Frank Stieper
CRON Flucht aus dem System
Arena
In neuer Rechtschreibung 1. Auflage 2003 © 2003 by Arena Verlag GmbH...
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Frank Stieper
CRON Flucht aus dem System
Arena
In neuer Rechtschreibung 1. Auflage 2003 © 2003 by Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten
Einbandgestaltung: Constanze Spengler Lektorat: Barbara Küper Gesamtherstellung: Westermann Druck Zwickau GmbH ISBN 3-401-05504-6
SYSTEMZEIT 2361, Zentralstadt, Sektion Nordwest. Raia und Liam führen ein sorgenfreies Leben im SYSTEM, behütet vor allen Unregelmäßigkeiten, befreit von allen Schwächen und Leidenschaften. Arbeit, Essen, Freizeit – alles ist perfekt durchorganisiert und zum Besten aller geregelt. Eines Tages aber stoßen Raia und Liam auf eine Gruppe von Systemabweichlern, die aus einem alten Tagebuch erfahren hat, dass noch eine andere Welt außerhalb ihres Kollektivs existieren muss: eine Welt, in der es Gefühle und Leidenschaften gibt. Liebe, zum Beispiel. Fasziniert vom Unbekannten, machen sich Raia und Liam zusammen mit den anderen auf die Suche. Doch keiner von ihnen kann voraussehen, was sie in jener anderen Welt erwartet… keiner von ihnen kennt die CRON. Frank Stieper, geboren 1961 in Lübeck, ist gelernter Buchhändler. Seit 1987 ist er freier Liedermacher für Kinder und Autor. Anfang der 90er-Jahre schrieb er zudem Computer-Fachbücher. 1997 gründete er die Softwarefirma Logoware. Er lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in der Lüneburger Heide. Seine Homepages: www.frank-stieper.de www.jez-lynn.de
Für Anneliese und Rolf, in Liebe
»Geliebte Meret, wie sehne ich den Tag herbei, an dem ich dir dies alles zeigen kann. Jeden Morgen erwache ich von neuem mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl, weil ich an diesem wunderbaren Ort bin. Wann kannst du diese Freude mit mir teilen? Ach, Meret, es quält mich, so lange noch auf deine Nähe verzichten zu müssen. Als Trost bleibt mir meine Liebe, die uns unzertrennlich miteinander verbindet.« Jez Lynn
Raia Systemzeit 2361:04:17:26:41:00, Zentralstadt, Sektion Nordwest, Wohneinheit 250.5
Die Gestalt taucht ab, sucht in einer dunklen Ecke Schutz und wird eins mit ihr. Liam öffnet die Augen. Reglos liegt er da. Noch benommen vom plötzlichen Erwachen aus tiefem Schlaf, blinzelt er hinauf zu einem der unzähligen winzigen Löcher an der Decke seiner Wohneinheit, hunderte von Metern über der pulsierenden Stadt. Langsam lässt er seinen Blick durch den Raum schweifen. Das gedämpfte Licht der Fusionszellen draußen unter der schützenden Kuppel spiegelt sich bläulich-metallisch an den Wänden. Es verrät Liam, dass längst noch nicht Tag ist. Aufmerksam horcht er und nimmt für einen Moment allein das Pochen seines beschleunigten Pulsschlags wahr. Dann registriert er das vertraute, leise Rauschen der Klimakontrolle. Ein unverkennbares Anzeichen, dass er allein ist. Dass er, wie in den Nächten zuvor auch, Raias Nähe nur geträumt hat. Liam schlägt die seidige Decke, die im diffusen Licht ebenso bläulich schimmert, zur Seite, richtet sich schlaftrunken auf und setzt sich an den Rand seines Schlafplatzes. Während er seine bleischweren Augen reibt, fragt er in den Raum: »Wie spät ist es?« »26 Uhr 41.« Ein leises Plätschern durchbricht die nächtliche Ruhe. Nach wenigen Sekunden ist es so still wie zuvor. Die Kühle des temperierten Raums lenkt Liams Aufmerksamkeit auf sein durchnässtes T-Shirt. Er zieht es aus und betrachtet einen
Moment den feuchten Glanz auf seiner Haut. Jetzt erst bemerkt er auch, wie trocken sein Mund ist. Trotz seiner Benommenheit bewegt ihn dies schließlich dazu, aufzustehen. Liam fühlt den kalten Boden unter seinen nackten Füßen. Mit schnellen Schritten geht er nach nebenan in den wenige Quadratmeter größeren Hauptraum seiner Wohneinheit und greift nach dem Glas mit der bräunlichen, Kraft spendenden Flüssigkeit, das längst in der Nahrungsbatterie für ihn bereit steht. Er trinkt zügig, um den Verlust der Körpersalze auszugleichen. Als er das geleerte Glas zurückstellt, flüstert er: »Ich habe von Raia geträumt. Ein weiteres Mal.« »Es ist registriert worden.« Liam schüttelt den Kopf. Er ist irgendwie… irritiert. Es war nicht allein Raias Stimme im Traum, die ihn aus dem Schlaf gerissen hat; hat er nicht auch ihren Atem gespürt? Er tritt ans Fenster, das von der Decke bis zum Boden beinahe die gesamte Außenwand des Wohnraums ausfüllt, und sieht nach draußen. Oft haben Raia und er gemeinsam hier gestanden und einen anstrengenden Tag ausklingen lassen. Sich unterhalten über dies und das oder sich einfach dem bekannten Anblick des lebhaften Treibens tief unter ihnen überlassen. Liams Augen wandern hinüber zu den regelmäßig aufleuchtenden Kontrollfenstern der Transferschleusen, die sämtliche Gebäude dieser Sektion miteinander verbinden. Schließlich fragt er in die Stille hinein: »Wird Raia wiederkommen?« Doch er erhält keine Antwort, lediglich eine Gegenfrage: »Möchtest du Ersatz? Den Zeitpunkt bestimmst du.« Geistesabwesend verfolgt Liam einen der unzähligen Lichtstreifen im Dunkel draußen. Fast eine Phase, genauer gesagt elf Teilphasen ist es her, dass man Raia und ihm Wohneinheit fünf auf dieser 250. Etage zuteilte. Kurz nach Vollendung ihrer 16. Lebensphase brachte man sie beide ihrer gemeinsamen Fähigkeiten wegen in eine dem System dienliche
Bindung. Liam denkt oft an diese Zeit zurück. Immerhin handelt es sich um die mit Abstand ereignisreichste Phase im Leben eines jungen Bewohners und zugleich um den Beweis erreichter Lebensreife. Raia und er hatten damals gerade ihre Abschlussprüfung im Bereich Visuelles Hören mit Auszeichnung bestanden. Bald hatten sie sich aneinander gewöhnt, sich schätzen und respektieren gelernt und viele Gemeinsamkeiten an sich entdeckt – wie selbstverständlich, denn schließlich waren sie seit ihrer Entstehung als lebenslange Gefährten füreinander bestimmt. Liam lässt die letzten Tage vor Raias Abreise vor seinem geistigen Auge passieren, bis zu dem Zeitpunkt, als die Nachricht der Sektionsverwaltung kam, Raia sei verschwunden. Ist das nicht völlig ausgeschlossen? Wie kann ein Bewohner im System unauffindbar verloren gehen? »Es wird dir bei deiner Entscheidung behilflich sein, wenn du deine Erinnerungen betrachtest.« Liam nickt und sagt fügsam: »Ja, vermutlich.« Im gleichen Augenblick erfüllt das leise Surren des Devisors den Raum. Millionen feinster Partikel fallen sanft von der Decke herab und platzieren sich, jedes von ihnen an einer festen Position, im dreidimensionalen Raum. So entsteht inmitten der Wohneinheit das dreidimensionale Abbild einer Szene aus Liams Vergangenheit. Liam, mit dem Rücken ans Fenster gelehnt, sieht aufmerksam zu, wie das helle Partikelmeer Form, Farbe und Dichte verändert und in immer neuen Konstellationen eine ganze Reihe von Momenten zeigt, die er gemeinsam mit Raia erlebt hat. Dabei fragt er sich, ob ihm die längst bekannten Bilder wirklich neue Erkenntnisse bringen. Im Grunde steht sein Entschluss längst fest: Solange es möglich erscheint, dass Raia zurückkehren wird, ist ihr Platz an seiner Seite. So wollte es das System und so will es Liam. Er wird auf sie warten. Ohne den Blick abzuwenden, geht Liam ein Stück um die
Darstellung herum. Ein Gedanke schießt ihm durch den Kopf. Er nähert sich dem Abbild Raias, schaut ihr in die Augen und fragt: »Bin ich von Wert ohne sie?« »Jeder Bewohner ist von Wert. Nur die Effizienz eurer Bindung ist derzeit nicht befriedigend.« »Was ist, wenn sie nicht wiederkommt?« »Ersatz wird dieses Ungleichgewicht beheben. Den Zeitpunkt bestimmst du. Du musst dich regenerieren. In 3 Stunden 19 Minuten beginnt ein neuer Tag.« Liam nickt und wendet sich ab. Gleichzeitig steigen die Partikel wieder zur Decke hinauf. Der Aufforderung des Systems folgend, geht Liam zurück in den Ruheraum. Er legt sich auf seinen Schlafplatz, deckt sich aber nur bis zu den Hüften zu. Den Kopf auf den Arm gestützt, liegt er da. Erst nach einer Weile sagt er: »Ich bin bereit.« Wenige Sekunden später spürt Liam, wie wohlige Wärme von seinem Körper Besitz ergreift. Unwillkürlich muss er gähnen. Seine Augen werden schwer. Schnell hat ihn der Schlaf wieder. Vorsichtig löst sich die Gestalt aus der nachtschwarzen Ecke und nimmt schemenhafte Umrisse an. Behutsam nähert sie sich Liam und mustert den schlafenden jungen Mann. Kurz darauf beugt sie sich zu ihm hinunter, legt Liam etwas in die geöffnete Hand und schließt sie zur Faust. Dann wendet sie sich ab, um den Raum ebenso geräuschlos wieder zu verlassen, wie sie ihn betreten hat. Doch Liam, als hätte er im Unterbewusstsein etwas gespürt, öffnet noch einmal die Augen und entdeckt die Gestalt. Er fährt hoch und nimmt eine drohende Position ein. Die Gestalt erstarrt mitten in der Bewegung. »Wer ist das?«, fragt Liam laut. »Eine Identifikation ist nicht möglich.« Zeitgleich mit der Antwort, die durch den Raum hallt, läuft die Gestalt los. Liam macht einen raschen Satz vorwärts und folgt ihr. Am türlosen Zugang zur Wohneinheit holt er den Eindringling ein, packt ihn und
versucht ihn zu sich umzudrehen. Doch sosehr Liam sich bemüht, dem Eindringling gelingt es, seine Identität zu verbergen, obwohl er offensichtlich körperlich unterlegen ist. Heftig atmend fragt Liam: »Bist du es? Raia?« Der Eindringling bleibt stumm. Stattdessen holt er aus und versetzt Liam einen schmerzhaften Fausthieb in den Magen. Mit gekrümmtem Oberkörper klammert sich Liam an die dunkle Gestalt, die jetzt blindlings um sich schlägt und ihn mit aller Kraft von sich stößt. Liam stürzt rücklings zu Boden, fällt mit dem Kopf auf die scharfe Kante eines der spärlichen Mobiliarstücke. Gleißendes Licht durchzuckt sein Hirn, dann wird es schwarz um ihn – seine Sinne verlassen ihn, der Körper gibt dem Schmerz nach. Liam fällt in ein endloses Nichts. Mit weit aufgerissenen Augen steht der Eindringling da und starrt auf den reglosen Körper vor sich. Er beobachtet, wie Blut unter Liams Kopf hervorquillt und über den Boden rinnt. Als wollte er die Tat ungeschehen machen, kniet er nieder und führt seine Hand vorsichtig an Liams Stirn. »Du bist beschädigt. Hilfe ist angefordert.« Die Stimme des Systems lässt die Gestalt wieder zur Besinnung kommen. Sie erhebt sich und rennt davon. *** »Er erwacht.« Eine fremde Stimme erreicht Liam im schützenden Dunkel. Er zuckt zusammen, ein stechender Schmerz, der aber sofort nachlässt, durchfährt seinen Körper. Liam versucht die Augen zu öffnen. Die nebligen Schleier lassen nur langsam das zerfurchte Gesicht eines alten Mannes erkennen, der sich dicht über ihn beugt und die Beschädigung begutachtet. Wie zu sich selbst murmelt er: »Schnell repariert. Kein aufwändiger Eingriff.« Dann sieht er Liam direkt an.
»Geh anschließend zur Sektionsverwaltung. Man erwartet dich dort.« Liam will nicken, aber die Apparatur, in die sein Kopf eingespannt ist, hindert ihn daran. Noch ehe er etwas erwidern kann, hat sich der alte Mann von ihm abgewendet. Jetzt erst nimmt Liam ein wohliges Kribbeln an der beschädigten Stelle wahr. Er lässt seinen Blick umherschweifen. Gern wüsste er, wohin man ihn gebracht hat. »Was ist passiert?«, fragt er in den hell erleuchteten Raum hinein, in der Hoffnung, dass ihm das System Auskunft gibt. Stattdessen nähern sich Schritte. Diesmal ist es eine alte Frau, wahrscheinlich die Gefährtin des alten Mannes von vorhin. Mit einem freundlichen Lächeln sagt sie: »Ich bin Jepel.« Auch Liam stellt sich vor. Die Frau nickt, offenbar kennt sie seinen Namen schon. »Wo bin ich?« »Organische Schäden. Wir sind nur eine kleine Werkeinheit. Ein Bereich der Sektionsverwaltung.« Liam blickt zur Decke. Verblasste Bilder seiner Kindheit tauchen vor seinem geistigen Auge auf. »Die ist mir bekannt.« Jepel hilft seiner Erinnerung auf die Sprünge und fügt hinzu: »… es war in Phase vier. Die Haut deines Knies war beschädigt.« »Was ist passiert?« »Es geschah während eines Koordinationstrainings. Die Analyse ergab eine Minderfunktionalität deiner Motorik. Ein seltener genetischer Defekt. Er wurde kurz danach korrigiert.« »Nein«, erwidert Liam. »Das meine ich nicht. Ich wollte wissen, weshalb ich hier bin. Was ist geschehen? Wer hat mir die Beschädigung zugefügt?« Mit aufforderndem Blick betrachtet Liam sein Gegenüber. Doch die alte Frau antwortet ruhig: »Es ist nicht unsere Aufgabe, die Umstände und Ursachen zu ergründen, die zu einer Beschädigung führten. Die Vorgehensweise bei einer Reparatur und das Resultat sind relevant. Für beide Seiten. Mit Sicherheit wird die
Sektionsverwaltung deine Fragen beantworten. Du wirst dort erwartet.« Liam bleibt nichts anderes übrig, als sich noch etwas zu gedulden. Er merkt, wie das Kribbeln nachlässt. Jepel löst seinen Kopf aus der Apparatur. Behutsam betastet sie die nahtlos reparierte Stelle, an der eben noch eine blutende Beschädigung klaffte. Etwas umständlich steigt Liam von der hohen Vorrichtung. Während er ein wenig matt dasteht, reicht Jepel ihm einen runden Gegenstand. Es ist eine Münze. Liam betrachtet sie und fragt: »Was soll ich damit?« Die alte Frau zuckt mit den Schultern und erwidert: »Ich weiß es nicht. Vielleicht hilft es, wenn du mir sagst, was es ist.« »Das ist ein uraltes Zahlungsmittel der Menschen, damit werden Getränke im Ancient Century-Vergnügungszentrum bezahlt. Aber da war ich zuvor nicht. Ich war in meiner Wohneinheit.« »Nun, es gehört dir. Als man dich brachte, hattest du es in der Hand. Es fiel hier zu Boden.« Liam nickt kurz, dann greift er danach und steckt es ein. Mit zustimmendem Lächeln deutet Jepel zum Ausgang. »Dein Begleiter müsste draußen auf dich warten. Geh jetzt.« Liam tritt in eine große Halle hinaus. Doch niemand ist da, der sich ihm als Begleitung anbietet. Also nutzt er die Gelegenheit und sieht sich um. Die vielen Devisoren, die, über die gesamte Halle verteilt, in unterschiedlicher Höhe schweben und auf deren Bildflächen allseits zur Achtung der MAXIME aufgefordert wird, ziehen seine Aufmerksamkeit auf sich. Weshalb so viele Hinweise auf die MAXIME, wo doch allen die Weisungen des Systems vertraut sind? Vielleicht liegt es daran, dass sich auf dieser Etage Verwaltungseinheiten befinden, in denen sich üblicherweise nur Privilegierte aufhalten.
Liam blickt sich noch einmal suchend nach seinem Begleiter um. Da aber immer noch niemand zu sehen ist, holt er die Münze aus seiner Hosentasche. Nachdenklich dreht er sie zwischen seinen Fingern. Der Eindringling muss sie ihm zugesteckt haben, als er schlief; er erinnert sich jetzt, dass er sie beim Erwachen in seiner Wohneinheit in der Hand hielt. Nur, wozu das Ganze? Plötzlich dämmert es Liam: Könnte das nicht ein Hinweis sein? Von Raia? Schließlich haben sie die meiste gemeinsame Freizeit im Ancient Century verbracht. Doch im gleichen Augenblick verdrängt Liam diese Idee. Nein, Raia hätte sich bestimmt zu erkennen gegeben und ihm niemals eine derartige Beschädigung zugefügt. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkt Liam jetzt einen jungen Mann, der geradewegs auf ihn zueilt. Das muss sein Begleiter sein. Schnell steckt Liam die Münze ein, während ihm der Begleiter von weitem zuruft: »Ich wurde aufgehalten. Komm!« Der Mann, nur wenige Phasen älter als Liam, führt ihn zu einem der Hyperlifte, die mehrere hundert Bewohner transportieren können. Im Augenblick allerdings sind sie die einzigen Fahrgäste. Innerhalb weniger Sekunden haben sie die oberste Etage erreicht. Im gleichen zügigen Tempo wie vorhin setzt Liams Begleiter seinen Weg fort. Sie gelangen in eine weitere Halle. »Wo sind wir?«, fragt Liam interessiert. Ohne sein Tempo zu verlangsamen, antwortet der junge Mann vor ihm: »In der Sektionsverwaltung Nordwest. Hier oben befindet sich neben einigen bewohnerrelevanten Werkeinheiten nur noch der Sitz des Sektionsverwalters. Dahin gehen wir.« Liam erinnert sich: Irgendwo weiter unten in diesem Gebäude wurde ihm und Raia die gemeinsame Wohneinheit zugeteilt. Liam weiß auch, dass sich auf dem Grundniveau des Gebäudes die einzige
Hauptschleusenstation befindet, von der aus man in die übrigen fünf Städte des Systems gelangt. Wollte Liam Zentralstadt verlassen, müsste er mit dem Hyperlift 350 Etagen abwärts fahren. Inzwischen hat Liam Mühe, mit dem rasanten Tempo seines Begleiters Schritt zu halten. Trotzdem versucht er sich ein vages Bild von seiner Umgebung zu verschaffen. Auch hier sind, wie in der anderen Halle, in unterschiedlicher Höhe weiträumig Devisoren verteilt, nur zeigen sie hier fantasievolle Plastiken, farbenfrohe Malereien oder musizierende Künstler beim Vortrag. Dann zieht ein faszinierendes Spektakel dicht unter der Hallendecke Liams Aufmerksamkeit auf sich. Ein überwältigendes Schauspiel aus Farben und Formen. Ein unendlicher Tanz kleinster Partikel, die sich mal rasant, mal gemächlich zu immer neuen, sich nie wiederholenden Gebilden formieren. Liam bleibt stehen. Natürlich kennt er die Projektionen der Devisoren, trotzdem kann er sich der Faszination der prachtvollen Darbietung kaum entziehen. Da bemerkt er den drängenden Blick seines Begleiters. Liam entschuldigt sich rasch und schließt zu dem jungen Mann auf. Wenige Schritte später haben sie ihr Ziel erreicht. Liams Begleiter bleibt stehen und weist mit höflicher Geste auf einen Zugang. Gehorsam betritt Liam den winzigen, gut klimatisierten Raum, der hinter dem Zugang liegt. Er ist dunkel und die beiden einzigen Sitzschalen zwischen zwei anthrazitfarbenen Plattformen sind leer. Mit fragendem Blick wendet Liam sich seinem Begleiter zu. Doch der ist ihm nicht in den Raum gefolgt. Unmittelbar darauf betritt ein hagerer, klein gewachsener Mann den Raum. Er steuert geradewegs auf eine der harten Sitzschalen zu und lässt sich hineinfallen. Dann geht das Licht an. Der Verwalter wirft Liam ein wohlwollendes Lächeln zu.
Er nimmt eine aufrechte Haltung ein, klopft mit einer Hand auf die Plattform zu seiner Rechten und sagt: »Nun, da haben wir beide wohl ein Problem.« Liam steht da und nickt nur. Der Verwalter fährt fort: »Also gut. Du kannst dir vorstellen, weshalb ich kostbare Zeit aufwende, um mich mit dir zu unterhalten.« Wieder nickt Liam. »Es geht um Raia. Genauer gesagt, um ihr Verschwinden. Ich brauche dir nicht zu erklären, welche Unruhe dieser Vorfall gestiftet hat. Der Hohe Verwaltungsrat selbst gab die Anweisung, deine Gefährtin schnellstmöglich aufzuspüren. Wie sagten sie noch: Das Ganze ist nicht mehr und nicht weniger als die Summe seiner Teile. Du verstehst, im vorliegenden Fall droht das System beschädigt zu werden. Ein Zustand, der uns zum Handeln zwingt. Wir haben keine Erfahrungen mit einem Ausnahmezustand dieser Art. Umso mehr werden wir alles daran setzen, eure Bindung in kürzester Zeit wieder herzustellen.« Der Verwalter erhebt sich, geht auf Liam zu und fasst ihn freundlich an der Schulter: »Ist deine Beschädigung vollständig repariert?« Liam bejaht mit einem zurückhaltenden Lächeln. Der Verwalter schnalzt mit der Zunge, deutet mit der Hand auf einen Stuhl links neben Liam und sagt: »Gut, setz dich.« Liam nimmt Platz. Sofort ertönt eine Stimme und gibt die Kenndaten Liams und die seiner Gefährtin preis: »Liam, Entstehungszeit 2343, 18. Lebensphase. Gefährtin: Raia, Entstehungszeit 2343, 18. Lebensphase, Zugewiesene Werkeinheit beider: Synästhesie.« Mit einer fließenden Bewegung dreht der Verwalter Liam mitsamt seinem Sitz herum, sodass sein Blick auf den hinteren Bereich des Raumes fällt. Dort beginnt ein Devisor Abbilder von Liams Erinnerungen zu erzeugen. Besonders interessiert sich der Verwalter für die letzten Stunden. Das Szenario in der
Wohneinheit lässt er sich gleich mehrere Male wiederholen, angefangen von der Verfolgung der fremden Gestalt bis hin zu Liams Beschädigung und dem Kontrollverlust über seinen Körper. Immer wieder richtet der Verwalter sein besonderes Augenmerk auf das Gesicht des Eindringlings. Schließlich gibt er auf und stellt fest: »Unmöglich. Es ist nichts zu erkennen.« Liam fragt: »Weshalb konnte dieser Bewohner nicht identifiziert werden?« Der Blick des Verwalters verharrt eine Weile auf dem Gesicht des jungen Mannes. Liam drängt: »Warum konnte das System ihn nicht identifizieren? So etwas kann nicht geschehen. Das System ist unfehlbar.« Der Verwalter schweigt. Liam hakt noch einmal nach. »Wie ist es möglich, dass ein Bewohner bereit ist einen anderen zu beschädigen?« Der Verwalter unterbricht die Verbindung zwischen Liam und dem Devisor. Er kehrt zu seinem Platz zurück, setzt sich und sagt: »Ich kann es dir nicht erklären. Selbst meine Mittler, die das Gebäude im Nachhinein gründlich durchsuchten, waren nicht in der Lage, den Eindringling aufzuspüren. Sonst hätten wir bereits Antworten auf unsere Fragen.« Der Verwalter betrachtet nachdenklich seine im Schoß gefalteten Hände. Endlich sagt er: »Wie es aussieht, gibt es nur eine Möglichkeit.« Liam horcht auf. »Es muss Raia gewesen sein.« Liam starrt den Verwalter an, bis der seine Vermutung erläutert: »Raia ist nicht auffindbar. Sie muss demnach auf irgendeine Weise für das System unkenntlich geworden sein. So könnte sie sich überall aufhalten, ohne identifiziert zu werden. Im Übrigen: Wer außer ihr hätte einen Grund, dich in deiner Wohneinheit aufzusuchen?« Der Verwalter zuckt mit den Schultern und erhebt sich noch einmal, um die Hand auf Liams Schulter zu legen. »Wir werden weiter nach ihr suchen. Je eher wir sie finden, desto
besser. Sie wird auch unter Nahrungsmangel leiden. Solange das System sie nicht identifizieren kann, wird ihr keine Nahrungsbatterie etwas zuteilen. – Hör gut zu: Die Sache eilt und wir wollen keine Chance ungenutzt lassen. Deshalb ist bei der Suche deine Hilfe erwünscht. Du kennst deine Gefährtin besser als jeder andere. Vielleicht fällt dir etwas ein, irgendein winziger Hinweis, wo sich Raia befinden könnte. Wer von uns sie aufspürt, setzt natürlich sofort den anderen darüber in Kenntnis. So, und nun kannst du gehen.« Der Verwalter macht auf dem Absatz kehrt und verlässt eilig, ohne Liam noch eines weiteren Blickes zu würdigen, den Raum. Als auch Liam sich erhebt, erlischt das Licht. Benommen tritt Liam durch den Zugang in die hell erleuchtete Halle der Hauptschleusenstation. Es ist ungeheuerlich, was der Verwalter da gesagt hat. Während er die Halle durchquert, gehen seine Gedanken wirr durcheinander. Was, wenn der Verwalter Recht hat? Wenn Raia tatsächlich vom System nicht mehr erfasst werden kann? Ist das ein unerklärlicher Fehler im System oder – Liam kann es sich kaum vorstellen – ein von Raia selbst herbeigeführter Zustand, auch wenn er absolut nicht versteht, was das bedeutet? Mechanisch tastet Liam nach der Münze, die er in seine Hosentasche gesteckt hat, zieht sie heraus und betrachtet sie. Sollte sie tatsächlich ein Hinweis von Raia sein? Falls Raia ihm auf diese Weise etwas mitzuteilen versucht, muss sie jedenfalls einen Grund dafür haben. Aber wieso hat sie ihn, ihren Gefährten, dann bei der nächtlichen Begegnung in der Wohneinheit beschädigt? Fest entschlossen, diese Unklarheiten zu beseitigen, setzt Liam seinen Weg fort. Er steuert den Hyperlift an, der ihn in Soupow, dem Freizeitviertel dieser Stadt, absetzen soll, genauer gesagt im Ancient Century, das unter jungen Bewohnern als besonders beliebter Treffpunkt gilt.
*** Erschöpft sitzt Raia etwas abseits der Gruppe auf einem der für Stützpfeiler vorgesehenen Sockel. Kyle, der Alteste der Gruppe, kommt auf sie zu. Seine Hände umfassen einen Becher mit heißer Flüssigkeit, an dem er ab und zu vorsichtig nippt. Er setzt sich neben sie, legt eine Hand auf ihre und sagt tröstend: »Du kannst nichts dafür.« Doch Raia zieht brüsk ihre Hand weg und erwidert: »Ich habe Liam beschädigt. Er ist zu Boden gestürzt und hat geblutet.« Sachte pustet Kyle den heißen Dampf vom Becherrand. »Vielleicht hätte ich dich nicht allein gehen lassen sollen.« »Das hätte auch nichts daran geändert.« »Meinst du, das System hat dich erkannt… ich meine, hat man dein Gesicht gesehen?« Raia antwortet: »Ich glaube nicht, aber Liam hat geahnt, wer ich bin. Er hat meinen Namen gesagt.« Kyle erhebt sich, geht erregt auf und ab und streicht sich dabei über seinen kahl geschorenen Kopf. Raia weiß, dass diese Angewohnheit seine Nervosität verrät. Schnell versucht sie ihn zu beruhigen: »Niemand kann mir gefolgt sein. Immerhin habe ich ja…«, Raia muss schlucken, »… dafür gesorgt, dass Liam mich nicht zurückhalten konnte. Glaub mir, wir haben nichts zu befürchten.« Kyle hockt sich vor Raia, stellt seinen Becher ab und nimmt ihre Hände in seine. Er lächelt, aber trotzdem kann er nicht verbergen, dass er sehr besorgt ist. Endlich fragt er: »Bist du dir so sicher… ich meine, willst du Liam wirklich mitnehmen?« Trotz Raias Blick, der jegliche Diskussion erübrigt, fährt Kyle fort: »Du weißt, welche Risiken wir mittlerweile auf uns nehmen müssen, wenn wir ins System zurückkehren. Selbst die
Nahrungsbeschaffung ist schwierig geworden. Du…« Kyle zögert. »Du weißt nicht einmal, ob Liam es überhaupt will.« Nachdenklich sieht Raia hinüber zu den anderen. Sie weiß, was auf dem Spiel steht, deshalb überlegt sie ihre Argumente gut. Dann erwidert sie: »Du weißt, dass uns alle ein großer Zufall hierher geführt hat. Liam wird dieses Glück nicht haben. Außerdem: Sieh dich um – alle sind Teil einer Bindung, du und Ana, Nel und Nonosan. So wie ihr möchte ich auch gemeinsam mit meinem Gefährten gehen. Ist es nicht gerecht, ihn zumindest zu fragen, ob er sich uns anschließen möchte? Um darauf eine Antwort zu erhalten, müssen wir ihn aber herholen, wir können ihn nun einmal nicht direkt unter der Kontrolle des Systems befragen.« Plötzlich stutzt Raia. Sie sieht zu Sid hinüber. Der nur wenige Phasen ältere Schleusentechniker sitzt drüben auf seinem provisorischen Ruhelager und starrt gelangweilt auf ein Werkzeug in seinen Händen. Mit einem kurzen Kopfnicken deutet Raia in seine Richtung. »Das heißt, was ist eigentlich mit seiner Gefährtin? Weshalb ist sie nicht dabei?« Wieder streicht sich Sid über seine Glatze. Dann antwortet er: »Sids Gefährtin weigerte sich mit uns zu gehen.« Mitleidig nickt Raia. Sie spürt einen schmerzhaften Stich. Wie gut kann sie Sids Kummer nachempfinden! »Armer Sid«, fährt Kyle fort. »Anders wäre es besser für ihn gewesen, wirklich. Ich bin froh, dass er uns trotzdem begleitet. Immerhin kennt er sich hervorragend mit den Wartungsschächten aus. Und er weiß, wo sich ein mögliches Portal nach draußen befindet.« Mit einem Stirnrunzeln fügt Kyle hinzu: »Außerdem ist er, wie du weißt, der Einzige von uns, der in der Lage ist, jemanden vom System zu trennen. Bevor es aber so weit ist, müssen wir Liam erst einmal fragen, wie du schon sagtest.« Raia spürt, wie eine Last von ihr abfällt. »Du solltest das nächste Mal nicht allein hingehen«, schlägt Kyle vor. »Nach
eurer letzten Begegnung könnten sich Mittler in Liams Nähe aufhalten. Liam hat deinen Namen genannt, sie haben vermutlich Verdacht geschöpft. Und es ist anzunehmen, dass sie sich ein weiteres Zusammentreffen zwischen dir und Liam nicht entgehen lassen wollen. Also solltest du doppelt vorsichtig sein. Ich frage Sid, ob er dich begleitet. Was Liam betrifft, so nehme ich an, dass er dir zunächst einmal folgen wird. Angesichts deines Verschwindens und der Beschädigung wird er eine Menge Fragen an dich haben.« Darauf antwortet Raia stolz: »Ich brauche Liam nicht noch einmal aufzusuchen. Ich habe vorgesorgt und ihm eine Münze aus dem Ancient Century dagelassen. Ich glaube, er versteht diesen Fingerzeig.« Mit einem zufriedenen Lächeln wendet Kyle sich ab, doch einen Augenblick später dreht er sich noch einmal zu Raia um und sagt: »Wenn Sid einverstanden ist, kannst du ihm stattdessen bei seiner nächsten Rückkehr ins System bei der Nahrungssuche behilflich sein. Ruh dich so lange aus.« Als Kyle auf Sids Ruhelager zusteuert, sieht Raia ihm dankbar nach. Sie ist froh, dass er so viel Verständnis hat. Trotzdem behält ihre Freude einen leicht bitteren Beigeschmack: Was wird sein, wenn Liam wirklich nicht mitgehen will, so wie Sids frühere Gefährtin? Schnell verdrängt sie diesen Gedanken. Auch Raia erhebt sich und geht zur Mitte des kargen Verstecks. Sie setzt sich zu Ana, Nel und Nonosan ans Feuer. Jetzt erst, da sie die angenehme Wärme der lodernden Flamme vor sich spürt, nimmt sie die Kälte ringsum wahr. Fröstelnd beobachtet sie die beiden Frauen, die sich leise und angeregt miteinander unterhalten. Nonosan, der alte Gefährte Nels, schläft indessen. Sein Kopf liegt weich in ihren Schoß gebettet. Noch einmal läuft das hässliche Geschehen in Raias Kopf ab. Der Gedanke, Liam beschädigt zu haben, quält sie, der dumpfe Ton des Aufschlags und das Blut gehen ihr nicht aus dem Sinn.
Plötzlich registriert sie, dass die Unterhaltung der beiden Frauen verstummt ist. Ana, die Gefährtin Kyles, ist näher an Raia herangerückt und fragt: »Wie fühlst du dich?« Bekümmert antwortet Raia: »Ich habe Liam Schmerz zugefügt. Das kann ich nur schwer ertragen.« Ana streicht der jungen Frau liebevoll über die Wange. »Wir müssen noch lernen mit all den neuen Gefühlen umzugehen. Mit ihren Höhen und Tiefen. Sie werden einen großen Teil unseres künftigen Lebens ausmachen, doch bis wir ihnen gewachsen sind, brauchen wir eine Menge Zeit und Kraft.« Ermutigend fügt sie hinzu: »Bald wirst du Gelegenheit haben, Liam alles zu erklären. Er wird deine Beweggründe verstehen.« *** Liam nähert sich einem der zahlreichen Zusteigeareale. An einem freien Terminal gibt er das Freizeitviertel Soupow als Fahrtziel an. Sofort erhält er Areal, Nummer und Ankunftszeit der Transferkone mitgeteilt, die ihn dorthin bringen wird. Liam betrachtet die Zeitanzeige auf dem Display: Er muss sich beeilen, seine Kone wartet bereits. Als er sie erreicht, wirft er einen flüchtigen Blick auf das an der Außenwand befestigte Display mit der Sitzverteilung, dann steigt er ein und setzt sich auf den ihm zugeteilten Platz. Mit Liam ist die viersitzige Transferkone komplett belegt. Die Zusteigeluke schließt sich automatisch, die Kone gewinnt mit spürbarem Schub an Geschwindigkeit. Während sich die hinteren beiden Fahrgäste angeregt miteinander unterhalten, nutzt Liam die Gelegenheit, um sich ganz seinen Gedanken hinzugeben. Heute hat er kein Interesse an den Durchsagen mit Konzerthinweisen und Kinematikangeboten, die er für gewöhnlich dankbar aufnimmt. Trotz seiner Geistesabwesenheit bemerkt er aber nach einer
Weile, dass ihn die hübsche, junge Frau auf dem Nachbarsitz mustert. Wie der Anstand es gebietet, wendet er sich ihr zu und fragt: »Möchtest du dich unterhalten?« Die junge Frau sieht ihn unverwandt an. »Ja. Ich bin Chalice. Weißt du schon, womit du deine freie Zeit verbringen möchtest?« Liam überlegt. Dabei fällt sein Blick auf die Zeitanzeige der Kone. Noch drei Stunden, dann muss er sich wieder in seine Werkeinheit begeben. Er schüttelt den Kopf und antwortet vage: »Ein Ziel habe ich nicht.« »Wo ist denn deine Gefährtin?« Liam stutzt; die Frage verwirrt ihn. In seiner augenblicklichen Situation erscheint sie ihm fast wie ein Vorwurf. Dann jedoch fasst er sich wieder und antwortet schlicht: »Ich bin allein.« Chalice lächelt. »Möchtest du mich als temporäre Gefährtin?« Auf diese Frage braucht Liam die Antwort nicht lange zu überlegen: Er muss sich auf Raia konzentrieren. Deshalb lehnt er dankend ab. Im selben Moment verliert die Transferkone an Fahrt. Ohne sich noch weitere Beachtung zu schenken, steigen Liam und Chalice gemeinsam mit den anderen Fahrgästen aus. Liam steuert auf den Ausgang der Schleusenstation zu. Die vielen Menschen erstaunen ihn, zu dieser Tageszeit hätte er das Vergnügungsviertel nicht so voll vermutet. Aber in Soupow ist ohnehin vieles anders. Es ist der einzige Liam bekannte Ort, an dem die Ordnung des Systems in eine Art geregeltes Chaos übergeht. Die Straßen sind voll von zerstreuungshungrigen Bewohnern. Hier kann jeder, seinen Vorlieben entsprechend, seine freie Zeit verbringen. Niemand, selbst wenn er ohne Begleitung kommt, ist wirklich allein. Hoffentlich ist die Münze tatsächlich ein Hinweis von Raia, hoffentlich ist die Gefährtin hier zu finden! Im Ancient Century hat sie sich immer gern aufgehalten. Vielleicht, weil vieles von dem, was man dort geboten bekommt, so exotisch
ist, seit hunderten von Phasen nicht mehr existiert – wie die Münzen als Zahlungsmittel, die als besonders authentisch wirkende Attraktion eingeführt wurden. Vielleicht aber auch nur, weil dort selten Mittler verkehren. Obwohl man sie kaum von normalen Bewohnern unterscheiden kann, sind sie wegen ihrer Aufsichtsfunktion irgendwie störend. Liam passiert einen großen, von hohen Gebäuden umsäumten Platz. Ein riesiger, weiß leuchtender Devisor nimmt fast die ganze Fläche ein und projiziert eine Tanzfläche mit Musik. Liam bleibt stehen, ist einen Moment gefangen von dem ästhetischen Anblick der vielen sich rhythmisch bewegenden Körper. Sie lassen sich treiben, geben sich immer neuen Partikelströmen hin. Ringsum ist zur gleichen Zeit ein ständiges Kommen und Gehen in den türlosen Gebäuden, in die sich Gruppen zurückziehen, um Gesprächsaustausch zu pflegen oder sich devisorgestützter Freizeitgestaltung zu widmen. Dann entdeckt Liam am hinteren Ende des Platzes eines der hier überall aufgestellten Systempaneels. Er überlegt: Soll er Raia damit aufzuspüren versuchen? Obwohl er weiß, dass sie für das System unsichtbar ist, will er es trotzdem probieren. Er tritt dicht an das Paneel heran und fragt: »Wo ist Raia?« »Eine Identifikation ist nicht möglich«, erhält er prompt als Auskunft. »Ist Raia deine Gefährtin?«, fragt plötzlich die Stimme einer jungen Frau hinter ihm. Liam fährt herum. Es ist Chalice. Verdutzt schaut er sie an. Haben sie nicht beim Aussteigen entgegengesetzte Richtungen eingeschlagen? Chalice lächelt ihn liebenswürdig an. Nun lächelt Liam zurück und antwortet: »Ja, sie ist meine Gefährtin.« »Hast du ein Ziel?«, fragt Chalice erneut. »Ich habe mich entschlossen das Ancient Century aufzusuchen. Kennst du es?« »Nein.« Die Antwort wird begleitet von einem heftigen Kopfschütteln. »Aber ich würde es gerne kennen lernen. Weißt
du was? Ich begleite dich«, verkündet Chalice und hakt sich bei Liam unter, bevor der überhaupt etwas sagen kann. Die beiden gehen gemeinsam weiter. Nach wenigen Metern bereits nähern sie sich einem Seitenweg, der um einiges schmaler ist als die üblichen Straßen in Soupow. Hier beginnt der lange Eingang zum Ancient Century. Ein Devisor simuliert eine spektakuläre Szenerie: Ein Pfad führt an ausgeschlachteten Autos entlang, jenen Luftverseuchern, die es vor etwa zweihundert Phasen zuhauf in den Straßen gab. Überall stehen überquellende Entsorgungsbehälter, die von fettleibigen Menschen nach verwertbarer Nahrung durchforstet werden. Die Szene ist der Inbegriff einer von Fehlerhaftigkeit geprägten, ausgestorbenen Gesellschaft. Immer, wenn Liam diesen Weg entlanggeht, überkommt ihn tiefe Befriedigung, in einer so hoch entwickelten Zeit wie seiner entstanden zu sein. Chalice und Liam betreten das abgedunkelte Innere des Ancient Century. »Willkommen Chalice. Willkommen Liam. Willkommen im Ancient Century«, werden sie von einer wohlklingenden Stimme begrüßt. Sie gelangen in einen unmöblierten Vorraum. Hier drinnen ist es im Gegensatz zum Lärm in den Straßen von Soupow auffallend still. Nach kurzer Zeit erscheint eine junge Frau mit kunstvoll hochgesteckten schwarzen Haaren, bekleidet mit einem leuchtend roten Kleid, das mehr einem Umhang gleicht. Sie nickt zur Begrüßung und fragt: »Wo möchtet ihr euch aufhalten?« Chalice gibt die Frage an Liam weiter, schließlich war es sein Wunsch, die freie Zeit hier zu verbringen. Liam seinerseits sagt, ohne zu überlegen: »Badyard.« »Wie viel deines Freizeitkredits möchtest du in Form von Münzgeld haben?« Liam nennt ihr eine beliebige Zahl. Während er die Münzen einsteckt, deutet die Frau auf einen der Zugangstunnel, die nach allen Seiten abgehen. Als Liam gemeinsam mit Chalice
die weitläufige Halle des Badyard betritt, ertönt erneut die Begrüßungsstimme: »Willkommen im Badyard. Ihr befindet euch in der Nachbildung einer Innenstadt des späten 21. Jahrhunderts. Wir wünschen euch einen angenehmen Aufenthalt.« Ohrenbetäubend laute Musik und stickige Luft schlägt den beiden entgegen. Auch hier im Badyard ist es dunkel; die nachgebildeten Innenstadtwege und -straßen sind überfüllt mit Bewohnern jeder Lebensphase, die sich an zahlreichen Bartresen drängen, um Getränke zu sich zu nehmen und der Musik zuzuhören. »Was ist das?«, ruft Chalice Liam ins Ohr. »Du kennst es wirklich nicht?«, staunt Liam. »Hier kommt doch sonst jeder her.« Chalice schüttelt den Kopf. Liam belässt es dabei und ruft: »Ich möchte etwas trinken!« Chalice nickt und folgt ihm. Trotz der dichten Menschenmasse entdecken sie weiter hinten neben einer etwas abseits gelegenen Blechhütte, umgeben von Reifenstapeln, umgestürzten Ölfässern und Autowracks, einen einzelnen noch unbesetzten Vierertisch. Kaum haben die beiden Platz genommen, da steigen vor ihnen aus der Mitte der Tischplatte Partikel auf und formen sich zu einem Gesicht, das sie nach ihren Wünschen befragt. Ebenso rasch folgt die Ausgabe der Getränke: Eine junge Frau, wiederum bekleidet mit einem leuchtend roten Umhang, reicht ihnen eine eisgekühlte Mischung aus synthetischem Sirup und chininhaltigem Zitronenwasser. Eine äußerst nährstoffarme Kombination, aber schmackhaft und als Erfrischung in dieser Umgebung ohne Zweifel angemessen. Liam begleicht den dafür fälligen Freizeitobolus mit zwei seiner insgesamt sechs Münzen. Während er nach seinem Glas greift und mit kleinen Schlucken daran nippt, versucht er sich unauffällig nach Raia umzusehen. Doch Chalice bemerkt seine Blicke und fragt
neugierig: »Suchst du jemand?« Liam will ihr nichts von der Sache mit Raia erzählen. Er weiß ja selbst nicht, was ihr Verschwinden und die Geschehnisse danach zu bedeuten haben. Deshalb lenkt er ab, indem er auf das unberührte Glas vor Chalice auf dem Tisch deutet und fragt: »Magst du es nicht?« Die junge Frau nimmt das Glas und führt es zaghaft an ihre Lippen. Sie schnuppert kurz und sagt, wobei ihr Gesichtsausdruck ihre Worte Lügen straft: »Doch, es duftet gut.« Dann stellt sie das Glas, ohne einen Schluck zu probieren, wieder ab. Plötzlich überfällt Liam eine Ahnung, dass etwas nicht stimmt. Chalices Verhalten ist irgendwie merkwürdig. Ist sie womöglich eine Mittlerin? Es wäre auf jeden Fall logisch, wenn das System Liam unter den gegebenen Umständen jemand zur Beobachtung an die Seite stellt. Falls er Raia findet und ein paar ungestörte Worte mit ihr wechseln will, sollte sich Chalice also nicht unbedingt in seiner Nähe befinden. Liam hebt erneut sein Glas und trinkt es in wenigen Zügen leer. Danach steht er auf, beugt sich zu Chalice vor und ruft ihr ins Ohr: »Warte hier! Ich bin gleich wieder da.« Chalice antwortet mit einem nervösen Lächeln. Sobald Liam den Tisch verlassen hat, läuft er geradewegs dem Zugang entgegen. Die Menschentrauben erschweren ihm das Durchkommen. Liam wirft einen kurzen Blick zurück. Chalice ist von hier aus nicht zu sehen. Im gleichen Moment tippt ihm jemand auf die Schulter. Liam fährt zusammen. Es ist eine der jungen Frauen mit rotem Kleid und hochgesteckter Frisur. Wortlos weist sie auf eine Seite des riesigen Raums. Liam folgt ihrem Fingerzeig – und glaubt für eine Sekunde Raias Gesicht zu entdecken. Sofort läuft er los. Das kann kein Zufall sein! Und richtig, plötzlich erkennt er Raia deutlich. Sie steht an eine Gebäudewand gelehnt und erwartet Liam
offenkundig, denn ihre Augen sind auf ihn gerichtet. Rücksichtslos drängelt sich Liam durch die zähe Menschenmasse, die ihn auf seinem Weg behindert. Er will Raia nicht aus den Augen verlieren. Doch was ist das? Anstatt stehen zu bleiben, läuft Raia davon – nein, sie bleibt nach einigen Metern wieder stehen. Dann macht sie noch einmal ein paar Schritte. Liam zögert, wird langsamer. Was hat das alles zu bedeuten? Doch Raia scheint seine Zweifel bemerkt zu haben. Ihre Augen treffen seine. Ihr brennender, unergründlicher Blick ist es schließlich, der ihn dazu bewegt, weiterzulaufen. Kurz darauf verschwindet Raia in einer abgeschiedenen Ecke. Bevor auch Liam hineingeht, schaut er sich noch einmal nach Chalice um. Erst als er sie weit entfernt ausfindig macht, folgt er Raia.
Vor den Blicken der übrigen Bewohner geschützt, steht Raia im Schatten eines verfallenen Gebäudes vor Liam. Vorsichtig tritt er näher an sie heran. Sie ist es tatsächlich – seine verschollene Gefährtin. Stumm starrt er sie an. Nach allem, was passiert ist, fehlen ihm jetzt die Worte, obwohl er so viele Fragen hat. Im selben Moment packen ihn kräftige Hände und verkleben ihm die Augen. Vehement setzt Liam sich zur Wehr, doch vergeblich: Er ist der fremden Person körperlich unterlegen. Er fürchtet schon, in irgendeine Falle geraten zu sein, als er unverhofft Raias Hand in seiner spürt und ihre Stimme ihm zuflüstert: »Wie schön, dass du gekommen bist. Bitte, vertrau mir.« Da gibt Liam nach und lässt sich schließlich widerstandslos wegführen. Liam zuckt zusammen. Sosehr sich Raia bemüht, den Klebestreifen vorsichtig von seinen Augen zu lösen, es bleibt trotzdem eine unangenehme Prozedur. Als Liam endlich wieder sehen kann, blickt er sich neugierig um. »Wo bin ich?«
Ein einige Phasen älterer Mann nähert sich ihm und stellt sich vor: »Ich bin Kyle.« Dann zeigt er hinüber zu einer etwa gleichaltrigen Frau. »Das ist Ana, meine Gefährtin. Da drüben sind Nel und Nonosan und die beiden, die dich hergebracht haben, sind Sid und… nun, Raia kennst du ja.« Liam kümmern all diese fremden Bewohner nicht. Sein Interesse gilt allein den fragwürdigen Ereignissen der letzten Stunden. Er wiederholt mit energischer Stimme: »Wo bin ich?« Kyle sagt in die Runde: »Lassen wir sie allein.« Raia fasst Liam am Arm und führt ihn zu ihrem Ruhelager, das sie wie die anderen auch provisorisch eingerichtet hat: mit wenigen Decken, die die Kälte des Bodens fern halten. Beide setzen sich. Erwartungsvoll schaut Liam die Gefährtin an. Er will endlich Erklärungen. Raia jedoch blickt schuldbewusst zu Boden und sagt nur: »Es war nicht meine Absicht, dich zu beschädigen.« »Aber du hast es getan, weshalb?« Raia sucht nach Worten. Schließlich seufzt sie tief auf und sagt: »Ich bin in die Wohneinheit zurückgekehrt, um dir eine Nachricht zu hinterlassen. Das System sollte mich dabei nicht erkennen und meinen Weg nicht verfolgen können. Doch du hast mich festgehalten und sogar meinen Namen genannt.« Beide schweigen. Nachdenklich beobachtet Liam die lodernden Flammen des Lagerfeuers in der Mitte des Raums. Nach einer Weile sagt er mehr zu sich selbst: »Aber weshalb hat das System dich nicht automatisch identifiziert?« »Weil ich nicht mehr Teil davon bin. Niemand aus dieser Gruppe kann mehr identifiziert werden.« Liam schüttelt den Kopf und fragt verständnislos: »Was heißt das, du bist nicht mehr Teil davon?« Raia gibt sich große Mühe, Liam schonend an die Wahrheit heranzuführen. »Liam, jeder Bewohner besitzt ein Kugelimplantat. Es hat einen Durchmesser von fünf Millimetern und steckt zwischen dem vierten und fünften
Halswirbel. Mit seiner Hilfe kann das System jeden unserer Schritte nachvollziehen. Ich – wir haben es entfernen lassen.« Liam hebt abwehrend beide Arme in die Höhe: »Moment mal. Was auch immer mit dir los ist – zumindest ich bin noch ans System angeschlossen. Es hätte mich also längst hier ausfindig machen müssen. Aber wie du siehst, es passiert nichts.« Raia lässt ihre Augen durch das Versteck schweifen und sagt: »Es liegt an diesem Raum. Sid fand ihn als Erster. Zufällig stellte er fest, dass das System hier keinen Einfluss mehr auf ihn hatte. Du siehst, es ist nicht viel mehr als ein riesiges, grob herausgeschlagenes Loch; keiner von uns weiß, wie es dazu kommen konnte, dass solch ein Raum überhaupt außerhalb der Kontrolle des Systems existiert. Doch auf diese Weise können wir uns jetzt hier aufhalten, ohne dass du uns durch deine Anwesenheit verrätst. – Sid war es übrigens auch, der einen Weg gefunden hat, die Implantate zu entfernen.« Liam ist sprachlos. Schließlich fragt er: »Verrate mir nur eins: Wozu das Ganze?« Raia nickt. Dabei tritt ein eigenartiger Glanz in ihre Augen. Sie strahlt Liam an und springt auf. »Warte!« Zusammen mit Ana verschwindet sie hinter einer der unzähligen Wandnischen. Dann kehrt sie zurück und setzt sich wieder. Sie hält etwas in der Hand. Als sie Liams fragenden Blick bemerkt, erklärt sie: »Das ist ein Tagebuch.« Sie streicht mit einer Hand behutsam über den Buchdeckel. »Es gehörte einem Bewohner namens Jez Lynn. Er lebte vor mehr als zweihundert Phasen. In seinen Aufzeichnungen berichtet er von einer Welt, die neben unserer existiert. Dabei umschreibt er Empfindungen, die uns vollkommen fremd sind, und schildert sie mit solcher Intensität, als seien sie die Luft, die er zum Atmen braucht. Es muss eine so schöne und faszinierende Welt sein, dass wir uns wünschen sie mit eigenen Augen zu entdecken und mit eigenen Sinnen zu fühlen.«
Raia schlägt das Tagebuch auf, ihre Wangen sind gerötet. Liam holt tief Luft, doch sie hält ihm den Zeigefinger an die Lippen und bittet ihn, er möge sich noch etwas gedulden. Während sie die ersten Seiten umblättert, sagt sie: »Auch Jez Lynn hatte eine Gefährtin. Sie hieß Meret. Ihr galt jede Zeile seiner Aufzeichnungen. Von allem aber, was er schreibt, ist es dieses Gedicht, das mich am meisten berührt, denn es steht für meine eigene Sehnsucht nach der Lynnwelt.« Leise beginnt Raia schließlich zu lesen. 2. Juli 2148 »Geliebte Meret, was hat es mit diesem Ort auf sich, für dessen Beschreibung die geeignete Sprache noch nicht erfunden wurde? Lass mich versuchen dir zumindest eine Ahnung zu vermitteln, wie er meine Sinne beflügelt. Vielleicht kann dir das folgende Gedicht zeigen, was ich in diesem Augenblick empfinde. Spürst du… den Atem der Erde… die Tränen des Himmels… den Kuss des Tagauges auf bloßer Haut? Spürst du… mich… wie ich… lebe? Spürst du… wie ich…dich… liebe?« Mit geschlossenen Augen schlägt Raia das Tagebuch zu und drückt es fest an ihren Körper. »Stundenlang habe ich nachts seit meiner Trennung vom System wach gelegen und mir jene Welt auszumalen versucht: Jez Lynn, den Atem der Erde, die Tränen des Himmels, das Auge des Tages und der Nacht, Kreaturen und Bäume – einfach alles, wovon Jez in seinem Tagebuch berichtet, auch seine innigen Empfindungen für Meret. Es gelang mir nur zum Teil, mir fehlt die Wirklichkeit. Aber es weckte ungeheure Sehnsüchte in mir.« Raia öffnet die Augen wieder und verkündet mit strahlendem Gesicht: »Bald schon werden wir aufbrechen!«
Dann nimmt sie Liams Hand und sagt: »Liam, du bist mein Gefährte. Lass uns die Lynnwelt gemeinsam erleben, unbekannte Gefühle in uns entdecken.« Liam zieht seine Hand zurück. »Ist dieses Tagebuch der Grund für die seltsamen Ereignisse der letzten Zeit?« Raia nickt. Da erhebt sich Liam und sagt mit lauter Stimme: »Von ein paar unverständlichen Beschreibungen lasst ihr euch den Kopf verdrehen und nehmt eine Trennung vom System in Kauf? Ihr missachtet die MAXIME, versteckt euch und beschädigt sogar Mitbewohner? Bitte, geht! Sucht den Atem der Erde oder wie auch immer dieser Mann seine Phantasien bezeichnet hat, aber verlangt nicht von mir, dass ich euch begleite.« Er baut sich vor Kyle auf. »Bringt mich zurück!« Kyle wirft Raia einen fragenden Blick zu. Sie sitzt regungslos da und ist so bestürzt, dass sie keine Worte findet. Plötzlich ruft Sid: »Worauf warten wir? Das ist doch nichts als Zeitverschwendung. Immerhin hatte sich vorhin schon eine Mittlerin an Liams Fersen geheftet. Wir sollten ihn zurückbringen und möglichst rasch aufbrechen.« Er verstummt, als er die abwehrenden Blicke der anderen bemerkt. Doch nach quälenden Sekunden nickt Kyle und sagt zu Liam: »Sid wird dich ins System zurückführen.« Dann packt er Liam am Arm. »Meinetwegen geh zurück, aber bring uns nicht in Gefahr. Du wirst uns nicht verraten?« Liam schaut zu Raia hinüber, die immer noch dasitzt und in ihren Schoß starrt. Dann wendet er sich Kyle zu und verneint. Doch in diesem Augenblick ruft Nel: »Wartet!« Vorsichtig legt die alte Frau den Kopf ihres schlafenden Gefährten auf eine weiche Unterlage und erhebt sich. Mit langsamen Schritten geht sie auf Liam zu und bleibt dicht vor ihm stehen. Und obwohl sie fast einen Kopf kleiner ist als er, kann er sich ihrem eindringlichen Blick nicht entziehen.
Nel greift nach Liams Arm und pustet sachte auf seine fein behaarte Haut. Augenblicklich richten sich die vielen kaum sichtbaren Härchen auf. Liam zieht den Arm zurück. Nel lässt ihn gewähren, wendet nun sein Gesicht zur Seite. Sanft streichelt sie seine Wange. Auch das lässt er zunächst nur widerstrebend geschehen, doch je länger ihre Hand über seine Haut gleitet, desto angenehmer scheint ihm die Berührung zu sein. Verwundert schaut Liam die alte Frau an. Erst jetzt bricht sie ihr Schweigen: »Manche Empfindungen sind vergänglich, verweht, ehe man sie begreift. Manche dagegen sind dauerhaft. Sie können verblassen mit der Zeit, aber ausgelöst durch ein Wort, einen Duft, eine Melodie oder ein Bild zu neuem Leben erweckt werden. Was jedoch alle Empfindungen miteinander verbindet: Sie schlummern tief in uns und warten darauf, sich uns durch einen Anlass oder einen äußeren Umstand zu offenbaren. In Jez Lynns Tagebuch versuchen Worte uns etwas davon zu vermittele das nicht Mitteilbare mitzuteilen. Dabei ist es Jez Lynn gelungen, seine Lebensfreude so in Worte zu fassen, dass wir sie zweihundert Phasen später immer noch spüren können. Was du, Liam, soeben empfunden hast, sind Andeutungen solcher Gefühle, wie Jez Lynn sie in seinen Aufzeichnungen festgehalten hat.« Nel blickt in die Runde, wendet sich wieder Liam zu. »Die Lynnwelt wird uns Gefühle bescheren, die uns bisher vorenthalten geblieben sind. Hast du nicht soeben selbst etwas auf deiner bloßen Haut gespürt? Hat dein unerfahrener Körper nicht auch darauf reagiert? Jeder von uns hat in diesem Versteck, abgeschieden vom Einfluss des Systems, zum ersten Mal eine Ahnung von den Dingen bekommen, die Jez Lynn viele Phasen vor uns in der anderen Welt erleben durfte.« Prüfend mustert Liam die alte Frau und tritt danach demonstrativ einige Schritte zurück. »Aber niemand von euch weiß, welche Auswirkungen diese Gefühle haben. Vielleicht
ist das ja auch der Grund, weshalb das System sie von uns fern hält. Und wer gibt euch die Gewissheit, dass diese Welt des Jez Lynn wirklich neben dieser existiert?« Darauf winkt Nel Raia zu sich und stellt sie Liam direkt gegenüber. »Sieh dir Raia an. Sie hat das Risiko auf sich genommen, dich hierher zu holen. Sie will ihr neues Leben mit dir teilen. Hätte sie nicht darauf gedrängt, wären wir schon nicht mehr hier, in diesem stickigen und kalten Versteck. Raia hat an sich Empfindungen für dich entdeckt. Es liegt an dir, den Traum von der Lynnwelt gemeinsam mit ihr wahr werden zu lassen. Fernab jeglicher reinen Logik und gefühllosen Perfektion.« Liam schüttelt den Kopf. Im Augenblick ist ihm das alles zu viel. Doch Nel fährt fort: »Selbst wenn die Lynnwelt nicht existierte, dann hätten wir sie doch zumindest in uns selbst gefunden und ein menschliches Miteinander erfahren, das uns bisher versagt wurde. Aber glaub mir, es gibt keinen Anlass zum Zweifeln: So real wie das Tagebuch ist, genauso real ist auch die Lynnwelt.« Nel lächelt Raia ermutigend zu und streicht ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. Dann kehrt die alte Frau zurück zu ihrem Ruhelager. Nonosan, der mittlerweile erwacht ist, gibt seiner Gefährtin einen Kuss auf die Stirn. Inzwischen führt Raia langsam eine Hand an Liams Wange und streichelt sie noch einmal. Instinktiv schließt Liam seine Augen. Raias Haut fühlt sich weicher an und scheint ihn noch stärker zu berühren als die Hand Nels. Schnell öffnet er die Augen. Er ist verwirrt. Doch Raia lächelt und wiederholt: »Begleite mich. Teile die Lynnwelt mit mir.« Liam sieht hinüber zu Nel und Nonosan, dann zu Kyle und Ana, zu Sid und zuletzt wieder zu Raia. Er blickt ihr tief in die Augen, als versuchte er bis in ihr Innerstes vorzudringen. Und plötzlich, als wäre er nicht mehr Herr seiner selbst, nickt er und murmelt: »Ich begleite dich.«
Nel und Raia strahlen über das ganze Gesicht. Liam hingegen fragt sich im selben Moment, welcher Sinn sich hinter seiner soeben getroffenen Entscheidung verbirgt. Hat es mit diesem geheimnisvollen Ort zu tun, der womöglich in der Lage ist, sein logisches Denken außer Kraft zu setzen? Vielleicht war es aber auch nur die einnehmende Art, wie Raia ihn ansah, als sie ihn bat bei ihr zu bleiben. Weshalb ist es ihm nicht schon früher aufgefallen, dieses besondere Lächeln in ihrem Gesicht?
Trennungsschmerz
Neugierig mustert Liam den Becher mit dem heißen Getränk, den Ana ihrem Gefährten reicht. Es riecht nicht gerade verlockend. »Was ist das?«, fragt er. Kyle antwortet lachend: »Proteine, Kohlenhydrate, Natrium, Kalzium, Niacin, Folsäure, Eisen und noch eine Menge anderer Spurenelemente. Alles vereint zu einem grässlichen, aber lebensnotwendigen Gebräu. Als ich es hier zum ersten Mal zu mir nahm, habe ich mich nur mühsam an den strengen Geschmack gewöhnt. Aber wie du siehst, wenn es ein wenig erhitzt ist, trinke ich es sogar freiwillig.« »Wie seid ihr daran gekommen, ich meine…« Kyle nimmt einen Schluck und verzieht das Gesicht prompt zu einer Grimasse. »Du meinst, weil wir keinen Zugriff mehr auf die Nahrungsbatterien haben?« Liam nickt. »Nun ja, wir haben gelernt uns anderweitig Nahrung zu beschaffen. Möchtest du vielleicht auch etwas?« Liam wehrt dankend ab. Er staunt, wie energisch sich Kyle jetzt die gesamte Menge der Flüssignahrung einverleibt. Dabei grübelt er, worauf er sich eigentlich eingelassen hat – es muss ein Leben mit vielen gewöhnungsbedürftigen Neuerungen sein, ein Wagnis mit unbekanntem Ausgang, das da auf ihn zukommt. Nichts wird mehr so sein, wie er es in den ersten 17 Phasen seines Lebens kennen gelernt hat – so geordnet, so abgesichert und in jeglicher Hinsicht berechenbar. »Komm«, sagt Kyle. »Solange Sid deine Trennung vom System vorbereitet, stelle ich dir die Gruppe richtig vor. Dann weißt du, mit wem du dein künftiges Leben verbringst. Also, mich haben die anderen zu ihrem Anführer gewählt.
Hauptsächlich, weil ich mit Ausnahme von Nel und Nonosan der Älteste bin und somit über die meiste Lebenserfahrung verfüge. Ana, meine Gefährtin, kennst du ja schon.« Liam nickt und folgt ihm. Kyle legt eine Hand auf die Schulter von Nel, die gemeinsam mit ihrem Gefährten Nonosan am Feuer in der Mitte des Raumes sitzt und ebenfalls gerade das heiße Gebräu zu sich nimmt. »Nel ist Malerin. Ihre Kunst zeigt sich in der Auswahl der Farben, dem überraschenden Aneinanderfügen geometrischer Formen, der Fähigkeit, Dreidimensionales auf Zweidimensionalem völlig real erscheinen zu lassen. Verstehst du, was ich meine?« Liam nickt brav, doch man sieht ihm an, dass er Kyle nicht folgen kann. »Nonosan ist ihr Gefährte. Auch er war der Werkeinheit Geistige Erbauung zugewiesen und hatte wie Nel künstlerischen Status im System. Seine Musik erzeugt Bilder in denen, die sie hören, nach deren Ursprung zu forschen reine Zeitverschwendung wäre. Seitdem beide vom System getrennt sind, ist es allerdings still und farblos um sie herum geworden. Es ist sehr bedauerlich, dass sie für ihre Kreativität Devisoren benötigen und diese wiederum eine Schnittstelle, die nun für beide nicht mehr existiert.« Liam registriert das offensichtlich hohe Alter des greisen Paares. Kyle deutet seinen Blick richtig und sagt: »Ihr Entstehungsdatum ist 2237. Sie sind in der 125. Lebensphase angelangt.« In diesem Moment nähert Sid sich den beiden. Liam ahnt, was nun bevorsteht: In der einen Hand hält Sid ein Werkzeug, dessen oberstes Viertel schmal und scharfkantig ausläuft, in der anderen einen hohen metallenen Behälter. Auch Kyle hat ihn kommen sehen und sagt: »Oh, Sid wirst du gleich selbst kennen lernen. Gut, es ist so weit. Wir sollten keine Zeit verlieren.«
Raia, die das Geschehen von weitem beobachtet hat, steht rasch von ihrem Ruheplatz auf und steuert ebenfalls auf Liam zu. Mit einem Blick bedeutet sie Sid noch einen Moment zu warten. Dann nimmt sie Liam zur Seite und sagt: »Was gleich passieren wird, ist zunächst sehr schmerzhaft. Nachdem die Trennung vollzogen ist, hat das System keinen Einfluss mehr auf dich. Es kann dir also nichts zuführen, um die Schmerzen erträglicher zu machen. Von nun an bist du auf dich allein gestellt und wie jeder von uns auf die Hilfe der anderen angewiesen. Ich wollte nur, dass du das weißt.« Liam erwidert kurz: »Die paar Schmerzen werde ich schon aushalten.« Dann verschwindet er mit Sid hinter einer Nische des Raumes.
Laute Schreie hallen durch den Raum. Auf ihrem Ruhelager leidet Raia mit, bis sie bemerkt, dass es still wird. Nur ihren eigenen, schnellen Herzschlag nimmt sie noch dumpf wahr. Irgendwann spürt sie eine Hand auf ihrer Schulter. Es ist Kyle, der freundlich sagt: »Liam hat es hinter sich.« Raia sieht hinüber zu Sid, der sich weiter hinten die blutverschmierten Hände säubert. Sie fragt aufgeregt: »Wie geht es ihm?« »Ana ist bei ihm. Liam wird es gut überstehen.« Kyle drückt ihre Hand. »Er soll erst mal schlafen. Wenn alles gut geht, können wir morgen Abend aufbrechen.« Inzwischen hat sich auch Sid zu ihnen gesellt. Mit einer leeren Materialbox steht er vor Raia und sagt ernsthaft: »Es ist Zeit, zu gehen, wenn wir Nachschub an Nahrung holen wollen. Liam wird Nährstoffe brauchen, wenn er aufwacht.« Da fällt es Raia wieder ein: Sid und sie waren ja heute für die Nahrungsbeschaffung eingeteilt. Sie nickt folgsam und erhebt sich. Gemeinsam mit Sid verlässt sie das Versteck, nachdem auch sie sich eine Materialbox geholt hat.
*** Der Sektionsverwalter sitzt aufrecht in seinem Stuhl und mustert die junge Mittlerin. Chalice hingegen blickt zu Boden. »Hat er dich getäuscht?«, fragt der Verwalter sie. Sie merkt, dass er sich bemüht es nicht wie einen Vorwurf klingen zu lassen, und nickt. »War Raia auch dort?« Chalice verneint kopfschüttelnd. »Es ist nicht deine Schuld.« Eine Weile studiert der Sektionsverwalter nachdenklich seine Hände. Dann stellt er laut fest: »Jetzt sind es insgesamt sieben. Liam ist ebenfalls verschwunden. Auch ihn haben wir vor kurzem verloren.« Er rutscht ein Stück vor und erhebt sich. Beide stehen sich nun von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Der Verwalter tätschelt der jungen Frau die Wange und sagt: »Spüre Raia und Liam auf. Finde heraus, weshalb sich beide vom System trennten und was sie vorhaben. Vielleicht stehen sie sogar mit den anderen Verschwundenen in Verbindung. Offensichtlich verstecken sie sich in Soupow. Bleib dort und halte die Augen offen. Zwei weitere Mittler begleiten dich zu deiner Unterstützung.« Chalice macht auf dem Absatz kehrt und will sich gerade zurückziehen, als der Verwalter sie noch einmal zurückhält: »Du solltest ihnen nicht mit Drohungen entgegentreten. Und ich will keinesfalls, dass sie beschädigt werden.« Mit diesen Weisungen ausgestattet, verlässt Chalice den Raum. Sie ist fest entschlossen diesmal geschickter vorzugehen, denn sie möchte das Vertrauen ihres Vorgesetzten nicht unnötig strapazieren. Als sie die Halle betritt, warten dort bereits die beiden Mittler, die der Verwalter ihr zugeteilt hat. Ohne die beiden anzusehen, befiehlt sie: »Nach Soupow.« ***
Raia hat sich nie besonders wohl gefühlt in der Enge der labyrinthischen Gänge, die vom Versteck abzweigen. Sie sind gerade so breit, dass eine Person darin Platz findet, ohne mit den Schultern anzustoßen – nicht mehr als ein schmaler Spalt zwischen zwei gewaltig hohen Wänden. Doch das allein ist nicht der Grund für Raias Unbehagen. Es hat auch damit zu tun, dass Sid bereits seit einigen Tagen ihr gegenüber sehr wortkarg ist. Er ist längst nicht mehr so zuvorkommend wie am Anfang, als sie sich der Gruppe angeschlossen hatte. Vor allen Dingen aber bewegt er sich momentan übertrieben langsam. Ungeduld steigt in Raia auf. Macht er das absichtlich? »Wie lange dauert es, bis wir da sind?«, fragt sie, denn sie hofft, dass Sid sich dadurch genötigt fühlt sein Tempo zu beschleunigen. Der jedoch erwidert nur: »Jetzt drängle nicht. Ist es vielleicht meine Schuld, dass wir hier noch festsitzen?« Plötzlich bleibt er stehen und dreht sich so abrupt zu ihr um, dass sie um ein Haar zusammengestoßen wären. Entgeistert sieht sie ihn an. »Ohne Liam wären wir längst weiter«, faucht Sid. »Und ohne ihn müssten wir jetzt auch nicht mehr durch dieses verdammte Labyrinth geistern. Also reiß dich zusammen und geh mir nicht auf die Nerven. Pass lieber auf, dass du genau das tust, was ich dir sage – ein Fehler und wir können die Lynnwelt vergessen.« Raia zuckt zusammen. Sie ahnt, worauf Sid hinauswill. Er will ihr allein die Schuld geben, dass sie immer noch im Versteck hausen! Mit geballten Fäusten steht sie da. Erst als Sid seinen durchdringenden Blick von ihr abwendet und endlich weitergeht, löst sich ihre Erstarrung. Während sie nun auf einmal Mühe hat, mit ihm Schritt zu halten, überkommt sie ein schmerzhafter Gedanke: Ob die anderen genauso denken wie er?
Raia ruft sich Nels Worte in Erinnerung. Nein, sie nicht. Ausgeschlossen. Sonst hätte sie Liam nicht zu überzeugen versucht, dass er sich der Gruppe anschließen soll. Außerdem sind Nel und Ana auch nicht ohne ihre Gefährten gegangen. Weshalb sollte da ausgerechnet Raia eine Ausnahme machen? Und überhaupt – was gibt Sid das Recht, sich ein solch überhebliches Urteil anzumaßen? Kyle hat jedem absolute Gleichstellung in ihrer kleinen Gemeinschaft zugesichert. In diesem Augenblick fällt Raia wieder ein, dass Sids Gefährtin nicht mit ihm gehen wollte. Ob er deshalb so seltsam ist – weil Liam sich im Gegensatz zu Sids Gefährtin für die Gruppe entschieden hat? Am liebsten würde sie Sid sofort zur Rede stellen, aber sie ist klug genug es nicht zu tun. Vielleicht später, nimmt sie sich vor. Endlich erkennt Raia mit einer Mischung aus Erleichterung und Beklemmung das grelle Licht einer Schleusenstation in der Ferne. Hinter den Schleusen sind die Wände geöffnet und erlauben einen freien Ausblick auf die Stadt. Es ist heller Tag, die Lichter der Kaltleuchten unter der Himmelskuppel haben ihren Höchststand erreicht – ein ungünstiger Moment, um sich unauffällig zu bewegen. Doch im Laufe der letzten Tage und Wochen haben sich alle Mitglieder der Gruppe eine große Geschicklichkeit darin angeeignet. Trotzdem – Raia ist sich vollkommen im Klaren darüber, dass jeder weitere Aufenthalt im System, vor allem nach den Ereignissen der letzten Stunden, noch riskanter ist als zuvor. War die Anwesenheit der jungen Mittlerin in Liams Nähe nicht eine deutliche Warnung? Haben die Mittler sie erst einmal aufgespürt, wird es keine Möglichkeit geben, ihnen ein weiteres Mal zu entfliehen. Da nähert sich am nächstgelegenen Terminal eine geeignete Kone. Sie steuert genau das Ziel an, das Raia und Sid aufsuchen wollen: Sektion West. Doch zu Raias Überraschung
hält Sid sie zurück und flüstert ihr zu: »Komm!« Er fasst sie am Arm und zieht sie hinter sich her. Anscheinend hat er ihren Plan auf eigene Faust geändert, denn die Kone, auf die er jetzt zuläuft, fährt in die Sektion Süd. Was soll das? Dort gibt es lediglich Werkeinheiten aller möglichen Arbeitsgruppen, kaum Wohneinheiten. Aber nur die sind mit Nahrungsbatterien ausgestattet. Während Raia widerstrebend zusammen mit zwei weiteren Fahrgästen einsteigt und Platz nimmt, grinst Sid plötzlich und flüstert ihr zu: »Wir sollten immer gemeinsam gehen! Du bringst mir Glück.« Raia spart sich jeden Kommentar. Sie ist verärgert über Sids eigenmächtiges Handeln, doch sie muss auch an Kyles Rat denken, dass sie in der Nähe von Bewohnern möglichst wenig sprechen sollten. Jede falsche Äußerung könnte sie entlarven. Im selben Moment wird die Kone langsamer. Raia und Sid steigen schnell aus und mischen sich unter die Bewohner, die hier ihrer Arbeit nachgehen. Alle haben sie die gleichen ausdruckslosen Gesichter: Auf das Wesentliche konzentriert, eilen sie in hastigen Schritten der stets flüchtigen Zeit hinterher. Raia kann diese Haltung nur noch mit Mühe einnehmen. Wie sehr hat sie sich doch in den vergangenen Wochen verändert, wie fern scheint ihr das System schon zu sein! Dennoch kann sie es sich nicht verkneifen, zu den hoch über ihnen positionierten Devisoren hinaufzuschauen. Die vielfältigen Darstellungen faszinieren sie immer noch. Plötzlich spürt sie, wie eine feste Hand sie packt. Sie zuckt heftig zusammen und starrt mit großen Augen Sid an, der ihr ins Ohr zischt: »Das nächste Mal bin vielleicht nicht ich es, also komm!« Und damit zieht er sie weiter. Schuldbewusst mimt Raia wieder eine arbeitsame Bewohnerin und versucht bei Sids beschleunigtem Schritt mitzuhalten. Sie sieht nicht, dass weit abseits ein Mittler die Verfolgung aufnimmt.
»Hier lang!«, befiehlt Sid. Raia kann nur hoffen, dass Sid eine genaue Vorstellung davon hat, wohin er will, und dass er dort ausreichend Nahrung für die kommenden Tage auftreiben kann. Gemeinsam betreten sie einen voll besetzten Hyperlift. Ohne lange zu überlegen, wählt Sid die 322. Etage. »Wo willst du hin?«, wagt Raia flüsternd zu fragen, denn die meisten anderen Bewohner im Lift sind in anregende Gespräche vertieft und nehmen keinerlei Notiz von ihnen. Doch Sid blickt nach draußen auf die rasend kleiner werdende Stadt unter ihnen, als wäre Raia gar nicht da. Kaum haben sie den Hyperlift verlassen, läuft Sid einen langen, abgedunkelten Flur entlang, der in einen großen Raum mündet. Dabei dreht er sich nicht einmal mehr nach Raia um. Raias Unmut wächst. Noch ist ihr nicht klar, ob Sid mit seinem unangenehmen Gebaren ihre Abhängigkeit von ihm ausnutzen will oder ob er schlichtweg Angst hat. Immerhin ist ihr nicht entgangen, dass sich ein paar Schweißperlen auf seiner Stirn gesammelt haben. Sie versucht sich damit zu beruhigen, dass Sid erfahren ist und sich bisher als anständiger Kerl gezeigt hat. Er wird hoffentlich gute Gründe haben, weshalb er zur Nahrungsbeschaffung Werkeinheiten aufsucht.
Die beiden betreten den Raum. Massen von Bewohnern halten sich darin auf. Sie sitzen allein, zu zweit oder zu mehreren an Tischen oder unterhalten sich im Stehen miteinander. Andere stehen an Infopaneels, die sich inmitten der Tischreihen befinden. Eine solche Werkeinheit hat Raia noch nie gesehen. Sie fühlt sich angesichts der vielen Bewohner eingeengt. Was sie zudem verwirrt, ist die Tatsache, dass die Bewohner dasitzen und scheinbar nichts anderes tun, als Wissen auszutauschen. Das zumindest lassen die Wortfetzen vermuten, die sie hier und da aufschnappt.
»Setz dich an einen der Tische und verhalte dich still. Ich bin gleich wieder zurück«, murmelt Sid. »Wo willst du hin?«, will Raia wissen. »Mach schon.« Raia bemerkt jetzt deutlich, dass Sid ziemlich nervös ist. Irgendetwas scheint ihn zu beunruhigen. Instinktiv sieht sie sich nach allen Seiten um. Doch sie kann nichts Auffälliges entdecken. Als sie ihren Blick Sid wieder zuwenden will, hat ihn bereits der große Raum verschluckt. Raia ist froh, dass sie nicht lange suchen muss, um einen freien Platz an einem Tisch zwischen zwei Paneelreihen ausfindig zu machen. Sie setzt sich zu den beiden Bewohnern, die dort bereits in ein Gespräch vertieft sind, und schweigt. Glücklicherweise nehmen die zwei ihre Anwesenheit nur kurz zur Kenntnis. Dafür entdeckt Raia aus dem Augenwinkel heraus einen Bewohner, der anscheinend geradewegs auf sie zusteuert. Schnell rückt sie ein Stück näher an die einige Phasen ältere Frau neben sich heran. Doch der fremde Bewohner lächelt ihr bereits von weitem zu. Schließlich steht er vor ihr und fragt höflich: »Möchtest du dein Wissen mit mir teilen?« Hilfe suchend wandern Raias Augen im Raum umher. Was um Himmels willen soll sie jetzt machen? Wieder hält sie nach Sid Ausschau. Er ist nirgends zu sehen. Der junge Mann bleibt inzwischen geduldig stehen und wartet auf eine Antwort. »Äh…«, stammelt Raia und schüttelt den Kopf. »Nein, ich möchte nicht.« Zu ihrer großen Erleichterung akzeptiert der junge Mann das und wendet sich sofort wieder von ihr ab. Genauso schnell, wie er auftauchte, ist er im Wirrwarr der vielen Bewohner verschwunden. Mit einem tiefen, unterdrückten Seufzer sieht Raia ihm nach. Und dann fasst sie einen raschen Entschluss: Sie wird nicht abwarten, bis Sid zurückkommt, sondern ihn suchen gehen. Allzu unsicher fühlt sie sich in der gegenwärtigen Situation, allzu riskant scheint es ihr, wenn
weitere unvorhergesehene Dinge passieren. Also erhebt sie sich, nachdem sie sich mit einem beiläufigen Kopfnicken von ihren Tischnachbarn verabschiedet hat, und beginnt mit langsamen Schritten in den überfüllten Raum vorzudringen. Da, am anderen Ende des Raums, steht Sid! Raia atmet auf und beschleunigt ihre Schritte. Doch als sie sich ihm nähert, versteinert seine Miene plötzlich. Mit großen Augen starrt er Raia an und macht auf dem Absatz kehrt. Fast fluchtartig verlässt er die Werkeinheit durch einen Zugang in seiner Nähe. Raia zögert. Soll sie ihm einfach hinterherlaufen? Schließlich folgt sie ihm in eine große, nur spärlich beleuchtete Halle. Sid läuft weiter und biegt, ohne sich umzudrehen, weiter vorne nach rechts ab. Gerade als Raia ebenfalls um die Ecke gebogen ist, bleibt Sid vor dem Zugang zu einer anderen Werkeinheit stehen. Erst jetzt gibt er ihr ein Zeichen, dann geht er rasch in die Werkeinheit hinein. Endlich erreicht auch Raia den Zugang. Mit vorsichtigen Schritten betritt sie einen fensterlosen Raum. Bis in die Ohren dringt ihr das schwere Pochen ihres Herzschlags. Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, erkennt sie Sid im schwachen Schein der Flurbeleuchtung. Er lehnt mit dem Rücken an der Wand. Mit weit geöffneten Augen und zitternd steht er da. Doch im selben Augenblick, als er sie wahrnimmt, stürzt er sich auf sie, zieht sie noch tiefer in den Raum bis in eine nachtschwarze Ecke und flüstert kaum hörbar: »Bitte, Raia. Sag jetzt nichts. Sie haben uns entdeckt.« Wie versteinert stehen beide da und starren auf den Zugang. Wenige Sekunden später marschieren zwei Bewohner im Flur vorbei. Sid und Raia schnappen nur einen kurzen Fetzen ihrer Unterhaltung auf: »… sofort benachrichtigen!« Und schon sind die zwei wieder verschwunden. Jetzt packt Sid Raia am Arm, wirft noch einen sichernden Blick in den Flur hinaus und dann laufen sie los. Sie flüchten
in Richtung Hyperlift. Am Ende des Flurs aber geht Sid abrupt in die Hocke, zieht Raia zu sich herunter und flucht leise: »Ich hab’s geahnt! Sie haben sich am Lift postiert.« Wild springen seine Augen umher, als suchten sie nach einem rettenden Ausweg. Raia ist schockiert. »Waren sie womöglich die ganze Zeit hinter…« »Richtig«, kommt ihr Sid zuvor. »Sie müssen uns schon in der Schleusenstation entdeckt haben.« Er wischt sein schweißnasses Gesicht an seinem Kleidungsoberteil trocken. »Ich weiß zwar nicht, wie viele Mittler hier sind. Aber eins weiß ich: Wir müssen so schnell wie möglich raus hier.« Raia nickt benommen. Sie kann kaum einen klaren Gedanken fassen. Schließlich hört sie Sid mehr zu sich selbst murmeln: »Ja, so kann es gehen.« Wieder fasst er Raia am Arm. »Pass auf, wir gehen jetzt brav zum Lift. Wir bleiben nicht stehen, und wenn es sein muss, atmen wir auch nicht. Den Rest mache ich dann schon. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber für mich hat das richtige Leben gerade erst begonnen. Verstehst du das?« Raia nickt heftig. Dann erheben sich beide, atmen einmal kräftig durch und biegen um die nächste Ecke. Als sie sich dem Lift nähern, versuchen sie so aufzutreten, als gingen sie einer dringenden Beschäftigung nach. Sid nickt dem Mittler an seiner Seite beiläufig zu. Daraufhin fragt der: »Möchtet ihr zurückkehren?« Die Frage fährt Raia wie ein Blitz in die Glieder. Sid dagegen reagiert erstaunlich kaltblütig und antwortet: »Ich verstehe deine Frage nicht.« Die Mittler schweigen. Noch nie hat Raia so hautnah gespürt, wie dehnbar Zeit sein kann. Sie sieht kurz zu Sid hinüber. Als hätte sie ihn dazu aufgefordert, legt jetzt der zweite Mittler eine Hand auf ihre Schulter. Freundlich fragt er: »Bist du Raia?« Raia weiß, dass der Ausdruck in ihrem Gesicht dem Mittler längst verraten haben muss, dass sie sich ertappt fühlt. Sie blickt ihn
an, dann die Hand auf ihrer Schulter, als plötzlich etwas mit dumpfen Aufprall zu Boden fällt. Beide Mittler wenden sich um. Der Zweite zeigt auf das längliche Werkzeug am Boden und fragt: »Was ist das?« Mit unbeteiligtem Gesicht antwortet Sid: »Das ist für Reparaturarbeiten an den Schleusen.« Doch die Schweißperlen auf seiner Stirn strafen seine äußere Gelassenheit Lügen. Der erste Mittler muss sie auch gesehen haben, denn im gleichen verbindlichen Tonfall wie zuvor stellt er fest: »Ihr seid dem System verloren gegangen. Habt keine Angst, wir bringen euch zurück.« Darauf antwortet Sid mit tiefster Überzeugung: »Oh nein!« Und er wirft sich mit seinem ganzen Gewicht gegen den Mittler. Der ist völlig überrascht von einem solch unüblichen Verhalten, verliert das Gleichgewicht und fällt. Raia reagiert blitzschnell und stößt auch den zweiten Mittler beiseite. Da reißt Sid seine Begleiterin herum und brüllt: »Los, weg hier! Lauf, so schnell du kannst.« Während beide fliehen, vernimmt Raia von weitem das sanfte Surren der Lifttür. Als sie sich weit genug weg glaubt, wirft sie einen kurzen Blick zurück. Eine junge Frau mit zwei Männern an ihrer Seite beugt sich über die überrumpelten Mittler. Raia erkennt Liams Begleiterin aus dem Ancient Century. Sie mag sich kaum ausmalen, was geschehen wäre, hätte Sid nicht rechtzeitig reagiert. Mit Leichtigkeit hätten die fünf sie und Sid festhalten können… und dann hätte sie Liam wahrscheinlich nie wieder gesehen. Sid rennt in eine der unzähligen kleineren Werkeinheiten, die zum Glück ebenfalls nicht beleuchtet ist. Drinnen drückt er sich zusammen mit Raia in eine schützende, kaum einsehbare Nische. Beide sind erschöpft, ihr Atem geht flach und schnell. So sitzen sie da, starren reglos ins Dunkel und horchen aufmerksam, was draußen vor sich geht. Als sie sich ein wenig
erholt haben, überkommt Raia plötzlich ein gewaltiger Zorn. »Du bist schuld an allem!«, faucht sie Sid mit unterdrückter Stimme an. »Ausgerechnet du wolltest mir vorhin klarmachen, dass wir uns nur meinetwegen – das heißt wegen Liam – noch im System aufhalten müssen. Aber wer hat uns denn gegen alle Absprachen hierher zu den Werkeinheiten geschleppt, anstatt Nahrungsmittel in Wohneinheiten zu organisieren? Wegen dir sitzen wir nun hier oben in der Falle. Ausgerechnet auf der 322. Etage.« Doch Sid geht nicht auf Raias Vorwürfe ein. Stattdessen fragt er leise: »Siehst du das hier?« Dabei deutet er auf das Werkzeug in seiner Hand. »Du wirst schon noch begreifen, wozu wir hergekommen sind.« Raia schaut ihn verständnislos an. Am liebsten würde sie sein überlegenes Gehabe aus ihm herausprügeln. Doch sie weiß sehr wohl, wie wichtig es ist, in ihrer sowieso fast ausweglosen Lage nicht vollends die Nerven zu verlieren. Eine Spur versöhnlicher fragt sie: »Kannst du mir dann bitte verraten, wie wir rauskommen?« Darüber scheint Sid bereits nachgedacht zu haben, denn er erwidert tonlos: »Auf der 300. Etage sind Schleusen, die zu den umliegenden Gebäuden führen. Jede von ihnen besitzt einen Wartungsschacht. Das System hält die Existenz dieser Schächte geheim, aus welchen Gründen auch immer. Nur wir Schleusentechniker wissen davon. Ich bezweifle, dass die Mittler darüber in allen Einzelheiten informiert sind. Das wäre unsere Chance. Wir müssen es schaffen, einen dieser Wartungsschächte zu erreichen. Dann sind wir so gut wie in Sicherheit. Einen anderen Weg gibt es nicht.« Sid sieht Raia an und wartet auf ihre Zustimmung. Doch sie schüttelt nur den Kopf. Wie soll es ihnen gelingen, 22 Etagen tiefer zu den Schleusen zu gelangen, wenn überall Mittler unterwegs sein können? »Toller Einfall. Am besten nehmen wir den Lift«, kommentiert sie mit sarkastischem Lächeln.
»Hast du vielleicht eine bessere Idee?«, gibt Sid zurück. Danach schweigen beide betreten. Raia beginnt ihre Heftigkeit zu bereuen. Sie ist im Grunde froh, dass Sid wenigstens versucht eine Lösung zu finden. So fragt sie zögernd: »Weißt du denn keine andere Möglichkeit, nach draußen zu gelangen?« »Nein. Allerdings…« Sid verstummt. Zuletzt fährt er fort: »… wir könnten uns trennen und jeder versucht den nächstgelegenen Wartungsschacht allein zu erreichen. Die Mittler gehen immer systematisch vor. Ich bin mir sicher, dass sie ihre Suche auf zwei Bewohner konzentrieren, nicht aber auf uns einzeln.« Raia akzeptiert den Vorschlag stumm. Sogleich erheben sie sich. Sid wirft einen kurzen Blick hinaus in den Flur, dann kehrt er zu Raia zurück und erklärt ihr in knappen Worten, wie sie den Schacht finden kann. Er flüstert: »Wir treffen uns dort. Geh du zuerst. Ich komme so schnell wie möglich nach.« Raia nickt und macht sich bereit. Bevor sie aber das schützende Dunkel des Verstecks verlässt, streicht Sid ihr über die gerötete Wange und flüstert: »Viel Glück!« *** Gedankenversunken hockt Kyle da und wärmt sich am Feuer, das Tag und Nacht mitten im Versteck lodert und dem unterkühlten Raum Wärme und zugleich Licht spendet. Ana setzt sich wortlos neben ihn; sie hat gerade erst die Nische verlassen, in der Liam sich von der schmerzhaften Prozedur erholt. »Wie geht es ihm?«, fragt Kyle. Doch Ana bemerkt sofort, dass Kyle nicht ganz bei der Sache ist. Schließlich rückt er mit der Sprache heraus: »Ich mache mir Sorgen. Sie sind länger fort als geplant.«
Ana legt ihren Arm um seine Schultern. »Du weißt, sie müssen vorsichtig sein. Sid ist so erfahren, er wird sich schon zu helfen wissen.« Kyle sieht seine Gefährtin an. »Aber Raia nicht.« »Kyle, Sid wird schon auf sie aufpassen!« Ana lächelt ihrem Gefährten aufmunternd zu, gähnt dann und sagt: »Ich werde mich ausruhen. Sieh du nach Liam. Ich habe seit Ewigkeiten keinen Schlaf mehr bekommen.« Sie geht zu ihrem gemeinsamen Ruhelager, streckt die Beine weit von sich und deckt sich mit allen zur Verfügung stehenden Decken zu. Ihre Müdigkeit lässt sie den Raum noch kälter empfinden, als er in Wirklichkeit schon ist. Währenddessen macht sich Kyle auf den Weg in die Nische, um nach Liam zu sehen. Als er zurückkehrt, fragt er Ana: »Wann wird er wieder aufwachen?« Doch Ana antwortet nicht. Sie schläft bereits tief und fest. Einige Augenblicke später hört Kyle ein Geräusch. Er lauscht angestrengt: Da sind Schritte, die sich nähern. Es ist Raia! Kyle springt ihr entgegen und fängt sie in seinen Armen auf, als sie völlig erschöpft in das Versteck stolpert. Dann tritt Nel hinzu und bringt Raia ein nahrhaftes und Durst löschendes Getränk, das sie gierig schluckt. So kommt Raia allmählich wieder zu Atem, aber noch immer vermag sie nicht zu sprechen. Erst nach einer Weile fragt sie mit tonloser Stimme: »Wo ist Sid?« Kyle erwidert: »Das wollte ich dich gerade fragen. Was ist passiert?« Raia starrt ihn verwirrt an. Die Furcht, Sid könnte entdeckt und zurückgehalten worden sein, lähmt sie. Mittlerweile ist Ana von der Unruhe um sie herum erwacht. Sie legt eine Hand auf Raias Schulter und sagt: »Beruhige dich erst einmal. Dann erzählst du alles der Reihe nach.« Kyle streicht sich nervös über seinen kahlen Kopf. Er weiß nur zu gut, dass sie ohne Sid
und seine besonderen Kenntnisse die Lynnwelt kaum erreichen können. Deshalb kümmert er sich nicht um Anas beschwichtigende Worte, sondern fragt noch einmal drängend: »Sag, was ist passiert?« Raia antwortet leise: »Mittler haben uns erkannt, darunter auch die junge Mittlerin aus dem Ancient Century. Wir konnten ihnen aber entkommen. Sid und ich haben uns schließlich darauf geeinigt, dass jeder für sich allein versucht zurückzukehren. Es war die beste Möglichkeit, aus dem Gebäude zu gelangen, ohne aufzufallen. Als ich endlich den rettenden Wartungsschacht erreichte, habe ich noch einen Augenblick gewartet, aber Sid kam nicht. Danach bin ich losgelaufen und seiner Wegbeschreibung gefolgt.« Kyle sieht Ana an und sagt entschlossen: »Wir sollten nicht weiter darüber reden. Ich muss ihn finden, bevor es die anderen tun.« »Und wenn sie ihn längst haben?« Nur ungern spricht Ana diese schlimme Vermutung aus. »Wenn ich ihn nicht auf Anhieb finde, kehre ich zurück. Dann sehen wir weiter!« Wieder zu Raia gewandt, fragt Kyle noch einmal mit Nachdruck: »Raia, wo finde ich ihn?« Raia zögert. Wenn sie zugibt, dass sie in der Südsektion waren, verrät sie zugleich, dass sie sich nicht an die Abmachung gehalten haben. Und damit auch, dass sie die Gruppe einem zusätzlichen Risiko ausgesetzt haben. Doch falls Sid tatsächlich in Schwierigkeiten ist, braucht er Kyles Hilfe dringend! Verlegen flüstert sie: »Sektion Süd.« Kyle wirft ihr einen unergründlichen Blick zu, dann sagt er: »Ich bin bald wieder da.« Ana nimmt seine Hand. »Pass auf dich auf.« Kyle nickt und verlässt das sichere Versteck.
Schnell hat Kyle den Wartungsschacht erreicht. Er schlüpft durch den von außen perfekt getarnten Zugang in die Schleusenstation. Kaum hat er sich unter die vielen Bewohner gemischt, da entdeckt er bereits einen Mittler. Kyle hat schon immer ein Gespür für sie gehabt; im Vergleich zu den sonst sämtlich auf Ziele fixierten Bewohnern wirken sie eigenartig ziellos. Sofort bringt Kyle sich in Sicherheit. Er stellt sich vor einen Informationspaneel und gibt vor Daten abzurufen. Nachdem er die Schleusenstation einige Male mit seinen Augen überflogen hat, ist er einigermaßen sicher, dass sich hier nur dieser eine Mittler aufhält. Kyle überlegt. Er muss unbeobachtet mit einer Kone in die Südsektion gelangen. Gerade will er sich auf den Weg zu dem betreffenden Terminal machen, da sieht er, wie Sid nicht weit entfernt aus einer gerade eingetroffenen Transferkone steigt. Eine Welle der Erleichterung durchströmt Kyle, um gleich darauf dumpfem Erschrecken zu weichen: Aus irgendeinem Grund hat Sid erhebliche Schwierigkeiten, sich zu bewegen, er schwankt leicht und hält einen Arm schlaff an den Körper gedrückt. Kyle muss sich beeilen, bevor der Mittler aufmerksam wird. So schnell es geht, steuert er auf Sid zu, fasst ihn am anderen Arm und versucht ihn unauffällig zu stützen. Gleichzeitig schaut er sich nach dem Mittler um. Sie haben Glück, der Mittler dreht derzeit weit entfernt am anderen Ende der Station seine Runde. Während Kyle Sid mühsam auf den Zugang zum Wartungsschacht zumanövriert, blickt er in einzelne der pflichtbewussten Gesichter, die an ihnen vorüberziehen. Unbehagen überfällt ihn: Hat er nicht bis vor kurzem genauso blind funktionierend und leblos ausgesehen? Er ist froh, dass er dem entronnen ist. Plötzlich steigt auch in ihm Zorn über Sids gefährliches Manöver auf. Er faucht leise: »Warum wart ihr in der Südsektion, Sid? Du hättest es mir vorher sagen sollen.«
Noch einmal dreht er sich zur Sicherheit um. Da sieht er, wie der Mittler auf den metallisch glänzenden Boden starrt. Kyle mustert Sid von oben bis unten. Eine Tropfenspur endet bei ihnen – Blut! Hastig zieht Kyle Sid zur Seite. »Schnell, hier lang«, befiehlt er. Auf keinen Fall dürfen sie jetzt den Zugang zum Versteck aufsuchen. Er packt Sid, der vor Schmerz zusammenzuckt, und zieht ihn mit sich. Erst als sie ein Zusteigeareal auf der gegenüberliegenden Seite erreicht haben, flüstert er: »Los, nimm den Arm hoch.« Sid wirft ihm einen fragenden Blick zu, doch dann versteht er und gehorcht. »Hier muss die Spur enden.« Immer wieder schaut Kyle sich vorsichtig um. Noch ist der Mittler mit der Spur beschäftigt. Inzwischen ist aber ein weiterer Mittler eingetroffen. Die beiden unterhalten sich. Der zweite streicht mit seiner flachen Hand in Hüfthöhe durch die Luft. »Schneller. Es sind jetzt zwei. Einer von ihnen könnte die Station nach uns durchkämmen.« Doch sie haben erneut Glück, die beiden Mittler folgen gemeinsam der Blutspur und bleiben damit weit genug entfernt. So gelingt es Kyle und Sid, sich unbemerkt dem geheimen Zugang zum Wartungsschacht zu nähern. Ein letzter Blick zurück und sie schlüpfen durch den rettenden Zugang, der sie zum Versteck führen wird.
Raia hat sich inzwischen erholt. Sie sitzt mit geschlossenen Augen und angewinkelten Beinen auf ihrem Ruhelager. Die kalte Wand kann sie nicht davon abhalten, sich bequem zurückzulehnen. In diesem Moment betritt Kyle das Versteck. Entsetzt sieht Raia, welche Kraft er aufwenden muss, um Sid zu stützen. Sie will den beiden zu Hilfe eilen, doch Ana und Nel kommen ihr zuvor. Gemeinsam legen die Frauen den beschädigten jungen Mann vorsichtig auf sein Ruhelager. Ana
versucht ihn anzusprechen. Doch durch den Blutverlust und die Anstrengung der Flucht hat Sid das Bewusstsein verloren. Während sich Ana und Nel um Sids immer noch stark blutende Beschädigung kümmern, steuert Kyle auf Raia zu. Mit grauem Gesicht nimmt er neben ihr Platz und lehnt sich ebenfalls mit dem Rücken an die Wand. Irgendwann sagt er leise: »Was ist bloß in die gefahren, dass sie Sid so beschädigen konnten? Hättest du gedacht, dass das System zu so etwas fähig ist? Oder sind wir es, die das System erst dazu gebracht haben?« Unvermittelt schlägt er mit der Faust auf die weiche Unterlage. Raia zuckt zusammen und sieht ihn von der Seite an. Deutlich kann sie die Angst in seinem Gesicht erkennen. Jetzt richtet sich Kyle auf und fragt: »Raia, weshalb wart ihr in der Südsektion? Dort gibt es keine Nahrungsbatterien. Wir hatten vereinbart Werkeinheiten zu meiden, weil sich in ihnen nichts befindet, was für uns von Bedeutung wäre.« Mit brüchiger Stimme flüstert Raia: »Es war Sids Idee. Er hatte ein Ziel, aber er wollte es mir nicht verraten.« In diesem Augenblick kommt Ana auf die beiden zu. »Die Beschädigung sieht schlimmer aus, als sie ist. Er hat viel Blut verloren, aber ansonsten ist er, glaube ich, in Ordnung. Wenn er aufwacht, muss er Nahrung zu sich nehmen, um schnell wieder zu Kräften zu kommen.« Erleichtert nickt Kyle. Nun kann er seine Aufmerksamkeit auch dem Gegenstand zuwenden, den Ana von Sid mitgebracht hat und ihm übergibt. Kyle beugt sich zu Raia vor und fragt: »Was ist das?« Misstrauisch mustert sie das Ding und erkennt darin das Werkzeug, das Sid vor dem Hyperlift hatte fallen lassen. Sie antwortet wahrheitsgemäß: »Ich weiß nichts darüber. Sid hatte es bei sich.« Kyle gibt sich damit zufrieden. Er setzt sich auf sein eigenes Ruhelager und nimmt das geheimnisvolle Werkzeug genauer in Augenschein. Und tatsächlich, nach
kurzer Zeit kann er es aktivieren und ihm einen türkis leuchtenden Laserstrahl entlocken, begleitet von einem kaum hörbaren, tiefen Brummen. Kyle probiert den Strahl an verschiedenen Materialien aus, auf der Suche nach einer Wirkung. Doch worauf er ihn auch richtet, auf die Stoffdecke unter sich, auf die Wand hinter seinem Rücken, auf seine Kleidung, nichts verrät, welchem Zweck er dienen könnte. Nonosan, der zwischenzeitlich erwacht ist, beobachtet Kyle einen Moment lang bei seinen Experimenten. Etwas schwerfällig erhebt sich der Alte, geht zu ihm hinüber und greift nach dem Werkzeug. Mit einem Lächeln wendet er sich gleich wieder ab und steuert auf Sid zu. Er stellt sich dicht neben Ana, die wieder bei dem Patienten sitzt und seine blutverschmierte Hand hält, und sagt: »Zeig mir die Beschädigung.« Während Ana vorsichtig Sids Arm freilegt, kommen auch Kyle und Raia dazu. Nun aktiviert Nonosan den Laserstrahl und führt ihn mit langsamen Bewegungen über die beschädigte Haut. Bereits nach wenigen Sekunden ist die Beschädigung wie weggezaubert. Nonosan dreht sich stolz zu den anderen um und beginnt sein Wissen zu erklären: »Vor etwa achtzig Phasen, als ich noch ein wenig jünger war«, der alte Mann lächelt zu seiner Gefährtin hinüber, »stürzte ich über einen herumliegenden Gegenstand. Eine Beschädigung an meinem Unterschenkel war die Folge. Etwas stach tief in mein Muskelgewebe. Ein Mann etwa gleichen Alters kam mir zu Hilfe. Wie sich später herausstellte, war er Schleusentechniker, so wie Sid. Er entschuldigte sich, denn er hatte bei Instandsetzungsarbeiten einen Teil seines Arbeitsmaterials abgelegt und vergessen. Als er meine Blutung sah, meinte er, sie solle möglichst schnell aufgehalten werden; glücklicherweise könne er derartige Beschädigungen ebenfalls reparieren. Dann holte er einen Zellregenerator wie diesen aus
seiner Werkzeugbox.« Raia fühlt sich mit einem Mal elend. Hat Sid etwa nur deswegen die Gefahr auf sich genommen? Hat er es wegen Liam getan? Warum aber hat er ihr das dann nicht gesagt? Plötzlich spürt sie die Blicke der anderen auf sich. Als sie verwirrt den Kopf hebt, reicht Nonosan ihr den Zellregenerator und sagt heiter: »Ich vermute, du willst Liam selbst reparieren.« Raia ist perplex, doch nach einer kaum merklichen Bedenkzeit nickt sie und nimmt das Werkzeug an sich. Begleitet von Nel, Nonosan und Kyle geht sie hinüber zu Liam in die Nische. Er schläft immer noch tief und fest. Nel und Kyle drehen Liam behutsam zur Seite und entfernen das schützende Tuch von seinem Nacken. Nachdem Raia einen Blick auf die Beschädigung geworfen hat, versucht sie sich ganz auf die Aufgabe zu konzentrieren, die vor ihr liegt. Dann, während Kyle Liam stützt, repariert sie mit dem türkisfarbenen Strahl des Zellregenerators die Beschädigung ihres Gefährten.
Erst gegen Abend erwacht Liam. Er ist noch ein wenig schwach, sodass Ana ihn stützen muss, und sein Gesicht ist gezeichnet von der Spuren der Trennung vom System, doch er fühlt sich gesund. Ana führt ihn zu Raias Ruhelager. Vorsichtig setzt er sich zu seiner Gefährtin, die mit geschlossenen Augen daliegt. Raia spürt seine Anwesenheit sofort, denn sie öffnet die Augen, nimmt seine Hand und flüstert: »Wie fühlst du dich?« Liam antwortet: »Etwas wacklig noch. Aber es geht mir gut. Wie lange habe ich geschlafen?« »Etwa sechs Stunden«, schätzt Raia, »vielleicht aber auch mehr. Es ist eine Menge passiert in der Zwischenzeit.«
Jetzt fasst Liam an seinen Nacken – und kann nicht die kleinste Spur der Trennung vom System feststellen. Dabei erinnert er sich nur zu gut an die unerträglichen Schmerzen. Irritiert fragt er: »Was ist mit meiner Beschädigung?« »Sie ist repariert.« »Aber…« »Sid hat einen Zellregenerator aus dem System besorgt.« Raia rückt ein Stück zur Wand. Liam legt sich daneben und blickt lange an die Decke. Er spürt die angenehme Nähe Raias, ihren warmen Körper. Und während er langsam wieder in den Schlaf sinkt, erwacht zur gleichen Zeit Sid. Kaum hat er realisiert, dass er zurück im Versteck ist, greift er hastig nach seiner Jacke. Doch die Innentasche ist leer. Gleichzeitig bemerkt er zu seiner Überraschung, dass sein beschädigter Arm repariert ist. Er springt auf, schwankt ein wenig und ruft quer durch den Raum: »Wo ist es?« Kyle tritt zu Sid und reicht ihm, wonach er sucht. Wortlos nimmt der es entgegen. Doch nun hat Kyle genug von Sids Eskapaden. »Was soll das eigentlich, Sid? Weshalb hast du uns nicht in dein Vorhaben eingeweiht? Du hättest mit mir darüber sprechen sollen. Wir beide hätten doch den Zellregenerator holen können.« Darauf knurrt Sid nur: »Wozu die Aufregung? Als wir schon unterwegs waren, kam mir der Gedanke, dass ich etwas besorgen könnte, was uns in der Lynnwelt von großem Nutzen sein kann. Außerdem habt ihr sicherlich damit nicht nur meine Beschädigung repariert, sondern auch Liams. So können wir nämlich endlich aufbrechen.« Ana, die das Gespräch mitverfolgt hat, sagt beschwichtigend: »Auf jeden Fall können wir uns freuen, dass Sid uns diesen Dienst erwiesen hat. Und schau doch, was er dafür auf sich genommen hat.« Sie deutet auf Sids Arm. »Waren es Mittler?«, will Kyle wissen. Sid starrt Kyle an, als hätte er die
Frage nicht richtig begriffen. Mit verständnislosem Gesichtsausdruck erwidert er: »Mittler? Du weißt doch, dass sie zu so etwas gar nicht in der Lage sind.« Er schüttelt den Kopf und fügt hinzu: »Die Beschädigung habe ich mir versehentlich selbst zugefügt, Kyle. Ich hatte Angst, sie würden mich aufspüren, und war unachtsam. Das ist alles. – Aber sag, wollen wir uns jetzt nicht tatsächlich auf den Weg machen? Je länger wir zögern, desto schwieriger wird es, unentdeckt die Lynnwelt zu erreichen.« Inzwischen ist auch Raia erwacht. Sie hat die letzten Worte gehört und fragt mit verschlafener Stimme: »Ja, können wir nicht gleich losgehen? Liam und Sid sind beide wieder hergestellt.« »Gut«, sagt Kyle. »Wir werden den heutigen Tag noch zur Vorbereitung und zum Packen nutzen und morgen brechen wir auf. Seid ihr damit einverstanden? Momentan haben die Mittler erst einmal mit dem Blut in der Schleusenstation zu tun, da ist es besser, wir lassen noch ein paar Stunden verstreichen. Aber morgen wird hoffentlich wieder etwas mehr Ruhe eingekehrt sein. Außerdem können wir uns tagsüber leichter im System aufhalten, ohne aufzufallen. – Raia und Ana, kümmert ihr euch um die Materialboxen? Konzentriert euch nur auf Dinge, die wirklich zum Überleben in der Lynnwelt nützlich sein können. Immerhin wissen wir kaum, was uns dort erwartet. Jez Lynn hat uns eine Menge an Informationen hinterlassen, aber wie Ana schon sagte: Es reicht nicht aus, um auf alles vorbereitet zu sein.« Kyle erhebt sich, doch ehe er sich von Sid abwendet, sagt er: »Danke.« Verlegen sieht Sid zu Boden. Dann setzt Kyle noch hinzu: »Nachher sollten wir beide den Fluchtweg in die Lynnwelt, den wir uns überlegt haben, nochmals genau überprüfen. Und Ana, so hoffe ich, wird uns heute Abend ein letztes Mal in dieser Umgebung aus dem Tagebuch vorlesen.«
Nach etwa drei Stunden hat jeder für sich das Notwendigste zusammengepackt. Sid hat vor Wochen die dafür benötigten Boxen herbeigeschafft. Kyle sitzt nun im Schneidersitz auf einem Ruhelager, vor sich einen Stapel Rohmaterialquader. Die restlichen Mitglieder der Gruppe haben sich um ihn versammelt. Als Ruhe einkehrt, greift Kyle nach einem der bläulichen Wasserquader und legt ihn knapp vor seinen Knien auf den Boden. Weitere fünf braunschwarze Nahrungsquader ordnet er in einer Kreisformation außen herum an. Nacheinander deutet er auf die Quader und beginnt zu erklären: »Diese Nahrungsquader stellen Unterabteilungen der Sektionsverwaltung dar. Sid und ich nehmen an, dass es sich dabei nicht um einfache Verwaltungsgebäude handelt. Wahrscheinlich sind es Außenposten, denn nicht nur die normalen Transportwege, sondern auch sämtliche Wartungsschächte enden genau dort, wenn man den Systemtechnikplänen glauben darf, die Sid besitzt. Diese Außenposten liegen ziemlich weit von der Zentralstadt mitsamt ihren Nebenstädten entfernt. Und wie ihr seht, sind sie sternförmig platziert.« Kyle blickt in die Runde. Als er die verwirrten Gesichter sieht, ergänzt er: »Sid und ich gehen davon aus, dass die Außenposten Portale zur Lynnwelt sind.« Ein freudiger Glanz tritt in Nels Augen. Sie greift nach Nonosans Hand. Auch Raia strahlt. Nachdenklich betrachtet Kyle das Modell vor sich auf dem Boden und sagt schließlich: »Hört zu, wir haben es noch längst nicht geschafft. Wie ihr wisst, haben Raia und Sid bereits Kontakt mit Mittlern gehabt. Es wäre logisch, dass sie einige Aufmerksamkeit auf Schleusenstationen und Transferkonen richten. Und das bereitet mir Sorge.« »Welcher Außenposten ist der nächstgelegene, Sid, falls wir ihn zu Fuß durch die geheimen Wartungsschächte erreichen
wollen?«, will Ana wissen. Sid schüttelt den Kopf. »Die Posten sind sehr weit entfernt.« Eine Weile herrscht betretenes Schweigen. Dann meldet sich Nonosan zu Wort. Bittend sagt er: »Ich spüre die Last des Alters auf meinen Schultern. Da wäre es wirklich verlockend, ein Stück des beschwerlichen Weges mit einer Transferkone auf normalem Weg zu bewältigen.« Wieder zu Sid gewandt, fragt Kyle: »Wann, schätzt du, könnten wir solch einen Posten zu Fuß erreicht haben?« »Schwer zu sagen, vielleicht in fünf Tagen, vielleicht in sechs.« Kyle seufzt. »Also gut. Wenn wir uns möglichst wenig in Gefahr begeben wollen, bleiben uns nur die Wartungsschächte. Immerhin…« Diesmal fällt ihm Nonosan direkt ins Wort: »Warte. Ich habe eine Frage an Sid.« Alle wenden sie sich dem gebrechlichen alten Mann zu. »Was ist?«, fragt Sid. Nonosan nähert sich ihm. »Die Schleusentechniker… wie können sie große Ersatzteile für eine Reparatur transportieren?« Sid weiß nicht, worauf der alte Mann hinauswill, und antwortet: »Mit einer Kone natürlich!« Nonosan legt nachdenklich einen Zeigefinger auf seine Lippen. Laut schlussfolgert er: »Heißt das, Schleusentechniker können mitunter auch in den Wartungsschächten auf den Dienst von Konen zurückgreifen?« Sid mustert den alten Mann erstaunt, doch Nonosan fasst ihn am Arm und erklärt lachend: »Bitte, ich wollte dich nicht bevormunden. Weißt du, tagtäglich beobachte ich von neuem, wie ihr euch um das Wohlergehen dieser Gruppe sorgt, wie ihr Pläne schmiedet – alles, um uns für den Aufbruch in die Lynnwelt vorzubereiten. Dabei bin ich der Einzige, der sich die Zeit nehmen darf, seine Gedanken einzig und allein um seine körperliche Verfassung kreisen zu
lassen. Die Zeit ist gegen mich. Jeder Tag weniger auf dem Weg zur Lynnwelt würde zugleich einen Tag weniger Sorge bedeuten, dass ich sie womöglich gar nicht zu Gesicht bekomme.« Danach wird es still im Raum. Sid presst seine Hände zusammen. Kleine Bruchstücke des Rohmaterialquaders in seiner Faust rieseln auf den Boden. Er scheint mit sich zu ringen. Schließlich räuspert er sich und sagt: »Das Risiko wäre einfach zu groß. Ich meine, so eine Frachtkone im Wartungsbereich kann nur in Bewegung gesetzt werden, wenn ein offizieller Instandsetzungsauftrag vorliegt, und der wiederum beruht auf einem gemeldeten Defekt. Die Schleusen sind mit Selbstdiagnosesystemen ausgestattet. Der Grad des Defekts entscheidet über die Anforderung einer Frachtkone. Wenn die Beschädigung auch nur eine Spur zu gering ist, übernehmen elektronisch gesteuerte Reparaturkonen die Instandsetzung.« Als Antwort auf diese Erklärung lächelt Raia. »Dann schaffen wir eben solch einen Defekt!« Kyle nickt langsam. »Und?«, fragt er Sid. »Meinst du, es wäre machbar?« »Ja, vielleicht. Ich meine, von den Wartungsschächten aus könnten wir überall Defekte erzeugen. Nur, wie gesagt, es gibt das Problem mit dem Grad des Defekts. Der entscheidet doch letztendlich über die Zuteilung einer Frachtkone.« Plötzlich fragt Raia: »Und wie sieht es mit den elektronischen Reparaturkonen aus? Wie groß sind die?« Sid antwortet: »Ausgeschlossen! Die haben kaum Platz. Sie führen nur leichtere Reparaturarbeiten durch.« Doch Raia gibt nicht so schnell auf. »Wäre es nicht möglich, dass wir trotzdem eine Frachtkone für unsere Zwecke verwenden? Sid, du hast dich im Gebäude mit den Werkeinheiten ausgekannt. Vielleicht weißt du auch, wo die Instandsetzungsaufträge erteilt werden.«
Sid blitzt Raia an. Raia erwidert den Blick mit einem besänftigenden Lächeln. »Also«, fährt sie fort, »wenn es uns gelänge, eine Frachtkone anzufordern, könnte sie uns sicher bis zum Außenposten bringen.« »Und wer soll das machen?«, fragt Sid herausfordernd. »Du«, antwortet Raia gelassen. Sid schüttelt den Kopf. »Das ist doch Wahnsinn! Wenn sie das irgendwie herausbekommen, wissen sie genau, was wir vorhaben. Dann kennen sie unser Ziel und…« »Bitte«, sagt Raia leise. Da gibt Sid sich geschlagen und sagt: »Gut, ich werde es versuchen. Es gibt nur eine Stelle, von der aus ich eine Frachtkone anfordern könnte, und das ist meine ehemalige Werkeinheit. Wenn sie mich allerdings dabei erwischen…« Angespannte Stille breitet sich im Raum aus. Dann sagt Kyle: »Gut, wir beide werden sofort zusammen einen Plan ausarbeiten. Danach versammeln wir uns ein letztes Mal um das Feuer. Ana soll uns noch einmal aus dem Tagebuch vorlesen, bevor wir Jez Lynns Welt mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Sinnen fühlen können.«
Hinter der Finsternis
Während Kyle vor der Werkeinheit Schleusenwartung Stellung bezieht, betritt Sid allein den Raum; er kennt sich hier aus. Wie er vermutet hat, ist nur ein Techniker anwesend. Zufrieden sieht er, dass der schmächtige junge Mann ihm den Rücken zukehrt und vor einem Paneel sitzt. Das erleichtert sein Vorhaben. Sid lässt sich an dem freien Paneel nebenan nieder und nickt dem Techniker einen kurzen Gruß zu. Dann, in einem günstigen Augenblick, platziert er mit blitzschnellem Griff dem jungen Mann einen Injektor in Höhe des Nackenwirbels. Sein Opfer zuckt zusammen, greift panisch nach hinten. Sid erhöht den Druck der Injektionsnadel noch. Das Aufbäumen des Mannes verrät, dass Sid auf Anhieb die Schnittstelle getroffen hat, an der sich die normalerweise vom System kontrollierten Schmerzrezeptoren befinden. Schließlich wird dem Schleusentechniker seine Ohnmacht bewusst. Er rührt sich nicht von der Stelle, um nicht noch mehr Schmerz zu provozieren. Als Sid das bemerkt, flüstert er ihm zu: »Wirst du tun, was ich dir sage?« Der Mann versucht zu nicken, zuckt jedoch im gleichen Moment wieder zusammen. Sid ist erleichtert, dass der Schleusentechniker so wenig Widerstand zeigt. Auf diese Weise gewinnt er kostbare Zeit. Rasch deutet er auf den Kontrollpaneel und legt eine Notiz auf den Tisch, die besagt: »Fordere Werkstoffe für eine Instandsetzung an. Beordere die Frachtkone zur Zentralstadt, Sektion Mitte, Wartungsschacht 06-0201.«
Der Techniker zögert kurz. Sid jedoch zischt ihn an: »Beeil dich!« Sofort fügt der Mann sich und spricht mit bemüht ruhiger Stimme: »Instandsetzungsauftrag für Zentralstadt, Sektion Mitte, Wartungsschacht 06-0201. Für den Werkstofftransport ist eine Frachtkone erforderlich. Autorisation SW24, Code 1.8.2.« Eine Stimme aus dem Off sagt: »Für diesen Abschnitt ist kein Defekt gemeldet. Bitte Angaben spezifizieren.« Der Mann wirft Sid einen ängstlichen Blick zu. »Sag, dass auch die Diagnosesensoren betroffen sind«, flüstert Sid. Der junge Mann gehorcht. »Es wird eine ausführliche Werkstoffliste benötigt.« Sorgfältig diktiert Sid eine ganze Reihe großer Werkstoffe, die die Bereitstellung einer Frachtkone sichern. Danach ist es still im Raum. Jetzt erst bemerkt Sid, dass Kyle im Zugang steht und ihn fragend anschaut. Als Sid ihm aufmunternd zunickt, wendet Kyle seine Aufmerksamkeit wieder dem Flur zu. »Werkeinheit Schleusenstation, Sektion Süd«, sagt der Schleusentechniker und die Anspannung in seiner Stimme ist kaum zu überhören, »ich erwarte die Bestätigung für meine Anforderung einer Frachtkone. Die Instandsetzung an Schacht 06-0201 in Zentralstadt, Sektion Mitte, ist dringend erforderlich.« Doch statt der erhofften Rückmeldung erhält er die Antwort: »Ein Ungleichgewicht deiner Normwerte wurde registriert. Die Analyse ergab einen kurzzeitigen Anstieg der Werte deiner Schmerzrezeptoren.« Hastig erwidert der Schleusentechniker: »Es tut mir Leid. Ich weiß nicht, woran das liegt. Es ist alles in Ordnung.« Kurz darauf ertönt endlich die erlösende Nachricht: »Instandsetzungsauftrag bestätigt. Freigabekennung SW24-060201. Frachtkone 3 steht bereit im Zusteigeareal B.« Strahlend murmelt Sid: »Es hat funktioniert!« Dann flüstert er dem Techniker ins Ohr: »Verzeih, dass ich dich überfallen
habe. Ich hatte keine Wahl. Aber hab keine Angst, dir wird nichts geschehen.« Unverhofft drückt er eine Hand auf den Mund seines Opfers und aktiviert mit der anderen die Injektionsnadel. Ein gedämpfter Aufschrei dringt hinaus auf den Flur. Kyle fährt zusammen, wirft einen Blick in den Raum und sieht, wie sich Sid über den am Boden liegenden jungen Mann beugt. Danach läuft Sid eilig in Richtung des Zugangs und gibt Kyle mit Zeichen zu verstehen, dass der Techniker bald wieder zu sich kommen wird. »Gut gemacht«, seufzt Kyle erleichtert auf. »Komm, die anderen warten!« Ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, ergreifen beide die Flucht. Die Frachtkone erwartet sie bereits. *** Raia und Liam greifen nach jeweils zwei der insgesamt sechs großen Boxen. Darin haben sie das Nötigste verstaut: Rohmaterialquader, Werkzeuge, Decken. Sie nicken Ana zu, dann verlassen sie den vom System abgeschiedenen Raum. Nel und Nonosan folgen ihnen. Nur Ana verweilt noch einen Moment: Ein letztes Mal lässt sie ihren Blick durch das Versteck schweifen, das für Wochen ihre einstweilige Wohneinheit war. Fast empfindet sie Wehmut beim Anblick dieses unwirtlichen Orts, der dennoch durchdrungen ist von der magischen Welt Jez Lynns. Instinktiv fasst sie in Bauchhöhe unter ihr Gewand. Sie fühlt das Tagebuch und schließt kurz die Augen. Dann bedeckt sie mit einem Laken das fast schon erloschene Feuer in der Mitte des Verstecks, nimmt die beiden übrigen Boxen und gibt den Raum dem Vergessen zurück. Sobald sie die übrige Gruppe eingeholt hat, übernimmt sie die Führung. Sid hat ihr genau beschrieben, wo
sich der Devisorzugang zu der Verbindungsröhre befindet, die an dieser Stelle zwischen Schleuse und Wartungsschacht verläuft. Während sie unauffällig nach dem Ziel Ausschau hält, versucht sie ihr Umfeld keine Sekunde aus den Augen zu lassen. Schließlich entdeckt sie ein Stück weiter vorn in der Schleusenstation eine von den anderen phantasievollen Wandplastiken kaum sichtbar abgesetzte Stelle. Unwillkürlich muss sie lächeln – wüsste sie nicht genau, dass es sich um den Zugang zur Verbindungsröhre handelt, wäre er ihr niemals aufgefallen. Während sie den anderen mit Blicken zu verstehen gibt, dass das Ziel erreicht ist, geht sie zunächst weiter. Auch Nel und Nonosan bleiben nicht stehen, um kein Aufsehen zu erregen. Dann macht Liam den Anfang. Ein paar Sekunden später ist die Gruppe verschwunden.
Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, betrachtet Raia Liam, der neben ihr hockt und auf seine Hände starrt. Ihr Blick wandert weiter zu Nel und Nonosan und zu Ana, die mit geschlossenen Augen auf der anderen Seite der Röhre steht. Alle schweigen und erscheinen wie gelähmt. Eine drückende Spannung liegt in der Luft. Raia blickt den kargen Gang entlang, dessen Wände bläulich kalt schimmern. Während sie den Kopf zurücklehnt, schätzt sie die Anzahl der Schritte, die sie noch gehen muss, um der alten Welt zu entrinnen. Und plötzlich ist sie wieder da, die Angst, dass Sid und Kyle etwas zugestoßen ist; dass Mittler sie aufgespürt haben und jeden Moment auch hier auftauchen werden. Ein kalter Schauer überläuft Raia. Mit leiser Stimme fragt sie Ana: »Ob sie es schaffen?« Ana nickt heftig, und obwohl ihre Augen verraten, dass sie Raias Furcht teilt, antwortet sie fest: »Kyle und Sid sind erfahren und vorsichtig. Sie werden jeden Moment hier sein!«
Kaum hat Ana das ausgesprochen, als Raia ein Rauschen vernimmt, das sich rasch nähert. Es ist das unverkennbare Geräusch des Fahrtwinds, den alle Konen vor sich herschieben. Vorsichtig nähert sich die Gruppe dem Terminal an der Nahtstelle zwischen Verbindungsröhre und Wartungsschacht, hält ausreichend Abstand, um nicht vom Sog erfasst zu werden – und da taucht auch schon die erwartete Frachtkone auf. Exakt an der vorgesehenen Stelle kommt der meterlange Koloss zum Stehen. Raia starrt genau wie die anderen auf die Zusteigeluke, ihr Herz klopft bis zu den Schläfen hinauf. Schwerfällig öffnen sich die Lukenhälften nach oben und unten, wobei die Kone kurz die Gestalt einer gefräßigen Kreatur annimmt. In ihrem Inneren werden Seile sichtbar, die von der Decke hängen, Klemmen liegen über den Boden verstreut und Boxen, offenbar mit Werkzeug gefüllt, sind an der Rückwand festgezurrt. Und dann, endlich, treten die Insassen an die Luke: Es sind Sid und Kyle! Ohne eine Sekunde Zeit zu verlieren, greift Kyle nach den Boxen, die Ana ihm zureicht. Sid und Liam kümmern sich derweil um Nel und Nonosan. Während Raia mit den letzten beiden Boxen einsteigt, hat Sid schon wieder am Steuerpaneel Platz genommen. Ungeduldig beobachtet er, wie sich die Luke schließt, und setzt mit einigen wenigen Steuerbefehlen die Frachtkone in Fahrt. Schließlich, nach einer Zeit, die allen unglaublich lange erscheint, ergreift Sid das Wort und sagt mit unüberhörbarer Hoffnung in der Stimme: »Macht euch bereit. In wenigen Minuten sind wir da!« Doch Kyle erwidert leise: »Noch sind wir nicht in der Lynnwelt.« ***
Zehn Mittler sind es, die mit hastigen Schritten auf den kaum sichtbaren Zugang losstürzen. Als die ersten hindurchschlüpfen, merken sie bereits, dass die Systemflüchtlinge längst fort sind. Laut sagt der vorderste: »Sie haben die Frachtkone erreicht. Hier ist niemand mehr.« Währenddessen wirft der Sektionsverwalter einen kurzen Blick auf seinen Devisor. »Ist ihr Ziel bekannt?«, fragt er Chalice, die mit den anderen Mittlern in den Schacht gestürmt ist, mit emotionsloser Stimme. »Außenposten vier.« Der Sektionsverwalter befiehlt: »Beende das Ganze. Sie kosten mich wichtige Zeit und hindern mich meine Verwaltungsaufgaben wahrzunehmen.« Die junge Frau nickt. Der Sektionsverwalter deaktiviert den Devisor und geht. Das gedämpfte Licht in seinem Arbeitsraum erlischt. *** »Die Enge erdrückt mich. Und die Hitze ist kaum auszuhalten!«, flucht Liam. Nachdem sie die Frachtkone verlassen haben, laufen sie erneut durch eine Verbindungsröhre, doch diese ist wesentlich länger als die, die sie von vorher kannten. Wie die anderen hat Liam Mühe damit, in gebückter Haltung in diesem viel zu niedrigen, spärlich beleuchteten, schwül-heißen und zu allem Überfluss schräg ansteigenden Schacht vorwärts zu kommen. Die Luft ist zum Schneiden und der Schweiß rinnt Liam am ganzen Körper herunter. Mit besorgtem Blick beobachtet er Raia vor sich. Auch ihr ist die Strapaze anzumerken, ebenso wie Nonosan, der sich kaum noch aus eigener Kraft auf den Beinen halten kann. Liam bewundert Nonosans rüstige Gefährtin, die jegliche Hilfestellung abgelehnt hat. Doch nun
macht Nel abrupt halt und lässt sich gemeinsam mit ihrem Gefährten auf den Boden nieder. »Halt!«, rufen Ana und Kyle, die als Letzte der Gruppe folgen, fast gleichzeitig. Raia und Liam nehmen die Zwangspause dankbar an. Auch sie setzen sich und strecken ihre schmerzenden Glieder. Inzwischen ruft Ana nach vorne in die Dunkelheit hinein: »Wie weit ist es noch?« Sid, der kurzzeitig mit Kyle die Führung getauscht und den anderen ein Stück vorausgegangen ist, erwidert, ohne sich umzudrehen: »Nicht mehr weit. Schließt auf, dann sind wir eher da!« Mit gerunzelter Stirn flüstert Liam Raia zu: »Könnte er nicht etwas mehr Rücksicht auf die beiden Alten nehmen?« Raia antwortet besänftigend: »Vielleicht sind es tatsächlich nur noch wenige Meter. Sid sollte es wissen. Davon abgesehen, ist dieser Ort auch nicht gerade geeignet, um wieder zu Kräften zu kommen.« Kopfschüttelnd erhebt sich Liam und murmelt: »Wenn wir wirklich nah an der Lynnwelt sind, hoffe ich nur nicht, dass dies Vorboten des dortigen Klimas sind. Ich muss gestehen, besonders angenehm finde ich es nicht.« Raia greift Liams Hand, die er ihr entgegenstreckt, und steht gleichfalls auf. Schweigend setzen sie den beschwerlichen Weg fort. Da ruft Nel plötzlich aufgebracht: »Wartet doch!« Als Liam sich umdreht, sieht er, dass der alte Mann in sich zusammengesackt ist. Sofort eilt er zu Hilfe. Erleichtert registriert er, dass auch Sid auf dem Absatz umgekehrt ist und auf Nonosan zuläuft. Nel streckt eine Hand aus. »Er braucht dringend Wasser! Er hat zu viel Körperflüssigkeit verloren.« Schnell öffnet Ana einen kleinen metallenen Kasten, den sie fest um ihre Hüften gebunden hat. Sie greift nach einem Wasserquader und bricht ihn in mehrere Teile. Nonosan erhält das größte Stück, den Rest verteilt Ana an sich und die
anderen. Auch Sid steckt gierig die kleinen, blau-weißen Krümel in den Mund, die sich schon nach wenigen Sekunden auflösen und, vermischt mit etwas Speichel, eine vielfache Menge Wasser ergeben. Er spült mit dem erfrischenden Nass zuerst seine trockene Mundhöhle aus, dann schluckt er. Danach wendet er sich Kyle zu und murmelt: »Das solltest du dir ansehen. Ich verstehe es nicht. Hier…« Sid hält Kyle den Mapper hin, der ein Abbild sämtlicher Schleusen des Systems zeigt. Kleine, hellgelbe Partikel formieren sich in Sekundenbruchteilen zu einem dreidimensionalen Labyrinth. Sid zeigt auf eine Stelle am Rande des Gewirrs und erklärt: »Hier an dieser Stelle etwa sollte sich meinen Berechnungen zufolge der Zugang unserer Verbindungsröhre zur zugehörigen Schleusenstation im Außenposten befinden. Doch unsere Röhre endet dort vorne.« »Was bedeutet das?«, will Kyle wissen. »Ich weiß es eben nicht. Wie du siehst, sind in diesem Plan nur Schleusen verzeichnet, nicht dagegen die Wartungsschächte. Das Modell funktioniert aber nach einem relativ schlichtem Prinzip: Überall, wo eine Schleuse entlangführt, gibt es einen parallel verlaufenden Schacht für seine Wartung. Und alle 1000 Meter verbindet sie eine Röhre wie diese, in der wir gerade stecken. Demnach sollten wir in Kürze den Zugang zur Schleuse in der Außenstation erreichen. Doch wie gesagt, da vorne ist einfach Schluss!« Kyle überlegt einen Moment, dann sagt er zu den anderen gewandt: »Bleibt hier. Sid und ich werden nachsehen, wo wir gelandet sind.« Er gibt Sid den Mapper zurück und sie machen sich gemeinsam auf den Weg. Bereits nach wenigen Metern lassen sich ihre Umrisse nur noch erahnen. In der Gruppe wird es still. Ungemütlich still. Schließlich hallt ein lautes Knarren durch den Schacht, gefolgt von einem kurzen Klappgeräusch. Mit einer Mischung aus
Erleichterung und Besorgnis nehmen die Zurückgebliebenen zur Kenntnis, dass Sid und Kyle einen Ausgang gefunden haben müssen. *** Nach Sid betritt auch Kyle den mysteriösen Raum. Sorgfältig verschließt er den Klappschutz wieder hinter sich und wirft noch einmal einen argwöhnischen Blick darauf – so etwas ist ihm bisher nur bei seinen gelegentlichen Besuchen im Ancient Century begegnet. Anschließend sieht er sich um. Dem ersten Augenschein nach sind sie in einer Schleusenstation gelandet. Aber diese hier ist um ein Vielfaches kleiner und verwinkelter als normale Schleusenstationen und vieles deutet darauf hin, dass sie seit längerem nicht mehr benutzt wird: Hier und da liegen Materialboxen herum und überall an den anthrazitfarbenen Wänden haben sich rotbraune Absonderungen gebildet. Die zum großen Teil defekten Lichtquellen reichen gerade für eine Notbeleuchtung. Trotz der schweißtreibenden Temperatur jagt die unwirkliche Atmosphäre Kyle einen Schauder über den Rücken. »Sieht aus, als wären wir allein«, flüstert er. »Hoffentlich«, erwidert Sid ebenso leise. Immerhin könnten die Geräusche, die sie beim Eintreten verursacht haben, jemand auf sie aufmerksam gemacht haben. Dann schleichen sie los, nah an der Wand entlang, immer von neuem im Dunkel zwischen dem Licht der Fusionsleuchten Schutz suchend. Vor dem ersten an die Station angeschlossenen Nebenraum machen sie Halt. Kyle wirft einen vorsichtigen Blick hinein. Nur ein hüfthohes Podest und ein Paneel bilden die sparsame Ausstattung. Er atmet kräftig durch und geht langsam in den Raum. Kaum ist er drin, da vernimmt er leise Klickgeräusche. Kyle zuckt zusammen, als sich in dem
Podest eine Abdeckung öffnet und eine metallene Kugel, befestigt an einer fingerdicken Halterung, emporsteigt. Geräuschlos beginnt sie sich zu drehen, immer schneller, bis sie schließlich ein grellblau fluoreszierendes Licht verströmt. Es wird so hell, dass sogar Teile der Halle draußen beleuchtet werden. Ratlos blickt Kyle zu Sid, aber der zuckt nur mit den Achseln. In diesem Moment löst sich ein Strahl aus gebündeltem Licht vom Kern der Kugel und kommt wie eine sich windende Schlange direkt auf Kyles Augen zugerast. Sid steht wie versteinert da und beobachtet das Geschehen mit einer Mischung aus Faszination und Angst. Da beginnt Kyle überraschend zu lächeln und sagt leise: »Sid, das ist großartig! Ich erkenne Gesichter von Bewohnern, es müssen tausende sein. Und Symbole. Solche Zeichen habe ich noch nie gesehen. Es ist…« Er stockt. Auch Sid spürt, dass der Boden unter ihren Füßen wieder zu vibrieren beginnt. Nach kurzem Zögern packt er Kyle am Arm und zerrt ihn mit sich. »Los, weg hier! Wenn die Schleusenstation doch noch benutzt wird und die Kone hier Leute aussteigen lässt, haben wir ein Problem.« Doch es ist bereits zu spät, ohrenbetäubendes Dröhnen signalisiert, dass die Kone in unmittelbarer Nähe sein muss. Instinktiv ducken sich Kyle und Sid in einen schützenden Winkel des Raums, während das blaue Licht erlischt. Sids Blicke verharren auf der gegenüberliegenden Wand. Zu seiner großen Verblüffung entdeckt er, dass die quadratischen Flächen, die dort in regelmäßigem Abstand angeordnet sind, Öffnungen sind – und im gleichen Augenblick rast dahinter eine gigantische Kone vorüber. Sid traut seinen Augen nicht. Transferkonen dieser Größe! Und er als Schleusentechniker wusste nicht einmal von ihrer Existenz! »In so einem Ding finden bestimmt hunderte Bewohner Platz«, flüstert Sid. Kyle allerdings findet etwas
anderes viel bemerkenswerter. »Fällt dir denn nichts auf?«, fragt er Sid. Nach einer kleinen Kunstpause fährt er fort: »Es muss dort draußen noch eine Schleuse geben.« Sid mustert ungläubig die Öffnungen in der Wand, dann wendet er sich Kyle zu und murmelt: »Was geht hier vor?« »Das wüsste ich auch gern«, erwidert Kyle. Lautlos erhebt er sich und geht zur Wand. Er aktiviert seine Fusionszelle, hält sie durch eine der Öffnungen, aber die Finsternis draußen verschlingt das Licht vollständig. »Lass uns die anderen holen«, sagt er schließlich. »Wir sollten gemeinsam entscheiden, wie es weitergeht.« Dann machen beide auf der Stelle kehrt. Als sie auf halbem Weg an einem weiteren kleinen Nebenraum der verlassenen Schleusenstation vorbeigehen, bleibt Kyle noch einmal stehen. Für einen kurzen Augenblick glaubt er einen Windhauch gespürt zu haben. Instinktiv streckt er eine Hand aus, um die Quelle des sanften Luftstroms aufzuspüren. Er beugt sich vor, und als er sich wieder aufrichtet, fragt er Sid: »Riechst du das?« Sid stutzt, dann nickt er. Kyle ist sich sicher, dass der leicht faulige Geruch aus dem nur wenige Meter von ihnen entfernten dunklen Raum strömt. Gefolgt von Sid, geht er langsam darauf zu. Je mehr sie sich dem Raum nähern, desto intensiver wird der Geruch. Als sie mit aktivierter Fusionszelle den Raum betreten, entdecken sie zu ihrer Linken eine merkwürdige Apparatur. Sie besteht aus drei nach vorn geneigten, halbrunden Bögen, deren oberer den Anschein erweckt, als wolle er die anderen beschützen, während die beiden jeweils nach links und rechts ausgerichteten Bögen aussehen, als wollten sie jemand in die Arme schließen. Inzwischen ist der Geruch so stark geworden, dass er ein unangenehmes Brennen in Augen und Nase verursacht. Kyle
und Sid halten sich die Hände vor Nase und Mund und blicken sich suchend um. Endlich entdeckt Kyle die Ursache: Ein milchig weißes Gel tritt etwa auf halber Höhe aus einer kreisrunden Öffnung im mittleren Bogen aus. Kyle beobachtet, wie sich ein Tropfen von der zähen Masse löst und beim Aufprall auf dem Boden rotbraun verflüssigt. Doch zugleich weckt noch etwas seine Aufmerksamkeit: Auf der Oberfläche des Bogens befinden sich zahlreiche fremde Zeichen. Vorsichtig nähert er sich und streicht sachte mit der Hand über die Kerben im schwarz glänzenden Material. Was für ein Geheimnis bergen sie? Er tritt einen Schritt zurück und betrachtet die gesamte Apparatur nochmals von oben bis unten. »Sieht ein wenig aus wie eine überdimensionale Nahrungsbatterie«, sinniert er. »Besonders appetitlich riecht das Zeug aber nicht«, wirft Sid mit angeekelter Miene ein. »Ich habe eine andere Vermutung: Diese seltsame Flüssigkeit könnte eine Form von Energie sein. So etwas wie…« Er kann seine Erklärung nicht beenden, denn jetzt nähern sich Schritte. Nach einem raschen Blick erkennt Sid erleichtert, dass es Ana ist. Sie kommt auf den Raum zugelaufen, der Rest der Gruppe folgt ihr mit etwas Abstand. »Ist alles in Ordnung?«, fragt sie atemlos. »Ihr wart sehr lange weg. Wir haben uns Sorgen gemacht.« Kyle und Sid versuchen mit wenigen Worten zu erklären, was sie inzwischen erlebt haben. Ana streift mit einem Blick die Maschine an der Wand. »Welchem Zweck dient sie?«, fragt sie neugierig. Kyle zuckt mit den Schultern und antwortet: »Wir wissen es nicht. Alles, was wir hier entdeckt haben, ist uns unbekannt. Wenn wir wenigstens die Zeichen deuten könnten…« Ana horcht auf. »Welche Zeichen?« Kommentarlos führt Kyle sie nah an den mittleren Bogen der Apparatur und aktiviert seine Fusionszelle.
Ana spürt ein warmes Kribbeln in ihre Wangen aufsteigen. Wie gebannt starrt sie auf die matte Oberfläche der Apparatur. Das übel riechende Gel, das aus der Öffnung tropft, beachtet sie überhaupt nicht. Stattdessen öffnet sie ihre Jacke und kramt eilig das Tagebuch hervor. Sie braucht nicht lange zu suchen. Mit Freudentränen in den Augen flüstert sie den anderen zu: »Seht doch nur! Wir müssen der Lynnwelt ganz nah sein. Es sind die gleichen Symbole!« Sie hält das Buch in die Höhe und beginnt das kaum leserliche Textfragment aus dem Tagebuch zu rezitieren: … shalb habe ich einige Symbole der Beschilderungen aufgezeichnet. Sie werden mir eines Tages helfen, wenn ich mich erinnern will. Denn ich beobachte immer wieder, dass ich…
Eine Weile herrscht Schweigen. In Kyles Augen entdeckt Ana das gleiche Funkeln wie an dem Tag, als sie sich beide entschlossen hatten Sid zu begleiten. Dann unterbricht Raia die Stille und sagt strahlend in die Runde: »Ich kann sie fast schon fühlen, die Lynnwelt. Ihr nicht?« *** In der verlassenen Schleusenstation versammelt sich die Gruppe zur Besprechung. »Wir sollten noch ein paar Stunden an diesem Ort bleiben, um auszuruhen. Morgen werden wir dann gemeinsam beratschlagen, wie es weitergeht«, schlägt Kyle vor. Er unterbricht sich, als er erneut das Vibrieren einer herannahenden Riesenkone wahrnimmt, wartet einen Moment, bis sie vorbeigerauscht ist, und fährt dann fort: »Liam, Sid und ich sehen uns noch einmal genau um. Vielleicht haben wir ja
Glück und finden ganz in der Nähe den Weg, der uns endlich in die Lynnwelt bringt. Ana und Raia, versorgt ihr inzwischen Nel und Nonosan? Am besten, ihr geht dort drüben in einen Raum, der weit genug von der Wand entfernt ist, hinter der die Transferkonen vorbeirauschen, sonst wird kaum jemand Erholung finden. Wir sollten dort die Ruhelager für alle herrichten.« Während Kyle sich also gemeinsam mit Sid und Liam aufmacht, kümmern sich Ana und Raia um die beiden alten Leute. Ihnen hat der lange Schacht mit seiner Enge und der unbarmherzig schwülen Luft schwer zu schaffen gemacht. »Komm, ich stütze dich«, spricht Raia Nonosan Mut zu und fasst ihn bei der Hand. Der alte Mann erwidert die liebevolle Geste mit einem herzlichen Lächeln. Für ein paar Sekunden vertieft sich Raia in seine Augen – ungewöhnlich lebendige Augen, wie sie findet, sie verraten einen vom Leben gezeichneten, aber sehr willensstarken Mann. Nonosan erwidert Raias Blick. »Das alles steht dir noch bevor«, sagt er. »Ich hatte ein ausgefülltes und zufriedenes Leben. Tatsächlich möchte ich keine der zahlreichen Phasen, die ich gemeinsam mit meiner wunderbaren Gefährtin Nel im System verbrachte, im Nachhinein missen. Immerhin hat die Verwaltung alles daran gesetzt, unsere künstlerische Kreativität zu unterstützen. Als ich jung war und meine ersten Kompositionen ersann, war ich wie berauscht von der unendlichen Wandelbarkeit der Musik, die allein auf einem begrenzten Fundus von Tönen basiert.« Nonosan kichert vergnügt. »Ich bewunderte seinerzeit diesen Mittler, der ständig an meiner Seite war, um meinen praktischen Ansprüchen Genüge zu tun. Ja, auch ihm habe ich viel zu verdanken. Genau genommen war es das System, das meine Gefährtin und mich zu unserer wahren künstlerischen Größe brachte. Nun fragst du dich
natürlich, weshalb wir uns trotzdem dieser Gruppe angeschlossen haben, nicht wahr?« Raia bleibt stehen. »Verrate es mir.« Nonosan fährt fort: »Es war, nachdem du und ich die ersten Gespräche führten, um dieses Gerät zu entwickeln. Du weißt ja, es sollte Musikern die Möglichkeit geben, Klänge in Bilder zu verwandeln. Ich hatte die Verwaltung gebeten Kontakt mit der Werkeinheit Synästhesie herzustellen. Du erinnerst dich an den Tag, an dem du Nel und mich erstmals in unserer Werkeinheit aufsuchtest? Oh, wir saßen etliche Stunden zusammen. Wir beide hatten auf Anhieb die gleichen Ideen. Bei einem der folgenden Gespräche war dann auch Avril, Sids Gefährtin, anwesend. Sie wurde zum eigentlichen Auslöser für meinen Entschluss. Sie hatte damals vor sich der Gruppe anzuschließen, bis sie es sich unglücklicherweise doch noch anders überlegte. Jedenfalls besuchte sie zu der Zeit öfters meine Aufführungen und fasste schließlich den Mut, mich anzusprechen. Sie bat mich unter einem Vorwand, ihr zu folgen. Zunächst verstand ich nicht, weshalb sie mir dazu die Augen verband. Trotzdem gab ich mein Einverständnis. Avril führte mich zu unserem Versteck. Sid wartete dort bereits auf mich. Zunächst bemerkte ich nichts, dann spürte ich, was diese Menschen, was allein der Ort in mir auslöste. Sid sprach von starken Empfindungen, die meine Musik in ihnen zu wecken vermochte. Ich war neugierig und auf Anhieb fasziniert von dem, was da passierte. Und dann – was für eine Vorstellung, dass eine ganze Welt voller intensiver Gefühle neben dieser existierte! Seit diesem Tag bin ich bei ihnen geblieben. Bald holten wir Nel dazu, später Kyle und Ana und schließlich dich und Liam. Nun stehen wir also beide hier.« Der alte Mann macht eine kurze Pause, dann sagt er mit einer abschließenden Geste: »Ich sage dir, es wird wundervoll in der Lynnwelt. Wart ab, demnächst sehen wir es mit eigenen Augen.« Er zwinkert Raia verschmitzt zu. »Danke
für deine Hilfe. Ich werde mich leicht machen.« Raia hakt den alten Mann bei sich ein und mit langsamen Schritten setzen sich beide wieder in Bewegung. Ana, die bereits einen weniger unwirtlichen Ort als die Schleusenstation gefunden hat, winkt Raia zu. Sie und Nonosan folgen ihr. *** Liam hat sich von Kyle und Sid getrennt. Er hat vorgeschlagen, dass sie sich aufteilen und er seinerseits die Räume im hinteren Teil der Station begutachtet. Jetzt horcht er noch einmal auf und lauscht dem Gepolter einer vorbeirasenden Kone. Er kann sie nicht sehen, weil diese Räume im Gegensatz zu jenen weiter vorn keine Sichtfenster haben. Während er jeden kleinsten Winkel ableuchtet, stellt er fest, wie angenehm es ist, für einen Moment allein zu sein. Seit der letzten Nacht ist einfach zu viel passiert. Viele der Ereignisse hat er noch gar nicht richtig verarbeiten können. Und dann die Gruppe – jeder Einzelne von ihnen glaubt fest an die Existenz der Lynnwelt. Aber gibt es sie denn überhaupt? Was besagt so ein zerfleddertes Buch zweifelhafter Herkunft? Erst jetzt, da mit den Symbolen am Gerät, die mit jenen im Tagebuch übereinstimmen, ein plausibler Hinweis aufgetaucht ist, beginnen Liams eigene Zweifel zu schwinden. Die Aussicht, die Lynnwelt tatsächlich erreichen zu können, verschafft ihm einige Erleichterung. Wer weiß, eventuell wäre eine Rückkehr ins System angesichts der bisherigen Vorfälle gar nicht möglich? Doch nach längerer Überlegung kommt Liam zu dem Schluss, dass das nicht stimmt. Sein Fehlverhalten würde vermutlich lediglich Einbußen in den Freizeitkrediten nach sich ziehen. Etwas anderes fällt ihm nicht ein.
*** Während Raia und Ana damit beschäftigt sind, die Ruhelager herzurichten, starrt Nonosan seit längerem eine der Wandöffnungen an. Schwerfällig richtet er sich auf und fragt seine Gefährtin: »Nel, was ist dahinter?« Achselzuckend sieht Nel in die Runde. In diesem Augenblick kehren Kyle und Sid von ihrer Expedition zurück und begutachten den Raum, der für die kommende Nacht ihre Wohneinheit darstellen wird. »Verstehst du denn nicht? Ich meine, hinter der Finsternis.« Der knochige Arm des alten Mannes weist hinaus ins Dunkle. Nel bittet ihn: »Erkläre mir, was du meinst.« Mit großen Augen sieht Nonosan seine Gefährtin an. »Macht das Schwarze weg. Dann sehen wir, was dahinter ist.« Erregt wendet er sich an Kyle und stellt ihm die gleiche Frage: »Kyle, was ist hinter der Finsternis? Die Kone, daran gibt es keine Zweifel, ist hinter der Finsternis verschwunden. Einfach durchgerast.« Liam, der mittlerweile auch zurück ist, steht im Zugang und sagt: »Vielleicht ist es ein Devisorenzugang.« Kyle hatte wohl den gleichen Gedanken. Er grinst Liam an und sagt: »Möglich. Und ich habe auch schon eine Ahnung, wo wir ihn vielleicht aktivieren können.« Schon stürzen Kyle und Liam los. Ihr Ziel ist jener Raum, der als Einziger mit einem Paneel ausgestattet ist. Ana, Raia und Sid, neugierig geworden, laufen hinterher. Bevor Kyle jedoch einen Fuß in den Raum setzt, stoppt er. »Sobald wir drinnen sind, wird aus der Plattform eine Kugel aufsteigen. Sie beginnt sich immer schneller zu drehen, bis sie sich im Inneren verdichtet und mit dem, der den Raum betritt, eine Verbindung herstellt. Ich war eben schon einmal damit in Kontakt. Am besten ist, ihr lasst es mich erst noch einmal allein versuchen.«
Ohne Widerspruch willigen die anderen ein. Kyle holt tief Luft, dann betritt er den Raum. Mit langsamen Schritten nähert er sich der bereits rotierenden Kugel, und während alle anderen ihre Augen auf den Boden richten, blickt Kyle in das leuchtende Zentrum. Raia fühlt sich indessen hin- und hergerissen. Misstrauisch starrt sie auf das, was da vor sich geht. Zuletzt gibt sie sich einen Ruck und ruft mit pochendem Herzen: »Halt Kyle, warte!« »Was ist denn?« Kyle tritt einen Schritt zurück und wendet sich um. Raia stammelt: »Ich… ich habe kein gutes Gefühl dabei. Vielleicht bewirkt dieser Kontakt etwas, von dem wir keine Ahnung haben. Ich meine, da ist diese rätselhafte Apparatur, die unbekannte, übel riechende Flüssigkeit und nicht zuletzt diese seltsame Finsternis da draußen…« Raia muss schlucken. Sie ist erleichtert, dass sie ihrem Unbehagen Luft gemacht hat. Doch kaum hat sie ausgesprochen, da ballt Sid die Fäuste, geht auf Kyle zu und faucht: »Wenn wir nicht endlich dieses verfluchte Paneel untersuchen, werden wir vielleicht bis an das Ende unserer Tage hier festsitzen! Außerdem brauche ich Licht und Luft, versteht ihr? Ich kann die Dunkelheit nicht länger ertragen. Die erdrückende Enge. Zurück können wir nicht mehr, es gibt nur einen Weg, und zwar den nach vorn. Aber je länger wir zögern, desto eher gehen wir das Risiko ein, dass doch noch etwas schief geht. Glaubt nicht, wir hätten keine Spuren hinterlassen. Wir haben lediglich einen Vorsprung, mehr nicht.« Kyle baut sich vor Sid auf und sagt: »Mir scheint, du hast nicht verstanden, worum es bei uns geht.« Ihm ist deutlich anzusehen, dass es ihm Mühe bereitet, seinen Ärger im Zaum zu halten. »Wir haben uns als Gruppe zusammengetan und stehen das bedingungslos gemeinsam durch. Da ist es wohl klar, dass wir jeden Einzelnen ernst nehmen, oder? Zugegeben,
ich teile deine Ansicht, aber andererseits kann ich Raias Befürchtungen gut verstehen. Also halte dich künftig ein bisschen zurück!« Sid beißt sich auf die Lippen. Dann murmelt er: »Es tut mir Leid, Kyle. Aber die Hitze… Vielleicht hat mich die quälende Warterei auf die Lynnwelt einfach fertig gemacht. Entschuldige bitte, Raia, ich hab’s nicht so gemeint.« Kyle legt seinen Arm versöhnlich um Sids Schulter. »Schon gut. Ich weiß, du bist derjenige von uns, der am meisten riskiert hat, und du hast am längsten von uns allen im Versteck gelebt, ständig in der Furcht, aufgespürt zu werden. – So, und nun sollten wir uns wirklich zunächst einmal ausruhen, wie wir es geplant hatten.« Damit verlassen fünf Gestalten ein wenig entmutigt den Raum, der ihnen für einen kurzen Augenblick Hoffnung auf einen schnellen Erfolg gegeben hat. Raia bleibt noch kurz im Zugang stehen. Ihr tut Sid Leid. Laut ruft sie den anderen hinterher: »Was ist mit Jez Lynn – kann er uns nicht einen Hinweis geben?« Ana dreht sich zu Raia um. Mit einer raschen Bewegung zieht sie das Tagebuch unter ihrem Kleidungsoberteil hervor, öffnet es und überfliegt es noch einmal Seite für Seite, wie ein Tier auf der Jagd nach lebensnotwendiger Beute. Für einen kurzen Moment treffen sich Raias und Sids Blicke. Er sieht verlegen zu Boden. Da blättert Ana bereits die letzte Seite des Tagebuchs um. Ohne ihren Blick davon abzuwenden, schüttelt sie den Kopf. Schweigend und mit enttäuschter Miene steckt sie es zurück unter ihre Kleidung. Sid aber will nicht, dass der Tag mit dieser Niederlage endet. Also sagt er beschwörend: »Dann lasst uns eben alles noch einmal in Augenschein nehmen! Wir schaffen das heute, bestimmt. Vielleicht haben wir etwas übersehen. Wir sollten jede noch so kleine Ecke genauestens untersuchen. Wenn ihr mich fragt, ich
kann mir nicht vorstellen, dass es hier nichts gibt, das uns zeigen könnte, was sich hinter der Finsternis verbirgt.« Kyle ist zwar nicht sonderlich begeistert, aber er nickt. »Also gut, Sid, wir beide gehen gemeinsam. Liam, du nimmst Raia mit.« Er reicht Raia seine Fusionszelle. »Seht euch am hinteren Ende der Station um, Sid und ich konzentrieren uns auf die bekannten Räume hier vorne.« *** Raia geht still neben Liam her, die aktivierte Fusionszelle hält sie mit der Hand umklammert. Ihr ist unbehaglich; sie hat das Gefühl, die wohl abgelegenste, düsterste Stelle der Station aufzusuchen. Sie ist im Begriff, Liam zum Umkehren aufzufordern, als ihr Gefährte plötzlich stehen bleibt. Er beginnt sich für eine der ineinander verschachtelten Wände zu interessieren. »Hier, fühl das!« Er greift Raias Hand und führt sie nah an die Wand heran. »Und, merkst du es auch?« Raia antwortet zögernd: »Ja… da ist ein Luftzug. Was kann das sein?« Liam, in Überlegungen vertieft, mustert die Wand und murmelt: »Ich habe keine Ahnung.« Seine Hand tastet an der entdeckten Ritze entlang. Mit den Augen verfolgt er sie bis hinauf zur Decke. Die Augen immer nach oben gerichtet, geht er zunächst einige Schritte nach rechts, dann nach links, und findet eine weitere Ritze. »Ich glaube, wir haben etwas entdeckt.« »Soll ich die anderen holen?«, fragt Raia. Doch Liam packt sie am Arm. »Nein, warte! Vielleicht ist es doch nichts. Ich will mir erst sicher sein.« Er wendet seinen Blick abrupt von der Decke ab und lässt ihn wieder langsam über die Wand gleiten. Dabei murmelt er laut vor sich hin: »Es könnte… ein Zugang oder so etwas…
vielleicht lässt es sich öffnen.« Liams Jagdfieber steckt Raia an. Sie vergisst ihre Angst und macht sich ebenfalls auf die Suche. Mit dem Strahl der Fusionszelle leuchtet sie über den Boden und entdeckt tatsächlich knapp neben ihrem Fuß eine daumennagelgroße Vertiefung. Aufgeregt deutet sie mit dem Finger darauf. »Eine Öffnung!« Sofort kniet Liam nieder. Mehrere Male streicht er sachte mit der flachen Hand über den in die Vertiefung eingelassenen Metallring, doch nichts geschieht. Mit verbissener Miene starrt er den widerspenstigen Mechanismus an. »Aber es muss etwas mit der Wand zu tun haben!«, murmelt er. Dann richtet er sich auf, fasst Raia bei der Hand und schon rennen sie gemeinsam zum anderen Ende der Schleusenstation, zu dem Raum mit der seltsamen Apparatur. Bevor sie jedoch hineinlaufen, stoppt Liam. »Wir brauchen einen kleinen Behälter, am besten mit Verschluss.« Raia wird in den Materialboxen schnell fündig und kehrt zu Liam zurück. Dann dringen beide in den Raum vor. Raia hält sich die Nase zu, Liam hingegen scheint der Geruch kalt zu lassen. Sorgfältig drückt er den kleinen Kunststoffbehälter an die undichte Öffnung und lässt etwas von der weißen, gallertartigen Substanz hineinrinnen. Als der Boden des Gefäßes bedeckt ist, streckt er es Raia entgegen und sagt: »Vielleicht ist das der Schlüssel. Kyle und Sid nehmen doch an, dass es so etwas wie Energie ist.« Eilig begeben sie sich zum Raum zurück, in dem sie die Öffnung im Boden gefunden haben. Liam gibt ein paar Tropfen der Flüssigkeit auf den Metallring. Nichts passiert. Gerade will er sich enttäuscht abwenden, da fährt ein Teil der Wand mit lautem Krachen zur Seite und gibt eine metallisch glänzende Plattform frei. Blinzelnd versuchen Raia und Liam mehr zu erkennen. »Ein Lift?«, vermutet Raia. Liam erwidert unschlüssig: »Ich weiß nicht, es sieht zwar so aus, aber…«
Im selben Augenblick ertönt ein Warnsignal und die Wand bewegt sich an ihren ursprünglichen Ort zurück. Ohne nachzudenken, packt Liam seine Gefährtin und zieht sie mit einer blitzschnellen Bewegung auf die Plattform. Mit leisem Rauschen beginnen feine Devisorenpartikel von der Decke herabzuströmen, bis sie die gerade zwei Personen fassende Fläche vollständig umhüllen. Raia und Liam haben das Gefühl, als würden sie schweben. Wenige Sekunden später verflüchtigen sich die Teilchen wieder und nun ist alles ringsum in finsterste Schwärze getaucht. Nur dank ihrer Fusionszelle können die beiden erkennen, dass die Plattform sich in einer Art riesigem Tunnel befindet. Weder seitlich noch nach unten sind Begrenzungen erkennbar. Raia flimmert es vor den Augen. Mit tastenden Blicken versucht sie die Dunkelheit zu durchdringen – und sieht eine schimmernde Kugel aufsteigen, eine Kugel, wie sie sie bereits kennen. Sie dreht sich immer schneller, ihr Kern verdichtet sich zu einem blauen Leuchten und schon bewegt sich der gleißende Lichtstrahl durch den Raum, in Schlangenlinien direkt auf Raias Augen zu. Panisch presst sie ihre Hände vors Gesicht und ruft: »Liam, nimm das weg!« Völlig verwirrt stammelt er: »Ich weiß nicht, wie ich das tun soll.« Dann spürt er, wie die Plattform zu vibrieren beginnt. Instinktiv brüllt er: »Setz dich hin, schnell!« Gleichzeitig beginnt die gesamte Plattform zu schwanken. Nicht allzu heftig, doch stark genug, um jemanden aus dem Gleichgewicht zu bringen. Kaum sitzen beide einigermaßen sicher, da rast eine überdimensionale Kone unmittelbar an ihnen vorbei. Liam nimmt Raia schützend in die Arme und drückt sie fest an sich, denn der Sog des Fahrtwindes ist so stark, dass er sie mitzureißen droht. Als die Kone vorüber ist, schüttelt er benommen den Kopf. Nonosan hatte Recht: Unweit von ihnen ist die Kone tatsächlich hinter der Finsternis verschwunden!
Raia dagegen blickt starr geradeaus. Dabei bewegt sie ihre Lippen, als wolle sie etwas sagen. Jetzt stützt sie sich an Liam ab, um aufzustehen, hebt ihre Hände, hält sie ins blaue Licht und flüstert: »Ich kann mit meinen Händen Einfluss nehmen.« Schweigend beobachtet Liam, wie die Hände seiner Gefährtin in verschiedenen Positionen über dem Lichtstrahl verharren. »Hier ist eine grafische Darstellung der Station«, sagt Raia. Kurz danach beginnt sich die Plattform zu senken. Liam und Raia klammern sich aneinander fest. Immer weiter fährt die Plattform, hinab in eine anscheinend endlose Tiefe, bis sie schließlich zum Stehen kommt. Auf allen vieren nähert Liam sich dem Rand der Plattform. Zaghaft streckt er eine Hand aus, zieht sie wieder zurück und sagt: »Es fühlt sich warm an.« Raia sieht ihren Gefährten an. Liam aber blickt nach oben und verfolgt gebannt, wie die zahllosen Partikel, die eben noch eine fast undurchdringliche Finsternis suggerierten, ihre Beschaffenheit wechseln und den Blick bis hoch hinauf zu einer grauweißen Fläche freigeben. Ringsum wird es taghell. *** Kyle, gefolgt von Sid und Ana, stürzt hinaus ins Freie. Ein prasselndes, beinahe aufdringliches Geräusch schallt ihnen entgegen. Nel und Nonosan bleiben noch vor den Öffnungen in den Wänden stehen und bestaunen das von rotbraunem Rost überzogene Bauwerk, das sie soeben verlassen haben und dessen Ausmaße so gewaltig sind, dass es selbst am Horizont noch nicht endet. Sein mehrere Meter hohes Fundament ist an vielen Stellen von grünen Gewächsen überwuchert. Kyle tritt langsam hinter seine Gefährtin und sucht mit seinen Händen Halt an ihren Schultern. Während Ana ihren Kopf zurücklehnt
und die Tropfen auf ihr Gesicht fallen lässt, flüstert sie mit erstickter Stimme: »Das sind Tränen des Himmels, Kyle.« Kyle küsst ihre Wange. Ana schließt die Augen, als wolle sie diesen Augenblick unauslöschlich in ihr Gedächtnis brennen. Mit allen Sinnen saugt sie die feucht-warme Luft tief in sich auf. Überwältigt, endlich ihr Ziel erreicht zu haben, tastet sie nach dem Tagebuch und drückt es fest an sich. Nonosan und Nel, die Arm in Arm nur ein paar Schritte von den anderen entfernt stehen, beginnen leise zu lachen. Dann sagt die alte Frau: »Je mehr wir uns der Lynnwelt näherten, desto öfter machten Nonosan und ich uns einen Spaß daraus, sie uns nach den Beschreibungen des Tagebuchs auszumalen.« Nel unterbricht ihre Erzählung, um sich ein paar Wassertropfen von der Stirn zu wischen, danach fährt sie fort: »Wir waren fest überzeugt, dass wir uns der Realität recht weit annäherten. Aber das hier…«, Nel macht eine ausladende Geste, »das hier entspricht nicht unseren Vorstellungen. Nein – es übertrifft sie bei weitem.« Sie wirft Kyle einen bewundernden Blick zu und fragt: »Wie ist es dir gelungen, diese Finsternis zu beseitigen?« Gerade will Kyle der alten Frau munter antworten, dass das nicht sein Verdienst sei, da überfällt es ihn siedend heiß: Wie können sie so unbekümmert scherzen, solange zwei ihrer Freunde verloren gegangen sind? Kyle seufzt tief. »Wer von euch hat Raia und Liam zuletzt gesehen?«, fragt er. Ana wendet sich ihrem Gefährten zu. »Sie waren am anderen Ende der Schleusenstation und kamen zwischendurch bei Nel, Nonosan und mir vorüber. Ich hörte Liam sagen, sie hätten etwas entdeckt.« Kyle wirft Sid einen unmissverständlichen Blick zu und beginnt an den Gebäudemauern entlangzulaufen. Sid folgt ihm sofort. Nach einer Weile tut sich neben ihnen eine der Wandöffnungen auf und dunkle Partikel quellen daraus hervor. Sie verziehen sich allmählich nach oben – und
wahrhaftig, dahinter kommen Raia und Liam zum Vorschein. Wortlos fallen Sid und Kyle ihnen um den Hals. Raia aber wiederholt immer wieder: »Wir haben es geschafft. Wir haben es tatsächlich geschafft!« *** Blinzelnd blickt Raia hoch zum wolkenverhangenen Himmel. Gedankenverloren versucht sie einzelnen Tropfen bis auf den grün bewachsenen Boden zu folgen. Sie genießt für eine Weile das sanfte Kitzeln, das die herabgleitenden Himmelstränen auf ihren Wangen verursachen, und atmet tief den erdigen Duft des Bodens ein. Als könnte sie immer noch nicht fassen, dass die Lynnwelt real geworden ist, streicht sie mit der Hand durch die Luft, wendet dann die Handfläche nach oben, um Wasser darin aufzufangen. Die Tränen des Himmels rieseln über ihren Körper und scheinen sie von ihrem bisherigen gefühllosen und geordneten Leben reinzuwaschen. »Sind wir vollzählig?«, hört sie Kyle fragen. Ana, Liam, Nel, Nonosan und Sid antworten sofort. Raia indessen bleibt in ihrem Traum gefangen, versucht sich auszumalen, was sie nun alles erwarten könnte in dieser Lynnwelt, von deren Existenz sie aus mehr als zweihundert Phasen alten Aufzeichnungen erfahren haben. Doch dann wiederholt Kyle seine Frage und Raia muss sich eingestehen, dass jetzt der wohl ungeeignetste Moment ist, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Eine Kone holt sie endgültig in die Gegenwart zurück. Selbst hier kann sie das Vibrieren des Bodens noch wahrnehmen. Kurz darauf rauscht ein weiteres der riesigen Transportfahrzeuge über ihren Kopf hinweg. Alles Grün wird vom Fahrtwind zur Seite gedrängt. Instinktiv geht Raia zusammen mit den anderen in Deckung, blickt aber schnell wieder hoch, um der Kone nachzusehen. Doch die Bäume
ringsum sind zu hoch gewachsen, als dass man sie länger verfolgen könnte. »Habt ihr gehört?«, ruft Ana. »Hier ist das Fahrgeräusch noch viel lauter als drinnen.« Raia nickt zustimmend. »Und sie brauchen offenbar gar keine Schleuse.« Geistesabwesend setzt sie hinzu: »Welches Ziel sie wohl haben?« Dann merkt sie plötzlich, wie die Anspannung der letzten Stunden langsam nachlässt und Müdigkeit sie überkommt. Trotz der Wärme beginnt sie zu frieren. Liam, der es beobachtet hat, zieht sein Kleidungsoberteil aus und legt es Raia um die Schultern. In diesem Moment spürt sie stärker als je zuvor, dass sie sich nirgendwo so wohl fühlt wie in Liams Nähe. Sie ist unglaublich froh, dass sie ihren Gefährten gedrängt hat mitzukommen. »Wir sollten uns eine einstweilige Wohneinheit schaffen«, ruft Kyle in die Runde. »Eine, die trocken genug ist, dass wir ausreichend Schlaf finden. Die nächsten Tage werden wir eine Menge zu tun haben.«
Jez Lynns Welt
Endlich sind auch die letzten Decken zwischen den Baumarmen festgezurrt. Liam betritt die schützende Wohneinheit unter den Bäumen. Er freut sich, als er entdeckt, dass der Platz neben Raia frei ist. Nachdem er sich niedergelassen hat, nimmt er seinen Anteil des Nahrungsquaders entgegen, den Ana ihm reicht. Die Stücke werden kleiner; ihre Vorräte sind in den letzten beiden Tagen bereits deutlich geschrumpft. So langsam wie möglich lässt Liam den Brocken auf seiner Zunge zergehen. Sein Blick wandert über die versammelte Gruppe. Es wundert ihn nicht, dass alle erschöpft und schweigsam dasitzen. Die langen Erkundungsgänge und das ungewohnte Klima – die ständig auf sie niederprasselnden Tränen des Himmels, der feucht-warme Atem der Erde – haben ihnen zugesetzt. Auch Liam spürt jede einzelne Muskelfaser seines Körpers. Er wirft einen prüfenden Blick nach oben. Unentwegt trommeln die Tropfen auf der straffen Oberfläche der Decken. Doch dank der dicht bewachsenen Baumarme wird die Nässe kaum eine Möglichkeit haben, sich einen Weg bis in das schützende Versteck zu bahnen. Außer dem Trommeln ist kein Laut zu vernehmen. Für einen Augenblick ist Liam fasziniert vom gemeinsamen Schweigen der Gruppe. Ihm scheint, als vereinte es die unterschiedlichsten Charaktere auf schlichte Weise. Plötzlich fühlt er sich von Erinnerungen an das System eingeholt. Dort war Schweigen etwas Normales gewesen; Sprache diente gelegentlich, beschränkt auf das Vergnügungsviertel, der gezielten Entspannung, ansonsten war sie dazu da, Anliegen kurz und
präzise und ohne verschwenderisches Geplänkel vorzutragen. So war es durch die MAXIME definiert. Immerhin wurden Bewohner grundsätzlich nach ihren praktischen Fähigkeiten beurteilt, nicht nach ihrer Wortgewandtheit. Welche MAXIME aber gilt hier, in dieser Welt Jez Lynns? Gibt es überhaupt eine? Losgelöst von allem Bisherigen, wird die Gruppe im Laufe der Zeit erst neue Spielregeln für den Umgang miteinander finden müssen. Liam beobachtet Raia, wie sie neben ihm sitzt und müde auf den Boden schaut. Dann fällt sein Blick auf Nel. Er ist fasziniert von der Geschicklichkeit, mit der sie trotz der Enge eine Decke als weiche Unterlage zurechtlegt, und bewundert die Energie der alten Frau, mit der sie sich um ihr Wohlergehen gemeinsam mit ihrem Gefährten bemüht. Es scheint, als würde eine unsichtbare Macht die beiden unzertrennlich miteinander verbinden. Der alte Mann dankt die Fürsorge seiner Gefährtin mit einem Lächeln und legt seinen Kopf zufrieden zurück in ihren Schoß. Für den Bruchteil einer Sekunde treffen sich Liams und Nonosans Blick. Nonosan lächelt verstohlen, während Liam verlegen den Kopf zur Seite wendet. Plötzlich fühlt er Raias Hand über seinen Nacken gleiten. Sie rückt näher an ihn heran. Zögernd legt Liam seinen Arm um ihre Schulter. Dabei spürt er Raias feuchte Haare an seiner Wange. Als er sich vorbeugt, um ihr ins Gesicht zu sehen, hat sie die Augen geschlossen. *** Irgendwann wacht Raia auf. Das aufdringliche Surren der winzigen Kreaturen, die unentwegt um eine leuchtende Fusionszelle herumschwirren, muss sie aus dem Schlaf gerissen haben. Sie lauscht. Etwas scheint anders zu sein als zuvor. Erst nach einer Weile wird ihr bewusst, dass keine Himmelstränen mehr auf die Decken herabprasseln. Mit fadem
Geschmack im Mund richtet Raia sich auf und stützt den Oberkörper mit den Armen ab. Sie hat am helllichten Tag einen Erholungsschlaf gemacht, aber für wie lange? Jetzt ist es bereits dunkel. Ana blickt kurz vom Tagebuch hoch und lächelt ihr zu. Etwas benommen lässt Raia den Blick hinüber zur lodernden Flamme des Feuerquaders schweifen. Soeben ist Kyle von seinem Platz dort aufgestanden; er tastet sich vorsichtig an den anderen vorbei und schlüpft durch einen Zugang zwischen den zu einem Verschlag zusammengezimmerten Baumarmen nach draußen. Raia beobachtet ihn, wie er im Freien seine Arme ausstreckt und mehrere Male tief einatmet. Nun packt auch sie die Lust, hinauszugehen. Doch kaum hat sie die provisorische Wohneinheit verlassen, beginnt sie zu frieren. Prüfend streicht sie über den feuchten Stoff ihrer Kleidung, dann verschränkt sie die Arme. So steht sie eine Weile, überrascht von der Entdeckung, dass in der Lynnwelt auch die Temperaturunterschiede viel krasser sind als im System. Es gibt noch so vieles, was sie nicht wissen über diese rätselhafte Welt… Als Kyle den Kopf in den Nacken legt und hinaufschaut zu den schmalen Lücken zwischen den dicht bewachsenen Armen der Bäume, folgt Raia seinem Blick. Sofort ist sie gefangen vom Anblick des zarten Lichtschleiers, den das leuchtende Nachtauge über die Baumspitzen legt, und von den geheimnisvollen, gelb schimmernden Punkten, die allmählich sichtbar werden, je mehr die Farbe der Kuppel, die Jez Lynn Himmel nannte, in nächtliches Schwarz übergeht. Raia fühlt sich plötzlich klein und unbedeutend gegenüber dieser neuen Welt. Sie ist so unbeschreiblich schön! Alles um sie herum scheint für einen Moment stillzustehen. Unfähig, ihre Gefühle in Worte zu fassen, flüstert Raia mit rauer Stimme: »Um
solche Augenblicke zu beschreiben, müssen wir erst eine neue Sprache schaffen.« Jetzt wendet Kyle sich ihr zu. Leise sagt er: »Wir sollten es als Fügung betrachten, dass wir hier sind, nicht wahr?« Erneut schaut er hoch in den dunklen Himmel. »Ana hat keine Sekunde an der Lynnwelt gezweifelt. Sie ist es, die dem Tagebuch die meiste Bedeutung beigemessen hat. Es ist der Schlüssel, der uns das Tor hierher geöffnet hat. Deshalb gibt sie es auch so selten aus der Hand. Wenn ich die Aufzeichnungen richtig deute, war allerdings auch Jez Lynn damals nur einer von wenigen, die das Glück hatten, dies alles mit wachen Sinnen wahrzunehmen. Weißt du, Raia, das verstehe ich beim besten Willen nicht: Weshalb hat uns das System so etwas Wunderbares vorenthalten? Aber ich glaube, es ist sinnlos, sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen. Auf jeden Fall bin ich Jez Lynn unendlich dankbar dafür, dass ich dies erleben kann. Gemeinsam mit meiner Gefährtin und mit euch natürlich.« In diesem Moment bemerkt Kyle, dass Raia friert. Er legt seine Hand auf ihren Arm und sagt: »Komm, gehen wir zurück, deine Kleidung ist noch zu feucht. Drinnen ist es warm. Außerdem wird Ana uns wie jede Nacht aus dem Tagebuch vorlesen wollen. Vielleicht hat sie eine Stelle entdeckt, an der Jez uns verrät, wo wir Nahrung finden. Du weißt, unsere Nahrungsquader gehen langsam zur Neige.« Sie machen kehrt, und als sie den Zugang zu ihrer Behausung erreicht haben, hilft Kyle Raia hineinzuschlüpfen. Dabei flüstert er ihr zu: »Vor allen Dingen sollten wir uns eine größere Wohneinheit einrichten. Diese hier lässt meine Gliedmaßen bei jedem Betreten um etliche Phasen altern!« ***
Als hätte Ana bereits gewartet, sitzt sie mit dem aufgeschlagenen Tagebuch auf dem Schoß vor dem Feuer. Kyle nimmt neben ihr Platz, Raia setzt sich wieder zu Liam. Ausgekühlt von der frischen Abendluft draußen sucht sie bibbernd seine Nähe und lehnt sich an ihn. Ana sieht jeden Einzelnen von ihnen an: Nel und Nonosan, Raia und Liam, Sid und zuletzt Kyle. Dann sagt sie mit klarer Stimme: »Bevor ich beginne Textpassagen vorzulesen, die uns möglicherweise dabei helfen, die nächsten Tage unseres Aufenthalts zu bewerkstelligen, möchte ich wieder einmal mit Jez Lynns Worten daran erinnern, weshalb wir überhaupt hier sind. Sie haben uns die Kraft gegeben, hierher zu gelangen. Also sollen sie uns auch weiterhin bestärken.« Kurz verstummt Ana. Auch die anderen werden still. Nur das Knistern des brennenden Feuerquaders ist noch zu hören, begleitet vom Zirpen, Pfeifen und Kreischen nächtlicher Kreaturen. Schließlich beginnt Ana zu lesen: 17. Juli 2150 »Geliebte Meret, erst wenn auch du den Atem der Erde, die Berührung des Tagauges auf bloßer Haut und die Tränen des Himmels spürst, wirst du verstehen, weshalb mir dieses Leben einen neuen Sinn gegeben hat. Wie sehne ich den Tag herbei, an dem ich dir dies alles zeigen kann. Jeden Morgen erwache ich von neuem mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl, weil ich an diesem wunderbaren Ort bin. Wann kannst du diese Freude mit mir teilen? Ach, Meret, es quält mich, so lange noch auf deine Nähe verzichten zu müssen. Als Trost bleibt mir meine Liebe, die uns unzertrennlich miteinander verbindet.«
Ana hat sich bemüht die Worte so warm und lebendig klingen zu lassen, wie Jez Lynn sie empfunden haben muss, als er sie schrieb. Um den nächsten Eintrag schneller zu finden, hat sie dort ein Blatt zwischen die Seiten gelegt. Sie wartet einen Augenblick, blättert dann um und zitiert die nächste Textpassage: 25. Juli 2150 »Geliebte Meret, zu gerne möchte ich dieses Vergnügen mit dir teilen! Diese pfeifenden, fliegenden Kreaturen, die mir hier im Schatten des Baumes Gesellschaft leisten – vielleicht sollte ich auch einmal von den rot leuchtenden Früchten probieren, die sie unentwegt begierig mit ihrem spitzen Schnabel aufpicken? Manchmal sitze ich da und stelle mir vor, wie ich den Saft langsam über meine Zunge gleiten lasse. Wie er wohl schmeckt? Sollte ich dir eines Tages als pfeifende und flatternde Kreatur erscheinen, wirst du wissen, ich habe es gewagt, von der roten Frucht zu kosten…« Ana schlägt das Tagebuch zu und schiebt es mit fröhlicher Miene unter die Decke ihres Ruhelagers. Kyle allerdings scheint von dem letzten Eintrag nicht besonders angetan zu sein. Er sagt und es klingt fast ein wenig enttäuscht: »Das ist also alles… Es sieht so aus, als müssten wir die kommenden Tage mit dieser roten Frucht überbrücken.« »Besser als nichts. Ich werde mich gleich morgen auf die Suche machen«, schlägt Liam vor. Kyle wendet ein: »Allein sollte sich niemand von der Gruppe entfernen. Wir wissen zu wenig über die Lynnwelt. Lasst uns mit entsprechender Vorsicht herangehen.« »Ich könnte Liam begleiten«, meldet sich Raia zu Wort.
»Gut, geht ihr beide gemeinsam in eine Richtung, Ana und ich nehmen die andere.« Kyle bemerkt Raias fragenden Blick. »Ich kenne mich auch nicht besser aus als ihr, ich habe noch nie irgendwelche Früchte zu Gesicht bekommen. Aber etwas Rotes werden wir bei all dem Grün doch nicht übersehen, oder? – Sid, bleib du morgen bitte hier bei Nel und Nonosan. Gibt es sonst noch etwas, was wir besprechen sollten?« Schnell hebt Nel eine Hand. »Ich meine, bevor ihr losgeht, sollte gleich morgen früh jeder von uns seine nasse Kleidung mit Hilfe des Tagauges trocknen.« Besorgt sieht sie in die Runde und fügt hinzu: »Nonosan und ich frieren und ich glaube, einige von euch auch.« Sid fügt hinzu: »Auf diese Weise können wir außerdem Feuerquader sparen. Als Lichtquelle genügen uns auch die Fusionszellen. Und um deren Energienachschub braucht uns nicht bange zu sein – die zwei nötigen Elemente, Deuterium und Tritium, scheinen hier in der Lynnwelt unerschöpflich vorhanden zu sein. Sie sind nämlich in Steinen und in Wasser enthalten.« »Wie viele Feuerquader haben wir noch?«, fragt Kyle. Sid öffnet seine Box und zählt laut: »Sechs Feuerquader, außerdem zehn Wasserquader. Nahrungsquader leider nur noch drei. Mehr konnten wir im System nicht ergattern.« »Nel hat Recht. Zunächst kümmern wir uns also um die feuchte Kleidung. Anschließend machen wir uns wie besprochen auf Nahrungssuche. Wenn wir dann zurückgekehrt sind und es noch nicht dämmert, schlage ich vor, dass wir uns möglichst bald aufmachen, um einen geräumigeren Ort zu finden, an dem wir vielleicht sogar für je zwei Gefährten eine eigene Wohneinheit errichten können.« Kyle wirft einen raschen, entschuldigenden Blick zu Sid hinüber, der am Zellregenerator fingert. Er erwidert kurz: »Macht nichts.«
Plötzlich richtet sich Nonosan auf und sagt, zu Kyle gewandt: »Hör zu, mein Freund. Mein alter und schwacher Körper ist seit dem Tag, an dem ich mich entschied mich vom System zu trennen, von zunehmender Müdigkeit geplagt. Ich wollte euch nur sagen, dass Nel und ich euch überaus dankbar sind, dass ihr uns beiden Alten zu diesem wunderbaren Ort mitgenommen habt.« Nonosan macht eine Pause, sieht Ana vorwurfsvoll und zugleich mit einem verschmitzten Lächeln in den Augenwinkeln an und fügt hinzu: »Allerdings – hätte Jez Lynn nicht ein Wort darüber verlieren können, dass die Tagund vor allem die Nachtperioden hier um einige Stunden kürzer sind als im System? Jetzt muss ich meinen ganzen Schlafrhythmus neu einteilen!« Die anderen lachen. Nonosan fährt fort: »Also, ich bin ein alter Mann. Ich kann mich nicht beim Beschaffen von Nahrung beteiligen, geschweige denn mich bei sonstigen körperlichen Aktivitäten nützlich machen. Aber ich möchte euch keine Last sein. Kyle, vielleicht hast du doch die eine oder andere Aufgabe für mich? Du bist jung, deine Sinne unverbraucht, du hast Ideen und bestimmt ist eine dabei, die mir einen sinnvollen Platz im Kreis unserer Gemeinschaft sichert.« Erwartungsvoll sieht der alte Mann Kyle an. Der stammelt überrascht: »Ja… also, darüber müsste ich nachdenken. Aber es findet sich bestimmt etwas. Gib uns nur erst ein paar Tage, bis wir uns eingelebt haben.« Mit dieser Aussicht gibt sich Nonosan zufrieden. Aufatmend setzt er sich zurück in eine für ihn bequemere Lage. Kyle aber sagt: »Wir sollten jetzt ausruhen. Morgen wird wieder ein anstrengender Tag für uns.«
***
Schweißgebadet schreckt Liam hoch. Er starrt in die Finsternis. Die vielen Laute, die von draußen dumpf hereindringen, verwirren ihn. Im ersten Augenblick kann er sich nicht erinnern, wo er sich befindet. Nur langsam fällt ihm alles wieder ein: die Wohneinheit, notdürftig aus Baumarmen gezimmert, Raia neben ihm, die ersten Begegnungen mit der Lynnwelt. Sein Arm schmerzt. Vorsichtig zieht er ihn unter Raias Nacken hervor. Die Gefährtin liegt zusammengekauert da und schläft fest, Liam hört es an ihrem gleichmäßigen Atem. Er betastet seine klebrige Haut. Das feucht-warme Klima ist ihm unangenehm, stört ihn. Der Gedanke an die Kühle draußen lockt ihn hinaus. Er dreht sich zur Seite, winkelt vorsichtig seine Knie an und gibt sich beim Aufstehen Mühe, abrupte Bewegungen zu vermeiden. Behutsam tastet er sich vor, denn er kann die anderen nur schemenhaft erkennen. Endlich hat er den Zugang erreicht und schlüpft ins Freie. Dort angekommen, sieht er sich aufatmend um und genießt die Kühle nach der unerträglichen Hitze des vorangegangen Tages. Unwillkürlich lenkt er den Blick, wie vor ihm Raia und Kyle, hinauf zu den gelblichen Lichtpunkten hoch oben am Himmel. Der Anblick erinnert ihn an das, was er früher vom Fenster seiner Wohneinheit aus sah, auch wenn die Lichter, die ihm dort entgegenblinkten, hunderte Meter unter ihm lagen. Er versucht sich vorzustellen, was jener Mann viele Phasen vor ihm in dieser Situation wohl gefühlt hat. Gerne würde er es mit seinen eigenen Empfindungen vergleichen. Doch kann er die überhaupt beschreiben? Liam stellt fest, dass es sehr schwierig ist, das, was in ihm vorgeht, in eigene, für andere nachvollziehbare Worte zu fassen. Plötzlich horcht er auf. Es war nur ein leises Geräusch, das zu ihm herüberdrang, doch es klang irgendwie vertraut, anders als die Töne der Nachtkreaturen. Jetzt ist es verstummt. Liams Blick folgt den fliegenden Kreaturen.
Wieder lauscht er. Unverkennbar, das ist ein Mann und er gibt Schmerzenslaute von sich! Eilig versucht Liam die Richtung zu bestimmen, aus der sie kommen. »Wer ist da?«, ruft er leise. Keine Antwort. Liam setzt sich so geräuschlos wie möglich in Bewegung, doch nach wenigen Schritten gibt ein morscher Baumarm laut knackend unter seinem Gewicht nach. Das Stöhnen hört augenblicklich auf. Mit weit aufgerissenen Augen durchforscht Liam die Umgebung. In diesem Augenblick überfällt ihn ein Gefühl, das er bisher nicht kannte: Zum ersten Mal hat er das Bedürfnis, im Schutz der Wohneinheit bei den anderen zu sein. Er will gerade kehrtmachen, um Kyle zu wecken, als er Sids Stimme hört, die ihn beim Namen nennt. Liam bleibt stehen. Gleichzeitig leuchtet eine Fusionszelle auf. »Sid?« »Ja, hier«, kommt es zurück. Liam läuft ihm entgegen. Er entdeckt Sid, der am Boden sitzend mit schmerzverzerrter Miene sein Bein stützt. In der einen Hand hält er den Zellregenerator und richtet ihn auf eine beschädigte, blutende Stelle. Liam hockt sich daneben, betrachtet das Blut und fragt: »Was ist passiert?« »Ich habe mich beschädigt, das siehst du doch.« Liam erkennt, dass Sid in dieser Position Mühe hat, die Beschädigung ohne Verrenkung zu reparieren. Er greift nach dem Werkzeug und sagt: »Lass mich, ich mache das.« Sid nimmt Liams Hilfe kommentarlos an. Bereits nach wenigen Minuten ist das Bein repariert. Sid erhebt sich und verstaut das Werkzeug wieder unter seinem Kleidungsoberteil. Er sieht Liam an und sagt knapp: »Danke.« Liam beißt sich auf die Zunge. Soll er Sid fragen, wieso er sich um diese Zeit entgegen den Vereinbarungen alleine von der Gruppe entfernt hat? Immerhin hat Sid auch bei anderen Gelegenheiten manchmal recht schroff reagiert. Um die
Situation zu entschärfen, sagt er schnell: »Na, Glück gehabt. Wie ist das passiert?« Sid schüttelt den Kopf. »Mein Fuß hat sich irgendwo verhakt.« »Warum hast du die Fusionszelle nicht aktiviert? Du hättest besser sehen können.« Statt einer Antwort deutet Sid auf den Lichtkegel, in dem sich mittlerweile zahllose winzige Kreaturen versammelt haben, die krabbelnd und surrend durcheinander wuseln. Mit angeekeltem Gesichtsausdruck greift Liam nach der Fusionszelle und deaktiviert sie. Danach wendet er sich ab und macht Anstalten, zur Wohneinheit zurückzukehren. Doch da packt Sid ihn unvermittelt am Arm. »Du willst schon zurück?« Liam bleibt überrascht stehen. »Ich will noch etwas bleiben«, erklärt Sid. »Und wenn ich ehrlich bin, könnte ich dabei Gesellschaft gebrauchen.« Liam zögert. Einerseits ist er froh noch ein wenig der engen, stickigen Unterkunft zu entrinnen, andererseits weiß er nicht recht, was Sid von ihm erwartet. Schließlich erwidert er: »Na gut, genau genommen hab ich momentan auch kein Bedürfnis nach Schlaf.« Sid nimmt auf einem armlosen Baum Platz, der quer über dem Boden liegt. Auch Liam setzt sich. Minutenlang spricht keiner von beiden. Sid scheint sich ganz auf die Geräusche der Nacht zu konzentrieren. Dann jedoch spürt Liam das Bedürfnis, das Schweigen zwischen ihnen zu beenden. Nur fällt ihm nichts Unverfängliches ein; obwohl es einige Fragen gibt, die er gern beantwortet hätte, will er Sid nicht damit nerven. Schließlich ist Sid es, der ihm zuvorkommt. »Und?«, sagt er. Liam sieht ihn verständnislos an. Sid ergänzt: »Die Lynnwelt. Gefällt sie dir?« Liam überlegt eine ganze Weile, dann erst antwortet er: »Ich hatte vorher keine rechte Vorstellung von dem, was auf uns zukommen würde.«
»Wie zum Beispiel?«, hakt Sid nach. Liam antwortet: »Ich hatte es mir nicht so heiß vorgestellt.« Mit einer raschen Handbewegung versucht er etwas zu verscheuchen, das ständig um sein Gesicht herumschwirrt. Dann fügt er hinzu: »Und ohne diese blöden Kreaturen.« Beide müssen lachen. Danach verstummen sie wieder. Und zum zweiten Mal ist es Sid, der das Schweigen bricht. »Ihr habt alle verdammt viel Glück.« »Wie meinst du das?« Sid fährt fort: »Ihr seid nicht allein.« Der Ton in Sids Stimme versetzt Liam einen Stich. »Weshalb ist deine Gefährtin nicht bei dir?« Sofort bereut er seine Neugierde. Doch zu seiner Überraschung antwortet Sid direkt und ohne Umschweife. »Es war zunächst wie bei allen anderen Bindungen im System auch. Avril und ich respektierten uns und wir verbrachten unzählige Stunden unserer Freizeit miteinander. Es war selbstverständlich, weil auch wir als Gefährten füreinander bestimmt waren.« Er hält inne. Oben am Himmel, hinter der Spitze eines Baumes, lugt eine große, leuchtende Kugel hervor. »Das Nachtauge der Lynnwelt«, murmelt Sid. »Ich hätte es Avril gern gezeigt.« Seine Stimme wird energischer. »Aber sie weigerte sich mit mir zu gehen. Ich verstehe es bis heute nicht. Nach meiner Entscheidung, aus dem System zu fliehen, weihte ich Avril ein. Sie sagte, sie wolle mit mir gehen, und begleitete mich ins Versteck. Doch nach meiner endgültigen Trennung vom System, als ich begonnen hatte Gefühle für Avril zu entwickeln, zögerte sie plötzlich den letzten Schritt ebenfalls zu tun. Sie stellte fest, dass unsere Gemeinsamkeiten nachließen. Zuletzt weigerte sie sich, ihr geordnetes Leben im System gegen das hier einzutauschen. Das Einzige, was ich ihr noch abringen konnte, war das Versprechen, uns nicht zu verraten. Jetzt lebt sie weiterhin dort, irgendwo in einer der fünf Städte, in einer neuen Wohneinheit und wahrscheinlich
mit einem neuen Gefährten. Nachdem sie von mir fortging, habe ich sie nicht ein einziges Mal wieder gesehen.« Liam merkt, dass Sid Mühe hat, weiterzusprechen. »Liam, es tut mir Leid, ich meine – ich war manchmal ziemlich unfreundlich.« »Ist schon gut. Ich wusste ja nicht…« »Es erleichtert mir die Sache, wenn ich mit jemandem darüber reden kann. Die anderen trauen sich anscheinend nicht dieses Thema anzusprechen. Vielleicht wollen sie mir Schmerz ersparen. Allerdings glaube ich, ich bin mittlerweile über Avril hinweg.« Liam nickt. Er ist froh darüber, dass Sid ihm seine Sorgen anvertraut. So gelingt es ihm, den anderen besser zu verstehen. Doch er spürt, dass Sid noch eine weitere Sorge plagt. Sid zögert, dann gibt er sich einen Ruck und sagt: »Da ist noch etwas. Und es ist mir wichtig, dass du es weißt.« »Was meinst du?« »Es geht um Raia.« Liam horcht auf. »Bevor du zu uns in die Gruppe kamst, haben deine Gefährtin und ich viel Zeit miteinander verbracht. Wir haben uns so gut verstanden, wie ich es mir von Avril gewünscht hätte. Wenn du nicht gekommen wärst, hätte ich mich um sie als Gefährtin bemüht.« Liam hat das Gefühl, als hätte ihm jemand einen Hieb in die Magengrube versetzt. Nur mit einiger Anstrengung gelingt es ihm, dass seine Stimme gelassen wie immer klingt. »Und was, meinst du, hätte Raia gesagt?« Sid lacht auf. »Du brauchst dich nicht zu sorgen, ich werde keinen Einfluss auf sie nehmen. Sie hat sich für dich entschieden.« Mit diesen Worten erhebt er sich abrupt und beendet das Gespräch. »Lass uns zurückgehen«, sagt er. Dann aktiviert er die Fusionszelle und zusammen machen sich die beiden auf den Weg zu ihrer Behausung. Liam ist eine Zeit lang unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Sids Andeutungen bezüglich Raia setzen ihm zu. Einerseits ist er
Sid für seine Offenheit dankbar, andererseits fühlt er, wie Zweifel an ihm zu nagen beginnen. Wird Sid sich an seine Ankündigung halten und Raia in Ruhe lassen? Andererseits – hat er, Liam, denn irgendwelche Besitzansprüche Raia gegenüber? Kurz versucht er sich ins Gedächtnis zu rufen, dass Raia sich bewusst für ihn entschieden hat; sie war es ja auch, die ihn dazu bewegte, mitzugehen. Wollte sie nicht das Gefühl, das Jez Lynn »Liebe« nennt, mit ihm erfahren? Dennoch plagen ihn plötzlich Zweifel. Hat nicht auch Avril erst im Laufe der Zeit festgestellt, dass sie die Bindung mit Sid nicht aufrechterhalten wollte? Liam und Sid erreichen die Wohneinheit und schlüpfen hinein. Jeder begibt sich zu seinem Ruheplatz. Vorsichtig tastet Liam sich vor und streckt sich neben seiner Gefährtin aus. Eine Weile liegt er da, vergeblich bemüht das Durcheinander seiner Gefühle zu verstehen. Schwankend zwischen Traum und Wachen, fährt er noch einmal erschrocken hoch, als er ein eigenartiges Geräusch vernimmt. Es klingt, als würde eine Maschine gleichmäßig schnurren. Liam lauscht, doch danach bleibt es still. Schließlich übermannt ihn die Müdigkeit. Als er erwacht, liegen nur noch er und Nonosan auf ihren Ruhelagern. Liam blinzelt nach draußen und macht erst einmal keine Anstalten, aufzustehen. Die anderen haben einen großen Spalt im Zugang offen gelassen. Es ist bereits hell, doch ein dichter Schleier aus weißen Partikeln verhüllt das Grün ringsum. Vom orangegelben Licht des Tagauges ist nichts zu sehen. Jetzt erst bemerkt Liam, dass Nonosan ihn beobachtet. Der Alte sagt mit gespielter Empörung: »Willst du etwa hier bleiben und dich an meiner Stelle um meine Gefährtin kümmern? Willst du mir womöglich meine Zuneigung für sie streitig machen?« Liam lächelt und antwortet: »Sie ist eine gute Gefährtin. Niemand anderes als du hat sie verdient.«
»Ja, da hast du Recht. Also, raus mit dir. Schau dir den neuen Tag in der Lynnwelt an. Ich komme später nach«, sagt Nonosan munter. Folgsam richtet sich Liam auf. Trotz seines Schlafmangels hat er keine große Mühe mit dem Aufstehen. Die milde Luft zieht ihn hinaus zu den anderen. Doch kaum hat er sich erhoben, da fallen ihm die letzte Nacht und das Gespräch mit Sid wieder ein. Er wirft einen prüfenden Blick zu den Freunden hinüber: Sid unterhält sich mit Kyle. Raia steht nicht neben Sid, sondern geht Nel zur Hand. Zögernd gesteht Liam sich ein, dass er einigermaßen erleichtert darüber ist. Kurz bevor er den Unterschlupf verlässt, dreht Liam sich noch einmal nach Nonosan um. Die Gelegenheit wäre günstig, niemand könnte ihrem Gespräch lauschen. Also sagt er vorsichtig: »Nonosan – darf ich dich etwas fragen?« Nonosan sieht Liam erstaunt an und erwidert: »Ich freue mich immer, wenn jemand Notiz von mir nimmt. Nur zu!« Dann schaut er noch einmal genauer hin. »Was ist los mit dir, Liam? Etwas bedrückt dich.« Liam blickt unbehaglich zu Boden. Es fällt ihm nicht leicht, mit der Sprache herauszurücken. »Also… seit der Trennung vom System, außerhalb der ständigen Kontrolle über meine Gefühle, spüre ich ein Bedürfnis, Raia zu gefallen, in ihrer Nähe zu bleiben, ja, sie an mich zu binden. Aber zugleich fürchte ich jetzt, dass sie mir entgleitet. Weshalb ist das so? Wir sind Gefährten. Wir sind zu einer lebenslangen Bindung vereint worden. Kann das nicht einfach so bleiben? Was geschieht mit ihr und mir?« Nonosan stützt sich auf seine Ellbogen und räuspert sich. »Ich möchte dir etwas erzählen«, antwortet er. »Vielleicht hilft es dir. Nel und ich haben viele Jahre gemeinsam als Gefährten in einer Wohneinheit gelebt. In Bezug auf das Prinzip einer Bindung nichts Außergewöhnliches, wirst du jetzt sagen. Das stimmt. Aber
hier, außerhalb vom Einfluss des Systems, gelten die alten Regeln nicht mehr. Hier gibt es nichts, was die Zusammengehörigkeit von Gefährten in einer Bindung als selbstverständlich definiert. Die Sätze der MAXIME lassen sich nicht auf Wesen mit Empfindungen anwenden. Das ist der Grund, weshalb wir hier in der Lynnwelt vieles erst lernen müssen. Auch ich hatte anfangs das Gefühl, Nel mit allen möglichen Mitteln an meiner Seite festhalten zu müssen. Und wären meine Beine nur halb so alt gewesen, wäre ich manchmal vor den Anstrengungen, die ich mir aufbürdete, davongerannt. Ich tat es nicht, sondern zwang mich dazu, mich mit den Dingen auseinander zu setzen. Ich begriff, dass es nur eine Möglichkeit gab: Ich musste mich um sie bemühen und ihr zugleich die Freiheit lassen, selbst zu entscheiden, ob sie bei mir bleiben wollte. Und wie du siehst, ich hatte Erfolg.« Nonosan wirft einen kurzen Blick zur restlichen Gruppe hinaus. Dann sagt er: »Es geht um Sid, nicht wahr?« Liam starrt den alten Mann an, als könne der seine Gedanken lesen. »Woher…?«, stammelt er. Doch Nonosan unterbricht ihn sofort. »Du weißt, ich bin schon länger bei dieser Gruppe. Mir ist es nicht entgangen, dass sie gut miteinander auskommen.« Liam runzelt die Stirn und sagt: »Sid hat es mir heute Nacht erzählt. Er sprach darüber, wie es war mit ihnen, bevor ich dazukam.« »Oh, das ist typisch für ihn. Manchmal weiß man überhaupt nicht, woran man mit ihm ist, und dann plötzlich besinnt er sich auf seinen Gemeinschaftssinn und ist rücksichtsvoll und aufmerksam. Ach, im Grunde ist er ein feiner Kerl. Nur manchmal etwas eigensinnig. Die Geschichte mit seiner Gefährtin hat ihm wohl schwer zu schaffen gemacht.« »Avril, nicht wahr?« Nonosan nickt, dann fällt ihm wieder ein, was er Liam mitteilen wollte, und sagt: »Aber um dich zu beruhigen: Als Sid erfuhr, dass Raia dich dazuholen wollte, ist
er sofort auf Abstand gegangen. Kein Wunder, dass er dir gegenüber nicht sehr freundlich war. Er war enttäuscht von Raia und suchte die Schuld dafür bei dir.« In diesem Moment steckt Kyle den Kopf herein und ruft: »Ah, Liam, du bist wach! Sieh nur, der Schleier beginnt sich langsam zu lichten. Wir sind gerade dabei, die Sache mit den Kleidern zu erledigen, und dann ziehen wir sofort los zur Nahrungssuche.« Liam steht auf und macht sich bereit die provisorische Wohneinheit zu verlassen. Doch vorher fragt er Nonosan noch: »Ist es in Ordnung, wenn ich…« Der alte Mann erwidert: »Geh nur, wir haben noch viel Zeit, unsere Gedanken auszutauschen. Außerdem bin ich schon sehr gespannt auf den Geschmack der roten Früchte.« Mit einem leisen »Danke« geht Liam hinaus. Vor dem Zugang fällt sein Blick sofort auf Raia, die weiter hinten gemeinsam mit Nel dabei ist, ein Feuer in Gang zu halten. Raia hat ihren Körper in eine Decke gehüllt. Liam geht auf sie zu und begrüßt sie mit einem Lächeln. Die alte Frau hat soeben Raias Kleidungsstücke über einen dünnen, von Grün befreiten Baumarm gehängt. Jetzt streckt sie ihre Hände nach Liam aus und sagt: »Gib mir deine.« Sie reicht Liam eine weitere Decke. Mit wenigen Handgriffen hat auch er sich von seiner Kleidung befreit und setzt sich neben Raia auf den Boden. Schweigend hocken sie eine Weile da und beobachten, wie geschickt die alte Frau mit den feuchten Sachen hantiert. Als sie sich für kurze Zeit entfernt, fragt Liam leise: »Wie hast du geschlafen?« »Tief und fest. Die lange Nachtruhe hat uns allen gut getan. Wir sind voller Elan. Aber du…« Raia mustert Liam: »Du siehst ein wenig müde aus.« Liam weicht ihrem Blick aus. Er kann jetzt nicht zwischen Tür und Angel mit ihr über die komplizierten Dinge reden, die er eben Nonosan anvertraut hat. Doch er würde ihr gern von dem mysteriösen nächtlichen
Geräusch berichten. Da kommt Ana schon wieder auf die beiden zu. Prüfend reibt sie den Stoff von Raias Kleidung zwischen Daumen und Zeigefinger. Zu Liam gewandt, sagt sie: »Die sind bereits gut. Und deine Sachen sind auch bald so weit.« Danach plaudert sie fröhlich über dies und jenes, bis Liam sich ebenfalls anziehen kann. Die Sache mit dem Geräusch hat er längst vergessen. Als Liam fertig ist, wirft Nel Raia und ihm ein kurzes Lächeln zu und sagt: »Seid vorsichtig.« Liam nimmt die fürsorgliche Aufmerksamkeit der alten Frau dankbar an. Danach machen er und seine Gefährtin sich mit leeren Boxen in den Händen auf den Weg. *** Liam hat große Mühe, mit bloßen Händen einen Weg quer durch das hoch gewachsene, wuchernde Grün zu bahnen. Seine Kraft reicht kaum aus, um die starken, biegsamen Baumarme beiseite zu schaffen. Trotzdem hat er sich bereits weit in das Dickicht vorgearbeitet, als Raia hinter ihm plötzlich Halt macht. Liam bemerkt in seinem Eifer gar nicht, dass sie ihm nicht mehr folgt. Völlig außer Atem ruft sie ihm hinterher: »Warte doch!« Jetzt, da auch er stehen bleibt, merkt er, wie ihm der Schweiß in Strömen am Körper hinabläuft. Die Kleidung klebt förmlich an seiner Haut. Liam blinzelt zum Himmel hoch. Bald wird das Tagauge seinen höchsten Stand erreicht haben und die Hitze noch unerträglicher machen, denkt er mit Schaudern. Bei dieser drückenden Hitze ist es schwierig, zu atmen. Immer wieder schlagen seine Hände nach lästigen Plagegeistern, die es in Scharen auf ihn und Raia abgesehen haben. Er blickt zu Raia zurück. Sie hat mittlerweile wieder aufgeschlossen und fragt schnaufend: »Bist du sicher, dass das eine effektive
Methode ist, um Nahrung zu finden – einfach aufs Geratewohl in die Wildnis?« Doch Liam wehrt die Zweifel ab. »Mag sein, dass es systematischere Möglichkeiten gäbe, aber mir erscheint am wichtigsten, dass wir zu den anderen zurückfinden. Wir sind bisher immer geradeaus in eine Himmelsrichtung gegangen.« Das klingt plausibel. Raia greift nach ihrem Kleidungsoberteil, das sie sich um die Hüfte gebunden hat, und wischt sich damit den Schweiß aus dem Gesicht. Nach vorn deutend sagt sie: »Also gut, aber wenn wir auf dieser Strecke binnen der nächsten halben Stunde nichts finden, kehren wir um und setzen die Suche in einer anderen Richtung fort. Einverstanden?« Liam stimmt ihr zu. Danach setzen sie erneut gemeinsam ihren beschwerlichen Weg fort. Während sie stumm Stück um Stück vordringen, lässt Liam seine Gedanken schweifen. Sie gelangen schließlich bis zu den Ursprüngen ihres Abenteuers. Er rätselt über das Tagebuch, das der Gruppe so ungeheuer viel bedeutet und das letztlich auch dafür verantwortlich ist, dass sie sich hier den Unwegbarkeiten der Wildnis aussetzen. Nach einer Weile bricht er das Schweigen und fragt Raia: »Wie war das eigentlich mit Jez Lynns Aufzeichnungen – wer hat sie gefunden und wo waren sie?« Raia antwortet: »Sid fand bei Wartungsarbeiten unser Versteck und dort in einer Nische das Buch. Die ersten Seiten lagen verstreut herum und waren im Laufe der vielen Phasen von der Feuchtigkeit und anderen Einflüssen unleserlich geworden. Deshalb ist das Buch bedauerlicherweise unvollständig. Doch die wichtigsten Teile sind erhalten geblieben.« Liam nickt nachdenklich. »Und du… wie bist du überhaupt zu der Gruppe gestoßen?« Raia macht erneut Halt. Während Liam die beiden Boxen abstellt, die er die ganze Zeit getragen hat, hockt Raia sich hin und stützt ihre Arme auf die
Knie. »Das habe ich Nonosan zu verdanken. Die Verwaltung beauftragte mich ihn in seiner Werkeinheit aufzusuchen. Er wollte Musik mit Hilfe von Devisoren in Bilder umsetzen und die Werkeinheit Synästhesie schien ihm wie geschaffen für diese Idee. So lernten wir uns kennen. Während wir aber an unserem Projekt arbeiteten, ließ Nonosan sich zwischenzeitlich vom System trennen. Zunächst fiel mir die Veränderung an ihm gar nicht auf, aber dann, als ich es merkte, begann ich Fragen zu stellen. Erst nach einigem Zögern verriet er mir, was dahinter steckte. Schließlich nahm er mich eines Tages mit zum Versteck. Zu jener Zeit war es noch relativ einfach, ohne großes Risiko dorthin zu gelangen. So hatte ich die Gelegenheit, es mir in aller Ruhe zu überlegen. Dann schloss ich mich der Gruppe an und bald wuchs in mir der Wunsch, dich ebenfalls dazuzuholen – was, wie du leider erfahren hast, weitaus schwieriger war als erwartet. Mittlerweile hatte ja das System festgestellt, dass einige Bewohner plötzlich ›unsichtbar‹ geworden waren. Darum haben sie dich nach meinem Verschwinden intensiv im Auge behalten.« Liam stutzt. »Heißt das, ich war die ganze Zeit seit deinem Verschwinden unter Beobachtung, weil sie dich und die anderen aufzuspüren hofften?« Raia sieht zu Boden. »Es tut mir Leid. Ich hatte zunächst selbst keine Ahnung. Sie müssen begriffen haben, dass nicht nur einzelne Bewohner verschwanden, sondern auch jeweils deren Gefährten. Da du mir aber wichtig warst und ich absolut nicht ohne dich gehen wollte…« Bei Raias letzten Worten durchzuckt Liam ein Gefühl der Freude. Spontan antwortet er: »Ich bin froh, dass wir zusammen sind und diese Dinge hinter uns gelassen haben!« Dann bückt er sich und greift nach den Boxen. »Lass uns weitermachen. Es wird Zeit, dass wir etwas finden.«
Nach einer Weile erreicht Liam als Erster eine lichte Anhöhe – und hält mitten in der Bewegung inne. So perplex ist er, dass er kaum zu atmen wagt. Raia, mehrere Meter hinter ihm, nimmt verwundert wahr, wie er dasteht und vor sich auf den Boden starrt. »Was ist?«, ruft sie. Liam reagiert nicht. Er ist unsicher. Geht von der seltsamen Kreatur wenige Schritte vor ihm eine Gefahr aus? Doch die Kreatur scheint genauso überrascht zu sein wie er. »Sag doch, was los ist«, ruft Raia noch einmal ungeduldig. Liam bittet sie mit einer langsamen Handbewegung sich ruhig zu verhalten. Ohne den Blick abzuwenden, versucht er Raia so leise wie möglich zu beschreiben, auf was er da gestoßen ist: »Es ist eine höchst seltsame Kreatur… Sie sieht aus wie ein viel zu klein geratener Bewohner. Sie hat Arme und Beine wie wir. Aber sie ist überall am Körper schwarz und weiß behaart, sogar im Gesicht… Und sie sieht mich an und gibt dabei merkwürdige Laute von sich.« Raia hält es vor Neugierde nicht mehr aus. Leichtfüßig schließt sie zu Liam auf und beobachtet nun von einem Platz nah hinter ihm die Szene. Nach kurzer Zeit beginnt sie leise zu lachen und flüstert ihm ins Ohr: »Hör doch, wie sie mit uns plappert!« Liam dreht sich mit ungläubiger Miene um, doch Raia wiederholt mit Nachdruck: »Liam, die Kreatur versucht mit uns zu sprechen.« »Bist du sicher?«, fragt Liam. »Hör genau hin.« Liam lauscht angestrengt, dann muss er zugeben, dass Raias Behauptung richtig sein könnte. Die Kreatur scheint tatsächlich auf ihre Art mit ihnen kommunizieren zu wollen. Staunend beobachtet Liam, wie Raia sich vorbeugt und furchtlos ein wenig näher heranrückt. Mit freundlicher Stimme fragt sie: »Wer bist du?«
Die Kreatur kreischt auf und wirft ein rotes Ding vor sich in den Sand. Sofort aber nimmt sie es wieder an sich und wirft es in die Luft herum. Einige Male wiederholt sie dieses Spiel. Raia und Liam sehen ihr mit wachsenden Vergnügen zu. Und dann nehmen sie endlich auch wahr, womit ihr Gegenüber beschäftigt ist: Es ist eine runde, rote Frucht. »Woher hat sie das?«, fragt Liam atemlos, zu Raia gewandt. Voller Erwartung schauen sie die Kreatur an. Doch die springt, als wollte sie die beiden necken, von ihnen weg – um gleich darauf eine Hand voll Erde zu greifen und damit nach Liam zu werfen. Liam duckt sich, aber er bleibt stehen. Seine Angst ist verflogen. Die Kreatur ist offensichtlich harmlos; und sie scheint ihrerseits mindestens so neugierig zu sein wie ihre Entdecker, sonst hätte sie bestimmt längst das Weite gesucht. »Sieh mal, Liam. Ich glaube, sie will herausfinden, wer wir sind.« Liam stöhnt auf. »Wenn sie uns nur schnell verrät, wo sie diese Frucht gefunden hat!« Raia wirft Liam einen vorwurfsvollen Blick zu und erwidert: »Lass uns erst einmal in Ruhe Kontakt aufnehmen. Einen Schritt nach dem anderen. Schließlich sind wir in ihren Lebensraum eingedrungen. Wer weiß, ob sie uns hier duldet, wenn sie glauben muss, dass wir es allein auf ihre Ressourcen abgesehen haben.« »Aus dieser Perspektive habe ich es bisher nicht betrachtet«, gibt Liam kleinlaut zu. Im selben Moment macht Raia einen kleinen Satz nach vorn. »Liam, schnell!« Anscheinend haben ihre Bemühungen Erfolg gehabt. Die quirlige Kreatur ist losgelaufen und wendet sich dabei nach ihnen um, als wollte sie ihnen zu verstehen geben, dass sie folgen sollen. Rasch setzt auch Liam sich in Bewegung. »Ich glaube, die Plappernde hat verstanden!«, ruft Raia ihm voller Begeisterung zu. Ihre Freude ist allerdings nicht von langer
Dauer: Unversehens benutzt die Plappernde ihren langen Schwanz als Kletterhilfe, um sich auf einen hohen Baum zu schwingen. Hoch oben in der Krone lässt sie sich nieder und blickt, unentwegt leise schnatternd, um sich. Ihre beiden Begleiter am Boden würdigt sie keines Blickes mehr. Außer Atem wischt sich Liam den Schweiß von der Stirn und sagt ermattet: »Was machen wir jetzt?« Raia lässt sich auf den weichen Boden fallen. Niedergeschmettert vergräbt sie ihren Kopf in den Händen. »Warte noch einen Moment. Dann gehen wir in die Richtung zurück, aus der wir gekommen sind.« Doch erneut überrascht sie die Plappernde: Sie beginnt aufgeregt zu kreischen, klettert ein gutes Stück am Baumstamm herab, springt zu den Armen eines benachbarten, niedrigeren Baumes hinüber, hüpft dort auf und ab und kehrt dann zurück. Einige Male wiederholt sie dieses Ritual. Mit neuer Aufmerksamkeit beobachtet Raia die Kreatur. Plötzlich dreht sie sich zu Liam um und ruft mit weit aufgerissenen Augen: »Sie hat uns doch verstanden!« Hastig steht sie auf. Erst als Liam ihrem ausgestreckten Finger folgt, entdeckt auch er es: So weit das Auge reicht, hängen kleine, unscheinbare Gebilde mit leuchtend gelben Köpfen, unter denen es rot hervorleuchtet, an den Bäumen. Während Raia und Liam aus dem Staunen kaum herauskommen, springt die Plappernde auf den Boden, läuft an ihnen vorbei und sucht unter einem weiter entfernten Baum Schutz. »Ist das auch wirklich, was wir suchen?«, fragt Raia mehr zu sich selbst gewandt. Liam reckt sich hoch und pflückt vorsichtig eine der zahllosen Früchte. Argwöhnisch betrachtet er sie. »Gehen wir auf Nummer Sicher«, sagt er. »Lass uns zuerst sehen, ob die Plappernde selbst sie isst.« Raia zögert, doch sie nimmt die Frucht an sich, nähert sich damit der Plappernden und streckt sie ihr behutsam entgegen. Die Plappernde fiept und lässt Raias Hand keine Sekunde aus
den Augen. Dann reckt sie ihren Arm vor. Sie will nach dem appetitlichen Essensangebot schnappen, traut sich aber erst nach weiterem Locken Raias näher heran. Während sie sich mit dem anderen Arm und ihrem Schwanz geschickt an einem dünnen Baum festklammert, verschlingt sie die Frucht schließlich mit offenkundigem Genuss. Raia strahlt übers ganze Gesicht. Sie pflückt eine zweite Frucht ab und reicht sie Liam: »Jetzt sind wir dran. Du zuerst?« Liam nickt. Er wischt die leicht verstaubte Schale ab und führt die Frucht erst einmal an die Nase, um daran zu schnuppern. Sie duftet süß. »Und?«, fragt Raia ungeduldig. Doch Liam lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Jetzt erst steckt er die Frucht in den Mund. Nun schnappt Raia sich ebenfalls eine und kaut mit prüfendem Blick. »Mhhh!«, lautet ihr Urteil. Sie schiebt Liam die beiden Boxen hinüber und sagt: »Lass uns die zuerst füllen. Danach nehmen wir unsere eigene Ration hier vor Ort zu uns. So bleibt mehr für die anderen übrig.« Mit diesem Vorschlag ist Liam sehr einverstanden – nicht zuletzt, weil er es kaum länger ausgehalten hätte. Er hat das Gefühl, dass es lange her ist, seit er zuletzt ausreichend Nahrung zu sich genommen hat. Nachdem die Boxen in Windeseile prall gefüllt sind, verleibt er sich zusammen mit Raia jede weitere Frucht ein, die ihm unter die Augen kommt. So beschäftigt ist er, dass er erst nach einer Weile ein eigenartiges Kribbeln an seiner Schulter spürt. Irgendetwas scheint sich einen Weg seinen Rücken hinunterzubahnen. Vorsichtig greift er hin. Dann springt er angeekelt auf und schleudert mit einem unterdrückten Schrei ein handtellergroßes Wesen mit vielen haarigen Beinen von sich. Panisch sucht er seinen ganzen Körper nach weiteren Kreaturen dieser Art ab. Raia, die ebenfalls aufgesprungen ist, überläuft ein eiskalter Schauder. Hastig verschließt sie die beiden randvollen Boxen,
nimmt eine davon an sich und marschiert los. Über die Schulter ruft sie Liam zu: »Es reicht. Lass uns verschwinden!« Mit eiligen Schritten kehren sie zu dem Pfad zurück, den sie zuvor durch das Dickicht gebahnt haben, und blicken sich kein einziges Mal mehr um. So laufen sie eine Zeit lang, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, bis Liam ein Geräusch wahrnimmt. Er bleibt noch einmal stehen und fragt Raia: »Hörst du das?« Jetzt hört auch Raia das Plappern. Verblüfft sagt sie: »Sie muss uns gefolgt sein!« Sie schaut sich um, kann die Kreatur aber nirgends entdecken. »Wo ist sie? Kannst du sie sehen?« Auch Liam sucht. Da kommt die Plappernde bereits auf die beiden zugelaufen und bleibt wie zuvor in einer gewissen Entfernung stehen. Liam beobachtet seine Gefährtin, wie sie sich der Kreatur langsam nähert. Als sie dicht genug heran ist, fragt sie leise: »Möchtest du bei uns bleiben?« Die Plappernde brabbelt Unverständliches vor sich hin. Dann, als Raia sich abwendet und weitergeht, rennt sie hinterher. *** Am nächsten Morgen erwacht Raia früh. Schlaftrunken stützt sie sich auf die Ellenbogen und lächelt in sich hinein, als sie Kyle bemerkt, der mit weit geöffnetem Mund daliegt und leise schnarcht. Dann sieht sie, dass Nel allein auf ihrem Ruheplatz liegt. Vorsichtig schlägt sie ihre Decke zur Seite und schleicht geduckt zum Zugang. Als sie ins Freie tritt, entdeckt sie den Alten nur wenige Meter von der erkalteten Feuerstelle entfernt. Er steht mit geschlossenen Augen da, den Kopf hat er in den Nacken gelegt. Andächtig lauscht er den Geräuschen der erwachenden Lynnwelt. Auch Raia ist überwältigt von den pfeifenden, schnarrenden und kreischenden Lauten der unsichtbaren Kreaturen. Eine Weile betrachtet sie die Wände
aus dicht gewachsenem Grün ringsum. Danach nähert sie sich Nonosan mit sachten Schritten. Der alte Mann flüstert, ohne die Augen zu öffnen: »Nie habe ich etwas Vollkommeneres gehört, Raia – ein wunderbar friedliches Durcheinander, nicht wahr?« Ein glückliches Lächeln gleitet über sein Gesicht. »Ja, das ist es.« So stehen sie in einträchtigem Schweigen, bis Raia zwischen den vielen Geräuschen eines heraushört, das ihr vertraut ist. Und tatsächlich: Die Plappernde sitzt auf einem Baum! Voller Freude nähert sich Raia und entdeckt eine große, grüne Frucht auf dem Boden. Sanft fragt sie die Plappernde: »Willst du mir das geben?« Sie geht in die Hocke und betrachtet die Frucht eingehend von allen Seiten. »Das duftet köstlich.« Nun schlägt auch Nonosan die Augen auf und entdeckt die freundliche Kreatur. Er lacht vergnügt, als sie wieder zu plappern beginnt. »Wenn du sie nicht enttäuschen willst, solltest du das probieren«, sagt er. Raia beißt ein kleines Stück ab. »Es ist schmackhaft.« Sie will sich bei der Plappernden bedanken, doch die ist genauso schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht ist. Enttäuscht wendet Raia sich ab. Inzwischen sind Kyle und Ana aufgewacht. Arm in Arm stehen sie am Zugang der Baumeinheit. »Jez Lynn hat zu einem Augenblick wie diesem etwas aufgeschrieben«, sagt Ana plötzlich. Sie macht sich von ihrem Gefährten los und holt das Tagebuch. Leise zitiert sie: 5. Mai 2151 »Geliebte Meret, noch immer zähle ich jeden einzelnen Tag, an dem ich nicht mehr von der monotonen Stimme des Systems erwache, sondern von dem munteren Stimmengewirr dieser neuen Welt, deren Sprache ich erst nach und nach zu entschlüsseln vermag. Eigentlich müssten die Geräusche bis zu dir
vordringen, so laut, wie sie mich jeden Morgen von meinem Ruhelager locken! Es sind die lebhaften Kreaturen um mich herum, die, angetrieben von Lebensfreude, den Tag schwatzend miteinander beginnen. Manchmal wünschte ich, ich könnte mich unter sie mischen und meine Glücksgefühle mit ihnen teilen. Dann würde ich mich vielleicht etwas weniger einsam fühlen. Tatsächlich ertappe ich mich in den letzten Tagen zunehmend dabei, dass ich Selbstgespräche führe. Aber sei nicht besorgt, liebe Meret. Meistens bin ich zufrieden mit der Gewissheit, in guter Gesellschaft zu sein. Wenn ich nur wüsste, ob es hier noch weitere Menschen gibt! Ich wäre sogar bereit meine in mühevoller Arbeit geschaffene Wohneinheit aufzugeben, um nach ihnen zu suchen. Allerdings wären auch sie nur ein schlechter Ersatz für deine Nähe. Ach, wärst du schon hier bei mir! Liebste, verzeih mir, ich muss nun schließen. Die sengende Hitze des Tagauges macht einen Aufenthalt im Freien tagsüber nur im Schutz der Bäume erträglich…« Während Ana liest, haben sich Nel, Sid und Liam zu den anderen gesellt. Gemeinsam lassen sie die Worte Jez Lynns noch etwas nachklingen, bis Kyle die Stille unterbricht. Demonstrativ reckt und streckt er sich. »Meine Glieder brauchen einfach mehr Platz. Gestern hat die Zeit nicht mehr gereicht; lasst uns heute wie geplant weiterziehen und andere Wohnmöglichkeiten zu finden versuchen. Was Jez Lynn allein geschafft hat, werden wir zu mehreren sicher umso einfacher bewerkstelligen, nicht wahr?« Nel scheint es unangenehm zu sein, aber sie meldet sich und widerspricht Kyles Vorschlag. »Nonosan würde die Strapazen vielleicht nicht ohne Folgen überstehen. Wäre es nicht praktisch, wenn einer allein ginge und nach einem geeigneten Ort sucht? Oder zwei von euch? Ich bitte euch, lasst uns wieder hier warten, bis ihr etwas
gefunden habt, und holt uns nach.« Kyle berührt die alte Frau leicht an der Schulter. »Natürlich, Nel, entschuldige, dass ich das diesmal nicht bedacht habe. Also, es begibt sich nur ein Teil der Gruppe auf den Weg. Raia und Liam, begleitet ihr mich?« *** Liam ist kaum noch im Stande, klar zu denken. Seit Stunden marschieren Kyle, Raia und er durch die fast undurchdringliche grüne Wildnis. Er ist müde, seine Füße schmerzen. Zu allem Überfluss prasselt unaufhörlich Wasser herab, das trotz der dichten Baumwipfel bis zu ihnen herabdringt. Er weiß nicht, was ihm unangenehmer ist, die Tropfen, die unentwegt vom Himmel fallen, oder das grelle Licht des Tagauges zusammen mit dem schweißtreibenden Atem der Erde und den surrenden Plagegeistern. Insgeheim muss er sich eingestehen, dass er sich die Lynnwelt so nicht vorgestellt hatte. Nun ja, er wird wohl im Laufe der Zeit damit umgehen lernen. Liam heftet seine Augen starr auf Raias Fersen. Mittlerweile hat er sich ihrem Schritttempo angepasst. Würde Kyle nicht alle paar hundert Meter anhalten, um einen Streifen Zellulosefaden als Wegmarkierung an die niedrigen Baumarme binden, er würde bei diesem Trott mitten im Gehen einschlafen. An einer etwas lichteren Stelle schaut er mit zusammengekniffenen Augen hinauf zum Himmel. Besorgt studiert er die grauweißen Partikelhaufen, die in schnellem Tempo hoch oben vorbeiziehen, und das düstere Grau; es verrät ihm, dass es bereits dämmert. Sonderbar, diese kurzen Tage in der Lynnwelt. Dann schließt Liam wieder zu den anderen auf und verfällt in den vertrauten gleichmäßigen Schritt. Doch plötzlich schreckt er hoch: Kyle hat angehalten,
jetzt ruft er etwas. Liam schaut nach vorne. Kyle deutet auf eine dicht bewachsene Stelle, an der das Grün am Boden ihm bis zu den Hüften reicht. Die Bäume stehen hier erstmals in deutlich größerem Abstand. »Hier errichten wir unsere künftigen Ruhelager!«, ruft er. Sofort beginnen die drei geeignete Baumarme einzusammeln. In relativ kurzer Zeit haben sie eine passable Wohneinheit gezimmert. Sie ist großzügig bemessen für zwei Personen; auch der Platz ringsum ist ideal, sie können ohne weiteres mehrere solcher Wohneinheiten für den Rest der Gruppe errichten. Jetzt aber müssen sie erst einmal einen Moment ausruhen. Raia kriecht als Erste in den Unterschlupf. Ihre Kleider sind durchnässt, ihre Beine zerschunden. Kurze Zeit später folgt ihr Liam. Raia lehnt den Kopf an seine Schulter. Ermattet lauschen sie dem dumpfen Klang der Tropfen, die auf eine Decke herabprasseln; Kyle hat sie mitgebracht und schützend über ihr Ruhelager geworfen. Liam spürt den kalten Körper seiner Gefährtin. Sie zittert. Er zieht sie näher zu sich heran, um sie zu wärmen, und atmet den Duft ihrer feuchten Haare ein. Nach kurzer Zeit vernimmt er ihren ruhigen, gleichmäßigen Atem. Auch Liam ist abgekämpft, doch trotz seiner Müdigkeit beginnen ihm viele Gedanken im Kopf herumzuspuken. Was erwartet sie noch in dieser Wildnis? Wie wird es überhaupt mit ihnen weitergehen in der Lynnwelt? Wovon werden sie existieren, was wird der Inhalt ihres Lebens sein? Und nicht zuletzt: Welche Rolle werden die neu gewonnenen Gefühle dabei spielen? Gerade diese Frage treibt ihn um; denn wieder einmal spürt er eine unbestimmte Sehnsucht nach Raias Nähe. Endlich tritt auch Kyle in den schützenden Unterschlupf. Schweigend setzt er sich neben Liam und aktiviert eine Fusionszelle. Mit einer müden Geste wischt er sich über das nasse Gesicht. Er tastet nach einer Stelle an seinem Bein, an
der die Haut aufgeschürft ist und brennt. Liam, der ihn dabei beobachtet, flüstert: »Wir hätten den Zellregenerator mitnehmen sollen.« Kyle nickt. Sein Hals ist zu trocken, als dass er irgendetwas erwidern könnte. Dann sucht sein Körper Halt an Liam und im selben Moment übermannt ihn der Schlaf. So sitzt Liam, auf der einen Seite Kyle, auf der anderen Raia, und bemüht sich vergeblich Ruhe zu finden. *** Ana wartet, dass Sid von seiner Erkundung der näheren Umgebung zurückkehrt. Noch ist er nicht wieder aufgetaucht, obwohl es bereits dunkel geworden ist. Nel sieht Anas nachdenkliche Miene und fragt fürsorglich: »Alles in Ordnung?« Sie nimmt Anas Hand. »Wollen wir nicht mit der Tagebuchlektüre beginnen? Ana, ich begreife es noch immer nicht: Wir sind tatsächlich in der Lynnwelt! Um mit eigenen Augen zu sehen, was Jez Lynn aufgeschrieben hat, brauche ich nur einige Schritte zu gehen.« Mit einem Lächeln greift Ana nach dem Tagebuch und schlägt eine beliebige Seite auf. Sie beginnt zu lesen: 15. August 2151, »Meine liebe Meret, heute habe ich mich ein größeres Stück von meiner Wohneinheit entfernen müssen, um einen Baum zu finden, der essbare Früchte trug. An einer unübersichtlichen Stelle bin ich ausgerutscht und ein Stück weit einen Abhang hinuntergestürzt. Zum Glück habe ich mich nicht beschädigt. Ich mag mir gar nicht ausmalen, welche Folgen das für mich gehabt hätte. Aber stell dir vor, ich hatte während meines Sturzes das Tagebuch verloren. Der Schrecken war groß.
Sofort kehrte ich an die Stelle zurück und suchte den Hang ab; dabei hielt ich mich an einem starken Baumarm fest. Zu meiner großen Erleichterung fand ich das Buch wieder, unversehrt. Voller Freude drückte ich es an mich – schließlich ist es zur Zeit meine einzige Verbindung zu dir! Ich schloss für eine Weile die Augen und dabei nahm ich ein Rauschen in nicht allzu weiter Ferne wahr. Sofort machte ich mich auf und ließ mich von dem Rauschen leiten. Es führte mich zu einem Wasser, das aus dem Boden herausfloss und viele Meter in ein stehendes Gewässer hinabstürzte. Vorsichtig stieg ich bis nach unten. Dort angekommen, spürte ich den starken Drang, meine Kleidung abzulegen und mich ins Nass zu stürzen. Das Wasser war kühl und bei der feuchtheißen Luft eine herrliche Erfrischung! Allerdings war ich mir nicht sicher, ob ich es trinken sollte. Ich beschloss es lieber auf dem Rückweg an der Stelle zu probieren, an der es aus dem Boden trat. Und tatsächlich, es hatte einen sehr angenehmen Geschmack. Meret, nach so vielen Tagen habe ich nun auch Wasser gefunden. Ich bin nicht mehr auf die Tränen des Himmels und auf Früchte als Flüssigkeitsspender angewiesen. Du siehst, wieder habe ich ein Stück dieses Lebensraums für mich erobert. Jetzt besitze ich fast alles, was ich zum Leben hier benötige: eine Wohneinheit, Nahrung und Wasser. Nur eines fehlt mir noch zu meinem Glück – aber das weißt du ja längst…« Ana klappt das Tagebuch zu. Mit leuchtenden Augen sagt sie: »Ich bin überzeugt, dass auch wir es schaffen werden. Anders als Jez Lynn haben wir von vornherein das Glück, nicht allein zu sein. Gemeinsam haben wir die nötige Kraft, um das Leben hier zu bestehen.« Nonosan erklärt schmunzelnd: »Ich hoffe nur, dass die drei bald etwas Geeignetes zum Wohnen finden. Nel und ich
wünschen uns nämlich eine geräumige Wohneinheit. Mit Unmengen von Ruhelagern, drinnen und draußen, sodass ich überall schlummern kann.« Ana lacht, dann beginnt sie zu horchen. »Es ist ruhiger geworden. Die Nachtperiode beginnt.« Nel wirft ein: »Aber unsere Plappernde ist noch ganz munter. Hört ihr sie? Sie weicht nicht von unserer Seite.« Mit einer raschen Bewegung legt Ana das Tagebuch zur Seite und erhebt sich. Sie öffnet eine Materialbox, bricht ein kleines Stück von einem der letzten Nahrungsquader ab und greift nach einer Fusionszelle. »Ich möchte, dass sie auch einmal ein Geschenk von uns bekommt«, erklärt sie den beiden Alten. Nel erwidert: »Eine gute Idee, geh nur.« Ana läuft hinaus und leuchtet in die Dunkelheit. Inzwischen beginnen die Nachtkreaturen zu erwachen. Ihre Laute unterscheiden sich deutlich von denen der Kreaturen des Tages. Es ist, als gäbe es in der Lynnwelt zwei verschiedene Leben. Ana versucht mit dem Licht die Plappernde ausfindig zu machen, doch in diesem Moment wird sie abgelenkt von Schritten, die auf sie zukommen. Sid löst sich aus dem Dunkel und läuft auf sie zu. Schweiß perlt von seinem nackten Oberkörper ab. Beschwichtigend hebt er beide Hände in die Höhe. »Ich weiß, was du sagen willst: Ich hätte eher zurück sein sollen. Wird nicht wieder vorkommen.« Er sieht den Nahrungsbrocken in Anas Hand und stutzt. »Was hast du damit vor?«, fragt er. »Es ist für die Plappernde.« »Du solltest unsere knappe Nahrung nicht sinnlos verschwenden!« Ana verdreht die Augen. »Es ist nur ein winziges Stück.« »Ich denke doch nur an uns.« »Ich auch. Wenn wir nehmen, sollten wir auch bereit sein zu geben«, erwidert Ana trotzig. Dann wird ihr plötzlich bewusst,
dass die Plappernde verstummt ist. Sie lässt Sid einfach stehen und geht ein kleines Stück in das mittlerweile in eine schwarze Wand verwandelte Dickicht hinein. Leise ruft sie: »Wo bist du?« Doch die freundliche Kreatur reagiert auf keinen ihrer Rufe. Mit hängenden Schultern kehrt Ana zur Wohneinheit zurück. Sid, der sich neben den Zugang gesetzt hat, sagt versöhnlich: »Lass gut sein. Sie kommt bestimmt bald wieder.« Doch Ana ist ernstlich verstimmt. »Du hast sie vertrieben.« Nel, die der kleinen Auseinandersetzung gefolgt ist, nimmt Ana das Stück Nahrung aus der Hand und erhebt sich. »Sid hat es bestimmt nicht absichtlich getan. Vielleicht sollte ich auch mal an die frische Luft.« Mit diesen Worten verlässt sie die Wohneinheit. Wie immer, wenn Ana unruhig ist oder Trost braucht, nimmt sie auch jetzt wieder Zuflucht zum Tagebuch. Also zieht sie es noch einmal unter ihrem Ruhelager hervor. 26. August 2151 »Liebste Meret, heute habe ich wieder einen Ausflug zu meinem großen Wasser unternommen. Ich sehne mich ständig nach diesem Ort fern meiner vertrauten Wohneinheit, an dem ich mich dem nassen Element hingeben kann. Die aufwändigen Instandsetzungsarbeiten an meiner mittlerweile beachtlichen Wohneinheit und das sengende Licht des Tagauges verführen mich dazu. Wenn ich in das Gewässer eintauche, ist es, als würde es nicht nur meinen Körper, sondern auch meinen Geist von den Strapazen reinigen. Sorge dich nicht, Meret. Längst habe ich mich an das Klima gewöhnt und gelernt damit umzugehen. Schwere Arbeiten erledige ich für gewöhnlich in den Morgen- und Abendstunden. Der Tag gehört jenen Ausflügen oder wie die Nacht der Ruhe und der gelegentlichen Beobachtung der zahllosen Kreaturen um
mich herum. Mit großer Freude entdecke ich Tag für Tag neue farbenfrohe Wesen. Allerdings gibt es gelegentlich auch solche, die mich in ihrem Äußeren abstoßen. Doch so unterschiedlich sie auch sind, sie alle eint ihre friedfertige Natur. Ich fühle mich von ihnen aufgenommen, als sei ich einer von ihnen. Du siehst, Liebste, ich brauche niemand um mich herum. Ich bin nicht allein. Dennoch zähle ich die Tage, bis ich den Weg zurück antreten werde, um…« Ein gellender Schrei hallt durch die Nacht. Sid und Ana springen gleichzeitig auf, Nonosan, aus dem Schlaf gerissen, blickt verwirrt um sich. »Das war Neu«, flüstert Ana. Hastig greift Sid nach der Fusionszelle und stürzt los. Ana folgt ihm, während er bereits, das Licht hin- und herschwenkend, in die Finsternis leuchtet. Von Nel ist nichts zu sehen. Auf das Schlimmste gefasst, ruft Ana mit zittriger Stimme nach der alten Frau. Doch Nel reagiert nicht. »Leise!«, zischt Sid und fasst Ana gleichzeitig bei der Hand. Beide horchen. Ein kaum wahrnehmbares Wimmern leitet sie weiter. Und dann, endlich, entdecken sie die alte Frau. Völlig verstört kauert sie vor einem Busch. Mit den Händen vor dem Mund starrt sie benommen auf etwas zu ihren Füßen. Ana folgt Nels Blick: Da liegt der zerrissene Körper der plappernden Kreatur. Ana gefriert das Blut in den Adern. Abrupt wendet sie sich ab, beugt ihren Oberkörper zur Seite und übergibt sich. Während sie hustet und nach Luft schnappt, wischt sie sich den kalten Schweiß aus dem Gesicht. Etwas gefasster versucht sie schließlich einen näheren Blick auf den Kadaver zu werfen. Da bemerkt sie aus dem Augenwinkel, wie Sid mit erhobener Fusionszelle auf eine andere, weit größere Kreatur zugeht, die sich im Schutz der Dunkelheit zwischen den Bäumen verbirgt. Als er mit dem grellen Licht herantritt, faucht sie ihn an. Sid schreckt zurück. Die Kreatur nutzt die Gelegenheit, greift mit
der Schnauze nach ein paar Kadaverresten, die vor ihr auf dem Boden liegen, und flieht. Ana versucht Nel aufzurichten, die immer noch wie gelähmt dasitzt. »Wir müssen sie hier wegbringen, schnell!«, schreit sie fast hysterisch, während Sid ihr zu Hilfe eilt. Sie stützen die Alte, deren Beine immer wieder unter ihr wegsacken, von beiden Seiten und hasten gemeinsam zurück zur Wohneinheit. Unterwegs überstürzen sich Anas Gedanken. Verzweifelt versucht sie eine Erklärung für die abscheuliche Tat zu finden. Zugleich lähmt sie das Bewusstsein der eigenen Schutzlosigkeit. Was, wenn diese wilde Kreatur irgendwo lauert und nur darauf wartet, sich auch auf sie zu stürzen? Mit Mühe hält Ana die aufkeimende Panik unter Kontrolle. Doch die Furcht vor dem Unbekannten hat wie ein schleichendes Gift Besitz von ihr ergriffen. *** »Aufwachen«, flüstert Raia. Liam liegt als Einziger noch zusammengerollt auf dem feuchten Boden. Sie zerrt an seiner Schulter. »Wach auf. Wir müssen zurück!« Liam fährt hoch und reibt sich die Augen. Im ersten Augenblick weiß er gar nicht, wo er sich befindet. »Ist schon Tag?«, fragt er verschlafen. Raia nickt. »Ja. Wir müssen zurück«, wiederholt sie und verlässt den Unterschlupf. Draußen atmet sie tief den angenehmen Duft des nassen Grüns ein. Sie genießt es, zu spüren, wie die milde Luft in ihre Lunge strömt. Raia liebt die Morgenstunden in der Lynnwelt. In ihnen scheint sich die ganze Welt täglich zu erneuern. Das ist viel erfrischender als das Erwachen im System, obwohl man sich auch dort nach einem geregelten Nachtschlaf wie neugeboren fühlte. Genüsslich reckt sich Raia, zuckt aber
sofort zusammen, denn jeder ihrer Muskeln scheint sich über das unbequeme Ruhelager der letzten Stunden zu beklagen. Jetzt kommt Kyle auf sie zu und zeigt auf die undurchdringlichen weißen Partikelschwaden, die bis hinauf zu den Baumspitzen reichen. »Wenn Liam bereit ist, gehen wir los. Diese weißen Schleier werden uns den Rückweg erschweren und ihn noch länger dauern lassen.« »In welche Richtung müssen wir?«, will Liam wissen. Schulterzuckend antwortet Kyle: »Ich werde unseren gestrigen Pfad rekonstruieren. Ich gehe nicht weit, nur bis zur zweiten Markierung, die ich hinterlassen habe. Packt ihr inzwischen die Sachen zusammen.« Sofort macht er sich auf den Weg und Raia und Liam beginnen mit den Aufräumarbeiten. Raia zupft an ihrer Kleidung. »Die könnte auch trockener sein«, sagt sie. Laut lachend ergänzt sie: »Und meine Haare unterscheiden sich in Form und Farbe kaum noch von den langen, braunen Pflanzen, die überall von den Bäumen hängen.« Auch Liam lacht und rollt eine nasse Decke zusammen. Doch plötzlich horcht er auf. Im Durcheinander der Laute ringsum ertönt ein Surren, ein metallischer Ton, der nicht von einer der Kreaturen stammen kann. Hat er das nicht vor kurzem schon einmal nachts gehört? Es klingt ein bisschen wie eine der Apparaturen in seiner früheren Werkeinheit. Schnell fragt er Raia: »Hörst du das auch?« Sie lauscht aufmerksam, aber das Geräusch ist längst wieder verstummt. Raia zeigt auf den Stapel Baumarme, an dem sie hantiert hat. »Das muss ich gewesen sein.« Inzwischen ist Kyle schon einige Zeit hinter der Partikelwand verschwunden. Raia beginnt immer öfter in die Richtung zu schauen, in die er sich entfernt hat. »Er hat doch versprochen nicht weit von uns wegzugehen. Die schlechte Sicht kann ihn in die Irre führen«, sagt sie.
Am Boden kniend, blickt sie zu Liam hoch. »Wir sollten ihm folgen«, schlägt sie vor. Liam nickt zustimmend. Dann legt er die Hände an den Mund. »Kyle!« Auch Raia versucht ihr Glück. Nichts. Ratlos schauen sich die Gefährten an. »Er kann sich doch nicht in Luft auflösen!«, flucht Liam. »Was machen wir jetzt?«, fragt Raia. »Wir müssen ihn erst mal finden.« »Aber wir bleiben zusammen«, bestimmt sie schnell. Liam nickt. »Komm«, sagt er nur. Raia weicht keinen Zentimeter von seiner Seite, als er in zügigem Tempo losmarschiert. Zugleich lässt sie ihre Umgebung nicht aus den Augen. Nach einigen hundert Schritten bereits entdeckt sie, um einen Baumarm gewickelt, einen der vielen Markierungsfäden, die Kyle am Vortag angebracht hat. »Hier, unser Pfad!« »Vielleicht hat Kyle die Markierungen übersehen und sich verlaufen«, stellt Liam nüchtern fest. Er ruft wieder, lauter diesmal und mehrere Male hintereinander, doch ohne Erfolg. Langsam dämmert es ihnen: Kyle ist spurlos verschwunden. Liam lässt seinen Blick umherwandern. »Ich möchte noch einmal zurück zur Lichtung gehen. Wenn wir Glück haben, ist Kyle dorthin zurückgekehrt und wartet auf uns.« Nervös machen sich beide auf den Weg. Wenigstens ist das Wetter auf ihrer Seite, denn die weiße Wand hat sich aufzulösen begonnen. Sie können schon von weitem den Platz erkennen, an dem sie die letzte Nacht verbracht haben. Kaum aber haben sie sich bis auf ein paar Meter genähert, da wartet eine neue Überraschung auf sie: Weiter hinten zwischen zwei kleineren Bäumen springt eine vierbeinige Kreatur hervor. Sie ist offensichtlich noch sehr jung und ihre Haut ist seltsam gemustert mit schwarz umrandeten braunen Flecken auf hellem Grund. Sofort macht Raia Halt. Die Kreatur kommt maunzend auf sie zugetapst und schnuppert an ihren Beinen. Als Raia in die Hocke geht und ihr sanft über die weichen Haare streicht, leckt sie mit feuchter Zunge Raias Arm. Das
kitzelt so, dass Raia lachen muss. Fast gleichzeitig fährt sie erschrocken zusammen, denn eine weitere Kreatur bricht mit lautem Brüllen durchs Dickicht. Raia erhebt sich, kann aber zunächst nichts erkennen. Gerade beginnt die kleine Kreatur auf die Laute zu antworten, da kommt ihr doppelt so großes Abbild hervorgestürzt. Fauchend geht die Große nicht weit von Raia und Liam entfernt in Angriffsposition. Sofort schiebt Liam sich instinktiv vor seine Gefährtin. Dabei flüstert er ihr mit rauer Stimme zu: »Lass uns laufen. Sie sieht gefährlich aus.« Ohne eine Sekunde zu zögern, rennen beide los. Mit bloßen Händen bahnen sie sich einen Weg durchs Dickicht. Die Angst lässt sie kaum spüren, wie sich Stacheln in ihre Haut bohren. Immer wieder peitschen ihnen tief gewachsene Baumarme ins Gesicht. Schließlich erreichen sie eine weitere Lichtung. Schwer atmend bleiben sie stehen. Sie horchen kurz – hinter ihnen knackt und knistert es, die Kreatur scheint ihnen zu folgen. »Da lang!«, keucht Liam und läuft schon wieder weiter in eine Lücke im Unterholz hinein, die wie ein angelegter Pfad aussieht. Hier kommen sie um einiges schneller voran. Liam wirft einen prüfenden Blick zurück. Die Kreatur ist nicht zu sehen. Er bleibt noch einmal stehen, damit sie verschnaufen können. Doch schon wenige Sekunden später ertönt erneut ein bedrohliches Brüllen. Die Kreatur muss ganz in der Nähe sein! Liam packt Raia und will weiterfliehen, als völlig unerwartet zwei Gestalten aus dem Dickicht preschen. Sie rennen auf Raia und Liam zu, doch scheint ihr Interesse nicht ihnen zu gelten. Sie stoßen die beiden zu Boden und springen mit zwei Baumarmen in der Hand, an deren Enden Feuer lodert, unter lautem Geschrei auf die Kreatur los. Dabei wedeln sie heftig mit dem Feuer vor den Augen der Kreatur herum. Die brüllt noch einmal auf und nimmt fluchtartig Reißaus.
Eine Weile warten die Fremden noch, bis die Kreatur inmitten des Grüns verschwunden ist. Danach ersticken sie die Flammen an den Baumarmen und helfen Raia und Liam auf die Beine. »Seid ihr verletzt?«, fragt der jüngere von beiden. Ohne eine Antwort abzuwarten, schaut er selbst nach und stellt fest: »Anscheinend nicht.« Dann fügt er hinzu: »Übrigens, ich bin June und das ist Raul.« Raia und Liam stehen nur da und starren ihn an. Mit allem Möglichen hatten sie gerechnet, aber nicht damit, hier auf Bewohner zu treffen. Wer sind sie, wo kommen sie her? »Kommt mit, euer Freund wartet auf euch«, sagt jetzt der Ältere mit freundlicher Miene. »Seid ihr aus der Stadt?« Raia und Liam bleiben stumm, sie wissen nicht, was sie sagen sollen. Doch Raul deutet auf sie und sagt: »Das kann nicht sein, schau dir ihre Kleidung an.« June greift nach Liams Arm. »Lasst uns gehen, wie ich sehe, gibt es einiges zu klären.« Schweigend führen die beiden Fremden Raia und Liam den Weg entlang, der immer breiter wird, bis er in eine Art Platz mündet. Unterwegs mustert Liam heimlich seine Begleiter. Sie tragen ungewöhnliche Kleidung: weiße Oberteile und kurze, aus dem gleichen Stoff gefertigte Hosen. Mit bloßen Füßen laufen sie in offenen, mit Riemen versehenen Schuhen. Doch bevor Liam dazu kommt, sich darüber zu wundern, erreichen sie den Platz. Und nun traut Liam schlicht seinen Augen nicht: Vor ihnen steht eines der Autos, wie sie am langen Zugang zum Ancient Century von einem Devisor dargestellt wurden. Dieses allerdings ist kein Schrotthaufen, sondern scheint völlig intakt zu sein. Dann erkennt er auch Kyle im hinteren Teil des Sitzraums. Eilig steigt der Freund aus und läuft freudestrahlend auf Liam und Raia zu. »Seid ihr in Ordnung?«, ruft er ihnen entgegen. Liam
sieht ihn nur entgeistert an. Stammelnd fragt er: »Was hat das alles zu bedeuten?« »Sie – es sind Bewohner, sie selbst nennen sich Menschen – haben mich vor einem Jaguar in Sicherheit gebracht. Eine gefährliche Kreatur. Ich habe ihnen von euch erzählt. Und wie ich sehe, haben sie auch euch rechtzeitig gefunden und es ist euch nichts geschehen.« Kyle deutet begeistert auf das Auto. »Ihr werdet es nicht glauben, es ist nicht devisorengestützt, sondern bewegt sich allein durch das Licht der Sonne fort. So heißt das Tagauge bei diesen Leuten. Und stellt euch vor, sie leben in einer Siedlung hier mitten zwischen den Bäumen, die sie Urwald nennen.« Während Liam versucht auch nur annähernd die Hälfte von alledem zu verstehen, unterbricht June sie. »Wie ist es, fahrt ihr mit uns dorthin?« June und sein Begleiter nehmen vorne im Auto Platz. Dabei weist June auf einen dritten Menschen, der Kyle zwischenzeitlich im Wagen Gesellschaft geleistet hat, und sagt: »Das ist Terry.« Und zu Terry gewandt: »Raia und Liam.« Mit einem Lächeln begrüßt Terry die beiden Neuankömmlinge. Dann, nachdem Raia als Letzte eingestiegen ist, gewinnt das Auto mit leisem Surren an Tempo. Es ist genau das Geräusch, das Liam bereits zweimal gehört hat und auf das er sich keinen Reim machen konnte. Als sie wenige Minuten später die Siedlung erreichen, werden sie sofort von einer Schar neugieriger Kinder umringt. Nachdem Raia als Letzte den Wagen verlassen hat, bleibt sie erst einmal staunend stehen und betrachtet die zahlreichen, um einen Halbkreis herum errichteten Wohneinheiten. Sie ähneln den Hütten, die gelegentlich im Ancient Century als Dekoration den Straßenrand zierten. Diese hier stehen allerdings nicht direkt auf dem Boden, sondern sind erhöht wie auf Stelzen. Zwischen zweien der vielen Wohneinheiten ist ein relativ großer Bereich durch eine Art Wand abgeteilt,
bestehend aus dicht nebeneinander gesetzten Bäumen, an denen die Baumarme entfernt wurden. Raia lugt durch eine Lücke und erkennt dahinter eine Menge lustiger schwarzbraun-weißer Kreaturen mit nach oben hin spitz zulaufenden Gebilden an ihren Köpfen. Raia schüttelt den Kopf. Sie befinden sich in einer Siedlung mit Bewohnern, die ihre Sprache sprechen, und doch ist so vieles fremd und unbekannt. June fängt Raias ratlosen Blick auf und erklärt freundlich: »Das sind unsere Ziegen.« »Ziegen?« »Ja. Nützliche Haustiere. Anscheinend hast du noch nie welche gesehen?« Bevor Raia etwas erwidern kann, kommt ein kleines Mädchen auf sie zugestürmt. June hebt sie hoch und nimmt sie auf den Arm. »Das ist Raia«, sagt er zu ihr. Schüchtern vergräbt die Kleine ihr Gesicht in den Händen und gibt zu verstehen, dass sie wieder fort will. Kaum aber haben ihre nackten Füße den Boden berührt, kichert sie vergnügt und läuft zu den beiden anderen Neuankömmlingen, die nicht weit von Raia entfernt stehen und die Szene beobachten. »Ist sie nicht hübsch? Das ist Tonya, meine Tochter«, sagt June mit hörbarem Stolz in der Stimme. Mit brennender Neugierde blickt Raia June an. »Wer seid ihr? Was sind das für Namen, die ihr den Dingen gebt? Was ist Tochter?« Statt ihr zu antworten, dreht June sich zur Seite und zeigt auf einen groß gewachsenen Mann, der, gefolgt von drei weiteren Männern, auf sie zugeeilt kommt. Er wendet sich zunächst an Kyle, dann an die anderen und reicht ihnen die Hand. »Ich bin Alan.« Zu seinen Begleitern gewandt, bittet er: »Stellt etwas zu essen zusammen, sie sehen hungrig aus. Und Durst haben sie bestimmt auch.« Liam tritt dicht neben Raia und flüstert ihr ins Ohr: »Und eine Menge Fragen.«
Einen Augenblick bleibt er gedankenversunken stehen. Alles um ihn herum scheint aus der Bahn geraten zu sein. Die Kleidung dieser Menschen, das Auto, selbst die Wohneinheiten entsprechen beinahe identisch Dingen, wie sie im Ancient Century dargestellt waren. Und dann ist da die Frage der Fremden nach ihrer Herkunft: »Seid ihr aus der Stadt?« Welche Stadt meinten sie? Die Zentralstadt? Kennen sie das System?
CRON
Alan führt die drei Neuankömmlinge in seine Hütte. Er bittet sie auf weichen Matten um ein Möbelstück herum Platz zu nehmen. »Das ist Aki, meine Frau. Aki, das sind Raia, Liam und Kyle.« Liam mustert die Bewohnerin, die Mengen von Früchten in großen Behältern vor ihnen abstellt. »Greift zu«, lädt sie die Gäste ein. Anschließend fragt sie interessiert: »Sagt, wo habt ihr eure Siedlung?« »Wir haben nur eine kleine, provisorische Wohneinheit aus den Armen der Bäume errichtet. Wir leben nicht in einer Siedlung wie ihr«, antwortet Kyle. Als Nächstes stellt Alan ein paar Fragen. Kyle und Raia beantworten sie geduldig; Liam dagegen hört kaum zu. Ihn beschäftigt ein einziges Thema: Wie kommt es, dass Bewohner in der Lynnwelt leben, obwohl sie mit keinem Wort im Tagebuch erwähnt werden? Dafür gibt es eigentlich nur eine Erklärung. Er unterbricht Kyle mitten im Satz und fragt Alan: »Wann seid ihr geflohen?« Alan stutzt und erwidert: »Wir leben schon immer in dieser Siedlung. Wie meinst du das?« Liam wirft Kyle einen Hilfe suchenden Blick zu, da ergreift Alan noch einmal das Wort: »Also, bevor wir weiter in Rätseln sprechen, ist es vielleicht besser, wenn ihr uns einfach verratet, woher ihr kommt.« Nach einer kurzen Denkpause beginnt Kyle zu erzählen. »Nun, wir kommen aus… dem System.« Abrupt hält Alan in seiner Bewegung inne. Kyle bemerkt es und erklärt schnell: »Es ist eine andere Welt. Sie befindet sich in einem Gebäude, unermesslich groß und von einer Kuppel überdacht, so gewaltig, dass mehrere Städte mit Millionen von Bewohnern
hineinpassen. Wir haben uns vom System getrennt. Der Auslöser war das Tagebuch eines Mannes, Jez Lynn. Er berichtet von der Einzigartigkeit und Schönheit eurer Welt in Worten, die jeden, der sie liest, sofort in ihren Bann schlagen. Sie haben uns dazu verleitet, unsere Welt zu verlassen und eure aufzusuchen.« Aki, die nach einer Frucht greift, wendet sich Kyle zu. »Wer ist dieser Jez Lynn?« »Wir wissen es nicht. Nur dass er wie ihr im ›Urwald‹ lebte – und dass er einsam war und sich nach seiner Gefährtin Meret sehnte. Er muss sie irgendwo zurückgelassen haben, wahrscheinlich im System. Leider fehlen die ersten Seiten des Tagebuchs. Hin und wieder erwähnte er, dass er Meret später nachholen wolle. Das Ganze liegt sehr lange zurück.« Liam unterbricht Kyle erneut. »Lynn schreibt in seinen Aufzeichnungen von flatternden Kreaturen, von Bäumen, von allem, was wir hier mit eigenen Augen sehen können. Aber er sprach nie davon, dass er Menschen wie euch getroffen hätte. Das verstehe ich nicht.« »Wir leben schon seit vielen Generationen hier«, sagt Alan, »allerdings gibt es nur wenige Siedlungen mit einigen hundert Menschen. Die meisten…« Er hält inne. »Wir sind die letzten unserer Art.« Dann fügt er noch an: »Darf ich das Tagebuch sehen?« »Meine Gefährtin Ana hat es bei sich«, wirft Kyle ein. »Deine Gefährtin? Ist das für dich so etwas wie meine Frau für mich?«, fragt Alan interessiert. »Ich glaube schon. – Als wir uns auf die Suche machten, um einen geeigneten Platz zu finden, an dem wir dauerhafte Wohneinheiten errichten können, ließen wir Ana gemeinsam mit drei weiteren Bewohnern zurück: Nel, Nonosan und Sid. Insgesamt sind wir sieben.« »Du solltest die anderen holen. June kann dich später zu ihnen bringen. Du weißt doch, wie du sie wieder findest?«
»Ich habe Markierungen angebracht. Dazu müssen wir allerdings an die Stelle zurück, an der ihr uns aufgegriffen habt.« »Gut, am besten fahrt ihr mit dem Wagen.« »Oh, das wird Nonosan gefallen! Er ist ein alter Mann, er befindet sich in der 125. Phase seines Lebens.« »Phase? Was ist das?«, fragt Aki, die dem Gespräch aufmerksam folgt. »Dort, wo wir herkommen, gibt es einen geregelten Tag- und Nachtzyklus. Dieser Zyklus ist jeweils länger als hier. Wenn eine bestimmte Anzahl solcher Zyklen vorüber ist, beginnt eine neue Phase. Sie erstreckt sich insgesamt über 350 Tagund Nachtzyklen.« »Aha!« Aki scheint zu verstehen. »Dann bezeichnen wir eine Phase als Jahr. Ich zum Beispiel bin 22 Jahre alt. Alan ist zwei Jahre älter.« Entgeistert fragt Alan: »Sagt mal, dann ist der alte Mann über 125 Jahre alt?« Kyle kann seine Verwunderung nicht nachvollziehen. »Das ist zwar alt, aber für uns ein nicht ungewöhnlich hohes Alter.« »Ha«, lacht Alan. »Ungewöhnlich! Wir sind froh, wenn wir das 60. oder nur das 50. Lebensjahr erreichen. Unvorstellbar, dass ihr solch ein Geschenk für unsere Welt aufgegeben habt! Dann müssen es ja wirklich sehr eindrucksvolle Beschreibungen sein, die dieser Lynn hinterlassen hat.« Raia, die bisher stumm dabeigesessen hat, beginnt leise ihre Lieblingsworte Lynns zu zitieren: Spürst du… … den Atem der Erde … die Tränen des Himmels … den Kuss des Tagauges auf bloßer Haut? Spürst du…
… mich … wie ich … lebe? Spürst du… … wie ich … dich … liebe? »Das ist wunderschön.« Aki gibt Alan einen Kuss auf den Mund. »Tränen des Himmels. Eine liebevolle Umschreibung für etwas, das uns mitunter etliche Strapazen abverlangt, stimmt’s?«
»Welchen Namen gebt ihr den Tränen des Himmels?«, fragt Raia mit leuchtenden Augen. »Wir nennen es Regen. Der Atem der Erde heißt bei uns Wind und der Kuss des Tagauges, damit muss das wärmende Licht der Sonne gemeint sein«, antwortet Aki. »Und Liebe?« Aki lacht. Sie überlegt. »Das ist nicht einfach. Liebe ist nicht gleich Liebe. Was dieser Jez meint, ist sicherlich ein Gefühl, wie ich es auch für Alan empfinde.« Raia, die an den Lippen der jungen Frau hängt, tastet nach Liams Hand. »Aber ich liebe auch June, weil er mein Bruder ist. Und June wiederum Tonya, weil sie seine Tochter ist.« »Nicht so schnell«, stöhnt Raia. »Ich verstehe das nicht. So viel auf einmal. Was ist das: Bruder, Tochter? Erkläre es mir!« Sie bekommt keine Antwort darauf. Stattdessen greift Alan nach einer Frucht und reicht sie Raia. »Stärkt euch doch erst einmal. Wir haben noch viel Zeit, all diese Fragen zu klären.« Ein wenig enttäuscht führt Raia die orangerote Frucht mit samtener Hülle an ihren Mund. »Das ist ein Pfirsich«, sagt Aki. »Wir haben weiter hinten Obst und Gemüse angebaut. In guten Sommern gedeiht selbst Getreide.«
»Was sind Obst, Gemüse, Getreide?«, fragt Raia sie, brennend vor Ungeduld. »Ist Obst und Gemüse so etwas wie die Früchte, die wir den ersten Tag in der Lynnwelt gesucht haben?« Doch Aki ist jetzt erst einmal damit beschäftigt, Liam davon abzuhalten, in die längliche, gelbe Frucht zu beißen, nach der er gegriffen hat. Sie nimmt ihm die Frucht aus der Hand, löst die Schale und erläutert: »Nur das Innere ist genießbar.« Alan greift Raias Frage auf. »Du hast Recht mit dem Obst und Gemüse. Allerdings müssen wir uns nicht auf Suche danach begeben – wir haben die Nahrung in unsere Nähe geholt und produzieren sie selbst. Im Laufe von Generationen haben wir außerdem gelernt den Aufwand zu minimieren, während wir den Ertrag steigern konnten. Hier, probier mal das hier! Es ist Brot. Aus eigenem Getreide hergestellt.« Während Raia vorsichtig ein kleines Stück abbeißt, fragt Alan seinerseits: »Wie sah es denn aus bei euch im System? Ihr kennt unsere Nahrung nicht und ihr seid mit nichts von dem vertraut, was für uns selbstverständlich ist.« Kyle legt eine saftige Frucht aus der Hand. »Wir lebten in einer Stadt. Sie heißt Zentralstadt und ist Teil des Systems. Die Bewohner im System ernähren sich ausschließlich von flüssiger Nahrung, die sämtliche lebensnotwendigen Grundstoffe enthält. Jeder im System hat seine vorbestimmte Aufgabe, eine geregelte Arbeitszeit, aber auch ausreichend Freizeit. Alles funktioniert reibungslos. Doch Leben… heute denke ich, dass man unsere Existenz dort nicht so nennen konnte. Wir dienten eher der Erhaltung des Systems, immer auf der Grundlage der für alle gültigen MAXIME. Wir waren gut funktionierende, aber gefühllose Menschen.« Alan schüttelt den Kopf. »Kommt!«, ruft er plötzlich und erhebt sich. »Das ist ein guter Moment, um euch ein wenig von unserer Siedlung zu zeigen.«
Alan führt sie zum Verschlag mit den Ziegen, die Raia bereits bei ihrer Ankunft bestaunte. »Diese Ziegen geben uns Milch, ein lebenswichtiges Getränk. Wir haben uns diese Tiere zu Nutze gemacht um unseren Speiseplan zu bereichern. Ich kann euch nicht beschreiben, wie Milch schmeckt, aber ihr solltet später unbedingt davon probieren.« Liam ist mit den anderen hinausgegangen, hält sich aber deutlich abseits der Gruppe. Raia nähert sich ihm und fragt ihn leise: »Was ist mit dir, warum kommst du nicht mit uns?« Ebenso leise erwidert Liam: »Es war nicht gerecht, wie Kyle sich über das System geäußert hat. Es ging uns gut dort.« Raia sieht in Liams Augen und versucht zu ergründen, was in ihm vorgeht, doch Liam entzieht sich ihrem Blick und spricht auch nicht weiter. Zuletzt schließen sich beide wieder der Gruppe an. Alan führt sie weiter über den freien Platz, auf dem zahlreiche Kinder spielen. »Insgesamt leben hier 25 Familien«, erklärt er. »Wie ihr dort hinten sehen könnt, sind wir ständig damit beschäftigt, unsere Hütten in Stand zu halten. Wir holen das Material von einem nahe gelegenen Ort. Es ist zum Glück äußerst widerstandsfähig.« Als Nächstes gehen sie einen festgetretenen Pfad entlang, zwischen etlichen Hütten hindurch und einen Abhang hinunter. Unten angekommen, bleiben sie vor einer großen, abgesteckten Fläche stehen. Die Gewächse hier unterscheiden sich deutlich von dem, was sie bisher kennen gelernt haben. Sie sehen alle gleich aus und sind sauber angeordnet. »Wir haben das Getreide bewusst hier unten in der Senke angebaut, damit wir es in Trockenperioden besser vom Fluss aus bewässern können. In regenreichen Zeiten ist das aber nicht notwendig, weil sich das Wasser hier unten sammelt und wir uns nicht darum kümmern müssen. Für die Bewässerung haben wir eigens Kanäle angelegt. Wisst ihr, früher war Ackerbau im
Urwald ein ertragloses Unterfangen. Diesen Erfolg haben wir dem Wissen vieler Generationen zu verdanken. Die Männer und Frauen, die sich hier tagtäglich um die Pflanzen kümmern, folgen einem gemeinsam abgesprochenen Plan, der jeden seinen Fähigkeiten entsprechend an den Arbeiten beteiligt. Ihr seht, selbst unsere alten Mitmenschen gehen mit leichteren Tätigkeiten zur Hand.« Alans Worte erinnern Kyle plötzlich an Nonosans Bitte, ihm eine nützliche Aufgabe zuzuweisen. Rasch sagt er zu seinem Begleiter: »Wenn wir eine Weile bei euch bleiben dürfen, würden wir uns gerne an den Arbeiten beteiligen. Selbst unser alter Nonosan und seine Gefährtin könnten Hand anlegen.« Lachend legt Alan eine Hand auf Kyles Schulter. »Gern, wir können jede Hilfe gebrauchen. So, und jetzt zeige ich euch noch den Fluss. Dazu müssen wir aber ein Stück laufen.« *** Während sich die anderen nach der Besichtigung des Flusses auf den Rückweg machen, beschließen Raia und Liam noch ein wenig dort zu bleiben. Sie setzen sich ans Flussufer und lauschen dem Klang des plätschernden Wassers, dem Zirpen und Sirren in der Luft. »Da oben!« Raia zeigt zur Spitze eines besonders hohen Baumes. »Sie war wunderschön! Hast du die Farben dieser Kreatur gesehen? Dieses Rot!« Liam, der im Schneidersitz neben ihr hockt, sieht kurz hoch, dann wendet er sich stumm und gedankenverloren wieder einem rund gewaschenen Stein zu. Raia schaut ihn lächelnd von der Seite an. Sie will ihrem Gefährten Zeit lassen, die vielen neuen Eindrücke zu verarbeiten. Sanft lehnt sie sich an seine Schulter und schließt die Augen. Einen kurzen Moment öffnet sie sie noch einmal, als wolle sie sich vergewissern, dass dies alles kein Traum ist.
So etwas Schönes hat sie in ihrem ganzen bisherigen Leben noch nicht erlebt! Aber… wann hat ihr Leben überhaupt begonnen? Raia versucht sich zu erinnern, ob und wie sie sich vorher, vor ihrer Trennung vom System, gefühlt haben mag. Es gelingt ihr nicht. »Mir kommt es vor, als wäre ich schon immer hier gewesen«, sagt sie leise. »Raia, ich muss dir etwas sagen.« Liam sieht in seinen Schoß. Es fällt ihm offensichtlich schwer, seine Gedanken in Worte zu fassen. Nur zögernd beginnt er zu sprechen. »Ich bin sehr verunsichert. Ich weiß nicht, ob du verstehst, was ich meine. Es ist, als bereitete ich mich die ganze Zeit auf einen Moment vor, von dem ich nicht einmal weiß, ob er eintreffen wird. Mir fehlt etwas, woran ich mich halten kann. Etwas Greifbares, eine Ordnung, wie wir sie früher einmal hatten. Die Ungewissheit, was uns als Nächstes erwartet, hindert mich am klaren Denken. Es ist wie mit der Kleidung, die feucht vom Schweiß so an meiner Haut klebt, dass ich sie mir am liebsten auf der Stelle vom Leib reißen möchte.« Erschrocken sieht Raia ihren Gefährten an. Sie nimmt seine Hand. »Kann ich dir nicht etwas von meiner eigenen Gewissheit und Zuversicht weitergeben? Liam, lass uns Zeit, bis wir uns hier unsere eigene Ordnung geschaffen haben. Wir sind erst wenige Tage in der Lynnwelt.« Liam seufzt. »Vielleicht hast du Recht.« Plötzlich überfallen Raia Gewissensbisse. Ist Liam denn nur halbherzig mitgegangen? Hat er es nur gemacht, um ihr einen Gefallen zu tun? Hat sie einen Fehler begangen, als sie ihn aus seinem bequemen Leben ins Versteck holte und überredete mitzukommen? Inständig hofft sie, dass sie sich irrt. Es würde allzu sehr wehtun. Liam, der Raias Angst bemerkt, schüttelt verlegen den Kopf und sagt: »Ja, ich brauche wohl etwas Zeit.« Raia lehnt sich an
ihn. »Es ist doch wunderschön hier, nicht wahr? Versuch deine Zweifel zu vergessen, genieße einfach den Augenblick!« Sie blinzelt hoch zum strahlend blauen Himmel, lauscht einer Weile dem Spiel des Windes in den hohen Bäumen. »Liam, stell dir vor, wir haben unser Ziel fast erreicht. Sieh dir die Siedler an. Sie leben in einer friedlichen Gemeinschaft miteinander. Sie sind glücklich mit dem, was sie haben, obwohl sie es sich tagaus, tagein hart erarbeiten müssen, und das Leben hat für sie einen Sinn. Das möchte ich auch. Ich möchte unserem Leben einen tieferen Sinn geben, als nur einem anonymen System dienlich zu sein.« Versonnen schaut sie ihren Gefährten an. »So, wie ich sie einschätze, könnten wir vielleicht bei ihnen bleiben«, sagt sie. Sie ruft sich die Gesichter der anderen in Erinnerung. »Kyle und Ana hätten sicher nichts dagegen und Nonosan und Nel bestimmt auch nicht. Sie würden am meisten von dieser großen Gemeinschaft profitieren.« Raia lacht. »Selbst Sid könnte vielleicht eine neue Gefährtin finden. Ach Liam, ich bin so…« Sie umarmt ihn. Dicht an seinem Ohr flüstert sie: »Ich finde keine Worte für das, was ich gerade empfinde.« Dann dreht sie seinen Kopf zu sich und berührt seine Nase mit ihrer, küsst ihren Gefährten schließlich auf die Lippen. »Liam, das sind wir beide. Du und ich. Das ist Liebe. So ein Kuss ist schön, nicht wahr?« »Ja«, antwortet Liam leise. In diesem Moment lässt ein Kichern die beiden herumfahren. Tonya, die Kleine, die zu June gehört, lugt hinter einer niedrigen Pflanze hervor. Als sie merkt, dass Raia sie entdeckt hat, duckt sie sich schnell, nur um gleich darauf ein weiteres Mal ihr Gesicht hervorzustrecken. Doch schon scheint sie das Spiel wieder satt zu haben, denn sie springt ganz aus ihrem Versteck und rennt mit vergnügtem Glucksen ein Stück davon. Nun hockt sie sich auf den Pfad und beobachtet voller
Konzentration eine winzige Kreatur, die am Boden entlangkriecht. Langsam steht Raia auf und fragt: »Was hast du da? Was ist das?« »Eine Raupe. Die wird mal ein Schmetterling«, antwortet die Kleine mit wichtiger Miene. Plötzlich ruft sie: »Ein Schmetterling, ein Schmetterling, da fliegt einer!« Doch kaum hat Raia sich Tonya bis auf wenige Schritte genähert, da läuft sie endgültig davon. Ein wenig enttäuscht schaut Raia ihr nach, wie sie behände die Anhöhe hinaufklettert. Ermattet von der Hitze und den Aufregungen der letzten Stunden, schlägt sie Liam schließlich vor ebenfalls zur Siedlung zurückzukehren.
Als die beiden Alans Haus erreichen, nimmt Aki sie herzlich in Empfang. »Wenn ihr euch erholen möchtet, legt euch ruhig in unseren Schlafraum«, bietet sie an. Liam reagiert nicht darauf, sondern zeigt auf einige Männer, die offensichtlich Mühe haben, eine hohe Mauer in Stand zu setzen. »Dort drüben werden starke Hände gebraucht.« Erfreut über diese Geste nickt Aki. Raia hingegen nimmt das Angebot der Siedlerin dankend an. Aki führt sie zum Schlafraum und lässt sie dort allein. Sogleich macht es sich Raia auf einer der beiden Matten gemütlich. Während sie daliegt, schweift ihr Blick durch den Raum und bleibt an dem spärlichen Mobiliar haften: Außer den Matten gibt es noch einen hölzernen Kasten, der wahrscheinlich zum Aufbewahren persönlicher Dinge dient. Sonst nichts. Dennoch scheint Raia der Raum anheimelnd und auf eigenartige Weise vertraut. Wohlig streckt sie sich. Immer deutlicher wird ihr bewusst, dass sie sich nur eines wünscht – sie möchte von diesen Menschen lernen, sich ihre Lebensweise
aneignen und ihre Lebensfreude mit ihnen teilen. Sie spürt die wohlige Schwere, die Besitz von ihrem Körper ergreift. Und während sie daliegt und den Geräuschen Akis lauscht, fallen ihr die Augen zu. So schläft sie, bis ein lautes Surren sie weckt. Schweißgebadet steht sie auf und verlässt taumelnd den Schlafraum. Sie tritt durch den Zugang ins Freie und schaut hoch zum rotblau schimmernden Himmel: Die Hitze der eben noch sengenden Sonne weicht der abendlichen Kühle, die Dämmerung bricht herein. »June und die anderen kehren zurück«, hört sie Aki hinter sich sagen. Da fallen auch schon die Lichtkegel des Wagens auf den zentralen Platz der Siedlung. *** »Es war grauenvoll!«, sagt Ana. Der Schrecken über das furchtbare Erlebnis mit der Plappernden steht ihr immer noch ins Gesicht geschrieben. Aki versucht sie zu beschwichtigen. »Tiere folgen ihrem Instinkt. Sie kennen nur ein Ziel: ihren tagtäglich Kampf ums Überleben. Der Schwächere wird vom Stärkeren gefressen. So ist der Lauf der Dinge in dieser Welt. Dein Affe musste sterben, damit ein anderes Tier weiterleben kann. Tiere besitzen nicht die Fähigkeit, Entscheidungen durch Gefühle zu beeinflussen.« Ana greift nach Kyles Hand und sagt mit einem Seufzer der Erleichterung: »Zumindest weiß ich jetzt, was dort vorgefallen ist. Wenn ich aber bedenke, dass auch wir gegenüber manchen Tieren die Schwächeren sind…« »Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen«, unterbricht June sie. »Hier in der Siedlung seid ihr sicher. Die Tiere meiden diesen Ort. Manche können uns zwar gefährlich werden, doch sie sind von Natur aus scheu.«
Jetzt wendet Alan sich an Ana und es klingt mehr nach einer Feststellung als nach einer Frage: »Du bist Ana, die das Tagebuch hütet, nicht wahr?« Ana nickt. »Darf ich einen Blick hineinwerfen? Es interessiert mich brennend, wie dieser Mann es geschafft hat, Menschen wie euch dazu zu bewegen, dass ihr euch in solch ein Abenteuer stürzt.« Mit stolzem Lächeln zieht Ana das Tagebuch unter ihren Kleidern hervor. Alan betrachtet den Buchdeckel, dann schlägt er es auf. Er steht auf und rückt ein wenig näher an die Fackel heran, die oben in einer Ecke der Hütte hängt und Licht spendet. Nachdem er einige Male geblättert hat, fixieren seine Augen plötzlich eine Stelle im Tagebuch. Er winkt June zu sich. Gemeinsam blicken sie eine Weile wie gebannt auf das, was im Buch geschrieben steht. Während die anderen das Geschehen mit neugierigen Blicken verfolgen, hocken sich beide neben Ana und fragen: »Was sind das für Symbole?« »Wir haben keine Ahnung. Die gleichen fanden wir an einem Gerät in der Außenstation. Ich meine, in einem Bereich des Systems nahe der Lynnwelt…« Alan schweigt. Er überlegt, doch nun drängt ihn June: »Alan, wir müssen es ihnen sagen. Sie haben ein Recht darauf. Und es ist besser, sie erfahren es auf diese Weise.« Nach einer Pause, in der alle den Atem anzuhalten scheinen, klappt Alan das Tagebuch zu und sagt: »Ja. Aber vielleicht sollten wir zunächst allein mit Kyle reden und er erklärt es den anderen anschließend mit seinen eigenen Worten.« Kyle sieht die anderen an, dann Ana. »Geh nur«, flüstert sie ihm zu. Da steht Kyle auf und verlässt gemeinsam mit June und Alan die Hütte. Draußen gehen sie ein Stück. Der harzige Duft brennenden Holzes weht durch die Siedlung, Nebeldunst zieht zwischen
den Hütten auf und lässt die Nacht nicht ganz so schwarz erscheinen. »Wir wollten euch erst nicht damit konfrontieren«, beginnt Alan. »Wir haben großen Respekt vor dem, was ihr auf euch genommen habt. Aber June hat es bereits gesagt: Ihr habt ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.« Kyle schluckt. Mit einer Mischung aus Neugierde und Angst betrachtet er die beiden. Alan öffnet noch einmal das Tagebuch und deutet auf die Stelle mit den fremdartigen Symbolen. »Diese Symbole, Kyle, stammen aus einer Stadt hier ganz in der Nähe, in der demnach auch Jez Lynn irgendwann gewesen sein muss.« »Und?«, fragt Kyle verständnislos. Alan fällt es schwer, die Wahrheit in einfache Worte zu fassen. »Was wir dir gleich sagen werden, mag nicht leicht zu verstehen sein, aber du musst uns glauben.« »Redet endlich«, drängt Kyle. »Vor etwa 300 Jahren bekamen wir Besuch…« Kyle lacht auf. »Das ist doch nichts Rätselhaftes!« Doch June und Alan bleiben ernst und June wiederholt Alans Aussage mit anderen Worten: »Du verstehst nicht, Kyle. Die Menschheit… sie bekam Besuch. Von außerhalb.« Nun allerdings verschlägt es Kyle die Sprache. Ungläubig murmelt er: »Das ist nicht wahr.« Seine Hände beginnen zu zittern. Mit rauer Stimme fragt er: »Wer waren sie? Und was haben wir damit zu tun?« »Sie sind immer noch hier. Die CRON sind durchaus friedliche Kreaturen und leben in diesen Städten, aus denen wir auch gelegentlich Materialien für unsere Hütten holen.« Kyle springt auf: »Dann will ich dorthin! Ich will sie sehen.« »Wozu?«, fährt June dazwischen. »Was ich dir bisher berichtet habe, ist nur ein Teil der Wahrheit«, fährt Alan fort. »Damals, als die CRON ankamen, haben sie so genannte Systeme geschaffen. Dorthin brachten sie mit einigen wenigen
Ausnahmen alle Menschen. Es gab nur einige hundert unserer Vorfahren, denen es gelang, sich der Umsiedlung zu entziehen.« Kyle streicht sich nervös über seine mittlerweile nachgewachsenen Haarstoppeln. »Wir sind die Nachkommen dieser Geflohenen. Wir sind Siedler geworden, die gelernt haben an der Seite der CRON zu existieren, ohne von ihnen wahrgenommen zu werden. Du siehst, wir leben. Uns geht es gut. Das System, aus dem ihr kommt, ist übrigens nicht das einzige. Auch die CRON-Stadt hier in der Nähe ist nicht die einzige. Wozu die CRON die Menschen allerdings in solche Systeme verfrachteten, was sie seither dort mit ihnen machen, das hat nie jemand erfahren. Auch nicht, wie sich das Leben der Menschen dort weiterentwickelt hat. Aber zumindest darauf gebt ihr uns jetzt eine Antwort.« Kyle ringt nach Worten. Ihm ist schwindelig, er bringt keinen klaren Gedanken zu Stande. Mitfühlend schauen ihn Alan und June an. »Und jener Jez Lynn…«, ergänzt June noch, »dem ist es wohl gelungen, aus einem der Transporte in die CRON-Städte zu entkommen. Du musst wissen, dass ständig riesige Transportfahrzeuge eintreffen, die auf umgekehrtem Weg Menschen aus den Systemen in die Stadt bringen. Zum Teil bringen diese Menschen Material mit, um den großen Wohnturm der CRON zu erweitern oder zu reparieren. Wir haben beobachtet, dass viele dort mit Bauen beschäftigt sind und dazu offenbar eine gewisse Zeit bleiben. Andere dagegen verlassen die Stadt schon kurz nach ihrer Ankunft wieder. Wir wissen nicht, zu welchem Zweck sie geholt werden. Wir haben uns nie in die Angelegenheiten der CRON eingemischt. Wir sind froh, dass sie nichts von uns wissen, und so soll es auch bleiben.«
»Wie… wie sehen sie aus, die CRON?«, stammelt Kyle. »Von unseren Vorfahren gibt es keine Beschreibungen und wir selbst haben sie nie zu Gesicht bekommen. Wir wollen einfach gar nicht erst mit ihnen in Konflikt geraten.« »Aber… wenn all das so ist, wie ihr sagt, wieso wagt ihr euch überhaupt in die Stadt?«, platzt Kyle heraus. »Die Randbezirke können wir ziemlich gefahrlos betreten. Der Aufenthalt der Systemmenschen konzentriert sich auf das Stadtzentrum. Dort wiederum tragen alle die gleichen Gewänder: weiß mit roten oder blauen Streifen. Wir haben uns ähnliche angefertigt und ziehen sie über, wenn wir ausnahmsweise näher an das Stadtzentrum heranmüssen. Die CRON befinden sich in einem Gebäude, das viele 100 Meter in die Tiefe führt. Sie wagen sich so gut wie nie heraus. Sie ertragen die Hitze nicht. Immerhin hat sich die Atmosphäre in den letzten 300 Jahren um einige Grad erwärmt. In Acht nehmen müssen wir uns nur vor Wesen, welche die CRON gezüchtet haben: Sie sehen aus wie Menschen, sind aber teilweise CRON. Sie wurden geschaffen als Rasse, die den hiesigen klimatischen Bedingungen gewachsen ist. Sie sind nicht aggressiv, dennoch möchten wir nicht das Risiko eingehen, ihnen aufzufallen. Ihre einzige Aufgabe scheint darin zu bestehen, die aus den Systemen gekommenen Menschen zu beaufsichtigen.« »Mittler!«, flüstert Kyle. »Was hast du gesagt?«, hakt Alan nach. »Bei uns im System gab es Mittler. Sie haben über die Einhaltung der Regeln gewacht.« Kyle starrt Alan mit großen Augen an. »Sagt mir, wo die Stadt ist. Ich will sie sehen. Ich will wissen, weshalb sie die Bewohner dorthin bringen. Es klingt alles so – so unwirklich.« Alan seufzt. Nach einer Weile sagt er: »Wir werden dich nicht daran hindern können. Lass uns dich wenigstens begleiten.«
Kyle nickt. »Ja, danke. Und jetzt werde ich wohl mit den anderen sprechen müssen.« *** Am verabredeten Morgen treffen sich Kyle, Liam und Sid in den frühen Morgenstunden mit June. Er wird sie mit einigen wichtigen Verhaltensmaßregeln vertraut machen, die den Besuch in der CRON-Stadt so reibungslos wie möglich ablaufen lassen sollen; Liam und Sid haben darauf bestanden, ebenfalls mitzukommen. Am Ende der Unterredung nehmen die drei weiße Gewänder mit roten Streifen entgegen und ziehen sie sofort über. Dann steigen sie zusammen mit June und Alan in den Wagen ein. Kurz darauf setzt sich das Gefährt mit leisem Surren in Bewegung. Nach einer Weile biegen sie in einen befestigten Weg ein. Er ist gerade so breit, dass die Wagenräder noch einige Zentimeter Spielraum an den Seiten haben. »Wohin führt dieser Weg?«, fragt Kyle skeptisch. »Bis nah an die Stadt. Es gibt nur diese eine Zufahrt.« June lacht. »Wir haben leider auch nur diesen einen Wagen. Aber er reicht aus.« Während der Wagen holpernd den Pfad entlangrauscht, mustert Sid das Wageninnere. »Wer hat diesen Wagen gebaut? Das Material dafür muss auch aus der Stadt stammen, oder?« »Der gesamte Wagen ist von dort. Er war einigermaßen intakt, als wir ihn fanden. Trotzdem hat es uns noch etliche Arbeit gekostet, ihn wieder in Stand zu setzen. Aber wie du siehst, fährt er. Das ist die Hauptsache.« Junes letzte Worte werden überdeckt von einem Geräusch, das Sid ebenso wie Liam und Kyle bekannt vorkommt. Es nähert sich rasch und mündet in ein ohrenbetäubendes Rauschen. Die drei blicken hoch. Doch die Baumspitzen stehen so dicht beieinander, dass sie keinen Blick auf die riesige Kone freigeben, die offenbar
Kurs auf die Stadt nimmt. Liam wischt sich den Schweiß von der Stirn und sieht Sid an. »Langsam werde ich neugierig!« Doch es dauert noch einige Zeit, bis June plötzlich mitten auf dem Weg abbremst. »So, ab hier gehen wir zu Fuß, näher können wir nicht heran«, verkündet er. »Unmittelbar hinter diesem Grünstreifen liegt die Stadt. Alan und ich führen euch bis in die Außenbereiche des Stadtzentrums. Wir werden die Gelegenheit nutzen und uns wie üblich nach nützlichem Material umsehen. Inzwischen könnt ihr ein paar Nachforschungen anstellen. Aber bitte, seid vorsichtig und bringt euch nicht unnötig in Schwierigkeiten. Die Mittler, wie Kyle sie genannt hat, stehen auf einem großen Platz. Sie beaufsichtigen die Menschen, die mit den Konen gebracht worden sind. Ihr werdet sie gut erkennen können. Sie tragen keine Gewänder wie die Systemmenschen.« *** Alan bedeutet Kyle, Liam und Sid, ihm möglichst geräuschlos durch das dichte Unterholz zu folgen. Dann weist er nach vorn: Hier beginnt die Stadt. Doch was die drei zu sehen bekommen, verschlägt ihnen die Sprache: eine schwarz asphaltierte Straße, verfallene Gebäude, rostzerfressene Straßenlaternen, überall verstreut liegt jahrhundertealter Müll – Gefäße aus Metall, unidentifizierbare Gestelle, verrottete Fortbewegungsmittel auf Rädern. Das Grün hat von den verfallenen Gemäuern aus Stein Besitz ergriffen und tritt aus allen nur erdenklichen Ritzen heraus. Selbst mitten auf den Straßen wachsen Bäume und Sträucher. Liam steht da und staunt. Leise flüstert er Kyle zu: »Das ist doch…« »Genau«, gibt Kyle zurück. »Wie ein detailgetreues Abbild vom Ancient Century, nicht wahr?« Langsam nähern sie sich
den ersten Ruinen, die links und rechts entlang der einsamen Zufahrtsstraße stehen. Der Asphalt dampft bereits unter der Hitze des Sonnenlichts. Weit und breit ist kein Lebewesen zu sehen. Liam beschleicht ein seltsames Gefühl. Plötzlich erklingen in seiner Phantasie die typischen Geräusche der Eingangspassage zum Ancient Century. Gelächter von freizeithungrigen Bewohnern. Wie mag es hier wohl ausgesehen haben vor mehreren 100 Jahren, als noch Menschen in der Stadt lebten? Dann biegen sie um eine Ecke. Die Szene verändert sich schlagartig: Gepflegte Bauten säumen eine Prachtallee und auf der gegenüberliegenden Seite eines weitläufigen Platzes zieht ein gigantisch hohes, nach oben hin spitz zulaufendes Gebäude Liams Blicke auf sich. Es entspricht der Art nach denen, die Liam vom System her kennt, und es scheint aus dem gleichen bläulich schimmernden Titaniumverbundstoff zu sein wie vieles im System. Liam bewundert noch das himmelhohe Gebäude, da entdeckt er den ersten mit einem weißen Gewand bekleideten Menschen. Jetzt bleiben Alan und June stehen. »So, näher sollten wir nicht herangehen.« Stirnrunzelnd erwidert Sid: »Aber von hier aus können wir so gut wie nichts sehen.« Alan zuckt mit den Schultern. »Gut, dann lauft noch ein bisschen weiter. Ihr wisst ja, worauf ihr achten müsst. Meidet vor allem die Mittler, ja?« Sid sieht erst Kyle, dann Liam an. Beide nicken zustimmend. Kyle spricht schließlich für alle drei: »Wir gehen weiter. Das Risiko nehmen wir auf uns.« »Prägt euch diese Stelle gut ein. June und ich werden uns in der Nähe zwischen den Ruinen herumtreiben. Bleibt nicht zu lange fort und haltet euch auf jeden Fall ein Stück von dem Gebäude fern.«
Kyle, Sid und Liam marschieren weiter. Sie nähern sich ein paar Menschen, die offenbar zielstrebig auf das riesige Gebäude zusteuern. Plötzlich sagt Kyle: »Also, wenn ihr mich fragt, ich habe einen unbändigen Drang, zu wissen, was das alles zu bedeuten hat. Wir könnten einen kurzen Blick hineinwerfen und schnell wieder verschwinden.« Kyle sieht Liam und Sid an: »Was meint ihr?« Liam nickt nur. Sid antwortet an seiner Stelle: »Passend gekleidet sind wir. Und anders werden wir nie Antworten bekommen.« Plötzlich hören sie aus der Ferne erneut das Rauschen einer Riesenkone. Weit über ihren Köpfen passiert sie den großen Vorplatz und kommt auf einer Plattform über einem weiteren Gebäude zum Stehen. Als die Zusteigeluken sich öffnen, quillt ein endloser Strom von Bewohnern heraus, die alle mit dem gleichen weißen Überwurf, nur durch rote oder blaue Streifen unterschieden, bekleidet sind. Ob dort so etwas Ähnliches ist wie eine Schleusenstation mit Lift? Rasch gibt Kyle Liam und Sid ein Zeichen, dass sie unten in das Gebäude hineingehen sollen. Beide reagieren sofort. Als Liam die Halle betritt, registriert er als Erstes das vertraute, angenehme Klima. Unwillkürlich atmet er kräftig durch und genießt für einen Moment die Kühle, die in scharfem Gegensatz zur unbarmherzigen Hitze draußen steht. Sie nimmt ihm die Beklemmung, die auf seiner Brust liegt, seit er in der Lynnwelt ist. Dann schaut er sich vorsichtig um: Die Halle, in der sie stehen, ähnelt tatsächlich denen, die bei Schleusenstationen im System zu finden sind, und sie wimmelt wie im System von Bewohnern; doch gibt es weder Devisoren noch anderweitig ausgestaltete Wände. Die Bewohner, die soeben die Kone verlassen haben, haben sich zu einem langen Zug formiert und folgen jetzt den Anweisungen von
Begleitern. Diese teilen Rot und Blau und führen sie zu unterschiedlichen Hyperliften. »Verstehst du das?«, fragt Kyle leise. Liam schüttelt den Kopf. Im selben Augenblick bemerkt er, wie einer der Begleiter ihn in Augenschein nimmt. »Weiter!«, zischt er Kyle und Sid zu. »Wir werden beobachtet. Geht irgendwohin. Wir trennen uns voneinander und treffen uns nachher wieder.« *** Der Sektionsverwalter seufzt. Ein wenig widerwillig erhebt er sich aus der Sitzschale und nähert sich dem Devisor. »Sind die anderen auch dabei?« »Wir haben nur den einen aufspüren können«, antwortet die Stimme am anderen Ende. »Haltet ihn auf. Aber unauffällig. Ich benachrichtige Chalice. Sie wird sich darum kümmern.« *** Liam will sich gerade ein Stück von dem Menschenstrom entfernen, da tritt ein Begleiter auf ihn zu und spricht ihn an. »Du musst dorthin gehen!« Liam zuckt zusammen. Es hat diesen Mittler nicht kommen sehen. Mit einer freundlichen Geste weist der Mann auf eine Menschentraube, die vor einem der Hyperlifte steht. Dann wiederholt er seine Aufforderung im gleichen unverbindlichen Ton. Liam überlegt blitzschnell. Er hat keine Wahl. Wenn er sich dem Mittler jetzt widersetzt oder wegläuft, ist klar, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Also geht er scheinbar folgsam weiter und reiht sich an der angegebenen Stelle in die wartende Menge ein. Immerhin kann er sich so in Ruhe umsehen, ohne aufzufallen.
»Warum dauert es?«, will einer der Bewohner wissen und schaut sich fragend nach dem nächsten Begleiter um. Liam wendet sich ebenfalls um, doch der Begleiter beachtet die Frage gar nicht. In diesem Moment dringt ein anderer Satz an Liams Ohr: »Das ist wirklich eine wunderbare Überraschung.« Wie vom Donner gerührt, fährt Liam herum, als er die bekannte Stimme hört. Es ist Chalice. Sie steht mit ihren üblichen Begleitern hinter ihm und lächelt ihm zu. Fieberhaft sucht Liam mit den Augen nach Kyle. Der beobachtet die Szene von weitem. Liam erkennt erleichtert, dass er die Situation richtig deutet und Sid warnt. Beide ziehen sich noch ein Stück weiter zurück. »Hallo… Chalice!«, stottert Liam. »Du glaubst nicht, wie erleichtert ich bin dich zu sehen. Wo sind deine Freunde?« Chalice schaut sich forschend um. Geistesgegenwärtig antwortet Liam: »Ich bin alleine hier.« Er spürt, dass Chalice ihm nicht glaubt. Trotzdem hakt sie sich freudestrahlend bei ihm ein. »Erinnerst du dich? Wir beide vor wenigen Tagen in Soupow?« Liam kann ihre Freude nicht teilen. »Wir brauchen uns nichts vorzuspielen«, sagt er trotzig. »Ich weiß, wer du bist und warum du hier bist. Hast du keine ‘ Angst, dass ich weglaufen könnte?« »Angst?«, fragt sie zurück. »Was ist das?« Liam schweigt, deshalb fügt sie hinzu: »Du hast keinen Grund, fortzulaufen. Deine Augen verraten dein Interesse. Komm, ich will dir etwas zeigen.« Sie greift nach seinem Arm und führt ihn vom Lift weg. Gemeinsam gehen sie ein Stück die Halle entlang und ein paar Stufen hinauf zu einem Raum, der zur Stadtmitte hin offen ist. Von hier aus haben sie einen ausgezeichneten Blick auf die CRON-Stadt. Liam schaut – und ist völlig verwirrt. Anders als er erwartet hätte, sieht er hunderte von Bewohnern umherschlendern oder in Gespräche vertieft einfach nur dasitzen und den Tag genießen. Es gibt Erholungsstätten,
künstliche Parks und lebhafte Baustellen, von denen munteres Stimmengewirr herüberdringt. An alledem ist überhaupt nichts Erschreckendes. Aber hat Kyle nicht erzählt, dass die CRON die Menschen gegen ihren Willen ins System gesteckt hätten? Und dass die Siedler sich davor fürchteten, selbst eingefangen zu werden? Doch die Gesichter der Menschen in der Stadt spiegeln gelassene Zufriedenheit wider. Selbst die Mittler auf dem Platz scheinen sich zu langweilen. Liam vergleicht diesen Anblick mit den vertrauten Bildern aus dem System. Was unterscheidet die Bewohner voneinander? Chalice sieht ihm an, wie durcheinander er ist. »Es überrascht dich, nicht wahr?« »Was ist das hier? Warum kommen die vielen Bewohner in Konen her? Weshalb wollt ihr uns unbedingt aufspüren?« Gerade setzt Chalice zu einer Antwort an, da rauscht noch einmal eine Kone über sie hinweg. Liam sieht ihr nach. »Diese Kone kommt aus dem System und bringt Material, damit wir die Stadt weiter aufbauen können«, sagt Chalice. Liam betrachtet die junge Frau. Sein Herz klopft. Er will endlich Klarheit. Er packt sie am Arm und fragt: »Wer bist du?« »Ein menschliches Wesen, wie du auch!« Chalice scheint überrascht. »Du bist auch ein CRON, nicht wahr?«, fragt Liam ungeduldig. Chalice stutzt. »Woher…?« »Ich weiß es.« Chalice verstummt und beobachtet eine Weile das lebhafte Treiben unter ihnen. Plötzlich deutet sie auf eine Bewohnerin, die zu ihnen heraufwinkt, und lächelt, »Siehst du jene Frau dort unten? Ohne sie…« Chalice wendet sich Liam zu und blickt ihm tief in die Augen. »… ohne dich und die anderen könnte ich nicht existieren.«
»Weshalb nicht, wenn du doch ein Mensch bist?« »Nein«, erwidert Chalice schlicht. »Nur meine Hülle ist menschlich. Du hast Recht, in meinem Inneren bin ich eine CRON und ich bin froh darüber. Wir sind hoch stehende Wesen. Mich überzeugt die Art, wie wir unser eigenes Leben und eures respektieren. Mich überzeugt unsere Geschichte und das, was wir sind und geschaffen haben. Aber als CRON gehen wir hier ohne menschliche Enzyme zu Grunde.« »Was bedeutet das? Was macht ihr mit den vielen Bewohnern, die ihr hierher holt?«, fragt Liam. Unwillkürlich muss er an die Ziegen in der Siedlung denken und fügt hinzu: »Ihr behandelt sie wie Tiere, nicht wahr?« Chalice ist verwundert. »Aber nein«, sagt sie irritiert. »Wir geben uns große Mühe mit euch. Ihr sollt es genauso gut haben wie wir. Sieh dir diese Menschen an. Sie nehmen keinerlei Schaden, wenn wir ihnen die für uns unverzichtbaren Enzyme entnehmen. Es ist zwar bedauerlich, dass die Prozedur aufwändig und schmerzhaft ist, aber niemand wird sich im Nachhinein daran erinnern. Alle kehren ohne die kleinste Erinnerung daran in ihr geordnetes Leben im Rahmen des Systems zurück. – Ihr sichert uns die Existenz in dieser Stadt, dafür sind wir euch dankbar und geben euch, wonach ihr euch immer gesehnt habt: ein langes, unbeschwertes Leben, bei dem ihr euch in keiner Weise um Alltagsprobleme sorgen müsst.« Liam schweigt. Chalice nimmt seine Hand. »Liam, ich sehe dir an, wie dich die Zweifel quälen, ob es richtig war, das alte, geregelte Leben gegen eine Zukunft in Ungewissheit einzutauschen.« Liam starrt sie verunsichert an. »Warum tust du es dann nicht einfach?« »Du meinst, warum nehme ich dich nicht einfach mit?« »Ja.«
Chalice lacht. »Was habt ihr Menschen bloß für eine Vorstellung von uns, von Wesen außerhalb der Menschheit. Kein CRON würde jemandem etwas mit Gewalt aufzwingen.« Da ist es um Liams Fassung geschehen. Er faucht: »Verdammt noch mal, sei nicht so selbstgefällig! Ihr habt den Menschen doch wohl aufgezwungen euch zu dienen!« Chalice legt eine Hand auf seine Schulter. »Aber…« Liam macht sich los. »Was, aber? Das ist wohl etwas anderes, weil wir grundsätzlich euer Überleben damit sichern, ja?« Jetzt ist es Chalice, die die Stimme erhebt: »Was ist so falsch daran? Glaub nicht, wir hätten es uns leicht gemacht und einfach genommen, was wir brauchten. Denn nicht wir waren böse, als wir kamen. Wir waren es, die sich ständig fragen mussten, ob sie im nächsten Moment noch existieren würden. Die Menschen waren aggressiv und haben uns mit allen Mitteln versucht zu bekämpfen, statt uns zu respektieren und mit uns zu teilen. Zuletzt blieb uns nichts anderes übrig, als die Systeme zu erschaffen. Sie sind es, die uns ein friedliches Miteinander sichern. Doch zuvor haben wir uns viel Zeit genommen, euch zu studieren. Es war nicht schwer, herauszubekommen, was euer wahres Bestreben ist. Also haben wir euch befreit von Kriegsangst, Armut, Hunger und all euren Problemen. Es waren immer eure Gefühle, die euch zu Fehltaten verleiteten. Wir haben euch von dieser Last befreit. Ihr seid nicht mehr abhängig von euren Emotionen.« In diesem Moment ertönt ein lautes Signal. Liam bemerkt, dass alle Bewohner mit roten Streifen den Platz verlassen und auf die Hyperlifte zuströmen. »Was passiert mit ihnen?« Chalice zeigt auf die zurückbleibenden Bewohner mit den blauen Streifen. »Die mit dem blauen Gewand sind alle zu zweit. Es sind Bindungen. Sie sind gekommen, um neues Menschenleben entstehen zu lassen. Sie bleiben nur einen Tag. Wenn die Vereinigung erfolgreich war, werden wir die Zelle
entnehmen. Auf diese Weise erhalten wir eure Art. Die mit den roten Streifen fahren nach unten und versorgen die CRON mit den lebenswichtigen Enzymen.« »Wie viele seid ihr? Ich meine CRON.« »Ich kann dir keine Zahl nennen. Aber es sind viele. Deshalb brauchen wir auch ohne Ausnahme jeden Einzelnen von euch.« »Und wenn ich nicht zurückkehre?«, überlegt Liam laut. Chalice schüttelt den Kopf. »Das System will es so, jeder Mensch ist ein Garant für unsere Existenz.« Sie lacht Liam an. »Muss es nicht überwältigend für dich sein, zu wissen, dass du ein absolut unbeschwertes Leben führen kannst? Allein dadurch, dass du fremdes Leben ermöglichst? Es fehlt dir an nichts. Du hast eine Aufgabe, für deine Ernährung ist gesorgt und du hast eine Gefährtin. Auch wir CRON leben in Bindungen. Wenn ich mein Reifestadium erreicht habe, werde ich meinen Beitrag zur Erhaltung unserer Art leisten und ebenfalls einen Gefährten haben.« Beide beobachten schweigend den jetzt beinahe leeren Platz. »Weshalb erzählst du mir das alles?«, will Liam schließlich wissen. »Weil ich dir zeigen möchte, dass wir friedliebend sind. Dass wir nur nehmen, wenn wir auch geben. Außerdem…« Mit gesenktem Blick fährt sie fort: »… wenn du wieder am System angeschlossen bist, wirst du dich an nichts erinnern. Wir streichen die Erinnerung an die Aufenthalte bei jedem einzelnen Bewohner aus dem Gedächtnis. – Liam, sag mir, wo sind die anderen? Führe mich zu ihnen. Dann kehren wir alle gemeinsam zurück.« Liam schüttelt verzweifelt den Kopf. »Nein, das kann ich nicht!« Chalice packt Liams Hände: »Liam, deine ganze Erscheinung verrät mir, dass du der Sache nicht gewachsen bist. Wenn ich
dich so ansehe, bist du gerade im Begriff, dein Leben wegzuwerfen. Ich weiß nicht, wie es ist, aber dennoch kann ich mir vorstellen, dass du am eigenen Leib gespürt hast, was es bedeutet, den Kampf ums Überleben aufzunehmen.« Und tatsächlich tauchen einzelne Szenen vor Liams geistigem Auge auf, schwache Momente, in denen er bereits an seiner Trennung vom System zweifelte. Mochte er es sich wegen Raia nicht eingestehen? Die beklemmende Enge in den Wohneinheiten, die feucht-heiße Luft, die Furcht vor unbekannten und teilweise gefährlichen Kreaturen im Urwald und nicht zuletzt die Sorge um die tägliche Ernährung – die Mühen des neuen Lebens lassen das Angebot von Chalice in diesem Augenblick wie rettende Hände erscheinen, die Liam entgegengestreckt werden. War es denn nicht auch Freude, als er eben wieder vertrautes Terrain betrat? War er nicht erleichtert das ebenso vertraute Klima zu spüren? Liam wagt nicht Chalice anzusehen. Sie aber hebt sein Kinn und sagt gelassen: »Zwingen werde ich dich nicht. Ich will dir beweisen, dass wir so sind, wie ich es dir geschildert habe. Ich vertraue dir und deinem Verstand. Sprich mit den anderen. Ich werde auf euch warten.« *** Ein gewagter Sprung und Liam landet weich im schützenden Grün. Seine Lungen brennen. Der Schweiß läuft in Strömen an ihm herab. Plötzlich greifen zwei Hände nach ihm. Liam wehrt sich sofort, doch Kyle sagt: »Beruhige dich! Ich bin es. Sind sie hinter dir her?« Liam starrt Kyle an und schüttelt den Kopf. Hastig laufen beide zum Wagen, der längst abfahrbereit steht. Mit quietschenden Reifen fahren sie davon. Alan hat Mühe, seinen Ärger im Zaum zu halten. »Wir hatten abgemacht, dass ihr
euch in sicherer Entfernung von dem Gebäude haltet. Kyle hat mir gestanden, dass ihr sogar drinnen wart. Das ist unverzeihlich! Ihr habt dadurch die gesamte Siedlung in Gefahr gebracht.« Liam vergräbt sein Gesicht in den Händen. Sein Kopf dröhnt. Am liebsten würde er die Wahrheit herausschreien. Doch er zweifelt, ob er sie den anderen zumuten kann. Vor allem quält ihn eine Sorge: Wird Raia ihn verstehen? Als der Wagen in die Siedlung einfährt, laufen Ana und Raia ihm, gefolgt von einer Schar Kinder, entgegen. Bevor der Wagen zum Stehen kommt, fragt Kyle Liam schnell: »Was ist eigentlich passiert?« Doch Liam, unfähig seine Empfindungen in Worte zu fassen, sagt nur: »Wir müssen uns zusammensetzen. Nur nicht jetzt, später.« Dann wendet er sich Alan und June zu und sagt: »Es tut mir Leid. Ich habe einen Fehler begangen, aber ich werde das wieder in Ordnung bringen.« Danach steigt er als Erster aus. Mit schleppenden Schritten geht er auf Raia zu und nimmt sie fest in die Arme. Raia fasst Liam bei der Hand. »Lass uns ein Stück gehen«, schlägt sie vor. Langsam schlendern sie zum Ausgang der Siedlung. Erst, als sie sich weit genug von den belebten Hütten entfernt haben, setzen sie sich auf einen umgefallenen Baum. Liam beobachtet stumm, wie Raias Finger sanft über seine Hände gleiten. Er ist er völlig verwirrt. Schließlich murmelt er: »Ich weiß nicht, womit ich anfangen soll.« Raia lächelt ihn mitleidig an. »Was ist los?« »Es waren viele Bewohner in der Stadt, in diesen Gewändern. Kyle, Sid und ich sind ihnen gefolgt. Dorthin, wo die CRON leben.« Raia springt auf. »Hast du sie gesehen?« »Nein, aber…« Liam sucht nach Worten. »Chalice hat mich aufgespürt. Sie war die Mittlerin, die mich ins Ancient Century begleitete.«
Raia schreckt zusammen. Mit großen Schritten marschiert sie auf und ab. Dann geht sie vor Liam in die Hocke und fragt erregt: »Du hast also versucht ihr zu entkommen, nicht wahr? Dann sind wir alle in Gefahr! Was ist, wenn sie dir gefolgt ist und sie die Siedler entdecken?« »Raia, bitte…« »Wir müssen etwas unternehmen. Wir können nicht warten, bis sie vor uns stehen.« »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, unterbricht Liam sie. »Sie werden nicht kommen. Ich…« Liam stockt. »Was ist?«, fragt Raia nervös. Jetzt erhebt sich auch Liam. Er will Raia nicht verletzen. Nicht nach alledem, was sie für ihn auf sich genommen hat. Doch sie hat ein Recht, zu erfahren, wie es in seinem Inneren aussieht. Also gibt er sich einen Ruck und sagt: »Chalice hat mich gehen lassen… weil ich ihr mein Wort gab… mein Wort, zurückzukehren.« Liam schaut seiner Gefährtin in die Augen. Wie erstarrt hockt sie da. Er legt einen Arm um sie. »Raia, es hat nichts mit dir zu tun. Es ist meine eigene Entscheidung.« Verzweifelt schreit Raia ihn an: »Sie haben dich gezwungen! Was haben sie mit dir gemacht, Liam?« »Nichts. Es ist meine eigene freie Entscheidung«, wiederholt er. »Raia, im System hatte mein Leben einen Sinn. Ich hatte einen geregelten Tagesablauf. Dort mussten wir unser Dasein nicht jeden Tag von neuem organisieren. Hier in der Lynnwelt fühle ich mich so unsicher… Ich bin überfordert und mir ist unwohl: diese ständige Hitze, die unberechenbaren Kreaturen, dieses ungeordnete Leben. Sag mir, was ist hier meine Bestimmung?« »Liam, deine Bestimmung ist es, an meiner Seite zu sein, mich zu lieben, so wie ich dich liebe. Hier bei den Siedlern
können wir mit der Zeit ein neues, geordnetes Leben beginnen.« Liams Herz brennt wie Feuer. »Raia, du verstehst mich nicht.« »Aber Liam, ich liebe dich.« Dieses Geständnis schnürt Liam die Kehle zu. Doch sein Entschluss steht fest. Um die Situation nicht noch weiter zu verschlimmern, nimmt er Raia erneut in seine Arme und flüstert: »Mir bleibt keine andere Wahl. Wenn ich nicht zurückgehe, werden sie kommen. Dann werden sie nicht nur uns aufspüren, sondern auch die Siedler, wie du gesagt hast. Ich habe Alan und June versprochen meinen Fehler wieder gutzumachen.« »Aber Liam, es war nicht allein deine Schuld! Kyle und Sid waren auch dabei. Sicher gibt es eine andere Lösung. Lass uns mit den anderen reden.« »Raia, du verstehst nicht – ich möchte zurückkehren. Es tut mir Leid.« »Und was wird aus mir, ohne dich hier in der Lynnwelt? Ich will sie mit niemandem als mit dir teilen!« Lange noch sitzen Raia und Liam und halten sich aneinander fest. Schließlich steht Liam auf, zieht Raia zu sich hoch und flüstert: »Lass uns zu den anderen gehen und es ihnen sagen.« *** Sie sitzen im Kreis: Kyle und Ana, Nel und Nonosan, Sid und Liam und Raia. Alle sind betroffen und erschrocken über Liams Entschluss. »Hat sie irgendetwas gesagt, ich meine, etwas über die CRON, über diese Stadt und das System?«, will Nonosan wissen. Lange betrachtet Liam den alten Mann. Vielleicht werden sie eines Tages das gleiche Bedürfnis verspüren, zurückzukehren.
Was würde es nützen, wenn sie jetzt erfahren, was der Zweck des Systems ist und auf welche Weise die CRON darüber verfügen? Also verneint Liam Nonosans Frage. Anschließend erklärt er: »Ich werde ihnen sagen, dass ihr der Lynnwelt nicht gewachsen wart und die erste Zeit nicht überlebt habt. So werden sie nicht mehr nach euch suchen. Ich hoffe, Chalice glaubt mir.« »Und wann wirst du gehen?«, fragt Ana traurig. »Also, wenn es eine andere Möglichkeit gibt…«, fällt June ein im Bemühen, die Entscheidung doch noch zu beeinflussen. Auch Alan versucht Liam zu helfen: »Wenn ich gewusst hätte, dass es darauf hinausläuft, hätte ich vorhin im Wagen nicht so heftig reagiert.« Liam lächelt die beiden Siedler kurz an. »Es ist allein mein Wille. Ich bin es, der mit der Lynnwelt Probleme hat. Es hat weder mit euch noch mit den CRON noch mit Raia oder irgendwem zu tun. Aber Alan hatte Recht, wenn ich nicht gehe, könnten sie tatsächlich bald hier sein. Ich sollte rasch aufbrechen. Das vereinfacht die Situation, vor allen Dingen auch für Raia.« Liam greift nach ihrer Hand. »Alan oder June, ich bitte einen von euch mich bis zur Stadt zu bringen.« »Jetzt sofort?«, fragt June ungläubig. Liam sieht Raia an, dann nickt er June zu und erhebt sich. Doch gerade, als er gemeinsam mit June die Hütte verlassen will, sagt Raia plötzlich: »Liam.« Er dreht sich um. Auch sie steht auf. Dann sagt sie: »Ich werde mit dir gehen.« Verblüfft und ratlos sieht Liam in die Runde. »Aber Raia«, sagt er schließlich. »Was ist mit der Lynnwelt?« »Dank ihr habe ich meine Liebe zu dir entdeckt. Alles, was ich tat, tat ich, weil ich meine Zukunft mit dir teilen wollte. Und das will ich immer noch. Nur wird es eben nicht hier in der Lynnwelt sein.«
»Bist du dir sicher?« »Ja«, antwortet Raia schlicht.
Längst ist die Nacht hereingebrochen. Raia genießt es zum letzten Mal, den Duft brennenden Holzes zu riechen und die Fackeln zu sehen, mit denen die Siedler ihre Wege zwischen den Hütten beleuchten. Einen Moment lauscht Raia den Kreaturen der Nacht. Dann seufzt sie auf und wendet sich den anderen zu, die um sie herumstehen. Sie alle sind wie gelähmt bei dem Gedanken, dass in wenigen Minuten nichts mehr so sein wird, wie es einmal angefangen hat. June lässt den Wagen an. Die Siedlung wirkt wie ausgestorben. Nun beginnen sich Raia und Liam von Nel und Nonosan, von Kyle und Ana und von Sid zu verabschieden. Ana und Raia umarmen sich lange und herzlich. Ana streichelt Raias Rücken. »Wir werden immer an euch denken«, sagt sie. Dann schiebt sie etwas in Raias Hand und ballt sie zur Faust. Neugierig fragt Raia: »Was ist das?« Doch längst spürt sie, dass es eine Seite des Tagebuchs sein muss. Ana sieht sie mit traurigem Lächeln an und sagt: »Vielleicht gelingt es dir, dich damit an uns zu erinnern. Jez Lynn hat uns gelehrt, dass Liebe Jahrhunderte überdauert. Vielleicht besitzt sie ja sogar die Kraft, dem System zu widerstehen.« Liam steigt in den Wagen. Gerade will auch Raia ihm folgen, als sie noch einmal aufhorcht. Da ist es wieder, dieses liebenswerte Lachen des kleinen Mädchens. Raia schaut sich um und tatsächlich, dort steht Tonya. Kichernd hält sie eine Hand vor den Mund. Doch dann wird ihr Gesicht ernst. Langsam geht sie auf Raia zu und fragt mitleidig: »Musst du gehen?« Raia nickt kurz. Der Abschied zerreißt sie innerlich. Während sie neben Liam auf dem Rücksitz Platz nimmt, ruft Tonya plötzlich: »Ein
Schmetterling!«, und zeigt mit dem Finger auf einen kleinen Nachtfalter, der an ihnen vorüberflattert. Ein versteinertes Lächeln auf dem Gesicht, folgt Raia mit den Augen der flüchtigen Kreatur. June sieht über die Schulter nach hinten. Liam gibt ihm ein Zeichen und der Wagen setzt sich in Bewegung. Als Raia sich an Liam lehnt, legt er seinen Arm um sie und presst sie eng an sich. Bald schon haben sie die Stelle erreicht, an der June den Wagen abstellt. Raia und Liam steigen aus und verabschieden sich. Mit offenherzigem Lächeln reicht June ihnen die Hand und sagt: »Wir werden euch in Erinnerung behalten.« Als die beiden den Grünstreifen betreten, der den Urwald von der CRON-Stadt trennt, hören sie, wie sich der Wagen in Bewegung setzt. Jetzt bleibt Raia stehen und flüstert: »Warte noch einen Moment. Ich möchte ein letztes Mal deine Lippen spüren.« Sie küsst Liam. Tief bewegt erwidert er den Kuss. Raia sieht hoch zum sternenklaren Himmel und fragt: »Ob ein Devisor so etwas Schönes darstellen kann?« Liam schweigt. Nach einer Weile antwortet er: »Ich glaube nicht.« »Dann lass es uns so, wie es ist, mitnehmen. Auch unsere Gefühle. Wenn wir die Lynnwelt nicht mehr spüren, können wir sie doch in der Erinnerung bei uns tragen.« Die Worte versetzen Liam einen Stich. Obwohl er seinen Entschluss immer noch nicht bereut, schmerzt es ihn zutiefst, dass Raias Liebe zu ihm nicht nur in der Lynnwelt zurückbleiben wird, sondern dass auch alle ihre Erinnerungen daran gelöscht sein werden. Schnell versucht er diesen Gedanken zu verdrängen. »Lass uns gehen«, sagt er. Hand in Hand betreten sie die Stadt. Liam spürt, dass Raia friert. Zielstrebig führt er sie die Straßen des Außenbezirks entlang, dem Zentrum entgegen. Sie biegen in eine breite, hell erleuchtete Straße ein, die direkt zum Gebäude der CRON
führt. Liam ist sich nicht sicher, ob es Chalice ist, die ihnen plötzlich im Halbdunkel entgegenkommt. Doch sie ist es, flankiert von zwei Männern. Als sie sich gegenüberstehen, lächelt Chalice. Doch plötzlich wird sie ernst. »Wo sind die anderen?« Liam sagt mit fester Stimme: »Sie haben die Strapazen nicht überstanden. Ihr habt sie verloren.« Einen Moment mustert Chalice ihn, als würde sie ahnen, dass er nicht die Wahrheit spricht. Dann gibt sie ihren Begleitern das Zeichen zum Aufbruch. Raia aber zögert noch einmal. Chalice dreht sich zu ihr um und sagt freundlich: »Lasst uns gehen!« Weinend wendet Raia den Kopf ab. *** Schweigend steht Raia neben Liam am großen Fenster ihrer gemeinsamen Wohneinheit. Wie so oft genießen sie im Halbdunkel stehend den vertrauten Anblick. Zufrieden mit sich und ihrem Dasein beobachten sie weit unten das lebhafte Treiben der Zentralstadt. »Ihr müsst schlafen«, fordert eine Stimme beide auf. Raia und Liam stellen ihre geleerten Gläser zurück in die Nahrungsbatterie und ziehen sich in ihre Ruheräume zurück. Während Raia sich auszieht, fällt etwas zu Boden. Sie bückt sich danach und faltet das vergilbte Etwas auseinander. Spürst du… … den Atem der Erde … die Tränen des Himmels … den Kuss des Tagauges auf bloßer Haut? Spürst du… … mich … wie ich … lebe? Spürst du… … wie ich
…dich … liebe?
Als ihre Augen über das Wort Liebe gleiten, bleiben sie einen kurzen Moment daran haften. Raia spürt eine fremdartige Regung, etwas wie Sehnsucht, die jedoch genauso schnell wieder verfliegt, wie sie aufgekommen ist. Nachdenklich schaut sie ins Dunkel ihres Raumes, im Geist nach einer logischen Erklärung suchend. Doch es gibt keine. Sie beugt sich zum Entsorgungsbehälter und wirft den Papierfetzen hinein. Dann legt sie sich auf ihren Schlafplatz, deckt sich zu und sagt: »Ich bin bereit.« Im selben Augenblick spürt sie, wie wohlige Wärme ihren jungen Körper durchflutet und die Müdigkeit Besitz von ihr ergreift. Sie schläft ein, schläft tief und fest, um sich zu erholen für einen weiteren, dem System dienlichen Werktag im Jahre 2361.