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Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel
THE VAMPIRE'S ASSISTE...
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Scan by VCNeno
Layout by 2242Panic
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel
THE VAMPIRE'S ASSISTENT
bei HarperCollins, London
Besuchen Sie uns im Internet: www.droemer-weltbild.de
ISBN 3-7951-1760-7
©2001 by Darren Shan
© 2001 für die deutsche Ausgabe by
Verlag der Vampire im Schneekluth Verlag GmbH, München
Ein Unternehmen der
Verlagsgruppe Droemer Weltbild, München
Gesetzt aus der 10,5/13 Punkt Stempel Garamond
Printed in Germany 2001
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Für: Oma und Opa - die zähen alten Knacker
die beiden vom OBE (Orden der Blutigen Eingeweide): Caroline »die Spürnase« Paul
Paul »der Plünderer« Litherland
Außerdem lüfte ich hochachtungsvoll
die Schädeldecke vor:
Biddy »Jekyll« und Liam »Hyde«
Gillie »die Grabräuberin« Russell
der gruseligen, grässlichen HarperCollins- Gang
sowie
Emma und Chris (von der »Leichenfresser-GmbH«).
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Ich heiße Darren Shan. Ich bin ein Halbvampir. Aber ich bin nicht so auf die Welt gekommen. Früher war ich ein ganz normaler Junge. Ich wohnte mit meinen Eltern und meiner kleinen Schwester Annie zusammen. Ich ging gern zur Schule und hatte jede Menge Freunde. Ich war ein Fan von Gruselgeschichten und sah mir gern Horrorfilme an. Als ein Abnormitätenkabinett, eine so genannte Freak Show, in unsere Stadt kam, ergatterte mein bester Freund Steve Leopard zwei Eintrittskarten, und wir gingen hin. Es war super, richtig verrückt und unheimlich. Ein phantastischer Abend. Aber das Verrückteste passierte, nachdem die Vorstellung zu Ende war. Steve erkannte einen der Mitwirkenden: Er hatte in einem alten Buch ein Porträt von ihm gesehen und wusste, dass er ... ein Vampir war. Nach der Vorstellung versteckte Steve sich und flehte den Vampir an, ihn ebenfalls in einen Vampir zu verwandeln! Mr. Crepsley, der Vampir, hätte ihm diesen Wunsch auch gern erfüllt, fand jedoch ziemlich schnell heraus, dass Steve schlechtes Blut hatte, und damit war die Sache erledigt. Das heißt, sie wäre erledigt gewesen, wenn ich mich nicht ebenfalls versteckt hätte, um zu beobachten, was Steve im Schilde führte. Mit Vampiren wollte ich nie etwas zu tun haben, aber ich war schon immer ganz wild auf Spinnen, die ich mir gelegentlich als Haustiere hielt. Und Mr. Crepsley besaß eine dressierte Giftspinne namens Madame Octa, die alle möglichen tollen Kunststücke beherrschte. Ich klaute sie und hinterließ dem Vampir eine Nachricht, in der ich ihm androhte, den Leuten die Wahrheit über ihn zu verraten, wenn er mich verfolgte. Um es kurz zu machen: Madame Octa biss Steve, und er landete im Krankenhaus. Mein bester Freund wäre fast gestorben, und deshalb ging ich zu Mr. Crepsley und bat ihn, Steve wieder gesund zu machen. Er willig te ein, aber als Gegenleistung musste ich ein Halbvampir werden und als sein Gehilfe mit ihm ziehen. Nachdem er mich in einen Halbvampir verwandelt (indem er mir ein wenig von seinem eigenen grässlichen Blut übertrug) und Steve gerettet hatte, lief ich von ihm weg. Aber schon bald merkte ich, dass ich plötzlich Appetit auf Blut verspürte, und bekam Angst davor, etwas Schreckliches zu tun, wenn ich weiterhin bei meiner Familie wohnte - zum Beispiel meine Schwester zu beißen. Deswegen half mir Mr. Crepsley, meinen eigenen Tod vorzutäuschen. Ich ließ mich lebendig begraben, und um Mitternacht, als niemand mehr auf dem Friedhof war, befreite Mr. Crepsley mich wieder, und wir gingen zusammen weg. Meine Tage als gewöhnlicher Mensch waren zu Ende. Jetzt nahmen meine Nächte als Vampirgehilfe ihren Anfang.
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Die Nacht war warm und trocken, und so beschloss Stanley Collins, nach dem Pfadfindertreffen zu Fuß nach Hause zu gehen. Es war nicht weit, kaum zwei Kilometer, und trotz der Dunkelheit war ihm jeder Fußbreit des Weges so vertraut wie die Schlinge eines Kreuzknotens. Stanley war Pfadfinderführer. Er war begeistert von der Pfadfinderei. Als Junge war er selbst ein Wölfling gewesen und hatte, auch als er älter wurde, die Verbindung zu dieser Organisation nicht abgebrochen. Er hatte seine drei Söhne zu vorbildlichen Pfadfindern er zogen, und jetzt, nachdem sie selbst erwachsen und aus dem Haus waren, kümmerte er sich um die Kinder der Umgebung. Um sich warm zu halten, schlug Stanley ein flottes Tempo an. Er trug nur ein T-Shirt und eine kurze Hose, und obwohl die Nacht lau war, bekam er bald Gänsehaut an Armen und Beinen. Es störte ihn nicht. Seine Frau hatte ihm bestimmt schon eine schöne Tasse heißen Kakao und einen Teller mit Rosinenbrötchen bereitgestellt. Nach einem zügigen Marsch würden sie ihm um so besser schmecken. Die Straße war von Bäumen gesäumt, die den Weg für jeden, der sich nicht auskannte, dunkel und gefährlich machten. Aber Stanley hatte keine Angst. Im Gegenteil: Er war gern bei Nacht unterwegs und lauschte vergnügt dem Rascheln seiner Schritte im hohen Gras und Unterholz. Raschel. Raschel. Raschel. Er lächelte. Als seine Söhne noch klein waren, hatte er ihnen auf dem Heimweg immer vorgeflunkert, dass hinter den Bäumen Ungeheuer lauerten. Er hatte unheimliche Geräusche von sich gegeben und tief hängende Zweige geschüttelt, wenn die Jungen gerade nicht hinsahen. Manchmal hatten sie angefangen zu kreischen und waren im Galopp nach Hause gerannt. Stanley war ihnen dann lachend gefolgt. Raschel. Raschel. Raschel. Falls er heute Nacht Einschlafschwierigkeiten hätte, würde er sich das Geräusch seiner Schritte auf dem Heimweg ins Gedächtnis rufen. Das hatte ihm schon immer geholfen, sanft ins Land der Träume zu entschlummern. Nach Stanleys Ansicht war es das schönste Geräusch auf der ganzen Welt, besser als sämtliche Kompositionen von Mozart und Beethoven. Raschel. Raschel. Raschel. Knack. Stanley blieb stehen und runzelte die Stirn. Das Knacken hatte sich nach einem zerbrechenden Ast angehört, aber das war eigentlich unmöglich. Er hätte doch gespürt, wenn er einen Zweig zertreten hätte. Und auf den angrenzenden Feldern gab es weder Kühe noch Schafe. Stanley stand etwa eine halbe Minute ganz still und lauschte aufmerksam. Als nichts weiter zu hören war, schüttelte er lächelnd den Kopf. Seine Einbildungskraft hatte ihm wohl einen Streich gespielt. Er würde seiner Frau davon erzählen, wenn er wieder zu Hause war, und sie würden beide herzlich darüber lachen. Er ging weiter. Raschel. Raschel. Raschel. Na also. Das vertraute Geräusch. Niemand sonst schlich hier herum. Dann hätte er schließlich mehr als nur das Knacken eines vereinzelten Zweiges hören müssen. Niemand konnte sich Stanley J. Collins unbemerkt nähern. Er war schließlich ausgebildeter Pfad finderführer. Sein Gehör war so scharf wie das eines Fuchses. Raschel. Raschel. Raschel. Raschel. Rasch... Knack , Wieder blieb Stanley stehen. Nun schloss die Angst ihre Klauen um sein wild pochendes Herz. Diesmal war es keine Einbildung gewesen. Er hatte es klar und deutlich gehört. Irgendwo über seinem Kopf hatte ein Ast geknackt. Und davor: War da nicht ein leises Rauschen gewesen, als bewegte sich etwas? Stanley reckte den Hals und spähte in die 6
Baumkronen, aber es war zu dunkel, um etwas erkennen zu können. Ein Ungeheuer, so groß wie ein Auto, hätte dort oben hocken können, und er hätte es nicht gesehen. Zehn Ungeheuer. Hundert! Tau... Was für ein Unsinn. Ungeheuer hockten nicht auf Bäumen. Es gab überhaupt keine Ungeheuer. Sie existierten nicht in Wirklichkeit. Bestimmt war es ein Eichhörnchen oder eine Eule gewesen, irgendetwas ganz Gewöhnliches. Stanley hob einen Fuß und senkte ihn im Zeitlupentempo. Knack. Sein Fuß hing mitten in der Luft, und sein Herz pochte schneller. Das war kein Eichhörnchen! Das Knacken war zu laut. Dort oben war etwas Großes. Etwas, das dort nicht hingehörte. Etwas, das normalerweise nicht da war. Etwas, das... Knack! Diesmal klang das Geräusch näher, es kam von weiter unten, und plötzlich hielt Stanley es nicht länger aus. Er rannte los. Stanley war ein stämmiger Mann, aber für sein Alter gut in Form. Trotzdem war es lange her, seit er zuletzt derartig gerannt war, und nach hundert Metern hielt er sich keuchend die stechenden Seiten. Er kam zum Stehen und beugte sich nach Luft schnappend nach vorn. Raschel Er riss den Kopf hoch. Raschel. Raschel. Raschel. Schritte bewegten sich auf ihn zu. Langsame, schwere Schritte. Stanley lauschte ängstlich, wie sie näher und näher kamen. War das Ungeheuer aus einem der Bäume vor ihm gesprungen? Oder war es heruntergeklettert? Wollte es ihm an den Kragen? Wollte es ... Raschel. Raschel. Die Schritte verstummten, und Stanley konnte eine Gestalt ausmachen. Sie war kleiner, als er erwartet hatte, nicht größer als ein Kind. Stanley richtete sich hoch auf, nahm all seinen Mut zusammen und trat vor, um besser sehen zu können. Es war tatsächlich ein Junge! Ein kleiner, verängstigt wirkender Junge in einem schmutzigen Anzug. Stanley lächelte kopfschüttelnd. Wie dumm von ihm! Seine Frau würde sich köstlich amüsieren, wenn er ihr die Geschichte erzählte. »Alles in Ordnung, mein Junge?«, fragte Stanley freundlich. Der Junge antwortete nicht. Stanley hatte ihn noch nie gesehen, aber erst kürzlich waren mehrere Familien neu in die Gegend gezogen. Deshalb kannte Stanley nicht mehr alle Kinder der Nachbarschaft. »Kann ich dir helfen?«, erkundigte er sich. »Hast du dich verirrt?« Der Junge schüttelte langsam den Kopf. Irgendetwas an ihm war Stanley unheimlich. Vielleicht lag es nur an der Dunkelheit und den Schatten, aber der Junge sah merkwürdig aus: blass, sehr dünn und sehr - hungrig. »Alles in Ordnung mit dir?«, wiederholte Stanley und trat noch näher. »Kann ich ...« KNACK! Das Geräusch ertönte jetzt direkt über Stanleys Kopf, laut und bedrohlich. Blitzschnell sprang der Junge beiseite. Stanley konnte gerade noch hochblicken und sah einen großen roten Umriss, wie von einer Fledermaus, der durch die Zweige auf ihn zustürzte. Dann war das rote Ungeheuer auch schon über ihm. Stanley wollte schreien, aber wie aus dem Nichts schoss die Hand - die Tatze? - des Ungeheuers vor und presste sich auf seinen Mund. Es gab ein kurzes Handgemenge, dann sank Stanley bewusstlos und ohne noch etwas zu sehen oder zu fühlen zu Boden. Die beiden Geschöpfe der Nacht kauerten sich neben den ohnmächtigen Mann und machten sich über ihn her.
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»Ein Mann seines Alters in Pfadfinderuniform!«, schnaubte Mr. Crepsley verächtlich, als er unser Opfer umdrehte. »Waren Sie denn bei den Pfadfindern?«, fragte ich. »Zu meiner Zeit gab es so etwas nicht«, antwortete er. Er tätschelte die fleischigen Waden des Mannes und brummte beifällig. »Hat 'ne Menge Blut, der Kerl.« Ich sah zu, wie Mr. Crepsley das Bein nach einer Vene abtastete und sie öffnete, indem er sie mit dem Fingernagel ein wenig einritzte. Sobald die ersten Blutstropfen austraten, presste er die Lippen auf den winzigen Schnitt und saugte daran. In seinen Augen war es eine Sünde, auch nur einen Tropfen des »kostbaren roten Elixiers«, wie er es manchmal nannte, zu vergeuden. Während er trank, stand ich daneben und fühlte mich gar nicht wohl in meiner Haut. Es war schon der dritte Überfall, an dem ich teilnahm, aber ich hatte mich noch immer nicht an den Anblick des Vampirs gewöhnt, der einem hilflosen Menschen Blut aussaugte. Mein »Tod« lag jetzt fast zwei Monate zurück, aber es war mir sehr schwer gefallen, mich an die Umstellung zu gewöhnen. Ich konnte noch immer nicht richtig glauben, dass mein altes Leben unwiderruflich zu Ende war und dass ich jetzt ein Halbvampir war, für den es kein Zurück gab. Ich wusste, dass ich meine menschliche Natur endlich ablegen musste. Aber das war leichter gesagt als getan. Mr. Crepsley hob den Kopf und leckte sich die Lippen. »Guter Jahrgang«, witzelte er und rückte von dem reglosen Körper ab. »Jetzt bist du dran.« Ich trat einen Schritt vor, blieb dann stehen und schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht«, murmelte ich. »Stell dich nicht so an«, knurrte Mr. Crepsley. »Du hast dich jetzt schon zweimal geweigert. Du musst endlich etwas trinken!« »Ich kann einfach nicht!«, rief ich. »Du hast doch auch schon Tierblut getrunken«, wand te er ein. »Das ist etwas anderes. Das hier ist ein Mensch.« »Na und?«, fauchte Mr. Crepsley. »Wir sind keine Menschen. Du musst endlich lernen, zwischen Menschen und Tieren keinen Unterschied mehr zu machen, Darren. Ein Vampir kann sich nicht ausschließlich von Tierblut ernähren. Wenn du nicht bald anfängst, Menschenblut zu trinken, wirst du immer kraftloser werden. Wenn du dich weiter so anstellst, stirbst du.« »Ich weiß«, seufzte ich. »Sie haben es mir bereits erklärt. Ich habe schon verstanden, dass wir den Menschen, deren Blut wir trinken, nicht schaden, es sei denn, wir trinken zu viel. Aber ...« Ich zuckte hilflos die Achseln. Mr. Crepsley seufzte. »Wie du meinst. Ich gebe ja zu, dass es nicht einfach ist, besonders für einen Halbvampir, dessen Hunger noch nicht so groß ist. Für diesmal will ich es gut sein lassen. Aber du musst bald etwas zu dir nehmen. Um deiner eigenen Gesundheit willen.« Er beugte sich wieder über den Schlitz und wischte das Blut, das während unserer Unterhaltung herausgeflossen war, vom Bein des Mannes. Dann sammelte er einen Mund voll Spucke und ließ sie langsam auf den Schnitt tropfen. Er rieb den Speichel mit dem Finger in die kleine Wunde, hockte sich auf die Fersen und wartete ab. Die Wunde schloss sich und verheilte. Nach kaum einer Minute war nichts mehr zu sehen außer einer kleinen Narbe, die der Mann wahrscheinlich nicht einmal bemerken würde, wenn er wieder zu Bewusstsein kam. So schützen sich die Vampire. Anders als im Film töten sie die Menschen nicht, denen sie Blut aussaugen, es sei denn, sie sind vö llig ausgehungert oder verlieren die Kontrolle über sich und gehen zu weit. Sie trinken immer nur kleine Mengen, mal hier ein bisschen, mal dort ein bisschen. Mitunter greifen sie Menschen im Freien an, so wie wir eben. Ein andermal schleichen sie sich spät in der Nacht in Schlafzimmer, Krankenhäuser oder Gefängniszellen. Die Leute, deren Blut sie trinken, merken fast nie, dass ein Vampir sich an ihnen vergriffen 8
hat. Wenn dieser Mann hier wieder aufwachte, würde er sich höchstens an einen herabstürzenden rötlichen Schatten erinnern. Er würde nicht erklären können, warum er plötzlich ohnmächtig geworden oder was während seiner Be wusstlosigkeit mit ihm passiert war. Falls er die Narbe tatsächlich entdeckte, würde er eher an Außerirdische als an einen Vampirbiss denken. Ha! Außerirdische! Kaum jemand weiß, dass die Vampire die ganzen UFO-Geschichten verbreitet haben. Sie sind die perfekte Tarnung. Überall auf der Welt erwachen Menschen mit merkwürdigen Narben am Körper und schreiben irgendwelchen Außerirdischen die Schuld zu. Mr. Crepsley hatte den Pfadfinderführer mit seinem Atem betäubt. Vampire können ein spezielles Gas aus hauchen, das Menschen ohnmächtig macht. Wenn Mr. Crepsley jemanden einschläfern wollte, blies er kurz in die hohle Hand und presste sie dann auf Mund und Nase des Opfers. Sekunden später ging derjenige zu Boden und wachte erst zwanzig oder dreißig Minuten später wieder auf. Mr. Crepsley inspizierte die Narbe und vergewisserte sich noch einmal, dass die Wunde vollständig verheilt war. Er kümmerte sich immer sehr fürsorglich um seine Opfer. So weit ich ihn bis jetzt kennen gelernt hatte, schien er ein netter Kerl zu sein - abgesehen von der Tatsache, dass er ein Vampir war! »Komm«, sagte er und stand auf. »Die Nacht ist noch lang. Wir suchen dir ein Kaninchen oder einen Fuchs.« »Sind Sie auch nicht böse auf mich, weil ich nicht von ihm getrunken habe?«, fragte ich. Mr. Crepsley schüttelte den Kopf. »Das kommt schon noch«, meinte er. »Wenn du richtig hungrig bist.« »Nein», flüsterte ich, als er mir den Rücken zuwandte. »Kommt nicht infrage. Nicht von einem Menschen. Niemals!«
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Wie gewöhnlich wachte ich am frühen Nachmittag auf. Genau wie Mr. Crepsley war ich kurz vor Sonnenaufgang ins Bett gegangen. Aber im Gegensatz zu ihm, der weiterschlafen musste, bis es wieder Nacht wurde, konnte ich aufstehen und mich auch bei Tageslicht frei bewegen. Das ist einer der Vorteile, wenn man bloß ein Halbvampir ist. Als spätes Frühstück schmierte ich mir einen Marmela dentoast. Auch Vampire müssen normales Essen zu sich nehmen und können sich nicht ausschließlich von Blut ernähren. Dann hockte ich mich vor den Hotelfernseher. Mr. Crepsley mochte keine Hotels. Meistens übernachtete er im Freien, in alten Scheunen, Abbruchhäusern oder einer geräumigen Gruft, aber davon hielt ich nichts. Nach einer Woche unruhig verbrachter Nächte hatte ich ihm unumwunden mitgeteilt, dass ich von dieser Lebensweise die Nase voll hatte. Er grummelte ein bisschen, gab aber schließlich nach. Die letzten beiden Monate waren wie im Flug vergangen, weil ich mich ganz darauf konzentriert hatte, alles zu lernen, was man als Vampirgehilfe können muss. Mr. Crepsley war kein besonders guter Lehrer und wiederholte sich nicht gern, deshalb musste ich gut aufpassen und schnell lernen. Inzwischen war ich körperlich sehr kräftig geworden. Ich konnte enorme Gewichte stemmen und Glasmurmeln mit meinen bloßen Fingern zu kleinen Splittern zerdrücken. Wenn ich einem gewöhnlichen Menschen die Hand schüttelte, musste ich aufpassen, dass ich ihm dabei nicht die Finger brach. Ich konnte die ganze Nacht lang Liegestütze machen und eine Metallkugel weiter schleudern als jeder Erwachsene. (Eines Tages maß ich meinen Wurf, schlug dann in einem Buch nach und stellte fest, dass ich einen neuen Weltrekord aufgestellt hatte! Zuerst war ich ganz aufgeregt, aber dann fiel mir ein, dass ich es niemandem erzählen konnte. Trotzdem war es schmeichelhaft zu wissen, dass ich der neue Weltmeister war.) Auch meine Fingernägel waren nun erstaunlich dick, und ich konnte sie nur mit den Zähnen stutzen: Sche ren richteten gegen meine scharfen neuen Nägel nichts aus. Sie waren allerdings ziemlich lästig: Ständig zerriss ich mir beim An- und Ausziehen die Kleidung oder bohrte Löcher in meine Taschen, wenn ich die Hand hineinsteckte. Seit jener Nacht auf dem Friedhof hatten wir eine große Entfernung zurückgelegt. Erst waren wir mit Vampir-Höchstgeschwindigkeit geflohen. Unsichtbar für das menschliche Auge saß ich auf Mr. Crepsleys Rücken, und wir waren wie ein Gespensterpaar mit Düsenantrieb durch das Land geglitten. Diese Art der Fortbewegung wird »Huschen« genannt. Aber Huschen ist sehr anstrengend, deshalb zogen wir es nach ein paar Nächten vor, Bahnen und Busse zu benutzen. Ich weiß nicht, woher Mr. Crepsley das Geld für unsere Reise, die Hotels und das Essen nahm. Ich fand bei ihm weder Brieftasche noch Scheckkarte, aber jedes Mal, wenn er etwas bezahlen musste, hatte er plötzlich Geld in der Hand. Mir waren allerdings immer noch keine spitzen Eckzähne gewachsen. Ich hatte sehnsüchtig darauf gewartet und meine Zähne drei Wochen lang jeden Abend im Spiegel inspiziert, bis mich Mr. Crepsley eines Tages dabei ertappte. »Was machst du denn da?«, hatte er gefragt. »Ich sehe nach, ob ich schon Fangzähne bekomme«, erklärte ich. Er starrte mich einen Augenblick lang an und brach dann in brüllendes Gelächter aus. »Uns wachsen keine Fangzähne, du Dummkopf!«, prustete er. »Aber ... wie beißen wir dann die Menschen?«, stammelte ich verwirrt. »Wir beißen sie nicht«, erklärte er. »Wir schlitzen ihnen mit den Fingernägeln die Adern auf und saugen sie aus. Die Zähne benutzen wir nur im Notfall.« »Also kriege ich gar keine Fangzähne?« »Nein. Deine Zähne werden härter als die von anderen Menschen, und du kannst damit, wenn es sein muss, Haut und Knochen durchbeißen, aber das ist Pfusch. Nur 10
dumme Vampire benutzen ihre Zähne. Und dumme Vampire leben meist nicht lang. Sie werden gejagt und schließlich umgebracht.« Ich war ein bisschen enttäuscht. Das hatte mir an diesen alten Vampirfilmen immer am besten gefallen: Die Vampire sahen so cool aus, wenn sie ihre Eckzähne entblößten. Aber nach einigem Nachdenken fand ich, dass ich ohne Fangzähne besser dran war. Die Fingernägel, mit denen ich mir Löcher in die Klamotten bohrte, machten mir schon genug zu schaffen. Was für Ärger stünde mir erst bevor, wenn meine Zähne wachsen und ich mir damit Fleischfetzen aus den Innenseiten meiner Wangen reißen würde! Die meisten alten Vampirgeschichten sind reine Erfindung. Wir können weder unsere Gestalt verändern noch fliegen. Kreuze und Weihwasser können uns nichts anhaben. Von Knoblauch bekommen wir höchstens Mundgeruch. Unser Bild ist in jedem Spie gel zu erkennen, und einen Schatten werfen wir auch. Einige Legenden sind allerdings auch wahr. Einen Vampir kann man weder fotografieren noch mit einer Videokamera filmen. Irgendetwas verhält sich mit den Atomen von Vampiren anders als mit denen von Menschen, sodass auf dem Film nur ein dunkler, verschwommener Umriss erscheint. Mich konnte man noch fotografieren, aber das Bild würde unscharf werden, egal wie gut das Licht war. Vampire sind gut Freund mit Fledermäusen und Ratten. Wir können uns zwar nicht in sie verwandeln, wie manche Bücher und Filme behaupten, aber sie mögen uns — sie erkennen am Geruch unseres Blutes, dass wir keine Menschen sind - und kuscheln sich oft an uns, wenn wir schlafen, oder gesellen sich zu uns, um nach Resten unserer Mahlzeiten zu suchen. Hunde und Katzen dagegen verabscheuen uns aus irgendeinem Grund. Das Sonnenlicht tötet einen Vampir tatsächlich, aber nicht auf der Stelle. Ein Vampir kann durchaus tags über herumlaufen, wenn er mehrere Schichten Kleidung übereinander zieht. Er wird sehr schnell braun und innerhalb einer Viertelstunde krebsrot. Vier oder fünf Stunden Sonnenlicht bringen ihn um. Ein Pfahl durch das Herz tötet uns natürlich, aber Ge wehrkugeln, Messer oder Stromschläge genauso. Wir können ertrinken, erschlagen werden oder uns mit bestimmten Krankheiten anstecken. Wir sind zäher als Menschen, aber nicht unverwundbar. Aber ich hatte noch mehr zu lernen. Viel, viel mehr. Mr. Crepsley sagte, es würde noch Jahre dauern, ehe ich alles wisse und allein zurechtkäme. Er warnte mich, dass ein Halbvampir, der nicht wisse, was er tut, nur wenige Monate überleben könne, und deshalb solle ich mich lieber wie eine Klette an seine Fersen heften, selbst wenn ich keine Lust dazu hätte. Nachdem ich den Marmeladentoast aufgegessen hatte, saß ich ein paar Stunden nur herum und kaute an den Fingernägeln. Im Fernsehen gab es nichts Spannendes, aber ich traute mich nicht, das Hotel ohne Mr. Crepsley zu verlassen. Wir befanden uns in einer Kleinstadt, und die Leute machten mich nervös. Ich hatte ständig Angst, dass sie mich durchschauten und merkten, wer ich wirklich war, um dann mit spitzen Pfählen auf mich loszugehen. Gegen Abend stand Mr. Crepsley auf und rieb sich den Magen. »Ich sterbe vor Hunger«, ächzte er. »Es ist noch früh, ich weiß, aber lass uns trotzdem aufbrechen. Ich hätte diesem blöden Pfadfinderführer mehr Blut abzapfen sollen. Ich glaube, ich suche mir noch einen Menschen.« Er blickte mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Vielleicht entschließt du dich ja diesmal, das Mahl mit mir zu teilen.« »Vielleicht«, erwiderte ich, obwohl ich nicht vorhatte, seine Einladung anzunehmen. Das war das Einzige, was ich mir geschworen hatte. Vielleicht musste ich Tierblut trinken, um am Leben zu bleiben, aber ich würde mich niemals an einem Geschöpf meiner eigenen Abstammung gütlich tun, ganz gleich, was Mr. Crepsley sagte oder wie laut mein Magen knurrte. Ja, ich war ein Halbvampir, aber ich war auch zur Hälfte ein Mensch, und der Gedanke daran, einen lebendigen Mitmenschen anzugreifen, erfüllte mich mit Abscheu und Entsetzen.
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BLUT... Mr. Crepsley verbrachte den überwiegenden Teil seiner Zeit damit, mir alles Wissenswerte über Blut beizubringen. Für Vampire ist Blut lebensnotwendig. Ohne Blut werden wir schwach, altern schneller und sterben. Blut hält uns jung. Vampire können zehnmal so alt werden wie Menschen (in zehn Jahren altert ein Vampir nur ein einziges Jahr), aber ohne Menschenblut verfallen wir wesentlich schneller als andere Leute, vielleicht um zwanzig oder dreißig Jahre im Verlauf eines oder zweier Jahre. Als Halbvampir, der etwa fünfmal so alt wird wie ein gewöhnlicher Mensch, brauchte ich zwar nicht so viel davon zu trinken wie Mr. Crepsley - aber ganz ohne Menschenblut konnte auch ich nicht leben. Mit Hilfe von Tierblut - von Hunden, Kühen oder Schafen — können sich Vampire eine Zeit lang über Wasser halten, aber es gibt auch einige Tiere, deren Blut sie - wir — nicht vertragen: Katzen zum Beispiel. Anstelle von Katzenblut könnte ein Vampir genauso gut Gift in sich hineinschütten. Auch das Blut von Affen, Fröschen, Schlangen und den meisten Fischen bekommt uns nicht. Mr. Crepsley hatte mir noch längst nicht alle gefährlichen Tierarten aufgezählt. Es gab unendlich viele, und es würde lange dauern, bis ich unterscheiden konnte, welche Tiere für mich ungefährlich waren und welche nicht. Mr. Crepsley riet mir, ihn immer erst zu fragen, bevor ich etwas Neues ausprobierte. Ungefähr einmal im Monat muss ein Vampir Men schenblut zu sich nehmen. Die meisten laben sich jedoch einmal pro Woche daran. Auf diese Weise brauchen sie nie sehr viel aus einem einzelnen Menschen zu saugen. Wenn man dagegen nur einmal pro Monat Menschenblut trinkt, braucht man eine zu große Menge auf einmal. Mr. Crepsley behauptete, es sei gefährlich, das Trinken zu lange hinauszuzögern. Er warnte mich davor, dass der Durst mich dann so überwältigen könnte, dass ich mehr als beabsichtigt trank und den betroffenen Menschen tötete. »Ein Vampir, der ab und zu einen kleinen Schluck nimmt, hat sich im Griff«, pflegte er zu sagen. »Einer, der erst dann trinkt, wenn er es gar nicht mehr aushält, verliert leicht den Kopf. Wir müssen unserem Hunger ab und zu eine Kleinigkeit gönnen, um ihn unter Kontrolle zu haben.« »Frisches Blut ist das beste. Wenn du einen lebendigen Menschen aussaugst, besitzt das Blut seine volle Kraft, und du brauchst nur wenig davon. Aber bei Toten wird das Blut sauer. Wenn du eine Leiche aussaugst, musst du daher viel mehr trinken.« »Merk dir eine Grundregel: Trink nie aus einem Menschen, der länger als einen Tag tot ist«, schärfte Mr. Crepsley mir eines Tages ein. »Woher soll ich denn wissen, wie lange er schon tot ist?«, fragte ich. »Du schmeckst es«, erklärte er. »Du wirst schnell lernen, gutes Blut von schlechtem zu unterscheiden. Schlechtes Blut schmeckt wie verdorbene Milch, nur noch ekelhafter.« »Ist es schädlich, schlechtes Blut zu trinken?«, fragte ich weiter. »Ja. Dir wird schlecht, und du kannst davon verrückt werden oder sogar daran sterben.« Brrrr! Allein beim Gedanken an unsere Unterhaltung wird mir noch heute übel. Für Notfälle können wir uns aber frisches Blut abfüllen und aufbewahren, so lange wir wollen. Mr. Crepsley hatte immer mehrere Flaschen in seinem Umhang verstaut. Manchmal öffnete er eine davon zu den Mahlzeiten, als wäre es ein guter Schluck Wein. »Könnten Sie sich eigentlich auch ausschließlich von Flasche nblut ernähren?«, wollte ich eines Abends wissen. »Eine Weile schon«, gab er zurück. »Aber nicht auf Dauer.« »Und wie füllen Sie es ab?«, fragte ich neugierig und musterte eine der Flaschen. Sie sah aus wie ein Reagenzglas, nur etwas dunkler und dickwandiger. »Das ist ziemlich 12
kompliziert«, erwiderte er. »Nächs tes Mal lasse ich dich zusehen.«
Blut...
Blut war das, was ich am dringendsten brauchte und zugleich am meisten fürchtete. Wenn
ich erst einmal einen Tropfen Menschenblut getrunken hatte, gab es kein Zurück mehr.
Dann musste ich für den Rest meines Lebens Vampir bleiben. Wenn ich es schaffte, mich
davor zu drücken, konnte ich vielleicht irgendwann wieder ein richtiger Mensch werden.
Vielleicht verbrauchte sich das Vampirblut in meinen Adern eines Tages. Vielleicht musste
ich sterben. Vielleicht starb dann nur der Vampir in mir, und ich selbst konnte zu meiner
Familie und meinen Freunden zurückkehren.
Viel Hoffnung hatte ich nicht, denn Mr. Crepsley hatte behauptet, es sei unmöglich, wieder
ein normaler Mensch zu werden, und ich glaubte ihm. Aber es war der einzige Traum, an
den ich mich noch klammern konnte.
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Die Tage und Nächte vergingen, und wir wanderten immer weiter, durch Kleinstädte, Dörfer und größere Städte. Mit Mr. Crepsley kam ich nicht besonders gut klar. Obwohl er nett war, konnte ich nicht vergessen, dass er derjenige gewesen war, der Vampirblut in meine Adern geschleust und mich dadurch gezwungen hatte, meine Familie zu verlassen. Ich hasste ihn. Bei Tag erwog ich manchmal, ihm im Schlaf einen Pfahl durchs Herz zu treiben, und mich dann allein durchzuschlagen. Vielleicht hätte ich das auch geschafft, aber im Grunde wusste ich, dass ich auf ihn angewiesen war. Im Moment brauchte ich Larten Crepsley noch. Aber wenn erst der Tag gekommen war, an dem ich mich allein zurechtfand ... Ich war inzwischen für Madame Octa verantwortlich, musste Futter für sie besorgen, mit ihr trainieren und ihren Käfig sauber halten. Ich tat es nur widerwillig, denn ich verabscheute die Spinne fast genauso sehr wie den Vampir, aber Mr. Crepsley fand, da ich sie damals gestohlen hatte, könnte ich mich jetzt auch um sie kümmern. Ab und zu übte ich ein paar Kunststücke mit ihr, aber ich war nicht mit dem Herzen dabei. Die Spinne interessierte mich einfach nicht mehr, und je mehr Zeit verging, umso weniger beschäftigte ich mich mit ihr. Das einzig Gute an unserem Zigeunerleben war, dass ich an Orte kam, an denen ich noch nie gewesen war und wo es jede Menge Sehenswürdigkeiten zu besichtigen gab. Ich reiste gern. Aber da wir immer nur nachts unterwegs sein konnten, bekam ich nicht viel von der Umgebung zu sehen! Eines Tages, als Mr. Crepsley schlief, hatte ich es plötzlich satt, immer nur im Zimmer herumzuhocken. Für den Fall, dass ich noch nicht zurück war, wenn er aufwachte, hinterließ ich einen Zettel auf dem Fernseher, dann machte ich mich aus dem Staub. Ich hatte kaum Geld und keine Ahnung, wohin ich eigentlich wollte, aber das spielte keine Rolle. Einfach nur das Hotel zu verlassen und ein paar Stunden allein zu sein, war schon ein herrliches Gefühl. Wir weilten in einer großen, aber ziemlich verschlafenen Stadt. Ich entdeckte ein paar Spielzeugläden, in denen man umsonst Computerspiele ausprobieren durfte. Ich hatte nie besonders gut mit Computern umgehen können, aber mit meinem verbesserten Reak tionsvermögen und den anderen neuen Fähigkeiten schaffte ich fast alles, was ich mir vornahm. Ich erreichte im Nu die höchsten Level bei Autorennen, machte in Kriegsspielen sämtliche Gegner kampfunfähig und ballerte bei Science-Fiction- Abenteuern auch den allerletzten Alien im Universum ab. Danach streifte ich durch die Stadt. Es gab massenhaft Brunnen, Standbilder, Parks und Museen, die ich alle interessiert besichtigte. Allerdings erinnerten mich die Museumsbesuche an Mama; sie war so gern mit mir ins Museum gegangen. Das stimmte mich traurig. Auch sonst fühlte ich mich immer ganz elend und verlassen, wenn ich an Mama und Papa oder Annie dachte. Ich entdeckte eine Gruppe Jungen in meinem Alter, die auf einem rechteckigen Teerplatz Hockey spielten. Jede Mannschaft bestand aus acht Spielern. Die meisten hatten nur Plastikschläger, ein paar allerdings auch welche aus Holz. Als Puck benutzten sie einen alten weißen Tennisball. Ich blieb stehen, um ihnen zuzuschauen, und nach ein paar Minuten kam einer der Jungen auf mich zu. »Woher kommst du?«, fragte er. »Von außerhalb«, antwortete ich. »Ich wohne mit meinem Vater im Hotel.« Ich nannte Mr. Crepsley nicht gern so, aber es war die einfachste Erklärung. »Er kommt von außerhalb!«, rief der Junge seinen Kameraden zu, die ihr Spiel unterbrochen hatten. »Ist er einer von der Addams Family?«, brüllte einer von ihnen zurück, und die anderen lachten. »Was soll das denn heißen?«, fragte ich beleidigt. »Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel gesehen?«, kicherte der Junge. 14
Ich blickte an meinem staubigen Anzug herunter und wusste plötzlich, warum sie lachten: Ich sah aus wie eins der Waisenkinder aus Oliver Twist. »Ich hab die Tasche mit meinen normalen Klamotten verloren«, log ich. »Das ist mein einziger Anzug. Aber ich kriege bald was Neues zum Anziehen.« »Na hoffentlich«, erwiderte der Junge grinsend und erkundigte sich dann, ob ich Hockey spielen könne. Als ich bejahte, forderte er mich auf mitzuspielen. »Du kannst in meine Mannschaft kommen«, sagte er und reichte mir einen überzähligen Schläger. »Wir liegen sechs zu zwei im Rückstand. Ich heiße Michael.« »Darren«, antwortete ich knapp und probierte den Schläger aus. Ich krempelte die Hosenbeine hoch und vergewis serte mich, dass meine Schuhe richtig zugebunden waren. Währenddessen erzielte die gegnerische Mannschaft ein weiteres Tor. Michael fluchte laut und trieb den Ball in die Feldmitte. »Machen wir den Anstoß?«, fragte er. »Klar.« »Dann los«, ermunterte er mich, spielte mir den Ball zu, stürmte vor und wartete darauf, dass ich ihn zurückschlug. Es war lange her, seit ich zum letzten Mal Hockey gespielt hatte, denn im Sportunterricht in der Schule durften wir normalerweise zwischen Hockey und Fußball wählen, und ein gutes Fußballspiel ließ ich mir nie entgehen. Aber als ich nun den Schläger in der Hand hielt und den Ball vor mir herschob, kam es mir wie gestern vor. Ich machte ein paar kurze Schläge von links nach rechts, um sicherzugehen, dass ich nicht verlernt hatte, den Ball zu führen, hob dann den Kopf und visierte das Tor an. Zwischen mir und dem Torwart standen sieben Spieler. Keiner von ihnen versuchte, mich anzugreifen. Wahrscheinlich hielten sie es bei einem Vorsprung von fünf Toren für überflüssig. Ich rannte los. Ein großer Kerl, der Kapitän der Gegenmannschaft, versuchte, mir den Weg zu verstellen, aber ich wich ihm geschickt aus. Ich rannte an zwei weiteren Verteidigern vorbei, bevor sie reagieren konnten, und schob den Ball dann um einen vierten herum. Der fünfte Spieler streckte seinen Schläger auf Kniehöhe vor, aber ich sprang mühelos darüber hinweg, bluffte den sechsten und schoss, bevor der siebte und letzte Verteidiger sich mir in den Weg stellen konnte. Obwohl ich den Ball nur leicht antippte, war der Schlag härter, als der Torwart erwartet hatte, und der Ball flog in die obere rechte Ecke des Tors. Als er von der Wand zurückprallte, fing ich ihn im Flug auf. Lächelnd drehte ich mich zu meinen Mannschaftskameraden um. Sie standen noch immer auf ihrer Seite des Spielfeldes und starrten mich entgeistert an. Ich trug den Ball zurück zur Mittellinie und legte ihn wortlos auf den Boden. Dann wandte ich mich an Michael und sagte bloß: »Sieben zu drei.« Er blinzelte verwirrt, erwiderte dann aber mein Lächeln. »Stimmt genau!«, gluckste er vergnügt und zwinkerte seinen Mannschaftskameraden zu. »Ich glaube, da haben wir einen guten Fang gemacht!« Eine Zeit lang amüsierte ich mich prächtig, dirigierte den Angriff, rannte zurück, um unser Tor zu verteidigen, und trickste die gegnerischen Spieler mit supergenauen Pässen aus. Ich erzielte noch zwei Tore und bereitete vier weitere vor. Wir führten neun zu sieben, und das, ohne uns groß anzustrengen. Die andere Mannschaft war stinksauer, und wir mussten unsere beiden besten Spieler herausrücken, aber auch das machte sich nicht im Geringsten bemerkbar. Ich hätte ihnen jeden Spieler außer dem Torwart überlassen und trotzdem noch die Hölle heiß machen können. Dann allerdings wurde die Sache brenzlig. Danny, der Kapitän der gegnerischen Mannschaft, hatte schon die ganze Zeit versucht, mich zu foulen, aber ich war zu schnell für ihn und tänzelte jedes Mal um seinen erho benen Schläger und die vorgestreckten Beine herum. Schließlich begann er, mich in die Rippen zu boxen, mir auf die Zehen zu treten und die Ellenbogen in die Oberarme zu rammen. Es tat nicht weh, aber es nervte mich. Ich hasse schlechte Verlierer. Der Gipfel war, als er mich an einer sehr schmerzhaften Stelle erwischte. Auch die Geduld eines Halbvampirs hat irgendwann ihre Grenzen. Ich brüllte wie ein Stier, 15
krümmte mich und fiel auf die Knie. Danny lachte bloß hämisch und flitzte mit dem Ball davon. Nach wenigen Sekunden rappelte ich mich blind vor Wut auf. Danny hatte schon das halbe Spielfeld überquert. Ich schubste die Spieler zwischen uns beiseite, egal, ob sie zu meiner oder seiner Mannschaft gehörten, stürzte mich auf ihn und drosch mit dem Ho ckeystock auf seine Waden ein. Hätte ein gewöhnlicher Mensch einen solchen Angriff ausgeführt, wäre er schon nicht ganz ungefährlich gewesen. Aber erst ein Halbvampir ... Ein scharfes Knacken ertönte. Danny schrie auf und ging zu Boden. Sofort unterbrachen alle anderen ihr Spiel. Jeder auf dem Feld kannte den Unterschied zwischen dem üblichen Schmerzensgeheul und einem Schrei in höchster Pein. Ich bedauerte meine Tat bereits, als ich aufstand, und wünschte fast, ich könnte sie ungeschehen machen. Ich sah mich nach meinem Schläger um, in der Hoffnung, dass er das knackende Geräusch verursacht hatte, als er zersplitterte. Aber das war nicht der Grund gewesen. Ich hatte Danny beide Schienbeine gebrochen. Seine Unterschenkel waren beängstigend verdreht, und an den Schienbeinen war die Haut aufgeplatzt. Ich konnte das Weiß der Knochen inmitten von blutig rotem Fleisch erkennen. Michael beugte sich zu Danny herunter, um die Verletzung zu begutachten. Als er sich wieder aufrichtete, sah er verstört aus. »Du hast ihm die Beine zertrümmert!«, keuchte er. »Das wollte ich nicht!«, rief ich. »Er hat mir in ...« Ich deutete auf die Stelle zwischen meinen Beinen. »Du hast ihm beide Beine gebrochen!«, brüllte Michael mich an und wich vor mir zurück. Die anderen Jungen taten es ihm nach. Sie hatten Angst vor mir. Seufzend ließ ich den Hockeyschläger fallen und verließ das Spielfeld. Ich wusste, wenn ich blieb und auf das Eintreffen irgendwelcher Erwachsener wartete, machte ich alles nur noch schlimmer. Keiner der Jungen unternahm einen Versuch, mich aufhalten. Ihre Angst war zu groß. Sie hatten panische Angst vor mir. Vor Darren Shan. Vor einem Ungeheuer.
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Es war dunkel, als ich ins Hotel zurückkam. Mr. Crepsley war schon aufgestanden. Ich erklärte ihm, wir müssten die Stadt sofort verlassen, erzählte ihm aber nicht, wieso. Er warf nur einen kurzen Blick auf mein Gesicht, nickte und fing an, unsere Habseligkeiten zusammenzupacken. In jener Nacht sprachen wir nicht viel. Meine Gedanken kreisten immer wieder darum, was für ein schreckliches Schicksal es doch war, ein Halbvampir zu sein. Mr. Crepsley merkte genau, dass mit mir etwas nicht stimmte, aber er stellte keine lästigen Fragen. Ich hatte gewiss nicht zum ersten Mal schlechte Laune. Er war inzwischen an meine unberechenbaren Stimmungsumschwünge gewöhnt. Wir entdeckten eine verfallene Kirche, in der wir schlafen konnten. Mr. Crepsley streckte sich auf einer langen Bank aus, und ich bereitete mir auf dem Fußboden ein Lager aus Moos und Gras. Früh am darauf folgenden Nachmittag erwachte ich und verbrachte den Tag damit, die Kirche und den kleinen Friedhof, der sie umgab, zu erkunden. Die Grabsteine waren schon alt, und viele waren geborsten und von Unkraut überwuchert. Ich beschäftigte mich ein paar Stunden damit, einige von ihnen zu säubern, indem ich die Pflanzen ausriss und die Steine mit Wasser aus dem nahen Fluss abwusch. Diese Tätigkeit lenkte meine Gedanken von dem Hockeyspiel ab. Auf dem Friedhof hatte auch eine Hasenfamilie ihren Bau. Nach einiger Zeit kamen die Tierchen neugierig heran, um zu sehen, was ich da tat. Es waren putzige Kerlchen, besonders die Jungen. Einmal stellte ich mich schlafend, und zwei von ihnen hoppelten immer näher, bis sie nur noch einen halben Meter von mir ent fernt waren. Als sie nah genug herangekommen waren, sprang ich auf und brüllte »Buh!«, und sie stoben auseinander, als wäre ihnen der Leibhaftige auf den Fersen. Ein Häschen stolperte sogar über die eigenen Läufe und schlug einen Purzelbaum, bevor es in der Öffnung seiner Höhle verschwand. Das besserte meine Laune beträchtlich. Am frühen Abend ging ich in einen Laden und kaufte etwas Fleisch und Gemüse. Dann machte ich in der Kirche ein kleines Feuer und holte die Tasche mit den Töpfen und Pfannen unter Mr. Crepsleys Bank hervor. Ich kramte darin herum, bis ich gefunden hatte, wonach ich suchte: einen kleinen Topf, nicht größer als eine Konservenbüchse. Vorsichtig stellte ich ihn mit dem Boden nach oben auf die Erde und drückte auf die gewölbte Unterseite. Der Topf entfaltete sich wie ein Fächer, der aufgeklappt wird, und war in Sekundenschnelle so groß wie ein normaler Topf. Ich füllte ihn mit Wasser und setzte ihn aufs Feuer. Alle Töpfe und Pfannen in der Tasche besaßen diese Eigenschaft. Mr. Crepsley hatte sie vor langer Zeit von einer Frau namens Evanna bekommen. Sie wogen genauso viel wie gewöhnliches Geschirr, aber sie waren bequemer zu tragen, weil sie sich so klein zusammen falten ließen. Ich bereitete einen Eintopf zu, so wie Mr. Crepsley es mir beigebracht hatte. Er fand, jeder sollte kochen können. Dann nahm ich die Gemüseabfälle mit nach draußen und streute sie vor dem Kaninchenbau auf die Erde. Mr. Crepsley war überrascht, beim Aufwachen ein fix und fertiges Abendessen vorzufinden - für ihn war es allerdings eher ein Frühstück. Er streckte schnüffelnd die Nase über den blubbernden Topf und leckte sich die Lippen. »Daran könnte ich mich glatt gewöhnen«, grinste er zufrieden, reckte sich und fuhr sich mit der Hand durch das orangefarbene Haar. Dann rieb er über die lange Narbe, die sich über seine linke Gesichtshälfte zog; das tat er häufig. Ich hatte ihn schon oft fragen wollen, wie er zu der Narbe gekommen war, hatte mich aber nie getraut. Eines Abends, wenn ich mutiger geworden war, würde ich es tun. 17
Tische gab es nicht, deshalb nahmen wir die Teller auf den Schoß. Mr. Crepsley wischte sich den Mund mit einer Seidenserviette ab und hüstelte gekünstelt. »Schmeckt ausgezeichnet«, lobte er. »Danke«, gab ich zurück. »Ich ... ähem ... also ...» Er seufzte. »Diplomatie war noch nie meine Stärke«, sagte er dann, »deshalb frage ich dich jetzt ohne große Umschweife: Was ist gestern schief gelaufen? Warum warst du so verstört?« Ich starrte auf meinen fast leeren Teller und wusste nicht, ob ich antworten sollte. Aber dann sprudelte plötzlich die ganze Geschichte aus mir heraus. Ich holte kaum Luft, ehe ich fertig war. Mr. Crepsley hörte aufmerksam zu. Als ich schwieg, dachte er erst ein oder zwei Minuten nach, bevor er sich dazu äußerte. »Daran wirst du dich gewöhnen müssen«, sagte er schließlich. »Es ist nun einmal eine Tatsache, dass wir stärker, schneller und ausdaue rnder sind als Menschen. Wenn du mit normalen Jungen Hockey spielst, bleiben Verletzungen nicht aus.« »Ich wollte ihn aber nicht verletzen«, protestierte ich. »Es war ein Unfall.« Mr. Crepsley zuckte die Achseln. »Hör zu, Darren, du kannst nicht verhindern, dass so etwas wieder passiert, nicht, wenn du dich in die Gesellschaft von Menschen begibst. Ganz gleich, wie sehr du dich bemühst, wie sie zu sein, du bist es nicht. Solche Unfälle werden sich immer wieder ereignen.« »Sie wollen damit sagen, dass ich nie wieder Freunde haben kann, nicht wahr?« Ich nickte bekümmert. »Das habe ich mir schon gedacht. Deshalb war ich auch so traurig. An den Gedanken, dass ich nicht mehr nach Hause zurückkehren und mich nicht mehr mit meinen alten Freunden treffen kann, habe ich mich inzwischen gewöhnt, aber dass ich auch nie mehr neue Freunde finden werde, ist mir erst gestern klar geworden. Ich bin voll und ganz auf Sie angewiesen. Andere Freunde habe ich nicht zu erwarten, stimmt's?« Mr. Crepsley rieb wieder seine Narbe und schob nachdenklich die Unterlippe vor. »Das ist nicht ganz richtig«, erwiderte er dann. »Du kannst durchaus Freunde finden. Du musst nur sehr vorsichtig sein. Du ...« »Das genügt mir aber nicht!«, schrie ich. »Sie haben es doch eben selbst gesagt: Ich muss ständig mit weiteren Unfällen rechnen. Sogar jemandem einfach nur die Hand zu schütteln, ist total riskant. Ich könnte demjenigen aus Versehen mit den Fingernägeln die Pulsadern aufschlitzen.« Ich wiegte den Kopf hin und her. »Nein«, sagte ich dann bestimmt. »Ich möchte kein Menschenleben in Gefahr bringen. Ich bin zu gefähr lich, um Freunde zu haben. Außerdem lassen die Umstände ohnehin nicht zu, dass ich eine richtige Freund schaft schließe.« »Warum nicht?« »Richtige Freunde haben keine Geheimnisse voreinander. Ich könnte einem normalen Menschen niemals erzählen, dass ich ein Halbvampir bin. Ich müsste ständig lügen und mich für jemanden ausgeben, der ich nicht bin. Und ich müsste trotzdem ständig Angst haben, dass er es herausfindet und mich dann verabscheut.« »Dieses Problem haben alle Vampire«, winkte Mr. Crepsley ab. »Aber nicht jeder Vampir ist ein Kind!«, rief ich. »Wie alt waren Sie, als Sie zum Vampir wurden? Waren Sie ein ausgewachsener Mann?« Mr. Crepsley nickte. »Für Erwachsene sind Freunde nicht so wichtig. Mein Papa hat mir erklärt, dass sich Erwachsene mit der Zeit daran gewöhnen, weniger Freunde zu haben. Stattdessen haben sie ihre Arbeit, ihre Hobbys und andere Dinge, mit denen sie sich beschäftigen. Aber für mich waren meine Freunde das Wichtigste im Leben, abgesehen von meiner Familie. Meine Familie haben Sie mir genommen, als Sie Ihr stinkiges Blut in mich hineingepumpt haben. Und jetzt haben Sie mir auch noch die Chance vermasselt, jemals wieder einen richtigen Freund zu finden. Verbindlichsten Dank«, schloss ich wütend. »Danke, dass Sie aus mir ein Ungeheuer ge macht und mein Leben zerstört haben.« Ich war den Tränen nahe, aber ich wollte vor Mr. Crepsley nicht losheulen. Also rammte ich meine Gabel in das letzte Fleischstück auf meinem Teller, stopfte es in den Mund und kaute wie wild darauf herum. Nach meinem Ausbruch schwieg Mr. Crepsley lange. Ich wusste nicht, ob er verärgert war oder ob ich ihm Leid tat. Ich befürchtete schon, dass ich zu weit gegangen war. Was sollte ich tun, wenn er sich 18
abwandte und sagte: »Wenn du so denkst, gehe ich wohl besser« ? Was sollte dann aus mir werden? Ich war kurz davor, mich zu entschuldigen, als er mit sanfter Stimme zu sprechen begann und seine Worte mich völlig verblüfften. »Es tut mir Leid«, sagte er. »Ich hätte dich damals nicht anzapfen dürfen. Es war eine dumme Idee. Du bist noch zu jung. Meine eigene Jugend liegt schon so lange zurück, dass ich völlig vergessen habe, was in einem Kind vorgeht. Ich habe nie an deine Freunde gedacht und daran, wie sehr du sie vermissen würdest. Ich habe einen Fehler begangen. Einen verhängnisvollen Fehler. Ich ...« Seine Stimme brach. Er sah so zerknirscht aus, dass ich fast Mitleid mit ihm hatte. Aber dann fiel mir all das ein, was er mir angetan hatte, und ich hasste ihn wieder. Plötzlich sah ich einige verräterische Tropfen in seinen Augenwinkeln glitzern, und er tat mir von neuem Leid. Ich war ziemlich durcheinander. »Zum Jammern ist es sowieso zu spät«, lenkte ich schließlich ein. »Es gibt kein Zurück. Was passiert ist, ist passiert, oder?« »Stimmt«, seufzte er. »Wenn ich könnte, würde ich mein unheilvolles Geschenk zurücknehmen. Aber das ist unmöglich. Wer einmal Vampir ist, bleibt es für immer. Wenn die Verwandlung einmal vollzogen ist, kann keine Macht der Welt sie wieder rückgängig ma chen. Trotzdem«, fuhr er fort, »ist es nicht ganz so schlimm, wie du jetzt denkst. Vielleicht ...« Er kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Vielleicht was?«, fragte ich. »Wir können durchaus Freunde für dich finden«, erklärte er. »Du musst dich nicht die ganze Zeit nur mit mir begnügen.« »Das verstehe ich nicht.« Ich runzelte die Stirn. »Sind wir nicht eben zu dem Schluss gekommen, dass ich für Menschen ein zu großes Risiko bin?« »Ich spreche nicht von Menschen«, erwiderte Mr. Crepsley, und seine Lippen verzogen sich zu einem feinen Lächeln. »Ich spreche von Leuten mit besonderen Fähigkeiten. Leuten wie uns. Leuten, denen du dein Geheimnis offenbaren kannst...« Er beugte sich vor und ergriff meine Hände. »Darren«, sagte er, »was hältst du davon, umzukehren und dich dem Cirque du Freak anzuschließen?«
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Je länger wir über diese Idee beratschlagten, desto besser gefiel sie mir. Mr. Crepsley versicherte mir, dass die anderen Zirkusmitglieder meine neue Natur erkennen und mich als einen der Ihren akzeptieren würden. Die Zusammenstellung der Show wechselte häufig, und es war fast immer jemand in meinem Alter dabei. Vor diesen Leuten musste ich garantiert kein Blatt vor den Mund nehmen. »Und was ist, wenn es mir dort nicht gefällt?«, fragte ich. »Dann verschwinden wir eben wieder«, erwiderte Mr. Crepsley. »Ich bin gern mit dem Zirkus umhergezo gen, aber ich kann auch ohne ihn leben. Wenn es dir dort gefällt, bleiben wir. Wenn nicht, gehen wir unserer eigenen Wege.« »Werden die anderen denn nichts dagegen haben, dass Sie mich einfach so anschleppen?«, bohrte ich nach. »Du wirst natürlich deinen Beitrag leisten müssen«, erklärte er. »Meister Riesig besteht darauf, dass sich alle an der Arbeit beteiligen. Du wirst mithelfen müssen, Stühle und Scheinwerfer aufzubauen, Souvenirs zu verkaufen, nach der Vorstellung sauber zu machen oder für alle zu kochen. Du bekommst viel zu tun, musst dich aber auch nicht überarbeiten. Uns bleibt ge nug Zeit für deinen Unterricht.« Wir beschlossen, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Wenigstens würden wir dann endlich wieder jede Nacht in einem richtigen Bett schlafen können. Von dem dauernden Übernachten auf der Erde war mein Rücken schon grün und blau. Bevor wir aufbrechen konnten, musste Mr. Crepsley erst einmal feststellen, wo der Zirkus sich derzeit aufhielt. Ich fragte ihn, wie er das herausfinden wollte. Er erklärte mir, dass er sich in Meister Riesigs Gedanken einschalten könne. »Meinen Sie damit, dass Meister Riesig telepathische Fähigkeiten besitzt?«, fragte ich, denn mir fiel plötzlich wieder ein, wie Steve Leute genannt hatte, die sich durch Gedankenübertragung verständigen konnten. »So ähnlich«, erwiderte Mr. Crepsley. »Wir können zwar nicht durch bloße Gedankenkraft miteinander sprechen, aber ich kann die Schwingungen seiner ... Aura, könnte man es nennen, empfangen. Wenn ich diese erst einmal lokalisiert habe, ist es kein Problem mehr, ihn selbst zu finden.« »Könnte auch ich seine Aura lokalisieren?«, erkundigte ich mich. »Nein«, antwortete Mr. Crepsley. »Die meisten Vampire - und nur wenige besonders begabte normale Menschen - können so etwas, aber Halbvampire nicht.« Er setzte sich mitten in der Kirche auf eine Bank und schloss die Augen. Fast eine Minute lang rührte er sich nicht. Dann schlug er die Augen wieder auf und erhob sich. »Hab ihn schon«, verkündete er. »So schnell?«, staunte ich. »Ich dachte, es würde länger dauern.« »Ich habe mich schon oft auf seine Aura konzentriert«, erklärte Mr. Crepsley. »Ich weiß gena u, wonach ich suchen muss. Es ist nicht schwieriger, als eine Stecknadel im Heuhaufen zu finden.« »Aber gerade das soll doch besonders schwierig sein!« »Nicht für einen Vampir«, brummte er. Beim Zusammenpacken sah ich mich noch einmal in der Kirche um. Irgendetwas störte mich, aber ich war mir nicht sicher, ob ich es Mr. Crepsley gegenüber er wähnen sollte oder lieber nicht. »Nun mach schon«, forderte er mich plötzlich zu meiner Verblüffung auf. »Frag, was immer du auf dem Herzen hast.« »Woher wussten Sie, dass ich Sie etwas fragen wollte?«, stotterte ich. Mr. Crepsley lachte bloß. »Man muss kein Vampir sein, um einem Kind seine Neugier an der Nasenspitze anzusehen. Du bist ja schon seit Stunden kurz vor dem Zerplatzen. Also, worum geht's?« Ich holte tief Luft. »Glauben Sie an Gott?«, fragte ich. Mr. Crepsley blickte mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an und nickte dann 20
bedächtig. »Ich glaube an die Götter der Vampire.« Ich runzelte die Stirn. »Haben Vampire denn Götter?« »Natürlich«, gab Mr. Crepsley zurück. »Jedes Volk hat seine Götter: die Ägypter, die Inder, die Chinesen. Vampire bilden da keine Ausnahme.« »Und wie steht es mit dem Himmel?«, fragte ich weiter. »Wir glauben an das Paradies. Es liegt hinter den Sternen. Wenn wir ein gutes Leben geführt haben, löst sich unsere Seele nach unserem Tod von der Erde, schwebt vorbei an Sternen und Milchstraßen und erreicht schließlich eine wundervolle Welt auf der anderen Seite des Universums - das Paradies.« »Und wenn man kein gutes Leben geführt hat?« »Dann bleibt man hier«, erwiderte er. »Dann ist man als Geist an diese Erde gebunden und dazu verurteilt, für immer ruhelos auf diesem Planeten umherzuirren.« Ich dachte nach. »Wann führt denn ein Vampir ein gutes Leben?«, fragte ich dann. »Wie schafft man es, ins Paradies zu kommen?« »Bleib anständig«, deklamierte er. »Töte nur im Notfall. Verletze niemanden. Nimm Rücksicht auf deine Mitmenschen.« »Blut zu trinken ist also nichts Böses?«, wunderte ich mich. »Nur, wenn du die Person, der du Blut aussaugst, dadurch umbringst«, erwiderte Mr. Crepsley. »Und selbst das kann unter gewissen Umständen eine gute Tat sein.« »Jemanden umzubringen, kann gut sein?« Ich schnappte nach Luft. Mr. Crepsley nickte ernst. »Alle Menschen haben eine Seele, Darren. Wenn jemand stirbt, wandert seine Seele entweder in den Himmel oder ins Paradies. Aber es ist möglich, einen Teil der Seele hier auf der Erde zurückzubehalten. Wenn wir jemandem nur eine kleine Men ge Blut aussaugen, nehmen wir nichts von der Seele desjenigen in uns auf. Aber wenn wir viel trinken, lebt ein Teil von ihm in uns weiter.« »Aber wie?«, fragte ich stirnrunzelnd. »Wenn wir einem Menschen Blut aussaugen, eignen wir uns damit auch seine Erinnerungen und Gefühle an«, erklärte Mr. Crepsley. »Sie werden ein Teil von uns, und wir können die Welt dann mit seinen Augen sehen und uns an Dinge erinnern, die sonst in Vergessenheit geraten würden.« »Zum Beispiel?« Mr. Crepsley dachte einen Augenblick nach. »Einer meiner besten Freunde heißt Paris Skyle«, erläuterte er schließlich. »Er ist schon sehr, sehr alt. Vor vielen hundert Jahren war er mit William Shakespeare befreundet.« »Mit dem William Shakespeare ... dem Typen, der die ganzen Theaterstücke geschrieben hat?« Mr. Crepsley nickte. »Theaterstücke und Gedichte. Aber nicht sämtliche Werke Shakespeares sind überliefert. Einige seiner berühmtesten Verse gingen verlo ren. Als Shakespeare starb, trank Paris von seinem Blut - der Dichter hatte ihn selbst darum gebeten - und konnte sich so an diese verlorenen Verse erinnern und sie niederschreiben lassen. Ohne sie wäre unsere Welt um einiges ärmer.« »Aber ...« Ich stockte. »Macht man das nur mit Leuten, die sowieso im Sterben liegen und einen darum bitten?« »Ja«, bestätigte Mr. Crepsley. »Einen gesunden Menschen zu töten, wäre böse. Aber das Blut von Freunden zu trinken, die dem Tode nahe sind, und auf diese Weise ihre Erinnerungen und Erfahrungen lebendig zu erhalten ...« Er lächelte. »Das ist wahrhaftig eine gute Tat.« »Jetzt komm aber«, sagte er dann. »Du kannst unterwegs darüber nachdenken. Wir müssen los.« Sobald wir reisefertig waren, sprang ich auf Mr. Crepsleys Rücken, und wir huschten mit rasender Geschwindigkeit davon. Er hatte mir noch immer nicht erklärt, wie er es anstellte, sich derartig schnell zu bewegen. Er rannte nicht einfach nur; es war eher, als glitte die Welt an uns vorüber, während er auf der Stelle lief. Er sagte, alle vollwertigen Vampire beherrschten diese Art der Fortbewegung. Es sah schön aus, wie die ländliche Umgebung an uns vorbeizog. Schneller als der Wind sausten wir über Hügel und kahle Ebenen. Wir bewegten uns absolut lautlos, und niemand bemerkte uns, als wären wir von einer magischen Luftblase umgeben. Ich grübelte über das nach, was Mr. Crepsley mir eben erzählt hatte: wie man die Erinnerungen anderer Menschen vor dem Vergessen bewahren konnte, indem man ihr Blut trank. Ich konnte mir nicht ganz erklären, wie das funktionieren sollte, und beschloss, ihn später noch einmal danach zu 21
fragen. Huschen war Schwerstarbeit. Der Vampir schwitzte, und ich merkte, dass er bald am Ende seiner Kräfte sein würde. Um ihm Erleichterung zu verschaffen, zog ich eine Flasche Menschenblut aus seinem Umhang, entkorkte sie und hielt sie ihm an die Lippen, damit er trinken konnte. Er nickte einen stummen Dank, wischte sich den Schweiß von der Stirn und huschte weiter. Als der Himmel allmählich heller wurde, kam Mr. Crepsley schließlich zum Stehen. Ich sprang von seinem Rücken und sah mich um. Wir befanden uns mitten auf einer Landstraße, umgeben von Feldern und Bäumen. Weit und breit war kein Haus zu sehen. »Wo ist der Cirque du Freak?«, fragte ich. »Ein paar Kilometer in diese Richtung.« Mr. Crepsley, der nach Luft schnappend in die Knie gegangen war, streckte den Zeigefinger aus. »Ist Ihnen die Puste ausgegangen?«, fragte ich und konnte ein Kichern nicht unterdrücken. »Nein«, knurrte er. »Ich hätte noch weiterhuschen können, aber ich wollte nicht mit knallrotem Gesicht dort ankommen.« »Ruhen Sie sich nicht zu lange aus«, warnte ich. »Es wird bald Morgen.« »Ich weiß selber, wie spät es ist!«, giftete er mich an. »Ich weiß mehr über Tagesanbruch und Morgendämmerung als jeder lebende Mensch. Wir haben noch massenhaft Zeit. Mindestens dreiundvierzig Minuten.« »Wenn Sie meinen.« »Ja, das meine ich.« Verärgert richtete er sich auf und ging in normalem Tempo weiter. Ich wartete, bis er ein paar Meter voraus war, und überholte ihn dann im Laufschritt. »Na los, Opa«, spottete ich, »Nicht so ein Schneckentempo!« »Mach nur weiter so«, brummte er. »Du wirst schon noch sehen, was du davon hast. Du handelst dir gleich eine Ohrfeige und einen Tritt in den Hintern ein.« Aber nach ein paar Minuten fiel auch er in Laufschritt, und wir trabten Seite an Seite die Straße entlang. Ich war bester Laune und fühlte mich so gut wie schon seit Monaten nicht. Es tat gut, endlich wieder ein Ziel zu haben. Wir kamen an einem Haufen zerlumpter Camper vorbei, die gerade beim Aufstehen waren. Ein Pärchen winkte uns zu. Es waren ulkige Typen: Sie hatten lange Haare, trugen merkwü rdige Kleidung und waren über und über mit auffälligen Ohrringen und Armreifen behängt. Ihr Lager hing voller Fähnchen und Spruchbänder. Ich versuchte, im Vorüberlaufen eins davon zu lesen, aber es gelang mir nicht, und anhalten wollte ich nicht. Nach den Bruchstücken, die ich aufgeschnappt hatte, zu schließen, ging es um eine Protestaktion gegen eine neue Umgehungsstraße. Die Straße war sehr kurvenreich. Nach der fünften Wegbiegung erspähten wir endlich auf einer kleinen Lichtung am Flussufer den Cirque du Freak. Alles war ruhig, wahrscheinlich schliefen sie noch. Wären wir mit dem Auto unterwegs gewesen und hätten nicht ge zielt nach Wagen und Zelten Ausschau gehalten, hätten wir ihn leicht übersehen können. Es war ein seltsamer Lagerplatz für einen Zirkus. Weder gab es ein Gebäude noch ein großes Zelt für die Vorstellung. Ich nahm an, dass der Zirkus hier zwischen zwei Städten Rast machte. Mr. Crepsley schlängelte sich zielsicher zwischen Lastwagen und Autos hindurch. Er wusste genau, wohin er wollte. Ich folgte ein wenig zögerlich, als mir die Nacht wieder einfiel, in der ich mich an den Freaks vorbeigeschlichen und Madame Octa gestohlen hatte. Vor einem langen, silbergrau gestrichenen Wohnwagen blieb Mr. Crepsley stehen und klopfte. Die Tür öffnete sich fast im selben Augenblick, und vor uns ragte die hohe Gestalt von Meister Riesig auf. Im Dämmerlicht wirkten seine Augen noch dunkler als sonst. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich schwören können, dass er keine Augäpfel besaß, sondern nur zwei leere, schwarze Augenhöhlen. »Ach, du bist es«, brummte er mit tiefer Stimme, fast ohne die Lippen zu bewegen. »Ich hatte schon so ein Gefühl, dass du nach mir suchst.« Er reckte den Hals und blickte über Mr. Crepsleys Schulter auf mich he runter. Ich zitterte. »Ich sehe, du hast den Jungen mit gebracht.« »Dürfen wir hereinkommen?«, fragte Mr. Crepsley. »Selbstverständlich. Wie lautet doch 22
gleich die Begrüßungsformel für euch Vampire?« Er lächelte. »Tritt ein, nach deinem eigenen freien Willen.« »So ähnlich«, bestätigte Mr. Crepsley, und aus dem Lä cheln auf seinem Gesicht schloss ich, dass es sich um einen alten Scherz zwischen den beiden handelte. Wir kletterten in den Wohnwagen und setzten uns. Das Gefährt war nur spärlich eingerichtet: ein paar Regale mit Plakaten und Flugblättern für den Zirkus sowie dem hohen, roten Hut und den Handschuhen, die ich schon kannte, dazu ein paar Nippsachen und ein Klappbett. »Ich habe dich nicht so bald zurückerwartet, Larten«, bemerkte Meister Riesig. Sogar im Sitzen wirkte er unendlich lang. »Es entsprach auch nicht meinen Absichten, Hibernius.« Hibernius? Was für ein merkwürdiger Name. Aber er passte irgendwie zu ihm. Hibernius Riesig. Das klang seltsam. »Habt ihr Ärger bekommen?«, erkundigte sich Meister Riesig. »Nein«, erwiderte Mr. Crepsley. »Darren war unglücklich. Ich fand, er sei hier, bei Leuten seines Schlages, besser untergebracht.« »So, so.« Meister Riesig musterte mich neugierig. »Du hast eine lange Reise hinter dir, seit wir uns zuletzt begegnet sind, Darren Shan«, sagte er dann. »Ich wäre lieber da geblieben, wo ich war«, knurrte ich. »Warum bist du dann fortgegangen?«, konterte er. Ich starrte ihn wütend an. »Das wissen Sie genau«, erwiderte ich. Meister Riesig nickte bedächtig. »Dürfen wir hier bleiben?«, fragte Mr. Crepsley. »Gewiss«, erwiderte Meister Riesig rasch. »Ich freue mich sogar darüber. Wir sind im Moment etwas schwach besetzt. Alexander Knochen, Sive und Seersa und Bertha Beißer sind geschäftlich unterwegs oder haben Urlaub. Cormac Der Vielgliedrige ist auf dem Weg hierher, wird aber nicht vor heute Abend eintreffen. Larten Crepsley und seine dressierte Wunderspinne sind stets eine wertvolle Bereicherung unseres Programms.« »Danke«, erwiderte Mr. Crepsley. »Und ich?«, fragte ich dreist. Meister Riesig lächelte. »Du bist nicht ganz so wertvoll«, entgegnete er, »aber ebenso willkommen.« Ich schnaubte, aber ich schwieg. »Wo treten wir als Nächstes auf?«, erkundigte sich Mr. Crepsley. »Hier«, erklärte Meister Riesig. »Hier?«, japste ich verblüfft. »Überrascht dich das?«, fragte Meister Riesig. »Aber hier ist doch weit und breit nichts«, wandte ich ein. »Ich dachte, der Zirkus gastiert nur in Städten, wo ein großes Publikum zu erwarten ist.« »Unser Publikumsandrang ist immer groß«, erwiderte Meister Riesig. »Ganz gleich, wo wir spielen, die Leute kommen in Strömen. Normalerweise suchen wir uns dichter besiedelte Gegenden aus, aber in dieser Jahreszeit herrscht bei uns meistens Flaute. Wie schon gesagt, mehrere unserer besten Künstler sind abwesend, genau wie ... gewisse andere Mitglieder unserer Truppe.« Meister Riesig und Mr. Crepsley tauschten einen verschwörerischen Blick, und ich fühlte mich ausgeschlossen. »Und deshalb bleiben wir eine Weile hier«, fuhr Meister Riesig fort. »Wir werden ein paar Tage lang keine Vorstellung geben. Wir ruhen uns aus.« »Auf dem Weg hierher sind wir an einem Zeltlager vorbeigekommen«, bemerkte Mr. Crepsley. »Machen die Bewohner euch Schwierigkeiten?« »Die Fußtruppen der NSO.« Meister Riesig lachte. »Die haben viel zu viel damit zu tun, Bäume und Felsen zu beschützen, um sich mit uns zu befassen.« »Was ist die NSO?«, fragte ich. »Die Naturschutzopposition«, erklärte Meister Riesig. »Es sind Umweltkämpfer. Sie ziehen durchs Land und versuchen den Bau neuer Brücken und Straßen zu verhindern. Sie sind schon ein paar Monate in dieser Gegend, aber sie brechen ihre Zelte bald ab.« »Sind es richtige Soldaten?«, fragte ich. »Mit Gewehren und Handgranaten und Panzern?« Die beiden Erwachsenen lachten sich halb tot. »Manchmal ist er wirklich ein wenig schwer von Begriff«, stieß Mr. Crepsley zwischen zwei Lachsalven hervor, »aber er ist gar nicht so dumm, wie es den Anschein hat.« Ich spürte, wie ich rot wurde, aber ich hielt den Mund. Aus Erfahrung wusste ich, dass es 23
keinen Sinn hat, sich über Erwachsene aufzuregen, wenn sie einen auslachen; sie lachen dann bloß noch mehr. »Sie selbst nennen sich zwar Kämpfer«, erläuterte Meister Riesig schließlich, »aber eigentlich sind sie keine. Sie ketten sich an Bäume, schütten Sand in die Motoren von Schaufelbaggern und streuen Nägel auf Autobahnen. Solche Sachen eben.« »Warum ...«, fing ich wieder an, aber Mr. Crepsley fiel mir ins Wort. »Wir haben jetzt keine Zeit mehr für Fragen«, sagte er. »Es sind nur noch ein paar Minuten bis Sonnenaufgang.« Er erhob sich und schüttelte Meister Riesig die Hand. »Danke, dass du uns wieder aufnimmst, Hibernius.« »Mit Vergnügen«, erwiderte Meister Riesig. »Du hast doch gut auf meinen Sarg aufgepasst?« »Selbstverständlich.« Mr. Crepsley schmunzelte zufrieden und rieb sich die Hände. »Den vermisse ich unterwegs immer am schmerzlichsten. Es wird gut tun, wieder einmal darin zu schlafen.« »Was machen wir mit dem Jungen?«, fragte Meister Riesig. »Sollen wir ihm auch noch schnell einen Sarg zimmern?« »Ich denke ja nicht dran!«, rief ich aus. »In so ein Ding kriegen Sie mich nicht noch mal.« Schaudernd erinnerte ich mich daran, wie es gewesen war, lebendig begraben im Sarg zu liegen. Mr. Crepsley lächelte. »Darren kann bei einem der anderen Artisten schlafen«, schlug er vor. »Wenn's geht, bei jemandem in seinem Alter.« Meister Riesig dachte einen Augenblick nach. »Wie wär's mit Evra?« Mr. Crepsleys Lächeln wurde breiter. »Genau. Bei Evra. Eine ausgezeichnete Idee.« »Wer ist Evra?«, fragte ich nervös. »Das wirst du schon merken«, versprach Mr. Crepsley und öffnete die Wagentür. »Ich lasse dich jetzt in Meis ter Riesigs Obhut. Er wird sich deiner annehmen. Ich muss gehen.« Mit diesen Worten verschwand er, um seinen geliebten Sarg zu suchen. Ich warf einen Blick über die Schulter und merkte, dass Meister Riesig direkt hinter mir stand. Ich hatte keine Ahnung, wie er den Raum so schnell durchquert hatte. Ich hatte nicht einmal gehört, wie er aufgestanden war. »Gehen wir?«, fragte er. Ich schluckte und nickte. Meister Riesig geleitete mich über den Zeltplatz. Der Morgen brach an, und in einigen Wohnwagen und Zelten flammten Lichter auf. Der Direktor der Freak Show führte mich zu einem alten, grauen Zelt, in dem fünf oder sechs Leute Platz hatten. »Hier hast du ein paar Decken«, sagte er und reichte mir ein Bündel Wolldecken. »Und ein Kissen.« Ich habe keine Ahnung, wo er die Sachen plötzlich hernahm - als wir seinen Wohnwagen verließen, hatte er sie noch nicht in der Hand gehabt - , aber ich war zu müde, um zu fragen. »Schlaf, so lange du willst. Wenn du wach bist, komme ich und erläutere dir deine Pflichten. Bis dahin wird sich Evra um dich kümmern.« Ich schlug die Plane vor dem Zelteingang zurück und spähte ins Innere. Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. »Wer ist Evra?«, fragte ich noch einmal und drehte mich nach Meister Riesig um. Aber er war längst mit der ihm eigenen lautlosen Schnelligkeit ver schwunden. Seufzend kroch ich in das Zelt, die Decken an die Brust gedrückt. Ich ließ die Plane zurückfallen und blieb reglos stehen, bis sich meine Augen an die Dunkelheit ge wöhnt hatten. Ich hörte jemanden leise atmen und konnte hinten im Zelt einen undeutlichen Umriss in einer Hängematte ausmachen. Dann sah ich mich nach einem geeigneten Platz für mein eigenes Nachtlager um. Ich wollte nicht, dass mein Zeltgenosse über mich stolperte, wenn er aufstand. Blindlings trat ich ein paar Schritte vor. Da glitt plötzlich etwas durch die Finsternis auf mich zu. Abrupt blieb ich stehen und starrte geradeaus. Ich wüns chte mir verzweifelt, besser sehen zu können, denn ohne Sternen- oder Mondlicht hat sogar ein Vampir Schwierigkeiten. »Hallo?«, rief ich leise. »Bist du Evra? Ich bin Darren Shan, dein neuer ...« Ich stockte. Das gleitende Geräusch war jetzt unmittelbar vor meinen Füßen angelangt. Während ich wie angewurzelt dastand, wand sich etwas Fleischiges, Glitschiges um meine Beine. Mit einem Schlag wurde mir klar, worum es sich handelte, aber ich traute mich nicht, nach unten zu 24
schauen, wo das Etwas inzwischen über die Hälfte meines Körpers umschlang. Erst, als es sich auch um meinen Brustkorb gewickelt hatte, brachte ich den Mut auf, den Blick zu senken, und fand mich Auge in Auge mit einer unglaublich langen, armdicken, zischenden ... Schlange!
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Über eine Stunde stand ich wie gelähmt vor Angst da, ohne mich zu rühren, starrte in die tödlich kalten Augen der Schlange und wartete darauf, dass sie zustieß. Als endlich die helle Morgensonne durch die Zeltleinwand drang, regte sich die schlafende Gestalt in der Hängematte, setzte sich gähnend auf und blickte um sich. Der Schlangenjunge, denn um den handelte es sich, bekam einen Riesenschreck, als er mich sah. Er ließ sich in die Hängematte zurückfallen und zog die Decke schutzsuchend bis ans Kinn. Erst dann bemerkte er die Schlange um meinen Leib und stieß erleichtert die Luft aus. »Wer bist du?«, fragte er ungehalten. »Was suchst du hier?« Ich schüttelte langsam den Kopf. Ich fürchtete, das Heben und Senken meiner Brust beim Sprechen würde die Schlange zum Angriff reizen. »Antworte«, herrschte er mich an, »oder ich befehle ihr, dir die Augen auszureißen.« »Ich ... ich ... ich bin Da-Darren Sh-Sh-Shan«, stotterte ich. »Meister Ri- Ri-Riesig hat m- mich in dein Z-Zelt geschickt. Er hat gesagt, ich b b-bin dein neuer Mm-M-Mitbewohner.« »Darren Shan?« Der Schlangenjunge runzelte nachdenklich die Stirn und zeigte dann auf mich, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen. »Du bist Mr. Crepsleys Gehilfe, stimmt's?« »Ja«, hauchte ich. Der Schlangenjunge grinste. »Wusste Mr. Crepsley, dass Meister Riesig dich bei mir unterbringen wollte?« Als ich vorsichtig nickte, brach er in Gelächter aus. »Ich habe noch nie einen Vampir ohne einen ausge prägten Sinn für üble Scherze getroffen.« Er schwang sich aus der Hängematte, kam auf mich zu, packte die Schlange am Kopf und begann, sie von mir abzuwickeln. »Dir ist nichts passiert«, tröstete er mich. »Du warst keinen Augenblick ernsthaft in Gefahr. Die Schlange hat die ganze Zeit geschlafen. Du hättest sie wegzerren können, ohne dass sie sich gewehrt hätte. Sie hat einen sehr festen Schlaf.« »Sie schläft?«, quäkte ich. »Aber ... warum hat sie sich dann um meinen Körper geschlungen?« Der Junge lächelte. »Sie schlafwandelt.« »Schlafwandelt?« Ich starrte erst ihn und dann die Schlange an, die sich während der gesamten Abwickelprozedur kein einziges Mal gerührt hatte. Endlich löste sich ihre letzte Windung, und ich konnte einen Schritt beiseite treten. Meine Beine waren steif und prickelten wie von tausend Nadelstichen getroffen. »Eine schlafwandelnde Schlange.« Ich zwang mich zu einem Lachen. »Ein Glück, dass sie nicht auch im Schlaf frisst.« Der Schlangenjunge verstaute sein Haustier in einer Ecke des Zeltes und strich ihm liebevoll über den Kopf. »Sie hätte dich auch nicht gefressen, wenn sie aufgewacht wäre«, erklärte er. »Sie hat erst gestern eine Ziege verspeist. Schlangen ihrer Größe brauchen nur selten Futter.« Er warf einen letzten Blick auf das Tier, schlug die Pla ne vor dem Eingang zurück und trat ins Freie. Ich folgte ihm auf dem Fuße, denn ich wollte auf keinen Fall mit dem Reptil allein bleiben. Draußen bei Tageslicht betrachtete ich ihn von Kopf bis Fuß. Er sah genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte: ein paar Jahre älter als ich, sehr dünn mit langem gelb grünem Haar, schmalen Augen und seltsam zusammengewachsenen Fingern und Zehen; sein Körper war über und über mit grünen, goldenen und blauen Schuppen bedeckt. Außer einer kurzen Hose war er nackt. »Übrigens«, bemerkte er, »ich heiße Evra Von.« Er streckte mir die Hand hin, und ich schüttelte sie. Seine Handfläche fühlte sich glatt, aber trocken an. Ein paar Schuppen lösten sich und blieben an meinen Fingern haften, als ich sie wegzog. Sie sahen aus wie bunte Fet zen toter Haut. »Evra Von was?«, fragte ich. »Einfach nur Von«, gab er zurück und rieb sich den Magen. »Hast du Hunger?« »Ja«, sagte ich, und wir machten uns auf die Suche nach etwas Essbarem. Inzwischen war der Zeltplatz zum Leben erwacht. Weil am vergangenen Abend keine Vorstellung stattgefunden hatte, waren die meisten Freaks und ihre Helfer zeitig zu Bett 26
gegangen und auch früher als sonst wieder aufgestanden.
Das bunte Treiben fesselte mich. Mir war nicht klar ge wesen, wie viele Leute der Cirque du
Freak tatsächlich beschäftigte. Ich hatte gedacht, es seien nur die Artisten und ihre Gehilfen,
die in der Vorstellung, die ich damals mit Steve besucht hatte, aufgetreten waren, aber als ich
mich jetzt umsah, merkte ich, dass diese Leute nur die Spitze des Eisbergs waren.
Mindestens zwei Dutzend Personen, die ich noch nie gesehen hatte, liefen über den Platz,
unterhielten sich, wuschen Wäsche oder kochten.
»Wer sind all diese Leute?«, fragte ich. »Die wahren Stützen des Cirque du Freak«, erklärte
Evra. »Sie fahren die Lastwagen, bauen die Zelte auf, erledigen die Wäsche und das Kochen,
bessern unsere Kostüme aus und räumen nach der Vorstellung auf. Wir sind ein großes
Unternehmen.« »Und sind es normale Menschen?«, erkundigte ich mich.
»Die meisten«, bestätigte Evra. »Wie sind sie zum Cirque du Freak gekommen?« »Manche
von ihnen sind Verwandte der Artisten, andere Freunde von Meister Riesig. Einige sind
einfach vorbeigekommen und dageblieben, weil es ihnen bei uns gefallen hat.« »Darf man
das denn einfach so?« »Wenn Meister Riesig deine Nase passt, schon«, erwiderte Evra. »Im
Cirque du Freak gibt es immer eine Menge zu tun.«
Er blieb neben einem großen Lagerfeuer stehen. Hans Hände (der Mann, der auf den Händen
schneller laufen kann als der beste Sprinter der Welt) hockte auf einem Baumstumpf,
während Truska (die Bärtige Dame, die ihren Bart durch bloße Willenskraft wachsen lassen
kann) an einem Stock Würstchen über das Feuer hielt.
Weitere, ganz normal aussehende Menschen saßen oder lagen um das Feuer herum.
»Einen wunderschönen Guten Morgen, Evra Von«, grüßte Hans Hände. »Gleichfalls,
Hans«, erwiderte Evra. »Wer ist denn dein junger Freund da?«, fragte Hans und beäugte
mich misstrauisch. »Das ist Darren Shan«, stellte Evra mich vor. »Der Darren Shan?« Hans
zog die Augenbrauen hoch. »Genau der«, grinste Evra.
»Was meine n Sie mit >Der Darren Shan«, wollte ich wissen.
»In unseren Kreisen bist du eine Berühmtheit«, sagte Hans.
»Warum? Weil ich ein ...«, ich senkte die Stimme, »... Halbvampir bin?«
Hans gluckste belustigt. »Halbvampire sind für uns nichts Neues. Gib mir ein Goldstück für
jeden Halbvampir, der mir über den Weg läuft, und ich hätte inzwischen schon ...« Er verzog
das Gesicht und rechne te stumm. »Neunundzwanzig Goldstücke. Aber mit jungen
Halbvampiren ist das etwas anderes. Ich habe noch nie von einem Junge n deines Alters
gehört, der es geschafft hätte, in die Reihen der lebenden Toten aufgenommen zu werden.
Verrat mir eins: Sind die Obervampire schon aufgetaucht, um dich unter die Lupe zu
nehmen?«
»Wer sind denn die Obervampire?«, fragte ich zurück. »Sie...«
»Hans!«, bellte eine Frau, die gerade ein paar Kleider wusch. Er unterbrach sich und drehte
sich schuldbewusst um. »Glaubst du etwa, Larten wäre darüber erfreut, dass du hier
Ammenmärchen verbreitest?«, schimpfte sie.
Hans schnitt eine Grimasse. »Tut mir Leid«, sagte er dann. »Muss wohl an der frischen
Morgenluft liegen. Die bin ich nicht gewöhnt. Ist mir bloß so rausge rutscht.«
Ich hätte liebend gern mehr über die Obervampire erfahren, aber jetzt nachzufragen, wäre
unhöflich gewesen.
Prüfend musterte Truska die Würstchen, zog ein paar von dem Stock ab und reichte sie
herum. Als sie zu mir kam, lächelte sie mich an und sagte etwas in einer seltsamen, fremd
klingenden Sprache. Evra lachte. »Sie will wissen, ob du Würstchen magst oder ob du
Vegetarier bist.«
»Das ist gut!«, prustete Hans. »Ein vegetarischer Vampir!«
»Du sprichst ihre Sprache?«, fragte ich Evra. »Ja«, bestätigte er stolz. »Ich beherrsche sie
noch nicht perfekt - es ist die schwerste Sprache, die ich je versucht habe zu lernen -, aber
ich bin der Einzige im Lager, der versteht, was sie sagt. Ich besitze ein außergewöhnliches
Sprachtalent«, prahlte er. »Was ist es denn für eine Sprache?«, fragte ich. »Ich weiß nicht«,
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erwiderte Evra stirnrunzelnd. »Sie verrät es mir nicht.« Das klang merkwürdig, aber ich wollte ihn nicht kränken. Also nahm ich mir ein Würstchen und lächelte Truska zum Dank an. Dann biss ich herzhaft zu, musste den Bissen aber gleich wieder ausspucken. Die Wurst war glühend heiß. Evra lachte und reichte mir einen Becher kaltes Wasser. Ich trank so lange, bis mein Mund sich wieder normal anfühlte, und pustete dann auf die Wurst, um sie abzukühlen. Wir saßen eine ganze Weile mit Hans und Truska und den anderen zusammen, plauderten, aßen und wärmten uns in der Morgensonne. Das Gras war noch feucht vom Tau, aber das störte niemanden. Evra stellte mich jedem Einzelnen vor. Es waren zu viele Namen, als dass ich sie mir alle auf einmal merken konnte, deshalb lächelte ich bloß, schüttelte Hände und versuchte mir die Gesichter einzuprägen. Es dauerte nicht lange, bis Meister Riesig erschien. Wie aus dem Boden gewachsen, ragte er plötzlich hinter Evra auf und wärmte sich die Hände am Feuer. »Du bist früh auf den Beinen, Mr. Shan«, bemerkte er. »Ich konnte nicht schlafen«, erklärte ich. »Ich war zu ...«, ich warf Evra einen Blick zu und grinste, »... eingewickelt.« »Ich hoffe, dieser Umstand hat deine Arbeitskraft nicht beeinträchtigt«, meinte Meister Riesig. »Kein Problem«, versicherte ich. »Ich bin bereit.« »Bist du sicher?« »Ganz sicher.« »Das hört man gern.« Er zog ein großes Notizbuch hervor und blätterte darin. »Lass mal sehen, was wir heute für dich zu tun haben«, murmelte er nachdenklich. »Bist du ein guter Koch?« »Ich kann Eintopf zubereiten. Mr. Crepsley hat es mir beigebracht.« »Hast du schon einmal für dreißig oder vierzig Personen gekocht?« »Nein.« »Schade. Vielleicht lernst du es ja noch.« Er blätterte weiter. »Kannst du nähen und flicken?« »Nein.« »Hast du schon einmal Wäsche gewaschen?« »Mit der Hand?« »Ja.« »Nein.« »Hmmm.« Er blätterte noch ein paar Seiten weiter und schlug das Buch schließlich zu. »Also gut«, sagte er. »So lange, bis wir eine dauerhafte Beschäftigung für dich finden, bleibst du bei Evra und hilfst ihm bei seinen Pflichten. Einverstanden?« »Mach ich gern«, entgegnete ich. »Ist es dir auch recht, Evra?«, wandte er sich an den Schlangenjungen. »Klar«, erwiderte Evra. »Schön. Dann ist es abgemacht. Bis auf weiteres ist Evra für dich verantwortlich. Du tust alles, was er sagt. Wenn dein Blutsbruder aufwacht ...« - er meinte Mr. Crepsley - »kannst du die Nacht mit ihm verbringen, falls er es wünscht. Wir beobachten dann mal, wie du dich machst, und entscheiden später, wie wir deine Fähigkeiten am nutzbringendsten einsetzen.« »Danke«, sagte ich. »Keine Ursache«, gab Meister Riesig zurück. Ich erwartete, dass er sich wieder wie üblich in Luft auflösen würde, aber er drehte sich um und schlenderte pfeifend davon, um den Sonnenschein zu genießen. »Tja, Darren«, begann Evra und legte mir einen schup pen bedeckten Arm um die Schulter, »sieht so aus, als wären wir beide jetzt Partner. Wie gefällt dir das?« »Gut - Partner.« »Prima!« Er klopfte mir auf die Schulter und schluckte den letzten Happen seiner Wurst hinunter. »Dann wollen wir mal an die Arbeit gehen.« »Was machen wir zuerst?«, fragte ich. »Dasselbe wie jeden Morgen«, erwiderte Evra und stand auf. »Die Giftzähne meiner Schlange melken.« »Oh«, sagte ich und blieb stehen. »Ist das gefährlich?« »Nur, wenn sie beißt, bevor wir fertig sind«, erklärte Evra. Als er mein Gesicht sah, lachte er und schubste mich in Richtung Zelt vor sich her.
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Zu meiner großen Erleichterung erledigte Evra das Melken eigenhändig. Anschließend schleppten wir die Schlange ins Freie und legten sie ins Gras. Wir holten eimerweise Wasser und rieben sie mit besonders weichen Schwämmen ab. Als Nächstes musste der Wolfsmann gefüttert werden. Sein Käfig stand am äußersten Rand des Zeltplatzes. Als er uns kommen sah, knurrte er bedrohlich. Er sah genauso böse und gefährlich aus wie an jenem Abend, als ich zusammen mit Steve die Vorstellung besucht hatte. Er rüttelte an den Gitterstäben und schlug nach uns, wenn wir ihm zu nahe kamen wovor wir uns allerdings hüteten! »Warum ist er so bösartig?«, fragte ich, nachdem ich ihm einen riesigen Fleischbrocken zugeworfen hatte, den er mitten der Luft auffing und gierig verschlang. »Weil er ein echter Wolfsmensch ist«, erklärte Evra. »Er ist nicht nur irgendein besonders stark behaarter gewöhnlicher Mensch. Er ist halb Mensch, halb Wolf.« »Ist es nicht grausam, ihn einzusperren?«, erkundigte ich mich und warf ihm noch ein Stück Fleisch zu. »Er würde sonst wie rasend Menschen anfallen und töten. Die Mischung von Wolfs- und Menschenblut hat ihn verrückt gemacht. Er würde nicht nur aus Hunger töten; wenn er frei herumliefe, würde er über jeden herfallen, der ihm in die Quere kommt.« »Gibt es dagegen kein Mittel?«, fragte ich, weil der Wolfsmann mir trotzdem Leid tat. »Es gibt kein Heilmittel, weil es keine Krankheit ist«, verneinte Evra. »Schließlich hat er sich ja nicht irgend wo damit angesteckt. Er wurde schon so geboren. Das ist nun mal seine Natur.« »Aber wie kam das?«, bohrte ich weiter. Evra blickte mich ernst an. »Willst du das wirklich wissen?« Ich betrachtete das haarige Ungeheuer in dem Eisenkäfig, das die Fleischbrocken zerfetzte wie Zuckerwatte, dann schluckte ich und murmelte: »Nein, vielleicht lieber doch nicht.« Danach hatten wir noch eine Reihe weiterer Arbeiten zu erledigen. Wir schälten Kartoffeln fürs Abendessen, halfen einem der Lastwagenfahrer, einen Reifen zu flicken, verbrachten eine Stunde damit, das Dach eines der Wohnwagen zu streichen, und führten einen Hund spazieren. So verliefen hier die meisten Tage, erklärte Evra: Man spazierte durch das Lager, sah, was zu tun war, und ha lf überall aus, wo man darum gebeten wurde. Gegen Abend brachten wir eine Ladung Konservenbüchsen und Glasscherben zum Zelt von Willi Wunderwanst, einem riesenhaften Mann, der einfach alles essen konnte. Ich hätte ihm gern dabei zugesehen, aber Evra sche uchte mich weiter. Bei seinen Privatmahlzeiten mochte Willi keine Zuschauer. Trotzdem blieb uns viel Freizeit, und während der Pausen erzählten wir uns gegenseitig von unserem Leben, wo wir herkamen und wie wir aufgewachsen waren. Evra war der Sohn ganz normaler Eltern. Als sie ihn nach der Geburt zum ersten Mal sahen, waren sie entsetzt. Sie steckten ihn in ein Waisenhaus, wo er blieb, bis ein schurkischer Zirkusbesitzer ihn im Alter von vier Jahren kaufte. »Das war eine schwere Zeit«, sagte Evra leise. »Er schlug mich und behandelte mich wie eine echte Schlange. Er sperrte mich in einen Glaskäfig und ließ die Leute dafür bezahlen, dass sie mich anstarren und über mich lachen konnten.« Sieben lange, elende Jahre verbrachte Evra bei diesem Zirkus, zog von einer Kleinstadt zur nächsten und fühlte sich hässlich, abstoßend und überflüssig. Schließlich erschien Meister Riesig zu seiner Rettung. »Eines Nachts war er einfach da«, erzählte Evra. »Er tauchte ganz plötzlich aus der Dunkelheit auf, stand lange vor me inem Käfig und beobachtete mich. Keiner von uns sprach ein Wort. Dann kam der Zirkusbesitzer. Er wusste nicht, wer Meister Riesig war, aber er hielt ihn für einen reichen Mann, der vielleicht daran interessiert war, mich ihm abzukaufen. Er nannte 29
einen Preis und trat abwartend zurück. Meister Riesig schwieg ein paar Minuten. Dann packte er den Zirkusbesitzer mit der linken Hand an der Kehle. Er drückte einmal kurz zu, und das war's. Der Kerl fiel tot zu Boden. Meister Riesig öffnete die Tür meines Käfigs und sagte nur: >Lass uns gehen, Evra.< Ich glau be, dass Meister Riesig Gedanken lesen kann, denn woher hätte er sonst meinen Namen gewusst.« Evra schwieg. Seine Augen blickten wie in weite Ferne. »Willst du mal was Erstaunliches sehen?«, fragte er dann beiläufig und riss sich von seinen Erinnerungen los. »Klar«, erwiderte ich. Er drehte sich zu mir um, streckte die Zunge heraus und schob sie sich über die Oberlippe bis in die Nase! »Hey! Toll!«, rief ich entzückt aus. Evra zog die Zunge wieder zurück und grinste mich an. »Ich besitze die längste Zunge der Welt«, verkündete er. »Wenn meine Nase groß genug wäre, könnte ich die Zunge bis oben in sie hineinstecken, durch meinen Hals und zum Mund wieder heraus.« »Hör auf!«, lachte ich. »Na ja, wahrscheinlich nicht«, kicherte er. »Aber die Vorstellung gefällt mir.« Wieder streckte er die Zunge heraus und leckte sich beide Nasenlöcher, eins nach dem anderen. Es war zugleich abstoßend und komisch. »Das ist das Ekligste, was ich je gesehen habe«, prustete ich. »Ich wette, du würdest so was auch gern können«, meinte Evra. »Ich würde es nicht machen, selbst wenn ich es könnte«, gab ich zurück. »Wird deine Zunge dabei nicht mit Rotze beschmiert?« »Ich habe keine Rotze«, erklärte Evra. »Was? Keine Rotze?« »So ist es«, bestätigte er. »Meine Nase ist anders als deine. Da sind weder Rotze noch Dreck oder Haare drin. Meine Nasenlöcher sind der sauberste Teil meines ganzen Körpers.« »Und, wie schmeckt es dann?«, erkundigte ich mich. »Leck am Bauch meiner Schlange, und du weißt Be scheid«, konterte er. »Der schmeckt genauso.« Lachend entgegnete ich, so sehr interessiere mich das nun auch wieder nicht! Als mich Mr. Crepsley später fragte, was ich den ganzen Tag gemacht hätte, antwortete ich einfach: »Ich habe einen Freund gefunden.«
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Wir waren jetzt schon zwei Tage und Nächte beim Cirque du Freak. Tagsüber zog ich mit Evra durchs Lager und half ihm, die Nächte verbrachte ich mit Mr. Crepsley, der mich alles Wissenswerte über Vampire lehrte. Ich ging früher schlafen als zuvor, obwohl ich kaum jemals vor ein oder zwei Uhr Nachts ins Bett kam. Evra und ich waren inzwischen dicke Freunde. Er war zwar älter als ich, aber ziemlich schüchtern - wahrscheinlich wegen seiner tragischen Vergangenheit -, und so passten wir recht gut zusammen. Nachdem der dritte Tag vergangen war, ertappte ich mich dabei, wie ich den Blick über die kleine Ansammlung von Zelten, Wohnwagen und Lastautos schweifen ließ, als gehörte ich schon jahrelang dazu. Allmählich begann ich unter den Auswirkungen der Tatsache zu leiden, dass ich noch immer kein Menschenblut getrunken hatte. Ich war körperlich nicht mehr so kräftig wie zuvor und konnte mich auch nicht mehr so flink bewegen. Mein Sehvermögen ließ nach, ebenso mein Gehör und mein Geschmackssinn. Ich war immer noch viel stärker und schneller als jeder gewöhnliche Mensch, aber ich fühlte, wie meine Kräfte von Tag zu Tag schwanden. Es war mir egal. Lieber wollte ich meine Kraft einbüßen, als einem menschlichen Wesen Blut auszusaugen. Ich ruhte mich gerade mit Evra auf einer Wiese am Rand des Geländes aus, als wir im Gebüsch eine Gestalt entdeckten. »Wer ist das?«, fragte ich. »Ein Junge aus dem Dorf hier in der Nähe«, sagte Evra. »Ich habe ihn schon öfter hier herumlungern sehen.« Ich betrachtete den Jungen im Gebüsch. Er gab sich große Mühe, sich perfekt zu tarnen, aber für eine Person mit meinen Fähigkeiten - auch wenn sie nachlie ßen - verhielt er sich ebenso auffällig wie ein Elefant. Ich war neugierig, was er wohl vorhatte, also wandte ich mich an Evra und flüsterte: »Komm, wir machen uns einen Spaß.« »Was hast du vor?«, flüsterte er zurück. »Beug dich rüber, und ich erzähl's dir.« Ich raunte ihm meinen Plan ins Ohr. Er nickte grinsend, erhob sich und tat so, als müsste er gähnen. »Ich hau ab, Darren«, sagte er. »Bis später.« »Bis später, Evra«, erwiderte ich laut. Ich wartete, bis er verschwunden war, stand ebenfalls auf und schlenderte in Richtung Zeltplatz. Als ich außerhalb der Sichtweite des Jungen im Gebüsch war, kehrte ich um und schlich zurück, indem ich die Wohnwagen und Zelte als Deckung benutzte. Ich bog etwa hundert Meter nach links ab, ging dann langsam geradeaus, bis ich auf gleicher Höhe mit dem Jungen war, und bewegte mich dann in seine Richtung. Zehn Meter vor dem Ziel machte ich Halt. Ich befand mich jetzt ein Stückchen hinter ihm, sodass er mich nicht sehen konnte. Er starrte immer noch wie gebannt auf den Zeltplatz. Ich blickte über seine Schulter und bemerkte Evra, der noch näher an ihm dran war als ich. Mit Daumen und Zeigefinger formte er ein stummes »Okay«. Ich duckte mich und stöhnte. »Ohhhhh«, jaulte ich. »Wwwooohhhh.« Der Junge erstarrte und warf einen nervösen Blick über die Schulter. Aber er entdeckte mich nicht. »Wer ist da?«, fragte er. »Waaarghhhh«, ächzte Evra auf der and eren Seite. Der Kopf des Jungen schoss herum. »Wer ist da?«, rief er. »Ohh-ohh-ohh«, brüllte ich schnaubend wie ein Go rilla. »Ich habe keine Angst«, verkündete der Junge und ging langsam rückwärts. »Ihr wollt mir bloß einen dummen Streich spielen.« »lii- ii- ii- ii«, kreischte Evra. Ich rüttelte an einem Ast, Evra schüttelte die Büsche, und dann warf ich dem Jungen einen Stein direkt vor die Füße. Er drehte den Kopf hektisch hin und her wie eine Aufziehpuppe und versuchte, das ganze Gelände im Blick zu behalten. Er wusste offensichtlich nicht, ob es gefährlicher war, wegzulaufen oder stehen zu bleiben. »Hört zu, ich weiß nicht, wer ihr seid«, begann er, »aber ich ...« 31
Evra hatte sich von hinten ganz dicht an ihn herangeschlichen, und als der Junge jetzt sprach, streckte er seine extralange Zunge heraus und fuhr ihm damit über den Nacken, wobei er wie eine Schlange zischte. Das war zu viel für den Ärmsten. Er schrie auf und rannte um sein Leben. Evra und ich liefen hinterher, ganz schwach vor La chen, und machten die ganze Zeit unheimliche Geräusche. Der Junge brach durch Dornbüsche und Brennnesseln, als wären sie gar nicht vorhanden, und schrie um Hilfe. Nach ein paar Minuten hatten Evra und ich genug von der Jagd und wollten ihn laufen lassen, aber gerade da stolperte er und fiel mit ausgestreckten Armen und Beinen auf eine mit hohem Gras bewachsene Lichtung. Wir hielten inne und versuchten, ihn zwischen den ho hen Halmen zu erspähen, aber er war spurlos verschwunden. »Wo ist er?«, fragte ich. »Ich kann ihn nicht sehen«, gab Evra zurück. »Glaubst du, er hat sich wehgetan?« »Ich weiß nicht.« Evra sah besorgt aus. »Vielleicht ist er in ein tiefes Loch gefallen oder so was.« »Junge?«, rief ich. »Alles in Ordnung?« Keine Antwort. »Du brauchst keine Angst zu haben. Wir wollen dir nichts tun. Wir wollten dir nur ein bisschen Angst einjagen. Wir wollten nicht...« Hinter uns ertönte ein Rascheln, dann fühlte ich eine Hand im Rücken, die mich kopfüber ins Gras schubste. Evra fiel gleichzeitig mit mir, und als wir uns japsend vor Schreck wieder aufsetzten, hörten wir hinter uns jemanden prusten. Wir drehten uns langsam um, und da stand der Junge und hielt sich den Bauch vor Lachen. »Reingelegt! Reingelegt!«, sang er und tanzte vor Freude. »Ich habe euch von Anfang an kommen sehen. Ich hab nur so ge tan, als ob ich Angst hätte. Ich hab euch ausgetrickst. Hahaha. Hohoho. Hihihi.« Er lachte uns aus, und obwohl wir uns ziemlich dumm vorkamen, mussten wir mitlachen, als wir aufstanden und einander ansahen. Die Wiese, zu der er uns geführt hatte, war voller klebriger, grüner Samen, und wir waren von Kopf bis Fuß damit übersät. »Du siehst aus wie eine wandelnde Pflanze«, witzelte ich. »Und du wie ein grünes Marsmännchen mit blauen Haaren«, konterte Evra. »Ihr seht beide bescheuert aus«, fasste der Junge großzügig zusammen. Da drehten wir uns wütend nach ihm um, und sein Grinsen wurde schief. »Ist aber so«, brummte er trotzig. »Du findest das wohl sehr komisch«, fauchte ich. Er nickte stumm. »Tja, weißt du was, Kumpel?«, sagte ich, machte einen Schritt auf ihn zu und setzte meine grimmigste Miene auf. Nach einer drohenden Pause lä chelte ich ihn plötzlich breit an. »Ist es auch!« Er lachte erleichtert, froh darüber, dass wir die Sache mit Humor nahmen, und streckte jedem von uns eine Hand hin. »Hallo«, sagte er, als wir sie ergriffen. »Ich heiße Sam Grest. Nett, euch kennen zu lernen.« »Hallo, Sam Grest«, erwiderte ich, und während ich ihm die Hand schüttelte, dachte ich im Stillen: »Sieht so aus, als hättest du Freund Nummer zwei gefunden.« Und er wurde tatsächlich mein Freund. Doch als der Tag gekommen war, an dem der Cirque du Freak end lich weiterzog, wünschte ich von ganzem Herzen, dass ich ihm nie begegnet wäre.
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Sam wohnte etwa einen Kilometer vom Zeltplatz ent fernt, zusammen mit seinen Eltern, zwei jüngeren Brüdern und einer noch ganz kleinen Schwester, drei Hunden, fünf Katzen, zwei Wellensittichen, einer Schildkröte und einem großen Aquarium voller Tropenfische. »Bei uns geht's zu wie in der Arche Noah«, lachte er. »Deshalb treibe ich mich auch so oft wie möglich wo anders herum. Mama und Papa haben nichts dagegen. Sie finden, dass Kinder die Freiheit brauchen, ihre eige ne Persönlichkeit zu entwickeln. Solange ich abends wieder in meinem Bett liege, sind sie zufrieden. Sie meckern nicht mal, wenn ich ab und zu die Schule schwänze. In ihren Augen ist die Schule ein tyrannisches System der Indoktrination, eigens zu dem Zweck erfunden, Geist und Kreativität abzutöten.« So drückte Sam sich die ganze Zeit aus. Er war jünger als ich, aber wenn man ihn reden hörte, wäre man nie darauf gekommen. »Ihr beide gehört also zum Zirkus?«, fragte er und schob mit der Zunge ein Stück eingelegte Zwiebel von einer Backe in die andere - er liebte eingelegte Zwiebeln und trug immer eine kleine Plastikdose voll bei sich. Wir waren zu unserem Platz am Rande der Lichtung zurückgeschlendert. Evra lag im Gras, ich hockte auf einem niedrigen Ast und Sam kletterte über mir den Baum hoch. »Was für ein Zirkus ist das eigentlich?«, bohrte er weiter, bevor wir seine erste Frage beantworten konnten. »Auf den Wohnwagen steht kaum etwas drauf. Erst habe ich euch für Zigeuner gehalten. Aber nachdem ich euch eine Weile beobachtet hatte, kam ich zu dem Schluss, dass ihr Artisten oder so etwas Ähnliches sein müsst.« »Wir sind Meister des Makabren«, deklamierte Evra. »Schöpfer der Mutationen. Herren des Übernatürlichen.« Er wollte zeigen, dass er sich genauso gewählt ausdrücken konnte wie Sam. Ich wünschte, mir wären auch ein paar großartig klingende Sätze eingefallen, aber ich konnte noch nie besonders gut mit Worten umgehen. »Ist es eine Zaubershow?«, wollte Sam aufgeregt wissen. »Es ist eine Freak Show«, berichtigte ich. »Eine Freak Show?« Sein Unterkiefer klappte herunter, und das Stück Zwiebel fiel ihm aus dem Mund. Ich musste blitzschnell zur Seite rutschen, um nicht getroffen zu werden. »Menschen mit zwei Köpfen und ähnliche Missgeburten?« »So ungefähr«, bestätigte ich, »aber unsere Artisten sind magische, wunderbare Künstler, nicht einfach nur Leute, die anders aussehen.« »Cool!« Er blickte auf Evra herunter. »Natürlich habe ich auf den ersten Blick gesehen, dass du ein dermatologisches Problem hast ...«, er meinte Evras Haut (ich habe das Wort später im Lexikon nachgeschlagen), »... aber ich ha tte keine Ahnung, dass eurem Unternehmen noch andere Mitglieder wie du angehören.« Mit vor Neugier glitzernden Augen starrte er zum Zeltplatz hinüber. »Das ist wirklich faszinierend«, seufzte er. »Was für andere bizarre Exemplare der menschlichen Rasse bevölkern sonst noch eure Truppe?« »Wenn du damit meinst: >Was habt ihr sonst noch für Artisten?<, lautet die Antwort: >eine ganze Menge<«, antwortete ich. »Natürlich haben wir auch eine Bärtige Dame.« »Einen Wolfsmenschen«, ergänzte Evra. »Einen Mann mit zwei Mägen«, setzte ich hinzu. Auf diese Weise gingen wir die gesamte Liste durch, wobei Evra einige Attraktionen aufzählte, die ich selbst noch nicht kannte. Die Zusammensetzung des Cirque du Freak änderte sich laufend. Die Artisten kamen und gingen, je nachdem, wo die Vorstellung ge rade stattfand. Sam war schwer beeindruckt, und zum ersten Mal seit unserer Bekanntschaft fehlten ihm die Worte. Er lauschte stumm, mit weit aufgerissenen Augen, lutschte an einer Zwiebel und schüttelte den Kopf so oft, als könnte er nicht glauben, was er da hörte. »Das ist wirklich 33
unfassbar«, meinte er leise, als wir fertig waren. »Ihr müsst die glücklichsten Kinder auf diesem Planeten sein. Ihr lebt unter echten Zirkusfreaks, kommt in der ganzen Welt herum und seid in bedeutende, großartige Geheimnisse eingeweiht. Ich würde alles dafür geben, mit euch zu tauschen ...« Ich grinste heimlich. Ich glaube nicht, dass er gern mit mir hätte tauschen wollen, wenn er meine ganze Geschichte gekannt hätte. »Hey«, rief er plötzlich, als wäre ihm eine Idee gekommen. »Ihr könnt nicht zufällig ein gutes Wort dafür einlegen, dass ich mitkommen darf? Ich kann hart arbeiten, bin ein heller Kopf und daran gewöhnt, Verantwortung zu übernehmen. Ich wäre ein echter Gewinn für euer Unternehmen. Kann ich mitmachen? Als Hilfskraft? Bitte!« Evra und ich grinsten einander an. »Ich glaube nicht, Sam«, wehrte Evra ab. »Wir nehmen fast nie Kinder auf. Wenn du älter wärst oder wenn deine Eltern sich bei uns um eine Anstellung bewerben würden, wäre das etwas anderes.« »Aber sie hätten bestimmt nichts dagegen«, beharrte Sam. »Sie würden sich für mich freuen. »Reisen bildete, sagen sie immer. Sie fänden es prima, wenn ich um die ganze Welt reisen, Abenteuer erleben und phantastische, mystische Sehenswürdigkeiten kennen lernen könnte.« Evra schüttelte bedauernd den Kopf. »Tut uns Leid. Vielleicht, wenn du älter bist.« Sam schmollte und rupfte ein paar Blätter vom nächs ten Ast. Sie flogen an mir vorbei, und einige verfingen sich in meinen Haaren. »Das ist unfair«, knurrte Sam. »Immer heißt es bloß: >Warte, bis du älter bist.< Wo wären wir heute, wenn Alexander der Große gewartet hätte, >bis er älter war Und was ist mit Johanna von Orleans? Wenn sie gewartet hätte, »bis sie älter war<, hätten die Engländer Frankreich erobert und besetzt. Wer kann schon beurteilen, wann jemand alt genug ist, seine eigenen Entscheidungen zu treffen? Das sollte wirklich jedem selbst überlassen bleiben.« So schimpfte er noch eine Weile weiter, klagte über die Erwachsenen, das »ganze verdammte, korrupte System«, und erklärte, die Zeit sei endlich reif für einen Aufstand der Kinder. Er hörte sich an wie einer dieser durchgeknallten Politiker im Fernsehen. »Wenn ein Kind eine Schokoladenfabrik gründen will, dann lasst es eine gründen«, wütete Sam. »Wenn es lieber Jockey werden will, auch gut. Wenn es den Beruf des Forschers wählen und ferne, von Kannibalen bewohnte Inseln bereisen will, in Ordnung! Wir alle sind die Sklaven der modernen Gesellschaft. Wir sind ...« »Sam«, unterbrach ihn Evra. »Willst du mitkommen und dir meine Schlange anschauen?« Auf Sams Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Ob ich will?«, rief er aus. »Ich dachte schon, du fragst nie! Los, gehn wir.« Er vergaß seine Ansprache, sprang aus dem Baum und rannte mit Volldampf in Richtung Lager. Evra und ich folgten ihm langsam, lachten überlegen und fühlten uns viel erwachsener und klüger, als wir waren.
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Sam fand, die Schlange sei das Coolste, was er je gesehen habe. Er hatte überhaupt keine Angst vor ihr und zögerte nicht eine Sekunde, sich das Reptil wie einen Schal um den Hals zu wickeln. Er wollte genau wissen, wie lang sie war, was sie fraß, wie oft sie sich häutete, woher sie stammte, was für einer Art sie angehörte, wie schnell sie sic h fortbewegen konnte. Evra beantwortete jede einzelne Frage. Er war ein richtiger Experte. Es gab nichts, was er nicht über das Königreich der Schlangen wusste. Er konnte Sam sogar die ungefähre Anzahl der Schuppen seines Haustiers nennen! Danach veranstalteten wir mit Sam eine Führung durch das Lager. Wir zeigten ihm den Wolfsmenschen (vor dem Käfig des zottigen Geschöpfes war Sam ziemlich kleinlaut, er schien sich tatsächlich vor dem knurrenden Ungeheuer zu fürchten). Wir stellten ihm Hans Hände vor, und als wir zu Willi Wunderwanst kamen, probte dieser gerade für seinen Auftritt. Evra fragte, ob wir zuschauen dürften, und Willi hatte nichts dagegen. Sam sprangen fast die Augen aus dem Kopf, als er mit ansah, wie Willi eine Tasse zu kleinen Scherben zerkaute, diese herunterschluckte, in seinem Magen wieder zusammensetzte und durch die Speiseröhre und den Mund herauswürgte. Ich wollte eigentlich Madame Octa holen und Sam ein paar von den Tricks vorführen, die ich mit ihr eingeübt hatte, aber ich fühlte mich zu schwach. Der Mangel an Menschenblut auf meiner Speisekarte machte mir immer mehr zu schaffen: Oft knurrte mein Magen vor Hunger, ganz gleich, wie viel ich aß, und manchmal wurde mir schlecht oder ich musste mich plötzlich setzen. Ich wollte keinesfalls in Ohnmacht fallen oder mich übergeben, wenn ich Madame Octa aus ihrem Käfig holte. Ich wusste aus Erfahrung, wie lebensge fährlich die Spinne sein konnte, wenn man auch nur einen Augenblick lang die Kontrolle über sie verlor. Von sich aus hätte Sam den Zeltplatz wohl nie mehr verlassen, aber es wurde allmählich dunkel, und mir war klar, dass Mr. Crepsley bald aufwachen würde. Außerdem hatten Evra und ich noch einiges zu erledigen, also sagten wir zu Sam, es sei Zeit für ihn, nach Hause zu gehen. »Kann ich nicht noch ein bisschen dableiben?«, bettelte er. »Deine Mutter wartet bestimmt schon mit dem Abendessen auf dich«, gab Evra zu bedenken. »Ich kann doch mit euch essen«, schlug Sam vor. »Es ist nicht genug da«, log ich. »Ach, ich bin sowieso nicht besonders hungrig.« Sam ließ nicht locker. »Es ist erstaunlich, wie satt eingelegte Zwiebeln machen können.« »Vielleicht kann er ja wirklich noch ein bisschen bleiben«, meinte Evra nachdenklich. Ich warf ihm einen überraschten Blick zu, aber er zwinkerte, um mir zu zeigen, dass er nur Spaß machte. »Wirklich?«, fragte Sam erfreut. »Klar«, erwiderte Evra. »Aber du musst uns bei der Arbeit helfen.« »Ich mache alles«, beteuerte Sam. »Ich bin nicht zimperlich. Worum handelt es sich?« »Der Wolfsmann muss gefüttert, gewaschen und ge bürstet werden«, sagte Evra. Sams Lächeln erlosch. »Der Ww-Wolfs- mm- mann?«, wiederholte er nervös. »Das ist ganz leicht«, versicherte Evra. »Nach der Fütterung ist er normalerweise friedlich. Er beißt seine Wärter nur ganz selten. Falls er angreift, musst du den Kopf zurückziehen und ihm einen Arm in den Rachen stopfen. Besser den Arm verlieren als den ...« »Wisst ihr«, fiel ihm Sam hastig ins Wort, »ich glaube, ich muss doch nach Hause. Mama hat irgendwas von Freunden gesagt, die heute Abend noch vorbeischauen wollten.« »Ach. Wie schade.« Evra grinste. Sam entfernte sich langsam und drehte sich immer wie der misstrauisch nach dem Käfig des Wolfsmenschen um. Er sah traurig aus, deshalb rief ich ihm nach. »Was hast du morgen vor?«, fragte ich. 35
»Nichts«, sagte er. »Willst du am Nachmittag rüberkommen und uns besuchen?« »Darauf kannst du Gift nehmen!«, jubelte Sam, aber er unterbrach sich. »Brauche ich dann nicht beim Füttern und Waschen des... du weißt schon ... zu helfen?« Er schluckte hörbar. »Nein«, versprach Evra, noch immer grinsend. »Dann komme ich. Bis morgen, Kumpels.« »Bis dann, Sam«, antworteten wir wie aus einem Munde. Er winkte noch einmal, drehte sich um und rannte davon. »Sam ist nett, findest du nicht auch?«, wandte ich mich an Evra. »Ein netter Kerl«, stimmte Evra zu. »Er bräuchte nicht die ganze Zeit so oberschlau daherzureden, und er ist ein bisschen schreckhaft, aber sonst ist er ganz in Ordnung.« »Glaubst du, er würde zu uns passen, wenn er sich dem Zirkus anschließt?«, fragte ich. Evra schnaubte. »So gut wie eine Maus in ein Haus voller Katzen!« »Wie meinst du das?«, fragte ich. »Nicht jeder ist für dieses Leben geschaffen. Ein paar Wochen fern von seiner Familie, Klos putzen und für dreißig oder vierzig Leute kochen müssen... Er würde nach kürzester Zeit schreiend davonlaufen.« »Wir kommen doch auch zurecht«, widersprach ich. »Wir sind eben anders«, meinte Evra. »Wir sind nicht wie andere Leute. Deshalb wollen sie auch nichts mit uns zu tun haben. Jeder hat einen Ort, wo er hingehört. Unserer ist eben der Zirkus. Wir müssen ...« Er unterbrach sich stirnrunzelnd und blickte über meine Schulter hinweg auf etwas in der Ferne. Ich drehte den Kopf, um zu sehen, was seine Aufmerksamkeit erregte. Ein paar Sekunden lang fiel mir nichts auf, aber dann entdeckte ich ein paar hundert Meter weiter weg, zwischen den Bäumen im Osten, den flackernden Schein einer Taschenlampe. »Wer kann das sein?«, wunderte ich mich. »Ich bin nicht sicher«, murmelte Evra. Wir beobachteten ein paar Minuten, wie die Taschen lampe näher kam. Einige Gestalten bewegten sich im Schutz der Bäume. Ich konnte nicht genau sagen, wie viele Leute es waren, aber es mussten mindestens sechs oder sieben sein. Dann, als sie hinter den Bäumen hervortraten, erkannte ich sie, und eine Gänsehaut überlief mich vom Nacken bis zu den Armen. Es waren die seltsamen, kleinen Wesen mit den blauen Kapuzenumhängen, die Steve und ich damals am Abend der Vorstellung gesehen hatten, jene Leute, die Süßigkeiten und Spielzeug an das Publikum verkauften und bei den Darbietungen der Artisten assistierten. Ich hatte sie ganz vergessen. Jener Abend lag schon Mona te zurück, und seither war zu viel passiert. Sie traten paarweise aus dem Wald, eine Zweiergruppe nach der anderen. Ich zählte insgesamt zwölf von ihnen, aber da war noch ein Dreizehnter, größerer, der den Schluss bildete. Er war auch derjenige, der die Ta schenlampe trug. »Wo kommen sie her?«, fragte ich Evra im Flüsterton. »Ich weiß nicht«, gab er zurück. »Sie haben den Zirkus vor ein paar Wochen verlassen. Keine Ahnung, wohin sie gegangen sind. Sie bleiben meistens unter sich.« »Wer sind sie?«, fragte ich weiter. »Sie ...«, begann Evra, unterbrach sich plötzlich und riss angstvoll die Augen auf. Offensichtlich hatte der Mann, der als Letzter ging, Evra so erschreckt. Er war jetzt näher gekommen und besser zu erkennen. Die Blaukutten schritten schweigend an uns vorüber. Als der geheimnisvolle dreizehnte Mann vorbeikam, bemerkte ich, dass er anders gekleidet war als die übrigen. Er war eigentlich gar nicht besonders groß, er wirkte nur im Vergleich zu den anderen so. Er hatte kurzes weißes Haar, eine dicke Brille und trug einen grellgelben Anzug und hohe, grüne Gummistiefel. Außerdem war er ziemlich dick und hatte einen eigentümlich watschelnden Gang. Als er vorbeiging, lächelte er uns freundlich an. Ich erwiderte das Lächeln, aber Evra stand wie versteinert, unfähig, auch nur einen Gesichtsmuskel zu bewegen. Die Blaukutten und der Mann mit der Taschenlampe marschierten bis zum gegenüberliegenden Rand des Zirkusgeländes auf ein großes, freies Stück Wiese. Dort begannen die Kapuzenleute, ein Zelt aufzubauen, dessen Einzelteile sie unter ihren Umhängen getragen haben mussten. Der größere Mann dagegen steuerte Meister Riesigs Wohnwagen an. Ich musterte Evra. Er zitterte am ganzen Leib, und obwohl sein Gesicht aufgrund seiner 36
natürlichen Hautfarbe nicht richtig weiß werden konnte, war er so bleich, wie ich ihn
noch nie gesehen hatte. »Stimmt was nicht?«, fragte ich.
Evra schüttelte nur stumm den Kopf, außer Stande zu antworten.
»Was ist los? Wovor hast du solche Angst? Wer war dieser Mann?«
»Er ... es ...« Evra räusperte sich und holte tief Luft. Als er weitersprach, klang seine
Stimme belegt und schwankend, voll nackter panischer Angst. »Das war Meister Schick«,
flüsterte er, und das war alles, was ich für lange Zeit aus ihm herausbekam.
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Im Lauf des Abends ließ Evras Angst allmählich nach, aber es dauerte lange, bis er wieder der Alte war, und er blieb den ganzen Abend über ungewöhnlich gereizt. Beim Kartoffelschälen fürs Abendbrot musste ich ihm das Messer wegnehmen und seinen Anteil an der Arbeit mit erledigen, weil ich befürchtete, er könnte sich aus Versehen einen Finger abschneiden. Nachdem wir gegessen und beim Abwasch geholfen hatten, fragte ich Evra noch einmal nach dem geheimnisvollen Meister Schick. Wir saßen im Zelt, und Evra spielte mit seiner Schlange. Er antwortete nicht sofort, und einen Augenblick lang dachte ich, er würde überhaupt nicht auf meine Frage reagieren, aber schließlich seufzte er und begann zu sprechen. »Meister Schick ist der Anführer der Kleinen Leute«, sagte er. »Die winzigen Typen mit den blauen Kapuzenumhängen?« »Ja. Er nennt sie >Kleine Leute<. Er ist ihr Boss. Er kommt nicht oft hierher. Ich habe ihn das letzte Mal vor zwei Jahren gesehen, aber mir läuft es jedes Mal kalt über den Rücken, wenn ich ihm begegne. Er ist der unheimlichste Mensch, den ich kenne.« »Ich fand, er sah ganz normal aus«, widersprach ich. »Das habe ich bei unserer ersten Begegnung auch gedacht«, gab Evra zu. »Aber warte ab, bis du das erste Mal mit ihm sprichst. Es ist schwer zu erklären, aber immer, wenn er mich ansieht, habe ich das Gefühl, er will mir den Hals umdrehen, die Haut abziehen und mich in seinen Kochtopf werfen.« »Er isst Menschenfleisch?«, fragte ich entsetzt. »Ich weiß nicht genau«, erwiderte Evra. »Vielleicht ja, vielleicht nein. Aber er vermittelt einem das Gefühl, dass er einen gern fressen würde. Und diesen Eindruck habe nicht nur ich: Ich habe mit anderen Mitgliedern des Cirque du Freak darüber gesprochen, und sie spüren es auch. Keiner kann ihn leiden. Selbst Meister Riesig wird ganz zappelig, wenn Meister Schick nur in seine Nähe kommt.« »Die Kleinen Leute müssen ihn wohl mögen, oder?«, meinte ich. »Schließlich folgen und gehorchen sie ihm.« »Vielleicht haben sie einfach nur Angst vor ihm«, wandte Evra ein. »Vielleicht zwingt er sie zu gehorchen. Vielleicht sind sie seine Sklaven.« »Hast du sie mal danach gefragt?« »Sie sprechen nicht«, erklärte Evra. »Ich weiß nicht, ob sie es nicht können oder ob sie bloß so tun, aber niemandem im Zirkus ist es jemals gelungen, ein Wort aus ihnen herauszubekommen. Sie sind sehr hilfsbereit und tun alles, worum man sie bittet, aber sie sind so stumm wie lebendige Schaufensterpuppen.« »Hast du schon mal ihre Gesichter gesehen?«, fragte ich. »Einmal«, antwortete Evra. »Normalerweise nehmen sie ihre Kapuzen nie ab, aber eines Tages habe ich einigen von ihnen geholfen, eine schwere Bühnenmaschine zu schleppen. Das Ding fiel auf einen der Kleinen Leute und zerschmetterte ihn. Er gab keinen Laut von sich, obwohl er furchtbare Schmerzen durchlitten haben muss. Seine Kapuze verrutschte, und ich konnte einen Blick auf sein Gesicht erhaschen.« Evra schüttelte sich. »Er sah schrecklich aus«, fuhr er leise fort und streichelte seine Schlange. »Voller Narben und Nähte und so zerknautscht, als hätte ein Riese seinen Schädel zwischen den Pranken zerquetscht. Er hatte weder Nase noch Ohren, und über dem Mund trug er eine Art Maske. Seine Haut sah grau und tot aus, und seine Augen waren wie zwei grüne Kugeln am oberen Rand seiner Stirn. Außerdem hatte er keine Haare.« Evra fröstelte bei der Erinnerung. Auch mir war plötzlich kalt, als ich mir diesen Anblick vorstellte. »Was ist mit ihm passiert?«, erkundigte ich mich. »Ist er gestorben?« »Ich weiß nicht«, erwiderte Evra. »Einige seiner Bruder - für mich sind sie Brüder, obwohl das wahrscheinlich gar nicht stimmt - tauchten plötzlich auf und schleppten ihn weg.« »Und du bist ihm nie wieder begegnet?« »Sie sehen alle gleich aus«, erklärte Evra. »Manche 38
sind ein bisschen größer oder kleiner als die anderen, aber man kann sie nicht wirklich auseinander halten. Du kannst es mir glauben: Ich habe es lange genug versucht.« Die ganze Sache hörte sich immer merkwürdiger an. Meister Schick und seine Kleinen Leute fingen langsam an, mich zu interessieren. Ich hatte Rätsel seit jeher ge mocht. Vielleicht gelang es mir, dieses hier zu lösen. Vielleicht schaffte ich es mit Hilfe meiner besonderen Fähigkeiten als Vampir, mit einem der verhüllten Geschöpfe zu sprechen. »Woher kommen die Kleinen Leute?«, erkundigte ich mich. »Das weiß keiner«, erwiderte Evra. »Für gewöhnlich halten sich vier bis sechs von ihnen beim Zirkus auf. Manchmal tauchen plötzlich ganz von allein weitere auf. Dann bringt auch Meister Schick immer mal wieder neue mit. Eigentlich komisch, dass keiner von ihnen da war, als du zu uns gestoßen bist.« »Glaubst du, dass es etwas mit meiner und Mr. Crepsleys Ankunft zu tun hatte?«, fragte ich. »Eigentlich nicht«, meinte Evra. »Wahrscheinlich war es einfach Zufall. Oder Schicksal.« Er machte eine Pause. »Übrigens, noch etwas: Meister Schicks Vorname ist Salvatore.« »Na und?« »Er bittet die Leute, ihn Sal zu nennen.« »Na und?«, sagte ich wieder. »Sprich es mal zusammen mit seinem Nachnamen, aber in umgedrehter Reihenfolge«, forderte Evra mich auf. Ich gehorchte. Meister Sal Schick. Meister Schick Sal. Meister Schick-Sal. Meister ... »Meister Schicksal«, flüsterte ich, und Evra nickte bedeutungsvoll. Jetzt platzte ich fast vor Neugier und überschüttete Evra mit Fragen, aber seine Antworten fielen ziemlich dürftig aus. Er wusste fast nichts über Meister Schick und kaum mehr über die Kleinen Leute. Sie ernährten sich von Fleisch. Sie rochen komisch. Sie bewegten sich meistens sehr langsam. Entweder fühlten sie keinen Schmerz, oder sie konnten es nicht zeigen. Und sie hatten nicht den geringsten Sinn für Humor. »Woher weißt du das alles?«, fragte ich. »Lothar Lulatsch«, erwiderte Evra geheimnisvoll. »Er gehörte auch mal zu unserer Truppe. Er hatte Gummiknochen und konnte seine Arme und Beine unendlich lang dehnen. Allerdings war er nicht besonders nett. Er spielte uns ständig Streiche und lachte dann höhnisch. Dabei ließ er einen nicht nur wie einen Dummkopf aussehen: Er brachte es auch fertig, dass man sich auch wie einer vorkam. Einmal gastierten wir in einem arabischen Palast. Eine Privatvorstellung für den Scheich. Ihm gefielen alle Nummern, aber von Lothar war er völlig hingerissen. Die beiden kamen ins Gespräch, und Lothar erzählte dem Scheich, dass er keinen Schmuck tragen könne, weil alle Ketten oder Ringe entweder herunterglitten oder aufgrund seiner sich ständig wandelnden Körperform zerrissen. Der Scheich lief aus dem Zimmer und kam mit einem schmalen goldenen Armband zurück. Er reichte es Lothar und bat ihn, es sich ums Handgelenk zu legen. Lothar gehorchte. Dann forderte der Scheich ihn auf zu versuchen, das Schmuckstück abzuschütteln. Lo thar machte seinen Arm klein und groß, kurz und lang, aber er wurde das Armband nicht los. Der Scheich behauptete, es wäre verzaubert und man könnte es nur abnehmen, wenn der Träger es wirklich wollte. Es war außerordentlich wertvoll, geradezu unbezahlbar, aber der Scheich schenkte es Lothar als Zeichen seiner Bewunderung. Aber um auf die Kleinen Leute zurückzukommen«, fuhr Evra fort, »auf die hatte es Lothar bei seinen dummen Scherzen besonders abgesehen. Ihm fiel immer etwas Neues ein, um sie hereinzulegen. Er stellte Fallen auf, sodass sie plötzlich kopfüber an den Füßen von einem Baum hingen. Er steckte ihre Kutten in Brand. Er schmierte Spülmittel auf die Seile, die sie bei der Arbeit benutzten, damit ihre Hände abrutschten, oder Leim, damit sie daran kleben blieben. Er streute ihnen Reißnägel ins Essen, ließ ihr Zelt einstürzen, sperrte sie in ihren Wohnwagen ein.« »Warum war er so gemein?«, fragte ich. »Ich glaube, weil sie niemals eine Gefühlsregung zeigten«, entgegnete Evra. »Lothar versetzte gern andere Menschen in Aufruhr, aber die Kleinen Leute weinten oder schrien nicht und wehrten sich auch nie. Sie schienen einfach keine Notiz von seinen Streichen zu nehmen. Jedenfalls dachten wir das alle ...« Evra gab ein seltsames Geräusch von sich, halb Lachen, halb Stöhnen. »Als wir eines Morgens aufwachten, war Lothar verschwunden. Spurlos. Wir suchten überall nach 39
ihm, aber als er einfach nicht auftauchte, zogen wir weiter. Wir machten uns keine großen Sorgen: Im Zirkus kommen und gehen die meisten Artisten ganz nach Be lieben. Es war nicht das erste Mal, dass sich jemand mitten in der Nacht aus dem Staub gemacht hatte. Ich vergaß die Sache, bis etwa eine Woche vergangen war. Meister Schick hatte uns am Tag zuvor aufgesucht und alle Kleinen Leute außer zweien mitgenommen. Meister Riesig wies mich an, den beiden bei der Arbeit zu helfen. Ich fegte den Platz vor ihrem Zelt und rollte ihre Hängematten zusammen. Sie schlafen alle in Hängematten. Meine Hängematte habe ich auch von ihnen bekommen. Habe ich das eigentlich schon erwähnt?« Das hatte er nicht, aber ich wollte ihn nicht vom Thema abbringen, deshalb sagte ich nichts. »Danach«, fuhr er fort, »scheuerte ich ihren Kochtopf. Es war ein großer schwarzer Kessel, der in der Mitte des Zeltes über einem Feuer hing. Jedes Mal, wenn sie kochten, musste das ganze Zelt voller Rauch sein, und der Topf war rußverschmiert. Ich nahm ihn mit nach draußen und leerte die Abfälle ihrer letzten Mahlzeiten, lauter Fleischfetzen und Knochensplitter, ins Gras. Ich scheuerte den Kessel, bis er blitzte, und hängte ihn wieder im Zelt auf. Dann beschloss ich, die Fleischreste im Gras aufzusammeln und dem Wolfsmann zu geben. >Nur nichts umkommen lassen< wie Meister Riesig zu sagen pflegt. Als ich Fleisch- und Knochenreste zusammenscharrte, stach mir etwas Glitzerndes ins Auge ...« Evra wandte sich ab und wühlte in einer Tasche unter seiner Hängematte. Als er sich wieder zu mir umdrehte, hielt er ein schmales, goldenes Armband in der Hand. Er ließ es mich einen Augenblick betrachten, dann schob er es über sein linkes Handgelenk. Er schüttelte den Arm, so heftig er konnte, aber das Armband verrutschte keinen Zentimeter. Als er den Arm wieder stillhielt, streifte er das Schmuckstück mit den Fingern der rechten Hand ab und warf es mir zu. Ich fing es auf und betrachtete es von allen Seiten, wagte aber nicht, es anzulegen. »Das Armband, das der Scheich Lothar Lulatsch geschenkt hat?«, riet ich. »Genau das«, bestätigte Evra. Ich gab es ihm zurück. »Ich weiß nicht, ob er etwas besonders Gemeines gemacht hatte«, sagte Evra und spielte mit dem Armband, »oder ob sie einfach die Nase voll von den ständigen Quälereien hatten. Ich weiß nur, dass ich seither immer besonders höflich zu den kleinen, schweigsamen Leuten in den dunkelblauen Kutten bin.« »Was hast du mit den Überresten von... ich meine, mit den Fleischresten gemacht?«, fragte ich. »Hast du sie beerdigt?« »Spinnst du?«, gab Evra zurück. »Ich habe sie an den Wolfsmann verfüttert, wie es meine erste Absicht war.« Als er meinen entsetzten Blick bemerkte, fügte er hinzu: »Du weißt doch: >Nur nichts umkommen lassen.<« Ich starrte ihn einen Augenblick stumm an, dann kicherte ich los. Auch Evra kicherte. Im nächsten Augenblick kugelten wir über den Boden und hielten uns die Seiten vor Lachen. »Wir sollten uns nicht darüber lustig machen«, keuchte ich. »Armer Lothar Lulatsch. Wir sollten weinen.« »Dazu muss ich zu sehr lachen«, gluckste Evra. »Wie er wohl geschmeckt hat?« »Ich weiß nicht«, erwiderte Evra. »Bestimmt nach Gummi.« Darüber mussten wir so sehr lachen, dass uns die Tränen über die Wangen liefen. Eigentlich war die Sache viel zu schrecklich, aber wir konnten einfach nicht anders. Mitten in unserem Heiterkeitsanfall schob jemand die Plane des Zelteingangs beiseite, steckte neugierig den Kopf hind urch und trat ein. Es war Hans Hände. »Worüber amüsiert ihr euch denn so?«, fragte er, aber wir konnten nicht antworten. Ich versuchte es, aber jedes Mal musste ich beim ersten Wort wieder losprusten. Hans schüttelte nachsichtig lächelnd den Kopf. Als wir uns endlich beruhigt hatten, verkündete er uns den Grund seines Kommens. »Ich soll euch beiden eine Nachricht überbringen«, sagte er. »Meister Riesig wünscht euch so schnell wie möglich in seinem Wohnwagen zu sehen.« »Was ist los, Hans?«, fragte Evra. Er kicherte immer noch. »Was will er denn von uns?« »Er will gar nichts von euch«, erwiderte Hans. »Meister Schick ist bei ihm. Er möchte euch sprechen.« »Meister Sch-sch-sch-schick will uns sprechen«, keuchte Evra. 40
»Ich hab's gehört«, sagte ich. »Was kann er von uns wollen?«
»Ich w- w-w- weiß nicht«, stotterte Evra, aber ich konnte seinem Gesicht ansehen, was ihm
durch den Kopf schoss. Dasselbe wie mir. Wir dachten an die Kleinen Leute, Lothar
Lulatsch und einen großen schwarzen Topf voller Reste von Menschenfleisch und Knochen.
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In Meister Riesigs Wohnwagen waren Meister Riesig selbst, Mr. Crepsley und Meister Schick versammelt. Evra zitterte wie Espenlaub, ich dagegen war nicht besonders aufgeregt. Als ich allerdings die besorgten Blicke von Meister Riesig und Mr. Crepsley bemerkte und mir auffiel, wie unbehaglich sie sich offenbar fühlten, wurde ich doch ein bisschen nervös. »Kommt rein, Jungs«, begrüßte uns Meister Schick, als handelte es sich um seinen eigenen Wohnwagen und nicht um Meister Riesigs. »Nehmt Platz und macht es euch gemütlich.« »Ich würde lieber stehen bleiben, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, gab Evra zurück und versuchte krampfhaft zu verbergen, dass er mit den Zähnen klapperte. »Ich auch«, schloss ich mich ihm an. »Wie ihr wollt«, sagte Meister Schick. Er war der Einzige, der saß. »Ich habe schon viel von dir gehört, kleiner Darren Shan«, begann Meister Schick. Er rollte etwas zwischen den Handflächen hin und her: eine herzförmige Uhr. Ich hörte sie ticken, während er eine Pause machte. »Du bist wirklich ein toller Bursche, alles was recht ist«, fuhr er dann fort. »Ein höchst bemerkenswerter junger Mann. Hast alles aufgegeben, um einem Freund das Leben zu retten. Nicht viele hätten so etwas getan. Heutzutage sind die Menschen so selbstsüchtig. Wie schön, dass es auf der Welt noch Helden gibt.« »Ich bin kein Held«, wehrte ich errötend ab. »Aber gewiss bist du das«, beharrte Meister Schick. »Wer sonst ist ein Held als ein Mensch, der alles für das Wohl eines anderen aufs Spiel setzt?« Ich lächelte stolz. Ich konnte gar nicht verstehen, warum Evra solche Angst vor diesem freundlichen, ein bisschen merkwürdigen Mann hatte. An Meister Schick war nichts Unheimliches. Ich fand ihn richtig nett. »Larten hat mir erzählt, dass du dich weigerst, Menschenblut zu trinken«, bemerkte Meister Schick. »Das kann ich dir nicht verübeln. Grässliches, ekelhaftes Zeug. Ist mir genauso zuwider wie dir. Abgesehen von Säuglingen natürlich. Deren Blut schmeckt bonfortionös!« Ich runzelte die Stirn. »Das Blut von Kindern darf man nicht trinken«, widersprach ich. »Sie sind noch zu klein. Wenn man das Blut eines Säuglings trinkt, stirbt er.« Meister Schick riss in gespieltem Erstaunen die Augen auf und lächelte noch breiter. »Ach wirklich?«, zischte er leise. Mir lief es eiskalt den Rücken herunter. Falls das ein Witz sein sollte, war er einfach nur geschmacklos, aber darüber hätte ich hinwegsehen können. Schließlich hatte ich mich selbst eben erst über das Schicksal des armen Lothar Lulatsch vor Lachen ausgeschüttet. Aber ich konnte seinem Gesicht ansehen, dass er es vollkommen ernst gemeint hatte. Mit einem Schlag wurde mir klar, warum dieser Mann bei allen so gefürchtet war. Er war böse. Nicht nur ge mein oder boshaft, sondern auf dämonische Art durch und durch böse. Man konnte sich leicht vorstellen, dass dieser Mann Tausende von Menschen umbrachte, nur um sich an ihren Todesschreien zu ergötzen. »Weißt du was«, sprach Meister Schick weiter, »dein Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor. Sind wir uns frühe r schon einmal begegnet, Darren Shan?« Ich schüttelte den Kopf. »Bist du sicher?«, beharrte er. »Du kommst mir wirklich sehr bekannt vor.« »Daran ... würde ich mich ... erinnern«, brachte ich heraus. »Auf sein Gedächtnis kann man sich nicht immer verlassen.« Meister Schick lächelte. »Manchmal ist es ein hinterlistiges Ungeheuer. Nun, wie dem auch sei: Vielleicht verwechsle ich dich ja mit jemand anderem.« Daran, wie er die Lippen zu einem Grinsen verzog (wie hatte ich sein Lächeln jemals für freundlich halten können?), merkte ich, dass er selbst nicht daran glaubte. Aber ich war mir ganz sicher, dass er sich irrte. Ein solches Wesen hätte ich niemals vergessen können. »Zurück zum Geschäftlichen«, fuhr Meister Schick fort. Er schloss die Hände um seine Uhr, und sie schienen einen Augenblick lang zu glühen und mit 42
dem herzförmigen Zifferblatt zu verschmelzen. Ich blinzelte und rieb mir die Augen. Als ich wieder hinsah, war das Trugbild - es musste eines gewesen sein - verschwunden. »Ihr beiden Jungs habt mich mit meinen Kleinen Leuten eintreffen sehen«, sagte Meister Schick. »Sie sind Neulinge und beherrschen noch nicht alle Tricks und Kniffe bei der Arbeit. Für gewöhnlich bleibe ich noch ein paar Tage da, um sie einzuweisen, doch ich habe anderswo etwas Dringendes zu erledigen. Aber sie sind nicht dumm und lernen schnell. Trotzdem würde ich mich freuen, wenn ihr zwei Prachtkerle ihnen dabei behilflich sein könntet, sich zurechtzufinden. Ihr werdet nicht viel Mühe mit ihnen haben. Vor allem müsst ihr etwas zu essen für sie auftreiben. Sie haben immer mächtig Appetit. Also, wie sieht's aus, Jungs? Die Zustimmung eurer Vormünder habe ich schon eingeholt.« Er nickte Meister Riesig und Mr. Crepsley zu, die zwar nicht sonderlich glücklich über diese Vereinbarung wirkten, aber auch nicht widersprachen. »Wollt ihr dem armen, alten Meister Schick und seinen Kleinen Leuten ein bisschen unter die Arme greifen?« Ich schielte zu Evra hinüber. Ich merkte, dass er sich am liebsten geweigert hätte, aber er nickte trotzdem. Ich tat dasselbe. »Ausgezeichnet!«, dröhnte Meister Schick. »Ich bin sicher, der junge Evra Von wird mit meinen kleinen Lieblingen umzugehen wissen. Wenn es Probleme gibt, wendet euch an Hibernius. Er wird euch helfen.« Meister Schick wedelte mit der Hand zum Zeichen, dass wir entlassen waren. Evra schob sich sofort rückwärts in Richtung Tür, aber ich rührte mich nicht von der Stelle. »Entschuldigen Sie«, begann ich und nahm meinen ganzen Mut zusammen, »aber warum nennen Sie Ihre Arbeiter eigentlich Kleine Leute?« Meister Schick drehte sich langsam zu mir um. Falls meine Frage ihn überraschte, ließ er sich nichts anmerken, aber mir entging nicht, dass Meister Riesig und Mr. Crepsley erschrocken das Gesicht verzogen. »Weil sie klein sind«, erklärte Meister Schick liebens würdig. »Das ist mir schon klar«, bestätigte ich. »Aber haben sie denn keinen anderen Namen? Einen richtigen Namen? Wenn mir jemand etwas von >Kleinen Leuten< erzählen würde, würde ich annehmen, dass er Elfen oder Kobolde meint.« Meister Schick lächelte. »Es sind Elfen und Kobolde«, erwiderte er. »Auf der ganzen Welt erzählt man sich Geschichten über kleine, zauberkräftige Wesen. Alle Sagen haben einen wahren Kern. Diese Sagen wurden von meinen kleinen, treuen Freunden ins Leben gerufen.« »Sie wollen doch nicht im Ernst behaupten, dass diese Zwerge in den blauen Kapuzenumhängen Elfen sind?«, fragte ich ungläubig. »Nein«, räumte er ein. »Es gibt keine Elfen. Diese Zwerge - wie du sie so abfällig bezeichnest - wurden vor langer Zeit von beschränkten Menschen beobachtet, die dann Namen für sie erfanden: Elfen, Feen oder Kobolde. Sie haben sich Geschichten darüber ausge dacht, wer sie sind und was sie alles tun können.« »Und was können sie alles?«, erkundigte ich mich neugierig. Meister Schicks Lächeln erstarb. »Ich habe schon ge hört, dass du den Leuten Löcher in den Bauch fragst«, knurrte er, »aber dass du ein derartiger Schnüffler bist, habe ich nicht geahnt. Denk dran, Darren Shan: Neugier war der Katze Tod.« »Ich bin aber keine Katze«, erwiderte ich ganz frech. Meister Schick beugte sich mit finsterem Gesicht vor. »Wenn du noch mehr Fragen stellst, könnte ich dich ganz plötzlich in eine verwandeln«, zischte er. »Nichts im Leben währt ewig, nicht einmal die menschliche Gestalt.« Wieder glühte die Uhr in seiner Hand so rot wie ein le bendiges Herz, und ich beschloss, dass ich besser daran tat zu verschwinden. »Geh jetzt ins Bett und schlaf dich aus«, ermahnte mich Mr. Crepsley noch. »Heute Abend fällt der Unterricht aus.« »Und seid morgen zeitig auf den Beinen, Jungs«, fügte Meister Schick hinzu und winkte zum Abschied. »Morgens sind meine Kleinen Leute immer ganz besonders hungrig. Es wäre sehr unklug, ihren Hunger allzu groß werden zu lassen. Man weiß nie, worauf sie ihre 43
Gedanken - und ihre Zähne - richten, wenn man sie zu lange warten lässt.« Eilig verließen wir den Wohnwagen und rannten zu unserem Zelt, wo wir uns auf den Boden plumpsen ließen und dem wilden Pochen unserer Herzen lauschten. »Bist du denn übergeschnappt?«, rief Evra, als er wieder sprechen konnte. »So mit Meister Schick zu reden und ihn auszuquetschen!« »Ja«, gab ich zu, als ich an das Gespräch zurückdachte, und fragte mich, woher ich den Mut genommen hatte. »Ich muss wirklich verrückt gewesen sein.« Evra schüttelte missbilligend den Kopf. Es war noch früh, aber wir krochen trotzdem unter unsere Decken, wo wir eine Ewigkeit wach lagen und an das Zeltdach starrten. Als ich endlich einschlief, träumte ich von Meister Schick und seiner herzförmigen Uhr. Nur, dass es in meinen Träumen keine Uhr war. Es war ein echtes menschliches Herz. Und als er es zwischen den Handflächen zerquetschte ... Höllenqualen.
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Wir standen früh auf und verließen das Zelt, um für die Kleinen Leute etwas zu essen zu besorgen. Wir waren müde und schlecht gelaunt, und es dauerte ewig, bis wir richtig wach wurden. Nach einer Weile fragte ich Evra, was die Kleinen Leute am liebsten aßen. »Fleisch«, antwortete er. »Irgendwelche Tiere, welche, ist ihnen egal.« »Wie viele Tiere müssen wir fangen?«, bohrte ich weiter. »Also: Es sind zwölf Kleine Leute, aber sie essen nicht viel. Ich würde mal sagen, ein Kaninchen oder ein Igel reicht für zwei von ihnen. Ein größeres Tier - ein Fuchs oder ein Hund - vielleicht sogar für drei oder vier.« »Kann man Igel denn essen?«, staunte ich. »Die Kleinen Leute schon«, gab Evra zurück. »Sie sind nicht wählerisch. Sie verzehren auch Ratten und Mäuse, aber davon müssten wir zu viele fangen, um sie alle satt zu kriegen. Die Mühe können wir uns sparen.« Wir schnappten uns jeder einen Sack und gingen in verschiedene Richtungen los. Evra erklärte, das Fleisch brauche nicht unbedingt frisch zu sein. Wenn ich also einen toten Dachs oder ein verendetes Eichhörnchen fände, könnte ich sie auch einstecken und auf diese Weise Zeit sparen. Nach wenigen Minuten erspähte ich einen Fuchs. Er trug ein Küken im Maul und war auf dem Weg zu seinem Bau. Ich folgte ihm, bis ich den richtigen Zeitpunkt für gekommen hielt, dann stürzte ich hinter einem Busch hervor und riss ihn zu Boden. Das tote Küken fiel ihm aus den Fängen, er fuhr knurrend herum und wollte mich beißen. Aber bevor er zu schnappen konnte, wich ich geschickt aus, packte ihn am Nacken und drehte seinen Hals zweimal kräftig nach links. Ein lautes Knacken ertönte, und mit dem Fuchs war es aus. Ich stopfte das Küken als willkommene Zugabe in meinen Sack, aber was den Fuchs betraf, zögerte ich noch. Ich brauchte dringend Blut, deshalb tastete ich nach einer Ader, ritzte sie mit den Fingernägeln kurz an und begann zu saugen. Einerseits verabscheute ich diese Praktik, weil sie mir so unmenschlich vorkam, aber ich rief mir in Erinnerung, dass ich kein Mensch mehr war. Ich war ein Halbvampir. Und Halbvampire taten nun mal solche Dinge. Am Anfang hatte ich mich jedes Mal schlecht gefühlt, wenn ich Füchse, Kaninchen, Schweine oder Schafe tötete. Aber inzwischen hatte ich mich daran gewöhnt. Was blieb mir anderes übrig? Ich warf den toten Fuchs in den Sack und setzte die Jagd fort. An einem Teich entdeckte ich eine Kaninchenfamilie, die sich gerade die Löffel wusch. Ich schlich mich so dicht wie möglich an die Tiere heran und sprang sie ohne Vorwarnung an. Sie stoben in panischer Angst auseinander, allerdings erst, nachdem ich meine scharfen Fingernägel in drei der Jungen ge bohrt hatte. Ich stopfte sie zu dem Fuchs und dem Küken und fand, dass es für heute genug war. Meine Beute musste eigentlich ausreichen, um den Appetit von sechs oder sieben Blaukutten zu stillen. Auf dem Zeltplatz traf ich Evra wieder. Er hatte einen toten Hund und einen Dachs gefunden und war hoch zufrieden mit sich. »Der erholsamste Jagdaus flug, den ich je unternommen habe«, meinte er. »Außerdem habe ich noch eine Viehweide entdeckt. Heute Abend gehen wir dorthin und stehlen eine Kuh. Damit sind die Kleinen Leute mindestens für einen oder zwei Tage versorgt.« »Wird der Besitzer unseren Diebstahl denn nicht bemerken?«, fragte ich. »Es sind Dutzende von Kühen«, beruhigte mich Evra. »Bis er dazu kommt, sie nachzuzählen, sind wir längst über alle Berge.« »Aber Kühe sind sehr teuer«, wandte ich ein. »Gegen die Jagd auf wilde Tiere habe ich nichts, aber einen Bauern zu bestehlen, ist etwas anderes.« »Wir können ihm ja etwas Geld 45
dalassen«, seufzte Evra. »Und wo sollen wir das hernehmen?«, fragte ich. Evra grinste. »Eines ist im Cirque du Freak niemals knapp: Geld«, erklärte er. Nachdem wir unsere restlichen Aufgaben erledigt hatten, trafen wir uns wieder mit Sam. Er hockte schon seit einer Ewigkeit im Gebüsch. »Warum bist du nicht auf den Zeltplatz gekommen?«, fragte ich. »Ich wollte nicht aufdringlich erscheinen«, erwiderte Sam. »Außerdem wusste ich nicht, ob vielleicht jemand den Wolfsmenschen freigelassen hat. Als ich gestern vor seinem Käfig stand, schien er mich nicht besonders zu mögen.« »So verhält er sich bei jedem«, beschwichtigte Evra. »Kann sein«, meinte Sam. »Aber ich wollte es lieber nicht darauf ankommen lassen.« Sam war in Fragelaune. Offenbar hatte er seit unsrer gestrigen Begegnung viel über uns nachgedacht. »Trägst du nie Schuhe?«, wandte er sic h an Evra. »Nein«, antwortete dieser. »Meine Fußsohlen sind besonders hart.« »Was passiert, wenn du auf einen Dorn oder Nagel trittst?«, fragte Sam weiter. Evra lächelte, setzte sich ins Gras und hielt Sam seinen Fuß hin. »Versuch mal, mir mit einem spitzen Stock die Haut einzuritzen«, forderte er ihn auf. Sam brach einen Zweig ab und piekste in Evras Fuß sohle. Ich schaute interessiert zu. Es war, als versuchte man, dickes Leder zu durchbohren. »An einer richtig scharfen Glasscherbe kann ich mich schon verletzen«, räumte Evra ein, »aber das passiert nicht sehr oft, und meine Haut wird jedes Jahr zäher.« »Ich hätte auch gern so eine Haut«, murmelte Sam neidisch. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit mir zu. »Warum trägst du jeden Tag dieselben Klamotten?«, erkundigte er sich. Ich blickte an mir herunter und musterte den Anzug, in dem ich lebendig begraben worden war. Ich hatte Mr. Crepsley wiederholt um neue Kleider bitten wollen, aber dann hatte ich es wieder vergessen. Dabei vermisste ich meine heiß geliebten Kapuzenpullis so sehr. »Er gefällt mir«, antwortete ich einfach. »Ich habe noch nie einen Jungen in so einem Anzug ge sehen«, meinte Sam. »Höchstens bei einer Hochzeit oder einer Beerdigung. Zwingt man dich, ihn zu tragen?« »Nein«, erwiderte ich. »Hast du inzwischen deine Eltern um Erlaubnis gefragt, ob du dich dem Zirkus anschließen darfst?«, unterbrach ihn Evra, um ihn abzulenken. »Nein«, seufzte Sam. »Ich habe ihnen natürlich davon erzählt, aber ich hielt es für besser, nach und nach damit herauszurücken. Ich werde es ihnen kurz vor meinem Aufbruch mitteilen oder vielleicht auch erst, wenn ich schon weg bin.« »Du willst also immer noch mitkommen?«, vergewisserte ich mich. »Keine Frage!«, bestätigte Sam. »Ich weiß, dass ihr versuchen wo lltet, mich davon abzubringen, aber ich schaffe es schon irgendwie. Wartet nur ab. Ich werde so oft vorbeikommen, wie ich kann, Bücher lesen und mir alles Wissenswerte über Freak Shows einprägen, und dann gehe ich zu eurem Direktor und trage ihm meine Bitte vor. Er wird sie mir nicht abschlagen können.« Evra und ich lächelten einander an. Wir wussten beide, dass Sams Traum niemals in Erfüllung gehen würde, aber wir brachten es nicht übers Herz, es ihm zu sagen. Dann schlug Sam vor, einen alten Bahnhof zu besuchen, der etwa zwei Kilometer vom Zeltplatz entfernt lag und von dem er uns vorschwärmte. »Da ist es echt super«, sagte er. »Früher hat man dort Züge instand gesetzt, sie repariert, neu gestrichen und all so was. Damals war dort eine Menge los. Dann ha t sich eine andere Firma näher bei der Stadt niedergelassen, und dieser Bahnhof wurde aufgegeben. Man kann dort prima spielen. Es gibt alte verrostete Schienen, leere Schuppen, ein Bahnwärterhaus und sogar ein paar altmodische Eisenbahnwaggons.« »Ist das denn nicht gefährlich?«, fragte Evra. »Das findet meine Mama auch«, räumte Sam ein. »Es ist einer der wenigen Orte, wo ich nicht allein hingehen soll. Sie fürchtet, ich könnte durch das Dach eines Waggons 46
brechen oder über eine Schiene stolpern. Aber ich bin schon tausendmal dort gewesen, und mir ist nie etwas passiert.« Es war wieder ein sonniger Tag, und wir schlenderten gemächlich im Schatten der Bäume dahin, als ich plötzlich einen merkwürdigen Geruch wahrnahm. Ich blieb stehen und schnüffelte. Auch Evra roch etwas. »Was ist das?«, fragte ich. »Ich weiß nicht«, erwiderte er und hielt die Nase in die gleiche Richtung wie ich meine. »Wo kommt es überhaupt her?« »Ich weiß nicht genau«, erwiderte ich. Es war ein aufdringlicher, schwerer, säuerlicher Geruch. Sam war offenbar nichts aufgefallen, denn er trottete unbeirrt weiter. Dann merkte er, dass wir nicht mehr hinter ihm waren, hielt inne und drehte sich nach uns um. »Was ist denn los ?«, fragte er. »Warum kommt ihr...« »Hab ich dich endlich!«, gellte eine Stimme hinter mir, und bevor ich noch die Flucht ergreifen konnte, packte eine Hand meine Schulter und wirbelte mich herum. Ich erhaschte einen flüchtigen Blick auf ein großes, behaartes Gesicht, dann versetzte mir die Hand einen so kräftigen Stoß, dass ich rückwärts taumelte und das Gleichgewicht verlor.
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Ich prallte hart auf den Boden und verstauchte mir den Arm. Dabei stieß ich einen Schmerzensschrei aus und versuchte, mich von der zottigen Gestalt, die über mir aufragte, wegzurollen. Aber im nächsten Augenblick kniete der Unbekannte schon mit grimmigem Gesicht neben mir. »Oh ... hey, Mann, ich hab dir doch nicht wehgetan, oder?« Seine Stimme klang ganz vergnügt, und mir wurde klar, dass ich offenbar nicht in unmittelbarer Lebensgefahr schwebte. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Besorgnis ab, nicht Zorn. »Ich wollte dich nicht so in Panik versetzen«, entschuldigte sich der Fremde. »Ich wollte dir nur einen kleinen Schreck einjagen, Mann, nur so zum Spaß.« Ich setzte mich auf und rieb mir den Ellenbogen. »Schon in Ordnung«, meinte ich. »Bist du sicher? Der Arm ist doch nicht gebrochen, oder? Sonst hätte ich ein paar Heilkräuter dabei.« »Mit Kräutern kann man keine Knochenbrüche heilen«, mischte sich Sam ein. Er war umgekehrt und stand jetzt neben Evra. »Das stimmt zwar«, gab der Fremde zu, »aber sie können dich in höhere Bewusstseinsebenen entführen, in denen weltliche Kümmernisse wie gebrochene Knochen nicht mehr sind als ein kaum vernehmbares Echo auf der kosmischen Landkarte.« Er hielt inne und strich sich den Bart. »Natürlich zerstören sie auch einige Hirnzellen ...« Auf Sams verdutztem Gesicht war zu lesen, dass sogar er diesen langen Satz nicht begriffen hatte. »Mir geht's gut«, wiederholte ich. Ich stand auf und ließ den Arm kreisen. »Er ist bloß verstaucht. In ein paar Minuten ist er wieder in Ordnung.« »Das hör ich gern, Mann«, seufzte der Fremde. »Ich hasse es, die Ursache körperlicher Beeinträchtigungen zu sein. Schmerz ist echt 'n mieser Trip, Mann.« Ich musterte ihn eingehender. Er war groß und kräftig gebaut, trug einen buschigen schwarzen Bart und langes verfilztes Haar. Seine Kleider waren völlig verdreckt, und er hatte bestimmt schon länger nicht mehr gebadet, denn er stank zum Himmel. Er war also die Ursache des seltsamen Geruchs gewesen. Aber er sah so freundlich aus, dass ich mir regelrecht dumm vorkam, solche Angst vor ihm gehabt zu haben. »Seid ihr Jungs von hier?«, erkundigte sich der Mann. »Ich schon«, erwiderte Sam. »Die beiden anderen ge hören zum Zirkus.« »Zirkus?« Der Mann lächelte breit. »Ein Zirkus ist in unserer Gegend? Mann, wie konnte ich das bloß verpassen? Wo ist er? Ich lasse keine Gelegenheit aus, über Clowns und ihre Spaße zu lachen.« »So ein Zirkus ist es nicht«, berichtigte ihn Sam. »Es ist eine Freak Show.« »Eine Freak Show?« Der Mann starrte erst Sam und dann Evra an, dessen Schuppen und Hautfarbe ihn eindeutig als einen der Mitwirkenden auswiesen. »Bist du auch einer von den Freaks, Mann?«, fragte er. Evra nickte schüchtern. »Sie behandeln euch doch hoffentlich gut, oder etwa nicht?«, vergewisserte sich der Mann. »Sie schlagen euch nicht oder lassen euch hungern oder zwingen euch zu Dingen, die ihr nicht tun wollt?« »Nein«, versicherte Evra lächelnd. »Du bist freiwillig dort?« »Ja«, bestätigte Evra. »Wir alle. Es ist unser Zuhause.« »Oh. Dann ist es ja okay«, sagte der Mann, und das Lä cheln erhellte wieder sein Gesicht. »Man hört so manches über diese kleinen Wanderzirkusse. Man ...» Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Oh, Mann, ich hab mich ja noch gar nicht vorgestellt, oder? Manchmal bin ich wirklich ein Trottel. R. V. heiße ich.« »R. V.? Komischer Name«, bemerkte ich. Der Mann hüstelte verlegen. »Na ja«, sagte er und senkte die Stimme zu einem Flüstern, »es ist die Ab kürzung von Reggie Veggie.« »Reggie Veggie?« Ich lachte. »Yeah.« Er schnitt eine Grimasse. »Reggie ist mein richtiger Name. Reggie Veggie haben sie mich in der Schule genannt, weil ich Vegetarier bin. Den Spitzna men konnte ich aber 48
nicht leiden, deshalb habe ich sie gebeten, R. V. zu mir zu sagen. Manche haben's getan, aber
die meisten nicht.« Bei dieser Erinnerung sah er ganz unglücklich aus. »Wenn ihr wollt,
könnt ihr mich Reggie Veggie nennen«, bot er an. »R. V. passt mir gut«, versicherte ich
rasch. »Mir auch«, schloss sich Evra an. »Und mir auch«, setzte Sam hinzu. »Cool!« R. V.'s
Gesicht hellte sich auf. »So, jetzt habe ich euch meinen Namen verraten. Und wie heißt ihr?«
»Darren Shan«, sagte ich, und wir schüttelten uns die Hand.
»Sam Grest.« »Evra Von.«
»Evra Von was?«, fragte R. V. genau wie ich, als ich Evra das erste Mal begegnet war.
»Einfach nur Von«, sagte Evra. »Oh.« R. V. lächelte. »Cool!«
R. V. war Umweltkämpfer und in die Gegend gekommen, um den Bau einer großen Straße zu verhindern. Er war Mitglied der NSO, der Naturschutzopposition, und war schon kreuz und quer durchs Land gezogen, um Wälder, Seen, Tiere und Naturdenkmäler zu retten. Als er anbot, uns sein Lager zu zeigen, nahmen wir sofort an. Der alte Bahnhof konnte warten. Eine Gele genheit wie diese bot sich nicht jeden Tag. Unterwegs redete R. V. ohne Pause über die Umwelt. Er erzählte uns von all den abscheulichen Dingen, welche die Menschen Mutter Natur zufügten, indem sie Wälder abholzten, Flüsse verseuchten, die Luft verpesteten und Tiere ausrotteten. »Und das alles in unserem eigenen Land!«, betonte er. »Ich rede nicht über Sachen, die irgendwo anders passieren. Das alles tun wir unserem eigenen Land an!« Die NSO kämpfte dafür, die Erde vor habgierigen, skrupellosen Menschen zu retten, die sich nicht um die Folgen ihres Handelns kümmerten. Ihre Mitarbeiter zogen durch das ganze Land und versuchten, die Bürger auf die Gefahren aufmerksam zu machen. Sie verteilten Flugblätter und Bücher über Umweltschutz. »Das Bewusstsein der Leute zu wecken, reic ht nicht«, erklärte R. V. »Es ist ein Anfang, aber wir müssen noch mehr tun. Wir müssen die Umweltverschmutzung und die Zerstörung der Landschaft aufhalten. Nehmt nur mal diese Gegend als Beispiel: Man wollte eine Autobahn mitten durch eine uralte Grabstätte bauen, einen Ort, wo vor Tausenden von Jahren Druiden ihre Toten bestattet haben. Stell dir das vor, Mann! Ein ganzes Kapitel unserer Geschichte auszulöschen, nur um die Fahrzeit der Autofahrer um zehn oder zwanzig Minuten zu verkürzen!« R. V. schüttelte bekümmert den Kopf. »Wir leben in einer verrückten Zeit, Mann«, seufzte er. »Was wir die sem Planeten alles antun ... In der Zukunft - falls wir überhaupt eine haben werden die Leute auf das zurückblicken, was wir angerichtet haben, und uns für hirnlose Barbaren halten.« Die Umwelt war offenbar sein Lieblingsthema, und nachdem wir ihm eine Weile zugehört hatten, überzeugte er auch Sam, Evra und mich. Ich hatte früher nie viel darüber nachgedacht, aber nach ein paar Stunden in R. V.'s Gesellschaft machte ich mir deswegen Vorwürfe. Wie R. V. sagte: Wer nicht nachdenkt und etwas unternimmt, kann sich auch nicht beklagen, wenn ihm später die Erde um die Ohren fliegt. Sein Lagerplatz sah sehr interessant aus. Die Umweltkämpfer - ungefähr zwanzig an der Zahl - schliefen in selbst gebauten Hütten aus Ästen, Blättern und Bü schen. Die meisten von ihnen waren genauso schmutzig und rochen ebenso schlecht wie R. V., aber sie waren fröhlich, gastfreundlich und großzügig. »Wie habt ihr den Bau der Straße verhindert?«, erkundigte sich Sam. »Wir haben die Strecke mit Tunnels unterhöhlt«, erklärte R. V. »Außerdem haben wir die Maschinen außer Kraft gesetzt, die sie geschickt haben. Und wir haben die Medien alarmiert. Diese Geldsäcke hassen es, wenn man eine Kamera auf sie richtet. Ein einziges Fernsehteam ist so wirkungsvoll wie zwanzig von uns.« Evra erkundigte sich, ob die Umweltaktivisten tatsächlich handgreiflich würden. R. V. erklärte uns, dass die NSO nicht an Gewalt glaube, aber wir konnten seinem Gesicht ansehen, dass er darüber nicht besonders glücklich war. »Wenn es nach mir ginge«, sagte er gedämpft, »würden wir genauso austeilen, wie wir einstecken müssen. Manchmal sind wir einfach zu freundlich. Mann, wenn ich was zu sagen hätte, dann würden wir die sen Weicheiern mal zeigen, was 'ne Harke ist!« 49
R. V. lud uns ein, zum Mittagessen zu bleiben. Das Es sen war nicht besonders gut - es gab kein Fleisch, aber Unmengen von Gemüse, Reis und Obst -, aber aus Höflichkeit aßen wir so viel, bis wir fast platzten. Es gab auch einen ganzen Berg gedünsteter Pilze, große, eigenartig gefärbte Dinger, aber R. V. erlaubte uns nicht von denen zu probieren. »Wenn du älter bist, Mann«, gluckste er. Kurz nach dem Essen brachen wir wieder auf. Die Mitglieder der NSO hatten noch Verschiedenes zu erledigen, und wir wollten niemandem im Weg sein. R. V. forderte uns auf, jederzeit wiederzukommen, meinte aber auch, dass die Truppe wahrscheinlich bald weiterziehen würde. »Den Kampf hier haben wir so gut wie gewonnen«, erklärte er. »Noch ein paar Tage, und wir brechen zu neuen Ufern auf. Die Schlachten kommen und gehen, Mann, aber der Krieg endet nie.« Wir winkten zum Abschied und machten uns auf den Heimweg. »Dieser R. V. ist wirklich ein ulkiger Typ«, meinte Sam. »Stellt euch das mal vor: Alles aufzugeben, um durch die Gegend zu ziehen und für Tiere und Pflanzen zu kämpfen.« »Er tut eben das, woran er glaubt«, sagte Evra. »Ich weiß«, erwiderte Sam. »Und ich bin froh darüber, dass er es tut. Wir brauchen Leute wie ihn. Schade, dass es nicht mehr davon gibt. Trotzdem ist es eine komische Art zu leben, oder? Man muss schon sehr entschlossen sein. Ich glaube nicht, dass ich das Zeug zu einem Umweltkämpfer hätte.« »Ich auch nicht«, stimmte ich zu. »Ich schon«, widersprach Evra. »Niema ls«, prustete ich. »Warum nicht?«, schmollte er. »Ich könnte mir meine Schlange schnappen, bei ihnen leben und Seite an Seite mit ihnen kämpfen.« »Könntest du nicht«, beharrte ich. »Warum nicht?«, fragte er. »Weil du nicht schlecht genug riechst!«, lachte ich. Evra schnitt mir eine Grimasse, aber dann grinste er. »Sie muffeln wirklich ziemlich, was?«, gab er zu. »Sie stinken schlimmer als meine Füße, wenn ich die Socken eine Woche lang nicht gewechselt habe!«, lachte Sam schallend. »Trotzdem«, sagte Evra ernst. »Ich kann mir eine Menge sinnloserer Beschäftigungen vorstellen, wenn ich erwachsen bin. Ich wäre gern wie R. V., wenn ich älter bin.« »Ich auch«, schloss Sam sich an. Ich zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich könnte ich mich dran gewöhnen«, stimmte ich zu. Wir waren bester Laune und unterhielten uns den ganzen Weg zum Zeltplatz über R. V. und die NSO. Keiner von uns ahnte, welchen Ärger der freundliche Umweltsoldat bald verursachen würde ... und schon gar nicht, welche Tragödie er, ohne es zu wollen, auslösen würde.
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Auch die nächsten Tage pausierte der Zirkus noch. Evra und ich hatten allerdings alle Hände voll zu tun, unseren Pflichten nachzukommen und die Kleinen Leute satt zu bekommen. Ich versuchte, mit dem einen oder anderen der blaugewandeten Wesen eine Unterhaltung anzufangen, aber keines von ihnen blickte auch nur auf, wenn ich es ansprach. Es war praktisch unmöglich, sie auseinander zu halten. Einer fiel auf, weil er - oder sie (oder es) - größer war als die anderen, ein anderer war kleiner, und ein dritter hinkte auf dem linken Bein. Aber alle übrigen glichen sich wie ein Ei dem anderen. Sam machte sich immer öfter im Lager nützlich. Auf die Jagd nahmen wir ihn zwar nicht mit, aber wir ließen ihn bei den meisten unserer anderen Tätigkeiten mithelfen. Er war ein unermüdlicher Arbeiter, wild entschlossen, uns zu beeindrucken und sich auf diese Weise eine feste Anstellung beim Cirque du Freak zu verdienen. Mr. Crepsley bekam ich kaum zu Gesicht. Er wusste, dass ich früh aufstehen musste, um für die Kleinen Leute auf die Pirsch zu gehen, also ließ er mich die meiste Zeit in Ruhe. Ich war ganz froh darüber, denn ich hatte keine Lust, meine Zeit mit ihm zu verbringen. Endlich, eines Morgens, stieß Cormac Der Vielgliedrige zu uns, was allgemeine Aufregung verursachte. »Du musst diesen Typen unbedingt sehen«, sagte Evra und zerrte mich hinter sich her. »Er ist der erstaunlichste Künstler aller Zeiten.« Als wir bei Meister Riesigs Wohnwagen ankamen (wo Cormac Der Vielgliedrige sich gerade beim Direktor zurückgemeldet hatte), drängte sich bereits eine große Menge Schaulustiger um den Ankömmling. Alle möglichen Leute klopften ihm auf die Schulter und fragten ihn, was er in der Zwischenzeit gemacht habe und wo er gewesen sei. Cormac Der Vielgliedrige lächelte freundlich in die Runde, schüttelte Hände und beantwortete geduldig Fragen. Er war vielleicht ein Star, aber er bildete sich nichts darauf ein. »Evra Von!«, rief er, als er den Schlangenjungen erblickte. Er streckte die Hand aus und zog Evra in seine Arme. »Wie geht's meinem zweibeinigen Lieblingsreptil?« »Prima«, erwiderte Evra. »Hast du dich in letzter Zeit gehäutet?«, erkundigte sich Cormac. »Ist schon länger her«, entgegnete Evra. »Denk dran«, ermahnte ihn Cormac. »Ich will die Haut haben, wenn es passiert. Sie ist wertvoll. In manchen Ländern ist menschliche Schlangenhaut mehr wert als pures Gold.« »Du kannst so viel davon kriegen, wie du willst«, versicherte Evra. Dann gab er mir einen Schubs. »Cormac, das hier ist Darren Shan, ein Freund von mir. Er ist neu beim Cirque du Freak und hat dich noch nie gesehen.« »Noch nie Cormac Den Vielgliedrigen gesehen?!«, donnerte der Neuankömmling in gespielter Empörung. »Wie ist so etwas möglich? Ich dachte, alle Welt hatte schon die Vorführungen des unübertrefflichen Cormac Des Vielgliedrigen besucht.« »Ich habe noch nicht einmal von Ihnen gehört«, ge stand ich. Er presste die Hand auf die Brust wie bei einem Herzanfall. »Worin besteht denn Ihre Vorführung?«, erkundigte ich mich hastig. Cormac blickte sich um. »Soll ich ihm eine Kostprobe verabreichen?« »O ja«, riefen alle begeistert. Cormac warf einen fragenden Blick zu Meister Riesig hinüber, der am Rand der Menge stand. Meister Riesig nickte seufzend. »Von mir aus«, sagte er. »Sie lassen dir ja sonst doch keine Ruhe.« Die Menge wich sofort zurück. Auch ich wollte Platz machen, aber Cormac legte mir die Hand auf die Schulter und forderte mich zum Bleiben auf. »Also«, wandte er sich an die Umstehenden. »Ich bin eine Ewigkeit unterwegs gewesen und zu müde, um das 51
ganze Programm durchzuziehen, daher machen wir's kurz.« Er ballte die rechte Hand zur Faust, streckte dann aber den Zeigefinger aus. »Darren, würdest du bitte diesen Finger in den Mund nehmen?«, bat er. Ich blickte mich unsicher nach Evra um, der nur ein Zeichen gab zu gehorchen. »Jetzt«, fuhr Cormac fort, »beiß zu.« Vorsichtig biss ich in den Finger. »Fester«, sagte Cormac. Ich biss ein wenig kräftiger. »Na los, Junge«, rief Cormac. »Nicht so lasch. Streng deine Kiefermuskeln an. Bist du ein Haifisch oder ein Mäuschen?« Okay. Wenn er es unbedingt so haben wollte - ich konnte auch fester zubeißen. Ich öffnete den Mund und ließ die Kiefer sofort wieder zuschnappen, um ihm einen richtigen Schock zu versetzen. Stattdessen bekam ich einen gehörigen Schock, denn ich biss den Finger glatt durch und trennte ihn ab! Zu Tode erschrocken taumelte ich zurück und spuckte das Fleisch aus. Mein Blick traf Cormac. Ich erwartete, dass er vor Schmerz schreien würde, aber er lachte nur und reckte die Hand in die Höhe. Dort, wo ich den Finger abgebissen hatte, war kein Blut zu sehen, sondern nur ein weißer, gezackter Stumpf. Während ich noch darauf starrte, geschah etwas Unglaubliches: Der Finger begann nachzuwachsen! Erst hielt ich es für eine Sinnestäuschung, aber die Sekunden verstrichen, und der Finger hatte bald wieder seine volle Länge erreicht. Cormac hielt ihn noch einige Sekunden länger ganz steif, dann knickte er ihn ein und streckte ihn wieder, um zu zeigen, dass er so gut wie neu war. Die Menge jubelte, und mein Puls verlangsamte sich. Ich senkte den Blick auf den Boden, betrachtete den ausgespuckten Finger und sah, dass er bereits zerfiel. Nach einer Minute war nur noch ein Häufchen grauer Schimmel davon übrig. »Tut mir Leid, wenn ich dich erschreckt habe«, entschuldigte sich Cormac und tätschelte mir freundschaftlich den Kopf. »Schon in Ordnung«, versicherte ich. »Ich hätte inzwischen wissen müssen, dass hier bei euch alles möglich ist. Darf ich den neuen Finger mal anfassen?« Cormac nickte. Der Finger fühlte sich nicht anders an als die übrigen. »Wie machen Sie das?«, fragte ich verblüfft. »Ist es ein Trick?« »Kein Trick«, verneinte er. »Deswegen nennt man mich ja Cormac Den Vielgliedrigen. Ich konnte mir schon als Säugling jederzeit neue Gliedmaßen wachsen lassen: Finger, Zehen, Arme, Beine. Meine Eltern entdeckten mein Talent, als ich mit einem Küchenmesser spielte und mir aus Versehen die Nasenspitze absäbelte. Ich kann jeden Teil meines Körpers durch bloße Willenskraft erneuern. Außer meinen Kopf. Den abzuschneiden, habe ich mich dann doch nicht getraut. Man soll das Schicksal schließlich nicht herausfordern.« »Tut das denn nicht weh?«, fragte ich. »Ein bisschen«, gab er zu, »aber nicht sehr. Wenn eine meiner Gliedmaßen abgetrennt wird, fängt die neue fast augenblicklich an nachzuwachsen, deshalb dauert der Schmerz höchstens ein oder zwei Sekunden. Es ist so ähnlich wie ...« »Das reicht!«, bellte Meister Riesig. »Uns bleibt jetzt keine Zeit für ausführliche Erläuterungen. Wir haben schon viel zu lange die Hände in den Schoß gelegt. Wir müssen uns dem Publikum endlich wieder in Erinnerung bringen, bevor man uns vergisst oder glaubt, wir hätten dichtgemacht.« »Also, Leute«, rief er der Menge zu und klatschte in die Hände. »Sagt es allen weiter: Schluss mit dem Faulenzen! Die Show geht weiter - heute Abend!«
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Den ganzen Nachmittag summte das Lager vor Geschäftigkeit. Die Leute rannten herum wie aufgescheuchte Ameisen. Die meisten waren damit beschäftigt, das große Zirkuszelt aufzubauen. Ich sah es zum ersten Mal. Als es fertig dastand, war es ein eindrucksvoller Anblick: hoch, rund und rot, mit Bildern der Artisten bemalt. Auch Evra und ich mussten mithelfen: Wir hämmerten Pflöcke in die Erde, um das Zelt zu befestigen, stellten die Sitze im Inneren auf und bereiteten die Requisiten der Künstler vor (wir mussten Konservenbüchsen, Muttern und Schrauben für Willi Wunderwanst zu sammensuchen, helfen, den Käfig des Wolfsmenschen ins Zelt zu ziehen und so weiter). Es war ein gewaltiges Unterfangen, aber es schritt mit unglaublicher Geschwindigkeit voran. Jeder kannte seinen Platz und seine Aufgabe ganz genau, und so ge riet im Verlauf des Tages niemand wirklich ins Schwitzen. Jeder war Teil des Teams, und alles lief reibungs los ab. Sam tauchte am frühen Nachmittag auf. Ich hätte ihn mit Hand anlegen lassen, aber Evra meinte, er stehe nur im Weg, deshalb schickten wir ihn wieder nach Hause, um seine Sachen zu packen. Er war verärgert und trabte schmollend davon, wobei er eine leere Konservenbüchse mit dem Fuß vor sich herkickte. Er tat mir Leid, aber mir fiel ein, wie ich ihn aufheitern konnte. »Sam! Warte mal eben!«, rief ich. »Bin gleich zurück«, entschuldigte ich mich bei Evra, dann rannte ich zu Meister Riesigs Wohnwagen. Ich brauchte nur einmal zu klopfen, und schon öffnete sich die Tür. Meister Riesig ragte vor mir auf, und bevor ich noch den Mund aufmachen konnte, hielt er mir zwei Eintrittskarten für den Cirque du Freak entgegen. Ich starrte erst auf die Karten, dann auf Meister Riesig. »Woher wussten Sie ...« »Ich habe so meine Methoden«, erwiderte er lächelnd. »Aber ich habe kein Geld«, gestand ich. »Ich ziehe es dir vom Lohn ab«, sagte er. Ich runzelte die Stirn. »Ich bekomme doch gar keinen Lohn.« Er lächelte noch breiter. »Genau deshalb!« Er drückte mir die Karten in die Hand und schlug mir die Tür vor der Nase zu, bevor ich mich bedanken konnte. Ich flitzte zu Sam zurück und hielt ihm die Karten unter die Nase. »Was ist das?«, fragte er erstaunt. »Karten für die Abendvorstellung«, erklärte ich. »Eine für dich und eine für R. V.« »Super!« Sam stopfte die Karten hastig in die Tasche, als befürchtete er, der Wind könnte sie wegpusten oder sie könnten sich plötzlich in Luft auflösen. »Danke, Darren.« »Keine Ursache«, wehrte ich ab. »Die Vorstellung beginnt allerdings sehr spät, abends um elf, und ist erst am frühen Morgen zu Ende. Kriegst du das hin?« »Klar«, beteuerte Sam. »Ich schleiche mich einfach raus. Mama und Papa gehen jeden Abend um halb zehn ins Bett. Sie sind Frühaufsteher.« »Wenn sie dich erwischen, darfst du auf keinen Fall verraten, wo du hinwolltest«, schärfte ich ihm ein. »Ich schweige wie ein Grab«, schwor er. Dann rannte er los, um R. V. zu suchen. Außer einem schnellen Abendessen gab es vor Be ginn der Vorstellung keine Pause mehr. Während Evra seine Schlange bürsten ging, befestigte ich die Kerzen im Zirkuszelt. Außerdem mussten noch fünf riesige Kronleuchter aufgehängt werden: vier davon über dem Publikum und einer über der Bühne, aber darum kümmerten sich die Kleinen Leute. Mags - eine der hübschen Damen, die in den Pausen Andenken und Süßigkeiten verkauften, bat mich, ihr beim Beladen der Tabletts zu helfen, und so brachte ich eine Stunde damit zu, Karamellspinnweben, essbare »Glas«-Figuren und Büschel vom Pelz des Wolfsmannes aufzustapeln. Es gab auch etwas Neues, das ich noch nicht kannte: ein kleines Modell von Cormac Dem Vielgliedrigen. Wenn man ein Stück davon abschnitt, wuchs an genau der 53
Stelle ein neues. Ich fragte Mags, wie es funktionierte, aber sie wusste es auch nicht. »Das ist mal wieder eine von Meister Riesigs Erfindungen«, erklärte sie. »Das meiste von diesem Zeug hat er selbst gebastelt.« Ich hackte der Puppe den Kopf ab und spähte in ihren Hals, um zu sehen, ob darin ein Mechanismus verborgen war, aber der Kopf wuchs nach, ehe ich etwas erkennen konnte. »Die Dinger halten nicht lange«, meinte Mags. »Nach ein paar Monaten zerfallen sie von selbst.« »Verraten Sie das den Leuten, wenn sie eine kaufen?«, fragte ich. »Natürlich«, erwiderte sie. »Meis ter Riesig besteht darauf, dass die Kunden genau wissen, wofür sie ihr Geld ausgeben. Er will niemanden übers Ohr hauen.« Eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung schickte Mr. Crepsley nach mir. Als ich seinen Wohnwagen betrat, legte er gerade sein Kostüm an. »Erst putzt du Madame Octas Käfig blitzblank«, befahl er, »dann bürstest du deinen Anzug und machst dich frisch.« »Warum?«, fragte ich. »Du kommst heute mit mir auf die Bühne«, erklärte er. Ich riss die Augen auf und schnappte nach Luft. »Meinen Sie etwa, dass ich bei der Nummer eine Rolle übernehmen soll?« »Eine kleine«, antwortete er. »Du darfst den Käfig auf die Bühne tragen und auf der Flöte spielen, wenn Madame Octa ihr Netz über meinen Mund webt.« »Aber das macht doch sonst immer Meister Riesig.« »Normalerweise schon«, bestätigte Mr. Crepsley, »aber heute sind wir ein bisschen unterbesetzt, deshalb wird er selbst eine Nummer vorführen. Außerdem bist du besser geeignet, mir zu assistieren, als er.« »Wieso?«, stieß ich erstaunt hervor. »Du wirkst gruseliger«, erklärte er. »Mit deinem bleichen Gesicht, den blauen Haaren und diesem grässlichen Anzug siehst du aus wie direkt aus einem Horrorfilm entsprungen.« Ich erschrak. Über mein Aussehen hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht! Ich blickte in einen Spiegel und musste feststellen, das ich tatsächlich ein bisschen unheimlich wirkte. Ich war tatsächlich unnatürlich bleich, und der schmutzige Anzug verstärkte die gespenstische Wirkung noch. Ich nahm mir fest vor, mir am nächsten Morgen etwas anderes zum Anziehen zu beschaffen. Die Vorstellung begann pünktlich um elf Uhr abends. Ich hatte keinen großen Andrang erwartet - schließlich gastierten wir mitten in der Pampa und hatten kaum Zeit für eine Vorankündigung gehabt -, aber das Zelt war rappelvoll. »Wo kommen die bloß alle her?«, zischte ich Evra zu, während wir zusahen, wie Meister Riesig den Wolfsmenschen präsentierte. »Von überall«, antwortete Evra gedämpft. »Irgendwie erfahren die Leute immer, wann wir auftreten. Außerdem hat uns Meister Riesig zwar erst gestern von der heutigen Vorstellung erzählt, aber ich nehme an, er hat sie schon die ganze Zeit geplant, seit wir hier unser La ger aufgeschlagen haben.« Ich verfolgte die Vorstellung aus den Kulissen und genoss sie sogar noch mehr als beim ersten Mal, weil ich inzwischen alle Beteiligten kennen gelernt hatte und mich als Teil der Artistenfamilie fühlte. Nach dem Wolfsmann trat Hans Hände auf, gefolgt von Willi Wunderwanst. Dann gab es die erste Pause, nach der Meister Riesig die Bühne erklomm und von einer Ecke in die andere sprang, wobei er sich aber nicht zu bewegen schien, sondern einfach von einer Stelle verschwand und an einer anderen wieder auftauchte. Danach kam Truska, und schließlich war ich an der Reihe, zusammen mit Mr. Crepsley und Madame Octa die Bühne zu betreten. Die Scheinwerfer wurden abgeblendet, aber mit Hilfe meines geschärften Sehvermögens gelang es mir, die Gesichter von Sam und R. V. in der Menge zu erspähen. Sie waren verblüfft, mich plötzlich auf der Bühne zu erblicken, aber sie klatschten am lautesten von allen. Mr. Crepsley hatte mir befohlen, absichtlich elend und bedrückt dreinzuschauen, um das Publikum zu beeindrucken. Solange Mr. Crepsley seine kleine Ansprache über Madame Octas Giftigkeit hielt, trat ich zur Seite und öffnete die Tür des Käfigs erst, nachdem ein Helfer die Ziege auf die Bühne geführt hatte. Im Publikum stieß jemand ein lautes, wütendes Zischen aus, als Madame Octa der Ziege 54
den Garaus machte ... es kam von R. V. Ich hatte schon geahnt, dass ich ihn besser nicht eingeladen hätte. Doch ich hatte ganz vergessen, wie tierlieb er war, und jetzt war es zu spät, meine Einladung zurückzuziehen. Ich war ein bisschen nervös, als ich dran war, Flöte zu spielen und Madame Octa zu kontrollieren, und spürte, dass alle Augen im Zelt auf mich gerichtet waren. Ich war noch nie vor Publikum aufgetreten, und einen Augenblick lang befürchtete ich, meine Lippen würden mir nicht mehr gehorchen oder ich hätte die Melodie vergessen. Aber als ich erst einmal angefangen hatte, zu spielen und Madame Octa meine Gedanken zu übermitteln, kam ich in Schwung. Während Madame Octa ihr Netz über Mr. Crepsleys Mund spann, durchfuhr mich blitzartig die Erkenntnis, dass jetzt die ideale Gelegenheit war, ihn loszu werden. Ich konnte Madame Octa befehlen, ihn zu beißen. Der Gedanke traf mich wie ein Keulenschlag. Ich hatte schon früher erwogen, Mr. Crepsley umzubringen, aber niemals im Ernst, und seit wir uns dem Zirkus angeschlossen hatten, gar nicht mehr. Aber jetzt stand er da, und sein Leben lag in meinen Händen. Es bedurfte nur eines kleinen »Ausrutschers« - ich konnte ja später behaupten, dass es sich um ein Missgeschick gehandelt habe. Niemand hätte mir etwas nachweisen können. Ich beobachtete, wie die Spinne vor und zurück krabbelte, wie ihre Giftzähne im Schein des Kronleuchters glitzerten. Plötzlich kam mir das Kerzenlicht unerträglich heiß vor. Ich schwitzte wie ein Schwein. Mir fiel ein, dass ich meine vom Schweiß rutschigen Finger als Ursache dafür angeben konnte, dass mir die Flöte entglitten war. Kreuz und quer über Mr. Crepsleys Mund webte Madame Octa ihr Netz. Seine Arme hingen locker herab. Er würde sich nicht rasch genug wehren können. Ein falscher Flötenton genügte. Ein falsches Pfeifen, das den Gedankenstrom zwischen Madame Octa und mir unterbrach, und dann ... Ich tat es nicht. Ich spielte meine Melodie sicher und perfekt. Ich wusste selbst nicht genau, warum ich den Vampir verschonte. Vielleicht, weil Meister Riesig bestimmt herausfinden würde, dass ich meinen Lehrer absichtlich umgebracht hatte. Vielleicht, weil nur Mr. Crepsley mir vermitteln konnte, als Halbvampir zu überleben. Vielleicht aber auch, weil ich einfach nicht zum Mörder werden wollte. Möglicherweise fing ich aber auch an, den Vampir zu mögen. Immerhin hatte er mich zum Cirque du Freak gebracht und ließ mich bei seiner Vorführung mitwir ken. Ohne ihn hätte ich niemals Evra und Sam getroffen. Er war nett zu mir gewesen, so nett, wie er eben konnte. Wie auch immer, ich befahl Madame Octa nicht, ihren Herrn und Meister zu töten, und am Ende der Nummer verbeugten Mr. Crepsley und ich uns und verließen gemeinsam die Bühne. »Du hast überlegt, ob du mich umbringen sollst«, bemerkte Mr. Crepsley leise, als wir uns wieder hinter der Bühne befanden, »Wie bitte?« Ich stellte mich dumm. »Du weißt genau, was ich meine«, erwiderte er. Dann machte er eine Pause. »Es hätte nicht geklappt. Ich habe vor unserem Auftritt einen Großteil des Giftes aus Madame Octas Zähnen gemolken. Den Rest hat sie verbrauc ht, als sie die Ziege tötete.« »Wollten Sie mich auf die Probe stellen?« Ich starrte ihn an, und wieder stieg Hass in mir hoch. »Ich dachte, Sie wollten mir eine Freude machen, indem Sie mich auftreten ließen!«, rief ich. »Und dabei war es bloß ein blöder Test!« Mr. Crepsleys Gesicht war sehr ernst. »Ich musste es tun«, sagte er. »Ich muss wissen, ob ich mich auf dich verlassen kann.« »Hören Sie zu«, knurrte ich und stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihm auf gleicher Höhe in die Augen blicken zu können. »Ihr Test ist wertlos. Diesmal habe ich Sie nicht getötet, aber die nächste Gelegenheit werde ich mir sicher nicht entgehen lassen!« Ohne ein weiteres Wort stürmte ich wütend hinaus, zu aufgeregt, um noch die Nummer von Cormac Dem Vielgliedrigen oder den Schluss der Show zu verfolgen. Ich fühlte mich betrogen, obwohl ich tief in meinem Inneren wusste, dass Mr. Crepsley Recht hatte.
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Am nächsten Morgen war ich immer noch völlig durcheinander. Evra fragte mich, was mit mir los sei, aber ich zog es vor zu schweigen. Ich wollte ihm nicht erzählen, dass ich ernsthaft überlegt hatte, Mr. Crepsley umzubringen. Evra erzählte, dass er nach der Vorstellung Sam und R. V. getroffen habe. »Sam fand es klasse«, berichtete er, »besonders Cormac Den Vielgliedrigen. Du hättest dableiben und ihn dir anschauen sollen. Als er sich die Beine absägte ...« »Ich sehe nächstes Mal zu«, unterbrach ich ihn. »Und wie hat es R. V. gefallen?« Evra runzelte die Stirn. »Er war nicht begeistert.« »Wegen der Ziege?«, fragte ich. »Ja«, bestätigte Evra, »aber nicht nur deswegen. Ich habe ihm versichert, das wir die Ziege einem Schlachter abgekauft hätten und sie sowieso gestorben wäre. Aber er hat sich vor allem über den Wolfsmann, die Schlange und Mr. Crepsleys Spinne aufgeregt.« »Was war denn mit denen nicht in Ordnung?«, wunderte ich mich. »Er befürchtet, dass wir sie nicht gut behandeln. Es ge fiel ihm nicht, dass sie eingesperrt sind. Ich habe ihm erzählt, dass es nicht stimmt, außer bei der Spinne, und dass der Wolfsmann hinter der Bü hne so zahm ist wie ein Lämmchen. Ich habe ihm meine Schlange gezeigt und sogar erwähnt, dass sie bei mir im Wagen schläft.« »Hat er dir das mit dem Wolfsmann abgekauft?«, wollte ich wissen. »Glaub schon«, meinte Evra. »Obwohl er beim Ab schied immer noch misstrauisch zu sein schien. Und er interessierte sich sehr für ihre Fressgewohnheiten. Er hat mich ausgefragt, wie oft und womit wir sie füttern und wo wir das Futter herbekommen. Mit R. V. müssen wir aufpassen. Er könnte uns Schwierigkeiten ma chen. Gott sei Dank zieht er bald weiter, aber bis dahin: Vorsicht!« Der Tag verging ohne weitere Zwischenfälle. Sam tauchte erst am späten Nachmittag auf, und keiner von uns war zum Spielen aufgelegt. Der Himmel war grau und bedeckt, und wir waren alle ziemlich erledigt. Sam blieb noch eine halbe Stunde, dann trabte er wieder heim. Nach Sonnenuntergang zitierte mich Mr. Crepsley in sein Zelt. Erst wollte ich nicht hingehen, fand dann aber, dass es besser sei, ihn nicht zu sehr zu verärgern. Trotz allem war er mein Vormund und hätte sicher die Befugnis gehabt, mich aus dem Cirque du Freak hinauszuwerfen. »Was wollen Sie?«, murrte ich, als ich eintrat. »Komm hierher, damit ich dich besser sehen kann«, befahl er. Mit seinen knochigen Fingern bog er mir den Kopf zurück und zog meine Augenlider hoch, um das Weiß meiner Augäpfel zu betrachten. Er hieß mich den Mund öffnen und spähte mir in den Rachen. Dann überprüfte er meinen Puls und meine Reflexe. »Wie fühlst du dich?«, fragte er. »Müde«, erwiderte ich. »Schwach?«, bohrte er weiter. »Ist dir übel?« »Ein bisschen.« Er knurrte. »Hast du in letzter Zeit viel Blut getrunken?«, ließ er nicht locker. »So viel, wie Sie angeordnet haben«, bestätigte ich. »Aber kein Menschenblut?« »Nein«, murmelte ich. »Gut«, sagte er. »Zieh dich an. Wir gehen aus.« »Auf die Jagd?«, erkundigte ich mich. Mr. Crepsley schüttelte den Kopf. »Wir besuchen einen Freund.« Vor dem Zelt sprang ich wieder einmal auf seinen Rücken, und er begann zu rennen. Sobald wir außer Sichtweite des Lagers waren, huschte er los, und die Welt um uns herum verschwamm. Ich nahm kaum Notiz von meiner Umgebung. Meine Gedanken kreisten um meinen Anzug. Ich hatte vergessen, mir neue Kleider zu beschaffen, und je einge hender ich meinen Anzug betrachtete, desto schlimmer sah er aus. Er wies Dutzende von kleinen Löchern und Rissen auf, und die Farbe war durch all den Schmutz 56
und Staub einen Grauton dunkler als ursprünglich. Lose Fäden hingen herab, und jedes Mal, wenn ich einen Arm oder ein Bein bewegte, schien ich mich dabei zu mausern. Ich hatte mich nie viel um Kleidung gekümmert, aber wie ein Penner wollte ich trotzdem nicht aussehen. Am folgenden Tag würde ich ganz bestimmt etwas Neues zum Anziehen auftreiben. Wie oft hatte ich mir das nun schon vorgenommen! Nach einer Weile erreichten wir eine Stadt, und Mr. Crepsley verlangsamte das Tempo. Vor einem hohen Gebäude machte er Halt. Ich wollte fragen, wo wir uns befanden, aber er legte den Finger auf die Lippen und gebot mir zu schweigen. Der Hintereingang war verschlossen, aber Mr. Crepsley legte eine Hand auf den Riegel und schnipste mit den Fingern der anderen Hand. Sofort öffnete sich die Tür. Ich folgte meinem Lehrer durch einen langen Korridor die Treppe hinauf in eine hell erleuchtete Eingangshalle. Nach wenigen Metern kamen wir zu einem weißen Tisch. Mr. Crepsley schaute sich prüfend nach allen Seiten um und drückte dann auf einen an der Wand angebrachten Klingelknopf. Hinter einer Glasscheibe auf der anderen Seite des Tisches erschien eine Gestalt. Eine Tür in der Scheibe öffnete sich, und ein Mann mit rotbraunem Haar, der einen weißen Anzug und einen grünen Mundschutz trug, kam heraus. Er sah aus wie ein Arzt. »Wie darf ich ...«, begann er, unterbrach sich aber. »Larten Crepsley! Was zum Donnerwetter machst du denn hier, du alter Teufel?« Der Mann zog das Stofftuch herunter, und ich sah, dass er grinste. »Hallo, Jimmy«, grüßte Mr. Crepsley. Sie schüttelten sich lächelnd die Hand. »Lange nicht gesehen.« »Nicht so lang, wie ich befürchtet hatte«, meinte der Mann, der offensichtlich Jimmy hieß. »Ich hörte, es hätte dich erwischt. Irgendeiner deiner Erzfeinde hätte dir schließlich doch noch einen Pfahl in dein schwarzes Herz gerammt, oder so ähnlich.« »Man soll nie alles glauben, was einem zu Ohren kommt«, bemerkte Mr. Crepsley, Er legte mir die Hand auf die Schulter und schob mich nach vorn. »Jimmy, das hier ist Darren Shan, mein Reisegefährte. Darren, das ist Jimmy Ovo, ein alter Freund von mir und der beste Gerichtsmediziner der Welt.« »Hallo«, sagte ich. »Nett, dich kennen zu lernen«, gab Jimmy zurück und schüttelte mir die Hand. »Du bist nicht etwa auch ... ich meine, gehörst du zum Club?« »Er ist ein Vampir«, bestätigte Mr. Crepsley. »Bloß zur Hälfte«, fauchte ich. »Ich bin kein vollwertiger Vampir.« »Bitte.« Jimmy zuckte zusammen. »Nicht dieses Wort. Ich weiß, wer ihr seid, und es macht mir nichts aus, aber wenn ich dieses >V<-Wort höre, kriege ich jedes Mal eine Gänsehaut.« Er schauderte gespielt. »Ich glaube, das liegt an den vielen Horrorfilmen, die ich als Kind gesehen habe. Ich weiß ja, dass ihr anders seid als die Kinomonster, aber es ist schwer, dieses Vorurteil loszuwerden.« »Was macht ein Gerichtsmediziner?«, erkundigte ich mich. »Ich schneide Leichen auf, um zu sehen, woran sie ge storben sind«, erklärte Jimmy. »Das mache ich nicht mit jedem, nur mit solchen Menschen, die unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen sind.« »Wir befinden uns hier im städtischen Leichenhaus«, fügte Mr. Crepsley hinzu. »Hier werden Leute aufbewahrt, die schon auf der Fahrt ins Krankenhaus sterben oder während ihres Aufenthaltes dort.« »Sind die da drin?«, fragte ich Jimmy und zeigte auf den Raum hinter der Glaswand. »Jawohl«, bestätigte er munter. Er klappte die Tischplatte hoch und winkte uns durch. Ich war nervös. Ich erwartete Dutzende von Tischen zu sehen, auf jedem einzelnen Stapel von aufgeschlitzten Leichen. Aber so war es nicht. Es gab nur einen einzigen Toten, und der war von Kopf bis Fuß mit einem langen Tuch verhüllt, weitere Leichen konnte ich nicht entdecken. Abgesehen davon war es einfach ein riesiger, hell erleuchteter Raum mit großen Aktenschränken an den Wänden und einer Menge medizinischer Gerätschaften überall. »Wie läuft das Geschäft?«, erkundigte sich Mr. Crepsley, nachdem wir uns auf drei Stühlen neben dem Tisch mit der Leiche niedergelassen hatte. Jimmy und Mr. Crepsley nahmen überhaupt keine Notiz von dem To ten, und da ich nicht auffallen wollte, machte ich es ebenso. 57
»Ziemlich zäh«, seufzte Jimmy. »Wir hatten fast immer gutes Wetter, und es gab kaum
Verkehrsunfälle. Keine exotischen Seuchen, keine Lebensmittelvergiftungen, keine
Erdbeben. Ach übrigens«, setzte er hinzu, »vor ein paar Jahren hat ein alter Freund von dir
hereingeschaut.«
»Ach ja?«, fragte Mr. Crepsley höflich. »Wer denn?« Jimmy zog geräuschvoll die Luft
durch die Nase und räusperte sich.
»Gavner Purl?« Mr. Crepsley stieß vor Begeisterung einen Pfiff aus. »Wie geht's dem alten
Schweinehund - ist er immer noch so fett wie früher?« Sie fingen an, sich über ihren
gemeinsamen Bekannten zu unterhalten. Währenddessen sah ich mich neugierig um und
überlegte, wo wohl die anderen Leichen aufbewahrt wurden. Als sie ihr Gespräch endlich
kurz unterbrachen, fragte ich Jimmy danach. Er erhob sich und forderte mich auf, ihm zu
folgen. Er ging zu einem der großen Aktenschränke und zog eine Schublade auf. Ein
zischendes Geräusch ertönte, und aus der Schublade stieg eine eisige Nebelwolke empor. Als
sie sich verzogen hatte, erkannte ich eine in ein Laken gehüllte Gestalt, und mir wurde klar,
dass es sich bei den Dingern keineswegs um Aktenschränke handelte. Es waren
Gefrierschränke!
»Hier lagern wir die Leichen, bis wir uns um sie kümmern können«, erläuterte Jimmy. »Oder
bis ihre Verwandten vorbeikommen, um sie abzuholen.« Ich drehte mich einmal um mich
selbst und zählte rasch die Schubladenreihen. »Liegt in jeder Schublade ein Toter?«, fragte
ich.
Jimmy schüttelte den Kopf. »Zur Zeit haben wir nur sechs Gäste, den Herrn auf dem Tisch
nicht mitgezählt. Wie gesagt, es ist ziemlich ruhig. Allerdings ist unser Etablissement selbst
in Stoßzeiten nicht ausgelastet. Ganz selten sind wir einmal zur Hälfte belegt. Wir sind bloß
gern auf das Schlimmste vorbereitet.« »Irgendwelche frischen Leichen?«, erkundigte sich
Mr. Crepsley.
»Einen Augenblick, ich seh mal nach«, sagte Jimmy. Er holte ein großes Buch und blätterte
ein paar Seiten um. »Hier haben wir einen etwa dreißig Jahre alten Mann«, verkündete er
dann. »Ist erst vor acht Stunden bei einem Autounfall ums Leben gekommen.« »Nichts
Frischeres?«, nörgelte Mr. Crepsley. »Ich fürchte, nein«, gab Jimmy zurück. Mr. Crepsley
seufzte. »Dann nehmen wir eben ihn.«
»Einen Augenblick mal«, mischte ich mich ein. »Sie wollen doch nicht etwa einen Toten
aussaugen, oder?« »Nein«, beschwichtigte Mr. Crepsley. Er griff in seinen Umhang und zog
ein paar von den Glasfläschchen hervor, in denen er seinen Notvorrat an Menschenblut
aufbewahrte. »Ich will nur nachfüllen.« Ich schnappte nach Luft. »Das können Sie doch
nicht tun!«
»Warum nicht?«, fragte er.
»Es ist nicht rechtens. Es ist nicht fair, einem Toten Blut abzuzapfen. Außerdem ist sein
Blut bestimmt schon sauer.«
»Es schmeckt wahrscheinlich nicht mehr besonders gut«, gab Mr. Crepsley zu, »aber für die
Flaschenabfüllung taugt es noch. Dennoch muss ich dir widersprechen: Ein Toter ist die
ideale Person zum Aussaugen, schließlich hat er selbst für sein Blut keine Verwendung
mehr. Um alle diese Flaschen nachzufüllen, braucht man ziemlich viel Blut. Zu viel für
einen Le benden.«
»Nicht, wenn Sie mehreren Personen kleine Mengen entnehmen«, protestierte ich.
»Stimmt«, erwiderte er. »Aber das erfordert Zeit und Mühe und ist immer ein Risiko. Auf
diese Art und Weise ist es viel einfacher.«
»Darren redet gar nicht wie ein Vampir«, warf Jimmy ein.
»Er ist noch in der Ausbildung«, brummte Mr. Crepsley. »Zeig uns jetzt bitte die Leiche.
Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.«
Ich wusste, dass jeder Widerspruch zwecklos war, deshalb hielt ich den Mund und folgte den
beiden.
Jimmy zog eine Schublade mit dem Körper eines großen, blonden Mannes heraus und
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schlug das Laken zurück. Über den Kopf des Toten verlief eine böse Schramme, und seine Haut war ungewöhnlich blass, abgesehen davon sah er aus, als schliefe er nur. Mr. Crepsley machte einen langen, tiefen Schnitt in die Brust des Mannes und legte das Herz frei. Er reihte die Flaschen neben der Leiche auf, holte einen Schlauch hervor und steckte das eine Ende in die erste Flasche. Das andere Ende bohrte er in das Herz des Mannes, umschloss den Schlauch dann mit der Faust und drückte ihn zusammen wie eine Pumpe. Ganz langsam floss das Blut den Schlauch entlang und in die Flasche. Als diese fast voll war, zog Mr. Crepsley den Schlauch heraus und stöpselte sie mit einem Korken zu. Er steckte die Schlauchmündung in die zweite Flasche und begann diese aufzufüllen. Die erste Flasche setzte er an den Mund, nahm einen kräftigen Schluck und prüfte das Blut mit der Zunge wie ein Weinkenner. »Gut«, grunzte er zufrieden. »Es ist in Ordnung. Wir können es verwenden.« Er füllte alle acht Flaschen und drehte sich dann mit ernstem Gesicht nach mir um. »Darren«, sagte er nur. »Nein«, erwiderte ich, wie aus der Pistole geschossen. »Nun komm schon, Darren«, brummte er. »Dieser Mann ist mausetot. Sein Blut nützt ihm nichts mehr.« »Ich kann nicht«, wehrte ich ab. »Nicht aus einer Leiche.« »Aber aus lebendigen Menschen zu trinken, weigerst du dich genauso!«, explodierte Mr. Crepsley. »Du musst endlich Menschenblut zu dir nehmen! Das hier ist die beste Gelegenheit, damit anzufangen!« »Hmmm, hört mal zu, Leute«, räusperte sich Jimmy. »Wenn ihr jetzt richtig saugen wollt, sollte ich wohl lieber raus...« »Klappe!«, bellte Mr. Crepsley. Seine Augen durchbohrten mich. »Du musst trinken«, erklärte er bestimmt. »Du bist ein Vampirgehilfe. Es wird Zeit, dass du dich auch wie einer benimmst.« »Nicht heute Nacht«, bettelte ich. »Ein andermal. Wenn wir auf die Jagd gehen. Aus einem Lebenden. Ich kann nicht aus einer Leiche trinken. Das ist zu eklig.« Mr. Crepsley schüttelte seufzend den Kopf. »Eines Nachts wird dir aufgehen, wie dumm du gewesen bist«, sagte er. »Ich kann nur hoffen, dass es dann nicht zu spät für dich ist.« Mr. Crepsley bedankte sich bei Jimmy Ovo für seine Hilfe, und die beiden vertieften sich wieder in ihre Unterhaltung über alte Zeiten und gemeinsame Bekannte. Währenddessen hockte ich allein auf einem Stuhl und fühlte mich hundeelend. Nachdem das Gespräch beendet war, gingen wir die Treppe wieder hinunter. Jimmy begleitete uns und winkte zum Abschied. Er war ein netter Mann, und ich bedauerte es, ihn unter derartig düsteren Umständen kennen gelernt zu haben. Den ganzen Heimweg über sprach Mr. Crepsley kein Wort, und als wir am Cirque du Freak angekommen waren, gab er mir einen wütenden Schubs und deutete mit dem Zeigefinger auf mich. »Wenn du stirbst«, verkündete er, »ist es nicht meine Schuld.« »Okay«, gab ich zurück. »Dummer Junge«, knurrte er. Dann stürmte er zu dem Zelt mit seinem Sarg. Ich blieb noch eine Weile draußen und beobachtete den Sonnenaufgang. Ich dachte viel über meine Lage nach. Ein Halbvampir, der sich weigerte, Blut zu trinken: Kein schlechter Witz, wenn es nicht tödlicher Ernst gewesen wäre. Was sollte ich tun? Die Frage hielt mich noch lange nach Anbruch der Morgendämmerung wach. Meine Grundsätze über Bord werfen und Menschenblut trinken? Oder meinen menschlichen Idealen treu bleiben und ... sterben?
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Ich blieb fast den ganzen Tag in meinem Zelt und verließ es nicht einmal, um Sam hallo zu sagen, als er vorbeikam. Mir ging es so schlecht wie noch nie. Ich hatte das Gefühl, nirgendwo mehr dazuzugehören. Ich war kein Mensch mehr und würde nie ein richtiger Vampir werden. In dieser Nacht schlief ich ausgiebig und fühlte mich am nächsten Tag etwas besser. Die Sonne schien, und obwohl ich wusste, dass meine Probleme sich keineswegs in Luft aufgelöst hatten, konnte ich sie erst einmal vergessen und mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Evras Schlange war krank. Sie hatte sich irgendwo einen Virus eingefangen, und Evra musste bei ihr bleiben und sich um sie kümmern. Als Sam aufkreuzte, beschlossen wir, endlich zu dem alten Bahnhof zu gehen. Evra war nicht sauer, dass er dableiben musste. Er würde eben ein anderes Mal mit kommen. Der Bahnhof war echt cool. Es gab einen großen, kreis förmigen Platz, der mit geborstenen Steinen gepflastert war, ein dreistöckiges Gebäude, das als Wärterhaus ge dient hatte, dazu ein paar alte Schuppen und mehrere ausrangierte Eisenbahnwaggons. Wo man auch hinsah, wanden sich verrostete Gleise durch Gras und Gestrüpp. Sam und ich balancierten auf den Schienensträngen und taten so, als wären wir Seiltänzer hoch über dem Boden. Jedes Mal, wenn einer von uns daneben trat, musste er aufschreien und so tun, als ob er aus schwindelerregender Höhe zur Erde stürzte. Ich beherrschte das Spiel besser als Sam, denn zu meinen Vampireigenschaften gehörte auch ein besserer Gleichgewichtssinn als der gewöhnlicher Menschen. Dann durchstöberten wir die verlassenen Waggons. Einige waren nur noch Schrott, aber die meisten waren noch ganz gut in Schuss. Staubig und schmutzig, aber sonst in gutem Zustand. Ich wunderte mich, dass man sie hier dem Verfall überlassen hatte. Wir kletterten auf das Dach eines Waggons und streckten uns auf dem Rücken aus, um die Sonne zu genießen. »Weißt du, was wir machen sollten?«, meinte Sam nach einer Weile. »Was?« »Blutsbruderschaft schließen.« Ich richtete mich auf dem Ellenbogen auf und starrte ihn an. »Blutsbrüderschaft?«, wiederholte ich. »Wozu? Und wie macht man das überhaupt?« »Es ist bestimmt lustig«, versicherte Sam. »Wir ritzen jeder einen kleinen Schnitt in unsere Handflächen, pressen sie gegeneinander und schwören einen Eid, stets die besten Freunde zu bleiben.« »Klingt gut«, stimmte ich zu. »Hast du ein Messer?« »Wir nehmen eine Glasscherbe«, schlug Sam vor. Er rutschte an den Rand des Daches, streckte die Hand aus und brach ein Stück Glas aus einem eingeschlage nen Wagenfenster. Als er zurückkam, machte er erst einen kleinen Schnitt in seine eigene Handfläche und reichte die Glasscherbe dann an mich weiter. Ich wollte gerade einritzen, als mir plötzlich das Vampirblut in meinen Adern einfiel. Ich glaubte zwar nicht, dass ein paar Tropfen Sam schaden konnten, aber andererseits ... Ich ließ die Scherbe sinken und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte ich. »Ich will nicht.« »Komm schon«, drängte Sam. »Du brauchst keine Angst zu haben. Du musst nur einen ganz kleinen Schnitt machen.« »Nein«, wiederholte ich. »Feigling!«, schnaubte er. »Du hast bloß Schiss! Angsthase! Feigling!« Er begann zu singen: »Angsthase - Pfeffernase!« »Na schön, dann bin ich eben ein Feigling«, lachte ich. Es fiel mir leichter zu lügen, als die Wahrheit zu gestehen. »Jeder hat vor irgendetwas Angst. Du hast dich auch nicht gerade darum gerissen, dem Wolfsmann das Fell zu waschen.« Sam schnitt eine Grimasse. »Das ist ja auch was anderes.« »Was dem einen sin Uhl, ist dem ändern sin Nachtigall«, zitierte ich selbstgefällig. »Was 60
soll denn das heißen?«, fragte Sam. »Das weiß ich auch nicht so genau«, gab ich zu. »Mein Papa hat das manchmal gesagt.« Wir blödelten noch ein bisschen herum, sprangen dann vom Wagendach und gingen über den Vorplatz zum Wärterhaus. Die Holztür war schon seit Ewigkeiten völlig verrottet, die meisten Fensterscheiben waren herausgefallen. Wir durchquerten ein paar kleine Räume, bis wir in einen größeren kamen, der offenbar das Wohnzimmer gewesen war. Mitten im Fußboden klaffte ein riesiges Loch, um das wir einen großen Bogen machten. »Schau mal nach oben«, sagte Sam. Ich sah hoch und blickte direkt in den Dachstuhl. Die Dielen der darüber liegenden Etagen waren weggebrochen, und nur ihre gezackten Reste am Rand waren noch geblieben. Durch die Löcher im Dach konnte ich den Himmel sehen. »Komm mit«, forderte Sam mich auf, ging zu einer Treppe und fing an hinaufzusteigen. Ich folgte ihm zögernd und fragte mich, ob das nicht leichtsinnig war, denn die Stufen knarrten und sahen aus, als würden sie gleich einbrechen, aber ich wollte mich nicht zweimal an einem Tag als Feigling beschimpfen lassen. Die Treppe endete im dritten Stock. Von hier aus konnten wir mit ausgestreckter Hand das Dach berühren. »Können wir aufs Dach klettern?«, erkundigte ich mich. »Ja«, erwiderte Sam, »aber es ist zu gefährlich. Die Zie gel sind lose. Man kann leicht ausrutschen. Aber hier oben gibt es etwas viel Besseres als das Dach.« Vorsichtig bewegte er sich an der Wand entlang rings um das Loch. Das Sims aus abgesplitterten Dielen war an den meisten Stellen etwa einen halben Meter breit, aber um kein Risiko einzugehen, schob auch ich mich mit dem Rücken an der Wand entlang. »Dieser Rest Fußboden hier ist doch sicher, oder?«, fragte ich nervös. »Bis jetzt ja«, entgegnete Sam. »Aber irgendwann ist immer das erste Mal.« »Danke für die aufmunternden Worte«, murrte ich. Ein paar Schritte weiter machte Sam Halt. Ich reckte den Hals, spähte über seine Schulter und stellte fest, dass wir einige lange Dachbalken erreicht hatten. Es waren sechs oder sieben, die sich quer über den Raum erstreckten. »Hier war die Mansarde«, erklärte Sam. »Hab ich mir schon gedacht«, gab ich zurück. Sam drehte sich nach mir um und grinste. »Errätst du auch, was wir jetzt machen?«, fragte er. Ich blickte erst ihn an, dann die Balken. »Du meinst doch nicht... Du willst doch nicht... Du willst rüberbalancieren, stimmt's?« »Du hast's erfasst«, bestätigte er und setzte den linken Fuß auf einen Balken. »Sam, das ist keine gute Idee«, protestierte ich. »Du hast schon draußen auf den Schienen dauernd das Gleichgewicht verloren. Wenn du hier oben daneben trittst ...« »Ich trete nicht daneben«, widersprach er. »Draußen auf den Schienen habe ich nur Quatsch gemacht.« Er setzte den anderen Fuß auf den Holzbalken und begann zu balancieren. Er ging langsam, beide Arme seitlich ausgestreckt. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Ich war ganz sicher, dass er abstürzen würde. Ich blickte nach unten und wusste, er würde den Sturz nicht überleben. Wenn man das Erdgeschoss mitzählte, waren es vier Stockwerke. Es war viel zu tief - und absolut tödlich. Aber Sam schaffte es ohne Schwierigkeiten auf die andere Seite, wo er sich umdrehte und eine tiefe Verbeugung machte. »Du bist verrückt!«, rief ich. »Nein«, lachte er, »bloß mutig. Und was ist mit dir? Traust du dich? Für dich ist es bestimmt noch leichter als für mich.« »Wie meinst du das?«, fragte ich. »Angst verleiht Flügel«, höhnte er. Das reichte! Ich würde es ihm zeigen! Ich holte tief Luft und lief los, schneller als Sam, indem ich meine Vampirfähigkeiten voll ausnutzte. Ich blickte nicht nach unten und versuchte, nicht darüber nachzudenken, was ich da tat, und ein paar Sekunden später war ich drüben und stand neben Sam. »Krass!« Er war beeindruckt. »Ich hätte nicht gedacht, dass du es schaffst. Jedenfalls nicht in dem Tempo!« »Man zieht nicht mit einem Zirkus umher, ohne ein paar Tricks aufzuschnappen«, bemerkte ich zufrieden. »Glaubst du, ich könnte so schnell balancieren?«, wollte Sam wissen. 61
»Ich würde es lieber nicht ausprobieren«, riet ich ab. »Ich wette, du schaffst es kein zweites Mal«, forderte er mich heraus. »Dann mach die Augen auf«, gab ich zurück und spazierte in noch schnellerem Tempo zurück. Die nächsten zehn Minuten machten wir uns einen Spaß daraus, abwechselnd hin und zurück über die Balken zu laufen. Dann marschierten wir gleichzeitig auf nebeneinander liegenden Balken los, wir lachten und feuerten uns dabei gegenseitig an. In der Mitte seines Balkens blieb Sam stehen und wandte sich nach mir um. »Hey!«, schrie er. »Lass uns Spiegelbild spielen.« »Wie geht denn das?«, fragte ich. »Ich mache etwas, und du musst es nachmachen.« Er wedelte mit der linken Hand über dem Kopf. »Zum Beispiel so.« »Aha«, sagte ich und wedelte ebenfalls mit der Hand. »Okay. Solange du nicht runterfällst. Das ist das Einzige, was ich dir nicht nachmachen werde.« Sam lachte und schnitt mir eine Grimasse. Auch ich verzog das Gesicht. Dann hob er langsam ein Bein in die Luft. Ich machte es ihm nach. Als Nächstes bückte er sich und berührte seine Zehenspitzen. Ich folgte seinem Beispiel. Ich konnte es kaum abwarten, bis ich an der Reihe war. Ich würde ihm ein paar Dinge vorführen - zum Beispiel von einem Balken zum anderen springen -, die er mir unmöglich nachmachen konnte. Endlich war ich einmal froh über das Vampirblut in meinen Adern. Natürlich war das genau der Augenblick, wo es sich gegen mich wandte und mich im Stich ließ. Es geschah ohne Vorwarnung. Ich hatte mich gebückt, meine Zehenspitzen berührt und wollte mich gerade wieder aufrichten. In der nächsten Sekunde drehte sich alles um mich herum, meine Arme zitterten kraftlos, und die Knie wurden mir weich. Es war nicht mein erster Schwindelanfall, in letzter Zeit hatte ich mehrere erlebt, aber ich hatte sie bis jetzt kaum zur Kenntnis genommen, sondern mich jedes Mal einfach hingesetzt und abgewartet, bis es vorbei war. Diesmal war die Situation anders. Ich befand mich vier Stockwerke über dem Boden. Ich konnte mich nirgends hinsetzen. Langsam versuchte ich in die Knie zu gehen, um mich am Balken festzuklammern und auf die rettende Plattform zurückzukriechen. Aber bevor ich mich noch weit genug heruntergelassen hatte, rutschte ich ab ... und fiel!
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Es war war mein Vampirblut schuld an dem ganzen Schlamassel, aber es rettete mir auch das
Leben. Im Fallen streckte ich - mehr aus blinder Hoffnung als absichtlich - einen Arm aus,
und meine Hand streifte den Balken. Wäre ich ein normaler Junge gewesen, hätte ich nicht
genug Kraft besessen, um mich daran festzuhalten. Aber ich war nicht normal. Ich war ein
Halbvampir. Mir war zwar schwindlig, aber ich schaffte es, zuzupacken und nicht mehr
loszulassen. So baumelte ich mit geschlossenen Augen an vier dünnen Fingern und einem
Daumen mehrere Stockwerke hoch in der Luft.
»Darren! Halt dich fest!«, schrie Sam. Die Bemerkung war überflüssig. Ich hatte keineswegs
vor loszulassen! »Ich komme zu dir rüber«, fuhr er fort. »Ich bin gleic h da. Lass nicht los.
Und bloß keine Panik.« Während er zum Ende seines Balkens lief und auf meinen
überwechselte, redete er die ganze Zeit weiter: versicherte mir, alles sei in Ordnung, er werde
mich retten, ich solle mich entspannen, alles werde wieder gut. Seine Worte halfen
tatsächlich. Sie lenkten mich davon ab, über den Sturz nachzudenken. Ohne Sam wäre ich ein
Todeskandidat gewesen.
Ich spürte, wie er meinen Balken betrat. Das Holz knarrte leise, und einen schrecklichen
Augenblick lang befürchtete ich, der Balken würde unter dem doppelten Gewicht brechen
und uns beide in den Tod schicken. Aber er hielt, und Sam kam immer näher, indem er
rasch, aber vorsichtig auf dem Bauch zu mir hinkroch.
Als er bei mir angekommen war, machte er Halt. »Hör zu«, begann er. »Ich fasse jetzt mit
meiner rechten Hand dein Handgelenk. Ganz langsam. Während ich das mache, bewegst
du dich nicht und greifst auch nicht mit der freien Hand nach mir. Okay?« »Okay«,
erwiderte ich. Ich fühlte, wie sich seine Finger um mein Handgelenk schlossen. »Nicht den
Balken loslassen!«, warnte er. »Nein«, versprach ich.
»Ich bin nicht stark genug, um dich hochzuziehen«, fuhr er fort, »also werde ich dich von
einer Seite zur anderen schaukeln. Du streckst den freien Arm aus. Wenn es so weit ist,
packst du den Balken. Keine Angst, falls du ihn verfehlst, ich lasse dich nicht los. Sobald du
Halt gefunden hast, hängst du noch ein paar Minuten ganz still und gibst deinen Muskeln
Gelegenheit, sich zu entspannen. Danach können wir dich ge meinsam hochhieven. Alles
klar?« »Zu Befehl, Herr Hauptmann«, gab ich mit angespanntem Grinsen zurück.
»Gut. Jetzt geht's los. Und denk dran: Wir schaffen es. Es klappt ganz bestimmt. Du kommst
hier lebendig wieder raus.«
Er begann, mich in eine Pendelbewegung zu versetzen, erst vorsichtig, dann kräftiger. Schon
nach dem ersten Hin und Her war ich in Versuchung, nach dem Balken zu greifen, aber ich
zwang mich abzuwarten. Als ich schließlich das Gefühl hatte, hoch genug zu schwingen,
streckte ich die Hand aus, konzentrierte mich mit aller Kraft auf die schmale Holzplanke und
packte zu. Ich hatte sie!
Daraufhin entspannte ich mich und gönnte den Mus keln meines rechten Armes einen
Augenblick Pause. »Bist du bereit, dich hochzuziehen?«, erkundigte sich Sam. »Ja.«
»Ich helfe dir dabei, deinen Oberkörper hochzuhieven«, erklärte er. »Wenn du es in
Bauchhöhe über den Balken geschafft hast, mache ich Platz, damit du die Beine nachziehen
kannst.« Sam packte mich mit der Rechten vorn an Hemd und Jacke, um mich festzuhalten,
falls ich abrutschte, und unterstützte gleichzeitig meine Bemühungen.
Ich schürfte mir Brust und Bauch an dem rauen Holz auf, aber ich spürte den Schmerz kaum.
Ich freute mich sogar fast darüber: Es war ein Beweis, dass ich noch am Leben war.
Nachdem ich mich hochgestemmt hatte, kroch Sam rückwärts, und ich schwang
nacheinander die Beine über den Balken. Dann kroch ich langsamer, als es eigentlich nötig
war, hinter ihm her. Selbst als ich das umlaufende Sims erreicht hatte, ging ich noch gebückt
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weiter und richtete mich erst wieder auf, sobald wir an der Treppe angekommen waren. Dort lehnte ich mich gegen die Wand und stieß einen langen, flattrigen Seufzer der Erleichterung aus. »Mensch«, sagte Sam neben mir. »Das war irre. Wollen wir noch mal?« Ich glaube, er meinte es als Witz.
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Später, nachdem ich die Treppe heruntergestolpert war - mein Gleichgewichtssinn war immer noch ge stört, erholte sich aber zusehends -, gingen wir zu den Eisenbahnwaggons zurück und setzten uns dort in den Schatten. »Du hast mir das Leben gerettet«, sagte ich leise. »Das war doch gar nichts«, wehrte Sam ab. »Du hättest dasselbe für mich getan.« »Wahrscheinlich«, bestätigte ich. »Aber nicht meine Hilfe war gefragt. Nicht ich war derjenige, der einen kühlen Kopf behalten und handeln musste. Du hast mich gerettet, Sam. Ich schulde dir mein Leben.« »Behalt's für dich«, lachte er. »Was soll ich denn damit anfangen?« »Ich meine es ernst, Sam. Ich schulde dir alles, alles, was du willst. Du brauchst es bloß zu sagen, und ich werde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um es dir zu verschaffen.« »Meinst du das ernst?« »Ich schwöre.« »Eine Sache würde mir schon einfallen«, sagte er bedächtig. »Sag's mir.« »Ich möchte mich dem Cirque du Freak anschließen.« »Saaaammmm«, ächzte ich. »Du hast mich gefragt, was ich will, und ich habe es dir erzählt«, beschwerte er sich. »Das ist aber nicht so einfach«, protestierte ich. »Doch, ganz einfach«, beharrte er. »Du brauchst bloß mit dem Direktor zu reden und ein gutes Wort für mich einzulegen. Komm schon, Darren, hast du ernst gemeint, was du gerade gesagt hast, oder nicht?« »Na schön«, seufzte ich. »Ich werde mit Meister Riesig reden.« »Wann?« »Heute noch«, versprach ich. »Sobald ich zurück bin.« »Juhu!« Sam boxte vor Freude in die Luft. »Vielleicht gibt es ja dort auch für mich einen Job«, bemerkte jemand hinter meinem Rücken. Ich fuhr herum. Da stand R. V. und lächelte seltsam. »Du solltest dich nicht immer so an die Leute anschleichen«, fauchte ich. »Du hast mich erschreckt.« »'tschuldigung, Mann«, sagte R. V., aber er sah nicht besonders zerknirscht aus. »Was machst du hier?«, fragte Sam. »Ich habe Darren gesucht«, erklärte R. V. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich für die Eintrittskarte zu bedanken.« »Ist schon gut«, winkte ich ab. »Tut mir Leid, dass ich nach der Vorstellung nicht auf euch gewartet habe, aber ich hatte zu tun.« »Klar«, erwiderte R. V. und hockte sich auf die Schiene neben mir. »Das verstehe ich. Ein so riesiges Unternehmen, da gibt es bestimmt immer eine Menge zu tun, was? Ich wette, sie halten dich ganz schön auf Trab, stimmt's, Mann?« »Stimmt«, bestätigte ich. R. V. lächelte Sam und mich strahlend an. Irgendetwas an diesem Lächeln gefiel mir nicht. Es war kein freundliches Lächeln. »Und«, fuhr R. V. fort, »wie geht's dem Wolfsmann so?« »Dem geht's prima«, erwiderte ich. »Er ist die ganze Zeit angekettet, oder?«, hakte R. V. nach. »Nein«, schwindelte ich, weil mir Evras Warnung wieder eingefallen war. »Wirklich nicht?« R. V. tat erstaunt. »Eine wilde Bestie wie er, ungezähmt und gefährlich, und er ist nicht eingesperrt?« »Er ist nicht wirklich gefährlich«, versicherte ich. »Das ist alles nur Show. Eigentlich ist er ganz zahm.« Aus dem Augenwinkel merkte ich, wie Sam mich anstarrte. Er wusste genau, wie wild der Wolfsmann war, und begriff nicht, warum ich log. »Sag mal, Mann, was frisst denn so ein Vieh?«, erkundigte sich R. V. »Steak. Schweineschnitzel. Wurst.« Ich lächelte ge zwungen. »Das Übliche eben. Alles im Laden gekauft.« »Ach ja? Und was ist mit der Ziege, die von dieser Spinne totgebissen wurde? Wer bekommt die?« »Keine Ahnung.« »Evra hat mir gesagt, ihr hättet die Ziege einem Bauern aus der Gegend abgekauft. War sie 65
teuer?« »Nicht besonders«, erwiderte ich. »Sie war schon ziemlich krank, deshalb ...« Ich unterbrach mich. Evra hatte R. V. doch erzählt, wir hätten die Ziege bei einem Schlachter gekauft, nicht bei einem Bauern. »Ich führe nämlich eine kleine Umfrage durch«, bemerkte R. V. leise. »Die anderen aus meinem Lager sind beim Packen, weil wir weiterziehen, aber ich bin ein bisschen herumspaziert, habe Schafe und Kühe ge zählt, ein paar Fragen gestellt, ein wenig nach Knochen gebuddelt. Es sind in letzter Zeit einige Tiere verschwunden«, fuhr er fort. »Die Bauern haben sich keine großen Gedanken gemacht - ein oder zwei fehlende Kühe fallen nicht weiter ins Gewicht -, aber mich hat die Sache aus gesprochen interessiert. Was glaubst du, wer sie ge stohlen hat, Mann?« Ich antwortete nicht. »Noch etwas«, bemerkte er. »Ich bin an dem Fluss ent langgeschlendert, an dem euer Zeltplatz liegt, und rate mal, was ich ein Stück stromabwärts entdeckt habe? Einen Haufen kleiner Knochen, Haut- und Fleischfetzen. Wie würdest du dir das erklären, Darren?« »Keine Ahnung«, wiederholte ich. Dann stand ich auf. »Ich muss jetzt gehen. Ich werde im Zirkus erwartet. Hab was zu erledigen.« »Ich will dich nicht aufhalten«, lächelte R. V. »Wann brecht ihr eure Zelte ab?«, erkundigte ich mich. »Vielleicht schau ich noch mal rein, um tschüss zu sagen, bevor du gehst.« »Das wäre nett«, erwiderte R. V. »Aber keine Sorge, Mann. Ich gehe nirgendwo hin.« Ich runzelte die Stirn. »Hast du nicht eben behauptet, dass ihr weiterziehen wollt?« »Die NSO zieht weiter«, berichtigte er. »Genau ge nommen ist sie bereits unterwegs. Seit gestern Abend.« Er lächelte eisig. »Ich dagegen bleibe noch ein Weilchen. Es gibt da noch ein paar Dinge, um die ich mich kümmern muss.« »Oh.« Im Stillen fluchte ich heftig, aber nach außen hin täuschte ich Freude vor. »Das ist ja eine gute Nachricht. Dann können wir uns noch mal sehen.« »Ganz recht«, bestätigte R. V. »Wir können uns sehen, Mann. Darauf kannst du Gift nehmen. Wir werden uns sogar ziemlich oft sehen.« Ich grinste schief. »Bis dann«, verabschiedete ich mich. »Bis dann«, gab R. V. zurück. »Warte«, rief Sam. »Ich komme mit.« »Nein«, wehrte ich ab. »Komm morgen. Bis dann habe ich eine Antwort von Meister Riesig. Tschüss.« Ich machte mich aus dem Staub, bevor einer der beiden noch etwas sagen konnte. Zuerst irritierte mich R. V.'s Interesse am Verschwinden der Tiere, aber auf dem Weg zum Zeltplatz beruhigte ich mich wieder. Nach allem, was ich bis jetzt von ihm wusste, war er einfach ein haariger, harmloser Mann, während wir, die Truppe des Cirque du Freak, besondere Geschöpfe mit außergewöhnlichen Fähigkeiten waren. Was konnte er uns schon anhaben?
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Eigentlich wollte ich Meister Riesig sofort über R. V.'s sonderbares Benehmen Bericht erstatten, aber als ich auf seinen Wohnwagen zusteuerte, packte mich Truska am Arm und machte mir ein Zeichen, ihr zu folgen. Sie brachte mich zu ihrem Zelt, das phantasievoller verziert war als die Behausungen der anderen Artisten. Die Wände waren mit Spiegeln und Gemälden bedeckt. Überall standen riesige Kleiderschränke und Schminktische, und dazwischen thronte ein gigantisches Himmelbett. Truska sagte etwas in ihrer merkwürdigen Seehund sprache, dann führte sie mich in die Mitte des Zeltes und bedeutete mir, dass ich mich nicht von der Stelle rühren solle. Sie zog ein Maßband hervor und stellte fest, wie groß ich war. Als sie fertig war, schob sie die Unterlippe vor und dachte einen Augenblick nach, schnippte dann mit den Fingern und lief zu einem der Schränke. Sie wühlte darin herum und zog schließlich eine Hose hervor. In einem anderen Schrank fand sie ein Hemd, in einem drit ten eine Jacke und schließlich in einer großen Kommo de ein Paar Schuhe. Unterwäsche und Strümpfe durfte ich mir selbst aus den Schubladen eines Schminktisches zusammensuchen. Zum Umziehen ging ich hinter einen seidenen Wand schirm. Evra musste Truska erzählt haben, dass ich dringend neue Kleidung brauchte. Skeptisch musterte ich das Bündel in meiner Hand - ein Kapuzenpulli wäre mir lieber gewesen. Als ich hinter dem Wandschirm hervortrat, klatschte Truska erfreut in die Hände und schob mich eilig vor einen Spiegel. Die Sachen passten wie angegossen, und zu meiner eigenen Überraschung sah ich supercool aus! Das Hemd war hellgrün, die Hose von einem dunklen Purpurrot, die Jacke dagegen golden und blau. Truska entdeckte noch einen langen, roten Satinstreifen und wickelte ihn mir um die Taille. Das Bild war komplett: Jetzt sah ich von Kopf bis Fuß wie ein Pirat aus! »Irre!«, rief ich. »Nur die Schuhe ...«, ich zeigte auf meine Füße, »... drücken ein bisschen.« Truska nahm mir die Schuhe wieder ab und suchte ein neues Paar heraus. Diese Schuhe waren weicher als die anderen und an den Spitzen nach oben gebogen wie bei Sindbad, dem Seefahrer. Ich verliebte mich sofort in sie. »Vielen Dank, Truska«, sagte ich und machte Anstalten zu gehen. Doch sie hob die Hand, und so hielt ich inne. Truska zog einen Stuhl vor einen der größeren Kleiderschränke, stieg hinauf, langte hoch und förderte eine große, runde Schachtel zu Tage. Die Bärtige Dame ließ sie auf den Boden plumpsen, öffnete sie und entnahm ihr einen kleinen braunen Hut mit einer Feder, so ähnlich wie den von Robin Hood. Bevor ich ihn aufsetzen konnte, drückte sie mich auf den Stuhl, holte eine Schere und schnitt mir die Haare, was dringend nötig war. Der neue Haarschnitt und der Hut waren die Krönung des Ganzen. Als ich diesmal in den Spiegel blickte, erkannte ich mich selbst kaum wieder. »O Truska«, stammelte ich. »Ich ... ich ...« Mir fehlten die Worte, deshalb schlang ich ihr einfach die Arme um den Hals und verpasste ihr einen dicken, überschwänglichen Kuss. Als ich sie wieder losließ, war mir mein Verhalten ein bisschen peinlich, und ich war froh, dass keiner meiner Freunde mich dabei beobachtet hatte, aber Truska strahlte. Ich rannte los, um Evra mein neues Outfit vorzuführen. Er fand es großartig, schwor aber Stein und Bein, dass er Truska keinen Tipp gegeben hatte. Er meinte, entweder sei sie es von selber leid geworden, dass ich so schmuddelig herumlief, oder Mr. Crepsley habe sie ge beten, mich zurechtzumachen, vielleicht habe sie aber auch eine spezielle Vorliebe für mich. »Sie hat keine spezielle Vorliebe für mich!«, protestierte ich. »Truska liebt Darren«, sang Evra. »Truska liebt Darren.« 67
»Ach, halt doch den Mund, du schleimige Reptilienimitation«, brummte ich. Er war nicht im Geringsten beleidigt und lachte. »Darren und Truska sitzen im Baum«, sang er, »und knu- u-u- u- utschen. Erst geht's ins Ehebett - dann ab in den Sarg.« Ich stieß ein drohendes Fauchen aus, stürzte mich auf ihn, rang ihn nieder und ließ ihn nicht eher los, bis er um Gnade winselte. Danach ging Evra zurück ins Zelt zu seiner Schlange, während ich draußen die tägliche Arbeit erledigte. Ich war die ganze Zeit auf Trab, weil ich für Evra einspringen und für zwei schuften musste. Bei all dem Kommen und Gehen und der Aufregung darüber, endlich etwas Neues zum Anziehen zu besitzen, vergaß ich völlig, Meister Riesig von R. V. zu erzählen und von der Drohung des Umweltkämpfers, Nachforschungen über das verschwundene Vieh anzustellen. Wäre ich bloß nicht so zerstreut gewesen, vielleicht wäre dann alles anders gekommen, und unser Aufenthalt hätte nicht mit Blutvergießen und Tränen geendet.
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Am Abend war ich zum Umfallen müde. Das ständige Umherrennen hatte mich völlig ausgelaugt. Evra hatte mir davon abgeraten, diese Nacht in seinem Zelt zu schlafen: Seine Schlange sei wegen der Virusinfektion ziemlich schlechter Laune und könnte mich beißen. Deshalb ging ich in Mr. Crepsleys Zelt und bereitete mir neben Madame Octas Käfig ein Lager auf der Erde. Kaum hatte ich mich hingelegt, war ich auch schon eingeschlafen. Kurze Zeit später, während ich gerade träumte, bekam ich etwas in den Hals und musste würgen. Ich hustete und wachte auf. Eine Gestalt stand über mir, presste mir eine kleine Flasche an die Lippen und versuchte, mir eine Flüssigkeit einzuflößen. Seltsamerweise war mein erster panischer Gedanke: »Meister Schick!« Ich wehrte mich heftig und biss dabei den oberen Rand des Flaschenhalses ab, zerschnitt mir die Lippen und verschüttete den größten Teil der Flüssigkeit. Der Mann fluchte, packte mit eisernem Griff mein Kinn und zwang mir die Kiefer auseinander. Er versuchte, den letzten Rest der Flüssigkeit in meinen offenen Mund zu kippen, aber ich spuckte alles wieder aus. Der Mann fluchte wieder, ließ mich dann aber los, wich zurück und gab sich geschlagen. Als mein hämmerndes Herz sich wieder beruhigte, sah ich genauer hin und stellte fest, dass es keineswegs Meister Schick war. Es war Mr. Crepsley. »Was zum Teufel hatten Sie mit mir vor?«, schrie ich außer mir. Ich war zu wütend, um den Schmerz in meinen zerschnittenen Lippen zu bemerken. Mr. Crepsley seufzte und hielt mir die Reste der kleinen Flasche hin: Es war einer der Behälter, in denen er menschliches Blut aufzubewahren pflegte. »Sie haben versucht, mich zum Trinken zu zwingen!«, keuchte ich. »Du musst trinken«, erklärte Mr. Crepsley. Wenn du so weitermachst, bist du spätestens in einer Woche tot.« Ich starrte ihn fassungslos an. Er fühlte sich unbehaglich und wich meinem Blick aus. »Ich wollte dir doch nur helfen«, murmelte er. »Wenn Sie das noch einmal versuchen«, sagte ich langsam, »bringe ich Sie um. Ich warte, bis es Tag ist, schleiche mich in Ihr Zelt und schneide Ihnen die Kehle durch.« Offenbar merkte er, dass ich es ernst meinte, denn er nickte mürrisch. »Ich tue es nie wieder«, brummte er. »Es war eine dumme Idee. Ich wusste, dass es nicht klappen würde, aber ich wollte es wenigstens versuchen. Vielleicht wärst du ja auf den Geschmack gekommen.« »Ich werde niemals auf den Geschmack kommen!«, brüllte ich. »Ich werde niemals Menschenblut trinken. Es ist mir egal, ob ich sterben muss. Ich trinke es nicht.« »Ist ja gut«, seufzte Mr. Crepsley. »Ich habe mein Bestes versucht. Wenn du so verbohrt bist, lehne ich jede Verantwortung ab.« »Ich bin nicht verbohrt... ich bin menschlich«, knurrte ich. »Du bist aber kein Mensch mehr«, widersprach er leise. »Ich weiß«, gab ich zu. »Aber ich wäre es gern. Ich möchte so sein wie Sam. Ich will eine Familie und richtige Freunde. Ich möchte genauso schnell alt werden wie alle anderen. Ich will nicht den Rest meines Lebens damit zubringen meine Mitmenschen auszusaugen und mich vor dem Sonnenlicht und Vampirjägern zu fürchten.« »Pech«, meinte Mr. Crepsley trocken. »Das ist nun mal der Handel, den du abgeschlossen hast.« »Ich hasse Sie!«, fauchte ich. »Pech«, sagte er wieder. »Aber du bist trotzdem auf mich angewiesen. Falls dir das irgendwie ein Trost ist«, setzte er hinzu, »ich mag dich auch nicht besonders. Ich wünschte, ich hätte dich damals in Ruhe gelassen. Dich zum Halbvampir zu machen, war der größte 69
Fehler meines Lebens.«
»Warum befreien Sie mich dann nicht von diesem Fluch?«, rief ich, den Tränen nahe.
»Weil ich es nicht kann«, erwiderte er. »Glaub mir, ich würde es tun, wenn ich nur könnte.
Aber natürlich steht es dir jederzeit frei, mich zu verlassen.« Ich blickte ihn misstrauisch an.
»Wirklich?«, fragte ich. »Wirklich«, bestätigte er. »Mir ist es gleich. Genau genommen,
wäre ich sogar erleichtert. Dann müsste ich nicht länger Verantwortung für dich
übernehmen.
Dann müsste ich nicht zusehen, wie du dahinsiechst, und mich schuldig fühlen.«
Langsam schüttelte ich den Kopf. »Ich verstehe Sie einfach nicht«, sagte ich.
Er lächelte fast freundlich. »Ich dich auch nicht«, gab er zurück. Da mussten wir beide lachen, und danach war alles wieder wie sonst. Ich fand es zwar nicht gut, was Mr. Crepsley versucht hatte, aber ich verstand seine Beweggründe. Man kann niemanden hassen, der nur das Beste für einen will. Ich erzählte ihm, was ich tagsüber erlebt hatte: dass ich mit Sam in dem alten Bahnhof herumgestreunt war und dass er mir das Leben gerettet hatte. Ich gestand ihm auch, dass ich beinahe Blutsbrüderschaft mit Sam geschlossen hätte. »Du hast gut daran getan, seinen Vorschlag abzulehnen«, lobte Mr. Crepsley. »Was wäre denn sonst passiert?«, fragte ich. »Dein Blut hätte seines verseucht. Er hätte Appetit auf rohes Fleisch entwickelt. Er hätte vor den Schlachtereien herumgelungert und sich die Nase an den Schaufenstern platt gedrückt. Er wäre etwas langsamer gealtert als andere Menschen. Der Unterschied wäre nicht sehr groß gewesen, aber es hätte ausgereicht.« »Ausgereicht wofür?«, fragte ich. »Um ihn in den Wahnsinn zu treiben«, erläuterte Mr. Crepsley. »Er hätte nicht verstanden, was mit ihm vorgeht. Er hätte gedacht, er sei plötzlich zum Monster ge worden. Er hätte nicht begriffen, warum sein Leben sich verändert. In zehn Jahren wäre er nur noch ein heulendes Nervenbündel gewesen.« Bei dem Gedanken, dass ich beinahe Sams ganzes Leben ruiniert hatte, überlief es mich kalt. Genau wegen solcher Vorfälle musste ich so lange bei Mr. Crepsley bleiben, bis ich alles über das Dasein eines Halbvampirs gelernt hatte. »Was halten Sie von Sam?«, fragte ich nach einer Pause. »Ich kenne ihn nicht besonders gut«, meinte Mr. Crepsley. »Er besucht uns ja meistens bei Tag. Aber er scheint nett zu sein. Ein schlaues Bürschchen.« »Er hilft Evra und mir bei der Arbeit«, bemerkte ich. »Ich weiß.« »Er ist sehr fleißig.« »Das habe ich gehört.« Ich befeuchtete mir nervös die Lippen. »Er möchte sich dem Cirque du Freak anschließen«, erklärte ich schließlich. Mr. Crepsleys Gesicht verdüsterte sich. »Ich wollte Meister Riesig fragen, aber ich hab's vergessen. Ich gehe morgen zu ihm. Was glauben Sie, was er sagen wird?« »Er wird dir sagen, dass du mich fragen sollst. Der Cirque du Freak nimmt nur dann Kinder auf, wenn ein unabhängiges Mitglied einwilligt, Vormund des betreffenden Kindes zu werden.« »Ich könnte doch sein Vormund sein«, schlug ich vor. »Du bist noch zu jung. Ich bin der Einzige, der infrage kommt. Ich müsste meine Zustimmung erteilen. Aber ich werde mich weigern.« »Warum?«, fragte ich. »Weil es eine unmögliche Idee ist«, entgegnete er. »Ein Kind ist wahrhaftig schon schlimm genug. Ein zweites könnte ich nicht auch noch verkraften. Außerdem ist Sam ein Mensch. Dich habe ich nun mal am Hals, weil in deinen Adern Vampirblut fließt. Aber warum sollte ich meinen Kopf für einen gewöhnlichen Menschen hinhalten?« »Er ist mein Freund«, wandte ich ein. »Er hat mir das Leben gerettet. Und ich hätte endlich Gesellschaft.« Mr. Crepsley schnaubte verächtlich. »Madame Octa ist Gesellschaft genug.« »Das ist nicht dasselbe«, bettelte ich. »Sag mir eins«, meinte Mr. Crepsley nachdenklich. »Was passiert wohl, wenn Sam herausfindet, dass du ein Vampir bist? Er weiß doch nichts davon, oder?« Ich schüttelte den Kopf. »Glaubst du, er würde es verstehen? Glaubst du, er würde noch ruhig schlafen können, wenn er wüsste, dass sein bester Freund nur darauf wartet, ihm die Kehle aufzuschlitzen und ihm 70
das Blut auszusaugen?« »So etwas würde ich niemals tun!«, rief ich empört. »Ich weiß das«,
stimmte Mr. Crepsley zu. »Aber ich bin selbst ein Vampir. Ich kann dich einschätzen. Und
Meister Riesig, Evra und die anderen können es auch. Aber was glaubst du, wie ein gewöhnlicher
Mensch auf dich reagiert?«
Ich seufzte traurig. »Also wollen Sie ihn nicht aufnehmen?«
Mr. Crepsley schüttelte schon den Kopf, hielt dann aber inne und nickte stattdessen bedächtig.
»Na gut«, sagte er. »Von mir aus darf er mitkommen.« »Er darf?" Ich starrte ihn verblüfft an.
Ich hatte mich zwar für Sam eingesetzt, aber ich hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass man
ihn aufnehmen würde. »Ja«, bestätigte Mr. Crepsley. »Er darf sich uns anschließen, mit uns
reisen und dir und Evra bei der Arbeit helfen. Aber nur unter einer Bedingung.« Mr. Crepsley
beugte sich vor und schenkte mir sein verschlagenstes Grinsen. »Auch er muss ein
Halbvampir werden!«, zischte er.
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Mir wurde das Herz schwer, als ich Sam früh am nächsten Morgen auf den Zeltplatz trotten sah. Den Gedanken, ihn enttäuschen zu müssen, fand ich schrecklich, aber mir blieb nichts anderes übrig. Ich durfte nicht zulassen, dass Mr. Crepsley Sam zum Halbvampir machte. Ich hatte fast die ganze Nacht darüber gegrübelt und war zu der erschreckenden Überzeugung gelangt, dass Sam einwilligen würde, ein Halbvampir zu werden, wenn ich ihn vor die Wahl stellte. Er war zwar klug, aber ich glaube nicht, dass er sich klargemacht hätte, wie grässlich einsam das Leben eines Vampirs ist. Als er mich erblickte, rannte er sofort auf mich zu, viel zu aufgeregt, um meinen neuen Anzug und meine ordentliche Frisur zu bemerken. »Hast du ihn gefragt?« Sein Gesicht leuchtete hoffnungsvoll. »Ja«, erwiderte ich mit traurigem Lächeln. »Und?« Ich schüttelte den Kopf. »Tut mir echt Leid, Sam. Er hat Nein gesagt.« Sams Kinnlade klappte herunter, und sein Strahlen erlosch. »Warum?«, schrie er. »Du bist zu jung«, erwiderte ich. »Du bist doch auch nicht viel älter«, fauchte er. »Aber ich habe keine Eltern mehr«, log ich. »Ich hatte kein Zuhause mehr, als ich mich dem Cirque du Freak angeschlossen habe.« »Meine Eltern können mir gestohlen bleiben«, schniefte er. »Das stimmt nicht«, widersprach ich. »Du würdest sie vermissen.« »Ich könnte ja im Urlaub nach Hause fahren.« »Es hat keinen Sinn. Du bist nicht für das Leben im Cirque du Freak geschaffen. Vielleicht später, in ein paar Jahren.« »Später ist mir egal«, kreischte er. »Ich will jetzt mitkommen. Ich habe hart gearbeitet. Ich habe bewiesen, dass ich es schaffe. Ich habe den Mund gehalten, als du R.V. gestern über den Wolfsmann angelogen hast. Hast du das alles Meister Riesig berichtet?« »Alles«, seufzte ich. »Du schwindelst«, knurrte Sam. »Ich glaube, du hast überhaupt nicht mit ihm geredet. Ich möchte ihn persönlich sprechen.« Ich zuckte die Achseln und zeigte auf Meister Riesigs Wohnwagen. »Dort findest du ihn«, sagte ich. Sam lief los, verlangsamte aber sein Tempo nach ein paar Schritten und blieb schließlich stehen. Er scharrte missmutig mit den Füßen in der Erde, kehr te schließlich um und setzte sich neben mich. »Das ist nicht fair«, brummte er. Ich sah, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. »Ich war fest entschlossen mitzukommen. Alles hätte prima geklappt. Ich hatte alles genau geplant.« »Es wird andere Gelegenheiten geben«, tröstete ich. »Wann denn?«, fragte er. »Ich habe noch nie von einer Freak Show in dieser Gegend gehört. Wann wird mir wieder eine über den Weg laufen?« Ich antwortete nicht. »Es hätte dir sowieso nicht gefallen«, meinte ich nach einer Weile. »Es ist nicht so lustig, wie du es dir vorstellst. Du weißt nicht, wie es mitten im Winter ist, wenn du um fünf Uhr früh aufstehen, dich mit eiskaltem Wasser waschen und bei Schneesturm im Freien arbeiten musst.« »Das würde mir alles nichts ausmachen«, beharrte Sam. Seine Tränen versiegten, und er sah mich mit einem listigen Blinzeln an. »Vielleicht komme ich ja trotzdem mit«, sagte er. »Ich könnte mich in einem der Wohnwagen verstecken und einfach mitfahren. Dann würde Meister Riesig gar nichts anderes übrig bleiben, als mich aufzunehmen.« »Das kannst du nicht machen!«, keuchte ich. »Das darfst du nicht!« »Ich mache, was ich will«, fauchte er. »Du kannst mich nicht daran hindern.« »O doch«, knurrte ich. »Wie denn?«, grinste er höhnisch. Ich holte tief Luft. Jetzt war der Moment gekommen, Sam einen Schock fürs Leben zu versetzen. Ihm die Wahrheit über mich zu erzählen, brachte ich nicht fertig, aber ich konnte eine fast ebenso schreckliche Geschichte 72
erfinden, die ihn garantiert dazu bringen würde, die Flucht zu ergreifen und niemals wiederzukommen. »Ich habe dir nie erzählt, was mit meinen Eltern passiert ist, nicht wahr, Sam? Oder wie es überhaupt dazu kam, dass ich mich der Freak Show anschloss?« Ich sprach mit gedämpfter, ruhiger Stimme. »Nein«, gab Sam zurück, »Ich habe es mich oft gefragt, aber ich wollte dir nicht zu nahe treten.« »Ich habe sie umgebracht, Sam«, sagte ich. »Was?« Er wurde leichenblass. »Manchmal drehe ich durch. Wie der Wolfsmann. Niemand kann sagen, wann es so weit ist oder warum. Als kleines Kind war ich deswegen schon mal im Krankenhaus, und danach schien es tatsächlich besser zu werden. Zu Weihnachten haben meine Eltern mich nach Hause geholt. Nach dem Abendessen, als ich gerade mit Papa ein Knallbonbon auseinander zog, bin ich ausgerastet. Ich habe ihn in Stücke gerissen. Mama versuchte, mich daran zu hindern, da habe ich sie ebenfalls getötet. Meine kleine Schwester wollte weglaufen und Hilfe holen, aber ich habe sie noch erwischt. Ich habe sie genauso in der Mitte durchgerissen wie das Knallbonbon. Nachdem ich sie alle umge bracht hatte ...«, ich blickte Sam durchdringend an, »... habe ich sie aufgegessen.« Sam starrte mich wie ge lähmt an. »Du lügst«, flüsterte er. »Das ist nicht wahr.« »Ich habe sie umgebracht, aufgegessen, und dann bin ich weggelaufen«, log ich. »Meister Riesig hat mich aufgegriffen und eingewilligt, mich zu verstecken. Er ließ einen speziellen Käfig anfertigen, in den man mich einsperrt, wenn ich wieder durchdrehe. Das Problem ist nur, dass niemand den Ze itpunkt vorhersagen kann. Deshalb wollen die meisten Leute nichts mit mir zu tun haben. Mit Evra ist es okay, denn er ist sehr stark. Einige der anderen Artisten auch. Aber einen gewöhnlichen Menschen ... den würde ich abmurksen, ehe er sich's versieht.« »Du lügst«, wiederholte Sam. Ich hob einen dicken Ast vom Boden auf, drehte ihn spielerisch in den Fingern, steckte ihn in den Mund und biss ihn durch wie eine große Mohrrübe. »Ich würde deine Knochen zu Staub zermalmen«, bemerkte ich. Ich hatte mir an dem Ast die Lippen aufgeschürft, und mein blutiger Mund sah Furcht erregend aus. »Du könntest mich nicht aufhalten. Wenn du dich dem Cirque du Freak anschließen würdest, müssten wir zusammen in einem Zelt schlafen, und du wärst der Erste, auf den ich mich stürzen würde. Du kannst nicht mit kommen«, schloss ich. »Ich wünschte, es wäre anders. Ich hätte gern einen Freund dabei, aber es ist unmöglich. Ich würde dich irgendwann umbringen.« Sam wollte antworten, aber er konnte die Lippen nicht bewegen. Er glaubte meine an den Haaren herbeigezo gene Geschichte. Er hatte die Show gesehen und wusste, dass hier alles möglich war. »Geh jetzt nach Hause, Sam«, seufzte ich traurig. »Geh nach Hause und komm nie wieder. Das Risiko ist zu groß. Es ist besser so. Für uns beide.« »Darren, ich ... ich ...« Er schüttelte unsicher den Kopf. »Geh!«, brüllte ich und trommelte mit den Fäusten auf den Boden. Ich entblößte die Zähne und knurrte. Ich konnte mit tieferer Stimme sprechen als gewöhnliche Menschen und hörte mich an wie ein wildes Tier. Sam schrie auf, sprang auf die Füße und floh in den Schutz der Bäume, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich blickte ihm schweren Herzens nach, überzeugt davon, dass meine List funktioniert hatte. Sam würde nie mehr einen Fuß auf das Zirkusge lände setzen. Ich würde ihn niemals wieder sehen. Unsere Wege hatten sich ein für alle Mal getrennt. Hätte ich gewusst, wie sehr ich mich irrte, hätte ich auch nur die leiseste Vorstellung davon gehabt, was für eine grauenhafte Nacht uns allen bevorstand, wäre ich ihm nachgerannt und nie mehr in jenen abscheulichen, verdammten Zirkus zurückgekehrt, jenen Zirkus des Todes.
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Ich saß gerade vor dem Zelt und blies Trübsal, als mir einer der Kleinen Leute auf die Schulter tippte. Es war der Hinkende. »Was wollen Sie?«, fragte ich. Der kleine Mann - falls es überhaupt ein Mann war - in dem blauen Kapuzenumhang rieb sich mit beiden Händen den Magen. Das war sein Zeichen dafür, dass er und seine Brüder Hunger hatten. »Ihr habt doch gerade erst gefrühstückt«, wand te ich ein. Er rieb sich wieder den Bauch. »Es ist zu früh fürs Mittagessen.« Er rieb sich den Bauch. Ich wusste, dass es noch Stunden lang so weitergehen konnte, wenn ich nichts unternahm. Er würde mir folgen wie ein geduldiges Hündchen und sich so lange den Bauch reiben, bis ich nachgab und für ihn auf die Pirsch ging. »Na schön«, murrte ich. »Ich sehe mal, was sich machen lässt. Aber ich bin heute allein, also beklagt euch nicht, wenn ich nicht mit einem prall gefüllten Sack zurückkomme.« Er rieb sich wieder den Bauch. Ich schnaubte und machte mich auf den Weg. Ich hätte nicht auf die Jagd gehen sollen, denn ich fühlte mich sehr schwach. Zwar konnte ich immer noch schneller laufen als ein normaler Mensch und war kräftiger als die meisten Kinder meines Alters, aber ich war nicht mehr superfit oder bärenstark. Mr. Crepsley hatte mich gewarnt, und ich wusste, dass er Recht hatte. Ich spürte nur zu deutlich, wie meine Kräfte nachließen. Noch ein paar Tage, und ich würde morgens nicht mehr aufstehen können. Ich versuchte, einen Hasen zu fangen, aber ich war nicht schnell genug. Schon nach wenigen Minuten war ich schweißgebadet und musste mich ein paar Minuten setzen. Dann suchte ich die Landstraße nach überfahrenen Tieren ab, aber ich konnte keine finden. Ich war erschöpft und fürchtete mich ein bisschen davor, was passieren würde, wenn ich mit leeren Händen ins La ger zurückkehrte (vielleicht kamen die Kleinen Leute ja auf die Idee, mich zu verspeisen!), und so schlug ich den Pfad zu einer Schafweide ein. Die Tiere grasten friedlich. Sie waren an Menschen ge wöhnt und hoben kaum die Köpfe, als ich über den Zaun kletterte und zwischen ihnen herumging. Ich hielt nach einem älteren Tier Ausschau oder nach einem, das krank aussah. Auf diese Weise würde ich mich weniger mies fühlen, wenn ich es töten musste. Schließlich entschied ich mich für ein Mutterschaf mit mageren, zitternden Beinen und einem benommenen Gesichtsausdruck. Es sah aus, als hätte es ohnehin nicht mehr lange zu leben. Wäre ich noch im Vollbesitz meiner Kräfte gewesen, hätte ich ihm das Genick gebrochen, und es wäre sofort tot gewesen, ohne dabei den geringsten Schmerz zu empfinden. Aber ich war zu ungeschickt und drehte ihm beim ersten Versuch den Hals nicht kräftig genug um. Das Schaf blökte in Todesangst. Es versuchte wegzulaufen, aber die Beine versagten ihm den Dienst. Schließlich fiel es hin und lag unglücklich blökend im Gras. Ich versuchte noch einmal, ihm das Genick zu brechen, aber ich schaffte es wieder nicht. Schließlich machte ich der Sache mit einem schweren Stein ein Ende. Es war eine blutige, scheußliche Methode, ein Tier zu töten, und ich schämte mich sehr, als ich es bei den Hinterbeinen packte und von der Weide zerrte. Ich hatte den Zaun fast erreicht, als ich merkte, dass jemand auf einem Pfosten thronte und mich erwartete. Ich ließ das tote Schaf fallen, sah auf und ging davon aus, einem wütenden Bauern gegenüberzustehen. Aber es war kein Bauer. Es war R. V. Und er war außer sich vor Wut. »Wie konntest du nur?«, schrie er mich an. »Wie konntest du nur ein armes, unschuldiges Tier auf derartig grausame Weise umbringen?« »Ich habe versucht, es rasch und schmerzlos zu töten«, verteidigte ich mich. »Ich habe versucht, ihm das Genick zu brechen. Ich hätte es laufen lassen, aber es quälte sich. Da hielt 74
ich es für besser, seiner Qual ein Ende zu bereiten, als es noch länger leiden zu lassen.« »Das war wirklich großartig von dir, Mann«, sagte R. V. sarkastisch. »Glaubst du, man wird dir dafür den Friedensnobelpreis verleihen?« »Bitte, R. V.«, sagte ich. »Sei nicht sauer. Das Schaf war krank. Der Bauer hätte es sowieso töten lassen. Vielleicht hätte es ein paar Wochen länger gelebt, aber schließlich wäre es doch beim Schlachter gelandet.« »Das macht die Sache keinen Deut besser«, zischte er wütend. »Nur weil andere Leute Böses tun, heißt das noch lange nicht, dass du es ihnen nachmachen sollst.« »Tiere zu töten, ist nichts Böses«, widersprach ich. »Nicht, wenn man sie essen will.« »Was ist so verkehrt an Gemüse?«, fragte er. »Wir müssen kein Fleisch essen, Mann. Wir brauchen nicht zu töten.« »Manche Leute brauchen Fleisch«, hielt ich dage gen. »Manche Menschen können nicht ohne Fleisch leben.« »Dann sollen sie eben sterben!«, brüllte R. V. »Dieses Schaf hat niemandem etwas zuleide getan. Ich persönlich finde es schlimmer, dieses arme Tier zu töten, als einen Menschen umzubringen. Du bist ein Mörder, Darren Shan.« Ich schüttelte betrübt den Kopf. Mit jemandem, der so stur war, konnte man nicht diskutieren. R. V. hatte seine Art, die Welt zu betrachten, und ich meine. »Sieh mal, R. V.«, lenkte ich ein. »Das Töten macht mir keinen Spaß. Ich fände es himmlisch, wenn alle Men schen Vegetarier wären. Aber sie sind es eben nicht. Es ist einfach eine Tatsache, dass manche Leute Fleisch essen. Ich tue nur, was ich muss.« »Nun, wir werden ja sehen, was die Polizei dazu meint«, erwiderte R. V. »Die Polizei?« Ich runzelte die Stirn. »Was hat die denn mit der Angelegenheit zu tun?« »Du hast fremdes Eigentum beschädigt«, lachte R. V. hämisch. »Glaubst du etwa, du kommst damit ungeschoren davon? Sie sperren dich zwar leider Gottes nicht ein, wenn du Kaninchen und Füchse erlegst, aber wenn du ein Schaf tötest, das dir nicht gehört, schon. Ich hetze dir sämtliche Polizisten der Gegend und dazu das Veterinäramt auf den Hals«, versprach er grinsend. »Das tust du nicht!«, keuchte ich. »Du kannst doch die Polizei nicht ausstehen. Du kämpfst gegen sie.« »Wenn es sein muss schon«, gab er zu. »Aber wenn ich sie auf meine Seite bringen kann ...« Er lachte wieder. »Erst nehmen sie dich fest, dann stellen sie euer Lager auf den Kopf. Ich habe euch die ganze Zeit beobachtet. Ich habe genau gesehen, wie schlecht ihr diesen armen Wolfsmenschen behandelt.« »Den Wolfsmann?« »Ja. Ihr sperrt ihn ein wie ein wildes Tier.« »Er ist ein wildes Tier«, entgegnete ich. »Nein«, widersprach R. V. "Du bist das Tier, Mann.« »R. V., hör doch mal zu«, lenkte ich ein. »Warum müssen wir Feinde sein? Komm mit mir zurück zum Zeltplatz. Rede mit Meister Riesig und den anderen. Sieh dir an, wie wir leben. Lern uns kennen und verstehen. Es besteht kein Grund, zur ...« »Spar dir deine schönen Worte«, fauchte R. V. »Ich hole jetzt die Polizei. Du kannst mir erzählen, was du willst, nichts wird mich davon abhalten.« Ich holte tief Luft. »Wenn das, was ich erzähle, dich nicht davon abhält, dann muss ich eben handeln!« Ich nahm den letzten Rest meiner Kraft zusammen und schleuderte das tote Schaf nach R. V. Das schwere Tier traf ihn vor der Brust, und er flog in hohem Bogen vom Zaun. Erst schrie er vor Überraschung auf, dann vor Schmerz, als er schwer zu Boden plumpste. Ich hechtete über den Zaun und kniete auf seiner Brust, bevor er sich aufrappeln konnte. »Wie hast du das gemacht, Mann?«, japste er. »Vergiss es«, fuhr ich ihn an. »Kinder können nicht mit toten Schafen werfen«, stieß er hervor. »Wie hast...« »Klappe!«, schrie ich und verpasste seinem bärtigen Gesicht eine Ohrfeige. Er starrte mich entgeistert an. »Hör zu, Reggie Veggie!«, knurrte ich und nannte ihn absichtlich bei dem verhassten Spitznamen. »Hör gut zu! Du wirst weder zur Polizei noch zum Veterinäramt gehen. Denn wenn du das tust, bleibt dieses Schaf nicht die einzige Leiche, die ich heute zurück ins Lager des Cirque du Freak schleife.« 75
»Was bist du denn für einer?«, fragte er. Seine Stimme zitterte, und seine Augen flackerten
verstört. »Ich bin dein Untergang, wenn du noch weiteren Ärger machst«, drohte ich, grub
meine Fingernägel zu beiden Seiten seines Gesichtes in die Erde und presste seinen Kopf
gerade so kräftig zwischen meinen Handflächen, dass er merkte, wie stark ich war.
»Verschwinde aus dieser Gegend, Reggie«, fuhr ich fort. »Geh und such deine Freunde
von der NSO. Be schränk dich wieder darauf, gegen den Bau von Straßen und Brücken zu
protestieren. Die Sache hier ist eine Nummer zu groß für dich. Ich und meine Zirkusfreunde
sind Freaks, und für Freaks gelten andere Gesetze als für normale Menschen. Verstanden?«
»Du bist verrückt«, flüsterte er. »Stimmt«, seufzte ich. »Aber nicht so verrückt wie du, wenn
du hier bleibst und dich weiter einmischst.«
Dann stand ich auf und warf mir das tote Schaf über die Schulter.
»Zur Polizei zu gehen, ist sowieso sinnlos«, bemerkte ich. »Bis sie auf unserem Zeltplatz
eintreffen, ist von diesem Schaf nicht das kleinste Fitzelchen mehr übrig.
Mach, was du willst, R. V. Bleib oder geh. Zeige mich bei der Polizei an oder halt den Mund.
Das liegt bei dir.
Aber eins kann ich dir versichern: Für mich und meine Freunde besteht kein Unterschied
zwischen dir und diesem Schaf.« Ich schüttelte das Tier. »Es macht uns nicht mehr aus, dich
abzumurksen, als ein Stück Vieh zu schlachten.«
»Du bist ein Monster!«, keuchte R. V.
»Ja«, bestätigte ich, »aber ein sehr junges Monster. Du solltest erst mal die ausgewachsenen
kennen lernen.«
Ich grinste ihn bösartig an und hasste mich gleichzeitig für meine Gemeinheit, aber er ließ
mir keine andere Wahl.
»Bis dann, Reggie Veggie«, sagte ich und ging.
Ich blickte mich nicht um. Es war nicht nötig. Ich konnte seine Zähne praktisch den
ganzen Weg bis zum Zeltplatz klappern hören.
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Diesmal marschierte ich schnurstracks zu Meister Riesig und erzählte ihm alles über R. V. Er hörte aufmerksam zu und bemerkte dann: »Du hast genau das Richtige getan.« »Ich habe nur getan, was ich tun musste«, gab ich zurück. »Ich bin nicht stolz darauf. Ich hasse es, Leute einzuschüchtern oder zu erschrecken, aber es ging nun mal nicht anders.« »Von Rechts wegen hättest du ihn töten sollen«, sagte Meister Riesig. »Dann könnte er uns keinen Ärger mehr machen.« »Ich bin kein Mörder«, erklärte ich. »Ich weiß«, seufzte er. »Ich auch nicht. Schade, dass die Kleinen Leute dich nicht begleitet haben. Sie hätten ihm ohne viel Federlesens den Kopf abgerissen.« »Was sollen wir denn jetzt tun?«, fragte ich. »Ich glaube nicht, dass er großen Schaden anrichten kann«, meinte Meister Riesig. »Um sofort zur Polizei zu gehen, hat er bestimmt zu viel Angst. Und selbst wenn - er kann dir nichts nachweisen. Es ist überflüssig und ärgerlich, aber wir mussten uns in der Vergangenheit oft genug mit der Polizei herumschlagen. Bis jetzt sind wir immer mit ihnen fertig geworden. Was mir mehr Sorgen bereitet, ist das Veterinäramt. Wir könnten sofort zusammenpacken und uns aus dem Staub machen, aber diese Typen vom Amt heften sich einem wie Bluthunde an die Fersen, wenn sie erst einmal eine Spur aufgenommen haben. Wir brechen morgen auf«, entschied er. »Für heute Abend ist bereits eine Vorstellung angesetzt, und ich sage nicht gern kurzfristig ab. Ein Mitarbeiter vom Veterinäramt kann nicht vor morgen früh hier sein, und bis dahin haben wir unsere Zelte längst abgebrochen.« »Also sind Sie nicht böse auf mich?«, fragte ich. »Nein«, beschwichtigte er. »Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas vorkommt. Dich trifft keine Schuld.« Ich half Meister Riesig, die Nachricht von unserem be vorstehenden Aufbruch im Lager zu verbreiten. Die Reaktionen waren unterschiedlich. Die meisten schie nen sich zu freuen, überhaupt Bescheid zu bekommen; oft genug hatten sie ohne Vorwarnung innerhalb von ein oder zwei Stunden die Koffer packen müssen. Für mich bedeutete das wieder einen harten Arbeitstag. Ich musste mich nicht nur auf die Vorstellung vorbereiten, sondern auch den anderen beim Packen helfen. Ich wollte zuerst Truska meine Hilfe anbieten, aber ihr Zelt war schon leer geräumt, als ich es betrat. Sie zwinkerte mir nur zu, als ich sie fragte, wie sie das so schnell geschafft habe. Sobald Mr. Crepsley aufwachte, informierte ich auch ihn über die bevorstehende Abreise. Er schien nicht überrascht. »Wir haben uns lange genug hier aufgehalten«, meinte er. Ich bat ihn darum, bei der Abendvorstellung nicht auftreten zu müssen, weil ich mich nicht gut fühlte. »Ich will früh ins Bett«, erklärte ich, »und mich mal so richtig ausschlafen.« »Das wird die Sache nur verschlimmern«, warnte Mr. Crepsley. »Es gibt nur eins, was dir helfen kann, und du weißt auch genau, was.« Der Abend verging, und der Beginn der Vorstellung nahte. Wieder drängte sich eine große Menschenmenge vor dem Zelt. Auf der Straße stauten sich die Autos in beiden Richtungen. Die Zirkusleute hatten alle Hände voll zu tun: Sie zogen ihre Kostüme an, wiesen den Be suchern die Plätze oder verkauften Andenken. Die Einzigen, die anscheinend nichts zu tun hatten, waren ich und Evra, der nicht auftreten konnte, weil seine Schlange immer noch krank war. Er ließ sie ein paar Minuten allein, um sich den Beginn der Vorstellung anzusehen. Wir standen seitlich in den Kulissen, als Meister Riesig die Show eröffnete und den Wolfsmenschen ankündigte. Wir warteten die erste Pause ab, bevor wir uns verdrückten, draußen vor dem Zelt herumlungerten und den Sternenhimmel betrachteten. »Ich werde diesen Ort vermissen, wenn wir weiterziehen«, meinte Evra. »Ich mag das Landleben. Man sieht die Sterne viel besser als in der Stadt.« »Ich wusste gar nicht, dass du dich für Astronomie interessierst«, sagte ich. 77
»Tu ich auch nicht«, gab Evra zurück. »Ich sehe mir einfach nur gern die Sterne an.« Nach einer Weile wurde mir schwindlig, und ich musste mich hinsetzen. »Dir geht es nicht besonders gut, nicht wahr?«, fragte Evra. Ich lächelte schwach. »Hab' mich schon besser gefühlt.« »Immer noch kein Menschenblut getrunken?« Ich schüttelte den Kopf. Evra hockte sich neben mich. »Du hast mir nie richtig erklärt, warum du es nicht trinken willst«, meinte er. »Es kann doch nicht so viel anders sein als Tierblut.« »Ich weiß nicht«, seufzte ich. »Aber ich will es auch gar nicht herausfinden.« Ich schwieg einen Moment. »Ich habe Angst, böse zu werden, wenn ich Menschenblut trinke. Mr. Crepsley sagt zwar, dass Vampire nicht böse sind, aber ich bin mir da nicht so sicher. Für mich ist automatisch jeder, der keinen Unterschied zwischen Menschen und Tieren macht, böse.« »Aber wenn es für jemanden nun mal lebensnotwendig ist...«, wandte Evra ein. »Das wäre ja nur der Anfang«, widersprach ich. »Erst würde ich mir einreden, ich täte es, um am Leben zu bleiben. Ich würde mir schwören, nie mehr zu trinken als unbedingt notwendig. Aber was ist, wenn ich mich nicht mehr im Griff habe? Je größer und älter ich werde, desto mehr brauche ich davon. Was ist, wenn mein Durst außer Kontrolle gerät? Wenn ich jemanden umbringe?« »Ich glaube nicht, dass du so etwas tun würdest«, beruhigte mich Evra. »Du bist nicht böse, Darren. Ich glaube nicht, dass ein guter Mensch Böses tun kann. Solange du Menschenblut als Medizin betrachtest, ist doch alles in Ordnung.« »Vielleicht«, stimmte ich zu, obwohl ich nicht wirklich überzeugt war. »Wie dem auch sei im Moment geht es noch ohne. Ich kann mir noch ein paar Tage Zeit lassen, eine endgültige Entscheidung zu treffen.« »Würdest du wirklich lieber sterben, als Menschenblut zu trinken?«, fragte Evra. »Ich weiß es nicht«, antwortete ich ehrlich. »Du würdest mir fehlen«, murmelte Evra betrübt. »Na ja«, sagte ich peinlich berührt, »vielleic ht kommt es ja nicht so weit. Vielleicht gibt es ein anderes Mittel für mich, das Mr. Crepsley mir erst verrät, wenn ihm keine andere Wahl mehr bleibt.« Evra brummte. Er wusste genauso gut wie ich, dass es keinen Ersatz gab. »Ich schau noch mal nach meiner Schlange«, bemerkte er. »Willst du mitkommen und dich ein bisschen zu uns ins Zelt setzen?« »Nein«, lehnte ich ab. »Ich sehe lieber zu, dass ich noch ein bisschen schlafe. Wir müssen morgen früh raus, und ich bin total erledigt.« Wir wünschten einander eine gute Nacht und trennten uns. Ich ging nicht auf dem kürzesten Wege zu Mr. Crepsleys Zelt, sondern schlenderte über den Zeltplatz, dachte über die Unterhaltung mit Evra nach und fragte mich, wie es sich wohl anfühlte zu sterben. Ich war schon einmal »gestorben« und begraben worden, aber das war nicht dasselbe gewesen. Wenn ich richtig starb, war ich ein für alle Mal tot. Mein Leben wäre zu Ende, mein Körper würde verwesen, und dann ... Ich blickte zu den Sternen hoch. Wäre das mein Bestimmungsort? Die andere Seite des Universums? Das Vampir-Paradies ? Alles war so verwirrend. Als ich noch bei meinen Eltern gelebt hatte, hatte ich kaum jemals über den Tod nachgedacht. Der Tod war etwas für alte Leute. Aber jetzt sollte ich ihm bald von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Könnte doch nur jemand anders die Entscheidung für mich treffen! Eigentlich sollte ich mir Sorgen über die Schule und meine Fußballmannschaft machen, nicht darüber, ob ich Menschenblut trinken oder sterben sollte. Das war nicht fair. Ich war noch so jung. Ich sollte nicht... Nicht weit von mir huschte ein Schatten an einem Zelt vorbei, aber ich beachtete ihn nicht. Erst als ich ein deutliches Knacken vernahm, fragte ich mich, wer es verursacht hatte. Um diese Zeit hatte hier draußen niemand etwas zu suchen. Alle, die mit der Show zu tun hatten, befanden sich im großen Zirkuszelt. War es einer der Zuschauer? Ich beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Ich eilte in die Richtung, in die der 78
Schatten verschwunden war. Die Nacht war finster, und nach ein paar Haken hatte ich die Spur des Unbekannten verloren. Ich wollte die Suche gerade einstellen, als ich wieder dieses Knacken hörte, diesmal ganz nahe. Rasch blickte ich mich um, um festzustellen, wo ich mich befand, und wusste mit einem Mal, wo das Geräusch hergekommen sein musste: vom Käfig des Wolfsmannes!
Ich holte tief Luft, nahm meinen Mut zusammen und raste los.
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Zum Glück war das Gras so feucht, dass es unter meinen Füßen nicht raschelte. Als ich den letzten Wohnwagen vor dem Käfig des Wolfsmannes erreicht hatte, blieb ich stehen und lauschte. Ein leises Klirren wie von schweren Ketten war zu hören. Ich trat aus dem Schutz des Wohnwagens. Der Käfig des Wolfsmannes war von zwei seitlich angebrachten Lampen trübe erleuchtet, sodass ich jede Einzelheit deutlich erkennen konnte. Wie jedes Mal nach der Nummer mit der Bestie hatte man den Käfig an seinen Platz zurückgerollt. Auf dem Boden lag ein Fleischbrocken, über den sich der Wolfsmann normalerweise unverzüglich hermachte. Heute Nacht jedoch nicht. Heute Nacht fesselte etwas anderes seine Auf merksamkeit. Vor dem Käfig stand ein großer Mann. Er hielt eine riesige Zange in der Hand und war dabei, die Ketten durchzuschneiden, mit denen die Käfigtür verschlossen war. Der Mann versuchte, die Ketten zu entwirren, aber ohne großen Erfolg. Er fluchte leise und setzte die Zange abermals an. »Was machen Sie denn da?«, rief ich. Der Mann sprang vor Schreck fast in die Luft, ließ die Zange fallen und wirbelte herum. Es war R. V. - wie ich vermutet hatte. Zuerst sah er ängstlich und ertappt aus, aber als er merkte, dass ich allein war, gewann er sein Selbstvertrauen zurück. »Bleib, wo du bist«, warnte er mich. »Was machst du da?«, wiederholte ich. »Ich befreie dieses arme, missbrauchte Geschöpf«, erklärte er. »Ich würde nicht einmal das gefährlichste Tier der Welt in einen solchen Käfig sperren. So etwas ist unmenschlich. Ich lasse ihn laufen. Erst habe ich die Polizei benachrichtigt, sie werden morgen früh hier sein, aber dann habe ich beschlossen, selbst schon mal mit der Arbeit anzufangen.« Ich schnappte nach Luft. »Das kannst du doch nicht machen! Bist du denn verrückt? Der Kerl ist unberechenbar. Wenn du ihn rauslässt, bringt er jedes Lebewesen im Umkreis von fünf Kilometern um!« »Das behauptest du«, schnaubte R. V. »Ich glaube nicht daran. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Tiere nur darauf reagieren, wie man sie behandelt. Wenn man sie wie wilde Bestien behandelt, verhalten sie sich auch so. Wenn man ihnen aber mit Respekt, Liebe und Menschlichkeit begegnet...« »Du weißt nicht, was du tust!«, rief ich. »Du kannst den Wolfsmann nicht mit anderen Tieren vergleichen. Geh weg da, bevor du ernsthaften Schaden anrichtest. Lass uns noch mal darüber reden. Lass uns...« »Nein!«, brüllte R. V. »Ich habe genug vom Reden!« Er drehte sich wieder zum Käfig des Wolfsmannes um und kämpfte mit den Ketten. Dabei streckte er sogar die Hand in den Käfig und zog die dicksten Kettenstränge durch die Gitterstäbe. Der Wolfsmann beobachtete ihn regungslos. »Halt, R. V.!«, schrie ich und stürzte los, um ihn daran zu hindern, die Käfigtür zu öffnen. Ich packte ihn bei den Schultern und versuchte ihn wegzuziehen, aber ich hatte nicht mehr genug Kraft. Ich boxte ihm ein paar Mal in die Rippen, aber er grunzte bloß und verdoppelte seine Anstrengungen. Da griff ich nach seinen Händen, um ihm die Ketten zu entwinden, aber die Gitterstäbe waren mir im Weg. »Lass mich in Ruhe!«, brüllte R. V. Er wandte den Kopf, um mich anzusehen. Seine Augen funkelten. »Du wirst mich nicht davon abhalten, meine Pflicht zu erfüllen. Ich befreie dieses arme Opfer. Ich lasse Gerechtigkeit walten. Ich ...« Mitten im Satz hörte er auf zu zetern. Sein Gesicht wurde leichenblass, seinen Körper durchlief erst ein Zittern, dann wurde er ganz starr. Ein knirschendes, malmendes, reißendes Geräusch ertönte, und als ich in den Käfig blickte, merkte ich, dass der Wolfsmann seinen Platz verlassen hatte. Während R. V. und ich uns zankten, hatte er einen Satz quer durch den Käfig gemacht, R. V.'s Arme gepackt, sie sich ins Maul gestopft und unterhalb der Ellenbo gen abgebissen! 80
Der Umweltkämpfer taumelte nach hinten. Er hob die Oberarme und sah zu, wie das Blut stoßweise aus den Stümpfen seiner Ellenbogen schoss. Ich versuchte, seine Unterarme aus dem Maul des Wolfsmannes zu zerren. Wenn es mir gelang, sie zu retten, konnten sie wieder angenäht werden, aber der Wolfsmann war schneller als ich, sprang außer Reichweite und begann genüsslich zu kauen. In Sekundenschnelle waren R. V.'s Arme nur noch eine blutige Masse, und ich wusste, dass sie nie mehr zu gebrauchen sein würden. »Wo sind meine Hände?«, fragte der Verwundete ent setzt. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem bärtigen Mann zu. Er starrte immer noch mit einem seltsamen Gesichtsausdruck auf die Stummel, die einmal seine Arme gewesen waren, und schien den Schmerz noch nicht zu spüren, der unvermeidlich folgen musste. »Wo sind meine Hände?«, fragte er wieder. »Sie sind weg. Eben waren sie noch da. Wo kommt dieses ganze Blut her? Warum kann ich die Knochen unter meiner Haut sehen?« Erst bei dieser letzten Frage überschlug sich seine Stimme: »Wo sind meine Hände?« »Du musst mitkommen«, sagte ich und ging auf ihn zu. »Jemand muss sich um deine Arme kümmern, bevor du verblutest.« »Bleib mir bloß vom Leib!«, kreischte R. V. Er versuchte, die Hand zu heben, um mich abzuwehren, dann merkte er wieder, dass er keine Hände mehr hatte. »Daran bist nur du schuld!«, brüllte er. »Du hast mir das angetan!« »Nein, R. V., es war der Wolfsmann«, widersprach ich, aber er hörte gar nicht zu. »Es ist deine Schuld«, beharrte er. »Du hast mir meine Hände genommen. Du bist ein heimtückisches kleines Ungeheuer und hast meine Hände gestohlen! Meine Hände! Meine Hände!« Er fing wieder an zu brüllen. Ich streckte die Hand nach ihm aus, aber diesmal stieß er mich weg, drehte sich um und lief davon. Er rannte über den Zeltplatz, die blutüberströmten Arme hoch erhoben, und schrie aus voller Kehle, bis die Nacht ihn verschluckte: »Meine Hände! Meine Hände! Meine Hände!« Ich wollte ihm nachlaufen, aber ich hatte Angst, dass er auf mich losgehen würde. Stattdessen rannte ich in die entgegengesetzte Richtung, um Mr. Crepsley und Meister Riesig zu suchen, doch mit einem Mal erstarrte ich mitten im Lauf, als ich hinter mir ein bedrohliches Knurren vernahm. Langsam drehte ich mich um. Der Wolfsmann lehnte an der Tür seines Käfigs, die sperrangelweit offen stand. Er musste die letzten Ketten selbst entfernt und sich befreit haben. Ich bewegte keinen Muskel, während er dastand und mich mit seinen langen, scharfen, im trüben Licht glitzernden Zähnen bösartig angrinste. Er blickte kurz nach rechts und links, streckte die Hände aus und packte die Gitterstäbe zu beiden Seiten der Tür. Dann duckte er sich und spannte die Beinmuskeln an. Er sprang direkt auf mich zu. Ich schloss die Augen und erwartete mein Ende. Ich spürte, wie er vielleicht einen Meter vor mir landete, und stimmte murmelnd ein letztes Gebet an. Aber dann hörte ich ihn über mir und merkte, dass er über mich hinweggesprungen war. Ein paar furchtbare Sekunden lang erwartete ich, dass er seine Fänge in meinen Nacken schlagen und mir den Kopf abbeißen würde. Aber nichts geschah. Verwirrt und blinzelnd drehte ich mich um. Er rannte weg von mir! Dicht vor ihm erspähte ich eine Gestalt, die, so schnell sie konnte, zwischen die Wohnwagen floh, und ich begriff, dass der Wolfsmann sich ein anderes Opfer gewählt hatte. Er hatte mich verschmäht, weil ihm eine schmackhaftere Mahlzeit über den Weg gelaufen war. Taumelnd machte ich ein paar Schritte in seine Richtung. Ich lächelte unwillkürlich und dankte stumm den Göttern. Ich konnte kaum fassen, wie knapp ich dem Tod entronnen war. Als der Wolfsmann durch die Luft gesprungen war, war ich ganz sicher gewesen ... Meine Füße stießen gegen ein Hindernis, und ich blieb stehen. Als ich den Blick senkte, bemerkte ich eine Tasche. Derjenige, auf den es der Wolfsmann abgesehen hatte, musste sie fallen gelassen haben, und erst jetzt fragte ich mich, wer es wohl sein mochte. Ich hob die Tasche auf. Eigentlich war es eher ein Rucksack. Durch den 81
Stoff hindurch konnte ich fühlen, dass er mit Kleidern voll gestopft war. Als ich ihn umdrehte, fiel eine kleine Plastikdose heraus. Ich bückte mich danach, öffnete den Deckel und roch das säuerliche Aroma von ... eingelegten Zwiebeln! Mir blieb fast das Herz stehen. Wie verrückt suchte ich den Rucksack nach einem Namensschild ab und betete, dass die eingelegten Zwiebeln nicht das bedeuteten, was ich befürchtete. Mein Stoßgebet wurde nicht erhört. Die Handschrift, die ich schließlich entdeckte, war sorgfältig, aber unbeholfen. Die Schrift eines Kindes. »Dieser Rucksack gehört Sam Grest«, stand da, und darunter seine Adresse. »Hände weg!!«, lautete die Warnung am Schluss, was fast ironisch klang, wenn ich daran dachte, was gerade erst mit R. V. passiert war. Aber ich hatte jetzt keine Zeit, über den makabren Scherz zu lachen. Sam! Aus irgendeinem Grund hatte er sich auf den Zeltplatz geschlichen ... wahrscheinlich, um sich in einem der Wohnwagen zu verstecken, wie er angekündigt hatte. Aber dann musste er mich gesehen haben und war mir gefolgt. Sam war es gewesen, den die funkelnden Augen des Wolfsmannes über meine Schulter hinweg fixiert hatten. Und es war Sam, der jetzt um sein Leben rannte. Der Wolfsmann war Sam auf den Fersen!
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Ich hätte ihnen nicht auf eigene Faust folgen sollen. Ich hätte Hilfe holen sollen. Es war der pure Wahnsinn, allein in die Dunkelheit zu laufen. Aber er wollte Sam an den Kragen. Sam, der sich unbedingt dem Zirkus anschließen wollte. Sam, der mich aufgefordert hatte, Blutsbrüderschaft mit ihm zu schließen. Dem harmlosen, freundlichen, altklugen Sam. Dem Jungen, der mir das Leben gerettet hatte. Ich dachte keine Sekunde an meine eigene Sicherheit. Sam war in Gefahr, und mir blieb keine Zeit, andere um Hilfe zu bitten. Vielleicht bedeutete es meinen Tod, aber ich musste ihnen folgen, musste versuchen, Sam zu retten. Das war ich ihm schuldig. Bald hatte ich den Rand des Zeltplatzes erreicht. Der bewölkte Nachthimmel hatte sich aufgeklärt, und ich erspähte den Wolfsmann, der gerade zwischen den Bäumen verschwand. Ich rannte hinterher, so schnell ich konnte. Nach einer Weile hörte ich den Wolfsmann heulen. Das war ein gutes Zeichen. Es bedeutete, dass er Sam noch nicht erwischt hatte. Sonst wäre er zu beschäftigt mit Fressen gewesen, um zu heulen. Ich fragte mich allerdings, warum er Sam noch immer nicht eingeholt hatte. Ich hatte den Wolfsmann zwar nie frei herumlaufen gesehen, aber er war bestimmt sehr schnell. Vielleicht spielte er mit Sam, neckte ihn, bevor er zum tödlichen Biss ansetzte. Die Fußabdrücke der beiden waren auf dem feuchten Erdboden deutlich zu erkennen, aber ich hätte ihnen auch mühelos nur nach dem Gehör folgen können. Ge räuschlos durch einen Wald zu schleichen, ist fast unmöglich, besonders nachts. So liefen wir eine Weile: Sam und der Wolfsmann vorneweg und ich mit einigem Abstand hinterher. Meine Beine wurden allmählich müde, aber ich schleppte mich mit Gewalt weiter. Während ich rannte, dachte ich darüber nach, was ich tun sollte, wenn ich die beiden einholte. In einem fairen Kampf war ich dem Wolfsmann hoffnungslos unterle gen. Vielleicht konnte ich ihm einen dicken Ast über den Schädel ziehen und ihn so außer Gefecht setzen, aber das war ziemlich unwahrscheinlich. Er war stark und schnell und hatte bereits Menschenblut geleckt. Ich würde ihn nicht aufhalten können. Meine einzige Chance war, mich ihm in den Weg zu stellen und statt Sam als Opfer anzubieten. Dann ließ er Sam vielleicht laufen. Für Sam zu sterben, machte mir nichts aus. Ich hatte bereits mein menschliches Dasein für einen Freund hingegeben; einem anderen mein Leben zu opfern, war da nicht viel mehr verlangt. Außerdem diente mein Tod auf diese Weise sogar noch einem guten Zweck. Ich brauchte mir keine Sorgen mehr zu machen, ob ich Menschenblut trinken oder verhungern sollte. Ich konnte im Kampf sterben. Nach ein paar Minuten erreichte ich eine Lichtung und merkte, wohin Sam uns geführt hatte: zu dem alten, verfallenen Bahnhof. Das bewies, dass er trotz allem einen kühlen Kopf bewahrt hatte. Dieses Gelände war ideal, um sich zu verstecken, voller Schlupfwinkel und einer Menge Gegenstände Metallstücke und Glasscherben -, die man bei einem Kampf als Waffe benutzen konnte. Vielleicht mussten Sam und ich gar nicht sterben. Vielleicht konnten wir den Wolfsmann besiegen. Der Wolfsmann stand mitten auf dem gepflasterten Vorplatz und hielt die Nase witternd in die Luft. Er heulte wieder, ein tiefes, markerschütterndes Gebrüll. Dann trabte er zu einem der verrosteten Waggons. Ich schlich so leise ich konnte hinten um den Waggon herum. Dann blieb ich stehen und horchte, aber alles war still. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und spähte durch ein zerbrochenes Fenster - nichts. Ich duckte mich wieder und schlich zum nächsten Fenster. Aber auch hier konnte ich nichts erkennen, als ich hindurchblickte. Gerade als ich mich vor dem letzten Fenster auf die Ze henspitzen stellte, bemerkte ich aus dem Augenwinkel eine Metallstange, die sich mit großer Geschwindigkeit auf mein Gesicht 83
zubewegte.
Ich sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite. Die Eisenstange sauste pfeifend an meiner
Wange vorbei, streifte mich zwar, schürfte mir aber nur die Haut auf. »Sam, hör auf, ich
bin's!«, zischte ich und ließ mich zu Boden fallen.
»Darren?«, fragte er verblüfft. »Was machst du denn hier?« »Ich bin dir gefolgt«, sagte ich.
»Ich dachte, du wärst der Wolfsmann. Ich wollte dich erschlagen.«
»Das wäre dir auch fast gelungen.« »Tut mir Leid.« »Um Himmels willen, Sam, lass uns jetzt bloß keine Zeit mit Entschuldigungen verschwenden«, schnauzte ich ihn an. »Wir sitzen ganz schön in der Patsche. Wir müssen unsere grauen Zellen anstrengen. Komm raus da.« Er trat vom Fenster zurück. Es raschelte leise, dann erschien er in der Wagentür. Er blickte sich hastig nach allen Seiten um, sprang von der Schwelle und kam ge duckt zu mir herüber. »Wo ist er?«, fragte Sam. »Keine Ahnung«, flüsterte ich zurück. »Aber er muss hier irgendwo sein. Ich habe ihn in diese Richtung laufen sehen.« »Vielleicht hat er ja ein anderes Opfer gefunden«, meinte Sam hoffnungsvoll. »Ein Schaf oder eine Kuh.« »Darauf sollten wir uns lieber nicht verlassen«, raunte ich. »Er ist bestimmt nicht diese ganze Strecke gerannt, nur um die Jagd am Ende aufzugeben.« Wir kauerten uns dicht nebeneinander. Sam suchte das Gelände rechts von uns mit den Augen ab, ich links. Ich fühlte Sam zittern und er bestimmt auch mich. »Was sollen wir denn jetzt machen?«, fragte Sam. »Weiß nicht«, gab ich zurück. »Hast du eine Idee?« »Mehrere«, erwiderte Sam. »Wir könnten ihn ins Wärterhaus locken. Vielleicht fällt er durch das Loch im Fußboden. Dann sitzt er dort unten in der Falle.« »Vielleicht«, entgegnete ich. »Aber was ist, wenn wir in das Loch stürzen? Dann sind wir genauso gefangen. Er könnte jederzeit zu uns hinunterspringen und uns auffressen.« »Wie wär's mit den Dachbalken?«, schlug Sam vor. »Wir könnten bis zur Mitte eines Balkens balancieren und uns Rücken an Rücken stellen. Wir könnten Äste oder Knüppel mitnehmen und ihn in die Tiefe stoßen, wenn er kommt. Dort kann er uns nur von einer Seite angreifen.« »Außerdem suchen die Leute vom Cirque du Freak bestimmt schon nach uns und sind bald hier«, sagte ich nachdenklich. »Aber wenn er nun den Balken an einem Ende packt und durchbricht?« »Diese Balken sind tief im Mauerwerk verankert«, versicherte Sam. »Und ich glaube nicht, dass er sie mit blo ßen Händen zerbrechen kann.« »Trägt ein Balken denn das Gewicht von drei Personen?«, fragte ich. »Ich bin nicht sicher«, räumte Sam ein. »Immerhin wäre es ein schnelles Ende, wenn wir aus dieser Höhe zu Boden stürzen. Wer weiß - vielleicht haben wir ja sogar Glück und fallen auf den Wolfsmann. Er würde unseren Aufprall dämpfen und dabei zerquetscht werden.« Ich lachte matt. »Du hast zu viele Zeichentrickfilme gesehen. Aber die Idee ist trotzdem nicht übel. Jedenfalls besser als alles, was mir einfällt. Es wird nicht einfach sein, ihn abzuwehren, sogar auf einem Dachbalken, aber er kommt dort nicht so leicht an uns heran.« »Was meinst du, wie lange es dauert, bis die Leute vom Cirque du Freak hier sind?«, fragte Sam. »Hängt ganz davon ab, wann sie merken, was passiert ist«, erwiderte ich. »Wenn wir Glück haben, haben sie sein Geheul gehört und sind in ein paar Minuten da. Ansonsten müssen wir das Ende der Vorstellung abwarten, und das kann eine Stunde dauern, vielleicht sogar noch länger.« »Hast du eine Waffe dabei?«, wollte Sam wissen. »Nein«, antwortete ich. »Ich hatte keine Zeit, eine einzustecken.« Er hielt mir eine kurze Eisenstange hin. »Hier«, sagte er. »Die hatte ich als Reserve. Sie taugt nicht viel, aber sie ist besser als nichts.« »Irgendeine Spur von dem Wolfsmann?«, zischte ich. »Nein«, erwiderte Sam. »Bis jetzt 84
noch nicht.« »Wir sollten lieber Leine ziehen, bevor er zurückkommt«, meinte ich. »Wie
sollen wir es bis zum Wärterhaus schaffen? Der Weg dorthin ist weit, und der Wolfsmann
kann uns überall auflauern.« »Wir müssen einfach losflitzen und das Beste hoffen«,
erwiderte Sam.
»Sollten wir uns vielleicht trennen?«, schlug ich vor. »Lieber nicht«, wehrte Sam ab. »Ich
glaube, gemeinsam haben wir mehr Chancen.« »Ganz meine Meinung. Bist du bereit?«
»Lass mich noch ein paar Sekunden verschnaufen«, bat er.
Ich drehte mich zu ihm um und sah, dass er Mühe hatte zu atmen. Sein Gesicht war
kreideweiß, die Kleider waren von der wilden Jagd durch den Wald zerrissen und verdreckt,
aber er wirkte fest entschlossen. Er war ein zäher kleiner Kerl.
»Warum bist du heute Nacht zurückgekommen, Sam?«, fragte ich leise.
»Um mich dem Cirque du Freak anzuschließen«, gab er zurück.
»Obwohl ich dir alles über mich erzählt habe?« »Das Risiko gehe ich ein«, erklärte er.
»Schließlich bist du mein Freund, oder? Und Freunde müssen zusammenhalten. Deine
Geschichte hat mich nur in meinem Entschluss bestärkt mitzukommen, nachdem ich mich
vom ersten Schreck erholt hatte. Ich habe Bücher über Persönlichkeitsspaltung gelesen.
Vielleicht könnte ich dich heilen.«
Ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. »Du bist ein Spinner, Sam Grest«, sagte ich. Er
nickte.
»Ich weiß«, gab er lächelnd zurück. »Deshalb passen wir beide ja so gut zusammen.« »Wenn
wir hier jemals mit heiler Haut rauskommen«, versprach ich, »werde ich dir keine Steine
mehr in den Weg legen. Und du brauchst keine Angst zu haben, dass ich dich auffresse, das
habe ich bloß erfunden, um dich abzuschrecken.« »Ehrlich?«, fragte er. »Ehrlich«, bestätigte
ich.
»Puh.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Dann kann ich ja wieder ruhig
schlafen.« »Falls der Wolfsmann uns nicht erwischt, ja«, bestätigte ich. »Bist du jetzt so
weit?«
»Jawohl.« Er zog seine Hose hoch. »Ich zähle bis drei«, verkündete er. »Okay.«
»Eins«, fing er an.
Wir drehten uns in Richtung Wärterhaus. »Zwei.«
Wir gingen in Startposition wie Sprinter vor dem Rennen. »Dr...«
Bevor er ausgesprochen hatte, schossen zwei behaarte Hände unter dem Wagenboden hervor, wo
der Wolfsmann sich die ganze Zeit versteckt hatte. Seine Finger schlangen sich um Sams Beine,
packten ihn bei den Fußgelenken und rissen ihn zu Boden.
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Sam fing sofort ge llend zu schreien an. Der Sturz verschlug ihm einen Augenblick den Atem, aber nach wenigen Sekunden schrie er weiter. Ich ließ mich auf die Knie fallen, packte Sams Arme und zog. Unter dem Waggon erspähte ich den Wolfsmann, der platt auf seinem zottigen Bauch lag und bösartig grins te. Speichel rann ihm aus dem Maul. Ich zog und zerrte, und Sam rutschte ein Stück in meine Richtung, aber der Wolfsmann lockerte seinen Griff nicht, sondern ließ sich mit unter dem Waggon hervorziehen. Ich ließ Sam sofort los. Stattdessen ergriff ich die lange Eisenstange, die er fallen gelassen hatte, sprang auf die Füße und begann, auf die ausgestreckten Arme des Wolfsmannes einzuschlagen, woraufhin dieser wütend aufheulte. Er löste eine seiner behaarten Pranken von Sams Be in und holte nach mir aus. Ich duckte mich und ließ die Eisenstange auf seine andere Hand niedersausen, die immer noch Sams Knöchel umklammerte. Der Wolfsmann winselte vor Schmerz, und seine Finger glitten ab. »Lauf!«, brüllte ich Sam zu, während ich ihn hochzog. Seite an Seite hetzten wir zum Wärterhaus. Hinter uns hörte ich, wie der Wolfsmann sich endgültig unter dem Waggon hervorarbeitete. Bis dahin hatte er nur mit uns gespielt, aber jetzt war er außer sich vor Wut. Ich wusste, dass er jegliche Hemmungen verloren hatte. Schluss mit den Spielchen. Wir hatten keine Chance, das rettende Haus zu erreichen. Er würde uns noch vor der Hälfte der Strecke eingeholt haben. »Lauf... weiter«, rief ich Sam keuchend zu. Dann blieb ich stehen, drehte mich um und erwartete das heranstürmende Untier. Damit hatte der Wolfsmann nicht gerechnet, und er prallte mit voller Wucht gegen mich. Sein Körper war behaart, verschwitzt und schwer, und der Zusammenprall warf uns beide zu Boden. Einen Augenblick lang waren unsere Arme und Beine ein einziges Durcheinander, aber ich machte mich hastig frei und attackierte ihn wieder mit der Eisenstange. Der Wolfsmann knurrte wütend und holte mit seiner Pranke nach meinem Arm aus. Diesmal erwischte er mich genau an der Stelle, wo der Arm in die Schulter überging. Die Wucht seines Hiebes betäubte meinen Arm, der nun nur noch ein nutzloser Fleischklumpen war. Die Eisenstange fiel mir aus der Hand, doch ich bückte mich sofort mit der unverletzten Linken danach. Aber der Wolfsmann war schneller. Er schnappte sich die Stange und schleuderte sie weit von sich in die Dunkelheit, wo sie mit einem metallischen Klirren zu Boden fiel. Dann richtete er sich langsam auf und grinste mich heimtückisch an. Ich las in seinem Gesicht und seinen Augen und wusste genau, was er sagen würde, wenn er sprechen könnte: »Endlich hab ich dich, Darren Shan! Du hast lange genug deinen Spaß gehabt, aber jetzt wird's tödlicher Ernst!« Er packte meinen Brustkorb, riss das Maul weit auf und beugte sich vor, um mir den Kopf abzubeißen. Ich roch seinen fauligen Atem und sah Fetzen von R. V.'s Hemd zwischen seinen gelben Zähnen stecken. Bevor er die Kiefer schließen konnte, traf ihn etwas am Kopf und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Hinter ihm erspähte ich Sam, der einen dicken Holzprügel in der Hand hielt. Er schlug ein zweites Mal zu, und der Wolfsmann musste mich loslassen. »Aller guten Dinge sind drei«, brüllte Sam und schlug zum dritten Mal zu. »Los! Wir müssen ...« Das Ende dieses Satzes hörte ich nicht mehr. Denn als ich Sam zu Hilfe eilen wollte, holte der Wolfsmann blindlings mit der Faust aus. Er hatte nicht gezielt, aber er hatte Glück und traf mich mitten ins Gesicht. Ich taumelte zurück. Mein Kopf explodierte fast. Ich sah gleißendes Licht und riesige Sterne, dann sank ich bewusstlos zu Boden. 86
Als ich ein paar Sekunden oder vielleicht auch ein paar Minuten später wieder zu mir kam, lag über dem Bahnhofsgelände eine Unheil verkündende Stille. Ich weiß nicht genau, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Ich hörte niemanden laufen oder schreien oder kämp fen. Alles, was ich vernahm, war ein gleichmäßiges Kaugeräusch wenige Meter von mir entfernt. Schmatz. Schmatz. Schmatz. Ohne mich um das Pochen in meinem Schädel zu kümmern, richtete ich mich langsam auf. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich meine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Schließlich merkte ich, dass ich direkt auf den Rücken des Wolfs mannes starrte. Er kauerte auf allen vieren und beugte den Kopf über irgendetwas. Er verursachte also die Schmatzlaute. Ich war immer noch so benommen von seinem Fausthieb, dass ich einen Augenblick brauchte, um zu begreifen, dass er nicht irgendetwas verschlang ... sondern irgendjemanden. SAM! Ohne Rücksicht auf meinen schmerzenden Kopf rappelte ich mich hastig auf und stürzte vor, aber ein einziger Blick auf die blutige Masse unter dem Wolfsmann genügte, und ich wusste, dass ich zu spät kam. »NEIN!«, schrie ich und trommelte vergeblich mit meiner gesunden Hand auf den Rücken des Wolfsmannes. Der grunzte bloß und schlug nach mir. Ich wich aus, dann fuhr ich fort, ihn zu boxen und außerdem noch zu treten. Er knurrte und versuchte wieder, mich wegzustoßen, aber ich ließ mich nicht beirren und zerrte an seinen Haaren und seinen Ohren. Da heulte er auf und hob endlich den Kopf. Sein Maul war rot, ein dunkles, schreckliches Rot, voller Einge weide, Fleischfetzen und Knochensplitter. Er stürzte sich auf mich, riss mich zu Boden und hielt mich mit einem langen, zottigen Arm nieder. Er warf den Kopf in den Nacken und sandte ein fürchterliches Geheul in den Nachthimmel. Dann näherte er mit dämonischem Fauchen seine gefletschten Zähne meiner Kehle, bereit, mir mit einem raschen Biss den Garaus zu machen.
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In letzter Sekunde tauchten zwei Hände aus der Dunkelheit auf, packten den Wolfsmann an der Kehle und hielten ihn zurück. Die Hände drehten den Kopf des Untiers gewaltsam zur Seite, sodass es quiekend von mir abließ. Dann kletterte der Angreifer auf seinen Rücken und drückte es nieder. Fausthiebe prasselten hernieder, schneller, als mein Auge folgen konnte, und schließlich lag der Wolfsmann bewusstlos am Boden. Der Angreifer stand auf und half mir hoch. Ich fand mich Auge in Auge mit dem geröteten, vernarbten Gesicht von Mr. Crepsley. »Ich bin so schnell gekommen, wie es ging«, keuchte der Vampir und drehte meinen Kopf behutsam nach links und rechts, um den Schaden zu untersuchen. »Evra hörte den Wolfsmann heulen. Von dir und dem anderen Jungen ahnte er nichts. Er dachte nur, die Bestie sei ausgebrochen. Evra benachrichtigte Meister Riesig, der die Vorstellung abbrach und einen Suchtrupp organisierte. Dann erst bist du mir eingefallen. Als ich dein Bett leer vorfand, habe ich alles abgesucht und schließlich deine Spur entdeckt.« »Ich dachte ... ich müsste ... sterben«, brachte ich mit Mühe heraus. Das Sprechen fiel mir schwer. Mein Körper war voller Schrammen und Schürfwunden, und ich stand noch immer unter Schock. »Ich war ganz sicher. Ich dachte ... keiner kommt mehr. Ich ...« Ich schlang den gesunden Arm um Mr. Crepsleys Hals und umarmte ihn überschwänglich. »Danke«, schluchzte ich. »Danke. Da...« Mein Freund fiel mir wieder ein, und ich stockte. »Sam!«, schrie ich. Ich ließ Mr. Crepsley los und rannte zu dem auf der Erde liegenden Jungen. Der Wolfsmann hatte Sams Bauchdecke zerfetzt und seine Eingeweide fast vollständig verschlungen. Zu meinem Erstaunen lebte Sam noch, als ich neben ihm niederkniete. Seine Augenlider flatterten, und er atmete flach. »Alles in Ordnung, Sam?«, flüsterte ich. Es war eine dumme Frage, aber eine andere brachte ich nicht über die zerschlagenen Lippen. »Sam?« Ich streichelte ihm vorsichtig mit den Fingerspitzen über die Stirn, aber er ließ nicht erkennen, ob er mich hörte oder fühlte. Von der Brust aufwärts wirkte er ganz friedlich. Mr. Crepsley kniete sich neben mich und betrachtete prüfend Sams Körper. »Können Sie ihn retten?«, fragte ich. Mr. Crepsley schüttelte langsam den Kopf. »Sie müssen!«, rief ich. »Sie können die Wunden verschließen. Wir können einen Arzt holen. Sie können ihm ein Mittel geben. Es muss doch möglich sein, ihn ...« »Darren«, unterbrach mich Mr. Crepsley sanft, »wir können nichts mehr für ihn tun. Er liegt im Sterben. Seine Wunden sind zu schwer. Noch ein paar Minuten, und ...« Er seufzte. »Immerhin fühlt er nichts mehr. Es wird nicht wehtun.« »Nein!«, schrie ich und warf mich über Sam. Ich schluchzte so bitterlich, dass mir die Brust schmerzte. »Sam! Du darfst nicht sterben! Sam! Wach auf! Du kannst dich dem Zirkus anschließen und mit uns um die ganze Welt reisen. Du kannst... du ...« Ich konnte nicht weitersprechen, konnte nur den Kopf senken, mich an Sam klammern und weinen. Auf dem Vorplatz des alten, verlassenen Bahnhofs lag hinter mir der bewusstlose Wolfsmann. Mr. Crepsley saß stumm an meiner Seite. Und unter mir lag Sam Grest - mein Freund und Lebensretter - ganz still und glitt tiefer und tiefer in den endgültigen Schlaf eines viel zu frühen, furchtbaren Todes.
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Nach einer Weile spürte ich, dass mich jemand am Ärmel zupfte. Als ich mich umdrehte stand Mr. Crepsley mit betrübtem Gesicht über mir. »Darren«, raunte er, »es mag dir nicht der passende Zeitpunkt scheinen, aber es gibt da etwas, was du tun musst. Um Sams willen. Und um deiner selbst willen.« »Wovon reden Sie?« Ich wischte mir die Tränen ab und starrte zu ihm hoch. »Gibt es doch noch eine Möglichkeit, ihn zu retten? Sagen Sie es mir. Ich bin zu allem bereit.« »Für seinen Körper können wir nichts mehr tun«, erklärte Mr. Crepsley. »Er wird sterben, und daran ist nichts mehr zu ändern. Aber es gibt etwas, was wir tun können, um seinen Geist zu retten. Darren«, sagte er, »du musst Sams Blut trinken.« Ich starrte ihn immer noch an, diesmal nicht hoffnungsvoll, sondern ungläubig. »Wie können Sie mir nur so etwas vorschlagen?«, erwiderte ich leise. »Einer meiner besten Freunde liegt im Sterben, und Sie denken nur daran ... Sie sind ja krank! Sie sind ein krankes, perverses Monster. Sie sollten hier liegen, nicht Sam. Ich hasse Sie. Verschwinden Sie.« »Du verstehst mich nicht«, beharrte er. »O doch!«, schrie ich. »Sam stirbt, und alles, was Ihnen dazu einfällt, ist, wie Sie mich endlich zum Blutsaufen herumkriegen können. Wissen Sie, was Sie sind? Sie sind ein elender ...« »Erinnerst du dich an unser Gespräch darüber, dass Vampire die Fähigkeit besitzen, etwas vom Geist anderer Leute aufzunehmen und zu bewahren?«, fragte er. Gerade hatte ich ihm ein Schimpfwort an den Kopf werfen wollen, aber seine Frage brachte mich aus dem Konzept. »Was hat das denn mit Sam zu tun?«, gab ich zurück. »Darren, es ist wichtig. Erinnerst du dich?« »Ja«, murmelte ich. »Was ist damit?« »Sam stirbt«, wiederholte Mr. Crepsley. »In ein paar Minuten wird er nicht mehr hier sein. Für immer. Aber du kannst einen Teil von ihm in dir bewahren, wenn du jetzt sein Blut trinkst und dadurch sein Leben beendest, bevor es die Wunden tun, die der Wolfsmann ihm zugefügt hat.« Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Sie wollen, dass ich Sam umbringe?«, kreischte ich. »Nein«, seufzte Mr. Crepsley. »Das hat schon jemand anders getan. Aber wenn du seinem Leben ein Ende bereitest, bevor er an den Bissen des Wolfsmannes stirbt, rettest du einen Teil seiner Erinnerungen und Gefühle. Dann kann er in dir weiterleben.« Verzweifelt schüttelte ich den Kopf. »Ich kann sein Blut nicht trinken«, flüsterte ich. »Nicht Sams.« Ich betrachtete den kleinen, entstellten Körper. »Ich kann nicht.« Mr. Crepsley seufzte. »Ich werde dich nicht dazu zwingen«, meinte er. »Aber denk noch einmal darüber nach. Die Tragödie von heute Nacht wird dich noch lange verfolgen und quälen, aber wenn du Sams Blut aussaugst und einen Teil seines Wesens in dich aufnimmst, wirst du leichter über seinen Tod hinwegkommen. Es ist immer schwer, jemanden zu verlieren, den man liebt. Aber auf diese Weise verlierst du ihn nicht ganz und gar.« »Ich kann ihn nicht aussaugen«, schluchzte ich. »Er war mein Freund.« »Gerade weil er dein Freund war, solltest du es tun«, widersprach Mr. Crepsley, wandte sich dann ab und ließ mich mit meiner Entscheidung allein. Ich blickte auf Sam hinunter. Er sah so leblos aus, als hätte er bereits alles eingebüßt, was ihn menschlich machte, lebendig, einzigartig. Ich dachte an seine Witze, seine ellenlangen Sätze, seine Hoffnungen und Träume, und daran, wie schrecklich es wäre, wenn das alles mit seinem Tod verloren ginge. Kniend legte ich die Hand auf Sams blutüberströmten Nacken. »Verzeih mir, Sam«, murmelte ich. Dann grub ich meine scharfen Fingernägel in sein weiches Fleisch, beugte mich vor und presste den Mund auf die so entstandenen Löcher. Ein Blutschwall schoss mir in den Mund und reizte mich zum Würgen. Fast hätte ich losgelassen, aber ich zwang mich zu schlucken. Sams Blut war heiß und schmeckte salzig, es 89
rann durch meine Kehle wie dickflüssige, geschmolzene Butter.
Während ich trank, verlangsamte Sams Puls sich allmählich, bis er schließlich aussetzte. Ich
aber trank weiter bis zum letzten Tropfen und nahm alles in mich auf.
Als ich ihn schließlich vollkommen leer gesaugt hatte, hob ich den Kopf und sandte ein
Geheul zum Himmel wie der Wolfsmann. Das war lange Zeit alles, wozu ich in der Lage war:
zu heulen, zu weinen und zu schreien wie das wilde Geschöpf der Nacht, zu dem ich gewor
den war.
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Meister Riesig und eine Hand voll anderer Mitglieder des Cirque du Freak, darunter auch vier von den Kleinen Leuten, trafen etwas später auf dem Bahnhofsgelände ein. Ich kauerte neben Sams Leiche, zu erschöpft, um weiterzuheulen, starrte mit leeren Augen in die Nacht und spürte, wie sein Blut meinen Magen füllte. »Was ist hier eigentlich los?«, wandte sich Meister Rie sig an Mr. Crepsley. »Wie hat der Wolfsmann es ge schafft, sich zu befreien?« »Ich weiß es nicht, Hibernius«, antwortete Mr. Crepsley. »Ich habe Darren nicht gefragt und habe es auch nicht vor. Er ist jetzt nicht in der Verfassung für ein Verhör.« »Ist der Wolfsmann tot?«, erkundigte sich Meister Rie sig. »Nein«, sagte Mr. Crepsley. »Ich habe ihn bloß k.o. ge schlagen.« »Wenigstens eine gute Nachricht, dem Himmel sei Dank«, seufzte Meister Riesig. Er schnippte mit den Fingern, und die Kleinen Leute legten den bewusstlosen Wolfsmann m Ketten. Ein Zirkuslastwagen fuhr vor, und sie hievten die Bestie auf die Ladefläche. Einen Augenblick erwog ich, den Tod des Wolfsmannes zu fordern, aber was hätte das noch genützt? Er war nicht böse, nur von Natur aus wild. Ihn zu töten, wäre sinnlos und grausam gewesen. Als sie mit dem Wolfsmann fertig waren, wandten die Kleinen Leute ihre Aufmerksamkeit Sams zerfetzten Überresten zu. »Halt«, rief ich, als sie sich bückten, um meinen Freund aufzuheben und wegzuschleppen. »Was haben sie mit Sam vor?« Meister Riesig hüstelte verlegen. »Ich, ähem, könnte mir vorstellen, dass sie ihn entsorgen wollen«, erwiderte er. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, was das bedeutete. »Sie wollen ihn aufessen?«, schrie ich schrill. »Wir können ihn nicht einfach hier liegen lassen«, redete Meister Riesig mir zu, »und wir haben nicht die Zeit, ihn zu begraben. Es ist die einfachste ...« »Nein«, unterbrach ich ihn bestimmt. »Darren«, beschwichtigte Mr. Crepsley, »wir sollten uns nicht einmischen in ...« »Nein!«, brüllte ich und sprang auf die Füße, um die Kleinen Leute wegzuscheuchen. »Wenn sie Sam aufessen wollen, müssen sie zuerst mich verschlingen!« Die Kleinen Leuten starrten mich mit hungrigen, grünen Augen stumm an. »Ich glaube, sie würden sich sehr freuen, dir diesen Gefallen zu erweisen«, bemerkte Meister Riesig trocken. »Ich meine es ernst«, knurrte ich. »Ich lasse nicht zu, dass sie Sam aufessen. Er hat ein anständiges Begräbnis verdient.« »Damit ihn anschließend die Würmer fressen?«, meinte Meister Riesig. Als ich ihn streng anblickte, seufzte er und schüttelte gereizt den Kopf. »Lass dem Jungen seinen Willen, Hibernius«, lenkte Mr. Crepsley ein. »Geh du mit den anderen zurück zum Zirkus. Ich bleibe bei Darren und helfe ihm, ein Grab auszuheben.« »Meinetwegen«, sagte Meister Riesig achselzuckend. Er pfiff und winkte die Kleinen Leute mit gekrümmtem Zeigefinger zu sich. Erst zögerten sie, aber dann folgten sie ihm, scharten sich um den Direktor des Cirque du Freak und ließen mich mit dem toten Sam Grest allein. Als Meister Riesig und seine Gehilfen sich auf den Rückweg machten, setzte Mr. Crepsley sich wieder ne ben mich. »Wie geht es dir jetzt?«, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. Die Frage war nicht so einfach zu beantworten. »Fühlst du dich kräftiger?« »Ja«, sagte ich leise. Obwohl noch nicht viel Zeit vergangen war, seit ich Sams Blut getrunken hatte, spürte ich bereits den Unterschied. Mein Sehvermögen und mein Gehör hatten sich wieder verbessert, und mein zerschlagener Körper schmerzte nicht mehr so heftig wie vorher. 91
»Jetzt brauchst du sehr lange nichts mehr zu trinken«, tröstete mich Mr. Crepsley. »Darum geht es nicht. Ich habe es nicht für mich getan. Ich habe es für Sam getan.« »Bist du böse auf mich?«, fragte er. »Nein«, seufzte ich. »Darren«, sagte er, »ich hoffe ...« »Ich will nicht darüber reden!«, fauchte ich. »Mir ist kalt, mir tut alles weh, und ich fühle mich elend und allein. Ich möchte ungestört an Sam denken und nicht meine Zeit mit Ihnen verschwenden.« »Wie du willst«, gab er zurück und begann, mit den Fingern in der Erde zu wühlen. Ein paar Minuten lang gruben wir schweigend Seite an Seite, dann hielt ich inne und sah ihn an. »Jetzt bin ich ein echter Vampirge hilfe, nicht wahr?«, fragte ich. Mr. Crepsley nickte traurig. »Ja. Das bist du.« »Sind Sie froh darüber?« »Nein«, erwiderte er. »Ich schäme mich deswegen.« Während ich ihn noch verblüfft anstarrte, beugte sich plötzlich eine Gestalt über uns. Es war einer der Kleinen Leute, der mit dem Hinkebein. »Falls du an Sam ranwillst ...«, warnte ich ihn und hob drohend eine lehmverschmierte Hand. Bevor ich weitersprechen konnte, sprang er in die flache Grube, bohrte seine großen, grauhäutigen Finger in die Erde und hob dicke Klumpen aus. »Will er uns helfen?«, fragte ich verwirrt. »Scheint so«, meinte Mr. Crepsley und legte mir die Hand auf die Schulter. »Ruh dich aus«, schlug er vor. »Wir kommen ohne dich schneller voran. Ich rufe dich, wenn es so weit ist, dass wir deinen Freund beerdigen können.« Das sah ich ein, kletterte aus der Grube und legte mich neben dem rasch tiefer werdenden Grab auf den Boden. Nach einer Weile machte ich den Arbeitenden Platz, kauerte mich in eine dunkle Ecke des alten Bahnhofes und wartete. Allein mit mir und meinen Gedanken. Und Sams rotem Blut auf den Lippen.
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Wir begruben Sam ohne jegliches Tamtam. Mir fiel nichts Passendes ein, was ich hätte sagen können, und so schaufelten wir das Grab wortlos zu. Wir verwischten unsere Spuren nicht, damit die Polizei ihn finden und er so bald wie möglich ein richtiges Begräbnis bekommen würde. Ich wollte, dass seine Eltern Gelegenheit hatten, nach ihren eigenen Vorstellungen Abschied von ihm zu nehmen, aber auf diese Weise war er in der Zwischenzeit wenigstens vor streunenden Tieren (und Kleinen Leuten) geschützt. Wir brachen unser Lager noch vor Morgengrauen ab. Meister Riesig teilte uns mit, dass wir eine lange Fahrt vor uns hatten. Sams Verschwinden würde im Ort für große Aufregung sorgen, deshalb mussten wir uns so weit wie möglich vom Schauplatz des Unglücks entfernen. Erst jetzt fragte ich mich, was eigentlich aus R. V. ge worden war. War er im Wald verblutet? Hatte er recht zeitig einen Arzt aufgesucht? Oder rannte er noch immer wie verrückt durch die Gegend und schrie: »Meine Hände! Meine Hände!« Es war mir egal. Der Umweltkämpfer hatte zwar nur versucht, das Richtige zu tun, aber im Grunde war er an allem schuld. Hätte er sich nicht am Käfig des Wolfsmannes zu schaffen gemacht, wäre Sam jetzt noch am Leben. Ich hoffte zwar nicht direkt, dass R. V. tot war, aber ich sprach auch kein Gebet für ihn. Ich überließ ihn seinem Schicksal, was immer es für ihn bereithalten mochte. Als wir losfuhren, saß ich neben Evra hinten in einem Lastwagen. Er öffnete den Mund und wollte etwas sagen. Hielt inne. Räusperte sich. Dann legte er mir einen Rucksack in den Schoß. »Hab ich gefunden«, murmelte er. »Dachte, du willst ihn vielleicht haben.« Mit brennenden Augen las ich das Schild »Sam Grest«, dann brach ich in Tränen aus und schluchzte bitterlich. Evra legte die Arme um mich, hielt mich fest und weinte mit mir. »Mr. Crepsley hat mir erzählt, was passiert ist«, brachte er schließlich heraus, beruhigte sich ein bisschen und wischte sich das Gesicht ab. »Er hat gesagt, du hättest Sams Blut getrunken, um seinen Geist zu bewahren.« »So wird's sein«, gab ich schwach und zweifelnd zurück. »Sieh mal«, begann Evra. »Ich weiß, wie sehr du dich immer dagegen gesträubt hast, Menschenblut zu trinken, aber du hast es für Sam getan. Es war eine gute Tat, keine böse. Du solltest dich deswegen nicht schuldig fühlen.« »Wahrscheinlich nicht«, stimmte ich zu, aber beim Gedanken daran, musste ich wieder weinen. Der Tag verging, die Zirkuswagen rollten über die Landstraße, aber ich konnte die Erinnerung an Sam nicht hinter mir lassen. Als es dunkel wurde, legten wir am Straßenrand eine kurze Rast ein. Evra ging sich etwas zu essen und zu trinken holen. »Soll ich dir was mitbringen?«, fragte er. »Nein«, lehnte ich ab, das Gesicht an die Fensterscheibe gedrückt. »Ich hab keinen Hunger.« Er machte Anstalten, die Ladefläche herunterzuklettern. »Wart mal«, rief ich ihn zurück. Ich hatte einen seltsamen Geschmack im Mund. Immer noch brannte Sams Blut salzig und schrecklich auf meinen Lippen, aber das war es nicht, was mir das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Ich verspürte eine mir bis dahin unbekannte Gier. Ein paar verwirrende Sekunden lang wusste ich nicht, was ich wollte. Dann konnte ich das merkwürdige Verlangen plötzlich zuordnen und verzog die Lippen zu einem dünnen Lächeln. Ich wühlte in Sams Rucksack, aber die Plastikdose musste bei unserem übereilten Aufbruch zurückgeblieben sein. Ich hob den Kopf, sah Evra an, leckte mir die Lippen und fragte mit einer Stimme, die sich verdächtig nach einem neugierigen kleinen Klugscheißer anhörte, den ich einst gekannt hatte: »Haben wir irgendwo eingelegte Zwiebeln?«
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