem Kopf und zwangen ihn, in ihre Richtung zu blicken. Er sah ihre Augen, die ihm sehr gefielen, und er hörte sie sagen: „Ich glaube, Gérard, daß ich dich zum ersten Mal wirklich akzeptieren kann.“ Er sah sie lächeln, und er war sehr verwirrt. Hatte sie ihn verstanden, obwohl er ihr nicht ein Wort von dem gesagt hatte, was ihn bewegte? Über diese Frau hatte er schon viel gerätselt. Und ganz vergeblich! Ihr Lächeln wurde stärker, auch offener. Und dann sagte sie: „Fahr los, Gérard!“ Er tat es!
295
1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1981 Lizenz-Nr.: 409-160/110/81 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 477 1 DDR 3,– M