Kevin Guilfoile
Das Gesicht des Mörders
s&p 05/2007
Ein Arzt unternimmt ein diabolisches Experiment: Den Mörder seiner Tochter zu klonen … ISBN: 3-8270-0613-9 Original: Cast of Shadows (2005) Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence Verlag: BLOOMSBURY BERLIN Erscheinungsjahr: 2006 Umschlaggestaltung: Nina Rothfos und Patrick Gabler, Hamburg
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Davis Moore ist Chefarzt einer Klink für künstliche Befruchtung und menschliches Klonen zu Fortpflanzungszwecken. Als seine Tochter brutal vergewaltigt und ermordet aufgefunden wird, begibt er sich auf die Suche nach dem Mörder. Ein monströser Plan wächst in ihm, als er in den Besitz von dessen DNAMaterial gelangt: den Täter zu klonen, um ihm auf die Spur zu kommen. Justin Finn ist als Dreijähriger wie jedes andere Kind. Aber eines Tages wird er das Gesicht des Mörders haben. Kann ein Dreijähriger eine Vergangenheit haben? Was ist Identität? Wo hat das Böse seinen Ursprung?
Autor Kevin Guilfoile arbeitet als Journalist für verschiedene amerikanische Zeitschriften. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Chicago, USA. Dies ist sein erster Roman.
Für Mo, die alles genau so vorausgesagt hat
Die Meinungen, die so natürlich aus dem Charakter und der Situation des Helden erwachsen, sind keinesfalls immer als Teil auch meiner Überzeugung zu betrachten; noch lässt sich von den folgenden Seiten zu Recht irgendein Rückschluss gegen eine philosophische Doktrin, ganz gleich welcher Art, ziehen. Mary Shelley, aus dem Vorwort zu Frankenstein
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TEIL EINS Anna Kats letzte Ruhe Es war nicht Trauer, was Davis empfand, als er auf ihre unmöglich verdrehten Füße starrte, die leblos auf dem synthetischen, dichten Dunkelgrau des Teppichs ruhten. Trauer wird geboren. Trauer reift. Trauer vergeht. Verzweiflung dagegen, die sich unvermittelt einstellt, vergärt zu Depression. Und obwohl die Depression sich erst nach Monaten einstellen würde, spürte er bereits diese Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit seinem Leben gegenüber, seiner Frau, seiner Praxis, seinen Patienten, seinem neuen Haus beim Golfplatz und seinem zweiten Haus am See. Er sah im Geiste alles – Menschen, Grundstücke, Besitztümer – in Flammen aufgehen, während er teilnahmslos daneben stand. Teilnahmslos, gleichgültig. Das kalte Neonlicht, das senkrecht von der Decke bis in den entlegensten Winkel strahlte, ließ nirgends einen Schatten zu. Von innen wirkten die breiten, auf die Straße hinausgehenden Fenster wie schwarz gestrichen, und von außen, von jenseits der Polizeiwagen, der verrußten Schneeverwehungen und des gelben Absperrbands, war der Laden so weiß und kahl wie die Nachtaufnahme eines Hauses von Mies van der Rohe. Im Verkaufsraum redeten ein paar Polizisten miteinander, doch in Davis’ Bewusstsein drangen nur Bruchstücke der leisen Unterhaltung: »Was will der hier … zertrampelt uns noch die ganzen Spuren, zum Teufel …« Der Polizist gleich neben Davis hieß Ortega und war einmal sein Patient gewesen. Heute Abend hatte Ortega ihn durch die Hintertür vom Gap reingelassen, 7
durch das Lager in den Laden und den rechteckigen Kassenbereich geführt, wo er jetzt stand –, und einer der Detectives würde Ortega dafür den Arsch aufreißen. Davis nahm Anna Kats Füße abwechselnd scharf und verschwommen wahr, aber er wandte die Augen nicht von ihnen. Wie hellbraunes Plastik sahen sie aus, so starr, als hätte man sie einer der Schaufensterpuppen abgetrennt, die in Rippenpullovern an der Wand lehnten, und er dachte über Ortegas leblosen Samen und den Tag nach, an dem er, Dr. Davis Moore, dem Polizisten und seiner hübschen Frau die schlechte Nachricht mitgeteilt hatte. Katholiken, erinnerte er sich. Sie entschieden sich gegen künstliche Befruchtung und schnalzten missbilligend mit der Zunge angesichts der anonymen DNA und all der überzähligen Embryonen, die bei seiner Arbeit produziert wurden. Er fragte sich, ob sie wohl inzwischen ein Kind adoptiert hatten und ob der Polizist, der dann mittlerweile selbst Vater wäre, begreifen würde, dass der Kummer, den er, Davis empfand, unheilbar war. Er ging den Weg zurück, den er gekommen war, trat ohne Jackett hinaus in die Dunkelheit und den Schnee. Ein anderer Polizist fuhr ihn nach Hause zu der großen Villa im Landhausstil in der Stone Avenue, wo Anna Kats Mutter Jackie sich an den tröstenden Schultern der Nachbarn ausweinte. Er gab ihr ein Beruhigungsmittel, ließ den Macallan in Strömen fließen und hoffte, ihnen beiden damit einen betäubenden, traumlosen Schlaf zu ermöglichen. Der erste Morgen danach war der schlimmste von allen. Das Erwachen riss ihn aus dem Vergessen und bei Tageslicht überfiel ihn die Erinnerung, dass sein einziges Kind tot war.
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Anna Kat mit sechzehn
1 Diese Frauen waren älter als seine Frau, Verzweifelter vielleicht, dachte Terry. Sie waren etwa in seinem Alter, Ende dreißig, und das machte ihn verlegen. Männern gegenüber hatte er kein Problem, über Marthas Alter zu sprechen. Im Gegenteil, er führte sie gerne vor mit Händchenhalten, einer kleinen spontanen Knutscherei und indem er sich im Restaurant neben sie setzte. Er war sich sicher, dass er das Trinken oder Kiffen aufgeben könnte, und hatte es auch vor, sobald das Kind geboren war. Das Kiffen sowieso (wenn es je ein Kind geben sollte). Aber nichts turnte ihn so an wie die Möglichkeit, andere eifersüchtig zu machen, und dass er mit der jungen, intelligenten, sexy Martha verheiratet war, das ließ andere Männer vor Neid erblassen. Das würde er nie aufgeben. Die anderen Frauen warfen neugierig verstohlene Blicke zu Martha hinüber, die in eine monatealte Ausgabe von Newsweek vertieft war. Natürlich wunderten sie sich, was eine so junge Frau hier wollte. In ihren Augen lag eine Mischung aus Neid und Mitleid, wenn sie den Blick auf sie richteten und sich gleich wieder abwandten. Ihren Männern fiel sie natürlich auch auf, dachte sich Terry. Mit einem ersten Blick schätzten sie die Größe ihrer Brüste ab, mit einem zweiten die Form, mit dem dritten wurden Alter, Gewicht, Figur und Gesicht mit der Durchschnittsehefrau verglichen. Egal, welche sexuellen Spannungen sich ihr Mann im Raum vorstellen mochte, Martha Finn spürte nichts davon. Sie war nervös, aber ihre Nervosität hatte nichts mit Eifersucht, 9
erotischen Fantasien oder Lust zu tun. Im Gegensatz zu etlichen der anwesenden Frauen funktionierten ihre Eizellen und Eierstöcke wie vorgesehen. Und anders als bei etlichen der anwesenden Männer waren Terrys Spermien lebhaft und zahlreich, was wohl sein selbstzufriedenes Grinsen erklärte, dachte sie bekümmert. Eine Schwester führte sie von ihren weißen Lederstühlen an verschiedenen Untersuchungsräumen und unbeschrifteten Türen vorbei in Dr. Moores Sprechzimmer. Den großen Fenstern, der maßgefertigten Couch und dem Schreibtisch nach zu urteilen, hätte Dr. Davis Moore auch ein erfolgreicher Architekt oder Banker sein können. Es gab einen gewollten Bruch zwischen dem kargen, monochromen Ambiente des Warteraums und dem warmen Mahagoni von Dr. Moores Sprechzimmer. »Das alles ist mir noch so fremd«, sagte Terry Finn und verbarg seine Unsicherheit hinter einem Lachen. Martha legte die Hand auf sein Knie. Im Büro war Terry es gewohnt, das Alphamännchen im Raum zu sein, aber Dr. Moore war eine beeindruckende Erscheinung, groß und schlank, mit dicht gewelltem braunem Haar (wie das Haar eines Politikers, dachte Terry). Er trug eine weiße Arztjacke über einem teuren Baumwollhemd und einer roten Seidenkrawatte. Seine Baritonstimme klang sanft, aber bestimmt und war so sicher wie die Hände, mit denen er wichtige Punkte seiner Ausführungen unterstrich. Sein Schreibtisch war ohne jedes Durcheinander und deutete auf einen Menschen, der die Probleme löste, wenn sie sich ihm stellten. Dr. Moore hatte es zu einer gewissen Berühmtheit gebracht: Das Chicago-Magazin hatte ihn zu einem der »Top Docs« der Stadt gekürt, und unter dem Foto stand, dass Davis Moore einer der führenden Experten des Landes auf dem Gebiet des Klonens und seiner ethischen Aspekte sei. »Einige Paare haben Bedenken, was den Ablauf betrifft«, sagte Davis. »Einige haben moralische Fragen, die ihnen die 10
Wissenschaft nicht beantworten kann. Und es gibt beträchtlichen Widerstand seitens einiger Religionsgemeinschaften. Gehen Sie in die Kirche?« »Zu Weihnachten.« Martha errötete. »Wenn es Ihnen hilft – auch ich glaube an Gott und lebe im Frieden mit meiner wissenschaftlichen Arbeit«, sagte Davis. »Wir können keine Seelen klonen, wissen Sie. Im Übrigen habe ich schon festgestellt, dass es religiöse Menschen gibt, die mit dem Klonen weniger Probleme haben als mit der herkömmlichen künstlichen Befruchtung der Eizelle im Reagenzglas.« Er hatte zahllose dieser Einführungsgespräche geführt und konnte die Fragen voraussagen, sogar die Reihenfolge, in der sie gestellt wurden. Er hörte kaum mehr zu, bevor er antwortete. »Sie müssen nicht so viele Embryonen erzeugen, nicht wahr?«, fragte Martha. »Das stimmt. In vielen Fällen brauchen wir nur einen.« »Ich weiß, dass es ein paar Rechtsfragen gibt«, sagte sie. »Ich habe ein wenig im Internet recherchiert. Hier und da ein bisschen gelesen. Gerade genug, um zu begreifen, wie wenig ich davon verstehe.« Sie kicherte verlegen, und Davis sah, wie dieses Lächeln sie veränderte, als wäre ihr ernstes Gesicht eine Maske und ihr Lächeln die Enthüllung ihres wahren Ichs. »Ich weiß, dass ein paar Ärzte im Osten letztes Jahr Probleme bekommen haben.« »Wir sind an strenge Richtlinien gebunden, Vorschriften und Gesetze, und es gibt harte Strafen, wenn man sie verletzt. Das reicht vom Verlust der Approbation bis zu Gefängnis. Zum Beispiel muss der Spender tot sein. Damit Ihr Kind in der Schlange im Supermarkt nicht auf sein Double trifft.« Terry, Martha und Davis lachten.
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»Ich kann es nicht fassen …«, sagte Martha. »Das ganze Verfahren ist für mich eine unglaubliche Sache … Dass man einen Toten klonen kann …« »Die DNA ist nicht so empfindlich, wie man einst angenommen hat. Wir haben zwar hoch entwickelte Methoden, sie aufzubewahren und zu konservieren, aber mit unserer heutigen Technologie können wir lebensfähige DNA sogar aus längst totem Gewebe gewinnen. Wenn eine Person jedoch einmal geklont ist, wird ihre restliche DNA zerstört. Wir machen nie mehrere Kopien von einer Person. Ihr Kind wäre der einzige Mensch mit diesem genetischen Muster. Außer es würden Zwillinge.« »Wer genau sind die Spender?«, fragte Martha, und ihre Stimme gewann langsam an Sicherheit. »In der Regel Samen- und Eizellenspender. Sie werden gefragt, ob sie nach ihrem Tod ihre DNA zum Klonen zur Verfügung stellen wollen oder nicht. Wenn die Antwort ja ist, wird ihnen Blut abgenommen und sie erhalten das Dreifache der normalen Entschädigung, Frauen das Zehnfache. Es mag seltsam klingen, aber fürs Klonen reichen nicht allein die reproduktiven Zellen aus.« »Frauen stellen ihre DNA weniger oft zur Verfügung«, sagte Martha. Sie erinnerte sich, das auf einer Website gelesen zu haben. »Deshalb sind die meisten geklonten Kinder Jungen.« »Genau. Das Spenden von Sperma ist häufiger als das von Eizellen, und es gibt immer noch sehr wenige Menschen, die Zellen speziell für das Klonen zur Verfügung stellen. Die meisten Spender kommen später darauf, dass man mit einem Ärmelaufkrempeln und einer weiteren Unterschrift extra Geld machen kann. Manche treibt auch ihr Ego: die erregende Vorstellung, dass ihre DNA fortleben wird, obwohl so etwas wie Unsterblichkeit natürlich Unsinn ist. Viele Menschen, besonders Frauen, finden die Idee einer genetisch identischen Kopie 12
allerdings etwas beunruhigend. Natürlich gibt es auch hier gesetzliche Richtlinien. Rechtsvorschriften. Menschen dürfen nicht ohne ihre Einwilligung geklont werden. Gesetze und ethische Grundsätze verbieten uns, einfach ein paar abgeschnittene Fingernägel aus dem Papierkorb zu holen und einen Menschen ohne sein Wissen zu klonen. Und wie Sie sicher wissen, sind vom Kongress in den letzten fünf Jahren eine Vielzahl Gesetze zum Schutz der Privatsphäre erlassen worden. Es ist sogar illegal, die DNA eines Menschen zu speichern, es sei denn, er wird einer schweren Straftat beschuldigt.« »Wie funktioniert die Implantation?«, fragte Martha. Ehemänner machen sich nie Gedanken um die Eipflanzung, dachte Davis, immer nur um das Ergebnis. »Wenn wir so weit sind, würden wir einer Ihrer Eizellen den Zellkern entnehmen, so dass nur noch die Schale übrig bleibt. Dann setzen wir den Zellkern des Zellenspenders ein, normalerweise die DNA einer weißen Blutzelle, und stimulieren die Eizelle, sich so zu verhalten, als wäre sie ein natürlich befruchtetes Ei. Danach folgt die Implantation, so wie bei einer künstlichen Befruchtung.« »Wenn ich es recht verstehe, gibt es mehr Bewerber als Spender.« Aus irgendeinem Grund versuchte Martha, die kleine herausgerissene Seite aus ihrem Notizbuch zu verbergen, auf der sie ihre Fragen aufgeschrieben hatte. »Wenn wir uns entscheiden, uns auf die Warteliste setzen zu lassen, wie lange dauert es dann noch, bis eine DNA-Spende verfügbar ist?« »Manchmal beträgt die Wartezeit drei oder vier Jahre, aber es geht nicht einfach nur der Reihe nach. Martha, Sie sagten in Ihrem Vorgespräch, dass es in Ihrer Familie die HuntingtonKrankheit gibt?«
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Nur ein Arzt konnte solch eine Frage stellen, ohne unhöflich zu wirken. »Ja«, sagte sie. »Ich habe mich darauf untersuchen lassen. Ich würde sie übertragen.« »Damit kommen Sie ganz oben auf die Liste. Jedes Kind, das Sie nach natürlicher oder künstlicher Befruchtung zur Welt brächten – alles Vorgänge, die Ihres eigenen genetischen Materials bedürfen –, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit daran erkranken. Der geklonte Embryo, der Ihnen eingepflanzt wird, ist auf alle bekannten Erbkrankheiten untersucht, und Sie können das Kind austragen, ohne eine negative Disposition an es weiterzugeben. Genau betrachtet adoptieren Sie mit dem Klonen ein Kind im Embryonalstadium. Und obwohl es technisch gesehen nicht Ihr natürliches Kind ist, ist es aber auch nicht das Kind von jemand anderem. So gesehen ist das Klonen allen anderen Techniken überlegen. Und auch gesetzlich gibt es kaum eine Grauzone. Sie werden nie Angst davor haben müssen, dass eines Tages die leibliche Mutter oder der Vater auftaucht und Rechte auf Ihr Kind anmeldet.« »Was ist mit den Eltern des Spenders?«, fragte Terry. Eine gute Frage, dachte Davis, aber auch eine, die erkennen ließ, was ihn bewegte: Er ist mehr an möglichen rechtlichen Problemen interessiert als an dem Verfahren selbst. »Nun, selbst wenn sie noch leben, der Klon ist weder juristisch noch ethisch ihr Nachkomme. Er wird ein anderer Mensch sein, mit anderen Vorlieben und Abneigungen. Er wird seine ganz eigene Persönlichkeit entwickeln. Seine eigene Seele haben, wenn Sie an so etwas wie eine Seele glauben. Ich tue es, wie ich schon sagte.« »Sie sagen er.« Martha blinzelte, als machte sie sich auf einen Schlag gefasst. »Es besteht also keine Chance, dass es ein Mädchen werden könnte?« Davis holte tief Luft. Dreimal im letzten Jahr war seine Antwort auf diese Frage mit empörten und uninformierten 14
Vorträgen über Eugenik beantwortet worden. Allerdings war er sich ziemlich sicher, dass einer davon arrangiert gewesen war. Das Paar war noch am selben Abend in den Lokalnachrichten zu sehen gewesen, wo es seinem Entsetzen darüber Ausdruck gab, was es bei seinem Besuch in einer »Klon-Klinik« zu hören bekommen hätte. »Sosehr wir uns wünschten, dass die Chancen in etwa so stünden wie in der Natur, einundfünfzig Prozent für ein Mädchen, deutet das gegenwärtige Spenderprofil eher darauf hin, dass Sie einen Jungen bekommen. Innerhalb dieses Rahmens, so schreibt es der Gesetzgeber vor, hat die Auswahl des Geschlechts zufällig zu erfolgen. Die eine oder andere Einflussmöglichkeit haben wir dennoch. Wenn ich auch in dem, was ich Ihnen über den Spender sagen darf, eingeschränkt bin, so schauen wir doch darauf, dass ein paar äußerliche, körperliche Merkmale mit denen der Eltern zusammenpassen. Sie beide sind blond, und so werden wir versuchen, jemanden zu finden, dessen Haarfarbe zu Ihrer passt. Viele Menschen, die sich auf diese Weise ihren Kinderwunsch erfüllen, möchten nicht gern, dass sich Freunde oder Nachbarn Gedanken über die Herkunft ihres Kindes machen.« Terry und Martha Finn schienen weder überrascht noch verunsichert. »Damit sind wir bei einer anderen Frage, die mich interessiert«, sagte Terry. »Wer erfährt alles von der Sache?« »Ja. Gut, das ist wichtig«, sagte Davis. »Als Eltern eines geklonten Kindes sind Sie verpflichtet, Ihr Kind alle sechs Monate von einem Kinderarzt untersuchen zu lassen, mindestens bis zu seinem sechzehnten Geburtstag. Wir haben bei uns eine ausgezeichnete Kinderärztin, Dr. Burton, aber Sie müssen nicht zu ihr gehen, wenn Sie sich bei einem anderen Kinderarzt wohler fühlen. Wen immer Sie jedoch aussuchen, Sie werden den Arzt Ihres Kindes darüber aufklären müssen, dass er einen Klon behandelt, und dieser Arzt wird regelmäßige Berichte an unsere Klinik schicken. Das dient sowohl der 15
laufenden Forschung als auch dem Schutz der Integrität des Verfahrens und unterliegt natürlich der ärztlichen Schweigepflicht. Wir arbeiten hier übrigens mit verschiedenen Methoden, und Dr. Burton hat nicht nur geklonte Kinder als Patienten, somit wird niemand misstrauisch, der Sie bei ihr im Wartezimmer sieht.« »Was ist mit dem Kind selbst?«, fragte Martha. »Sollten wir es ihm erzählen? Ihm oder ihr?« »Das liegt selbstverständlich bei Ihnen. Wobei die meisten Therapeuten sagen, man sollte warten, bis die Kinder Teenager sind. Es ist nicht ganz einfach für ein Kind, sich damit auseinander zu setzen. Natürlich wird das Klonen in fünfzehn Jahren längst nicht mehr so außergewöhnlich erscheinen wie heute.« Nach einem kurzen Schweigen sah Davis auf die Uhr, aber geduldig, so wie man es ihm siebzehn Jahre zuvor an der University of Minnesota beigebracht hatte. »Auf mich wartet ein weiterer Termin, aber haben Sie noch Fragen? Die Zeit habe ich, bis alles beantwortet ist.« Sie hatten keine Fragen mehr. Im Moment nicht. Es war seltsam, in einem so angenehmen altmodischen Raum, umgeben von Büchern, viel dunklem Holz und gerahmten Landkarten, von so etwas zu sprechen – fast wie in einem Roman von H. G. Wells. Davis wollte es so. Es half, die Paare langsam an die Sache heranzuführen und dabei die auszusortieren, die noch nicht so weit waren. Das erste Treffen, sagte er immer, ist die erste von vielen Verhandlungen. Er brachte die beiden zur Tür, ging dann zurück zu seinem Schreibtisch und legte eine neue Datei in seinem Computer an. »Martha und Terry Finn. Vorzugskandidaten. Sie will das Kind mehr als er. Kommen wahrscheinlich zu weiterem Gespräch oder holen eine zweite Meinung ein. Denke nicht, dass wir noch in diesem Quartal einen Termin brauchen.«
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Während sie in ihrem Acura im Schritttempo an den VorstadtShopping-Malis entlangkrochen, las Martha wahllos halbe Sätze aus der Broschüre der New Tech Fertility Clinic vor, und Terry versuchte, sowohl ihr als auch dem leise gestellten Sportsender im Autoradio zuzuhören. Terry nahm an, dass er ein Kind wollte. Er wusste, dass Martha eins wollte, und sie hatten alle Optionen und deren mögliche Folgen besprochen, bevor sie sich für diesen Weg entschieden hatten. Bevor sie sich entschieden hatten, die DNALotterie zu spielen … Sich auf die gute alte Art fortzupflanzen, auf dem von Gott gegebenen und von Darwin bestätigten Weg, der mit einer wunderbaren, manchmal zeitlich genau geplanten Paarung beginnt und in Kindern einer gewissen Sorte endet. Vor der Geburt weiß man nichts von ihnen, allenfalls noch, ob es ein Junge oder Mädchen wird, dennoch ist das, was sie später werden, weniger eine Überraschung als das Ergebnis von Anlagen. Er dachte an den Sonntag, nachdem er und Martha aus den Flitterwochen zurückgekommen waren. Sie hatten im kleinen Familienkreis ihre Hochzeitsgeschenke ausgepackt. Jedes einzelne schön verpackte Geschenk barg ein Geheimnis, und doch enthielt es etwas von ihrer Geschenkeliste. Einmal ausgepackt, boten all die Küchenutensilien und das Silber und das Porzellan einen schönen, aber vertrauten Anblick. Ein eigenes Kind musste in etwa so sein. Wie ein Geschenk von sich selbst. Aber ein Klon. Ein Klon war etwas anderes. Ein Klon war das Geschenk eines Fremden. Ein Klon ließ sich lieben wie sein eigen Fleisch und Blut, da war er sich sicher, aber Licht und Dunkel in diesem Klon-Kind waren nicht wie Licht und Dunkel in der eigenen Seele. Anders als bei einem natürlichen Kind hat die Evolution die Gene zweier Menschen nicht durchsucht und zu etwas Neuem und Besserem gemacht. In einem Klon wiederholen sich die Fehler der DNA der vorherigen
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Generation. Ihr Kind würde ein altes Modell werden, und wer wusste, unter welchen Funktionsstörungen es zu leiden hatte. Aber Terry hörte Marthas Stimme an, dass die Aussichten sie begeisterten. Gemäß all der Bücher und Videos, die sie studiert hatten, lag noch ein langes Jahr oder mehr voller Tests, Gespräche und Lernen vor ihnen, wenn es auch vor allem Martha sein würde, die dabei gefordert wurde. Während der letzten zehn Monate hatten sie mit der Entscheidung für oder gegen ein Baby gerungen, und er war immer gleich glücklich gewesen, ob Martha nun gerade mehr zu einem Ja oder einem Nein geneigt hatte. Ein kleiner Junge, ein Fremder, würde sein Leben damit beginnen, ihres von Grund auf zu verändern, und doch wusste er, dass sie das Richtige taten. Er streckte die Hand aus, um ihr Knie zu streicheln, aber durch den Sicherheitsgurt und die Art, wie sie sich vor der grellen Sonne Schutz suchend zur Seite lehnte, konnte er es nicht erreichen, und so rieb er mit seinen Fingerknöcheln über den blauen Baumwollstoff, der ihre Hüfte bedeckte, und malte mit dem Daumen keilförmige Formen auf ihren Oberschenkel. Martha lächelte, schloss die Augen und lehnte sich zurück. Sie legte die Broschüre auf ihren Schoß, strich sich über den flachen Bauch und stellte sich vor, wie sie einem Mann, der bereits tot war, ein neues Leben schenken würde. Sie wusste, dass es so nicht war, aber sie glaubte an die Menschen, liebte sie alle, liebte sogar ihre Fehler. Jeder Einzelne von ihnen verdiente und wünschte sich bestimmt eine zweite Chance.
2 Vom Beifahrersitz seines zwanzig Jahre alten Cutlass Supreme aus hatte Mickey Fanning die Tür der New Tech Fertility Clinic beobachtet, schon fast drei Tage lang. Er kam jeden Morgen um sieben und parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite, ein 18
kleines Stückchen südlich. Heute Morgen befreite er sich von seinem zerfransenden Gurt und rutschte auf die Beifahrerseite. Nachts war ihm der Gedanke gekommen, dass er dort weniger auffiel als hinter dem Steuer. Um Punkt elf, wenn er seiner alten Uhr glauben konnte, rutschte er zurück auf die Fahrerseite, fädelte sich in den Verkehr ein und kreiste um den Block, bis er eine zwar weniger gute, aber immer noch akzeptable neue Beobachtungsposition fand. Um drei Uhr nachmittags wiederholte er das Manöver und parkte noch ein Stück weiter die Straße hinunter. Er fuhr erst wieder zurück zum Motel, nachdem der letzte Arzt abgeschlossen hatte, notierte sich das genaue Kommen und Gehen der Ärzte in einem schön gebundenen Notizbuch, dessen Umschlag er mit blauen Kugelschreiberkreuzen geschmückt und auf den er vorne oben quer das Wort GOTT geschrieben hatte und links am Rand hinunter GERECHTIGKEIT, wobei sich die beiden Wörter den verschnörkelten Anfangsbuchstaben teilten. Damals, als er noch intelligente Freunde hatte, nannten ihn die findigsten von ihnen »Mickey das Gerundium« und spielten damit auf seinen Nachnamen Fanning an. Mit etwa neunzehn dann war er argwöhnisch geworden, was intelligente Leute anging. Das waren beinahe schon Intellektuelle, und Intellektuelle waren der Grund, wenigstens einer von ihnen, warum diese Welt bald schon zur Hölle fahren würde, angefangen mit den arabischen Ländern, dicht gefolgt vom atheistischen China und heidnischen Indien, und dann wahrscheinlich auch den Vereinigten Staaten, wobei es mit der Küste anfangen würde (obwohl auch das Herz des Landes in Sünde geraten war, und dem würde er bald schon Rechnung tragen). Intellektuelle glaubten seiner Erfahrung nach nicht an Recht und Unrecht. Mickey das Gerundium glaubte an nichts anderes. Nicht nur an das praktisch Rechte und Unrechte von Taten, wie es den Aposteln am Beispiel von Jesus Christus offenbart wurde (obwohl natürlich auch daran), sondern an seine 19
Existenz von Anbeginn an (und in alle Ewigkeit, bis ans Ende der Zeit, amen). Gott hatte nicht willkürlich entschieden, was recht und unrecht war, er selbst war das Fleisch, das Mensch gewordene Rechte und Unrechte. Was sonst konnte Jesus meinen, wenn er sagte: »Niemand ist gut als Gott allein«? Gott hatte die Rechtschaffenheit nicht erfunden, er war die Rechtschaffenheit. Wenn Mickey je hier auf Erden für das, was er getan hatte und noch tun würde, Rechenschaft ablegen müsste, würde er ruhig sein vierhundert Seiten langes, getipptes Manifest hervorholen, in dem er diese und andere Wahrheiten erklärte. Wenige würden es verstehen, aber diese wenigen hätten eine Chance, nicht mehr als eine Chance, durch das nadelöhrgroße Tor Seines Königreichs zu treten. Er beobachtete ein Paar, das durch die getönten Glastüren auf die Straße trat. Der Mann war älter als die Frau, und die beiden hielten sich bei den Händen. Die Frau war jung, fit und von einer gesunden Schönheit. Er betrachtete sie und spürte, wie sie ihn erregte. Er sprach ein Gebet, aber die besorgt geflüsterten Worte sprudelten unreflektiert mechanisch, eines nach dem anderen, aus ihm heraus. Mickey das Gerundium glaubte nicht, dass Sex als solcher böse war (und Zeugung war den reproduktiven Perversionen, die in den Reagenzgläsern der Klinik dort drüben betrieben wurden, natürlich vorzuziehen), aber er war sich sicher, dass sein plötzliches lustvolles Begehren dieser Frau der Beweis dafür war, dass sie sich in den Klauen eines Dämons befand. Wenn es nicht das Gesamtkonzept verzerren und den Masterplan aus den Angeln heben würde, könnte er ihr ein gewisses Maß an Gerechtigkeit widerfahren lassen. Aber nein, er würde dieser lasterhaften Versuchung widerstehen. Der Teufel würde ohne Zweifel eine gewöhnliche Sirene opfern, um die Soldaten der Hölle in dem Gebäude da drüben unter Kontrolle zu halten. Mickey hatte vielen Sünden entsagt an dem Tag, an dem er entschieden hatte, sein Leben Jesus zu weihen, Frauen waren eine davon, und Frauen 20
aufzugeben war ihm am schwersten gefallen. Andererseits gab ihm sein Zölibat aber auch viel. Er sah die Dinge jetzt klar. Solange ein Mann denkt, er könne noch einmal eine Frau haben, wird sein Denken immer von Verlangen umnebelt sein, und Mickey wurde durch jeden unreinen Gedanken und jede schmerzhafte Erektion daran erinnert. Er zielte mit Zeige- und Mittelfinger auf das Paar, das bei dem geparkten Acura stehen geblieben war, zog den Daumenabzug durch und »schoss« zuerst auf sie und dann auf ihn.
3 »Hier, ich habe ein Geschenk für dich.« Anna Kat legte ein dünnes rechteckiges Päckchen vor Davis auf den Tisch, das etwa so lang war wie einer ihrer schlanken Finger. Sie streckte die Hand nach hinten und zog sich einen Stuhl heran, um sich ihm gegenüber auf die andere Seite des Schreibtischs zu setzen. »Womit habe ich das verdient?«, fragte er und freute sich. Anna Kats Besuche in seinem Sprechzimmer in der Klinik kamen oft ungelegen, aber sie munterten ihn jedes Mal auf. Es war sicher nicht ungewöhnlich für einen Mann, der auf seine Tochter stolz war, sich gleichzeitig auch von ihr übertrumpft zu fühlen, und doch erlaubte sich Davis, sein Verhältnis zu Kat für besonders eng zu halten. Trotz aller Hingabe an seine Arbeit hatte er sich bemüht, eine junge Frau aus ihr zu machen, die ein Davis Moore im Teenageralter bewundert, zu seiner Freundin erkoren und mit aller Energie und all seinem Charme umworben hätte. Aber wichtiger war noch, dass er ihr dabei geholfen hatte, zu einer Frau zu werden, die das unerschütterliche, großkotzige Gerede des halbzüchtigen Davis Moore problemlos durchschaut hätte. 21
»Es war eigentlich für deinen Geburtstag gedacht«, sagte sie, »aber dann dachte ich, du könntest es schon vorher brauchen, wobei ich meine Geschenke sowieso am liebsten gleich mache. Was wohl bedeutet, dass du sagen könntest, es ist ein Dankefür-die-Ungeduld-die-ich-von-dir-geerbt-habe-Geschenk.« »Von mir?« Davis tat so, als wäre er beleidigt, als er das kleine, mit einer Schleife geschmückte Päckchen in die Hand nahm und am Papier zu zupfen begann. »Deine Mutter ist die Ungeduldige. Das war sie immer.« Anna Kat lachte. Es war so leicht, sie zum Lachen zu bringen. Als sie klein war, hatte er es immer wieder getan, und das Lachen wirkte wie ein Generator, bis sie sich Minuten später in einen wahren Rausch gelacht hatte. Dann konnte auch Davis sich nicht mehr zurückhalten. Zahllose Male fand Jackie sie auf dem Rücken im Spielzimmer liegen, ihren Lachkrämpfen ausgeliefert, wie Schildkröten, die nicht mehr auf die Beine kamen. Der Klebestreifen löste sich, und unter dem Papier kam eine kleine spiegelnde Disc in einer schwarzen Plastikhülle zum Vorschein. »Was ist das?« »Neu entdeckte Geburten- und Todesregister aus Arkansas, Missouri, Texas, Oklahoma, New Mexico und Nevada. Achtzehnhundert bis achtzehnhundertdreiunddreißig, wenn die Daten auch nicht für alle Staaten komplett sind.« Davis drehte die Scheibe um. Sie war ohne jede Beschriftung oder irgendeinen Aufdruck. »Wo hast du die gekauft?« »Gekauft?« AK sucht in der kleinen Schüssel mit Süßigkeiten auf seinem Schreibtisch nach etwas Schokoladigem, nichts Knusprigem. Sie nahm einen winzigen Hershey-Riegel und packte ihn, ohne dass es ihr bewusst wurde, ganz ähnlich aus, wie ihr Vater gerade ihr Geschenk geöffnet hatte (von den Enden aus, erst links, dann rechts). 22
»Nicht gekauft«, sagte sie mit dem Riegel im Mund. »Heruntergeladen. Kopiert. Gebrannt.« Davis sah sie mit ernstem, vorwurfsvollem Blick an. »Also«, sagte sie, »ganz ohne Hacken ging es nicht.« Ein reueloses Geständnis. Davis schüttelte den Kopf. »Du kannst Informationen besitzen, aber sie gehören niemandem, Dad«, sagte sie. »Es sind angeblich öffentliche Verzeichnisse, die auf einem Server in Dallas gespeichert sind und erst in zwei Jahren zugänglich gemacht werden sollen. Und selbst dann noch werden sie dir astronomische Gebühren dafür abnehmen. Das ist faschistisch.« »Uuh.« »Es ist nicht einfach nur ein Geburtstagsgeschenk, sondern ein Akt gewaltlosen Widerstands.« »Danke«, sagte er und meinte es auch so. »Wo wir schon von Gewalt sprechen …«, sie fand in der kleinen Schüssel einen Erdnussbutterkeks, den sie vorher übersehen hatte, »hast du in letzter Zeit noch was von den religiösen Eiferern gehört?« Davis zuckte mit den Schultern. »Briefe, Notizen. Kaum lesbare Sachen. Jede Menge Zitate und verdrehte Sätze aus dem Neuen Testament.« »Irgendwas von HG?« Davis nahm ein von einem Gummiband zusammengehaltenes Bündel ungleichmäßig beschrifteter Umschläge vom Schrank hinter sich. Die Briefe darin waren alle mit »HG« unterzeichnet, und daneben fand sich jeweils die Zeichnung einer Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger. »Drohungen?« »Sicher. Und Warnungen.« 23
»Du tust das so ab. Ich hasse diese Briefe.« »Soll ich mich davon nervös machen lassen?« »Ja«, sagte sie und lächelte. »Ich denke einfach oft daran. Ich will nicht, dass meinem Dad was zustößt.« »Nichts wird mir zustoßen, AK.« Er wusste, dass ihr die Briefe Sorgen machten. »Diese … diese Sache letzten Monat in der Klinik in Memphis. Das war ein Einzelfall. Und sie haben den Kerl ja auch erwischt. Er ist tot.« »Er hatte einen Komplizen.« Das stimmte wahrscheinlich. Die Polizei nahm an, dass die Bombenleger von dem berüchtigten Byron Bonavita angestiftet worden waren, und vielleicht hatte man die bisher beste Möglichkeit verschenkt, ihn zu fassen. Die Ermittlungen, was den toten Attentäter betraf, hatten noch nicht sehr viel erbracht. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich will nicht lügen. Es gibt viele Wahnsinnige, und etwas Ähnliches wird sicher irgendwann wieder passieren. Irgendwo. Aber wenn du dir um mich Sorgen machen willst, dann, wenn ich über den Tri-State Tollway fahre. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich in der Verkehrslawine da zerquetscht werde, ist weit größer, als dass uns hier jemand eine Bombe ins Büro wirft.« »Ja, ja, ich weiß. Wir haben schon im Verkehrsunterricht darüber gesprochen. Da kam einer von der Nationalgarde und hatte grausige Bilder von Autowracks und so dabei. Das war übel.« »Im Übrigen, wenn du dir so sicher bist, dass sie die Klinik in die Luft sprengen wollen, warum bist du dann hier?« »Ich brauche Geld.« Anna Kat sah zur Seite, legte die Hand geöffnet vor ihm auf den Tisch und wackelte mit den Fingern. »Und ich bin sowieso zu jung und zu hübsch, um zu sterben. Bleib einfach immer an meiner Seite, Dad, und dir kann nichts passieren.« 24
Gott, dachte Davis. Wie oft schon hatte er selbst seit ihrer Geburt den umgekehrten Gedanken gehabt. Wenn er nur immer bei ihr sein könnte, würde ihr nie etwas zustoßen. Ihnen beiden nicht. Er holte seine Brieftasche aus der Schublade und legte zwei Zwanzigdollarscheine in ihre Hand. »Wo wir schon bei jung und hübsch sind, ich habe gerade Dr. Burton auf dem Gang draußen getroffen«, sagte sie. »Hast du sie begrüßt?« »Ja«, sagte sie. »Mom hasst sie.« Davis, der gerade die Brieftasche zurücklegen wollte, hielt in seiner Bewegung inne. »Was redest du da?« »Sie sagt, ihr gefällt es nicht, dass jemand so Hübsches den ganzen Tag um dich herum ist. Sie meint, Dr. Burton ist ganz dein Typ.« Ihre Stimme hatte einen leicht singenden Ton angenommen, mit dem sie ihre Mutter nachzumachen versuchte. »Das hat sie dir gesagt?« AK schüttelte den Kopf. »Tante Patty. Und sie sagte es aus Spaß. Glaube ich. Ein bisschen zumindest.« »Das ist verrückt.« »Das Wort benutzen wir nicht, Dad. Erinnerst du dich?« Davis zog die Brauen zusammen. Sie hatte Recht. In Jackies Familie hatte es verschiedene Fälle von Geisteskrankheit gegeben und über die letzten vier Generationen eine Reihe von Selbstmorden. Jackie konnte ziemlich exzentrisch sein (was Davis einmal sehr anziehend gefunden hatte), und er und AK hatten ständig ein Auge darauf, ob ihre seltsamen Reaktionen Zeichen wirklicher Irrationalität in sich bargen. Mitunter sorgten sich Vater und Tochter, wenn sie Jackie mit sich selbst reden hörten oder wenn sie wieder einmal eine ihrer zwanghaften Wochen hatte, in denen sie das Haus, vom Keller bis unters Dach, einer wahren Putzorgie unterzog. Aber für gewöhnlich beruhigten sie sich gegenseitig, dass nichts Besonderes dabei 25
sei. Was sich jedes Mal wieder bewahrheitete, wenn Jackie mit der Putzerei fertig war. Und AK könnte Davis auch daran erinnern, dass er selbst eine ziemlich verrückte Phase durchgemacht hatte: eine peinlich plumpe frühe Midlife-Crisis, während der er einen völlig ungeeigneten schnellen Wagen gekauft und einen siebenwöchigen Fallschirmspringerkurs gemacht hatte, den er allerdings noch vor seinem ersten Alleinsprung wieder abbrach. Betrogen hatte er Jackie nie, es nicht einmal in Erwägung gezogen, aber er hatte Joan Burton in einigen späten Gesprächen von den Sorgen um die Gesundheit seiner Frau erzählt, was zwischen den beiden eine Nähe hatte entstehen lassen, die Jackie ohne Zweifel spüren konnte. Er schlief nicht mit Joan, aber sie hatten ein anderes Geheimnis. »Es würde Mom helfen, wenn du ein bisschen mehr zu Hause warst. Mann, vielleicht würde ich es auch mögen.« Sie lehnte sich über seinen Tisch und boxte ihn freundschaftlich auf den Arm. »Besonders am Wochenende. Ich arbeite zwar bald samstags, aber du könntest was mit Mom machen. Mit ihr im Garten arbeiten.« Wie üblich machte Davis keine Versprechungen. »Freust du dich auf deinen Job?« »Es ist nur Gap«, sagte sie. »Ich bin da sowieso die Hälfte meiner Zeit. Und jetzt, wo Tina da arbeitet, wird es ein ganz normaler Samstag sein, nur mit Angestelltenrabatt.« Davis lachte. »Lass uns zusammen was unternehmen«, schlug Anna Kat vor. »Uns drei. Samstag. Bevor ich anfange. Wie wäre es, wenn wir in die Stadt fahren? Bei Berghoff’s essen und vielleicht den Architektur-Rundgang machen.« Samstag hatte er Termine. Drei. Aus dem Augenwinkel konnte er sie auf seinem Bildschirm stehen sehen, blau markiert. Viele 26
seiner Patienten hatten in der Woche keine Zeit für einen Besuch. Hundertmal hatte er das Anna Kat bereits erklärt. »Ist gebongt«, sagte er. »Klingt gut.« »Ich reserviere uns was.« AK sprang auf, kam in ihren flachen Tennisschuhen um den Schreibtisch herum und zog sein Gesicht an ihres. Als sie ihn wieder losließ, konnte Davis rote Spuren auf ihrer Wange sehen, die von seinem Halbtagesbart stammten, aber gleich wieder verblassten. Es war ein Glück, eine Tochter im Teenageralter zu haben, die überhaupt etwas Zeit mit ihm verbringen wollte. »Ich gehe jetzt ein paar Gewichte stemmen und dann zu Libby. Wartet nicht auf mich.« AK ging den Flur hinunter, und Davis hörte, wie sie Ellen am Empfang einen Gruß zurief. Er drehte sich zum Fenster und sah kurz darauf ihr Fahrrad auftauchen und vom Bürgersteig auf die Straße fahren. Ihr Haar schaute gut fünfzehn Zentimeter unter ihrem Helm hervor und wehte im Wind. »Ich liebe dich«, sagte er mit leiser Stimme, was er in jenen Tagen öfter tat, um die Worte zu hören.
4 Auf dem Parkplatz beim Footballstadion hatte Mickey das Gerundium vor Jahren gesehen, wie ein Freund (dieser Freund war ein Gleichgesinnter gewesen, mit dem er sein Ziel teilte) die Rückbanklehne herunterklappte, damit er sich aus der Kühlbox im Kofferraum ein Sodapop holen konnte. In Mickeys Cutlass gab es diese Möglichkeit nicht, aber er sah gleich die Nützlichkeit, und so sägte er ein etwa schuhkartongroßes Stück aus der Mitte der Rückbanklehne und dazu ein etwas kleineres Loch in die Metallverkleidung dahinter. Wenn man das Stück wieder an seinen Platz steckte, sah es fast wie eine Armlehne aus, die zurück in den Sitz geklappt worden war. Wenn sich jemand 27
daneben setzte, fiel das Stück jedoch schnell wieder heraus. Glücklicherweise saß nie jemand auf der Rückbank. In den Tagen, als er in seiner Arroganz sich und seine Familie noch über Gott stellte, pflegten seine Söhne dort zu sitzen. Heute wusste er, dass alle Menschen als Sünder geboren sind. Geboren mit den animalischen Instinkten zu überleben, sich sexuell zu befriedigen und sich fortzupflanzen. Wenn man ein gottesfürchtiger Mann ist und den Herrn liebt, ist man verpflichtet, dem letztgenannten dieser Triebe freien Lauf zu lassen und die beiden ersten zu sublimieren. Das ist in gewisser Weise ein Paradoxon: Gott will, dass wir Menschen leben und uns fortpflanzen, um sein Evangelium auf Erden zu verbreiten. Aber letztlich bedeutet diese körperliche Dimension Gott und seinen treuesten Anhängern nur wenig. Der Tod bedeutet nichts. Was sagte John Lennon noch über das Sterben? »Das ist, wie von einem Auto in ein anderes zu steigen.« So in etwa. John Lennon war Agnostiker oder Buddhist, Hare-Krishna-Jünger oder sonst was Verwünschtes, aber mit dem Satz hatte er es getroffen. Schade, dass er nicht zu Jesus gefunden hatte, dann hätte er gesehen, wie Recht er damit hatte. Bev, Mickeys Frau, hatten seine Waffen nie gestört. Ihr Vater war Jäger gewesen, und sie war in einem Haus voller Gewehre und Bögen aufgewachsen. Seltsamerweise wurde sie erst unruhig, als Mickey lernen wollte, damit zu schießen. Er trat in einen Schießclub ein und ging dreimal in der Woche zum Training. Als Jim, ihr Ältester, zehn wurde, begann Mickey, ihn mitzunehmen. Bevor er ihn aber schießen ließ, brachte Mickey ihm bei, wie man ein Gewehr trug und sicher verwahrte. Wie man überprüfte, ob es geladen war, und wie man es reinigte. Er lehrte Jim, Gewehre zu achten. Bev gefiel das nicht. »Ich mag es nicht, die Waffen hier überall«, sagte sie. »Und ich mag auch nicht, dass du Jimmy so dafür begeisterst. Er kauft sich jetzt die Zeitschriften. Und die Kataloge. Ich will, dass er sich für andere Dinge interessiert. Ich möchte, dass er Sport 28
treibt und Hobbys hat, die er mit seinen Schulfreunden betreiben kann, nicht nur mit seinem Daddy.« »Es ist nichts als Zielschießen«, erklärte Mickey ihr. »Das ist ein Sport, an dem er sein ganzes Leben Freude haben kann. Wie Golf.« Auf die Empfehlung eines Freundes, der wie er im Biergroßhandel arbeitete, besuchte Mickey dienstagabends ein besonderes Treffen. Er nannte es einen Bibelkreis, und Bev nahm an, es sei eine Männergeschichte, die mit den Promise Keepers zu tun hätte, und fragte nicht weiter nach. Es hatte nichts mit den Promise Keepers zu tun. Sie waren dreizehn und nannten sich die »Hände Gottes«. Gewöhnlich trafen sie sich in der Küche von Phillip Hemley, der irgendwo in Morgantown einen Bürojob hatte. Versicherungen. Sie sprachen darüber, wie die modernen Religionsgemeinschaften das wahre Wort Gottes mit jeder Menge politisch korrekten Schwachsinns verschleierten. Sie sprachen darüber, was Gott in der Bibel wirklich sagte und in den nicht kanonischen Texten predigte, die von der katholischen Kirche (und auch den Protestanten) vor der Herde versteckt wurden. Sie sprachen über die Worte Gottes, die die Selbstsüchtigen und Schwachen nicht hören wollten. Bis Mickey eines Tages vorschlug, sie sollten mit dem Klagen aufhören und etwas tun. Ein paar Wochen später kam Mickey nach Hause und eröffnete Bev, dass er seinen Job aufgegeben hatte. Er hatte auch das Haus verkauft (und eine Anzahlung auf ein kleineres in einer anderen Stadt geleistet) und ein Drittel ihrer Ersparnisse von der Bank abgehoben. Er werde eine Weile weggehen. Er komme so bald wie möglich zurück, würde dann aber bald wieder wegmüssen. Bev müsse die Jungen mit den paar Tausend, die er ihnen dalasse, und mit dem, was sie mit ihrem Haareschneiden verdiene, großziehen. 29
Die anderen Mitglieder der Hände Gottes hatten heimlich Geld von ihren Konten abgehoben und Mickey etwa achtzigtausend Dollar in bar gegeben. Phil, der Versicherungsmann, sagte, sie seien seine »Geldgeber«, und sie sprachen darüber wie über ein Investment, bei dem sie ihr Geld nicht zurückerwarteten. Sie unterstützten Mickey, wie die Könige und Königinnen Europas die Entdecker der Neuen Welt unterstützt hatten, nur dass der Lohn für die Hände Gottes ein ewiges Leben sein würde. Zwei Monate später kehrte Mickey als neuer Mensch, der in die Armee Gottes berufen war, in das kleinere Haus zurück. Er verkündete, dass er seine Frau und Kinder nicht mehr lieben könne, sondern von nun an all seine Liebe Gott schenken werde. Um den Bund zu besiegeln, erklärte Mickey, habe er eine Rasierklinge genommen und sich im Bad eines Motels selbst beschnitten. Bev nahm an diesem Abend die Kinder mit und erwirkte in der Woche danach eine einstweilige Verfügung gegen ihn, was wahnsinnig war. Er erklärte ihr, dass er ihnen nie etwas tun würde. Im Gegenteil, er opfere sich für sie. Wie Abraham hatte er auf Gottes Ruf geantwortet, und hatte Gott nicht zu Abraham gesagt: Ich will dich segnen mit reichem Segen und will deine Nachkommen überaus zahlreich machen wie die Himmelssterne und wie den Sand am Ufer des Meeres, und deine Nachkommen sollen die Tore ihrer Feinde in Besitz nehmen! Und durch deine Nachkommenschaft sollen gesegnet werden alle Völker der Erde, weil du meinem Rufe gehorchtest! Seine Familie würde für Mickeys Dienst belohnt werden. Sie hatten nichts zu befürchten. Er blieb noch etwa einen Monat. Sein Haus wurde das neue Hauptquartier (sogar eine Kirche) für die Hände Gottes, die Pläne schmiedeten, Karten studierten und zusammen beteten. Sie einigten sich auf die Einzelheiten der nächsten Expedition, und Mickey fuhr in seinem Cutlass Supreme los, um alles Wirklichkeit werden zu lassen.
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Genau um halb fünf Uhr nachmittags am dritten Tag seiner Überwachung der New Tech Fertility Clinic kletterte Mickey über die Lehne nach hinten auf die Rückbank und kauerte sich dort zusammen. Seine Scheiben waren nicht getönt, aber sie waren schmutzig, voller Staub und weißer Wasserflecken, und die Hutablage lag voller Taschenbücher, Krimis, Zeitschriften, Karten und Fast-Food-Schachteln, was zusammen genommen wie ein Tarnnetz wirkte und das Innere des Wagens vor neugierigen Blicken schützte. Er öffnete den Durchlass zum Kofferraum und holte einen schmalen schwarzen Behälter hervor. Er stellte die Kombination ein, und der Behälter öffnete sich in zwei Hälften. In den Fußraum gezwängt begann er, die Einzelteile zusammenzusetzen.
5 Davis stand hinter dem Tresen des Empfangs und öffnete eine Patientenakte. Er hielt dem Wartebereich den Rücken zugewandt, und wenn er aufsah, konnte er direkt in Joan Burtons Untersuchungszimmer sehen, wo sie gerade mit einem kleinen Jungen und seiner Mutter sprach. In ihrem weißen Kittel und von hinten gesehen zeigte sie keine ihrer sinnlichen Rundungen. Nichts von ihrem perfekt ovalen Gesicht mit den unglaublich tiefen Grübchen, nichts von ihren schlanken, eleganten Händen und dem dichten ebenholzschwarzen Haar, das ihr sonst in aufregender Fülle auf die Schultern floss, heute aber mit Nadeln und Spray gebändigt war. Bei einem Feiertagsessen im letzten Jahr hatte Joan mit ihrem Haar, das wie ein zeremonieller Kopfputz wirkte, die Blicke aller Männer und Frauen im Restaurant auf sich gezogen. Davis warf ihr den ganzen Abend über lange verstohlene Blicke zu. Er machte eine Liste von den Medikamenten, die der Patient momentan einnahm, und ging damit zurück in sein Sprechzim31
mer, wo er sie an einen Apotheker weitergab, der am Telefon darauf gewartet hatte. Dann tippte er die Liste in die Computerakte (wo sie hingehörte) und warf den Zettel in den Papierkorb. Davis griff nach dem Telefon und wählte die Nummer von zu Hause. Seine Frau antwortete auf dem schnurlosen Apparat, und so dünn, wie ihre Stimme klang, war klar, dass sie draußen im Garten war. »Hallo«, sagte sie. »Ich komme heute früher nach Hause«, sagte er. »Soll ich auf dem Weg etwas mitbringen?« »Was zum Beispiel?« »Keine Ahnung. Was Italienisches.« »AK ist nicht da. Sie will bei Libby essen.« »Das hat sie mir gesagt. Schläft sie da auch?« »Wahrscheinlich.« »Perfekt«, sagte Davis. »Ich besorge uns zweien etwas von Rossini’s. Hol du eine schöne Flasche von unten. Wir hatten schon lange kein Rendezvous mehr.« »Sehr lange nicht mehr«, sagte Jackie. »Ich bin in einer halben Stunde da«, sagte er. »Ich liebe dich.« »Bis dann«, sagte sie. Er griff nach seinem Jackett, lief den Gang hinunter und klopfte im Vorbeigehen an Joans offene Tür, blieb aber nicht stehen oder sagte etwas. Sie hatte noch einen Patienten da. »Auf Wiedersehen, Davis«, rief sie ihm hinterher. Er winkte Ellen zu, und sie antwortete mit einem Lächeln. Der Wartebereich war leer, und er sammelte beiläufig ein paar Zeitschriften von der Couch und legte sie zurück auf den kleinen Tisch. Er machte eine Lampe aus, die alle anderen zu seinem Ärger immer brennen ließen. Schließlich ging er noch in das 32
Ecksprechzimmer und öffnete die senkrechten Lamellenvorhänge an den beiden äußeren Fenstern. Als er durch die Tür ins Freie trat, legte sich die warme, feuchte Luft wie eine Halloweenmaske auf sein Gesicht. Vom See kam eine leichte Brise, die kaum mehr tat, als die Hitze zu verwirbeln. Wenigstens standen keine Protestierer am Straßenrand. Hitze und Regen hielten sie oft fern. Er überlegte, wie er um diese Tageszeit am schnellsten zu Rossini’s kam. Da er überzeugt war, seinem Leben Tage, ja Wochen an Produktivität hinzufügen zu können, wenn er Staus umging, hatte er einen ständig aktualisierten Fahrplan im Kopf. Seine Frau nahm immer die Frutti di Mare, und ihm selbst war heute Abend nach Tortellini mit Shrimps. Wenn er aus der York Street anrief und die Bestellung vor der Ampel bei Hillman abgab, sollte alles fertig sein, kurz nachdem er ankam. Er wollte nicht, dass sie schon vorher so weit waren. Alles sollte genau zum richtigen Zeitpunkt vom Herd kommen. Sein neuer Volvo stand weiter hinten an der Seitenfront, und er experimentierte immer noch mit der Fernbedienung für die Türschlösser, um ein Gefühl für die Reichweite zu bekommen. Durch die offenen Lammellenvorhänge konnte er seinen Wagen unten auf dem Parkplatz sehen. Er richtete die Fernbedienung auf das Fenster und fragte sich, ob er den Wagen wohl von hier aus öffnen könnte, durch die doppelten Scheiben. Später würde er sagen, dass es sich wie das Knallen eines Korkens angehört habe, obwohl er nicht sicher wusste, ob es sich dabei um das Geräusch des Gewehrs oder das Auftreffen von Metall auf seinen Knochen gehandelt hatte. In dem Moment, da sie in seinen Körper eintrat, wusste er, dass es sich um eine Kugel handelte. Sie traf ihn unterhalb des linken Schulterblatts und zertrümmerte eine Rippe, bevor sie seinen Körper wieder verließ. Es fühlte sich an, als schlüge ihm jemand mit einem Baseballschläger in den Rücken, während 33
ihm ein zweiter Angreifer von vorn ein Messer in den Leib rammte. Seine Knie knickten ein, und für einen Moment verharrte er so, von einer unbekannten Kraft gehalten, bevor er auf den Bürgersteig schlug. Er konnte Rufen und Zeigen hören (ja, später bestand er verwirrt und erschöpft darauf, dass er die Leute hatte zeigen hören), und ganz sicher hörte er auch einen Wagen mit aufheulendem Motor losrasen, auch wenn ihm nicht sofort der Gedanke kam, dass dieser Wagen seinen Attentäter davontrug. Er bewegte die Hand, die instinktiv nach dem Schmerz in seinem Körper gegriffen hatte, und als er sie vor sein Gesicht hielt, sah sie aus wie ein flacher Pinsel, der in rote Farbe getaucht worden war. Jemand näherte sich und versuchte, ihn von seiner linken Seite auf den Rücken zu drehen. Er widerstand ihm. Dann wurde alles schwarz.
6 AK fuhr mit ihrem Fahrrad hinauf zu einem pavillonartigen Gebäude hinter der Sporthalle der Schule. Im Kopfhörer kam ein Lied, das ihr ein Freund aufgenommen hatte. Der Sänger hörte sich britisch an. Oder vielleicht schottisch. Auf jeden Fall wüst.
Die letzte Nacht auf der Welt Lass den Stift da liegen Wir sind so schlecht gerüstet Der Druck, das Risiko, der Stress Niemand kann dir mehr wehtun Was immer sie sagen 34
Noch im Grab fühlst du die Wut Aber Spaß hat’s trotzdem gemacht. Sie wendete, stoppte in letzter Sekunde und dirigierte ihr Rad rückwärts, mit den Füßen auf dem Boden, in den Ständer. Die Tasche über der Schulter, joggte sie zur Tür des Umkleideraums. Das Herbstsemester fing erst in einem Monat an, aber auch im Juli und August gab es hin und wieder Aktivitäten in der Schule. Während sie in ihre langen, weiten Basketballshorts stieg und sich ein T-Shirt, das eine Nummer zu klein war, über den schwarzen Sportbüstenhalter zog, hörte sie Stimmen und Spinde, die zugeschlagen wurden, aber der Duschraum war fast leer, was ihre Hoffnung wachsen ließ. Als sie die Tür zum Kraftraum öffnete, sah sie eine Hand voll Footballspieler um die Hantelbank herumstehen, aber von ihren Mannschaftskameradinnen trainierte an diesem Nachmittag niemand. Die Maschine gehörte ihr allein. Sie rutschte auf dem Rücken in sie hinein, hob die Beine in eine Radfahrerposition und stellte die Füße auf zwei Hebel links und rechts von einem Stapel Gewichte. Sie stellte den Widerstand auf Aufwärmen und begann mit dem Training. Während sie die einzelnen Wiederholungen ihrer Übung mit Ausatmen abschloss, wurde es an der Hantelbank auf der anderen Seite des Raumes still. Durch den Wald der Geräte konnten die Jungen nur Teile ihres Körpers erkennen, vielleicht ihre Waden, die Hüften, die Schultern, und AK musste lächeln, während sie die Beine weiter gegen die Gewichte stemmte und die Arme streckte. Die Jungs dachten, sie seien absolut leise, aber ihre Verstohlenheit verriet sie. Erst in den letzten zwei Jahren hatte Anna Kat begonnen, sich selbst hübsch zu finden. In der Junior High war sie ein dünner Bücherwurm gewesen und hatte solche Komplexe wegen ihrer Größe gehabt, dass sie unerotische flache Schuhe trug und 35
vornübergebeugt ging. Seltsamerweise bemerkten die Mädchen in ihrer Klasse eher als die Jungen, was in ihr steckte. Hübsche, beliebte Mädchen begannen, sie zu Starbucks einzuladen, zum Shoppen nach der Schule und zu ihren Partys. Sie fing an, sich für Kleider zu interessieren. Sie bekam eine reine Haut und durch das Volleyballspielen eine gerade Haltung. Ihre extrem hohen Hüften waren heute das Delta, aus dem sich braun gebrannte endlos lange Beine in ihre neuen schwarzen Pumps streckten. Sie fühlte sich in gleichem Maße begehrt, wie sie Begehren empfand. Als sie ihr Training beendet hatte, nahm AK ihr Handtuch und ging hinaus, wobei sie so tat, als spürte sie die heißen, bewundernden Blicke auf ihren Beinen nicht, bevor sich die milchige Plexiglastür hinter ihr schloss. Zwischen dem Kraftraum und den Mädchenduschen lagen drei Glasflügeltüren, die auf die Sportplätze hinter der Schule hinausführten. Sie öffneten sich mit einem saugenden Geräusch, und AK fühlte den Hitzeschwall, der ihr von draußen entgegenkam, bevor die kühle Luft der Klimaanlage ihn wieder zurückdrängte. Zwei Läufer in ärmellosen Hemden und sich bauschenden federleichten Nylonshorts liefen an ihr vorbei Richtung Jungenumkleideraum. Ein dritter, den sie aus dem Chemieunterricht kannte, murmelte ein verschämtes »Hey, ’K« und rannte weiter. Der vierte, der dem anderen nachfolgte, blieb stehen und lächelte sie an. Sie wartete, bis sich die Tür der Umkleide hinter den dreien geschlossen hatte, bevor sie hallo sagte, aber als sie den Gruß endlich aus der Kehle hatte, war der Junge schon im Wrestling-Raum verschwunden. Anna Kat folgte ihm. In Bekanntmachungen und am Schwarzen Brett hieß der Wrestling-Raum Ausweichturnhalle, aber abgesehen von bestimmten Turnkursen wurde der Raum von kaum jemand 36
anders als den Ringkämpfern genutzt. Verglichen mit der Hauptturnhalle war es ein kleiner Raum von vielleicht fünfzehn mal fünfzehn Metern. Dicke grüngelbe Matten lagen zusammengerollt an den Wänden. Auf einer davon saß der Junge, die Hände neben sich aufgestützt, und grinste. »Hallo«, sagte er. »Hallo«, sagte sie. AK setzte sich neben ihn. Der fensterlose Raum roch nach fünfzehn Jahren Schweiß und wenig Lüftung sauer wie heißer Essig. Anna Kat kannte keinen Ort, der ähnlich roch. Als hielte man die schlimmsten Jungen darin eingepfercht. Wie ein Gefängnis, stellte sie sich vor. Der Gestank deprimierte sie. »Was gibt’s?«, fragte sie. »Nichts«, sagte er. »Ich hab ’ne neue Disc für dich in meinem Schrank. Klassische Sachen: The Clash. Dire Straits. Die Mekons.« »Ich habe mir die Mekon-CD angehört, die du mir letzte Woche gegeben hast.« »Und?« »So nach und nach gefällt sie mir besser.« Sie starrte die freie Wand gegenüber an. Er fragte: »Bist du okay?« AK wollte nicht über ihren Dad reden. Sie versuchte, sich der Sache schnell zu entledigen. »Ich war heute in der Klinik. Manchmal denke ich, dass ich mit diesen ganzen kleinen Embryonen in den Reagenzgläsern konkurrieren muss. Den Kindern anderer Leute. Ich weiß, ich bin ihm wichtig, aber er verbringt mehr Zeit mit ihnen als mit mir. Das ist jetzt mein letztes Jahr zu Hause. Es ist Frust pur.« Die Matte unter ihren nervösen Händen fühlte sich schwammig und klebrig an, aber sie erinnerte sich daran, wie sie ihr in ihrem ersten Jahr hier an der Schule in einem Karatekurs 37
wie Beton vorgekommen war. Wenn die Matten wie jetzt aufgerollt waren, kam darunter ein sandpapierartiger Teppichboden zum Vorschein, und AK streifte ihren rechten Schuh ab und kratzte sich die Zehen auf ihm. Das war nicht notwendigerweise als Aufforderung gedacht, aber schon Sekunden später hatte sich der Junge seinen linken Nike vom Fuß getreten und ihr Schienbein mit seiner Wade gegen die Rolle gedrückt. Er beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie, und sie küsste ihn, legte einen Arm um seine Schultern und berührte das nasse Nackenhaar seines verschwitzten Bürstenschnitts. Schon war er mit einer Hand an ihrer Brust. »Sam«, sagte sie und zog sich zurück. »Hmmm«, sagte er und drückte seine Lippen erneut auf ihre. »Sam«, sagte sie und befreite sich noch einmal von ihm. »Lass uns morgen zusammen ins Kino gehen.« »Eine Verabredung.« Es war mehr eine Klarstellung als eine Frage. »Nein …«, sagte sie. »Einfach nur … irgendwas.« Sam fuhr ihr mit der Hand den Schenkel hoch und schob den Daumen unter den Gummi ihres Slips. »Ist das nichts?« Sie schob seinen Arm weg und lachte. »Doch schon. Aber auch irgendwie schräg.« »Verabredungen sind kompliziert, AK«, sagte Sam. »Das hier ist un.« »Un?« »Kompliziert.« Er wartete auf ein Lächeln, aber bekam keins. »Siehst du, kaum geht man zusammen ins Kino oder auch nur zu Starbucks, schon fangen die Leute an zu reden. Du gehst doch mit Daniel …« »So was in der Art.« »Du gehst mit Daniel und ich mit Chrissy …« 38
»Und Tanya. Und Sue.« »Das weißt du?« »Was ist los? Wird’s dir zu kompliziert?« »Naa.« Er sah auf seine Füße. »Geht es dir darum? Dass ich mit anderen Mädchen zusammen bin?« »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. Das war es nicht. Was sie nicht zugeben wollte, war, dass sie sich schuldig fühlte. Und ein bisschen benutzt. Wobei sie auch ihn benutzte. Natürlich zwang sie niemand, sich mit Sam zu treffen. Sie war gern mit ihm zusammen. Sie taten Dinge, die ihr erwachsen vorkamen. Dinge, die ihr Angst machten. Die sie reizten. Das war das Problem. Sie mochte es, wie er sie zu erregen verstand, das Gefühl von Gefahr, wenn sie zusammen waren. Wenn sie allerdings darüber nachdachte, mochte sie ihn nicht wirklich. Er war zwar intelligent, aber er behandelte alle, die er nicht mochte, ziemlich schlecht und auch seine Freunde nicht viel besser. Für einen Lacher sagte er den Leuten gemeine Sachen offen ins Gesicht (obwohl es an der High School allgemein üblich war, gemeine Sachen nur hinter dem Rücken der Leute zu sagen). Er war nur an sich interessiert, egoistisch, zynisch, aber auch wenn ihn das alles cool erscheinen ließ und sogar irgendwie beliebt, hieß das noch lange nicht, dass ihn die Leute auch mochten. Wenn sie miteinander gingen, würde sie ihn verteidigen müssen, und Anna Kat hatte keine Ahnung, wie sie das anstellen sollte. Sams Hand lag auf ihrem nackten Rücken unter dem T-Shirt, und er zog sie an sich heran. Sie waren beide verschwitzt und spürten ihre Erregung. Sams Zähne schlossen sich um ihren Ohrring, und er zog aufreizend fest daran. »Hast du die Tür abgeschlossen?«, flüsterte er. »Nein …«, sagte sie, als wollte sie noch eine Entschuldigung folgen lassen. »Gut«, sagte Sam und zog sie mit sich in die schmale Lücke zwischen der aufgerollten Matte und der Wand. 39
In ihrem Umkleideschrank, ein paar Wände und Räume weiter, klingelte Anna Kats Handy.
7 Es gab keinen Ort, an dem Dr. Joan Burton sich nutzloser fühlte als im Wartezimmer der Notaufnahme eines Krankenhauses. In einem Gebäude voller kranker Menschen – kranker Menschen, denen sie für gewöhnlich half – konnte sie nichts tun als dasitzen und im Kopf hilflose Behandlungspläne entwickeln. Gregor und Pete, die anderen Partner bei New Tech, saßen etwa gleich weit von ihr entfernt, und alle sahen sie in unterschiedliche Richtungen. Niemand sagte ein Wort. Sie sorgten sich um Davis (obwohl Joan insgeheim argwöhnte, dass er ihr wichtiger war als den beiden, auch wenn sie ihn schon länger kannten), waren aber gleichzeitig auch mit einem anderen Gedanken beschäftigt: Es hätte genauso gut einer von ihnen sein können, der da jetzt blutend im Operationssaal lag. Das Klinikgebäude erschien auf dem Fernsehschirm, aufgenommen von einem herbeigerufenen Hubschrauber der Verkehrspolizei. Aus der Luft sah es wie ein Anstaltsgebäude aus, was Gregor, Pepe und Davis so gewollt hatten, als sie einzogen, nahm Joan an. Dabei wirkte das Gebäude ganz und gar nicht bedrohlich, und an seiner Würfelform konnte höchstens ein Architekturkritiker Anstoß nehmen. Polizisten gingen vorsichtig auf dem Rasen davor auf und ab. Joan konnte im Boden, in unterschiedlichen Abständen zu der Stelle, wo Davis zusammengebrochen war, kleine gelbe Flaggen stecken sehen. Neugierige Zuschauer sammelten sich in sicherer Entfernung. Eine Textzeile am unteren Bildschirmrand betitelte das Ereignis mit: »Klon-Klinik-Terror«. Aufgeregte Schwestern hatten Davis’ schluchzende Frau und 40
seine Tochter in einen anderen Raum geführt. Joan war ihnen dankbar dafür, vor allem weil sie nicht gewusst hätte, was sie ihnen sagen sollte. Sie hatte sich in Gesellschaft von Jackie Moore immer schon unwohl gefühlt. Selbst unter Umständen wie diesen würde Joan jeder Blick zwischen ihnen mit Hintergedanken befrachtet vorkommen. Davis hatte ihr intime Details über die gelegentlichen Schwierigkeiten mit seiner Frau anvertraut. Joan, die sich schon immer von älteren Männern angezogen gefühlt hatte (ihre Beziehungen auf der Universität bestanden aus einer ganzen Serie von Verhältnissen mit Professoren und Gastwissenschaftlern), revanchierte sich dafür auf passive, kokette Weise und wusste nur zu gut, dass eben die Charakterzüge, die Davis so begehrenswert machten – Treue, Vertrauen, Verständnis –, ihn an sein Zuhause banden, selbst (oder gerade dann) wenn dieses Zuhause ihn sich elend fühlen ließ. Ihr gefiel die Beziehung zu Davis, wie sie war. Er mochte sie, und sie mochte ihn, und bis auf eine Berührung ihres Arms, als er ihr nach der letztjährigen Weihnachtsfeier in den Mantel half und sie dann zwei Sekunden zu lange gefasst hielt, war sie völlig unkörperlich. Sie konnte die indirekten Aufmerksamkeiten des klugen, gut aussehenden und energiereichen älteren Mannes genießen, ihn verstohlen in seinem Sprechzimmer betrachten und sich im Auto auf dem Weg nach Hause oder nachts im Bett vorstellen, was zwischen ihnen möglich gewesen wäre, hätten sie sich an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit kennen gelernt. Als Gregor in der Schwingtür des Trauma-Zentrums erschien, wurde ihr bewusst, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie er hinausgegangen war. »Es sieht gut aus«, sagte Gregor. »Er kommt wieder ganz in Ordnung.«
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»Dank sei Gott, dem Herrn und Jesus Christus«, sagte Pete. »Bist du dir sicher? Können wir zu ihm? Kann ich die Reporterin anrufen?« »Was für eine Reporterin?« Joan zog die Brauen zusammen. »Kanal sieben. Ich habe mir ihren Namen aufgeschrieben. Sie hat versprochen, die Kameras vom Krankenhaus fern zu halten, wenn wir sie anrufen, sobald wir Genaueres wissen.« Gregor nickte. »Ja. Ruf sie an. In einer Minute.« Er sah zum Fernseher hinauf. »Gibt es was Neues? Haben sie den Kerl gefasst?« Pete sagte, das hätten sie nicht. »Bonavita!«, knurrte Gregor. »Dahinter steckt mit Sicherheit dieser verfluchte Bonavita. Der springt von einem Ort zum anderen. Memphis, Chicago und als Nächstes wahrscheinlich Saint Louis.« »Ich muss meine Frau anrufen«, sagte Pete. »Sie ist bei ihrer Cousine in Barrington.« Er fuhr sich mit der Hand flach über die Stirn unter den kurzen Locken durch. »Meint ihr, wir können nach Hause?« »Verstecken können wir uns nicht«, sagte Joan. Ihre Partner ließen mit nichts erkennen, ob sie ihr zustimmten. Ungefähr eine Stunde später hatten Gregor und Pete ihre Anrufe gemacht und saßen erneut schweigend da, bis eine Schwester sagte, sie könnten jetzt zu Davis. Sie gingen durch die Notaufnahme und stiegen in einen Aufzug, der sie in den zweiten Stock zu seinem Zimmer brachte. Davis war bewusstlos, und die Schläuche, die aus seinem Mund und seiner Nase führten, sahen aus wie die Beine eines übergroßen durchsichtigen Insekts. Seine schlanke blonde Frau, deren fast schon komisch wirkende runde blaue Augen auf den Verband seiner Wunde geheftet waren, beugte sich mit der schwerelosen Bewegung einer Exturnerin über sein Bett. 42
»Er hat viel Blut verloren«, sagte Jackie. »Er hat viel Blut verloren, aber er wird wieder gesund.« Joan drückte Anna Kat, die ganz verweinte Augen hatte, etwas steif an sich, worauf das Mädchen mit einem besorgten Blick antwortete. In den finsteren Morgenstunden allein zu Hause im Bett durchlebte Joan ihre eigene, Jahre zurückliegende Begegnung mit dem Bösen und sagte sich, wie sie es sich auch in ein paar Monaten wieder sagen sollte, als das Böse erneut zuschlug und Anna Kat zum Opfer auserkor, dass das, was es Davis genommen hatte, Gott sei Dank ersetzbar gewesen war.
8 Mickey Fanning war bereits über dreihundert Meilen entfernt und saß im Vierzigdollarzimmer eines Highway-Motels in der Nähe von Alexandria, Minnesota, als er erfuhr, dass Davis Moore überlebt hatte. Moore hatte die Klinik etwas früher als an den vorhergehenden Tagen verlassen, aber Mickey war bereit gewesen, das Gewehr im Anschlag, das Zielfernrohr auf die richtige Entfernung eingestellt. Er erkannte Moore im Dunkel des Foyers und verfolgte, wie er kurz in einem Sprechzimmer verschwand, wo er aus irgendeinem Grund die Vorhänge zur Seite schob. Mickey wollte schon durch das Fenster schießen, und sein Finger versteifte sich, als er sah, dass er ihn im Fadenkreuz hatte. Aber dann entschied er, geduldig zu sein. Sie würden keine Fotografen in die Klinik lassen, um den Toten zu fotografieren, und das Ganze war doch vor allem ein Medienereignis. Er wollte, dass alle wahnsinnigen Wissenschaftler rund um den Globus sahen, wie Davis Moores Blut über den Boden lief, und dafür musste er ihn an einer Stelle 43
erlegen, wo die Hubschrauber einen uneingeschränkten Blick auf die Szene hatten. Von den vier Ärzten der New Tech hatte er Moore ausgesucht, weil er der schlimmste Sünder war. Moore war einer der lautesten Befürworter des reproduktiven Klonens im Staat, warb dafür vor dem Kongress und in Zeitschriftenaufsätzen und Leitartikeln. Er sah gut aus, war eloquent und hatte mitgeholfen, dem Verfahren Anerkennung zu verschaffen. Einer seiner Kollegen hatte nach einer hitzigen Debatte im Kongress gesagt, ohne Davis Moores Einsatz würde die Möglichkeit des Klonens Tausenden von Eltern vorenthalten, die darauf angewiesen seien. Irgendwo auf der Rückbank des Cutlass lag ein zerrissenes Foto aus einer Zeitschrift, die eine verwandte Seele den Händen Gottes zugesandt hatte. In der Zeitschrift war der lächelnde Arzt wie ein Kinoheld gefeiert worden. Davis Moore stand ganz oben auf der Abschussliste der Hände Gottes. »Scheiße!« Mickey spuckte aus, als die Frau in den Nachrichten sagte, dass Moore sich in stabilem Zustand befinde. Der Sünder würde leben, um Gott weiter zu verhöhnen, und nicht zuletzt wurde dadurch Mickeys Stolz tief verletzt, der sich für einen guten Schützen auf dieser Distanz hielt. Dennoch, Mickey hatte die Kugel auf ihren Weg geschickt, die Kugel hatte auf Fleisch getroffen, und das Ereignis hatte es in die Nachrichten von Minnesota, Kalifornien, Washington und möglicherweise auch von Hongkong gebracht. Kameras zeigten den gelb abgesperrten Tatort, und Reporter beschrieben der Welt, mit welch teuflischen Dingen Davis Moore sein Geld verdiente, und dass sein Attentäter eindeutig ihn und Ärzte wie ihn tot sehen wollte. Mickey gefiel es, in Momenten wie diesem philosophisch zu werden. Es mochte eine Weile dauern, vielleicht sogar Jahre, aber eines Tages, so Gott wollte, würde er wieder auf Dr. Davis Moore anlegen. 44
Davis mit einundvierzig
9 FRAUENMORD IN DER OAK STREET Northwood Life. Von unserem Mitarbeiter. Die Polizei untersucht die brutale Vergewaltigung und Erdrosselung einer jungen Frau, die Mittwochnacht kurz nach zwölf bei Gap in der Oak Street im Zentrum von Northwood aufgefunden wurde. Anna Katherine Moore, 17, hatte als stellvertretende Geschäftsführerin in dem Bekleidungsgeschäft gearbeitet. Sgt. L. C. Clayton vom Northwood Police Department bestätigte am Donnerstag, dass Moores Leiche von der Geschäftsführerin Lisa Stephens entdeckt wurde, nachdem sie einen Anruf von den Eltern des Opfers erhalten hatte, die sich Sorgen machten, weil ihre Tochter nach der Arbeit nicht nach Hause gekommen war. Es heißt, Moore sei geschlagen und erdrosselt worden und es gebe mögliche Hinweise auf ein Sexualdelikt. Die Polizei glaubt, dass es kurz nach 20.45 Uhr zu dem Verbrechen kam, als Moore zwei andere Angestellte wegen eines aufziehenden Schneesturms früher als gewöhnlich nach Hause schickte. »Sie hat den beiden gesagt, sie werde das Geschäft schließen und direkt nach Hause fahren«, sagte Clayton. »Offenbar verhinderte das jemand.«
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Die Polizei hofft, in den nächsten Tagen genauere Aussagen darüber machen zu können, wer für den Mord verantwortlich ist. »Unsere Beamten setzen die Befragungen unter der Bevölkerung fort, um mögliche Verdächtige zu finden«, sagte Polizeisprecherin Donna Bartlett. Moore hätte im Juni ihren Abschluss an der Northwood East High School gemacht und arbeitete seit weniger als einem Jahr als Teilzeitkraft in dem Geschäft. Im Herbst wollte sie an der Universität von Illinois mit dem Psychologiestudium beginnen, sagte Stephens. Moore war die einzige Tochter von Dr. Davis Moore und Jacqueline Moore aus Northwood. Ihr Vater, einer der Partner der New Tech Fertility Clinic in der Sheridan Road, wurde im letzten Jahr von einem Attentäter angeschossen. Laut Polizei deutet im Moment nichts auf eine Verbindung zwischen den beiden Vorfällen. Am Donnerstag blieb das Geschäft geschlossen. Bürgersteig und Eingänge waren abgesperrt, während die Polizei nach möglichen Hinweisen suchte. Alle Personen, die am Mittwoch bei Gap waren oder mögliche Informationen über das Verbrechen haben, werden aufgerufen, sich bei der Polizei zu melden.
10 Der Detective war bei seinen morgendlichen Anrufen immer höflich, und Davis täuschte Geduld vor, wenn der Anrufer nach ein paar belanglosen Floskeln gestand, noch keine Spur zu haben. Nun, nicht wirklich überhaupt keine Spur: Ein Täterprofil sei angelegt worden. Die Polizei glaube, dass er ein Weißer sei und helle Haut habe. Sie hatten eine grobe Vorstellung von seiner Größe, auf die sie nach Lage und Art der Verletzungen sowie der Gewalt schlossen, die zum Bruch ihres 46
Armes geführt hatte. Aber diese Beobachtungen schlossen nur außergewöhnlich Kleine und wahre Riesen als mögliche Täter aus. Die Polizei glaube nicht, dass er übergewichtig sei, wenn denn die Rekonstruktion der Vergewaltigung stimme. Es könne jemand sein, den Anna Kat gekannt habe, oder auch nicht – wahrscheinlich nicht, denn wenn sie an diesem Abend noch jemanden erwartet hätte, hätte sie dann nicht womöglich davon gesprochen, aber andererseits, wer könne das schon sagen? Die Untersuchung der Leiche habe ergeben, dass die Verletzungen zu einer Vergewaltigung passten, er könne aber nicht sagen, ob der Staatsanwalt Vergewaltigung mit in die Mordanklage aufnehme, wenn die Polizei einen Verdächtigen finde. Als Davis sich aufgebracht zeigte, dass all diese Dinge so in der Zeitung gestanden hätten, versuchte der Detective, ihn zu beschwichtigen, und versicherte ihm, wenn ein geschlagenes, verletztes, erdrosseltes Mädchen mit frischem Samen aufgefunden werde, dann sei das für jeden Polizisten ohne Frage eine Vergewaltigung, egal, was der Pathologe sage, und er entschuldigte sich dafür, das alles so hart auszudrücken und so verflucht gefühllos zu sein, und jetzt musste Davis dem Detective versichern, das sei schon in Ordnung. Er wolle nicht, dass sie zu gefühlvoll mit ihm umgingen. Er wolle, dass die Polizei so aufgebracht und rau wie er selbst sei. Der Detective verstand, dass Moore nach einer Aufklärung verlangte. »Wir wissen, dass Sie den Fall aufgeklärt sehen wollen«, sagte er. »Da geht es Ihnen wie uns. Aber manchmal brauchen solche Dinge Zeit.« Oft sei es so, erklärte die Polizei den Moores, dass ein Freund des Opfers bei der Befragung laut denke: Wahrscheinlich ist es nichts, wissen Sie, aber da ist dieser komische Typ, der immer da herumhing … Von Anna Kats Freunden aber hatte nicht einmal einer eine zynische Theorie. Fingerabdrücke gab es zu viele, als dass sie hätten weiterhelfen können. (»Jeder aus der Stadt hier hat seine Hand da schon mal auf der Theke gehabt«, sagte der 47
Detective.) Im Übrigen war die Polizei sich sowieso sicher, dass der Täter Handschuhe getragen hatte, die blutunterlaufenen Stellen an Handgelenken und Hals ließen darauf schließen. Daniel Kinney, Anna Kats Immer-wieder-mal-Freund, wurde dreimal befragt. Er war glaubhaft verstört und kooperativ, stimmte einem Bluttest zu und brachte seine Eltern mit, aber keinen Anwalt. Die Befragungen der Schüler gingen weiter. Am Tatort wurden blonde Haare gefunden, die sich über einen DNA-Vergleich dem Samen des Täters zuordnen ließen. Ohne einen Verdächtigen jedoch glich diese Information einer Antwort auf eine nicht gestellte Frage. Einem Beweis ohne Hypothese. Vor oder während der Vergewaltigung war Anna Kat geschlagen worden. Während oder vielleicht auch nach der Vergewaltigung hatte der Täter sie erwürgt. Ein Arm und beide Beine waren gebrochen. Siebenhundertneunundvierzig Dollar fehlten in einer der Kassen, und vielleicht waren auch Kleider von den Ständern verschwunden. Northwood lebte für ein paar Wochen in Angst. Die Läden und Restaurants schlossen mit Einbruch der Dämmerung. Weit mehr Ehemänner als gewöhnlich holten ihre Frauen vom Zug ab, ihre Wagen standen abends in langen Reihen vor dem Bahnhof. Die Polizei machte Überstunden, und aus Glencoe wurden zusätzliche Beamte ausgeliehen. Wer unter achtzehn war, hatte abends Ausgangssperre. Die Fernsehstationen aus Chicago und Milwaukee schlugen für eine Weile ihre Zelte auf der Main Street auf, aber es schien eine Grenze für die Anzahl der Abende zu geben, an denen man berichten konnte, dass es nichts zu berichten gab, und die Fernsehteams verschwanden an dem Tag, als ein Northwestern beim Training zusammenbrach und an einem Aneurysma starb. Bald war wieder alles wie früher. Zu Frühlingsanfang mochte Anna Kat zwar nicht vergessen sein, aber Northwood verlor seine Angst. Ein schrecklicher Eindringling hatte in der Stadt einen Mord verübt, Northwood war erschüttert worden. Nach 48
einer Zeit der Trauer ging die Stadt, so wie der Eindringling, wieder ihren Geschäften nach.
11 Davis verschrieb seiner Frau zu viele Tabletten. Wenn ihm danach war, selbst welche zu nehmen, was oft genug vorkam, griff er nach der braunen Flasche im Bad, rieb sich die Narbe auf dem Bauch und spülte die Tabletten mit einem Glas Scotch hinunter. Der Verschluss der Flasche prahlte auf grausame Weise mit seiner Kindersicherung. Manchmal saß er auf der Toilette, rollte ein Kristallglas zwischen den Händen und fragte sich, ob er und Jackie schon süchtig waren, und entschied eines Tages, dass das ganz in Ordnung wäre. Alte und streng eingehaltene Gewohnheiten machten es ihnen möglich, tagelang nicht miteinander zu sprechen: Davis schloss abends die Türen ab und stand morgens als Erster auf. Jackie zahlte die Rechnungen des täglichen Bedarfs. Davis stellte montags vor der Arbeit den Müll und alles Recycelbare an die Straße. Jackie kaufte mittwochs Lebensmittel ein. Davis sorgte dafür, dass die Tanks beider Autos mindestens immer zu einem Viertel gefüllt waren. Jackie holte zweimal die Woche die saubere Wäsche und alles Gereinigte ab und wechselte donnerstags die Bettwäsche. Manchmal, wenn sie doch miteinander sprachen, oft betrunken oder benommen, kamen die Worte in groben, nicht mehr zurückrufbaren Ausbrüchen heraus: »Gott, Jackie, ist das wirklich zu viel verlangt? Bitte ich dich je um irgendwas? Ich erwarte verdammt noch mal kaum was, und das ist auch schon zu viel!« »Du erwartest nichts, Davis. Du erwartest nichts von mir, und du gibst mir auch nichts. Ehrlich, so leben doch keine Menschen zusammen!« 49
Northwoods Schülersprecher, ein dünner Junge namens Mark Campagna, stand eines Tages mit Anna Kats Jahrbuch vor der Tür, das sie selbst noch bestellt hatte und auf dem vorne ihr Name in Goldbuchstaben eingeprägt war. Mark erklärte, dass er es allen Schülern ihrer Klasse zum Unterschreiben gegeben habe, und auch allen anderen, die AK gekannt hatten, jedem Einzelnen. Davis und Jackie dankten ihm herzlich dafür, aber Davis war noch nicht so weit, dieses Buch voller sentimentaler Teenagerängste und melodramatischer Geschichten und Geständnisse zu lesen, und so stellte er es ins Regal neben Anna Kats übrige Jahrbücher, und sie gelobten einander, es zu ihrem Geburtstag im nächsten Jahr zu lesen. Jackie las schon am nächsten Tag jedes einzelne Wort. Dann, zu Ende des Winters, lief Jackies Verhalten aus dem Ruder. Es gab keinen Zweifel, dass es neben Anna Kats Tod noch andere Faktoren gab, die dazu beitrugen, einschließlich ihrer Familiengeschichte und des langen, kalten Winters. Auf jeden Fall half ihr beides nicht. Als er eines Abends von der Arbeit nach Hause kam und aus der Garage trat, bemerkte Davis, dass sie hinter dem Haus in der Erde grub. Er sah ihr eine Weile zu. Sie hatte fast den gesamten Rasen umgegraben, so dass nur noch ein schmaler Streifen Grün zwischen zwei großen Rechtecken mit frischer Erde verlief. Sie musste seit Tagen daran arbeiten. »Was machst du da?«, fragte er. »Graben«, sagte Jackie durchaus freundlich. Den nächsten Monat über pflanzte sie wie besessen. Blumen, Gemüse und sogar kleine Bäume füllten die Rechtecke. Davis konnte keine Ordnung oder ein System darin erkennen, aber für sie gab es das sicherlich. Sie ließ einen Elektriker einen Scheinwerfer über der Terrasse anbringen und setzte sich vor dem Zubettgehen ans Fenster des Schlafzimmers, stützte das Kinn auf die Hand und starrte aufmerksam in den Garten hinunter, als handelte es sich um ein riesiges Schachbrett. 50
Manchmal schien ihr der Anblick zu gefallen, aber weit öfter ließ er sie verzagen. »Nein! Nein! Nein! Nein! Nein! Nein! Nein! Nein!«, weinte sie dann und schlug sich mit der Hand auf die Beine. Wenn Davis sie fragte, was denn nicht stimme, konnte sie es nicht sagen. Behutsam schlug er vor, mit einem Therapeuten darüber zu sprechen, wenn sie der Garten so belaste. Anschließend schien es ihr tagelang gut zu gehen, und der Garten wurde kaum erwähnt. Aber dann stand sie wieder in der Erde, in ihren kniehohen schwarzen Stiefeln, mit den dicken gestreiften Handschuhen, Sonnenbrille und Baseballkappe. Im Mai buddelte sie alles wieder aus und fing von vorne an, wobei sie umpflanzte, was sich umpflanzen ließ, und ein ziemlich genaues Spiegelbild der ursprünglichen Anordnung schuf, mit dem schmalen Streifen Gras in der Mitte als Achse. Am Ende fand sie die neue Anordnung aber noch widerlicher, und das Spiel ging von vorne los, im Juli und dann noch einmal im September, und am Morgen des ersten November – in der Nacht hatte es unerwartet bereits gefroren – fand Davis sie schluchzend auf dem Küchenboden sitzen, die Arme um die Knie geschlungen. Der Psychiater (für einen Psychologen sei es zu spät, sagte Davis) verschrieb ihr Antidepressiva, und damit schien sie über den Winter zu kommen. Davis gegenüber blieb sie weiterhin distanziert, aber natürlich konnte das die Vergeltung für all die Wochen und Monate sein, während derer er die in ihrem seltsamen Verhalten versteckten Hilferufe ignoriert hatte. Kurz vor Weihnachten, fast ein Jahr, nachdem ihnen Anna Kat genommen worden war, fragte Davis den Detective, ob man ihnen die Sachen ihrer Tochter zurückgeben könnte, wenn sie sie nicht mehr als Beweismittel brauchten. Später, als er sich überlegte, warum er wohl danach gefragt hatte, nahm er an, dass er es aus Hilflosigkeit getan hatte, verrückt gemacht durch den Stillstand der Ermittlungen. Um Gottes willen, so tut doch was! 51
Holt Anna Kats Kleider aus dem Schrank! Untersucht die Blutflecken. Denkt doch vielleicht mal zehn Minuten an sie. In seinem Arbeitszimmer im Souterrain seines Hauses bewahrte Davis Schnellhefter und Aktenordner mit Notizen über seine Familiengeschichte auf. Auf dem Flohmarkt in Kane County erstand er einen alten Bibliothekskatalog, blätterte durch die vergilbten Katalogkarten und füllte die leeren Rückseiten mit Informationen über rund zweitausendsiebenhundert nahe und entfernte Verwandte. Davis hatte Vorfahren, die in allen Kriegen, beginnend mit dem Unabhängigkeitskrieg, gekämpft hatten, und lange verstorbene Onkel, die in sechs der dreizehn Kolonien Landwirtschaft betrieben. Sechs verschiedene Äste seines Stammbaums wuchsen wie Efeu über die blauen Wände, und er verbrachte Stunden über Stunden in ihrem tröstlichen Schatten. Davis hatte einen entfernten Cousin (eine genauere Bezeichnung gab es nicht), der als Gesetzloser in Missouri gelebt hatte. Keiner seiner toten Verwandten faszinierte ihn mehr, obwohl es sehr schwer war, an Informationen über Will Dennys Leben zu kommen, und was sich finden ließ, war im günstigsten Fall zur Hälfte Legende. Selbst seine genaue Position auf dem Moore’schen Stammbaum war zweifelhaft. In seinen Briefen nannte sich Denny selbst süffisant immer nur filius populi, ein juristischer Euphemismus, der wortwörtlich übersetzt »Sohn des Volkes« hieß und von Gerichten, Kirchen und Familienforschern an Stelle des umgangssprachlichen »Bastard« benutzt wurde. Durch Beharrlichkeit und mit Hilfe des Internets hatte Davis einen Sammler in St. Louis gefunden, der ein Foto von Denny besaß, das gegen Ende seines Lebens gemacht worden war. Der Sammler gestattete Davis, es zu kopieren, und die körnige, glänzende Reproduktion hing in einem Rahmen neben der Tür des Büros. Der silberhaarige Will Denny grinste auf seiner Daguerreotypie. Er trug einen teuren hochkragigen Anzug, ein 52
sorgloser Veteran von etwa sechzig Jahren mit viel Geld und der Freiheit, es für Pokern, Schnaps und Huren auszugeben. Seine Hände waren dick und sein Gesicht sah blass, verlebt und freundlich aus. Davis stellte sich immer eine ausgelassene Gesellschaft um Denny herum vor – Gefolgsleute, Apostel, einige davon betrunken. Denny posierte mit schwarzer Krawatte, langer Flinte, einem muskulösen Hund und einem neuen Hut, der an der hohen Lehne seines Stuhls hing. Wenn Davis das Bild heute betrachtete, fiel es ihm schwer, bei den romantischen Geschichten zu bleiben, die er einst mit seinem gesetzlosen Cousin verbunden hatte. Denny, der fast sein ganzes Leben auf der Flucht gewesen war, schien ihm mittlerweile zu viel mit der gesichtslosen Bestie gemein zu haben, die Davis’ Tochter verschlungen hatte. Er hatte oft darüber nachgedacht, was wohl die Menschen zu Will Dennys Zeit, gute, moralische Geister, keine Kriminellen, über die Arbeit gedacht hätten, die Davis heute in der Klinik tat, wenn man sie überhaupt dazu hätte bringen können, sich so etwas auch nur vorzustellen. Aber jetzt fragte er sich, was Denny wohl getan hätte, hätte ein Teufel mit seiner Tochter gemacht, was ein Teufel mit Anna Kat gemacht hatte. Wenn man ihn überhaupt dazu hätte bringen können, es sich vorzustellen.
12 Achtzehn Monate nach dem Mord erklärte der Detective Davis, der immer noch zweimal die Woche bei ihm anrief, dass er jetzt Anna Kats Sachen holen könne. »Das heißt aber nicht, dass wir aufgeben«, sagte er. »Rufen Sie vorher an, und wir machen die Sachen fertig.« 53
Wie eine Pizza, dachte Davis. »Ich will sie nicht sehen«, sagte Jackie. »Musst du auch nicht«, sagte er. »Wirst du die Kleider verbrennen?« Er versprach es ihr. »Werden sie ihn jemals fassen, Dave?« Er schüttelte den Kopf, zuckte mit den Schultern und schüttelte erneut den Kopf. Er stellte sich einen großen Raum vor mit Reihen von Regalen, in denen Schachteln mit Teppichfasern, Fotos, Handschriftproben und Tonbandkassetten mit Geständnissen standen – genug Beweise, um das halbe North Shore des einen oder anderen zu überführen. Er malte sich einen Schalter mit einem untersetzten grauen Polizisten hinter der Scheibe aus, der ihm ein Klemmbrett hinschieben und dazu bellen würde: »Da unterschreiben. Neben Nummer vier.« Stattdessen saß er am Schreibtisch des Detectives, und die Sachen wurden ihm mit einer Beileidsbezeugung übergeben. Sie waren in braunes Packpapier gewickelt und mit einem zerfasernden Bindfaden zugebunden. Er nahm das Paket mit in sein Sprechzimmer in der Klinik, schloss die Tür und zerschnitt den Faden mit einer langen OPSchere aus rostfreiem Stahl. Das braune Papier fiel auseinander, und er legte die Hände auf den Stapel Kleider, die zusammengefaltet, aber ungewaschen waren. Er nahm ihre Bluse und untersuchte die eingetrockneten Flecken, Blut und Schmutz. Ihre Jeans waren zerschnitten und ihr vom Körper gerissen worden. Der Riss ging vom Reißverschluss zum Schritt und dann halb die Nähte hinunter. Ihr Slip war zerrissen. Uhr, Ring, Ohrringe, Goldkette (zerrissen), ihr Fußkettchen. Schwarze flache Schuhe lagen dabei, die sie neben ihrer Leiche gefunden haben mussten. Mit einem Schaudern sah Davis wieder ihre nackten Schaufensterpuppenfüße vor sich. Und da war noch etwas, etwas in einem der Schuhe: Eine kleine Plastikviole, mit einem Gummistopfen und Klebeband verschlossen. Auf einem schmalen senkrechten 54
Aufkleber standen Anna Kats Name und ein Barcode und in Großbuchstaben mit blauem Filzstift »UNSUB« sowie ein paar Nummern und Zeichen, die Davis nicht zu entschlüsseln vermochte. »UNSUB«, das wusste er, stand für »unidentifiziertes Subjekt«. Einen genaueren Namen hatte er nicht von seinem Feind. Er erkannte, was sich in dem Röhrchen befand, auch in so kleiner Menge. Es war der milchig weiße Treibstoff seiner Praxis, entnommen, abgesaugt aus dem Inneren seiner toten Tochter. Ein Teil davon war getestet worden, ohne Zweifel, und den Rest hatte man bei dem übrigen dürftigen Beweismaterial aufbewahrt. Sicherlich war nicht beabsichtigt gewesen, dass dieses Röhrchen zwischen Anna Kats Sachen geriet. Dieses Zeug gehörte ihr ganz sicher nicht. »Versager«, murmelte Davis. Einen Moment lang wollte er schon zurück aufs Revier und sich den Detective vornehmen: Deshalb habt ihr ihn nicht gefunden! Ihr dreckigen Versager! Der Scheißkerl läuft immer noch frei da draußen herum, während ihr an euren Schreibtischen döst, Röhrchen mit VergewaltigerHinterlassenschaften einpackt und das Ganze den Vätern von toten Mädchen wie ein Weihnachtsgeschenk überreicht! Das Zeug in diesem Röhrchen, in seinem Klinikalltag normalerweise harmlos, war der Knüppel gewesen, mit dem seine Tochter angegriffen worden war, und sein Magen hätte sich nicht stärker verkrampfen können, hätte Davis ein Messer entdeckt, mit dem ihr die Kehle durchgeschnitten worden wäre. Sperma und Eizellen wurden in der Klinik so sorgsam behandelt und in gekühlten, antiseptischen Behältern aufbewahrt, dass er sie sich oft wie Plutonium vorstellte: mit einer Macht, die überlistet und gezähmt werden musste. Das Zeug in diesem
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Röhrchen war waffentauglich, und das Monster, das es eingesetzt hatte, sorglos und bester Laune. Es gab noch mehr. Eine Plastiktüte mit ein paar kurzen blonden Haaren, die mit der Wurzel ausgerissen worden waren. Auch darauf stand »UNSUB«, wahrscheinlich von einem Laboranten geschrieben, der die DNA der Follikel mit der des Spermas verglichen hatte. Es waren genug Haare, um Davis hoffen zu lassen, dass AK ihrem Mörder wenigstens etwas Schmerz zugefügt, dass sie ihm die Haare mit einem heftigen Ruck vom Hodensack abgerissen hatte. Während er das Tütchen zwischen den Fingern rieb, entwickelte Davis einen teuflischen Gedanken. Und als der Gedanke erst einmal gedacht war, begriff er, dass er nicht die Wahl zwischen Handeln und Nichtstun hatte, sondern zwischen Handeln und Einmischen. Indem er sich das vorstellte, hatte es bereits begonnen, der erste Dominostein war gefallen. Er öffnete eine schwere Schublade in seinem Bücherschrank und versteckte das Röhrchen und die Plastiktüte in dem engen Zwischenraum hinter den Hängemappen und der Rückwand der Lade. Im Geist sah er, wie die Dominosteine unaufhaltsam einer nach dem anderen umfielen und sich mit einem immer schneller werdenden Tapp-Tapp-Tapp-Tapp in alle Richtungen ausbreiteten.
13 Justin Finn wurde am zweiten März des nachfolgenden Jahres geboren. Er wog knapp achteinhalb Pfund. Davis hatte die Schwangerschaft mit besonderer Sorgfalt begleitet, und alles verlief fast genau so, wie es in Marthas zerlesenem Exemplar von Womit Sie zu rechnen haben, wenn Sie ein Kind erwarten beschrieben wurde. Im sechsten Monat kam es zu einer kleinen 56
Krise, als der Fötus Anfälle zu haben schien, aber sie kehrten nicht wieder. Es war das einzige Mal zwischen Befruchtung und Geburt, dass Davis dachte, er könnte entlarvt werden. Das Neugeborene wies dann aber keinerlei Anzeichen auf Gehirnschäden oder Epilepsie auf, und nachdem die Finns ihr Kind mit nach Hause genommen hatten, schickten sie Davis eine Kiste Zigarren und eine Flasche fünfundzwanzig Jahre alten Macallan. Im dritten Monat der Finn’schen Schwangerschaft war seine Frau zu ihrer Schwester nach Seattle gefahren. »Nur auf einen Besuch«, sagte sie. Davis fragte sich, ob es möglich war, dass ihre Ehe auf diese Weise endete, ohne eine Erklärung, sondern mit einem Urlaub, aus dem Jackie nie zurückkehrte. Er schickte nicht immer alles, worum sie bat, meist ging es um Kleider und Schuhe, und sie fragte kaum je ein zweites Mal nach etwas. Jackie löste auch weiterhin die Rezepte ein, die er ihr monatlich schickte, zusammen mit einem großzügigen Scheck. Während Jackies Abwesenheit vermied Davis private, selbst beiläufige Unterhaltungen mit Joan Burton. Es war in Ordnung gewesen, Dr. Burton zu bewundern oder sich sogar die eine oder andere Fantasie mit ihr zu erlauben, solange er sicher sein konnte, dass nichts passieren würde. Seine gesamte Ehe über, besonders als Anna Kat noch lebte, wusste Davis, dass er eher für eine Mondlandung trainieren oder in einer Bluegrass-Band Geige spielen würde, als eine Affäre anzufangen. Er war kein Betrüger, und so war es auch nicht möglich, dass er betrog. Aber jetzt, wo Jackie weg war und sich ihre Ehe im Stadium der Auflösung befand, da konnte er nicht länger sagen, dass eine Beziehung zu Joan unmöglich wäre. Er fürchtete, dass sich ihre Blicke bei einem Mittagessen im Rossini’s ineinander verhaken könnten und eine neue Reihe Dominosteine in seinem Kopf zu fallen begänne: Tapp-Tapp-Tapp-Tapp-Tapp-Tapp-Tapp. Jackie kam kurz vor Weihnachten wieder, als hätte sie es immer so vorgehabt. Der wortkarge Ehealltag nahm erneut 57
seinen Lauf. Davis begann wieder mit Joan zu reden und lud sie sogar zum Mittagessen ein. Anna Kat war jetzt drei Jahre tot.
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Justin mit eins
14 Das riesige, im viktorianischen Stil erbaute Haus der Finns war weit größer, als es von der Straße aus aussah. Ein Großteil des Innenraums war in verwinkelten Anbauten nach hinten hinaus versteckt und nur aus der Luft wirklich sichtbar. Terry beauftragte einen Piloten und einen Fotografen, eine Luftaufnahme zu machen, um sie seinen verwirrten Freunden zeigen zu können, die sich über die Weitläufigkeit des Hauses wunderten. »Es gleicht der Tardis von Dr. Who«, sagte Terry gern. Martha wusste immer noch nicht, was genau er damit meinte, obwohl er versucht hatte, ihr zu erklären, dass die Tardis ein Raumschiff sei. Da hatte sie gelacht und ihn einen Spinner genannt. Davis parkte auf der anderen Straßenseite, nachdem er in Gedanken bereits einmal am Haus vorbeigefahren war, und fragte sich, ob es wirklich eine gute Idee war, die Sehen-ohnegesehen-werden-Strategie zu verletzen, die er seit Justins Geburt befolgte. Er nahm das Spielzeug, das ihm Jackie aus der Hand genommen und eingepackt hatte, als sie ihn damit Richtung Tür verschwinden sah. »Was ist so besonders an diesem Jungen?«, fragte sie. »Sie sind alle besonders«, antwortete er, und sie fügte den Vorfall der Liste der Geheimnisse hinzu, die er vor ihr hatte. »Dr. Moore«, sagte Martha Finn, als sich die Tür erst einen Spaltbreit geöffnet hatte. »Was für eine Überraschung! Wir müssen heute das gesündeste Haus im weiten Umkreis sein mit Ihnen beiden hier.« 59
Uns beiden?, fragte sich Davis, bis er Joan im Wohnzimmer auf der anderen Seite der Diele entdeckte. »Hallo, Joan«, sagte er. »Davis!«, sagte sie. »Was machst du denn hier?« Sie merkte gleich, wie herablassend das geklungen haben musste, und bereute ihre Worte. »Ich meine …« »Ich statte unseren Kindern an ihrem ersten Geburtstag gern einmal einen Besuch ab«, log er. Er hatte solche Besuche über die Jahre zwar tatsächlich von Zeit zu Zeit gemacht, aber nicht mehr, seit Joan in der Klinik war. Sie sagte nichts weiter dazu. »Ganz herzlichen Dank.« Martha, klein und schlank, wie sie war, hatte alle Schwangerschaftsspuren mit Power-Walking zur Strecke gebracht. Sie nahm den Spielzeugtruck (für Justin noch ein wenig früh, aber doch sehr nett, würde sie ihrem Mann später sagen), der in glänzendes rotes Papier eingepackt war. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Terry ist gerade beim Einkaufen, er besorgt ein paar Dinge für unsere Party.« »Party?«, fragte Joan, die sich hinkniete und Justin dabei zusah, wie er am Papier ihres Geschenks zupfte, einem Lernspielzeug mit Buchstaben, Würfeln, Tieren und Plastikringen, die alle so groß waren, dass sie nicht in seine Luftröhre geraten konnten. »Wie schön.« »Natürlich kommen hauptsächlich unsere Freunde und nicht seine«, sagte Martha. »Es gibt Wein und Sekt mit Orangensaft, Früchte und Käseplatten. Und viel zu viel Gerede über Arbeit und Baseball.« »Er sieht gut aus.« Joan grinste und schüttelte ihm ihr Haar ins Gesicht. »Kräftig.« Davis betrachtete den Jungen von der Ecke des Teppichs aus. Er hatte ihn einige Male von seinem Wagen aus gesehen, als er Martha heimlich zu CostCo oder in den Park gefolgt war. Justin hatte wie jedes andere Kind ausgesehen und tat es auch jetzt. Sein roter Overall war voller Geburtstagspudding. Justin hob 60
eine Giraffe an die Stirn und machte ein komisches, erwachsenes Gesicht. Als Joan und seine Mom lachten, tat er es noch einmal. Davis versuchte, sich AKs Mörder bei seinem ersten Geburtstag vorzustellen – in einem anderen Haus, mit einer anderen Mutter, zu einer anderen Zeit und mit einem anderen Spielzeug: wie er genau dieses Gesicht machte. Er dachte an AK in dem Alter, die bereits die grünen Augen und hohen Wangenknochen hatte, die sie durch die Pubertät hindurch behalten sollte. Ihr Lachen auf den alten Videos glich ihrem Teenagerkichern so sehr, und auch ihre freundliche Starrköpfigkeit war bereits im Mutterbauch angelegt gewesen. Jetzt versuchte er, allerdings ohne Erfolg, in Justins knubbligen kleinen Händen und dem dünnen blonden Haar ihren Mörder zu erkennen. Minuten später, an der Tür von Joans Spyder, fragte sie ihn: »Hast du etwas Zeit?« »Jackie erwartet mich um fünf zum Essen.« »Das ist mehr als eine Stunde.« Marty’s lag in der Nähe vom Bahnhof, und die Woche über war es gegen sechs dort ziemlich voll. Zwei Whiskey mit Eis standen vor ihnen auf dem Tisch und daneben ein Aufsteller, der scharf gewürzte Chicken-Wings anpries. Joan fragte Davis, wie es ihm gehe. »Wie es mir geht? Gut.« »Was war das mit dem Geburtstagsbesuch?« »Nur so ein Einfall.« »Hmm. Wie geht’s Jackie?« »Ihr geht’s gut.« »Es ist also alles in Ordnung?« »Das habe ich nicht gesagt.« Er zuckte mit den Schultern, überrascht von seiner eigenen Offenheit, nachdem er von Joans 61
Direktheit so in die Enge getrieben worden war. »AK hätte dieses Jahr im Juni ihren Abschluss in Illinois gemacht.« »Ich weiß.« »Mit Ausnahme ihrer … ihrer Episode mit dem Garten kommt Jackie besser damit zurecht, und das macht es mir zu Hause nicht gerade leichter. Jackie ist es in vieler Hinsicht gelungen, ihr altes Leben wieder aufzunehmen, aber ich muss einfach immer an Anna Kat denken. Jeden Tag erinnere ich mich an etwas Neues. Wenn ich sechzig bin, werde ich jede einzelne Sekunde ihres Lebens in meinem Kopf noch einmal durchlebt und sie gleichsam in Kopie wieder zum Leben erweckt haben. Mit jeder Bewegung, die sie bis an ihr Ende gemacht hat.« »Glaubst du, das ist gesund?« »Sicher nicht. Es ist so, als müsste ich ihr Leben leben, weil sie es selbst nicht mehr kann. Und es ist nicht nur sie. Ich verbringe mehr Zeit bei meinen toten Verwandten unten im Souterrain als mit meiner Frau oben im Haus. Ich bin ein Arschloch.« Joan runzelte die Stirn und bestellte dann mit einer Handbewegung noch zwei Drinks. »Kann ich dir eine Geschichte erzählen?«, fragte sie. Als sie durch die Drehtür des Krankenhauses hinaus in die Nachtluft Houstons getreten war, hatte Joan das Gefühl gehabt, in einer dampfenden schwarzen Flüssigkeit zu schwimmen. Nach Sekunden schon klebte ihr das Haar am Kopf und die Bluse auf der Haut. Sie selbst schwitzte nicht, die Stadt schwitzte sie an. Als sie im Januar aus der Bay Area hergezogen war, kam ihr Houston gastlicher vor als erwartet. Es gab ansprechende Buchhandlungen, eine aktive Theatergemeinde und ein gutes Orchester. Die Menschen waren freundlich und die Wintertage angenehm, wenn es nicht gerade in Strömen regnete. Die 62
Sommernächte jedoch waren etwas anderes. Im Sommer war es, als atmete man Kaffee ein. Die Gegend im Südwesten der viertgrößten Stadt des Landes wirkte abends nach sechs wie evakuiert. Nur im Krankenhaus war noch Leben, in einigen abgesperrten Apartment-Blocks und der Taco Cabana, wo Schlaflose und Schichtarbeiter an winzigen, wackligen Resopaltischen saßen und zu schnell gemachten Fajitas kaltes Dos Equis tranken. Joan war im Moment vor allem müde und nicht hungrig. In der Parkgarage auf der anderen Seite der Straße ging Joan mit langen, schnellen Schritten und steifen Knien zu ihrem Auto. Trotz aller Müdigkeit war sie auf der Hut in der einsamen, von kaltem Neonlicht erleuchteten Betonhöhle. Als sie vor siebzehn Stunden ihren Wagen hier abgestellt hatte, standen zwei Minivans so nah links und rechts neben ihm, dass sie sich winden musste, um aus dem Auto zu kommen. Jetzt war ihr Taurus ein Waisenkind und stand fast ganz allein auf Level acht. Joan sah den Mann nicht, bis er auf zwanzig Meter an sie herangekommen war und immer noch näher kam. Vielleicht kam er von Level sieben und wollte noch eins höher. Er schien in den Dreißigern zu sein, war womöglich aber auch jünger und nur stärker verlebt. Er trug einen Ehering, zumindest einen Ring am entsprechenden Finger, und im linken Ohr auch einen Ohrring. »Miss? Miss? Es ist mir wirklich peinlich, aber mein Wagen ist abgeschleppt worden und mir fehlen genau drei Dollar fünfundsiebzig, um ihn zurückzukriegen. Ob Sie mir vielleicht helfen können?« Joans Hand glitt in ihre Tasche, wo ihr Daumen auf einen zusammengefalteten Fünfer stieß und ihr kleiner Finger nach dem feuerzeuggroßen Pfefferspray suchte. Sie beobachtete, wie er auf sie zukam. Er trug eine offene blaue Windjacke, 63
wahrscheinlich gegen einen möglichen plötzlichen Schauer, und sein gestreiftes Hemd steckte in ausgewaschenen Jeans. Die Astros-Kappe hatte er sich tief ins Gesicht gezogen. Das goldbraune Haar auf Wangen und Kinn zeugte von Tagen ohne Rasur, hatte aber nichts mit einem wirklichen Bart oder Schnauzer zu tun. In der linken Hand hielt er ein dickes Schlüsselbund. Dazwischen entdeckte sie die Rabattkarte einer großen Lebensmittelkette. Später fragte sie sich, warum ihr dieses Detail so gutartig vorgekommen war. Sie nahm den Fünfer. Die Faust mit dem Schlüssel traf Joan auf der Wange, und sie schrie auf, als sie gegen die Autotür fiel. Er packte sie bei den Haaren und riss ihren Kopf vor und zurück, während er ihr die Handtasche von der Schulter zog. Dann holte er eine Pistole hinten aus dem Gürtel und drückte sie ihr übers Ohr, als wollte er, dass sie dort kleben blieb. »Setz dich in die verdammte Karre und fahr los«, knurrte er, stieß sie auf den Fahrersitz und warf ihre Schlüssel auf die Bodenmatte, wo sie nach ihnen herumtasten musste. Als er zur Beifahrerseite hinüberlief, dachte sie nicht einmal daran wegzulaufen. Sie würde ihm nie entkommen können. Er dirigierte sie aus dem menschenleeren Parkhaus, nach Osten auf den Bellaire Boulevard und dann nordöstlich auf der Main Street, weg vom Krankenhaus Richtung Innenstadt. »Hast du Familie?« Seine Stimme war kalt und nur schwer zu verstehen, als spräche da ein Roboter. Sie nickte und versuchte, das Zittern in ihren Händen aus der Stimme zu halten. »Eltern. Brüder. Aber nicht hier in der Gegend.« »Ich meine Kinder«, sagte er gereizt und bewegte die Pistole wie einen Hammer in ihre Richtung. 64
Sie schüttelte den Kopf. Er sagte nicht, warum er das wissen wollte. »Du musst dich um dich selbst kümmern«, sagte er. »Was?«, sagte sie und wusste nicht, warum sie ihm Fragen stellte, die ihn ermutigen oder weiter gegen sie aufbringen konnten. Oder auch beides. »Nichts sonst ist wichtig«, sagte er in einer abwesenden, betrunkenen Oktave, die eine Tonlage höher reichte, als er es wahrscheinlich gewollt hatte. »Dein Sohn. Deine Mom. Deine gottverdammte Scheißfrau.« Er befahl ihr, auf dem Memorial nach Osten zu fahren. »Wo wohnst du?« »Sugarland«, sagte sie. Er öffnete ihre Tasche, nahm ihren Führerschein aus der Brieftasche und las ihn im Licht der vorbeihuschenden Straßenlaternen. »Lügnerin«, sagte er und lehnte den Kopf gleichgültig gegen sein Fenster. Sie fuhren nicht weit auf einen leeren Parkplatz, der von Bürogebäuden umgeben war. In sechs Stunden würden hier fünftausend Leute in Rufweite sein. Jetzt war niemand da. Er packte wieder ihr Haar. »Setz dich nach hinten.« Mit den Knien und seiner Pistole presste er sie auf die Rückbank, durchsuchte dabei wie beiläufig den Rest ihrer Handtasche und füllte sich die Taschen mit Geld, Handy und Kaugummi. Dann besprühte er ihr Gesicht mit ihrem eigenen Pfefferspray, was ihr fast gnädig vorkam, denn so konnte sie sich auf den Schmerz in ihren Augen konzentrieren, statt auf den Horror, der sich weiter unten ereignete. Und es gab ihr die Entschuldigung zu weinen, obwohl sie sich geschworen hatte, das nie zu tun, wenn sie sich in dunklen, schrecklichen, verletzlichen Momenten vorgestellt hatte, dass es einmal zu so etwas kommen könnte.
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»Himmel, Joan. Das wusste ich nicht.« »Weil ich es dir nicht sagen wollte.« »Warum nicht?« »Weil du mich nicht so angesehen hast.« »Entschuldige.« »Hör auf.« »Und warum erzählst du es mir jetzt?« »Weil ich denke, dass du jemanden brauchst, mit dem du reden kannst. Ich dachte, es könnte dir helfen, dich zu öffnen, wenn du wüsstest, dass ich es …«, sie wollte schon sagen, überlebt habe, »dass es mir auch einmal passiert ist. Ich will damit nicht sagen, dass ich weiß, was Anna Kat durchgemacht hat. Aber in den Augenblicken vorher, als ich hinter dem Steuer saß, stellte ich mir das Schlimmste vor. Ich dachte, mein Leben würde mit einer Kugel oder einem Messerstich enden, und ich hatte mich fast schon aufgegeben. Aber ich habe es überlebt. Wie du. Wie du die Kugel des Attentäters überlebt hast. Und du hast auch Anna Kats Tod überlebt. Oder wirst es zumindest noch. Aber du musst darüber sprechen, Davis. Es ist viel Zeit verstrichen.« »Ich halte es einfach nicht für fair«, sagte Davis und fuhr sich mit der Hand unter das Jackett, um unter seinem Hemd nach der alten Wunde zu fühlen. »Aus unterschiedlichen Gründen, wahnsinnigen Gründen, wollten Leute uns beide umbringen, aber irgendwie lebe ich noch, und sie ist tot.« Joan führte ihr Glas an die Lippen, kippte es leicht und ließ ein Stück Eis in ihren Mund gleiten. Sie wartete darauf, dass es schmolz und mit ihm auch der sentimentale Ton aus dem Gespräch wich. »Seit dem Mord schlafwandelst du durch die Klinik. Deshalb war ich so überrascht, dich heute bei den Finns zu treffen. Diese Art Geste hätte ich von dem alten Dr. Moore erwartet.« 66
Davis sah in sein Glas. »Dieser Kerl, als er bei dir im Auto saß, warum hat er das da gesagt?« »Warum hat er was gesagt?« »Das mit ›dein Sohn, deine Mom, deine Frau‹ – was, glaubst du, sollte das?« »Mein Therapeut meinte, es sollte eine Art Erklärung sein. Eine Entschuldigung. Er wusste, dass es falsch war, was er tat, und wollte die Schuld jemand anderem geben. Vielleicht war es so. Ich weiß es nicht.« »Haben sie ihn gekriegt?« »Nein.« »Glaubst du, du würdest ihn wiedererkennen, wenn du ihn sähest?« »Das habe ich immer gedacht. Aber es ist jetzt zehn Jahre her. Er wird sich verändert haben, genau wie sich wahrscheinlich auch meine Erinnerung an ihn verändert hat. Ich habe ihn älter werden lassen, damit er immer das gleiche Stück älter bleibt. Ich bin mir nicht sicher, ob der Kerl da oben …«, sie fasste sich an den Kopf, »ob der noch viel mit dem wirklichen Arschloch gemein hat.« »Fühlst du dich immer noch hilflos? So, als müsstest du etwas tun, irgendwas?« »Etwas tun? Warum?« »Um den Kerl zu finden. Ihn spüren zu lassen, was du empfunden hast.« »Das ist genau das, worum es einem Vergewaltiger geht, Davis. Ich kann ihn nicht spüren lassen, was ich empfunden habe. Ich könnte ihn erschießen, und er würde immer noch gewinnen. Du weißt doch, in den Filmen, in denen es einen wirklich üblen Typen gibt, der unaussprechliche schreckliche Dinge tut. Und am Ende dreht der Gute, der Polizist oder wer immer, den Spieß um und tötet ihn in letzter Minute. Wirft ihn 67
aus dem Fenster oder zerstückelt ihn in einer Schiffsschraube oder sonst was. Ich hasse das. Ich hasse es, wenn der Dreckskerl stirbt. Ich glaube, es ist viel schlimmer, mit dem leben zu müssen, was man getan hat.« »Hmm«, sagte Davis. »Also, ich zumindest lebe jeden Tag mit dem, was er getan hat.« Dieser »er« war für Davis natürlich Anna Kats Mörder, aber für Joan waren er und der Vergewaltiger von Houston das Gleiche: das gesichtslose, namenlose Böse. »Das Böse schafft sich Raum«, sagte sie. »Und wenn einer der Männer, die Böses tun – es sind meist Männer, aber darüber können wir später diskutieren –, wenn also einer von denen stirbt, entsteht ein Vakuum und jemand anders tritt an seine Stelle. Den, der das Böse tut, umzubringen, tötet nicht das Böse. Ein anderer nimmt anschließend seinen Platz ein. Das Böse ist eine physikalische Konstante. Wie die Schwerkraft. Das Einzige, was wir tun können, ist, uns selbst und die, die wir lieben, auf der richtigen Seite zu halten.« »Unsere Mütter, Söhne und Frauen«, sagte Davis. »Weißt du, was mir wirklich im Kopf herumgeht? Nicht so sehr das Wer, sondern das Warum. Ich meine, ich will, dass AKs Mörder bestraft wird, aber er kann einer von Tausenden von absolut austauschbaren Verbrechern, Ungeheuern und Arschlöchern sein. Ich hasse den Gedanken, dass das alles ohne jeglichen Grund passiert ist. Ohne jedes Motiv. Dass AK umgekommen ist, weil irgendein Ex-Häftling an ihrem Laden vorbeikam und das Gefühl hatte, dass es ihn wieder mal juckte. Ich muss nicht mal seinen Namen wissen, aber wenn ich ihm nur in die Augen sehen könnte, um zu verstehen, warum er es getan hat. Warum es passieren musste.« »Wäre dir das wirklich genug?«, fragte Joan skeptisch.
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»Ich weiß es nicht«, sagte Davis. »Was, wenn man es wirklich bekämpfen könnte? Das Böse. Würdest du es dann nicht tun? Müsste man es nicht? Koste es, was es wolle?« Sie langte über den Tisch und legte ihm die Hand auf den Arm. »Manche Preise sind einfach zu hoch, Davis.« Er sagte nichts, war aber nicht ihrer Meinung.
15 Mississippi war so ungefähr der Ort, den er auf dieser Welt am wenigsten mochte, und doch fühlte er sich eben dort am sichersten. Was für Mickey ein weiterer von jenen Widersprüchen war, in denen sich für ihn die Existenz Gottes zeigte. Die natürliche Ordnung bestand aus Verläufen und Spektren, es gab Extreme und dazwischen Abstufungen. Alles änderte sich gradweise, und von den Dingen im Universum konnte meist entweder das eine oder das andere gesagt werden: heiß oder kalt, schwarz oder weiß, richtig oder falsch. Nur der allmächtige Gott hatte die Macht, etwas gleichzeitig sein zu lassen: heiß und kalt, schwarz und weiß, richtig und falsch. Menschen zu töten war immer falsch, aber konnte Gott es nicht auch gelegentlich richtig werden lassen? Die Farm war groß und heruntergekommen, hundertfünfzig Hektar rauen, steinigen Landes mit verfallenden Scheunen und Ställen. Vor Jahren war es eine Baumwollplantage gewesen, und das bereitete Mickey Unwohlsein. Er bewunderte die afrikastämmigen Amerikaner, die Sklaverei und Vorurteile erduldet und ihre eigene konservative Kultur entwickelt hatten, nachdem sie von der herrschenden Kultur abgelehnt wurden. Zeigten die Umfragen nicht, dass die Schwarzen grundsätzlich gegen jede Art von Klonen waren, selbst zu reinen Forschungszwecken? Und das mit einer Zweidrittelmehrheit? 69
Oder noch mehr? Mickey nahm sich vor, an einem der kommenden Abende, wenn sie Limonade schlürfend auf der riesigen Veranda saßen, Harold darauf anzusprechen, wie sie mehr Schwarze für ihre Sache gewinnen könnten. Das würde die liberalen Westküstler doch wirklich auf die Palme bringen, oder? Noch vor drei Jahren hätte es Mickey nicht gewagt herzukommen. Harold war zu bekannt, und das FBI hatte seinen Besitz unter ständiger Beobachtung und stellte alle zwei Jahre alles auf den Kopf, wegen des Verdachts auf Verhetzung, Anstiftung zum Mord oder Unterstützung illegaler Unternehmungen. Sie hatten ihn jedoch noch nie verurteilen können. Harold hatte einen Verteidiger von der American Civil Liberties Union, der Bürgerrechtsbewegung, der mit dem Ersten Zusatzartikel zur Verfassung antwortete und den Fall einmal bis vor den United States Supreme Court gebracht hatte, der mit sieben zu zwei für Harold entschied, was die Leitartikler in New York und San Francisco zur Weißglut brachte. Während der letzten zwölf Monate, sagte Harold, hätten die Feds das Interesse an ihm verloren, vielleicht seien sie auch frustriert, weil sie ihm nichts anhängen könnten, auf jeden Fall ließen sie ihn ziemlich in Ruhe. »Du kannst so lange bleiben, wie du willst«, sagte er zu Mickey. »Aber ich würde von hier aus nicht telefonieren.« Harold Devereaux war kein offizielles Mitglied der Hände Gottes, obwohl die Hände Gottes die letzten Jahre ohne ihn wahrscheinlich nicht überlebt hätten. Harold nannte sich selbst einen »unabhängigen Unternehmer, der allein für einen Kunden arbeitet: Gott den Allmächtigen«. Er war ein produktiver Schreiber und Prediger gegen das Klonen, wirklich berühmt aber (und deshalb war er auch bis vor den Supreme Court gekommen) war er durch seine Website geworden, auf der er Kliniken, Ärzte und Forscher benannte, die das Klonen von Menschen befürworteten oder betrieben. Wenn gelegentlich eine 70
dieser Personen starb oder sich aufs Altenteil zurückzog, strich Harold den Namen rot durch. Wurde ein Arzt nur verletzt, erschien sein Name nicht mehr in Schwarz, sondern in Grau. Viele Menschen, vor allem diejenigen, die auf der Website aufgeführt wurden, mochten das nicht. Sie nannten die Liste eine Abschussliste. Harolds Anwalt von der ACLU stimmte dem nicht zu und fand unter den höchsten Richtern sieben, die ihm Recht gaben. Von dreihundertsiebenundfünfzig Namen auf Harolds Website waren mittlerweile vierundzwanzig rot durchgestrichen. Auf Mickeys Konto gingen davon neun. Sechs weitere waren eines natürlichen Todes gestorben, sechs in Rente gegangen oder hatten aus Angst um ihr Leben und das ihrer Familien das Klonen aufgegeben, und drei waren von einem oder mehreren Unbekannten mit Kopfschüssen getötet worden. Die Polizei nahm an, dass es ein und derselbe Attentäter war, der alle zwölf auf dem Gewissen hatte, Mickeys neun und die anderen drei. Sie hatten ihrem Phantom sogar einen Namen gegeben: Byron Blakey Bonavita. Vor zwei Jahren war Byron mit dem FBI auf den Fersen in die Wälder Kentuckys geflüchtet, und wann immer Mickey seitdem einen Arzt ausgeschaltet hatte, gab es irgendeinen Zeugen, der behauptete, Byron Bonavita in der Gegend gesehen zu haben. Das war wie mit Elvis. Mickey wusste nicht, ob Byron die drei anderen Attentate begangen hatte, aber er war froh darüber, dass das FBI jedes Mal, wenn er einen Job erledigt hatte, nach dem Gesicht von jemand anderem suchte. Darin lag wahrscheinlich der Grund, dass er immer noch weitermachen konnte. In den kleinen Orten rund um Harolds Ranch gab es kaum Zielobjekte. Mickey machte einen Freundschaftsbesuch. Über seine Website sammelte Harold auch Spenden für Anti-Klon»Lobbying«, die er still an Individuen und Kirchen verteilte, die das Wort vom Bösen der modernen Naturwissenschaft verbreiteten. Die Hände Gottes gehörten mit dazu, wodurch das 71
FBI auf sie aufmerksam geworden war, das den Namen bereits von einigen Drohbriefen an Fruchtbarkeitskliniken landauf, landab kannte. Phil und die anderen bestritten, jemals jemanden bedroht zu haben, und keiner der Briefe war in Ohio aufgegeben worden. Die Feds wussten nichts von Mickey Fanning und der langen Schachtel im Heck seines Cutlass Supreme. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass du ein paar Tage hier bist, Mickey«, sagte Harold. »Du bist ein wahres Werkzeug des Herrn.« »Danke, Harold«, erwiderte Mickey. »Es tut gut, einen Platz zu haben, wo man sich hinsetzen und wirklich ausruhen kann. Als ich gestern Abend zu Bett ging, war ich sicher, dass ich bis heute Abend schlafen könnte.« Harold hatte eine eigentümliche Figur, schmale Schultern und Beine, die so gelb und brüchig aussahen wie getrocknetes Stroh. Dazwischen saß ein mächtiger runder Bauch, der an einen Gymnastikball oder einen Schwangerenbauch erinnerte. Auf dem Hof spielten Harolds Kinder, schwangen auf einer teuren Mahagonischaukel hin und her. Mickey war jetzt seit drei Tagen zu Besuch und konnte dennoch nicht sagen, wie viele Kinder Harold denn nun hatte. Mindestens vier. Harolds dritte Frau war irgendwo in der Küche. Sie war jung und hübsch, denn Harold war reich und berühmt und hatte es bereits einmal auf das Titelblatt des New York Times Magazine geschafft. Mickey mochte sich die beiden nicht beim Sex vorstellen, aber er konnte nicht anders – ein weiterer Widerspruch Gottes, und ein grausamer. Mickey konnte von der Veranda aus durch die Rollläden in Harolds Büro und den Zähler sehen, der die Besucherzahl auf Harolds Website registrierte. Die ging längst in die Millionen (Mickey wusste nicht, wann Harold mit dem Zählen angefangen hatte), und alle paar Sekunden kam einer dazu. Die Leute klickten Harolds Botschaft genauso oft an, wie sie einen Hamburger kauften, dachte Mickey. 72
»Was gibt es Neues aus Washington?«, fragte Mickey seinen Gastgeber, der immer auf dem neuesten Stand war. »Nichts«, sagte Harold. Als er sein Glas an die Lippen hob, hinterließ es einen Ring Schwitzwasser auf seinem T-Shirt oben auf seinem Bauch. »Das Klonen steht in dieser Sitzungsperiode nicht einmal auf der Tagesordnung des Kongresses. Sie wollen da nicht ran. Je weniger sie sich mit dem Thema befassen, desto besser, denken sie.« »Immer die gleiche alte Leier, wie?«, sagte Mickey. Die blaugrauen Haare seines Barts reichten bis über die Lippen, als Harold den Mund verzog. »Verstehe mich nicht falsch. Ich liebe dieses Land, und ich glaube an die Demokratie. Aber es gibt einige Themen, zentrale Themen, für die unsere gewählten Repräsentanten schlecht gerüstet sind. Sie meiden Kontroversen, und das wissen unsere Gegner zu ihrem Vorteil zu nutzen. Es gibt einen alten Grundsatz, was das Capitol betrifft: Was legal ist, bleibt wahrscheinlich legal; was ungesetzlich ist, bleibt wahrscheinlich ungesetzlich. Wenn so etwas wie das Klonen erst einmal legal ist, wird es die Regierung auch dabei belassen, damit sie vor den nächsten Wahlen nicht darüber diskutieren muss. Denn was immer sie dann sagt, stößt die Hälfte der Wähler vor den Kopf.« »Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist unserer Meinung, Harold«, sagte Mickey. »Ich habe erst gerade wieder eine Umfrage gelesen …« »Ich brauche keine Umfragen«, sagte Harold. »Ich muss nur mit Freunden und Nachbarn sprechen. Hier in der Gegend ist keiner anderer Meinung. Und wenn unser Hurensohn von einem Kongressabgeordneten mit über eine Gesetzesnovelle zum reproduktiven Klonen abstimmen müsste und dagegen stimmte, bekäme er einen Arschtritt, und das weiß er auch. Aber die andere Seite stimmt mit Dollarnoten ab, und alles, was sie tun muss, ist, das Gesetz nicht auf die Tagesordnung kommen zu 73
lassen. Die Klon-Lobby ist glücklich, die Kongressabgeordneten sind glücklich, und schon steht’s zwei zu eins, und das amerikanische Volk ist aufs Kreuz gelegt.« »Es ist wirklich eine Schande.« »Du weißt, dass mein Angebot steht, mit jedem Senator oder Vertreter der anderen Seite in eine offene Debatte einzutreten, und weißt du, wie viele darauf schon eingegangen sind? Nicht einer. Natürlich laden sie mich ab und zu in irgendwelche Talkshows ein, aber dann setzen sie mir Leute gegenüber, die völlig unwichtig sind: Universitätsprofessoren und Feministinnen. Was hat Feminismus mit Klonen zu tun? Kannst du mir das sagen?« Mickey lutschte am letzten Stück eines Eiswürfels aus seinem Glas. »Freiheit der Fortpflanzung. Sie sagen, Klonen sei ein notwendiger Teil des Rechts der Frauen auf freie Entscheidung. Es befreit sie von den Fesseln ihres Uterus, blablabla.« »Das beweist genau, was ich sage!« Harold war jetzt ganz in seinem Element. »Das Klonen ist erst vor einigen Jahren erfunden und perfektioniert worden. Wie kann es da für die Menschheit notwendig sein? Diese Liberalen verspotten die Bibel seit Jahren, und dann findet die Wissenschaft heraus, wie man einen Menschen aus der Rippe Adams – im wörtlichen Sinne – erschaffen kann, und schon halten sie das für einen bedeutsamen und notwendigen Fortschritt in der Evolution der menschlichen Spezies. Lächerlich! Es ist gefährlich, nichts anderes. Es ist nicht mal so, dass der Mensch Gott spielt, nein, der Mensch verhöhnt Gott. Aber Gott hat das letzte Wort, denn vielleicht kann die Wissenschaft einen Menschen nach des Menschen Ebenbild erzeugen, aber nur Gott kann ihn nach seinem Ebenbild erschaffen. Nur Gott kann eine Seele schmieden.«
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»Amen«, sagte Mickey und schaufelte sich ein paar gemischte Nüsse aus einer Schüssel in den Mund, die zwischen ihnen auf dem Tisch stand. Harold atmete laut durch den Vorhang seines Bartes. »Wohin fährst du also als Nächstes?« Die Kinder riefen etwas, wieherten wie Pferde und jagten einander hinter das Haus. »Ich glaube nicht, dass du es wirklich wissen willst.« Harold lachte. »Da hast du Recht. Das will ich nicht. Tu mir nur einen Gefallen und unternimm nichts hier in der Gegend. Es gibt sowieso nur wenig legitime Ziele hier, außer vielleicht an der Universität, würde ich sagen, aber wenn auf meinem Hof was passiert, haben mich die Feds in null Komma nichts gleich wieder am Arsch.« Mickey nickte. »Harold, was mich angeht, trägst du einen dreihundert Meilen großen Heiligenschein.« Darauf sagten sie lange Zeit gar nichts mehr, bis Harolds Frau sie zum Essen rief. Vier Tage später schoss Mickey vor einem privaten Forschungslabor in Arkansas einem Labortechniker, der auf dem Weg zum Mittagessen war, von hinten in den Kopf. Der Mann starb am Tatort. Die Polizei von Little Rock ließ eine Zeichnung von Byron Bonavita zirkulieren.
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Justin mit drei
16 An einem heißen Privatstrand des Michigan-Sees, nicht größer als eine Autoauffahrt, verfolgten Terry und Martha Finn aufmerksam die Bewegungen des zwischen ihnen spielenden Justin. Eine steile, unebene Treppe aus Bahnschwellen hinauf lag das Cottage – oder das, was sie das »Cottage« nannten. Die meisten Leute würden es einen tollen Zweitwohnsitz nennen. Es hatte drei große Zimmer, war völlig neu ausgestattet, und unter den Decken drehten sich lautlos Ventilatoren, mehr für den psychologischen Effekt als etwas anderes. In einer Stunde würden Gary und Jennifer Hogan mit ihrer Tochter Mary Ann übers Wochenende kommen. Samstag und Sonntag wollte man zusammen auf dem Mahagonideck des Boots verbringen, mit Erwachsenengesprächen und einer Menge Getränke, wobei es von Zeit zu Zeit die Kinder mit einer Geschichte, einem Spiel oder einem dummen Gesicht aus ihrer Langeweile zu befreien galt. »Wer denkst du also war der Kerl?«, fragte Terry seine Frau, wobei er die Unterlippe an den blauen Plastiksaurier legte, den Justin ihm vor das Gesicht hielt. »Wer?« Terry nickte ihrem Sohn zu. »Er. Der da.« »Ach, hör schon auf.« »Nein, im Ernst.« »Sie werden es uns nicht sagen. Es wäre gegen das Gesetz. Es hat keinen Sinn, sich deswegen Gedanken zu machen.« 76
»Für New Tech ist es gegen das Gesetz, es uns zu sagen. Wenn wir es selbst herausfinden, ist es okay. Wir könnten einen Privatdetektiv anheuern oder so.« »Hör auf.« Sie lachte. »Irgendwo muss es eine papierne Spur geben. Wenn er erwachsen ist, verdammt noch mal, könnte man sein Bild veröffentlichen, und irgendjemand könnte ihn erkennen. Der Spender lebte, als das Klonen legalisiert wurde, was bedeutet, dass er erst ein paar Jahre tot sein kann.« »Richtig.« »Und das hier haben wir auch.« Terry hob Justins T-Shirt hinten an und deutete auf das Muttermal über der linken Hüfte, das ein bisschen so wie West Virginia aussah, eine Teekanne mit einer langen Tülle. Ohne hinzugucken, schlug Justin nach der Hand seines Vaters, und Terry ließ los. Martha lächelte, und da sie nicht länger in die Sonne blicken wollte, die vom Wasser des Sees reflektiert wurde, schloss sie die Augen. »Er flucht ziemlich viel.« »Wer?« »Justin.« »Unsinn.« »Doch. Denkst du nicht? Für einen Dreijährigen?« »Na, dann fluch du nicht in seiner Anwesenheit«, sagte Martha. »Tu ich doch nicht.« »Gerade eben erst wieder.« »Wann?« »Vor zehn Sekunden. Da hast du verdammt noch mal gesagt.« »Das ist kein Fluchen. Ich rede von wirklich schmutzigen Ausdrücken.« 77
»Für ihn sind das nur Worte, die ulkig klingen.« Terry beobachtete, wie sein Sohn mit dem Schwanz seines Tyrannosaurus Gräben zog. »Fragst du dich je, ob etwas von den Erinnerungen des Typs – ich meine den Spender –, ob davon etwas in Justins Genen ist?« »Was? Wie bei Jung?« »Wie bei wem?« »Carl Gustav Jung. Das kollektive Unbewusste.« Terry verzog sein Gesicht zu einem halb ernsten Grinsen, wie er es oft tat, wenn Marthas perfekte Erinnerung an ihre Unizeit ihn in gefährliche Gewässer brachte. »Heute Morgen kriegte Justin dieses Messer zu fassen …« »Ein Messer?« »Aus Plastik. Es war in der Tüte mit den Bagels.« »Oh.« »Auf jeden Fall tat er so, als wollte er damit schneiden, auf der Tischdecke, und dabei sah er aus, als wüsste er genau, was er da tat.« »Weil er es von dir abgeguckt hat.« »Nein, er hielt es wie ein Skalpell. Lange, klare Einschnitte. Wie ein Chirurg.« »Jetzt hör aber auf.« »Ich weiß, es ist verrückt. Ich meine ja nur. Stell dir vor, wir finden heraus, er war ein Arzt. Das wär doch was, oder?« »Das hieße dann, dass er das Fluchen auf dem Golfplatz gelernt hat.« Martha grinste. Was sie sagte, war witzig, aber Terry lachte nicht. Martha tat immer alles ab, jede vernünftige Idee, die er hatte, wurde beiseite geschoben. Früher hatte er sie bewundert, weil sie so intelligent war, aber er hatte nicht bedacht, dass mit Intelligenz oft Herablassung einherging. Er war es, der arbeitete und mit 78
seinen Termingeschäften zwei Häuser bezahlte, zwei Autos und teure Ferien. Aber er war kein großartiger Schüler gewesen, und Martha, die dachte, kluge Sprüche machten den Unterschied, brachte ihm nie die Anerkennung entgegen, die er verdiente. Selbst bei Justin, der ganz offensichtlich intelligent war, tat Martha so, als hätte er seinen Grips von ihr, obwohl sie nicht ein einziges ihrer superintelligenten Gene an ihn weitergegeben hatte. Wenn schon nicht aus einem anderen Grund, wollte er herausfinden, woher der Junge stammte, um ihr zeigen zu können, dass die Klugheit des Jungen nichts mit ihr zu tun hatte. »Also was denkst du?« »Worüber?« »Jemanden anzuheuern, der in Justins Vergangenheit herumschnüffelt.« »Er ist drei, Terry. Er hat keine Vergangenheit.« »Okay. Dann meine ich eben den Spender. Sein anderes Ich.« »Sie sind völlig verschiedene Menschen. Seine Persönlichkeit hängt mehr von uns ab als von irgendeinem geheimnisvollen Fremden.« »Dr. Moore hat gesagt, sie wären wie Zwillinge, oder?« »Ja. Und?« »Du weißt, dass zwischen Zwillingen manchmal so etwas wie außersinnliche Verbindungen existieren. Was ist, wenn Justin einen Teil der Erinnerungen seines Zwillings in sich trägt? Ich meine, über außersinnliche Wahrnehmung?« »Kommst du auf das alles, weil Justin gestern Abend das Wort Sch … gebraucht hat?« »Nicht nur deswegen.« Sie warf sich ihre blonden Strähnchen aus dem Gesicht und lächelte ihn an. Ihre Haut glänzte und ihre Zähne strahlten. Sie sah jung und frisch aus. »Lass dich nicht aufhalten. Mir macht es nichts. Du hast deine eigene Kreditkarte, und mir ist es lieber, 79
wenn du dein Geld dafür ausgibst als für eine Freundin oder sonst was.« »Dich betrügen? Niemals.« Über Justin hinweg gaben sie sich einen sandigen Kuss. »Das Wort Sch …! Das Wort Sch …! Das Wort Sch …«, sang Justin. Ihre Gesichter verzogen sich zu einem Grinsen, ohne dass sich ihre Lippen voneinander trennten, und sie begannen, sich wieder zu küssen.
17 Da er nach Osten hinausging, war der Raum hell, und Barwick hatte sich einen Stuhl ausgesucht, von dem aus sie in den Raum hineinsah. Der Stuhl war grün, mit hohen Lehnen, der Stoff, mit dem er bezogen war, unidentifizierbar und an der Rückseite mit Polsternägeln befestigt. Mrs Lundquist saß im vollen Sonnenlicht, und Barwick betrachtete neugierig die helle, fast noch jung aussehende Haut der älteren Frau, die sich so sehr von ihrem eigenen mokkafarbenen Teint unterschied. »Sie erzählten mir gerade von diesem Oral-History-Projekt, das Sie durchführen«, sagte Mrs Lundquist. »Richtig«, sagte Barwick. »Im Auftrag der Universität Chicago. Wir suchen überall im Land nach einem Zufallsprinzip Menschen aus, die wir darum bitten, uns ihre Geschichte zu erzählen. Diese Geschichten werden aufgeschrieben und für zukünftige Generationen archiviert.« »Das klingt nach einer interessanten Arbeit.« »Oh, das ist es. Tatsächlich. Ich lerne eine Menge nette Leute kennen. Wie Sie.« Sie lächelte charmant. »Nun, was kann ich für Sie tun?« 80
»Wenn es nicht zu viel verlangt ist, würde ich gerne ein wenig mit Ihnen reden. Ihnen ein paar Fragen stellen. Dann verschwinde ich, und Sie sehen mich nie wieder. Aber natürlich bekommen Sie Ihren Fünfzigdollarscheck von der Universität.« Sie fragte sich, wie sie an einen Scheck der Universität Chicago kommen sollte. »Oder direkt von unserem Büro.« Das würde sich leichter vortäuschen lassen. »Das klingt gut«, sagte Mrs Lundquist, und Barwick dachte, dass dies eine Fallstudie darüber werden könnte, warum sich alte Leute so leicht von Betrügern übertölpeln ließen. Obwohl sie selbst die alte Dame nicht betrügen wollte. Nicht wirklich. Hier ging es um eine legitime Sache. Barwick fing mit dem Leben von Mrs Lundquist in Watertown, New York, an. Anschließend ging es um ihre Familie. Mrs Lundquists Mann war im letzten Jahr an einer Herzkrankheit gestorben. Sie hatte drei Söhne, von denen einer in den Westen nach Buffalo gezogen war, einer hatte sich im Süden in Atlanta niedergelassen, und der Jüngste war vor ungefähr neun Jahren bei einem Schiunfall umgekommen. Wegen ihm war Barwick hier. Aber sie hatte Zeit. Es gab keinerlei Grund, Mrs Lundquist zu drängen. »Erics Unfall war eine schreckliche Sache«, sagte Mrs Lundquist. »Aber es war ein Unfall. Eric war ein fantastischer Schifahrer. Fantastisch.« »Was machte er?« »Was er machte? Er war noch Student, an der Cornell, im letzten Studienjahr. Er interessierte sich für Sozialarbeit. Er hat immer versucht, irgendwelche Leute zu retten. Wenn es auf dem Campus Proteste gab, friedliche, war er dabei. Er dachte daran, ins Peace Corps einzutreten oder unten in der Stadt als Lehrer zu arbeiten, in den heruntergekommenen Stadtteilen. Don und ich,
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wir dachten, er sollte Jugendberater werden. Er war so ein guter Zuhörer. So intelligent.« »Haben Sie Bilder von ihm?«, fragte Barwick. »Ich meine, von allen Ihren Kindern. Damit ich die Namen mit einem Gesicht verbinden kann.« Mrs Lundquists Gesicht leuchtete auf wie eine Heizsonne. »Aber natürlich.« Die Finns hatten nicht nach Fotos gefragt. Im Gegenteil, sie hatten Big Rob gesagt, dass sie keine Fotos von Eric Lundquist wollten, und das war auch ihr gesagt worden, als sie den Auftrag bekam. Sie wollten nicht wissen, wie Justin als Teenager oder später als Erwachsener aussehen würde. Aber Barwick wollte ihn sehen. Sie hatte noch nie einen Klon getroffen. Sie wollte den Schauer verspüren, ein Foto mit dem erwachsenen Gesicht des kleinen Jungen zu sehen, dessen Bilder im Handschuhfach ihres Mietwagens draußen vor der Tür lagen. Mrs Lundquist war immer noch schnell auf den Beinen und eine Minute später schon aus dem oberen Stock mit drei in Kunstleder gebundenen Ringbuch-Alben zurück. Barwick wechselte auf die Couch, und sie schlugen die Alben auf ihrem Schoß auf. Die Söhne der Lundquists sahen alle gut aus – groß, blond, mit breiten Schultern und schlanken Hüften, schönen Händen und wohlgeformten Beinen. Barwick erinnert sich an ihre Zeit auf der High School (was noch gar nicht so lange her war, sagte sie sich), und ja, für Eric hätte sie geschwärmt. »Hatte Eric eine Freundin?« Mrs Lundquist lächelte. »Auf der Uni hatte Eric ein oder zwei Mädchen. Nichts, was ernst genug gewesen wäre, um sie uns vorzustellen. Don und ich haben einmal in Ithaca ein Mädchen bei ihm gesehen, als wir ihn abholten. Eine Inderin, wissen Sie. Aus Asien. Ich kann mich an ihren Namen nicht mehr erinnern. Er war schwer auszusprechen.« »Ist schon okay.« 82
Die Fotos dokumentierten das Leben der Söhne in etwa gleichem Umfang. Von den beiden älteren gab es natürlich noch neuere Fotos, auf denen sie mit ihren Familien zu sehen waren. Bilder mit Frauen und Kindern in Wohnzimmern und Parks. Erics Galerie im Sommer vor seinem letzten Studienjahr, vor seinem BA-Abschluss, als er etwa zwanzig gewesen war. Eines der Bilder zeigte ihn oben auf einem weiß gestrichenen Hochsitz am Lynde Lake. Er sah über die rechte Schulter in Richtung Kamera und legte die Hand zum Gruß an die Schläfe. Barwick schätzte, dass er da so um die achtzehn sein musste. Glücklich. Unbesiegbar. »Hmm«, entfuhr es Barwick aus Versehen. »Was ist?«, fragte Mrs Lundquist. »Oh. Nun. Hmm. Wurde Eric je operiert?« »Sie meinen, ob er sich verletzt hat? Nein. Nicht vor dem Unfall. Er war nie im Krankenhaus.« »Auch nicht, um sein Aussehen etwas zu verändern?« »Wegen einer Schönheitsoperation?« Mrs Lundquist sah amüsiert aus. »Himmel, nein.« »Hmm«, entfuhr es Barwick noch einmal. »Warum fragen Sie?« »Nur so«, sagte sie. »Er war so ein schöner Sohn.« »Sie sind lieb«, sagte Mrs Lundquist, und dann erzählte sie Barwick, wie Eric in der sechsten Klasse einmal eine Nacht in seinem Schrank geschlafen hatte, damit ihn morgens niemand fand und zu seinem Klarinettenunterricht um sieben Uhr schicken konnte.
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18 Vor Jahren hatte Davis versucht, Jackie für ihre eigene Familiengeschichte zu interessieren, aber schon darüber zu sprechen langweilte sie. »Ich bin weit mehr an meiner heutigen Familie interessiert«, sagte sie und fügte damit den Tausenden von mehr oder minder deutlichen Beschwerden, die sie über die Jahre wegen seiner Achtzigstundenwoche vorgebracht hatte, eine weitere hinzu. Mit Hilfe von alten Fotografien und Briefen, die Jackie von ihrer Mutter geerbt hatte, konstruierte Davis einen unvollständigen Stammbaum ihrer Familie, der fünf Generationen zurückreichte und den er ihr irgendwann zum Muttertag schenkte. Jackie sagte, er gefalle ihr, und hängte ihn in den Raum, in dem sie ihr Laufband, ihre Nähsachen und so weiter hatte. Kurz nach dem Tod von AK, vielleicht auch schon am Tag danach, nahm Jackie den Stammbaum von der Wand, und Davis hatte ihn seither nicht mehr gesehen oder danach gefragt. Er verstand, warum der Blick darauf so schmerzhaft war, auch er empfand in jenen Tagen Trauer, wenn er in seinen Familiendokumenten blätterte. Die braunen Ordner und Katalogkarten repräsentierten wirkliche Leben, genau wie die Unterlagen mit den Namen geklonter Jungen und Mädchen in seinem Arbeitszimmer in der Klinik auf Kinder verwiesen, die liebten und geliebt wurden. Der Unterschied zu den Dokumenten zu Hause bestand darin, dass der Großteil seiner Verwandten außerhalb seines kleinen blauen Raums nicht mehr existierte. Wenn er die Katalogkarte seines Ur-Ur-UrGroßonkels Vic hervorzog und dessen Geburtsdatum oder Sozialversicherungsnummer verbesserte, war er sich sicher, dass er der einzige Mensch war, der an diesem Tag an den lange verstorbenen Onkel Vic dachte. Da schwang dann Traurigkeit mit, bittersüße Traurigkeit, aber solch einfache, melancholische Ehrerweisungen den Toten gegenüber hatten auch etwas 84
Befriedigendes, und er freute sich nicht auf den Tag, da er an Anna Kat würde denken können, ohne dass ihn die Erinnerung an sie schmerzte. »Hast du je daran gedacht?«, fragte sie ihn. Es war bereits spät, und sie hatten Wein getrunken und gelesen. Jackie hatte irgendwann ein Gespräch angefangen, doch Davis hatte nicht wirklich zugehört, und jetzt begriff er, dass er nicht wusste, wovon sie sprach. »Woran gedacht?« »Sie zu klonen.« »AK?« »Wen sonst?« Davis sah sie entsetzt an. »Nein. Absolut nicht. Ganz abgesehen davon, dass es illegal wäre.« Das war eine absurde Aussage. Und gefühllos, dachte man an das, was er vor ihr verheimlichte. Ihm war klar, dass sie ihm von nun an niemals vergeben würde, wenn sie je die Wahrheit entdeckte. »Ist nur so ein Gedanke«, sagte Jackie. »Ich frage mich, wie es wäre, sie zurückzubekommen. Und wenn auch nur als Baby. Ihr noch eine Chance zu geben. Und uns noch eine, sie zu beschützen.« »Sie wäre nicht sie selbst, derselbe Mensch«, sagte Davis. »Wäre das so wichtig?« »Ja«, sagte Davis. Jackie schloss ihr Buch, und ihre Stimme wurde weicher, wie immer, wenn sie sich ärgerte, traurig oder nervös wurde. »Du tust so, als wäre ein geklontes Kind kein wirkliches Kind. Da wären einige Leute aber ziemlich überrascht, wenn sie dich so hörten.« »Bei einer neuen Familie ist es anders. Für uns wäre ein Klon nichts als ein Doppelgänger. Eine schmuddelige Kopie. Ein Geist ohne Gedächtnis. Wäre AK noch AK ohne die Narbe auf 85
der Hand, wo sie sich beim Radfahrenlernen verletzt hat? Wenn ihr andere Zähne plombiert worden wären? Wenn sie eine Schwimmerin würde statt Volleyballspielerin? Angst vor Hunden und nicht vor Spinnen hätte? Wenn sie lieber Englisch lernte als Mathematik?« Jackie wurde rot, und Davis streckte die geöffnete Hand in ihre Richtung; sie saß zu weit weg, als dass er bis zu ihr hätte hinüberreichen können. »Ich weiß, was du denkst. Dass nach all der Zeit da noch immer diese … diese Leere ist, und der Wunsch, sie zu füllen, kann überwältigend sein. Aber für bestimmte Menschen können Klone nur Projektionen des Originals sein: abstrakte Figuren, Schauspieler, Schattenwesen. Wenn ein anderes kleines Mädchen hier im Haus herumliefe, in einem Körper, der wie der von AK aussähe, würde das das All nicht nur noch schwärzer machen?« Jackie fing an zu weinen, und dann auch Davis, aber er ging nicht zu ihr, und sie kam nicht zu ihm.
19 Big Robs Büro war so klein, dass er weder links noch rechts an seinem Schreibtisch vorbeikam, ohne mit dem Hintern an der Wand entlangzuschaben. Sally Barwick saß in einem Alusessel, durch dessen zerrissenen Plastikbezug der Schaumstoff hervorsah. Wenn sie eines ihrer muskulösen Beine vor sich ausgestreckt hätte, hätte ihr roter Schuh Big Robs Metalltisch eine verpasst. Sie konnte den Kopf auf ihrem langen braunen Hals nach hinten beugen und an die Wand hinter sich lehnen, genau wie Big Rob auf seiner Seite. Phil Canellas schlaksiger Körper stand zwischen Aktenschrank und Wand eingeklemmt, dem einzigen anderen Ort in diesem Raum, wo noch ein Mensch Platz finden konnte. Philly war wie Big Rob Polizist gewesen,
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bevor er Privatdetektiv wurde, und wegen eines Falles aus dem Norden in die Stadt gekommen. Wollte nur schnell hallo sagen. Barwick hielt ein Tramezzino vom Agden Avenue Deli einen Stock tiefer in der Hand. Die dicken Schichten Fleisch, Salat und Tomaten zwischen den beiden Scheiben Toast machten es schwierig, hineinzubeißen, egal, wie sie das Sandwich auch hielt. »Er ist es nicht«, sagte sie, nachdem es ihr gelungen war, einen Bissen Brot mit Truthahn und Mayonnaise zu erwischen. »Woher weißt du das?«, fragte Big Rob. »Der Junge von den Finns hat ein Muttermal. Eric Lundquist hatte keins.« »Was soll das beweisen?« »Ein Klon ist eine genetische Kopie, Biggie.« »Was weißt du schon vom Klonen, Barwick. Ich meine, ernsthaft. Bist du plötzlich so ’ne Art Expertin?« »Das ist doch bekannt. Lies das Time Magazine. Oder frag einen Arzt oder wen auch immer.« »Keine weiteren Ausgaben, Barwick. Die Finns haben bezahlt, und ich gehe da nicht noch mal hin und frage nach Geld für einen Experten. Und aus eigener Tasche bezahl ich schon gar keinen.« »Dann glaub mir einfach.« Die Backen voller Corned Beef, wedelte Big Rob mit einem mehrere Zentimeter dicken roten Ordner hoch über seinem Kopf. »Den Teufel werde ich tun. Ich habe hier acht Monate sorgfältigste Arbeit, die besagt, dass Lundquist der Gesuchte ist. Da gehe ich doch nicht zu den Finns und sage ihnen, dass plötzlich wieder alles offen ist.« »Okay. Was willst du also?« »Ich will, dass du mir die Aufnahmen gibst und das Interview mit der alten Dame abschließt. Aufgrund der Arbeit, getreu den 87
Unterlagen – solide Detektivarbeit, nebenbei gesagt, Glückwunsch –, denken die Finns bereits, dass Eric Lundquist ihr Mann ist, und wenn wir ihnen jetzt noch dein Interview geben, haben sie genau das, was sie wollen: eine Biografie des Zellenspenders ihres Sohnes.« »Bis auf den Umstand, dass Eric Lundquist es nicht ist.« »Sagst du. Die Leute sind sowieso einem Phantom auf der Spur. Dieser Lundquist, ob der nun der Zellenspender ist oder nicht, ist sowieso jemand anders als ihr Kind. Man wird mit gewissen Anlagen geboren, und dann bekommt man eine Erziehung und so weiter. Was ist also, wenn du Recht hast? Worauf immer sie neugierig sind, du hast den Stoff, um ihre Neugier zu befriedigen.« »Wenn Lundquist nicht der Spender ist, willst du dann nicht wissen, wer es ist? Hier stinkt doch was, Biggie. Könnte sein, dass wir da einem Riesenskandal auf der Spur sind. Woodwardund-Bernstein-Stoff. Einem Watergate. Willst du nicht wissen, warum der ganze Papierkram, all die medizinischen Unterlagen auf Lundquist deuten, die beiden sich aber nicht ähnlich sehen? Warum der Junge von den Finns ein Muttermal hat, das Eric Lundquist nie gehabt hat?« »Ich will alles wissen, was mein Klient wissen will. Nicht mehr. Stimmt’s, Philly?« Sein Freund nickte. »Und unser Klient will was über Eric Lundquist wissen.« Barwick nahm die beiden Audio-Discs aus ihrer Tasche und schob sie über Big Robs makellosen Tisch. »Ich habe die einschlägigen Passagen bereits abgeschrieben.« Big Rob warf einen frustrierten Blick auf Canella. »Hör zu, Sals«, sagte Philly. »Wir leben davon, dass wir Antworten liefern, nicht Wahrheiten. Wenn uns eine Frau anstellt, um ihren nichtsnutzigen Ehemann zu verfolgen, dann tun wir das und machen Fotos. Wenn dieser Mann einen guten Grund dafür hat, mit seiner persönlichen Assistentin in einem Motel an der 88
Lincoln Avenue zu verschwinden, dann ist das nicht unsere Sache.« »Bei den Finns«, fügte Biggie hinzu, »sind wir den Beweisen nachgegangen und haben gute Arbeit geleistet. Unser Klient wird zufrieden sein. Und wir sollten es auch sein.« Barwick steckte den Scheck in die Tasche ihres Jeanshemds. »Ihr ruft an, wenn ihr wieder was habt?« »Ja, Sally. Nächste Woche. Ich habe da einen reichen alten Knacker an der Goldküste, der womöglich mit dem Babysitter seines Enkels herummacht. Eine echt eklige Sache. Wird dir gefallen.« Als sie wieder zu Hause in Andersonville war, nördlich von Wrigley am See, beruhigte sich Barwick, indem sie ihren flachen Afro unter den Wasserhahn hielt und dann sechsmal dieselbe Seite eines Taschenbuchromans las, bevor sie ins Bett ging. Im Traum sah sie sich mit Justin Finn, der mittlerweile achtzehn oder so war, am Strand von Lynde Lake sitzen. Sein Gesicht sah aus wie das von Eric Lundquist. Auf seinem Rücken hatte er das teekannenförmige Muttermal. Er nahm ihre Hand und fuhr sich damit über seine kräftigen, haarigen Beine. »Keine Sorge«, sagte Justin. »Du hast einen Job. Aber ich habe auch einen.« »Kann ich dir helfen?«, fragte Sally ihn. »Pssst«, sagte Justin, und mit einem Mal saßen sie im Haus von Mrs Lundquist. Justin strich ihr über die Wange, und dann ging er hinaus in den Schnee.
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Justin mit fünf
20 Bevor Jackie aufhörte, so zu tun, als würde sie ihren Mann gut genug kennen, um für ihn einkaufen zu können, schenkte sie ihm zu seinem Geburtstag einen neuen Computer (der, den er hatte, war völlig veraltet, wenn auch kaum benutzt). Sie dachte, der Computer könnte ihm bei seinem Hobby helfen, das mittlerweile fast Davis’ gesamte Freizeit ausfüllte. Sie nahm wenigstens an, dass er da unten immer noch an seinem Familienprojekt arbeitete. Sie kam nur auf dem Weg zur Waschmaschine am blauen Raum vorbei oder wenn sie in den Kriechkeller wollte, wo sie ihre Gartengeräte aufbewahrte. Davis schloss den Computer an, verkabelte die Peripheriegeräte und begann, die Geschichte seiner toten Familie einzugeben, hatte aber das Gefühl, noch einmal von vorne anzufangen. Die besonderen Verbindungen und Verknüpfungen, die der Computer bereitstellte, hielt er für überflüssig und auch nicht besser als sein Katalogkartensystem, das er über die Jahre immer weiter verfeinert hatte. Im Internet recherchieren zu können (was er früher nur in den wenigen freien Minuten im Sprechzimmer getan hatte), fand er dagegen hilfreich, und er spielte mitunter auch ganz gern eine Partie Online-Bridge. Früher hatten er und Jackie an zwei Samstagen im Monat mit Walter und Nancy Hirschberg gespielt, aber damit hatte es ein Ende, als es Jackie wirklich schlecht ging, und Davis hatte mit seiner Frau seit über sieben Jahren nicht mehr Karten gespielt.
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Eines Sonntagnachmittags, als er auf WGN die Baseballergebnisse hörte und dabei im Internet nach einem schwer aufzufindenden Großonkel mütterlicherseits suchte, erregte eine Reklame seine Aufmerksamkeit. MACHT ES IHNEN SPASS, IN DIE VERGANGENHEIT IHRER FAMILIE ZU BLICKEN? VERSUCHEN SIE ES DOCH EINMAL MIT DER ZUKUNFT – MIT DEM NEUEN FACE-FORGER 6.0 VON SIX BRIDGES SOFTWARE! Er klickte sich durch die Website von Six Bridges und musste nur ein paar Sätze über die Software lesen, um dem sicheren Server der Firma seine Visa-Card-Nummer anzuvertrauen. Er erhielt ein Passwort und lud sich Software und Handbuch auf seinen Computer. Er installierte die Software und experimentierte mit Scans von Anna Kat als Baby. Er machte einen Testlauf nach dem anderen und ließ sie siebzehn Jahre alt werden, nachdem er Dutzende von Fragen beantwortet hatte: Wird die Person Alkohol trinken? Rauchen? Wie viel? Wird sie viel Zeit im Freien verbringen? In der Sonne? Ungeschützt? Wie viel? Nach einer Woche hatte er ein Ergebnis, das gut genug war, um es auszudrucken. Davis hielt das Bild neben ein Foto von AK, das zu Weihnachten vor ihrem Tod gemacht worden war. Die Sache war zwar nicht perfekt (die Augen stimmten nicht ganz), kam der Wirklichkeit aber doch unglaublich nahe. Alle Freunde AKs würden sie auf dem Bild erkennen. Tags darauf kaufte er eine Digitalkamera und legte zwei Termine um, damit er den Nachmittag freihatte. Die Straße der Finns machte östlich von ihrem Haus einen Bogen, und Davis parkte an einer Stelle, von der er immer noch einen guten Blick auf Haustür und Auffahrt hatte. Mit laufendem Motor wartete er dort und hörte Radio. Stunden vergingen ohne irgendein Zeichen von Martha oder Justin. Er nickte kurz ein. Gegen halb 91
sechs bog ein Mercedes in die Auffahrt. Terry Finn kam aus dem Büro nach Hause. Allein. Das letzte Jahr über hatte Davis angefangen, sich wegen Justin töricht und schuldig zu fühlen, und wäre der Junge nicht regelmäßig zur Untersuchung zu Joan gekommen, hätte er versucht, ihn ganz aus seinem Denken zu verdrängen. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Vorübergehender Wahnsinn war die einzig mögliche Diagnose, was ihn mehr Verständnis für die Verfassung seiner Frau aufbringen ließ. Es würde noch zehn oder mehr Jahre dauern, bis Justin auch nur entfernt AKs Mörder gliche, und der wäre dann natürlich auch wieder entsprechend älter. Möglicherweise ein alter Mann. Aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie sich nie wirklich ähnlich sehen, selbst wenn man sie zusammen in einen Raum brächte. Das Ganze war ein Verfolgungsspiel, das er nie gewinnen konnte. Und wenn die Finns wegzögen? Wie wollte er den Jungen dann weiter im Blick behalten? Es beschämte ihn zu denken, dass er solch ein radikales Experiment in Gang gesetzt hatte, ohne sich auch nur zwei ernsthafte Gedanken über irgendeine dieser Fragen zu machen. Natürlich war die Logik nie eine Konstante in seiner Gleichung gewesen. Nur in seinen kühnsten Träumen hatte er erwartet, mit Justins Hilfe AKs Mörder fassen zu können. Selbst wenn Justin erwachsen wurde und Davis oder jemand anders das Gesicht erkannte, wie sollte er das dann der Polizei erklären? Was würde er als Beweis ins Feld führen? Ganz sicher nicht seinen Ruf als angesehener Arzt, der in dem Moment zerstört wäre, in dem er so einen Wahnsinnsplan zugab. Was Davis angetrieben hatte, als er Eric Lundquists DNA mit dem Material aus seinem Bücherschrank vertauschte, war der Wunsch, dem Mörder seiner Tochter in die Augen sehen zu können. Oder, wenn er an Justin selbst dachte, einem Abbild des Mörders seiner Tochter. Das letzte Jahr über war der Tag, an dem er diesen Wunsch womöglich befriedigen könnte, in seinem 92
Kopf in immer weitere Ferne gerückt. Die neue Software hatte die schwelende Asche jedoch neu erhitzt. Wenn er nur ein gutes Foto des Jungen bekommen konnte, würde er schon das richtige Dutzend Parameter in den Computer eingeben und so das Gesicht finden, nach dem er suchte, und damit diesen untergründigen Zwang ein für alle Mal loswerden. Jetzt jedoch wurde ihm klar, dass die Finns zu Bett gegangen sein mussten, und er sah, dass er an diesem Abend nichts mehr ausrichten konnte. Er wartete bis Samstagmorgen, bevor er es ein weiteres Mal versuchte. Nach einer halben Stunde fuhren Terry, Martha und Justin in einem Chevy Minivan davon, und er folgte ihnen in sicherem Abstand. Sie fuhren kaum zwei Kilometer und parkten im gemäßigten Rummel des Zentrums von Northwood. Davis fand eine freie Parklücke einen halben Block weiter. Er folgte ihnen zu Starbucks. Der Coffee-Shop war zum Bersten voll, und als sich die Tür hinter ihm schloss, fand sich Davis von frischem Kaffeeduft eingehüllt. Er entdeckte ungefähr ein halbes Dutzend Leute, die er kannte. Er hätte sich auf der anderen Straßenseite postieren und versuchen sollen, von dort aus ein Foto zu machen, wenn die Familie wieder herauskam, aber jetzt war er hier und konnte sich nicht einfach umdrehen und wieder gehen. »Hi, Dr. Moore«, grüßte ihn Libby Carlisle. Libby war eine Freundin AKs gewesen, eine Zeit lang vielleicht sogar ihre beste Freundin. Seit der Beerdigung hatte er sie nicht mehr gesehen. »Hi, Libby«, sagte Davis. Da er direkt beim einzigen Ausgang stand, war er sich sicher, dass die Finns nicht unbemerkt entkommen konnten. »Wie geht’s zu Hause?« »Ich habe geheiratet, falls Sie es nicht gehört haben«, sagte sie und klopfte auf den Griff des Kinderwagens neben sich. »Thom und ich sind vor sechs Monaten wieder hergezogen. Komisch, oder? In der High School will man nur eins: so schnell wie 93
möglich weg von zu Hause. Und dann zieht einen irgendwas zurück.« Sie ließ nichts von dem Verlust spüren, den sie miteinander teilten, und Davis war froh darüber. Mit AKs alten Freunden und Freundinnen zu sprechen war normalerweise ein hartes Stück Arbeit. »Ja, schon komisch«, sagte Davis. »Grüßen Sie Ihre Frau von mir«, sagte Libby und schob sich dabei rückwärts aus der Tür, den Kinderwagen ziehend. Davis stand in der Schlange und übte seine Bestellung: einen großen, fettarmen Café latte. Die Finns waren drei Plätze vor ihm. Terry hatte Justin auf den Arm genommen, um ihn im Gedränge nicht zu verlieren, und der Junge sah zurück in Davis Richtung und fuhr seinem Vater mit einem Spielzeugauto über die Schulter. Sein blondes Haar war dichter geworden, und seine Eltern hatten es hinten länger wachsen lassen, wahrscheinlich, nachdem er beim Friseur einen Schreikrampf bekommen hatte. Sein Gesicht war etwas schmaler, die Nase rot von einer Erkältung, und die Augen leuchteten königsblau. Er kicherte, als ihm sein Vater etwas ins Ohr flüsterte. Justin flüsterte etwas zurück und kicherte noch mehr. Davis strich über die Kamera in seiner Tasche. Wie seltsam würde es aussehen, wenn ein Arzt aus dem Ort (und zwar einer von einigem Ansehen) die Kunden bei Starbucks fotografierte? Nachdem Davis seine Bestellung aufgegeben hatte, nahm er das Wechselgeld auf seinen Fünfdollarschein in Empfang und stellte sich zu den Wartenden ans Ende der Theke. »Dr. Moore!«, sagte Martha Finn. »Wie geht es Ihnen?« »Gut, Martha, danke.« »Terry, du erinnerst dich doch an Dr. Moore?« »Aber natürlich«, sagte Terry. Er nahm Justin auf den anderen Arm, damit er seine Hand ausstrecken konnte. In ein paar Monaten schon würde Justin zu schwer für die dünnen Arme seines Vaters sein. »Schön, Sie zu sehen.« 94
»Was macht Justin?« Terry drehte den Jungen um, der sein Kinn verschämt an die Brust seines Vaters drückte. »Sehr gut. Er hatte gerade eine Erkältung, aber sonst geht es ihm bestens.« Martha wischte Justins Nase mit einer Papierserviette ab, wie eine Hausfrau, die schnell ein paar Sachen zurechtrückt, weil unerwartet Gäste gekommen sind. »Das hört man gern.« Ein junges Mädchen rief die Bestellung der Finns auf, und Martha drückte die Becher in runde Pappisolierbehälter. »In ein paar Wochen hat er wieder einen Termin bei Dr. Burton. Vielleicht sehen wir Sie ja.« »Ich werde die Nase ins Zimmer stecken, wenn ich kann.« »Wunderbar. Auf Wiedersehen dann.« Als Davis’ Kaffee fertig war, waren die Finns längst aus ihrer Parklücke und weg. In den Zoo gefahren, zum Einkaufen oder in den Club. Er fuhr zurück nach Hause und fragte Jackie nach kurzem Suchen in der Küche, wo die Gelben Seiten waren.
21 Barwick lag im Bett, aber schlief nicht, als Big Rob anrief. Sie schob das Kreuzworträtsel der Tribune vom Schoß, verscheuchte die Katze und stellte das Radio leiser, bevor sie nach dem Telefon griff. »Das ist eine echt komische Geschichte, Barwick«, sagte Big Rob. »Was gibt es?« »Ich hab gerade mit Phil Canella ein Bier getrunken. Ehrlich, ich sollte mit meinem Büro an den Stadtrand gehen. Phil kommt 95
mit seiner Arbeit gar nicht mehr nach. Je näher man an die Grenze von Wisconsin kommt, desto argwöhnischer werden die Ehepartner.« »Was gibt’s denn?« »Erinnerst du dich an die Finns? Die Eltern mit dem geklonten Jungen, die was über den Zellenspender herauskriegen wollten?« »Ja, sicher.« Tatsache war, dass sie nicht aufhören konnte, an Justin Finn zu denken. »Also da stand noch ein anderer Privatdetektiv an der Theke bei uns, ein Freund von Phil. Scott Colleran von den Gold Badge Investigators. Hast du von dem schon gehört?« »Nein.« »Die haben ihr Büro ein ganzes Stück weiter nördlich. In der Nähe von Six Flags in Gurnee. Egal, wir haben ihn also bei der Happy Hour im Toad getroffen und uns Geschichten erzählt und so weiter, und dann stellt sich heraus, dass Scott einen Kunden hat, der Fotos von dem Jungen der Finns will.« »Was? Nein! Wer?« »Immer mit der Ruhe. Scotty wird doch seinen Kunden nicht preisgeben. Diskretion, du erinnerst dich?« »Die aber offenbar im Ten Toad Saloon nichts gilt.« Big Rob lachte. »Wir haben nur so geredet. Und dir hat die Sache damals so viel Gedanken gemacht, dass ich dachte, du fändest das ganz witzig.« Ja, natürlich, irgendein verrückter Alter, der Schnappschüsse von einem Fünfjährigen will. Mehr als witzig. »Dieser Colleran denkt doch nicht ernsthaft daran, den Job anzunehmen, oder?« »Aber klar. Warum denn wohl nicht?« »Und wenn da einer eine Entführung plant? Oder wenn der Kunde ein Kinderschänder ist?« 96
»Nee, Pädophile machen ihre eigenen Fotos. Oder sie kaufen sie im Internet. Im Übrigen hat Scott ihn überprüft. Er sagt, das ist ’ne grundehrliche Haut.« »Wunderbar. Scott Colleran hat ihn überprüft. Da kann den Kindern von Chicago ja nichts mehr passieren.« »Komm schon. Colleran ist in Ordnung. Wie ich sage, er bürgt für den Mann.« »Ich hab dir doch gesagt, da war was faul an dem Fall, Biggie«, sagte Barwick. »Das hängt alles zusammen.« »Entspann dich. Es geht wahrscheinlich einfach nur um irgendein Sorgerecht.« Er machte eine Pause, und Sally konnte durchs Telefon hören, wie er in was Knuspriges biss. »Also willst du den Job jetzt oder nicht?« »Was soll das denn jetzt?« »Gold Badge ersäuft in Aufträgen, genau wie Philly. Ich sag’s doch die ganze Zeit: An den Stadtrand sollte man ziehen. Egal, ich hab Colleran erzählt, dass du ganz heiß auf die Finns bist, ’ne prima Fotografin und dazu immer einen Job gebrauchen kannst. Da sind vierhundert für dich drin, abzüglich meiner Provision. Vierfünfzig, wenn du keine Verschwörung draus machst, oder schlimmer noch, moralische Bedenken kriegst.« Sally wusste, es war eine schreckliche Idee. Aber sie wusste auch, dass sie der Versuchung nicht widerstehen konnte, ein bisschen mehr in der Finn-Sache herumzustöbern. »Was für Fotos wollen sie?« »Nahaufnahmen. Nur das Gesicht. Nichts für Spanner. Von vorn und im Profil. Wie fürs Verbrecheralbum, so gut es eben geht, ohne dass du dabei erwischt wirst. Dafür brauchst du ein Tele.« »Ich habe ein schlechtes Gefühl dabei, Biggie.« »Das Vierfünfzig-Angebot gilt nur begrenzte Zeit, Schätzchen.« 97
Das Ganze war eine Art Test, wie ihr plötzlich klar wurde. Big Rob machte ihr mal Mut und war dann wieder skeptisch, was ihre Aussichten als Privatdetektivin anging. Er mochte sie ganz eindeutig, aber er fragte sich auch, ob sie (oder überhaupt eine Frau) die Konstitution hatte, gute Arbeit für fragwürdige Klienten zu leisten. Information ist moralisch neutral, sagte er immer. Und du musst es auch sein. »Jaja, du weißt, dass ich’s mache. Gibst du mir die Adresse?« »Die liegt hier vor mir.« Drei Tage später saß Barwick morgens auf einem kleinen künstlichen Hügel, von dem sie auf ein Fußballfeld hinuntersehen konnte, und schoss mit einem starken Teleobjektiv etliche Fotos. Der Himmel war chagallblau, mit einer einzigen Magritte-Wolke, die Luft angenehm kühl und trocken. Unter ihr rannten Jungen und Mädchen auf dem verkleinerten Feld einem Ball hinterher. Es gab Gedränge, reichlich Handspiele, um die sich keiner kümmerte, und manchmal auch ein Tor, ohne dass jemand mitgezählt hätte. Es war schwer zu sagen, wer in welche Mannschaft gehörte, da Kinder beider Farben sich auf den Nächsten stürzten, der den Ball hatte. Es gab viele Anfänger, die sich überhaupt erst einmal mit dem Spiel vertraut machten. Barwick bekam Justin ein rundes Dutzend Mal in den Sucher, verlor ihn wieder und drückte auf den Auslöser, wenn sie ihn zwischen all dem Vor und Zurück und Rauf und Runter einmal ruhig erwischte. Sie erinnerte sich an Eric Lundquists Gesicht, das sie durch einen wiederkehrenden Traum immer noch frisch vor Augen hatte, und verglich es mit Justins, der mittlerweile zwei Jahre älter geworden war. Vielleicht hatte Big Rob doch Recht. Lundquist konnte theoretisch der Spender sein. Für das Muttermal konnte es eine Erklärung geben. Vielleicht hatte es die alte Dame ganz einfach vergessen. Vielleicht hatte sie auch gelogen. Oder das Ganze war so etwas wie ein genetischer Ausreißer. Sally hatte in der High School eineiige Zwillinge 98
gekannt und die beiden immer auseinander halten können. Ihre Ohren waren leicht verschieden gewesen. Vielleicht hatte einer an irgendeiner Stelle ein Muttermal und der andere nicht. Was wusste sie denn schon über Genetik? Barwick wünschte, dass sie bei der Arbeit mehr wie Big Rob sein und ihre Neugier stärker im Zaum halten könnte. Aber wie sollte sie diesen Jungen beobachten, mit jedem neuen Bild seine Privatsphäre verletzen und sich dabei nicht fragen, wer für das alles bezahlte, und warum? Sie hatte versucht, eine Erklärung zu finden, die ihr nicht den Magen umdrehte, bisher ohne Erfolg. »Welches ist Ihres?« Barwick nahm die Kamera herunter und drehte sich zu der Stimme um. Die Frau saß Barwick zur Linken, etwa zwei Meter entfernt: zierlich, hübsch, lange nicht so alt wie die anderen Mütter. Sie hatte einen Picknickkorb dabei, einen Pappbehälter mit Saft, in dem ein Strohhalm steckte, und ein Einrichtungsmagazin. »Oh, nein«, sagte Barwick. »Ich meine, keins von den Kindern gehört mir. Ich studiere an der Kunstakademie. Das hier ist für die Zwischenprüfung. Eine große Sache, wissen Sie – die Unschuld der Kindheit.« Sie lachte. »Das ist doch ein tolles Thema, oder?« »Ich dachte mir schon, dass Sie ein bisschen jung sind, um eine von den Moms zu sein.« Barwick winkte ab. »Aber ich bin doch nicht so jung wie Sie, oder?« Die Frau wurde rot. »Ich heiße Sally.« Die Mutter stellte ihren Saft ab und lehnte sich weit genug hinüber, um die Hand ausstrecken zu können. »Martha Finn«, sagte sie.
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Barwick konnte sich genau vorstellen, wie Big Rob ihr sagen würde, dass sie den Fall vermasselt hatte. Wahrscheinlich würde er sarkastisch werden, aber auch ein richtiger Wutausbruch war denkbar. Vielleicht entschied er, dass sie unzuverlässig war, er ihr nicht vertrauen konnte, und gab ihr keine Aufträge mehr. Egal, wenn sie sich jetzt nicht zusammennahm, machte sie alles nur noch schlimmer. »Nett, Sie kennen zu lernen«, sagte Barwick. »Darf ich?«, fragte Martha, stand auf und griff nach ihrem Korb. »Aber bitte«, sagte Barwick, und schon saßen die beiden nebeneinander. »Bist du Fotografin?« »Ich lerne noch. Eines Tages vielleicht.« »Hast du schon ein paar gute Bilder gemacht?« »Die Sonne ist ein bisschen zu grell«, sagte Barwick. »Für Schnappschüsse gibt es auch zu schöne Tage. Man hat zu viel Schatten.« »Schnappschüsse«, sagte Martha, »das Wort mochte ich schon immer.« Sie beobachteten das Spiel und unterhielten sich eine Weile, bis Barwick begriff, dass Martha wahrscheinlich von ihr erwartete, dass sie noch mehr Fotos machte. Sie richtete also ihre Kamera wieder auf das Feld und machte eilig noch ein paar Fotos von anderen Kindern. »Hmm«, sagte Martha. »Kann ich dich um einen Gefallen bitten?« »Klar.« Martha zog eine billige Digitalkamera aus ihrer Tasche. »Mit so einem Ding lassen sich vom Rand aus keine vernünftigen Fotos machen. Wäre es okay, wenn du ein paar von meinem Sohn machen könntest? Ich zahl dir auch den Film.« 100
Barwick lachte, und Martha stimmte mit ein. Alles war gut. Sie hatte die Sache doch nicht vermasselt. »Klar«, sagte Barwick und hob die Kamera ans Auge. Wobei sie fast wieder einen bösen Fehler gemacht hätte. Sie nahm den Apparat herunter und lächelte. »Welches ist denn deins?«
22 »Kann ich dich sprechen, Davis?« Davis hängte sein Jackett auf den hölzernen Garderobenständer, hielt ihn fest, als er ins Wanken geriet, und rang mit Jackett und Ständer, bis beide wieder im Gleichgewicht waren. Joan Burton sah fantastisch aus. Die Seidenbluse unter ihrem Kittel bauschte sich genau an den richtigen Stellen. Ihr Haar hatte sie heute nach hinten gebunden, und das Gummiband, mit dem es zusammengehalten wurde, hatte reichlich damit zu kämpfen. Er stellte sich vor, wie es reißen, das dunkle Haar in Wellen nach vorn schwingen und ihr Gesicht wie bei einem Schleiertanz abwechselnd bedecken und enthüllen würde. Im ersten Moment fiel ihm gar nicht auf, wie aufgeregt sie war. »Sicher, Joan. Was gibt es?« »Du erinnerst dich an Justin Finn?« Davis war sich sicher, dass sein Gesicht keinen Schrecken verriet, aber er setzte sich schnell auf seinen Stuhl, wo seine Knie ungesehen zittern konnten. »Aber ja. Stimmt mit ihm was nicht?« »Das könnte man sagen.« Joan schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf den Stuhl, der am nächsten beim Schreibtisch stand. In der einen Hand hielt sie einen großen grauen Ordner mit einem weißen Schild auf dem Rücken, auf dem »XLT4197« zu lesen war. Das war der Klinik-Code für Justin Finn. Von den Dutzenden von Klonen, die in dieser Klinik erschaffen 101
worden waren, war es das einzige Kürzel, das er gleich erkannte. »Ist ihm etwas passiert?« »Dem Jungen geht es gut. Aber uns hier in der Klinik geraten die Dinge außer Kontrolle.« »Was ist los?« »Ich habe gerade seine Fünfjahresuntersuchung gemacht«, sagte Joan. »Da ist kolossal was danebengegangen, und nach meinem Bericht wirst du heftig unter Druck geraten. Wir alle, die ganze Klinik, aber besonders du.« Gott. Die Fünfjahresuntersuchung. Davis wusste plötzlich, was kommen würde. Martha Finn hatte ihn schon bei Starbucks daran erinnert, dennoch war er nicht darauf vorbereitet gewesen. »Raus damit«, sagte er. Er hoffte, dass ihm etwas einfallen würde. Manchmal entstehen Lösungen aus sich heraus. Bei Davis war das unglücklicherweise nicht oft der Fall. Er war ein Stratege, ein Planer. Mit gesenkter Stimme sagte Joan: »Der Junge ist nicht der, der er laut unseren Unterlagen sein müsste. Seine DNA hat nichts mit dem Spender zu tun. Mit niemandem, den wir hier registriert haben. Ich habe absolut keine Ahnung, woher er stammt.« Davis sagte nichts. Sie wird weiterreden, dachte er, Joan hasst Schweigen. Seit sie bei ihnen eingestiegen war, hatte Davis oft darauf gebaut, dass sie ihre eigenen Fragen beantwortete, wenn die anderen zu langsam waren. »Es ist ein Albtraum. Wie ist das möglich? Was glaubst du?«, fragte sie. »Ich habe da eine Theorie, und die Aufsichtsbehörde lässt uns womöglich mit einem blauen Auge davonkommen, aber wer weiß, wie die Eltern reagieren? Wenn die auf die Idee kommen, uns zu verklagen … Erinnerst du dich an das Paar letztes Jahr in Virginia? Großer Gott. Ich habe unsere Akten durchgesehen. Wir haben um die Zeit, als die Finns zur Vorbereitung auf die Implantation hier waren, diesen jungen Verwalter gefeuert, nachdem die Beschwerdeliste zu lang 102
geworden war.« Sie blätterte in ihrem Notizbuch herum. »Zuspätkommen, dürftige Berichte, mangelnde Sorgfalt, Beschwerden der Schwestern, Beschwerden der Patienten. Sechs Monate später wurde er wegen Drogenhandels in McHenry County verurteilt, wo er Designerpillen und Shit an Teenager verkauft hat. Ich kann mich nicht gut an ihn erinnern, aber ich glaube, Pete hat noch bei seinem Prozess ausgesagt. Kannst du dich erinnern?« »Ja, das kann ich.« Davis sah den Mann noch vor sich. Das war eine üble Geschichte gewesen, und es hatte jede Menge aufgeregte Gespräche zwischen den Partnern gegeben. New Techs Ruf stand auf dem Spiel. Ihre Zulassung schien sogar in Gefahr. Aber Joan hatte Recht. Das war nichts im Vergleich zu dem jetzt. »Ich meine, ich kann nicht beweisen, dass er etwas damit zu tun hatte, noch nicht, aber wenn wir ein bisschen genauer hinsehen, könnten wir herausfinden, dass er Zugang zu den Proben hatte, und das müsste für eine Anklage genügen. Ich habe da so ein Gefühl.« Davis sah sie an, dachte nach und versuchte, einen neutralen Blick aufzusetzen, der das Schweigen aufrechterhielt und dem, was er als Nächstes sagen würde, Nachdruck verlieh. Joan bot eine Art Antwort an. Sie versuchte, das Rätsel mit einer Geschichte zu lösen, die plausibler klang als die Wahrheit, und jetzt, wo die Sache aufgeflogen war, kam sich Davis töricht und nachlässig vor, weil er keine Spur gelegt hatte, die zu einem näherliegenden Schuldigen führte als ihm selbst. Die Möglichkeit, die Schuld auf einen kleinen Ganoven zu schieben, der bereits im Gefängnis saß, wirkte verlockend. Die Folgen für einen Arzt, der des illegalen Klonens überführt wurde, konnten verheerend sein: Ihm drohten der Entzug seiner Approbation, Gefängnis, völliger Gesichtsverlust. Für einen verurteilten Drogendealer dagegen wären die Folgen einer Nachlässigkeit, wie Joan sie nahe legte, nun ja, zu vernachlässigen. 103
Allerdings würde es zu einer Untersuchung kommen, womöglich einem Gerichtsverfahren. Zeugenvernehmung. Strafprozess. Joan mochte die Geschichte plausibel erscheinen, und vielen anderen auch, dennoch, das Letzte, was Davis brauchen konnte, war eine Untersuchung, denn die käme mit dem leisen Geräusch eines Schneeballs daher, der sich langsam zu einer donnernden Lawine entwickelte. »Joan«, sagte Davis, die Hand im Nacken. »Was?« »Der Junge hatte keinerlei Zugang zu den Proben.« Joans Gesicht verzog sich, als ihr wackliges Gebäude in sich zusammenbrach und kaum wieder aufzurichten war. »Oh, Gott, Davis. Sag jetzt bloß nicht, dass du die ganze Zeit Bescheid wusstest.« Davis nickte. »Verdammt noch mal!«, schrie sie. Ihr Notizbuch flog gegen seinen Schreibtisch und landete aufgeschlagen auf dem Boden. »Willst du, dass wir alle unsere verdammte Approbation verlieren?« »Lass mich erklären.« »Kannst du das? Wirklich? Kannst du erklären, wie eine solche Sauerei passiert, und du sagst keinem was davon? Wie lange weißt du es schon?« »Von Anfang an, Joan.« Sie starrte ihn fassungslos an. »Da ist nichts durcheinander geraten. Justin ist genau mit der DNA gezeugt worden, die ich dafür vorgesehen hatte.« Joans Stimme wurde zu einem heiseren Flüstern. »Was sagst du da? Ist das eine Art Experiment? Wenn du unerlaubt Versuche am lebenden Objekt vorgenommen hast, fliegt uns hier die Scheiße um die Ohren, und der Disziplinarausschuss ist nur der allererste Anfang.« 104
Davis hoffte, Joan würde seine ausdruckslose Miene verstehen. »Also, wer ist der Spender?«, fragte Joan. »Ich weiß es nicht. Ich habe ihn geklont, um es herauszufinden.« Davis erklärte es eher wie ein Anwalt als ein Arzt. Er fing mit Joans eigener Vergewaltigung an und ihrer Enttäuschung über die Behörden. Er erzählte ihr, dass AK ihn an ihrem siebzehnten Geburtstag beiseite genommen und sich für die Zeit von ihrem dreizehnten bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr, einschließlich, entschuldigt hatte. Sie hatten darüber gelacht, sich auf die Zedernholzstufen der Terrasse hinter dem Haus gesetzt und aneinander gelehnt hinaus in den Garten geblickt. Er erzählte Joan von dem Röhrchen, das die Polizei ihm aus Versehen mitgeliefert hatte und das für ihn eine Art höherer Fingerzeig gewesen sei. Er sprach von den Finns und ihrem gesunden Jungen. Und von den Unterlagen, die er gefälscht, und wie er das DNA-Material von Eric Lundquist vernichtet hatte. »Das ist Wahnsinn, Davis«, sagte Joan leise. »Absoluter Wahnsinn. Was sollen wir jetzt mit diesem Kind tun?« »Gar nichts werden wir mit ihm tun, Joan. Er wird sein Leben genießen, und ich warte darauf, dass der Junge erwachsen wird.« »Und dann?« »Dann werde ich dem Mörder meiner Tochter in die Augen sehen können.« »Aber er ist nicht ihr Mörder«, sagte Joan. »Nein, das ist er nicht. Aber ich werde wissen, wie er aussieht.« »Ist das so wichtig?« »Das war es«, sagte er. »Ja, und es ist es immer noch.«
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»Sie werden dich verhaften, wenn herauskommt, was du getan hast.« »Vielleicht.« »Und sie werden mich verhaften, wenn ich nicht auf der Stelle Meldung mache.« »Das kannst du nicht, Joan. Und das weißt du auch. Denke mal für einen Moment nicht an dich oder mich. Denke für einen Moment nicht daran, was ich in deinen Augen Fürchterliches getan habe, an den Bruch ethischer Grundsätze, die verlorene Kontrolle und all diesen Unsinn. Denke an Justin.« »An genau den denke ich«, sagte sie, »an den armen kleinen Jungen, den du aus einem Monster erzeugt hast.« Jetzt wird es melodramatisch, dachte Davis, obwohl er es an ihrer Stelle womöglich genauso ausgedrückt hätte. »Okay. Du zeigst mich also an, und Justins Eltern finden heraus, wer ihr Sohn wirklich ist. Was wird das bewirken? Bei ihm? Bei den Finns? Sagen wir, ich werde angeklagt und die Geschichte kommt in die Medien: Wahnsinniger Arzt klont Mörder der Tochter! – und dieser Scheißkerl, dieses Ungeheuer, wer immer es ist, der da draußen herumläuft, dieser Scheißkerl kapiert, dass es eine lebendig heranwachsende dreidimensionale Replik von ihm gibt, die eines Tages mit dem Finger auf ihn zeigen könnte. Glaubst du nicht, dass er etwas dagegen tun wird? Gott, da kannst du Justin gleich selbst umbringen.« Das war unfair, dachte Davis, aber notwendig. Er beobachtete, wie sich die Hilflosigkeit in ihr ballte wie Dampf in einem Kessel. Sie fing an zu zittern. »Wir können ihn davor schützen, Joan. Wir zwei. Wir können ihn davor schützen, wenn wir das alles für uns behalten.« Sie saßen etwa eine halbe Stunde zusammen, vielleicht auch mehr, sagten wenig und entwarfen schweigend einen Vertrag. Als schließlich eine Schwester klopfte, um zu sagen, dass ein 106
Patient auf Joan warte, nickte er ihr zu und sie ihm. Dann eilte sie ins Untersuchungszimmer.
23 Wahrscheinlich war er dieses Mal noch zu nahe dran, aber Mickey war müde. Die Jahre auf der Straße, das Schlafen im Auto und in billigen Motels, das Übernachten bei »Gleichgesinnten«, denen er nicht wirklich traute, all das hatte ihn müde gemacht. Und wer müde ist, wird unvorsichtig, und dass er jetzt hier auf diesem Stuhl saß, war sicher ein Beweis dafür, aber vergiss es. Er hatte es sich verdient, hin und wieder ein Risiko einzugehen, hatte es sich verdient, weil er so viel geschafft hatte, ohne gefasst zu werden. Er – und Byron Bonavita. Byron war wahrscheinlich tot und verrottete friedlich und unerkannt hoch oben in einem Baumhaus in den Blue Ridge Mountains, und nur Mickey und ein paar andere Hände Gottes ahnten es. Das FBI verdächtigte Byron mittlerweile, sechsundzwanzig Klon-Klinik-Morde begangen zu haben, dabei gingen alle bis auf fünf auf Mickeys Konto. Byron Bonavita mochte berühmt sein, besonders erfolgreich war er nicht. Aber er war das Ungeheuer, das die unfähige Regierung den ausgehungerten und hirnlosen Medien zum Fraß anbot. Mickey genoss seine Freiheit, aber in den Augenblicken, in denen er wirklich ehrlich mit sich war, hasste er es zu sehen, wie Byron den Ruhm für seine Arbeit einstrich. Natürlich ging es um die Opfer und nicht um den Täter, aber wäre es nicht auch besser für die Sache, wenn die Öffentlichkeit die Morde nicht allein einem radikalen Einzelgänger zuschrieb? Wenn sie begriffen, dass es mehr als einen Byron Blakely Bonavita gab, der sich mutig gegen das Böse der Menschheit, Wissenschaft und Technologie stellte. Würden sie dann nicht gezwungen sein, 107
sich mit dem Klonen auseinander zu setzen, Stellung zu beziehen, zu sagen, ich bin dafür oder dagegen, und zwar aus diesem oder jenem Grund? Würden sich dann nicht Senatoren, Kongressabgeordnete oder gar der Präsident vor die Leute hinstellen müssen und bekennen: Sosehr ich die Vorgehensweise der Hände Gottes bedaure, so sehr verdeutlichen diese Taten doch das starke, weit verbreitete Gefühl der Menschen, dass etwas gegen die unmoralischen Akte unternommen werden muss, die Ärzte und Wissenschaftler in unser aller Namen überall in diesem wunderbaren Land begehen. Und so weiter. Und dann würde die Demokratie weit schneller tun können, was Mickey – früher auch einmal Byron – auf so langsame Weise, Fall für Fall, vollbrachte. Deshalb fing Mickey an, die Dinge weiterzutreiben. Er erschoss zwar immer noch dann und wann einen Arzt, wenn die Situation danach war, wandte im Übrigen aber zunehmend auch andere Taktiken an. Einmal zerschnitt er die Bremsleitung eines Lexus, dann vergiftete er eine Wasserflasche mit Arsen und stellte sie in einen Klinikkühlschrank. Niemand kam dabei um, aber das Signal war dasselbe. Der Coffee Shop hieß Gimbel’s und hatte das beste Schokoladengebäck, kleine, luftige französische Köstlichkeiten, weshalb er nun schon den dritten Tag in Folge auf seinem Fensterplatz saß. Niemand fand etwas dabei, aber später, wenn das Mädchen hinter dem Tresen von der Polizei befragt werden würde, ob ihr in letzter Zeit irgendjemand oder irgendetwas aufgefallen sei, würde sie sagen: Da war dieser Typ während der letzten paar Tage, worauf sie ihr das Foto von Byron Bonavita zeigen und sie fragen würden, ob er das gewesen sein könne. Sie müsse allerdings wissen, dass dieses Bild schon sieben Jahre alt sei, und ihre Antwort würde lauten: Ja, der kann’s gewesen sein, vielleicht ein paar Jahre älter und ein paar Pfund schwerer, aber sonst … Und wieder würden die
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Zeitungen voll von der Jagd auf Bonavita sein. Es war alles so vorhersehbar. Vor einer Stunde war er in die Klinik gegenüber gegangen und hatte nach Informationsmaterial gefragt. Es war ein kühler nordkalifornischer Tag, und er verstand, warum die Leute ein Vermögen bezahlten, um sich hier ein Haus zu mieten. Wenn die Erdbeben nicht wären und sein Job es ihm nicht unmöglich machte, sich irgendwo niederzulassen, dann könnte er darüber nachdenken herzuziehen, um das milde Klima der Bucht und die französischen Köstlichkeiten zu genießen. Natürlich gäbe es auch andere Dinge zu überlegen. Zum Beispiel, wer seine Nachbarn wären. Es gab durchaus Gleichgesinnte in diesem Teil des Landes, aber man musste schon sehr nach ihnen suchen. Nachdem die Empfangsdame ihm gleich mehrere Informationsbroschüren (Desinformationsbroschüren, wie er sie lieber genannt hätte) gegeben hatte, fragte Mickey, ob er die Toilette benutzen dürfe. Die Sicherheit wurde hier ungeheuer locker gehandhabt, wahrscheinlich weil er noch nie in Nordkalifornien gewesen war. Wahrscheinlich dachte man, hier oben nicht von Byron Bonavitas Radar erfasst zu sein. Die Toilette roch nach Alkohol und Orangen. Er wusch sich die Hände, verließ die Klinik und überquerte die Straße. Im Gimbel’s bestellte er Kaffee und Gebäck und las ein paar der Broschüren. Er betrachtete die Bilder der glücklichen Familien, die unbeschwert waren von allem, was mit Unfruchtbarkeit, Erbkrankheiten, den zeitlichen Unwägbarkeiten natürlicher Schwangerschaften oder den stressigen Begleitumständen einer Adoption zu tun hatte. Als Mickey seinen Kaffee ausgetrunken hatte, sah er auf die Uhr. Es war später, als er gedacht hatte, und er wünschte, dass alle Städte mit einer Fortpflanzungsklinik Cafés wie dieses hätten, wo der Kuchen so gut war und die Zeit so schnell verging. Er sammelte die Broschüren ein und steckte sie in die Tasche seiner grünen Windjacke. Er winkte dem Mädchen hinter der Theke noch einmal zu – Heilige Scheiße, Officer, aber 109
sicher erinnere ich mich an Byron Bonavita, der saß da drüben am Fenster und starrte zur Klinik rüber, und dann hat er mir auch noch freundlich zugewinkt, als er ging –, trat durch die Glastür hinaus in die würzig riechende Seeluft, die genau die richtige Temperatur hatte, und machte sich auf den Weg zu seinem Auto, das er weit genug entfernt geparkt hatte, um keine Probleme mit Feuerwehrautos oder Rettungswagen zu bekommen. Als die Männertoilette der Klinik explodierte, war er einen guten Kilometer weg und mit dem Rücken zur Detonation, die sich anhörte, als würde jemand hinter einer Dämmwand eine Stahltrommel schlagen. Wie alle anderen auf dem Gehsteig drehte er sich um, tauschte verwirrte Blicke aus – Was um alles in der Welt …? – und ging weiter zu seinem Auto, wo er aussah wie irgendeiner, der schnell nach Hause wollte, um in den Abendnachrichten zu sehen, was der scheußliche schwarze Rauch dahinten zu bedeuten hatte.
24 Nach drei Wochen Arbeit mit der neuen Software und den Fußballplatzaufnahmen von Justin hatte Davis vierundfünfzig verschiedene Porträts angefertigt, wobei er mit verschiedenen Vorgaben gearbeitet hatte. Ausgehend vom Täterprofil der Polizei, nahm David an, dass der Mörder jünger als fünfunddreißig gewesen war, und so zeigten seine Porträtserien Justin mit zwanzig, mit dreißig und mit vierzig. Die Vierzigerserie wirkte so grotesk unwirklich, mit Zügen, die noch am ehesten auf den Australopithecus gepasst hätten, dass er sie wegwarf. Die anderen klebte er an die Wand in seinem Souterrainbüro, über und zwischen die Namen seiner Verwandten. Da war noch nichts, dessen er sich sicher sein konnte. Kein Grund, warum er 110
eines dieser Gesichter einem anderen vorziehen sollte. Es gab jedoch ein paar Charakteristika, die sich herausschälten, die Form der Augenlider zum Beispiel, die Größe des Mundes und die Rundung der Ohrläppchen. Ganz besonders unsicher war sich Davis bei den Haaren. Es gab keinen Anhaltspunkt dafür, wie lang sie der Mörder trug, wie er sie kämmte oder ob er überhaupt noch welche auf dem Kopf hatte. Davis verbrachte ganze Nächte unten in seinem Büro und prägte sich die Gesichter ein. In seinem Kopf waren sie eine Mannschaft, eine Bande, eine Sekte. Sechsunddreißig Einzelpersonen, die alle für den Tod seiner Tochter verantwortlich waren. Der Teufel hatte viele Namen und dieses Ungeheuer viele Köpfe. Genau da lag das Problem. Wie konnte er wissen, welches dieser Gesichter er hassen sollte? Wie konnte er so etwas wie eine innere Reinigung und Befreiung empfinden, wenn er sich nicht sicher war, auf welches er seine Wut richten sollte? Er hatte mit seiner Unternehmung nicht wie erhofft ein Kapitel seines Lebens abgeschlossen, sondern die erste Seite eines neuen Krimis aufgeschlagen. Der Name von AKs Mörder war immer noch ein weißer Fleck und die Suche nach seinem Gesicht ein nervenaufreibender Multiple Choice-Test. Während er die Gesichter vor sich studierte, mit ihnen redete und sich in die vorgestellten Gehirne einfühlte, kam ihm eines besonders grausam vor. Besonders seelenlos. Er ließ die anderen in einer Schublade verschwinden und beschäftigte sich nur noch mit diesem, verbrachte Stunden um Stunden im blauen Raum und tat so, als wäre das Bild echt. Drei Wochen lang, während derer der Herbst draußen immer grauer und kälter wurde, versuchte Davis, sich einzureden, das Gesicht seines Feindes vor sich zu haben. Versuchte, mit ihm in Kontakt zu kommen. Ihn zu verstehen. Und auf diese Weise zu akzeptieren, was geschehen war. Das war doch das lange verfolgte Ziel, oder etwa nicht? Dass er das Schicksal annahm? 111
Es ging nicht. Nicht mit so vielen Zweifeln. Das konnte nicht das Ergebnis sein, für das er seine Karriere aufs Spiel setzte. Und jetzt auch Joans Karriere. Für ein paar Dutzend von einem Computerprogramm willkürlich gezogene, eingefärbte und schattierte Linien, die er ebenso willkürlich ausgewählt hatte – mit welchem Grund? Weil Davis ihn sich so vorstellte? Kahlköpfig? Knurrend? Leer? Die Aussichten standen gut, dass der Kerl ganz anders aussah. Joan war vergewaltigt worden, weil der Mann nicht so ausgesehen hatte wie einer, der sie vergewaltigen wollte. AK war nicht naiv gewesen. Irgendein Verrückter hatte gerade erst versucht, ihren Vater umzubringen. Ihr gestörter Mörder hatte aller Wahrscheinlichkeit nach alles andere als gestört ausgesehen. Davis blätterte erneut durch die sechsunddreißig Porträts, und diesmal zog er nicht die heraus, die böse aussahen, sondern die, die wirklich schienen. Vertraut. Unbedrohlich. Am Ende blieben vier. Er konvertierte die Bilder in webfreundliche Dateien und lud sie auf verschiedene Websites, die dem Auffinden von Verbrechern dienten. Ohne seinen Namen preiszugeben, bat er um Informationen über diese Männer oder alle, die ihnen ähnlich sahen. Er hoffte, dass ihm der Durchbruch mit Hilfe eines Fremden gelang. Er nannte nicht viele Einzelheiten, weder seinen Namen noch die Stadt, in der er lebte, oder sonst irgendwelche spezifischen Informationen, den Fall betreffend. Unter dem Kürzel »Gerechtigkeit für AK« schrieb er, er sei ein liebender Vater und glaube, einer dieser Männer sei der Mörder seiner Tochter, jemand, dem er unbedingt ins Gesicht sehen wolle. Sein Aufruf klang zornig, bedrohlich und nach Selbstjustiz, und genau diesen Ton beabsichtigte er. Menschen, die einen Mörder erkannten, mochten nicht gut auf das Gesetz zu sprechen sein, und wenn er den Mann, nach dem er suchte, je finden sollte, konnte er sowieso nicht zur Polizei gehen. 112
Es war dumm von ihm gewesen, etwas anderes zu glauben, aber jetzt begriff er endlich, dass ein Porträt nicht ausreichte. Er musste dem Mörder selbst gegenüberstehen, um ihm von Angesicht zu Angesicht in die Augen sehen zu können. Was er dann tun würde, das konnte er nicht mal erahnen.
25 Joan musste damit aufhören, sich die Fernsehkrimis anzusehen, die sie so liebte. Sie fing an, sich in die Bösen einzufühlen. Oder sich schuldig wie sie zu fühlen. Sie fühlte sich überhaupt immer schuldig. Und zu warm. Heiß. Sie schwitzte sich durch die Tage. Ihre Nächte waren schlaflos, die frühen Morgenstunden unerträglich. Wie hasste sie diese Stunden, wenn die Szenarien in ihrem Kopf sämtlich so trübe und trostlos waren. Öffentliche Verdammnis. Der Verlust ihrer Approbation als Ärztin. Gefängnis. Von ihrem Condo war sie in sieben Minuten zu Fuß am Strand. Es wurde nicht mehr kalt, es war kalt, besonders nach Einbruch der Dunkelheit, aber die Leute kamen immer noch heraus und liefen den Strand hinauf und hinunter. Ältere Paare, Alleinstehende und, da Freitag war, auch jede Menge Teenager. Viel zu dünn angezogene High-School-Schüler, die sich gegenseitig die Hände hinten in die Taschen steckten. Rollerblader. Verzweifelte Hunde und ihre Herrchen, die zu spät nach Hause gekommen waren. Studenten von der Northwestern, ein paar Kilometer weiter die Küste hinauf, die sich aus irgendeinem Grund bis hierher verlaufen hatten, Frisbee spielten und Bier tranken. Joan saß in ihren alten Jeans und einem dicken Sweatshirt der California Bears, das sie sich bis über die Knie gezogen hatte, auf dem harten, feuchten Sand. Hier fühlte sie sich sicher. Anonym. Keiner konnte sie hier mit schlechten Nachrichten 113
anrufen oder an ihre Tür klopfen. Wenn sie hier saß, fern vom Rest der Welt, dann gab es keine Joan Burton, genauso wenig wie die Polizei, Davis Moore oder den Kontrollausschuss des Kongresses. Sie war wütend auf Davis, weil er ihr die Wahrheit über Justin verheimlicht hatte, wütend auch darüber, dass er sie schließlich eingeweiht und so mit in die Sache hineingezogen hatte. Aber sie wusste, sie tat das Richtige. Davis hatte Schuld auf sich geladen. Was er getan hatte, war ein unglaublicher Bruch aller ethischen Grundsätze – dennoch konnte sie mit der Situation nur umgehen, wenn sie sie nahm, wie sie sich darstellte. Wie nannte man das bei der Armee? The facts on the ground. Das war es, womit sie umzugehen hatte: den Tatsachen. Niemandem war damit gedient, wenn man Davis ins Gefängnis schickte und Justins Leben in Gefahr brachte. Was konnte sie anderes tun, als sich um das Wohl des Kindes zu kümmern? Ihres Patienten? Joan hatte noch einen anderen Grund, alles zu tun, um AKs Mörder zu finden: Sie hätte womöglich ihren Tod verhindern können. Ein paar Monate vor dem Verbrechen war Anna Kat zu ihr in die Klinik gekommen. Ihr Vater war auf einer Tagung und predigte den Bekehrten die Vorteile neuer Empfängnistechniken. »Ich habe ein Problem«, sagte AK. »Mit einem Jungen.« Sie nannte nicht seinen Namen, obwohl Joan wusste, dass sie mit jemandem ging, der Dan hieß. Er hatte sie einmal begleitet, als sie ihren Dad besuchte, und Joan, die jede Gelegenheit wahrnahm, an ihre schönsten High-School-Tage erinnert zu werden, hatte ihn sich genau angesehen und, nun ja, für okay befunden. Er war ein bisschen dünn, ein bisschen selbstgefällig, ein bisschen langsam, kurz gesagt, etwas gewöhnlich. Joan wusste nicht, wie das Angebot an der Northwood East war, aber
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sie war sich ziemlich sicher, dass Dan eigentlich nicht in AKs Liga spielte. »Er tut mir weh«, sagte AK. »Und ich fürchte, es gefällt mir.« »Es gefällt Ihnen?«, fragte Joan. AK verbarg das Gesicht in den Händen. »Nein. Nicht wirklich. Himmel, ist das peinlich. Ich meine, ich genieße es nicht. Ich genieße es nicht, komme aber trotzdem nicht von ihm los.« »Ist er so ein toller Typ?«, fragte Joan. »Das ist es ja: Nein. Ich mag ihn nicht mal wirklich. Es ist so schwer zu erklären.« Als Joan endlich ihre roten Augen sehen konnte, begriff sie, wie verzweifelt AK war. »Vor ein paar Monaten war ich auf dieser Party, und ich war ganz schön betrunken …« Joan spielte die Entrüstete, aber nicht sehr überzeugend. »Beruhigen Sie sich. Ich trinke eigentlich gar nicht viel«, sagte AK. »Am Morgen nach der Party habe ich mir sogar geschworen, nie wieder ein Glas anzurühren, aber als mir dann zwei Wochen später einer ein Bier anbot, war alles vergessen. So ähnlich … so ähnlich ist es auch mit diesem Typen. Ich sag ihm, es muss anders werden mit uns, aber es wird nicht anders, und ich tu so, als machte es mir nichts aus.« Joan fragte sich, warum AK damit gerade zu ihr kam, wenn man daran dachte, was ihre Mutter zu Hause zweifellos über sie sagte. Jackie hatte Joan ziemlich offen gezeigt, dass sie sie nicht mochte. Was Jackie tatsächlich über sie sagte, das konnte sie nur ahnen. Joan nahm an, dass sie einfach jünger war als die meisten Erwachsenen, die AK kannte. Und sie lebte allein. War Ärztin. Vielleicht zählte das für manche Menschen noch. Und vielleicht, nur vielleicht, hatte jemand anders im Haus der Moores besser über sie gesprochen. Darauf konnte man hoffen.
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Jetzt, neun Jahre später hier am Strand, war sie unzufrieden mit sich über den Rat, den sie Anna Kat gegeben hatte. Sie hatte nicht den Mut gehabt, dem Mädchen ihre eigene Geschichte zu erzählen, und seit dem Mord an AK wünschte Joan, dass sie es getan hätte. Stattdessen riet sie ihr, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein. Die Tatsache, dass AK mit dieser Sache zu ihr komme, beweise, dass etwas mit der Beziehung zu diesem D…, zu diesem Jungen nicht richtig sei. »Denken Sie an Ihren Vater«, sagte Joan, »und was der für Sie wollen würde. Er liebt Sie über alles, AK. Und auch wenn das jetzt etwas ist, worüber Sie nicht mit ihm sprechen können – nein, ich nehme nicht an, dass das geht –, denken Sie immer daran: Bewahren Sie seine Liebe in Ihrem Herzen.« »Aber Sie werden ihm nichts erzählen?« »Nein, ich werde ihm nichts erzählen.« »Egal, was passiert?« Dieser eine Satz hatte Joan mehr als alles andere verfolgt. Egal, was passiert. Vom ersten Moment an hatte sie sich gefragt, was AK damit meinen könnte, und als sie von ihrer Ermordung hörte, war Anna Kats klagende Stimme gleich wieder in ihrem Kopf, und ihr wurde übel, speiübel. Hatte AK gewusst, dass sie in Gefahr war? War ihr Geständnis eine Bitte um Hilfe gewesen? Joan hatte Davis in den Tagen nach dem Mord nicht gesehen, wollte ihm aber sobald wie möglich von ihrem Gespräch mit AK erzählen, doch dann hörte sie, dass die Polizei Dan, den gewöhnlichen Freund, durch einen DNA-Test als Verdächtigen ausgeschlossen hatte, und so entschied sie sich, ihr Schweigeversprechen zu halten. Fast zehn Jahre lang waren AKs Worte ein Mysterium geblieben, und Joan fragte sich immer noch, ob sie etwas hätte tun können, um ihr zu helfen. Wenn sie nur nicht das Versprechen gehalten hätte, das sie Anna Kat an diesem Tag gegeben hatte. »Egal, was passiert«, hatte Joan geantwortet. 116
Es war mehr als eine Art von Schuld, die an Joan nagte, als sie da an dem dunklen, nassen Strand saß. Natürlich hätte es auch eine andere Erklärung für ihre Schlaflosigkeit, ihre Nervosität, ihr Unbehagen und ihre Schweißausbrüche geben können als dieses Sichschuldigfühlen. Sie war verliebt.
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Justin mit sieben
26 Justin öffnete die Tür mit dem Schlüssel, den die Barkers seinen Eltern gegeben hatten, bevor sie nach Spanien aufgebrochen waren. Austin, der Hund der Barkers, war fast so groß wie Justin und tappte ruhig auf ihn zu, und Justin brachte ein paar Minuten damit zu, dem Hund den Nacken zu kraulen. In der anderen Hand hielt er seinen grauen Plastikeimer. Austin war wahrscheinlich genauso viel in Justins wie in seinem eigenen Garten, und obwohl das jetzt erst das dritte Mal war, dass der Junge ins Haus der Barkers kam, dachte der Hund gar nicht daran, argwöhnisch zu bellen, zu knurren oder sich gar unter einem Bett zu verstecken. Justins Mutter hatte Austin morgens gefüttert, und sie würde auch am Abend noch einmal kommen, aber Justin war nicht zum Füttern da. Er wollte ein Experiment machen. Und er wollte zu Hause raus. Für seine Eltern existierte er nicht, wenn sie miteinander stritten, und so war es kein Wunder, dass er unbemerkt hatte herkommen können. Die beiden schrien sich fast nur noch an. Es begann morgens, noch normal laut, mit spitzen Bemerkungen, aber während des Tages steigerte sich die Lautstärke, als gäbe es irgendwo im Haus einen großen Regler – wie den für die Türsprechanlage –, der sich selbst immer lauter stellte, bis Justin schließlich ins Bett geschickt wurde. Dann zischten sie nur noch hasserfüllt, um den Jungen nicht beim Einschlafen zu stören. Er verstand nicht alles, aber Justin war klug genug zu begreifen, dass die Dinge, wegen derer sie sich anschrien, nicht 118
immer die waren, die sie so ärgerten. Montagabends zum Beispiel konnte sein Dad von der Arbeit kommen und ihm ruhig sagen, er solle seine GI Joes vom Wohnzimmerteppich aufsammeln und sie in die Spielzeugkiste packen. Mittwochs dann hörte sich die Sache plötzlich ganz anders an: »Himmel noch mal, pack endlich deine verfluchten Figuren weg!« Man musste nicht erst zehn werden, um zu kapieren, dass Dad noch was anderes auf die Nerven ging als die GI Joes. Es musste alles, wie er glaubte, mit einer Frau namens Denise zu tun haben. Justin wusste nicht, warum, aber sein Dad mochte Denise, und seine Mom mochte sie nicht. Seine Mom nannte Denise alles Mögliche, und sie sagte seinem Dad, sie wolle, dass er sie nicht mehr sehe. Sein Dad sagte, das sei völlig »lächerlich« und Denise sei ein nettes Mädchen und natürlich möge er sie, wenn er sie nicht mögen würde, hätte er sie nicht eingestellt, aber sie hätten keine Affäre, zum Teufel noch mal, wenn es das sei, was sie denke. Im Übrigen, wenn er sich die Kreditkartenrechnung so ansehe, habe Mom mal wieder kräftig ihr »Büdscheeh« überschritten – was immer das auch sein mochte –, aber Mom sagte, das »Büdscheeh« tauge nichts und dass sie es neu aufstellen müssten, weil nicht klar gewesen sei, wie viel sie für Justins Kleidung in diesem Jahr brauche, der wachse so schnell aus allem raus, und Dad sagte: »Justins Kleidung? Wirklich? Justins Kleidung? Bei Ultimo hast du für Justin nichts gekauft …«, aber er sagte auch nicht, was sie stattdessen gekauft hatte. Nach einem Vorfall im Comic-Laden sagte seine Mutter zu Justin, sie wolle nicht mehr, dass er mit Danny Shubert spiele, denn der habe einen »schlechten Einfluss« auf ihn. Justin versuchte es mit ein bisschen von Dads Logik und sagte: »Ich mag Danny, aber ich habe keine Affäre mit ihm, wenn es das ist, was du denkst.« Daraufhin ging seine Mutter vor ihm in die Knie, nahm ihn in den Arm, heulte in sein T-Shirt und sagte, es 119
tue ihr Leid, und vergaß ganz, ihn zu bestrafen. Was das anging, funktionierte es also. Junge und Hund schlichen ins Wohnzimmer, und Justin zog ein Bündel trockene Zweige und ein Stück Zeitung aus seinem Eimer und legte alles in den gemauerten Kamin. Austin rollte sich auf der Couch zusammen und kaute an einem alten Tennisball, der irgendwie hinten aus dem Garten ins Wohnzimmer gelangt war. Justin kniete sich hin, zog ein Briefchen Streichhölzer hervor, und beim dritten Mal gelang es ihm, eins davon zu entzünden. Er hielt es an seinen Stapel aus Papier und Holz. Das Streichholz verlosch, und er brauchte noch zwei weitere, bis das Papier endlich Feuer fing. Nacheinander legte er die folgenden Dinge auf den kleinen Scheiterhaufen: einen Army-Man (in sitzender Position), ein zerlesenes Taschenbuch (von Dean Koontz), eine alte CD (der Soundtrack zu Grease), tote Fliegen (die er mit der Sorgfalt eines Insektenkundlers und einer Pinzette von der Fensterbank gesammelt hatte), einen Bauklotz (einen kurzen Verbindungsbalken) und einen Legostein (einen blauen Achter). Gebannt starrte er auf die brennenden Gegenstände und versuchte, sich für die Zukunft alles genau einzuprägen. Als sein Eimer leer war, kroch Justin auf den Knien durchs Zimmer und suchte nach etwas Verbrennbarem von den Barkers, etwas, was sie schon vergessen hatten und was niemand vermissen würde. Unten im Couchtisch fand er eine Schublade und darin eine Pappschachtel mit Fotografien, die noch auf ihren Platz in einem Album oder Rahmen warteten. Er blätterte in ihnen herum und fand ein Bild, das ihm besonders langweilig vorkam. Mrs Barker war darauf zu sehen, wie sie sich zu einer älteren Frau in einem Rollstuhl hinunterbeugte, die lächelte, aber aussah wie ein verschrumpeltes, sonnengetrocknetes Insekt. Er trug es zum Kamin, warf es ins Feuer und beobachtete, wie Papier, Plastik und Chemikalien sich wellten und das Bild der alten Frau in ihrem Rollstuhl kleiner und 120
kleiner und kleiner wurde, bis es völlig in der stinkenden Asche verschwunden war. Erst jetzt bemerkte er, wie viel Rauch das Zimmer erfüllte. Austin sprang von der Couch, schien sich beklagen zu wollen, trottete aber nur um die Ecke und verschwand die Treppe hinauf. Justin, der nichts von Abzugsklappen in Kaminen wusste, kletterte auf die Lehne eines Sessels und kippte ein Fenster an. Morgen würde er zurückkommen und den halb verbrannten, halb geschmolzenen Klumpen holen, den er produziert hatte, ihn verstecken und aufbewahren und noch einen machen.
27 Barwick hielt ihre schwere Kamera wie eine Pistole. In einem Park nicht weit vom Michigan-See hatte sie einen alten Baum mit dicken, verdrehten, unbelaubten Ästen gefunden. Martha und Justin waren ein Stück hinter ihr, und als sie näher kamen, hatte sie bereits die Kamera am Auge und suchte einen passenden Ausschnitt. Alle paar Monate rief Martha Finn Barwick an und lud sie in die Sheridan Road in Northwood ein, damit sie ein paar Aufnahmen von Justin machte, wie er größer wurde und sich immer mehr veränderte. Manchmal suchten sie dazu eine idyllische Perspektive im Garten aus oder arrangierten etwas im Finn’schen Haus. Oder sie gingen wie diesmal in den Park. Einmal trug er eine rote Fliege und schwarze Shorts, ein anderes Mal das Orange und Weiß von Terrys Alma Mater, der Universität von Tennessee. Heute waren es Bluejeans, eine Art weißes Smokinghemd und dazu sauber geputzte Deckschuhe. Sein Haar war ordentlich gebürstet, das Gesicht zu einem matten Elfenbein mit rosa Tupfern geschrubbt.
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Jeden Herbst rief Scott Colleran Big Rob an und bestellte ein neues Foto von Justin für seinen anonymen Klienten, das Barwick widerstrebend aus der letzten Serie, die sie gemacht hatte, nahm. So wurde sie für den gleichen Job zweimal bezahlt, und in ihren Träumen vergab Justin ihr ihre Schuld. »Wir sind nur Werkzeuge«, sagte er. Barwick träumte etwa dreimal im Monat von ihm. Die Träume spielten an verschiedenen Schauplätzen: in ihrer High School, ihrer Wohnung, Mrs Lundquists Wohnzimmer oder auch in Big Robs Büro (oder wenigstens an Plätzen, die sie für diese Orte hielt, selbst wenn sie ihnen äußerlich nicht glichen). Einer spielte am Abflug-Gate von O’Hare, dem Chicagoer Flughafen. Meist wollte Justin, der in Eric Lundquists erwachsenem Körper steckte und auch dessen Gesicht hatte, über den Begriff der Pflicht sprechen. »Seine Pflicht zu erfüllen«, sagte er, »ist das Wichtigste.« »Du hörst dich an wie Big Rob«, sagte sie. »Big Rob ist ein erfahrener Mann«, sagte Justin. »Aber was, wenn die Pflicht unlauteren Beweggründen dient?« Selbst während sie das im Traum sagte, wusste sie, dass wahrscheinlich weder sie noch jemand anders wirklich so reden würde. »Du und ich, wir sind Werkzeuge«, sagte Justin. »Werkzeuge haben keine Beweggründe.« »Wer denn dann?« Justin schien das nicht zu interessieren. »Andere Leute.« Wenn sie ihm die Fotos gab, sagte Big Rob immer: »Du bist eine Doppelagentin«, was die Sache nicht besser machte. Sie betrog ihre Freundin, um das Vertrauen eines anderen zu gewinnen. Das ist der Preis, sagte sie sich. Du musst bereit sein, weiter zu gehen als andere Detektive. Ihre Ängste wurden durch 122
die Zufriedenheit gelindert, mit der Big Rob und Scott Colleran auf ihre Arbeit reagierten. Der Kunde sei sehr angetan von den Bildern, sagte Colleran. Sehr angetan. »Klettere auf den Baum da, Justin«, sagte Sally. Er stieg auf die hüfthoch gelegene flache Stelle, die wie der übergroße Teller einer offenen dreifingrigen Hand wirkte, drehte sich zur Kamera und verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. Als er sah, dass es mit dem Foto noch nicht so weit war, entspannte er sich und blickte hinüber zu ein paar Kindern, die keine solchen Pflichten zu erfüllen hatten und auf einem großen DschungelKlettergerüst spielten. Martha stand neben Sally und versuchte, sich das spätere Bild vorzustellen. »Das gefällt mir«, sagte sie. Sally korrigierte Justins Haltung noch ein wenig und nahm die Kamera ans Auge. »Und jetzt lächle bitte«, sagte sie, und er tat es. Sie drückte sieben- oder achtmal auf den Auslöser und nahm immer das Gleiche auf. Justins Gesichtsausdruck veränderte sich nicht im Geringsten, er würde jedes Mal gleich fröhlich und anbetungswürdig aussehen. Als sie die Kamera herunternahm, sah der wirkliche Justin wie ein Porträt aus, der perfekte kleine Junge. Sogar die Oberfläche des Sees ein Stück weiter hinten schien reglos. »Bleib so«, sagte Barwick. Sie trat näher, stellte das Objektiv neu ein und machte ein paar Großaufnahmen von Justins Gesicht. Auch die würde sie natürlich Martha geben, tatsächlich aber waren sie für den Kunden von Gold Badge. Durch den Sucher sah Justin unwirklich überscharf aus. Der Horizont verlor sich hinter seinen blonden Locken. Sein Lächeln war unerschütterlich, und seine Augen waren wie lebendige tiefblaue Galaxien. Seine Augen. Sie nahm die Kamera zur Seite. Justin war noch etwa vier Meter von ihr entfernt. Ohne die Kamera wirkten seine Augen 123
wie die von vielen anderen, durch den Sucher jedoch öffneten sie sich. Waren verführerisch. Vertraut. Es waren die Augen aus ihren Träumen. Die Augen Eric Lundquists, wenn er als Justin zu ihr kam. Sie trat noch einen Schritt weiter vor, blickte wieder durch den Sucher und fuhr so weit mit dem Zoom an den Jungen heran, bis seine rechte funkelnde Iris das Bild fast ganz ausfüllte. Das waren nicht die Augen eines Siebenjährigen. Sie machte ein Foto von seinem Auge. Das Foto war für sie selbst. Stunden später, als Justin bei einem anderen Kind beim Spielen war, saßen Martha und Barwick am schmiedeeisernen Tisch eines kleinen Lokals in Northwood. »Es ist schön, eine Freundin zu haben, die ich wegen der Fotos anrufen kann«, sagte Martha. »Ich komme gern her«, sagte Barwick. »Justin ist ein toller Kerl.« Martha sah sie mit einem warmen, etwas unsicheren Lächeln an. »Ja. Gott, ja, das ist er. Ich glaube, er mag dich ganz besonders.« Sally wurde rot. »Er hat ein gutes Herz, weißt du. Letzte Woche war ich gerade beim Kochen, als er ganz von sich aus anfing, den Tisch zu decken. Ohne dass ich etwas gesagt hätte. Ohne zu fragen. Das war so süß. In seinem Alter braucht er viel Lob.« »Toll«, sagte Barwick. »Und er ist so intelligent. Neunundneunzig von hundert Punkten in allen Prüfungen, im Schnitt.« Jetzt wurde sie selbst rot, da diese Zahlen letztlich so wenig bedeuteten (aber dennoch unwiderstehlich waren). »Aber manchmal kann er natürlich auch anders sein.« »Ja? Wie alle Kinder, nehme ich an.« 124
»Genau, wie alle anderen auch. Das meine ich. Weißt du, manchmal gebraucht er Ausdrücke …« Barwick grunzte. »Na ja. Scheiße.« Martha verschluckte sich und hustete einen Schluck Weih zurück in ihr Glas. »Gott, Sally, du bringst mich wirklich zum Lachen. Ich habe hier draußen keine Freunde wie dich. Ich meine, ich habe schon Freunde, aber nicht wie die, die ich früher in der Stadt hatte.« Martha nahm noch einen Schluck und hatte damit weniger im Glas als Barwick. »Warst du je in Schwierigkeiten, Sally? Ich meine, als du klein warst?« »Oh, Gott, ja«, sagte Barwick. »Ich war ein fürchterliches Kind. Fühlte mich immer zu den bösen Buben hingezogen. In der zehnten Klasse wurde ich für sechs Wochen vom Unterricht ausgeschlossen. Beinahe hätte ich die Schule verlassen müssen, aber meine Eltern haben das Schlimmste verhindert.« Martha verzog erschreckt den Mund und zeigte, dass sie Barwicks Eröffnungen für so reizvoll wie schockierend hielt. »Wirklich? Was hast du angestellt?« »Etwas Idiotisches. Ein paar Freunde und ich, wir hatten zwei Jahre beim Mittagessen immer am selben Tisch gesessen und waren entschlossen, nie jemand anderen daran sitzen zu lassen. Als wir dann als Juniors den Campus wechselten, brachen wir an einem Samstag in die Schule ein, klauten den Tisch und schafften ihn mit dem Lieferwagen von so einem Typen in den Indiana-Dunes-Park. Da haben wir uns betrunken und den Tisch mit Schaufeln und Hämmern in Stücke geschlagen. Natürlich kam die Polizei, die uns erst mal mitnahm, und weil wir Schuleigentum geklaut hatten, wollten sie uns ausschließen.« »Klingt doch gar nicht so schrecklich.« »Wie ich sagte, es war einfach idiotisch.« »Ich war immer ein solches Tugendlamm«, sagte Martha. »Hatte nie Ärger, war in der Schülervertretung und stolz auf mein Jahrbuch.« Sie verdrehte die Augen. »Deshalb bin ich 125
sicher auch so nervös bei Justin. Wenn Leute sich nicht an die Regeln halten, bekomme ich gleich Angst.« Sie machte eine Pause. »Justin legt Feuer. Nichts Großes. Bisher ist noch nichts passiert. Er findet überall Streichhölzer und zündet Kerzen an. Gerade erst hat er einen Stapel Zeitungen im Kamin verbrannt.« »Das kann einem ja Angst machen.« »Und er stiehlt Sachen von mir. Ich habe Schmuck von mir in seinem Zimmer gefunden. Dann sage ich was, und er sagt, es tut ihm Leid, macht es aber wieder.« Sie holte tief Luft und stieß einen langen Seufzer aus. »Es ist so schlimm, dass ich schon nicht mehr klar denken kann. Als der Hund vom Nachbarn starb, habe ich gleich gedacht, er hätte etwas damit zu tun.« Sie lachte, als wollte sie den Gedanken von sich abschütteln. »Der Hund vom Nachbarn?« »Man liest doch, dass Serienmörder als Kinder schon Feuer gelegt und Tiere gequält haben, so was. Ich meine, ich weiß, dass Justin es nicht wirklich war. Ich bin mir sicher, er war es nicht. Es gibt nur manchmal mitten in der Nacht diese grausamen Momente, wenn du an nichts anderes denken kannst, sondern immer nur an das absolut Schlimmste. Terry sagt, ich leide unter Verfolgungswahn. Er sagt, alle Jungen sind von Feuer fasziniert. Andererseits, denke ich, macht sich Terry eher Sorgen darum, ob Justin schwul ist, als dass er sich wegen meines Schmucks Gedanken macht.« »Ja.« »Wobei Terry selbst noch ein ganz anderes Problem ist.« Da sie sich nicht sicher war, ob Martha wollte, dass sie nach Terry fragte, sagte Barwick lieber nichts. »Es tut mir Leid, dass ich so viel über ihn spreche …« »Über Terry?« »Nein, über Justin.« »Aber überhaupt nicht.« 126
»Terry will einfach nichts davon hören, wie viel Gedanken ich mir mache.« Wenn sie zweimal auf ihn kommt, ist es gewollt, dachte Barwick. »Männer mögen über nichts wirklich nachdenken, das ist meine Erfahrung.« »Ich träume sogar von Justin«, sagte Martha. »Schreckliche, gewalttätige Albträume. Ich meine, was für eine Mutter bin ich eigentlich, dass ich mir vorstelle, mein Sohn tut so fürchterliche Dinge?« »Du sorgst dich nur um dein Kind. Das ist doch normal. Eltern sollten sich um ihre Kinder sorgen. Besorgte Eltern sind notwendig für das Überleben unserer Spezies.« »Du bist lieb, Sally.« Martha hielt kurz inne, als wollte sie das Thema wechseln, und tat es in gewisser Weise auch. »Und wovon träumst du?« Barwick legte sich überrascht eine Hand auf die Brust, als müsste sie gegen ein Sodbrennen anschlucken. Sie wünschte, Martha könnte den älteren Justin sehen, der ihr nachts begegnete, gut aussehend, selbstsicher, klug. »Wovon ich träume?«, wiederholte sie. »Von Jungs.«
28 Ihr Vater war der Ansicht, Psychologie sei etwas für Schwächlinge. »Niemand ist an allem schuld. Wenn man sie gewähren lässt, werden sie aus der menschlichen Natur selbst eine Pathologie machen«, pflegte er zu sagen. »Menschen dürfen gelegentlich traurig sein. Sogar deprimiert. Aufgeregt, Verängstigt. Für den Psychologen sind Emotionen Symptome einer Krankheit. Für die ist das Leben selbst eine Krankheit.« Marthas Vater, ein 127
Kieferorthopäde, klang oft dramatischer, als es notwendig gewesen wäre. Das Sprechzimmer roch nach Leder, Alkohol und dominikanischen Zigarren, die, wie Martha sich vorstellte, Dr. Morrow in den fünfzehn Minuten Pause zwischen den Terminen rauchte. Sie fragte sich, was für Geständnisse hier wohl gemacht wurden, und, was ihr Sohn Dr. Morrow erzählte oder was Dr. Morrow aus den Dingen schloss, die Justin nicht sagte – was er sich notierte, auf sein Band sprach und für vertraulich erklärte, obwohl er sich lang darüber ausließ und seine Urteile darüber fällte. Das machte ihr Angst, und sie zitterte, als der untersetzte, gut rasierte Dr. Morrow, dessen runder Kopf aus dem beigefarbenen Rollkragenpullover wuchs wie ein Schokoladeneis auf seiner Waffel, über Justins Mappe strich, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag, und zu reden begann. »Justin ist ein reifer Junge«, sagte er und ließ dabei ein professionelles Lächeln auf seinem Gesicht aufziehen. »Für sein Alter weit fortgeschritten.« »Danke«, sagte Martha, die sich jetzt, wo ein Lächeln mit im Spiel war, weniger eingeschüchtert fühlte, aber immer noch nicht locker genug, um Morrow so wie Justin »Dr. Keith« zu nennen. »Fortgeschritten zu sein ist in vieler Hinsicht gut. In manch anderer aber schlecht.« »Schlecht?«, fragte Terry. »Wie meinen Sie das?« »Das Heranreifen eines Menschen soll ein Prozess sein«, sagte Dr. Morrow. Seine Stimme klang tief und rhythmisch wie ein Soul-Song. »Es gibt einen Grund dafür, dass Gott ihn klein anfangen lässt. Justin ist sehr intelligent, und auch körperlich ist er so weit entwickelt, dass es in der Schule zu Anpassungsproblemen kommt.« 128
»Die Kinder machen sich über ihn lustig, ich weiß«, sagte Martha. »Das geht vorbei. Eines Tages werden die anderen Jungen eifersüchtig sein. Aber er macht sich sehr viel Gedanken für einen Siebenjährigen. Er grübelt über Dinge nach, an die die meisten Kinder seines Alters noch nicht einmal angefangen haben zu denken.« »Was für Dinge?« »Wer er ist. Woher er kommt. Warum es ihn gibt. Für die meisten Kinder scheinen die Antworten auf diese Fragen ziemlich klar. Sie sind Teil einer Familie. Sie sind da, um den Erwachsenen zu gefallen, und so weiter. Der Mensch hat Tausende von Jahren gebraucht, diese Fragen richtig zu stellen, die Justin ganz klar formulieren kann.« »Was heißt das für all die Sachen, die er anstellt?«, fragte Martha. »Was ist das dann? Frustration?« »Ja, durchaus. Einiges hat auch mit Ausprobieren zu tun. Justin ist sich seiner Selbst extrem bewusst. Seiner Individualität. Er ist fähig, sein Bewusstsein als das einer eigenen Person zu erkennen, getrennt von anderen, getrennt sogar von seinem eigenen Körper. Jeden Tag versucht er, mehr über sich herauszufinden: Wer diese Person da in seinem Körper ist. Warum er ist. Bei einem anderen Kind würde mich vieles von seinem leichtsinnigen Verhalten alarmieren, die Faszination für Feuer zum Beispiel, aber bei Justin nehme ich an, dass er sich auf eine Weise auf die Probe stellen will, wie es die Welt mit kleinen Jungen normalerweise nicht tut. Ich glaube nicht, dass er nach Aufmerksamkeit verlangt, oder Kontrolle. Ich glaube nicht, dass er etwas Bösartiges hat. Ich glaube, er ist ein Forscher. Er erforscht seinen eigenen Geist. Er ist ein ganz besonderer Junge.« »Was können wir also tun?«, fragte Martha.
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»Ich denke, Sie sollten ihn mit Leuten konfrontieren, die über dieselben Dinge nachgedacht haben, über die er nachdenkt. Es gibt für Kinder in seinem Alter zwar noch nicht sehr viele Bücher über Philosophie, aber doch ein paar elementare Überblicke, und er ist, wie schon gesagt, sehr intelligent. Ich würde ihm Fabeln zu lesen geben. Geschichten, die eine Moral haben. Äsop. Suchen Sie nach ein paar vereinfachten Darstellungen der klassischen Denker. Er wird nicht alles verstehen, vielleicht nur einen kleinen Teil, aber das Wichtige ist, dass er sieht, er ist nicht allein mit seinen Fragen. Dass es Orte gibt, wo er nach Antworten suchen kann. Wenn er älter wird, fängt er an, sich eine eigene Meinung zu bilden. Die größte Gefahr dabei für jemanden, der zu viel denkt, ist die Verzweiflung. Sie müssen Justin klar machen, dass er sich mit seinen Gedanken nicht immer so allein fühlen wird.« »Gibt es einige Autoren oder Bücher im Besonderen, mit denen wir anfangen sollten?« »Ich glaube nicht, dass das so einen großen Unterschied macht. Das Wichtige ist, dass es auf eine Weise geschrieben ist, die er versteht. Sie müssen anfangs natürlich mit ihm zusammen lesen. Vielleicht lässt sich ein Spiel daraus machen. In akademischen Buchhandlungen finden Sie ganz sicher Biografien von Platon und Sokrates. Den frühen Denkern.« »Sokrates. Mein Gott, Dr. Morrow, Justin ist sieben«, sagte Terry. »Was, wenn ihn das alles nicht interessiert?« »Es wird ihn interessieren. Vertrauen Sie mir. Und bringen Sie beim Lesen Ihre eigenen Gedanken mit ein. Wenn Justin in die Sache hineinkommt, wird er alles sehr wörtlich nehmen. Das heißt, Sie sollten dem Gelesenen Ihr eigenes Verständnis von Richtig und Falsch gegenüberstellen. Justin sucht und braucht keine Relativierung seiner moralischen Werte. Er muss überhaupt erst einmal Gut und Böse verstehen lernen. Ich bin mir nicht sicher, dass er das schon tut.« 130
»Wie meinen Sie das, Dr. Morrow?«, fragte Martha. »Justin sieht die Dinge sehr abstrakt. Wenn er zum Beispiel Feuer legt, versteht er, dass das Feuer zerstört, aber er weiß auch, dass die Flammen den Platz dessen einnehmen, was da brennt. Das sieht er nicht als schlimm an. Er hat etwas geschaffen. Das ist es, was ihn interessiert, nicht die Zerstörung. Erlauben Sie ihm, seine kreative Seite zu erforschen, aber machen Sie ihm auch unmissverständlich klar, wo die Grenzen verlaufen. Er muss lernen, dass die Dinge Konsequenzen haben.« Terry beugte sich auf seinem Ledersessel vor. »Wir versuchen ihm ja zu erklären …« »Ich will Ihnen keinen Vortrag über Erziehung halten, Mr Finn. Justin ist ein besonderes Kind. Wenn Sie verstehen lernen, wie sein Denken funktioniert, werden Sie erkennen, dass seine Bedürfnisse andere sind, als man ganz intuitiv meinen könnte, und dann können Sie entsprechend darauf eingehen. Sie müssen vorab nicht gleich alle Situationen einplanen.« »Doktor, könnten die Probleme etwas mit den Umständen von Justins, Sie wissen schon, Empfängnis zu tun haben?« Das Thema war noch nicht angesprochen worden, aber natürlich hatten die Finns bei der Anmeldung die besonderen Umstände von Justins Geburt nicht verschwiegen. Dr. Morrow ließ ein beruhigendes Knurren hören. »Ich glaube nicht. Ich werde aber auf jeden Fall einen Bericht machen, und wenn man bei anderen geklonten Kindern auf ähnliches Verhalten trifft, wird dem sicher jemand nachgehen, wahrscheinlich an der Universität. Eine Studie machen. Für mich, für Sie und auch für ihn selbst ist Justin einfach ein Junge. Ein normaler Junge. Wenn es etwas gibt, was ihn von anderen Kindern unterscheidet, dann, dass er über dem Durchschnitt liegt. Das bringt ein paar Schwierigkeiten mit sich. Schmerz, Angst. Aber er hat keine übernatürlichen Kräfte. Er ist keine 131
Missbildung. Ich habe auch schon andere geklonte Kinder behandelt, und sie unterscheiden sich mit ihren Problemen genauso voneinander wie die nicht geklonten Kinder. Und ihre Probleme sind auch nicht ernster oder weniger ernst.« Im Auto auf dem Weg nach Hause brummte Martha der Schädel vor Ärger über die Vorstellung, die ihr Mann im Sprechzimmer von Dr. Morrow gegeben hatte. Sie hatte das Gefühl, ein ganzer Bienenschwarm sammle sich unter ihrer Haut. Seit Wochen hatte er nur geschimpft, was Dr. Morrow betraf – »Das ist nichts als Geldverschwendung, der Junge muss sich seinen Kopf nicht durchleuchten lassen; tu, was du willst, aber lass mich dabei aus dem Spiel« –, und dann kam er schließlich zu einem einzigen Gespräch mit und gab den besorgten Vater. Sie sagte aber nichts. Justin war zu Hause, sie hatten einen Babysitter engagiert, und sie würden gleich schon zurück sein, und Martha bemühte sich ganz entschieden, dass es vor ihm keinen Streit mehr gab. Wenn sie ihrem Mann jetzt etwas vorwarf, war das sicher nicht ausgestanden, bis sie zu Hause waren. Sie sagte Terry, sie wolle am nächsten Tag schon ein paar Bücher besorgen. Im Einkaufszentrum an der 41er gab es genauso einen Laden, wie Dr. Morrow ihn beschrieben hatte, und sie würde es auch bei einer der großen Buchketten versuchen und eventuell bei dem Buchhändler in Winnetka. Der Rat, den sie gerade bekommen hatten, war eigenartig, aber sicher auch genau das, was Eltern von einem Psychologen hören wollten: Ihr Kind ist intelligent, fortgeschritten, reif. Normal. Sie hatte gedacht, dass Psychologen dieses Wort im Allgemeinen nicht gern benutzen, aber Dr. Morrow hatte es benutzt. Sie hatte einen Plan. Sie fühlte sich besser. Mit ihrem Sohn würde alles in Ordnung kommen. Kinder sind nie so perfekt, wie Eltern es sich vorstellen, aber auch nie so schlecht, wie sie es fürchten. Und als Martha den Druck von Monaten mit einem 132
langen Seufzer aus sich entweichen ließ und der Wagen sich dem gelben Feuerhydranten näherte, von dem ab die Fernbedienung für ihre Garage funktionierte, gestand Terry ihr endlich, dass er eine Affäre hatte.
29 Vielleicht war es nur das Gefühl, von seinem Selbst getrennt zu sein oder zumindest von dem Teil, der so fest mit den Vororten von Chicago verbunden war, wo er zur Welt gekommen, zur Schule gegangen war und geheiratet hatte – jedenfalls entfachten die winzigen Dörfer New Englands, die sich an die Berghänge schmiegten oder sich hinter vorrückenden Gletschern niedergelassen hatten, in Davis eine Sehnsucht nach dem Landleben. Brixton im Bundesstaat Nebraska tat das nicht. Als er und Joan nach dreistündiger Fahrt vom Lincolner Flughafen in einem gemieteten Taurus in den Ort kamen, dachte er, in jedem kitschigen Postkasten, jeder rustikalen Türdekoration und jedem rotweißen Cornhusker Garagenreklameschild Hoffnungslosigkeit lesen zu können. Er empfand spontanes Verständnis für alle Kinder, die ihre Adoleszenz hier als eine Art Jugendstrafe erlebten. »Hast du das gesehen?«, fragte Joan. »Nein. Was?« »Das Schild: Brixton, Nebraska. Heimat des Profi-Footballers Jimmy Spears.« »Dann sind wir ja richtig«, sagte Davis, als sie an einer Tankstelle vorbeikamen, deren Zapfsäulen so alt waren, dass sie die Benzinmenge noch mit rollenden Ziffern wie in alten Tachos anzeigten. »Schau dir das an.« Himmel, was mache ich hier eigentlich?, fragte sich Davis. Als der Hinweis in seiner Mailbox eingegangen war, hatte er ihn 133
gleich für interessant gehalten, ganz im Gegensatz zu den anderen sechs, denen er während der letzten zwei Jahre nachgegangen war. Oder war seine Anziehungskraft nur relativer Natur? Er hatte auch nicht annähernd so viele Hinweise erhalten, wie er gehofft hatte. Was Davis gelernt hatte, war, dass die meisten der Kriminalitätsbekämpfungswebsites kaum je über das Wohnzimmer des Webmasters hinausreichten. Die ganze Welt mochte am Internet hängen, dennoch war das Internet ein lausiges Instrument, um die Welt zu erreichen. Was macht Joan eigentlich hier?, dachte er, obwohl die Gründe, aus denen er sie gebeten hatte mitzukommen, offensichtlich waren. Joans Spürsinn ließ sie auf einen schlechten Charakter ansprechen wie einen Geigerzähler auf zerfallendes Uran, und er hatte schon lange auf eine Chance gewartet, sie tiefer mit in seine Verschwörung zu ziehen. Aus reinem Eigennutz: Er wusste, je mehr er sie mit in die Sache einband und je weniger sie sich dagegen wehrte, desto besser fühlte er sich. Die Suche nach dem Mörder von AK war zum Wichtigsten in seinem Leben geworden, und Joan war der einzige Mensch, mit dem er darüber reden konnte. Wenn er immer noch zur Eheberatung ginge, würde ihm der Therapeut zweifellos sagen, dass jede Beziehung zu einer Frau mit seiner Ehe zu tun hatte. Davis wusste, dass er damit Recht gehabt hätte. Obwohl es nur wenige Rückmeldungen gab, überprüfte Davis seine anonyme Internet-Mailbox regelmäßig morgens und abends. Die Mitteilungen kamen in aller Regel von nicht zurückverfolgbaren Absendern, mit einem Hinweis, einem Vorschlag oder einfach nur ein paar ermutigenden Worten. Etliches kam von Verrückten, die blind nach der Fünfundzwanzigtausenddollar-Belohnung fischten. Er sammelte und katalogisierte alles. Das Bild von AKs Morder wurde mit jeder neuen Fotoserie besser, die er von seinem Privatdetektiv erhielt, wenigstens 134
hoffte Davis das. Neue Technologie half ihm dabei, zum Beispiel die Beta-Version einer Software, die eigentlich dazu verwandt wurde, Ultraschallbilder zu verbessern und fortzuschreiben, um mögliche Geburtsfehler auszumachen. Die Details seiner Bilder wurden immer genauer, wenn er natürlich auch keine Möglichkeit hatte herauszufinden, ob sie dem Gesicht des Mannes, den er suchte, tatsächlich näher kamen. Der Mann auf ihnen sah jedoch menschlicher aus, realistischer, und nachdem er die Parameter in seine FaceForger-Software eingegeben hatte (die er mittlerweile zweimal aktualisiert hatte und mit der er immer besser umzugehen verstand), gelangte er zu weniger und weniger Möglichkeiten. Es gab Dutzende von Websites, die sich mit echten Verbrechen befassten, und einige davon waren bereit, eine Version seiner Geschichte zu veröffentlichen. Etliche Einzelheiten, die direkt auf ihn verwiesen hätten, inklusive Wohnort, ließ er aus, um seine Anonymität zu wahren, aber das Bild stand im Netz – und auch die Belohnung. Bis heute hatten zwanzig Leute behauptet, den Mann zu kennen oder ihn gesehen zu haben, gewöhnlich, wenn er ihre Stadt verlassen hatte. Einige Spuren sonderte Davis gleich aus, wobei Unstimmigkeit der häufigste Grund war. Anderen ging er von zu Hause aus nach, indem er in öffentlichen Archiven nachforschte. Dann kam die E-Mail von Ricky Weiss aus Brixton, Nebraska. »Der Kerl, nach dem Sie suchen, ist von hier«, schrieb Weiss. »Er heißt Jimmy Spears. Er ist eine Berühmtheit.« Sie tauschten ein paar Mails aus, und Davis erfuhr, dass Jimmy Spears nicht mehr in Brixton lebte, nur noch seine Eltern. Spears war der dritte Quarterback der Miami Dolphins. Im Fernsehen konnte man ihn meist an den Seitenlinien sehen, mit einem Kopfhörer und einer Baseballkappe, wie er seiner Truppe Zeichen gab: eine hoch bezahlte türkisorangene Signalflagge, die den Spielern kodierte Nachrichten vom Angriffskoordinator übermittelte. 135
Fotos von Spears waren leicht zu bekommen, und Davis sammelte sie alle. Er ging sogar so weit, einen DolphinsMedienführer zu bestellen, um das aktuelle Spielerfoto zu bekommen. Spears war blond und sah gut aus. Davis dachte, dass er dem FaceForger-Porträt äußerst ähnlich sehe, nicht so sehr Haar und Nase, aber ganz sicher die Augen, das Kinn und die Partie um den Mund. Wenn er das Bild neben das von Justin legte, konnte man sich leicht vorstellen, dass der eine die jüngere Version des anderen war. Was Davis jedoch am meisten interessierte, waren die biografischen Einzelheiten, die er unaufgefordert von Ricky Weiss bekam und die dann durch die offizielle Biografie bestätigt wurden. »Jimmy war ein toller College-Spieler«, schrieb Weiss. »In dem Jahr, als Northwestern im Rose-Bowl-Finale war, wurde er Sechster auf der Heisman-Liste.« Davis war kein Football-Fan, aber er erinnerte sich an den Riesentrubel damals und begann zu zittern, als er in Spears’ Biografie las: Jimmy Spears, QB-12, Alter: 29, College: Northwestern. Vor zehn Jahren, zur Zeit des Mordes an AK, ging Jimmy Spears gerade mal gut fünfzehn Kilometer vom Zentrum von Northwood entfernt zur Schule. Und da der Campus wegen der Weihnachtsferien in dieser Woche geschlossen war, nahm Davis an, dass die Spieler in Evanston gewesen waren, um für die Gator Bowl zu trainieren. Was ausreichte, Jimmy zu seinem Spitzenmann zu machen. Im Moment. Die Straßenkarte von Brixton, die er heruntergeladen hatte, war äußerst dürftig, und so fuhren sie im Kreis. Schließlich fand Davis zurück zu der Tankstelle, an der sie auf dem Weg hinein vorbeigekommen waren.
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Davis tankte für fünfzehn Dollar bleifrei und rief durch das Plexiglas dem kräftigen und bärtigen Mann auf der anderen Seite zu: »Ich suche nach der Grundschule?« »Grundschule, High School, alles das Gleiche«, antwortete der Mann. »Beides am Ende von der Clifton.« Er erklärte Davis, wie er hinfinden würde. Die Brixton Elementary lag am Ende der Clifton Street und war von der High School durch eine Aschenbahn und ein Spielfeld getrennt, auf dem frisch gestrichene FootballTorstangen und Fußballtore mit Kettennetzen standen. Entlang einer Seitenlinie erstreckte sich eine fünfstufige Tribüne. Es gab keine Einteilung nach Personal- und Gästeparkplätzen, und so stellten sie den Taurus neben einem alten, aber sauberen Honda Civic ab und machten sich auf die Suche nach dem Büro des Rektors. Was sie sagen wollten, hatten sie sich gleich nach dem Kauf der Flugtickets zurechtgelegt. »Hallo.« Joan lächelte die Empfangsdame an. »Mein Mann und ich überlegen, ob wir hier in die Gegend ziehen sollen, und wir würden uns gerne die Schule ansehen.« Davis lief unwillkürlich ein Schauer über Rücken und Arme, als Joan von ihm als ihrem Ehemann sprach. »Oh, wundervoll«, sagte die Rezeptionistin. »Willkommen in unserer Stadt – ich meine, wenn Sie herziehen wollen. Wo kommen Sie her?« »Saint Louis«, sagte Davis und wusste nicht mehr, ob er und Joan vorher über diesen Punkt gesprochen hatten. Er war sich allerdings sicher, kaum dass er es ausgesprochen hatte, dass Joan zweifellos eine bessere Antwort gefunden hätte. Im Nachhinein dachte er, es wäre vielleicht günstiger gewesen, einfach Chicago zu sagen, allein um sich nicht in den eigenen Geschichten zu verstricken. »Ich wünschte, Sie hätten vorher angerufen, dann hätten wir Sie richtig herumführen können.« Die Frau sah sich im Raum 137
um, als hielte sie nach etwas Ausschau. Gleichzeitig öffnete sich hinter ihr eine Tür, und eine weitere Frau kam herein, die jünger war und förmlicher gekleidet. Sie trug ein hellbraunes Kostüm und einen Paisley-Schal, der Hals und Schultern bedeckte. Ihr Haar war zu einem Knoten hochgebunden. »Hallo«, sagte sie. »Mary«, die Rezeptionistin war aufgestanden, »die Herrschaften hier würden sich gern die Schule ansehen, haben aber keinen Termin.« »Wie schön«, sagte Mary. »Ich bin die Rektorin, Mary Ann Mankoff.« Sie stellten sich als Greg und Susan Deaver vor. »Wir möchten nicht stören, würden uns nur gern einmal die Schule ansehen, wenn Sie erlauben.« »Ich führe Sie kurz herum«, sagte die Rektorin. »Es dauert nur ein paar Minuten.« »Wir möchten Ihnen keinesfalls Umstände machen«, sagte Davis. Tatsächlich hätten sie sich lieber allein umgesehen. »Das sind keine Umstände«, sagte Mary Mankoff. »Alice, wir sind in fünfzehn Minuten wieder da.« Die beiden parallelen Gänge hinauf und hinunter befragte Mary Mankoff Davis und Joan, wer sie waren. Sie hatten einen siebenjährigen Sohn, waren beide Ärzte und hofften, in der Gegend eine Praxis aufmachen zu können. »Wirklich? Nun, hier auf dem Land sagt niemand nein zu zwei neuen Ärzten.« Joan versuchte, die Rektorin dazu zu bringen, Fragen zu beantworten und keine zu stellen, und Davis hatte den Eindruck, dass sie angemessen neugierig klang, was Iowa-Tests betraf und den Anteil der High-School-Absolventen, die zur Universität gingen. Rektorin Mankoff zeigte ihnen sogar schnell einen Klassenraum, öffnete eine Tür, und sie konnten sehen, wie sich 138
ein paar kleine Köpfe zu ihnen umdrehten. Sie winkte der Lehrerin entschuldigend zu, die mit einem neugierigen, aber verständnisvollen Nicken antwortete. Als sie sich wieder dem Empfang näherten, überlegte Davis, ob er direkt nach Spears fragen sollte. Sie blieben bei einem kleinen Korridor stehen, der ihm vorher nicht aufgefallen war. »Lassen Sie mich Ihnen noch unsere Bücherei zeigen«, sagte Mary Ann. »Wir sind ziemlich stolz darauf.« Die Bibliothek war tatsächlich ziemlich groß für eine Schule wie diese. Sämtliche Wände standen voller Bücher, und es gab auch noch eine Reihe frei stehender Regale, die etwa die Hälfte des Raums einnahmen. Ganz hinten saß ein gutes Dutzend Kinder auf kleinen rechteckigen Teppichen und lauschte der Bibliothekarin, die ihnen eine Geschichte von Detektiven im Teenageralter vorlas, die einen Schmugglerplan durchkreuzten. Mary Ann flüsterte ihnen zu, dass ein in der Gegend sehr bekannter Autor die Bibliothek gestiftet habe. »Und dazu auch noch eine für die High School«, sagte sie. Sie standen noch eine Weile da, und Davis und Joan gaben vor, die eingebauten Regale und Messingtafeln zu bewundern, auf denen die Dewey-Dezimalklassifizierung stand. Joan stieß Davis an, als sie etwas auf einem der Regale entdeckte. Sie deutete hinüber, und jetzt sah er es auch. Ein Schild: BRIXTONER SCHULARCHIV. In diesem Moment kam die Lehrerin, die offenbar für die Klasse hinten verantwortlich war, und fasste Rektorin Mankoff am Ellbogen. »Kann ich einen Augenblick mit Ihnen sprechen, Mary? Wegen der Versammlung am Freitag.« Die Rektorin entschuldigte sich und trat mit der Frau durch die schmale Tür auf den Korridor hinaus. Davis und Joan gingen zu den Archiv-Regalen hinüber, und Joan fuhr mit Händen und Augen schnell über die Jahreszahlen Dutzender ledergebundener Sammelalben. Davis rechnete 139
schnell im Kopf zusammen – das Geburtsdatum von Jimmy Spears plus Justins Alter heute – und suchte mit. »Da. Das dort. Das müsste es sein.« Joan setzte sich auf einen kleinen Hocker und öffnete das blaue Album auf ihrem Flanellrock. Während Davis ihr über die Schulter sah, blätterte sie den Band durch. Auf jeder Seite waren zwei Klassen abgebildet, die Schüler mit einem Lehrer in ihrer Mitte. Aber anders als bei den Klassenfotos, an die Davis sich aus seiner Schulzeit erinnerte, hatten sich die Schüler nicht zu einer großen Gruppe zusammengefunden, mit den kleinsten, die vor den anderen hockten oder auf dem Turnhallenboden lagen, sondern eine Porträtaufnahme klebte neben der anderen. Hier, das müsste die Klasse sein: zwanzig Schüler, und auch vom Lehrer gab es ein Bild. Darunter standen die Namen der Schüler, entsprechend den Reihen, getippt und mit gelblich werdendem Scotch-Klebeband ins Album geklebt. Joan und Davis überflogen die Namen. Sie entdeckte ihn zuerst: »Preston, P.; Spears, J.; Thoms, L.; Yaley, L ….« »Da.« Sie deutete darauf. Davis betrachtete das zugehörige Foto. Überprüfte noch einmal den Namen. Joan zuckte mit den Schultern. Der junge Jimmy sah völlig anders aus als der siebenjährige Justin. Auch um ihn herum sah ihm keiner ähnlich. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie allein gelassen habe.« Rektorin Mankoff beugte sich zu ihnen. »Wie ich sehe, haben Sie unsere Schulgeschichte gefunden. Das ist Jimmy Spears. Der Zweite von links. Der Footballspieler.« »Sehr interessant«, sagte Davis. »Sie müssen sehr stolz auf ihn sein«, sagte Joan. »Das sind wir alle«, sagte Mankoff.
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Eine halbe Stunde später saßen sich Joan und Davis in eine Fensternische im Brixton Diner gegenüber. Weiss sollte sie hier um ein Uhr treffen. Er musste jeden Moment kommen. An einem Winkel über dem Türrahmen hing ein kleines Glockenspiel, und Joan und Davis, die einzigen Gäste im Lokal, obwohl doch Mittagszeit war, drehten sich danach um, als es erklang. Der Mann, der hereinkam, war klein, wobei vor allem die Beine zu kurz geraten schienen, nicht der Leib, was ihm einen leicht watschelnden Gang verlieh. Aus Kragen und Manschetten wuchs ihm dunkles Haar, während sein rosa Schädel kahl und fleckig unter dem feinmaschigen Netz seiner Baseballkappe hervorleuchtete. »Hallo, Richter Forak?«, sagte Weiss und schüttelte Davis die Hand. Joan warf Davis einen viel sagenden Blick zu, blieb aber stumm. »Hallo«, sagte Davis. Der Mann setzte sich neben ihn. »Was haben Sie rausgefunden? Soll ich meinen Banker auf eine größere Überweisung vorbereiten?« Er sagte das mit einem höhnischen Schnaufen, das darauf hindeutete, dass Weiss keine Bank, geschweige denn einen Banker hatte. »Er ist nicht unser Mann«, sagte Joan. Die untere Gesichtshälfte des Mannes sackte herunter, während der obere Teil rot anlief und sich anspannte. »Was soll das heißen? Sie haben ein schlechtes Bild von Jimmy Spears rumgezeigt, und ich habe Ihnen gesagt, wo sie Jimmy Spears finden.« »Es ist, wie sie Ihnen gesagt hat«, sagte Davis. »Er ist nicht der, den wir suchen.«
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Rick Weiss schlug mit den Händen flach auf den Tisch. »Sie wollen mich bescheißen.« »Ganz sicher nicht«, sagte Joan. »Ich wusste es! Kein Geld!« »Wenn wir Sie betrügen wollten, hätten wir gar nicht erst herzukommen brauchen.« Davis passte es nicht, sich verteidigen zu müssen. »Aber er ist es. Es ist Spears. Ich sag’s Ihnen.« Weiss kämpfte mit der Versuchung zu brüllen, und so kamen ihm die Worte mit einem heiseren Krächzen aus der Kehle. Er beschimpfte den Helden des Ortes. Schließlich zog er ein Stück Papier mit einem Foto von Spears hervor, das er aus der Brixtoner Wochenzeitung geschnitten haben musste und neben Davis’ Bilder aus dem Internet geklebt hatte. »Jimmy ist zu allem fähig. Ich kenne den Kerl, seit wir Kinder waren. Er denkt, er ist was Besonderes. Dass ihm alles zusteht. Sie sollten mal die Storys hören, die ein paar von den Mädchen zu erzählen haben. Wozu er sie gezwungen hat. Er hat sie ausgenutzt, weil er damals schon der große Footballstar war. Football ist hier eine wichtige Sache, und der Ruhm ist ihm zu Kopf gestiegen. Hat einen Irren aus ihm gemacht. Hören Sie sich die Geschichten an, ich kenne ein paar Mädchen, die können’s Ihnen aus erster Hand …« Davis wollte keine Geschichten hören. »Jimmy ist einfach nicht der Mann, nach dem wir suchen.« Er nahm einen Fünfzigdollarschein, den er sich für diesen Zweck vorher in die Hemdtasche gesteckt hatte, und schob ihn Weiss hin. »Für Ihre Bemühungen.« Weiss zerdrückte den Geldschein in seiner Faust, als wollte er ihn wegwerfen, behielt ihn aber. »Fahr zur Hölle, Forak!« Er schob sich aus der Nische und watschelte zur Tür. Von dort deutete er auf Joan. »Und du auch, Schlampe!« Die Bedienung hinter der Theke fuhr zusammen, als die Tür ins Schloss donnerte und das 142
Glockenspiel hinter ihm herläutete. Sie sah zu Davis und Joan hinüber und formte mit den Lippen eine Entschuldigung. Im Namen des ganzen Orts, nahm Davis an. Abends in Lincoln, im Marriott beim Flughafen an der Bar, während über ihnen ein Baseballspiel über den Schirm flimmerte, sagte auch Joan, dass es ihr Leid tue. »Leid?«, fragte sich Davis laut. »Was denn?« »Ich wollte, dass er es war«, sagte sie. »Ich hatte gedacht, er könnte es sein.« Ein Schluck Macallan floss so schnell durch Davis’ Kehle, dass er ihn nicht schmeckte. Er nippte noch einmal an seinem Glas und ließ den Whiskey einen Moment auf seiner Zunge ruhen. »Ich nicht. Ich meine, auch ich habe mir gewünscht, dass er es wäre, aber ich hatte keine große Hoffnung.« »Wirklich nicht?« Davis zuckte mit den Schultern. »Tagsüber Footballstar, nachts Vergewaltiger und Mörder, das klang mir ein bisschen unwahrscheinlich. Der Kerl, der AK umgebracht hat, war ein Dreckschwein, kein beliebter amerikanischer Held.« »Meiner Erfahrung nach findest du an den Universitäten die größten Dreckschweine«, sagte sie. »Aber wenn du den Hinweis für eine Sackgasse gehalten hast, warum sind wir dann hier?« Davis sah sie an. Sie lächelte. Natürlich hatte er gehofft, dass diese Spur die richtige gewesen wäre, aber jetzt wurde ihm klar, dass Jimmy Spears nicht der einzige Grund gewesen war, diese Reise zu unternehmen. Er begriff, dass es ihm auch um einen Moment wie diesen gegangen war – allein mit Joan, unerkannt, am Rande des Verbotenen in einer unbekannten Bar weit weg von zu Hause und nur eine Liftfahrt von zwei Hotelzimmern entfernt, Nichtraucher, mit extra großen Betten, eines auf seinen, eines auf ihren Namen. 143
»Man weiß schließlich nie.« Für Davis sah Joan so aus, als wollte sie etwas gestehen, aber er konnte nur raten, was es sein würde. Oft schon hatte er sich vorgestellt, wie es mit ihr sein würde, sich aber immer nur ein paar Bilder erlaubt und anschließend ein schlechtes Gewissen gehabt. Seine Träume erweckten andere Männer zum Leben, die mit ihr zusammen gewesen sein mussten: High-SchoolVernarrtheiten, College-Spielereien, Med-School-Schwärme. Er beneidete sie alle. Und er hasste das Ungeheuer, das Joan in Houston Gewalt angetan hatte, hasste den Kerl fast genauso wie den, der ihm seine Tochter gestohlen hatte. »Wo wir schon dabei sind«, sagte sie. »Hast du dir mal die Berichte von Justins Psychologen angesehen?« Im Allgemeinen mochte er Joans Sinn für Humor, aber er wurde sehr unzugänglich, wenn sie leichthin Andeutungen in Bezug auf ihr gemeinsam gehütetes Geheimnis machte. Obwohl sie mit auf diese Reise gekommen war, schmerzte es ihn, dass Joan nach wie vor eine eindeutig unfreiwillige Komplizin und mitunter äußerst sarkastisch war, was Justin betraf. Dazu kam, dass er ein zunehmendes Gefühl von Verantwortung für Justin entwickelte. Fast etwas Väterliches. Und wieder fragte er sich: Warum ist sie mitgekommen? Er hatte darüber nachgedacht, als sie zusagte, und dann wieder, als sie sich im Flugzeug wortlos die Lehne zwischen ihren Sitzen geteilt und die Arme aneinander gedrückt hatten. »Was ist damit?« »Machen sie dir keine Sorgen?« »Er ist ein Kind. Kinder haben schon mal Schwierigkeiten.« »Einige ja. Und einige sind gestört.« »Worauf willst du hinaus?«
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»Macht es dir überhaupt keine Sorgen, dass Justin die Gene eines Mörders in sich trägt und bereits mit sieben etliche der Warnsignale aufweist, eine gewalttätige Person zu sein?« »Versuchst du damit zu sagen, wir hätten ein Ungeheuer produziert?« »Am besten vergisst du zuerst einmal den ganzen Wir-Unsinn, großer Häuptling«, sagte Joan und bestellte mit einer Geste noch ein Glas Cabernet. »Aber noch mal, machst du dir keine Sorgen deswegen? Gott, Davis. Sieh doch nur, was da abläuft. Der Junge ist ein einziges Desaster.« »Puuh. Gene. Erziehung. Es gibt keine einzige Klonstudie, die auf eine Vererbungswahrscheinlichkeit für die Art Gewalttätigkeit verweist, von der du da sprichst. Die Gene haben nichts damit zu tun, Joan. Wenn es je einen Mörder gab, der einen Mörder zum Sohn hatte, dann weil der sein Verhalten vom Vater gelernt hat. Oder weil sie unter ähnlichen Umständen gelebt haben. Nicht weil er das Gen des Bösen mitbekommen hat.« »Er stiehlt. Legt Feuer. Quält Tiere. Das sind gleich drei Treffer, Davis. Der Jackpot.« »Mit solchen Vergleichen kannst du mich nicht überzeugen.« Er kniff die Augen zusammen. »Quält Tiere? Wovon redest du?« »Der Hund der Nachbarn ist tot.« »Und?« »Seine Mutter denkt, er könnte etwas damit zu tun haben.« »Was sagt Morrow?« »Er ist sich nicht sicher. Justin streitet es ab. Morrow mag ihn. Er glaubt, dem Jungen ist einfach nur langweilig.« »Da siehst du’s. Dass da gerade jetzt der Hund stirbt, ist sicher einfach ein Zufall.« »Wie kann dich das so kalt lassen?« 145
»Sein eigener Psychologe macht sich keine Sorgen.« »Und wie besorgt würde Morrow sein, wenn er die Wahrheit über Justin wüsste?« Davis’ Glas war noch halb voll, aber der Barmann sah gerade zu ihm herüber, und so bestellte er noch einen Whiskey. Die beiden nippten jetzt ohne viele Worte an ihren Gläsern und sahen nicht den Mann mit dem Schnurrbart, dem billigen Anzug und dem kleinen Notizbuch, der an einem Tisch ganz hinten in der Ecke saß, von dem er einen guten Blick auf die Theke hatte. Sie gingen zu Joans Zimmer und standen einen langen Moment vor ihrer Tür, als könnte sich dort etwas entscheiden; als könnte einer von ihnen ihr ganzes weiteres Leben mit einem Lächeln, einer gehobenen Braue oder einer verlegenen Geste ändern. »Wer ist Richter Forak?«, fragte Joan, und ihre Blicke verweilten so lange beieinander, dass es sich gut anfühlte. »Keine Ahnung«, sagte Davis und ließ ein nervöses Lachen hören. »Hmm«, sagte Joan und drehte sich ein paar Grad Richtung Tür, hielt ihre Augen aber auf ihn gerichtet wie ein Kompass, der nach Norden zeigt. »Gute Nacht, Joan«, sagte Davis endlich. »Gute Nacht.«
30 »Er gibt dir das Geld nicht?« »Nein.« »Warum?«
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Rick Weiss ließ sich auf einen der Küchenstühle fallen, dessen Beine mit einem rülpsenden Geräusch über das Linoleum kratzten. »Der Kerl ist ein Arschloch. Ein Arschloch, das uns bescheißen will.« Er schlug mit den Knien gegen die Unterseite des Tisches. »Aber er ist es doch, oder? Jimmy Spears? Jimmy ist der Mann, nach dem er sucht?« »Klar ist es Jimmy«, sagte Rick. »Ein reicher Richter kommt doch nicht den ganzen Weg hier runter, um nein, danke zu sagen. Das hätte er auch über den Computer machen können.« Er schob die Post zur Seite, öffnete die Sports-IllustratedAusgabe vom 20. September und blätterte darin herum. Seine Frau Peg saß ihm gegenüber, ihr Gesicht zerfurcht und voller Sorgen, ohne jedoch zuzugeben, mit ihrer Visa-Karte bereits sechstausend Dollar von der Beute ausgegeben zu haben, die sie mit Jimmy Spears’ Kopf verdienen wollten. »Aber warum zahlt er dann nicht?« »Weil er ’n Arschloch ist«, sagte Rick. Jeden Samstagabend sahen Ricky und Peg eine Fernsehshow, in der flüchtige Bankräuber, Mörder und Sittenstrolche porträtiert wurden. Zweimal hatten sie schon mit Hinweisen dort angerufen, von denen sie selbst wussten, dass sie mehr als mager waren. Als Peg jedoch auf das Bild stieß, das Davis auf der Stoppt-das-Verbrechen-Website platziert hatte, war sie sich sicher, dass sie einen Haupttreffer gelandet hatten. »An wen erinnert der dich?«, hatte ihn Peg an dem Tag gefragt und Rick den Ausdruck gegeben. »Teufel auch«, sagte Rick, ohne überhaupt den kurzen, vage gehaltenen Text gelesen zu haben, den Davis zu dem Bild gestellt hatte. »Das ist Jimmy.« »Genau das denke ich auch.« 147
»Darauf kannst du einen lassen.« Jimmy Spears war in Ricks Klasse gewesen, zwei Jahre über Peg. Rick hatte sich in anderen Kreisen bewegt als Jimmy – Werken, Wrestling, Kaugummi kauen statt Englischunterricht, Football und Rauchen – dennoch hatte Rick Jimmy immer für einen guten Typen gehalten. Als er Jimmys Gesicht jetzt aber ausgedruckt auf dem Stück Papier vor sich sah, beschwor er eine neue Fantasie, eine, die ihm und Peg fünfundzwanzig Riesen bringen würde. Nachdem er mit
[email protected] ein paar E-Mails ausgetauscht hatte und die Fahrt nach Brixton arrangiert war, sah er auf jeder Geldautomatenquittung eine fünfstellige Summe. »Ich habe diesem verfluchten Richter Jimmy Spears geliefert. Was immer Jimmy ihm getan haben mag, ich habe diesem Arsch meinen Freund auf dem Silbertablett präsentiert, und jetzt will er mich bescheißen. Pass auf. Nächste Woche wird Jimmy verhaftet, oder er wird irgendwo tot aufgefunden. Ich wette auf tot.« Er hob den Finger gegen Peg. »Ja. Deswegen ist Forak so verschwiegen. Er wird den Hurensohn umbringen.« »Oh, verdammt«, sagte Peg. »Glaubst du ehrlich?« Rick nickte. »Denk an meine Worte: Jimmy Spears wird noch toter als tot sein, und die Zeitungen werden dicke Schlagzeilen bringen.« Seine Stimme war leiser geworden. Verschwörerisch. »Heilige Scheiße«, sagte Peg. »Und dann liefern wir Forak ans Messer, ja?« »Ja, das werden wir«, nickte Rick. »Nein, noch besser. Wir gehen an die Presse.« Schwindel und Liebe ließen ein kurzes Lächeln über Pegs Gesicht ziehen. »Ja.« »Sports Illustrated«, sagte Rick. »Die zahlen uns fünfundzwanzig Riesen. Wir kommen in die Nachrichten. Vielleicht zu Oprah. Jenny. Ricki. Die ganze Scheiße.« 148
»Be-he-rü-hümt«, gackerte Peg und wand sich auf ihrem Stuhl. »Berühmt und reich, Schätzchen. Berühmt und reich.«
31 Jackie Moore war eine High-School-Schönheit gewesen, College-Cheerleader, leitende Angestellte einer PublicRelations-Firma, Hausfrau und Mutter, ehrenamtliche Helferin, einsame grüne Witwe, missachtete und gleichgültige Ehefrau, psychiatrisch behandelte Patientin und unbehandelte Alkoholikerin. Als sie auf die fünfzig zuging, waren die einzigen Rollen, die ihr noch etwas bedeuteten, die erste, die letzte und ihre Mutterschaft. Tatsächlich konnte sie von den dreien aber nur noch eine für sich in Anspruch nehmen. Manchmal schlief sie tagsüber, mehr um vor dem Licht zu fliehen als so etwas wie Ruhe zu finden. Die Jalousien des Hauses blieben heruntergelassen. Entweder mochte es Davis auch lieber so, oder es fiel ihm nicht auf. Jackie benutzte den Computer ihres Mannes nur selten, aber an diesem Morgen setzte sie sich mit einem Tanqueray & Tonic an seinen Schreibtisch im blauen Zimmer und starrte auf den Bildschirm. Bald schon liefen ihre Finger ziellos über die Tasten. Sie wusste nicht, wonach sie suchte – vielleicht Nacktfotos von Joan Burton. Sie schnaufte bei dem Gedanken. So plump würde Davis nicht sein. So billig. Sie sah etwa durch ein Jahr E-Mails. Nichts. Es gab nur ein paar Mitteilungen zwischen den beiden. Alle hatten mit der Arbeit zu tun. Als sie in den verschachtelten Ordnern und Verzeichnissen herumsuchte, fand sie jedoch etwas, das sie sich nicht erklären konnte. Dutzende und noch mal Dutzende von Dateien – Himmel, es waren Hunderte! –, die alle ein Männergesicht zeigten. Die Bilder waren fast fotorealistisch, aber mit jedem 149
einzelnen von ihnen stimmte irgendetwas nicht ganz. Sie sahen aus wie verfeinerte Phantombilder, insofern glich der Dargestellte einem Menschen, würde aber nie für das wirkliche Bild von jemandem gehalten werden. Die Dateinamen waren datiert (sie reichten etwa fünf Jahre zurück) und mit Buchstaben für Versionen versehen. Die neueren sahen besser aus als die älteren. Und die neueren glichen sich auch mehr, die Unterschiede lagen vorwiegend in der Frisur und im Alter. Auf manchen Bildern schien der Mann um die zwanzig zu sein, auf anderen zehn, fünfzehn Jahre älter. Ganz eindeutig handelte es sich immer um dieselbe Person. Variationen der gleichen Züge, Haare und Augen. Die Kopfform blieb mehr oder minder immer gleich, was nicht zuletzt mit der Software zu tun zu haben schien. Die Augen hatten den immer gleichen müden, unbeteiligten, abwesenden Ausdruck. Wenn man über eine von einer Maschine generierte Person sagte, sie sähe kühl, »emotionslos« aus, dann traf das auf diesen Mann zu. Sie fand auch etliche Fotos eines Jungen. Als sie sich durch die ersten davon klickte, zog sich ihr Magen zusammen. Ihr Verdacht einer Affäre mit Joan war vergessen, plötzlich hatte sie Angst, dass ihr Mann in etwas völlig Undenkbares verwickelt war. Jackie nahm an, dass man alle möglichen Arten von Fotos im Computer eines Mannes mittleren Alters finden konnte: in unmöglichen Stellungen posierende Pornostars, in verschiedensten Aufmachungen und Milieus, die sich ihr Geschlecht streichelten. Sie verstand nicht, wie die statischen visuellen Mechanismen funktionierten, die Männer erregten, und war amüsiert, wenn sie Davis dabei erwischte, wie er mit den Augen eine offenherzige Anzeige verschlang oder auch unverblümt die aufreizenden Fotos von Models in Badeanzügen und Bikinis anstarrte, die immer wieder in Sportzeitschriften und Katalogen auftauchten. Aber diese unschuldigen und reizenden Fotos eines kleinen Jungen, den sie nicht kannte, eines 150
Jungen, der genau wie seine Eltern sicher nichts davon wusste, dass er in Pixeln und Bytes auf dem Bildschirm eines Arztes in dessen Haus irgendwo in einem Vorort posierte, machten sie frösteln. Je mehr Dateien sie jedoch öffnete, desto mehr wurde aus ihrer Furcht Verwirrung. Auf jedem Bild war derselbe blonde Junge zu sehen. Wie bei der älteren Person waren auch diese (typisch für Davis) mit einem Namen versehen, Justin, einer Ziffer von drei bis acht (wahrscheinlich das grobe Alter des Jungen) und einem Buchstaben. Die Bilder waren nicht nur nicht aufreizend, die meisten waren einfach bezaubernd. Justin trug ganz offenbar immer seine besten Sachen und posierte in jahreszeitlich bedingter Umgebung mit dicken Kürbissen und Fußbällen im Herbst und mit Strohhüten und Schubkarren im Frühling. Es gab weihnachtliche Bilder und rot weiß blau gestaltete zum Unabhängigkeitstag. Hätte sie den anderen Dateien mehr Beachtung geschenkt, den Bildern dieses merkwürdigen Mannes, und die Ähnlichkeit der Dateibezeichnungen zur Kenntnis genommen, dann wäre sie womöglich zu einem anderen Schluss gekommen. So gut sie konnte setzte sie die Puzzlestücke dort am Schreibtisch ihres Mannes zusammen und fing an zu weinen. Als eine Stunde später Phil Canellas Handynummer auf ihrem Display erschien, spürte Jackie die gleiche betäubende Hitze ihren Nacken und Kopf hinaufsteigen, die sie überfiel, wenn ein Arzt ihr wichtige Untersuchungsergebnisse mitteilte. Die Welt des Austauschs von Geld gegen Information war ihr fremd, aber sie musste zugeben, dass es sich gut anfühlte, Geheimnisse zu haben, und wenn ihr gegenwärtiger Zustand unablässiger Angst auch unangenehm war, so bot er doch zumindest eine Unterbrechung ihrer alltäglichen Depressionen.
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Sie ließ das Klingeln des Telefons mit einem leichten Druck ihres glänzenden Daumennagels ersterben. »Hallo?« »Mrs Moore«, sagte Canella. Jackie konnte im Hintergrund Geräusche hören. Musik, Stimmen, Gläser, Türen, die sich öffneten und schlossen. Eine Bar. Canella, der über ein ebenso gesundes Selbstvertrauen verfügte wie alle Männer, die Jackie je kennen gelernt hatte, schien es nichts auszumachen, dass sich andere fragen mochten, was er da tat. Ihn belauschten. Beobachteten. Das kam ihr bei einem Mann, dessen Job darin bestand, sich um anderer Leute Dinge zu kümmern, seltsam vor. Sie an seiner Stelle würde sicher weit misstrauischer sein. »Nun?«, sagte Jackie und setzte sich ganz vorn auf das Sofa. »Ihr Mann und Dr. Burton sind nach Lincoln geflogen und dann in eine winzige Stadt weitergefahren, die man eigentlich nicht Stadt nennen kann. Sie heißt Brixton. Dort haben sie sich die Grundschule angesehen.« »Die Grundschule?« Der Gedanke störte Jackie, obwohl sie nicht wusste, warum. Sie hörte, wie Canella eine Seite in seinem Notizbuch umblätterte. »Anschließend bin ich ihnen zu einem Diner gefolgt, wo sie einen Mann aus dem Ort trafen. Der Kerl hieß Richard Weiss.« Er sah noch einmal nach. »Ja, Ricky. Klingelt es da bei Ihnen?« »Nein«, sagte Jackie zu Canella und hörte, wie sich ihm ein Barmann näherte. Canellas Stimme war nur noch gedämpft zu hören, aber durch die Hand, die er auf das Telefon legte, verstand sie, dass er ein Bier bestellte. »Hatte ich auch nicht angenommen. Offenbar kümmert er sich um die Greens auf einem Golfplatz. Egal, die drei unterhielten sich lange genug, um vielleicht einen Kaffee zu bestellen, aber nicht, um ihn zu trinken. Dann rannte Weiss davon. Anschließend ging es zurück ins Marriott in Lincoln.
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Erst Abendessen. Später Drinks an der Bar.« Er machte eine Effekt heischende Pause. »Und dann ins Bett.« Jackie holte tief Luft, die sie mit einem Keuchen wieder ausstieß. »Reden Sie nicht um den heißen Brei herum, Mr Canella.« »Nun, Mrs Moore, ich kann Ihnen nur die Fakten nennen, die ich kenne. Die beiden hatten getrennte Zimmer, die allerdings nebeneinander lagen. Das Zimmermädchen sagt, beide Betten seien benutzt worden und dass es keinen, nun, keinen sichtbaren körperlichen – körperlichen – Beweis für einen sexuellen Kontakt gegeben habe.« »Er kann ein Kondom benutzt haben«, sagte sie, und die Worte kamen scharf aus ihrem Mund. »Ja, könnte er. Ein Kondom war jedoch weder in dem einen noch in dem anderen Zimmer im Abfall zu finden.« »Vielleicht hat er es mitgenommen und anderswo weggeworfen.« »Ja«, gab Canella zu und machte eine Pause, in der Jackie hörte, wie offenbar ein volles Glas vor ihn hingestellt wurde. »Das wäre allerdings ungewöhnlich vorsichtig.« »Aber doch wohl nicht unmöglich?« »Was meine Erfahrung angeht, Ma’am, gab es alles schon mal.« Jackie sagte: »Sie sind sich also nicht sicher, ob die beiden miteinander schlafen?« »Ich will Ihnen keine Hoffnung machen, Mrs Moore, wenn es das ist, wonach Sie suchen. Auf mich wirkt die Sache wie ein ziemlich klassischer Fall, wenn Sie wissen, was ich meine. Ich weiß zufällig, dass Joan Burton die Reise vor ihren Mitarbeitern, ihren Freunden und ihrer Familie verheimlicht hat. Und die Liste mit den Dingen, die Menschen vor ihren Freunden und
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ihrer Familie verheimlichen – und vor allem vor ihren Ehefrauen –, ist kurz und beständig.« »Sie hat es niemandem erzählt? Und woher wissen Sie das?« »Die Tickets nach Lincoln sind bar bezahlt worden. Wie Sie wissen, hat Dr. Moore ein zusätzliches Ticket mit seiner Kreditkarte bezahlt, ein Ticket, das nicht benutzt wurde. Dieses Ticket galt für einen Flug nach Boston, wo in dieser Woche eine Konferenz von Kinderärzten stattfindet. Da bemüht sich jemand, Spuren zu verwischen, würde ich sagen. Da wird etwas vorgetäuscht.« Er nahm einen großen, laut vernehmlichen Schluck von seinem Getränk. »Ihr Mann und Dr. Burton hatten etwas vor, Mrs Moore. In neunundneunzig Prozent der Fälle ist dieses Etwas Sex. Ich weiß nichts weiter über Ihre Situation, aber normalerweise engagieren mich Leute, die bereits wissen, dass ihr Partner sie betrügt. Sie wollen, dass ich ihnen Beweise für die bevorstehende Scheidung verschaffe. Sie wollen Unterstützung im Kampf um das Sorgerecht. Sie wollen Rache. Wenn das auch das ist, was Sie wollen, dann fürchte ich, dass ich nichts gefunden habe, das sich nicht auch auf andere Weise erklären ließe oder nicht von einem mittelmäßigen Anwalt zurückgewiesen werden könnte. Wenn Sie nach Ermutigung suchen, würde ich sagen, Himmel, Nebraska, das ist nicht gerade ein Ziel für romantische Ausflüge. Aber ob Dr. Moore nun mit Joan Burton schläft oder nicht, irgendetwas geht da vor. Ich bin mir sicher, das war nicht das übliche altmodische Verwirrspiel, das die beiden nach Brixton gebracht hat. Was es jedoch war, das kann ich Ihnen im Moment nicht sagen.« Jackie stand auf und begann, auf dem Perserteppich auf und ab zu gehen. »Vielleicht hat er vor, mich zu verlassen. Vielleicht planen er und Joan tatsächlich nach – nach Nebraska zu ziehen, weil es ihnen zu peinlich ist, hier zu bleiben, wenn erst alle Bescheid wissen, was sie mir angetan haben.« 154
»Das kann ich nicht sagen, Mrs Moore.« »Es gibt noch etwas anderes«, sagte Jackie. »Etwas Neues. Ich weiß allerdings nicht, ob es damit zu tun hat.« Sie erzählte Canella von den seltsamen Bildern des Mannes, die sie in Davis’ Computer gefunden hatte, und auch von den Fotos des Jungen. Was konnten die bedeuten? Bestand die Möglichkeit, dass Davis noch ein anderes Kind hatte, einen Jungen von einer anderen Frau? Hatte Davis nach dem Tod ihrer Tochter womöglich noch einmal eine ganz neue Familie gegründet? Ohne sie? In Nebraska? »Wenn Sie wollen, dass ich das weiter untersuche, Mrs Moore, können Sie mir das Material per E-Mail hierher ins Hotel schicken. Ich versuche, dem dann nachzugehen.« »Und wenn ich das möchte? Was wird es kosten, herauszufinden, was Davis in Brixton gemacht hat?« »Ich bin jetzt in Lincoln. Das würde bedeuten, dass ich zurück nach Brixton fahre. Sie kennen meine Sätze. Die Auslagen würden etwa die gleichen sein. Gehen Sie davon aus, dass es noch einmal das Gleiche wird.« Jackie fühlte, dass sie gewillt war, ihm den Auftrag per Telefon zu erteilen. »Vielleicht ein bisschen mehr. Es hängt davon ab, wie einfach die Informationen zu bekommen sind.« Zum ersten Mal war Jackie dankbar dafür, dass Davis ihr den gesamten Haushalt und auch die Führung des gemeinsamen Kontos überlassen hatte. Sie konnte problemlos einen Scheck über fünf-, zehn- oder auch fünfzehntausend Dollar ausschreiben, ohne dass er etwas davon erfuhr. »Finden Sie’s heraus«, sagte sie. »Gehen Sie und finden Sie’s heraus.« Als Davis nach seiner Rückkehr an diesem Abend ein paar Einzelheiten von der Konferenz in Boston erzählte, tat Jackie ihr Bestes, um ihre Verachtung für sich zu behalten. Seit Monaten – seit Jahren, um ehrlich zu sein – hatte Davis sie nicht mehr 155
ernsthaft berührt. Sie schliefen von Zeit zu Zeit miteinander, aber nur aus Eigennutz, wenn sie die Berührung eines anderen wieder einmal so sehr brauchten, dass sich ihr Sex wie eine spontane chemische Reaktion vollzog, oberflächlich, natürlich, nicht immer unangenehm, aber auch nicht als Ausdruck von Liebe. In den Jahren nach ihrer Heirat hatte Jackie Sex nie als ein körperliches Bedürfnis empfunden, aber seit AK nicht mehr da war, hatte sie angefangen, es anders zu sehen, und ihr unregelmäßiges Kopulieren hatte es ihrer Ehe ermöglicht zu überleben. Wenn Davis mit Joan schlief, würde ihre fragile Abmachung ein Ende finden. Und Jackie hatte sich bereits entschieden, dass sie es niemals zu einer Scheidung kommen lassen würde.
32 Phil Canella wusste, dass die meisten Menschen nicht richtig zuhörten oder hinsahen, und wenn sie es doch einmal taten, schenkten sie dem Gehörten oder Gesehenen nicht wirklich Beachtung. Selbst wenn sie einmal etwas sahen oder hörten, das sie nicht hören oder sehen sollten, dachten sie nicht weiter darüber nach. Niemals maßen sie dem Mann in der Gasse Bedeutung zu, der Frau an der Theke oder dem Knall auf dem Speicher, dem Klicken im Telefon, dem Raunen des Motors oder dem Klacken am Fenster, dem Auto auf der Straße oder der Säure im Scotch. Solange die Leute nicht unter Verfolgungswahn litten, war Canellas Job einfach. Er konnte sie verfolgen, ohne Teleobjektiv fotografieren, Gespräche mit verdächtigen Mikrofonen aufnehmen und spontane Antworten auf gezielte Fragen herauskitzeln. Phils Kellnerin im Brixton Diner bewahrte sich immer noch die Erinnerung eines hübschen Lächelns, aber Haare, Hüften 156
und Jahre hatten das gut aussehende Luder, das sie einmal gewesen war, verschwinden lassen. »Ricky Weiss?«, spottete sie. »Was wollen Sie denn von dem?« »Wissen Sie, wo er wohnt?« »In einem Wohnwagen«, sagte sie. »Warum wollen Sie das wissen?« »Vielleicht hat er ja einen Preis gewonnen.« »Was Bares?« Die Augen der Kellnerin weiteten sich so sehr, dass sie sich Mascara ans Brillenglas schmierte. »Vielleicht.« »Wie viel?« Philly warf die Arme in die Luft. Sie erklärte ihm den Weg. Als sie ein paar Minuten später mit dem Essen kam, fragte er sie wieder: »Gestern hat sich Ricky hier mit ein paar Leuten von auswärts getroffen, oder?« »Ja, das stimmt.« Die Kellnerin schien sich nicht dafür zu interessieren, was das mit Rickys Preis zu tun haben könnte. »Mit einem Mann und einer Frau. Der Mann war Richter.« »Richter?« »Jawohl. Ricky nannte ihn immer wieder ›Richter Soundso‹.« »Haben Sie eine Ahnung, wovon sie gesprochen haben?« »Nein, aber was es auch war, Ricky wurde stinksauer. Er schrie die beiden an, dass sie irgendwelches Geld nicht dabeihätten, das sie dabeihaben sollten. Und dass sie ihn …, nun ja, dass sie ihn bescheißen würden.« Die Kellnerin sah auf Canella hinunter, als hätte sie plötzlich etwas kapiert. »Ohhh, okay«, sagte sie und grinste. Philly lächelte, nickte und fragte sich, was sich die Kellnerin wohl in ihrem Kopf zusammenreimte. Dann fragte er sie im Flüsterton: »Ist das bei euch hier der beste Kaffee in der Stadt?« 157
Die Kellnerin schüttelte den Kopf. »Nein. Den gibt’s bei Mess-o Espresso«, sagte sie mit lauter Stimme. Eine Stunde später saß Canella auf der Schiefermauer vor der Grundschule. Links von ihm saß Alice Pantini, die Empfangsdame der Schule, und hielt ihren roten Rock über die Knie gezogen. Zwischen ihnen standen zwei Becher von Mess-o Espresso. »Ja, Seavers oder Deavers oder so. Sie waren beide Ärzte. Sie sagten, sie wollten vielleicht herziehen.« Alice nahm einen kleinen Schluck von ihrem Kaffee, befand ihn aber für zu heiß und stellte ihn wieder ab. »Ich weiß auch nicht, woraus sie diese Becher machen, aber der Kaffee bleibt da drin den ganzen Tag heiß.« »Die beiden sagten selbst, dass sie Ärzte seien, richtig?« »Ja. Aber das sind sie nicht, oder? Sie machten einen ganz netten Eindruck, aber ich wusste gleich, dass da was nicht stimmte.« »Wirklich? Warum?« »Die einzigen Ärzte, die sich hier jemals niederlassen, sind welche, die hier auch aufgewachsen sind. Die meisten Leute versuchen, aus Brixton wegzukommen, nicht, herzuziehen.« »Hmm.« »Wenn sie also keine Ärzte waren, was waren sie dann?« »Ehrlich gesagt sind die beiden tatsächlich Ärzte.« »Oh.« Alice wirkte enttäuscht. »Haben Sie irgendeine Idee, was die beiden von einem Kerl namens Rick Weiss gewollt haben können?« »Ricky Weiss?« Alice ließ ihre Unterlippe unter der Oberlippe verschwinden und lehnte sich ein Stück weg. »Mit dem könnte es um alles Mögliche gehen. Der hat immer irgendwas am Kochen.« »Haben Sie eine Ahnung, was das in letzter Zeit so war?« 158
Endlich war die Temperatur ihres Kaffees richtig. »Ich glaube, ich habe gehört, was mit Mulch. Er kennt einen Mann vom Holzplatz. Und dann noch einen mit ’ner Häckselmaschine. Ricky selbst hat einen alten Laster. Ich nehme an, so wird er es zum Mulch-Magnaten von Brixton bringen.« Sie lachte. »Er arbeitet aber noch auf dem Golfplatz?« »Oh, ja. Das mit dem Mulch macht er am Wochenende. Hat Ihnen das jetzt irgendwie geholfen?« »Vielleicht«, sagte Philly. »Sie sind sehr nett. Danke, dass Sie einen Kaffee mit mir getrunken haben.« »Oh, gerne«, sagte Alice. Sie hob ihren Becher und leckte sich die Lippen. »Mess-o Espresso.« Canella sah auf die Uhr. Den letzten Flug nach Chicago würde er nicht mehr erwischen. »Gibt es hier in der Gegend irgendwas Besonderes?« »Wir haben hier nicht viel«, sagte Alice. »Nur dass Jimmy Spears hier geboren wurde.« »Wer ist das?« »Jimmy Spears? Der Footballspieler? Ist Ihnen das große Schild nicht aufgefallen, als Sie in die Stadt gekommen sind?« »Nein, das habe ich nicht gesehen. Aber jetzt weiß ich wieder. Spielte für Northwestern.« Canella erinnerte sich an ein Spiel, in dem Spears ein paar unglaubliche Würfe gemacht und ihn eine Fünfdollarwette mit ein paar Freunden gekostet hatte. »Spielt er noch in der NFL?« Alice nickte. »Für Miami. Wir alle wünschten, dass er mehr spielen würde. Dann sind die Spiele im Fernsehen gleich viel interessanter. Ein paar Leute haben sich extra Satellitenschüsseln gekauft, nur damit sie ihn jede Woche an der Seitenlinie stehen sehen können.« »Haben Sie schon am Empfang gearbeitet, als er hier zur Schule ging?« 159
»Ja, das habe ich.« Alice beugte sich vor. Ihr Lächeln war tabakgelb und die Zähne da, wo sie aneinander stießen, dunkelbraun. »Netter Junge?« »Sehr nett«, sagte Alice. »Die Lehrer mochten ihn alle. Die Mädchen mochten ihn. Und auch die Jungen. Als er seinen Abschluss machte, war er Schulsprecher, Kapitän der siegreichen ersten Footballauswahl und hatte ein paar Preise auf Rinderzuchtschauen gewonnen. Alle sind noch stolz auf ihn. Aber natürlich nehmen die Guten irgendwann ihren Koffer und gehen – nach Omaha oder Lincoln oder sonst wohin. Die anderen, die Verlierer wie Ricky Weiss, die bleiben, weshalb dieses kleine Kaff auch nie mehr sein wird, als es heute ist. Jimmy und Ricky waren, glaube ich, in derselben Klasse.« Canella fuhr in rechten Winkeln um kleine Farmen, die sich um die Stadt gruppierten wie Bonusfelder auf einem ScrabbleBrett. Als er müde wurde, rief er Big Rob an. »Was machst du denn immer noch da draußen?«, fragte Big Rob, nachdem ihm sein Freund erklärt hatte, wie weit weg von allem er war. »Das Normale. Der Ehemann geht fremd«, sagte er, »und seine Frau will mehr Einzelheiten, aber ich weiß nicht, ob die hier zu finden sind. Um die Wahrheit zu sagen, ich hasse diesen Scheiß.« »Ehebrecher?«, sagte Big Rob. »Die zahlen uns unser täglich Brot, Philly.« Gegen sechs rollte Philly an Ricky Weiss’ Wohnwagen vorbei, vor dem jetzt ein roter Pick-up stand, der vor zwei Stunden noch nicht da gewesen war. Er parkte seinen gemieteten Focus auf der Straße und ging zur Tür des Trailers, ohne die geringste Ahnung zu haben, was ihn dahinter erwartete. Er wollte das Gesicht des Kerls sehen, seine Stimme hören und einen Blick in seinen Trailer werfen, damit er Jackie Moore sagen konnte, dass er ihn unter die Lupe genommen hatte. Was herausfinden, das ihn in 160
Verbindung mit Davis Moore brachte. Philly klopfte, und ein Mann erschien auf der anderen Seite der Fliegentür. Er war klein und dünn, und sein Rücken und seine Beine waren wie Pfeifenreiniger an komischen Stellen krumm gebogen. Auf dem Kopf hatte er eine Baseballkappe, auf der ein Firmenname stand, den Canella nicht kannte. Ricky trug ein weißes Unterhemd mit V-Ausschnitt und so vielen Flecken und Wischspuren darauf, dass Phil annahm, Weiss trage selten etwas darüber. Durch das billige Synthetikgewebe konnte er eine dichte braune Behaarung erkennen, die wie Kudzu bis hinauf zur Rasiergrenze über dem Schlüsselbein wucherte. Die grasfleckige Jeans wurde oben von einem halb zerfetzten Ledergürtel zusammengehalten. Auf der großen Schnalle vorn war ein Pferd zu sehen, was Philly darüber nachdenken ließ, wann er zum letzten Mal eine ganz normale Gürtelschnalle gesehen hatte. Der Mann öffnete die Tür nicht. »Ja.« »Hi. Sind Sie Ricky?« »Rick«, sagte er. »Rick. Okay. ’tschuldigung. Ich heiße Phil Canella und bin Reporter beim Miami Herald. Ich schreibe eine Geschichte über Jimmy Spears und habe gehört, dass Sie mit ihm aufgewachsen sind.« »Jawohl.« Weiss legte seine Nase an das Fliegengitter und musterte ihn. »Ich kenne Jimmy. Was wollen Sie wissen?« Philly dachte, das er angemessen argwöhnisch aussah. »Kann ich reinkommen?« Ricky drückte die Tür auf, und Canella schob sich an ihm vorbei hinein. Als Stadtjunge war er noch nie in so einem Trailer gewesen, und das Innere war schöner als erwartet, und größer.
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»Also, was wollen Sie wissen?«, fragte Weiss und musterte ihn langsam von oben bis unten. »Nur ein paar schnelle Fragen«, sagte Philly und bekam von Weiss die Erlaubnis, sich an den Tisch vor der Küchenzeile zu setzen. »Ja.« »Wie war er in der High School?« »Wie er war?« Philly nickte und begann, sich Notizen in sein kleines schwarzes Plastiknotizbuch zu machen, das er aus seiner ledernen Aktenmappe geholt hatte. Er notierte sich die Biermarke, die Weiss trank, wie groß der Fernseher war, und er machte eine Skizze der Narbe, die schräg über seine rechte Braue lief. »Für einen Sportler war er in Ordnung«, sagte Weiss. Er holte sich ein Bier und setzte sich auf die andere Seite des Tisches. »Er war nicht so ein Angeber wie die meisten von ihnen.« »Wie gut kannten Sie ihn?« »Worauf wollen Sie raus?« »Wie ich gesagt habe, ich schreibe eine Geschichte über Jimmy Spears.« »Es gibt Hunderte von Leuten in dieser Stadt, die Jimmy besser kannten als ich. Warum sprechen Sie nicht mit denen?« »Vielleicht habe ich das schon?« Wieder keine gute Antwort. »Wenn Sie’s wirklich getan hätten, dann würden Sie mich nicht mehr brauchen, oder?« Canella schloss sein Notizbuch. »Es tut mir Leid. Jemand hat mir erzählt, Sie hätten ihn gekannt. Es ist mein Fehler.« Er versuchte, lässig zu wirken, und ließ sein Notizbuch für einen Moment auf dem Tisch liegen. Kaum, dass Philly das Wort »Fehler« ausgesprochen hatte, begriff er, dass er wirklich einen gemacht hatte. 162
Weiss langte herüber, schnappte sich das kleine Buch und drehte sich auf seinem Stuhl, um es von ihm fern zu halten. »He!« Philly stand auf und streckte den Arm aus, um über Rickys Schulter zu greifen, aber der Kerl entwand sich ihm. Er blätterte schnell durch die Seiten, und Canella versuchte, sich vorzustellen, was er aus den Notizen herauslesen würde. Sie sahen einander an, Philly in der Küche und Ricky im Wohnbereich, aber dennoch kaum eine Körperlänge voneinander entfernt. Canella sah hilflos zu, wie Ricky die Gesprächsaufzeichnungen vom Diner und der Schule und Notizen zu anderen Fällen studierte, die keinen Sinn für ihn ergeben konnten. Das, was er nicht finden würde, war ein einziges Wort zu Jimmy Spears, der NFL oder den Miami Dolphins. An einer Stelle hielt er inne und legte den Finger auf die Seite, entweder, um sich die Stelle zu merken, oder weil er etwas hervorheben wollte. »Sie arbeiten für den Richter, oder?« Richter?, dachte Philly. Vielleicht war das Ganze hier doch keine Zeitverschwendung. »Wer soll das sein?« »Versuch nicht, mich zu verarschen«, knurrte Ricky. »Ich verarsche Sie nicht«, sagte Canella. »Geben Sie mir mein Notizbuch.« Ricky hielt es sich hinter den Rücken. »Ich weiß, was der Richter vorhat.« »Und was sollte das sein?«, sagte Canella. »Jetzt verarschst du mich.« Ricky Weiss sah den Detektiv an und wandte sich wieder dem Notizbuch zu, das er sich dicht vors Gesicht hielt. »Du und Forak, ihr steckt unter einer Decke. Was sollst du tun? Dich um mich kümmern? Mich bedrohen? Zum Schweigen bringen?«
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»Ich kenne niemanden, der Forak heißt«, sagte Philly wahrheitsgemäß. »Ich kenne auch keinen Richter. Aber vielleicht können wir uns gegenseitig weiterhelfen.« »Bullshit.« Die Sache war frustrierend und peinlich genug, dass Canella daran dachte zu gehen. Er stand zwischen Weiss und der Trailertür. Selbst in seinem Alter würde es ziemlich leicht sein, da hinauszukommen. Er wollte aber sein Notizbuch nicht verlieren. »Gestern war ein Mann bei Ihnen«, sagte er schnell. »Ein Mann mit einer Frau. Sie haben ihn im Diner getroffen.« Ricky lächelte mit einer Hälfte seines Gesichts. »Ich dachte, Sie kennen den Richter nicht?« »Der Mann war kein Richter«, sagte Philly. »Er ist Arzt.« »Was soll das alles?« Canella, der ein professioneller Lügner war, zögerte, bis er die Wahrheit sagte: »Um das herauszufinden, bin ich hier.« Weiss machte zwei aggressive Schritte vorwärts, und sein rechter Arm schlug wie eine Peitsche über den Tisch, packte Canellas Tasche und zog daran. Philly, der dem wütenden Golfplatzangestellten keine weiteren Märchen mehr auftischen wollte, setzte ihm keinen Widerstand entgegen, was, wie er hoffte, helfen würde, das Vertrauen des Mannes zu erlangen. Aber er hatte, irgendwie, nicht an seine Waffe gedacht. »Was zum Teufel …?« Ricky holte die .38er heraus und richtete sie auf ihn, den Lauf gegen die Decke gerichtet. Philly sah, dass Weiss nicht zum ersten Mal eine Waffe in der Hand hatte. »Was zum Teufel macht ein Reporter mit so einem Ding?« Philly fluchte laut. Er war so dämlich. Als Polizist hätte er niemals so einen Fehler gemacht. Die Tür hinter ihm öffnete sich. »Ricky!«, krähte eine Frau. »Mach die Tür zu, Peg!«, bellte Weiss. 164
Die Frau gehorchte und schloss sowohl die Fliegentür als auch die hölzerne Tür hinter sich. Eine Plastiktüte vom Drugstore hing an ihrem Handgelenk, und die Dose Rasiercreme darin knallte gegen den Türrahmen. »Ricky, was ist hier los?« »Schnauze, Peggy! Ich denke!« Er hielt die Pistole weiter nach oben gerichtet, als er seine Hände an die Schläfen legte. »Wer ist das?«, fragte Peg. Sie presste sich ein paar hysterische Tränen aus den Augen. »Und wo kommt die Pistole her?« Ricky zog Canellas Brieftasche hervor und öffnete sie mit dem Lauf der .38er. »Ich heiße Phil Canella«, erklärte Philly. »Ich bin ein Privatdetektiv aus Chicago.« Weiss nickte und zeigte Peg, die jetzt neben ihm stand, den Führerschein. »Okay. Und wozu hat der Richter – oder Arzt oder was immer –, wozu hat Forak Sie engagiert?« »Er heißt nicht Forak. Er heißt Dr. Davis Moore. Und er hat mich nicht beauftragt, sondern seine Frau.« »Um was zu tun?« »Um herauszufinden, ob er eine Affäre hat.« Jetzt, wo Mrs Weiss da war, hoffte Philly, dass sie zu einer Lösung kämen. Er fragte sich, ob er um ein Glas Wasser bitten könnte. Ihm brannte die Kehle. »Eine Affäre?«, murmelte Peg. »Ricky! Leg die Pistole weg!« Er beachtete sie nicht. »Diese Lady. Das war nicht seine Frau?« »Nein.« »Leg die Pistole weg, Ricky!« »Wer war sie?« »Eine Kollegin. Womöglich seine Geliebte. Ich weiß es nicht. Deshalb bin ich hier. Ich versuche, es herauszufinden.« 165
»Denken Sie, die steckt mit drin?«, fragte Ricky. »Die Geliebte?« »Leg die Pistole weg, Baby!« »In was?« Ob die Waffe nun auf sein Gesicht gerichtet war oder nicht, Philly sammelte Informationen für seinen Fall. »Der ist ’n Irrer«, sagte Ricky. »Aber ich wette, das wissen Sie längst.« »Wovon reden Sie eigentlich?« »Ricky! Gib mir die Kanone!« »Ich rede von Ihrem Kumpel. Forak. Der will Jimmy umnieten.« Fast hätte Canella gelacht. »Jimmy Spears umbringen? Das ist ja völlig verrückt.« »Er hat’s mir selbst gesagt.« Das war eine Lüge, aber eine Lüge, zu der er berechtigt war, dachte Ricky, schließlich hatte er die Pistole. »Hören Sie, ich habe Davis Moore nie getroffen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er nicht irgendeinen zweitklassigen Footballspieler umbringen will …« »Du lügst«, sagte Ricky. »Er hat dich zu mir geschickt, damit er in aller Ruhe Jimmy umlegen kann und es keinen mehr gibt, der damit an die Presse geht oder zur Polizei.« »Ich lüge Sie nicht an, Ricky.« »Ricky, leg das Ding weg«, sagte Peg. »Leg die Kanone weg und lass uns drüber reden.« »Ich will niemanden verletzen«, sagte Ricky. »Bestimmt nicht.« Aber er gab die Pistole, die jetzt unsicher auf Phillys Brust gerichtet war, nicht aus der Hand. Canella spürte Verzweiflung und Furcht in heißen Wellen von der zitternden Peg ausgehen. Die Situation war unvorhersehbar 166
geworden, und was immer Ricky Weiss über Davis Moore wissen mochte, erbitterte ihn. Canella war hier nicht länger sicher. Er traf eine Entscheidung. Nimm die Beine in die Hand. Als Ricky sah, wie sich Phil wegdrehte, schaltete sein Gehirn, in dem die Gedanken sowieso schon wie wahnsinnig herumwirbelten, noch eine Stufe höher. Wenn dieser Canella entkam und Moore erzählte, dass Ricky hinter seinen Plan gekommen war, Jimmy Spears umzulegen, würde der einfach einen anderen schicken, der sich um ihn kümmerte. Er musste Canella stoppen. Wenn der Kerl erst einmal aus dem Trailer war und zu seinem Auto sprintete, konnte Ricky nur noch hinter ihm herrennen und versuchen, ihn am Kragen zu kriegen, was nicht einfach sein würde. Canella durfte hier gar nicht erst rauskommen. Rickys Gehirn, das jetzt völlig überdrehte, heiß lief und ohne seine ausdrückliche Erlaubnis arbeitete, wusste nur einen Ausweg. Ricky drückte den Abzug der Pistole, ohne wirklich zu zielen. Peg schrie gleichzeitig mit dem Knall auf. Phil Canellas Kopf wurde nach hinten gerissen, und in fetten Flecken klatschte Blut auf die Tür und die Hand, die sich darauf zureckte, um sie zu öffnen. Sein Körper verdrehte sich in einem Krampf, die Schultern zuckten zurück Richtung Waffe, und dann brach er leblos in freiem Fall zusammen, auf die Knie und wie ein Baum nach vorn gegen die aufspringende Tür. »Nein, nein, nein, nein, nein, nein«, schluchzte Peg. Ricky ließ die .38er sinken und auf den Boden fallen, wo sie ein hohles, machtloses Geräusch verursachte wie ein Plastikkrug, der bei einem Picknick runterfiel. Ricky verarbeitete alles sehr schnell. Er hatte Canella nicht erschießen wollen, aber er fand sich sofort damit ab und überlegte bereits, was zu tun war. Er musste die Leiche loswerden. Der Trailer 167
musste gesäubert werden. Und er musste sich um Davis Moore kümmern, die einzige Person, soweit er wusste, die ihn mit dem Toten in Verbindung bringen konnte, wenn jemand den Mann vermisst melden würde. Zuerst musste er Peg beruhigen. Sie würde ihm helfen, das Blut zu beseitigen und den Körper in die billige Gästebettwäsche zu wickeln, die sie mit ihrem Wal-Mart-Rabatt gekauft hatte. Wegschaffen würde er ihn allein. Je weniger Peg von den Einzelheiten wusste, desto besser. Er würde niemanden um Hilfe bitten. So wurden die Leute im Fernsehen immer erwischt. Einer fragt einen anderen, ob er ihm helfen kann, und der wird dann von der Polizei erwischt und macht einen Deal. So blöde würde er nicht sein. Vielleicht brauchte er eine gute Säge.
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Justin mit acht
33 »Weil es lächerlich ist. Deswegen. Eigenartig.« Statt fernzusehen, beobachtete Martha ihren Sohn oft beim Lesen. Sie saß auf der Couch und Justin im großen roten Sessel gegenüber. Beide saßen eigentlich Richtung Fernseher, und sie trank Kaffee, heiße Schokolade oder, wie heute Abend, ein Glas Fumé Blanc. »Nichts ist eigenartig, Mom«, sagte Martha und flüsterte dabei unnötigerweise. Wenn Justin einmal in ein Buch versunken war, wirklich so darin versunken wie jetzt, die Worte in seinen Kopf diktiert zu werden schienen und er die Augen so eng zusammenkniff, dass Martha im letzten Jahr schon zweimal mit ihm beim Augenarzt gewesen war, um zu sehen, ob er eine Brille brauchte, dann hätte sie Terrys altes Gewehr abfeuern können, das er zurückgelassen hatte, als er mit seiner Geliebten nach New Mexico verschwunden war, und damit in die Decke schießen, ohne Justin auch nur zu einem Augenzucken zu bewegen. »Harry Potter sollte er lesen«, sagte Marthas Mutter. »Dieser Psychiater füllt seinen Kopf nur mit allen möglichen Ideen. Dafür ist er noch zu jung, und er hat selbst schon zu viele davon.« »Aber Mom …« »Ich glaube nicht, dass die Bücher helfen. Er sollte Sport treiben. Er hat Schwierigkeiten in der Gruppe, Kontakt zu anderen Kindern zu finden.« 169
»Andere Kinder fordern ihn nicht genug. Sie langweilen ihn. Deshalb stellt er alles Mögliche an.« »Unsinn, Martha. Weißt du, was dein Vater dazu sagen würde?« »Unsinn, Martha, würde er sagen.« »Richtig. Unsinn. Er muss von anderen Kindern nicht gefordert werden. Er braucht seinen Spaß. Sein kleines Gehirn ist noch nicht bereit für all dieses Erwachsenen-Denken. Das Teleskop und die Astronomiesachen, die sind gut. Aber diese Bücher.« Sie schüttelte den Kopf. »Du machst da was aus ihm. Einen anderen.« »Was für einen anderen, Ma?« »Ich sage es doch.« »Ja, sag es.« »Diese Kokeleien, das Stehlen. Wie er sich aufführt.« Jetzt flüsterte ihre Mutter. »Das sind erste Warnzeichen, weißt du? Was sagen sie immer über die, die von der Polizei geschnappt werden? Er war intelligent, sagen sie. Er blieb für sich.« »Du fällst aber auch wirklich auf jedes Klischee rein, oder? Genau das Gleiche sagen sie über die Chefs der großen Software-Firmen.« »Bundy, Gacy, Ng – alle waren sie intelligent. Und hatten zu viele Ideen in ihren Köpfen.« »Charles Ng? Igitt. Du hättest dir nie diese Satellitenschüssel kaufen sollen, Mom«, sagte Martha. »Justin ist kein Irrer. Er ist sehr intelligent. Und ich werde ihn unterstützen.« Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Dann kaufe ihm ein Mathematikbuch. Ich traue der Philosophie keinen Deut mehr als der Psychologie. Ideen verlangen nach Verantwortlichkeit, und er ist zu jung, um das zu verstehen. In welcher Ecke seines Gehirns soll der Junge denn bloß einen griechischen Philosophen unterbringen?« 170
»Weißt du überhaupt, worum es bei Platon geht?«, fragte Martha. »Nein. Du denn?« »Ein bisschen. Was ich noch aus dem Studium weiß. Und hinten von seinem Buch.« »Ein bisschen. Dann weiß er also mehr als du?« »Über Platon?« Sie sah in Justins konzentrierte Augen. Er war schon fast halb durch durch das Buch. »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich.« »Lass mich dir einen Rat geben«, sagte ihre Mom. »Lass sie nie mehr wissen, als du selbst weißt. Egal, worum es geht.«
34 Was die Atmosphäre anging, hätte Rita’s eins von zwei Dutzend italienischen Restaurants in Chicagos North Side sein können, dreizehn Tische, wild zusammengewürfelte Stühle, junge Bedienungen, eine kleine Karte, große Portionen und drei Gabeln der Sun-Times schwarz gerahmt an der Wand. Als Big Rob und Sally hereinkamen, waren bereits fast alle Tische mit Angestellten aus den Galerien und Design-Büros der Umgebung besetzt. »Du willst mich also wirklich zum Essen einladen«, sagte Sally und tat so, als glaubte sie ihm nicht, als er den Stuhl für sie zurechtschob. »Das gab’s ja noch nie.« Big Rob gab keine Erklärungen ab, aber als er sich ihr gegenübersetzte, kam ihr das Lächeln auf seinem Gesicht falsch vor. Er hatte einen gelben Schnellhefter dabei, den er neben seinen Teller legte. Big Rob wartete, bis der Kellner die Tagesgerichte aufgezählt hatte und noch einmal zurückgekommen war, um ihre Bestellung aufzunehmen. Er flüsterte nicht. Auch wenn der 171
Abstand zwischen den Tischen gerade mal zwanzig, dreißig Zentimeter betrug, hatte man das Gefühl, für sich zu sein wie im eigenen Büro. »Phil Canella ist tot«, sagte er. »Was?« Sie konnte es nicht glauben. »Es ist bei der Arbeit passiert. In Nebraska. Als er hinter einem fremdgehenden Ehemann her war.« Sally legte die Hand auf seinen Arm. »Oh, mein Gott, Biggie, das tut mir Leid. Ich weiß, dass ihr zwei gute Freunde wart. Ihr wart zusammen beim Chicagoer Police Department, stimmt’s?« Er nickte, und sie begriff, dass die Formalität der Situation Teil seiner Trauer war. Indem er ihr hier in diesem netten Restaurant und nicht in seinem überhitzten, voll gestopften Büro davon erzählte, zeigte er, wie sehr er seinen Freund geschätzt hatte. »Wann ist es passiert?« »Er ist seit ein paar Wochen nicht mehr aufgetaucht. Die Polizei hat ihn noch nicht gefunden, aber weißt du …«, sein Gesicht wurde starr, als er versuchte, eine unerwünschte Gefühlsaufwallung hinunterzuschlucken, »ich bin selbst ein paar Tage hingefahren, um zu helfen. In Brixton, wo Philly zuletzt gesehen wurde, hat die Polizei für solche Fälle nicht genug Leute.« »Hast du was tun können?« Biggie zuckte mit den Achseln. »Er hatte ein Zimmer in Lincoln, im Marriott. Ich hab seine Sachen durchgesehen und nach etwas gesucht, das uns weiterhelfen könnte.« Er hielt den gelben Schnellhefter hoch und gab ihn Sally. »Das hier habe ich in seinem Zimmer gefunden.« Barwick öffnete den Deckel und fuhr sich unwillkürlich mit der rechten Hand an den Mund. »Oh, Gott. Nein. Gott, nein.« In dem Schnellhefter befanden sich etliche der Fotos, die Sally über die Jahre von Justin Finn gemacht hatte. Die Fotos für 172
Martha Finn, die sie gleichzeitig auch an die Gold Badge Investigators verkauft hatte. »Wie? Wie ist er an die gekommen?« »Nach seiner E-Mail zu urteilen, hat er sie von seiner Auftraggeberin bekommen, einer Jacqueline Moore. Sie lebt in Northwood.« Sally blätterte durch die Fotos, deren Vertrautheit ein Schock für sie war. »Ich hatte keine Ahnung, wer die Fotos wollte. Scott Colleran hat mir nie etwas dazu gesagt.« »Diese Jackie Moore hat Philly erzählt, sie hätte sie im Computer ihres Mannes gefunden.« »Von dem, der sie betrügt?« Big Rob nickte. »Er heißt Davis Moore. Klingelt es da bei dir?« »Nein.« »Er ist der Arzt, der Justin Finn geklont hat.« Langsam lösten sich Sallys Hände von dem Schnellhefter, und sie rieb sich das Gesicht. »Davis Moore hat Gold Badge beauftragt, Fotos von seinem ehemaligen Patienten zu machen? Das ist doch Schwachsinn. Und Mrs Moore? Weiß sie, wer der Junge ist?« »Nein. Wenn ich es recht verstehe, hatte sie Angst, dass es das Kind ihres Mannes wäre, von einer anderen Frau.« »Das heißt also, dass Moore sie am Ende vielleicht gar nicht betrogen hat. Mein Gott, was für eine Geschichte. Und Phillys Tod? Ich meine, sein Verschwinden, hat es damit zu tun?« »Ich will noch mal nach Brixton, um es herauszufinden.« Sally sah, dass die Kellnerin mit zwei Tellern Pasta herankam, und sie schloss die Mappe. Sie konnte sich nicht vorstellen, in diesem Moment etwas zu essen. Phil Canella war tot. Der Gedanke, dass die Fotos, die ihr sowieso schon so ein schlechtes 173
Gewissen machten, etwas mit dem Mord an ihm zu tun haben könnten, entsetzte sie. »Wann fährst du?« »In ein paar Tagen. Philly und ich haben vor langer Zeit einen Handel geschlossen. Ich sehe seine Fälle durch und spreche mit seinen Klienten. Übernehme, was ich übernehmen kann. Gott, ich muss Jackie Moore anrufen und ihr erklären, dass Philly bei der Arbeit an ihrem Fall ermordet wurde.« »Was wirst du ihr über die Fotos sagen?« Big Rob hatte den Mund voller Linguine. »Ich weiß es nicht. Was denkst du?« »Natürlich die Wahrheit«, sagte Barwick. »Es gibt keinen anderen Weg zu erfahren, was wirklich passiert ist.« Big Rob legte seine Gabel ab, was für ihn eine Geste der Ernsthaftigkeit war. »Du solltest dich auf das eine oder andere gefasst machen, Sally. Die Polizei wird wissen wollen, wonach Philly da unten gesucht hat. Sie werden alles auf den Kopf stellen. Zeugen vernehmen. Diese Fotos …«, er nickte zu dem Schnellhefter hin, »die werden ans Licht kommen.« Sally brauchte ein paar Sekunden, bis sie schaltete. »Oh, mein Gott«, sagte sie. »Martha.« Big Rob nickte. »Vielleicht denkst du schon mal darüber nach, wie du damit umgehen willst. Da wirst du eine ganz schön aufgebrachte Mutter vor dir haben.« In dieser Nacht erschien Sally im Traum wieder der erwachsene Justin mit Eric Lundquists Gesicht. Sie saßen oben auf einem großen Gebäude mitten in der Stadt. Nicht auf dem Hancock Tower oder dem Sears Tower, sondern auf einem der Hochhäuser aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert mit zehn oder elf Stockwerken. Größere Glas-und-Stahl-Konstruktionen schützten sie nach allen Richtungen vor neugierigen Blicken. Gruselige Wasserspeier – Katzen, Fledermäuse, Affen und 174
Drachen – säumten ringsum das Dach. Es war Nacht, aber die Luft war warm und ruhig. Sie machten ein Picknick. »Hast du schon mal von Piatons Höhle gehört?«, fragte Justin. Sally hatte an der Universität von Illinois zwei Semester Philosophie studiert, sagte in ihrem Traum jedoch nein. Justin öffnete den Picknickkorb, nahm alles heraus – Obst, Käse, Brot – und legte es auf die Decke, auf der sie saßen. »Platon glaubte, dass eine Idee die ideale Form unserer Existenz ist«, sagte er. »Wenn ein Schreiner in seinem Kopf einen Tisch plant, ist der perfekt. Seine Idee des Tisches ist der wirkliche Tisch. Wenn er aber tatsächlich das Holz glatt hobelt, es zuschneidet und den Tisch zusammenbaut, wenn er also etwas herstellt, das wir sehen und berühren können, ist das nur ein Abbild der Idee, eine unvollkommene Nachahmung.« »Und die Höhle?«, fragte Sally, öffnete die Thermoskanne und schüttete eine dicklich grüne, süße Flüssigkeit in zwei Weingläser. »Er sagt, unsere Erfahrung gleicht der eines Mannes in einer Höhle, der Schatten auf der Rückwand verfolgt, die von einer unbekannten Quelle darauf geworfen werden. Die Schatten, die wir sehen, sind nur unvollkommene Abbilder der wirklichen Menschen.« »Der wirklichen Menschen? Wenn man sie nicht sehen kann, wo sind sie dann?«, fragte Barwick. Justin nahm eines der Gläser, die sie in der Hand hielt, und beugte sich zu ihr vor. Ihre Schultern berührten sich, seine Lippen waren nur Millimeter von den ihren entfernt. »Hier«, sagte er. »Auf diesem Dach. Wir beide. In der Nacht. In unseren Träumen. Das ist wirklich.« Er küsste Sally. Es war ein endloser, das Herz erhebender, unvergesslicher erster Kuss, den sie noch am Morgen auf den Lippen spürte. Er war so wirklich. Gott, wie wirklich es sich anfühlte. 175
35 Jackie beendete das Telefongespräch mit dem Privatdetektiv – Robert Soundso – und ging ins Bad und schloss die Tür hinter sich. Tränen rannen ihr von den Wangen ins Waschbecken. Ihre Hände zitterten. Ihre Augen waren rot vor Kummer. Sie hatte einen Menschen in den Tod geschickt. Detektiv Robert hatte ihr zwar versichert, es sei unklar, ob Phil Canellas Verschwinden mit ihrem Fall zu tun habe, aber er wäre niemals in Nebraska gewesen, hätte sie ihn nicht gebeten, weiter nachzuforschen. Ihre Schuldgefühle wirkten wie Asthma. Sie konnte kaum mehr atmen. Der Detektiv hatte ihr erklärt, dass er keine neuen Informationen zu ihrem Fall habe. Sie sagte, das mache nichts, es tue ihr Leid. Er erwähnte die Fotos von dem geheimnisvollen Jungen nicht und sagte auch nichts dazu, ob es Davis’ Sohn war oder nicht. Sie fragte ihn nicht danach. Wann immer Jackie sich selbst sah, hatte sie drei Jackies vor Augen: die frühere, die gegenwärtige und die zukünftige. Die frühere Jackie war voller Energie und Möglichkeiten, die gegenwärtige immer im Wandel und die zukünftige zufrieden, entspannt und am Ende auch glücklich. An diesem Abend konnte sie im Spiegel nur die ersten beiden Jackies erkennen. Sie konnte sich nicht vorstellen, ohne Mann, Tochter oder dieses Haus zu sein. Und jetzt noch diese Schande. Ihr Mann verließ sie. Ein anderer Mann war tot, und sie würde nie erfahren, wie groß ihre Schuld an seinem Tod war.
36 Big Rob checkte gegen sechs Uhr nachmittags im Brixton Budget Inn ein. Nachdem er mit dem harten Brixtoner Wasser 176
und dem keksgroßen Stück Motel-Seife den Reiseschmutz heruntergewaschen hatte, stieg er ins Auto und fuhr zu Millie’s Tap Room, dem einzigen Lokal, wo er, wie er nach seinen drei Besuchen in der Stadt wusste, unbefangen einen Hamburger bestellen konnte. Die örtliche Polizei – ein Chief und vier Cops – schien bei seinen ersten Besuchen durch seine Fragen beunruhigt zu sein, aber schließlich verstanden die Männer, welchen Schmerz und welche Gefühle Big Rob in seinem großen Körper mit sich herumtrug, und sie lernten die inoffizielle Hilfe des ehemaligen Chicagoer Polizisten zu schätzen, hatten sie doch selbst kaum Erfahrung mit vermissten Personen oder gar Morden, wenn es denn am Ende tatsächlich einer sein sollte. Officer Grippen hatte bereits einen Tisch besetzt, als Big Rob im Millie’s ankam. Big Rob setzte sich und stieß dabei so viel Luft aus der Lunge, und zwar so laut und keuchend, dass es Crippen weniger wie ein Seufzer als wie ein Riss in der Schale des Ex-Cops vorkam. »Also, was haben Sie herausgefunden?«, fragte Big Rob. »Was haben wir herausgefunden …« Crippen zuckte mit den Schultern. »Nicht viel, seit Sie zuletzt hier waren. Aber in den letzten vierundzwanzig Stunden hat es eine neue Entwicklung gegeben.« »Erzählen Sie.« »Wir haben Canellas Wagen gefunden.« »Wirklich? Wo?« Abergläubisch wie er war, ließ Big Rob keine Hoffnung erkennen, dass sein Freund doch noch am Leben war. »In Lawrence, Kansas. Ein Student hatte damit auf dem Campus einen kleinen Blechschaden. Keine Versicherung. Der Versicherungstyp von seinem Unfallgegner hat dann ein bisschen rumgestochert und festgestellt, dass einer das Schild mit der Fahrgestellnummer ausgetauscht hatte, fand aber die 177
Seriennummer auf dem Motorblock. Der Mann war es auch, der die Spur bis zu Canellas Mietwagenfirma zurückverfolgte.« »Wo hat ihn der Student her?« »Von einem Gebrauchtwagenhändler in Topeka. Die Papiere waren ziemlich schlecht gefälscht, aber der Student hat ihn da ersteigert. Der Händler sagt, er hätte den Wagen in Zahlung genommen, und der Mann, von dem er ihn hat, behauptet, ihn über eine Anzeige gefunden und von einem Burschen in North Platte gegen Bares gekauft zu haben. Der wiederum heißt Herman Tweedy, und mit dem haben wir noch nicht gesprochen.« »Vielversprechend?« »Würde ich so sehen. Herman Tweedy ist hier in Brixton zur High School gegangen.« »Sie machen Witze! Ein Freund von Ricky?« Ricky Weiss war der einzige Verdächtige für die Brixtoner Polizei gewesen, nachdem Big Rob Canella vermisst gemeldet hatte. Er war ein halbes Dutzend Mal befragt worden, einmal unter Anwesenheit Big Robs. Weiss hatte erst abgestritten, Canella zu kennen, dann aber schließlich zugegeben, dass der Vermisste bei ihm gewesen war. Er sei aber nach ein paar Fragen, die er ihm gestellt habe, gleich wieder gegangen, behauptete Weiss. Ohne eine Leiche konnten sie nicht viel mehr tun, als ab und zu ein Auge auf Weiss zu haben. »Die Verbindung zu Ricky ist ein bisschen dünn, aber es gibt sie«, sagte Crippen. »Tweedy ist fünf Jahre älter. Hat ein kurzes Strafregister. Wir überprüfen gerade seine Telefonanrufe. Fragen herum.« »Kann ich was tun?«, fragte Big Rob. »Vielleicht. Wie ich gehört habe, will Ricky morgen nach South Dakota zum Fischen. Vier Tage im Wald. Viel Bier. Kein
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Telefon. Das Klo hinterm nächsten Baum. Vielleicht wäre das die Gelegenheit, Peg auf den Zahn zu fühlen.« »Seiner Frau?« »Ja. Ich weiß nicht, was sie weiß, wenn sie überhaupt was weiß, aber Ricky hält sie an der kurzen Leine. Wenn ich sie inoffiziell vernehmen wollte, würde ich es abends tun. Sie trinkt, und wenn Ricky weg ist, zieht sie mit Sicherheit durch die Kneipen.«
37 Joans Sprechzimmer war nicht die spärlich möblierte, antiseptische Zelle, die sich viele Ärzte aus Rücksicht auf die Bazillenphobie ihrer Patienten einrichten. Kinder, so argumentierte Joan, hatten mehr Angst vor Ärzten als vor Bazillen, und so war ihr Raum, der natürlich absolut sauber war, bunt gestrichen, und an den Wänden hingen Bilder mit DisneyFiguren. Der Untersuchungstisch war leuchtend violett und das Hygiene-Papier, das sie darüber zog, mit Ballons und Snoopys bedruckt. »Was machst du denn hier?«, fragte sie Davis, als sie mit einer Mappe in der Hand hereinkam. Davis lag auf dem SnoopyPapier und las einen Zeitschriftenartikel. Er sprang auf, zog ein neues Stück Papier von der Rolle und riss das Stück ab, das er gerade zerknittert hatte. »Ich würde gerne dabei sein«, sagte Davis. »Bei Justins Untersuchung?« Joans gefurchte Stirn zeigte, dass sie das für eine schlechte Idee hielt. »Warum?« »Nur, um ihn zu sehen. Ich habe den Bericht dieses Psychologen gelesen. Ich nehme an, die Scheidung war nicht leicht für Justin.« »So etwas ist für kein Kind leicht«, sagte Joan. 179
»Ja, aber besonders schwer für ein Kind wie ihn.« »Was meinst du damit?« »Du weißt schon. Intelligent. Genetisch prädisponiert für … was immer.« »Hört, hört«, sagte Joan trocken. »Drückt Dr. Davis Moore da etwa eine Sorge um dieses Kind aus, statt die Verantwortung allein in meine Richtung zu schieben?« »Komm schon, Joan. Du weißt, dass ich mir wegen Justin Gedanken mache.« »Vielleicht«, sagte sie und schloss eine offene Schublade. »Aber das ist das erste Mal, dass ich dich zugeben höre, Justin könnte eine genetische Prädisposition für etwas haben. Willst du damit ausdrücken, dass die Sache endlich auch dir zu denken gibt?« »Nein«, sagte er. »Wir sind alle für das eine oder andere prädisponiert. Ich habe seinen genetischen Bauplan nicht geschaffen. Mutter Natur hat es zu dieser Kombination gebracht.« »Du hast das Rezept einfach nur verdoppelt, Davis. Statt eines Ungeheuers, das da draußen frei herumläuft, hast du womöglich ein weiteres produziert, das unter unseren Augen heranwächst.« »Das wissen wir nicht. Ich denke nur, wir sollten ihn etwas genauer unter Beobachtung halten.« »Wie du meinst, Dave.« Davis betrachtete eine anatomische Zeichnung an der Wand. Es war ein dürftiger Versuch, unbeteiligt zu tun. »Ich habe gestern Abend versucht, dich deswegen anzurufen«, sagte er. »Wo warst du?« »Ich hatte eine Verabredung. Zum Jazz in der Green Mill.« »Wie schön«, sagte er etwas zu schnell. »Ich werde nicht jünger, Davis. Es ist schwer, Singles in meinem Alter zu finden.« 180
»Warum beschränkst du dich auf Männer deines Alters?«, sagte er. Joan musste nicht lange überlegen, ob da ein flirtender Unterton mitklang. »Singles überhaupt«, sagte sie. »Hier in Northwood.« Davis nickte. »Es ist also okay, wenn ich dabei bin? Ihm ein paar Fragen stelle?« »Frag ihn nach Keplers Gesetz der Planetenbahnen. Dr. Morrow sagt, der kleine Denker interessiert sich im Moment für Astronomie. Ich hoffe nur, dass es ihn als Nächstes nicht zur Genetik zieht. Wenn Justin anfängt, Mendel zu lesen, ist dein Ende nahe.« Sie machte eine Pause, aber Davis lachte nicht. »Okay. Ich sage Mrs Finn, das gehört dazu. Sie wird nichts dagegen haben. Ich schicke Ellen, wenn es so weit ist.« Als Davis wieder an seinem Schreibtisch saß, zog er eine Schublade neben seinem linken Knie auf und nahm eine Mappe heraus, die er auf seinem Schoß öffnete. Nacheinander holte er sieben leicht zerrissene, des Öfteren nass gewordene Stücke Papier daraus hervor und legte sie in zwei Reihen nebeneinander auf den Schreibtisch. Er hatte die Zettel an den letzten beiden Abenden gesammelt, an denen er wie so oft auf dem Weg nach Hause bei den Finns vorbeigefahren war. Plötzlich war ihm etwas aufgefallen, das ihn alarmierte. Er fuhr die nächste Querstraße hinauf, hinunter über die Avenue und wieder zurück durch das ganze Viertel. Schließlich parkte er und ging die Route, die er gerade gefahren war, zu Fuß zurück, wobei er sich in Kreisen um Justins Haus bewegte. Davis atmete die Seeluft ein, die mit dem süßen Duft von Magnolien, Linden und frisch geschnittenen Grases durchsetzt war. Er inspizierte jeden Laternenpfahl, und als er schließlich wieder vor seinem Auto stand, hatte er diese Stücke Papier in der Hand: Hund entlaufen … Katze vermisst … Unser geliebter Spielkamerad … Wir suchen unseren Welpen … Haben Sie 181
Cotton gesehen? … Bitte, helfen Sie uns, unseren Bandit zu finden … Einer war von einem Kind geschrieben, die anderen schienen von Erwachsenen unter Anleitung eines Kindes verfasst, zumindest mit der Trauer eines Kindes im Kopf. Immer war ein Foto von einem Hund oder einer Katze dabei sowie eine Telefonnummer, sollte das Tier wieder auftauchen. Davis griff auf die Tastatur seines Computers und erweckte den Monitor damit zum Leben. Er tippte die Telefonnummern in eine entsprechende Suchmaschine im Internet, schrieb die Adressen auf und markierte sie mit einem bunten Filzer auf der Karte vom letztjährigen Gartenspaziergang, den das Chamber of Commerce von Northwood veranstaltet hatte. Seine Markierungen ergaben einen symmetrischen Halbmond um das Haus der Finns herum. »Gott verdammt«, sagte er und stieß die Luft aus der Lunge. Diese Aushänge und die Karte vor sich liegen zu sehen genügte, um eine schreckliche Schlussfolgerung zu ziehen. Davis war getroffen von der fast schon mathematischen Genauigkeit, mit der dieser Junge die Tiere entführt hatte. Warum nur war Präzision um so vieles erschreckender als Chaos? »Dr. Moore?« Ellens Stimme knackte in der Sprechanlage. »Justin ist jetzt bei Dr. Burton.« Justin saß in weißer Unterhose auf dem Untersuchungstisch, und sein dünner Oberkörper war so weit nach vorn gebeugt, dass der Junge auf seine herunterhängenden nackten Füße sehen konnte. Er war groß und blass und sein gewelltes blondes Haar ziemlich lang für einen Achtjährigen, was nach Davis’ Erfahrung Hippie-Eltern über das verfrühte Einsetzen adoleszenter Unabhängigkeit hinwegtäuschen konnte – oder auch, wie in diesem Fall, eine allein erziehende Mutter, die mit ihrer Aufgabe überfordert schien.
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»Hallo, Justin«, sagte Davis und schüttelte dem Jungen die Hand. »Es stört dich doch nicht, wenn ich hier sitze, während Dr. Burton dich untersucht?« »Nö«, sagte Justin fröhlich. Er setzte sich gerade hin, als Joan mit dem Stethoskop kam, und Davis fiel auf, dass der Junge eine Art Aufmerksamkeit zeigte, wie sie auch ältere, kranke Menschen Ärzten gegenüber haben. Als Joan nach dem Otoskop griff, hielt er ihr sein linkes Ohr hin. Als sie mit ihrem Stuhl ein Stück zurückrollte und die schwarze Manschette für den Blutdruckmesser aufnahm, beugte er seinen Ellbogen und hielt den Bizeps bereit. Er ließ sich die Zunge herunterdrücken, ohne zu würgen, und es schien ihm auch nichts auszumachen, als Joan mit dem Finger hinter den Gummizug seines Slips fuhr und einen schnellen Blick auf sein Geschlecht warf. »Wie fühlst du dich?«, fragte Joan und setzte sich auf den Drehstuhl an einem winzigen weißen Schreibtisch. »Gut«, sagte Justin. »Kein Schnupfen, keine Kopfschmerzen?« »Nein, nein.« »Kannst du in der Schule alles gut erkennen? Kannst du lesen, was dein Lehrer an die Tafel schreibt?« »Ja.« Joan schüttelte den Stift, mit dem sie schrieb. »Dr. Moore, hätten Sie vielleicht einen Stift, den Sie mir borgen könnten?« Davis fuhr sich mit der Hand an die Brust. »Nein, tut mir Leid.« »Wirklich nicht?«, sagte Joan mit einem süffisanten Lächeln. »Ich glaube nicht, dass ich Sie jemals ohne Ihren silbernen Waterman in der Tasche gesehen hätte.«
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»Ich habe ihn irgendwo verlegt«, sagte er, »und mir noch keinen neuen kaufen wollen. Das Ding hat nie geschmiert oder war undicht.« Justin reckte den Hals, um an die Decke zu sehen. Davis folgte seinem Blick zu den hässlichen Deckenplatten, die das noch hässlichere Leitungsgewimmel und die übrigen Innereien der Klinik verbargen. Justins Mund öffnete sich und schien sich fast aus seinen Gelenken zu lösen, während er den Kopf immer weiter in den Nacken legte. Davis kam er in diesem Augenblick wie eine neugeborene, federlose Ente vor, die helle Haut unberührt von Alter, Stress, schlechter Ernährung und Hormonen, und die Knochen wuchsen, selbst während sie hier saßen, sein Geist weitete sich, nahm alles in sich auf, erinnerte sich und lernte ohne Anstrengung. Ein heranwachsender Junge ist ein sich ständig wandelndes Wesen, dachte Davis, und wenn ich ihn nur lange genug so ansehen würde, könnte ich beobachten, wie sich der Wandel vollzieht. »Ich verlier auch manchmal Sachen«, sagte Justin mit zurückgelegtem Kopf. »Tatsächlich?«, fragte Joan. »Was für Sachen?« »Einfach nur Sachen«, sagte er. Davis beobachtete, wie die Fersen des Jungen gegen den Untersuchungstisch zu schlagen begannen. »Manchmal habe ich etwas in der Hand, und dann … dann verlier ich es einfach. Es ist da, und dann ist es weg.« »Findest du die Sachen manchmal auch wieder? Die Sachen, die du verloren hast?« Joans Stimme klang seltsam abwesend. Sie hatte einen anderen Stift gefunden und machte sich Notizen in Justins Unterlagen. »Nein«, sagte er. »Die sind für immer weg.« Davis fühlte, wie seine Arme kalt wurden und ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Joans Kopf war immer noch über ihre Notizen gesenkt. Davis kam es vor, als beobachtete er die beiden vom 184
Platz hinter einer Spiegelglasscheibe aus, registrierte Feinheiten in Ton und Ausdruck und fügte jedem Satz einen Subtext hinzu. Dieser Junge ist nicht AKs Mörder, erinnerte er sich selbst, aber er konnte nicht anders, als sich Justin allein in einem der dichten Waldstücke vorzustellen, die sich durch sein Wohnviertel zogen, allein mit einer Katze im Arm, die Hand leicht um ihren Hals gelegt – und dann die ältere, grausamere Ausgabe von ihm hinter der Theke des Gap, wie er sich auf Anna Kat setzte und beobachtete, wie sie gegen ihn ankämpfte, gefesselt von ihrer Angst.
38 Ein Polizeirevier ist ein lausiger Platz, um sich für einen Zug durch die Gemeinde herauszuputzen, dachte Big Rob. Es ist laut, das Licht ist schlecht (alles Neon), und die Spiegel sind gesprungen, verzogen und mit den schwarzen Adern von Wasserschäden durchzogen. Big Rob war ein gut aussehender, wenn auch dicker Mann. Wenigstens hatte das etwa ein Dutzend Frauen während der letzten zwanzig Jahre so gesehen. Wenn er sich im Spiegel betrachtete – nicht in diesem, einem guten –, stellte er sich oft sehnsüchtig vor, wie er wohl aussähe, wenn er schlank wäre. Big Rob hatte dichtes dunkles Haar, und der obere Teil seines Doppelkinns war kräftig und energisch. Seine Zähne waren weiß und noch die eigenen. Gesicht und Leib waren zwar zu dick, aber er war einsfünfundneunzig, und die Proportionen stimmten. Gott hatte ihm sein Fett geschenkt, wie er witzelte, weil er, Big Rob, kräftig genug war, es zu tragen. »Sind Sie so weit?« Crippens fröhliches Grinsen erschien im Spiegel neben seinem Gesicht. Biggie hob den Daumen. »Wie aufregend«, sagte Crippen. »Aber seien Sie vorsichtig, und treiben Sie es nicht zu weit. Bringen Sie die Frau einfach mit ein paar Margaritas in Stimmung und lassen sie erzählen.« 185
Big Rob nickte. »Wissen Sie, wie Sie mit einem Körperbau, wie ich ihn habe, bei den Ladys Erfolg haben?« Er zog sich am Ohrläppchen. »Wenn Sie ihnen gut zuhören.« Peg war nicht schwer zu finden. In einem Lokal namens Hound saß sie mit vier Freundinnen an einem quadratischen Tisch. Big Rob nahm ein Harp und manövrierte sich mit seinem Glas von der Theke durch die Menge, bis sein mächtiger Körper ganz nah bei ihnen stand. Wie ein Kreuzfahrtschiff, das in einen seiner vorgesehenen Häfen einlief. Alle fünf Frauen drehten sich zu ihm um. »Einen schönen guten Abend, Ladys«, sagte Big Rob. »Wie wäre es, wenn ich Sie zu einer Runde einlade?«
39 Mit fünfzehn stach Sam Coyne beim Querfeldeintraining eine Hornisse. Eine stillgelegte Linie der Milwaukee Northern Line verlief hinter der Northwood East High School, und Trainer Carne schickte die Mannschaft auf den Fußballen über die gesplissenen und verrottenden Schwellen, manchmal drei Meilen weit, und wieder zurück zur Schule. Das Training stählte Sams Willen und seine Waden, und zur Hälfte der Saison hatte er sich auf Platz drei hinter Bruce Miller und Lanny Park vorgeschoben. Den offenen Oak-Park-Lauf, der eine berühmte flache zweite Hälfte hatte, beendete er sogar als Zweiter. Sam war in der siebten Klasse zu den Querfeldeinläufern gestoßen, hauptsächlich wegen der Mädchen. Was nicht bedeutete, dass die Northwood-Läufer besonders viele Groupies hatten, obwohl die Cheerleader-Truppe jeden Herbst bei einem der Läufe einen großen Auftritt hinlegte, den sie allerdings wohl 186
als Wohltätigkeitsveranstaltung verbuchten. Für einen linkischen und leicht in Verlegenheit zu bringenden Dreizehnjährigen bot ein Platz in einer Sportmannschaft so etwas wie ein Minimum sozialen Ansehens, und Sam war immer mit einer guten Ausdauer gesegnet gewesen, wenn auch nicht mit weltrekordverdächtiger Schnelligkeit. Rennen war ein Einzelsport, was ihm gefiel, und sonderte ihn doch nicht aus. Das Läuferteam teilte sich das Lob bei Erfolgen, aber auch die Schande bei Niederlagen, wogegen Sam nichts einzuwenden hatte. Das Wichtigste war, ein Athlet zu sein, was in den Augen der Mädchen etwa so viel zählte wie ein guter Job. Es gab auch andere Vorteile, wie seine Eltern bemerkten. Seine Noten wurden besser, und er gewann an Selbstvertrauen. Sam hatte das Gefühl, dass ihm die Lehrer plötzlich mehr Respekt zollten und, wenn nötig, im Zweifel für ihn entschieden. Das gelbe Biest landete etwa fünfzehn Zentimeter unterhalb des rechten Knies auf seinem Schienbein. Sam sah hinunter, ohne jedoch seinen Lauf oder Rhythmus zu unterbrechen, da ihn das ins Straucheln gebracht hätte. Er starrte hinunter auf die Hornisse, die sich an sein Bein klammerte, während seine Füße nach wie vor Schwelle auf Schwelle fanden und dabei Vibrationen in seine Beine hinaufschickten. Er beugte sich vor und versuchte, die Hornisse wegzuschlagen. Da stach sie zu. Sam ging hoch wie ein verwundetes Pferd. Wieder schlug er nach dem Insekt, stieß aber auf Widerstand, da es seinen Giftstachel noch in seinem Bein hatte. Er fiel, und sein linker Schenkel drehte sich schmerzhaft gegen die halb überwucherte rechte Eisenbahnschiene. »Verflucht!« In Sekunden war der Stich geschwollen, purpurrot und schmerzte. Sam lag keuchend neben den Gleisen und sah zu, 187
wie sich die Wunde veränderte. Es war das erste Mal, das ihn ein Insekt gestochen hatte, und in der Minute, die er brauchte, seinen Atem zu beruhigen, wurde ihm klar, dass er eine Allergie hatte. Als er wieder einmal gestochen wurde, diesmal von einer Biene, während eines Drei-gegen-drei-Basketballturniers in Chicago, war er sehr viel älter. Abends rief er seine Eltern an. »Warst du beim Notarzt?«, fragte seine Mutter. »Nein, Mom«, sagte Sam. »Ich habe einfach zwei Benadryl genommen.« »Ich erinnere mich noch an den Tag, als du beim Lauftraining gestochen wurdest.« »Querfeldeintraining«, verbesserte er sie. »Querfeldeinlauftraining«, gab sie scharf zurück, aber dann lachte sie. »Dein Fuß war dick wie ein Softball.« »Es war nicht mein Fuß, es war mein Schienbein. Und es war viel schlimmer als der Stich heute. Zwei Meilen musste ich damit noch laufen.« »Ja, die Beule war riesig.« Sie redeten noch eine Weile über die Familie seiner Schwester in Milwaukee, bis sich auch dieses Thema erschöpft hatte und er und seine Eltern – Mom und Dad an verschiedenen schnurlosen Apparaten – schweigend mit den Hörern am Ohr dasaßen. Es war kein unangenehmes Schweigen, alle wussten, dass der Anruf noch nicht beendet war, aber für etwa eine halbe Minute sagte niemand ein Wort, und alle warteten, dass das Gespräch wieder in Gang kam. »Sam, hier in Northwood gibt es einen Jungen, der genauso aussieht wie du«, sagte Mrs Coyne schließlich. »Wirklich?« Sam blätterte durch das New York Times Magazine und hielt dabei den Hörer gegen das Ohr geklemmt. Er fand einen Artikel über einen Jazz-Gitarristen, den er mochte, 188
und er wollte mit dem Lesen nicht warten, bis seine Eltern so weit waren und endlich auflegten. »Ja, es ist verrückt«, sagte sein Vater. »Bist du sicher, dass du keine deiner Freundinnen in der High School geschwängert hast?« Ein anderer Sohn hätte diese Frage seines Vaters wahrscheinlich mit einem Lachen als die übliche scherzhafte Vater-Sohn-Rangelei abgetan, aber bei Sam und seinem Dad schwang mehr mit. Die schlimmsten Gefechte zwischen den beiden hatte es, grob gesagt, vom September seines dreizehnten Lebensjahrs bis zum August nach seinem Abschluss an der Northwood East gegeben. Während dieser Zeit trank Sam viel Bier und kiffte an den Wochenenden. Er brachte Mädchen mit nach Hause, von denen er wusste, dass seine Mutter und sein Vater sie nicht mögen würden, und wenn er mit ihnen schlief, tat er nichts, um es vor seinen Eltern zu verbergen. Freidenker wie Mr und Mrs Coyne hatten nichts gegen Sex, schon gar nicht, nachdem ihr Sohn endlich siebzehn geworden war, aber sie hassten seine mangelnde Diskretion. Kluge, dumme, dünne, dicke, reiche und arme Mädchen: Teenager. Sam vögelte sie auf die gleiche gelangweilte Weise, wie er zwischen den Fernsehprogrammen hin und her schaltete, von denen ihn das eine so wenig wie das andere interessierte. Seine Promiskuität hatte natürlich viel mit der großen Menge williger Partnerinnen zu tun. Sam schrieb das der Geschichte über die Größe seines Schwanzes zu, die an seiner Schule kursierte. Natürlich war da mit der Zeit Übertreibung mit ins Spiel gekommen. Als Sam in die elfte Klasse kam, gab es immer irgendein neugieriges Mädchen, das bereit war, ihn mit nach Hause zu nehmen oder mit zu ihm zu kommen, eine kleine Autotour zu machen oder sich in einer der hinteren Kinoreihen einen unbeliebten Film anzusehen. Sie machten es nicht immer 189
miteinander, einige wollten nur eine »Vorschau«, aber ihre Beachtung war ihm offen gesagt ebenso viel wert. »Wer ist es?«, fragte Sam. »Der Junge? Oh, wir kennen seinen Namen nicht«, sagte Mrs Coyne. »Dad hat ihn im Obstladen entdeckt und ihn mir anderntags beim Metzger gezeigt.« »Es ist fast unheimlich. Wir haben gleich die alten Fotoalben herausgeholt. Ihr könntet Zwillinge sein, wenn du noch in die zweite, dritte Klasse gehen würdest«, sagte Mr Coyne. »Habt ihr die Mutter gesehen?« »Die ist etwa in deinem Alter. Vielleicht ein paar Jahre älter. Hübsch. Schlank«, sagte seine Mom. »Erinnerst du dich da an was, Sohn? Hat dir mal ein Gummi den Dienst versagt?« »James.« Mrs Coynes Entrüstung kam als saures Murmeln durch den Hörer. »Er macht nur Witze, Liebling.« »Ja, Mom. Egal, das ist doch irre. Ich meine, dieser Junge. Sieht genauso aus wie ich, was?« »Man sagt, wir alle haben einen Zwilling«, sagte Mrs Coyne. »Deiner kommt nur zwanzig Jahre zu spät.« »Komisch.« »Wie läuft’s?« »Viel zu tun.« »Gute Fälle?«, fragte sein Vater. »Hast du wieder mal schmutziges Drogengeld angenommen?« Dieser Witz war nun wieder nicht so sarkastisch gemeint, wie er klang. Mr Coyne war stolz auf die Anwaltstätigkeit seines Sohnes, und er gab seinen Freunden gegenüber mit Sams stinkreichen Mandanten an. Mr Coyne benutzte den Ausdruck »schmutziges Drogengeld« als ironischen und nicht zu feinsinnigen Verweis auf seine eigenen Aktivistentage auf der 190
Uni. Er schämte sich weder seiner Kriegsgegnerschaft noch der verbalen Rohrbomben, die er mit Hilfe der Unizeitung in Richtung Weißes Haus geschleudert hatte. Später jedoch war er ein frommer Kapitalist geworden und hatte seine eigene Firma gegründet, die er schnell groß machte, dass er sie mit fünfzig teuer verkaufen konnte. Im Ruhestand betrachtete er die Demonstrationen seiner Jugendjahre als eine Stufe des Erwachsenwerdens. Die Promiskuität seines Sohnes ordnete er im Rückblick genauso ein, konnte aber Sticheleien in dieser Richtung von Zeit zu Zeit nicht widerstehen. Sam war glücklich, über etwas anderes als seinen kleinen Doppelgänger reden zu können. Er war zwar sicher, dass er keinen Sohn in Northwood herumspazieren hatte, aber er hatte andere Geheimnisse, und mit ihrer Rederei stocherten seine Eltern in dem Schmutz herum, unter dem sie verborgen lagen. Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, verfolgte ihn der Name von Anna Kat Moore jedoch kaum länger als ein, zwei Minuten. Er vertrieb ihn mit einem kalten Erschauern und spielte eine Stunde an seinem Computer – ein neues Multiplayer-Spiel, das Shadow World hieß und von dem einer seiner Mandanten behauptete, es würde die nächste große Sache werden (der Mandant war sich dessen so sicher, dass er fünftausend Aktien der Herstellerfirma gekauft hatte). Endlich schlief Sam Coyne ein. Im Fernseher lief ein Basketballspiel von der Westküste.
40 Big Rob arbeitete sich nicht wirklich an dem Gedanken ab, ob er nun ethisch richtig gehandelt hatte, als er mit einem Arm unter Rickys Frau in Rickys Bett lag. Er fragte sich, ob man es Ironie nennen konnte, dass die Sache mit der Beobachtung eines vorgeblich betrügerischen Ehemannes begonnen hatte und nun mit ihm im Bett einer verheirateten Frau endete. Aber dann 191
entschied er, dass sich das Wort »Ironie« im Moment nur vor ein anderes schob, das ihm nicht auf die Zunge kommen wollte. Aber egal, wie man es nannte, es war, was es war: unvermeidlich. Zum Teufel, das war auch wieder nicht das richtige Wort. Es machte ihn krank, mit einer Frau intim geworden zu sein, von der er wusste, dass sie eine Mitschuld an Phillys Tod hatte. Mitschuld? Stimmte das? Wusste er überhaupt, was mit Phil Canella geschehen war? Der Alkohol, die Dunkelheit und eine Art postkoitaler Nebel behinderten seine Fähigkeit, zu einem Schluss zu kommen. Die Frauen hatten noch drei Runden Saft und Alkohol in allen möglichen Kombinationen getrunken, bevor sie alle zusammen an einen frei gewordenen bequemeren runden Tisch wechselten. Big Rob zeigte Charme, indem er Komplimente und Scherze machte und gemeinsam mit ihnen lachte. Er erzählte Abenteuergeschichten, die Jahre zurücklagen und in denen sein schlankes früheres Ich auf dem Lacrosse-Feld der High School, bei der Navy und der Polizei die Hauptrolle spielte. Spät in der Nacht erzählte Big Rob, wie er beinahe mal Geld in eine Biotech-Firma gesteckt hätte – Menschenklonen, Genbehandlung gegen Krebs und so weiter. Stattdessen habe er sich aber ein Boot gekauft, und seine Freunde seien allein reich geworden. »Und ich hab nicht mal mehr das Boot«, sagte er und erntete damit krähendes Lachen. »Ricky und ich werden auch reich«, platzte da Peg heraus, hob aber sofort ihren cranberryfarbenen Drink an den Mund, als wollte sie sich damit am Ausplaudern von etwas Wichtigem hindern. »Erzähl schon«, sagte die Blonde namens Linda, die keinerlei Zweifel daran zu haben schien. »Ich kann euch nicht die Einzelheiten verraten«, kicherte Peg. »Es ist ein Geheimnis.« Sie machte eine nicht so ganz diskrete 192
Kopfbewegung in Richtung Big Rob, aber als ihr Blick auf seinen traf, blieb er daran hängen, und sie öffnete ihre schmalen Lippen auf eine Weise, die ihm eher sexy vorkam. »Ich bin nur auf der Durchreise«, sagte er. »Eure Geheimnisse können hier bleiben, was mich angeht. Was in Brixton passiert, bleibt in Brixton, wenn ihr versteht, was ich meine.« Dabei zwinkerte er in die Runde. Peg winkte sie alle zu einem benebelten Haufen über dem Tisch zusammen. »Ricky und ich wissen was über diesen reichen Arzt in Chicago, und wenn die Zeit kommt, machen wir das zu Geld.« Sie rülpste. »Mehr sage ich nicht.« Big Rob machte der Kellnerin ein Zeichen, noch eine Runde zu bringen, und die streckte einen ihrer roten Fingernägel in Richtung Uhr, um zu sagen, dass es endgültig die letzte Runde sei. »Was ist mit diesem Doktor? Hat er was angestellt?« Pegs Rülpser war offenbar ein Schluckauf gewesen, und er wiederholte sich. »Noch nicht. Noch hat er’s nicht getan. Mehr sage ich nicht.« Big Rob klopfte Peg sanft auf den Rücken, als wäre das ein natürliches Heilmittel gegen Schluckauf. »Aber wenn er’s macht, lassen wir ihn nicht davonkommen.« »Was hat der Doktor denn vor?«, fragte Big Rob, als er fürchtete, niemand anders würde diese Frage stellen. Peg griff nach einem beliebigen Glas vom Tablett der Kellnerin. »Das kann ich euch nicht sagen.« Mit kräftigen Zügen kämpfte sie gegen ihren Schluckauf an. »Mehr sag ich nicht.« Als die Kneipe zumachte, bot Big Rob ihr an, sie nach Hause zu fahren, und als sie annahm, zogen sich die anderen Frauen in der Dunkelheit des Parkplatzes hinter das Echo verschämter Goodbyes zurück. Big Rob half Peg auf den Beifahrersitz seines Vans, und als er um den Wagen herum war und auf der Fahrerseite einstieg, war sie bereits halb eingenickt. Er strich ihr über das Haar, und sie sah ihn an. 193
»Lädst du mich jetzt in dein Motelzimmer ein?«, fragte sie unter alkoholschweren, müden Lidern hervor. So wie sie in der Kneipe wiederholt sein Knie mit der Hand berührt hatte, war Big Rob klar gewesen, dass es kein Problem sein würde, sie später noch allein zu sprechen. Das Problem würde nur sein, sie wach zu halten, wie er jetzt erkannte. Er kannte eine Methode, die oft zwischen Fremden in Motelzimmern praktiziert wurde, aber er war überzeugt, dass etwas bei Ricky Weiss passiert war, und sein Angebot, sie nach Hause zu fahren, war vor allem der Versuch gewesen, ohne Durchsuchungsbefehl den Ort des Verbrechens in Augenschein nehmen zu können. »Ich hab so eine Art Zimmergenossen«, sagte er. »Die Firma spart an allen Ecken und Enden.« Sie furchte die Stirn. »Können wir nicht zu dir?« »Ich bin verheiratet, weißt du.« Big Rob drehte sich weg. Es schien ihm galanter so. »Ist dein Mann zu Hause?« »Nein.« »Kommt er heute noch?« »Nein.« »Also dann?« »Also dann.« Big Rob war sicher ein Dutzend Mal an Rickys Wohnwagen vorbeigefahren, und er steuerte den Van schweigend in seine Richtung. Unbedacht. Er war kaum noch eine Meile entfernt, als Peg etwas sagte. »Woher weißt du, wo ich wohne?«, sagte sie. »Weiß ich nicht«, sagte Biggie. »Das hier ist ’ne kleine Stadt. Ich dachte, du sagst schon, wenn ich falsch fahre.« In ihrem Zustand schien ihr das vernünftig. »Bin ich richtig?«
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»Da vorne links«, sagte sie, steckte einen Finger in seinen Ärmel und rieb den Stoff zwischen ihren Fingern. »Was hast du noch mal gesagt, wie du heißt?« »Biggie.« Er grinste, und Peg hielt sich entzückt über die zweideutige Verdorbenheit seiner Antwort die Hand vor den Mund. Sie parkten auf der Straße und schlichen übertrieben leise zur Tür des Trailers. Big Rob hatte damit gerechnet, in ein gehöriges Durcheinander zu kommen, aber als sie sich nach drinnen schoben, stellte er fest, dass im Gegenteil alles bestens aufgeräumt war, und er dachte, dass ein sauberer Trailer fast was Besonderes hatte – wie ein Ort, an dem auch eine Filmdiva ihre Zeit zwischen zwei Drehs verbringen könnte. Sie standen zwischen der makellosen Küche und dem ordentlichen Wohnzimmer. »Hast du was zu trinken?«, fragte Big Rob. Peg lachte, weil sie schon so viel getrunken hatten, und holte zwei Dosen Bier aus dem Kühlschrank, mit denen sie auf die Couch deutete. Er ertrug ihre fummelnde Umarmung zehn Minuten oder länger und genoss es gegen seinen Willen sogar. Peg war weder die hübscheste Frau, die während der letzten zwanzig Jahre auf Big Robs Schoß gelandet war, noch die unansehnlichste. Er platzierte sie irgendwo in der Mitte. Sagen wir, an fünfter Stelle. Aber Peg hatte Informationen über Philly, vielleicht wusste sie sogar über seinen Tod Bescheid, was das verrückte Erkunden seiner Zähne und seines Zahnfleisches durch ihre Zunge mehr als unangemessen erschienen ließ. Es kam ihm wie Betrug vor. Dennoch langte seine Hand nach dem Knopf ihrer Jeans, und irgendwann während der nächsten Stunde wechselten sie über auf ihr Bett. Endlich sagte Big Rob: »Schätzchen, ich kann dich nicht anlügen.«
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Sie sah ihn verwirrt und müde an. »Baby, lüg mich an«, sagte sie. »Bitte lüg mich an.« »Nein«, sagte Big Rob. »Das hier ist kein Spiel.« Sie grunzte. Peg wollte schlafen, aber Big Rob wusste, dass es nie eine bessere Gelegenheit geben würde, diese Frau zu befragen, als jetzt. »Du hast da was gesagt. Über einen Arzt in Chicago.« Pegs Augen waren mit einem Schlag weit offen. Ihre Zähne schlossen sich, ohne dass sie wirklich aufeinander trafen. Der Grund dafür war eine unkorrigierte genetisch bedingte Asymmetrie. »Ich suche nach einem Arzt, und es klingt, als könnte es derselbe Mann sein«, sagte Big Rob. Peg kniff die Augen zusammen und sah in die Dunkelheit. Sie versuchte, sich den Weg zur Tür hinüber vorzustellen. Big Rob seufzte. »Ist schon okay. Vielleicht können wir uns gegenseitig helfen.« Sie entspannte sich etwas, setzte sich auf und lehnte sich gegen das Kopfende. »Wie meinst du das?« Er stieg aus dem Bett, griff nach seiner Hose und zog eines der Bilder hervor, dass Jackie Moore Philly geschickt hatte. »Weißt du, wer dieser Mann ist?« Sie nahm es und schaltete das Licht ein. »Oh, Scheiße«, sagte sie. »Was ist?« Ihr Gehirn sortierte die Möglichkeiten wie eine alte Briefsortiermaschine. »Du kennst Davis Moore?« »Ja«, sagte Big Rob. »Ich meine, ich weiß, wer er ist.« »Scheiße«, sagte sie wieder. Big Rob wusste nicht, ob sie auch noch etwas anderes sagen würde.
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»Hör zu, ich will euch nicht ans Geld. Euch euren großen Zahltag vermasseln. Dir und Ricky. Ich will einfach nur wissen, wer der Kerl auf dem Bild ist und was er mit dem Doktor zu tun hat. Wie ich dir schon gesagt habe: Vielleicht können wir uns gegenseitig helfen.« »Du willst damit sagen, wenn ich dir helfe, lässt du Rick und mich unsere Story an die Presse verkaufen?« »An die Presse?«, sagte Big Rob. Das war ihr großer Plan? »Aber klar. Ich fahre euch bis vor die Tür von Vanity-Fair’s, wenn’s nötig ist. Hör zu, du hast selbst gesagt, dass ihr auf etwas wartet, damit ihr eure Geschichte versilbern könnt. Vielleicht kann ich euch ja dabei helfen, die Sache ein bisschen anzuschieben.« Peg war sehr müde und immer noch leicht betrunken. Durch die Geschehnisse der letzten Stunde hatte der Mann ohne Hemd in ihrem Schlafzimmer ihr Vertrauen gewonnen. »Das ist Jimmy Spears.« »Der Footballspieler?« Big Rob sah sich das Bild wieder an. »Jimmy Spears ist hier in Brixton aufgewachsen. Davis Moore denkt, er hat seine Tochter umgebracht. Und Ricky denkt, Moore wird, ich weiß auch nicht, Rache üben oder so was.« »Kein Scheiß?« Peg fuhr fort. Big Rob kannte den müden, erlösten, fast tränenreichen Ton eines Geständnisses. »Nachdem Moore Ricky dazu benutzt hatte, Spears ausfindig zu machen, schickte er einen Mann her, einen Privatdetektiv mit einer Kanone, um Ricky umzulegen, und Ricky …, nun, Ricky konnte ihm die Kanone entwinden. Hier im Trailer. Dann rannte der Kerl los. Er rannte zu seinem Wagen.« Sie seufzte und schloss die Augen. »Ich hab’s gesehen. Er kam her, um Ricky zu töten.« Und aus einer verwirrten, müden Unachtsamkeit heraus zerstörte sie Big Robs zerbrechlichste Hoffnung. »Es war Notwehr. Ich hab’s gesehen.« 197
»Notwehr. Keine Sorge, ich glaube dir. Jeder würde das.« Big Robs Herz schlug mit einem Tempo, das seinen Arzt in Angst und Schrecken versetzen würde. »Was hat Ricky mit der Pistole gemacht?« Peg kletterte aus dem Bett und öffnete die Schiebetür des Schranks. Auf Zehenspitzen langte sie in ein hoch gelegenes Fach und schob eine Anzahl Schachteln und einzelner Schuhe zur Seite. Im Mondlicht glänzte ihr Rücken wie nasser Sand. Sie drehte sich um und hielt ihm die Waffe mit ausgestrecktem Arm vorsichtig entgegen. »Ist schon okay.« Big Rob schob den kleinen Finger durch den Abzugschutz und überprüfte, ob die Pistole gesichert war. Er legte sie oben auf seine zusammengefaltete Hose, nahm Peg in den Arm, und sie drückte sich an ihn. Ihre Hände auf seinem Rücken waren schweißnass. Als er sich später an diesen Moment erinnerte, musste er weinen.
41 Barwick schaltete ihren Computer ein und wies mit einem Tastendruck das Angebot zurück, Shadow World zu spielen. In der letzten Woche erst war sie in das Spiel eingestiegen. Sie hatte über eine Freundin davon gehört, und auch die alternative Presse überschlug sich fast, was das Potenzial dieses Spiels betraf. Barwick verstand den Reiz. Sich in dem Spiel zu bewegen, fühlte sich ähnlich an, wie einen ihrer Träume zu träumen. Sally öffnete ihre Textsoftware und machte sich daran, einen Brief an Martha Finn zu schreiben. Sie erklärte Martha, wer sie wirklich war. Was für einen Job sie hatte. Was sie getan hatte. Sie schrieb, es tue ihr Leid. Dass sie den Auftrag angenommen habe, ohne zu ahnen, dass sie Freunde werden würden. Und als sie erst einmal mit den Lügen 198
angefangen hätte, den wichtigsten Hilfsmitteln ihres Berufs, da sei es unmöglich gewesen, wieder damit aufzuhören. Und jetzt ist ein Mann tot, und ich weiß nicht mal, ob ich eine Mitschuld an seiner Ermordung trage, schrieb Sally. Einmal habe ich genau diesen Mann nach den Interessenkonflikten in unserem Beruf gefragt. Philly erklärte mir: Anwälte haben Interessenkonflikte, Barwick. Wir nicht. Wir sind mehr wie Priester. Die Ehemänner beichten bei uns. Die Ehefrauen beichten bei uns. Wir erfahren ihre schlimmsten Geheimnisse. Folgen ihren übelsten Impulsen. Du hättest ein weniger zynisches Verhalten von mir verdient, Martha. Du bist ein guter Mensch, weit besser als ich. Du hast einen wundervollen Sohn, der einmal wundervolle Dinge tun wird. Schon heute kann ich ihn mir als einen älteren Jungen und Mann vorstellen. Einen pflichtbewussten, sehr verantwortungsbewussten Mann. Ich habe nicht nur dich betrogen, die du meine Freundin warst, sondern auch Justin, und diesen Schmerz werde ich mein ganzes Leben spüren. Wenn mein Chef von seiner Dienstreise zurückkommt, kündige ich. Ich gebe diesen Job für immer auf. Alles, was bei meinen Lügnereien herausgekommen ist, sind tote Kollegen und verlorene Freunde. Es muss ein besseres Leben geben, in Ehrlichkeit. Die Lüge kann doch nicht der Weg zur Wahrheit sein. Sie druckte den Brief aus, unterschrieb ihn und steckte ihn in einen Umschlag, den sie mit Marthas Adresse versah. Sie klebte eine Briefmarke darauf und legte ihn auf die winzige Kommode neben ihrer Tür. Die Datei auf ihrem Computer löschte sie, damit dieser Brief nie überarbeitet, nie verändert werden konnte.
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42 Davis verließ die Klinik gegen zehn Uhr. Er kam gern nach Hause, wenn Jackie bereits im Bett war, aber noch nicht schlief. Wenn sie nebeneinander in der Dunkelheit ihres Schlafzimmers lagen, ohne sich zu berühren, konnten sie reden, konnten über die schönen Erlebnisse des Tages sprechen und über die verschiedenen Ärgernisse des Lebens diskutieren – fällige Rechnungen, notwendige Reparaturen am Haus, gesellschaftliche Verpflichtungen und so weiter. Alles das war weit schwerer im hellen Licht unten im Wohnzimmer zu besprechen. Mit Ausnahme des Schlafzimmers und manchmal auch des Esszimmers war das große Haus zu etwas geworden, das sie sich zwar teilten, in dem sie aber nicht zusammen lebten. Er aß ein schönes weißes Stück von einer Banane und ging nach oben. Laute Musik eines Klassiksenders schallte ihm entgegen. Es war Haydns Sinfonie Nr. 22, und er war erstaunt, dass er sie erkannte. Davis mochte eigentlich lieber Jazz, aber er und Jackie hatten ein Abonnement für die Konzerte des Chicago Symphony Orchestras, und selbst während der letzten Jahre waren sie oft da gewesen. Davis hasste seine Frau nicht. Ihre Ehe vertrug nur kein langes Schweigen mehr. Im Konzertsaal war das Schweigen nie ein Problem. Die Tür zum Bad stand einen Spaltbreit offen, und drinnen brannte Licht. Davis setzte sich aufs Bett, legte den Kopf in den Nacken und stützte sich mit den Händen auf der Tagesdecke ab. Der Junge. Lieber Gott. Der Junge. Schon im ersten Jahr seines Medizinstudiums hatte Davis angefangen, seinen späteren Weg zu planen, obwohl er seinen Eltern sagte, er wolle Chirurg werden. Sein Vater hatte nie einer Kirche angehört, aber er war ein tief gläubiger Mensch. Er war Ingenieur und lehrte seine Kinder, dass der Sinn des Lebens darin bestehe, Gott von innen heraus zu erfahren. Der Alte Herr 200
liebte die Wissenschaft, besonders die Physik. Die Sprache Gottes ist nicht Aramäisch, Latein, Hebräisch oder Arabisch, pflegte er zu sagen, meist mit einer abweisenden Geste in Richtung einer Kirche oder Bibel. Die Sprache Gottes, sagte er, ist die Mathematik. Wenn es uns gelänge, die Willkürlichkeit des Universums mit der Präzision seiner Regeln zu vereinen, wenn wir keinen Widerspruch zwischen dem Chaos der Natur und den Gleichungen des Naturgesetzes sähen, würden wir sein Wie und Warum verstehen. Niles Moore glaubte, dass Gott von uns erwartete, die Welt auseinander zu nehmen und sie in Einzelteilen auf dem Küchentisch vor uns auszubreiten, damit wir sie verstehen lernten. Davis teilte seine Philosophie, was ihn zur Genetik brachte und, als der Kongress die Genehmigung erteilte, zur Fortpflanzungsmedizin. Für ihn hatte das Klonen nie etwas mit Gottspielen zu tun gehabt. Es ging allein darum, sein Werk zu wiederholen, seinen wunderbarsten Blaupausen zu folgen und Leben zu erzeugen. Sein alter Vater wollte es nicht so interpretiert sehen. Damals war das Klonen nur erst eine Möglichkeit und teilte die Wählerschaft in die eine Hälfte, die voller Begeisterung einen großen Schritt für die Menschheit darin sah, und die andere, die sich um die Seelen sorgte und dachte, dass Wissenschaftler, die das Klonen von Menschen anstrebten, der Natur nicht folgten, sondern ihre Wege durchkreuzten. Und so täuschte Davis seinen Vater das ganze Medizinstudium hindurch, was nicht schwer war, da er nicht zu Hause wohnte und somit beim Lesen und Lernen unbeobachtet war. Als er zu praktizieren anfing, wurde es schwieriger. Zu der Zeit war aus Davis bereits ein Agnostiker geworden, was er seinen Patienten jedoch niemals zeigte. Wie so viele andere hatte er nach und nach seinen Glauben verloren und war 201
langsam zu dem Schluss gekommen, dass der Gott seines Vaters nicht seinen Erwartungen entsprach. Davis’ Unglaube basierte nicht auf der Vorstellung von einem gottlosen Universum – er glaubte immer noch an eine höhere Macht –, sondern auf den lächerlichen Ansprüchen, die die Religion an Gott stellte. Allwissend? Allmächtig? Allgegenwärtig? Wie konnte jemand, der an einen solchen Gott glaubte, nicht enttäuscht sein von dieser Welt? Jackie war immer noch im Bad. Er hatte eine plötzliche schreckliche Ahnung. Oft schon hatte Davis seine Frau bewusstlos im Bad aufgefunden, auf der Toilette zusammengesunken, in der Badewanne, unter dem Waschbecken. Er zog sie dann aus und legte sie ins Bett. Nie ärgerte er sich mehr über sie, als wenn er ihr ein Nachthemd über die schlaffen, sauer riechenden Glieder ziehen musste. Nie fühlte er sich weniger schuldig an ihrem Unglück als in diesen Momenten. Er ging zur Badezimmertür und schob sie vorsichtig mit der Spitze des rechten Schuhs auf. »Jackie?«, rief er und hoffte auf eine Antwort, hoffte auf ein Zeichen, eine Äußerung, dass sie allein gehen konnte, irgendeine Geste, die bewies, dass sie an diesem Abend ihre Würde behalten hatte. Das Bad wurde von dicken lila Kerzen erhellt, die nach Beeren rochen, oder Kirschen, wahrscheinlich sollten es Blaubeeren oder Heidelbeeren sein. Der Wasserhahn tropfte wie ein zurückgelassenes Metronom, das den Takt auf einem schweigenden Klavier hielt. Auf den Kacheln neben der Badewanne stand ein fast volles Glas Weißwein und daneben ein leeres Pillenfläschchen, auf dessen Schild oben »Jackie Moore« stand und unten, in Maschinenschrift, »Dr. Davis Moore«. Die Wanne war gut halb voll mit lauwarmem Wasser,
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lief aber fast über wegen zusätzlichen gut hundertzehn Pfund nackter Leblosigkeit. Zum zweiten, aber nicht zum letzten Mal in seinem Leben stand Davis über den toten Körper eines Menschen gebeugt, den er einmal geliebt hatte.
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Justin mit neun
43 Die Leute gaben Sam Coyne als Kind viele grausame Namen, aber keiner hatte ihn mehr geschmerzt als »Mamasöhnchen«. Vielleicht war es die Andeutung, dass er schwach sei, vielleicht wollte er aber auch einfach nicht so eng mit seinen geselligen und exzentrischen Eltern identifiziert werden. Nach all den Jahren widerstrebte es ihm immer noch, mit seiner Mutter zum Einkaufen zu fahren, wenn sie ihn darum bat. Zusammen mit ihr in Northwood, wo er aufgewachsen war, Erledigungen zu machen, war ihm unangenehm. »Mensch, Ma«, sagte er und versuchte, erwachsen zu klingen. »Warum machst du mir nicht einfach eine Liste? Ich besorge schon alles. Du brauchst doch nicht mitzukommen.« »Gott, Sam«, sagte sie. »Du bist dreißig. Die anderen Jungen werden sich schon nicht über dich lustig machen, wenn sie dich mit deiner Mom sehen.« »Das ist es nicht«, murmelte er. Aber natürlich war es das, und als er noch einmal darüber nachdachte, begriff er, wie lächerlich es war. Vielleicht war es sein dreißigster Geburtstag (bei der Feier im Drake hatten ihn seine Kollegen aus der Kanzlei mit einer teuren Nutte überrascht) oder einfach nur, dass er übers Wochenende nach Hause gekommen war, aber Sam hatte Schwierigkeiten, sich wie ein Erwachsener zu fühlen. Er sah sich Leute Anfang zwanzig an und war überzeugt, dass sie älter waren als er. Er ging immer davon aus, dass bestimmte Berühmtheiten, Sportler zum Beispiel, älter waren als er, und es versetzte ihm jedes Mal einen Stich, wenn er las, dass dieser 204
Baseballspieler oder jener zwei Meter große Basketballer zehn Jahre jünger war. »Hast du in letzter Zeit mal ein nettes Mädchen kennen gelernt?«, fragte Mrs Coyne vom Beifahrersitz aus, als er rückwärts aus der Auffahrt fuhr. Genau hier hatte sich Sam mal von einer Cheerleaderin namens Alex im Auto einen blasen lassen. Alex hatte einen Zwillingsbruder, der ebenfalls Alex hieß, was Sam nicht aus dem Kopf wollte, als sie an ihm lutschte. »Nein«, sagte Sam. In Wahrheit gab es gleich eine ganze Reihe: Samantha, Joanne, Tammy, die Nutte aus dem Drake, und er machte keinen großen Unterschied zwischen ihnen. Wenn er eine Frau anrief, um sich mit ihr zu treffen, ging es darum, wonach ihm gerade war – die eine mochte Baseball, die andere ließ es sich gern über einen Ledersessel gebeugt besorgen. Mit dem Wunsch, eine ernsthafte Beziehung aufzubauen, hatte das alles nichts zu tun. Wenn eine Frau nicht gerade besonders gut darin war, seine momentanen sexuellen Wünsche zu befriedigen, ließ er bis zur nächsten Verabredung immer so viel Zeit verstreichen, dass es wieder wie beim ersten Mal war. Das reduzierte die Gefahr von Komplikationen. Sal Faludi war schon Sams ganzes Leben und länger Metzger in Northwood. Jeden Tag stand er in seinem Geschäft und befehligte rund fünfzehn Angestellte in einem Raum, der über die Jahre auf vier Ladenbreiten angewachsen war. Es war selten, dass man bei Faludi’s nicht warten musste, bis man an die Reihe kam. Im Sommer, an einem Samstagmorgen wie diesem, zog man eine Nummer. Sams war die vierundsiebzig. »Sechzig!«, rief Sal. Eine hübsche junge Frau etwa in Sams Alter, vielleicht auch ein paar Jahre älter, drückte die Glastür mit ihrem Hintern und den Schultern auf. Sam fiel gleich ihre ansprechende Figur auf, noch bevor sie sich umdrehte und ihre weißen Zähne und tollen 205
großen Augen sehen ließ. Im linken Arm hielt sie eine braune Lebensmitteltüte und mit der Rechten die Hand eines Jungen, der sieben, acht, vielleicht auch zehn Jahre alt war, irgendwas in der Richtung, dachte Sam. Sam starrte die Frau unverholen an, und sie lächelte ihm neugierig zu, begrüßte Sams Mutter und zog sich eine Nummer aus dem schneckenförmigen Automaten. »Oh, gut!«, sagte Sams Mutter und kniff ihm in den Arm. »Sam, sieh doch!« Sie machte zwei lange Schritte und einen anmutigen kleinen Sprung an die Seite der Frau und zog sie und den Jungen in Sams Richtung. »Martha!«, sagte Mrs Coyne. »Das hier ist mein Sohn Sam. Der, von dem ich Ihnen die ganze Zeit erzähle.« »Ich habe es mir fast schon gedacht.« Martha lachte. »Ich sehe, was Sie meinen. Hallo, Sam.« Sie ließ die Hand des Jungen lange genug los, um Sams schütteln zu können. Der Junge sah ihnen nacheinander in die Augen und seufzte höflich. Dieses Zusammentreffen würde sie noch länger im Laden aufhalten. Sam war liebenswürdig und verwirrt, wobei er annahm, dass seine Mutter ihn wieder mal verkuppeln wollte. Wenn es stimmte, hatte sie eine weit bessere Wahl als gewöhnlich getroffen, nur dass das Kind gleich automatisch eine Konkurrenz darstellte, was ein mögliches näheres Kennenlernen anging. Diese Martha sah äußerst gut aus. Sie hatte kurze rötlich blonde Haare mit einem modischen Pony, der nichts mit der üblichen Vorstadtfrisur zu tun hatte. Ihre Lippen waren voll und der Hals anmutig lang. Ihre Augen waren so groß und so grün, dass sie Sam an sexy aussehende Cartoonheldinnen erinnerten. Sie trug ein grünes ärmelloses Top mit engen Ausschnitten für die schlanken, trainierten Arme. Unter ihrem langen, mit abstrakten Blättern bedruckten Rock konnte Sam ein paar wohlgeformte athletische Beine ausmachen. Er mochte es, wie sie den Kopf neigte, wenn sie hallo sagte, die scheue, aber dennoch selbstsichere Art, wie sie Hände schüttelte, und den 206
ruhigen Respekt, den sie ihrem Jungen zollte (und von ihm zurückerhielt). Sie muss sehr jung gewesen sein, als sie ihn bekam, dachte er. »Sam, ich habe dir schon hundertmal von Martha erzählt«, sagte seine Mutter. »Wir treffen uns immer hier in der Stadt. Ihr Justin sieht genauso aus wie du in dem Alter.« Richtig, dachte Sam. Der kleine Junge. Das aus Versehen gezeugte Kind, mit dem ihn sein Vater immer nervte. Nein, seins war’s nicht. Sam konnte sich zwar nicht an jede Frau erinnern, mit der er geschlafen hatte, aber Martha hätte er niemals vergessen. Er lachte in sich hinein, als er sich ihr Fleisch auf seinem vorstellte, und sah jetzt zum ersten Mal richtig in das Gesicht des Jungen. Ja, er nahm an, dass er einmal so ausgesehen hatte. Ein bisschen. Aber sicher nicht so sehr, dass ihm seine Mutter schon seit einem Jahr ständig damit in den Ohren liegen musste. Allerdings sieht man sich natürlich nie selbst so oder erinnert sich so an sich selbst, wie es andere tun. Sich selbst zu erkennen ist ein Zeichen von Intelligenz, hatte sein Psychologieprofessor im ersten Semester behauptet. Nur entwickelte Säugetiere besitzen die Fähigkeit, das Bild im Spiegel als ihr eigenes zu erkennen. Aber der Spiegel verzerrt auch. Wie oft hat man schon Leute sagen hören: »Das ist ein schreckliches Foto von mir«, obwohl es doch ziemlich treffend war? Wir verleugnen die korrekten Bilder, weil sie nicht mit den idealisierten Schnappschüssen übereinstimmen, die wir von uns in unseren Köpfen haben. »Ich glaub’s kaum«, sagte Sam. Mrs Coyne öffnete ihre Handtasche. »Seit einem Monat trage ich jetzt dieses alte Foto mit mir herum, damit ich es Ihnen zeigen kann, wenn ich Sie treffe, und die ganze Zeit über habe ich Sie nicht gesehen. Ist es nicht immer so?« Sie machte Paddelbewegungen in der großen Tasche und schob alles Mögliche zur Seite, das sie für den Fall der Fälle bei sich hatte, 207
zum Beispiel Lippenbalsam, Erfrischungstücher und die Schlüssel zum Haus ihrer Schwester in Rockford. »Hier«, sagte Mrs Coyne und hatte ganz offenbar etwas gefunden. »Oh, ja. Das ist es.« Sam und Martha beugten sich näher heran, um besser sehen zu können, während Justin hinaus auf den Bürgersteig blickte. Auf dem Foto war Sam ungefähr acht Jahre alt. Es war Winter, und Sam trug Schneehosen und einen Parka und zog einen Schlitten. Er trug zwar keine Mütze, aber Sam wunderte sich, warum seine Mutter gerade dieses Foto ausgesucht hatte, um seine Ähnlichkeit mit Marthas Sohn zu demonstrieren, wo sie doch Dutzende andere zur Auswahl gehabt hätte, auf denen er nicht so unter Nylon und Fleece versteckt gewesen wäre. Wahrscheinlich ging es um die Weihnachtsbeleuchtung im Hintergrund an ihrem Haus, für die seine Eltern im Viertel so bekannt waren. Als er sich auf dem Foto so betrachtete, musste er allerdings zugeben, dass seine Ähnlichkeit mit Justin frappierend war. Sie hatten das gleiche blonde Haar (obwohl Sams kürzer gewesen war), ähnliche Wangenknochen und das gleiche Kinn. »Wow!« Martha grinste, trat ein Stück zurück und beugte sich wieder vor, wie um sich noch einmal zu versichern. »Justin, sieh doch«, sagte sie. »Sieh dir Mr Coyne an, als er in deinem Alter war. Er sieht genau aus wie du.« »Wow«, sagte Justin tonlos und warf auch einen Blick auf das Foto. Für einen Moment war seine Neugier geweckt, und seine Brauen schoben sich höher, was für Sam bedeutete, dass der Junge die Ähnlichkeit sah, aber es war ebenso offensichtlich, dass Justin sich an keiner Unterhaltung beteiligen wollte, die ihn länger als nötig mit seiner Mutter beim Einkaufen halten würde. Sam verstand ihn.
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Martha gab Mrs Coyne die Fotografie zurück und sah Sam in die Augen. »Da kann er sich ja auf einiges freuen, wenn er mal so aussehen wird wie Sie.« Sie flirtet mit mir, dachte Sam. »Vierundsiebzig!«, rief Sal. Sam holte seine Nummer hervor und gab sie Martha. »Nehmen Sie nur«, sagte er. »Wir tauschen. Sieht so aus, als würde Justin hier am liebsten schnell wieder rauskommen wollen.« Martha hob die Brauen. »Das ist sehr freundlich, aber sicher nicht nötig.« Mrs Coyne schob Marthas Hand zurück, als sie die Nummer zurückgeben wollte. »Lassen Sie nur. Wir sind wirklich nicht in Eile.« »Danke«, sagte Martha. »Ich danke Ihnen sehr.« »Geschieden«, flüsterte Sams Mutter ihm auf seine unausgesprochene Frage hin zu, nachdem Martha ihnen zum Abschied zugewinkt hatte und Richtung Kasse ging. Sam fuhr am Sonntag nach einem frühen Abendessen zurück in die Stadt und rief vom Auto aus die unschuldig aussehende, aber hemmungslose Tina an, die er auf der Weihnachtsfeier eines Mandanten kennen gelernt und gleich dort gevögelt hatte. Heute, in ihrer zweiten Nacht zusammen, lag er auf dem Rücken und Tina setzte sich mit abgewandtem Gesicht auf ihn. Im Fernsehen liefen die Nachrichten, der Ton war heruntergedreht. »Oh, Gott«, schnurrte Tina, »dieser Typ im Fernsehen sieht so ’n bisschen aus wie du.« Sam hatte vergessen, dass Tina nicht aufhörte zu reden. Als sie es im Büro ihres Chefs miteinander trieben, hatte sie ihm von dem Irren aus der Buchhaltung erzählt, der jeden Morgen, wenn sie aufs Klo ging, an ihren Schreibtisch kam und den Lippenstift von ihrer Kaffeetasse leckte. 209
»Ich hab das in letzter Zeit öfter gehört«, sagte Sam und packte ihre Hüften, um sie im richtigen Rhythmus zu halten. »Wer ist der Kerl?« »Ein Footballspieler. Jimmy Spears steht drunter.« Sie kicherte und grub die roten Nägel in seine Schenkel. »Der Typ ist geil.« »Ein Langweiler«, sagte Sam. »Was macht der denn mitten im Juli im Fernsehen?« »Weiß nicht«, sagte Tina. »Egal.« Sie beugte sich nach hinten, und Sam packte ihr in das kastanienbraune Haar und fuhr ihr mit der anderen Hand über den Hals und am Kieferknochen entlang. Als er an ihren Mund kam, biss sie fest genug hinein, um etwas Blut zu schmecken. Später, als seine Hände über die schwachen, aber exquisiten Flecken strichen, seine und ihre, die sie sich durch ihr Kratzen, Beißen und Schlagen zugefügt hatten, versuchte er, sich Marthas Körper an Stelle von Tinas vorzustellen, und wie sie heimlich, leise und hausbacken miteinander vögelten, während der kleine Junge, der genauso aussah wie er, ein Zimmer weiter friedlich schlummerte. Zu seiner Überraschung gelang es ihm fast.
44 WEISS-PROZESS FÜR HERBST ANGESETZT Vic Fabian, Brixton Courier Es ist 32 Jahre her, dass John Francis McCullough für schuldig befunden wurde, die in Calhoun ansässige Molly Bowman erstochen zu haben, aber die Verantwortlichen in Brixton sagen, dass am 14. November alles bereit sein wird, wenn nach drei Jahrzehnten im Gericht an der Main Street erstmals wieder ein 210
Mordfall verhandelt wird, diesmal gegen Richard Cantrell Weiss. Richard Cantrell Weiss, ehemaliger Schüler der Brixton High School und bis zu seiner Verhaftung Angestellter des Brixton Country Club, wo er für die Pflege des Golfplatzes zuständig war, wird des Mordes an Phillip Canella beschuldigt, einem Privatdetektiv, der im letzten Oktober hier in der Gegend Ermittlungen durchführte. Canella ermittelte im Auftrag einer Frau aus dem Raum Chicago, die ihrem Mann, einem Arzt, eheliche Untreue unterstellte. Weder die Polizei noch der Bezirksstaatsanwalt äußern sich zu möglichen Verbindungen zwischen Weiss und diesem Arzt (dessen Name aus der Anklageschrift gestrichen wurde), obwohl er Quellen zufolge in den Zeugenstand gerufen werden könnte. Die Bezirksstaatsanwaltschaft verweigert auch jede Auskunft zu bestehenden Gerüchten, Jimmy Spears, der Quarterback der Miami Dolphins, ein gebürtiger Brixtoner und Schulkamerad von Weiss, könne ebenfalls in der Sache befragt werden. Die Polizei wurde auf die mögliche Verwicklung von Weiss in den Mord an Canella durch dessen Partner aufmerksam gemacht, der das Beweismaterial von Margaret Weiss, der Ehefrau des Angeklagten, erhalten haben will. Eine nachfolgende Befragung des vormals in Brixton ansässigen Herman Tweedy führte die Polizei in eine bewaldete Gegend in der Nähe von Beck City, wo Canellas verweste Leiche aufgefunden wurde. Wie es heißt, arbeitet Margaret Weiss mit der Polizei zusammen, und die Entscheidung über eine Anklage gegen sie steht noch aus. Herman Tweedy hat sich bereits der Irreführung der Justiz und der Komplizenschaft nach der Tat schuldig bekannt. Die Chicagoer Zeitungen berichteten über die Verhaftung von Weiss, aber Philly hatte keine Familie in der Gegend, was für lokales Interesse gesorgt hätte, und so bestand die fortschreitende Berichterstattung vornehmlich aus kurzen Agenturmeldungen oder einer gelegentlichen Notiz im Sportteil 211
zum Stand der Dinge. Auf »anonyme Quellen aus dem Umfeld der Untersuchung« verweisend, wurde Davis schließlich im Daily Herald als der Arzt aus Chicago enttarnt, der aus der Anklageschrift gestrichen worden war. Die anderen Zeitungen folgten nach. Die Sun-Times nannte Joan Burton als »Dr. Moores Partnerin« und ließ anklingen, dass sie auch die mutmaßliche Geliebte sei, die Phil Canella zu überführen versucht habe. Davis’ Anwalt Graham Mendelsohn verweigerte jeden Kommentar und verwies darauf, dass sein Mandant die eigene Tochter durch einen Mord und später auch seine Frau durch Depressionen mit anschließendem Suizid verloren habe; auch auf ihn selbst sei bereits ein Mordanschlag verübt worden. Die örtliche Presse verfolgte die Verbindung zu Moore nicht aggressiv weiter, aber das könne sich ändern, erklärte Graham seinem Mandanten, wenn er tatsächlich als Zeuge aufgerufen werde. »Die Sache könnte sich dramatisch ändern, je nachdem, was du dem Gericht zu sagen hast«, sagte Graham. »Ich verstehe«, sagte Davis. »Gibt es irgendetwas, das du mir in diesem Moment mitteilen willst?« Davis sagte, es gebe nichts. An dem Tag, als die stellvertretende Bezirksstaatsanwältin von Carlton County, Nebraska, nach Northwood reiste, um die Aussagen von Dr. Moore und Dr. Burton aufzunehmen, etwa zu der Zeit, als die Bezirksstaatsanwältin mit zwei weiteren Mitarbeitern ihres Stabes in O’Hare landete, trafen sich Davis und Joan in seinem Büro, um etwas nervös über die vor ihnen liegende Befragung zu sprechen. »Wozu haben wir uns entschieden?«, fragte Joan, nachdem sie sich auf die steife braune Couch gelegt hatte, die kaum je benutzt wurde. »Wir werden es ihnen sagen müssen, oder?« 212
»Müssen wir das?« »Verdammt noch mal, Davis, in einer Stunde sind sie hier.« Davis rieb sich die Augen mit den Fingerknöcheln und seufzte. »Was werden sie uns wirklich fragen? Sie werden wissen wollen, wie wir in Kontakt mit Ricky Weiss gekommen sind, und ich werde ihnen sagen, dass ich seit Jahren versuche, den Mörder meiner Tochter zu finden. Weiss schrieb mir eine EMail, weil der dachte, den Mann auf dem Bild identifiziert zu haben, das ich ins Internet gestellt hatte. Daraufhin fuhren wir zwei nach Brixton, um der Sache auf den Grund zu gehen, und erklärten ihm, dass er sich getäuscht hätte. Meine Frau hatte derweil einen Detektiv engagiert, der uns dorthin folgte. Ich hatte keinerlei Ahnung davon, bis ich Wochen nach Jackies Tod durch die Polizei davon erfuhr. Weiter reicht unsere Verbindung mit dem Fall nicht.« »Sie werden wissen wollen, woher du das Bild hattest?« »Ich habe es am Computer gezeichnet.« Joan nahm den Ton der Befragenden an: »Wirklich, Dr. Moore? Auf der Grundlage welchen Materials?« Davis hatte seine Lüge eingeübt. »Auf der Grundlage des Täterprofils, das die Polizei im Rahmen ihrer Untersuchung des Mordes an meiner Tochter angelegt hatte.« Joan sagte: »Sie werden wissen wollen, ob wir eine Affäre hatten.« »Nein, das hatten wir nicht«, sagte Davis wahrheitsgemäß. »Und die Fotos, die du von Justin hast machen lassen?« Davis nickte. »Ich habe alles der Polizei übergeben. Ich habe ihnen erklärt, dass ich Material für die Langzeitstudie über einen jungen Patienten gesammelt habe.« »Oh, Davis. Wirklich. Eine geheime Studie?« »Ich wollte nicht, dass die Eltern die Ergebnisse verfälschten«, sagte Davis. »Nicht mal du wusstest davon. Ich habe dich 213
gebeten, mir dabei zu helfen, AKs Mörder zu finden, sonst hast du mit alledem rein gar nichts zu tun. Wahrscheinlich unterstellen sie uns, dass wir miteinander schlafen. Sie werden nicht annehmen, dass die Fahrt nach Brixton irgendetwas mit Justin zu tun hatte.« »Du wirst Schwierigkeiten bekommen wegen dieses Unsinns mit der geheimen Studie. Der Kontrollausschuss …« »Ja, aber nur ich.« »Ich will nicht lügen.« »Ich habe dich nie darum gebeten.« Er wollte zur Couch gehen. Sie in den Arm nehmen. Er tat es aber nicht. Seit Jackies Tod hatte Davis bereits mehrmals überlegt, ob er sein Verhältnis zu Joan weiter vorantreiben sollte, über Kollegialität und Verschwörertum hinaus, aber jedes Mal hatte er am Ende entschieden, dass er es nicht konnte. Es war nicht so, dass es zu früh gewesen wäre – auch wenn er um Jackie trauerte, hatte er sich doch schon seit Jahren nicht mehr als ihr Ehemann gefühlt. Es kam ihm einfach nicht richtig vor. Es wäre in jener Nacht in Lincoln nicht richtig gewesen und auch das runde Dutzend Mal danach nicht. Auch heute, wo ein Staatsanwalt auf dem Weg in dieses Büro hier war, um sie geradeheraus zu fragen, warum sie heimlich zusammen nach Brixton, Nebraska, gefahren waren, auch heute noch fühlte es sich nicht richtig an. Seine Liebe zu Joan reichte allein nicht aus, um es richtig zu machen.
45 Vor zwanzig Jahren, als Sam Coyne zehn gewesen war, war das Zentrum von Northwood eine ärmliche Ansammlung von Läden gewesen, in denen man Staubsauger reparieren lassen, Münzen, 214
billige Pelze und gebrauchte Bücher kaufen konnte. Dazu kam eine Hand voll Speiselokale. Dann kam die Zeit der Wiederbelebung. Fast gleichzeitig begannen Chicagos Vororte sich mit einem Mal wieder als selbstständige Gemeinden zu sehen. Besondere steuerliche Angebote wurden entwickelt und von Boutiquen, Bekleidungsgeschäften und guten neuen Restaurants wahrgenommen. Innerhalb von fünf Jahren erneuerte sich das Gesicht des Vororts und errang die Art Prestige, die sich seine Bewohner immer gewünscht hatten. Tony Dee, ein Koch aus Chicago, der zehn Jahre lang zwischen den italienischen Drei-Sterne-Restaurants der Taylor Street hin und her gewechselt war, eröffnete sein eigenes Restaurant Mozzarell hier aufgrund einer äußerst einfachen Gleichung: niedrige Steuersätze, niedrige Pacht und dazu hohe Einnahmen. An einem normalen Samstagabend fuhren in diesen Tagen ebenso viele Leute in ihrem Mercedes aus der Stadt hinaus nach Northwood, um dort essen zu gehen, wie andere ihre BMWs in die entgegengesetzte Richtung steuerten. Einen Platz im Mozzarell zu bekommen, war nicht ganz einfach. Sam hatte Martha eingeladen, sich dort mit ihm zu treffen, weil er (zu Recht) angenommen hatte, dass ihr die gehobene Atmosphäre gefallen würde, und auch weil er wusste, dass sie Geld für den Babysitter sparte, wenn er sie noch vor elf wieder nach Hause brachte, eine Überlegung, die er ausdrücklich ansprach, als sie ihn anrief. Genau, sagte er sich noch einmal. Sie hatte ihn angerufen. Der Salat kam, und Martha hatte gerade einige der Orte beschrieben, an denen sie schon gelebt hatte. »Terry und ich sind dann nach Northwood gezogen, nachdem sich hier einiges verändert hatte, nehme ich an. Ich habe den Ort nie so gesehen, wie er früher einmal gewesen sein muss.«
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»Es war ein Scheißloch«, sagte Sam und plapperte sofort eine schnelle Entschuldigung, ohne ihr Zeit zu geben, darauf zu reagieren. »Heute ist es schön hier, aber als Kind habe ich Northwood gehasst.« »Ich nehme an, wir haben alle etwas gegen die Orte, an denen wir aufwachsen«, sagte sie. »Weil sie uns an all die Dummheiten erinnern, die wir lieber ungeschehen machen würden.« »Und heute verkaufen Sie Immobilien?« Martha neigte den Kopf etwas nach links hinten. Es war wie ein seltsam verrutschtes Nicken, das sie sich angewöhnt hatte und das Leute, die sie gut kannten, oft im Spaß nachmachten. »Ja. Ich komme zwar mit den Unterhaltszahlungen ganz gut zurecht, aber mit einem Jungen im Haus brauche ich schnell auch schon mal mehr. Ich will ihm nicht alles Mögliche vorenthalten, und er sollte nicht darunter zu leiden haben, dass sein Vater ein … nun ja, Sie wissen schon. Es ist eine gute Zeit, hier in Northwood Häuser zu verkaufen. Der Markt steht unter Druck. Lassen Sie’s mich wissen, wenn Sie wieder herziehen wollen.« Sam sah sie mit einem sarkastischen Lächeln an, das zeigte, für wie unwahrscheinlich er das hielt. »Und Sie?«, fragte er. »Wo kommen Sie ursprünglich her?« Die Frage erinnerte Martha an Justins Fragen, die er ihr immer wieder stellte, seine nicht aufhören wollenden vagen existenziellen Fragen. »Eher aus dem Süden der Stadt«, sagte sie. »Ah«, sagte Sam. Er war kaum einmal südlich über die 35. Straße hinausgekommen, wo die Sox spielten, allerdings war er schon bei Freiluftkonzerten in Tinley Park gewesen. »Und … Terry, was hat der gemacht?«
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»Termingeschäfte. Die LaSalle-Street-Geschichte. Man verdient einen Haufen Geld und muss versuchen, nicht alles auszugeben, bevor sich der Markt gegen einen dreht. Er war ganz gut.« »Wo ist er jetzt?« »New Mexico. Er hat gleich wieder geheiratet.« »Man sollte denken, dass er näher bei Justin hätte bleiben wollen.« »Ja, sollte man.« Sie lächelte und sah hinunter auf ihren Salat, ein Zeichen, dass sie nicht mehr über ihren Mann sprechen wollte. Bereitwillig wechselte Sam das Thema. »Sie sagten, Sie wollten mich etwas fragen.« »Ja«, sagte sie. »Und bitte, sagen Sie mir, wenn es Ihnen zu weitschweifig wird.« »Aber nein«, sagte er. »Bitte.« »Sie haben von dem Mordprozess in Nebraska gehört? Wo das Opfer ein Privatdetektiv von hier war?« »Ja, habe ich.« »Nun, ich habe in gewisser Weise damit … zu tun«, sagte Martha. »Warum? Wie meinen Sie das?« Was sie sagte, war keine wirkliche Antwort. »Ich stehe auf der Zeugenliste für die Anklage und für die Verteidigung.« »Sie machen Witze. Warum?« Martha erzählte ihm die Geschichte ihrer Freundschaft mit Sally Barwick und ihres Verrats. Wie die Fotos über die Frau ihres ehemaligen Arztes, Dr. Davis Moore, in den Besitz des ermordeten Privatdetektivs gelangt waren. »Terry und ich hatten Probleme, ein Kind zu bekommen«, erklärte sie. »Also sind wir
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in die New-Tech-Klinik gegangen, und Dr. Moore hat uns geholfen, Justin zu bekommen.« Sam sagte nichts und sog Luft durch die Nase, bis er sich sicher war, dass seine Miene leicht besorgt wirkte, aber im Übrigen nicht zu deuten war. »In welcher Verbindung stand dieser Dr. Moore mit dem Ganzen?« »Ich habe von dem Verteidiger nicht viel in Erfahrung bringen können. Er sagte, er würde mich vielleicht gar nicht aufrufen lassen. Aber die Bezirksstaatsanwaltschaft hat ein bisschen mehr zu erkennen gegeben. Wenn ich die Dinge richtig verstehe, behauptet der Angeklagte, dieser Ricky Weiss, dass Dr. Moore Phil Canella den Auftrag gegeben hatte, ihn zu töten.« Sam tat so, als kaute er gerade auf einem Stück Fleisch. Er wollte vorsichtig sein und ihr nicht zeigen, wie viel er über Dr. Moore wusste. Sie war fähig, ihn mit Fragen zu überschwemmen, und er war nicht in der Stimmung, sich heute Abend auf komplizierte Lügen einzulassen. »Richtig, was in den Zeitungen stand, war zwar nicht ganz klar, aber im Prinzip ging es doch wohl darum, dass irgendein verrückter Footballspieler seine Tochter umgebracht hat, oder?« »Genau. Moore behauptet, das stimmt nicht, aber der Bezirksstaatsanwalt sagt, dass Moore eine Detektivagentur in Gurnee beauftragt hat und diese wiederum Sally Barwick, Bilder von meinem Sohn für ihn zu machen. Vier, fünf Jahre lang. Für mich war Sally einfach nur eine Fotografin, und ich habe sie immer wieder gebeten, Justin zu porträtieren. Für unser Familienalbum.« Dr. Davis Moore ein Pädophiler?, dachte Sam. Wenn das stimmte, wäre es noch köstlicher als das Essen vor ihm. »Wahnsinn. Kaum zu glauben. Wofür wollte der Doktor die Fotos?«
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»Ich weiß es nicht. Moore behauptet offensichtlich, dass er sie für eine Studie brauchte, über seine Arbeit, aber der Bezirksstaatsanwalt glaubt ihm das nicht ganz.« »Wahnsinn. Und bohren die da jetzt weiter nach?« »Sie sagen, das gehört ihrer Meinung nach nicht zum Fall.« »Und was gehört ihrer Meinung nach dazu?« »Nun, Sally war nur eine Art freie Mitarbeiterin. Es ist nicht mal klar, ob sie wusste, dass die Bilder für Dr. Moore bestimmt waren. Aber Phil Canella hat direkt für Dr. Moores Frau gearbeitet. Sie dachte offenbar, dass ihr Mann sie betrügt, und ich nehme an, Dr. Moore und Dr. Burton waren nach Brixton gefahren, um Weiss zu treffen, und Canella ist ihm nach, im Auftrag von Mrs Moore.« »Und dann stolpert er über Ricky Weiss, und der leidet unter Verfolgungswahn und bläst den Mann um«, sagte Sam. »So stand es wenigstens in der Tribune.« »Auf jeden Fall denkt der Bezirksstaatsanwalt, dass die Verteidigung möglicherweise Justins Fotos als Beweismittel einbringt. Wahrscheinlich, um die Jury mit all diesen verrückten Verbindungen so weit zu bringen, dass sie Weiss seine Verschwörungstheorie abkaufen.« »Es klingt tatsächlich so, als gäbe es da jede Menge komische Zufälle«, sagte Sam. »Es wird noch schlimmer«, flüsterte Martha und beugte sich vor, als verschwände sie so hinter einem unsichtbaren Vorhang, der sie vor den anderen Gästen verbarg. »Terry und ich haben vor sechs Jahren eine Agentur beauftragt. Keine von hier oben, sondern aus der Stadt. Einer von Terrys Kollegen kannte sie.« »Und wofür haben Sie einen Detektiv gebraucht?« Sie tat die Bedeutung der Frage mit einer Handbewegung ab. »Es ging um eine … eine familiengeschichtliche Sache. Um ein paar Geburtenregister im Osten. Wir waren auf der Suche nach 219
einem von Terrys Vorfahren. Aber jetzt raten Sie mal, wem die den Job gegeben haben?« »Sally? Jetzt fangen Sie aber an, Märchen zu erzählen.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist die Wahrheit. Aber ich wusste es nicht, weil ich sie damals nie getroffen habe.« »Unglaublich. Wurden Sie schon befragt?« »Nein, und der Bezirksstaatsanwalt sagt, das werde ich wahrscheinlich auch nicht, es sei denn, sie wollen mich doch aufrufen, und das könnte noch in letzter Minute geschehen. Ich hatte gehofft, dass Sie mir dabei helfen könnten, mich vorzubereiten, wenn es dazu kommt. Nicht als Gefallen. Ich meine, ich würde Sie dafür bezahlen.« Sam runzelte die Stirn und wischte sich den Mund mit der Serviette ab. »Machen Sie sich da mal keine Sorgen. Gibt es einen Grund, dass Sie denken, Sie könnten einen Anwalt brauchen?« Sie schloss die Augen. Ihre Wimpern waren lang genug, so schien es Sam, um über ihre Wangen zu streichen. »Ich bin einfach verwirrt und fühle mich verraten. Es ist mir ein bisschen peinlich, als Randfigur in einem merkwürdigen Mordfall in Nebraska eine Rolle zu spielen. Ich bin einfach auf der Hut.« »Ich könnte Ihnen einen Strafverteidiger empfehlen, wenn Sie sich dann besser fühlen …« »Nein, so ernst wird es sicher nicht«, sagte sie. »Ich bin nur nervös, und es fällt mir nicht unbedingt leicht, darüber zu sprechen.« »Was für eine Riesenscheiße«, sagte Sam und fragte sich gleich, ob er sich anders hätte ausdrücken sollen, aber dann entschied er, dass es lächerlich war, zu feinsinnig zu sein, besonders wenn er an das dachte, was er für später mit Martha plante. Das Schweigen nach seiner Bemerkung dehnte sich zu lang, er füllte es mit einer eher beiläufigen Bemerkung, wobei er 220
dachte, es wäre am besten, ein bisschen von der Wahrheit herauszulassen. »Ich glaube, ich war mit Dr. Moores Tochter auf der High School.« Martha schien nicht überrascht und sagte: »Der Bezirksstaatsanwalt von Nebraska sagt, er sei sich nicht sicher, ob Dr. Moore in Bezug auf die Fotos etwas Illegales gemacht hätte. Es läge sowieso nicht in seinem Zuständigkeitsbereich.« Die Sache wird langsam interessant, dachte Sam. Er erinnerte sich, wie sehr Anna Kat sich nach der Anerkennung ihres Vaters gesehnt hatte. Wie sie gesagt hatte, wie schwierig es für sie sei, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. »Illegal. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Für mich klingt es mehr wie Belästigung. Verletzung der Privatsphäre. Ausnutzung eines Minderjährigen. Sie sollten sich überlegen, ob Sie ihn nicht anzeigen wollen. Das könnte den Weg für eine Zivilklage ebnen.« »Wirklich?« »Aber ja. Was immer er im Sinn hatte, es war eine fiese Sache. Er war Ihr Arzt. Ein Arzt, der Sie für seine Zwecke missbraucht hat. Neun von zehn Jurys würden alles tun, um ihm das nachzuweisen.« Sie wurde rot. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr mich das Ganze aufgeregt hat. Ich habe keinerlei Vorstellung, wofür er die Bilder von Justin brauchte, es sei denn, es war etwas …« Sie erschauderte. »Ein Päderast«, spuckte Sam. »Der ist pervers, darauf wette ich.« »Ich habe ihn wirklich gemocht«, sagte Martha. »Und Dr. Burton auch. Ich kann nicht glauben, dass sie mit so etwas zu tun haben könnte. Fast nehme ich an, dass da noch mehr dahinter steckt. Aber ich hätte ja auch nie im Traum gedacht, dass Sally uns all die Jahre ausspionierte. Es ist alles so merkwürdig.«
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»Nun, so eine Art Fall – ich denke, das nennt man ärztliches Fehlverhalten –, so ein Fall wäre nicht ganz mein Bereich, aber wenn Sie das nicht auf sich beruhen lassen wollen, gebe ich Ihnen den Namen von einem Kollegen in unserer Kanzlei.« Sie lächelte. »Gott, da wäre ich Ihnen dankbar.« Gott, dachte Sam. Läuft ja bestens. Sam zahlte die Rechnung mit seiner Platinum-Karte und fügte für die Kellnerin ein großzügiges Trinkgeld hinzu, falls Martha ihm über die Schulter sah. Martha wohnte nach wie vor in dem Haus, in dem sie auch mit Terry gelebt hatte (»Er zahlt immer noch die monatlichen Raten«, sagte sie und verzog dabei verlegen den Mund), und Sam bestand darauf, den Babysitter mit den Zwanzigern zu bezahlen, die er vorher aus dem Automaten gezogen hatte. Zusammen schlichen sie auf Zehenspitzen nach oben, um einen Blick auf den schlafenden Justin zu werfen, der verdreht auf dem Bauch oben auf seinem Bettzeug lag, als wäre er aus großer Höhe darauf gefallen. Sein Schnarchen wirkte wie ein sanftes Hintergrundgeräusch, das Sam, selbst auch ein Schnarcher, fast als wohltuend empfand. Das Zimmer war voller Bücher. Da gab es mehr Bücher als Spielzeug. Es war zu dunkel, um einzelne Titel oder Autorennamen lesen zu können, aber Sam sah an der Dicke und Schlichtheit der Rücken, dass es Bücher für ältere Kinder oder gar für Erwachsene sein mussten. Martha hatte gesagt, Justin sei intelligent, aber das sagten sicher alle Moms über ihre Kinder. Sie schlossen die Tür, und Sam folgte Martha nach unten. Wenn er seinem Gefühl glauben konnte, war das gerade nicht das letzte Schlafzimmer gewesen, das er heute in diesem Haus von innen sehen würde. Wer hätte geglaubt, dass Sam Coyne mit dreißig versuchen würde, eine ältere Frau ins Bett zu bekommen? Sicher nicht Sam selbst, obwohl er annahm, dass sie höchstens vier oder fünf Jahre älter war. 222
Martha öffnete eine Flasche Rotwein, und Sams gesammelte Vorurteile über Northwood und allein erziehende Mütter bestätigten sich: Es war ein Merlot. Martha setzte sich auf die Couch, und Sam setzte sich wagemutig dicht neben sie. Er sah sie unverwandt an, verzog das Gesicht langsam zu einem Lächeln und wandte den Blick nicht von ihr, während er das Glas an die Lippen hob und einen kräftigen Schluck nahm. Martha machte das Schweigen nervös, und als ihr nichts zu sagen einfallen wollte, wich sie seinem Blick aus und sah verlegen weg. »Ich habe schon eine ganze Weile … keine Verabredung mehr gehabt«, sagte sie. »Das kann ich nicht glauben«, sagte Sam und griff nach ihren Haarspitzen. Als Martha ihn angerufen und vorgeschlagen hatte, zusammen essen zu gehen, hatte er gleich zugesagt und sofort angefangen, ihren ersten Fick zu planen. Sam machte sich dazu Notizen in dem ledergebundenen Notizbuch, das er immer bei sich trug (verschlüsselte Notizen, falls er es einmal verlieren sollte oder es jemand bei ihm entdeckte). Er schrieb alles auf, was er über Martha wusste (was nur wenig war), und dazu das, was er vermutete, wobei er sich auf seine Erfahrungen mit Frauen stützte, die ihr ähnlich schienen. Die Buchstaben und Symbole ergaben eine Art Formel, die eine Kombination von Techniken, Positionen und sexuellen Derbheiten ausdrückte. Er war so entschlossen, alles richtig hinzubekommen, dass er eine Woche vorher sogar eine teure Hure engagierte, um eine Art Testlauf zu machen. Sie trafen sich im Swissôtel (er nannte Huren nie seinen wirklichen Namen und holte sie auch nie zu sich in die Wohnung – wenn sie wussten, wer er war, konnte er nicht völlig loslassen, und es schützte ihn auch, wenn die Sachen aus dem Ruder liefen, was bedauernswerterweise schon zweimal passiert war). Er war dem Escort-Service gegenüber sehr genau, gab ihnen Marthas Größe, Gewicht und Haarfarbe, 223
ihren geschätzten Hüft- und Taillenumfang, die Schulterweite und sogar ihre Stimmlage an, die im tieferen Bereich lag und eher weich war, ohne die nasalen Vokale aus dem Mittelwesten. Martha klang wie Geldadel oder aus Ontario, genauso diktierte er es der automatischen Auftragsannahme des Services. Ihre Auswahl war gut. Sie nannte sich Fonia (»wie Sinfonia«, sagte sie an der Bar, als wäre das von irgendeiner Bedeutung), und wenn ihr Gesicht auch wenig mit Marthas zu tun hatte, so hätte sie doch sicher in ihre Kleider gepasst. Sie hatte genau Marthas Figur. Obwohl sie viel jünger als Martha war (sie mochte gerade zwanzig sein), konnte er sich, als er oben im Zimmer mit dem Skript anfing, leicht vorstellen, dass ihre Hüften, ihre Brüste und Brustwarzen die von Martha waren, genau wie ihr Stöhnen. Er schrieb ihr nicht vor, was genau sie sagen sollte, befahl ihr aber mehrmals, etwas weniger enthusiastisch zu sein, weil er das Gefühl hatte, dass sie ihre Rolle übertrieb. »Du forderst mich, Baby«, sagte Fonia über ihre Schulter, und Sam lächelte und sagte nichts weiter dazu. Einmal schlug er ihr etwas fester ins Gesicht, als er vorgehabt hatte. Nicht so fest, dass man etwas gesehen hätte, aber fester, als Martha es wahrscheinlich akzeptieren würde. Einen Augenblick lang lag Angst in Fonias Blick, aber Sam entschuldigte sich und klang dabei aufrichtig, und Fonia schien beruhigt. Nur etwas erschrocken, sagte sie. Genau deshalb brauchte er diesen Testlauf. Jetzt saß Sam neben Martha auf der Couch und griff in ihr Haar, stellte sein Glas ab und beugte sich so vor, dass sein offener Mund auf ihrem Hals landete. Sie fuhr zusammen, wollte das Glas auf dem Couchtisch abstellen, stieß dabei aber in ihrem Schrecken gegen eine dicke Zeitschrift und schüttete den Wein auf den beigefarbenen Teppich. »Oh, Scheiße«, sagte sie.
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»Lass es«, flüsterte Sam streng und hoffte, damit die Tonlage anzuschlagen, die zu der Art Sex passte, die er sich vorstellte: ungehetzt, einstudiert und kurz vor dem Höhepunkt ein bisschen schmerzhaft, aber ohne irgendwelche bleibenden Spuren zu hinterlassen. Wie es ihr noch nie einer besorgt hatte. Sie zögerte, ihr freier Arm schwebte über dem Glas, dann küsste sie ihn unsicher – neugierig, ausgehungert, unentschieden. Sie ist lange mit niemandem mehr zusammen gewesen, dachte Sam. War einsam. Hat sich abgelehnt gefühlt. Auf all das zählte er. Wie ein Ringer packte er ihr Handgelenk und drehte sie mit dem Gesicht nach unten auf die Couch. Er presste seine Hüften gegen ihren Rücken und zog ihren Kopf so zurück, dass ihr Mund seinen berühren konnte. Sie protestierte wenig überzeugend, bäumte sich mehrmals gegen ihn auf, antwortete aber immer noch mit ihren Lippen und der Zunge. Er hob ihr das Kleid an, drückte ihre Schulter nach unten und wartete, dass sie sich ihm völlig unterwarf, erst dann würde er in sie eindringen. Sam befreite sich aus seinem Hemd, zog sich den Gürtel aus der Hose und warf beides über ihren Kopf hinweg auf den Boden. Sie rief, er solle aufhören, einmal, zweimal und dann laut und verzweifelt, worauf er sie umso fester in die Polster drückte. Wie ein verängstigter Schwimmer zog sie sich auf die Lehne und rief wieder: »Nein!« Er lachte und drückte und wartete. Gleich schon würde sie nachgeben. Wenn er sich nicht völlig in ihr täuschte, würde sie nachgeben. Stattdessen jedoch griff sie nach einem Kugelschreiber auf dem Beistelltisch neben der Couch, ließ den Mechanismus einmal klicken und stieß ihm den Stift in den Oberschenkel. Sam jaulte auf und ging zurück auf die Knie. Der Kugelschreiber war nicht mit großer Kraft in ihn gedrungen, aber er hatte ihn überrascht. Er sah nach, ob die Farbe auf dem Schenkel Blut oder Tinte war, und Martha gelang es, sich zu befreien. Keuchend rutschte sie auf den Boden. Sam sammelte sich und ging schnell die Beruhigungsrede durch, die er 225
normalerweise in solchen Fällen hielt. Tut mir Leid, Baby. Ich dachte, dir würde es so gefallen, da lag so eine Schwingung in der Luft. Mann, du warst schon lange nicht mehr unterwegs, was? Da hat sich einiges verändert. Die Leute sind nicht mehr so gehemmt. Hören mehr auf ihre animalischen Triebe. Heute schreiben sie ja schon in der Wochenendbeilage der Tribune über S&M. Aber wir können’s auch auf deine Art machen. Wie immer du es willst. Aber er kam nicht dazu, sie zu halten. Als er den Kopf hob, sah er Martha neben dem Sofa, ihr Haar wild durcheinander, die Augen wütend und voller Tränen. Ihre Lippen bebten vor Zorn, und ihr Hals war rot, wo er sie gepackt hatte. Auf die Arme gestützt, die Beine angespannt, bereit aufzuspringen, wenn er sich in ihre Richtung bewegte. Sie wartete, dass er etwas sagte, suchte nach etwas, was sie sagen konnte, aber da sah sie in Sams Gesicht, sah seinen Schreck und schloss daraus, dass der Junge hinter ihr stand. Blitzschnell drehte sie sich um und kroch zu Justin, rappelte sich auf und schlang ihre Arme um ihn, drückte sein Gesicht an ihre Schulter, dass er weder sie noch den halb bekleideten Mann in ihrem Wohnzimmer sehen konnte. »Es tut mir Leid, Schatz«, flüsterte sie. »Es tut mir Leid, Justin.« Sam kletterte von der Couch und war froh, dass er die Hose nicht geöffnet hatte. Er machte einen großen Bogen um den Couchtisch, um Mutter und Kind aus dem Weg zu gehen, und fragte sich, ob sie den Jungen aus dem Zimmer schicken würde, damit sie die Situation retten könnten. Wenn er eine gespielte Entschuldigung loswerden und sich versichern könnte, dass sie nicht die Cops rief, würde er sich besser fühlen. »Raus hier«, sagte Martha. Sie klang weniger hysterisch, als sie vielleicht geklungen hätte, wenn sie den Jungen nicht im Arm und schützend von ihm weggehalten hätte. Justin sollte ihn 226
nicht einmal sehen. Sie zeigte eine Art von Scham, die Sam fremd war und wegen der sie ihm Leid tat. »Okay, ja, okay«, sagte er leise. »Gott, entschuldige.« Er nahm sein Hemd und schlüpfte hinein, ohne sich die Mühe zu machen, es zuzuknöpfen. Den Gürtel nahm er so in die Hand, wie er ihn eigentlich später hatte nehmen wollen, um ihr damit einen wundervoll rotblauen Striemen über den Hintern zu ziehen. Stattdessen aber schob er sich jetzt an Martha und Justin vorbei und wandte sich der Tür zu. Wie beschissen das alles gelaufen ist, dachte er. Einen kleinen Hosenscheißer zog sie da groß. Ein Mamasöhnchen. Der Gedanke, eine heiße Vorort-Mom zu vögeln, hatte ihn die ganze letzte Woche über scharf gemacht, dabei hätte er es besser wissen sollen. Als er sich durch den schmalen Raum zwischen Martha, Justin und der gläsernen Vitrine an der Wand hindurchschlängelte, schob sich sein Hemd nach oben und entblößte einen Teil seines nackten Rückens und ein paar Zentimeter blauer Boxershorts, auf denen die gürtellose Hose hing. In diesem Moment öffnete Justin die Augen und schielte über die nackte Schulter seiner Mutter, der Träger ihres Kleides war runtergerutscht, und er wischte sich seine feuchte Nase an ihrer Haut ab, die vage nach dem Deodorant roch, das er selbst seit kurzem jeden Tag benutzte. Er sah, wie dieser Mann davonging, und begriff in Sekundenschnelle, dass er seiner Mutter nie würde sagen können, dass er sich an ihn aus dem Laden erinnerte und wie viel er von dem gesehen und verstanden hatte, was hier heute Abend passiert war. Sam ließ die Tür hinter sich ins Schloss knallen und stakste steifbeinig zu seinem schwarzen BMW. Wie beiläufig ließ er den Blick kreisen, um zu sehen, ob vielleicht ein Nachbar etwas gehört oder gesehen hatte. Als er um die Ecke fuhr, bellte er in das Mikrofon in seiner Lenksäule, und das eingebaute Telefon rief die Auskunft an. Er fragte die Maschinenstimme nach einer Nummer in der Stadt und ließ sich verbinden. 227
»Lily Escorts.« Es war wieder eine automatische Frauenstimme, die aber mit einer weit besseren Stimmerkennungssoftware ausgestattet war als die der Telefongesellschaft. »Ich würde gern wissen, ob Fonia heute Nacht frei ist«, sagte Sam. »Haben Sie Fonia schon einmal gebucht?« Die Stimme war angenehm und klang realistisch, nur ein wenig blechern und flach, wie man sie bei einer besonders kleinen Frau erwarten würde. »Ja, habe ich.« »Wann war das, Sir?« »Vor drei Tagen. Mittwoch. Wir haben uns im Swissôtel getroffen.« »Und Ihr Name, Sir?« »Paul.« So nannte er sich bei Prostituierten, Telefonsexanschlüssen und in Chat Rooms im Internet. Er wusste nicht mal mehr, wann er damit angefangen hatte. Es folgte eine kleine Pause. »Ja, Mr Paul. Fonia ist heute Nacht verfügbar.« »Und das heißt?« »Es heißt, dass sie sich für ihren anderthalbfachen Satz mit Ihnen treffen kann.« »Okay.« »Wo würden Sie Fonia heute gern treffen, Mr Paul?« »Im Mother’s. In der Rush Street. An der Theke.« »Sie kann in einer Stunde dort sein.« »Perfekt.« Sam bog in die Auffahrt zum Eden Expressway und trat aufs Gas. Die Nacht war klar, und die Neonlichter der Stadt formten in der Ferne eine leuchtende Kuppel. Seine Haut glühte, und sein Herz schlug so heftig, dass er den Pulsschlag im Hals 228
fühlte, ohne die Hand darauf legen zu müssen. Der Schmerz, der ihm manchmal den Kopf zu sprengen drohte, breitete sich in einem hohen Bogen über seinem rechten Ohr aus. Er fuhr mit gut hundert Stundenkilometern auf die Stadt zu, öffnete das Handschuhfach, fischte zwei Tabletten aus der kleinen Glasflasche darin und zwang sie sich durch den trockenen Hals. Aber sie würden ihm den Schmerz nicht nehmen und auch das Ziehen der Arterie hinauf in sein Gehirn nicht abschwächen. Das Einzige, was ihm helfen konnte, war das schmerzverzerrte Gesicht einer Frau unter ihm, kurz bevor sie losschrie, zu sehen, wie sich Qual in Lust verwandelte, vor Angst schmale Lippen rund wurden, Schreck zu einem verruchten Grinsen mutierte, Begreifen die groß werdenden Augen füllte. Ja, oh mein Gott, ja! Er würde gleich etwa tausend Dollar für eine Nutte ausgeben und es nicht mal richtig genießen. Nicht wirklich. Aber er brauchte die Befreiung. Die gewaltsame Befreiung. Später in der Nacht, als Sam den Schmerz in seinem Kopf langsam zurückgehen fühlte und Justin seine Mutter in ihrem Schlafzimmer nicht mehr schluchzen hören konnte, schlüpfte der Junge aus seinem Bett und öffnete die Tür seines Schranks. An der Innenseite war ein billiger Spiegel angebracht. Wenn seine Mutter ihm schöne Sachen anzog, stellte sie sich gern hinter ihn und betrachtete ihn in diesem Spiegel, als könnte sie ihn so besser sehen. Justin drehte sich nach links, und im Schein der Leselampe auf seinem Nachttisch versuchte er, das Muttermal auf seiner Hüfte in den Blick zu bekommen, an das er sonst kaum einen Gedanken verschwendete, und er fragte sich, ob es noch viele andere Jungen oder Männer gab, die ebenfalls so eines hatten, oder ob er und der Mann, der versucht hatte, seiner Mutter wehzutun, einfach etwas Besonderes waren.
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46 Fünfzehn Jahre immer das Gleiche. Wie ein alternder Rocker war Mickey seit fünfzehn Jahren unterwegs, und er war es leid. Er hatte fast keine Haare mehr auf dem Kopf. Geblieben war nur ein schütteres Rund wie ein Hufeisen am Hinterkopf. Hände und Gesicht waren wettergegerbt wie die eines Penners oder Wanderarbeiters, Rücken und Füße bereiteten ihm Probleme, und er hatte mindestens drei wachsende Flecken auf seiner Haut, die er von einem Arzt hätte untersuchen lassen sollen, aber dazu würde es nicht kommen. Er wollte sterben, wenn Gott ihn vom Spielfeld rief. Wenn Mickey einen Arzt brauchte, um sein Leben zu retten, wäre die Erniedrigung schlimmer als der Tod, und ganz nebenbei gesagt zahlten die Hände Gottes keine Krankenversicherung. Nach drei Tötungen in sechs Wochen (eine Kugel in Detroit, eine Bombe in Minneapolis, ein »Verkehrsunfall« in Des Moines) war Mickey mit Phillip und den anderen übereingekommen, die Sache ein paar Monate lang abkühlen zu lassen. Das FBI hatte nicht aufgehört, nach Byron Bonavita zu fahnden, wenn sie mittlerweile auch sagten, dass mehrere Gruppen an dem Anti-Klon-Terror beteiligt seien. Das war grundsätzlich eine gute Entwicklung, da sie den gewalttätigen Widerstand breiter verwurzelt sahen und es zudem bedeutete, dass sie immer noch nicht gezielt nach Mickey suchten. Es bedeutete aber auch, dass er vorsichtiger sein musste. Die Hände Gottes in Ohio wurden genau beobachtet, und sie wollten alles dafür tun, dass die Feds nicht von ihren falschen Annahmen abkamen. Das alles hieß nicht, dass Mickey gar nichts mehr tun sollte. Ihm war freigestellt, kleinere Aktionen zu unternehmen, obwohl, wenn Phil und die anderen geahnt hätten, welche Risiken Mickey dabei einging, hätten sie ihm sicher gesagt, es zu lassen. 230
Mickey schlief drei Nächte in seinem rostenden Cutlass auf einem Rastplatz der Interstate-35, außerhalb von Austin. Tagsüber fuhr er in die Stadt und strich durch die Straßen um die Neil Armstrong High School. Es gab dort jede Menge Bäume und Fluchtwege. Er folgte den Schülern in ihrer Mittagspause und hatte dabei ganz besonders einen im Blick. Am zweiten Tag entdeckte er draußen vor einem Comicbuchladen ein Elektrorad, das er in Sekundenschnelle kurzgeschlossen hatte. In der nachfolgenden Nacht schlief er auf dem Vordersitz seines Wagens. Das Rad hatte er auf der Rückbank verstaut und mit einem Ladegerät an die Autobatterie angeschlossen. Am vierten Tag wusste er über die Wege seines Objekts Bescheid. Gegen drei Uhr checkte er in ein Motel ein, das eigene Kurzschlaftarife anbot. Er duschte, zog sich saubere Sachen an, setzte sich an den winzigen Tisch und holte ein leeres Blatt Rechenpapier aus seiner Tasche. Dann nahm er ein zweites Stück Papier, das bereits alt und abgegriffen war, und entfaltete es. Darauf zu sehen war die Zeichnung, die er angefertigt hatte, als er die Taktik zum ersten Mal anwandte. Danach war die Sache schief gegangen, und er hatte seinem Opfer den Zettel nicht geben können. Die Idee hatte ihm jedoch so sehr gefallen, dass er die Zeichnung all die Jahre aufbewahrt und sich bei seinen späteren, erfolgreichen Versuchen eine Kopie davon angefertigt hatte. Das Rechenpapier erlaubte es ihm, die Fläche in Quadrate aufzuteilen und die Zeichnung genau zu kopieren. Wobei er die Rechenkästchen auch mochte, weil sie seiner Unternehmung etwas pedantisch Irres verliehen. Er holte einen schwarzen und einen roten Füller hervor und machte sich an die Arbeit. Er zeichnete ein Herz (ein anatomisch richtiges Herz), um das sich eine Schlange wand, und zwei Hände, von denen eine himmelwärts deutete. Dazu kamen ein Schwert, das von Flammen umgeben war, und ein kompliziertes kalligrafisches Monogramm – »HG« –, das er rot und schwarz einfärbte. 231
Daneben setzte er die Namen der letzten sechs getöteten Ärzte (die Liste hatte im Laufe der Zeit natürlich immer wieder erneuert werden müssen), die er einzeln rot durchstrich. Als siebten fügte er Oliver Bei Geddes an, noch nicht rot ausgestrichen. Unter Zeichnung und Liste schrieb er schließlich sorgfältig in großen Druckbuchstaben einen Vers aus der Genesis, den er wie viele andere Bibelstellen auswendig gelernt hatte: Ja, der Mensch ist jetzt wie einer von uns geworden, da er Gutes und Böses erkennt. Nun geht es darum, dass er nicht noch seine Hand ausstrecke, sich am Baume des Lehens vergreife, davon esse und ewig lebe! Der Beginn war in Schwarz geschrieben, von DASS ER NICHT bis LEBE jedoch in Rot. Als er fertig und die Tinte trocken war, faltete Mickey das Blatt zwei Mal und steckte es in die Gesäßtasche zu seiner Geldbörse. Mickey verließ die Pegasus Motor Lodge gegen halb sechs und fuhr in eine Wohnstraße, die er vorher erkundet hatte. Er parkte, holte das gestohlene Rad vom Rücksitz, und als er sich damit auf den Weg machte, spürte er die Erregung in sich, die Vorahnung der nahen Begegnung. Es war immer noch Sommer, und die Luft war stickig, aber der Fahrtwind von etwa vierzig Stundenkilometern blies ihm kühl über die alternde Haut, und als er am Supermarkt ankam, stieg er ab und drehte das Rad in die Richtung, aus der er gekommen war. Er kannte die Gegend nur grob und wollte sich versichern, dass er sich auf seiner Flucht nicht verfuhr und noch einmal hierher zurückmusste, um den Weg erneut zurückzuverfolgen, wenn die Polizei bereits da war. Wenn die Polizei überhaupt kommen würde. Man wusste vorher nie, wie das Opfer reagierte. 232
Er ging in das Geschäft, das zu einer Kette gehörte, allerdings keines dieser texasgroßen Gebilde war, zu dem gleich noch ein Reisebüro, ein Copyshop und eine Bank gehörten. Neben den Kassen gab es einen kleinen Imbiss mit vier Nischen, einem winzigen Pizzaofen und einer Milk-Shake-Maschine. Mickey stellte sich an der kleinen Schlange an. Vier Leute standen vor ihm, und während er wartete, starrte er teilnahmslos auf die Anschlagtafel oben. Als er an die Reihe kam, achtete er darauf, die Edelstahltheke nicht mit der Hand zu berühren (nicht, dass sie seine Fingerabdrücke in ihrer Datenbank gehabt hätten oder dass Fingerabdrücke überhaupt noch ein wichtiges Suchinstrument gewesen wären, wo doch die DNA weit verlässlicher war, aber es war unnötig, überall den Abdruck seiner Hand zu hinterlassen). Er bestellte ein Truthahnclubsandwich, ohne Käse, und stellte sich an der Kassenschlange an, während man ihm Schichten aus Fleisch, Mayonnaise, Kopfsalat und Bacon auf eine Weißbrotscheibe türmte. Sein Sandwich kam gleichzeitig mit ihm an der Kasse an. Der Kassierer, ein Junge um die siebzehn herum, fragte ihn, was er bestellt habe, und Mickey beschrieb ihm sein Sandwich und holte einen Zehndollarschein hervor. Der Junge zählte das Wechselgeld ab, und als er es ihm gab, umfasste Mickey seine Hand und sorgte dafür, dass der Bursche seine trockene, spröde Haut spürte. »Bist du Christopher Bel Geddes?«, fragte Mickey den Jungen. Er wusste die Antwort. Was er wollte, war, die Aufmerksamkeit des Jungen auf sich zu ziehen. Bekanntermaßen hören Teenager die meiste Zeit nicht zu, wenn man mit ihnen spricht. »Ja?« Der Junge blickte auf. Mickey lehnte sich vor und sprach mit leiser Stimme. Der Junge beugte sich ebenfalls vor, kam Mickey so nah, dass er leicht in sein Ohr hätte beißen können. »Sag deinem Vater, dass 233
er in den Augen des Gesetzes unschuldig sein mag«, sagte Mickey, und sein heißer Atem schlug dem Jungen ins Ohr, als er ihm den Zettel in die Tasche seiner Schürze stopfte, »aber nicht in denen der Hände Gottes.« Die letzten Worte – Hände Gottes – sprach er mit Südstaatenakzent, teils als Hinweis auf Byron Bonavita, teils weil er den Tonfall mochte, der für ihn bedrohlich klang. Die Tonfärbung erinnerte ihn an De Niro in seinem Remake von Kap der Angst. Christopher Bei Geddes stand immer noch über die Theke gebeugt, als Mickey sein Sandwich packte und sich der Tür zuwandte. Den Kopf gesenkt, ging er hinaus in den Supermarkt und gelangte in den Gang hinter den fünfzehn Kassen, die mit beleuchteten, über den Köpfen der Kassierer angebrachten Ziffern durchnummeriert waren. Er ging auf die automatischen Glasschiebetüren zu, die ihr Bestes taten, die kühle Luft im Gebäude zu halten. »Sir?«, sagte eine Stimme. Mickey sah nicht auf. »Sir?«, sagte die Stimme noch einmal. Sie folgte ihm. »Könnte ich Ihre Quittung bitte einmal sehen, Sir?« Mickey blieb stehen. Er wusste nicht einmal, ob er eine Quittung hatte. Gott, das würde ihm doch wohl jetzt nicht den Hals brechen. Das wäre ein unehrenhaftes Ende. Er wünschte, er hätte das Sandwich auf der Theke liegen lassen. Es war der reine Übermut, es mitzunehmen. Er drehte sich um. Der Wachmann war klein, seine Krawatte zu kurz, und die Uniform schnitt sich in den Fettring um seine Mitte. »Ich hab’s bezahlt«, stammelte Mickey. »Sie haben es mir so in die Tüte gesteckt.« »Sie hätten Ihnen eine Quittung gehen sollen.« Der Mann drehte sich um, als wollte er mit Mickey zurück in den Imbiss. In diesem Moment erschien Christopher Bei Geddes hinter einer Palette Coca-Cola, und seine Ledersohlen schlitterten über den ausgetretenen Linoleumboden. Aus dreißig Meter Entfernung fasste der Junge Mickey und den Wachmann in den Blick. 234
»He!«, rief der Junge. Mickey rannte. Seine rechte Schulter rammte gegen das zweite Paar Schiebetüren, die sich nicht schnell genug öffnen wollten. Der Wachmann schrie hinter ihm her. Mickey sah sein Rad. Nein, scheiß auf das Rad. Das würde er nie schnell genug in Gang bekommen. Er rannte über den Parkplatz und die Straße hinunter. Er war bereits außer Atem. Gegen einen siebzehnjährigen Jungen hatte er keine Chance. Lautes Geschrei näherte sich ihm von hinten. Er bog um eine Ecke, sprang unbeholfen über einen niedrigen Maschendrahtzaun und rannte durch einen Garten. Am anderen Ende kletterte er wieder über einen Zaun und landete in einer Art Graben, der zwischen den Häuserreihen zweier paralleler Straßen hindurchführte. Er lief durch die schwere Erde und das wuchernde Unkraut, aber das war zu gefährlich. Hier würden sie ihn von der Seitenstraße aus sehen können. Mickey sprang über einen Zaun im Rücken eines großen Hauses und duckte sich hinter ein gelbes Plastikspielhaus, um ein wenig auszuruhen. Er hatte weder eine Pistole noch ein Messer bei sich, nur etwas Kleingeld in der Tasche und, was sonst, auch noch sein verfluchtes Sandwich dabei. »Hallo«, gellte ihm eine Mädchenstimme ins rechte Ohr. Mickey fuhr zusammen, war aber zu ausgepumpt, um erneut das Weite zu suchen. In dem Spielhaus war ein kleines Mädchen, vielleicht sechs Jahre alt. Sie hatte dichtes schwarzes Haar, und die beiden neuen zweiten Zähne waren viel zu groß für ihren kleinen, erbsenförmigen Kopf. Sie lehnte sich aus dem Fenster neben seinem Kopf, und sie kicherte. »Ich heiße Talia. Ich bin eine Augenärztin«, erklärte sie und zog ihm mit ihrem kleinen Wurstfinger das rechte untere Augenlid herunter. Sie beugte sich so weit vor, bis ihr Auge ganz nah an seinem war. Mickey stieß weder die Hand der Kleinen weg, noch tat er sonst etwas, das sie zum Schreien, Weinen oder Kreischen gebracht hätte. 235
»Sind deine Eltern zu Hause?«, fragte Mickey. Und fügte dann noch hinzu: »Dr. Talia?« Das Mädchen nickte, und ihre Finger zogen immer noch den Lidsack unter seinem rechten Auge herunter. Natürlich sind ihre Eltern zu Hause, dachte Mickey. Eltern gehen nicht weg, wenn ihr sechsjähriges Kind im Garten spielt. Gute Eltern wenigstens nicht. »Was machen sie gerade?« Er deutete auf das große weiße Haus, das einen Anbau aus Aluminium hatte. Talia schüttelte den Kopf. »Sie kriegen keine Babys. Mommy sagt, Babys würden ihnen den Lebensstil vermiesen.« »Wunderbar. Danke.« Er winkte ihr zu und lief geduckt in den Garten des Nachbarn hinüber, während Talia ihm ein »Wiedersehen« hinterherrief und in ihr Haus lief. Zweifellos würde sie ihrer Mutter erzählen, dass sie einen neuen großen Freund hätte. Mickey schlich seitlich um die Garage des Nachbarhauses und drückte das Fliegengitter in einem der Fenster ein. Das da drinnen musste ein Zweitwagen sein. Gott sei Dank, ein alter Audi. Er zwängte sich durch das Fenster und trat auf einen leeren Plastikmülleimer. Mit seinen eigenen Autoschlüsseln hatte er die Zündkabel schnell freigelegt, und kaum zwei Minuten später sprang der Audi an. Die Fernbedienung für die Garagentür steckte hinter der Sonnenblende auf der Beifahrerseite. Vorsichtig stieß er rückwärts nach draußen. Auf der Straße unten konnte er eine Hand voll Männer sehen, die links und rechts zwischen den Häusern suchten. Polizei war noch nicht da, nur ein paar Teenager und alte Glatzköpfe mit Ladenschürzen. Auch der Wachmann kam jetzt von hinten heran und dachte wohl immer noch, dass sie hinter einem Ladendieb her wären. Mickey langte nach dem Knopf der Fernbedienung, schloss die Garage hinter sich und fuhr auf die Straße hinaus, wie es auch jeder Anwohner tun würde, der losfuhr, um sich mit seiner Frau zum Essen zu treffen. Der junge Chris Bei Geddes würdigte ihn kaum eines Blickes, als er davonfuhr. 236
Das war irre, dachte Mickey. Wenn was danebengeht, ist es immer irre.
47 Graham Mendelsohn traf sich mit seinen Mandanten normalerweise in seiner Kanzlei, aber Davis und er hatten sich um eins zu einer Runde Golf im Northwood Country Club verabredet, und Graham rief ihn morgens an und sagte, er komme vorher noch in die Klinik, um etwas Geschäftliches mit ihm zu bereden. Davis gefiel das gar nicht. Graham war groß und schlank, etwa so alt wie Davis und trug gebügelte Khakis und ein rosa Polohemd, als er durch die Sprechzimmertür trat. Davis wurde es leichter ums Herz. Wenn Graham schlechte Nachrichten überbrächte, würde er nicht in so einem lächerlichen Hemd kommen. Davis wollte ihn gar nicht erst zu Wort kommen lassen, damit Graham ihm nicht die Laune verdarb. »Hast du gehört, dass sie ihn beinahe gekriegt hätten?«, fragte er. Graham blieb stehen und vergaß die Ankündigung, die er sich zurechtgelegt hatte. Seine Aktentasche stellte er auf den Stuhl neben der Tür. »Nein. Wen?« »Byron Bonavita«, sagte Davis. »Er hat unten in Austin Oliver Bei Geddes’ Sohn bedroht, und der Junge ist ein paar Blocks hinter ihm her. Aber der Dreckskerl ist ihm entwischt.« Graham furchte die Stirn. »Teufel auch. Haben Sie eine Beschreibung? DNA? Irgendwas?« »Nein«, sagte Davis. »Ein kleines Mädchen hat ihn ganz aus der Nähe zu sehen gekriegt. Da werden sie morgen wohl nach Donald Duck suchen. Aber genug davon. Ich hoffe, du bringst gute Nachrichten, um mich etwas aufzumuntern.« 237
»Nun, die gute Nachricht ist, dass du nicht im Fall Weiss aussagen musst«, erklärte Graham. »Ricky Weiss hat gestanden.« Davis grinste. »Ernsthaft?« Er griff nach seinen Schlägern. Das würde heute die erste entspannte Runde Golf seit einem Jahr werden. »Ich habe dir doch gesagt, dass er am Ende zusammenbrechen würde. Mit seiner eigenen Frau und dem Sherlock-HolmesVerschnitt gegen sich hatte er keine Chance.« »Graham, nach der Neuigkeit ist mir egal, was die schlechte Nachricht sein könnte.« Davis fuhr seinen Computer herunter. Am ersten Abschlag würden sie sich zur Feier des Tages eine Zigarre gönnen. »Es gibt doch noch eine schlechte Nachricht, oder?« Graham nickte. »Martha Finn hat dich bei der Bezirksstaatsanwaltschaft von Lake County angezeigt, weil du ihrem Sohn nachgestellt hast. Ich habe ein freiwilliges Schuldeingeständnis vereinbart, für morgen um zwölf. Sie wollen es nicht vorher bekannt machen, also werden auch keine Kameras da sein. Damit kommst du erst gar nicht in die Nachrichten, und die Zeitungen werden die Meldung wahrscheinlich weit hinten in ihren Artikeln über Weiss vergraben.« Um Davis drehte sich alles. »Heilige Scheiße!« Graham öffnete seine Aktentasche und zog einen Stapel Unterlagen hervor, die ihm morgens ein Anwaltsgehilfe zusammengestellt hatte. »Immer mit der Ruhe. Wir sehen uns die Richtlinien und ein paar Präzedenzfälle an. Nach deinem Aufruf bietest du die Zahlung einer Kaution an, wir plädieren auf Fehlverhalten, das gibt eine kleine Geldstrafe, ein paar Tage Sozialdienst. Die damit verbundenen rechtlichen Folgen werden nicht so schlimm sein.«
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»Nicht so schlimm?«, schrie Davis. Er sprang auf, eilte durch den Raum und schloss die Tür. »Was ist mit meiner Praxis? Meiner Approbation?« »Deshalb bin ich hier. Ich habe für halb zwei eine Telefonkonferenz mit einer Kanzlei in D. C. verabredet, die sich mit den Standespflichten besser auskennt. Aus unserer Verabredung zum Golf wird heute nichts, fürchte ich.« »Gott. Was für ein Chaos«, sagte Davis und ließ sich zurück auf seinen Stuhl fallen. »Mach dir keine Sorgen. Wir bringen das schon in Ordnung. Aber ich denke, du solltest mir endlich den wahren Grund nennen, warum du diese Fotos von Justin Finn gekauft hast.« Davis schüttelte den Kopf. »Ich hab’s dir doch schon so oft erklärt, zum letzten Mal beim Essen letzten Donnerstag. Es war ein Experiment. Darüber hinaus …« Der Anwalt lehnte sich in seinem Ledersessel zurück, der darauf ein Geräusch von sich gab, als kratzte jemand über eine alte Schallplatte. »Ist der Junge von dir?« »Justin?« Davis hätte fast lachen müssen. »Nein. Er ist nicht von mir.« Wie viel würde er Graham gegenüber zugeben müssen? »Du weißt, er ist ein Klon.« Eine schmale Braue zog sich über Grahams linkem Auge zusammen. »Wenn das bekannt wird, werden sich die Zeitungen mehr für die Geschichte interessieren, besonders die Boulevardpresse. Was ist so besonders an ihm?« »Nichts. Er ist ein gesunder neunjähriger Junge, der wie Dutzende andere hier in der Klinik geklont wurde.« »Aber du bist nicht an allen euren geklonten Kindern so interessiert.« »Keins von den anderen Kindern, die ich geklont habe, lebt nur zwei, drei Kilometer von hier entfernt. Graham, du warst
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doch dabei, als ich das alles in meiner Befragung zum Prozess gegen Weiss zu Protokoll gegeben habe.« »Dem Bezirksstaatsanwalt gegenüber konnten wir den Großteil der schwierigeren Fragen mit dem Hinweis auf die ärztliche Schweigepflicht unbeantwortet lassen. Und sie hat ja auch nicht wirklich nachgefragt. Gut, dass sie dich nicht ins Kreuzverhör nehmen werden. Aber wenn du jetzt in der Sache Finn auf eine außergerichtliche Einigung drängst, und das rate ich dir, wirst du dich vor den Richter hinstellen und die Sache erklären müssen. Sag mir also bitte, worum es dir im Einzelnen ging. Ich würde die Geschichte gern kennen, bevor wir damit vor Gericht stehen.« »In Ordnung«, sagte Davis. Natürlich hatte er längst darüber nachgedacht, dass es eines Tages so weit kommen würde. »Ich hatte eine Theorie, die ich durch Justin beweisen wollte. Oder habe sie immer noch.« »Was für eine Theorie ist das?« »Dass geklonte Kinder noch stärker eineiigen Zwillingen gleichen, als wir angenommen haben. Dass ihre Persönlichkeit sehr ähnlich ist, sie Interessen teilen, Fähigkeiten, auch wenn sie unter völlig anderen Umständen aufwachsen. Ich hatte gehofft, eine Langzeitstudie machen zu können, und wollte Justin durch seine gesamte Kindheit begleiten und ihn mit seinem Zellenspender vergleichen.« »Gibt es keine anderen Ärzte oder Psychologen, die das tun?« »Viele.« »Alle jedoch mit Einwilligung der Eltern.« »Da liegt die Schwäche. Wenn Martha Finn von der Studie gewusst hätte, hätte sie mehr Neugier für den Zellenspender entwickelt. Hätte Fragen gestellt, und wahrscheinlich hätte das alles ihren Erziehungsstil beeinflusst.«
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Draußen auf dem Gang waren Schritte zu hören, und Graham sorgte sich einen Augenblick, dass sie zu laut sprachen. »Dazu habe ich drei Dinge zu sagen: Erstens hast du sie gegen dich aufgebracht. Zweitens glaube ich nicht, dass du dich mit so einer Geschichte hinter einer wissenschaftlichen Methode wirst verschanzen können, und drittens hast du gewusst, dass Martha Finn und ihr Exmann, als der Junge drei Jahre alt war, einen Privatdetektiv engagiert haben, um Justins Zellenspender ausfindig zu machen.« Davis fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er hatte sich heute Morgen nicht rasiert und vorhin im Waschraum festgestellt, dass sein Bart langsam grauer wurde. Er rieb sich die wolligen Stoppeln. »Das ist mir neu«, sagte er und fürchtete, dass sein Anwalt mehr wusste, als ihm lieb war. »Wen haben sie ausgemacht?« Graham öffnete seine Aktentasche noch einmal und nahm die Mappe mit den bisherigen Ergebnissen im Fall Weiss heraus. Er blätterte bis zu einer mit Textmarker hervorgehobenen Stelle. »Eric Lundquist. Syracuse, New York.« »Stimmt«, sagte Davis. »Eric Lundquist. Ich wünschte, ich hätte von ihren Nachforschungen gewusst. Ich hätte meine Studie sofort abgebrochen und mir eine Menge Spioniererei erspart.« »Wenn du den Jungen der Finns in Ruhe gelassen hättest, hättest du dir noch weit mehr erspart«, sagte Graham. »Da wirst du Recht haben.« »Ich will nur, dass du weißt, dass ich dich nicht zu einem Meineid anstiften werde.« »Ich werde dich auch nicht darum bitten«, sagte Davis. »Aber du denkst, ich sollte die Sache so vortragen?« »Wenn das deine wahre Geschichte ist? Ja.«
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»Verdammt«, sagte Davis. »Aber okay. Ich will jedoch eine Bedingung in der Vereinbarung, und zwar, dass sie weder Joan oder jemand anders hier in der Klinik auf den Pelz rücken. Joan hat mir bei der Sache in Brixton geholfen, wo es um AKs Mörder ging, aber mit Justin hat sie nichts zu tun. Das geht allein auf meine Kappe.« »Wir werden es versuchen«, sagte Graham. »Wenn sie dir glauben, dass du die Wahrheit sagst, sollte das kein Problem sein.« »Glaubst du, dass ich dir die Wahrheit sage?«, fragte Davis. »Ich bin dein Anwalt«, sagte Graham. »Dir zu glauben ist das Beste, was ich tun kann.«
48 Detective Teddy Ambrose war ohne Schutz gegen den eisigen Regen, der sich wie aus dem Nichts in den gelben Lichtkegeln der Straßenlaternen zu bilden schien. Er eilte um den blauen Müllcontainer herum und spürte, wie sich seine Eingeweide umdrehten – alles über dem Nabel im Uhrzeigersinn und alles darunter in der Gegenrichtung. Abends hatte er auf dem Weg zum Dienst über die Grand Avenue zum Polizeipräsidium von Area Five in die Regenvorhänge des Unwetters hineingesehen, das schon seit Stunden wütete, und an das Dutzend abgeschlossener Mordfälle gedacht, die auf sein Konto gingen. Er hatte nur noch wenige ungelöste Fälle und rechnete damit, dass der nächste Mord wieder auf seinem Tisch landete. Sein Glück war erstaunlich gewesen in letzter Zeit. Am Abend zuvor in Dante’s Tavern hatte Ambrose seinen Kollegen gegenüber angegeben, dass es einen Punkt gebe, von dem an man Glück als Schicksal bezeichnen müsse, und die Anzahl der Fälle, die er und sein Partner Ian Cook in den letzten sechs Monaten an die 242
Staatsanwaltschaft überwiesen hätten, die käme dem schon nahe. »Beschrei es nicht«, lachte Ian. Um 1.47 Uhr hatte das Telefon geläutet. Unter einem Müllcontainer in einer Quergasse zur North Avenue sei eine weibliche Leiche gefunden worden. Und als der Beamte der Spurensicherung mit seinem Regenschirm zu ihnen ans Auto kam und ihnen die magere Beweislage erklärte, da spuckte Ian zornig in einen Mülleimer. »Da hast du es, Brosie. Ich hab dir doch gesagt, das bringt Unglück.« Ambrose kniete sich neben den Container und drehte den Kopf. Die Hand des Opfers war braun und steif und nach innen gebogen, als ob sie ein Wachsmodell wäre, das den richtigen Griff bei einem besonders schnellen Pitch beim Baseball demonstrierte. Die Hand saß am Ende eines braunen Arms, und der Arm verschwand hinter dem Container. Immer noch in der Hocke, ging Ambrose etwas auf Abstand, legte sich der Länge nach auf den nassen Beton und folgte mit suchendem Blick dem Lichtkegel seiner Taschenlampe. Der braune Arm saß an einer Schulter, und die Schulter war Teil eines Körpers, auf dem oben ein Kopf zu sehen war. Das blau und hellbraun gemusterte Kleid war der Toten fast ganz vom Körper gerissen, und die Art, wie sie da lag, hatte etwas Unnatürliches. Der Beton stieg zur Mitte der Gasse hin an, wobei der gesamte Bereich nach Osten hin leicht abzufallen schien. Regenwasser schoss um die Leiche, trug Blut, Haare und Hautfetzen etwa zwanzig Meter weiter in einen Gully und spülte alles zusammen mit Ambroses fast vollkommener Erfolgsliste in die Tiefe. »Ein Scheißkrimi«, schimpfte Ian, als sein Partner aufstand und sich den Schmutz von seinem Regenmantel wischte. »Ein verdammter Scheißkrimi.« 243
»Das wissen wir noch nicht«, sagte Ambrose, aber es klang alles andere als überzeugend. Sie würden herausfinden, wer dieses Mädchen war und ob sie einen Mann oder Freund gehabt hatte. Ob sie Drogen genommen hatte. Mit ihren Freunden und Bekannten würden sie sprechen. Herausfinden, wer sie zuletzt gesehen hatte. Aber selbst wenn ihnen ihre Ermittlungen einen tauglichen Verdächtigen lieferten, sagen wir einen Freund, der ein wahres Dreckschwein war, ein schlechtes Alibi hatte und dafür bekannt war, sie immer wieder bedroht zu haben – die Bezirksstaatsanwaltschaft würde absolut nicht glücklich über die fehlenden direkten Beweise sein. Spurensicherer waren längst Experten darin, auch noch die kleinsten DNA-Spuren am Ort eines Verbrechens zu finden, aber hier würden sie nicht fündig werden. Die Jurys waren es mittlerweile gewöhnt, einen genetischen Vergleich zwischen Täter und Beschuldigtem zu sehen. Strafverteidiger führten regelmäßig das Fehlen eines DNA-Beweises als Beweis eines berechtigten Zweifels an. Die Jurys stimmten ihnen häufig zu. Die immer ausgefeiltere DNAWissenschaft ließ die dummen Verbrecher leichter ins Netz gehen, die intelligenten (und die, die mehr Glück hatten) waren aber umso schwerer zu fassen. Sein Bauch sagte Ambrose, dass er diesen Fall noch lange, lange Zeit auf seinem Schreibtisch liegen haben würde.
49 Martha erstattete keine Anzeige gegen Sam Coyne. Der einzige Mensch, mit dem sie über den Vorfall bis ins Detail sprach, war ein Therapeut, zu dem sie etwa einen Monat danach ging. Die Sitzungen halfen ihr, und da sie immer schon gedacht hatte, dass auch Justin von der Therapie, die die Klon-Richtlinien vorschrieben, profitiert hatte, begann sie, jetzt um ihre fünfunddreißig herum, zu überlegen, ob ihrem Vater nicht auch 244
ein paar Gespräche mit einem verständigen Therapeuten gut getan hätten. So richtete sie jetzt all ihren Zorn gegen Dr. Moore und versuchte zu vergessen, dass die Idee, ihn anzuzeigen, von Coyne gekommen war. Natürlich suchte sie sich einen anderen Anwalt. Mittlerweile verschlang Justin die Werke großer Philosophen in den weniger schwülstigen Übersetzungen. Seine Ungeduld in der Schule zwang Martha mehr als ein Dutzend Mal zu Gesprächen mit seinem Lehrer, und Justins Reizbarkeit (zusammen mit seiner offensichtlichen Intelligenz) brachte einen dieser Lehrer schließlich dazu, sich mit seinen Kollegen abzusprechen und Martha zu empfehlen, Justin die vierte Klasse überspringen zu lassen. In der fünften Klasse fand er natürlich auch nicht mehr Freunde. Die älteren Kinder hielten ihn für einen noch größeren Spinner als die Drittklässler, aber das schien Justin nicht zu stören. Er bekam in allen Fächern ausgezeichnete Noten, und sogar im Sport gehörte er zu den Besten, außer in Mannschaftsspielen. Er war ein wunderbarer Turner und bis auf drei oder vier Ältere der Schnellste der Klasse, was ihm eine gewisse Achtung einbrachte. Er war zwar etwas kleiner als die meisten seiner neuen Klassenkameraden, wuchs aber schnell und wirkte auf den Klassenfotos absolut nicht fehl am Platz. Nach einem halben Jahr in der neuen Klasse war Martha sich sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Jeden Nachmittag stieg Justin mit einer Tasche voller Bücher aus dem Bus, aber sein kräftiger werdender Rücken kam damit zurecht. Als Martha eines Abends in seine Schultasche sah, weil sie daran dachte, sich über die Menge der Hausaufgaben zu beschweren, fand sie jedoch nur ein paar dünne Schulhefte. Alles andere waren Bücher, die Justin aus eigenem Antrieb las: keine Philosophie, wie Martha überrascht feststellte, sondern Bücher über Kriminalfälle. 245
Unter dem Bett in seinem Zimmer fand sie noch mehr Bücher über Bundy und Berkowitz, Starkweather und Speck. Und sogar Charles Ng, dessen Name Martha unwillig an ihre Mutter denken ließ. Entsetzt nahm sie einen Stapel von etwa einem Dutzend Bände und legte sie auf den Küchentisch. »Wo hast du die her?«, fragte sie. Justin schien von ihrem anklagenden Ton überrascht. »Von einem Jungen in meiner Klasse. James. Ich hab sie mir nur ausgeliehen.« Er sagte das, als fürchtete er, sie habe Angst, dass sie gestohlen wären. »Seine Eltern lesen die.« »Justin«, sagte Martha, und sie wählte ihre Worte sorgfältig, weil sie weder besorgt noch verurteilend erscheinen wollte. »Warum willst du diese schrecklichen Bücher lesen?« Justin blinzelte ein paar Mal und griff dann nach ihrem Arm, wie es ein Erwachsener tun würde, um sie zu beruhigen. »Der Wicker-Mann«, sagte er. »Ich will uns vor dem Wicker-Mann schützen.« Natürlich, dachte Martha und lachte erleichtert. Sie beugte sich vor und nahm Justin in den Arm. Der Wicker-Mann war in allen Nachrichten, und die ganze Stadt hatte Angst vor ihm – man ging nur noch zu mehreren aus, kaufte sich neues Pfefferspray oder blieb abends lieber zu Hause. Der Kerl hatte bereits sechs Menschen umgebracht, im Wicker-Park, einem Viertel im Westen Chicagos, fünf Frauen und einen Mann. Die Polizei nahm an, dass es noch mehr Opfer gab, besser versteckt, vielleicht auch anderswo in der Stadt. Die Frauen waren vergewaltigt und erstochen worden. Dem Mann hatte er die Kehle durchgeschnitten. Die Polizei hatte Fasern gefunden, blutige Schuhabdrücke, aber es gab keine brauchbaren Zeugen, keine DNA, keine Verbindungen zwischen den Opfern, keine Spur zu einem Täter. Martha war entsetzt, dass ihr Sohn all diese schrecklichen Einzelheiten aus den Nachrichten erfahren 246
hatte, aber es war so gut wie unvermeidlich. Der Wicker-Mann war die größte lokale Nachricht dieses Herbstes, und die zweite war die, wie die Medien darauf reagierten. »Justin, Liebling, der Wicker-Mann wird uns nichts tun. Er lebt weit weg von hier.« Justin antwortete nicht, aber sein Gesichtsausdruck, sein dünnes Lächeln und seine Augen sagten ihr, dass er ihr nicht glaubte. Es brach Martha das Herz. »Kann ich in mein Zimmer gehen und Shadow World spielen?«, fragte Justin. Shadow World war ein Computerspiel, das ihm ihre Schwester zu Weihnachten geschenkt hatte. Es war eigentlich für Erwachsene gedacht, wurde aber auch von vielen Kindern gespielt, und Martha hatte sämtliche Kindersicherungen aktiviert. »Aber ja, Schatz«, sagte sie. Als er auf die Treppe zuging, fragte sie sich, was in diesem Moment in ihm vorging. Das Schlimme bei Justin war, dass er alles in sich aufsaugte, das Gute war, dass es ihn nicht nachhaltig beeindruckte. Es ging nicht so sehr darum, dass Justin nicht mit der Wahrheit umgehen konnte, sondern dass Martha nicht damit umzugehen verstand, dass er sie kannte. Sie könnte mit ihm über den Wicker-Mann reden; über Ted Bundy und sogar auch über den verfluchten Charles Ng. Aber sie wusste, sie könnte nie mit ihm über das sprechen, was an jenem Abend zwischen ihr und Sam Coyne vorgefallen war.
50 Die Stadt bot tausend verschiedene Ausblicke auf den Lake Michigan, aber der von Abbott’s aus, einem teuren verglasten zweistöckigen Restaurant hundert Meter weit draußen auf dem Navy Pier, war unvergleichlich. Am richtigen Tisch fühlte man sich von Wasser umgeben und geschützt. Davis hatte auf solch 247
einen Tisch gehofft, darum gebeten und einen bekommen. Er genoss den Ausblick so sehr, dass er von einem Kellner dazu gedrängt werden musste, die Karte zu öffnen. Joans Kleid war schwarz – ihr »kleines Schwarzes«, nahm er an –, und sie sah umwerfend darin aus, wobei nur schwer zu sagen war, wer da von wem profitierte, Joan von dem Kleid oder umgekehrt. Davis hatte Joan schon in etlichen Kleidern gesehen, auf Festen oder bei beruflichen Anlässen, und einmal auch zufällig bei den Symphonikern. Jackie war Joan und ihrem Begleiter gegenüber damals fürchterlich unhöflich gewesen und hatte ihn in der Pause mit den beiden stehen lassen. In Grund und Boden hatte er sich geschämt und stammelnd versucht, seine Eifersucht und Verlegenheit zu verbergen. Es konnte durchaus sein, dass Joan dieses Kleid schon an jenem Abend angehabt hatte, aber heute trug sie es für ihn, nur für ihn, und er schämte sich plötzlich für seinen braunen Anzug, nicht weil er darin nicht gut ausgesehen hätte, sondern weil er ihn so gedankenlos angezogen hatte. »Ehrlich gesagt, habe ich mich gewundert, dass du mich heute Abend sehen wolltest«, sagte sie, nachdem der Kellner ihre Gläser mit sündhaft teurem Mineralwasser gefüllt hatte und wieder außer Hörweite war. »Wen sonst?«, fragte er, fast schon schmeichelnd. »Am Abend vor deinem Gerichtstermin? Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich war nur überrascht.« Ihr Lächeln wirkte leicht verlegen. »Ich habe nicht mehr viel Freunde, um die Wahrheit zu sagen.« Davis spürte sofort, wie wenig verführerisch das klingen musste, so aufrichtig es auch war. »Und von Graham habe ich in den letzten Monaten genug gesehen. Mein zweitbester Freund ist Walter Hirschberg. Allerdings glaube ich nicht, dass das
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heute der richtige Abend für ein Stelldichein mit solch einem Ethiker wäre.« »Nun, auch wenn ich nicht oben auf der Wunschliste stand, danke für die Einladung.« »Nichts zu danken.« »Nicht nur für das Essen.« Davis war töricht optimistisch, was ihre Absichten anging. »Es ist schön, dass du mich aus der Sache herausgehalten hast«, sagte sie, griff über den Tisch und strich ihm über die Hand. »Sie hätten dich womöglich weniger bedrängt, wenn du ihnen etwas angeboten hättest. Mich geopfert hättest. Viele Leute hätten das getan, um besser dazustehen.« »Das wäre es kaum wert«, sagte Davis. »Im Übrigen hattest du nichts damit zu tun. Wenn überhaupt, habe ich dich benutzt. Dafür sollte mir eigentlich noch mehr aufgebrummt werden.« Joan zog ihre Hand zurück und legte sie auf die Perlen um ihren Hals. »Sagtest du nicht, dass du deswegen nicht gleich ins Gefängnis müsstest?« »Graham glaubt nicht, dass sie mich einsperren, aber die Möglichkeit besteht. Im Prinzip müssten sie es sogar, allerdings glaubt er, sie setzen es aus.« »Und dann?« Er ließ einen Schluck Shiraz durch seine Kehle rinnen. »Dann lasse ich alles hinter mir.« »Wirklich?«, fragte sie. »Alles?« Sie hatte sich das Haar hochgesteckt, aber es wollte ihr nicht folgen, und ein paar lange Locken hingen neben ihren braunen Augen auf die Wangen hinunter. »Das Ganze ist jetzt zehn Jahre her. Ein Fünftel meines Lebens. Das übelste Fünftel meines Lebens. Und ich habe vielen 249
Leuten Kummer oder Schlimmeres bereitet. Dich eingeschlossen. Der Kerl, der Anna Kat umgebracht hat, ist wahrscheinlich längst tot oder verrottet irgendwo in einer Zelle. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Es wird langsam Zeit, dass ich mich davon losmache und dafür sorge, dass das nächste Fünftel meines Lebens anders wird. Zu viele Fünftel bleiben mir nicht mehr.« Nach dem Essen gingen sie bis ans Ende des Piers, um die Schwärze über dem See zu genießen. Zu ihrer Linken lag die Festival Hall, die Teil des originalen 1961 angelegten Piers war. Er und Jackie waren dort getraut worden, im Großen Ballsaal, und plötzlich kam es Davis äußerst unpassend vor, mit Joan hier zu sein. Irgendein Kobold in seinem Unterbewusstsein hatte ihn dazu verleitet, ins Abbott’s zu gehen, wo er und Jackie eine Hand voll ihrer ersten Hochzeitstage gefeiert hatten (allerdings hatte das Restaurant damals einen anderen Namen). Wie konnte ihm das erst jetzt bewusst werden? Wie hatte er übersehen können, wie gefühllos es war, sich gerade hier mit Joan zu ihrem – ja, das war es am Ende –, zu ihrem ersten Rendezvous zu treffen? Dem ersten Rendezvous ausgerechnet mit der Frau, der Jackie vorgeworfen hatte, dass sie ihre Ehe bedrohte? Jackie mochte halb verrückt gewesen sein, ganz hatte sie damit nicht falsch gelegen. Und so griff er, um seiner Frau wenigstens ein bisschen Respekt zu erweisen – wenn auch zu spät –, nicht nach Joans Hand, wie sie es erwartet haben mochte, obwohl sie sich nichts anmerken ließ. Joan, die den leichten schwarzen Pullover über ihren Schultern gefasst hielt, schien zufrieden, sagte, wie wundervoll es hier draußen rieche, wie angenehm die Brise doch sei und wie verwunderlich, dass noch so viele Kinder zu so später Stunde mit ihren Eltern spazieren gingen. Am Ende des Piers standen vielleicht dreißig Leute und sahen hinaus in die Finsternis. In der letzten Reihe stellte sich ein junger Mann immer wieder auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können, aber alles, was Davis mit seinen einsneunzig 250
auf dem Wasser erkennen konnte, waren ein paar mittelgroße Boote etwa siebzig, achtzig Meter entfernt – keine Sportboote und auch nicht die riesigen Party-und-Rundfahrt-Yachten, die dort im Sommer ankerten. Es waren offizielle Boote, mit elektronischer Ausrüstung, einer Parabolantenne, Männern in Uniform, die an Deck durcheinander liefen, und Männern mit Taucherausrüstung, die ins Wasser sprangen. »Was ist da passiert?«, fragte Davis in die Schaulustigen hinein und hoffte, dass ihm jemand eine Antwort geben würde. »Sie haben wieder ein Mädchen gefunden«, sagte jemand, ohne sich umzudrehen. »Noch ein totes Mädchen.«
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TEIL ZWEI
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Justin mit vierzehn
51 Davis schob die Überbleibsel eines zu lange gebackenen Hähnchens auf der schweren weißen Servierplatte des Prince Hotels in Palm Springs hin und her. Er wusste, dass man ihn beobachtete, und die allgegenwärtigen Blicke verdarben ihm den Appetit. Jeder Einzelne der gut dreihundert Ärzte, Wissenschaftler und Ethiker hier hatte eine Meinung von ihm, ein Gerücht über ihn gehört oder sonst irgendein Vorurteil gegen Dr. Davis Moore. Er fühlte sich immer noch nicht wohl mit der Art Berühmtheit, die er erlangt hatte. Seine Schwierigkeiten mit der Staatsanwaltschaft von Lake County hatten sich so beilegen lassen, wie Graham es versprochen hatte. Davis erkannte seine Schuld an, zahlte eine erträgliche Geldstrafe, wurde zu sieben Tagen Haft mit Bewährung verurteilt und leistete sechs Monate lang jeden Dienstag in einer Klinik im Westen Chicagos Dienst. Martha Finn strengte anschließend eine Zivilklage gegen ihn an, die Graham mit einem außergerichtlichen Vergleich und der Zahlung von weniger als 75000 Dollar abwehrte. Im Anschluss an seinen Sozialdienst entzogen der Kontrollausschuss des Kongresses und die American Medical Association Davis noch für vier Monate die Approbation, was angesichts des möglichen Strafmaßes nicht mehr als ein Schlag auf die Finger war. Als die Sperre auslief, kehrte er jedoch nicht in die Klinik zurück. Die Chicagoer Zeitungen verloren zwar das Interesse an ihm, als Ricky Weiss verurteilt war, aber Martha Finns Anzeige gegen ihn hatte es auf die Titelseiten der Vorortsblätter 253
geschafft. Das machte ihn bekannt, und zwar nicht nur auf die beschämende Art und Weise, wie er es erwartet hatte. Die Leute sympathisierten mit ihm. Er hatte seine Tochter verloren, seine Frau, und auf ihn selbst, um Himmels willen noch mal, war ein Anschlag von irgendeinem religiösen Fanatiker verübt worden – ja, vielleicht hatte er mit seiner geheimen Justin- »Studie« ein paar ethische Grenzen überschritten, aber niemand sprach davon, dass er eine Gefahr für den Jungen gewesen sei, außer Martha Finn mit ihrer einstweiligen Verfügung zum Schutz des Jungen (die bis zu Justins achtzehntem Geburtstag galt). Statt weiter zu praktizieren, hielt Davis gut bezahlte Vorträge – auf Seminaren, bei großen Dinners und Wohltätigkeitsveranstaltungen. Er wurde regelmäßig als Experte zu sonntäglichen Fernsehdiskussionen eingeladen, während die Anschläge auf Fruchtbarkeitskliniken weiter zunahmen und die ethischen Aspekte des Klonens zunehmend auch auf den Titelseiten der Wochenzeitungen diskutiert wurden. Mit sechsundfünfzig und ohne eigene Patienten war Dr. Davis Moore zum angesehensten Fürsprecher des Klonens geworden. Natürlich konnte er die wahren Gründe für die Aufgabe seiner Praxis nicht öffentlich eingestehen. Zum einen fühlte er sich erschöpft und war die Anschläge müde, die inzwischen schon vier befreundete Kollegen das Leben gekostet hatten, zu müde, sich den neuen Sicherheitsmaßnahmen in der Klinik zu unterwerfen: bewaffnetes Wachpersonal, eine besonders gesicherte Parkgarage, Metalldetektoren, Sicherheitsausweise, Bombenspürhunde, Übungen, Drohungen und zweimonatliche Evakuierungen mit dem nachfolgenden »Alles geprüft und okay«. Selbst hier auf der Konferenz standen an allen Türen uniformierte Wachmänner, inspizierten jeden Teilnehmer beim Rein- und Rausgehen, merkten sich Gesichter und schätzten Risiken ab. Davis fühlte sich schuldig. Schuldig wegen der Tode von Anna Kat, Jackie und Phil Canella, den er nie kennen gelernt 254
hatte. Schuldig wegen des Traumas, unter dem die Finns litten. Schuldig wegen Justin, eines Jungen, den es nie hätte geben dürfen, und wegen Eric Lundquists vernichteter DNA, der Blaupause für einen Jungen, den es hätte geben sollen, aber nie gegeben hatte. Die Tagung stand unter der Schirmherrschaft der California Association of Libertarian Scientists, eines Interessenverbandes, der traditionell auf den Kongress Einfluss nahm, wenn es um die »Rechte von Forschern« ging, während des letzten Jahres aber, als die Klon-Gegner in Washington an Unterstützung gewannen (einigen Umfragen zufolge bis zu dreiundvierzig Prozent), war die CALS fast ausschließlich zu einem Anwalt für das Klonen geworden. »Unser Gast heute Abend hat im Namen der Wissenschaft Opfer gebracht«, begann ein Arzt und Berkeley-Absolvent namens Poonwalla seine Einführung. »Er ist verfolgt, angeklagt und ja, es ist sogar auf ihn geschossen worden wegen der Dinge, die uns allen hier im Saal am Herzen liegen. Aber der Tüchtige lässt sich nicht unterkriegen, und schon gar nicht, wenn er vernünftig denkende, freie Geister wie Sie alle auf seiner Seite weiß. Meine Damen und Herren, hier ist aus Chicago: Dr. Davis Moore.« Davis stand auf, lächelte und schüttelte Dr. Poonwalla die Hand. Als er Luft holte und anfing, wusste er dreierlei: Seine Rede war nicht sonderlich gut. Er war ein Heuchler. Das Publikum würde jedes seiner Worte lieben. »Es gibt ein Computerspiel, das vielleicht auch einige von Ihren Kindern spielen. Aber nicht nur die: Etwa vierzig Prozent der Erwachsenen in diesem Raum spielen es einmal in der Woche, wenn denn die Erwachsenen in diesem Raum typisch sind und die Statistik, die ich gelesen habe, etwas taugt. Weltweit, heißt es, stoßen täglich rund fünftausend neue Spieler zu dieser Gemeinde hinzu. Das Spiel heißt Shadow World.« 255
Von den Tischen kam bestätigendes Murmeln. Jeder hatte von diesem Spiel gehört. Es war das beliebteste Multiplayerspiel in Amerika. An verschiedenen Tischen stießen Ehemänner ihre Frauen und Frauen ihre Ehemänner an, als wollten sie sagen: Er meint dich, Schatz. Paare, die es zusammen spielten, und es waren nicht wenige, drückten sich die Hände. »Ich selbst habe Shadow World nie gespielt, und ich habe auch keine Kinder …« – Davis meinte das nicht als eine versteckte Anspielung auf Anna Kat, aber die Zuhörer, die mit seiner Biografie vertraut waren, wurden plötzlich ruhig, als könnte jedes Geräusch, das sie machten, vom Redner vorn als Mitleid missverstanden werden. »… aber in ihrer Werbung machen die Hersteller sich über andere Online-Spiele lustig, in denen die Spieler erfundene Persönlichkeiten annehmen und in erdachten Welten Abenteuer erleben. Shadow World ist exakt die Welt, in der wir leben, jedes Gebäude, jeder Park, jede Bushaltestelle und jeder Laden in den dreitausendfünfhundert Städten weltweit – und es werden immer mehr –, die die TyroSoft-Programmierer bis heute gezeichnet haben. In jeder dieser Städte kann man fast jede Straße oder Gasse entlanglaufen oder fahren, jedes Haus oder Gebäude betreten, wenn die Tür offen ist oder man einen Schlüssel hat. Man kann sogar von Stadt zu Stadt reisen, über funktionierende Flughäfen, Bahnhöfe und ein weit verzweigtes Fernstraßensystem. Jeder Spieler beginnt das Spiel mit einer Person, die ihn selbst darstellt. Man fängt mit seinem realen Job an, seiner Familie und der Ausbildung, über die man tatsächlich verfügt. Aber in Shadow World kann der Spieler alles tun, wovor er im realen Leben Angst hat. Man kann neue Wege einschlagen und Wagnisse eingehen. Man kann Models um ein Date bitten oder dem Chef die Meinung sagen. Zu versagen kostet nicht mehr, als noch einmal neu anfangen zu müssen – als wirkliches Ich und mit der erneuten Möglichkeit zu entscheiden, was einen glücklich machen wird. 256
Wie ich gehört habe, nutzen die Spieler das Spiel ganz unterschiedlich. Etliche versuchen, ihre Träume zu leben, Schauspieler, Musiker oder berühmte Schriftsteller zu werden. Viele probieren – in einer Art Trockenlauf, wenn Sie so wollen – schlicht aus, was passieren würde, wenn sie eine Gehaltserhöhung forderten oder ihren Ehepartner betrügen würden. Wieder andere spielen seltsamerweise ihr reales Leben bis ins letzte Detail in der virtuellen Welt nach, gehen morgens zur Arbeit, bestellen die gewohnten Take-aways und schicken ihre Kinder in genau das Baseballtraining, in das sie wirklich gehen. Im Spielerjargon heißen diese Leute True-to-Lifers, Lebensechte, und ganz offenbar genießen sie es, ihr Leben realistisch auf dem Bildschirm nachgelebt zu sehen, als wäre es eine Trick-Doku, die ihr Durchschnittsleben nie zu so etwas wie Kunst erhebt. Als Shadow World vorgestellt wurde, dachten viele Leute, mit dem Spiel könnte sich ein Fahrplan in eine Art Utopia hier auf der Erde entwickeln lassen, würden wir durch virtuelles Experimentieren herausfinden, dass das Leben tatsächlich endlos viele Möglichkeiten bietet. Mit Shadow World als Führer würde die Menschheit ihr wahres Potenzial entdecken. Wir würden mit Hilfe des Spiels sogar synthetische Brennstoffe, Heilmittel gegen tödliche Krankheiten und neue, bessere Formen von Machtverteilung und Diplomatie entwickeln. Wie Sie alle wissen, ist das nicht passiert. Genauer gesagt: bis jetzt nicht. Sechs Jahre nach seiner Erfindung ist das Leben in Shadow World zu einer fast exakten Kopie des Lebens in unserer wirklichen Welt geworden. Die Verbrechensrate ist ungefähr die gleiche. Krankheiten breiten sich ebenso ungehindert aus. Es kommt genauso häufig zu Kriegen zwischen den Völkern. Korruption in den Regierungen und Industriespionage sind in Shadow World genauso verführerisch wie in unserer hier.
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Warum, denken Sie, ist das so? Soziologen, die sich mit diesen Dingen beschäftigen – ein schöner Job, nebenbei gesagt …« Lachen. »Soziologen nennen mehrere Möglichkeiten. Die erste ist, dass die True-to-Lifers, die Lebensechten, mehr als ein Viertel der Spielergemeinde ausmachen. Diese Leute, die ihr reales Leben im Internet kopieren, sagen die Soziologen, seien für die Ausgewogenheit des Spiels entscheidend. Ihre Existenz sorge dafür, dass Shadow World nicht allein von angehenden Filmstars und Rocksängern bevölkert werde.« Wieder Lachen. »Die Lebensechten gehen nicht ständig Wagnisse ein, versagen und fangen wieder von vorne an. Ihre Leben gehen immer weiter und weiter, sie betreiben Versicherungsagenturen, Bäckereien und Kinos. Sie sind der unsichtbare Faktor, der Shadow World so real macht. So bewohnbar. So beliebt. Und da liegt die Ironie. Die Fantasiewelt ist so verführerisch, weil sie unserer eigenen so ähnelt. Ich habe einen guten Freund namens Walter Hirschberg, der ein angesehener Professor an der Universität von Chicago ist, und er vertritt eine andere Theorie: Vielleicht kann es kein Utopia geben, weil in einer leidlich freien Gesellschaft Glücklichsein eine Konstante ist.« Hier machte Davis zur Hervorhebung seines neuen Gedankens eine Pause. »Natürlich muss nicht ausdrücklich gesagt werden, dass auch das Unglücklichsein eine Konstante bleibt und einige Menschen glücklicher sind als andere. Aber wenn Sie unsere Talente und unsere Erwartungen zusammennehmen, unsere Fähigkeiten, unsere Heimtücke, unseren Egoismus, unsere Großzügigkeit, unsere Technologie, unsere Süchte, unsere Hoffnung, unsere Angst, unsere Liebe, unseren Zorn, erkennen Sie, dass wir alle zu einem gewissen Grad des Glücklichseins tendieren. Dieser kann sich kurzfristig geringfügig ändern, findet aber immer wieder zu seinem Level zurück. Was das alles mit Wissenschaft oder Freiheit zu tun hat? Walters These ist: Wenn wir uns auf unserem üblichen 258
Glückslevel befinden, können Einschränkungen der Freiheit nur zu einem Nettoverlust dieses Glücklichseins führen.« Applaus. »Natürlich brauchen wir bestimmte Gesetze, um die Ordnung aufrechtzuerhalten …« Hier und da waren ironische Buhrufe zu hören. »Ja, ja, ich kenne meine Anarchisten hier im Saal …« Lachen. »Aber Gesetze, die unsere Freiheit aus Angst einschränken, aus Ignoranz oder weil irgendein querköpfiger Idealist seine eigene Version von Utopia schaffen will: Diese Gesetze haben diverse Auswirkungen auf die Gesellschaft, die für uns alles schlimmer machen. Das Anti-Klon-Gesetz gemäß Buckley-Rice ist genau ein solches überflüssiges Gesetz.« Begeisterter Applaus. »Und womöglich haben wir sogar einen Beweis dafür. In Shadow World verabschiedete die US-Legislative das Buckley-Rice’sche Anti-Klon-Gesetz vor einem Jahr. In der Welt des Spiels kam es daraufhin zu einem Anstieg der Säuglingssterblichkeit, einem Anstieg der gemeldeten Fälle von klinischer Depression, einem Anstieg tätlicher Angriffe von Müttern mit Wochenbettdepression auf ihre Babys und einem allgemeinen Anstieg der Selbstmordrate. Das waren alles keine großen Veränderungen, nur ein paar Prozent, aber sie gingen nicht, wie in solchen Fällen normalerweise üblich, mit einem Anstieg der Selbstmordrate in der realen Welt einher. Kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen, dass dieses generelle Abnehmen des Glücklichseins eine direkte Folge von Buckley-Rice war? Nein, so brillant bin ich nicht. Aber ich kann Ihnen sagen, wie Walter Hirschberg die Sache sieht. Das kann ich, weil ich ihn angerufen und gefragt habe. Zunächst einmal muss ich Ihnen gestehen, dass Walter, obwohl ich ihn zu meinen engsten Freunden zähle, kein Befürworter des Klonens ist. Er und ich, wir haben die ethischen Aspekte in den letzten Jahren zahllose Male diskutiert. Aber selbst Walter stimmt mit mir darin überein, dass Buckley-Rice ein schrecklicher Fehler wäre. Gesetze sind keine ethischen 259
Normen. Sie können uns nicht wirklich die Frage beantworten, ob wir etwas tun sollen oder nicht. Gesetze sagen, ob wir etwas tun dürfen, und was das Klonen angeht, ist die Antwort ja. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms und das erfolgreiche, längst routinemäßige Klonen des Menschen ist eine der großen Errungenschaften unserer Zeit, und wenn uns der Kongress der Vereinigten Staaten allen Beweisen zum Trotz erklärt, dass wir Stammzellen nicht klonen dürfen, um Leben zu verlängern, nicht klonen dürfen, um Unfruchtbarkeit zu behandeln und Erbkrankheiten zu bekämpfen, dass wir nicht jede Quelle und jedes Mittel nutzen dürfen, die uns zur Verfügung stehen, um die Leiden unserer Patienten zu lindern, schafft er kein besseres Amerika, sondern ein unglückliches Amerika.« Der Beifall brach mit einem Chor zustimmender Zurufe los. Zuerst standen die Zuhörer an einem der mittleren Tische auf, einen Moment später schon stand der gesamte Saal, und der Beifall wuchs weiter und weiter und feierte die gemeinsame Sache. Davis lächelte und wartete, bis es wieder ruhiger wurde und die Stühle über den dünnen Teppich zurück an die Tische gezogen wurden. »Das heißt nicht, dass die Diskussion um das Klonen beendet ist«, fuhr Davis fort. »Walter und ich nehmen die Debatte jedes Mal neu auf, wenn wir uns sehen. Seiner Meinung nach bedeutet die Tatsache, dass wir Menschen klonen können, nicht automatisch, dass wir es auch sollten. Ich sage ihm dann, dass er damit auf die falsche Frage antwortet. Wenn wir etwas tun können, um die Nation gesünder und glücklicher zu machen, heißt das dann nicht, dass wir es auch müssen?« Applaus. »Ein Paar kommt in unsere Sprechstunde. Sie können keine Kinder bekommen, oder sie haben Angst davor. Sie bitten uns um Hilfe, und wir können sie ihnen geben. Wie könnte es da ethisch richtig sein, es nicht zu tun?« Lauter Applaus. »Walter sagt, was wir tun, ist bemerkenswert – und ich stimme ihm zu, aber nicht aus den gleichen Gründen. Er ist erstaunt, dass wir eine Zelle nehmen können, ein 260
Stück eines Fingernagels, und daraus ein menschliches Wesen produzieren. Ich sage ihm, dass die Natur es seit Ewigkeiten so macht. Die Empfängnis ist für mich immer noch das größere Wunder. Eins aus zwei. Asexuelle Fortpflanzung finden wir nur bei niederen Organismen. Wir erzeugen keine Menschen, wie Walter es nennt. Wir geben ihnen Moms und Dads. Das ist das wirklich Bemerkenswerte.« Andauerndes, befriedigtes Klatschen. »Ich stimme Walter jedoch in einem anderen Punkt zu. Unsere Arbeit muss fortgesetzt und über die ethischen Aspekte all unserer Tätigkeiten hart debattiert werden. Einer der Gründe, aus dem ich die Bemühungen dieser Organisation unterstütze …«, er deutete auf das CALS-Banner hinter sich, »… ist, dass eine freie Gesellschaft immer wieder schwierige ethische Entscheidungen zu fällen hat, die Folgen ihrer Handlungen abwägen und den Wert ihres Tuns diskutieren und rechtfertigen muss. Nur in Diktaturen gibt es keine moralischen Dilemmata. In Castros Kuba, in Saddams Irak und Kim Jong Ils Nordkorea debattierte das Volk nicht darüber, ob man etwas tun sollte oder nicht, nur, ob man es durfte oder nicht. Utilitaristen fragen uns nach dem höchsten Gut. Das ist sicher ein tauglicher philosophischer Ansatz. Der Justizminister – genau wie die Unterstützer von Buckley-Rice – führt den Begriff ständig im Munde. Er behauptet, dem höchsten Gut werde durch staatliche Regelung der wissenschaftlichen Forschung gedient, durch das Verbot jedweden Klonens, durch die dem Kongress erteilte Ermächtigung, die Vorgehensweise der wissenschaftlichen Forschung in diesem Land gesetzlich zu regeln. Aber was ist mit dem größten Übel? Das Einzige, was die Maschinenstürmer gegen Technologie haben, ist ihre Angst davor. Aber wenn wir unsere Arbeit einstellen oder auch nur das Tempo der genetischen Forschung drosseln, werden Tausende sterben, Zehntausende leiden, und Milliarden – alle freien 261
Menschen dieser Welt, um es genau zu sagen – werden schlechter dran sein als zuvor.« Davis führte acht Beispiele aktueller Forschung an, um zu untermauern, was er sagte. Dabei arbeitete er mit Dias und Videos, die auf eine riesige Leinwand hinter ihm projiziert wurden. Er war darauf bedacht, dass die Arbeiten von einem halben Dutzend Forscher aus dem Publikum genannt wurden: Dr. Seebohm, Dr. Harmon, beide Drs. Carter, Dr. Manet und Dr. Huang. Die CALS-Mitglieder konnten nicht aufhören zu grinsen, lachten drei-, viermal und applaudierten heftig, als er zum Ende gekommen war. »Hervorragend!«, sagte Dr. Poonwalla über die Schulter zu ihm, und schon strömten etliche Zuhörer zum Podium, um ihrer Zustimmung auch persönlich Ausdruck zu geben. »Genau das Richtige, um die Truppen zu sammeln!« Als sich auch der letzte Gratulant verabschiedet hatte und in Richtung Ausgang verschwunden war, verließ Davis den Saal und stieg in den Aufzug zu einem kahlköpfigen Betrunkenen mit einem Namensschild auf der Brust (er hatte nichts mit der Tagung zu tun, wie Davis sah), der an der hinteren Wand lehnte und nicht einmal herausbrachte, in welche Etage er wollte. Verärgert stieg Davis im vierzehnten Stock aus, und als ihm der Betrunkene folgen wollte, stieß er ihn zurück in die Kabine und drückte mit der flachen Hand gleich auf mehrere Knöpfe, die gemeinsam aufleuchteten. Davis bog mehrmals ab und folgte den Pfeilen auf den gemalten Wandtafeln, bis er sein Zimmer fand. Er zog die Schlüsselkarte durch den senkrechten Schlitz und lehnte sich gegen die Tür. Das Zimmer war ruhig, und er nahm an, dass sie im Sessel bei der Stehlampe saß und eines der drei Taschenbücher las, die sie für die Sechsunddreißigstundenreise eingepackt hatte. Bis auf das Dämmerlicht im Vorraum war es jedoch dunkel, und als er leise ins Zimmer trat, sah er, dass sie schlief. Er wich in das übergroße Bad aus, wo er sich aus seinem 262
mattschwarzen Anzug schälte, die Zähne putzte und sich mit der feuchten Hand durchs silberne Haar fuhr. »Wie war’s?«, fragte Joan und machte damit seinen übertriebenen Versuch zunichte, sie nicht aufzuwecken. Er ließ sich jedoch nicht beirren, legte sich sacht ins Bett neben sie und zog sich die Decke bis ans Kinn, ohne die kühle Luft darunter zu lassen. »Noch eine Predigt vor Bekehrten«, flüsterte er. »Hmm. Das ist gut. Bekehrte schießen im Allgemeinen nicht auf einen.« Mindestens ein Mal am Tag verwies Joan irgendwie auf seine alte Wunde, sprach aber gemäß der unausgesprochenen Regeln ihrer Partnerschaft niemals über Jackies Tod. Anfangs hatte sie öfter über Anna Kat gesprochen, aber auch ihr Name fiel immer seltener. Davis hatte nicht mehr das Gefühl, Joan beweisen zu müssen, dass er sich an seine Tochter erinnerte. Joan hatte New Tech kurz nach Davis verlassen und in einer Klinik, die dem Northwestern Hospital angeschlossen war, ihre eigene Praxis eröffnet. Während seine rechtlichen Probleme angegangen und erledigt wurden, entwickelte sich ihre Beziehung unaufhaltsam weiter, und jeder Schritt hin zu größerer Intimität schien so klar vorgezeichnet wie die Versetzung eines frühreifen Kindes in die nächste Klasse. Als sie im letzten Jahr endlich heirateten, war Joan leicht besorgt, dass die Bekanntheit ihres Mannes Patienten abschrecken könnte (oder wenigstens die Eltern ihrer Patienten), aber wie sich herausstellte, hatten die Leute längst aufgehört, sich für den Unterschied zwischen berühmt und berüchtigt zu interessieren. Sicher prophezeiten ein paar extreme Klon-Gegner allen Eltern das ewige Höllenfeuer, die das Wohlergehen ihres Kindes in die Hände von Dr. Davis Moores Frau legten, aber wenn es in der Praxis überhaupt eine spürbare Änderung gab, dann stieg die Patientenzahl eher, als Joan von Dr. Burton zu Dr. BurtonMoore wurde. 263
Sie streckte den rechten Arm hinüber zu ihm und legte die Hand auf seinen Bauch. Mit den Nägeln der linken Hand fuhr sie ihm über die Schläfe. Er lächelte und rollte sich auf die Seite, wo sie seinen Mund mit ihrem empfing. Sie war nackt, was ihn überraschte – normalerweise schlief sie in einem übergroßen TShirt –, und er küsste sie voller Begierde. Seine Augen gewöhnten sich immer mehr an das Dunkel, und er verweilte lange genug über ihr, um sie zum Lächeln zu bringen. Welche Wonne, dass sie ihm erlaubte, sie zu berühren, zu küssen, in sie einzudringen. Zur Heirat hatten sie sich wie nebenbei während eines Wochenendes in seinem Haus am See in Michigan entschieden, und er staunte immer noch, dass sie seine nächtliche Leidenschaft erwiderte, sie, die so schön, intelligent, großzügig und zehn Jahre jünger war als er, während er voller Fehler steckte, selbstsüchtig und alt war und in seiner früheren Ehe kläglich versagt hatte. Sie beobachtete seine Augen. Es hatte eine Zeit gegeben, noch bevor sie überhaupt zusammengekommen waren, da hatte sie gedacht, ihn verloren zu haben. Seine Besessenheit, den Mörder von AK zu finden, hatte ihn so in Beschlag genommen, dass in ihm kein Raum für irgendetwas anderes war. Sie hatte seinen Wahnsinn gedeckt, um Justin zu schützen, ja sicher, aber auch, um Davis vor den Folgen seiner Verrücktheit zu bewahren. Und es gab keinen besseren Weg, ihm nahe zu kommen, als das Einzige mit ihm zu teilen, das ihm wichtig war. Ihre Liebe zu ihm war zwiespältig gewesen in jenen Tagen. Sie hatte wenig Hoffnung und versuchte verschiedentlich, Beziehungen mit leichter verfügbaren Männern einzugehen, kam aber am Ende immer wieder auf den unwahrscheinlichen Traum eines Lebens mit Davis Moore zurück. Sie war immer noch jung genug, um Kinder zu bekommen. Davis selbst hatte zahllosen Frauen, die älter waren als sie, zu Babys verholfen. Aber Joan sah ein, dass es unfair gewesen wäre. Erst jetzt hatte er sich damit abgefunden, dass seine 264
Tochter nicht mehr lebte. Wenn sie Davis ganz für sich hätte, dachte Joan, genügte das schon. Später, noch halb ineinander verschlungen, hatten sie beide schreckliche Träume, in denen der andere fehlte. Rastlos wanden sie sich im Schlaf.
52 Als Davis Moore ihn zurück in den Aufzug stieß, kostete es Mickey Fanning sämtliche Willenskraft, nicht in Lachen auszubrechen, Moores Arm zu packen oder ihm gar eine Beschimpfung hinterherzurufen und dabei seine Betrunkenenrolle beizubehalten. Stattdessen stolperte er stumm in die Kabine zurück, sah, wie sich die Türen vor ihm schlossen, und schoss mit dem Aufzug weiter in die Höhe. Für Mickey war Dr. Moore eine Beleidigung Gottes, jemand, der sich Gottes Willen in den Weg stellte, und er hatte deswegen bereits einmal auf ihn geschossen. Es ärgerte Mickey auch nach all den Jahren noch, dass er ihn damals nicht richtig erwischt hatte. Dass es ihm nicht, wie eigentlich geplant, gelungen war, Moore mit einem Kopfschuss zu fällen. Mickey hatte in seiner Laufbahn nicht oft danebengeschossen. Es war vorgekommen, dass er jemanden tötete, den er nicht töten wollte – das waren Kollateralschäden, die er in Kauf nahm. Dass er jedoch einen Arzt verfehlte, den er tot sehen wollte, das kam selten vor. Von Zeit zu Zeit malte er sich aus, wie er den Mann noch einmal ins Visier nahm. Vielleicht würde er eines Tages, wenn seine Mission beendet war, noch einmal losziehen, um seinen Fehler zu korrigieren. Die anderen in der Bewegung dachten wahrscheinlich längst nicht mehr daran, aber für Mickey war der Fehlschuss auf Davis Moore ein ärgerlicher schwarzer Fleck auf der Weste seines Furcht erregenden Rufs.
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Moore war jedoch nicht der Grund, aus dem er heute hier war. Moore hatte seine Praxis aufgegeben, und obwohl sein öffentliches Auftreten ihn nach wie vor zu einem legitimen Ziel machte, war der Ex-Doktor doch mit den Jahren ein öffentlicher Sympathieträger geworden. Ihn noch einmal ins Visier zu nehmen würde mehr schaden als nützen. Mickey versuchte, tote Ärzte zu produzieren, keine Märtyrer. Weil Moore mit der flachen Hand auf die Liftsteuerung gedrückt hatte, öffnete und schloss sich die Tür vier Mal, bevor Mickey im zweiundzwanzigsten Stock ankam. Er stolperte aus dem Aufzug und tat immer noch so, als wäre er betrunken. Es war zwar niemand zu sehen, aber die Sicherheitskameras waren überall, wie er sich ermahnte. Mit gesenktem Kopf ging er zum Zimmer 2240. In seiner Tasche war ein Geschenk von Harold Devereaux. Phillip hatte ihm geraten, nicht zur CALS-Tagung zu gehen. Es gebe dort zu viele Leute, die sich an ihn erinnern mochten. Da Mickey während der letzten vier Jahre äußerst rege gewesen war, gab es im Saal unten sicher zwei Dutzend Ärzte und Laborratten, die ihn im Zusammenhang mit einer seiner Operationen bereits einmal gesehen hatten. Ob sie ihn tatsächlich auch mit dem Attentat, der Bombe, oder um was auch immer es sich im Einzelfall gehandelt hatte, in Verbindung bringen würden, war natürlich eine andere Frage. Mickey machte sich deswegen keine großen Gedanken. Er hatte nicht vor, sich bei einem der Seminare oder Vorträge zu zeigen. Die Hände Gottes bestimmten seinen Fahrplan nicht länger. Er hatte sich das Recht verdient, seine Opfer selbst auszusuchen und zu entscheiden, welches Risiko akzeptabel war. Und obwohl er bereits zu neunzig Prozent entschieden hatte, nach Palm Springs zu kommen, hatte der Umschlag von Harold Devereaux am Ende den Ausschlag gegeben. Wer wusste, woher Harold die Karte hatte? Er besaß überall Freunde und Unterstützer. Viele von ihnen waren so scheu, dass 266
sie nicht einmal mit ihrer Familie oder ihren Kollegen über Religion und Wissenschaft diskutieren wollten, aber insgeheim taten sie, was richtig war. Wie hatte Reverend Fallwell sie vor Jahren doch genannt? Die schweigende Mehrheit. Ein Mitglied dieser schweigenden Mehrheit musste Harold den Umschlag geschickt haben, und Harold wusste gleich, was damit zu tun war. Er schickte ihn an die Hände Gottes und legte eine Notiz dazu, sie sollten ihn an Fanning weiterleiten. Auf dem Umschlag stand eine Mitteilung in Harolds Handschrift, die nicht mehr besagte als: »Funktioniert in allen Prince-Resort-Hotels weltweit.« Mickey hatte Harold nichts von seinen Plänen erzählt, aber Harold war sich auch so sicher gewesen, dass der Inhalt des Umschlags irgendwann hilfreich sein könnte. Die Karte war ein Generalschlüssel. Mickey zog sie durch den senkrechten Schlitz des Schlosses von Zimmer 2240. Das Sicherheitslämpchen leuchtete einmal gelb auf, Mickey hörte ein Klicken, das Licht blinkte grün, und er öffnete die Tür und schlüpfte hinein. Das Zimmer war dunkel, leer und kalt. Er ging ins Bad, um zu sehen, ob die Dusche einen Vorhang oder eine Tür hatte. Es war eine Milchglastür, die zu durchsichtig war, um als Versteck dienen zu können. Er ging zurück ins Zimmer und öffnete den verspiegelten Schrank. Die Kleiderbügel waren leer. Das Paar musste aus seinen Koffern leben. Vielleicht hatten sie nur ihre offizielle Garderobe – das, was sie heute Abend trugen – hier hängen gehabt, und Badesachen, Jeans und Golfhemden befanden sich zusammengelegt in ihren Taschen. Sie hatten nur für drei Tage eingecheckt. Mickey schob die Schranktür von innen zu und schob sich ans andere Ende, das weniger wahrscheinlich geöffnet werden würde. Er nahm ein Kissen aus einem Fach über sich und schob es zwischen seinen Rücken und das kleine harte Bügelbrett. Die Tür ließ er einen Spaltbreit geöffnet, schließlich bestand die Möglichkeit, dass er länger hier drin verbringen musste. 267
Dr. Poonwalla und seine Frau kamen vierzig Minuten später. Sie kündigten sich mit erschöpften Seufzern und lautem Flüstern an. »Dieser Davis Moore ist ein Charmeur, was?«, sagte Mrs Poonwalla. Dr. Poonwalla sagte: »Ja, es ist so eine Tragödie, was ihm passiert ist, wenn ich auch gern wüsste, was wirklich hinter dieser unappetitlichen Sache in Chicago gesteckt hat. Seine Geschichte von der verdeckten Studie war nicht ganz leicht zu schlucken, muss ich sagen.« »Trotzdem, ein guter Mann.« »Ja. Ja, das ist er.« Nachdem sie aus dem Bad gekommen waren, legten die Poonwallas ihre Kleider irgendwo anders ab als im Schrank, gingen zu Bett und gaben sich einen ehelichen Gutenachtkuss. Mickey wartete, bis er sie schnarchen hörte, dann verließ er den Schrank, und durch das dicke Extrakissen feuerte er den beiden aus nächster Nähe eine Kugel in die Stirn.
53 Als sie Zeit fand, darüber nachzudenken, kam es Ms Eberlein schon als ein merkwürdiges, ja beunruhigendes Thema für ein Sozialkundereferat vor, aber sie musste zugeben, dass es Aktualität besaß. Seit dreieinhalb Jahren nun schaffte es der Wicker-Mann immer wieder in die Schlagzeilen der Medien und war zum wiederkehrenden Albtraum von sechs Millionen Menschen geworden. Er schlug nach keinem regelmäßigen Muster zu – einmal gab es eine neunmonatige Pause zwischen zwei Morden, die er mit seinen Insignien versehen hatte. Aber immer dann, wenn die Stadt sich fast schon erlöst fühlte, sich die Clubs auf der Westside erneut mit sorglosen Zwanzigjähri268
gen füllten, wenn sich die Leute wieder allein in die Hochbahn trauten und nicht mehr jedes Mal Freunde oder Verwandte anriefen, um ihnen zu sagen, dass sie sicher nach Hause gekommen seien, immer dann wurde wieder eine Leiche gefunden, und die Morgennachrichten waren voll davon. Die Nachricht von einem neuen Mord wirkte auf junge weibliche Singles wie Ms Eberlein besonders belastend. Bis auf zwei waren alle elf Opfer des Wicker-Manns Frauen gewesen, und die Polizei nahm an, dass er die Männer nicht mit Absicht ausgewählt hatte. Wahrscheinlich hatten sie auf Hilferufe reagiert oder waren umgebracht worden, weil sie Zeuge eines seiner Verbrechen geworden waren. Wie Tausende andere junge Chicagoer Frauen hatte Ms Eberlein einen Selbstverteidigungskurs gemacht und sich ein Pfefferspray für die Handtasche gekauft. Nach vier Jahren allein mitten in der Stadt hatte sie ihre Eigentumswohnung verkauft (ein Geschenk von ihren Eltern nach ihrem Universitätsabschluss) und war in eine Wohnung gezogen, die groß genug für eine Mitbewohnerin und einen Rottweiler war. Es kam also nicht völlig überraschend, dass einer ihrer Schüler eine Arbeit über die Morde des Wicker-Manns schreiben wollte. Was ihr jedoch Sorgen machte, war das Alter des Schülers. Justin Finn hatte drei Klassen übersprungen, bis er bei ihr gelandet war, und der Gedanke, dass dieser intelligente Junge erst vierzehn war, hatte etwas Beunruhigendes. Als er zum ersten Mal zu ihr in die Klasse kam, hatte sie sich leichthin gefragt, ob er außer dem langen blonden Strubbelkopf wohl sonst noch ein Haar auf seinem Körper hatte, sich aber solcherlei Gedanken gleich mit einem Tadel verboten. Es war schlimm genug, wenn ihr die erwachende Sexualität der älteren Jungen in der Schule auffiel. Justin würde sicher einmal ein gut aussehender junger Mann werden, aber wahrscheinlich erst mit neunzehn, am Ende seines Jurastudiums.
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»Besonders erstaunlich am Wicker-Mann ist«, erklärte er der Klasse, »dass er niemals irgendwelche körperlichen Spuren hinterlassen hat. Fast alle gewalttätigen Kriminellen lassen am Tatort etwas zurück, Blut, Haare, Sperma …« Ein Junge in einer der hinteren Reihen lachte laut auf, und ein Mädchen weiter vorn rollte mit den Augen und grinste. »Nicht so der WickerMann. Das hat ihm eine Art übernatürliche Aura verliehen. Ich würde ihn in verschiedener Hinsicht mit dem Sternkreis-Killer von San Francisco vergleichen, dessen kryptische Mitteilungen und unheimliche Verkleidungen noch zum Schrecken seiner Morde beitrugen. Der Wicker-Mann ist der Wirklichkeit gewordene schwarze Mann.« »Was glaubst du, wie es ihm gelungen ist, es die ganze Zeit über zu vermeiden, irgendwelche Spuren zu hinterlassen?«, fragte Ms Eberlein. Auch die Schüler waren aufgefordert, den Vortragenden immer wieder mit direkten Fragen zu unterbrechen. Das machte es weniger langweilig für sie als Lehrerin, hielt die Klasse beschäftigt, und der Schüler vorn konnte sich nicht allein mit fünfzehn Minuten auswendig gelernter Fakten durchmogeln. Für gewöhnlich musste sie jedoch selbst die erste Frage stellen. Justin nickte und hielt sein gebundenes Referat in die Höhe, als wollte er sagen, dass sich die Antwort darin befinde. »Er verbringt eindeutig viel Zeit mit seinen Opfern, nachdem sie bereits tot sind. Wir wissen das wegen der eigentümlichen Stellung, in der er sie zurücklässt. Die Einzelheiten dazu hält die Polizei jedoch geheim. Offenbar hat er dadurch auch genug Zeit, den Tatort zu säubern. Einige Ermittler denken, dass er ein Kondom benutzt …« Wieder ein unterdrücktes Kichern. »… und das ist sicher möglich. Aber fast sämtliche Angriffe haben in Nächten stattgefunden, in denen es regnete. Ich denke, das ist mit Absicht so. Er lässt die Natur jede Spur wegwaschen. Dazu kommt, dass Fußgänger, die ihren Kopf unter einem Schirm verbergen, weniger leicht auf andere Fußgänger oder 270
verdächtige Vorgänge aufmerksam werden. Seine Opfer sehen ihn nicht kommen, und möglichen Zeugen fällt nicht so leicht etwas auf.« Beeindruckend. Ms Eberlein hatte von dieser Theorie noch nicht gehört. Sie fügte es der Liste grundsätzlicher Überlegungen hinzu, die ihr vielleicht eines Tages das Leben retten würden. Ein Mädchen namens Lydia hob die Hand, und Justin nickte ihr zu. »Ich kann mich erinnern, dass die Polizei vor drei Monaten sagte, sie hätten einen Verdächtigen, und man konnte den Typen mit seinem grausigen Schnurrbart im Fernsehen und überall sehen, aber verhaftet wurde er wohl nie, und dann habe ich nichts mehr von ihm gehört. Was ist mit dem Typ passiert?« Justin verzog das Gesicht. »Das war eine ziemliche Blamage für die Polizei. Der Mann hieß Armand Gutierrez, und er hatte mit zwei von den Opfern zu tun. Die eine war mit ihm in einem Tanzkurs im Discovery Center gewesen, und die andere kaufte regelmäßig in dem Lebensmittelladen ein, in dem er arbeitete. Die Polizei dachte, das sei einfach ein zu großer Zufall, und plötzlich schien alles an ihm verdächtig zu wirken. Er hatte eine eigenartige Pornosammlung – nichts Illegales, aber sie machte die Leute neugierig, die seine Wohnung durchsuchten. Er arbeitete auch als Metzger in einem italienischen Deli, und eines der männlichen Opfer war mit einem großen Messer brutal zerstückelt worden. Die Polizei stand unter heftigem Druck vom Rathaus, den Fall zu lösen, und die gaben den Namen dann im letzten Oktober an die Presse, damit es vor der Bürgermeisterwahl zumindest eine gute Nachricht gab. Gutierrez hatte aber Alibis für fast alle Nächte, in denen eine neue Leiche gefunden worden war, und so haben sie keine Anklage gegen ihn erheben können. Einige Leute denken immer noch, dass er der Killer ist, aber der Bezirksstaatsanwalt und das FBI haben ihn so gut wie ganz von ihrer Liste gestrichen. Gutierrez hat übrigens die Stadt 271
verklagt, und er wird wahrscheinlich einen guten Schnitt machen.« »Du hast das FBI genannt.« Foo, ein beliebter Junge, wartete nicht erst, bis Justin ihn aufrief. »Haben die so was wie …, du weißt schon, wie nennt man das noch, wo sie alles genau ansehen und aufschreiben, wie sie sich den Mörder vorstellen …« »Ein Profil«, sagte Justin. »Ja, sie glauben, er ist männlich, weiß, zwischen fünfundzwanzig und fünfundvierzig, hochintelligent, wenn auch nicht unbedingt gebildet, lebt wahrscheinlich im Wicker-Park-Viertel oder dem Ukrainian Village, oder zumindest auf der North oder Near West Side. Er hat unglaubliche Beherrschung bewiesen, indem er monatelang, wie es scheint, ohne einen Mord ausgekommen ist. Das FBI nimmt an, dass er sich entweder in einer stark überwachten Situation befindet, das heißt, dass er irgendwo in einer Institution lebt, einer Art Behandlungszentrum oder im offenen Vollzug, und dass dadurch seine Möglichkeiten sehr eingeschränkt sind, oder dass er die Stadt immer wieder verlässt. Aber vielleicht hat er auch weit mehr Leute umgebracht, als wir denken, und sie nur besser versteckt.« Ms Eberlein, die auf Justins Platz zwischen den anderen saß, hob die Hand. »Du hast dich offenbar eingehend mit dem Thema beschäftigt. Welche Möglichkeit hältst du für die wahrscheinlichste?« Justin stand hinter einem tragbaren Lesepult, das auf Ms Eberleins Metallpult gestellt worden war, und er neigte bescheiden den Kopf, als sähe er etwas in den Notizen vor sich nach. »Eigentlich keine.« Er lächelte. »Ich glaube, er führt ein ziemlich normales Leben. Vielleicht ist er sogar ein sehr erfolgreicher Mann, schließlich sagen alle, dass er intelligent ist. Er hat einfach noch eine andere Möglichkeit, Dampf abzulassen. Was immer ihn zum Töten 272
treibt, er verfügt noch über eine andere Weise, seinen Drang zu sublimieren …« Jemand hustete, als wollte er sagen, dass ein Vierzehnjähriger nur dann solche Worte gebrauchte, wenn er angeben will. »Vielleicht hat er ein aggressives Hobby wie Boxen. Oder er betreibt Sadomasochismus …« Lautes Lachen. »… und kann sich seine Kicks auch auf nicht-tödliche Weise verschaffen. Aber dann wieder baut sich in ihm etwas auf, und er kann nicht mehr anders. Er muss töten.« Ms Eberlein hob die Brauen und pfiff. »Ich glaube, du wärst ziemlich gut darin, dem FBI bei seinen Profilen zu helfen, Justin. Es hört sich an, als hättest du dich ganz in den Kopf dieses Mannes versetzt.« So oder so, dachte sie. Die Schulglocke läutete, und die Schüler applaudierten faul. Justin lächelte Ms Eberlein an und tauschte wieder den Platz mit ihr, um seine Bücher unter seinem Stuhl hervorzuholen. Während sich die Schüler bereits durch die Tür drängten, rief sie die Namen von denen auf, die am nächsten Tag an der Reihe waren, öffnete ihr schwarzes Notenbuch aus Vinyl und schrieb neben Justins Namen: »Unheimlich. 1+.«
54 Der Panoramablick auf die Stadtlandschaft durch das Fenster von Sam Coynes Apartment glich tags wie nachts einem realistischen Gemälde, wenn nicht gerade Nebel, Regen oder Schnee das Bild verwischten. An stürmischen Tagen jedoch, die häufig vorkamen, hatten selbst die gefältelten Flanellvorhänge mehr Tiefe als der flache graue Dunst des Himmels über Chicago. Die Nachtluft war heute so klar, dass sie sich dem sündteuren Fensterputzservice würdig erwies, den Sam in seiner Pingeligkeit unnötigerweise beschäftigte. Die leeren Wolkenkratzer 273
glommen mit zwanzig Prozent ihrer vollen Lichtstärke, Stockwerk um Stockwerk leeren Raums warf sein Licht in die Nacht. Aus dem neununddreißigsten Stock war das Ufer des Lake Michigan nur als imaginäre Linie zwischen den Lichtgittern der City und der leeren Dunkelheit des Wassers auszumachen. Sam liebte die Leere des Sees bei Nacht und die Tiefe seines Nichts. Früher in dieser Nacht hatte er die sechsundzwanzigjährige LeoBurnett-Werbeleiterin, die jetzt neben ihm lag, auf Hände und Knie gezwungen und mit den Stößen seiner Hüften, und indem er ihr den Kopf mit den Händen zurechtzog, dafür gesorgt, dass auch sie die Schwärze des Sees sah. So wie sie reagierte, das schmale Becken an seine Hüften und den Schädel gegen seine Hand gepresst, erkannte er, dass sie war wie er. Die Schwärze da draußen war auch die Schwärze in ihr, die Schwärze in uns allen. Sam schlüpfte aus dem Bett, und das schlafende Mädchen streckte im Traum ihren Arm aus und legte ihn in die Vertiefung, die sein Körper in der Matratze hinterließ. Er lief den Flur hinunter in das Gästezimmer, das er in ein Büro umgewandelt hatte, und öffnete seinen Laptop. Der Schirm erhellte sich unter seiner Berührung, als freute er sich, ihn zu sehen. Er klickte auf das Symbol von Shadow World, und das Spiel fuhr hoch, spulte Copyright-Hinweise ab und Rechtliches und eine gezeichnete Intro, doch er klickte schnell weiter. Das Programm erkannte ihn, notierte die Zeit und zeigte eine Luftaufnahme des nächtlichen Chicago. Jetzt schwenkte das Bild vom See zwischen die Gebäude der Stadt und wanderte Richtung Norden. Das Spiel war mit dem nationalen Wetterdienst verbunden, und so genoss das Bildschirm-Chicago das gleiche wolkenlose Wetter wie die reale Stadt draußen. Innerhalb von Sekunden konnte Sam die Glas-und-StahlFassade seines Gebäudes sehen, und schon ging es hoch, hoch, hoch, neununddreißig Stockwerke zum Fenster von Sams 274
Arbeitszimmer. Dann war er in seiner Wohnung, als hätte sich die Fensterscheibe in Nichts aufgelöst. Sam setzte sein Headset auf und stellte den Blick so ein, dass er mit dem von seinem Tisch übereinstimmte. Er ließ seinen Avatar, sein virtuelles Ich, den Flur hinuntergehen und einen Blick auf die schlafende Frau in seinem Bett werfen. Sein SpielIch war natürlich genauso promiskuitiv wie sein reales Ich. Shadow-Sam ging zu seinem begehbaren Kleiderschrank und zog ein Paar khakifarbene Cargos und einen schwarzen Rollkragenpullover an. Leise ging er aus dem Schlafzimmer in die Küche, öffnete eine Schublade und nahm ein langes Messer heraus, das er in ein Geschirrtuch wickelte und in einer der großen Seitentaschen seiner Hose verstaute. Er verließ das Apartment, fuhr mit dem Aufzug in die Parkgarage und fand seinen BMW am richtigen Platz (sein Shadow-Wagen war einmal gestohlen worden, aber versichert gewesen). Er fuhr nach Norden zum Lake Shore Drive. Es herrschte nur wenig Verkehr, und er öffnete das Schiebedach. Der Tachometer zeigte konstant fünfundneunzig Stundenkilometer an, womit er ein gutes Stück über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit lag. Im Kopfhörer konnte er den Wagen durch die Geräusche der Nachtluft summen hören. Ein hässliches rosa Gebäude erschien am Horizont, und als er daran vorbeifuhr, erinnerte er sich, gelesen zu haben, dass es seinen realen Eigentümern gelungen war, den Denkmalstatus aufheben zu lassen, und dass sein Abriss noch in dieser Woche erfolgen sollte. Sam fragte sich, wie schnell die Programmierer von Shadow World darauf reagieren würden, und nahm sich vor, Shadow-Sam am Freitag noch einmal herfahren zu lassen, um zu sehen, ob das rosa Gebäude noch im Spiel war. Er verließ den LSD in Fullerton und fuhr nach Westen, vom See weg. Der weiße Mond verschwand hinter den Hochhäusern und den Bäumen von Lincoln Park. Er nahm die Lincoln Richtung Nordwesten und kam an einer Kneipe vorbei, die York 275
hieß und eine Lizenz bis vier Uhr morgens hatte. Er drehte um, fand einen Parkplatz und ging hinein. Die Bestandsliste auf seinem Bildschirm erinnerte ihn an das, was er in den Taschen trug: eine Brieftasche mit dreihundert Dollar, ein Messer, ein Geschirrtuch. Das York war voll, aber ein Paar verließ gerade die Theke, und Sam setzte sich auf einen der Hocker. Er bestellte ein Bier, legte einen Fünfziger auf die Theke und wandte den Kopf, um die Gäste in Augenschein zu nehmen. Junge, hippe Leute, ein gemischtrassiger Mix aus Heteros und Schwulen. Zwei Mädchen tanzten zusammen zu den Rolling Stones aus der Jukebox. Beide waren blond, wohlgeformt und hübsch, wie aus einem Cartoon – wie fast alle Shadows, bis auf die Lebensechten. Sam war stolz darauf, dass sein virtuelles Ich ziemlich genauso aussah wie er selbst. Als er im letzten Jahr in Saint Louis in einem Hotel festgesessen hatte, das keinen Fitnessraum besaß, hatte er in einer Woche gut zwei Kilo zugelegt und sein Shadow-Ich anschließend ebenfalls schwerer werden lassen. Diese Art von Ehrlichkeit war nicht unbedingt normal unter den Spielern. Er beobachtete die Mädchen eine Weile, wie sie mit den Hüften kreisten und wieder und wieder mit den Armen eine Schleife beschrieben, die an einen Hustle erinnerte. Schließlich fragte er sie, ob er sie zu einem Drink einladen könne. Er stand auf und bot ihnen seinen und den Barhocker daneben an. Der Barkeeper nahm sich von Sams Wechselgeld, was er brauchte. Die beiden hießen Donna und Lindsay. In Shadow World nannte niemand seinen Nachnamen, das taten nur die wirklich Lebensechten oder Leute, die nach einer Beziehung suchten. Er sagte, er heiße Sam. »Lindsay, das ist ein tolles Kleid«, sagte der echte Sam in sein Headset-Mikro. Nach den Gesprächsvorgaben nannten alle Spieler die Personen, die sie ansprachen, bei ihrem Namen, 276
wenn sich noch eine andere Person in Hörweite befand, oder wie es hieß: »im Raum des Gesprächs«. »Sam, danke. Ich habe es bei Saks gekauft.« Das hieß, dass sie es mit Shadow-Dollars in der Shadow-Ausgabe von Saks Fifth Avenue gekauft hatte. Lindsay legte ihre Hand auf Sams Bein, genau über der Tasche, in der er das Messer hatte. »Lindsay, du hast hübsches Haar. Ist das in Wirklichkeit auch so?« Sam wollte wissen, ob die tatsächliche Lindsay ähnlich wie ihr Shadow-Ich aussah oder ob sie sich sexy gemacht hatte, um das virtuelle Leben einer hübscheren Frau zu leben. Ihm war es letztlich egal, aber so wurde in Shadow World geflirtet und geredet, um die Zeit zu überbrücken, bis man zum nächsten, besseren Teil kam. »Sam, es sieht wirklich so aus«, sagte sie. »Nur gefärbt.« Er hörte sie in seinem Kopfhörer kichern. »Lindsay, Sam, bis dann«, sagte Donna. Sie sah bereits, wohin die Sache steuerte, und ging ein Stück die Theke hinunter, um mit jemand anders zu spielen. »Lindsay, sollen wir einen Spaziergang machen?«, fragte Sam. »Gern!«, sagte Lindsay. Sie verließen die Bar und gingen rechts die Straße hinunter. Ihr lächerliches Gespräch glich jetzt mehr einer wirklichen Unterhaltung als Shadow-World-Geplänkel. Sam bog in eine Gasse, und Lindsay folgte ihm. Unter einer defekten Laterne stand ein Auto, etwa zehn Meter von der Straße entfernt. Sam drückte Lindsay dagegen und fing an, sie zu küssen. In Shadow World trieben es die Spieler ständig mit völlig Fremden, oft an öffentlichen Plätzen. Es gab zahllose Zeitschriftenartikel dazu, in denen Psychologen zitiert wurden, die erklärten, das sei eine weit verbreitete Fantasie für Männer wie Frauen, und es sei sinnvoll, dass die Menschen diese Art 277
Fantasie in einer Spielwelt auslebten, wo sie keinen Schaden damit anrichteten (Geschlechtskrankheiten hätten in der Welt des Spiels eigentlich stärker verbreitet sein müssen, aber die Verantwortlichen in Shadow World nahmen die Bedrohung weitaus ernster als ihre realen Kollegen, und die Infektionsraten lagen nur wenig über denen der realen Welt). Wenn ShadowSam eine Frau wie Lindsay in einer Bar entdeckte, konnte er sie für gewöhnlich noch schneller in eine abgelegene Gasse locken als diesmal. Shadow-Sex war visuell nicht sonderlich aufregend. Den Programmierern war es noch nicht gelungen, Bildschirmcharaktere realistisch oder sexy genug erscheinen zu lassen. Die Nacktbilder wirkten wie unangezogene, fleischfarbene Versionen ihres bekleideten Ichs, und die immer gleichen Bilder wiederholten sich wieder und wieder (sie mit offenem Mund, er mit geschlossenen Augen, die Hüften, die in einem mechanischen Rhythmus gegeneinander stießen). Der Online-Sex war noch eine große Schwäche des Spiels, aber die Programmierer arbeiteten längst an einem weit expliziteren Plug-in für Erwachsene, das mit der Version 5.0 herauskommen sollte. Shadow-Sex glich einer obszönen Unterhaltung zwischen zwei Personen – manchmal waren es auch drei, vier oder mehr. Während sich die Bilder der Spieler dabei auf dem Bildschirm vermischten, schrien und stöhnten die Spieler, bedachten einander mit schmutzigen Namen und beschrieben, wie nah sie dem Höhepunkt bereits waren und was für unerwartete Dinge sie gleich mit ihren Partnern tun würden, um ihnen Lust zu bereiten. Voyeure, meist Jugendliche, deren Eltern sich nie die Mühe gemacht hatten, die Kindersicherungen zu aktivieren, durchstreiften nachts die dunklen Straßen, beobachteten verbotene Sexszenen und speicherten sie auf ihrer Festplatte. Es gab längst Websites, auf denen Shadow-World-Amateurpornos gezeigt wurden.
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Arglos flüsterte Lindsay etliche der gewohnten erotischen Klischees. Als Sam hinunter in seine weiten Hosen langte, musste sie denken, dass er nach einem Kondom suchte, weil sie sagte: »Sam, soll ich dir helfen, es drüberzuziehen?« Während sie sprach, öffnete sich ihr Mund zu einem kleinen schwarzen Oval und fiel anschließend wieder zu einer flachen roten Linie zusammen wie in einem alten Zeichentrickfilm samstagsmorgens. Die Feinheiten von Lippenbewegungen lagen noch jenseits der Möglichkeiten von Shadow World. Sams Avatar zog das Messer aus dem Geschirrtuch, sagte: »Lindsay, nein danke«, und rammte ihr das Messer in die linke Seite. »Verdammt noch mal! Mistkerl!«, schrie Lindsay auf. Sie schrie nicht aus Angst oder Schmerz, sondern aus Frustration und Wut. Was immer sie an Reichtümern, Berühmtheit oder Glück in Shadow World angehäuft hatte, war ausgelöscht, als sie auf dem Bildschirm verblutete. Sie würde das Spiel noch einmal ganz von vorn anfangen müssen, mit ihrem eigenen, langweiligen Ich. Shadow-Lindsay schlug auf die Haube des Wagens. Sam nahm das Geschirrtuch, wickelte das Messer darin ein und steckte es zurück in die Tasche. Er ließ den Blick um sich schweifen, um sich sicher zu sein, dass er keine Spuren hinterließ und sich nicht irgendein armseliger Voyeur im Schatten versteckte. Dann ging er zurück auf die Lincoln Avenue, stieg in seinen Wagen und fuhr nach Osten zum Lake Shore Drive, auf dem er wieder an dem rosa Gebäude vorbeikam. Die Tür seines Apartments schloss er leise hinter sich, wusch das Messer in der Küche und schlich ins Schlafzimmer. Die Frau schlief immer noch in seinem ShadowBett, genau wie die junge Werbeleiterin in seinem tatsächlichen Schlafzimmer. Der wirkliche Sam Coyne hatte sein Apartment nie verlassen. 279
55 Das rote Mitteilungslicht auf Justins Bildschirm blinkte bereits seit einer Stunde, als er aus einem lebhaften Traum erwachte, in dem er von einem Puma über die Korridore seiner Schule gejagt worden war. Er rollte auf den Boden und überlegte einen Moment, ob er das Bettzeug herunter zu sich auf den weichen blauen Teppich ziehen sollte, um dort weiterzuschlafen, aber dann siegte die Neugier. Er würde sowieso nicht wieder einschlafen können. Er verrenkte den Hals, um auf die Uhr auf seinem Schreibtisch zu sehen. Halb fünf. Auf allen vieren kroch er durchs Zimmer und kletterte auf seinen Stuhl. Der Bildschirm erwachte und wurde innerhalb von Sekunden scharf. Wie erwartet, hatte er eine Shadow-WorldEilmitteilung bekommen. Alle Nachrichten in Shadow World wurden über die ShadowMedien verbreitet. In der Regel bestanden sie aus E-Mails, in denen die Spieler über alles auf dem Laufenden gehalten wurden, was für sie von besonderem Interesse war. Eine Nachricht konnte zum Beispiel besagen, dass die Lieblingsband des Spielers ein Konzert in der Stadt plante. Oder dass ein Bild seines Lieblingsimpressionisten versteigert werden sollte. Justin hatte sich nur für ganz spezielle Nachrichten eingetragen. Wenn seine E-Mail-Lampe morgens um halb fünf blinkte, dann war jemand in Shadow-Chicago ermordet worden. Beobachter hatten festgestellt, dass die Mordrate in Shadow World ziemlich genau mit der in den korrespondierenden realen Städten übereinstimmte. Für Chicago bedeutete das mehr als einen Mord pro Tag. Es war bekannt, dass Morden in Shadow World ein beliebter Zeitvertreib der Spieler war, es ging um den Nervenkitzel, aber niemand schien erklären zu können, warum die Mordraten am Ende so genau zu den wirklichen Statistiken passten, wo doch allgemein angenommen wurde, dass die 280
virtuellen Verbrechen von anderen Leuten und aus anderen Motiven heraus begangen wurden. Justin hatte nur dann um Nachricht gebeten, wenn der Mörder nicht gleich gefasst wurde und es um keine häusliche Auseinandersetzung zu gehen schien. Damit kamen mehr als drei Viertel der Morde nicht in Betracht. Mindestens aber einmal pro Woche fand Justin einen grausigen Bericht in seiner Mailbox. Er überflog ihn schnell. Der Fall schien viel versprechend. Justin setzte seinen Kopfhörer auf und loggte sich ein. Als sein Shadow-Ich in seinem Zimmer erschien, begann er mit seiner Arbeit. Shadow-Justin zog sich an und kletterte aus dem Fenster in den Garten. Er holte sein Elektrorad aus der Garage und fuhr zum Metra-Bahnhof von Northwood. Seiner Bestandsliste zufolge hatte er vierzig Dollar in der Tasche, ein Notizbuch, einen Stift, seine Kamera und die Metra-Card. Er stieg in den ersten Zug Richtung Innenstadt. Um diese Zeit gab es nicht viele Spieler im Zug. Eine müde aussehende Frau in Schwesternuniform hielt den Kopf gegen das Fenster gelehnt, und ein Mann in einem Anzug, wahrscheinlich ein Lebensechter, der früh schon auf dem Weg zur Arbeit war, las die Sun-Times. Ein Mann in Freizeitkleidung saß auf dem ersten Platz neben den Stufen. Justin setzte sich drei Plätze weiter vorn auf die andere Seite des Gangs. Der Zug rumpelte an dunklen Häusern und Straßen vorbei, und die roten Ampeln an den Übergängen zeigten an, wenn er eine der großen Straßen überquerte. Justin zählte sie und wusste so, wo sich der Zug befand, ohne auf die verzerrten Durchsagen achten zu müssen. Nach drei Stationen stand der zwanglos gekleidete Mann auf und setzte sich neben ihn auf die andere Seite des Gangs. Justin wandte sich ihm zu und sagte hallo. Der Mann trug einen gelben Pullover über einem Oberhemd und eine Brille. Er beugte sich zu ihm herüber und versuchte zu sprechen, aber seine Worte wurden in Justins Kopfhörer von 281
einem lang gezogenen Pfeifton überlagert, und über dem Kopf des Mannes öffnete sich ein Textfenster mit dem Hinweis: ›NICHT JUGENDFREI‹. Was immer er sagte, die Kindersicherung ließ es nicht durch. Der Mann stand auf und verließ eilig den Waggon, damit Justin ihn nicht beim Schaffner anzeigen konnte. An der Northwestern Station stieg Shadow-Justin aus, ging zur El und fuhr bis Lakeview. In der Eilmitteilung hatte es geheißen, der Mord habe sich im Block 2400 an der North Lincoln ereignet. Er rannte zu der Adresse, was ihm eine Energiewarnung einbrachte, die ihn daran erinnerte, dass sein Avatar nicht gefrühstückt hatte. Drei Polizisten standen auf dem Bürgersteig und teilten sich eine Packung Krispy Kremes. Shadow-World-Polizisten waren in der Realität fast immer irgendwelche Möchtegerns und sprachen und verhielten sich entsprechend den schlimmsten Fernsehklischees. Sie aßen jede Menge Doughnuts und redeten ständig von »zur Strecke bringen«. Justin gingen sie auf die Nerven. »Kleiner, hier gibt’s nichts zu sehen«, sagte einer der Cops, als Justin sich unter dem gelben Absperrband hindurchducken wollte. »Geh weiter.« »Augenblick, Officer«, sagte Justin und versuchte, die Gasse hinunterzublicken, die von einem blauweißen Polizeiwagen versperrt wurde. Er machte ein paar Fotos, die sofort auf seiner Festplatte gespeichert wurden. Ein Techniker der Spurensicherung, möglicherweise computergeneriert, maß die Entfernungen von der Leiche zu verschiedenen Stellen der Gasse und verzeichnete sie auf einem Klemmbrett. Eine Reporterin schrieb etwas in ihr Notizbuch. Die Cops drehten Justin jetzt den Rücken zu und fuhren mit ihrer Unterhaltung fort, die nichts mit ihrem Job zu tun hatte. 282
Justin nahm sich einen Doughnut, rutschte über die Haube des Wagens und schob sich unter dem gelben Absperrband durch. »Kleiner! He!«, rief einer der Polizisten, kam aber nicht hinter ihm her. Die Reporterin sah von ihrem Notizbuch auf und ging ein paar Schritte in ihre Richtung, bis Justin hinter ihr stand. »Schon gut, Officers«, rief sie. »Der Junge gehört zu mir.« Die Polizisten hoben die Hände, und die Reporterin und Justin gingen zu der Toten. Die Kindersicherungen funktionierten bestens, wenn es um das Ausblenden von Flüchen und unschicklichen Anträgen ging und das Unsichtbarmachen von Nacktheit und sexuellen Aktivitäten, vor Gewalt jedoch schützten sie die Kinder nicht. Wenn jugendliche Spieler gegen Gewalt immunisiert würden, argumentierten die Hersteller, könnten sie niemals getötet oder auch nur verletzt werden, und das würde dem Spiel die Authentizität nehmen. Ihrer Ansicht nach mussten ShadowWorld-Kinder in Brunnen fallen, von Traktoren überfahren und von Pumas gejagt werden, wenn denn Pumas aus einem Zoo ausbrachen. Wenige Eltern wussten von dieser Lücke. Martha Finn ganz gewiss nicht. Die Tote war mit dem Gesicht nach unten neben das linke Vorderrad der alten Limousine gerutscht. Sie lag in einer großen ovalen Blutlache, die sich in roten Rinnsalen unter das Auto verzweigte. Ihre Kleidung war mit Blut durchtränkt. Justin wandte sich an die Reporterin. »Sally«, sagte er, »was wissen wir über den Fall?« Vor zwölf Monaten, drei Jahre nach ihrer letzten Fotoserie von Justin, hatte Sally Barwick, Justins erste Liebe, mit seinem Shadow-Ich vor seiner Shadow-World-Schule Kontakt aufgenommen. Im realen Leben dürfe sie keinen Kontakt mit ihm unterhalten, erklärte sie ihm, die Verfügung, die seine Mutter durchgesetzt habe, gelte noch immer. Sally hatte sogar Angst, in Justins Shadow-World-Zuhause zu kommen, für den 283
Fall, dass Martha ebenfalls Shadow World spielte. Sally sagte ihm, dass es ihr wegen der Fotos Leid tue. Sie schäme sich, dass sie ihn hintergangen habe. Er sei für sie immer ein besonderes Kind gewesen. Sie denke sehr oft an ihn. Justin war zu verlegen, es seinen Avatar aussprechen zu lassen, aber auch er dachte noch oft an sie. Sie erklärte ihm, dass sie es zur Polizeireporterin der Chicago Tribune gebracht habe. Sie tauschten ihre Theorien über den realen Wicker-Mann aus. Mit Sallys Hilfe gelangte er zum ersten Mal an den mitternächtlichen Tatort eines Verbrechens. Seitdem trafen sie sich etwa zwei Mal im Monat hinter Marthas Rücken bei einer virtuellen Leiche in einer Chicagoer Gasse. »Justin, hallo«, sagte Shadow-Barwick. »Sie heißt Lindsay. Wurde mit einem Messer in den Bauch gestochen und vor zwei Stunden von ein paar Voyeuren gefunden. Keine Zeugen. Keine Tatwaffe.« Justin sah unter den Wagen. »Erinnert dich das an was?« Da niemand in Hörweite war, konnte er sich die Formalität der Namensnennung sparen. »An was?« »Vor drei Wochen. In der State Street. Eine Blonde. Erstochen.« »Ja. Die und ungefähr hundert andere«, sagte Sally. »Da wollte wieder mal einer ein wenig Nervenkitzel. Wahrscheinlich ein Teenager, der vor seinen Freunden damit angeben will.« »Weißt du, woran ich dabei noch denken muss?«, sagte Justin. »Etwas anderes, an das mich das hier erinnert?« »Was?« »Nicht hier drin. Draußen.« »Sag’s nicht.« »Okay, dann nicht.« »Der Wicker-Mann will dir wohl nicht aus dem Kopf.« 284
»Findest du es denn nicht komisch, dass es so eine Menge Ähnlichkeiten gibt?« Barwick wedelte mit ihrem Stift. »Okay, dann ist es ein Nachahmer. Die gibt es immer wieder. Im Jahr bevor du ins Spiel eingestiegen bist, haben sie einen Verrückten am Stadtrand von Shadow-Chicago gefasst, der ein paar Dutzend Leichen in seinem Garten verbuddelt hatte. Irgendein High-School-Knabe dachte, es wäre doch saukomisch, mal für ein paar Wochen einen auf John Wayne Gacy zu machen. Was für ein ›NICHT JUGENDFREI‹.« »Ich habe eine Theorie«, sagte Justin. »Willst du sie hören?« »Aber klar. Warum nicht?«, sagte Sally. »Ich glaube, der Wicker-Mann hat ein Ventil für seinen Zorn. Nur deshalb kommt er manchmal so lange ohne einen Mord aus.« Shadow-Barwick lehnte sich gegen den Wagen. »Oh, ›NICHT JUGENDFREI‹! Das ist verrückt. Du denkst, der Mörder ist ein Lebensechter?« Sally deutete auf die tote Lindsay. »Ein Serienkiller im realen Leben, der auch ein Serienkiller im Spiel ist?« »Ich habe die Zeitpunkte der Morde des Wicker-Mannes mit denen von ähnlichen Morden im Spiel verglichen«, sagte Justin. »Und?« »Also ein genaues Muster habe ich noch nicht, aber es gibt ein paar interessante zeitliche Zusammenhänge.« »Alles Zufall, Justin.« Der Techniker von der Spurensicherung schob Barwicks Hand vom Wagen. Sie gähnte und bot Justin ein Kaugummi aus ihrer Tasche an. Dann wickelte sie sich auch selbst eines aus und steckte es in den Mund. »Das hier ist irgendein wild gewordener Teenager, der ein krankes Spiel spielt, das er im tatsächlichen Leben nicht spielen kann.«
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»Ja?«, fragte Justin. »Wenn du dir so sicher bist, dass an diesen Morden sonst nichts dran ist, warum schreibst du dann so viel in dein Notizbuch?« Shadow-Sally bückte sich unter dem Absperrband durch und warf das Papier ihres Kaugummis in einen Container. »Zum Kuckuck«, sagte sie. »Ich mache nur meinen Job.«
56 Der Witz, den man sich um den Bahnhof herum zuflüsterte, besagte, dass sie Ted Ambrose zum Sergeant und dann zum Lieutenant gemacht hatten, weil er ihnen Leid tat. Jeder von den rund zwei Dutzend Detectives hätte den ersten Wicker-MannFall auf den Tisch bekommen und all diese ungelösten Mordfälle am Hals haben können. Es war einfach Pech, dass es einen so guten Polizisten wie Teddy erwischte. Er leitete jetzt die eigens für den Wicker-Mann eingerichtete Spezialeinheit, die die alltägliche Ermittlungsarbeit machte, und Ambrose unterschied die großen Ereignisse seines Lebens längst nach ihrer Nähe zu den Wicker-Opfern. Seine Mutter starb einen Tag, bevor man die Leiche von Opfer Nummer drei, Carol Jaffe, in West Wabansia beim Block 1400 aufgefunden hatte. Seine Frau verließ ihn am Tag, bevor Nummer sieben, Palema Ip, auf dem Parkplatz des Postamtes 60622 entdeckt wurde. Das letzte Opfer, LeeAnn McTeer, war in der State Street aufgefunden worden, mehr als zehn Blocks östlich vom Lieblingsrevier des Wicker-Manns. Ambrose war sich jedoch sicher, dass es sich bei McTeer um Nummer zwölf handelte, denn der Mörder hatte sein Opfer im gleichen Zustand wie alle anderen zurückgelassen: erstochen und sexuell exponiert – und weil Ambrose am Tag zuvor erfahren hatte, dass seine Tochter eine äußerst teure Zahnspange brauchte.
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Er saß in seinem Büro und starrte auf eine gestrichene Hohlziegelwand, an die er einen Plan mit den Verbindungen zwischen den Wicker-Mann-Opfern und den Verdächtigen geklebt hatte, die ihm als Täter gefallen würden. Wer immer im Zuge der Ermittlungen in den Kreis der Verdächtigen geraten war, hatte einen Buchstaben zugeordnet bekommen, aber der Großteil von ihnen war auf die eine oder andere Weise wieder ausgeschieden. Drei Namen klebten noch an der Wand. Verdächtiger A war der Feinkostverkäufer Armand Gutierrez. »Der Metzger«, wie Ambrose ihn zum Spaß nannte. Viele seiner Kollegen zogen ihn nicht mehr in Betracht. Die lokalen Medien hatten ihn längst freigesprochen, und das FBI sagte, das Profil passe nicht auf ihn. Ambrose war sich da nicht so sicher. Verdächtiger F war Bryan Baker. »Der Bäcker« nannte ihn Ambrose in der Abteilung. Baker war ein Taxifahrer, auf den die Polizei aufmerksam geworden war, weil er während mehrerer Wochen im letzten Sommer den Besitzern einer Kneipe gegenüber seltsame Bemerkungen gemacht hatte. Baker war wie besessen vom Fall des Wicker-Manns und erzählte allen, die es hören wollten, dass er mit einigen der Frauen bekannt gewesen sei. Tatsächlich hatte die Polizei drei der Frauen mit Bakers Taxi in Verbindung bringen können, jeweils im Jahr vor ihrem gewaltsamen Tod (zwei hatten die Fahrt mit ihrer Kreditkarte bezahlt, und die dritte hatte die Taxizentrale wegen einer verlorenen Geldbörse angerufen). Unglücklicherweise gab es über diesen seltsamen Zusammenhang hinaus jedoch keinerlei Hinweise auf eine Täterschaft Bakers, und offen gesagt, bezweifelte Ambrose, dass der Mann intelligent genug war, um die Morde begangen zu haben. Trotzdem stand der Taxifahrer immer noch an der Wand. Und dann war da der letzte Neuzugang: Verdächtiger M, den Ambrose ganz für sich den »Kerzenmacher« nannte. Einer von den Hunderten anonymer Hinweise, die sie über die Wicker-Mann-Hotline bekamen, hatte sie auf ihn gebracht. Am 287
Tag des Anrufs hatte Ambrose seine Zweizimmerwohnung für zwanzig Riesen mehr verkaufen können, als er gehofft hatte. Das ist ein Zeichen, dachte er. Der »Kerzenmacher« versetzte Ambroses berühmte Instinkte in Alarmstimmung. Er war gebildet. Erfolgreich. Gut aussehend. Intelligent. Ein wahrer Ted Bundy. Der Anrufer, ein Schlafloser, sagte, ihm sei aufgefallen, dass M zu äußerst seltsamen Zeiten sein Apartment in der Innenstadt verlasse und wieder zurückkomme, jeweils passend zur Tatzeit der letzten beiden Morde, da sei er sich sicher. Das war nicht viel, aber das Profil passte fast perfekt auf den Mann. Ambrose klebte den Namen an die Wand und ließ das Gebäude vorübergehend nachts überwachen. Der Druck, den Fall zu lösen, kam in Wellen. Manchmal gab es ruhige Monate, und die Zeitungen fingen an zu spekulieren, dass der Wicker-Mann weggezogen sei, oder vielleicht war er auch wegen einer anderen Sache gefasst worden und saß irgendwo in einer Zelle. Dann aber wurde ein weiteres Opfer gefunden, und Ambrose stand unvermittelt wieder im Scheinwerferlicht. Was ihn nicht sonderlich zu stören schien. Obwohl die Mordfälle ungelöst blieben, waren fast alle im Police Department der Meinung, dass Ambrose der richtige Mann für den Job war, wenigstens wusste keiner so gut wie er mit dem Bürgermeister und dem obersten Polizeichef umzugehen. Bei einer der Pressekonferenzen hatte ein widerspenstiger, sarkastischer Ambrose einem der Reporter eine Antwort gegeben, die seitdem in fast jedes Polizeirevier im Land gemailt worden war. Ein paar Kollegen, hieß es, hätten sie ausgedruckt, gerahmt und im Dienstraum aufgehängt. Der Ausspruch war mittlerweile als »Ambrose-Doktrin« bekannt. »Es gibt nie wirkliche Hinweise«, hatte Ambrose gesagt. »Mörder, Vergewaltiger und Diebe hinterlassen nie direkte Spuren. Warum sollten sie? Zum Teufel, wenn sie wirkliche Beweise zurückließen, hätten wir sie innerhalb eines Tages. Wir 288
würden sie identifizieren und mit einem Haftbefehl zu ihrem Haus oder ihrer Wohnung fahren, ihnen die Tür eintreten und sie festnehmen. Nein, unser Job ist es, uns in unser Opfer einzufühlen. Wenn man das oft genug macht und auf sein Inneres hört, dann fasst man ein paar der üblen Kerle.«
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Justin mit fünfzehn
57 Sie entschied sich, es ihm an seinem Geburtstag zu sagen, sicher nicht, weil sie es für eine festliche Sache hielt, sondern so ließ es sich noch etwas hinausschieben. Es ging nicht um seine Reife – schon vor fünf Jahren hatte er bewiesen, dass er mit derartigen Neuigkeiten umgehen konnte. Damals hatte er sich auch sein erstes Teleskop gebaut und sich Spanisch beigebracht. Halb rechnete Martha damit, dass er ihr sagen würde, er habe es sich schon gedacht. Das würde es leichter machen und wäre weit besser als die Reaktion, die Martha fürchtete – Enttäuschung und vielleicht auch Wut. Justin verfügte über eine bewundernswerte Selbstkontrolle, und sie hatte ihn nie wirklich wütend erlebt, aber diese Art Eröffnung würde die Dämme womöglich brechen lassen. Und wenn es nicht die Sache selbst war, dann vielleicht die Tatsache, dass sie es so lange vor ihm verheimlicht hatte. Wenn sie es noch länger hinausschob, würde der unvermeidliche Wutausbruch bestimmt noch schwerer zu kontrollieren sein. Nicht dass sie ihm körperlich noch etwas entgegenzusetzen hätte. Justin war längst größer als sie und sah nicht mehr aus wie der Schwächling der Klasse. Er hatte auch mehr Freunde, eher komische Vögel zwar, aber irgendetwas verband sie. Streber, Freaks, Kiffer und Jungs, die Musik machten – alle fühlten sich aus irgendeinem Grund zu ihrem Sohn hingezogen. Auch bei den Mädchen war er beliebter, besonders bei den intelligenteren, aber da er drei Jahre jünger war als alle anderen in seiner Klasse, war er, was das anging, noch nicht wirklich mit im Spiel. Er 290
strahlte die Art von Ruhe aus, die ihn als Erwachsenen zu einem Star machen würde, davon war Martha überzeugt, aber bis auf ein paar seiner Schulkollegen merkte das noch keiner. Er wird’s ihnen zeigen, dachte sie. Eines Tages wird er ihnen zeigen, aus welchem Holz er geschnitzt ist. Justin hatte seine Geschenke geöffnet, fast alles Bücher, von denen Martha nicht mehr als drei Seiten lesen konnte, ohne einzuschlafen. Im Moment verschlang er alles von Michel Foucault, und sie hatte ein paar schöne Hardcover-Ausgaben im modernen Antiquariat gefunden. Taschenbücher mochte Justin nicht annähernd so gerne. Er hielt ein Buch am liebsten mit beiden Händen, als nähme er den Inhalt mit den Fingern wahr und nicht mit den Augen. »Es gibt da etwas, das du wissen solltest«, sagte sie und bedeutete ihm mit einer Geste, vom Boden aufzustehen und sich neben sie auf die Couch zu setzen, wo sie seine Arme fassen konnte, sollte er anfangen, um sich zu schlagen, oder davonlaufen wollen. Sie erzählte es ihm ohne große Vorreden, sagte nur etwas über Vererbung (das er verstehen würde, wie sie wusste) und die Huntington-Krankheit (die ihre Großmutter das Leben gekostet hatte und an der auch sie wahrscheinlich eines Tages sterben würde), und danach sagte sie, sie hoffe, er sei nicht unglücklich deswegen. Ein natürlicher Sohn wäre sicher ein anderer, aber er sei es, er allein, den sie liebe und den sie sich aus ihrem Leben nicht wegdenken könne. Justin wollte wissen, wie es abgelaufen war: Wo war es gemacht worden, wie war es gemacht worden und wer sonst noch wusste davon? Weiß Dr. Keith es? Er fragte nach dem Spender, und Martha erklärte ihm, der sei tot, aber ein guter Junge gewesen, der draußen im Osten gelebt habe und sehr jung bei einem Unfall gestorben sei, aber im Tod noch drei wichtige Dinge verschenkt habe – »Seine Augen hat er an einen Blinden gespendet, seine Leber an einen Kranken und eine Blutzelle an deinen Vater und mich, damit wir dich bekommen konnten.« 291
Justin sah, wie nervös sie war, und er beruhigte sie. Er sei nicht erschrocken. Er sei froh, dass sie es ihm erzählt habe. Wisse sein Vater, dass sie ihm das heute erzählen würde? »Er wusste es? Dann ist es ja kein Wunder, dass er nicht herkommen wollte.« Sie lachten. Sie weinte ein wenig. Habe nie Angst, mir die Wahrheit zu sagen, sagte er zu ihr, und sie versprach, das würde sie nicht. Nie wieder. Es war nicht die ganze Wahrheit, und Justin nahm an, dass seine Mutter so gut wie er wusste, dass die Geschichte eine Lüge war. Bald aber schon sollte er anderes herausfinden und sich dafür hassen, sie fälschlicherweise für eine Mitverschwörerin gehalten zu haben. In diesem Augenblick jedoch, obwohl er wusste, dass sie ihm etwas verschwieg, liebte er sie dafür, dass sie ihm an seinem Geburtstag schenkte, wonach er in all diesen schön verpackten Büchern gesucht hatte.
58 Als er den Job als Redaktionsleiter bei der Chicago Tribune annahm, wusste Stephen Malik, dass der Verleger ihn benutzte. Die Tribune war seit langer Zeit eine republikanische Zeitung in einer demokratischen Stadt, und ihm war klar, dass auf der Kommentarseite immer der Standpunkt der konservativen Vorortleserschaft gepredigt werden würde. Malik sollte Vorwürfen der städtischen Leserschaft (die den gegenwärtigen Gouverneur unterstützte) die Spitze nehmen, dass auch der Nachrichtenteil rechtslastig sei. Maliks liberaler Ruf verschaffte der Trib etwas Luft. Wobei er, das war Malik klar, ein willkommener Abschusskandidat wäre, sollte dabei je etwas schief gehen. Und Anfang Juni, Junge, da ging was schief. Der Stein, der alles ins Rollen brachte, war ein Artikel über eine Demonstration von Klon-Gegnern. Der Artikel stammte 292
von einem jungen, viel versprechenden Journalisten namens Scott Harmon, der die Demonstrationsteilnehmer auf etwa hundertfünfzig Personen schätzte und ihre Plakate und Spruchbänder zitierte: STOPPT DIE NAZIÄRZTE; DER MENSCH KANN EINEN KÖRPER KLONEN – SEELEN ERSCHAFFT NUR GOTT.; KLONEN = SÜNDE. Harmon zitierte auch ein paar Gegendemonstranten. »Diese Leute haben nur Angst vor dem Fortschritt«, sagte einer, der als Cameron Straub vorgestellt wurde. »Die haben keine Ahnung.« Ein anderer, der aus Naperville stammte und Denny Dreyfus hieß, behauptete, selbst ein Klon zu sein, und dazu Katholik. »Ich fühle mich, als ob die [die Protestierer, die Redaktion] mir mein Menschsein streitig machen wollten«, sagte er. »Als wäre ich kein Mensch, sondern eine Beleidigung Gottes.« Ein freier Autor in Wrigleyville entwickelte Interesse an diesem zweiten Zitat. Er hieß ebenfalls Denny Dreyfus und machte sich an eine längere Geschichte über diesen Klon, mit dem er den Namen gemein hatte. Er wollte sie dem ChicagoMagazin verkaufen, für das er bereits verschiedene Artikel geschrieben hatte. Es gab jedoch ein Problem. Er konnte den zweiten Denny Dreyfus nicht finden. Nicht in Naperville und auch nicht anderswo in Illinois. Er suchte nach Cameron Straub, weil er dachte, die beiden seien vielleicht Freunde. Er fand niemanden mit dem Namen. Als eine E-Mail-Anfrage vom Autor Dreyfus auf Stephen Maliks Schreibtisch flatterte, lief es dem kalt den Rücken herunter. Er erinnerte sich an den ersten Entwurf des HormonArtikels, der kein einziges Zitat von Demonstrationsgegnern enthalten hatte. Bei einer Demo dieser Größe musste es aber doch wenigstens ein paar Leute gegeben haben, die sich zur Wehr gesetzt hatten. Man entgegnete, Harmon habe mit einigen Protestierern gesprochen, aber nichts gehört, das ein Zitat wert gewesen sei. »Das ist mir egal«, sagte Malik. 293
»Baut die Gegenseite irgendwie mit ein.« Der zweite Entwurf des Artikels hatte dann die Zitate von Denny Dreyfus und Cameron Straub enthalten. Dreyfus wollte Harmons Aufzeichnungen für den Artikel sehen. Nach zwanzig Jahren im Geschäft wusste Malik, was als Nächstes passieren würde. Der Chicago Reader brachte den Artikel von Dreyfus inklusive eines guten Dutzends billiger Angriffe auf Kosten von Malik, inszeniert von anonymen Unzufriedenen aus der Nachrichtenabteilung der Tribune, die ihm vorwarfen, die Objektivität seiner Reporter zu unterminieren, indem er ständig seine politischen und persönlichen Überzeugungen in die Artikel zu bringen versuche. Als Scott Harmon daraufhin wegen des Erfindens von Zitaten gefeuert wurde, verbitterte ihn das so, dass er Dreyfus gegenüber sagte: »Ich fühlte mich unter Druck gesetzt, bestimmte Standpunkte in meinen Artikeln zu produzieren, bestimmte liberale Standpunkte. Malik hat sich nie beklagt, wenn die konservative Seite nicht repräsentiert war.« Andere äußerten dem Reader gegenüber, dass Maliks aggressive Versuche, »Vielfalt« durch die Einstellung von Reportern ohne solide journalistische Ausbildung zu schaffen, unqualifizierte Leute auf prominente Posten gehievt habe. Der Vorfall mit Harmon sei nur ein Beispiel dafür – obwohl Scott Harmon einen Abschluss in Filmwissenschaften hatte und der Sohn eines wohlhabenden Inserenten war, dessen Einstellung Malik von weiter oben auferlegt worden war. Malik selbst war stolz darauf, viele gute neue Autoren für die Tribune gewonnen zu haben. Sally Barwick zum Beispiel. Intelligent. Engagiert. Afroamerikanisch. Ihr Stil war schnörkellos und fast völlig ohne jedes Klischee. Wenn es tatsächlich etwas gäbe, was er an ihr gerne geändert hätte, dann war es ihre Weigerung, etwas anderes als Polizeiberichterstattung zu machen. Grundsätzlich hielt es Malik nicht für richtig, dass ein Reporter, schon gar nicht jemand mit solch einem Potenzial, länger als zwölf Monate in einer Redak294
tion blieb. Sally überzeugte ihn als ehemalige Privatdetektivin jedoch von ihrer Leidenschaft für Polizisten, Tatorte und Gerichtssäle, und als kluger Vorgesetzter war es ihm wichtig, seine Schreiber glücklich zu sehen. Er hatte von ihrem Hobby gehört. In den Redaktionssitzungen hatte es praktisch seit dem Tag ihrer Einstellung Lacher deswegen gegeben, und Dreyfus hatte in seinem Reader-Artikel abfällig darauf angespielt, wenn er auch ihren Namen nicht nannte. Malik fand es lächerlich. Millionen spielten Shadow World, und das Spiel hatte immer noch dieses unsinnige Stigma. Die Tribune hatte zahllose Geschichten über das Phänomen gebracht, und Malik erinnerte sich an eine, in der eine Studie zitiert worden war, die besagte, dass jeder Fünfte log, der behauptete, es nicht zu spielen, und dass von denen, die zugaben zu spielen, die Hälfte log, was die Zeit anging, die sie im Spiel verbrachten. Wenn das Hobby ihre Arbeit nicht beeinträchtigte (und so weit er das beurteilen konnte, war das nicht der Fall), warum, verdammt noch mal, sollte er sich dann dafür interessieren, was sie in ihrer Freizeit tat? Einer ihrer Sportjournalisten war Schlangenhändler; das war weitaus ungewöhnlicher, als ein Computerspiel zu spielen. »Sie wollten mich sprechen, Stephen?«, fragte Barwick. Malik winkte sie ins Büro und bedeutete ihr, die Tür zu schließen. »Was gibt’s?« »Ich wollte Sie nur kurz ins Bild setzen. Ich weiß nicht, wie lange ich noch bei dieser Zeitung sein werde.« »Sie kündigen?« Malik wusste, dass ihr Schreck gespielt war. Barwick wusste Bescheid, was in der Nachrichtenabteilung vorging. Sie hörte, was auf den Gängen geredet wurde und was die Kollegen von anderen Blättern im Billy Goat zur Gerüchteküche beizutragen hatten. Aber er wusste ihre Geste zu schätzen. »Nicht wirklich.« 295
»Die schmeißen Sie raus? Wegen diesem Dreyfus-Scheiß?« Sein Kopf bewegte sich wenig überzeugend nach links und nach rechts. »Noch nicht. Gut möglich, dass ich das noch einmal überlebe. Aber etwas habe ich dabei gelernt: Nächstes Jahr gibt es wieder eine neue Geschichte, und auch im Jahr danach gibt es wieder eine ›Dreyfus-Affäre‹. Eine davon wird meinen Namen tragen. Auf ewig halten die mich hier nicht.« Sally setzte sich in einen grünen Sessel, dessen Polster sich wie ein rauer Teppich anfühlte. »Um mich müssen Sie sich keine Sorgen machen«, sagte sie. »Ich stehe stramm hinter Ihnen.« »Ich weiß«, sagte er, ohne zu lächeln, wo ein anderer Mann gelächelt haben hätte. »Deshalb will ich mit Ihnen sprechen. Eines Tages wird man Sie vielleicht auffordern, sich zu einer Seite zu bekennen. Denken Sie dabei an sich.« »Keine Chance«, sagte Barwick. »Ohne Sie säße ich hier nicht. Wenn Sie mich nicht zu den Kriminalen gelassen hätten, würde ich heute noch Todesanzeigen aufnehmen.« »Vertrauen Sie mir einfach. Erhalten Sie sich Ihren Job. Ich komme schon wieder auf die Füße. Und wo immer das ist, wenn Sie wollen, haben Sie da auch einen Job.« »Vielleicht kommt’s ja nicht so weit.« »Vielleicht nicht«, gab er zu. »Die Dinge ändern sich. Vielleicht knacken Sie den Fall des Wicker-Manns und gewinnen den Pulitzer-Preis, bevor es so weit ist. Lassen Sie mich dabei gut aussehen.« Auch jetzt lächelte er nicht. Sie ging, ohne irgendwelche Versprechungen zu machen. Malik setzte sich an seinen Computer. Während ihrer Anwesenheit war ein Dutzend E-Mails eingegangen. Barwick hatte das Zeug zu verschiedenen Jobs in diesem Geschäft, dachte er, zur Kolumnistin oder zur Redakteurin. Bei ihrem Vorstellungsgespräch hatte sie gesagt, sie wolle Journalistin werden, weil es ihr gefalle, ein Publikum zu haben, aber sie 296
hasse Menschenansammlungen. Das hatte Malik zum Lachen gebracht. Sie konnte werden, was ihr gefiel. Er fragte sich, welche Figur sie in dem Spiel darstellte.
59 Davis saß in einem großen Ledersessel vorne am Fenster des großen Hauses an der Stone Avenue und las ein Taschenbuch mit dem Titel Zeit des Todes. Es handelte von einem Mörder namens Hughes, dessen Gnadengesuche alle abgelehnt worden waren. Der Zeitpunkt für seine Hinrichtung war festgesetzt. Um Mitternacht. Er kannte den genauen Moment seines Todes, und dieses Wissen war ihm unerträglich. Über einen Mithäftling heuerte Hughes einen dritten Knastbruder an, dessen Identität ihm unbekannt blieb, damit er ihn, Hughes, zu einem zufälligen Zeitpunkt vor der Exekution umbrachte. Diese Ungewissheit machte Hughes glücklich – so glücklich, dass er seinen Tod nicht länger akzeptieren konnte. Also versuchte er, sein eigenes Gefängnishofattentat zu durchkreuzen. Es war ein unsinniges Buch, und Davis las es wie gebannt, die ersten zweihundert Seiten in wenigen Stunden. Unwahrscheinliche Romane wie dieser – Science-Fiction, Thriller, Krimis – waren seine Schwäche gewesen, als er noch ein Junge war. Damals las er zwei oder drei davon pro Woche. Immer hatte er ein Buch mit einem Hochglanzdeckel dabei und ließ keine freie Minute verstreichen, ohne dass er es aufschlug und sich mit einer Hand vor die Nase hielt. Mit zunehmendem Alter jedoch las er immer weniger, und andere Obsessionen füllten seine schwindende freie Zeit. Während des Medizinstudiums war es das Fliegenfischen, Anfang dreißig machte er Autorennen zu seinem Hobby – mit einer kleinen Erbschaft zahlte er sein Studentendarlehen zurück und kaufte sich vom Rest ein BMW-Coupé. Als AK älter und 297
Jackie kränker wurde, verkaufte er den BMW und stürzte sich auf seine Familiengeschichte, die er für die Suche nach AKs Mörder jedoch wieder beiseite legte. Aus Angst, selbst ins Gefängnis zu kommen, gab er die Suche aber schließlich auf. Diese Obsessionen waren eine nach der anderen Symptome einer Depression gewesen. Das verstand er heute. Ein glücklicher Mensch freut sich auf etwas Langeweile hier und da, aber für einen unglücklichen Menschen ist ungenutzte Zeit unerträglich. Der Kopf eines Unglücklichen ist übervoll mit Bedauern, Schuld und Situationen, die er nicht unter Kontrolle bekommen kann, und dem unaufhaltsamen Entwickeln schlimmster Szenarien. Angelruten, schnelle Autos und Karteikarten voller Familiengeschichte wurden zu Besatzungsmächten seines Geistes, vertrieben unliebsame Gedanken und verbannten unerwünschte Sorgen. Seit seiner Heirat mit Joan waren die alten Bedrängungen weitgehend verschwunden. Mögliche Katastrophen und unterbewusste Ängste spielten zwar immer noch eine Rolle, waren aber ohne großes Gewicht. Die Aktenordner, Hefter und Karteikästen im blauen Zimmer, sowohl die älteren mit den Unterlagen über seine Familie als auch die neueren mit denen zum Mord an AK, hatte er seit vier Jahren nicht mehr geöffnet. Joan sprach davon, den Raum in eine Art Studio umzuwandeln, in dem sie zusammen malen konnten, sobald auch sie sich von der aktiven Arbeit zurückzog. Davis hatte heute mehr freie Zeit, als er je in seinem Leben gehabt hatte, und das Nichtstun hatte seine eigenen Reize für ihn entwickelt. Er genoss jede Stunde ohne Fristen und Termine, Pflichten und Verantwortlichkeiten. Sie gaben ihm Zeit, in seinem großen Sessel zu sitzen und all die schrecklichen, aufregenden Bücher zu lesen, die er über die letzten vierzig Jahre verpasst hatte. Die Erinnerung an AK war immer da, aber sie verfolgte ihn nicht mehr, und der Anschlag auf ihn selbst war mittlerweile so weit weg, dass er sich mitunter
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fragte, ob es nicht eine Episode in einem Fernsehfilm gewesen war. Es klingelte an der Tür, und Davis überlegte, ob er aufmachen sollte. Wahrscheinlich war es ein Päckchen, das der Zusteller auch gut auf die Treppe legen konnte, oder eine Anwohnerpetition, die er nicht unterschreiben wollte. Aber er saß am offenen Fenster, und man musste ihn von der Straße aus sehen können. Nachdem er fast dreißig Jahre in diesem Haus wohnte, wollte er nicht als der verrückte Alte bekannt werden, der nie an die Tür geht. Er stand auf und legte das Buch umgedreht auf den kleinen Beistelltisch. Der Junge war in den letzten sechs Jahren gewachsen und schien so gar kein Junge mehr zu sein. Er war weniger als eine Handbreit kleiner als Davis, und seine langen blonden Locken tanzten ihm im leichten Wind um den Kopf wie sich drehende chinesische Drachen. Unter dem Haarflaum auf seinen Armen begannen sich Muskeln zu bilden. Ein paar rosa Narben waren auf seinen Händen zu erkennen. Um den Hals trug er eine Silberkette. Etwas, das eines Tages rasiert werden müsste, drückte sich zwischen Nase und Lippe herum. Um die Augen und zum Haaransatz hin verfestigten sich seine Gesichtszüge, und vorne auf der Nase hatte er einen weißroten Pickel. Er trug ein zweifarbiges, kurzärmliges Hemd mit Button-Down-Kragen, weite Khakis und Turnschuhe – die Teenager-Einheitsuniform. »Dr. Moore« war alles, was er sagte. Davis kämpfte gegen die Trockenheit in seinem Mund an, indem er die Drüsen unter der Zunge bearbeitete, und fragte sich, was das bedeuten sollte. Er fragte sich, wer versuchen könnte, ihn so hereinzulegen, und was dieser Jemand von ihm erwarten mochte. Er musste es herauskriegen, damit er das Gegenteil tun konnte. Davis blickte an dem Jungen vorbei, ob dessen Mutter zu sehen war und der rote Wagen, den sie früher gefahren hatte, an der Straße stand. 299
»Was willst du, Justin? Du solltest nicht hier sein.« Er sprach laut und deutlich, falls jemand in der Nähe war oder Justins Taschen ein Mikrofon enthielten. »Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen«, sagte der Junge, und als er Davis’ Widerstand spürte, fügte er noch hinzu: »Ich würde auch großen Ärger kriegen, wenn meine Mom wüsste, dass ich hier bin. Ich bin extra früher aus der Schule weg. Aber das hier ist wichtig.« Davis war sich sicher, dass es ein Fehler war, aber er winkte den Jungen herein, aus genau dem Grund, aus dem alle das Falsche tun: Das Falsche ist unwiderstehlich. Justin blieb in der Diele stehen. Höflich und verlegen stand er auf dem rechten Fuß und malte mit dem linken Turnschuh unsichtbare Kreise auf den Holzboden. Davis zeigte aufs Wohnzimmer und folgte ihm hinein. Der Junge setzte sich ganz vorn auf die Couch und drückte die Knie gegen den Couchtisch, als dürften seine Beine auf keinen Fall in Kontakt mit den Polstern kommen. Davis zog den Vorhang vors Fenster. »Entschuldige mich eine Minute«, sagte er zu Justin und rief vom Nebenzimmer aus Joan an. Ihr letzter Termin war um halb drei, und sie hatte gesagt, dass sie auf dem Nachhauseweg noch einkaufen wolle. Sie würde in die Luft gehen, wenn sie von Justins Besuch erführe. »Schatz«, sagte er. »Kannst du noch Gartenerde mitbringen und eine Flasche von dem Shampoo, das du letzten Monat gekauft hast? Danke. Ich liebe dich.« Damit musste sie in zwei weitere Läden. Sie hatten wahrscheinlich eine Dreiviertelstunde. »Es muss wichtig für dich sein, wenn du das Risiko eingehst, herzukommen«, sagte Davis in die minutenlange Pause hinein. »Womit kann ich dir helfen?« »Mom hat’s mir gesagt«, erklärte Justin. Er wirkte neugierig und konnte kaum still sitzen, was für Davis ein typisches Symptom seines Alters war: ein Unwohlsein mit dem eigenen, 300
sich verändernden Körper, Ermüdung von den Schmerzen, die das nächtliche Wachstum in Beinen, Armen und Rückgrat verursachte. Es war keine Nervosität. Herzukommen war ein Akt der Selbstsicherheit. Trotz. Justins Augen forderten Davis heraus, ebenfalls Mut aufzubringen. Justin ging mit seinem Besuch ein Risiko ein, und er erwartete von Davis, sich dafür zu revanchieren. Noch unentschieden, wie weit er gehen konnte, hielt Davis sich zunächst einmal zurück. »Was hat sie dir gesagt?« »Wo ich herkomme.« »Hmm.« »Dass ich ein Klon bin.« »Ja?« »Sie hat mir gesagt, dass ich ein Klon von einem Jungen namens Eric Lundquist bin.« »Okay.« »Stimmt das?« Davis lächelte. »Ich darf dir nichts sagen.« »Sie praktizieren nicht mehr«, sagte Justin. Davis musste an die Brände denken, die verschwundenen Haustiere und den Nebel aus Besorgnis und Schuld, den Joan vor acht Jahren hatte entstehen lassen und der sich in der alltäglichen Freude seines neuen Lebens längst aufgelöst hatte. Davis war überrascht, dass er Angst hatte, nicht vor den möglichen Folgen seines unerlaubten Gesprächs mit Justin, sondern vor dem Jungen selbst. Wobei er nicht wusste, warum er sich fürchtete. »Was kann da schon passieren?«, fragte Justin. »Eine Menge«, sagte Davis einfach nur. »Wann hat dir deine Mom das erzählt?« »Vor etwa sechs Monaten.« Davis überlegte kurz. »Lass mich raten. An deinem Geburtstag?« 301
Justin nickte, und Davis fuhr fort: »Sie tun es immer an einem Geburtstag. Es muss in einem der Bücher stehen. Also gut, deine Mutter hat dir alles erklärt, aber du willst es auch noch einmal von mir hören. Warum? Glaubst du, sie würde dich anlügen?« »Nein.« »Also dann?« »Ich glaube nicht, dass sie lügt. Aber ich glaube, dass sie Unrecht hat. Das ist ein Unterschied.« Wieder kam in Davis der Verdacht auf, dass Martha Finn hinter diesem Besuch steckte. Oder die Polizei. Vielleicht hatte jemand Verdacht geschöpft. Vielleicht wollte ihn endlich jemand im Gefängnis sehen. »Warum glaubst du, dass sie Unrecht hat?« »Weil ich ihn gesehen habe«, sagte Justin. Der Junge lehnte sich jetzt nach hinten in die Kissen und starrte an die Halterung der Deckenlampe. Die Hände hielt er mit den kleinen Fingern nach außen zwischen die Beine geklemmt. Davis’ Arterien pumpten ein Gemisch aus zwei Dritteln Adrenalin und einem Drittel Blut durch seinen Körper, wie zuletzt, als er per E-Mail den Hinweis von Ricky Weiss bekommen hatte. Was übel ausgegangen war. Davis versuchte, Ruhe in die Situation zu bringen, und sagte lange nichts. Dem Jungen schien das nichts auszumachen, er schloss sogar die Augen, als schliefe er ein, bis ein plötzlicher Gedanke sein Gehirn wieder aufwachen ließ und er erneut wartend zur Decke aufsah. »Wo?«, sagte Davis schließlich. »Wo hast du ihn gesehen?« »Hmm«, machte Justin. Er setzte sich gerade auf, als wäre sein Becken eine Art Türangel. »Ich sag Ihnen was, und dann sagen Sie mir auch was.« Großer Gott, was wusste dieser Junge? Wie konnte er AKs Mörder gesehen haben? Oder noch wichtiger: Wie konnte er ihn 302
erkannt haben? Begriffen haben, was er da sah? War es jemand aus Northwood? Hatte das Ungeheuer die ganze Zeit hier in der Nähe gelebt? Er konnte Justin so nicht wieder gehen lassen, nicht ohne ein paar Dinge erfahren zu haben. Was immer der Junge wusste, konnte genügen, um Davis zehn Jahre ins Gefängnis zu bringen. Dennoch, er musste es erfahren. Nach allem, was Davis riskiert hatte – wie konnte er jetzt dieses Angebot nicht wahrnehmen? Und wenn er jemandem trauen musste, warum nicht Justin, der ebenso sehr sein Kind war wie das von Martha und Terry Finn? Ohne ihn, Davis, würde dieses spezielle Arrangement von Kohlenstoff und Neuronen, blondem Haar und Neugier nie zum Leben erwacht sein. »Sag mir, was du wissen willst«, sagte Davis. Justin stand auf, ging um den Couchtisch und legte sich auf den Teppich zu Davis’ Füßen. Er drehte sich, und sein Rückgrat knackte wie ein Streifen Zündplättchen. Er legte den Kopf auf einen Ellbogen. »Es ist nicht erlaubt, Klone von lebenden Menschen zu machen.« »Richtig.« »Aber Sie haben es getan.« »Ja.« »Dafür kann man Sie einsperren.« »Stimmt.« »Es muss wichtig gewesen sein.« »Das war es.« »Dann erklären Sie es mir.« »Okay«, sagte Davis. »Aber ich habe dir gerade ein Geheimnis anvertraut. Etwas Ernstes. Dafür wüsste ich gern erst etwas von dir.« »Das ist nur fair.« »Wo hast du ihn gesehen?« 303
Justin legte eine Pause ein, schien aber nicht unschlüssig. Es war mehr so, als müsste er eine Aufnahme in seinem Kopf zurückspulen, bevor er wusste, so war es richtig. »Er hat meine Mutter angegriffen.« »Scheiße!« Davis’ Fluch kam wie ein Reflex, der ihn nach Luft schnappen ließ. »Ist sie in Ordnung?« Justin nickte mit einem Grinsen, das gleichermaßen von Zorn und Angst gespeist schien. »Ja. Sie ist in Ordnung.« »Wann ist das passiert?« »Vor sechs Jahren«, sagte Justin. »Kurz vor der Anzeige gegen Sie.« Davis überlegte. »Da gab es aber keinen Zusammenhang«, fuhr Justin fort. »Wer ist er?« »Das weißt du nicht?« Die Frage verriet Enttäuschung, und das schien den Jungen zu verwirren. »Ich will erst hören, was Sie wissen.« Davis nickte. Er fragte sich, ob er mehr als eine Stunde Zeit brauchte; ob er Joan anrufen und sie um noch etwas bitten sollte, bevor sie von der Arbeit nach Hause kam und dort auf ihren Mann und den Sohn der Finns traf, die wie einander misstrauende Doppelagenten Informationen austauschten. »Er hat meine Tochter angegriffen.« »Ist sie okay?«, fragte Justin. »Nein«, sagte Davis. »Das ist sie nicht.« Die Geschichte kam mit einem langen Ausatmen aus ihm heraus, ohne dass Justin dadurch erschreckt schien. Er hörte zu, nickte und wirkte betroffen. Dann wieder schien er erleichtert und sogar freudig erregt. Er unterbrach Davis kein einziges Mal, sondern ließ ihn beschreiben, erklären, begründen und sich entschuldigen. Er wirkte mitfühlend, neutral, und Davis glaubte schon, vor dem Jungen in Tränen ausbrechen zu müssen. Zweimal war er nahe daran.
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»Ich habe ein schlechtes Gewissen«, sagte Justin. Davis war fertig, und sie hatten beide ein paar Minuten geschwiegen. »Weil ich nicht mehr Antworten für Sie habe.« Er seufzte. »Ich kann mich nicht an seinen Namen erinnern. Er klang irgendwie nach Geld. Mr Cash vielleicht? Ich glaube, er wohnt in der Stadt. Früher hat er in Northwood gelebt. Oder wenigstens seine Eltern.« »Leben seine Eltern immer noch hier?« »Vor sechs Jahren auf jeden Fall noch. Seine Mom hat ihn meiner Mom beim Einkaufen vorgestellt. Sie haben sich unterhalten, aber ich habe nicht wirklich zugehört. Ich weiß noch, dass alle sagten, er hätte genau wie ich ausgesehen. Als er noch klein war.« »Was noch?« »Er und meine Mom sind dann eines Abends essen gegangen. Als sie nach Hause kamen, glaubte ich, unten etwas zu hören, und habe nachgesehen. Ich habe gerade noch das Ende mitgekriegt. Ich glaube, er wollte sie vergewaltigen, aber sie hat nie darüber geredet. Meine Mom weinte. Sie warf ihn raus, und er ging an mir vorbei. Ich habe ihn da wirklich angesehen, sein Gesicht und so, was ich vorher im Laden nicht getan hatte. Es war, wie wenn man ein altes Bild von sich anguckt und man sieht längst nicht mehr so aus. Und obwohl man sich sowieso nicht ständig anguckt, weiß man doch sofort, das bin ich. Sofort. So fühlte es sich an. Als ich ihn anguckte.« »Glaubst du, es ging ihm genauso? Dass er sich in dir sah?« Justin stocherte mit den Fingern im Teppich herum. »Ich weiß nicht. Ich bezweifle es. Er wollte einfach möglichst schnell weg.« »Weiß deine Mutter etwas von all dem?« »Wie gesagt. Sie denkt, mein Spender heißt Eric Lundquist.«
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Davis wollte das alles glauben. »Bist du dir sicher, er war es? Der Mann, der deiner Mutter wehgetan hat? Dass er der Spender ist?« Justins Kopf ruckte kaum sichtbar. Es war mehr eine Vibration als ein Nicken. »Oh, ja«, sagte er. »Da ist noch was.« Er rappelte sich auf, drehte sich weg und zog das Hemd über den Kopf. Davis stand ebenfalls auf, und Justin sah über die Schulter, das Hemd um die Unterarme gewunden. »Das da.« »Was?« Davis lehnte sich zurück und ließ den Blick über den glatten weißen Rücken des Jungen gleiten. »Was? Das Muttermal?« Davis kam ganz nah mit der Hand heran, ohne es zu berühren. Es hatte die Form eines Teekesseldeckels und verschwand unter Justins Gürtel. »Hatte er auch eins?« »Genau das gleiche«, sagte Justin. »Und genau an der Stelle.« »Großer Gott«, flüsterte Davis. Drei Zimmer weiter öffnete sich die Hintertür, und Joan rief: »Hallo, Dave!« »Großer Gott!«, sagte er wieder. »Du musst jetzt gehen. Aber wir müssen weiter miteinander sprechen. Samstag?« »Ja. Samstag kann ich. Wo?« »Ich weiß nicht.« Er hörte Joans Schritte aus der Küche kommen und drängte Justin zur Tür, während der sich noch sein Hemd zurechtzog. Davis nahm eine Karte aus seiner Brieftasche. »Meine Handynummer. Ruf morgen an. Ich überlege mir was.« Justin nahm die Karte und verschwand durch die Tür, ohne sich zu verabschieden. »Wer war das?« Joan kam in die Diele. Er hatte keine Ahnung, wie viel sie gesehen hatte. »Hmm. Ein Junge, der Kerzen verkauft hat. Für einen Pfadfinderausflug.« »Hast du eine bestellt?«, fragte Joan.
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Davis wurde klar, dass er seine Brieftasche noch in der Hand hielt. »Zwei«, sagte er. »Mit dem Erlös wollen sie nach Saint Louis.« Gott, er hatte Justin nicht einmal gewarnt. Ihm nicht gesagt, nur niemandem etwas zu erzählen. Was, wenn der Kerl, der seine Mutter angegriffen hatte, genauso eins und eins zusammenzählte wie er? Jetzt, wo der Junge aus der Tür war, hatte Davis keine Möglichkeit mehr, ihn zu warnen, wollte er nicht gegen die gerichtliche Anordnung verstoßen oder jemand Drittes mit in den Fall verwickeln. Joan hielt seine Flasche Shampoo hoch und verschwand im Wohnzimmer. Sie schloss das Fenster, durch das es hereinzog, und griff nach dem aufgeschlagenen Buch. »Das kenne ich«, sagte sie und gab es Davis. Der nahm noch eine Karte aus seiner Brieftasche und benutzte sie als Lesezeichen, bevor er es zurück auf den Tisch legte.
60 Zu der Zeit, als sie ihren Detektivjob aufgab und ihr Leben in eine neue Richtung lenkte, tauchte Sally wie Millionen andere auch in Shadow World ein. Die Genauigkeit der digitalen Wirklichkeit faszinierte sie. Immer wenn sie im Spiel etwas Neues entdeckte – ein Restaurant, einen Wohltätigkeitsladen, eine Autowaschanlage – und sie es anschließend in den realen Straßen Chicagos ausmachte, konnte sie nur staunen. Und wenn es in ihrem tatsächlichen Leben eine Enttäuschung gab, konnte sie meist noch am selben Tag in ihrem Computer einen Ausgleich finden. Diese Dualität ihres Lebens war gleichermaßen aufregend und tröstend, und ihre Tage teilten sich fast schon ebenbürtig in neun Stunden Aktivsein in der realen Welt, neun Stunden Spiel und sechs Stunden Schlaf.
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Obwohl sie sich mehr als drei Jahre nicht mehr von Angesicht zu Angesicht gesehen hatten, war Justin in ihren Träumen doch immer präsent geblieben. Morgens nach diesen Traumbegegnungen fühlte sie sich gestärkt, aber auch ein bisschen benebelt, und sie war sich nicht sicher, was sie gesagt hatten und wie nah sie sich gekommen waren. Fast jedes Mal folgte darauf Traurigkeit. Martha war Sallys Freundin gewesen, aber Justin vermisste sie weit mehr. Nicht den wirklichen Jungen aus Fleisch und Blut, der fast zwanzig Jahre jünger war als sie, sondern wie Justin/Eric es selbst einmal genannt hatte, die Vorstellung von ihm. Kein realer Mann würde ihm je das Wasser reichen. Und jetzt, wo sie in Shadow World wieder befreundet waren, konnte sie Justin, den idealen Justin, tatsächlich kennen lernen, getrennt von seinem Teenagerkörper. Allmählich freute sich Sally schon fast auf einen neuen Shadow-World-Mord.
61 Sekretärinnen, Anwaltsgehilfinnen und Praktikantinnen bei Ginsburg & Addams waren regelmäßig miteinander verabredet. In Kanzleien wurden die Angestellten in bestimmte Gruppen und Untergruppen unterteilt – in die mit einem akademischen Abschluss und die ohne, in die mit Gemächt zwischen den Beinen und die ohne, und so trafen sich die Mitarbeiter, die in beide Ohne-Gruppen fielen, durch Sexismus und Rang zusammengewürfelt, einmal in der Woche zwanglos zur Happy Hour in einer Bar namens Martin’s (die immer wieder, wenig komisch, in Martini’s umbenannt wurde). Wenn sie dort erst einmal zusammensaßen und halb voller Gin und Wermut waren, erkundeten sie auch die anderen Dinge, die sie gemein hatten, das Wetter, die Angst vor dem Wicker-Mann, Ferien, Männer
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und Schreckensgeschichten über einen ihrer Chefs namens Sam Coyne. Coyne war gleich aus mehreren Gründen berüchtigt. Er war ein unnachsichtiger, grausamer Boss, anmaßend und hochnäsig, ein überehrgeiziger Softballspieler und merkwürdig selbstbezogener, aggressiver Liebhaber. Geschichten über Letzteres erlangten schnell Legendencharakter und wurden so oft wiederholt, wie das Personal wechselte, Monat für Monat. Durchschnittlich kamen auf ein Dutzend junger Frauen, die sich im Martin’s trafen, wahrscheinlich drei, die mit Sam Coyne geschlafen hatten (oder einen Akt vollzogen hatten, den die meisten Leute als Sex bezeichnen würden, obwohl sie ihn wegen etwas, was Coyne sagte oder tat, abzubrechen versucht hatten; sich dann jedoch gezwungen gefühlt hatten, ihn bis zum Ende durchzustehen, weil er angeblich physische oder psychische Gewalt angewendet hatte). In den meisten Fällen gaben die Frauen dabei die eigene Beteiligung nicht preis, sondern verbanden die ausgeschmückten Erzählungen mit den Namen längst bei Ginsburg & Addams ausgeschiedener früherer Kolleginnen. Gelegentlich aber trank eine der Frauen genug Alkohol, um ein Zusammentreffen mit Coyne zu gestehen. So jemand wurde gleich Mittelpunkt der Runde und eingehend nach Details befragt. Zumindest erwartete man einen Kommentar zum wildesten Gerücht über Sam Coyne – dass nämlich der gut aussehende junge Anwalt, der auf Firmenverschmelzungen und -aufkäufe spezialisiert war, einen Schwanz wie den Griff eines Tennisschlägers hatte, und die Frau, die es wissen musste, bestätigte das jedes Mal, indem sie den Mund zu einem keuchenden Oval weitete und die Hände übertrieben weit auseinander hielt. Dann brandete ein sopranhohes Kreischen am Tisch auf, und die Martinis wurden tablettweise bestellt. Einige Sam-Coyne-Geschichten hatten ernüchternde Enden (und noch zweifelhaftere Zuschreibungen), und sie führten zu anderen Reaktionen. Nancy zum Beispiel hatte einen ganzen 309
Monat lang die dunklen Flecken auf Armen und Beinen verbergen müssen. Jenny fand Handschellen und irre Ledermasken in seinem Schrank und bekannte, dass er ihr irgendwie gefallen hatte. Carrie hatte sich erniedrigt gefühlt, als sie sich in einem Parkhaus der Stadt vor Coyne hinknien musste und er sie ins Haar packte und Befehle zu ihr hinunterknurrte, als wäre sie in einer perversen Hundeschule. Es gab etliche Geschichten über ehemalige Angestellte von Ginsburg & Addams, gewöhnlich Mädchen, die frisch von der Schule in Missouri oder Indiana kamen, von Coyne in seinem Auto oder seiner Wohnung eingesperrt worden waren und es ihm hatten besorgen müssen, während er sie beschimpfte und schlug. Die bereits länger angestellten Frauen kannten Geschichten von vergewaltigten Anwaltsgehilfinnen, die Schweigegeld bekommen hatten, und sexuell bedrängten Sekretärinnen, die mit Druck zum Schweigen gebracht worden waren. Sam Coyne sah aus wie ein Filmstar, war clever wie ein Politiker, böse wie eine Raubkatze und saß so weit oben wie eine Kirchenglocke. Männer wie er, da waren sich die Zynikerinnen freitagabends im Martin’s einig, kamen mit so gut wie allem durch. Sam wusste, dass die Frauen über ihn redeten. Manchmal sah er sie im Pausenraum die Köpfe zusammenstecken oder spürte, wie die Neuen auf der Suche nach einem topografischen Hinweis auf seine berüchtigte Ausstattung den Blick ein Stück nach unten wandern ließen. Es machte ihm nichts aus. Er benutzte es sogar, wenn er sich zu einem Neuzugang hingezogen fühlte – wenn er etwas Dunkles in ihren Augen entdeckte, etwas Ungewöhnliches an ihrer Kleidung, ein unerwartetes Piercing oder den schmalen Bogen eines verborgenen Tattoos. »Was erzählen sie über mich?«, fragte er, wenn sich eine der Neuen bereit erklärt hatte, ihm über Dienstschluss hinaus beim Kopieren, Ablegen oder sonst etwas zu helfen, und es spät geworden war. »Nichts«, sagte die Neue dann und sah ihn mit weit geöffneten Augen an, wobei sie den 310
Mund nach unten zog, um naiv zu erscheinen. »Die Hälfte davon stimmt nicht«, erwiderte er, und sie lief rot an und verriet damit, dass sie natürlich über ihn redeten, und vieles davon war schlüpfrig und sogar erschreckend, und er sagte: »Enttäuscht Sie das jetzt?«, und wenn die junge Frau sagte: »Kommt drauf an, welche Hälfte«, wusste er, dass er sie ins Bett bekommen oder auf seinem Schreibtisch vögeln würde, im Kopierraum, seinem Auto (oder darauf), was von seiner Laune und den äußeren Umständen abhing und davon, ob sie nicht im letzten Moment noch Angst bekam, was zu oft der Fall war.
62 Davis traf Justin im Naturschutzpark, auf einem schmalen Weg zwischen Hundewiese und Picknickbereich. Hier kam kaum einer durch, der nicht zum Fischen an einen kleinen Fluss wollte, der noch ungefähr einen halben Kilometer weiter lag, und jetzt zur Mittagszeit schien der Ort so sicher wie nur eben möglich für das geheime, illegale Treffen zwischen einem Mann und einem Heranwachsenden. Durch das offene Fenster seines Van hörte Davis das Sirren von Fahrradreifen auf nassem Asphalt, und als er im Rückspiegel sah, dass Justin zu ihm hereinsah, winkte er ihn zur Beifahrerseite. Justin legte sein Fahrrad ins hohe Gras bei der Tür und kletterte in den Wagen. Seinen Rucksack stellte er vor sich auf die Bodenmatte. Davis bot ihm eine Pepsi an und fühlte sich unwohl. Er überlegte, wie glücklich er vor einer Woche noch gewesen war, und jetzt saß er hier neben diesem Jungen, dessen Hosenaufschläge von der Fahrt nass waren und den er mit einer Pepsi bestach. Sein Magen würde sich noch eine ganze Weile wie verknotet anfühlen, und was er hier tat, war sicher ein Fehler. Aber ein anderer Gedanke sagte ihm gleichzeitig, dass er keine Wahl hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, nicht jedem einzelnen 311
Hinweis nachzugehen, den der Junge ihm gab. Er konnte Justin nicht einfach sagen, er solle das alles vergessen. Er konnte ihn nicht ignorieren. Es gab keine Wahl mehr zwischen Richtig oder Falsch, es ging nicht um Rache oder Gerechtigkeit oder das, was direkt nach AKs Tod immer wieder von ihm gefordert worden war: einen Schlussstrich unter alles zu ziehen. Davis wusste, dass er und auch der Junge nur einen Pfad zur Verfügung hatten. Diesen Pfad würden sie bis ans Ende gehen, und Davis würde den Rest seines Lebens verbringen, wo immer dieses Ende lag. »Was ich vergessen habe, dir zu erklären«, sagte Davis. »Du darfst niemandem hiervon erzählen. Wenn dieser Mann, Mr Cash oder wie immer er heißt, herausfände, wer du wirklich bist, könntest du in Gefahr geraten.« »Das habe ich mir schon gedacht«, sagte Justin und machte eine Pause, weil ihn die Kohlensäure aufstoßen ließ. »Machen Sie sich keine Sorgen.« »Kannst du dich noch an etwas anderes von dem Mann erinnern?« Justins Lippen waren schlimm aufgesprungen und die Haut um seinen Mund herum gerötet. »Er wohnte in der Stadt und wirkte, als mache er Muskeltraining. Sah schon gut aus.« Justin klopfte sich ironisch auf die Brust, hielt dann aber inne, weil ihm etwas Neues einfiel. »Er hatte ein cooles Auto. Was Europäisches wie ein Porsche, vielleicht auch ein BMW oder Mercedes. Kann sogar sein, dass es ein Cabrio war.« »Er könnte mittlerweile alles fahren«, sagte Davis. »Trotzdem, ein teurer Wagen. Hat offenbar einen guten Job. Das wundert mich.« »Was hatten Sie gedacht, was das für ein Kerl wäre? Ein Irrer? Ein Psycho?« »Nachdem, was er meiner Tochter angetan hat, ja.« Davis begriff zu spät, dass die Frage eine Falle gewesen war.
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»Was haben Sie also geglaubt, was ich für einer würde?«, fragte Justin. »Dachten Sie, ich würde genauso einer?« Davis seufzte. »Es gibt sehr viele Dinge, die den Charakter eines Menschen formen, Justin. Sehr wenig ist da vorbestimmt.« »Haben Sie mich deswegen so genau überwacht? Haben Sie mir deswegen nachgestellt?« Er schien den Begriff aus der Anzeige gezielt zu gebrauchen, um Davis zu reizen. »Weil Sie sich Sorgen gemacht haben?« »Ein wenig.« Davis hatte das Radio nicht abgestellt, sondern nur die Lautstärke fast bis auf null heruntergedreht. Justin stellte sie wieder lauter, bis die Musik erkennbar war – Brahms, Violinkonzert in D-Dur, dachte Davis. Justin verzog das Gesicht und wechselte zu einem Top-Vierzig-Sender. »Was war ich also für Sie?«, fragte Justin. »Ein Werkzeug Ihrer Untersuchung? So eine Art Versuchskaninchen? So was in der Art?« »Ich nehme an, so könntest du es sehen.« »Aber wenn Sie meiner Mutter wie geplant die DNA von diesem Eric gegeben hätten, hätte sie einen anderen Jungen gekriegt. Nicht einfach nur mich in einem anderen Körper, sondern auch ein ganz anderes Bewusstsein. Eine völlig andere Person. Ich würde nicht existieren.« »Das wäre wohl so. Ich weiß wirklich nicht genau, wo was herkommt, Justin.« Davis starrte durch die fleckige Windschutzscheibe auf die Straße hinaus. Aus dem Wald tauchte ein Hund mit der Nase tief am Boden auf, der einer Witterung folgte. Er beschrieb einen Kreis. Eine Frau von unter dreißig folgte ihm mit der gelösten Leine in der Hand und schoss die üblichen rhetorischen Hundefragen auf ihn ab: »Was ist da? Was riechst du da? Wo willst du hin?«, und schon verschwand das Paar weiter Richtung Fluss. 313
»Wenn es nachts ruhig wird, versuche ich zu denken und gleichzeitig meine Gedanken zu verfolgen«, sagte Justin. »Es ist so, als könnte ich herausfinden, wer ich wirklich bin, wenn ich überlege, was ich vor dem Gedanken, den ich gerade denke, gedacht habe und wie der wieder mit dem Gedanken davor zusammenhängt und davor und davor und davor.« Davis fiel auf, wie verändert Justin nach den paar Tagen erschien, seit er ihn mit seiner Karte in der Hand aus der Tür geschoben hatte. Der Wind hatte sein sowieso schon wildes Haar völlig durcheinander gewirbelt. Die Zahl seiner Pickel hatte sich nicht verändert, aber sie schienen neu angeordnet, so wie sie an einer Stelle wegschmolzen, erschienen sie an einer anderen neu. Justin fuhr fort: »Wir bestehen nicht nur aus unseren Gedanken, wissen Sie, selbst wenn das der einzige Weg ist, wie sich viele von uns der Frage der Identität nähern. Ich bin der, der diese Gedanken produziert, und nach diesem Ich suche ich nachts: dem Denker, getrennt von seinen Gedanken.« Der Hund und die Frau waren gerade noch zu sehen. Sie machte eine Wurfbewegung, offenbar ohne etwas zu werfen, aber der Hund fiel nicht darauf herein. Als die Frau jetzt tatsächlich einen Ball warf, sprang der Hund davon, und die Frau folgte ihm und verschwand hinter der Kurve. Justin sah aus dem Fenster und rieb mit dem Finger darüber, als versuchte er, etwas auf der anderen Seite des Glases zu entfernen. »Was, wenn alles an mir und Mr Cash gleich ist, nur die Gedanken nicht?«, fragte Justin. »Ich meine, unsere DNA ist dieselbe, unser Aussehen ist dasselbe. Was, wenn wir auch den gleichen Denker haben? Wenn ganz tief da drin unser Denker, unser Ich, genau dasselbe ist? Wenn wir dieselbe Person sind, die unterschiedliche Sachen denkt?« »Ehrlich, Justin, ich weiß es nicht. Würdest du das Gleiche über Zwillinge sagen? Oder eineiige Drillinge? Glaubst du, die könnten eine Person sein, die in drei Körper aufgeteilt ist?« 314
Justin lächelte und sah Davis im Rückspiegel in die Augen. »Das wäre doch was, oder? Ich meine, warum kann ein Mensch nicht mehr als ein Mal existieren? Physiker sagen sogar, dass Zeitreisen möglich sein müssen. Dass Sie und ich zu unserem Treffen in Ihrem Haus zurückgehen und uns bei unserem Gespräch zusehen können. Dann gäbe es je zwei Ausgaben von Ihnen und mir, die gleichzeitig existierten, aber andere Dinge tun. Millionen von Menschen glauben an die Wiedergeburt. Ist es da so weit hergeholt zu glauben, dass ein Mensch auch mehrere Leben gleichzeitig leben kann, ohne dass sich seine verschiedenen Ichs dessen auch nur bewusst sind?« Davis wischte mit den Händen über das Lederband des Lenkrads, bis er spürte, wie sich kleine Abriebwürmer auf seiner Haut sammelten. »Ich will jetzt das Thema nicht wechseln, aber vielleicht hat es mit dem hier zu tun.« Er griff nach einem Umschlag, der auf dem Rücksitz lag, und zog eines der alten Computerbilder von AKs Mörder daraus hervor. Das, das Ricky Weiss für Jimmy Spears gehalten hatte. »Was hältst du hiervon? Sieht der Mr Cash irgendwie ähnlich?« Justin starrte das Bild lange Zeit an. Er pfiff durch die Zähne, hielt inne und pfiff noch einmal. »Ein bisschen, ja«, sagte er schließlich. »Eigentlich ziemlich. Wo haben Sie das her?« »Von dir. Vor Jahren.« Justin schwieg, und Davis spürte, dass der Junge begriff, was gemeint war. »Die Sache mit dem Footballspieler?«, sagte Justin dann. »Und dem Toten in Nebraska?« Davis nickte. Der Junge zog den Reißverschluss seines Rucksacks auf und nahm einen Stift heraus. »Darf ich?« »Ja, sicher.« Justin baute sich mit einem Schulbuch und einer Zeitschrift eine Schreibunterlage auf dem Schoß und machte sich daran, 315
das Bild vorsichtig zu verändern. Die Haare wurden kürzer, er malte Koteletten und verbreiterte die Brauen. Mit ein paar Schattierungen gab er den Augen mehr Tiefe, er verschmälerte das Kinn und machte Mr Cash schlanker. Davis staunte, wie die wenigen Linien, die von dem Jungen gezogen wurden, das Bild gleich realistischer erscheinen ließen. Lebendiger. Ähnlicher dem Jungen neben ihm. »Fertig«, sagte Justin. »Jetzt sehe ich mich auch darin. Das ist der Mann.« Davis nahm das Bild und hielt es ins Licht, das durch die Windschutzscheibe fiel. Ungezählte Stunden hatte er mit diesem Gesicht verbracht, aber jetzt erst sah er den Mann darauf wie eine tatsächliche Person und nicht nur als abstrakte Idee. Eine Person, die gefunden, angeklagt und gefürchtet werden musste. Ein Schauder überlief ihn, und er fragte sich, wie es sein würde, dieser Person so nahe gegenüber zu stehen. »Wie können wir ihn finden?«, fragte Justin. »Hast du die Möglichkeit, von deiner Mom mehr über ihn zu erfahren?« Justin machte ein Geräusch mit den Lippen, als zische Luft aus einem kaputten Basketball. »Keine Chance. Sie hat nie wieder darüber gesprochen. Wahrscheinlich hofft sie, dass ich es verdrängt habe oder so. Wenn ich jetzt wieder davon anfange, erzählt sie es meinem und ihrem Therapeuten. Dann rastet sie aus.« »Das geht nicht«, sagte Davis. »Wir dürfen sie keinen Verdacht schöpfen lassen.« »Ja. Wenn sie was rausfindet, ist der Teufel los, und Sie landen im Knast.« »Wahrscheinlich. Ich werde ein paar Dinge damit versuchen. Vor Jahren habe ich einmal eine Detektivagentur …« Er brach ab. 316
Justin lachte. »Gold Badge? Die dann Sally Barwick angeheuert haben, die Fotos von mir zu machen? Meine Mom hat gegen die auch eine Verfügung erwirkt.« Er langte in seinen Rucksack und zog ein Notizbuch hervor, blätterte darin und suchte zwischen Schulnotizen und ausufernden Kritzeleien nach etwas. »Hier. Das hier ist der Mann, für den Sally früher gearbeitet hat. Sein Büro ist in der Stadt. Und da wohnt doch auch unser Mann, oder?« Er schrieb etwas auf und riss es aus dem Buch. Davis steckte das Stück Papier in seine Tasche. »Du bist noch mit Sally Barwick in Kontakt? Was macht sie jetzt?« Justin zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Davis hakte nicht weiter nach. Es war ihm wirklich egal. »Fährst du jeden Tag mit dem Rad zur Schule?« »Bis es zu kalt wird.« »Wenn ich etwas herausfinde, klebe ich ein Stück weißes Papier oben in eins unserer Fenster im ersten Stock. Das ganz rechts, wenn du vorm Haus stehst. Fahr morgens bei uns vorbei, und wenn du das Papier siehst, rufe mich auf meinem Handy an. Aber benutze nicht euer Telefon. Wenn deine Mutter meine Nummer auf eurer Rechnung entdeckt, ist es vorbei.« »Okay«, sagte Justin. Er überprüfte noch einmal, ob sein Rucksack auch richtig zu war, und öffnete die Beifahrertür. »Justin«, sagte Davis. Der Junge hatte bereits beide Füße draußen auf dem Weg, wo der Asphalt in wucherndes Gras überging, und lehnte sich noch einmal zurück. »Was du da gesagt hast über das Ich und dem Denker, der unabhängig von den Gedanken ist. Ein Ich in zwei Körpern …« Der Junge wurde ganz rot. »Das sind eben so Sachen, mit denen ich mich beschäftige. Ich find’s ziemlich peinlich, mit jemandem darüber zu reden, den ich gut kenne, aber wenn ich ab und zu mal einen Fremden treffe, dann …« 317
»Du bist ein intelligenter junger Mann«, sagte Davis. Aus irgendeinem Grund kamen ihm die Worte nicht leicht über die Lippen. Seine Augen wurden feucht, und seine Nase fühlte sich ganz taub an. Er wollte schon sagen, dass er stolz auf ihn sei, begriff aber, wie dumm und falsch sich das angehört hätte. Justin zuckte mit den Achseln und blinzelte auf eine fast beschämte Weise. »Ja, intelligent«, sagte er. »Das wird es echt schwierig machen, mich zu kriegen.«
63 Big Robs winziges Büro an der Ogden Avenue war bis in die Einzelheiten hinein unverändert geblieben, seit er seinen Dienst quittiert und sich als Privatdetektiv niedergelassen hatte. Die Wände hatten noch die gleiche rosige Färbung, und das Mobiliar, das bei der Einweihung schon zwanzig Jahre alt gewesen war, hatte jetzt knapp vierzig auf dem Buckel und damit fast, aber eben nur fast, eine Art Retro-Chic. Der Teppich war Industrieware, wie man sie auch in Kaufhäusern verwandte, und an einigen Stellen waren mehrfach Kaffeeflecken mit Seife oder einem feuchten Tuch behandelt worden. Auf einem der Aktenschränke prangte ein eingestaubter alter Kegelpokal aus der Zeit im Chicagoer Police Department. »Dr. Moore«, sagte Big Rob. »Ich bin überrascht, Sie hier zu sehen.« »Wirklich?« Biggie nickte. »Ich kenne Sie kaum, und doch habe ich das Gefühl, dass wir gemeinsam durch ein paar traumatische Dinge gegangen sind.« »Phil Canella war ein Freund von Ihnen, wenn ich es richtig verstehe«, sagte Davis Moore. »Das war er. Und mir tut es Leid wegen Ihrer Frau.« 318
Davis nickte und war froh, dass sich diese Dinge so schnell abhandeln ließen. »Ich suche nach einem Mann. Ich weiß nicht viel über ihn. Aber ich brauche seinen Namen, und Sie sollen herausfinden, wo er wohnt.« Biggie hob eine Hand und stand auf. Obwohl es für einen Mann von seinen Ausmaßen in seinem Büro keine Möglichkeit gab, sich frei zu bewegen, war er doch gern auf den Füßen, wenn ein Kunde da war. Das war für ihn eine Art sportlicher Betätigung. »Nach wem suchen wir?« Davis zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche. Er hatte etliche Seiten mit seinen Gedanken gefüllt, seit er Justin vor drei Tagen im Naturschutzpark getroffen hatte, und dabei versucht, alle Spekulationen aus den bekannten Fakten herauszufiltern. »Sein Nachname könnte Cash sein oder so ähnlich. Er ist in der Gegend von Northwood aufgewachsen und hat dort wahrscheinlich vor achtzehn Jahren gelebt. Einer oder beide Eltern leben womöglich immer noch an der North Shore. Ich nehme an, dass er in Fälle von Gewalt gegenüber Frauen verwickelt war, obwohl ich nicht sagen kann, ob er vorbestraft ist. Er hat Geld, ist möglicherweise Arzt, Anwalt, Banker oder Unternehmer und fährt eventuell einen teuren europäischen Wagen. Vor sechs Jahren wohnte er in Chicago.« Er machte eine Pause und dachte darüber nach, ob die nächste Information hilfreich sein würde. »Zu der Zeit etwa hatte er eine Verabredung mit Martha Finn.« Biggie stöhnte und deutete auf Davis. »Gold Badge hat meine Assistentin beauftragt, für Sie Bilder von deren Sohn zu machen. Mrs Finn hat eine gerichtliche Anordnung gegen Sally erwirkt. Genau wie gegen Sie. Ich habe es in der Zeitung gelesen.« »Das ist okay. Ich will niemanden auf sie hetzen.«
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Big Rob sah aus dem Fenster und fragte, wie er mit den Reuegedanken zurechtkommen würde, die sich bereits in seinem Kopf bildeten. Gott! »Was wissen Sie sonst noch?« Davis blätterte ein Stück weiter. »Als Kind könnte er hier und da Feuer gelegt oder mit dem Verschwinden von Haustieren zu tun gehabt haben. Er ist sicher äußerst intelligent. Wahrscheinlich ein ganzes Stück schlauer als Sie oder ich.« »Ja wunderbar«, sagte Biggie. »Ein Irrer, mit anderen Worten. Und ein Genie. Was ist das für ein Kerl? Ein verrückter Wissenschaftler oder so was?« Er lachte bitter. Davis öffnete seinen Aktenkoffer und holte das Bild hervor. »Und das in etwa ist er. Zumindest sah er bis vor nicht zu langer Zeit noch so aus.« Big Rob zog das Bild zu sich über den Schreibtisch, wobei er es nur an den Rändern berührte. »Ich kenne das Bild. Phil hatte es, als er starb.« Er sah in Davis Moores Augen und suchte darin nach Aufrichtigkeit. »Meine Frau hatte es in meinem Computer gefunden und ihm geschickt, weil sie dachte, es könnte mit …«, er suchte nach den richtigen Worten, »mit ihrem Fall zu tun haben. Es ist seitdem ein bisschen verbessert worden.« Big Rob hob es hoch und unterbrach damit den Augenkontakt zu seinem Klienten. »Philly ist bei dem Job umgekommen.« Er zwang eine ungerührte Miene auf sein Gesicht, legte das Bild zurück auf den Tisch und richtete den Blick wieder auf Davis. Big Rob nannte seinen Satz. »Und Sie zahlen sämtliche Auslagen?« »Ja.« Davis nahm ein Bündel Banknoten aus der Tasche. Biggie seufzte und nahm das Geld, ohne nachzuzählen.
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64 Justins Bettwäsche war anderthalb Wochen nicht gewechselt worden, und Martha hatte ein schlechtes Gewissen deswegen. Sie hatte pro Tag vier Häuser präsentieren müssen, etliche davon derselben Kundin, einer jungen Frau (frisch verheiratet mit einem älteren Arzt), die ihren Mann davon überzeugt hatte, dass sie ein Haus mit Garten, Spielzimmer und großer Küche am Stadtrand dringender brauchten als ein Apartment mit Seeblick mitten in der Stadt. »Wenn er denkt, ich ziehe unsere Kinder in der Stadt groß, nur damit er es nicht so weit zu seinen GoldCoast-Mädchen hat, täuscht er sich«, erklärte sie Martha. Später gestand ihr die Frau, dass sie von den Gold-Coast-Mädchen wusste, weil sie bis vor kurzem selbst noch eine von ihnen gewesen war. Für ein Jungenzimmer war Justins Bude ungewöhnlich ordentlich. Jeden Abend verbrachte er ein paar Minuten mit Aufräumen, brachte die Bücher wieder in alphabetische Ordnung, blies den Staub von seiner Computertastatur und legte sich seine Kleider für den nächsten Morgen zurecht. Auch wenn er nie müde wirkte, konnte sie sich kaum vorstellen, wie er zwischen Schule, seiner zusätzlichen Leserei, all dem Aufräumen und den Stunden, die er mit diesem verflixten Computerspiel verbrachte, genug Zeit zum Schlafen fand. Sie hatte in einem Artikel gelesen, dass sich Tausende von Kindern und Jugendlichen (und auch Erwachsene) so intensiv in dieser Shadow World versenkten, dass ihnen ihr eigenes, tatsächliches Leben unwichtig wurde. Neigungskurse und Mannschaftssportarten an den High Schools verzeichneten ein massiv zurückgehendes Interesse, und viele Lehrer behaupteten äußerst glaubwürdig, dass die Schuld dafür bei Shadow World zu suchen sei. Das passte alles zusammen: Allein in Northwood wusste Martha persönlich von drei Ehen – drei! –, die zerbrochen waren, weil einer der Partner in Shadow World jemand 321
anderen kennen gelernt hatte. Wenigstens hatte Terry sie wegen seiner persönlichen Assistentin verlassen. Das hatte mittlerweile schon fast etwas Altmodisches. Nicht alle waren sich jedoch darin einig, dass das Spiel schlecht für Kinder sei. Einige Psychologen behaupteten, dass Jugendliche, die in den Erwachsenenwelten von Shadow World Erfahrungen sammelten, besser für die Universität und den Auszug von zu Hause vorbereitet seien. Es hieß, sie seien selbstbewusster, weniger risikoscheu und eher zufrieden, wenn sie in die Arbeitswelt einträten. Da Martha das Spiel nie gespielt hatte, war sie skeptisch, was derartige Behauptungen anging, aber es war leichter, ihnen zu glauben, als zu versuchen, ihrem Sohn das Spiel wegzunehmen (oder dem Spiel ihren Sohn), und so entschloss sie sich, Vertrauen zu haben. Martha zog das schmutzige Laken von der Matratze und holte die frische Wäsche. Sie bezog alles neu und versuchte dabei, so penibel zu sein wie ihr Sohn. Auch wenn er sich nie beschwerte, hatte sie ihn doch schon mehr als ein Mal dabei ertappt, wie er sein Bett noch einmal neu gemacht hatte, nachdem es von ihr frisch bezogen worden war. Sie sortierte die frisch gewaschene Wäsche und trug ihre Sachen in ihr Schlafzimmer (verglichen damit schlief Justin in einem »Sauberraum«). Seine Wäsche von zwei Wochen, Hemden, Jeans und Unterwäsche, die sie am Morgen in einem wahren Marathon gewaschen und getrocknet hatte, füllten drei große runde Wäschekörbe, und sie machte sich daran, alles ordentlich zu verstauen. Die Jeans gehörten zusammengelegt in das zweitunterste Fach seines Schranks. Die Hemden hingen auf Plastikbügeln, nie auf Metall. Die blauen Socken kamen in eine andere Schublade als die schwarzen. Die Unterwäsche musste gerollt statt gefaltet werden. Er würde sich nie beschweren oder gar zornig werden, aber sie wusste, er würde alles noch einmal machen, wenn sie es nicht genau richtig hinbekam. 322
Ganz unten in einem der Wäschekörbe fand sie drei ausgeblichene, getrocknete Eindollarscheine. Sie musste eine seiner Taschen übersehen haben, als sie seine Hosen in die Maschine steckte. Hoffentlich hatte sie nicht irgendetwas Wichtiges mitgewaschen, einen Hausaufgabenzettel zum Beispiel oder die Telefonnummer eines hübschen Mädchens. Den Anlass zu einer kleinen Spioniererei nutzend, fuhr sie in die Taschen seiner Hosen. Sie fand noch zwei Einer und einen Fünfer und legte das Geld auf seinen Schreibtisch. Schließlich stieß ihre Hand auf etwas Härteres: ein gewelltes raues Stück Karton, das sich in der Seifenlauge halb aufgelöst hatte und dann hart getrocknet war. Es hatte ungefähr die Größe einer Visitenkarte. Sie zog es heraus. Den Namen darauf erkannte sie erst durch das »M. D.« dahinter wieder. Ärger war nicht das passende Wort für das, was in ihr aufbrandete. Empörung traf es besser. Oder einfach Wut. Sie fragte sich, wo Moore ihm aufgelauert hatte. Seit wann trafen sich die beiden schon? Was will dieser Hurensohn von meinem Sohn, und warum lässt er uns nicht in Ruhe? Sie wollte ihren Anwalt anrufen, aber der würde nicht einen Satz ohne Honorar sagen und kostete pro Stunde dreihundertfünfzig Dollar. Sie wollte die Polizei anrufen, wusste aber, dass die als Erstes fragen würden, ob sie sich ihrer Sache auch sicher sei. Haben Sie mit Ihrem Sohn gesprochen, Ma’am? Es ist keine Verletzung der gerichtlichen Anordnung, wenn Ihr Sohn ein Stück Papier mit Dr. Moores Namen und Telefonnummer in der Tasche trägt. Die Wahrheit war, sie konnte Justin nicht danach fragen. Sie hatte zu große Angst. Seit vier Jahren hatte er kein böses Wort mehr zu ihr gesagt, aber er machte ihr immer noch Angst. Eine Mutter kennt ihren Sohn, auch wenn er nichts von ihrer DNA in sich trägt. Eine Mutter weiß, wozu ihr Sohn fähig ist. Jedes Mal, wenn er ohne ein Wort sein Bett neu machte oder seine Jeans zusammenlegte, spürte Martha den Druck, der sich dabei in seinem Kopf und seinem Herzen aufbaute. Wie das Blut gegen 323
die Schädeldecke und die Rippen presste und in seinen Ohren dröhnte. Früher oder später würde er ihn ablassen müssen. Aber solange sie Justin nahe bei sich halten konnte, solange der Junge unter ihrem Dach und ihren Augen lernte und spielte, solange sie sich interessiert zeigte und den Überblick über seine Freunde und Hobbys behielt, so lange konnte sie ihn führen, beaufsichtigen und beschützen. Und auf das Beste hoffen. Martha nahm ein Blatt aus Justins Drucker, schrieb sich Davis Moores private Telefonnummer und seine E-Mail-Adresse auf und steckte die Karte zurück in Justins Tasche.
65 Im Zentrum von Northwood gab es einen Kreisverkehr, an dem sechs Straßen zusammentrafen, und in der Mitte dieses Kreisverkehrs befand sich eine kleine Grünanlage mit einem halben Dutzend Bänke, von denen aus man die einzelnen Straßen hinuntersah, und der Statue eines Soldaten, die nach dem Ersten Weltkrieg aufgestellt worden war. Big Rob und Davis hatten sich auf der Verkehrsinsel verabredet, da es ein sonniger Tag war und sie nicht weit von dem Bankhaus entfernt lag, von dem Davis das Honorar für den Detektiv holen wollte. Big Rob hatte drei Wochen damit verbracht, dem mysteriösen Mr Cash nachzuspüren – hatte mit den Telefonbüchern von Chicago und Northwood begonnen und die Suche auf Online-Datenbanken ausgeweitet, zu denen er für diesen Zweck Zugang hatte. Er versuchte es über verschiedene Berufsorganisationen, die Anwaltskammer und die Börse und fand auch tatsächlich ein paar Männer, die Cash hießen, aber absolut nicht dem Profil entsprachen, nach dem er suchte. Big Rob rief einen alten Freund bei der Polizei an und erhielt Einblick in neuere Beschwerden und Daten zu sexuellen 324
Übergriffen, und er versuchte es auch bei einigen Händlern von Luxusautos. Sollte der Mann wirklich Cash heißen, war der Kreis der Verdächtigen zu klein – wenn es aber nur etwas Ähnliches war, wurde er gleich unendlich groß. Der Durchbruch kam, als Big Rob schon nicht mehr danach suchte. Die Wege des Glücks, dachte Big Rob. Er hatte stapelweise alte Ausgaben von der Northwood Life gesammelt, die nur dazu da zu sein schien, in jeder Ausgabe möglichst viele Namen von Northwooder Bürgern zu nennen. Eines Freitagnachmittags sah er sie unaufmerksam durch, als er auf die Meldung stieß, dass Sam Coyne, Absolvent der Northwood East und Sohn von James und Alicia Coyne aus Northwood, Partner in der Anwaltskanzlei Ginsburg & Addams in Chicago geworden war. Der Name aktivierte kein Neuron in Big Robs Kopf, aber als er das Foto sah, biss er sich auf die Zunge. Das Bild in der Zeitung war eine professionelle Porträtaufnahme. Sam sah gut aus, war in den Dreißigern und blond. Sein Anzug saß wie angegossen, und er schien gut in Form zu sein. Und das Gesicht war fast genau das Gesicht, das Big Rob sich vor zwanzig Tagen über den Schreibtisch gepinnt hatte. »Cash … Geld … Coyne«, murmelte er vor sich hin. »Coins – Münzen. Gott, der muss es sein.« Big Rob stand nervös hinter seinem Schreibtisch. Manchmal lösen sich die Fälle einfach von selbst, dachte er. Aber er war ein Mann, der daran glaubte, dass man sich seinen Lohn zu verdienen hatte. Gegen fünf drückte er sich oben vor den gläsernen Eingangstüren von Ginsburg & Addams herum und schlüpfte dann mit einem ganzen Schwarm G&A-Sekretärinnen in den Aufzug nach unten. Die Frauen waren zwischen zwanzig und fünfundfünfzig, keine trug einen Ehering, und sie kamen ihm ein 325
wenig zu aufgekratzt vor, um unterwegs nach Hause zu sein. »Ich hab gerade fünfzehntausend Dollar verdient, ohne einen Finger krumm zu machen«, verkündete Big Rob, als die Aufzugkabine den zwölften Stock passierte, »und würde gern heute Abend einen hübschen Batzen davon ausgeben, um ein paar hübsche Ladys betrunken zu machen.« Die Sekretärinnen juchzten und kreischten. Am nächsten Tag rief er Phillys alten Kumpel Tony Dee im Mozzarell an. »Tony, was hältst du davon, mir einen Gefallen zu tun? Um der alten Zeiten willen. Für Phil Canella.« Tony Dee lachte. »Was willst du?« »Wie lange reichen deine Reservierungsbücher zurück?« »Ich hab sie alle noch, vom Tag der Eröffnung an«, sagte Tony. »Und die Kreditkartenabrechnungen?« »Ebenfalls. Mein Buchhalter sagt mir, ich sollte das alles in den Schredder geben. Was meinst du?« »Ich glaube, er hat Recht«, sagte Biggie. »Wirf den Kram weg. Aber erst, wenn ich mir alles ausführlich angesehen habe.« Auf einer der Bänke in der Mitte des Kreisverkehrs schleckte Big Rob über den Rand seines Erdbeereises und schob sich den Umschlag unter den linken Schenkel, damit ihn der kühle Herbstwind nicht davontrug. Er wartete etwa fünf Minuten, bis Davis Moore kam. Der Arzt hatte auch ein Eis in der Hand. Vanille. »Hallo, wir hatten die gleiche Idee«, sagte Biggie und wedelte mit seiner Papierserviette, das Eis selbst war längst verschwunden. Davis setzte sich neben ihn, und die beiden sahen sich nicht an oder sprachen gleich miteinander – als träfen sie rein zufällig hier zusammen, zwei Männer, die sich entschieden hatten, noch ein letztes Eis zu essen, bevor das Wetter dafür zu kalt wurde. Big Robs Kunden spielten ständig 326
solche Spiele. Geheimnistuerisch. Sich verfolgt fühlend. Er nahm an, dass sie derartige Situationen nur aus dem Fernsehen kannten und sonst keine Erfahrung hatten, wie man mit Detektiven umging. Biggie tat ihnen den Gefallen und spielte mit. »Er heißt Sam Coyne«, sagte Big Rob schließlich. Davis wirkte verblüfft. »Wie die Münze. Sie sagten, der Name klänge nach Geld, Bargeld, Kleingeld, also habe ich nachgedacht.« »Woher wissen Sie, dass er es ist?« Big Rob zog die Zusammenfassung der Akte Moore aus dem Umschlag und las daraus vor: »Samuel Coyne. Aufgewachsen in Northwood. Seine Eltern leben noch hier. Wurde kürzlich Partner in der Kanzlei Ginsburg & Addams. Least schon seit Ewigkeiten immer wieder einen aufgemotzten BMW, Farbe immer Schwarz. Hat bei Gegnern wie Kollegen den Ruf, ein rücksichtsloser Drecksack zu sein, und bei den Frauen im Büro gilt er als skrupellos und brutal. Keine Vorstrafen. Vor sechs Jahren, zu der Zeit, von der Sie gesprochen haben, hat er abends im besten Restaurant Northwoods diniert, im Mozzarell. Teuren Wein bestellt.« »War er mit Martha Finn da?« »Die Reservierung war für zwei.« »Das beweist nichts, seine Eltern leben hier.« »Da haben Sie Recht«, sagte Big Rob. »Haben Sie ein Foto?« »Aber sicher.« Big Rob langte in den Umschlag und zog das Original des Bildes hervor, das in der Northwood Life abgedruckt worden war. Er hatte dem dreiundzwanzigjährigen Redakteur fünfzig Dollar dafür gezahlt, damit Moore nicht annahm, er stelle ihm fünfzehn Riesen für ein paar Ausschnitte aus einem Lokalblatt in Rechnung.
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Davis sah sich das Foto an und nickte. Der letzte Rest seines Eishörnchens kratzte ihm durch die Kehle, als er das Stückchen unzerkaut hinunterschluckte. »Sie haben Recht. Er ist es.« Eine unsichere Pause trat ein. Biggie kannte diesen Übergang, wenn aus der Verantwortung des Detektivs die des Kunden wurde. Abgesehen von ein paar Erbschaftsfällen und wirklich schmutzigen Rosenkriegen wollte kaum einer von denen, die ihn anheuerten, wirklich hören, was er herausfand. Biggie war der Überbringer der schlechten Nachricht, und jetzt, wo sie in seinen Händen lag, musste Davis Moore entscheiden, was er damit anfangen wollte. »Dr. Moore«, sagte Big Rob, »wenn die Frage erlaubt ist, aber bitte sagen Sie nichts, wenn es etwas ist, wovon ich nichts wissen sollte – was wollen Sie mit dem Mann jetzt machen?« Davis nahm den Umschlag und begann, den Rest des Inhalts durchzusehen. »Nichts. Wahrscheinlich.« »Ich frage nur wegen Ricky Weiss. Als er dachte, Ihr Mann wäre Jimmy Spears, sagte er, Sie würden ihn umbringen. Deshalb, so hat er behauptet, hat er Phil Canella umgebracht. Er hätte Angst vor Ihnen gehabt.« »Weiss ist der Mörder«, sagte Davis. »Nicht ich.« »Ja, das nehme ich auch an. Aber sollte ich mich plötzlich bei einem Mordprozess im Zeugenstand wiederfinden, will ich sagen können, dass ich gefragt habe. Dass mein Gewissen rein ist. Soweit ich das beurteilen kann, meine ich.« »Sie haben gefragt, und es ist rein«, sagte Davis. »Sollen wir jetzt Ihr Geld holen?« Die beiden gingen zur Lakeshore Bank, wo Davis seinerzeit ein Konto eröffnet hatte, um die Suche nach Anna Kats Mörder zu finanzieren. Das Konto diente dazu, seine Reiseausgaben zu tarnen und eventuelle Belohnungen zahlen zu können, ohne dass Jackie davon erfuhr. Er hatte das Konto nie aufgelöst und Joan schon verschiedentlich davon erzählen wollen, es aber nie getan. 328
Eine Weile lang hatte er gedacht, das Geld zu benutzen, um sie mit einer Reise, einem Auto oder einem ausgefallenen Schmuckstück zu beschenken. Der Kontostand betrug im Moment 56 533,21 Dollar. Der Leiter der Geschäftsstelle brauchte etwa eine halbe Stunde, alle notwendigen Formulare auszufüllen und die nötigen Unterschriften zu bekommen, um eine Auszahlungsanweisung in solcher Höhe auszustellen. Big Rob und Davis warteten schweigend vor dem Schreibtisch eines Angestellten, der ihnen Kaffee und einen kleinen Teller Kekse brachte. Trotz der halbhohen Trennwände um sie herum, an denen sich der graue Teppich des Fußbodens wie Efeu emporzuranken schien, würde alles, was sie sagten, in dem hohen Raum mit den großen Kacheln, den Marmortheken und den gesenkten Stimmen gut hörbar sein. Als er kam, faltete Biggie einen der am leichtesten verdienten Schecks seiner Laufbahn zusammen und schob ihn unter der Windjacke in die Tasche seines kurzärmeligen Hemds. Die beiden Männer traten aus dem nach Westen gehenden Haupteingang in den anbrechenden Abend hinaus. Die Sonne schien ihnen direkt in die Augen. Big Rob setzte seine Sonnenbrille auf und streckte die Hand aus, um den Handel endgültig zu beschließen. »Eine Sache würde ich Ihnen gern noch sagen, die Sie auch in dem Umschlag finden werden«, sagte Biggie, als sich seine Hand um die des Arztes schloss. »Sie werden selbst darauf stoßen, aber ich wollte es Ihnen persönlich sagen.« Er legte die linke Hand auf Davis’ Schulter und brachte den Mund an sein Ohr, flüsterte aber nicht. Es ging nicht darum, ein Geheimnis mitzuteilen, sondern es war eine Geste: »Coyne und Ihre Tochter waren auf der Northwood East in derselben Klasse.« Davis sah dem Detektiv hinterher. Er wusste nicht, was er fühlen sollte, und konnte auch den Schmerz in seinem Leib nicht erklären. Er hielt einen Umschlag in Händen, in dem ein Name 329
und eine Fotografie steckten, und er hatte gedacht, dass es ihn glücklich machen würde, endlich die Wahrheit zu wissen. Aber es machte ihm Angst. Anna Kat war von jemandem ermordet worden, den sie kannte. Vielleicht sogar einem Freund. So hatte sie als Letztes nicht nur Entsetzen und Schmerzen verspürt, sondern sich auch noch verraten gefühlt.
66 Es war dreizehn Wochen her, seit Justin seine letzte ShadowWorld-Eilmitteilung erhalten hatte. Acht Morde in vier Monaten und dann nichts mehr. Keine erstochenen oder erwürgten Shadow-Frauen in finsteren Gassen, Kneipenklos oder schmuddeligen Motelzimmern. Justin hatte seit zwei Monaten nicht mehr gespielt, nur hin und wieder nach seinem virtuellen Ich gesehen und den Geburtstag seiner virtuellen Mutter gefeiert. Es war Dienstag, er kam in Jeans und schwarzem T-Shirt in die Küche, schüttete sich sein Müsli in eine Schüssel und blätterte durch den Stapel mit Rechnungen, Zeitschriften und Katalogen auf der Anrichte. »Was suchst du, Schatz?«, fragte Martha. »Die Zeitung«, murmelte Justin. »Der Musikteil liegt da drüben auf dem Tisch«, sagte sie. Justin wühlte sich weiter durch den Stapel. »Nein. Den Hauptteil. Die erste Seite.« Martha seufzte. »Du solltest diese Sachen nicht lesen. Das nimmt dich so mit.« Sie öffnete einen Unterschrank, wo sie die großen Töpfe aufbewahrte, und holte die Tribune hervor. »Aber wie soll ich sie von dir fern halten? Radio, Fernsehen, Internet. Weiß Gott, wovon ihr in der Schule redet.«
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Justin setzte sich und breitete die Zeitung vor sich aus. Die Hauptschlagzeile lautete: MORD IN DER DAMEN AVENUE. LAUT POLIZEI KÖNNTE DIE ERMORDETE, 23, DAS ERSTE OPFER DES WICKER-MANNS SEIT SECHS MONATEN SEIN. Justin überflog den Artikel. Die Tote war hinter einem französischen Restaurant gefunden worden. Erdrosselt und erstochen. Vergewaltigt. Die Leiche lag im Regen. Keine Fingerabdrücke, keine DNA. Die Polizei nahm an, der Tod sei zwischen zwei und vier Uhr morgens eingetreten. Eindeutig der Wicker-Mann, dachte Justin. Der Artikel brachte so viele Einzelheiten über das Opfer, wie man hatte herausfinden können. Sie kam vom Land. Studierte an der DePaul University. War mit ein paar Freunden essen gewesen, von denen keiner verdächtigt wurde. Viel mehr gab es nicht. Es war zwar die elektronische Ausgabe der Trib, die Martha selbst ausgedruckt hatte, dennoch hatte der Reporter gerade eine gute Stunde gehabt, um die Geschichte zu schreiben. Am Ende des Artikels stand der redaktionelle Hinweis: »Unter Mitarbeit von Sally Barwick.« Hmm. Er zog seinen Mantel an und gab seiner Mutter einen Abschiedskuss. »Iss dein Müsli auf, du hast noch Zeit«, sagte sie. »Muss heute früher da sein«, sagte er, als sich die Küchentür hinter ihm schloss. »Ich muss vor dem Unterricht noch einen Laborbericht fertig machen.« Martha seufzte. Sie war sich sicher, dass er sie anlog. Drei Querstraßen weiter bog Justin rechts statt links ab und fuhr zurück zur Stone Avenue. Seit ein paar Tagen machte er sich Sorgen, dass er vielleicht zum falschen Fenster hinaufgesehen hatte. Was, wenn Dr. Moore ihm schon vor Tagen oder gar Wochen ein Zeichen gegeben und er es 331
übersehen hatte? Er blieb in einiger Entfernung stehen und überprüfte ganz genau jedes einzelne Fenster im ersten Stock des großen Hauses. Oben rechts, unter dem Dachvorsprung, war ein Sprossenfenster mit acht Scheiben. Hinter der linken unteren Scheibe klebte ein Stück weißes Papier, und der Vorhang dahinter war zugezogen. Justin sprang wieder auf sein Rad und fuhr los. Endlich. Das Warten war fürchterlich gewesen. Ohne ein Wort von Dr. Moore und ohne neue Entwicklungen in Shadow World hatte sein Leben in den letzten Wochen praktisch in der Luft gehangen. Er überstand den morgendlichen Unterricht – Englisch, Mathematik, Geschichte – und eilte dann durchs Hauptgebäude, um möglichst früh zum Computerunterricht zu kommen. Es waren erst fünf andere Schüler da. Jetzt musste er sich nur noch erinnern, welcher der Rechner das Spiel noch drauf hatte. Shadow World war so beliebt geworden, dass die Northwood East (und Hunderte von anderen Schulen im Land) den Schülern das Spielen während der Unterrichtszeit untersagen musste. Die Ablenkung war zu groß. Die Lehrer bemühten sich, die Software von den Festplatten und damit aus den Netzwerken auf dem Campus zu löschen, aber die Spielwut der Schüler war größer als das Bestreben der Lehrer, dagegen vorzugehen, und Justin fand fast immer einen Rechner mit einer unentdeckten Version. Er setzte sich an den Computer links hinten. Nichts. Er rutschte auf den Nachbarstuhl und versuchte es wieder. Diesmal fand er einen verborgenen Ordner, tief im Inhaltsverzeichnis versteckt und in »HISTOR« umbenannt. Ein gleichgültiger Lehrer, der eine halbherzige Suche durchführte, würde ihn niemals finden. Die Schüler saßen jetzt fast alle auf ihren Plätzen. Sie sollten an voneinander unabhängigen Programmieraufgaben arbeiten, und so machte Mrs Biden, ihre Lehrerin (die zu alt war, um irgendetwas Sinnvolles an einem Computer zu tun), ein paar kurze Ankündigungen und forderte sie auf, sich bei der Arbeit ruhig zu verhalten, wie sie es immer tat. Justin war mit seiner 332
Aufgabe bereits so gut wie fertig, und er rief sie auf den Schirm, damit er mit einem Tastendruck zu ihr hinüberwechseln konnte, wenn jemand hinter ihn trat. Dann loggte er sich ein. Das Spiel lud Zeit und Datum, konsultierte seinen Stundenplan und schloss, dass er sich in diesem Raum befand. Der Unterricht würde eine Stunde dauern, danach kam die Mittagspause, noch eine Stunde, und für die vierzig Minuten Hausaufgabenzeit hatte er sich bereits eine Erlaubnis geholt, hier im Computerraum zu arbeiten. Also hatte er zweieinhalb Stunden. Er hoffte, das würde genügen. Jedes Wort, das sein virtuelles Ich sagen sollte, musste er über die Tastatur eingeben (mit Headset, Kopfhörer und Mikro, würde er sofort auffliegen), und er ließ Shadow-Justin zu seiner Shadow-Lehrerin sagen, dass er sich nicht gut fühle. Sie schickte ihn ins Krankenzimmer. Shadow-Justin entkam durch die Türen bei der Turnhalle und nahm eine Abkürzung durch den Wald ins Zentrum von Northwood. Er lief über einen Lehmpfad mit totem Gras. Sein Rad aus dem Fahrradständer zu holen, wäre ein zu großes Risiko gewesen. Irgendjemand im Spiel hätte ihn bemerkt. Justin sah sich um. Noch drei andere aus dem Kurs schienen zu spielen, und deren Online-Alter Egos versuchten zweifellos ebenfalls, aus der Schule zu verschwinden. Fünfzehn Minuten später saß er im Zug in die Stadt. Die Vororte zogen vorbei, während immer wieder Leute ein- und ausstiegen. Der Zug war nicht sehr voll. Er stieg an der Northwestern Station aus und kam auf der Washington Avenue an einer Spielothek vorbei. Er fragte sich, wie es sein würde, hineinzugehen und über seinen Computer eines der Münzvideospiele darin zu spielen. An einem anderen Tag. Er hatte es eilig und nahm ein Taxi zum Tribune Tower, direkt nördlich vom Chicago River. Auf dem Bürgersteig vor dem gotischen Steingebäude auf der Ostseite der Michigan Avenue herrschte reges Hin und Her. Reporter und andere Zeitungsmit333
arbeiter kamen von Lokalterminen oder gingen in die Mittagspause. Doppelte Drehtüren, in Glas und Holz gerahmt und von einer schmuckvollen Steinfassade umgeben, saugten ebenso viele Männer und Frauen in das Gebäude, wie sie wieder ausspuckten. Die Lobby war einige Stockwerke hoch, und die Wände säumten verschiedene reflektierende Steine. An einem halbmondförmigen Marmortisch saß ein Sicherheitsbeamter, der die Leute überprüfte, die hereinkamen. Hinter ihm führten zwei Aufzugsreihen in die Höhe, und über den Aufzügen stand ein Zitat vom ersten Herausgeber der Tribune, Colonel Robert R. McCormick. »Wärter, ich möchte zu Sally Barwick«, gab Justin ein, als er an die Reihe kam. »Sie erwartet mich.« Das war eine Lüge. »Name?«, fragte der Mann. »Justin Finn.« Der Sicherheitsbeamte tippte auf den Bildschirm vor sich. »Sally Barwick. Sitzt im Dritten. Ich werde fragen, ob sie herunterkommt.« Er schien auf das Klingeln im Hörer zu lauschen und winkte Justin zur Seite, um den Nächsten zu überprüfen. Wenn Sally im Moment nicht spielte, würde er Justin ohne Zweifel auffordern, es später noch einmal zu versuchen. Das brachte nichts. Einer der Aufzüge öffnete sich mit einem Gong, sechs Leute traten heraus, und eine ganze Gruppe stand an, um sich hineinzuquetschen. Justin schloss sich ihnen unbemerkt an, und schon verschwand der Hinterkopf des Sicherheitsbeamten hinter den sich schließenden Türen. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis er zwischen all den kleinen Arbeitszellen hinten in der Nachrichtenredaktion Sallys Schreibtisch fand. Ihr Avatar schrieb konzentriert etwas in den Computer. Sie arbeitete an einem Artikel. 334
»Sally?«, sagte Justin. Shadow-Sally sah auf. Sie schien ihn nicht zu erkennen. »Tut mir Leid. Ich habe viel zu tun. Vielleicht kommen Sie später noch mal, und dann reden wir.« Eine vorprogrammierte Antwort. Komisch. Wenn sie nicht eingeloggt war, müsste ihr virtuelles Ich grau und lethargisch sein. Sobald jemand das Spiel verließ, stellte sich sein Avatar auf Autopilot und verrichtete typische Funktionen in roboterhafter Mechanik. Wenn in Shadow World zum Beispiel jemand einen Job in einer Wattebauschfabrik hatte, würde sein Shadow-Ich auch während der Abwesenheit des Spielers weiter Wattebäusche produzieren. Der Spieler konnte einfache Anordnungen hinterlassen – nimm den Fünfuhrzug, schiebe ein Essen in die Mikrowelle, geh um elf ins Bett –, und bis er sich wieder einloggte, nahm sein zweites Ich nur minimalen Kontakt zu anderen Spielern auf. Es würde ein ausgewaschenes Graublau annehmen, und die anderen wussten, dass eine Interaktion nicht möglich war. Sally sah ganz normal aus, aber sie war eindeutig nicht da. Justin schrieb: »Sally, wirst du zu Mittag online gehen?« »Das kann ich unmöglich sagen«, antwortete Sally. »Wenn Sie mir eine Nachricht hinterlassen möchten, werde ich sie lesen, sobald ich nicht mehr so beschäftigt bin.« »Okay, Sally«, schrieb Justin. Er nahm einen Zettel und einen Bleistift von ihrem Schreibtisch und schrieb: »Sally, ich bin im Billy Goat. Bitte triff mich dort. Bis ein Uhr bin ich da. Justin.« Sally nahm Notiz von dem Zettel, als er ihn vor sie hinlegte, las ihn aber nicht. Stattdessen tippte sie weiter an ihrem imaginären Artikel über ein imaginäres Thema, den niemand jemals lesen würde. Justin nahm den Aufzug zurück nach unten und ging an dem Sicherheitsbeamten vorbei, dem es nichts auszumachen schien, dass er Justin vor ein paar Minuten verloren hatte. Er muss eine 335
einprogrammierte Person sein, dachte Justin. Die Einprogrammierten ließen viel durchgehen, die realen Spieler nicht. Er überquerte die Straße, ging die Betontreppe zur Lower Michigan Avenue hinunter und in die Billy Goat Tavern. Dort bestellte er einen Hamburger mit Pommes frites und eine Cola und setzte sich an einen wackligen Tisch, von dem aus er den Eingang im Blick hatte. Das reale Billy Goat machte nicht viel her, und das ShadowBilly-Goat war nicht besser. Es gab eine lange L-förmige Theke, die an zwei Wänden entlanglief und über der mehrere Fernseher hingen, die gerade die Höhepunkte des Spiels der Bulls vom letzten Abend zeigten. Die Stühle hatten etwas Anstaltsmäßiges, Metallrohrgestelle mit Plastiksitzen und einer Lehne aus Holzimitat. Der Linoleumboden war alt und schmutzig. An den Wänden hingen Rahmen mit Fotos von berühmten Billy-GoatGästen, einige davon signiert. Dabei gab es drei Kategorien: wirkliche Berühmtheiten, die jedoch in Shadow World weitgehend unbekannt waren, Unbekannte, die es in Shadow World zu Berühmtheit gebracht hatten, und Berühmtheiten, die man in der realen Welt wie in Shadow World gleichermaßen gut kannte. Fast alle aus der letzten Gruppe waren Lebensechte, extrem selbstbezogene Leute, denen die Liebe und Aufmerksamkeit eines einzigen Universums nicht reichten. Einige von ihnen waren dennoch faszinierend, wie die beliebte Nachrichtenmoderatorin aus Chicago, deren Shadow-World-Ich den Journalismus hinter sich gelassen hatte, um eine weltbekannte Konzertcellistin zu werden. Das war cool, dachte Justin. In der Schule klingelte es zur Pause, und die anderen Schüler liefen Richtung Cafeteria. Justin streckte sich auf seinem Stuhl, und kaum einer bemerkte, dass er zurückblieb. Es war nichts Ungewöhnliches, dass Schüler über Mittag im Computerraum blieben, und nur wenige seiner Klassenkameraden standen 336
Justin nahe genug, sich dafür zu interessieren, ob oder was er zu Mittag aß. Als er allein war, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Spiel zu. Er hatte seinen Hamburger verdrückt und machte sich gerade an die Pommes frites, als Sally zur Tür hereinkam. Sie stand oben auf der Treppe und sah sich um. Als sie Justin entdeckte, nickte sie, schien aber nicht glücklich darüber zu sein, ihn hier zu sehen. »Justin, bist du nicht ein bisschen zu jung, um nachmittags in eine Kneipe zu gehen?«, fragte sie. »Sally, in der realen Welt vielleicht«, sagte Justin. »Aber hier im Spiel kümmert sich keiner so recht darum.« Sie setzte sich zu ihm und steckte zwei Finger in seine Tüte Pommes frites. »Was gibt’s?« Es war sonst niemand in Hörweite, was hieß, dass sie sich ohne ihre Vornamen unterhalten konnten. »Du schreibst. Bist du in der Schule?« Wenn sie mit Headset spielte, wurde seine Stimme für sie vom Computer generiert. Ihre Worte wiederum erschienen auf seinem Bildschirm als Untertitel. »Ja«, sagte Justin. Er versuchte einen komischen Übergang: »Ich habe dich eigentlich nie für eine Lebensechte gehalten.« Sally antwortete nicht gleich, und Justin fragte sich, ob er sie beleidigt hätte. »Ist das was Schlimmes, ein Lebensechter zu sein?« »Nein, sicher nicht«, stimmte ihr Justin zu. »Hat mich nur überrascht. Ich dachte, du wärst nur ein Verbrechensfan, der sich bei der Shadow-World-Trib den passenden Job dazu besorgt hätte.« »Ich schätze, da liegst du nicht ganz falsch«, sagte Barwick. »Nur dass ich mir vorher schon einen bei einer realen Zeitung gesucht habe. Wie hast du es herausgefunden?«
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»Ich habe heute Morgen deinen Namen unter einem Artikel entdeckt.« »Und woher wusstest du, dass ich mich noch vor eins einloggen würde?« »Ich dachte, eine Lebensechte lässt sicher keine Mittagspause vergehen, ohne kurz ins Spiel hineinzuschauen.« »Ja«, sagte Sally. »Ich habe immer Angst, dass das Programm meinen Avatar vor die Hochbahn fallen oder unter ein Auto kommen lässt. Ich muss ihn, so gut es geht, unter Kontrolle behalten.« »Als ich dich an deinem Schreibtisch fand, sahst du wie eingeloggt aus, aber du warst nicht da. Wie kann das gehen?« Sally lächelte. »Uraltes Shadow-World-Geheimnis. Und ein alter Trick der Lebensechten.« »Ich kapiere das lebensechte Spiel nicht ganz«, gestand Justin. »Du spielst doch nur genau das nach, was auch in deinem tatsächlichen Leben passiert.« »Mehr oder weniger«, sagte sie. »Es ist einfach der beste Weg zu verstehen, wie mich andere sehen. Das ist für mich der Sinn des Spiels. Viele Leute spielen, um eine Ideal-Ausgabe von sich zu erschaffen, aber ich will, dass Shadow-Sally meinem realen Ich so genau wie möglich gleicht. Durch sie verstehe ich besser, wer ich tatsächlich bin.« »Ich habe nie einen Lebensechten gehört, der es so erklärt hat«, schrieb Justin. »Ist irgendwie cool. Ich denke viel darüber nach: Wer ich bin und was ich denke, wer ich bin, und was andere Leute denken, wer ich bin.« Sally sagte: »Du bist an den existenziellen Geheimnissen des Lebens interessiert? Ich denke, das ist für einen Fünfzehnjährigen normal. Ich vergesse manchmal, wie es war, so alt zu sein, und versuche doch immer noch, hinter das alles zu
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kommen. Ich frage mich, was Erwachsene wissen, das ich nicht weiß.« »Und«, sagte Justin. »Was wissen Erwachsene?« »Rein gar nichts. Aber du bist heiß auf Philosophie? Das ist gut.« »Ja, meine Mom hat mich darauf gebracht, als ich noch klein war«, schrieb Justin. »Deine Mutter? Warum?« »Keine Ahnung.« Justin schrieb schnell und wollte nicht auch noch auf seinen Therapeuten kommen. Er wollte nicht über sich selbst sprechen. »Ich finde es trotzdem witzig, dass du eine Lebensechte bist, wenn ich an einige Gespräche denke, die wir hatten.« »Worüber?« »Zum Beispiel über den Wicker-Mann. Ich habe dir vor langer Zeit schon gesagt, dass er ein Lebensechter sein könnte, jemand, der online genau wie in seinem tatsächlichen Leben Frauen ermordet.« »Ja, und? Denkst du, ich bin es?« Sie machte Spaß, da war Justin sich ziemlich sicher. »Nein, natürlich nicht. Aber warum findest du meine Theorie so unwahrscheinlich, wo du doch selbst eine Lebensechte bist?« »Weil es so viele andere Erklärungen gibt, die weit mehr Sinn ergeben, Justin. Die richtige Erklärung ist fast immer die einfachste.« »Occams Rasiermesser, ich weiß«, gab Justin ein. »Was?« »William von Occam. Vierzehntes Jahrhundert. Franziskanermönch. Die richtige Erklärung ist fast immer die einfachste. Von dem stammt der Satz.« Justin fragte sich, ob er wie ein Besserwisser klang. Das passierte ihm oft. 339
»Du überraschst mich immer wieder«, sagte Sally. »Ist heiß hier.« Die Temperatur wurde auf dem Bildschirm angezeigt, und die Spieler mussten sich entsprechend verhalten – Jacken ausziehen, etwas trinken –, sonst wurden sie müde. Das konnte so weit gehen, dass die Avatare dehydrierten und in die Notaufnahme mussten. Justin wollte nicht über das kaputte Thermostat reden. »Aber warum ist es wahrscheinlicher, dass die Morde in Shadow World von einem Nachahmer begangen werden, wenigstens die, die so aussehen wie die vom Wicker-Mann? Schließlich sind doch ein Viertel aller Spieler in Shadow World Lebensechte – wie du. Warum sollte man nicht mal durchspielen, dass der Wicker-Mann auch in Shadow World spielt und Frauen in beiden Welten umbringt?« »Weil es, abgesehen von deiner fixen Idee, keinen Hinweis darauf gibt. Und selbst wenn es stimmte, wie wollten wir es beweisen, Justin? In unserer realen Welt hat der Wicker-Mann keinen physischen Beweis zurückgelassen. Und in einem Computernetz ist er ein totales Phantom. Keine Fingerabdrücke, keine DNA, keine Blutspuren.« Sie hielt inne, als zögerte sie, das Nächste auch noch zu nennen. »Und es gibt noch einen Grund.« »Was?« »Der Wicker-Mann bringt seine Opfer nach ihrem Tod in eine besondere Position. Bei den Toten in Shadow World ist das nicht der Fall.« »Ein paar von ihnen sahen ’n bisschen aus wie extra so hingelegt«, sagte Justin. »Nein, die echten Wicker-Opfer haben die Beine weit gespreizt und ihre linke Hand bedeckt ihre linke Brust. Das war 340
bei allen so«, sagte Sally. »Die Polizei hat darum gebeten, das aus den Zeitungen herauszuhalten, damit sie nicht auf Nachahmer hereinfallen.« Justin ließ sich nicht von seiner Idee abbringen. »Vielleicht macht er es im Spiel eben anders. Ich glaube, es lohnt sich, da nachzuforschen. Wenn wir herauskriegen, wer die Frauen in Shadow World umbringt, finden wir so vielleicht auch den richtigen Mörder.« Sally hielt sich die Hand vor den Mund, aber auf Justins Bildschirm erschien kein Hinweis darauf, dass sie lachte. Vielleicht gähnte sie. »Ja, das stimmt sicher«, sagte sie. »Bist du deshalb den ganzen Weg in die Stadt gekommen? Um das alles noch mal zu besprechen, jetzt, wo du herausgefunden hast, dass ich eine Lebensechte bin?« »Ich bin in der Schule«, schrieb Justin. »Mir ist langweilig.« »Bei einem klugen Kerlchen wie dir wundert mich das nicht.« »Ich muss gleich wieder in den Unterricht. Ich sollte langsam zum Zug gehen.« »Ja, meine Mittagspause ist auch herum.« »Sally, sag mir eins, bevor ich gehe«, schrieb Justin. »Wenn ich tatsächlich zu dir in die Stadt gekommen wäre und dir tatsächlich eine Nachricht hinterlassen hätte, dass ich auf dich warte, wärst du dann auch gekommen?« Während er das schrieb, hatte er das Gefühl, dass sich das fast so anhörte, als versuchte er, mit Sally zu flirten. Nicht passend für sein Alter. Es machte ihm nichts aus. Sally langte über den Tisch und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Aber ›NICHT JUGENDFREI‹ sicher«, sagte sie und drehte seine leere Tüte Pommes frites um. »Ein Mädchen muss schließlich ab und zu was essen.«
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67 Vor sechs Wochen noch wären es bedeutungslose, leicht zu vergessene Silben gewesen, aber als er Dr. Moore den Namen sagen hörte, nahm er für ihn gleich den Geruch des Bösen an. Er blätterte die Beweise aus dem Umschlag durch und sah den Namen groß auf jeder Seite. Sam Coyne. Für Justin klang der Name bereits so bedrohlich und faszinierend wie Bundy, Gacy und Speck. Samuel Nathan Coyne. Das Ausschreiben des zweiten Vornamens machte das Ganze offiziell. Für seine Brandmarkung. »Was sollen wir jetzt tun?« »Ich weiß es nicht«, sagte Davis. »Gehen wir zur Polizei«, sagte Justin. »Wir können alles erklären. Einen Richter dazu kriegen, einen DNA-Test anzuordnen. Wenn sie mit meiner übereinstimmt, können sie ihn wegen des Mordes an Anna Kat anklagen.« »Ich glaube nicht, dass das so einfach geht.« »Warum nicht? War das nicht immer Ihr Plan?« »Zunächst mal bezweifle ich, dass wir genug Beweise für einen Haftbefehl haben. Als Coynes DNA damals die Polizeistation verließ, war die Beweiskette gebrochen. Die Tatsache, dass seine DNA mit deiner übereinstimmt, oder sogar, dass sie mit dem Original übereinstimmt, wenn ich es noch hätte, würde als Beweis wahrscheinlich nicht zugelassen. Dazu kommt, dass ich das Gesetz gebrochen habe, als ich dich erzeugte – und du bist der einzige Beweis, der auf ihn hindeutet. Jeder gute Anwalt, und Coyne hat genug davon, hätte damit seinen großen Tag. Coyne würde freigesprochen, ich würde wahrscheinlich für zehn Jahre hinter Gitter wandern, und aus 342
deinem Leben würden sie eine Freakshow machen. Du würdest der weltberühmte Killer-Klon-Junge von Chicago.« Justin sah nicht von dem kleinen Stapel Papier und Fotografien auf. »Damit käme ich schon zurecht. Sie nicht? Würden Sie nicht ins Gefängnis gehen, um ihn zu fassen?« Justins sachlicher Ton ließ Davis frösteln. Als wäre das Ganze eine Herausforderung. Als forderte er Davis heraus: Sie werden doch jetzt keine Probleme machen, oder? Sie haben doch nicht meinetwegen die Hosen voll? Davis wurde bewusst, dass er tatsächlich Angst vor Justin Finn hatte, dem Jungen neben sich im Auto, der aus einem Ungeheuer erzeugt war. Aber er hatte auch Ehrfurcht vor ihm. Justin bewies Haltung. Intelligenz. Persönlichkeit. Wenn man mit ihm sprach, war es fast unmöglich, nicht zu vergessen, dass man mit einem Fünfzehnjährigen sprach. »Es gab eine Zeit, da hätte ich es getan, ja. Vor Jahren«, sagte Davis, obwohl er sich nicht erinnern konnte, ob das wirklich stimmte. »Jetzt weiß ich es nicht mehr. Kann ich meiner Frau das antun? Wenn es bedeuten würde, dass Coyne ins Gefängnis käme, oder Schlimmeres, vielleicht. Ich bin mir nicht sicher. Aber das spielt keine Rolle. Es käme nichts Gutes dabei heraus.« Justin wurde warm in seinem Mantel, und er öffnete das Fenster einen Spaltbreit. Der Wagen stand im Halbschatten der alten Bäume des Parks. Das Wetter war schön, wenn auch ein bisschen kalt, und auf dem schmalen Weg war mehr los als bei ihrem letzten Treffen. Aber dieses Gespräch war wichtiger als alle Vorsicht. »Achtzehn Jahre habe ich nach dem Namen gesucht«, sagte Davis. »Sam Coyne. Unvorstellbare Dinge habe ich dafür unternommen. Phil Canella und meine erste Frau sind beide deswegen tot. Und jetzt, wo ich Bescheid weiß, fühle ich mich hilfloser denn je. Als ich nicht wusste, wer AK umgebracht hat, konnte ich mir einbilden, es wäre ein erbärmlicher 343
Geisteskranker. Dass er womöglich in einem Gefängnis oder einer Irrenanstalt steckte. Ich konnte mir einbilden, dass er in der Erde vermoderte. In der Hölle schmorte. Sich mit all dem Bösen konfrontiert sähe, das er begangen hatte. Dafür zahlen müsste. Ich konnte mir einbilden, dass die Waage des Schicksals sich auch ohne mein Zutun ausbalanciert hatte. Es quält mich zu wissen, dass er Partner in einer blühenden Anwaltskanzlei geworden ist. Dass er in einem teuren Condo an der Gold Coast wohnt. Dass die hübschen Frauen vor seiner Tür wahrscheinlich Schlange stehen.« Davis fühlte sich den Tränen nahe, aber auch unbeteiligtgleichgültig wie in der Nacht, in der Anna Kat ermordet worden war. Er hatte angesichts ihres Leichnams nicht geweint, und er weinte auch jetzt nicht. »Dr. Moore«, sagte Justin, »ich habe eine Menge Bücher von Philosophen gelesen. Einige von ihnen versuchen herauszukriegen, wer wir sind und was den einen Menschen vom anderen unterscheidet. Einige wollen wissen, ob es einen Gott gibt. Wie Anselm von Canterbury oder Augustinus. Andere wie Hobbes und Hume versuchen, das Richtige vom Falschen zu trennen: Was darf man, was nicht, und warum. Jeder Einzelne versucht auf seine Art, die eine Frage zu beantworten: Warum bin ich hier?« Er hielt den Umschlag in den Raum zwischen ihnen. »Wissen Sie, wie viele von ihnen wie ich die Antwort in Händen halten?« Davis hustete, und der Krampf in seinem Hals verbarg seine Verblüffung. Justin war so erwachsen. Davis hatte so etwas wie Mitgefühl von ihm erwartet, stattdessen bekam er eine metaphysische Vorlesung. »Komm schon, Justin. Der Mensch ist mehr als das. Mehr als nur ein suchendes Werkzeug. Ich hatte keine Skrupel, dich in diese Welt zu bringen. Ich hätte über die Folgen nachdenken müssen, die Last, die ich dir aufbürden würde, solltest du oder ein anderer je die Wahrheit herausfinden. Aber ich stelle mich meiner Verantwortung. Du bist weder 344
einzigartig noch eigenartig, weder physisch noch metaphysisch. Du bist einfach ein Teenager – ein äußerst intelligenter, eindeutig –, aber dennoch ein Teenager wie alle anderen.« Wie so oft in diesen Tagen war Davis sich nicht sicher, ob er glaubte, was er da sagte. Justin wedelte mit dem Umschlag. »Ein Teenager, der zu schrecklichen Dingen fähig ist, wie es scheint.« »Wir alle sind zu schrecklichen Dingen fähig. Jeder Einzelne von uns. Und wenn du schon etwas in deinen ersten fünfzehn Lebensjahren bewiesen hast, dann, dass der Mensch mehr ist als nur die Summe seiner Chromosomen.« Justin hielt Big Robs Bericht hinaus in den Wind und drehte ihn hin und her. »Ich kann das nicht einfach auf sich beruhen lassen. Ich glaube, wir haben eine Verantwortung. Eine Pflicht oder so was.« Davis wünschte fast, dass Justin losließe und der Wind die Beweise hinaus in den Park trug. Wünschte, jemand anders würde den 15000-Dollar-Bericht über Sam Coyne lesen und sich fragen, wer das war. Was er getan hatte. Wünschte, es könnte die Pflicht eines anderen werden. »Ich bin offen für Vorschläge«, sagte er. »Dr. Moore«, sagte Justin, »ich glaube, dass unsere Entscheidungen, alle Entscheidungen, für uns getroffen werden. Das Wetter, ob es Tag oder Nacht ist, unsere sexuellen Bedürfnisse, unsere Überlebensmechanismen, Längen- und Breitengrade, der gemeinsame Wille der anderen sechs Milliarden Menschen auf dieser Welt – all diese Dinge bestimmt unser Schicksal. Vielleicht hat Gott dabei seine Hand mit im Spiel, vielleicht auch nicht. Aber wenn wir meinen, unseren freien Willen auszuüben, wenn wir unsere Entscheidungen treffen, erfüllen wir in Wahrheit nur, was uns durch das Universum vorbestimmt wurde. Ein Hurrikan hat mehr Wahlmöglichkeiten als der Mensch.« Justin lehnte sich über die 345
Armlehne, die sie voneinander trennte. »Wenn einer das Richtige vorschlägt, ob nun Sie oder ich, ist es längst unausweichlich.«
68 Noch eine Nacht zu Hause, die Davis unten im blauen Zimmer verbrachte. Allein. Joan war aufgefallen, dass er gleich nach ihrem Vorschlag, den Raum auszuräumen, angefangen hatte, sich da unten wieder zu schaffen zu machen. In mancher Hinsicht war das vorherzusehen gewesen. Davis wurde älter. Er mochte keine Veränderungen, und als er den Raum bedroht fühlte, versicherte er sich seiner Kontrolle darüber. Sie hatte genug Psychologie studiert, um das zu erkennen. Und doch war es enttäuschend. Er war enttäuschend. Joan versuchte, den schrecklichen Gedanken, die ihr manchmal in den Kopf kamen, nicht zu große Beachtung zu schenken. Dass er eine Affäre hatte, bezweifelte sie. Aber er schien abgelenkt. Unaufmerksam. Sie hatten einmal alle Zeit, die ihnen zur Verfügung stand, zusammen verbracht, und jetzt hockte sie mit einem Buch in der Hand im Wohnzimmer, während er eine Etage tiefer saß, und was machte? An seinem Stammbaum arbeitete? Patiencen legte? Shadow World spielte? Als sie sich ihren Mann als Computerspieler vorstellte, musste sie lachen. Trotzdem, eine der Frauenzeitschriften, die sie in die Praxis geschickt bekam, führte Shadow World als die drittgrößte Gefahr für Ehen an, direkt hinter Geldproblemen und sexuellen Schwierigkeiten. Geld war bei ihnen kein Thema – ihre Praxis lief prächtig, und Davis war schon bestens versorgt gewesen, noch bevor seine Vortragshonorare zu fließen begannen. Was den Sex betraf, so verfügte Davis über eine für sein Alter gesunde Libido, und Joan fühlte sich ausgefüllt. Da gab es keinen Anlass für sie, sich zu streiten. 346
Sie stand aus ihrem Sessel auf, ging in die Küche, um sich einen koffeinfreien Tee aufzubrühen, und drückte die Taste der Wechselsprechanlage, um zu hören, ob er auch eine wollte. Er sagte nein, ganz lieb, mit einem Dankeschön, aber er sagte auch nicht, wann er nach oben kommen würde. »Was machst du da unten?«, fragte sie. »Nichts Besonderes«, sagte er. »Ich bin in einer Minute schon oben bei dir.« Nichts Besonderes. Sie wusste, es war dumm, aber das waren nicht die Worte, die Joan hören wollte.
69 Wieder eine belebte Gasse auf der North Side von ShadowChicago. Die hier war besonders detailgenau gezeichnet, dachte Barwick. Sie steuerte ihren Avatar so nahe an eine der Wände heran, dass er fast mit der Nase dran stieß. Jeder Ziegel war anders, hatte seine eigenen Risse. Sie konnte sehen, wie Mörtel herausbrach, und selbst die verblichene Farbe alter GraffitiBilder war zu erkennen. Eine alte Feuertreppe quietschte über ihr und schickte ihr Wassertropfen auf die Schulter. Ließen die Programmierer in allen Gassen so viel Sorgfalt walten, in jeder Straße, in allen Shadow-World-Städten der Welt? Oder war das hier eine Ausnahme? Nur diese Gasse? Eine Art Beta-Test? Der tote Körper auf dem Pflaster gehörte zu Victoria Persino, erstochen und zurückgelassen. Sie hatte dreihundert Dollar in bar und einen Diamantring bei sich. Wieder ein Mord um des Nervenkitzels willen. Oder, wenn sie Justin folgte … Sally sah auf. Wenn man vom Teufel sprach. »Also was meinst du, Jimmy Olson?«, sagte Sally in ihr Mikro. »Ist der Wicker-Mann heute Nacht online?«
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Justin sah hinunter auf die Leiche, aber studierte sie nicht wie gewöhnlich. Er machte nicht einmal ein Foto. »Ja, Sally. Sieht so aus.« Er umkreiste den Tatort, aber sein Schweigen sagte ihr, dass ihm etwas anderes im Kopf herumging, und geduldig wartete sie darauf, dass er damit herauskam. »Ich möchte mit dir über etwas sprechen.« Er sah sich um und trat noch einen Schritt näher, als wollte er nicht, dass die Polizei ihn hören konnte. »Worum geht es?« »Sally, ich wollte dich fragen, ob du mir einen Gefallen tun kannst«, sagte er. »Ich möchte, dass du dich für mich um jemanden kümmerst.« »Was meinst du mit kümmern?« »Ich meine, dass du ihn ausforschst. Auskundschaftest. Siehst, was sich über ihn in Erfahrung bringen lässt.« »Wer ist es?« »Er heißt Sam Coyne. Ein reicher Typ. Lebt in der Stadt. Ist Anwalt in einer Kanzlei namens Ginsburg & Addams.« »Wozu soll das gut sein?« »Ich muss einfach so viel über ihn rauskriegen wie möglich.« Justin muss die Nase voll davon haben, dass ich ihm seine verrückten Wicker-Mann-Theorien nicht abkaufe, dachte Sally. Und jetzt tut er so, als ginge es um etwas anderes. »Was ist passiert? Hast du herausgefunden, dass du adoptiert worden bist, und dieser Mann ist dein wirklicher Vater oder so was?« »So was in der Art, ja«, sagte Justin. Lügner, dachte sie. »Kannst du das machen?«
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»Du bist mein Kumpel. Mein Protegé. Ich bin dazu verdammt, mich um dich zu kümmern, also werde ich sehen, was sich tun lässt.« »Danke«, sagte Justin. Barwick deutete auf die Tote, die weit detaillierter dargestellt war als Sally, Justin oder sonst einer, den Sally je im Spiel getroffen hatte. Ihre Haut wirkte fast organisch. »Was glaubst du, was für ein Mord das hier war?« Justin sah auf die Leiche und dann die Gasse hinunter. »Vielleicht wollte es mal wieder einer ausprobieren. Vielleicht auch nicht.« »Komm schon, Justin«, sagte Sally. »Was weißt du?« Justin wollte sie nicht in seine Gedanken einweihen. »Sam Coyne, Sally«, sagte er. »Sieh ihn dir bitte mal an.«
70 Mickey Fanning machte den letzten Job seiner Laufbahn in Seattle, wo er eine Ärztin, ihren Mann und deren zwei Söhne im College-Alter in die Luft sprengte, als sie zusammen zum Essen fahren wollten. Obwohl er Bomben auf seinem missionarischen Feldzug zunächst nur selten verwandt hatte, waren sie etwas, das er mit der Zeit regelrecht lieb gewann. Er brachte sich selbst alles über Sprengstoffe, Zeitzünder und Auslöser bei, was dem Ganzen eine Art Selbst-ist-der-Mann-Befriedigung verlieh, aber auch die Nachhaltigkeit einer Bombe faszinierte ihn. Ihre Wirkung trat augenblicklich ein und ließ sich nicht rückgängig machen. Pistolen und Messer produzierten Wunden, die durchaus heilbar waren. Ein Arzt konnte ein Messer und die Stelle in Augenschein nehmen, wo es ins Fleisch eingetreten war, und die Wunde vernähen. Aber eine Bombe nahm die Dinge auseinander – Leben wie Besitz –, und zwar auf eine 349
magische, geheimnisvolle Weise. Jeder verkohlte Splitter war einzigartig. Wenn man wüsste, wie man sie fragen könnte, würde einem eine Bombe womöglich erklären können, wie sich alles wieder zusammensetzen ließe, aber die Bombe – und darin lag ihre besondere Eleganz – zerstörte zuallererst sich selbst. Mickey wusste, dass seine Bombe in Seattle Unschuldige mit in den Tod reißen würde, wenn man denn Leute »unschuldig« nennen konnte, die in erlesenen Restaurants aßen, auf die teuersten Universitäten gingen und sich das alles mit dem Geld aus Klon-Geschäften bezahlen ließen. So etwas brachte ihn längst schon nicht mehr in Gewissenskonflikte. Er kämpfte für eine gerechte Sache, und dass sie die gewannen, lag zu keinem geringen Teil daran, dass er gewillt war, auch »NichtKombattanten« zu töten. Einige Umfragen besagten, dass mehr als fünfundsechzig Prozent der Amerikaner sich als Klon-Gegner betrachteten. Es gab zwar einige Unentschlossenheit, was den Einsatz von KlonTechniken für die medizinische Forschung und so weiter anging, aber in Bezug auf das reproduktive Klonen schickte die Öffentlichkeit eine klare Botschaft an den Kongress, und auch wenn die Mühlen in Washington langsam mahlten, bestand doch eine gute Chance, dass das Anti-Klon-Gesetz von Buckley-Rice im Laufe der nächsten Jahre verabschiedet würde. Mickey saß auf dem Ende des Betts in seinem Motelzimmer in Idaho und reinigte sein Gewehr. Mit diesem Gewehr, der Kiste Drähte und dem übrig gebliebenen C-2-Sprengstoff könnte er noch weit mehr leisten, aber es war Zeit, sich zur Ruhe zu setzen. Sein Rücken schmerzte von all den Meilen die er aufrecht zurückgelegt hatte. Sein Kopf schmerzte von den detailgenauen Planungen. Sein ganzes Leben lang war er den anderen drei Schritte voraus gewesen, aber er wollte nicht mehr vorausdenken. Er wollte zur Abwechslung endlich einmal in der Gegenwart leben. Endlich einmal einen sonnigen Tag genießen, ohne sich über das, was nach Einbruch der Dämmerung 350
geschehen würde, Gedanken machen zu müssen. Auto fahren, ohne auf der Flucht zu sein. Einen Garten mit richtigen Lilien, Tulpen und allem möglichen Gemüse anlegen und pflegen können. Früchte reifen sehen. So stellte er sich seinen Lebensabend vor. Eine Feier der von Gott geschenkten Schöpfung. Er reinigte sein Gewehr aus Gewohnheit. Es war mehr ein Abschiednehmen. Noch vor Sonnenaufgang würde er den Lauf in die Arrowrock-Talsperre und später am Tag den Rest der Waffe in eine Schleife des Snake Rivers werfen. Damit wäre alles zu Ende. Zurück nach Ohio ging es dann und in ein Leben voller Gebete und Meditation, in seinem Haus, das zu einer Kirche und schließlich zu einem Kloster geworden war. Wenn die Hände Gottes jemand anders an die Front schicken wollten, bis der Krieg endgültig gewonnen war, sollte es ihm recht sein. Er hatte tapfer und erfolgreich gekämpft, ein Soldat im Untergrund, zu dem keine Spur führte. In dieser Nacht betete Mickey für die Seelen, die er mit seinen Kugeln und Bomben gerettet hatte. Er trug die Verantwortung für diese Seelen und erinnerte sich an jede einzelne von ihnen, die er aus einem infizierten Körper befreit hatte. Mit Mickey als ihrem Hirten waren sie aus einem Wagen, in dem sie gesündigt hatten, in einen anderen gestiegen, der sie ihrer Rettung näher brachte.
71 Als er die Tür zum Billy-Goat öffnete, sah Justin Sallys Avatar am selben Tisch wie beim letzten Mal sitzen. Das Papier von zwei Hamburgern lag leer auf dem Tisch, und den dritten hatte sie bereits zur Hälfte gegessen. Wie sie selbst sagte: Ein Mädchen muss schließlich ab und zu etwas essen. Selbst in Shadow World. 351
Justin steuerte seinen Avatar die Treppe hinunter und setzte sich ihr gegenüber, während er gleichzeitig vorsichtig zur Tür des Computerraums hinübersah, ob vielleicht ein Lehrer eine kleine Stichprobe machte und nach Schülern suchte, die in der Mittagspause verbotene Computerspiele spielten. »Ich habe deine E-Mail gekriegt«, schrieb er. »Man sieht’s«, sagte sie. »Hast du was über Coyne herausgefunden? Ich dachte, du würdest es mir einfach mailen.« »Was für einen Spaß sollte das machen?«, sagte Barwick. »Mailen ist langweilig. Reale-Welt-Kommunikation. Ich bin eine Lebensechte, hast du das schon vergessen? So spiele ich Shadow World. Deshalb spiele ich Shadow World. Diese Welt ist für mich so real wie die andere. Wenn wir was in Shadow World verabreden, treffen wir uns in Shadow. Und reden in Shadow.« »Okay.« »Das ist eine große Sache. Du könntest Recht haben, was diesen Typen, Coyne, angeht.« »Recht womit?«, schrieb Justin. Er hatte Sally doch gar nicht erzählt, warum er an Coyne interessiert war. »Ich hab seine Statistik überprüft. Der Mann ist ein heftiger Spieler.« »Shadow World?«, tippte Justin überrascht und aufgeregt in seine Tastatur. »Ich wollte, dass du den echten Sam Coyne überprüfst!« »Was?«, fragte Sally. »Ich dachte, du hieltest ihn für einen Shadow-World-Mörder. Bei unserem letzten Gespräch – oder bei dem davor – wolltest du unbedingt hier im Spiel eine Untersuchung starten.« »Die Sache mit Coyne hat nichts damit zu tun.« »Offenbar doch.« 352
»Wie meinst du das?« »Seine Daten. Ich habe sie von TyroSoft, der Firma, die Shadow World herstellt.« »Wie hast du das geschafft?« »Die geben demografische Informationen für potenzielle Inserenten heraus. Leute, die im Spiel Werbung machen wollen. Ich habe bei der Firma angerufen und gesagt, dass ich bei der Tribune bin. Der Typ am anderen Ende muss geglaubt haben, ich wäre im Marketing.« »Du hast doch nicht Coynes Namen genannt?« »Trau mir ruhig ein bisschen Durchtriebenheit zu«, sagte sie. »Ich habe einfach nach Spielerdaten von Leuten mit einer Platinum Card von American Express gefragt, die möglichst in der Stadt wohnen. Da haben sie mir eine Datei geschickt.« »Was enthält sie?« »Wahnsinns ›NICHT JUGENDFREI‹. Jeder einzelne Spieler mit Namen, Adresse, geschätztem Einkommen. Wie viel sie spielen und wann sie online sind. Die lassen einen bestimmte Personen oder Gruppen innerhalb des Spiels direkt marketingmäßig ansprechen. Mir wird ganz anders. Da will ich fast schon aufhören zu spielen.« »Jetzt erzähl schon.« »Gut. Dieser Coyne spielt meist nachts oder am frühen Morgen. Ich habe seine Nutzungsdaten mal mit den Nächten verglichen, in denen im Spiel ermordete Frauen gefunden wurden. Und jetzt rate: Siebzehn von dreiundzwanzig Male war er online. Zu den verrücktesten Zeiten. Drei, vier Uhr morgens. Immer, wenn es dunkel war.« Justin sagte ein paar Minuten gar nichts, und sein virtuelles Ich machte vorprogrammierte Nickbewegungen, Wiederholungen, die in die Software eingearbeitet waren, damit die Charaktere
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lebendig wirkten, selbst wenn die Spieler die Steuerung nicht bedienten. Schließlich fragte Sally: »Nun, Justin?« »Ich denke nach«, schrieb Justin. »Nichts von der Info von Tyro-Soft sagt, was er gemacht hat oder wo er sich im Spiel bewegte?« »Nein. Das ist privat. Wenn dich ein anderer Spieler im Spiel nicht sieht, bist du nicht zu sehen. TyroSoft verfolgt nicht, was du tust.« »Das heißt, niemand weiß, dass wir gerade miteinander reden? Oder was wir sagen? TyroSoft verfolgt das nicht?« »Nein. Außer jemand in dieser Bar sieht oder hört uns. Und ist nahe genug, dass er alles aufnehmen …« »Also gut. Sally, ich glaube, wir sind einer großen Sache auf der Spur.« »Nämlich?« »Ich glaube, Sam Coyne könnte der Wicker-Mann sein. Im realen Leben.« Spinner!, dachte Sally sarkastisch. »Aber du sagtest doch, das Ganze hätte nichts mit dem Wicker-Mann zu tun.« Ihr Computergesicht grinste. »Hatte es auch nicht. Ehrlich, bis eben habe ich nicht mal dran gedacht, dass Sam Coyne der Wicker-Mann sein könnte. Und auch kein Shadow-World-Killer. Ich wusste ja gar nicht, dass er Shadow World spielt. Aber plötzlich passt alles zusammen. Ich wollte nur mehr über den echten Sam Coyne erfahren, weil ich zufällig weiß, dass er vor langer Zeit etwas wirklich Schreckliches getan hat. Wenn meine Theorie jedoch stimmt und der Wicker-Mann ein Lebensechter ist, dann passt alles zusammen. Ich glaube, dass Sam Coyne nie mit dem Morden aufgehört hat. Er mordet im realen Leben genauso wie in dem Spiel.«
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»Coyne kann kein Lebensechter sein«, sagte Barwick. »Dafür spielt er nicht genug. Manchmal loggt er sich wochenlang nicht ein.« »Aber es gibt doch unterschiedliche Arten von Lebensechten. Was das Ausmaß angeht«, sagte Justin. »Nur weil du praktisch jeden Tag spielen musst, heißt das doch nicht, dass das auf alle zutrifft. Das Programm ist extra dafür ausgerüstet, dein Computer-Ich auch über lange Zeiten ohne dich am Leben zu erhalten, stimmt’s? Und die Software macht da keinen Unterschied, ob du nun ein Lebensechter oder ein Fantasiespieler bist. Vielleicht benutzt er das Spiel nur dazu, Dampf abzulassen. Seine geisteskranken Bedürfnisse in was anderes zu kanalisieren als in Frauen aus Fleisch und Blut. Du weißt doch, dass ich schon mal ein Diagramm gemacht habe, das zeigt, dass die Morde in Shadow World zahlreicher werden, wenn der Wicker-Mann lange Pausen zwischen seinen Morden macht.« »Aber du hast nie eine Korrelation …« »Es war nicht ganz exakt …« »Wie kannst du dann sagen, dass es so ist?« »… aber wenn wir jetzt Daten von Morden hier im Spiel haben, für die Coyne verantwortlich sein könnte – die passierten, als er online war –, kann ich vielleicht ein genaueres Diagramm erstellen. Wenn wir den Zusammenhang herstellen könnten, hätten wir so etwas wie einen Beweis. Oder zumindest einen Ansatzpunkt für einen Artikel von dir in der Zeitung. Der echten Trib, meine ich.« »›NICHT JUGENDFREI‹, Justin. Ich weiß nicht. Es ist eine Sache, eine Person, die in einem Computerspiel Verbrechen begeht, zu überprüfen – und nicht mal da sind wir sicher –, aber es ist was total anderes, einen realen Menschen, einen erfolgreichen Anwalt, Himmel noch mal, zu beschuldigen, ein Serienmörder zu sein.« 355
»Okay. Also eins nach dem anderen. Vergessen wir den realen Sam Coyne für eine Weile. Kümmern wir uns um Shadow-SamCoyne. Machen wir’s, wie wir es schon besprochen haben. Eine Untersuchung im Spiel.« »Wie?« »Keine Ahnung. Indem wir seine Wohnung überwachen, nehme ich an. Wissen wir, wo er wohnt?« »Seine richtige Adresse habe ich.« »Wenn er ein Lebensechter ist, wohnt er da auch im Spiel.« »Und wenn er ein Fantasiespieler ist?« »Könnte es immer noch dieselbe Wohnung sein. Ich wohne im Spiel auch zu Hause.« »Du bist fünfzehn.« »Fast sechzehn. Coyne kann leicht im selben Apartment wohnen, wenn er ein Fantasiespieler ist. Und wenn er eine andere Wohnung hat, wissen wir, dass meine Theorie umso heißer ist. Hast du ein Auto?« »Nein.« »Ich meine, im Spiel.« »Ich habe weder eines in Wirklichkeit noch eines im Spiel, Justin«, sagte sie. »Das ist schlecht«, schrieb Justin. »Wir brauchen einen Wagen.«
72 »Sie sollten mit uns kommen«, sagte Justin, nachdem er den Plan erklärt hatte. »Nein«, sagte Davis. »Zunächst einmal habe ich noch nie Shadow World gespielt. Und dann sollten wir nicht zusammen 356
gesehen werden. Auch nicht in einem Computerspiel, und schon gar nicht von einer Journalistin.« »Jetzt leiden Sie aber unter Verfolgungswahn«, sagte Justin. »Himmel, die Journalistin verletzt die gerichtliche Anordnung doch genauso. Sie sollten dabei sein.« Davis fand den Vorschlag abstrus. Etwa fünfzig Meter hinter ihnen hielt ein weißer Wagen an der Stelle, wo sich zwei der Wege durch den Park kreuzten, blieb ein paar Sekunden stehen und fuhr weiter. »Vielleicht bin ich paranoid. Aber die Anordnung schließt alle Formen der Kommunikation mit ein. Ich darf dir in einem Spiel genauso wenig nahe kommen, wie mir verboten ist, mich dir im wirklichen Leben zu nähern oder mit dir zu telefonieren.« Justin ließ die Augen zwischen ihren Sitzen hin und her wandern. Davis sagte: »Du weißt, was ich meine. Computer hinterlassen Spuren. Ein Protokoll. Im Übrigen hast du mich nicht davon überzeugt, dass Sam Coyne der Wicker-Mann ist. Ich sehe keinen Grund, dass ich dieses Risiko eingehen soll.« »Deshalb will ich ihm ja folgen. Um Beweise zu bekommen«, sagte Justin. »Die realen Wicker-Mann-Morde hören auf, mehr oder weniger, wenn Sam Coyne viel Zeit im Spiel verbringt. Und in fast jeder Nacht, in der er spielt, kommt es in ShadowChicago zu einem Mord. Coyne lässt da Dampf ab. Er kann seine Triebe in der wirklichen Welt kontrollieren, indem er in der Spielwelt mordet.« »Das ist eine wilde Spekulation. Du hast selbst gesagt, dass die Korrelation zwischen den realen und den virtuellen Morden auf wackligen Beinen steht.« »Psychologie ist nie exakt, und wir wissen, dass er zu so etwas fähig ist, Dr. Moore. Er ist ein brutaler Mörder. Das wissen wir sicher. Wie wild ist die Spekulation anzunehmen, dass AK nicht die einzige Frau war, die er umgebracht hat.«
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Da hat er Recht, gestand sich Davis. »Justin, du hast alle Freiheit, dein Computerspiel so zu spielen, wie du willst. Ich sehe einfach keinen Sinn darin, Sam Coyne durch eine virtuelle Version von Chicago zu jagen. So wie du mir das alles beschreibst, tut er nichts Illegales, wenn er in Shadow World andere virtuelle Geschöpfe umbringt. Dadurch bekommen wir nichts in die Hand, womit wir zur Polizei gehen könnten.« »Sie haben schon gesagt, dass Sam Coyne nicht für den Mord an Anna Kat verurteilt werden kann, obwohl wir beide wissen, dass er es war«, sagte Justin. »Unsere einzige Chance, ihn festzunageln, ist, ihn bei einem anderen Verbrechen zu erwischen. Sally Barwick ist eine wirkliche, eine echte Journalistin. Bei der echten Chicago Tribune. Wenn ich sie überzeugen kann, dass Coyne ein Mörder ist, kann sie vielleicht eine wirkliche Untersuchung in Gang setzen.« Und er fuhr fort: »Das Spiel ist der sicherste Ort, um im Leben dieses Typen herumzuspionieren. Wenn wir dabei erwischt werden, ihn zu verfolgen, oder wir machen was falsch oder haben uns einfach geirrt, macht es nichts. Es ist nur Spaß. Aber es besteht auch die Möglichkeit, dass wir etwas herausfinden, von dem wir noch nichts wissen. Etwas, das uns weiterhilft.« Justin sah, dass er ihn nicht überzeugte. »Verstehen Sie doch, Dr. Moore. Sally geht es wie Ihnen. Sie denkt, ich treibe es zu weit, wenn ich Sam Coyne beschuldige, der Wicker-Mann zu sein. Aber sie ist auch eine leidenschaftliche Spielerin. Sie ist eine Lebensechte. Sie lebt in der einen genauso wie in der anderen Welt, und was in Shadow World passiert, ist für sie genauso wichtig wie das, was hier draußen passiert. Sie will den Shadow-World-Mörder, der um des Kicks willen mordet, genauso kriegen wie den realen Wicker-Mann. Wenn ich das dazu benutzen kann, um sie an Sam Coyne zu interessieren, wem schadet das dann?« »Ein bloßer zeitlicher Zusammenhang ist noch kein Beweis«, sagte Davis. »Es macht mir Sorgen, dass du zwei verschiedene 358
Dinge betrachtest, die dich verfolgen, und deshalb versuchst, Verbindungen zwischen ihnen herzustellen. Die Wicker-MannOpfer scheint es zufällig zu treffen. Coyne dagegen kannte Anna Kat. Wenigstens waren sie in der Schule in derselben Klasse. Sie wurde erwürgt, und viele der Wicker-Mann-Opfer wurden erstochen. Ich habe praktisch jedes Beweisstück der Ermittlungen im Mord an AK gesehen, und ich fürchte, da gibt es nicht so viele Ähnlichkeiten, wie du denkst.« Er klopfte mit den Fingern auf das Lenkrad. Der Junge würde sich nicht aufhalten lassen, egal, was er sagte. »Trotzdem. Deine Idee ist gut. Selbst wenn Coyne nicht der Wicker-Mann ist, muss er in den letzten fünfzehn Jahren etwas anderes verbrochen haben. Eine andere Frau verletzt haben. Ein Ungeheuer, das zu so einem Verbrechen fähig ist, leckt nicht Blut und hört dann einfach damit auf. Also versuch, Sally Barwick dafür zu interessieren. Vielleicht kommt ja etwas dabei heraus. Aber sei vorsichtig.« »Das werde ich.« Justin räusperte sich mit einem misstönenden Knurren. »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich mag es, dass Sie sich um mich Sorgen machen.« Das war eine weitere von vielen plumpen Andeutungen, die Justin gemacht hatte, seit er bei ihm vor der Tür gestanden hatte. Davis ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor er etwas sagte. »Hast du in letzter Zeit einmal etwas von deinem Vater gehört?« Das Schloss der Beifahrertür sprang mehrmals auf und zu. »Nein. Das muss drei Monate her sein. Er hat jetzt seine eigenen Kinder, von Denise, und die sind ihm wichtiger. Ich bin tausend Meilen weg, und er sieht mich sowieso nicht als seinen richtigen Sohn an.« »Ich bin mir sicher, das ist nicht wahr.« »Er hat es mir praktisch ins Gesicht gesagt. Und ich weiß, dass er es Mom hinter meinem Rücken vorgeworfen hat. Nicht, dass 359
sie ihn verpetzt hätte. Es stimmt schon. Dad hat Recht. Er hat nichts damit zu tun, dass ich geboren wurde. Ich glaube nicht mal, dass er wirklich ein Kind wollte. Verstehen Sie das jetzt nicht falsch, aber Sie sind näher dran, mein Vater zu sein, als er. Sie sind der, der mich gemacht hat.« Davis biss die Zähne zusammen und atmete pfeifend ein. »Nein, Justin. Ich meine, dabei ist mir nicht wohl zumute …« Grübelnd trat Justin nach den Tragriemen seines Rucksacks. »Okay. Aber so ist es, ob Ihnen dabei wohl zumute ist oder nicht. Denken Sie, ich bin Ihnen deswegen böse? Scheiße, nein. Ohne Sie gäbe es mich nicht. Das ist cool. Ich meine, wen sonst hätte ich als Vaterfigur? Sam Coyne?« Er lachte traurig, so wie Leute über makabre Witze lachten. »Das ist mal ein irres Elternpaar, oder? Ein rachekranker Arzt und ein kaltblütiger Mörder.« Davis wollte ihm widersprechen, genauso wie er versucht war, ihn wegen seines Fluchens zurechtzuweisen. »Wir sehen uns nächste Woche wieder«, sagte Justin. »Genau hier. Hoffentlich haben Sally und ich bis dahin etwas herausgefunden.« Er öffnete die Tür und stieg wie benommen aus. Im Rückspiegel sah Davis, wie Justin im Park verschwand, das Summen seines Elektrorads verklang zwischen den Schneeverwehungen, bis es sich nur noch anhörte wie ein Rasierapparat, der über einen spärlichen Bart strich. Er drehte das Fenster herunter und hörte in der vogellosen Stille ein paar Mädchen und Jungen auf dem knirschenden Schnee Fußball spielen. Von irgendwoher roch es nach Wintergrillen mit Bratwurst, Burgern und Gemüsespießen. Er war nicht der Vater dieses Jungen. Das war praktisch Paragraf eins des KlonarztEides, oder wäre es, wenn es so etwas gäbe. Bei jedem Seminar, auf dem er gewesen war, hatte es einen Vortrag zu diesem Thema gegeben. »Dieser Job wird Sie sich ein wenig wie Gott 360
fühlen lassen«, hatte er noch die Stimme eines Professors im Ohr. »Glauben Sie das nicht eine Sekunde. Wir helfen ein wenig nach, damit die Menschen ein erfüllteres und glücklicheres Leben führen können, aber wir erzeugen kein neues Leben. Es liegt in der Natur des Lebens, sich fortzupflanzen, und Klonen ist ein weiterer evolutionärer Schritt in der Geschichte der menschlichen Fortpflanzung. Wir sind lediglich Werkzeuge.« Davis hatte bewiesen, dass das eine Lüge war. Der physische Prozess, der Justin auf die Welt gebracht hatte, war der gleiche wie bei jedem anderen Klon. Aber der Schöpfungsakt hatte in dem Augenblick stattgefunden, als er, Davis Moore, Sam Coynes DNA in der Hand hielt und den Tausch beschloss. Justin war nicht in einem Labor gezeugt, sondern in Davis’ Kopf entstanden. Er existierte, weil Davis es gewollt hatte, und auf was für ein Wesen wies das hin, wenn nicht auf einen Gott? Er fühlte sich nicht wie Gott, und auch wenn er es täte, welche Verpflichtung hat Gott seinen Geschöpfen gegenüber? Ist er ihnen überhaupt verpflichtet? Auf jeden Fall verhält er sich nicht immer so. Auf die eine oder andere Weise war er Justin tatsächlich besonders verpflichtet, und es war in etwa so, als wäre er ein Vater für ihn, wenn auch nicht wörtlich. Anna Kat gegenüber hatte er sicher auch eine Verpflichtung, aber er ließ sie im Stich. Wieder. Abends saß er meist unten in seinem blauen Zimmer zwischen seinen alten Familiendaten und achtzehn Jahre alten Beweisstücken, saß schweigend da und tat nichts. Tat so, als ob. Als wäre das bloße Sitzen auf dem Stuhl, wo er einst von AKs Ermordung besessen gewesen war, gleichbedeutend mit dem Zur-Strecke-Bringen ihres Mörders. Es erinnerte ihn daran, wie Jackie einst gebetet hatte: mit unbeteiligt geflüsterten, einstudierten Worten, als trügen sie eine Bedeutung, ob sie nun daran glaubte oder nicht. Selbst wenn Justin nur seine eigenen Dämonen jagte, tat der Junge doch mehr, um Anna Kats Mörder zu fassen, als er. Mein Gott, warum wird ein Fünfzehnjähriger von Dämonen getrieben?, 361
dachte Davis und spürte, wie er die Schuld in seinem Magen wie ein Virus ausbrütete. Er lehnte sich gegen die Kopfstütze, hörte von ringsum sorglose Stimmen und dachte an Selbstmord, dachte daran, wie Männer an einsamen Straßen parkten und sich ein Schlauch vom Auspuff durch das Fenster wand, der Rest des Spalts mit einem dicken Handtuch verstopft. Eine Minute lang versuchte er, an nichts anderes zu denken, hielt die Augen geschlossen und stellte sich vor, wie es sein musste, wenn der Überlebensinstinkt des so völlig Verzweifelten in den letzten Momenten der Verlockung ewiger Ruhe nachgab. So meditierte er manchmal, nicht oft, wenn er allein war. Im Auto war es immer der Schlauch, im Bad eine Rasierklinge. Im blauen Zimmer eine Pistole. Nur seine letzten Worte waren immer die gleichen. »Es tut mir Leid, Jackie«, flüsterte er. »Es tut mir so gottverdammt Leid.«
73 Die Hintertür öffnete und schloss sich. Martha hörte ein Paar Stiefel auf dem Küchenboden und spürte, wie sich ihr heranwachsender Sohn durch das Haus bewegte und dabei die Luft vor sich verdrängte. Stufe um Stufe stieg er, auf Socken jetzt, die Treppe hinauf, und jeder Schritt kam ihr wie eine Lüge vor. Das hatte sie während ihrer Scheidung gelernt: Wenn dich ein Mensch, den du liebst, anlügt, ist jede einzelne Bewegung, jedes einzelne Wort eine Lüge, bis er gesteht. Selbst eine vordergründig wahre Aussage wie: »Ich hätte gern Rosinen in den Cornflakes«, ist eine Lüge, denn sie nimmt den Platz der Wahrheit ein. Kleine Wahrheiten, zwischen die Lügen gestreut, sind nur Teil der Vertuschung.
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All die Jahre danach erinnerte sich Martha noch genau an ihr Leben mit Terry, als er es längst mit seiner gepriesenen Fünfundsiebzigtausend-Dollar-im-Jahr-Sekretärin trieb. Sie hegte den Verdacht, dass er sie betrog, wusste es aus dem Bauch heraus. Sally Barwick hatte sie ebenfalls angelogen, und doch war es für sie auch eine glückliche Zeit gewesen. Ein so großer Teil ihres Lebens war die reine Fiktion gewesen, und doch erinnerte sie sich gern daran, wie an einen Lieblingsroman. Leider gab es diese Art Glück für sie nicht mehr. Sie war weiser geworden, reifer, und jetzt war es ihr Sohn, der sie anlog. Da lag der Unterschied, wie sie annahm. Und sie misstraute Davis Moore. Hasste ihn sogar, was die gegenwärtige Situation vollends unerträglich machte. Als ihr Mann seine Affäre mit Denise Keene anfing, wusste Martha nicht mal, dass es die kleine Schlampe gab. Dr. Moore dagegen verhöhnte sie durch Nachrichten in den Jeans ihres Sohnes. Als ihr Halb-drei-Termin für den Nachmittag absagte, dachte Martha daran, Sara zu fragen, ob sie nicht heute schon kommen könne. Sie hasste ihr zu langes Haar und hatte bereits selbst etliche unbeholfene Korrekturversuche unternommen. Als sie Saras Nummer schon halb gewählt hatte, änderte sie jedoch ihre Meinung und entschloss sich, ihrem Sohn von der Schule nach Hause zu folgen. Ein langer Radweg führte von der überdachten Aufladestation am Sportplatz vorbei und durch das schmale Tor im Maschendrahtzaun, der den gesamten Schulkomplex umgab. Martha parkte ihren cremefarbenen Saab ein Stück die Straße hinunter und beobachtete, wie hundert oder mehr Kinder hinaus auf den Bürgersteig der Copes Street traten oder fuhren. Ihr Sohn kam als Letzter, in seine Jacke gepackt, der Rucksack auf seinem Rücken riesig wie der eines Sherpas. Vor ein paar Wochen, als richtig Schnee lag, war er zu Fuß gegangen oder hatte den Bus genommen. Sie widerstand dem Impuls, gleich hinter ihm herzufahren, und folgte ihm stattdessen mit dem 363
Blick. Wenn er nach Hause fuhr, würde er rechts in die Delaware biegen. Als er es nicht tat, fragte sie sich, ob er vielleicht zu einem Freund wollte, aber warum fuhren die beiden dann nicht zusammen? Ihr langsames Hinter-ihm-Herfahren war lächerlich, das wusste sie. Mehrmals fuhr sie rechts ran und tat so, als hätte sie sich verfahren oder suchte etwas unter dem Sitz, damit ihr wütender Hintermann sie überholen konnte. Drei Wagen hinter ihm auf der Abbiegespur an einer Ampel fürchtete sie schon, er hätte sie entdeckt. Er fuhr links, beschleunigte durch die schmale Lücke neben einem entgegenkommenden Wagen, und als sie über die Kreuzung kam, war er weg. Links und rechts von der Straße standen keine Häuser mehr, sondern dicke uralte Bäume, und sie fragte sich, wohin er gefahren sein konnte. Weiter in dieser Richtung gab es kaum etwas, nur ein paar Bürokomplexe und Schnellimbisse. Sie wurde sich immer sicherer, dass Justin unterwegs zu einem Treffen mit Davis Moore war, aber wenn sie sein Rad nirgendwo fand, hatte sie ihn verloren. Als sie bereits einen halben Kilometer an dem rotweißen Schild am Eingang zum Naturschutzpark vorbei war, begriff sie. Er war in den Park gefahren. Obwohl sie sich normalerweise an die Verkehrsregeln hielt, wendete sie auf offener Straße und bog auf den Weg, der sich durch den Park wand. An einem Donnerstag im Winter war hier kaum jemand anzutreffen, allerdings nutzten die Schüler der High School das Gelände das ganze Jahr über – um zu rauchen, zu trinken, zu knutschen oder sich, was sie nicht hoffte, heimlich mit einem unheimlichen Arzt zu treffen, der ihnen früher einmal nachgestellt hatte. Martha hielt an. Was, wenn Justin sich mit Davis Moore traf? Was, wenn er zum Rauchen, Trinken und Knutschen hier war? Wie peinlich es für sie wäre, wenn er entdeckte, dass sie seinen 364
ganz normalen Teenager-Sünden hinterherspionierte. Ihr wurde schlecht, wenn sie an Dr. Moore und seine Experimente dachte (oder Studien oder wie immer er es genannt hatte). Aber dann fuhr sie weiter. Niemand hatte behauptet, dass es nicht auch manchmal peinlich werden würde, eine Mutter zu sein. Der schwarze Van parkte ein Stück eine Sackgasse hinunter. Martha hätte ihn übersehen können, aber es war kalt und dämmerte bereits, und Moore hatte ohne Zweifel den Motor angelassen, damit die Heizung weiter funktionierte. Vor dem dunkler werdenden Horizont konnte sie die aufwirbelnden Abgasschwaden sehen, das rote Glühen seiner Rücklichter und daneben im kalten, platt gedrückten Gras Justins silbernes Elektrorad. Auf dem Kopf des älteren Mannes hinter dem Steuer waren breite weiße Strähnen zu erkennen. Justin saß neben ihm und sah ihn an. Sein Profil zeichnete sich als Silhouette ab. Wenn sie ihren Wagen quer auf den Weg stellte, war ihnen die Ausfahrt versperrt, aber was brächte es, wenn sie ihnen gegenübertrat? Wie Justin reagieren würde, konnte sie immer noch nicht sagen, und obwohl es ihr Genugtuung bereitet hätte, den immer prominenter werdenden Davis Moore zu überraschen, den Liebling sämtlicher liberaler Fernsehprogramme vor Gericht zu bringen, wo er sich erklären und sein Lügengesicht in die Nachrichtenkameras würde halten müssen, wusste sie, dass sie nicht einfach an die Wagentür klopfen und die beiden zur Rede stellen konnte. Als ihr Ehemann sie verließ, hatte sie etwas tun können. Hatte einen Anwalt. Hatte Einfluss auf die Scheidung. Im Gegensatz dazu war sie als Mutter hilflos. Ein Teenager kann seine Mutter verlassen, ohne zu Hause auszuziehen. Sie nahm den Fuß von der Bremse und fuhr weiter, zurück nach Hause, um auf ihren Sohn zu warten.
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74 Er verschloss seine Zimmertür, legte die Kette vor und sah gedankenschwer auf die weiß gestrichene Wandverkleidung. Genervt ließ Justin ein Stöhnen in seiner Kehle ersterben. Erwachsene. Die sorgen sich ständig. Natürlich hatten sie genug Grund dazu, aber er nahm ihnen doch alles ab. Verstanden sie nicht, warum er hergeschickt worden war? Oder war er gebracht worden? Geschickt oder gebracht, er war sich nicht sicher, aber es machte keinen großen Unterschied. Seine Verantwortung blieb dieselbe: nachzudenken, sich zu kümmern – etwas zu tun. Dr. Moore war völlig durcheinander. Der arme Kerl hatte sein Leben offenbar gerade wieder in den Griff gekriegt, als Justin an seine Tür klopfte. Aber was hatte er erwartet? Diese Dinge waren vor langer Zeit entschieden worden. Vor sehr langer Zeit. Nichts wird entschieden, wenn es passiert. Seine Mutter tat ihm Leid. Es würde schwer für sie werden, wenn alles ans Licht kam. Sie hatte nichts getan, um den Schmerz zu verdienen. Sie hatte nur einen Sohn gewollt, wahrscheinlich einen ohne ein derartiges Schicksal, aber sie hatte sich nicht aussuchen können, wen sie bekam. Justin setzte sich aufs Bett und suchte mit der Hand in seinem Rucksack nach dem Beutel aus Lederimitat. Läden benutzten solche Beutel, um Bargeld zur Bank zu bringen, und hippe Teenager für Schreibzeug, Schulmaterialien, Allergiemittel, Computer-Discs und PDAs. Und Kram. Seine Mutter war heute im Park gewesen. Er hatte ihren Wagen im Rückspiegel gesehen. Sie wusste, dass er sich mit Dr. Moore traf. Das war ein Problem. Kein entscheidendes, aber eine zusätzliche Herausforderung. Wo die Herausforderungen herkamen, war ihm auch schon egal.
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Justin öffnete den Beutel und schüttete den Inhalt aufs Bett. Milchig trübe Kristalle kullerten aus einer Plastiktüte. Ein Feuerzeug, ein Löffel. Er schaltete das Radio ein, und nachdem er die Spritze aufgezogen hatte, injizierte er ihren Inhalt in einen Schwamm und steckte den Schwamm in eine andere Plastiktüte, die er später verschwinden lassen würde. Nach der Woche, während der er dieses Ritual regelmäßig abends durchgeführt hatte, sahen Tüte, Spritze und Löffel mit den schwarzweißen Rückständen alle gut gebraucht aus. Er schob eine Kappe über die Nadel, steckte alles bis auf den Löffel zurück in den Beutel und versteckte ihn hinter den Büchern auf seinem kleinen Nachttischregal.
75 Wieder ein Abend allein im blauen Zimmer. Joan war oben und las ein Buch. Sie hatte Davis gegenüber die Bemerkung fallen lassen, dass sie trotz ihres harten Arbeitstages in der Praxis im Moment drei dicke Romane pro Woche lese und so oft in die Bibliothek müsse wie in den Supermarkt. Er begriff, worauf sie hinauswollte, tat aber so, als würde er nicht verstehen. Davis wusste, dass es noch viele Unterlagen gab, die er sich nie genau angesehen hatte. Trotz seines damaligen Engagements hatte er eine Art Auswahl getroffen und sich die informationsträchtigsten herausgesucht und diesen zuerst und wiederholt Beachtung geschenkt. Er musste daran denken, wie er Monate nach AKs Tod den Karton von der Polizeiwache abgeholt hatte. Jackie war im Schlafzimmer, mit einem Cocktailglas und einem Buch, und er schaffte den Karton nach unten und stellte ihn auf den Tisch im blauen Zimmer. Nacheinander holte er die Protokolle und Berichte hervor, die Zeugenaussagen von Anna Kats Freundinnen und Freunden. Nachdem er ein paar von den 367
dreißig oder mehr Aussagen gelesen hatte, wusste er, dass es zu schmerzvoll sein würde, alle zu lesen. Wie die Detectives gesagt hatten, schien keiner ihrer Schulkameraden etwas über den Mordabend zu wissen. Stattdessen füllten sie die Notizbücher der Ermittler mit tränenreichen Elogen und Geschichten, wie sehr sie Anna Kat geliebt hätten. Was für eine gute Freundin sie gewesen sei. Was für eine tolle Zukunft sie vor sich gehabt habe. Wie traurig und verändert ihr Leben ohne sie sein werde. Wenn er diese Hefter jetzt noch einmal durchging, fand er vielleicht etwas über Sam Coyne. Vielleicht konnte ihm jemand helfen, die Verbindung zwischen dem Mörder und seiner Tochter aufzudecken. Er griff nach einer beliebigen Aussage. Janis Metz. Der Name kam ihm fremd vor. Den Ermittlern gegenüber behauptete Janis, seit der achten Klasse mit Anna Kat befreundet gewesen zu sein. Seit einem Jahr jedoch seien sie sich nicht mehr ganz so nahe. »Wir waren immer noch befreundet«, sagte Janis. »Wir waren nur irgendwie in unterschiedliche Kreise geraten.« Janis wusste viele Geschichten über AK, und als er ihre Aussage durchging, war klar, dass ihr Redeeifer die Geduld des befragenden Detectives überstrapazierte. Mehrmals legte er ihr nahe, sich kurz zu fassen, und schon fiel Janis eine neue Geschichte zu Anna Kats Gutherzigkeit ein. »Ihr war es egal, zu welcher Clique du gehörtest oder wie cool du warst. Sie mochte alle.« Davis spürte ein Zwicken in der Nase, das Vorspiel zu einer Träne. Er empfand Stolz, Liebe – und auch Verlust, aber in beherrschbaren Rationen. Er überflog schnell auch noch den Rest des Protokolls, ob er irgendwo den Namen Sam Coyne sah. Als er ihn nicht fand, griff er nach einer anderen Mappe. Bill Hilkevitch. Davis erinnerte sich an ihn. Er war einer von AKs »Nur-Freunden«, die zu unterscheiden waren von den, na ja, Freunden mit denen sie »ging«. Er hatte Bill gemocht. Klug. Ehrlich. Höflich. Bill hatte eine kurze Rede bei Annas Begräbnis gehalten, eloquent, bis er abbrechen musste, weil er die Tränen 368
nicht länger zurückhalten konnte, was auf seine Art ebenfalls eine klare Aussage war. »Anna Kat hatte es bei einigen in der Schule manchmal wegen ihres Vaters nicht leicht«, sagte Bill dem Sergeant. »Ich will damit nicht sagen, dass die sie umgebracht haben, wissen Sie, damit hatte das nichts zu tun, und im Übrigen wurde das auch echt weniger, nachdem jemand auf ihren Vater geschossen hatte, aber da war es immer noch. Ich weiß noch, ich glaube, es war in der Zehnten, da haben wir im Englischunterricht Frankenstein gelesen, und jemand nahm ihr das Buch weg und schrieb was auf die Titelseite. Der volle Titel des Buches ist Frankenstein oder Der neue Prometheus. Der Typ hatte Der neue Prometheus durchgestrichen und darunter Davis Moore, MD, geschrieben.« An dieser Stelle fragte der Detective, wer von den Schülern das gewesen sei. »Steven Church. Monate später stand Steven bei einem gemischten Softballspiel an der ersten Base, und AK schlug einen Aufsetzer zu kurz. Sie war zwei Schritte zu spät dran, aber als sie an der ersten Base vorbeikam, riss sie sich den Helm runter, wirbelte ihn durch die Luft und – rums! – traf ihn damit hinten am Kopf. Steven fiel mit dem Gesicht auf den Boden, und AK tat so, als wäre es ein Versehen gewesen – das tut mir so Leid, so Leid –, aber einige von uns wussten Bescheid. Sie selbst hat nie was dazu gesagt, und Steven ließ sie von da an in Ruhe. Sie hat ihren Dad immer schwer in Schutz genommen.« Davis lächelte zum zigsten Mal bei dem Gedanken, dass AK es gewesen war, die sich um ihn gekümmert hatte, und nicht umgekehrt. Wenn man überlegte, wie hilflos er sich bei der Suche nach ihrem Mörder angestellt hatte, war das zweifellos wahr. Wo hatte er den Namen schon einmal gehört? Steven Church? Es hatte mal eine Natalie Church gegeben, ein fieses Weib, die bei ein paar Protesten vor seiner Praxis dabei gewesen war und 369
seinen Patienten abgedroschene Sprüche entgegenschleuderte. (»Wir wollen ihn nicht, diesen Dreck, genetische Forschung, die muss weg!«) Steven war wahrscheinlich ihr Sohn. Hätte Davis damals nicht aufgehört, in diesen Akten zu lesen, hätte er Church sicher zu den potenziellen Verdächtigen gezählt. Die Polizei hatte offenbar denselben Gedanken, denn jemand hatte noch vor dem Fotokopieren mit Kuli auf die letzte Seite des Protokolls geschrieben: »Alibi von Church überprüft. War mit seinen Eltern in Saint Pete.« Wenigstens etwas hat die Polizei getan, dachte Davis. Er legte Bills Aussage zurück und griff nach einer anderen. Libby Carlisle. Libby kannte er gut. Sie hatte zusammen mit Anna Kat in der Volleyballmannschaft gespielt und Dutzend Male bei ihnen im Haus in der Stone Avenue übernachtet. Nachts konnte er die beiden kichern hören, manchmal flüsterten sie auch ins Telefon und waren Teil eines ganzen Netzwerks von Verschwörern, die bei anderen übernachteten. Das nächtliche Hin und Her zwischen AK und Libby konnte auch lauter werden, aber Jackie wachte normalerweise nicht davon auf. Die Kombination von Antidepressiva und Alkohol war schalldicht. Im Dunkeln liegend, hatte Davis sich damals gefragt, ob er als verantwortungsbewusster Vater aufstehen, an die Tür klopfen und die beiden zur Ruhe bringen sollte. Sie ins Bett schicken sollte. Er tat es nie. Stattdessen lauschte er. Zwar waren die Mädchen zu weit entfernt, und er konnte den Inhalt ihrer Gespräche nicht verstehen, aber der glückliche Ton in der Stimme seiner Tochter reichte ihm völlig aus. Libbys Aussage war lang. Davis blätterte die Seiten durch und fing hinten an. Weil er Libby kannte und sie ohne Zweifel in etliche von Anna Kats Geheimnissen eingeweiht gewesen war, hatte er das Gefühl, eine Art Vertrauensbruch zu begehen, wenn er das alles zu sorgfältig las. Aber Libbys enges Verhältnis zu AK ließ ihre Aussage wichtig werden. Wenn AK etwas mit Sam Coyne zu tun gehabt hatte, wusste Libby sicher davon. 370
Beim ersten Durchgang übersah er den Namen jedoch, vielleicht weil er nach »Coyne« suchte, dem großen C und der Unterlänge vom y. Beim zweiten Mal blätterte er den Hefter bedächtiger durch. Libby sagte: »AK und ich waren am Montag in der Mall. Dienstagabend war sie zu Hause bei ihrer Mom. Mittwoch sind wir mit Dennis, Sam und dem Freund von Dennis, der auf die Madison geht, mit dem Zug in die Stadt gefahren.« Da war er. Die einzige Nennung in der über hundert Seiten langen Aussage. Konnte das Sam Coyne sein? Er musste es sein. Hatten vor fünfunddreißig Jahren viele Eltern ihr Kind Samuel genannt? Davis wusste es nicht mehr. Es war sein Geschäft gewesen, kleine Jungen auf die Welt zu bringen, und doch wusste er nicht mehr, wie viele davon damals Sam genannt worden waren. Der Detective, der Libby befragte, hatte nicht nach dem Nachnamen gefragt. Sam – und wie weiter} Herrgott noch mal, Libby hatte ihnen den Namen des Mörders genannt, und der Bulle hatte nicht mal genug Grips, nach dem Nachnamen zu fragen. Was sollte das denn für eine Ermittlung sein? Eine reine Pfuscherei, aber das wusste er bereits. Davis warf den Rest der Aussagen in den Aktenschrank und ging hinauf in AKs altes Zimmer. Jahrelang war es fast so geblieben, wie Anna Kat es zurückgelassen hatte, nicht nur aus emotionalen Gründen, sondern auch, weil Davis keinen ganzen Tag dafür opfern wollte, alles auszuräumen. Jackie hatte manchmal auf Anna Kats Bett gesessen und auf ihre Weise getrauert. Joan hatte nach der Heirat ein Gästezimmer daraus gemacht. Sie hatten nie darüber gesprochen. Joan tat es, und er hatte nichts dagegen gesagt. Einige von AKs Sachen waren noch da. Auf dem Bücherregal standen vier Jahrbücher, einschließlich des Exemplars, das ihre Mitschüler kurz nach ihrem Tod noch gebracht hatten. Die Ränder sämtlicher Seiten waren voller zorniger Lobreden und melodramatischer Abschiedsworte von jungen Menschen, die 371
zum ersten Mal mit dem Tod von jemandem aus ihrer Mitte konfrontiert gewesen waren. Es gab etliche Liedtexte, Blumenzeichnungen und sogar Porträts von Anna Kat, einige davon waren gar nicht schlecht. Davis legte das Buch flach aufs Bett, kniete sich davor und nahm die Abschlussklasse Reihe für Reihe in Augenschein. Sam Coyne war leicht zu finden. Er sah gut aus, wirkte selbstgefällig und trug eine Krawatte mit einem Katzen-Cartoon. Er sah aus wie Justin. Genau wie Justin, nur mit einem Kurzhaarschnitt. Ein Schauder durchlief Davis. Das war das letzte Gesicht, das sein Baby lebend gesehen hatte. Es war Justins Gesicht. Coyne war der Einzige in der Klasse, der Sam hieß. Dennis hießen drei. Eine Klasse tiefer entdeckte Davis noch vier Dennisse und einen weiteren Sam. Aber er hatte noch nicht an die Mädchen gedacht. Laut Liste gab es sechs Samanthas, drei von ihnen in der Abschlussklasse. Als er ihre Bilder betrachtete, kamen ihm ein paar bekannt vor. Abwesend las er die Eintragungen durch, die von sentimental (Abschiednehmen tut weh) bis grausam reichten (Hab noch einen schönen Sommer!). Wie seltsam Freundschaften in dem Alter sind, dachte Davis. So intensiv. Jeder Freund, jede Freundin kommt einem so nahe wie ein Liebhaber. Jede kleine Verfehlung wird zum Betrug. Der Verlust einer Freundin ist undenkbar. Die letzten beiden Seiten, die beim Druck leer geblieben waren, sahen aus wie ein schwarzblauer Quilt aus unregelmäßigen Wortblöcken. Davis drehte das Jahrbuch in alle Richtungen und las die Mitteilungen auch weniger bekannter Mitglieder der Abschlussklasse von Northwood East. Eine davon, geschrieben wie ein Gedicht oder ein Liedtext, ließ das Buch in seinen Händen gefrieren: Niemand kann dir mehr wehtun Was immer sie sagen. 372
Über den Tod hinaus fühlst du die Wut Aber Spaß hat’s trotzdem gemacht. Sam. Er las es wieder. Und noch ein drittes Mal. Ein Geständnis. Vielleicht. Die Schrift war genau und ganz eindeutig die eines Jungen – keine junge Samantha hätte solch klare, selbstsichere Druckbuchstaben verwandt. Die Worte waren nicht schnell hingeschrieben worden, sondern klar abgeschrieben. Der Platz sorgfältig ausgenutzt. Die Striche wirkten fast wie in die Seite geschnitzt. Über den Tod hinaus fühlst du die Wut/Aber Spaß hat’s trotzdem gemacht. Die Worte bohrten sich in sein Herz und füllten es mit abgrundtiefer Wut. Er versuchte, ihr immer noch wehzutun und sich an ihrem Schmerz zu weiden. Lachte. Verspottete sie. Und vermisste sie nur, weil er sie noch weiterquälen wollte. Ich bringe dich unter die Erde, Coyne, dachte er und strich mit den Fingern über die erhabenen Buchstaben auf dem Deckel: ANNA KAT MOORE. Ich war so lange ohne Kind, dass ich vergessen habe, ein Vater zu sein. Ich bin bequem geworden. Ich habe dich aus dem Blick verloren. Fast hätte ich vergessen, was er dir angetan hat. Vergessen, dass du, Coyne, nicht das letzte Wort haben darfst. Davis dachte: Ich werde dir ihren Zorn zeigen.
76 »Hast du irgendeinen Führerschein?«, fragte Barwick. »Nein.« 373
»Gott.« »Ganz ruhig«, sagte Justin in sein Headset. »Das ist wie bei einem Videospiel. Und schließlich sind wir ja auch in einem. Vergessen?« »DU siehst es vielleicht als Spiel an«, sagte Sally. »Für mich ist das alles echt. Ich riskiere hier mein Leben.« »Wir werden schon nicht sterben.« »Wir jagen einen Serienkiller!« »Glaubst du jetzt also auch, dass er einer ist?« »Das habe ich nicht gesagt. Du weißt schon, wie ich es meine.« Der blaue Camry gehörte Justins Mutter. Im Gegensatz zur wirklichen Martha hatte es seine Shadow-Mom nicht zu einem Saab gebracht, und der digitale Camry ließ sein Alter in ausgefransten Fußmatten und einem abgegriffenen Lenkrad erkennen. Zum vierten Mal in dieser Woche hatte sich Justin mit dem Wagen davongemacht, Sally abgeholt und dann gegenüber von der Tiefgarage von Sam Coynes Apartmentblock geparkt. Tatsächlich saßen sie natürlich beide in ihren Schlafanzügen zu Hause. »Ich bin beim Ultrathon Grand Prix schon über zweihundertfünfzigtausend Punkte gekommen«, sagte Justin. »Ich bin ein guter Fahrer.« »Vielleicht wäre es besser, wenn du heute Abend dein GrandPrix-Spiel spieltest«, sagte Sally. »Ich glaube nicht, dass er rauskommt.« »Früher oder später muss er.« Der letzte Mord des Wicker-Manns lag zehn Wochen zurück. Nach Justins Theorie (dargestellt auf seinem neuen Diagramm) musste es bald zu einem neuen Mord kommen, entweder im Spiel oder in der Wirklichkeit, draußen in den Straßen des realen 374
Chicago. Coyne musste mittlerweile unter gewaltigem Druck stehen, und sie hofften beide, dass er seine Aggression im Spiel abbaute und nicht in der Realität. Hoffentlich heute Nacht. Sally war es leid. Das hieß nicht, dass sie nicht gern mit Justin zusammen gewesen wäre. Er war der einzige Mann in ihrem Leben. Er hatte mehr Bücher gelesen als viele Erwachsene, und vor allem verstand er sie besser. Er konnte diskutieren, ohne persönlich zu werden, war kein Intellektueller, wusste aber über Filme, Musik, Fernsehen und besonders über Sallys Hauptinteresse Bescheid: das Leben in Shadow World. Wäre er nicht so jung, würde sie ohne Zweifel etwas mit ihm anfangen. Angesichts all der Zeit, die sie zusammen verbrachten, im Spiel und in Sallys Träumen, tat irgendeine Version von ihr das schon. »Es sei denn, er tut’s nicht«, sagte Barwick. »Muss nicht, meine ich. Irgendwann müssen wir unsere Theorie aufgeben, Justin. Ich will’s zwar nicht, aber nach diesen langen Nächten habe ich Schwierigkeiten, bei der Arbeit die Augen offen zu halten. Meinen beiden Ichs geht das so.« Die Uhren des Computers und des Armaturenbretts zeigten beide null Uhr dreißig an. »Und ich muss zur Schule«, sagte Justin, als wäre die Überwachung ihre Idee gewesen. Sally dachte daran, wie sie mit fünfzehn geglaubt hatte, dass die High School weit schwerer und langweiliger sei als jeder Job später. »Pass auf!«, sagte sie. »Da!« Die Garage lag praktisch im Untergrund, eine Sackgasse in dem Gewirr der Adern unter dem Stadtzentrum, das allgemein als »Lower Chicago« bekannt war. Nachts sah man hier unten genauso gut wie auf den Straßen oben, die dieselben Namen trugen. Ein schwarzer BMW glänzte im Neonlicht, als er unter der gewellten Metalltür der Tiefgarage hindurchfuhr und in die Straße einbog. Justin überprüfte das Nummernschild. 375
»Das ist er!«, sagte er, und in einem kleinen Fenster auf dem Bildschirm, das die Szene aus dem Blickwinkel einer dritten Person zeigte, sah Barwick, wie ihr virtuelles Ich in den Sitz gepresst wurde, als Justin aufs Gas trat. Mit ungefähr einem Dutzend Wagenlängen Abstand folgten sie Coynes Rücklichtern den Wacker Drive hinauf zur Oberfläche und fuhren dann westlich über die Madison ins alte Schlachthofviertel. Schlachthöfe gab es dort nicht mehr, nur noch Galerien, Nightclubs und Eigentumswohnungen, und in der Lake Street den einen oder anderen Laden mit Restaurantbedarf, der gleichsam aus zweiter Hand an die alten Zeiten erinnerte. Barwicks Wohnung lag nur ein paar Straßen nordwestlich. »Ich glaube, ich weiß, wohin er will«, sagte Sally. »Bleib aber trotzdem an ihm dran.« Coyne parkte seinen BMW in der Aberdeen, und Justin trat auf die Bremse und setzte zurück zu einer Lücke, die eine Querstraße davor lag. Coyne stieg aus. Seine Lichter blinkten auf, als er den Wagen mit der Fernbedienung verschloss. »Scheiße!«, sagte Justin. »Was?« »Ich weiß nicht, wie man rückwärts einparkt.« Die echte Sally Barwick vor dem Computer in ihrem Schlafzimmer musste lachen. »Lass dir Zeit«, sagte sie. »Nein! Wir verlieren ihn!«, sagte Justin. »Du wartest hier, und ich laufe ihm hinterher.« Sally fasste ihn am Arm, bevor er noch seinen Gurt lösen konnte. »Da kommst du nie rein.« »Was soll das heißen? Wo will er hin?« »Ins Jungle«, sagte Barwick. Bei der Eröffnung vor sechs Monaten war das Jungle in der Lokalpresse mit Schlagzeilen gefeiert worden, die es halb in den 376
Himmel hoben und sich gleichzeitig darüber lustig machten: Neuer Fleischmarkt im alten Schlachthofviertel. Tatsächlich war es Sally gewesen, die den Artikel bei einem ihrer seltenen Ausflüge in ein anderes Ressort für beide Zeitungen geschrieben hatte, die reale und die virtuelle Tribune. Der Nightclub verdankte seinen Namen Upton Sinclairs Buch, in dem er die einst unglaublichen Praktiken in Chicagos Schlachthöfen beschrieb. Die moderne Inkarnation des Jungle bestand jedoch zu hundert Prozent aus Hightech-Glamour. Drei Etagen, sechs Tanzflächen und neun zusammen mehr als hundert Meter lange Theken machten das Jungle zu einem der heißesten Läden, zum Tanzen, Aufreißen oder Heraushängenlassen seiner Berühmtheit, im echten wie virtuellen Chicago. »Ich gehe für einundzwanzig durch«, protestierte Justin. »Im Spiel sowieso.« »Das ist nicht das Problem«, sagte Sally. »Was dann?« »Du siehst aus, als wolltest du zum Softball«, sagte sie und griff nach seinem T-Shirt und den weiten Shorts. »Clubs wie das Jungle haben eine strenge Kleiderordnung. Warum glaubst du, ziehe ich schon die ganze Woche zu unseren Überwachungen so enge Kleider an?« Das wäre eigentlich ein gutes Stichwort für eine freche Bemerkung gewesen, aber als Justin nichts sagte, wurde Sally ein weiteres Mal daran erinnert, dass er noch ein Kind war. »Du bleibst hier. Ich sehe mal nach.« Sie trat vorsichtig auf den Bürgersteig und balancierte auf ihren schwarzen Stöckelschuhen. »Lass den Motor laufen und halt die Augen offen.« »Warte«, sagte Justin. »Ich sollte gehen oder es wenigstens versuchen. Wie du sagst, es könnte gefährlich werden.« »Du sagst das nicht, weil ich eine Frau bin, hoffe ich.«
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»Natürlich nicht. Weil du eine Lebensechte bist. Wenn mir was passiert, schüttele ich mich einmal und fang noch mal von vorne an. Ich habe nichts zu verlieren.« Sally lächelte. »Nichts wird mir passieren. Ich gehe einfach nur in eine Bar. Das mache ich ständig. Hast du zufällig gesehen, was Coyne anhatte?« »Sah aus wie ein schwarzer Mantel«, sagte Justin. »Drunter hatte er ein dunkles Hemd mit einem senkrechten gelben Streifen auf der linken Seite.« »Gut«, sagte Sally. Zum Eingang des Jungle ging es eine kurze Betontreppe hinauf. Ein Türsteher mit einem schwarzen Zopf und einem Ziegenbart stand vor einer Glastür Wache, hinter der ein lila Vorhang hing. Eine kleine Gruppe Leute, die keinen Einlass bekommen hatte, stand auf dem Bürgersteig. Es waren fast alles Männer, die wegen ihrer Tennisschuhe oder anderer modischer Fehltritte zurückgewiesen worden waren. Die meisten, argwöhnte Sally, waren noch nicht weitergezogen, weil der Türsteher ihre Freundinnen hereingenickt hatte, und die Mädels waren tanzen gegangen und hatten die Männer in der virtuellen Kälte stehen lassen. Barwick blieb kurz stehen, um ihr Spiegelbild im Fenster einer Galerie zu betrachten, die berüchtigt war für ihre irren Preise für völlig unbekannte Künstler. Sally sah gut aus in ihrem engen schwarzen Kleid, mit dem roten Tuch und der kleinen roten Handtasche. Obwohl sie schon Mitte dreißig war – und sie so viele Stunden in Shadow World verbrachte –, ging sie dreimal in der Woche ins Fitnessstudio und sorgte dafür, dass ihr virtuelles Ich so gut in Form blieb wie sie im wirklichen Leben. Ihr Gewicht war im Spiel wie in der Wirklichkeit aufs Gramm das gleiche, und erst Anfang der Woche hatte Sally die letzte Version des Avatar-Builders heruntergeladen. Der Unterschied war erstaunlich. Die Hauttöne und Gesichtszüge wirkten absolut 378
lebensecht. Die Stickerei auf ihren Kleidern war doppelt so genau. Die Zeichnung ihres geglätteten Haars war so exakt, dass sie einzelne Strähnen unterscheiden konnte. Auch wenn es eine Verletzung des ungeschriebenen Kodexes der Lebensechten war, nutzte Sally die neue Installation und nahm ein paar kleine Korrekturen an ihrem Gesicht vor, verlängerte die Nase, vergrößerte die Augen, korrigierte leicht den Ton ihrer braunen Haut – nichts zu drastisch –, und ihr neues Aussehen gefiel ihr sehr, auch wenn sie sich gleichzeitig für ihre Mogelei schämte. So ein Herumbasteln verstieß gegen die Ethik der Lebensechten, aber die neuen Möglichkeiten waren unwiderstehlich. Am ersten Abend ihrer Beschattung hatte Justin verschämt gesagt, dass sie toll aussehe, aber sie wusste nicht, ob er damit die höhere grafische Auflösung meinte oder ihre kleinen chirurgischen Eingriffe. Sie versprach sich, alles wieder rückgängig zu machen, war sich aber nicht sicher, ob sie es tatsächlich tun würde. Sally schob sich zwischen den Nichthereingelassenen auf dem Bürgersteig durch, stieg die Betontreppe hoch, und der Türsteher hielt ihr mit breitem Grinsen die Tür auf. »Du siehst gut aus, Honey.« Sie fragte sich, ob es derselbe Typ war, den sie im wirklichen Leben bei der Eröffnung interviewt hatte, und ob der sie wiedererkannte, aber beides war eher unwahrscheinlich. Drinnen standen die Gäste an den unmöglichsten Orten. Zur Garderobe war genauso schwer durchzukommen wie an eine der Theken. Glücklicherweise war Sally nicht durstig und hatte den Mantel in Justins Wagen gelassen. Sie war noch keine halbe Minute drinnen, als sie ein großer asiatischer Mann zum Tanzen aufforderte. Der Boden der Tanzfläche war nicht zu sehen und die Musik so laut, dass sie seine Worte in ihrem Kopfhörer kaum verstehen konnte. Sie wies ihn ab und drang tiefer ins Jungle ein. Das Zentrum des Clubs hatte eine riesige Glaskuppel in etwa fünfzehn Meter Höhe, durch die man bei klarem Wetter 379
wunderbar den Sternenhimmel hätte bestaunen können, wäre die Stadt nicht so lichtverseucht gewesen, ein Detail, das die Programmierer in »ihrem« Chicago authentisch abgebildet hatten. Wenn der Himmel ohne Wolken war, ließ sich eine Hand voll der hellsten Sterne erkennen, hauptsächlich sah man aber die Blinklichter der Flugzeuge, die über O’Hare und Midway ihre Warteschleifen zogen. Im letzten Monat, anlässlich eines Meteoritenschauers, hatte der Club – das echte Jungle – eine große Party veranstaltet. Es gab wenig zu sehen, aber gefeiert wurde trotzdem, und bald schon dachte keiner mehr an den Anlass für den großen Auftrieb. In schneller Folge wollten noch zwei weitere Männer mit Sally tanzen, und ein Dritter kam mit einem Vorschlag, den sie damit beantwortete, dass sie ihn mit dem Handballen wegstieß. Ekelhaft. Schließlich jedoch, als sie erneut aufgefordert wurde, gab sie nach. Auf der Tanzfläche hatte sie mehr Bewegungsfreiheit, einen besseren Überblick, und dort mitten im Raum, unter der großen Kuppel, wurde Sally auch etwas lockerer. Im wirklichen Leben hatte sie Hemmungen zu tanzen, aber in Shadow World konnte sie loslassen. Sich von der Musik führen lassen. Die Bewegungen ihres neuen Avatars waren so flüssig, so natürlich. Sie betrachtete sich mit den Augen eines Dritten, so wie sie von den anderen gesehen wurde, und fand sich sehr, sehr sexy. Wie sie sich in den Hüften wiegte, ihr das Haar ins Gesicht fiel und sich die Arme über ihrem Kopf bewegten, als wäre sie unter Wasser. Im Hauptfenster auf ihrem Bildschirm sah sie ihren Tanzpartner – herausgeputzt, zu sehr bemüht, ein guter, aber kein exzellenter Tänzer. Er hatte ein nettes Gesicht, einen rasierten Kopf, und unter dem Rippenrolli steckte ein Paar breiter Schultern. Sein Grinsen war jedoch leer und starr. Sally kannte diesen Blick nur zu gut. Natürlich. 380
Deshalb fand sie so viel Beachtung. Die meisten der Kerle hier waren auf der Suche nach Online-Sex, und sie repräsentierte die neueste Technologie. Sie waren hinter ihrer hohen Auflösung her. Sie fühlte sich geschmeichelt, und gleichzeitig kam Übelkeit in ihr auf. Viele der Leute um sie herum starrten sie an, Frauen wie Männer, einige geil, andere neugierig. Es gab noch ein paar andere, die das Upgrade bereits gemacht hatten, aber höchstens einer von zwanzig. TyroSoft sagte voraus, dass es innerhalb eines Monats neunzig Prozent sein würden. Es war dumm gewesen, so früh schon das Upgrade zu benutzen. Sie war hier, um jemanden zu beobachten, verstohlen, nicht um beobachtet zu werden, sexy zu sein und aufzufallen wie ein unglaublich begehrenswerter Betthase. Andererseits war es vielleicht gar nicht so schlecht. Mit einem Augenzwinkern ließ sie ihren Tanzpartner stehen und drehte einen Kreis um die zentrale Tanzfläche. Sie fand eine Lücke an der Bar, bestellte einen Wodka-Tonic und nahm ihren Rundgang wieder auf, obwohl sie etwa alle drei Meter stoppen musste, um eine Aufforderung zum Tanzen, zu Sex oder beidem abzulehnen. Sally wurde langsam sauer und verscheuchte ihre Verehrer wie lästige Stechmücken. Da – ein dunkelblaues Hemd mit einem gelben Streifen. Er stand in dritter Reihe an der Bar und redete mit ein paar Blondinen. Coyne hatte das Upgrade ebenfalls gemacht, wie sie bemerkte, und sie fragte sich, ob auch er hier und da etwas geschummelt und an Kinn und Wangenknochen eine kleine Korrektur vorgenommen hatte. Bei ihren Nachforschungen war kein Foto aufgetaucht. Der wirkliche Sam Coyne war wahrscheinlich der typische Fantasiespieler: klein, fett, glatzköpfig. Sie beobachtete ihn aus sicherer Distanz, ignorierte standhaft alle Anträge, die ihr gemacht wurden, und nippte nur dann und wann an ihrem Drink, damit sie länger etwas davon hatte. Wenn 381
sie ohne Drink und allein hier herumstand, würde sie Argwohn erregen, und sie befürchtete, Coyne aus den Augen zu verlieren, wenn sie sich etwas Frisches zu trinken holte. Er konzentrierte sich jetzt mehr auf eines der Mädchen. Sein Blick drang förmlich in sie ein. Die andere Blondine versuchte, sich ihm in den Blick zu schieben, aber er schien mehr und mehr an ihrer Freundin interessiert. Sie standen zu weit von Barwick entfernt, als dass sie hätte hören können, was sie sagten (Geräusche im Spiel verhielten sich genauso wie in der Wirklichkeit), aber sie hatte den Eindruck, dass da wild geflirtet und gelächelt wurde. Sam Coyne schien Charme zu haben. Jetzt sah er von den beiden Mädchen auf und geriet in Blickkontakt mit Sally. Es war kein flüchtiges Hinsehen, sondern ein lang anhaltender, intensiver Kontakt. Barwick war zu langsam, um seinem Blick auszuweichen, und dann konnte sie ihn nur noch erwidern und gleichgültig tun. Aber sie sah ganz offenbar nicht gleichgültig genug aus. Es dauerte Sekunden, und er hatte sich von den Blondinen verabschiedet, und die zogen Schmollmünder, als er sich zu Sally durchschob. Das hatte sie nicht beabsichtigt, aber weglaufen konnte sie auch nicht. Was hatte sie sich vorgestellt, als sie ihm in den Club gefolgt war? Darüber hätte sie früher nachdenken sollen. »Hallo, ich bin Sam«, sagte er. Sally fiel ein weiterer Vorteil des Upgrades auf. Die Lippen bewegten sich fast synchron. Vergiss das Fleisch, dachte sie. Selbst schmutzige Reden würden in der neuen Shadow World noch anzüglicher werden. »Sam, hallo«, sagte sie. »Ich bin Sally.« Wenn er ein Lebensechter war und im wirklichen Leben auch nur annähernd so aussah, war der Anwalt Sam Coyne eine ziemliche Granate. Welliges blondes Haar. Breites Zahnpastalächeln. Athletische Figur. Coyne mochte ein Shadow-World-Killer sein, aber es fiel ihr immer schwerer, Justins Theorie zu akzeptieren. Sie hatte schon einige Spieler kennen gelernt, aber dieser Typ war zu gut, um wahr zu sein. 382
»Sally, willst du tanzen?«, fragte er. Wollte sie? Mann, ist das voll hier. »Sam, gerne«, sagte sie. Coyne war mehr als nur ein guter Tänzer, obwohl sie wusste, dass Tanzen im Spiel nur mit Händen und Handgelenken gesteuert wurde, was ganz andere Fähigkeiten verlangte als reales Tanzen in einem realen Club. Trotzdem, der Junge hatte Rhythmus. Als er sich so vor ihr auf dem Bildschirm bewegte, konnte sie nicht anders, als in ihm das zu sehen, was die anderen Männer schon die ganze Zeit in ihr sahen. Flüchtiger Sex war nicht Barwicks Sache, weder im Spiel noch im wirklichen Leben, aber sie fühlte sich von diesem Mann angezogen. Zumindest von seinem virtuellen Ich – natürlich war der Avatar ein realer Mann, was Shadow-Sally anging, und ob nun das Gefühl von Gefahr dazu beitrug oder nicht, Sally war erregt. Und Sam spürte es. Schon nach einem Tanz beugte er sich an ihr Ohr und sagte: »Sally, hättest du Lust auf einen kleinen Spaziergang?« Sie spielte Shadow World lange genug, um zu wissen, was das bedeutete. Angst stieg ihr in die Kehle. Sie war erregt und voller Angst. Was sollte sie tun? Barwick war in das Jungle gekommen, um Coyne auszuspionieren, nicht, um den Köder zu spielen. Oder ein weiteres seiner Opfer zu werden. Sie hatte ein Leben hier in Shadow World, ein Leben, das sie genauso liebte wie seinen Spiegel im alternativen Universum der wirklichen Welt. Sie durfte das nicht alles in Gefahr bringen, bloß weil ein halbwüchsiger Junge, den sie kaum kannte, irgendeine wahnsinnige Idee hatte. Sie musste Sam Coyne die gleiche Antwort geben, die sie ihm auch im wirklichen Leben geben würde, wenn er sie zu schnellem, bedeutungslosem Sex aufforderte. »Sam, nein«, sagte sie. »Danke, aber nein.«
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Er starrte sie eine Minute an, als ob andere in so einer Situation unter seinem hypnotischen Blick schon die Meinung geändert hatten. Dass es so war, daran hatte sie keinen Zweifel. »Okay, Sally«, sagte Coyne. »Ein anderes Mal dann.« Sie beobachtete, wie er zurück zum Tresen ging, wo eine der beiden Blondinen immer noch wartete. Auf ein Wort hin hüpfte sie von ihrem Hocker und folgte ihm zur Garderobe. Sally wartete, bis sie zwischen all den Leuten kaum mehr zu sehen waren, und folgte ihnen. Ihre Flucht von der Tanzfläche war jedoch von genauso vielen eindeutigen Angeboten begleitet wie ihr Hereinkommen. »Nein. Nein. Nein, danke. Gott, nein!«, wies sie einen schlecht konturierten Avatar nach dem anderen ab, bis sie in die kalte Luft hinaustrat. Es hatte angefangen zu schneien. Barwick sah von ihrem Computer auf und aus dem Fenster. Die ersten Flocken blieben auf dem Buchsbaum draußen liegen. Wieder einmal wunderte sie sich, wie die Shadow-World-Programmierer die Welt auf ihrem Bildschirm so reaktionsschnell und komplex gestalten konnten. Der Club würde bald schließen. Der Türsteher war nicht mehr da, die Tür war zu, und niemand wurde mehr hereingelassen. Der Bürgersteig war leer. Die Straße war in beiden Richtungen mehrere Querstraßen weit zu übersehen, dennoch konnte sie weder Coyne noch die Blondine entdecken. Sally lief auf den Camry zu, drehte dabei den Kopf in alle Richtungen, aber dann stoppte sie eine Hand auf ihrem Arm. Justin war aus dem Wagen gestiegen. »Sally, sie sind in die Halle da gegangen!«, sagte er. Barwick sah in die Richtung, in die er deutete. Es war eine große Blechgarage, die von einer privaten Müllabfuhr als Depot für Müllwagen genutzt wurde. »Igitt«, sagte sie. »Willst du mich verulken?«
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»Vielleicht probiert er eine neue Technik aus«, sagte Justin und sah zurück über die Schulter, während Sally ihm auf ihren hohen Absätzen zu folgen versuchte. »Oder vielleicht hat er es als Wicker-Mann schon Dutzende Male so gemacht, in der realen Welt. Vielleicht wirft er die Leichen gleich in den Müll, und sie werden nie gefunden. Wer weiß, wie viele er wirklich schon umgebracht hat?« Barwick hielt nicht viel von der Idee. »Sex neben einem Müllwagen kann hier im Spiel nur eine reine Fetischgeschichte sein«, sagte sie. »Geruch gibt es nicht. Im Übrigen bin ich mir sowieso nicht sicher, ob der Kerl ein Lebensechter ist.« »Warum?«, fragte Justin. »Er sieht zu gut aus.« Justin zu Hause in seinem Zimmer musste lächeln. Ein Tor der riesigen Blechscheune stand offen, und Justin und Sally schlüpften hinein. Dutzende blauer Müllwagen standen in Reihen nebeneinander bereit, in ein paar Stunden zur neuen Schicht auszurücken. Oben an den Dachsparren brannten Neonröhren, und sie konnten laute, hallende Echos hören. Irgendwo in dieser Scheune keuchten und kicherten ein Mann und eine Frau. Barwick legte einen Finger an die Lippen, und er verstand: Wenn wir sie hören können, können sie auch uns hören. Sie liefen mit leisen Schritten durch die Wagenreihen, und die Geräusche von Coyne und der Blondine wurden lauter und leidenschaftlicher, aber sie konnten nicht sagen, ob sie nur einige Meter oder doch noch weiter entfernt waren. Die verrückte Akustik der Blechdecke und -wände und die mangelnde Richtungsgenauigkeit ihrer Kopfhörer erschwerten ihnen die Orientierung. Bis sie die Blondine schreien hörten. »Du Drecksau! Du Drecksau! Du verfluchte, durchgeknallte Drecksau!« 385
Wenigstens ist sie keine Lebensechte, dachte Barwick. Dann würde sie anders schreien. Echter eben. Das Mädchen ist nur sauer. Sekunden später lief Sally von hinten in Justin hinein. Er stand erstarrt zwischen den Stoßstangen von zwei Müllwagen. Weil er ein gutes Stück größer war als sie, konnte Sally nicht sehen, was sich vor ihm abspielte. »Ich kann nichts sehen!«, flüsterte Justin verzweifelt. »Ich bin blind hier. Ich kann nichts sehen!« Sally brauchte einen Moment, bis sie begriff, was er meinte. Dass sein Computer gerade jetzt einfrieren musste! Oder war es ein Fehler in der Software? Er drehte sich zu ihr um. »Dich kann ich sehen«, sagte er, »aber nach vorne geht nichts.« Und jetzt begriff sie wirklich. Die Szene vor ihm musste so aufwühlend oder sexuell offen sein (oder beides), dass seine Kindersicherungen aktiviert wurden. Justins Bildschirm wurde schwarz. »Sieh weg«, sagte Sally. »Stell dich hinter mich.« Sie drängte sich an ihm vorbei und wünschte fast, dass sie selbst die Kindersicherungen aktiviert hätte. Auch wenn die Blondine keine Lebensechte war, wollte Barwick doch nicht unbedingt sehen, was Coyne mit ihr gemacht hatte. Das konnte sie auch nicht. Jedenfalls nicht gleich. In dem Moment, in dem sie sich vor Justin schob, wurde Sally von etwas Hartem, Metallischem im Gesicht getroffen. Der Schmerzmesser unten auf ihrem Schirm leuchtete grellrot auf. »Autsch!«, sagte sie instinktiv. Sie fiel auf den Rücken und sah auf. Sam Coyne stand mit zugeknöpfter Hose, aber aufgeschnalltem Gürtel über ihr und hielt eine total verdreckte Schaufel in der Hand. Er grinste sie spöttisch an. »Was willst du denn hier?«, fragte er. Seine Stimme klang ruhig und bedacht, was in dieser Situation gleichbedeutend mit kalt und unheimlich war. »Wenn du unbedingt mitkommen 386
wolltest, Sally, hättest du einfach ja sagen sollen, als ich dich gefragt habe.« Barwick versuchte, sich rückwärts zu schieben, aber der Schlag musste ihr Shadow-Ich beschädigt haben. Er reagierte nicht auf ihre Befehle. »Sam, lass mich in Ruhe«, sagte sie. Durch Coynes Beine konnte sie den nackten, leblosen Körper der Blondine in einer immer größer werdenden Blutlache liegen sehen. Irgendwo in Chicago war die Frau, die das Spiel mit dieser Figur gespielt hatte, sicher schon aus dem Zimmer gestürmt und hatte voller Zorn den Fernseher eingeschaltet. Coyne zog aus einer seiner tiefen Taschen ein blutiges Handtuch. Das Handtuch fiel zu Boden, und ein langes Messer mit schwarzem Griff kam zum Vorschein. »Sally, normalerweise lerne ich eine Frau vorher erst besser kennen«, sagte er und griff sich dabei mit der Linken grob zwischen die Beine. »Was für ein Jammer.« Barwick versuchte, sich aufzurichten, bekam aber nur kurz den Arm unter sich, bevor sie zurück auf den Boden schlug. Coyne machte einen Ausfallschritt in ihre Richtung, hielt inne, stieß erneut vor und stoppte gleich wieder. Stieß vor und blieb stehen. Er spielte mit ihr. Als er so nahe war, dass sein rechter Schuh ihren nackten linken Fuß berührte, gelang ihr ein Schrei. Und es war kein zimperlicher Es-steht-ja-nichts-auf-demSpiel-Schrei einer Fantasieblondine, sondern ein satter, lauter, heller Schrei, der wie das hohe C eines Opernsoprans durch die alte Blechscheune schallte. Coyne war verblüfft, aber nicht nur wegen Sallys Schrei, sondern er hörte auch Schritte. Sekunden später lag Coyne auf dem Betonboden, und sein Messer schlitterte scheppernd davon. Justin saß auf ihm und drosch auf sein Gesicht ein, aber die meisten seiner Schläge gingen daneben oder wurden abgeblockt, und manchmal traf Justin den Beton, was den Knöcheln nicht gut tat. Sally versuchte immer noch, sich aufzurichten, und suchte nach dem 387
Messer. Als sie es endlich entdeckte, gut zwanzig Meter und drei Reihen weiter unter einem der Wagen, hatten Coyne und Justin die Positionen gewechselt. Jetzt attackierte der Ältere den Jüngeren, mit Schlägen wie ein Boxer. Justin konnte nichts tun, als sein Gesicht zu schützen. »Justin!«, schrie Sally. »Ich kann nichts sehen!«, stieß er verzweifelt keuchend aus. Scheiße!, dachte Barwick. Coyne glaubte sicher, dass Justin Unsinn redete oder Blut in den Augen hatte. Sally wusste es besser. Solange die nackte Leiche der Blondine in seinem Blickfeld lag, sorgten die Kindersicherungen in Justins Computer dafür, dass sein Schirm schwarz blieb. Coyne befand sich direkt zwischen Justin und der nackten Toten, und so konnte Justin auch Coyne nicht sehen, geschweige denn, sich gegen seine Schläge verteidigen. Coyne witterte eine Chance. Er ließ von Justin ab und suchte nach der Schaufel, die ein paar Schritte entfernt hinter eines der Müllwagenräder gerutscht war. Barwick hatte wieder genug Kraft gewonnen, um sich aufzurappeln. Sie versuchte, Coyne abzulenken, aber er beachtete sie nicht. Seine Sorge galt Justin. Der Junge war zwanzig Jahre jünger und konnte einen fairen Kampf durchaus gewinnen. Coyne brauchte eine Waffe. Justin hob den Kopf in die Richtung, aus der er den Atem des Älteren hörte, damit der sein Handikap nicht bemerkte. Sally ging rückwärts auf die tote Blondine zu. Coyne kniete sich neben das riesige Rad und versuchte, die Schaufel zu erreichen. Justin begann, in Coynes Richtung Beschimpfungen loszulassen, und versuchte so, den Großen zu mimen. Als Coyne aus seinem Wagen gestiegen und zur Tür des Jungle hinübergegangen war, hatte Justin gesagt, er trüge einen langen schwarzen Mantel. Der muss hier doch irgendwo sein, dachte Barwick. Um die Leiche herum lag jedoch nichts. Coyne musste alles, was mit Blut verschmiert gewesen war, hinten in 388
einen der Müllwagen geworfen haben. Sally suchte weiter. Dann hörte sie, wie der erste Schlag Justin in die Seite traf. Sie hörte einen Knochen krachen und hoffte, dass es nur sein Arm war. Sie sah, wie er wankte. Hinten auf einem der Müllwagen, schwer zu erkennen, weil sie blau war wie der Wagen selbst, lag eine Plane. Sie bedeckte eine Ladung Abfall, der noch nicht zur Mülldeponie geschafft war. Sally sprang hoch und packte das Ende der Plane, aber sie glitt ihr aus der Hand. Sie versuchte es noch einmal und bekam sie besser zu fassen, aber die Plane saß fest. »Hilfe!«, rief Justin, als Coyne erneut mit der Schaufel zuschlug. Sally sprang ein drittes Mal, bekam einen Finger in eine metallene Öse und konnte jetzt mit ihrem ganzen Gewicht ziehen. Die Plane löste sich und brachte etliche Pfund verrottendes Fleisch und Obst mit sich. Sally zerrte die Plane zu der nackten blonden Leiche hinüber und bedeckte den Körper damit. »Justin! Sieh!« Justins Bildschirm erwachte genau in dem Augenblick zum Leben, als Coyne mit der Schaufel von oben auf seinen Kopf schlagen wollte. Geübt gab der Junge ein paar Befehle ein, sein Avatar duckte sich, vollführte eine Rolle seitwärts, und die Schaufel krachte auf den Beton. Justin stand bereits wieder und sah, wie Sally nach links deutete, von Coyne weg, der sich gerade von dem verfehlten Schlag auf den harten Beton erholte. Worauf zum Teufel zeigt sie da? Er wartete, bis er sich sicher war, dass Coyne ihn verfolgte, und nicht Sally, und stürzte los in die Richtung, in die sie zeigte. Coyne folgte ihm zwischen den Wagen hindurch. »Unter dem Müllwagen!«, schrie Barwick. Wovon redet sie?, dachte Justin. Warum kommt sie nicht raus damit? Die Trucks standen fast Stoßstange an Stoßstange, und in 389
dieser Enge konnte Justin keinen Vorsprung gewinnen. Er hörte, wie der Kerl näher kam. Er hörte Coyne atmen. Dicht hinter ihm. Coyne hob die Schaufel über den Kopf, und sie zischte knapp an Justins Ohr vorbei. Unter den Wagen! Schnell! Justin hechtete nach vorne und landete mit dem Bauch in etwas Schleimigem, was ihn unter das Müllauto vor ihm rutschen ließ. Diesmal verfehlte die Schaufel knapp seinen Fuß. »Bastard!«, schrie Coyne. Also gut, dachte Justin. Jetzt geht’s ans Eingemachte. Mother. Fucker. Im Schutz der Müllwagen rutschte er weiter von Coyne weg. Coyne war ihm nicht gefolgt, sondern lief um die Wagen herum und versuchte, ihm den Weg abzuschneiden. Justin änderte die Richtung. Coyne, der das spürte, lief zurück. Verdammt! Er musste Sally wiederfinden. »Wo bist du, kleiner Scheißer?«, rief Coyne. Er klang fast gut gelaunt. Lachte zwischen seinen Beschimpfungen. Sally und Justin hatten seine Pläne nicht durchkreuzt, sondern dem Spiel nur eine weitere Herausforderung hinzugefügt. Das gab noch mehr Spaß. Justin fragte sich, ob die zusätzliche Energie, die Coyne verbrauchte, um ihn und Sally zu killen, einer wirklichen Frau das Leben retten würde. Er hoffte, dass sie das alles nicht umsonst taten. Dann endlich verstand er, was Sally ihm zugerufen hatte: Unter dem Müllwagen. Drei Wagen weiter sah er die Klinge des Messers zu ihm herüberblinken. Ein schöner Anblick. Das war der Weg hier heraus. »Warum kommst du nicht her und holst mich?«, antwortete Justin, als er auf das Messer zurobbte.
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Coyne lachte. »Vielleicht. Oder ich treibe dich einfach so weit in die Enge, bis du keinen Ausweg mehr hast. Und dann kümmere ich mich um dein Schätzchen.« Justin nahm das Messer in seine Rechte und kroch an den Gang heran, in dem Coyne stand. Justin holte kurz Luft, zog das rechte Knie an und trat dann mit voller Wucht gegen den Tank des Wagens über ihm. Für Coyne kam der Krach ganz aus der Nähe. Er lief hin. »Jetzt hab ich dich!« Er bückte sich und schwang die Schaufel unter den Truck. Justin stoppte sie mit der Linken, was ihm eine klaffende Wunde in die Handfläche eintrug, und zog sie zu sich heran. Coyne ließ aber nicht los, sondern zerrte am anderen Ende. Im Versuch, die Schaufel freizubekommen, stieß er sie noch tiefer unter den Wagen und bot dabei die Hände am Ende des Stiels dar. Justin sah es und ließ das Messer vorschnellen. »Du ›NICHT JUGENDFREI‹!«, schrie Coyne. Als Justin Coynes Arm aufschlitzte, kreierte das Spiel eine reflexartige Reaktion auf den Schmerz – Coyne ließ die Schaufel los und zog sich zurück. Justin kroch unter dem Truck hervor. Coyne saß auf dem Boden und konnte nur versuchen, sich zu verteidigen. Er rollte auf den Rücken und trat nach Justins Händen. Justin schlug die Füße zur Seite und stach ein paar Mal wild auf Coynes Beine ein. Barwick rief: »Justin, was ist los?« Ihre Stimme ließ ihn innehalten. Das Wichtigste war, Sally zu schützen. Sie war es, die ihr Online-Leben aufs Spiel setzte. Wieder ganz obenauf, packte sich Justin die Schaufel und verschwand in Richtung ihrer Stimme zwischen den Müllwagen. »Fuck you, Coyne!«, rief Justin über die Schulter zurück, nur damit dieser Wahnsinnige wusste, dass sie seinen Namen kannten. »Fahr zur Hölle!« Blut begann unter der blauen Plane hervorzusickern. Barwick zuckte zusammen, als sie Justin auf sich zukommen sah. Er 391
kniete sich neben sie und nahm ihre Hände in seine. Sie drehte seine Linke um und schreckte zurück, als sie die offene Wunde sah. »Wir müssen in ein Krankenhaus«, sagte sie. Justin drehte die Hand um. »Nein, ich bin schon okay. Es ist nur ein Spiel.« »Ich meine, meinetwegen«, sagte sie. Sie zeigte auf die Schaufel. »Während du nichts sehen konntest, hat er mir eine mit dem Ding da verpasst.« Sally hob das Haar, und Justin sah auf ihrer schön gestalteten Stirn eine üble große Wunde, die sich bis zum Auge zog. »In Ordnung«, sagte er. »Wir sollten hier sowieso weg. Ich habe ihn aus den Augen verloren, aber er könnte versuchen, uns den Weg abzuschneiden.« Er hielt ihr das Messer hin. »Kannst du das nehmen? Oder wenigstens damit herumfuchteln und bedrohlich aussehen?« Um die Wahrheit zu sagen, hätte sie es am liebsten Justin irgendwohin gerammt. Er hatte sie zwar mit seinem blinden Einsatz gerettet, aber ohne seinen wahnsinnigen Plan wären sie gar nicht erst in Gefahr geraten. Was zum Teufel hatte sie sich nur gedacht? Und sie hatten es noch längst nicht alles hinter sich. Sie berührte die Wunde mit dem Griff des Messers, und die Schmerzanzeige flammte auf. Vielleicht hatte sie eine Gehirnerschütterung. Sally hing praktisch mit einer Hand an seiner Schulter, in der anderen hielt sie das Messer. Die beiden boten einen ziemlich auffälligen Anblick, als sie aus dem Depot zurück auf die Straße traten. Keiner von ihnen verlor ein Wort darüber, wie erleichtert und gleichzeitig verstört sie darüber waren, dass Coyne nicht noch einmal auftauchte.
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77 Joan spürte, wie sich Davis spät ins Bett legte, nach Mitternacht. Träge und schwer sank er auf seine, die linke Seite, als würde er von einem Hafenkran darauf herabgesenkt. Sie kannte dieses Seufzen, das Murmeln und Stöhnen und wusste, er kam nicht, um zu schlafen, sondern suchte Zuflucht vor der Müdigkeit und dieser Sache, die ihn bedrängte und unglücklich machte. Obwohl der Ort, den er sich dafür aussuchte, nur eine Armlänge von ihr entfernt und genau der Platz war, an dem sie sich seit ihrer Hochzeit unzählige Male geliebt hatten, war sie seltsamerweise davon überzeugt, dass das, was ihm solche Schwierigkeiten bereitete, ihre Ehe war. Dennoch streckte sie einen Arm über seinen dicker werdenden Bauch. »Was ist?«, fragte sie. »Ich habe etwas vor dir verheimlicht.« Oh, Gott. »Ich habe es dir nicht erzählt, weil ich nicht wusste, wie du darauf reagieren würdest. Ich weiß, du dachtest, ich sei darüber hinweg.« Worauf immer er hinauswollte, es klang schlimm. Schlimm für sie. Für sie beide. »Ich weiß, wer es getan hat«, sagte er. »Ich weiß, wer sie umgebracht hat.« Sie war jetzt wach. Hellwach. »Wovon redest du?« »Sam Coyne. So heißt er. Er hat AK ermordet. Er war in ihrer Klasse.« Die dicken roten Vorhänge hielten das Licht der Laternen und des Mondes draußen, und sie konnte sein Gesicht kaum erkennen, nur sein weißes Haar fing die winzige Menge Helligkeit im Raum ein. Sie starrte an die Decke und fragte sich, ob er das so geplant hatte. Ob er gewusst hatte, dass sie noch 393
wach war, und es ihr so im Dunkeln hatte sagen wollen. Oder war er einfach nur müde? Müde, weil er nicht schlief, müde, es ihr zu verheimlichen? Am Ende war es egal, jetzt, wo sie wusste, was ihn so belastete. »Weißt du, wo er heute lebt?« »Hier in Chicago. Er ist Anwalt. Bei Ginsburg & Addams.« »Nein«, sagte sie. »Oh, nein, das darf nicht wahr sein.« »Doch.« »Schatz, bist du dir sicher? Woher weißt du das?« Er atmete so tief ein, als müsste die Luft für die ganze Geschichte reichen. »Durch Justin.« Er hob abwehrend die Hand. »Nein, ich habe keinen Kontakt zu ihm aufgenommen. Ich hatte ihn seit Jahren nicht gesehen, und vor ein paar Monaten stand er plötzlich vor der Tür. Im Herbst.« Und dann kam alles aus ihm heraus, nicht in einem Atemzug, sondern Stück für Stück, in Sprüngen und Rückblenden, und manchmal musste er innehalten, weil er etwas vergessen hatte. Als er fertig war, sagte er: »Ich weiß nicht, was ich tun soll, Joan.« Sie rückte näher an ihn heran. »Kannst du die Polizei nicht einschalten?« »Wenn es darum geht, mich selbst wegen Betrugs und genetischer Manipulationen ins Gefängnis zu bringen, dann ja.« »Nun«, sagte Joan und seufzte hoffnungsvoll. »Vielleicht klingt es nicht wie eine Superidee, aber du könntest ganz einfach nichts tun. Du könntest es dabei bewenden lassen. Eine Menge Leben sind schon durcheinander geraten oder sogar beendet worden, weil du damals diesen Weg eingeschlagen hast. Und ich bin durchaus mit verantwortlich. Aber wenn du diesen Mann wirklich nicht kriegen kannst, ohne jemandem wehzutun – und damit meine ich nicht nur dich und mich, sondern auch Justin
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und Martha Finn –, dann ist es vielleicht wirklich das Beste, alles ruhen zu lassen.« »Wahrscheinlich ist das eine ausgezeichnete Idee, Dr. Burton. Aber die Sache liegt nicht allein in meiner Hand.« »Wie meinst du das?« »Der Junge. Er ist auf Coyne fixiert. Ich glaube, er hat Pläne, etwas zu tun. Etwas Irrationales.« Joan stützte sich auf ihren Ellbogen. »Glaubst du etwa, er könnte ihn umbringen?« »Ich weiß es nicht. Er ist überzeugt, dass Coyne der WickerMann ist, und versucht, es zu beweisen.« »Gott. Ich meine, glaubst du, das wäre möglich? Dass dieser Coyne ein Serienmörder ist?« Davis furchte die Stirn. »Nein. Ich meine, wäre er dazu fähig? Bestimmt. Das hat er bewiesen. Aber Justin scheint schon seit langem von diesem Wicker-Mann besessen zu sein. Das muss angefangen haben, als er noch gar nicht wusste, dass er ein Klon ist. Und schon gar nicht ein Klon von Sam Coyne. Offenbar hat er sich die Dinge mit Hilfe der fragwürdigsten Beweise so zurechtgelegt. Er spielt dieses Videospiel, du weißt schon …« »Shadow World.« »Richtig. Und wie viele andere Spieler auch spricht er von den Dingen, die sich in Shadow World abspielen, als ob sie tatsächlich passieren, und schon widerruft er alles und sagt: Es ist natürlich nur ein Spiel …« »Aber du glaubst, es fällt ihm schwer, das Spiel von der Wirklichkeit zu unterscheiden?« »Nein, es fällt ihm schwer, die Wirklichkeit vom Spiel zu unterscheiden. Ich habe das Gefühl, er betrachtet das wirkliche Leben, als wäre es eine Art Wettkampf. Als wäre es ein Rätsel, das gelöst werden müsste. Dass es einen Gegner gibt. Gewinner und Verlierer. Einen Zweck. Und jetzt ist er überzeugt, dass sein 395
Lebenszweck darin besteht, Sam Coyne als AKs Mörder zur Strecke zu bringen.« »Woher weißt du, dass er Unrecht hat?« »Was meinst du damit?« »Vielleicht gibt es ja für jeden von uns hier einen Daseinszweck, und wir sollen herausfinden, welchen. Vergiss nicht, Davis, dass du Justin zu einem ganz bestimmten Zweck geschaffen hast. Und genau diesen Zweckt sieht er offenbar als sein Ziel an.« Jetzt stützte sich auch Davis auf einen Ellbogen. »Justin wurde nicht erzeugt, weil er AKs Mörder finden sollte. Ihm in die Augen schauen. Ich war nicht wirklich bei Sinnen damals und hätte das keinesfalls tun dürfen. Aber die Frage ist, was soll ich jetzt tun? Was mache ich mit dem Wissen, dass das Monster, das meine Tochter getötet hat, Partner in einer angesehenen Anwaltskanzlei ist? Wie kann ich das auf sich beruhen lassen? Und was mache ich mit Justin? Ich bin für ihn verantwortlich.« »Wir werden eine Lösung finden«, sagte sie. »Versprich mir nur eines: Wenn das alles vorüber ist, was immer passiert, werden wir keine Geheimnisse mehr voreinander haben, und du gehörst ganz mir.« Davis lächelte in die Dunkelheit. »Da bist du die Erste«, sagte er. »Aber ich verspreche es.«
78 Wenn ein Fantasiespieler ernsthaft krank wird oder verwundet, lässt er seinen Avatar gewöhnlich sterben. Krankenhäuser in Shadow World sind etwa genauso lustig wie die der wirklichen Welt, und niemand will genäht oder operiert werden, wenn er oder sie das Spiel ganz einfach von neuem beginnen kann. Es gibt nur zwei Arten von Leuten, die ihre Figuren in eines der 396
Krankenhäuser von Shadow World bringen: Spieler, die im Spiel große Dinge erreicht haben, berühmt oder reich geworden sind, und Lebensechte. Zum Glück bedeutet das, dass die Schlange in der Notaufnahme nur halb so lang ist. Justin saß in seinem Zimmer vor seinem Computer und hatte Angst, dass seine Mutter ihn in sein Mikrofon sprechen hören könnte. Es würde bald zu dämmern beginnen, und seine Mutter – seine echte Mutter – schlief sicher schon weniger tief. Sie war geduldig, was sein Spielen anging, aber sie würde ganz sicher ausrasten, wenn sie wüsste, dass er die Nacht durchgespielt hatte, mit einer Fünfunddreißigjährigen durch die Stadt gekurvt und in eine Messerstecherei mit einem Serienmörder geraten war. Er fing an aufzuschreiben, was sein Shadow-Ich sagte. Sally saß auf der Untersuchungsliege, während die Ärztin, sie hieß Hannah Wright, ein paar wenig überzeugende Tests durchführte. »Sally, Sie haben eine Gehirnerschütterung«, sagte Dr. Wright. »Eine ernsthafte Kopfverletzung können wir ausschließen, und auch Ihre Wirbelsäule scheint in Ordnung. Nehmen Sie ein Schmerzmittel, wenn es zu schlimm wird. Okay?« »Sicher, Doktor.« Die Ärztin nahm auf einem orangefarbenen Plastikstuhl Platz. Sie musste jetzt ein ganzes Stück zu Barwick aufsehen. »Sally, haben Sie jemanden, der heute Nacht auf Sie aufpassen kann? Nur für den Fall, dass sie plötzlich Orientierungsstörungen bekommen. Wie wäre es mit Ihrem Freund hier?« Justin trat einen Schritt von der Wand vor. »Nun, ja. Sicher. Ich meine, in ein paar Stunden muss ich in die Schule«, sagte er. »Aber mein Avatar könnte bei ihr bleiben. Und ich könnte alle paar Stunden nach ihr sehen.« Gott, er begreift es immer noch nicht, dachte Sally, was es bedeutet, eine Lebensechte zu sein. 397
»Gut«, sagte Dr. Wright. »Ich bin mir sicher, es wird nichts geschehen. Ich hätte allerdings gerne, dass Sie hier noch eine halbe Stunde sitzen bleiben, nur für den Fall, dass eine unvorhergesehene Schwellung eintritt oder eine Orientierungsstörung …« »Danke, Doktor«, sagte Sally. Dr. Wright verließ den Untersuchungsraum, um sich um andere Patienten zu kümmern. Der echte Justin zu Hause war müde. Der Kampf mit Coyne hatte Kraft gekostet, und er wollte seinen Computer ausstellen und wenigstens etwas schlafen, bevor er zur Schule musste. Aber er wusste, wenn er sein virtuelles Ich mit Sally allein ließ, konnte er nicht auf sie aufpassen. »Du musst nicht bleiben«, sagte Barwick. »Doch, ich möchte es«, schrieb er. »Wie fühlst du dich?« »Besser«, sagte sie. »Avatars heilen schnell.« »Ja, aber hat sie wirklich alles untersucht? Die verschiedenen Symptome genau gegeneinander abgewogen? Du könntest plötzlich an einem Aneurysma sterben.« »Danke.« Der Energiepegel auf Justins Bildschirm sank auf einen kritisch niedrigen Wert, und er nahm sich den orangefarbenen Stuhl. Wenn er selbst schon keinen Schlaf bekommen sollte, musste sich wenigstens sein Avatar etwas ausruhen. Sally saß auf der Untersuchungsliege und steckte die Hände unter die Schenkel. Ihre Wunde heilte bereits, ein Hinweis des Spiels, nahm Justin an, dass ihre Verletzung nicht weiter schlimm war. »Kann ich dich etwas fragen?« »Natürlich.« »Warum ist dieses Leben so wichtig für dich? ich spiele auch, es macht Spaß – aber warum musst du hier ins Krankenhaus gehen? Wenn dein Online-Leben genau wie dein wirkliches 398
Leben ist, warum kannst du dann nicht einfach wieder von vorne anfangen? Nicht mal einen Tag würdest du verlieren.« Sally sagte: »Die beste Art, es zu erklären, klingt ein bisschen nach Zen. Das Ziel eines Lebensechten ist es, sich zwei Existenzen zu schaffen, online und offline, die beide gleich wichtig sind. Gleich real. Manche Lebensechten gehen mit ihrem Avatar wie mit einem Yin zu ihrem Yang um und versuchen, ihre dunkle Seite auf den fiktionalen Charakter oder ihr virtuelles Ich zu übertragen, damit sie im realen Leben ein besserer Mensch sein können. Andere, wie ich, versuchen, zwei fast identische Leben zu leben. Wenn ich in Shadow World sterben würde, wäre das ein Schmerz für mich, als verlöre ich einen wirklichen Menschen. Und wenn ich im wirklichen Leben sterben müsste, würde mein Avatar hoffentlich ohne mich weiterexistieren.« »Er soll ohne dich existieren? Wie soll das gehen?« »Wenn du dich länger als sechzig Tage nicht in das Spiel einloggst, beendet Shadow World deine Mitgliedschaft. Dein Avatar verschwindet, und wenn du eine notwendige Funktion im Spiel hast, wirst du entweder von einem anderen Spieler oder einer vom Spiel kontrollierten Person ersetzt. Aber ein guter Lebensechter kann das System überlisten. Sein zweites Ich ist so realistisch, auch wenn es von keiner realen Person kontrolliert wird, dass es für Monate oder gar Jahre nach dem Tod des Spielers im Spiel bleiben kann. Wenn du genau aufpasst, kannst du sie in Shadow World herumlaufen sehen. Sie haben einen traurigen Ausdruck. Sie trauern.« »Damit seid ihr so etwas wie Zwillinge«, sagte Justin. »Zwillinge mit demselben Hirn.« Sally nickte. »Das gefällt mir.« Justin stand auf und ging zur Tür. Schwestern führten besorgte Avatars von einem Raum in den anderen und behandelten sie. Heilten sie. An den Computern agierten und beteten ihre Spieler, 399
dass ihre Krankheiten oder Verletzungen nicht ernster Natur waren. »Diese Yin-und-Yang-Sache. Was, wenn Coyne einer von diesen Lebensechten ist. Was, wenn er nicht einfach nur Dampf ablassen will? Wenn er versucht, den … den Wicker-Mann aus der realen Welt ins Spiel zu verbannen? Was, wenn er sein wirkliches Ich von diesen schrecklichen Impulsen zu befreien versucht und sie alle seinem Online-Charakter aufbürdet, falls er keine Menschen aus Fleisch und Blut umbringen kann?« »Oh, Gott. Ich glaube das einfach nicht«, sagte Barwick. »Warum nicht?« Shadow-Justin wurde ärgerlich. »Du tust alles ab, kaum dass ich es ausspreche. Dabei musst du zugeben, dass einige meiner so dummen Theorien offenbar richtig sind. Ist es nicht möglich, dass der reale Sam Coyne versucht, mit dem Morden aufzuhören, und das Spiel dazu benutzt, sich von seiner Krankheit zu befreien, die ihn Frauen angreifen lässt?« »Ich bezweifle es«, sagte Sally, »weil ich glaube, dass der reale Sam Coyne da draußen vor meinem Haus steht.«
79 Das Fenster im Gästezimmer war auch im Winter immer gekippt. Die Heizungsrohre waren ärgerlicherweise so seltsam verlegt, dass es in dieser Ecke des Hauses immer zu warm war, während man in den anderen Zimmern fror. Durch dieses gekippte Fenster hörte Barwick ihn über den Metallzaun hinten in ihrem winzigen Garten springen. In seinem Sweatshirt und den schwarzen Jeans sah er in der weißen Schneekulisse wie ein Panther aus. Aber er war weniger anmutig, drückte sein Gesicht linkisch an die Fenster und versuchte, ins Innere des Hauses zu sehen. Welches Raubtier beobachtete seine Opfer heimlich, bevor es sie schlug? 400
Das war ganz sicher Sam Coyne. Sie erkannte sein blondes Haar, und als das Licht der Laterne auf sein Gesicht fiel, auch die Wangenknochen. Vielleicht ist er tatsächlich ein Lebensechter, dachte sie. Sein Shadow-Ich war keine Lüge gewesen. Während sie noch mit Justin online war, wählte sie 911, den Notruf, und überlegte fieberhaft, wie sie sich verteidigen könnte. Als sie dem Mann beim Notruf ihre Adresse gab, fiel ihr nur ein, sich ihren Softballschläger unter dem Bett hervorzuholen. »Wie hat er deine Adresse herausgefunden?«, fragte Justin. »Oder wer du bist?« Er klang ganz normal, er musste sein Headset wieder aufgesetzt haben. »Ich weiß es nicht«, sagte Barwick. Sie stand jetzt vor ihrem Computer, flüsterte nur noch und versuchte herauszufinden, wohin Coyne verschwunden war. »Vielleicht hat mich jemand im Club wiedererkannt, von dem Artikel, den ich zur Eröffnung geschrieben habe.« »Glaubst du?« Ohne dass sie den Befehl dazu gegeben hätte, stand Sallys Shadow-Ich auf, sah sich im Untersuchungszimmer um und dann hinunter auf seine Hände. Die echte Sally beobachtete das auf ihrem Bildschirm, und es versetzte ihr einen Stoß. »Oh, Scheiße!«, sagte sie ins Mikro ihres Headsets. »Meine Handtasche. Ich habe sie in diesem verfluchten Depot vergessen! Meine Shadow-ID stimmt genau mit meiner tatsächlichen überein. Scheiße!« »Hast du eine Waffe?«, fragte Justin. »Eine Pistole oder einen Knüppel?« »Für einen großen Denker bist du diesmal etwas spät dran. Denkst du, ich sollte mich verstecken? Im Schrank?« »Nein!«, schrie Justin auf. »Wie soll ich wissen, ob du okay bist, wenn du nicht mehr am Computer sitzt?« 401
»Das ist für mich im Moment nicht so wichtig, Justin.« Sie nahm den Kopfhörer ab und lief von Fenster zu Fenster. Da war er. Coyne schlich um das Haus herum. Sollte er der Wicker-Mann sein, der bekannt dafür war, keine Spuren am Tatort zurückzulassen, dann hatte er sich heute einen Tag freigenommen. Die Sohlen seiner Schuhe hatten bereits Dutzende von Abdrücken hinterlassen. Das machte ihr Hoffnung, dass er nicht gekommen war, um sie zu töten. »Was passiert gerade?«, fragte Justin immer wieder. Barwick hörte seine gedämpfte Stimme durch den Raum und sie sagte leise ins Mikrofon: »Er läuft ums Haus.« »Als suchte er nach einem möglichen Einstieg?« »Weiß nicht. Warum schlägt er nicht einfach ein Fenster ein?« »Vielleicht, weil es zu laut wäre?« »Das ist doch Wahnsinn!« Ihr Ton fing an, ihre Angst zu verraten. Justin kam immer noch nicht ganz mit der merkwürdigen Situation klar. Sie sprachen real über zwei Avatare miteinander, die ruhig in einem Krankenhausraum saßen. Sein reales Leben kam ihm plötzlich wie das surreale vor. »Behalt die Nerven«, sagte Justin. »Du hast gut reden.« »Halte dich von ihm fern. Du hast ihn heute schon einmal geschlagen, und dieses Mal bist du im Vorteil. Es ist dein Haus. Er hat mehr zu verlieren. Die Polizei ist unterwegs …« Klopf, klopf, klopf. »Machst du Witze?«, sagte Barwick. »Was?« »Er klopft vorne an der Tür.« »Vielleicht ist es schon die Polizei.« »Hast du schon mal die Polizei gerufen?« 402
»Nein.« »So schnell sind die nicht.« Sie ließ das Mikro fallen und hob den Schläger an die Schulter. Die einfachste Erklärung ist die wahrscheinlichste, erinnerte sie sich. Und die einfachste Erklärung für das Klopfen ist, dass der gestörte Wahnsinnige da draußen hier reinwill, damit er mich umbringen kann. Sie war erschöpft. Die letzten vier Stunden waren lang und anstrengend gewesen. Offen gesagt hatte sie mehr Angst gehabt, als Coyne sie in Shadow World jagte. Ihr ganzes Leben schien auf den Kopf gestellt. Sie beschloss, hinunterzugehen. Sie hatte sich von Justin wegen einer Story in die Sache hineinziehen lassen, und jetzt klopfte die Story an die Tür. Es war wahrscheinlich, dass die Story sie umbringen wollte, sicher, aber sie würde diesem Coyne ein paar Fragen stellen. Klopf, klopf, klopf. »Ich hab die Polizei gerufen!«, rief Sally von der Treppe herunter. Nichts. Dann: »Ich will nur mit Ihnen sprechen!« »Ich weiß, wer Sie sind!« Wieder eine Pause. »Ich weiß. Deshalb müssen wir reden. Rufen Sie die Polizei noch mal an.« »Weshalb?« »Um ihnen zu sagen, dass Sie einen Fehler gemacht haben.« »Einen Notruf können Sie nicht einfach wieder abbestellen«, sagte sie. »Im Übrigen habe ich denen bereits Ihren Namen gegeben.« Das war eine Lüge, aber sie fragte sich, warum sie es nicht tatsächlich getan hatte. »Sie sind Reporterin. Bei der Tribune.«
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»Und Sie sind ein Mörder. Schön, Sie kennen zu lernen, Arschloch.« Langes Schweigen. Sie glaubte schon, dass er sich davongemacht hatte. Oder wieder nach hinten gegangen war. »Woher kannte der Junge meinen Namen?«, fragte er schließlich. »Richtig«, sagte Sally. »Er weiß tatsächlich, wer Sie sind. Und er weiß auch, dass Sie hier sind. Wir sitzen gerade im ShadowStroger-Hospital. Ich habe ihm genau gesagt, was hier abläuft.« Die Klinke wackelte. »Bitte, wenn wir nur ein paar Minuten reden könnten.« »Keine Chance. Ich habe gesehen, was Sie mit der Frau im Müllwagendepot gemacht haben.« »Aber …«, sagte er. »Das war doch nur ein Spiel. Sally. Miss Barwick. Ich habe gespielt. Wir alle haben das.« Sie machte noch einen Schritt auf die Tür zu. Die Tür war solide und schwer. Mahagoni oder so was. Es war das Erste gewesen, was sie an diesem Haus gemocht hatte, und jetzt war sie umso dankbarer dafür. Ob er den Mut hatte und dramatisch genug veranlagt war, ein Fenster einzuschlagen? Die waren gut anderthalb Meter vom Boden entfernt, und durch sie hereinzuklettern würde nicht leicht für ihn werden. Sie würde ein paar Schläge mit dem Softballschläger frei haben, bevor er sich hochziehen konnte. »Das ist doch krank«, sagte sie. »Und ich glaube Ihnen sowieso nicht.« »Sie glauben mir nicht?« Coyne schien verwirrt. »Scheiße, Sie haben gesehen …« Er dachte nach. »Sie sind eine Lebensechte, richtig? Ich habe es überprüft, Sie schreiben für beide Tribunes, Shadow und die reale.« Überprüft? Wie konnte er das so schnell? Mitten in der Nacht? »Ich weiß, es muss Ihnen Angst gemacht haben. Im Müllwagendepot. Ich wusste es ja nicht. Wenn ich gewusst 404
hätte, dass Sie eine Lebensechte sind, wäre ich nicht so hart zur Sache gegangen.« Hart zur Sache? Gott. »Warum haben Sie das getan?« »Die Blondine gekillt?« Unglaublich. »Ja, die Blondine gekillt.« Pause. »Ich weiß nicht … Es ist ein Spiel. Hören Sie, vielleicht können wir eine Lösung finden. Ich bin Anwalt.« »So?« »Sie schreiben doch einen Artikel über mich, oder? Für die Shadow-Trib oder für die echte – oder sogar für beide? In welcher Sie’s auch immer tun, da wären ein paar Dinge, wenn Sie die über mich schrieben, das wäre, nun, wie soll ich sagen, ganz schön peinlich, wenn die rauskämen.« Keine Frage. »Wie viele Frauen haben Sie schon umgebracht?« Er seufzte. Es klang merkwürdig und beängstigend. Der verärgerte Seufzer eines Serienmörders. »Das hier ist kein Interview, Miss Barwick. Nicht, wenn Sie mir nicht garantieren können, dass mein Name aus der Zeitung herausbleibt, was die Geschehnisse heute Nacht angeht.« Barwick legte die Hände und ihr rechtes Ohr an die Tür. Wo bleibt die Polizei? »Garantieren kann ich gar nichts, Mr Coyne.« »Dann lassen Sie mich wenigstens meine Version der Geschichte erzählen.« Er war direkt hinter der Tür. Sein Kopf war nur Zentimeter von ihrem entfernt. Sally dachte über sein Angebot nach. Ein Interview. Ein Interview mit dem Wicker-Mann. Ihn entlarven. Überführen. Fassen. Wenn die Polizei kommt, ist die Möglichkeit vertan. Sie überprüfte die Kette, um sich zu versichern, dass mit ihr alles in Ordnung war. Sie legte die Hand auf die Klinke. So was nennt man ein Risiko für die Karriere eingehen, dachte sie. Sie drückte 405
auf die Klinke und zog die Tür auf, bis die fünfzehn Zentimeter Kette sie stoppten. Coyne lehnte sich von der anderen Seite dagegen, weil er erwartete, ins Haus gelassen zu werden. Er legte die Hand um das Holz und drückte sein Gesicht in den Spalt zwischen Tür und Füllung. »Miss Barwick«, sagte er. Endlich Auge in Auge mit ihm, erwiderte sie seinen Blick. Und als der Polizeiwagen mit lauter Sirene und blaurot zuckendem Licht auf den Bürgersteig fuhr, bekam sie die Antwort, nach der sie fast dreizehn Jahre gesucht hatte.
80 Nachdem er fünf Minuten nichts mehr von Sally gehört hatte, rief Justin mit seinem Handy die Polizei an. Der Mann am anderen Ende sagte, dass ein Wagen unterwegs sei. Justin suchte ihre Nummer über den Computer und rief an. Keine Antwort. Er hinterließ eine atemlose Nachricht. Nach einer halben Stunde ohne ein Anzeichen, dass Sally ins Spiel zurückkehren würde, meldete er sie im Stroger Hospital ab und fuhr sie nach Hause. Zwischendurch versuchte er immer wieder, eine Unterhaltung anzufangen, um zu sehen, ob er etwas von der wirklichen Sally erkannte. Obwohl ihr Avatar nicht völlig lethargisch geworden war, zeigte sie keinerlei Wärme oder Erkennen. Zu Hause dankte sie Justin höflich und schloss die Tür zu ihrem Haus auf. Justin raste durch die Stadt und dann den Pendlern entgegen. Es gelang ihm, seinen Avatar noch rechtzeitig vor Sonnenaufgang wieder nach Hause zu bringen, wo er seine Mutter mit der lächerlichen Geschichte beruhigte, dass er joggen gewesen sei. Sofort schaltete er den Computer aus und sprang ins Bett. Es war fast Zeit zum Aufstehen und sich für die Schule fertig zu machen. Er zog sein Sweatshirt und die Hose aus und trat sie bis unten ans Fußende seines Betts. 406
In der Diele unten läutete das Telefon. Seine Mutter nahm nach dem vierten Klingeln ab und klopfte einen Moment später an seine Tür. »Justin?« »Jaah?«, antwortete er mit gespielter Müdigkeit. »Es ist für dich. Ein Mädchen.« Justin fragte sich, ob Sally den Mut hatte, hier anzurufen. Ob ihr Name auf dem Display stand. Ob seine Mutter nach all den Jahren noch ihre Stimme wiedererkennen würde. Er wälzte sich aus dem Bett, schloss auf und machte die Tür gerade weit genug auf, dass er die Hand durch den Spalt schieben konnte. »Sally«, flüsterte er, obwohl seine Mutter am zweiten Apparat mithören könnte. Schweigen. »Bist du in Ordnung? Was ist passiert? Wo ist Coyne?« Nichts. Justin kam der Gedanke, dass es vielleicht gar nicht Sally war, mit der er da sprach. Vielleicht war Coyne dran. Aber wie konnte er wissen, wer Justin war? Woher konnte er seine Nummer haben? Sally und Justin hatten sich außerhalb von Shadow World nicht einmal gesprochen, nicht, seit er klein gewesen war. »Sally, ist mit dir alles okay?«, fragte er wieder. »Ich bin in Ordnung«, sagte sie endlich. »Die Polizei war da. Er ist weg.« »Gott sei Dank.« Beide sagten wenigstens eine Minute lang kein Wort. Justin konnte sich das Unbehagen zwischen ihnen nicht erklären. Trotz ihrer Freundschaft in Shadow World begegneten sie sich im wirklichen Leben wie Fremde. »Also dann«, sagte Sally. 407
»Also dann«, sagte Justin. »Wir sehen uns später im Spiel. Nach der Schule. Dann reden wir, und du kannst mir alles erzählen.« »Okay. Gut«, sagte Sally, und bevor sie auflegte: »Einen Moment noch, Justin …« »Was?« Wieder ein langes Schweigen. Ein Seufzen war durch das Telefon zu hören. »Nichts. Ich meine …« Es klang, als würde sie weinen. »Alles Gute zum Geburtstag«, sagte sie.
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Justin mit sechzehn
81 Diese Steine waren auf Schiffen aus Ägypten nach Amerika gebracht worden. Vor langen Jahren. Damals war man mit so was noch durchgekommen, dachte Davis. Mit den Steinen hatten sie das Grab hier im Field Museum rekonstruiert. Die Ausstellung zog sich durch lange Gänge und führte in kleine Kammern mit uralten Artefakten neben Reproduktionen und metallenen Anschlagtafeln mit Geschichtsabrissen. Hauptattraktion waren jedoch die dreiundzwanzig Mumien, die klar zeigten, dass keine letzte Ruhestätte je endgültig ist. Sally Barwick hatte darum gebeten, sich hier zu treffen, in einem kleinen dunklen Raum mit zwei alten Urnen und ein paar nachgezeichneten Hieroglyphen. Sie fühlte sich hier wohl. Es war ein Ort in der wirklichen Welt, an den sie gehen, wenn sie nicht ins Spiel fliehen konnte. Und es war wichtig, dass dieses Gespräch vertraulich blieb. Sie trug immer noch das Kleid von gestern. Ungebügelt, verknittert und voller Falten, die eine eiszeitliche Karte auf den Stoff zeichneten, umhüllte es ihren Körper. »Justin weiß es, nicht wahr?«, sagte Barwick. »Er weiß, dass er mit Genmaterial von Sam Coyne geklont wurde, und nicht von Eric Lundquist.« »Ja«, sagte Davis. »Wie sind Sie darauf gekommen?« Sie hätte ihm sagen können, dass es die Augen waren. Dass es Sam Coynes Augen waren, die sie fotografiert hatte, als Justin noch klein war. Dass es die Augen waren, die sie in ihren Träumen ins Schwärmen geraten ließen. »Was hat Coyne
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getan?«, fragte sie stattdessen. »Justin sagte, es war etwas Schreckliches. Vor langer Zeit.« Davis setzte sich auf eine kleine Bank, und sie setzte sich neben ihn. »Er hat meine Tochter getötet.« Eiskaltes Entsetzen strahlte von ihrem Magen bis unter die Kopfhaut und in ihre Hände und Füße aus. Sie fühlte sich plötzlich wieder wie ein Privatdetektiv und verspürte das Ende eines Falles auf sich zurasen. Es war dreizehn Jahre her, dass sie in Mrs Lundquists Wohnzimmer gesessen und die steifen Seiten des Fotoalbums umgeblättert hatte. »Sie haben ihn mit dem Beweismaterial geklont.« Sie spürte, wie die Lösung sie belastete, und sie wusste nicht, was sie mit ihr anfangen sollte. »Warum sind Sie damit nicht zur Polizei gegangen? Oder an die Presse?« »Nun«, sagte Davis, und er klang bedrückt, »weil es gegen das Gesetz war? Weil ich ins Gefängnis käme? Als Beweis wäre das alles absolut unzulässig, und Coyne würde freigesprochen.« Er fühlte sich unwohl, so entlarvt worden zu sein. Hinter seinen Schläfen baute sich ein Kopfschmerz auf. Sally reagierte äußerst angenehm, zog man in Betracht, was sie gerade herausgefunden hatte. Trotzdem kam es ihm wie ein Verhör vor. »Warum glaubt Justin, dass Coyne der Wicker-Mann ist?« »Ich weiß es ehrlich nicht. Ich kann seine … seine Begeisterung für diese Theorie nicht teilen. Ich glaube, dass Justin verzweifelt nach Zusammenhängen sucht. Er hat Schwierigkeiten, die Existenz von Zufällen anzuerkennen. Für ihn ist unsere Welt frustrierend zusammenhanglos.« »Ich dachte auch erst, dass er verrückt ist«, sagte Sally. »Seit letzter Nacht tue ich das allerdings nicht mehr.« »Was ist da passiert?« »Ich habe gesehen, wie Coyne ein Mädchen umbrachte. Sie aufschlitzte und verbluten ließ.« 410
»Was? Wo?« Dann verstand er. »In Shadow World. Das ist nicht dasselbe, oder?« Barwick war nicht danach, das Prinzip lebensechten Spiels zu erklären. »Er war auch hinter mir her. In der Realität. Er wollte in mein Haus, um mich umzubringen.« »Gott! Was ist passiert?« »Ich konnte noch die Polizei rufen.« Davis wurde ganz aufgeregt. Sein Blick wurde hoffnungsvoll. »Das heißt, sie haben ihn? Er ist verhaftet worden?« Barwick schüttelte den Kopf. »Er hat der Polizei erklärt, das Ganze sei ein Missverständnis. Er habe nur ein Spiel gespielt und sei zu mir gekommen, um mir zu erklären, was ich auf dem Bildschirm miterlebt hätte. Sie konnten ihn nicht festhalten.« »Verdammt«, flüsterte Davis. »Er wird es wieder versuchen, oder? Fühlen Sie sich sicher?« »Ich habe eine einstweilige Verfügung gegen ihn beantragt.« »Was nicht viel helfen wird«, sagte Davis. Das wusste sie. Ihre Kontakte mit Justin illustrierten das. »Ich will damit zur Polizei«, sagte Sally. »Ich glaube, Justin hat Recht. Coyne könnte der Wicker-Mann sein.« »Die werden Sie auslachen.« Ein Paar kam in den Ausstellungsraum, in dem Sally und Davis sich unterhielten. Ihr plötzliches Verstummen ließ die beiden sich unwohl fühlen, und so zeigten sie schnell auf die beiden Urnen und gingen weiter. »Wie wäre es«, sagte Barwick, »wenn ich Ihre Geschichte erzählte? Eine Reportage für das Sonntagsmagazin der Trib daraus machen würde? Wir stellen ihn bloß. Es wird einen Aufschrei nach einer Untersuchung geben, die Coyne nie überlebt.«
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Davis schnaufte. »Genauso wenig wie ich. Die werden mich für den Rest meines Lebens einsperren.« »Ich werde die Story so verständnisvoll wie möglich schreiben.« Wieder einmal fragte sich Davis, wie viel er zu opfern bereit war, um AKs Mörder zu jagen. »Es geht nicht nur um mich. Noch ein Leben würde dadurch ruiniert.« »Justin«, sagte Sally. Er nickte. »Es ist schon schlimm genug für Menschen, besonders Kinder, wenn herauskommt, dass sie Klone sind«, sagte Davis. »Wenn herauskäme, dass Justin die Replik eines Mörders ist, würde sein Leben zu einer Freak-Show. Er würde nie wieder normal leben können.« Sally überlegte. Coyne weiß, wo ich arbeite. Wo ich wohne. Sie überlegte, dass es ihr, solange er da draußen frei herumlief, praktisch unmöglich sein würde, in ihrem Haus zu schlafen. Sie überlegte, dass die Kanzlei von Ginsburg & Addams nur drei Straßen von der Tribune entfernt lag. Dass sie ihr Leben von nun an in ständiger Furcht verbringen würde. »Ganz gleich, was ich für Justin empfinde, angesichts dessen, was ich weiß, kann ich nicht untätig bleiben. Coyne muss überführt werden. Der Wicker-Mann muss gefasst werden. Er hat Dutzende von Menschen getötet, und er wird noch Dutzende mehr töten.« »Ich kann Ihnen nicht sagen, was Sie tun sollen«, sagte Davis. »Coyne ist ein Mörder, ob er nun der Wicker-Mann ist oder nicht.« Barwick sah zu den Hieroglyphen auf, die in den Stein über der Tür gemeißelt waren. Sie hatte keine Ahnung, was sie bedeuteten. Sie dachte an den fast vergessenen Sohn eines Pharaos, der in diesem Grabmal seine letzte Ruhe gefunden hatte, den man aus seinem Grab herausgeholt, um den halben 412
Erdball transportiert und in einer Stadt der Neuen Welt ausgestellt hatte, einer Welt, die erst mehr als tausend Jahre nach seinem Tod entdeckt worden war. Was für ein Mensch war er gewesen? Was für ein Freund? Ein Sohn? Ein Vater? Interessierte das irgendwen? Die Museumsbesucher, die hier durchkamen, machten die sich Gedanken darüber, was für ein Mann er gewesen war? Wenn nicht, was sollte dieses Denkmal dann? Warum erinnerte man sich an ein Leben, das keine Bedeutung mehr hatte?
82 »So gerade noch.« Das sagte Stephen Malik, wenn mitfühlende Freunde und Kollegen fragten, wie es ihm gehe, ob er noch durchhalte und ob er, in diesem Moment, überhaupt noch einen Job bei der Tribune habe. Aber er sagte es jetzt schon so lange, dass es aufgehört hatte, eine ehrliche Antwort zu sein. Wenn es stimmte, dass man so gerade noch durchhielt und sich seinen Job bewahrte, dann bedeutete das, dass es nicht ewig so weitergehen konnte, und im Grunde waren sich alle einig, dass Maliks Ära bei der Tribune so gut wie zu Ende war. Eine Website, die sich den Gerüchten des journalistischen Berufsstandes widmete, hatte eine regelmäßige Kolumne, die sich »Was macht Malik?« nannte. Mehrmals in der Woche wurde eine anonyme Stimme aus der Nachrichtenredaktion veröffentlicht, die ihrem Groll gegen den Redaktionsleiter Ausdruck gab, oder es gab ein neues Gerücht über seine Ablösung. Ungenannte Quellen wussten darüber zu berichten, dass der Verleger der Tribune verschiedene Anwärter auf den Job in teuren Restaurants von New York, Los Angeles, San Francisco und Miami umwarb. Aber er blieb. Er blieb, obwohl er längst keine Entschuldigung mehr hatte, die er sich selbst hätte geben können. Vielleicht bin 413
ich wirklich nicht der richtige Mann für diesen Job, dachte er. Er war bereit zu gehen. Er hatte eine Abschiedsrede vorbereitet, die er in der Nachrichtenredaktion halten wollte, und sich für einen eleganten, kultivierten Abgang entschieden, mit nichts als freundlichen Worten für die schmierigen Saboteure über ihm, die ihn eingestellt und vom ersten Tag an Intrigen gegen ihn gesponnen hatten. Er und seine Frau hatten über seinen Rückzug aus dem aktiven Berufsleben gesprochen. Nach Norden könnten sie ziehen, nach Wisconsin oder vielleicht auf die Obere Halbinsel in eine kleine Stadt, in der es nur eine Wochenzeitung gab, denn jeden Morgen eine frische Zeitung vor der Tür zu finden würde schmerzhaft für ihn sein. Schließlich hatte er dieses Geschäft einmal so sehr geliebt. Es war in solch einer Atmosphäre, an einem sonnigen Frühlingstag, als er sah, wie Sally Barwick sich vor seinem Büro herumdrückte. Er rief sie herein und schloss die Tür. »Stephen, ich habe Ihnen etwas verschwiegen. Ich habe allen hier etwas verschwiegen.« Er erwartete, dass sie ihm von ihren Spielen erzählen würde. Das war etwas, was ihm an diesem Punkt seines freien Falls völlig egal war. »Was?« »Ich arbeite seit ein paar Monaten an einer Story, von der ich weder Ihnen noch sonst jemandem erzählt habe. Jetzt hätte mich die Sache fast umgebracht.« Es war nicht, was er gedacht hatte. »Reden Sie von der Geschichte mit dem Anwalt? Dem Kerl, der um Ihr Haus gestrichen ist?« Sie überlegte, ob das so richtig war. »Ehrlich gesagt, habe ich ihn zunächst verfolgt. Zu Anfang wenigstens.« »Was? Diesen Coyne? Den Kerl, gegen den Sie eine Verfügung erwirkt haben?« »Ja.« 414
»Wovon reden Sie da eigentlich?« Sally rückte auf ihrem Stuhl hin und her. Es war der, den sie am meisten hasste, der unbequemste Stuhl in der North Michigan Avenue 400, und sie fragte sich, warum sie sich gerade den von den dreien in Maliks Büro ausgesucht hatte. »Sam Coyne hat mich angegriffen, weil ich beweisen wollte, dass er der Wicker-Mann ist.« »Gott, Barwick.« Malik lachte, denn das konnte nur ein Witz sein. »Ich meine es ernst.« Einen Moment lang schienen es Maliks eigene Sorgen nicht mehr wert, dass man sich um sie kümmerte. Sally begann, ihren Fall zu beschreiben, und versuchte dabei die Stimme so zu senken, dass die erfundenen Teile so glaubhaft klangen wie die wahren. »Vor sechs Monaten habe ich einen anonymen Hinweis erhalten. Der Anrufer sagte, ich solle Sam Coyne mal auf den Zahn fühlen. Er sagte nicht, warum. Ich hab’s gemacht, bin dabei aber auf nichts gestoßen. Allerdings stellte sich heraus, dass er ein Spieler war. Wie ich.« »Shadow World.« »Richtig.« »Als nichts über den Mann in der Zeitung kam, rief mein Tippgeber wieder an. Er sagte, ich solle Sam Coyne einmal im Spiel nachspüren. Was ich tat.« »Sie haben Nachforschungen zu Coynes Leben in einem Videospiel angestellt? Wie soll das gehen?« »Genauso wie hier draußen. Shadow World hat Ämter, Quellen, Straßen, Gassen.« »Und was haben Sie herausgefunden?« »Dass Coyne ein Mörder ist.« »Im Spiel?« 415
»Genau. Er tötet andere Spieler, alles Frauen, und seine Morde gleichen denen des realen Wicker-Manns in bemerkenswerter Weise.« Malik hatte ein schlechtes Gefühl, wie er es gewöhnlich bekam, bevor er jemanden feuern musste. »Was krank ist, aber nicht illegal.« »Aber dann habe ich Coynes Morde in Shadow World mit denen des Wicker-Manns verglichen.« »Und?« »Wenn Coyne in Shadow World tötet, scheint es hier draußen bei uns keinen Wicker-Mann zu geben. Alles bleibt ruhig.« Das stimmte so natürlich nicht völlig, aber Sally wollte nicht in Justins Erklärungen zu einigen Abweichungen in seinem Diagramm einsteigen. »Was nichts beweist.« »Genau. Also habe ich einen mir bekannten Ermittler im Wicker-Fall angerufen, einen Detective der Mordkommission, und ganz nebenbei Coynes Namen fallen lassen.« »Wie hat er darauf reagiert?« »Mit einem langen, langen Schweigen.« »Sie haben also immer noch nicht mehr?« »Zwei Wochen lang habe ich ihn daraufhin jeden Tag angerufen. Und er hat mir völlig inoffiziell gesagt, dass Coyne in der Wicker-Untersuchung eine Person von Interesse sei.« »Zusammen mit wie vielen anderen interessanten Personen?« »Gott, ich weiß es nicht, Stephen. Keiner, der gleichzeitig in einer unabhängigen Untersuchung der Top-Zeitung der Stadt auftauchte.« »Was wollen Sie also tun?« »Was meinen Sie? Ich will die Story bringen.«
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»Was für eine Story, Sals?« Er fuhr mit der Hand in der Luft über einen erfundenen Aufmacher: »Journalistin klagt Mann, mit dem sie eine persönliche Fehde hat, an, ein bekannter Serienmörder zu sein.« »Gut, dass Sie keine Schlagzeilen schreiben«, sagte Sally mit einem freundlichen Schnaufen. »Ich beschuldige ihn nicht, weil er mich angegriffen hat. Er hat mich angegriffen, weil ich ihn beschuldigt habe. Ich will die Story bringen, dass Sam Coyne ein Verdächtiger im Fall der Wicker-Mann-Morde ist.« Das ist ein Witz, dachte Malik. »Wie kommen Sie darauf, dass ich mir bei all den Problemen, die ich sowieso schon habe, auch noch eine Beleidigungsklage von Ginsburg & Addams einhandeln will?« »Damit hätten die nur Erfolg, wenn ich falsch läge. Liege ich aber nicht.« »Sie glauben also, dass er gar keine Klage anstrengen wird?« »Aber sicher wird er das. Und wir werden infolge der überregionalen Berichterstattung des Zivilverfahrens und der damit verbundenen intensiven polizeilichen Ermittlungen genug Beweise dafür finden, dass Coyne ein Mörder ist. Dank der Tribune wird einer der berüchtigtsten Serienmörder der amerikanischen Geschichte gefasst werden, und ganz nebenbei retten Sie auch noch Ihren Job.« »Schätzchen, wenn ich bei so einer Aktion mitmachte, wäre ich aus meinem Büro, bevor Sie sich morgens die Erdbeeren in den Joghurt geschnipselt haben.« »Ich weiß, es ist riskant. Aber riskanter Journalismus gewinnt Preise«, sagte sie. »Und rettet Jobs.« »Das wird dann die erste posthume Wiedereinstellung in der Zeitungswelt«, sagte Malik. »Wenn mich die Anwälte der Trib nicht gleich umbringen oder mir Ihr Serienkiller die Gurgel durchschneidet, erschießt mich meine Frau. Wir sind eine 417
Zeitung und keine Klärungsstelle für persönliche Rachefeldzüge.« »Das heißt, wir sollen hier sitzen und einen Mörder weiter frei herumlaufen lassen?« »Welchen Mörder, Sally? Ich habe ja fast schon das Gefühl, eine fremde Sally vor mir zu haben. Bringen Sie Beweise. Solide Arbeit. Zeigen Sie mir, dass dieser Mann der ist, den Sie behaupten, und nicht einfach nur ein Riesenarsch.« »Das versuche ich ja gerade. Aber der Kerl ist intelligent. Er hat womöglich zwanzig Morde begangen und bis heute keinerlei Spuren hinterlassen. Wir müssen ihn ausräuchern. Oder einen in seiner Nähe – vielleicht kennt da jemand die Wahrheit.« »Okay. Bringen Sie mir etwas, das sich nicht allein auf anonyme Quellen gründet.« Sally nahm einen tiefen Zug der verbrauchten, immer wieder neu umgewälzten Luft. »Coyne hat versucht, in mein Haus einzubrechen, Stephen. Während ich drin war. Es gibt nur einen Grund, warum er das tun könnte: Weil er annimmt, dass ich ihm auf der Spur bin.« »Ich vertraue Ihrem Instinkt, Sally«, sagte Malik. »Bringen Sie mir eine wirkliche Story, und ich drucke sie. Aber ich werde mich nicht allein auf Ihre Theorien verlassen und dann die Daumen drücken, dass sie sich als wahr herausstellen.« Zu Mittag traf Sally Justin im Shadow-Billy-Goat. »Einen Versuch war es wert«, sagte Sally. Sie verschwieg ihm ihr Wissen, dass er aus einer Zelle Coynes gezeugt worden war, fast wie der Ableger einer Pflanze, wie Sally in ihren zynischsten Momenten dachte. Justin wäre entsetzt, wenn er wüsste, dass sie es herausgefunden hatte, und nach der Konfrontation mit Coyne (die sie ihm bis auf dieses wichtigste Detail beschrieben hatte) brauchte ihr plötzlicher Meinungswechsel, was Justins Wicker-Mann-Theorie betraf, keine weitere Erklärung. 418
»Ja«, sagte Justin. »Wir müssen Coyne irgendwie auf frischer Tat ertappen. In der wirklichen Welt. Ich glaube, das ist die einzige Möglichkeit.« »Ich mache in ein paar Wochen meinen Schulabschluss«, sagte Justin. »Danach habe ich Zeit. Vielleicht kann ich ihn dann wirklich überwachen. Meinen Führerschein mache ich auch in diesem Sommer.« »Du machst schon deinen Schulabschluss?«, sagte Barwick. »Ich hatte ja keine Ahnung. Meinen Glückwunsch. Wo wirst du studieren?« »Erst mal gar nicht. Ich nehme ein Jahr frei. Meine Noten sind gut genug, um so ziemlich überall reinzukommen. Aber ich bin noch zu jung für die Universität.« »Was machst du das ganze Jahr?« »Lesen«, sagte Justin. »Die Bücher, die ich lesen will. Nicht das, was man in der Schule lesen muss. Vielleicht besuche ich auch meinen Vater.« Sally dachte an die nächtlichen Gespräche im Auto vor Coynes Shadow-Apartment. »In New Mexico, oder?« »Ja. Und denke ein bisschen drüber nach, wer ich bin. Wer ich sein soll. Was ich tun soll. Darüber muss ich mir Gedanken machen, alles andere, die Schule zum Beispiel, kommt mir dabei nur in die Quere.« »Wobei? Dabei, dich selbst zu finden, meinst du?« Sie konnte einen Lacher nicht unterdrücken. »So in etwa.« »Ich wüsste nicht, dass wir etwas tun sollen, Justin. Außer zu sein.« »Du vielleicht nicht.«
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Barwick konnte nicht sagen, ob die Bemerkung verletzend gemeint war oder ob er nur zu sehr in sich versunken war. Großzügig nahm sie Letzteres an. Malik hatte vor sich auf dem Tisch eine ganze Tagesration Themen und Aufträge liegen, dennoch sah er zunächst einmal durch, was er über Samuel Coyne von Ginsburg & Addams finden konnte. Er fand Bilder von einem Mann im Frack auf Wohltätigkeitsveranstaltungen. Im Archiv der Wirtschaftsredaktion fanden sich ein paar im Interesse seiner Mandanten zu Protokoll gegebene Einwendungen. Der Mann sah aus wie ein attraktives Arschloch. Absolut nicht wie ein Mörder. Aber wie sah ein Mörder denn aus, wenn man noch nicht wusste, dass er einer war? Coyne sah nicht aus wie ein Killer, aber das hieß nicht, dass er nicht doch einer war. Nur dass Malik nicht davon überzeugt war. Der Wicker-Mann, dachte er. Besteht die Möglichkeit, dass sie Recht hat?
83 Martha war allein zu Hause und machte eine Flasche teuren Cabernet auf, den sie nicht länger aufheben wollte. Sie schenkte den Wein in ein tiefes Glas und ließ ihn auf dem Küchentisch stehen, bis er sich beruhigt hatte. Sie starrte in das Glas, als wäre es eine rubinrote Kristallkugel. Da sie aber keine Antworten darin fand, benetzte sie sich die Zunge mit dem Cabernet und schloss die Augen. Justin war nicht zu Hause. Schon das dritte Mal in dieser Woche war er ausgegangen. Es gab Dinge, die sie wusste, Dinge, die sie annahm, die sie fürchtete, und fast über nichts konnte sie mit ihm sprechen. 420
Es war nach neun Uhr, und er konnte überall sein. Er hatte kein Auto, und sein Rad war zu Hause, aber seine Freunde – die wenigen, die er hatte – waren älter, und die meisten von ihnen besaßen bereits ihre eigenen Autos, möglichst schnelle, die nicht unbedingt besonders sicher waren. Wobei es genug problematische Orte gab, die nur ein paar Minuten zu Fuß entfernt lagen. Nicht zuletzt gehörte das Haus von Dr. Davis Moore dazu, das gerade mal sechs Straßen entfernt lag. Sachen von ihr verschwanden. Schmuck und auch Bargeld aus ihrem Schlafzimmer. Nie benutztes Silberbesteck aus dem Esszimmer. Benzin aus dem Wagen. Alte Kisten vom Speicher, mit Kristallschüsseln und nicht weiter wertvollen Kunstobjekten. Sie wusste nie zu sagen, wann er etwas genommen hatte, oder es gar zu beweisen. Sie war sich seiner Schuld nicht mal sicher genug, um ihn damit zu konfrontieren. Vielleicht war sie sich aber auch sicher genug und nur zu ängstlich. Hatte Angst davor, was er tun könnte. Was er ihr antun könnte, wenn sie ihn beschuldigte. Wenn er in der Schule war oder abends – Gott allein wusste, wohin – verschwand, schloss Justin seine Zimmertür ab. Die einzelnen Türschlüssel lagen schon seit Ewigkeiten unbenutzt in einer Küchenschublade, aber Justin hatte seinen vor ungefähr vier Monaten herausgesucht und benutzte ihn nun jeden Tag. Wenn er abends aus dem Haus ging, kam sie auf dem Weg zu ihrem Schlafzimmer an seiner Tür vorbei und sah nach, ob sie auf war. Sie sagte sich, selbst wenn sie die Tür eines Tages unverschlossen vorfände, würde sie nicht hineingehen, wobei sie nie die Chance bekam, ihren Vorsatz tatsächlich aufrechtzuerhalten. Wann immer Martha die Hand auf die Klinke legte, war die Tür verschlossen. Martha bat ihn immer wieder, sie hereinzulassen, damit sie sauber machen könne, aber Justin hatte das Saubermachen längst selbst übernommen. Fast jede Woche wechselte er mittlerweile die Bettwäsche. Putzte die Fenster alle zwei 421
Wochen. Wischte Staub. Einmal hatte er sogar die Gardinen abgenommen und sie in den Flur gelegt, damit sie gereinigt werden konnten. Alles, um zu beweisen, dass es absolut keinen Grund für sie gab, zu ihm hereinzukommen. Niemals. Als sich die Tür heute Abend öffnete, dachte Martha nicht einmal an ihren Vorsatz, nicht hineinzugehen. Sie zögerte nicht einen Augenblick. Das Bett war ungemacht. Die Schreibtischschubladen standen auf. Schmutzige Wäsche hing aus dem Schrank. Die Luft roch sauer und abgestanden, und der Geruch wurde schlimmer, je mehr sie sich dem Bett näherte. Ein runder Müllhut saß oben auf dem Papierkorb – überall lagen kleine Müllhaufen. Martha ging langsam und widerstrebend zwischen ihnen hindurch, als watete sie durch einen mit Abwasser überfluteten Keller, um zum Sicherungskasten zu kommen. So sah es hier noch nicht lange aus. Vor etwa einem Monat hatte er sie einen Blick in sein Zimmer werfen lassen, um endlich seine Ruhe zu haben. Da hatte alles noch makellos ausgesehen. Wie er in so kurzer Zeit ein derartiges Durcheinander produzieren konnte, war Martha schleierhaft. Sie wollte schon ein Fenster aufmachen, dann aber lieber keinen Beweis dafür hinterlassen, dass sie in seinem Zimmer gewesen war. Suche einfach danach und verschwinde wieder, sagte sie sich. Sie war sich jedoch nicht sicher, wonach sie suchte, nur, dass es etwas sein musste, das sie nicht finden wollte. Wäre Martha Finn eine wirklich argwöhnische Frau gewesen, wozu sie an diesem Punkt ihres Lebens zweifellos ausreichend Grund gehabt hätte, wäre ihr die ganze Sache auf bestimmte Weise inszeniert vorgekommen. Die unverschlossene Tür. Der verschmutzte Raum. Die Leichtigkeit, mit der sie es finden konnte, oben auf seinem Nachttisch, der Beutel sogar noch offen. Durchscheinende gelbe Kristalle ergossen sich wie harter 422
Kandis auf die dunkle Tischplatte. Dazu eine eigentümliche Sammlung selbst gemachter Werkzeuge. Sie konnte sich nur vorzustellen versuchen, wie sie benutzt wurden, zusammen mit Feuerzeug und Löffel. Dass sie benutzt wurden, daran bestand kein Zweifel. Sie rührte nichts davon an. Sie zog die Tür hinter sich zu, als sie hinausging, ließ sie unverschlossen, wie sie gewesen war, ging in ihr Schlafzimmer und weinte.
84 Als er bei der Polizei anfing, war es das Schwerste für Ambrose gewesen, sich an das Unbehagen bereitende Nebeneinander von Gewalt und Essen zu gewöhnen. Die widerlichen Einzelheiten seines Jobs boten keine Pause, auch beim Essen nicht. Wie er es so oft morgens tat, starrte Ambrose auf die Hohlziegelwand vor sich, grübelte über den Fall des WickerManns nach und aß ein Brötchen mit Wurst und Ei vom Imbisswagen an der Ecke. Er war entmutigt. Immer noch wusste er nicht mehr über den Verdächtigen M, den »Kerzenmacher«, als zu dem Zeitpunkt, da er den Hinweis auf ihn bekommen hatte. Die Einsatzgruppe hatte nicht die Möglichkeit, jemanden rund um die Uhr beschatten zu lassen, nur weil ihr Lieutenant so eine Ahnung hatte. Zudem teilten die Männer seine Sicherheit in Bezug auf den Verdächtigen M in keiner Weise, der in der Stadt über eine gewisse Prominenz verfügte. Sein Name war zwar nicht allen Leuten bekannt, aber er war ein häufiger Gast bei Wohltätigkeitsbällen und -auktionen. Ohne Zweifel hatte er eine Menge Freunde, wahrscheinlich sogar einige in der LaSalle Street. Diese Leute konnten Ambrose das Leben extrem schwer machen, wenn der Kerzenmacher herausbekam, dass er unter Beobachtung stand.
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Ich könnte es selbst machen, überlegte Ambrose. Ich könnte ihn in meiner Freizeit zur Strecke bringen. Er dachte an die Filme von Clint Eastwood. Dirty Harry. Ein Cop, der alle Regeln hinter sich ließ, weil seine Instinkte unfehlbar waren. Was sonst hatte Ambrose in seiner Freizeit zu tun? Nichts, wenn ihn nicht gerade seine Kinder besuchten. Und er musste die Dinge in Bewegung bringen. So konnte es nicht endlos weitergehen. Bei der nächsten Ermordeten würden sich die verängstigten Menschen Chicagos vom Leiter der Ermittlungen nicht mehr so einfach mit einer herzigen Rede und einem Achselzucken abspeisen lassen. Nein, er würde selbst wieder auf die Straße gehen. Diesen Fall selbst lösen. Irgendein Journalist würde dann wahrscheinlich ein Buch darüber schreiben. Der Kerzenmacher wäre ein ziemlich guter Titel. Je länger er über all das nachdachte, desto besser gefiel ihm die Idee. Durch die Glasscheibe seiner Tür konnte er in den Einsatzraum hinaussehen. Da draußen ging einiges vor. Ein paar der Männer telefonierten, andere rannten offenbar zu ihren Autos. Ambrose hatte sein Telefon auf stumm geschaltet, damit er nachdenken konnte, und jetzt sah er, dass die Lampe darauf wie wild blinkte. Er beobachtete, wie Detective DuPree auf seinem Weg nach draußen innehielt und sich umdrehte. DuPree öffnete die Tür zu Ambroses Büro und sagte zwischen zwei Atemzügen: »Lieutenant, wir haben einen Zeugen.«
85 Malik verbrachte den Großteil des Tages meist im Konferenzraum, wo er sich mit der Verlagsspitze besprach, den Ressortleitern und der Redaktion. Normalerweise genügten schon der Anblick der grauen Wände, das Quietschen der Stühle und der Schweißgeruch in dem ungelüfteten Raum, um ihn
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schläfrig zu machen, sobald sich die Tür hinter ihm schloss. Heute nicht. »Ich hab das Wesentliche aus dem Fernsehen«, sagte Malik zu den drei Leuten, die sich mit dem Wicker-Mann beschäftigten. »Aber rekapitulieren wir die Sache noch mal.« »Um fünf Uhr heute Morgen«, sagte Sally, »führt eine Frau ihren Hund an der Division Gassi, gleich beim Expressway. Sieht einen Mann mit einem Kapuzensweatshirt, wie er sich über einen Körper beugt. Sie sagt, er schwebte darüber. Er hielt ein Handtuch in der Hand …« »Es hat geregnet, oder?« »Es war fast schon ein Unwetter«, sagte Lynn Bellingham, »aber als die Frau mit dem Hund losging, hatte der Regen etwas nachgelassen.« »Was noch?« »Der Mann im Sweatshirt hört sie kommen, sieht sie kurz an und rennt weg. Sie hält den Hund zurück. Geht zu dem Körper. Sieht ein totes Mädchen. Ruft die Polizei mit ihrem Handy. Die Frau ist erwürgt und erstochen, sexuell misshandelt und in die bekannte Position gebracht worden. Alles passt.« »Wer ist das Opfer?« »Offenbar eine Prostituierte. Sie haben den Namen noch nicht bekannt gegeben. Vielleicht haben sie ihn auch noch gar nicht.« »Und was ist das Beste?« »Es gibt Blut, nicht nur vom Opfer. Und Sperma. Die Polizei geht davon aus, dass ihn die Frau mit dem Hund beim Spurenbeseitigen überrascht hat. Das, und dazu ließ der Regen nach.« »Menschenskinder.« »Torriero, der Polizeisprecher, war ganz aus dem Häuschen.« »Verdächtige?« 425
»Die Zeugin hat ihn nicht besonders gut sehen können, kann aber sagen, dass es ein Weißer war. Ambrose selbst kam ans Mikro und meinte, sie würden einen DNA-Abgleich machen. Er hoffe, bis Ende der Woche einen Verdächtigen zu haben. Hat sich weit aus dem Fenster gelehnt.« »Okay«, sagte Malik. »Schreibt auf, was die Polizei sagt, macht ein Interview mit der Zeugin, und ich will einen Bericht über Teddy Ambrose. Der Mann ist ganz von Anfang an an dem Fall dran. Und wir brauchen Fotos von Cops am Tatort, und zwar nicht den verwackelten wahllosen Schrott vom letzten Mal.« Aufgaben wurden verteilt und angenommen. Alle machten sich an die Arbeit. Sally blieb. »Was?«, fragte Malik. Sie schloss die Tür. »Wir werden’s verpassen.« »Was verpassen?« »Die Exklusivmeldung.« »Schieß los.« »Warum glauben Sie, Ambrose hängt sich so aus dem Fenster und verspricht einen Verdächtigen in drei Tagen?« Malik drehte den Stuhl vor sich und setzte sich verkehrt herum darauf, die Arme auf der Rückenlehne. »Weil er schon seit zu vielen Jahren an diesem Fall arbeitet und ein bisschen zu übereifrig ist. Und weil sie ganz einfach davon ausgehen, dass der Mann vorbestraft ist und seine DNA deshalb im System ist.« »Nein«, sagte Barwick. »Er hängt sich so raus, weil sie bereits einen Verdächtigen haben, und jetzt warten sie nur noch darauf, dass der DNA-Test den Verdacht bestätigt.« Malik verstand. »Ihr Anwalt.« »Richtig.« »Das ist ein ganz schöner Sprung«, sagte Malik. »Ambrose steht enorm unter Druck, einen Verdächtigen zu präsentieren. 426
Mit seiner Ankündigung hat er sich zumindest ein paar Tage Luft verschafft und den Druck an seine Leute weitergegeben. Das ist politische Armumdreherei. Die Möglichkeit, dass dieses Arschloch tatsächlich in ihrer Datenbank steckt, macht das Ganze zu einem netten Spielchen für ihn.« Sallys Hand verschwand in ihrem Haar. »Stephen, so wird’s ablaufen: Am Freitag, oder womöglich am Donnerstag schon, wenn sie die Großtat ihrer Karriere nicht in der Samstagzeitung verschwinden sehen wollen, wird die Polizei verkünden, dass Sam Coyne ihr Verdächtiger im letzten Mordfall ist. Den Wicker-Mann werden sie nicht erwähnen, aber es wird für alle offensichtlich sein, weil die Polizei nicht wegen jeder toten Prostituierten eine Pressekonferenz veranstaltet. Wenn Coyne dann das Land noch nicht verlassen hat, werden sie ihn verhaften, aber nicht gleich anklagen, weil seine DNA nicht im System ist. Er ist nie in seinem Leben verhaftet worden. Ich habe das überprüft. Sie werden ihm eine Blutprobe abnehmen, und wenn sie passt, versuchen sie ihm auch die anderen Morde anzuhängen.« »Wenn Sie das sagen.« »Aber wir wissen heute schon, dass es Coyne ist. Und wir sind die Einzigen. Wir sollten es morgen in der Zeitung haben. Wenn wir bis auf die Mitteilung der Polizei warten, ist die Trib nur ein weiterer weißer Arsch in der Wochenend-Schlagzeilenschlacht.« Vor ein paar Wochen hatte Malik in Frage gestellt, ob Sally wirklich das Zeug zu einer ausgezeichneten Reporterin hatte. Jetzt stellte er sich die Frage noch einmal. Sally hatte das Potenzial, eine große Reporterin zu werden. Ein großer Reporter ist aggressiv, ambitioniert und geht beträchtliche persönliche Risiken ein. Sie hatte das in sich, er nicht. Deshalb war Malik nur ein mäßiger Reporter gewesen, und deshalb war er auch als Redakteur ein Versager. »Sagen wir, wir bringen die Story. Was steht drin?« 427
»Dass eine fortlaufende Untersuchung der Tribune zu den Wicker-Mann-Morden schon seit Wochen auf Sam Coyne deutet. Dass eine Analyse seiner Spielmuster einen Zusammenhang zwischen seinen Nachahmer-Aktivitäten im Spiel und den tatsächlichen Morden erkennen ließ. Dass eine Polizeiquelle bestätigte, dass Coyne eine Weile zu den Verdächtigen gehört hat, und dass der DNA-Test mit hoher Wahrscheinlichkeit ergeben wird, dass Coyne der Killer ist.« »Ich dachte, Sie sagten, die haben Coynes DNA nicht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Die laden ihn vor und fordern eine Blutprobe, und wenn er sich weigert, wissen sie, es ist ihr Mann. Im Übrigen gibt es vielerlei Wege, an die DNA von jemandem zu kommen. Kaffeetassen, Haarbürsten. Sie werden einen Vergleich machen. Ich wäre aber lieber vor ihnen damit raus.« »Wie gut ist Ihre Quelle?« Malik beobachtete ihre Körpersprache. Sally verschränkte die Arme und neigte den Kopf. Er versuchte, sich zu erinnern, was sie ihm einmal auf einem Seminar für Körpersprache erklärt hatten. Was bedeutete das jetzt? Barwick hob den Kopf wieder und sah ihm direkt in die Augen. »Gut. Aber sie bleibt anonym. Ich kann nicht mal sagen, wie hoch sie sitzt.« »Sagen Sie’s nur mir.« »Nein.« »Wenn Sie es nicht sagen, gibt es keine Story.« »Nichts gegen Sie, Stephen, aber Sie werden von allen Seiten unter Druck gesetzt. Ich lass mich einsperren, um diese Quelle zu schützen, aber ich will nicht, dass auch Sie so eine Wahl treffen müssten.« »Das ist mein Job, Sally.« 428
»Coyne ist es. Vertrauen Sie mir. Wenn seine DNA die richtige ist, wird keiner mehr fragen, wer meine Quelle war.« Malik bedachte, was Sally ihm da anbot. Die dickste Mediengeschichte des Jahres. Jede Nachrichtensendung, jede Agentur, jede Zeitung in diesem Land würde mit den Worten anfangen: »Die Chicago Tribune schreibt in ihrer heutigen Ausgabe …« Und wenn Barwick falsch lag, würde seine Schande nur unbedeutend größer ausfallen als sowieso schon. Wenn sie Recht hatte, war es egal, was sie mit ihm machten. Mann, fünf Minuten, nachdem sie Coyne verhaftet hatten, könnte er nach oben marschieren und ihnen den Kram vor die Füße werfen. Er würde zur Legende werden. »Wie sicher sind Sie sich Ihrer Sache wirklich?« »Ich bin mir sicher«, sagte Sally. »Ich habe hier am meisten zu verlieren, Stephen. Und ich denke, wir wissen beide, dass Sie so viel damit gewinnen können wie ich.« Malik stand auf und ging zum Telefon. Er drückte drei Knöpfe. »Don. Trommel die Leute zusammen. Alle. Sofort.«
86 Ein langer, heißer Tag auf dem Revier. Drei Mahlzeiten wurden geliefert, und die Kinder aßen beim Telefonieren. Überstunden häuften sich auf den Stundenzetteln von einem Dutzend Leute, und niemand oben beschwerte sich. Ambrose würde an seinem Tisch sitzen bleiben, bis das Labor einen Ordner voller bunter Kringel schickte. Dann würde er nach Hause gehen und die Techniker die Kringel durch den Computer jagen lassen, bis sie eine Übereinstimmung hatten. Wenn die DNA nicht im System war, würden sie sich ihren drei Hauptverdächtigen zuwenden – dem Metzger, dem Bäcker und dem Kerzenmacher. In ein paar 429
Stunden, das wusste Ambrose, würde sich sein Instinkt als richtig erweisen. Alle drei wurden heute genauestens überwacht, zusammen mit zwei anderen Männern, die von zwei der Detectives, die mit am Fall arbeiteten, verdächtigt wurden. Ambrose hoffte fast darauf, dass der Kerzenmacher die Flucht ergriff, sobald bekannt wurde, dass sie testbare DNA hatten. Was allerdings nicht wahrscheinlich war. Das überhebliche Arschloch würde sicher bleiben, wo es war, und darauf warten, dass die Polizei mit einem Haftbefehl kam. Schritte. Plötzlich stieg der Lärmpegel draußen an. »Lou«, sagte Detective Rozas und gebrauchte damit die gewöhnliche Kurzform für Lieutenant. »Das Fernsehen. Kanal fünf. Die Nachrichten.« Ambrose rannte in den Einsatzraum. Ein halbes Dutzend Beamte kniete und reckte sich um einen tragbaren Fernseher. Ein weiteres Dutzend stand im Kreis und hörte zu. Ambrose drängte sich zwischen sie. »Die Chicago Tribune berichtet in ihrer morgigen Ausgabe, dass die Polizei endlich einen Verdächtigen im Fall der WickerMorde hat und in den nächsten achtundvierzig Stunden eine Verhaftung bevorsteht. Julie Becker berichtet.« Das Bild wechselte zu einer Frau, die auf der Division Street in der Nähe des letzten Tatorts stand. Sie war attraktiv und wirkte ernst. »Diane, in einer exklusiven Seite-eins-Geschichte der Morgenausgabe berichtet die Tribune über die Ergebnisse einer langen Untersuchung der Wicker-Mann-Mordserie. Einer Untersuchung, die, wie behauptet wird, zu einem Verdächtigen geführt hat. Obwohl die Untersuchung noch nicht abgeschlossen ist, sagen Vertreter der Zeitung, dass man durch die Information, die Polizei bereite eine Verhaftung vor, zu der Entscheidung gezwungen wurde, die Geschichte morgen schon zu bringen. 430
Der Name des Verdächtigen ist laut Tribune Samuel Nathan Coyne, wohnhaft in Chicago. Coyne ist einer der Partner in der angesehenen Michigan-Avenue-Kanzlei Ginsburg & Addams. Vertreter der Kanzlei verweigern heute Abend jede Stellungnahme, und auch Samuel Coyne sagt nichts zu den Gerüchten. Anrufe bei der Polizei haben ebenfalls noch zu keinem Ergebnis geführt, allerdings ist diese Geschichte auch erst ein paar Minuten alt. Wir sollten aber noch einmal wiederholen, dass es bis jetzt noch zu keiner Verhaftung gekommen ist.« Überall im Einsatzraum klingelten die Telefone. Die jüngeren Beamten machten sich daran, die Anrufe zu beantworten. Die Nachrichtenmoderatorin im Fernsehen reagierte gerade auf einen Hinweis aus dem Off. »Julie, sage uns noch etwas zu den Ereignissen, die zu diesem Durchbruch in dem Fall geführt haben.« »Der Durchbruch kam heute früh, Diane, als eine Frau ihren Hund ausführte und die Leiche von Deirdre Thorson, einer Bürgerin aus Chicago, fand. Laut Polizei sah diese Zeugin einen Mann vom Tatort fliehen. Im Gegensatz zu früheren Morden des so genannten Wicker-Manns wurden diesmal Blut und Sperma auf dem Körper der Toten gefunden, und zwar in ausreichender Menge, um die DNA zu bestimmen. Die Polizei geht davon aus, dass der Mörder durch die Zeugin davon abgehalten wurde, alle Spuren zu beseitigen.« »Julie, warum ist die Polizei sich so sicher, dass es sich um ein weiteres Opfer des Wicker-Manns handelt und nicht einfach um einen gewöhnlichen Mord?« »Das ist eine gute Frage, Diane. Die Polizei hat uns bisher nicht in alle Einzelheiten eingeweiht, aber auf einer Pressekonferenz am Vormittag wurde klar, wie sehr man darauf vertraut, dass man dem Gesuchten auf der Spur ist. Sich auf anonyme Quellen aus dem Department berufend, schreibt die 431
Tribune, dass, wenn Coyne mittels DNA mit dem Mord an Deirdre Thorson in Verbindung gebracht werden kann, man ihn nur unter Mordverdacht festnehmen wird. Wahrscheinlich wird man aber gleichzeitig versuchen, Beweise zusammenzutragen, die ihn mit den Morden an etwa zwanzig jungen Frauen hier in Chicago während der letzten sechs Jahre in Verbindung bringen.« Nach einer Zwischenmoderation sah man Ambrose bei seiner Pressekonferenz am Morgen. Ambrose drückte auf den Lautstärkeknopf, bis der Ton ganz weg war. Seine Hände zu Fäusten geballt, blass, aber jetzt auch zunehmend rot im Gesicht, wandte er sich seinen Männern zu. »Ich will zwei Dinge wissen«, schrie Ambrose. »Nummer eins: Wer von euch Arschlöchern spricht mit dieser gottverfluchten Zeitung?« Die Männer warfen sich argwöhnische Blicke zu. Einige sahen auf ihre Füße. Die Stimmung war völlig umgeschlagen. Ambrose blickte sich finster um. »Und Nummer zwei: Wer zum Teufel ist Samuel Coyne?«
87 Sein Telefon klingelte seit Stunden, aber Sam antwortete nicht. Er war im Spiel und lehnte an einem Surfboard, das man in einer Themen-Bar namens Caymans mit ein paar Aluminiumbeinen zu einem Tisch gemacht hatte. Er trank gerade etwas mit drei jungen Frauen, begutachtete sie und versuchte, sich für eine zu entscheiden. Sie hießen Alyssa, Emmylou und Robey. Robey war eine Rothaarige, die sich die neue Software heruntergeladen hatte. Sie war perfekt wiedergegeben. Wenn sie sich drehte, sah er, wie die Locken und Strähnen ihres kräftigen Haars völlig natürlich auseinander fielen und sich wieder trafen. Ihre 432
Wimpern wirkten wie Fächer über der Iris, und wenn sie sprach, konnte man die Zungenbewegungen hinter den weißen Zähnen sehen. Wenn er gewusst hätte, wie man jemandem die Worte von den Lippen abliest, hätte er sie auch ohne Ton verstehen können. Allerdings war es ihm im Moment wirklich egal, was sie redete. Die Frauen hatten das Gespräch auf reale Themen gelenkt, und das verdarb ihm fast immer die Laune. Er hasste es, wenn die Leute Shadow World wie einen Chat-Room benutzten. Was in der wirklichen Welt geschah, sollte hier völlig ohne Belang sein. Im Spiel sollten wir nicht einmal wissen, wer der wirkliche Präsident der USA ist, welche Aktien gerade einen Höhenflug erleben oder welche Baseballmannschaft auf Platz eins steht. Wir haben unseren eigenen Präsidenten, unsere eigene Börse und unsere eigenen Baseballmannschaften. Er versuchte, ihr Gespräch auszublenden und auf näher liegende Themen zu warten, aber das war schwer. »Robey und Alyssa, habt ihr die Nachrichten gesehen?«, fragte Emmylou. »Ich glaube, die Polizei verhaftet ihn morgen. Vielleicht sogar noch heute Nacht.« »Emmylou, das ist so eine Erleichterung«, sagte Robey. »Seit ich siebzehn bin, gab es, glaube ich, keinen Tag, an dem ich nicht an ihn gedacht oder keine Angst vor ihm gehabt hätte …« »Ich kann kaum glauben, dass sie seinen Namen einfach so im Fernsehen nennen. Ich an seiner Stelle wäre längst auf dem Weg nach Me-xiih-koo«, sagte Alyssa. »Alyssa, ich bin mir sicher, sein Haus wimmelt nur so von Polizisten«, sagte Robey. »Wahrscheinlich haben sie ihn gleich verhaftet, als sein Name in den Nachrichten kam.« Sam unterbrach sie nur, weil es besser war, als stumm daneben zu stehen. »Robey«, sagte er, »wovon redet ihr eigentlich?« Alyssa lachte. »Sam, bist du schon den ganzen Tag im Spiel? Vom Wicker-Mann reden wir, Dummkopf. Sie haben 433
rausgekriegt, wer es ist, und werden ihn jeden Moment verhaften.« »Er heißt Sam, genau wie du«, sagte Emmylou. »Sam Coyne.« Sie kicherte. »Ich würde dich ja nach deinem Nachnamen fragen, nur um sicher zu gehen, aber ich denke, der WickerMann spielt nicht Computer, während die Polizei bei ihm an die Tür klopft.« Was zum Teufel? Klopf, klopf, klopf. Das kann doch nicht sein. Durch die Wohnungstür war zu hören: »Mr Coyne? Hier ist die Polizei. Machen Sie bitte auf.« Sam ließ den Computer stehen und wählte schnell Bob Ginsburgs Privatnummer. »Ich versuche, dich seit Stunden zu erreichen«, sagte Bob. »Die sind draußen im Flur, Bob! Verflucht noch mal!« »Mr Coyne? Wir haben den Hausmeister hier bei uns. Er wird die Tür jetzt öffnen. Bitte legen Sie sich auf den Boden und heben Sie die Hände über den Kopf, wo wir Sie sehen können.« »Was soll das alles heißen, Sam?« »Ich weiß es nicht, Bob. Großer Gott. Schick jemanden, dass er mich dort trifft.« »Wohin bringen sie dich?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung.« Das Türschloss klickte. Die Tür knallte gegen die Wand. »Runter! Runter! Runter! Runter! Sofort auf den Boden!« Alyssa, Emmylou und Robey diskutierten im Caymans weiter die aufregenden Entwicklungen im Wicker-Mann-Fall, und Sams schweigender Avatar hob sein Glas zwischen Tisch und Mund hin und her, mit einer sich wiederholenden mechanischen Bewegung. 434
88 Sie konnte es niemandem im Nachrichtenraum gegenüber zugeben, aber sie war nervös. Äußerst nervös. Ihre Verbündeten fragten sie, ob sie sich Sorgen mache, und sie schüttelte den Kopf und lachte. Auf der Website, die für ihre Kolumne »Was macht Malik?« bekannt war, tauchten erste Voraussagen auf, dass die bis dahin unbekannte Reporterin Sally Barwick durch ihre Attacke auf Coyne die eigene Karriere torpediert habe und möglicherweise gleich noch eine Hand voll Leute aus der Verlagsleitung der Trib zu Fall gebracht habe. Seit die Nachricht herausgekommen war, hatten bereits hundert Kollegen Wetten abgegeben, mit dem Trend zwei zu eins gegen sie. Sam Coyne hatte einem Bluttest zugestimmt. Kurz nach Bekanntwerden der Nachricht im Fernsehen hatte die Polizei Barwick zu einer Befragung abgeholt. Mit einem Anwalt der Tribune an ihrer Seite, weigerte sie sich, ihre Quelle im Police Department zu benennen, gab ihnen aber alle Informationen, die auch in der Zeitung stehen würden. Sie berichtete von Coynes Morden in Shadow World, der Korrelation zwischen seinen Morden im Spiel und den WickerMann-Morden sowie seinem versuchten Angriff auf sie bei sich zu Hause. Sie war immer noch im Polizeigebäude, als sie Coyne hereinbrachten: vier Polizisten, keine Handschellen, und drei Anwälte (unter ihnen Bob Ginsburg, wie der Anwalt der Trib ihr sagte). Sally versteckte sich hinter einem Cola-Automaten, bis die Gruppe im Vernehmungsraum verschwunden war. Sie befragten Coyne drei Stunden lang und setzten ihn wieder auf freien Fuß, nachdem er einem Bluttest zugestimmt hatte. Sallys Magen fühlte sich an wie ein nasses Handtuch, das sich selbst auszuwringen versuchte, als sie das hörte. Sie war sich sicher gewesen, dass seine Anwälte alles ablehnen würden, was ihn belasten konnte. Mittlerweile, es war zwei Uhr am 435
nachfolgenden Nachmittag, schien es möglich, sogar wahrscheinlich, dass man sie innerhalb von Stunden widerlegen würde, was Coyne anging – was, da standen die Chancen gut, das schnellste Ende einer viel versprechenden Karriere in der Geschichte des Journalismus sein würde. Malik war den ganzen Tag noch nicht in der Nachrichtenabteilung aufgetaucht. Das war es dann wohl, wurde geflüstert. Die Sam-Coyne-Story gibt ihm den Rest. Was denkt der sich? Was denkt Barwick sich? Wir wussten doch alle längst, dass sie nicht ganz bei sich ist. Hat nichts neben der Tribune als nur ihr verrücktes Computerspiel. Trotzdem, niemand hätte ihr eine so selbstmörderische Geschichte zugetraut. Ob sie jemand gezielt mit Falschinformationen hat hochgehen lassen? Jemand, der was gegen Coyne hat? Ist sie von jemandem gesteuert worden, den Ginsburg & Addams vor Gericht niedergemacht haben? Am besten kümmern wir uns mal um Coynes letzte Fälle, besonders die, in denen G&A als Klagevertreter aufgetreten sind, angefangen mit den dicksten Brummern und dann die Liste runter. Das werden wir alles brauchen, wenn der Bluttest zu Coynes Gunsten ausgeht und wir in der nächsten Woche den Widerruf drucken müssen. Der neue Redaktionsleiter wird froh sein, wenn wir vorab schon haben Sorgfalt walten lassen. Gott, der neue Redaktionsleiter, das könnte sogar einer von uns werden … So breiteten sich Gerüchte aus. Tatsächlich breiteten sich die Gerüchte so schnell aus, dass eine Großhandelsfirma für landwirtschaftliche Produkte aus Iowa, die im Jahr zuvor eine Hundert-Millionen-Dollar-Klage wegen einer Copyrightverletzung gegen einen Mitbewerber verloren hatte, der von Sam Coyne vertreten wurde, eine Pressemeldung herausgab, in der sie abstritt, irgendetwas mit den Anschuldigungen gegen Coyne zu tun zu haben. Niemand hatte sie gefragt.
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Die Gerüchte wucherten aber auch in der anderen Richtung. Websites wurden mit unbestätigten, anonymen Berichten zu Coynes Promiskuität und seinen ausgefallenen Schlafzimmerpraktiken überzogen. Sally rief Justin an, die Hand auf der Gabel, um sie schnell herunterdrücken zu können, sollte seine Mutter an den Apparat gehen. Er war zu Hause. »Ich wollte nur mit jemandem reden«, flüsterte sie. »Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl.« »Es wird schon okay gehen.« »Es sieht langsam so aus, als hätten wir Unrecht.« »Haben wir aber nicht.« »Aber was, wenn er Deirdre Thorson tatsächlich nicht umgebracht hat? Was, wenn das ein Nachahmer war und er einer Blutabnahme zustimmt, weil er weiß, er war es nicht?« »Wenn es nicht sein Blut war, beweist das nichts.« »Nur dass ich dann meinen Job los bin, eine Trillionen-DollarKlage an den Hals krieg, und sie mich wahrscheinlich wegen Missachtung oder so was einsperren, weil ich gar keine Quelle in der Polizei habe. Und wenn ich ihnen die Wahrheit sage, werden sie mir nicht glauben.« »Du sorgst dich wegen Dingen, die noch nicht mal passiert sind.« »Aber sie werden passieren, Justin. Siehst du das denn nicht? Er hat dem Bluttest zugestimmt. Warum würde er das tun, wenn er schuldig wäre?« »Aus vielen Gründen. Vielleicht ist er eine gespaltene Persönlichkeit und kann sich nicht erinnern.« »Mann, komm schon.« »Vielleicht will er auch den DNA-Beweis anfechten«, sagte Justin. 437
»Das ist in letzter Zeit nicht oft gemacht worden, aber ich habe von einer ganzen Reihe Fälle gelesen, die bis zu O. J. Simpson zurückreichen. Eine ganze Reihe Mörder ist schon davongekommen, weil sie behauptet haben, dass etwas mit der Probe nicht stimmte. Oder der Test nicht hundertprozentig genau war. Sein Anwalt wird im Gericht sagen: ›Warum sollte der Angeklagte der Polizei freiwillig Beweise zur Verfügung stellen, die ihn nur belasten konnten?‹ Jurys sind dafür heute zwar zu intelligent, aber vielleicht versucht er es so, weil es seine einzige Hoffnung ist.« »Gott, ist mir schlecht.« Sally betätigte ihr Keyboard, um zu sehen, ob die Agenturen inzwischen etwas Neues hatten. Von der anderen Seite des Raums hörte sie Murmeln, Herumrücken und wie Leute von ihren Stühlen aufstanden. Stephen Malik kam in den Raum, zielbewusst und mit eiserner Miene, die alle gierig zu lesen versuchten. Hätten ihm seine Gedanken mit Blindenschrift im Gesicht gestanden, wären sie vorgelaufen, um ihn mit ihren Händen zu betatschen. Malik ging an Barwicks Tisch vorbei, verlangsamte nicht einmal den Schritt, sondern machte nur eine kleine Bewegung mit den Fingern. Barwick legte auf und folgte ihm in sein Büro, während sich nun das definitive Gerücht seinen Weg durchs Trib-Gebäude bahnte. Malik war gefeuert und Barwick ging mit ihm. Als es den zehnten Stock erreichte, beschrieb es bereits, wie Malik von bewaffneten Sicherheitsbeamten aus seinem Büro geführt worden war. Aber da hatte auch die Wahrheit schon das System betreten. Mit einem Flüstern. »Hat man Sie rausgeschmissen?«, fragte Barwick. »Sie waren gerade dabei«, sagte er, und seine Stimme klang heiser, müde und enttäuscht. »Sie waren gerade dabei, mir zu sagen, dass ich unverantwortlich gehandelt hätte. Dass die Kontroll- und Überprüfungsmechanismen, die in der Zeitung installiert sind, die Coyne-Geschichte vor Drucklegung hätten 438
stoppen müssen. Dass ich aufgrund der Umgehung ihr Vertrauen missbraucht hätte, meine Pflichten missachtet, den Aufsichtsrat betrogen – auf jeden Fall ging es um Betrug und Missachtung von Vertrauen und so weiter.« Sally drängte ihn mit den Augen weiterzureden. Hatte sie noch einen Job? »Und sie sagten, diese Sam-Coyne-Sache sei nur einer von vielen unglücklichen Vorfällen, und sie seien enttäuscht, schließlich hätten sie mir alle Chancen gegeben, aber ihnen bleibe keine Wahl. Es sei nicht persönlich gemeint, und finanziell ließen sich sicher Arrangements treffen, was meinen Vertrag angehe, selbst wenn ich nur über mäßige Ersparnisse verfügte, meine Angestelltenrente und so weiter, dass sich das sicher so regeln lasse, dass ich mich bequem zur Ruhe setzen könne, denn das nähmen sie doch an, dass ein Mann in meinem Alter nach solch einem Riesenskandal keinen Job mehr fände, wie sehr man das alles der Presse gegenüber auch abzufedern versuche. Auf jeden Fall solle ich mich schon mal auf die unvermeidbar anstehende Zivilklage vorbereiten.« »Gott, es tut mir so Leid, Stephen«, sagte Sally, und es kratzte ihr in der Nase, als müsse sie gleich anfangen loszuheulen. »Und dann kamen sie auf Sie. Dass Sie da einiges auf Ihre Kappe zu nehmen hätten, aber Sie seien ja noch jung und talentiert sowieso und würden sich zweifellos von dem Schlag erholen. Vielleicht sei ja sogar eine Art Bekenntnis-Buch für Sie möglich.« »Wir sind also beide raus«, sagte Sally und fühlte sich merkwürdig erleichtert. »Komischerweise nicht.« »Wie meinen Sie das?« »Weil während all der Reden die Nachricht kam, dass Coyne beim DNA-Test durchgefallen ist.« 439
»Oh, mein Gott. Er war es?«, flüsterte sie und war sich sicher, dass sie nun tatsächlich losheulen müsste. »Er war es.« Malik lachte. »Sie hätten diese Hurensöhne sehen sollen. Ich schwöre, wenn die nicht in ihren feinen braunen Ledersesseln gehangen hätten, hätte ich sehen können, wie sie sich in die Hosen geschissen haben.« »Heiliger Vater!« Sally lief um seinen Schreibtisch herum und umarmte ihn fest. »Ich freue mich so für Sie. Für mich, aber besonders für Sie …« »Barwick«, sagte er und schob sie von sich weg, damit er ihr ins Gesicht sehen konnte. »Ich muss das fragen … Warum klingen Sie so überrascht?«
89 Es regnete am Tag der Schulentlassungsfeier in der Northwood East. Es war ein langsamer, fortdauernder Angriff, der von kurzen Regengüssen unterbrochen wurde, die alle Fußgänger nach Unterschlupf suchen ließen, als würden die schweren Tropfen von Heckenschützen abgeschossen. Die Feier wurde in die große Turnhalle verlegt, die weder über genügend Plätze noch über genügend frische Luft für Schüler, Eltern und Verwandte verfügte. Die Organisatoren hatten gesagt, sie wollten in diesem Jahr eine kürzere Zeremonie, aber sie hatten keinerlei Vorkehrungen dafür getroffen. Der Rektor, der Schüler mit der Abschiedsrede, der Zeremonienmeister – ein Ehemaliger, der am Broadway geschauspielert hatte und zuletzt Ersatzmann in einer Reihe aussterbender Vorabendserien geworden war –, sie alle hatten insgeheim entschieden, dass die Zeit nicht bei ihnen selbst eingespart werden würde. Vor sechs Monaten noch hatten Justins Lehrer gedacht, dass er der Abschiedsredner werden könnte. Wobei die Chancen nicht zu gut standen: Mary Seebohm war eine engagierte Schülerin, 440
die schon in Harvard angenommen war, und Justins Engagement blieb, selbst wenn er sich für etwas interessierte, eher sporadisch. Dennoch, er war ein Wunderkind, ohne Zweifel der Intelligenteste der ganzen Schule, und als das letzte Halbjahr begann, hieß es im Lehrerkollegium, dass er durchaus eine Chance hätte, wenn er überall die besten Noten bekam und Mary Seebohm wie befürchtet in Mathematik ein Ausrutscher unterlief. Das hatte sie ihrer schwatzhaften Orientierungsberaterin, Mrs Sykes, anvertraut. Aber es kam nicht so. Mary Seebohm meisterte die Mathematik wie alles andere, und mit Justins Noten, der sich plötzlich überhaupt nicht mehr für die Schule zu interessieren schien, ging es bergab. Drogen, nahm man im Lehrerzimmer an. Wie oft hatte man das schon erlebt. Justin wurde Fünfzehnter in der Klasse, womit er an einer ausgezeichneten Universität angenommen worden wäre, wenn er sich nur beworben hätte. Aber er bewarb sich nirgends. »Ich nehme mir ein Jahr Zeit«, sagte er seiner Beraterin. Das wird schlimm enden, hieß es im Kollegium. Am Morgen der Abschlussfeier sagte Davis zu Joan, dass er an der Zeremonie teilnehmen wolle. »Wozu soll das gut sein?«, fragte ihn Joan. »Zu nichts«, sagte Davis. »Dann komme ich mit.« Joan und Davis sahen zusammen mit Stiefvätern und Kettenrauchern von den Schwingtüren aus zu. Nur wenige Leute erkannten ihn, und keiner zog mehr eine Verbindung zwischen ihm und der lange vergessenen üblen Geschichte mit Martha Finn und ihrem Sohn. »Wir wollen nur Neds und Ellas Sohn gratulieren«, sagte Davis zu einem Paar, ehemaligen Patienten, die fragten. Er war froh, dass sie nicht auch noch fragten, wer denn Ned und Ella seien.
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Die Schüler saßen in blauen Roben und mit »Doktorhüten« in alphabetischer Ordnung auf langen Klappstuhlreihen. Ihre Eltern drängten sich auf der Tribüne wie Tennisbälle in einem Ballcontainer. Mäntel, die vom Regen draußen nass waren, blieben nass. Husten und Niesen echoten zur Decke. Zwischen dem Südausgang und der Ausweichturnhalle – dem WrestlingRaum, wie er genannt wurde – bildeten sich Schlangen vor den Toiletten, während gewieftere Eltern in die Umkleiden gingen. »Das heute ist ein ganz besonderer Tag für uns alle«, begann Mary Seebohm wenig viel versprechend. »Es ist der letzte Tag unserer High-School-Zeit. Für einige von uns ist es auch der letzte Tag ihrer Ausbildungszeit. Auf jeden Fall ist dies für alle von uns der erste Tag der Freiheit. Achtzehn Jahre lang, mehr oder weniger, waren wir Menschen ohne eine Wahl. Natürlich haben wir kleine Entscheidungen getroffen – in welcher Farbe wir unser Zimmer streichen oder welches Instrument wir in einer Band spielen wollten, zum Beispiel. Ob wir Cheerleader werden, beim Quiz- oder Debattierclub mitmachen wollten. Lasse ich mich in die Schülervertretung wählen oder gehe ich in den Kurs für Metallund Holzarbeiten? Aber sobald es zu den wichtigen Fragen unseres Lebens kam, blieb uns keine Wahl. Das ändert sich heute. In dieser Football …, ich meine, in dieser Basketballhalle sind eintausendeinhundertundzwölf individuelle Schicksale versammelt. Jeder von uns hat das Potenzial, etwas Besonderes zu machen. Gehört zu werden. Unserem Nächsten zu helfen oder ihm wehzutun. Große Dinge zu erreichen oder im Dunkel zu verschwinden. Voller Anmut zu sein, beherzt, ungehemmt, mächtig, gnädig, sorgend, grausam, hartherzig, künstlerisch, kreativ, produktiv, promiskuitiv …« Applaus, »niederträchtig, inspirierend, wohltätig, beängstigend, liebevoll, vorsichtig, ängstlich, dominant, wahrhaftig, fair, großzügig, gesetzestreu – gutherzig. Wir werden nie mehr 442
Möglichkeiten haben, und damit auch mehr Freiheit, als heute. Jeder Tag von heute bis zu unserem Tod ist ein Tag mit weniger Möglichkeiten als der vor ihm. Und so bitte ich euch, meine Mit-Absolventen von Northwood East, meine Freundinnen und Freunde, meine Klassenkameraden: Trefft eure Entscheidungen weise.« Mary fuhr fort. Davis sah auf die Uhr. Sieben Minuten. Zehn Minuten. Seine Kleidung klebte unangenehm an seinem Körper. Der Mann gleich rechts hinter ihm atmete mit einem schnellen Pfeifton. Davis machte einen Schritt vor. Die Schlange vor der Männertoilette hatte sich während der letzten paar Minuten um ein Dutzend Wartende verlängert, da Mary Seebohm nichts sagte, das zu einer interessanten Aufrechnung hätte führen können. Davis dachte ebenfalls darüber nach, ob er kurz einmal verschwinden sollte. Er dachte sogar daran, Joans Hand zu fassen und vorzuschlagen, wieder zu gehen. Sie hatte schließlich sowieso nicht kommen wollen. Martha Finn trat durch den sich teilenden Vorhang der Wartenden in den Vorraum. Ihre Augen waren weit geöffnet, die Haut saß straff und angespannt über dem mageren Kiefer. Sie sah alt aus, und Davis fragte sich, seit wie vielen Jahren er sie nicht mehr gesehen hatte. So lange war es gar nicht her. Sie sollte zu einem Arzt gehen. Selbst ihr offenbar heftiger Zorn konnte für die Blässe ihres Gesichts nicht allein verantwortlich sein. »Dr. Moore«, flüsterte sie knapp. Ihre Augen lenkten ihn zur Glastür mit dem metallenen Rahmen, die nach draußen führte. Er nickte und folgte ihr, legte aber vorher eine Hand auf Joans Arm und bat sie zu bleiben, wo sie war. Er werde bald zurück sein. Das geht schon in Ordnung. Draußen unter dem schmalen Vordach, von dem der Regen auf den Beton troff, schlang sich Martha die Arme um den Leib und sagte: »Ich weiß, dass Sie sich mit meinem Sohn getroffen haben.« Sie zitterte, als arbeitete ein Motor in ihr, um 443
gleichzeitig ihrer Stimme Kraft zu verleihen und ihren Ärger im Zaum zu halten. »Er wollte mich sprechen«, gab Davis zu. »Nachdem Sie ihm gesagt hatten, er sei ein Klon. Wir haben nur geredet.« »Seit Sie ihn treffen, hat er sich verändert. Wussten Sie, dass er Drogen nimmt?« Davis zuckte zusammen. »Drogen? Das ist ja verrückt«, sagte er. »Das kann nicht sein.« Wenig überzeugt fragte Martha: »Haben Sie ihm Drogen gegeben?« »Natürlich nicht.« »Haben Sie versucht, ihn davon abzuhalten?« »Mrs Finn, ich versichere Ihnen, ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Justin nimmt keine Drogen.« Als er es aussprach, begann er jedoch zu zweifeln. Sie wirkte so sicher. Hatte sie Justin überrascht? So nahe er sich dem Jungen fühlte – wie gut kannte er ihn wirklich? Wie viel Zeit hatten sie denn miteinander verbracht? Würde ich es wissen, wenn Justin Drogen nähme? Er gab sich selbst die Antwort: Ja. Ja, das würde ich. »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte sie. »Ich habe Angst. Angst um ihn. Angst davor, was er tun könnte. Sich selbst antun könnte. Mir. Jemand anderem.« Sie sah Davis in die Augen. »Und es gibt nichts, was ich tun oder sagen kann. Wie kann er nur so selbstsicher sein, wo ich doch so unsicher bin?« Davis sagte, es tue ihm Leid. Es sei falsch gewesen, Justin hinter ihrem Rücken zu treffen. Er suchte nicht nach Entschuldigungen. Er versuchte nicht zu erklären, warum er und Justin sich getroffen hatten. Was sie gemacht hatten. Zu seiner Überraschung akzeptierte sie sein kleines Eingeständnis mit einem Nicken, öffnete die Tür zum Vorraum und verschwand wieder in der Halle. 444
»Das war merkwürdig«, sagte Joan, als er zurückkam. »Was wollte sie?« »Eine Entschuldigung«, sagte Davis. »Lass uns gehen.« »Alles in Ordnung?«, fragte sie. Davis senkte den Kopf auf eine Weise, die man für ein Nicken halten konnte. Sie traten weiter nach hinten, um sich die Mäntel anzuziehen, als ein vielleicht fünfjähriges Mädchen in einem rosa Kleid und mit sonnenblondem Haar aus Richtung Halle zu ihnen kam. »Entschuldigen Sie«, sagte das Mädchen. »Ja?« »Dieser Junge hat gesagt, ich soll Ihnen das geben.« Sie reichte Davis ein Programm der gerade stattfindenden Zeremonie. »Welcher Junge?«, fragte Joan. Das Mädchen zuckte mit den Schultern. Davis öffnete das zusammengefaltete Programm. Mit schwarzem Kuli stand da: 415 Saint Paul Road. 23 Uhr. Heute Abend.
90 »Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte Justin. »Eine bessere Möglichkeit zum Feiern bekommen wir womöglich nicht mehr.« Er warf die Arme in die Luft. »Glückwunsch! Wir haben das Schwein gekriegt!« Auf der anderen Seite der Dünen schlugen die Wellen an den Strand. Etwa hundert Meter zu beiden Seiten von ihnen hatten Paare in unregelmäßigen Abständen Decken auf den nassen Sand gebreitet. Gedämpftes Rufen und gedämpfte Musik markierten das Zentrum der Abschlussparty in der Saint Paul Road 415, nur wenige Schritte vom Wasser entfernt. Davis war nicht klar, ob das Ganze von frei denkenden Erwachsenen 445
überwacht wurde oder ob es immer noch Eltern gab, die so uninteressiert und dumm waren, ihr Kind am Wochenende des High-School-Abschlusses allein zu lassen und davon auszugehen, dass ihr Haus nicht in eine Drei-Millionen-DollarStudentenbude verwandelt wurde. »Was habe ich denn zu feiern, Justin?«, fragte Davis. »Was sollte das wohl sein?« »Aber natürlich. Coyne ist verhaftet und, was die Presse angeht, auch schon verurteilt. Zitat: ›Der Prozess, so scheint es, ist nur noch eine Formalität.‹« »Was ist mit deiner Theorie?« »Wie meinen Sie das?« Justin lächelte wie ein Komiker, der darauf wartet, dass das Publikum seinen letzten Witz kapiert. »Du sagtest, wenn Coyne jemanden in Shadow World umbringt, spürt er nicht den Drang, auch als Wicker-Mann zu morden. Aber hatte Coyne nicht erst vor kurzem jemanden in Shadow World ermordet? In der Nacht, in der er Sally angegriffen hat?« »Es ist keine exakte Wissenschaft.« Justin grinste. »Es ist Bullshit«, sagte Davis. »Deine ganze Wicker-MannShadow-World-Theorie ist Bullshit.« Er drehte sich weg und drückte seinen Schuh in den nassen Frühlingssand. Der Abdruck bildete exakt jede Linie und Vertiefung der Sohle ab. »Ich weiß, was du getan hast«, sagte Davis und wusste gleich, dass seine Anklage nicht mehr zurückzunehmen war. Dass sich durch sie das Verhältnis zwischen Justin und ihm grundsätzlich geändert hatte. Die Bedeutung lag dabei nicht allein in der Wahrheit der Anschuldigung, und Davis würde zugeben müssen, dass er nicht einen Beweis für sie hatte. Tatsächlich hatte er, bevor ihm der Gedanke gekommen war, nie geglaubt, dass Justin zu so etwas fähig sein würde. Gut, er kannte die Berichte des Psychologen und hatte sich wegen des Verschwindens der Haustiere in Justins Nachbarschaft Sorgen 446
gemacht, und nicht zuletzt hatten er und Joan ewig darüber debattiert, was aus Justin eines Tages werden mochte (in ihrem Sprechzimmer und jüngst über das flache Tal hinweg, wo sich ihre Kissen trafen). Dennoch hatten sie das, was jetzt geschehen war, immer nur für eine sehr entfernte Möglichkeit gehalten. Davis hatte nie wirklich geglaubt, nicht einen Moment lang, dass ihre schlimmsten Befürchtungen tatsächlich wahr werden könnten. Aber jetzt wusste er es. In dem Augenblick, da Martha Finn ihm gesagt hatte, sie glaube, Justin nehme Drogen, hatte er angefangen, es zu akzeptieren. Mütter kennen ihre Söhne. Justin nahm zwar keine Drogen, aber etwas anderes war mit ihm ganz grundsätzlich nicht in Ordnung. Von dem Tag an, da Justin an seine Tür geklopft hatte, waren er und der Junge durch Wahrheiten, die keiner Überprüfung bedurften, miteinander verbunden gewesen. Nicht durch irgendwelche Indizien oder Theorien. Sam Coyne hatte Anna Kat ermordet. Er musste auch andere umgebracht haben – wie viele, das war unmöglich zu sagen. Das letzte Jahr über hatten er und Justin diese schreckliche Wahrheit für sich behalten, und ihre Unfähigkeit, sie der Welt mitzuteilen, war Davis wie eine Buße vorgekommen. Dafür, dass er ein egoistischer Mensch war. Ein schlechter Ehemann und ein mittelmäßiger Vater. AKs Mörder zu entlarven war einmal so etwas wie seine Religion gewesen, aber er war darüber zu einer Art Mönch geworden, dem nur das Schweigen blieb: Das letzte Geheimnis, das er mit Anna Kat teilte, würden das Gesicht und der Name ihres Mörders sein. Aber er hatte nicht mit Justin gerechnet. Dem Evangelisten, der dem Volk die Botschaft überbringen wollte, um jeden Preis. »Ich wollte es Ihnen sagen.« »Bullshit«, sagte Davis noch einmal.
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»Ernsthaft. Ich habe nur überlegt, ob Sie nicht vielleicht glücklicher wären, wenn ich es nicht täte. Aber ich wollte es Ihnen sagen. Weil wir noch nicht fertig sind.« »Nein, nein, Justin«, sagte Davis. »Wir sind fertig. Die einzige Frage ist, wie wir die Dinge wieder in Ordnung bringen.« Justin lachte und schüttelte den Kopf. »Sie denken, die Dinge sind so nicht in Ordnung? Der Mann, der Ihre Tochter umgebracht hat, sitzt im Gefängnis, wahrscheinlich für den Rest seines Lebens. Nicht für den Mord an Anna Kat, aber …« »Nicht mal für einen Mord, den er begangen hat.« Justin stieg halb die Düne hinauf und sah auf den See hinaus, der in der Dunkelheit nur an kleinen weißen Schaumkronen zu erkennen war. »Sie erinnern sich doch daran, wie wir einmal darüber gesprochen haben, ob es für ein Ich möglich sein könnte, in zwei Körpern zu leben? Ich habe ihn gefühlt. Als ich die Frau getötet habe, habe ich Coyne gefühlt. Ihn verstanden. Ich habe begriffen, warum er es tun muss. Warum er zum Wicker-Mann wird. Ich habe begriffen, was es bedeutet, diesen Drang zu verspüren, der sich nicht kontrollieren lässt. Eine Marionette in den Händen des inneren Zwanges zu sein. Sie hat mir Leid getan. Wirklich. Aber als ich erst einmal angefangen hatte, ich meine, da war dieser Rausch. Ihn zu stoppen wäre so gewesen wie … wie einen Orgasmus zu stoppen.« Davis war schlecht. Er kauerte sich ins hohe Dünengras. »Es tut mir Leid«, sagte Justin. »Ich weiß, das ist für Sie nur schwer zu ertragen. Aber wollen Sie nicht alles wissen? Ich habe keine Ahnung, warum sich Coyne Anna Kat ausgesucht hat, aber als es einmal so weit war, musste sie sterben. Es war unvermeidbar, wie ein Unfall. Wie ein Blitzschlag. Keiner von beiden hätte es irgendwie stoppen können. Ich dachte, das würde Sie womöglich trösten.« Davis konnte nicht einmal versuchen, das Gesagte zu begreifen. 448
»Wir müssen … Wir müssen zur Polizei.« Justin rutschte die Düne wieder hinunter. »Jetzt? Was soll das bringen? Wollen Sie Coyne befreien? Ihn wieder auf die Straße lassen? Selbst ins Gefängnis gehen, und das wahrscheinlich für den Rest Ihres Lebens? Wo sollte da die Gerechtigkeit liegen? Für Sie? Für AK? Für Ihre Frau? Für die Eltern von den Dutzenden von Mädchen und Frauen, die Coyne umgebracht hat und noch umbringen wird, wenn wir ihn aus dem Gefängnis holen? Ich sage es Ihnen doch. Ich habe es gespürt. Er wird nicht aufhören.« »Und was ist mit der Gerechtigkeit für Deirdre Thorson? Was ist mit ihr? Mit ihren Eltern?« Justin schnaufte. »Deshalb sage ich ja, dass wir noch nicht fertig sind.« Seine Augen sahen wie glasiert aus. Wie mit Vaseline bestrichen. »Dr. Moore, ich weiß, dass Sam Coyne nicht aufhören wird zu morden, weil auch ich nach diesem einen Mal nicht mehr damit aufhören kann.« Justin hatte eine Hand voll Sand aufgenommen und ließ ihn durch die Finger rinnen, während er das erklärte. Und als er fertig war, wusste Davis, dass es genauso kommen würde, wie der Junge sagte.
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Justin mit siebzehn
91 Schreiben diente der Wahrheitssuche, wie Barwick annahm, aber die ganze Wahrheit lag außerhalb ihres Blickfelds. Das hatte Big Rob immer gepredigt, und es traf sowohl für den Journalismus als auch die Detektivarbeit zu. Bei beiden ging es um das Herausarbeiten von Tatsachen, die zu Verständnis führten, und das Zurückhalten von Tatsachen, die nur Verwirrung hervorriefen. Sally musste an ein Gespräch denken, das sie einmal mit einem Kriegskorrespondenten geführt hatte, der gerade von einer zwei Kontinente weit entfernten Front zurückgekehrt war. »Ich hätte jeden Tag eine Story über die guten Dinge schicken können, die passiert sind«, sagte er. »Über Schulen, die eröffnet wurden, wieder aufgebaute Krankenhäuser und neu besiedelte Täler. Über Frauen im Parlament, die wachsende Wirtschaftskraft und die langfristigen Hoffnungen einer neuen Nation. Jeden Tag hätte ich eine neue Geschichte schicken können, die ein reales, rosiges Bild gezeichnet hätte, und alles wäre absolut wahr gewesen. Aber in meinen Augen liefen die Dinge nicht gut, also diente ich der Wahrheit, indem ich mich auf Autobomben und Attentate konzentrierte, auf die politische Korruption und religiöse Fehden. Das war die wahre Story, und es war meine Pflicht, sie zu erzählen, obwohl sie auf Kosten der kleineren Wahrheiten ging. Himmel, auf dem bisschen Platz kannst du nicht mal die ganze Wahrheit über eine entlaufene Katze erzählen.« Sie saßen auf einer breiten Mahagoniterrasse am Rande des Ohio Rivers. Vor ihnen standen Weißwein und ein paar 450
Nachmittags-Sandwiches, und Sally beantwortete die Fragen einer mausgrauen jungen Reporterin des Cincinnati Inquirer. Sallys gerade herausgekommenes Buch Im Visier des WickerManns: Die Demaskierung des gefürchtetsten Serienmörders Amerikas lag zwischen ihren Tellern. »Warum, denken Sie, hat er es getan?«, fragte die Reporterin, die Alice hieß. »Warum, glauben Sie, wurde Sam Coyne zum Mörder?« »Ich weiß es nicht«, sagte Barwick. »Aus einem inneren Zwang heraus, denke ich. Aber er handelte auch durchaus rational. Er nahm sich die Zeit, seine Opfer in eine bestimmte Stellung zu bringen und sämtliche Spuren zu verwischen. Und als er mich verfolgte, tat er das nur, weil ich gedroht hatte, ihn bloßzustellen. Er wurde nicht zum Mörder, weil er verzweifelt war. Verzweifelt wurde er nur, weil er so viel zu verlieren hatte.« »Das ist mit das Spannendste an Ihrem Buch«, sagte Alice. »Coyne führte so viele verschiedene Leben – als ehrbarer Anwalt, treuer Sohn, Sexbesessener, wobei das nur die Leben sind, die er öffentlich lebte …« »Richtig.« »… er war aber auch noch eine Art sexuelles Raubtier, ein Mörder. Und die meisten dieser Leben lebte er auf die eine oder andere Weise noch ein zweites Mal in Shadow World.« Sally sagte: »Das war das Faszinierende für mich, als ich dieses Buch schrieb. Als Shadow-World-Spielerin und so genannte Lebensechte war mir sehr bewusst, in wie vieler Hinsicht wir alle mehrfache Leben führen. Ich glaube, bei Sam Coyne wurde es pathologisch.« Alice lächelte. »Welche anderen Leben führen Sie noch?« »Nun, wenigstens in einem davon habe ich einen Freund«, witzelte Sally und dachte dabei an den traumhaften Eric Lundquist und den frühreifen Shadow-Justin. »Nein, ernsthaft, 451
eines der Ziele eines Lebensechten ist es, keine Geheimnisse zu haben. Wenigstens nicht vor sich selbst.« Alice hob die Brauen und fragte: »Werden Sie auf Ihrer Promotionstour für das Buch den Namen des ›Schaffners‹ aufdecken? Vielleicht sogar in diesem Interview?« Sie kicherte hoffnungsvoll. »Der Schaffner« war in Sallys Buch der Name für ihren geheimnisvollen Informanten bei der Polizei, weil er darauf bestanden hatte, sie in einem der Sightseeing-Busse zu treffen, die durch die Innenstadt kreisten. »Nein, nein«, sagte Sally und griff nach ihrem Wein. »Ich habe versprochen, das niemals zu tun.« Barwick nahm an, dass es viele Leute bei der Polizei gab, die wussten, dass ihr Schaffner eine Erfindung war, es aber nie sagen würden, genau wie sie nie zugeben würden, dass Sam Coyne nie zu ihren Verdächtigen gehört hatte. Für Ambrose, den Polizeipräsidenten und den Bürgermeister war es besser, nichts zu dem Thema zu sagen und die Öffentlichkeit annehmen zu lassen, dass sie Coyne längst hart auf den Fersen gewesen waren, als der Artikel in der Trib erschien. Wenn Barwick ihre nicht existierende Quelle schützen wollte, hatte das Rathaus nichts dagegen einzuwenden. Nirgends im Buch tauchte der Name Justin Finn auf. Bevor Justin nach Westen gefahren war, um einige Zeit bei seinem Vater zu verbringen, hatten er und Sally sich ein letztes Mal in Shadow World getroffen, um sich zu versichern, dass sie gegenseitig ihre Geheimnisse bewahrten. »Du kannst also damit leben? So wie es am Ende ausgegangen ist?«, fragte Shadow-Justin. Sie saßen auf einem kurzen Stück Mauer am North Avenue Beach und sahen zu, wie ein paar junge, sportliche Avatare Volleyball spielten. »Manchmal muss man bei einer Lüge bleiben«, sagte Sally, »um die Wahrheit zu schützen. Wie man Bäume verbrennt, um 452
den Wald zu retten, auf die Jagd geht, um den Wildbestand zu halten. Sam Coyne ist der Wicker-Mann. Das ist keine Lüge. Wenn die Leute von dir erfahren würden, käme das alles nur durcheinander, und die Wahrheit der Aussage würde verwässert. Coynes Anwälte würden sagen, wenn zwei Leute die DNA des Wicker-Manns haben, dann lässt das die Schuld ihres Mandanten zweifelhaft erscheinen.« Sie sah auf das Wasser hinaus, wo real aussehende Wellen um eine Hand voll Avatare wogten. »Aber nur du und ich wissen, dass nur einer von beiden ein Mörder ist.« Justin nickte. Sie standen auf, um sich zu verabschieden, wussten aber dann nicht recht, wie sie es tun sollten. Schließlich zog Sally ihn an sich heran, bis das Gesicht von Justin so nahe war, dass es ihren ganzen Bildschirm ausfüllte. Sie küssten sich unbeholfen, wobei Sally bezweifelte, dass er je ein Shadow-World-Mädchen geküsst hatte, und gingen dann in unterschiedlichen Richtungen davon. Justin nach Norden und Sally zurück in die Stadt. Die Sonne von Cincinnati kam hinter einer weißen Wolke vor und wärmte Sallys dunkle Wangen. Mittlerweile kamen die Feierabendgäste herein, es wurde lauter, und Drinks und kleine Snacks kamen tablettweise hinter der Theke vor. »Entschuldigen Sie die Frage«, sagte Alice. »Aber ich bin keine Spielerin. Was macht die Sally Barwick im Computer genau in diesem Augenblick? Sitzt sie mit einer Art Version von mir hier beim Interview? In einer digitalen Ausgabe dieses Restaurants?« »Sie ist tatsächlich in Shadow-Cincinnati«, sagte Sally. »Und sie ist auch auf einer Buchtour. Das Buch heißt: Der Frauenmörder von Shadow-Chicago.« Barwick hielt sich die Hand über die Augen, weil die Sonne sie blendete, und war einen Moment lang auf ihr BildschirmAlter-Ego eifersüchtig, das ohne Zweifel ein Buch geschrieben 453
hatte, das mit weniger Erfindungen auskam als das, das Sally im wirklichen Leben hatte schreiben können.
92 Jahrzehnte aller möglichen Flecken hatten den dünnen goldenen Teppich sechs verschiedene pistazienfarbene Schattierungen annehmen lassen. Es roch auch fürchterlich. Angesichts dessen, was sich hier wohl hauptsächlich an unerlaubter Liebe abgespielt hatte (hier und in den anderen Zimmern des Lawrence & Lake Shore Mayflower Motels), hätte es Davis überrascht, wenn die Fenster und die dicken goldenen Vorhänge überhaupt je einmal geöffnet worden wären. Wer weiß, warum Justin diesen Ort gewählt hatte. Es war einer von Hunderten in der Stadt, wo sie ebenso unerkannt geblieben wären, einer von Dutzenden, wo niemand auch nur mit der Wimper gezuckt hätte, wäre ihm aufgefallen, dass ein Junge im Teenageralter und ein Mann mittleren Alters nacheinander im selben Motelzimmer verschwanden. Eine offene Schachtel Zigaretten, ein Feuerzeug, ein Ledergürtel und eine leere Spritze waren auf einem kleinen runden Tisch sorgfältig um eine Coladose herum arrangiert (die in zwei Hälften geschnitten war, der untere Teil geschwärzt und auf den Kopf gestellt). Justin lag im Bett, hatte ein Laken über sich gezogen und sah sich eine alte Sitcom im Fernsehen an. Einer der Schauspieler hatte einen Erkennungssatz – »Das ist mein Jimmy!« –, den er mit einem so schrillen südlichen Tonfall herausbrachte, dass er Davis durchs Trommelfell bis ins Hirn stach. »Noch eine letzte Party?«, sagte Davis und deutete auf die Spritze. Er achtete darauf, sie nicht zu berühren, merkte sich jeden einzelnen Gegenstand, den er im Raum anfasste. Wenn
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das hier vorbei war, würde er alles sorgfältig abwischen, aber das bedeutete nicht, dass er achtlos sein konnte. Justin rollte sich auf die Seite und zog sich das Laken bis zum Hals. Er sah aus, als wäre er gerade aus dem Schlaf gerissen worden oder hätte schon lange kein Auge mehr zugetan. »Die Polizei wird meiner Mom sagen, es war eine Überdosis. Mein Zimmer bei meinem Dad habe ich wie eine Crackhöhle zurückgelassen. Sie wird denken, dass ich wegen der Drogen weggelaufen bin. Das ist besser für sie. Und auch besser für Sie.« Davis seufzte. »Als mir deine Mutter letztes Jahr sagte, dass du Drogen nähmest, dachte sie schon, dass ich sie dir verschaffte. Tatsächlich aber hattest du gar keine Drogen, oder?« »Oh, doch«, sagte Justin, »und ich habe sie in meinem ganzen Zimmer verteilt. Überall, nur selbst genommen habe ich keine. Ich meine, einmal hab ich was probiert, aber ich hatte keine Zeit für diese Scheiße. Zu viel zu tun. Zu wenig Zeit.« Davis stellte seine blaue Stofftasche auf die Ecke des Betts und leerte den Inhalt aus – dicke Plastikbeutel von der Größe großer Burritos, die mit klarer Flüssigkeit gefüllt waren, mehrere Gummischläuche, eine rechteckige metallene Konstruktion mit einem schweren Fuß, die an einen Kleiderbügel erinnerte, an dem oben verschiedene Haken befestigt waren. Dazu gab es drei Hebel, die wie kleine Wippen aussahen. »Ist es das?«, fragte Justin. Er beugte sich vor und fragte diese dumme Frage, weil er wusste, dass Davis ihm dafür dankbar sein würde, dankbar für den Versuch eines Gesprächs, das während der letzten Tage, und jetzt ganz besonders, so schwer gewesen war. Davis hatte die einfache Apparatur selbst zusammengebaut. Die Beutel wurden an die Haken gehängt und mit den 455
Schläuchen verbunden, die zu Ventilen an den Hebeln führten. Von dort ging es weiter zu einem weiteren, zusammenführenden Ventil, von dem ein letzter Schlauch zu einer intravenösen Kanüle führte. Die Kanüle würde Davis in eine Vene in Justins rechten Unterarm einführen. Um Justins linkes Handgelenk würde er ein Plastikband kleben, das mit einer Schnur verbunden war. Mit der linken Hand würde Justin den Prozess in Gang setzen, indem er den gelben Hebel herunterdrückte, wodurch ihm eine Kochsalzlösung zugeführt würde. War er dann so weit, müsste er den grünen Hebel für das Thiopental drücken, und binnen weniger Minuten schon würde er im tiefen Koma liegen. Beim Einschlafen würde der linke Arm über die Bettkante gleiten und sein Gewicht den dritten, roten Hebel umlegen, worauf dem Jungen eine tödliche Dosis Potassiumchlorid in den Kreislauf geschickt wurde, die gleiche Substanz, die der Staat von Illinois in die Adern von Sam Coyne injizieren würde, wenn dessen Rechtsmittel ausgeschöpft wären. Der Prozess war lang, aber wenig spannend gewesen. Die Anklage gegen Coyne stand auf festen Beinen, besonders was den Mord an Deirdre Thorson anging. Die Staatsanwaltschaft suchte zudem vier Wicker-Mann-Morde aus, für die er sowohl aufgrund der Ähnlichkeiten am Tatort als auch in Ermangelung von Alibis ebenfalls verurteilt wurde. Dutzende Frauen bezeugten die Art, wie Coyne Gewalt und Sex miteinander verband. Einige meldeten sich nach seiner Verhaftung und erklärten, dass Coyne versucht habe, sie zu vergewaltigen. Eine dieser Frauen war Martha Finn. Die Verteidigung versuchte, den DNA-Beweis in Zweifel zu ziehen, indem sie darauf bestand, dass Coyne in jener Nacht nirgends auch nur in der Nähe von North und Kennedy gewesen sei. Er habe sich allein in seiner Wohnung aufgehalten und ein Videospiel gespielt. Die Daten von Shadow World bestätigten tatsächlich, dass er die ganze Zeit eingeloggt gewesen war. Die
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Anklage betrachtete das jedoch als Vorkehrung des Angeklagten. So habe er sich ein Alibi verschaffen wollen. Die DNA, sagten sie, lüge nicht. Als Lieutenant Ambrose in den Zeugenstand trat, wurde er von der Verteidigung zu Armand Gutierrez befragt, dem ursprünglichen Verdächtigen im Wicker-Mann-Fall. Sie befragte ihn auch zum Verdächtigen M, dem Kerzenmacher, einem wohlhabenden Kursmakler an der Warenbörse namens Francis Caleb Stasio. »Entspricht es nicht der Wahrheit, Lieutenant, dass Sie bis zu dem Moment, als Ihre Männer in Sam Coynes Wohnung eindrangen und ihn in Handschellen zur Vernehmung ins Polizeipräsidium von Area Five brachten, dass Sie bis zu diesem Moment völlig davon überzeugt waren, dass Francis Stasio der Wicker-Mann sei?« Ambrose musste zugeben, dass Stasio vor dem Mord an Deirdre Thorson sein Hauptverdächtiger gewesen war. Dazu, was ihn seine Meinung hatte ändern lassen, wurde er nicht befragt. »Und hat Mr Stasio nicht kurz nach der Verhaftung von Mr Coyne das Land verlassen?« Ambrose sagte, dass Mr Stasio hinreisen dürfe, wohin immer er wolle. Sally Barwick trat ebenfalls in den Zeugenstand. »Entspricht es nicht der Wahrheit, Ms Barwick, dass Sie einen persönlichen Streit mit dem Angeklagten hatten? Dass Sie den Namen Ihrer angeblichen ›Quelle‹ innerhalb der Polizei nicht preisgegeben haben? Und dass Sie für ein Buch über den Wicker-Mann-Fall einen Vorschuss in Höhe von mehreren hunderttausend Dollar erhalten haben?« Sally gab das alles zu, aber der Richter weigerte sich, sie zur Preisgabe ihrer Quelle zu zwingen. Wie die Anklage unterstrichen habe, beweise der DNA-Test die Anwürfe von Ms Barwick. Die Identität der Person, die ihr ursprünglich den Hinweis gegeben habe, sei ohne Belang. 457
Coynes Anwälte (es waren fünf) zählten die Einzelheiten von fast einem Dutzend Morde in Chicago, Aurora, Milwaukee und Madison auf, die alle begangen worden waren, nachdem man Coyne verhaftet und ihm die Freilassung gegen Kaution verweigert hatte. Der Richter ließ auch Experten zu, die sich zu den Details von sechs Morden äußerten, die es seit Coynes Festnahme in Seattle gegeben hatte. »Vielleicht ist der WickerMann ja nach Seattle gezogen«, sagte einer von Coynes Anwälten in seinem Schlussplädoyer. »Vielleicht hat er die Gelegenheit ergriffen, die ihm die Verhaftung meines Mandanten bot, und hat das Land verlassen. Vielleicht ist er aber auch noch hier in Chicago. Ich weiß es nicht. Was ich jedoch weiß, ist, dass ein berechtigter Zweifel daran besteht, dass Samuel Coyne der Wicker-Mann ist.« Die Anklage tat die neueren Morde als die Taten von Nachahmern ab. Nachdem alle Einzelheiten des Wicker-Mann-Falles bekannt geworden seien, erklärte Ted Ambrose, insbesondere durch die Stellung, in die der Mörder seine Opfer nach der Tat gebracht hätte, würden Ähnlichkeiten zwischen den Tatorten irrelevant. Während die Jury beratschlagte, bot die Anklage einen überraschenden Handel an. Wenn sich Coyne des Mordes an Deirdre Thorson schuldig erklärte – dem einen Fall, in dem die Beweise hart wie Granit waren –, würde man die weiteren Anklagen fallen lassen und nicht auf Todesstrafe erkennen. Sams Anwälte beknieten ihn, das Angebot anzunehmen. Sie hatten den DNA-Beweis in Frage gestellt, die Jury mit Wahrscheinlichkeiten und Statistiken zu verwirren versucht, aber niemand in der Verteidigermannschaft glaubte, dass sie überzeugend gewesen waren. Es wurde mit jedem Jahr schwieriger, eine Jury in Sachen DNA hinters Licht zu führen. Seit Gentherapien zu Wunderheilungen verhalfen und geklonte Kinder die Fußballmannschaften auffüllten, begriffen die Leute das Konzept. Die DNA log nicht.
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»Sie lügt sehr wohl«, wie Sam auf den Pressekonferenzen im Gericht beharrlich versicherte. »Ich war es nicht. Ich habe Deirdre Thorson nicht umgebracht, und auch keine dieser anderen Frauen.« Beobachter und Fernsehgurus sagten übereinstimmend, dass Coyne aufrichtig klang. Nach sechs Beratungstagen erklärte die Jury Coyne wegen vierfachen Mordes für schuldig und verurteilte ihn zum Tod durch die Giftspritze. In dem Motelzimmer trat Justin das Laken vom Bett und setzte sich in den Schneidersitz. Oberkörper und Füße waren nackt. Seine Jeans waren aufgeknöpft und zeigten das Gummi seiner weißen Unterhose. Er studierte die Vorrichtung, während Davis sie zusammensetzte. »Gelb, grün, rot«, sagte er. »Kumpel, du bist tot.« Davis nahm das Telefon, den digitalen Wecker und die schwere Lampe vom Nachttisch. Er beobachtete Justin aus den Augenwinkeln und versuchte, dessen entspannte und indifferente Haltung mit dem unter einen Hut zu bringen, was der Junge gleich tun würde. Letzte Nacht, wach im Bett neben der schlafenden Joan, und auf der Fahrt hierher hatte er eine Rede eingeübt, mit der er Justin von seinem Vorhaben abhalten wollte. Das ist nicht nötig, wollte er ihm sagen. Natürlich wusste er, dass Justin darauf antworten würde, gerade deswegen sei es umso richtiger. Davis konnte dieses Ende für Justin nicht wollen, aber er sah auch, dass er selbstsüchtig genug war zu hoffen, dass Justin es für sich selbst wollte. Davis setzte sich mit dem Rücken zu Justin auf die harte Matratze. »Wenn du willst, dass es wie eine Überdosis aussieht, warum nimmst du dann nicht einfach eine Überdosis?« »Das ist hart. Das ist fast so, als wollte man sich selbst mit einem Hammer erschlagen.« Der Junge lachte in Davis’ Rücken, und sein modriger Atem stach Davis durch das Baumwollhemd. 459
»Sie haben’s immer noch nicht begriffen. Sie wissen immer noch nicht, warum ich es tun muss, und doch sind Sie hier. So sind Sie nun mal. Treu. Verlässlich. Ganz wie ein richtiger Dad. Ganz so, wie es mir gefällt.« »Aber so gefällt es mir nicht«, sagte Davis. »Erkläre es mir. Überzeuge mich, dass du es so willst.« Justin legte eine Hand auf Davis’ Schulter und zog ihn sanft so auf die Matratze, dass seine polierten schwarzen Halbschuhe gegen das gestärkte Kissen stießen. Er selbst lehnte sich am Fußende nach hinten auf beide Arme. So sahen sie einander auf eine Weise an, die Davis unangemessen locker vorkam. Exekutionen sollten etwas Formelles an sich haben, dachte er. Etwas, das zu ihrer Endgültigkeit passt. »Ich will keinen Selbstmord begehen«, sagte Justin. »Das ist keine Gerechtigkeit, wenn ein schlechter Mensch nach seinen eigenen Bedingungen abdankt. Deirdre Thorson braucht jemanden, der sie rächt. Genau wie AK.« »Aber Justin, das hier sind deine Bedingungen«, sagte Davis und schob die Möglichkeit beiseite, ihm zu sagen, dass er kein schlechter Mensch sei. »Ich bin hier, weil du mich darum gebeten hast. Sosehr ich hasse, was aus dir geworden ist, würde ich gleich wieder einpacken und verschwinden, wenn du deine Meinung ändertest.« Das stimmte. Was er dann allerdings tun sollte, wusste er auch nicht. Justin sagte: »Ich muss es tun. Und ich brauche Sie dazu, weil Sie mich tot sehen wollen.« »Das ist nicht wahr.« »Doch, das ist es.« Justin griff nach der Kanüle von Davis’ Todesmaschine und drückte sie sich mit der Kappe in die Handfläche. »Wir haben Coyne erwischt. Er wird seine Injektion kriegen, wenn das auch noch etwas dauern kann. Aber Sie sind voller Zorn und Trauer darüber, was ich alles anstellen musste, um ihn so weit zu bekommen. Dinge, die Sie niemals 460
hätten auf sich nehmen wollen. Dadurch bin ich eine Belastung für Sie. Ich bin der Beweis für Ihr Verbrechen, Ihr siebzehn Jahre altes Verbrechen, genau wie ich der Beweis für Coynes Verbrechen war. Der einzige Weg, wie Sie das alles hinter sich bringen können, all den Schmerz der letzten zwanzig Jahre, besteht darin, mich tot zu sehen. Genau wie Deirdre Thorson nur dadurch Gerechtigkeit widerfahren kann, dass mich jemand tötet. Jemand, der mich tot sehen will.« »Du musst nicht sterben. Du könntest ins Gefängnis gehen.« »Wäre es gut genug gewesen für Anna Kat, wenn Coyne fünfunddreißig bis lebenslänglich gekriegt hätte?« Davis antwortete nicht. »In zehn Jahren würde der Staat mir sowieso die Nadel setzen, und zwar mit weit weniger Würde und viel mehr Schmerz und Schande für meine Mom. Ganz zu schweigen davon, dass Sie mit mir im Gefängnis landen würden. Das wäre nicht richtig.« Mit einem Finger berührte er das metallene Skelett und seine giftigen Plastikorgane. »Setzen Sie dieses Furcht erregende Todesding in Gang, und alle kriegen, was sie wollen. Und was sie verdienen.« »Ich nicht«, sagte Davis leise und stellte seine Füße zurück auf den Boden. »Aber Sie müssen es doch auch nicht eilig haben«, sagte Justin. Davis ließ einen kleinen Lacher hören. Sie sprachen noch eine Stunde. Über Bücher. Über Philosophie. Über die Chemikalien in den Plastikbeuteln und wie sie wirkten. Wie lange es vom Einschlafen bis zum Stillstand seines Herzens dauern würde, und dann noch einmal, wie lange, bis er tot war. »Wenn sie eine Autopsie machen, finden sie es heraus«, warnte ihn Davis. Sein Gewissen drängte ihn immer noch halbherzig, so zu tun, als sorge er sich. »Dann wissen sie, dass es kein Heroin war.« 461
»Das ist zu bezweifeln«, sagte Justin. »Der Untersuchungsrichter von Cook County hat viel zu wenig Leute. Die machen kaum noch Autopsien – höchstens bei einer von zehn Leichen, die sie reinbekommen. Die Todesursache wird fast immer gleich vor Ort bestimmt. Stand im Time-Magazin. Wenn es aussieht wie eine Überdosis und riecht wie eine Überdosis …« Er langte in seinen Rucksack auf der anderen Seite des Betts und holte eine kleine Tüte mit weißem Pulver und ein Taschenmesser hervor. Er öffnete das Messer, schlitzte die Tüte auf und verstreute das Pulver auf der mit Blumen bedruckten Bettdecke. »Ich glaube, ich habe noch nie Heroin gesehen«, sagte Davis. Es klang fast wie ein Geständnis. »Ich dachte, ich hätte, aber es stimmt nicht. So jedenfalls noch nicht. An der Universität haben sie es uns gezeigt, aber da war es nicht so … so weiß.« Justin fuhr mit den Fingern hindurch und sagte: »Achtundneunzig Prozent. Das Zeug pustet Ihnen das Licht aus.« »Wo hast du das her?« »Egal. Das brauchen Sie nicht zu wissen«, sagte Justin. »Jetzt geben Sie mir den Kram da drüben.« Davis griff in die eigene Tasche und holte ein Paar Gummihandschuhe heraus. Er zog sie an, nahm Löffel, Feuerzeug, Ledergürtel, das Unterteil der Coladose, die Spritze und einen erweiterten Zigarettenfilter vom Tisch und brachte alles zu Justin. Justin warf die Sachen auf das verstreute Heroin und hüpfte ein paar Mal auf der Matratze herum, damit nichts arrangiert aussah. Er nahm einen Schluck Wasser aus der Plastiktasse vom Nachttisch, schüttete den Rest aufs Bett und den Boden davor und ließ die Tasse fallen. Es war längst nicht genug weißer Puder da, als dass genug davon hätte auffliegen können, aber Davis wedelte sich trotzdem mit der Hand vor dem Gesicht herum und wünschte, er hätte eine OP-Maske dabei.
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»Fangen wir also an«, sagte Justin. Er legte den Kopf zurück auf das Kissen und die Arme neben sich. Die Schläuche, die Ventile, das Salzwasser und das Gift, alles würde durch eine Kanüle in einer blauen Vene mit Justins Herz verbunden sein. Davis zog den Gürtel um Justins Oberarm noch etwas fester, um eine Einstichstelle zu finden. Die Haut rieb er mit einem Wattetupfer ab, den er in Alkohol getränkt hatte. Davis sah die junge blasse Haut vor sich und war sich nicht sicher, ob irgendwer glauben könnte, dass Justin drogenabhängig war. Dass es eine Überdosis gewesen war. Vielleicht würden sie es, wenn sie den weißen Puder auf dem Bett probierten und feststellten, dass das Zeug zu rein war. Reiner, als er gewusst hatte, würden sie schließen. Aber wer würde einem Jungen wie ihm reines Heroin verkaufen? Würde das der Punkt sein? (Wobei es ihm ja tatsächlich jemand verkauft hatte.) Dennoch, jeder Polizist mit nur etwas Hirn würde die Sache sofort durchschauen, da war er sich sicher. Sie ließ sich jedoch nicht mehr stoppen. Nur noch zu Ende bringen. Davis erinnerte sich an etwas, das Justin ihm einmal über die Illusion des freien Willens gesagt hatte, und ihm wurde klar, dass er, Davis, die Entscheidung, jetzt hier zu sein, vor knapp zwanzig Jahren getroffen hatte, als er Sam Coynes DNA in die Hände bekam. Als er sie nicht gleich zusammen mit dem ersten schrecklichen Gedanken vernichtet hatte. »Na dann«, sagte Davis. »Es ist schon richtig so«, sagte Justin noch einmal, und Davis war es unangenehm, dass der Junge ihn tröstete. Es gab keine Abschiedsrede. Kein Goodbye, keinen Austausch von Gefühlen. Keine bedeutungsvollen Blicke, keinen Ausdruck von Dankbarkeit, Verstehen oder Liebe. Keine väterlichen Worte. Kein Schuldanerkenntnis. Kein äußerliches Annehmen der eigenen Rolle. Davis stach die Kanüle in Justins rechten Arm und wand das Plastikband um sein linkes Handgelenk. Justin langte unter den Schlauch, der über seinen Körper lief, 463
und drückte den gelben Hebel. Die Kochsalzlösung begann zu tropfen. »Was jetzt?« »Wenn du so weit bist, drückst du den grünen Hebel. Häng den linken Arm über die Bettkante, direkt neben der Apparatur. Wenn du einschläfst, fällt er nach unten, und der rote Hebel wird heruntergedrückt. Dann ist es so weit. Lass nur den Arm nicht vorher sinken.« »Was würde dann passieren?« »Dann wäre es weit schmerzhafter«, sagte Davis in seinem ruhigen, eingeübten Krankenbett-Ton. »Aber mach dir deswegen keine Sorgen. Ich passe schon auf. Du kannst mit dem Thiopental anfangen, wann immer du willst.« »Nein«, sagte Justin. »Das müssen Sie tun.« »Justin …« »Sie müssen es tun. Drücken Sie den grünen Hebel.« »Ich will dich nicht töten.« »Sie müssen es tun.« »Nein, ich tue es nicht.« »Wenn Sie es nicht tun, höre ich auf.« Justin hob den rechten Arm an und spannte ihn, als wollte er ihn von der Kanüle befreien. »Dann hör auf«, sagte Davis. »Stopp das alles. Du hast eine Menge Bücher gelesen, Justin, und eine Menge Wissen in dich hineingestopft: Dein Tod hilft absolut nicht, irgendein kosmisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Die Frau, die du getötet hast, hatte Familie, eine Mutter, einen Vater, Brüder und Schwestern, und sie werden nie erfahren, wie ihr kleines Mädchen zu Tode gekommen ist. Nie werden sie in die Augen dessen sehen, der sie umgebracht hat. Nie werden sie versuchen können zu verstehen, warum es passiert ist. Wenn du Gerechtigkeit willst, solltest du dich dem stellen, was du getan hast – was 464
wir getan haben. Schrei die ganze kranke Geschichte laut heraus und lass die Leute über ihre Perversität Mund und Nase aufsperren. Wenn sie uns beide hinter Gitter bringen, dann erst kommen wir der Sache näher, und jeder kriegt, was er verdient.« Davis stand da, und ein fürchterliches Sodbrennen versengte ihm die Brust. Justin starrte zu ihm auf, und nichts in seinem Blick deutete auf eine Antwort. Davis lief ins Bad und kniete sich vor die Toilette. Er war sich nicht sicher, ob er sich übergeben musste, aber das glitschige, schmutzige Linoleum unter ihm setzte einen Reflex in Gang, der ihn einen ganzen Schwall Magensäure in die Schüssel spucken ließ. Einen Moment lang hockte er da und zögerte seine Rückkehr damit hinaus, dass er Boden und Kloschüssel mit einem feuchten Handtuch abwischte. War das richtig oder hinterließ er auf diese Weise verdächtige saubere Stellen in dem verdreckten Raum? Er betätigte die Spülung und fragte sich, ob Justin in seiner Abwesenheit den grünen Hebel gedrückt haben mochte; ob er hoffte, dass es so war. Bevor er sich noch eine Antwort erlaubte, trat er zurück ins Motelzimmer. Justin war noch wach und starrte gegen die Decke. »Die können es nicht, aber Sie«, sagte er. »Was?« Davis setzte sich wieder auf seinen Platz neben Justins Bett. »Dem Mann in die Augen sehen, der Ihre Tochter getötet hat, und versuchen zu verstehen, warum alles so gekommen ist.« »Das ist Bullshit.« »Nein, ist es nicht.« Justin hob den Kopf und drehte sein Gesicht unbeholfen zu Davis. »Dr. Moore, als ich die Frau umgebracht habe, war ich er. Ich habe empfunden, was Coyne empfunden hat, als er die Hände um Anna Kats Hals legte und sie erwürgte. Ich fühlte mich mächtig. Wie nichts, was ich mir je vorgestellt hatte. Das verschafft mir keine Droge. Kein Buch. Das hatte nichts Abstraktes, sondern fühlte sich nur gut an. Ich 465
fühlte mich unbesiegbar. Ohne alle Gewissensbisse. Kein Bedauern für sie. Kein Verständnis. Auch nicht für die Menschen, die sie liebte und zurückließ. Der einzige Unterschied zwischen mir und Coyne besteht darin, dass ich weiß, es ist falsch, nichts für andere Menschen zu empfinden, aber am Ende macht das so gut wie keinen Unterschied. Deirdre Thorsons Eltern können nicht in die Augen des Mannes sehen, der ihre Tochter ermordet hat, aber Sie können in die Augen von Anna Kats Mörder sehen. Das hier sind seine Augen. Genau seine Augen, die gesehen haben, was Coyne sah. Wie oft haben Sie sich in den letzten zwanzig Jahren vorgestellt, in sie hineinzusehen, und zwar nicht in einem Gerichtssaal oder durch eine Gefängnistrennscheibe, sondern ihnen in einem Raum wie diesem gegenüberzusitzen und ihnen zeigen zu können, nur ein einziges Mal, dass sie nicht immer diese Macht und die Kontrolle haben?« Justin wartete einen Moment auf eine Antwort, aber Davis starrte ihn nur an. Sein Blick war unergründlich, jenseits aller Trauer. Sie sahen sich an, ohne eine Bewegung, ein Wort oder auch nur einen Atemzug, wie es schien. Dann begann Justins rechter Arm heiß zu werden. Die Hitze ging von der Kanüle unter seiner Haut aus und brannte sich durch sein Fleisch den Arm hinauf zur Schulter und hinunter in die Fingerspitzen. Justin drehte langsam den Kopf, um den Arm anzusehen, der in Flammen stehen musste. Er konnte ihn nicht bewegen. Der Arm war ein schweres, brennendes Stück Holz, das an seinem Körper befestigt war. Justins Schädeldecke war taub. Ihm war, als ob seine blonden Haare auf den Enden ihrer juckenden Wurzeln stünden. Er atmete schwer ein, aber die Lunge hatte wenig davon. Wieder drehte er den Kopf, aber nicht, um Davis anzusehen, sondern die Maschine. Der grüne Hebel war umgelegt worden. Davis hatte es getan, während Justin redete. 466
Justins Gesicht verkrampfte sich. Er konnte nichts mehr tun. Sein linker Arm hing über die Bettkante. Wenn er ihn oben zu halten vermochte, ihn davon abhalten könnte zu fallen und den roten Hebel zu betätigen, der das Potassiumchlorid zurückhielt, dann könnte er überleben. Aber er wusste, dass es unmöglich war. Davis sah den Schrecken auf Justins Gesicht, die Erkenntnis, dass ihm das Unmögliche angetan worden war. Selbst als das Thiopental die Muskeln in seinen Wangen und um die Augen entspannte, war immer noch genug von dem Horror und dem unfreiwilligen Wunsch in seinen Augen zu erkennen, reagieren zu wollen. Justin mühte sich, den Kopf noch einmal zu wenden, und als er Davis Blick auffing, zwang er sich zu einem verrückten, euphorischen Lächeln, als wäre die Hilflosigkeit eine Droge für ihn – wie das Töten, ein unwiederholbarer Kick. Als es vorbei war, verstaute Davis die Apparatur in seinem blauen Stoffbeutel und hakte dabei jeden einzelnen Gegenstand auf einer Inventarliste ab, die knapp zehn Zentimeter lang war und die er sich in die Hemdtasche stopfte, damit er daran dachte, sie später zu vernichten. Er wischte Stühle, Tische, Türknäufe und sogar Justins Handgelenk ab, das er kurz ohne Handschuhe festgehalten hatte, um sich die Venen des Jungen anzusehen. Er setzte eine Baseballkappe und eine Sonnenbrille auf, was keine große Verkleidung war, aber immerhin etwas. Zu Hause würde er alles vernichten, was er heute angehabt hatte – seine Kleidung, die Kappe und sogar seine Stiefel –, falls jemand versuchen sollte, irgendwelche Fasern zu vergleichen, die im Raum zurückgeblieben waren. Bestimmt hatte er Spuren hinterlassen, Haare, Hautzellen, Reste von Erbrochenem im Bad, aber er hoffte, dass sie im chaotischen Durcheinander ähnlicher Spuren früherer Gäste untergehen würden. Eine schlechte Reinigung war so gut wie ein Antiseptikum. Und vielleicht hatte Justin ja Recht. Vielleicht suchte die Polizei gar nicht erst richtig, wenn die Antwort so offen auf der Hand lag. 467
Das hoffte er. Vor zwanzig Jahren in Northwood hatten sie auch nicht zu genau hingesehen, als ein totes Mädchen im gleichen Alter gefunden wurde. Niemand schien ihn zu bemerken, als er den Zugang zum ersten Stock entlanglief, niemand sah hinter den dicken, goldenen Vorhängen hervor oder öffnete eine der wasserblauen Türen, als er die Chirurgenhandschuhe auszog und in seinen Stoffbeutel stopfte. Sein Auto stand ein paar Straßen weiter in einem unbewachten Parkhaus. Als sie an der Universität Leichen sezieren mussten, hatte Davis immer eine Art Trost in den toten Körpern gefunden, ihre Leblosigkeit als ein Zeichen verstanden, dass sie mehr waren als nur die Summe von Organen, Gewebe und Blut. Mehr als Zellen in magischer Anordnung. Es schien ihm offensichtlich, dass das, was uns Menschen zu Individuen macht, in einer Leiche nicht mehr vorhanden war, und also, gemäß dem Gesetz von der Energieerhaltung, an einen anderen Ort gelangt sein musste. Das war die engste Verbindung, die er noch zur Religion besaß, und er glaubte fest daran. Als er kurz vor dem Verlassen des Motelzimmers auf den gerade gestorbenen Justin hinuntergeschaut hatte, schien diese alte Regel allerdings nicht zuzutreffen. Justin wirkte so lebendig wie eh und je mit seinem linken Arm, der fast den Boden berührte, dem in Kissen liegenden Kopf und sich in seinem Mundwinkel sammelnden Speichel. Ob Justin immer noch in diesem Körper war oder es ihn nie so gegeben hatte, vermochte Davis nicht zu sagen. Justin hatte versprochen, Davis werde in Hochstimmung geraten, wenn er jemandem das Leben nehme, aber es war nicht so. Er bereute immer noch, dass er Justin auf die Welt gebracht hatte. Mehr, als ihn getötet zu haben. Das fand er merkwürdig. Nicht recht. Aber vielleicht waren das Schaffen und Zerstören Justins Anfang und das Ende desselben Akts, und das Zerstören war einfach nur leichter gewesen. 468
Es war jedoch nicht so, dass er nichts fühlte. Was ein gutes Zeichen war, wie er durch Justin wusste. Anstelle von nichts empfand er Erleichterung.
93 Das weiße Transparent nahm die gesamte Vorderfront von Harold Devereauxs Haus ein. In schwarzen Vinylbuchstaben stand auf dem weißen Untergrund: Picknick der Soldaten Christi und der Hände Gottes. Ein halbes Dutzend Männer und Frauen saßen auf Stühlen oder standen gegen das Geländer der Veranda gelehnt und nutzten den Schatten des Transparents, um sich vor der späten Morgensonne zu schützen. Etwa zwanzig Kinder spielten im Garten, schaukelten, liefen zur alten Scheune hinüber, und ein paar kamen zwischendurch auch ins Haus, wo die Erwachsenen mit Papptellern voller Wassermelone, Hot Dogs und kaltem Nudelsalat da standen und ihnen wohlgefällig auf die Schultern klopften. Eine schlechte kleine Band spielte unter der ausladenden Eiche – Gitarre, Bass, Keyboard und Schlagzeug. Die Musik klang gleichermaßen zu alt und zu jung für die Anwesenden. Die Texte waren politisch und radikal-konservativ gegen Regierung, Einwanderer und natürlich das Klonen gerichtet. Kaum einer schenkte ihnen Beachtung. Im Garten hinter dem Haus saß ein Mann mit einem Priesterkragen an einem verblichenen Picknicktisch und gestikulierte beim Sprechen wild in der Luft herum. Seine Hände flogen wie bei einem Jo-Jo-Spieler umher, kehrten auf den Tisch zurück und waren auch schon wieder unterwegs, um einen neuen Satz zu unterstreichen. Es war Reverend Garner McGill, Gründer und Oberhaupt der Soldaten Christi, einer bundesweiten Organisation, die laut eigener Angaben mehr als 250000 Mitglieder hatte (man zählte allerdings bereits als 469
Mitglied, wenn man zustimmte, sich sechs Mal im Jahr den Informationsbrief der Soldaten Christi zuschicken zu lassen). Fünfzig der aktiveren Mitglieder waren hier bei Devereaux zu einem Wochenendtreffen mit den weniger bekannten Händen Gottes zusammengekommen. Organisiert worden war der Gipfel von Harold. Der Zweck sei in erster Linie ein gesellschaftlicher, dann erst ein strategischer, sagte Harold, der sich insgeheim Sorgen machte, dass die Hände Gottes von ihrer Richtung abkamen, seit sich Mickey zur Ruhe gesetzt hatte. Ein Zusammenschluss der beiden Gruppen könnte den Händen Gottes neue Kraft geben, dachte Harold, und die Soldaten Christi radikalisieren, was für alle das Beste wäre. Die Soldaten Christi waren die bekannteste religiöse AntiKlon-Vereinigung der USA. Der Reverend war in allen Fruchtbarkeitskliniken so bekannt wie verachtet. Er hatte Freunde im Capitol und auf Einladung des letzten Präsidenten sogar eine Nacht im Weißen Haus verbracht. Seine Predigten füllten die Zelte der Soldaten Christi über Monate und selbst noch die Baseballstadien für Wochen, in die er immer öfter zog. Die Hände Gottes dagegen blieben mehr im Hintergrund, gaben von Zeit zu Zeit Presseerklärungen zu besonders ruchlosen Praktiken (wie sie meinten) von Kliniken und Forschungslabors oder Erklärungen zum Stand der Anti-KlonGesetzgebung in Washington heraus. Sie hatten etwa vierzig Mitglieder in ihrer Ohio-Church und einen Verteiler von gut fünftausend. Wegen der Drohbriefe, auf denen ihr Name auftauchte, wurden sie von der Regierung als potenziell terroristische Vereinigung betrachtet, obwohl die Gruppe offiziell bestritt, etwas mit tatsächlichen Aktionen zu tun zu haben, und das FBI hatte sie bisher nie direkt beschuldigt. Fünf der dreizehn Gründungsmitglieder waren gekommen, die anderen waren bereits verstorben oder hatten sich anderen Dingen zugewandt. Sie sprachen nicht über das, was sie wirklich taten. Nicht in der Öffentlichkeit. 470
Harold Devereauxs Farm war jedoch nicht Teil der Öffentlichkeit. »Wie viele auf der Liste sind seine?«, fragte der Reverend seinen Gastgeber, der ihm gegenübersaß. »Ich meine, wirklich seine. Ich habe schon vor langer Zeit geahnt, dass Byron Bonavita nur ein Mythos war. Er hatte nie eine Verbindung zu uns, und ich habe auch sonst nie jemanden getroffen, der ihn kannte. Ich glaube, das FBI wusste ebenfalls schon früh, dass er reine Fiktion war, aber sie haben seine Legende am Leben erhalten, weil es weniger peinlich war zu sagen, sie könnten ihn nicht fassen, als zuzugeben, dass sie nicht mal den Namen des wirklichen Attentäters kannten.« Die Worte kamen mit der für Georgia typischen schleppenden, hohen Tonlage aus ihm heraus, aber sein Lachen war laut, tief und rhythmisch. Harold rieb die Hände unten über sein cremefarbenes Seidenhemd mit dem großen Kragen, dort, wo man den Schweiß und Schmutz nicht so gut sehen würde. Er hörte zu, aber sein Blick strich langsam über den Garten hinter McGill. Die Leute hatten sich in Vierer- und Fünfergruppen zusammengefunden, saßen auf Stühlen, Baumstümpfen und was ihnen sonst noch Platz bot. Er kannte die meisten dieser Leute über die Website, Chatrooms und die virtuellen Anti-Klon-Treffen in einem Computerspiel namens Shadow World. Aber nur einer Hand voll von ihnen war er früher auch schon persönlich begegnet. Mickey Fanning hatte die Finger tief im Mulch an der Ecke von Harolds. Als junger Mann war er nicht gerade ein Gärtner gewesen, aber in all den Jahren auf der Straße, in denen er durch Wildnis und weites Land, vorbei an bewässerten Feldern, gepflegten Landschaftsgärten und Gartencentern gefahren war, hatten Dünger, Samen und Setzlinge einen immer größeren Teil in seiner Vorstellung von einem Leben nach seiner Mission eingenommen. Er sah die Gartensendungen im Fernsehen an und durchforschte, was es über Büsche, Blumen, Bäume, Gras und Humus zu lesen gab. Seit er sich zur Ruhe gesetzt hatte, 471
verbrachte er den Großteil seiner Zeit in dem Garten, der die Kirche der Hände Gottes umgab, pflegte den Rasen, legte Tulpenbeete an und züchtete Gemüse. Die anderen Mitglieder der Hände Gottes gönnten ihm sein Hobby, und sie genossen das frische Gemüse und das ansehnliche Erscheinungsbild des Kirchgartens, das Mickeys Arbeit zu verdanken war. An diesem Nachmittag streifte Mickey durch Harolds Garten und versuchte herauszufinden, welche Pflanzennahrung er verwandte, um bei so trockenem Wetter derartige Ergebnisse zu erzielen. Wenn er fragte, würde Harold keine Antwort wissen. Harold hatte zweifellos einen Gärtner, der ebenso zweifellos von seiner hübschen Frau angestellt worden war. Aber Mickey grub auch in der Erde, um beschäftigt auszusehen. Er wollte nicht von einem Haufen Unbekannter zu seiner Zeit auf der Straße befragt werden. In jenen Tagen mochte sich Mickey nach einem Garten gesehnt haben, aber nie nach menschlicher Gesellschaft. Er war ein reisender Mönch gewesen, ein Mensch allein mit Gott, und er glaubte immer noch, dass die anderen Menschen nichts als Hindernisse zwischen ihm und dem Schöpfer waren. »He, Mickey«, rief Harold. »Komm einmal her! Ich möchte dich jemandem vorstellen!« Mickey stieß die Luft aus und stand langsam auf, um zu sehen, welchen Schrecken Harold da wohl für ihn bereithielt. Eine übergewichtige Baptistengroßmutter aus Arkansas, die ihm mit lila Zuckerguss überzogene Jesus-Plätzchen buk? Einen Halbwüchsigen, der zu den Händen Gottes wollte und überzeugt war, sein Schicksal bestehe darin, Gynäkologen zu exekutieren, obwohl er in Tränen ausbrach, wenn seine Mom ihn wegen etwas ausschalt? Fromme Eltern, die wollten, dass er ihrem unter Koliken leidenden Kleinen die Hand auflegte? Das alles hatte er schon erlebt, seit er am Abend zuvor angekommen war. So viele Leute wussten hier, wer er war, dass er sich nur wundern konnte, nicht längst in der Todeszelle zu sitzen. Als er näher kam, sah er, dass es Garner McGill war. Er 472
kannte ihn, auch wenn er nie direkt mit ihm gesprochen hatte. McGill war der Generalissimo des Heers der Klon-Gegner, der den Händen Gottes von der Seitenlinie aus Beifall spendete, aber, obwohl er sich »Soldat« nannte, nicht den Mumm hatte, seiner Viertelmillion Anhänger zu sagen, was wirklich erforderlich war, wollten sie in Gottes Armee eintreten. »Ihr werdet Reverend McGill nie sagen hören, dass man das Böse nicht mit Petitionen und Megafonen bekämpfen kann«, sagte Mickey oft bei ihren Treffen zu Hause in Ohio. »Gottes Feinde lassen sich nur mit dem Gewehr überwinden, und McGill weiß das, aber er will selbst keine Waffe in die Hand nehmen.« »Habt ihr zwei euch schon kennen gelernt?«, fragte Harold. »Reverend McGill? Mickey Fanning?« Sie reichten sich die Hand. »Es ist mir ein Vergnügen, ein wirkliches Vergnügen«, sagte McGill. »Mr Fanning, ich muss Ihnen nicht sagen, wie wichtig Ihr persönlicher Einsatz für die Sache aller rechtschaffen denkenden Menschen war. Gott sieht mit Wohlgefallen auf Ihre Arbeit und Er preist Ihr Opfer im Dienste des Glaubens.« Mickey nickte. Was für ein Haufen Scheiße. »Reverend«, sagte er. Er setzte sich neben Harold und sah aus dem Augenwinkel, wie die anderen Soldaten Christi herbeikamen, worauf er auf seiner Bank so weit nach rechts rückte, dass niemand mehr direkt neben ihm Platz finden würde. »Der Reverend und ich haben uns gerade über die Liste unterhalten«, sagte Harold. »Ja«, sagte Mickey, nahm sich einen Kartoffelchip und tauchte ihn so tief in den dazugehörigen Dip, dass fast auch seine schmutzigen Fingerspitzen mit darin verschwanden. »Der Reverend fing an zu überlegen – und um die Wahrheit zu sagen, ich auch –, wie viele von den roten Linien deine sind.« Mickey zuckte mit den Schultern. »’ne Menge. Fast alle, nehme ich an, so oder so.« 473
»Alle?«, fragte McGill. »Nicht wirklich.« »Haben Sie die Liste dabei?«, fragte Mickey. Harold hatte eine in seiner Tasche. Er faltete sie auseinander, sechs zusammengeheftete Blätter, und breitete sie auf dem Tisch aus. Acht oder neun Soldaten Christi standen mittlerweile um sie herum, aber niemand von ihnen hatte den Mut, sich mit auf die Bank zu drängen, und so standen sie nur da und reckten die Hälse. Sie kannten die Liste zwar aus dem Internet, aber hier blickten sie gemeinsam mit den drei legendären Gestalten der Bewegung darauf: Reverend McGill, Harold Devereaux und Mickey Fanning. Alle hatten sie Geschichten über Mickeys Hingabe und Kälte des Herzens gehört, wie er sich selbst mit einer Rasierklinge beschnitten hatte, nur Aspirin habe er genommen, und dass er Dutzende Ärzte und Wissenschaftler getötet habe. Sie wussten nur nicht ganz, welchen und wie vielen dieser Geschichten sie glauben sollten. Mickey holte den Bleistift, mit dem er in Harolds Garten herumgegraben hatte, hinter dem Ohr vor. Er wischte Erdreste davon ab und fing an, kleine Zeichen neben die Namen zu machen. Die Köpfe reckten sich noch mehr, während Mickey systematisch die Namen toter oder nicht mehr aktiver Ärzte durchging. Dr. Andrea Ali, Dr. Jim Bagio, Dr. Phillip Byner, Dr. Thomas Curry … Manchmal markierte er acht oder neun hintereinander, bevor er mit der Spitze seines Bleistifts einen überging. Bei mehr als einer seiner Markierungen flüsterte ein schlaksiger, bärtiger Junge von nicht mehr als zwanzig Jahren: »Wahnsinn, Mann.« Als Mickey die letzte Seite umblätterte, hatte er ohne ein Wort siebenundachtzig Namen markiert. Er drehte die Liste um und schob sie in die Mitte des Tisches. Die Soldaten fingen an zu plappern. Mickey schlug sich in den Nacken und sah in seine
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Hand. Er hatte drei verdammte Moskitos mit einem Schlag erledigt. »Lass sehen«, sagte Harold und zog die Liste mit einem skeptischen Lachen zu sich heran. Er sah auf die erste Seite. »Hier. Was ist mit dem? Du sagst, Jon Kucza war einer von deinen. Aber soweit ich weiß, ist der Mann an einem Herzinfarkt gestorben.« »An einer Überdosis Nikotin«, korrigierte ihn Mickey. »Habe ich ihm in den Kaffee gemischt. Er trug ein Nikotinpflaster. Hat es nicht gemerkt.« Harold neigte den Kopf, um zu zeigen, dass er beeindruckt war, ging aber weiter die Liste durch. »Geoffrey Gahala. Der ist beim Bergsteigen abgestürzt.« »Geklettert ist er«, sagte Mickey, »nur dass es kein Unfall war.« Die Soldaten pfiffen und klatschten. Reverend McGill hob die Hand. »Ich könnte nicht behaupten, dass ich weiß, ob ich Ihnen glauben soll, Mr Fanning. Was könnte für ein Sinn darin liegen, einen dieser Ärzte zu töten und es wie einen Unfall aussehen zu lassen? Wo soll da die Abschreckung liegen?« Mickey legte beide Hände auf den Tisch und starrte auf seine schmutzigen Finger. »Wer hat gesagt, dass es nur um Abschreckung geht?« »Ganz offensichtlich verlangt das Auslöschen von Menschenleben nach der Rechtfertigung durch das höhere Gut«, sagte McGill. »Verstehen Sie mich nicht falsch, Mr Fanning, durch Ihre öffentlichen Protestaktionen haben Sie Wunder für unsere Bewegung bewirkt. Aber ich verstehe nicht, warum Sie einen dieser Ärzte sterben lassen wollten, ohne eine Botschaft über das Böse des Klonens an die Bevölkerung zu senden. Wo läge da das höhere Gut?« 475
Mickey sah von seinen Händen zu Harold auf, nicht zu McGill. »Manchmal ist das höhere Gut einfach ein toter Arzt. Diese Männer und Frauen haben Gott beleidigt, und jetzt sind sie tot. Vielleicht können wir nicht mehr erreichen.« Während sich die Umstehenden McGill zuwandten, um zu sehen, wie er antworten würde, fand Harold einen anderen interessanten Namen. »Seht hier: Davis Moore«, sagte er. »Der praktiziert zwar nicht mehr, aber er trommelt immer noch für die Befürworter des Klonens. Ich habe ihn noch letzten Monat in den Fernsehnachrichten gesehen.« »Ich habe seinen Namen nicht ausgestrichen«, sagte Mickey. »Ich habe nur seinen Rückzug aus der Praxis auf mein Konto verbucht. Nennen wir es einen halben Sieg.« »Okay«, sagte Harold. »Aber hat er nicht noch Jahre durchgehalten, nachdem du auf ihn geschossen hattest? Wie kannst du mir in die Augen sehen und seinen Ausstieg für dich reklamieren? Ernsthaft. Es gibt viele Gründe, warum er seine aktive Arbeit aufgegeben haben könnte.« Mickey schob den Unterkiefer vor und lächelte auf eine Weise, die Reverend McGill erschaudern ließ. »Einige Dinge brauchen länger, bis sie greifen«, gab er zu. »Sagen wir einfach, dass ich mehr getan habe, als Dr. Moore nur in die Schulter zu schießen.« Keiner reagierte darauf, also fuhr Mickey fort: »Einige Dinge will man erreichen, andere nicht, und alles, was man tut, hat unbeabsichtigte Folgen.« Harold lehnte sich so weit nach hinten, dass er sich am Tisch festhalten musste. »Wovon redest du da, Mickey?«, fragte er. Mickey sah nicht auf. »Um ehrlich zu sein«, sagte er, »glaube ich nicht, dass der Reverend das hören will.« Die Soldaten murrten. McGills Anwesenheit verhinderte, dass ihnen eine gute Geschichte erzählt wurde. Dabei wollten sie zu gerne mit einer guten Geschichte des berühmten Mickey 476
Fanning von hier wieder wegfahren. Der Reverend spürte, dass es plötzlich um seine Popularität ging, und so versuchte er, Mickey seine Bedenken zu nehmen. »Mickey, Sie sind hier unter Freunden. Ich versichere Ihnen, dass mich nichts, was Sie sagen, erschrecken wird. Niemand hat Ihre Arbeit mehr unterstützt als die Soldaten Christi. Natürlich erhalten wir eine gewisse … Fassade, um für die feinen Anzüge in Washington genauso genießbar zu sein wie für das einfache Volk in Peoria. Aber wir wissen, dass wir im Krieg sind. Welche Taktiken Sie auch angewandt haben mögen, um all das zu erreichen, was Sie erreicht haben, sie waren zweifellos gerechtfertigt. So viel Achtung, und mehr, haben Sie sich verdient.« Die Soldaten murmelten ihre Zustimmung. Zu Mickeys Ärger klopfte ihm der bärtige Junge sogar auf den Rücken. Harold freute sich, dass sich der Reverend einer radikaleren, geradlinigeren Denkweise anzunähern schien. »Vor etwa zwanzig Jahren habe ich auf Davis Moore geschossen, aus fünfundsechzig Meter Entfernung«, sagte Mickey. »Ich habe mein Ziel um fünf Zentimeter verfehlt, und er überlebte. Ungefähr ein Jahr später kam ich wieder durch Chicago und entschied mich für einen zweiten Versuch. Es war ein kalter, kalter Winter, und ich hatte nicht die Zeit, alle notwendigen Vorkehrungen für eine richtige …, nun, Eliminierung zu treffen, also beschloss ich, etwas anderes auszuprobieren. Eine Taktik, die zwar an jenem Abend nicht funktionierte, die mir in den Jahren danach aber beste Dienste geleistet hat. Moores Tochter arbeitete in einem Bekleidungsladen. Zwei Stunden vor Ladenschluss habe ich mich in einer der Umkleidekabinen versteckt, und während ich wartete, schrieb ich ihr eine Nachricht.« Mickey zog ein abgegriffenes, angeschmutztes Stück Papier aus der Tasche, das er vorsichtig auseinander faltete, als wäre es die brüchige Seite eines alten Manuskripts. »Hier ist sie.« Der 477
Reverend rückte seine Brille zurecht, um sie genauer zu betrachten. In Schwarz und Rot hatte Mickey ein anatomisch richtiges Herz gemalt, eine zusammengerollte Schlange, ein Paar Hände (von denen eine zum Himmel deutete) und die Anfangsbuchstaben HG. Die Namen von sechs Ärzten standen da in schwarzen Lettern, rot durchgestrichen. Der letzte auf der Liste, nicht durchgestrichen, war der Name »Dr. Davis Moore«. Und darunter war in Großbuchstaben ein Bibelvers zu lesen, den alle am Tisch kannten: Siehe, der Mensch ist jetzt wie einer von uns geworden, da er Gutes und Böses erkennt. Nun geht es darum, dass er nicht noch seine Hand ausstrecke, sich am Baume des Lehens vergreife, davon esse und ewig lebe! Alles war mit schwarzer Tinte geschrieben, von dass er nicht an ging es jedoch rot weiter. »Ich wollte diesen Zettel Moores Tochter Anna geben«, sagte Mickey, »wenn zum Ende hin nicht mehr viel Kundschaft da war …« »Anna Kat«, korrigierte ihn Harold. Mickey starrte ihn an. »Sie hieß Anna Katherine und wurde Anna Kat genannt.« In der entstehenden Pause trank Reverend McGill geräuschvoll einen Schluck Limonade, während Mickey voller Missfallen Harold Devereaux musterte. Harold blinzelte ohne weiteren Kommentar, und Mickey fuhr fort: »Während ich das noch schrieb, stahl sich Anna – Anna Katherine – mit einem Jungen, der etwa in ihrem Alter war, sechzehn oder siebzehn, in die Kabine direkt neben mir. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, und sie wussten sicher nicht, dass ich gleich neben ihnen war. Ich hörte, wie sie kicherten und pssst! machten, und sah unter der Trennwand hindurch, wie ihre Kleider zu Boden fielen. Ich nahm meine Füße hoch, damit sie mich nicht bemerkten, und rührte mich nicht, während der Junge in das Mädchen 478
eindrang. Ihre Körper klatschten heftig aufeinander. Zwischendurch krachten sie gegen die Wand, und ich konnte hören, wie er sie mit der flachen Hand schlug, sie kniff, und sie reagierte jedes Mal mit einem gedämpften, aber ekstatischen Schnurren. So jung und so selbstverachtend, ich hätte mich fast übergeben müssen. Als sie fertig waren, zogen sie sich an, und der Junge verließ die Kabine als Erster. Ich höre noch, wie sie leise ›bis dann‹ sagte, aber er antwortete nicht. Ein oder zwei Minuten später ging auch sie zurück in den Verkaufsraum, wobei der Junge längst weg sein musste. Ich hatte den Eindruck, dass solche Treffen ein schmutziges Geheimnis zwischen den beiden waren. Ich wartete noch eine halbe Stunde und zog dann meine Handschuhe an. Im Laden schienen nicht mehr viel Leute zu sein. Alles war ruhig, und ich sah bald schon, warum. Ein kleiner Schneesturm war durchgezogen, und Anna Katherine hatte den Laden bereits geschlossen. Hatte alle nach Hause geschickt. Sie und ich, wir waren allein. Wie Sie sich vorstellen können, erschreckte ich sie ganz schön, als ich aus der Umkleidekabine kam. Auf ihrem Gesicht war zu sehen, wie sich in ihrem Kopf die Gedanken überschlugen. Zuallererst sorgte sie sich, dass ich sie bei ihrer Unzucht belauscht hatte. Ich trat dicht an sie heran, und sie wich einen Schritt zurück, hatte aber die Kassentheke im Rücken. Mein Mund war nur Zentimeter von ihrem Kopf entfernt. Ich hielt mein Stück Papier in die Höhe und sagte: ›In den Augen des Gesetzes mag dein Vater unschuldig sein, aber er wird sich vor den Händen Gottes verantworten müssen.‹ Ich legte den Zettel auf die Theke und ging schnell zur Tür. Das Ganze dauerte lediglich Sekunden, und sie hätte mich bei keiner Gegenüberstellung wiedererkannt. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Tür verschlossen war. Bevor ich den Riegel finden konnte, trat sie mir in die Kniekehlen. Ich ging zu Boden. Sie schrie: ›Du hast auf meinen 479
Vater geschossen, oder? Du Schwein!‹ Ich wirbelte herum und schlug ihr ins Gesicht. Sie fiel nach hinten, und ich wandte mich wieder der Tür zu, aber sie sagte: ›Ich weiß, wie du aussiehst, Arschlochs und griff zum Telefon. Bevor sie die drei Ziffern eintippen konnte, schlug ich ihr den Apparat aus der Hand, packte sie beim Arm, legte meine Finger um ihren Hals und drückte sie hinter der Theke in der Mitte der Kasseninsel zu Boden. Ich hörte, wie ihr Arm brach, aber sie hatte zu viel Angst, um laut zu schreien, und so weinte sie nur. Ich kniete mich neben sie, damit wir von der Straße aus nicht gesehen werden konnten. Allerdings schneite es stärker, und es waren kaum Leute unterwegs. Wir hockten ein paar Minuten so da, und mein Griff war gerade fest genug, um sie daran zu hindern, sich zu wehren. Mittlerweile hatte sie mich wirklich gesehen, und wenn das FBI ihr ein Bild von Byron Bonavita zeigte, würde sie ihnen sagen können, dass ich ein anderer war. Damit war meine Tarnung zum Teufel. Die gesamte Operation der Hände Gottes war gefährdet. Ich sah ihr in die Augen und fand mehr Wut als Angst in ihnen. Und an diesem Punkt, Reverend, komme ich sowohl zu den unbeabsichtigten Folgen als auch zu unserem höheren Gut. Ich traf eine Wahl …, nein, keine Wahl, sondern eine notwendige Entscheidung. Ich drückte ihr die Kehle zu, bis sie aufhörte zu atmen, und noch ein paar Minuten länger. Als sie auf dem Boden lag, riss ich ihr die Bluse auf. Ich wusste, dass sie gerade mit diesem Kerl zusammen gewesen war, und dachte, ich könnte es wie eine Vergewaltigung aussehen lassen. Glücklicherweise hatte mir der Junge schon einen Teil meiner Arbeit abgenommen. Sie hatte Flecken auf den Brüsten, wo er sie zu sehr gekniffen hatte. Ich schnitt ihr die Jeans auf, und auch auf den Schenkeln und ihrem Hintern waren Flecken und Striemen, wo er sie mit der flachen Hand geschlagen und gekratzt hatte. Ich versicherte mich noch einmal,
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dass sie tot war, nahm meinen Zettel von der Theke und ging hinaus auf die Straße, wo der Schnee alle Spuren verdeckte.« Drei der Kinder rannten um die Ecke des Hauses, wo Mickey vorher im Boden gegraben hatte. Eines lief hinter den beiden anderen her und spritzte mit einer bunten Wasserpistole, die zwar nicht aussah wie ein Waffe, aber doch ziemlich weit reichte. In die Ruhe am Picknicktisch hinein konnte man das Spritzen durch die kleine Düse hören. »Ein Kind«, sagte der Reverend schließlich. »Mein Gott, ein Kind.« »Unbeabsichtigte Folgen. Das höhere Gut«, sagte Mickey. »Nach allem, was ich gehört habe, war Moore wie besessen davon, den Mörder seiner Tochter zu finden. Was zum Selbstmord seiner Frau führte und zu dem verrückten Tod eines weiteres Mannes irgendwo in Oklahoma oder Nebraska. Langsam, aber sicher, verlor er die Richtung und hatte dann schließlich genug. Er gab auf. Das ist der Teil der Arbeit, den Sie nie sehen wollen, Reverend. So sieht es an vorderster Front aus. An jenem Abend in dem Laden, die Hand an der Kehle von Moores Tochter, hätte ich auch einen Rückzieher machen können. Damit hätte ich meine gesamte Mission, die Arbeit von zwanzig Jahren, in Gefahr gebracht, bevor ich überhaupt noch richtig begonnen hatte. Was wäre mit dem Druck geworden, dem Druck auf Kloner und Experimentierer, auf die Frankensteins und Mengeles der modernen Wissenschaft. Keiner wäre in Angst versetzt worden. Keiner hätte aufgegeben. Und auch Sie würden nicht hier sitzen und Ihre Rede für den Tag vorbereiten, an dem Sie im Fernsehen den Sieg für sich in Anspruch nehmen. Die Jahre über sind gelegentlich noch andere so genannte Unschuldige meinen Händen zum Opfer gefallen. Menschen, die mir in die Quere gekommen sind. Kollateralschäden nennt das US-Militär so etwas. Aber Gott hat mir nie wieder so eine 481
Entscheidung abverlangt wie an jenem Abend in Chicago. Ich glaube, dass Er mich damals auf die Probe gestellt hat, so wie Er auch Abraham geprüft hat. Nur dass Gott mir nicht in den Arm gefallen ist, weil Er wusste, was der Tod dieses Mädchens ermöglichen würde. Für Ihn, der alles weiß, gibt es keine unbeabsichtigten Folgen, nur das höhere Gut. Sie wirkten entsetzt, Reverend, als ich den Tod von Anna Katherine Moore beschrieben habe, und das zu Recht. Es war schrecklich. Sie war ein hübsches Mädchen, viel versprechend, kein Zweifel. Sie hatte Träume und Pläne und Menschen, die sie liebten. Alles das habe ich mit dem Druck dieser Hand zerstört. Sie sollten wissen, dass mich das nicht glücklich gemacht hat. Der Junge, mit dem sie zusammen gewesen war, dem gefielen ihre Schmerzen, mir nicht. Auch der Tod all der Ärzte auf Harold Devereauxs Liste hat mir keine Freude bereitet. Ich habe getötet, weil ich von Gott dazu aufgerufen war, aber trotz dieser heiligen Mission war jeder einzelne Mord, den ich begangen habe, eine Sünde, und ich erwarte, dafür ins Feuer der Hölle geschickt zu werden, ohne Gottes Gnade zu empfangen, das größte Geschenk von allen. Und wenn Er mich ins Höllenfeuer verdammt, werde ich mein Los ohne Zorn annehmen, weil es ehrenvoll ist, zu tun, was Er verlangt, auch wenn Sein Wunsch ewiges Leiden und nicht enden wollende Schande bedeutet. Was Sie betrifft, Reverend McGill, Sie haben sich über meine Taten gefreut und denken, dass Sie selbst nicht gesündigt haben, da Sie keinen Schuss abgegeben, keine Bombe gelegt und auch nicht den Kehlkopf der jungen Anna Katherine Moore zerquetscht haben. Aber Gott hat uns alle zu diesen Taten aufgerufen.« Mickey packte die Liste mit der rechten Hand und knüllte sie in seiner Faust zusammen. »Ich habe mich nicht entschieden, Dr. Ali, Dr. Denby oder Dr. Friedman zu töten, die Aufgabe wurde mir übertragen, genau wie Ihnen das übertragen wurde, was Sie tun. Ich habe meiner Aufgabe mein ganzes Leben gewidmet. Zum Wohl der Menschheit habe ich ein Opfer 482
gebracht, damit Sein Wille geschehe. Ich weiß nicht, warum ich auserwählt wurde, aber ich halte es für gut möglich, dass Gott für das höhere Gut keine Unschuldigen in die Hölle schickt, sondern sich Sünder aussucht wie mich und sie bittet, in Seinem Namen zu sündigen. Gott drückt sich in Paradoxa aus. Wissen Sie, was ein Paradoxon ist, Reverend McGill? Ein Paradoxon ist gleichzeitig es selbst und sein Gegenteil. Damit kann es nur durch den Willen Gottes existieren. Ich glaube fest daran, dass die Heiligen und die Märtyrer unserer Tage Beispiele dieser Paradoxa sind. Denn in dem Krieg, den wir, Sie und ich, kämpfen, dem Krieg gegen die Verweltlichung, werden Sie keine Heiligen zur Rechten Gottes sitzen sehen. Den wahren Heiligen und den wahren Märtyrer finden Sie in den Tiefen der Hölle. Weil er nicht einfach nur sein Leben für seinen Nächsten gegeben, sondern seine unsterbliche Seele geopfert hat.« Als Mickey zum Ende gekommen war, hatten sich sämtliche Soldaten Christi und Hände Gottes um den Picknicktisch versammelt, alles in allem wahrscheinlich sechzig Personen, und selbst die, die später gekommen waren, selbst die, die nur das Ende gehört hatten und nicht wussten, worauf Mickey mit seinen leisen, gemessenen Worten abzielte, selbst die begriffen, dass etwas Bedeutendes geschehen war. Die größten Schwätzer unter ihnen hielten den Mund fest geschlossen, und alle leise geflüsterten Fragen, was da gerade geschehen sei, wurden mit feindseligen Blicken zurückgewiesen. Harold Devereaux starrte auf ein schwarzes Astloch in der Tischplatte. Ein Stück entfernt saßen die Kinder in einem weiten Kreis und spielten – »Ente, Ente, Ente, Ente, GANS!«. Mickey Fanning hatte alles gesagt, was er heute Abend und, wie er spürte, vielleicht für lange Zeit sagen würde. Reverend McGill barg den Kopf in den Händen, drückte sich die Handteller gegen die Augen und hoffte so, alles stoppen zu können, was da aus ihm fließen wollte. 483
94 In dem alten blauen Souterrainzimmer stapelten sich billige Pappkartons bis zur Decke. Ordner, Mappen, Unterlagen, Bänder und Disks waren darin. Zeugenaussagen, Polizeiberichte, Autopsieergebnisse, Fotos vom Tatort. Und immer noch waren Dinge in Kartons zu packen, viel mehr Dinge. Joan stand in ihren aufgekrempelten Bluejeans und dem weißen Hemd da und konnte kaum glauben, was alles in dieses Zimmer gepasst hatte. Zwanzig Jahre Grübeln und Abwarten, Rätseln und Beten fanden sich in diesen Kartons. Davis warf alles einfach in den Müll. »Es ist vorbei«, hatte er ihr an dem Abend gesagt, als Sam Coyne in orangefarbener Gefängniskleidung, Hände und Füße in Ketten, in die Todeszelle gebracht wurde. »Ich will alles unten raushaben.« Joan ging zu dem Sessel, in dem er saß, und ließ sich auf seinem Schoß nieder. »Willst du das wirklich? Alles?« Er schloss sie fest in seine sommersprossigen Arme. »Alles«, sagte er. »Jedes Blatt, jede Karteikarte, jede halb ausgegorene Theorie, die ich auf einen Notizzettel gekritzelt habe, jeden Computerausdruck, jede Heft- und jede Büroklammer. Alles muss raus. Ich rufe jemanden an, der es abtransportiert.« »Um es zu verbrennen?« »Ja!«, sagte er. »Um es zu verbrennen!« Sie packten die Kartons gemeinsam voll, und es sollte ein ganzes Wochenende dauern – nicht dass die Wochenenden sich so sehr von den Wochentagen unterschieden, oder sich unterscheiden würden, wenn all die schlimmen Erinnerungen zu Asche geworden waren und ihr Ehemann endlich ganz ihr gehörte. Im Herbst wollte auch sie sich zur Ruhe setzen, wenn ihre Patienten alle einen neuen Arzt gefunden hatten. Obwohl die Monate, wenn man neunundvierzig war, immer schneller zu 484
vergehen schienen, lag dieser Herbst jedoch noch Ewigkeiten entfernt, so weit weg wie der Sommer für eine Zehnjährige, die unter dem Weihnachtsbaum saß. Joan verkürzte sich die Zeit damit, dass sie überlegte, wie sie den Raum nutzen konnten, wenn er leer geräumt war. »Als Malstudio«, sagte sie. »Wir könnten anfangen zu malen.« »Ich mag ihn so.« »Oder als Fitnessraum.« »Wir gehen doch spazieren.« »Aber im Winter …« »Das stimmt.« »Wir könnten einen Billardtisch kaufen.« Er lachte. »Ich habe dich nie Billard spielen sehen.« »Du könntest es mir beibringen.« »Ich war mal ganz gut …« »Das habe ich gehört.« »… auf der Uni.« »Beweise es mir«, sagte sie. Seine Familienunterlagen sollten auch weg. Die Tonne Papier und Pappe, die alten Fotos, die ihn mit Will Denny und Anna Kat und all den anderen auf dem Stammbaum verbanden. »Ruf die historische Gesellschaft an«, sagte er. »Die NewberryBibliothek. Die Mormonen. Vielleicht wollen die’s. Mir ist es egal. Ich brauche das alles nicht mehr.« Joan war überfroh. Dutzende Male hatte sie während der letzten Monate laut überlegt, dass dieser »Prozess« wirklich ein Prozess sei, nicht nur für den Angeklagten, sondern für alle Beteiligten im Fall Coyne. Die Detectives schienen im Zeugenstand zu altern. Der Staatsanwalt hatte gut zehn Kilo abgenommen, und in der Presse wurde spekuliert, ob die Rindfleisch essenden Bürger von Illinois noch jemanden, der so dünn und geschwächt aussah, zu 485
ihrem Gouverneur wählen würden. Joan war jeden Morgen übel, wie bei einer Schwangerschaft, an deren Ende alles gut sein würde und ein neues Leben geboren würde – zwei miteinander verbundene Leben, das von Davis und ihres. Sie füllte einen Karton bis an den Rand und machte ihn zu. Sie wusste, dass ihre Arbeit nicht schön oder ordentlich aussehen musste. Die Kartons hatten Griffe für die kräftigen Männer, die für Montag bestellt waren, um alles wegzukarren. Was für ein wundervoller Tag das sein würde! Wie groß dieser Raum wirken würde, so leer und doch voller Möglichkeiten! Joan klappte einen weiteren Karton auseinander und verstärkte den Boden mit Klebestreifen. Sie leerte eine ganze Schublade mit Hängeordnern in ihn hinein. Die Akten waren alt, mussten fast aus der Zeit von Anna Kats Ermordung stammen, waren vergilbt und eingerissen, wo Seiten hervorgeragt hatten, die Ecken waren verknickt und angestoßen vom immer neuen Öffnen und Schließen der Lade. Davis hatte Disketten in uralten Formaten dazwischengesteckt, und sie fragte sich, ob man wohl noch einen Computer finden könnte, der sie zu lesen vermochte. Ein halbes Dutzend von ihnen warf sie in den Karton, und sie landeten mit einem dumpfen Plastikklappern auf den Papieren. Ganz hinten aus der Lade zog sie einen braunen Aktendeckel, um den ein mürbes Gummiband geschlungen war. Der Inhalt wirkte unberührt. Kaum je angefasst. Ich frage mich, ob Davis das je durchgesehen hat, dachte sie. Es schienen Zeugenaussagen von Anna Kats Freunden zu sein, die von der Polizei in den Tagen und Wochen nach dem Mord befragt worden waren. Rund ein Dutzend waren in dem gefalzten Karton, und jede einzelne des Dutzends, war links mit einer schwarzen Spirale gebunden. Joan ließ den Blick über die Aussagen gleiten und verstand, warum Davis sie offenbar nicht hatte lesen wollen. Sie waren voller Emotionen, niederschmetternd, voller sentimentaler Erinnerungen und Geschichten über Unternehmungen mit AK, es ging um lustige 486
Sachen, die sie gesagt, uneigennützige Hilfe, die sie geleistet hatte. Nur wenig davon war für die Ermittlungen relevant gewesen, und das meiste hätte er nur schwer lesen können. Eine Aussage ganz besonders. Sie fiel ihr auf, weil mit brüchigem Klebestreifen eine Notiz darauf befestigt war, eine Mitteilung von einem Detective an einen anderen: Ken – das Alibi des Jungen ist überprüft. War zur Zeit der Tat bei seinen Eltern. Gib den Moores diese Info noch nicht. Kein Grund, sie das durchmachen zu lassen. Wenn wir einen Verdächtigen haben, übernehme ich das. Mike. Joan sah sich um. Davis war nach oben gegangen, um etwas zu holen. Sie hatte nur halb zugehört, als er ihr was sagte. »Schatz, hast du das hier gesehen?«, rief sie zu ihm hinauf. Sie hörte seine Schritte oben auf der Treppe. »Was gesehen?« »Das hier«, sagte sie, abgelenkt jetzt, als sie die erste Seite aufschlug und ihr ein Schauer durch den Körper fuhr, ein böses Gefühl, das ihr den Schweiß aus den Poren trieb. Was sie da in der Hand hielt, war die Befragung des siebzehnjährigen Sam Coyne. »Bin gleich wieder unten«, hörte sie ihn rufen. Joan fing an zu lesen, verschlang immer ein paar Zeilen auf einmal, bis sie wieder umblättern musste. ML: Verschiedene Leute haben Sie am Tag des Mordes im Gap gesehen. SC: Ja, ich war da. ML: Sind Sie mit ihr gegangen? SC: Sie meinen offiziell? ML: Ja, offiziell. SC: Wir haben nur so’n bisschen rumgemacht. Sex und so. Nichts Großes. 487
ML: Hatten Sie an dem Tag mit ihr Verkehr? SC: Ja. In einer der Kabinen. ML: Und dann? SC: Dann bin ich nach Hause. Noch eine Seite: SC: Sie war ziemlich ausgeflippt. Ich nehme an, ich bin’s auch. Wir hatten Spaß. Aber wir haben es für uns behalten. ML: Warum? SC: Ich weiß nicht. Es war nichts Ausschließliches. Ich treffe auch andere Mädchen. Und sie hatte diesen Freund, Dan. Er war so was wie ihr Freund, aber sie war nicht wirklich wild auf ihn. Sie hatte eine dunkle Seite, die er nicht kapierte. Egal, wir wollten nicht, dass die Leute redeten. Ich traf mich auch mit anderen Mädchen, und ich glaub, es war ihr peinlich. ML: Peinlich? SC: Ich glaube, sie wollte die Art Mädchen sein, die mit einem Typen wie mir nichts zu tun kriegte. Aber sie wollte auch mit mir zusammen sein. Wir haben es die ganze Zeit gemacht: in der Schule, bei ihr zu Hause, bei mir, im Laden. Je gefährlicher, desto besser. Sie wollte nur nicht, dass es irgendwer mitkriegte. Und noch eine: ML: SC: ML: SC: ML:
Ist Ihnen an dem Tag jemand im Laden aufgefallen? Da waren jede Menge Leute. Niemand, der Ihnen verdächtig vorkam? Nee. Niemand, der so aussah, als gehörte er dort nicht hin? 488
SC: Ich glaube, ich weiß nicht, was das bedeuten soll. Aber nein. Joan schloss die Zeugenaussage. Sie stellte sich Davis’ Augen vor, wenn er das las. Sah seine Tränen. Die blinde Wut. Den Zorn. Wie er die Polizei anrief. »Sie wussten die ganze Zeit, dass es keine Vergewaltigung war! Und Sie haben es mir nie gesagt!« Die Detectives von damals waren mittlerweile alle im Ruhestand. Joan sah, wie er die billigen Kartons wieder ausräumte. Die Aktenschränke neu auffüllte und organisierte. Sah einen neuen Computer, leistungsfähiger und schneller, auf dem Tisch stehen. Die langen Nächte, in denen alles noch einmal mit neuen, wissenderen Augen betrachtet wurde. Wie er das hatte übersehen können. Was er sonst noch wohl übersehen hatte. Die Schuld. Die Schlaflosigkeit. Die neue Leidenschaft. Den Zorn. Den Wahnsinn. Die erneute Aufgabe seines Lebens, um einen anderen, namenlosen, gesichtslosen Killer zu finden. Der immer noch frei dort draußen herumlief. Der immer noch lachte und auch zwanzig Jahre danach noch mit Vergnügen an den Tag zurückdachte, an dem er Dr. Davis Moores kleines Mädchen umgebracht hatte. Rache. Kälte. Und Justin. Der arme Justin. Ein trauriges Leben für nichts. Ein Junge, der nie noch einmal in diese Welt hätte hineingeboren werden dürfen. Der sich bis zu dem Tag, an dem er an einer Überdosis gestorben war, immer nur elend gefühlt hatte. Wie konnte man damit fertig werden? Der Verantwortung? Der Schuld? Und da war nicht nur Justin. Auch Jackie. Seine erste Frau. Die verstörte Jackie. War es nicht die Besessenheit ihres Mannes gewesen, die Jackie in den Abgrund getrieben hatte? Seine Besessenheit und diese verfluchte Verschwörung, zu der auch sie, Joan, einmal gehört hatte? Hatte das alles Jackie nicht in den Tod getrieben? Und war es nicht auch ihr, Joans, Fehler? Hatte sie ihn nicht gedeckt? Unterstützt? Ihn geliebt? Nach Brixton begleitet? Und Phil Canella? Tot für nichts und wieder nichts. Wegen eines Fehlers. 489
Einer Annahme. Eines Missverständnisses. Ein Dokument, ein einziges Dokument unter Tausenden, ungelesen. Davis’ Schritte auf der Treppe. Davis’ Schritte auf der Treppe. Joan schob Sam Coynes Aussage mitten in den Packen und warf alles in den offenen Karton. Coyne ist immer noch ein Mörder, oder etwa nicht? Auch wenn er AK nicht getötet hat. Er hat Deirdre Thorson auf dem Gewissen und all die anderen Frauen. Sie packte eine weitere Schicht Papier in den Karton, ohne den Inhalt zu erforschen, und bedeckte die verlorenen Zeugenaussagen wie einen Kuchen mit einem Zuckerguss. Davis erschien in der Tür. In jeder Hand trug er ein Glas mit einer dicken, blassen Flüssigkeit, das mit einer frischen Zitronenscheibe dekoriert war. »Habe ich was nicht gesehen?« »Nichts«, sagte Joan. Sie nahm die Limonade. Er lächelte sie an. Er seufzte. »Was für ein Schlamassel«, sagte Davis. Und seine Frau, die ihn von Herzen liebte, begrub den Inhalt der Kartons mit langen Streifen braunen Klebebands.
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DANK SEI: Allen, die dieses Buch schon als Manuskript gelesen haben, unter ihnen Scott Tallarida, Jim Coudai, Dennis Mahoney, Dr. John Svahn und Kevin Fry, wie auch Ann und Mike, Pete und Shari, Tom und Patti. Den noch unfertigen Roman von jemandem zu lesen, ist ungefähr so lustig, wie ihm sein Haus anzustreichen, und dauert auch fast so lang. Jede kommentierte Lektüre der ersten Fassung hat sich in diesem Buch niedergeschlagen. Simon Lipskar und Dan Lazar von Writer’s House. In unserem ersten Gespräch habe ich Simon erklärt, er würde nie wieder einen Klienten bekommen, der noch weniger von der Verlagswelt verstünde als ich. Er hat mir bis heute nicht gesagt, dass ich Unrecht hatte. Jordan Pavlin und Emily Owens Molanphy bei Knopf. Jordan hat dieses Buch besser verstanden als irgendjemand sonst und es mit ein paar Federstrichen um Klassen verbessert. Das Beste daran war, dass sie mich hat glauben lassen, jede neue Verbesserung sei meine eigene Idee gewesen. John Warner, der mir gegenüber die letzten fünf Jahre unglaublich großzügig mit seiner Zeit, seinem Talent, seinem Rat, seiner Geduld und Freundschaft war. Dave Eggers, John Aboud, Michael Coulton, Daniel Radosh, Michael Rosen, Rosecrans Baldwin, Andrew Womack, Pete Fornatale und John Hodgman, die mich alle mit Möglichkeiten versorgten, die ich noch längst nicht verdient hatte. Allen bei Coudai Partners – Jim, Susan Everett, Bryan Bedell, Kirstin Albert, Dave Reidy, Anthony Vitigliano und Michele Seiler –, die meine Stapel abgetragen haben, wenn ich wieder mal nicht da war, weil ich angeblich ein Buch schrieb. Bert 491
Zaczek, der als Einziger von vielen Anwaltsfreunden bereit war, mich als Mandanten zu nehmen. Meinen Freunden Pat Brennan und Jim Poulsom von den Hubbard Street Studios. Jon Langford von den Mekons, der mich sein grandioses Lied »Last Night on Earth« hat benutzen lassen, aber auch für mehr als fünfundzwanzig Jahre erstaunliche, verdrehte, wunderbare Musik. Nick Aliciano und Rick McBrien, die nie haben wissen können, was sie mir bedeuteten. Bob Schmuhl und Walt Collins, die lange vor mir selbst glaubten, dass aus mir ein Schriftsteller werden könnte. Und vor allem meinen Eltern, Bill und Loretta, die vor fünfundvierzig Jahren mit einem Baby und einem Kleinkind ein vernünftiges Leben im Mittleren Westen hinter sich ließen, um ein weit weniger vernünftiges in New York City anzufangen, und ihren Kindern beibrachten, dass ein Spiel um etwas, das man liebt, eigentlich kein Spiel ist.
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