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Schleiermacher-Archiv Herausgegeben von Hermann Fischer und Ulrich Barth, Konrad Cramer, Günter Meckenstock, Kurt-Victor Selge
Band 22
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Christentum - Staat - Kultur Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006 Herausgegeben von
Andreas Arndt, Ulrich Barth und Wilhelm Gräb
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Gedruckt mit Unterstützung der Schleiermacherschen Stiftung, Berlin
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-019663-4 ISSN 1861-6038 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Redaktionelle Mitarbeit: Julia Brauch, Berlin Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Vorwort Der vorliegende Band versammelt die Beiträge des 3. Internationalen Kongresses, den die Schleiermacher-Gesellschaft in Verbindung mit der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durchgeführt hat. Er fand vom 26.–29. März im Hauptgebäude der Humboldt-Universität zu Berlin, der langjährigen Wirkungsstätte Schleiermachers, zum Thema „Christentum – Staat – Kultur“ statt. Die Vorträge im Plenum und in den Sektionen waren diesen drei Themenbereichen gewidmet. Entsprechend sind sie jetzt in diesem Band auch geordnet, ohne dass wir zwischen Plenums- und Sektionsvorträgen unterschieden haben. Allen Beiträgern sei an dieser Stelle noch einmal aufrichtig gedankt, dass sie ihre Vorträge für die Veröffentlichung überarbeitet und zur Verfügung gestellt haben. Die Publikation der Kongressbeiträge wie auch schon die Durchführung des Kongresses selbst wäre ohne vielfältige Unterstützung nicht möglich gewesen. Zu danken ist zuvörderst der Fritz-ThyssenStiftung die durch einen stattlichen finanziellen Beitrag die Einladung einer so großen Zahl von Schleiermacher-Forschern aus aller Welt nach Berlin möglich gemacht hat. Zu danken ist sodann der Schleiermacherschen Stiftung, die den Kongress wie dann auch die Edition dieses Bandes ebenfalls finanziell mitgetragen hat. Zu danken ist ferner der Humboldt-Universität, in deren historischen Räumen der Kongress stattfinden konnte. Zu danken ist des Weiteren den Herausgebern des Schleiermacher-Archivs für die Aufnahme des Kongress-Bandes in diese Reihe, sowie dem Verlag Walter de Gruyter und seinem Cheflektor Dr. Albrecht Döhnert für die sorgfältige Betreuung der Drucklegung. Ein besonderer Dank gilt schließlich Frau Dr. Julia Brauch, die die Druckvorlage erstellt, Korrektur gelesen und unter Aufbietung auch ihrer fachlichen Kompetenz diese Edition zügig zum Abschluss gebracht hat. Wer am Berliner Schleiermacher-Kongress teilgenommen hat, konnte doch nicht alle Vorträge hören. Nun ist Gelegenheit, sie nachzulesen. Wie schon die Diskussionen des Kongresses selbst gezeigt haben, ist die inspirierende Kraft des Denkens Schleiermachers auf den Themenfeldern, die abgeschritten wurden, ungebrochen. Als Denker des Christentum, des Politischen und der Kultur hat er Wegmarken gesetzt, an denen wir Heutigen uns immer noch orientieren können. So darf mit die-
vi ser Veröffentlichung der Kongressbeiträge die Erwartung verbunden werden, dass sie der internationalen und interdisziplinären Schleiermacher-Forschung neue Impulse gibt und weit über den Kreis der Spezialisten hinaus das Interesse am Studium der Texte Schleiermachers weckt und fördert. Berlin und Halle, November 2007
A. Arndt, U. Barth, W. Gräb
Inhaltsverzeichnis Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . v WILHELM GRÄB Grußwort des Dekans der Theologischen Fakultät. . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 CHRISTOPH MARKSCHIES Eröffnung des Schleiermacherkongresses „Christentum – Staat – Kultur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 BISCHOF DR. WOLFGANG HUBER Kristall von Perspektiven. Grußwort zur Eröffnung des Internationalen Schleiermacher-Kongresses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 ULRICH BARTH Kongreßeröffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 VOLKER GERHARDT Eröffnungsvortrag: Christentum – Staat – Kultur. Vom säkularen Geist der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
Christentum JAN ROHLS Das Christentum – die Religion der Religionen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 CHRISTOF ELLSIEPEN Gott und Welt. Der Spinozismus von Schleiermachers ‚Dialektik‘ . . . . 91 PHILIPP STOELLGER Der Symbolbegriff Schleiermachers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 INKEN MÄDLER Schleiermachers Gottesdiensttheorie im Schnittpunkt von Kunst und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
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Inhaltsverzeichnis
MARTIN OHST Die Preußische Union und ihre politische Bedeutung. . . . . . . . . . . . . . 165 DIETRICH KORSCH Luther im Licht Schleiermachers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 JOHANNES ZACHHUBER Theologie auf historisch-religionsphilosophischer Grundlage. Ernst Troeltschs Schleiermacherinterpretation in historischem Kontext. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 THOMAS ALBERT HOWARD Philip Schaff, Church-State Relations, and the Transatlantic World . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 PETER GROVE Bewusstes Leben. Schleiermacher, Heidegger, Henrich . . . . . . . . . . . . 231 WERNER BUSCH Protestantische Frömmigkeit und bildende Kunst: Schleiermacher im Gespräch mit Caspar David Friedrich . . . . . . . . . . 253 FOLKART WITTEKIND „…die Musik meiner Religion.“ Schleiermachers ethische Funktionalisierung der Musik bis zur ‚Weihnachtsfeier‘ und seine Kritik der frühromantischen Kunstreligion. . . . . . . . . . . . . . 271
Staat WALTER JAESCHKE Schleiermacher als politischer Denker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 ARNULF VON SCHELIHA Religion, Gemeinschaft und Politik bei Schleiermacher . . . . . . . . . . . . 317 CHRISTIAN NOTTMEIER Zwischen Preußen und Deutschland. Nation und Nationalstaat bei Friedrich Schleiermacher . . . . . . . . . . . . 337
Inhaltsverzeichnis
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DENIS THOUARD Gefühl und Freiheit in politischer Hinsicht. Einige Überlegungen zu Humboldt, Constant, Schleiermacher und ihrem Verhältnis zum Liberalismus . . . . . . . . . . 355 MATTHIAS WOLFES Sichtweisen. Schleiermachers politische Theorie zwischen dem autoritären Nationalstaatsethos der Befreiungskriegszeit und dem deliberativen Konzept einer bürgerlichen Öffentlichkeit . . 375 JÖRG DIERKEN Staat bei Schleiermacher und Hegel: Staatsphilosophische Antipoden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 MICHAEL GERMANN Kirchliche Institutionen im modernen Verfassungsstaat . . . . . . . . . . . 411 RICHARD SAAGE Die Demokratie und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 SIMON GERBER Kirchliche Statistik als Soziologie des Christentums . . . . . . . . . . . . . . 443 JENS BRACHMANN Schleiermachers Kritik an der Aufklärungspädagogik . . . . . . . . . . . . 459 BIRGITTA FUCHS Das Verhältnis von Staat und Erziehung nach Schleiermacher . . . . . 475
Kultur MICHAEL WINKLER Schleiermachers Beitrag zur preußischen Erziehungsreform. . . . . . . . 497 BRENT W. SOCKNESS Cultural Theory as Ethics. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 RICHARD CROUTER Emancipation Discourse in the late 18th Century. Christian Wilhelm von Dohm on the Jews (1781) . . . . . . . . . . . . . . . . . 527
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Inhaltsverzeichnis
HANS-PETER GROSSHANS Alles (nur) Gefühl? Zur Religionstheorie Friedrich Schleiermachers . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 ANDREAS KUBIK Kulturchristentum und Apologetik. Versuch im Anschluss an Schleiermacher und Novalis . . . . . . . . . . . . 567 MAGNUS SCHLETTE Schleiermacher und Weber. Zur Ästhetisierung religiöser Erfahrung im Prozess der Entzauberung . . . . . . . . . . . . . . . 581 MICHAEL MOXTER Religion und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 SARAH SCHMIDT Plädoyer für eine Betrachtung der „Mittelzustände“ vernünftiger Tätigkeiten oder das künstlerische Denken als innere Geselligkeit . . . 613 ANDREAS ARNDT Das Verhältnis von Hermeneutik und Dialektik im Denken Schleiermachers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637
Anhang WOLFGANG VIRMOND Schleiermachers Konfirmandenunterricht. Nebst einer bislang unbekannten Nachschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653
Grußwort des Dekans der Theologischen Fakultät WILHELM GRÄB/BERLIN Verehrter Herr Ratsvorsitzender, lieber Herr Huber, Magnifizenz, lieber Herr Markschies, meine verehrten Damen und Herren, ganz herzlich begrüße ich Sie zum Berliner Schleiermacher-Kongress 2006. Die Schleiermacher-Gesellschaft veranstaltet ihn, in Zusammenarbeit mit der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität und der Berlin-Brandenburger Akademie der Wissenschaften. Als das an der Theologischen Fakultät präsente Mitglied im Vorstand der Schleiermacher-Gesellschaft hatte ich das Vergnügen, zusammen mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern diesen Kongress vorzubereiten. Ich darf Sie nun zugleich als derzeit amtierender Dekan der Theologischen Fakultät mit großer Freude willkommen heißen. Ich bin glücklich, dass so viele Schleiermacherforscher und am Werk Schleiermachers Interessierte aus aller Welt der Einladung zu diesem Kongress gefolgt sind. Dank einer stattlichen Zuwendung von Seiten der Fritz-Thyssen-Stiftung konnten wir zahlreiche exzellente, darunter auch viele junge Referenten und Referentinnen gewinnen, so dass uns in den nächsten Tagen ein hoch interessantes Programm erwartet und wir für unsere weitere Arbeit in der Schleiermacher-Forschung vielfältige Anregungen erhalten werden. Christentum – Staat – Kultur: Das Thema unseres Kongresses steckt die Felder ab, auf denen Schleiermacher an der 1810 neu gegründeten Berliner Universität gewirkt hat. Schleiermacher hat entscheidend an der Preußischen Bildungs- und Universitätsreform mitgearbeitet. Angeregt durch seine im Zusammenhang der Berliner Universitätsgründung vorgelegten Gutachten wurde die Wissenschaft auf ihre Autonomie verpflichtet und mit dem Modell der Einheit von Forschung und Lehre zugleich auf einen neuen Typ wissenschaftsförmiger Professionalisierung insbesondere der staatsnahen Berufe ausgerichtet. Zugleich hat er entscheidend zur Entfaltung der Geisteswissenschaften beigetragen und eine Entwicklung befördert, in der die Geisteswissenschaften die eigentlichen Erfahrungswissenschaften wurden, Wissenschaften vom Menschen in seiner geistigen, sozialen, geschichtlichen, religiösen und kulturellen Existenz.
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Wilhelm Gräb
Schleiermacher hat seit 1813 auch fünf Mal Vorlesungen über ‚Politik oder Staatslehre‘ gehalten. Im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe liegt uns inzwischen eine von Walter Jaeschke besorgte, muster1 gültige Edition dieser Vorlesungen vor. Mit ihnen plädierte Schleiermacher für die Begrenzung der Politik und der Machtbefugnisse des Staates, für die Autonomie von Religion und Wissenschaft. „Religion und Wissenschaft“ so erklärte er 1829, „sind bestimmt aus dem Dominium des Staates entlassen zu werden in das Gebiet der Einzelnen als solcher. Ob sie sich dann organisiren oder nicht geht den Staat nicht an; ob, wenn sie es thun er davon Notiz nimmt oder nicht hängt von Umstän2 den ab.“ Schleiermachers – auch in der Philosophischen Ethik vorgetragenes Plädoyer – für die funktionale Differenzierung von Wissenschaft und Politik, Moral und Religion, von freier Geselligkeit bzw. Zivilgesellschaft, Kirche und Staat verfolgte im wesentlichen das Interesse, Realisierungsbedingungen für individuelle Freiheit zu schaffen. Mit kritischem Seitenblick auf Hegel bestritt Schleiermacher in seinen Vorlesungen über die Lehre vom Staat, dass „die Vollständigkeit des Guten im 3 ihm sei“. Es ging ihm entschieden darum, eine Auffassung vom Staat auszuschließen, nach der „die Thätigkeit des Staates sich über die Tota4 lität des Lebens erstrecke“. Schleiermacher hat den Staat und die Wissenschaft, die Religion und die Moral in ihrer Autonomie begriffen und ihre spezifischen Funktionen differenziert, die sie auf je eigene Weise als Teilbereiche der Gesellschaft für das Wohl des Ganzen erfüllen. Ebenso hatte er aber auch bereits im Blick, dass im 19. Jahrhundert die Kulturfragen, vor allem die Ausmittlung des Verhältnisses von Religion und Kunst unter den Bedingungen einer selbständig werdenden säkularen Kultur, ein ganz neues Gewicht bekommen sollten. Die Kunst, so diagnostizierte Schleiermacher, erobert sich einen zentralen Platz im bürgerlichen Leben. Sie ist als symbolisierendes Handeln zwar konstitutiv mit dem religiösen Bewusstsein verbunden, tritt zunehmend aber auch mit dem Anspruch auf, neue, von der christlichen Tradition abgelöste, Symbolwelten zu schaffen. Die Kunst wird zur eigentlichen Manifestationsgestalt der neuen Kultur der Individualität. Sie löst sich als autonome Kunst von den inhaltlichen Vorgaben und Aufträgen der Kirche und des Hofes, wird aber gerade so das dem schöpferischen Individuum
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Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Vorlesungen über die Lehre vom Staat, hg. von Walter Jaeschke, Berlin/New York 1998 [=KGAII/8]. Ebd., 74. Ebd., 72. Ebd.
Grußwort
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angemessene Ausdruckshandeln im Selbstbewusstsein seiner individuellen Freiheit. Die autonome Kunst verliert die zuvor engen Verbindungen zur traditionellen kirchlichen Religionskultur, gewinnt zugleich jedoch eine neue Nähe zu einer individuellen Spiritualität, die Schleiermacher mit seinem transzendentalen Religionsbegriff als eine konstitutive Dimension im Selbstverhältnis bewussten Lebens begreift. In der Unmittelbarkeit des Gefühlsbewusstseins erkennt er schließlich auch den anthropologischen Ort, an dem die Kunst als die Sprache der Religion sich auf kreative Weise entfaltet. Mit den weitsichtigen Aufstellungen seiner Kulturphilosophie steht Schleiermacher bis heute für ein theologisch attraktives Konzept der Vermittlung des Christentums in die moderne Kultur. Er hat das Christentum auf der Basis seines transzendentalen Begriffs der Religion ebenso entschlossen christologisch, im exemplarischen Gottesbewusstsein Jesu, zentriert wie anthropologisch und existential neu interpretiert. Mit seiner Theorie der Frömmigkeit konnte er das Christentum in der Perspektive der mit den modernen Kulturverhältnissen vermittelten Religion beschreiben, ohne es in bloße Moral, rationalistische Welterklärung oder ästhetische Praxis aufzulösen. Christentum, Staat, Kultur, auf allen diesen großen Themenfeldern hat Schleiermacher bleibende Spuren hinterlassen. Unser Kongress wird reichlich Gelegenheit geben, sie aufzuspüren und ihnen nachzugehen. Wir werden unsere historischen Kenntnisse erweitern. Wir werden aber auch im Blick auf drängende Probleme, die sich uns heute auf den Feldern von Politik, Religion und Kultur geradezu auftürmen, Wege erkennen, die gangbar erscheinen. Bevor ich dem Kongress einen guten Verlauf wünsche und den weiteren Rednern dieser Eröffnungsveranstaltung das Wort gebe, möchte ich es jedoch nicht versäumen, all denen ganz herzlich zu danken, die geholfen haben, diesen Kongress vorzubreiten. Ich kann sie nicht alle namentlich nennen. Die Hauptlast getragen haben meine Mitarbeiter, Lars Charbonnier und Christian Nottmeier, dann vor allem Frau Siche und Frau Scheuer, denen Sie vermutlich im Tagungsbüro schon begegnet sind oder noch begegnen werden. Alle Helferinnen und Helfer haben gleich zu Beginn unseres Kongresses einen herzlichen Applaus verdient. Frau Siche und Frau Scheuer möchte ich zudem auch gerne noch in aller Form und unter Bekräftigung des Dankes von Seiten der Fakultät und der Schleiermacher-Gesellschaft einen Blumenstrauß überreichen.
Eröffnung des Schleiermacherkongresses „Christentum – Staat – Kultur“ VON CHRISTOPH MARKSCHIES/BERLIN
Verehrter Ratsvorsitzender, lieber Bischof Wolfgang Huber, Spectabilis Gräb, Herr Vorsitzender, verehrte, liebe Kolleginnen und Kollegen, als Schleiermacher im Jahre 1808 in den „Berlinischen Nachrichten“ ankündigte, „im bevorstehenden Winter […] die Theorie des Staates, seiner wesentlichen Bestandtheile, und Verrichtungen nach den in der 1 Ethik mitgetheilten Principien genauer“ entwickeln zu wollen, befand sich die ihn umgebende Welt in einem dramatischen Umbruch, keineswegs in Berlin, der Hauptstadt des geschlagenen Preußen, allein. Im Jahr zuvor, 1807, waren beispielsweise im Rahmen der preußischen Reformen auf Initiative von Hardenbergs viele ständerechtliche Privilegien gefallen, und Schleiermacher agierte in verschiedensten Funktionen als Teil dieser Reformbewegung – unnötig, vor den peritissimi hier im Saal Details auszubreiten, die abgekürzte Erinnerung mag zureichen. Als Schleiermacher sieben Jahre später in der Akademie ‚Ueber die 2 Begriffe der verschiedenen Staatsformen‘ vortrug, war schon klarer, was an diesen Reformen lediglich auf einen vorläufigen „Nothstaat“ geführt hatte – freilich sprach der Referent gar nicht über diese Entwicklung, sondern diskutierte zunächst die aus der Antike überkommenen Grundmodelle der Verfassungsformen und sodann die neuzeitlichen Termini zur Beschreibung staatlicher Gewalt. Die lediglich relative Brauchbarkeit dieser überkommenen doppelten Terminologie ergibt sich für Schleiermacher daraus, daß sie die Individualität eines konkreten Staates nicht präzise zu beschreiben vermögen, weil dieser stets vermengt, was die Begrifflichkeit künstlich separiert. Die Individualität eines Staates entwickelt sich nach Schleiermacher aber aus der naturgemäß zusammengehörigen und zusammenlebenden Masse des Volkes. 1 2
K. Nowak: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2002, 312. F. Schleiermacher: Über die Begriffe der verschiedenen Staatsformen (24. März 1814), KG. Schriften und Entwürfe Bd.11, 95–124 (= APAW. PH 1814–1815, Berlin 1818, 17–49).
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Christoph Markschies
Ich will in einem Grußwort selbstverständlich keine SchleiermacherExegese treiben, mir geht es vielmehr um etwas Grundsätzliches: So wie die erwähnte Akademieabhandlung von 1814 durch Synthesen geprägt ist, beispielsweise durch die basale Synthese von Monarchie und Demokratie, so scheint dem Altkirchenhistoriker das ganze Œuvre Schleiermachers im Blick auf die drei großen Kongreßstichworte ‚Christentum – Staat – Kultur‘ durch solche Versuche von Synthesen geprägt. Täusche ich mich, daß dieser Charakter der Synthese gerade auch für die Konjunktur wie die Kritik an Schleiermacher ursächlich verantwortlich ist? Dominiert im Diskurs der Wissenschaften die Unterscheidung, hat er es schwer, nicht nur in der Theologie. Ist Synthese angesagt, gewinnt er überraschende Aktualität und Bedeutung. Christentum und Kultur, Christentum und Staat – das sind ja, verehrte Damen und Herren, wohl die großen Stichworte nicht nur der theologischen Debatten der jüngsten Zeit, und entsprechend prominent ist Schleiermacher wieder geworden. Wir haben aber, so scheint mir, gern eine Tendenz (um es einmal metaphorisch zu sagen) stets zur Linken oder zur Rechten vom Pferd herunterzufallen, meint: jenseits nüchterner Analyse in den Geisteswissenschaften zwischen Hagiographie und Denkmalszerstörung zu oszillieren. Ich wünsche Ihnen auf diesem Kongreß vor allem solche nüchternen Analysen, die zugleich Zeitgebundenheit und Gegenwartstauglichkeit eines großen Theologen und Philosophen sichtbar werden lassen. Denn so interpretiert, vermag Schleiermacher (jedenfalls meiner Ansicht nach) zu einer ganzen Reihe von Gegenwartsproblemen interessante Anregungen zu liefern; ich 3 habe in meiner Inaugurationsrede Anfang Februar auf das nach wie vor theoretisch ungeklärte Problem des Verhältnisses von Elitebildung und Sozialverantwortung hingewiesen, das sich den Universitäten in Zeiten des Exzellenzwettbewerbs besonders drängend stellt – hier beispielsweise sind von Schleiermacher interessante Anregungen zu erwarten, natürlich keine unmittelbar gegenwartstauglichen Lösungen. In diesem Sinne begrüße ich Sie, verehrte Damen und Herren, namens der Humboldt-Universität und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sehr herzlich zu diesem Berliner Schleiermacher-Kongreß, an dem beide Institutionen über alle fachwissenschaftlichen Höhepunkte hinaus ein nachhaltiges Interesse haben. Hätten wir uns vor hundertneunzig Jahren versammelt, hätte Schleiermacher die Begrüßung namens der Universität selbst übernehmen können, da amtierte er als sechster Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität;
3
Ch. Markschies: Berliner Universitätsreformer aus zweihundert Jahren – Rede zur Inauguration als Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin, 6. Februar 2006, Öffentliche Vorlesungen, Heft 151, Berlin 2007, 8f.
Eröffnung des Schleiermacherkongresses
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hätte der Kongreß dagegen vor hundertachtzig Jahren getagt, hätte Schleiermacher als Sekretar der königlich-preußischen Akademie der Wissenschaften begrüßen können, ein Amt, das er zwanzig Jahre mit einer kurzen Unterbrechung im Jahr 1826 ausübte, obwohl er diesen 4 Titel gar nicht mochte – er sprach von einem „übel gewählten Namen“ – und daß er da nicht ganz falsch lag, sieht man schon daran, daß das Programm dieses Kongresses konsequent aus dem „Sekretar“ einen „Sekretär“ macht. Aber wie es nun gedruckt ist, so ist’s auch recht gedruckt – markiert es doch mit rein philologischen Mitteln den Abstand zwischen dem Theologen und Geisteswissenschaftler, zu dessen Ehren wir uns hier versammeln, und uns, seinen Exegeten. Für die Schleiermacher-Exegesen der kommenden Tage Ihnen allen alle guten Wünsche; ich bedauere sehr, das spannende Programm wegen einer Reise nach Zürich nur sehr partiell verfolgen zu können und hoffe – um das zum Schluß so direkt zu sagen – daher auf baldige Veröffentlichung des Kongreßbandes.
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A. Harnack: Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd.I/2, Vom Tode Friedrich’s des Großen bis zur Gegenwart, Hildesheim/New York 1970 (= Berlin 1900), 690.
Kristall von Perspektiven Grußwort zur Eröffnung des Internationalen Schleiermacher-Kongresses VON BISCHOF DR.
WOLFGANG HUBER/BERLIN
Nach Schleiermacher ist derjenige, welcher „mehr das Wissen um das Christentum in sich ausgebildet hat, ein Theologe im engeren Sinn“. Hingegen ist derjenige, „welcher mehr die Tätigkeit für das Kirchenregiment in sich ausbildet, ein Kleriker.“ (‚Kurze Darstellung‘, §10) Dieser, wie er sagt, „natürlichen Sonderung“ stellt Schleiermacher die „Idee eines Kirchenfürsten“ gegenüber, der beides, den Theologen und den Kleriker, im „möglichsten Gleichgewicht“ in sich vereint. Das ist ein Idealbild. In der Wirklichkeit steht diesem Bild ein Raub entgegen. Die Kirchenleitung raubt die Zeit für das Studium der reizvollen Details der wissenschaftlichen Theologie. Und die Eigendynamik des theologischen Betriebs raubt die Zeit dafür, die theologischen Herausforderungen wahrzunehmen, die sich aus der Tätigkeit des Kirchenregiments ergeben. Insofern kommt es einer List der Vernunft gleich, wenn der Internationale Schleiermacher-Kongress eine Gelegenheit dazu bietet, diesen Raub für eine kleine Weile zu unterlaufen. Wenn Schleiermacher an der von mir herangezogenen Stelle ausdrücklich bemerkt, dass die Kirche ohne eine lebendige Wechselwirkung zwischen Theologie im engeren Sinn und Kirchenleitung „nicht bestehen“ kann, so ist es gewiss in seinem Sinn, wenn man auch das Umgekehrte behauptet: Auch die Theologie verkümmert, wenn es ihr an dieser Wechselwirkung gebricht. Deshalb hat Schleiermacher im weiteren Fortgang seiner ‚Kurzen Darstellung des Theologischen Studiums‘, dieser bis auf den heutigen Tag in ihrer Meisterschaft unüberbotenen Schrift, das Wort „Theologie“ nur noch in einem weiteren Sinn verwendet – in einem Sinn nämlich, der die Theologie als Wissenschaft und die Theologie als Kirchenleitung gemeinsam umfasst. Die überragende Stellung Schleiermachers für die Geschichte des Protestantismus muss ich hier nicht eigens herausstellen. Sie ist anerkannt. Nur zu zwei Herausforderungen möchte ich in diesem Grußwort deshalb kurz Stellung nehmen. Sie betreffen die Rolle der Theologie im
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Wolfgang Huber
System der Wissenschaften, eine Frage, die die theologischen Fakultäten an der Universität zwischen Exzellenz und Modularisierung heftig betrifft. Und sie betreffen die Frage nach der Zukunft der Kirche, die Schleiermacher auf die unnachahmliche Formel über die Aufgaben einer „zusammenstimmenden Leitung der Kirche“ gebracht hat. Auf neue und für manche überraschende Weise ist die Theologie durch die Religionsthematik herausgefordert. Manche sind davon überrascht, dass die Menschen wieder „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ entwickeln. Wer an Schleiermacher geschult ist, wird darauf mit etwas weniger Befremden reagieren, als hier oder da zu beobachten ist. Wenn wir dabei wahrnehmen, dass manche Universitäten sich in ihrer Fächeraufstellung und Forschungspraxis auf die Religionsthematik so einstellen, dass sie neben oder mit der Theologie auf Zentren der vergleichenden Religionsforschung zustreben, dann stellt sich die Frage, welcher Ort und welche Rolle der Theologie in diesem Rahmen zukommen. Wie und mit welchen Bestimmungen wird Religion zum Thema der Theologie? Begreift man Theologie als Reflexionsform der Religion des Christentums, die sich der Aufgabe verschrieben hat, den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens zu deuten und zu interpretieren, dann läuft dies unausweichlich auf die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Wahrheit hinaus. Solche Fragen sind der Theologie im System der Wissenschaften und am öffentlichen Ort der Universität aufgegeben. Das Pensum der Arbeit, das damit heute verbunden ist und das diesen Kongress in den nächsten Tagen sicherlich beschäftigen wird, kann sich bei allen notwendigen Neuakzentuierungen ohne Zweifel auf das nahezu zwei Jahrhunderte alte Programm von Schleiermacher berufen. In Schleiermachers Werk wird der frühromantische Weichzeichner, der nach den Reden ‚Über die Religion‘ von 1799 vielleicht zu befürchten war, durch ein Kristall von Perspektiven ersetzt, wie es sich besonders in der ‚Kurzen Darstellung‘ von 1810 studieren lässt. Das in der ‚Kurzen Darstellung‘ entfaltete Wissenschaftsprogramm gehört nach meinem Urteil zu den kostbarsten Elementen, die wir dem Bemühen um eine gebildete Religion verdanken – im Erbe protestantischer Aufklärung wie eines aufgeklärten Protestantismus. Wo dieses Programm aufgenommen wird, muss uns um die Zukunft der Theologie im System der Wissenschaften und am Ort der Universität nicht bange sein. Dem ist aus der komplementären Perspektive nur eines hinzuzufügen: Die Zeiten, in denen Schleiermachers Engagement in Angelegenheiten seiner Kirche sanft bespöttelt wurde, liegen schon länger hinter uns. Ebenso wie er ein begnadeter Universitätsreformer war, hat sein Werk bahnbrechende Bedeutung für die Aufgaben der Kirchenreform.
Kristall von Perspektiven
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Er war, um es bei dem einen Hinweis zu belassen, nicht nur der erste, der das Wort „Volkskirche“ verwandte. Er war es vielmehr, der diesem Wort – im Unterschied zu manchen Späteren – einen bis heute tragfähigen Sinn verlieh: eine Kirche nämlich durch das Volk und für das Volk. Insgesamt besticht die souveräne Verknüpfung unterschiedlicher Perspektiven, die Schleiermacher für die Aufgabe, den Ort und die Gestalt der Kirche im Prozess gesellschaftlichen und kulturellen Wandels vornimmt. Realistisch und unverbraucht wirkt der Blick, mit dem er sich der Frage nach der Organisation der Kirche annimmt. Maßgeblich wird dieser Blick aber dadurch, dass er die Organisationsthematik auf das zu beziehen weiß, was gewöhnlich als polarer Gegensatz zur Organisation behandelt wird. Schleiermacher nennt es die „freie geistige Macht“, heute nennen wir es Charisma oder die schöpferische Kraft des gelebten Glaubens. Dass der Zustand eines kirchlichen Ganzen umso befriedigender ausfällt, je lebendiger Organisation und Kreativität des Glaubens ineinander greifen, durchaus „mit dem Bewusstsein ihres Gegensatzes“ (‚Kurze Darstellung‘, §314), wird man auch heute als leitenden Grundsatz anerkennen können. Ja, man möchte sich wünschen, dass manches Problem, das die Kirche auf der Suche nach Prägnanz und Profil in Zeiten knapper Mittel umtreibt, im Geiste dieses Grundsatzes beherzt aufgenommen und bearbeitet wird. Schließlich erfahren wir von Schleiermacher wohlbedachten Rat für die aktuelle Frage nach dem Zusammenhang von Religion, Bildung und Glaubenswissen, also für Religionsunterricht und Schule. Gewiss ist gerade in diesem Feld die Situation in Zeiten der geistlichen Schulaufsicht mit der heutigen Lage nicht zu vergleichen. Doch hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang zwei Gesichtspunkte, die man der beachtenswerten Berliner Dissertation von Christiane Ehrhardt zu diesem Thema entnehmen kann. Zum einen konzipiert Schleiermacher den Religionsunterricht in der Schule vorrangig unter pädagogischem, nicht unter kirchlichem Gesichtspunkt. Zum andern aber wagt er die klare Diagnose: „Wo die Tendenz ist die Schule aus der Verbindung mit der Kirche herauszureißen, ist auch das Bestreben die kirchlichen Gegenstände aus der Schule zu verdrängen.“ Den Realitätsgehalt dieser Aussage kann man gegenwärtig in Berlin studieren. Unzweideutig macht Schleiermacher im Übrigen klar, dass religiöse Bildung nicht auf Indoktrination zielt, sondern zum „freien Gebrauch des göttlichen Wortes“, anders gesagt zum mündigen Umgang mit der eigenen Religionsfreiheit befähigen will. Thema eines solchen Unterrichts ist das Christentum, „inwiefern es lehrbar ist.“ Gerade darin ist aber das Christentum auch ohne Zweifel ein Teil der allgemeinen Bil-
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Wolfgang Huber
dung. Eine Institution der allgemeinen Bildung wird nur zum eigenen Schaden auf einen solchen Unterricht verzichten. Das mag genügen, um deutlich zu machen, welches Anregungspotential Schleiermachers Theologie gerade dann enthält, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt der Balance von theologischer Wissenschaft und kirchenleitender Verantwortung betrachtet. Diese Balance aber war für Schleiermacher von so prägender Bedeutung, dass ich mir keinen Kongress über seine Theologie vorstellen kann, der von diesem Wechselverhältnis absieht. So wünsche ich Ihnen, dass Sie bei der Trias ihres Kongressthemas ‚Christentum – Staat – Kultur‘ das unumgängliche Vierte, nämlich die Wirklichkeit der Kirche, stets mitbedenken. Wenn sich darüber die außerordentliche Anregungskraft eines Berliner protestantischen Denkers für die Herausforderungen unserer Gegenwart weiter herumspricht, wird dies ein unschätzbarer Gewinn sein. Von Herzen wünsche ich Ihnen deshalb für Ihren Kongress gutes Gelingen.
Kongreßeröffnung VON ULRICH BARTH/HALLE
Magnifizenz, Spectabilis, sehr geehrter Herr Ratsvorsitzender, geschätzte Kollegen, werte Damen und Herren, liebe Mitglieder der Schleiermacher-Gesellschaft, nachdem wir bereits vom Präsidenten der Universität, vom Dekan der Theologischen Fakultät und vom Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche so freundlich begrüßt wurden, wofür Ihnen vielmals gedankt sei, möchte ich Sie alle im Namen der Schleiermacher-Gesellschaft zu unserem Kongreß hier in Berlin herzlich willkommen heißen. Es ist der dritte internationale Kongreß der Gesellschaft, dem schon allein dadurch eine besondere Aura zukommt, daß er an jenem Ort stattfindet, wo Schleiermacher über drei Jahrzehnte gelebt und gewirkt hat, vorrangig sogar hier in den Räumen der Universität, die damals allerdings den Namen Friedrich-Wilhelms-Universität trug. Daß unser Kongreß überhaupt stattfinden konnte und daß er an dieser Stelle stattfinden kann, ist dem Mitwirken vieler zu verdanken. An erster Stelle möchte ich der Fritz-Thyssen-Stiftung danken, die unser Treffen dadurch ermöglicht hat, daß sie uns mit einem satten Betrag finanziell ausgestattet hat. Aus vereinseigenen Mitteln wäre eine Zusammenkunft dieser Größenordnung völlig unmöglich. Ich hoffe sogar, daß vielleicht noch etwas übrig bleibt als Druckkostenzuschuß zum vorgesehenen Kongreßband. Sodann möchte ich der Universität, vertreten durch den Präsidenten, Herrn Kollegen Markschies, sowie der Theologischen Fakultät, vertreten durch den Dekan, Herrn Kollegen Gräb, dafür danken, daß sie uns ihre altehrwürdigen Räume für die gemeinsame Arbeit in den kommenden Tagen zur Verfügung gestellt haben. Mein weiterer Dank für organisatorische Unterstützung gilt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, vertreten durch den Sekretar der geisteswissenschaftlichen Klasse, dessen Name gerade bezüglich einer seiner vielen anderen Funktionen fiel. Mein besonderer Dank gilt aber nochmals Wilhelm Gräb, ebenfalls in anderer Eigenschaft. Ich denke an seine Rolle als Mitglied des Vorstands unserer Gesellschaft, in deren Wahrnehmung er und sein Arbeitsteam am Institut für Praktische
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Theologie dankenswerterweise die Durchführung des Kongresses hier vor Ort so gründlich vorbereitet haben. Meine Damen und Herren, dies ist der dritte internationale Kongreß unserer Gesellschaft. Der erste fand 1999 anläßlich des 200-jährigen ‚Reden‘-Jubiläums in Halle statt, der zweite zum Thema Subjektivität 2003 in Kopenhagen, zusammen mit dem dortigen Kierkegaard-Forschungszentrum. Es war klar, daß der dritte hier an diesem Ort stattfinden müsse, schon des Themas wegen. Diejenigen unter uns, die bei der Mitgliederversammlung in Kopenhagen dabei waren, werden sich erinnern: Wir hatten zunächst nur die Begriffe ‚Christentum‘ und ‚Kultur‘ im Blick. Dann aber machte jemand den Vorschlag, daß der Faktor ‚Politik‘, ‚Staat‘ oder ‚Macht‘ unbedingt mit hinein müsse, woraufhin Konrad Cramer, Mitglied des Beirats, meinte: „Das geht aber nur in Berlin“. So kam es also zur Wahl des Kongreßthemas und des Kongreßortes. Ich denke, mit dem Begriff ‚Staat‘ ist in der Tat ein wichtiger Akzent in der Gesamtfragestellung gesetzt, biographisch-historisch wie inhaltlich-systematisch. Man wird nicht behaupten können, daß Schleiermacher von Haus aus ein politischer Denker war. Gewiß gab es – neben verstreuten Einzelbetrachtungen – zwei Punkte, die den zunächst zwischen Lehrerberuf und Predigtamt Schwankenden berühren mußten. Die eine Frage lautete: Wie weit reicht die Zuständigkeit des Staates bei der Gestaltung von Ausbildung und Erziehung? Besitzt er ein Monopol oder bedarf sein Einfluß einer Beschränkung zugunsten der Mitsprache von Familie und Kirche? Die andere Frage war jene, deren Zuspitzung wir aus den ‚Reden‘ kennen: Verdirbt die jahrhundertelange Organisation des deutschen Protestantismus als Staatskirche nicht zutiefst das Wesen der Religion – dem Inhalt wie der Kommunikationsart nach? Beide Problemstellungen stehen sicherlich im Zusammenhang mit der Herrnhutischen Herkunft, haben ihn dann aber auch unabhängig davon sein Leben lang beschäftigt. Doch zum politischen Denker im eigentlichen Sinn machte ihn erst die in die akademische Anfangszeit fallende Katastrophe Preußens. Gleich nach dem Sieg bei Jena und Auerstedt erobern die napoleonischen Truppen noch im Oktober 1806 die Stadt Halle und veranlassen umgehend die Schließung der Universität. Ein Großteil der Professorenschaft floh. Die militärische Niederlage wird im Juli 1807 durch den Frieden von Tilsit besiegelt: Der französisch besetzte Teil Preußens fällt an das neugegründete Königreich Westfalen unter Jérôme Bonaparte. Ob die Universität überhaupt jemals wieder eröffnet würde, stand in den Sternen. Schleiermachers komfortable Wohnung im Obergeschoß der ehemaligen Ritterakademie wird umfunktioniert zum Offiziersquartier. Er findet zusammen mit seiner Halbschwester Nanny, die ihm den Haushalt führte, Unterschlupf in der Familie Hendrik Steffens’, des
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von ihm hochgeschätzten Naturphilosophen, an dessen Namen man immer denken muß, wenn in seinen Schriften der Ausdruck ‚Physik‘ fällt. Im turbulenten Winter 1806/07 hält Schleiermacher in der heute nicht mehr existierenden Universitätskirche, wo sich auch das Grab Christian Wolffs befand, ausgesprochen vaterländisch gesonnene Predigten. Der Gegensatz zur französischen Besatzungsmacht wird, wie Kurt Nowak zu Recht bemerkt hat, förmlich überhöht zu einem Kulturkampf. Mit anderen Worten: Schleiermachers Hinwendung zur Politik verdankt sich einem durch äußere Vorgänge ausgelösten emphatischen Patriotismusgefühl. Es findet in den späteren, weit kühleren PolitikVorlesungen insofern einen Niederschlag, als auch hier die Begriffe ‚Volk‘ oder ‚Nation‘ die letzte Bezugsgröße der Staatskonstruktion bilden. Nach Hin- und Herreisen zu Sondierungszwecken siedelt Schleiermacher im Dezember 1807 endgültig nach Berlin über. Zur Sicherung des Lebensunterhalts übernimmt er unter Zustimmung Friedrich Wilhelms III. die Pfarrstelle an einer königlichen Patronatskirche. Ebenfalls durch königliche Cabinets-Ordre wird ihm bereits 1808 die Ehrenmitgliedschaft in der Akademie erteilt, die 1810 in eine ordentliche umgewandelt wurde. Im Hinblick auf die absehbare Universitätsgründung entschließt er sich zu Privatvorlesungen auf Honorarbasis. Im Wintersemester 1808/09 trägt er im Rahmen seines schon in Halle begonnenen philosophischen Vorlesungszyklus erstmals die Lehre vom Staat vor, die er in der Folgezeit – stark überarbeitet – fünf Mal wiederholte. Diese Vorlesungen gipfeln in einer Theorie des Politischen, das in die Dreierrubrik Staatsbildung, Staatsverwaltung, Staatserhaltung gefaßt wird. Schleiermacher hat sich im Herbst 1808 zu jenen Politikvorlesungen entschlossen, um – wie er seiner Braut brieflich mitteilte – der jungen Generation gedankliche Orientierung für eine bessere Gestaltung der Zukunft zu geben. Daneben traf er sich mit allen damaligen Reformkräften, die auf den Wiederaufbau Preußens hinwirkten. Er selbst sah sein politisches Betätigungsfeld vor allem in der Kirchen-, Schul- und Wissenschaftspolitik. Die recht erfolgreiche Mitarbeit verlief aber alles andere als konfliktfrei. Schleiermacher war kein Leisetreter. Wie aus der jüngst erschienenen Monographie von Matthias Wolfes zu ersehen ist, entkam er wegen seines unerschrockenen Urteils schon 1813 nur knapp einem Hochverratsprozeß. 1819 drohte das Schicksal seines Fakultätskollegen de Wette fast auch ihn zu ereilen. Die letzten 15 Berufsjahre waren überschattet von den Gefahren der Denuntiation, Verhaftung, Strafversetzung und Amtsenthebung. Daß das Spätwerk dennoch zu einiger literarischer Vollendung gelangte, ist vor allem dem Umstand zu verdanken, daß der amtierende Kultusminister Freiherr von Alten-
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stein, der übrigens auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof genau gegenüber begraben liegt, hie und da seine schützende Hand über ihn hielt. Schleiermacher verstand die Politiklehre als Anwendung und Konkretion derjenigen Prinzipien, die er in der ‚Philosophischen Ethik‘ entfaltet hatte, die bekanntlich eine Theorie der Kultur insgesamt darstellt. Davon soll abschließend in drei Punkten die Rede sein. Ein Zugang zur Sache ergibt sich am leichtesten im Kontrast zur Konzeption seines prominenten Kollegen an der philosophischen Fakultät. Hegel hatte in seiner 1820 erschienenen ‚Rechtsphilosophie‘ die Funktion des Staats aus den Aporien der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt. Die Darstellung letzterer ist als umfassende Konflikttheorie angelegt, die viele Einsichten vorwegnimmt, die wir üblicherweise mit dem Namen Karl Marx verbinden. Hegel ist der Auffassung, daß die bürgerliche Gesellschaft sowie die ihr korrespondierende Rechtsauffassung nicht in der Lage sind, die politischen, ökonomischen und sozialen Antagonismen der Moderne aus sich heraus zu überwinden. Deshalb muß sie vom Staat regulierend überformt werden, der damit zu einer Art Superstruktur wird, die für alle normativen Fragen den letzten Maßstab abgibt – auch gegenüber Religion und Ethos, wie man etwa an der Umprägung des Gewissensbegriffs sehen kann. Schleiermacher hat diese Übervaterfunktion des Staates aufs schärfste bekämpft. Seiner Auffassung nach ist ein Maximum an individueller Freiheit, sozialer Gemeinnützigkeit und technisch-organisatorischer Sachlichkeit nur dann gegeben, wenn die großen Institutionen der kulturellen Lebenswelt als gleichberechtigt zu stehen kommen und sich dadurch wiederum wechselseitig relativieren. Diese vier Felder sind Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung, Religion und Kunst sowie Privatgeselligkeit und Familie. Keine dieser vier handlungstheoretisch deduzierten Sphären kann die Funktion der anderen übernehmen, ohne daß es dabei zu massiven Entdifferenzierungseffekten kommt. Auch der Bereich des Politischen, der sich gern zur Direktivinstanz aller anderen erhebt, bildet nur ein koordiniertes Teilsegment des öffentlichen Lebens. Man könnte Schleiermachers Theorie der Gesellschaft somit als ein institutionentheoretisches Balance-Modell bezeichnen, wie überhaupt die Idee der Ausbalancierung der Gegensätze das methodische Grundmuster seines Denkens darstellt. Es bleibt freilich die Frage, die hier bloß aufgeworfen sei, ob durch ein solches Gleichgewichtsmodell dem spezifischen Machtpathos des Staates mit seiner letztinstanzlichen Regulierungskompetenz tatsächlich hinreichend Rechnung getragen ist. Doch dieses Problem auch nur anzudiskutieren, würde unweigerlich in die komplizierte Staatsrechtsdebatte des 20. Jahrhunderts führen; ich denke etwa an die Kontroverse zwischen Hermann Heller und Carl Schmitt.
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Zweitens, Schleiermachers Zuordnung von Staat und Kirche – im Sinne des gerade skizzierten Grundmodells – ist eine genuin protestantische. Die Beschränkung einer jeden Gesellschaftssphäre auf die für sie konstitutive Kulturfunktion gilt nicht nur für den Staat, sondern auch für die Kirche. Beides zusammen besagt: Die Kirche bedarf von seiten des Staats der vollen rechtlichen Anerkennung ihrer Autonomie hinsichtlich der Gestaltung der öffentlichen Religionskultur. Der jahrelange Agendenstreit ist das signifikanteste Beispiel dafür, wie mühsam und kräfteverzehrend jener institutionelle Machtkampf im konkreten Fall verlaufen konnte. Umgekehrt darf sich aber auch die Kirche gegenüber dem Staat nicht anmaßen, ihm auf seinem eigenen Gebiet vorzuschreiben, welche Ziele er zu verfolgen und welche Maßnahmen er dafür zu ergreifen hätte. Und dasselbe gilt auch für die Beziehung zu den anderen Bereichen der Gesellschaft wie Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, öffentliches Schulwesen oder Privatleben. Nichts hätte Schleiermacher ferner gelegen als die Idee einer Kirche als Urmodell oder Endziel der Sozialwelt. Schleiermachers Konstruktion des Verhältnisses von Staat und Kirche darf vielmehr als moderne Variante der reformatorischen Zwei-Reiche-Lehre verstanden werden – Variante deswegen, weil sie nicht mehr wie bei Luther dogmatisch begründet wird, sondern innerhalb der philosophischen Ethik mit ausschließlich handlungs- oder gütertheoretischen Argumenten. Protestantisch ist Schleiermachers Kirchenbegriff aber auch in einer weiteren Hinsicht. Über den stark institutionentheoretisch gehaltenen Ausführungen zum Staat / Kirche-Verhältnis darf die ganz andere Perspektive nicht vergessen werden, die im §115 der ‚Glaubenslehre‘ folgendermaßen zusammengefaßt ist: „Die christliche Kirche bildet sich durch das Zusammentreten der einzelnen Wiedergeborenen“. Das besagt in fachüblicher Terminologie: Schleiermachers Kirchenbegriff ist kongregationalistisch, und zwar – im Vergleich zu ähnlichen Konzepten – noch einmal gefiltert durch seine Theorie der Subjektivität und Intersubjektivität. Religionsgemeinschaften entstehen im Prozeß der wechselseitigen Kommunikation von religiösem Gefühl, wobei zugleich auch die Grenzen solcher Wahlverwandtschaft abgesteckt werden. Institution und Individualität sind für die späte Fassung von Schleiermachers Religionsbegriff keine sich ausschließenden Gegensätze. Dies ist einer der Gründe, weshalb sein Kirchenbegriff – um eine Formulierung Trutz Rendtorffs aufzugreifen – die Waage hält zwischen freiem und kirchlichem Protestantismus. Mit dem, was dann Mitte des 19. Jahrhunderts von lutherisch-konfessionalistischer Seite unter dem Begriff der ‚Heilsanstalt‘ angepeilt wurde, hat Schleiermachers Kirchenbegriff schlechterdings nichts zu tun. Drittens, Schleiermachers Theorie der Kultur, wie sie uns in der ‚Philosophischen Ethik‘ begegnet, ist ihrem methodischen Status nach –
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wie schon dargelegt – ein Ausdifferenzierungsmodell. Der Begriff der funktionalen Ausdifferenzierung hat dann ab Ende des 19. Jahrhunderts – vor allem in der Soziologie – Hochkonjunktur gehabt. In jüngster Zeit werden allerdings auch die Schwachstellen dieses Modells erkennbar. Ich denke dabei nicht an jene Verweigerung oder Rückgängigmachung von Ausdifferenzierung, die wir als Fundamentalismus im soziologischen Sinne bezeichnen. Vielleicht läßt sich das Problem, worum es geht, am besten durch ein Beispiel erläutern. Die Moderne gilt in ästhetischer Hinsicht weithin als ein Prozeß der Autonomisierung der Kunst, etwa im Sinne der Trennung von ihrer ehemaligen kirchlichen Funktion. Zugleich läßt sich vielerorts aber auch eine Zunahme ihres explizit oder latent religiösen Potentials beobachten. Prominentestes Beispiel dafür ist noch immer das Werk Richard Wagners. Autonomisierung und Resakralisierung der Kunst können also durchaus Hand in Hand gehen. Das besagt in genereller Hinsicht: Wir haben den für die Moderne signifikanten Prozeß der funktionalen Ausdifferenzierung erst dann angemessen beschrieben, wenn zugleich die neu entstandenen Interdependenzen zur Sprache kommen. Das übliche System / UmweltSchema ist dafür offenkundig methodisch zu arm. Auch hinsichtlich der sozialregulativen Funktion von Religion zeigt sich, daß mit dem Vollzug der Ausdifferenzierung von Politik und Religion deren politische Valenzen keineswegs neutralisiert sind. Bemühungen um die Sakralisierung von Verfassungsprinzipien, kommunitaristische Gegenoptionen zum politischen und ökonomischen Liberalismus oder zivilreligiöse Motive überhaupt spuken durch die Landschaft, ohne gesamtstrukturell wirklich begriffen zu sein. Wendet man den Blick zurück zu Schleiermacher, so erscheint es mir als bemerkenswert, daß er neben das Ausdifferenzierungsmodell der ‚Philosophischen Ethik‘ noch eine zweite Form der Beschreibung der kulturellen Lebenswelt gestellt hat, die gerade den umgekehrten Weg geht. Es ist seine theologische Ethik, vorgetragen unter dem Titel ‚Die christliche Sitte‘. Dieses Werk steht leider noch immer im Schatten der Schleiermacherforschung, was zum Teil auch an dem katastrophalen Zustand der alten Werkausgabe liegen mag. Aber hier wird tatsächlich nach den wechselseitigen Einflüssen der verschiedenen ethischen Sphären gefragt, wenn auch vorzugsweise unter dem Gesichtspunkt der Geschichte des Christentums. Nimmt man beide Beschreibungsformen zusammen, dann steht man in der Tat mitten in der aktuellen Debattenlage. Meine Damen und Herren, eigentlich bin ich mit meinen einleitenden Betrachtungen am Ende. Doch bei dem Stichwort ‚aktuell‘ fällt mir noch eine kleine Begebenheit ein. Andreas Arndt und ich waren vor zwei Wochen in Rom an der Gregoriana. Anlaß war die Vorstellung der italienischen Übersetzung von Schleiermachers ‚Dialektik‘, die Sergio
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Sorrentino Ende letzten Jahres herausgab. Wir beide, Arndt und ich, haben uns natürlich gefragt, was Schleiermacher zur Publikmachung seines erkenntnistheoretischen Hauptwerks an der päpstlichen Universität wohl gesagt hätte. Bei jener Buchpräsentation wirkte auch der das Fach ‚Zeitgenössische Philosophie‘ lehrende dortige Philosophiehistoriker mit. Auf meine Frage: „Wann beginnt denn eigentlich für die päpstliche Universität die zeitgenössische Philosophie?“ antwortete er: „Mit Hegel“. Meine Damen und Herren, bei uns hier in Deutschland gibt es Leute, die sagen: Wozu brauchen wir überhaupt die kostspieligen Gesamtausgaben alter, längst überholter Autoren. Man sieht: Es ist offenbar Alles eine Frage der Perspektive – womit ich nicht gesagt haben will, daß ich mir auch sonst die Perspektive der päpstlichen Universität zum Vorbild nehme. Blicke ich auf unser Vortragsprogramm mit der Vielfalt seiner Themen und Referenten, gerade auch aus anderen Disziplinen, wofür Ihnen schon im voraus herzlich gedankt sei, dann zweifle ich keine Sekunde, daß es eine hochaktuelle und ebenso gelehrte Debatte sein wird, die da auf uns zukommt. Man redet zur Zeit allerwärts von sogenannten Exzellenzclustern. Ich verspreche Ihnen: Unsere Tagung wird ein Exzellenzcluster werden, und zwar nicht irgendeines, sondern das Muster seiner Gattung. In diesem Sinne wünsche Ihnen allen ein paar schöne Tage hier in Berlin, gedanklich und kommunikativ ersprießlich.
Eröffnungsvortrag: Christentum – Staat – Kultur Vom säkularen Geist der Politik VON VOLKER GERHARDT/BERLIN
Vorbemerkung Wilhelm Gräb war so freundlich, meinem Vortrag eben den Titel zu geben, unter dem sich der ganze Kongress zusammenfindet. Das könnte ich als Einladung verstehen, durch eine weit ausholende philosophische Betrachtung vorab zu klären, was „Christentum“ – „Staat“ – „Kultur“ denn eigentlich sind, um von vornherein klarzustellen, worum es im Großen und Ganzen geht. Das ist gar nicht so abwegig, wie es klingt. Die Aporien des sprachanalytischen Positivismus haben (nicht selten in unfreiwilliger Komik) vor Augen geführt, dass die aufs Große und Ganze zielenden Begriffe unverzichtbar sind. Worüber man redet, darüber schweigt man nicht. Also sollten wir gerade bei den umfassenden Begriffen davon sprechen, was sie bedeuten. Gegenüber den Termini mit eindeutigem Gegenstandsbezug haben sie den Vorzug, uns schon im Zugang klarzumachen, dass ihre Bedeutung daran hängt, was sie uns bedeuten. Wer über „Christentum“ – „Staat“ – „Kultur“, erst recht über „Welt“ oder „Gott“, unter Absehung von sich selbst zu sprechen sucht, verfehlt seinen Gegenstand von vornherein. Aus gegebenem Anlass und mit Rücksicht auf meine beschränkte Kompetenz werde ich mich unter dem Titel ‚Vom säkularen Geist der Politik‘ primär mit politischen Fragen befassen. Die Probleme der Kultur und der Religion werden darüber aber nicht vergessen. Die Tatsache, dass der Glaube erst am Ende und dann auch noch viel zu kurz zur Sprache kommt, entschuldige ich damit, dass der theologische Kongress ja noch folgt.
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1. Das Kreuz der Gegenwart Wer Hegels Wort, Philosophie sei ihre Zeit in Gedanken gefasst, als Aktualitätsgebot versteht, der muss sich jederzeit zu allem äußern, um den Nachweis zu erbringen, dass er sich auf der Höhe seiner Zeit befindet. Hegel aber ging es um das bewegende Moment des Geistes im Augenblick seiner Wirksamkeit. Ihm lag daran, „die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen“.1 Man muss kein Theologe und kein Rosenkreuzer sein, um das Bild zu schätzen. Das „Kreuz“ kann als Schnittpunkt von Vergangenheit und Zukunft verstanden werden, und die Rose bleibt in ihrer dornenbewehrten Schönheit ein organisches Produkt der Natur. Und so galt denn Hegel das Gegenwärtige weder als kontingentes Geschehen noch als numinoses Ereignis, sondern als das, was in der Kontinuität der geschichtlichen Entwicklung wohl vorbereitet aufspringt wie eine Blüte und darin mit anschaulich gegebenen Gründen auf bestimmte Folgen verweist. Hegel hatte, um es nüchtern zu sagen, eine aus dem Selbstverständnis des Menschen folgende Prämisse, die es ihm erlaubte, auf das Wesentliche zu sehen und nicht alles gleichermaßen wichtig zu nehmen. Das Wichtige aber tritt im Ziel hervor, in dem das handlungsleitende Erkennen einen sachlich bestimmten Abschluss finden kann. Der umfassendste Ausdruck für das bewusst vergegenwärtigte Ziel ist der „Sinn“, der dem „Geist“ entspricht, aber den Vorzug hat, auch dessen sinnlichen Anteil evident zu machen. Der Sinn umfasst Empfindung und Gefühl und bezieht damit auch den Glauben ein. Wird aber der an das Selbstbewusstsein gebundene Geist gestrichen und durch die Ökonomie der Bedürfnisse, die Techniken der Kultur, die Regeln des Diskurses, die Semantik der Bilder oder die Observanz der Medien ersetzt, führt der Aktualitätsanspruch nur zur Multiplikation der Stimmen, die zwar die Pluralität der Meinungen belegt, aber den Rang der Erkenntnis schon wegen des Mangels an Distanz verfehlt. Denn Distanz ist, wenn sie nicht einfach räumlichen Abstand bedeuten soll, nicht ohne Selbstbewusstsein zu haben, das in seinem Bezug auf die Welt eben „Geist“ bedeutet. Wem „Geist“ verdächtig klingt, der kann ihn sich der Einfachheit halber mit mind übersetzen. Im Deutschen aber empfehle ich, wie gesagt, den „Sinn“ als Äquivalent.
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G.W.F. Hegel: Einleitung in die Grundlinien der Philosophie des Rechts, WW 7, 26.
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2. Polemische Bemerkung zur politischen Lage Wohin der Verzicht auf ein gehaltvolles Welt- und Selbstverhältnis führt, hat sich im jähen Interesse an der Religion gezeigt, das nach dem 11. September vor allem die Gebildeten unter ihren Verächtern ergriffen hat. Die antitotalitäre Erosionskraft des Glaubens, dessen weltgeschichtliche Folgen im Zusammenbruch der sozialistischen Systeme für jeden sichtbar geworden sind, hat die religionskritischen Gemüter leider kaum beschäftigt. Aber die auf Sensation berechnete monströse Gewalttat von 2001, deren Urheber neben allem anderen auch noch die Schamlosigkeit besaßen, sich auf religiöse Motive zu berufen, ließ sich schon als Medienereignis nicht übergehen. Und so hat uns die reklamierte Märtyrerschaft islamistisch firmierender Terroristen über Nacht eine Reihe von religionssoziologischen Experten beschert, die bis dato der Ansicht angehangen hatten, die Opiate des Volksglaubens würden in Kürze auch in den unteren Schichten ihre Wirkung verlieren – zumindest solange es Arbeit gibt, die Renten sicher sind und eine a priori systemkritische Theorie für die Deutung zur Verfügung steht. Die gute Absicht hinter der spontan erworbenen religionsphilosophischen Kompetenz ist offenkundig: Wenn gutwillige Muslime in ihrer Enttäuschung über die brutale Realität des Kapitalismus genötigt werden, zu terroristischen Mitteln zu greifen, dann muss man mit ihnen vornehmlich über ihre „Motive“ sprechen. Da sie, ungeachtet ihres sozialistischen Bildungshintergrundes, nun einmal religiöse Gründe für sich in Anspruch nehmen, muss man ihnen auch hier entgegenkommen, um sie in dem von ihnen selbst ins Feld geführten Glauben richtig zu verstehen. Wenn das aber überzeugend ausfallen soll, darf man die Religion der eigenen Kultur nicht länger als antiquiert oder regressiv disqualifizieren. Die Regeln des Diskurses verlangen die Gleichheit der Positionen. Daraus folgt für den zeitgeistbewussten Europäer, dass er sich wenigstens zeitweilig zu seiner christlichen Herkunft bekennen muss, wenn er einem Moslem auf gleicher Augenhöhe begegnen können will. Um nicht zum Satiriker zu werden, versage ich es mir, die absurde Konstellation eines religionsphilosophischen Dialogs unter dem Druck des Terrors zu beschreiben.2 In meinen Augen ist es bereits eine Beleidi-
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Richard Rorty hat dazu jüngst einiges Treffendes gesagt, in: Richard Rorty/Gianni Vattimo: Die Zukunft der Religion, Frankfurt/M. 2006. Im übrigen verweise ich auf Doris Akrap, die am Beispiel von Alain Badiou, Giorgio Agamben und Salvo Zizek zeigt, wie rasch sich nach dem 11. September 2001 das religionswissenschaftliche Expertentum ausgebreitet hat (Doris Akrap: Die Rebellen des Als ob, in: Jungle World, 27.4.2005). Zu Jürgen Habermas verweise ich auf den Aufsatz von Asmus Trautsch:
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gung des Islam, die blutrünstige Kraftmeierei in den Verlautbarungen der Terroristen als religiöse Äußerung anzusehen.3 Die ruhmredigen Pamphlete sollen wie Sprengstoff sein; sie sollen Angst und Schrecken verbreiten. Das ist alles – zumal die Berufung auf den Koran wesentlich auf die Volksmassen in den arabischen Staaten berechnet ist. Vor ihnen haben sich die korrumpierten Machthaber in jenen Ländern am meisten zu fürchten. Ein Argumentationsaufgebot oder gar ein Gesprächsangebot an den Westen liegt darin nicht. Zwar ist offenkundig, dass die Terroristen, ähnlich wie auch ein Teil der politisierten moslemischen Geistlichkeit, die zivilisatorischen Errungenschaften der westlichen Kultur verteufeln. Aber sie tun dies unter derart starker Inanspruchnahme von Leistungen der verfemten Kultur, dass von einem in eindeutigen Fronten verlaufenden Kampf der Kulturen nicht die Rede sein kann – es sei denn, wir wären so dumm, ihn unsererseits zu betreiben.
3. Kurzer Versuch einer Erläuterung Wenn das, was wir derzeit erleben, kein Kampf der Kulturen und erst recht kein Krieg der Religionen ist: Worum handelt es sich dann? Um die „forcierte Wiederkehr der Religionen in den öffentlichen Raum“, sagt Friedrich Wilhelm Graf.4 Auf die Themen bezogen, ist das richtig, vor allem, wenn man force mit „Gewalt“ übersetzt. Dahinter aber steht ein anderer Vorgang, in dem das Religiöse nur ein Mittel unter anderen ist: Der Terrorismus und die organisierte Massenhysterie vor westlichen Botschaften sind Anzeichen eines postkolonialen Nachbebens der weltanschaulichen Ideologien des 19. und des 20. Jahrhunderts. Die verhängnisvollen Irrtümer des Kommunismus und die todbringenden Lehren des Rassismus vergiften noch immer die Gemüter und finden nach wie vor im Nationalismus ihre handlungsfähige Form, die sich unter dem Anspruch staatlicher Selbstbestimmung jederzeit rechtsfähig machen kann. Nur eine durchgängig auf die Rechte des Individuums gegründete Politik, die den menschenrechtlichen Konstitutionalismus
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Glauben und Wissen. Jürgen Habermas zum Verhältnis von Philosophie und Religion, in: Philosophisches Jahrbuch 111/1 (2004), 180–198. Obgleich der Koran, wie die Bibel, weiß Gott nicht ohne Widersprüche ist, kann man im Vertrauen darauf, dass er bereits eine mehrere hundert Jahre währende, auf Koexistenz mit anderen Religionen beruhende Geschichte hinter sich hat, bestimmte Aussagen priorisieren. Deshalb darf man die Sure 109 als aussagekräftig ansehen. In ihr spricht der Prophet: „Ihr habt eure Religion und ich habe die meine.“ Friedrich Wilhelm Graf: Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze, München 2005, 15.
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endlich auch auf das internationale Handeln überträgt, kann dagegen etwas ausrichten. Deshalb stimme ich Graf in seinem Lob der „individuellen Freiheit“ als des „höchsten innerweltlichen Gut[es]“ ausdrücklich zu, bin aber der Ansicht, dass die Freiheit von denen, die von ihr überzeugt sind, entschieden und machtvoll gegen ihre Widersacher verteidigt werden muss.5 Diese Chance wurde, um nur ein Beispiel zu nennen, gegenüber Saddam Hussein wesentlich dadurch vertan, dass die Weltgemeinschaft gegenüber dem Diktator nicht einig blieb. Obgleich nach dem Überfall auf Kuwait die Rechtslage eindeutig war, jedermann wusste, dass der Gewalttäter, der seine Minister noch am Kabinettstisch erschoss, den Terror gegen die eigene Bevölkerung verstärkte, und die Sanktionen, wo immer er konnte, unterlief, trieb man illegalen Handel mit ihm und vergrößerte seinen Reichtum, während das Volk in Blut und Elend versank. Dass angesichts dieser offensichtlichen Lage ein Streit darüber entbrennen konnte, was zu tun sei, ein Streit, in dem sich eine „Achse Paris – Berlin – Moskau“ gegen jene Allianz bilden konnte, die Europa von Hitler befreit und am Ende auch vor dem Kommunismus bewahrt hat,6 begreife ich als die bislang schwerste Niederlage der freien Welt. In sie stößt nun der Terror nach, und er hat Erfolg damit. Gegen ihn können sich die Adressaten und die Opfer nur in einer für alle verbindlichen Rechtsordnung behaupten. Sie hat, wie wir nunmehr genauer sehen, eine verbindliche Konstitution der Staatengemeinschaft zur Voraussetzung. Die Grundlagen dafür sind in der verfassungsrechtlichen Positivierung des Menschenrechts in den einzelnen Staaten gelegt. Das paradigmatische Geschehen einer modernen Verfassungsgebung für die Vereinigten Staaten von Amerika und für die Französische Republik haben das seit der Antike beratene Natur- und Vernunftrecht zum integralen Bestandteil des politischen Systems gemacht. Die Bürger brauchen nicht länger allein auf das Wohlwollen der Regierenden oder auf die spontane Mobilisierung ihrer Macht zu ver5 6
Friedrich Wilhelm Graf: Moses Vermächtnis, 21. Ich unterlasse es an dieser Stelle, den Ursachen der Zerrüttung des Westens nachzugehen. Offenbar haben die Amerikaner ihre Partner durch einseitige Schritte im Vorfeld verprellt; dadurch fühlten sich die Regierungen Frankreichs und Deutschlands nicht mehr an das gegebene Wort gebunden. Wie immer dem auch gewesen sein mag: Im Interesse von Recht und Freiheit hätte es dazu nicht kommen dürfen. Das hat meine abweichende Haltung im Irak-Konflikt begründet. Siehe dazu: Volker Gerhardt: Die Macht im Recht. Ideologie und Politik nach dem 11. September 2001, in: Merkur 651, hg. von K.H. Bohrer u. K. Scheel, Stuttgart 2003, 557–569; ders.: Souveränität als Verdienst. Erwiderung auf Manfred Bierwisch, in: Merkur 656, Stuttgart 2003, 1174–1176; ders.: Nach dem Sturm. Uneinig gegen den Terror, in: Merkur 667, Stuttgart 2004, 969–982.
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trauen, sondern haben das garantierte Recht, ihre legitimen Ansprüche mit Hilfe der Sanktionskraft des Staates durchzusetzen. Das ist ein unerhörter Vorgang, über den ich den ganzen Abend sprechen könnte. Ich belasse es bei der Bemerkung, dass sich dadurch auch das Verhältnis von politischer Idee und politischer Realität verändert hat. Über das in der Konstitution positiv gesicherte Recht, das mit der Freiheit und der Würde der Person die höchsten Ideale der Menschheit zum Gegenstand hat, ist der Geist in seiner avanciertesten Form ins Zentrum politischer Macht eingerückt. Die Politik, die schon immer eng mit dem Recht verbunden war, überlässt sich in allen Fragen von grundsätzlicher Bedeutung, der Selbststeuerung durch das Recht.
4. Zur Konstitution der Weltrechtsordnung Der inzwischen weit fortgeschrittene Ausbau des internationalen Rechts hat sich an der rechtlichen Selbstfundierung des Staates orientiert. Schon die ersten Konferenzen zur Beilegung der interkonfessionellen Kriege in Europa, der Aufbau einer eigenen Regeln folgenden Diplomatie sowie die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sprunghaft ansteigende Regelungsdichte des Handels- und des Völkerrechts folgten der Sachlogik des zunehmenden Weltverkehrs. Mit den Haager Konferenzen waren auch die Grundrechte maßgeblich an der Ausweitung des Weltrechts beteiligt. Die immer enger werdende globale Vernetzung, die strukturelle Angleichung der nationalen und der internationalen Märkte sowie der Zwang zu einer intensiver werdenden wissenschaftlichen Kooperation nötigten und nötigen weiterhin zur Anerkennung einheitlicher technischer, sozialer und medizinischer Normen, die selbst wiederum eine juridische Absicherung erfordern. Für sie ist ihrerseits eine politische Garantie zu geben, die nicht anders als nach dem Modell der Konstitution, mit einer wohldefinierten Teilung der Gewalten erfolgen kann. Wer immer also seinen Lebensstandard halten oder gar verbessern will, der hat für größere Rechtssicherheit zu kämpfen, die nur in geordneten Verfahren mit allgemeiner Nachprüfbarkeit und öffentlichen Kontrollen zu haben ist. Sie verlangt überdies nach einer Garantie der Grundfreiheiten. Wer Öl verkaufen, über militärische Hochtechnologien verfügen, in die Erdbeben-Vorwarnung einbezogen und auch sonst in den Weltverkehr eingebunden sein möchte, wer gar den Anspruch erhebt, andere davon überzeugen zu können, er wolle die Kernkraft nur friedlich nutzen, der hat sich definitiv für eine gemeinsame Weltrechtsordnung zu entscheiden.
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Für diese Ordnung haben wir mit größtem Nachdruck einzutreten, weil die Zukunft aller daran hängt – auch die Zukunft jener, die das jetzt noch nicht erkennen. Es ist nicht zu leugnen, dass die aus der Dynamik des eigenen Lebens hervorgehende neue Ordnung tief greifende Veränderungen in den Lebensweisen mit sich bringt. Das haben die Europäer als erste erfahren, und der Wandel, dem sich ihre politischen, moralischen und religiösen Institutionen unterziehen mussten, war und ist unabsehbar. Doch eine Alternative gibt es nicht. Kulturen sind Lebensformen, die der Evolution umso stärker unterworfen sind, je mehr sie miteinander in Verbindung stehen. Daher muss man jenen, die selbst noch unter den Konditionen eines unbegrenzten Weltverkehrs vom Vorrecht ihrer eigenen Kultur überzeugt sind, vor Augen führen, dass sich alle kulturellen Differenzierungen nur innerhalb der Ordnung bewegen können, die für alle zu gelten hat. Das ist schon deshalb kein Schaden, weil es nur in ihr die garantierte Freiheit geben kann, die eigene Überlieferung zu pflegen und nach dem eigenen Glauben zu leben. Das aber setzt die generelle Anerkennung der übergreifenden rechtlichen und politischen Koordinaten voraus. Spätestens in ihnen findet die These von der Relativität der Kulturen ihre Grenze. Für die gleichzeitige Geltung sich ausschließender Rechtsordnungen ist die Erde entweder zu klein oder zu voll – ganz wie man es nimmt.
5. Rückständige Widerstände Anstatt entschieden für das Ziel einer globalen Rechtsordnung einzutreten und die Konstitution einer internationalen Föderation zu betreiben, fallen sogar die in Europa vereinigten und in der westlichen Allianz verbündeten Staaten bei geringfügigen Interessenkollisionen in ihre nationalen Egoismen zurück. Selbst angesichts der offenkundigen Bedrohung ihrer Existenz durch den Terror, durch die atomare Rüstung, durch regellose Migration und nachfolgende kulturelle Isolation, durch den Zerfall ihrer sozialen Sicherungssysteme oder durch das Versiegen der natürlichen Ressourcen schaffen sie es nicht, die Prinzipien produktiv zu machen, aus denen ihre eigene Ordnung besteht. Leider kann man nicht sagen, dass die Bürger sich klüger verhalten als ihre Staaten: Sie geben der politischen Erpressung durch den Terror willfährig nach,7 nehmen die Globalisierung als Kunden und Urlauber
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Ich erinnere an den Wahlausgang in Spanien nach den Anschlägen in Madrid und an die Timidität nach dem Karikaturenstreit. Die Leiter der Kulturämter und der Mu-
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wie selbstverständlich hin, möchten aber als Arbeitnehmer oder als Rentner nicht von ihr betroffen sein. Das ist menschlich, aber eben nicht weniger provinziell als die Annahme, man könne Wirtschaftswachstum, Kernspaltung oder Kernfusion und elektronische Kommunikation unter den Rechtsbedingungen einer Stammeskultur sichern. Überdies haben die Bürger in den westlichen Ländern einzusehen, dass sich ihr Wohlstand zu einem nicht geringen Teil einem kolonialen Ungleichgewicht verdankt, das längst ihren eigenen Prinzipien von der Freiheit und Gleichheit aller Menschen widerspricht. Nachdem alles Werben für die so genannte Dritte Welt politisch nicht geholfen hat, darf man den größeren Erfolg darin sehen, dass sich die Länder Asiens ihren Platz auf dem Weltmarkt aus eigener Kraft erobern. Nicht nur im Einsatz von Technik und Wissenschaft, sondern auch im Verfolg der liberalen, auf selbstbewusste Individualität gegründeten ökonomischen Regeln übernehmen sie die in Europa groß gewordene Ordnung. Sie sind, wie Hans Magnus Enzensberger schon vor vielen Jahren bemerkte, die besseren „Eurozentristen“.8
6. Kein neuer Humanismus in Sicht Blickt man als Bürger auf jene Bürger, die sich als Intellektuelle verstehen, gewinnt man leider nicht den Eindruck, dass sie ihre geistige Beweglichkeit für eine bessere politische Einsicht nutzen, obgleich sie erstmals begründeten Anspruch und Aussicht auf den weltweit gültigen Titel der „Humanisten“ hätten. Im selbstverständlichen Anspruch auf die auf Grundrechten basierende Öffentlichkeit stellen sie nicht selten eben das in Frage, was die Öffentlichkeit trägt: Sie treten als Individuen auf und widerstreiten der Individualität, bestehen auf ihren Freiheitsrechten und leugnen die Freiheit; verdanken alles, was sie wissen, der Aufklärung und der Vernunft, tun sich aber mit einer „Dialektik der Aufklärung“ wichtig, als ob es erst einer „Kritischen Theorie“ bedurfte, um zu entdecken, dass jedes Licht auch Schatten wirft. Besonders schmerzlich ist die defizitäre Selbsterkenntnis des wissenschaftlich arbeitenden modernen Menschen. Die verbreitete Hilflosigkeit angesichts der Gen- und Nanotechnologien könnte den Eindruck entstehen lassen, der kausalanalytische Reduktionismus sei eine Neue-
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seen verzichten inzwischen darauf, schon die Andeutung einer kritischen Anspielung auf den Islam erkennen zu lassen. Europa kann aufatmen: Die Behauptung von der Existenz von „Eurozentristen“ hat sich reallogisch erledigt. Wenn es einem Chinesen möglich ist, ein „Eurozentrist“ zu werden, hören die Europäer auf, welche zu sein.
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rung des 21. Jahrhunderts. Tatsache aber ist, dass schon Platon die atomistischen und sophistischen Reduktionismen seiner Zeitgenossen abzuwehren hatte. Dieser Abwehr verdanken wir den wissenschaftlichen Auftritt von Philosophie und Theologie, die beide über zwei Jahrtausende hinweg die Einheit von Natur, Mensch und Welt beschrieben haben. Gewiss, die Antworten fallen nicht nur voraussetzungsvoll, sondern auch höchst unterschiedlich aus. Aber sollten sie angesichts der neuen biologischen und neurologischen Erkenntnisse nicht mehr erbringen, als dass „Natur“ und „Freiheit“ zwei „Perspektiven“ sind?9 Und selbst wenn der Perspektivismus die ultimative Auskunft wäre: Die Frage, wem er wodurch in welcher Hinsicht nützen könnte, gäbe immer noch genügend Anlass zur sachlichen Auszeichnung humaner Leistungen. Das gilt schon für den Sinn der Unterscheidung zwischen Natur und Freiheit: Was bedeutet sie für ein Wesen, das sich in allem, was es empfindet, fühlt, versteht und glaubt, auf die Einheit seines Sinns zu gründen hat? Der Mensch ist gerade auch in seinen intellektuellen Leistungen auf organanaloge Ganzheiten aus, die ihm in den Funktionen seiner Sinne und seines Sinns tatsächlich gegeben sind. Er erkennt sich nach dem Modell seiner eigenen physiologischen Organisation, die Natur aber erkennt er nach dem Modell seiner eigenen Selbsterkenntnis. Damit erweisen sich nicht nur die idealistischen, sondern auch die reduktionistischen Theorieansätze als von vornherein verkürzt. Wenn wir hinzu nehmen, dass sich das Modell der menschlichen Selbstwahrnehmung nicht auf die Grenzen seiner gegebenen physiologischen Einheit beschränken lässt, sondern dass alles dazugehört, was sich der Mensch als seinen sozialen und technischen Handlungsrahmen schafft, tritt die Unzulänglichkeit der monokausalen Erklärungsmuster noch deutlicher hervor. In der inneren Verbindung mit der durch eigene Leistungen gestalteten Umwelt ist der Mensch die Kondition seiner eigenen Erkenntnis – auch die der mechanischen Naturerklärung und der instrumentellen Technik. Daher ist die von Marx visionär geforderte „Humanisierung der Natur“ kein romantisches Projekt, das in die Zukunft verweist, sondern es ist ein Faktum, das bereits in der Natur- und Selbsterkenntnis des Menschen zum Tragen kommt. Die Andeutung zur Verflechtung von Mensch, Natur, Technik und sozialer Organisation reicht hoffentlich aus, um die Enttäuschung über die Rolle der Intelligenz in der modernen Zivilisation verständlich zu machen. Die größte Aufmerksamkeit erreichen jene, die vor der angeblichen Instrumentalisierung und Mechanisierung warnen und mit der 9
So lautet die fragwürdige Lösung Peter Bieris für das Freiheitsproblem in: Das Handwerk der Freiheit, München 2001.
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unsinnigen Opposition zwischen „System“ und „Lebenswelt“ den Menschen von sich selbst entfremden. Oder jene, die in spektakulärer Weise vom Menschen Abschied nehmen: Da wird der Humanismus zu einer Reihe belangloser Briefe deklariert, die man im Menschenpark vermutlich vor den Besuchern verstecken muss. Die Politik wird, in Missachtung von Technik und Kultur, zum Mechanismus der Ausgrenzung des „nackten Lebens“, mit der Konsequenz, dass die Demokratie nur eine liberal verbrämte Form des Gulag und des Konzentrationslagers sein kann. Die Medien schließlich sind entweder die allgegenwärtige Realität des Bösen oder die alles umfassende Erlösung von der Realität. In allen diesen Fällen kommt der Mensch eigentlich nur noch als Opfer vor. Dass er aber ein aus sich heraus tätiges, dabei sich und seine Natur veränderndes, ein eben dabei sich und seine Welt notwendig in Mitleidenschaft ziehendes Wesen ist, das nicht zuletzt deshalb seinen für Erleben und Handeln benötigten Sinn auf das übertragen muss, worin es lebt und womit es nicht nur faktisch verbunden ist, sondern womit es aus eigenem Anspruch als dem Ganzen seines Daseins verbunden sein muss, um überhaupt seinen eigenen Sinn zu haben…, dieser, wenn nicht offensichtliche, so doch für jeden mit offenen Sinnen lebenden Menschen offenbare Sachverhalt wird vergessen. – Auf den Gottesbeweis, der in dieser Feststellung über das Wesen des Menschen liegt, brauche ich vor Theologen nicht näher einzugehen.10
7. Die drei Zeitalter der Politik Im Rückblick auf etwa fünf- bis sechstausend Jahre, in denen die Menschheit über politische Organisationen verfügt, kann man drei Zeitalter unterscheiden, die, trotz zahlloser Rückschläge, durchaus konsequent aufeinander folgen: Das erste ist die Epoche der Institutionalisierung, in der sich die Völker im geographischen Halbmond zwischen dem Niltal, den Höhen Palästinas und den Ebenen zwischen Euphrat und Tigris (und wenig später wohl auch an Ganges und Ho-ang Ho) erste rechtsförmige Einrichtungen schaffen, in denen sie die bereits technisch elaborierte gesellschaftliche Kooperation in eine politische Herrschaftsordnung überführen. Sie errichten Städte, verbinden sich zu Schutzgemeinschaften unter monarchischer Leitung und erzwingen
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Siehe dazu Volker Gerhardt: Gott und Grund, in: Systematische Theologie heute. Zur Selbstverständigung einer Disziplin, hg. von H. Deuser und D. Korsch (Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, Bd.23), Gütersloh 2004, 85–101.
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Reiche, die nach dem Modell autoritativer Selbstverfügung des Einzelnen über sich und seine Gruppe angelegt sind. Grundlegend ist das Paradigma der einzelnen Person, die im Staat ins Große gerechnet wird. Und bestimmend ist das (immer schon technisch ausgerichtete) Verfahren des Rechts, das dem Politischen von Anfang an rationale, auf allgemeine Verständigung und Nachvollzug angelegte Koordinaten einzuzeichnen sucht. Die zweite Phase beginnt, soweit wir wissen, mit der durch Solons Reformen auf den Weg gebrachten Demokratisierung Athens, der mit nur geringer zeitlicher Verzögerung Roms Übergang von der Königsherrschaft zur Republik nachfolgt. Hier werden die ersten Schritte zur Verselbständigung, zur Autonomie oder Souveränität der Politik getan. Sie erfolgen unter den Bedingungen einer beratenden und prüfenden, teils auch schon wählenden Öffentlichkeit und werden von der Entstehung einer kritischen Geschichtswissenschaft, der Ausbildung erster Theorien des Rechts und der Gerechtigkeit sowie einer Lehre von der Rhetorik als der neuen Herrschaftstechnik im öffentlichen Raum begleitet. Die Autonomisierung der Politik wird, wie schon die Institutionalisierung, von der Entfaltung der technischen Fertigkeiten des Menschen vorangetrieben. Wesentlich ist ihr aber die Parallele mit der wissenschaftlichen Beobachtung und Bewertung ihrer Prozesse, die es ermöglichen, dass sich die Verselbständigung auch nach dem Ende der antiken Institutionen nahezu ungebrochen fortsetzen kann. Das Mittelalter führt, obgleich der Herrschaftsanspruch zeitweilig auf die cäsaristisch organisierte Kirche übergeht, zu keinem Ende der Entwicklung, die ihren unerhört beschleunigten Abschluss aber erst mit der neuzeitlichen Entstehung des Staates findet. Alle Impulse, die diesen Vorgang dynamisieren, beruhen von Machiavelli über Bodin, Hobbes, Locke und Montesquieu bis zu Rousseau und Kant auf einer verstärkten Reflexion der antiken Grundlagen politisch-republikanischer Organisation. Auch das Menschenrecht, das im Übergang vom 17. ins 18. Jahrhundert Konturen gewinnt, ist nicht eigentlich neu. Es wird aus den stoischen Natur- und Vernunftrechtslehren entwickelt, aber in genauer Kenntnis der weiträumig entwickelten Ökonomie sowie im Bewusstsein der kolonial geweiteten Handlungsräume in paradox erscheinender Verschärfung auf das schon in Athen und Rom ausschlaggebende Individuum zugespitzt. Das für die Sicherung und Mehrung des gesellschaftlichen Reichtums als essenziell erkannte Recht des Individuums hat den Schub für das dritte Zeitalter des Politischen freigesetzt: für die Epoche der Konstitution. Deren Besonderheit wurde bereits benannt: Im Akt der ausdrücklichen Konstitutionalisierung unterstellt sich der Staat den hand-
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lungsleitenden Prinzipien des menschlichen Selbstbegriffs. Die Autonomie der Institution steigert sich, indem sie sich allein der Herrschaft ihrer eigenen Instanzen unterstellt. Die Politik hat den letzten Schritt zur Selbststeuerung durch das Recht getan und gerade damit ihren Bürgern die bislang größte geschichtliche Aufgabe gestellt: Die Schaffung einer Rechtsordnung für die ganze menschliche Welt.
8. Die Eigenlogik der Politik Ein Vorzug des skizzierten Epochenmodells liegt darin, dass die von Hegel so anschaulich ausgezeichnete Gegenwart nicht am Ende der politischen Geschichte, sondern am Anfang ihres dritten Aktes steht. Vielleicht hat es die Menschheit in der Hand, noch weitere folgen zu lassen. Darüber wissen wir nichts. Uns bleibt nichts anderes übrig, als den engen praktischen und theoretischen Konnex zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem zu wahren. Wenn überhaupt, kann sich die Zukunft nur im Bewusstsein dieser Verbindung erschließen, die angesichts der Schrecken von Vergangenheit und Gegenwart das beste Palliativ gegen die Angst darstellt. Im Übrigen haben wir auf unsere Kräfte zu vertrauen, was wohl am ehesten gelingt, wenn wir wissen, dass wir sie uns nicht allein verdanken. Deshalb ist die Aussicht, die das Modell bietet, auf die vor uns liegenden Probleme des Ausbaus einer Weltrechtsordnung bezogen. So wie es in der historischen Rekonstruktion auf dem empirischen Gang der Ereignisse basiert, so geht es auch mit Blick auf die Zukunft von der bestehenden Staatenvielfalt aus, nimmt die schon weit vorangetriebene völkerrechtliche Ordnung auf und erlaubt, die bereits etablierten supranationalen Organisationen zu erweitern und zu stärken. Es ist nicht auf die Gründung eines Weltstaats verpflichtet, sondern begünstigt eine föderale Kooperation mit starken subsidiären Elementen, die sich am besten in kontinentaler Nachbarschaft entwickeln können. Deshalb favorisiert es den stärkeren Zusammenschluss der europäischen Staaten und ist von der Hoffnung getragen, dass sich Europa, das an der historischen Entwicklung des Politischen gewiss den größten Anteil hat, zumindest noch eine Weile als Laboratorium der Weltpolitik bewährt. Ein weiterer Vorzug des Modells liegt darin, dass es der Politik eine säkulare Perspektive gibt. Die Politik ist, wie wir alle wissen, das Projektionsfeld weltanschaulicher Interessen. Religiöse Erwartungen haben in ihr von Anfang an eine eminente Rolle gespielt; und wer behauptet, damit werde es demnächst sein Bewenden haben, weiß offenbar nicht, wovon er spricht. Solange die Politik auf die Erhaltung und Entfaltung gemeinschaftlicher Lebensformen ausgerichtet ist, solange sie auf die
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existenziellen Fragen der von ihr betroffenen Menschen bezogen ist, so lange wird sich ihre enge Verbindung zur Religion nicht verlieren. Und dennoch stammt die spezifische Rationalität des Politischen aus dem Pathos der berechenbaren Bewältigung bestehender Lebensprobleme, bei denen religiöse Erwartungen und Interessen lediglich ein Mittel, niemals aber ein Erfüllungsziel des politischen Handelns sind. Bekanntlich behauptet die Politische Theologie das Gegenteil, wenn sie die säkulare Politik als eine abkünftige Form priesterlicher Herrschaft darzustellen sucht. Historisch sind die politischen Theologen in einer günstigen Lage, weil es nicht nur in den frühen Entwicklungsphasen der Politik starke Formen religiöser Organisation gegeben hat, die gelegentlich sogar mit der politischen Herrschaft identisch waren. Aber die Geschichte ist nicht stehen geblieben: „Ursprünglich standen alle Staaten unter der Kirche, und sie befreiten sich später von ihr.“ Mit dieser lapidaren Bemerkung hat Schleiermacher die Politische Theologie erledigt, noch bevor sie entstanden ist.11 Doch selbst für die frühen Zeiten weitgehender Identität von priesterlicher und königlicher Herrschaft lässt sich zeigen, dass die juridisch-politische Lenkung einer Gesellschaft unter weltlichen Erfolgserwartungen steht, die das Religiöse zu Hilfe nehmen, es aber auch neutralisieren oder eliminieren können.12 Die drei Stufen der politischen Entwicklung von der frühen Institutionalisierung über die wachsende nationalstaatliche Autonomie bis hin zur Selbstkonstitution unter dem Anspruch eines kodifizierten Menschenrechts demonstrieren die wachsende Eigenlogik politischer Prozesse. Wer sie bestreitet, der vertritt genau genommen keine andere Auffassung über die Natur der Politik, sondern der möchte eine andere, nicht länger durch das Interesse der Individuen begründete Politik betreiben. Bei Carl Schmitt ist das offenkundig. Es gilt aber auch für seine Weggenossen und Schüler bis in die jüngste Gegenwart.13 Ein Nachhall dieses Missverständnisses ist die oft zitierte Behauptung, die Demokratie beruhe auf Voraussetzungen, die sie selbst nicht sichern könne.14 Der Vorgang der Konstitution beweist das Gegenteil, obgleich man natürlich für die Politik, wie für alle anderen Lebensvorgänge auch, zu 11 12 13
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Friedrich Schleiermacher: Vorlesungen über den Staat, Nachschrift Varnhagen, in: Kritische Gesamtausgabe, Vorlesungen Bd.8, Berlin/New York 1998, 370. Jan Assmann: Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, München 19952. Erneut ließe sich auf Giorgio Agamben verweisen, dem die Lektüre Carl Schmitts dazu verholfen hat, sich von seiner Postmetaphysik des Raumes abzuwenden und zum postpolitischen Nachruf auf die Demokratie überzugehen. Ernst-Wolfgang Böckenfoerde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders.: Staat – Gesellschaft – Freiheit, Frankfurt/M. 1976, 42–64.
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betonen hat, dass der Mensch nur einen kleinen Teil seiner Existenzbedingungen kennt und über einen weitaus kleineren technisch-praktisch verfügt. Gleichwohl kann er einiges tun, um den Risiken vorzubeugen. Der Politik, die sich in ihrer Geschichte fortwährend selbst gefährdet hat, ist mit der positiv-rechtlichen Kodifizierung ihrer Grundprinzipien sogar ein ungewöhnlich weitreichender Schritt zur Sicherung ihrer Konditionen gelungen.
9. Das Glück der Säkularisierung Die Politik, das ist die Konsequenz der historischen Rekonstruktion ihrer Logik, ist von ihrer eigenen juridisch-technischen Dynamik auf Säkularisierung angelegt. Sie ist und bleibt an die organischen Naturvorgänge gebunden, die sich jedoch im Übergang von der Gattung in Gesellschaft zu selbstgesteuerten Prozessen der Kooperation und Koordination steigern. Ihr Grundvorgang ist die hier und jetzt erfolgende Partizipation an den Institutionen, die sie errichtet, um die komplexer werdenden Vorgänge einer an einheitlichen Vorstellungen orientierten politischen Lenkung zu unterwerfen. Mit und in der Institution erhält die bereits in den epistemischen, sozialen und technischen Leistungen des Menschen essenzielle Repräsentation die Form ausdrücklicher Organisation, wobei es wichtig ist zu wissen, dass Repräsentation sich nicht auf die amtsförmige Stellvertretung eines Menschen durch seinesgleichen beschränkt. Es ist vielmehr so, dass die Institution selbst, einschließlich ihrer Verfahren und Ordnungen, auf der Repräsentation eines vorgestellten Ganzen der Gesellschaft durch das eben auch nur vorgestellte Ganze der Institution beruht. Das wiederum ist nur möglich, wenn sich jeder Bürger selbst schon als Repräsentant seiner politischen Gemeinschaft versteht.15 Hier wiederholt sich, was schon die Stellung des Menschen zu Gott ausmacht. Denn auch ihm tritt er als einzelnes Wesen gegenüber, obgleich er ihm, als dem Repräsentanten des Ganzen als Repräsentant sterblicher Menschen in einem ihn selbst und alles andere umfassenden Sinn zugehört.16 Alles das sind Verhältnisse und Vorgänge, die auf die Bedürftigkeit, Empfindlichkeit, Verletzbarkeit und Endlichkeit der handelnden Indi15 16
Auch dazu Volker Gerhardt: Partizipation. Das Prinzip der Politik, Kap. 8.19f. Christof Gestrich: Christentum und Stellvertretung. Religionsphilosophische Untersuchungen zum Heilsverständnis und zur Grundlegung der Theologie, Tübingen 2001, 159ff.; Karl-Heinz Menke: Stellvertretung. Schlüsselbegriff christlichen Lebens und theologische Grundkategorie, Einsiedeln/Freiburg 1991. – Zum epistemologischen und semiotischen Hintergrund vgl. Hermann Deuser: Kleine Einführung in die systematische Theologie, Stuttgart 1999, 54–67.
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viduen gegründet sind. Es geht um Individuen, die von ihrer kooperativen Einbindung in den gesellschaftlichen Prozess wie auch von ihrer generativen Bindung an die Erhaltungsregeln ihrer Gattung wissen. Politik ist immer darauf berechnet, dass auf die jetzt handelnden Menschen andere Menschen folgen. Sie geht in ihrer institutionellen Perspektive scheinbar ungerührt über den Tod des Einzelnen hinweg und setzt auf die jetzt Lebenden, die ihrerseits darauf setzen, dass sie leibhaftige Nachfolger finden. Alle rechtlichen Regeln sind darauf berechnet, dass die nach dem Vorbild von Individuen gebildeten, für Individuen eingerichteten und von Individuen gelenkten Institutionen den Tod der Individuen überdauern. Während der Einzelne letztlich nur für sich selbst auf eine überzeitliche Dauer hoffen kann, muss die Institution auf zeitliche Dauer setzen, in der sie die Lebenszeiten der sie tragenden Personen unablässig überschreitet. Politische Institutionen berechnen ihre Handlungsperspektive im Vertrauen auf den Wechsel der Generationen. Sie sind, im strikten Sinn des Wortes, „säkular“ verfasst. Deshalb muss man den historischen Vorgang der „Säkularisierung“, ganz unabhängig davon, was ihn in Athen und Rom vorbereitet und im neuzeitlichen Europa durchgesetzt hat, als genuin politisch begreifen. Er folgt aus dem sachhaltigen Zwang zur Sicherung der Macht, die auch in einer Willkürherrschaft auf Dauer nur durch das Versprechen weltlicher Problembewältigung gesichert werden kann. Die Säkularisierung ist den europäischen Kirchen nicht erspart geblieben, und niemand kann sie den anderen Glaubensgemeinschaften vorenthalten. Dass sie sich weltweit ereignet, beruht nicht auf dem missionarischen Mutwillen der Europäer oder der Amerikaner. Dagegen ließen sich Kriege führen! Es ist aber so, dass sich die Menschen weltweit selbst zur Teilnahme an den globalen Prozessen entscheiden. Deshalb müssen sie den Weg der säkularen Ernüchterung gehen und Politik nach den Regeln machen, die sich im Prozess einer mehrtausendjährigen Entwicklung von der Institution zu deren Autonomie und Konstitution entwickelt haben.
10. Säkularisierung: eine Chance für den Glauben Die tour de force durch ein neues weltpolitisches Epochenmodell enthält die Zumutung des Neuen. Eine existenzielle Zumutung für den Gläubigen aber dürfte in der Frage liegen, ob die den Gläubigen durch die Dynamik ihres eigenen Lebenswillens abgerungene Säkularisierung nicht auch ein Glücksfall für den Glauben darstellt?
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Natürlich bedeutet sie für die Kirchen einen empfindlichen Machtverlust. Viele Chancen der äußeren Einflussnahme auf die Erziehung und das Verhalten ihrer Gemeindeglieder entfallen. Aber gesetzt, den Gläubigen ist es mit ihrem Glauben ernst, dann werden sie zusammen mit ihresgleichen auch für die Erziehung ihrer Kinder sorgen wollen, dann sollten sie die Festtage des Kirchenjahres, die Rituale der Lebensführung, des Lebensabschieds und des Totengedenkens, die großen Zeugnisse der religiösen Kunst und vielleicht auch das Gemeindeleben zu schätzen wissen. Wenn sie ernsthaft glauben, muss ihr Ehrgeiz darin bestehen, Zeugnis für diesen Glauben abzulegen. Dann werden sie den sozialstaatlich belohnten Glauben als Fremdbestimmung erleben, von der sie sich nur durch ein individuelles Bekenntnis befreien können. – Dass diese Erwartungen nicht abwegig sind, führt uns das lebendige Christentum in jenen Ländern vor, in denen es keine Staatsreligion ist. Das Christentum hat den Vorzug, von Anfang an auf die Freiheit des Einzelnen gegründet zu sein.17 Denken wir nur an jene Stelle im Matthäus-Evangelium 8,21, an der Jesus einen Menschen zur Nachfolge auffordert. Der ist bereit dazu, möchte aber vorher seinen gerade gestorbenen Vater bestatten und sagt: „Herr erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe.“ Ihm aber antwortet Jesus: „Folge du mir, und lass die Toten ihre Toten begraben.“ Wenn Jesus Christus von seinen Jüngern die individuelle Nachfolge verlangt und kompromisslos fordert, weder auf die politische noch auf die priesterliche Herrschaft Rücksicht zu nehmen, ja, wenn er sogar den Bruch mit der überlieferten Sittlichkeit verlangt, dann kann der Christ die Säkularisierung nur als einen Glücksfall für seinen Glauben ansehen. Das hätte wohl auch Schleiermacher so gesehen. Um das zu belegen, genügt die Ergänzung des bereits herangezogenen Zitats aus Varnhagens Nachschrift der Vorlesung über die Politik. Es ist deshalb so bemerkenswert, weil es die Koexistenz einer Pluralität von Religionen zur expliziten Voraussetzung sowohl für die Autonomie des Politischen wie auch für die Souveränität des Glaubens macht: „Ursprünglich standen alle Staaten unter der Kirche, und sie befreiten sich später von ihr. Erhalten fremde Religionen Duldung im Staat und behalten sie Einfluss auf das bürgerliche Recht; so würde die volksthümliche Kirche gegen jene freyen [Religionen] seyn, wenn sie nicht neben dem Staate steht. Diese Stellung gebührt ihr.“18
17
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Volker Gerhardt: Die Religion der Individualität, in: Was hat uns das Christentum gebracht? Versuch einer Bilanz nach zwei Jahrtausenden, hg. von R. Schröder und J. Zachhuber, Münster/Hamburg/London 2003, 15–34. Friedrich Schleiermacher: Vorlesungen über den Staat, Nachschrift Varnhagen, in: Kritische Gesamtausgabe, Vorlesungen Bd.8, Berlin/New York 1998, 370.
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Es ist keineswegs bloß die politische Freiheit, die zur politischen Unabhängigkeit der Religionen führt, sondern es ist die Freiheit des Glaubens, die sie nötig macht.
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Das Christentum – die Religion der Religionen? VON JAN ROHLS/MÜNCHEN
Daß das Christentum die Religion der Religionen und eine Religion höherer Potenz als die anderen Religionen sei, ist eine These, die Schleiermacher in der fünften seiner Reden ‚Über die Religion‘ vertritt. Diese These hat eine Vor- und eine Nachgeschichte. Was die Vorgeschichte betrifft, so grenzt Schleiermacher sich zwar von jenen durch den englischen Deismus inspirierten Versuchen der Aufklärung ab, in den positiven, geschichtlichen Religionen Verfallsformen einer ursprünglichen und daher natürlichen Vernunftreligion zu erblicken. Aber er begründet die Vorrangstellung des Christentums auch nicht mehr wie die Orthodoxie durch den schlichten Rekurs auf die göttliche Offenbarung, sondern durch einen Vergleich der geschichtlichen Religionen. Zudem spricht er von einer geschichtlichen Abfolge der Religionen, wobei das Christentum von ihm deshalb als Religion der Religionen charakterisiert werden kann, weil seine zentrale Idee der Vermittlung von Endlichem und Unendlichem zugleich das Wesen der Religion überhaupt ausmacht, da es in jeder Religion um diese Vermittlung geht. Diese These vom Christentum als der vollendeten oder absoluten Religion hat eine spektakuläre Nachgeschichte gehabt. Denn sowohl Novalis als auch Schelling, Hölderlin und Hegel haben sich auf je verschiedene Weise von ihr inspirieren lassen. Dabei ergaben sich allerdings, was ihre Begründung betrifft, deutliche Abweichungen von Schleiermacher, die es herauszuarbeiten gilt. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß Schleiermacher nicht nur mit der These seiner zweiten Rede, daß es sich bei der Religion um die Anschauung des Universums handle, sondern auch mit der These seiner fünften Rede, daß das Christentum die Religion der Religionen sei, eine entscheidende Bedeutung für die Ausbildung der Religionsphilosophie des Idealismus zukommt.
1. Reimarus, Lessing und Mendelssohn In seinem um 1750 entstandenen Fragment ‚Die vernünftige Religion ist die Grundveste aller Religionen‘ verbindet der Hamburger Orientalist
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Hermann Samuel Reimarus in Anlehnung an den englischen Deismus die Kritik des kirchlich-dogmatischen Christentums mit einer Aufwertung von Judentum und Islam. Das Wesentliche des Judentums erblickt er in lauter vernünftigen Wahrheiten und Vorschriften, wenngleich diese ursprüngliche Vernunftreligion im Laufe der Geschichte durch zahllose Zeremonien verstellt worden sei, so daß sich das Judentum zu einer sklavischen Werkheiligkeit entwickelt habe. Reimarus geht so weit, das vernünftige Judentum mit der Religion Jesu zu identifizieren. Habe doch Jesus die Überzeugung des ursprünglichen vernünftigen Judentums geteilt, daß das Wesentliche des mosaischen Gottesdienstes nicht in äußerlichen Opfern und Zeremonien bestehe, sondern in der vernunftgemäßen Erkenntnis Gottes und dem Doppelgebot der Liebe, an dessen Befolgung er die Verheißung des ewigen Lebens geknüpft habe. Gerade weil das zeitgenössische Judentum die Observanz zeremonieller Gesetze immer stärker in den Vordergrund gerückt habe, habe sich Jesus berufen gefühlt, gegen diese Werkheiligkeit vorzugehen und das Doppelgebot der Liebe als den wahren Gottesdienst neu herauszustellen. Die Aufgabe Jesu bestand also laut Reimarus darin, das Judentum seiner Zeit zu reinigen und die moralisch interpretierte Vernunftreligion als den eigentlichen Kern des Judentums freizulegen. Die Religion Jesu, wie Reimarus sie interpretiert, ist natürlich nicht identisch mit dem kirchlichen Christentum, das sich in seinen Augen mit seinen Dogmen und Zeremonien von der schlichten Religion seines Stifters weit entfernt hat. Aber wenn es die späteren Auswüchse abstoße, so werde es identisch mit der von Jesus gepredigten Vernunftreligion. Von daher gelangt Reimarus schließlich auch zu einer positiven Wertung des Islam. Abgesehen davon, daß er den christlichen Kritikern des Islam vorwirft, kaum über Korankenntnisse zu verfügen, meint er zeigen zu können, „daß fast alles in Mahomets Lehre blos auf vernünftige Sätze hinaus lauffe“.1 Reimarus beruft sich dabei auf Thomas Hyde, der Mohammed als Restaurator der Religion Abrahahams lobt, und auf George Sale, den englischen Übersetzer des Koran aus dem Arabischen, der in der Lehre von der Einheit Gottes die Grundwahrheit der Lehre Mohammeds und zugleich der Religion überhaupt erblickt. Sein Schluß lautet daher, daß die Vernunftreligion die Grundveste aller Religionen sei und der eigentliche Kern sowohl des Judentums als auch des Christentums und des Islam sei. Es ist unverkennbar, daß diese für den Deismus charakteristische Überzeugung, daß die drei monotheistischen Religionen in ihrem Kern 1
H.S. Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, hg. v. G. Alexander, Bd.2, Frankfurt/M. 1972, 655ff.
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der reinen Vernunftreligion entsprechen, von der sie jedoch im Laufe ihrer Entwicklung abgefallen seien, sich auch hinter der Ringparabel in Lessings 1779 gedrucktem Schaupiel ‚Nathan der Weise‘ verbirgt. Die Boccaccios ‚Decamerone‘ entlehnte Parabel geht auf das spätmittelalterliche Judentum und dessen in der Situation der Unterdrückung geborenes Ringen um Duldung zurück. Wenn der Jude Nathan die drei Söhne, die die drei monotheistischen Religionen repräsentieren, als „betrogene Betrüger“ bezeichnet, dann spielt Lessing damit auf das sagenumwobene Buch ‚De tribus impostoribus‘ an, das die drei Religionsstifter Mose, Jesus und Mohammed als Betrüger entlarvt.2 Gegenüber dem Christentum, dessen Intoleranz der Patriarch repräsentiert, wertet Lessing nicht nur das Judentum mit der Gestalt des Nathan, sondern auch den Islam, personifiziert durch den edlen Saladin auf. Im Hintergrund steht dabei der Wandel, den das europäische Islambild im Zusammenhang der sich etablierenden Orientalistik im 18. Jahrhundert erfahren hatte. Dem kirchlichen Christentum, wie es durch den Patriarchen repräsentiert wird, steht Lessing hingegen kritisch gegenüber. Hinter dem Patriarchen verbirgt sich Johann Melchior Goeze, ein Vertreter der lutherischen Spätorthodoxie und Lessings Hauptgegner im Streit um die Fragmente aus der „Apologie“ des Reimarus. Aus der Sicht Sittahs, der Schwester Saladins, stellen sich die Christen so dar: „Ihr Stolz ist: Christen sein; nicht Menschen. Denn Selbst das, was, noch von ihrem Stifter her, Mit Menschlichkeit den Aberglauben würzt, Das lieben sie, nicht weil es menschlich ist: Weil’s Christus lehrt; weil’s Christus hat getan.“3
Die Christen – so Sittahs Vorwurf – interessieren sich ausschließlich für die Verbreitung des Namens Christi, nicht aber für seine Tugend. An späterer Stelle versucht Nathans Tochter Recha Sittah gegenüber den Bekehrungseifer ihrer christlichen Gesellschafterin gleichsam zu entschuldigen: „Ach! Die arme Frau – ich sag dir’s ja – Ist eine Christin; – muß aus Liebe quälen;– Ist eine von den Schwärmerinnen, die Den allgemeinen, einzig wahren Weg Nach Gott zu wissen wähnen! 2
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Vgl. W. Schröder: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. Und 18. Jahrhunderts, Stuttgart/Bad Canstatt 1998, 424ff.; F. Niewöhner: Veritas sive Varietas. Lessings Toleranzparabel und das Buch Von den drei Betrügern, Heidelberg 1988; A. Schmitt: „Die Wahrhei6t rühret unter mehr als einer Gestalt“. Versuch einer Deutung der Ringparabel in Lessings ‚Nathan der Weise‘ ‚more rabbinico‘, in: Neues zur Lessing-Forschung, hg. von E.J. Engel und C. Ritterhoff,, Tübingen 1998, 69ff. G.E. Lessing: Nathan der Weise, II, 1, V.81ff.
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… Und sich gedrungen fühlen, einen jeden, Der dieses Wegs verfehlt, darauf zu lenken.– Kaum können sie auch anders. Denn ist’s wahr, Daß dieser Weg allein nur richtig führt: Wie sollen sie gelassen ihre Freunde Auf einem andern wandeln sehn, – der ins Verderben stürzt, ins ewige Verderben?“4
Für den Patriarchen schließlich wird alle natürliche Menschenliebe bedeutungslos, wo es um das ewige Seelenheil Rechas geht, die sich ja als Christin entpuppt und vom Juden Nathan nur großgezogen wurde.5 Lessing beläßt es allerdings nicht bei diesem rein negativen Bild des Christentums. Das Gegenstück zum Patriarchen ist vielmehr der Klosterbruder, der die Pflege Rechas durch den jüdischen Ziehvater Nathan höher zu schätzen weiß als die christliche Taufe. Denn „Kinder brauchen Liebe,/ Wär’s eines wilden Tieres Lieb‘ auch nur,/ In solchen Jahren mehr, als Christentum“.6 Zusätzlich wird die Erziehung der jungen Christin durch den Juden noch damit begründet, daß das ganze Christentum doch auf das Judentum gebaut sei, ja, daß Jesus selbst, was die Christen leicht verdrängen, ein Jude war. Als Nathan ihm dann offenbart, daß er das Christenkind Recha angenommen habe, obwohl seine eigene Familie einen Pogrom der Christen zum Opfer gefallen sei, bricht es aus dem Klosterbruder heraus: „Nathan! Nathan!/ Ihr seid ein Christ! – Bei Gott, Ihr seid ein Christ!/ Ein beßrer Christ war nie.“7 Und Nathan antwortet: „Wohl uns! Denn was/ Mich Euch zum Christen macht, das macht Euch mir/ Zum Juden!“8 Es ist die ethische Haltung, die den Juden in dem Christen den Juden und den Christen in dem Juden den Christen erkennen läßt. Und wenn sich schließlich noch herausstellt, daß nicht nur Recha von Haus aus Christin, sondern sie wie der Tempelherr beide Kinder von Saladins Bruder sind, dann wird die Verwandtschaft der drei monotheistischen Religionen vollends offenkundig. Damit aber ist man bei Nathans Ringparabel, die als den wahren Kern dieser Religionen die Humanität herausstellt. Sie handelt von einem Mann im Osten, der einen Ring von unschätzbarem Wert besaß, dem die geheime Kraft eignete, den vor Gott und Menschen angenehm zu machen, der ihn in dieser Zuversicht trug. Damit spielt Lessing an auf eine fiktive allein wahre Religion, an deren Stelle schließlich die drei positiven Offenbarungsreligionen treten, symbolisiert durch die dem 4 5 6 7 8
Ebd., V, 6, V.434ff. Ebd., IV, 2, V.116ff. Ebd., IV, 7, V.35ff. Ebd., IV, 7, V.688ff. Ebd., IV, 7, V.690ff.
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ursprünglichen Ring nachgeahmten drei Ringe, die ein Nachkomme jenes Mannes seinen drei Söhnen vermacht, die alle das Erbe für sich beanspruchen. Denn Judentum, Christentum und Islam erheben ja je für sich den Anspruch, die allein wahre Religion zu sein. Lessing bezweifelt, daß dieser Anspruch sich einlösen läßt. „Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? Geschrieben oder überliefert! – Und Geschichte muß doch wohl allein auf Treu Und Glauben angenommen werden? – Nicht? Nun, wessen Treu und Glauben zieht man denn Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen?“9
Jeder schenkt also der Religion, in der er aufgewachsen ist, den meisten Glauben, so daß sich der Religionsstreit auf dem Boden der Geschichte nicht entscheiden läßt. Die Lösung des weisen Richters orientiert sich dann an der ethischen Wirkung, die mit dem ursprünglichen echten Ring verbunden war, der Wunderkraft, vor Gott und Menschen angenehm zu machen. Wenn also die drei Religionen mit einem exklusiven Wahrheitsanspruch auftreten, sich mithin nur selbst am meisten lieben, dann sind sie alle drei betrogene Betrüger. Damit widersprechen sie aber dem Verhalten des Vaters, der seine drei Söhne alle gleichermaßen liebte und ihnen deshalb allen das gleiche Imitat vermachte. Die Aufforderung des Richters an die Söhne bemißt sich an dieser Liebe: „Es eifre jeder seiner unbestochnen Von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut, Mit herzlichem Vertrauen, mit Wohltun, Mit innigster Ergebenheit in Gott Zu Hilf’!“10
Mit dieser Aufforderung entläßt der weise Richter die Söhne und überläßt das endgültige Urteil über die drei Religionen einem eschatologischen Richter, der sie an ihrer praktischen Humanität messen wird. Lessing erkennt zwar die Offenbarungsreligionen als zunächst gleichberechtigt an. Aber ihre Wahrheit bemißt sich an dem Kriterium der praktischen Humanität als einem Vernunftideal. Denn Wahrheit läßt sich niemals durch Berufung auf Geschichte, sondern nur durch Vernunft begründen. Das bedeutet nicht, daß Lessing die Offenbarung schlichtweg zugunsten der Vernunft preisgibt oder wie Reimarus in Anlehnung an Tindal eine Vernuftreligion als das Ursprüngliche annimmt und die Offenbarungsreligionen nur als deren Depravation begreift. 9 10
Ebd., III, 7, V.459ff. Ebd., III, 7, V.524ff.
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Vielmehr vertritt er in seiner Auseinandersetzung mit Goeze die These, daß die Offenbarungsreligionen einen praktisch vernünftigen Kern hätten, den es herauszuarbeiten gelte. „Die geoffenbarte Religion setzt im geringsten nicht eine vernünftige Religion voraus: sondern schließt sie in sich“.11 Das bedeutet aber, daß für Lessing die geschichtliche Offenbarung ein Instrument ist, durch das dem Menschen etwas vermittelt wird, was einen vernünftigen Kern hat. Daher dient sie der Erziehung des Menschen auf dem Wege der Ausbildung seiner Vernunft. Die Offenbarung ist „Erziehung, die dem Menschengeschlechte geschehen ist, und noch geschieht“.12 Die Erziehung kann dem Menschen aber nichts geben, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte, nur gibt sie es ihm geschwinder und leichter. Dementsprechend kann auch die Offenbarung dem Menschengeschlecht nichts geben, worauf die menschliche Vernunft nicht auch kommen würde, nur daß sie ihm die betreffenden Inhalte früher gab, so daß die Vernunft bis zum Zeitpunkt der Offenbarung niemals von selbst auf sie gekommen wäre.13 Dabei verfolgt der göttliche Erzieher bei seiner Offenbarung eine bestimmte Ordnung, die sich an der Rezeptionsfähigkeit seiner Adressaten orientiert. In seiner 1780 postum publizierten, aber bereits 1777 entstandenen ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘ zeichnet Lessing eine postlapsarische Offenbarungsgeschichte nach, deren Etappen nach dem Zerfall eines Urmonotheismus in Polytheismus er den drei Lebensaltern zuordnet, wobei die Religion Israels und des Judentums der Kindheitsstufe und das Christentum dem Jünglingsalter entspricht, während das Erwachsenenalter auf eine zukünftige Herrschaft der Vernunft mit einem neuen ewigen Evangelium bezogen wird. Durch die Offenbarung wird Israel ein zunächst noch roher Begriff des einen Gottes und eine auf sinnliche Strafen und Belohnungen ausgerichtete Gesetzesmoral vermittelt. Erst im Exil wird unter persischem Einfluß der Schritt vom Nationalgott Israels zum wahren Monotheismus vollzogen. Zwar kommt man auch schon mit dem Unsterblichkeitsglauben der Perser, Ägypter und Griechen in Berührung. Aber erst Jesus tritt als der erste durch Wunder beglaubigte und daher zuverlässige Lehrer der Unsterblichkeit der Seele auf, der zugleich deren praktischer Lehrer ist, weil für ihn die Unsterblichkeit die Begründung für die Forderung nach innerer Reinheit des Herzens ist. Die Jünger ergänzen nach seinem Tod diese große Lehre durch andere geoffenbarte Lehren, von denen Lessing meint, daß sie Vernunftwahrheiten enthielten, die es nur herauszuar-
11 12 13
G.E. Lessing: Werke und Briefe in 12 Bänden, hg. von W. Barner zusammen mit K. Bohner u.a., Frankfurt/M. 1985ff., Bd.8, 319. G.E. Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts, §2. Ebd., §§4.77.
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beiten gelte. „Als sie geoffenbaret wurden, waren sie freilich noch keine Vernunftswahrheiten; aber sie wurden geoffenbaret, um es zu werden“.14 Er verdeutlicht das, wie schon in seinem frühen Fragment ‚Das Christentum der Vernunft‘ von 1752/53, unter anderem an der Trinitätslehre, die für ihn mit der Setzung der Differenz von Vater und Sohn die Erschaffung der Welt impliziert. Diesen Übergang der Menschheit von der Offenbarung zur aufgeklärten Vernunft, die die Vernunft auch in der Offenbarung erkennt, ordnet Lessing dem dritten Zeitalter des Geistes zu, in dem Altes und Neues Testament abgelöst werden durch ein neues ewiges Evangelium einer auf Vernunft gegründeten praktischen Humanität, die nicht mehr durch die Aussicht postmortalen Lohns motiviert ist. Zwar lehnt Moses Mendelssohn in seinem 1783 erschienenen Werk ‚Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum‘ Lessings Konzept einer Offenbarungsgeschichte mit den Worten ab: „Ich für meinen Theil habe keinen Begriff von der Erziehung des Menschengeschlechts, die sich mein verewigter Freund Lessing von, ich weiß nicht, welchem Geschichtsforscher der Menschheit, hat einbilden lassen. […] Ihr wollt errathen, was für Absichten die Vorsehung mit der Menschheit hat? Schmiedet keine Hypothesen, schauet nur umher auf das, was wirklich geschiehet […] Dieses ist die Thatsache, dieses muß zur Absicht gehört haben […] Nun findet ihr, in Absicht auf das gesamte Menschengeschlecht, keinen beständigen Fortschritt in der Ausbildung, der sich der Vollkommenheit immer näherte. Vielmehr sehen wir das Menschengeschlecht im Ganzen kleine Schwingungen machen, und es that nie einige Schritte vorwärts, ohne bald nachher, mit gedoppelter Geschwindigkeit, in seinen vorigen Stand zurück zu gleiten“.15
Mendelssohn teilt vielmehr die deistische Überzeugung, daß der menschlichen Vernunft zu allen Zeiten die zentralen Wahrheiten über Gott in Gestalt einer natürlichen Vernunftreligion zugänglich gewesen seien. Tatsächlich wirft Lessings offenbarungsgeschichtliche Konzeption ja einige Fragen auf, nicht zuletzt die, wie es sich denn innerhalb dieser Konzeption mit einer Religion wie dem Islam verhält, die auf Judentum und Christentum aufbaut und zeitlich auf das Christentum folgt. Unklar ist zudem, wie sich diese Konzeption der Erziehungsschrift mit der prinzipiellen Gleichstellung der drei monotheistischen Religionen im ‚Nathan‘ verträgt. Das Gemeinsame beider Ansätze besteht nur darin, daß der Maßstab, an dem sie gemessen werden, in beiden Fällen die Vernunft und die auf ihr gründende Humanität ist. Entweder der Kern
14 15
Ebd., §76. M. Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, in Zusammenarbeit mit F. Bamberger u.a. begonnen von I. Elbogen u.a., fortgesetzt von A. Altmann und E.J. Engel, Stuttgart/Bad Canstatt 1971ff., Bd.8, 162f.
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aller drei Religionen ist die Vernunftmoral oder aber es gibt eine geschichtliche Abfolge dieser Religionen, in der das Christentum sich als die höchste unter ihnen erweist.
2. Herder, Goethe, Schiller und Kant Daß Religion und Humanität aufs engste zusammengehören, ist eine These, die sich auch in Herders ‚Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‘ findet, die nur drei Jahre nach Lessings Erziehungsschrift erscheinen. Herder greift Lessings Gedanken einer Erziehung des Menschengeschlechts auf, wenn er auch das Eigenrecht der unterschiedlichen Epochen und Kulturen stärker betont.16 So heißt es von dem die Geschichte lenkenden Gott: „Alle seine Mittel sind Zwecke, alle seine Zwecke Mittel zu größeren Zwekken, in denen der Unendliche allerfüllend sich offenbaret. Was also jeder Mensch ist und sein kann, das muß Zweck des Menschengeschlechts sein; und was ist dies? Humanität und Glückseligkeit auf dieser Stelle, in diesem Grad, als dies und kein andres Glied der Kette von Bildung, die durchs ganze Geschlecht reichet“.17
Religion ist für Herder jedoch die höchste Humanität des Menschen, und zwar als Verstandestätigkeit ebenso wie als Übung des menschlichen Herzens.18 Denn er erklärt, „daß nur Religion es gewesen sei, die den Völkern allenthalben die erste Kultur und Wissenschaft brachte, ja, daß diese ursprünglich nichts als eine Art religiöser Tradition waren“.19 Zwar hebt sich der Mensch durch seine Vernunft vom Tier ab. Wenn aber Vernunft es mit der Verknüpfung von Ursache und Wirkung zu tun hat, dann setzt sie eine „Art religiösen Gefühls unsichtbarer wirkender Kräfte im ganzen Chaos der Wesen“, das den Menschen umgab, voraus.20 Ebenso wie die Kausalitätsidee setzt aber die Vernunftidee der Unsterblichkeit ein allgemeines religiöses Gefühl von der Fortdauer der Seele nach dem Tode voraus. Und schließlich ist die bei allen Menschen vorhandene innere Anlage zur Humanität älter als die spekulative Vernunft und hat ihre Wurzeln in der Religion. Da Herder die Kulturgeschichte der Menschheit in China beginnen läßt, bezieht er auch die asiatischen Religionen in seine Betrachtung mit ein, geht dann zu den 16 17 18 19 20
J.G. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Darmstadt 1966, 226. Ebd., 228. Ebd., 128f. Ebd., 246. Ebd., 247.
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vorderorientalischen Religionen einschließlich der hebräischen und ägyptischen über, um erst nach der Behandlung der griechischen und römischen Religion sich abschließend dem Christentum zuzuwenden. In dessen ursprünglicher Gestalt, nicht in seiner kirchlichen Verfallsform, erblickt Herder den Kulminationspunkt der Verbindung von Religion und Humanität. Von Jesus heißt es: „Die echteste Humanität ist in den wenigen Reden enthalten, die wir von ihm haben; Humanität ists, was er im Leben bewies und durch seinen Tod bekräftigte; wie er sich denn selbst mit einem Lieblingsnamen den Menschensohn nannte“.21 Die allgemeine Realisierung der Humanität ist nicht nur für Herder das menschliche Ideal der Glückseligkeit auf Erden, sondern sie findet ihren Ausdruck auch in der Gottesreichverkündigung Jesu. Denn was Jesus verkündigt, ist in Herders Augen ein geistiges Reich, bewohnt von Menschen Gottes, die die Humanität befördern. Das nachösterliche Christentum und dessen Geschichte sieht er allerdings weitgehend kritisch als einen Prozeß der Dogmatisierung und Klerikalisierung. In den unmittelbaren Umkreis der Entstehung von Herders ‚Ideen‘ gehört das Fragment eines religiösen Epos, das Goethe 1784/85 verfaßt und 1789 unter dem Titel ‚Die Geheimnisse‘ publiziert. Es handelt von einer religiöse Bruderschaft, deren Mitglieder die verschiedenen Religionen repräsentieren, die allerdings nicht mit einem absoluten Wahrheitsanspruch auftreten und sich dementsprechend gegenseitig bekämpfen, sondern die sich in einer Urreligion zusammenfinden, die die Wahrheitsmomente aller Religionen in sich integriert. Herder zitiert in seinen ‚Ideen‘, wenngleich nicht ganz präzise, genau an der Stelle, wo er von der Behandlung der heidnischen Religionen überleitet zur Darstellung der Religion Jesu als der vollkommensten Humanitätsreligion, eine Strophe aus Goethes Fragment. „Das Zeichen ward jetzt prächtig aufgerichtet, Das aller Welt zu Trost und Hoffnung steht, Zu dem viel tausend Geister sich verpflichtet, Zu dem viel tausend Herzen warm gefleht, Das die Gewalt des bittern Tods vernichtet, Das in so mancher Siegefahne weht; Ein Schaur durchdringt des wilden Kriegers Glieder; Er sieht das Kreuz, und legt die Waffen nieder.“22
Wie Herder sieht auch Goethe den wahren Kern jeder Religion in ihrem Beitrag zur Humanität. Die zitierte Strophe beschreibt jene Szene, wo Bruder Markus das auf hohem Berg gelegene Kloster erreicht und auf
21 22
Ebd., 441. Ebd., 440.
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dem Bogen der Pforte ein geheimnisvolles Bild erblickt: das mit Rosen umschlungene Kreuz. Bruder Markus findet Einlaß im Kloster, in dem sich zwölf Ritter unter der Leitung eines im Sterben begriffenen Oberen zur Verehrung Gottes zusammengefunden haben. Der Obere trägt den bezeichnenden Namen „Humanus“. In seinem 1816 gedruckten Kommentar zu dem Epenfragment erklärt Goethe die Rittermönche als Repräsentanten der verschiedenen Religionen, die aufgrund ihrer klimatischen und nationalen Besonderheiten Gott auf verschiedene Weise verehren. Zwar ist die Gottesverehrung der jeweiligen Religionen als einzelne genommen unvollkommen, aber durch die Annäherung an den als Vermittler zwischen ihnen dienenden Humanus gelangen sie zur höchsten Ausbildung. Die Rittermönche repräsentieren somit jene Momente der Religionen, in denen sie die Humanität am stärksten verwirklicht haben. Denn Goethe ist der Überzeugung, „daß jede besondere Religion einen Moment ihrer höchsten Blüte und Frucht erreiche, worin sie jenem obern Führer und Vermittler sich angenaht, ja sich mit ihm vollkommen vereinigt“.23 Weil sich sein Geist durch langes Zusammenleben mit den Rittern inzwischen in ihnen allen verkörpert, kann der Humanus von ihnen Abschied nehmen. Der Humanus selbst vereinigt die verschiedenen Religionen in sich – er ist ebenso Christus wie Herakles und Moses-, was soviel bedeutet, daß die verschiedenen Religionen in der Humanität aufgehoben sind wie umgekehrt die Humanität die verschiedenen Religionen durchdringt.24 Die Humanität besteht aber in der Überwindung der eigenen Grenzen: „‚Von der Gewalt, die alle Wesen bindet,/ Befreit der Mensch sich, der sich überwindet.‘“25 Das auf die Rosenkreuzer zurückweisende Symbol über dem Klosterportal bedeutet dann die Milderung des schroffen Kreuzesholzes durch die Schönheit und Milde der Humanität, repräsentiert durch die Rosen. Die Bevorzugung einer bestimmten positiven Religion läßt sich in Goethes „Geheimnissen“ allerdings anders als in Herders „Ideen“ nicht finden. Das Entscheidende ist vielmehr, daß sich die verschiedenen Religion darin einander berühren, daß ihnen allen ein humaner Kern innewohnt und sie den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreichen, wenn dieser Kern hervortritt. Zur Vollendung des Epos fehlte Goethe allerdings nicht nur die genauere Kenntnis der Religionen, sondern der Beginn der italienischen Reise bedeutet zugleich eine fortschreitende Entfremdung von der Ideenwelt Herders, damit aber auch vom Christentum und eine Hinwendung zur heidnischen Antike, wie sie dann für die Weimarer Klas23 24 25
J.W. von Goethe: Werke, hg. v. E. Trunz, Bd.2, 15. Aufl., München 1994, 283. Ebd., 275f. Ebd., 276.
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sik bestimmend wird. Das Christentum wird nun nicht mehr wie bei Lessing mit den beiden anderen monotheistischen Religionen verglichen, auch nicht mehr wie bei Herder zumindest in der Gestalt Jesu als Vollendung der Verbindung von Religion und Humanität gesehen, sondern es erfährt in Schillers 1788 erstmals veröffentlichter Elegie ‚Die Götter Griechenlands‘ eine negative Bewertung im Vergleich zu dem idealisierten griechischen Polytheismus. Eine entgötterte Natur der durch den christlichen Monotheismus geprägten Moderne wird einem von den olympischen Göttern durchwalteten Kosmos gegenübergestellt. „An der Liebe Busen sie zu drücken, Gab man höhern Adel der Natur. Alles wies den eingeweihten Blicken, Alles eines Gottes Spur“.26
Zwischen Menschen, Göttern und Heroen knüpfte Amor einen schönen Bund, und Dichtung, Musik und Bildhauerei schufen mit ihren Werken einen Himmel auf Erden, während der Schöpfer in der Moderne dem Menschen verborgen bleibt. „Nennt der meinige sich dem Verstande Birgt ihn etwa der Gewölke Zelt? Mühsam späh ich im Ideenlande, Fruchtlos in der Sinnenwelt“.27
Selbst der Tod war in der Antike kein gräßliches Gerippe, da einen das ernste Schicksal durch den Schleier sanfter Menschlichkeit anblickte. „Schöne Welt, wo bist du? – Kehre wieder, Holdes Blütenalter der Natur! Ach! Nur in dem Feenland der Lieder Lebt noch deine goldne Spur. Ausgestorben trauert das Gefilde, Keine Gottheit zeigt sich meinem Blick, Ach! Von jenem lebenswarmen Bilde Blieb nur das Gerippe mir zurück“.28
Es ist der Vorgang der Entgötterung der Natur durch die neuzeitliche Naturwissenschaft, den Schiller als Verlust beklagt. An die Stelle der Götter sei das Gesetz der Schwerkraft getreten, und eben dies sei eine Folge des jüdisch-christlichen Monotheismus. „Alle jenen Blüten sind gefallen Von des Nordes winterlichem Wehn.
26 27 28
F. Schiller: Sämtliche Werke, Bd.1, hg. v. Al. Meier, München 2004, 163. Ebd., 165. Ebd., 167.
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Einen zu bereichern, unter allen, Mußte diese Götterwelt vergehn“.29
Diese Entgötterung der Natur durch den transzendenten Schöpfergott bewirkt zugleich einen Verlust der Menschlichkeit. Denn: „Da die Götter menschlicher noch waren,/ Waren Menschen göttlicher“.30 Die durch Winckelmann angeregte Apotheose des griechischen Polytheismus mit seiner Einheit von Göttlichem und Menschlichem, manifest in der künstlerischen Gestaltung der Götter, ist zugleich eine Klage über den durch das Christentum bedingten Verlust dieser Einheit in der Moderne. Direkt nach der Publikation der Elegie kommt es zu einer heftigen Kontroverse, die sich an dieser Kritik des Christentums und der Hochschätzung der griechischen Religion entzündet. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg wirft Schiller in einer noch im Erscheinungsjahr veröffentlichten Rezension des Gedichtes eine Verharmlosung der inhumanen Aspekte der heidnischen Religion vor. Selbst Körner schreibt an Schiller: „Einige Ausfälle wünschte ich weg, die nur die plumpe Dogmatik, nicht das verfeinerte Christenthum treffen“.31 Schiller selbst wehrt sich allerdings gegen die Kritik mit dem Hinweis, er habe keineswegs die griechische Religion als solche verklären wollen, vielmehr sei es ihm um die ästhetische Vision einer völlig harmonischen Welt im Kontrast zur modernen Naturentfremdung gegangen. In der 1793 publizierten Neufassung der Elegie bringt Schiller dies in der Schlußstrophe denn auch zum Ausdruck, wenn es über die der Natur entflohenen Götter heißt: „Aus der Zeitflut weggerissen, schweben Sie gerettet auf des Pindus Höhn, Was unsterblich im Gesang soll leben, Muß im Leben untergehn“.32
Der Untergang des griechischen Polytheismus ist demnach die Voraussetzung der ästhetischen Verklärung der antiken Götterwelt. An die Stelle der griechischen Religion tritt ihre Aufhebung in der Kunst der Weimarer Klassik. Die ästhetische Verklärung der griechischen Götter verbindet sich bei Schiller mit seiner Kritik an Kants Dualismus von Pflicht und Neigung, Moral und Sinnlichkeit. Denn zwischen beiden vermittelt Schiller zufolge die Schönheit. „In einer schönen Seele ist es also, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmoniren, und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung“, heißt es in der Ab-
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Ebd., 167f. Ebd., 169. NA 33/I, 180. Schiller: Werke, Bd.1, a.a.O. (Anm.26), 173.
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handlung ‚Über Anmuth und Würde‘ von 1793.33 In seinem Gedicht ‚Das Reich der Schatten‘, das er 1795 in den ‚Horen‘ publiziert, wird die ideale Einheit von Sinnenglück und Seelenfrieden, wie sie in der Welt der griechischen Götter herrscht, als schöne Gestalt und über die Materie triumphierende Form vergegenwärtigt. „Aber frei von jeder Zeitgewalt, Die Gespielin seliger Naturen Wandelt oben in des Lichtes Fluren, Göttlich unter Göttern, die Gestalt. Wollt ihr hoch auf ihren Flügeln schweben, Werft die Angst des Irdischen von euch. Fliehet aus dem engen, dumpfen Leben In des Ideales Reich!“34
Die sinnliche Erfahrung der schönen Gestalt, versinnbildlicht durch die antiken Götter, führt den Menschen zur Erfahrung des Einklangs von Pflicht und Neigung. Das moralische Gesetz steht dem Menschen nicht länger als furchteinflößende Macht gegenüber, der er sich unterwerfen soll, sondern durch die Erfahrung des Schönen, in dem Sinnlichkeit und Vernunft harmonieren, gelangt der Mensch zur Harmonie von Pflicht und Neigung. „Nehmt die Gottheit auf in euren Willen, Und sie steigt von ihrem Weltenthron. Des Gesetzes strenge Fessel bindet Nur der Sklavensinn, der es verschmäht, Mit des Menschen Widerstand verschwindet Auch des Gottes Majestät“.35
Die ästhetische Repräsentation der griechischen Götterwelt dient bei Schiller nicht nur als Kompensation für die Entgötterung der Natur durch den jüdisch-christlichen Monotheismus, sondern sie dient auch der Überwindung des kantischen Dualismus von Pflicht und Neigung. Kant selbst lag eine derartige ästhetische Aufhebung des antiken Polytheismus im Dienste der Moral völlig fern. Seine eigene Religionsschrift, ‚Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‘, 1793 in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu Schillers Kantrezeption erschienen, setzt sich das Ziel einer moralischen Interpretation allein des Christen33 34 35
NA 20, 288. Schiller, Werke, Bd.1, a.a.O. (Anm.26), 201. Ebd., 204. Vgl. W. Frühwald: Der Streit um die „Götter Griechenlandes“, in: JbDSG 13 (1969), 251–271; H.–D. Dahnke: Die Debatte um „Die Götter Griechenlandes“, in: Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts, Bd.1, hg. v. H.–D. Dahnke u. B. Leistner, Berlin/Weimar 1989, 193–269; N. Oellers: Stolberg, das Christentum und die Antike. Der Streit mit Schiller, in: Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750–1819), hg. v. F. Baudach, J. Behrens und U. Pott, Eutin 2002, 109–126.
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tums, das er nur nebenbei vom Judentum abgrenzt. Mit dieser Deutung des Christentums mit Hilfe der praktischen Vernunft führt er den Ansatz Lessings fort, Vernunft auch in den Glaubensgehalten der christlichen Religion aufzuweisen. Dazu unterscheidet Kant zwischen dem reinen Religionsglauben oder Vernunftglauben und dem Kirchenglauben oder historischen Offenbarungsglauben, wie er durch Schrift und Tradition fortgepflanzt wird. Daß es einen Kirchenglauben neben dem Vernunftglauben gibt, ergibt sich für Kant „wegen des natürlichen Bedürfnisses aller Menschen, zu den höchsten Vernunftbegriffen und Gründen, immer etwas Sinnlich-Haltbares, irgendeine Erfahrungsbestätigung u.d.g. zu verlangen“.36 Der Monotheismus ist für Kant ein Implikat der praktischen Vernunft. Denn der Begriff eines nur nach reinmoralischen Gesetzen bestimmten göttlichen Willens läßt uns nur einen einzigen Gott denken. Eben deshalb kann es aber auch nur eine einzige rein moralische Vernunftreligion geben, die nun ihrerseits als höchster Ausleger des Kirchenglaubens dienen muß, wenn denn der Kirchenglaube allmählich abgelöst werden soll durch die Alleinherrschaft des reinen Religionsglaubens. Was daher den christlichen Offenbarungsglauben betrifft, den Kant allein behandelt, so „wird eine Auslegung der uns zu Händen gekommenen Offenbarung erfordert, d.i. durchgängige Deutung derselben zu einem Sinn, der mit den allgemeinen praktischen Regeln einer reinen Vernunftreligion zusammenstimmt. Denn das Theoretische des Kirchenglaubens kann uns moralisch nicht interessiren, wenn es nicht zur Erfüllung aller Menschenpflichten als göttlicher Gebote (was das Wesentliche aller Religion ausmacht) hinwirkt“.37 Allerdings ist Kant der Meinung, daß die christliche Religion vor dem Judentum den Vorzug habe, „daß sie aus dem Munde des ersten Lehrers als eine nicht statuarische, sondern moralische Religion hervorgegangen, vorgestellt wird und, auf solche Art mit der Vernunft in die engste Verbindung tretend, durch sie von selbst auch ohne historische Gelehrsamkeit auf alle Zeiten und Völker mit der größten Sicherheit verbreitet werden konnte“.38
36 37 38
I. Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd.6, Berlin 1968, 109. Ebd., 110. Ebd., 167. Vgl. W. Jaeschke: Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels, Stuttgart-Bad Canstatt 1986, 78ff.; A. Winter: Theologiegeschichtliche und literarische Hintergründe der Religionsphilosophie Kants, in ders.: Der andere Kant, Zur philosophischen Theologie Kants, Hildesheim 2000, 425–476; S.R. Palmquist: Kant’s Critical Religion, Hampshire 2000.
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3. Der junge Hegel Zwar erblickt Kant in dem christlichen Offenbarungsglauben ein Vehikel der Vernunftreligion. Aber die Frage ist, wie der Offenbarungsglaube diese Funktion übernehmen kann, wenn er doch selbst nur insoweit zulässig ist, als er sich durch die moralische Vernunftreligion interpretieren läßt, sich also innerhalb der Grenzen der praktischen Vernunft bewegt. Während Lessing die Offenbarungsgeschichte als einen Erziehungsprozeß deutet, der schließlich zur Vernunft führt, werden die praktische Vernunft und die in ihr gründende reine Vernunftreligion von Kant immer schon vorausgesetzt. In seinen 1793/94 entstandenen und ‚Volksreligion und Christentum‘ betitelten Fragmenten nimmt der junge Hegel Kants Vehikelvorstellung unter einer veränderten Perspektive auf. Hegels Interesse gilt dabei der Volksreligion, so daß sich für ihn die Frage stellt, wie eine Volksreligion, die niemals auf bloßer Vernunft gebaut ist, sondern immer auch Elemente der Positivität und des Statuarischen enthält, erreichen kann, daß das Volk zur praktischen Vernunftreligion geführt wird. Dazu müssen erstens ihre Lehren in der allgemeinen Vernunft gegründet, damit aber einfach und menschlich sein. Zweitens dürfen Phantasie, Herz und Sinnlichkeit dabei nicht leer ausgehen. Drittens schließlich muß sie so beschaffen sein, daß sich alle Bedürfnisse des öffentlichen Lebens daran anschließen.39 Hegel ist allerdings der Auffassung, daß gerade das Christentum diese Kriterien nicht erfülle und daher keine Volksreligion sein könne, die das Volk zur praktischen Vernunftreligion zu führen in der Lage sei. Das erste Kriterium erfüllt es nicht, weil es über die allgemeine Vernunft hinausgeht, das dritte hingegen deshalb nicht, weil sie den Menschen nicht auf die Gesellschaft, sondern auf den Himmel hin ausrichtet. Was schließlich das zweite Kriterium betrifft, so klagt Hegel über die christliche Religion, in ihr sein „nicht für die Phantasie gesorgt wie bei den Griechen, sie ist traurig und melancholisch, – orientalisch, nicht auf unserem Boden gewachsen, kann sich nie damit assimilieren“.40 Zwar erkennt er den erhabenen Charakter der Moral Jesu an, aber bereits in der nachösterlichen Gemeinde sei – wie es in Anlehnung an Lessings ‚Nathan‘ heißt – der Glaube an Christus in den Vordergrund geschoben worden, sei an die Stelle der Moral getreten oder werde zu ihrer Begründung herangezogen.41 In seinen Studien zur
39 40 41
G.W.F. Hegel: Werke, hg. v. E. Moldenhauer u. K.M. Michel, Bd.1, Frankfurt/M. 1971, 33. Ebd., 72. Ebd., 84ff.
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‚Positivität der christlichen Religion‘, die 1795/96 in Bern entstanden, fragt Hegel nach den Ursachen dafür, daß Jesus, „der sich nicht gegen die eingeführte Religion selbst, sondern nur gegen den moralischen Aberglauben, durch die Beobachtung ihrer Gebräuche den Forderungen des Sittengesetzes Genüge geleistet zu haben, erklärte; der nicht auf eine auf Autorität gegründete Tugend […], sondern auf eigene, freie Tugend drang, – daß ein solcher Lehrer Veranlassung zu einer positiven (auf Autorität gegründeten und den Wert des Menschen gar nicht oder wenigstens nicht allein in Moral setzenden) Religion geben würde“.42
Zwar stellt Hegel nach wie vor Jesus als den Lehrer einer rein moralischen Religion dar. Aber er gelangt jetzt zu der Einsicht, daß bereits in den Bedingungen seines Wirkens der Keim zur Positivität des späteren Christentums angelegt sei, und zwar aus mehreren Gründen. Denn zum einen mußte Jesus neben der Verkündigung einer Tugendreligion „auch notwendig immer sich, den Lehrer derselben, ins Spiel bringen – und Glauben an seine Person fordern, dessen seine Vernunftreligion nur bedurfte, um sich dem Positiven entgegenzusetzen“.43 Jesus mußte sich also der statuarischen positiven Religion des Judentums, von der er sich abgrenzte, akkomodieren. Zum andern trugen die Messiaserwartung, die Wunder und die tragische Lebensgeschichte Jesu dazu bei, daß seine Vernunftreligion zu einer positiven Religion wurde. Nicht erst das nachösterliche Christentum, sondern bereits die Religion Jesu enthielt also Momente der Positivität, die sich nach seinem Tod in der Gemeinde nur noch verstärkten. Hegels Wertung des Christentums fällt somit negativ aus, so daß er anders als Kant auch keine Möglichkeit mehr sieht, den christlichen Kirchenglauben zum Vehikel der praktischen Vernunftreligion zu erklären, an der er als Kantianer nach wie vor festhält. Verglichen mit dem, was er die griechische Phantasiereligion nennt, bedeutet die christliche positive Religion in seinen Augen einen Abfall. „Die griechische und römische Religion war nur eine Religion für freie Völker, und mit dem Verlust der Freiheit muß auch der Sinn, die Kraft derselben, ihre Angemessenheit für die Menschen verlorengehen“.44 Die positive christliche Religion wird als Ausdruck eines unglücklichen Bewußtseins attackiert. Das von der Vernunft geforderte Absolute sei im Christentum „in dem Willen der Menschen […] nicht mehr anzutreffen“, sondern nur noch „außerhalb der Sphäre unserer Macht, unseres Wollens“.45 Die Realisierung einer moralischen Idee, das Wesensmerkmal der reinen Tugendreligion, könne nicht mehr von uns gewollt wer42 43 44 45
Ebd., 108. Ebd., 114. Ebd., 204. Ebd., 208.
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den, sondern werde in der christlichen Eschatologie von einer durch ein göttliches Wesen zustande zu bringenden Revolution erhofft. Die unglückliche Lage der Christen, ihre Verdammung zur Passivität unter dem Despotismus der römischen Kaiser habe sie gezwungen, ihr Absolutes in eine transzendente Gottheit zu verlegen.46 Das Spiegelbild des irdischen Elends ist die in den Himmel projizierte Glückseligkeit. Gott wird verdinglicht zu einem bloßen Objekt. Der „Geist der Zeit offenbarte sich in der Objektivität seines Gottes, als er, nicht dem Maße nach in die Unendlichkeit hinaus, sondern in eine uns fremde Welt gesetzt wurde, an deren Gebiet wir keinen Anteil [haben], wo wir durch unser Tun uns nicht anbauen, sondern höchstens hineinbetteln oder hineinzaubern können, – als der Mensch selbst ein Nicht-Ich und seine Gottheit ein anderes Nicht-Ich war“.47
Das Christentum wird von Hegel negativ bewertet, weil es den freien Willen, der nur seinen eigenen Gesetzen und nicht fremden, göttlichen Geboten gehorcht, erstickt, und als positives Gegenbild stellt er dem Christentum die griechische Religion gegenüber, der er wehmütig nachtrauert. Im August 1796 kündigt Hegel sich bei Hölderlin in Frankfurt mit einem Gedicht an, dessen Titel auf den Demeter geweihten Mysterienkult anspielt: „Eleusis“. „Ha! Sprängen jetzt die Pforten deines Heiligtums von selbst/ O Ceres, die du in Eleusis throntest!“48 Doch die Götterwelt der Griechen ist in der Prosa der Gegenwart untergegangen. Denn „deine Hallen sind verstummt, o Göttin!/ Geflohen ist der Götter Kreis zurück in den Olymp“.49 So heißt es in offenkundiger Anlehnung an Schillers „Götter Griechenlands“. Der Geist der Unschuld ist verschwunden und mit ihr die Weisheit. Geblieben ist nur die Liebe zur Weisheit, die wissenschaftliche Neugier der Forscher, die in ihrer Borniertheit das griechische Pantheon nur verachten. Der Archäologe entdeckt statt Leben bloß Staub und Asche. Nur wenigen ist es vergönnt, in die Mysterien eingeweiht zu werden, wenn die Seele, „die außer Zeit und Raum in Ahndung der Unendlichkeit/ Versunken, sich vergißt, und wieder zum Bewußtsein nun/ Erwacht“.50 Die Begegnung mit Hölderlin in Frankfurt führt bei Hegel zu einer Abkehr von dem Kantianismus seiner Berner Zeit. Von Hölderlin übernimmt er jene Vereinigungsphilosophie, zu der dieser in seiner Auseinandersetzung mit Fichte gelangt war und in deren Zentrum der Gedanke steht, daß die das Ich kennzeichnende Differenz von Subjekt und Objekt eine absolute Identität voraussetze, die Hölderlin als Sein be46 47 48 49 50
Ebd., 211. Ebd., 212. Ebd., 231. Ebd. Ebd., 233.
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zeichnet.51 In den ‚Entwürfen über Religion und Liebe‘ aus den Jahren 1797/98 heißt es, das Göttliche sei da, „wo Subjekt und Objekt oder Freiheit und Natur so vereinigt gedacht wird, daß Natur Freiheit ist, daß Subjekt und Objekt nicht zu trennen sind“.52 An die Stelle der moralischen Subjektivität, die alle äußere Objektivität vernichtet, tritt die als Liebe bezeichnete Vereinigung von Subjekt und Objekt. Religion wird nicht länger von der Moral, sondern von der Liebe her definiert. Ja, die Gottheit, auf die die Religion sich bezieht, ist selbst nichts anderes als die durch die Einbildungskraft zum Wesen erhobene Liebe. Das Spezifikum der Liebe ist es, daß der Geliebte zwar von uns unterschieden ist, wir uns aber in ihm sehen und insofern mit ihm identisch sind; „nur in der Liebe allein ist man eins mit dem Objekt, es beherrscht nicht und wird nicht beherrscht“.53 Weil aber sowohl Theorie als auch Praxis den Gegensatz von Subjekt und Objekt voraussetzen, kann die Liebe weder das eine noch das andere sein. Sondern für Hegel ist sie das Gefühl der Ganzheit des Lebens.54 Den durch Hölderlins Vereinigungsphilosophie geprägten neuen Begriff von Religion legt Hegel nun seiner Abhandlung ‚Der Geist des Christentums und sein Schicksal‘ zugrunde, die zwischen 1797 und 1799 entstanden ist. Der Ursprung der Positivität des Christentums wird jetzt im Geist des Judentums verortet. Das Judentum charakterisiert Hegel als eine Religion, die durch die Entzweiung mit der Natur gekennzeichnet ist. Repräsentant dieser völligen Naturentfremdung ist Abraham, der sich von allen natürlichen Bindungen losriß und nicht lieben wollte, ein Fremdling auf Erden, dessen Gott seine Wurzel in Abrahams Verachtung gegen die ganze Welt hat. „Die ganze schlechthin entgegengesetzte Welt, wenn sie nicht ein Nichts sein sollte, war von dem ihr fremden Gott getragen, an dem nichts in der Natur Anteil haben sollte, sondern von dem alles beherrscht wurde“.55 Mit der Abhängigkeit von dem transzendenten Herrschergott, dem unendlichen Subjekt, verband sich das Erwählungs- und Exklusivitätsbewußtsein des jüdischen Volkes. Das Judentum wird von Hegel als eine Religion der Abhängigkeit charakterisiert, der jede Schönheit und Freiheit abgeht und der sich Jesus erfolglos entgegenstellt. Denn „solche Feindschaften, als er aufzuheben suchte, können nur durch Tapferkeit 51
52 53 54 55
F. Hölderlin: Werke und Briefe, hg. v. F. Beißner u. J. Schmidt, Bd.2, Frankfurt/M. 1969, 591f. Vgl. D. Henrich: Hölderlin über Urteil und Sein. Eine Studie zur Entwicklungsgeschichte des Idealismus, in: ders.: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795), Stuttgart 1990, 49–80. Hegel: Werke, Bd.1, a.a.O. (Anm.39), 242. Ebd. Ebd., 246. Ebd., 279.
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überwältigt, nicht durch Liebe versöhnt werden; auch sein erhabener Versuch, das Ganze des Schicksals zu überwinden, mußte darum in seinem Volke fehlschlagen und er selbst ein Opfer desselben werden“.56 Der Knechtschaft unter dem Gesetz stellt Jesus die Subjektivität entgegen. Allerdings tritt Jesus jetzt nicht länger als Vertreter der kantischen Pflichtethik auf, die Hegel jetzt nur noch als eine Internalisierung der Knechtschaft versteht.57 Sondern wie Schillers schöne Seele zeichnet sich Jesus dadurch aus, daß bei ihm Pflicht und Neigung sich harmonisch verbinden. Der Geist Jesu ist somit über die kantische Moralität erhaben, er nimmt den Gesetzen das Gesetzliche, ihren imperativischen Charakter und verkündigt und lebt stattdessen die Liebe. Ihn zeichnet somit aus eine „Einigkeit der Neigung mit dem Gesetze, wodurch dieses die Form als Gesetz verliert; diese Übereinstimmung der Neigung ist das Pleroma des Gesetzes, ein Sein“ und kein Sollen.58 Mit dem von Hölderlin entlehnten Begriff des Seins ist wie mit den Begriffen „Liebe“ und „Leben“ die Aufhebung des Gegensatzes von Subjekt und Objekt, damit aber auch von subjektiver Neigung und objektiver Pflicht gemeint. Indem er das Judentum mit der unerbittlichen Herrschaft des Gesetzes identifiziert, kann Hegel die kantische Ethik als Variante des Judentums interpretieren, der er die herrschaftsfreie Liebe Jesu gegenüberstellt.59 Denn „die Liebe spricht kein Sollen aus; sie ist kein einer Besonderheit entgegengesetztes Allgemeines; nicht eine Einheit des Begriffs, sondern Einigkeit des Geistes, Göttlichkeit; Gott lieben ist sich im All des Lebens schrankenlos im Unendlichen fühlen“.60 Dieses Gefühl der Harmonie und Versöhntheit überwindet somit die die jüdische Religion kennzeichnenden Gegensätze. Allerdings identifiziert Hegel die christliche Religion nicht mit der Liebe. Während das letzte Abendmahl Jesu eine unmittelbare Äußerung der Liebe ist, bedarf die religiöse Verehrung einer Verobjektivierung der Liebe durch die Einbildungskraft. Aber bereits am Abendmahlsakrament wird der Mangel deutlich, der dann die christliche Religion insgesamt kennzeichnet. Denn „in der symbolischen Handlung soll das Essen und Trinken – und das Gefühl des Einsseins in Jesu Geist zusammenfließen; aber das Ding und die Empfindung, der Geist und die Wirklichkeit vermischen sich nicht“.61 Eine wahrhafte Vereinigung von Subjekt und Objekt findet nicht statt. Ähnliches läßt sich im Hinblick auf die
56 57 58 59 60 61
Ebd., 317. Ebd., 323. Ebd., 326. Ebd., 359f. Ebd., 363. Ebd., 368.
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Christologie der Gemeinde sagen. Das Göttliche ist das als Liebe charakterisierte und in der Vereinigung der Geister präsente reine Leben, das nichts Entgegengesetztes in sich enthält, so daß von ihm nur in Begeisterung und nicht in Form der Reflexion gesprochen werden kann.62 Jesus setzt an die Stelle des jüdischen Herrschergottes, den die Menschen als seine Kinder liebenden Vatergott, an die Stelle des Gegensatzes von Gott und Mensch deren Einheit. Er weiß sich selbst als eins mit Gott, als Gottessohn. „Der Gottessohn ist auch Menschensohn; das Göttliche in einer besonderen Gestalt erscheint als ein Mensch; der Zusammenhang des Unendlichen und des Endlichen ist freilich ein heiliges Geheimnis, weil dieser Zusammenhang das Leben selbst ist“.63 Der Sohn fühlt sich im Geiste wesenseins mit dem Vater. Wie aber Jesus göttliches Leben in sich hat, so sollen auch die an ihn Glaubenden nach seinem Weggang zum göttlichen Leben gelangen. „Solange er unter ihnen lebte, blieben sie nur Gläubige; denn sie beruhten nicht auf sich selbst; Jesus war ihr Lehrer und Meister, ein individueller Mittelpunkt, von dem sie abhingen; sie hatten noch nicht eigenes, unabhängiges Leben; der Geist Jesu regierte sie; aber nach seiner Entfernung fiel auch diese Objektivität, diese Scheidewand zwischen ihnen und Gott; und der Geist Gottes konnte dann ihr ganzes Wesen beleben“.64
Im Anschluß an die Parakletverheißung des Johannesevangeliums kann Hegel erklären, daß der Untergang des Individuums Jesus notwendig gewesen sei, damit die Abhängigkeit der Jünger von ihm aufhören und der göttliche Geist in ihnen selbst als der durch Liebe vereinigten Gemeinde existieren könne.65 Aber zur Religion wird diese die Jünger mit Gott und den Menschen vereinende Liebe erst dadurch, daß sie als eine subjektive Empfindung sich in einer objektiven Form darstellt und so zu einem Wesen wird, das der Anbetung fähig und würdig ist. Das „Bedürfnis der Religion findet seine Befriedigung in diesem auferstandenen Jesus, in dieser gestalteten Liebe“.66 Aber in dieser Apotheose oder Deifikation tritt zum Bilde des Auferstandenen als der Gestalt gewordenen Liebe noch etwas vollkommen Objektives, Individuelles hinzu, das dem Vergötterten immer wie Blei an den Füßen hängt und ihn zur Erde zieht. Denn nicht allein der Auferstandene wird angebetet, sondern auch der Lehrende, Wandelnde und am Kreuz Hängende. Die „im Grabe abgestreifte Hülle der Wirklichkeit ist aus dem Grabe wieder emporgestiegen und hat sich dem als Gott Erstandenen angehängt“.67 Es ist al62 63 64 65 66 67
Ebd., 372. Ebd., 378. Ebd., 382. Ebd., 388. Ebd., 408. Ebd., 410.
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so nicht der Auferstandene als die gestaltete Liebe, sondern das Individuum Jesus selbst, das von der Gemeinde angebetet wird. Damit aber fällt die christliche Gemeinde in eine Positivität zurück, die derjenigen des Judentums ähnelt. Wie im Judentum der Mensch abhängig ist von einem Herrschergott, so ist im Christentum die Gemeinde abhängig von einem ihr gegenüberstehenden Herrn und Meister. Denn „ihr Geist war nicht in der gestalteten Liebe vollständig dargestellt; die Seite desselben, empfangen zu haben und zu lernen und tiefer als der Meister zu stehen, fand ihre Darstellung erst in der Gestalt der Liebe, wenn mit dieser zugleich eine Wirklichkeit verknüpft war, die der Gemeinde gegenüberstand“.68
4. Schleiermacher Hegel möchte zeigen, daß das, was Jesus mit seiner Opposition gegen das Judentum bezweckte, die Vereinigung von Gott und Mensch in der Liebe, durch die christliche Gemeinde wieder preisgegeben wird, indem die Vereinigung in den auferstandenen Jesus verlegt wird, von dem die Gemeinde sich abhängig weiß. Angesichts des Mißlingens der Vereinigung fällt Hegels Urteil über das Christentum nicht weniger negativ aus als in den noch unter kantischem Einfluß stehenden Berner Schriften. Zur selben Zeit wie Hegel befaßt sich auch Schleiermacher in seinen 1799 anonym veröffentlichten Reden ‚Über die Religion‘ mit dem Christentum, allerdings mit einem anderen Ergebnis. Denn für Schleiermacher unterscheidet sich das Christentum nicht nur von allen anderen positiven Religionen, sondern das Christentum ist auch eine höhere Potenz der Religion, ist die Religion der Religionen. Schleiermachers Religionsbegriff ist in erster Linie gegen jede Art von natürlicher Vernunftreligion gerichtet. Denn statt um Religion handle es sich bei ihr um ein „Gemisch von Meinungen über das höchste Wesen oder die Welt und von Geboten für ein menschliches Leben“, um zusammengefügte Versatzstücke aus Metaphysik und Moral.69 Wenn man das Wesen der 68
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Ebd., 411. Vgl. zu Hegel W. Jaeschke: Die Vernunft, a.a.O. (Anm.38), 127ff.; ders.: Hegel-Handbuch, Stuttgart/Weimar 2003, 59ff.; H. Liebeschütz: Das Judentum im deutschen Geschichtsbild von Hegel bis Max Weber, Tübingen 1967; H. Timm: Fallhöhe des Geistes, Frankfurt/M. 1979; P. Cornehl: Die Zukunft der Versöhnung. Eschatologie und Emanzipation in der Aufklärung, bei Hegel und in der Hegelschen Schule, Göttingen 1971, 93ff.; D. Henrich: Hegel und Hölderlin, in: ders.: Hegel im Kontext, Frankfurt/M. 1971, 9–40; Chr. Jamme: Liebe, Schicksal und Tragik. Hegels „Geist des Christentums“ und Hölderlins „Empedokles“, in: „Frankfurt aber ist der Nabel dieser Erde“, hg. v. Verf. u. O. Pöggeler, Stuttgart 1983, 300–324. F. Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799, 44.
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Religion erfassen will, so hat man Schleiermacher zufolge „mit dem schneidenden Gegensatz anzuheben, in welchen sich die Religion gegen Moral und Metaphysik befindet“.70 Mit Lessing, Herder, Goethe, Hölderlin und Hegel teilt Schleiermacher die Abneigung gegen den theistischen Gottesbegriff und die Aufnahme des spinozistischen Gottesbegriffs, wonach Gott „Eins und Alles“ ist. Wie Spinoza von Gott als der natura naturans spricht, so ist für Schleiermacher Gott das Universum. Zwar haben es auch Metaphysik und Moral wie die Religion mit dem Universum und dem Verhältnis des Menschen zu ihm zu tun. Aber die Religion „begehrt nicht, das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht, aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkür des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl“.71 Der zentrale Begriff ist dabei der der Anschauung.72 Und entscheidend ist der passive Charakter der Anschauung. „Alles Anschauen geht aus von einem Einfluß des Angeschauten auf den Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln des ersteren, welches dann von dem letzteren seiner Natur gemäß aufgenommen […] wird“.73 Die Religion als Anschauung des Universums setzt daher ein Handeln des Universums voraus, ja, „das Universum ist in einer ununterbrochenen Tätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblick“.74 Anschauung des Universums meint für Schleiermacher kein System von Anschauungen, sondern bedeutet soviel wie „jede Einzelheit als Ausdruck des einen, unendlichen Universums, als Teil eines Ganzen anzuschauen“.75 Das unendliche Ganze, das Universum ist und nur in den endlichen Dingen gegeben, und nur in ihnen können wir das Universum anschauen, wobei sich mit der Anschauung Gefühle verbinden. Während sich nach der Anschauung die Eigentümlichkeit einer Religion bemißt, so nach dem Gefühl der Grad der Religiosität. Nachdem Schleiermacher in seiner zweiten Rede das Wesen der Religion bestimmt hat, wendet er sich in seiner fünften Rede den Religionen zu. „Ich will Euch gleichsam zu dem Gott, der Fleisch geworden ist, hinführen; ich will Euch die Religion zeigen, wie sie sich ihrer Unendlichkeit entäußert hat und in oft dürftiger Gestalt unter den Menschen erschienen ist; in den Religionen sollt Ihr die Religion entdecken“.76 In 70 71 72 73 74 75 76
Ebd., 50. Ebd. Ebd., 54f. Ebd., 55. Ebd., 56. Ebd. Ebd., 237.
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freier Verwendung der Metapher von der Menschwerdung Gottes wird die Pluralität der geschichtlichen Religionen als Inkarnation der Religion überhaupt interpretiert. Die Notwendigkeit der Pluralität der Religionen ergibt sich dabei aus der Annahme, daß die Religion unendlich, der Mensch aber endlich ist, so daß kein Mensch die Religion ganz haben kann, sondern sie sich notwendigerweise individualisieren muß. Die Manifestation der Religion in den Religionen wird von Schleiermacher verstanden als „ein ins Unendliche fortgehendes Werk des Weltgeistes“.77 Anders als Hegel, bei dem der Begriff der Positivität negativ besetzt ist, geht er davon aus, daß es nur positive Religionen gibt und die aufklärerische Idee einer natürlichen Religion eine Chimäre sei. Weit davon entfernt, die ursprüngliche allgemeine Religion zu sein, ist sie für ihn ein aus philosophischen und moralischen Elementen zusammengesetztes Spätprodukt. Nur in den positiven Religionen ist eine individuelle Ausbildung der religiösen Anlage möglich. Fragt man nun nach dem Individuationsprinzip der einzelnen positiven Religionen, lautet Schleiermachers Antwort, daß eine positive Religion dadurch entstehe, daß eine bestimmte Anschauung des Universums gleichsam die Perspektive angebe, durch die man alles sehe. Ein Individuum der Religion kommt nicht anders zustande „als dadurch, daß irgendeine einzelne Anschauung des Universums aus freier Willkür […] zum Zentralpunkt der ganzen Religion gemacht und Alles darin auf sie bezogen wird“.78 Welche Anschauung zur Zentral-, Grundoder Fundamentalanschauung wird, hängt aber von dem jeweiligen Stifter der Religion ab. Damit verabschiedet Schleiermacher zeitgleich mit Hegel das aufgeklärte Konzept einer Vernunftreligion, die in der Negation alles Positiven in der Religion besteht, nur daß er im Unterschied zu Hegel die positiven Religionen in ihrer geschichtlichen Entwicklung nicht negativ bewertet. Gerade weil die positiven Religionen sich der Tatsache verdanken, daß ihre Stifter eine bestimmte Anschauung des Universums zur Zentralanschauung erheben, erscheint den Jüngern dieser Religion deren Stiftungsmoment zwar als heilig. Aber Schleiermacher warnt davor, das geschichtliche Faktum der Stiftung einer positiven Religion mit deren Zentralanschauung zu verwechseln.79 In seiner Darstellung der verschiedenen positiven Religionen beschränkt er sich allerdings auf die, „welche unter uns noch mehr oder minder vorhanden sind“.80 Er blendet damit bewußt nicht nur die „rohen und ungebildeten Religionen entfernterer Völker“ aus, sondern
77 78 79 80
Ebd., 242. Ebd., 259. Ebd., 283ff. Ebd., 286.
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auch die, „welche in der schönen Mythologie der Griechen und Römer eingewickelt liegen“.81 An der durch Schiller angeregten Diskussion über den Vorzug des antiken Polytheismus gegenüber dem jüdischchristlichen Monotheismus zeigt er kein Interesse. Vielmehr konzentriert er sich wie Hegel im ‚Geist des Christentums‘ auf den Vergleich von Judentum und Christentum. Letztlich gilt Schleiermachers Interesse aber ausschließlich dem Christentum, denn „der Judaismus ist schon lange eine tote Religion“.82 Die negative Einschätzung des Judentums teilt Schleiermacher mit Hegel. Auch grenzt er das Christentum derart vom Judentum ab, daß er letzteres nicht als dessen historischen Vorläufer betrachtet, sondern den Anfang des Christentums als etwas Ursprüngliches ansieht. Um die Zentralanschauung des Judentums zu erfassen, blendet er dessen nationalen theokratischen Charakter aus und konzentriert sich auf das eigentlich Religiöse, wie nämlich im Judentum das Universum angeschaut wird. Was er als Zentralanschauung benennt, ist eine bestimmte Idee des Universums, und zwar „die von einer allgemeinen unmittelbaren Vergeltung, von einer eigenen Reaktion des Unendlichen gegen jedes einzelne Endliche, das aus der Willkür hervorgeht, durch ein anderes Endliches, das nicht, als aus der Willkür hervorgehend, angesehen wird“.83 Die Zentralperspektive, aus der das Judentum das Universum anschaut, ist also die Idee der Vergeltung. Gott reagiert auf das Handeln der endlichen Glieder seines Volkes, indem er diesen durch anderes Endliches Lohn oder Strafe zuteil werden läßt. Die ganze Geschichte des jüdischen Volkes erscheint so als ein fortwährender Dialog zwischen Gott und den Menschen in Wort und Tat, woraus auch die Bedeutung der Weissagung, die Vorhersage künftiger göttlicher Reaktionen auf menschliches Handeln, gipfelnd in der Weissagung des Messias, im Judentum resultiert. Dieser „eingeschränkte Gesichtspunkt gewährte dieser Religion, als Religion, eine kurze Dauer. Die starb, als ihre heiligen Bücher geschlossen wurden, da wurde das Gespräch des Jehova mit seinem Volk als beendigt angesehen“.84 Auf dem Hintergrund dieser negativen Charakterisierung des Judentums kann Schleiermacher dann die Zentralanschauung des Christentums in umso leuchtenderen Farben ausmalen. „Sie ist keine andere als die des allgemeinen Entgegenstrebens alles Endlichen gegen die Einheit des Ganzen und der Art, wie die Gottheit dieses Entgegenstreben behandelt, wie sie die Feindschaft gegen sich vermittelt und der größer werdenden Entfernung Grenzen
81 82 83 84
Ebd. Ebd. Ebd., 287f. Ebd., 290.
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setzt, durch einzelne Punkte über das Ganze ausgestreut, welche zugleich Endliches und Unendliches, zugleich Menschliches und Göttliches sind.“85 Allen Anschauungen des Universums liegt demnach im Christentum die zentrale Idee zugrunde, daß zwar einerseits das sündhafte Endliche sich feindlich gegen das Unendliche oder Gott verhält, andererseits aber Gott darauf nicht vergeltend, sondern erlösend und vermittelnd reagiert, indem er die durch die Sünde bewirkte Distanz zwischen Unendlichem und Endlichem durch Mittler überwindet, die als Mittler eine Einheit von Endlichem und Unendlichem darstellen. Schleiermacher beschreibt eindrücklich, wie sich aus der Perspektive dieser Zentralanschauung für das Christentum die physische und die moralische Welt, Natur und Geschichte, als einem durch die Sünde bedingten fortschreitenden Verfall ausgesetzt darstellen. Doch diese negative Sicht ist nur die Voraussetzung für eine positive. Denn die göttliche Vorsehung schickt, um diesem Verfallsprozeß entgegenzusteuern, immer wieder vom göttlichen Geist getriebene Gesandte, um die feindliche Menschheit zum Unendlichen zurückzuführen. Angesichts des die Menschheit beherrschenden irreligiösen Prinzips reagiert die Gottheit nach christlicher Grundanschauung vermittelnd. Denn „immer erhabenre Mittler stellt sie auf zwischen sich und den Menschen, immer inniger vereinigt sie in jedem späteren menschlichen Gesandten die Gottheit mit der Menschheit, damit durch sie und von ihnen die Menschen lernen mögen, das ewige Wesen zu erkennen“.86 Das bedeutet, daß das Christentum das Universum in der Geschichte anschaut, die als Religionsgeschichte interpretiert wird, nämlich als Geschichte der Vermittlung von Unendlichem und Endlichem. Gerade darin erblickt Schleiermacher die „höhere Potenz“ des Christentums gegenüber allen anderen Religionen, „daß es die Religion selbst als Stoff für die Religion verarbeitet“.87 Es ist daher die „Religion der Religionen“.88 Weil es von der Annahme ausgeht, daß das irreligiöse Prinzip überall in der Menschheit verbreitet ist, verhält sich das Christentum nach außen, in seinen Anfängen gegen Judentum und Heidentum, ebenso polemisch wie nach innen, indem es die unendliche Heiligkeit als Ziel anvisiert und die Religiosität als Kontinuum im Menschen fordert. Aufgrund dieses ersehnten Zieles und der Erkenntnis, daß faktisch überall das irreligiöse Prinzip sich vordrängt, ist das religiöse Grundgefühl des Christentums das der heiligen Wehmut. An Jesus als dem Stifter des Christentums interessiert Schleiermacher weder die Moral noch der
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Ebd., 291. Ebd., 293. Ebd. Ebd., 310.
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Charakter, sondern die Idee des Universums, die er zur Zentralanschauung des Christentums machte. Zwar ist Jesus für ihn als Mittler nicht bloß endlich, sondern zugleich unendlich. Aber entscheidend ist nicht die Anerkennung Jesu als Mittler, sondern der Geist oder das Prinzip, also die durch Jesus vermittelte Zentralanschauung des Christentums. Und „wer dieselbe Anschauung in seiner Religion zum Grunde legt, ist ein Christ ohne Rücksicht auf die Schule, er mag seine Religion historisch aus sich selbst oder von irgendeinem Andern ableiten“.89 Weder hat nämlich Jesus selbst sich als exklusiven Mittler betrachtet noch hat das Christentum andere Mittler wie den heiligen Geist oder die Schrift jemals ausgeschlossen, so daß auch immer wieder neue Mittler auftreten können. Wollte man die Idee der Vermittlung exklusiv christologisch deuten, so würde man dem heiligen Geist Grenzen setzen und „seine unbeschränkte Freiheit und die durchgängige Einheit seiner Offenbarung“ leugnen.90 Was das Christentum fordere, sei allerdings die Vermittlung zwischen Endlichem und Unendlichem. Doch es lege uns nicht auf die Wahl eines einzigen Mittlers oder bestimmter Mittler fest. Ein Mittler, etwas Vermittelndes ist für Schleiermacher vielmehr alles, was nicht nur als endlich, sondern zugleich als der Unendlichkeit teilhaftig betrachtet wird. Er verweist auf den Katholizismus mit seiner Marien- und Heiligenverehrung, der ja „noch jetzt bereitwillig jeden für ein vermittelndes und göttliches Wesen [hält], der erweisen kann, durch ein göttliches Leben oder irgendeinen andern Eindruck der Göttlichkeit auch nur für einen kleinen Kreis der Beziehungspunkt aufs Unendliche gewesen zu sein“.91 Dem stehe der Protestantismus gegenüber, dem „Christus Eins und Alles geblieben“ sei, und schließlich gebe es noch andere, die „sich selbst dies und jenes für sich zu Mittlern erklärt“ hätten.92 Allerdings ist Schleiermacher der Auffassung, daß wie die anderen Religionen das Christentum nicht nur eine bestimmte Richtung des menschlichen Gemüts, sondern auch eine bestimmte geschichtliche Lage der Menschheit voraussetzt und somit wie die übrigen Religionen vergehen kann. Nur daß das Christentum im Unterschied zu allen anderen Religionen sein Ende immer schon anerkannt hat. „Das Christentum, über sie alle erhaben, und historischer und demütiger in seiner Herrlichkeit, hat diese Vergänglichkeit seiner Natur ausdrücklich anerkannt: es wird eine Zeit kommen, spricht es, wo von keinem Mittler
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Ebd., 304. Ebd., 306. Ebd. Ebd.
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mehr die Rede sein wird, sondern der Vater Alles in Allem.“93 Doch dieses Ende des Christentums ist zugleich das Ende der Geschichte, und in der Geschichte ist der Zeitpunkt nicht absehbar, wo das Christentum an ein Ende gelangen könnte. Denn dies könnte nur dann der Fall sein, wenn die Menschheit soweit entwickelt wäre, daß das irreligiöse Prinzip ausgelöscht und die Vermittlung von Endlichem und Unendlichem nicht mehr nötig wäre. Mit der These, daß das Christentum die Religion der Religionen oder die Religion in höherer Potenz sei, hat Schleiermacher ein Thema angeschlagen, das für die gesamte weitere Entwicklung der Religionstheorie des Idealismus bestimmend bleiben sollte.
5. Novalis, Schelling und Hölderlin Am Schluß der ‚Reden‘ stellt Schleiermacher die Frage: „Wenn es nun aber immer Christen geben wird, soll deswegen das Christentum auch in seiner allgemeinen Verbreitung unendlich sein und als die einzige Gestalt der Religion in der Menschheit allein herrschend sein?“94 Die Frage wird negativ beantwortet, weil es zum Wesen des Christentums gehöre, unendliche Mannigfaltigkeit nicht nur in sich zu erzeugen, sondern sie auch außer sich anzuschauen. Doch auch wenn es, wie Schleiermacher sagt, gerne jüngere Gestalten der Religion neben sich entstehen sieht, die ihm wieder als Stoff seiner eigenen Anschauung des Universums in der Religionsgeschichte bieten, ändert dies nichts an der Tatsache der prinzipiellen Überlegenheit des Christentums über alle anderen Religionen. Implizit hat Schleiermacher damit den Anstoß gegeben zu einem Programm der Religionsgeschichte, wonach diese ihre Vollendung im Christentum erreicht. Kurz nach dem Erscheinen der ‚Reden‘ schreibt Friedrich Schlegel an Schleiermacher, Goethe sei zwar von der zweiten Rede begeistert gewesen, aber „je christlicher die Religion wurde“, desto distanzierter sein Urteil gewesen, und er „endigte das Ganze in einer gesunden und fröhlichen Abneigung“.95 Die nachhaltigste Wirkung üben die Reden mit ihrer These von der Überlegenheit des Christentums hingegen bei Novalis aus, den sie zu seiner Abhandlung ‚Die Christenheit oder Europa‘ inspirierten, die er im November 1799 den in Jena einem Kreis von Frühromantikern vorträgt, zu dem Tieck, Schelling und die Brüder mit ihren Frauen zählen. Dorothea Veit berichtet Schleiermacher von dem Treffen mit den Wor93 94 95
Ebd., 308. Ebd., 309f. Schleiermachers Leben, Bd.3, 125.
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ten: „Das Christenthum ist hier à l’ordre du jour; die Herren sind etwas toll“.96 Novalis erkennt in der Ansicht Schleiermachers vom Mittler seine eigene Auffassung wieder. Denn in der 1797/98 entstandenen Sammlung ‚Blüthenstaub‘, erschienen im ersten Heft des „Athenäum“, hatte er die These vertreten, daß jede Religion eines Mittlers bedürfe, um das Endliche mit dem Unendlichen, Natur und Menschheit mit Gott zu vereinen. „Nichts ist zu wahrer Religiosität unentbehrlicher als ein Mittelglied, das uns mit der Gottheit verbindet“.97 Die Funktion eines Mittlers können dabei Gestirne, Tiere und Helden ebenso übernehmen wie ein Gottmensch. Weil aber jede Religion für Novalis durch einen Mittler charakterisiert ist, kann er dem Judentum den Religionscharakter abstreiten. Abgesehen von dem Frühjudentum mit seiner Messiashoffnung sei der „ältere Judaism“ irreligiös, weil er die Vorstellung eines Mittlers gar nicht kenne. Gott und Mensch, Unendliches und Endliches stünden sich hier vielmehr unvermittelt und unversöhnt gegenüber. Aus einem anderen Grund hält Novalis auch den Götzendienst für irreligiös. Denn er sehe den Mittler nicht als Mittler, sondern als Gott selbst an. Sein Wesen sei es, etwas Endliches als Gott zu verehren, so daß er den Mittler mit dem identifiziere, womit er vermitteln soll, während das Judentum den Mittler eliminiere. Wahre Religion ist hingegen die, „die jenen Mittler als Mittler annimmt, ihn gleichsam für das Organ der Gottheit hält, für ihre sinnliche Erscheinung“.98 Novalis unterscheidet bei der wahren Religion zwischen Pantheismus und Monotheismus. Abweichend vom herkömmlichen Sprachgebrauch versteht er unter dem Pantheismus die Idee, „daß alles Organ der Gottheit, Mittler seyn könne“, während es sich beim Monotheismus um den Glauben handle, „daß es nur Ein solches Organ in der Welt für uns gebe, das allein der Idee des Mittlers angemessen sey“.99 Monotheistisch ist die Auffassung, daß ein Gottmensch allein zwischen Endlichem und Unendlichem vermittelt, und Novalis geht es um die Vereinigung dieser Christologie mit der Auffassung, daß Christus nicht der einzige Mittler sei, sondern jeder beliebige Gegenstand diese Rolle übernehmen könne. Seine Lösung ist ein christozentrischer Pantheismus, der „den monotheistischen Mittler zum Mittler der Mittelwelt des Pantheism macht“.100 So gelangt Novalis zu einer Auffassung des Christentums, die derjenigen Schleiermachers durchaus vergleichbar ist. Wenn nämlich jede wahre Religion eines Mittlers bedarf und das Chri96 Ebd., 132. 97 Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe, hg. v. H.-J. Mähl u. R. Samuel, Bd.2, München 1978, 257. 98 Ebd., 259. 99 Ebd. 100 Ebd.
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stentum in Christus einen Mittler hat, der alle übrigen Mittler ihrerseits mit dem Unendlichen vermittelt, dann bezieht sich die christliche Religion auf alle Religionen. Weil alle wahren Religionen einen Mittler haben und Christus der Mittler schlechthin ist, kann Novalis auch sagen: „Es giebt keine Religion, die nicht Xstenthum wäre“.101 Nur auf dem Hintergrund seiner Konzeption des Christentums als der Höchstform der Vermittlung von Endlichem und Unendlichem sind die „Hymnen an die Nacht“ verständlich, die Novalis im August 1800 im „Athenäum“ publiziert. Hier ist das Kreuz das Siegeszeichen, das andeutet, daß die Nacht über den Tag, der Tod über das geschäftige Leben siegen wird. Das Kreuz verweist auf Jesus, der somit der Welt der Nacht, des Todes und der Liebe zugeordnet wird. In der fünften Hymne wendet Novalis sich ausdrücklich der Christusthematik zu. Eine Übersicht gibt den Inhalt der Hymne an: „Alte Welt. Der Tod. Xstus – neue Welt. Die Welt der Zukunft – Sein Leiden – Jugend – Botschaft. Auferstehung. Mit den Menschen ändert die Welt sich. Schluß – Aufruf“.102 Hier findet die Vorstellung einer Vereinigung von Monotheismus und Pantheismus ihren dichterischen Ausdruck. Durch seine jung verstorbene Braut Sophie wird Novalis zum universalen Mittler, zu Jesus, geführt. Die fünfte Hymne stellt eine Auseinandersetzung mit Schillers Verklärung der griechischen Religion in den „Göttern Griechenlands“ dar. Novalis verwirft keineswegs die Welt der Antike. Vielmehr betrachtet er sie wie Schiller als „der Götter Aufenthalt“, als „selige Welt“, und das Leben in ihr vergleicht er dem Frühling.103 Der griechische Mythos beseelte die ganze Natur, in der die Götter in schöner Eintracht mit den Menschen wohnten. Die Differenz zu Schiller liegt in der Deutung des Todes. Denn für Novalis ist Schillers Verklärung des antiken Todesverständnisses gegenüber dem christlichen eine blasse Harmonisierung. Vor dem Tod sei nämlich die antike Lichtreligion verstummt; auf ihn hätten selbst die Götter keine Antwort gewußt. Für die griechische Religion bedeute der Tod eine unüberwindbare Schranke: „unenträtselt blieb die ewge Nacht,/ Das ernste Zeichen einer fernen Macht“.104 An dem Unvermögen, den Tod positiv zu denken, scheitert für Novalis die „alte Welt“, des „jungen Geschlechts Lustgarten“. Die Folge davon ist die Entgötterung der Natur. Was zuvor Gegenstand des Mythos, des Glaubens und der Phantasie war, wird jetzt Stoff des nüchternen Wissens. „Unfreundlich blies ein kalter Nordwind über die
101 102 103 104
Ebd., 763. Novalis: Werke, hg. v. G. Schulz, 2. Aufl., München 1981, 633. Ebd., 46. Ebd., 47.
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erstarrte Flut, und die erstarrte Wunderheimat verflog in den Äther“.105 Novalis beschreibt dasselbe Phänomen wie Schiller, und beide bewerten die Herrschaft des kalten Verstandes über die Natur, die an die Stelle des die Natur verklärenden Göttermythos tritt, negativ. Doch Schiller betrachtet die Entgötterung der Natur als Folge des jüdisch-christlichen Monotheismus und dessen schöpfungstheologisch begründeten Gegensatzes zwischen Gott und Welt, während Novalis sie als Folge eines Versagens der antiken Lichtreligion begreift. Das Christentum wird von ihm ja gerade als eine die Trennung von Gott und Welt überwindende Mittlerreligion angesehen, die auch dem Tod einen Sinn zu verleihen vermag. Die griechischen Götter werfen den Schleier der Nacht über sich. „Die Nacht ward der Offenbarungen mächtiger Schoß – in ihn kehrten die Götter zurück – schlummerten ein, um in neuen herrlichen Gestalten auszugehn über die veränderte Welt“.106 Mit der Götterdämmerung bricht eine neue Welt an, die die heidnische Antike überbietet, und zwar mit der Geburt Jesu, die sich gerade nicht im jugendlichen Hellas, sondern in Palästina ereignet, in einem „Volk, das vor allen verachtet zu früh reif und der seligen Unschuld der Jugend trotzig fremd geworden war“.107 Orient und Okzident, die Weisen aus dem Morgenland und der Sänger aus Hellas pilgern zu Christus und feiern in ihm den Beginn der neuen Zeit. Daß Novalis hier dem Sänger aus Hellas jene Funktion einräumt, die in den Evangelien der Täufer innehat, liegt darin begründet, daß für ihn die alte Welt nicht Israel, sondern Hellas ist. Jesus wird als der schöne Jüngling, das poetische Symbol des Todes auf den griechischen Grabstelen, gedeutet. Denn Jesus ist tatsächlich der Tod, aber dieser führt nicht in die Entzweiung, sondern bringt die Versöhnung, indem er dem Menschen das ewige Leben eröffnet. „Du bist der Tod und machst uns erst gesund“.108 Der Tod Christi wird so zur „Stunde der Geburt der neuen Welt“.109 Was in seinem Grab zurückbleibt, ist nur der Leichnam der alten Welt. Die christliche Nacht- und Todesreligion überwindet so die Schranke, an der die griechische Lichtreligion gescheitert war, nämlich die Negativität des Todes. Was den Griechen Gegenstand höchster Verehrung war, das irdische Leben, wird zum bloßen Schattenleben für den, der den Sinn des Todes erst einmal begriffen hat. Denn der Tod führt zur Auferstehung, und daher ist der Kreuz die Siegesfahne des neuen Geschlechts. Das wahre Leben wird also erst durch den Tod erreicht.
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Ebd. Ebd., 48. Ebd. Ebd., 49. Ebd.
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Zwar berichtet Schlegel Schleiermacher außer von der begeisterten Aufnahme der ‚Reden‘ durch Novalis auch von der ablehnenden Haltung Schellings auf dem Jenaer Romantikertreffen.110 Aber während Schellings ‚Epikurisch Glaubensbekenntnis Heinz Widerporstens‘ noch seinen ‚Enthusiasmus für die Irreligion‘ spiegelt, wie Schlegel schreibt, gelangt er bereits wenig später, nämlich in seinem 1800 veröffentlichten ‚System des transzendentalen Idealismus‘, zu einer positiven Würdigung der Religion, die dort vom Fatalismus und von der Irreligion oder dem Atheismus abgegrenzt und als System der Vorsehung bezeichnet wird. Der Fatalismus richtet sich nur auf das Objektive, Bewußtlose in allem Handeln, die Irreligion nur auf das Subjektive, die Willkür, so daß der Fatalismus das Handeln dem Schicksal unterworfen sieht, die Irreligion hingegen im Handeln kein notwendiges Gesetz erblickt. Die Religion hingegen dringt bis zur Einheit von Subjektivem und Objektivem, zum Absoluten im Sinne Hölderlins vor.111 Die Geschichte in ihrer Ganzheit begreift Schelling als „eine fortgehende allmählich sich enthüllende Offenbarung des Absoluten“.112 Dabei unterscheidet er drei Perioden der Offenbarung: die der Natur, des Schicksals und der Vorsehung. Sowohl in seinen 1802–03 gehaltenen Jenenser Vorlesungen zur „Philosophie der Kunst“ als auch in seinen 1803 veröffentlichten ‚Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums‘ greift Schelling auf diese periodische Einteilung der Geschichte, wenngleich in abgeänderter Fassung, zurück. „Die ewige Notwendigkeit offenbart sich, in der Zeit der Identität mit ihr, als Natur, wo der Widerstreit des Unendlichen und Endlichen noch im gemeinschaftlichen Keim des Endlichen verschlossen ruht“.113 Das ist die Blütezeit der griechischen Religion. Mit dem Abfall von der Natur offenbart sich die Notwendigkeit oder das Absolute hingegen als Schicksal, indem die Notwendigkeit jetzt in den Widerstreit mit der Freiheit tritt. An die Stelle der bewußtlosen Identität mit der Natur und die Entzweiung mit dem Schicksal tritt schließlich die bewußte Versöhnung, die auf einer höheren Stufe die Einheit wiederherstellt, was seinen Ausdruck findet in der Idee der Vorsehung. „Das Christentum also leitet in der Geschichte jene Periode der Vorsehung ein, wie die in ihm herrschende Anschauung des Universums die Anschauung desselben als Geschichte und als einer Welt der Vorsehung ist“.114 Daß das Christentum das Universum als Geschichte anschaut, ist ein Gedanke, der sich von Schleier110 111 112 113
Schleiermachers Leben, Bd.3, 120. F.W.J. Schelling: System des transzendentalen Idealismus, Hamburg 1957, 270. Ebd., 272. F.W.J. Schelling: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, hg. v. W.E. Erhardt, Hamburg 1974, 84. 114 Ebd., 81.
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machers ‚Reden‘ herleitet. In seiner achten Vorlesung ‚Über die historische Konstruktion des Christentums‘ betont Schelling, „daß in dem Christentum das Universum überhaupt als Geschichte, als moralisches Reich, angeschaut wird“ und diese Anschauung den Grundcharakter des Christentums ausmacht. Anders als Schleiermacher grenzt er das Christentum allerdings nicht vom Judentum, sondern von der griechischen Religion und Mythologie ab. In der mythischen Religion der Griechen wird das Unendliche nur im Endlichen angeschaut, so daß es zur Vielheit und die Religion selbst polytheistisch wird. Das Christentum richtet sich demgegenüber direkt auf das Unendliche, so daß das Endliche nicht als Symbol, sondern nur als Allegorie des Unendlichen verstanden werden kann. Es fällt nicht mit dem Unendlichen zusammen, sondern es bedeutet nur das Unendliche. „Das Ganze, worin die Ideen einer solchen Religion objektiv werden, ist notwendig selbst ein Unendliches“ und nicht wie in der griechischen Naturreligion eine nach allen Seiten vollendete und begrenzte Welt.115 Die Gestalten sind im Christentum keine bleibenden Naturwesen, sondern historische Gestalten, in denen sich das Unendliche nur vorübergehend offenbart. Die christliche Religion ist daher im Unterschied zur griechischen nicht polytheistisch, sondern monotheistisch. Sie ist zudem keine Naturreligion, sondern eine Geschichtsreligion. Natur und Geschichte verhalten sich aber zueinander wie Reales und Ideales. „Mit dem Christentum mußte sich eben deswegen auch das ganze Verhältnis der Natur und der idealen Welt umkehren, und wie jene im Heidentum das Offenbare war, dagegen diese als Mysterium zurücktrat, so mußte im Christentum vielmehr, in dem Verhältnis als die ideelle Welt offenbar wurde, die Natur als Geheimnis zurücktreten.“116
Mit dem Christentum beginnt eine neue Welt, und den Schluß der alten Zeit markiert nach christlicher Ansicht der Geschichte als einer Welt der Vorsehung die Menschwerdung Gottes. Denn sie bedeutet, daß das Unendliche in das Endliche kam, nicht um das Endliche zu vergöttern wie in der griechischen Naturreligion, sondern um es in seiner Person Gott zu opfern. Darin besteht für Schelling die Versöhnung des Endlichen mit dem Unendlichen nach der Entzweiung, in der die griechische Religion endete. Denn der Mensch hatte sich von der Natur losgerissen, kannte aber noch keine neue Heimat und wandte sich der ideellen Welt zu, um sich dort heimisch zu machen. In dieser Situation der Entzweiung entstand das Christentum. „Die erste Idee des Christentums ist daher notwendig der menschgewordene Gott, Christus als Gipfel und Ende der alten Götterwelt. Auch er ver-
115 Ebd., 82. 116 Ebd., 83.
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endlicht in sich das Göttliche, aber er zieht nicht die Menschheit in ihrer Hoheit, sondern in ihrer Niedrigkeit an, und steht als eine von Ewigkeit zwar beschlossene, aber in der Zeit vergängliche Erscheinung da, als Grenze der beiden Welten; er selbst geht zurück ins Unsichtbare, und verheißt statt seiner nicht das ins Endliche kommende, im Endlichen bleibende Prinzip, sondern den Geist, das ideale Prinzip, welches vielmehr das Endliche zum Unendlichen zurückführt und als solches das Licht der neuen Welt ist.“117
Für Schleiermacher besteht die Überlegenheit des Christentums darin, daß seine Zentralanschauung nicht die der Vergeltung, sondern die der Vermittlung des Endlichen mit dem Endlichen durch Mittler ist, die selbst endlich und zugleich unendlich sind, ohne daß Jesus der einzige Mittler wäre. Das Wesen der Religion, die Vermittlung des Endlichen mit dem Unendlichen, wird im Christentum selbst zur Zentralanschauung, weshalb als Religion der Religionen bezeichnet werden kann. Für Schelling hingegen besteht die Überlegenheit des Christentums über die griechische Religion in seinem idealen Charakter. Die Menschwerdung des Unendlichen ist dabei die zentrale Idee des Christentums, weil sie letztlich das Ende der realistischen Naturreligion der Griechen bedeutet. Denn Gott verendlicht sich nur, um schließlich den Geist als das ideale Prinzip zu senden, der das Endliche zum Unendlichen zurückführt. „Hier ist keine Vergötterung der Menschheit, wie in der griechischen Mythologie; es ist eine Menschwerdung Gottes in der Absicht, das von Gott abgefallene Endliche durch die Vernichtung in seiner Person mit Gott zu versöhnen. […] Christus geht in die übersinnliche Welt zurück, und verheißt statt seiner den Geist“.118
Nach Christus, dem letzten Gott, kommt der Geist als ideales Prinzip. Anders als Schleiermacher teilt Schelling Lessings Überzeugung, daß sich den dogmatischen Ideen des Christentums ein spekulativer Sinn abgewinnen lasse. Nur spekulativ aufgefaßt, macht die Idee der Menschwerdung Gottes überhaupt einen Sinn. Denn sie bedeutet nicht, daß Gott zu einem bestimmten Zeitmoment menschliche Natur angenommen hat, sondern gemeint ist eine ewige Menschwerdung Gottes, deren realistische Phase in Christus kulminiert und durch die Sendung des Geistes in ihre idealistische Phase tritt.119 Das bedeutet, daß es im Begriff Gottes, wie er im trinitarischen Dogma symbolisch formuliert wird, impliziert ist, daß er sich im Sohn verendlicht, um in dem von
117 Ebd., 86. 118 F.W.J. Schelling: Ausgewählte Schriften, Bd.2, hg. v. M. Frank, Frankfurt/M. 1985, 260. 119 Schelling: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, a.a.O. (Anm.113), 91f.
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Christus gesandten Geist die Endlichkeit in die Unendlichkeit zu führen.120 Eine historische Konstruktion des Christentums ist Schelling zufolge wegen der Universalität der Idee des Christentums ohnehin nicht ohne die religiöse Konstruktion der ganzen Geschichte, daher aber auch nicht ohne philosophische Vernunft möglich. Die Philosophie ist daher das „wahre Organ der Theologie als Wissenschaft […], worin die höchsten Ideen von dem göttlichen Wesen, der Natur als dem Werkzeug und der Geschichte als der Offenbarung Gottes objektiv werden“.121 Allerdings grenzt Schelling seinen eigenen Versuch einer vernünftigen Konstruktion des Christentums von dem kantischen ab, der alles Positive und Historische aus dem Christentum entfernt, um es zur reinen Vernunftreligion zu läutern. „Die wahre Vernunftreligion ist, einzusehen, daß nur zwei Erscheinungen der Religion überhaupt sind, die wirkliche Naturreligion, welche notwendig Polytheismus im Sinn der Griechen ist, und die, welche, ganz sittlich, Gott in der Geschichte anschaut.“122 Schelling ist auch der Auffassung, daß die wahre Idee des Christentums noch nicht in der Bibel zu finden sei, da es sich bei ihr nur um eine noch unvollkommene Erscheinung des Christentums handle. Bereits im Geiste des Paulus sei das Christentum etwas anderes geworden als im Geist Jesu. Um das Christentum zu begreifen, darf man daher nicht bei einer bestimmten Epoche seiner Erscheinung stehen bleiben, sondern muß seine ganze Geschichte vor Augen haben. Den Rückgang der Aufklärung auf die Anfänge des Christentums, um von dort aus sein Wesen zu bestimmen, hält Schelling daher für verfehlt. „Man sollte denken, die christlichen Religionslehrer müßten es den späteren Zeiten Dank wissen, daß sie aus dem dürftigen Inhalt der ersten Religionsbücher so viel spekulativen Stoff gezogen und diesen zu einem System ausgebildet haben.“123 Es geht Schelling also um die Idee des Christentums oder – wie er sagt – um das esoterische Christentum als das absolute Evangelium.124 Ebensowenig wie Lessing betrachtet Schelling das exoterische Christentum als den definitiven Abschluß der Geschichte. Allerdings geht es ihm anders als Lessing nicht darum, an die Stelle der christlichen Offenbarungsreligion das ewige Evangelium einer auf der praktischen Vernunft gründenden Humanität zu setzen. Vielmehr betrachtet er es als ein Defizit des Christentums gegenüber der griechischen Religion,
120 121 122 123 124
Ebd., 88. Ebd., 93. Ebd. Ebd., 94. Ebd., 99.
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daß ihm eine allgemeine Mythologie fehlt. Da aber das Fehlen einer solchen Mythologie darin begründet ist, daß das Christentum das Universum als Geschichte und nicht als Natur anschaut, stellt sich die Frage, wie dieser Mangel behoben werden kann. Wenngleich die dem Christentum eigentümliche Richtung vom Endlichen zum Unendlichen geht, erkennt Schelling in der christlichen Mystik doch die „in dieser Richtung wieder durchbrechende Tendenz, das Unendliche im Endlichen zu schauen“.125 Aber dieses symbolische Bestreben scheitert letztlich an dem Mangel an Objektivität, weil die Einheit von Unendlichem und Endlichen auf das Subjekt des Mystikers beschränkt blieb. Dagegen geht Schellings eigene Naturphilosophie gleichfalls von einer Anschauung des Unendlichen im Endlichen aus, aber auf eine objektive und allgemeingültige Art. Um seiner Forderung einer allgemeinen Mythologie nach dem Auftreten des Christentums zu genügen, muß Schelling das historische Christentum „bloß als Uebergang und bloß als Element und gleichsam die eine Seite der neuen Welt“ auffassen, „in der sich die Successionen der modernen Zeit endlich als Totalität darstellen werden“.126 Er zweifelt nicht, „daß dieser integrante Theil der modernen Bildung die andere Einheit ist, welche das Christenthum als Gegensatz von sich ausschloß, und daß diese Einheit, welche ein Schauen des Unendlichen im Endlichen ist, in das Ganze derselben aufgenommen werden müsse“.127 Obgleich die griechischen Götter ursprünglich Naturwesen waren, mußten sie sich von ihrem Ursprung losreißen und historische Gestalten werden, um erst zu wahren Göttern des Epos werden zu können. Ebenso werden die christlichen Geschichtsgötter erst wahrhaft Götter und Gegenstand der Poesie, wenn sie von der Natur Besitz ergriffen haben. „Man muß der christlichen Bildung nicht die realistische Mythologie der Griechen aufdringen wollen, man muß vielmehr umgekehrt ihre idealistischen Gestalten in die Natur pflanzen, wie die Griechen ihre realistischen in die Geschichten.“128 Die Voraussetzung dafür ist Schelling zufolge dessen eigene Naturphilosophie, wenngleich „der Punkt der Geschichte, wo sich ihr Nacheinander in ein Zumal verwandeln wird, unbestimmbar weit entfernt“ sei.129 Das historische Christentum stellt also selbst in seiner spekulativen Konstruktion nur einen Übergang dar zu einem zukünftigen Vollendungszustand der Moderne, in dem die das Christentum kennzeichnende Richtung vom Endlichen 125 F.W.J. Schelling: Ausgewählte Schriften, hg. v. M. Frank, Bd.2, Frankfurt/M. 1985, 275. 126 Ebd., 276. 127 Ebd. 128 Ebd., 277. 129 Ebd.
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auf das Unendliche sich dank der Naturphilosophie wieder umkehrt, ohne daß dadurch das Christentum rückgängig gemacht würde. Vielmehr handelt es sich um eine Versöhnung des Christentums mit der neuen Naturphilosophie, die das Unendliche im Endlichen anschaut. Insofern bleibt das antike Modell der Anschauung des Unendlichen im Endlichen für Schellings Geschichtskonstruktion bestimmend. Solange sich das Christentum nicht mit ihm verbindet, bleibt es defizitär. Schelling bleibt mit seinem Interesse an einer neuen Mythologie als der Voraussetzung für die Kunst der Moderne jenem Programm treu, das er gemeinsam mit Hegel und Hölderlin während seines Frankfurter Aufenthalts 1796/97 verfaßt hatte. Bereits in diesem sogenannten ‚Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus‘ ist auch davon die Rede, daß diejenige Idee, die alle miteinander vereinigt, die Idee der Schönheit und der höchste Akt der Vernunft ein ästhetischer Akt sei. „Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie“, heißt es dort.130 Die Poesie werde am Ende wieder, was sie am Anfang gewesen sei, nämlich Lehrerin der Menschheit. Das ist eine Auffassung, die nicht nur in Schellings „System des transzendentalen Idealismus“, sondern auch bei Hölderlin wiederbegegnet. Denn das Sein schlechthin, als das er das Absolute faßt, wird uns Hölderlin zufolge nur zugänglich durch den ästhetischen Sinn.131 In der 1795 entstandenen Vorrede zum ‚Hyperion‘ heißt es: „Die selige Einigkeit, das Sein, […] ist für uns verloren und wir mußten es verlieren, wenn wir es erstreben, erringen sollten.“132 Wir hätten aber gar keine Ahnung von jenem Sein und würden auch gar nicht danach streben, uns mit der Natur zu einem unendlichen Ganzen zu vereinigen, wenn nicht jene unendliche Vereinigung, das Sein, vorhanden wäre. „Es ist vorhanden – als Schönheit“.133 Durch die Einsicht, daß das Sein durch den ästhetischen Sinn als Schönheit erfaßt werde, erfährt Hölderlins Übergang von der Philosophie zur Kunst seine philosophische Legitimation. Doch nicht nur in der Bedeutung, die beide der Kunst einräumen, gleichen sich Schelling und Hölderlin. Man entdeckt vielmehr auch Schellings historische Konstruktion des Christentums wieder, wenn man sich Hölderlins Christushymnen zuwendet. In dem Gedicht „Der Einzige“, in seiner Erstfassung wohl 1801 entstanden, ist Christus gleichfalls das Ende der antiken Götterwelt und der Übergang zur christlichen Geistreligion.
130 Hölderlin: Werke und Briefe, hg. v. F. Beißner u. J. Schmidt, Bd.1, Frankfurt/M. 1969, 648. 131 Ebd., 852. 132 Bd.3, 167. 133 Ebd, 168.
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„Viel hab ich Schönes gesehn, Und gesungen Gottes Bild Hab ich, das lebet unter Den Menschen, aber dennoch, Ihr alten Götter und all Ihr tapfern Söhne der Götter, Noch einen such ich, den Ich liebe unter euch, Wo ihr den letzten eures Geschlechts, Des Hauses Kleinod mir Dem fremden Gaste verberget.“134
Die menschengestaltigen Götter und Göttersöhne werden zwar wie die schöne griechische Religion insgesamt vom Dichter besungen. Aber sie verbergen doch den als Kleinod charakterisierten Christus als denjenigen, der zwar noch zum Geschlecht der antiken Götter gehört, aber es auch als letztes Glied beschließt. In ‚Patmos‘, entstanden 1803, wird im Anschluß an das Johannesevangelium der Tod Jesu als Sieg verstanden. Daß Christus von den Jüngern scheidet, ist gut, da dies die Voraussetzung für die Sendung des Geistes ist: „Drum sandte er ihnen/Den Geist“.135 Die pfingstliche Geistausgießung bedeutet das Ende der griechischen Lichtreligion. Der Sonne Tag erlischt, „und Freude war es Von nun an, Zu wohnen in liebender Nacht, und bewahren In einfältigen Augen, unverwandt Abgründe der Weisheit“.136
Die christliche Geistreligion meint eine radikale Verinnerlichung, eine innere Bewahrung der Weisheit, die der Geist den Jüngern vermittelt. Zugleich stiftet der Geist aber auch die Einheit unter ihnen: „einstimmig/War himmlischer Geist“.137 Der Tod Jesu, „An dem am meisten/ Die Schönheit hing“, markiert das Ende der menschengestaltigen Götterwelt der Griechen. Deren realistische Religion wird durch die idealistische Geistreligion ersetzt. Der Geist ist somit „das Rettende“ in der Gefahr der Entzweiung von Gott und Mensch, die der Anfang der Hymne andeutet: „Nah ist/Und schwer zu fassen der Gott./Wo aber Gefahr ist, wächst/Das Rettende auch.“138 Der Geist ist somit das Prin-
134 135 136 137 138
Bd.1, 168f. Ebd., 179. Ebd., 179f. Ebd., 180. Ebd., 176. Vgl. J. Kreuzer: Philosophische Hintergründe der Christus-Hymne „Der Einzige“, in: HJb 32 (200–2001); ders.: „Alles ist gut“. Anmerkungen zu einem Satz in Hölderlins Patmos-Hymne, in: Wechsel der Orte. Studien zum Wandel des lietrarischen Geschichtsbewußtseins, hg. v. I. von der Lühe u. A. Runge, Göttingen 1997;
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zip der Vermittlung zwischen Mensch und Gott. Dabei bleibt es bei Hölderlin, der im Unterschied zu Schelling das pneumatologisch interpretierte Christentum, das die griechische Religion, mit deren Götterwelt sie durch Christus verbunden ist, beerbt, nicht für defizitär und einer neuen naturphilosophisch begründeten Mythologie bedürftig hält.
6. Hegel Hölderlin formuliert damit jene pneumatologische These, die auch für Hegels Bestimmung des Christentums entscheidende Bedeutung erlangt. Der Weg dahin wird Hegel ermöglicht durch eine neue Deutung der Religion, die im sogenannten ‚Systemfragment von 1800‘ zunächst eine Affinität zu derjenigen Schleiermachers aufweist. Denn er stellt hier die Religion über die Philosophie, die er gebunden sieht an die in Gegensätzen denkende Verstandesreflexion. Daher vermag die Philosophie auch nicht das über allen Gegensätzen stehende unendliche Leben oder Sein, also Gott, zu erreichen. Sondern die „Erhebung des Menschen […] vom endlichen Leben zum unendlichen Leben ist Religion“.139 Deshalb muß die Philosophie mit der Religion, die eine Vereinigung des endlichen Lebens mit dem unendlichen ist, aufhören. Das Systemfragment gibt auch einen Ausblick auf die verschiedenen Religionen, die sich hinsichtlich des Grades der Vereinigung voneinander unterscheiden. „Die vollkommenste Vollständigkeit ist bei Völkern möglich, deren Leben sowenig als möglich zerrissen und zertrennt ist, d.h. bei glücklichen; unglücklichere können nicht jene Stufe erreichen, sondern sie müssen in der Trennung um Erhaltung eines Gliedes derselben, um Selbständigkeit sich bekümmern“.140
Daher müssen sie alles daran setzen, die Trennung festzuhalten, und das bedeutet, daß dem selbständigen Subjekt ein fremdes, unerreichbares Objekt korrespondiert. Hegel bemüht die ästhetischen Kategorien des Schönen und Erhabenen, um die zwei entgegengesetzten Typen von Religion zu beschreiben. Schön ist eine Religion dann, wenn die Entgeders.: Logik der Zeit: Was unterscheidet die Wirklichkeit des Gesangs von der Form des Begriffs?, in: Die späte Hymnik Hölderlins, hg. von Chr. Jamme u. An. Lemke München 2003; J. Schmidt: Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen „Friedensfeier“ – „Der Einzige“ – „Patmos“, Darmstadt 1990; R.-E. Schulz: Herakles-DionysosChristus, in: Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken. Festschrift Hans-Geog Gadamer, hg. v. D. Henrich, W. Schulz u. K.-H. Volkmann-Schluck, Tübingen 1960. 139 G.W.F. Hegel: Werke, hg. v. E. Moldenhauer u. K.M. Michel, Frankfurt/M. 1971, Bd.1, 421. Vgl. M. Baum: Zur Vorgeschichte des Hegelschen Unendlichkeitsbegriffs, in: HS 11 (1976), 89–124; ders.: Zur Entstehung der Hegelschen Dialektik, Bonn 1986. 140 Ebd., Bd.1, 426.
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gensetzung von Subjekt und Objekt, endlichem und unendlichem Leben, Mensch und Gott in der Vereinigung aufgehoben ist. Eine Religion, in der der Mensch von einem absolut fremden Wesen abhängt, das nicht Mensch werden kann, ist fürchterlich erhaben, aber nicht schön menschlich. Hegel spielt hier auf das Judentum an. Aber auch das Christentum bleibt bei der Trennung von Gott und Mensch stehen, wenn es die Vereinigung von Gott und Mensch auf die einmalige Menschwerdung in Jesus beschränkt.141 In der gleichzeitig mit dem ‚Systemfragment‘ begonnenen Neufassung des Anfangs der Positivitätsschrift sieht Hegel es als einen Makel des Christentums an, „wenn die menschliche Natur geschieden wird von dem Göttlichen, wenn keine Vermittlung derselben – außer nur in einem Individuum – zugelassen, sondern alles menschliche Bewußtsein des Guten und Göttlichen nur zur Dumpfheit und Vernichtung eines Glaubens an ein durchaus Fremdes und Übermächtiges herabgewürdigt wird“.142 Daher kann Hegel das Christentum zu diesem Zeitpunkt auch nicht als vollkommenen Gestalt der Religion betrachten. Denn eine solche Religion hätte die Entzweiung von Subjekt und Objekt, Mensch und Gott aufzuheben. Aber die Aufhebung der Entzweiung ist für Hegel ohnehin seit seiner Übersiedlung nach Jena und seinem dortigen Kontakt mit Schelling eine Aufgabe nicht mehr der Religion, sondern der Philosophie, was mit der grundlegenden Änderung seines Philosophiebegriffs zusammenhängt. Während er in seiner Frankfurter Zeit die Philosophie als in Gegensätzen sich bewegende Verstandesreflexion gefaßt hatte, erklärt er es in der Abhandlung „Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie“ von 1801, seiner ersten Publikation, für das einzige Interesse der Vernunft, festgewordene Gegensätze aufzuheben.143 Nicht der Verstand, wohl aber die Vernunft gelangt zu einer „Anschauung des sich selbst in vollendeter Totalität objektiv werdenden Absoluten“, die Hegel in Aufnahme christologischer Termini als „Anschauung der ewigen Menschwerdung Gottes“ bezeichnen kann.144 Schleiermacher, dessen Reden er im Vorwort der Differenzschrift noch positiv erwähnt, wird in der Abhandlung „Glauben und Wissen“ aus dem Jahre 1802 als Kulminationspunkt eines protestantischen Subjektivismus kritisiert. Zwar werde durch die Anschauung des Universums „die Sehnsucht aus ihrem über Wirklichkeit Hinausfliehen nach einem ewigen Jenseits zurückgeholt, die Scheidewand zwischen dem Subjekt oder dem Erkennen und dem 141 142 143 144
Ebd., 427. Ebd., 225. G.W.F. Hegel: Werke, Bd.2, Frankfurt/M. 1970, 21. Ebd., 112. Vgl. L. Siep: Der Weg der „Phänomenologie des Geistes“. Ein einführender Kommentar zu Hegels „Differenzschrift“ und zur „Phänomenologie des Geistes“, Frankfurt/M. 2000, 24ff.
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absoluten unerreichbaren Objekte niedergerissen, der Schmerz im Genuß versöhnt, das endlose Streben aber im Schauen befriedigt“.145 Aber diese Vereinigung von Subjekt und Objekt, Endlichem und Unendlichem soll doch wieder nur eine individuelle Anschauung und ein individuelles Gefühl sein, während es Hegel um die Allgemeinheit dieser Vereinigung geht. Gleichwohl dürfte neben Schellings Gegenüberstellung von griechischer und christlicher Religion, Antike und Moderne, vor allem Schleiermachers These vom Christentum als der Religion der Religionen zur Ausarbeitung von Hegels eigener Auffassung des Christentums als der absoluten Religion entscheidend beigetragen haben. In seinen „Vorlesungen über Naturrecht“, vermutlich aus dem Sommer 1802, orientiert er sich jedoch an Schellings historischer Konstruktion des Christentums. In den Mitteilungen, die Rosenkranz von dem verschollenen Manuskript macht, heißt es, Hegel habe verlangt, „daß in der Religion die Realität des Objectiven selbst, damit auch die Subjectivität und Besonderheit, als aufgehoben gesetzt werde“.146 Daß in der Religion die Subjektivität und Besonderheit stark gemacht werde, wie dies bei Schleiermacher der Fall sei, habe Hegel für unvereinbar gehalten mit dieser höchsten Region der allgemeinen Vernünftigkeit. Religion und Wissen haben zwar dieselbe Materie, also denselben Inhalt, nämlich den nunmehr als Geist gefaßten Gott oder das Absolute, aber das Wissen hat diesen Inhalt in Form der Idealität, die Religion hat ihn hingegen in Form der Realität. „Weil der Geist in der Religion nicht in der Idealität der Wissenschaft, sondern in Beziehung auf die Realität ist, so hat er nothwendig selbst eine umgrenzte Gestalt, welche, für sich fixirt, in jeder Religion die positive Seite derselben ausmacht.“147 Jede Religion hat daher notwendigerweise zwei Seiten, nämlich einerseits die spekulative Idee des Geistes und andererseits die dem empirischen Dasein des jeweiligen Volkes, in dem die Religion ihren Ort hat, entnommene Begrenzung. Hegel geht davon aus, daß sich der Geist in den verschiedenen positiven Religionen manifestiert, und daher kann er wie Schelling sagen: „Als Totalität des empirischen Daseins objectiv sich darstellend, hat das Wesen Gottes für den Geist eine Geschichte.“148 Nach den drei Dimensionen der Vernunft – Identität, Nichtidentität und Identität der Identität und Nichtidentität – muß die Religion daher weltgeschichtlich in der empirischen Differenz dreier Formen auftreten: „1) in 145 Hegel: Werke, Bd.2, 391. Vgl. W. Jaeschke: Der Zauber der Entzauberung, in: HegelJahrbuch 2004, „Glauben und Wissen“, Berlin 2004, 11–19. 146 G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke, Bd.5, Schriften und Entwürfe (1799–1808), hg. v. M. Baum u. K.R. Meist, Hamburg 1998, 459. 147 Ebd., 460. 148 Ebd.
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der Form der Identität, in ursprünglicher Versöhntheit des Geistes und seines Reellseins in der Inividualität; 2) in der Form, daß der Geist von der unendlichen Differenz seiner Identität anfange und aus ihr eine relative Identität reconstruire und sich versöhne; 3) diese Identität, unter jene erste absolute subsumirt, wird das Einssein der Vernunft in Geistesgestalt und derselben in ihrem Reellsein oder in Individualität als ursprünglich und zugleich ihren unendlichen Gegensatz und seine Reconstruction setzen“.149 Den drei Vernunftformen ordnet Hegel die griechische Naturreligion, das Christentum und eine zukünftige neue Religion zu. Die als Naturreligion charakterisierte griechische Religion wird so der Stufe der Identität oder der ursprünglichen Versöhnung zugeordnet. „Der Phantasie ihres Pantheismus ist die Natur an und für sich selbst ein Geist und heilig. Aus keinem Element ist sein Gott gewichen.“.150 Doch in Anlehnung an Schillers „Götter Griechenlands“ heißt es, daß die schöne Götterwelt der Griechen mit dem sie belebenden Geist untergehen mußte und nur als Andenken bleiben konnte. Die Einheit des Geistes mit der Realität mußte zerbrechen, weil sich das ideelle Prinzip in der Form der Allgemeinheit konstituieren und das reelle sich als Einzelheit festsetzen muß. Zwischen beiden bleibt die entgötterte Natur als entweihter Leichnam zurück. Hegel beschreibt damit die Epoche des römischen Imperiums, das nur die Allgemeinheit der Herrschaft kennt, die die antike Polis zerstört und damit zur völligen Vereinzelung der Menschen führt. „Zur Zeit dieser Vereinzelung, die keine Versöhnung fand, und dieser Allgemeinheit, die kein Leben hatte, […] mußte die ursprüngliche Identität aus der Zerrissenheit ihre ewige Kraft über ihren Schmerz erheben und zu ihrer eigenen Anschauung gelangen“.151 Hegel sieht es als providentiell an, daß dies in jenem Volk sich ereignete, das aufgrund seiner Unterjochung unter die römische Herrschaft den Schmerz der Entzweiung am stärksten spürte. Er spielt damit auf die Stiftung des Christentums durch Jesus in Palästina an. Zum Stifter einer neuen Religion wurde er nämlich dadurch, daß er einerseits den Schmerz der Entzweiung, den die ganze Epoche kennzeichnete, aus innerster Tiefe aussprach und er andererseits zugleich die absolute Gewißheit der Versöhnung in sich trug und über den Schmerz erhob. Denn durch diese Zuversicht erweckte er die Zuversicht auch bei anderen. „Das Leiden seiner Zeit, der die Natur untreu geworden war, sprach er aus in der absoluten Verachtung der zur Welt gewordenen Natur, und die absolute Zuversicht der Versöhnung in der 149 Ebd., 460f. 150 Ebd., 461. 151 Ebd.
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Gewißheit, daß er Eins sei mit Gott.“152 Die beiden notwendigen Elemente der christlichen Religion sind also einerseits die Entgötterung der Natur und die daraus resultierende Weltverachtung und andererseits die Zuversicht der Vereinigung des Endlichen mit dem Unendlichen, Absoluten. Da die ganze Natur entgöttlicht war, konnte sie nur von Jesus aus, der über diese Zuversicht verfügte, wieder geweiht werden. Dadurch aber, daß man das Einswerden mit dem absoluten Geist an seine Persönlichkeit knüpfte, wurde er zum Anfang einer neuen Religion, deren Zentrum der Glaube war, „daß Gott in menschlicher Gestalt erschienen sei und die menschliche Natur also in dieser einzelnen Gestalt als Repräsentanten der Gattung mit sich versöhnt habe“.153 Christus als diese einzelne menschliche Gestalt drückte an ihrer Geschichte die Geschichte des gesamten Menschengeschlechts aus und wurde so zum Nationalgott nicht eines bestimmten Volkes, sondern der Menschheit insgesamt. Aber sie drückte die Geschichte des Menschen nur aus, insofern sie zugleich die Geschichte Gottes war. Insofern bedeutet der Tod des einzelnen Menschen, daß das Göttliche selbst gestorben war. „Der Gedanke, daß Gott selbst todt war auf Erden, spricht allein das Gefühl dieses unendlichen Schmerzes aus; so wie seine Versöhnung, daß er aus dem Grabe auferstanden ist. Durch sein Leben und Tod ist der Gott erniedrigt, durch seine Auferstehung der Mensch vergöttlicht worden.“154 Im christlichen Kultus, vor allem in der zentralen Feier des Abendmahls, wird dieser unendliche Schmerz immer wieder produziert, um diese Versöhnung möglich zu machen. Von der Weihe, die der Mensch durch die Versöhnung erlangt, geht aber eine neue Weihe der Natur und Welt aus, etwa durch die Sakralisierung der Herrschergewalt des christlichen Monarchen. An die Stelle der griechischen Darstellung des Absoluten in Kunst und Mythologie tritt die christliche Darstellung des Absoluten in der Form von Ideen, wobei Hegel die Trinitätslehre als herausragendes Beispiel anführt, die er wie Schelling in Anlehnung an Lessing interpretiert. Danach verehrt das Christentum das Absolute „in der Form der Dreiheit, Gott als das väterliche Princip, den absoluten Gedanken; alsdann seine Realität, ihn in seiner Schöpfung, dem ewigen Sohne, der aber als die göttliche Realität zwei Seiten hat, die eine seiner eigentlichen Göttlichkeit, nach welcher der Sohn Gottes Gott ist, die andere die Seite seiner Einzelheit als Welt; endlich die ewige Identität dieser Welt, des Objectiven, mit dem ewigen Gedanken, den heiligen Geist.“155
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Ebd., 461f. Ebd., 462. Ebd., 463. Ebd.
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Die Idee der Dreieinigkeit drückt so die Rekonstruktion der ursprünglichen Harmonie, die Überwindung der Entzweiung durch die Versöhnung aus. Anders als für Schelling ist die griechische Religion für Hegel allerdings nicht mehr derart normativ, daß er eine neue Mythologie verlangt, die an die Stelle der griechischen tritt und den entscheidenden Mangel des Christentums behebt. Gleichwohl erkennt auch er einen Mangel des Christentums an. Die Rekonstruktion der ursprünglichen Harmonie im Christentum ist in seinen Augen ja nur eine relative, was sich an der geschichtlichen Entwicklung des Christentums zeigt. Denn im Katholizismus ist das Christentum zur schönen Religion geworden, während der Protestantismus die poetische Weihe der Welt wieder aufgehoben und dem Christentum den Charakter nördlicher Subjektivität aufgedrückt hat. Hegel scheint an Schleiermacher Charakterisierung des Christentums als der Religion der Sehnsucht und heiligen Wehmut zu denken, wenn er vom Protestantismus sagt: „Er hat den unendlichen Schmerz, die Lebendigkeit, Zuversicht und den Frieden der Versöhnung in ein unendliches Sehnen verwandelt.“156 Doch damit ist nur ein Aspekt des Protestantismus berührt. Der andere ist, daß an die Stelle des kultischen Vollzugs von Entzweiung und Versöhnung im Protestantismus schließlich das Denken und Wissen von der Versöhnung tritt. Gerade diese Intellektualisierung der Versöhnung macht den Übergang vom Protestantismus in die prosaische Verstandeskultur des aufgeklärten Empirismus verständlich, den Übergang „in die empirische Versöhnung mit der Wirklichkeit des Daseins, und ein unvermitteltes, nicht gestörtes Versenken in die Gemeinheit der empirischen Existenz und der alltäglichen Nothwendigkeit“, in der „das Leben ein gemeiner, unheiliger Werkeltag geworden“ ist.157 Damit zeigt aber die Geschichte des Christentums nur, daß die christliche Religion die endgültige Versöhnung von Gott und Welt nicht zustande bringt, sondern ihrerseits wieder in der Entzweiung endet. Weder der Katholizismus noch der Protestantismus können daher die Entzweiung endgültig überwinden. Vielmehr glaubt Hegel, „daß aus dem Christenthum durch die Vermittlung der Philosophie eine dritte Form der Religion sich hervorbilden werde“.158 Nachdem der Protestantismus die Welt entsakralisiert und sich in den Geist zurückgezogen hat, „kann der Geist sich als Geist in eigener Gestalt zu heiligen und die ursprüngliche Versöhnung mit sich in einer neuen Religion herzustellen wagen, in welche der unendliche Schmerz und die ganze Schwere seines Ge-
156 Ebd., 464. 157 Ebd. 158 Ebd.
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Jan Rohls gensatzes aufgenommen, aber ungetrübt und rein sich auflöst, wenn es nämlich ein freies Volk geben und die Vernunft ihre Realität als einen sittlichen Geist wiedergeboren haben wird, der die Kühnheit haben kann, auf eigenem Boden und aus eigener Majestät sich seine reine Gestalt zu nehmen.“159
Zwar weist Hegel die versöhnende Kraft nicht einer neuen, durch das Christentum vermittelten Mythologie zu, sondern einer neuen, durch das Christentum vermittelten Religion, die durch die Philosophie gestiftet wird. Aber mit Schelling teilt er doch die Auffassung, daß dies erst in der Zukunft stattfinden wird. Das ändert sich in dem Jenaer ‚Systementwurf III‘ aus dem Jahre 1805/06. Denn was Hegel in den Naturrechtsvorlesungen noch einer durch die Philosophie vermittelten neuen Religion der Zukunft zuschreibt, daß nämlich der Geist als Geist die Versöhnung mit sich herstellt, das macht in diesem Entwurf das Wesen der christlichen Religion aus. Daher wird das Christentum hier auch erstmals von Hegel als absolute Religion bezeichnet, mit der verglichen alle anderen Religionen unvollkommen sind. Zwar herrsche in der schönen Religion der Griechen nicht mehr die bloße Naturmacht, aber sie ermangele der Tiefe und sei nur ein mythisches Spiel, während die Tiefe das unbekannte Schicksal sei. In der absoluten Religion, also im Christentum, sei die Tiefe hingegen zu Tage getreten als das Ich. „Die absolute Religion ist diß Wissen – daß Gott die Tiefe des seiner selbst gewissen Geistes ist, – dadurch ist er das Selbst aller – Es ist das Wesen das reine Denken, – aber dieser Abstraction entaüssert, ist er wirkliches Selbst; er ist ein Mensch, der gemeines räumliches und zeitliches Daseyn hat – und dieser einzelne sind alle Einzelnen – die göttliche Natur ist nicht eine andre als die menschliche – alle andern Religionen sind unvollkommen“.160
Für Hegel ist die christliche Religion deshalb die absolute, weil sie beinhaltet, daß Gott der Geist ist und dies für ihn der einzig adäquate philosophische Gottesbegriff ist. Eben dies bringt aber die christliche Trinitätslehre zum Ausdruck. Denn die ökonomische Trinität besteht darin, „daß Gott, das jenseitige absolute Wesen, Mensch geworden – dieser wirkliche, – aber ebenso diese Wirklichkeit sich aufgehoben eine vergangne geworden, und dieser Gott, der Wirklichkeit und aufgehobne, d.h. allgemeine Wirklichkeit [ist], der Geist der Gemeine ist“.161 Gott ist nicht nur das reine Bewußtsein, sondern er wird sich ein anderes, die Welt, wobei er selbst in der Natur auftritt als ein Wirkliches, so daß die
159 Ebd., 465. Vgl. Jaeschke, Vernunft, a.a.O. (Anm.38), 157ff.; ders.: Kunst und Religion, in: Die Flucht in den Begriff. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie, hg. von F. Wagner u. F.W. Graf, Stuttgart 1982, 163–195. 160 G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke, Bd.8, Jenenser Systementwürfe III, hg. v. R.–P. Horstmann, Hamburg 1976, 280. 161 Ebd., 282.
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Entzweiung zwischen Gott und Welt durch den Auftritt Gottes in der Natur aufgehoben wird. Mit dem Wirklichwerden in einem bestimmten Menschen vollzieht sich die Aufopferung des abstrakt jenseitigen Gottes. Aber ebenso muß die Wirklichkeit Gottes in einem bestimmten Menschen aufgehoben werden in die Allgemeinheit des Geistes der Gemeinde. Aufgrund dieses Inhalts kann Hegel das Christentum auch als die wahre Religion charakterisieren, die zugleich die offenbare Religion ohne Geheimnis ist, weil Gott das Selbst oder Mensch ist. Allerdings ist die offenbare Religion mit dem Makel behaftet, „daß sie der sich nur vorstellende Geist ist – d.h. daß seine Momente für ihn die Form der Unmittelbarkeit und des Geschehens haben; – daß sie nicht begriffen nicht eingesehen sind. – Der Inhalt der Religion ist wohl wahr; aber diß Wahrseyn ist eine Versicherung – ohne Einsicht – Diese Einsicht ist die Philosophie, absolute Wissenschafft – derselbe Inhalt als der der Religion – aber Form des Begriffs“.162
Während Hegel in den Naturrechtsvorlesungen noch eine den Protestantismus als Hintergrund voraussetzende und durch die Philosophie vermittelte neue Religion für die Zukunft erwartete, erklärt er nunmehr das Christentum zur absoluten Religion, weil für das Christentum Gott Geist ist. Damit verfügt es zwar über den wahren Inhalt, aber noch in der unangemessenen Form der Vorstellung, so daß es der Philosophie zufällt, den absoluten Inhalt in die absolute Form des Begriffs zu überführen. Grundsätzlich hat Hegel damit jene Position erreicht, die er 1807 in der ‚Phänomenologie des Geistes‘ der literarischen Öffentlichkeit bekannt macht. In dem siebten Kapitel mit dem Titel „Die Religion“ liefert er eine Deutung der Religionsgeschichte, die diese als Geschichte der sukzessiven Menschwerdung Gottes begreift. Die Religionsgeschichte ist eine Fortschrittsgeschichte, insofern sie eine Geschichte der fortschreitenden Aufhebung der Differenz zwischen dem Bewußtsein und dem Selbstbewußtsein des Geistes ist, die darin kulminiert, daß der Gegenstand des Bewußtseins die Form des Selbstbewußtseins erhält. Im Unterschied zu den Naturrechtsvorlesungen und dem dritten Systementwurf schaltet Hegel jetzt der griechischen Religion die natürliche Religion vor, beginnend mit der Religion des Lichtwesens, „das sich in seiner formlosen Substantialität erhält“.163 Damit ist nicht die iranische Religion, sondern die Religion Israels gemeint, auf die Hegel in den Jenaer Entwürfen anders als in seinen Jugendschriften immer nur am Rande eingegangen war und die auch jetzt nur eine knappe Darstellung
162 Ebd., 286. Vgl. Jaeschke, Vernunft, a.a.O. (Anm.38), 164ff. 163 G.W.F. Hegel, Werke, hg. v. E. Moldenhauer/ K.M. Michel, Bd.3, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 1970, 506.
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erfährt. Dasselbe gilt für die Pflanzen- und Tierreligion, die Hegel in Indien ansiedelt, und die Religion des Werkmeisters, als die er die ägyptische Religion charakterisiert. Auch wenn damit der Ansatz zu einer Erweiterung der religionsgeschichtlichen Darstellung durch die Religionen des Ostens gegeben ist, liegt doch nach wie vor das Hauptgewicht auf der griechischen Religion und dem Christentum. Der als Kunst-Religion bezeichneten Religion der Griechen wird jetzt jedoch selbst eine Entwicklungsgeschichte zugeschrieben, doch das ändert nichts an Hegels Auffassung, daß die Kunstreligion an ihr definitives Ende gelangt sei und überboten werde durch das Christentum, dessen Absolutheitscharakter damit begründet wird, daß es sich hier um die offenbare Religion handelt. Offenbare Religion ist das Christentum aber deshalb, weil in ihre das göttliche Wesen geoffenbart ist. „Sein Offenbarsein besteht offenbar darin, daß gewußt wird, was es ist. Es wird aber gewußt, eben indem es als Geist gewußt wird, als Wesen, das wesentlich Selbstbewußtsein ist.“164 Dem Bewußtsein ist jedoch dann etwas an dem ihm bewußten Gegenstand geheim und somit nicht offenbar, wenn er für das Bewußtsein ein Fremdes ist und wenn es ihn nicht als sich selbst weiß. Dieses Geheimsein hört auf, wenn das göttliche Wesen als Geist Gegenstand des Bewußtseins ist. Denn dann gilt: „die göttliche Natur ist dasselbe, was die menschliche ist, und diese Einheit ist es, die angeschaut wird“.165 Angeschaut in dem als Gottmenschen gefaßten Jesus. Diese Anschauung steht allerdings nur am Anfang des Offenbarwerdens des göttlichen Wesens. „Dies, daß der absolute Geist sich die Gestalt des Selbstbewußtseins an sich und damit auch für sein Bewußtsein gegeben, erscheint nun so, daß es der Glaube der Welt ist, daß der Geist als ein Selbstbewußtsein, d.h. als ein wirklicher Mensch da ist, daß er für die unmittelbare Gewißheit ist, daß das glaubende Bewußtsein diese Göttlichkeit sieht und fühlt und hört.“166
Dieses erste Offenbarsein bezeichnet Hegel als unmittelbar. Der Geist ist in der Unmittelbarkeit dieses einzelne Selbstbewußtsein des Gottmenschen Jesus, das dem allgemeinen Selbstbewußtsein entgegengesetzt ist. Für das Bewußtsein hat der Geist daher die Form eines sinnlichen Anderen, so daß das Bewußtsein den Geist noch nicht als seinen eigenen Geist weiß oder der Geist noch nicht so wie er einzelnes Selbst ist auch das allgemeine Selbst ist. Dieser Übergang wird erst hergestellt durch den Tod des einzelnen Selbstbewußtseins, des als Gottmenschen angeschauten Jesus. Denn dadurch wird des Geistes „sinnliche Gegenwart
164 Ebd., 552. 165 Ebd., 553. 166 Ebd., 551.
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[…] als aufgehobene, als allgemeine gesetzt; […] dieser Tod ist daher sein Erstehen als Geist“ der Gemeinde.167 Denn „der Tod wird von dem, was er unmittelbar bedeutet, von dem Nichtsein dieses Einzelnen verklärt zur Allgemeinheit des Geistes, der in seiner Gemeinde lebt, in ihr täglich stirbt und aufersteht“.168 Der Tod des Mittlers ist damit aber nicht nur der Tod dieses Einzelnen, sondern, da dieser Einzelne ja nicht nur als Mensch, vielmehr auch als Gott angeschaut wurde, zugleich der Tod des abstrakten göttlichen Wesens, das nicht als Selbst gesetzt ist. „Dies Wissen also ist die Begeistung, wodurch die Substanz Subjekt, ihre Abstraktion und Leblosigkeit gestorben, sie also wirklich und einfaches und allgemeines Selbstbewußtsein geworden ist. So ist also der Geist sich selbst wissender Geist“.169 Hegel begründet so die Absolutheit des Christentums zwar damit, daß das göttliche Wesen, die Substanz, in der christlichen Gemeinde deren allgemeines Selbstbewußtsein und mithin Subjekt geworden ist. Aber er hält zugleich daran fest, daß die Gemeinde noch nicht in diesem ihren Selbstbewußtsein vollendet ist, da sie den wahren Inhalt nur in der Form der Vorstellung hat. „Sie hat nicht auch das Bewußtsein über das, was sie ist; sie ist das geistige Selbstbewußtsein, das sich nicht als dieses Gegenstand ist“.170 Denn die Versöhnung von Gott und Mensch, die sie ist, verlegt die an die Vorstellung gebundene Gemeinde einerseits in die Vergangenheit, in die fremde Genugtuung des einzelnen Gottmenschen, und andererseits in die eschatologische Zukunft im Jenseits. Das Bewußtsein über das, was die Gemeinde ist, kann jedoch auch gar nicht im Medium der Vorstellung erreicht werden, sondern nur im Medium des Begriffs, so daß die Philosophie als das dem absoluten Inhalt einzig adäquate Wissen, das daher absolutes Wissen ist, der christlichen Religion als der absoluten Religion zwar nicht dem Inhalt, wohl aber der Form nach überlegen bleibt.
7. Schluß Mit seiner These vom Christentum als der Religion der Religionen hat Schleiermacher eine Diskussion im Kreis der Frühromantik und des Frühidealismus entfacht, die schließlich zu Hegels Auffassung führte, 167 168 169 170
Ebd., 566. Ebd., 571. Ebd., 572. Ebd., 573. Vgl. H. Schöndorff: Anderswerden und Versöhnung Gottes in Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Ein Kommentar zum zweiten Teil von VII.C. „Die offenbare Religion“, in: Theologie und Philosophie 57 (1982), 550–567; W. Jaeschke: Die Religionsphilosophie Hegels, Darmstadt 1983, 59ff.; ders.: Vernunft, 198ff.; J. Schmidt: „Geist“, „Religion“ und „absolutes Wissen“, Stuttgart u.a. 1997.
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daß das Christentum die vollendete oder absolute Religion sei. Aber während Hegel diese Auffassung mitsamt ihrer geistphilosophischen Begründung beibehält und schließlich ab 1821 in seinen Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Religion auf dem Hintergrund der Behandlung der gesamten Religionsgeschichte verteidigt, hält Schleiermacher in seiner 1821 erschienenen Dogmatik ‚Der christliche Glaube‘ zwar an der Vorrangstellung des Christentums fest, doch deren Begründung fällt ebenso wie die Bestimmung der zentralen Idee des Christentums völlig anders aus als in den Reden. Hier unterscheidet er verschiedene Entwicklungsstufen der Religion vom Fetischismus über den Polytheismus hin zum Monotheismus als der höchsten Stufe und vergleicht dann die drei Arten monotheistischer Religion – Judentum, Christentum und Islam – miteinander. Die Vortrefflichkeit des Christentums wird nicht mehr eigens begründet, sondern von ihr wird als der bei jedem Christen vorauszusetzenden Überzeugung ausgegangen.171 Da weder im Judentum noch im Islam die Unterscheidung von religiösem und sinnlichem Selbstbewußtsein vollständig durchgeführt sei, behaupte sich das Christentum als „die reinste in der Geschichte hervortretende Gestaltung des Monotheismus“.172 Anders als in den Reden besteht das Wesen des Christentums jetzt auch nicht länger in der Idee der Vermittlung von Endlichem und Unendlichem trotz des Entgegenstrebens des Endlichen gegen das Unendliche. Sondern das Christentum ist eine teleologische Form der Frömmigkeit, insofern in ihm alle natürlichen Zustände bezogen werden auf die sittliche Aktivität, die das Reich Gottes zum Ziel hat. Zwar ist es in dieser Hinsicht dem Judentum ähnlich, doch es unterscheidet sich von ihm dadurch, daß in ihm zudem alles bezogen wird auf die durch Jesus von Nazareth vollbrachte Erlösung.173 Damit trifft aber auf das Christentum, so wie der reife Schleiermacher es faßt, genau das zu, was Hegel in der ‚Phänomenologie des Geistes‘ als Selbstmißverständnis der christlichen Gemeinde herausgestellt hatte. Die Versöhnung oder Erlösung wird an eine Person der Vergangenheit, Jesus von Nazareth, und einen Zustand der Zukunft, das Reich Gottes, gebunden. Mit seiner These vom Christentum als der Religion der Religionen hat Schleiermacher zwar den Anstoß gegeben zur Ausbildung einer die positiven Religionen vergleichenden Religionsphilosophie. Eingelöst wurde das Programm aber schließlich nicht von ihm selbst, sondern
171 F.D.E. Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 7. Aufl., Bd.1, ed. M. Redeker, Berlin 1960, 51. 172 Ebd., 56. 173 Ebd., 74.
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von Hegel, dem es in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion darum geht im Vergleich der geschichtlichen Religionen zu zeigen, wie sich der Begriff oder das Wesen der Religion überhaupt im Christentum als der vollendeten Religion realisiert.
Gott und Welt Der Spinozismus von Schleiermachers ‚Dialektik‘ VON CHRISTOF ELLSIEPEN/ÜBERLINGEN AM BODENSEE
In der besonderen Bestimmung von Gottes- und Weltgedanke bündelt sich der Ansatz von Schleiermachers ‚Dialektik‘. Zugleich lässt sich gerade an diesem Punkt ein spinozistisches Motiv von Schleiermachers Spätwerk erkennen. Dass die frühe Theologie der ‚Reden über die Religion‘ mit dem Begriff der Anschauung des Universums eine Nähe zur Philosophie Spinozas aufweist, lag für die Zeitgenossen, zumeist in polemischer Absicht, auf der Hand. Der Briefwechsel mit Friedrich Samuel Gottfried Sack aus den Jahren 1800–1801 kreist um die Frage, ob Schleiermacher hier nicht eigentlich eine mit dem Christentum unvereinbare „geistvolle Apologie des Pantheismus“, eine „rednerische 1 Darstellung des spinosistischen Systems“ gegeben habe. In der zweiten und besonders in den Erläuterungen der dritten Auflage der ‚Reden‘ 2 3 von 1806 und 1821 versucht Schleiermacher die Vorwürfe zu zerstreuen, indem er „Spinozismus“ im Sinne der Übernahme des philosophischen Systems Spinozas abstreitet, auch wenn er in der Tat „Spi4 noza’s Frömmigkeit“ hatte herausstellen wollen in seinen berühmten Worten vom „heiligen verstoßenen Spinosa“ (Reden 54, KGA I/2, 213). Ludwig Jonas, der Herausgeber der ‚Dialektik‘-Vorlesungen, hoffte, durch die Edition würde im Verbund mit den Vorlesungen zur ‚Ge-
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Brief von Sack Nr. 1005 von Ende 1800, KGA V/5, 3–7; hier 4; an Sack Nr. 1065 vom Mai/Juni 1801, KGA V/5, 129–134. Reden2 69, KGA I/12, 58: „wenn die Philosophen werden religiös sein und Gott suchen wie Spinoza“. Vgl. die 3. Erläuterung zur zweiten Rede, Reden3 180, KGA I/12, 132, Z.15ff.: „weil ich dem Spinoza Frömmigkeit zugeschrieben, nun selbst für einen Spinozisten gehalten wurde, ohnerachtet ich sein System auf keine Weise verfochten hatte“. Ähnlich hat sich Schleiermacher auch in einer „Erklärung zu Delbrück“ im Jahr 1826 geäußert, vgl. KGA I/14, 331–337, bes. 334. Reden3 180, KGA I/12, 132, Z.29.
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schichte der Philosophie‘ dem Vorwurf des Spinozismus gegen Schlei5 ermacher ein für allemal der Boden entzogen. Ganz anders urteilt Wilhelm Dilthey und unternimmt eine positive Würdigung der Verbindung von Schleiermacher und Spinoza. Schleiermachers ‚Dialektik‘, so der große Biograph, „wiederholt die Intention 6 Spinozas auf der Stufe der Transzendentalphilosophie“. Diltheys Linie ist dann aber nicht weiter verfolgt worden. Mit Ausnahme der Studie von Theodor Camerer aus dem Jahre 1903, der die ‚Dialektik‘ geradezu 7 als Lösung eines von Spinoza aufgeworfenen Problems sieht, fehlen systematisch ausgearbeitete Vergleiche von Schleiermachers ‚Dialektik‘ mit Spinozas Philosophie. Emanuel Hirschs Einschätzung, Schleiermachers Gottesbegriff verdanke sich einer Nähe zu Fichte, nicht zu Spinoza, mag forschungsgeschichtlich die Tendenz der Unterbelichtung 8 des Spinozismus bestärkt haben. Ulrich Barth und Andreas Arndt haben dann wieder auf den Einfluss Spinozas gerade auch in der ‚Dialek9 tik‘ hingewiesen. Während das Verhältnis des frühen Schleiermacher 5
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Vgl. Vorwort des Herausgebers, in: Friedrich Schleiermachers Sämmtliche Werke, III/4/2, Berlin 1839, VII–XIII; hier IX. Jonas hat offensichtlich den Druck der Philosophiegeschichte verzögert (deren Vorwort stammt von 1835), um beide Bände zusammen erscheinen zu lassen (vgl. Sämmtliche Werke III/4/1, 12). Vgl. zur ‚Dialektik‘: Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, II. Schleiermachers System als Philosophie und Theologie, Gesammelte Schriften, Bd.XIV, hg. v. Martin Redeker, Berlin/New York 1966, ND Göttingen 1985, 60–227; hier 247. Theodor Camerer: Spinoza und Schleiermacher. Die kritische Lösung des von Spinoza hinterlassenen Problems, Stuttgart/Berlin 1903. Methodisch ist zu der Studie anzumerken, dass Camerer Spinoza vor allem aus dem damals relativ neu entdeckten ‚Kurzen Traktat‘ (erste Edition 1868) entwickelt und die ‚Ethik‘, das ausgearbeitete Hauptwerk Spinozas, auf diese Weise in den Hintergrund gerät. Zudem verfolgt er Schleiermachers ‚Dialektik‘ nur bis zur Darstellung des höchsten Gegensatzes von Ideal und Real (§1–137 der VL 1814/15). Das von Spinoza hinterlassene Problem bestehe in der Doppeldeutigkeit des Attributsbegriffs gegenüber Substanz einerseits und Modi andererseits. Schleiermachers Lösung bestehe in der Konstruktion einer streng transzendentalen absoluten Einheit, von der aus nur etwas über das ‚Dass‘, nicht aber etwas über das ‚Wie‘ der Einheit des Idealen und Realen ausgesagt werden könne. Weil Camerer aber hierauf seine Untersuchung beschränkt, kommen die wissenstheoretischen und subjektivitätstheoretischen Grundlagen, von denen aus Schleiermacher seine Aussagen zur Idee des transzendenten Grundes allererst entwickelt, nicht mehr in den Blick. Er verbindet so ein schon von der Textbasis her eigenwilliges Spinozaverständnis mit einer abgekürzten ‚Dialektik‘-Deutung. Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd.V, Gütersloh 3 1964, ND Münster 1984, 281–299, bes. 297: „Es ist erstaunlich, wie nahe Schleiermacher, bei der ganz andern Technik seines Denkens und seines Ausdrucks, im letzten Ergebnis seiner Lehre von Gott und Welt bei Fichte geblieben ist.“ Vgl. Ulrich Barth: Die Religionstheorie der ‚Reden‘ (1998), in: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 259–289; hier 277; Das Individualitätskonzept der ‚Monologen‘ (1994), ebd., 291–327; hier 307–309; Die subjektivitätstheoretischen Prämissen der ‚Glaubenslehre‘ (2001), ebd., 329–351; hier 346; Der Letztbegründungsgang der ‚Dialektik‘, ebd., 353–385; hier 381; Andreas Arndt: Schleiermachers Spi-
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zu Spinoza ausgehend von seiner literarisch dokumentierten Spinozarezeption via Jacobi von 1793/94 in neueren monographischen Arbeiten 10 untersucht worden ist, ist dieses Motiv in der neueren Literatur zur 11 ‚Dialektik‘ bislang nicht verfolgt worden. Heute kann es freilich nicht mehr darum gehen, Schleiermacher mit dem Verhältnis zu Spinoza zu be- oder entlasten. Vielmehr stellt sich die Aufgabe, das Eigentümliche seines Denkens aus dieser Perspektive verständlich zu machen. Meine These ist, dass Schleiermachers philoso12 phische Bestimmung von Gottes- und Weltidee in der ‚Dialektik‘ deut-
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noza, in: Kontexte – Spinoza und die Geschichte der Philosophie, hg. v. Henryk Pisarek u. Manfred Walther, Wrocaw 2001, 203–220. Hier ist auch die Arbeit von Sarah Schmidt: Die Konstruktion des Endlichen. Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung, Berlin/New York 2005 zu nennen. Vgl. Günter Meckenstock: Deterministische Ethik und kritische Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza 1789–1794, Berlin/New York 1988; Julia Lamm: The Living God: Schleiermacher’s Theological Appropriation of Spinoza, Pennsylvania 1996 (bezieht die ‚Glaubenslehre‘, nicht aber die ‚Dialektik‘ mit ein); Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva. Die spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Religionstheorie, Berlin/New York 2006. Vgl. die neuere Literatur zur ‚Dialektik‘: Falk Wagner: Schleiermachers Dialektik. Eine kritische Interpretation, Gütersloh 1974; Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt/M. 1977; Hans-Richard Reuter: Die Einheit der Dialektik Schleiermachers. Eine systematische Interpretation, München 1979; Ulrich Barth: Christentum und Selbstbewußtsein. Versuch einer rationalen Rekonstruktion des systematischen Zusammenhanges von Schleiermachers subjektivitätstheoretischer Deutung der christlichen Religion, Göttingen 1983; Andreas Arndt: Unmittelbarkeit als Reflexion. Voraussetzungen der Dialektik Friedrich Schleiermachers, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg. v. Kurt-Victor Selge, Berlin/New York 1985, 469–484; ders.: Gefühl und Reflexion. Schleiermachers Stellung zur Transzendentalphilosophie im Kontext der zeitgenössischen Kritik an Kant und Fichte, in: Transzendentalphilosophie und Spekulation. Der Streit um die Gestalt einer Ersten Philosophie (1797–1807), hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1993, 105–126; Christian Albrecht: Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit. Ihr wissenschaftlicher Ort und ihr systematischer Gehalt in den Reden, in der Glaubenslehre und in der Dialektik, Berlin/New York 1994; Maciej Potepa: Schleiermacher hermeneutische Dialektik, Kampen 1996; Ingolf Hübner: Wissenschaftsbegriff und Theologieverständnis. Eine Untersuchung zu Schleiermachers Dialektik, Berlin/New York 1997; Schleiermachers Dialektik. Die Liebe zum Wissen in Philosophie und Theologie, hg. v. Christine Helmer u.a.,Tübingen 2003; Peter Grove: Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin/New York 2004, 433–530; ders.: Philosophie als Kunst. Das Theorieprogramm von Schleiermachers Dialektik, in: Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne, hg. v. Roderich Barth, Claus-Dieter Osthövener u. Arnulf v. Scheliha, Frankfurt/M. 2005, 113–130; Wilhelm Gräb: Religion als Praxis der Lebensdeutung. Zu Schleiermachers Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie, Religion und Theologie, ebd., 147–161. Zum Verhältnis von Gottes- und Weltidee in der ‚Dialektik‘ vgl. John E. Thiel: God and World in Schleiermacher’s Dialektik and Glaubenslehre, Frankfurt/M. u. Las Vegas 1981; Michael Eckert: Gott, Welt und Mensch in Schleiermachers philosophischer
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liche Parallelen zu Spinozas Philosophie aufweist und insofern als Aus13 druck eines spinozistischen Grundmotivs verstanden werden kann. Ich werde dies im Folgenden in drei Schritten zeigen, geleitet von der Absicht, damit einige der schwierigsten Gedanken der ‚Dialektik‘ neu ins Licht zu setzen.
1. Welt Die bekannteste und pointierteste Formulierung Schleiermachers zur Unterscheidung von Gott und Welt stammt aus dem Vorlesungsmanuskript der ‚Dialektik‘ von 1822: „Gott= Einheit mit Ausschluß aller Ge14 gensätze; Welt= Einheit mit Einschluß aller Gegensätze“. Um dem Sinn dieser Differenzierung auf die Spur zu kommen, fragen wir zunächst nach der Bestimmung des Weltbegriffes: Welche Gegensätze in der Welt sind gemeint, durch deren Einschluss letztere von der differenzlosen Einfachheit Gottes abzugrenzen ist? Die Frage muß noch präzisiert werden: Welches sind die obersten Gegensätze in der „in sich getheilten und endlich gestalteten Unendlichkeit der Welt“? – wie es in einem Lehnsatz der ‚Dialektik‘ in der Einleitung der ‚Glaubenslehre‘ heißt (CG1 §9, KGA I/7/1, 32). Dreierlei Arten von Gegensatz sind für die Struktur von Schleiermachers Weltbegriff in der ‚Dialektik‘ konstitutiv: 1)der Gegensatz von Denken und Sein, 2)der Gegensatz von idealem und realem Sein, 3)der Gegensatz von Universalität und Individualität. Vergegenwärtigen wir uns den systematischen Kontext und Hintergrund der drei Punkte. 1) Zunächst könnte man schon die Reihenfolge unserer Problematisierung hinterfragen. Schleiermacher selbst spricht vom Gegensatz des Realen und Idealen als dem „höchsten Gegensatz“. Doch genauer betrachtet beschreibt dieses Begriffspaar den höchsten Gegensatz „im Sein“: Reales Sein und ideales Sein werden als Genera des Seienden unterschieden. Darüber steht noch der Gegensatz von Denken und Sein überhaupt. Aus ihm resultiert das Problem, das traditionell in der Wahrheitstheorie, bei Schleiermacher aber in der Wissenstheorie verhandelt wird: die Frage nach der Korrespondenz von Gedanke und
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Theologie, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß 1984, hg. v. Kurt-Victor Selge, Berlin/New York 1985, 281–296. Ich danke Ulrich Barth und Peter Grove für das Gespräch zu diesem Beitrag. DialM 269. Ich zitiere die ‚Dialektik‘ mit Angabe des entsprechen Vorlesungsjahres nach der maßgeblichen Ausgabe von Andreas Arndt, Kritische Gesamtausgabe (KGA), Berlin/New York 2002. Die Manuskripte (DialM) finden sich in KGA II/10/1, die Nachschriften (DialN) in KGA II/10/2.
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Wirklichkeit. „Wissen ist die Congruenz des Denkens mit dem Seyn als 15 dem Gedachten.“ Neben der intersubjektiven Konsensfähigkeit ist diese korrespondenztheoretische Übereinstimmungsrelation das zweite Merkmal des Wissens. Schleiermachers These ist, dass das Wissen, durch die notwendig darin unterstellte Übereinstimmung mit dem in 16 17 ihm Gedachten, immer auch Seinsaussagen impliziert. Disziplinentheoretisch ausgedrückt: Die Ontologie ist der rationalen Psychologie subsumiert (vgl. DialM 1814/15, §228, 153). Man könnte daher von einer „impliziten Ontologie“ der ‚Dialektik‘ als Wissenstheorie spre18 chen. Alles, was also in den Umfang der Weltidee gehört, fällt unter den Gegensatz von Denken und Sein. Es kann und muss darin Denkendes und als seiend Gedachtes voneinander unterschieden werden. 2) Terminologisch versiert dieser erste, höchste Gegensatz gelegent19 lich auch unter der Chiffre Ideal-Real, doch in den ganz überwiegenden Fällen bezeichnet Schleiermacher mit dieser Formel eine Unter20 scheidung im Sein, also in jenem als seiend Gedachten und als solchem bereits dem Denken Gegenüberstehenden. Die Unterscheidung von idealem und realem Sein wird gemäß der transzendentalen Methodik der ‚Dialektik‘ aus einer Differenzierung im Denken entwickelt. Schleiermacher nimmt Kants Zwei-Stämmelehre auf, versteht diese jedoch als graduellen Gegensatz und differenziert so zwei „Funktionen“ des Denkens: eine intellektuelle und eine sog. „organische“ Funktion. Während erstere Allgemeinheit und Einheit im Denken gewährt, ermöglicht die auf die Organisation unserer sinnlichen Empfänglichkeit bezogene Funktion des Denkens Vielheit und überhaupt Differenz im Denken (vgl. DialM 1814/15, §118, 96). Zu beiden Funktionen, sollen sie als gleichursprünglich gelten, müssen im Sein jeweils entsprechende, polar aufeinander bezogene Arten des Seins vorausgesetzt werden: „so ist das Sein auf ideale Weise eben so gesezt wie auf reale und Ideales und Reales laufen parallel neben einander fort als modi des Seins“ (DialM 15 16
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DialN 1811, 13. Vgl. DialM 1814/15, §94f., 91: „In jedem Denken wird ein Gedachtes außer dem Denken gesezt […] 95. Das Sezen der Uebereinstimmung des Gedankens mit einem außer ihm gesezten giebt die Ueberzeugung“. Vgl. Barth: Letztbegründungsgang, a.a.O. (Anm.9), 360. Ähnlich spricht Peter Grove in Bezug auf die ‚Reden‘ von einer „impliziten Metaphysik“. Grove: Deutungen des Subjekts, a.a.O. (Anm.11), 343ff. Vgl. Barth: Letztbegründungsgang, a.a.O. (Anm.9), 361 mit Anm.17. Barth bezieht sich hier auf die Stelle DialM 1828, 294. Hier seien nur die wichtigsten Belege genannt: DialM 1811, 18f. 22. 47. 64f.; 1814/15, §132–136, 100; §183f., 119–122; §195, 133; §2131f., 140f.; §214.1, 141; §216.1.8, 143; §226, 152; II§19, 165; II§42, 177; II§50f., 181f.; II§61, 185; II§111, 196. Sowie die entsprechenden Stellen der Nachschriften: DialN 1811, 46; 1818/19, 161. 163. 172. 202. 237. 239. 317; 1822, 490. 560; 1831, 784–786.
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1814/15, §132, 100). Wenn also der Gegensatz von idealem und realem Sein im Umfang des Weltbegriffes gesetzt ist, so heißt das, dass alles Sein in der Welt nach seiner idealen, dem Vernunftaspekt des Denkens entsprechenden, ebenso wie nach seiner realen, der sinnlichen Vermitteltheit des Denkens entsprechenden Seite gesehen werden kann. 3) Der dritte, den beiden anderen untergeordnete Gegensatz des von der Idee der Welt Umfaßten ist der von Universalität und Individualität. Er ergibt sich als ontologische Implikation der beiden Formen unseres Denkens, von begrifflichem und urteilendem Denken. Im Begriff teilen wir einen Sachverhalt nach allgemeinen Gesichtspunkten ein, subsumieren niedere Begriffe unter höhere, und im Urteil prädizieren wir etwas von einem damit bestimmten Subjekt. Beide Formen sind so zwar unterschieden, setzen einander aber gegenseitig voraus. Im Urteil werden gegebene begriffliche Vorstellungen verbunden, und der Begriff setzt als sachhaltiger Realbegriff durch Urteil bestimmte Vor21 stellungen voraus. Die ontologische Entsprechung der aufeinander bezogenen Denkformen zeigt sich als Korrelation der ein Ganzes umspannenden Univer22 salität des Seins und der Bestimmtheit des individuellen Seins. Das Sein ist so dem begrifflichen Denken gemäß in der Subordination oder Dependenz von Kraft und Erscheinung, dem urteilenden Denken gemäß in der Koordination und Wechselbestimmung von Einzeldingen strukturiert. Allem unter dem Gegensatz von Universalität und Individualität im Weltbegriff gefaßten Sein kommen somit die gleichursprünglichen Struktureigenschaften zu, einerseits in der verschieblichen Relation von Kraft und Erscheinung die Allgemeinheit eines höheren Prinzips im darunter befaßten Sein zu repräsentieren und andererseits die Individualität in der unabschließbaren Wechselwirkung des endlich-Einzelnen aufeinander. Alle drei höchsten Gegensätze im Weltbegriff Schleiermachers haben ihre genaueste systematische Entsprechung im Aufbau von Spinozas philosophischem System. 21 22
DialM 1814/15, §140–143, 103; §172, 112. Ich fasse mit dem Begriff der Universalität des Seins die Gesamtheit des ontologischen Korrelats der Begriffsform des Denkens zusammen. Diese Gesamtheit ist entsprechend der begrifflichen Gliederung des Denkens ontologisch strukturiert als das Für-Sich-Gesetzt-Sein lebendiger Kräfte mitsamt ihren Erscheinungen. Die Verschieblichkeit der Kraft-Erscheinungsrelation impliziert ein universales Moment im Sein. Vgl. DialM 1814/15, §181, 119: „Also das den Gattungen und Arten als allgemeinen Begriffen entsprechende Sein sind die lebendigen Kräfte als für sich geseztes und sezbares Sein und das den einzelnen Vorstellungen als niedern entsprechende sind die Erscheinungen.“ Das Zusammensein der Einzeldinge als Korrelat der Urteilsform des Denkens bedingt deren individuelle Bestimmtheit. Vgl. ebd., §194, 130f.
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ad2) Schleiermachers Gegensatz von idealem und realem Sein entspricht Spinozas Unterscheidung der Attribute Cogitatio und Extensio, 23 von Denken und Ausdehnung. Wie sich nach Spinoza Gott als einzige Substanz unter verschiedenen gleichrangigen Attributen ausdrückt, so hält auch Schleiermacher an der Gleichursprünglichkeit von Idealem und Realem fest und behauptet zugleich, dass beide im transzendenten Grund miteinander verbunden sind. ad1) Sieht man bei Spinoza genauer hin, so zeigt sich, dass die behauptete Strukturisomorphie zwischen den Modi in den verschiedenen Attributen ihrerseits aus einer höheren Strukturisomorphie gefolgert wird, nämlich aus der zwischen Ideen und deren Ideata. Der Sachverhalt, dass die Natur– sei es unter dem Attribut der Ausdehnung oder unter dem Attribut des Denkens betrachtet– „ein und dieselbe Verknüpfung von Ursachen“ (Eth. II, prop. 7, schol.) aufweist, gründet seinerseits darin, dass „die Ordnung und Verknüpfung von Ideen […] dieselbe [ist] wie die Ordnung und Verknüpfung von Dingen“ (Eth.II, prop.7). Da die ontologische Kategorie der „Dinge“ (res) hier von deren geistiger oder ausgedehnter Seinsart noch ganz freigehalten ist, identifiziert der Lehrsatz somit die Ordnung der Ideen mit der der Dinge als 24 möglicher Gehalte der Ideen. Der Gegensatz von Denken und Gedachtem ist schon bei Spinoza ontologisch höher als der zwischen verschiedenen Seinsarten, demzufolge die Substanz sich unter verschiedenen Attributen ausdrückt, oder wie Schleiermacher sagt: zwischen Idealem und Realem als „modi des Seins“ (DialM 1814/15, §132, 100; §136, 102).
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Schon 1793/94 hat sich Schleiermacher – lange vor Schellings Identitätssystem – den grundlegenden Gedanken Spinozas von der Gleichursprünglichkeit des Geistigen und Körperlichen zueigen gemacht. Vgl. Ellsiepen: Anschauung, a.a.O. (Anm.10), 140–271, bes. 179ff. In der frühromantischen Periode der ‚Reden‘ erscheint dieser Gedanke in der Hervorhebung von Menschheit (geistige Sphäre) und Natur als Darstellungen des Universums. In der ‚Philosophischen Ethik‘ erscheint der Gegensatz dann in der Koordination von Vernunft und Natur. Die ‚Dialektik‘ konstruiert entsprechend das ideale und reale Sein als denjenigen Gegensatz, von dem her die Nebenordnung der realen Wissenschaften, der Ethik und der Physik, verständlich wird. Siehe dazu unten Punkt 2.2. Das wird besonders deutlich durch den Rekurs auf Eth. I, ax. 4. im Beweis von Eth. II, prop. 7. Das Axiom behauptet die kausale Strukturisomorphie von Ideen und deren Ideata: „Die Erkenntnis einer Wirkung hängt von der Erkenntnis der Ursache ab und schließt diese ein.“ Das Ursache-Wirkungs-Verhältnis in den intentionalen Relaten findet seine Entsprechung in einer Abhängigkeit der diese zum Gegenstand habenden Ideen. Vgl. dazu Ellsiepen: Anschauung, a.a.O. (Anm.10), 48–60, bes. 55ff. Zum Begriff „res“ vgl. Robert Schnepf: Metaphysik im ersten Teil der Ethik Spinozas, Würzburg 1996. Ich zitiere die Ethik Spinozas nach der Ausgabe von Wolfgang Bartuschat: Hamburg 1999.
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ad3) Der dritte Gegensatz im Weltbegriff, der Universalität und Individualität in eine Korrelation stellt, entspricht dem für Spinoza kennzeichnenden Gedanken, alles Endliche sei als Modus, d.h. als bestimmte Modifikation, einerseits Manifestation des letzten Grundes und andererseits in den umfassenden Zusammenhang alles Endlichen gestellt. Die von Schleiermacher aus der Gleichursprünglichkeit der Denkformen erschlossene ontologische Doppelstruktur von Subordination in der Figur von Kraft und Erscheinung und Koordination in der Wechselwirkung alles Endlichen, bietet so eine Parallele zur Eigenheit des spinozanischen Begriffs des endlichen Modus als eines innerhalb eines unendlichen Zusammenhangs relativ Eigenständigen. Sehen wir aber nun, was es für den Gottesgedanken bedeutet, wenn er als solche Idee konzipiert ist, in welcher diese drei Gegensätze – und freilich auch alle hier nicht erläuterten, im Weltbegriff ebenso gesetzten untergeordneten Gegensätze – prinzipiell ausgeschlossen sind. Was bedeutet es, die Gottheit im Gegensatz zur Welt als „die reale Negation aller Gegensäze“ (DialM 1814/15, §219, 147) aufzufassen?
2. Gott 1) Der Ausschluss von Gegensätzen im Gottesgedanken bedeutet in Bezug auf den ersten und obersten Gegensatz den Gedanken einer höchsten Einheit, welche weder als Denken im Gegensatz zum Sein, noch als Sein im Gegensatz zum Denken gefasst werden kann, welche somit auch über der Differenz von Denkakt und Denkintention steht. Schleiermacher entwickelt diese „Idee der absoluten Einheit des Seins“ so, dass darin der „Gegensaz von Gedanke und Gegenstand aufgehoben“ (DialM 1814/15, §149, 105) ist. Diese übergegensätzliche Einheit gilt nicht nur als der begrifflichen, sondern zugleich als der urteilenden Form des 25 Denkens transzendent, denn sie wird in jedem Denken überhaupt 26 zwar nicht gewusst, aber immer vorausgesetzt: „Bewußtsein [ist] nur in dem relativen Getrenntsein des Denkens und Seins, denn unser Be27 wußtsein ist erst das Beziehen des Denkens auf ein Gedachtes.“ Die für die Intentionalität vorausgesetzte Entsprechung von Denken und Sein ist überdies nicht nur konstitutiv für das Wissen, sondern auch für das Wollen. „Jedes abbildliche Denken ist Bewußtsein von etwas jedes vorbildliche auch“ (DialM 1831, 334, Z. 30). Sowohl in der deskriptiven 25 26 27
Vgl. DialN 1818/19, 203: „jene absolute Einheit aber lag schon jenseits in der Indifferenz zwischen Begriffs und Urteilsbildung“. Vgl. DialM 1814/15, §153f., 105; §165f., 108; DialN 1818/19, 172, Z. 23ff. 186, Z. 19. DialN 1818/19, 146.
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als auch in der präskriptiven Richtung des Denkens muss die Übereinstimmung mit dem Sein und also eine übergegensätzliche Einheit beider gefordert werden. „Wir bedürfen eben so gut eines transzendentalen Grundes für unsere Gewißheit im Wollen als für die im Wissen, und beide können nicht verschieden sein“ (DialM 1814/15, §214, 141). Die Gottesidee als Idee der übergegensätzlichen oder absoluten Einheit von Denken und Sein fungiert so als Voraussetzung der Übereinstimmung von Vorstellung und intendiertem Gegenstand. Ohne die Annahme dieser absoluten Einheit wäre keine Objektivität des Objektbewusstseins möglich. Umgekehrt spricht Schleiermacher von dieser höchsten Einheit als von einer „Idee“, weil eine solche absolute Einheit 28 als Grund allen intentionalen Bewusstseins zwar postuliert werden muß, aber in der Form des Objektbewußtseins selbst nicht erfasst werden kann. Emanuel Hirsch hat diese doppelte Funktion des Gottesgedankens treffend beschrieben: „Gott ist […] der höchste, Grund und Grenze des Wissens bezeichnende Gedanke des wissenschaftlichen Be29 wußtseins“ . Blickt man von dieser Funktion des Gottesgedankens bei Schleiermacher auf Spinoza zurück, so zeigt sich, dass auch Spinoza in Bezug auf die Einheit von Denken und Gedachtem Gott als Grund und zugleich als Grenze menschlichen Bewusstseins ansieht. Dass Gott Grund des Wissens ist, ist die unübersehbare Basis seines Systems: „Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein oder begriffen werden“ (Eth. I, prop. 15). Die Möglichkeit der Übereinstimmung von Idee und 30 Gegenstand, die Spinoza axiomatisch fordert, wird durch den Gottesbegriff expliziert. Ohne die in Gott als Grund gesetzte Identität der Wesensform der Dinge mit deren „objektiver Essenz“ als Gegenstand von 31 Ideen, wäre keine Erkenntnis möglich. Dass Gott zugleich ein Grenzgedanke menschlichen Denkens ist, ist bei Spinoza so streng in das System integriert, dass man eigens darauf aufmerksam machen muss. Wir können immer nur erkennen, was Ideatum unseres Denkens werden kann. 28
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Barth: Letztbegründungsgang, a.a.O. (Anm.9), 361f., sieht zu Recht eine methodische Parallele zu Kants Postulaten in der ‚Kritik der praktischen Vernunft‘. Vgl. auch Grove: Deutungen, a.a.O. (Anm.11), 611f. Geschichte V, a.a.O. (Anm.8), 283. Eth. I, ax. 6: „Idea vera debet cum suo ideato convenire.“ Die in Eth. I, prop. 16 grundgelegte Struktur der Unendlichkeit realer Folgen aus der Natur Gottes wird im zweiten Teil der Ethik (Eth. II, prop. 7f.) zur förmlichen Strukturisomorphie zwischen den Dingen, wie sie unabhängig von einem Erkennen sind („formale Essenz der Dinge“), und den Dingen als Gegenständen von Erkenntnis („objektive Essenz der Dinge“) entwickelt. Das cartesische Begriffspaar formale – objektive Essenz steht unserer üblichen Terminologie (objektiv – subjektiv) entgegen. Bei den frühen Rationalisten heißt ein Ding insofern „objektiv“, als es Objekt einer Erkenntnis ist.
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Was aber Ideatum ist, das ist etwas aus Gottes Natur Folgendes, eine Modifikation seines Wesens. Alles, was wir zu erkennen imstande sind, ist also zwar auf Gott bezogen, bringt uns sein Wesen aber niemals rein zu Bewusstsein, sondern immer nur als auf bestimmte Weise modifiziertes. Die Idee eines unmodifizierten Wesens Gottes wird dadurch zum Grenzbegriff unseres Denkens hingestellt. Die Doppelthese, dass 32 Gott kraft seiner absoluten Unendlichkeit einzig sei und zugleich nicht anders als in seinen unendlichen Modifikationen sein und erkannt werden kann, besagt, dass Spinoza Gott gerade dadurch als transzendent denkt, dass er jegliche Aussage über ein von seinen bestimmten Manife33 34 stationen unabhängiges höchstes Wesen prinzipiell ausschließt. 2) Betrachten wir zweitens die Funktion des Gottesgedankens als Einheit über dem Gegensatz von idealem und realem Sein. Wir hatten gesehen, dass dieser Gegensatz für Schleiermacher eine ontologische Implikation der beiden Funktionen des Denkens darstellt. Von der intellektuellen und der organischen Funktion des Denkens schließt er zurück auf die Doppelgestalt des Seins als ideales, worin die intellektuelle Funktion ihre Basis hat, und als reales Sein, ohne welches die orga35 nische Funktion als sinnlich vermittelte nicht operieren könnte. Im Gedanke der absoluten Einheit des idealen und realen Seins oder kurz: des Idealen und Realen spricht sich zunächst die Untrennbarkeit und Gleich36 ursprünglichkeit der beiden Denkfunktionen aus. Intellekt und Sinnlichkeit machen nur im Verbund miteinander unser wirkliches Denken 32
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Die Einzigkeit (unicitas) bzw. Einheit (unitas) Gottes (Eth. I, prop. 14, coroll.; Ep. 50 (Spinoza Opera, hg. v. Carl Gebhardt, Bd.4, 239f.) ist bei Spinoza, wie Schleiermacher in seinen frühen Spinozamanuskripten scharfsinnig notiert (KGA I/1, 568f.), nicht als quantitativer Gegensatz gegen eine Vielheit oder als Individualität gemeint, sondern als Einfachheit (simplicitas, vgl. Cogitata Metaphysica II,5, Spinoza Opera I, hg. v. Carl Gebhardt, Heidelberg 1925, 257) und Unendlichkeit. Vgl. auch die Bemerkungen in DialN 1818/19, 187: „Einheit nicht aus Mangel, weil sie keine Vielheit sein kann, sondern Einheit, weil sie Unendlichkeit ist“. Vgl. Eth. I, prop. 34, dem.: „potentia Dei, qua ipse, et omnia sunt, et agunt, est ipsa ipsius essentia“. Was nicht heißt, dass Gott etwa in der von uns wahrnehmbaren Diesseitigkeit aufginge. Vielmehr muß er als auf unendliche, für uns großteils unerkennbare Weise sich manifestierend angenommen werden. Dies liegt in Spinozas Lehre von den unendlichen Attributen Gottes, vgl. Eth. I, def. 6. Vgl. Ep. 50, a.a.O. (Anm.32), 240: „deque ejus [sc. Dei] essentia universalem non possimus formare ideam“. DialM 1814/15, §132, 100. „Da nun die Vernunftthätigkeit gegründet ist im Idealen, die organische aber [sc. gegründet ist] als abhängig von den Einwirkungen der Gegenstände im Realen […]“. Man beachte die indirekte Begründung der organischen Funktion im Realen. Die organische Funktion des Denkens bleibt Denken, aber als abhängig von der sinnlichen Gegebenheit der Vorstellungen hat sie ihr ontologisches Prinzip in einem Sein außerhalb des denkenden Seins (vgl. auch DialM 1814/15, II§50, 181). DialM 1814/15, §92, 91; §132–134, 100f.
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aus. Ja, mehr noch: Jedes wirkliche Denken ist durch eine graduelle Dominanz der einen oder der anderen Funktion ausgezeichnet, entweder als „Denken im engeren Sinne“ bei Überwiegen des Intellekts, oder als „Wahrnehmung“ bei Dominanz der sinnlichen Funktion. Die Ideal37 gestalt des Wissens ist die „Anschauung“, bei der intellektuelle Durchdringung und Wahrnehmung im „Gleichgewicht“ sind (DialM 1814/15, §115, 96). Die Einheit beider Funktionen ist die unabdingbare Voraussetzung jeden Wissens, die Gottesidee ist also auch in dieser Hinsicht konstitutives Prinzip des Wissens. Allerdings stellt Schleiermacher klar, dass wir das „Transzendente“ als Einheit über dem Gegensatz von Idealem und Realem „niemals unmittelbar anschauen […], uns nur der Nothwendigkeit dieser Annahme bewußt werden“ können. Notwen38 digkeit der Voraussetzung heißt aber nicht reale Denkbarkeit: „Die allgemeine Identität des Seins bleibt uns hier völlig hinter dem Vor39 hang.“ Ontologisches Implikat der Korrelation der Geistesfunktionen ist die Untrennbarkeit und Aufeinanderbezogenheit von geistigen und materiellen Prozessen im Sein. Gott als Idee der absoluten Einheit über dem Gegensatz des Idealen und Realen ist die Voraussetzung dafür, dass die eine Welt nicht in einen Dualismus von Geisterwelt und Körperwelt zerfällt. Gegen diese vermeintliche Konsequenz wehrt sich Schleiermacher ausdrücklich (DialM 1814/15, II§51, 182). Vielmehr geht er davon aus, mit dem Gegensatz von Ideal und Real über zwei Gesichtspunkte zu verfügen, unter denen die Welt betrachtet werden kann. Die Perspektive der Physik betrachtet geistige Prozesse unter dem Gesichtspunkt ihrer Entsprechung zu Naturprozessen, die der Ethik natürliche unter dem Gesichtspunkt ihrer Entsprechung zu geistigen 40 Prozessen. Die Ansicht einer wechselseitigen Implikation, oder wie er in der philosophischen Ethik vorzugsweise sagt: eines „Ineinanders“ von Idea41 lem und Realem, von Vernunft und Natur, geht bei Schleiermacher, wenngleich verstärkt durch die Auseinandersetzung mit der Identitäts-
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DialM 1814/15, §98, 92. DialN 1818/18, 203, Z. 15f. DialN 1818/19, 164; DialM 1814/15, §133.1, 101. Vgl. die Variante in SW III/4.2, 78: „Diese Einheit des nur in beiden Modis seienden Seins ist das Transzendente d.h. dasjenige, was wir niemals unmittelbar anschauen, sondern dessen wir uns nur als eines notwendig Anzunehmenden bewußt werden können, so daß uns die allgemeine Einheit des Seins hier völlig hinter dem Vorhang bleibt.“ DialM 1814/15, §213, 140f. Vgl. DialM 1814/15, II§111, 196. Vgl. PhE (Werke II, hg. v. Otto Braun, Leipzig 21927, ND Aalen 1981) 1812/13, 248f.; 1816/17, 532.
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philosophie Schellings, auf Spinozas Gedanke einer doppelten Perspektivität der Wirklichkeit zurück. Der berühmt-berüchtigte „Parallelismus“ ausgedehnter und mentaler Prozesse besagt ja gerade keinen Dualismus völlig getrennter Sphären, sondern vielmehr eine kausal iso43 morphe Perspektivendifferenz. Die Ursache-Wirkungs-Relationen im Körperlichen entsprechen genau den Grund-Folge-Relationen im Denken. Und diese Entsprechungsstruktur gilt nach Spinoza nicht etwa nur 44 für den „Mechanismus“ in dem von Jacobi und Schelling ihm zugeschriebenen Sinne, dass die Ideen lediglich „Copien“ körperlicher Kausalprozesse wären. Vielmehr ist die Entsprechungsstruktur auch von der geistigen Perspektive her gültig. Veränderungen im Denken ziehen auch Entsprechungen im Körperlichen nach sich. Darauf beruht bei 45 Spinoza und mutatis mutandis auch bei Schleiermacher der ganze An46 satz der Ethik. Der Gottesgedanke als Idee der absoluten Einheit des Idealen und Realen fungiert somit als konstitutive Voraussetzung für die wissenschaftstheoretische Gleichrangigkeit und Koordination von Geistes- und Naturwissenschaften. 3) Theologisch brisant wird die Funktion der Gottesidee nun vor allem in Bezug auf den im Weltgedanken gesetzten dritten Gegensatz von Universalität und Individualität, von Dependenz und Wechselbestimmtheit. Dieser Gegensatz ist die ontologische Spiegelung der ursprünglichen, nicht aufeinander reduzierbaren Polarität von begrifflichem und urteilendem Denken. Der Gottesgedanke ist auch als letzte Einheit für beide Denkformen konzipiert. Anhand der darin beschlossenen Denkgrenzen unternimmt Schleiermacher eine durchgreifende 47 Kritik aller Formen rationaler Theologie. Der transzendente Grund ist 42
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Die Frage nach dem Einfluss Schellings auf Schleiermacher über den von Hermann Süskind (Der Einfluß Schellings auf die Entwicklung von Schleiermachers System, Tübingen 1909) bearbeiteten Zeitraum (1799–1806) hinaus, wäre eine eigene Untersuchung wert. Vgl. Ellsiepen: Anschauung, a.a.O. (Anm.10), 48–60. Friedrich H. Jacobi: Über die Lehre Spinozas in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn, Werke I/1, hg. v. Klaus Hammacher u. Irmgard-Maria Piske, Hamburg u. Stuttgart-Bad Cannstatt, 20f.; ders.: David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus, Werke II, Leipzig 1815, ND Berlin 2001, 125–288, hier 230–232; Friedrich W. J. Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809), hg. v. Thomas Buchheim, Hamburg, 1997, 22 (SW VII, 350). Eth. V, prop. 1: „Gerade so wie sich Gedanken und Ideen von Dingen im Geist ordnen und verketten, so ordnen und verketten sich, genau entsprechend, die Affektionen des Körpers oder die Vorstellungsbilder von Dingen im Körper“ (Übers. Bartuschat, PhB 92). Vgl. PhE, a.a.O. (Anm.41), 1816/17, 531–537. Vgl. Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie V, a.a.O. (Anm.8), 287–291.
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nur dann als wahrhaft transzendent gedacht, wenn er sich nicht nur als höchste Steigerung der Begriffs- oder Urteilsform des Denkens und deren ontologischer Implikate erweist, sondern vielmehr als diese Formen selbst aufhebend. So ist Gott weder mit der oberen Urteilsgrenze eines absoluten, unendlich bestimmten Subjektes, noch mit deren ontologischem Korrelat einer höchsten Ursache zu identifizieren. Denn auch das höchste Urteil steht noch im Gegensatz gegen die ihm entsprechende „Thatsache“ (DialM 1814/15, §166, 108) und die höchste Ursache im 48 Gegensatz gegen die von ihr hervorgebrachten Wirkungen. Im Blick auf Spinoza ist hier vor allem die Diskussion der oberen Grenze des Begriffs aufschlussreich. Wie das Transzendente nicht durch einen höchsten, alle sonstigen Begriffe unter sich versammelnden Begriff repräsentiert werden kann, weil dieser noch im Gegensatz zu seinem Gegenstand steht, so kann es ontologisch auch nicht als höchste Kraft gesetzt werden, weil diese – wenngleich selbst nicht Erscheinung einer höheren Kraft – noch im Gegensatz zu ihren eigenen Erscheinungen steht. Es ist nun bezeichnend, dass Schleiermacher im Manuskript bei der Diskussion der oberen Begriffsgrenze den Ausdruck „Pantheismus“ 49 und den Rekurs auf Spinoza voneinander differenziert. Pantheismus, so kann man der Vorlesung über Geschichte der Philosophie von 1812 entnehmen, ist eine Position, in der „über der Identification Gottes mit 50 der Welt die Trennung ganz vernachlässigt wird.“ Entsprechend wird in der ‚Dialektik‘ die Gleichsetzung der der oberen Begriffsgrenze korrespondierenden „höchsten Kraft“ mit der Gottheit als deren „pantheistische“ Konstruktion bezeichnet (DialM 1814/15, §183.1, 119). Davon unterscheidet Schleiermacher den Ansatz Spinozas, der aber „hier besonders nicht beurteilt werden“ kann (ebd., §183.5, 121). Wenn Schleiermacher in diesem Kontext die höchste hervorbringende Kraft mit der Figur der „natura naturans“ im Gegenüber zur Welt der Erscheinungen 51 als „natura naturata“ bezeichnet, so heißt das noch nicht, dass er diese Position Spinoza zuweist, nur weil dieser bekanntermaßen jene scholastischen Formeln benutzt. In der Philosophiegeschichtsvorlesung macht er vielmehr deutlich, dass Spinozas Gottesbegriff den Gegensatz von natura naturans und natura naturata, von höchster Kraft und Erschei-
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Vgl. DialM 1814/15, §200f., 136. Zum Ausdruck „höchste Ursache“ vgl. ebd., §208, 139; §217.3, 146f. In den Nachschriften ist dies nicht so deutlich, hier wird die pantheistische Ansicht als „spinozische Art“ bezeichnet. Vgl. DialN 1818/19, 202. SW III/4.1, 250. DialM 1814/15, §216.8, 145; 1822, 260. 270; 1828, 302; DialN 1828, 723.
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nung seinerseits noch transzendiert: Der Gott des Spinoza ist „beides 52 und keins von beiden“. Wenn aber mit dem Gegensatz von natura naturans und natura naturata der Weltbegriff nach seiner der oberen Begriffsgrenze entsprechenden Struktur beschrieben ist, und Gott davon unterschieden wird, so ist es nur folgerichtig, dass Schleiermacher für Spinozas Verhältnisbestimmung von Gott und Welt eine Formulierung findet, die mit seiner eigenen, in der ‚Dialektik‘ vorgetragenen Lösung in den wesentlichen Punkten übereinstimmt: Spinoza, so eine Nachschrift der Philosophiegeschichte von 1820, „betrachtet Gott in seiner Causalität, aber nie an und für sich, er betrachtet die Welt in ihrer Dependenz aber nie an 53 und für sich.“
3. Gott und Welt als Korrelata Anhand der Funktion der Gottesidee haben wir uns der Frage nach dem Verhältnis der beiden Ideen angenähert. Wir haben gesehen, dass Gottes- und Weltgedanke aus einer Reflexion auf die notwendigen transzendentalen Voraussetzungen von Wissen hervorgegangen sind. Als solche tragen sie den kritischen Status transzendentaler Ideen und sind nicht im eigentlichen Sinne Gegenstand, sondern Voraussetzungen des Wissens. Es gehört aber zu ihrer Funktion als konstitutiver Prinzipien 54 des Wissens, implizit auch als ontologische Prämissen zu fungieren. So steht jedes Wissen erstens unter der Präsupposition der Korrespondenz von Denken und Sein. Diese Korrespondenz der unter der Weltidee befassten Totalität alles Seienden und Denkenden ist als Seinsbezogenheit des Denkens und Denkbarkeit des Seins nur unter der Annahme einer übergegensätzlichen absoluten Einheit beider in der Gottesidee möglich.
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SW III/4.1, 277: „diese [unendlichen] modi sind die natura naturata als Inbegriff der Dinge, jene Attribute sind die natura naturans als das sich in diese modos zerspaltende und die Dinge aus sich erzeugende. Gott ist beides [sc. Inbegriff der Dinge als natura naturata und das die Dinge Erzeugende als natura naturans] und keins von beiden.“ Vorlesung zur Geschichte der neueren Philosophie 1820, Nachschrift Saunier, hg. v. A. Arndt, in: Kontexte, a.a.O. (Anm.9), 218–220; hier 219. Vgl. das Manuskript, SW III/4.1, 278: „Spinoza sagt bestimmt, jene Betrachtung sei schon Welt, natura naturans, Gott von Seiten seiner Caualalität betrachtet. Deus an sich, wievol sein Sein und seine Causalität auch nicht wesentlich zu unterscheiden sind, ist doch nicht beides [sc. Gott und Welt], so daß er auch Eins von beiden ist […] es ist unbegreiflich, wie man […] Spinoza […] für einen Atheisten halten kann.“ Zur regulativen und konstitutiven Funktion Schleiermacherscher „Ideen“ in Abgrenzung zu Kant vgl. Grove: Deutungen des Subjekts, a.a.O. (Anm.11), 609ff.
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Jedes Wissen steht zweitens unter der Präsupposition der Einheit der dem Denken gegenüber gedachten Wirklichkeit. In der Idee der Welt ist ausgehend vom Gegensatz von Vernunft und Sinnlichkeit das Sein als Totalität des idealen und realen Seins gedacht. Das durchgängige Aufeinanderbezogensein und die kontinuierliche Durchdringung beider modi des Seins wie beider Funktionen des Denkens ist aber nur unter der Annahme einer diesen Gegensatz aufhebenden Einheit des Idealen und Realen möglich. Die Gottesidee fungiert so als transzendentale Bedingung der Einheit sowohl des realen, sachhaltigen Wissens in Physik und Ethik als auch des Seins als Natur und Vernunft. Jedes Wissen steht drittens unter der Präsupposition, dass Begriffsbildung und Urteilsbildung auf denselben Gegenstand, auf dasselbe Sein bezogen sind und also das System subordinierter Begriffe mit dem System koordinierter Urteile kompatibel ist. Ontologisch bedeutet dies, dass in der Idee der Welt das in Begriffen gefasste beharrliche System lebendiger Kräfte mit den in Urteilen erfassten veränderlichen Wechsel55 wirkungsrelationen übereinkommen muss. Dieses Zusammenfallen von begrifflicher Strukur und propositionaler Bestimmtheit im Wissen wie im Sein ist aber nur unter der Annahme der übergegensätzlichen 56 Einheit beider in der Gottesidee möglich. In dieser Hinsicht ist also die Gottesidee die Voraussetzung für die Konvergenz des spekulativ-be57 grifflichen und des empirisch-urteilenden Wissens. In allen drei Hinsichten fungiert so die Idee Gottes als übergegensätzliche Einheit der in der Weltidee gesetzten Gegensätze. Umgekehrt fungiert die Weltidee als das bestimmungslogische Totalitätsprinzip für das Wissen. In ihr ist ausgehend von den polar verfassten Grundstrukturen unseres Denkens – Übereinstimmung mit dem Sein, Vernunft und Sinnlichkeit, Begriff und Urteil – der maximale Umfang des Wissens in höchstmöglicher Bestimmtheit gedacht. Beide Ideen sind dem Wissen transzendent, aber beide auf je andere Weise. Die Gottesidee ist in dem Sinne transzendent, als sie ihrer Form nach prinzipiell undenkbar ist. Die Gottheit „unmittelbar anschauen“ ist uns versagt (DialM 1814/15, §184, 122). Die Welt hingegen ist ihres quantitativen wie qualitativen Gehalts nach faktisch undenkbar. Sie ist immer „unausgefüllter Gedanke“ (DialM 1814/15, §218.3, 147) und sie kann auch qualitativ „nie und nirgend auch nicht im unendlichen Prozeß der Zusammenfassung aller Erfahrung […] organisch gegeben sein“ (DialM 1822, 269), weil die ge55 56
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Vgl. DialM 1814/15, §195f., 131f.; DialN 1818/19, 221f. Schleiermacher stellt klar – das sei hier nochmals hervorgehoben –, dass weder die obere Begriffsgrenze noch die obere Urteilsgrenze der Gottesidee als übergegensätzlicher Einheit adäquat sein können. Vgl. DialM 1814/15, §201f., 136f.; DialN 1818/19, 228. DialM 1814/15, §197, 133; DialN 1818/19, 224–226.
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forderte Durchdringung von physikalischem und ethischem (vgl. DialM 1814/15, §211–214, 139–141) und von spekulativem und empirischem Wissen (vgl. DialM 1814/15, §209f, 139) von uns nur sukzessiv und approximativ, nie im Zugleich vollzogen werden kann. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Schleiermacher die Weltidee als „transzendentalen terminus ad quem“, als die in jedem partikularen Wissen anzustrebende Totalität des vollständigen und vollkommenen Wissens 58 und des darin gewussten Seins bezeichnet. Wenn er umgekehrt die Idee Gottes als terminus a quo aufstellt, so ist dies gerade nicht im Sinne eines Ausgangspunktes für ein dihairetisches Ableitungsverfahren gemeint. Im Manuskript von 1822 präzisiert Schleiermacher daher: Der Gottesgedanke „verhält […] sich zu unserm Denken völlig gleich, als a quo und als ad quem“ (DialM 1822, 270). Denn die Gottesidee ist Idee der absoluten Einheit aller im sachhaltigen Wissen gesetzten Gegensätze und so die transzendentale Voraussetzung der Struktur des Wissens überhaupt, die sich gegen das Fortschreiten des Wissens indifferent 59 verhält. Die Korrelation beider Ideen ergibt sich für Schleiermacher aus der wechselseitigen Ergänzung beider als transzendentaler Voraussetzungen des Wissens. Ohne Gottesgedanke keine Einheit, ohne Weltgedanke keine Vielheit im Wissen wie im Sein. Aber beide Ideen sind auch nur im Miteinander sinnvoll, „d.h. wir können die eine nicht setzen ohne die andere“ (DialN 1818/19, 249). Die in der Gottesidee gesetzte übergegensätzliche Einheit ist isoliert für sich und ohne Welt genommen ein 60 völlig leerer Gedanke und wird, wie Schleiermacher sich plastisch ausdrückt, zum „gymnosophistische[n] Brüten über die Nasenspitze“ (DialM 1822, 271). Die in der Weltidee gesetzte reale Vielheit zerfasert zum Schein und zur Zufälligkeit und Mannigfaltigkeit, wenn nicht zugleich die höchste Identität des Gegensätzlichen im Übergegensätzli61 chen gesetzt wäre.
58
59 60
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DialM 1814/15, §222, 149; 1822, 270; DialN 1818/19, 253; 1822, 580; 1828, 723. Treffend charakterisiert Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie V, a.a.O. (Anm.8), 295, die Idee der Welt als eine „dem fortschreitenden Wissen näher rückende relativ-teleologische Transzendenz“ und „den Wissensvollzug anregende nie erreichte Zielgrenze des Wissens“. DialM 1814/15, §226, 151: „die Idee der Gottheit die Form jedes Wissens an und für sich, die Idee der Welt aber die Form der Verknüpfung des Wissens“. Vgl. DialN 1818/19, 249: „sobald wir uns Gott ohne Welt denken so haben wir nicht mehr wirklich die Idee, sondern ein leeres Phantasma, denn wir sahen die Idee der Gottheit ist nur an etwas anderem zu haben […] Was wollte einer aussagen von Gott, was auch nur die Formel von Realität haben sollte, ohne die Welt oder einen Theil der Welt mit zu setzen“. Vgl. DialM 1814/15, §219.2, 148. Vgl. DialN 1818/19, 249f.
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Aus der Zusammengehörigkeit und Differenzierung beider Ideen 62 ergibt sich zugleich ihre Koextensionalität. Die Identität des Geltungsumfangs der Ideen von Gott und Welt bedeutet negativ ausgedrückt, dass weder Gott über die Welt „hinausragen“ kann, weil er sonst als im Gegensatz zu Anderem selbst weltlichen Charakter annehmen würde, noch dass die Welt in irgendeinem ihrer Teile als nicht von Gott bedingt gedacht werden kann (DialM 1814/15, §216.7; 1822, 269). Das In-derWelt-Sein ist also zugleich ein In-und-durch-Gott-Sein. Dass hier trotz der Korrelation von einem Bedingtsein der Welt durch Gott die Rede ist, ergibt sich daraus, dass die Gottesidee die „noch weiter zurückliegende Voraussetzung“ (DialM 1822, 269) darstellt. Kategorial besagt dies: Die in der Weltidee ausgedrückte Totalität lässt sich in die Elemente der Einheit und der Vielheit zerlegen. Die in der Gottesidee ausgedrückte absolute Einheit ist der Ermöglichungsgrund der zur Vielheit 63 entfalteten Einheit der Welt. Von hieraus wird die eingangs zitierte Formel verständlich: Gott ist einfache Einheit mit Ausschluss von Gegensätzen. Welt ist in sich geteilte Einheit mit Einschluss aller Gegensätze. *** Überblickt man den dargelegten Gedankengang in seiner Gesamtheit, so kann man sagen: Schleiermacher hat gegenüber dem Universumsbegriff der ‚Reden‘ durch die Differenzierung von Gottes- und Weltidee in der ‚Dialektik‘ seine eigene philosophische Position zur Klarheit gebracht. Mit der Korrelation und Koextensionalität beider Ideen ist aber zugleich ein Moment gesetzt, das Schleiermacher der Sache nach schon bei deren Integration in den Universumsgedanken vorschwebte. Genau dies, über der Differenzierung von Gott und Welt deren systematische Zusammengehörigkeit nicht zu vernachlässigen, scheint mir beim frühen wie beim späten Schleiermacher das spinozistische Grundmotiv seines Denkens zu sein. Denn Korrelation und Koextensionalität von Gott und Welt, das ist– gegenüber der christlichen Schöpfungslehre– das fundamentale Programm von Spinozas Metaphysik. Die im Gottesgedanke gedachte absolute Einheit ist bei Spinoza durch die causa sui-Struktur Gottes als einziger Substanz zur Geltung gebracht. Durch die Selbigkeit von Gottes Essenz und kausaler Potenz kann Gott seinem Wesen nach aber nicht ohne die unendlichen Modifikationen als Manifestationen seines 62 63
Vgl. Barth: Letztbegründungsgang, a.a.O. (Anm.9), 381. Vgl. DialN 1818/19, 252: „in wiefern in der Idee der Gottheit die absolute Einheit, in der Idee der Welt die absolute Totalität gesetzt ist, müssen wir mit der absoluten Einheit anfangen. […] Die Totalität können wir zerlegen in Einheit und Vielheit, die Idee der Einheit können wir aber nicht mehr zerlegen.“
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Wesens sein. Die absolute Einheit Gottes findet in der in ihr gründenden unendlichen Vielheit ihr Korrelat. Das von Spinoza auf den Begriff gebrachte Strukturprinzip besteht in der Koextensionalität von absoluter Einheit und Einheit in der Vielheit. Wenn Schleiermacher den transzendentalen Teil seiner Erkenntnistheorie in die These der Korrelation und Koextensionalität von Gottesund Weltidee münden lässt, so zeigt sich darin– trotz aller Nähe zur Kantischen Zweistämmelehre im Zugang zum Wissensbegriff– der metaphysische Spinozismus von Schleiermachers ‚Dialektik‘.
Der Symbolbegriff Schleiermachers VON PHILIPP STOELLGER/ROSTOCK
„Allerdings muß man gestehen, das Abnehmen am Interesse im dogmatischen darf in der christlichen Kirche nur bis zu einem gewissen Grade steigen.“ (F.D.E. Schleiermacher1)
Hat Schleiermacher einen Symbolbegriff? Vom Begriff des ‚Symbols‘ bei Schleiermacher zu handeln, dürfte auch passionierte Schleiermacherleser etwas überraschen. Symbolisieren und Symbolisierung sind die Begriffe, die man kennt und erwartet, nicht aber der des Symbols. – Dieses hermeneutische Vorurteil ist einer Korrektur so fähig wie bedürftig. Da das Thema allerdings bedenklich umfassend ist, während die Stellen zum Begriff ‚Symbol‘ bei Schleiermacher m.W. nicht allzu zahlreich sind, wird im folgenden exemplarisch vorgegangen: 1. 2. 3.
4. 5. 6. 7. 8. 9. 1
Zur Einführung sei an das bekannte Quadrupel erinnert, um das Verhältnis von Symbolisieren und Organisieren zu präzisieren. Daraufhin lassen sich die Begriffe ‚Organ‘ und ‚Symbol‘ bestimmen, zunächst mit der Frage, ob Symbol schlicht ‚Zeichen‘ meint. Das führt zu einigen Bemerkungen zu Symbol und Natur und zum Verhältnis von Symbol und Imaginärem. Das ‚Ineinander‘ von Vernunft und Natur bildet den dialektischen ‚Kern‘, der an einem Symbol exemplifiziert wird: dem Menschen mit Leib und Seele. Das führt in die Fragen von Außen und Innen der (individuellen) Symbolisierung, die kunstlos oder kunstvoll erfolgen kann. F.D.E. Schleiermacher: Die Praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. v. J. Frerichs, Berlin 1850, 165 [=PTh].
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10. Die Beseeltheit des Symbols führt exemplarisch zur Frage nach Affekt und Gefühl. 11. Schließlich wird in einem kurzen Ausblick das Symbol als Medium ‚phantasievoller‘ Welterzeugung skizziert. In dieser tour de force wird eine Wendung des Blicks vorgeschlagen: ‚vom Symbol her‘, und ‚von der Natur aus‘ zu schauen. Die hermeneutische Vermutung ist, daß sich die so bekannten wie vielgequälten Probleme um Schleiermachers ‚Semiotik‘ und deren transzendentaltheoretische Voraussetzungen etwas anders darstellen (oder sogar auflösen?), wenn man einen Blickwechsel riskiert. Statt wie gewohnt von der Produktionstheorie und der Dominanz des Handelns der Vernunft her zu denken, kann man unter der Frage nach ‚Symbol und Organ‘ von den kulturellen Sedimenten her schauen, d.h. von den Bedingungen und Folgen der Produktion her, den Symbolen als Produkte und Vorgaben2 des Verhältnisses von Natur und Vernunft. Der transzendentaltheoretisch übliche Primat eines ‚unmittelbar seiner selbst gegenwärtigen‘ Innen, der stets handelnden Vernunft, der unübertragbaren Individualität und deren Produktion (Symbolisierung), stellt sich vom Symbol her und von der Natur aus etwas anders dar. Dieser Komplex der ‚Unmittelbarkeit‘ und ‚Produktion‘ ist therapierbar – mit Schleiermacher und über ihn hinaus. Vom Symbol her rücken Rezeption, Tradition und semiotische Bedingungen in den Blick. Von der Natur der Vernunft aus (und der Vernunft der Natur) wie vom Unbewußten und Nichtverstehen aus werden die Begriffe von Vernunft und Verstehen gründlich erweitert. Daß all dies im folgenden keineswegs befriedigend, geschweige denn zureichend ausgeführt wird, sei a limine zugestanden. Es geht hier um eine hermeneutische Hypothese, um den Vorschlag eines Blickwechsels – wie er in der (vorgegebenen) Themenstellung angesonnen wird, also eher um eine ‚Ahndung‘ im Modus der 3 ‚Andeutung‘ als um ein gesichertes Wissen im Modus der apodiktischen Behauptung.
2 3
Gibt es eine Autonomie des Symbols gegenüber dem Symbolisieren (und gegenüber dem Symbolisierenden und Symbolisierten)? F.D.E. Schleiermacher: Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre, hg. v. H.-J. Birkner, Hamburg 1981, 598f. (im folgenden zitiert als „PhE“, nach der Seitenzählung der Ausgabe von O. Braun).
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1. Quadrupel Wohl jedem Schleiermacherleser ist das orientierende Quadrupel aus der Ethik vertraut: die Kreuzung der beiden dynamischen Polaritäten von Symbolisieren und Organisieren sowie individuell und identisch. Aus diesen vier Funktionen des Vernunfthandelns entwirft Schleiermacher sein Verständnis – in gleichsam genetisch-phänomenologischer Weise – der Formen der Kultur. Üblicherweise werden den vier Funktionen vier Formen zugeordnet:4 • • • •
Dem identischen Organisieren Recht, Wirtschaft5 und ‚Naturbearbeitung‘ (Staat, PhE, 273); dem individuellen Organisieren die freie Geselligkeit und ‚Hauswirtschaft‘ (ebd.); dem identischen Symbolisieren die Wissenschaften (ebd.); und dem individuellen Symbolisieren Kunst und Religion (Kirche, ebd.).6
Wenn man zur Pluralisierung neigt, kann man aus den vier Formen leicht acht machen, etwa indem man wie E. Herms eine zweite Unterscheidung einführt: die von Gemeinschafts- und Individualitätsbildung. Wenn aber eine Pluralisierung vorgeschlagen wird (um nicht zu sagen Ausdifferenzierung), dann wäre die nicht nur extensiv möglich, durch Vervielfältigung der ‚Felder‘, sondern vordem auch intensiv: indem in jeder Form alle Funktionen des Vernunfthandeln präsent sind. Das drängende Problem der spätmodernen Pluralisierung, die interne und konfligierende Pluralität innerhalb bestimmter kultureller Formen, würde so rekonstruierbar und verständlich. Bleibt man, der Einfachheit halber, bei vier Formen und Funktionen, ergibt sich die Möglichkeit einer problematischen Übervereinfachung: die der Abbildung der beiden Quadrupel aufeinander, sofern man die Funktionen direkt auf die Formen bezieht. Das kann irreführend werden. Daß etwa identisches Symbolisieren Wissenschaft hervorbringe, individuelles hingegen Kunst und Religion, ist prima vista zwar einleuchtend, fördert aber einen Fehlschluß oder zumindest eine Verkürzung: als gäbe es direkte Entsprechungen oder Zuordnungen von Funktionen (des Vernunfthandelns) und Formen (der Kultur).
4 5 6
Vgl. E. Herms: Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, 218, 259. So Herms, ebd., 218. Hinzuzufügen wäre die Geschlechterdifferenz zwischen identischem und individuellem Symbolisieren; vgl. PhE, 322.
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Wenn das Vernunfthandeln in vier Funktionen unterschieden wird, ist vielmehr zu erwarten, daß jede dieser Funktionen in jeder kulturellen Form(ung) präsent ist (wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung). Am Beispiel der Wissenschaften ist das leicht ersichtlich: denn es wird in ihnen – nicht bloß de facto und äußerlich, sondern mehr oder minder ‚wesentlich‘ – nicht nur identisch, sondern auch individuell symbolisiert, wofür Schleiermachers Texte selber Beleg genug sind. Wissenschaft ohne ‚Stil‘ und ‚eigene Handschrift‘ könnte besser von Maschinen betrieben werden, ohne Sinn und Geschmack. Ebenso wird in den Wissenschaften auch individuell organisiert, wofür die ‚Hauptsache‘ an Kongressen, die freie Geselligkeit, Beleg genug sein dürfte. Und es wird auch identisch organisiert, etwa mit nicht vorhandenen Mitteln gewirtschaftet, wofür jeder Fakultätsetat Beleg genug ist. Ergo entsprechen die vier Funktionen nicht einfach den vier Formen, sondern alle möglichen Formen (und das sind mehr als vier) sind bestimmt durch alle möglichen Kombinationen der vier Funktionen. Wenigstens vier mal vier Felder ergäben sich daraus, besser gesagt nicht ‚Felder‘, sondern dynamische Aspekte der Vernunftfunktionen. Und in dem Maße wie die Formen sich vervielfältigen, eskaliert das Schema. Dennoch mit einer (prästabilen?) Harmonie von vier Feldern zu wirtschaften, suggeriert einen gepflegten Garten der Kultur und dessen ursprungslogische Einheit – was schlicht vormodern wirkt und für die Analyse spätmoderner Konstellationen unzureichend wäre. So könnte man Schleiermacher mit Schleiermacher unterinterpretieren. Als lebten und dächten wir in einem geschlossenen Horizont, innerhalb derer der Gartenbaumeister (der Vernunft) die Formen wohlgeordnet hätte. Ob es diesen Garten je ‚gegeben‘ hat, geschweige denn einen weisen Gärtner, sei dahingestellt. Wenn hingegen die vier Funktionen des Vernunfthandelns als Unterscheidungen gebraucht werden, um sich im Denken der Kultur zu orientieren – sind sie hilfreich. Die offene Lesart dieses Schemas könnte die weiterführende sein, etwa kulturhermeneutisch, statt ‚kulturdogmatisch‘. Eine Folge des vorgeschlagenen ‚kaleidoskopartigen‘ Verhältnisses von Funktionen und Formen ist beispielsweise, daß jede der Formen in ihrer Selbstthematisierung die Dialektik symbolischer Funktion und Form thematisieren kann. Diese Selbstreflexivität des Kulturprozesses ist daher nicht ein Privileg von Kunst- oder Religionstheorie, sondern in jeder ‚Theorie von‘ zu erwarten, in der eine Form auf die Struktur der ‚Semiose‘ reflektiert, sei es in der Rechts-, Staats-, Wissenschafts-, Wirtschafts- oder Sozialtheorie. Daß Kunst und Religion die Königswege der Selbstreflexivität der Kultur seien, ist dann schlicht eine Engführung, die im Auge des Betrachters gründen mag.
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2. Organisieren – Symbolisieren In diesem kritischen Präskript zur Vier-Felder-Wirtschaft wurde so getan, als wäre klar, wovon die Rede ist. Das bedarf der Korrektur. Denn was genau heißt ‚Symbolisieren‘? Um nicht das Thema zu wechseln – entgegen der Vorgabe – sei das prekär verkürzt deklariert:7 Symbolisieren sei hier zunächst schlicht verstanden als Zeichenproduktion und -gebrauch8 (also in und aus der Kultur); Organisieren als Ding- oder Werkzeugproduktion9 und -gebrauch (i n und aus der Natur), etwa in der Wahrnehmung durch die „Sinneswerkzeuge“ (PhE, 586) oder in der Technik als Werkzeuggebrauch.10 Der Akzent liegt bei beiden auf den Bestimmungen Produktion und Gebrauch, nicht auf dem des Zeichens bzw. des ‚Zeugs‘. Ob und zu welchem Ende Schleiermacher als Semiotiker zu interpretieren wäre, hätte Gegenstand einer weiteren Studie zu sein. Beispiele für Zeichen- oder Ding- und Werkzeugproduktion und -gebrauch sind:11 1. Werkzeug. Etwas als Werkzeug zu verwenden heißt, mit ihm organisieren. Dieses Werkzeug als ‚Einbildung der Vernunft in die Natur‘ zu betrachten, etwa zu lesen oder zu deuten, heißt, es als Symbol zu nehmen. So gesehen ist aufschlußreich, wenn Werkzeugverwendung bei Tieren auftritt und damit belegt, daß nicht nur die Vernunft der menschlichen Natur symbolisierend sein kann. Entweder ist nicht die humane Vernunft (allein?) der Grund von Werkzeugproduktion und gebrauch; oder es ist auch mit Vernunftfunktionen bei Tieren zu rechnen. In aristotelischer Tradition ‚de anima‘ wäre das nicht überraschend (wie die ‚Wahrnehmungsseele‘ belegen könnte). 2. Zeichen / Sprache. Einen artikulierten Laut als Mitteilung zu verwenden heißt, mit ihm organisieren, etwa eine Gefahr mitteilen. Ihn als solchen zu erkennen heißt, ihn als Symbol zu verstehen. Daß dergleichen auch bei Tieren auftritt, ist wenigstens bemerkenswert. 3. Affekte. Affekte gelten weder als Wissen noch als Handeln, wären prima vista also weder für die Symbolisierung noch für die Organisierung relevant und nicht damit zu bestimmen, weil sie kein Vernunft7
8 9 10 11
Die Reihenfolge ist rückblickend, denn die „organisierende Function muß den Anfang machen, da sie, wenngleich ein Minimum von Einigung schon gegeben ist, doch relativ das Eintreten der Vernunft in die Natur repräsentiert“ (PhE, 263). Denn Vernunft ist „bezeichnende Thätigkeit“ PhE, 584, vgl. 623ff. Vgl. zum Dingbegriff PhE, 584. Vgl. die „Bildung der anorganischen Natur zum Werkzeug“ als Mechanik und die Agrikultur (PhE, 276) als Symbole des Organisierens. Vgl. ebd., 610f. Weitere Beispiele wären: 4. soziale Ordnung, 5. Altruismus, 6. Tausch/Gabe, 7. Bilder, 8. Kunst (Besonnenheit), 9. Religion.
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handeln sind. Aber sind Affekte dann bloße Natur (i.S. des rohen Stoffs)? Also (in kruder Weise passiver?) Eindruck, der allein kraft der Besonnenheit zum symbolischen Ausdruck werden kann? Was aber passierte mit der ‚Natur‘ (die wir sind), wenn sie ‚Vernunft wird‘? Die Vernunftwerdung der Natur scheint eine Natur ‚diesseits der Vernunft‘ vorauszusetzen. Diese unvernünftige Natur wäre einerseits ‚draußen‘, als prärational exkludiert, und andererseits dann nur als zu symbolisierende interessant. Affekte erscheinen bei Schleiermacher im Symbolprozeß einerseits als animalisch (bzw. rein organisch), andererseits als durchaus intellektuell (PhE, 381), also mit einer Erkenntnisfunktion versehen. Husserl hätte das die passive Synthesis der Affektion genannt. Die animalischen Affekte bilden keine Einheit der Handlung, sondern Schleiermacher zufolge gilt, „das Animalische muß erst auf ein Intellectuelles reducirt werden“ (PhE, 381), das auch affiziert wird und die Einheit der Handlung gewährleistet. Affekte bekommen so ein Verhältnis zu Ethos und Logos (als zu organisierende und symbolisierende).12 Schleiermacher ist, seiner Zeit entsprechend, ein Vertreter von Produktionstheorien. Das wirkt mittlerweile etwas überschwenglich, weil es einen souveränen Produzenten und die vermeintliche Einsicht in die (Möglichkeitsbedingungen der) Produktion voraussetzt. In Zeiten von System, Funktion, Struktur und Rezeption, würde man so wohl nicht mehr fragen oder antworten. Die Geschichte der Ästhetik ist dafür ein ebenso deutliches Beispiel wie die der Metapherntheorie oder auch Goodmans Symboltheorie. Schleiermachers Theorie der Symbolisierung ist wie seine Sprachphilosophie auch nicht primär eine Semiotik, die ein System oder eine Struktur ‚des Code‘ entwerfen würde (auch wenn man ihn so interpretieren kann). Er ist eher ein Verwandter Humboldts. Symbolisierung und Symbol verhalten sich zueinander wie Produktion und Produkt (Produciren und Product13), oder im Anschluß an Aristoteles gesagt wie die Sprache als energeia und ergon. Daher ist auch verständlich, daß das Hauptinteresse stets der ‚energeia‘ gilt, der gegenüber das ergon wie ein äußerliches Produkt wirkt. Symbolisierung ist die Poiesis des Symbols. Gedacht wird in dem Modell einer ‚Energie des Geistes‘ (mit Cassirer zu sprechen), die symbolproduktiv ist. Offen bleibt damit die Frage nach der nicht Poisis zu nennenden Genesis von Symbolen, etwa kraft der ‚passiven Synthesis‘ von Assoziationen (die nicht autonomer Synthesis entspringen). Das identische Sym12 13
Aber sie gehen nicht in diesen Formen der Aktivität auf – ohne deshalb nur krude Natur zu sein. PhE, 256.
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bolisieren beispielsweise kann nicht als autonomer ‚actus purus‘ begriffen werden. Denn die Tradition (Geschichte) und Rezeption (Akzeptanz, Gebrauch, ‚Imponieren‘) von Symbolen ist nicht allein freier Akt, sondern trägt Züge ‚passiver Genesis‘. Organ und Symbol sind demnach, wie Cassirer formuliert hätte, Funktions- und keine ‚Substanz‘begriffe. ‚Etwas‘, ein ‚je ne sais quoi‘, kann sowohl als das eine, als auch als das andere betrachtet werden. Nicht ‚etwas‘ ist Symbol oder Organ, sondern kann je nach Frage oder Aspekt als das eine oder das andere gebraucht bzw. thematisiert werden. Als was etwas dient bzw. gebraucht oder angesehen wird, bestimmt, was es ist. Daraus resultiert der – hier ex post ergänzte – Aspekt des Gebrauchs. Daher ist das Symbol auch stets perspektivisch: es ist Symbol für jemanden als etwas unter einer bestimmten Frage. So heißt es, ein Organ der Vernunft sei „zugleich Object der Erkenntniß und Symbol für die Anderen“ (PhE, 96). Bei aller ‚funktionalen‘ Interpretation findet sich doch bei Schleiermacher auch ein (spekulativ sublimierter) Dual, der wie ein ‚Substantialismus‘ wirkt, den man für ‚Rest-‘ oder ‚Grundbestand‘ halten kann: die spekulative Differenz von Vernunft versus Natur (wie ideal versus real). Symbolisieren ist daher die Vernunftwerdung (-machung?) der Natur, etwa indem sie beschrieben, erkannt und auf Regeln gebracht wird. Organisieren ist die Naturwerdung der Vernunft, etwa indem der Wille in der Arbeit an der Natur selbige umformt (z.B. Flußbegradigung oder Brückenbau).14 Klassisch formuliert ist Symbolisierung der Vollzug des Logos, Organisieren der Vollzug des Ethos. Oder mit dem dritten Paragraphen der Glaubenslehre, das eine ein Wissen, das andere ein Tun. Ist also Symbolisieren gleich Erkennen und Symbol daher (nichts anderes als) Erkenntnis? Dafür sprechen Formulierungen wie: „Die beiden Hauptfunctionen der Vernunft“ sind „die organisierende und die erkennende […]“ (PhE, 259, vgl. 264f., 268f.); „mit dem Organbilden wird das Erkennen, und durch jedes Erkennen ist ein neues Organ gesetzt“; „jedes Organ ist zugleich ein Symbol“ (PhE, 259, Einleitung/höchstes Gut 1812/13) – und vice versa, kann man ergänzen.15 Aber Symbolisierung auf Erkennen zu reduzieren, wäre irreführend: Denn dann wären Symbolisierung und Organisierung lediglich die Gestaltung bzw. Potenzen von Wissen (bzw. Erkennen) und Tun 14
15
Vgl. zur Symmetrie PhE, 293. Vgl. „der Vernunftgehalt geht ganz über in die organische Action, und alles in der organischen Action ist vom Vernunftgehalt durchdrungen“ – als imaginärer Grenzwert (PhE, 294). „Da die Vernunft durch alle mit ihr geeinigte Natur handelt, so ist jedes Symbol derselben auch ihr Organ. Und da sie nur durch mit ihr geeinigte Natur handeln kann, so ist jedes Organ derselben auch ihr Symbol“ (PhE, 564).
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(bzw. Wollen). – Und das Gefühl hätte keinen Ort in dieser Unterscheidung? Da aus der Praktischen Theologie wie der ‚Christlichen Sittenlehre‘ vertraut ist, daß es darstellendes und wirksames Handeln gibt, kommt das Gefühl in beiden Funktionen zum Ausdruck wie zur Gestaltung. Das Gefühl ist sowohl symbolisierend wie organisierend in der Kultur wirksam. Individuelles Symbolisieren als Funktion des Gefühls bezieht sich auf das Feld bzw. die „Sphäre des subjectiven Erkennens, der Gemüthsstimmungen und Bewegungen“ (PhE, 267) und wird vollendet im Gefühl der Frömmigkeit (PhE, 382). Die ihm entsprechende Form des Wissens ist die Weisheit, die in kontemplative (Frömmigkeit) und imaginative (Begeisterung) unterscheidbar ist (PhE, 382). Die Vernunft tritt im Verhältnis zur Natur auseinander in Rezeptivität und Spontaneität: das „Eingesenktsein in die Receptivität dieser Natur als Verstand und in die Spontaneität dieser Natur als Willen“ (PhE, 15/16, 1812/13). Erkennen im engeren Sinne ist ein „mehr receptives“ Vernunfthandeln, Darstellen hingegen ein „mehr productives“ (PhE, 259). Symbolisieren ist demnach weder gleich ‚Darstellen‘, noch gleich ‚Erkennen‘. Erst beides zusammen kann (1812/13) die Gesamtheit des Symbolisierens bezeichnen. Deswegen ist das Symbol nicht ausschließlich epistemisch bestimmt. Nur das identische Symbolisieren zielt ‚vor allem‘ auf die Erkenntnis. Das individuelle hingegen hat andere Aspekte, etwa die von Sinn und Geschmack oder Anmutung und Ansinnen. Als Funktion des Verstandes, zielt es auf Erkenntnis (identitätsorientiert); als Funktion des Willens und des Gefühls auf die Darstellung (individualitätsorientiert) – und damit auf mehr als Erkenntnis. Daher ist Symbolisieren nicht gleich Erkennen und das Symbol nicht allein auf den Logos bezogen – und die Symboltheorie nicht ‚nur‘ eine Erkenntnistheorie, sondern gleichermaßen eine Theorie der Performanz, nicht nur in Ästhetik, sondern auch in Rhetorik, Dramaturgik, Pädagogik,16 Gestaltung (wie auch Design) oder ‚Gestik‘ (i.S. Warburgs).
3. Organ und Symbol Ist der Begriff des Symbols bei Schleiermacher gleichbedeutend mit dem des Zeichens? Im Übergang von der Symbolisierung zum Symbol stellt sich die Frage in theoretischer Version: Ob die Symboltheorie ‚nur‘ 16
Vgl. M. Kumlehn: Symbolisierendes Handeln. Schleiermachers Theorie religiöser Kommunikation und ihre Bedeutung für die gegenwärtige Religionspädagogik, Gütersloh 1999, u.a. 232ff.
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eine Zeichentheorie ist, also lediglich eine Semiotik entwirft, die dann allerdings im Vergleich zu anderen Entwürfen noch etwas unterentwickelt wäre (vgl. Leibniz). Das Problem ergibt sich – entsprechend der (finalen) Ubiquität der Symbolisierung – aus der Generalität des Symbolbegriffs. Die zeigt sich, wenn Schleiermacher (synonym) für Symbol auch ‚Ausdruck‘ oder ‚Zeichen‘ sagen kann (PhE, 430 u.ö.), etwa wenn von den Mitteln und Formen der Symbolisierung die Rede ist. Ist also Symbol gleich Zeichen? Und vertritt Schleiermacher eine ‚semiotischen Ontologie‘ dergestalt, das alles was ist, (final) Zeichen ist? In der neuplatonischen Tradition der Zeichentheorie Augustins wäre das alles andere als überraschend.17 Wenn die Kultur, bzw. die Wirklichkeiten, in denen wir leben, als solche stets ‚organisiert‘ und ‚symbolisiert‘ sind; wenn gilt: Kultur entstehe aus, mit und durch Symbolisierung – dann ist die Welt, in der wir leben, stets schon symbolisch verfaßt, also eine Zeichenwelt. Das motiviert plausiblerweise, die Semiotik heranzuziehen zur näheren Entfaltung von Schleiermachers Kulturtheorie als Theorie von Zeichenwelten. Wenn aber Symbol gleich Zeichen wäre, kann es keinen spezifischen Symbolbegriff (etwa im Sinne Cassirers oder Tillichs) mehr geben (von Äquivokationen einmal abgesehen).18 Entweder löst sich hier das Titelthema auf in ‚Schleiermachers Zeichenbegriff‘ – oder man müßte auf der Prägnanz des Symbolbegriffs beharren. Ohne die Berechtigung und erhellende Funktion der Semiotik als Interpretationshorizont zu bestreiten, seien im folgenden einige von den nicht sehr zahlreichen Stellen zum Begriff des ‚Symbols‘ gesichtet und erörtert. Sinn und Zweck dieser Blickrichtung ist es, das Symbol nicht nur als Funktion des Vernunfthandelns zu verstehen oder im Horizont der Semiose aufgehen zu lassen – sondern dessen Eigensinn und -dynamik Schleiermacher auslegend zu erheben. 17
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In der Bestimmung ‚final‘ werde alles Zeichen läge dann die Pointe Schleiermachers, entsprechend seiner teleologischen Dynamisierung. Nicht alles ‚ist‘ schon Zeichen, so wie alle res als signa aufzufassen seien, sondern es ‚wird‘ erst Zeichen im Prozeß der Kultur. In der Praktischen Theologie gibt es ‚Das rein Symbolische‘ (PTh, 161), womit allerdings nur das vom Kirchenregiment Angeordnete in den liturgischen Formularen bezeichnet wird. – Entsprechend gibt es das Symbol (‚das apostolische Symbolum‘, ebd.) im Sinne von Bekenntnisformel. Aber selbst das Apostolicum sei „für den Actus nicht mehr so wichtig“ (ebd.). Vgl.: „das liturgische das sich in die symbolische Elemente einschließt [!], hat wesentlich den Zwekk die Identität der Handlungen vorzustellen“ (PTh, 162). Beim Nicaenum sei der polemische Sinn verloren gegangen und „der todte Buchstabe ist übrig geblieben“ (PTh, 164). „Die symbolischen Bücher sollten die einzelnen Gemeinen als zusammengehörig in der Richtung gegen die katholische Kirche darstellen, und zugleich als solche die mit den Revolutionären nichts wollten zu thun haben“ (PTh, 645, i.O. kursiv). Daher haben sie nicht die Funktion „den Glauben zu bestimmen“ (PTh, 646, i.O. kursiv).
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Zum Zwecke angemessener Verkürzung kann man der ‚Güterlehre. Lezte Bearbeitung‘ folgen, die „vermutlich 1816/17“ verfaßt wurde. Denn hier wird explizit der Begriff des Symbols ausgeführt (und nicht ‚nur‘ Symbolisierung):19 „Organ ist die Natur als Durchgangspunkt für das Handeln der Vernunft, Symbol ist sie als ruhend mit und in der Vernunft“ (PhE, 565). Bemerkenswerterweise ist der ‚terminus a quo‘ beider die Natur, und zwar in bestimmter Funktion oder Perspektive ‚als‘ etwas: entweder ruhend in der Vernunft, was wohl ‚als erkannt‘ meinen könnte; oder aber als nicht ruhend, sondern unruhig, dynamisch im Gebrauch durch die Vernunft. Der terminus ad quem beider wäre so gesehen die Vernunft, ihrerseits in bestimmter Funktion: als handelnd oder, so mag man ergänzen, als erkennend. Daß das enggeführt werden kann, wurde oben bereits erörtert. Die Differenz von Organ und Symbol kann man verstehen als die von Werkzeug versus Zeichen20 (Zeigzeug). Dann läge – semiotisch gesehen – nichts näher, als das Organ bzw. Werkzeug der Vernunft auch als Zeichen zu dechiffrieren. Zwar vermittelt Schleiermacher Symbol und Organ, „da alles, was Zeichen ist, auch Werkzeug sein muß“ (und vice versa) (PhE, 567).21 Hier muß man an die Minimax-Dialektik erinnern, wie sie M. Moxter entfaltet hat.22 Aber daß die Differenz basal und irreduzibel ist, zeigt, daß nicht ‚alles Symbol‘ ist. Oder anders gesagt: die Welt der Zeichen ist nicht die einzige Welt. Was Zeichen ist, ist nicht alles, was der Fall ist. Daß Symbol nicht gleich Zeichen im Sinne der Semiotik ist, zeigt sich an für die Semiotik für gewöhnlich inakzeptablen Abgrenzungen des Symbols von: a) b) c) d) 19 20
21
22
Organ Natur Symbolisiertes versus Symbolisierendes, und zu ergänzen ist Imaginäres Zum Symbolbegriff: PhE, 563–567, 570f., 573, 576f., 586; vgl. 259, 261. Vgl. M. Meyer-Blanck: Vom Symbol zum Zeichen. Symboldidaktik und Semiotik, Hannover 1995; R. Volp: Die Semiotik Friedrich Schleiermachers, in: Zeichen. Semiotik in Theologie und Gottesdienst, hg. v. R. Volp, München/Mainz 1982, 114–145; M. Pöttner: Theologie als semiotische Theorie bei Schleiermacher, in: NZSTh 34 (1992), 182–199; vgl. kritisch St. Alkier: Verstehen zwischen Rekonstruktion und Schöpfung. Der hermeneutische Ansatz Friedrich Schleiermachers als Vorlage einer Praktischtheologischen Hermeneutik, in: Praktisch-theologische Hermeneutik. Ansätze – Anregungen – Aufgaben, hg. v. D. Zilleßen u.a., Rheinbach/Merzbach 1991, 3–22. Vgl. zur Äquivalenz: „Da die Vernunft durch alle mit ihr geeinigte Natur handelt, so ist jedes Symbol derselben auch ihr Organ. Und da sie nur durch mit ihr geeinigte Natur handeln kann, so ist jedes Organ derselben auch ihr Symbol“ (PhE, 564). Vgl. PhE, 576 und M. Moxter: Güterbegriff und Handlungstheorie. Eine Studie zur Ethik F. Schleiermachers, Kampen 1992, 198ff.
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In dem kleinen Zitat manifestieren sich basale Differenzen, die nicht in einem Generalbegriff des Zeichens bzw. einer semiotischen Ontologie aufgehen: a) b) c)
Symbol ist nicht Organ; Symbol ist nicht die Natur; Symbol ist nicht die Vernunft selber; und es ist auch nicht die energeia, sondern ergon.
Organ ist ein nicht auf Symbol reduzibles Vernunfthandeln; Symbol ist das Produkt des Vernunfthandelns und nicht es selber; Organ ist für die Vernunft ein Mittel oder Medium, um sich auf das zu beziehen, was nicht selber Vernunft ist, sondern z.B. Natur (in bestimmtem Gebrauch, also nicht ‚bloße‘ Natur). Das Gefüge manifester Differenzen zeigt die Begrenztheit des Symbolbegriffs klar und deutlich. Ob auch adäquat, darüber ist im einzelnen zu streiten. Wenn Symbolisierung Vernunftwerdung der Natur ist, und Organisieren Naturwerdung der Vernunft, dann ist das Symbol ‚Natur in der Vernunft‘ sowie ‚Vernunft in der Natur‘ (als erkannte Natur oder als in die Natur eingebildete Vernunft). Anders gesagt ist das Symbol vernunftgewordene Natur oder naturgewordene Vernunft. Symbole erscheinen somit als die S edimente der Kultur. Sedimente, sofern die energeia (des Vernunfthandelns) erga produziert und hinterläßt, die ex post als Symbole ‚lesbar‘ sind. Die Metapher des Sediments ist sc. mehrdeutbar. Angeregt ist sie durch Husserls ‚passive Synthesis‘, der die Sedimentierung von Gedächtnisinhalten so artikulieren konnte. Sie paßt als solche auch auf die ‚Ruhe‘ der Natur ‚mit und in der Vernunft‘. Das sittlich ‚Gewordene‘ ist „Symbolisirtsein“, das seinerseits „Bild“ für alles sittliche Sein ist – also ein Symbol für die Symbolisierung bzw. Kultur (PhE, 563). Wenn das Handeln der Vernunft Symbole erzeugt, wirkt die Vernunft gegenüber der Natur anscheinend wie ein Zauberstab: sukzessive wird die (final ganze) Natur in Symbole transformiert. Würde das noch substantialistisch gedacht, wäre das Vernunfthandeln wesentlich ‚Transsubstantiation‘. Da es bei Schleiermacher funktional-relational gedacht ist, ist das Vernunfthandeln ‚Transposition‘, indem Natur zu Kultur wird, genauer: indem Natur kulturell gebraucht wird. Wie dennoch beinahe magisch die Symbolwerdung der Natur wirksam ist, kann man sich an einem Beispiel für ‚bloßen Stoff‘ vor Augen führen. Wenn es regnet, ist das per se nichts als ein Naturereignis, also kein Vernunfthandeln (von Ausnahmezuständen wie den magischen Regentänzern oder den [auto]industriellen Regenmachern einmal abgesehen). In dem Moment aber, wo der Regen auf die Erde trifft – wird
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das Wasser ‚organisiert‘: Dächer, Regenrinnen, Kanalisation und Wasserwirtschaft sind die Organe, mit denen die Vernunft den Regen kanalisiert und nutzt. Hyperbolisch gesagt: Es fällt kein Tropfen vom Himmel, ohne daß die Vernunft an ihm handelt, ihn ‚organisiert‘ und damit zum Symbol des Vernunfthandelns macht.23 Dann würde sukzessive und final alles Symbol – und wir würden in einer sich sukzessive erweiternden Symbolwelt leben. Final gälte, Symbole verweisen auf Symbole, Zeichen nur auf Zeichen. Gegenüber dieser ‚semiologischen Abdrift‘ insistiert Schleiermacher auf den genannten klaren Differenzen von terminus a quo und ad quem, die zwar nicht unvermittelt sind, aber irreduzibel different bleiben.
4. Natur und Symbol 4.1 Natur ohne Symbol Das provoziert die Rückfrage, wie denn die Natur ‚ohne Vernunft‘ denkbar wäre (wobei sie ‚ohne Vernunft‘ zu denken schon eine Chimäre bedeutet, eine gewisse Unmöglichkeit). ‚Ohne Vernunft‘ ist die Natur vermutlich in Unruhe oder Aufruhr, wenn sie denn erst als Symbol in der Vernunft ‚ruht‘. Damit wird implizit der vernunftlosen Natur eine Eigendynamik zugestanden bzw. zugeschrieben. Der Naturbegriff tritt durch das Vernunftverhältnis auseinander in die anorganische und organische Natur oder in den bloßen Stoff gegenüber dem organisierten. Die verdoppelte (oder ‚gespaltene‘) Natur tritt demnach in ein ‚an sich‘ und ein ‚für uns‘ auseinander. Diese zweifache Gegebenheitsweise entspricht den Relationen von Rezeptivität und Spontaneität, in denen die Natur doppelt auftritt: „auf der positiven Seite die Natur […] als Organ und Symbol der Vernunft, welches nur zwei verschiedene Ansichten derselben Sache sind“, und demgegenüber „auf der negativen als Aufgabe, d.h. als roher Stoff“ (PhE, 254).24 Das Telos der Kultur ist damit klar (wenn auch nicht deutlich): Vernunfthandeln reicht so weit und lang, „bis der rohe Stoff als ein Minimum verschwindet“ (PhE, 15f.). Diese Differenz zeigt zumindest Sinn für das Andere der Vernunft, für das relative Andere der organischen Natur und das starke Andere der anorganischen. Was aber mag das meinen, daß der rohe Stoff ‚als ein Minimum verschwindet‘? Der Ausdruck wirkt wie eine contradictio in adjecto: ein
23 24
Vgl. Mt 10,29ff., Lk 12,6ff. Vgl. 263; das „Anorganische“ PhE, 276; die „Naturmasse“ PhE, 569; „ungebildete Masse als roher Stoff“ PhE, 581, vgl. 592, 607, 611, 345.
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Minimum ist nicht verschwunden, sondern als solches noch präsent. Vollendet sich die ‚Minimierung‘ der bloßen Natur in der Maximierung des Vernunfthandelns, dann ist noch nicht deutlich, wohin das führt: zum Aufgehen der Natur in der Vernunft, zum Verschwinden jedes Anderen der Vernunft in ihr als das Andere ihrer selbst? Dagegen scheint Schleiermachers Insistieren auf der irreduziblen Differenz der Natur der Vernunft gegenüber zu sprechen. Es bedarf keiner finalen Aufhebung, sofern der Natur ‚an sich‘ die klassische Synteresis zugeschrieben wird, das „Hinstreben“ (PhE, 561) auf die Vernunft. Somit wird diese Differenz im Grunde als immer schon vermittelte angesehen, ohne als Differenz damit ‚nur‘ zu einer Selbstdifferenzierung der Vernunft zu werden. Eine Eigendynamik der Natur – wenn es die ‚gäbe‘25 – wird allerdings immer schon ‚normativ‘ gesehen und ‚gedeutet‘. Was nicht Hinstreben ist, ist widerstreben und daher wider die Vernunft. Hier zeichnet sich eine ungeschriebene Lehre Schleiermachers ab: eine ‚Hamartiologie‘ der Kultur, oder in der Tradition Leibniz‘ gesagt, ein ‚malum culturale‘, sofern das ‚malum naturale‘ nicht von der Vernunft ‚behoben‘ wird kraft des ‚bonum morale‘. Mit Symbol und Organ demgegenüber ist nur die mit der Vernunft „geeinigte Natur“ thematisch (PhE, 564). Als ‚angeeignete‘ Natur sind Organ und Symbol scheinbar äquivalent: alles was Symbol ist, ist auch Organ und vice versa – wobei ‚ist‘ hier ‚brauchbar‘ oder ‚zu deuten als‘ bedeutet. Genauer muß man sagen: alles was Symbol ist, war zuvor Organ; und alles was Organ ist, wird damit (daraufhin) zum Symbol. Es sind verschiedene Vernunftfunktionen, die den Unterschied machen: Der Verstand erkennt mit Symbolen; der Wille handelt mit Organen; das Gefühl artikuliert sich mit Symbolen; und der Trieb ist mit Organen wirksam (vgl. PhE, 564f.). Die strikte Zuordnung der Differenz von Symbol und Organ auf Erkenntnis und Wille paßt demnach nicht. 4.2 Natur des Symbols Wie man ein und dasselbe als Symbol wie als Organ betrachten kann, so kann man eine zwiefältige Perspektive auf das Verhältnis von Vernunft und Natur einnehmen: Man kann die Vernunft in der Natur akzentuieren und von ihr aus die Kultur verstehen. Das legt Schleiermachers platonische wie barocke These des ‚Hinstrebens‘ der Natur auf Vernunft nahe. Kultur ist dann die sukzessive Aneignung aller Natur durch die Vernunft – bis zur ultimativen Durchsichtigkeit der Welt. Telos der Kultur wäre die vollständige ‚Durcharbeitung‘ der Natur, bis kein bloßer Stoff mehr übrig25
„Vernunft als das allein ursprüngliche Thätige“ (PhE, 562).
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bleibt. Ob das wirklich denkbar, geschweige denn wünschenswert wäre, bleibt wohl fraglich. Aber so eindimensional teleologisch – wie man von Leibniz her denken könnte – verhält es sich bei Schleiermacher zum Glück nicht: „Wäre verstehbares und nichtverstehbares Sein für uns streng geschieden, so wäre auch eine Vollendung zu sezen, wenngleich in unendlicher Zeit; aber es ist uns nothwendig gegeben auf jedem Punkt ein Ineinander des Verstehbaren und Nichtverstehbaren“ (PhE, 575).26 Dieses Ineinander ist die „Masse des Unbewußten, in welcher Verstehbares und nicht Verstehbares gemischt ist“ (ebd.). Warum dies ‚notwendig‘ gegeben sei, ist dunkel. Daß von dieser Gegebenheit als ‚Basisphänomen‘ auszugehen ein Regulativ darstellt, daß nie und nimmer eine totale Durchsichtigkeit (etwa im Zeichen des Begriffs) ermöglicht, ist hingegen klar. Das Nichtverstehbare ist in dieser Perspektive basal und persistent. Das Opake gehört irreduzibel zur Kultur (wie in der spätmodernen Kunst nur zu deutlich). Als Arché des Bewußtseins – und damit des Symbolisierungsprozesses der Kultur – fungiert (schon) bei Schleiermacher die dunkle Figur eines ‚Unbewußten‘, von dem her ein „Uebergang vom Minderbewußten zum Mehrbewußten“ gebildet wird, mit dem imaginären Ziel eines ‚Verschwindens des Nichtverstandenen‘ (PhE, 575, vgl. 625). Imaginär ist das zu nennen, weil es nie kompossibel sein dürfte, nie also real möglich, sondern ‚für uns‘ stets unmöglich bleibt – eben aufgrund des unauflösbaren Ineinanders von Verstehbarem und Nichtverstehbarem. Bei Leibniz wäre das das Problem der infiniten Resolution der kontingenten Tatsachenwahrheiten. Bei Schleiermacher wird das zum Grundbegriff von Gegebenheit, die stets durch dieses Ineinander (auch un)bestimmt bleibt. Die Natur bleibt so gesehen als Differenzbegriff – und imaginärer Restbestand – immer auch ‚draußen‘ und fremd für die Vernunft: sowohl die Natur des Eigenleibes als auch die des ‚Erdkörpers‘: die „immer schon gegebene organisierte Natur“, der „menschliche Leib“ entspreche darin der „nie vollständig zu organisierende[n]“ Natur des „Erdkörper[s]“ (PhE, 572f.). Die Natur, die wir sind, ist organisiert, weil sie die unsere ist. Vollständig symbolisiert ist sie damit mitnichten, und wird sie vermutlich auch nie werden, wenn man den naturalistischen Reduktionismus für abwegig hält. Der ‚Erdkörper‘ hingegen, die Natur, in der wir sind, ist demgegenüber nicht ‚wir‘, sondern ‚es‘, und daher a limine wie final nicht gänzlich zu organisieren und nie restlos zu symbolisieren. Daher ist die Natur „nie ganz von ihr zu bezeichnen[.]“ (PhE, 574), und „nie ganz zu verstehen[.]“ (PhE, 575). 26
Vgl. Offenbarung versus Verständigung: PhE, 598.
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„Nemlich beides nicht genau“, setzt Schleiermacher in der Erläuterung hinzu (PhE, 572): Zwar gebe es „außer dem Leibe“ stets schon Organisiertes, wie Luft und Licht. Die Natur, in der wir sind, ist nicht völlig unorganisiert. Und vice versa „bleibt auch am menschlichen Leibe Nichtorganisiertes zurück“ (ebd.), womit sich das Regulativ des ‚Ineinanders von Verstehbarem und Nichtverstehbarem‘ bestätigt.27
5. Imaginäres und Symbol 5.1 Imaginäres (stark) Dem imaginären Ziel des Einswerdens von Vernunft und Natur widersteht basal das kritische Regulativ eines Ineinanders von Verstehbarem und Nichtverstehbarem. Daraus – so könnte man schließen – ergibt sich ein so konstruktiver wie kritischer Antagonismus der Einigung ohne finale Einheit, also eine Differenz wahrende Arbeit an der Differenz von Vernunft und Natur. Dem kritischen Regulativ korrespondiert dabei ein konstruktives Regulativ des Ineinanders von Vernunft und Natur: „Es giebt also ein Einssein von Vernunft und Natur, welches in der Ethik nirgend ausgedrückt, sondern immer vorausgesetzt wird“ (PhE, 542; vgl. 623). Die finale Einheit von Vernunft und Natur scheint das starke und unerreichbare Imaginäre zu sein28 – woraufhin zwar alle Kultur(arbeit) geordnet wird, was aber nie in der Ordnung der Kultur aufgeht. Als finales Regulativ ist es notwendigerweise unvollendet und unvollendbar. Hinsichtlich der Natur wird die Unvollendbarkeit, wie gesehen, auch explizit: Während der menschliche Leib die immer schon gegebene organisierte Natur sei,29 so „die nie vollständig zu organisirende der Erdkörper“ (PhE, 572). Anders gesagt: die Vernunft wird nicht total global und der Globus nicht total vernünftig.
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Das kann man zirkulär nennen, sei es vitiös (wenn man einen Reduktionismus verträte, naturalistisch oder idealistisch), sei es nicht-vitiös, wenn man keinen Reduktionismus vertritt und darin das Sichbewähren einer kritischen Regel der Hermeneutik erkennt. Bei der Rede vom Imaginären ist hier vorausgesetzt die Literaturtheorie bzw. Poetologie Maurice Blanchots. Vgl. Les deux versions de l'imaginaire, in: ders., L’espace littéraire, Paris 2005, 341–355; ders.: Le sommeil, la nuit, in: ebd., 357–362; bzw. auch ders.: Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur, Frankfurt/M. u.a. 1988 (Le livre à venir, Paris 1986). „Und es bleibt auch am menschlichen Leibe Nichtorganisirtes zurück, wenngleich auch auf das Unwillkührlichste der Einfluß der Vernunftthätigkeit nicht abzuläugnen ist“ (PhE, 572).
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Das gilt nicht nur final, es gilt auch basal oder initial. Denn die Voraussetzung aller Sittlichkeit, ein Gegebensein des Ineinanders von Vernunft und Natur, ist (wie das „schlechthin Innere des Menschen“) „nie selbst Symbol, sondern kann nur Symbole suchen oder hervorbringen“. Für das ominöse ‚je ne sais quoi‘ des ‚unmittelbaren Selbstbewußtseins‘ gälte auch, es ‚kann nur Symbole suchen oder hervorbringen‘, ist aber selber nicht Symbol. Daher ist die „innerste Einheit des Lebens als solche […] nicht Gegenstand für das Bewußtsein“ (PhE, 576). Sowenig es von ihr gesichertes Wissen gibt, sowenig geht sie in einer Ordnung des Wissens auf. Dargestellt werden kann sie hingegen, etwa als ‚frommer Wunsch‘ der Kulturentwicklung, ohne daß absehbar wäre, daß dieses Ziel erreicht würde. Denn die Vollendung wäre das Ende von Symbolisierung und Organisierung. Die Vorstellungen von Arché und Telos der Kultur sind daher seltsame Symbole: nicht Erkenntnis i.e.S., sondern Funktion der Phantasie (weil keine gegebene Anschauung zuhanden ist). Es sind imaginäre Symbole, bzw. Symbole des Imaginären, des den Horizont der Symbolisierung Überschreitenden. Das ‚Einssein von Vernunft und Natur‘ ist ein finales starkes Imaginäres, das Schleiermacher auch konkret imaginieren kann als „das goldene Zeitalter in der ungetrübten und allgenügenden Mitteilung des eigenthümlichen Lebens, bald als der ewige Friede in der wohlvertheilten Herrschaft der Völker über die Erde, oder als die Vollständigkeit und Unveränderlichkeit des Wissens in der Gemeinschaft der Sprachen, und als das Himmelreich in der freien Gemeinschaft des frommen Glaubens, jedes von diesen in seiner Besonderheit dann die anderen in sich schließend und das Ganze darstellend“.30 Die Symbole für die Vollendung der Symbolisierung sind die ‚ungetrübte und allgenügende Mitteilung‘ und die ‚Vollständigkeit und Unveränderlichkeit des Wissens in der Gemeinschaft der Sprachen‘. Klare, distinkte, adäquate und vollständige Repräsentation aller durch alle – wäre mit Leibniz dieses himmlische Spiegelkabinett zu nennen. Völlige Durchsichtigkeit in harmonischer Ordnung. So gesehen endet das identische Symbolisieren in einer problematischen Vollendung. Wäre das Wissen vollständig und unveränderlich – wäre es nur noch Produkt, nicht mehr Produktion, und das hieße ohne energeia. Die Vollendung des identischen Symbolisierens ist die finale Stabilisierung der Semiose. Am Ende der Zeiten verenden die Zeichen, wie in einer semiotischen Eiszeit.31 30 31
Schleiermacher: Über den Begriff des höchsten Gutes, SW III/2, 446–495, 466. Das paßt im übrigen zu der – hier ausgeliehenen – Interpretationsfigur des starken Imaginären, das seine ‚Inkarnation‘ im Tod hat (bei M. Blanchot).
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Demgegenüber aber ist die Vollendung des individuellen Symbolisierens eine bleibende Labilisierung und Differenzproduktion.32 Die ‚Mitteilung des eigenthümlichen Lebens‘ wird von einer Differenz bestimmt bleiben, derjenigen von Mitteilungsbedürfnis und -vollzug. Genauer: das Begehren, das zur Mitteilung treibt, kann unter Bedingungen der Wahrung von Individualität nicht zur Ruhe kommen. Entsprechend gibt es keine ‚absolute Erfüllung‘ dessen – sonst wäre die Spannung, in der wir leben, die Geschichte der Kultur, zuende. Kulturtheoretisch könnte man eine ‚culture par provision‘ von einer ‚culture definitive‘ unterscheiden. Während letztere einigermaßen unnatürlich, wenn nicht unmenschlich erscheint, ist erstere von irreduzibler Differenz gezeichnet. Ohne diese Differenz wäre die symbolische Energie so erfüllt wie erschöpft. Symbolisieren (wie Organisieren) ist ein Spiel der Differenz von Vernunft und Natur. Symbolproduktion ist daher nicht nur eine Funktion der ‚symbolischen Energie des Geistes‘, sondern derjenigen Energie, die aus dem Widereinander und Zusammenspiel von Natur und Vernunft entsteht. Würde man diese Differenz bereits als ‚ursprünglich‘ indifferent ansetzen, wäre das ‚abgekartet‘. Für die Kulturtheorie heißt das, sie bleibt von einem Anderen beunruhigt, der Natur. Gegenüber Cassirer – der ein gewisses ‚Naturproblem‘ hat im Rahmen seiner Kulturtheorie – ist es gerade als Problembewußtsein und Stärke der Kulturtheorie Schleiermachers zu verstehen, daß die Kultur gegenüber und unter Einbeziehung der Natur begriffen wird; ohne die Natur nur als das zu Bewältigende, Pristine, Inferiore oder Gefährliche zu marginalisieren. Allerdings scheint die symbolische Energie der Natur bei Schleiermacher (als primum movens und a quo der Semiose) unter Verdacht zu stehen: unter Verdacht, die symbolproduktive Besonnenheit zu stören. Dennoch bleibt diese Störung irredzibel und für die Symbolproduktion basal. 5.2 Imaginäres (schwach) Ohne Eigendynamik der Natur also keine Kultur. Bliebe diese Dynamik des Antagonismus ‚auf der Strecke‘ der Kultivierung, würde die Kultur ‚unnatürlich‘ (wenn nicht widernatürlich). Man kann daher auch die Natur stärker akzentuieren, näherhin deren Vernünftigkeit und vice versa die ‚Natürlichkeit‘ der Vernunft. Das ‚stets mitgesetzte‘ Andere der Vernunft wäre dann nicht den späteren Kritikern bis zu Böhme und
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Vgl. zur Genesis von Verschiedenheit durch die Einzelwesen PhE, 578.
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Böhme33 zu überlassen. Wenn das Symbol ein ‚vernünftiger Modus‘ der Natur ist – dann ist dieser Modus der Vernunft nicht ‚un- oder widernatürlich‘. Daß Schleiermacher die irreduzible Differenz von Vernunft und Natur vermittelt, ist nicht nur kritisch für eine vernunftlose Natur, es hat auch kritisches Potential für eine ‚unnatürliche‘ Vernunft (bzw. die entsprechende ‚Konzepte‘ oder Regulative eines Reduktionismus). Wie natürlich die Vernunft ist, wird noch eigens am Aspekt von Affekt und Gefühl exemplifiziert werden.34 Das schwache Imaginäre gegenüber dem Symbolischen scheint bei Schleiermacher die Natur zu sein. Sie ist imaginär, weil sie nicht ‚an und für sich‘ gegeben sein kann, sondern als Natur thematisch immer schon thematisch ist, also ein Gesetztes des Vernunfthandelns (in der es sich ein Anderes gegenübersetzt, das nicht nur das Andere ihrer selbst ist). Aber die so gegenübertretende Natur ist weder ein ‚krudes Draußen‘, noch eine ‚bloß phantasierte‘ Fiktion. Als Imaginäres ist sie diesseits der symbolischen Ordnung, ihr auch widerstrebend, wenn nicht anarchisch gegenüber dieser Ordnung. Was sich dieser nicht ‚besonnen‘ fügt, bleibt ein terminus a quo und contra quem. Als schwaches Imaginäres ist diese Natur aber nicht ein ewiges ‚Jenseits‘ der Kultur, sondern immer schon (wenn auch nie restlos) in ihr mitgesetzt, in sie eingegangen; so wie auf Dauer der Geschichte die Vernunft an ihrer Einigung mit der Natur arbeitet. Kultiviert Schleiermachers Kulturtheorie so gesehen auch den Sinn für die Eigendynamik der Natur, auch der Natur, die die Vernunft ist (wie der Natur, die wir sind)? Wenn der negative Grenzwert der ‚rohe Stoff‘ ist (PhE, 562), der final maximal zu minimieren ist – was bliebe dann von der Natur im Laufe der Kultur? Oder wie wären die für ‚neueuropäische‘ Theorien maßgeblichen ‚Selbstorganisationsprozesse‘ der Natur zu verstehen? Ein dezidiert kritischer Aspekt dieses vermeintlich ‚neuen Paradigmas‘ ist, daß Kulturprozesse ohne eine handelnde Vernunft beschreibbar sein sollen. Damit scheint der Gegensatz zu Schleiermacher mehr als deutlich. Beharrt man auf einer Lesart streng im Genitivus subjectivus der ‚Natur der Vernunft‘35 bzw. auf einem einsinnigen Primat von Vernunft und Handeln, würde man diese Kritik nur bestärken. Aber eröffnet Schleiermacher nicht gerade mehr als diese ‚klassische‘ Perspektive? Ist das stets mitgesetzte ‚Andere der Vernunft‘ nicht von einer eigenen Vernünftigkeit, so wie die Vernunft von einer stets mitgesetzten ‚Natürlichkeit‘?
33 34 35
H. Böhme u. G. Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt/M. 1983. Siehe unten. Entsprechendes ließe sich für den ‚Trieb‘ entfalten, PhE, 563ff., 606f. Vgl. die „bezeichnende Natur […] der Vernunft“ (PhE, 585).
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Selbstorganisationsprozesse der Natur brauchen nicht als Handeln, gar einer ‚objektiven Vernunft‘ oder ‚der Natur‘ mythisch dargestellt werden. Sie sind als Organisationsprozesse zwar nicht Handeln, sondern ein ‚Wirken‘, dem die Vernunft sinnvollerweise kaum abzusprechen ist. Dabei geht es sc. nicht darum, nochmals ‚Das Leben der Bienen‘ zu feiern mit lebensphilosophischem Pathos. Sondern es geht um die Formen der Vernunft, die über die Sittenlehre hinaus gesehen vielfältiger sind, als eine Handlungstheorie thematisch werden läßt. Man könnte vermuten, Schleiermachers dynamisch-antagonistische Relation von Vernunft und Natur ist seine Antwort auf die Kantische Differenz (der zwei Stämme) und damit eine Theorie unreiner Vernunft, womit er Leibniz’ präzise Indifferenz von Anschauung und Begriff (in der Perzeptionstheorie) fortschreibt, ebenso wie dessen Teleologie und Harmoniethese (als Konvergenz von Vernunft und Natur). Damit vermeidet Schleiermacher materialistische oder naturalistische Reduktionen der Vernunft als Epiphänomen der Natur ebenso wie idealistische Reduktionen der Natur als Randphänomen der Vernunft (oder der Unvernunft). Die kritische Rückfrage ist dann unvermeidlich, ob die Leistungsfähigkeit von Schleiermachers Relationsthese von einer konstitutiven, ursprünglichen Einheit von Vernunft und Natur zehrt (gleichsam von selbstreflexiven Monaden). Anders gewendet: Ist die Voraussetzung des immer schon gegebenen ‚Einssein von Vernunft und Natur‘ zu stark, d.h. einerseits zu voraussetzungsreich, andererseits zu leistungsfähig? So leistungsfähig, daß das antagonistische kritische Regulativ des ‚Ineinanders von Verstehbarem und Nichtverstehbarem‘ davon final überwältigt würde?
6. Ineinander von Vernunft und Natur Diese Rückfragen provozieren eine wenigstens andeutungsweise Nachfrage hinsichtlich des dialektischen Modells der dynamischen Vermittlung ohne Aufhebung, heiße es ‚Ineinander‘ oder ‚Einssein‘. Exemplarisch sind dafür folgende drei Thesen (Kursiven PS): 1. „Symbol ist jedes Ineinander von Vernunft und Natur, sofern darin ein Gehandelthaben auf die Natur […]gesezt ist“ (PhE, 565). 2. „Organ […] [ist jedes Ineinander von Vernunft und Natur], sofern darin ein Handelnwerden mit der Natur gesezt ist“ (ebd.). Dementsprechend heißt es: „wenn wir uns denken ein Einsgewordensein, so denken wir ein Symbol; wenn wir uns denken ein Organ, denken wir ein Einswerdensollen“ (PhE, 570). 3. Davon unterscheidbar ist ein drittes Ineinander: „das im Gebiet der Sittenlehre vorausgesetzte Ineinander von Vernunft und Natur“ ist
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die „Vernünftigkeit der menschlichten Natur […], wie sie unabhängig von allem Handeln gedacht wird“ (PhE, 561). „Da der ganze sittliche Prozeß nicht mit dem Eintreten der Vernunft in die Natur ursprünglich beginnt, sondern die Vernunft schon in der Natur seiend gefunden wird, […] dieses Gegebene muß die Basis des ethischen Prozesses sein“ (PhE, 271).36 Der Umfang dieses Ineinanders ist – final – allumfassend: „Von dem menschlichen Leibe an bis zum Gesamtumfang der Erde ist also alles für das sittliche Sein ein Ineinander von Einerleiheit und Verschiedenheit“ (PhE, 583). 6.1 Zeitlichkeit und Perspektivität des Symbols Die Differenz von ‚Gehandelthaben‘ und ‚Handelnwerden‘ zeigt, daß Zeitlichkeit und Perspektivität37 den entscheidenden Unterschied machen für die Unterscheidung von Symbol und Organ.38 Die ‚an sich‘ zeitlose Vernunft wie die ungeschichtliche Natur werden durch das Handeln geschichtlich bzw. verzeitigt. Sofern sich die ‚an sich unzeitliche‘ Vernunft verzeitlicht im Symbolisieren, wird sie geschichtlich (bzw. ‚macht sie Geschichte‘) durch die Entwicklung des Bewußtseins (BdhG 486). Denn die Symbole sind „Bild und Darstellung“ (PhE, 573)39 des Bewußtseins. Genereller gesagt: die Natur wird Kultur kraft des Handelns der Vernunft, und dabei treten (prospektiv) Organ und (retrospektiv) Symbol auseinander. Damit verdoppelt sich das ‚Ineinander‘ aufgrund der Diachronie: Es gibt ein vorübergegangenes Ineinander, das retrospektiv als Symbol des Gehandelthabens verstanden werden kann; und es gibt demgegenüber ein kommendes Ineinander, das prospektiv als Organ verstanden werden kann. Die Einheit beider liegt in ihrem Übergang kraft des Vernunfthandelns. Für den Begriff des Symbols hat das die untriviale Nebenwirkung, daß es als Symbol stets im Rückblick fungiert. Nicht im Augenblick des Vernunfthandelns (Präsenz) ist es Symbol, sondern nachdem gehandelt wurde oder für den, der nicht handelt (sondern es rezipiert). Für eine
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Vgl. „Die Basis, auf welcher alles Ineinandersein des Identischen und Eigenthümlichen ruht, muß ein in Seele und Leib ursprüngliches Ineinandersein des Identischen und Eigenthümlichen sein“ (PhE, 272). „Das ganze sittliche Gebiet läßt sich unter jedem dieser einzelnen Gesichtspunkte auffassen […]“ (PhE, 567). Vgl. die „Form der Zeit“ des Übergangs von „Erkennen in Darstellen und des Organs in Symbol“ (PhE, 261). Vgl. Chr. Keller-Wentorf: Schleiermachers Denken. Die Bewusstseinslehre in Schleiermachers philosophischer Ethik als Schlüssel zu seinem Denken, Berlin 1984, 147f.
Der Symbolbegriff Schleiermachers
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Theorie der Aneignung hieße das: zunächst wird die Natur Organ (der Vernunft). Und erst nachdem sie das geworden ist, fungiert sie als Symbol für die Vernunft. Demnach wäre jedes Symbol einmal Organ gewesen. Die Genealogie des Symbols ist demnach nicht ‚unmittelbar‘ für das Bewußtsein gegeben, sondern auf dem Umweg seiner Genesis aus dem Organ. Phänomenologisch formuliert hieße das, die Repräsentation (die das Symbol leistet), ist diachron. Die Rekurrenz (i.S. Levinas’) des Symbols auf das Symbolisierte und die Rekurrenz des Symbolgebrauchs auf das Symbol ‚greifen zurück‘, beziehen sich dabei auf Vorgängiges, das nicht ‚evident im Augenblick‘ gegeben ist. Medientheoretisch oder semiotisch gesagt: Symbole sind Formen der Mittelbarkeit – und nie der Unmittelbarkeit, oder anders gewendet: der Diachronie, nicht der Synchronie, des Rückblicks und nicht der ‚Evidenz im Augenblick‘.40 Das scheint trivial, hat aber die keineswegs triviale Folge, daß ‚Unmittelbares‘ nicht symbolisiert werden kann (als solches) – und daher entweder nicht ist oder zumindest nicht symbolisch gegeben ist. Denn ‚als Symbol‘ ist es nicht mehr, was symbolisiert werden soll. Wie man von ‚Unmittelbarkeit‘ ‚wissen‘ und sie ‚behaupten‘ oder ‚begründen‘ können sollte, bleibt dann schleierhaft. 6.2 Gesetzt, Gefunden und Gegeben Im Unterschied zum Gesetzt im ersten wie zweiten Zitat sind Gefunden und Gegeben im dritten Metaphern passiver Synthesis. Diese Differenz ist klärungsbedürftig. Es scheint, als wäre die ‚Basis des ethischen Prozesses‘ ‚gefunden und gegeben‘, womit zum Ausdruck gebracht wird, daß das basale Ineinander nicht ‚bloße Voraussetzung‘ sei, sondern ‚gegeben‘. Der implizite Realismusanspruch wird artikuliert in einer Metapher des ‚nicht nur Gesetztseins‘, kann aber nur ‚als gesetzt‘ artikuliert werden. Bemerkenswert ist gleichwohl, daß eine reine Setzung dem so Gesetzten nicht zu entsprechen scheint, Schleiermachers Formulierungen zufolge. Dieses als gefunden und gegeben gesetzte Ineinander fungiert – so die hermeneutische Vermutung – als Schleiermachers Version der ‚nouvelle hypothèse‘. Die dialektische ‚Verstrickung‘ des „Ineinander und Durcheinander“ ist das einzige „Wissen“, das wir vom höchsten Gut haben (PhE, 569), also ist es nur eine „allgemeine Formel, die inhaltsleer ist“ (ebd.). Deren imaginierte Vollendung wurde oben zitiert: das ‚goldene Zeitalter‘. Die Voraussetzung hat einen erläuterungsbedürftigen Status. Würde man es als ‚fundamentum inconcussum‘ verstehen und als sol40
Vgl. J. Derrida: Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls, Frankfurt/M. 2003.
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ches ‚behaupten‘, wäre es die prinzipielle Sicherung der in der Ethik bzw. Kulturtheorie exponierten Aufgabe. Das wäre widersinnig und unzureichend. Denn wäre die Einheit von Vernunft und Natur prinzipiell gesichert, wäre die Aufgabe keine Aufgabe mehr. Kultur wäre, was sich von selbst versteht, und ebendies ist retrospektiv wie prospektiv unzureichend. Denn das Gehandelthaben ist wie das Handelnwerden keineswegs selbstverständlich, sondern des Verstehens fähig und bedürftig. Ließe sich diese Einheit als gesichertes Wissen ‚behaupten‘, hätte man ein Wissen von etwas, von dem her das Wissen erst seinen Ausgang nimmt. Nun ist das ja nicht undenkbar, daß ‚Kultur als Lebenswelt‘ verstanden wird.41 Aber die Genese dieses Universums der Selbstverständlichkeit ist genauso wenig selbstverständlich wie die Faktizität dessen – sondern eine unendliche Aufgabe (PhE, 625) der Verständigung (der Symbolisierung), deren Realisierung die Arbeit der Kultur bestimmt, deren vollständige Realisierung allerdings (geschichtlich) unmöglich bleibt. Dieser Status einer Unmöglichkeit, die nicht ‚bloß‘ unmöglich, sondern ermöglichend ist, führt zum imaginären Regulativ der unendlichen Aufgabe (PhE, 500, 542) der Kultur – als Vernunftwerdung der Natur und vice versa. Deren Voraussetzung ist „das ursprüngliche Gesetztsein der Vernunft in der menschlichen Natur“ (PhE, 254, 1812/13).42 Da aber Vernunft in der Natur nur ist „unter der Form des Lebens“ (PhE, 259), ist damit erstens ein Faktum der Vernunft ‚als gefunden setzt‘ genauer das Faktum des Lebens, und zweitens wird es präzisiert als das des menschlichen Lebens, von dem die Kulturtheorie ausgeht. Da hierin etwas allem Handeln Vorgängiges, davon Unabhängiges, vorausgesetzt wird, kann es nicht selber als Handeln verstanden werden (wenn es denn dessen Grund oder Setzung benennen soll). Einerseits irritiert hier die Sprache der ‚Setzung‘, andererseits ist die Grammatik aufschlußreich. Wenn es um ein ‚Gesetztsein‘ geht, wird im Partizip Perfekt Passiv formuliert. Diese Faktizität ist in ihrer sprachlichen Form eine indirekte Darstellung dessen, was jedem Erkennen dessen vorausgeht. In der Sprache wird über sie hinaus gedacht, wenn ihr eigener ‚terminus a quo‘ artikuliert werden soll (als ‚terminus ad quem‘ aller Symbolisierung). In dieser Grenzlage der Symbolisierung der Faktizität (der Vernunft in der Natur, als Leben) fungiert das ‚Gesetztsein‘ als Symbol (oder Metapher) für ein ‚Sich-selbst-nicht-gesetzt-haben‘ der Ver41 42
Vgl. M. Moxter: Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, Tübingen 2000. Daraus ergibt sich die implizite Hamartiologie bzw. Kultukritik: denn das „Nichtgeseztsein dessen […] ist böse“ (PhE, 274, vgl. 275). Das Böse in der Kultur wäre ein eigenes Thema.
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nunft (in der Natur). Für einen Platonleser ist das durchaus nicht trivial. Denn damit ist ausgeschlossen, daß leiblose Seelen umherwandern und sich mal diese, mal jene Natur zur Inkarnation auswählen.43 Insofern ist das ‚Gesetztsein‘ Metapher für eine schlechthinnige Vorgängigkeit (Diachronie) der symbolisch sedimentierten Faktizität menschlichen Lebens. 6.3 Darstellungsprobleme? Joachim Ringleben meinte: „Was Schleiermacher mit dem Wort ‚Ineinanderseyn‘ […] sagt, ist nur sprachlich gedacht, wenn es zugleich als wirksames Auseinandersein, die Einheit der Sprache als ihre Entzweiung erfaßt wird“.44 Es ist unübersehbar eine Hegelsche Intuition, die hier am Werk ist. Aber das spricht mitnichten gegen die formulierte Differenzthese: sc. sind Vernunft und Natur nur ineinander, weil und sofern sie irreduzibel different sind. Daher wurde oben für die Irreduzibilität dieser Differenz argumentiert und die Persistenz des dynamischen Antagonismus von Vernunft und Natur –mit der kleinen Präzisierung allerdings, diese Differenz werde auch final nie ineinander aufgehen. Wollte man gegenüber Ringlebens Hegelscher Intuition, wie Herms, eine unvordenkliche Einheit des Differenten (ursprungslogisch) begründen und behaupten, würde die Dynamik der Differenz und des Antagonismus von ‚Natur- und Vernunftwerdung‘ als immer schon vermittelt und gesichert gelten. „Setzen wir kein Außeinander, so können wir auch keine organisirende Thätigkeit mehr sezen“ (PhE, 563). Deswegen gibt es auch „nirgends […]ein Gleichgewicht“ von In- und Auseinander (PhE, 565). Daher kann nur eine „differentiierte Natur“ auch Symbol sein (PhE, 566). In der Ethikeinleitung von 1805/06 fungiert als epistemisches Prinzip die Anschauung(stheorie) mit der Hypothese: in der Selbstanschauung des Individuums werde die Menschheit angeschaut (also das logisch-ontologische Repräsentationsprinzip der Monadologie). Man könnte das als die barocke oder frühromantische Generalhypothese verstehen, aufgrund derer die Symbolisierung ihr Symbol in der LeibSeele-Einheit finden kann. Diese epistemische These wird ontologisch begründet und damit teleologisch ausgerichtet, indem ein final konvergentes Verhältnis von Vernunft und Natur unterstellt wird. Daraus ergibt sich als Organisieren die Aneignung der Natur (im organisierenden Handeln als Natur-
43 44
Ausgeschlossen ist allerdings nicht, daß sie in diese oder jene Natur ‚gesetzt‘ wurden. Vgl. J. Ringleben: Die Sprache bei Schleiermacher und Humboldt, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, hg. v. G. Meckenstock u. J. Ringleben, Berlin/New York 1991, 473–492, 489.
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werden der Vernunft), und als Symbolisieren der symbolisierende Gebrauch der Natur (als Vernunftwerden der Natur). In diesem teleologischen Kulturprozeß ereignet sich zweierlei: Die ‚Beseelung der Natur durch die Vernunft‘ und konvergent – cum grano salis – die ‚Inkarnation‘ der Vernunft in der Natur. In der teleologischen Synthesis von Natur und Vernunft wird eine finale Einheit vorausgesetzt – die allerdings ihre ‚symbolische Energie‘ bezieht aus der darin ineins mitgesetzten ursprüngliche Differenz von Natur und Vernunft. Ist das eine ‚Verzeichnung‘ der eigentlichen ‚Aussageintention‘, wie Eilert Herms meinte?45 Und zwar, weil diese Darstellung „das Einssein als Resultat einer Synthese des Differenten darstellt und damit ipso faco das Differente selbst als ursprünglicher als seine Einheit“.46 Ein Problem entsteht erst, wenn man als „Aussageintention“ behauptet und unterstellt – in bemerkenswerter Weise im Modell der Intentionalhermeneutik, orientiert an der intentio auctoris (sive operis?) –, es solle die „Ursprünglichkeit und Nichthintergehbarkeit dieser Einheit des Differenten“ dargestellt werden.47 So gesehen könne diese Intention „durch die gewählten Darstellungsmittel nicht realisiert werden“.48 Ein ‚Darstellung‘problem ist Schleiermachers Darstellungstheorie zufolge allerdings nie ‚nur‘ ein Darstellungsproblem. Die systematische Frage ist darin: geht es Schleiermacher (oder dem Interpreten?) um die prozedurale Vereinigung der Differenten oder um deren ursprüngliche Einheit. Also um die prozedurale und finale Vereinigung von Vernunft und Natur – oder um deren immer schon vorgängige unvordenkliche Einheit? Herms zufolge ist eindeutig die Aufgabe die, „das Einssein des Differenten tatsächlich als Ursprung des endlichen Subjektseins […] darzustellen“.49 Konstitutionstheoretisch leuchtet dieses Postulat ein. Denn wie und woher sollten Vernunft und Natur final Einswerden, wenn das Telos nicht bereits als ursprünglich vorauszusetzen wäre?50
45
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E. Herms: „Beseelung der Natur durch die Vernunft“. Eine Untersuchung der Einleitung zu Schleiermachers Ethikvorlesung von 1805/06, in: ders.: Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, 49–100, 97. Ebd., i.O. kursiv. Ebd. Ebd. Ebd. Daß in diesem Postulat die Handlungs- und Ursprungslogik vorausgesetzt wird, wie das Spiel des Parmenides (also die Ursprünglichkeit der Einheit vor der Differenz) und damit eine ontotheologische These von der Wahrheit der ursprünglichen Einheit und der Nachgängigkeit von Differenz, ist merklich.
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Wenn es ‚nur‘ um eine „Darstellungsaufgabe“ ginge, in der die Differenz als abkünftig von einer ursprünglichen Einheit einsichtig gemacht werden müsse (notwendig und unwidersprechlich), ginge es um nichts anderes als eine Letztdarstellung (die allerdings als letztbegründet gelten soll, folgt man Herms‘ hermeneutischer Voraussetzung). Dafür kann man sc. auf die Theorie unmittelbaren Selbstbewußtseins rekurrieren, die dann als ‚höchster Punkt‘ der spekulativen Grundlegung der Ethik gelten muß. Die damit gesetzte ‚Reflexivität des Individuellen‘ bildet das Paradigma der ursprünglichen Einheit von Vernunft und Natur bzw. Denken und Sein. Sofern diese – von Herms ja sehr deutlich mit Leibniz formulierte – Repräsentationsontologie allerdings lediglich eine ‚nouvelle hypothèse‘ ist und bleibt, kann sie selber ‚lediglich‘ ein imaginäres Symbol der Horizontintentionalität sein – weder ein letztbegründetes Wissen noch eine apodiktische Behauptung.
7. Der Mensch als Symbol des Ineinanders – mit ‚Leib und Seele‘ „Die menschlich gegliederte Gestalt ist jedem das ursprünglichste Symbol der Vernunft“ (PhE, 571),51 erklärte Schleiermacher, nicht also ‚der Begriff‘, ‚das Selbstbewußtsein‘ oder ‚der Logos‘. Es ist durchaus bemerkenswert als phänomenologische These, wenn die Gestalt des Menschen als ‚ursprünglichstes Symbol‘ gilt. Anscheinend abweichend davon heißt es allerdings wenig später: „Das unmittelbare Symbol der Vernunft ist das Bewußtsein, alles andere ist nur Symbol der Vernunft, sofern es Bild und Darstellung des Bewußtseins ist. Jedes Bewußtsein als sittlich muß entstanden sein aus Reiz und Willkür“ (PhE, 573). Der ‚Reiz‘ als Aspekt der passiven Genesis des Bewußtseins klingt etwas empiristisch. Da der Reiz hier wohl Affektion meint, wird er noch eigens thematisch werden: „Jede Affection des Menschen als Reiz gedacht im ersten Moment ist eben so unbestimmt und verworren, als die des Thieres“ (PhE, 574). Wenn es ein ‚ursprünglichstes‘ und ein ‚unmittelbares‘ Symbol gibt, worin besteht der Unterschied? Das Bewußtsein als unmittelbares Symbol ist abgeleitet und geworden, daher also nicht ursprünglich. Denn es heißt an derselben Stelle, das Bewußtsein sei „entstanden“ aus Reiz und Willkür. Demnach ist diese Reflexivität evoziert von ‚äußeren‘ Einflüssen (traditionell gesagt von Pathe). Im Bewußtsein ist dann seine Vernünftigkeit sc. ‚unmittelbar‘, sofern der Vernunft in ihrem Selbstverhält51
Vgl.: „aber nur sofern immer schon eine Thätigkeit der Vernunft in ihr voraus und etwas in ihr als Durchgang dieser Thätigkeit gesetzt wird“ (PhE, 571).
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nis nichts (?) unmittelbarer ist als das Bewußtsein selber. Ob es allerdings strictu sensu ‚unmittelbar‘ genannt werden kann, wäre eigens zu erörtern. Die menschliche Gestalt demgegenüber ist nicht ‚nur‘ für die Vernunft in ihrem Selbstverhältnis Symbol, sondern „jedem“ das „ursprünglichste“. In dieser Gestalt wird gleichsam ‚öffentlich‘ und ‚sozial‘ evident, daß hier ein Ineinander von Vernunft und Natur präsent ist. Ist diese Gestalt dann ‚nur‘ „Bild und Darstellung des Bewußtseins“? Sie muß, um Symbol des Ineinanders zu sein, ja nicht nur Symbol der Vernunft sein, sondern deren Einheit zeigen. Insofern ist es Darstellung, allerdings nicht im Sinne einer ‚bloßen‘ Repräsentation, sondern eher im Sinne eines ‚exemplifikatorischen Ausdrucks‘: dieses Symbol ist, was es zeigt, und daher in besonderer Weise symbolisch prägnant. Das wird von Schleiermacher allerdings etwas eingeschränkt, in fast an Husserls ‚analogisierende Auffassung‘ erinnernder Weise: „aber nur sofern immer schon eine Thätigkeit der Vernunft in ihr [in dieser Gestalt] voraus und etwas in ihr als Durchgang dieser Thätigkeit gesezt wird“ (PhE, 571). Von dieser dupliziten Voraussetzung ist die Prägnanz des Symbol abhängig. Nur ist diese Voraussetzung ‚unter Menschen‘ gewissermaßen selbstverständlich; aber als Voraussetzung nicht unbestreitbar. Die Evidenz ist damit relativ zur eigenen Setzung – in der das ‚unmittelbare Symbol‘ in Anspruch genommen wird. Wenn die menschliche Gestalt als das Symbol des Ineinanders fungiert, ist das ein lebendiges Symbol. Der Organismusmetaphorik entsprechend ist die ‚gegliederte Gestalt‘ Symbol nicht nur der Symbolisierung, sondern auch der Symbolisierungspotenz, also von deren vorgängiger Ermöglichung. Die Suche nach den ‚Möglichkeitsbedingungen‘ findet hier ein Ende, oder besser ihren Anfang, im Verweis (i.S. einer Deixis) auf eine lebendige Faktizität. Das ‚Ineinander‘, von der alle Sittlichkeit ausgeht, sei „gegeben in der Identität von Seele und Leib, d.h. in der Persönlichkeit selbst“ (PhE, 272, die zugleich Resultat des sittlichen Prozesses sei!; vgl. 583).52 Daher sei jede Person „theils Repräsentant der Vernunft, theils Organ der Vernunft“ (PhE, 281, vgl. 282). ‚Repräsentant‘ steht hier offenbar synonym für Symbol. Symbol der Sittlichkeit ist die ‚Persönlichkeit‘, genauer der lebendige Mensch, in seiner sittlichen Vernunfttätigkeit,53 die man die Vollzugsform seiner Einheit von Leib und Seele nennen könnte. Damit wird allerdings längst nicht geklärt, wie diese Einheit von Leib und Seele zu denken sei. Es
52 53
Vgl. Person als „Darstellung des Seins der Vernunft in der Natur“ (PhE, 280). Jeder einzelne ist „nur Organ und Symbol, und also nur sittlich, inwiefern in ihm und von ihm aus für die Vernunft überhaupt die Natur überhaupt organisirt wird und symbolisirt“ (PhE, 577).
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wird auch nichts begründet, denn die Basis der Sittlichkeit wird als gegeben vorausgesetzt. Es wird vielmehr ein Symbol entworfen für die Basis aller Symbolisierung (und Organisierung), das über den ethischen Horizont hinausgreift. Wenn damit die Einheit von Vernunft und Natur symbolisch vor- und dargestellt wird – scheint das Symbol kosmologisch valent zu sein.54 Denn in der Einheit von Leib und Seele wird die – kosmologisch dimensionierte – Einheit von Vernunft und Natur dargestellt. Wie man sich das konkreter vorzustellen hat, notiert Schleiermacher auch: Gymnastik sei das Symbol des Ineinanders von Symbolisierung und Organisierung.55 Demnach wäre der grassierende morbus fitness die prägnanteste Gestaltung der Einheit von Leib und Seele (als Einigung) – und damit Inbegriff von Kultur? Es scheint, als hinge er der alten Intuition ‚mens sana in corpore sano‘ an.56 Die Pointe liegt aber anders: in der „Uebung“ der „Werkzeuge des Bewußtseins“ (PhE, 608). Gedacht ist also eher an Schach als an Jogging. Nancys phänomenologische Meditation des ‚Eindringlings‘57 (seines transplantierten Herzens) wäre eine Probe auf die symbolische Prägnanz der Einheit von Leib und Seele: Wenn die mens sana im kranken Körper lebt, droht der Zerfall des gegebenen Ineinanders, und das wäre nur eine Bestätigung Schleiermachers. Aber wäre der versehrte Körper möglicherweise ein prägnantes Symbol für dessen Gefährdung einerseits, und für dessen Technisierung andererseits – und damit ein Ansatz für eine kritische Theorie der Kultur und Anthropologie? Das wäre an Nancys Corpus weiterzudenken.58 Wenn allerdings das Ineinander von Leib und Seele technisch intensiviert werden soll mittels der spätmodernen ‚Gymnastik‘ (und der politisch korrekten ‚Hygiene‘ des öffentlichen Raumes durch Verbote etc.) – kann man darin ein Vergessen der Seele sehen. Als könnte über Körpertechniken die Gesundheit (der Kultur) erarbeitet werden. Diese Perspektiven einer Anthropologie oder
54
55 56
57 58
Vgl. zum „Erdkörper“, PhE, 572f.; zur Erde als Bildungsgebiet, PhE, 580. Die thematische Einheit ist zugleich anthropologisch konkretisiert in der Familie, in der alles „Geforderte wirklich gesezt“ sei (PhE, 272, vgl. 321). Als „Identität der organisirenden und erkennenden Function“, PhE, 276, vgl. 607ff.; vgl. Leib als „Bildungsgebiet“, PhE, 583. Wenn der ‚gesunde Körper‘ in spätmodernen Zeiten zur Funktion der Technik wird (in Chirurgie wie Sport), fragt sich, ob hier eine Einigung von Gnaden des Vernunfthandelns vorliegt – oder der operativen Manipulation und des Wahnhandelns. J.L. Nancy: Der Eindringling = L’intrus. Das fremde Herz, Berlin 2000. J.L. Nancy: Corpus, Berlin 2003. Vgl. dazu Ph. Stoellger: Passivität aus Passion. Zur Problemgeschichte einer categoria non grata (Habil.), Zürich 2005; erscheint voraussichtlich 2008 bei Mohr Siebeck, Tübingen.
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Kulturphänomenologie als Pathologie deutet Schleiermacher allerdings nur marginal an.59
8. Symbol ‚mit Gefühl‘ Statt hier die ‚Pathologie‘ als Hamartiologie der Kultur aufzunehmen, sei noch einem Aspekt von Symbol und Symbolisierung nachgegangen, der für die Symbole der Religion relevant ist: das Verhältnis von Symbol und Affekt bzw. Gefühl, womit das individuelle Symbol(isieren) berührt ist. Kann es im strikten Sinne individuelles Symbolisieren geben? Würde man damit nicht eine Privatsprachenthese vertreten? Lehnerer jedenfalls bemerkte einen „semantischen Antagonismus“60 in dem Ausdruck. Soll hier keine ‚contradictio in adiecto‘ vorliegen, sind beide Glieder näher zu bestimmen: Symbolisierung ist nie (?) schlechthin individuell, sondern von einem Individuum für andere Individuen (bzw. Gruppen); und es ist nicht per se auf ‚identisches Erkennen‘ aus, sondern gleichermaßen gültig auf die Darstellung des Gefühls. Um den absurden Grenzwert einer ‚Privatsprache‘ zu vermeiden, könnte man unmißverständlicher von einem nicht-identischen Symbolisieren sprechen (ohne damit Anleihen aus Adornos Dialektik zu prätendieren). ‚Nicht-identisch‘ hieße hier nur, nicht auf allgemeingültige Erkenntnis zielend, sondern lediglich auf das Verstehen von manchen, einigen oder einer Gruppe von Kommunizierenden. Das wäre kennzeichnend für rhetorische Kommunikation (etwa i.S. von Perelmanns Theorie der Argumentation61). Ein so schlichtes wie prägnantes Beispiel für individuelle Symbolisierung ist die persönliche Handschrift,62 die im Grenzwert nur von einem selber gelesen werden kann (evtl. nur im Moment des Schreibens). Kann sie gar nicht mehr gelesen werden, bleibt sie doch Symbol, allerdings derart individuell, das dasselbe Individuum sie zu späterer Zeit nicht mehr lesen kann. Die quälende Entzifferung – etwa durch tapfere Editoren späterer Zeit, wie bei Schleiermachers Marginalien oder Musils Nachlaß – leistet dann die Arbeit der ‚identifizierenden Resymbolisierung‘, indem Unlesbares wieder lesbar gemacht wird, um die 59 60 61
62
Siehe unten zum Nichtgesetztsein (PhE, 274f.). Vgl. zum ‚Selbstischen‘ als krankhaftem Zustand vgl. PhE, 596. Th. Lehnerer: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, Stuttgart 1987, 177. Ch. Perelman u. L. Olbrechts-Tyteca: Die neue Rhetorik. Eine Abhandlung über das Argumentieren, hg. von Josef Kopperschmidt, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004; vgl. Die neue Rhetorik. Studien zu Chaim Perelman, hg. v. J. Kopperschmidt, Paderborn 2006. Daher kann die ‚Handschrift‘ auch zur Metapher für den eigenen Stil werden.
Der Symbolbegriff Schleiermachers
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Schrift im Gekrakel zu identifizieren, also das Identische im Individuellen. Daß das in einer Edition meist nicht Auftauchende, die Handschrift selber, auf der Strecke bleibt, zeigt, daß es für das Identische am Symbol mehr oder minder irrelevant sein kann. Daß dergleichen in Faksimiles dennoch auftaucht, zeigt, daß das Individuelle daran eine eigene symbolische Qualität hat, die nur so noch in Spuren ‚darzustellen‘ ist. Schleiermacher nennt als exemplarische Medien der individuellen Züge des Symbolisierens: „Ton, Geberde, vorzüglich Antliz, Auge“ (PhE, 98) – also bestimmte Ausdrucksformen der ‚menschlichen Gestalt‘. Das sind Hinweise auf ‚Materialität, Präsenz und Ereignis‘ des Symbols, die üblicherweise in einer semiotischen Perspektive wenig Interesse fänden (als ‚Erstheit‘ etwa).63 Diese ‚leibhaftigen‘ Dimensionen des Symbols sind primär Deixis, nicht Lexis: sie sind leiblicher Ausdruck des je eigenen Gefühls (bzw. Pathos oder Befindlichkeit), die etwas zeigen und an denen sich etwas zeigt. So verdoppelt zu formulieren, heißt, das Zeigen in intentionales oder nicht-intentionales zu unterscheiden. Damit kommt in den Blick, daß nicht nur ein Vernunfthandeln am Werk ist, sondern möglicherweise ‚in, mit und unter aller Vernunft‘ die Natur dieser Vernunft (oder der Leib der Seele). So gesehen ist die Gebärde nicht als „mittelbares Zeichen des Begriffs, sondern als unmittelbares“ zu verstehen (PhE, 311), also als unwillkürlicher (nicht-intentionaler) und unbegrifflicher ‚Ausdruck‘64 des Bewegtseins. Schleiermacher nennt es ein „natürliches und nothwendiges Aeußerlichwerden des rein Innern“ (PhE, 311). Daher ist die Gebärde auch die ‚Sprache‘ des Gefühls, wie die Sprache die des Denkens (PhE, 597). Diese natürlichen Zeichen sind gewissermaßen ‚physei‘ und so von den ‚thesei‘ zu unterscheiden. Damit sei nicht ‚platonisierend‘ behauptet, es gebe an sich bedeutende ‚Dinge‘. Aber das Schleiermacher vor Augen stehende ‚Ineinander von Vernunft uns Natur‘ wird in Gebärden, im Blick und im Antlitz vorstellig – und das wiederum in phänomenologisch erstaunlich aktueller Weise. Wenn zwischen das Gefühl und das Zeichen eine „synthetische Combination“ tritt, wird ein ‚combinatorisches Prinzip‘ wirksam (PhE, 311, 1816). Dargestellt werde darin nicht der einzelne Akt, sondern ein Gesetz (in Anwendung auf einen Fall). Dieses ‚nomistische‘ Darstellungsmodell überrascht – weil damit das Individuelle zum Einzelfall eines
63 64
Vgl. D. Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002. Dergleichen braucht nicht als ‚Ausdruck‘ eines ‚Eindrucks‘ verstanden zu werden (PhE, 313 u.ö.). Sinnvoller wäre wohl, es als leibhaftige Artikulationen zu nehmen, und die Einheit dieser Artikulationen in der Gestalt und ihren Bewegungen wahrzunehmen.
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Gesetzes zu werden scheint.65 Nur ist das nicht ‚juridisch‘ oder ‚mathematisch‘ zu verengen. Heißt es doch bei Schleiermacher lakonisch: „Dies ist Kunst“ (PhE, 311) – worin sich ereignet, was er dem Leben zuschreibt: „Das Leben will also Kunst werden“ (PhE, 313). Hier wird in der Ethik der Übergang zur Ästhetik explizit. Was als ‚synthetische Combination‘ zu verstehen wäre, entfaltet die Ästhetik als ‚Urbildung‘, die von einer Unterbrechung ausgeht, in der Besonnenheit zwischen ‚Reiz und Reaktion‘ tritt. Die Differenz, die hier gemacht wird, kann man anhand der Ansätze zu einer Theorie der Emotionen in der Ästhetik etwas näher klären.
9. Symbol: kunstlos – kunstvoll Dabei stößt man zunächst auf ein Problem in Gestalt des Schemas von Impression und Ausdruck (i.S. der Expression; nicht der elocutio/pronuntiatio), bzw. des Innen und Außen, mit der Privilegierung eines Innen (des ‚fensterlosen‘, nur ‚für mich‘ gegebenen Erlebens), das so unmittelbar wie unmitteilbar sei.66 Da es ‚an und für sich‘ nicht sprachlich ist, tritt das Medium hinzu und dazwischen, stört und alteriert also das Mitzuteilende. Daher wird die Symbolisierung als ‚Äußerung‘ zu einer Verlustgeschichte. Denn das schlechthin individuelle Erleben könne nicht ‚eigentlich‘ mitgeteilt werden – aber gleichwohl dargestellt und geteilt (etwa in der Geselligkeit). Angesichts des ‚an und für sich‘ nicht sprachlichen (wie des religiösen oder ästhetischen) Erlebens ist die Erkenntnis von dessen Symbolisierung (Darstellung) nur „vermittelst eines analogischen Verfahrens“ (PhE, 317) möglich – womit die Probleme von Husserls Theorie der Fremdwahrnehmung antizipiert werden (Einfühlung und analogisierende Auffassung): Wie „die darstellende Bewegung zu einer in mir selbst vorkommenden ähnlichen, so das hervorbringende Gefühl zu dem bei mir zum Grunde liegenden“ (PhE, 317). Versteht man das als Erkenntnisanweisung, bliebe das Eigene ebenso unerkennbar wie der Andere. Versteht man es hingegen als Vollzugsanweisung, etwa für das gesellige Handeln, könnte sich das epistemische Problem auflösen oder zumindest sekundär werden. Was nicht eigentlich mitgeteilt werden kann – kann gleichwohl geteilt werden im Medium gemeinsamer Sym-
65 66
„Dieses Gesez ist nichts anders als die allgemeine Formel für den relativen Werth alles Einzelnen für das Individuum“ (PhE, 312). Vgl. Unmitte(i)lbarkeit. Gestaltung und Lesbarkeit von Emotionen, hg. v. P. Michel, Zürich 2005.
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bolisierung.67 Im Vollzug und Mitvollzug derselben, wird geteilt, was der Mitteilung ‚zugrunde‘ liegt. Davon zehrt der Vollzug der Religion etwa im Gottesdienst. In der Mitteilung geht es so verstanden nicht um Symbolisierung zum Zwecke prädikativer Synthesis, sondern zu dem der präprädikativen Synthesis, wie sie sich in einem gemeinsamen ‚Erleben‘ oder Fühlen ereignen kann. Daher ist das Ansinnen solcher Symbolisierung auch nicht ‚infallibel identische Erkenntnis‘, sondern fallible Darstellung der eigenen ‚Befindlichkeit‘ oder individueller Wahrnehmung – um sie als geteilte zu ‚vergemeinschaften‘. Die Mitteilung zur Teilung des Mitgeteilten kann in zweierlei Form erfolgen: kunstlos oder kunstvoll (un/besonnen oder nicht/intentional). Vorgeschlagen wird damit zur gängigen Unterscheidungen von ‚individuell und identisch‘ diejenige von ‚kunstlos und kunstvoll‘ (wie physei und thesei) hinzuzuziehen. Die beiden Unterscheidungen sind nicht parallel aufeinander abzubilden (kunstlos = individuell etc.). Wenn zwischen Ein- und Ausdruck die Besinnung tritt, wird der natürliche Reflex (wie von Schmerz und Schrei) unterbrochen.68 Daß der unbesonnene, kunstlose Ausdruck nur rein individuell sei, ist damit allerdings nicht gesagt. Denn gerade die kunstlosen Symbolisierungen von Empfindungen sind aussichtsreiche Kandidaten für interkulturell verständliche und geteilte Ausdrucksformen. Demgegenüber sind die kunstvoll geformten erheblich kulturspezifischer – und damit für intrawie interkulturelle Differenzen ein hermeneutisches Problem. Die Überführung eines Impetus zum Ausdruck in die Gestaltung einer Artikulation (also statt zu Schreien, einen artikulierten Satz zu formulieren, etwa über Ort und Art des Schmerzes), kann nicht einfach auf die Objektivierung (PhE, 182, 270) des individuellen Eindrucks oder Gefühls zwecks ‚identischer‘ Erkenntnis zielen, sondern auf die Bestimmtheitsgenerierung gegenüber dem verhältnismäßig unbestimmten natürlichen Ausdruck, oder anders: auf deutliche und adäquate Artikulation (gegenüber der nur ‚klaren‘ des natürlichen Ausdrucks). Daraus ergibt sich für das Symbolisieren (mutatis mutandis für das Organisieren) ein Quadrupel, am Beispiel der symbolischen Form der Sprache formuliert: • •
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kunstlos-identisch sind etwa ein ‚Ah‘, der Schrei und unwillkürliche Mimik, kunstvoll-identisch ist die deutliche Artikulation,
Ohne daß hier ‚dasselbe‘ gefühlt würde (vgl. PhE, 597f). Die „unmittelbare Identität der Erregung und Aeußerung“ wird unterbrochen (Ästhetik, 11).
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kunstlos-individuell sind etwa individuelle Gesten oder Sprachfehler, und kunstvoll-individuell wären die gewählte Stimmführung oder die Bewegungen eines Redners.
Alle vier Formtendenzen mit entsprechenden Symbolisierungskompetenzen sedimentieren in bestimmten Symbolfeldern, besser gesagt in Dimensionen des Symbols, das dementsprechend unter (mindestens) vier Aspekten ‚lesbar‘ ist.
10. Affekt versus Stimmung (‚unmittelbares‘ versus besonnenes Gefühl)69 Die präreflexive, ggf. auch unbewußte Erregung (bzw. der Affekt), etwa wenn man andere ‚Katzball‘ spielen sieht (also Fußball mit einer Katze), kann sich als Erschrecken und in unmittelbarer Empörung äußern mit all ihren teils individuellen, teils identischen Begleiterscheinungen. Diese unwillkürliche Antwort auf die Herausforderung durch solch eine inventive Barbarei ist durchaus nicht selber barbarisch (oder unsittlich). Weil oder sofern das unwillkürliche Verhalten kulturell geformt ist, sind Affekt und Reflex bereits sittlich verfaßt – zumindest wenn man alt genug ist, um nicht unwillkürlich dabei mitspielen zu wollen. Schleiermacher unterscheidet von solch kunstloser Antwort auf eine Erregung die kunstvolle: Nur wenn vor der Empörung die Besinnung Raum greife, könne die folgende Äußerung „sowohl der Zufälligkeit ihres Anlasses (Affekt), als auch der Unkontrollierbarkeit ihrer Wirkungen (natürlicher Gefühlsäußerung) beraubt“ (oder bereinigt) werden.70 Wenn man beispielsweise vor der Empörung den durchaus inventiven Charakter des Katzball wahrnehmen oder der erstaunlichen Hemmungslosigkeit der Spieler nachdenken würde, dann erst könnte eine Antwort entstehen, die auf die Bedingungen solch einer Barbarei reflektiert hätte. Für die Antwort auf Terror gälte sc. dasselbe. Was hier den Unterschied macht – von Affekt und Gefühl (Stimmung) – ist die Besonnenheit, oder mit Blumenberg die ‚Nachdenklichkeit‘, mit der die Reflexion zwischen ‚Affekt und Reflex‘ tritt. Diese Unterbrechung ist eine Hemmung des unmittelbaren Reflexbogens zugunsten der Distanznahme von den Eindrücken und deren direktem
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Mit F.D.E. Schleiermacher: Ästhetik (1819/25), Über den Begriff der Kunst (1831/32), Hamburg 1984, 8ff. Lehnerer: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, a.a.O. (Anm.59), 252f.
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Ausdruck.71 Mit dieser Distanz eröffnet sich ein Spielraum des Verhaltens und vordem ein Spielraum der Urteilskraft, sowohl der bestimmenden wie der reflektierenden. Daraus ergibt sich eine klare Option in der ‚Theorie der Emotionen‘ bei Schleiermacher: nur diejenigen Gefühle seien kulturell wünschenswert und in kunstvollem Sinne sittlich zu nennen, die im Horizont eines Ethos und Logos ‚purifiziert‘ werden, also die besonnenen Gefühle. Sie sind ‚reflexiv reduziert‘ und damit gebrochen bzw. ihre Energie wird unterbrochen. Gleichwohl gehören die besonnenen Gefühle zur symbolischen Energie des kulturellen Lebens. Für den Symbolbegriff ergibt sich daraus der indirekte Schluß: kein Symbol ohne Gefühl (wenngleich es durchaus Gefühle ohne Symbol zu geben scheint). Das gilt im doppelten Sinne: kein Symbol ohne initialen Affekt; und kein kunstvolles Symbol ohne besonnenes Gefühl (Stimmung). Bildet die Besonnenheit das Kunstvolle oder Kultivierte des Symbols, so Affekt und Stimmung das Lebendige in ihm.72 Die Konsequenz ist vermutlich klar: das vermeintlich Unbesonnene, Unmittelbare im Symbol ist mitnichten marginal oder symboltheoretisch und -hermeneutisch irrelevant, sondern so bezeichnend wie relevant, wenn es denn die Lebendigkeit des Symbols bildet.
11. Phantastische Welterzeugung Die symbolische Kinetik der ‚Übertragung des Unübertragbaren‘ ließe sich –statt einer unvordenklichen Vorgängigkeit des tätigen Innen zu folgen – nach dem vorhergehenden auch anders konzipieren: Von Außen nach Innen bewegt die Affektion, die ein Gefühl evoziert als „Resultat aus den äußeren Einwirkungen“ (PhE, 310). Von Innen nach Außen provoziert diese „Passion“ eine „Reaction“ (PhE, 310), einerseits natürlich und unwillkürlich: reflexartig in Ton und Gebärde als Ausdruck (PhE, 311); das gilt es andererseits ‚intellektuell zu reduzieren‘ zur Regulation bzw. Ordnung der inneren Bewegung als Resonanz der Passion. Die Synthesis leistet basal die Phantasie oder die Imagination (PhE, 313). Diese unbegriffliche Synthesis (präprädikativ) ist in besonderer Weise relevant für Kunst und Religion bzw. deren Symbole. Und sie ist sel-
71 72
Vgl. Distanz im Verstehen, hg. v. J. Simon, Frankfurt/M. 1995. Das wäre im Kontext der Emotionstheorie weiterzuführen und zu vergleichen mit Roberts Theorem der Emotionen als concern based construals. Vgl. R.C. Roberts: Emotions. An essay in aid of moral psychology, Cambridge 2003.
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ber nicht ein ‚zeitloses‘ Vernunftvermögen, sondern wird gebildet. Der Charakter einer Person entwickelt sich mit dem „Bilden der Fantasie“ (PhE, 313). Phänomenologisch bemerkenswert ist dabei, daß nicht das singuläre Phänomen als maßgeblich gilt für die symbolische Setzung, sondern der sich darin zeigende Typus (bzw. das Urbild). 73 Der aber ist nicht der Wahrnehmung gegeben, sondern durch die Phantasie gesetzt. Kunst – als Paradigma dieser Symbolisierung – ist daher nicht Abbildung, sondern Konstruktion. Nur die (technische) Ausführung des Werkes ist „Abbild der Urbildung“ (Ästhetik, 15); die Urbildung selber ist ‚actus purus‘ – oder mit Goodman zu sagen ‚Welterzeugung‘ und zwar phantastische Welterzeugung. War bei Kant die reflektierende Urteilskraft für den Schematismus zuständig, so bei Schleiermacher (wie bei Vico) die ‚Fantasie‘.
12. Postscriptum: Symbol und Metapher als Spiel der ‚Fantasie‘ In Kants Nachlaß findet sich m.W. der einzige Beleg Kants für den Ausdruck ‚Symbolisierung‘ in der ‚Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik‘74 (herausgegeben von D. Friedrich Theodor Rink, Königsberg 1804 unter dem Titel: ‚Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolff’s Zeiten in Deutschland gemacht hat?‘). Von der Art, den reinen Verstandes- und Vernunftbegriffen objective Realität zu verschaffen heißt es dort: „Einen reinen Begriff des Verstandes, als an einem Gegenstande möglicher Erfahrung denkbar vorstellen, heißt, ihm objective Realität verschaffen, und überhaupt, ihn darstellen. Wo man dieses nicht zu leisten vermag, ist der Begriff leer, d.i. er reicht zu keinem Erkenntniß zu. Diese Handlung, wenn die objective Realität dem Begriff geradezu (directe) durch die demselben correspondirende Anschauung zugetheilt, d.i. dieser unmittelbar dargestellt wird, heißt der Schematism; kann er aber nicht unmittelbar, sondern nur in seinen Folgen (indirecte) dargestellt werden, so kann sie die Symbolisirung des Begriffs genannt werden. Das erste findet bey Begriffen des Sinnlichen statt, das zweyte ist eine Nothhülfe für Begriffe des Übersinnlichen, die also eigentlich nicht dargestellt, und in keiner möglichen Erfahrung gegeben werden/können, aber
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„Duplicität der symbolischen Sezung und der spielenden Vernichtung […] Denn was symbolisch gesezt wird, das wird auch als einzeln vernichtet; und was als einzeln vernichtet wird, wird eben dadurch als symbolisch gesezt“ (Ästhetik, 26). Vgl. Lehnerer: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, a.a.O. (Anm.59), 270ff. AA XX, 253ff.
Der Symbolbegriff Schleiermachers
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doch nothwendig zu einem Erkenntnisse gehören, wenn es auch blos als ein praktisches möglich wäre. Das Symbol einer Idee (oder eines Vernunftbegriffes) ist eine Vorstellung des Gegenstandes nach der Analogie, d.i. dem gleichen Verhältnisse zu gewissen Folgen, als dasjenige ist, welches dem Gegenstande an sich selbst, zu seinen Folgen beygelegt wird, obgleich die Gegenstände selbst von ganz verschiedener Art sind, z.B. wenn ich gewisse Producte der Natur, wie etwa die organisirten Dinge, Thiere oder Pflanzen, in Verhältniß auf ihre Ursache, mir wie eine Uhr, im Verhältniß auf den Menschen, als Urheber, vorstellig mache, nämlich das Verhältniß der Kausalität überhaupt, als Kategorie, in beyden eben dasselbe, aber das Subject dieses Verhältnisses, nach seiner innern Beschaffenheit mir unbekannt bleibt, jenes also allein, diese aber gar nicht dargestellt werden kann. Auf diese Art kann ich vom Übersinnlichen, z.B. von Gott, zwar eigentlich kein theoretisches Erkenntniß, aber doch ein Erkenntniß nach der Analogie, und zwar die der Vernunft zu denken nothwendig ist, haben; wobey die Kategorien zum Grunde liegen, weil sie zur Form des Denkens nothwendig gehören, dieses mag auf das Sinnliche oder Übersinnliche gerichtet seyn, ob sie gleich, und gerade eben darum, weil sie für sich noch keinen Gegenstand bestimmen, kein Erkenntniß ausmachen.“75
Symbolisierung ist demnach eine Funktion des Schematismus.76 Dieser systematische Zusammenhang ließe sich auch anhand von Schleiermachers Gebrauch des ‚Schematism‘-Begriffs in der Philosophischen Ethik weiter entfalten. Bemerkenswert ist im hiesigen Zusammenhang besonders, daß Kant den Symbolisierungsbegriff strikt an den Begriff bindet. Das findet sich bei Schleiermacher – jedenfalls in der Philosophischen Ethik – so nicht. Vielmehr sind Symbolisierungen alle Formen der Synthesis im vernünftigen Umgang mit der Natur. Daß dabei die (so Schleiermacher:) ‚angeborenen‘ Begriffe im Hintergrund stehen, läßt es als durchaus möglich erscheinen, daß er den Symbolisierungsbegriff von Kant übernommen hat – wenn er denn diese Preisschrift gekannt hätte.77 Jenseits dieser doxographischen Frage wäre eigener Erörterung bedürftig, ob der Symbolbegriff mit diesem Hintergrund der Funktion der ‚absoluten Metapher‘ (i.S. Blumenbergs) nicht sehr nahe kommt. Wie das Symbolisieren in ‚kunstvoll und kunstlos‘ zu unterscheiden ist, so auch die Symbole und ebenso der darin wirksame Phantasiege-
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AA XX, 279f. Vgl. Ph. Stoellger: Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont, Tübingen 2000, 84ff. Die Ausgabe befand sich anscheinend nicht in Schleiermachers Bibliothek. Vgl. Schleiermachers Bibliothek. Bearbeitung des faksimilierten Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, hg. v. G. Meckenstock, Berlin/New York 1993, 210.
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brauch. Phantasie kann unbesonnen-affektiv Furcht- und Schreckensbilder entwerfen – oder sie kann mit Besonnenheit, Nachdenklichkeit und Invention ‚Welten erzeugen‘. Zwischen kunstlosem und kunstvollem Gebrauch der Phantasie unterscheidet Schleiermacher selber: Das „gemeine Spiel der Fantasie entlehnt vom Wirklichen und für das Wirkliche und schließt sich an das Gedächtniß an“; „Die Fantasie aber in ihrer reinen Thätigkeit geht von den Urbildern aus, die der Mensch in sich trägt“.78 Nur als „reine Productivität“ bringe die Phantasie Kunst hervor. Aber ist dieser ‚actus purus‘ nur „Ergänzung der Wirklichkeit“, wie Schleiermacher meinte,79 oder nicht vielmehr die paradigmatische Weise der symbolischen Welterzeugung (mit Goodman)? Das Synthesisvermögen in diesem Handeln ist die Phantasie: „Die persönliche Sinnlichkeit ist Fantasie und die Vernunft ist auch Fantasie“ (PhE, 313). Insofern ist die ‚Fantasie‘ ein gemeinsames ‚tertium‘, eine Figur des Dritten, in der Sinnlichkeit und Vernunft zusammengehen. Manifest und kulturell wirksam wird das in den Gestalten der Phantasie, den Symbolen. Wird nun die Phantasie als logistikon geadelt (als ‚Vernunft‘), sofern sie mit Besonnenheit verwandt wird, zeigt sich, was für ein unkonventioneller Logos im Ethos bzw. in der Ästhetik am Werk ist: überschwenglich könnte man sagen, ein Logos des Imaginären.80 Bezieht man das zurück auf die vielgequälte ‚Realismus-Diskussion‘, kann man Schleiermacher zwar einen semiotischen Realismus zusprechen, aber prägnanter auch einen symbolischen Realismus, der die Realität des Symbols als die maßgebliche Phänomenalität der Realität anerkennt. Da das Symbol aber nicht alles ist, was ist, und nicht alles was ist, Symbol ist – bleibt der symbolische Realismus offen. Schleiermachers Sinn und Geschmack für die ‚Fantasie‘ könnte es plausibel erscheinen lassen, daß er die Offenheit des symbolischen Universums wahrt.81 Was auf der einen Seite als kruder Realismus des ‚rohen Stoffs‘ erscheint, auf der anderen als metaphysischer Restbestand einer großen Teleologie finaler Harmonie, könnte verständlicher werden, wenn man beide Übergriffe ins Unsymbolische und Übersymbolische als Funktion der Phantasie (bzw. der imaginatio) begriffe. Wenn man sich, wenn auch nur ausblickend, an der Differenz des Symbolischen zum Imaginären orientierte (Lacan) wie am Verhältnis von Ordnung und Außeror78 79 80 81
Schleiermacher: Ästhetik, a.a.O. (Anm.68), 33. Ebd. Jedenfalls nicht nur die Reflexion (im bloß bestimmenden Sinne, das wäre möglichst identisch), sondern wesentlich die reflektierende Urteilskraft (möglichst individuell). Vielleicht im Unterschied zu Cassirer, zumindest zum Cassirer der ‚Philosophie der symbolischen Formen‘. Daß Cassirers Nachlaß diese Offenheit ebenso zeigt wie entfaltet, sei nicht bestritten.
Der Symbolbegriff Schleiermachers
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dentlichem (Waldenfels) – dann ist die Phantasie der Vernunft der Sinn fürs Außerordentliche, für das, was die symbolische Ordnung so überschreitet, wie es nicht in ihr aufgehen kann. Das doppelte Imaginäre, die Natur wie die finale Harmonie von Vernunft und Natur, sind selber Gestalten dieser Phantasie: der inventiven Vorstellung des Unmöglichen. Dann gilt für Schleiermachers Symbolbegriff: symbolum capax infiniti, oder besser: symbolum capax impossibilis. Das Symbol ist fähig, das Unmögliche vorzustellen: das präsymbolische Woher der Symbolisierung und ihr postsymbolisches Wohin. Etwas technisch gesagt: Der Anfang der Zeichen ist nicht Zeichen, und am Ende der Zeichen wäre alles nur (noch) Zeichen. Zwischen Arché und Telos liegt das Spiel der Differenz von Symbol und Organ wie von Vernunft und Natur. Da dieser Zwischenraum auch der von Geschichte und Kultur ist, kann man nur hoffen, daß die vermeintliche Vollendung noch lange auf sich warten läßt.
Schleiermachers Gottesdiensttheorie im Schnittpunkt von Kunst und Religion VON INKEN MÄDLER/UNTERHACHING
Verwunderlich ist es schon, dass die Gottesdiensttheorie des großen Kirchenfürsten und Theologen Friedrich Schleiermacher (1768–1834) zu den weniger bekannten und griffigen Topoi der Schleiermacherforschung gehört. Ob dieser Sachverhalt auf Defizite der theologischen Forschung zurück zu führen ist oder sich der Art und Weise verdankt, wie Schleiermacher selber seine Gedanken dazu vorgestellt und der Nachwelt überliefert hat, ist schwer zu entscheiden. Sicher ist nur, dass dieser begnadete Prediger, dessen Gottesdienste quer durch die sozialen Schichten und über die Altersgruppen hinweg gut besucht waren, der bewussten Reflexion über die eigene Kunstfertigkeit in Sachen Liturgik und Homiletik weniger Raum gegeben hat als der praktischen Aufführung und konkreten Darstellung derselben. Eine ausgearbeitete Theorie des ‚christlichen Kultus‘ hat er nicht vorgelegt, und um sie zu rekonstruieren müssen die – im Gesamtwerk verteilten – Ausführungen zur Erlangung dieser Kunst aus den verschiedenen thematischen Kontexten, in die sie eingebettet sind, herausgelöst und unter einheitlichen Gesichtspunkten neu zusammengestellt werden. Dies manifestiert sowohl die problematische Editionslage von Schleiermachers Schriften als auch die grundsätzliche Perspektivität seines Denkens, der zufolge unterschiedlichen Themenstellungen je verschiedene Blickwinkel korrespondieren. Was Richard Reuter hinsichtlich der Systematik von Schleiermachers Wissenschaftssystem festgestellt hat, „[…] dass es in seiner reifen Gestalt keine Tautologien produziert; will sagen: was in einer Disziplin gesagt worden ist, wird so, in dieser bestimmten Hinsicht und Perspektive, in keiner anderen noch einmal gesagt“, diese Feststellung gilt auch hier. Auch die Gottesdiensttheorie Schleiermachers ist in einem umfassenden System verankert. Sie steht in einem enzyklopädischen Rahmen, der ihre adäquate Rekonstruktion und Interpretation mit bedingt. Eine Folge jener „konsequenten Realisierung des erstmals von Leibniz präzise ausformulierten Gedankens der Perspektivität“ hat Richard Reuter denn auch die Tatsache
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genannt, dass „kein Versuch, Schleiermacher von einem Teil seines Systems her zu verstehen, hoffen kann, ihn ganz zu verstehen.“1 Für Schleiermachers Gottesdiensttheorie aber heißt das, dass sie nicht allein aus der Lektüre der Praktischen Theologie ergänzt um die ‚Kurze Darstellung‘ erschlossen werden kann, sondern nur in ihrer umfassenden Einbettung in das kulturtheoretische Gesamtsystem dieses theologischen Denkers. Zu dieser Schwierigkeit kommt die problematische Editionslage hinzu: Von Schleiermachers eigener Hand stammen diejenigen Ausführungen zum christlichen Kultus, die er in seinen ‚Reden über die Religion‘, in seiner ‚Enzyklopädie‘ oder ‚Kurzen Darstellung des theologischen Studiums‘ sowie in der ‚Glaubenslehre‘ dargelegt hat, um nur die theoretischen Hauptschriften zu nennen. Diese stehen ihrerseits – man vergleiche die Querverweise der ‚Kurzen Darstellung‘ auf die in der Philosophischen Ethik entfaltete Kulturtheorie, die ihrerseits in Parallelität zur Christlichen Sittenlehre zu interpretieren ist – in einem umfassenden System der Wissenschaften als Wissensgewinnung, -umsetzung und -tradierung. Letzteres ist uns überwiegend in Form von kompilierten Vorlesungsnachschriften tradiert, die von fremder Hand aufgezeichnet, zusammengetragen und so bereits vielfach interpretiert worden sind; ein Schicksal, das nicht nur die genannten Schriften teilen, sondern das auch die Ausführungen charakterisiert, in denen die Thematik des Gottesdienstes zentral verhandelt wird, sprich Schleiermachers ‚Praktische Theologie‘. Erst lange nach seinem Tod, im Jahre 1850, ist diese, die ‚Kurze Darstellung‘ in ihrer enigmatischen Kürze kommentierende und erläuternde Schrift publiziert worden. Und dieser Umstand hat wesentlich dazu beigetragen, dass seine praktisch-theologische Programmatik aufs Ganze gesehen weniger Bekanntheit erlangen sollte als ihr Urheber. Einer, der das ebenso disparate wie – aufgrund der Editionslage – z.T. auch inkonsistent anmutende Gedankensystem, in dem Schleiermachers Gottesdiensttheorie verankert ist, gesichtet, zusammengetragen und in die Einheit eines in sich konsistenten Gedankengangs gebracht hat, ist Ralf Stroh. Während sich vorangegangene Forscher angesichts des weiten Forschungsfeldes eher mit Schleiermachers Liturgik2 beschäftigt oder seine Predigttheorie3 rekonstruiert haben, hat Ralf Stroh 1 2 3
R. Reuter: Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers, München 1979, 16f. Ch. Albrecht, Schleiermachers Liturgik, Göttingen 1963; M. Josuttis: Gottesdienst nach Schleiermacher, in: Verkündigung und Forschung 31 (1986), 47–80. W. Gräb: Predigt als kommunikativer Akt, in: Internationaler Schleiermacher Kongress, hg. von K.-V. Selge, Bd.1/2, Berlin 1984, 643–660. Th. Joergensen: Predigt als Selbstdarstellung, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, hg. v. G. Meckenstock, Berlin/New York 1991, 73–185.
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einen umfassenden Überblick über die elementaren Parameter gegeben, an denen sich die Betrachtung der Thematik zu orientieren hat, wenn sie deren ‚enzyklopädischen Rahmen‘ berücksichtigen will.4 Ausgehend von der These, dass die konkrete Entfaltung dieses Gegenstandsbereichs im systematischen Abschreiten aller in der ‚Kurzen Darstellung‘ genannten Perspektiven bzw. Fragerichtungen zu erfolgen hat, hat er den Beitrag der Philosophischen, Historischen und Praktischen Theologie für die anvisierte Rekonstruktion eruiert. Abgesehen von den als ‚theoretisch‘ bezeichneten Schriften, in denen Schleiermacher sein Gottesdienstverständnis dargelegt hat, ist seine ‚praktische‘ Umsetzung der Thematik in einer Vielzahl weiterer Dokumente überliefert worden: in den gesammelten Predigten und in anderen, erst jüngst veröffentlichten Archivfunden zur liturgischen und hymnologischen Praxis wie etwa den gottesdienstlichen Liedblättern. Das Verdienst, Schleiermachers eigene gottesdienstliche Praxis durch Auswertung einer Vielzahl historischer Quellen in seiner ganzen Breite umfassend rekonstruiert zu haben, gebührt Bernhard Schmidt.5 Seine Arbeit über den Stellenwert von Kirchenmusik und Predigt im Festgottesdienst Schleiermachers ergänzt die Studien von Andreas Reich6 und Ilsabe Seibt7 und schließt damit eine weitere forschungsgeschichtliche Lücke in der Schleiermacherforschung. Im Kontext dieser Forschungs- und Editionslage intendiert der vorliegende Beitrag keinen Überblick über Schleiermachers Gottesdiensttheorie insgesamt, sondern fokussiert sie von einem bestimmten Blickpunkt aus. Er betrachtet sie, wie sie sich im Schnittpunkt von Kunst und Religion konstituiert. Denn Gottesdienste sind nach Schleiermacher insofern Gemeinde erbauende Veranstaltungen, als sie jenen dynamischen „Umlauf“ gewährleisten, innerhalb dessen die „religiöse Kraft“ der einzelnen Gläubigen treffend „angeregt“8 wird. Als Auslegungsund Gestaltungsprozesse des jeweils zeitgenössischen religiösen Bewusstseins sind sie so anzulegen, dass das in ihnen darstellend Mitgeteilte der individuellen Aufnahme und Aneignung fähig wird. Als Erlebnisformen, die individuelle religiöse Erfahrungen, wie sie im Gefühl gründen, gemeinschaftlich dahingehend vermittelt, dass eine wechselseitige Steigerung dieser jeweils individuellen Gefühlslagen in Gange 4 5 6 7 8
R. Stroh: Schleiermachers Gottesdiensttheorie, Tübingen 1998. B. Schmidt: Lied – Kirchenmusik – Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers, Berlin/New York 2002. A. Reich: Friedrich Schleiermacher als Pfarrer an der Berliner Dreifaltigkeitskirche, Berlin/New York 1992. I. Seibt: Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch von 1829, Göttingen 1998. F. Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums (KD), hg. v. H. Scholz, Leipzig 31910, Darmstadt 1988, §268, 103.
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kommt, beruht ihre Gestaltung auf Kunstregeln. Dies aber sind Vorschriften, welche die Art und Weise ihrer jeweiligen Anwendung im Einzelfall gerade nicht mit bestimmen. Derart aus „Kunstelementen“ zusammengesetzt, fällt der Gottesdienst folglich in das „Gebiet der Kunst“, weshalb – wie Schleiermacher in der zweiten Auflage der ‚Kurzen Darstellung‘ präzisierend ergänzt – die „Theorie des Kultus im allgemeinen die religiöse Kunstlehre“ genannt werden kann.9 Ihre Aufgabe besteht zu gleichen Teilen darin, 1. „den religiösen Stil in jeder Kunst zu bestimmen“ und 2. „die Art, wie aus ihnen insgesamt das religiöse Kunstwerk, der Kultus, zu bilden ist.“10 Als Kunstwerk betrachtet steht der Gottesdienst nach Schleiermacher also im Schnittpunkt zweier kultureller Sphären als da wären Kunst und Religion, weshalb die wechselseitige Beziehung beider Bereiche aufeinander und ihre Abgrenzung voneinander eine elementare kulturhermeneutische Aufgabe ist, die der Theologie zu allen Zeiten jeweils neu aufgegeben ist, so sie auch zu ihrer Zeit den Gottesdienst lebendig erhalten will als „darstellende Mittheilung des stärker erregten religiösen Bewußtseins.“11
1. Darstellendes Handeln als Schnittpunkt von Kunst und Religion Dass der christliche Gottesdienst weder aus dem sogenannten reinigenden noch aus dem auf Verbreitung ausgerichteten Handeln jener frommen Gemeinschaft erwächst, die Kirche im engeren Sinne genannt werden kann, sondern seine Zielsetzung im darstellenden Handeln hat, ist eine Konstante in Schleiermachers Ausführungen, prägnant formuliert in der Praktischen Theologie: „Der Zwekk des Cultus ist die darstellende Mittheilung des stärker erregten religiösen Bewußtseins“,12 und flankiert von der Christlichen Sittenlehre: „In demjenigen Handeln, welches das Gebiet des Gottesdienstes im engeren Sinne ausmachen soll, muss der Charakter des wirksamen Handelns gleichsam absolut zurücktreten. […] Der Gottesdienst im engeren Sinne ist überall das darstellende Handeln auf dem Gebiet der Kunst im weitesten Sinne des Wortes.“13 9 10 11 12 13
KD, Anm.2, 108. KD, Anm.5, 108. F. Schleiermacher: Die Praktische Theologie [=PT], hg. v. J. Frerichs, Berlin 1850, SW I/13, 75. Ebd. F. Schleiermacher: Die Christliche Sitte [=CS], hg. v. L. Jonas, Berlin 1843, SW I/12, 535.
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Über den Bezug zum darstellenden Handeln gerät der Kultus also in das Gebiet der Kunst. Denn: „Alle Kunst hat in der Darstellung ihr Wesen und alles, was nichts anderes sein will als Darstellung, ist Kunst.“14 Das gemeinsame Moment von Kunst und Religion im Hinblick auf den Gottesdienst besteht nach Schleiermacher also darin, dass das hier stattfindende religiöse Handeln ein darstellendes ist, was vor dem Hintergrund des antiken Mimesisbegriffs präzisere Konturen gewinnt.
2. Mimesis und Darstellung Kultisches Geschehen war in der Antike das religiöse Drama, die darstellende Nachahmung göttlicher Taten, von denen der Mythos erzählt. In der Einheit von Gestik, Mimik und Tanz, Sprache und Musik, stellte es eine Art Gesamtkunstwerk dar. Zwar sollte der Begriff Mimesis im Laufe der Zeit auf Nachahmung reduziert und zudem – statisch verengt – die Bestimmung der Malerei als nachahmende Abbildung untermauern helfen, die ursprüngliche Lokalisierung im Bereich des religiösen Dramas war jedoch weiter gefasst und bezog sich auf Handlungen, die sich mittels der unterschiedlichen sinnlichen Vermögen dynamisch Bahn brechen: Tanz und Gestik als Ausdruck bewegter Körper, Laute als Ausdruck bewegender Sprache, Mimik als Ausdruck bewegter Gesichter.15 Diese äußerlich sichtbaren Bewegungen aber sind undenkbar ohne ihnen korrespondierende, innere Bewegungen eines Gemüts, weshalb darstellende Nachahmung weder das Nachahmen äußerer Realitäten noch das Darstellen inwendig empfundener Individualität meint, sondern stets beides zugleich, sprich in der Nachahmung eines anderen auch individueller Ausdruck des eigenen Innern. Verdeutlichen lässt sich dies am Bezug des Wortes auf das Mimische, das als individuell produktive Tätigkeit alle nachahmenden Bemühungen notwendig begleitet. Mag sich ein Mime noch so viel Mühe geben, einen anderen Menschen nachzuahmen, er kann ihn doch nur individuell darstellend nachahmen, weshalb die Nachbildung auch produktiver Ausdruck der eigenen Persönlichkeit ist. Die Tatsache, dass Schleiermacher in seiner Platon-Übersetzung Mimesis vielfach mit Darstellung und nicht mit Nachahmung übersetzt hat, zeigt, dass ihm die semantische Weite des Begriffs noch bewusst war.16 Mimetische Darstellung ist ihm reproduzierendes Nachbilden und produktives Her14 15 16
PT, 71. P. Bahr: Darstellung des Undarstellbaren, Tübingen 2004. W. Weidlé: Vom Sinn der Mimesis, in: ders.: Gestalt und Sprache des Kunstwerks, Mittenwald 1981, 41–55.
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vorbringen in einem; hervorbringende Tätigkeit, die sich zwar an Vorgegebenem orientiert, das sie nachzubilden versucht, das ihr als ausdruckshafte Darstellung jedoch nur im Verlauf individuell gefärbter Handlungen nachzuvollziehen gelingt. Schleiermachers Verständnis von Darstellung im Sinne der Mimesis, sprich als einer Kraft zur Hervorbringung, ist grundlegend sowohl für seine Gottesdienst- wie für seine Kunsttheorie. Denn beide Bereiche, der Kultus und die Kunst, werden von ihm als ‚darstellendes Handeln‘ bestimmt und damit als dynamische Größen verstanden, die sich einer wirkenden Kraft verdanken.
3. Frömmigkeit als Handlungsimpuls Im zweiten Teil seiner Christlichen Sittenlehre hat Schleiermacher das christliche Handeln in der Welt in die Bereiche des darstellenden Handelns einerseits und des wirksamen Handelns andererseits unterteilt, wobei sich letzteres in das wiederherstellende oder reinigende und das verbreitende Handeln differenziert. Alle diese Formen des christlichen Handelns in der Welt verdanken sich ihm zufolge der Frömmigkeit als treibender Kraft und damit dem, unter der Form des Selbstbewusstseins statthabenden Bewusstsein des eigenen Verhältnisses zu Gott. Frömmigkeit ist ein ‚religiöser Gemütszustand‘, in dem man sich „als in der Beziehung mit Gott befindlich“ erfährt, so hat es Schleiermacher in dem berühmten §4 der Glaubenslehre definiert. Spezifisch christlich wird diese Frömmigkeit dadurch, dass ihr Verhältnis zu Gott, auch als ‚Gemeinschaft mit Gott‘ bezeichnet, „angesehen wird als bedingt durch den Act der Erlösung durch Christum.“17 Die ‚Christliche Sittenlehre‘ als „Beschreibung derjenigen Handlungsweise, welche aus der Herrschaft des christlich bestimmten Selbstbewußtseins entsteht“, beschreibt das christliche Selbstbewusstsein „sofern es Impuls“ ist, sprich als Handlungspotenzial: „Wie wird es Impuls, und wie geht es in Handlung über?“,18 ist die Frage, die Schleiermacher sich hier stellt. Frömmigkeit als christlich-religiöses Selbstbewusstsein wird somit als ein Handlungsimpuls in den Blick genommen, sprich als eine Art Kraft zur Hervorbringung von Handlungen betrachtet und damit als eine dynamische Größe erfasst. Leitend ist dabei die Fragestellung, wie sich der Übergang von Impuls in Handlung vollzieht und ob es „nur ein einfacher Impuls ist, der erst ein mannigfaltiges wird durch ein von 17 18
F. Schleiermacher: Der Christliche Glaube [= CG2], hg. v. M. Redeker, Berlin 1960, §4, 23. CS, 33ff.
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außen hinzutretendes, oder ob es schon in sich selbst ein mannigfaltiges ist.“19 Dass letzteres zutrifft, erhellen folgende Überlegungen: Betrachtet man das christliche Selbstbewusstsein als ein in Ruhe befindliches Phänomen, sprich als dasjenige statische Bewusstsein, in der Gemeinschaft mit Gott zu sein, dann bleibt unerklärlich, warum dieser Zustand der christlichen ‚Seligkeit‘ – wie Schleiermacher ihn nennt – überhaupt in Handlung ausmündet, die doch Mangelerfahrung voraussetzt. Folglich muss letztere auch der Frömmigkeit inhärent sein und das christlich fromme Bewusstsein als ein dynamisches Phänomen betrachtet werden, da „die beiden Begriffe, Seeligkeit und Impuls, nur so zu vereinigen sind, dass wir uns die Seeligkeit des Christen nicht als seiend denken, sondern als werdend.“20 Wie aber lässt sich nun diese Dynamik bemessen, wenn das im Zeitverlauf veränderliche christliche Bewusstsein zu keinem Zeitpunkt als eine Art ruhendes Bezugssystem der hier intendierten Messung fungieren kann? Die Bewegungsänderung der im Werden befindlichen, d.h. zu- oder abnehmenden christlichen Seligkeit kann unter diesen Umständen allenfalls relativ bestimmt werden, sprich in Relation zu den Veränderungen, denen ihre konstitutiven Komponenten unterworfen sind. Als diese aber hat Schleiermacher das Bewusstsein eines sich vergrößernden oder verringernden Abstands des Frommen von Gott bestimmt, das als zunehmende oder abnehmende Lust bzw. Unlust erfahren wird und im Hinblick auf das quantitative Überwiegen des einen oder des anderen Faktors bemessen werden kann. Denn manifest wird die werdend sich verwirklichende, christliche Seligkeit „in dem Wechsel von Lust und Unlust in Beziehung auf dasjenige, was das Maaß der Seeligkeit ist.“21 Die Betonung liegt hier auf dem Wechsel von Lust und Unlust, die als jeweils zunehmende oder abnehmende Größen betrachtet werden, und deren sich verändernde Intensität diejenige Erscheinungsform ist, unter der das christlich fromme Bewusstsein als ein per se dynamischer Gemütszustand zutage tritt. Je nachdem, wie die Abstände zwischen den Polen ‚Gott‘ und ‚Selbst‘ im Bewusstsein der eigenen Frömmigkeit als des jeweiligen In-Beziehung-mit-Gott-Befindlichseins variieren, ist also der fromme Handlungsimpuls größer oder geringer. Je größer das Gefühl der Entfernung ist, um so größer ist auch der Antrieb, diesen Zustand im reinigenden oder wiederherstellenden Handeln zu verändern. Und je kleiner es ist, um so intensiver wird der Drang zum verbreitenden christlichen Handeln. In jedem Moment bewusster Fröm19 20 21
CS, 35. CS, 38. Meine Hervorh. CS, 39f.
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migkeit aber sind beide, Lust und Unlust in unterschiedlichem Grade mitgesetzt, und die Differenz beider steht für die jeweilige Bewegungsrichtung sowie das ihr entsprechende christliche Handeln, je nachdem ob in einem Menschen das Bewusstsein werdender Seligkeit oder werdender Sündhaftigkeit überwiegt.
4. Der Impuls zum darstellenden Handeln Ebenso wie das wirksame Handeln unter seinen beiden Formen des wiederherstellenden und des verbreiternden Handelns, geht auch das darstellende Handeln auf einen Handlungsimpuls zurück, der sich in diesem Fall jedoch anders konstituiert. Insofern dieses Handeln nicht wirksam, sondern darstellend tätig wird, entspringt es nach Schleiermacher weder aus Lust noch aus Unlust, sondern aus einem Gefühl der Indifferenz von Lust und Unlust. Wenn weder das eine noch das andere überwiegt, heben sich beide in ihrem Werden für einen Moment gegenseitig auf. Dieser Moment eines relativen Stillstands der Bewegungsänderung aber kann als eine Art Indifferenzpunkt im Wechsel von Lust und Unlust und damit als das betrachtet werden, was Schleiermacher das Bewusstsein relativer Seligkeit bezeichnet hat. Für einen Moment sind die aneinander zu messenden Kräfte der im Werden befindlichen christlichen Frömmigkeit als die jeweilige Zu- oder Abnahme ihrer Konstituenten im Gleichgewicht. In solchen Momenten relativer Ruhe in der wechselseitigen Zuoder Abnahme von Lust und Unlust ist zwar das wirksame Handeln ausgesetzt, nicht jedoch das Handeln allgemein, denn absolute Seligkeit, Einssein mit Gott, ist dem christlich frommen Bewusstsein innerweltlich verwehrt; weshalb Schleiermacher denn auch vom Bewusstsein relativer Seligkeit spricht, das in ein Handeln der besonderen Art ausmündet: „Es bleibt uns also nur übrig zu sagen, daß zwischen den Momenten der Lust und der Unlust Momente der Befriedigung nothwendig eintreten, dass aber in diesen nicht absolute Seeligkeit gesezt sein kann, sondern nur relative, die Impuls sein und in Handeln ausgehen muß. In welches Handeln aber? Offenbar nur in ein solches, welches […] gar nicht dazu bestimmt ist, eine Veränderung irgendeiner Art hervorzubringen, […] welches Ausdrukk des inneren ist ohne eigentliche Wirksamkeit zu sein. So alles, was wir, wenn es in einer niederen und formlosen Gestalt erscheint, Spiel, und wenn es in einer höheren und ausgebildeten [erscheint], Kunst nennen. Beides ist ein wirkliches Handeln, hat aber keine bestimmte Tendenz, etwas im Verhältnisse des Menschen zur Welt zu ändern; es ist nicht auf die Erreichung eines Zwekkes gerichtet, sondern zwekklos; es ist kein solches, dem eine bestimmte Lust oder Unlust, eine momentane Bestimmtheit des Lebens zum Grunde liegen müßte, sondern es geht uns aus dem allgemeinen Lebensbe-
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wußtsein hervor, das die innerste Quelle aller momentanen Bestimmtheit des Daseins ist.“22
Spielerisches und künstlerisches Handeln sind demnach in gewisser Weise indifferent im Hinblick auf den Gegensatz von Lust und Unlust und machen für einen zeitlich begrenzten Moment jene Befriedigung bewusst, die als relative Seligkeit eine Ahnung vollendeter Gemeinschaft mit Gott zu geben vermag und sich durch Wiederholung ihrer selbst zu fixieren und auf Dauer zu stellen bestrebt ist. Dieses Gefühlsbewusstsein kann sein Dasein in der Zeit jedoch nur dann erhalten, wenn der Moment „in das ganze auf lebendige Weise verflochten wird als entstanden aus den früheren Momenten und als übergehend in die späteren, d.h. wenn er in einem gewissen Sinn ein bleibendes wird.“ Da er seinen momentanen Charakter in diesem Prozess verliert, gilt es, ihn als einzelnen Moment im zeitlichen Verlauf zu wiederholen und in einen Progress seiner selbst zu verwandeln: „Er muss wiederholt werden können, dadurch wird er ein bleibendes und bleibt doch auch Moment.“23 Im Hinblick auf seine Eigenschaft als Handlungsimpuls beinhaltet dieser Sachverhalt nach Schleiermacher folgende Konsequenz: „Und hier sehen wir nun, wie für Momente, die auf die Ruhe ausgehen, der Zusammenhang nicht anders kann hervorgebracht werden, als indem eine Thätigkeit aus ihnen hervorgeht, aber eine Thätigkeit, in welcher das Den Moment fixieren die dominirende Tendenz ist und aus welcher wirklich dieses entsteht, daß der Moment wiederholt werden kann.“24
Sowohl im Spiel als auch in der Kunst wird jeweils mehr oder weniger formvollendet ein einzelner Moment fixiert, der wiederholt und so im Progress seiner selbst auf Dauer gestellt wird. Spielerisches wie künstlerisches Handeln unterbricht dergestalt „die Reihen der auf Zwekke gerichteten Thätigkeit“ und wird von Schleiermacher dahingehend weiter bestimmt, dass es 1. „reiner Ausdrukk ist, und darin die Wirksamkeit negirt, weil nur damit das Streben dargelegt wird, den Moment zu fixiren“ und 2. „rein darstellendes Handeln ist, d.h. keinen anderen Zwekk hat, als das eigene Dasein für andere aufnehmbar zu machen, womit ebenfalls alle eigentliche Wirksamkeit ausgeschlossen ist, die nur von Lust oder Unlust ausgehen kann.“25 Hat Schleiermacher den christlichen Kultus in seiner Kurzen Darstellung also im Schnittpunkt der beiden kulturellen Sphären Kunst und Religion angesiedelt und die Theorie des Kultus als religiöse Kunstlehre bestimmt, ergänzt die ‚Christliche Sittenlehre‘ diese Bestimmung im
22 23 24 25
CS, 48. CS, 49. Ebd. CS, 50.
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Hinblick auf den gesellschaftlichen Bereich des Spiels: Beide Bereiche, Spiel und Kunst gründen im unwirksamen, rein darstellenden Handeln und fungieren so als Ausdruck des gemeinsamen geselligen Zustands einer Kultur. Der „Typus“ des gemeinsamen christlichen Zustands dieser Kultur aber wird – ganz analog – durch das konstituiert, „was wir unter dem Namen des christlichen Gottesdienstes zusammenfassen“26 und was sich in diesem an spielerischen und künstlerischen Ausdrucksformen findet. Spiel, Kunst und Gottesdienst hängen insofern eng miteinander zusammen, als sie alle dem Bereich des darstellenden Handelns erwachsen, woraus jedoch nicht zu folgern ist, dass alle spielerischen respektive künstlerischen Darstellungsformen, die eine Kultur an die Hand gibt, im Gottesdienst Aufnahme finden könnten und umgekehrt.
5. Das darstellende Handeln im Kultus Schleiermachers Verortung des christlichen Gottesdienstes als einer besonderen Form des darstellenden Handelns aus dem allgemeinen Bereich desselben unterscheidet zwischen einer ‚inneren christlichen‘ und einer ‚äußeren geselligen‘ Sphäre des menschlichen Handelns. Demzufolge unterscheidet er ein geselliges, darstellenden Handeln in den Bereichen Kunst und Spiel27 vom gottesdienstlich-darstellenden Handeln in der Welt.28 Diese Unterscheidung ist jedoch wiederum keine absolute, sondern eine relative, da sich stets Elemente des einen Bereichs auch im anderen finden und umgekehrt. Die ‚innere Sphäre‘ des christlichen Handelns kann ihrerseits in einem zweifachen Sinne verstanden werden als ‚christliche Lebenskunst im weitesten Sinne‘ und als der ‚christliche Kultus im engeren Sinne‘. Denn das christlich darstellende Handeln ist „insgesammt wesentlich dasjenige […], was wir Gottesdienst nennen. Gottesdienst ist also der Inbegriff aller Handlungen, durch welche wir uns als Organe Gottes vermöge des göttlichen Geistes darstellen.“29 Wird also das ganze Leben eines Menschen als eine vom göttlichen Geist durchdrungene Einheit betrachtet, die alle Formen seines Handelns mitbestimmt, so kann man nach Schleiermacher vom „Gottesdienst im weiteren Sinne, der sich über das ganze Leben verbreitet“, reden. Wird dieses Leben dagegen im Hinblick auf die sukzessive Ab26 27 28 29
Ebd. CS, 620–706. CS, 516–619. CS, 525f.
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folge zeitlicher Momente betrachtet, spricht er vom „Gottesdienst im engeren Sinne“, der sich in den ‚Pausen‘ zwischen den durch reinigendes oder verbreitendes Handeln bestimmten Momenten vollzieht. Derartige Einschnitte in das – primär durch wirksames Handeln bestimmte – Alltagsleben sind im geselligen Bereich die Feste und im religiösen Bereich die gottesdienstlichen Vollzüge. Folgerichtig bestimmt Schleiermacher in seiner Praktischen Theologie den Gottesdienst denn auch als ein Fest, das als Unterbrechung, als Einschnitt in die „bürgerliche und Geschäfts-Thätigkeit“ tritt und diese für eine gewisse Zeit hemmt bzw. aussetzt. Gottesdienst und Fest unterscheiden sich daher allein durch den „religiösen Charakter“ des ersteren, ihre „Entstehung“ dagegen „ist dieselbe“.30 Indem Gottesdienst und Fest in die zweckgerichteten Lebensvollzüge des Alltags Pausen einlegen und diese Momente des selbstbezüglichen und dadurch erhöhten individuellen Bewusstseins in der gemeinschaftlichen Darstellung zu fixieren trachten, entsteht allerdings ein elementares kommunikatives Problem: Wie können Äußerungsformen, die ein individuelles Affiziertsein zur Darstellung bringen, gemeinschaftlich geteilt werden?, „[…] wie können diese auf alle passen? Die innere Affection jedes einzelnen ist zugleich an seine Persönlichkeit gebunden, wie kann ihre Aeußerung eine gemeinschaftliche sein?“31 Dieser Schwierigkeit lässt sich nach Schleiermacher nur dann begegnen, wenn sowohl das festliche als auch das gottesdienstliche Handeln als ein sich im Zeitlauf erstreckender, dynamischer und rückgekoppelter Prozess der Kommunikation betrachtet wird. Er bestimmt den Kultus denn auch als einen Prozess wechselseitiger Darstellung des jeweils individuell erhöhten, religiösen Bewusstseins seiner Teilnehmer und somit als diejenige ‚Zirkulation‘ des religiösen Interesses innerhalb einer Gemeinschaft, die sich im Vollzug dieser ihrer Darstellung selbst zum Thema macht. Damit dieser wechselseitige Prozess religiöser Kommunikation in einer Gemeinschaft gelingt, bedarf es eines Minimums an Übereinkunft unter den einzelnen Individuen hinsichtlich Form und Funktion ihres darstellenden Handelns im Ganzen. Und genau hier gelangt der Schnittpunkt von Kunst und Religion in den Blick, in dem das gottesdienstliche Handeln verankert ist: Der Gottesdienst bedient sich künstlerischer Darstellungsformen, und nur in dieser begrenzten (!) Perspektive fungiert der Bereich der Kunst einer Kultur als Darstellungsmittel des Religiösen: „Das Heraustreten des festlichen kann nur geschehen
30 31
PT, 70ff. PT, 737.
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durch Kunst; wo etwas gemeinschaftliches sein soll, muß ein Maaß und eine Ordnung sein, und das gehört der Kunst an.“32 Die äußere Darstellung des inneren religiösen Bewusstseins Einzelner mit dem Ziel der ‚Erhöhung‘ desselben vermittels gemeinschaftlicher Zirkulation ist das Charakteristikum des Gottesdienstes als einer festlichen Veranstaltung. Und dieser Sachverhalt hat Auswirkungen auf die Wahl seiner Darstellungsmittel, die dem Bereich der Kunst einer Kultur entstammen und darin allgemein verständlich sind. Schleiermacher hat diesen Tatbestand so formuliert: „Das christliche darstellende Handeln als solches hat nun gar keine anderen Darstellungsmittel als die, die dem vernünftigen Menschen als solchem zu Gebote stehen.“33 Er kann diese nicht aus einer Art kulturellem Nichts heraus entwerfen, sondern ist stets an ihm bereits vorgegebene Formen aus dem Bereich der „allgemein menschlichen Darstellung“ verwiesen, die sich ihrerseits wiederum in der Kultur gottesdienstlicher Vollzüge verändern: „Diese Darstellungsmittel bilden das Gebiet der Kunst, und aller Gottesdienst im engeren Sinne ist aus Kunstelementen zusammengesetzt.“34 Die Gestaltung des Gottesdienstes hat sich demnach in enger Korrelation zu der jeweiligen Kunstentwicklung eines spezifischen Kulturkreises zu vollziehen, und das Verhältnis beider Bereiche zueinander bedarf der ständig neu zu aktualisierenden Bestimmung. Diese Aufgabe obliegt nach Auffassung der Kurzen Darstellung des theologischen Studiums im Kern der historischen Theologie. Sie hätte eine umfassende Bestandsaufnahme des christlichen Gemeinschaftslebens in seinem geschichtlichen Gewordensein zu erbringen, denn: „Die Bildung des kirchlichen Lebens“ in Sitte und Kultus wird „vorzüglich mitbestimmt […] durch die politischen Verhältnis und den gesamten geselligen Zustand.“35 Weshalb Schleiermacher denn auch folgende Gleichung aufmachen kann: „Der Kultus verhält sich zu der Sitte, wie das beschränktere Gebiet der Kunst im engeren Sinne zu dem unbestimmten des geselligen Lebens überhaupt.“ Für die Gestaltung und Entwicklung des christlichen Gottesdienstes aber heißt das im Umkehrschluss, dass sie „vorzüglich mitbestimmt [wird] durch die Beschaffenheit der dazu geeigneten, in der Gesellschaft vorhandenen Darstellungsmittel, und durch deren Verteilung in der Gesellschaft.“36
32 33 34 35 36
PT, 73. CS, 527. CS, 537. KD §167, 63f. KD §168, 64.
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Der theologischen Reflexion obliegt demnach auch die Aufgabe, eine Bestandsaufnahme der künstlerischen Ausdrucksmittel der eigenen kulturellen Gegenwart vorzunehmen. Denn die liturgische Entwicklung einer christlichen Gemeinschaft sollte nach Schleiermacher der Entwicklung ihrer kulturellen Ausdrucksformen korrelieren, wobei zwar die begründete Abgrenzung von und der Ausschluss ‚nicht-geeigneter‘ Darstellungsmittel für den Kultus geboten ist, nicht jedoch eine wie auch immer geartete Aufkündigung dieser Korrelation: „Beide aber, Sitte und Kultus, sind in ihrer Fortbildung auch so sehr aneinander gebunden, daß, wenn sie in dem Maß von Bewegung oder Ruhe zu sehr voneinander abweichen, entweder der Kultus das Ansehen gewinnt, in leere Gebräuche oder Aberglauben ausgeartet zu sein, während das christliche Leben sich in der Sitte bewährt, oder umgekehrt ruht auf der herrschenden Sitte der Schein, daß sie, während die christliche Frömmigkeit sich durch den Kultus erhält, nur das Ergebnis fremder Motive darstelle.“37
Aus diesem Grund ist es der theologischen Reflexion zu allen Zeiten geboten, sich mit den künstlerischen, ja allgemein mit den kulturellen Ausdrucksformen der eigenen Gegenwart auseinander zu setzen, um eine verantwortungsvolle Gestaltung des liturgischen Bereichs zu gewährleisten. Denn „abhängig wird die Theorie des Cultus immer sein von der Aesthetik. Wir müssen nur suchen, uns bewußt zu werden, wie weit die Veränderlichkeit von jenem durch diese gehen kann.“38 Um diese Frage zu beantworten, bedarf es allerdings über die hier erfolgte Bestimmung der Gemeinsamkeiten von Kunst und Religion hinaus auch die Klärung ihrer Differenzen als eines Unterscheidungskriteriums in Sachen Ästhetik.39 Denn nicht alles, was auf dem Gebiet der Kunst einer Kultur entworfen wird, kann seinen Platz im Gottesdienst beanspruchen, sondern nur das, was dem ‚religiösen‘ im Gegenüber zum ‚geselligen Stil‘ in der Kunst entspricht, d.h. dasjenige, was eher auf Einheit denn auf Einzelheit ausgerichtet ist. Diese stilistische Unterscheidung Schleiermachers als Differenzkriterium der Zuordnung von Kunst und Religion aber ist für die gottesdienstliche Gestaltung wie folgt zu konkretisieren.
37 38 39
KD §170, 65. PT, 789. Siehe dazu: M. Kumlehn: Ästhetisierte Religion oder religiöse Ästhetik, in: dies.: Symbolisierendes Handeln, Gütersloh 1999, 99–104.
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6. Gottesdienst als Kunst und Gestaltungskompetenz Künstlerische Ausdrucksformen einer Kultur, die eher dem so genannten ‚religiösen‘ denn dem ‚geselligen Stil‘ entsprechen, konstituieren nach Schleiermacher die gottesdienstliche Praxis dieser Kultur als spezifisch darstellendes Handeln. Die Tragweite dieser Bestimmung hängt davon ab, ob sein Stilbegriff eher materialer oder formaler Natur ist, wobei der Rekurs auf seine frühe Schrift ‚Über den Styl‘ die letztgenannte Sichtweise nahe legt, und auch spätere Ausführungen zur Thematik den ‚Stil‘ als Formprinzip individuellen Symbolisierens charakterisieren, das die Bedingungen formuliert, unter denen dieses Ausdrucksverhalten zur mitteilenden Darstellung gelangt. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist zunächst einmal die zeichentheoretische Fundierung aller Kommunikationsprozesse: „Der Styl eines Menschen überhaupt“ ist die „Art wie er seine Vorstellungen mittheilt“, denn – so Schleiermachers ‚semiotisch‘ anmutende Begründung in seiner Schrift über den Stil: „Nichts von dem, was wir in unserer Seele gewahr werden, es sei Gedanke, Begriff oder Empfindung, lässt sich mittheilen, sondern zu allem haben wir Zeichen nöthig; Darstellung einer Sache durch Zeichen nennt man Ausdruk, und der gute Stil ist also die Kunst des Ausdruks unserer Vorstellungen, die Kunst unsere Vorstellungen durch Zeichen deutlich zu machen.“40
Wie sich diese zeichenhaft vermittelte Kunst des Ausdrucks individueller Vorstellungen nun konkretisiert und worauf sich daher die Unterscheidung eines religiösen vom geselligen Stil zu stützen hat, thematisiert er in seinen praktisch-theologischen Überlegungen wie folgt: „[…] was ist Kunstelement? In der Rede nicht der Buchstabe, in der Musik nicht der Ton; sondern hier die Intervalle, dort das Wort. Giebt es nun Worte und Intervalle, die wir aus dem religiösen Gebiete ausschließen müssen? […] Man kann zwar manche Worte finden, die man ausmerzen muß, so auch springende Intervalle, aber man sieht, dass man so nur auf wenig auszuschließende Elemente kommt und keine feste Zeichnung des religiösen Gebietes gewinnen kann.“41 Denn: „[…] materiale ist der Unterschied nicht. So wie keine Kunst an sich, auch die körperlichste, die Mimik, nicht ausgeschlossen ist: so auch kein Element einer Kunst; so wie kein Ton so ist auch kein Wort an sich aus der religiösen Vorstellung ausgeschlossen.“ Der Unterschied stellt sich ein, „sowie man zur Combination schreitet“,42 sprich er ist im Rahmen vorstellungsbildender Prozesse zu verorten. 40 41 42
F. Schleiermacher: Über den Stil (1890/91), in: KGA I/1, 365–390, 365. PT, 791f. PT, 739.
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Das stilistische Unterscheidungskriterium ist folglich kein materiales, sondern ein formales, das seinerseits an das auszudrückende Gefühl in seiner Duplizität als ein auf Einheit oder auf Vielfalt respektive Einzelheit gerichtetes Gefühlsbewusstsein bezogen wird: „Woraus also auch entsteht ein religiöses Kunstgebiet als Darstellung des ersten und ein geselliges als Darstellung des anderen.“43 Mit anderen Worten: Das Kriterium stilistischer Ausrichtung auf Einheit bzw. Einzelheit beurteilt künstlerische Ausdrucksformen hinsichtlich ihrer Eignung, vorstellungsbildende Prozesse als transzendierende Bewegung auszudrücken und anzuregen, die sich stets an Einzelnem vollzieht, aber nicht im Spiel mit dem Einzelnen verbleibt.44 Die regulativen Ideen Gottes und der Welt als absolute Einheit versus absolute Vielheit oder Totalität aller Einzelheiten fungieren somit als Formprinzipien einer Reihenbildung, die sich auch auf der Ebene vorstellungsbildender Prozesse vollzieht: Entweder nehmen Menschen die sie umgebende Welt als werdende Einheit in der Vielheit wahr, indem Einzelnes in die Einheit eines Zusammenhangs gebracht wird, oder aber sie lassen ihren Blick auf Einzelnem als etwas für sich Bestehendem ruhen. Beide Blickrichtungen münden in verschiedene ‚Stile‘ der Weltbetrachtung, die sich ihrerseits in verschieden künstlerischen Ausdrucksformen manifestieren, wie es Schleiermacher auch in seiner Ästhetik ausgeführt hat: „Alle Kunst hat auf der einen Seite eine religiöse Tendenz, auf der anderen Seite verliert sie sich in das freie Spiel mit dem Einzelnen. […] Beide Seiten aber verhalten sich so gegeneinander, dass keine Richtung sich ganz von der andern lösen kann.“45 Als Formprinzipien auch gottesdienstlicher Gestaltungsprozesse stellen diese stilistischen Bestimmungen Schleiermachers ein kulturhermeneutisches Programm in nuce dar, das dazu auffordert, gottesdienstliche Vollzüge in Korrelation zu den künstlerischen Ausdrucksformen der je eigenen Gegenwart zu gestalten. Auch die zu seiner Zeit konstitutiven Elemente des christlichen Kultus hat Schleiermacher als durchaus veränderliche Größen bestimmt, die in Abhängigkeit vom „jedesmaligen Kunstzustand einer Gesammtheit“ variieren als ihrem „äusserlichen Coefficienten“. Denn, so seine Überzeugung: Klagen über den Kultus hörte man immer dann, „wenn dasjenige, worauf die Elemente des Cultus beruhen, als DarstellungsMittel aus dem GemeindeGebiet verschwunden waren. Dieses kam daher, dass der Cultus still-
43 44 45
PT, 792. Siehe auch: I. Mädler: Kirche und Bildende Kunst der Moderne, Tübingen 1997, 185–198. F. Schleiermacher: Ästhetik (1819/25)/Über den Begriff der Kunst (1831/32) (ÄL), hg. v. Th. Lehnerer, Hamburg 1984, §XV, 21.
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stand, während in der Entwicklung der geistigen Kräfte große Veränderungen vorgegangen waren. Sobald diese Veränderung so groß ist, dass der Cultus seine Bedeutung verliert, ohne dass doch ein Impuls entsteht, ihn zu ändern, – so ist dieß ein Zustand von Corruption.“46 Vor welchen Schwierigkeiten Theologie und Kirche stehen, wenn sie sich diese Einsicht in Zeiten sozialer Differenzierung und Individualisierung zu eigen machen und die Gestaltung ihrer Gottesdienste überprüfen, scheint Schleiermacher mindestens ansatzweise geahnt zu haben. David F. Strauß, der im Winter 1831/32 eine der letzten Vorlesungen Schleiermachers zur Theologischen Enzyklopädie gehört hat, hat diesbezügliche Überlegungen Schleiermachers in seiner Vorlesungsnachschrift festgehalten und künftigen Generationen überliefert. Welche Folgen hat es für die Gestaltung von Gottesdiensten, wenn die kulturell tradierten Affinitäten zu tradierten künstlerischen Ausdrucksformen erodieren? Sogar die – für protestantische Gottesdienste – elementare Funktion der Musik und der Rhetorik könnte dann hinterfragt werden, so lautet einer der überraschenden Gedankengänge Schleiermachers zu dieser Thematik. Denn: „In einem unmusikalischen Volke wird das musikalische Element im Cultus zurücktreten, bis sich dieser Kunstzustand ändert. Denkt man sich nun, dass in einer Gesellschaft, wenn das öffentliche Leben darin ganz aufhört, die kunstmäßige Behandlung der Rede kann mehr oder weniger verloren gehen, dann wird auch die Rede im Cultus zurücktreten. Hier ist aber nicht nur die Beschaffenheit der in einer Gesellschaft vorhandenen DarstellungsMittel angegeben, sondern auch ihre Vertheilung. Da kann es nämlich Classen in der Gesellschaft geben, in welchen noch viel Sinn ist für gewisse Kunstdarstellungen, während er andern Classen ganz fehlt. In solchen Zeiten ist es schwierig, den Cultus einzurichten, weil es nicht 2erlei Cultus geben kann.“47
Ersetzt man den Begriff der ‚Klasse‘ durch das soziologische Konzept des – durch spezifische Lebensstile und ästhetische Präferenzen gekennzeichneten – Milieus, mit dem sich die gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse der Gegenwart adäquater erfassen lassen, bleibt zu konstatieren, dass die ‚Einrichtung des Cultus‘ gegenwärtig ein besonders schwieriges Unterfangen ist, das nicht nur mit ‚2erlei‘, sondern mit ‚vielerlei Cultus‘ zu tun hat. Um so wichtiger aber ist es, dass sich die praktisch-theologischen Überlegungen zur Kunst der gottesdienstlichen Gestaltung mit der ganzen Bandbreite der künstlerischen Ausdrucksformen auseinandersetzt, die unsere gegenwärtige Kultur zur Verfügung 46 47
Schleiermacher, F. Theologische Enzyklopädie (1831/32). Nachschrift D. F. Strauß, hg. v. W. Sachs, Berlin/New York 1987, 160f. Nachschrift D.F. Strauß, 160.
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stellt. Denn in letzter Konsequenz ist für ihre Integration in den Rahmen des christlichen Kultus Schleiermacher zufolge nicht die Unterscheidung der diversen Künste in ihren konstitutiven Elementen, sprich in ihren jeweiligen sinnlichen Erscheinungsformen ausschlaggebend, so als gäbe es mit Rede und Musik genuin religiöse Kunstformen, sondern einzig und allein ihre – theologisch zu verantwortende – Beurteilung als Darstellungen jener auf Einheit ausgerichteten, vorstellungsbildenden Prozesse, durch die einzelne Ausdrucksformen als dem religiösen Stil in der Kunst zugehörig empfunden werden: Dies aber ist ein Aufruf zur steten theologischen Weiterarbeit an einer Kulturhermeneutik des Religiösen.
Die Preußische Union und ihre politische Bedeutung VON MARTIN OHST/WUPPERTAL
Schleiermachers Werk und seine Nachwirkungen haben die Grenzen zwischen Staaten und Nationen, Kirchen und Konfessionen von früh an dauerhaft durchdrungen und überschritten. In merkwürdigem Kontrast dazu steht die Tatsache, daß seine Lebensgeschichte und sein Lebenswerk gänzlich von den besonderen Verhältnissen seines engeren Vaterlandes bestimmt gewesen sind: Seine preußische Heimat hat er nur auf Urlaubsreisen verlassen; nie hat er außerhalb ihrer eine amtliche Stellung bekleidet. Insbesondere sein theoretisches Nachdenken über Christentum und Staat und sein aktives politisches Wirken innerhalb dieses Spannungsfeldes waren durch und durch motiviert und bestimmt von den besonderen preußischen Verhältnissen. Während Schleiermachers aktiver Lebenszeit kam es gerade auf diesem Gebiet in Preußen zu einschneidenden Änderungen, deren Ergebnisse bis in die Gegenwart fortwirken: Monarchischer Wille formte, auch anknüpfend an unterschiedliche Wünsche und Bestrebungen der Untertanen, eine einheitlich verfaßte und geordnete evangelische Landeskirche, in welcher die innerevangelischen Konfessionsunterschiede ihre kirchentrennende Bedeutung verloren. Dreißig Jahre lang hat Schleiermacher diesen Reformprozeß kritisch begleitet und mitgestaltet, zunächst im Konsens mit der Politik von König und Regierung, dann als wichtigster Wortführer der Opposition und am Ende seines Lebens in einer eigentümlichen Mischung aus Zustimmung und Resignation. Seine theoretischen Einsichten bewährten sich als wichtiges Ferment in den Debatten. Der preußische Kirchenneubau entsprach jedoch kurz- und mittelfristig seinen Zielvorstellungen kaum; erst langfristig und im Gefolge damals unvorstellbarer Umwälzungen konnten sie mit ihrer diagnostischen und prognostischen Kraft ihre Realitätstauglichkeit unter Beweis stellen. Im folgenden werde ich zunächst eine Skizze der Erstgestalt der Preußischen Union entwerfen und dadurch die Konturen hervorheben, daß ich einige ihrer Kritiker zu Wort kommen lasse (I.). Nach einem kurzen Rückblick auf die Werdegeschichte der Union (II.) wird die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß dieser kirchliche Neubau längst
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nicht so monolithisch ausfiel, wie er geplant war und wie seine symbolische Repräsentation glauben machen wollte (III.). Endlich (IV.) wird Schleiermachers Stellung in den Unionsbemühungen erörtert, wobei die These entfaltet wird, daß es auch die maßgeblich von ihm vertretenen, zu den Intentionen des Königs und seiner nächsten Berater quer stehenden Einsichten und Maximen waren, welche dem Projekt der Preußischen Union weit über die Dauer seiner Erstgestalt hinaus Bestand und Gedeihen verliehen haben.
1. Die Preußische Union hat ihr monumentales Symbol im Berliner Dom gefunden. Die Vorgeschichte des heutigen Bauwerks1 begann schon unter König Friedrich Wilhelm III. Die Diskussionen um die unterschiedlichen Pläne und Entwürfe intensivierten sich seit der Reichsgründung 1871 noch einmal deutlich. Sie lassen sich auch verstehen als Debatten um das Selbstverständnis der Hohenzollernmonarchie insgesamt sowie insbesondere über Art und Inhalt ihrer Sonderverantwortung für das evangelisch-kirchliche Leben in den altpreußischen2 Provinzen (fast) von der Maas bis an die Memel. Das Ergebnis läßt sich an der Predigtkirche des 1905 eingeweihten Doms ablesen.3 Einmal: Einander linear zugeordnet sind die prächtige Kaiserloge sowie Kanzel und Altar; das heißt: Der jeweilige Landesherr und Summus Episcopus gliedert sich symbolisch an hervorgehobener Stelle in die Gemeinde ein, der die Verkündigung der christlichen Botschaft gilt. Sodann: Im Kuppelraum lenken acht Statuen den Blick auf sich. Sie stellen zunächst mit Luther, Zwingli, Melanchthon und Calvin die wichtigsten theologischen Protagonisten der Reformation dar; auf gleicher Höhe mit ihnen stehen vier Landesfürsten, die die Reformation befördert haben: Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen, Landgraf Philipp von Hessen sowie mit Kurfürst Joachim II. von Brandenburg und Herzog Albrecht von Preußen zwei Angehörige des Hauses Ho1
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Vgl. Karl-Heinz Klingenburg: Der Berliner Dom (Berlin 1987), Berlin/Leipzig 1992, 61–184. Vgl. aus kirchengeschichtlicher Perspektive auch Bernd Andresen: Ernst von Dryander (AKG 63), Berlin/New York 1995, 294–301 sowie Hanns-Christof Brennecke: Zwischen Tradition und Moderne. Protestantischer Kirchenbau an der Wende zum 19. Jahrhundert, in: Der deutsche Protestantismus um 1900, hg. v. Friedrich Wilhelm Graf u. Hans Martin Müller, Gütersloh 1996, 173–203. Die 1864/66 an Preußen gefallenen Territorien (Schleswig-Holstein, Hannover, Kurhessen, Nassau, Frankfurt/M.) wurden bekanntlich nicht in die Union einbezogen. Vgl. zum folgenden Klingenburg: Der Berliner Dom, a.a.O. (Anm.1), 188–193.
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henzollern. Weiterhin ist mit den vier Evangelisten und Szenen aus der Apostelgeschichte die christliche Urgeschichte präsent. Auch hier ist die Botschaft schnell entschlüsselt: Die Schirmherrschaft weltlicher Obrigkeit bewahrt die Einheit und Reinheit der christlichen Lehre, welche im Wirken der Reformatoren wieder auf ihre ursprüngliche Gestalt zurückgeführt worden ist. Der Landesherr bekennt sich in der Nachfolge von landesfürstlichen Schirmherren und Beförderern der Reformation zu seiner besonderen kirchlichen Schutz- und Ordnungsaufgabe. Das spannungsträchtige wechselseitige Verhältnis der unterschiedlichen Spielarten evangelischen Christentumsverständnisses wird integriert durch den gemeinsamen Rückbezug auf die normative Urgestalt des Christlichen sowie durch Landesherren, die ihren Fürsorge- und Ordnungspflichten genügen. In der Predigtkirche des Doms symbolisiert sich also eine sich selbst religiös deutende Monarchie, die sich dem evangelischen Christentum zu besonderen Schutz- und Ordnungsaufgaben verpflichtet weiß, und zwar insbesondere einer Gestalt evangelischen Christentums, in der die innerevangelischen Konfessionsunterschiede kirchlich-institutionell integriert sind. In den Verhältnissen, die sich hier symbolisch verdichteten, sahen kritische Zeitgenossen eine zutiefst fragwürdige Verquickung von Religion und Politik. Als sein Sohn Woldemar ihm seinen Freund Rex, einen jungen Beamten, als fromm geschildert hat, bemerkt Dubslav von Stechlin: „Und fromm, sagst du – wird also wohl Karriere machen; [fromm] is’ wie ‘ne untergelegte Hand!“4 – Fontanes satirische Kritik gilt allerdings nicht allein einer sozialen Konstellation, in der Frömmigkeit weltliche Karrieren befördert. Sie gilt zugleich einem Kirchentum, in dem das geistliche Amt zum Karriereberuf verkommen ist. Superintendent Koseleger, ein „strenggläubiger Streber“,5 nach außen staatstragend und rechtgläubig zugleich,6 der einst seine hoffungsvollen Jugendtage als Reisemarschall einer russischen Großfürstin in den Niederlanden zugebracht hat und sich durch gelegentliche lieblose Spöttereien darüber hinwegtröstet, daß er nun im Norden der Grafschaft Ruppin zwar nicht „in den Skat gelegt“7 ist, aber doch „versauern“8 muß, repräsentiert diesen Typus: „Was war für Koseleger diese traurige Gegenwart? Ihn beschäftigte nur die Zukunft, und wenn er in die hineinsah, so sah er einen langen, lan4 5 6 7 8
Th. Fontane: Der Stechlin, Kap. IV; Nymphenburger Taschenbuch-Ausgabe Bd.13, München 1978, 53. So Gustav Radbruch: Theodor Fontane oder Skepsis und Glaube, Leipzig 1945, 35. Vgl. Fontane: Der Stechlin, a.a.O. (Anm.4), Kap. XXXVII, 332–338. Ebd., Kap. XVIII, 179. Ebd., 177.
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gen Korridor mit Oberlicht und am Ausgang ein Klingelschild mit der Aufschrift: Dr. Koseleger, Generalsuperintendent“.9 „Er ist wie ’ne Baisertorte, süß, aber ungesund“10 – so des alten Dubslav v. Stechlin Sentenz über ihn. Das Unbehagen am preußischen Kirchentum, dessen Sonderart so durchgreifend vom Willen des Monarchen bedingt und bestimmt schien, war alt, und es zog weite Kreise. Schon 1817 polemisierte der Dresdener Oberhofprediger Christoph Friedrich v. Ammon gegen die gerade entstehende Union der protestantischen Schwesterkirchen: Es sei dieses der Versuch, „ein Landesevangelium zu formen, wie einen Landsturm“.11 Friedrich Julius Stahl sah in der Union einen Akt staatlich-obrigkeitlicher Selbstüberschätzung. Dadurch, daß es die ihm selber vor- und übergeordnete Würde und Beharrungskraft der gewachsenen konfessionellen Gestalten des evangelischen Christentums sträflich unterschätzt habe, sei das landesherrliche Kirchenregiment in die Gefahr der Selbstzerstörung geraten: Anstatt zu einer religiös-kirchlichen Homogenisierung des evangelischen Staatsvolkes zu führen, habe sie die interkonfessionellen Verhältnisse vergiftet und überhaupt erst eine Alternative zwischen den Loyalitäten zum Bekenntnis und zum landesherrlichen Kirchenregiment aufgerissen. Die Union habe durch die von ihr provozierte lutherische Separation nicht nur die lutherischen Landeskirche, sondern die Monarchie und damit den Staat selber geschwächt.12 Wenn Stahl im selben Zusammenhang darüber klagt, welche hoffnungsvollen lutherisch-konfessionalistischen Köpfe durch die Union der preußischen Kirche und Theologie verloren gegangen seien,13 so mag das stimmen. Aber es traf ja nicht nur Abweichler auf der 9 10
11
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Ebd., 181. Ebd., Kap. XIX, 186. – Vgl. auch die folgende Passage im selben Zusammenhang: „Und dieser Koseleger mit dem Konsistorialratskinn! Er war Galoppin bei ‘ner Großfürstin; das kann er nicht vergessen, damit will er’s nun zwingen, und in seinem Ärger und Unmut spielt er sich auf den Charakter aus und versteigt sich, wie Sie sagen, bis zu Confessions und Gewagtheiten. Und wenn er nun reüssierte (Gott verhüt es), so haben Sie den Scheiterhaufenmann comme il faut. Und der erste, der rauf muß, das sind Sie [Dubslav v. Stechlin spricht zu „seinem“ Pastor Lorenzen; M.O.]. Denn er wird sofort das Bedürfnis spüren, seine Gewagtheiten von heute durch irgendein Brandopfer wieder wettzumachen“ (ebd., 187). Christoph Friedrich v. Ammon: Bittere Arznei für die Glaubensschwäche der Zeit, Hannover/Leipzig 1817, 22; zit. nach KGAI/10, 439. Vgl. dazu Regina von Brück, Die Beurteilung der preußischen Union im lutherischen Sachsen in den Jahren 1817–1840 (ThA XLI), Berlin 1981, 31 sowie Hans-Friedrich Traulsen: Schleiermacher und Claus Harms (SchlA, Bd.7), Berlin/New York 1989, 100. Friedrich Julius Stahl: Die lutherische Kirche und die Union, Berlin 21860, bes. 532–550. Ebd., 535.
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„Rechten“, sondern auch solche auf der „Linken“: Man denke an Karl Schwarz,14 der trotz des Spotts und Unverständnisses seiner linkshegelianischen Freunde Theologe blieb, dem durch Tholucks Intrigen die Lehrbefugnis in Halle entzogen wurde und der dann notgedrungen Hofprediger in Gotha wurde. Man denke an die Ausscheidung des bürgerlichen Rationalismus in der Provinz Sachsen15 aus der Preußischen Landeskirche, aber auch an die Schwierigkeiten, die der akademischen Karriere Albrecht Ritschls in Preußen entgegenstanden, solange er der Tübinger Schule Ferdinand Christian Baurs zugerechnet wurde.16 Solche und andere Fälle hatte Paul de Lagarde vor Augen, als er der Preußischen Union das folgende vernichtende Zeugnis ausstellte: „Aus der Union der lutherischen und reformierten Kirche folgte, daß jede jener zwei ihre unliebenswürdigste Seite herauskehrte, und neben ihnen ein Drittes entstand, das die gemeinsten Züge jener, das gute von keiner zeigte und nichts als eine Division der einen von der anderen war“.17 Die Kritik am preußischen Unionskirchentum kam auch von innen, sogar von hohen geistlichen Würdenträgern. Carl Büchsel,18 den Fontane als Prediger, Gesprächspartner und Autor durchaus schätzte,19 war langjähriger Generalsuperintendent der Kurmark und der Niederlausitz. In seinen Lebenserinnerungen hat er die unierte Landeskirche, der er diente, folgendermaßen charakterisiert: „sie ist durch das königliche Wort ins Leben gerufen, hat fort und fort den Schutz von oben her erfahren; unter ihrem Namen und angeblich zu ihrer Förderung ist viel Unrecht geschehen“.20 Soweit einige kurze Streiflichter auf die symbolische Selbstdarstellung der unierten preußischen Landeskirche um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und auf das Bild, das sie kritischen Beobachtern darbot. In den unterschiedlichen kritischen Perspektiven kommt sie als ein Kirchentum zu stehen, in welchem institutionalisierte christliche Religion und im Monarchen gipfelnde politisch-gesellschaftliche Ordnung 14 15 16 17
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Vgl. Kerstin Voigt: Karl Schwarz (1812–1885). Eine Untersuchung zu Person und Werk (EHS XXIII/585), Frankfurt/M. u.a. 1996. Vgl. Jörn Brederlow: „Lichtfreunde“ und „Freie Gemeinden“, München/Wien 1976. Vgl. Otto Ritschl: Albrecht Ritschls Leben, Bd.I, Freiburg 1892, 166–175. Über einige Berliner Theologen, und was von ihnen zu lernen ist (1890), zit. nach Paul de Lagarde. Ausgewählte Schriften, Bd.II, hg. v. P. Fischer, München 1924, 27–88, hier 41. Vgl. E. Chr. Achelis: Art. „Büchsel, Carl“, in: ADB, Bd.47, 329f. Vgl. Hans Ester: Der selbstverständliche Geistliche. Untersuchungen zu Gestaltung und Funktion des Geistlichen im Erzählwerk Theodor Fontanes, Leiden 1975, 6f., sowie Eckart Beutel: Fontane und die Religion, Gütersloh 2003, 81–85. Carl Büchsel: Erinnerungen aus dem Leben eines Landgeistlichen, Bd.I, Berlin 81897, 254.
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in ganz besonders enger, fragwürdiger Weise miteinander verquickt sind, wobei diese problematische Verquickung noch einmal insbesondere mit dem Unionscharakter dieser Kirche in Verbindung steht.
2. Und diese Kritik trifft ins Zentrum, denn die preußische Landeskirche ist ja in und mit der preußischen Union entstanden.21 Für ihre faktische Entstehung und Ausgestaltung war wesentlich der Wille König Friedrich Wilhelms III. und seiner wichtigsten kirchenpolitischen Berater, des Hofpredigers und Titularbischofs Eylert sowie des Ministers Altenstein, bestimmend. Das Projekt einer Kirchenvereinigung hatte Friedrich Wilhelm von seinen Vorfahren ererbt.22 Gleich nach seinem Regierungsantritt hatte er ihm ein weiteres an die Seite gestellt, nämlich die agendarische Vereinheitlichung der gottesdienstlichen Formen in seinem Reich. Erst nach den Befreiungskriegen konnte er anfangen, beide Vorhaben in die Tat umzusetzen. Zunächst erschien es, als wolle er beide Vorhaben im Zusammenhang einer großen, an die Impulse des Freiherrn vom Stein anknüpfenden Staats- und Gesellschaftsreform realisieren. Wie nach dem vieldeutigen Verfassungsversprechen des Königs vom 22. Mai 1815 auf allen Ebenen des Staates ein höheres Maß an Partizipation für alle Bürger bzw. Untertanen in Aussicht zu stehen schien,23 so auch auf kirchlichem Gebiet: Eine Neugestaltung der Kirchenverfassung, die den Gemeinden und Gemeindeverbänden ein erheblich höheres Maß an Selbstbestimmungsrechten eingeräumt hätte, schien in greifbarer Nähe. Von den Protagonisten eines Neubaus der Kirchenverfassung wurde dieser folgerichtig auch in engen Zusammenhang mit den politischen Reformbestrebungen gesetzt (s.u.). Aber die kirchlichen Verfassungspläne verschwanden in der Reaktionszeit ebenso in der Versenkung wie
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Klassischen Rang behauptet Erich Foerster: Die Entstehung der Preußischen Landeskirche unter der Regierung König Friedrich Wilhelms III., 2 Bde., Tübingen 1905–07. Aufschlußreich ist auch Albrecht Geck: Schleiermacher als Kirchenpolitiker (Unio und Confessio 20), 1997. Günter Meckenstocks Edition der kirchenpolitischen Schriften Schleiermachers (KGA I/9, Berlin/New York 2000) zeichnet sich aus durch ganz exzellente historische Einleitungen zu den einzelnen Schriften und ihren Entstehungskontexten sowie eine reiche Fülle von diplomatisch getreu reproduzierten Originaldokumenten. Vgl. Martin Friedrich: Von Marburg bis Leuenberg. Der lutherisch-reformierte Gegensatz und seine Überwindung, Waltrop 1999, 103–140. Vgl. Heinrich v. Treitschke: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd.II, Leipzig 1882, 278–294.
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die politischen.24 Seit 1817 wurden auch die kirchlichen Reformaussichten allmählich fraglich; seit 1819 und definitiv seit 1822/23 mußte man sie in den östlichen Provinzen Preußens für fünfzig Jahre begraben.25 Somit gilt auch für die Kirchenpolitik die folgende bilanzierende Feststellung von Reinhart Koselleck: „Am Ende der Reformzeit hing über dem ganzen Land eine Wolke unerfüllter Erwartungen, die als gesetzliche Verheißung bereits Gestalt gewonnen hatten“.26 Das Unionsprojekt führte der König dennoch weiter. Am 27. September 1817 erging die berühmte Kabinettsordre des Königs, die als erste der Gründungsurkunden der Preußischen Union gelten kann: Sie äußert den Wunsch, daß die beiden bislang getrennten Schwesterkirchen „Eine neu belebte, evangelisch-christliche Kirche im Geiste ihres heiligen Stifters werden“.27 Beim Unionsprojekt setzte der König betont auf Freiwilligkeit – hier ging es um den Glauben selbst, für dessen Bestimmung er sich als Landesherr keine Kompetenz zuschrieb. Wichtige Fragen blieben offen. So bestimmte die Kabinettsordre nichts darüber, wie sich das Verhältnis des neuen Kirchentums zu den herkömmlichen Bekenntnisbindungen der lutherischen und reformierten Kirchen und Gemeinden verhalten sollte. Wie schwer dieses Problem wog, das erwies sich in den folgenden Jahren, und zwar nicht zuletzt dadurch, daß der König sein zweites Projekt, die liturgische Vereinheitlichung, wieder aufnahm und forcierte. 1821/22 wurde eine vom König selbst verfaßte Agende zunächst beim Heer und in den Hof- und Domgemeinden in Berlin bzw. Potsdam eingeführt. Sie wurde aber auch mit großem Aufwand an Pfarrer und Gemeinden verteilt – mit der Erwartung, diese würden voller Dankbarkeit und freiwillig dieses Geschenk des Königs in Gebrauch nehmen. Das Gegenteil war der Fall. Allenthalben stieß die Agende auf Kritik. Den Reformierten war sie wegen ihrer Betonung der Liturgie zu „luthe-
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Vgl. die ausführliche und detailreiche, jedoch auch sehr stark psychologisierende und bisweilen penetrant moralisierende Darstellung von Thomas Stamm-Kuhlmann: König in Preußens großer Zeit, Friedrich Wilhelm III., der Melancholiker auf dem Thron, Berlin o.J. (1992), 416–476. Auf die andersartigen Sonderentwicklungen in der Rheinprovinz und in Westfalen kann ich hier nicht eingehen; vgl. dazu in Kürze Wilhelm H. Neuser: Die Entstehung der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung, in: Die Geschichte der evangelischen Kirche der Union, Bd.I, hg. v. J.F. Gerhard Goeters u. Rudolf Mau Leipzig 1992, 241–256. Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution, Stuttgart 21975, 161. KGA I/9, 178f. nach dem handschriftlichen Original. Vgl. auch Klaus Wapler: Der theologische Ort der preußischen Unionsurkunde vom 27.9.1817 (ThA XXXV), Berlin 1978. Leicht greifbar sind die wichtigsten Gesetzestexte zum preußischen Unionsprojekt in: Kirchenunionen im 19. Jahrhundert, hg. v. Gerhard Ruhbach (TKTG 6), Gütersloh 21968, 34–43.
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risch“, und den Lutheranern war sie wegen ihres Abendmahlsritus zu „reformiert“.28 Kritik von allen Seiten löste das Ordinationsformular aus. Einmal galt sie der Lehrverpflichtung: Nach der Erstfassung der Agende sollte sich der Ordinand verpflichten auf die Lehre „welche gegründet ist in Gottes lautrem und klarem Worte, […] und verzeichnet in den drei Hauptsymbolen [Apostolicum, Nicaenum, Athanasianum], so wie in der unveränderten Augsburgischen Konfession vom Jahre 1530 und dem liber concordiae, so wie solche die evangelische Kirche in den Landen S. Majestät, des Königs von Preußen, meines Königs und Herrn, als Glaubensnorm übereinstimmend angenommen hat, und in deren Geist die vorgeschriebne und eingeführte Kirchenagende vom Jahre 1822 abgefaßt ist“.29
Es konnte dem König klargemacht werden, daß dieser Bezug auf die lutherischen Bekenntnisschriften mit dem Unionsprojekt schlechterdings unvereinbar war, und in der Neufassung der Agende von 1824 war dann in diesem Zusammenhang nur noch die Rede von den „bekannten und in der Evangelischen Kirche allgemein angenommenen symbolischen Büchern, wie solche in den Landen Sr. Majestät des Königs von Preußen, meines Königs und Herrn, als Glaubensnorm übereinstimmend angenommen sind“.30 Aber eine wirklich durchgreifende Verbesserung war auch das nicht: Ohne jeden Anklang an die Unterscheidung von Geist und Buchstaben wird der Ordinand auf ein heterogenes Bündel normativer Texte verpflichtet, als deren orientierendes Zentrum offenbar die Agende fungieren soll, in welcher der Wille des Königs wirksam ist. Sodann zog der Treueid auf den König als „meinen großmächtigsten Landesherrn und obersten Bischof“31 Kritik auf sich. Hier sollte der Ordinand sich folgendermaßen verpflichten: „daß ich des Königes Nutzen und Bestes suche und fördere auf jegliche Weise. Mit Leben und Blut, mit Lehre und Beispiel, mit Wort und That will ich die königliche Macht und Würde vertheidigen, wie es in unserer heilsamen monarchischen Regierungsform festgestellt ist. Ebenmäßig will ich zur rechten Zeit es aufdecken, wenn ich erfahren sollte, daß etwas obhanden sey zur Aenderung oder Aufhebung dieser trefflichen Grundverfassung, in welcher das Wohl des Staates bestand und bestehet; und dem ich in allen Punkten gehorchen und nachkommen will und werde“.32
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Vgl. exemplarisch Jürgen Kampmann: Die Einführung der Berliner Agende in Westfalen: Die Neuordnung des evangelischen Gottesdienstes 1813–1835 (Beiträge zur westfälischen Kirchengeschichte 8), Bielefeld 1991. Zit. nach Foerster: Die Entstehung der Preußischen Landeskirche, a.a.O. (Anm.21), Bd.II, 63f. KGA I/9, 280. Ebd. Ebd., 280f.
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Der König ließ sich durch die Kritik nicht irremachen. Legitimiert durch die Berufung auf sein Recht als Oberster Bischof und sein Ius circa sacra als Landesherr fuhr er fort, mit einem System des Zusammenspiels von lockenden Belohnungen und drohenden Zwangsmaßnahmen seine Agende durchzusetzen. Damit eröffnete er eine zweite Front im Agendenstreit, nämlich die Diskussion um den Inhalt und die Reichweite eben jener Rechte. Jahrelang zog sich der Streit hin. Der König siegte, indem er nachgab: Nach und nach wurde durch eine Vielzahl von Provinzialanhängen, Kurzformularen etc. die Agende so weit modifiziert, daß sie wieder einer großen Variationsbreite faktischer Gottesdienstgestaltungen Raum gab. Das Jubiläum der Confessio Augustana 1830 wurde genutzt, um die Einführung der Union und der Agende mit neuem Nachdruck zu betreiben. Eine Kabinettsordre des Königs, die nach dem Aufruf von 1817 als zweite Gründungsurkunde der Preußischen Union gelten kann, bestimmte das Verhältnis von Union und Konfession näher, indem sie festlegte, daß der Beitritt „keinen Konfessions-Wechsel“33 impliziere: Das Projekt der absorptiven Union, wie es 1817 formuliert worden war, wurde zurückgenommen und zu dem einer konföderativen Verwaltungsunion transformiert. Dennoch begannen 1830 in Schlesien diejenigen Kämpfe, die zur lutherischen Separation führten. 1834 markierte eine weitere Kabinettsordre einen weiteren Schritt in die vier Jahre zuvor eingeschlagene Richtung. Sie trennte noch einmal die Agendenfrage von der Unionsproblematik, indem sie einschärfte, die Annahme der Agende bedeute nicht eo ipso den Beitritt zur Union, und hinsichtlich der Bekenntnisfrage betonte sie: „Die Union bezweckt und bedeutet kein Aufgeben des bisherigen Glaubensbekenntnisses, auch ist die Autorität, welche die Bekenntnisschriften der beiden evangelischen Konfessionen bisher gehabt, durch sie nicht aufgehoben worden“;34 sie bedeute lediglich die Gewährung der Kirchengemeinschaft trotz fortbestehender Lehrdifferenzen. Mit dieser Kabinettsordre war eine Zäsur gesetzt. Vergleicht man sie mit den kirchlichen Zuständen, die bei Regierungsantritt des Königs geherrscht hatten, so wird man dessen gewahr, daß ein kaum zu überschätzender Umschwung stattgefunden hat. Am Ende des friderizianischen Zeitalters hatte es in Preußen keine organisierte Landeskirche gegeben, sondern, um es in der Terminologie des ALR zu sagen, Kirchengesellschaften, nämlich Kirchengemeinden und Verbände von Kirchengemeinden, die weitgehend ein Eigenleben führten, das von den Pfarrern und den jeweiligen Patronen bestimmt wurde. Über ihnen hat33 34
Kirchenunionen im 19. Jahrhundert, a.a.O. (Anm.27), 36. Ebd., 37.
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te die staatliche Kirchenaufsicht gestanden, die das ius circa sacra übte, dieses jedoch weitestgehend als negatives Aufsichtsrecht gefaßt hatte, nämlich als das Recht, zu verhindern, daß im kirchlichen Leben irgendwelche staatsgefährlichen Umtriebe entstehen könnten. In Lehre und Gottesdienstgestaltung hatte bunte Vielfalt geherrscht; der Uniformierungsversuch des Wöllner’schen Religionsedikts war kläglich gescheitert. Weiterhin waren die Religionsgesellschaften bzw. die Pfarrer zu allerlei Aufgaben im Dienste des Staates herangezogen worden: Von der Schulaufsicht über die Führung der Personenstandsregister bis hin zur Verlesung obrigkeitlicher Anordnungen von der Kanzel. Nicht einmal zwei Menschenalter später war das Vergangenheit: Es gab eine verfaßte, ganz Preußen umfassende Landeskirche mit Leitungsorganen, eine auf alleinige Geltung Anspruch erhebende Gottesdienstordnung und in Gestalt des Ordinationsformulars einen rechtlich abgesicherten Geltungsanspruch der altkirchlichen Bekenntnisse und der Lehrbekenntnisse der Reformationszeit. Welches Maß an Elastizität, an Freiräumen für innovative Bestrebungen dieses Ordnungsgefüge forthin bieten würde, war noch zu erproben. Fest stand soviel: Das gesamte innerhalb weniger Jahre neu erbaute landeskirchliche Ordnungsgefüge hatte sein Zentrum im Recht und im Willen des Monarchen. Bezüglich der Evangelischen Kirche35 in seinen Reichen hatte Friedrich Wilhelm III. seinen Rang als Summus Episcopus und als Inhaber des Landesherrlichen Kirchenregiments kraft seiner Stellung als praecipuum membrum ecclesiae in einer Weise ausgebaut, die weit über die Funktionen der Landesherren im konfessionellen Zeitalter hinausging. Er war nicht allein Schutzherr eines Kirchentums, das ihm in seinen Grundlagen vor- und aufgegeben war, sondern er hatte für sein Reich und für seine protestantischen Untertanen in ihrer spezifischen konfessionellen Mischung ein Kirchentum nach Maß geschaffen, dessen Ordnungselemente in ihm selbst ihre Spitze und ihren Zusammenhalt hatten. Erich Foerster, dem wir eine bis heute nicht wirklich überholte Darstellung dieser Vorgänge verdanken, hat zugespitzt formuliert: „Die Durchsetzung des Landesherrlichen Kirchenregiments ist der letzte große Sieg des absoluten Königtums“.36 Ein älterer Vorgänger Foersters 35
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Aber eben auch nur in Bezug auf diese, neben welcher, erstarkend und ebenfalls über die bloße, auch von der Bundesakte gewährleistete Rechtssicherheit weit hinausgehender königlicher Gunst sich erfreuende Katholische Kirche stand. Damit fehlt die entscheidende intentionale Spitze des landesherrlichen Kirchenregiments im Konfessionellen Zeitalter, die eben darin bestand, das gesamte Territorium konfessionell einheitlich zu formieren. Es ist dieses m.E. ein gewichtiger Grund dafür, daß die Rede vom 19. Jahrhundert als von einem „Zweiten Konfessionellen Zeitalter“ (vgl. dazu Konfessionen im Konflikt, hg. v. Olaf Blaschke, Göttingen 2002) mehr verwirrt, als daß sie klärt. Foerster: Die Entstehung der Preußischen Landeskirche, a.a.O. (Anm.21), Bd.II, 321.
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hat noch schärfere Worte gewählt: „[…] die ausgebildetste Cäsaropapie, sämmtliche Rechte der Kirche ausgeliefert in die unbeschränkte Willkür des Landesherrn“.37
3. Aber dieser Sieg war nicht so vollständig, wie es beim ersten Hinsehen erscheinen könnte: Er war einmal teuer erkauft, und zum zweiten beruhte er darauf, daß auch solche Kräfte in das neue Kirchengebilde eingebunden werden konnten, die entweder der Union selbst skeptisch gegenüberstanden oder aber den Neubau der Kirche von oben her allenfalls als zeitweilige Übergangslösung zu akzeptieren vermochten. Zunächst: Um welchen Preis der Sieg erkauft war, zeigte die Separation der schlesischen Lutheraner. Bei dem gewaltsamen Versuch, diese friedliche Minderheit zu unterdrücken, der es in ihrem Kampf gegen Union und Agende um nichts weiter ging, als um die Beibehaltung ihrer alten gottesdienstlichen Formen,38 kamen Methoden zur Anwendung, wie sie im Vernichtungskampf gegen die Hugenotten in Frankreich erprobt worden waren. Diese Vorgänge haben den seit dem 17. Jahrhundert gewachsenen, berechtigten Ruhm Brandenburg-Preußens als eines Vorortes religiöser Toleranz nachhaltig zerstört. Neben den Demagogenverfolgungen liegt hier eine zweite Wurzel jener Negativschablone, die „Preußen“ fortan vielfach mit Zwangsherrschaft und Unterdrückung identifizierte. Als eine Gruppe schlesischer Glaubensflüchtlinge auf Havelkähnen in Potsdam Station machte, erregte sie Aufsehen: Die Bevölkerung sammelte Geld und Nahrungsmittel für sie, sogar Bibeln erhielten sie geschenkt. Auch der König selbst soll von den Ereignissen sehr bedrückt gewesen sein, sah aber trotzdem keine Möglichkeit, seinen harten Kurs zu revidieren.39 Hierzu würde es passen, daß er den Emigranten heimlich finanzielle Unterstützung aus seiner Privatschatulle gewährt haben soll.40
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Hermann Theodor Wangemann: Sieben Bücher Preußischer Kirchengeschichte. Eine aktenmäßige Darstellung des Kampfes um die lutherische Kirche im XIX. Jahrhundert, Bd.I, Berlin 1859, 103. Vgl. Wolfgang Nixdorf: Die lutherische Separation. Union und Bekenntnis (1830), in: Die Geschichte der evangelischen Kirche der Union, Bd.I, a.a.O. (Anm.25), 220–240. Vgl. Rulemann Friedrich Eylert: Charakter-Züge und historische Fragmente aus dem Leben des Königs von Preußen Friedrich Wilhelm III., Bd.III/2, Magdeburg 1846, 193–198. Vgl. Wangemann: Sieben Bücher Preußischer Kirchengeschichte, Bd.II, a.a.O. (Anm.37), 162 (ohne Quellenangabe).
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Sodann: Trotz der Separation blieb der aus der Erweckung hervorgehende, immer mehr erstarkende lutherische Konfessionalismus der preußischen Union als dauerhafte innere Infragestellung erhalten: War nicht ein Kirchentum in sich unheilbar selbstwidersprüchlich, das einander scharf widersprechenden reformatorischen Bekenntnissen die Funktion normativer Lehrgrundlagen einräumte? Aber noch ein weiterer, ganz andersartiger Faktor ist zu nennen: Die Preußische Union ist ja aus vielen Wurzeln gewachsen. Aufgeklärte und spätpietistische Distanzierung vom reformatorischen Christentumsverständnis und seinen internen Widerspannungen haben sie ebenso ermöglicht wie die Aufbruchsstimmung der Erweckung nach den Freiheitskriegen. Befördert und gewünscht wurde sie auch von Kreisen und Gruppen, die sie mit dem Anliegen einer von Grund auf erneuerten, auf der Partizipation der Laien und Gemeinden aufbauenden Kirchenverfassung verbanden und damit als Teilaspekt einer tendenziell demokratischen Umformung der Gesellschaft betrachteten. Zwei Details mögen das verdeutlichen. Den Anstoß dafür, das 300jährige Jubiläum von Luthers Thesenanschlag mit einem deutlichen Schritt hin zur Kirchenvereinigung zu verbinden, hatte der König von außen erhalten. Aus einem Bericht des westfälischen Oberpräsidenten v. Vincke hatte er erfahren, daß die reformierte und die lutherische Synode der Grafschaft Mark beschlossen hatten, im Vorfeld des Reformationsjubiläums eine gemeinsame Tagung in Hagen / Westf. abzuhalten und im Rahmen dieser Tagung miteinander gemeinsam das Abendmahl zu feiern; der König hatte sich zu diesem Entschluß in einer Kabinettsordre lobend geäußert. Und auch die berühmte gemeinsame Abendmahlsfeier in der Berliner Nikolai-Kirche, also an der Wirkungsstätte Paul Gerhardts und Philipp Jakob Speners, am 30. Oktober 1817 entsprang einer ursprünglich vom König ganz unabhängigen Initiative der lutherischen und der deutsch-reformierten Geistlichen Berlins; die Koinzidenz mit der gleichgerichteten Willensbekundung des Königs trug lediglich dazu bei, daß der ursprünglich vorgesehene Kreis der Teilnehmer sich nochmals erweiterte.41 Auch an vielen anderen Orten fanden solche Feiern statt.42 Prinzipieller Protest erhob sich innerhalb Preußens nicht, und so kann man über die Union, wie sie 1817 auf der Ebene der Gemeinden eingeleitet wurde, mit Erich Foerster sagen: „Nichts ist ungerechter, als die Union ein Werk des Hofes oder der Cäsaropapie zu schelten; wenn je etwas, so war sie eine Tat der Kirche, gereift in
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Vgl. Foerster: Die Entstehung der Preußischen Landeskirche, a.a.O. (Anm. 21), Bd.I, 278–283. Vgl. Wichmann v. Meding: Kirchenverbesserung. Die deutschen Reformationspredigten des Jahres 1817 (Unio und Confessio 11), Bielefeld 1986, 113–120.
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jahrelanger Vorbereitung, von vielen ersehnt und laut gewünscht, die wahrhaftige Anerkennung eines Tatbestandes, den die Entwicklung des deutschen Geistes- und Religionslebens seit drei Jahrhunderten heraufgeführt hatte“.43
4. Zu denen, welche die Union der protestantischen Schwesterkirchen vehement unterstützten und dann auch bei ihrer Durchführung an exponierter Stelle mitwirkten, gehörte bekanntlich Friedrich Schleiermacher. Schon seine erste kirchenpolitische Arbeit überhaupt, die 1804 erschienen „Unvorgreiflichen Gutachten“, enthielt ein Unionsprogramm. Es bewegte sich einerseits ganz unauffällig auf dem Boden der hergebrachten Verhältnisse, wie sie das ALR auf den Begriff brachte: Was Schleiermacher vorschlug, war nichts weiter, als eine „Handlung des Staates, […] welcher ja ohnedies das einzige wirksame Organ der kirchlichen Gesellschaft ist“,44 mit dem Ziel, daß die Kommunion im Gottesdienst der je anderen Konfession keinen Konfessionswechsel darstelle, also daß es dem Einzelnen fortan frei stehe, sich je nach freier Wahlanziehung zum reformierten oder lutherischen Gottesdienst zu halten. Sodann lehnte Schleiermacher jeden künstlich gesuchten Ausgleich der theologischen und liturgischen Differenzen zwischen Reformierten und Lutheranern vehement ab: Innere Vielfalt gehöre zum Wesen des Protestantismus; zu überwinden sei nur die Vorstellung, daß solche Differenzen kirchliche Trennungen nach sich ziehen müßten.45 In der Zeit der akuten Unions- und Kirchenreformbestrebungen nach den Befreiungskriegen hat Schleiermacher diese Grundposition doppelt angereichert. Einmal lozierte er nun, darin offenkundig ein Fortsetzer der Maximen der Ära des Freiherrn vom Stein, alle kirchlichen Reformanstrengungen im Kontext einer umfassenden Staats- und Gesellschaftsreform, die den Bürgern bzw. Untertanen in ihren unterschiedlichen Lebenskreisen ein höheres Maß an freier Gestaltungsmöglichkeit, Mitverantwortung und Mitbestimmung einräumen sollte. Besonders deutlich wird das in seinem sarkastischen „Glückwünschungsschreiben“ an die vom König ernannte liturgische Kommission (1814): „Mit einem großen Schlage ist das Wichtigste geschehen, um unsere äußere Freyheit wieder zu erobern und den Grund zu neuem Leben und Glück des Volkes zu legen. Muth und Eifer wenden sich nun nach innen, um das ge-
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Foerster: Die Entstehung der Preußischen Landeskirche, a.a.O. (Anm.21), Bd.I, 283. KGA I/4, 392. Vgl. ebd., 387–392.
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Martin Ohst wonnene zu sichern, um in neuen Banden der Liebe die erwachte Kraft zusammen zu halten und allmählich erstarken zu machen, und die tiefer liegenden Gründe früherer Uebel aufzusuchen und hinwegzuräumen“.46
Schleiermacher denkt hier also an eine umfassende Reorganisation aller Gebiete des öffentlichen Lebens. 1817 hat er noch einmal deutlich gemacht, wie nahe hier für ihn politische und kirchliche Konstitutionalisierungsprozesse verbunden waren: „Ja unsere Versammlungen werden dann würdige und lehrreiche Vorläufer und, in mancher Hinsicht wenigstens, Vorbilder sein von jenen bürgerlichen Versammlungen in den einzelnen Provinzen und für das ganze Reich, die auch schon verheißen sind, und denen obliegen wird die allgemeinen bürgerlichen Angelegenheiten des Volkes wie uns die kirchlichen zu berathen und zur Gesezgebung darin mitzuwirken“.47
Sodann: Hierzu gehört, so Schleiermacher, eben auch eine Reorganisation der gottesdienstlichen Formen. Allerdings: Das ist eine Daueraufgabe, und darum kann es primär nicht darauf ankommen, auf der Grundlage aktueller Erkenntnisse und Bedürfnisse eine Lösung der Aufgabe mit dauerhaftem Geltungsanspruch zu erarbeiten.48 Vielmehr muß zunächst einmal der institutionelle Rahmen geschaffen werden, in dem die Arbeit an dieser Daueraufgabe zuverlässig geleistet werden kann, und darum fordert er, „daß […], wenn solche Verbesserungen zu Stande kommen sollen, eine neue lebendige Verfassung der Kirche muß gegründet werden, aus welcher das andere alles von selbst, wie und wenn es recht ist, hervorgehn wird. Denn müssen wir doch die künftigen Aenderungen der Formulare und des Ritus dem repräsentativen Kirchenregiment überlassen, warum nicht vor allen Dingen diese Verfassung gründen, um aus ihr, auch was für den Augenblick nöthig ist, hervorgehen zu sehen?“49
In der evangelischen Kirche der Gegenwart ist ja eine große Varianzbreite der Frömmigkeits- und Denkstile charakteristisch.50 Darum gilt nicht nur auf dem Gebiet der Liturgie, sondern auch auf dem der Lehre, daß es primär darauf ankommt, das Mit- und Gegeneinander unterschiedlicher Strömungen so zu moderieren, daß keine die andere unterdrückt, sondern daß sich im lebendigen Widerstreit die Praxis wie die Theorie weiter verbessern. Und das ist kein Krisensymptom, sondern gerade der Normalzustand, sofern der Protestantismus ja keine auf einmal fertig gewordene Erscheinung ist, sondern sich seit seinen reforma-
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KGA I/9, 54. Ueber die für die protestantische Kirche des preußischen Staats einzurichtende Synodalverfassung (1817), KGA I/9, 146. Vgl. Glückwünschungsschreiben (1814), KGA I/9, 65f. Ebd., 77. Ebd., 59f.
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torischen Anfängen in einem ununterbrochenen Prozeß der Fortentwicklung befindet, mit dem notwendig auch Konflikte verbunden sind: „Liegt nicht im Wesen des Protestantismus der Glaube an eine, trotz aller Irrthümer, in die wir verfallen sind, und aller Rückschritte, die wir gemacht haben mögen, dennoch unaufhaltsam unter uns fortschreitende Entwicklung des religiösen Geistes, so daß wir überzeugt sein müssen, wenn wir selbst unsere Irrthümer und Rückschritte im großen geschichtlichen Zusammenhange übersehen könnten, wir darin Mittel zur Fortschreitung, ja auf eine gewisse Weise, sogar Theile derselben entdecken würden?“51
Es liegt im Wesen des Protestantismus als einer kirchengeschichtlichen Formation, welche sich dessen bewußt ist, daß ihr Vollendungszustand weder in der Vergangenheit noch gar in der Gegenwart, sondern in der Zukunft liegt, daß er sich weder in seinen gottesdienstlichen Formen noch in seiner Lehre an statutarische Normen bindet. Vielmehr bedarf er eines geordneten Regelwerks, das den Widerstreit der Meinungen in produktiven Bahnen hält. Grundbedürfnis der evangelischen Kirche ist weder ein corpus liturgicum noch ein wie auch immer „zeitgemäßes“ Lehrbekenntnis, sondern eine Kirchenverfassung, welche dafür sorgt, daß der innerkirchliche Pluralismus nicht in wechselseitigen Selbstabschließungen der Parteien erstarrt, sondern zu produktiven Diskursen führt. 1830 hat Schleiermacher dieser Option den wohl kühnsten Ausdruck verliehen und damit demonstriert, wie nahe er immer noch bei den theologischen und religionssoziologischen Einsichten seiner „Reden“ stand: Als „Ziel unserer deutsch-evangelischen Kirche“ postulierte er, „in einer ganz freien Gemeinschaft zu leben, welche gegenüber der katholischen Gebundenheit nur durch die evangelische Freiheit zusammenhält“.52 Es ist genau dieser Zusammenhang, in den Schleiermachers Arbeit für die Union in der Zeit nach den Befreiungskriegen hineingehört: Die Union war für ihn ein Teilaspekt dieses akzeptierten innerprotestantischen Pluralismus, der allein die Bedingungen dafür bereitstellen kann, daß in der weiteren Geschichte des Protestantismus die erstmals in der Reformation wirksam geworden Impulse zur Ausbildung einer neuartigen kirchengeschichtlichen Formation weiter wirksam sein können. Hatte er noch 1804 die Ansicht geäußert, die hergebrachten innerprotestantischen Lehrdifferenzen würden durch die Union allmählich an Bedeutung verlieren, so äußerte er 1819 geradezu Befriedigung darüber, daß die Erwählungslehre eben durch die Union wieder auf die Tages-
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Ebd., 65. Sendschreiben an von Cölln und Schulz (1830/31), KGA I/10, 425.
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ordnung der theologischen Debatten gerückt sei53 – in der Hoffnung, daß die Frage einer befriedigenden Antwort nähergebracht werden könne.54 Schleiermacher gehörte bekanntlich im Kampf um die Agende zu den schärfsten Gegnern der königlichen Politik. Gegen den von oben oktroyierten Kirchenneubau setzte er sich weiterhin für eine Kirchenreform auf der Grundlage einer presbyterial-synodalen Verfassung ein. Am Ende der Kämpfe, nach der Gewährung der unterschiedlichen Anhänge zur Agende, schloß er jedoch seinen Frieden mit der königlichen Kirchenpolitik, ihm wurde der Rote Adlerorden II. Klasse verliehen und er wurde sogar als schlesischer Generalsuperintendet in Aussicht genommen; man erwartete von ihm, er werde die dortigen kirchlichen Konflikte lösen können.55 Ich schließe mit einer kurzen Bilanz: Die symbolische Repräsentanz der Preußischen Union im Berliner Dom ist nicht falsch, aber unvollständig. Mit dem Konfessionalismus und mit dem kirchlichen Konstitutionalismus, wie ihn Schleiermacher im Verbund mit einer kühnen Protestantismustheorie vertrat, trug dieses neuartige Kirchengebilde von Anfang an oppositionelle Kräfte in sich, welche es unaufhaltsam aus- und fortbildeten. Scheinbar arbeiteten Konfessionalismus und Konstitutionalismus dabei fortwährend gegeneinander, aber damit ist noch nicht alles gesagt: Auch die Konfessionalisten lernten ja die Möglichkeiten einer synodal verfaßten Kirche kennen und schätzen! Und so kam es, daß dieses Produkt spätabsolutistischer Kirchenpolitik weder mit der Herrschaft des Hohenzollernhauses noch mit dem Verschwinden des Preußischen Staates unterging, sondern bis heute als Spezifikum des deutschen Protestantismus in selbständigen Landeskirchen fortlebt. Die Preußische Union hat die „Feuertaufe“, die ihr einst der eingangs zitierte Carl Büchsel56 vorhersagte, bestanden.
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Vgl. Ueber die Lehre von der Erwählung (1819), KGA I/10, 149f. Vgl. ebd., 220. Vgl. Wichmann v. Meding: Schleiermacher und die schlesische Separation, in: KuD 39 (1993), 166–199. Büchsel: Erinnerungen aus dem Leben eines Landgeistlichen, a.a.O. (Anm. 20), 254.
Luther im Licht Schleiermachers VON DIETRICH KORSCH/MARBURG
„Luther und Schleiermacher“ war der Vortrag überschrieben, den Gerhard Ebeling zum Schleiermacher-Kongreß im Jahr 1983 beitrug. Darin notierte er, über die Differenz der Zeiten hinweg, Verwandtschaften zwischen den beiden großen Theologen des Protestantismus. So stellte er Luthers Unterscheidung der Theologie vom scholastischen Verständnis der Metaphysik und Moral neben Schleiermachers Abgrenzung der Religion von aufklärerischen Konzepten theoretischen und praktischen Weltumgangs gleichen Namens. Und er sah diese Abgrenzung fundiert in der vergleichbaren funktionalen Stellung des Gewissensbegriffs bei Luther und des Gefühlsbegriffs bei Schleiermacher. Doch gehöre „zum Gefühl […] das Wort nur sekundär als Ausdruck“, während es „für das Gewissen im Sinne Luthers […] als Urteil konstitutiv“ sei.1 Daher dürfte es nicht nur das Luther-Gedenkjahr gewesen sein, das ihn im Anschluß daran dazu veranlaßte, vergleichende Überlegungen zur epochalen Bedeutung beider Theologen anzustellen. Sie laufen am Ende auf die These hinaus, daß es gerade die Theologie Schleiermachers gewesen sei, die – durch die Besonderung des Gefühls – eine neue Aufmerksamkeit auf Luther gelenkt habe; und zwar so, daß nun die bislang unausgeschöpfte „Zukunftsträchtigkeit“ von Luthers Theologie in den Blick komme.2 Nicht „Schleiermacher und Luther“ ist heute das Thema, sondern: „Luther im Licht Schleiermachers“. Ich nehme hiermit eine bescheidenere Perspektive ein und schließe mich der Sicht an, in die für Schleiermacher selbst die Reformation rückt. Martin Ohst hat herausgearbeitet, daß für Schleiermacher die Reformation als ein „epochaler Wendepunkt der Christentumsgeschichte“ gilt, der aber in eine „als Einheit
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Gerhard Ebeling: Luther und Schleiermacher, in: LuSt III, Tübingen 1985, 421. „Innerhalb der Wirkungsgeschichte Luthers stellt Schleiermacher den entscheidenden Drehpunkt dar von der zunehmenden Eskamotierung Luthers aus der protestantischen Theologie in den heute immer noch im Gang befindlichen Prozeß des Ringens um die angemessene theologische Rezeption Luthers.“ Ebd., 425.
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verstandene Gesamtgeschichte des Christentums“ eingeordnet werden soll.3 „Die Reformation des 16. Jahrhunderts hat keine fertigen Ergebnisse gezeitigt, sondern sie markiert den Anfangspunkt einer neuen Entwicklungsreihe innerhalb der Christentumsgeschichte, an deren Ende erst, das noch nicht erreicht ist, erschöpfende, allgemein plausible Definitionen stehen können.“4
In diesen Zusammenhang gehört, daß Schleiermacher an „der Persönlichkeit und Theologie der einzelnen Reformatoren“ wenig Interesse zeigt.5 Insofern bringt die Suche nach Luther-Anknüpfungen in einem philologisch exakten Sinne wenig Erkenntnisse.6 Darum soll hier eine problemgeschichtliche Perspektive erprobt werden, die jedenfalls darin Interesse beanspruchen darf, daß es um die Bildung des eigentümlich protestantischen religiösen Selbstbewußtseins geht, nämlich um den Gewinn der Gewißheit des Glaubens. Dabei konzentriere ich mich auf das Thema der Buße bei Luther, anhand dessen man die Eigenart im reformatorischen Verständnis des Glaubens, aber auch dessen systematische Weiterbestimmungsbedürftigkeit gut rekonstruieren kann. Im Blick auf Schleiermachers Lehre von der Wiedergeburt, also von Bekehrung und Rechtfertigung, soll dann gezeigt werden, wie offene Fragen der reformatorischen Lehrbildung unter neuzeitlichen Bedingungen reformuliert werden. Ein Blick auf die dann auch damit noch nicht gelösten Probleme steht am Schluß.
1. Buße, Vergebung und Glaube In seinem Sermon von dem Sakrament der Buße aus dem Jahr 15197 hat Luther eine Transformation des traditionellen Bußschemas vorgenommen, die den Unbedingtheitscharakter der in der Buße geschehenden Gottesbegegnung ans Licht hebt. In der überlieferten Lehre bezieht sich das Absolutionswort des Priesters als das sakramentale Zeichen wie eine forma auf die als quasi materia vorgestellten Akte des Poenitenten,
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Martin Ohst: Schleiermacher und die Bekenntnisschriften. Ein Untersuchung zu seiner Reformations- und Protestantismusdeutung, Tübingen 1989, 98. Ebd., 99. Ebd., 105. Das hat auch Ebeling gesehen; vgl. a.a.O. (Anm.1), 408. Selbst in den AugustanaPredigten findet Luther nur in abgrenzendem Sinn Erwähnung, daß es ihm nämlich nicht auf seine Person angekommen sei. Die Akademie-Rede von 1826 zum Geburtstag Friedrichs des Großen „über den Begriff des großen Mannes“ könnte, der Sache nach, Luther durchaus nennen; der Name fällt aber nicht. WA 2, 713–723.
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nämlich dessen Reue (contritio cordis), Sündenbekenntnis (confessio oris) und Wiedergutmachungsvorhaben (satisfactio operis). Die Absolution anerkennt diese in der Erfahrung zu empfindende Abfolge von Akten als heilsrelevant und heilsförderlich; und das gilt auch – und gerade! – dann, wenn eine Gewißheit des Heils verwehrt bleibt, weil weder die Reue umfassend sein kann noch auch die Wiedergutmachung erschöpfend. Luthers Vertiefung der Buße besteht darin, daß er das forma-materia-Schema verläßt und die dann offenkundige Spannung zwischen gesprochenem Wort und nicht entsprechender Erfahrung in der Weise auflöst, daß er das Absolutionswort in seinem unbedingten Sinne zu verstehen verlangt: Im ausgesprochenen Wort ist die Sache der Vergebung, nämlich die reine, ungetrübte Beziehung zu Gott, vollkommen da. Diese durchgreifende Bestimmung des menschlichen Seins kann nur im ebenso reinen Geltenlassen empfangen werden, also im Glauben, der im Wort der Vergebung die Vergebung selbst annimmt. Dann aber ist dieser Glaube nichts anderes als die wahre und vollkommene Wirklichkeit der Sündenvergebung und Anerkennung durch Gott. Eben und nur darum kommt diesem Glauben aber auch schlechterdings Gewißheit zu – eine Gewißheit, die sich durchaus in einem emotionalen Empfinden zu Gespür bringt: daß „der mensch […] yn sich selb befindt und fuelet eyn solch gewissen und froelich hertz zu gottis gnaden“ (WA 2; 714, 21f). Man kann geradezu sagen: In diesem Gefühl der Befreiung und Erleichterung vollendet sich die Sündenvergebung; so daß umgekehrt gilt: Wo dieses Gefühl nicht da ist, da wird der göttlichen Vergebung der Sünde noch nicht geglaubt. Kommt so die Vergebung der Sünde durch Gott im Wort der Absolution zur Geltung und entspricht dieser Vergebung als ihr Korrelat der Glaube, der sich dann auch als Gefühl der Befreiung spürbar macht, so muß aber auch ein entsprechendes Gefühl der Beklemmung vorauszusetzen sein, das durch die Sünde ausgelöst wird, nämlich „das den menschen seyn sund […] beyssen“ und „unrugig machen“ (WA 2; 714, 18). Damit jedoch taucht die Frage auf, wie denn unter dieser neuen Sichtweise der Buße die Zuordnung von gefühlsmäßigem Empfinden und kategorialem Urteil zu fassen ist – und zwar insbesondere, was die das Sündenbekenntnis herausfordernde Reue betrifft. Klar ist, daß die kategoriale Freisprechung ihre emotionale Resonanz im Gefühl der Freude und Erleichterung besitzt. Klar ist aber auch schon daraus, daß gerade dann, wenn der Absolution Unbedingtheit innewohnt, die Reue auch durch äußerste quantitative Ausdehnung nie Unbedingtheit erringen kann. Statt dessen gilt, daß im Bekenntnis der Schuld eine kategoriale Selbst-Feststellung des Sünders erfolgt, in der er nichts mehr von sich selbst, vielmehr alles nur von Gott erhofft. Die confessio des Sünders, der allein auf Gottes Vergebung traut, nimmt die contritio über die
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Sünde in sich auf und deklariert sie als das, was sie in Wahrheit ist: Ausdruck der Unmöglichkeit, durch eigenes Tun zur Rechtfertigung beitragen zu können. Wenn aber dies die Aufgabe des Sündenbekenntnisses ist, dann kann das Bekenntnis aus logischen (und nicht nur empirischen) Gründen nicht aus einer Reflexion auf die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit der eigenen Taten resultieren. Das Bekenntnis der Sünde, in dem die völlige Unfähigkeit zum Guten bekannt wird, muß ein anderes Maß besitzen als die faktische Differenz von Sein und Sollen. Aber erst im Spiegel dieses Bekenntnisses wird klar, was die Sündenvergebung im reinen und umfassenden Sinn bedeutet. Im Bußsermon von 1519 ist diese Überlegung noch nicht in den Vordergrund getreten. In der Freiheitsschrift 1520 etwa findet sich die auch weiterhin tragende Vorstellung für das Maß des Sündenbekenntnisses: es ist das Gesetz, „das der mensch drynnen sehe sein unvermuegen zu dem gutten und lerne an yhm selbs zu vortzweyffeln“.8 Diesem so funktional bestimmten Gesetz korrespondiert das Evangelium (oder die Verheißung oder Zusage): „glaub in Christum, yn wilchem ich dir zusag alle gnad, gerechtickeyt, frid und freyheyt“.9 Zwischen die Verzweiflung am Gesetz und die Freiheit aus der Verheißung aber tritt, aus menschlicher Perspektive gesehen: nichts, aus Gottes Perspektive betrachtet: Gott selbst. Damit aber zeigt sich das Problem, die Rolle des Gesetzes zu bestimmen. Denn das Gesetz dient einmal dazu, im Menschen Reue zu bewirken; eine Reue, die, an den eigenen Taten gemessen, nie umfangsmäßig vollständig sein kann. Erst darüber hinaus wird das Gesetz zum Maßstab des Sündenbekenntnisses, in dem der Sünder seine völlige Unfähigkeit zum Guten eingesteht und damit auf alle Versuche der Selbsterlösung verzichtet. Und dieser Wirkung des Gesetzes bedarf es, damit das Evangelium oder die Verheißung die reine Gottesbeziehung der Vergebung zur Geltung bringt. Der erste Sinn des Gesetzes ist demnach sein Gebrauch als moralischer Leitfaden; der zweite seine Wirkung als Maß eines vernichtenden Urteils; und eben darin steckt die negative Teleologie des Gesetzes aufs Evangelium. Allerdings ist der Übergang von jenem ersten Sinn zu dieser zweiten, entscheidenden Wirkung kontingent; jedenfalls entzieht er sich jedem humanen Umgangsvermögen mit dem Gesetz. Diese mehrfache Kontingenz im Gesetzesbegriff wird im Bußsermon noch aktualistisch überspielt, indem die ganze Aufmerksamkeit auf das lautwerdende Absolutionswort und den dieses ergreifenden Glauben eingestellt ist. In den antinomistischen Streitigkeiten Ende der 8 9
WA 7; 23, 34f. WA 7; 24, 12f.
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1530er Jahre aber kommt die logische Unklarheit im Gesetzesbegriff zum Austrag. Sie zeigt sich vor allem dann, wenn die Auskunft, das Gesetz gehe eben auf Gott als Gesetzgeber zurück und sei über seinen Willen im Sinne einer negativen Teleologie mit dem Evangelium verbunden, nicht mehr befriedigt. Es ist abermals der Begriff der Buße, an dem diese Bestimmungsschwierigkeit des Gesetzes thematisch wird. Die antinomistische Kritik an Luther führt ins Feld, daß das Gesetz in der Kirche nicht mehr zu lehren sei, da es doch (aufgrund der rein negativen Teleologie auf das Evangelium hin) für die Rechtfertigung unbedeutend sei; vielmehr müsse die Buße als die richtige, das Heil erwartende Einstellung auf das Evangelium aus der Konfrontation mit dem Evangelium selbst gewonnen werden. Dieser Konsequenz widerspricht Luther in schärfstem Ton; denn wer das Evangelium zur Meßlatte des Verhaltens machen will, verwendet es selbst als Gesetz, so daß mit dem Abtun des Gesetzes auch das Evangelium verloren geht. In gewisser Weise jedoch ist Luther genötigt, dieser Kritik auch zuzustimmen; jedenfalls insofern, als er zugibt, daß die Buße, die aus dem Gesetz allein resultiert, im Sündenschmerz sich vollendet – und daß das in der Buße vorhandene bonum propositum, nämlich die Vorstellung von einem durch die Buße hindurchgegangenen gottentsprechenden Leben, allein Resultat des Evangeliums ist.10 Damit spitzt sich die Frage darauf zu, wodurch es denn zu einer nicht nur in der Negativität des Sündenschmerzes versinkenden Judasbuße kommt, sondern zu einer in der Vergebung der Sünden sich vollendenden Petrusbuße kommt. Hier gibt Luther die wenig befriedigende Antwort, daß es eben der Geist Gottes sei, der auf diese Weise im Gesetz wirke, weil das Gesetz doch mit dem Finger Gottes geschrieben sei.11 In gewisser, wenn auch sinnwidriger Weise zieht Luther damit eine Funktion des Evangeliums ins Gesetz hinein. Es ist offensichtlich: Einerseits liegt Luther alles daran, die soteriologische Diskontinuität von Gesetz und Evangelium aufrecht zu erhalten. Andererseits kommt er nicht darum herum, Auskunft zu geben über die verborgene Teleologie zwischen beiden. Und offensichtlich ist auch, daß der Ausgleich dieser Absichten nicht gelungen ist. Nun gibt es in den Antinomerdisputationen noch eine andere Argumentationslinie. Sie operiert nicht mit der soteriologischen Konstitutionsdifferenz, sondern mit einer christologisch-anthropologischen Gestaltungskontinuität. Danach ist das Gesetz auch nach der befreienden
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„Poenitentiae prior pars, scilicet dolor, est ex lege tantum. Altera pars, scilicet propositum bonum, non potest ex lege esse.“ WA 39/I; 345, 22f. „[…] et hoc falsum est, quod sine Spiritu sancto arguat lex peccatum, cum lex sit scripta digito Dei.“ WA 39/I; 349,23f.
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Wirkung des Evangeliums notwendig, solange wir in unserem Leibe leben, und das gilt offenbar deshalb, weil wir unser Handeln bestimmen müssen.12 Diese Einbildung des Glaubens ins Handeln geht zurück auf die Vorstellung von einer sukzessiven und umbildenden Wirkung der Auferstehung Jesu Christi. „Insoweit Christus in uns auferstanden ist, insoweit sind wir ohne Gesetz, Sünde und Tod. Insoweit er aber noch nicht in uns auferstanden ist, insoweit sind wir unter Gesetz, Sünde und Tod.“13 Hier herrscht die Vorstellung eines graduellen Fortschritts auf prinzipieller Basis. Der Sinn der Unterscheidung dieser Argumentationsebenen ist klar. Es geht einmal darum, die Reinheit der Gottesbeziehung gegenüber aller menschlichen Beimischung festzuhalten; das motiviert den Gegensatz von Gesetz und Evangelium. Es geht sodann darum, daß sich die durch das Evangelium und die mit ihm verbundene Sündenvergebung ausgelöste Freude nun auch im Handeln selbst zur Darstellung bringt. Daher kommt die graduell-kontinuierliche Vorstellung eines christlich frommen Lebens. Klar ist auch, daß der Fortschritt des frommen Lebens nicht durch Forderungen oder Vorgaben des Gesetzes vorangetrieben werden kann, sondern nur durch die stets neue Freude über die vergebene Sünde. Wie das aber geschieht – und zwar so, daß die Regelmäßigkeit des Handelns mit der Empfindung der Freude verbunden bleibt –, dafür gibt es keine befriedigende theoretische Auskunft bei Luther. Statt dessen wird das Problem des Zusammenhangs im Vollzug der Verkündigung durch den Vorgang der anredenden Bestimmung praktisch nivelliert. Als Hintergrund für deren Gelingen aber scheint die göttliche Auktorialität sowohl für das Evangelium wie für das Gesetz unverzichtbar. Wenn diese Annahme nicht mehr unmittelbar plausibel ist, dann taucht die höchst unbefriedigende Alternative von Supranaturalismus oder Moralismus auf, also die Gewißheit des Glaubens entweder jenseits des humanen Selbstbewußtseins und unter Negation von dessen elementarer Bedeutung für menschliches Sichverstehen behaupten zu müssen – oder aber das Gesetz für grundlegend zu erachten, sei es als antithetischer Verweis aufs Evangelium oder als moralische Grundform aller Religion. Für diese in der Nachfolge der Reformation in der Tat auftretende Alternative hat Schleiermacher in seiner Lehre von der Wiedergeburt und der Rechtfertigung einen weiterführenden Vorschlag unterbreitet.
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„Ita piis eadem [=lex] est posita, quatenus nondum morti sunt et in carne adhuc vivunt.“ WA 39/I; 356, 5f. WA 39/I; 15–18.
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2. Wiedergeburt, Bekehrung und Rechtfertigung Schleiermachers Fortführung der reformatorischen Grundeinsicht zeichnet sich zunächst dadurch aus, daß sie sich eines komplexen Begriffs vom Selbstbewußtsein bedient, der hier im Anschluß an den §5 der Glaubenslehre als die Einheit von sinnlich bestimmtem und unmittelbarem Selbstbewußtsein bezeichnet werden soll.14 In der sinnlichen Bestimmung des Selbstbewußtseins realisiert sich seine Welthaftigkeit, nämlich im Leibe auf Eindrücke der Welt rezeptiv bezogen zu sein, sich aber auch aktiv auf Zustände der Welt beziehen zu können. Die eigentümliche Stellung des Menschen in der Welt, aber auch als Wesen der Freiheit der Welt gegenüber, ist darin jedoch noch nicht erfaßt. Dafür ist bekanntlich das unmittelbare Selbstbewußtsein das Indiz, das als Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit auszulegen ist. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Bestimmungen im Begriff des Selbstbewußtseins ist als ein kategoriales Zugleich zu beurteilen; ein Hervorgehen des einen aus dem anderen kann es nicht geben. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, daß eine entsprechende Klarheit im Verständnis dieses Unterschieds und dieser Beziehung errungen wäre, ebensowenig wie eine klare Bestimmung des Handelns, das aus diesem Selbstbewußtsein hervorgeht. Beides hängt vielmehr ab von der Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewußtseins oder des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls. Aus dieser Einsicht entstehen zwei Fragen. Einmal: Wie läßt sich eine solche Bestimmtheit begrifflich fassen? Offenbar gar nicht anders als so, daß in das Verhältnis der beiden Seiten des Selbstbewußtseins die erforderliche Eindeutigkeit von Unterscheidung und Zusammengehörigkeit einzieht. Nun läßt sich leicht sehen, daß eine solche Eindeutigkeit genau darin besteht, sich als Wesen der Freiheit in der Welt zu verhalten – und das so, daß nicht länger Momente der Weltabhängigkeit ins Verhältnis der schlechthinnigen Abhängigkeit als dem Grund der Freiheit eingeschoben werden. Die Bestimmung des Verhältnisses von sinnlichem und unmittelbarem Selbstbewußtsein kann, wenn beide immer gemeinsam auftreten, nur unter Voraussetzung ihrer Koexistenz und ihrer Bestimmungsbedürftigkeit vorgenommen werden.
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„Niemand kann sich auch in einigen Momenten ausschließend seiner Verhältnisse im Gegensaz und in andern wiederum seiner schlechthinigen Abhängigkeit an und für sich und im allgemeinen bewußt sein, sondern als ein im Gebiet des Gegensazes für diesen Moment schon auf gewisse Weise bestimmter ist er sich seiner schlechthinigen Abhängigkeit bewußt. Dieses Bezogenwerden des sinnlich bestimmten auf das höhere Selbstbewußtsein in der Einheit des Momentes ist der Vollendungspunkt des Selbstbewußtseins.“ Der christliche Glaube2, KGA I/13, 1; 46.
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Das führt auf die zweite Frage, nämlich: Wie vermittelt sich solche Bestimmtheit tatsächlich? Eine derartige Bestimmung in der Form von Lehre oder von äußerer Anleitung vorzunehmen, kann nicht ausreichen, weil diese noch ganz im Modus des Sollens verbleiben, das mit dem Gegensatz behaftet ist; allein eine Gestalt gelebten Lebens könnte die erforderliche Klarheit vermitteln – und zwar dadurch, daß die Lebensform eines Menschen aufgrund der ihr innewohnenden Klarheit sich selbst verbreitet. Das ist der sachlich unausweichliche Grund dafür, daß es für Schleiermacher zur rechten Bestimmtheit der elementaren Verhältnisse des Selbstbewußtseins auf die Person Jesu Christi ankommt, sofern in seinem – historisch gesehen: kontingenten – Leben eben diese begrifflich rechte Ordnung faktisch gelebt wird. Die Lebenseinheit Christi besteht genau darin, daß er in seinen welthaften Lebensbezügen stets ganz und rein aus dem Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit, das heißt aus seiner Beziehung zu Gott, lebt und handelt. Ganz im Vertrauen auf Gott in der Welt frei handeln – das macht aber, reformatorisch verstanden, das Wesen des Glaubens und damit das Wesen des Christentums aus. Dieser Glaube vermittelt sich, wie nun exakt zu verstehen ist, allein durch die Aufnahme in die Lebensgemeinschaft Christi, das heißt in diejenige aus seinem Leben selbst herkommende, aufgrund ihrer Wahrheit unerschöpflich kräftige Ordnung des selbstbewußten Lebens. Der Weg dieser Vermittlung ist das Wort, also die gehaltvolle Kunde von gelebtem Leben, durch die sich eine Person selbst darstellt, indem sie etwas mitteilt. Das Wort demnach vergegenwärtigt die Bestimmung, die in einer Person vorliegt – auf eine Weise, daß sie selbst als bestimmend gedacht werden kann. Dementsprechend behandelt Schleiermacher dann auch in den §§106–112 der Glaubenslehre Wiedergeburt und Heiligung als die Formen der Aufnahme in die Lebensgemeinschaft Christi im unmittelbaren Anschluß an die Ausführungen zur Person Christi. Auf die Wiedergeburt kommt es hier besonders an, in der Schleiermacher Bekehrung und Rechtfertigung unterscheidet. Für die Rekonstruktion gehen wir am besten davon aus, daß wir – mit einem Ausdruck Schleiermachers gesagt – in Lebensformen leben.15 Darunter ist der Komplex von Einstellungen und Haltungen zu verstehen, die unsere Lebensführung bestimmen. Zur Lebensform gehören also auch Kommunikationen über Regelmäßigkeiten des Handelns und Erwartungen des Verhaltens, ebenso wie Gefühle und Stimmungen. Im darstellenden und mitteilenden Wort nun vergegenwärtigt sich die Lebensgestalt Christi in der Weise, daß der lebendige Eindruck seiner Person unsere Lebensform berührt. Das hat – aufgrund der Verfaßtheit sei15
Der christliche Glaube2, §107 Leitsatz, KGA I/13, 2; 168.
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nes Lebens – bei uns die Konsequenz, daß sich unsere Lebensform ändert; denn aus seinem Leben erfahren wir die uns überzeugende Bestimmung unseres Lebens, wie wir soeben aus den Überlegungen zum Begriff des Selbstbewußtseins sahen. Dieser Übergang der Lebensform ist das, was Schleiermacher mit Wiedergeburt meint. Der Vorgang läßt sich so veranschaulichen: In der Begegnung mit der Lebensgestalt Christi verliert unsere frühere Lebensform ihren prägenden Charakter; wir handeln nicht mehr ihrem Muster entsprechend. Dieses Aufhören der Handlungsbestimmung erzeugt einen Nachklang im Gefühl, der sich als Reue spürbar macht. Und die Aussicht auf neue Handlungsbestimmung führt eine gefühlsmäßige Entsprechung in Form von Verlangen mit sich; ein Verlangen, das in negativer Bestimmung darauf sieht, nicht mehr so wie früher zu handeln; und das in positiver Absicht darauf aus ist, nach der neuen Bestimmung praktisch zu werden. Im Übergang der Bestimmungen gibt es also so etwas wie einen gefühlsmäßigen Überlappungsbereich von Reue und Verlangen (dolor und bonum propositum als Elemente der Buße, in Luthers Terminologie), gewissermaßen ein momenthaftes Übergehen, in dem sich die beiden Zustände überlagern, ohne daß dazwischen eine reale Unterbrechung des Beisichseins des Selbstbewußtseins statuiert werden müßte. Buße und Glaube heißen diese beiden aneinander anschließenden Zustände in der Terminologie Schleiermachers, die zusammen die Bekehrung ausmachen.16 Wie kommt es zu dieser Neubestimmung durchs Wort, also zum Glauben? Einmal und elementar durchs Hören als die spezifische leibseelische Rezeptionsaktivität, die in der Lage ist, Laute als Sinnträger zu identifizieren. Auch insofern ist die leibseelische Aktivität des Lebensvollzugs nicht zu negieren. Doch kann sie ja nicht den Inhalt des Gehörten erzeugen, den sich selbst im Wort Vergegenwärtigenden erschaffen – so wenig die semantische Dimension aus der syntaktischen zu generieren ist. Vielmehr wohnt der menschlichen Mitteilung die Wirksamkeit Christi selbst inne.17 Allerdings wird das, was gehört wird, sofort als Bestimmung der neuen Lebensform verwertet. Christi reines Leben aus Gott übersetzt sich, wo das Wort in seiner vergegenwärtigenden Gestalt gehört wird, ipso facto in die Bestimmung des Handelns. Denn es ist ja gerade die Figur der Lebensform, die den Zusammenhang zwischen einer Bestimmung des Handelns und dem bestimmten Handeln selbst festhält.
16 17
Ebd., 176–180. „Die Wirksamkeit Christi ist also hier nur in der menschlichen Mittheilung des Wortes, aber nur in der dieser, sofern sie das Wort Christi fortbewegt, einwohnenden göttlichen Kraft Christi selbst“. Ebd., 187.
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Der Begriff der Lebensform also kann als funktionales Äquivalent für den Begriff des Gesetzes angesehen werden. Er umreißt menschliches Leben als regelhaft (ohne Regeln inhaltlich festzulegen), als kommunikationsbedürftig, als gefühlsträchtig. Er ist insofern reicher und realistischer als der Gesetzesbegriff, der nur schwer von den Konnotationen Sollen und Scheitern und Strafe zu befreien ist. Der Begriff der Lebensform kann darum auch den Vorgang von Wiedergeburt empirisch veranschaulichen helfen. Denn er kann anknüpfen an Empfindungen, die mit jeder Lebensform verbunden sind; einerseits die Selbstverurteilung angesichts eigener Schlechtigkeit, andererseits die Eindrücklichkeit und Vorbildlichkeit positiv gelungen gelebten Lebens. Erst durch das Einbezogenwerden in die Lebensgemeinschaft Christi aber gewinnen diese insoweit noch unbestimmten Gefühle von Reue über das Schlechte und Anziehung durch verwirklichtes Gutes ihren präzisen Sinn und damit ihre heilvolle Wirkung.18 Was Schleiermacher am Begriff der Wiedergeburt vorführt, ist nichts anderes als die Reflexion, die sich vom Einbezogenwerden in die Lebensgemeinschaft Christi auf das sinnlich bestimmte Selbstbewußtsein richtet. Darin zeigt sich, daß an die Stelle der Reue als massives Unlustempfinden die Freude als Ausdruck der Gottverbundenheit tritt. Genau diesen Wechsel der Stimmungen hatte aber auch Luther als Indiz und Kriterium der reinen unmittelbaren Gottesbeziehung reklamiert. Eben dieser Wechsel des Gefühls verlangt nun aber auch zur anderen Seite hin reflektiert zu werden, nämlich auf die Bestimmtheit des (das Handeln bestimmenden) unmittelbaren Selbstbewußtseins; andernfalls fehlen der Lebensform des Glaubens und dem ihm entsprechenden Lebensverständnis Klarheit und Standfestigkeit. Denn im Wandel der Lebensform dokumentiert sich nicht weniger als ein verändertes Gottesverhältnis. Das wird von Schleiermacher unter den Begriff Rechtfertigung gefaßt.19 Zwei Aspekte kommen hier in den Blick, die sachlich zu unterscheiden sind, so sehr sie zeitlich ineinander liegen. Einmal gilt es festzustellen, daß die neue Orientierung des Lebens durch das reine Gottvertrauen in der Lebensgemeinschaft Christi alle alten Fehlorientierungen des Handelns aufhebt. Angesichts der Reinheit des Gottesverhältnisses kommen die in anderen Lebensformen virulenten Verkehrungen – sich nämlich von Weltlichem schlechthin abhängig zu machen – nicht mehr als hinderlich in Betracht; ja, auch alle späten Nachwirkungen auf die neue Handlungsgewißheit werden schlichtweg abgeschnitten. Genau
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Ebd., 179. Ebd., §109, 191–202.
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das ist es, was unter Sündenvergebung verstanden wird.20 Diese Sündenvergebung jedoch ist nur der negative Ausdruck der positiven Neubestimmung, die in der Gleichgestaltetheit mit der Lebenswirklichkeit Christi Gotteskindschaft heißt.21 Die durch Christus in die Welt gebrachte Einheit des Lebens mit Gott ist die neue, durchgängig bestimmte Lebensform, die ganz aus Gott und darum in der Welt frei lebt. Es zeigt sich hier, daß dieses reine Gottesverhältnis abermals nur in seiner Auswirkung auf die Lebensform zu fassen ist; das schließt aber nicht aus, sondern fordert geradezu, daß die Bestimmtheit des neuen Lebens auch tatsächlich auf Gott zurückgeführt wird. Diese anfängliche und durchgreifende Bestimmung menschlichen Lebens zur Gotteskindschaft ist nun nichts anderes als das Evangelium im reformatorischen Sinne. Das Evangelium besitzt gegenüber dem Gedanken der Lebensform die Sinnpriorität – und zwar gerade darin, daß es die Lebensform in sich integriert. Christus ist – als Erlöser – die Ausführung des einen göttlichen Ratschlusses für die Neuschöpfung der ganzen Menschheit auf Erden. Und die Rechtfertigung ist nichts anderes und nichts weniger als die durchgreifende und vollständige Bestimmung des menschlichen Personseins oder des leibhaft konkreten humanen Selbstbewußtseins durch Gott in der individuellen lebensgeschichtlichen Besonderheit. Freude und Friede sind dann die Gefühle, die sich mit diesem neuen Leben verbinden: Indikatoren der vergebenen Sünde und der Annahme durch Gott.
3. Weiterbildung der Reformation Zwei Merkmale stechen in der Weiterbildung reformatorischer Theologie durch Schleiermacher hervor. Einmal ist es die funktionale Umformung des Gesetzesbegriffs durch den der Lebensform. Die Vorzüge liegen auf der Hand, insofern auf die Fiktion einer göttlichen Ursächlichkeit von positiven Gesetzen ebenso verzichtet werden kann wie auf die Konstruktion eines natürlichen Gesetzes; wesentlich schlüssiger läßt sich in diesem Konzept auch das Verhältnis von „weltlichem“ und „geistlichem“ Gebrauch des Gesetzes rekonstruieren, da mit der Konstanz der Bestimmung des Handelns aus der Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewußtseins gerechnet werden kann. Das zweite Merkmal ist die entschlossene Zuordnung Christi zu dem einen göttlichen Ratschluß für die Welt; das hat, wollte man es in reformatorischen Sprachgebrauch kleiden, die Vorordnung des Evangeliums vor das Ge20 21
Ebd., 193f. Ebd., 195.
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setz zur Folge, wobei allerdings der Begriff des Evangeliums – ebenso wie der des Gesetzes, wie wir sahen – eine andere, noch grundlegendere Fassung gewinnt. Fragt man nach dem Motiv, das Schleiermacher zu solchen Umstellungen bewogen haben mag, dann wird man ein solches darin sehen können, daß er, damit den Spuren der Reformation folgend, die Rettung des Menschen durch Gott am Innersten des Menschsein auszuweisen sich bemühte, dies aber auch an den Begriff Gottes selbst binden wollte. Nach Schleiermacher auf Luther zurückzugehen, das versteht sich nach diesen Überlegungen dann – anders als es noch bei Gerhard Ebeling scheinen mochte – keineswegs von selbst, sondern bedarf einer Begründung. Der Verweis auf das „Wort“ allein reicht nicht aus.22 Eine weitergehende Begründung kann möglicherweise durchaus gegeben werden; nur müßte sie sich eben ihrerseits als vertiefende Fortbildung des evangelischen Christentums in der Moderne plausibilisieren lassen.
22
Siehe oben, Anm.1.
Theologie auf historisch-religionsphilosophischer Grundlage Ernst Troeltschs Schleiermacherinterpretation in historischem Kontext VON JOHANNES ZACHHUBER/OXFORD
Das Verhältnis Ernst Troeltschs zu Friedrich Schleiermacher ist in den letzten Jahren mehrfach dargestellt worden.1 Die zahlreichen Bezugnahmen auf Schleiermacher in Troeltschs umfangreichem und schwer überschaubarem Werk sind im Wesentlichen zusammengestellt und auf die ihnen zu Grunde liegende Schleiermacherinterpretation befragt worden. Überblickt man diese Stellen, dann kann man ohne ungebührliche Vereinfachung zwei grundlegende Feststellungen treffen: Auf der einen Seite ist unbestritten und unübersehbar, dass Troeltsch immer wieder ausdrücklich auf Schleiermacher zu sprechen kommt, seinen eigenen Standpunkt in Kontinuität zu dem Schleiermachers beschreibt und Letzteren so – bei aller Zeitgebundenheit, die dann auch zur zuweilen scharfen und fundamentalen Kritik Anlass gibt – als einen nach wie vor aktuellen, in seinen Grundannahmen paradigmatischen Klassiker der modernen protestantischen Theologie voraussetzt. Schleiermacher erscheint in diesem Sinn als eminent wichtiger Bezugsautor für Troeltsch.2
1
2
W.E. Wyman: The Concept of Glaubenslehre. Ernst Troeltsch and the Theological Heritage of Schleiermacher, Chico, CA 1983; H.-H. Tiemann: „Wesen und Wert“ als religionsphilosophische Grundrelation bei Schleiermacher, Troeltsch und Süskind, Diss., Tübingen 1988; D. Korsch: Identité et intégration. Le rapport entre religion et culture dans l’interprétation troeltschienne de Schleiermacher, in: Histoire et théologie chez Ernst Troeltsch, hg. v. P. Gisel, Genf 1992, 41–61. H. Ruddies: „Das große Programm aller wissenschaftlichen Theologie“. Bemerkungen zur SchleiermacherRezeption Ernst Troeltschs, in: 200 Jahre ‚Reden über die Religion‘. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft, Halle 2.–17. März 1999, hg. v. U. Barth u. C.-D. Osthövener, Berlin/New York 2000, 748–769. Am bekanntesten ist der Schlusspassus in: E. Troeltsch: Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft, in: ZWTh NF 16 [51] (1908/09), 97–135 (überarbeitet abgedruckt in: Gesammelte Schriften II, 193–226), wo das Wort fällt,
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Ebenso deutlich freilich ist eine andere Seite der Troeltsch’schen Schleiermacherrezeption. So viele gut zitierbare Pauschalaussagen über Schleiermacher, dessen Theologie und deren gegenwärtige Relevanz man bei ihm findet, so wenig begegnet man in größerem Umfang detaillierten Auseinandersetzungen mit Gedanken oder Konzepten des Berliner Theologen. Hinweise auf spezifische Texte fehlen oft ganz, oder sie erstrecken sich auf Angaben ganzer Werke;3 genauere Bezüge müssen divinatorisch erschlossen werden. Hinzu kommt, dass fast alle Aussagen Troeltschs im Modus thetischer Behauptung gehalten sind; kaum einmal erfährt man, warum aus seiner Sicht Schleiermacher für diese oder jene Entwicklung in Anspruch genommen wird oder werden sollte. Kurz, alle einschlägigen Texte bei Troeltsch zeugen von der Großzügigkeit der Perspektive, die man sich vielleicht erlauben muss, wenn man in wenigen Sätzen geistesgeschichtliche Linien vom 16. Jh. bis in die Gegenwart des frühen 20. zieht, die jedoch den mehr erdgebunden an wirkungsgeschichtlichen Fragen interessierten Forscher an seinem Objekt verzweifeln lässt. Hier mag sicherlich auch eine für Troeltsch typische Arbeitsweise zum Ausdruck kommen, aber doch nicht nur das: Man muss sich nur zum Vergleich die intensiven Auseinandersetzung vor Augen halten, die Troeltsch mit Zeitgenossen wie Herrmann und Rickert,4 aber auch mit einem Klassiker wie Kant ausgetragen hat.5 Eine derartige Beschäftigung mit Schleiermacher hat Troeltsch seinen Quasischülern Wehrung und Süskind überlassen.6
3
4
5
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Schleiermachers Programm bleibe „das große Programm aller wissenschaftlichen Theologie“ (GS II, 226; vgl dazu aber unten Anm. 20). Vgl. die pauschalen Verweise auf den „späten, kirchlichen Schleiermacher“ einerseits, die ‚Reden‘ andererseits in: E. Troeltsch: Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben, Tübingen 1911 = ders.: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte. Und zwei Schriften zur Theologie, Gütersloh 21985, 132–162, hier: 138 und 158f. Vgl. für Herrmann vor allem: E. Troeltsch: Grundprobleme der Ethik. Erläuterungen aus Anlass von Herrmanns Ethik, in: ZThK 12 (1902), 44–94 = ders.: Gesammelte Schriften, Bd.2, Tübingen 21922 (ND Aalen 1962) (im Folgenden: GS II), 552–672; für Rickert: Moderne Geschichtsphilosophie, in: Theologische Rundschau 6 (1903), 1–18 = GS II, 673–728. Zentral in seiner philosophischen Dissertation: E. Troeltsch: Das Historische in Kants Religionsphilosophie. Zugleich ein Beitrag über Kants Philosophie der Geschichte, Berlin 1904. G. Wehrung: Der geschichtsphilosophische Standpunkt Schleiermachers zur Zeit seiner Freundschaft mit den Romantikern, Straßburg 1907; ders., Die philosophischtheologische Methode Schleiermachers. Eine Einführung in die Kurze Darstellung und die Glaubenslehre, Göttingen 1911; H. Süskind: Christentum und Geschichte bei Schleiermacher, Tübingen 1911. Vgl. Troeltschs Appropriation dieser Werke in einer Anm. zur 2. Aufl. der Absolutheitsschrift 1912 (Troeltsch: Absolutheit, a.a.O. [Anm. 3], 34f.).
Theologie auf historisch-religionsphilosophischer Grundlage
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Das Gesamtbild ist also widersprüchlich: Dem Eindruck paradigmatischer Bedeutung Schleiermachers für Troeltsch steht derjenige einer gewissermaßen ‚durchaus zerstreuten‘ Beschäftigung mit seinem großen Vorgänger gegenüber. Dieser Zwiespalt bringt nun nicht unerhebliche Probleme mit sich. Denn angesichts der ersten Beobachtung und in Anbetracht der exponierten Position sowohl Troeltschs als auch Schleiermachers in der neueren Theologiegeschichte scheint eine Präzisierung der Rezeption sowie eine Bestimmung von deren Recht und Grenzen angebracht. Gerade eine solche Präzisierung wird jedoch durch die Art und Weise der von Troeltsch praktizierten Rezeption deutlich erschwert. An den vorliegenden Versuchen wird das Problem deutlich. Entweder man nimmt Troeltschs Positionierungen zum Ausgangspunkt. Dann kann man systematische Stringenz erreichen, legt sich freilich von vornherein auf Troeltschs eigene Sichtweise (die bekanntlich nicht zuletzt eine Teleologie der eigenen historischen Situation einschloss) fest und ist dieser effektiv im eigenen Urteil verhaftet.7 Alternativ kann man Troeltschs Gesamturteile zu Schleiermacher an den Ergebnissen einer exegetisch arbeitenden Schleiermacherforschung messen. Der Eindruck, der sich dabei ergibt, ist dann der, dass gewissermaßen nicht nur mit verschiedenen Waffen, sondern mit verschiedenen Waffensystemen gekämpft wird: Dem Arsenal einer textbezogenen, philologisch arbeitenden Schleiermacherforschung hat Troeltsch nichts Adäquates entgegenzusetzen, und der regelmäßig geführte Nachweis, dass er Schleiermacher nicht gerecht wird, ist insofern ein leicht errungener und gerade deshalb nicht recht zufrieden stellender Sieg.8 Angesichts dieser unbefriedigenden Alternative will ich im Folgenden von der Überlegung ausgehen, dass Schleiermacher zur Zeit Troeltschs bereits ein Klassiker mit einer beachtlichen Wirkungsgeschichte war. Maßgebliche Theologien jener Zeit – einschließlich derjenigen Ritschls und Lipsius’ – hatten ihr Programm unter ausdrücklichem Bezug, teils affirmativ, teils kritisch, auf Schleiermacher entworfen.9 Jeder dieser Bezugnahmen lag jedoch eine bestimmte Lesart der schleiermacherschen Theologie zu Grunde, die dann in einem sich ständig steigernden Ausstoß von Dissertationen, Habilitationen, Monogra-
7 8
9
Das ist in etwa die Vorgehensweise von H. Ruddies: Programm, a.a.O. (Anm. 1). Das ist das zwiespältige Ergebnis des in seiner Art brillanten Beitrages von H.-J. Birkner: Glaubenslehre und Modernitätserfahrung. Ernst Troeltsch als Dogmatiker, in: ders.: Schleiermacherstudien, Berlin 1996, 63–78, hier: 75–78. Zu Ritschl vgl. unten bei Anm. 28; zu Lipsius: R.A. Lipsius: Studien über Schleiermachers Dialektik, in: Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie 12 (1869), 1–62, 113–154; ders.: Schleiermachers Reden über die Religion, in: Jahrbücher für Protestantische Theologie 1 (1875), 134–184; 269–315.
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phien und Aufsätzen zu Aspekten von Schleiermachers Denken akademisch unterfüttert bzw. angefragt wurde.10 Eine Positionierung gegenüber Schleiermacher an der Wende vom 19. zum 20. Jh. war daher mehr als eine persönliche Auseinandersetzung mit einem etwa 100 Jahre älteren Theologen; sie war immer auch – und vielleicht in manchen Fällen primär – eine Einordnung in eine bereits bestehende Wirkungsgeschichte, eine Positionierung gegenüber verwandten wie rivalisierenden theologischen Strömungen und deren Lesart des Theologen. Nun kann man in einer solchen Einsicht eine Banalität sehen – immerhin gilt sie für jede hier und heute vorgebrachte Schleiermacherinterpretation in zumindest gleicher Weise; sie kann jedoch methodisch hilfreich sein, wo das philologische Studium textbezogener Rezeption wenig greifbare Resultate liefert. In jedem Fall lenkt sie den Blick auf die theologiegeschichtliche Einordnung des Rezipienten, sofern sie annimmt, dass dessen Aufgreifen einer bestimmten Interpretationsweise etwas über seinen eigenen theologiegeschichtlichen Ort aussagt. Konkret will ich daher hier die These vertreten, dass wir Troeltschs Verhältnis zu Schleiermacher verstehen sollten als die Rezeption einer bestimmten Lesart von dessen Theologie und Religionsphilosophie. Ein Blick auf die Geschichte dieser Lesart vor Troeltsch kann, so meine ich, zeigen, aus welchen Motiven sie gewählt wurde, zu welchen Problemen und Aporien sie immer wieder geführt hat und warum das so war. Auf diese Weise leistet diese Einordnung, so hoffe ich, etwas für das Verständnis Troeltschs und auch der Wirkungsgeschichte Schleiermachers. 2. Bevor ich mich jedoch dieser Aufgabe zuwende, muss im Grundsatz geklärt werden, wie sich Schleiermachers Position und Bedeutung aus Troeltschs Sicht darstellt. Wenn man hier Schwankungen im Detail und zahlreiche kleinere Unklarheiten außer Acht lässt, ergibt sich ein recht deutlich strukturiertes Bild, das einigermaßen aussagekräftig ist sowohl für Troeltschs Schleiermacherinterpretation als auch für sein eigenes theologisches Interesse an der durch eine solche Interpretation ermöglichten Bezugnahme. Dies Bild ist im Übrigen kontinuierlich präsent. Es prägt bereits die Ausführungen in ‚Geschichte und Metaphysik‘ (1898) und hält sich dann durch in den diversen Publikationen des ersten Jahrzehnts des 20. Jh., den ‚Grundproblemen der Ethik‘ (1902), dem ‚Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischer Wissenschaft‘ (1908), dem Beitrag zum Band ‚Schleiermacher, der Philosoph des Glaubens‘ (1910), der Studie zur ‚Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben‘ (1911) bis hin zu den Rezensionen der Arbeiten von Süs10
Vgl. die Auflistung bei T.N. Tice: Schleiermacher Bibliography, Princeton N.J. 1966, II. The Schleiermacher Literature, 1800–1964, 71–110, für die Jahre 1870 bis 1918.
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kind und Mulert und der ‚Dogmatik der „religionsgeschichtlichen Schule“‘ von 1913.11 Für Troeltsch präsentiert Schleiermacher im Grundsatz eine Theologie, die auf ein religionsphilosophisches Fundament gegründet ist. Dabei bedeutet Religionsphilosophie hier soviel wie historisch arbeitende Religionsphilosophie oder anders gesagt eine „Geschichtsphilosophie der Religion“.12 Diese findet sich bei Schleiermacher eingetragen in seine kulturphilosophisch konzipierte Ethik, die insofern „seine größte und eigentlichste Gedankenschöpfung“13 ist. Aufgabe dieser religions-geschichts-philosophischen Propädeutik der Theologie ist es, bei Schleiermacher, nach Troeltsch, die Höchstgeltung des Christentums nachzuweisen und so die christliche Theologie als Darstellung der „höchste[n] religiöse[n] Erkenntnis“ auszuweisen. In diesem Sinne bildet sie einen „gemeinsamen Stamm“, der das „historische und das praktisch-religiöse Interesse“ der Theologie miteinander verbindet. Sie gibt beiden die Arbeitsvoraussetzungen, liefert also ein Fundament sowohl für die historische wie für die „praktisch-theologische“ (=dogmatische) Arbeit, die sodann „die wesentlichen Gedanken des Christentums über Gott, Welt und Mensch, ausstrahlend von der zentralen Persönlichkeit Jesu, als erlösende Geisteskraft“ darstellt.14 In diesem für Schleiermacher (wie dann auch für Ritschl und Herrmann) bekanntlich schlechthin zentralen Bezug des Christentums auf Jesus liegt jedoch gleich auch wieder der Fallstrick für diese gesamte Theorie. Denn sowohl dessen historische Existenz, sei sie nun als „Leben Jesu“ oder auch nur als seine Predigt oder Verkündigung gefasst, wie auch dessen kausale Verknüpfung mit dem individuellen religiösen Leben der Christen bereitet aus Troeltschs Sicht dem historischen Denken erhebliche Schwierigkeiten, die jedenfalls von Schleiermacher nicht im Ansatz gelöst werden.15 Vielmehr hat man den Eindruck, dass ge11
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E. Troeltsch: Geschichte und Metaphysik, in: ZThK 8 (1898), 1–64; ders.: Ethik, a.a.O. (Anm. 4); ders.: Rückblick, a.a.O. (Anm. 2); ders., Schleiermacher und die Kirche, in: Schleiermacher, der Philosoph des Glaubens. Sechs Aufsätze, hg. v. E. Troeltsch u.a., Berlin-Schöneberg 1910, 9–35; ders.: Geschichtlichkeit, a.a.O. (Anm. 3); ders.: Rez. von H. Mulert, Schleiermacher-Studien I. Schleiermachers geschichtsphilosophische Ansichten in ihrer Bedeutung für seine Theologie (Studien zur Geschichte des neueren Protestantismus. Drittes Heft), Gießen 1907, in: ThLZ 34 (1909), 277–280 (Gesamtausgabe, Bd.4), hg. F.W. Graf u. G. von Bassermann-Jordan, Berlin/New York 2004 (im Folgenden: GA 4), 563–569; ders.: Rez. von H. Süskind, Christentum und Geschichte (Anm. 6), in: ThLZ 38 (1913), 21–24 = GA 4, 659–666; ders.: The Dogmatics of the „Religionsgeschichtliche Schule“, in: American Journal of Theology 17 (1913), 1–21, dt.: Die Dogmatik der „Religionsgeschichtlichen Schule“, in: GS II, 500–524. Troeltsch: Dogmatik, ebd., 506. Troeltsch: Geschichtlichkeit, a.a.O. (Anm. 3), 140. Troeltsch, Dogmatik, a.a.O. (Anm. 11), 506. Troeltsch, Geschichtlichkeit (Anm. 3), 140.
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rade dieser zentrale Teil der Schleiermacherschen Dogmatik eigentlich überhaupt keine adäquate, historische Untermauerung erfährt, was Troeltsch in bonam partem mit dem vergleichsweise unentwickelten exegetischen und religionsgeschichtlichen Wissensstand im frühen 19. Jh. und den „schmalen historischen Kenntnisse[n] Schleiermachers“ erklärte.16 Troeltsch kannte freilich hier auch eine Interpretation in malam partem, nach der Schleiermacher in der Glaubenslehre seine ursprünglichen, weiter führenden Ansichten der ‚Reden‘ im Sinne einer kirchlichen und insofern faktisch reaktionären, supranaturalistischen Theologie zurückgebogen habe.17 In dieser Perspektive wird Schleiermacher zum Vertreter jener fatalen „Mischform“ zwischen alter und neuer Theologie und zum Ahnherrn der ominösen Traditionslinie „Schleiermacher – Ritschl – Herrmann“, von der Troeltsch sich zunehmend demonstrativ und pointiert distanzierte.18 Die von Troeltsch so genannte „agnostische Religionstheorie“19 dient dort dann der Abschottung gegen modernes wissenschaftliches und insbesondere historisches Denken, eine Abschottung, die freilich, davon ist Troeltsch überzeugt, auf lange Sicht dem Christentum nicht dienlich sein kann. 3. Betrachtet man dieses hier in groben Strichen ausgeführte Bild, dann ist zunächst einmal erstaunlich und bezeichnend, dass derjenige Bestandteil der schleiermacherschen Theologie, der als erster ins Auge sticht und ihre Rezeption und Diskussion sowohl im 19. wie im 20. Jahrhundert maßgeblich bestimmt hat, hier nur eine untergeordnete Rolle spielt. Ich meine die Begründung der Religion in einem bestimmten und spezifischen Akt des Selbstbewusstseins. Das „große Programm aller wissenschaftlichen Theologie“, dieser oft zitierte Satz Troeltschs bezieht sich auf Schleiermachers Konzept einer historischen Religionsphilosophie (zu Recht oder zu Unrecht, das sei hier zunächst dahingestellt) – jedoch nicht auf Schleiermachers Theorie des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls.20 Dieses firmiert vielmehr in der Rubrik „agnostische
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Rez. Süskind, a.a.O. (Anm. 11), 22. Troeltschs betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung von D. Fr. Strauß. In ‚Moderne Geschichtsphilosophie‘ (a.a.O. [Anm. 4]) heißt es, Strauß habe „in seiner vernichtenden Kritik des Schleiermacherschen ‚Leben Jesu‘ ein für immer lehrreiches Mahnzeichen aufgerichtet“ (716). Vgl. auch Troeltsch: Absolutheit, a.a.O. (Anm. 3), 58f.; Troeltsch: Geschichtlichkeit, a.a.O. (Anm. 3), 144. Troeltsch: Geschichtlichkeit, a.a.O. (Anm. 11), 138 und 158; Rez. Mulert, a.a.O. (Anm. 11), 278. Ebd., 138 und passim. Troeltsch: Rückblick, a.a.O. (Anm. 2), 200f. Die Stelle am Ende von Troeltschs ‚Rückblick‘ (a.a.O. [Anm. 2], 225) lautet: „Sehen wir aber genauer zu, so ist die Forderung einer solchen Disziplin [sc. einer historischen Religionsphilosophie] auch schon die Forderung Schleiermachers gewesen, des Mannes, der mit der Trennung der wissenschaftlich-historischen und der praktischvermittelnden Disziplinen die ganze Situation geschaffen und erkannt [sic!] hat. Die
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Religionsauffassung“21 als etwas rein negativ Bestimmtes und zudem keinesfalls spezifisch Schleiermachersches. Es handelt sich da vielmehr, laut Troeltsch, um eine prinzipiell kantsche Neuerung, die Schleiermacher, Ritschl und Herrmann im Wesentlichen übernommen haben.22 Entsprechend bezieht sich Troeltsch bei seinen Arbeiten zum religiösen Apriori – immerhin eine Fragestellung, die derjenigen Schleiermachers nicht ganz fern steht – wiederum auf Kant,23 und es ist sein Schüler Süskind, nicht Troeltsch selbst, der ein Gleichheitszeichen setzt zwischen das religiöse Apriori und Schleiermachers Abhängigkeitsgefühl.24 Der Grund für diese Zurückhaltung ist nicht schwer zu erkennen. Für Troeltsch wird der (vermeintlich durch Schleiermacher autorisierte) Rückzug auf die subjektive Grundlegung der Theologie zu einem Vehikel ihrer unkontrollierten Selbstimmunisierung, wenn nicht gleichzeitig gesehen werde, welche Voraussetzungen Schleiermacher mit diesem Verfahren verbindet. Süskind drückt das im Vorwort seiner durch Troeltsch angeregten Studie so aus: „Allerdings begründet Schleiermacher seine Dogmatik ausschließlich auf die Selbstgewissheit der frommen Erfahrung, aber dies ist ihm nur deshalb möglich, weil er für sich die Voraussetzung in Anspruch nimmt, dass zuvor in der Ethik und Religionsphilosophie für die Wahrheit der Religion und des Christentums die prinzipielle philosophische Begründung geliefert worden ist.“25
Diese Deutung scheint deshalb auch für Troeltsch treffend, weil sie den Zusammenhang aufzeigt zwischen Troeltschs Positionierung zu Schleiermacher und seiner Ablehnung einer fruchtlosen Form von theologi-
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Trennung hatte bei ihm die Voraussetzung einer gemeinsamen Wurzel, die er philosophische Theologie nannte und die wir […] Religionsphilosophie nennen.“ Der Gebrauch des Begriffs Agnostizismus in diesem Zusammenhang ist natürlich polemisch; er greift die päpstliche Antimodernistenterminologie auf (vgl. die Enzyklika ‚Pascendi Dominici Gregis‘, DH 3475). Das ist Troeltsch auch bewusst (Rückblick, a.a.O. [Anm. 11], 200). Zur Kritik seiner Konzeption vgl. H.-J. Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Berlin 1964, 63f. „Es war das schon die Position Kants und Herders und in noch viel höherem Grade Schleiermachers, für die populäre und praktische Religion auch die Position der Hegelianer, die sie nur freilich bei ihrer Verdoppelung der populären Religion durch eine wissenschaftliche praktische sehr unwirksam machten.“ Troeltsch: Rückblick, a.a.O. (Anm. 2) 200. E. Troeltsch: Das religiöse Apriori, in: ThStKr 81 (1908), 139–156. Vgl. F. Werner Veauthier: Das religiöse Apriori. Zur Ambivalenz von Troeltschs Analyse des Vernunftelementes in der Religion: KantSt 78 (1987), 42–63. H. Süskind: Das religiöse Apriori bei Schleiermacher, in: Religion und Geisteskultur 8 (1914), 37–65. H. Süskind: Christentum, a.a.O. (Anm. 6), vi (Hervorh. vom Vf.).
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scher Apologetik, wie er sie in der Ritschlschule und nicht zuletzt bei Wilhelm Herrmann vorzufinden meinte.26 4. Statt dessen steht im Mittelpunkt des positiven Interesses, das Troeltsch an Schleiermacher hat, dessen „ethische“ Fundierung der Theologie, wobei er sich dessen bewusst ist, dass Ethik hier in die Richtung dessen geht, was er selbst historisch arbeitende Religionsphilosophie nennt.27 Angesichts der pointierten Profilierung von Troeltschs Position gegen die Ritschlschule ist nun interessant, dass niemand anderer als Troeltschs Lehrer Albrecht Ritschl die Bedeutung Schleiermachers in ähnlicher Weise nicht in dessen, wie er sagt, subjektivem Religionsbegriff, sondern in dessen Ethik gesehen hat, sofern diese einen geeigneten Geschichtsbegriff hervorbringt, der dann wiederum die religionsphilosophischen Grundlagen der Theologie etablieren kann.28 Hat man die harten Worte Troeltschs über den Supranaturalismus der Ritschlschule im Ohr, lohnt es sich, im Wortlaut zur Kenntnis zu nehmen, was Ritschl am Beginn des dritten Bandes von Rechtfertigung und Versöhnung zu sagen hat: „Die Form der systematischen Theologie ist zunächst an den richtigen und vollständigen Begriff von der christlichen Religion geknüpft. […] Erst mit Hinzuziehung der allgemeinen Religionsgeschichte kann die spezifische Eigentümlichkeit des Christentums ermittelt werden, welche in allen Beziehungen der theologischen Erkenntnis gewahrt werden muß. Dieses Verfahren ist nun erst durch Schleiermacher eingeschlagen worden, und deshalb ist seine Definition der christlichen Religion so bedeutsam auch wenn sie bei genauerem Hinsehen berechtigten Ansprüchen keineswegs entspricht.“29
Das von Troeltsch so genannte „große Programm aller wissenschaftlichen Theologie“ ist also hier zum mindesten annonciert. Auch Ritschl geht es um eine Fundierung der Glaubenslehre auf eine Religionsphilosophie, die in der Lage ist, die Höchstgeltung des Christentums zu erweisen, und auch er beruft sich dafür auf Schleiermacher. Freilich sieht Ritschl den Beitrag, den Schleiermachers philosophisches Geschichtsverständnis leistet, charakteristisch anders als Troeltsch das tun wird.
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Dazu vgl. jetzt: B. Sockness: Against False Apologetics. Wilhelm Herrmann and Ernst Troeltsch in Conflict, Tübingen 1998. Vgl. Troeltschs Charakterisierung von Schleiermachers (philosophischer) Ethik in: ders.: Ethik, a.a.O. (Anm. 4), 565f. Dort auch eine Kritik an Schleiermachers Christlicher Sitte und, im Zusammenhang damit, ein überraschendes Lob für R. Rothe (ebd., 566–570). Für den Kontext bei Ritschl vgl.: J. Zachhuber: Friedrich Schleiermacher und Albrecht Ritschl. Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Theologie des 19. Jahrhunderts, in: ZNThG 12 (2005), 16–46, bes. 25–32. A. Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd.3: Die positive Entwickelung der Lehre, Bonn 31888, 9.
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Das wird deutlich, sieht man sich an, wie Ritschl die Relevanz Schleiermachers kurz charakterisiert: „[…] was ich meine reicht über das Gebiet der Glaubenslehre hinaus. Nämlich Schleiermacher hat die viel allgemeinere Wahrheit festgestellt, daß das geistige, religiöse, sittliche Leben überhaupt nicht außer der entsprechenden Gemeinschaft gedacht werden kann, und daß in der Wechselwirkung mit ihr das Individuum seine eigentümliche Entwicklung findet.“30
Paradigmatisch ist die Bedeutung der Ethik Schleiermachers für Ritschl in ihrem monadischen Begriff von Individualität, der eine qualitative, teleologische Bestimmung diskreter historischer Größen ermöglicht. Dieser Individualitätsbegriff ist vorausgesetzt, so Ritschl, wo Schleiermacher schon in den ‚Reden‘ die Thematisierung „natürlicher Religion“ zugunsten der positiven Religionen verwirft.31 Er – und nur er – ermöglicht ein Entrinnen aus der am Kontinuitäts- und Stetigkeitsgedanken orientierten und insofern für Ritschl letztlich „naturalistischen“ Geschichtsauffassung eines alles relativierenden Historismus.32 Das, was Ritschl hier pointiert ablehnt, ist selbstverständlich nichts anderes als das, was Troeltsch unter dem Stichwort „historische Methode“ als unvermeidliche und selbstverständliche Prämisse historischer Arbeit auch und gerade in der Theologie bezeichnet, die nur durch Inkonsequenz oder mangelnde Aufrichtigkeit so abgeschwächt wird, dass sich die traditionelle Deckung historisch- und praktischtheologischer Annahmen ergibt.33 Es entbehrt also nicht einer gewissem Ironie, dass die tiefste Einsicht, die sich Ritschl aus dem Studium der schleiermacherschen Ethik für die Geschichtsphilosophie ergab, diese
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Ebd., Bd.1: Die Geschichte der Lehre, Bonn 21882, 487f. A. Ritschl: Schleiermachers Reden über die Religion und ihre Nachwirkungen auf die evangelische Kirche Deutschlands, Bonn 1874, 4: „Schleiermacher erklärt, daß die sogenannte natürliche Religion, jener Glaube an Gott und an Unsterblichkeit, welchem die Mehrzahl seiner gebildeten Zeitgenossen anhing, kein ursprüngliches Datum des geistigen Lebens, daß vielmehr die Religion immer nur in den positiven Gestalten der geschichtlichen Religionsgemeinschaften da sei. Diese Wahrnehmung aber hat er aus der Analogie zu seiner allgemeinen Überzeugung gemacht, daß die Menschen ihre Bestimmung in ihrer geistigen Eigentümlichkeit erreichen, indem sie eine Verbindung der allgemeinen Motive des Handelns mit ihren individuellen Anlagen unter den besonderen Bedingungen ihrer persönlichen Bildungsgeschichte vollziehen.“ Vgl. F. Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799, 243f. (hg. G. Meckenstock, Berlin/New York 1999). Vgl. hier auch Ritschls Polemik gegen E. Zeller: Geschichtliche Methode in der Erforschung des Urchristenthums, in: Jahrbücher für deutsche Theologie 6 (1861), 429–459, hier: 444f. Stetigkeit ist tatsächlich eines der Merkmale der ‚historischen Methode‘, die Troeltsch in seinem berühmten Aufsatz nennt (er bezeichnet sie freilich als „Wechselwirkung aller Erscheinungen“): ders.: Über historische und dogmatische Methode in der Theologie (1898), in: GS II, 729–753, hier: 733f.
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aus Sicht Troeltschs für eine ernsthafte und zeitgemäße theologische Wissenschaft geradezu disqualifiziert hätte. 5. Wie dem aber auch sei, klar ist, dass Troeltschs Programmatik einer prinzipiell an Schleiermacher angelehnten Theologie auf religionsphilosophischer Grundlage im Prinzip die Intention Ritschls fortschreibt. Wenn so der Verweis auf Schleiermacher bei Troeltsch ein unausgewiesenes Abhängigkeitsverhältnis zu seinem theologischen Lehrer kaschiert, darf man freilich nicht übersehen, dass sich bei Ritschl selbst praktisch dieselbe Situation vorfindet. Denn Ritschl ist keineswegs der Urheber der hier untersuchten „Lesart“ Schleiermachers; vielmehr verdankt er sie seinerseits keinem anderen als seinem Lehrer Baur, dessen Name freilich seit 1857 fast gänzlich aus Ritschls schriftlichen Zeugnissen verschwindet.34 Für unseren Zusammenhang ist der Rückgang auf Baur deshalb besonders interessant, weil im Vergleich die Gemeinsamkeiten zwischen seiner Lesart Schleiermachers und derjenigen Troeltschs noch frappanter sind als diejenigen zwischen Troeltsch und Ritschl.35 Der Grund ist der, dass Baur wie Troeltsch und anders als Ritschl nicht den Umweg über einen vermeintlich originellen, nicht-positivistischen Geschichtsbegriff bei Schleiermacher wählt, sondern davon ausgeht, dass bei diesem die Programmatik einer historisch-religionsgeschichtlich fundierten Theologie angekündigt und in Andeutungen ausgeführt vorliegt. Für Baurs eigenes Selbstverständnis ist eine solche historisch arbeitende Religionsphilosophie oder Philosophie der Religionsgeschichte fundamental, und sein vielleicht eindrücklichstes Werk, ‚Die christliche Gnosis‘, ist in Gänze ihrer Exposition gewidmet.36 Für Baur besteht das Wesen der Gnosis genau darin, den Begriff der Religion auf der Grundlage des konkreten historischen Materials zu erheben, das in philosophischer Interpretation eine absolute Wertigkeit enthüllt;37 dies Verständnis erlaubt
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Zum Bruch zwischen Ritschl und Baur, der in der 2. Aufl. von Ritschls Entstehung der altkatholischen Kirche (Bonn 1857) quasi offiziell annonciert wurde vgl. die diversen Dokumente, freilich alle aus der Perspektive Ritschls, bei Otto Ritschl: Albrecht Ritschls Leben, 2 Bde, Freiburg 1892–96, hier: II, 271–278. Es gibt gelegentlich Hinweise dafür, dass dieser Zusammenhang Troeltsch selbst durchaus bewusst gewesen ist. Vgl. Troeltsch: Rückblick, a.a.O. (Anm. 2), 203: „Indem dann die Tübinger Schule vor allem diesen [sc. von Strauß vorgegebenen] Impulsen folgte, ist sie die Trägerin der wissenschaftlichen Fortentwicklung geworden. Freilich mussten die dogmatisch-metaphysischen Voraussetzungen dieser Schule erst allmählich zurücktreten, ehe diese Richtung streng verfolgt werden konnte.“ Die dogmatisch-metaphysischen Voraussetzungen, von denen Troeltsch hier spricht, bedürften einer separaten Erörterung. F.C. Baur: Die christliche Gnosis oder die christliche Religions-Philosophie in ihrer Geschichte dargestellt, Tübingen 1835. Ebd., 19 und 21f.
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es ihm, Schelling, Schleiermacher und Hegel ausführlich als moderne ‚Gnostiker‘ zu behandeln – was Baur keineswegs pejorativ meint.38 Was speziell Schleiermacher betrifft, so ist deutlich, dass für Baur die „Lehnsätze“39 der zweiten Auflage der Glaubenslehre eine nicht ausgearbeitete historische Religionsphilosophie darstellen, die darauf abzielt, das Christentum durch Religionsvergleich als „absolute Religion“40 zu erweisen. Der Einfluss Schleiermachers auf diese Konzeption Baurs ist in der Gnosisschrift überdeckt durch Baurs ausdrückliches Bekenntnis zur Hegelschen Philosophie.41 Deutlich stärker im Vordergrund steht er in Baurs dreibändigem Erstlingswerk ‚Symbolik und Mythologie‘ von 1824.42 Denn dieses will nichts anderes sein als ein auf der Grundlage der Hinweise in Schleiermachers ‚Glaubenslehre‘ ausgeführtes System der antiken Religionsgeschichte. Um nochmals auf Troeltschs Wort von Schleiermachers unbearbeitetem „großen Programm aller wissenschaftlichen Theologie“ zurückzukommen: Wenn es ein Werk im 19. Jh. gibt, das diesem Anspruch im Grundsatz entspricht, dann dürfte dies eben Baurs erste große Monographie sein.43
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Unter Bezugnahme auf seine Kontroverse mit Johann Adam Möhler, der dem Protestantismus Gnostizismus vorgeworfen hatte, schreibt Baur: „Ist nur der Begriff der christlichen Gnosis richtig aufgefasst, und der rein ethische Character, welchen der Protestantismus nie verläugnen darf, in ihm anerkannt, so hat er keine Ursache, sich dieser Vergleichung zu schämen“ (ebd., 553; Baur verweist hier auf J.A. Möhler: Symbolik, Mainz/Wien 31834, 243f. Vgl. auch: F.C. Baur: Gegensatz des Katholizismus und Protestantismus, Tübingen 1833, 367f.). Baur steht dieser Umstrukturierung kritisch gegenüber; er erkennt in dieser Modifikation gegenüber der Erstauflage die „vorsichtige Hand“, die jeden Schein abwehren will, als werde die Philosophie über das Christentum gestellt (Baur: Gnosis, a.a.O. [Anm. 36], 634). So ausdrücklich Baur, ebd., 633. So schreibt Baur zu Beginn, seinem Verständnis der Gnosis sei die „neueste Religions-Philosophie“ (d.h. die hegelsche) „von wesentlichem Nutzen gewesen“ (ebd., viii). F.C. Baur: Symbolik und Mythologie. Oder die Naturreligion des Alterthums, 3 Bd., Tübingen 1824. Die Verbindung zu Schleiermacher wird von Baur dann auch ausdrücklich thematisiert in seiner Tübinger Programmschrift zur Gnosis von 1828, die insofern ein Zwischenglied bildet zwischen Symbolik und Mythologie und der Gnosisschrift. Ihr zweiter Teil ist überschrieben: Comparatur Gnosticismus cum Schleiermacherianae theologiae indole. Baur selbst verweist in seinem späteren Gnosisbuch auf diesen Text als Hintergrund seiner umfangreicheren Ausführungen: Baur: Gnosis, a.a.O. (Anm. 36), ix. Dort erwähnt er auch den Protest Schleiermachers gegen seine Interpretation als Gnostiker (vgl. Schleiermacher: Sendschreiben an Lücke, WW I/2, 582, 627f., 636). Zu dem Tübinger Programm und der anschließenden Reaktion Schleiermachers vgl.: G. Fraedrich: Ferdinand Christian Baur der Begründer der Tübinger Schule als Theologe, Schriftsteller und Charakter, Gotha 1909, 77–83.
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Diese Lesart Schleiermachers wird auch in allen folgenden Publikationen Baurs beibehalten. Sie führt dann freilich in strukturell ganz ähnlicher Weise wie bei Troeltsch zu einer kritischen Fokussierung auf Schleiermachers Christologie als auf den Punkt, wo der Durchführung seines Programms die größten Schwierigkeiten erwachsen.44 Denn die Zentralstellung Jesu für den christlichen Glauben, die Schleiermacher als Bestandteil des Wesens des Christentums behauptet, verlange doch nach einem historischen Beweis für die Stichhaltigkeit gerade dieser Behauptung; ein solcher Beweis muss jedoch historisch-religionsphilosophisch geführt werden.45 Die rein innertheologische Behandlung der Christologie in der ‚Glaubenslehre‘ ist für Baur daher ein ebenso erfolgloser, krypto-apologetischer Versuch der Flucht vor den Konsequenzen der eigenen Prämissen, wie es die herrmannsche Interpretation der Zentralität Jesu für Troeltsch ist.46 Hinzu kommt ein weiterer Punkt der Übereinstimmung. Aus zahlreichen Aussagen Baurs wird ganz deutlich, dass für ihn ein solcher Versuch einer Überwindung der Historie durch Historie, so unerlässlich er ist, doch von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Der Versuch, ein religiöses Ideal mit einer historischen Gestalt zur Deckung zu bringen, scheitert nicht an der Qualität individueller historischer oder philosophischer Arbeit, sondern an einem Kategorienfehler, einer hier begangenen metabasis eis allo genos. Insofern hat Baur das Auseinanderfallen des historischen und des idealen Christus bei Schleiermacher wohl konstatiert, gleichzeitig schreibt er jedoch bezeichnender Weise: „Ich bin weit entfernt, der Schleiermacher’schen Glaubenslehre zum Vorwurf zu machen, was die Natur der Sache nicht anders mit sich bringt, aber ebendeswegen, weil dies in der Natur der Sache liegt, hätte der unläugbare Antheil, welchen die Religionsphilosophie an dem ganzen innern Organismus dieser Glaubenslehre hat, offener anerkannt, und das speculative Element von dem historischen in der Darstellung reiner getrennt werden sollen.“47
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Baur: Gnosis, a.a.O. (Anm. 36), 638. Ebd. Dieser Versuch resultiert für Baur u.a. interessanterweise in der unbeabsichtigten und gerade dadurch um so effektiveren Dominanz der Glaubenslehre durch die Lehnsätze: „Die aus der Dogmatik in die Einleitung, gleich einem über die Grenzen getriebenen Feind, verwiesene Religions-Philosophie dringt mit aller Macht in das Gebiet der Dogmatik ein, um trotz aller Protestationen von demselben für sich Besiz zu nehmen, und auf dem Grunde jener Lehnsäze eine Herrschaft zu errichten, die die Dogmatik ihr als Lehnsträgerin unterwirft“ (Baur: Gnosis, a.a.O. [Anm. 36], 657f., Anm. 23). Blickt man auf das in der seither erschienenen Schleiermacherliteratur dokumentierte Interesse, dann scheint Baurs Aussage beinahe prophetisch. Baur: Gnosis, a.a.O. (Anm. 36), 641.
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Nur letzteres, der Verzicht auf eine spekulative Christologie, wird Schleiermacher zum Vorwurf gemacht und ist jedenfalls ein Grund für Baurs Bevorzugung Hegels gegenüber Schleiermacher in den 30er Jahren. Für die radikale Trennungschristologie hingegen gilt, dass sie „die Natur der Sache nicht anders mit sich bringt“. Entsprechend wird sie bei all denen, die sich um eine historische Religionsphilosophie bemühen konstatiert: von der antiken Gnosis bis zu Hegel.48 Ein historisches Individuum lässt sich überzeugend weder mit der idealen Erlösergestalt noch mit der individuellen religiösen Erfahrung der Gläubigen verknüpfen.49 Diese Überzeugung von der Unvermeidlichkeit ihres Scheiterns hat jedoch Baur nicht davon abgebracht, das „große Programm“ eines vereinenden, philosophischen Unterbaus für historische und dogmatische Theologie lebenslang zu betreiben. Das gilt nicht gleichermaßen für seine Schüler, bei denen das Interesse an „voraussetzungslos arbeitender“ Geschichtsforschung und religionsphilosophischer Reflexion zunehmend auseinander fiel. Darauf kann hier nicht eingegangen werden; es ist jedoch wichtig zu sehen, dass Ritschls theologische Programmatik, die ebenso in der Tradition Baurs steht wie Troeltsch in derjenigen Ritschls, als Kritik an der Tübinger Schule artikuliert wurde, sofern diese das Interesse an einer Zusammenführung von historischer und dogmatischer Arbeit aus den Augen verloren hatte.50 In ähnlicher Weise reagiert Troeltsch gegen eine Ritschlschule, die durch Berufung auf
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Besonders charakteristisch heißt es z.B., Christus sei auf der höchsten Stufe hegelscher Erkenntnis „reine Idee, der Geist an sich, und alles, was sich auf die Erscheinung und das Leben Christi bezieht, hat seine Wahrheit nur darin, dass sich in ihm das Wesen und Leben des Geistes selbst darstellt. Was aber der Geist ist und thut, ist keine Historie“ (ebd., 715; Hervorh. vom Vf.). Angesichts von Troeltschs pointierten Hinweisen aus Strauß (vgl. oben Anm. 16) ist die Beobachtung interessant, dass Baur in dieser Hinsicht mit diesem übereinstimmt: Der wahre Christus ist auch für Baur die „mit Gott sich einigende Menschheit“ (Baur: Gnosis, a.a.O. [wie Anm. 36], 721). Vgl. D.F. Strauß: Das Leben Jesu, Tübingen 21837, Bd.2, 739f. Das zeigt sich exemplarisch an dem berühmten literarischen Schlagabtausch zwischen Ritschl und Zeller: Zeller hatte programmatisch von der Tübinger „historischen Schule“ geschrieben und diese praktisch unter Absehung theologischer Interessen dargestellt, was Ritschls faszinierende Replik über das Verhältnis von historischer und theologischer Wissenschaft herausforderte: Anonym [= E. Zeller], Die Tübinger historische Schule, in: HZ 4 (1860), 90–173 (überarbeitet wieder abgedruckt in: E. Zeller: Vorträge und Abhandlungen geschichtlichen Inhalts, 1. Sammlung, Leipzig 21875 294–389); Ritschl: Geschichtliche Methode, a.a.O. (Anm. 32). Der Interpretation von F. Wittekind stimme ich insofern nicht ganz zu: ders.: Geschichtliche Offenbarung und die Wahrheit des Glaubens. Der Zusammenhang von Offenbarungstheologie, Geschichtsphilosophie und Ethik bei Albrecht Ritschl, Julius Kaftan und Karl Barth (1909–1916), Tübingen 2000, 18–43, bes. 19.
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Glaubens- und Werturteile sich meinte von der religionsgeschichtlichen Arbeit dispensieren zu können. 6. Was hat nun dieser Exkurs in die Schleiermacherrezeption seit den 20er Jahren des 19. Jh. für das Verständnis von Troeltschs Bezugnahmen auf den Berliner Theologen gebracht? Zunächst einmal scheint klar, dass Troeltsch eine Lesart Schleiermachers mutatis mutandis fortsetzt, die immer da aufgetreten war, wo vor ihm mit einem ganz ähnlichen programmatischen Interesse Theologie als Wissenschaft betrieben worden war. Konkret geht es Baur und Ritschl ebenso wie Troeltsch selbst um eine adäquate Antwort auf die Herausforderung der Theologie durch die Historisierung des modernen Denkens. Eine solche Antwort kann jedoch, davon sind alle drei überzeugt, nur dann gegeben werden, wenn die Theologie sich einerseits auf diese Herausforderung einlässt, andererseits jedoch über das konzeptionelle Instrumentarium verfügt, um sie tatsächlich zu meistern. Troeltschs Lesart Schleiermachers stellt jenen so in eine Tradition der Schleiermacherinterpretation, die gleichzeitig zumindest einen wesentlichen Aspekt seines Ortes in der Theologiegeschichte bezeichnet. Gleichzeitig ist deutlich, dass mit dieser Programmatik immer wieder ähnliche Probleme verbunden sind. Der Versuch, aus der Welt der Religionsgeschichte, von der jedenfalls für Troeltsch klar ist, dass sie ohnehin nur im umfassenden Rahmen der Kulturgeschichte begriffen werden kann, normative Prinzipien zu erheben, die dann theologisch verwertet werden können, führt in die kategorialen Probleme, die Troeltsch als Gegensatz von historischer und dogmatischer Methode klar benannt hat, die jedoch sachlich schon Baur ebenso klar gesehen hatte. Diese Probleme spitzen sich in dem Maße zu, indem ein solcher Versuch nicht nur eine Rechtfertigung von Religion oder Christentum in einem sehr weiten Sinn, sondern spezifisch der religionsgeschichtlichen Zentralstellung Jesu und seiner einzigartigen Bedeutung für die christliche Religion dienen soll. Es scheint, als könne das avisierte Projekt hier gar nicht anders als aporetisch enden. Der Grund dafür ist einfach zu benennen. Er besteht darin, dass die Arbeitsweise der „voraussetzungslosen“ Historie, die Baur, Troeltsch und andere immer betonen, auf einer impliziten Prämisse basiert, die man positivistisch und dualistisch nennen kann. Sie geht davon aus, dass „Geschichte“ ein Bereich von Tatsachen ist, die „da“ sind und primär entdeckt werden müssen und als solche wert- und sinnfrei sind. Natürlich sind alle theologischen (und viele nichttheologische) Historiker des 19. Jh. keine strengen Positivisten, sondern haben die Absicht, diesen Tatsachen durch eine nachträgliche Interpretation philosophischer oder theologischer Art dann doch wieder Sinn zu verleihen. Jedoch ist diese Sinnzuschreibung eben immer ein sekundärer Akt, der
Theologie auf historisch-religionsphilosophischer Grundlage
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niemals zu einer eigentlichen Einheit von Tatsache und Signifikanz, von Faktizität und Geltung führt – und ebendies verhindert den ultimativen Erfolg der Programme von Baur und Troeltsch. Ritschl sieht hier schärfer, indem er versucht, ein spätidealistisches Geschichtsverständnis zu substituieren, was sich jedoch auf die Dauer nicht gegen die Vehemenz und die anscheinende Evidenz der „vorurteilslosen“ Geschichtswissenschaft behaupten konnte.51 An dieser Stelle liegt denn auch das eigentliche Problem, im Übrigen auch der Schlüssel zur Beantwortung der Frage, wie sich denn all diese Interpretationen zu Schleiermachers eigener Theologie verhalten. Es ist immer wieder darauf aufmerksam gemacht worden, dass und in wiefern Schleiermacher von dieser gesamten Traditionslinie falsch verstanden wurde. Kurz gesagt lautet die Antwort so, dass die hier immer fraglos gesetzten quasi-positivistischen und dualistischen Prämissen bei Schleiermacher so nicht denkbar sind.52 Ebenso wenig wie für Hegel kann es für Schleiermacher eine autonom arbeitende Historie geben. Es ist kein Zufall, dass seine ‚Kurze Darstellung‘ die Philosophische Theologie voranstellt: jegliche historische Arbeit basiert so auf einer nichtempirischen, letztlich spekulativen Grundlage. Das ist, wie gesagt, die kurze Antwort, die – wie ich meine – in ihrer Kürze auch berechtigt ist. Gleichzeitig bin ich mir freilich dessen bewusst, dass die ‚dualistische‘ Lesart Schleiermachers, die spätestens seit Christoph von Sigwart im 19. Jh. die vorherrschende war,53 durchaus einen Anhalt in seinen Texten hat – gerade die Analysen von Sigwarts sind dafür ein beeindruckendes Zeugnis. Und in gewisser Weise war es sicherlich gerade diese Interpretationsmöglichkeit, die Schleiermacher davor bewahrte mit den anderen Sternen des Idealismus unterzugehen. Wie dem auch sei, eine wichtige Geschichte der Schleiermacherinterpretation im 19. Jh. besteht aus einer langen Kette von Versuchen, das an ihm beobachtete Zusammenfallen von historischem und aktuell-religiösem Verständnis des Christentums nachzubilden und weiterzuführen. Tatsächlich schienen diese beiden Pole immer stärker auseinanderzustreben, wie Troeltsch selbst das eindringlich beschrieben hat. Und 51
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Dies ließe sich am Verhältnis Harnacks zu Ritschl zeigen. Anders als bei Troeltsch kommt es bei Harnack nie zu einem eigentlichen Bruch mit der Ritschlschule, und doch bewirkt die historische Arbeit als solche eine zunehmende Entfremdung und nolens volens eine Annäherung an Troeltsch’sche Positionen. Vgl. Zachhuber: Schleiermacher, a.a.O. (Anm. 28), 41–43; E. Herms: Religion, Wissen, Handeln bei Schleiermacher und in der Schleiermacher-Rezeption, in: 200 Jahre ‚Reden über die Religion‘, hg. v. Barth u. Osthövener, a.a.O. (Anm. 1), 142–166. Chr. v. Sigwart: Schleiermachers Erkenntnistheorie und ihre Bedeutung für die Grundbegriffe der Glaubenslehre, in: Jahrbücher für Deutsche Theologie 2 (1857), 267–372; Schleiermachers psychologische Voraussetzungen, insbesondere die Begriffe des Gefühls und der Individualität, ebd., 829–864 (ND beider Texte Darmstadt 1974).
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auch darin ist ihm sicherlich Recht zu geben, dass das Ziel ihrer Zusammenführung nicht aus den Augen verloren werden darf, so wenig es ihm selbst gelungen ist, dazu einen nachhaltigen Beitrag zu leisten. Eine ganz andere Frage ist, ob damit das Hauptinteresse Schleiermachers zutreffend benannt ist. Die Formulierung der Glaubenslehre, dass die „Wahrheit der Notwendigkeit des Christentums“ nicht so sehr bewiesen als vielmehr für den individuellen Christen vorausgesetzt sei,54 ist in der hier betrachteten Tradition immer als ein supranaturalistisches Residuum in Schleiermachers Theologie gesehen worden – schwerlich zu Recht. Schleiermacher sieht vielmehr, dass die Theologie mit der Aufgabe überfordert ist, religiöse Grundlagen zu stabilisieren. Der späte Ritschl und Herrmann haben Schleiermacher hier wohl – gegen Troeltsch – auf ihrer Seite, und die zuweilen sehr harten Worte Troeltschs über Schleiermacher zeigen, dass ihm das auch bewusst war.
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F. Schleiermacher: Der christliche Glaube (1830/31) §11.5, hg. M. Redeker, Berlin/New York 71960 [ND 1999], 83.
Philip Schaff, Church-State Relations, and the Transatlantic World THOMAS ALBERT HOWARD/WENHAM
Introduction In a 2004 „New York Times“ op-ed, ‚Across a Great Divide‘, the respected German journalist Peter Schneider wrote that „the war in Iraq has made the Atlantic seem wider. But really it had the effect of a magnifying glass, bringing older and more fundamental differences between Europe and the United States into focus.“ Among the „fundamental differences“ that Schneider enumerates, religion tops the list – a category that has received too scant attention from students of transatlantic relations. Fortunately, this situation is now changing, as Schneider’s analysis testifies.1 What is more, a handful of historians have begun to plead for greater attention to an area of inquiry that we might denominate as transatlantic comparative religious history.2 In this article, I aim to make a small contribution to this area, approaching it however from the vantage point of someone trained in modern intellectual history. Philip Schaff (1819–1893) is well known to most church historians, especially those in the United States. As a founding member of the Society of Biblical Literature and Exegesis (1880) and the founder and first president of the American Society of Church History (1888), as well as the author, editor and translator of numerous works on theology, biblical interpretation, and church history, Schaff left a legacy that cuts in many directions. It is no exaggeration to suggest that nearly all histo-
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Peter Schneider: Across a Great Divide, New York Times, 12 March 2004. Cf. Gret Haller: Die Grenzen der Solidarität: Europa und die USA im Umgang mit Staat, Nation und Religion, Berlin 2002 and Peter Berger: Religion and the West, in: The National Interest 80 (Summer 2005), 112–19. Hartmut Lehmann: A Plea for the Comparative Study of Religion in a Transatlantic Perspective, in: H. Lehmann: Alte und Neue Welt in wechselseitiger Sicht: Studien zu den transatlantischen Beziehungen, Göttingen 1995, 261–65.
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rians of Christianity in the United States, at some level, owe a debt to this industrious Swiss-German émigré.3 A scholar of the past, Schaff, was also an insightful commentator on contemporary affairs, whether those in the United States or Europe. Taking up permanent residence in the United States in 1844, he traveled back to Europe fourteen times – a remarkable and time-consuming feat for his time. Aware of his unusual vantage point, Schaff often regarded himself as a „bridge maker“, seeking to explain America to Europe and Europe to America in an era, not unlike the present, often marked by mutual suspicion and misunderstanding.4 His contemporaries at the University of Berlin, comparing him to St. Jerome of antiquity, once called him „the Theological Mediator between the East and the West.“5 For all these reasons, I am persuaded that Schaff has a much broader relevance than normally construed: he should be of interest not only to church historians, but to political and intellectual historians, and indeed to anyone intrigued by the myriad transatlantic differences that have pointedly surfaced in recent years. In particular, Schaff’s social location and analytic perspective cast needful light on divergent developments in church-state relations – or, better put, the ordering of religion and public life – between the „Old World“ and the „New World“ in the nineteenth century. While these developments are interesting in their own right, they also lie behind and might help explain many other divisions and misunderstandings between western Europe and the United States today. Whether Schaff can help bridge the „great divide“ that Peter Schneider speaks of remains an open question, but he at least provides an illuminating standpoint to understand its history.
Identity and Education Schaff possessed a rare „transatlantic“ national identity, having lived for significant periods in Switzerland, the United States, and lands of the German Confederation, established in 1815 after the defeat of Na-
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On Schaff’s scholarly legacy, see A Century of Church History: The Legacy of Philip Schaff, ed. Henry W. Bowden, Carbondale 1988 and Thomas Albert Howard: German Academic Theology in America: The Case of Edward Robinson and Philip Schaff, in: History of Universities 18 (2003), 102–23. Hans Rudolf Guggisberg: Philip Schaff’s Vision of America, in: Yearbook of GermanAmerican Studies 25 (1990), 23. Cf. David S. Schaff: The Life of Philip Schaff in Part Autobiographical, New York 1897, 409. See the Congratulatory Address from the Theological Faculty of the University of Berlin, in: Philip Schaff: Historian and Ambassador of the Universal Church: Selected Writings, ed. Klaus Penzel, Macon, Ga. 1991, 343.
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poleon. In Schaff’s ‚Autobiographical Reminiscences‘, written toward the end of his life, he referred to himself as Swiss by birth, German by education, and American by adoption.6 He was born of humble origins in the city of Chur in the confessionally and linguistically complex Canton of Graubünden.7 Orphaned at a young age and facing myriad hardships, he nonetheless demonstrated exceptional academic promise and, in 1834, allowance was made for him to attend a boys’ academy in Kornthal, Württemberg and then a prestigious Gymnasium in Stuttgart. In 1837, Schaff moved on to pursue university studies in theology and church history, first at the University of Tübingen, then Halle, and, finally, Berlin. In 1844, he received a call from the German Reformed Church in America to come and teach at their small and rather isolated seminary in Mercersburg, Pennsylvania.8 Vacillating at first, he nonetheless accepted and traveled to the United States, resolved to be a „missionary of science“ to the scattered peoples of German descent on the American frontier. He taught at Mercersburg for nearly two decades, establishing an especially close friendship with the noted theologian John Williamson Nevin (1803–1886), his colleague at the seminary.9 In 1863 Schaff packed his bags again, moving to New York, where in 1870 he accepted a post at Union Theological Seminary. He finished his career at Union, retiring in 1893, the same year of his death.10 Deeply shaped by the pietist awakening (Erweckungsbewegung) of the early nineteenth century during his time in Württemburg, Schaff never evinced the anti-intellectual tendencies sometimes associated with this form of piety.11 Instead, he eagerly embraced the importance of first-rate scientific and historical scholarship (Wissenschaft) for the voca6 7 8 9
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Ibid., 15. On Schaff’s early years in Switzerland, see Ulrich Gäbler: Philip Schaff in Chur, 1819–1834, in: Zwingliana 18 (1989), 143–65. On the history of the German Reformed Church in America, see Sydney Ahlstrom: A Religious History of the American People, New Haven 1973, 245–50. Schaff and Nevin are generally credited as the founders of the so-called „Mercersburg theology“, a vigorous, if short-lived, theological movement in the nineteenth century, which in the name of tradition, ecclesial authority, and church unity sought to combat „the highly individualistic and subjectivist tradition of American evangelicalism.“ See Claude Welch: Protestant Thought in the Nineteenth Century, 1799–1870, vol. 1, New Haven 1972, 227. Cf. James C. Nichols: Romanticism in American Theology: Nevin and Schaff at Mercersburg, Chicago 1961. On Nevin specifically, see the recent biography by D.G. Hart, John Williamson Nevin: High Church Calvinist, Phillipsburg 2005. On Schaff at Union, see Robert T. Handy: A History of Union Theological Seminary in New York, New York 1987, 35, 38, 47–51, passim. On the „Erweckungsbewegung“, see Robert Bigler: The Politics of German Protestantism: The Rise of the Protestant Church Elite in Prussia, 1815–1848, Berkeley and Los Angeles 1972.
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tion of the theologian. As such, he is sometimes depicted as a representative of Vermittlungstheologie, or „mediating theology“, a centrist theological position of the mid-nineteenth century, inclined to intra-Protestant ecumenism, which sought to harmonize what many regarded as a growing incommensurability between the claims of modern scientific inquiry and those of traditional Christian confessions.12 Throughout his life Schaff remained grateful for his German theological education and the German university system in general, despite some reservations about the radical criticism (Kritik) that it often fostered and the heavy-handed state(s) that administered it.13 In 1857 he published a book, ‚Germany; its Universities, Theology, and Religion‘, in which he sought to convey to an English-speaking audience the depth and riches of German academic theology and thereby „bring the German and American mind into closer union“. „The German universities“, he wrote, „are regarded by competent judges as the first among the learned institutions of the world. […] The German theology of the last thirty or forty years, whatever its errors and defects, […] is, upon the whole, the most learned, original, and progressive theology of the age, and no active branch of Protestantism can keep entirely aloof from its contact without injuring its own interests.“14
Enjoying close contact with theological luminaries such as Ferdinand Christian Baur and Isaak August Dorner at Tübingen and F.A.G. Tholuck at Halle, Schaff nonetheless reserved some of his highest praise for the University of Berlin and the mentors and colleagues he met there. While he arrived in the Prussian capital several years after Friedrich Schleiermacher’s death, he recognized the abiding importance of this theologian’s legacy for shaping all of modern Protestant theology. „The theological faculty of Berlin, from the days of Schleiermacher and [August] Neander“, he once wrote, „has directed the progressive movement of Protestant theology, and will continue to exercise a controlling influence from the metropolis of Germany upon the rising generation of divines in the old and new world.“15 Schaff had the opportunity to study under Neander, Schleiermacher’s younger colleague; Neander in
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On „Vermittlungstheologie“, see Knut Ragnar Holte: Die Vermittlungstheologie. Ihre theologischen Grundbegriffe kritisch untersucht, trans. from the Swedish by Björn Kommer, Stockholm 1965. On Schaff’s theological training in German universities, see Klaus Penzel: The German Education of Christian Scholar Philip Schaff: The Formative Years, 1819–1844, Lewiston 2004, 11–126 and Schaff, The Life of Philip Schaff, ibid. (note4), 17–37. Philip Schaff: Germany; its Universities, Theology, and Religion, Philadelphia 1857, 8. Schaff: Penzel, ed., ibid. (note5), 347.
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fact befriended the young Schaff, who in turn evinced a life-long admiration for this accomplished scholar of the early church.16
Religion and Society: Old World, New World The phrase „old and new world“ appears frequently in Schaff’s writings. Rather quickly after his arrival in the United States in 1844, Schaff felt a duty to serve as a cultural liaison, fostering dialogue and understanding between the United States and Europe. Of course, he was not alone in this task: numerous European visitors, immigrants, and intellectuals (many who never went abroad) sought to „explain“ America to an Old World audience seemingly insatiable in its curiosity to make sense of the upstart nation. „America was the China of the nineteenth century“, as one scholar has put it, „described, analyzed, promoted, and attacked in virtually every nation struggling to come to terms with new social and political voices“.17 Yet even amid this din of America-commentary, Schaff deserves special consideration for at least three reasons. First, unlike many European commentators who only visited the United States and then sought to generalize about the new land, Schaff actually lived in America for the majority of his life, even as he continued to make and renew Old World contacts and friendships. As such, he was less prone to impose preconceived ideas about „America“ on his actual experience; rather, his experience shaped and, on a number of occasions, led him to revise his ideas. Second, as a theologian, Schaff was particularly attentive to religious differences between the United States and Europe. To be sure, many other European visitors also commented on the American religious scene, but few made it a lifelong preoccupation to the extent that Schaff did.18 Finally, Schaff was among the few nineteenth-century European commentators of significant intellec-
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Schaff included Neander in a collection of biographies of three of his heroes of the faith. See Schaff: Saint Augustin, Melanchthon, Neander: Three Biographies, New York 1886. Cf. Schaff: August Neander: Erinnerungen, Gotha 1886. On the theological faculty of the University of Berlin in the early nineteenth century, see Thomas Albert Howard: Protestant Theology and the Making of the Modern German University, Oxford 2006, 130–211. Abroad in America: Visitors to the New Nation, 1776–1914, eds. Marc Pachter and Frances Wein, Reading, Ma. 1976, xiii. On the broad spectrum of European views of American religious life during Schaff’s lifetime, see The Voluntary Church: American Religious Life (1740–1860) Seen through the Eyes of European Visitors, ed. Milton B. Powell, New York 1967. Cf. Martin E. Marty: Experiments in Environment: Foreign Perceptions of Religious America, in: Journal of Religion 56 (1976), 291–315 and Jerald C. Brauer, Images of Religion in America, in: Church History 30 (1961), 3–18.
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tual standing to recognize and positively esteem the distinctively novel New World conditions that, in his view, were effecting a historical transformation in the social conditions of Christianity. Indeed, in an effort to counter much high-brow European skepticism about the fate of religion in the United States, he argued that American religion – i.e., a „voluntary“ approach to faith in contrast to the European state-church environment – allowed for a social and philanthropic activism, sense of personal dignity and responsibility, and conception of human freedom and flourishing, which, together, added up to a historical novum of great significance and general social beneficence, but one not readily comprehensible from customary European categories and frameworks of interpretation. This last point merits underscoring, particularly perhaps for Americans, as the national story of the United States is often mediated through the experience and stories of immigrants, who tend to offer celebratory accounts of American freedom. Much is to be said for this view, especially when one considers the persecution and penury that many emigrants to America experienced in their home countries. But we must remember that this attitude does not reflect nineteenth-century European opinion tout court, but principally the outlook of lower classes and religious minorities. Among intellectual and governmental elites, those with vested interests in the political and ecclesiastical status quo, European opinion of America was significantly more pessimistic and often condescending. This is particularly true of the conservative restoration period following the defeat of Napoleon in 1815. After the collapse of the democratic experiment in France, the fledgling American republic was the only state of any size in the world to still practice what many considered the discredited ideas of democracy, equality, and religious voluntarism. Given the Romantic climate of historical nostalgia and the ascendant ecclesiastical establishmentarianism of this time, we might even consider the post-1815 era the seedbed of European antiAmericanism (if I may use this loaded term), with particular scorn evident in this period toward American church-state configurations and the conditions of American religiosity generally.19
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C. Vann Woodward: The Old World’s New World, New York 1991, 21. Of course, nineteenth-century hostility to America had earlier precedents. Numerous theories circulated in the eighteenth century on the „degeneracy“ and „inferiority“ of nature and culture in the New World. On the origins and influence of these theories, see Antonelli Gerbi’s classic: The Dispute of the New World: The History of a Polemic, 1750–1900, trans. Jeremy Moyle, Pittsburgh 1973, 3ff. and James Caesar: Reconstructing America: The Symbol of America in Modern Thought, New Haven 1997, 19ff.
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Since Schaff, when addressing a European audience or readership, regularly felt it necessary to controvert skepticism about America, the shape of this skepticism, especially vis-à-vis religion, should be examined more closely. To the European conservative imagination of the early and midnineteenth-century, the American religious experiment and the political institutions enabling it represented an historical rupture and dangerous plunge into religious confusion and cultural anarchy. The French conservative Joseph de Maistre might well serve as the archetype of this mindset; he saw the American and French revolutions, if not identical, as signs of an unprecedented godlessness, political hubris deserving of divine judgment. Austria’s Count Metternich, the diplomatic architect of the post-1815 order, once opined that the American polity set „altar against altar“ and represented an abiding affront to cherished European institutions.20 Schaff’s Swiss compatriot, the famous historian Jacob Burckhardt, defined Americans as a people who „renounce history“, whose religious life is at once parasitically attached to Old World faiths, but able to give itself „absurd forms“ in the historical tabula rasa of the American frontier.21 In 1832, after an extended visit to the United States, the Anglican Frances Trollope published her popular ‚The Domestic Manners of the Americans‘. „[I]t […] [is] impossible to remain many weeks in the [United States], she wrote, „without being struck with the strange anomalies produced by its religious system“. Chief among these were „the outrageous display of individual whim“ and „the fury of division and sub-division“ among various sects.22 Similarly, the Anglican Bishop Samuel Wilberforce opined that „every fantastic opinion that has disturbed the peace of Christendom has been reproduced in stranger growth on the other side of the Atlantic“, threatening to „obliterate civilization“.23 European Romantic thinkers, while not known for concern with creedal orthodoxy and church loyalty, regularly characterized the United States as a haven for avarice, a Babel of limitless utilitarianism, and as a land with a reprehensible vacuum of culture, history, and intellectual profundity. Such an outlook was typified by the experience of the poet Nikolaus Lenau, who claimed to have „failed“ in America because, as a „spiritual“ (geistige) German, he could not adjust to the country’s materialist values and restless pace of life. Although having 20 21 22 23
Noted in Günter Moltmann: Deutscher Antiamerikanismus heute und früher, in: Vom Sinn der Geschichte, ed. Otmar Franz, Stuttgart 1976, 92. Jacob Burckhardt: Gesammelte Werke, vol. 4, Basel 1956, 6. Frances Trollope: Domestic Manners of the Americans, New York 1987, 84–85. Samuel Wilberforce: A History of the Protestant Episcopal Church in America, New York 1849, 290–91.
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spent only a few months in America, he professed to have canceled his plans to emigrate in disgust of the society he encountered.24 Lenau was immortalized in the character of Dr. Moorfield in Friedrich Kürnberger’s popular 1855 novel, ‚Der Amerika-Müde‘ (A Man Weary of America), the title of which fairly sums up the book’s point.25 The Romantic poet Heinrich Laube, a friend of Heinrich Heine, expressed a similar sentiment in his book, ‚Das junge Europa‘ (Young Europe), in which he wrote that the United States is a „business school that claims to be a world. […] No history, no free science, no free art! Free trade is the total freedom; […] [A]nything that does not bring money is useless, and that which is useless is unnecessary!“26 The philosopher G.W.F. Hegel also expressed misgivings about the United States. Given Hegel’s unrivaled influence among German intellectuals of Schaff’s generation, his unfavorable conception of America and American religious life is particularly noteworthy. In his ‚Lectures on the Philosophy of History‘, he consigned America to a largely peripheral status, deprived of genuine world-historical significance. Hegel’s famous division of the world into „three distinct world-outlooks“ – Oriental, Greco-Roman, and the Germanic – made no place for the indigenous peoples of the New World and he dismissed the culture of the United States as derivative from Europe and ultimately of negligible importance. „America“, he wrote, „[is] separate […] from the ground that world’s history has taken place until now. What has taken place in America so far is a mere echo of the Old World, and the expression of an alien vitality“. For this reason, he told the students who streamed from across Europe to pack his Berlin lecture hall, „let us […] set the New World aside, along with its associated dreams, and return to the Old World, the actual theater of world history“.27 To be sure, Hegel admitted that America might represent „the land of the future“, „the land of longing for all those who are weary of the historic arsenal that is old Europe“. Even so, this land of longing presented a problem for Hegel, particularly in the religious sphere. While dismissive of traditional, creedal Christianity, Hegel was supportive of the Prussian state church and the Ministry of Culture, which had secured for him his influential post at the University of Berlin. To his mind, America constituted a deficiency insofar as it lacked a state church and a European-style ministry of culture, which, among other 24
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The actual story of Lenau’s experience in America, which stands at variance with the one he offered the public, is recounted in Dan Diner: America in the Eyes of the German: An Essay on Anti-Americanism, trans. Allison Brown, Princeton 1996, 36. Ibid., 33. Cited in ibid., 37. G.W.F. Hegel: Werke, vol. 12, Frankfurt/M. 1970, 114–15.
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things, served to check popular religious enthusiasm.28 From the Prussian capital, society across the Atlantic appeared to him a semi-enlightened, anti-statist sectarian religious free-for-all, isolated from the truly important currents of world history. The United States is the land of „every sort of capriciousness“, he wrote, giving expression to a more pervasive reservation about American religious life: „This explains the proliferation (Zerfall) of sects, to the point of sheer craziness. […] This total arbitrariness is such that the various communities hire and fire ministers as they please: the church is not something that [has] […] an external establishment; instead, religious matters are handled according to the particular views of the congregation. In North America, the wildest freedom of imagination prevails. What is missing is the religious unity found in European states, where deviations are limited to a few denominations.“29
Schaff on America Upon his arrival in the United States, Schaff too gave voice to the Romantic-era critique of the American religious scene. He came as a tutor to the new country, not a learner, something he made quite explicit in his inaugural address, „The Principle of Protestantism“. Delivered in Reading, Pennsylvania, it was soon published, first in German and then in an English translation by his colleague John Nevin.30 In it, Schaff sought to demonstrate that an abiding catholicity and reverence for church tradition had originally animated the Protestant Reformation, but these features had been eclipsed, most egregiously in the United States, by a highly individualistic and presentist approach to the faith. The result was a „sect plague“ in America that undermined church unity by fomenting continuous discord and divisions among Christians.31 Schaff placed particular blame for this situation on the enduring influence of Puritanism in American culture. In his interpretation, the 28
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On the role of the Prussian Ministry of Culture (Kultusministerium) in the nineteenth century, see Ernst Müsebeck: Das preussische Kultusministerium vor hundert Jahren, Berlin 1918. Hegel: Werke, vol. 12, ibid. (note27), 112–13. Cf. G. A. Kelley: Hegel’s America, in: Philosophy and Public Affairs 2 (1972), 3–36 and Manfred Henningsen: Das Amerika von Hegel, Marx und Engels, in: Zeitschrift für Politik 20 (1973), 224–51. Schaff: Das Princip des Protestantismus, Chambersburg, Pa. 1845 and The Principle of Protestantism as Related to the Present State of the Church, trans. John Nevin Chambersburg, Pa. 1845. The English translation was reprinted in 1964. I quote from this edition. Schaff: Principle of Protestantism, ibid. (note 30), 154.
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early Puritan settlers had demonstrated „a zeal for God, but not according to knowledge“.32 Their purely „congregational“ approach to church organization laid the basis of a more general religious „atomism“ that had spread from New England to permeate the religious ethos of the nation generally. The „puritanization“ of American religion, we might say, combined with the unprecedented legal separation of church and state effected by the First Amendment in the US Bill of Rights presented to Schaff a religious environment of unrelieved chaos and confusion. Lacking the „hierarchic bond“ of Catholicism or the „civil supremacy“ of Anglicanism or Lutheranism, the church in America lacked a principle of authority and a mechanism toward unity and thus seemed destined for a career of fissiparous, obscurantist ignominy. „Tendencies, which had found no political room to unfold themselves in other lands“, he wrote, „wrought here without restraint. Thus we have come gradually to have a host of sects which is no longer easy to number, and that still continues to swell from year to year. Where the process of separation is destined to end, no human calculation can foretell“.33 Schaff was especially dismayed by self-declared prophets and revivalist preachers, who, throwing tradition and concern for church unity to the wind, arrogated to themselves power and influence by appealing directly to the Bible. Such individuals, he lamented, are „not ashamed to appeal continually to the Scriptures, as having been sealed entirely […] to the understanding of eighteen centuries […] till now at last God has been pleased to kindle the true light in an obscure corner of the New World!“ Worry about such religious mavericks led Schaff to memorably sum up the United States as „a variegated sampler of all conceivable religious chimeras and dreams. […] Every theological vagabond and peddler may drive here his bungling trade, without passport or license and sell his false ware at pleasure. What is to come of such confusion is not now to be seen“.34 To the published version of ‚The Principle of Protestantism‘, Schaff appended 112 so-called „Theses for the Time“, in which he sought to address various and sundry religious and cultural concerns. In these, 32 33 34
Ibid., 145. Ibid., 149. Ibid., 149–50. As one might surmise, Schaff’s inaugural lecture was not taken well by all hearers. To some, he took a critique of Protestantism too far and thus veered close to „Romanizing tendencies“ or „Puseyism“, a term associated with the high-church views of Edward Bouverie Pusey (1800–1882), a leader of the Oxford Movement in England. In fact, Schaff was even tried for heresy by the German Reformed Church, but acquitted. On this episode in his life, see George H. Schriver: Philip Schaff: Heresy at Mercersburg, in: American Religious Heretics: Formal and Informal Trials, ed. G.H. Schriver, Nashville 1966, 18–55.
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one already observes a slightly more ambivalent attitude toward America. On the one hand, he judged the United States of the 1840s as largely unimportant with respect to Christian history: „America […] has produced nothing original, no new fact in the history of the church as a whole“. On the other hand, he regarded his adopted country as the site of tremendous future promise, a new social and political order, where, in Hegelian language, the „thesis“ of the Old World’s faith would meet the „antithesis“ of political freedom and a seemingly endless geographical expanse to effect a hitherto unknown „synthesis“ in the religious history of the West. „Nowhere else“, he wrote, „is there at present the same favorable room for further development, since in no country of the Old World does the church enjoy such freedom, or the same power to renovate itself from within“.35 Thus, while American freedoms seemed necessarily to produce sectarianism, Schaff also admitted, at this early juncture of his American career, that these same freedoms also bequeathed to the church the opportunity to be guided and guide society by its own lights, something impossible in most German-speaking lands where the state continued to exercise a firm grip on the direction of ecclesiastical development and practice.36 A positive appraisal of American religious freedom increased in Schaff’s mind as he established his career at Mercersburg Seminary in the 1840s and 1850s: preconceived notions of America gave way to greater reflection on his actual experience. In 1848 and 1849, he published a series of articles under the title „Introduction to the Church History of the United States“ in the „German Reformed Messenger“. While his censure of sectarianism remained firm, one notices a more sanguine view of the political and cultural conditions of Christianity in America. „All the [religious] elements of the old world, „ he wrote, „meet [here] in renewed strength, possessing civil rights altogether equal and full of ardent hopes, engage in conflict with each other, the final issue of which cannot by any means now be foreseen“. While the separation of church and state had allowed „sectarianism with all its evils […] to obtain formal sanction“, it had also allowed religion, voluntarily embraced, to shape individuals and society in ways not possible under the conditions of European „state-churchism“ – his English phrasing of the German Staatskirchentum. The stark contrast between voluntary religion in America and established religion in Europe prompted Schaff to opine that Europeans simply lived too far away 35 36
Schaff: Penzel, ed., ibid. (note5), 93–94. On state-church arrangements in nineteenth-century Germany, see John Groh: Nineteenth-Century German Protestantism, Washington 1982 and Kurt Novak: Geschichte des Christentums in Deutschland: Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, Munich 1995.
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„[to] obtain a clear view of the peculiar conditions of the new world“. And he even wondered if „there are yet many things that the mother [Europe] might then learn of the daughter [America] heretofore rather superciliously regarded“.37 Schaff himself sought to play the role of daughter instructing the mother when in 1854 he traveled back to Europe to give several invited lectures on American civilization. Speaking in Frankfurt am Main, Berlin, and elsewhere, Schaff shifted his attention from America’s religious imperfections to its religious liberty, offering a much more optimistic interpretation of his adopted country and seeking to correct what he now regarded as certain Old World prejudices against the United States. His lectures were soon published and quickly translated into English as ‚America: A Sketch of the Political, Social, and Religious Character of the United States of North America‘.38 This would not be the only time Schaff sought to explain America abroad. Even more sanguine accounts came in later publications, often derived from speaking tours in Europe. Excluding various minor writings, these include ‚Der Bürgerkrieg und das christliche Leben in Nord Amerika‘ (1865), ‚Christianity in the United States of America‘ (1879), and ‚Church and State in the United States, or the Idea of Religious Liberty and its Practical Effects‘ (1888).39 Together, these works, at least significant portions of them, deserve comparison with Tocqueville’s masterful ‚Democracy in America‘ as among the most informative analyses of the United States by a foreigner in the nineteenth century. Commentators on these works regularly go astray in two ways. First, in light of Schaff’s generally favorable attitude toward the United States, especially when compared to his earlier ‚Principle of Protestantism‘, scholars tend to see these texts as an index of Schaff’s „Americanization“ – his „complete identification“ with the „idealized image“ 37
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The article series, „Introduction to the Church History of the United States“, appeared in the „German Reformed Messenger“ from December 20, 1848 through February 21, 1849, 2754, 2760, 2768, 2772, 2776, 2784, 2788, and 2792. My quotations of this source are taken from Stephen R. Graham: Cosmos in the Chaos: Philip Schaff’s Interpretation of Nineteenth-Century American Religion, Grand Rapids 1995, 24–28. The lecture were first published under the German title, Amerika: Die politischen, socialen, und kirchlich-religiösen Zustände der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika mit besonderer Rücksicht auf die Deutschen, aus eigener Anschauung dargestellt, Berlin 1854; revised and expanded editions, 1858, 1865. The English translation – America: A Sketch of the Political, Social, and Religious Character of the United States of North America – appeared in 1855, published in New York. Harvard University Press reprinted the English edition in 1961 with an introduction by Perry Miller. I quote from this text unless otherwise noted. Der Bürgerkrieg und das christliche Leben in Nord Amerika, Berlin 1865, was based on lectures delivered in Germany and Switzerland. It was translated by C.C. Starbuck and published in installments in the „Christian Intelligencer“ in the spring of 1866.
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of his adopted country, according to one critic.40 Second, and related, Schaff’s providentialist assessment of the United States – i.e., the view, sometimes expressed, that America possessed an Israel-like mission for the development of „the Kingdom of God“ in the modern world41 – is dismissed as imposing a theological interpretation on historical facts. Both of these analyses, I should say, are by no means beside the point. One would be hard pressed to deny that Schaff became „Americanized“ during his long residence in the United States, and anyone looking for a Rankean-objectivist historian of the strict observance is certain to raise eyebrows at Schaff’s many theologically inspired remarks about past and present events.42 But if valid in certain respects, these criticisms deflect attention from something more remarkable about Schaff’s perspective: Schaff was among the first European interpreters of American religion to grasp and convey the radical novelty of historical conditions effecting the Old World faith – „circumstances and conditions altogether peculiar“, as he would write.43 In doing so, Schaff anticipated lines of inquiry that one might fruitfully compare to Frederick Jackson Turner’s famous „frontier thesis“ about American history and culture. Turner, it will be remember, argued that the abundance of „free lands and the consciousness of working out their own social destiny“ had indelibly affected Americans’ habit of being with vast ramifications for a host of social, cultural, and political institutions. „The frontier […] furnish[ed] a new field of opportunity, a gate of escape from the bondage of the past; and freshness and confidence, and scorn of older society, impatience of its restraints and ideas“.44 These conditions did not simply produce license and social disintegration – as many Europeans assumed about the fate of religion in the New World – but they also, according to Turner, imparted to the individual an inner drive and resourcefulness „to preserve order“ apart from direct governmental mediation; unleashed tremendous social energy oriented to the future, fueled by pragmatic confidence; and placed a premium on direct-democratic over distant-bureaucratic forms of so-
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Guggisberg: Philip Schaff’s Vision of America, ibid. (note 4), 32. Cf. Henry W. Bowden: Philip Schaff and Sectarianism: The Americanization of a European Viewpoint, in: Journal of Church and State 8 (1966), 97–106. Schaff: America, ibid. (note 38), 212. On Schaff’s providentialist conception of historical development and the role of America therein, see Klaus Penzel: „The Reformation goes West: The Notion of Historical Development in the Thought of Philip Schaff, in: Journal of Religion 62 (July 1982), 219–41. Schaff: America, ibid. (note 38), 213. Frederick Jackson Turner: The Frontier in American History, New York 1962, 38.
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cial organization.45 Although Turner did not concentrate extensively on religion, he did, in an aside, once remark, „[the] expansive tendency […] of a moving frontier must have [had] […] important results on the character of religious organization in the United States“.46 In Turneresque fashion, Schaff came to the conclusion, after residing in Western Pennsylvania (truly the frontier) for over a decade, that the noteworthy thing about American religious life was not how far it fell short of European conditions or assumptions, but how its turbulent dynamism, replete with problem and promise, illuminated constraints and prejudices in the European political-religious order and, concomitantly, in commonplace European assessments of America. The staid sensibilities of state-churchism, in other words, offered no privileged perch to assess the Untied States and its transformative potential for religion and society generally. The frontier ethos joined with a polity grounded in radical religious disestablishment was, willy-nilly, charting its own conception of the human good. Ever cognizant of his own humble origins, Schaff was particularly troubled by the contempt for American life and religion among Europe’s aristocratic circles, including the „mandarin“ aristocracy of the German universities, which he otherwise admired.47 The purpose in taking on the subject of „America“ in his 1854 lectures, he made clear, was to countermand „false impressions and strong prejudices, which are widely spread in the higher circles of Europe, concerning the United States“.48 Often he managed to do this in a spirit of gentleness and an irenic search for mutual understanding. But sometimes a more curt tone prevailed, as when he expressed dismay that „there are respectable people, professedly of the highest culture […] who have a real antipathy to America, speak of it with the greatest contempt of indignation, and see in it nothing but a grand bedlam, a rendezvous of European scamps and vagabonds. […] Such notions it is unnecessary to refute“.49 Occa-
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On European images and interpretations of the American frontier, see Ray Allen Billington: Land of Savagery, Land of Promise: The European Image of the American Frontier, New York 1981. Turner: The Frontier in American History, ibid. (note 44), 36. For discussions of the significance of Turner’s „frontier thesis“ and its place in the historiography of the United States, see George Rogers Taylor: The Turner Thesis Concerning the Role of the Frontier in American History, 3rd ed., Lexington, Ma. 1972, and Ray Allen Billington: The Frontier Thesis: Valid Interpretation of American History?, New York 1966. On the elitist ethos of German universities and the contempt of Anglo-American civilization often bred in them, see Fritz K. Ringer’s classic: The Decline of the German Mandarins: The German Academic Community, 1890–1933, Cambridge, Ma. 1969. Schaff: America, ibid. (note 38), 19. Ibid., 5.
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sionally he seasoned his message with a little humor. He warned readers, for instance, „against the ridiculous caricatures of American Christianity which abound in European works“, citing as an example the Catholic Encyclopedia by Wetzer and Welte, whose article on America gave credence to the existence of a number of non-existent sects, including one group alleged to require its members to pluck out their right eye in a literal understanding of the biblical passage in Matthew 5:29. Not only did these sects (and other concocted ones) not exist, Schaff insisted, but the authors’ discussion of them on the same pages with more established Protestant denominations betrayed an antiAmerican, and particularly a conservative European Catholic, prejudice to cast the United States simply as the „grand bedlam“ of the modern world, the reductio ad absurdum of certain Protestant principles.50 Nonetheless, the European critique of American sectarianism Schaff took seriously, seeing ecclesiastical division as obstacle to the Christian unity that he felt the New Testament called for.51 Even so, his embrace of American religious voluntarism led him to revise his understanding of sectarianism. Increasingly, he distinguished between historic „denominations“ (larger bodies such as Presbyterians and Methodists) and smaller, breakaway „sects“; he valued the former as legitimate transmitters of Protestant truths while contemning the latter as a testimony to the pride and vanity of schismatic individuals.52 What is more, he came to emphasize that sectarianism could not be regarded as a distinctly American phenomenon, but rather as one intrinsic to Protestantism. Many new sects in America, he reasoned further, had resulted from European emigration, and hence „by pointing out kindred evils in Europe“ Schaff felt he could „forestall an immoderate condemnation of America“.53 „Sectarianism“, he summed up, „is by no means a specifically American malady, as often represented; it is deeply seated in Protestantism itself. […] America in fact draws all its life originally from Europe. It is not a land of new sects; for those which have originated there […] [do not] determine the religious character of the peo-
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Schaff refers to an article on America in volume nine of the Kirchen-Lexikon: oder, Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften, eds. Heinrich Joseph Wetzer and Benedikt Welte, Freiburg i.Br., 1854. See Schaff: America, 104–05. The task of Christian unity remained a paramount concern of Schaff’s until the end of his career. Among his last writings included a paper on „The Reunion of Christendom“, prepared for the Parliament of World Religions at the Chicago World’s Fair of 1893. See Schaff: Penzel, ed., ibid. (note5), 293–340. Graham: Cosmos in the Chaos, ibid. (note 37), 34ff. Schaff: America, ibid. (note 38), 14.
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More fundamentally, Schaff began to regard sectarianism as a necessary stage toward a higher, integrative level of historical and religious development. In this interpretation, the religious freedom allowed by American law and society represented a major improvement upon European state-churchism: „America may be an improved continuation of Europe; […] [A] new age of humanity and church is to be expected by all“.55 The disintegrative cultural forces unleashed by religious voluntarism, while certainly worrisome, nonetheless could lay claim to a legitimate (indeed, divinely sanctioned) place in a progressive historical drama in which the United States played a key role. In Schaff’s own formulation: „[W]e must regard the present distraction and fermentings of Protestantism as the necessary transition state to a far higher and better condition, a free unity in spirit and in truth, embracing the greatest variety of Christian life. But first the religious subjectivity and individuality of the sect system, with all its accompanying infirmities, must freely and fully develop themselves. […] Now America tends toward this consistent carrying out the religious and political principle of Protestantism; that is, the practical application of the universal priesthood and kingship of Christians.“56
Although the exact shape of the future remained unknown (and Schaff often pointed beyond temporal events to an eschatological realm), the United States nonetheless possessed superlative significance for the unfolding of events in sacred history His adopted land held „extraordinary prospective importance for church history“ as the site where „the ultimate fate of the Reformation will be decided“.57 It followed that the absence of religious voluntarism constituted a less developed stage in history. While Schaff regarded unity as the ultimate goal for Christians, this must be a „free unity“ enacted by free people, and not a coerced unity achieved under „the cold step-motherly arm of the nominally Christian state“.58 While in his 1854 lectures he conceded that, theoretically, a Christian state could be a positive force, it 54 55 56 57
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Ibid., 100–01. Ibid., 14. Ibid., 13–14 Ibid., 191ff. Schaff’s developmental view of history was fairly common for his time. His views bear witness, in direct and indirect ways, to the thought of Hegel, F.C. Baur, and August Neander. On his conception of history, see especially Schaff: What is Church History? A Vindication of the Idea of Historical Development, Philadelphia 1846. On the various ideas concerning „historical development“ afoot in nineteenthcentury European thought, see Maurice Mandelbaum: History, Man, and Reason: A Study in Nineteenth-Century Thought, Baltimore 1971. Schaff, Germany; its Universities, Theology, and Religion, ibid. (note 14), 70.
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was nonetheless „very hazardous for the church to expect too much of that union, and to put her trust in the temporal arm“.59 In subsequent publications, his rejection of „the evils of state-churchism“ and „the despotism of a state church“ became more pronounced.60 In an article, „The State Church System in Europe“ (1857), he stated the matter bluntly: „The glory of America is free Christianity, independent of the secular government and supported by the voluntary contributions of a free people. This is one of the greatest facts of modern history. Its significance can only be fully estimated by a careful comparison with State-churches of Europe, over which it makes gigantic progress. Whatever be the defects and inconveniences of the separation of Church and State, they are less numerous and serious than the troubles and difficulties which continually grow out of their union, to both parties. […] [O]n the Continent generally, it [Protestantism] is almost entirely supported and ruled by the State, and this has a natural tendency to secularize religion as much as possible and to convert it into a sort of moral police.“61
Assessments of American religious dynamics from the standpoint of established state churches, it followed, were inherently questionable, a regressive stage of history passing judgment on a more progressive one. Schaff therefore felt it necessary to emphasize just how novel conditions were in America, particularly those in the religious sphere but in other areas as well. His remarks on this topic are numerous, but several themes merit underscoring. Like Tocqueville before him, he repeatedly called attention to the fact that North America never possessed an hereditary aristocracy nor an established church at the national level.62 This reality fundamentally separated the historical currents affecting the United States in the nineteenth century from those present in Europe and betokened further differences in the future. As suggested earlier, the frontier too, „the vast and still uncultivated tracts of the most fertile soil“, played a prominent role in Schaff’s imagination; the lure and promise of the western land elicited „the boldest enterprise and the most untiring energy“ from the American people.63 On this point, he sought to question a common European tendency to dismiss enterprising Americans as wealth-obsessed upstarts, religiously hypocritical in their pursuit of Mammon. To the contrary, Schaff argued that Ameri59 60 61 62
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Schaff: America, ibid. (note 38), 12. Schaff: Germany; its Universities, Theology, and Religion, ibid. (note 14), 13 and Schaff: Church and State in the United States, 6. Schaff: The State Church System in Europe, The Mercersburg Review 9 (1857), 151–54. Schaff often qualified this observation by recognizing the vestiges of a European aristocracy in the planters of the American south and the vestiges of established churches in the New England states. Schaff: America, ibid. (note 38), 27–31.
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cans were only trying to make good on one of the oldest injunctions of Christian wisdom, St. Benedict’s admonition to pray and work, ora et labora. „The good old advice: Pray and work“, he wrote, „is nowhere more to the point than in the United States. The genuine American despises nothing more than idleness and stagnation; he regards not enjoyment, but labor, not comfortable repose, but busy unrest, as the proper earthly lot of man; and this has unspeakable importance for him, and a most salutary influence on the moral life of the nation“.64 Since Europeans of a conservative cast of mind often associated the ideas of democracy and religious freedom with the radicalism and irreligion of the French Revolution, Schaff sought to show that the „ideas of 1776“ and the „ideas of 1789“ should not be conflated. „The American revolution of 1776“, he wrote, „was entirely different in principle, character, and tendency from all the revolutions of the European continent since 1789; and it is of the greatest importance to keep this difference in view, if we would duly understand and appreciate [the United States] and its prevailing idea of freedom“.65 In fact, the word „revolution“ hardly applied to the establishment of the United States, he felt; what happened after 1776 was more an „emancipation“, one which he compared to the uprising of the German states against the Napoleonic yoke and the efforts of the Greeks to achieve freedom from the Ottoman Empire. With respect to religion in particular, the American separation of church and state allowed for the robust flourishing of religious life (removed from state tutelage) and should thus be sharply distinguished from the dechristianizing measures of the French Revolution in its radical stages. Religion was disestablished in America so that it could thrive, not exiled so that it could perish. Despite „the apparent excess of freedom“ when viewed from Europe, „deep reverence for Christianity“ and a „conservative spirit“ persisted on the other shore.66 By contrast, the radical secularism that had reared its head in France in the 1790s threatened to grow, Schaff believed, if European nations maintained the dead hand of the past in the form of state churches. Politically and religiously, „Europe rests upon a volcano“, he often said, evidenced by the growing cleft between reactionary and radical forces. American conditions, conversely, had allowed society to be „at once conservative and liberal“.67 The conservative cast of American liberalism, Schaff observed, often confounded progressive Europeans, who, fleeing the monarchies of
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Ibid., 29. Ibid., 33. Ibid., 31ff. Ibid., xxix, 47.
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Europe, expected to find in the United States a congenial abode. To the contrary, they were just as often disillusioned, especially by America’s abiding religiosity. This was borne out, Schaff explained, by the many who left Europe for America after the abortive revolutions of 1848. Having idealized the United States as a model for European development in matters political and religious, they were quite often „mightily undeceived in America, and begin at once […] to scoff at the intolerable tedium of the […] pharisaical church-going, the tyrannical priestcraft, and whatever else they may call the pious habits and institutions of the United States“.68
America, Europe, and the Transatlantic (Religious) Divide Since Schaff’s time, the secularization of western Europe has continued apace, while the state churches and their adherents have dwindled – still present in countries such as Germany, Sweden, and the United Kingdom, but a mere shadow of their former prominence. The United States, by contrast, demonstrates a religious vitality unparalleled among developed countries.69 Gradually, scholars have begun to take stock of this cultural divergence and its potentially far-reaching political and social implications. While one should not generalize blithely about whole continents, it holds true that one of the most significant sources of tension and lack of mutual understanding between America and Europe resides in the religious sphere – or better, in America’s religiosity and Europe’s lack of it.70 Although Schaff’s outlook offers no Archimedean point to make sense of this divide, it does, in summary, offer the present-day transatlantic community at least three considerations of abiding relevance. First, in addressing a European audience, Schaff’s rhetorical stance helps pinpoint historical reasons why Europeans might place a different valuation on America’s early experiment in religious voluntarism than Americans themselves. The American national story is inseparable from beleaguered, often devout Europeans who crossed the Atlantic to escape persecution or to seek out a better life. But for many other nineteenth-century Europeans, especially among the elite and knowledge classes, another view of American religious life held sway – one which
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Ibid., 36. Is America Different? A New Look at American Exceptionalism, ed. Byron E. Schafer, Oxford 1991, 94ff. The Desecularization of the World: Resurgent Religion and World Politics, ed. Peter Berger, Grand Rapids 1999, 1–18.
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Schaff felt necessary to controvert. Intrinsic to this view is the assumption that America’s early experiment in voluntary religion in a frontier setting fostered a „grand bedlam“ (to the conservative imagination) or else had allowed the retention of too many „pious habits and institutions“ (to the secular imagination, i.e., the 1848ers Schaff writes of). Either way, in Schaff’s day or our own, America constituted a worrisome path to modernity, especially in view of the high levels and variegated types of religious belief that this system has since fostered. This polemical stance toward the upstart nation helps account for Europeans’ ongoing curiosity with American religious life, but also for the regular inability to translate this curiosity from caricature, condescension, or contempt to (as Schaff would have wanted it) a deeper level of understanding and engagement. Second, Schaff’s analysis suggests the limitations of placing the United States in pool of comparison with other European countries. The frontier ethos, the early disestablishment of religion, the relatively conservative character of the American revolution, and the radical heterogeneity of religiosity, together, suggested to Schaff that his adopted country was destined to constitute not a variant, but in some real if elusive sense, a different form of Western civilization. While one might identify the European path of secularization away from a state-church status quo as the „normal“ trajectory of modernity and regard America’s voluntary and teeming religiosity as an „exceptional“ case, this begs the meta-historical question of what constitutes a normal historical trajectory and who decides. In Schaff’s view, „the circumstances and conditions altogether peculiar“ of the United States should, at the very least, give one pause when making comparisons between the United States and Europe, especially when the topic is religion. Finally, Schaff’s outlook speaks to the diffuse and widely discussed phenomenon of „anti-Americanism“ today. A close reading of his work and its context suggests that contemporary European anti-Americanism, at least among cultural elites, draws sustenance and derives its force of appeal from a venerable tradition of paternalistic disquiet toward the United States. The sources of this disquiet are not merely political and social, but cultural and religious as well. In Schaff’s day, European criticism of American religion derived from nostalgia for established churches and a host of attendant predemocratic and culturally organicist sentiments. To this mindset, the United States represented a dramatic departure from „Christendom“, which had defined the religious situation in Europe for ages – if only in a fragmented form since the Peace of Westphalia (1648). At the same time, another source of European criticism of American religious life evinced an incipiently secularist mien, insofar as the secularism of the French Revolution and its at-
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tendant master narratives in nineteenth-century liberal and socialist thought are regarded as the benchmark for appropriate historical development. Together, these (anti-)religious strains of anti-Americanism, similar in function even if located at opposite sides of a distinctly European political spectrum, have provided a rich source for polemics against the United States until the present. These deeper dynamics affecting attitudes toward America suggest the limitations of analyses of transatlantic relations that focus largely or exclusively on more recent political, economic, and diplomatic matters. The ending of the Cold War, 9/11, and the war(s) in Iraq have certainly agitated and reconfigured transatlantic relations.71 But the now salient divide between the Old World and the New is more probingly examined by looking at deeper cultural factors and the accretion of perceptions and interpretations over longer stretches of time. In the final analysis, anti-Americanism, whatever one thinks of its current manifestations politically, should be examined against a backdrop of historical precedents, which are the matrix of our present-day experience and our interpretations of it. Religion and perceptions of religion figure significantly in this matrix. We would do well then not to ignore a figure such as Philip Schaff.
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See Old Europe, New Europe, Core Europe: Transatlantic Relations aftter the Iraqi War, eds. Daniel Levy et al., London 2005.
Bewusstes Leben Schleiermacher, Heidegger, Henrich VON PETER GROVE/AARHUS
‚Bewusstes Leben‘ benennt ein Thema, das Friedrich Schleiermacher, Martin Heidegger und Dieter Henrich sowohl verbindet als auch trennt. Dies gilt ungeachtet dessen, ob der Terminus vom einzelnen Denker verwendet wird oder nicht, und unabhängig davon, ob der betreffende Sachverhalt von ihm zum Gegenstand einer ausgearbeiteten Theorie gemacht wird. So bedeutet, um gleich einer zentralen Pointe des Folgenden vorzugreifen, ‚bewusstes Leben‘ in bezug auf die Philosophie aller drei Denker die konkrete Subjektivität, oder es wird als diese einschließend gedacht, und jeder von ihnen begreift es als wesentlich welthaft. In der Weise, wie sie dies tun, unterscheiden sie sich jedoch erheblich von einander. ‚Bewusstes Leben – Schleiermacher, Heidegger, Henrich‘ umschreibt also thematisch ein dichtes Gewebe. Ich möchte versuchen, einige der verwickelten Fäden zu entwirren. Es wird besonders darauf ankommen, im Hinblick auf Schleiermacher eine Bilanz vor dem Hintergrund der durch das Werk der beiden anderen Autoren vertretenen neueren theoretischen Entwicklung zu ziehen.
1. Zuallererst einige Bemerkungen zum Begriff des ‚bewussten Lebens‘ als solchem. Dieser Begriff wird gelegentlich von Denkern der letzten Jahrhunderte verwendet. So tritt er vereinzelt bei Schleiermacher auf. Bei Heidegger habe ich eine Verwendung des Begriffs nicht feststellen können; er hätte ihn vielleicht verwenden können, es ist jedoch nicht zufällig, wenn er es nicht tut. Dieter Henrich scheint aber der erste zu sein, der ‚bewusstes Leben‘ zu einem festen philosophischen Terminus und zu einem Grundbegriff seines eigenen Denkens gemacht hat. Es scheint daher sachgemäß zu sein, bei Henrichs Theorie des bewussten Lebens den Ausgangspunkt zu nehmen.
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Zur leichteren Orientierung sei eine Bemerkung zur Werkgeschichte vorausgeschickt. Henrichs Denken ist durch ein großes Ausmaß von Kontinuität geprägt. Es lassen sich jedoch gewisse Verschiebungen feststellen. Ich teile das Werk grob in zwei Hälften ein. Das Frühwerk bis zum Ende der sechziger Jahre hat weitgehend die Gestalt von Interpretationen vor allem der klassischen deutschen Philosophie. Diese werden zwar nach 1970 weitergeführt, ja erst jetzt werden viele ihrer wichtigsten Ergebnisse vorgelegt. Etwa zu dieser Zeit beginnt Henrich aber zugleich, mehr in eigenem Namen Argumentationen aus dieser Philosophie in die zeitgenössische Diskussion einzubringen. Innerhalb dieses Teils des Werkes, den man Henrichs reifes Werk nennen kann, findet wiederum eine Entwicklung statt. Ich werde innerhalb des Spätwerks auf einige der neueren Arbeiten Henrichs den Schwerpunkt legen.1 ‚Bewusstes Leben‘ wird von Henrich gewöhnlich als das Leben, das nicht einfach geschieht, sondern von uns zu führen ist, erklärt.2 In diesem Sinn ist – nicht zufällig – schon in Henrichs erster größerer Arbeit, der 1952 gedruckten Dissertation über Max Weber, vom bewussten Leben die Rede.3 Weber verwendet den Terminus gelegentlich eben in
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Zum Werk Henrichs siehe Ulrich Barth: Letzte Gedanken. Dieter Henrichs Umformung der Metaphysik in Lebensdeutung, in: ders.: Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, 465–489. Abkürzungen: Dieter Henrich: Bewußtes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik, Stuttgart 1999 [=BL]; ders.: Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, Tübingen 1952 [=EW]; ders.: Fluchtlinien. Philosophische Essays, Frankfurt/M. 1982 [=F]; Martin Heidegger: Gesamtausgabe, Stuttgart 1975ff. [=GA]; Dieter Henrich: Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795), Stuttgart 1992 [=GB]; ders.: Konzepte. Essays zur Philosophie in der Zeit, Frankfurt/M. 1987 [=K]; Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe, Berlin/New York 1980ff. [=KGA]; Dieter Henrich: Menschsein – Bildung – Erkenntnis. Eine Variation von Schleiermachers Grundgedanken in Beziehung auf seine Gedanken zur Begründung der Universität, in: ders.: Die Philosophie im Prozeß der Kultur, Frankfurt/M. 2006, 156–182 [=M]; ders.: Selbstsein und Bewußtsein, unpubliziertes Manuskript 1970 (siehe dazu unten Anm.7) [=SB]; ders.: Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie, in: Hermeneutik und Dialektik, Bd.1, hg. von Rüdiger Bubner, Konrad Cramer u. Reiner Wiehl, Tübingen 1970, 257–284 [=SK]; Dieter Henrich: Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1982 [=Sv]; F.D.E. Schleiermacher: Sämmtliche Werke, Berlin 1834–1864 [=SW]; Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 197915 [=SZ]; Dieter Henrich, Versuch über Kunst und Leben. Subjektivität – Weltverstehen – Kunst, München/Wien 2001 [=VK]; F.D.E. Schleiermacher: Werke. Auswahl in vier Bänden, Leipzig 1927–282/photographischer Nachdruck Aalen 1981 [=W]. Ich bin Dr. Christof Ellsiepen sehr dankbar für seine Hilfe bei der sprachlichen Korrektur des Textes. Zum Beispiel BL 9. EW 120.
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Zusammenhang mit seinem Zentralbegriff ‚Lebensführung‘.4 Dass sich an die dabei hervorgehobene Handlungsorientierung Deutungsfunktionen anschließen, ist ebenso ein Punkt, wo Henrich Weber nachfolgt. So kann Henrichs Theorie vom bewussten Leben, wie sie im Spätwerk entfaltet wird, als eine solche Weiterführung des Weberschen Gedankens der Lebensführung betrachtet werden, die diesen subjektivitätstheoretisch vertieft. In Henrichs Frühwerk, das ja besonders dem deutschen Idealismus einschließlich der Philosophie Kants geweiht ist, scheint der Terminus sonst nicht verwendet zu werden; ich nehme dies als ein Zeichen, dass ‚bewusstes Leben‘ wie ‚Deutung‘ ein Henrich insbesondere mit nachidealistischem Denken verbindender Begriff ist.5 Dagegen wird der Begriff von Henrich um 1970 in den Arbeiten aufgenommen, die die verstärkte Ausrichtung auf die aktuelle Debatte dokumentieren. Es handelt sich insbesondere um die Aufsätze „Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie“ und „Die Grundstruktur der modernen Philosophie“6 und um das unveröffentlichte Manuskript „Selbstsein und Bewußtsein“.7 Diesen Texten gemeinsam ist – was durchaus noch für Henrichs spätere Konzeption des bewussten Lebens bestimmend bleibt –, dass 4
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Siehe Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, I, Tübingen 19889, 17–206, dort 117: „Ein waches bewußtes helles Leben führen zu können, war […] das Ziel, – die Vernichtung der Unbefangenheit des triebhaften Lebensgenusses die dringendste Aufgabe, – Ordnung in die Lebensführung derer, die ihr anhingen, zu bringen, das wichtigste Mittel der Askese“. Vgl. ders.: Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 19887, 489–540, dort 507: „das Leben als Ganzes, wenn es nicht wie ein Naturereignis dahingleiten, sondern bewußt geführt werden soll“ (zitiert EW 128). Henrich weist auf Friedrich Nietzsches allerdings reduktionistische Verwendung des Begriffs hin (BL23f.). Auf der anderen Seite hat Henrichs bahnbrechende Erforschung des klassischen deutschen Denkens dazu beigetragen, die übliche scharfe Trennung von Idealismus und Nachidealismus aufzuweichen. SK 271, 277; Dieter Henrich: Die Grundstruktur der modernen Philosophie, in: Sv 83–108, dort 100; vgl. ders.: Die deutsche Philosophie nach zwei Weltkriegen, in: K44–65, dort 61ff., wo mit Verweis auf Fichte vom ‚Leben des Bewußtseins‘ gesprochen wird. SB 7, 17. Dieter Henrich erklärt, dass dieser Text nach SK geschrieben ist, dass der Entwurf beider Texte jedoch zu gleicher Zeit entstanden ist. Er hebt hervor, dass er damals noch dachte, eine Erklärung von Selbstbewusstsein geben zu können, wenn auch eine solche ex negativo, aber durch die objektivierende Tendenz des betreffenden Vorschlags irritiert wurde (sie wurde mit dessen Aufnahme durch Ulrich Pothast und Manfred Frank erst recht deutlich). So unterließ Henrich die Veröffentlichung und suchte nach anderen Wegen in der Selbstbewusstseinstheorie; siehe dazu unten Anm.12, 18. Ich danke Dieter Henrich herzlich für die Erlaubnis, das Manuskript zu zitieren.
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das Ich- oder Selbstbewusstsein theoretisch innerhalb eines umfassenderen Zusammenhangs begriffen wird.8 Im Selbstbewusstseinsaufsatz erfolgt dies so, dass das Selbstbewusstein vom Bewusstsein her verstanden wird, das jenem vorhergehend und als solches selbstlos ist, im Aufsatz über die Grundstruktur der Philosophie der Moderne so, dass es anthropologisch auf Selbsterhaltung bezogen wird.9 Hier findet sich auch schon die Idee, dass der menschlichen Selbstbeziehung oder Subjektivität ein unverfügbarer Grund vorauszudenken ist.10 Von dem erstgenannten Gedanken von der Vorgängigkeit des Bewusstseins her ist die Verwendung des Begriffs vom bewussten Leben in „Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie“ zu verstehen. Hier scheinen ‚bewusstes Leben‘ und ‚Bewusstsein‘ auf eine Linie gestellt zu werden und der erstgenannte Begriff also eine ziemlich elementare Bedeutung zu haben.11 Dies bestätigt „Selbstsein und Bewußtsein“: „Was wir bewußtes Leben nennen, ist eine Folge von Ereignissen, von denen jedes Fall von Bewußtsein ist“. Dieser Satz begreift bewusstes Leben als einen zeitlichen Verlauf, wobei noch auf keine Art von Selbstsein und von Selbstbeziehung Anspruch gemacht wird.12 Dagegen ist die Lage in 8 9
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Vgl. SK 282; Sv 100. Vgl. Henrichs Aufsatz von 1966 ‚Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart’, in: ders.: Fixpunkte. Abhandlungen und Essays zur Theorie der Kunst, Frankfurt/M. 2003, 126–155, dort 136f., 141, wo der Begriff vom bewussten Leben noch nicht verwendet wird. Es ist nur von „der Selbstbeziehung des Lebens“ oder „des subjektiven Lebens“ – ein gelegentlich im Frühwerk Henrichs vorkommender Terminus – und von den „Lebensbewegungen der Subjektivität“ die Rede. Ebd., 136f.; Sv 101. Der Sachverhalt, „daß bewußtes Leben bereits geschieht“, und der, „daß Bewußtsein vorliegt“ (SK 271), sind wohl identisch. Jedenfalls ist mit der Feststellung, dass bewusstes Leben ‚geschieht‘, der Begriff von dem Leben, das geführt werden soll, noch nicht erreicht. SB 17. Wie in SK versteht Henrich in diesem Text konsequent das Bewusstsein als der Subjektivität vorgängig. – In einem Beitrag von Jörg Dierken wird eine altbekannte Lesart von Henrichs Position insbesondere in SK von 1970 mit neuen Akzenten versehen (J. Dierken: ‚Bewußtes Leben‘ und Freiheit. Zum Zusammenhang von Subjektivität und Metaphysik, in: Subjektivität im Kontext. Erkundungen im Gespräch mit Dieter Henrich, hg. von Dietrich Korsch und Jörg Dierken, Tübingen 2004, 109–125, besonders 109ff.). Dierken gibt den Ansatz von SK so wieder: „Henrichs Subjektivitätskonzept sucht den Selbstbezug in der dynamischen Spontaneität des subjektiven Bewußtseins auf und faßt ihn als ein allem vorgängiges, nicht propositionales Vertrautheit mit sich“ (ebd., 111). Damit wird nicht berücksichtigt, dass das nach dem betreffenden Gedankengang Henrichs ‚Basale‘ (ebd., 112) das Bewusstsein ist, wie es sowohl der Tätigkeit als auch dem Selbstbezug eines Selbst vorausliegt. Es wird von Henrich angenommen, dass Vertrautheit mit Bewusstsein vorliegt, oder dass Bewusstsein Kenntnis von sich hat, aber diese Kenntnis wird von Subjektivität unterschieden. Des weiteren behauptet Dierken mit Verweis auf neuere Publikationen Henrichs, dass dieser unmittelbare Selbstvertrautheit und reflexives Wissen von sich verbindet, und ‚bewusstes Leben‘ wäre – so Dierken – „ein Titel für die Integration irreduzibel-gegenläufiger Faktoren“ (ebd., 112). Der Erklärung, dass bewusstes
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Verbindung mit dem Selbsterhaltungsgedanken eine andere. Hier spricht Henrich vom bewussten Leben als etwas, das zwar Bewusstsein im genannten Sinn umfassen mag, aber als solches höherstufiger als bloßes Bewusstsein ist und Subjektivität im Sinne von Selbstbewusstsein und auch Selbsttätigkeit einschließt.13 Ein einheitlicher Begriff vom bewussten Leben kann diesen Argumentationen also kaum entnommen werden. Die Lage ändert sich in den darauf folgenden Jahren,14 in denen der Begriff zum programmatischen Leitbegriff Henrichs avanciert. Hier müssen zunächst insbesondere die ‚Fluchtlinien‘ von 1982 hervorgehoben werden. In den um die Jahrtausendwende herausgegebenen Büchern ‚Bewußtes Leben‘ und ‚Versuch über Kunst und Leben‘ sind zusammenfassende und aktualisierte Darstellungen enthalten. Auf sie beziehe ich mich, um Henrichs zu unserem Zweck wichtigste Bestimmungen des Phänomens einleitend herauszustellen.15 Das bewusste, nicht nur gleichsam über uns hinweg geschehende Leben ist ein Leben, das ein verstehendes, sich verhaltendes ist und zwar so, dass es darin auf sich selbst bezogen ist. Henrich erklärt zuerst, dass mit ‚bewusst‘ gemeint ist, „daß ein solches Leben im Ausgang von seinem Für-sich-Sein zu vollziehen ist und daß es sich über alles, was aus diesem Ausgang folgt, Rechenschaft geben kann und muß“.16 Das damit hervorgehobene Selbstbewusstsein, das nach Henrich das ist, durch welches wir Subjekte sind, entfaltet er, seiner eigenen Interpretation von Kants Theorie des epistemischen Bewusstseins implizit folgend und sie weiterführend,17 als Einheitsbewusstsein in einem doppelten Sinn: Erstens als das Bewusstsein einer invarianten Einheit, die die Bedingung dafür darstellt, dass wir uns alles, was wir sind, zuschreiben können. Zweitens als das Bewusstsein von Einheit im Sinne unserer Identität in bezug auf die Verbindung von Vielem, das dadurch zur
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Leben eine Synthese von vorreflexiver Selbstvertrautheit und Sich-Wissen sei, fehlt, so weit ich sehe, eine Grundlage in Henrichs Argumentationen. Dies gilt unabhängig von der Interpretation des Vorschlags von 1970, weil Henrich nicht bei diesem stehengeblieben ist. In Henrichs Veröffentlichungen seit etwa 1980 wird ein veränderter Ansatz in der Selbstbewusstseinstheorie sichtbar (vgl. F 150f.; BL 57ff. und unten bei Anm.18), und von diesem Ansatz her ist es zu verstehen, dass Henrich jetzt unbefangener von einem Wissen von sich spricht. Siehe Sv 99f., vgl. ebd., 123ff.; Dieter Henrich: Selbsterhaltung und Geschichtlichkeit, in: Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, hg. von Hans Ebeling, Frankfurt/M. 1976, 303–313. Vgl. Henrichs Aufsatz ‚Glück und Not‘ von 1975, in: Sv 131–141. Dieter Henrich: Bewußtes Leben. Einleitung und Übersicht zu den Themen des Bandes, in: BL 11–48, dort 11ff.; VK 26ff., 33ff., 343f. VK 32. Vgl. besonders Dieter Henrich: Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion, Heidelberg 1976, Kap. III.
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Einheit gebracht wird, wobei u.a. an die Welt zu denken ist. Sodann hebt Henrich die Begrenztheit unseres Wissens, was das Selbstbewusstsein betrifft, hervor. Dieses besteht weder mit Bezug auf sein Korrelat noch auf seinen Ursprung in einer adäquaten Erkenntnis. Dem entspricht der Schluss, den Henrich zu dieser Zeit in theoretischer Hinsicht gezogen hat, und der – ebenso in Übereinstimmung mit seiner KantInterpretation – darauf hinausläuft, dass Selbstbewusstsein in seiner Verfasstheit letztlich unerklärbar ist.18 Dieser Punkt ist entscheidend für die zweite wichtige Komponente im bewussten Leben,19 die eine komplexere Struktur aufweist und dynamisch ist, womit Henrich also erst recht der Verwendung des Lebensbegriffs Rechnung trägt: Von sich wissend, aber ungewiss im Hinblick auf den Grund seines Sichwissens und dessen Verfasstheit ist das menschliche Leben, so Henrichs These, darauf hingewiesen, sich über sich selbst in seiner Weltbeziehung zu verständigen und sich zu deuten. Dies erfolgt in Selbstbeschreibungen verschiedener Art und unterschiedlichen Umfangs. Wir werden auf Henrichs Deutungsbegriff zurückkommen. Vorerst soll festgehalten werden, dass er den Begriff des bewussten Lebens nicht nur auf die abstrakte Selbstbeziehung, das invariante Wissen von sich, sondern vor allem auf den Selbstverständigungs- und Selbstdeutungsprozess des menschlichen Subjekts bezieht.
2. An einer Stelle des ersten Teils seiner Glaubenslehre, deren erste Auflage 1821/22 erschien, spricht Friedrich Schleiermacher vom „Wesen des bewußten Lebens selbst, daß nämlich keine äußere Einwirkung schon an und für sich auch die Gegenwirkung bestimmt, sondern jede Erregung erst in den innersten Mittelpunkt des Lebens aufgenommen wird, und aus diesem auch die Gegenwirkung hervorgeht“.20 Ausgehend von dieser fragmentarischen, aber jedoch pointierten Darstellung möchte ich versuchen, Konturen von Schleiermachers Konzeption des bewussten Lebens zu zeichnen. Was das Zitat betrifft, in dem er wie 18
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Henrich macht sich damit die von ihm bei Kant identifizierte „Strategie einer Theorievermeidung in Sachen Selbstbewußtsein“ zu eigen (siehe Dieter Henrich: Die Anfänge der Theorie des Subjekts (1789), in: Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung. Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag, hg. von Axel Honneth, Thomas McCarthy, Claus Offe und Albrecht Wellmer, Frankfurt/M. 1989, 106–170, dort 134f.). Mir scheint jedoch der über Kant hinaus gehende Schritt der Nachfolger einschließlich Schleiermachers in dieser Hinsicht wohlbegründet zu sein. Vgl. jetzt auch M 172. KGA I/7/1, 337, Z.11ff.
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Henrich die eigentümliche Gebrochenheit des menschlichen Lebens hervorhebt, wird es vor allem darum gehen, den Gedanken vom innersten Mittelpunkt des Lebens und von der Aufnahme von Erregungen darin aufzuklären. Wenn im Hinblick auf Schleiermachers Spätwerk – darunter verstanden die Arbeiten von etwa 1804 an, in denen er die Entfaltung seiner Konzeption in systematischer Gestalt erst recht einleitet – vom Lebensbegriff die Rede ist, ist es wohl unverzichtbar, auf seine Psychologievorlesungen hinzuweisen,21 deren einleitende Überlegungen zur Abgrenzung und Einteilung des Gegenstandsgebiets der Disziplin zum Teil von diesem Begriff her erfolgen. ‚Lebendig‘ ist danach das, „was im Gegensaz mit dem übrigen den Grund zu seinen Veränderungen zum Theil in sich selbst hat“; dieser Grund ist „das Bestreben sich darin“ – d.h. im Gegensatz – „zu erhalten“.22 Dies schließt ein, dass jede Veränderung „zugleich einen äußeren Factor hat“.23 Aus dieser doppelten Gegründetheit ergibt sich, dass die innere Struktur des Lebens den Charakter eines Gegensatzes hat, nämlich des Gegensatzes von Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit, worauf auch das Diktum der Glaubenslehre im Hinblick auf das bewusste Leben abhob. Zu einer Erklärung, wie es zu verstehen ist, dass das so verfasste menschliche Leben bewusst ist, tragen Schleiermachers Psychologievorlesungen jedoch, so weit ich sehe, wenig bei.24 Eine solche Erklärung ist am ehesten von seiner philosophischen Ethik her zu erreichen. Einschlägig sind die dort verorteten Begriffe des Gefühls und des Selbstbewusstseins, die auch in bezug auf weitere einzubeziehende Bestimmungen unseres Themas bei Schleiermacher ganz zentral sein werden. Vorgreifend darf in der Tat gesagt werden, dass das bewusste Leben nach ihm bewusst ist im Sinne sowohl des Gefühls als auch des Selbstbewusstseins. Dies gilt es im Folgenden zu erläutern.
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Vgl. KGA I/13/1, 24, Z.19ff. Allgemein zum Lebensbegriff bei Schleiermacher siehe jetzt Christof Ellsiepen: Der Begriff des Lebens bei Friedrich Schleiermacher, in: Das Leben. Macht und Gestalt, Bd.1, Figurationen des Lebens. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, hg. von Petra Bahr und Stephan Schaede (in Vorbereitung). SW III/6, 415, 409. Ebd., 415. Es sei darauf hingewiesen, dass die Einleitung in die Psychologie von 1830, obwohl nur im Nachschrifttext, explizit vom bewussten Leben redet an einer Stelle, wo nach der „Formel für den zeitlichen Verlauf des Lebens nach der psychologischen Seite hin“ gefragt wird. Diese kann „keine andere sein, als die des menschlichen Lebens als sich seiner bewußten“, was erklärt wird durch Verweis auf „das Bewußtsein als Lebenseinheit betrachtet, welches nicht anderes sagen will, als die Identität des Ich-sezens in einem einzelnen Organismus“, „die Continuität des Ich-sezens“ (ebd., 41f.).
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Auch die philosophische Ethik bezieht sich unter anderem im Hinblick auf ihre grundlegenden Unterscheidungen auf den Lebensbegriff.25 So begegnet uns hier wieder der Gedanke von der gegensätzlichen Strukturiertheit des Lebens, und zwar zunächst in der allgemeineren Form der Unterscheidung von Aneignen und Abstoßen, in sich Aufnehmen und aus sich Hervorbringen. Wir finden diesen ebenso in der von Schleiermacher in die Ethik eingebauten kantianisierenden Theorie der Erkenntnis, die den systematischen Kontext der hervorgehobenen Begriffe ausmacht.26 Der Gegensatz erscheint in diesem Kontext als der von der vernünftigen und der organischen oder sinnlichen Funktion des Erkennens. Die Erkenntnistheorie teilt Schleiermacher in die Theorie des objektiven und die des subjektiven Erkennens, von welchen für uns insbesondere die letztgenannte bedeutsam ist. Jede Erkenntnis wird durch die sinnliche Einwirkung eines Gegenstands oder der Welt – dieser Begriff meint hier die Verknüpftheit der Gegenstände zu höherstufigen Einheiten und letztlich ihre Totalität – auf das anschauende Subjekt veranlasst, so auch die subjektive Erkenntnis, die sich auf die Wirkung aufs Subjekt bezieht. Aus der sinnlichen Funktion allein ergibt sich jedoch keine Erkenntnis, sondern hier „ist alles Fluxion ohne fixirbare Einheit und Mannigfaltigkeit, rein elementarisch“.27 Zur Erkenntnis muss auch die vernünftige Funktion dabei sein. Was die subjektive Erkenntnis betrifft, bedingen die beiden Elemente des Erkennens zwei Arten der ‚Einheit des Bewusstseins‘. Zum einen die Einheit eines zeitlichen Moments: Von ihr wird wesentlich im Plural gesprochen, und solche Einheiten wechseln. Auf diese Art Bewusstseinseinheit verwendet Schleiermacher den Begriff des Gefühls.28 Ein Gefühl stellt nach Schleiermachers Hauptbegriff eine empirische Selbstbeziehung dar; was darin gefühlt wird, ist der momentane Zustand des Subjekts. Die zweite Einheit des Bewusstseins oder – wie besonders von 1816 an gesagt wird – ‚die Einheit des Lebens‘29 oder ‚die Einheit unseres Wesens‘30 ist eine solche, die auf höheren Synthesisleistungen der Vernunft beruht und selbst solche bedingt.31 Auf sie bezieht 25 26 27 28
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W 2, 87ff. u.a. Zum Folgenden siehe Peter Grove: Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin/New York 2004, Kap. 5–6. W 2, 150ff. Ebd., 162. Ebd., 155f., 176. Schleiermachers Begriff der Einheit des Bewusstseins meint in seinen beiden Bedeutungen eine Einheit im Bewusstsein und zunächst nicht das Bewusstsein der Einheit. Siehe zum Beispiel das Zitat oben in Anm.24. Zum Beispiel KGA II/10/2, 147, Z.20ff. Wo Schleiermacher von der ‚Einheit unseres Wesens‘ spricht, unterscheidet er diese implizit von der an anderen Stellen behandelten ‚Einheit des Lebens‘ als einer individuellen. W 2, 176, vgl. ebd., 157.
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Schleiermacher von 1812 an in der Ethik den Begriff des Selbstbewusstseins.32 Dieser Begriff zielt an den hier relevanten Stellen auf das Bewusstsein der Identität des Subjekts in bezug auf wechselnde Zustände.33 Damit wird das Zitat aus dem materialen Teil der Glaubenslehre verständlich. Die Rede vom „innersten Mittelpunkt des Lebens“ weist auf diese letzte Art der Einheit hin: Sie nimmt in der Erstauflage dieser Schrift aus den einleitenden und grundlegenden Paragraphen den Begriff vom Selbstbewusstsein als Einheitsbewusstsein auf.34 Der Gedanke, dass die Erregungen darin aufgenommen werden müssen, um den Bedingungen des bewussten Lebens gemäß zu sein, spielt zwar auf den Gedanken des rezeptiven Pols des allgemeinen Lebensbegriffs an, stellt aber eine potenzierte Version davon dar, die die überwiegende Spontaneität des Subjekts in Anspruch nimmt. Dass das menschliche Leben bewusst ist, heißt also, dass es sich seiner als einheitlichen und identischen bewusst ist. Der Begriff ‚bewusstes Leben‘ hebt jedoch bei Schleiermacher wie bei Henrich nicht allein auf ein abstraktes Selbstverhältnis ab. Der Lebensbegriff zielt in dieser Verbindung, wie besonders Schleiermachers Psychologievorlesungen deutlich machen, auf die konkrete Subjektivität, wie sie durch andere und anderes oder durch die Welt bestimmt ist.35 Orientiert man sich an Henrichs Begriff des bewussten Lebens, kann man, was den Selbstbewusstseinsbegriff betrifft, eine gewisse sachliche Konvergenz zwischen Schleiermacher und Henrich feststellen. Gibt es eine solche auch im Hinblick auf die Subjektivität in ihrer Komplexität und Konkretion, wie sie von Henrich als Selbstinterpretation bestimmt wird?
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Vgl. ebd., 310 §208: „jedes Gefühl ist das Resultat aus den äußeren Einwirkungen auf die Einheit des innern Princips, und jede Verknüpfung das Resultat aus dem innern Princip in das unbestimmt mannigfaltig Objective“. Dieser Paragraph, der große Ähnlichkeit mit dem Passus aus der Glaubenslehre aufweist, verwendet allerdings den Selbstbewusstseinsbegriff nicht, der erst in einer Randbemerkung von 1816 nachgetragen wird; ebd., 311 Anm.2. Vgl. aber damit in der Ethik von 1812, ebd., 310 §207; 264 §9. Ebd., 432f. §10; 311 Anm.2. KGA I/7/1, 27, Z.17f.; 29, Z.11f. In der Psychologie wird dies insbesondere in bezug auf den Ichbegriff artikuliert; vgl. zum Beispiel SWIII/6, 531: „Das einfache Ich-sagen hält doch eine Duplicität in sich, weil wir uns nie schlechthin sondern immer irgend wie finden. Es giebt kein Ichsagen ohne unterscheiden und also ein andres entgegensezen; wir stellen etwas vor, wir empfinden von etwas her, wir wollen etwas. Dies ist das mit dem Ich gesezte Du im weiteren Sinne“. Siehe dazu Peter Grove: Ichbewusstsein. Zu Schleiermachers Fichte-Rezeption, in: Wissen, Freiheit, Geschichte. Die Philosophie Fichtes im 19. und 20. Jahrhundert. Internationaler Fichte-Kongreß, Halle (Saale) 3.–7. Oktober 2006, hg. von Jürgen Stolzenberg (in Vorbereitung).
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Zunächst muss deutlich gemacht werden, wodurch das Konkrete im menschlichen Selbstverhältnis dargestellt wird. Das Selbstbewusstsein und die Gefühle machen in Schleiermachers Konzeption zusammen die ganze Subjektivität aus, und zwar auf eine Weise, die in der Glaubenslehre so zusammengefasst wird: „In jeder Erfahrung […] ist nachzuweisen, und auch, da unser ganzes Leben ein ununterbrochenes Zusammensein mit anderem Endlichen ist, von selbst einzusehen, daß wir keinen Augenblik sein können ohne ein sinnliches Gefühl, dieses also der beständige Gehalt unseres Selbstbewußtseins ist, welches zwar in entschiedenen Augenblikken des Erkennens und des Handelns sehr zurüktreten, aber doch niemals Null werden kann, weil sonst der Zusammenhang unseres Daseins für uns selbst unwiederbringlich zerstört wäre“.36
Hier wird erstens behauptet, dass das Selbstbewusstsein die Kontinuität unseres bewussten Lebens bedingt. Das ist schon für die konkrete Subjektivität bedeutsam; man kann dies mit Dieter Henrichs Gedanken vom Identitätsbewusstsein als Ausgangspunkt einer prozessualen Selbstkontinuierung durch Selbstinterpretation vergleichen.37 Die Konkretion beruht jedoch von Schleiermachers Ansatz her – und das ist der zweite Punkt – vor allem auf den Gefühlsmomenten, die in der Subjektivität den Weltbezug des Subjekts repräsentieren. Ich schiebe ein, dass dies nicht Schleiermachers Gedanken von der konkreten Subjektivität erschöpft. Dazu gehört auch sein Gedanke der menschlichen Individualität, der aber nicht auf eine weltbezogene, sondern auf eine innere, gleichsam monadische Einheit zielt.38 Die Frage ist also, ob Schleiermacher im Hinblick auf die konkrete Subjektivität als Gefühl mit einem Element von Selbstdeutung operiert. Um diese Frage zu beantworten, ziehe ich die Religionstheorie der Glaubenslehre vor dem Hintergrund des religionstheoretischen Ansatzes der Reden über die Religion von 1799 heran. Nach Schleiermachers früher Theorie ist Religion ein durch Gefühl begleitetes Anschauen des Einzelnen und Endlichen als Darstellung des unendlichen Universums oder der Welt. In unserem Zusammenhang sind zwei Punkte wichtig.39 Erstens: Religiöses Anschauen ist Anschauen von etwas ‚als‘ etwas und hat so den Charakter eines vorprädikativen Deutens. Zweitens: Ein solches Anschauen schließt grundsätzlich
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KGA I/7/1, 36, Z.17ff. VK 37. Siehe Grove: Deutungen des Subjekts, a.a.O. (Anm.25), 424. Gemeint ist die oben gestreifte individuelle Einheit des Lebens. Zum Folgenden KGA I/2, 213–220. Auf die Welt- oder Universumsidee, mit welcher die Theorie operiert, ohne sie befriedigend zu erklären, kann hier nicht eingegangen werden.
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empirisches Anschauen als die Weise der Präsenz des Einzelnen für das Subjekt ein; eine religiöse Anschauung ist insofern auf sinnliche Anschauung bezogen. Nach der späten Theorie der Glaubenslehre und damit verbundener Texte ist Religion schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl als Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins.40 Was hier der Beziehung der religiösen Anschauung auf die sinnliche Anschauung nach der frühen Theorie am ehesten entspricht, ist die Bezogenheit des religiösen Abhängigkeitsgefühls auf die sinnlichen oder empirischen Gefühle, aufgrund welcher allein das religiöse Bewusstsein in Übereinstimmung mit Schleiermachers Begriff der Subjektivität überhaupt wirkliches, konkretes Bewusstsein ist. Das bedeutet, dass die sinnliche Anschauung, obwohl nicht mehr Teil der Religion selbst, nicht aus dem Blickfeld verschwunden ist, da ein empirisches Gefühl ja die subjektive Wirkung einer solchen Anschauung ist. Damit wird das religiöse Bewusstsein immer noch als ein mundan vermitteltes begriffen. Die Relation des Subjekts nach außen ist aber im Gefühl nur diese indirekte, wozu das religiöse Gefühl anscheinend nichts hinzufügt. Denn Schleiermacher stellt die Relation zwischen dem religiösen und den empirischen Gefühlen so dar, dass diese beziehungsweise die einzelnen Dinge jenes ‚veranlassen‘ oder ‚erregen‘.41 Anders als die Beziehung des religiösen Anschauens auf das Anschauen des Einzelnen ist die Beziehung des religiösen Abhängigkeitsgefühls auf die sinnlichen Gefühle damit anscheinend von Deutungsstrukturen frei. Von einer Deutung im spezifischen Sinne der Religionstheorie der ‚Reden‘ kann jedenfalls nicht die Rede sein. So scheint die innere Verfassung des religiösen Bewusstseins, wie sie in der Glaubenslehre beschrieben wird, weniger komplex zu sein als die der religiösen Anschauung nach den ‚Reden‘. Eine solche Anschauung ist Anschauung von etwas als etwas, in jedem und so auch im reli-
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KGA I/13/1, 19–53, §§3–5, vgl. KGA I/7/1, 26–40, §§8–11. Dieser Religionsbegriff als solcher kann hier nicht verfolgt werden. Ich verweise auf Henrichs präzise Interpretation: „Daß es aber als selbstbewußtes Subjekt überhaupt besteht und agiert, steht in keinerlei Hinsicht in seiner Disposition, sondern ist für es ein schlechthin vorgängiges Faktum. Wäre das Subjekt in seinem Weltbezug nicht frei, dann könnte es von dieser seiner schlechthinnigen Abhängigkeit gar kein Wissen haben. Denn es weiß von ihr nur als von der Grenze, vor der alle seine Freiheit aufgehoben ist. Das Subjekt weiß von dem, was es begründet, dann aber auch weiter noch insofern in Beziehung auf seine Freiheit, als die Freiheit in seiner Weltbeziehung, ebenso wie diese Beziehung selbst, aus dem Grund entspringt, demgegenüber das Subjekt schlechthin abhängig ist“ (M 160f.). Henrich will diesen Ansatz durch eine besondere „Ausrichtung der Frage auf das Woher der Verfassung unserer Subjektivität“ korrigieren (ebd., 172). Siehe dazu oben Anm.18. Zum Beispiel KGA I/12, 133, Z.39ff.; I/7/1, 132, Z.7f.; I/13/1, 50, Z.13ff.
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giösen Gefühl dagegen fühlt das Subjekt sich irgendwie.42 Wir beziehen uns in einem Gefühl nur auf uns selbst. Wir sind darin zwar durchaus durch anderes bestimmt, aber im Gegensatz zum Anschauen geht die im Gefühl statthabende Erkenntnisrelation gerade nicht auf das mitbestimmende andere, sondern auf das Subjekt. Da eine auf anderes gehende Relation in der Als-Struktur einer Deutung vorausgesetzt wird, ist die Als-Struktur beim Gefühl ausgeschlossen. Auf der anderen Seite zeigt das die emotionale Konkretheit des Gefühls deutlich ausdrükkende ‚irgendwie‘ an, dass jetzt im religiösen Bewusstsein etwas anderes hervortritt. Die Gefühle wurden von Schleiermachers philosophischer Ethik aus sozusagen als subjektive Reflexe der empirischen Anschauung erklärt. Das ist nicht so zu verstehen, dass ein Gefühl ein bloßes Ergebnis der Einwirkung von außen ist. Dies kommt in Schleiermachers Hervorhebung der Lust- und Unlustbestimmtheit des Gefühls, die sich auf eine Förderung beziehungsweise Hemmung des Lebens bezieht, zum Ausdruck. Als Gefühl der Lust oder Unlust ist ein Gefühl ein wertendes. Die spezifische Selbstbeziehung des Gefühls hat insofern den Charakter einer elementaren Selbstwertung.43 Die Strukturiertheit durch den Lust-Unlust-Gegensatz wird unmittelbar nur den empirischen Gefühlen, nicht dem religiösen Gefühl zugeschrieben.44 Das scheint bedeuten zu müssen, dass die Beziehung des religiösen Gefühls auf die sinnlichen Gefühle auch in dieser Hinsicht eine einfache ist, so dass die sinnliche Lust- oder Unlust-Bestimmtheit unmittelbar auf das religiöse Bewusstsein übertragen wird. Das ist aber nicht Schleiermachers Auffassung. Er erklärt, „daß eine zeitliche Bestimmtheit der Seele, abgesehen davon, wie ihr Leben im Gebiet des Gegensazes dadurch gefördert wird oder gehemmt, wonach das sinnliche Selbstbewußtsein angenehm ist oder unangenehm, der höheren Richtung auf das sich Gottes bewußt werden, in ihrem Bestreben in der Zeit hervorzutreten, hemmend sein kann oder förderlich, und danach die aus der Verschmelzung jener Richtung mit der gegebenen oder werdenden
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Vgl. KGA I/7/1, 26, Z.14f.; II/10/1, 266, Z.19f.; I/13/1, 33, Z.17; W 2, 647. Man könnte eventuell mit Bezug darauf den Begriff des Deutens in einem weiteren Sinn verwenden. Nach einer von Manfred Frank verwendeten Einteilung gehört Schleiermachers Gefühlsbegriff einer Wahrnehmungstheorie, nicht einer Urteilstheorie der Gefühle zu, wobei nur der letztgenannte Theorietypus diesen eine evaluative und kognitive Bedeutung beimisst. Schleiermacher zeigt jedoch mit seiner Einbeziehung der Lust-Unlust-Distinktion, dass die Einteilung eine relative ist, wie auch bei Frank klar wird. Siehe ders.: Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung, Frankfurt/M. 2002, 20ff. KGA I/7/1, 38, Z.32ff.
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sinnlichen Bestimmtheit, eine erfreuliche fromme Erregung wird oder eine schmerzliche“.45
Die religiösen Gefühle stellen also einen besonderen Fall der sogenannten vermischten Empfindungen dar, d.h. Empfindungen, die aus Gefühlen der Unlust und solchen der Lust zusammengesetzt sind.46 Worauf es uns ankommt, ist, dass beim religiösen Gefühl in seinem Bezug auf das empirische Bewusstsein damit wiederum eine komplexere Struktur vorliegt, und dass Schleiermacher also ein dem religiösen Leben eigens zugehörendes Wertungselement in Anspruch nimmt.
3. Bekanntlich gibt Martin Heidegger die Begriffe des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins, die nach Schleiermacher und Henrich auf notwendige Bedingungen unseres menschlichen Lebens verweisen, auf. An ihre Stelle tritt zunächst ein pointierter Begriff des Lebens und später des ‚Daseins‘. Damit ist jedoch immer noch die Selbstbeziehung des menschlichen Lebens gemeint, die also ein oder besser: das Hauptthema der frühen Philosophie Heideggers ausmacht. Zu einer Erklärung der ursprünglichen Selbstbeziehung tragen beide Begriffe jedoch kaum etwas bei. Uns interessiert hier nicht dieses Defizit,47 sondern Heideggers tatsächliche subjektivitätstheoretische Leistung, die den anderen Henrichschen Hauptbestandteil des bewussten Lebens betrifft: Heidegger hat die erste Theorie der konkreten Subjektivität in der Form einer Theorie der Selbstauslegung oder Selbstdeutung des Subjekts vorgelegt.48 Damit geht eine Neukonzeption des Gedankens von der Welt im Sinne eines Bedeutungsganzen einher. 45 46
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Ebd., 39, Z.15ff. Vgl. Moses Mendelssohn: Rhapsodie, oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen, in: ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd.I [Berlin 1929], Nachdruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1971, 381–424. Vgl. Jürgen Stolzenberg: Ursprung und System. Probleme der Begründung systematischer Philosophie im Werk Hermann Cohens, Paul Natorps und beim frühen Martin Heidegger, Göttingen 1993, Kap. 5. Dieter Henrich hat diesen Punkt bei Heidegger in verschiedenen Weisen angegriffen; siehe zum Beispiel SK 281f.; GB 615, und SB 7: „So ist es schon nicht einzusehen, was Selbstverhältnis vor aller Bewußtheit eigentlich heißen soll, wenn es zugleich als Grund bewußten Lebens gedacht wird. Diese Annahme steigert noch die Schwierigkeiten, welche die wörtlich genommene Vorstellung von einer unbewußten Vorstellungsdynamik ohnehin macht, indem sie Entwurf, Entschluß und Selbstbestimmung, die wir nur in Weisen gesteigerten Bewußtheit erfahren, in die Bedingungen von Bewußtsein zurückverlegt“. Darauf früh hingewiesen und den Hinweis religionstheoretisch fruchtbar gemacht zu haben, ist das Verdienst Ulrich Barths; vgl. ders.: Christentum und Selbstbewußtsein. Versuch einer rationalen Rekonstruktion des systematischen Zusammenhanges von
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Der Öffentlichkeit vorgelegt wurde diese innovative Theorie mit Heideggers ‚Sein und Zeit‘ von 1927. Es soll zunächst an Aussagen aus der Einleitung zu dieser Schrift erinnert werden, die auf vorläufige Weise einige seiner Grundbegriffe einführen: „Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. […] Dasein versteht sich in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein“. „Zum Dasein gehört […] wesenhaft: Sein in der Welt. Das dem Dasein zugehörige Seinsverständnis betrifft daher gleichursprünglich das Verstehen von so etwas wie ‚Welt‘ und Verstehen des Seins des Seienden, das innerhalb der Welt zugänglich wird“.49
Was uns hier wichtig ist, ist nicht Heideggers Frage nach dem Sinn von Sein, sondern das, was die Grundlage der Seinsfrage ausmacht und in den Zitaten anklingt. Diese Grundlage ist das Dasein, das als ein Selbstverhältnis und zwar als ein verstehendes Selbstverhältnis und sodann als In-der-Welt-Sein dargestellt wird. Es ist Selbstverständnis und Selbstauslegung, indem es Weltverständnis ist. Diese These wird in den ersten Kapiteln des ersten Abschnitts von ‚Sein und Zeit‘, aber nicht erst dort entfaltet. Die Weltanalyse gehört zu den ältesten Teilen von Heideggers Konzeption. Sie wird grundsätzlich schon von seiner ersten Vorlesung 1919 an formuliert, und von dorther soll die These im Folgenden verständlich gemacht werden. Einschlägig ist Heideggers für sein ganzes Denken grundlegende Interpretation des Lebensbegriffs durch den Intentionalitätsgedanken: Leben ist „Leben auf etwas zu“, „Hinleben zu“, es ist „immer in eine Welt“ gerichtet.50 Diese Struktur hat einen hermeneutischen Charakter: Etwas wird darin immer schon ‚als‘ etwas erfahren, es hat Bedeutung.51 Heideggers Analyse des Welt- und Bedeutsamkeitscharakters des Lebens geht in den ersten Vorlesungen von Beschreibungen alltäglicher Situationen aus, deren faktische Interpretiertheit hervorgehoben wird, um von dort her grundlegende Sinnstrukturen des Lebens aufzuweisen. Auf einer frühen Stufe dieser Analyse, wo von der individuellen Lebenswelt gesagt wird, sie bilde „einen Fonds von Verständlichkeiten und unmittelbaren Zugänglichkeiten“, verweist Heidegger auf „Weltund Lebensanschauungen […], die das Leben deuten sollen“, und in einer Linie damit auf Kunstwerke und Religion. Heidegger fügt zu-
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Schleiermachers subjektivitätstheoretischer Deutung der christlichen Religion, Göttingen 1983, 83ff.; ders.: Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 3–27, dort besonders 19 Anm.27; 263–283. SZ 12f. GA 56/57, 68, 73, zum Teil hervorgehoben im Original; 58, 31. GA 56/57, 70ff.
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sammenfassend hinzu: „Das Leben erfährt gewisse bestimmte Ausprägungen und Charakterisierungen und Stellungen seiner zu ihm selbst“.52 Was nun die Subjektivität betrifft, erklärt Heidegger, dass das Selbst im Leben auf die Welt hin ‚mitschwingt‘, ‚mitanklingt‘ oder mit einer späteren Wendung ‚miterschlossen‘ ist, dass es unabgehoben darin ist, statt reflexiv bewusst zu werden.53 Der positive Sinn der Selbsterfahrung wird angedeutet, wenn gesagt wird, dass man sich im Weltbezug immer ‚irgendwie‘ hat.54 Das entspricht der Selbsterfahrung des Gefühls, wie wir sie von Schleiermacher her kennen, aber erst bei Heidegger erhält das ‚irgendwie‘ einen eigentlich interpretierenden Charakter; auch er hebt übrigens ein emotionales Element darin hervor, aber von einem anderen Begriff des Emotionalen her, der ein dezidiertes Deutungselement einschließt.55 Die konkrete Weise des Sichselbsthabens wird in vielen Aussagen der frühen Vorlesungen Heideggers dargestellt: „Ich lebe in der lebendigen Zugrichtung in eine Welt hinein und lebe sie aus. In dieser Zugrichtung faktischen Lebens begegne ich zuweilen auch mir selbst“. „Ich erfahre mich, begegne mir in allen möglichen Weisen, aber so, wie ich anderes auch erfahre“.56 „Das Erfahrene drückt mich selbst irgendwie aus. In faktischer Lebenserfahrung lebe ich in einem fragmentarischen Umkreis, in dem ich mich selbst finde, habe und mir verständlich werde“.57
Oder es ist von der Selbstbeziehung als einem Reflex im optischen Sinn die Rede: das Selbst scheint aus den Dingen wider und versteht sich von da her.58 Dieser Subjektivitätsbegriff ist von Heideggers Begriff des menschlichen Lebens aus zu verstehen, und zwar von daher, dass dieses wesentlich sinnhaft strukturiert ist: „Leben ist kein chaotisches Wirrsal von dunklen Flutungen […], sondern es ist, was es ist, nur als konkrete sinnhafte Gestalt“. Es fließt „nicht wie ein Strom dumpf dahin“, sondern ist „verständlich“ und „wird als etwas Bedeutsames, konkret sich Ausdrückendes verstanden“.59 Dass das Selbst aus sich in die Welt hinein
52
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GA 58, 34f., teilweise hervorgehoben im Original. Heidegger verwendet den Deutungsbegriff selten. So ist es charakteristisch, dass dieser hier in einer Exemplifikation auftritt, die das Rudiment einer von ihm verlassenen Kulturtheorie darstellt; vgl. Theodore Kisiel: The Genesis of Being and Time, Berkeley u.a. 1993, 86. GA 56/57, 73; 24, 225. GA 56/57, 73; 58, 157 u.a. Siehe SZ 134ff. GA 58, 96f. Ebd., 161. GA 24, 226f. GA 58, 148, 231, 239.
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geht und sich dort findet, dass es sich nur in der Welterfahrung verständlich wird, sich dort ausgedrückt findet etc., gibt also die grundlegende Verfasstheit des Lebens wieder. Die Pointe, die in bezug auf unsere Fragestellung herausgestellt werden soll, ist, dass die Ausdrucks- oder Entwurfsstruktur des Lebens oder der Subjektivität eine verstehende Selbstbeziehung auf Umwegen darstellt, ein Selbstverhältnis, das durch das Verhältnis zu etwas anderem, zur Welt, vermittelt ist. Von der sich auf solche Weise vollziehenden konkreten Subjektivität kann Heidegger den Begriff der Selbstauslegung verwenden.60 Sie könnte ebensowohl als Selbstdeutung bezeichnet werden. Eingeführt wurde dieser Begriff in die neuere Debatte, wie gezeigt, von Dieter Henrich. Nun ist dessen oben berührten Texten von 1970 über die Verwendung des Begriffs vom bewussten Leben hinaus eine kritische Bezugnahme auf Heidegger gemeinsam. Insbesondere die Aufsätze „Die deutsche Philosophie nach zwei Weltkriegen“61 und „Die Grundstruktur der modernen Philosophie“62 zeigen, wie Henrich auf eine philosophische Konzeption abzielt, die am besten als Alternative zu der Heideggers verstanden werden kann.63 Dessen ungeachtet gibt es sachliche Berührungspunkte zwischen beiden Denkern. Sie werden von den späten achtziger Jahren an, wo entgegenkommendere Aussagen über Heidegger bei Henrich auftauchen, sichtbarer. So hebt er dessen ‚Hermeneutik des Daseins‘ als den einzigen neueren philosophischen Entwurf hervor, der sich im Problembewusstsein im Hinblick auf die Thematisierung des bewussten Lebens mit der klassischen deutschen Philosophie vergleichen lässt.64 Diese Tendenz wird am Schluss von ‚Versuch über Kunst und Leben‘ von 2001, der sich in seinen grundlegenden Partien überhaupt durch breite Bezugnahme auf Heidegger auszeichnet,65 besonders deut60 61 62 63
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65
Vgl. SZ 312: „Zum Sein des Daseins gehört Selbstauslegung“. K 47ff., 51ff. Vgl. auch Dieter Henrich: Über Selbstbewußtsein und Selbsterhaltung, in: Sv 109–130. So auch Barth: Letzte Gedanken, a.a.O. (Anm.1), 470f.; Barth übertreibt meines Erachtens die positiven Beziehungen zwischen Heidegger und Henrich. Unter diesem Blickwinkel kann schon Dieter Henrich: Über die Einheit der Subjektivität, in: Philosophische Rundschau 3 (1955), 28–69, gelesen werden, wodurch sich also die sachliche Kontinuität seines Werks zeigt. Dieter Henrich: Warum Metaphysik, in: BL 74–84, dort 82f.; GB 614f.; BL 7; ders.: Wissen, Vergewisserung und die Frage ‚Was ist der Mensch?‘, in: Anthropologie, Ethik und Gesellschaft. Für Helmut Fahrenbach, hg. von Reinhard Brunner und Peter Kelbel, Frankfurt/New York 2000, 19–43, dort 41. Dieses Problembewusstsein Heideggers ist deutlicher geworden mit der Veröffentlichung seiner frühen Vorlesungen, auf welche sich Henrich vielleicht auch bezieht (vgl. VK 19ff.). Vgl. etwa im Zusammenhang der philosophischen Thematisierung des Lebens, VK 19f., 24f.
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lich. Henrich verweist hier ausdrücklich darauf, dass ‚Subjektivität‘, wie er sie begreift, viel mit Heideggers ‚Dasein‘ gemeinsam hat.66 Diese Auskunft, die vor dem Hintergrund der frühen Veröffentlichungen Henrichs verwundert, ist in Zusammenhang mit einer von ihm Ende der neunziger Jahren eingeführten Begrifflichkeit zu verstehen. Nach ihr meint ‚Subjektivität‘ nicht wie üblicher in der Diskussion die Selbstbeziehung eines Subjekts überhaupt, sondern das, was ich die konkrete Subjektivität genannt habe, und das heißt bei Henrich die Selbstverständigung und Selbstdeutung des Subjekts. Dass konkrete Subjektivität Selbstinterpretation ist, ist also der Punkt, in dem sich Heidegger und Henrich begegnen. Auf der anderen Seite verbinden sich damit sogleich Unterschiede. Es ist nicht wieder darauf einzugehen, dass Subjektivität in diesem Sinn nach Henrich Selbstbewusstsein voraussetzt. Entscheidend ist vielmehr Henrichs Einwand gegen Heidegger, dass dieser in seiner Konzeption des konkreten Selbstverhältnisses eine ursprüngliche Einheit und Ganzheit des Lebens oder Daseins voraussetzt. Dieser Hauptpunkt in Henrichs Auseinandersetzung mit Heidegger wird schon in den ‚Fluchtlinien‘ formuliert. Hier schreibt jener diesem die These zu, dass das Leben „in seiner natürlichen Vertrautheit mit sich und der Welt hinreichend über sich verständigt“ ist, dass das alltägliche „Verstehen in sich selbst schon den Einheitszusammenhang hat, auf den die Lebensdeutungen nur immer ausgehen könnten. Keinesfalls zu deuten also sei das Leben. Es sei nur sein ursprüngliches In-der-Welt-Sein und sein darin schon auf seine eigene Ganzheit hin Verständigt-Sein zu entbergen“. Henrich stellt die Gegenthese auf, dass das Leben des Menschen eine Einheit des Verstehens nicht besitzt, sondern durch Konflikte und Ambivalenzen gekennzeichnet ist, dass es aber in Deutungen auf Einheit und Ganzheit hinausgreift.67 Unmittelbar scheint diese Kritik Heidegger nicht zu treffen. Es ist nicht so, dass das Leben nach ihm von vornherein durch eine solche Einheit und Ganzheit gekennzeichnet ist, die jede Sichverständigung und Deutung des Lebens überflüssig machen. Noch mehr ist unzutreffend, dass Heidegger beim alltäglichen Verstehen und bei einer natürlichen Selbst- und Weltvertrautheit stehen bleibt. Um das zu sehen, muss man in ‚Sein und Zeit‘ nur über die Weltanalyse hinaus die Angstanalyse in Betracht ziehen.68 Auf dieser existenzphilosophischen Ebene von Heideggers Untersuchung wird deutlich, dass er nicht bloß mit einer
66 67 68
Ebd., 343. F 16f., vgl. VK 20ff. Siehe auch Henrichs zum Teil ähnliche Kritik an Schleiermacher, M 176f. Vgl. besonders SZ 188f.
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vorgegebenen Einheit oder Ganzheit operiert. Er unterscheidet zwei grundlegende Weisen der Selbstauslegung, die der Uneigentlichkeit und die der Eigentlichkeit, und die letzte zeichnet sich durch die Vorwegnahme der Ganzheit des Daseins in einem Vorlaufen zum Tode aus.69 Dieser Teil des Heideggerschen Untersuchungsgangs mag erst recht mit Schwierigkeiten verbunden sein – das soll hier nicht erörtert werden –, die Selbstauslegung der Eigentlichkeit scheint aber wenig mit einem Zurückfinden in eine verlorene Ganzheit70 zu tun zu haben. Und doch ist Henrichs Darstellung durchaus zutreffend. Der entgegengesetzte Eindruck kommt daher, dass sein oben nur angedeuteter Deutungsbegriff enger ist als der bisher vor allem in bezug auf Heidegger verwendete. Es kommt dem frühen Heidegger darauf an, dass das Leben oder Dasein sich aus sich selbst allein versteht. Deshalb bedarf es keiner Gedanken, die über es hinaus greifen. Vor allem solche meint Henrich aber mit seinem Deutungsbegriff: Deutungen haben nach ihm einen das primäre Selbst- und Weltverhältnis transzendierenden Charakter, der zu verstehen ist von der konflikthaften Verfasstheit des bewussten Lebens her, an der sie sich entzünden. Henrich verwendet den Begriff der Deutung als ‚Selbstdeutung‘ oder ‚Lebensdeutung‘ für umfassende Selbstbeschreibungen des Lebens, oft solche, die eine mehr oder weniger fixierte Gestalt haben und so eine Kultur bestimmen: „Selbstdeutungen sind entwickelte und abschließende Selbstbeschreibungen des bewußten Lebens im Grundverhältnis“.71 Es geht um Interpretationen von Selbst und Welt auf eine definitive Bedeutung hin, von einem letzten Sinnzusammenhang her.72 Außerdem kommt es Henrich gegen Heidegger darauf an, dass im Deuten Vernunft tätig ist. Dieser so auf Disharmonien und Ambivalenzen bezogene Vernunftbegriff soll die neue Art einer vernunftkritischen Reflektiertheit im nachidealistischen Denken einschließlich Heideggers berücksichtigen.73 Es handelt sich um ‚die Vernunft des bewussten Lebens‘.74 In dieser Kontroverse geht es endlich auch um den Weltbegriff. Wie nach Heidegger finden nach Henrich Verstehen und Deuten zwar in bezug auf einen Sinnzusammenhang statt, der vom Subjekt entworfen wird, und Henrich verwendet dafür ebenso den Weltbegriff.75 Dieser 69 70 71
72 73 74 75
Ebd., 264. So VK 22; BL 129f. F 113. Der Begriff des Grundverhältnisses bezieht sich auf die Korrelation zwischen Subjekt und Welt, zwischen Wissen von sich und Wissen von der Welt im bewussten Leben; siehe dazu Sv 183ff. Siehe besonders F 11ff. Vgl. M 171. VK 200; F 54, 93. Vgl. F 11, 13; VK 45. Zum Folgenden ebd., 43ff.
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Begriff wird aber von ihm wiederum neu konzipiert. Die Idee von der Welt als Sinnzusammenhang fasst Henrich von einem anderen Weltbegriff, vom Begriff der ‚primären‘ Welt her. Diese ist die Welt, um die wir wissen in einem damit, dass wir von uns selbst wissen, – die Welt der Dinge, Ereignisse etc. Wir gehören als verkörperte Wesen, als Einzelne dazu, aber nicht als von uns Wissende oder Subjekte. Der letzte Umstand ist einer der Ansatzpunkte für Henrichs zweiten Weltbegriff: Die primäre Welt ist mit Gegensätzen und Unklarheiten verbunden; vor allem kann sich das sich seiner selbst bewusste Leben nicht von dorther verstehen. Es muss sich selbst und die primäre Welt auf einen umfassenden Zusammenhang hin deuten, der die Integration jener disparaten Züge erlaubt. Dafür prägt Henrich im Unterschied zur primären Welt als ‚Korrelationswelt‘ den Begriff einer ‚Integrationswelt‘. Ein wichtiges Beispiel Henrichs von Deutungen im angegebenen Sinn sind die Religionen.76 Seine zeitdiagnostische These, die auf eigentümliche Weise Webersche und Hegelsche Motive verbindet und fortschreibt, ist jedoch, dass heute als umfassende Deutungen eigentlich nur solche metaphysischer Art in Frage kommen. Diese These dürfte auf problematischen Voraussetzungen beruhen.77
4. Blickt man vor dem Hintergrund der Erörterung von Heidegger und Henrich abschließend auf Schleiermacher zurück, müssen zwei Punkte hervorgehoben werden.
76 77
Vgl. Dieter Henrich: Das Selbstbewußtsein und seine Selbstdeutungen. Über die Wurzeln der Religionen im bewußten Leben, in: F 99–124. Vgl. Barth: Letzte Gedanken, a.a.O. (Anm.1), 482ff. Zu den dort hervorgehobenen Kritikpunkten füge ich einen weiteren hinzu: Wenn Henrich behauptet, dass die Philosophie Nachfolgerin der Religion ist, denkt er nicht zuletzt an die institutionelle Gestalt der Weltreligionen (vgl. Dieter Henrich: Religion und Philosophie – letzte Gedanken – Lebenssinn. Drei Versuche, auf Rückfragen von Ulrich Barth zu antworten, in: Subjektivität im Kontext, hg. von Korsch und Dierken, a.a.O. (Anm.12), 211–231, dort 216f.). Gerade hier scheint ein wunder Punkt seines eigenen Ansatzes zu sein: Wie soll Philosophie, die, wie sie bisher bekannt ist, keine vergleichbare Institution als Trägerin der Lebensdeutung bildet, die Rolle der Religion übernehmen können? Barth bezieht auf Henrichs Ansatz treffend den von Ernst Troeltsch geschaffenen und hervorgehobenen Begriff der ‚Bildungsreligion‘. Nach Troeltsch ist jedoch die moderne, von der kirchlichen Religion verselbständigte Bildungsreligion praktisch und sozial unfruchtbar, so dass sie trotzdem auf die etablierte Religion hingewiesen bleibt; siehe zum Beispiel Ernst Troeltsch: Religionsphilosophie, in: Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer, hg. von Wilhelm Windelband, Heidelberg 19072, 423–486, dort 485f.
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Erstens, dass sein Denken durchaus deutungstheoretische oder deutungstheoretisch relevante Ansätze einschließt. Es wurde oben auf ein wichtiges Beispiel hingewiesen: in den frühen ‚Reden‘ ist für Schleiermacher Religion Anschauung des Endlichen als Darstellung des Unendlichen. Er führt damit ein Element von Deutung in den Religionsbegriff ein. Andere Beispiele können genannt werden. Ein solches ist Schleiermachers Konzeption der erkennenden Funktion als einer symbolisierenden im Zusammenhang der Kulturtheorie der philosophischen Ethik.78 Ein weiteres Exempel bildet die in der Dialektik und anderswo bei Schleiermacher geltend gemachte These von der philosophischen Theorie als Explikation eines dem natürlichen, vortheoretischen Leben eigenen Denkens,79 eine These, die sowohl beim frühen Heidegger als auch beim späten Henrich Entsprechungen findet. Endlich ist auch die Idee der Dialektik vom unmittelbaren Selbstbewusstsein als etwas, das im Sinne einer Analogie, eines Bildes oder eines Zeichens über sich hinaus auf einen transzendenten Grund des Bewusstseins und des Wissens verweist, zu erwähnen.80 Hier in der Theorie der Dialektik vom objektiven Bewusstsein, ist der nächste Nachfolger des Deutungsgedankens der frühen Religionstheorie zu identifizieren.81 Dagegen – und das ist der zweite Punkt – findet dieser keine Entsprechung in der späten Theorie des subjektiven religiösen Bewusstseins. Dass das besondere Deutungselement vom Religionsbegriff der ‚Reden’ hier entfallen ist, ist von den Grundbegriffen der neuen Theorie her zu erklären. Schleiermachers Begriff des Gefühls als unmittelbaren Selbstbewusstseins muss jedes die Lust-Unlust-Bestimmtheit überschreitende Element von Interpretation ausschließen. Meine Behauptung ist nicht, dass sein Begriff der Religion als Gefühl und Selbstbewusstsein, was die primäre Ebene des religiösen Bewusstseins betrifft, mit gar keinen Deutungsstrukturen verbunden ist, obwohl solche von Schleiermacher tatsächlich nicht entfaltet werden. Eine Deutungsoperation im Zusammenhang des späten Religionsbegriffs ist in der bei Schleiermacher mehrmals vorkommenden Rede von einem ‚Zurückschieben‘ unseres Soseins auf ein Mitbestimmendes im Gefühl zu Recht identifiziert worden.82 Ebenso wäre hinzuweisen auf den Gedanken der 78 79 80 81 82
Vgl. Wilhelm Gräb: Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002, 55ff. Siehe Grove: Deutungen des Subjekts, a.a.O. (Anm.25), 446ff. Siehe besonders KGA II/10/1, 266, Z.19ff.; 37, Z.30ff. Siehe dazu Grove: Deutungen des Subjekts, a.a.O. (Anm.25), Abschnitt 8.2. Ulrich Barth: Die Letztbegründungsgang der ‚Dialektik‘. Schleiermachers Fassung des transzendentalen Gedankens, in: ders.: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 353–385, dort 383 Anm.62. Vielleicht kann die betreffende Operation jedoch wie
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Glaubenslehre von einer ‚Ausdehnung‘ des Gefühls oder Selbstbewusstseins und von einer ‚Aufnahme‘ der ganzen Welt darin – einer ‚Aufnahme‘, die von der oben rekonstruierten, bewusstes Leben bedingenden Aufnahme von einzelnen Erregungen in seinen innersten Mittelpunkt spezifisch unterschieden ist.83 Entscheidend ist, dass nicht abzusehen ist, wie Schleiermachers Begriff des Gefühls als bloßer obzwar konkreter Selbstbeziehung solchen Deutungsleistungen sollte Rechnung tragen können. Dieser Befund gibt Anlass, vor einer hypertrophen Verwendung des Deutungsbegriffs in bezug auf Schleiermacher zu warnen. Es geht bei ihm eher nur um mehr oder weniger entfaltete Ansätze als um Glieder einer durchgeführten umfassenden interpretationstheoretischen Konzeption des bewussten Lebens. Solche Konzeptionen gehören einer späteren Zeit an, zu deren wichtigsten Vertretern Martin Heidegger und Dieter Henrich zählen. Wie eingangs angedeutet, ist der Deutungsbegriff eine spezifisch nachidealistische Denkfigur. Auf der anderen Seite läuft diese Einschätzung nicht auf eine Schmälerung der Bedeutsamkeit von Schleiermachers Leistung an diesem Punkt hinaus. Im Gegenteil, sie zeigt erst recht, wie zukunftsweisend die betreffenden Ansätze waren.
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Schleiermachers Rekonstruktion des religiösen Gottesgedankens, mit welcher sie sachlich verbunden ist, als Ausdruck einer nicht der primären Ebene des religiösen Bewusstseins zugehörenden Reflexion verstanden werden; vgl. besonders KGA I/13/1, 40, Z.2f.; 33, Z.22ff. KGA I/7/1, 35, Z.14ff.; 49, Z.18ff.; 50, Z.9 u. 27ff. Überhaupt ist Schleiermachers Umgang mit dem Weltgedanken in der Religionstheorie der Glaubenslehre mit Unklarheiten verbunden, die das Problem Gefühl und Deutung berühren.
Protestantische Frömmigkeit und bildende Kunst: Schleiermacher im Gespräch mit Caspar David Friedrich VON WERNER BUSCH/BERLIN
Der folgende Text gliedert sich in fünf Teile. Der erste beschäftigt sich historisch-faktisch mit dem Verhältnis von Caspar David Friedrich und Friedrich Schleiermacher. Der zweite liefert eine strukturelle Analyse zweier Bilder Friedrichs. Der dritte versucht, Friedrichs Auseinandersetzung mit Schleiermachers Reden ‚Über die Religion‘ einsichtig zu machen. Der vierte referiert in geraffter Form Schleiermachers mathematische Grundlegung seines Denkens, während der letzte und fünfte Teil Schleiermacher als Mittler zum Verständnis von Friedrichs Kunst begreift, exemplifiziert an einem weiteren Bild.
1. Im Briefwechsel von Schleiermacher wird Friedrich nur einmal erwähnt1 – allerdings in zentralem Zusammenhang, von Friedrich gibt es überhaupt kein Zeugnis seiner Beschäftigung mit Schleiermacher. Das sollte zur Vorsicht mahnen, zuviel von einem etwaigen Austausch zu erwarten, zumal Schleiermacher offensichtlich an der bildenden Kunst kein besonderes Interesse hatte. Die ältere Literatur seit Dilthey scheint zudem religiöse und künstlerische Offenbarung zu sehr in eins zu setzen. Dennoch: es ist auffällig, in welch‘ extremem Maße sich die Freundeskreise von Friedrich und Schleiermacher überschneiden, die religiösen wie politischen Überzeugungen parallel zu gehen scheinen, wie vielfältig die denkbaren Übertragungswege von Schleiermacherschen
1
Karl Ludwig Hoch: Friedrich Schleiermacher und Caspar David Friedrich, in: Deutsches Pfarrerblatt 84 (1984), 167–171; Caspar David Friedrich – unbekannte Dokumente seines Lebens, hg. von Karl Ludwig Hoch, Dresden 1985, 42–47, 73–76, dort auch die meisten Fakten zum folgenden.
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Gedanken zu Friedrich sind. Denn zweifellos ist Schleiermacher der Gebende, Friedrich der Nehmende. Der Reihe nach: Als Friedrich 1798 von der Akademie in Kopenhagen zurückkehrte, blieb er nur kurz in seiner Heimatstadt Greifswald, um für einige Zeit in Berlin zu verweilen, Juli und August sind am wahrscheinlichsten, denn ab September ist Friedrich endgültig in Dresden. Im August entwarf Schleiermacher seine Reden ‚Über die Religion‘,2 und es ist verlockend, sich schon zu diesem Zeitpunkt eine Begegnung Friedrichs mit Schleiermacher vorzustellen. Denn er kann in Berlin nur seinen Jugendfreund Georg Andreas Reimer aus Greifswald besucht haben, der seit 1795 in Berlin war, in der Langeschen Buchhandlung arbeitete und ab dem 1. Juni 1800 die Realschulbuchhandlung leitete. Die erste Erwähnung Reimers durch Schleiermacher findet sich in einem Brief an August Wilhelm Schlegel vom 14. Oktober 1800,3 wo er diesem vorschlägt, eventuell auf Reimer als Verleger zurückzugreifen. Aus dem Brief wird deutlich, daß er ihn bereits kennt; unklar bleibt, wie lange. 1801 erscheinen Schleiermachers Predigten bei Reimer, 1802 besiegeln sie ihren Freundschaftsbund. 1817 im Herbst zog Schleiermacher in Reimers Haus, das ehemalige Sackesche Palais in der Wilhelmstraße. Ab 1819 stellte Reimer in diesem Haus die größte Sammlung von Friedrich-Bildern zusammen, die je existiert hat, 31 Gemälde. Die erste nachweisliche Begegnung Friedrichs und Schleiermachers findet 1810 statt, und sie steht im Zusammenhang mit Friedrichs wohl bedeutendstem Bilderpaar, dem „Mönch am Meer“ (Abb.1) und der „Abtei im Eichwald“ (Abb.2). Schleiermacher war am 22. Juni 1810 auf Antrag Wilhelm von Humboldts Ordentliches Mitglied der Sektion für den öffentlichen Unterricht im Berliner Innenministerium geworden und als solcher oblag ihm auch die Organisation der jährlichen Berliner Kunstausstellung und die Aufsicht über die Akademie. Im August 1810 weilte Staatsrat Wilhelm Otto von Uhden in Dresden und sondierte u.a. bei Caspar David Friedrich, um ihn zu veranlassen, an der Berliner Ausstellung teilzunehmen. Wir müssen annehmen auf Veranlassung Schleiermachers, denn erstens erstattet er Schleiermacher schriftlich noch während der Reise Bericht und zweitens agierte er ohne Auftrag des für 2
3
Kurze Darstellung der Entstehungsgeschichte: Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Mit einem Nachwort von Carl Heinz Ratschow, Stuttgart 1993, 209f.; Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Reinbek bei Hamburg 1967, 48–50. Doris Reimer: Passion und Kalkül. Der Verleger Georg Andreas Reimer (1766–1842), Berlin 1999; Andreas Arndt und Wolfgang Virmond: Georg Andreas Reimer, in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Briefwechsel 1801–1802 (KGA V/5) Berlin/New York 1999, LVI–LXI; Roger Töpelmann: Romantische Freundschaft und Frömmigkeit. Briefe des Verlegers Georg Andreas Reimer an Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Hildesheim 1999.
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die Ausstellung direkt zuständigen Senats der Akademie, der er erst nachträglich am 5. September 1810 von seinen Bemühungen berichtete. Nach Rückkehr von der Reise berichtete von Uhden Schleiermacher zusätzlich. Am 12. September war Schleiermacher dann selbst in Dresden und bei Friedrich, im übrigen sechs Tage vor Goethe. Auf der Staffelei standen nach wie vor der „Mönch am Meer“ und sein Pendant, die „Abtei im Eichwald“. Am 27. September trafen die beiden Bilder in Berlin ein – die Ausstellung war bereits am 23. eröffnet worden. Sie wurden noch in die Ausstellung gehängt, im übrigen, wohl aus Platzmangel, übereinander. Es scheint so, als habe man besonderen Wert darauf gelegt, diese Bilder noch zu integrieren. Auf besonderen Wunsch des fünfzehnjährigen Kronprinzen Friedrich Wilhelm wurden die Bilder vom Fleck weg vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. erworben, aufgrund des Erfolges wurde Friedrich im November 1810 zum auswärtigen Mitglied der Kunstakademie gewählt.4 Bei alledem möchte man an eine Beförderung durch Schleiermacher denken. Ja, die Vermutungen können durchaus noch weitergehen. Der „Mönch am Meer“, an dem Friedrich von 1808–1810 arbeitete, ist ein Palimpsest.5 Nachweislich ist das Bild viermal übermalt und in seiner Ausdrucksdimension grundsätzlich verändert worden. Röntgenfotos können zeigen, daß ursprünglich links und rechts Schiffe zu sehen waren, im Mittelgrund Fischreusen und der Mönch am Meer ursprünglich offenbar uns nicht den Rücken zukehrte, sondern nach rechts seitwärts sinnend mit Melancholiegestus aus dem Bilde schaute, der Himmel zeigte eine schöne Mondlandschaft etc.6 Ganz offensichtlich hat Friedrich – die Berichte von Besuchern legen es nahe – nach Schleiermachers Besuch, das Bild ein letztes Mal übermalt. Die absolut reduzierte Form und der trostlose Eindruck scheinen erst jetzt endgültig ausformuliert worden zu sein. Erst in dieser keine Hoffnung aufkommen lassenden Fassung ist das Bild ein dialektisches Gegenstück zu seinem Pendant der „Abtei im Eichwald“,7 die später begonnen und eher fertig war. So trostlos auch sie erscheinen mag, letztlich keimt in ihr Hoffnung auf, wenn auch erst im Durchgang durch den Tod. Der Trauerzug mit dem Sarg in kahler Schneelandschaft hat das Tor der Abteiruine er-
4
5 6 7
Neben Hoch (s. Anm.1), auch Helmut Börsch-Supan: Berlin 1810. Bildende Kunst. Aufbruch unter dem Druck der Zeit, in: Kleist-Jahrbuch (1987), 52–75; Zusammenfassung bei: Werner Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, München 2003, 74–76, 161f. Helmut Börsch-Supan und Karl-Wilhelm Jähnig: Caspar David Friedrich. Gemälde, Druckgraphik und bildmäßige Zeichnungen, München 1973, Kat.Nr.168. Abb. der Röntgenfotos: Caspar David Friedrich. Der Watzmann, hg. von Birgit Verwiebe, Berlin und Köln 2004, 100–103, Abb. 18–20, 22 und 23. Börsch-Supan und Jähnig: Caspar David Friedrich, a.a.O. (Anm.5), Kat.Nr. 169.
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reicht, winzige Lichter sind am Eingang aufgesteckt, doch die ausgeprägte Symmetrie des Bildes ist nicht ohne beruhigenden Effekt, sie führt zur Reflexion des Gezeigten und genaue Betrachtung entdeckt nicht nur im Maßwerk des Lanzettfensters ein winziges Vögelchen, sondern erfährt schließlich im rechten Bildteil über dem aufziehenden Dunkel einen schwachen rötlichen Hoffnungsschimmer, kaum eine Abbildung kann ihn einfangen. Durch den Tod zum ewigen Leben, war Friedrichs vielfältig berufenes Credo. So ist das zweite Bild für denjenigen, der sich der Wirkung sinnend überläßt, die dialektische Aufhebung des ersten. Wie dies im einzelnen geschieht, sei hier noch nicht analysiert. Das zweite quellenmäßig genau überlieferte Treffen von Friedrich und Schleiermacher fand 1818 statt. Und jetzt wird deutlich, was im Grunde genommen auch zuvor schon angelegt war. Friedrich und Schleiermacher stimmen, wie im folgenden noch im Detail zu belegen sein wird, nicht nur in ihren religiösen Grundüberzeugungen überein, sondern auch in den politischen. Bei beiden ist ab 1806 eine ausgeprägte Napoleon-Feindschaft zu konstatieren. Es gibt gute Gründe, im „Mönch am Meer“ auch eine antinapoleonische Tendenz zu sehen.8 Zum einen spricht vieles dafür, daß sich Friedrich im Mönch selbst gesehen hat,9 zum anderen läßt sich nachweisen, aufgrund von Vorzeichnungen, daß es sich bei dem Strand, auf dem der Mönch steht, um den Großen oder Lobber Strand handelt, gelegen auf Mönchgut, im äußersten Südwesten von Rügen.10 Von hier hat man einen weiten Blick über die Ostsee, erkennt am Horizont den schmalen Küstenstreifen und das einzige, das man bei gutem Wetter mit bloßem Auge identifizieren kann, sind die drei Kirchtürme von Greifswald. Es gibt Mönchgut-Zeichnungen von Friedrich, auf denen sie mit winzigen Strichen angedeutet sind.11 Die Ländereien auf Mönchgut gehörten ursprünglich zum Kloster Eldena bei Greifswald. Nach der Auflassung wurden sie der Universität Greifswald zugeschlagen. Doch Napoleon hielt zwischen 1807 und 1810 auch Greifswald besetzt, hatte die Mönchguter Pfründe seinen Günstlingen zugeschlagen und die Universität an den Rand des Ruins gebracht.
8
9 10 11
Zur ausführlichen Interpretation des „Mönch am Meer“ und der „Abtei im Eichwald“ s. Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, a.a.O. (Anm.4), 46–81. Helmut Börsch-Supan, Caspar David Friedrich’s Landscapes with Self-Portraits, in: The Burlington Magazine 114 (1972), 624. Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, a.a.O. (Anm.4), 55–59. Marianne Bernhard: Caspar David Friedrich. Das gesamte graphische Werk, München 1974, 397 unten (Hinz 407), 444, (Hinz 408).
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So schaut der Mönch, in dem wir auch Friedrich sehen dürfen, in finsteren Zeiten in Richtung Greifswald, Friedrichs von Napoleon gebeutelte Heimatstadt, und sinnt, ohne Hoffnung, über die Zeitläufte nach. Denn die Hoffnung sollte aus Rügen, dem nördlichsten Punkt Deutschlands, kommen. Hier war der schwedische König Gustav Adolf II. 1630 gelandet, um zum großen Protestantenbefreier zu werden, sein Nachfolger Gustav Adolf IV. wollte es ihm gleichtun, Ernst Moritz Arndt hat ihn entsprechend besungen, als dem Protestantismus Freiheit bringendes Licht aus dem Norden bezeichnet.12 1806 hatte Gustav Adolf begonnen auf Mönchgut einen Hafen zu bauen, als Ausgangsbasis für einen Befreiungszug, doch Napoleon hatte dem bereits 1807 ein Ende gesetzt. Friedrich, als Pommer, fühlte sich seinem schwedischen König eng verbunden, hatte versucht, ihm den „Tetschener Altar“ zu widmen, hatte ihn im August 1806 auf den 1. Greifswalder Landtag der Stände erlebt, als Gustav Adolf durch die sofortige Abschaffung der Leibeigenschaft der Bauern die vorpommersche Bevölkerung für sich gewann. Vor allem aber dürfte Friedrich die ausgeprägt pietistische Frömmigkeit Gustav Adolfs angezogen haben, die er bereits 1804 in Dresden hatte erleben können. Arndt wurde 1806 propagandistisch für Gustav Adolf tätig, Schleiermacher predigte in Halle 1806, bevor Napoleon auch dort dem akademischen Unterricht ein Ende machte, gegen Napoleon. In Briefen an Ehrenfried von Willich vom 15. September und vom 1. Dezember 1806 spricht er vom „unvermeidlichen Krieg gegen den Tyrannen und davon, daß er „ohne alle Scheu“, trotz der Besetzung, von der Kanzel „über die Zeit und ihre Zeichen“ räsoniert habe.13 Bei beiden, bei Friedrich wie Schleiermacher, wird man von einem religiös überformten Patriotismus sprechen können. Beider Engagement für die Freiheitskriege ist eindeutig. Schleiermacher beteiligt sich 1813 an der Werbung von Freiwilligen und überlegt, ob er als Feldprediger mit den Freiwilligen gehen soll. Friedrich finanziert seinem elf Jahre jüngeren Malerfreund Kersting die Ausrüstung der Lützower Jäger. Zwischen dem 8. und 13.4.1813 trifft Friedrich seinen Greifswalder Jugendfreund Arndt in Dresden und tauscht sich mit ihm aus. 1814 beteiligt sich Friedrich an der „patriotischen Ausstellung“ zur Feier der Befreiung Dresdens. Im März 1814 hatte Friedrich Arndts zeichnerische Entwürfe für patriotische Denkmäler in Erinnerung an die Taten von 1813 geschickt und um eine Arndtsche Inschrift für ein ScharnhorstDenkmal gebeten. Die Formulierungen in Friedrichs Brief legen nahe, 12 13
Ernst Moritz Arndt: Geist der Zeit. Neue Ausgabe, hg. von E. Schirmer, 2 Bde., Magdeburg 1908, Bd.1, 190–192. Bis nächstes Jahr auf Rügen. Briefe von Friedrich Daniel Schleiermacher und Henriette Herz an Ehrenfried von Willich 1801–1807, hg. von Rainer Schmitz, Berlin 1984, 176 und 179.
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daß Arndt zuvor Friedrich brieflich angeregt hatte, entsprechende Denkmäler zu entwerfen, ja, ihm gar zeichnerische Vorschläge gemacht hatte: „Ihren lieben Brief und die dabei erfolgten Zeichnungen habe ich erhalten. Ich wundere mich keineswegs, daß keine Denkmäler errichtet werden, weder die, so die große Sache des Volkes bezeichnen, noch die hochherzigen Taten einzelner deutscher Männer. – Solange wir Fürstenknechte bleiben, wird auch nie etwas Großes derart geschehen. Wo das Volk keine Stimme hat, wird dem Volk auch nicht erlaubt, sich zu fühlen und zu ehren.“14
Dieser Brief wurde 1819 in Arndts Bonner Wohnung beschlagnahmt, 1821 wurde er von der Untersuchungskommission zu diesem Brief vernommen. Er dürfte der Grund sein, warum Friedrich zeit seines Lebens eine volle Professur an der Dresdener Kunstakademie verwehrt wurde. Friedrich hatte engen Kontakt zu den Demagogen, und in diesem Zusammenhang steht auch der Besuch Schleiermachers, Reimers und von Plehwes in Dresden, bei dem sie am 3. und 4.9. offenbar von morgens bis abends mit Friedrich zusammen waren, zweimal in dessen Wohnung. Die drei Reisenden aus Berlin standen im Visier der Untersuchungsbehörden. Von Plehwe und Reimer gehörten zur Berliner Montagsgesellschaft, die ebenfalls observiert wurde. Nicht nur bei Arndt fanden Haussuchungen statt, sondern in einer offenbar konzertierten Aktion schon wenige Tage zuvor – am 11. Juli 1819 – auch bei Reimer und hier wurde ein Brief Reimers aus Dresden an seine Frau in Berlin vom 3. September 1818 beschlagnahmt, in dem von dem gemeinsamen Besuch bei Friedrich die Rede ist, Friedrichs Name ist von der Untersuchungskommission unterstrichen worden.15 In der Dresdner Kunstakademie wurde im Zuge der Demagogenverfolgung 1819 auf königlichen Befehl hin das Tragen der altdeutschen Tracht – einer Erfindung Ernst Moritz Arndts – verboten, das Verbot wurde 1821 erneuert. 1818 hat Friedrich Figurenstudien in altdeutscher Tracht geradezu systematisch betrieben und auf diese Studien in den folgenden Jahren immer wieder zurückgegriffen. Seine „Zwei Männer in Betrachtung des Mondes“ von 1819 wurden 1820 von dem Münchner Maler Peter von Cornelius in Friedrichs Atelier gesehen. Der Cornelius begleitende Karl Förster überliefert folgenden Friedrichschen Kommentar: „Die machen demagogische Umtriebe“, sagte Friedrich iro-
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Der Brief zitiert bei Karl Ludwig Hoch: Caspar David Friedrich, Ernst Moritz Arndt und die sog. Demagogenverfolgung, in: Pantheon 44 (1986), 72. Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, a.a.O. (Anm.4), 174f.; Hoch: Caspar David Friedrich, Ernst Moritz Arndt und die sog. Demagogenverfolgung, a.a.O. (Anm 14), 74.
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nisch, wie zur Erklärung.“16 Die Forschung streitet bis heute, wie sie die ironische Dimension verstehen soll. Das scheint angesichts der Ausdrucksdimension des Bildes nicht so schwer zu bestimmen zu sein: Es ist Nacht, die beiden Männer sind versunken in Betrachtung des wieder zunehmenden Mondes gleich nach Neumond, begleitet vom Abendstern, der Großteil der Nacht steht also noch bevor. So tragen die beiden zwar die Bekenntnistracht, doch die Verhältnisse lassen direkte politische Aktionen nicht zu, es bleibt nur schwache Hoffnung auf die Zukunft in finsteren Zeiten. Politische Erneuerung jedoch, das stellt auch die „Central Untersuchungs-Commission“ des Deutschen Bundes fest, erhofft sich der Kreis um Schleiermacher, Reimer und Friedrich nur über eine religiöse Erneuerung, sie hat den Überbau zu liefern17 – und an ihm arbeiten Schleiermacher wie Friedrich.
2. Ein kurzer Blick auf zwei weitere Bilder Friedrichs, die ebenfalls ein Bilderpaar bilden und 1822 für Konsul Wagner in Berlin gemalt wurden, dessen Sammlung 1861 den Grundstock der Berliner Nationalgalerie bildete. Es handelt sich um eine Morgenlandschaft – für die verschiedene Benennungen im Umlauf sind, etwa „Der einsame Baum“ (Abb.3) – und eine Abendlandschaft, für die der Titel „Mondaufgang am Meer“ (Abb.4) geläufig ist.18 Bilderpaare, die eine Morgen- und eine Abendlandschaft bilden, finden sich in der klassischen Landschaftsmalerei häufig, der eigentliche Begründer dieser Tradition ist Claude Lorrain, mythologische oder christliche Staffage inbegriffen. Die Anknüpfung an diese Tradition ist durchaus konventionell. Allerdings reagieren in der klassischen Tradition die Bilder kompositorisch aufeinander: die Morgenlandschaft hat am linken Rand einen deutlichen innerbildlichen Abschluß, die Abendlandschaft entsprechend rechts, so ist das Bilderpaar in sich gerundet. Die Morgenlandschaft bekommt zudem ihr Licht von links, die Abendlandschaft von rechts. Das eine mal befindet sich die Staffage eher links, das andere mal eher rechts, das heißt die Bilder reagieren aufeinander, lassen die Sonne auf- und untergehen. Auf derartige Korrespondenzen verzichtet Friedrich. Der Pendantcharakter ist nicht unmittelbar wahrnehmbar, er erschließt sich erst ei-
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C. Förster: Biographische und literarische Skizzen aus dem Leben und der Zeit Carl Förster’s, Dresden 1846, 157. Hoch: Caspar David Friedrich, Ernst Moritz Arndt und die sog. Demagogenverfolgung, a.a.O. (Anm.14), 74. Börsch-Supan und Jähnig: Caspar David Friedrich, a.a.O. (Anm.5), Kat.Nr. 298, 299.
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ner wirklichen Vertiefung in die Bilder.19 Der Bildheld des ersten Bildes ist die ruhige, genau auf der Mittelachse angeordnete Eiche, ein verwitterter, aber noch Grün tragender Baum. Seine abgestorbene Spitze ragt zwischen den höchsten Berggipfeln in den Himmel. An den Stamm der Eiche gelehnt ein Hirte, der auf seine Schafherde achtet. Der Vordergrundstreifen mit der Eiche liegt noch im Schatten, während der Mittelgrund mit weiteren Eichen, einem dahinterliegenden waldigen Streifen, der fast durch das ganze Bild führt, bereits sonnenbeschienen erscheint, er bildet eine klare Grenze zum Hintergrund, der sich erst absenkt, von einem Dorf noch nicht Kirchtürme sichtbar werden läßt, um dann ins leicht verschleierte Gebirge zu führen, ein streifiger Himmel, unten teils mit leichtem Rotton geziert, oben in graue Bereiche übergehend. Wie funktioniert ein derartiges Bild? Durch die Mittelachsbetonung des Hauptmotives, der Eiche, konzentriert es die Aufmerksamkeit, hält das Auge im Zentrum fest. Die waagerechten Geländestreifen bilden zur Senkrechten der Eiche ein Gegengewicht. Diese Grundformen verweisen auf die Koordinaten des Bildgevierts, da die seitlichen Rahmungen auf den ersten Blick schwach ausgeprägt sind. Doch dann realisiert man, daß das Bild innerbildlich durch drei Motive zusammengeschlossen wird: durch einen Tümpel im Vordergrund, in dem sich der Himmel spiegelt und der sich links und rechts gleich weit erstreckt, dieses Motiv wird hinter der Eiche durch einen zweiten Tümpel gedoppelt, er liegt im Licht und ist am farbstärksten. Schließlich wird man feststellen, daß die Wolken sich über der Eiche wölben und diese Wölbung durch die hinter dem Geländestreifen links und rechts ansteigenden Berghänge beantwortet wird. Liest man Himmelsform und ansteigende Hänge zusammen, ergibt sich eine dritte bergende Form, in deren Kernbereich die Eiche ostentativ hineinragt. Man kann diese drei Formen als ellipsenartig lesen, zumal wenn man realisiert, daß Friedrich diese Form häufig benutzt, manchmal allein auf den Himmelsbereich konzentriert. Es ist eine abstrakte geometrische Form, noch dazu achsensymmetrisch auf die Bildfläche bezogen. So vorsichtig Friedrich sie beim „Einsamen Baum“ anlegt, ihre fokussierende Wirkung ist auf Dauer wirksam. Dies ist ein vorgegebenes Konstrukt, dem sich alle Gegenstände in ihrer Anordnung willig fügen. Doch damit nicht genug, denn Friedrich verwendet auch hier seine am häufigsten genutzte Ordnungsstruktur, die ästhetisch unmerklich 19
Zur Tradition der Bilderpaare und Friedrichs Veränderung der Tradition: Reinhart Zimmermann: Das Geheimnis des Grabes und der Zukunft. Caspar David Friedrichs „Gedanken“ in den Bilderpaaren, in: Jahrbuch der Berliner Museen 42 (2000), 183–253; Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, a.a.O. (Anm.4), 142–158.
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wirkende Teilung nach dem Goldenen Schnitt. Da diese schon im 16. Jahrhundert göttlich genannte Proportionierung als ästhetisch wohlgefällig erfahren wird, markiert Friedrich nicht selten mit ihr halb versteckte, aber ihm absolut wichtige Dinge, nicht selten Kirchtürme. So auch hier, die rechte Senkrechte des Goldenen Schnittes, auf unzähligen klassischen Bildern Ort des Bildhelden, verläuft haargenau durch den rechts von der Eiche sichtbar werdenden Kirchturm des fernen Dorfes. Und die untere Waagerechte des Goldenen Schnittes trägt den das ganze Bild durchziehenden schmalen Waldstreifen, bildet seine Basis, auf der er auflastet. So durchdringen sich zwei Ordnungssysteme.20 Da beide optisch zur Wirkung kommen, erstarrt das Bild nicht in seiner Axialität, sondern atmet. Das ist geradezu Thema. Denn schaut man genau hin, so entdeckt man überall im Gelände, ja selbst auf den fernen Bergen, feine weiße Qualmwolken, die den Schornsteinen der versteckten Häuser entströmen. Nun muß man sich noch klarmachen, daß Friedrich zwar den Ort der Dinge im Bild abstrakt bestimmt, daß die Dinge selbst jedoch höchster Konkretion folgen. Für so gut wie alle Dinge im Bilde gibt es genaueste Vorzeichnungen, denen das Bild weitestgehend folgt, das geht bis in die letzten Astverzweigungen der Bäume. Für die große Eiche im Vordergrund mag das nicht verwundern, allenfalls durch die Tatsache, daß die Zeichnung bereits von 1806 stammt, für die beiden Eichen ganz rechts im Mittelgrund beispielsweise schon sehr viel mehr. Sie gehen mitsamt den sie hinterfangenden Waldstreifen auf eine Zeichnung von 1809 zurück. Die Bergformationen folgen Zeichnungen von Friedrichs Riesengebirgswanderung von 1810 und stellen das Jeschkengebirge in Nordböhmen dar.21 Friedrich mag Dinge aus verschiedenen Herkunftsbereichen, zu verschiedenen Zeiten aufgenommen, montieren, er mag sie in den Größenverhältnissen steigern, doch als sie selbst bleiben sie mit sich identisch. Größte Naturtreue ist Friedrichs Verpflichtung, religiöse Verpflichtung, auch der kleinste Gegenstand ist es wert, als Gottes Schöpfung in seiner Individualität im Bilde festgehalten zu werden. Was macht man nun aus alledem? Offenbar geht es hier einerseits um Naturzyklisches, einen geschlossenen Kreis der Erneuerung, der Hirt, in dem seit Urzeiten gleichbleibenden Verhältnis zur Natur, das sich erneuernde Leben, ausgedrückt auch durch den allerorten aufsteigenden Rauch. Doch subkutan zeichnet sich auch eine höhere Ordnung ab, die Kirche auf dem Goldenen Schnitt vermag darauf zu verweisen. Anders 20
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Diese Ordnungssysteme und ihre Bedeutung stiftende Funktion sind Thema meines Buches über Friedrich: Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, a.a.O. (Anm.4). Die Vorzeichnungen bei Börsch-Supan und Jähnig: Caspar David Friedrich, a.a.O. (Anm.5), Kat.Nr. 298 angeführt.
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im zweiten Bild. Nicht der Baum, die Natur, ist im Zentrum, sondern der Mensch. Zwei Frauen und ein etwas zurückversetzter Mann, offenbar in altdeutscher Tracht, sitzen leicht schräg mit dem Rücken zum Betrachter auf einem großen runden Rügener Felsbrocken am Meer und schauen zwei ankommenden großen Segelschiffen entgegen. Über dem Horizont geht der Mond auf, aus einem Wolkenband über dem Horizont schiebt er sich ans Licht, vergoldet das Meer. So erscheinen die Felsen am Ufer mit den drei Personen im Gegenlicht, der Blick muß sich bemühen, das Dunkel zu durchdringen. Wie wäre dieses Bild zu lesen? Eine strikte Mittelachsbetonung gibt es nicht, der große runde Felsen nimmt zwar die Mitte ein, doch die beiden eng beieinander sitzenden Frauen sind links von der Mitte angeordnet, der Mann rechts davon und auch sonst gibt es keine weiteren Zuordnungen zur Mitte, dafür eine große Form, die früh gerade bei diesem Bilde aufgefallen ist und die sich bei vielen Bildern Friedrichs wiederfindet, wir haben sie bereits bei der „Abtei im Eichwald“ sehen können. Man hat sie „Friedrichs hyperbolisches Schema“ genannt.22 In der Tat spannt sich eine große Hyperbelform über das ganze Bild. Die beiden oberen Segel des vorderen Schiffes, das erste Stück des aufgehenden Vollmondes und die beiden Köpfe der Frauen ragen in den Lichtbereich, das Innere der Hyperbelform. Nicht selten befindet sich die Lichtquelle im Herzen dieser Friedrichschen Lieblingsform, die einerseits eine Flächenform ist, andererseits in ihrer Bindung an Gegenständliches zugleich sich räumlich entfaltet. Den Himmelsbereich zeichnen zwei Farben aus, das Gelborange im Inneren der Hyperbel, das ausgeprägte und ungewöhnliche Violett im äußeren Wolkenbereich. Ludwig Richter schreibt 1824, also zwei Jahre nach Entstehung von Friedrichs Bilderpaar, zur Wirkung der Farben auf das Gemüt: „So z.B. Grün ist frisch und lebendig“ – das kann man mit Fug und Recht auf das erste Bild beziehen – und weiter: „Rot freudig oder prächtig, Violett melancholisch (wie bei Friedrich) […].“23 Letzteres gilt für Friedrichs zweites Bild. Es herrscht ein nachdenklicher melancholischer Modus, der einen Teil der Forschung dazu verleitet hat, im Gegensatz zum ersten Bild, dem Lebensbild, im zweiten vom thematisierten Ende des Lebens, der Todeserwartung, zu sprechen. So sehr Friedrich, auch in Gedichten, der protestantischen Grundüberzeugung – nur durch den Tod zum ewigen Leben – anhängt, das scheint hier nicht das eigentliche Thema.
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Zuerst: Willi Wolfradt: Caspar David Friedrich und die Landschaft der Romantik, Berlin 1924, 126. Ludwig Richter: Lebenserinnerungen eines deutschen Malers nebst Tagebuchaufzeichnungen und Briefen. Mit Anmerkungen hg. von Erich Marx, Leipzig 1950, 437.
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Doch wie die Ausdrucksdimension genauer verifizieren? Wieder hilft dabei die Bildordnung. Zum einen sind die beiden Frauen genauso weit vom Mond entfernt wie das vordere große Schiff mit den dargestellten Segeln im erleuchteten Himmelsbereich. Sie hoffen doch eher, so sehr die Abendstimmung die Hoffnung dämpfen mag und in Sehnsucht übergehen läßt, daß das Schiff ihnen Glück bringen möge. Der gebeugte, offenbar auch ältere Mann dagegen, der mit seinem Barett den Hyperbelbogen gerade erreicht, doch nicht wirklich in ihn hineinragt, ist genau so weit vom Mond entfernt wie das zweite Schiff, das ebenfalls nicht in die Lichtglorie hineinragt, hier mag die Erwartung vergebens sein. Doch der Schwebecharakter des Bildes hält den Ausdruck in der Waage, die Sehnsucht in dieser oder jener Form ist in diesem Moment auf Dauer gestellt. Und Dauer hat in der Tat bei Friedrich immer etwas mit Ewigkeit zu tun. Die Definition der Hyperbel als geometrisch-mathematischer Form kann es belegen: bei ihr nähern sich die Hyperbelarme, die hier über die Bilderränder hinausstreben, ihren Asymptoten unendlich an, ohne sie je zu erreichen. Insofern ist die Hyperbel die ideale Unendlichkeitsform und vermag Transzendentes zu evozieren. Das, was im ersten Bild durch die bergende geschlossene innerbildliche Form zum Ausdruck kam: ein naturzyklisches, auf das Leben bezogenes innerweltliches Modell, das dennoch unmerklich unter dem Signum des christlichen Verweises stand, wird im zweiten Bild zur offenen, aus dem Bild ins Unendliche strebenden Sehnsuchtsmodell, das Transzendentes zum Vorschein bringt oder bringen kann. Daß dies keine Projektion und Überinterpretation darstellt, ist im Folgenden durch den Abgleich mit Gedanken Schleiermachers zu verifizieren.
3. Selbst wenn Friedrich nicht bereits in der Entstehungsphase direkt von Schleiermachers ‚Reden‘ Kenntnis genommen hat, die Vermittlungsmöglichkeiten sowohl für die erste wie die zweite Auflage sind vielfältig. Ludwig Tieck etwa war 1798–1801 in Berlin und stand in engstem Kontakt zu Schleiermacher. Der Einfluß der ‚Reden‘ auf Tieck gerade in seiner ersten Dresdner Zeit 1801/02 ist nachweislich besonders stark. Tieck lernt 1802 Friedrich kennen und ist, wie er in seinen Erinnerungen schreibt, bereits seit der ersten Begegnung besonders von dem Maler beeindruckt. Schleiermachers ‚Reden‘ in der zweiten überarbeiteten Auflage erscheinen 1806 bei Reimer. Ebenfalls 1806 studierte der Theologe und Kunstkritiker Johannes Karl Hartwig Schulze bei Schleiermacher in Halle und wurde dauerhaft von diesem geprägt. In einem Brief von 1809 an seinen Lehrer nannte er ihn „seinen zweiten Vater“, er habe
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ihm, wie es in einem weiteren Brief des Jahres 1809 heißt, auf ewig den Zugang zur Religion eröffnet.24 Friedrich lernte ihn Ostern 1807 kennen, war schnell mit ihm vertraut und schrieb ihm im Februar 1809 den berühmten Brief mit seiner Rechtfertigung des „Tetschener Altares“ nach den Angriffen, die gegen dieses Gründungsbild der deutschen romantischen Malerei erhoben worden waren. Schulze sorgte dafür, daß eine Kurzfassung dieses Briefes in Bertuchs „Journal des Luxus und der Moden“ eingerückt wurde.25 Friedrich begann erst 1807 kontinuierlich in Öl zu malen, ließ die Vedutenkunst hinter sich und lud, um es so zu sagen, von nun an seine Bilder religiös auf. Der „Tetschener Altar“ ist auch in dieser Hinsicht das Gründungsbild. Was konnte Friedrich in Schleiermachers ‚Reden‘ finden? Es sind vor allem zwei Grundgedanken: Das Verhältnis von Einzelnem und Ganzem und die Vorstellung, daß Religiöses nur aus Anschauung und Gefühl resultiert und Kunst und Künstler dabei Mittler sein können. Friedrich wird wohl kaum bei Schleiermacher die Herkunft des Gedankens vom Verhältnis von Einzelnem und Ganzem von Spinoza erkannt haben und dennoch konnte er in Schleiermachers Formulierungen ein Modell für seinen Bildbau finden, indem das Einzelne mit dem absoluten Recht auf Individualität auftrat, um dann in eine abstrakte Form für das Ganze überführt zu werden. „Der Sinn“, schreibt Schleiermacher, „sucht sich Objekte, er geht ihnen entgegen und bietet sich ihren Umarmungen dar“26 […] „nehmt sie nur [die Objekte], wie das Leben sie bringt, denn grade die, die es bringt, müßt ihr verstehen: sich selbst welche machen und suchen wollen, das ist ja exzentrisch, es ist hochfahrend […]“27 – diese Passage konnte Friedrich durchaus verstehen als Angriff auf alle klassische, auf der Idee gegründete Kunst. „Der Sinn […] will […] jedes in seinem eigentümlichen Charakter erkennen […].“28 Diejenigen, die alles nur verstandesmäßig „zerstückeln und anatomieren“29 „fragen […] nicht darnach, ob und wie das, was sie verstehen wollen, ein Ganzes ist […]“.30 „Jedes Ding, um es als Element des Gan-
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Hoch: Friedrich Schleiermacher und Caspar David Friedrich, a.a.O. (Anm.1), 167 (Schleiermacherarchiv Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften), Schleiermachernachlass Nr. 386, Briefe J. Schulzes an Schleiermacher, 13. September 1809 und 4. Dezember 1809. Hoch: Friedrich Schleiermacher und Caspar David Friedrich, a.a.O. (Anm.1), 35–37. Schleiermacher: Über die Religion, a.a.O. (Anm.2), 99. Ebd. Ebd. Ebd., 100. Ebd.
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zen anzuschauen [muß] notwendig in seiner eigentümlichen Natur und in seiner höchsten Vollendung […] betrachtet“31 werden. „Denn im Universum kann es nur etwas sein durch die Totalität seiner Wirkungen und Verbindungen; auf diese kommt alles an, und um ihrer innezuwerden, muß man eine Sache nicht von einem Punkte außer ihr, sondern von ihrem eigenen Mittelpunkt aus und von allen Seiten in Beziehung auf ihn betrachtet haben, das heißt in ihrem abgesonderten Dasein, in ihrem eigenen Wesen.“32
Anders ausgedrückt und auf die Kunst bezogen: die hingebungsvolle Betrachtung eines Dinges und die gänzliche Akzeptanz seines Soseins, seines eigentümlichen Charakters, macht es schließlich durchsichtig auf einen Gesamtzusammenhang hin, der seine Individualität dialektisch aufhebt. Die Durchsichtigkeit des Gegenstandes entsteht im Prozeß der vom Gefühl getragenen Anschauung, die nicht zielgerichtet ist, etwa auf Klassifizierung dringt. Das Ganze ist als Ahnung im Einzelnen aufgehoben. Eben diese Ahnung ohne Gewißheit ist religiöse Erfahrung oder wie Schleiermacher es ausdrückt: „und so alles Einzelne als Teil eines Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion“,33 und für diese Erfahrung ist Kunst als Mittler prädestiniert.
4. Ganz kurz zu Schleiermachers mathematischer Grundlegung seines Denkens, das uns eine Art Schlüssel zum Verständnis von Friedrichs abstrakter Geometrisierung seiner Bilder, als ein Mittel das Einzelne in die Ganzheit zu überführen, liefern kann. Andernorts habe ich das ausführlicher getan, hier wie dort fuße ich auf den Vorarbeiten von Imken Mädler und versuche eine Nutzanwendung für Friedrich.34 Wenn die dritte Rede, aus der wir bisher zitiert haben, sich mit der Bildung der Religion beschäftigt, so die zweite, berühmtere, mit ihrem Wesen. Was 31 32 33 34
Ebd., 102. Ebd. Ebd., 39. Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, a.a.O. (Anm.4), bes. 165–169; ders.: Unmittelbares Naturstudium und mathematische Abstraktion bei Caspar David Friedrich, in: Jenns E. Howoldt und Uwe M. Schneede: Expedition Kunst. Die Entdeckung der Natur von C.D. Friedrich bis Humboldt, Hamburger Kunsthalle, Hamburg/München 2002, 17–26; Inken Mädler: Kirche und Bildende Kunst der Moderne, Tübingen 1997; dies.: Ausdrucksstil und Symbolkultur als Bedingungen religiöser Kommunikation, in: 200 Jahre „Reden über die Religion“, Akten des 1. Intern. Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft, hg. von Ulrich Barth und Claus-Dieter Osthöfener Berlin/New York 2000, 897–908.
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man, wie mir scheint, dort bisher nicht erkannt hat, ist eine längere Passage, in der Schleiermacher sich gegen die Ästhetik des Sublimen wendet, ohne die Kategorie zu nennen. Zum Verständnis von Friedrichs Kunst ist sie absolut zentral. Ein Grundfehler der bisherigen FriedrichForschung scheint darin zu bestehen, daß sie ein Gutteil seiner Kunst, wie es schon Kleist im Falle des „Mönch am Meer“ tat, dem Konzept des Sublimen zuschlägt.35 Es reicht schon, Friedrichs eigenen, allerdings erst spät wiederentdeckten Text zum „Mönch“ zu zitieren, um das gänzlich Unangemessene einer derartigen Klassifizierung deutlich zu machen: „Und sännest du auch vom Morgen bis zum Abend, vom Abend bis zur sinkenden Mitternacht; dennoch würdest du nicht ersinnen, nicht ergründen, das unerforschliche Jenseits! Mit übermüthigem Dünkel, erwegst du der Nachwelt ein Licht zu werden, zu enträtseln der Zukunft Dunkelheit! Was heilige Ahnung nur ist, nur im Glauben gesehen und erkannt; endlich klahr zu wissen und zu Verstehen! – Tief zwar sind deine Fußstapfen am öden sandigen Strandte: doch ein leiser Wind weht darüber hin, und deine Spuhr wird nicht mehr gesehen: Thörichter Mensch voll eitlem Dünkel!“36
Die Selbstbehauptung, im Sinne von Kants Definition des Erhabenen als verstandesmäßige Bewältigung des Übermächtigen, wäre nach Friedrich nur Faustische Selbstüberhebung, er fordert vielmehr, wie Schleiermacher noch und noch in den ‚Reden‘, demütige Selbstbescheidung.37 Die in Anschauung versunkenen Rückenfiguren Friedrichs lassen jede Aktivität vermissen, passiv und demütig bieten sie sich, wie Schleiermacher formuliert hat, dem Angeschauten dar: „Alles Anschauen gehet aus von einem Einfluß des Angeschaueten auf den Anschauenden.“38 Ich würde sogar soweit gehen und für Friedrichs Erfindung der Rückenfigur, wie sie sich zuerst im „Mönch am Meer“ findet, Schleiermachers Anschauungsbegriff verantwortlich zu machen. „[…] die religiösen Gefühle lähmen ihrer Natur nach die Tatkraft des Menschen und laden ihn ein zum stillen, hingegebenen Genuß […].“39 Das Schleiermachersche Argument gegen das Sublime in der zweiten Rede, in der er u.a. gegen die Begrenztheit der bloß logischen Zahlenverhältnisse polemisiert, läßt sich auf einen einschlägigen Satz beschränken: „Was in der Tat den religiösen Sinn anspricht in der äußern Welt, das
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Dem hat bereits Johannes Grave: Caspar David Friedrich und die Theorie des Erhabenen, Weimar 2001, entgegengearbeitet; Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, a.a.O. (Anm.4), 47, 71–73, 113–118. Börsch-Supan: Berlin 1810, a.a.O. (Anm.4), 74f. Etwa Schleiermacher: Über die Religion, a.a.O. (Anm.2), 11, 36, 47, 73 etc. Ebd., 38. Ebd., 47.
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sind nicht ihre Massen, sondern ihre Gesetze.“40 Wobei sich die Gesetze gerade nicht auf die mathematische Logik beziehen, das tun die Massen in ihrer Ausdehnung und Größe, mit den Gesetzen ist Gottes unergründliche, aber in der Anschauung des Einzelnen ahnbare Ordnung gemeint und eine Metapher dafür sind die geometrischen Figuren, vor allem für Schleiermacher – und eben auch für Friedrich – die Kegelschnitte: Ellipse, Parabel, Hyperbel. Schleiermacher war den Weiterungen der Mathematik, vor allem in der Interpretation des Bewegungsmotives in Arithmetik und Geometrie, der sogenannten transzendentalen Mathematik, die auf Leibniz und Euler zurückzuführen ist, vollkommen gewachsen. Jede Linie besteht aus Einzelpunkten, sie entsprechen den Einzeldingen der Anschauung. Zugänglich ist uns nur der Einzelpunkt und sein momentaner Ort, doch er gehört zu einer Linie oder Kurve, deren Gesetz uns verstellt bleibt. Wie der Punkt auf einer Linie oder Kurve sich befindet, so der Mensch auf seiner Lebensbahn. Doch das Verständnis von Einzelnem und Ganzen, Punkt und Kurve, ist in permanenter Bewegung zu denken.41 In der Mathematik ist für ihre Berechnung die Infinitesimalrechnung zuständig, sie vermag etwa das Auseinanderhervorgehen der Kegelschnitte, von der Ellipse über die Parabel bis zur Hyperbel zu bestimmen. Ein erster Reflex dieser Überlegungen findet sich in Schleiermachers ‚Sittenlehre‘ von 1803. Reimer hat von Schleiermacher eine einschlägige geometrische Titelvignette für sein Werk gewünscht. Die Forschung hat viel gerätselt, wie sie ausgesehen haben mag. Der Vorschlag, ineinandergeschachtelte Ellipsen anzunehmen, leuchtet mir sehr ein.42 Werden die beiden Brennpunkte der Ellipse immer weiter auseinander geführt, wird sie immer flacher – wie in den Tümpeln von Friedrichs „Einsamem Baum“, fallen sie jedoch zusammen, ergibt sich als absolute Form der Kreis, und die Form folgt einer neuen Funktion. Doch die höchste Form für Schleiermacher in der ‚Sittenlehre‘ ist die Hyperbel. Sie ist ihm das mathematische Äquivalent für den Weg zu ethischer Vervollkommnung.43 Der Mensch mag auf ihrer Kurve Punkt für Punkt fortrücken, seinem ethischen Ziel näherkommen, doch erreichen wird er es nie,
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Ebd., 56. Friedrich Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803, 1834), in: Friedrich Schleiermacher’s Sämmtliche Werke, 3. Abt., Zur Philosophie, Bd.1, Berlin 1846, 69; Mädler: Kirche und Bildende Kunst der Moderne, a.a.O. (Anm.34), 237. Friedrich Schleiermacher: Aus Schleiermachers Leben in Briefen, hg. von Wilhelm Dilthey, 4 Bde., Berlin 1860–1863, Bd.3, 333 (Brief vom 22. Januar 1803); Mädler: Kirche und Bildende Kunst der Moderne, a.a.O. (Anm.34), 256–258. Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, a.a.O. (Anm.41), 93f.; Mädler: Kirche und Bildende Kunst der Moderne, a.a.O. (Anm.34), 258f.
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denn die Kurve der Hyperbel, wir haben es gehört, nähert sich ihren Asymptoten zwar unendlich an, doch wird sie sie nie erreichen. In der ‚Sittenlehre‘ widmet sich Schleiermacher neben den geometrischen Kurven auch den arithmetischen Reihen, sie können ähnlich unendlich Annäherung ohne Erreichen des Zieles verkörpern.44
5. Nun ist es das verblüffende, daß es Bilder von Friedrich gibt, die diese beiden mathematischen Grundlegungen, geometrische Kurve und arithmetische Reihe, zusammenführen. Allein ein Beispiel zum Schluß, Friedrichs sogenannte „Frau am Meer“ (Abb.5),45 wohl 1818 zu datieren und im Zusammenhang mit seiner Hochzeitsreise stehend, die ihn nach Greifswald und Rügen führte. Das rote Kleid, der auf einem Rügener Felsbrocken am Strand sitzenden Frau ähnelt sehr demjenigen, das Friedrichs Frau auf dem wohl gleichzeitigen „Kreidefelsen auf Rügen“46 trägt. Auch hier dürfte mit der Frau Friedrichs Ehefrau Caroline gemeint sein. So wie die Rückenfigur ungewöhnlich ist, weil sie Handlung stilllegt und das Bild innerbildlich als Meditationsgegenstand anbietet, so ist auch eine bildparallel angeordnete Figur merkwürdig, denn auch sie ermöglicht es nicht, sie in einen innerbildlichen Aktionszusammenhang einzuordnen. Der Blick der Frau geht hier, unterstützt von den Fischreusen, rechts aus dem Bild, ohne daß ein Ziel sicht- oder denkbar wäre. Die Bildordnung ist schnell genannt. Im Hintergrund erkennen wir Kap Arkona, kein Zweifel, der steile Abbruch markiert exakt die Bildmitte, der Horizont dagegen – dieses Verfahren wählt Friedrich häufig – verläuft ebenso exakt auf der unteren Waagerechten des Goldenen Schnittes. Der Horizont ist per se die Unendlichkeitslinie, doch hier ist
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Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, a.a.O. (Anm.41), 78f.; Mädler: Kirche und Bildende Kunst der Moderne, a.a.O. (Anm.34), 237, 239, 273–277; Mädler: Ausdrucksstil und Symbolkultur als Bedingungen religiöser Kommunikation, a.a.O. (Anm.34), 901–904. Zu den arithmetrischen Reihen Schleiermachers bereits in seinem Brief an den Grafen zu Dohna-Schlobitten 1791 s. H. Borkowski: Schleiermacher als Mathematiker. Ein Brief von ihm an den Reichsburggrafen und Grafen Friedrich Ferdinand Alexander zu Dohna-Schlobitten 1791, in: Archiv der Mathematik und Physik II/16 (1898), 343f. Börsch-Supan und Jähnig: Caspar David Friedrich. Gemälde, Druckgraphik und bildmäßige Zeichnungen, a.a.O. (Anm.5), Kat.Nr. 245; Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, a.a.O. (Anm.4), 126. Börsch-Supan und Jähnig: Caspar David Friedrich, a.a.O. (Anm.5), Kat.Nr. 257; Johannes Grave: Eine „wahrhaft kosegartensche Wirkung“? Caspar David Friedrichs „Kreidefelsen auf Rügen“, in: Pantheon 58 (2000), 138–149.
Protestantische Frömmigkeit und bildende Kunst
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sie darüber hinaus noch konnotiert. Sie ist gleich zweifach Asymptote der Hyperbelzweige, denn sowohl die Mastspitzen, der sich kontinuierlich dem Ufer nähernden Boote bilden eine entsprechende Kurve oberhalb des Horizontes, wie auch die Bootskörper selbst unterhalb der Horizontlinie – und wie sich das für diese mathematische Kurve gehört, sind Anfang und Ende ihres Verlaufes unbestimmbar und außerhalb des Bildes zu denken. Doch damit nicht genug, bilden die Boote auch eine wie auch immer genaue arithmetische Reihe, wie an einer Perlenschnur gezogen. Alle Boote haben dunkle Segel, doch selbst die beiden Boote mit weißen Segeln am Horizont greifen den Rhythmus der Zuordnungen auf. Woher die Boote kommen, wohin sie segeln, das bleibt ebenso ungeklärt wie das Ziel des Blicks der auf dem Felsen ruhenden Frau. Jedes klassische Bild trägt sein Ziel in sich, sonst kommt es nicht zur Erfüllung. Dieses hier erfüllt sich eben nicht, führt nur einen Sog vor auf etwas hin, das wir nicht definitiv benennen können. Im Sinne der negativen Theologie veranschaulicht es etwas – das Transzendente? – im Modus seiner Abwesenheit. Schleiermachersche Gedanken dürften Friedrich auch hier zu dieser gänzlich ungewöhnlichen Bildlösung gebracht haben.
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Abb. 1: Caspar David Friedrich, Der Mönch am Meer, 1808-10, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie
Abb. 2.: Caspar David Friedrich, Die Abtei im Eichwald, 1809-10, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie
Abb. 3: Caspar David Friedrich, Der einsame Baum, 1822, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie
Abb. 4: Caspar David Friedrich, Mondaufgang am Meer, 1822, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie
Abb. 5: Caspar David Friedrich, Frau am Meer, um 1818, Museum Oskar Reinhart, Winterthur
„…die Musik meiner Religion“ Schleiermachers ethische Funktionalisierung der Musik bis zur ‚Weihnachtsfeier‘ und seine Kritik der frühromantischen Kunstreligion VON FOLKART WITTEKIND/BOCHUM
„Religion und Kunst stehen nebeneinander wie zwei befreundete Seelen deren innere Verwandtschaft, ob sie sie gleich ahnden, ihnen doch noch unbekannt ist.“ (KGA I/2, 263) Diese allbekannte Aussage Schleiermachers zum Verhältnis von Kunst und Religion bezieht sich, wie der Kontext verdeutlicht, auf die von Wackenroder und Tieck mit den Herzensergießungen initiierte frühromantische Ästhetik und Künstlerphilosophie. Doch auf dieses Phänomen bezieht sich Schleiermacher in den ‚Reden‘ nur mit der gleichsam formelhaften Einschränkung von den gegenwärtig (noch?) bestehenden „Mysterien“ des Verhältnisses. Wie die Parallelstelle in der vierten Rede belegt, gilt dies besonders für Religion und Musik.1 Obwohl Schleiermacher schon in der Gottesdiensttheorie der vierten Rede nähere Andeutungen zu diesem Verhältnis macht, kann die ‚Weihnachtsfeier‘ als Versuch einer theoretischen Erhellung der unbekannten Verwandtschaft gedeutet werden. An beiden Orten, wie auch später in der Ästhetik, gipfelt die Musiktheorie Schleiermachers in einer Auszeichnung der Kirchenmusik als dem eigentlichen Wesen der Musik entsprechend. Warum realisiert sich die von der Frühromantik beschriebene Göttlichkeit der Musik für Schleiermacher 1
„Die Muse der Harmonie, deren vertrautes Verhältnis zur Religion noch zu den Mysterien gehört […]“ (KGA I/2, 269f.). Schleiermacher fasst damit in einen theoriegeschichtlichen Vorbehalt, was Wackenroder im poetischen Duktus noch weitergehend und allgemein formuliert: „Der Kunstgeist ist und bleibet dem Menschen ein ewiges Geheimnis, wobei er schwindelt, wenn er die Tiefe ergründen will […]“. Wilhelm Heinrich Wackenroder u. Ludwig Tieck: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797), Stuttgart 1955/1979, 123. Die Anspielung auf Wackenroder im nächsten Satz (KGA I/2, 263) wird auch von der vorsichtigen Kommentierung des Herausgebers Günter Meckenstock vermerkt, es wäre zu überlegen, ob nicht im Sinne des wechselseitigen Verhältnisses von Kunst und Musik vorher („Freundliche Worte“) auf einen ästhetikoffenen Theologen verwiesen wird – vermutlich Herder?
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gerade nicht in der freien Instrumentalmusik, sondern in der an die Choralmelodien und über sie vermittelt an die Liedtexte gebundenen kirchenmusikalischen Improvisation? Lässt sich diese Vorliebe theoretisch erklären, oder nur als falsche Anwendung der Theorie bzw. als altertümliche Kunstwahrnehmung Schleiermachers beschreiben? Schleiermacher hat trotz seiner grundsätzlichen Übereinstimmung mit der Vorstellung der Kunst als Ausdruck des Inneren dieses Konzept in einen Kontext gestellt, der nicht die Entwicklung hin zur Kunstautonomie befördert, sondern Kunst als Kommunikationsform, als kulturelle Darstellung im Blick behält und dieses Moment im weiteren Sinne religiös deutet. Dies zeigt sich bei einem Vergleich von Schleiermachers Musiktheorie in der ‚Weihnachtsfeier‘2 (1806) mit Gedichten Goethes und Tiecks, die auch – auf ihre Weise – den Bezug von Weihnachten und Musik herstellen sowie ebenfalls um das Jahr 1806 entstanden sind. Zu Schleiermachers ‚Weihnachtsfeier‘ und zur Rolle der Musik gibt es herausragende Einzelinterpretationen sowohl von theologischer als auch von philosophischer Seite, von denen hier exemplarisch die auf die Christologie zielende von Dietz Lange3 und die immer wieder intensivierte ästhetische von Gunter Scholtz4 zu nennen sind. Auf der Grundlage dieser Interpretationen wird nach der spezifisch religiösen Funktion der Musik bei Schleiermacher gefragt. Die Behauptung dabei ist, dass Schleiermacher mit seiner Musiktheorie gerade nicht die Idee einer Kunstreligion befördert, sondern eher im Gegenteil die Differenz zwischen Kunst (bzw. Musik) und Religion verstärkt. Damit ist der Zusammenhang der ‚Weihnachtsfeier‘ zu den ‚Reden‘ (aus denen bekanntlich die – allerdings abgewiesene – Idee der Kunstreligion stammt) und den ‚Monologen‘ aufgerufen. Schleiermacher teilt mit den frühromantischen Zeitgenossen eine besondere Schätzung der Musik (auch wenn die spätere Ästhetik die Poesie aufgrund ihrer größeren Reflexionsbezogenheit an erste Stelle
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Edition und Kommentar von Hermann Patsch in Schleiermacher, KGA I/5, 39–100 und XLII–LXVII. Dietz Lange: Historischer Jesus oder mythischer Christus. Untersuchungen zu dem Gegensatz zwischen Friedrich Schleiermacher und David Friedrich Strauß, Gütersloh 1975, 35–56; vgl. Emanuel Hirsch: Schleiermachers Christusglaube. Drei Studien, Gütersloh 1968; Karl Barth: Schleiermachers Weihnachtsfeier, in: Die Theologie und die Kirche, Ges. Vortr., Bd.2, Zollikon/Zürich o.J., 106–135. Gunter Scholtz: Schleiermachers Musikphilosophie, Göttingen 1981; ders.: Art. „Musik“, in: HWP 6 (1984), Sp. 242–257; ders.: Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, bes. 140–144; ders.: Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. 1995, Kap. IX Musik und Religion (urspr. 1986); ders.: Schleiermacher und die Kunstreligion, in: Ulrich Barth u. ClausDieter Osthövener: 200 Jahre ‚Reden über die Religion‘, Berlin/New York 2000, 515–533.
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setzt – Poesie ist gleichsam Sprache gewordene Musik). Dahinter steckt eine grundsätzliche Erneuerung der Ästhetik im 18. Jahrhundert. Grundlegend für die Entwicklung ist die Wendung von der Nachahmung des Naturschönen und von einer äußerlichen Sprache der Affekte hin zu einer Auffassung der Kunst als Ausdruck des Inneren. Diese das ganze Gefühl einer Person in die Darstellung legende Auffassung führt zu einer Aufwertung der Musik und schließlich zu ihrer paradigmatischen Funktion für das, was Kunst überhaupt ist.5 Stichworte für diese Entwicklung sind die Verinnerlichung der alten Affektenlehre, die produktionsästhetische, das Innere als eigene göttliche Schöpfungskraft verstehende Weiterentwicklung der Nachahmungsästhetik und die ins Absolute und religiös affizierte Unbestimmte gewendete Sprachlichkeit der Musik. Kunst wird zum Konstitutions- und Ausdrucksmittel einer ganzheitlichen Individualität, insbesondere das Hören und Schaffen von Musik zum Kristallisationspunkt einer modernen, im eigentlichen Sinne ihrer selbst bewussten Persönlichkeit. Es wird zu zeigen sein, dass Schleiermacher diese Ideen zwar aufnimmt, aber von Anfang an in einer durchaus sehr eigenen Weise verwendet. Selbst wenn sich im Hinblick auf Tieck und Wackenroder die Behauptung der hier angelegten Autonomisierung der Kunst in Richtung einer Absolutheit der Form rechtfertigen ließe, indem man die Absolutheit des innerlichen Ausdrucks an der kritischen Zersetzung des Subjekts scheitern ließe, so gilt doch für Schleiermacher, dass er die künstlerische Absolutheit des Subjekts nie geteilt, sondern von Anfang an in eine ethische Kommunikationstheorie eingestellt hat. Nicht die Selbstfindung des Subjekts ist für Schleiermacher das Ziel der Kunst, sondern die gleichzeitige Konstitution individueller Bestimmtheit im freien geselligen Austausch. Der religiöse Zug des Kunst ist deshalb für Schleiermacher nicht, dogmatisch gesprochen, individuelle Erlösung, sondern Gründung des Reiches Gottes. Die religiöse Kunst reflektiert auf die geistkirchliche Ziel- und Tiefendimension der bürgerlichen Gesellschaft. Sie gilt damit (im Hinblick auf die Ästhetik gesprochen) der im Kunstwerk durch besonderen Stil zu kennzeichnenden Darstellung und Reflexion von zeitunabhängiger Begründung der Möglichkeit kultureller Geselligkeit, nicht nur deren geselliger und kulturabhängiger Realisierung.
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Vgl. zum folgenden den erwähnten Artikel von Gunter Scholtz: Musik, a.a.O. (Anm. 4); Carl Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik, Kassel 1978; Barbara Naumann: Nachwort, in: Die Sehnsucht der Sprache nach der Musik. Texte zur musikalischen Poetik um 1800, hg. v. B. Naumann, Stuttgart 1994, 245–273.
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Für die Ästhetik Schleiermachers bleibt die Interpretationsfrage, ob dieser Unterschied auf resistente Aufklärungsüberzeugungen6 bei Schleiermacher (bzw. seine ästhetische und ästhetiktheoretische7 überwiegende Rezeptivität), oder aber auf eine untergründige Modernität Schleiermachers8 hinweist, oder ob es sich um eine mögliche und legitime Variante9 der idealistisch-frühromantischen Ausdrucksästhetik handelt.
I. Musik der Innerlichkeit bei Goethe Ausgangspunkt des Vergleichs ist ein Sonett Goethes, das dieser 1807 in seinem Wilhelmine Herzlieb gewidmeten Sonettenzyklus veröffentlichte. Ob die im Gedicht fingierte Situation eines Begleitgedichts zu einer Marzipanfruchtgeschenkbox tatsächlich der ursprünglichen Funktion entspricht, ist umstritten.10 Christgeschenk Mein süßes Liebchen! Hier in Schachtelwänden Gar mannigfalt geformte Süßigkeiten: Die Früchte sind es heil’ger Weihnachtszeiten, Gebackne nur, den Kindern auszuspenden! Dir möcht ich dann mit süßen Redewenden Poetisch Zuckerbrot zum Fest bereiten; Allein was solls mit solchen Eitelkeiten? Weg den Versuch, mit Schmeichelei zu blenden! Doch gibt es noch ein Süßes, das vom Innern zum Innern spricht, genießbar in der Ferne, Das kann nur bis zu dir hinüberwehen.
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Vgl. Albrecht Beutel: Aufklärer höherer Ordnung? Die Bestimmung der Religion bei Schleiermacher und Spalding, in: Barth u. Osthövener: Reden, a.a.O. (Anm. 4), 277–310. Vgl. Petra Bahr: Symbol, Darstellung und Ausdruck. Die Ästhetik Schleiermachers, in diesem Band, zum Hintergrund vgl. dies.: Darstellung des Undarstellbaren. Religionstheoretische Studien zum Darstellungsbegriff bei A.G. Baumgarten und Immanuel Kant, Tübingen 2004. Vgl. Inken Mädler: Kirche und bildende Kunst der Moderne. Ein an F.D.E. Schleiermacher orientierter Beitrag zur theologischen Urteilsbildung, Tübingen 1997. Vgl. die zitierten Arbeiten von G. Scholtz sowie Kurt Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik. Eine literaturgeschichtliche Studie zum romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland, Göttingen 1986. Vgl. Gerhard Schulz: Art. „Sonette“, in: Goethe-Handbuch, Bd.1, Gedichte, Stuttgart/Weimar 1996/2004, 302–306.
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Und fühlst du dann ein freundliches Erinnern, Als blinkten froh dir wohlbekannte Sterne, Wirst du die kleinste Gabe nicht verschmähen.
Es handelt sich um ein vollendet strukturiertes Sonett. In dreifacher Steigerung wird die Weihnachtsgabe und der Akt des Schenkens in den einzelnen Strophen verinnerlicht und damit im Sinne wahrer innerlicher Begegnung überstiegen. Doch dann wird in einer abschließenden Reflexion die Annahme des Geschenks als Ausdruck der innerlichen Begegnung gefeiert und damit das zuvor innerlich Verabschiedete, nämlich die „kleinste Gabe“, wieder in ihr Recht gesetzt. Das Weihnachtsfest, die Religion und die essbaren Süßigkeiten sind für die Kinder. Die gewandte Rede und die schmeichelnde Dichtkunst sind für die Erwachsenen. Aber die Sprache des Herzens, der Geist und die innerliche Gemeinschaft sind für die Liebenden. Hier wird vom Innern zum Innern gesprochen. Der künstlerische Ausdruck wird beiseite gestellt, aber die Liebe selbst weht hinüber und weckt im Innern das Erinnern. Die Pralinenschachtel und die Dichtkunst verweisen auf die Realität innerer Begegnung. So stellt das Gedicht, indem es sich selbst zurücknimmt, die haptische, audiovisuelle Wirklichkeit des Geliebten in der Empfängerin her. Durch Geschenk, Kunst und Geist hindurch wird die Individualität des Absenders mittels der geweckten Einbildungskraft in der Empfängerin wiederhergestellt. Das tatsächliche Paket in ihren Händen und das auf Papier geschriebene Sonett erweisen sich von hier aus als ein Symbol, als ein Unterpfand der gemeinten Innerlichkeit und der innerlichen Begegnung der Liebenden. Zu beachten ist die Entschiedenheit, mit der Goethe sein „poetisch Zuckerbrot“ mit zu den bloßen Zeichen der Kommunikation macht. Äußeres und Inneres, Geschenk und wehender Geist, Gedicht und Erinnerung werden nicht inhaltlich aneinander gebunden. Die Gestalt des Gedichtes, die Kunst der Worte und die Absichtlichkeit des Inhalts sind eitle Schmeichelei, nicht wesentlich. Mag hier auch Ironie, Witz und Understatement mitspielen, so bleibt doch die grundsätzliche Differenz von liebender innerlicher Kommunikation und künstlerischer Mitteilung. Dies gilt gerade dann, wenn mit der Theorie der Empfindsamkeit die Funktion der Kunst darin besteht, nicht etwas mitzuteilen, sondern eben das Innere selbst. Der Künstler ist in die Empfindung und das seelische Gefühl involviert, dieses will er gestalten und ausdrücken, nicht bloß Affekte arrangieren. Nicht Schönheit, sondern Ausdruck ist das Wesen der Kunst. Deshalb zieht Goethe die Kunst ein in den Weg der Verinnerlichung, der die Gaben wie das Fest als Ganzes für seine Zwecke benutzt. Für die reale innerliche Kommunikation der Liebenden ist die Kunstform nicht wesentlich oder gar konstitutiv. Die Selbstauffas-
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sung der Kunst bleibt hier gleichsam bei Besinnung, sie ist Mittel der Kommunikation und der Erinnerung. Die Göttlichkeit des Innern, die geistige Begegnung sind das Eigentliche und ereignen sich ohne die Mithilfe der Kunst. Im Hinüberwehen des sprechenden Geistes kann man einen Anklang an Musik hören. „Ein Süßes“ weht herüber und füttert den Geist mit Geschmack und Geruch. Gemeint ist die Liebe als besondere Eigenart des herüberwehenden Geistes. Diese Liebe verbindet sich mit dem Wort, allerdings einem solchen, das nur vom Inneren zum Inneren spricht. Dieses ist also das wahre Wort, die Tiefenschicht des poetischen Zuckerbrots. Es ist auf die Ferne genießbar, also nicht wirklich auf die akustische Übertragung angewiesen. Das hörbare Wort ist nur ein Symbol des inneren Sprechens. So ist das Herüberwehen also eine Einschränkung und zugleich Realisierung des Genießens: Die Übertragung der Liebe ist genauso unfassbar und innerlich wie die Liebe selbst, die wahre Mitteilung von ihr ist ihr Sich-ereignen selbst. Der Anklang an Musik, die zwischen akustischem Wohlklang und Wortbedeutung schwebt, hat also seine Wahrheit in ihrem unfassbaren Charakter nach dem Ende des Affektenausdrucks. Goethe verwendet den Anklang an die Musik, um auf die Tiefe, Aufrichtigkeit und Wahrheit seiner Liebe hinzuweisen, die nicht durch Worte und Äußeres vermittelt werden kann. Die Musik ist hier Bild für die unverfälschte und unverfälschbare Sprache der Innerlichkeit, sie ist das innere Wort der Sprache, das, wovon die Sprache sprechen kann, wenn sie verstummt und über ihre äußere Hülle hinwegträgt. Die Musik ist damit das mögliche Medium einer Geistkirche, die von den Personen und ihrer inneren Zuwendung zueinander getragen wird, aber nicht über begriffliche Mitteilung, gegenständliche Bestimmtheit und objektivierbare Information aufgebaut ist.
II. Die Musik der Kunst bei Tieck 1. Weihnachten als wahre Innerlichkeit Schon die von Schleiermacher zitierten ‚Herzensergießungen‘ enthalten Texte Tiecks, die die Neubegründung der künstlerischen Subjektivität im Akte des Schaffens und Rezipierens an bestimmte Kunst– und Religionsformen binden. Damit wird der schon bei Goethe zu beobachtende Rückgang aus den äußeren Affekten in die Innerlichkeit bei Tieck zu einer innerkünstlerischen Ausdifferenzierung bloß äußerlicher und eben auf das Innere verweisender Kunstformen. So wird die bei Goethe bloß vorausgesetzte Persönlichkeit unmittelbar in das Geschehen der Kunsterfahrung hineingezogen. Im (wahren) künstlerischen Prozess
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konstituiert sich die Person, der Darstellungsmodus wird zugleich zum Konstitutionsgeschehen. Bereits in Tiecks Roman Sternbalds Wanderungen heißt es bei der Betrachtung des abendgeröteten Himmels: „Wenn ihr Maler mir dergleichen darstellen könntet, so wollte ich euch oft eure beweglichen Historien, eure leidenschaftlichen und verwirrten Darstellungen mit allen unzähligen Figuren erlassen. Meine Seele sollte sich an diesen grellen Farben ohne Zusammenhang, an diesen mit Gold ausgelegten Luftbildern ergötzen und genügen, ich würde da Handlung, Leidenschaft, Komposition und alles gerne vermissen, wenn ihr mir, wie die gütige Natur heute tut, so mit rosenrotem Schlüssel die Heimat aufschließen könntet, wo die Ahndungen der Kindheit wohnen […] O, mein Freund, wenn ihr doch diese wunderliche Musik, die der Himmel heute dichtet, in eure Malerei hineinlocken könntet!“11
Die ästhetische Sonderstellung der Musik als unmittelbarer Ausdruck des Gemüts, des Herzens und der Seele wird hier benutzt, um innerkünstlerische Kritik zu treiben. Die vom Himmel gedichtete Musik in der Malerei – eine hübsche Fügung – ist das in ihr, was zu Herzen geht. Sie ist das, was ohne Zusammenhang mit den Objekten, mit der wirklichen Welt ist. Sie ist das, was – gegenüber der szenischen Objektverhaftetheit und kompositionellen Struktur der gegenständlichen, akademischen Malerei – die Kunstlosigkeit der Kunst meint, den seelischen Affekt hinter jeder künstlerischen Gestaltung. Die musikalischen Luftbilder sind Zeichen der Phantasie, sie treffen unmittelbar ein anderes Schönheitsempfinden der Seele, das, woran sich diese in Wahrheit ergötzt, ohne dafür der Kunst bedürftig zu sein. Das absichtslose Spiel der Natur trifft die Natur der Seele. Dieses Innere der Seele wird näher bestimmt als Heimat, als Sitz kindlicher Ahnungen. Es ist ein Ort des Ursprungs, der ursprünglichen Selbsterfahrung sowie – als Ahnung – der Ort einer erwarteten Erfüllung, eines ersehnten unendlichen Zusammenhangs mit dem Absoluten. Naturschönes und Betrachter sind über diese Idee eines all-einen Zusammenhang miteinander vermittelt. Die große Natur als Schöpfer der erhabensten Kunstwerke spricht unmit11
Ludwig Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen. Eine altdeutsche Geschichte (1798) (Zweiter Teil, Erstes Buch, Sechstes Kapitel), zitiert nach der Studienausgabe von Alfred Anger, Stuttgart 1966/1979, 280f. Vgl. Gerhard Schulz: Die deutsche Literatur zwischen französischer Revolution und Restauration, Teil 1: Das Zeitalter der französischen Revolution, München 1983, 371–398. Die Herkunft von Tiecks Kunstideen aus dem Gespräch mit Wackenroder (und damit die mögliche Differenz zwischen Tiecks katholisierender und Wackenroders protestantischer Frömmigkeit und ihrem ästhetisch-literarischen Niederschlag) soll hier nicht problematisiert werden. Vgl. zu Wakkenroder Ulrich Barth: Ästhetisierung der Religion – Sakralisierung der Kunst. Wakkenroders Konzept der Kunstandacht, in: ders.: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 225–256; sowie Markus Buntfuß: Die Erscheinungsform des Christentums. Zur ästhetischen Neugestaltung der Religionstheologie bei Herder, Wakkenroder und De Wette, Berlin/New York 2004, 87–151.
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telbar zum Inneren des Menschen, weil sie das Bild für das Größere ist, in dessen Horizont die einzelne Seele sich selbst ursprünglich erfährt. Natur und Subjekt sind damit gleichsam selbst schon Abbilder der Idee schöpferischen Schaffens, und die Kunst ist dann erst die gewünschte Nachahmung, ist der Ausdruck dieses Schöpferaktes der Natur, der sich im Innern des Subjekts fortsetzt. Die Komponenten der neuen Ästhetik – Subjektivitätstheorie, Spinozismus, Platonrezeption – scheinen auf und führen zu einer doppelten Buchführung in der Kunstanalyse, hier durch das Bild der Musik in der Malerei verdeutlicht. Das reine Farbenspiel schließt alles Inhaltliche aus, Handlung und Personen werden nebensächlich. In dieser Negation sieht der heutige Leser die Malerei der Moderne, erkennt er die Himmelsbilder Friedrichs, Runges und Turners, die als Vorläufer der abstrakten Malerei gelten. Die Idee abstrakter autonomer Kunst scheint aufzuleuchten. Dagegen allerdings sprechen zwei Bemerkungen: Einerseits erklärt Tieck auch die Komposition für überflüssig. Diese ist in einer abstrakten autonomen Kunst aber das einzige, was bleibt, was ihr Wesen als Kunst und Invention ausmacht. Zum zweiten bleibt das Luftbild an die Bedeutung für die Seele gebunden, es ist nur sinnvoll, weil es Ausdruck der Innerlichkeit ist. Damit wird aber der Ausdruck und die seelische Funktion zum Maßstab der Kunsthaftigkeit der Kunst gemacht, wodurch deutlich ein argumentatives Gefälle hin zur grundsätzlichen Hintergehung der Kunstoberfläche entsteht. Das objektive Bild des abendlichen Himmels wird durch die reine Subjektivität als gemeinte Ausdrucks– und Empfindungsinstanz eingebunden,12 und es ist in Tiecks Gedankenfolge durchaus auch als grundsätzlicher Einwand gegen alle Kunstbemühungen gemeint. Die Aufforderung, diesen Himmel, diese farblich gedichtete Musik als Bild zu malen, ist deshalb grundsätzlich doppeldeutig: Ist man einerseits geneigt, hierin eine prophetische Vorwegnahme der Kunstentwicklung zu sehen, kann andererseits auch eine Feier des Kunstlosen, des unmittelbaren Ausdrucks, eine ausdrucksbezogene Verkitschung der Kunst gemeint sein. Die vom Himmel gedichtete Musik in der Malerei ist also in den zitierten Betrachtungen das Bild für den eigentlichen Rezeptionsprozess im Inneren der Seele. Kunst ist nicht an das Dargestellte und seine Mittel gebunden, sondern entsteht als eigentliche Kunst erst in der inneren Wahrnehmung und Verarbeitung. In dieser Beschreibung und Evozierung von individuellen Evidenzereignissen hat die Kunst ihr eigentliches Ziel. Tieck bindet diese Evidenzereignisse bewusst nicht an den
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Vgl. Naumann: Sehnsucht, a.a.O. (Anm.5), 252–255; Alexandra Kertz-Welzel: Die Transzendenz der Gefühle. Beziehungen zwischen Musik und Gefühl bei Wackenroder, Tieck und die Musikästhetik der Romantik, St. Ingbert 2001.
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analysierbaren kompositionellen und bedeutungstragenden Körper der Kunst. Kunst und innere Evidenz bleiben getrennt, es gibt hier keine moderne Theorie der Kunstevidenz. Dafür spricht auch, dass die Gehalte der Evidenz bewusst unklar bleiben, die Musik hat sich von ihrer Sprachlichkeit gelöst, sie hat ihre innere Verständlichkeit verloren und wird zum Ausdruck einer unnennbaren Innerlichkeit, einer unaussprechlichen Sehnsucht, einer direkt mit dem Himmel verbundenen, an den eigenen Ursprung zurückgebundenen Kindlichkeit. Schöpferische Natur und geniales Ich sind im Evidenzereignis verbunden in einer inhaltlich unbestimmten Kommunikation, die den Bezug auf Kunst und andere Menschen negiert. Die Musik steht der Malerei als inneres Kritikmoment an ihrer Äußerlichkeit gegenüber, wie im Großen die religiöse Andachtshaltung in jeder Kunst ihre innere seelische Ausdruckshaftigkeit betont. Der Künstler ist nicht als eigenes Individuum im Blick und die Kunst nicht in ihrer Beziehung auf das wirkliche Leben. Musik vs. Malerei ist hier das relationale Bild einer steten Überwindung der realen dargebotenen Kunst auf die dahinterliegende innere seelische Tiefenschicht. Sie bietet sich in diesem Fall wegen ihrer Ungegenständlichkeit und ihrer emotionalen Unbestimmtheit an. Deshalb dürfte zu folgern sein, dass entgegen dem Wortlaut des Textes die Aufforderung an die Maler nicht wörtlich zu nehmen ist und auch nicht eine Entwicklung der Malerei vorzeichnet, sondern im Gegenteil von der Meinung Tiecks getragen ist, dass die Malerei – aufgrund ihres Kunstcharakters – gerade nicht einen Ausschnitt aus einem Himmel mit Abendrot präsentieren kann, weil sich Tieck im Kontext der klassischen akademischen Malerei (noch) gar nicht vorstellen kann, dass ein solches Bild bedeutungsbezogen gelesen werden könnte.13 Der Erlebnischarakter der beschriebenen Szene ist der literarische Hintergrund für die Kunstanschauung. Da aber ein Bild als Artefakt, als aus dem Leben herausgelöstes Einzelnstück diesen Erlebniskontext nicht aus sich selbst heraus herstellen kann (nach Tiecks Meinung), bleibt seine Forderung kunstästhetisch gesehen bewusst utopisch. Das Evidenzerlebnis taugt nicht als alleiniger Konstitutionspunkt einer auf die wirkliche Kunst bezogenen Kunstphilosophie, vielmehr hat es – trotz aller scheinbaren Modernität des Textes – die latente Stoßrichtung, jede künstlerische Bemühung um Realisierung des Konzepts einer subjektivitätstheoretisch fundierten Ausdrucksästhetik zu entwerten. Diesem Problem ist nicht mit dem Konzept einer autonomen Kunst, sondern nur mit der Einbindung von Kunst in den historischen, kulturellen und sozialen
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Wie Rudolf an der zitierten Stelle (281) denn auch unwidersprochen ausführt: „Aber euch fehlen die Farben, und Bedeutung im gewöhnlichen Sinne ist leider eine Bedingung eurer Kunst.“
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Kontext zu entkommen – ein Weg, den Tieck dann entschieden eingeschlagen hat. Allerdings bedeutet dies zugleich, dass das Modell einer „Musik der Kunst“, also einer internen Trennung in der Kunst zwischen der „eigentlichen“, wahren und offenbarungshaltigen (also evidenzerzeugenden) Kunst und ihrer traditionellen, ikonographisch lesbaren und komponierten Form, zu einer stetigen Iteration dieser Differenz führt. Die Funktionalisierung der Kunst als Ausdruck des Inneren scheitert hier bei Tieck an der Verweigerung einer Theorie der Beziehung von Innen und Außen, von himmlischer Subjektivität und künstlerischem Ausdruck. Im Gegensatz zu Goethes Innerlichkeitskonzept, der sich einerseits weigert, auf der Ebene der Kunst irgendwelche Unterschiede bezüglich der Ausdrucksfähigkeit der Seele einzuziehen, damit andererseits aber vom innerlichen Geschehen aus Kunstwerk wie Weihnachtsgebäck als gleichzeitige Ausdrucksmittel gelten lassen kann, will Tieck jedoch den Kritikprozess an der bürgerlichen Schönheit als ein innerkünstlerisches Geschehen auf Dauer stellen. Um den Verweis auf das Innere in der Kunst darstellen zu können, verfährt die Kunstkritik als Dauerkritik an der äußeren Kunst. Ein internes Konstruktionsprinzip der Differenz von Ausdruck und seelischem Gehalt wird in Tiecks Konzept unmittelbar zur Kritik an aller Kunst gemacht. Deswegen bleibt die erhoffte Kunst ortlos, sie liegt in der Zukunft, ist aber auch mit der Idee einer autonomen Kunst gar nicht zu fassen. Denn (auch) nicht das Autonome an der Kunst kann ihren Offenbarungscharakter tragen, sondern nur die Kritik an ihren Gehalten. Es ist nur ein zufälliges zeitliches Produkt, dass Tiecks Dauerkritik als Form der Kunst mit der Entwicklung eines innerkünstlerischen Konzepts autonomer Kunst zusammenfällt. 2. Weihnachtliche Volksmusik als Sprache der Frömmigkeit Weil die Konstitution der Person nicht wie bei Goethe für die Kunstausübung schon vorausgesetzt wird, sondern sich im künstlerischen Prozess erst ereignet, fordert Tieck die Dauersichtbarkeit dieses Konstitutionsprozesses am Kunstwerk selbst. Kunst geschieht nicht als Gegenzeichnung innerer Mitteilung, sondern als unmittelbare Hineinnahme in den Prozess künstlerischer Individualitätswerdung. Das Einlassen auf diese gefährdete Existenzform, die nach Dauerbestätigung sucht und sie im Gegenüber zur platten, philisterhaften Weltsicht entfaltet, ist die zentrale Rezeptionsforderung der Kunst. Kindheit steht für das Zurück hinter das eingehauste, kulturell gesicherte Subjekt, das für den wahren Künstler nur aus hohlen Schalen besteht. Doch kann dieses
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Zurück nur durch reale, an die Kommunikationsbedingungen der Gegenwart gebundene kulturelle Artefakte hergestellt werden. Innerlichkeit ist also in Tiecks Kunstauffassung das Ergebnis der im Akte der Kunstrezeption vollzogenen Kritik an ihrer äußeren Form. Das Konzept der Musik in der Kunst – die das eigentliche Wesen der Kunst verdeutlicht – verweist auf die gefährdete Subjektivität, die nicht mehr wie bei Goethe vorausgesetzt werden kann, sondern sich selbst immer neu erreichen und hervorbringen muss. Weihnachten wird zum Ereignis der Begründung der Person, doch dieses selbst wird gleichzeitig in einer utopischen Weise ausdruckslos. Dies lässt sich verdeutlichen an einem Weihnachtsgedicht Tiecks, das auf seinen Romaufenthalt in den Jahren 1805/06 zurückzuführen ist und Kunstkritik und Weihnachtsgeschehen unmittelbar aneinanderknüpft. Weihnachten Wenn herüber zu meinem Garten Die alten Lieder tönen Der Pfeifer, die, aus dem Gebirge kommend, Jeglich Marienbild mit Weisen grüßen, So dünk ich mich in seltsame, ferne Wunderzeiten entrückt, Und alte Legenden, und himmlische Sehnsucht, zarte Lieb und große Erinnerung Quellen aus den rauhen, einfachen Tönen. Tiefer, und inniger Spricht der Frömmigkeit Wort Die wunderliche Melodie, Als in den Kirchen der neuen Künstler Wirrwarr, Die alle Töne keck aufbieten Um zu heucheln und zu grimassieren, Und mit weltlichem Prunk Das Heilige zu höhnen.14
Zu Weihnachten zogen die Hirten aus dem Sabinergebirge mit ihren Flöten in die Stadt ein. An diesen Brauch und seine Wirkung knüpft das Gedicht seine Fassung der Ausdifferenzierung von Kunst, Religion, von Frömmigkeit, Wort und Ausdruck an. Natürlich kann man das Gedicht als Ausdruck der katholisierenden und kulturkritischen Tendenzen in Tiecks Entwicklung lesen und als schlichte Aussage festhalten, dass Tieck die moderne Kirchenmusik nicht gefällt und dass er sich durch sie in seinem Glauben nicht ergriffen und dargestellt fühlt. Doch die im 14
Ludwig Tieck: Schriften in zwölf Bänden, Bd.7: Gedichte, hg. von Rupert Wimmer, Frankfurt/M. 1995.
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Gedicht erkennbaren und assoziierten Gründe verweisen auf einen tiefer gehenden musiktheoretischen Diskurs, die es notwendig machen, Tiecks Aussagen auf dem Hintergrund seiner eigenen Entwicklung sowie der damit zusammenhängenden frühromantischen Musikästhetik zu lesen. Das Gedicht besteht aus zwei Teilen zu neun freien und reimlosen Versen. Die beiden Teile werden durch den Reim ihres jeweils letzten Wortes (Tönen – Höhnen) getrennt und aufeinander bezogen. Der erste Teil schildert die Erfahrung des Weihnachtstages und die ausgelöste Stimmung, beides wird durch die zeitlich unbestimmte Konsekutivkonstruktion (wenn – so) in eine schwebende lyrische Ausdruckform gebracht, die auch die Darstellung der im Inneren ausgelösten Inhalte unter sich birgt („so dünk ich mich entrückt, […] und [dann, so ist zu ergänzen] […] quellen aus den […] Tönen“). Der zweite Teil ist als Reflexion über diese Stimmung bzw. genauer über den Zusammenhang von Erfahrung und Gestimmtsein, von Musik und Religion angelegt. Hier werden vergleichende und wertende Aussagen getroffen, die durchaus den Anspruch begrifflicher Bestimmtheit machen. Weihnachtserleben und Musikhören, Religion und Kunst werden im ersten Teil miteinander verbunden, und zwar beiderseits in Form einer archaischen Ursprungserfahrung. Die von den Hirten in die Stadt hineingetragene ländliche und archaische Welt wird in unmittelbarer Konnotation zum historischen Weihnachtsgeschehen aufgefasst. Die musikalische Marienverehrung durch die Hirten zitiert das Urbild musikalischer Huldigung, den Chor der auf die Erde herabgestiegenen Engel, die den Hirten auf den Feldern von Bethlehem erscheinen und sie in die Verehrung des Kindes in der Krippe mit hineinnehmen. Die Hirten werden zum Weihnachtsengel, der vom Himmel kommend die frohe Mär zu den Menschen bringt. Aber sie verkünden hier nicht bloß die Frohbotschaft aus einer alten Zeit, sondern erzeugen die Idee einer realen Entrückung des lyrischen Ich. Die Produktionstätigkeit wird erregt, ohne dass es sich um die Erzeugung eines begrifflichen Gedankens handelt, nicht eine Bestimmtheit wird gedacht, sondern eine ferne, seltsame Wunderzeit realisiert. Dabei steht die ferne, wunderzeitliche Realität des Christusgeschehens für die Realität einer Entrückung in das eigene Innere, in die Wunderzeit jenes fernen Ortes im Gemüt, der nicht auf die tatsächliche Wirklichkeit in Raum und Zeit bezogen ist. Der häusliche Garten wird zum Ausgangspunkt dieser Entrückung, auf die Felder Bethlehems und des dortigen Inkarnationswunders einerseits, auf die urzeitlichen, paradiesischen Gefilde des geistigen Schöpfungspunktes im Ich andererseits. Es handelt sich gleichsam um die innere Reflexivität der Einbildungskraft selbst, nicht bloß um ihre Erregung und Benutzung.
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Die Musik initiiert den Prozess der Bewusstwerdung, der Aufdekkung des Wahrheitsgehalts der alten, aber in der Gegenwart verschütteten Gewissheit. Die himmlische Sehnsucht wird in die zarte Liebe überführt: Der Gang führt vom Feld an die Krippe, zur Anbetung des Kindes, zur realen Präsenz des Gottes in der Welt. Im Kind erkennt sich die Seele wieder, an der Krippe gewinnt sie ein solches Verhältnis zu sich, das als zarte Liebe, als ungeschütztes Innesein der eigenen Absolutheit gesehen werden soll. Der Inhalt der lebendigen großen Er-Innerung ist das in das Innere verlegte Weihnachtsgeschehen, ist die Inkarnation Gottes im Kind, ist die Vereinigung von empirischem und transzendentem Ich, die dann wiederum die Gegenwart des realen Ich – hier des lyrischen Ich in seinem Garten beherrscht. Die lyrische Beschreibung der ersten Gedichthälfte nimmt die gehörte Musik als Ausgangspunkt einer reflexiven Wendung ins Innere. Der Reflexionsprozess und seine Gehalte quellen aus den rauen, einfachen Tönen. Will man diesen Prozess nicht als beliebig ansehen, so wird man schließen können, dass hier das Wesen der Kunst, das Wesen der Musik ausgesprochen wird. Rauheit und Einfachheit der Hirtenflötenmelodie stehen für die Reduktion des Reflexionsanstoßes auf das Geschehen der Musik überhaupt. Der Rückgang ins Innere wird parallelisiert mit der Weihnachtssituation der Hirten und Engel vor dem göttlichen Kind. Damit ist sowohl musikalisch als auch individualitätsbezogen die Ursituation, das Urbild des geistigen Selbstbewusstseins genannt. Sinn der Kunst ist es, die Reflexivität des Rezipienten im Hinblick auf die innere Produktionsinstanz von Kunst in Gang zu setzen. Tieck beschreibt das Geschehen am Ort dieser inneren Instanz im Ausgang von religiösen Bildern und dieses damit als erneuerte Ausdrucksgestalt einer Religion, die zunächst nur als Erinnerung und kulturelles Wissen besteht. Die Überführung der alten Legenden in große, also lebendige Erinnerung, die Transformation der geschichtlichen Religion in gegenwärtige Gewissheit ist damit die Funktion der künstlerisch angeregten Selbstbewusstwerdung. Musik ist also Ausdruck eines inneren Reflexionsgeschehens. Dieser Weg ins Innere wird als bewusstes Geschehen, als Entrückung von dem rezipierenden Subjekt produziert. Dazu wird die Kunst religiös aufgeladen. Diese religiöse Deutung besteht im Wissen um die Auslösefunktion für den reflexiven Prozess. Damit kann jetzt der Übergang zum zweiten Teil des Gedichts motiviert werden. Denn auf den ersten Blick scheint die Kunstkritik und Vergleichung nicht unbedingt ein Inhalt lyrischer Weihnachtsstimmung zu sein. Insofern kann man sich fragen, ob dieses Gedicht eigentlich als Gedicht gelungen ist. Doch interpretiert man den ersten Teil des Gedichts als eine innere Ringkomposition, die vom Hören der Musik aus-
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gehend den Weg ins Innere nimmt und von dort zurückkehrend die gehörte Musik mit höherer Bedeutung und gleichsam religiöser Schönheit adelt, so wird deutlich, dass dieser Zuschreibungsprozess von Bedeutung an Kunstwerke der eigentliche Zielgehalt des Gedichts ist. Weihnachten wird zum Bild für den produktiven Zug des Subjekts im Umgang mit der Kunst. Und von hier aus wird erneut, wie schon im „Sternbald“, das Geschehen von Bedeutungszuschreibung als interne Differenz von wahrer innerlicher und oberflächlicher äußerlicher Kunst aufgebaut. Bereits im Hinblick auf die Musik in der Malerei und die dort geäußerte Kritik an der Akademiemalerei war die Kriterienlosigkeit der wahren Kunst angesprochen worden. Die religiöse Erfahrung ist nur die Voraussetzung, nicht der Inhalt des Kunstvergleichs. Diese Voraussetzung wird jetzt deutlich formuliert: „Tiefer und inniger spricht der Frömmigkeit Wort die wunderliche Melodie als […].“ Genau dies ist geschehen: Kunst ist als Sprache der Frömmigkeit erlebt worden. Damit wird die Auffassung der Musik als klingende Sprache, als Wort für Affekte und Ereignisse aufgenommen. Doch als Wort der Frömmigkeit zielt Musik auf Mitteilung und Ausdruck des innersten Gemüts, und insofern dieses Innere des Gemüts ein auf sich selbst bezogener, Gottes Schöpferhandeln wiederholender menschlicher Schöpfungsakt ist, wird hier nicht ein Sachverhalt kommunikativ übermittelt, sondern unübertragbare Frömmigkeit erregt. Die Einbeziehung des lyrischen Ich in das Weihnachtsgeschehen, das durch Hirtenflöten evoziert wurde, misst die Musik an dem realen Vollzug innerlicher Selbstbesinnung. Musik als Wort der Frömmigkeit ist die als innerkünstlerische Differenz aufgebaute Forderung nach dem eigenen inneren Nachvollzug. Mit der Anwendung der Differenz auf die Kirchenmusik selbst übersteigert das Gedicht jede rational kontrollierbare Stildebatte in der Kunst. Zwar ruft Tieck die kirchenmusikalischen Auseinandersetzungen auf, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts um die ideale Kirchenmusik streiten, und die geführt werden in Form von kirchlich-institutionellen Vorgaben, musikalischen Erneuerungs- und Aufführungsbemühungen, Gesangbuchüberarbeitungen und musikalischen Bemühungen um den Gemeindegesang.15 Tieck überspringt mit seinen musi-
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Vgl. Friedrich Blume u. Ludwig Finscher: Geschichte der evangelischen Kirchenmusik, Kassel 1965; Art. „Kirchenmusik“, in: MGG 16, 951–994 (1976); Georg Feder: Art. E. Die Kirchenmusik im Zeitalter der Aufklärung und der Wiener Klassik (ebd., 977–983); Ekkehard Starke: Art. „Theologie und Musik“, in: EKL3, Bd.4, Sp. 765–774; D. Schuberth: Art. „Kirchenmusik“, in: TRE, Bd.XVIII (1989) 649–662; G.A. Krieg: Art. „Musik und Religion IV: Von der Renaissance bis zur Gegenwart“, in: TRE, Bd.XXIII (1994), 457–495. Die Schwierigkeit beginnt bereits bei der Identifizierung der von Tieck genannten neuen Künstler. Gemeint sein könnte zum Beispiel Haydn,
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kalisch archaischen Hirten allerdings die Alternative: die Wiederbelebung einer schlichten polyphonen a capella Satztechnik, wie sie einige Jahre später mit der Palästrinarezeption des Cäcilienbundes gleichsam liturgisch kanonisch wurde.16 Seine Hirtenpfeifer überbieten noch den Gegensatz von Kirchen- und freier symphonischer Instrumentalmusik. Tiecks Konzept sprengt jede Kirchenmauer und ist im Kontext der Frage nach einer stilistisch besonderen religiös angemessenen Kirchenmusik nicht einzuordnen. Tieck benutzt die Debatte also nur zur Kennzeichnung seines eigenen Kunstkonzepts. Diese Folgerung steht zwar im Gegensatz zum Duktus des Gedichts, das sich durchaus an einer inhaltlichen Beschreibung der unreligiösen Kirchenmusik versucht. Das Tonmaterial dieser neuen Kirchenmusik wird durch Schnelligkeit, kleine Notenwerte, unübersichtliche Stimmführung, großen Tonumfang und Ausnutzen der Chromatik sowie Verwenden großer Intervallsprünge in kleinen Zeitmaßen gekennzeichnet. Diese genaue Beschreibung dient aber nur dazu, die moralisch-religiöse Disqualifizierung der neuen Musik vorzubereiten. Die Absicht dieser Musik beschreibt Tieck als Heucheln, Grimassieren und Höhnen. Die Herabsetzung der neuen Musik geschieht in Form der Denunziation der Sittlichkeit der Musiker. Die von Tieck geforderte Wendung nach Innen geschieht nicht, sie ist nicht Ursprung der Musik. Der weltliche Prunk bezieht sich auf die künstlerisch-kompositorische Verarbeitung, die an dem Können und Wissen der modernen Musik partizipiert und insofern als säkulare, autonome Musik gesehen werden kann. Die Komponisten sehen auf die Musik und nicht auf ihren inneren Verweisungszusammenhang. Sie komponieren nicht aus der Verehrung des Himmlischen heraus, Musik ist für sie nicht Ausdruck der Frömmigkeit, sondern ein irdisches Geschäft mit Tönen und Regeln. Sie höhnen das Heilige, weil sie, die Komponisten, Musik machen und nicht Ausdruck der Frömmigkeit gestalten. Je mehr musikali-
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dessen großen Oratorien und liturgischen Kirchenmusiken (wie die Sieben Worte des Erlösers am Kreuz, ursprünglich als Kommunionmusik gedacht) in den 90er Jahren aufgeführt wurden. Um den Diskurs nur an einem bekannten Beispiel zu verdeutlichen: In der Barockzeit und im 18. Jahrhundert war der Einsatz von Instrumenten im Gottesdienst durchaus üblich und erwünscht, entsprechende Kompositionen wurden sowohl auf protestantischer (in den jahrgangsweisen Kantatenkompositionen) wie auf katholischer Seite (Messe, Requiem, Te Deum) durch die wichtigsten Tonkünstler der Zeit vorgelegt. Beethovens und Schuberts Messen sind der (vorläufige) Endpunkt dieser Tradition. Gleichwohl war der Einsatz des großen Orchesters durchaus umstritten und gerade Pauken und Trompeten sollten per Dekret als unreligiös ausgeschieden werden. Und die Abwanderung der modernen Kirchenkompositionen in die Konzertsäle ist damit durchaus auch zeitgenössisch schon angelegt. Dies zeigt sich z.B. auch an Beethovens Problemen in Wien mit der Missa solemnis: In Kirchen durfte keine profane Musik, Kirchenmusik aber nicht außerhalb der Kirche aufgeführt werden.
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sche Autonomie, so lässt Tieck durchscheinen, desto weniger religiöses Reflexionsgeschehen. Der Fortschritt gegenüber der Sternbald-Episode besteht darin, dass nicht mehr das Konzept künstlerischer Autonomie auf der Linie der wahren Innerlichkeit gesehen wird, sondern dass die Kritik an der Äußerlichkeit des Philisters und seiner nutzorientierten Haltung unmittelbar mit der Kunstzugewandtheit des Künstlers parallelisiert wird. In der Behauptung, dass die künstlerische Fixierung auf die Kunst genauso oberflächlich und moralisch verwerflich ist wie die unkünstlerische Existenz des ‚aufgeklärten‘ Bürgers, liegt zweifellos eine gewaltsame Zuspitzung von Tiecks Differenzmodell. Zu verstehen ist dies nur, wenn die bleibende Strukturgleichheit beider Kritiklinien beachtet wird. Denn nur, wenn die Dauerabsetzung von der Äußerlichkeit der Kunst konstitutives Merkmal der geforderten Innerlichkeit ist, bleibt der utopische, prozesshafte Charakter der wahren Kunst gewahrt. Nicht eigentlich die Hirtenmusik in ihrer besonderen altertümlichen musikalischen Qualität ist die Sprache der Frömmigkeit, sondern nur die noch an der speziellen Kirchenmusik vorzunehmende Kritik an der Kunst. Die Abständigkeit des akustischen Tonmaterials von der inneren Reflexion ist prinzipiell. Deshalb spricht die kunstlose Musik nicht als solche das Wort der Frömmigkeit, sondern sie steht nur als Platzhalter für die im Kunsterleben immanent enthaltene Kunstkritik. Zusammenfassend: Vergleicht man den Inhalt des Gedichts mit der zitierten Passage aus den Wanderungen, so fällt beides zugleich auf: die strenge Parallelität der kunsttheoretischen Argumentation, und die Gegensätzlichkeit des Gehalts. Statt Abendrot schlichte Hirtenweisen, statt Natur jetzt Christentum, statt eigener Kindheit das weihnachtliche Krippenbild mit Hirten und Engeln, statt fortschrittlicher Malerei Kritik an der gegenwärtigen Kirchenmusik, statt progressiver Kunstentwicklung das Ideal einer volkstümlichen Ausdrucks- und Anbetungskunst. Gleichwohl: Die parallelen Funktionen in beiden Texten rücken auch ihren Gehalt aneinander. Es ist letztlich derselbe offenbarungsaffine Vorgang im Subjekt, der die Kunsterfahrung von aller Welt trennt und in den Himmel bzw. die bethlehemitischen Felder versetzt. Die Kritik am Künstler degradiert ihn zu einem Vollzugsorgan kunstreligiöser Inspiration, die hier von Tieck vorgenommene moralisch-religiöse Denunziation des modernen Musikers will seine Fachkompetenz gerade als Eitelkeit darstellen. So gehört Tiecks Gedicht in die katholische Wendung der Romantik, in die Volkskunstbegeisterung des Heidelberger Kreises und es verstärkt die Tieck eigene kulturkritische Attitude. Doch strukturell wird die bereits im Sternbald ausgesprochene Idee einer Musik in der Malerei, hier übertragen einer wahren Musik in der (Kirchen)Musik weiterverfolgt.
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So wenig anwendbar die Idee der Differenz von Frömmigkeit und Kunst in der Kunst auch als belastbare Stilbeschreibung an der Kunst erscheint, so muss doch zur Unterscheidung von Goethes und Tiecks Konzept der Kunst als Sprache der Innerlichkeit auf zwei Punkte hingewiesen werden: Zunächst die Aufwertung der Kunsterfahrung zum Ort einer prozesshaften Konstitution des Subjekts. Die Entdeckung dieses Konstitutionsmoments in der Kunsterfahrung macht, wie bei Tieck zu sehen, den entspannten Umgang Goethes mit verschiedenen Mitteilungs- und Ausdrucksformen des Inneren, von denen die Kunst nur eine ist, unmöglich. Doch diese zentrale Aufwertung der Kunst ist nur haltbar in der Aufrichtung einer Differenz zwischen wahren und uneigentlichem Kunstumgang. Bei dem Philister ist eben an eine Erfahrung des inneren Konstitutiertwerdens, das Weihnachtserlebnis, nicht evozierbar. Damit zum zweiten hängt aber zusammen, dass nicht mehr wie bei Goethe die Kunst dem kulturellen Umgang der Erwachsenen zugeordnet wird, und die wahre Mitteilung des Inneren einer unsichtbaren geisthaften Kommunikation. Vielmehr ereignet sich das wesenhaft humane Selbstsein im künstlerischen Prozess. Kunst ist damit nicht mehr beliebig und zufällig, sondern muss sich der inhaltlichen Debatte ihrer Form und ihres Stils stellen. Der Idee nach ist eine autonome Kunst denkbar, die als solche genau die Ausdrucksform wahrer, auf das Absolute bezogener und selbstbewusster Innerlichkeit ist. Tiecks Differenzkonstrukt ist hinreichend unscharf, um der späteren Wahrnehmung diese Interpretationsmöglichkeit zu bieten.
III. Musik der Religion bei Schleiermacher 1. ‚Reden‘: Der Dienst der Künste zur Mitteilung der Religion Kunst, insbesondere Musik, kommt schon in den ‚Reden‘ in vielen Zusammenhängen vor – und zwar auch außerhalb der immer wieder bemühten Rede von der Kunstreligion. Diese gibt es in den ‚Reden‘ gar nicht, auch nicht als positive Utopie. In der Sekundärliteratur17 gilt es weitgehend als ausgemacht, dass Schleiermacher in seinen ‚Reden‘ eine 17
Exemplarisch lässt sich diese Deutung Schleiermachers bei Carl Dahlhaus finden, der damit Karl Barths Verwerfung Schleiermachers als ästhetische Existenz (dieser Vorwurf Barths geht bereits auf Albrecht Ritschl zurück, vgl. Arnulf von Scheliha: Albrecht Ritschls Deutung von Friedrich Schleiermachers ‚Reden über die Religion‘, in: Barth u. Osthövener: Reden, a.a.O. [Anm. 4], 728–747) aufnimmt und als Beleg für seine Modernität und Leitbildfunktion im 19. Jahrhundert wertet: „Der Theologe des Gefühls […] war zugleich, ohne es auszusprechen, der Theologe der Kunstreligion.“ Dahlhaus: Idee, a.a.O. (Anm. 5), 89.
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Vereinigung von Kunst und Religion fordert und erhofft, um von der geistigen Oberflächlichkeit der Aufklärung in ein neues, individuell gebildetes, religiösen Sinn lebendes Zeitalter zu kommen. Die behauptete Nähe von Religion und Kunst verbindet Schleiermacher mit den Frühromantikern, sie hebt forschungsbezogen seine frühe Religionstheorie auf die Höhe der allgemeinen neuen Bestrebungen der Zeit, sie bettet ihn (und die Entwicklung des Denkens über die Religion) ein in den Horizont der allgemeinen Geistesgeschichte.18 Diese frühromantische, kunstreligiöse Lesart der ‚Reden‘ wird dann mit dem Hinweis verbunden, dass der spätere Schleiermacher sich von dieser Ideologie getrennt habe und im Zuge ethischer Besinnung, geschichtlicher Vertiefung und kirchlicherer, insbesondere auf den Gottesdienst bezogener Überlegungen stärker zwischen Religion und Kunst getrennt habe.19 Diese stärkere Trennung findet in Schleiermachers Ästhetik dann zu dem Konzept eines religiösen und eines profanen, geselligen Stils in der Kunst. Damit habe er einerseits der Kunst ihren freien Raum gegeben, andererseits an dem ihm eigentümlichen Konzept einer dienenden Funktion der Kunst in der Religion festgehalten bzw. es präzisiert. Bei den Theologen findet sich an dieser Stelle die Auskunft, dass das frühromantische Kunstreligionskonzept eine Selbstverherrlichung des Menschen, des menschlichen Geistes oder gar der schönen, heroischen und unglücklichen Individualität des Künstlers einschließe. Dagegen sei das religiöse Erlösungskonzept durch eine präzise Bestimmung des Verweisungsortes, nämlich die geschichtliche Identität Jesu als des einen Erlösers im Gegensatz zur Menschheit, bestimmt.20 Gegen dieses Bild ist herauszustellen, dass sich Schleiermacher schon in den frühen Schriften deutlich gegen die frühromantische Kunstreligion ausgesprochen hat. Denn Schleiermacher bestimmt Kunst als Funktion der Ethik, und bindet sie damit in ein Kulturverständnis ein, dass Ausdruck und Darstellung als kommunikative Größen bestimmt. Der entscheidende Differenzpunkt besteht darin, dass Schleiermachers Individualitätskonzept kein Ansichsein des Individuellen kennt, sondern – das gilt zumindest für den Menschen – Individualität 18
19
20
Vgl. Nicole Heinkel: Religiöse Kunst, Kunstreligion und die Überwindung der Säkularisierung. Frühromantik als Sehnsucht und Suche nach der verlorenen Religion, Frankfurt/M. 2004. Diese entwicklungsgeschichtlich-psychologisierende Deutung findet sich besonders bei Emanuel Hirsch, der damit auf seine Weise die Differenz von Ästhetik und Religion (bzw. frei schwebender Symboltätigkeit und ethischer Wahrhaftigkeit) trotz des Zusammenhangs Schleiermachers mit der Geistesgeschichte bestätigt: „Wäre Luther ästhetischer Symbolist [nämlich wie der frühe Schleiermacher und De Wette] gewesen, es wäre nie zur Reformation gekommen.“ Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd.5, Gütersloh 1951, 362. Vgl. Lange: Historischer Jesus, a.a.O. (Anm. 3), 44.
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nur als Wechselbegriff zum Kommunikationsprozess, in dem die Individuen sich gegenseitig ihrer Eigenart bewusst werden. Das Konzept der Kunstreligion taucht bei ihm nur negativ auf. Deutlich wird dies darin, dass Schleiermacher in der ‚Weihnachtsfeier‘ (wie schon in den ‚Reden‘) den letzten Zweck der Musik in ihrem Verstummen sieht. Erst da, wo die Kunst alles gesagt hat, was zu sagen ist, ereignet sich diejenige Kommunikation, die die Individuen als Heilige der humanen Kirche miteinander führen sollen. Bereits in den ‚Reden‘ versucht Schleiermacher den von den Frühromantikern in Aussicht gestellten Zusammenhang von Kunst- und Religionsaufschwung zu korrigieren. In der gegenwärtigen Gesellschaft den Sinn für das Unendliche zu entwickeln, also Übergänge in die Transzendenz zu ermöglichen in der platten Gegenstandsverhaftetheit und psychologischen Oberflächlichkeit der Aufklärung, ist nur möglich durch Vertiefung der Moral und der Naturanschauung, philosophisch gesprochen durch Absolutheitsreflexionen im Anschluss an die Ichphilosophie Fichtes einerseits und die Naturphilosophie Schellings andererseits. Von der Kunst und von einer Vertiefung des Kunsterlebens aus sieht Schleiermacher gerade keinen Weg zur religiösen Erneuerung. Und nicht die Vereinigung von Kunst und Religion fordert Schleiermacher, sondern die Vereinigung der möglichen Transzendenzübergänge von der Selbst- und der Weltbetrachtung. Um es in einer von Schleiermacher nicht gemeinten objektivistischen Sprache zu formulieren: Der Grund der Freiheit und der Grund aller Naturzusammenhänge müssen vereinigt werden in einem gemeinsamen Transzendenzbegriff. Von der Kunst aus führt (zumindest in der Vergangenheit und in der Gegenwart – so bleibt der Intention nach doch wohl auch die Zukunft bewusst unvorstellbar?) kein Weg zur Transzendenz. Denn in der Kunst liegt „das in sich Vollendete“ (KGA I/2, 261) (also nicht zu Überschreitende) in der direkten sinnlichen Aufeinanderbeziehung von Selbstanschauung und Naturanschauung. Nicht die Stärkung einer sich für das Religiöse mitzuständig fühlenden Kunst, sondern nur eine inhaltliche Neuausrichtung des wissenschaftlichen Weltbildes ist das (aus den vermögenstheoretischen Grundüberlegungen abzuleitende) Gebot der Stunde. Erst in dieser deutlichen Absage an das künstlerische Stiften einer neuen Religion, sei es durch eine neue Mythologie oder eine neue Bibel, wird die Neubegründung der Religion überhaupt möglich. Die Ansätze zur inhaltlichen Behandlung der ‚Mysterien‘, die das Verhältnis von Kunst und Religion noch umgeben, weisen bereits in den ‚Reden‘ in eine gegenüber der Frühromantik deutlich exponierte grundsätzliche Differenz. Dies zeigt sich im Eingang der dritten Rede. Dort werden die Grundlagen der religiösen Kommunikation beschrieben, die nicht erst für die Geselligkeit und die Kirche, sondern bereits
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für die Mitteilung von Religion zum Zwecke der religiösen Bildung gelten. Im Zusammenhang mit der grundlegenden Theorie religiöser Freiheit artikuliert Schleiermacher seine Version der Rede von der Musik, und zwar nicht als immanente, den Wesenskern enthaltende ‚Musik‘ in der Kunst, sondern, wie es zunächst scheint, als bloße Form der Mitteilung von vorausgesetzter Religion, als „Musik meiner Religion“. Doch im Zusammenhang mit der Theorie religiöser Freiheit bekommt die Wendung eine eigene Bedeutung. In der Kunst gibt es eine passive Rezeptivität, die gleichwohl im eigentlichen Sinne künstlerische Erfahrung ist. In der Wahrnehmung des Kunstwerks ereignet sich eigene künstlerische Produktivität, die inhaltlich an diesem bestimmten Werk haftet. Aber genau dies ist in der religiösen Kommunikation undenkbar. Hier hat die äußere Gestalt nicht die Funktion, als Inhalt mit in die angeregte Religiosität einzugehen. Vielmehr endet jeder Gehalt an der Neuproduktion des anderen.21 Die Gehalte religiöser Kommunikation stehen damit nicht auf einer Stufe mit dem Kunstwerk in der ästhetischen Wahrnehmung, sondern sie sind zu verorten auf der Metastufe, auf der in der Kunst „Kommentare und Phantasien über Werke der Kunst“22 stehen. Damit kann der Zusammenhang von Freiheit und Musik in der Religion verstanden werden. „Zu jenem Endzwek kennt die Religion kein anderes Mittel, als nur dieses, dass sie sich frei äußert und mittheilt. […] Wie oft habe ich die Musik meiner Religion angestimmt um die Gegenwärtigen zu bewegen, von einzelnen leisen Tönen anhebend und mit jugendlichem Ungestüm sehnsuchtsvoll fortschreitend bis zur vollesten Harmonie der religiösen Gefühle: aber nichts regte sich und antwortete in ihnen!“ (KGA I/2, 248)
Die Musik der Religion liegt in der Befreiung von ihrem äußerlichen Gehalt. Es geht nicht um die Antwort auf das Gesagte, sondern um die Anregung religiöser Produktion in den Hörern. Schleiermacher bekundet, dass seine Versuche einer innerlichen Mitteilung von Religion nur zu dogmatischen, lehrsatzbezogenen Erwiderungen, nicht aber zu eigenständigen religiösen Äußerungen der Adressaten geführt haben. Im Unterschied zu Tiecks Verwendung der Musikmetapher in der Kunst geht es bei Schleiermacher von vornherein um ein Mitteilungsge21
22
„Wer durch die Äußerungen seiner eigenen Religion sie in andern aufgeregt hat, der hat nun diese nicht mehr in seiner Gewalt. sie bei sich festzuhalten: frei ist auch ihre Religion, sobald sie lebt, und geht ihres eigenen Weges.“ (KGA I/2, 251) Schleiermacher weist mit der „Gewalt“ auf seine Konzeption der Kunstmitteilung hin: hier versucht der Künstler, den anderen auf seine individuelle Sicht festzulegen, und die angestrebte Vollkommenheit des Kunstwerkes dient genau dieser überzeugenden Festlegung. KGA I/2, 251. Der Satz kann als weitere Anspielung auf Tieck und Wackenroder verstanden werden.
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schehen. Musik ist nicht schon die Innerlichkeit selbst im Gegensatz zur Äußerlichkeit und Oberflächlichkeit der Dinge, sondern erst die Kommunikation von innerer Religion. Nicht schon die Abwendung von der Welt, sondern erst die dann erfolgende Darstellung der Innerlichkeit im kulturellen Feld für die anderen kann als Musik der Religion bezeichnet werden. Allerdings setzt Schleiermacher die Innerlichkeit nicht wie Goethe als gegebene Größe voraus, sondern bindet sie an den Akt der Darstellung. Innerlichkeit gibt es gar nicht anders denn als individuelle Weise der Darstellung in der Kommunikation mit anderen Individualitäten. Schleiermacher bindet die wahre Personalität nicht an eine Differenz im Kunstwerk, sondern einzig an die gesellige Kommunikation. In der Kultur gibt es die Differenz zwischen einer Tiefenschicht, der Anerkennung der anderen als respondierende Individuen, und der Oberfläche der Kommunikation, auf der Inhalte ausgetauscht, Begriffe definiert und Handlungszwecke beredet werden. Religion ist anzusiedeln auf der Tiefenschichtebene kommunikativer Reflexivität. Und die Religion kann diese Aufgabe erfüllen, weil ihre Inhalte nicht ein Gegenstandsgebiet für sich ausmachen, sondern reine Funktionen der Darstellung von Individualität im geselligen Kontext sind. Ist damit die reflexive Grundlagenebene der Kommunikation freier Individuen als Gehalt der Religion benannt, so lassen sich von hier aus die bekannten Ausführungen zur Musik in der vierten Rede verstehen. Im Anschluss an die Bildung zur Religion wird hier die freie Kommunikation der religiösen Individuen beschrieben und damit eine Umformung der Ekklesiologie zum Bild idealer und zugleich reflektierter Geselligkeit geleistet: „in einem größern Styl muß die Mittheilung der Religion geschehen, und eine andere Art von Gesellschaft, die ihr eigen gewidmet ist, muß daraus entstehen. […] Darum ist es unmöglich, Religion anders auszusprechen und mitzutheilen als rednerisch, in aller Anstrengung und Kunst der Sprache, und willig dazu nehmend den Dienst aller Künste.“ (KGA I/2, 268f.)
Religion lässt sich nur uneigentlich von ihrer Mitteilung trennen, weil sie in der Reflexion auf die Grundlagen der Mitteilung besteht. Insofern besteht sie gerade in der Tiefenreflexion im Mitteilungsgeschehen und muss als besondere Kunst an der Kommunikation angeregt werden. Stil meint deshalb hier die gemeinte Tiefenschicht in der Mitteilung, das man als Tiefenschicht ein komplettes eigenes Zeichensystem religiöser Mitteilung nennen kann, die als solche grundsätzlich kulturell offen ist für bestimmte, gegen andere Weisen abgrenzbare Gestaltungen.23 Die 23
Vgl. Wolfgang Virmond: Bemerkungen zu Schleiermachers Schlobittener Stil-Vorträgen von 1791, in: Barth u. Osthövener: Reden (Anm. 4), 247–261.
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ideale Kommunikation läuft gleichsam als Reflexionsbewusstsein der Geselligkeit ab, muss aber als solche in der Kommunikation gekennzeichnet werden. Der „Dienst aller Künste“ für die Religion ist Schleiermachers Formel für die Musik in der Kunst, nur dass die Funktionalisierung nicht im Namen einer eigentlichen Kunst verläuft, sondern im Namen der wechselseitigen Mitteilung. Die Mitteilung geschieht (wie bei Goethe) vom Innern zum Innern, aber so, dass hier nicht gleichsam schon gegebene Sachverhalte mitgeteilt werden, sondern in der Weise der Evozierung dieses Innern im Prozess der Mitteilung. Die religiöse Gesellschaft entsteht in dem Akt innerlicher Kommunikation, aber sie ist nicht Gegenstand und Kriterium der Gehalte der Mitteilung. Deshalb ist die religiöse Mitteilung prinzipiell jeder Kunst offen, aber sie muss zugleich ihren aktuell angemessenen Ausdruck immer wieder neu finden. Schleiermachers Konzept unterscheidet sich von Tiecks religiöser Kunst in der Offenheit des Kunstgebrauchs. Offenbarung hängt nicht an der Stilkritik der Kunst. Sowenig wie zwischen wahrer und oberflächlicher Kunst kann zwischen dem wahren Künstler und dem Philister unterschieden werden. Noch weniger gerät die autonome Kunst unter den Generalverdacht der Uneigentlichkeit. Denn Schleiermachers Konzept legt zwar fest, dass die wechselseitige Anerkennung der Menschen nur in realer Kommunikation stattfinden kann. Religion ist nicht außerhalb des Kommunikationsgeschehens und außerhalb der kulturellen und künstlerischen Darstellungsformen. Insofern geht Schleiermacher mit Tieck über Goethes Vorstellung hinaus zu einer prozesshaften Vorstellung von Innerlichkeit im Darstellungsgeschehen. Aber Schleiermacher bindet Kunst nicht an die vor dem Absoluten sich ihrer eigenen Schöpfungskraft bewusst werdende Persönlichkeit, sondern schließt an Goethes Vorstellung einer geisthaften Kommunikation an und unterfüttert diese Vorstellung mit dem immanenten Konstitutionsgeschehen von Individualität. Deshalb kann der Gesamtprozess dieser im Dienst einer solchen wahren, weil wechselseitigen Mitteilung stehenden Religionskunst dann selbst wieder als Musik betrachtet werden: „so wie eine solche Rede Musik ist auch ohne Gesang und Ton, so ist auch eine Musik unter den Heiligen, die zur Rede wird ohne Worte, zum bestimmtesten verständlichsten Ausdruk des Innersten.[…] Das ist [so fasst Schleiermacher zusammen] die Einwirkung religiöser Menschen auf einander, das ihre natürliche und ewige Verbindung […] dies himmlische Band“ (KGA I/2, 269f.).
Musik ist also hier – in Aufnahme des auch bei Herder rezipierten Begriffs der Musik als einer zugleich präzisen und doch dunklen Vorstellung (clare und confusa repräsentatio) – das Sinnbild für die gegensei-
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tige Mitteilung des Inneren, für die Darstellung und Wahrnehmung je einzelner bestimmter geschichtlicher Individualität in einer unendlichen Wechselrede. Die antiästhetische Verwendungsweise ergibt sich schon daraus, dass die Musik der Kunst dort am lautesten wird, wo sie schweigt – als Rede ohne Worte. Schleiermacher verwendet musikästhethische Vorstellungen zur Beschreibung der Kommunikation der Heiligen, nicht zur Beschreibung des Kunsterlebens. Schweigen als Ziel der Kunst, als Rede ohne Worte führt gerade nicht zur Entrückung ins Innere, zum Verlust des Kontaktes mit der Welt und der Gesellschaft, sondern ist in Schleiermachers Vorstellung die zu ihrem inneren Wesenskern vorgedrungene Kommunikation: Hier wird nicht etwas mitgeteilt, sondern es ereignet sich das reine Mitteilungsgeschehen als bedingungslose wechselseitige Anerkennung und Darstellung von Personalität. Kommunikation wird hier auf ihr Wesen reduziert und damit reflexiv durchsichtig. 2. ‚Monologen‘: Die Freiheit religiöser und der Zwang künstlerischer Mitteilung Die in den ‚Reden‘ nur angedeutete entschiedene Differenz von Kunst und Religion, die in der Freiheit der Mitteilung besteht, hat Schleiermacher in den ‚Monologen‘ weiter ausgeführt. Im zweiten Monolog vergleicht Schleiermacher den Weg des Künstlers mit dem der humanen Eigenbildung. Denn die Ausbildung von spezifischer Individualität ist das die Aufklärung ethisch kritisierende und weiterführende Thema der ‚Monologen‘. Die ethische Individualität und die ästhetische Produktivität sind zwei Grundtypen tätiger Existenz: „Noch immer scheint der zwiefache Beruf der Menschen auf der Erde, mir die große Trennungslinie der verschiedenen Naturen anzudeuten. Zu sehr ists zweierlei die Menschheit in sich zu einer entschiedenen Gestalt zu bilden und in mannigfachem Handeln sie darzustellen, oder sie kunstreiche Werke verfertigend äußerlich so abzubilden, dass jeder erbliken muß, was einer zeigen wollte.“ (KGA I/3, 19f.)
Dieser Satz enthält in seinem parallelen Bau die entscheidenden Differenzpunkte. Gemeinsam ist die Mitteilung der inneren Menschheit. Aber dann steht das Bilden und Darstellen der eigenen Gestalt gegen die äußerliche Abbildung im Verfertigen von Werken, und die Freiheit und das Stehenbleiben bei der Darstellung gegen den Zwang eines inhaltlich festgelegten Rezeptionsgeschehens. Der eigentliche Unterschied wird im folgenden immer wieder betont: Die Bildung der entschiedenen Gestalt, also die Ausbildung der bestimmten Individualität, ist ein kommunikativer Prozess, der in eng-
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ster Verbindung steht mit der Anerkennung der anderen als ebenso eigengebildeter, selbstbewusster Individualitäten, „Sinn“ und „Liebe“ stehen für den kirchenähnlichen ethischen Gesamtzusammenhang gegen die Einsamkeit und die Zwanghaftigkeit künstlerischer Ausdruckssuche. Gegen diese Suche nach dem, „was der eigenen Bildung frommt“, „jagt der Künstler allem nach, was Zeichen und Symbol der Menschheit werden kann“, deshalb, so schließt die als Anklage zu lesende Beschreibung, „freuet [er] sich des kunstreichen Gefäßes mehr als des köstlichen Gehaltes, den es darbeut.“ (KGA I/3, 20) Anklänge an moderne Autonomieästhetik sollte man hier nicht lesen: Schleiermacher bezieht sich auf die ältere Debatte um Schönheit oder Ausdruck, nach welcher der Ausdruck der Subjektivität wichtiger ist als Beschaffenheit des Gegenstandes. Für Schleiermacher ist jedoch die Vollkommenheit des Kunstwerkes nur ein notwendiger Teil seiner kommunikativen Kompetenz. Aber auch die ästhetische Forderung nach Ausdruck des Gefühls und des Herzens stellt er immer sofort unter die Maßgabe ethischer Vervollkommnung in der gegenseitigen Mitteilung von Individualität. Dagegen gilt: Der Künstler gibt nur und kann nicht empfangen. Er erkennt die anderen nicht an und leidet unter der selbstverursachten Einsamkeit. Schleiermacher spielt auch hier auf die zeitgenössischen Darstellungen der künstlerischen Existenz an: „Es müßte das furchtbare Mißverhältnis zwischen Geben und Empfangen bald das Gemüth […] zerrütten, und weit es hinaus treiben aus der Bahn, und den, der so ein eignes Wesen werden wollte, ganz zertrümmern, oder zur Gemeinheit ihn herunterstürzen.“24 Die vordergründige schiedliche Gliederung der Typen von ethischer und ästhetischer Existenz ist also inhaltlich zu hinterfragen. In Wahrheit geht es um die Einbindung der Kunst in ein ethisch-geschichtlich-pädagogisches Lebenskonzept. Der Ausdruck der Individualität gilt nicht einer Natur oder einer Erhebung im Innern, sondern den anderen Menschen. Nur hier ist sie überhaupt sinnvoll. So ist zum Schluss der Gegensatz von Abbildung und Darstellung in der zwanghaften, einsamen individuellen Bestimmtheit (die eigentlich keine sein kann, weil sie nicht im Austausch mit anderen lebt) einerseits und der freien, kommunikativen und prozesshaften Ahnung andererseits zu sehen. Der Gegensatz gegen den ästhetischen Ausdruck liegt also in dessen Mangel an Reziprozität in der – Individualität bildenden und mit-
24
KGA I/3, 22. Wie bereits in den ‚Reden‘ auf Wackenroders Berglinger und literarische Darstellungen gescheiterter Künstlerexistenz angespielt wird (vgl. KGA I/2, 258–259) die „phantastischen Naturen“, die „in einem heiligen Wahnsinn“ enden), sind hier vermutlich Anklänge an Hölderlins Hyperion zu lesen.
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teilenden – Kommunikation. Und im Hinblick auf den Entwicklungsstufenaufbau des zweiten Monologs wäre zu folgern, dass die ethische Existenz im Gespräch und dem freundschaftlichen Austausch ihre notwendige religiöse Weiterentwicklung betreibt, während die ästhetische Existenz sich aus diesem religiösen Prozess – und zwar auch für die Bestimmung der eigenen Individualität – hinausbegeben hat. So werden Kunst und Religion in Verhältnis des Gegensatzes gebracht, das die beiden Typen zugleich unter dem Gesichtspunkt eines Entwicklungsprozesses sehr verschieden bewertet – und dies natürlich zugunsten der Religion. Die Einsamkeit des Künstlers, zunächst anscheinend nur eine Beschreibungskategorie, wird also durch ihren ethisch-religiösen Gegensatz – Wirklichkeitszugewandtheit, lebensweltlicher Optimismus, Offenheit für andere, eigene Weiterentwicklung – durchaus negativ näherbestimmt. Ein solches reines freies Künstlertum ist nicht Utopie und Ideal, sondern bloß eine sehr beschränkte Realisierung wirklichen Menschseins. 3. ‚Weihnachtsfeier‘: Liebende Stille als Ziel religiöser Kommunikation Schleiermachers Weihnachtsfeier baut ihre Deutung des Festes über drei Teile auf, der erste ist dem Kind und dem unmittelbaren Ausdruck des Innern in der Musik gewidmet, der zweite den Frauen und dem assoziativen Deuten und Erzählen der eigenen Lebensgeschichte, der dritte hingegen den Männern und der reflektierten Analyse der Geschichte der Menschheit. Der erste Teil schließt nach vielen Vorüberlegungen mit einer Theorie der Musik, doch wird diese eingestellt in die Frage nach der Ausdrucksfähigkeit von Religion überhaupt.25 25
Im folgenden können nur kurze Hinweise zum ersten Teil der ‚Weihnachtsfeier‘ gegeben werden. Eine Gesamtinterpretation der Schrift müsste – im Anschluss an Langes kunstvolle Interpretation – die unterschiedliche theoretische Bedeutung von Unmittelbarkeit, Gesamtlebensdeutung und Geschichtsreflexion stärker gewichten. Dies gilt bereits für die Musik: Ist bei Sophie die Musik einfach Ausdruck ihrer von den Eltern gehüteten kindlichen Seinsweise, also Zeugnis ihres Geliebtwerdens und ihres passiven Eingebundenseins in die Gemeinschaft (extra wird darauf hingewiesen, dass sie noch keine eigene Stickerei verfertigt hat und deshalb nicht in den Kreis der Schenkenden aufgenommen ist, also noch nicht als eigenständige Persönlichkeit gilt), so muss Friederikes Klavierspiel im zweiten Teil anders gesehen werden. Es ist, auch wenn es die Erzählungen der Frauen bloß begleitet, der Ersatz für eine eigene Erzählung und damit Ausdruck von Friederikes eigener Individualität, und zwar als Kommentar zur Lebensgeschichte der anderen. In ihrer musikalischen Begleitung drückt Friederikes ihre eigene individuelle Zustimmung und Anerkennung zu den erzählenden Freundinnen aus und veranschaulicht so die ‚Musik‘ wohlmeinender Liebe und Zuvorkommenheit, die die gleichzeitigen Erzählungen erst zu anschaulichen Bildern eigener wertender Existenzen macht.
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Diese Ausgangsfrage des Musikdiskurses hatte der als aufgeklärter Kritiker charakterisierte Leonhardt skizziert mit einer Doppelthese: Erstens sei Religion rein innerlich und jede Suche nach Ausdruck deshalb Überfrachtung und Vergewaltigung des Ausdruckselements, und zweitens sei Kunst Kunst und Religion Religion, d.h. man muss jeden Ausdruck rein in seinem Gebiet betrachten. Diese durchaus auch im Duktus von Schleiermachers eigenen Überzeugungen bezüglich der methodischen Herangehensweise an Kunst und Religion liegenden Thesen führen aber zu der absurden Konsequenz, dass Religion unsichtbar wird und ihre Funktion im Leben verschwindet: „Sie [sc. die Religion] sollte also nirgends sein als in Worten, wo ihr sie bisweilen braucht aus allerlei Ursachen.“ (KGA I/5, 62) Die Ausdrucksfrage, so wird deutlich, ist die nach einer übergeordneten Einheit der verschiedenen kulturellen Welt- und Selbstdeutungsmuster, und zugleich deshalb eine nach dem inneren Zusammenhang der verschiedenen Vermögen. Deshalb erinnert der Gastgeber Eduard gegen Leonhardt daran, dass das gemeinsame Erleben des Weihnachtsfestes selbst Ausdruck der Religion und der religiösen Gesinnung ist. Er führt aus: „Denn was ist die schöne Sitte der Wechselgeschenke anders als reine Darstellung der religiösen Freude, die sich, wie Freude immer tut, in ungesuchtem Wohlmeinen, Geben und Dienen äußert und hier noch besonders das große Geschenk, dessen wir uns alle gleichmäßig erfreuen, durch kleine Gaben abbildet.“ (KGA I/5, 62)
Dass jeder jedem Geschenke macht, ist hier das Bild für die reine religiöse Kommunikation, und diese religiöse Kommunikation selbst ist die eigentliche, alle verknüpfende Gabe. Denn sie ist die Freude an der Existenz des anderen, die Bedingung, Spiegel und Konsequenz von deren Freude an meiner eigenen Existenz ist. Damit wird die Unhintergehbarkeit des Ausdrucksprozesses selbst, der die Kultur und ihr geheimer Sinn ist, zum eigentlichen Sinn des Festes. Aber wie wird dieser nun selbst bewusst, welchen Ausdruck findet die Religion? 1. Karoline, die ältere Freundin mit herrnhutischer Neigung, führt aus: „was er von der Bedeutsamkeit unserer kleinen Gaben sagte, das hat seinen Wert gar nicht in dem, worauf sie sich beziehen, sondern nur überhaupt darin, dass sie sich auf etwas beziehen, dass die Absicht zu erfreuen darin liegt und der Beweis, wie bestimmt uns das Bild jedes lieben Freundes dabei vorgeschwebt. Mein Gefühl wenigstens unterscheidet sehr bestimmt jene höhere allgemeine Freude […] Wenn das Schöne und Erfreuliche zu einer Zeit vor uns steht, wo wir uns des Größten und Schönsten auf innigste bewusst sind: so teilt sich dieses jenem mit, und in Beziehung auf das große Heil der Welt bekommt alles Liebe und Gute eine größere Bedeutung.“ (KGA I/5, 63)
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Karoline bestätigt damit für die religiöse Mitteilung ausdrücklich die im Bereich der Kunst unmögliche Unterscheidung von kommuniziertem Gehalt und kommunikativer Funktion. Zugleich beschreibt sie, dass die Reflexivität auf die kommunikative Funktion nicht abstrahieren kann von der tatsächlichen, an der Bestimmtheit des Gegenüber hängenden Teilnahme an der Geselligkeit. Die religiöse Übersteigung der realen Bedeutung wird einmal formal gefasst, als reflexives Bewusstsein der Bedeutungshaftigkeit selbst. Andererseits wird diese Bedeutungshaftigkeit selbst an die faktische zwischenmenschliche Liebe und Zuneigung gebunden. Ein Zeichen, mit dem Bedeutung zugeschrieben wird, funktioniert bei Schleiermacher gleichsam nur als kommunikative Instanz innerer Verbundenheit der Menschen. Diese Verbindung von Zeichenreflexivität und Kommunikationsgrundlegung in der Anerkennung individueller Instanzen wird in eine bewusste Differenz gesetzt zur inhaltlichen Kommunikation selbst. Das Differenzbewusstsein selbst ist damit der eigentliche lebensweltliche Punkt jedes tieferen ästhetischen und religiösen Ausdrucks. Gefasst in den komparativen Terminus der „größeren Bedeutung“, ist es eigentlich bloß eine Leerstelle, die die Differenz nicht über abgrenzbare Gehalte, sondern eben bloß über die Aufrichtung einer Differenz in der Zeichenbenutzung selbst bestimmt. 2. Eduard führt dieses Differenzbewusstsein musiktheoretisch weiter. „Diese nähere Verwandtschaft [sc. von Musik und Religion] […] liegt wohl mit darin, dass nur in der unmittelbaren Beziehung auf das Höchste, auf die Religion und eine bestimmte Gestalt derselben, die Musik ohne an ein einzelnes Factum geknüpft zu werden, doch Gegebenes genug hat, um verständlich zu sein. […] Darum müssen beide fest aneinander halten, Christentum und Musik, weil beide einander verklären und erheben.“ (KGA I/5, 64)
Die Musik ist kein begrifflich-sprachliches Zeichen, das durch klare Bestimmtheit seiner Referenz gekennzeichnet ist. Ihr Verweisgegenstand ist an sich unbestimmt. Doch die religiöse Deutung der Musik liest sie als eine „verständliche“ Symbolisierung. Damit ist zum einen, in Absetzung von jeder inhaltlichen Bestimmung, die Reflexivität einer solchen Bedeutungsbeziehung überhaupt gemeint. Musik bezeichnet etwas, nämlich die kommunikative Verweisfunktion ihrer Zeichenhaftigkeit selbst. Darin ist sie, ohne auf einzelnes sich zu beziehen, hinreichend verständlich. Andererseits weist die Musik damit auf die Notwendigkeit der Darstellung von Religion hin. „Was das Wort klar gemacht hat, muss der Ton lebendig machen, unmittelbar in das ganze innere Wesen als Harmonie übertragen und festhalten.“ (KGA I/5, 64) Das Höchste, was die Religion ist, nämlich die Begründung der Fähigkeit zur bedeutungsvollen Kommunikation zwischen Individuen, ist selbst nur wirklich in der realen Kommunikation. Musik ist so gesehen
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Kommunikation über die Kommunikation selbst, aber so, dass sie zugleich die Bedingungen realer Kommunikation auch faktisch herstellt. Dies tut sie nicht als Mitteilung eines Gehalts, sondern als Realisierung der Bedingungen, nämlich als liebende Anerkennung des Gesprächspartners. Musik ist in dieser tiefsten Deutung nicht ein selbstbezogenes Sprachsystem, sondern Zeichen für die implizite Voraussetzung und realisierte Anerkennung selbständiger und freier Individuen in jeder Kommunikation. 3. Der musiktheoretische Diskurs über den notwendigen Ausdruck von Religion ist damit noch nicht zu Ende. In Anlehnung an Jean Paul26 wird die Musik zum Ausdruck des ganzen Lebens selbst erklärt. Musik ist in dieser Deutung Ausdruck der Ausdrucksfähigkeit selbst, Kommunikation von Kommunikation, sie ist die Reflexivität des ganzen Lebens, das in der kommunikationsgeleiteten Eigenbildung besteht. Eine der Frauen, die schwangere Agnes, formuliert dies als Sinn der Symbolik des Weihnachtsfestes: „Aber die Mutterliebe ist das Ewige in uns, der Grundakkord unseres Wesens. […] Und glaubst du denn, die Liebe geht auf das, wozu wir die Kinder bilden können? […] Nein, sie geht auf das Schöne und Göttliche, was wir ihnen schon glauben, was jede Mutter aufsucht in jeder Bewegung, sobald sich nur die Seele des Kindes äußert.“ „Seht! ihr Lieben, sagte Ernestine, mit diesem Sinn ist wieder jede Mutter eine Maria. Jede hat ein ewiges göttliches Kind und sucht andächtig darin die Bewegungen des höheren Geistes […] sie bleibt immer in der andächtigen, demütigen Liebe.“ (KGA I/5, 65f.) Weihnachten ist damit das Sinnbild der Anerkennung von Individualität im anderen. Diese Anerkennung ist Grundlage der Kommunikation überhaupt. Und sie ist die Grundlage der Ausbildung einer eigenen Individualität. Der Grundakkord, das menschliche Wesen, ist wirklich nur in der freundschaftlichen Gesellschaft freier Geister. Damit schließt sich der Kreis der Musik in der Weihnachtsfeier. Denn in der Beschreibung von Sophies Musikausübung am Anfang hatte es geheißen: „Hier [nämlich beim Singen von Kirchenliedern, der großen Gattung der Musik] weiß sie jedem Tone sein Recht anzutun, jeder tritt mit kaum sich losreißender Liebe von dem andern heraus, und steht dann doch selbständig da in gemessener Kraft, und räumt dann wieder, wie mit einem from-
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Vgl. die Anmerkung des Herausgebers zur Stelle KGA I/5, 65. Jean Paul findet hier die bisher noch fehlende Genitivverbindung einer „Musik der Musik“. Möglicherweise interpretiert Schleiermacher hier bewusst ernsthafter als von Jean Paul intendiert. Vgl. dazu Friedrich Schlegels Verse: Durch alle Töne tönet / Im bunten Erdentraum / Ein leiser Ton gezogen / für den der heimlich lauschet. Robert Schumann nimmt dies als Motto für seine Klavierfantasie op. 17 und entwickelt das Konzept einer inneren Stimme in der Komposition, die zwar notiert, aber nicht gespielt wird.
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men Kusse, dem nächsten seine Stelle. […] Man kann es kaum anders nennen, auch abgesehen von den Gegenständen [sc. den Liedtexten], als dass sie mit Andacht singt und jeden Ton in demütiger Liebe wartet und pflegt.“ (KGA I/5, 47)
Das Kind als Künstler genießt zwar jede Form von Musik, aber selbst stellt es in seiner Beschränkung auf die Kirchenmusik (auch dies ist ein verwandelter Berglinger-Anklang27) in unmittelbarer Form die Grundbedingungen des Darstellens selbst dar, nämlich die Anerkennung der anderen in der Kommunikation. Genau dies ist aber die Grundstimmung des hier geschilderten Weihnachtsfestes: „[…] religiöse Musik [bewirkt] eine stille Befriedigung und Zurükgezogenheit des Gemüthes. Es gab einige stumme Augenblikke, in denen aber Jeder wusste, dass eines Jeden Gemüth liebend auf die Uebrigen und auf etwas noch Höheres gerichtet war.“ (KGA I/5, 50) In diesen stillen Augenblicken aber ereignet sich das, was Schleiermacher als Musik der Religion fasst: eine intime Wechselrede ohne Worte, reine Kommunikation von reflexiver Bedeutung.
IV. Zusammenfassung Die Musik der Poesie, der Malerei, der Musik und der Religion ist eine Metapher für unterschiedliche Sachverhalte. Als die extremen Nuancen können einerseits die Funktion der Musik für die Mitteilung von etwas anderem und andererseits die Wesensbeschreibung der Kunst genannt werden. Alle vorgestellten Verständnismöglichkeiten gehen dabei von der Voraussetzung einer humanen Innerlichkeit aus, deren nichtbegriffliche und doch klare Sprache eben die Musik darstellt. Goethe ging es um die Mitteilung dieser Innerlichkeit zwischen den Individuen, Tieck um das Erreichen und Offenbaren der Innerlichkeitsebene. Schleiermacher verbindet in seiner spezifischen Verwendung der Musik der Religion beide Aspekte, Mitteilung und Wesen, Funktion und Konstitution von Individualität. Sein Versuch, der ästhetischen Einbildungskraft eine ethische Dimension zu geben, baut sich durch die Kritik am Künstlerbild der Frühromantik auf. Freiheit der Kommunikation gegen Zwang bestimmter Gehalte, Freiheit der Mitteilung vom Mitgeteilten gegen den Zwang künstlerischer Objektivation, Freiheit des Subjekts in der Mitteilung gegen den Zwang zur Identifikation mit der Auffassung des Künstlers – in allen diesen Vorwürfen wird die religiöse Mitteilung 27
Vgl. Wilhelm Heinrich Wackenroder u. Ludwig Tieck: Phantasien über die Kunst (1799), hg. von Wolfgang Nehring, Stuttgart 1973/1983, 71 (aus dem Kapitel „Von den verschiedenen Gattungen in jeder Kunst und insbesondere von verschiedenen Arten der Kirchenmusik“).
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als Reflexion auf das Wesen der Kommunikation überhaupt, als Vollzug wechselseitiger Anerkennung von Individuen (aber so, dass auch die sich wechselseitig anerkennenden Individuen erst im Akte der Anerkennung Individuen werden) verstanden. Die Musiktheorie der Weihnachtsfeier ist deshalb nicht als ästhetische Theorie zu lesen. Die Auszeichnung der religiösen Musik geschieht nicht als Auszeichnung ihres Kunstcharakters, sondern allein als Auszeichnung ihres religiösen Charakters. Beides hängt dadurch zusammen, dass Religion notwendig an Äußerung und Mitteilung gebunden ist, denn sie reflektiert gerade die Grundlagen dieser Mitteilung. Die religiöse Musik ist die aufgrund kultureller Ursachen, aufgrund der überbegrifflichen Sprachlichkeit und Unmittelbarkeit der Musik überhaupt und aufgrund der speziellen Satztechnik mit ihren ausgewogenen, Harmonie und Melodie vereinigenden Tonverhältnisse der deutlichste mögliche Hinweis auf die Reflexionsnotwendigkeit kultureller Kommunikation. Die religiöse Musik ist ein Hinweis auf die ethischen Grundlagen jedes ästhetischen Ausdrucks. Im Hinblick auf das Ganze des Lebens, auf die Reflexion dieser zugleich individuellen und sozialen Ganzheit als Voraussetzung humaner Existenz reicht nicht die Beschränkung auf innerästhetische Fragestellungen, sondern nur der Ausgriff auf die religiöse, auf die umfassende ethische Sphäre des Lebens. Die Musikausübung in der Weihnachtsfeier gipfelt nicht in der Darbietung, sondern in den Momenten der Stille danach. Hier kulminiert das in der Musik Gemeinte, nämlich die liebende Anerkennung der anderen und das individualisierende Wissen, von ihnen ebenso geliebt und anerkannt zu werden. Diese inhaltliche Füllung der Stille hängt aber an dem musikalischen Gespräch, dem Austausch und dem Genießen zuvor. Die Stille macht die reflexive, auf das Reich Gottes gerichtete und im freundschaftlichen Rahmen des Hauses realisierte Weihnachtsbedeutung hörbar. Wie sich die Religion in ihrer Musik mitteilt, so ist die Musik in der Stille zu ihrem ethischen Zentrum geführt. Diese Stille ist Schleiermachers Antwort auf die frühromantischen Gespräche und Phantasien über die Kunst.
Staat
Schleiermacher als politischer Denker VON WALTER JAESCHKE/BOCHUM
„Schleiermacher als politischer Denker“! Der Referent, dem im Rahmen eines Schleiermacherkongresses dieses Vortragsthema gestellt wird, weiß, was von ihm erwartet wird. Es ist ja nicht als Frage formuliert, und es läßt auch keinen Zweifel zu, ob Schleiermacher ein politischer Denker gewesen sei. Zudem ist auch schon bei der Eröffnung dieses Kongresses gesagt worden, daß Schleiermacher zwar nicht ‚von Haus aus‘ ein politischer Denker gewesen, wohl aber okkasionell, durch die Verwicklung seiner Lebensgeschichte in die Zeitereignisse, zum politischen Denker – wie auch zum politisch Handelnden! – geworden sei. Somit wäre das Wichtigste schon festgehalten, und es käme nun nur noch darauf an, diesen Rahmen auszufüllen und Schleiermacher als politischen Denker zu präsentieren. Und doch: Vor die Erledigung dieser Aufgabe schiebt sich, logisch primär und auch wichtiger, die Frage: „Was eigentlich ist ein ‚politischer Denker’?“ Ein „politischer Denker“ könnte ja so etwas sein wie der „politische Moralist“ in Kants Schrift ‚Zum ewigen Frieden’ – beide Ausdrücke sind ja analog gebildet. Doch dann wäre es schlecht um Schleiermacher bestellt. Denn Kants „politischer Moralist“ ist ja eben derjenige, der „die Grundsätze dem Zweck unterordnet (d.i. die Pferde hinter den Wagen spannt)“ und dadurch „seine eigene Absicht vereitelt, die Politik mit der Moral in Einverständniß zu bringen.“1 Anders, nämlich sittlich, verfahre hingegen der „moralische Politiker“. In Analogie zur Kantischen Unterscheidung wäre nun dem „politischen Denker“ der „denkende Politiker“ als leuchtendes Vorbild entgegenzuhalten. Doch vielleicht verbietet sich – aus naheliegenden Gründen – die Zusammenstellung des Adjektivs „denkend“ mit dem Substantiv „Politiker“ ohnehin von selbst – und so mag hier die Grenze des Analogisierens erreicht sein und der Rückbezug auf Kant wenigstens dies eine gezeigt haben: Es ist keineswegs selbstverständlich, was oder wer ein „politischer Denker“ ist.
1
Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden, AA VIII, 376.
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Deshalb nochmals: „Was ist ein ‚politischer Denker‘ – woran erkennt man ihn?“ Man kann hier – wie auch sonst – den Weg der Bestimmung durch Negation gehen: Der „politische Denker“ scheint etwas anderes zu sein als der ‚politisierende Denker‘ – deren hat es freilich genug gegeben, auch im 20. Jahrhundert, und nicht eben zur Ehre der Philosophie. Doch während sich ‚politisierende Denker‘ gern mit „politischen Denkern“ verwechseln lassen, ist der „politische Denker“ vom politischen Akteur leichter zu unterscheiden2 – auch wenn dem Akteur keineswegs das Denken rundweg abgesprochen werden soll. Die Frage nach Schleiermacher als „politischem Denker“ ist eine andere als die nach seiner politischen Wirksamkeit. Über diese letztere hat ohnehin Matthias Wolfes jüngst umfassend gehandelt. Fraglos ist Schleiermacher derjenige unter den „Denkern“ aus der Zeit der Klassischen Deutschen Philosophie, der sich am meisten zugleich als ‚politischer Akteur‘ hervorgetan hat. Gleichwohl ist der Denker, der zugleich ‚politischer Akteur‘ ist – und wäre es nicht nur zeitweise, sondern kontinuierlich –, damit nicht schon „politischer Denker“. Und selbst das Ablegen eines „Politischen Glaubensbekenntnisses“3 reicht noch nicht hin, denjenigen, der seinen politischen Glauben bekennt, als „politischen Denker“ anzusprechen. Nach einem ebenso weitgehenden wie vagen Konsens ist der „politische Denker“ dadurch charakterisiert, daß er die Grenze zwischen der „Wissenschaft“ und dem „Leben“ überwinde: daß der Gegenstand seiner Wissenschaft zugleich die Aufgabe seines und des gemeinsamen Lebens bilde – daß das Politische sein Denken insgesamt durchziehe, es gleichsam imprägniere, auch dort also, wo es gar nicht explizit um das Thema ‚Politik‘ zu tun ist: Jeder Gegenstand des Denkens wird von ihm zugleich in den politischen Horizont gestellt, und seine politischen Implikationen werden stets mitbedacht. Diese Auskunft ist nicht falsch, doch setzt sie den entscheidenden Begriff bloß voraus, ohne ihn als klärungsbedürftig wenigstens kenntlich zu machen: eben den Begriff des Politischen. Vom politischen Denker aber darf man auch fordern, daß er nicht allein politisch denke, sondern auch ein Denker des Politischen sei – sonst bliebe er hinter den immanenten Forderungen des Denkens zurück. Deshalb werde ich im ersten Teil meiner Überlegungen nach Schleiermachers ‚Begriff des Politischen‘ fragen; im zweiten werde ich dann den Grundzug seiner ‚politischen Theorie‘ skizzieren. Eine letzte 2
3
Zu Schleiermachers politischer Wirksamkeit siehe jetzt Matthias Wolfes: Öffentlichkeit und Nationalstaat. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit, insbesondere während des Jahrzehnts der preußisch-französischen Konfrontation von 1806 bis 1815, Microfiche-Ausgabe 2002. Schleiermacher an Friedrich Schlegel, 12. Juni 1813, in: Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, hg. von Wilhelm Dilthey, Bd.3, 428–431.
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Vorbemerkung: Angesichts der knapp bemessenen zwei Viertelstunden muß ich es mir versagen, Schleiermachers Position in ihrer entwicklungsgeschichtlichen Differenziertheit vorzustellen, vor allem aber darauf, die hier herausgehobenen Aspekte erst aus dem Gesamtkontext zu entwickeln. Ich wende mich vielmehr allein seinen Grundaussagen zu.
1. Der Begriff des Politischen (1) Der Begriff des Politischen ist strukturiert durch einen Gegensatz – durch den „politischen Gegensatz“ par excellence. Und dieser „politische Gegensatz“ ist – für Schleiermacher – nicht etwa der Gegensatz von Freund und Feind, sondern von Obrigkeit und Untertan. Dieser „politische Gegensatz“ ist zugleich der Gegensatz, der den Staat schlechthin charakterisiert – nicht nur einen Staat, sondern den Staat. Man kann den Staat auch auf anderem Wege zu bestimmen suchen: als „etwas in einer fortwährenden Erscheinung von freien Handlungen Bestehendes“ (II/8, 759). Diese weite Bestimmung faßt aber viele Institutionen unter sich – von einer Familie, traditionell gedacht als „Hauswesen“, über ein Kloster bis hin zu einer Universität. Ihnen gegenüber sieht Schleiermacher ein Spezifikum des Staates darin, daß er seine Mitglieder nicht von außen aufnimmt, sondern sie aus sich selber ergänzt, also „den Grund des Fortbestehens durch eine Reihe von Generationen in sich selbst trägt“. Aber auch dies gilt ebenso für andere Gemeinschaften – etwa für eine Sippe oder für eine Kirche. Deshalb setzt Schleiermacher nochmals und präziser an, um den Begriff des Staates zu fassen: ‚Staat‘ im prägnanten Sinne entsteht erst durch die Strukturierung einer derartigen Gemeinschaft durch einen Gegensatz – und nun heißt es zunächst und sicherlich unzutreffend: durch den Gegensatz des Befehlens und Gehorchens. Dieser Gegensatz von Befehl und Gehorsam läßt jedoch militärische Strukturen assoziieren – er ist nicht wirklich ein „politischer“, sondern ein ‚militärischer Gegensatz‘. Gleichwohl führt Schleiermacher den „politischen Gegensatz“ auf diesem Wege ein: Das Befehlen und Gehorchen gebe den Begriff des Staates und werde „bezeichnet in Beziehung auf den Staat mit Obrigkeit und Unterthan“.4 Dies aber ist nicht allein eine andere ‚Bezeichnung‘, sondern eine andere Struktur – was auch aus Schleiermachers anschließenden Ausführungen erhellt. Selbst wenn man mit ihm den „politischen Gegensatz“, die Sphäre der Staatlichkeit, durch die Relation von „Obrigkeit und Unterthan“ bestimmt: Die Herrschaft einer „Obrigkeit“ ist nicht 4
KGA II/8, 761f.
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durch den Mechanismus von Befehl und Gehorsam zu charakterisieren, sondern als Zusammenhang von Gesetz und Befolgung des Gesetzes. Und auch wenn hier sicherlich nicht stets an förmlich erlassene Gesetze zu denken ist: Anders als der Befehl enthält das Gesetz das Moment der Allgemeinheit in sich, und es ist ambivalent: Es beschränkt, aber es gewährt auch Freiheit. Deshalb knüpft Schleiermacher die Verbindung zum Begriff der „Sitte“ auch vom Gesetzesbegriff her, nicht von der Relation „Befehl und Gehorsam“, und er charakterisiert den Übergang vom vorstaatlichen zum staatlichen Leben als einen Übergang von „Sitte“ zum „Gesetz“: Das Gesetz hat es „nur zu thun mit der Sitte, und es ist seinem Wesen nach nichts Anders als nur die Sanctionirung der Sitte und das Aussprechen derselben.“ (II/8, 511) Was – vorstaatlich – „Sitte“ ist, wird im Staat als „Gesetz“ ausgesprochen und bewußt gemacht. Auch wenn also „Gesetz“ und „Sitte“ inhaltlich nicht verschieden sind: Die Form des staatlichen Lebens, also die Form des „politischen Gegensatzes“ ist eben die Form des Gesetzes.5 Staatlichkeit beruht für Schleiermacher weder auf bloßem Zwang noch, vernunftrechtlich, auf Vertrag, sondern auf freier Zustimmung. Freilich darf man diese Zustimmung nicht enthusiastisch erwarten, doch ist der Rekurs auf „Zustimmung“ ein berechtigtes Korrektiv gegenüber der Charakterisierung des politischen Verhältnisses als einer bloßen Zwangssituation. In der Rede von „Zustimmung“ liegt wohl eben das, was anderenorts so ausgedrückt worden ist: „Durch die Gewalt, meint die Vorstellung oft, hänge der Staat zusammen, aber das Haltende ist allein das Grundgefühl der Ordnung, das Alle haben.“6 Dennoch ist dieses aus Herrschaft und Zustimmung resultierende Verhältnis zweifellos komplex, und vor allem: Es ist zugleich asymmetrisch und gespannt bis zum Zynismus: Der Staat beruht auf freier Zustimmung – aber auf freier Zustimmung angesichts einer Obrigkeit, die durch die martialischen Epitheta „reine physische Obermacht“ und „Gewalt“ charakterisiert ist. Der „politische Gegensatz“ ist nicht als ein
5
6
Diesen Übergang von der „Sitte“ zum „Gesetz“ spricht Schleiermacher vor allem in der 5. Stunde des Kollegs 1829 als das Proprium der Ausbildung politischer Verhältnisse aus; siehe KGA II/8, 72f. bzw. 511–513; vgl. 773 (Kolleg 1833). – Hermann Peiter macht mich freundlicher Weise darauf aufmerksam, daß Schleiermacher in seiner „Christlichen Sittenlehre“ die Position vertrete, ein Staat sei „desto vollkommener je mehr Sitte und je weniger Gesetze“ in ihm seien (Schleiermachers Kolleg über christliche Sittenlehre vom 22. Oktober 1828. In: Linguistica Biblica 60 (1988), 15, ähnlich, bezogen auf den „bürgerlichen Verein“, ebd., 27). In den „Vorlesungen über die Lehre vom Staat“ vertritt Schleiermacher diese Ansicht nicht; hier legt er den Akzent auf das Aussprechen der Sitte in Gesetzesform als einen zur Begründung von Staatlichkeit erforderlichen Akt. Denn hierdurch erhält die Sitte zugleich diejenige neue Form von Verbindlichkeit, die für staatliches Leben unverzichtbar ist. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §268 Zusatz.
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Rechtsverhältnis bestimmt; nur durch das Moment des „Gesetzes“ erhält er eine implizite Rechtsförmlichkeit. Und nur dieses Moment der Gesetzlichkeit bringt Schleiermacher als konstitutiv in den „politischen Gegensatz“ ein: Der Begriff ist Staates ist derjenige „eines Verhältnisses zwischen Obrigkeit und Unterthan in der Form der Gewalt und des Gesetzes“ (II/8, 769). Da die beiden Momente „Gewalt“ und „Gesetz“ aber ohnehin im konkret gedachten Begriff der „Obrigkeit“ liegen, ist die knappe Formel vollständig und zugleich prägnanter: Der „politische Gegensatz“ ist der Gegensatz von Obrigkeit und Untertan. Diese Fassung des politischen Gegensatzes entschärft die unpassende Rede von ‚Befehl und Gehorsam’– aber auch sie bleibt problematisch. Die Bedenken, die sich gegen sie richten, hat Schleiermacher zur Kenntnis genommen, aber er hat sie zurückgewiesen: Zwar sei der Gegensatz von „Obrigkeit und Unterthan“ jetzt ein „übelberüchtigtes Wort“. Dennoch hält er ausdrücklich an diesem „Wort“ fest: denn „übelberüchtigt“ sei es „allein durch Irrthum und Verwechslung“ (II/8, 762). Dies ist nicht ohne Paradoxie. Das Motiv für sein Festhalten an dieser Formel, für seine beharrliche Weigerung, den „Unterthan“ durch den „Bürger“ zu ersetzen, bildet fraglos nicht etwa das Interesse, den berüchtigten und zurecht vielgeschmähten ‚Untertanengeist‘ seiner Zeit zu zementieren, sondern sein Interesse, den Staat mit zeitlosen Kategorien zu denken. Im Rückblick auf die lange Geschichte der ‚Staatlichkeit‘ hätte sich die Bezeichnung „Bürger“ hierfür in der Tat nicht geeignet. Und doch ist es gerade diese angestrebte und präsumierte Zeitlosigkeit der Terminologie, die sie uns heute so zeitverhaftet, ja schlechthin antiquiert erscheinen läßt.7 (2) Ein politischer Denker nötigt nicht allein dazu, ihn zu interpretieren, sondern mit ihm zu diskutieren – zunächst über die Frage, ob es produktiv sei, den Bereich des Politischen so prononciert zu enthistorisieren, um ihn kategorial einheitlich fassen zu können. Schleiermacher sieht darin die Aufgabe und den Vorzug seiner philosophischen Staatslehre: Sie faßt den Staatsbegriff so allgemein, daß er alle Formen von ‚Herrschaft‘ in sich begreift – von der Erhebung der „Horde“ zu geregelten, im weitesten Sinne ‚gesetzlichen‘ Herrschaftsformen. Es ist wohl kein Zufall, daß die Sprache nicht über Wörter verfügt, die eine derartige Abstraktion angemessen ausdrücken. Die Formulierung des „politischen Gegensatzes“ als eines Gegensatzes von Obrigkeit und Un7
An dieser Einschätzung der (Un-)Tauglichkeit des Wortpaars „Obrigkeit-Unterthan“ halte ich fest, auch wenn die Diskussion gezeigt hat, daß zumindest das eine Glied dieses Paars, das Wort „Obrigkeit“, für paulinisch und speziell lutherisch imprägnierte Ohren nicht allein zu Schleiermachers Zeiten, sondern auch heute noch weniger anstößig klingt, als dies in der politischen Theorie seit der späten Aufklärung und der Französischen Revolution gemeinhin der Fall ist.
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tertanen entspricht fraglos nur einer bestimmten Ausformung von Herrschaftsverhältnissen in einer spezifischen – und nicht eben sonderlich glanzvollen – geschichtlichen Phase. Sie trifft weder die antike Polis noch die bürgerliche Welt der Moderne – und vieles, was zeitlich dazwischen liegt, vermutlich auch nicht. Dies wäre nicht entscheidend anders bei Ersetzung des Gegensatzes von Obrigkeit und Untertan durch den fraglos abstrakteren von ‚Herrschenden und Beherrschten‘. Von der Sprache geht hier eine doppelte Verführung aus, und gleichsam von zwei Extremen: Sie entlehnt den Begriff des Politischen als eines Allgemeinen von der Polis als einer sehr spezifischen, historisch fixen Form des Politischen und nobilitiert diese hierdurch gleichsam als eine ‚Urform‘ des Politischen; auf der anderen Seite verwendet sie das sehr moderne Wort ‚Staat‘ wegen seiner Inhaltsleere zur Bezeichnung einer Vielzahl höchst unterschiedlicher Organisationsformen menschlichen Zusammenlebens – von altorientalischen Reichen über die Polis, das Imperium und den Reichsgedanken des Mittelalters bis hin zum neuzeitlichen Staat, dessen spezifische Ausprägung dadurch implizit, wenn auch ungewollt, die früheren Herrschaftsformen überformt. Mein historisches Gewissen nötigt mich deshalb zum Einspruch gegenüber einer so weitgehenden Abstraktion: Es gibt nicht den „politischen Gegensatz“, durch den man die Vielfalt der Organisationsformen menschlichen Zusammenlebens auf einen Nenner bringen könnte. Wir müssen seine unterschiedlichen Modifikationen jeweils durch eine korrespondierende Vielzahl von Begriffen ausdrücken. (3) Die Situation kompliziert sich noch erheblich mit Blick auf den Begriff, der bisher zwar häufig verwendet, aber nicht eigens thematisiert worden ist: den Begriff des Politischen. Wenn der „Staat“ – verstanden als abstraktester Ausdruck für eine nicht durch natürliche Verhältnisse vorgegebene Organisationsform menschlichen Lebens – seine Existenz und sein charakteristisches Profil dem „politischen Gegensatz“ verdankt, so scheint es, als setze der Begriff des Staates den des Politischen voraus. Dies wäre aber nur dann der Fall, wenn die Sphäre des Politischen weiter gezogen wäre als die des Staates – und dies trifft für Schleiermachers „Staatslehre“ nicht zu. Sie steht – noch – in der Tradition, die das Politische mit dem Staatlichen identifiziert. Der „politische Gegensatz“ ist der ‚staatliche‘, nämlich der die Staatlichkeit als solche konstituierende Gegensatz. Der Staat hat – noch – das Monopol des Politischen; das Politische ist dem Staat weder über- noch untergeordnet, sondern so zugeordnet, daß es sich nicht frei von ihm ablösen und eine Sphäre neben oder über oder auch unter ihm bezeichnen kann. Wenn das Politische seine prägnante Form in dem für Staatlichkeit konstitutiven „politischen Gegensatz“ von Obrigkeit und Untertan findet, so werden nur zwei Wörter für die gleiche Sache gebraucht – was
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sich ja schon in der redundanten Bezeichnung der Disziplin verrät: „Politik“ ist für Schleiermacher „Staatslehre“ – sei es philosophische Staatslehre, sei es die Lehre der „Staatskunst“. Es geht mir hier aber nicht um die Beseitigung vermeidbarer Redundanz mittels eines Aktes der Sprachkosmetik, sondern darum, daß der Begriff des Politischen durch die Art, wie Schleiermacher ihn gebraucht, in doppelter Weise eingeengt ist: in einer allgemein-zeittypischen und in einer spezifisch durch seinen Ansatz bedingten Form. Wo Schleiermacher das Politische nicht nur – zeittypisch – mit dem Staatlichen identifiziert, vindiziert er ihm eine duale Struktur. Sie manifestiert sich primär im „politischen Gegensatz“, der die Selbständigkeit des Politischen und des Staatlichen zugleich konstituiert. Sekundär zeigt sich diese Dualität in den Folgeformen des „politischen Gegensatzes“, etwa in der Dualität von Obereigentum und Eigentum, aber auch noch in einem „politischen Bewußtsein“, das etwa Formen der Majorität und Minorität unterscheidet. Die „ursprüngliche politische Action“ ist eine gedoppelte, nämlich das Aussprechen und Vollziehen des Gesetzes; die „politische Entwicklung“ ist die Entwicklung des „politischen Gegensatzes“; das „politische Leben“ vollzieht sich in ihm, und die „politische Bildung“ hebt ihn ins Bewußtsein. Wenn aber das Politische seine spezifische Erscheinungsform im „politischen Gegensatz“ und seinen Derivaten findet, so sind Bereiche, die nicht durch diesen Gegensatz strukturiert werden, nicht als politische Bereiche zu identifizieren. Anders als der Bereich, den wir ‚Innenpolitik‘ nennen, ist jedoch der Bereich der ‚Außenpolitik‘ nicht durch den „politischen Gegensatz“ geprägt: Die Verhältnisse zwischen Staaten sind ja nicht als Verhältnisse von „Obrigkeit und Unterthan“ zu fassen; sie fallen nicht unter den „politischen Gegensatz“, und somit nicht unter einen Begriff des Politischen, der auf diesem Gegensatz beruht. Insofern erscheint es als konsequent, daß Schleiermachers „Staatslehre“ zwar von Diplomatie und von der „Vertheidigung nach außen“ spricht, aber keine ‚Außenpolitik‘ kennt. Eine vergleichbare Beschränkung des Begriffs des Politischen zeigt sich aber schon im Bereich der – von uns so genannten – ‚Innenpolitik‘. Von der „Kunst der Finanzwissenschaft“ wird im „Anhang der Staatsverwaltung“ gehandelt, nicht aber von ‚Finanzpolitik‘, und auch all die anderen uns als ‚politisch‘ geltenden Bereiche – ‚Wirtschaftspolitik‘, ‚Kulturpolitik‘, ‚Religionspolitik‘ – werden nicht als Ausprägungen des Politischen angesprochen. Soweit sie in den Bereich staatlicher Aufgaben fallen, sind sie Gegenstand der „Staatsverwaltung“, und nicht Gegenstand von „Politik“. Soweit sie aber das Verhältnis des Staates zu Bereichen betreffen, die außerhalb seiner liegen – wie Wissenschaft und Religion –, sind sie ebenfalls nicht als „politisch“ qualifiziert: Sie betref-
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fen ja Probleme, die außerhalb des Staates liegen und deshalb nicht unter dem „politischen Gegensatz“ begriffen werden können. Das für ihn äußerst wichtige Verhältnis des Staates zur Religion oder zu den Kirchen stellt Schleiermacher deshalb nicht unter den Titel „Kirchenpolitik“ oder „Religionspolitik“ – ebensowenig wie seine Staatslehre eine „Wissenschaftspolitik“ kennt. Die Relation zu den Bereichen „Religion“ und „Wissenschaft“ ist für Schleiermachers Staat eine Relation nach außen; dadurch wird er zu einer Assoziation neben anderen Assoziationen. Dies ist nicht unplausibel, wenn man ‚Staatlichkeit‘ nur durch das Verhältnis von Obrigkeit und Untertan bestimmt sieht und verkennt, daß der Staat – auch wenn er sich in die genannten Gebiete inhaltlich nicht einmischt und insofern nicht ‚total‘ ist – gleichwohl die ‚universale‘ Rechtsordnung bildet, die auch diese Gebiete umgreift. Für diesen Aspekt scheint mir Schleiermachers „Quadrupel“ ‚Staat, Kirche, Akademie, freie Geselligkeit‘ keinen Platz zu lassen. Ich will aber nicht das Recht dieser Gliederung diskutieren, sondern nur eines geltend machen: Gerade wenn man den Staat so begrenzt, erfordert diese Begrenzung des Begriffs des Staates das Komplement eine Entgrenzung des Begriffs des Politischen. (4) Man kann mit gutem Grund erwägen, ob diese enge Begrenzung des Begriffs des Politischen auf den selbst eng – und wohl zu eng – begrenzten Staat nicht erhebliche Vorzüge gegenüber dem modernen inflationären und deshalb entleerten Wortgebrauch von „Politik“ biete. In der Tat: Was gilt heute nicht alles als „politisch“! Doch andererseits steht dann der redundanten Verwendung der Wörter ‚staatlich‘ und ‚politisch‘ die Wortlosigkeit angesichts der Regelung all derjenigen Aufgaben des gemeinsamen Lebens gegenüber, die nicht unter diesen engen Begriff des Staates fallen. Allerdings denke ich, daß die Ausweitung des Begriffs des Politischen, die schon seit dem 19. Jahrhundert zu verzeichnen ist, nicht den Charakter einer Kompensation angesichts der zunehmenden Begrenzung des Staatsbegriffs hat. Sie scheint mir vielmehr ein Doppeltes zu spiegeln: zum einen den Prozeß der Ausweitung der Funktionen des Staates, durch den immer mehr Bereiche in die Sphäre des Politischen gezogen und zum Gegenstand staatlicher Politik werden. Zum anderen jedoch scheint mir die Ausweitung des Begriffs des Politischen der Herausdifferenzierung des Bereichs der ‚Gesellschaft‘ aus dem ‚Staat‘ im engeren Sinne nachzufolgen. Im Zuge dieser Ablösung hat die ‚Gesellschaft‘ den Begriff des Politischen gleichsam ‚mitgenommen‘, so daß er nun alle Bereiche umfaßt, in denen es um die Regelung menschlichen Zusammenlebens geht – während Schleiermachers „politischer Gegensatz“ zu einer ziemlich unerheblichen Differenz von temporär Regierenden und temporär Regierten geschrumpft ist.
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2. Die politische Theorie (1) Schleiermachers Absicht ist es bekanntlich stets gewesen, „die Theorie des Staates, seiner wesentlichen Bestandtheile, und Verrichtungen nach den in der Ethik mitgetheilten Principien genauer zu entwickeln“ – als einen „natürlichen Ausfluß“ seiner Ethik.8 Ebenso hat er von Beginn an praktische Erwartungen an den Vortrag der Staatslehre geknüpft: „den jungen Männern jezt das Christenthum klar machen und den Staat, das heißt eigentlich ihnen alles geben, was sie brauchen, um die Zukunft besser zu machen als die Vergangenheit war.“9 Er „fragt sich, wie verhält sich der Staat zu dem was der Mensch selbst sein soll“ (GA II/8, 755) – und damit ist der Staatslehre eine normative Aufgabe gestellt. Doch andererseits ist sie eine „technische Disziplin“ auf der Basis der Ethik – und daraus ergeben sich Folgen für ihre Durchführung. Um sie soll es jetzt gehen. Bisher habe ich den politischen Denker Schleiermacher als Denker des Politischen vorgestellt; jetzt möchte ich noch wenigstens den Grundzug seiner Darstellung der politischen Sphäre skizzieren. (2) Mit seinen ‚Vorlesungen über die Lehre vom Staat‘ knüpft Schleiermacher an die altehrwürdige, letztlich platonisch-aristotelische Tradition der Staatsphilosophie an. Erst jüngst ist gesagt worden, er repräsentiere „noch deutlicher“ als Hegel „die ältere Tradition einer Politiklehre aus dem Geiste der antiken Philosophie“.10 Diese Tradition aber ist seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in einem tiefen Umbruch begriffen, einer Konfusion, aber auch Neukonzeption, deren Verwicklungen – soweit ich sehe – noch nirgends ausführlich dargestellt sind. Mit der alten, auf die „eudaimonia“ zielenden Lehre von der „guten Verfassung“, also einer im Kern normativen Disziplin, wie sie um 1800 in den Restbeständen des bereits leicht antiquierten Naturrechts noch vorliegt, verbinden sich nun auf schwer durchsichtige Weise neue, vornehmlich politisch motivierte Anforderungen an technische Fertigkeiten und verwertbare Resultate. In solcher „Politik“ laufen Nützlichkeit und Recht, Normatives und Deskriptives, Kameralistik und Naturrecht ineinander und oft genug auch durcheinander.11 Kant und Fichte haben
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So die Ankündigung seiner ersten Vorlesung über die Staatslehre; siehe Schleiermacher: Schriften, hg. von Andreas Arndt, Frankfurt/M. 1996, 1242 bzw. 1247; vgl. KGA II/8, XXIII bzw. XXIV. Schleiermacher an Henriette von Willich, 4. Dezember 1808, KGA II/8, XXIII. Wilhelm Bleek: Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, 104. Als ein Beispiel sei genannt: Johann Heinrich Gottlob von Justi: Die Natur und das Wesen der Staaten, als die Grundwissenschaft der Staatskunst, der Policey, und aller
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deshalb die „Politik“ – im Sinne einer Lehre der „Staatsklugheit“ – aus ihren Vernunftrechtskonzeptionen ausgeschlossen; Fichte etwa grenzt sein Thema „Naturrecht“ mehrfach von solcher „Politik“ ab.12 Schleiermacher stellt seine ‚Staatslehre‘ unter den gleichberechtigten Titel „Politik“, aber auch er grenzt sie von der „Staatsklugheitslehre“ ab. Die Staatskunst könne „nur von einem in der Regierung gelehrt werden“ – und sie sei ohnehin etwas anderes als die „philosophische Staatslehre“, denn diese habe das Allgemeine aufzusuchen, das, was „überall […] nothwendig gegeben ist“. Die Klugheitslehre hingegen, wenn sie effizient sein solle, müsse situationsbezogen sein. Dies scheint eine primär normative Ausrichtung der ‚Staatslehre‘ vorzubereiten – doch Schleiermacher grenzt sein Unternehmen ebenso von einer normativen Staatslehre ab, und zwar mit dem empirischen und zugleich die Kantisch-Fichtesche Rede von einem „allgemeinen Sittengesetz“ ironisierenden Argument, die Menschen und Umstände seien zu verschieden, als daß man ein „Ideal“ aufstellen könnte. Denn ein solches – vernunftrechtliches – Ideal setze die Einheit der Menschen – im Sinne von Einerleiheit – voraus –, und so solle man lieber in Ruhe noch tausend Jahre abwarten, bis die Menschen „nicht mehr weiß und schwarz“ seien. Wenn allerdings einmal „alle Racen verschwommen“ seien, dann sei auch „das Ideal fertig“ – aber dann gebe es auch nicht mehr einzelne Staaten, und deshalb eigentlich auch keine Staatslehre mehr.13 (3) Das Programm seiner „Politik“ hat Schleiermacher überaus präzise, anschaulich und konstant zugleich von allen früheren Unternehmungen abgegrenzt: Sie habe eine „Physiologie des Staats“ zu geben.14 Präziser, aber zugleich provokanter kann man den nicht-normativen Charakter seiner „Politik“ schwerlich aussprechen. Und provokanter kann man sie auch nicht der alten platonisch-aristotelischen Tradition entgegenstellen – daran ändern auch die paar versprengten Zitate aus den klassisch-griechischen Texten nichts, die ihm natürlich wie wenig anderen geläufig gewesen sind. Die Physiologie ist zwar sicherlich keine rein deskriptive Wissenschaft, und auch Schleiermacher will keine bloße „Relation von der Beschaffenheit vorhandener Staaten“ geben. Beide Physiologien wollen – etwas – mehr: Die naturwissenschaftliche beschreibt den animalischen oder pflanzlichen Körper, und sie sucht auf der Basis dieser Beschreibung die Lebensvorgänge „zu analysieren, in ihrem Mechanismus aufzuklären und durch Synthese der Einzelfunk-
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Regierungswissenschaften, desgleichen als die Quelle aller Gesetze abgehandelt, Berlin u.a. 1760. Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, Bd.1 (1796), GA I/3, 442, 450, 452. KGA II/8, 755–759. U.a. KGA II/8, 758, 496.
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tionen die Gesamtfunktion und die Verhaltensweisen des Organismus zu verstehen.“15 Sie ist aber bekanntlich alles andere als eine normative Wissenschaft. Eine ‚normative Physiologie‘ wäre nicht allein die Quadratur des Kreises, sondern das Geschäft eines theoretischen Prokrustes. Man sollte Schleiermacher nicht unterstellen, daß er sich darüber Illusionen hingegeben habe. Vielmehr hat er mit dem – damals sehr modernen – Wort „Physiologie“ den Wissenschaftscharakter seiner Staatslehre sehr bewußt und durchaus zutreffend charakterisiert: Seine „Staatslehre“ ist die „Physiologie“ des politischen Körpers. Sie versteht sich nicht als politische „Mechanik“, da die frühneuzeitliche, bis in die Aufklärung reichende Metaphorik des Staates als einer Maschine seit dem Umbruch vom späten Absolutismus zur Französischen Revolution diskreditiert ist. Die Staatslehre hat es nicht mit einer Maschine, sondern mit einem lebendigen Körper zu tun – aber eben doch mit einem Körper, der nach seinen eigenen Gesetzen funktioniert und sich die Logik seiner Funktion nicht von außen vorschreiben läßt – etwa durch ethische Forderungen. (4) Um einem möglichen Mißverständnis – oder gar Schlimmerem – vorzubeugen: Ich bin keineswegs der Ansicht, daß ein solches Resultat und Programm einen „politischen Denker“ desavouiere. Es ist ein eminent politisch-gedachtes Programm: Es entwirft eine Analyse der Funktionsbedingungen des menschlichen Zusammenlebens, und zwar unter weitgehendem Absehen von den Motiven menschlichen Handelns: Die Prozesse der Entstehung politischen Lebens, seiner Umstrukturierung und Einheitsbildung vollziehen sich nach einer eigenen, immanenten Logik, die nicht die Logik menschlicher Handlungen ist. Schleiermacher formuliert sie zumeist in formell gesehen hypothetischen Sätzen, die jedoch eben diese Funktionslogik zum Gegenstand haben. Hieraus dürfte sich auch erklären, daß Schleiermacher in seinen Entwurf keine ‚politische Anthropologie‘ einbaut – nicht einmal als einen Nebenaspekt, geschweige denn als Fundament. Mit gutem Recht darf man in der funktionalen Ausrichtung dieses Programms einen Beweis seiner ‚Modernität‘ sehen. Wir haben es hier – gegenüber der Behandlung des Staates in den „Rechtslehren“ der Klassischen Deutschen Philosophie, vor allem Kants und Fichtes – gleichsam mit einer ‚neuen Wissenschaft von der Politik‘ zu tun. Der normative Rest, der ihr noch eignet, besteht in der Herausarbeitung des Schemas einer ‚normalen‘ Entwicklung und ihrer Kontrastierung mit einer – durch identifizierbare äußere Faktoren – „gestörten Entwicklung“.16 Dieses Programm bewegt sich – trotz der ständigen Bezugnahmen auf große und kleine Staaten, auf Repräsenta15 16
Brockhaus-Enzyklopädie, 17. Aufl., Bd.14, Wiesbaden 1972, 591. KGA II/8, 799.
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tionsformen, auf monarchische, demokratische oder aristokratische Staatsformen, auf Staatenbund und Bundesstaat, auf Produktion und Konsumtion und auf unterschiedliche Zeiten und Weltgegenden – auf einer hohen Abstraktionsebene. Und es sind nicht eben die stärksten Partien dieser Staatslehre, in denen sie diese ihr eigene abgehobene Ebene verläßt und zu ‚aktuell-politischen‘ Fragen Stellung nimmt – etwa mit ihren Äußerungen über das nicht allein unnötige, sondern auch schädliche „Papier“ einer förmlichen Constitutionsakte oder mit ihrer Diagnose des Prinzips der Gewaltenteilung als eines „Krankheitszustands“ des politischen Körpers, der mit Hilfe dieser Trennung „durch eine Crisis zur Gesundheit zurückzuführen“ sei.17 „Crisis“, „Gesundheit“, „gestörte Entwicklung“: Die physiologische Programmatik schlägt durch bis auf die Sprache, in der sie artikuliert ist. (5) Eines allerdings ist auffällig bei dieser „Physiologie“ des ‚politischen Körpers‘: Sie analysiert seine Funktionsweise, sie identifiziert die „Exponenten“ oder Faktoren, die seinen „EntwicklungsTrieb“ oder „Selbsterhaltungstrieb“18 „stören“ oder begünstigen – aber sie stellt nicht die Frage, aus welchem Stoff der politische Körper denn eigentlich gemacht sei. Anders als der natürliche ist der ‚politische Körper‘ ja ein künstlicher, dessen Material und Bau einer Analyse bedarf, die nicht schon in der Funktionsanalyse enthalten ist. Und sie stellt schon gar nicht die weitere Frage, ob die Kenntnis dieses Stoffes vielleicht geeignet sei, die Funktionsweise des Körpers sowohl zu verstehen als auch zu beeinflussen. Ohne Bild: Ihre eigene Herkunft aus der Ethik liegt dieser Physiologie so fern, daß sie nicht fragt, wie sich die ethische Forderung zu diesem Funktionszusammenhang des politischen Körpers verhalte. Ich meine damit nicht die einzelne ethische Forderung als einen in die immanent gesteuerte „organische Entwicklung“ von außen eingreifenden Faktor, sondern etwas Generelles: Diese Physiologie fragt nicht, ob das Normative nicht schon deshalb zu den Funktionsbedingungen und zum Leben dieses Körpers gehöre, weil dieser Körper insgesamt aus einem sowohl natürlichen als auch normativen Doppelleib gebildet werde. Und vor allem fragt sie nicht, ob dieser Körper nicht über ein eigenes, reflexives Steuerungspotential verfüge: über das Recht. Vom Recht ist in dieser Physiologie wenig, ja fast nie die Rede – als ob dieses Wort mit einem Tabu belegt sei, vielleicht als Reaktion auf die zunächst natur- und dann vernunftrechtliche Konstruktion des Staates. Und so könnte es sein, daß Schleiermachers ‚Staatsphysiologie‘ eine äußerst wichtige, aber letztlich doch einseitige Betrachtungsweise sei. Der ‚politische Körper‘ ist fraglos zurecht Gegenstand einer ‚politi17 18
KGA II/8, 855 bzw. 818. KGA II/8, 862.
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schen Physiologie‘. Doch zum Politischen gehört noch mehr als der physiologisch zu betrachtende Körper – wie ja auch der Mensch nicht allein Gegenstand der Physiologie ist.
Religion, Gemeinschaft und Politik bei Schleiermacher VON ARNULF VON SCHELIHA/OSNABRÜCK
I. Aspekte der gegenwärtigen Zivilgesellschaftsdiskussion In diesem Beitrag wird Schleiermachers Begriff des Politischen vor dem Hintergrund seines Staatsverständnisses analysiert, unter besonderer Berücksichtigung der gesellschaftlichen Rolle der Kirche. Die hier angestellten Betrachtungen sind geleitet von der politikwissenschaftlichen Diskussion um die Begriffe „Zivilgesellschaft“, „Bürgertugenden“ und „Verhandlungsdemokratie“. Historisch ist deutlich, dass Schleiermachers Staatstheorie in die erste Formierungsphase des Begriffs der Ziviloder Bürgergesellschaft fällt, zu dessen Bestimmung viele Denker der Aufklärungsepoche beigetragen haben. Der Begriff „bezog sich auf den damals utopischen Entwurf einer zukünftigen Zivilisation, in der die Menschen als mündige Bürger friedlich zusammenleben würden, als Privatpersonen in ihren Familien und als Bürger (citizens) in der Öffentlichkeit, selbständig und frei, in Assoziationen kooperierend, unter der Herrschaft des Rechts, aber ohne Gängelung durch den Obrigkeitsstaat, mit Toleranz für kulturelle, religiöse und ethnische Vielfalt, jedenfalls ohne ständische Ungleichheit herkömmlicher Art.“1 Seit etwa 1980 erlebt der Begriff der Zivilgesellschaft eine neue Konjunktur, als er zur Schlüsselkategorie anti-diktatorischer Kritik in Lateinamerika und in Ostmitteleuropa wurde. Auch hier wurde der Begriff in emanzipatorischem Sinne zur Erkämpfung staatsfreier Zonen verwendet, als Programm für individuelle Freiheit, gesellschaftlichen Pluralismus, freiwillige Kooperationen und politische Partizipation.2 Mittlerweile genießt der Begriff weltweit viel Sympathie, und zwar in unterschiedlichen ge-
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Jürgen Kocka: Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen, in: Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West, hg. von Manfred Hildermeier, Jürgen Kocka u. Christoph Conrad, Frankfurt/M. u. New York 2000, 13–39; 16. Vgl. ebd., 18–21.
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sellschaftstheoretischen Modellen und politischen Milieus.3 Als Integrationskategorie verheißt er die Aporien eines überreizten Individualismus ebenso zu überwinden wie die aggressive Dominanz der Ökonomie. Aber auch für den sozialpolitisch überanstrengten Staat ist der Begriff attraktiv geworden, weil er den finanziell motivierten Rückzug aus Gebieten zu legitimieren verspricht, die der Staat vormals bewirtschaftschaftet hatte. Man sieht an diesen schlaglichtartig hervorgehobenen Aspekten, dass die Auslegung des Begriffs gegenwärtig im Fluss ist. In der Folge seien nun drei Diskursthemen herausgegriffen, um einen Fokus für die Darstellung von Schleiermachers Politiktheorie zu gewinnen: 1. Wie verhält sich die Zivilgesellschaft zum Staat? Wird der „Bereich freiwilliger Assoziationen für wirtschaftliche, kulturelle […] religiöse oder andere Ziele“4 grundsätzlich vom Staat unterschieden5 oder kann die Zivilgesellschaft als Teil der politischen Selbstorganisation des Staates verstanden und genutzt werden?6 2. „Der logische Status des Begriffs ‚Zivilgesellschaft‘ oszilliert zwischen normativen und analytischen Dimensionen.“7 So kann er ebenso als zentrale Kategorie eines interdisziplinären Forschungsprogramms für Vergleichende Geschichte dienen8 wie er – etwa bei Jürgen Habermas9 – in einem normativen Sinne verwendet wird, dergestalt, dass sich mit ihm das Programm zur Bildung bestimmter Bürgertugenden verbindet, deren Gebrauch auch Potenzial zur Lösung von Fragen allge-
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Vgl. Klaus von Beyme: Zivilgesellschaft – Karriere und Leistung eines Modebegriffs, in: Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West, hg. von Manfred Hildermeier, Jürgen Kocka u. Christoph Conrad, Frankfurt/M. u. New York 2000, 41–55. Bernhard Peters: Die Integration moderner Gesellschaften, Frankfurt/M. 1993, 180. So die Option von Hartmut Kaelble: Gibt es eine europäische Zivilgesellschaft? in: Zivilgesellschaft – national und transnational, hg. von Dieter Gosewinkel, Dieter Rucht, Wolfgang van den Daele u. Jürgen Kocka, Berlin 2004, 267–284. Vgl. dazu Gunnar Folke Schubert: Governance-Leistungen der Zivilgesellschaft. Vom staatlichen Rechtsetzungsmonopol zur zivilgesellschaftlichen Selbstregulierung, in: Zivilgesellschaft – national und transnational a.a.O. (Anm.5), 245–264. „Zivilgesellschaftliche Selbstorganisation ist ein […] zentraler Baustein im Rechtssetzungssystem des modernen Staates […]. Es fehlt […] nicht an konstruktiven Wegen, um Governance-Leistungen der Zivilgesellschaft in die Steuerungstheorie des Gewährleistungsstaates zu integrieren“ (261). Jürgen Kocka: Zivilgesellschaft als historisches Projekt. Moderne europäische Geschichtsforschung in vergleichender Absicht, in: Europäische Sozialgeschichte. Festschrift für Wolfgang Schieder, hg. von Christof Dipper, Lutz Klinkhammer u. Alexander Nützenadel, Berlin 2000, 475–484, 483. Vgl. dazu den in Anm.7 erwähnten Beitrag von Jürgen Kocka. Vgl. Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 31992, 435–467.
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meinen Interesses entfalten kann.10 Folgt man der letztgenannten Spur, dann liegt es nahe, auch die Kirche als zivilgesellschaftlichen Akteur zu beschreiben.11 3. Schließlich stellt sich die Frage nach der bereichslogischen Abgrenzung der Zivilgesellschaft. Steht die Zivilgesellschaft zwischen dem Einzelnen und dem Staat, wie in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft,12 ist von ihr der Bereich der Ökonomie streng zu trennen13 und wie ist die zivilgesellschaftliche Bedeutung von Ehe und Familie zu bestimmen?14 Diese drei Problemkomplexe (Begriff des Politischen, Bürgertugend und Kirche sowie das Problem der Ökonomie) sollen nun die folgende Sichtung von Friedrich Schleiermachers Staatstheorie leiten.15 Dabei wird sich zeigen, dass er zu allen drei Fragen pointierte und in die Gegenwart weisende Antworten gefunden hat.
II. „Wechselwirkungen bilden das Leben des Staates“ – Schleiermachers Politikbegriff Bekanntlich hat Schleiermacher auf allen Gebieten, die er wissenschaftlich bearbeitet hat, kategoriale und historische Bestimmungen ineinander gelesen. Auch auf dem Gebiet der Staatslehre wollte er kein zeitlos 10
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Vgl. dazu exemplarisch Herfried Münkler: Subsidiarität, Zivilgesellschaft und Bürgertugend, in: Subsidiarität, hg. von Alois Riklin u. Gerhard Batliner, Baden-Baden 1994, 63–79. Vgl. aus politikwissenschaftlicher Sicht Herfried Münkler: Einige sozialwissenschaftliche Anmerkungen zum Verhältnis von Staat und Kirche in protestantischer Sicht um 1900, in: Praktische Theologie und protestantische Kultur, hg. von Wilhelm Gräb u. Birgit Weyel, Gütersloh 2002, 119–127, 127. Aus theologischer Perspektive bieten erste Ansätze Wolfgang Huber: Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 1998, 267–328, und Heinrich BedfordStrohm: Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit. Sozialer Zusammenhalt in der modernen Gesellschaft. Ein theologischer Beitrag, Gütersloh 1999, 421–460. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), Hamburg 1967, §§182–229. So Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung, a.a.O. (Anm. 9), 442f. Freilich wird von anderer Seite eine zunehmende Marktorientierung und Ökonomisierung von DritteSektor-Organisationen konstatiert, die sich dadurch staatlichen oder profitorientierten Unternehmungen zunehmend angleichen. Vgl. dazu Eckhard Piller u. Annette Zimmer: Dritte-Sektor-Organisationen zwischen „Markt“ und „Mission“, in: Zivilgesellschaft – national und transnational, a.a.O. (Anm. 5), 105–127. Einen Überblick zum Diskurs gibt Ilona Ostner: Familie und Zivilgesellschaft, in: Zivile Gesellschaft. Entwicklung, Defizite, Potentiale, hg. von Klaus M. Schmals u. Hubert Heinelt, Opladen 1997, 369–383. Dabei konzentriere ich mich auf die Entwicklung von Schleiermachers staatstheoretischem Denken bis zur Politik-Vorlesung von 1817/18.
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gültiges Staatsideal entwickeln. Rein kategorial betrachtet ist der Staat „ein nothwendiges Resultat der sittlichen Thätigkeit“16 und zwar als der „Sachwalter des durch den sittlichen Vernunftprozess hervorgebrachten Rechts, das Arbeit, Handel und Wirtschaft für alle verbindlich organisiert“.17 Materialiter kann ein Staat aber nur unter ständiger Rücksicht auf die geografischen, kulturellen und sozialen Verhältnisse analysiert werden,18 und Schleiermacher selbst hat vor allem die Weiterentwicklung des preußischen Staates im Auge gehabt.19 Gleichwohl – und hier folgt Schleiermacher Einsichten der idealistischen Philosophie – steht auch für ihn jede Staatswerdung unter der Bedingung von Freiheit. Der Staat verkörpert für ihn das Selbstbewusstsein eines Volkes. In der politischen Ordnung, deren Umrisse Schleiermacher begrifflich durch die Differenz von „Obrigkeit“ und „Untertanen“ zur Geltung bringt, formiert sich das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit von Menschen, Familien und „Horden“, das im vorstaatlichen Zustand durch Verwandtschaft und Sitte geprägt war. Das förmliche „Gesetz“ manifestiert nun den allgemeinen Willen, die Einzelwillen zu bündeln und durch eine Regierung machtvoll in Geltung zu setzen. Diese Formierung des allgemeinen Willens im Zuge der Staatswerdung kommt nur durch einen Freiheitsakt zu Stande. „Alle Unterwerfung der Unterthanen unter die Obrigkeit ist nur freiwillig. Die Obrigkeit ist nur Obrigkeit, weil die Regierten regiert sein wollen, aber sie regiert vermöge des von ihr gelösten Widerstreits zwischen dem algemeinen und besonderen Willen. Ist der Widerstreit nicht gelöst, so hat sie nur den Schein des Regierens“.20 Zwar kann im Zuge der 16
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Friedrich Schleiermacher: Brouillon zur Ethik (1805/06), hg. von Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981, 65. „Das Wahre daran ist, daß die Bildung des Gegensazes als ein Gemeinschaftliches muß angesehen werden können. Denn wenn er ein einseitiger dessen ist, der sich zur Obrigkeit aufwirft, so bleibt in der Masse ein Vernichtungsstreben gesezt, und es ist also nur eine Usurpation vorhanden“ (Friedrich Schleiermacher, Ethik [1812/13] mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre, hg. von Hans-Joachim Birkner, Hamburg 21990, §91, 96). Albrecht Geck: Sozialethische und sozialpolitische Ansätze in der philosophischen und theologischen Systematik Schleiermachers, in: Sozialer Protestantismus im Vormärz, hg. von Markus Friedrich u.a., Münster 2001, 133–146, 136. So bereits im ‚Brouillon‘: „Der Staat [ist] also eine gemeinsame organisirende Thätigkeit unter einer individuellen Idee der Kultur“ (Schleiermacher: Brouillon zur Ethik [1805/06], a.a.O. [Anm. 16], 64). Vgl. Dankfried Reetz: Staatslehre mit ‚politischer Tendenz‘. Schleiermachers PolitikVorlesung des Sommersemesters 1817, in: ZNThG/JHMTh 7 (2000), 205–250. So gemäß der Teilnachschrift von Schleiermachers Politikvorlesung von 1817 aus dem Hamburger Johanneum [Nachschrift Jo], in: Dankfried Reetz: Schleiermacher im Horizont Preußischer Politik. Studien und Dokumente zu Schleiermachers Berufung nach Halle, zu seiner Vorlesung über Politik 1817 und zu den Hintergründen der Demagogenverfolgung, Waltrop 2002, 149–222, 164. Die parallele Nachschrift von Varnhagen [Nachschrift Va (1817)] bietet die Formulierung: „die Macht ist auf den
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Staatsbildung der freiwillige Akt zur Bildung von Obrigkeit und Untertanen kollektiv vollzogen werden. Weil aber der allgemeine Wille nach Integration aller Einzelwillen strebt, vollendet sich das staatliche Leben erst in der freiheitlichen Beteiligung aller Menschen. Damit ist der Begriff des Politischen bei Schleiermacher erreicht. „Politik“ bezeichnet die lebendige „Wechselwirkung“21 zwischen Regierung und Regierten zur Ermittlung eines gemeinsamen Willens, der die Form des Gesetzes erhält. Diese „Vermittlung […] ist das wirkliche bewußte Leben des Staates“,22 denn, wie Schleiermacher schon früh im Blick auf die zweite französische Verfassung vom 24. Juni 1793 notiert hatte, „es muß jedes einzelne Gesez unmittelbar auf algemeiner Zusammenstimmung beruhn.“23 Politik ist nach Schleiermacher die prozedurale Reflexionsgestalt des staatlichen Lebens. Dieses Politikverständnis ermöglicht es Schleiermacher, die kategoriale Differenz von Regierung und Regierten zu verflüssigen und für eine historisch angelegte Analyse von Funktion und Dysfunktion von Staatlichkeit fruchtbar zu machen. Er geht daher nicht von den klassischen Theorien der Staatsformen (Monarchie, Aristokratie, Demokratie) oder von den Theorien der Gewaltenteilung aus, sondern erläutert und kritisiert sie als wandelbare und entwicklungsfähige Kristallisationspunkte des Politischen. Aber Schleiermachers verfahrensanalytisch ansetzender Politikbegriff entbehrt nicht der normativen Komponenten.
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Willen der Gesamtheit gegründet, so wie das Unterwerfen nur freywillig ist.“ (Friedrich Schleiermacher: Vorlesung über die Lehre vom Staat, hg. von Walter Jaeschke, Berlin/New York 1998 [KGA II/8], 219, Z. 20f.). Schleiermacher: Ethik (1812/13), a.a.O. (Anm. 16), §104, 99 (Güterlehre. Dritter Teil, Zusatz 1816). Friedrich Schleiermacher: Über die Begriffe der verschiedenen Staatsformen (1814), in: Friedrich Schleiermacher: Akademievorträge, hg. von Martin Rössler unter Mitwirkung von Lars Emersleben, Berlin/New York 2002 (KGA I/11), 95–124, 108, Z.26f. „Diese beide Wechselwirkungen bilden das Leben des Staates“ (Schleiermacher: Vorlesung über die Lehre vom Staat, a.a.O. [Anm. 20] [KGA II/8], 247, Z.16 [Nachschrift Va (1817)]). Friedrich Schleiermacher: Exzerpt aus Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), in: Friedrich Schleiermacher: Kleine Schriften 1786–1833, hg. von Matthias Wolfes u. Michael Pietsch, Berlin/New York 2003 (KGA I/14), 19–24, 22, Z.21–23. Die Bedeutung des politischen Verfahrens für das Staatsverständnis betont Schleiermacher immer wieder, z.B. in den Vorlesungen zur christlichen Sitte: „Denn der Staat ist seinem Wesen nach ein Rechtszustand, eine Vereinigung von Menschen unter Gesezen, wozu immer das gehört, daß es für den Staat eine bestimmte Art und Weise giebt, wie Geseze in ihm zu Stande kommen und verändert werden; und dieses alles umfaßt sein inneres Verhältniß, das also in dem Gegensaze von Obrigkeit und Unterthan abgeschlossen ist“ (Friedrich Schleiermacher: Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. von Ludwig Jonas, Berlin 2 1884 [Sämmtliche Werke Bd.I/12], 243).
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Denn letzten Endes funktionieren nur solche Verfahren nachhaltig, denen es gelingt, alle Bürger zu beteiligen. Gelingt dies, dann ist politische Freiheit realisiert. Denn: „[P]olitische Freiheit“, so hatte Schleiermacher schon in seinem frühen „Freiheitsgespräch“ von 1789 formuliert, besteht darin, „Antheil an einer Gesezgebung“24 zu haben. Umgekehrt sieht Schleiermacher die Macht des Staates an der Freiheit des Einzelnen begrenzt, „denn dasjenige was zur Aufrechterhaltung der bürgerlichen Gesellschaft errichtet wird darf nicht selbst den Zwek derselben vernichten.“25 Der „Begriff der bürgerlichen Freiheit“, so führt Schleiermacher aus, bezeichnet das „Minimum der Beschränkung des Unterthanen durch die Obrigkeit“.26 Freiheit ermöglicht und begrenzt staatliches Handeln. Damit ist der Gegensatz von Regierung und Regierten in eine funktionale Relation überführt und die Aufgabe der Politik besteht darin, sie mit Leben zu erfüllen.27 Das soll wie folgt funktionieren: „Eine vollkommne Regierung soll […] keine andern Gesetze geben, als welche […] aus gemeinsam gefühlten Bedürfnissen entsprungen sind, und soll diese Gesetze nicht anders als auf volksmäßigste [und auf eine] die Freiheit jedes Einzelnen so wenig als möglich hemmende Art verwalten.“28 Der in diesem Zitat verwendete Begriff der Volksmäßigkeit zeigt an, dass Schleiermacher die Gesetzesinitiative im Kern ebenso im Volk ansiedelt wie er ihre Ausführung an dessen Freiheit begrenzt. Diese Einsicht setzt er in seiner Theorie der „Mittelglieder“29 um, die er zwischen Regierung und Regierten ansiedelt und in die hinein er die staatsorganisatorische Unterscheidung von Gesetzgebung (Legislative) und Vollziehung (Exekutive) integriert.
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Friedrich Schleiermacher: Freiheitsgespräch (1789), in: Friedrich Schleiermacher: Jugendschriften 1787–1796, hg. von Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984 (KGA I/1), 135–164, 145, Z.30, 34. „Das innere Wachsen des Staates“ kann von Schleiermacher förmlich daran geknüpft werden, dass die politischen Verfahren entwickelt werden mit dem Ziel, dass „jeder irgendwie am Sein der Obrigkeit Antheil nimmt“ (Schleiermacher: Ethik [1812/13], a.a.O. [Anm. 16], §136, §137, 105 [Güterlehre. Dritter Teil]). Schleiermacher: Exzerpt aus Immanuel Kant (1793), a.a.O. (Anm. 23) (KGA I/14), 21, Z.17–19. Schleiermacher: Ethik (1812/13), a.a.O. (Anm. 16), §111, 100 (Güterlehre. Dritter Teil). Entsprechend formuliert Schleiermacher schon 1805/06: „[V]on der Foderung der bürgerlichen Freiheit“ sei alles „zu halten“ (Schleiermacher: Brouillon zur Ethik [1805/06], a.a.O. [Anm. 16], 67). Vgl. Schleiermacher: Ethik (1812/13), a.a.O. (Anm. 16), §129 Zusatz 1816 (Güterlehre. Dritter Teil): „er muß als Unterthan das Sein der Obrigkeit mit sezen helfen“ (104). Schleiermacher: Über die Auswanderungsverbote (1817), a.a.O. (Anm. 22) (KGA I/11), 253–269, 257, Z.25–29. Schleiermacher: Vorlesungen über die Lehre vom Staat, a.a.O. (Anm. 20) (KGA II/8), 288, Z.5 [Nachschrift Va (1817)].
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Das erste „Mittelglied“ wird eingerückt in das Verfahren der Gesetzfindung. Für die politische Partizipation an dem Zustandekommen von Gesetzen ist die öffentliche Meinung entscheidend. Die „öffentliche Meinung“ ist ein politikwissenschaftlicher Schlüsselbegriff bei Schleiermacher und er denkt ihn sowohl „formlos“ und als auch „förmlich“.30 Die „Preßfreyheit“31 ist ein Beispiel für die formlose öffentliche Meinung. Sie bietet die Möglichkeit, das Regierungshandeln zu kommentieren. Die „öffentliche Stimme“ ist fundiert im Gewissen des Einzelnen, das „Beweise der Achtung wie des Abscheus“ „spendet“.32 Ausdrücklich weist Schleiermacher darauf hin, dass auch die „abweichenden Meinungen und Einsichten […] unmöglich anders als zum Wohl des ganzen beitragen.“33 Die funktionierende Öffentlichkeit macht eine staatliche „Bevormundung des Einzelnen überflüssig“.34 Im Unterschied dazu ist die „representirende Versammlung […] die constituirte öffentliche Meinung“,35 wie es in der Vorlesung von 1817/18 heißt. Dieses förmliche Repräsentativorgan, das Schleiermacher je länger desto vehementer fordert, ist das Organ der öffentlichen Meinungsbildung und konstitutionell zentral. Das Parallelorgan für die Partizipation des Volkes an der Ausführung der Gesetze ist die „Communalverfassung“, mit Hilfe derer ‚vor Ort‘ durch die Bürger die Gesetze lebensnah ausgelegt und umgesetzt werden. Auch hier geht es darum, „zur Erhaltung des Vertrauens und Zusammenhangs“36 von Volk und Staat eine „volksmässige Vollzie-
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„Dies geschieht formlos, d.h. durch die öffentliche Meinung, förmlich in der Repräsentation“ (Schleiermacher: Ethik [1812/13] [wie Anm. 16], §129 Zusatz 1816, 104). Vgl. Schleiermacher: Vorlesungen über die Lehre vom Staat, a.a.O. (Anm. 20) (KGA II/8), 420, Z.6–26 [Nachschrift Goetsch (1817/18)]. Friedrich Schleiermacher: Predigt ‚Ueber das rechte Verhältnis des Christen zu seiner Obrigkeit‘ (1809), in: ders.: Sämmtliche Werke, Bd.II/4, Berlin 1835, 1–13, 11. Schleiermacher: Predigt ‚Ueber das rechte Verhältnis des Christen zu seiner Obrigkeit‘ (1809), a.a.O. (Anm. 32), 13. In einer anderen politischen Predigt heißt es: „Das Recht über die Handlungen der Obrigkeit zu sprechen, und über die Gesetze, denen wir folgen müssen, unsere Meinung sagen zu dürfen, ist ein herrlicher Vorzug“ (Friedrich Schleiermacher: Predigt ‚Die Gerechtigkeit ist die unentbehrliche Grundlage des allgemeinen Wohlergehens‘ [1796], in: Predigten von protestantischen Gottesgelehrten der Aufklärungszeit [1799], hg. von Wichmann von Meding, Darmstadt 1989, 231–256, 242). Schleiermacher: Über die Auswanderungsverbote (1817), a.a.O. (Anm. 22) (KGA I/11), 266, Z.26. Schleiermacher: Vorlesungen über die Lehre vom Staat, a.a.O. (Anm. 20) (KGA II/8), 420, Z.3f. [Nachschrift Goetsch (1817/18)]. Ebd., 305, Z. 9f. [Nachschrift Va (1817)].
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hung“37 zu organisieren, deren Entschränkung auf die Provinz- und Landesverwaltung immerhin vorgestellt werden kann.38 Auf diese Weise ergibt sich ein von Matthias Wolfes sogenannter zirkulärer Prozess von Gesetzgebung und -vollziehung,39 der die politische Kooperation von Regierten und Regierung beschreibt. In ihm wird nicht nur der Gegensatz von Monarchie und Demokratie vermittelt,40 sondern auch Legislative und Exekutive werden handlungstheoretisch miteinander verknüpft. Der normative Aspekt dieser Politikidee besagt, dass der Staat „alle seine Bürger vorzüglich als seine integrirenden Theile ansieht; […] Denn als integrirender Bestandtheil des Staates hat jeder […] einen Werth durch seinen Gemeingeist und seine Liebe.“41 Vaterlandsliebe und Staatsloyalität sind für Schleiermacher also keine irrationalen und geschichtslos vorauszusetzende Affekte, sondern als sittliche Werte abhängig von der Möglichkeit zur politischen Mitwirkung, für die die Wertschätzung der Bürger seitens des Staates die allererste Voraussetzung bildet. Liegt diese Wertschätzung nicht vor, kann der Staat – wie Schleiermacher im Blick auf die damaligen Migrationsströme42 formuliert – diejenigen Menschen nicht „halten wollen, welche geneigt sind auszuwandern“.43
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Ebd., 305, Z.20 [Nachschrift Va (1817)]. Die Beteiligung des Volkes an Gesetzgebung und Verwaltung gehört zu den genuinen Reformideen des Reichsfreiherrn Karl vom und zum Stein. Vgl. zum Verhältnis von Stein und Schleiermacher Matthias Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit, Teil I, Berlin/New York 2005, 58–62, 222–229, 308–315. Vgl. Schleiermacher: Vorlesungen über die Lehre vom Staat, a.a.O. (Anm. 20) (KGA II/8), 305, Z.20–38 [Nachschrift Va (1817)]. Vgl. Matthias Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit, Teil II, Berlin/New York 2005, 403. Vgl. Kurt Nowak: Schleiermachers Verschmelzung von Monarchie und Demokratie, in: Freiheit gestalten. Zum Demokratieverständnis des deutschen Protestantismus 1789–1989, hg. von Dirk Bockermann, Göttingen 1996, 69–77. Schleiermacher: Über die Auswanderungsverbote (1817), a.a.O. (Anm. 22) (KGA I/11), 266, Z.36–40. Vgl. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 61993, 114. Schleiermacher: Über die Auswanderungsverbote (1817), a.a.O. (Anm. 22) (KGA I/11), 266 Z. 37f.
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III. „Bürgertugend“44 und Zivilgesellschaft 1. „Der Sinn fürs Gesellige“ und der „politische Trieb“ Bernd Oberdorfer hat in seiner umfassenden Studie „Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit“45 gezeigt, wie Schleiermachers Denkbewegung von Anfang an durch sozialtheoretische Fragestellungen und Lösungen ausgezeichnet ist. Der Aufbau von Individualität wird als sich über soziale Bildungsprozesse vollziehend vorgestellt, die ihrerseits im Willen zur wechselseitigen Mitteilung von Individualität gründen.46 Dabei entwickelt Schleiermacher schon in seinen frühen Schriften eine differenzierte Phänomenologie sozialer Lebenssphären, die Oberdorfer als „Programm makrogesellschaftlicher Entwicklung“ bezeichnet hat, „in der das soziale Leben […] aus der Starrheit ständisch-stratifikatorischer Strukturen in die Freiheit individuell-pluraler Gestaltgewinnung […] übergeht.“47 Dem „Sinn fürs Gesellige“ kommt für die Theorie des Politischen deshalb hohe Bedeutung zu, weil es im politischen Verfahren ja darum geht, durch gestufte „Distanzierung vom Eigeninteresse“48 die Perspektive des Ganzen einzunehmen und an der Formierung des allgemeinen Willens mitzuwirken. Unter kultivierten – wesentlich durch das Christentum geprägten – Bedingungen formt sich nun dieser „gesellige Trieb“ in der Sphäre des Politischen zu Bürgertugenden um, die den Menschen zur „innigsten Theilnahme an den allgemeinen Angelegenheiten“49 motivieren und zur Mitwirkung an den politischen Verfahren befähigen. „In dem bürgerlichen Zustand weiß aber jeder dass er von seinem Persönlichen Dasein etwas auf ein algemeines höheres Dasein verwenden müsse, und dass er in Beziehung auf das Algemeine einen Antheil auf sein persönliches Dasein rechnen müsse.“50 Dieser persönliche „Antheil“ umfasst drei Aspekte: Erstens die Loyalität der Obrigkeit gegenüber, zweitens das Verständnis für die Aufgaben und Perspektive der Obrigkeit in ihrem 44 45 46
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Schleiermacher: Predigt ‚Ueber das rechte Verhältnis des Christen zu seiner Obrigkeit’ (1809), a.a.O. (Anm. 32), 2. Bernd Oberdorfer: Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit. Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799, Berlin/New York 1995. Zur Individualitätskonzeption Schleiermachers vgl. Ulrich Barth: Das Individualitätsprogramm der ‚Monologen‘. Schleiermachers ethischer Beitrag zur Romantik, in: ders.: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 291–327. Oberdorfer: Geselligkeit, a.a.O. (Anm. 45), 509. Ebd., 183. Schleiermacher: Predigt ‚Ueber das rechte Verhältnis des Christen zu seiner Obrigkeit‘ (1809), a.a.O. (Anm. 32), 5. Schleiermacher: Vorlesung über Politik von Schleiermacher. Sommer 1817, a.a.O. (Anm. 20), 164 [Nachschrift Jo].
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Gesamtzusammenhang und schließlich die politische Mitwirkung „für die gemeine Sache“.51 Alle drei Aspekte verstehen sich nicht von selbst,52 sondern werden in einem Prozess „der fortschreitenden Veredlung und Bildung eines Volkes“53 angeeignet, der sich – wie nun zu zeigen sein wird – vor allem zivilgesellschaftlich vollzieht. 2. „Das Haus“ und das Recht des Privaten Als gewissermaßen naturwüchsige zivilsoziale ‚Zelle‘ gilt die Familie bzw. „das Haus“, in der die Reproduktion der Menschen und zunächst die Kindererziehung erfolgen. In Auseinandersetzung mit platonisierenden Staatsideen verteidigt Schleiermacher das Recht auf familiale Kindererziehung. Das schulische Erziehungswesen soll entstaatlicht und in der „Communalverfassung“54 unter Beteiligung der Bürger, der Wissenschaft, der Kirche und von Regierungsvertretern öffentlich organisiert werden. Das „Haus“ ist der primäre Ort zur Bildung von Individualität und Selbsttätigkeit. „[J]edes Eindrängen der Obrigkeit in das Innere des Hauses“ gilt Schleiermacher daher als „das Verhaßteste, und die Heiligkeit desselben ist die erste Forderung der persönlichen Freiheit.“55 Das Recht auf Privatheit, die im Hausstand soziale Gestalt annimmt, wird gewissermaßen als Abwehrrecht gegenüber dem Staat zur Geltung gebracht.56 In diesem Sinne hebt Schleiermacher erziehungstheoretisch hervor, dass im häuslichen Soziotop die Erziehung nicht durch parastaatliche Maßnahmen wie Gesetz und Strafe, sondern
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Schleiermacher: Predigt ‚Ueber das rechte Verhältnis des Christen zu seiner Obrigkeit‘ (1809), a.a.O. (Anm. 32), 10. In der Predigt ‚Wie es Pflicht sei, das Recht aufrecht zu erhalten und sich Genugthuung zu verschaffen’ (1810) spricht Schleiermacher von der Pflicht zur politischen Mitwirkung des Einzelnen am „allgemeinen Wohl“ (Friedrich Schleiermacher: Sämmtliche Werke Bd.II/7, Berlin 1836, 518–527, 525). „Freiheit des Einzelnen hat aber nur in so fern Werth, als dieser im Stand ist, jenen Beitrag zu liefern und als die Einsicht der Bedürfnisse des Ganzen in ihm ist“ (Schleiermacher: Vorlesungen über die Lehre vom Staat, a.a.O. [Anm. 20] [KGA II/8], 229, Z.19–21 [Nachschrift Va (1817)]). Schleiermacher: Predigt ‚Ueber das rechte Verhältnis des Christen zu seiner Obrigkeit‘ (1809), a.a.O. (Anm. 32), 12. Zur Notwendigkeit der Bildung zur politischen Freiheit vgl. auch Schleiermacher: Vorlesungen über die Lehre vom Staat, a.a.O. (Anm. 20) (KGA II/8), 229–231 [Nachschrift Va (1817)]. Schleiermacher: Über den Beruf des Staates zur Erziehung (1814), a.a.O. (Anm. 22) (KGA I/11), 125–146, 143, Z.23. Schleiermacher: Ethik (1812/13), a.a.O. (Anm. 16), §115, 101 (Güterlehre. Dritter Teil). Vgl. Schleiermacher: Ethik (1812/13), a.a.O. (Anm. 16), §118f., 101 (Güterlehre. Dritter Teil).
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kommunikativ zu arrangieren ist.57 Auf diese Weise wird der Aufbau ziviler Tugenden angebahnt. 3. Die „freie Geselligkeit“ und die zivilen Assoziationen Die zweite und in einem präzisen Sinne erst sittliche Form der Vergemeinschaftung ist die sog. freie Geselligkeit, in der sich die Menschen nach dem Prinzip der Wahlverwandtschaft zusammenfinden, um einem gemeinsamen Interesse nachzugehen: Gastfreiheit, Freundschaft, Spiel. Diese freie Geselligkeit ist deshalb frei, weil sie „als eine eigene Organisation […] sich hierin ganz vom Staate trennt.“58 Sie unterliegt weder seiner Organisationsgewalt, noch der Funktionalität des gesellschaftlichen Berufslebens oder der Beschränkung, die dem häuslichen Leben notgedrungen obliegt. Der „sittliche Zweck der freien Geselligkeit“59 besteht vielmehr darin, im „freien Spiel seiner Kräfte“ und im „freien Umgang vernünftiger sich unter einander bildender Menschen“60 den Horizont zu erweitern und durch Begegnung mit den „fremdesten Gemüther[n] und Verhältnisse[n]“61 eine umfassende Bildung zur Individualität zu ermöglichen. Weil in diesem Rahmen eine vorgegebene „öffentliche[] Gewalt“62 gebricht und „Jeder für sich selbst Gesetzgeber seyn […] soll“,63 müssen sich die Menschen auf die konkreten Gestalten freier Geselligkeit kommunikativ verständigen und sich dabei so arrangieren, „daß das gemeine Wesen keinen Schaden leide.“64Auf diese Weise wird im vorpolitischen Raum ein wichtiger Beitrag zur Bildung des „politischen Trieb[es]“65 geleistet, der darin besteht, „das Privatinteresse und den Gemeingeist“66 zu vermitteln, und der es ermöglicht, in den für den Staat charakteristischen Gegensatz von Herrschenden und Beherrschten einzutreten und an den politischen Verfahren mitzuwir-
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Vgl. die Ausführungen Schleiermachers in seiner Vorlesung zur Erziehungslehre, in: Die Vorlesungen aus dem Jahre 1826, Nachschriften (Theorie der Erziehung), nach der Ausgabe von C. Platz, in: Friedrich Schleiermacher: Ausgewählte pädagogische Schriften, besorgt von Ernst Lichtenstein, Paderborn 41994, 132–135. Schleiermacher: Ethik (1812/13), a.a.O. (Anm. 16), §238, 127 (Güterlehre. Dritter Teil). Friedrich Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799), in: ders.: Schriften aus der Berliner Zeit (1796–1799), hg. von Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984 (KGA I/2), 163–184, 165 Z 34. KGA I/2, 165, Z.24f., 30. KGA I/2, 165, Z.22f. KGA I/2, 166, Z.5. KGA I/2, 166, Z.5f. KGA I/2, 166, Z.6f. Schleiermacher: Über die Begriffe der verschiedenen Staatsformen, a.a.O. (Anm. 22) (KGA I/11), 107, Z.39f. KGA I/11, 108, Z.31.
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ken.67 In den unterschiedlichen Foren der freien Geselligkeit organisiert sich nach Schleiermacher eine fluide gesellschaftliche Öffentlichkeit. 4. „Die Akademie“ und die Freiheit der Wissenschaft Das Wissenschaftssystem bildet ein weiteres Forum gesellschaftlicher Öffentlichkeit, weil es dem Bildungsstreben verpflichtet ist, zum Erwerb gesellschaftlich relevanten Wissens beiträgt und dem diskursiven Austausch zwischen den Gelehrten und ihrem Publikum dient. Schleiermacher weist dem Staat die Aufgabe zu, die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen für die Einrichtung und Trägerschaft des Wissenschaftssystems bereitzustellen. Die maßgebliche Institution ist die „Akademie“, die „das nationale Erkennen zu einem organischen Ganzen vereinigt“.68 Inhaltlich darf sich der Staat jedoch nicht in das Wissenschaftsgeschehen einmischen.69 Wegen seiner sozio-kulturellen Bedingtheit und institutionellen Einbindung hat das Wissen zunächst nationalen Charakter und entfaltet seine pädagogische und politische Bedeutung primär in nationalstaatlichen Zusammenhängen. Aber „[s]einer Natur nach ist der Gelehrte mehr cosmopolitisch“70 orientiert und der gelehrte Verkehr wird die nationalstaatlichen Grenzen überschreiten. 5. „Entdeckungs- und Wanderungstrieb“ und die Freiheit zur Migration Mit der Migrationsproblematik benennt Schleiermacher einen zunächst überraschenden Faktor zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation, den er aus aktuellem Anlass so bedeutsam fand, dass er ihm eine eigene Akademieabhandlung gewidmet hat.71 Schleiermacher diskutiert ökonomische, demographische, anthropologische und politische72 Gründe für 67
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Eine entsprechende Notiz findet sich auch in der Nachschrift der Vorlesung zur Erziehungslehre: „das beste Medium, durch welches die politische Gesinnung allmählich entwickelt werden kann, ist das gesellige Leben“ (Schleiermacher: Die Vorlesungen aus dem Jahre 1826, a.a.O. [wie Anm. 57], 203). Schleiermacher: Brouillon zur Ethik (1805/06), a.a.O. (Anm. 16), 94. Vgl. Schleiermacher: Ethik (1812/13), a.a.O. (Anm. 16), §171, 113 (Güterlehre. Dritter Teil). Schleiermacher: Vorlesungen über die Lehre vom Staat, a.a.O. (Anm. 20) (KGA II/8), 304 Z. 7f [Nachschrift Va (1817)]. Vgl. Schleiermacher: Über die Auswanderungsverbote (1817), a.a.O. (Anm. 22) (KGA I/11), 251–270. Menschen, die sich mit der Obrigkeit und ihrem politischen Handeln gar nicht abfinden können, „müßten […] diese Gegend räumen und dies Land und sich andere Beherrscher suchen und andere Geseze und ein anderes Volk, unter dem sie […] auch Theil […] nehmen können von Herzen und ohne Heuchelei“ (Schleiermacher: Predigt ‚Ueber das rechte Verhältnis des Christen zu seiner Obrigkeit‘ [1809], a.a.O. [wie Anm. 32], 8).
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Migration. Seine differenzierten Betrachtungen laufen grundsätzlich darauf hinaus, dass dem den Menschen eingeborene „Entdeckungsund Wanderungstrieb“73 nur politisch zu begegnen ist. In der Regel würde der „Trieb nach der Ferne“74 durch den „Cohäsions- und heimatlichen Triebe“75 auf der Ebene des Vaterlandes gewissermaßen neutralisiert. Überwiegt aber „das Bedürfniß nach einem algemeinen Weltverkehr“76 aus ökonomischen oder politischen Gründen, dann gibt es außer der politischen Gegenwirkung auf „drückende Noth und politische Unzufriedenheit“77 kein Argument, die „Freiheit der Auswanderung“78 einzuschränken. Umgekehrt betont Schleiermacher den durch Migration ermöglichten Austausch zivilisatorischer Errungenschaften durch „die Auswanderungen der Gelehrten und Missionarien“.79 Für Schleiermacher sind es insbesondere „der Islamismus und das Christenthum, welche Völker der verschiedenartigsten Abstammung in einem Glauben verbinden“,80 so dass für ihn die Weltreligionen als Faktoren weltbürgerlicher Integration gelten.
IV. „Die Religion neben dem Staat“ – Die politische Bedeutung der zivilen Kirche Von besonderer Bedeutung für den Zusammenhang von ziviler Freiheit und Bürgertugend ist nach Schleiermacher die organisierte Religion. Wie im Fall der Wissenschaft sorgt der Staat nur für den rechtlichen Rahmen religiöser Selbstorganisation. Interne Fragen dürfen ihn nicht tangieren, denn in der religiösen Gemeinschaft herrscht eine andere Funktionslogik als im Staat, weshalb Schleiermacher für die Trennung von Staat und Kirche plädiert.81 Gleichwohl gibt es – in Schleiermachers 73 74 75 76 77 78 79 80 81
Schleiermacher: Über die Auswanderungsverbote (1817), a.a.O. (Anm. 22) (KGA I/11), 259, Z.27f. KGA I/11, 260, Z.5. KGA I/11, 259, Z.26f. Schleiermacher: Vorlesung über Politik von Schleiermacher. Sommer 1817, a.a.O. (Anm. 20), 156 [Nachschrift Jo]. Schleiermacher: Über die Auswanderungsverbote (1817), a.a.O. (Anm. 22) (KGA I/11), 263, Z.13. KGA I/11, 266, Z.23. KGA I/11, 262, Z.9. Schleiermacher: Vorlesungen über die Lehre vom Staat, a.a.O. (Anm. 20) (KGA II/8), 266, Z.23 [Nachschrift Va (1817)]. Vgl. Martin Daur: Die eine Kirche und das zweifache Recht. Eine Untersuchung zum Kirchenbegriff und der Grundlegung kirchlicher Ordnung in der Theologie Schleiermachers, München 1970. Schleiermacher ist auch deutlich gewesen, dass sich die Dominanz einer Religionsgesellschaft im Staat sukzessive auflösen und sich ein reli-
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Verständnis – positive politische Bezüge von Staat und organisierter Religion, von denen drei angeführt seien. Zunächst ist Schleiermacher der Auffassung, dass sich das moderne Staatsverständnis unter dem ideellen Einfluss des Christentums verwandelt hat. Dass sich der Staat nicht mehr nur als eine „Rechtsanstalt“82 oder „Criminalanstalt“83 versteht, sondern vielmehr als „Kulturstaat“,84 der durch einen Ordnungsrahmen zivile Freiheit ermöglicht, rechnet Schleiermacher der Wirkung des christlichen Humanitätsideals zu. Sodann ist er der Auffassung, dass die strikte Egalität der Menschen, die sich im protestantischen Christentum als kirchliches Organisationsprinzip zur Geltung gebracht hat,85 auf Dauer nicht ohne politischen Einfluss auf das Verhältnis von Regierung und Regierten im Staat sein wird. In diesem Zusammenhang hat Albrecht Geck zutreffend herausgestellt, dass Schleiermacher der von ihm für die Kirche angestrebten synodalen Repräsentativverfassung eine ‚Vorreiterfunktion‘ für die Bildung eines entsprechenden staatlichen Repräsentativorgans zugemessen hatte.86 Neben dieser strukturellen Einwirkung der Kirche auf den Staat hat Schleiermacher schließlich in der „Christlichen Sittenlehre“ den Beitrag der Christen zur Staatsreform analysiert. Danach besteht die „Pflicht“87 zur Mitwirkung an der „Staatsverbesserung“, die sich aber nach der Form ihrer „politischen Stellung“88 im Staate zu vollziehen hat. Bei der Umsetzung dieser Idee setzt Schleiermacher auf geordnete Verfahren und kommunikative Prozesse, an denen auch diejenigen teilhaben können, „denen alle politische Wirksamkeit in einem Staate verfassungsmäßig versagt ist“.89 Nur
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gionskultureller Pluralismus einstellen würde. Vor dem Hintergrund seiner gesellschaftstheoretischen Beschreibung der Funktion der Kirche ist klar, dass damit eine Gleichberechtigung aller Religionsgesellschaften, sofern sie sich im Grundsatz staatsloyal verhalten, gegeben sein müsste. „Ursprünglich standen alle Staaten unter der Kirche, und sie befreiten sich später von ihr. Erhalten fremde Religionen Duldung im Staat und behalten sie Einfluss auf das bürgerliche Recht; so würde die volksthümliche Kirche eine beschränkte gegen jene freien seyn, wenn sie nicht neben dem Staat stände. – Nur dann kann sich die Religion gestalten in reinem Verhältniss, wenn sie neben dem Staat steht. Diese Stellung gebührt ihr.“ (Schleiermacher: Vorlesung über die Lehre vom Staat, a.a.O. [wie Anm. 20] [KGA II/8], 370, Z.2–8 [Nachschrift Va (1817)]). Die Trennung vom Staat – sie befreit die Religion zu sich selbst. Schleiermacher: Ethik (1812/13), a.a.O. (Anm. 16), §101, 98 (Güterlehre, Dritter Teil). Ebd., §96, 97 (Güterlehre, Dritter Teil). Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Berlin 1964, 138. Vgl. Schleiermacher: Über den Beruf des Staates zur Erziehung, a.a.O. (Anm. 22) (KGA I/11), 140, Z.24–27. Vgl. Albrecht Geck: Schleiermacher als Kirchenpolitiker. Die Auseinandersetzungen um die Reform der Kirchenverfassung in Preußen (1799–1823), Bielefeld 1997, 56–78. Schleiermacher: Die christliche Sitte, a.a.O. (Anm. 23), Beilage B (Ms 1824/25), 272. Ebd., Beilage 124 (Ms 1822/23), 265f. Ebd., 265.
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durch „Berathung“90 und argumentative „Ueberzeugung derer […], welche Veränderungen zu machen die Befugniß haben“,91 kommen Staatsreformen zu Stande. Schleiermacher setzt also darauf, dass die im Geist des Christentums angestrebte Humanisierung des Staates sich in Kongruenz von Form und Inhalt vollzieht, rationale Verfahren in Anspruch nimmt, der Überzeugungskraft des öffentlichen Argumentes vertraut, „verständige[] Berathung“92 sucht und „alle rechtswidrige Gewalt perhorrescirt“.93 In diesen Prozess kommunikativer Verständigung über Gemeinwohlorientierung und Staatsverbesserung ist auch die politische Bedeutung der Predigt einzuordnen. In diesem Sinne hat Schleiermacher seine politischen Kanzelreden gehalten.94 Innerhalb der zivilgesellschaftlichen Foren übt die Kirche die nachhaltigste Wirkung auf die Bildung der politisch notwendigen Bürgertugenden aus,95 während der politische Einfluss der freien Geselligkeit, der Wissenschaft, der Migration, der von Schleiermacher in den Vorlesungen zur Christlichen Sittenlehre diskutierten Kunst und dem Spiel eher indirekt wirksam wird. Gleichwohl geht die politische Funktion der Religion in ihrem Verhältnis zum Staat nicht auf. Ihre zivile Stellung im Staat zeigt sich auch darin, dass sie über die National-, Kultur- und Kontinentalgrenzen hinweg das Bewusstsein eines Weltbürgertums begründet. Die christliche Religion verschiebt die gesellige Natur des Menschen bis hin zum „Gefühl der wärmsten allgemeinen Menschenliebe“.96 Damit wird eine Aporie bewältigt, die sich in den beschränkten sozialen Netzwerken, auch im Staat, stets einstellt. Denn, wie Schleier90 91 92 93 94
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Ebd., 266. Ebd., 265. Ebd., 266. Ebd., 270. Vgl. dazu Hans-Joachim Birkner: Der politische Schleiermacher, in: ders.: Schleiermacher-Studien, Berlin/New York 1996, 137–156, 142f., 149–152. Es ist hier an das Diktum Wilhelm Diltheys zu erinnern, nach dem Schleiermacher der „erste politische Prediger in großem Stil, den das Christentum hervorgebracht hat“, ist. (Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers. Bd.2,1: Schleiermachers System als Philosophie und Theologie, hg. von Martin Redeker, Berlin 1966, 372). „Als eine so reiche Quelle geselliger Tugenden hat sie [die christliche Religion] sich bewährt, daß alle nicht nur die Aufrechterhaltung derselben als ihre wichtigste Angelegenheit angesehen haben, sondern daß auch von jeher die Gemeinen aufgefodert worden sind, gewisse Tage der öffentlichen Gottesverehrung ganz besonders zu einer frommen Erwägung ihrer bürgerlichen Verhältnisse anzuwenden, und in demüthiger Andacht zu überlegen, was ein Jeder als Mitglied eines christlichen Volks Gott vorzüglich zu geloben hätte und von ihm erflehen und erwarten dürfte“ (Schleiermacher: Predigt ‚Die Gerechtigkeit ist eine unentbehrliche Grundlage des allgemeinen Wohlergehens‘ [1796], a.a.O. [wie Anm. 33], 232). Friedrich Schleiermacher: Predigt ‚Von der Theilnahme des guten Menschen an dem wahren Wohl der Menschheit’ (1792), in: Friedrich Schleiermacher: Sämmtliche Werke II/7, Berlin 1836, 117–134, 118.
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macher formuliert, „je näher wir uns […] mit einer größeren oder kleineren Anzahl unsers gleichen verbinden, desto fremder werden uns die übrigen, […] mit denen wir in keinem besondern Verhältniß stehn“.97 Das von Christus ausgehende „Gefühl […] des ausgebreitesten Wohlwollens gegen Alle“98 aber stiftet und erneuert das Bewusstsein von der Zusammengehörigkeit aller Menschen, mit realen Folgen für das Kriegsund Völkerrecht.99
V. Zur Einordnung und Aktualität von Schleiermachers Politikverständnis 1. Mustert man die von Schleiermacher namhaft gemachten zivilgesellschaftlichen Foren durch, so fällt auf, dass er sie streng staatsfern und staatstranszendierend denkt. Ebenso auffällig ist aber, dass die Ökonomie darin nicht zu stehen kommt. Man mag es zu den Schwächen der Staatstheorie Schleiermachers rechnen, dass er die gesellschaftliche Prägekraft modernen Wirtschaftens nicht würdigen konnte, sondern auf diesem Gebiet – ähnlich wie Johann Gottlieb Fichte – streng merkantilistisch dachte.100 Die Weite von Hegels Rechtsphilosophie wird an diesem Punkt nicht erreicht. In ihr läuft – diagnostisch hellsichtig – die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft auf die Ökonomie und die von ihr produzierten Antagonismen zu. Freilich zeigt sich darin, dass die ökonomisch bedingte „Entzweiung der bürgerlichen Gesellschaft zum Staat“101 führt, der die Freiheit reguliert, indem er sie inhaltlich bestimmt und objektiv setzt. In dieser Funktion aber hat der Staat erhöhten Legitimationsbedarf, für die er die Religion in Anspruch nimmt. In Hegels tendenziell staatslegitimatorischer Perspektive verliert die Religion jene kosmopolitische Dimension, die sie in Schleiermachers Theorie hat. An dieser Stelle erweist sich die Schwäche der Konzeption Schleiermachers im Blick auf die gegenwärtige Zivilgesellschafts-Dis-
97 Ebd., 119. 98 Ebd., 118. 99 Vgl. dazu Birkner: Der politische Schleiermacher, a.a.O. (Anm. 94), 153–156 und Arnulf von Scheliha: Die Beziehungen der Völker nach Schleiermachers Staatslehre, in: ZNThG/JHMTh 12 (2005), 1–15. 100 Dass Schleiermacher die den Staat transzendierende Bedeutung der Wirtschaft aber wahrgenommen hat, wird deutlich an seinen Betrachtungen zur Geldwirtschaft im ‚Brouillon zur Ethik‘: „Daher wo noch kein wahres Geld existirt, die Kultur auch gewiß noch in ihrer Kindheit ist. Daher wahres Geld kosmopolitischer ist als Sprachen und über den Staat hinausgeht“ (Schleiermacher: Brouillon zur Ethik [1805/06], a.a.O. [wie Anm. 16], 38). 101 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O. (Anm. 12) , §256, 207.
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kussion als eine Stärke. Indem er diesen Bereich ‚ökonomiefrei‘ denkt, kann er gesellschaftliche und politische Prozesse so beschreiben, dass sie nicht durch hinter dem Rücken der Akteure wirkende Marktgesetze bestimmt oder durch staatliche Steuerung disponiert vorgestellt werden, sondern so, dass sie im Handeln der zivilgesellschaftlichen Akteure intentional präsent sind. Das ist bis heute die Bedingung dafür, dass das Gemeinwesen weder vom Wohlstand noch von einer staatlich beigetriebenen Tugendgesinnung abhängig ist, sondern von den Menschen getragen wird, die den Staat um ihrer eigenen Freiheit willen wollen. Daher tritt bei Schleiermacher auch nicht die Ökonomie als Vehikel der Globalisierung auf, sondern Religion, Wissenschaft und ‚Lust an der Migration‘. Hier findet sich ein Erbe Immanuel Kants, der die wissenschaftliche Publizität und den moralischen Vernunftgebrauch als diejenigen Träger „der Weltbürgergesellschaft“102 namhaft gemacht hatte, die unabhängig von staatlichen Vorgaben die Bildung zur Freiheit und das Leben in der Freiheit ermöglichen. Bei Schleiermacher transzendieren die zivilen Foren den Nationalstaat in dreifacher Weise: In der Wissenschaft zur Menschheit, in der Migration zum Weltbürgertum und in der Religion zum Individuum. 2. Das spezifische Profil von Schleiermachers Politik-Begriff dürfte darin bestehen, dass er einen ‚starken‘ Begriff des Staates mit einem ebenso ‚starken‘ Begriff der Zivilgesellschaft verbindet und auf diese Weise die Bildung der sozialmoralischen Qualitäten der Bürger, die an der Steuerung des Gemeinwesens mitwirken sollen, anthropologisch einzuholen vermag. Denn dass die Bürger „ihre jeweiligen Privatinteressen hintan[]stellen, wenn es das Wohl des Gemeinwesens erfordert“103 und dass politische Mitwirkung als Realisierung von Gleichheit und Freiheit erfahren wird, versteht sich nicht von selbst, sondern wird durch die Möglichkeit zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation unter dem Einfluss des Christentum angebahnt. Weil Schleiermacher auf Grund seiner sozialanthropologischen Prämissen das Individuum in unterschiedlichen und verschieblichen Sozialzusammenhängen thematisiert, gewinnt er einen Begriff des Politischen, der nicht erst in den staatlichen und verfassungsmäßig geordneten Verfahren zu sich selbst kommt, sondern im „geselligen Trieb“ des Menschen gründet. Daher können die von ihm veranschlagten zivilgesellschaftlichen Foren als ‚Schulen‘ der Bürgergesinnung bezeichnet werden. Die Zivilgesellschaft 102 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Bd.VIII, Berlin 1968, 32–42, 37. Vgl. auch die Idee des Weltbürgerrechtes in der Friedensschrift (Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf [1795], in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Bd.VIII, Berlin 1968, 341–386, 357–360). 103 Münkler: Subsidiarität, Zivilgesellschaft und Bürgertugend, a.a.O. (Anm. 10), 76.
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ist die Sphäre der Propädeutik des Politischen.104 Insofern lässt sich Schleiermachers Politikverständnis als Variante eines republikanischzivilgesellschaftlichen Ordnungsmodells verstehen, in dem ausdrücklich von der nicht selbstverständlichen sittlichen Voraussetzung des Gemeinwesens ausgegangen wird, deren Regeneration und Stabilisierung gegenwärtig mit den Begriffen Subsidiarität, Zivilgesellschaft und Bürgertugend beschrieben werden.105 3. Dieser weite Horizont des Politischen bei Schleiermacher wird jenseits der Vorstellung einer parlamentarischen Demokratie formuliert, sondern einem monarchischen Volksstaat eingepasst. Man kann diesem Konzept ein Demokratie-Defizit vorwerfen. Ein solcher Vorwurf muss sich aber die Rückfrage gefallen lassen, wie dieses Defizit genau zu bestimmen ist. Bemisst man es an dem normativen Ideal einer sog. Westminster-Demokratie, dann mag dieser Vorwurf zutreffen. Denn tatsächlich werden von Schleiermacher das Verhältnis von Regierung und Regierten und das Verhältnis der Regierten zueinander tendenziell harmonistisch gedacht. Er ist der Auffassung, dass sich die Einzelinteressen der Regierten zu einem Gesamtinteresse des Volkes bündeln lassen. Dass das Volk selbst in politische Lager zerfällt, die Einzelinteressen sich in Parteien formieren, die wiederum um die Herrschaft auf Zeit konkurrieren und dass dieser Machtkampf durch allgemeine Wahlen und Mehrheiten entschieden wird, liegt außerhalb seiner Vorstellung.106 Wahlen hätten etwas „tumultuarisches“107 und führten zu „Streit und Zwist“.108 Freilich vermag der Begriff der Konkurrenzdemokratie die Verfahren der demokratischen Entscheidungsfindung nicht umfassend zu beschreiben und ist daher in der Politikwissenschaft durchaus umstritten. Bezieht man Schleiermachers Politikverständnis auf Gerhard Lehmbruchs Theorie der ‚Verhandlungsdemokratie‘, erweist sich Schleiermachers Ansatz als durchaus modern.109 Mit diesem Begriff wird ein politisches System bezeichnet, in dem „wichtige Entscheidungsprozesse […] formal oder durch informelle Prozeduren außer104 Zu Recht hat man Schleiermachers Gesellschaftstheorie als „liberalen Kommunitarismus“ charakterisiert. (Friedrich Wilhelm Graf: Lob der Differenz. Die Bedeutung der Religion in der demokratischen Kultur, in: Die herausgeforderte Demokratie. Recht, Religion, Politik, hg. von Christof Gestrich, Beiheft BThZ 20 (2003), 14–29, 25). 105 Vgl. Münkler: Subsidiarität, Zivilgesellschaft und Bürgertugend, a.a.O. (Anm. 10), 76–79. 106 Weitere ‚Demokratie-Defizite‘ Schleiermachers nennt Matthias Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft II, a.a.O. (Anm. 39), 406f. 107 Schleiermacher: Vorlesungen über die Lehre vom Staat, a.a.O. (Anm. 20) (KGA II/8), 304, Z.35 [Nachschrift Va (1817)]. 108 KGA II/8, 304, Z.36 [Nachschrift Va (1817)]. 109 Vgl. Gerhard Lehmbruch: Verhandlungsdemokratie. Beiträge zur vergleichenden Regierungslehre, Opladen 2003.
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parlamentarischer Verständigung von der Maxime des gütlichen Einvernehmens beherrscht sind.“110 Dahinter steht die Einsicht, dass die „Interdependenzen zwischen ausdifferenzierten Funktionssystemen in modernen Demokratien immer weniger über ‚hierarchisch-majoritäre‘ Steuerung bewältigt werden, der Staat vielmehr in zunehmenden Maße auf ‚Verhandlungssysteme‘ rekurrieren muß.“111 In ihnen erfolgt die Entscheidungsfindung durch institutionelle Einbindung aller Interessensgruppen, zu denen die Parteien, die Vertreter wirtschaftlicher Korporationen, zivilgesellschaftliche Interessensvertreter, die sektoralen Bürokratien und die zuständigen Gebietskörperschaften gehören. Das auf dem Verhandlungswege möglicherweise nur sequentiell erzielte Vermittlungsergebnis kann deswegen als demokratisch legitimiert gelten, weil in einer von wechselseitigen Abhängigkeiten geprägten Gesellschaft die Interessen der Bürger niemals mit denjenigen der einzelnen Verhandlungspartner identisch, sondern übergreifender Natur sind. Man geht davon aus, dass es am Verhandlungstisch im sog. Mehrebenensystem kein direktes Mandat gibt, sondern dass es gerade die überlappenden Mitgliedschaften sind, die Verhandlungsspielraum eröffnen und damit den auszuhandelnden Kompromiss ermöglichen, der am Ende im Interesse aller liegt. 112 Zieht man solche auf Verständigung angelegte Demokratien heran, wie sie in den Staaten Westmitteleuropas und in der Europäischen Union praktiziert werden, dann kann man Schleiermachers „Dynamisierung des Politischen im vorinstitutionellen Bereich“113 als einen – unter minderkomplexen Bedingungen entstandenen – Vorentwurf eines verhandlungsdemokratischen Ansatzes interpretieren. Dazu passt, dass in Deutschland eine auf den Westfälischen Frieden zurückgehende konkordanzdemokratische Tradition identifiziert werden kann, in der politische Konfliktregulierung und Interessensausgleich zwischen den (zunächst konfessionellen) paritätischen Korporationen auf dem Verhandlungswege betrieben wurde.114 Schon auf Grund des föderalen Staatsaufbaus sind auch im kleindeutschen Kaiserreich, in der Weima110 Gerhard Lehmbruch: Konkordanzdemokratie, in: Lexikon der Politik, hg. von G. Nohlen, Bd.III, München 1992, 206–211, 208. 111 Lehmbruch: Verhandlungsdemokratie, a.a.O. (Anm. 109), 14. 112 Vgl. Roland Czada: Vertretung und Verhandlung. Aspekte politischer Konfliktregelung in Mehrebenensystemen, in: Theorieentwicklung in der Politikwissenschaft – eine Bilanz, hg. von Arthur Benz u. Wolfgang Seibel, Baden-Baden 1997, 237–259. 113 Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft II, a.a.O. (Anm. 39), 397. 114 Vgl. dazu Lehmbruch: Verhandlungsdemokratie, a.a.O. (Anm. 109), 154–173. Zu den Folgen des Kooperationssystems im Alten Reich für das Religionsrecht vgl. Thomas Kaufmann: Das deutsche Staatskirchenrecht im 19. und 20. Jahrhundert und die Grenze der Wertautonomie des staatlichen Rechtes, in: Menschenbild und Menschenwürde, hg. von Eilert Herms, Gütersloh 2001, 173–197.
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rer Republik und in der Bundesrepublik Deutschland Verhandlungspraxis und Kompromissbildung zwischen den politischen und gesellschaftlichen Akteuren zum „dominanten Merkmal politischer Strategierepertoires geworden.“115 Insofern ist Schleiermachers auf Vermittlung der Einzelinteressen mit dem Allgemeinwohl abstellendes Politikverständnis kein Zufall, sondern hat Teil an der ausdifferenzierten Reflexion auf die Geschichte moderner Staatlichkeit, die – wie man gegenwärtig an der Europäischen Union sieht – noch nicht zu Ende ist und in der verhandlungsdemokratische Elemente zunehmend wichtig sind. Ebenso wenig dürfte es sich um einen Zufall handeln, dass Schleiermacher in seiner späten Politikvorlesung von der „Nothwendigkeit des Compromisses“116 gesprochen hat, neben dem Nationalstaat auf die Bildung von Bundesstaaten und einen Staatenbund reflektiert117 und sein Politikverständnis ausdrücklich auf die Bildung einer europäischen Friedensordnung bezogen hat.118
115 Lehmbruch: Verhandlungsdemokratie, a.a.O. (Anm. 109), 173. 116 Schleiermacher: Vorlesungen über die Lehre vom Staat, a.a.O. (Anm. 20) (KGA II/8), 953 Z. 40f. [Nachschrift Waitz (1833)]. 117 Vgl. KGA II/8, 80–83 [Manuskript Schleiermachers (1829–33)]. 118 Vgl. KGA II/8, 953f. [Nachschrift Waitz (1833)]. Dazu Arnulf von Scheliha: Die Beziehungen der Völker nach Schleiermachers Staatslehre, a.a.O. (Anm. 99), 12–15.
Zwischen Preußen und Deutschland Nation und Nationalstaat bei Friedrich Schleiermacher VON CHRISTIAN NOTTMEIER/BERLIN
Über Schleiermacher und sein Verhältnis zu Nation und Nationalstaat zu reden, führt in die Zeit der sogenannten Befreiungskriege. Für die Wahrnehmung Schleiermachers als einem der geistigen Väter der deutschen Nationalbewegung wie sie für die preußisch-deutsche Historiographie spätestens seit den Arbeiten Wilhelm Diltheys maßgeblich geworden ist, wird in diesem Zusammenhang immer wieder der patriotische Prediger Schleiermacher im ‚Zeitalter der deutschen Erhebung‘1 (so der berühmte Buchtitel von Friedrich Meinecke) herangezogen. Seine patriotischen Predigten, so hat es Johannes Bauer in einer bis heute an Materialfülle nicht überbotenen Studie formuliert, stünden mindestens gleichrangig neben Fichtes ‚Reden an die deutsche Nation‘. Allein das verlegerische Ungeschick Schleiermachers selbst habe ihre Wirkung unnötig eingeschränkt: „Wie anders hätten Schleiermachers Predigten wirken können, und wie wären sie bekannt geworden, wenn er sie als ‚Religiöse Reden an preußische Patrioten‘ oder in Form von Flugschriften dem Publikum übergeben hätte.“2 Ausgehend von den Predigten soll in den folgenden Ausführungen zunächst an zwei exemplarischen Beispielen die unterschiedliche Stellung des preußischen und deutschen Patrioten Schleiermacher in der Sicht des kleindeutschen Nationalstaates von 1870/71 ausgelotet werden. In diese kleindeutsche Perspektive ist Schleiermacher immer wieder gerückt worden, auch wenn für ihn selbst ein deutscher Nationalstaat unter Ausschluß Österreichs trotz mancher protestantischer Vorbehalte nicht denkbar war. Um zugleich die nötige analytische Tiefenschärfe für höchst unterschiedlich gebrauchte Begriffe wie „Nation“, „Nationalstaat“ oder auch „Nationalismus“ zu gewinnen, die für eine Rekonstruktion von Schleiermachers Verhältnis zu Nation und Natio1 2
Friedrich Meinecke: Das Zeitalter der deutschen Erhebung (1795–1815), Leipzig 41941 (erstmals 1906 erschienen). Johannes Bauer: Schleiermacher als patriotischer Prediger. Ein Beitrag zur Geschichte der nationalen Erhebung vor hundert Jahren, Gießen 1908, 197.
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nalstaat und eine sachgerechte Einordnung im Spektrum des entstehenden deutschen Nationalismus unentbehrlich sind, folgt sodann ein kurzer Einblick in die gegenwärtige Nationalismusforschung. In einem dritten Teil wird eine Charakteristik der wesentlichen Anschauungen Schleiermachers zu Nation und Nationalstaat gegeben. Ein kurzes Resümee schließt die Überlegungen ab.
1. Schleiermacher und die deutsche Nation: Bemerkungen zur Wirkungsgeschichte Nicht nach Berlin, sondern ins Oderbruch führt uns das erste Beispiel der Schleiermacherrezeption. Schauplatz ist das fiktive Dorf HohenVietz aus Theodor Fontanes Roman ‚Vor dem Sturm‘, angesiedelt in der Nähe von Bad Freienwalde, an der Oder gelegen, auf halbem Wege zwischen Frankfurt und Küstrin. Es ist ein Sonntag im März 1813, wenige Tage nach dem königlichen Erlaß „An mein Volk“. Der Dorfpfarrer von Hohen-Vietz mit dem schönen Namen Seidentopf predigt in der vollbesetzten Kirche, unmittelbar bevor die hier schon von preußischen Patrioten vor dem königlichen Aufruf aufgestellte Landwehr einen Überfall auf die französische Besatzung Frankfurts unternimmt, der in einem Desaster enden wird. Pfarrer Seidentopf, ein „sechziger mit spärlichem weißen Haar, von würdiger Haltung und mild im Ausdruck seiner Züge“, ist von Fontane gewiß nicht als Abbild Schleiermachers entworfen worden. Dagegen spricht schon, daß Seidentopfs Leidenschaft weniger der Theologie als vielmehr der frühgermanischen Archäologie galt, was sich nicht zuletzt daran zeigte, daß in seiner Bibliothek „der in der archäologischen Abteilung stehende Lehnstuhl viel tiefer eingesessen“3 war als das entsprechende Sitzmöbel vor den wenigen Regalen der theologischen Bibliothek. Aber Fontane legt dem Prediger Seidentopf, von ihm übrigens mit viel Sympathie als Vertreter eines individualisierten Christentums entworfen,4 in der entscheidenden Stunde vor dem Beginn des Frankfurter Unternehmens eben jene Predigt in den Mund, die Friedrich Schleiermacher am 28. März 1813 in der Berliner Dreifaltigkeitskirche gehalten hat und in deren Verlauf er auf königliche Anordnung auch dessen Aufruf „An mein Volk“ verlas.5 3 4 5
Theodor Fontane: Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13. Mit einem Nachwort neu hg. v. Helmuth Nürnberger, München 1990, 85. Vgl. dazu Eckart Beutel: Fontane und die Religion. Neuzeitliches Christentum im Beziehungsfeld von Tradition und Individuation, Gütersloh 2003, 103–118. Vgl. dazu ausführlich Alexander Faure: Eine Predigt Schleiermachers in Fontanes Roman ‚Vor dem Sturm‘, in: ZSysTh 17 (1940), 220–279. Die Predigt selbst ist abgedruckt in Friedrich Schleiermacher: Predigten. Vierter Band. Neue Ausgabe, Berlin
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Die Predigt wirkt dabei nicht nur auf die Hohen-Vietzer Gemeinde so ergreifend, daß der Romanheld Lewin von Vitzewitz nicht wie sonst bei Predigten üblich damit beginnt, „nach den Rotkehlchen“6 auszuschauen, sondern sie stellt auch gleichsam die theologische Rechtfertigung des Frankfurter Unternehmens dar, wenn sie dieses als „heiligen Krieg“ interpretiert – eine Formulierung, die bekanntlich auch Schleiermacher in seiner Predigt verwendet hat.7 Ob Schleiermacher in seiner Predigt wirklich eine Theologisierung des Krieges8 bzw. „politische Legitimationstheologie“9 betreibt, mag hier dahingestellt bleiben. Immerhin distanzierte sich Schleiermacher von dem naheliegenden Versuch, die drastischen Gegenüberstellungen des Predigttextes Jeremia 17 und 18 auf den Kriegsgegner Frankreich beziehen zu wollen. Ebenso unterzog er nicht nur die Zeit der napoleonischen Besatzung, sondern auch die preußische Politik der Jahre von 1786 – dem Todesjahr Friedrichs II. – bis 1806 – der Niederlage gegen Napoléon – einer scharfen Kritik. Die polnischen Teilungen von 1793 und 1795 nannte er gar „unredliche[n] Gewinn“.10 Von mindestens gleicher Bedeutung sind die staatsbürgerlichen Partizipationsansprüche, die Schleiermacher aus der Mobilisierung des Landsturms und der darin stattfindenden Überwindung des Gegensatzes von Bürger und Soldat ableitet. Nicht zuletzt jene, die – so Schleiermacher – „das Vaterland […] innen ordnen, leiten“ erinnerte er
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1844, 69–83 (künftig: Pr IV). Seidentopfs Predigt bei Fontane: Vor dem Sturm, a.a.O. (Anm. 3), 591–594. Ebd., 594. Pr IV, 70. Schleiermacher deutet den Aufruf des Königs als Ausdruck der „reinste[n] Übereinstimmung zwischen seinem Willen und seiner Völker Wunsch“, um dann fortzufahren: „[W]ir sahen ihn das Heer, auf seinen Befehl zum Kampf geweiht und gesegnet durch Gebet, hinaus geleiten, den Weg, der es dem Feinde entgegen führt. Dieses nun, der Durchzug unseres Heeres zum Kampf um das höchste und edelste, ist der Gegenstand, der, wie er uns gewiß alle erfüllt und bewegt, uns besonders in dieser Stunde beschäftigen soll, damit auch für uns dieser heilige Krieg beginne mit demüthigend erhebenden Gedanken an Gott, damit ihm unsere Hoffnung und Freude geheiliget werde.“ Auch Fontane läßt Seidentopf von der „reinen und vollkommenen Übereinstimmung mit seines Volks Wunsch“ sprechen: „Ein heiliger Krieg ist es, der beginnt, ein Krieg voll Hoffnung auf innerliche Befreiung“ (Fontane: Vor dem Sturm, a.a.O. [Anm. 3], 592). So etwa Christoph Burger: Der Wandel in der Beurteilung von Krieg und Frieden bei Friedrich Schleiermacher, dargestellt an drei Predigten, in: Kirche zwischen Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte des deutschen Protestantismus, hg. v. Wolfgang Huber u. Johannes Schwerdtfeger (Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft, Bd.31), Stuttgart 1976, 225–242. Volker Drehsen: Pfarrersfiguren als Gesinnungsfigurationen. Zur Bedeutung des Pfarrer in Theodor Fontanes Romanen, in: Der ‚ganze Mensch‘. Perspektiven lebensgeschichtlicher Individualität. Festschrift für Dietrich Rössler zum 70. Geburtstag, hg. v. Volker Drehsen u.a., Berlin/New York 1997, 37–55, 49. Pr IV, 72.
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daran, „daß die Kämpfenden, wenn ihr Mut ausharren soll, in der Kraft und Weisheit der Verfassung und Verwaltung die Gewährleistung sehen wollen für die höheren Güter, um derentwillen sie kämpfen.“11 Deshalb sei es unabdingbar, daß das „Recht der Bürger treu verwaltet wird“, das eine „edle und schöne Verbindung von Freiheit und Gehorsam“12 gepflegt werde und die Abgaben und Steuern der Bevölkerung gerecht verwaltet würden. Blick man noch einmal auf Fontanes Adaption der Predigt, so fällt außerdem auf, daß Fontane Schleiermachers Überlegungen über seine Romanfigur Seidentopf in einen dezidiert preußisch-patriotischen, weniger auf Deutschland als Ganzes bezogenen Zusammenhang stellt. Denn mit Ausnahme des Fichte-Hörers Lewin von Vitzewitz bewegt sich die Hohen-Vietzer Welt ganz im Rahmen eines primär auf Preußen bezogenen Patriotismus. Dem entspricht, daß auch Schleiermachers Predigt selbst sich auf die Verhältnisse des preußischen Staates, nicht aber Deutschlands bezieht. Nicht ein patriotischer Redner an die deutsche Nation begegnet hier, sondern ein dezidiert preußischer Staatspatriotismus, der sich bis in die Zeit Friedrichs II. zurückverfolgen läßt. Mit Blick auf Fontanes Roman ist zudem noch von Interesse, daß ‚Vor dem Sturm‘, erstmals erschienen 1878, die Vorarbeiten reichen freilich bis 1854 zurück, gerade in der damals noch weitgehend altpreußischkonservativ geprägten „Kreuz-Zeitung“ – bekanntlich das Blatt, dem Fontane als Autor über Jahrzehnte verbunden war – auf ein überaus positives Echo stieß. Der Roman, so hieß es in einer Besprechung, sei „brandenburgisch-preußisch, aristokratisch-königlich und christlich, alle diese Bezeichnungen im idealsten Sinne genommen.“13 Ein anderer folgenreicher Argumentationsstrang für den politischen Schleiermacher, der hier nur skizzenhaft angedeutet werden kann, führt in das Jahrzehnt vor der kleindeutschen Reichsgründung von 1871. Nicht ohne nationalpolitische Absichten hat Wilhelm Dilthey als junger Berliner Privatdozent in den bewegten Zeiten des preußischen Verfassungskonflikts14 sich in einem 1862 erstmals veröffentlichten Vortrag mit Schleiermachers politischer Tätigkeit befaßt,15 auch mit der Absicht,
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Pr IV, 80. Pr IV, 81. Zitiert nach Helmuth Nürnberger: Nachwort, in: Fontane: Vor dem Sturm, a.a.O. (Anm. 3), 918. Vgl. Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Erster Band: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000, 146–161. Wilhelm Dilthey: Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit (1862), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd.12: Zur Preußischen Geschichte, Göttingen 21960, 1–36.
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die eigene historische Arbeit mit den praktischen Interessen der Gegenwart in Verbindung zu setzen. So beschreibt Dilthey nicht nur den patriotischen Prediger, sondern auch den politischen Publizisten und preußischen Reformer Schleiermacher. Diltheys in Heinrich Treitschkes ‚Preußischen Jahrbüchern‘ 1862 erstmals veröffentlichte Studie ist für die borussisch-kleindeutsche Historiographie nationalliberaler Prägung insofern folgenreich, als Schleiermacher nun neben Jahn, Arndt und Fichte zu den Gründungsvätern der in das preußisch-deutsche Kaiserreich einmündenden deutschen Nationalbewegung gezählt wird. In Diltheys Schleiermacherbiographie steht die Entwicklung des Politikers Schleiermacher nach der Katastrophe von 1806 gleichsam exemplarisch für die Umwandlung von „Gedanke und Poesie“ in „sittliche Macht.“16 Noch 1917 heißt es in diesem Sinne über Schleiermacher bei dem protestantischen Kirchenhistoriker Karl Holl: „Der Krieg hat ihn zum Mann gemacht und von der Weichlichkeit erlöst.“17 Schleiermacher als einen der geistigen Väter des kleindeutschen Nationalstaates zu präsentieren, war ein Grundanliegen zahlreicher protestantischer Theologen bereits im direkten Umfeld der Reichsgründung. „Schleiermacher als Prediger in der Zeit von Deutschlands Erniedrigung“, so lautete etwa ein Vortragstitel vom 6. Februar 1871 des Leipziger Theologen Gustav Baur, nur zehn Tage nach der Gründung des Kaiserreiches.18 In Heinrich von Treitschkes ‚Deutscher Geschichte‘, deren erster Band 1879 erscheint, wird Schleiermacher schließlich ein entsprechender Ehrenplatz als der „politische Lehrer der gebildeten Berliner Gesellschaft“19 eingeräumt. In dieser kleindeutsch-preußischen Perspektive ließe sich allerdings manche Gewichtung vornehmen. Schleiermacher konnte als liberaler Reformpolitiker in Anspruch genommen werden, wie es 1910 explizit Martin Rade tat, der seine eigenen Überlegungen zur Fortentwicklung des Reiches als National-, Rechts- und Kulturstaat ausdrücklich von Schleiermacher herleitete.20 Betonte man dagegen stärker den nationalen Prediger, dann ließ sich schon 1914, vollends aber dann 1933 behaupten,
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Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers. Erster Band, Berlin 1870, Xf; vgl. auch 541. Karl Holl: Die Bedeutung der großen Kriege für das religiöse und kirchliche Leben innerhalb des deutschen Protestantismus (1917), in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd.III: Der Westen, Tübingen 1928, 357. Gustav Baur: Schleiermacher als Prediger in der Zeit von Deutschlands Erniedrigung und Erhebung, ein Vortrag, Leipzig 1871. Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Erster Teil: Bis zum Zweiten Pariser Frieden, Leipzig 91913, 301f. Martin Rade: Schleiermacher als Politiker, in: Schleiermacher – der Philosoph des Glaubens, Berlin-Schöneberg 1910, 125–151, sowie ders: Schleiermacher in politischer Untersuchung, in: ChW 24 (1910), 970–972.
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sein Denken „aus dem staatlich-völkischen Aufbruch seiner Tage ist dem Aufbruch unserer Nation in der Gegenwart lebensnah.“21
2. Nation und Nationalismus um 1800 – Perspektiven der neueren Nationalismusforschung Im Lichte der „deutschen Katastrophe“ (Friedrich Meinecke) von 1933 bis 1945 ist eine grundlegende Revision der kleindeutsch orientierten Historiographie erfolgt. Insbesondere die Entstehung des modernen Nationalismus in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde nun in vielfacher Weise problematisiert. In dieser Perspektive rückten Arndt, Jahn und Fichte in ein neues Licht. Schleiermachers Stellung in dieser gleichsam negativ gewandten alten borussischen Interpretationslinie blieb insofern gewahrt, als er – wiederum als patriotischer Prediger – weiterhin zu den Gründungsvätern des deutschen Nationalgedankens gezählt wurde. Schleiermacher selbst fand freilich als Politiker nur noch am Rande Beachtung. Sein nationales Engagement, gar die Rede vom heiligen Krieg, erschien als hochproblematisch und konnte auch durch den Umstand, daß er schon 1813 und dann nach 1815 in Dauerkonflikt mit der staatlichen Obrigkeit geriet, nicht gemildert werden, zumal sich dieser Konflikt ja auch der Tatsache verdankte, daß Schleiermacher nicht daran dachte, den nationalen Gedanken ad acta zu legen. Bei allem Wohlwollen für den Reformer und Bildungspolitiker, den Philosophen und Theologen des aufgeklärten Protestantismus ist für dieses Unbehagen der Beginn von Otto Danns Vortrag auf dem Berliner Schleiermacher-Kongreß 1984 symptomatisch: „Es ist nach dem Erleben des deutschen Nationalismus im 20. Jahrhundert nicht ohne weiteres nachzuvollziehen, wie ein noch heute geachteter Gebildeter dermaßen in der nationalen Bewegung aufgehen konnte. Noch schwieriger wird dies, wenn man den Umstand hinzunimmt, daß Schleiermacher sein Engagement als protestantischer Theologe einging und es auf Engste mit seinem religiösen Selbstverständnis verband, so daß seine Hinwendung zum Nationalismus offensichtlich nicht mit einer Abwendung vom Christentum verbunden war, nicht als ein Akt der Säkularisierung verstanden werden kann.“22
Will man diese Frage klären, so wird man nicht ohne begriffliche Präzisierungen, wie sie die neuere sozial- und kulturwissenschaftliche Na21 22
Arthur von Ungern-Sternberg: Schleiermachers völkische Botschaft aus der Zeit der deutschen Erneuerung, Gotha 1933, 289. Otto Dann: Schleiermacher und die nationale Bewegung, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg. v. Kurt-Victor Selge, Berlin/New York 1984, 1107–1120, 1107.
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tionalismusforschung seit den 1970er Jahren bereit gestellt hat, auskommen.23 Nationalismus, so heißt es in einem Forschungsüberblick von Peter Alter, ist eine „Ideologie und eine politische Bewegung […], die sich auf die Nation und den souveränen Nationalstaat als zentrale innerweltliche Werte bezieht und die in der Lage sind, ein Volk oder eine große Bevölkerungsgruppe politisch zu mobilisieren.“24 Die Entstehung von Nationalismus als politischer Bewegung setzt dabei ein bestimmtes Maß an überregionaler Kommunikationsfähigkeit und bürgerlicher Öffentlichkeit voraus. Der Begriff der Nation ließe sich demgegenüber mit Max Weber als ein „spezifisches Solidaritätsempfinden“, das „gewissen Menschengruppen anderen gegenüber zuzumuten sei“ definieren und gehört damit der „Wertsphäre“ an.25 Die Pointe liegt hier im „spezifisch“, nämlich der ganz unterschiedlichen Gewichtung von Sprache, Kultur, historischem Bewußtsein, Sitte, Kommunikation, Religion oder politischen und sozialen Ordnungsphänomenen: „Weder darüber aber, wie jene Gruppen abzugrenzen seien, noch darüber, welches Gemeinschaftshandeln aus jener Solidarität zu resultieren habe, herrscht Uebereinstimmung“,26 bemerkt Weber daher. Seit Friedrich Meinecke wird zudem zwischen den Typen der Staats- und der Kulturnation unterschieden, also in solche Nationen, „die vorzugsweise auf einem gemeinsam erlebten Kulturbesitz beruhen und solche, die vorzugsweise auf der vereinigenden Kraft einer gemeinsamen politischen Geschichte und Verfassung beruhen.“27 Während die Kulturnation deterministisch-objektiv auf Kultur, Volk oder Sprache abhebt, wird die
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Nationalismus, hg. v. Heinrich August Winkler, Königstein/Ts. 21985; Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/M. 1988; Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990, München 1993; Bernd Schönemann: Frühe Neuzeit und 19. Jahrhundert, in: Artikel „Volk, Nation, Nationalismus“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Bd.7, hg. v. Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Kosseleck, Stuttgart 1992, 281–431; Wolfgang Hardtwig: Vom Elitebewußtsein zur Massenbewegung. Frühformen des Nationalismus in Deutschland, Göttingen 1994, 34–54; Dieter Langewiesche: Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven: in: NPL 40 (1995), 190–236; Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990, München 31996; Volk – Nation – Vaterland, hg. v. Ulrich Hermann, Hamburg 1996; Hans-Ulrich Wehler: Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 2001; Eric J. Hobsbawm: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt/M. 32005. Peter Alter: Nationalismus, Frankfurt/M. 1985, 14. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 51980, 528. Ebd. Dafür ist grundlegend und bis heute lesenswert Friedrich Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, München 6 1922, 3.
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Staatsnation weithin als voluntaristisch-subjektiv charakterisiert.28 Es sind die einzelnen Subjekte, die sich gemeinschaftlich zur Nation erklären, wie es in Frankreich 1789 der dritte Stand tut, der sich zur einzig legitimen Vertretung der Nation erklärt. Die Nation ist, wie es Ernest Renan 1882 formuliert hat, ein „plébiscite de tous les jours“.29 Entwicklungsgeschichtlich hat dann Theodor Schieder versucht, diese Unterscheidung in ein Drei-Phasen-Modell zu integrieren.30 Danach ist die erste Phase die Bildung von Nationalstaaten durch die forcierte Reform eines bereits bestehenden Staatswesens wie etwa in England oder in Frankreich. Nation definiert sich hier vor allem als Staatsbürgerschaft im Sinne von Rechtsgleichheit und politischer Mitbestimmung. In der zweiten Phase erfolgt die Nationalstaatsbildung in Mitteleuropa, wobei die jeweiligen Nationalbewegungen keinen Staat vorfinden, sondern diesen erst – meist in Kooperation mit einem Teilstaat – aus verschiedenen Partikularstaaten bilden müssen. Nation definiert sich hier wegen der Nichtexistenz eines vorgegebenen Gesamtstaates zunächst sprachlich-kulturell. Den Nationalbewegungen stellt sich damit die Doppelaufgabe von Einheit und Freiheit. Für eine dritte Phase wird dann meist noch die Bildung von Nationalstaaten in Ostmitteleuropa namhaft gemacht, die sich meist durch Separation aus bestehenden Großreichen vollzieht. Auch hier ist meist die sprachlich-kulturelle Komponente entscheidend. Als klassisches Ursprungsland des modernen Nationalismus gilt Frankreich. Hier wird der Begriff der Nation 1789 zu dem zentralen Begriff der bürgerlichen Revolution des dritten Standes, wie sie klassisch von Abbé Sieyès formuliert worden ist. Er identifiziert die Nation mit dem dritten Stand. Alles, was nicht dritter Stand ist, ist nicht legitimiert, für die Gesamtnation zu sprechen. Eine Nation, so Sieyès lebt erstens unter einem für alle gleichen Gesetz und wird zweitens. durch eine gesetzgebende Versammlung repräsentiert. Sie ist drittens souverän, weil sie von Anfang an existiert, mithin auch keine ständischen Privilegien existieren können.31 Dieses Programm realisiert sich mit dem eigentlich revolutionären Akt vom 17. Juni 1789, als die Deputierten des Dritten Standes sich zur assembleé nationale erklären, zu der die Deputierten des ersten und zweiten Standes (Klerus und Adel) nur durch 28 29
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Diese Typologie verwendet v.a. Hans Kohn: Die Idee des Nationalismus, Frankfurt/M. 1962. Ernest Renan: Qu’ est-ce qu’une nation? (Paris 1882), deutsch leicht zugänglich in: Nationalismus. Dokumente zur Geschichte und Gegenwart eines Phänomens, hg. v. Peter Alter, München 1994, 45f. Theodor Schieder: Typologie und Erscheinungsformen des Nationalismus in Europa, in: Nationalismus, hg. v. H.A. Winkler, a.a.O. (Anm. 23), 119–137. Emanuel Joseph Sieyiès: Was ist der dritte Stand?, hg. v. Otto Dann, Essen 1988.
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Verzicht auf ihre Privilegien Zutritt erhalten.32 Folgerichtig ist in der Verfassung von 1791 der König lediglich Repräsentant der Nation. Nationalismus in dieser Form ist hier antiständisch, antiabsolutistisch und auf politische Partizipation gerichtet. Die Nation selbst ist ein Willensakt der Subjekte. Zu dieser Etablierung der Nation gehört freilich auch das Feindbild, wie Michael Jeismann eindrücklich gezeigt hat, wenngleich die Ethnisierung dieses Feindbildes erst im Zuge der Revolutionskriege einsetzt.33 Anders als in Frankreich ist in Deutschland ein Staat als einheitlicher Bezugspunkt des entstehenden Nationalbewußtseins nicht vorhanden. Auch Nation ist ein höchst schillernder Begriff, der ebenso auf Deutschland wie auf Preußen oder auch – so bei Justus Möser34 – auf Osnabrück bezogen werden kann. Trotz mancher Nationalisierungsschübe beginnt die Geschichte des modernen deutschen Nationalismus in der Periode von etwa 1770 bis 1815,35 zunächst freilich als gedankliches Konstrukt einer kleinen Elite der bürgerlichen Öffentlichkeit. Erst zwischen Vormärz und Revolution von 1848 wird ein gesamtdeutscher Nationalismus mit der Zäsur der Rheinkrise von 1840 zu einem Massenphänomen. Unmittelbarer Vorläufer ist die Patriotismusdiskussion, die sich seit etwa 1760 nicht zuletzt wegen des Aufstieges Preußens zur deutschen und europäischen Großmacht intensiviert.36 In dem seit Mitte des 18. Jahrhunderts deutlich intensivierten Patriotismusdiskurs lassen sich dabei drei Typen unterscheiden. Neben dem älteren, durch Herder dann historisch und kulturtheoretisch vertieften literarischen Sprachund Kulturpatriotismus stand ein Reich und Nation als objektive Gegebenheiten identifizierender Reichspatriotismus, wie ihn etwa Friedrich Carl von Moser Mitte der 1760er Jahre vertrat.37 Daneben lassen sich 32 33 34
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Vgl. die klassische Darstellung von Francois Furet u. Denis Richet: Die Französische Revolution, Frankfurt/M. 1987, 84–96. Michael Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1782–1918, Stuttgart 1992. Rudolf Vierhaus: „Patriotismus“ – Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung, in: Deutsche patriotische und gemeinnützige Gesellschaften, hg. v. R. Vierhaus, München 1980, 9–29; hier 14 (Möser). Anders freilich Wolfgang Hardtwig: Vom Elitebewußtsein zur Massenbewegung: Frühformen des Nationalismus in Deutschland, in: Hardtwig: Vom Elitebewußtsein zur Massenbewegung, a.a.O. (Anm. 23 ), 34–54. Vgl. Patriotismus und Nationsbildung am Ende des Heiligen Römischen Reiches, hg. v. Otto Dann, Köln 2003; Hans-Martin Blitz: Aus Liebe zum Vaterland. Deutscher Patriotismus im 18. Jahrhundert, Hamburg 2000; Patriotismus, hg. v. Günter Birtsch, Hamburg 1991; Christoph Prignitz: Vaterlandsliebe und Freiheit. Deutscher Patriotismus von 1750 bis 1850, Wiesbaden 1981. Notker Hammerstein: Das politische Denken Friedrich Carl von Mosers, in: HZ 212 (1971), 316–338. Zum auf das Reich bezogenen Patriotismus vgl. auch Wolfgang
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verschiedene Spielarten eines Landes- und Staatspatriotismus mit divergierenden Bezugsgrößen ausmachen, darunter der aufgeklärte Staatspatriotismus im friderizianischen Preußen. Er ist gekennzeichnet durch eine voluntaristische Definition des Vaterlandes, einen die Standesunterschiede tendenziell nivellierenden Begriff des Bürgers sowie das Ideal einer durch Gesetze und die Achtung bürgerlicher Freiheit eingeschränkten Monarchie. Seinen besonderen Niederschlag hat er in der 1761 erschienenen Schrift ‚Vom Tode für das Vaterland‘ des Ulmer Wahlpreußen Thomas Abbt gefunden,38 in der sich übrigens etliche der patriotischen Gedanken der Predigten Schleiermachers wieder finden ließen. Das jeweilige Vaterland, so Abbt, sei dem Reich vorzuziehen. Der Bürger selbst bestimme das Vaterland, in dem er leben wolle. Entscheidend für die Wahl sei, daß das Vaterland Gleichheit vor dem Gesetz garantiere und dem Individuum nicht mehr Freiheit entziehe, als für das Beste des Gesamtstaates notwendig sei. Wenngleich auch in seinem Übergang zu damit verbundenen Vorstellungen eines Repräsentativsystems (Kant) der Adressat dieses Patriotismus der Staat des aufgeklärten Absolutismus blieb, so zeichnete sich innerhalb der deutschen Entwicklung damit jener Traditionsstrang der Bürgernation ab, der sich 1789 in Frankreich durchsetzte. Der moderne deutsche Nationalismus nach 1789 und 1806 mit dem für seinen Durchbruch entscheidenden Nebeneinander von kulturnationalen und liberal-emanzipativen Denkfiguren konnte auf die Vorstellungen der bezeichneten drei Patriotismen zurückgreifen, indem er anschlußfähige patriotische Denkfiguren und Handlungsmuster auf die zentrale Kategorie des deutschen Volkes bezog. Daß dabei die kulturellobjektive Nationsvorstellung schließlich die der bürgerlichen Staatsnation zunehmend dominierte, beruhte auch auf den kulturell-sprachlichen wie obrigkeitsorientierten Präfigurationen, die sich bereits in den Diskursen des 18. Jahrhunderts feststellen lassen. Entscheidend wirkte auch in Deutschland die Revolution von 1789, die von Kant, Hegel und vor allem Fichte ausdrücklich begrüßt worden ist – eine Begeisterung, die sich erst im Zuge der Jakobinerdiktatur, der Revolutionskriege und schließlich der französischen Besatzung ab 1806
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Burgdorf: Reichskonstitution und Nation: Verfassungsreformprojekte für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation im Spiegel politischen Schrifttums von 1648 bis 1806, Mainz 1998. Thomas Abbt: Vom Tode für das Vaterland, in: ders.: Vermischte Werke, Bd.1, Hildesheim 1978 (ND), vgl. Benjamin W. Redekop: Thomas Abbt and the Formation of an Enlightened German „Public“, in: Journal of the History of Ideas 58 (1997), 81–103. Zu nennen wäre in diesem Zusammenhang auch Friedrich Nicolai, vgl. Horst Möller: Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai, Berlin 1974.
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legte. Einig waren sie sich die meisten deutschen Beobachter freilich auch darin, daß wegen des gesellschaftlichen Fortschritts in den meisten deutschen Staaten, zumindest soweit sie protestantisch geprägt waren, eine Revolution nach französischem Vorbild nicht notwendig war. „Die Revolution, welche ihr von unten nach oben gemacht habt“, so 1799 der preußische Minister Karl Gustav von Struensee zu einem französischen Besucher – übrigens eben jener Struensee, dem Fichtes ‚Geschlossener Handelsstaat‘ gewidmet war – „wird sich in Preußen langsam von unten nach oben vollziehen. […] In wenigen Jahren wird es in Preußen keine privilegierte Klasse mehr geben.“39 Die Väter des deutschen Nationalismus40 Arndt, Jahn und Fichte waren allesamt zunächst begeistert von den Idealen der französischen Revolution. Bei aller Empörung über die französische Besatzung teilten sie doch die innere Stoßrichtung des französischen Nationalismus. Auch ihr Nationalismus war insofern freiheitlich und fortschrittlich, als er antiständisch, antiabsolutistisch und antifeudal orientiert war. Die Forderung nach nationaler Einheit war verbunden mit der nach umfassenden Partizipationsrechten der Nation selbst. Die Schwierigkeiten lagen dagegen vor allem darin, daß ein Staat, auf den sich die deutsche Gesamtnation hätte beziehen können, erst noch geschaffen werden mußte. Der Nationalhaß gegen die französischen Besatzer gehörte für Arndt daher zu den die Nation einigenden Mittel, ebenso wie Fichte 1813 seine Hoffnungen auf den preußischen König als „Zwingherrn zur Deutschheit“ richtete. Um schließlich den territorialen Umfang der deutschen Nation zu bestimmen, griffen sie auf die vermeintlich objektiven Größen von Sprache, Volk und Kultur zurück, die dem politischen Willen gleichsam vorgelagert waren.
3. Schleiermacher und der deutsche Liberalnationalismus Versucht man Schleiermacher in diesen Kontext des frühen deutschen Nationalismus einzuordnen, den man mit Jörg Echternkamp völlig zu Recht auch als „Liberalnationalismus“ bezeichnen kann,41 dann wird man die Prägungen durch die Revolution von 1789 neben Schleiermachers preußischen Patriotismus wie die grundlegenden Erfahrungen der Besatzungszeit 1806 zu stellen haben. Die neuere Forschung hat insbe-
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Zitiert nach Meinecke: Zeitalter, a.a.O. (Anm. 1), 46. Dazu als Überblick Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen, Bd.1: Deutsche Geschichte 1806–1933, München 2000, 54–70. Jörg Echternkamp: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840), Frankfurt/M. u. New York 1998.
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sondere seit Kurt Nowak auf Schleiermachers Beschäftigung und positive Bezugnahme auf die Revolution von 1789 hingewiesen42 und dazu gerade in den frühen Briefwechseln wichtige Belege beigefügt. Im Februar 1793 kann Schleiermacher seinem Vater gegenüber die Ideale der Revolution trotz der Hinrichtung Ludwigs XVI. ausdrücklich rechtfertigen. Im gleichen Brief heißt es: „Offen […] scheue ich mich gar nicht, Ihnen zu gestehen, daß ich die französische Revolution im Ganzen genommen sehr liebe.“43 Politische Differenzen über die Einschätzung der Revolution waren zudem ein Grund dafür, daß Schleiermacher im Mai 1793 seine Stelle als Hauslehrer der ostpreußischen Adelsfamilie des Reichsgrafen Alexander von Dohna aufgab.44 Zu Recht hat Matthias Wolfes in seiner großen Studie die Inspiration benannt, die vom Freiheitsideal der Revolution für Schleiermachers Konzeption einer freiheitlichen Staatsbürgergesellschaft ausgegangen ist.45 Die Trennung der Subjekte vom Staat als bloßer Maschine zu überwinden und in der Einheit der Nation die Trennung des Einzelnen wie der Familie vom Staat zu überwinden, war für Schleiermacher eine der Lehren von 1806, die ihn auch auf die Revolution von 1789 zurückführten: „Alles Politische aber was bis jetzt bestand war im Großen und im Ganzen ein unhaltbares Ding, ein leerer Schein, die Trennung des einzelnen vom Staat und der Gebildeten von der Masse viel zu groß als daß Staat und Masse hätten ein werden können. Dieser Schein muß verschwinden und nur auf seinen Trümmern kann die Wahrheit sich erheben. Eine allgemeine Regeneration ist notwendig und wird sich aus diesen Gegebenheiten entwickeln.“46
Die Katastrophe von 1806 verschärft aber nicht nur seine Beschäftigung mit den Idealen von 1789, sondern weckt zugleich Schleiermachers preußischen Patriotismus.47 Auch die Ausführungen in der berühmten Predigt von 1813 beschäftigen sich zuvörderst mit Preußen, kritisieren seine Politik der Vorkriegszeit und wollen seiner inneren Befreiung die-
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Vgl. Kurt Nowak: Die Französische Revolution in Leben und Werk des jungen Schleiermacher, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß, a.a.O. (Anm. 22), 103–125; ders: Schleiermacher. Leben, Werk, Wirkung, Göttingen 2002. Brief an Johann Gottlieb Adolph Schleyermacher vom 10.–14. Februar 1793, in: KGA V/1, 277–281; hier 280. Nowak: Schleiermacher, a.a.O. (Anm. 42), 57f. Matthias Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft: Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit. Teil I, Berlin/New York 2004, 127. Für den politischen Schleiermacher sind zudem unbedingt die einschlägigen Passagen aus Nowaks großer Biographie, a.a.O. (Anm. 42) heranzuziehen. Schleiermacher an seinen Verleger Georg Reimer am 14./30. November 1806, zitiert nach Nowak: Schleiermacher, a.a.O. (Anm. 42), 178. Vgl. Rudolf von Thadden: Schleiermacher und Preußen, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß, a.a.O. (Anm. 22), 1099–1106.
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nen. „Außerdem, daß ich Deutscher bin“, so Schleiermacher im Januar 1807, „habe ich wirklich aus vielen Gründen die Schwachheit ein Preuße zu sein. […] Aber vielleicht geht meine Leidenschaft auf eine Idee von Preußen, welche in der Erscheinung vielleicht die wenigsten erkennen. Ob sich nun diese nach der gegenwärtigen Krisis besser herausarbeiten wird, steht dahin; vieles Gute erscheint mir fast unvermeidlich.“48 Die Gleichheit vor dem Gesetz und die allmähliche Aufhebung der Standesschranken pries Schleiermacher in seiner Predigt vom 24. Januar 1808 über „die rechte Verehrung des einheimischen Große aus einer früheren Zeit“ als die wichtigsten Errungenschaften des friderizianischen Preußen.49 Daneben trat die Entwicklung einer freien bürgerlichen Öffentlichkeit und nicht zuletzt die Glaubens- und Gewissensfreiheit. Schleiermacher konnte damit nahtlos an den Staatspatriotismus eines Thomas Abt anschließen. Dieser Patriotismus wird aber insofern fortentwickelt, als jetzt nicht nur ein Anspruch der Bürger auf Rechtsgleichheit, sondern auf Partizipation am politisch-staatlich Prozeß selbst reklamiert wird. Die Forderung nach einer Verfassung gehörte mithin zu den Grundlagen der Staatslehre und der politischen Forderungen Schleiermachers.50 Der Staat als Gesamtheit der Nation rückt in die entscheidende Stelle ein. Es ist Preußen als die Führungsmacht des nördlichen Deutschland, der dabei eine Schlüsselrolle zukommt. Es ist aber zugleich Schleiermachers Einsicht, daß sich Preußen selbst zunächst einmal in einen Staat verwandeln muß – hierauf zielen auch die einschlägigen Überlegungen der Staatslehrevorlesung von 1817 etwa zur Frage des Verhältnisses von staatlicher Gesamtrepräsentation und Provinzialständen. Ähnlich wie die „nordamerikanischen Freystaaten“ sei Preußen „ein junger Staat.“51 Damit bezieht sich Schleiermacher auf den Neuzuschnitt Preußens durch den Wiener Kongreß 1815, das neben dem gesamten Rheinland und Westfalen auch durch ehemals sächsische Gebiete erweitert worden war. Die Forderung nach einer angemessenen politischen Repräsentanz des Volkes in öffentlicher Meinung wie einer gesamtstaatlichen, also nicht auf Provinzialstände oder Landtage beschränkten Repräsentative soll gerade die Einheit des preußischen 48 49 50
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In: Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, Bd.4, hg. v. Wilhelm Dilthey, Nachdruck Berlin/New York 1974, 132. Friedrich Schleiermacher: Predigten. Erster Band, Berlin 1843, 353–370. Dazu grundlegend: Walter Jaeschke: Einleitung des Bandherausgebers, in: KGA II/8 (Vorlesungen über die Lehre vom Staat), XVII–XL. Vgl. ferner Nowak: Schleiermacher, a.a.O. (Anm. 42), 311–318; zu den zahlreichen zeitgenössischen Bezügen ist heranzuziehen Dankfried Reetz: Schleiermacher im Horizont preußischer Politik. Studien und Dokumente zu Schleiermachers Berufung nach Halle, zu seiner Vorlesung über Politik 1817 und zu den Hintergründen der Demagogenverfolgung, Waltrop 2002. KGA II/8, 299.
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Staates stärken. Daß Schleiermacher dabei das zentrale Budget- und Steuerbewilligungsrecht im Blick hat, unterstreicht die zentrale Rolle, die Verfassung und gesamtstaatlicher Repräsentation für ihn zukommen. „Staaten aber, worin ein inneres Zusammenwachsen der Theile sich findet, müssen nach der grossen reinen Einheit trachten. Für diese ist eine Provinzialrepräsentation nur Hemmung des Fortschreitens und leere Form; sie muss hier nur eine Corporation bilden, und die Steuerbewilligung darf nur in dem Ganzen der Repräsentation liegen“, heißt in der Nachschrift der der Politik-Vorlesung Schleiermachers von 1817 aus der Feder Karl August von Varnhagens von Ense.52 Eine solche „constitutionelle Verfassung“ stelle, so Schleiermacher weiter, gerade keine Beschränkung der Stellung des Monarchen dar. Denn selbst wenn diese einmal die „die Steuern verweigerte“, stelle das kein „Unheil für den Staat“ dar, vielmehr ginge „im Gegentheil aber eine notwendige nähere Gemeinschaft zwischen der Versammlung und dem Regenten zur Abstellung und Besserung des veranlassenden Verhältnis“ daraus hervor. Die eigentliche Beschränkung des Monarchen, so Schleiermachers provozierende Feststellung, liege nicht in der Konstituante oder dem Umstand, daß auch die Minister dieser verantwortlich sein müßten – für Schleiermacher in einer konstitutionellen Monarchie ebenso „notwendig“ wie das Recht des Monarchen auf „Vertagung und Auflösung der gesetzgebenden Versammlung“ –, sondern der Hof um den Monarchen herum selbst, der ungeordnet nach Einfluß strebe, schränke den König ein. Es sei daher Folge „jeder verfassungsmässigen Monarchie, daß hier die bestimmteste Differenz constituirt wird.“53 Als Beispiel nannte er England. Schleiermachers Forderungen sind vor dem Hintergrund des Ringens um eine preußische Nationalrepräsentation in den Jahren 1815 bis 1823 zu verstehen. Immerhin hatte Friedrich Wilhelm III. am 22. Mai 1815 sein Verfassungsversprechen von 1813 erneuert. Verwirklicht wurde dieses Versprechen freilich nicht. 1819 verpflichtete Preußen sich in der Teplitzer Punktation, keine allgemeine Gesamtkonstituante einzusetzen. 1823 wurde die Einrichtung der Provinzialstände schließlich gesetzlich geregelt, allerdings in einer Weise, die die Dominanz von Adel und Großgrundbesitz über das städtische Bürgertum absicherte. Einen gesamtpreußischen Landtag und eine Verfassung erhielt Preußen erst im Gefolge der 1848er Revolution im Jahr 1850.54 Daß Schleierma-
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KGA II/8, 300. KGA II/8, 307–309. Vgl. Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947, Stuttgart 2007, 536–582.
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cher an seinen verfassungspolitischen Forderungen trotz zunehmender Reaktion seitens des Staates festhielt, war bekanntlich der Hintergrund der gegen ihn einsetzenden staatlichen Maßnahmen.55 Die Befreiungskriege selbst hat Schleiermacher nicht zuletzt als ein Vehikel einer freiheitlichen Nationsbildung betrachten können. Preußen als Realisierungsfeld und Modellbild dann auch der deutschen Nationsbildung in politischer Hinsicht, so läßt sich die gesamtnationale Perspektive Schleiermachers umreißen. Schleiermachers Vorlesungen über die Lehre vom Staat lassen nach 1815 die Tendenz erkennen, zunächst eine entsprechende Entwicklung der preußischen Nation zu forcieren, die dann auch einem gesamtdeutschen föderalen Staatenbund zu Gute kommen sollte. Prononciert formuliert: die Erlangung bürgerlicher Freiheit und einer entsprechenden Verfassung in Preußen ist erst der Ermöglichungsgrund einer staatlichen Einheit der Deutschen. Es war die Herausforderung der deutschen Nationalbewegung, staatliche Einheit und politische Freiheit zugleich verwirklichen zu müssen. Wie diese Ziele zu erreichen seien, blieb umstritten. Ermöglicht die Einheit die allmähliche Durchsetzung der Freiheit oder wird die Freiheit zum Vehikel der Einheit? Zu letzterer Auffassung neigte Schleiermacher. Unverkennbar ist allerdings die föderative Struktur, die er dabei im Auge hat, wie schon das so genannte politische Glaubensbekenntnis in einem Brief an Friedrich Schlegel vom 12. Juni 1813 zeigt. Ein wahres „deutsches Kaiserthum“, das eher eine Repräsentationsfunktion der Gesamtnation bedeutete, die innere Freiheit der Einzelstaaten aber weitgehend wahren sollte, schwebte ihm dabei vor.56 Lediglich die Landesverteidigung und eine Militärverfassung nannte er als Aufgaben des Kaisertums. Deutlich – und mit Blick auf spätere Debatten des 19. Jahrhunderts um groß- oder kleindeutsche Lösung durchaus weitsichtig – benannte er die Schwierigkeiten einer solchen Nationsbildung: die Zugehörigkeit von Fürsten zum Reich, die auch außerhalb des Reiches über Territorien verfügen sowie das für Preußen und Österreich wichtige Phänomen, daß innerhalb ihrer Staat neben den Deutschen weitere Völker leben. Immerhin ließ Schleiermacher erkennen, daß er eher an Preußen als an Österreich als Träger dieses Kaisertums dachte. Die realistische Einschätzung der Schwierigkeit einer baldigen deutschen Nationsbildung war für Schleiermacher virulent – sie war ein allenfalls mittel-, wenn nicht sogar langfristiges Ziel. Und sie setzte in letzter
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Dazu ausführlich Reetz: Schleiermacher im Horizont preußischer Politik, a.a.O. (Anm. 50), 122–130 und 225–534. Der Text ist zugänglich in: Aus Schleiermacher’s Leben, a.a.O. (Anm. 48), Bd.3, 426–428.
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Konsequenz eben nicht nur eine monarchische, sondern auch eine bürgerliche Repräsentation des Gesamtstaates voraus.
4. Abschließende Zusammenfassung Beurteilt man abschließend Schleiermachers Überlegungen zu Nationalstaat und Nation, so fällt ihr insgesamt realistischer Blick auf die deutschen Wirklichkeiten um 1815 ins Auge. Die Erfahrungen der Reaktionszeit haben Schleiermachers Skepsis insgesamt bestätigt. 1817 ist er sich sogar ungewiß darüber, ob dieses Ziel je erreicht werde.57 Aufgegeben hat Schleiermacher es dennoch nicht, auf den verschiedenen Ebenen seiner Tätigkeit die nationale Einigung zunächst mit Blick auf Preußen voranzutreiben, ohne Österreich im späteren kleindeutschen Sinne aus der Gesamtnation auszuschließen.58 Bürgerliche Öffentlichkeit und freiheitlich-monarchischen Volksstaat gilt es zunächst in Preußen zu etablieren. Insofern deutet sich eine preußische Vorreiterrolle der Perspektive nach bereits an. Vergleicht man die Staatsbürgerkonzeption mit denen der anderen Liberalnationalisten, so fällt auf, wie wenig sich Schleiermachers Nationalismus exklusiver Momente wie Nationalhaß – für Arndt bekanntlich konstitutiv – bedient. Auch die vermeintliche Militarisierung der Nation in der Propagierung von Landwehr und Landsturm dient vornehmlich als Vehikel der inneren Befreiung und wird zunehmend skeptischer beurteilt.59 Noch während des Krieges gegen Napoléon mahnt Schleiermacher die Leser des „Preußischen Correpondenten“ am 14. August 1813, man müsse den „Nationalhaß, den viele Wolmeinende nähren zu müssen glaubten, der aber doch immer nur ein lästiger Bundesgenosse ist, dessen man sich aufs baldigste muß zu entledigen suchen, […] wieder fahren […] lassen.“60
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KGA II/8, 262: „In dem Maasse als das politische Bewußtseyn der Einheit aus dem grossen ganzen heraustritt in das einzelne, wird auch die grosse Einheit wieder verloren gehen, und der frühere Zwiespalt wieder hervor treten. So ist die Geschichte des deutschen Volkes. In gewissen Zeiträumen hatte es eine politische Einheit; aber die entgegengesetzte Bewegung gewann die Oberhand, bis die Einheit wieder aufgelöst war in die frühere Vielheit. Seitdem hat es den Weg wieder von vorne angefangen, und es ist ungewiss, wenn und ob es überhaupt wieder gelingen möchte.“ Gleichwohl gibt es natürlich Indizien dafür, daß Preußen ihm gerade mit Blick auf die Verfassungsfrage als wesentlich fortschrittlicher erschien und so eher zu einem Gesamtstaat zusammenwachsen könnte, der dann auch für die Gesamtnation Modellcharakter haben könnte. In Österreich seien „so heterogene Bestandtheile zusammen[ge]kommen“, daß „keine Einheit zu erlangen ist“ (KGA II/8, 300). Vgl. dazu den Beitrag von Matthias Wolfes in diesem Band. KGA I/14 (Kleine Schriften 1786–1833), 462. Diese Formulierung spielt natürlich auf Arndts Mitte 1813 erschienene Schrift ‚Über den Volkshaß‘ an.
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Die Nation selbst stellt sich als partizipative Kategorie dar. Zwar erklärt auch Schleiermacher, daß ein Nationalstaat im Vollsinne die materielle Einheit von Volk und Staat darstelle, ein Nationalstaat mit mehreren Völkern oder ein auf mehrere Staaten aufgeteiltes Volk das „minder natürliche“ sei.61 Er kann aber zugleich hinzufügen: „Wo […] die Volkseinheit der letzte Bezugspunkt ist, da ist auch nichts als Eigenliebe, also keine Sittlichkeit.“62 Nicht nur die Kategorie des Volkes als Abstammungsgemeinschaft relativiert Schleiermacher, sondern auch den Staat als alleinigen Agenten der Unifizierung des gesellschaftlichen Lebens. In dem institutionentheoretischen Balancemodell der Staatslehre sichert Schleiermacher durch die bereits in der Ethik entwickelte Quadruplicität die neben dem Staat stehenden Gemeinschaftsformen von Kirche (Religion), Wissenschaft und Geselligkeit ab. Mit Blick auf die Staatsverteidigung beschränkt die Ausbildung eines Völkerrechts die Konkurrenz der Nationalstaaten.63 Auch der Nationalstaat bleibt mithin in verschiedenen gesellschaftlichen wie zwischenstaatlichen Balanceebenen eingebettet, um so seiner Verabsolutierung zum totalen Staat entgegen zu wirken. Es mag dahin gestellt bleiben, inwieweit Schleiermacher damit gleichsam zum Vorläufer der modernen Demokratien westlichen Zuschnitts geworden ist. In die Reihe der Väter des deutschen Nationalismus im Sinne Arndts, Fichtes oder Jahns wird man ihn aber nur bedingt einreihen können. Stärker als bei diesen fußte Schleiermachers Ideal der Bürgernationen auf den Traditionen des aufgeklärten preußischen Staatspatriotismus der friderizianischen Zeit, wenngleich er dessen partizipative Komponente entscheidend stärkte. Sahen etwa Abbt oder Nicolai den Grund ihrer Loyalität zu Preußen in der staatlichen Garantie von Rechtsgleichheit der Bürger und der Garantie von Religions- und Gewissensfreiheit, so trat bei Schleiermacher – zweifellos auch als legitimes Erbe der Revolution von 1789 – die Mitwirkung der Bürger an der Gestaltung des Staates in den Vordergrund: Stichworte sind etwa die Forderungen nach gesamtstaatlicher Verfassung, ein aus Wahlen hervorgegangenes Parlament mit Budget- und Steuerrecht sowie Ministerverantwortlichkeit. Man kann für Schleiermacher ferner von einer gedoppelten Loyalität als Preuße und Deutscher sprechen. Preußen blieb letztlich das Realisierungsfeld seiner politisch-praktischen Betätigung wie seiner staatstheoretischen Überlegungen. Auch daß Schleiermacher an der Monarchie grundsätzlich festhielt, hatte in seiner Verwurzelung in Preußen einen Grund und war – anders wohl als bei Fichte – nicht nur taktische Überlegung. Am Auffälligsten 61 62 63
Christliche Sitte, SW I/12, 190 (1831). Ebd., 476 (1824/25). Vgl. etwa KGA II/8, 941 (Waitz 1833).
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erscheint die Differenz zu Fichte, Arndt oder Jahn aber in Schleiermachers bereits erwähnter Begrenzung von Staat, Nation und Volk. Staat, Nation und auch Volk können, so Schleiermachers Überzeugung, gerade keinen Anspruch auf den ganzen Menschen erheben. Neben dem Staat stehen Wissenschaft, Religion und Geselligkeit als eigenständige Bereiche menschlicher Vergemeinschaftung. Insofern verwehrt Schleiermacher Staat, Volk oder Nation den Status letztgültiger Werte. Eben darin liegt das bleibend anregende kritische Potential des Schleiermacherschen Nachdenkens über die Begriff Staat und Nation. Dieses kritische Potential hat nicht zuletzt darin seinen Grund, daß das philosophischtheologische Programm Schleiermachers einer einseitigen Sakralisierung der Nation entgegensteht.
Gefühl und Freiheit in politischer Hinsicht Einige Überlegungen zu Humboldt, Constant, Schleiermacher und ihrem Verhältnis zum Liberalismus VON DENIS THOUARD/BERLIN
Das Thema „Christentum Staat Kultur“ lädt zu einer Untersuchung ihrer Beziehungen ein. Ich möchte versuchen, dieser Einladung folgend, Schleiermachers Politik aus seiner Philosophie heraus zu deuten, d.h. präziser aus seiner Subjektivitätstheorie.1 Im Rahmen der Theologie gilt Schleiermacher als Verfechter des Liberalismus, als ein Theologe, der die pluralisierende und entdogmatisierende Tendenz seiner Zeit begriffen und integriert hat.2 Daß eine solche Stellung auch politische Folgen haben mußte, wurde mehrmals angedeutet.3 Aber kann man deswegen aus Schleiermacher schlicht einen Vertreter des Liberalismus machen? Inwieweit ist seine Lehre liberalistisch und inwieweit ist sie es nicht? Nach einer hauptsächlich nationalistischen Rezeption seiner ‚Staatslehre‘ im Deutschland des 19. Jahrhunderts, die ausdrücklich konservativ war, hatte das 20. Jahrhundert noch staatsorganische und vortotalitäre Züge in ihr gesehen. Die von Walter Jaeschke 1998 veröffentlichte ‚Lehre vom Staat‘, die Bemerkungen von Kurt Nowak, die von Dankfried Reetz gelieferten Materialen und letztlich die Summe von Mathias Wolfes setzen aber diese verschmähte Seite der geistigen Produktion Schleiermachers in ein anderes Licht.4 Schon die Einbeziehung Schlei1 2 3
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Für seine sprachlichen Verbesserungsvorschläge bin ich Dr. Guido Naschert (München) sehr dankbar. U. Barth: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004. Zum historischen Kontext, siehe Rudolf von Thadden: Protestantismus und Liberalismus zur Zeit des Hambacher Festes 1832, in: Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz, hg. von Wolfgang Schieder, Göttingen 1983, 95–115, bes. 106–110, der die Solidarität zwischen dem theologischen und dem politischen Liberalismus betont. Schleiermacher hatte „eine größere Selbständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat und repräsentative Selbstverwaltungsstrukturen“ angestrebt, 107. KGA II/8: Vorlesungen über die Lehre vom Staat, hg. von W. Jaeschke, Berlin u.a. 1998; K. Nowak: Schleiermacher, Göttingen 2001, 57; Die französische Revolution in Leben und Werk des jungen Schleiermachers, in: Internationaler SchleiermacherKongress, 1984, hg. von K.-V. Selge, Berlin u.a. 1985, 103–125; D. Reetz: Schleierma-
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ermachers in die reaktionäre politische Romantik gelang Carl Schmitt nicht – und die Versuche, die in diese Richtung gemacht worden sind, sind ebenso wenig überzeugend gewesen.5 Die Unabhängigkeitserklärung der Religion in den ‚Reden‘ ist eigentlich in ihrem Prinzip mit einem totalitären oder repressiven Staat schwer verträglich.6 Heißt es aber, dass man es mit einem liberalen Entwurf zu tun? Die sozialpolitischen Bedingungen für den Liberalismus waren bekannter Weise in Deutschland zur Zeit Schleiermachers nicht günstig.7 Die napoleonischen Kriege forderten eher eine enge Solidarität mit der preußischen Regierung. Das politische Erbe der französischen Revolution hatte, nach der ersten Begeisterung, keinen eindeutigen positiven Ruf mehr. Ich möchte diese Frage im folgenden nicht anhand einer direkten Untersuchung der politischen Theorie Schleiermachers behandeln, die teilweise durch die politischen Ereignisse und die politische Struktur Preußens bedingt ist, sondern durch einen Überblick seines gesamten Denkens. Meine Fragestellung gilt nämlich den Bedingungen für einen politischen Liberalismus in Schleiermachers Philosophie. Inwieweit hat sich Schleiermachers subjektiven Wunsch nach mehr individuellen Freiheiten und nach konstitutionellen Reformen in seine Staatslehre niedergeschlagen? Um diese Frage zu beantworten, werde ich zuerst erklären müssen, daß es wenigstens zwei Auffassungen des Liberalismus gibt, die sich hinsichtlich ihrer Subjektivitätstheorie erheblich voneinander unterscheiden.
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cher im Horizont preußischer Politik. Studien und Dokumente zu Schleiermachers Berufung nach Halle, zu seiner Vorlesung über Politik 1817 und zu den Hintergründen der Demagogenverfolgung, Waltrop 2002; Mathias Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. F. Schleiermachers politische Wirksamkeit, 2 Bde., Berlin u.a. 2004, besonders die Einleitung und im I. Teil die Seiten 114–131. Ich konnte leider nicht betrachten: Ernst Müller: Friedrich Schleiermacher. Eine Studie zur Philosophie, Religion und Politik im deutschen Frühliberalismus, Berlin 1987. Carl Schmitt: Politische Romantik, München u.a. 21925; siehe auch von H. Stephan: Schleiermachers politische Ethik als Spiegel seines Denkens, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 14 (1933), 320–349, und den Versuch, Schleiermachers Universitätsschrift hauptsächlich aufgrund ihrer Bestimmung „im deutschen Sinne“ zu deuten von O. Piper: Schleiermacher und die neue Universität, Zeitschrift für Theologie und Kirche 14 (1933), 350–369. 4. Rede, 209ff. Siehe Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz, hg. von Wolfgang Schieder, Göttingen 1983. In dieser Zeit fällt der Liberalismus oft mit dem Wunsch nach einer Verfassung zusammen, siehe dazu Michael Stolleis: Konstitution und Intervention (Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts im 19. Jahrhunderts), Frankfurt/M. 2001, bes. 17–32.
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1. Politischer Liberalismus Zunächst sei angemerkt, daß sich der Begriff ‚politischer Liberalismus‘ erst im Laufe des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hat; weder Hobbes noch Locke haben einen solchen benutzt. „Die Entwicklung der Wörter ‚liberal‘, ‚Liberalismus‘ zu politischen Begriffen ist eine nachrevolutionäre europäische Erscheinung“, schreibt Rudolf Vierhaus.8 Der heutige Sinn ist noch breiter geworden und steht ebenso in engem Zusammenhang mit der politischen Theorie von John Rawls wie mit einer streng deregulierenden Wirtschaftsauffassung, auch Neuliberalismus genannt.9 Will man diese Lehre zusammenfassen, so wird man einige These besonders hervorheben: Der Liberalismus versteht die Gesellschaft vom Standpunkt des Individuums, das sich als Träger von Eigentum und bestimmter Rechte mit anderen ‚gesellt‘. Er zielt auf eine Regierung der Freiheit, wo der allgemeine Wille herrscht, aber wo die individuellen Rechte beschützt werden. Im Rahmen der in der Neuzeit geläufigen Vertragslehre verzichtet jeder auf einen Teil seines „natürlichen Rechts“, um es dem Souverän zu übertragen. Nur so bekommt er die Garantie für den Erhalt seines körperlichen Lebens und seiner Güter. Die Frage nach den persönlichen Rechten ist eng mit der Frage nach dem persönlichen Besitz verbunden. Die Bedingung des Erwerbs ist sogar bei Locke die Selbstaneignung durch die eigene Tätigkeit, durch die eigene Arbeit. Keine Substanz gewährt dem Selbstbewußtsein ein Sein, es muß es also schaffen, indem es anschaffend wirkt, indem es arbeitet. Folgt man der umstrittenen These von C.B. Macpherson in seinem Buch ‚The political Theory of Possessive individualism‘ (Oxford 1962), so fällt die Entstehung dieser individualistischen Lehre mit der Entstehung der modernen kapitalistischen Ökonomie zusammen. Abgesehen davon, daß seine Zeugen, Hobbes und Locke, beide den Staat als ein vom Menschen erfundenes Kunstwerk betrachten, kann man sich fragen, ob man Hobbes wirklich als einen Denker des politischen Liberalismus verstehen kann. Der Verzicht jedes Bürgers auf bestimmte persönliche Rechte zugunsten der Sicherheit und des Besitzes scheint dies 8
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„Liberalismus“, in: Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner, Werner Conze and Reinhart Koselleck, Bd.3, Stuttgart 1982, 743. Siehe J. Rawls: Die Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt/M. 1994. Der wirtschaftliche Liberalismus von Smith zu Hayek mag in dem Empirismus eines Humes seinen Ursprung finden. Laut Lucien Jaume ist er von dem politischen Liberalismus streng zu unterscheiden, siehe L. Jaume: La liberté et la loi. Les origines philosophiques du libéralisme, Paris 2000.
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zu bestreiten. Unsere Auffassung des Liberalismus im Sinne des 19. Jahrhundert ist tatsächlich eher durch den Versuch geprägt, die bürgerlichen, bzw. allgemein menschlichen Rechte gegen die Ausschreitungen des Leviathan-Staates zu sichern, der vor allem in Frankreich zur Zeit der Terreur und des Comité de Salut Public ein gewaltiges Gesicht gezeigt hat. Die persönlichen Rechte stehen bei dieser Auffassung also im Vordergrund. Wenn man diese Bestimmung des Liberalismus als einen Liberalismus der ‚zweiten Generation‘ verstehen kann, der auf der Basis einer kritischen Betrachtung der französischen Revolution, aber auch der Schriften von Rousseau und sogar Hobbes, eine revidierte Fassung von den Grundsätzen des modernen Staates entworfen hat, so ist es dieser Typus von Liberalismus, mit dem man Schleiermacher vergleichen kann.10 Neben der Auffassung, die das besitzende Individuum und den natürlichen Eigennutz betont, hätte man eine zweite Auffassung, die die individuellen Rechte in den Vordergrund stellt. Um die zwei Typen des Liberalismus noch genauer zu unterscheiden, sollte man sich den wichtigen Unterschied in ihrem Subjektivitätsbegriff vergegenwärtigen. Die eine Auffassung beruht auf dem Selbstinteresse und der Selbsterhaltung und mündet in den Utilitarismus oder sogar in neue sozial-darwinistische Vorstellungen, sie entspricht deswegen mehr dem wirtschaftlichen Liberalismus; die andere Auffassung dagegen gründet auf einer Subjektivität, die sich als grundsätzlich interesselos versteht und bildet, wie ich es zu zeigen versuchen werde, den Kern des politischen Liberalismus. In ihr ist die Religion bestimmend, indem sie den Ort einer interesselosen Subjektivität markiert.
2. Die Subjekttheorie des politischen Liberalismus: Wilhelm von Humboldt und Benjamin Constant Bei dieser zweiten Auffassung des Liberalismus, die sich als Reaktion auf die französische Revolution und auf deren unmittelbaren Anwendung der antiken Freiheit auf die neuzeitlichen Bedingungen verstehen läßt, hätte man also den richtigen Vergleichspunkt zu Schleiermachers eigenem Entwurf. Vertreter einer solchen politischen Theorie sind zum Beispiel Kant (1724–1804), Humboldt (1767–1835) oder Constant (1767–1830).
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So zum Beispiel in dem Band: Coppet, creuset de l’esprit libéral, hg. von L. Jaume, Paris 2000.
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Wenn wir Kant beiseite lassen,11 so ist es sinnvoll, die Entwürfe von Wilhelm von Humboldt in seinen 1792 verfaßten aber dann nur teilweise veröffentlichen ‚Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen‘ und von Benjamin Constant in seinen 1806 verfaßten und hauptsächlich teilweise durch andere Schriften veröffentlichten ‚Principes de politique applicables à tous les gouvernements‘ mit Schleiermachers Ansatz zu vergleichen.12 Beide Schriften zielen auf eine starke Begrenzung der Staatsmacht, auf die Gewaltenteilung und auf die Sicherung der individuellen Freiheit der Meinung, des Glaubens und der Veröffentlichung. In beiden Schriften findet man ein Kapitel über die Religion, dem eine strategische Funktion zugeteilt wird. Wenn bei Hobbes der Souverän über die richtige Interpretation der Schrift allein entscheiden durfte und sonst von den Bürgern ein Minimalcredo forderte, wenn Rousseau sich lieber für eine Bürgerliche Religion (religion civile) entschied, so lassen Humboldt und Constant jedem seinen Glauben. Der Kontrast mit Rousseau ist in dieser Hinsicht besonders stark. So schreibt Rousseau im letzten Kapitel seines Gesellschaftsvertrags: „Es gibt demnach ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis, und die Festsetzung seiner Artikel ist lediglich Sache des Staatsoberhauptes. Es handelt sich hierbei also nicht eigentlich um Religionslehren, sondern um allgemeine Ansichten, ohne deren Befolgung man weder ein guter Bürger noch ein treuer Untertan sein kann. Ohne jemand zwingen zu können, sie zu glauben, darf der Staat jeden, der sie nicht glaubt, verbannen, zwar nicht als einen Gottlosen, wohl aber als einen, der den Gesellschaftsvertrag verletzt, der unfähig ist, Gesetze und Gerechtigkeit aufrichtig zu lieben und im Notfalle sein Leben seiner Pflicht zu opfern. Sobald sich jemand nach öffentlicher Anerkennung dieser bürgerlichen Glaubensartikel doch als Ungläubigen zu erkennen gibt, so verdient er die Todesstrafe; er hat das größte aller
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Es sei an dieser Stelle auf den jüngst erschienenen Band: De la violence à la politique. Kant et Hobbes, hg. von L. Foisneau und D. Thouard, Paris 2005, verwiesen. W. von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, Stuttgart 1967. Die Kapitel 2 und 3 sind in Schillers ‚Thalia‘ teilweise veröffentlicht worden, die Kapitel V, VI und VIII in der „Berlinischen Monatschrift“. B. Constant: Principes de politique II, 2, hg. von E. Hoffmann, Paris 1997 (die erste Ausgabe wurde von E. Hoffmann erst 1980 bei Droz in Genf veröffentlicht) – wichtige Teile davon sind in der Schrift ‚De l’esprit de conquête et d’usurpation‘ 1814 wiederaufgenommen worden. Kurt Kloocke hat neulich die Nähe von Kant, Humboldt und Constant betont, K. Kloocke: L’idée de l’individualité dans les écrits politiques de Benjamin Constant, in: Annales Benjamin Constant 29 (2005), 143–158; in demselben Jahrbuch weisen auch zwei Aufsätze auf die Relevanz der Religion für die Grundlegung des Liberalismus auf, James Mitchell Lee: An Answer to the Question: What is Liberalism? Benjamin Constant and Germany, ebd., 127–141 and Helena Rosenblatt, Two Liberals on Religion: Tocqueville and Constant Compared, ebd., 159–170.
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Denis Thouard Verbrechen begangen, er hat einen wissentlichen Meineid im Angesichte der Gesetze geleistet.“13
Die Funktion dieser Bürgerlichen Religion ist also, den Sinn für die Gesellschaft zu stiften, ohne welchen es keinen guten Bürger geben kann. Sie fordert aber ein Glaubensbekenntnis, das für die subjektive Teilnahme der Bürger an der Gesellschaft bürgt. Wenn auch als minimal konzipiert, so ist doch dieses Glaubensbekenntnis ein notwendiger Teil des bürgerlichen Lebens. Keine politische Gesellschaft im Sinne Rousseaus könnte ohne den Zwang zu diesem Bekenntnis auskommen. Ein solches politisches Glaubensbekenntnis findet man weder bei Humboldt noch bei Constant. Hier liegt der wichtige Unterschied dieser Art des Liberalismus, der nicht nur auf dem ökonomischen Individuum gründet, sondern auch eine bestimmte Auffassung von Subjektivität involviert. Es reicht nicht, wenn man die Bedingungen der Gesellschaft aus der Fiktion eines Gesellschaftsvertrags rekonstruiert, der plausibel macht, warum die Individuen sich geselligt haben (oder nach Mandeville, ohne einen solchen Vertrag vorauszusetzen, wie aus der Summe der Individuen, die sich nur nach ihrem eigenen Interesse richten, doch eine Gesellschaft entstehen kann). Man muß diese Individuen darüber hinaus als Subjekte betrachten, nicht jedoch im Sinne von Rousseau, indem man von ihnen ein politisches Glaubensbekenntnis fordert, sondern im Sinne einer Anerkennung und eines Schutzes der individuellen Rechte. Wenn sich schon Anzeichen davon bei Locke fanden, denkt man an seine Verteidigung der Toleranz,14 so wird dieses Bedürfnis erst von Humboldt oder Constant völlig ausgeführt. Bei diesen Schriftstellern ist nämlich, so wäre meine Annahme, der Ort der Subjektivitätstheorie in den Kapiteln über die Religion zu suchen, d.h. über die Religionsfreiheit, die eng mit der Meinungsfreiheit und der Wissensfreiheit – den übrigen Modi des Führwahrhaltens – zusammenhängt. Durch diese drei Modi und ihre entsprechenden individuellen Rechte zeigt sich, wie die politische Theorie des Liberalismus in der Subjektivitätstheorie verankert ist. Diese Subjektivitätsauffassung ändert die Ansicht der politischen Theorie erheblich, indem sie die subjektiven Rechte stark betont. 13
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J.-J. Rousseau: Über den Gesellschaftsvertrag, IV, 8. Und anschließend: „Die Lehrsätze der bürgerlichen Religion müssen einfach, gering an Zahl und bestimmt ausgedrückt sein und keiner Auslegungen und Erklärungen bedürfen. Das Dasein einer allmächtigen, weisen, wohltätigen Gottheit, einer alles umfassenden Vorsehung; ein zukünftiges Leben, die Belohnung der Gerechten und Bestrafung der Gottlosen, die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze, das sind positive und untrügliche Glaubenssätze. Was die negativen anlangt, so beschränke ich sie auf einen einzigen, die Unduldsamkeit. Sie ist eine Eigentümlichkeit der von uns verworfenen Religionsformen.“ J. Locke: Epistola de tolerantia, Goudae 1689.
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Humboldts Versuch war es, einen politischen Entwurf unter den modernen Bedingungen des bürgerlichen Lebens zu skizzieren, der gegen den revolutionären Versuch einer unmittelbaren Anwendung der antiken Formeln reagierte. In den älteren Staaten, schreibt er, waren „fast alle Einrichtungen, welche auf das Privatleben der Bürger Bezug haben, im eigentlichsten Verstande politisch“.15 In den modernen Staaten wird „die Freiheit des Privatlebens“ mehr geachtet. Bezeichnend ist Humboldts Auffassung besonders dadurch, daß er sich noch in dem Rahmen des aufklärerischen Denkens bewegt, das Glück als richtiges Ziel für das Individuum anvisiert und die breiteste Entfaltung der persönlichen Bildung anstrebt. Dafür soll die Freiheit nur eine negative Bedingung bringen.16 Das Religionskapitel scheint in diesem Zusammenhang umso wichtiger, da Humboldt einer der wenigen Autoren der Goethezeit gewesen ist, der für Religion und Theologie weder einen besonderen Geschmack hatte, noch davon geprägt wurde. Die Bedeutung der Religion für das Verständnis der Subjektivität hat er allerdings durch die Einführung des von ihm geprägten Begriffs der Religiosität deutlich gemacht, der den Unterschied zwischen den positiven Religionen und der subjektiven Neigung zur Religion erlaubt.17 Die Einmischung des Staats in Angelegenheiten der Religion wird abgelehnt, da sie nur parteiisch sein kann und „gewissermaßen eine Leitung, eine Hemmung der Freiheit der Individuen mit sich“ führt.18 Dagegen ziemt es sich, die Religion überhaupt, oder besser gesagt die Religiosität, von jeder solchen Parteinahmen in Schutz zu nehmen. So versucht der sehr wenig schwärmerische Humboldt zu erklären, daß alle Religion aus dem Gefühl herstammt, welches uns wie eine besondere Gunst erteilt wird, ähnlich wie bei Kant das Gefühl des Schönen.19 Die Religion stelle 15 16 17
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W. Humboldt: Ideen. Einleitung, Stuttgart 1967, 17. Ebd., 15, 22. Ebd., 76. Siehe H.E. Bödeker: Die Religiosität des Gebildeten, in: Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung, hg. von K. Gründer und K. H. Rengstorf, (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 11), Heidelberg 1989, 145–195, sowie im selben Band, G. Alexander u. J. Fritsche, ‚Religion‘ und ‚Religiosität‘ im 18. Jahrhundert, 11–24. Humboldt: Ideen, a.a.O. (Anm. 12), 77. Humboldt hat sich intensiv mit Kant, namentlich mit der ‚Kritik der Urteilskraft‘, in diesen Jahren beschäftigt, und in der Erweiterung des ästhetischen Subjekts eine eigene Auffassung erarbeitet, die man am besten in seinem Briefwechsel mit Körner verfolgen kann (der auch Schillers Kant-Lektüre einbezieht). Siehe KUK §58: „Denn in einer solchen Beurteilung kommt es nicht darauf an, was die Natur ist, oder auch für uns als Zweck ist, sondern wie wir sie aufnehmen. Es würde immer eine objektive Zweckmäßigkeit der Natur sein, wenn sie für unser Wohlgefallen ihre Formen gebildet hätte; und nicht eine subjektive Zweckmäßigkeit, welche auf dem Spiele der Einbildungskraft in ihrer Freiheit beruhete, wo es Gunst ist, womit wir die Natur aufnehmen, nicht Gunst, die sie uns erzeigt.“ §67: „Wir können sie als eine Gunst, die
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Denis Thouard
also in der Lehre des Liberalismus, von der Seite der Subjektivität, ein Gegengewicht zum Vorrang des eigennützigen Individuums dar: „Das Gefühl, alles was man besitzt, aus der Hand der Liebe zu empfangen, erhöht zugleich die Glückseligkeit und die moralische Güte. Durch Dankbarkeit bei der genossenen, durch hinlehnendes Vertrauen bei der ersehnten Freude geht die Seele aus sich heraus, brütet nicht immer in sich verschlossen über den eignen Empfindungen, Planen, Besorgnissen, Hoffnungen.“20
Dieses Gefühl der Dankbarkeit belegt eine uninteressierte Tendenz als Grund der Subjektivität, die sich in den Bereichen der Kunst und der Religion, aber auch des moralischen Lebens verwirklicht. Sie ist für diese Auffassung des politischen Liberalismus charakteristisch und bildet daher die Grundlage für eine zweite Richtung des Liberalismus, die sich nicht primär am Eigennutz orientiert. Wird bei Humboldt der Religion eine wichtige Rolle zuerkannt, so ist diese noch zentraler in den ‚Principes de politique‘ des Benjamin Constant. Sehr klar und ausführlich stellt Constant dar, nachdem er die Systeme von Rousseau und Hobbes kritisiert hat, daß die Rettung der „droits individuels“ mit der „limitation de l’autorité sociale“ zusammenfällt. Das Triptychon der individuellen Rechte ist ebenso bei Constant die Trias von der Denkfreiheit, der religiösen Freiheit und der Rechtsfreiheit (Garanties judiciaires). Constant unterscheidet zwischen dem, was der volonté générale und was dem intérêt commun gehört, und bemerkt: „Indépendamment des intérêts partiels qui ne concernent qu’un individu ou qu’une fraction et qui par conséquent sont étrangers à toute juridiction sociale, il y a encore des objets qui intéressent tous les membres de la société et sur lesquels néanmoins la volonté générale ne doit pas s’exercer. Ces objets intéressent tous les associés comme individus et non comme membres du corps collectif. La religion par exemple est dans ce cas.“21
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die Natur für uns gehabt hat, betrachten, daß sie über das Nützliche noch Schönheit und Reize so reichlich austeilete, und sie deshalb lieben, so wie, ihrer Unermeßlichkeit wegen, mit Achtung betrachten, und uns selbst in dieser Betrachtung veredelt fühlen: gerade als ob die Natur ganz eigentlich in dieser Absicht ihre herrliche Bühne aufgeschlagen und ausgeschmückt habe. (In dem ästhetischen Teile wurde gesagt: wir sähen die schöne Natur mit Gunst an, indem wir an ihrer Form ein ganz freies (uninteressiertes) Wohlgefallen haben. Denn in diesem bloßen Geschmacksurteile wird gar nicht darauf Rücksicht genommen, zu welchem Zwecke diese Naturschönheiten existieren: ob, um uns eine Lust zu erwecken, oder ohne alle Beziehung auf uns als Zwecke. In einem teleologischen Urteile aber geben wir auch auf diese Beziehung Acht; und da können wir es als Gunst der Natur ansehen, daß sie uns, durch Aufstellung so vieler schönen Gestalten, zur Kultur hat beförderlich sein wollen).“ Humboldt: Ideen, a.a.O. (Anm. 12), 79–80. B. Constant: Principes de politique II, 2, hg. von E. Hoffmann, Paris 1997, 55.
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Zwischen der Denk- und der Glaubensfreiheit besteht eine Solidarität. Das menschliche Denken gleicht einem „unzugänglichen Heiligtum“, un sanctuaire impénétrable à toute puissance, un asile inexpugnable.22 Denkund Pressefreiheit sind folglich unwiderrufliche Rechte, aber ihr Sitz dürfte in der religiösen Subjektivität liegen, wie schon die Bezeichnung ‚Heiligtum‘, ‚sanctuaire‘, andeutet. Wenn der Anspruch auf die Denkfreiheit sich leicht auf die ökonomische Handelsfreiheit erweitern läßt, eröffnet das religiöse Gefühl jedoch eine völlig andere Dimension. Ein solches Gefühl zielt nämlich auf das, was das eigene Interesse überbietet oder ihm sogar widerspricht. Liebe, Dankbarkeit oder auch Hingebung „font sortir l’homme du cercle étroit de ses intérêts“ und „rendent à l’âme cette élasticité, cette délicatesse, cette exaltation qu’étouffe l’habitude de la vie commune et des calculs qu’elle nécessite“.23 Die Begründung des religiösen Gefühls in der uninteressierten Neigung des Subjekts wird sehr klar hergestellt. Dabei benutzt Constant nicht so sehr die kantische Bestimmung dieses Begriffs als vielmehr die Entdeckung des ästhetischen Bewußtsein als uninteressiert durch Leibniz, den er jedoch nicht nennt: „Un homme de génie disait que la vue de l’Apollon du Belvédère ou d’un tableau de Raphaël le rendait meilleur. En effet, il y a dans la contemplation du beau en tout genre quelque chose qui nous détache de nous-mêmes en nous faisant sentir que la perfection vaut mieux que nous et qui, par cette conviction, nous inspirant un désintéressement momentané, réveille en nous la puissance du sacrifice, puissance mère de toute vertu.“24
Wenn ich die Subjektivitätstheorie von Constant im Kontext dieser Ausführungen über das religiöse Gefühl verorte, so ist es vor allem wegen der genauen Bestimmung einer Form von Subjektivität, die alle Selbstliebe und Selbsterhaltung aufgibt. Eine solche Erfahrung wurde im 18. Jahrhundert im moralischen und ästhetischen Gebiet besonders von Francis Hutcheson betont, sie hatte aber vorher in den zahlreichen Debatten über Geistlichkeit und Mystik im 17. Jahrhundert eine sehr feine Formulierung bekommen, die ihren Höhepunkt in der ‚Querelle du pur amour‘ fand. Leibniz, an den Constant wohl denken kann, der selbst ein aufmerksamer Beobachter dieses Streits gewesen war, bereitete den Übergang von der religiösen in die ästhetische Auffassung dieser Form der Subjektivität vor:
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Ebd., VII, 2, 114. Siehe K. Kloocke: Le concept de liberté religieuse chez Benjamin Constant, in: Annales Benjamin Constant 10 (1989), 25–39. Ebd., VIII, 1, 141. Ebd.
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Denis Thouard „Si j’achetais un beau tableau de Raphaël pour le revendre avec gain, je serais intéressé, mais si c’était seulement pour le plaisir que je trouverais à le voir, cela répondrait au pur amour.“25 „C’est ainsi que la contemplation des belles choses est agréable par ellemême et qu’un tableau de Raphaël touche celuy qui le regarde avec des yeux éclairés, quoyqu’il n’en tire aucun profit.“26
Sucht man den Standpunkt festzustellen, von welchem her Constant seine politische Lehre, die als klassische Lehre des Liberalismus gilt, geschrieben hat, so wird man geneigt sein, ihn bei der als uninteressiertes Gefühl interpretierten religiösen Subjektivität zu sehen. Quietistische Züge sind darüber hinaus bei Constant unüberhörbar. Constant hat bekanntlich kein philosophisches System zustande gebracht, sein Lebenswerk aber, wenn auch mit einer sehr bescheidenen Wirkungsgeschichte, ‚De la religion considérée dans sa source, ses formes et ses développements‘, von 1824 bis 1831 in fünf Bänden veröffentlicht, gründet auf einer Auffassung des religiösen Gefühls, die es ausdrücklich als letztes gültiges Kriterium der geschichtlichen Religionen anerkennt.27 Wenn unsere Perspektivierung dieser zweiten, alternativen Auffassung des politischen Liberalismus sich behaupten kann, so wird es auch sinnvoll sein, die bekannte Parole des Liberalismus „Laissez faire et laissez passer“ als Ausdruck der Gelassenheit der Seele zu betrachten.28 Diese Wiederaufnahme der Tradition des interesselosen Gefühls gilt aber ausdrücklich bei Constant als theoretischer Gesichtspunkt, um die individuellen Rechte zu sichern. Die Subjektivitätstheorie dient der Begründung einer individualistischen Gesellschaftslehre, deren unentbehrliche Ergänzung sie ist. Die Proteste gegen Rousseaus Lehre der bürgerlichen Religion mit ihrem bürgerlichen Glaubensbekenntnis folgen unmittelbar und betonen29 die politische Tragweite der Gefühlslehre.
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An Spannheim, 20. Februar 1699. An die Kurfürstin Sophie, Gerhard VII, 550, zitiert von R. Spaemann: Reflexion und Spontaneität, Stuttgart 1963, Kap. „Leibniz‘ Stellungnahme zum Streit um die reine Gottesliebe“, 197–222. Siehe auch Herder an Jacobi, Brief 26 [41] November 1768, über die Gelassenheit und das „Fallen lassen“ von Fénelon, Jacobi, Briefe, t.IV, 58–62. De la religion considérée dans sa source, ses formes et ses développements, Paris, 5 vol., 1824–1831; neuediert von Benjamin Constant, Tzvetan Todorov und Etienne Hofmann, Arles 1999 („Thésaurus“). Mit diesem Spruch beendet zum Beispiel Constant seinen ‚Commentaire de Filangieri‘ von 1823. B. Constant: Principes de politique VIII, 2, 145–146.
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3. Liberalismus bei Schleiermacher? Bei zwei Zeitgenossen Schleiermachers also, die als klassische Denker des modernen Liberalismus gelten, kann man ohne Mühe eine systematische Verbindung zwischen der Verteidigung der individuellen Rechte und einer Auffassung der Subjektivität als Gefühl im Sinne der Uninteressiertheit feststellen. Es liegt jetzt nahe zu fragen, wie sich dieser Sachverhalt bei Schleiermacher verhält, der eine ausgearbeitete Theorie der Subjektivität als Gefühl besitzt und sowohl über die Religion wie über den Staat geschrieben und gelehrt hat. Betrachtet man die von Dankfried Reetz gesammelten Akten aus der Zeit der Demagogenverfolgung, so würde man Schleiermacher eindeutig als ‚liberal‘ bezeichnen, und sicher war er es auch tatsächlich in seinem geschichtlichen Kontext. Nach dem wenig wohlwollenden Bericht von Eylert, Beckedorff, Schulz und Snethlage vom Anfang 1821 wird man Schleiermacher ‚Liberalismus‘ nicht absprechen dürfen: „Weniger direct als Fichte hat Professor Schleiermacher durch öffentliche Vorträge und Schriften auf die neuen Anordnungen in Schul- und Erziehungswesen eingewirkt, indem derselbe seine ausgezeichnete Beredsamkeit, Scharfsinn und Gewandheit zunächst nur der siegenden Durchführung und Befestigung einer gänzlich unbeschränkten öffentliche Lehr- und Lernfreiheit in religiöser, wissenschaftlicher und politischer Beziehung, als einer vermeintlich dem Menschen zustehenden heiligen Berechtigung und Verpflichtung, widmete […]. Besonders wirksam aber war derselbe durch seine im Jahre 1808 herausgegebene Schrift Über Universitäten im deutschen Sinne, welche die äußere und innere Unabhängigkeit dieser Lehr-Institute von dem Staate und der Kirche als erstes Princip derselben aufstellt […].“30
Man braucht nicht alle Polizeiberichte vorzulesen, um die Ablehnung zu spüren, die Schleiermachers Tätigkeit seitens der Regierung der Restaurationszeit allzuoft fand. Beobachtet-, Bespitzelt- oder Denunziert30
In Reetz: Schleiermacher im Horizont preußischer Politik, a.a.O. (Anm. 4), 237, Fn. 51. Über weitere „Compromissionen“ Schleiermachers bei öffentlichen Gelegenheiten oder mit Studenten, siehe den Entwurf von dem Polizeidirektor Kamptz, 239, Fn. 58: „Der Professor Schleiermacher wirkt eben so nachtheilig als Prediger wie Professor und in seinen übrigen Verhältnißen. Seine Kanzelvorträge enthalten zum Theil versteckte, aber allen seiner zahlreichen, eingeweihten Zuhörern hinreichend verständliche Aufforderungen, in den Grundsätzen und Bestrebungen der Demagogen fortzufahren und die dagegen sich erhebenden Kämpfe mutig zu überstehen; als Professor ist er aus mehreren Vorlesungen hinreichend bekannt und hat auch zu der Vertheidigung des Professors De Wette als Referent in der theologischen Fakultät Grundsätze und Gesinnung entwickelt, welche weder mit der EW Königlichen Majestät schuldigen Respect noch mit der Würde der Fakultät vereinbarlich sind, und daher, nachdem sie öffentlich bekannt geworden, der letzteren in der öffentlichen Achtung sehr geschadet haben.“
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werden bürgt für die aufrichtige Haltung des Philosophen. Wie steht es aber mit dem Inhalt seiner Lehre? Die Wissenschaft soll frei von jeder politischen Lenkung bleiben, die „freye Organisation des Wissens“ sei dagegen zu „begünstigen“.31 Ganz wie Constant verteidigt Schleiermacher die Meinungsfreiheit, und nimmt sogar Rousseau in Schutz gegen die revolutionären Redner, die ihn womöglich mißbraucht haben: „die Äusserung der Meinung kann nie gefährlich werden, und der Staat mag sie immer frey geben“.32 Die religiöse Lehre soll auch laut Schleiermachers ‚Staatslehre‘ frei bleiben, wenngleich nicht zügellos: „Auch hier gilt es, dass der Staat die Lehre immer frey geben muss, auf die Elemente der That aber lebendig wachen und sie im Zaun zu halten“.33 Die Kirche hat doch ihren „Ursprung außerhalb der Grenzen des Staates. Sie ist aber nicht im Staate, d.h. rein von dem Staate abhängig; denn wir sehen leicht, daß der Charakter des Religiösen ganz verwischt werde, wenn die Handelnden in der Kirche nur als aus der Autorität des Staates handeln“.34 Presse, Meinung, Wissenschaft und Religion sind also laut Schleiermacher im Prinzip vor den Eingriffen des Staates zu schützen. Betrachtet man seine Auffassung des Wissens, wie er sie in der ‚Dialektik‘ dargelegt hat, so wird klar, daß nur eine unerläßliche Freiheit der Forschung, also auch der Meinungen den wissenschaftlichen Prozeß begleiten kann. Das Wissen entsteht aus dem Streit der Ansichten über das Sein. Der Streit wird erst möglich, wenn beide Parteien dasselbe Erkenntnisziel haben, aber verschiedene Vorstellungen davon vertreten. Daß der Staat sich in diesen Prozeß einmischt, wäre einfach sinnlos, da seine Ziele nichts direkt mit dem „reinen Wissen“ zu tun haben. Schleiermachers Vorstellung von der Universität basiert auf dieser Ansicht. Die ab 1822 erfolgte Einbeziehung des Gesprächs als Medium der dialektischen Kunst entfaltet die liberalistische und in diesem Fall sogar demokratische Tendenz von Schleiermachers Wissenschaftslehre. Deswegen ist sie einem Gegner des Liberalismus unerträglich. Wenn Carl Schmitt in seiner ‚Politischen Romantik‘ nicht gegen Schleiermacher, aber recht scharf gegen Adam Müller schreibt, so wirft er diesem besonders den „Bedeutungsgewinn des Gesprächs“ vor, der ihm schon parlamentarisch nachklingt.35 „Er kann auch nicht anders denken als im 31 32 33 34 35
KGA II/8, 367 (Staatslehre, Kolleg 1817, Varnhagen). Siehe auch ‚Über die Universitäten‘, §3. KGA II/8, 368; B. Constant: Principes, VII, 3, 116 sq. KGA II/8, 369. Nachschrift Jo 1817, hg. von D. Reetz, 155. Nach Schmitt hat Müller ganze Teile aus Schlegel genommen, der eine allgemeine Sprachphilosophie entworfen hatte, in der das Gespräch eine wesentliche Rolle spielte, siehe D. Di Cesare: Die Sprachlichkeit des Ichs. Ansätze zu einer Philosophie des
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Gespräch. Das Wort ‚Gespräch‘ […] kehrt unermüdlich bei ihm wieder“, beklagt Schmitt, der kommentiert: „Hier zeigt sich die Romantisierung der liberalen ‚Diskussion‘ und ‚Balance‘, gleichzeitig die liberale Herkunft dieser Romantik.“36 Die Struktur der Philosophie Schleiermachers, wie sie aus seiner ‚Dialektik‘ hervorgeht, würde also nach Schmitt dasselbe „allgemeine[n] liberale[n] Prinzip“ verraten. Dieses erklärt er in einer anderen Schrift folgendermaßen: „Es ist durchaus dasselbe, daß aus dem freien Kampf der Meinungen die Wahrheit entsteht als die aus dem freien Wettbewerb von selbst sich ergebende Harmonie. Hier liegt auch der geistige Kern dieses Denkens überhaupt, sein spezifisches Verhältnis zur Wahrheit, die zu einer bloßen Funktion eines ewigen Wettbewerbs der Meinungen wird. Der Wahrheit gegenüber bedeutet es den Verzicht auf ein definitives Resultat. […] Redefreiheit, Preßfreiheit, Versammlungsfreiheit, Diskussionsfreiheit sind also nicht nur nützliche und zweckmäßige Dinge, sondern eigentlich Lebensfragen des Liberalismus.“37
Sollte Schmitts Feinbild doch etwas Wahres am Liberalismus treffen, so wäre sicherlich auch Schleiermachers Philosophie von dieser Kritik nicht ausgenommen. Die Wissenschaft ist eine eigene Welt, die sich der politischen Entscheidung in ihrer inneren Logik entziehen muß. Ähnlich geht es der Religion. Die ‚Staatslehre‘ gibt dafür einen zusätzlichen Grund, der in Beziehung zu Schleiermachers Subjekttheorie zu setzen ist. Sie erinnert nämlich daran, daß es „das nothwendigste Erforderniß eines religiösen Gefühls [ist], Gott mehr zu gehorchen als den Menschen“.38 Dieser Hinweis bekommt ein besonderes Gewicht im Kontext seiner ganzen Philosophie. Mit der in der Einleitung der ‚Glaubenslehre‘ gemachten Unterscheidung zwischen dem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit und dem Gefühl relativer Abhängigkeiten hat Schleiermacher versucht, den Sitz des religiösen Subjekts zu bestimmen. Aufgrund dieser allgemeinen Unterscheidung, kann man das Verhältnis des Subjekts zur Gesellschaft von zwei Gesichtspunkten her beschreiben. Auf der
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Dialogs bei F. Schlegel, in: Iter Babelicum, hg. von D. Di Cesare und S. Gensini, Münster 1990, 119–141, und Voix et liberté. Le tournant dialogique de la philosophie du premier Schlegel, in: Symphilosophie. F. Schlegel à Iéna, hg. von D. Thouard, Paris 2002, 67–107; Schmitt: Politische Romantik, a.a.O. (Anm. 5), 130: „Adam Müller hat Schlegels Philosophie übernommen, oft bis in die wörtlichen Formulierungen.“ Für eine Analyse, siehe André Schlüter: Der politische Gehalt von Carl Schmitts Politischer Romantik, in: Scientia Poetica 8 (2004), 97–127. Schmitt: Politische Romantik, a.a.O. (Anm. 5), 192. Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 81996, 45f., zitiert nach dem Aufsatz von Schlüter, Der politische Gehalt von Carl Schmitts Politischer Romantik, a.a.O. (Anm. 5), 125. C. Schmitt: Staatslehre 1817, Va 284, KGA II/8, 369. Hervorh. D.T.
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einen Seite ist jeder ein Individuum, das sich einen Platz in der Gesellschaft sucht, das als solches also Teilnehmer der bürgerlichen Gesellschaft ist, was ihm eine relative Freiheit, bestimmte Rechte, aber auch eine relative Abhängigkeit verleiht. Auf der anderen Seite ist jeder Mensch als schlechthinnig abhängig ein Subjekt, das erst durch diese grundsätzliche Abhängigkeit gestiftet wird. Sofern diese Abhängigkeit also absolut ist, darf er durch sie die anderen relativen Abhängigkeiten als sekundär betrachten. Deshalb erklärt Schleiermacher, daß sogar „die Rechtschaffenheit auf der Frömmigkeit beruhe“.39 Die anderen (relativen) Gefühle, sowie das Familiengefühl, das Standesgefühl, das Vaterlandsgefühl und sogar „die allgemeine Menschheitsliebe“ enthalten immer einen gewissen Grad der Selbstsucht, den man bei dem Gefühl überhaupt, der Frömmigkeit, nicht mehr findet. Anders gesagt: Schleiermacher entwickelt hier aus der schlechthinnigen Abhängigkeit eine eigene Version der Lehre der uninteressierten Liebe. Wenn es so ist, so hat er damit auch den Grund gelegt für einen politischen Liberalismus. Schleiermachers Subjektivitätstheorie liefert also eine philosophische Begründung für eine liberale Politik mit dem qualitativen Unterschied zwischen dem besonderen Gefühl für das Gesellige und dem Gefühl überhaupt. Durch das Gefühl der Frömmigkeit entzieht sich das Subjekt allen gemeinschaftlichen Strukturen, die es doch als gemeinschaftliches Wesen kennzeichnen. Die Möglichkeit eines Rückzugs ist ihm immer gewährt. Wenn unsere Beschreibung dieses Typs von Liberalismus stimmt, so zeichnet sie sich dadurch aus, daß sie eine enge Beziehung zwischen der Behauptung der Individualität auf einer Seite und seiner Fundierung in einer interesselosen Subjektivität auf der anderen zeigt. Das ist der Fall bei Humboldt wie bei Constant, und Schleiermacher scheint sich wohl in diese Reihe einzuordnen.
4. Die Grenzen des Liberalismus. Was heißt Gesinnung? So einfach ist es aber in Falle Schleiermachers auch nicht, deswegen sind einige Einwände zu betrachten. Schleiermachers ‚Staatslehre‘ ist eine Entfaltung seiner ‚Ethik‘, deren Hauptzüge schon in dem sogenannten ‚Brouillon zur Ethik‘ der Hallensischen Zeit herrühren. Wenn der Gegenstand dieser ‚Ethik‘ die Gesamtheit der Güter ist, die als „jedes sittlich Gewordene“ bezeichnet werden, so werden die zwei anderen Zweige der ‚Ethik‘, die „Tugendlehre“ und die „Pflichtenlehre“, ihre eigentliche geschichtliche Dynamik 39
GL 1821 §8, hg. H. Peiter, 29.
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bestimmen. Schleiermacher setzt diese in Beziehung zum Gegensatz zwischen Technik und Kritik. Die Tugendlehre unter der Tugendform „geht von dem technischen Interesse aus, indem sie zeigt, wie derjenige sein muß, der im ethischen Prozeß mit Erfolg arbeiten soll“; die Pflichtenlehre unter der Pflichtform „geht von dem kritischen Interesse aus, indem sie sondert, was als ethisch real, und was als ethisch leer zu bezeichnen ist, wobei die erste „das natürliche Product einer productiven Zeit“ ist und die zweite dagegen „das Werk einer reflectirenden leeren Zeit“.40 So gesehen beschreibt die eine die Entfaltung einer ethischen Kraft, während die andere diese beschränkt, korrigiert, diszipliniert. Die Tugendlehre steht für die antike, die Pflichtenlehre für die moderne Ethik. Es entsteht also ein Streit zwischen der ethischen Kraft und der ethischen Besinnung. Diese Spannung macht eine Entscheidung über einen möglichen Liberalismus Schleiermachers schwierig. In seiner ethischen Darstellung des Staates hat Schleiermacher wohl betont, daß der Staat „die persönliche Freiheit auch in Sachen des Wissens und der Religion schützen“ sollte.41 Aber dieser Anspruch der „bürgerlichen Freiheit“42 tritt in eine Spannung mit der Entwickelung der Nation als Totalität. Die Rechte des Einzelnen sollten nach Schleiermacher mit den Rechten des Ganzen nicht kollidieren. Ihre Harmonie wird aber mehr vorausgesetzt als hervorgebracht, in derselben Weise wie er die Harmonie von Obrigkeit und Unterthan, von Regierung und allgemeinem Willen voraussetzt. Es sollen nur quantitative Differenzierungen zwischen beiden stattfinden. Der Denker des Gefühls und des Privatlebens möchte eine friedliche Kontinuität zum öffentlichen Leben und zum Staat feststellen. Wo der Dialektiker im Streit der Meinungen seinen Anfang nahm, ist der Politiker unfähig, den möglichen Streit der Interessen zu würdigen. Diese Unfähigkeit begrenzt meines Erachtens die Tragweite seines politischen Denkens, das sich weigert, die wirklichen Konflikte zu betrachten. Auf einer Seite erkennt die ‚Ethik‘ die religiösen und wissenschaftlichen Meinungen sowie die „specifische Bildung des Eigenthums“ als frei und als „Sache des Geschmacks“,43 so daß „[…] jedes Eindrängen der Obrigkeit in das Innere des Hauses das Verhaßteste, und die Heiligkeit desselben […] die erste Forderung der persönlichen Freiheit [ist].“44 Das sind Sätze, die für den Schutz der Privatsphäre plädieren. Auf der anderen Seite aber verbietet sie dem Einzelnen „mit irgend etwas zu
40 41 42 43 44
Ethik 1812/13, hg. H. J. Birkner, Hamburg 1990; Einleitung, §94–96, 17. Ethik §100, 98. Ethik §111, 100. Ethik §114, 100. Ethik §115, 101.
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seiner Eigenthumssphäre Gehörigem sich vom Staat zu isolieren“,45 da die Eigentumssphäre eines jeden doch immer von der „gesammten Staatseigenthumssphäre als Gemeingut“ bedingt ist. Zwischen dem Staat als Vertreter der Totalität oder des Gemeinguts und dem Einzelnen mit seiner „bürgerlichen Freiheit“ soll es zu einer Annäherung kommen. Der Staat muß „die Erhaltung und das Wachsthum der Sphäre des Einzelnen“ notwendig wollen, wenn dieser „das Gefühl haben muß, daß er den Bildungsprozeß nur als Glied der Nation treiben kann“.46 So scheint Schleiermacher eine sehr idealisierte Auffassung der Politik im guten sittlichen Staat zu verfechten: „Die wahre Sittlichkeit des Staates in diesem Stück besteht also darin, daß nach der sogenannten bürgerlichen Freiheit gar nicht gefragt werde.“47 Schleiermacher will die vielen Interessenkonflikte, die die Wirklichkeit einer politischen Gesellschaft beleben, anscheinend nicht betrachten. Diese Spannung zwischen der Einordnung des Einzelnen in das Ganze der Nation und des Staates und seinem heiligen Recht auf eigene Meinung, Glauben und Wissen spiegelt sich meines Erachtens in der Spannung zwischen der Tugendlehre, die technisch die Sittlichkeit hervorbringt, und der Pflichtenlehre, die die eigentliche Sphäre der Person in Schutz nimmt, wieder. Es gibt in der Pflichtenlehre eine Rechtspflicht, die so lautet: Tritt in jede Gemeinschaft mit Vorbehalt deiner ganzen Individualität.48 Sie führt zu der folgenden Ansicht, die man bei Constant lesen könnte: „Ein Staat, welcher individuelle Ausbildung der Person und individuelle Aneignung der Dinge hindern will, ist despotisch, wie Sparta, gesetzt auch er wäre ganz republikanisch.“49 Aber Schleiermacher will vor allem einen Staat vermeiden, der nur Rechtstaat wäre, ohne sittliche Einheit, der also nur das „bloß[e] Fundament des äußeren Verkehrs“ brächte.50 Deswegen ist ihm die Sittlichkeit so wichtig, und allem voran die Art, wie sich die Sittlichkeit bildet, also die Tugendlehre. Das macht die Wichtigkeit der Gesinnung aus, die „diejenige Qualität ist, wodurch überhaupt die Einigung der Natur mit der Vernunft producirt wird“.51 Zur Entwicklung der richtigen Gesinnung kann aber die Erziehung beitragen. In seiner 1814 vorgetragenen Rede ‚Über den Beruf des Staats zur Erziehung‘ hat Schleiermacher versucht, die zwei entgegenstehenden Pole des Staates und des Einzelnen zu vermitteln. Laut der „platoni45 46 47 48 49 50 51
Ethik §116, 101. Ethik §118 und §117, 101. Ethik §119, 101. Ethik, Pflichtenlehre, 174; auch 308. Ethik, 309. Ethik, 310. Ethik, Tugendlehre §22, 154.
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sche[n] Theorie“, schreibt er, sind „die Kinder schon von Geburt an Kinder des Staates“ und „die persönliche Beziehung ganz in Schatten gestellt“. „Das festeste Bollwerk der persönlichen Freiheit und der individuellen Entwicklung ist auf der andern Seite die Theorie, daß das Haus nicht freilich als Werkstatt, aber als Sitz der Familie, das Heiligtum ist, in welches die öffentliche Gewalt unter keinem Vorwande unaufgefordert eindringen darf.“52
Auf eine rechtliche Garantie dieses Heiligtums wird aber verzichtet. Wichtiger als dieses scheint Schleiermacher die Bildung eines einheitlichen Bewußtseins aller Mitglieder des Staates. Die politische Aufgabe, durch die Erziehung zu einer bürgerlichen Gesinnung der Bevölkerung zu gelangen, kann sogar die Ansprüche der Bürgerlichen Religion von Rousseau weit überbieten: „Aber früher oder später wird eine Zeit kommen, wo sie [die Regierung] es fühlen wird, daß es notwendig ist, die Vielheit in eine wahre Einheit einzuprägen, jedem organischen Teil das Gefühl des Ganzen lebendig einzubilden und diesem Gefühl das des eigentümlichen Daseins unterzuordnen, damit nicht die Liebe zum Stamm und zum Gaue der Liebe zum Vaterland und zum Volke entgegenstrebe. […] Es ist auch klar, daß die kleinere Einheit sich dieses Gefühl der höheren nicht aus sich selbst geben kann, sondern daß es ihr von der höheren kommen und diese sich ihr gleichsam innerlich offenbaren muß. Dies muß also ein Werk der Regierung sein, welche in einem solchen Staate von vornherein das Gefühl der Einheit des Ganzen ausschließend hat und es erst allmählich mitteilen kann, und der Staat kann unter diesen Umständen die Erziehung auch nicht in den Händen der Kirche lassen, welche ihr Bestreben, die Menschen zu einer höheren geistigen Einheit zu verbinden, an das persönliche Gefühl des einzelnen und an das allgemeinste Gefühl der menschlichen Natur anknüpft, ohne an der Bildung einer größeren Nationaleinheit einen entschiedenen Anteil zu nehmen.“53
Die Synthese wird also von oben her hervorgebracht, was die Rechte des Einzelnen nur relativieren kann. Wenn der Staat auf die Gesinnung der Jugend einen entscheidenen Einfluß ausübt, so wird das ‚Heiligtum‘ des Privatlebens gefährdet. Es ist aber eigentlich die Meinung Schleiermachers, daß die Hingebung, die sich in dem Gefühl der Frömmigkeit am reinsten ausdrückt, nicht den Ort einer Transzendenz der Politik ausmacht, sondern eher deren potenzierte Form, woran Schleiermacher sich offenbar von den anderen Vertretern des Liberalismus unterscheidet. Die ‚Ethik‘ beschreibt nämlich sehr genau die angestrebte politische Gesinnung: „Die ächt bürgerliche Gesinnung besteht also hier nur
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Über den Beruf des Staats zur Erziehung (1814), KGA I/11, 129. KGA I/11, 141–142.
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darin, daß, was einer für das allgemeine Heil ansieht, er mit Daranwagung seiner eigenen Existenz durchzuführen suche.“54 Die Verwendung der religiösen Terminologie wird hier sozusagen säkularisiert, so daß der religiöse Standpunkt als Sitz der Subjektivität die politischen Gelegenheiten nicht mehr kritisieren kann – das Heiligtum des Hauses wird sogar allmählich vor dem höheren Heil des Staats zurücktreten. So rekurriert Schleiermacher auf das Gefühl der Pietät – das wenigstens semantisch nichts anderes als die Frömmigkeit ist –, um die politische Einheit des Staates zu leisten. Es kann aber natürlich nur eine sehr problematische Lösung der notwendigen Spannungen zwischen der Obrigkeit und dem Volk bewirken. „Kein anderes Fundament hat das Staats Verhältniß als die Pietät in der Anerkennung des gemeinsamen Willens, und jeder wird nur dann ein Mitglied desselben, in so fern der allgemeine Wille sich in ihm darstellt, und ihn belebt. Das Herrschenwollen ist hierin nur die Pietät, den allgemeinen Willen auszusprechen und der Menge mitzutheilen, und die nämliche als die in dem Unterordnen sich äussernde, den allgemeinen Willen durch das Gesetz heraustreten und sich gestalten zu lassen; so ist in beiden der allgemeine Wille das Belebende.“55
Anstatt einer Theorie der Anerkennung, wenngleich sie auch nur auf einer Logik der Wechselwirkung basiert, wie Schleiermacher sie schon teilweise in seiner frühen Schrift ‚Über das gesellige Betragen‘ versucht hatte, liefert er hier eine harmonisierende Lösung, die wirklichkeitsentfernt ist und möglicherweise auch schreckliche Folgen mit sich ziehen kann. Vor allem aber kann man von einer gewissen Leichtigkeit in der Argumentation gestört werden: Wie kann man sich einbilden, wie Schleiermacher es doch behauptet, den Gegensatz von dem allgemeinen und dem besonderen Willen mit einer solchen Pietät zu schlichten? „jene Pietät zeigt sich nun eben in dem Streben diese beiden Willensarten geltend zu machen“, erklärt die ‚Staatslehre‘, aber fügt sofort hinzu, daß diese Pietät „das besondere aber immer dem Algemeinen unterzuordnen“ hat. Die erwünschte Synthesis wäre in dem Fall erlangt, wo der Staat „den allgemeinen Willen in das Bewußtsein aller Einzelnen […] bringen und darin lebendig […] machen“ kann.56
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Ethik, Güterlehre, §125, 102. KGA II/8, 220 (Va, Staatslehre 1817); Vgl. Jo: „Wir finden auf diesem Gebiete keine andere Grundlage des bürgerlichen Verhältnisses als die Pietät. Jeder ist nur lebendiges Element des Staates, in wiefern ein auf das Bestehn des Ganzen gerichteter Wille in ihm gesetzt ist. Mit diesem Algemeinen Willen tritt der besondere sehr oft in Gegensatz, und jene Pietät zeigt sich nun eben in dem Streben diese beiden Willensarten gelten zu machen, das besondere aber immer dem Algemeinen unterzuordnen“, Reetz, 165 (5, Vorlesung = Varnhagen 23). KGA II/8, 221 (Va 27).
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Als eine historische Erscheinung betrachtet, zeugt Schleiermachers politische Lehre zuerst von der Schwierigkeit, für den Liberalismus des Vormärz eine selbständige Entwicklung zu gestalten. Im Vergleich zu den zeitgenössischen Denkern der Prinzipien des Liberalismus erscheint der Wunsch Schleiermachers nach einer Verfassung sowie nach individuellen Rechten eher unausgeführt. Es handelt sich hier nicht um irgendwelche Vorsicht, die sich mit der Rücksicht auf die Umstände erklären ließe. Es handelt sich vielmehr um eine relative Unfähigkeit, politische Gedanken förmlich und wo nötig rechtlich zu denken. Stattdessen hat Schleiermacher meistens noch ein Kontinuum von Ethik und Politik vorausgesetzt, wobei seine Politik noch mit ethischen begrifflichen Mitteln ausgerüstet wurde, die aber nie reichten, seinen politischen Zielen eine konkrete Form zu verleihen. Schleiermacher hat, wie die Polizeiberichte es ausreichend zeigen, eine liberalistische Gesinnung gehabt, war aber überhaupt nicht in der Lage, diese theoretisch zu verarbeiten. Aufgrund ihrer Fundierung in der ‚Ethik‘ kann seine ‚Staatslehre‘ nicht als liberal betrachtet werden. Man darf sich sogar fragen, ob sie überhaupt politisch ist.
5. Résumé Il s’agit d’interroger le rapport de la pensée de Schleiermacher à la tradition libérale. Si l’on distingue en effet une réponse libérale aux événements de la Révolution française, qui met l’accent sur les droits subjectifs et leurs garanties, dans quelle mesure cette pensée trouve-telle un écho chez Schleiermacher, qui défend vigoureusement, notamment dans les Discours sur la religion de 1799, l’autonomie de la religion par rapport à la politique? Pour répondre à cette question, je cherche à reconstruire un type-idéal de la théorie libérale à partir de l’Essai sur les limites de l’Etat de Wilhelm von Humboldt (1792) et des Principes de politique de Benjamin Constant (1806), deux ouvrages qui ont contribué à définir la doctrine libérale. Je fais l’hypothèse du rôle fondateur pour cette doctrine de la subjectivité de sentiment, exposée dans leurs chapitres respectifs sur la religion, dont le caractère premier est d’être désintéressée. C’est à partir d’elle que les libertés d’opinion, de croyance et de recherche scientifique (selon les trois modes de l’assentiment thématisés par Kant) trouvent leur légitimité. Or la subjectivité de sentiment occupe une place centrale chez Schleiermacher, chez lequel on rencontre également la revendication de la liberté de la recherche et de la croyance. Autrement dit, la structure profonde de la doctrine libérale, qui articule une pensée de l’individualité et une philosophie de la subjectivité, est présente chez Schleiermacher. Pourtant, l’examen de la Staats-
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lehre, des textes pédagogiques, et surtout de leur fondement commun dans l’Ethique tend à relativiser la portée du libéralisme de Schleiermacher. La tension éthique entre la doctrine de la vertu et la doctrine des devoirs me permet pas en effet à mon sens de dégager des garanties pour les droits individuels. En particulier, le concept de Gesinnung laisse l’Etat intervenir sur la formation des esprits et des caractères d’une façon qui empiète fortement sur le „sanctuaire“ de la sphère privée. La synthèse harmonieuse visée par l’Ethique de Schleiermacher ne se traduit pas dans une politique consistante, pour autant que la politique doit le plus souvent arbitrer des conflits d’intérêts réels. En négligeant les garanties juridiques des droits individuels, il renonce à traduire concrètement ses aspirations libérales.
Sichtweisen Schleiermachers politische Theorie zwischen dem autoritären Nationalstaatsethos der Befreiungskriegszeit und dem deliberativen Konzept einer bürgerlichen Öffentlichkeit VON MATTHIAS WOLFES/BERLIN
In die Erörterung von Schleiermachers politischer Wirksamkeit ist seit einiger Zeit Bewegung gekommen. Insbesondere der Umstand, daß seit einiger Zeit das sehr umfangreiche Quellenmaterial zur Staatslehrebzw. Politikvorlesung allgemein zugänglich ist, eröffnet einen ganz neuen Blick.1 Die große Arbeitsleistung des Editors, Walter Jaeschke, soll an dieser Stelle dankbar hervorgehoben werden. Zugleich aber hat Jaeschke, und das soll ebenfalls gleich eingangs nicht verschwiegen sein, über die Bereitstellung der Materialien hinaus eine Interpretationslinie projektiert, die Widerspruch herausfordert. Das soll hier geschehen. Über den internen Forschungsdisput gehe ich allerdings hinaus, indem ich mich nicht darauf beschränke, Einschätzungsdifferenzen zur staatstheoretischen Thematik zu markieren. Sondern ich greife überhaupt das zentrale Leitbild von Schleiermacher als dem „vaterländischen“ Prediger und patriotischen Denker an. Dieses Bild steht, bei aller vorhandenen kritischen Attitüde, doch auch noch bei den jüngsten Interpreten im Hintergrund und wirkt sich, so bei Jaeschke selbst, auch auf die Deutung der universitären und sonstigen Aktivitäten im Jahre 1813 massiv aus. Wenngleich Jaeschke das Bild vom vaterländischen Kampfer nicht explizit prolongiert, so hat es doch auch bei ihm die Funktion, alle progressiven Motive bei Schleiermacher zu verdecken.
1
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Vorlesungen über die Lehre vom Staat, hg. von Walter Jaeschke (KGA II/8), Berlin/New York 1998.
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1. Der „vaterländische“ Schleiermacher als Konstrukt der Rezeptionsgeschichte 1863 veröffentlichte der seinerzeit recht bekannte Berliner Maler und Lithograph Ludwig Burger ein „Gedenkblatt für Preußen zur Feier des 50jährigen Jubiläums des Aufrufs von König Friedrich Wilhelm III. ‚An mein Volk‘ (1813) und der Erhebung des preußischen Volkes zur Befreiung des Vaterlandes“.2 Es handelt sich um eine künstlerische Verdichtung jener Sicht auf die Befreiungskriegszeit, wie sie zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vorherrschte. Der Kampf um Selbstbestimmung und Freiheit wurde als nationaler Aufbruch interpretiert, dessen Subjekt nicht einzelne, partikulare, über Interessen verbundene Gruppen waren, sondern das deutsche Volk in seiner Gesamtheit. Von entscheidender Bedeutung ist hierbei die Aussage, daß dessen geschlossene politische Handlungsfähigkeit sich erst im militärischen und weltanschaulichen Gegenüber zur französischen Besatzungsmacht herausgebildet habe. Gleichsam als eine Rahmenfigur finden wir Schleiermacher auf dem Gedenkblatt am Rand einer ansehnlichen Personengruppe, zu der nicht nur sämtliche intellektuellen Protagonisten jener Jahre, sondern auch die Repräsentanten der politischen und dynastischen Eliten gehören. Keinen bewußt formulierten Kommentar des Lithographen zu einer späten Selbstverteidigung Schleiermachers aus dem Jahre 1831 gegenüber der Pariser Zeitung „Messager des Chambres“ wird man darin sehen können, daß er den Theologen gerade an den linken Rand plaziert.3 Jedenfalls wird Schleiermacher hier umstandslos in einen Kontext 2
3
Lithographie, gezeichnet von Ludwig Burger, Druck von J. Hesse; abgedruckt in Friedrich Neubauer: Preußens Fall und Erhebung 1806–1815, Berlin 1908, 347. Reproduziert in Karen Hagemann: Tod für das Vaterland: Der patriotisch-nationale Heldenkult zur Zeit der Freiheitskriege, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 60 (2001), 307–342; hier: 333. Im gleichen zeitlichen Kontext fertigte Burger (1825–1884) Zeichnungen zu den Werken Theodor Fontanes über den Schleswig-Holsteinischen Krieg von 1864 und die deutschen Kriege von 1866 an. Vgl. Schleiermachers kleinen Text: An die Redaction der Staats-Zeitung, in: Allgemeine Preußische Staats-Zeitung, Nr. 95, 6. April 1831, 772. Eine kritische Edition findet sich jetzt in: Kleine Schriften 1786–1833, hg. v. Matthias Wolfes u. Michael Pietsch (KGA I/14), Berlin/New York 2003, 353–357. – Ein Berliner Korrespondent der französischen Zeitung hatte Schleiermacher bei einer Beschreibung der politischen Szenerie im Berlin der Restaurationszeit auf „die linke Seite“ gerückt. Dagegen protestierte er in einer Zuschrift an den „Messager des Chambres“. Weil die Pariser Redaktion den ursprünglich französisch geschriebenen Text aber nicht aufnahm, sandte er ihn dann ersatzweise an die in Berlin erscheinende „StaatsZeitung“. Die betreffende Stelle lautet: „Fünftens. Gehöre ich zu keiner linken Seite. Ihre Ausdrücke rechte und linke Seite, linkes und rechtes Centrum, sind unseren Verhältnissen völlig fremd; und wenn Ihr Korrespondent in Wahrheit ein Preuße
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eingebunden, der sich zum einen mit seiner tatsächlichen Stellung während der Kriegsjahre nicht deckt, der aber zum anderen einem Rezeptionsverhalten Ausdruck gibt, das in der historischen Darstellung seine politische Wirksamkeit völlig einseitig auf einen, zeitlich überdies eng befristeten Einzelzug begrenzt, indem alle Aufmerksamkeit allein seinem vaterländischen, antinapoleonischen Einsatz gewidmet wird. Ich möchte im folgenden zunächst die These exponieren, daß das patriotisch-nationalistische Schleiermacher-Bild – seine Herausbildung ebenso wie seine Etablierung – primär das Resultat einer politisch motivierten Rezeptionsgeschichte ist. Schleiermachers politisches Engagement hat seit den 1860er Jahren, seit Diltheys erster Studie4 und dem vierten Band der Briefausgabe ‚Aus Schleiermacher’s Leben‘5 eine erstaunlich intensive Beachtung erfahren. Sie bringt die grundlegenden Wertungen und Abwertungen zum Vorschein, denen sich die in der wissenschaftlichen und der populären Literatur gleichermaßen betriebene Stilisierung Schleiermachers zum Idealtyp des „patriotischen Predigers“ verdankt. Über die frühe, noch sehr verhaltene Schilderung, die aus der Anschauung anteilnehmender Zeitgenossenschaft entworfen worden war, bis hin zu einer Strategie blanker Instrumentalisierung, blieb die die Rezeptionsgeschichte prägende Grundfigur während eines hundertdreißigjährigen Zeitraumes die gleiche: Schleiermacher wurde zum Protagonisten eines patriotischen Engagements, eines „vaterländischen“ Einsatzes im Interesse nationaler Einigung erhoben. Der Umstand, daß Schleiermachers politisches Denken und seine politische Wirksamkeit seit den ersten Äußerungen im Umkreis der Revolutionserfahrung bis in die Kontroversen der 1820er Jahre immer auch einen weltbürgerlichen Zug, eine auf Demokratisierung und Modernisierung des Staatswesens angelegte Tendenz aufgewiesen hat, blieb im großen und ganzen unbeachtet und jedenfalls für das Gesamtbild nahezu völlig ohne Belang. Ihren ersten Höhepunkt fand die Rezeption von Schleiermachers politischer Wirksamkeit in der Geschichtsschreibung des preußischen
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5
wäre, so würde er sich nicht solche Abtheilungen ersonnen haben, die sich bei uns Niemand wird aneignen mögen; vorzüglich aber würde er nicht von einer linken Seite geredet haben, welche Gedanken an eine Revolution im Hinterhalt hätte“ (KGA I/14, 356–357). Wilhelm Dilthey: Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit, in: Preußische Jahrbücher X/2 (1862), 234–277. Nachdruck in ders.: Zur Preussischen Geschichte (Gesammelte Schriften, Bd.XII), Leipzig und Berlin 1936, 1–36; Zweite Auflage: Göttingen 1960, 1–36. Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd.4. Schleiermachers Briefe an Brinckmann. Briefwechsel mit seinen Freunden von seiner Uebersiedelung nach Halle bis zu seinem Tode. Denkschriften. Dialog über das Anständige. Recensionen. Vorbereitet von Ludwig Jonas, hg. v. Wilhelm Dilthey, Berlin 1863.
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Historismus. Die borussianische Version historistischer Geschichtsschreibung versah in einem emphatischen Sinne die Darstellung der Geschichte Preußens mit politischen Akzenten. Sie ging, wie generell die historistische Geschichtskonzeption, davon aus, daß der Geschichtsschreibung ein hohes integratives politisches Potential und damit eine zentrale gesellschaftliche Funktion zukomme. Zumal dann, wenn religiös oder philosophisch fundierte Traditionen und Normen nicht mehr aus sich selbst heraus als evident und tragfähig erlebt werden, wachse die Bedeutung geschichtlicher Sachverhalte und der Prozeß ihrer Überlieferung. Dies gilt sowohl für die individuelle Selbstvergewisserung wie für die soziale und politische Kommunikation innerhalb großer Gruppen. Geschichte und Geschichtspflege treten in der historistischen Wirklichkeitsdeutung an die Stelle weltanschaulich fundierter Werte; faktisch nehmen sie selbst einen weltanschaulichen Charakter an. Im historistischen Denken tritt die Geschichtswissenschaft an die Stelle von Theologie und Philosophie, indem sie es ist, die über die Beschreibung geschichtlicher Erscheinungen und Entwicklungen Angebote zur Sinndeutung formuliert, von denen aus die Ausbildung einer kollektiven kulturellen Identität möglich wird. Sie übernimmt die Aufgabe, den Zusammenhang des Geschichtlichen sicherzustellen, aus dem sich das gegenwärtige kulturelle Selbstverständnis herleitet. Genau dieses Interesse an einer plausiblen Rekonstruktion der jüngeren preußischen Geschichte als eines zusammenhängenden, integralen geschichtlichen Prozesses führt zu einer privilegierten Bewertung der Frühphase des neunzehnten Jahrhunderts. Die Befreiungskriege und mit ihnen die sie vorbereitende Phase der innerpreußischen Reformen werden als Ausgangspunkt für die Gestaltung eines modernen, politisch geeinten Deutschland angesehen und in diesem Sinne zur Geburtsstunde des nationalen Selbstbewußtseins überhöht. Dies geschieht vor dem aktuellen Hintergrund der Bemühungen zur Herstellung einer reichseinheitlichen Staatskörperschaft. Der Terminus „Befreiungskriege“ erhält selbst erst jetzt seinen geschichtspolitischen Sinn.6 Schleiermacher gilt in dieser Sicht als Protagonist jener Haltung, für die sich mit dem neuen Preußen der Auftrag zur Herstellung der nationalen Einheit verbindet. Seiner Mitwirkung an der Befreiung von der französischen Besatzung kommt insofern ein klassischer Rang zu. Von Treitschke, dem offiziellen Historiographen des preußischen Staates, über den Kulturtheoretiker und Philosophen Wilhelm Dilthey bis hin zu Johannes Bauer, einem durchaus zu Recht hoch angesehenen Schleier-
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Vgl. Wolfgang Hardtwig: Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt. Liberalismus und borussianisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus, in: Historische Zeitschrift 231 (1980), 265–324.
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macher-Exegeten, steht Schleiermacher für die Symbiose von entschlossenem Reformwillen und Treue zur geschichtlichen Überlieferung, von Modernisierungsbereitschaft und Loyalität gegenüber dem monarchischen Prinzip, wie sie gerade die Reform- und Aufbruchszeit des Preußens der Jahre 1806 bis 1815 gekennzeichnet habe. Den offen geschichtspolitisch argumentierenden Rezeptionstypus repräsentiert Heinrich von Treitschke, der wirkungsmächtigste und meiner Ansicht nach ganz zu unrecht heute gerne belächelte Repräsentant des preußischen Historismus. Seine ‚Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert‘ fehlte in kaum einem bildungsbürgerlichen Bücherschrank, und auch wenn das Denkmal, das die Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin ihm am 9. Oktober 1909 in ihrem Vorhof – als Pendant zum Mommsen-Monument – widmete, zunächst in einen Seitenhof versetzt, dann abmontiert und 1951 schließlich eingeschmolzen wurde, so zeigt dies nur, daß Demontage eine sehr unzulängliche Form der Reflexion ist. Geschichtsschreibung sollte nach Treitschke nicht auf einer objektivistisch verfahrenden, methodisch reflektierten Geschichtswissenschaft aufbauen. Ihre Aufgabe war vielmehr prinzipiell – und das heißt: von Natur aus – politischer Natur. Er betrachtete Geschichtsschreibung als „Vehikel einer nationalistischen, zunehmend auch autoritären politischen Einstellung, eng verbunden mit Antisemitismus, mit Antipathie nicht nur gegen den Sozialismus, sondern gegen jede soziale Reform, und mit Befürwortung einer militanten imperialistischen Weltpolitik“.7 Die von Treitschke produzierte Historiographie hatte dem Ziel zu dienen, die nationale Einheit Deutschlands unter preußischer Führung, die Stärkung der Machtstellung Preußens und Deutschlands sowie generell den Schutz der bürgerlichen Ordnung sicherzustellen. Insofern sind seine Arbeiten, wie Georg Iggers formuliert hat, „in vieler Hinsicht von größerem Interesse für das Verständnis der Krise eines bestimmten deutschen bürgerlichen Liberalismus und der Politisierung der deutschen Geschichtswissenschaft als für die Entfaltung der Geschichtswissenschaft selbst“.8 Schleiermacher nun gilt Treitschke als Gewährsmann für seine synthetische Geschichtskonzeption. Die Vorstellung ist die, daß alle historische Rekonstruktion aus der Idee einer Verbindung von Religion und Sittlichkeit erwachse, da beide auf ein höheres nationales Interesse ausgerichtet seien. Für unsere Thematik ist nun der Umstand von Bedeutung, daß Treitschke sich für seine nationalstaatliche Idee zwar in 7 8
Georg Iggers: Heinrich von Treitschke, in: Deutsche Historiker, hg. v. Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1973, 174–188; hier: 175. Ebd. Siehe auch Heinrich von Treitschke: Die Aufgabe des Geschichtsschreibers. Vorbemerkung bei Übernahme der Redaktion der Historischen Zeitschrift, in: Historische Zeitschrift 76 (1896), 1–4.
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der Tat auf Motive bei Schleiermacher berufen kann. Doch muß zugleich festgestellt werden, daß er sie aus ihrem ursprünglichen Kontext herauslöst und mit einer Schleiermacher selbst völlig zuwiderlaufenden Gewichtung versieht. Schleiermacher stehe in seinem Lebensweg und in seinem vielfältigen Werk als Theologe, Prediger und Publizist paradigmatisch für jene Verbindung von geistesgeschichtlicher Tradition unter protestantisch-kantischem Vorzeichen auf der einen Seite und den seit der Erhebung Preußens zur europäischen Großmacht unter König Friedrich II. gestellten staatlich-politischen Aufgaben auf der anderen Seite. In selbstverständlicher Geltung habe für Schleiermacher immer die Forderung gestanden, daß über die Krise der Konfrontationsjahre hinweg die „alte preußische Macht“ wieder aufgerichtet werden müsse. Er habe sich in seinem politischen Denken stets mit den staatlichen Interessen Preußens identifiziert. Das zentrale Thema des politischen Schleiermacher sei die Ausbildung eines alle Lebensbereiche umfassenden, integrativen Handlungswillens des Staates gewesen. Die Rolle, die Schleiermacher innerhalb dieser Darstellung zukommt, geht über den tatsächlichen Anteil, den er innerhalb der Aktivitäten der Reformgruppe eingenommen hatte, in einem Ausmaße hinaus, das jedes zulässige Maß interpretatorischer Gestaltungsfreiheit sprengt. Sie läßt sich insgesamt mit seiner praktischen und theoretischen Arbeit in den Jahren seit 1806 nicht zur Deckung bringen. Treitschkes Deutung ist von dem Freiheits- und Persönlichkeitsideal her zu verstehen, das dieser bereits seit seinen frühen Jahren als Mitarbeiter und Redakteur der ‚Preußischen Jahrbücher‘ vertreten hat. Es ging im Kreis um die ‚Preußischen Jahrbücher‘ und zumal bei Treitschke selbst um die Entfaltung eines spezifisch deutschen Freiheitsverständnisses, in dem die revolutionären Prinzipien von Freiheit und Gleichheit nicht in Einklang gebracht werden können. Das Hauptgewicht liegt auf dem „unbeschränkten Recht der Persönlichkeit“, während alle Tendenzen zu einer wie auch immer aussehenden Demokratisierung von vornherein als illegitim ausgeblendet werden.9 Der Hauptfeind der persönlichen Freiheit ist der Konformismus, wie er zwangsläufig durch die Mittelmäßigkeit der Menge erzeugt werde. Dieser Masse tritt im strahlenden Licht der großen Individualität „die Persönlichkeit im moralisch-historischen Sinne“ gegenüber. Sie wird zum politischen Handlungsträger schlechthin und verkörpert zugleich das Prinzip staatlicher Machtausübung.10 Ein solches, faktisch am Machtstaatsgedanken orientiertes Persönlichkeitsideal findet Treitschke exemplarisch im politischen Verhal9 10
Heinrich von Treitschke: Aufsätze, Reden und Briefe, hg. v. Martin Schiller, Bd.II, Meersburg 1929, 12. Ebd., Bd.I, Meersburg 1929, 27.
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ten Schleiermachers verwirklicht. „Die Persönlichkeit, die ihre Eigenart frei entfaltet und zugleich den großen objektiven Ordnungen des Staates und der Gesellschaft sich mit Bewußtsein einfügt, war ihm – Schleiermacher – die individuelle Form des allgemeinen Sittengesetzes.“11 Schleiermachers Staatstheorie stellt nach Treitschke die Anwendung dieser Einsicht im großen Modell dar. Von besonderer Bedeutung ist für ihn die in der Akademieabhandlung vom März 1814 ‚Ueber die Begriffe der verschiedenen Staatsformen‘ vorgetragene Auffassung, wonach die unterschiedlichen Staatsformen verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Ausbildungsniveaus der Staaten entsprechen. In Treitschkes Interpretation handelt es sich dabei um eine Stufenfolge, deren inneres Entwicklungsgesetz im Sinne einer stetigen, im geschichtlichen Prozeß unaufhaltsamen Höherentwicklung von der Demokratie zur Monarchie verläuft. Von bleibender Bedeutung für Treitschkes eigene Staatstheorie sollte die Schleiermacher entnommene Unterscheidung zwischen niederen und höheren Staatsformen sein. Daß der Staat der höchsten Ordnung die Monarchie sei, konnte für Treitschke keinerlei Zweifel unterliegen.12 Fällt Treitschkes Position durch ihren manifesten, politisch-weltanschaulichen Zugriff auf, so formuliert eine zahlenmäßig ungleich größere Gruppe von um 1900 jüngeren Gelehrten eine gleichfalls extrem wirkungsträchtige Sicht. Sie kann den etablierten, weltweit erfolgreich operierenden kaiserzeitlichen Macht- und Kulturstaat bereits vorausset-
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Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Erster Teil: Bis zum zweiten Pariser Frieden [zuerst erschienen: Leipzig 1879], Leipzig 1927, 203. Auch die individualethische Theorie Schleiermachers faßt Treitschke in dieser Weise zusammen: „In der Moral ließ er, freier als Kant, die Persönlichkeit zu ihrem vollen Rechte gelangen: nicht die Unterdrückung der Natur, sondern ihre Verklärung durch den lebendigen Geist hieß ihm sittlich; auch verhehlte er nicht, daß die Tugenden der christlichen Selbstverneinung an den antiken Tugenden der Selbstbehauptung ihre Ergänzung finden müssen“ (Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Zweiter Teil: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen [zuerst erschienen: Leipzig 1882], Leipzig 1927, 89). Treitschke ist in seiner Schleiermacher-Rezeption von dem Nationalökonomen Wilhelm Roscher (1817–1894) bestimmt. Roscher hatte 1847 in einem Aufsatz unter dem Titel „Umrisse zur Naturlehre der drei Staatsformen“, der in der „Allgemeinen Zeitschrift für Geschichte“ erschien, auf Schleiermachers Theorie hingewiesen und behauptet, er sei der erste gewesen, der die wissenschaftlich begründete Ansicht ausgesprochen habe, daß Staaten kleineren Umfangs eine Neigung zur Demokratie hätten, während solche von einem größeren Umfang in der Monarchie ihre adäquate Staatsform fänden. Roscher selbst akzeptierte diese vermeintlich von Schleiermacher vertretene Ansicht und wies ihre Richtigkeit am Material der Weltgeschichte nach. Treitschke dürfte durch die belegbare Lektüre dieses Aufsatzes erstmals auf Schleiermacher als Staatstheoretiker aufmerksam geworden sein. Vgl. hierzu die eingehende Darstellung bei Walter Bußmann: Treitschke. Sein Welt- und Geschichtsbild (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, Bd.3/4), Göttingen/Zürich 1952, 204–208.
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zen. Für sie geht es um die weltanschauliche Fundierung, weshalb diese Rezeptionslinie in eine offene Wechselbeziehung zum zeitgenössischen Kulturprotestantismus treten kann. Beispielhaft ist dafür eine unter der herausgeberischen Leitung von Friedrich Naumann im Jahre 1910 erschienene Sammlung kleinerer Studien unter dem verbindenden Obertitel „Schleiermacher, der Philosoph des Glaubens“, zu der Martin Rade einen Text über ‚Schleiermacher als Politiker‘ beigesteuert hat und an der daneben Ernst Troeltsch, Arthur Titius, Paul Natorp, Paul Hensel und Samuel Eck mitgewirkt haben.13 Als weiteren Repräsentanten dieser Interpretationslinie nenne ich den ungleich weniger bekannten Pädagogen und Schulbuchautor Hermann Dreyhaus.14 Dreyhaus hat 1909 eine Untersuchung über den ‚Preußischen Correspondenten‘ vorgelegt, die alle Merkmale dieses Rezeptionstypus enthält.15 Das Zeitungsgründungsprojekt steht nach Dreyhaus im Kontext anderweitiger Aktivitäten „edler Patrioten“. Schleiermacher erweise sich als „genialer Vorbote einer neuen Zeit“, indem er mit seinen Predigten einer „neuen Sehnsucht“ Ausdruck verliehen und so wesentlich dazu beigetragen habe, daß „der Kreis der Berliner Patrioten mit neuem, unbeugsamen Willen einen frischen, kraftvollen Anlauf“ unternahm, „nicht nur um sich ein Organ zu schaffen, sondern auch dem Volke, den Edelsten und Besten eine Parole zu geben, die in dem heiligen Kampfe zum Siege führen mußte!“16 Nachdem Schleiermacher die Redaktion 13
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Martin Rade: Schleiermacher als Politiker, in: Schleiermacher, der Philosoph des Glaubens. Sechs Aufsätze von Ernst Troeltsch (und anderen) und einem Vorwort von Friedrich Naumann (Moderne Philosophie, Bd.6), Berlin-Schöneberg 1910, 125–151. Dreyhaus (1886–1964) war während der längsten Zeit seines Berufslebens als Studienrat in Berlin tätig. Vor 1918 publizierte er, unter anderem in der „Historischen Zeitschrift“, diverse historische Einzelstudien. 1918 erschien in der „Zeitung der 10. Armee“ ein „Lebensbild“ Johann Friedrich Eichhorns. Unmittelbar nach Kriegsende betätigte Dreyhaus sich als nationalpolitischer Schriftsteller, wofür er gelegentlich auch ein Pseudonym benutzte. 1921 erschien eine Broschüre ‚Die Schuld am Weltkriege‘, in der die alliierten Kriegsschuldvorwürfe vehement zurückgewiesen wurden. Parteipolitisch stand Dreyhaus der Deutschnationalen Volkspartei nahe; einige Arbeiten erschienen im Verlag des Deutschnationalen Lehrerbundes. Während er als politischer Autor die Republik kritisierte und an dem Modell des autoritären Staates orientiert blieb, galten seine historischen Darstellungen der Verherrlichung der preußischen Monarchie. Als Mitautor einer ausgreifenden Darstellung der deutschen Geschichte, die seit 1935 in drei Bänden im Westermann-Verlag erschien (‚Volk und Boden‘), bewährte Dreyhaus sich als nationalistischer Historiograph, dessen Geschichtsbild nunmehr durchweg der NS-Ideologie verpflichtet war. Nach 1945 war er u.a. als Verfasser von Schulwerken für den Geographieunterricht tätig. Die Studie wurde 1909 von der Philosophischen Fakultät der Universität Marburg als Dissertation angenommen und als Dissertationsdruck separat veröffentlicht. Noch im selben Jahr erschien die Studie in unveränderter Gestalt in den von Otto Hintze in Verbindung mit Gustav Schmoller herausgegebenen „Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte“. Hermann Dreyhaus: Der Preußische Correspondent von 1813/14, Leipzig 1909, 60.
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übernommen hatte, sei sogleich „der Hauch seiner Feuerseele“ spürbar gewesen. Was er früher „in einsamer Stunde“ gefühlt oder gedacht hatte, kam nun zur Ausführung. Seinem Streben nach politischer Wirksamkeit konnte er jetzt freien Lauf lassen. Die Zeitung selbst wird von Dreyhaus als ein bedeutendes Glied „in der Geschichte der deutschen Bewegung“ betrachtet, „die in den Jahren 1870/71 nicht nur ihren Triumph, sondern auch einen Zielpunkt erreichte“.17 Der „Preußische Correspondent“ habe als erste deutsche Zeitung versucht, „den Gedanken und Wünschen der Nation einen freien und selbstbewußten Ausdruck zu geben“. Sein Hauptzweck habe darin bestanden, „die nationale Begeisterung für den Krieg zu entfachen“.18 Mit dieser Formulierung schlägt Dreyhaus ein Motiv an, das in den Jahren nach 1914 zum Standardrepertoire der historischen und theologischen Schleiermacher-Deutung wurde. Eine Vielzahl von Autoren – genannt seien nur Gerhard Freybe,19 Bernhard Rogge20 und Hans Reuter21 – nimmt die Kriegsthematik zum Leitmotiv für ein nationalistischpolitisiertes Schleiermacherbild. Die rhetorische Figur von „Schleiermachers vaterländischem Wirken“ blieb das konstitutive Interpretationsinstrument.22 Man kann diese Linie bis weit über das Jahr 1945 hinaus verfolgen, etwa indem man sich an eine unselige, sowohl als Schleiermacher-Biograph wie als Schleiermacher- und Dilthey-Editor durch und durch problematische Gestalt wie Martin Redeker erinnert.
2. Schleiermachers Überwindung des Nationalstaatsethos der Befreiungskriegszeit Schleiermacher selbst weist in eine andere Richtung. Wir befinden uns jetzt, nach den ersten, noch recht avantgardistischen Untersuchungen von Yorick Spiegel oder Heino Falcke in einem neuen Stadium der Re17 18 19 20
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Ebd., 84. Ebd., 89; vgl. 63 (mit Bezug auf Barthold Georg Niebuhrs Beiträge). Vom Segen des Krieges nach Schleiermacher, in: Evangelische Freiheit 15 (1915). Schleiermachers vaterländische Wirkung vor und in den Tagen der Befreiungskriege, in: Gross-Berliner Kalender. Illustriertes Jahrbuch 2 (1914), 46–54 und: ders.: Schleiermacher als Patriot, in: Preussische Kirchenzeitung. Kirchenpolitische Wochenschrift 10 (1914), 4–7; 17–24. Das innere Erleben des Kriegs, verdeutlicht an Schleiermachers Kriegspredigten, in: Monatschrift für Pastoraltheologie zur Vertiefung des gesamten pfarramtlichen Wirkens 13 (1916/17), 83–90. 129–135; Schleiermachers Stellung zum Kriege, in: Theologische Studien und Kritiken 90 (1917), 30–80; Schleiermachers Stellung zur Idee der Nation und des nationalen Staates, in: Theologische Studien und Kritiken 91 (1918), 439–504. Christian Boeck: Schleiermachers vaterländisches Wirken 1806–1813, Berlin 1920.
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zeption. Die große Schleiermacher-Biographie Kurt Nowaks hat, vielleicht noch etwas halbherzig, aber doch unübersehbar, eine andere Gesamtsicht eröffnet.23 Und dennoch gilt auch gegenwärtig noch: Daß Schleiermacher ein Ort zukommt innerhalb der Geschichte des demokratischen Gedankens in Deutschland und er von dieser Seite aus als politischer Theoretiker ernst genommen werden muß, ist keine allzu fest verankerte Erkenntnis. Es sei hier nur an einzelne Motive erinnert: an seinen Kampf gegen die Zensur, die in einer generellen Ablehnung des Zensurwesens mündete, oder an seine Forderung, daß die Kirchenverwaltung aus den Händen des Staates entlassen werden müsse, eine Forderung, die schon in den Reden ‚Über die Religion‘ auf eine prinzipielle Trennung von Kirche und Staat hinauslief. Dahinter steht nicht die friderizianische Losung von der Privatheit der Religion, sondern die Einsicht, daß eine institutionelle Selbständigkeit die Voraussetzung dafür ist, daß sich sowohl der Staat wie auch die Kirche in ihren wesentlichen Funktionsbestimmungen frei entfalten können. Nach 1813 löst Schleiermacher sich aus den Vorgaben einer am Nationalstaatsgedanken orientierten politischen Denkweise. Statt dessen wird er zum Gewährsmann einer Internationalität des politischen Denkens, die als wesentliche Forderung das Prinzip einer nationenübergreifenden internationalen Friedensordnung formuliert. Das Gelingen oder Scheitern von Herrschaft im Deutschland nach 1815 ist für Schleiermacher abhängig davon, ob die politischen Partizipationsrechte anerkannt und im politischen System realisiert werden oder nicht. Diese Maxime war es, die ihn für die Strategen der Restauration zu einem gefährlichen Feind machte, und die ihrerseits Schleiermacher in eine strikte Oppositionsstellung gegenüber Regierung und Staatsdoktrin gebracht hat. In einer nicht offen erkennbaren Koalition mit Politikern wie Humboldt, Beyme und auch dem unterschätzten Altenstein hat er an der Erosion des monarchisch-autoritären Staatsprinzips mitgewirkt. Nur so auch ist die bedingungslose Abwehrreaktion verständlich, der er von seiten des Polizeiapparates und der Schuckmannschen Innenbehörde ausgesetzt gewesen ist. Ich möchte vor diesem Hintergrund auf einige Aspekte in der staatstheoretischen Konzeption eingehen, anhand derer sich meiner An23
Kurt Nowak: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001. Siehe zu der hier interessierenden Thematik besonders auch Nowaks Aufsatz: Friedrich Schleiermachers Verschmelzung von Monarchie und Demokratie, in: Freiheit gestalten. Zum Demokratieverständnis des deutschen Protestantismus. Kommentierte Quellentexte 1789–1989, hg. v. Dirk Bockermann, Norbert Friedrich, Christian Illian, Traugott Jähnichen und Susanne Schatz (Festschrift für Günter Brakelmann zum 65. Geburtstag), Göttingen 1996, 69–77.
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sicht nach die Überwindung des Nationalstaatsparadigmas nachweisen läßt. Ich beschränke mich dafür auf die intensivste Phase der politischen Theoriebildung, jene Jahre also zwischen 1813 und 1818. Selbst im unentwickelten Zustand des Staates – erklärt Schleiermacher –, in dem das Verhältnis zwischen Volk und Monarch nicht durch Interaktion und Kooperation bestimmt ist und das Volk an Gesetzgebungsakten und sonstigen Entscheidungen keinerlei Anteil hat, ist der Monarch, ungeachtet seiner faktisch uneingeschränkten Vollmacht, an die sittliche Vorgabe gebunden, in seinen Handlungen das Einverständnis einer ihm virtuell als Entscheidungspartner gegenüberstehenden Bevölkerung voraussetzen zu können. Er muß seine Resolutionen danach ausrichten, „im Geiste ganz Eines mit seinem Volk“ zu sein.24 Der Monarch handelt stellvertretend für die Gesamtheit des Volkes und insofern in Vorwegnahme jenes geschichtlichen Entwicklungsstandes, in dem aus Untertanen Staatsbürger geworden sein werden. Das Handeln des Monarchen ist nur dann sittlich gerechtfertigt, wenn es im Interesse des Volkes erfolgt. Die Landesbewohner sind in diesem Zustand dem Monarchen weitgehend ausgeliefert. Allein das Mittel der Petition steht ihnen zu Gebot, um einen abweichenden Willen zum Ausdruck zu bringen. Auf eine derartige Willensbekundung allerdings haben sie ein Recht, wenngleich dieses Instrument allein kaum geeignet ist, der Gefahr der Despotie wirksam zu wehren. Immerhin kam auch in der Vergangenheit dem „Recht der Petition“ doch keine bedeutungslose Rolle zu; vielmehr barg es einen eminent politischen Gehalt in sich. Denn seine Inanspruchnahme mußte gerade zur allmählichen Ausbildung, Stärkung und Sicherung des staatsbürgerlichen Bewußtseins beitragen. So unverbindlich der durch Petitionen vorgebrachte Wille auch war und so frei der Herrscher entscheiden konnte, so läßt sich doch konstatieren, „in allen Fällen wo sie ihre Wünsche vor ihn bringen, mag er nun gewähren oder verweigern, wenn er sie nur berücksichtigt, haben doch die Unterthanen angefangen das Gesetz zu machen“. Dies aber ist nach Schleiermacher der entscheidende Schritt in der Entwicklung des modernen Staates. Denn mit ihm wird eine einsei-
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Ueber die Begriffe der verschiedenen Staatsformen [vorgetragen am 24. März 1814], in: Abhandlungen der philosophischen Klasse der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften aus den Jahren 1814–1815, Berlin 1818, 17–49 (erneut abgedruckt in: Sämmtliche Werke, Bd.III/2, Berlin 1838, 246–286; Akademievorträge [KGA I/11], 95–124); hier: 46–47. Wörtlich heißt es: „Dem Wesen nach unterscheidet er [scil.: der König] sich dadurch [vom Despoten], daß er im Geiste ganz Eines mit seinem Volk nur solche Willensacte ausspricht, welche die Unterthanen hernach, wenn sich das höhere Staatsprincip in ihnen entwickelt, billigen werden, und daß sein ganzes Bestreben darauf gerichtet ist diese Entwicklung zu befördern.“
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tige, unbeschränkte und allein auf seiten des Monarchen liegende Gesetzgebungs- und Entscheidungsvollmacht obsolet.25 Schleiermachers Theorie spiegelt nun, indem es an dieser zentralen Stelle der Argumentation um die Neustrukturierung der politischen Verfahrens- und Entscheidungsabläufe und insofern um die Machtverhältnisse im Staat geht, in sich selbst den grundlegenden Prinzipienwechsel im Staatsaufbau wider: Auf der einen Seite gilt nach wie vor, daß das monarchische Prinzip als unverzichtbares Element in der Geschichte der Staatenbildung anzusehen sei. Dabei ist hier „von der Persönlichkeit eines Einzelnen nicht die Rede, sondern nur von dem König der nicht sterben darf“. Der Monarch als Amtsinhaber ist es, „durch welchen der Staat allein realisirt worden ist, und durch welchen allein er auch fortbestehen kann“. Vor allem aber ist der Monarch „die einzige Quelle aller politischen Freiheiten und Rechte, und jeder Antheil des Volkes an der regierenden Thätigkeit kann ihm nur von dem Könige mitgetheilt seyn“. Dieser Anteil „muß in jedesmaliger Ausübung auf einem Herrscheract des Königs beruhen“. Faktisch bleibt die Souveränität allein an die Person des Monarchen geknüpft.26 Auf der anderen Seite zieht die von Schleiermacher befürwortete politische Entwicklung Folgerungen nach sich, die die Handlungsfreiheit des Monarchen in relevanter Weise einschränken. Denn es müssen Formen einer „feststehenden Kommunikation der Unterthanen mit dem Regenten“ gefunden werden. Gesetzgebende Versammlungen sind einzurichten und mit der Mitwirkung an den staatlichen Leitungsgeschäften zu betrauen. Schleiermachers Idee von einem politischen Kooperationsmodell führt unmittelbar zum parlamentarischen Prinzip.27 Im Frühjahr 1814, als die erstmals bereits im Oktober 1810 gegebene Verfassungszusage des Königs weiter denn je von ihrer Einlösung entfernt zu sein schien, kam einer solchen Position, zumal sie vom Katheder der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften vorgetra25 26
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Ebd., 46. Schleiermacher geht in seiner Akademieabhandlung vom März 1814 auf die Problematik der Souveränität im Staat der Sache nach zwar ein, doch vermeidet er eine explizite Erörterung. Er weist sogar die entsprechende Terminologie in einer längeren Anmerkung ausdrücklich zurück: „Des verfänglichen Ausdrucks Souverain und Souverainität habe ich mich hiebei nicht sowol absichtlich enthalten, als nur der Gang der Auseinandersetzung mich nicht darauf bringen konnte. Wichtig aber wäre es diesem Ausdruck in seinem Ursprung nachzuspüren, was meines Wissens noch nicht genügend geschehen ist. Denn nichts verdirbt die wissenschaftlichen Untersuchungen mehr, als der Gebrauch solcher Ausdrücke, die weder wissenschaftlich entstanden noch auch wenigstens wissenschaftlich gestempelt sind, welcher Act doch eigentlich immer auf einer durchgeführten historischen Forschung beruhen muß“ (Ueber die Begriffe der verschiedenen Staatsformen, a.a.O. [Anm.24] 44–45). Siehe dagegen die völlig anderslautende Einschätzung, die Walter Jaeschke in der Historischen Einführung zu KGA II/8, a.a.O. (Anm. 1) vorgetragen hat: XXV–XXVII.
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gen wurde, eine beträchtliche Brisanz zu.28 Dies gilt auch dann, wenn die Konsequenzen, die sich aus ihr für die weitere Entwicklung des Staates und seiner Herrschaftsorganisation ergeben, von Schleiermacher, wie schon in der Ethikvorlesung von 1812/13, nur teilweise ausdrücklich thematisiert worden sind. Sein Votum ist immerhin klar genug, um deutlich werden zu lassen, in wie starkem Maße hier Vorstellungen aus der Reformzeit wirksam waren. Für die Staatstätigkeit selbst zieht Schleiermacher zwei Schlußfolgerungen: Zum einen soll das exekutive Handeln seinen Ausgang stets von staatlichen Behörden nehmen. Nur auf diese Weise läßt sich verhindern, daß gesetzliche Festlegungen der Legislative unausgeführt bleiben oder in den unklaren Bereich spontaner Initiativen geraten. Zum anderen sollen nicht einzelne Teilgruppen, sondern die Gesamtheit der Bevölkerung in das Gesetzgebungsverfahren einbezogen sein. Erst im Zuge einer solchen Mitwirkung entwachsen die Landesbewohner der Untertanenschaft und bilden jenes für die Entwicklung des Staates unabdingbare staatsbürgerliche „politische Bewußtseyn“ aus.29 Als „Bürger“ des Staates sind sie selbst Teil des politischen Prozesses. Die Teilhabe am legislativen und auch exekutiven Staatshandeln muß institutionell ermöglicht und gesichert werden. Dies geschieht durch die Einrichtung von Kommunalbehörden, über die die Bürger „von unten herauf“ wirksam werden können.30 Die Legitimationskette läuft hier der Sache nach schon von unten nach oben. In diesem Zusammenhang kann ein Hinweis darauf nicht unterbleiben, daß Schleiermacher sich selbst als loyalen Verteidiger der Monarchie betrachtet hat. Er akzeptiert allerdings deren Bestehen nicht aus sich selbst heraus; vielmehr hält er es grundsätzlich für begründungsbedürftig. Das monarchische Prinzip kann nicht mehr aus geschichtlicher Dignität, unter Berufung auf traditionale Legitimation, oder gar aus einer transzendenten Begründungsquelle hergeleitet werden. Schleiermacher findet eine hinreichende Begründung für die Berechtigung des monarchischen Prinzips in dem Argument, daß nur der Monarch, sofern er seiner Aufgabenstellung genügt, von den diversen, häufig auch widerstreitenden Interessen der Bürger frei sei. Sein Interesse habe allein auf das Wohl des Staates und damit auf das der Gesamtheit gerichtet zu sein. Nur dem Monarchen spricht Schleiermacher unter den 28
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Zum sogenannten „ersten Verfassungsversprechen“ vgl. Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd.1: Reform und Restauration 1789–1830. Zweite verbesserte Auflage, Stuttgart u.a. 1967, 296–297. Die Zusage war Teil der Reformpolitik Hardenbergs; sie bildete den Abschluß des Finanzediktes vom 27. Oktober 1810. Ueber die Begriffe der verschiedenen Staatsformen, a.a.O. (Anm. 24), 36. Ebd., 47.
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gegenwärtig gegebenen Umständen die nötige Umsicht zu, die Gemeinschaftsdienlichkeit administrativer Handlungen angemessen beurteilen zu können. Die Loyalitätsbekundung ist also in Wirklichkeit von einer starken Einschränkung gekennzeichnet. Dem Monarchen wird die Verpflichtung auferlegt, in der beschriebenen Weise zu urteilen und zu handeln, und die Unterstellung, er täte es bereits jetzt, kann faktisch nur als Forderung gelesen werden.31 Im Hintergrund steht, wenngleich in einem kontrafaktischen Sinne, auch hier die Voraussetzung, daß der Staat das gemeinschaftliche politische Aufgabenfeld aller beteiligten Personen sei.32 Neben die Gesetzes- und die Herrschaftsthematik stellt Schleiermacher noch einen weiteren Aspekt: Nicht allein Gesetz und Herrschaft, sondern auch die materiellen Gegebenheiten – Territorium, Ressourcen, technischer Entwicklungsstand – bilden einen elementaren Faktor in der Existenz von Staaten. Deren „ethische Organisation“ ist auf die Beherrschung des Erdbodens ausgerichtet und dient der Erschließung seines Reichtums. Da jedoch die Bodenfläche prinzipiell limitiert ist und zudem die jeweils auf begrenzten Flächen lebenden Bewohnergruppen durch kulturelle und sprachliche Eigentümlichkeiten voneinander abgesetzt sind, besteht die Notwendigkeit, Regelungssysteme auszubilden, die im Konfliktfall die Anwendung von Gewalt begrenzen oder erschweren. Solche Systeme sind es, die über die Etablierung stabiler Verständigungsprozesse einen permanenten Friedenszustand überhaupt erst möglich machen. Ob es den hierfür verantwortlichen Funktionsträgern gelingt, dieser Aufgabe nachzukommen, ist eines der entscheidenden Kriterien für die politische Einschätzung einer Staatsorganisation.33 Aus dem Gedanken der Vernunftbildung der Natur, den Schleiermacher in der „Ethik“ als zentrales Motiv des Kulturprozesses hervorhebt, ergibt sich in diesem Zusammenhang eine weitere Folgerung. Die 31
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In diesem Sinne ist auch eine Formulierung zu verstehen, mit der Schleiermacher seine eingangs anmerkungsweise zitierte Äußerung von 1831 zu jener Darstellung des „Messager des Chambres“ ergänzt (siehe Anm. 3). Er erklärt dort: „Wir haben seit dem Tilsiter Frieden reißende Fortschritte [!] gemacht, und das ohne Revolution, ohne Kammern, ja selbst ohne Preßfreiheit; aber immer das Volk mit dem König, und der König mit dem Volk. Müßte man nun nicht seiner gesunden Sinne beraubt seyn, um zu wähnen, wir würden von nun an besser vorwärts kommen mit einer Revolution? – Darum bin ich auch meines Theils sehr sicher, immer auf der Seite des Königs zu sein, wenn ich auf der Seite der einsichtsvollen Männer des Volkes bin“ (KGA I/14, 357; vgl. auch: ebd., CXIX–CXXI). Vgl.: Ueber die Begriffe der verschiedenen Staatsformen, a.a.O. (Anm. 24), 44. Vgl.: Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre. Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun hg. und eingeleitet von Hans-Joachim Birkner (Philosophische Bibliothek, Bd.335), Hamburg 1981, 103 (§128) und 116 (§186).
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Staatenbildung als Teil des kulturellen Gesamtprozesses ist durch ein stark universalistisches Element gekennzeichnet. Denn zwar konkretisiert sich jene Vernunftbildung in der durch den Staat betriebenen Beherrschung des Erdbodens. Sie kann aber im Modus der Partikularität nie über unzureichende Ansätze hinauskommen. Eine zulängliche Gestalt findet sie allein dann, wenn es gelingt, nationale und kulturelle Segmentierungen zu überwinden, das heißt im multiethnischen und kulturpluralen Weltstaat.34 Dieser Gedanke wird bereits in den staatstheoretischen Überlegungen der Umbruchsjahre vor 1815 vorgetragen. In der Ethikvorlesung von 1812/13 ist Schleiermacher hinsichtlich der realpolitischen Möglichkeit einer nationenübergreifenden Staatenbildung noch sehr zurückhaltend. Staat und Nation stehen hier in enger Verbindung; „der natürliche äußere Umfang eines Staates geht also, soweit Sprache und Gestalt gehen, über Menschen und Boden“. „Menschen und Boden gehören wesentlich zusammen, daher auch der Boden das erste Object der Anziehungskraft der Liebe für alle ist, und ein Volk es immer als Beraubung fühlen muß, wenn es einen Theil seines ursprünglichen Bodens einbüßt.“35 Weitergehende Realisierungschancen erwachsen aus der Ausbildung „nationaler Gemeinschaften des Wissens“: „Endlich entsteht eine Gemeinschaft daraus, daß jede Nation als Person auch das Fragmentarische an sich hat [...]. Daher nimmt jedes Volk seine Zuflucht zu dem Volk, welches die Virtuosität eines Gebietes darstellt, muß aber dann das Individuelle mitnehmen.“ Das „Abhängigkeitsverhältnis“, das auf diese Weise unter einer Mehrzahl von Völkern entsteht, bildet durchweg ein starkes Fundament für die weitere Entwicklung im Staatenverhältnis.36
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Dieser Aspekt wird bei Jaeschke kaum wahrgenommen. Er ist aber unverzichtbar, will man den interkulturellen Ansatzpunkt der Schleiermacherschen politischen Theorie nicht völlig verfehlen. Ethik (1812/13), 103 (§128, 129). Vgl. hier, 103–104 (Anm.), auch die entsprechenden Ausführungen aus der Vorlesung von 1816. Unter anderem heißt es: „1. Staat ist Identität von Volk und Boden. Ein wanderndes Volk ist selten schon Staat. a) Zulänglichkeit des Bodens besteht darin, daß die wesentlichen Bedürfnisse in natura erzeugt werden. […] b) Bestimmtheit des Bodens hängt am Volkscharakter und am Naturcharakter – beide laufen in einander auf den Berührungslinien, die also in gewissem Sinne unbestimmt erscheinen und um äußerer Motive willen verrückbar.“ Ebd., 116 (§186). In der Akademieabhandlung zu den Staatsformen spricht Schleiermacher von der „sonderbaren“ Möglichkeit, daß ein Staat „nach einem noch größeren Umfange“ strebt, als durch den Existenzbereich eines Volkes gegeben ist (Ueber die Begriffe der verschiedenen Staatsformen, a.a.O. [Anm. 24], 39). – Siehe auch die Studie von Heinhard Steiger: Frieden durch Institution. Frieden und Völkerbund bei Kant und danach, in: Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer
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Je länger Schleiermacher sich der politischen Thematik widmete, desto wichtiger wurde ihm die weltstaatliche Idee. In den Vorlesungen der späten zwanziger Jahre tritt sie als einer der Zielgedanken der staatstheoretischen Konzeption prominent hervor.37 Dabei dient sie Schleiermacher insgesamt weniger dazu, eine politische Vision oder eine utopische Vorstellung vom zukünftigen Staat zum Ausdruck zu bringen. Ihr kommt vielmehr ein „regulativer Charakter“ zu; sie übernimmt die Aufgabe, die gegebenen Staaten in ihrer nationalen und kulturellen Begrenztheit auf das Bewußtsein ihrer geschichtlichen und sittlichen Relativität zurückzuführen. Schleiermacher war nicht daran interessiert, die Idee von einem Universalstaat als konkrete tagespolitische Forderung in die Diskussion einzubringen. Ihm war bewußt, daß die mit einem solchen Zielbegriff intendierte geschichtliche Entwicklung nach Kriterien einer realistischen Politikbeurteilung mittel- und selbst langfristig unabsehbar und in ihren tatsächlichen Erfolgschancen kaum einschätzbar war. Ein universaler oder „weltbürgerlicher“ Staat steht überdies quer zu Schleiermachers Vorstellung von der Notwendigkeit einer emotionalen Bindung des Einzelnen an den Staat, wie sie sich in der Regel über regional- und nationalgeschichtlich bedingte kulturelle Motive ergibt. Im Sinne eines praktikablen politischen Handlungsauftrages setzt Schleiermacher an die Stelle der Universalstaatsidee das Modell eines Staatenbundes. Ein solcher Bund soll das Ergebnis eines vom Friedensgedanken bestimmten Verhältnisses der Staaten zueinander sein und zugleich selbst der Stärkung und Sicherung des Friedens dienen. Da jedoch die konkrete geschichtliche Gestalt eines Staates an diejenigen begrenzten nationalen, kulturellen und ökonomischen Ressourcen gebunden bleibt, die innerhalb seines Territoriums vorhanden sind, bemüht Schleiermacher sich, die nationalstaatsüberschreitende Tendenz seiner Staatenbundidee nicht in ein Konkurrenzverhältnis zur nationalen Dimension des Staatsbegriffes treten zu lassen. Er denkt, wenn ich es recht sehe, auf eine Art föderaler Weltrepublik hin. Für den kulturtheoretischen Kontext von Schleiermachers Staatslehre ist überdies der Umstand bedeutsam, daß von denjenigen kulturellen Sektoren, die der staatlichen Gestaltung entzogen sind, also in erster Linie Wissenschaft und Religion, Impulse ausgehen, die ihrerseits jene universale Tendenz zum Ausdruck bringen. Sie verstärken damit eine normative politische Kraft, aus der sich, so Schleiermachers Erwartung, Energien für eine tatsächliche Annäherung im zwischenstaat-
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neuen Weltordnung, hg. v. Matthias Lutz-Bachmann und James Bohman, Frankfurt/M. 1996, 140–169. Vgl.: Vorlesungen über die Lehre vom Staat (KGA II/8), 555.
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lichen Bereich und insofern für eine Überwindung jener Gebundenheit an partikulare Faktoren gewinnen lassen.
3. Schleiermachers politische Konzeption heute Jeder Sichtweise, die vom Modell einer deliberativen bürgerlichen Öffentlichkeit ausgeht, fällt es nicht schwer, in der politischen Theorie Schleiermachers Anknüpfungspunkte auszumachen. Insofern ist es im Gegenstand selbst verankert, wenn die Wendung ins aktuelle politische Thema naheliegt. Schleiermacher ist ein Theoretiker des Überganges von der sogenannten „repräsentativen“ zur „bürgerlichen“ Öffentlichkeit. Sein Öffentlichkeitskonzept wandelt sich als Folge des Eindruckes, den die Rücknahme der Reformpolitik hinterlassen hat. Auf diese Weise wurde die Enttäuschung produktiv in politische Theorie umgesetzt. Auch heute geht es darum, Demokratie zu denken. Über den tiefen Graben, der uns nach 1945 von den politischen Theoretikern des frühen neunzehnten Jahrhunderts trennt, scheint mir doch das freiheitliche Konzept Schleiermachers in eine für ihn noch sehr ferne Zukunft zu leuchten, die wir heute mit dem Grundgesetz von 1949 und seiner Ausgestaltung im bundesrepublikanischen Modell verbinden. Es versteht sich von selbst, daß dieser Theorietyp in seiner kontrafaktischen Motivik nicht einfach aus dem historischen Zusammenhang herauslösbar ist. Schleiermacher war ein Kind seiner Zeit, und man hat immer wieder Anlaß, daran zu erinnern, daß er seiner geistigen und biographischen Herkunft nach dem friderizianischen Zeitalter entstammt. Dies ändert jedoch nichts an dem Anspruch, den er an die politische Theorie knüpft. Hier sehe ich im übrigen eine entscheidende Differenz zum Hegelschen staatstheoretischen Modell. Schleiermachers politische Theorie ist nicht janusköpfig. Sie läßt sich nicht, wie die Hegels, unter Voraussetzungen und vom Autor offenkundig in Kauf genommenen Mißdeutungen mit der herrschenden Konzeption vom autoritären Staat harmonisieren. Bei Hegels Rechtsphilosophie gilt es, ständig zwischen den Zeilen zu lesen. Auch die neuerdings zugänglichen Nachschriften bleiben weithin im Medium der verschleierten Argumentation; nur selten kann Hegel sich entschließen, seine liberale, republikanische Tendenz offen herauszustellen, so daß „alle Studenten zu Republikanern zu machen“ – wie der preußische Kronprinz im Gespräch mit Hegel befand – dem Schüler Eduard Gans vorbehalten blieb. Bei Schleiermacher aber liegen die Forderungen offen zutage. Schleiermachers Idee einer politisch handlungsfähigen Zivilgesellschaft benennt den entscheidenden Motor des politischen Prozesses. Es geht hier um das Ideal einer Zivilgesellschaft, von der aus es unaus-
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weichlich erscheint, daß autoritäre Regime gebrochen und selbst unter außergewöhnlich schwierigen Umständen der Demokratisierungsprozeß vorangebracht wird. Demokratisierung ist, sofern einmal in Gang gesetzt, ein unumkehrbarer Prozeß. Im Angesicht der seitherigen und auch der aktuellen Erfahrungen kann insofern Schleiermachers Konzeption durchaus visionär genannt werden. Ein jeder einzelner Bürger ist Mitglied der Öffentlichkeit. Gesetzgebende Gewalt bedeutet: Das Gesetz ist das Allgemeine und soll für alle gelten. Deshalb muß es auch von allen ausgehen. Wenn etwas für einen gelten soll, so muß dieser auch an dem beteiligt sein, was für ihn gelten soll. Nur zu offenkundig – und den antidemagogischen Staatsschützern ohne weiteres erkennbar – ist die massive Einschränkung der traditionellen Majestätsrechte, die mit dieser Position verbunden ist. Um Rechte des Königs geht es heute nicht mehr, sie sind untergegangen. Doch wie steht es etwa mit der Frage nach einer Verfassung für Europa, ihrer Legitimität mit oder ohne Volksabstimmungen? Wie steht es mit der Privatisierung städtischer Unternehmen, etwa von Krankenhäusern, Elektrizitätswerken und Nahverkehrsbetrieben? Gehen wir mit Schleiermacher, so werden wir die Abgabe derartiger Sektoren aus dem Handlungsbereich der öffentlichen Instanzen als einen Verlust an Demokratie betrachten. Von Vaterlandsliebe ist heute nicht mehr groß die Rede. Die Grundrechte stehen nicht unter einem Moralvorbehalt; die grundgesetzlich garantierten Freiheitsrechte werden nicht an Gemeinschaftswerte gebunden. Dafür beruht die Vitalität des demokratischen Staates zu einem wesentlichen Teil auf dem freiwilligen Engagement seiner Bürger. Hieran zu erinnern, haben wir in einer Zeit allen Anlaß, in der das Freiheitsversprechen des liberalen Staates Gefahr läuft, sich selbst aufzuheben, und in der es deshalb darum geht, die Voraussetzungen, von denen der Staat lebt, in immer neuen Anläufen selbst und täglich neu hervorzubringen. Das zentrale Thema von Schleiermachers politischer Theorie ist Teilhabe. Heute, nachdem die parlamentarische Demokratie für uns zur Selbstverständlichkeit geworden ist und kein vernünftiger Mensch mehr hinter die Republik zurück will, erkennen wir, daß Teilhabe noch in anderer Hinsicht der entscheidende Schlüssel ist. Die Gerechtigkeitsproblematik kann nur vom Teilhabeaspekt her angemessen verstanden und erörtert werden. Gerechte Teilhabe bedeutet, daß niemand aus den gesellschaftlichen Bezügen ausgeschlossen werden darf, der sich nicht selbst willentlich ausschließt. Sie verpflichtet zur Solidarität und ist die Basis für eigenverantwortliches Handeln. Sie kann auch dazu dienen, Resistenz gegen die Etablierung neuer Ausbeutungsstrukturen zu be-
Sichtweisen
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gründen, wie sie momentan allenthalben in unserer Gesellschaft errichtet werden. Im Blick auf Schleiermacher meine ich deshalb, daß es Grund genug gibt, ihn als einen jener Ahnherren der freiheitlichen Demokratie zu betrachten, die den Stachel des bürgerlichen Selbstbewußtseins in den Körper aller autoritären und freiheitsverzehrenden Staatsmodelle gesenkt haben. Hierin liegt seine Bedeutung als politischer Theoretiker.
Staat bei Schleiermacher und Hegel: Staatsphilosophische Antipoden? VON JÖRG DIERKEN/HAMBURG
Schleiermacher und Hegel gelten als Antipoden der klassischen deutschen Philosophie. Bekanntlich konnten die Meisterdenker der neuen Berliner Universität ihr Zerwürfnis nur notdürftig kaschieren. Sein Ausgangspunkt waren Reizworte der Religionstheorie: Abhängigkeit gegen Freiheit, Gefühl gegen Vorstellung und Denken, Gott als differenzüberhobene Einheit gegen ein differenzbefassendes Absolutes. Tatsächlich aber lassen sich beide Theorien in höchst produktiver Weise aufeinander beziehen – unbeschadet unvermittelbarer Unterschiede. Dies zu zeigen wurde angesichts des unterbliebenen Diskurses zwischen diesen Vordenkern der Moderne zur Aufgabe späterer Forschung. Ähnlich konträr scheinen Schleiermachers und Hegels Auffassungen über den Staat zu sein. Für den ersten Blick steht hier der Liberale, für den der Staat nur eine ethische Grundform neben anderen ist, dort der Etatist, der die gesamte Sittlichkeit im Staat aufgehoben findet. Hier der Anhänger der patriotischen Freiheitsbewegung, dort der Verehrer des friderizianischen Preußens. Hier ein Theoretiker des mit Ökonomie befaßten Verwaltungsstaates, dort ein Metaphysiker, für den der zum „wirklichen Gott“ deifizierte Staat1 dem Getümmel der Wirtschaftsgesellschaft überhoben ist. Doch die plakativen Gegensätze täuschen. Beide sind zunächst Republikaner und Anhänger der revolutionären Staatsideen. Beide verfechten schließlich die konstitutionelle Monarchie. Beide kritisieren Vorstellungen vom Staat als Produkt naturwüchsiger Sozialitätsbedürfnisse oder als Notvorkehrung angesichts allseitiger Abhängigkeiten, beide verwerfen einen Radikalliberalismus, wonach der Staat nur um des Privatinteresses willen da ist, beide begegnen Theorien des Gesellschaftsvertrags mit dem scharfsinnigen Argument, daß ein rechtsgültiger Vertragschluß den Staat als sein Resultat bereits voraussetzt. Daß der Staat die Minimierung von Gewalt durch ihre Mo1
G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §258, Zusatz, hg. v. E. Moldenhauer u. K.M. Michel, Frankfurt/M. 1969–71 [Theorie Werkausgabe =TWA], Bd.7, 403.
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nopolisierung bezweckt, setzen beide neuzeitliche Staatsdenker ohnehin voraus. Für Schleiermacher wie Hegel liegt die Institutionalität des Staates in der Fluchtlinie der Vernunft, die in kontingent-naturwüchsige Sozialverhältnisse eingeht. Hier zeigt sich die Vernunfttendenz zum Allgemeinen in Ordnungsgefügen, die aus spontan-subjektiven Vollzügen im Besonderen erwachsen. So geht für Schleiermacher der Staat aus „freien Handlungen“2 hervor, die in den sozialen Ordnungsstrukturen von Obrigkeit und Untertanen zwecks optimierter gesellschaftlicher Naturaneignung vollzogen werden. Hegel denkt den Staat vom Begriff der Freiheit als Willen her, der über seine allgemeine Subjektivität hinausdrängt und sich in Sozialverhältnissen objektiviert, die sich zur Befriedigung natürlich-besonderer Bedürfnisse bilden. Diese Sozialverhältnisse gipfeln in Recht und Staat, worin die institutionell geregelte Freiheit des Willens zur „zweiten Natur“ wird.3 Schleiermachers wie Hegels Theorien implizieren mithin unterschwellige Sollensmomente – aber so, daß Vernunftgehalte in empirisch-sozialen Prozessen real werden. Trotz ähnlicher Intentionen kommen die Theorieformen nicht zur Deckung. Schleiermacher favorisiert in seinem ethischen ‚Formelbuch‘ des Geschichtlichen ein verfahrenstheoretisches Konzept, wonach Vernunft in ihrem Handeln immer schon mit ihrem Gegenbegriff, Natur, verwoben ist. Dabei kann Natur von der Vernunft als ‚Organ‘ angeeignet, aber auch Vernunft von Natur als ‚Symbol‘ dargestellt werden. Diese Gegensatzeinheit von Organisieren und Symbolisieren wird durch die komplementäre von Individualität und Allgemeinheit überkreuzt. Schleiermacher entwirft ein gleichsam kreuztabellarisches Schema vierfacher Wechselbezüge zur Beschreibung sozialer Formationen. Der Staat verkörpert darin bekanntlich das unter der Allgemeinheitsform gefaßten Organisieren: Ökonomische Naturaneignung in sozialer Ordnung, deren relative Geschlossenheit stets mit anderen Formationen oszilliert. Für Hegels Geistphilosophie ist Natur als aufgehobene bereits in Vernunft eingegangen. Vernunfthaltige Wirklichkeit zeigt Naturalität immer schon als gestaltet in subjektivem Wissen und sozialem Austausch. Vermöge der Negativität jener ‚Aufhebung‘ von Natur erstreckt sich Vernunft in ihr Gegenteil, etwa geschichtlich-kontingente Gestaltungen – sofern diese mehr als bloß ‚haltlose Existenzen‘ sind. Vernunft reicht ordnend in härteste Entzweiungsstrukturen hinein. Ob ihrer reflexiven Dimension vermag die Vernunft hierin noch
2 3
F.D.E. Schleiermacher: Vorlesungen über die Lehre vom Staat, hg. v. W. Jaeschke, Berlin/New York 1998 [=S/KGA II/8], 71. G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 51995 [=R], §4.
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sich selbst zu erfassen. Darum drängt sie über alle Gestalten immer auch hinaus. Hierfür steht bei Hegel: ‚Geist’. Wie in der Religionsphilosophie, so verspricht auch im Bereich des Staatsdenkens der Wechselblick auf beide Konzeptionen größere Trennschärfe und indirekte Erhellung jeweiliger blinder Flecken. Hierzu gehe ich zunächst einigen Grundlinien des jeweiligen Staatsdenkens nach, um schließlich die unterschiedlichen Akzente im jeweiligen Theoriedesign zu fokussieren. Als wesentliche Differenz, soviel thetisch vorweg, wird sich das Verhältnis von kategorialen und empirisch-historischen Faktoren zeigen: Während Schleiermachers insgesamt verfahrensorientiertes Denken kategoriale Gefüge als Bedingungen in der zergliedernden Analyse empirischer Gehalte auffindet, verflicht Hegels logischgenetisches Denken begriffliche Bestimmungen mit realen Vollzügen des sozialen Lebens, das zugleich zu einem reflexiven Wissen von sich strebt.
Schleiermachers Staatslehre Schleiermachers Staatslehre,4 formal eine technische Disziplin,5 verbindet eine kritisch-bestimmende und eine praktische Dimension. Sie mittelt durch Betrachtung der „Natur des Staats im Leben“ aus, wodurch aus „Nicht-Staat ein Staat wird“.6 Dies geschieht zur Ermöglichung von „richtigem Handeln“.7 Gleichwohl will sie weder Staatsführungskunst bieten, noch eine reine Idee des Staates konzipieren. Schleiermacher versteht den Staat als „Form“ eines „ausgebildeten“ Volkes: „Ohne Volk kein Staat.“8 In Nähe zur romantisch-historischen Schule stellt Schleiermacher den Staat in die Reihe sozialer Lebensformen, die durch gemeinsamen Grund und Boden, Sprache und Kultur bis hin zu Geschlechtern und Familien geprägt ist. Der Staat ist ob seiner Wurzeln im jeweils geschichtlichen Volk ein Nationalstaat – und 4
5
6 7 8
Vgl. zur Entwicklungsgeschichte der nur in Vorlesungen entfalteten Staatslehre die Einleitung des Herausgebers, S/KGA II/8, XVIIff.; einen Überblick gibt W. Dilthey: Leben Schleiermachers. Zweiter Band: Schleiermachers System als Philosophie und Theologie, aus dem Nachlaß hg. v. M. Redeker, Göttingen 1966 (Dilthey, GS XIV, 1), 361ff.; vgl. ferner K. Nowak: Schleiermacher, Göttingen 2001, 311ff. F.D.E. Schleiermacher: Ethik (1812/13), hg. v. H.-J. Birkner, Hamburg 1981 [=E], 12 (§60). Allerdings oszilliert sie tatsächlich zwischen den technischen und kritischen Disziplinen. Vgl. H. Fischer: Friedrich Schleiermacher, München 2001, 95f. S/KGA II/8, 69. Ebd. F.D.E. Schleiermacher: Über die Begriffe der verschiedenen Staatsformen, in: Akademievorträge, hg. v. M. Rössler, Berlin/New York 2002 [=Staatsformen/KGA I/11], 106.
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existiert darum nur im Plural. Staatscharakter gewinnen solch soziale Formationen aber erst durch klare Funktionen für den ökonomischen ‚Naturbildungsprozeß’. An erster Stelle steht Erwartungsstabilität für Eigentum und Tausch. Sie wird durch das Recht gewährleistet. Ohne den Rechtsbegriff terminologisch in den Vordergrund zu rücken, fokussiert Schleiermacher dessen soziale Funktion über elementare ökonomische Vorgänge. Die Tauschökonomie verbindet die Einzelnen zum Allgemeinen durch besitzrechtlich individuierte, d.h. wechselseitig respektierte Verfügungsgewalt über Dinge. Ohne deren Subjektivität gibt es keine Vergesellschaftung im Staat als Funktion sozialer Ordnung. Im Staat gelangt die zunächst bewußtlos das Volk bildende ‚Masse‘ zu einer „bewußten Einheit“.9 „Diese Entstehung des Bewußtseyns der Zusammengehörigkeit ist das Wesen des Staates.“10 Komplementär hierzu bildet sich ein Bewußtsein des „Fürsichbestehens jedes Einzelnen“.11 Gemäß der Form des Bewußtseins, Relationen über Gegensatzverhältnisse zu verknüpfen, sind im Staat somit gleichursprünglich Einzelheit und Allgemeinheit gesetzt. Diese bewußtseinstheoretische Differenzrelation wird in sozialer Hinsicht im Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten manifest. Diese Grundform sozialer Herrschaft beschreibt Schleiermacher in der etwas abständigen Terminologie von Obrigkeit und Untertanen.12 Ohne deren Verhältnis ist kein Staat. Freilich ist diese Relation von bloßer Herrschaftsgewalt zu unterscheiden: Despotie oder Tyrannei sind keine Staatsformen, ebensowenig wie Anarchie. Und es gibt eine Tendenz zur Teilhabe aller an der Herrschaft. Handlungen der Obrigkeit, in denen als Nukleus des institutionellen Rechtsverhältnisses das Allgemeine zur Darstellung kommt, korrelieren mit Handlungen der Untertanen, deren Gehalte sich aus dem jeweils einzelnen ‚Geschäft‘ ergeben. „Gesetz und Geschäft bestehen im Staat“ als „Vermittlung dieses Gegensatzes“ in Wechselbezügen.13 Insofern das Gesetz in allgemein zugänglichen Formen von Sprache und Wissen artikuliert ist, und insofern einzelne interessegeleitete Geschäfte über Eigentum und Tausch Sozialverhältnisse stiften, sind die den Staat ausmachenden Handlungen frei. Diese Struktur beinhaltet die Konstitution des Staates – gleichgültig, ob die Verfassung Papierform angenommen hat oder noch ungeschrieben gilt. Der korrelative Gegensatz von Obrigkeit und Untertanen ermöglicht die Grundfunktion des Staates, Recht zu setzen. Gemeint ist dabei
9 10 11 12 13
Staatsformen/KGA I/7, 197. Ebd. Ebd. Vgl. S/KGA II/8, 69ff. Staatsformen/KGA I/7, 108.
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nicht primär das an Gewalt, Verletzung und Normverfehlung orientierte Strafrecht.14 Schleiermacher denkt die ‚Obrigkeit‘ nicht wie die ältere protestantische Tradition als Abwehr des erbsündennaturalistisch ubiquitären Bösen. Recht ist bei Schleiermacher zunächst das auf Ökonomie bezogene Privatrecht. Wenn im ethischen ‚Naturbildungsprozeß‘ die Vernunft in der Natur unter der Form des Allgemeinen wirkt, setzt dies soziale Differenzierung durch Arbeitsteilung frei. Sie führt zur modernen Erwerbs- und Tauschökonomie. Daher gehört für Schleiermacher die Wirtschaft in die Sphäre des Staates. Sosehr in dieser Sphäre des identischen Organisierens das Verhältnis von Einzelheit und Allgemeinheit von letzterer her bestimmt wird, so sehr geschieht dies ökonomisch in den vergemeinschaftenden Handlungen der Einzelnen durch Arbeit, Eigentum und Tausch. Ethisches Vernunfthandeln vollzieht sich über das Gegenmoment, die Natur. Mit deren kontingenter Raum-Zeitlichkeit ist Verschiedenheit gesetzt, wie Einheit mit Vernunft. Beides steht im Wechselverhältnis. Der enge Zusammenhang von Staat, Recht und Wirtschaft begründet aber keinen Sozialismus. Schleiermacher denkt nicht im Paradigma des geschlossenen Handelsstaats. Er begründet aber auch keine Konzeption des liberalistischen Minimalstaates, der zum bloßen Mittel für die Interessenverfolgung durch die Bürger würde. Wie der Staat nicht „Concurrent der Einzelnen“ werden soll,15 so sollen diese sich nicht in bloßem Gelderwerb ergehen, für den die Dimension des Gemeinschaftlichen ein bloßes Instrument ist.16 Schleiermacher konzipiert einen Staat der bürgerlichen Freiheit in Äquidistanz zu purem Kapitalismus wie Sozialismus. Dies schlägt sich in der Institutionalität des Staates nieder. Sie wird von Schleiermachers Staatslehre in der Trias von (1) Staatsbildung bzw. -verfassung, (2) Staatsverwaltung und (3) Staatserhaltung bzw. -verteidigung entfaltet. Deren Momente verweisen aufeinander, wenn auch in historisch unterschiedlicher Gewichtung. Ein Militärstaat ist kein Verwaltungsstaat, und dieser unterscheidet sich von einem durch Machteliten, Priesterkasten oder Philosophenkönigtum bestimmten Staat. Das von Schleiermacher favorisierte Staatsverständnis besitzt ein inneres Gefälle zu der mit dem „industriösen“ Zustand verbundenen Verwaltung.17 Zeithistorische Entwicklungen sollen Staatsprägungen durch kriegerisches Militär oder privilegierte Machteliten zurückdrängen.
14 15 16 17
Dessen Ort ist nicht die Konstitution des Staates, sondern seine Verteidigung nach innen gegen private Gewalt und Rache. S/KGA II/8, 155. Vgl. E, 286. S/KGS II/8, 88.
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Dazu tragen auch Wechselverhältnisse mit weiteren kulturellen Faktoren wie Religion, Geselligkeitsstil, Wissenschafts- und Technikentwicklung sowie Bildung bei. Sie sollen keineswegs vom Staat dominiert werden. Ohne Freiheitsgenuß in all diesen Bereichen gibt es keinen vollkommenen Staatszustand.18 Im Kontext der ‚Staatsbildung oder -verfassung‘ (1) erörtert Schleiermacher die klassischen Grundformen der Aristokratie, Demokratie und Monarchie. Sie sind historisch variabel und korrespondieren insbesondere mit der Größe des Staates. Demokratie ist eine Herrschaftsform für überschaubare Einheiten; Aristokratie dokumentiert das Hervortreten einzelner Eliten. Zumeist liegen Mischformen vor. Die Gefahr der Demokratie ist die planlose Herrschaft bloßer Massen unter kontingenten Einflüssen; Aristokratien neigen dazu, das Allgemeine dem Interesse privilegierter Eliten unterzuordnen. Gegen beides steht die konstitutionelle Monarchie. Sie soll das Allgemeine rein zur Darstellung bringen. Dies geschieht durch den Monarchen, dessen wesentliches Merkmal im Idealfall gänzliche Selbstlosigkeit ist. Dieses Ideal läßt Züge priesterähnlicher Heiligkeit durchschimmern.19 Zur Wirklichkeit komme es in der auf Kontingenz der Geburt fußenden Erbmonarchie.20 Doch das monarchische Ideal könnte von jedem verkörpert werden, der die „Idee des Staates“ rein kennt.21 Im Monarchen berühren sich zudem die entscheidenden Funktionen der Gesetzgebung und Vollziehung, insofern er die durch Befolgung zu realisierenden Gesetze ausfertigt. In diesem Verhältnis von Gesetzgebung und Vollziehung reflektiert sich die staatskonstitutive Differenz von Obrigkeit und Untertanen. Ihr Wechselverhältnis wird von den Übergängen zwischen Legislative und Exekutive abgebildet. Die Institutionen der Legislative sprechen den allgemeinen Willen aus, und die hiermit anhebende Exekutive führt ihn aus. Im Hintergrund stehen Konflikte. Zum Gesetz werden Gehalte, wenn Veränderungen Platz greifen und das Bedürfnis entsteht, „der bisherigen Sitte zuwider zu handeln“.22 Kontinuität und Negation gehören zusammen. Gesetze wiederum, so sehr sie ‚gegeben‘ werden müssen und hierin ein Moment von Dezision tragen, zielen auf permanente Vollziehung durch Befolgung. Wenn sie nicht durch Willkür den Keim 18 19 20
21 22
Vgl. S/KGS II/8, 112. Vgl. S/KGA II/8, 37. Die gänzlich der Naturkontingenz der Geburt anheimgestellte Auswahl des individuellen Repräsentanten der Monarchie korrespondiert unmittelbar seiner vollkommenen Selbstlosigkeit. Daher impliziert die gleichsam in Konzentration der Aristokratie gefaßte Monarchie ideellerweise Momente von Egalität – das Merkmal von Demokratie. Ebd. Ebd., 100.
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zu revolutionärer Opposition legen sollen, ist Beteiligung der Untertanen impliziert.23 Ohnehin sollen diese im Staat kraft öffentlicher Meinung ein legitimes Urteil über die Obrigkeit besitzen.24 Das Verhältnis von Obrigkeit und Untertanen impliziert im Optimalfall Wechselbalancen – wie auch das von Gesetzgebung und Vollziehung. Darum besitzt für Schleiermacher die von Montesquieu vorgesehene dritte Gewalt der Staatsjurisdiktion eine bloße Zwischenstellung. Das Privatrecht steht im Umkreis der Staatsverwaltung, und das Strafrecht im Umkreis seiner Verteidigung nach innen. Die ‚Staatsverwaltung‘ sodann (2) ist neben administrativen Fragen im engeren Sinne insbesondere mit der Funktion des Staates für den ökonomischen Naturbildungsprozeß befaßt, so sehr der Staat selbst „über dem Conflikt“ der Gewerbe steht.25 Die wichtigsten Staatsaufgaben sind Freiheit und Beweglichkeit zu sichern, Eigentum zu garantieren und insbesondere das für komplexere Tauschverhältnisse beanspruchte Geld bereitzustellen.26 Dies gelingt nur, wenn der Staat handlungsfähig ist. Darum sind alle „cautionspflichtig“ gegen ihn. Die Staatsverwaltung hat die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Ökonomie zu erwirken. Bedeutsam sind etwa Verkehrswege, Bevölkerungsund Einwanderungspolitik, handelsfreundliche Regulierung der Außenpolitik, Kolonisation, Technikförderung, Ausgleich zwischen gebundenem und beweglichem Kapital, Minimierung von Monopolen und Zunftprivilegien. Im Grenzbereich der privatökonomisch orientierten Staatsverwaltung liegt die Pflicht, „jedem seine Subsistenz zu garantieren“.27 Daneben befördert der Staat Bildung und Erziehung. Bis auf den Bereich der politischen Gesinnung stehen hierbei jedoch andere Institutionen im Vordergrund. Dies sind die überschaubaren Sozialformen von Familie und Geselligkeit,28 aber auch der tendenzielle Kosmopolitismus von Welthandel, Wissenschaft und Religion.29 Freiheitsförderung durch eine erfolgreiche Staatsverwaltung geht mit klaren Zuständigkeitsgrenzen und Anerkennung anderer Kräfte einher. Paradigmatisch steht hierfür die vom Staat bejahte Glaubens- und Religionsfreiheit. Sie ist die Voraussetzung einer bildungs- und kulturförderlichen Religionsentwicklung, die letztlich auch dem Staat zugute kommt.30
23 24 25 26 27 28 29 30
Vgl. Staatsformen, KGA I/11, 122. S/KGA II/8, 180. S/KGA II/8, 193. Ebd., 120, 136 Ebd., 120. Vgl. Über den Beruf des Staates zur Erziehung, KGA I/11, 127ff. Vgl. S/KGA II/8, 147. Vgl. S/KGA II/8, 104ff.
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Die Staatsverteidigung schließlich (3) besteht nach innen in der Gerichtsbarkeit gegen Verbrechen mit Sogwirkungen auf den Staat. Hier hat die Justiz ihren Ort. Nach außen kommen bei der Staatsverteidigung zuvörderst die Mittel der Diplomatie in Betracht. Gleichwohl ist auch die militärische Verteidigung im Blick. Unter den verschiedenen Formen der Staatsverteidigung favorisiert Schleiermacher das „vorübergehende Begriffensein der ganzen Volksmasse in der ständigen Rüstung“.31 Als Zwischenbilanz seien vier Aspekte genannt. Erstens, der Begriff des Staates wird von keinem archimedischen Punkt aus abgeleitet, sondern ebenso geschichtlich wie funktional aus Sozialvollzügen heraus expliziert. Hierbei spielt die Ökonomie eine zentrale Rolle. Gleichwohl geht der Staat nicht in der Wirtschaftsgesellschaft auf. Der pragmatischfunktionale Zugang der Staatslehre bedeutet aber nicht, zweitens, daß der Staat keine innere Einheit darstellte. Vielmehr bilden die bewußtseins- und subjektivitätstheoretisch fundierten Wechselverhältnisse, insbesondere von Obrigkeit und Untertan, von Spontaneität und Rezeptivität, aber auch von Staat und Gesellschaft, in sich zurücklaufende Spannungsbögen. Hierfür steht die Metapher des Organismus, die jedoch nicht überdehnt werden darf.32 Denn der Staat ist kein Naturgebilde, und mag es auch als noch so kunstvoll beurteilt werden: Ohne Bewußtsein keine Staatsvollzüge. Drittens, die mit Bewußtsein gesetzte Reflexivität dokumentiert sich in den sozialen und institutionellen Prozessen, wird als solche jedoch nicht eigens thematisch. Entsprechende Abschlußfiguren fehlen – obwohl der Staat zu den vollkommenen Formen des höchsten Gutes zählt, in der die Ethik „am meisten (…) dem Absoluten entgegen [treibt]“.33 Viertens, diese Vollkommenheit haftet an Interdependenzen des Staates mit eigenständigen Sphären sozialen Handelns und mentalen Lebens zwischen intimem Geschlechter- und Generationenverhältnis in Ehe und Familie, Geselligkeit und dem tendenziell kosmopolitischen Austausch in Kultur, Religion und Wissenschaft. Der Staat wird zu dem, was er ist, wenn er nicht absolut ist und nur in sich ruht. Er ist nicht für die Vollendung des menschlichen Daseins zuständig.34
31 32 33 34
Vgl. F.D.E. Schleiermacher: Ueber die Gestaltung der Staatsverteidigung, KGA I/11, 376. Vgl. G. Holstein: Die Staatsphilosophie Schleiermachers, Bonn 1923. Vgl. E, 225. Vgl. S/KGA II/8, 86.
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Hegels Theorie des Staates Hegels Staatstheorie steht im Kontext der Rechtsphilosophie, die Naturrecht und Staatswissenschaft umfaßt. Naturrecht meint Vernunftrecht, und dessen Institutionalisierung gipfelt im Staat. Der Boden des Rechts ist „das Geistige“ als Wille in Freiheit.35 ‚Geist‘ ist die Subjektivität des Willens, insofern sie sich in der Gestaltung einer Naturverhältnisse integrierenden intersubjektiv-sozialen Welt objektiviert. Hegels ‚objektiver Geist‘ ist durch die Momente des den Personbegriff in Abhebung von handelbaren Sachen exponierenden abstrakten Privatrechts, der im Subjektiven verbleibenden Moralität sowie schließlich der sittlichen Sozialwelt aufgebaut. Noch deren Vernünftigkeit wird indirekt über Naturmomente konstituiert. Für personale Liebe in Ehe und Familie, dem ersten Formativ der ‚Sittlichkeit’, ist das Geschlechter- und Generationenverhältnis charakteristisch; Naturaneignung unter Konkurrenzbedingungen kennzeichnet die vom Staat differente bürgerliche Erwerbsgesellschaft; und der Staat selbst, das beide integrierende letzte Formativ, geht auf die alle Menschen je anders kennzeichnende Einzelheit und befaßt die Einzelnen gleichermaßen unter das allgemeine, durch Artikulation ins Wissen gehobene Gesetz. Seine Realität ist allgemeine Geltung, die in jeweilige Handlungen umgesetzt wird. Und in seine Gehalte gehen immer positive, aus geschichtlich-besonderen Verhältnissen erwachsende Elemente ein, seien sie solche der Sitten oder des Nationalcharakters des Volkes. Nicht nur Hegels klare Unterscheidung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat, sondern auch sein methodischer Ausgang von der Subjektivität des Willens scheint sein Konzept weit von Schleiermacher abzuheben. Gleichwohl zeigen sich unterschwellige Gemeinsamkeiten. So ist der Wille kein schon „Fertiges“, sondern er ist in seiner Freiheit immer nur als „Tätigkeit“ des Bestimmens und Negierens.36 Mit dem Willen ist eine prozessuale Dynamik verbunden, in der er sich unbeschadet innerer Unendlichkeit in endliche, konkrete und empirische Verhältnisse verwickelt. Kategorialität drängt auf Empirie. Dies wird von Hegel negationsdialektisch gedacht.37 Denn das Setzen von Bestimmtheit heißt Unterscheiden – dieses und nicht jenes –, und es impliziert im ‚Nein‘ zu etwas stets Einseitigkeit und Endlichkeit.38 Zudem 35 36 37
38
R §4. §7, Anm. Selbst in der verneinenden Manifestation der Freiheit, in der er alle bestimmten Inhalte kraft seiner selbst auflösen kann, ist der Wille als reine Möglichkeit auf tatsächlich gegebene Gehalte bezogen, um die „Freiheit der Leere“ zu manifestieren – und sei es als „Furie des Zerstörens“ (R §5, Anm.). Vgl. §§6, 8, 12.
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äußert sich der subjektive Wille in Handlungen, die als vom Subjekt gewußte eigene Vollzüge auf den Willen anderer bezogen sind.39 Die daraus resultierende Intersubjektivität verstetigt sich in Institutionen, gleichsam als zweite Natur. Sofern die Institutionen strukturell offen sind für subjektive Vollzüge und diese sozial anerkennen, dokumentieren sie Freiheit. Inbegriff eines solchen institutionalisierten Anerkennungsverhältnisses ist das Recht. Es ist Dasein der Freiheit.40 Der ideenontologisch und subjektivitätsmetaphysisch ansetzende Willensbegriff kennt eine Prozeduralität, die über Handeln auf institutionell abgesicherte Verhältnisse wechselseitiger Anerkennung führt. Die deutlichste Differenz zu Schleiermacher dürfte in Hegels negationsdialektischem Verfahren liegen. Die Institutionalität von Hegels Staat beschließt zwar die Rechtsphilosophie und ist von den anderen Formativen des objektiven Geistes zu unterscheiden. Gleichwohl ist sie ohne diese nicht zu denken. Die genetisch-kategorial vorangehenden Momente des objektiven Geistes sind im Staat, der „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ und des „substantiellen Willens“,41 aufgehoben. Dies betrifft zunächst den im eigentumsrechtlichen Grundverhältnis exponierten abstrakten Begriff der Person: Im Tausch asymmetrischer verteilter Besitztümer wird eine Grundform symmetrischer Anerkennung eröffnet. Dies gilt ferner für die Bildung der moralischen Subjektivität, die sich aus äußerer sozialer Realität ganz in die Innerlichkeit zurückziehen kann: In solcher Verneinung von Sozialität wird die Freiheit des Willens erprobt – im Optimalfall unter ideeller Wiederherstellung des Sozialverhältnisses im subjektiven Gewissensurteil.42 Auch die Gestalten der Sittlichkeit selbst, also Ehe und Familie, bürgerliche Erwerbsökonomie und Staat, sind nicht losgelöst von vorangegangenen Formativen. Natürliche Gegensätze werden über die auf personaler Liebe fußenden Geschlechts- und Generationenverhältnisse in den Staat hineingenommen; die im ökonomischen Interessenkampf forcierten Besonderheiten bleiben im Staat aufgehoben. Aufhebung meint Bewahrung bei Negation jeweiliger Einseitigkeiten – nicht aber additive Sammlung in überquellenden Superarchiven. Darum bleibt der abstraktes Recht, Moralität und Sittlichkeit in sich aufhebende Staat im Gegenzug an diese Formative zurückgebunden. Er ist kein allesfressendes Monstrum. Nur so kann er die Freiheit zu ihrer höchsten Realität bringen – das zentrale Merkmal des modernen Staats. Sein Prinzip hat die „ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum
39 40 41 42
Vgl. R §113. Vgl. §29. R §§257, 258. Anderenfalls verglimmt das moralische Bewußtsein in seinem Rückzug in sich.
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selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen“.43 Im Staat verschränken sich Besonderheit und Allgemeinheit, Verschiedenheit und Gleichheit. Kategorial steht hierfür die Hegels Begriff der Einzelheit. Phänomenal entspricht ihr die anerkannte Geltung jedes Menschen als Mensch – gleichgültig ob Italiener, Katholik oder Jude – bei gleichzeitiger Akzentuierung von Individualität.44 Die Gegenläufigkeit der logisch vorangehenden Gestalten des objektiven Geistes und des Staates kommt in dessen Institutionalität zum Ausdruck. Sie bildet seine Konstitution und stellt eine innere Totalität als „individuelles Ganzes“ dar.45 Auch Hegel vergleicht das Staatsganze mit einem gegliederten Organismus. Dem Grundsatz der Gewaltenteilung prinzipiell zustimmend, beinhaltet Hegels ‚inneres Staatsrecht‘ die Institutionen der (1) fürstlichen, der (2) regierenden und der (3) gesetzgebenden Gewalt. Die fürstliche Gewalt (1) sieht Hegel wie Schleiermacher im selbstlosen Monarchen gipfeln, der kraft des Naturkontingenz einschließenden Erbprinzips keiner Delegation folgt, mithin in sich selbst anfängt und darum quasi göttlich ist.46 Der Monarch verkörpert die innere Einheit des Staates in seiner Person, ist als Appellationsinstanz mit Letztentscheidungskompetenz mit Beurteilungen des allgemeinen Gesetzes in besonderen Anwendungsfragen befaßt und kraft der in ihm konzentrierten Befugnis zur Begnadigung auf die Einrichtungen der Rechtspflege bezogen. Damit repräsentiert er in exemplarischer Weise die Prinzipien des Willens und des Rechts, obwohl das innere Staatsrecht keineswegs diese Prinzipien in Alleinvertretung okkupiert. Die Regierung sodann (2) führt als vollziehende Gewalt die Entscheidungen aus, dabei das Besondere unter das Allgemeine subsumierend. Sie stützt sich auf Beamte, die der bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft als „Kampfplatz des individuellen Privatinteresses aller gegen alle“ überhoben sind, aber gleichwohl die Intelligenzelite des Mittelstands bilden.47 Von der Regierungsgewalt reichen Linien zur Rechtspflege, den korporativen und polizeilichen Einrichtungen als Wurzeln 43 44 45 46
47
R §260. Dieses berühmte Bild aus der Sphäre der Rechtspflege (vgl. R §209) kann auf den Staat übertragen werden. R §272. Vgl. R §279, Anm.– Hegels Figur des Monarchen dürfte ebenso wie Schleiermachers diesbezügliche Gestalt die historisch gebundene Abständigkeit beider Denker für eine gegenwärtige Rezeption dokumentieren. Allerdings beinhaltet die bei beiden sichtbare Verbindung von religiösen Charakteren bzw. Idealen und dem kontingente Natalität einschließenden Erbprinzip ein Motiv der Vermittlung von Allgemeinem und Individuellem. Es könnte den Keim zur Dekonstruktion der Exklusivität monarchischer Gewalt bilden. R §289.
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des Allgemeinen in konfliktträchtigen Antagonismen besonderer, v.a. ökonomischer Interessen. Die gesetzgebende Gewalt schließlich (3) basiert auf zwei Kammern, die durch Repräsentanten Grund besitzender Familien und durch Abgeordnete aus der Sphäre der bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft gebildet werden. Trotz Einbeziehung des Bürgertums ist Hegels Modell der Legislative deutlich altständischer als Schleiermachers elastische Staatsverwaltung, unbeschadet deren Terminologie von Obrigkeit und Untertanen. Beide verfechten jedoch gleichsam als Gewalt neben den staatstragenden Institutionen die öffentliche Meinung. Stärker als Schleiermacher sieht Hegel, wie diese in hohles Meinen umkippen kann. Das hat sie mit Phänomen der Moralität gemein – die freilich als innere nicht die äußere mediale Verselbständigung etwa in der Presse kennen. Hier, wie auch in seiner Analyse der konfliktträchtigen Erwerbsökonomie erweist sich Hegel als scharfsichtiger Diagnostiker der heraufziehenden Moderne. Zu den bemerkenswertesten Zügen von Hegels Staatstheorie gehört ihr Ende. Bei dem vermeintlichen Denker des substantiellen Allgemeinen und der Versöhnung treten im Außenverhältnis souveräner Staaten wieder Entzweiung und Interessenkonflikte hervor – Naturzustand und Antagonismen wie in der bürgerlichen Gesellschaft kehren wieder, aller Staatsdivinisierung zum Trotz. Wie Schleiermacher verweist auch Hegel die Idee vom ewigen Frieden in das Reich der Utopie, jedenfalls was ihre aktuelle Durchsetzung betrifft. Es gibt keine hierzu fähige Macht. Trotz Völkerrecht und zwischenstaatlicher Verträge bleibt der Krieg als „Vorübergehensollendes“48 Realität – mit zusammenzwingenden Rückwirkungen nach innen. Neben einer alle betreffenden Pflicht zur Verteidigung denkt Hegel an einen besonderen Tapferkeitsstand: das stehende Heer. An der Stelle von Schleiermachers Kosmopolitismus entwirft Hegel eine geschichtsphilosophische Freiheits- und Anerkennungsvision – allerdings nicht ohne abgründige Ambivalenzen. Die Weltgeschichte ist zum einen das Weltgericht, mit allen düsteren Implikationen. Doch dokumentiert das ‚Gericht‘ bereits ein Moment von Freiheit: die Zuschreibung. Sonst wäre die Geschichte nur schicksalsgleiche Schlachtbank. Die Weltgeschichte ist zum anderen darum der Ort der Erziehung des Menschengeschlechts. Dies führt auf Selbsterkenntnis. Ihre reflexive Innerlichkeit korrespondiert mit der im äußeren Sozialverhältnis sich aufdrängenden Einsicht, daß Selbstsein nur in Verhältnissen zum Anderen möglich ist. Hegels Grundbegriff hierfür ist Anerkennung. In gewisser Analogie zu Schleiermachers Figur des Wechselverhältnisses meint sie eine solche Mutualität, die mit je individuellem Für-sich-Sein einher48
R §338.
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geht.49 Dies nennt Hegel Geist. Er besagt Beisichsein im Anderen. Hegel sieht diese Struktur des Geistes in der Weltgeschichte heraufziehen – mit dem Christentum als Wendepunkt. Institutionell wird sie im Staat realisiert, wie auch immer der Staat empirisch hinter der vollen GeistStruktur zurückbleiben mag. Darum wird sie noch in einer letzten ideellen Form vergegenwärtigt: im ‚absoluten Geist‘ als reflexiver Aneignung der Geist-Logizität in den Kulturformen Kunst, Religion und Philosophie. Mit realgeschichtlichen Entwicklungen verfugt, gipfeln sie gleichwohl in einem alle empirische Realität übersteigenden kontemplativen Selbstgenuß des reinbegrifflich existierenden Geistes. Die reale Geschichte indes manifestiert den Geist bestenfalls im idealen Staat als ‚Bild und Wirklichkeit‘ der Vernunft.50 Doch auch dieser Staat bleibt eine historisch-partikulare Größe – nicht nur im Außenverhältnis. Hierauf verweist die semantisch-syntaktische Differenz vom Staat als ‚Bild‘ und ‚Wirklichkeit‘ der Vernunft. Die himmelstürmend-metaphysische Staatstheorie Hegels führt zu solchem Realitätssinn – ohne sich unter Verzicht auf korrigierende implizite Sollenspotentiale in resignativer Deskription zu erschöpfen. Hegels Staat ist gerade als in sich gerundetes Ganzes nicht das Ganze.51 Dies zeigt exemplarisch das Verhältnis von Staat bzw. Recht und Religion. Recht und Religion fallen für Hegel nicht zusammen, schon gar nicht Staat und Kirche – sosehr für Hegel die Religion mit Genese und Geltung der Prinzipien des objektiven Geistes aufs engste verbunden ist. So steht die mit dem Christentum gekommene Freiheit der Person hinter dem Prinzip der Freiheit in Eigentum und Tausch.52 Die Bestimmungen der Moralität explizieren an Begriffen wie Schuld, Gewissen, Herz und Seele im Spektrum zwischen gut und böse Themen mit religiösen Untertönen. Ihr Umschlagspunkt liegt in der leeren Eitelkeit des Ich, „sich als das Absolute zu wissen“.53 Dies ist eine spekulative An49
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Die Grenze dieser Parallelität der kategorialen Grundfiguren dürfte darin liegen, daß Hegels Anerkennungsstruktur gerade keine regelkreisartig limitierende Kausalitätsbalance darstellt, sondern das Beisichsein im Anderen ebenso als Verhältnis zwischen den Beteiligten wie als ihr jeweilig zu eigenes Selbst denkt. Diese Sachlage leitet sich aus Hegels negationsdialektischem Verfahren mit subjektivitätsmetaphysischem Gepräge ab. Schleiermachers Wechselseitigkeit ist demgegenüber eher sozialtheoretisch angelegt. Freilich gilt für beide, daß Subjektivität und Sozialität keine simplen Gegensätze bilden. Deren Verhältnis wird aber aus unterschiedlichen Perspektiven heraus thematisch. Vgl. R §360. Geist als Beisichsein im Anderen impliziert bleibende Differenzen, so sehr die Reflexivität des Geistes mit einer sich schließenden Selbstbezüglichkeit einher geht. Beides ist für Freiheit unabdingbar. Vgl. §62. Dies gilt unbeschadet des Umstands, daß das abstrakte Recht römischen Ursprungs ist. R §140, Anm.
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eignung christlicher Sündenlehre. Und die der Sklaverei entgegengesetzte Anerkennung eines jeden Menschen als Mensch, das konstitutive Prinzip des modernen Freiheitsstaats, versteht Hegel als Langzeitfrucht des Christentums. Es faßt das Prinzip des Geistes, also Allgemeines und Besonderes im Einzelnen, symbolisch als christologische Einheit des Göttlichen und Menschlichen und hebt diese pneumatologisch ins Selbstbewußtsein.54 Deshalb gibt es im europäischen Kulturkreis klare Korrespondenzen zwischen Christentum und Rechtsstaat. Und darum kann die Religion gar „Grundlage“ des Staates sein. Aber sie ist eben auch nur ‚Grundlage’, weshalb hier Religion und Staat ebenso „auseinandergehen“.55 Hegel betont die Differenz von Religion und Recht. Der Ort der Religion ist die Innerlichkeit von Glauben und Gewissen; das Recht hat es mit der Äußerlichkeit von Handlungen zu tun, für die gleichgültig ist, in welcher Gemütsweise sie vollzogen werden.56 Diese Grundunterscheidung von Recht und Religion betont ein Denker, für den der Boden des Rechts im Inneren des Willens liegt. Subjektivität eröffnet die Unterscheidung von Innen und Außen. Darum muß sie gerade dann in ihrer Innerlichkeit anerkannt werden, wenn sich das Innere in Recht und Staat geäußert und das Subjektive objektiviert hat. Daran hängt Freiheit.57 Insofern ist die eigenständige Pflege der Innerlichkeit in der Religion von zentraler Bedeutung für Recht und Staat. Und darum ist Religion als ‚Grundlage‘ des Staates gerade keine Staatsangelegenheit – wie es nicht Sache der Religion ist, staatstragend zu werden. Freilich gibt es vielfältige Berührungspunkte. Der Staat hat ein Interesse an der freien und gebildeten Subjektivität der Bürger, und die Religion kann die Sphäre der Innerlichkeit nur pflegen, wenn es auch äußere, intersubjektive Kommunikation in institutioneller Gestalt gibt. Doch die Kirchen sind – zumal im Protestantismus – um des stets individuellen Glaubens willen da, während es Staat um das alle gleich betreffende Recht zu tun ist.
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Das Christentum gilt Hegel als Wendepunkt der Weltgeschichte, insofern das Prinzip des Geistes, die vermittelte Einheit des Göttlichen und Menschlichen, Allgemeinen und Besonderen im Einzelnen, in das Selbstbewußtsein eingeht (vgl. R §358). R §270, Anm. Vgl. R §270, Zus. (TWA 7, 430). Wenn Freiheit impliziert, ‚nein‘ sagen zu können, sich zu distanzieren vermögen, Verantwortlichkeitszuschreibungen angesichts von Alternativen zu tätigen, dann fiele ohne diese Differenz eine entscheidende Dimension von Freiheit.
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Fazit Schleiermachers und Hegels Staatsdenken läßt sich nicht aufeinander abbilden. Dem stehen die Verschiedenartigkeit der Theorieanlagen überhaupt und der inneren Systematik der staatsphilosophischen Grundbegriffe entgegen. Einer an geschichtlichen Gehalten genetisierten prozeduralen Methodik steht eine in metaphysische Dimensionen ausgreifende Geistphilosophie gegenüber. Die Akzente liegen einerseits auf dem Handeln, andererseits auf dem Willen. Handeln ist anschlußfähig für weiteres Handeln – oder auch nicht –, der Wille drängt auf Anerkennung und muß sich dafür zur Disposition stellen. Diese Unterschiede machen sich auch im Gepräge der Staatskonzeptionen bemerkbar. Schleiermachers Staat ist, unbeschadet der Konstitution im herrschaftsund bewußtseinstheoretischen Grundverhältnis von Obrigkeit und Untertanen, ein optimal ausbalanciertes Verwaltungssystem für den Naturbildungsprozeß. Kennzeichnend ist der Regelkreis von Gesetzgebung und Vollziehung. In Hegels Staat treten demgegenüber die Elemente der Letztentscheidung und der allen ökonomischen Partikularinteressen überhobenen, nur dem Allgemeinen verpflichteten Beamtenschaft in den Vordergrund. Bei altständischer Repräsentation sind Staat und bürgerliche Wirtschaftsgesellschaft klar zu unterscheiden, zumal der Negationsdialektiker Hegel die Entzweiungstatbestände der modernen Erwerbsökonomie klar diagnostiziert. Natürlich kennen beide, Hegel und Schleiermacher, Formen der Einbindung des Volkes in die Staatsgeschäfte, zumal für beide der Staat nicht unabhängig von Nationalcharakter, Sitten und Bildungsstand ist. Und fraglos sehen beide neuzeitlichen Denker als Grundfunktion des Staates die Minimierung von Gewalt durch ihre Monopolisierung mit Verteidigung nach innen wie außen. Doch unbeschadet der systematisch-konzeptionellen Differenzen lassen sich bedeutsame Gemeinsamkeiten festhalten. Beide Staatsdenker sind der Freiheit verpflichtet. Dies zeigt sich darin, daß ihr Staat nicht zur allzuständigen Institution mit absoluter Dignität wird. Der Staat ist für beide der institutionelle Garant und damit Möglichkeitsgrund eines bürgerlichen, auf Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung abstellenden Freiheitslebens. Diese Freiheit ist allgemein und mithin für jedes Individuum offen. Hegel denkt dies stärker über die Figur der Geltung des Menschen als Mensch. Darin wird die ehedem empirisch wägbare dignitas in religiös symbolisierte und letztgültige, d.h. auch kontrafaktisch bedeutsame Würde überführt. Schleiermacher akzentuiert stärker eine Balance verschiedener gesellschaftlicher Kräfte in den Regelkreisen von Organisieren und Symbolisieren, Individualität und Allgemeinheit. Wissenschaft und Technik, selbstorganisierte bürgerliche Sozialbezie-
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hungen in freier Geselligkeit, Religion und Kunst sind die Ressourcen für eine Liberalität, die sich nicht zuletzt im Staat zeigt. Auch für Hegel steht der Staat in entsprechenden Zusammenhängen. Für sich allein, wird er das ‚Prinzip‘ der modernen Staaten, die Anerkennung des Menschen als Mensch, nicht realisieren können. Darum eignet Hegels wie Schleiermachers Staat als Totalitäten eine innere Unabgeschlossenheit, cum grano salis: eine Dimension immanenten Transzendierens. Sie kommt nicht nur in dessen Institutionalität, sondern auch in den jeweiligen Theoriekonzepten zum Ausdruck. Dialektische Geistphilosophie und Verfahrenslogik zeigen auf je ihre Weise, daß um der Freiheit willen von den Handlungsvollzügen im Staatsleben auf deren transzendentale Möglichkeitsbedingungen ausgegriffen zu werden verlangt – wie daß eine geistmetaphysische Letztbegründung des freiheitlichen Anerkennungsverhältnisses auf Verwicklungen mit vielschichtigen empirischen Lebensprozessen drängt. Diese gegenläufige Doppelstellung von empirischen Vollzügen und ihrer überempirischen Durchdringung ist unreduzierbar – wie auch immer sie im einzelnen gedanklich gefaßt sein mag. Eben dies schreiben Hegels und Schleiermachers freiheitsorientierte Staatsphilosophien dem modernen Denken bleibend ins Gedächtnis. Es will gepflegt werden.
Kirchliche Institutionen im modernen Verfassungsstaat VON MICHAEL GERMANN/HALLE
Das mir gestellte Thema „Kirchliche Institutionen im modernen Verfassungsstaat“ läßt sich in eine Frage umformulieren: Was hat die Kirche für ihre Institutionen vom Staat zu erwarten? Die Frage kann aus zwei Blickwinkeln gestellt werden. Zum einen: Was soll die Kirche erwarten? Welche Erwartungen also trägt die Kirche für ihre Institutionen an den Staat heran? Zum anderen: Was kann die Kirche erwarten? Wie also hält es der Staat mit kirchlichen Institutionen? Indem wir diese Fragen im Blick auf den „modernen Verfassungsstaat“ stellen, beziehen wir uns auf ein spezifisches Konzept von Staatlichkeit: Was hat die Kirche für ihre Institutionen speziell vom modernen Verfassungsstaat zu erwarten? Die Antwort kann in einem öffentlichen Interesse des Staates an kirchlichen Institutionen gesucht werden. Dann hat die Kirche mit entsprechenden Gemeinwohlerwartungen an ihre Institutionen zu rechnen. Darauf will ich nur kurz am Ende meines Vortrags zurückkommen (unter IV.). Soweit sich der Staat dabei auf die Freiheit seiner Subjekte verpflichtet sieht (dazu unter II. und III.), wird die Kirche außerdem ihr eigenes Freiheitsinteresse an ihren Institutionen zu formulieren haben. Also nicht nur für die Selbstverortung der Kirche im Staat, sondern auch für die Verortung der Kirche aus dem Blickwinkel eines primär auf die Freiheit bezogenen Staatsverständnisses ist zuerst beim Interesse der Kirche anzusetzen (gleich unter I.): Was will die Kirche mit ihren Institutionen? Worauf kommt es ihr an, wenn sie kirchliche Institutionen ausformt und zum Gegenstand von Erwartungen gegenüber dem Staat macht?
I. Das Interesse der Kirche an kirchlichen Institutionen Dazu kann ein Jurist aus eigener Profession nichts sagen. Er kann versuchen, das Interesse an kirchlichen Institutionen aus den religiösen Interessen von Individuen abzuleiten. So gesehen scheinen sich Men-
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schen eine kirchliche Institution zu dem Zweck zu schaffen, ihre religiösen Individualinteressen gemeinschaftlich zu verfolgen. Dieses Interesse kann der Jurist der Religionsfreiheit zuordnen. Sie umfaßt das Interesse der Individuen an gemeinschaftlicher Freiheitsentfaltung in Gestalt der „kollektiven“ Religionsfreiheit. Ein Bild davon, worauf es bei der Ausformung kirchlicher Institutionen im einzelnen ankommt, gewinnt der Jurist so nicht. Als Gestalter, Ausleger oder Anwender staatlichen Rechts muß er die Träger der Religionsfreiheit selbst erklären lassen, worauf es ihnen ankommt. Als Kirchenrechtler kann er an dieser Erklärung mitwirken, indem er sich auf ein interdisziplinäres Gespräch mit der Theologie über das sachgemäße Verständnis kirchlicher Institutionen einläßt. – Damit ist der methodische Rahmen des Folgenden abgesteckt. Das Interesse der Theologie an kirchlichen Institutionen dürfte ein ekklesiologisches sein. Es setzt kirchliche Institutionen ins Verhältnis zu dem, was als Wirklichkeit der Kirche begriffen werden kann. Kirchenrechtler sollten sollten darauf gefaßt sein, daß Theologen „den ganzen Begriff der Kirche einer neuen Betrachtung unterwerfen, und ihn vom Mittelpunkt der Sache aus aufs neue erschaffen, unbekümmert um das was bis jezt davon wirklich geworden ist, und was die Erfahrung uns darüber an die Hand giebt“.1 Sie finden ein Echo des ekklesiologischen Interesses an kirchlichen Institutionen aber auch in kirchenrechtlichen Sätzen: 1. Ansätze zur ekklesiologischen Bestimmung kirchlicher Institutionen im Kirchenrecht Die größte Herausforderung für das Verständnis kirchlicher Institutionen ist sicher eine Aussage, die bei der geistlichen Wirklichkeit der Kirche als „Gemeinschaft der Heiligen“, als „ecclesia spiritualis“, als „Leib Christi“ ansetzt. Unmittelbar von der geistlichen Wirklichkeit der Kirche her sind die kirchlichen Institutionen dort beschrieben, wo für ihren Ursprung eine „Stiftung Gottes“ in Anspruch genommen wird. Der Idealtypus dieses Ansatzes findet sich im römisch-katholischen Kirchenrecht. Der Codex Iuris Canonici von 1983 postuliert in canon113 §1: „Die katholische Kirche und der Apostolische Stuhl haben aufgrund göttlicher Anordnung [ex ipsa ordinatione divina] den Charakter einer moralischen Person [moralis persona].“ Die „moralische Person“ ist ein
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Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Ueber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, 4. Aufl., Berlin 1831, in: ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg. von Hermann Fischer [u.a.], Erste Abteilung: Schriften und Entwürfe, Bd.12, hg. von Günter Meckenstock, Berlin/New York 1995, 1–321 (182).
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juristischer Fachausdruck für eine rechtsfähige Institution, also nicht etwa eine Kategorie „sittlicher“ Qualifikationen, wie es der Ausdruck bei der ersten Begegnung vielleicht vermuten läßt; der Begriff der „persona moralis“ ist im Deutschen im Begriff der „juristischen Person“ aufgegangen, aber etwa im Französischen in der „personne morale“ noch zu hören. Der Codex Iuris Canonici verwendet ihn nur hier in canon113 §1 – nochmals: Die katholische Kirche ist eine solche „moralische Person“, und zwar „aufgrund göttlicher Anordnung“.2 Canon204 knüpft für die Kirche an das Bild vom Leib Christi an – die Gläubigen sind „durch die Taufe Christus eingegliedert [incorporati]“ (§1) – und postuliert weiter: „Diese Kirche, in dieser Welt als Gesellschaft verfaßt und geordnet [in hoc mundo ut societas constituta et ordinata], ist in der katholischen Kirche verwirklicht [subsistit in Ecclesia catholica], die von dem Nachfolger Petri und den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird“ (§2).
Kurz und bündig ist die Linie, die hier die kirchliche Institution mit der geistlichen Wirklichkeit der Kirche verbindet.3 Das evangelische Kirchenrecht grenzt sich hiervon ab. Die geltenden Verfassungen der evangelischen Landeskirchen in Deutschland machen meist durchaus eine Aussage darüber, wie sich die durch sie konstituierte kirchliche Institution, die Landeskirche, zur einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche verhält. Vorsichtig formulieren sie, daß die Landeskirche „in der Einheit“4 oder „in der Gemeinschaft“5
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Dazu Helmuth Pree, in: Münsterischer Kommentar zum Codex Iuris Canonici unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Deutschland, Österreich und der Schweiz (MKCIC), hg. von Klaus Lüdicke, Essen, Losebl., c.113 (Juni 2000), besonders Rn.3–4, mit Literaturverzeichnis vor c.96; Alfred Rinnerthaler: Persona moralis, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., hg. von Walter Kasper, Bd.8, Freiburg u.a. 1999, Sp.52; Helmut Schnizer: Die Erfassung der juristischen Person im CIC 1983, in: Im Dienste von Kirche und Staat. In memoriam Carl Holböck, Wien 1985, 445–458 (448f.); auch in: ders.: Rechtssubjekt, rechtswirksames Handeln und Organisationsstrukturen. Ausgewählte Aufsätze aus Kirchenrecht, Rechtsgeschichte und Staatskirchenrecht, Freiburg (Schweiz) 1995, 269–282. So etwa nachgezeichnet von „Ursprung und Einheit der Kirche in Jesus Christus“ bis hin zum „Primat der Kirche und des Bischofs von Rom“ bei Gerhard Ludwig Müller: In quibus et ex quibus – Zum Verhältnis von Ortskirche und Universalkirche, in: Universalität und Partikularität der Kirche, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd.37, hg. von Heiner Marré, Dieter Schümmelfeder und Burkhard Kämper, Münster 2003, 59–70 (62–68). Grundartikel2 GO BBSO: „Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz steht in der Einheit der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche, die überall da ist, wo das Wort Gottes unverfälscht verkündigt wird und die Sakramente gemäß dem Auftrag Jesu Christi recht verwaltet und gefeiert werden.“ – Übereinstimmend: Vorspruch Nr.1 Abs.1 GO Kp. Sachsen; Präambel Abs.1 KO Pommern; Grundartikel Abs.1 KO Hessen und Nassau.
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der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche steht, daß sie sich zu ihr „bekennt“,6 und so weiter.7 Am weitesten in der Formulierung geht vielleicht die EKD in ihrer Grundordnung: Sie „versteht sich als Teil der einen Kirche Jesu Christi“.8 Das ist nicht in jeder Hinsicht deutlich, aber vom römisch-katholischen „subsistit“ doch eindeutig unterschieden. Jene „eine Kirche Jesu Christi“ ist die ecclesia spiritualis, die aber als solche in den kirchlichen Institutionen nicht verfaßt, sondern verborgen ist.9 Ihre Verheißung10 gilt der weltweiten Gemeinschaft der Getauften, der ecclesia universalis, die sich wiederum nicht als solche in einer Weltkirche verfaßt, sondern sich eben in territorial und kon5
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Grundartikel Abs.1 Verf. Bayern: „Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern lebt in der Gemeinschaft der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche aus dem Worte Gottes […]“. Präambel Verf. Braunschweig: „Die Evangelisch-lutherische Landeskirche in Braunschweig bekennt sich zu der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche.“ – Übereinstimmend: §1I2 Verf. Reformierte Kirche; Grundartikel Abs.7 KO Rheinland. — Eingeschlossen in das Bekenntnis zu Jesus Christus und zum Heiligen Geist: Vorspruch Abs.1 GO Baden: „Die Evangelische Landeskirche in Baden glaubt und bekennt Jesus Christus als ihren Herrn und als alleiniges Haupt der Christenheit.“ – §1I Verf. Pfalz: „Die Evangelische Kirche der Pfalz […] bekennt mit der evangelischen Gesamtkirche Jesus Christus als den Herrn und das alleinige Haupt seiner Gemeinde“. – Verf. Lippe: Präambel: „Erbaut auf dem Grunde der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist […] Getreu dem Bekenntnis […] zu dem Heiligen Geist, der […] in der Kirche Gemeinschaft über alle Grenzen schenkt – gibt sich die Lippische Landeskirche diese Verfassung.“ Siehe aber auch Art.1I1: „Die Gemeinde Jesu Christi ist ein Leib mit vielen Gliedern.“ Art.2I1: „Zusammenleben in der Kirche als dem Leib Christi“. — Eingeschlossen in den Verkündigungsauftrag: Präambel Abs.2 Satz2 Verf. Nordelbien: „Sie verkündigt Jesus Christus, […] den Herrn der einen, heiligen, allgemeinen, apostolischen Kirche, zu der er Menschen aus allen Ländern, Völkern und Rassen beruft.“ Präambel Abs.1 Verf. Anhalt: „Die Evangelische Landeskirche Anhalts ist Glied der einen christlichen Kirche, die Jesus Christus mit seinem Wort und Sakrament regiert.“ – Art.2 Satz1 KO Oldenburg: „Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Oldenburg weiß sich mitverantwortlich für das Wachsen der Einen Kirche Jesu Christi in aller Welt.“ – Art.1 Verf. Schaumburg-Lippe: „Die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Schaumburg-Lippe […] ist die Gemeinschaft von Menschen, die durch Wort und Sakrament zur Einheit des Glaubens gesammelt werden. […] Die Landeskirche fördert die Bemühungen um die Einheit der Kirche Jesu Christi in der Welt.“ – Ohne Regelung: Verf. Bremen, Verf. Hannover, GO Kurhessen-Waldeck, Verf. Mecklenburg, Verf. Lk. Sachsen, Verf. Thüringen, KO Westfalen, Verf. Württemberg. Art.1I1–2 GO EKD. Philipp Melanchthon: Apologia Confessionis (1531), in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 12. Aufl., Göttingen 1998, 139–404, Art.VII/VIII, 1–29; dazu Gunther Wenz: Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch, Berlin/New York, Bd.2, 1998, 251–258, 267–276. Wenn hier und im folgenden von der verheißenen Wirklichkeit der Kirche die Rede ist, dann wohlgemerkt nicht als von einer zukünftigen, sondern als von einer gegenwärtigen Wirklichkeit, die dem Glaubenden gewiß, freilich unverfügbar und nicht habhaft zu machen oder aufzuweisen ist.
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fessionell bestimmten und begrenzten11 Partikularkirchen, ecclesiae particulares, institutionell ausprägt.12 2. Kirchliche Institutionen und geistliche Wirklichkeit der Kirche Eine Ekklesiologie, die jedes Reden von der Kirche auf ihre geistliche Wirklichkeit beschränkt, wendet diese Unterscheidung in eine radikale Kritik jeder kirchlichen Institution. Für diese Kritik steht der Name Rudolph Sohm. Die „sichtbare Christenheit“ nennt er am Ende „nur noch die christliche Welt“; ihr spricht er jede innere Verbindung zur geistlichen Wirklichkeit der Kirche als Leib Christi ab: „Es gibt keine sichtbare Kirche.“13 Auch wo Sohm noch davon spricht, daß die „Kirche Christi […] kraft ihres Wesens ebenso notwendig sichtbar wie unsichtbar“ sei, bleibt sein Begriff von „sichtbarer Kirche“ streng bei der unmittelbaren Identifikation der gottesdienstlichen „Versammlung der Gläubigen um Wort und Sakrament“ mit der Kirche Christi stehen.14 Eine Beziehung der weiteren „sichtbaren“ sozialen Wirklichkeit der Gemeinschaft der Getauften zur „unsichtbaren“ geistlichen Wirklichkeit der Kirche Christi nimmt Sohm nicht in den Blick. Ihre institutionelle Gestalt zumal unterstellt er einem auf die „zwangsweise Verwirklichung“ von Herrschaft ausgerichteten, später zudem etatistisch enggeführten Begriff von
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Unbeschadet der Formen, in denen sich die Zusammengehörigkeit der Partikularkirchen institutionalisiert, wie etwa in der EKD und ihrem Mitgliedschaftsrecht: siehe Heinrich deWall: Einheit im Bekenntnis und Territorialer Partikularismus – Staatskirchenrechtliche Aspekte der Einheit der Evangelischen Kirche, in: Essener Gespräche37, a.a.O. (Anm.3), 123–138 (127–131); außerdem Matthias Haß: Der Erwerb der Kirchenmitgliedschaft nach evangelischem und katholischem Kirchenrecht. Eine Untersuchung der staatskirchenrechtlichen, kirchenrechtlichen und rechtstheologischen Bezüge der Kirchenmitgliedschaft, Berlin 1997, 92, 96, 144f., 147, 162–220, der allerdings weniger am ekklesiologischen Verständnis als an dessen staatskirchenrechtlicher Bewältigung interessiert ist. Zum Verhältnis der partikularkirchlichen Verfaßtheit zur nichtverfaßten Universalität der Kirche Dietrich Pirson: Die protestantischen Kirchen im universalkirchlichen Zusammenhang, in: Essener Gespräche37, a.a.O. (Anm.3), 23–41. Rudolph Sohm: Kirchenrecht, Bd.2: Katholisches Kirchenrecht, München/Leipzig 1923, 130–140, besonders: „Die sichtbare Christenheit […] ist nur noch die christliche Welt, nicht auch die christliche Kirche. Auch sofern sie Wort- und Sakramentsgemeinschaft hervorbringt, ist sie nur Welt, gar nicht Kirche. Es gibt keine sichtbare Kirche.“ (135) Rudolph Sohm: Kirchenrecht, Bd.1: Die geschichtlichen Grundlagen, Leipzig 1892, 465f. Hilfreich zum Verständnis Martin Daur: Die eine Kirche und das zweifache Recht. Eine Untersuchung zum Kirchenbegriff und der Grundlegung kirchlicher Ordnung in der Theologie Schleiermachers (Jus Ecclesiasticum Bd.9), München 1970, 213, der bei Sohm einen „doppelten Sichtbarkeitsbegriff“ erkennt.
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„Rechtsordnung“.15 Wie das Kirchenrecht haben auch die kirchlichen Institutionen mit der Kirche Christi „nichts zu tun“.16 Kirchliche Institu15
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Sohm: Kirchenrecht, Bd.1, a.a.O. (Anm.14), 2: „Es hängt damit zusammen, daß das Recht zwar nicht begrifflich den Zwang fordert, aber doch der zwangsweisen Verwirklichung zustrebt“. Ebd., 479: „menschliche Ordnung kann in der Kirche Christi sein, aber sie ist niemals Rechtsordnung, und kann daher immer nur als lediglich freiwillig zu beobachtende, niemals als durch äußeren Zwang durchzusetzende aufgerichtet werden“ usw. Ebd., 495: „das Reich Gottes, die Kirche Gottes hat eine gottgegebene Ordnung durch die charismatische Organisation, eine Ordnung, welche ihre Verwirklichung in der Christenheit fordert. Aber die Ordnung der Kirche Gottes wird wirksam nicht durch das Recht, sondern durch die Liebe.“ Diese Sätze decken nicht den Schluß, für Sohm sei ein „weltliches Kirchenrecht“ „insoweit theologisch zulässig, als es den geistlichen Zwecken der Kirche dient“, so aber Hans-Martin Pawlowski: Staat und Kirche als Ordnung von Macht und Geist. Der Beitrag Rudolph Sohms zur Moderne, in: Rudolph Sohm: Staat und Kirche als Ordnung von Macht und Geist: ausgewählte Texte zum Verhältnis von Staat und Kirche, hg. von HansMartin Pawlowski, Freiburg/Berlin 1996, 221–306 (232). Das Kirchenrecht rechnet Sohm der „Vereinsgewalt“ zu, welche die Kirche als „kirchlicher Verein“ „gleich den anderen im Staat bestehenden Vereinen“ (ebd., 692) „aus sich selber durch Unterwerfung ihrer Mitglieder unter die Vereinsgewalt hervorbringt“ (ebd., 695). Zur engeren Bindung des Rechtsbegriffs an die Staatsgewalt dann Sohm: Kirchenrecht, Bd.2, a.a.O. (Anm.13), 48–58, besonders: „So ist […] das weltliche Recht mit staatlichem Recht gleichbedeutend.“ (Ebd., 57) Und: „Es hat sich herausgestellt, daß es kein geistliches Recht mehr gibt. […] Ergebnis: alle öffentliche Gewalt ist heute Staatsgewalt.“ (Ebd., 130) Insoweit auch abgedruckt unter dem Titel der Erstveröffentlichung des betreffenden Kapitels, „Weltliches und geistliches Recht“, in: ders.: Staat und Kirche als Ordnung von Macht und Geist, ebd., 142–215 (158, 185). – Zum Zusammenhang mit der „intensiven zeitgenössischen Diskussion um die Triebkräfte von Institutionalisierungsprozessen“, „um charismatische vs. rechtliche Organisationsformen“ und das „Problem des Verhältnisses von unverfügbarem Charisma und Institution“ Klaus Tanner: Die Macht des Unverfügbaren. Charisma als Gnadengabe in der Thematisierung von Institutionalisierungsprozessen im Christentum, in: Charisma und religiöse Gemeinschaften im Mittelalter, hg. von Giancarlo Andenna, Mirko Breitenstein und Gert Melville, Münster 2005, 25–44 (33–38). Sohm: Kirchenrecht, Bd.2, a.a.O. (Anm.13), 167: „das heute geltende Kirchenrecht […] ist kein echtes Kirchenrecht. Es hat von Rechts wegen mit der Kirche Christi nichts zu tun“. Ders.: Kirchenrecht, Bd.1, a.a.O. (Anm.14), 699: „Die rechtlich verfaßte sichtbare Kirche im Sinn des heutigen Kirchenrechts ist als solche nicht die Kirche Christi, sondern ein Teil der Welt. Sie ist kein geistliches Reich, kein Reich Gottes, sondern ein weltlich gearteter Verein. […] Sie ist ein Verein zwar von geistlichem Wert und zu geistlichen Zwecken – zu dem Zwecke, das rechte Predigtamt, rechte Wort- und Sakramentsverwaltung dem Volksleben zu erhalten – aber ein Verein, wie es in der Natur des Vereins liegt, mit weltlicher Organisation“. Die darin „organisierte Gesamtheit, welche den Namen ‚Kirche‘ überkommen hat, ist keine Versammlung um das Wort Gottes mehr, ist nur noch eine Organisation der Rechtsund Zwangsverwaltung, ist keine Kirche mehr.“ Wie sich der „geistliche Zweck“ des kirchlichen „Vereins“ zur „Versammlung um das Wort Gottes“ verhalten soll, bleibt unklar. – Diese Betonung der Uneigentlichkeit der rechtlich verfaßten Kirche steht in gewisser Nähe zu den Ausführungen bei Schleiermacher: Ueber die Religion, a.a.O. (Anm.1), 206f., 210f.; s.a. die Erläuterung4, 220f. (vierte Rede) mit der strengen Trennung zwischen der Ordnung innerhalb der „Versammlung der wahrhaft Frommen“ und der „bürgerlichen Ordnung“. Zum Verhältnis der Anschauungen Sohms
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tionen erscheinen so als Verrat am geistlichen Wesen der Kirche; sie sind prinzipiell delegitimiert. Das Interesse an ihnen fällt in eine religionssoziologische Phänomenologie zurück. Eine spiritualisierte Ekklesiologie kann es nicht als ein ekklesiologisches Interesse begreifen, sondern nur bestreiten.17 Das berechtigte Anliegen Sohms war es, die geistliche Wirklichkeit der Kirche jeder menschlichen Inanspruchnahme zu entziehen und den „menschlichen Kleinglauben“ zu entlarven, der meint, „die Erhaltung der Kirche Christi durch menschliche Mittel, durch die Aufrichtung der hölzernen Säulen und Balken menschlicher Rechtsordnung sichern zu müssen“.18 Diesem Anliegen ist neben der lutherischen Kritik an der „katholischen“ Identifikation der kirchlichen Institution mit der Kirche Christi19 vor allem die Auseinandersetzung mit dem landesherrlichen Kirchenregiment20 anzumerken. Doch eine mögliche Pointe jener anti-institutionellen Ekklesiologie ist, daß sie die soziale Wirklichkeit der Gemeinschaft der Getauften, da sie ja mit der Kirche nichts zu tun habe, ohne Bedenken der Regelungskompetenz des Staates überlassen kann. An die vakante Stelle der kirchlichen Institution kann die staatliche Institution treten. Mit einer solchen Begründung des Staatskirchentums berührt sich Sohm unversehens mit einem ekklesiologisch begründeten Frühterritorialismus.21 Im Gegensatz dazu setzt das Postulat kirchlicher Institutionen eine Ekklesiologie voraus, welche sich die Kirche auch insofern, als sie „in der Welt“ ist, als Ort und Lebensäußerung der Kirche Christi vorstellen kann. Sofern die kirchlichen Institutionen der sozialen Wirklichkeit der
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und Schleiermachers in diesem Punkt siehe Daur: Die eine Kirche und das zweifache Recht, a.a.O. (Anm.14), 44f., 69f. (implizit), 215–217. Pawlowski: Staat und Kirche als Ordnung von Macht und Geist, a.a.O. (Anm.15), 233, Fn.48, dürfte Sohms Ambition unterschätzen, wenn er meint, daß dessen „auf das Kirchenrecht bezogene Überlegungen“ gegenüber „theologisch-dogmatischen Ausführungen“ intangibel seien. Sohm: Kirchenrecht, Bd.1, a.a.O. (Anm.14), 700. Exemplarisch: Rudolph Sohm: Wesen und Ursprung des Katholizismus, in: Abhandlungen der philosophisch-historischen Klasse der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Bd.27, Nr.10, 1909; Neudruck (ergänzt um ein Vorwort), Leipzig/Berlin 1912; Nachdruck Darmstadt 1967; wieder abgedruckt in: ders.: Staat und Kirche als Ordnung von Macht und Geist, a.a.O. (Anm.15), 39–141 (79–94). Sohm: Kirchenrecht, Bd.1, a.a.O. (Anm.14), 616–619, 629–634, 659–697. Zum theologischen Anspruch des Programms einer „herrschaftsfreien Kirche“ bei Thomasius siehe Christoph Link: Souveränität – Toleranz – evangelische Freiheit. Staatsrechtliche und theologische Aspekte in der „territorialistischen“ Begründung staatlicher Kirchenhoheit, ZRG 117 Kan. Abt. 86 (2000), 414–432 (426f.); zur Entsprechung beim Thomasius-Schüler Justus Henning Böhmer siehe Heinrich de Wall: Zum kirchenrechtlichen Werk Justus Henning Böhmers, ZRG 118 Kan. Abt.87 (2001), 455–472 (457–466). – Daur: Die eine Kirche und das zweifache Recht, a.a.O. (Anm.14), 214, weist somit zu Recht auf Sohms „Rückkehr zu den staatskirchenrechtlichen Anschauungen des Territorialismus“ hin.
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Gemeinschaft der Getauften zugerechnet werden, leiten sie sich nicht aus der Inanspruchnahme einer „göttlichen Stiftung“ (s.o. 1.) ab, sondern sind als Menschenwerk begreifbar. Das schließt ein Verhältnis zur Kirche Christi nicht aus, sondern ein: Die Rechtsgestalt der Kirche ist eine Kreatur menschlicher Rechtsbildung, die sich zur „Kreatur des Wortes“ verhält wie Menschenwerk zu Gottes Werk allgemein. Das kanonische Recht, das die Katholische Kirche insgesamt, wie gesehen, kraft „göttlicher Anordnung“ eine „moralische Person“ nennt (s.o. 1.), sieht für rechtsfähige Institutionen innerhalb der Katholischen Kirche die Kategorie der „juristischen Person“ vor (canon113 §2 CIC).22 Sie entstehen nicht durch „göttliche Anordnung“, sondern durch menschlichen Rechtsakt, nämlich „entweder aufgrund einer Rechtsvorschrift selbst oder aufgrund einer durch Dekret gegebenen besonderen Verleihung seitens der zuständigen Autorität“ (canon114 §1 CIC). Das wichtigste Beispiel sind die Teilkirchen, also insbesondere die Diözesen, die von der „höchsten Autorität“, also dem Papst23 errichtet werden und damit „von Rechts wegen Rechtspersönlichkeit“ besitzen („ipso iure personalitate iuridica gaudent“) nach canon373 CIC. Die Diözesen sind zugleich ein guter Beleg dafür, daß das kanonische Recht diese menschengemachte Institution an die geistliche Wirklichkeit der Kirche zurückbindet, nämlich mit folgender Formulierung in canon369 CIC: „Eine Diözese ist der Teil des Gottesvolkes, der dem Bischof in Zusammenarbeit mit dem Presbyterium zu weiden anvertraut wird; indem sie ihrem Hirten anhängt und von ihm durch das Evangelium und die Eucharistie im Heiligen Geist zusammengeführt wird, bildet sie eine Teilkirche, in der die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche Christi wahrhaft gegenwärtig ist und wirkt [in qua vere inest et operatur una sancta catholica et apostolica Christi Ecclesia].“
Um diesen Satz an ein evangelisches Verständnis der Kirche heranzuführen, müßte man das Kriterium für den Zusammenhang der institutionellen Gestalt der ecclesia particularis mit der geistlichen Wirklichkeit der Kirche Christi evangelisch fassen: Der „Hirte“ nämlich, der die Gemeinde durch Evangelium und Sakrament im Heiligen Geist zur
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Dazu Adrian Loretan: Juristische Personen im CIC 1983, in: Kirche, Kultur, Kommunikation. Peter Henrici zum 70. Geburtstag, hg. von Urban Fink und René Zihlmann, Zürich 1998, 581–594; Pree, in: MKCIC, c.113, a.a.O. (Anm.2), besonders Rn.1–2, 5–6; Schnizer: Die Erfassung der juristischen Person im CIC 1983, a.a.O. (Anm.2), 445–458. Der Begriff der „höchsten Autorität“ schließt nach c.330, 336 CIC das Bischofskollegium ein, näher Libero Gerosa: Die Träger der obersten Leitungsvollmacht (§27), in: Handbuch des katholischen Kirchenrechts, hg. von Joseph Listl und Heribert Schmitz, 2. Aufl., Regensburg 1999, 326–330. In der Praxis wird die Errichtung meist durch eine Apostolische Konstitution des Papstes errichtet, siehe Georg Bier, in: MKCIC, a.a.O. (Anm.2), c.373 (April 1996), Rn.5.
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wahren Kirche zusammenführt, kann nur Jesus Christus selbst sein; die geistliche Wirklichkeit dieses Geschehens kann nicht in der institutionellen Gestalt der Kirche und ihres Amts selbst aufgewiesen werden, sondern ist ihr als verborgene Wirklichkeit24 verheißen. Für das Handeln der Christen impliziert dies die Verheißung25 der Wirklichkeit der Guten Werke, die aus dem Glauben fließen. Auf diese Verheißung hin handeln Christen in der Welt und für die Welt, organisiert denn auch die Gemeinschaft der Getauften ihr Handeln in kirchlichen Institutionen: in der rechtlich verfaßten Partikularkirche und in weiteren, nach Maßgabe ihrer Gesetze errichteten juristischen Personen des Kirchenrechts.26 Als solche sind die evangelischen Landeskirchen, ihre Kirchengemeinden und die sonstigen selbständigen Träger kirchlicher Binnenorganisation mit kirchlicher Rechtsfähigkeit ausgestattet. Ebenso können kirchliche Werke und Einrichtungen die kirchliche Rechtsfähigkeit erlangen, wenn sie am Auftrag der Kirche mitwirken und deshalb der verfaßten Kirche in bestimmter Weise zugeordnet sind.27 Die kirchliche 24
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Gegen Sohms Neigung, die „Unsichtbarkeit“ der geistlichen Wirklichkeit der Kirche gegen die auf die „sichtbare“ soziale Wirklichkeit bezogene rechtliche Verfassung kirchlichen Handelns auszuspielen (s.o. bei Anm.13 und 14), hat die Kirchenrechtstheorie weithin eine terminologische Abgrenzung gesucht: Mit der Rede von der „verborgenen“ Kirche Christi verwahrt sie sich gegen das Mißverständnis, welches die „unsichtbare“ Wirklichkeit der Kirche auf die Unwirklichkeit einer civitas platonica verkürzt. Siehe als ein Beispiel für diese Form der Abgrenzung nur Pirson: Die protestantischen Kirchen im universalkirchlichen Zusammenhang, a.a.O. (Anm.12), 26. Die geistliche Wirklichkeit der Kirche kann so als in ihrer sichtbaren Wirklichkeit verborgene Wirklichkeit angesprochen werden. Es ist nicht der Sprachgebrauch der Reformatoren, der zu dieser Unterscheidung anhält – darin mögen ecclesia invisibilis und ecclesia abscondita wohl austauschbare Begriffe sein –; es ist die Abwehr einer Fehldeutung, mit der sich auch Melanchthon: Apologia Confessionis, a.a.O. (Anm.9), Art.VII/VIII, 20, schon auseinanderzusetzen hatte; dazu Wenz: Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Bd.2, a.a.O. (Anm.9), 268f., 272f.; zu Luther eingehend Gudrun Neebe: Apostolische Kirche. Grundunterscheidungen an Luthers Kirchenbegriff unter besonderer Berücksichtigung seiner Lehre von den notae ecclesiae, Berlin/New York 1997, 83–116, 215–240. Wo sie bewußt ist, versteht der Kirchenrechtler auch die Rede von der „unsichtbaren Kirche“ nicht als den Sohmschen Fundamentalwiderspruch gegen die kirchliche Institution. Bemerkenswert wird vielmehr die Beobachtung, daß das „Unsichtbare“ in der sichtbaren Wirklichkeit das Unverfügbare markiert; siehe Klaus Tanner: Die unsichtbare Dimension der Macht. Ekklesiologie als Exemplum der Analyse des Institutionellen, in: Das Sichtbare und das Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, hg. von Gert Melville, Köln u.a. 2005, 1–17 (für die protestantische Ekklesiologie: 9–13, speziell bei Schleiermacher: 16f.). Siehe oben Anm.10. Dietrich Pirson: Juristische Personen des kirchlichen Rechts, in: ZevKR16 (1971), 1–23. Zum Beispiel nach §1 des Kirchengesetzes der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands über die Stellung lutherischer kirchlicher Werke zur Vereinigten Kirche – Werkegesetz – in der Fassung vom 6.11.1997 (ABl. Bd.VII 52): „Kirchliche
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Rechtsfähigkeit markiert die Zurechnung des Handelns ihrer Träger zur Kirche unter jener Verheißung. 3. Kirchliche Institutionen und Wirksamkeit kirchlichen Handelns Mit der Ausprägung der kirchlichen Rechtsfähigkeit formuliert das kirchliche Recht ein Interesse der Kirche daran, ihr Handeln in kirchlichen Institutionen zu organisieren. Danach kann zum Beispiel die Beauftragung von Pfarrern mit der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsdarreichung der Landeskirche zugewiesen werden, die Sorge für ein Kirchengebäude der Kirchengemeinde, ein bestimmter diakonischer Dienst einem kirchlichen Werk. Institutionen als rechtsfähige Zurechnungssubjekte für kirchliches Handeln sind bei aller ihrer Unwesentlichkeit für das Kirchesein der Kirche die Form, in der das Menschenwerk der Getauften als ein Handeln der Gemeinschaft der Getauften sichtbar und wirksam wird. Im Verhältnis zu den Interessen anderer ist das Interesse der Kirche für ihre Institutionen und für das in diesen organisierte gemeinschaftliche Handeln ein Interesse an Handlungs- und Organisationsfreiheit, ein Freiheitsinteresse. Es berührt notwendig die Interessen anderer, denen gegenüber das Handeln der Kirche wirksam werden will. Wenn ein kirchliches Werk einen diakonischen Dienst leistet, interagiert es mit wirtschaftlichen Interessen auf dem Arbeits- und Dienstleistungsmarkt; wenn eine Kirchengemeinde ein Kirchengebäude errichtet und nutzt, schließt sie andere Interessen am Grundstück und am Gebäude aus; wenn eine Landeskirche Pfarrer beauftragt, nimmt sie deren persönliche Interessen in den Dienst und übernimmt für sie ein bestimmtes Maß an Verantwortung, während sie anderweitige oder weitergehende Interessen zurückweist. Wo immer kirchliches Handeln wirksam werden will, muß ein anderes Interesse gegebenenfalls weichen; wo das andere Interesse sich hingegen durchsetzt, wird kirchliches Handeln nicht wirksam.
Werke […], welche die […] Grundlagen der Vereinigten Kirche bejahen […], können auf ihren Antrag zum ‚Werk der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands‘ erklärt werden. Die anerkannten Werke sind als kirchliche Lebensäußerungen der Vereinigten Kirche zugeordnet. Mit ihrer Anerkennung erhalten diese Werke unbeschadet ihrer Rechtsstellung nach weltlichem Recht auch die kirchliche Rechtspersönlichkeit verliehen.“ Dazu Joachim E. Christoph: Das Werkegesetz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands. Zugleich ein Beitrag zur Bedeutung der Juristischen Person im evangelischen Kirchenrecht, in: Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantwortung. Festschrift für Christoph Link zum siebzigsten Geburtstag, hg. von Heinrich deWall und Michael Germann, Tübingen 2003, 67–87.
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II. Die Legitimationsleistung des Verfassungsstaates Zu entscheiden, welches Interesse sich durchsetzt, ist um des zivilen Friedens willen Sache der staatlichen Rechtsordnung. Diese Entscheidung zu begründen, ist das Problem der Legitimation staatlichen Rechts. Die Idee des Verfassungsstaates ist ein spezifischer Lösungsansatz für dieses Problem. Die Idee des Verfassungsstaates verweist für die Frage nach der Legitimität des Rechts auf die Legitimation durch die Verfassung, an die die Staatsgewalt als „pouvoir constitué“ gebunden ist; weiter verweist sie für die Frage nach der Maßgeblichkeit der Verfassung auf den Ursprungsakt der Verfassunggebung durch den Souverän als „pouvoir constituant“. Das Postulat eines Souveräns bleibt vorausgesetzt: Ob und in welchem Sinn und für welches Subjekt man von „Souveränität“ sprechen kann, ist wiederum ein Problem – wenn auch nicht mehr eines, wofür die Verfassungsstaats-Idee selbst eine Lösung bieten könnte. Welchen Platz haben kirchliche Institutionen in diesem Modell? 1. Die verfassungsstaatliche Anerkennung von Freiheit zugunsten kirchlicher Institutionen Ein Etatismus, der dem Staat über das Gewaltmonopol hinaus auch ein Rechtsmonopol und ein Institutionsmonopol zuschriebe, müßte kirchliche Institutionen entweder verstaatlichen oder verbieten. Ein solcher Etatismus ist deshalb das staatstheoretische Standbein der Staatskirchentums-Begründung, deren ekklesiologische Entsprechung ich vorhin erwähnt habe (oben I.2. bei Anm.21). Derselbe Etatismus verlängert sich aber bis heute auch in laizistische Positionen hinein, die die Religion als „Privatsache“ aus der Öffentlichkeit verbannen wollen, zumindest soweit der Staat sie mit seinen Institutionen in Anspruch nimmt, zum Beispiel mit der öffentlichen Schule. Mit solchen Monopolansprüchen würde der Verfassungsstaat den Freiheitsinteressen nicht gerecht. Er ist auf solche Monopolansprüche auch nicht angewiesen. Gerade der Verfassungsstaat kann die prinzipielle Legitimität von Freiheitsinteressen über ihre rechtliche Anerkennung in Freiheitsrechten darstellen. Das schafft auch für kirchliche Institutionen Raum. Allein die Letztverantwortung für die rechtliche Anerkennung der Interessendurchsetzung im Konflikt muß der Verfassungsstaat sich vorbehalten.28
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Michael Germann: Staatliche und kirchliche Gerichtsbarkeit, in: Recht in Kirche und Staat. Joseph Listl zum 75. Geburtstag, hg. von Wilhelm Rees (Kanonistische Studien und Texte, Bd.48), Berlin 2004, 627–656 (640, 648–650).
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2. Die verfassungsstaatliche Letztverantwortung für die Grenzen der Freiheit An die Ablehnung etatistischer Ausschließlichkeitsansprüche knüpfen Vorstellungen an, die dem Staat sogar diese Letztverantwortung und damit den Gedanken des Verfassungsstaats bestreiten. Der Staat bekommt eigenmächtige Akteure an die Seite gestellt, die er mit seiner Hoheit nicht erreicht. So können auch die kirchlichen Institutionen eine der staatlichen Hoheit entzogene Position ausfüllen. Ein altes Modell dafür ist die Koordinationslehre. Sie verstand das Verhältnis von Kirche und Staat als Gleichordnung zweier je souveräner Gewalten. Ihre Wurzeln liegen in entsprechenden Lehren über das Verhältnis von Kaiser und Papst, ihre moderne Gestalt fand sie in der römisch-katholischen Theorie des 19. Jahrhunderts, verbunden mit der societas-perfecta-Lehre,29 und eine vorübergehende Spätblüte erlebte sie
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Siehe zu dieser Lehre zunächst nur die Darstellung bei Joseph Listl: Kirche und Staat in der neueren katholischen Kirchenrechtswissenschaft (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen Bd.7), Berlin 1978, 104, 167–169; sowie dens.: Die Lehre der Kirche über das Verhältnis von Kirche und Staat (§116), in: Handbuch des katholischen Kirchenrechts, hg. von Joseph Listl und Heribert Schmitz, 2. Aufl., Regensburg 1999, 1239–1255 (1245–1247); ferner Paul Mikat: Das Verhältnis von Kirche und Staat nach der Lehre der katholischen Kirche, in: Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland (HSKR), 2. Aufl., hg. von Joseph Listl und Dietrich Pirson, Bd.1, Berlin 1994, 111–155 (131–133, 144, 145–148, 153f., 154f.). Eine nachkonziliare Deutung dieser Lehre aus ihrem Zusammenhang mit der römisch-katholischen Ekklesiologie (s.o. I.1.) vertritt Joseph Listl: Aufgabe und Bedeutung der kanonistischen Teildisziplin des Ius Publicum Ecclesiasticum. Die Lehre der katholischen Kirche zum Verhältnis von Kirche und Staat seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, in: Fides et Ius. Festschrift für Georg May zum 65. Geburtstag, hg. von Winfried Aymans, Anna Egler und Joseph Listl, Regensburg 1991, 455–490; auch in: ders.: Kirche im freiheitlichen Staat. Schriften zum Staatskirchenrecht und Kirchenrecht, hg. von Josef Isensee und Wolfgang Rüfner in Verbindung mit Wilhelm Rees (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen Bd.25), Berlin 1996, Zweiter Halbband, 989–1031: Es geht ihr darum, daß „der von Jesus Christus gestifteten Kirche gegenüber dem Staat der Charakter einer rechtlich ‚vollkommenen Gesellschaft‘ (‚societas perfecta‘, oder besser und zutreffender ‚societas iuridice perfecta‘) mit vorstaatlicher und von der Rechtsordnung des Staates unabhängiger Befugnis zu eigener Gesetzgebung, Verwaltung (Exekutive) und Rechtsprechung zukommt“ (999); „daß die Kirche im Sinne einer einzigen komplexen Realität gleichermaßen geistgewirkte Gemeinschaft (communitas spiritualis) und Geheimnisvoller Leib Christi (Mysticum Christi Corpus) und in dieser Welt als Gesellschaft verfaßt und geordnet (in hoc mundo ut societas constituta et ordinata) ist“ (992–995, 1017, 1031 – dort das Zitat, unter Bezugnahme auf die Dogmatische Konstitution „Lumen Gentium“); daraus „folgt mit logischer Notwendigkeit die Eigenständigkeit der kirchlichen Leitungsgewalt und die gegenseitige Unabhängigkeit von Kirche und staatlich-politischer Macht“ (997); aber: die „richtig verstandene Lehre von der Kirche als einer societas iuridice perfecta zielt weder auf eine parallele Zuordnung der Kirche zum Staat noch auf eine Überordnung der Kirche über den Staat“ (1016).
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in der frühen Auslegung des Grundgesetzes.30 Für Konflikte zwischen kirchlichem Interesse und staatlicher Gemeinwohlverantwortung konnte die Frage „Quis iudicabit?“ damals beantwortet werden mit „Niemand“.31 In den 1960er Jahren hat sich dagegen die Einsicht durchgesetzt, daß die Kirche ihre Eigenständigkeit nicht in einer mit dem Staat konkurrierenden Hoheitsgewalt, sondern unter dem Dach des Verfassungsstaates in ihrer grundrechtlich gewährleisteten Freiheit findet.32 Die letzten Nachklänge der Koordinationslehre werden zur Zeit aus der Rechtsprechung verabschiedet.33
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Alfred Albrecht: Koordination von Staat und Kirche in der Demokratie. Eine juristische Untersuchung über die allgemeinen Rechtsprobleme der Konkordate zwischen der katholischen Kirche und einem freiheitlich-demokratischen Staat, Freiburg i.Br. u.a. 1965, 41; Konrad Hesse: Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich. Zugleich ein Beitrag zur Frage des rechtlichen Verhältnisses von Staat und Kirche in der Gegenwart, Göttingen 1956, 52–82; Heiner Marré: Zur Koordination von Staat und Kirche, in: DVBl.1966, 10–15 (11); Paul Mikat: Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Die Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, Bd.IV/1, hg. von Karl August Bettermann, Hans Carl Nipperdey und Ulrich Scheuner, Berlin 1960, 111–243, auch in: ders.: Religionsrechtliche Schriften. Abhandlungen zum Staatskirchenrecht und Eherecht, hg. von Joseph Listl, Berlin 1974, 29–161 (63f.); Hans Peters: Die Gegenwartslage des Staatskirchenrechts, in: VVDStRL11 (1954), 177–214 (187), auch in: Staat und Kirchen in der Bundesrepublik. Staatskirchenrechtliche Aufsätze 1950–1967, hg. von Helmut Quaritsch und Hermann Weber, Bad Homburg v.d.H. u.a. 1967, 88–120; Werner Weber: Die Gegenwartslage des Staatskirchenrechts, in: VVDStRL11 (1954), 153–176 (173–176). So Hesse: Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich, a.a.O. (Anm.30), 76. Martin Heckel: Die Kirchen unter dem Grundgesetz, in: VVDStRL26 (1968), 5–56, besonders 23f.; auch in: ders.: Gesammelte Schriften. Staat Kirche Recht Geschichte, Bd.I, hg. von Klaus Schlaich (Jus Ecclesiasticum Bd.38), Tübingen 1989, 402–446; Alexander Hollerbach: Die Kirchen unter dem Grundgesetz, in: VVDStRL26 (1968), 57–106, besonders 69f., 73f., 78f.; im Rückblick auf die bei Quaritsch und Weber, a.a.O. (Anm.30), dokumentierte Entwicklung 1950–1967 Martin Heckel: Staat und Kirchen in der Bundesrepublik. Staatskirchenrechtliche Aufsätze 1950–1967, ZevKR18 (1973), 22–61, auch in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd.I, a.a.O., 501–538; weiter ders.: Kontinuität und Wandlung des deutschen Staatskirchenrechts unter den Herausforderungen der Moderne, in: ZevKR44 (1999), 340–384 (348–351, 374–384), auch in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd.V, a.a.O., Tübingen 2004, 243–286; ders.: Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Festschrift 50Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd.II, hg. von Peter Badura und Horst Dreier, Tübingen 2001, 379–420 (380f., 385–387), auch in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd.V, a.a.O., 303–346. – Von einem „mangelnden Erfolg eines grundrechtsorientierten Religionsverfassungsrechts in den 1970er Jahren“ spricht hingegen Christian Walter: Religionsverfassungsrecht (Jus Publicum Bd.150), Tübingen 2006, 195–198. In dieser Bewertung ist zumindest der Maßstab für einen „Erfolg“ unklar. Überblick bei Germann: Staatliche und kirchliche Gerichtsbarkeit, a.a.O. (Anm.28), 627–631, 633–640 mit weiteren Nachweisen; siehe aber auch zu jüngeren Rück- und Seitschritten der Rechtsprechung dens.: Staatliche Verwaltungsgerichte vor der Auf-
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Die Idee des Verfassungsstaates wird inzwischen von ganz anderer Seite angegriffen. Unter dem Eindruck internationaler Verflechtungen, „supranationaler“ Bindungen und „transnationaler“ Rechtsbildungen bestreiten jüngere Strömungen im öffentlichen Recht die Legitimationsleistung des Verfassungsstaates prinzipiell.34 Sie wollen das Postulat der Souveränität, wie es im Verweis auf das Volk als pouvoir constituant vorausgesetzt ist, mit empirischen Beobachtungen über Grenzen der Staatsmacht widerlegen35 und die rechtlich unabgeleitete Maßgeblichkeit der Verfassung für rechtliche Geltungsansprüche einem multipolaren Verbund rechtlicher Geltungsansprüche zuschreiben36 oder opfern;37 die Legitimation des Rechts wird von der demokratischen Legitimation der in ihm getroffenen Entscheidung über die Legitimität von Interessen abgekoppelt und unmittelbar der vermeintlichen Evidenz ihrer Legitimität anvertraut.38 Denkt man diese Ansätze zuende, dann wird deutlich, daß sie den demokratischen Verfassungsstaat in dem, was seine Idee ausmacht, für überlebt halten und aufgeben. Danach dürfte das hier gestellte Thema den Verfassungsstaat nur in einem historischen Sinn „modern“ nennen. Die Vorschläge zur Ausmu-
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gabe der Justizgewährung in religionsgemeinschaftlichen Angelegenheiten, in: ZevKR51 (2006), 589–595, und die dort aufgeführten weiteren Nachweise. Zur Einführung in die Diskussion siehe den kritischen Rezensionsaufsatz von Hans Michael Heinig: Offene Staatlichkeit oder Abschied vom Staat? Staats- und verfassungstheoretische Perspektiven, in: Philosophische Rundschau 52 (2005), 191–221. So die – unter dem Aspekt der Volkssouveränität nicht näher bedachte – Tendenz bei Stephan Hobe: Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz. Eine Studie zur Wandlung des Staatsbegriffs der deutschsprachigen Staatslehre im Kontext internationaler institutionalisierter Kooperation, Berlin 1998; Peter Saladin: Wozu noch Staaten? Zu den Funktionen eines modernen demokratischen Rechtsstaats in einer zunehmend überstaatlichen Welt, Bern u.a. 1995, 28–53; daran anknüpfend und zusammenfassend Juliane Kokott: Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, in: VVDStRL63 (2004), 7–40 (21). Zum Beispiel Ingolf Pernice: Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL60 (2001), 148–193 (153–176); Anne Peters: Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, Berlin 2001, 163–166; wohl auch Christian Tietje: Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, in: DVBl.2003, 1081–1096 (1094). So Thomas Vesting: Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, in: VVDStRL63 (2004), 41–70 (63f.). Darauf läuft das Modell einer „Output-Legitimation“ hinaus, das etwa von Peters: Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, a.a.O. (Anm.36), 499–625, bes. 499f., 515–524, 577–579, 580–584, für eine „Legitimation durch Bewährung“ zugrundegelegt wird. Dem für alle „territorialisierte und entterritorialisierte Regelungsmechanismen“ folgend Tietje: Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes, a.a.O. (Anm.36), in: DVBl.2003, 1094f. Gegen solche Konzepte zum Beispiel Heinig: Offene Staatlichkeit oder Abschied vom Staat?, a.a.O. (Anm.34), in: Philosophische Rundschau 52 (2005), 218f.
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sterung des Verfassungsstaates änderten die Prämissen auch für die Frage nach den kirchlichen Institutionen im Verfassungsstaat – unabsichtlich, denn ihnen geht es in keiner Weise um die Stellung kirchlicher Institutionen.39 Vielleicht wäre es ganz reizvoll, auch die kirchlichen Institutionen in ein diffuses „Netz“ aus Global Players neben den Staat zu stellen. Die römische Weltkirche ist ohnehin seit jeher „transnational“ organisiert, und auch die nichtrömischen Kirchen kämen auf „transnationalem“ Parkett wahrscheinlich ganz gut zurecht. Doch die Vision einer Befreiung kirchlicher Institutionen vom Verfassungsstaat wäre trügerisch.40 Eine Besinnung auf die Idee des demokratischen Verfassungsstaates ist für das Rechtsdenken sowohl vor dem Hintergrund internationaler und europäischer Politik als auch vor der Frage nach der Stellung kirchlicher Institutionen in der Gesellschaft angezeigt. Denn die Frage nach der Legitimation der Interessendurchsetzung bleibt präsent, und sie wird durch „Netzwerk“-Theorien nicht beantwortet. Will man die Menschen nicht als Untertanen, sondern als Bürger ansprechen, dann findet man so bald keinen Ersatz für den Verweis auf den Volkswillen, auf dessen Konstitution in der Verfassung und kraft der Verfassung, und darüber auf das „Volk“ als abstraktes, von konkreten historischen Identifikationen abgelöstes Legitimationssubjekt der Staatsgewalt41 – kurz: keinen Ersatz für das Konzept des demokratischen Verfassungsstaates.
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Frappierend aber die Nähe zu den Vorstellungen der Koordinationslehre, zum Beispiel dieser: Die Kirchen „stehen in einem politischen Gemeinwesen, in dem nicht mehr eine Kraft, nämlich der ‚Staat‘, den Bereich der öffentlichen Ordnung beherrscht, in dem diese öffentliche Ordnung vielmehr aufgegliedert ist und mehrere oder viele Herren hat. Wenn man sich über die Lage rasch verständigen und sich dazu an einem bekannten historischen Vorbild orientieren will, so wird man am ehesten im Ständestaat verwandte Züge finden.“ Weber: Die Gegenwartslage des Staatskirchenrechts, a.a.O. (Anm.30), 173. Es bleibt daher „unausweichlich“, daß der Verfassungsstaat die institutionelle Dialektik der römisch-katholischen Weltkirche und ihrer innerstaatlichen Teilkirchen nur unvollkommen erfaßt: siehe Matthias Jestaedt: Universale Kirche und nationaler Verfassungsstaat – Die Dichotomie von Universalität und Partikularität der Katholischen Kirche als Herausforderung des Staatskirchenrechts, in: Essener Gespräche37, a.a.O. (Anm.3), 87–122 (bes. 117 sowie 92f., 111f., 118f.). Zur Funktion des Souveränitätsbegriffs für diesen Zusammenhang Gerd Roellecke: Souveränität, Staatssouveränität, Volkssouveränität, in: Staat – Souveränität – Verfassung, Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag, hg. von Dietrich Murswiek, Ulrich Storost und Heinrich Amadeus Wolff (Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd.814), Berlin 2000, 15–30 (16, 26–30); Heinig: Offene Staatlichkeit oder Abschied vom Staat?, a.a.O. (Anm.34), in: Philosophische Rundschau 52 (2005), 204f.
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3. Die verfassungsstaatliche Gewährleistung „bürgerlicher Wirksamkeit“ kirchlichen Handelns Auf dem Forum des Verfassungsstaates treffen Interessen als Freiheitspositionen aufeinander, die der Staat als bürgerliche Freiheitsrechte gewährleistet und gegeneinander abgrenzt. Das Interesse der Kirche an der Organisation ihres Handelns in kirchlichen Institutionen verlangt also nach rechtlicher Anerkennung und rechtlich gewährleisteter Wirksamkeit kirchlichen Handelns in der bürgerlichen Freiheitsordnung. Die darin eingeschlossene Fähigkeit, sich gegen widerstreitende Interessen und Rechtspositionen nach Maßgabe des staatlichen Gesetzes durchzusetzen, ist die „bürgerliche Wirksamkeit“ kirchlichen Handelns. Speziell im Blick auf kirchliche Institutionen bedeutet „bürgerliche Wirksamkeit“, daß die nach kirchlichem Recht konstituierten juristischen Personen auch die bürgerliche Rechtsfähigkeit nach staatlichem Recht erwerben können42 und ferner, daß das staatliche Recht auch für die Zurechnung, die Tatbestände und die Rechtsfolgen des in kirchlichen Institutionen organisierten Handelns an kirchliches Recht anknüpft.
III. Kirchliche Institutionen im geltenden Verfassungsrecht 1. Religionsfreiheit und kirchliches Selbstbestimmungsrecht Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gewährleistet die bürgerliche Wirksamkeit kirchlichen Handelns im Ansatz schon in der Religionsfreiheit aus Art.4I–II GG. Denn sie umfaßt nicht nur die individuelle Religionsfreiheit, deren Träger der einzelne Mensch ist, sondern auch die korporative Religionsfreiheit, deren Träger die Religionsgemeinschaften und ihre Institutionen sind.43 Bliebe es allein bei diesem Ansatz, wäre für jeden Aspekt des Wirkens in und mittels religionsgemeinschaftlicher Institutionen eine Subsumtion unter die Religionsausübung nötig. Um diesen Nachweis abzukürzen und definitorischen 42
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Unter diesem Gesichtspunkt zur historischen Herausbildung einer im staatlichen Recht anerkannten Rechtsfähigkeit der Kirche Helmut Schnizer: Beobachtungen zur Gesamtpersönlichkeit von Religionsbekenntnissen, in: Vestigia iuris Romani. Festschrift für Gunter Wesener zum 60. Geburtstag am 3. Juni 1992, hg. von Georg Klingenberg, Johann Michael Rainer und Herwig Stiegler, Graz 1992, 415–432 (416–428); auch in: ders.: Ausgewählte Aufsätze, a.a.O. (Anm.2), 629–646. Zum Zusammenhang der grundrechtsdogmatischen Erfassung korporativer Religionsfreiheit mit „Institutionalisierungsproblemen religiöser Organisationen“ Stefan Magen: Körperschaftsstatus und Religionsfreiheit. Zur Bedeutung des Art.137 Abs.5 WRV im Kontext des Grundgesetzes (Jus Ecclesiasticum Bd.75), Tübingen 2004, 224–243.
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Übergriffen in das religiöse Selbstverständnis des religionsgemeinschaftlichen Handelns vorzubeugen, ergänzt der durch Art.140 GG inkorporierte Art.137 WRV die Garantie der Religionsfreiheit um besondere Gewährleistungen des Handelns in und mittels Institutionen: Art.137I WRV verbietet das Staatskirchentum. Art.137II WRV bestätigt die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgemeinschaften, Art.137 IV WRV deren Recht, die bürgerliche Rechtsfähigkeit zu erwerben. Art.137III WRV normiert das Recht aller Religionsgemeinschaften, ihre eigenen Angelegenheiten selbständig zu ordnen und zu verwalten. Darin ist die bürgerliche Wirksamkeit kirchlichen Handelns in allen wesentlichen Aspekten angelegt: Für die durch kirchliche Organisationsakte geschaffenen Institutionen besteht ein Anspruch auf bürgerliche Rechtsfähigkeit. Für die Zurechnung und die Rechtswirkungen ihres Handelns knüpft das staatliche Recht an das maßgebliche kirchliche Recht an.44 So kann das in kirchlichen Institutionen organisierte kirchliche Handeln Rechtsfolgen für den bürgerlichen Rechtsstatus anderer bürgerlicher Rechtssubjekte auslösen. Die bürgerliche Wirksamkeit endet dort, wo der Staat ihr um anderer Rechtsgüter willen Schranken setzt. Soweit sie unmittelbar zur Entfaltung von Religionsfreiheit aus Art.4I–II GG gehört, endet sie an den Schranken der Religionsfreiheit. Soweit sie im übrigen auf dem religionsgemeinschaftlichen Selbstbestimmungsrecht aus Art.140 GG i.V.m. Art.137III WRV beruht, endet sie an „den Schranken des für alle geltenden Gesetzes“. Bei der Anwendung der Schranken ist das religionsgemeinschaftliche Selbstbestimmungsrecht gegen die davon in Mitleidenschaft gezogenen Rechtsgüter abzuwägen. Überwiegt das Selbstbestimmungsrecht, setzt sich seine bürgerliche Wirksamkeit gegen die betroffenen Rechtsgüter durch. Überwiegen umgekehrt die betroffenen Rechtsgüter, versagt der Staat der religionsgemeinschaftlichen Selbstbestimmung die bürgerliche Wirksamkeit. 2. Rechtsformen der kirchlichen Selbstbestimmung Das staatliche Recht bietet Rechtsformen, in denen institutionelles Handeln wirksam werden kann. Das im engeren Sinn bürgerliche, nämlich jedem bürgerlichen Rechtssubjekt zugängliche Recht (Privatrecht) stellt etwa die Rechtsform des Vereins zur Verfügung. Macht eine Religionsgemeinschaft für ihre institutionelle Gestalt vom Vereinsrecht Gebrauch, ist sie grund-
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Näher dazu speziell unter dem Blickwinkel der institutionellen Partikularität der evangelischen Kirche deWall: Einheit im Bekenntnis und Territorialer Partikularismus, a.a.O. (Anm.11).
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sätzlich an das allgemeine Regelungsmodell des Vereins gebunden. Ihr Selbstbestimmungsrecht kann es aber erfordern, daß ihr Abweichungen zugestanden werden müssen.45 Juristische Personen des Privatrechts, welche sich die Kirche als ihre Institutionen zurechnet,46 zum Beispiel rechtlich selbständige diakonische Einrichtungen, haben an ihrem Selbstbestimmungsrecht teil.47 Über das Privatrecht hinaus öffnet Art.137V WRV den Religionsgemeinschaften die besonderen Handlungs- und Rechtsformen des öffentlichen Rechts. Auf dieser Grundlage sind die maßgeblichen Institutionen der römisch-katholischen wie der evangelischen Kirche in Deutschland als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfaßt. Dieser Status erlaubt eine besonders selbstbestimmungsgerechte Gestaltung kirchlicher Institutionen.48 Wenn er auch aus den organisationsrechtlichen Kategorien der Staatsverwaltung entlehnt ist, gliedert er die Institutionen der öffentlich-rechtlich verfaßten Religionsgemeinschaften keineswegs in die Staatsverwaltung ein. Auch die verbreitete Redeweise, wonach der öffentlich-rechtliche Körperschaftsstatus die so verfaßten Religionsgemeinschaften in eine größere Nähe zum Staat, in eine „privilegierte“ Stellung,49 gar in eine besondere gegenseitige Loyalitätsbezie-
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BVerfG, B. vom 5.2.1991 – 2BvR 263/86 – (Bahá’í), E83, 341–362. Hierfür kann gegebenenfalls auf die Anerkennung der kirchlichen Rechtspersönlichkeit und ihre Kriterien zurückgegriffen werden, s.o. bei Anm.27. BVerfG, B. vom 11.10.1977 – 2BvR 209/76–, E46, 73–96 (85–87); B. vom 4.6.1985 – 2BvR 1703, 1718/83 und 856/84–, E70, 138–173 (162). Zu den Zuordnungskriterien und zu ihrer Anwendung Anne-Ruth Glawatz: Die Zuordnung privatrechtlich organisierter Diakonie zur evangelischen Kirche (Schriften zum Staatskirchenrecht Bd.14), Frankfurt/M. 2003. Dazu zuletzt besonders Hans Michael Heinig: Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften. Studien zur Rechtsstellung der nach Art.137 Abs.5 WRV korporierten Religionsgesellschaften in Deutschland und in der Europäischen Union, Berlin 2003; Magen: Körperschaftsstatus und Religionsfreiheit, a.a.O. (Anm.43). Speziell zur Organisationshoheit Axel Frhr. von Campenhausen und Heinrich deWall: Staatskirchenrecht. Eine systematische Darstellung des Religionsverfassungsrechts in Deutschland und Europa. Ein Studienbuch, 4. Aufl., München 2006, 257–260; Rainer Mainusch: Staatskirchenrechtliche Überlegungen zur kirchlichen Organisationsgewalt, in: ZevKR49 (2004), 285–310; Wolfgang Rüfner: Die Gründung juristischer Personen des öffentlichen Rechts durch die Kirchen, in: Dem Staate, was des Staates – der Kirche, was der Kirche ist. Festschrift für Joseph Listl zum 70. Geburtstag, hg. von Josef Isensee, Wilhelm Rees und Wolfgang Rüfner (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen, Bd.33), Berlin 1999, 431–447. Deren schädliche Wirkung für die Kirche betont Schleiermacher: Ueber die Religion, a.a.O. (Anm.1), 203 (in der vierten Rede): „Wie das furchtbare Medusenhaupt wirkt eine solche Constitutionsakte politischer Präponderanz auf die religiöse Gesellschaft; Alles versteinert sich, so wie sie erscheint.“ Weiter gegen die Bemächtigung und Indienstnahme der Kirche durch ein Staatskirchentum: 204–212, mit dem ceterum censeo: „Hinweg also mit jeder solchen Verbindung zwischen Kirche und Staat! das
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hung bringe, widerspricht dem systematischen Zusammenhang des Art.137 Absatz5 WRV mit dem Ausschluß der Staatskirche in Absatz1 und mit dem Selbstbestimmungsrecht in Absatz3 desselben Artikels. Das öffentlich-rechtliche Handeln kirchlicher Institutionen ist Selbstbestimmung in einer besonders vorgesehenen Form. Das Selbstbestimmungsrecht und die für seine Entfaltung angebotenen Formen des öffentlichen Rechts sind grundsätzlich allen Religionsgemeinschaften zugänglich.50 Der Staat gewährleistet sie um der Religionsfreiheit willen.51 Deshalb stehen sie zur Disposition und in der Eigenverantwortung der Religionsgemeinschaften. Den Religionsgemeinschaften steht es frei, auf die Ausprägung von Institutionen zu verzichten, wie es bisher etwa der Islam tut. Ein Institutionsverzicht läßt die Chance zur gemeinschaftlichen Entfaltung religiöser Freiheit ungenutzt. Der Staat ist nicht befugt, in die Bresche zu springen und Religionsgemeinschaften eine bestimmte institutionelle Gestalt zu octroyieren.52 Der Staat ist neutral gegenüber dem Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften davon, welche Organisationsformen ihrem Handeln am besten dienen. Auch die innere Gestaltung ihrer Institutionen unterliegt dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften: An die Prinzipien, die für unsere staatlichen Institutionen elementar
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bleibt mein Catonischer Rathspruch bis ans Ende, oder bis ich es erlebe sie wirklich zertrümmert zu sehen“ (210). Zu den Kriterien für den Zugang zum öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus: v.Campenhausen und deWall: Staatskirchenrecht, a.a.O. (Anm.48), 134–140; Heinig: Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, a.a.O. (Anm.48), 319–354; Stefan Korioth: in: Grundgesetz – Kommentar, München, begr. von Theodor Maunz und Günter Dürig, Losebl., 42. Lieferung 2003, Art.140 / Art.137 WRV, Rn.73–80; Martin Morlok in: Grundgesetz – Kommentar, BandIII, hg. von Horst Dreier, Tübingen 2000, Art.140 / Art.137 WRV, Rn.98f. Darum ging es im Fall der „Zeugen Jehovas“: BVerfG, Urteil vom 19.12.2000 – 2BvR 1500/97 –, E102, 370–400. BVerfGE102, 370 (387); Heinig: Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, a.a.O. (Anm.48), 265–269, 497; Magen: Körperschaftsstatus und Religionsfreiheit, a.a.O. (Anm.43), 197–289. Walter: Religionsverfassungsrecht, a.a.O. (Anm.32), 562f., 565f., 591f., bettet diese Interpretation in das Konzept des „grundrechtsorientierten Religionsverfassungsrechts“ ein, 3, 194–201, 242–244, 546f., 551–554, 605f., 607–610. In diese Richtung geht etwa in Frankreich der von Staats wegen geschaffene „Conseil français du culte musulman“; dazu Matthias Koenig: Repräsentanzmodelle des Islam in europäischen Staaten, in: Islam einbürgern – Auf dem Weg zur Anerkennung muslimischer Vertretungen in Deutschland. Dokumentation der Fachtagung der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration am 25. April 2005, hg. von ders.: Berlin 2005, 19–32 (26–28 mit Nachweisen). – Die in diesem Zusammenhang zuweilen als Vorbild vorgestellte öffentlich-rechtliche Organisation der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich ist ein Erbe des Staatskirchentums; siehe nur die Darstellung bei Herbert Kalb, Richard Potz und Brigitte Schinkele: Religionsrecht, Wien 2003, 625–630, 636–640.
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sind, wie das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip,53 sind Religionsgemeinschaften nicht gebunden.
IV. Das öffentliche Interesse an kirchlichen Institutionen Bis hier habe ich die Stellung kirchlicher Institutionen im Verfassungsstaat vom Freiheitsinteresse der Kirche her beschrieben. Offen ist noch, ob nicht auch der Staat ein eigenes öffentliches Interesse an kirchlichen, allgemein: an religionsgemeinschaftlichen Institutionen hat. 1. Indienstnahme kirchlicher Institutionen für die verfassungsstaatliche Identität? Einige Stimmen in der Staatskirchenrechtslehre streichen das in jüngerer Zeit sehr entschieden heraus. Nicht um der Religionsgemeinschaften willen, sondern um des Staates willen gehe das Staatskirchenrecht mit institutionellen Gewährleistungen über die nackte Religionsfreiheit hinaus. So bestehe insbesondere der Zweck des öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus „nicht darin, religiöse Freiheit zu gewährleisten“, sondern „in der Pflege von Gemeinschaftsinteressen im Bereich des Öffentlichen, hier: der Stabilisierung und Perpetuierung der kulturellen Identität“.54 Darauf kommt es im Streit darüber an, ob die Behörden für die Zuerkennung der Körperschaftsrechte eine besondere, über die gesetzestreue Einhaltung von Freiheitsschranken hinausgehende „Loyalität“ gegenüber dem staatspolitisch definierten Gemeinwohl zur Voraussetzung machen dürfen. Das Bundesverfassungsgericht hat im Fall der „Zeugen Jehovas“ den Körperschaftsstatus von der Religionsfreiheit und 53 54
Differenzierend Heinrich de Wall: Die Bindung der Kirchen an das Rechtsstaatsprinzip, in: ZevKR43 (1998), 441–460. Arnd Uhle: Staat – Kirche – Kultur (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen Bd.43), Berlin 2004, 134f. mit weiteren Nachweisen. In diese Richtung zuvor beispielsweise Christian Hillgruber: Der deutsche Kulturstaat und der muslimische Kulturimport. Die Antwort des Grundgesetzes auf eine religiöse Herausforderung, in: JZ1999, 538–547 (547); Paul Kirchhof: Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: HSKRI, a.a.O. (Anm.29), 651–687 (667–669, 682–684). Siehe außerdem Arnd Uhle: Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität (Jus Publicum, Bd.121), Tübingen 2004, 454–458: Die genannte Zweckbestimmung wird dort konstruiert aus einem „Staatsziel der Vitalität und Dauerhaftigkeit der freiheitlichen Verfassungsordnung“ (354–406), das aus den Verfassungsschutzbestimmungen abgeleitet, recht kurzerhand in einen auf „Vorsorge“ für des Bürgers „Willen zur Verfassung“ gerichteten „Verfassungsschutz im weiteren Sinne“ ausgedehnt (402f.) und in einen „Identitätsvorbehalt“ für jegliches fördernde Staatshandeln gewendet wird (420, 439–450).
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dem Selbstbestimmungsrecht her verstanden und eine Beschränkung des Zugangs zu den Körperschaftsrechten auf sozusagen staatstragende Religionsgemeinschaften abgelehnt.55 Ohne das hier im einzelnen diskutieren zu können, möchte ich dem Bundesverfassungsgericht in dieser Auffassung zustimmen: Schon von den Rechtsfolgen des Körperschaftsstatus her ist eine Zweckrichtung auf das Staatswohl nicht plausibel. Denn für ein öffentliches Interesse an religionsgemeinschaftlichen Institutionen macht es keinen Unterschied, ob deren Mitgliedschaftsverhältnisse nach dem Vereinsrecht durch Rechtsgeschäft oder aber nach dem Parochialrecht durch Kirchengesetz begründet und ausgestaltet werden, ob Mitarbeiter im vertraglichen Arbeitsverhältnis oder im öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis beschäftigt werden, ob Beiträge vor den Zivilgerichten eingeklagt werden müssen oder als Kirchensteuer erhoben werden können, und so weiter. Vor allem aber käme in einer Teleologie der „Gemeinschaftsinteressen im Bereich des Öffentlichen“ die Freiheitsrelevanz der religionsgemeinschaftlichen Institution zu kurz. 2. Verfassungserwartungen an den Freiheitsgebrauch Gewiß sind mit der Gewährleistung des religionsgemeinschaftlichen Wirkens Erwartungen für das Gemeinwohl verbunden. Religionsgemeinschaften sind der Ort, an dem das Berufs- und Bürgerethos auf Weltverantwortung, Hilfsbereitschaft auf Nächstenliebe, Bildungsarbeit auf eine Botschaft, Kulturpflege auf einen transzendenten Sinn für die Geschichtlichkeit der Welt gestellt werden können. Damit leisten Religionsgemeinschaften wesentliche Beiträge zu den Grundlagen des Zusammenlebens, die der Staat selbst nicht zu schaffen vermag. Entsprechende Verfassungserwartungen56 dürfen sich auch an die rechtliche Stellung der kirchlichen Institutionen im staatlichen Recht knüpfen.57 Doch damit sind die institutionellen Gewährleistungen des Staatskirchenrechts nichts besonderes. Die Kategorie der Verfassungserwartung beschreibt allgemein das öffentliche Interesse am Freiheitsgebrauch: Vom öffentlichen Gebrauch der Meinungsfreiheit hängt unser demokratischer Diskurs ab, vom Gebrauch des Grundrechts auf Ehe und Familie eine gedeihliche Mikrostruktur und die generative Zukunft unse55 56
57
BVerfGE102, 370 (387, 395f.); anders zuvor BVerwG, U. vom 26.6.1997 – BVerwG 7C 11.96 –, E105, 117–127 (125–127). Siehe auch oben in Anm.50. Josef Isensee: Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, in: Die Verantwortung der Kirche für den Staat. Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd.25, hg. von Heiner Marré und Johannes Stüting, Münster 1991, 104–146. In diese Richtung auch die differenzierenden Erläuterungen zu den oben wiedergegebenen Aussagen: Schleiermacher: Ueber die Religion, a.a.O. (Anm.1), 237–240.
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rer Gesellschaft, vom Gebrauch der Berufs- und der Eigentumsfreiheit ihr wirtschaftliches Wohlergehen. Für etliche Freiheitsrechte stellt das staatliche Recht auch besondere Gewährleistungen zur Verfügung, die der institutionellen Gestalt der Freiheitsentfaltung gelten; niemand aber wird daran denken, die darauf liegenden Verfassungserwartungen von denen an den Freiheitsgebrauch58 abzulösen und den Zugang zu jenen Gewährleistungen von einer spezifischen Fähigkeit und Bereitschaft zur Erfüllung der Erwartungen abhängig zu machen. Da sich die Freiheitsinteressen aus dem Handeln in und mittels Institutionen ja nicht hinausdefinieren lassen, würde die Funktionalisierung für das Gemeinwohl sie ihrem Eigensinn entfremden und so Gefahr laufen, sie in paradoxer Fehlwirkung gerade für die an sie gerichteten Verfassungserwartungen unfruchtbar zu machen.59 Die Erwartungen, die die Kirche für ihre Institutionen und ihr darin wirksam werdendes Handeln im Verfassungsstaat geltend zu machen hat, begegnen so den Erwartungen des Verfassungsstaates an die Kirche in den Kategorien und Formen bürgerlicher Freiheit. Von dieser Freiheit Gebrauch zu machen, um das gemeinschaftliche Handeln von Christen im Vertrauen auf die ihnen zugesprochene Verheißung wirksam werden zu lassen: das ist gleichermaßen für Kirche und Welt der beste Dienst kirchlicher Institutionen im modernen Verfassungsstaat.
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Sie bleiben nämlich über die Freiheit vermittelt. Für die religiöse und kirchliche Freiheit: Heinig: Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, a.a.O. (Anm.48), 262–265, 269f.; Magen: Körperschaftsstatus und Religionsfreiheit, a.a.O. (Anm.43), 153–189; Heinrich de Wall: Das Verhältnis von Gesellschaft, Staat und Kirche in Deutschland, in: Zwischen nationaler Identität und europäischer Harmonisierung. Zur Grundspannung des zukünftigen Verhältnisses von Gesellschaft, Staat und Kirche in Europa, hg. von Burkhard Kämper und Michael Schlagheck (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen Bd.36), Berlin 2002, 85–100 (86); Walter: Religionsverfassungsrecht, a.a.O. (Anm.32), 552f. – Im Ansatz ebenso Isensee: Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, a.a.O. (Anm.56), 111f., 114, 118–120, 122f. Die allgemeinere (und strengere) Einsicht, daß eine Funktionalisierung der Religion für die Erhaltung von Recht und Sittlichkeit sowohl die Religion als auch Recht und Sittlichkeit mißachtet, formuliert Schleiermacher: Ueber die Religion, a.a.O. (Anm.1), 32–35 (in der ersten Rede) mit Erläuterung5, 38f.; siehe in diesem Zusammenhang nochmals die eben in Anm.57 genannten Erläuterungen.
Die Demokratie und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts VON RICHARD SAAGE/BERLIN
Der Name des großen Theologen, Philosophen, Pädagogen, Bildungsreformers und Philologen Friedrich Schleiermacher taucht im Titel meines Vortrages nicht auf.1 Dass dieser Tatbestand etwas mit meinem Thema zu tun hat, liegt auf der Hand: Selbst für einen genialen Gelehrten vom Format eines Friedrich Schleiermachers mussten in der zweiten Hälfte des 18. und in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts die Probleme der liberalen Demokratie heute später so in den Nebel der Zukunft getaucht sein, dass er sie nicht antizipieren und sich ihnen nicht widmen konnte. Da aber für ihn der Problembereich „Staat“ durchaus ein zentrales Anliegen war, wie sein öffentliches Engagement und seine unübertroffene Übesetzung der Werke Platos, insbesondere der ‚Politeia‘, zeigt, ist vielleicht doch ein, wenn auch nur indirekter, Zusammenhang des Generalthemas dieses Kongresses mit meinen Ausführungen gegeben.
1. Nach dem Zusammenbruch der Gesellschaftsordnungen des sowjetischen Typs in den Jahren 1989 und 1991 hat der amerikanische Politologe Francis Fukuyama angesichts des Versagens der kommunistischen Legitimationsmuster in seinem Buch ‚Das Ende der Geschichte‘2 die These vertreten, dass die liberale Demokratie, die seit den bürgerlichen Revolutionen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts zahlreiche Metamorphosen durchlief, nun endlich zu der politischen Form der Integration der gesellschaftlichen Verhältnisse in kapitalistischen Staaten gefunden habe, zu der es keine historischen Alternativen mehr gebe. Der dieser 1
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Die folgenden Ausführungen lehnen sich eng an die einschlägigen Abschnitte meines Buches ‚Demokratietheorien. Historischer Prozess – Theoretische Entwicklung – Soziotechnische Bedingungen‘, Wiesbaden 2005 an. Vgl. Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm, Ute Mihr und Karlheinz Dürr, München 1992.
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Feststellung zugrundeliegende Triumphalismus schlug sich in den bekannten Formeln vom „Ende der Geschichte“ oder vom „Ende der Utopie“3 nieder. Tatsächlich scheint es so zu sein, dass die liberale Demokratie (parlamentarische und präsidentielle Demokratie) auf der weltpolitischen Agenda keine andere Demokratievariante als Konkurrenz zu fürchten hat, ganz zu schweigen von möglichen diktatorischen Alternativen, seien sie nun kommissarischer, autoritärer oder totalitärer Provenienz. Doch demgegenüber bleibt zu fragen, ob tatsächlich der Niedergang des Realsozialismus in Europa automatisch zu einem Legitimationsgewinn des westlichen Verfassungstyps führte, der ihn gleichsam gegenüber allen Gefährdungen immunisiert. Wer sich einen Überblick über die Zeitdiagnosen der westlichen Demokratie nach der großen Zäsur von 1989 und 1991 verschafft, könnte zu dem Schluß kommen, das Gegenteil sei der Fall. Mit dem Verschwinden des Feindbildes „Kommunismus“, so scheint es, treten die Schwächen des Verfassungstyps „westliche Demokratie“ um so schärfer hervor. Gewiß ist die Rede von der Krise der Demokratie so alt wie diese selbst, weil die Ausweitung politischer Teilhabe das Resultat erbitterter politischer Kämpfe schon lange vor der Französischen Revolution war. Auch sind die Gefahren, die der Demokratie von den Bürokratisierungstendenzen etatistischer Verwaltungen und den Oligarchisierungstrends in den großen massendemokratischen Organisationen der modernen Industriestaaten drohen, seit dem 19. und verstärkt im 20. Jahrhundert immer wieder analysiert worden.4 Aber die Herausforderungen der liberalen Demokratie seit dem Zusammenbruch der Herrschaftsordnungen des sowjetischen Typs sind offensichtlich neuartig. Genannt werden vor allem die folgenden Problemlagen, mit denen der westliche Verfassungstyp konfrontiert ist, ohne bisher überzeugende Lösungen anbieten zu können: 1. Seit der frühen Neuzeit hätten sich in den westlichen Ländern Marktgesellschaften in einem langwierigen und komplexen Prozess durchgesetzt. Aber der individualistische Nutzenkalkül und das egoistische Konkurrenzverhalten als notwendige Voraussetzung und Folge der Marktökonomie seien, wie Tocqueville in seiner Analyse der amerikanischen Demokratie in der Mitte des 19. Jahrhunderts bemerkte,
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Vgl. Joachim Fest: Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin 1991. Dazu kritisch: Das Scheitern diktatorischer Legitimationsmuster und die Zukunftsfähigkeit der Demokratie. Festschrift für Walter Euchner, hg. v. Richard Saage, Berlin 1994. Vgl. hierzu Kurt Lenk: Probleme der Demokratie, in: Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, hg. v. Hans Joachim Lieber, Bonn 1991, 933–989. Zum Verhältnis von Demokratie und Bürokratisierung vgl. auch Iring Fetscher: Demokratie zwischen Sozialdemokratie und Sozialismus, Stuttgart u.a. 1973, 50–62.
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durch „Gewohnheiten des Herzens“ korrigiert worden. Er habe damit einen Tatbestand gemeint, der eigentlich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in den westlichen Demokratien außer Frage stand: dass nämlich das Prinzip egoistischen Utilitätsdenkens auf die Sphäre der Ökonomie im engeren Sinne weitgehend beschränkt blieb und die anderen Lebensbereiche der ständisch-handwerklichen sowie bäuerlichen Traditionen, des Familienlebens und der generellen sozialen Orientierung der einzelnen unberührt ließ. Der Triumph der Marktwirtschaft im weltweiten Kontext nach dem Zusammenbruch der Planwirtschaften des Ostens könnte nach dieser Diagnose für die innere Verfassung der westlichen Staaten einen hohen Preis haben:5 Marktkonformes Verhalten, durch solidarische Werte nicht mehr korrigiert, treibe eine gesellschaftliche Praxis aus sich hervor, die der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde auf die Formel brachte: Es komme darauf an, „möglichst viel (für sich) herauszuholen, sich teuer zu verkaufen“.6 Doch setze sich diese Maxime durch, so sei der liberalen Demokratie ihre wichtigste normative Ressource entzogen: die Bereitschaft der Bürger, sich für sie zu engagieren. 2. Mit dem drohenden Zerfall der normativen Ressourcen des Bürgersinns gehe in den westlichen Staaten ein Modernisierungsschub einher, der aussschließlich seiner eigenen Logik folge, ohne auf die Logiken der anderen Teilbereiche der Gesellschaft Rücksicht zu nehmen. Eine konjunkturunabhänge, auf Dauer gestellte Massenarbeitslosigkeit, aber auch der Verlust humaner sinnstiftender Leitbilder sei die notwendige Folge: Sie produziere dadurch massenhaft anomische Bewusstseinslagen, die sich in Gewalt- und Ideologiebereitschaft sowie in der Sehnsucht nach einfachen Lösungen und „starken“ Männern äußere.7 Die immer wiederkehrenden Wellen des Fremdenhasses und rechtsextremistischer Gewalttaten seien zwar nicht mit den Entstehungsbedingungen des Faschismus in der Weimarer Republik zu vergleichen. Doch stellten sie dann eine ernsthafte Herausforderung für die liberale Demokratie dar,8 wenn sie begleitet würden von massiven sozio-kulturellen Fragmentierungen, in deren Gefolge sich innerhalb fundamentalistischer Gruppierungen totalitäre Ideologien durchsetzen können. Der ehemalige Ost-West-Gegensatz sei längst durch einen „Zusammenprall 5 6 7 8
Vgl . Helmut Dubiel: Die Krise der liberalen Gesellschaft, in: Universitas 50 (1995), 727–733. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Erfolge und Grenzen der Aufklärung. Acht Thesen, in: Universitas 50 (1995), 720–726, 723. Vgl. Jürgen Fijalkowski: Die Zukunftsgewissheit westlicher Demokratien, in: Das Scheitern diktatorischer Legitimationsmuster, a.a.O. (Anm.3), 273–288; 285. Vgl. Brigitte Gess: Zu Hannah Arendts Totalitarismustheorie nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, in: ebd., 331–343; 340.
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der Zivilisationen“ (Huntington) ersetzt worden, der nicht nur an den Grenzen des Geltungsbereichs der westlichen Demokratien, sondern in ihren Metropolen selbst stattfinde.9 3. Technologische Entscheidungen mit irreversiblen Konsequenzen drohten das Mehrheitsprinzip außer Kraft zu setzen. Die westliche Demokratie sei aber nur dann wirklich funktionsfähig, wenn die Minderheit zur Mehrheit werden kann und einmal getroffene Entscheidungen wieder zu revidieren sind.10 Noch schwerer aber wiege, dass die liberale Demokratie in ihrer jetzigen Form den Nachweis schuldig bleibe, sie könne die Lebensbedingungen der Menschheit im 21. Jahrhundert sichern. Dem Druck der nächsten Wahlen ausgesetzt, konzentrierten sich jedoch die Politiker auf unmittelbar anstehende Problemlagen; die längst fälligen ökologischen Strukturentscheidungen blieben aus, weil sie langfristigen Menschheitsinteressen dienten, die im System der Konkurrenzdemokratie nicht mehrheitsfähig und damit auch nicht durchsetzbar seien. Nicht im Parlament, sondern im Radio und im Fernsehen fänden im allgemeinen die sachkundigen Diskussionen über die wichtigsten ökologischen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Probleme statt. Das Interesse der Parteien an ihrem Machterhalt entwickle zudem eine solche Eigendynamik, dass der Abstand zwischen der öffentlichen Meinung und den gewählten Volksvertretern ständig wachse. Wir müssten uns bewusst sein, so die Diagnose des Berichts an den Club of Rome von 1992, ‚Die globale Revolution‘, „daß die Demokratie heute ausgehöhlt und gefährdet ist und daß sie Grenzen“ habe. Die Antwort auf die Frage, ob die Welt, in der wir uns vorfinden, überhaupt regierbar sei, laute: „Wahrscheinlich nicht mit den derzeitig vorhandenen Strukturen und Einstellungen“.11 4. In dem Maße, wie sich die Individualisierungstendenzen in den westlichen Ländern verstärkten, werde immer unklarer, worin der unverzichtbare gesellschaftliche Basiskonsens als Voraussetzung eines pluralistisch verfassten Regierungssystems zu sehen sei: Alle normativen Ressourcen traditionaler Art, aus denen sich jenseits marktkonformen Verhaltens so etwas wie eine kollektive Identität ergeben könnte, scheinen erschöpft zu sein.12 Aus dieser Entwicklung resultierten zwei Konsequenzen, die sich für die liberale Demokratie gleichermaßen fatal auswirkten. Einerseits komme es bei vielen Bürgern zur Herausbildung einer Doppelmoral: Im Namen individueller Grundrechte würden 9 10 11 12
Vgl. Bassam Tibi: Fundamentalismus und Totalitarismus in der Welt des Islam, in: ebd., 305–318; 306ff. Vgl. Udo Bermbach: Ambivalenzen liberaler Demokratien, in: ebd., 289–304; 302. Alexander King u. Bertrand Schneider: Die Globale Revolution. Ein Bericht des Rats des Club of Rome, in: Spiegel Spezial 2 (1991), 69. Vgl. Bermbach: Ambivalenzen liberaler Demokratien, a.a.O. (Anm.10), 233.
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staatliche Maßnahmen zur Schaffung von Infrastrukturen, die solidarischen Zwecken dienten, blockiert, um den politischen Akteuren gleichzeitig Versagen angesichts dringend zu lösender Strukturprobleme vorzuwerfen.13 Andererseits habe die zunehmende Individualisierung des Lebens schon längst die Frage nach der Integrationsfähigkeit der westlichen Demokratien aufgrund des Wegfalls des kommunistischen Feindbildes auf die politische Tagesordnung gesetzt: Es sei keineswegs ausgemacht, so lauten düstere Prognosen, ob nicht die Bürgerkriegsszenarien im ehemaligen Herrschaftsbereich des Realsozialismus die Zukunft der westlichen Demokratie vorwegnehmen.14 5. Als zwischen 1989 und 1991 die realsozialistischen Staaten in Europa zusammenbrachen, beherrschte eine optimistische, wenn nicht sogar euphorische Europa-Vision die öffentliche Auseinandersetzung. Man sprach vom „Modell Europa“, in dem es vielfältige und richtungsweisende Sozialexperimente geben werde, denen nicht länger mehr dogmatisierte Utopien und Ideologien, sondern empiriegesättigte und erprobungsfähige Handlungsentwürfe zugrundeliegen. Europa, so schien es, avancierte zum Hoffnungsträger überhaupt, der auf der Basis einer florierenden Marktwirtschaft wachsenden Wohlstand mit Demokratie, Rechtsstaat, sozialer Sicherheit sowie einer zivilen politischen Kultur verbinde und so zu einer Erneuerung bzw. Revitalisierung des westlichen Verfassungstyps führe.15 Heute, so scheint es, ist nicht mehr viel von dieser Aufbruchstimmung übrig geblieben. Vor allem werden Zweifel an der ökonomischen Leistungsfähigkeit Europas laut. Diese Prognose geht von der Annahme aus, dass die Wachstumsraten der vergangenen Jahre nicht mehr erreichbar sind, die die Voraussetzung für das Funktionieren unserer Sozialsysteme waren und die zugleich die Löhne in Europa unbezahlbar gemacht hätten. Einerseits seien die Löhne brutto zu hoch; sie raubten den Produzenten die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Andererseits seien sie jedoch netto zu niedrig, weil sich ein alleinverdienender Angestellter mit zwei Kindern zunehmend der Armutsgrenze nähere.16 Aus diesem Szenario werden einige beunruhigende Fragen abgeleitet: Stehen wir vor dem Ende unserer bisherigen Lebensweise? Wenn Europa tatsächlich verarmt, verliert dann
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15 16
Vgl. Fijalkowski: Die Zukunftsgewissheit westlicher Demokratien, in: Das Scheitern diktatorischer Legitimationsmuster, a.a.O. (Anm.7), 286f. Vgl. Rainer Eisfeld: Ein „dritter Weg“ in Europa – Illusionen oder fortdauernde Perspektive?, in: Das Scheitern diktatorischer Legitimationsmuster, a.a.O. (Anm.3), 319–329, 352. Vgl. Dieter Senghaas: Jenseits des Nebels der Zukunft: Eine geschichtsmächtige Kontroverse neigt sich dem Ende zu, in: Leviathan 18 (1990), 184ff., 148f. Vgl. Horst Afheldt: Wohlstand für niemand? Die Marktwirtschaft entlässt ihre Kinder, Frankfurt/M. 1995.
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der Verfassungstyp „westliche Demokratie“ nicht eine entscheidende Sinnquelle? Kann es sein, daß der Zusammenbruch des Ostens nicht den Sieg des Westens bedeutet, sondern umgekehrt: das Vorbeben zu einem noch viel größeren Zusammenbruch? Befinden wir uns heute in Europa in einer Situation wie die DDR des Jahres 1985, ohne zu ahnen, wie wenig Zeit uns noch bleibt? 6. Zwar bietet der Trend der Globalisierung der Märkte,17 der sich mit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Diktaturen in Europa und dem Siegeszug der neuen Informationstechnologien ungehemmt durchgesetzt hat, die Perspektive einer „Übereinstimmung des Rechts mit einer Gemeinschaft des Nutzens im globalen Maßstab“.18 Doch dieser Chance stehen auch Gefahren für die liberale Demokratie gegenüber. Indem sich das Kapital internationalisiert und mittels der Neuen Medien weltweit vernetzt, könnte es sich zunehmend seiner sozialstaatlichen Korrektive entziehen, die durch die allgemeine Kapitalflucht und die Verlagerung ganzer Industrien in sogenannte Billiglohnländer noch weiter geschwächt werden. Da die Globalisierung die Gegenmacht der Gewerkschaften aushebelt und die Verringerung der Arbeitskosten einer der wichtigsten Aspekte der Konkurrenzfähigkeit innerhalb der globalisierten Weltwirtschaft ist, wäre nicht auszuschließen, dass dem wachsenden Heer der Arbeitslosen eine kleine Schicht von Superreichen gegenübersteht. Auf diese Weise könnte die Globalisierung jenes Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit zerstören, ohne das die liberale Demokratie ihre Integrationsfähigkeit verlöre. Der Rest-Staat müsste zunehmend zu autoritären, d.h. antidemokratischen Mitteln greifen, um die Stabilität der Gesellschaft zu sichern. Andererseits könnten sich die wirklich relevanten gesamtgesellschaftlichen Entscheidungen in den Chefetagen der weltweit agierenden „global players“ abspielen, die der demokratischen Kontrolle der Bürger weitgehend entzogen sind. 7. Spätestens seit dem 11. September 2001 ist die liberale Demokratie des Westens mit der Gefahr des weltweiten, gegen sie gerichteten Terrors konfrontiert, der bis dahin unterschätzt worden ist. Ausgehend vom islamischen Fundamentalismus, sind die bisherigen Reaktionsmuster wenig erfolgversprechend. Das kulturalistische Paradigma19 sieht das Problem nicht im islamischen Fundamentalismus, sondern im Islam 17
18 19
Vgl. hierzu kritisch Jean Ziegler: Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher. Aus dem Französischen übertragen v. Holger Fliessbach, 9. Aufl., München 2002. Vgl. Jean-Christophe Merle u. Stefan Gosepath: Einführung, in: Weltrepublik. Globalisierung und Demokratie, hg. v. J.-Ch. Merle u. St. Gosepath, München 2003, 8. Vgl. Samuel P. Huntington: Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Politik im 21. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen von Holger Fliessbach, München/Wien 1996.
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insgesamt. Der westlichen Demokratie wird empfohlen, ihre Reihen zu schließen und sich auf ihre eigenen Werte zu besinnen. Unter dieser Voraussetzung könnten dann in der Außenpolitik realistische Bündnisse mit anderen Kulturen geschlossen werden, die auf gegenseitigem Nutzen beruhen. Was aber geschieht mit den kulturellen Minoritäten in den westlichen Metropolen? Und wie soll dieser Ansatz funktionieren, wenn der fundamentalistische Islam in seinen eigenen Ursprungsländern mehrheitsfähig wird? Das modernisierungstheoretische Muster20 geht davon aus, dass der islamische Fundamentalismus eine Ideologie darstellt, die streng vom Islam als Religion zu trennen ist. Die westliche Demokratie habe den islamischen Fundamentalismus zu bekämpfen, aber den Dialog mit dem Islam zu suchen. Als Fernziel gilt die Entstehung einer Weltzivilisation, in der unter dem Zeichen der Demokratie die aufklärerischen Potentiale der islamischen und der westlichen Kultur verschmelzen. Auch diese Konzeption erscheint in einem problematischen Licht, wenn sich – gerade unter dem Eindruck westlicher Militärinterventionen – die Kooperationsbereitschaft der islamischen Staaten auf die ihrer korrumpierten Eliten beschränken sollte.
2. Hat die liberale Demokratie angesichts dieser Herausforderungen eine Zukunft? Wir sollten nicht vergessen, dass in der bisherigen Geschichte alle diktatorischen und technokratischen Versuche, gegen das anthropologische Veto der Selbstbestimmung stabile Herrschaftsordnungen zu formieren, wenig erfolgreich waren. Der neueste Beleg sind die Ereignisse von 1989 und ihre Folgen: Wie schon vor ihnen die faschistischen Diktaturen, so scheiterten auch die politischen Systeme des sowjetischen Typs in letzter Instanz an dem „Protest gegen den fremden Willen, dem sich der eigene beugen muß, gegen die Qual der Heteronomie“.21 Diese Aussage Hans Kelsens ist in der deutschen Vereinigung der Jahre 1989/90 eindrucksvoll bestätigt worden. So heißt es in der gemeinsamen Erklärung der Bürgerbewegungen der DDR vom 4. Oktober 1989: „Uns verbindet der Wille, Staat und Gesellschaft demokratisch umzugestalten. Es kommt darauf an, einen Zustand zu beenden, in dem Bürgerinnen und Bürger dieser Gesellschaft nicht die Möglichkeit haben, ihre politischen Rechte so auszuüben, wie es die Menschenrechtskonventionen der
20 21
Vgl. Tibi: Fundamentalismus und Totalitarismus in der Welt des Islam, a.a.O. (Anm.9). Hans Kelsen: Vom Wesen und Wert der Demokratie [1929], Aalen 1981, 3.
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Richard Saage Vereinten Nationen und die KSZE-Dokumente verlangen. Wir erklären uns solidarisch mit allen, die wegen ihres Einsatzes für diese Ziele verfolgt werden. Wir setzen uns ein für die Freilassung der Inhaftierten, die Aufhebung ergangener Urteile und die Einstellung laufender Ermittlungsverfahren. Wir halten es für vorrangig, in unserem Lande eine Diskussion darüber zu eröffnen, welche Mindestbedingungen für eine demokratische Wahl eingehalten werden müssen“.22
Aber sicher ist auch, dass die Demokratie in ihrer heutigen Form nicht in traditionalistischer Statik verharren darf. Sie muss sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stellen. Doch die Frage ist, wie das geschehen soll. Niemand kann an dieser Stelle detaillierte Reformvorschläge der Institutionen unseres politischen Systems erwarten; dazu mögen sich Experten äußern, die auf diesem Gebiet kompetenter sind als der Verfasser. Doch möchte er wenigstens zwei Bedingungen nennen, die für die Zukunft der westlichen Demokratie entscheidend sein können. Zunächst wird ihre zukünftige Entwicklung davon abhängen, ob es gelingt, dem Denken in Kategorien der individuellen Nutzenmaximierung neue Formen der Bürgersolidarität gegenüberzustellen. Offen kontraproduktiv wäre der Versuch, sie im Zeichen eines „Krieges gegen den weltweiten Terrorismus“ durch innen – und außenpolitische Feindbestimmungen zu erzwingen: Eine solche ausgrenzende Homogenisierung würde die Demokratie unter sich begraben. Bedenkliche Erosionserscheinungen des normativen Fundaments der liberalen Demokratien sind bereits heute allenthalben sichtbar, wenn in der Öffentlichkeit Versuche unternommen werden, die Folter als legitimes Mittel der Verbrechens- und Terrorismusbekämpfung zu akzeptieren und sich die einzige Supermacht der Welt mit dem Problem auseinanderzusetzen hat, für systematische Misshandlungen von Kriegsgefangenen unterhalb des Niveaus der Genfer Konvention verantwortlich zu sein. Aber auch der neokonservative Ansatz, Solidarität durch den Rekurs auf traditionale Werte im Bereich der Familien-, Sozial- und Kulturpolitik notfalls administrativ zu verordnen, ist ein ein Irrweg. Längst sind „die traditionalen Polster, auf die sich – bis vor wenigen Jahrzehnten – der Respekt vor der Autorität des Staates, der Gehorsam gegenüber den Gesetzen und eine Ethik der Arbeit stützen konnten“,23 in dem Maße 22
23
Gemeinsame Erklärung der Bürgerbewegung vom 4. Oktober 1989, in: Die deutsche Vereinigung. Dokumente zu Bürgerbewegung, Annäherung und Beitritt, hg. v. Volker Gransow u. Konrad H. Jarausch, Köln 1991, 69. Zu den aus den Bürgerbewegungen der DDR in der Umbruchphase entstandenen „Runden Tische“ vgl. auch Runder Tisch und direkte Demokratie. Eine Disputation, hg. v. Gunnar Berg, Opladen 2000 sowie Uwe Thaysen: Der Zentrale Runde Tisch der DDR, Bd.I, Wiesbaden 2000, VII–XLIV. Dubiel: Die Krise der liberalen Gesellschaft, a.a.O. (Anm.5), 729.
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verschlissen, wie in den westlichen Ländern die zweckrationale, am Markt orientierte Nutzenmaximierung nicht mehr an einer bestimmten Schicht festmachbar, sondern tendenziell zur Handlungsmaxime aller Individuen geworden ist. Die von der Moderne ausgelösten Individualisierungstendenzen sind nur von ihr selbst durch neue Formen der Solidarität in ihrer Dynamik zu bremsen und auf ihr humanes Maß zurückzuführen. Sie kann dabei auf keine andere Quelle zurückgreifen als auf die aufgeklärten Eigeninteressen der Bürger selbst: Erst in der zivilgesellschaftlichen Assoziation können die einzelnen wieder lernen, freiwillig solidarische Bindungen einzugehen. Sodann scheint mir klar zu sein, dass die aufgezeigten Strukturprobleme nur zu bewältigen sind, wenn der westliche Verfassungstyp entschlossen an den – freilich zu reformierenden – Strukturen des Parteiensystems festhält: Sie sind keine Fremdkörper, sondern müssen zu einem Zentrum der anzustrebenden Zivilgesellschaft erhoben werden. Für alle Versuche, das tatsächliche oder vermeintliche Versagen der politischen Parteien dadurch zu kompensieren, dass man die Richtlinienkompetenz bei der Antwort auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts neu zu schaffenden Institutionen zuordnet, die in einem, angeblich vom pluralistischen Interessenkampf entlasteten Raum agieren, trifft noch immer zu, was Hans Kelsen über die Parteienfeindschaft in den konstitutionellen Monarchien in Deutschland und Österreich sagte: Sie sei – bewußt oder unbewußt – „ein ideologisch maskierter Stoß gegen die Realisierung der Demokratie“.24 Tatsächlich benötigen wir nicht weniger, sondern mehr Pluralismus. „In der gegenwärtig entstehenden Welt“, so heißt es im Bericht des Club of Rome von 1992, „kann die Entscheidungsgewalt nicht länger das Monopol von Regierungen und ihren Ministerien sein, die obendrein in einem Vakuum arbeiten“. Viele Partner müßten in diesen Prozess einbezogen werden: „Handel und Industrie, Forschungsinstitute, Wissenschaftler, nichtstaatliche Einrichtungen und private Organisationen“.25 Allerdings wird der pluralistische Parteienstaat der Problemlage des 21. Jahrhunderts nur unter der Voraussetzung gewachsen sein, dass er sich in zweierlei Hinsicht reformiert. Auf der einen Seite muss er durch ein fundamentaldemokratisches Korrektiv wirkungsvoll ergänzt werden. Von einer solchen Konstellation könnten das Parlament, die Parteien und die Abgeordneten nur gewinnen, weil sie in einer im Umbruch begriffenen Welt auf einen sensiblen Seismographen an der Basis angewiesen sind: nicht nur um eine Politik zu vermeiden, die sich von den Interessen, Hoffnungen und Ängsten der Bürger löst. Ebenso wich24 25
Kelsen: Vom Wesen und Wert der Demokratie, a.a.O. (Anm.21), 20. King u. Schneider: Die Globale Revolution, a.a.O. (Anm.11), 105.
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tig ist, dass nur so deren Identifikation mit dem politischen System der parlamentarischen Demokratie möglich erscheint. Auf der anderen Seite wird der pluralistische Parteienstaat des 21. Jahrhunderts um die Erarbeitung der Vision einer zukünftigen Welt, die wir für anstrebenswert halten, nicht herumkommen. Wer ein solches sinnlich konkretes fiktives Szenario, das über den bestehenden Status quo hinausweist, von vornherein als Totalitarismus abtut, hat nicht begriffen, dass die Institutionen des westlichen Verfassungstyps zu leeren Hülsen werden, wenn sie sich auf ihre Funktion der Elitenrekrutierung und der Erzeugung der staatlichen Ordnung beschränken. Das Politische verschwindet dann aus der Politik: Sie droht zu einer öffentlichkeitswirksamen Inszenierung von Scheinlösungen zu verkommen, ohne auf die Strukturprobleme des 21. Jahrhunderts wirkliche Antworten zu finden.
3. Die westliche Demokratie, so kann abschließend festgestellt werden, hat den Herausforderungen linker und rechter Diktaturen im 20. Jahrhundert standgehalten. Ob sie die Probleme des 21. Jahrhunderts lösen wird, für die sie selbst mitverantwortlich ist, muss die Zukunft zeigen. Inwiefern meine Reflexionen, die ihr gelten, im Sinne Friedrich Schleiermachers sind, werden die auf diesem Kongress versammelten Schleiermacher-Experten besser beurteilen können als es mir selber möglich ist.
Kirchliche Statistik als Soziologie des Christentums VON SIMON GERBER/BERLIN
Welches Gehalt bekam der Erzbischof von Köln laut der päpstlichen Bulle „de salute animarum“ von 1821? Wieviele evangelische Missionsstationen gab es 1823 auf dem indischen Festland? Und wieviele Protestanten lebten 1827 in Deutschland unter katholischen Fürsten? Wo sonst in Friedrich Schleiermachers Werken finden wir die Antwort auf diese Fragen als in der kirchlichen Statistik?1 Der Erzbischof von Köln bekam ein Jahresgehalt von 12000 rth (98), 1823 gab es 49 evangelische Missionsplätze auf dem indischen Festland (59), und auf dem Gebiet des Deutschen Bundes lebten 1827 2,72 Millionen Protestanten unter katholischen Fürsten (48).
1. Statistik heißt bei Schleiermacher freilich mehr als das Sammeln und Auswerten von Zahlen. Der Begriff bürgerte sich im 18. Jahrhundert im Deutschen als Lehnwort aus dem Französischen ein und bedeutete zunächst soviel wie Staatenkunde, also die Beschreibung gegenwärtiger Staaten, vor allem ihrer politischen Verfassung, aber auch ihrer Größe, geographischen Beschaffenheit und Bevölkerungszahl, ihrer wirtschaftlichen und geistig-kulturellen Verhältnisse und ihrer Außenbeziehungen.2 All das, sagt Schleiermacher, lasse sich im Prinzip auf das kirchliche Gebiet übertragen; auch die Kirchen der Gegenwart ließen sich statistisch beschreiben (183–188, 463). In der ‚Kurzen Darstellung des theologischen Studiums‘, dem enzyklopädischen Gesamtentwurf der 1
2
Friedrich Schleiermacher: Vorlesungen über die kirchliche Geographie und Statistik, Kritische Gesamtausgabe (KGA II/16, hg. von Simon Gerber, Berlin/New York 2005. Die folgenden Stellenangaben in Klammern beziehen sich auf die Seitenzahlen dieser Ausgabe. Vgl. zu Schleiermachers kirchlicher Statistik auch meinen Aufsatz: Schleiermacher und die Kirchenkunde des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 11 (2004), 183–214. Vgl. Schleiermacher: Vorlesungen über die kirchliche Geographie und Statistik (KGA II/16), Einleitung, X; Gerber: Schleiermacher und die Kirchenkunde, a.a.O. (Anm.1), 185.
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theologischen Wissenschaft und ihrer Disziplinen, schreibt er, die kirchliche Statistik sei die „Kenntniß des gesellschaftlichen Zustandes in allen verschiedenen Theilen der christlichen Kirche“, und in dem von der Statistik zu beschreibenden „Gesamtzustand einer kirchlichen Gesellschaft unterscheiden wir die innere Beschaffenheit und die äußeren Verhältnisse“.3 Darunter versteht Schleiermacher die Verfassung der jeweiligen Kirche, den Geist und den Stand der religiösen Entwicklung in ihr und ihr Verhältnis zu Staat und Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft und zu anderen Kirchen.4 Freilich, fragt Schleiermacher, wozu brauche man eigentlich eine solche Beschreibung der Kirchen als Disziplin der theologischen Wissenschaft? Sie sei an der Universität ja durchaus unüblich, und man lerne Verfassung und inneres Leben seiner Kirche schließlich auch durch die Praxis kennen, da merke man ja schnell, wie alles organisiert sei, was man selbst bestimmen könne und wo man zu gehorchen habe (184f.). Gegen diesen Einwand macht Schleiermacher einen zwiefachen Nutzen der kirchlichen Statistik als theologischer Disziplin geltend: einen spekulativen und einen praktischen. Der spekulative Nutzen ist der, dass man mit Hilfe einer statistischen Beschreibung der Kirchen auf der ganzen Welt ein lebendiges Bild vom Christentum und seiner Wirksamkeit bekommt. Daraus folgt dann der praktische Nutzen: Für eine gedeihliche Führung des Kirchenregiments brauche man, ebenso wie in der Politik, den Blick über den Tellerrand; man selbst könne zwar nicht unmittelbar auf alle Gebiete einwirken, aber man könne sich bei einem weiten Horizont doch viel besser ein Bild davon machen, was nützlich und was schädlich sei und was sich verbessern ließe (185–188). „Jeder Leitung der christlichen Kirche muß diese lebendige Kenntniß zu Grunde liegen, wenn sie nicht bloß eine empirische sein soll“ (188).5 Das Sammeln von statistischem, auch zahlenstatistischem Material über die Kirchen auf der ganzen Welt hat Schleiermacher wohl selbst ein wenig Spaß gemacht. Es ist schon eindrucksvoll, was er, bekanntermaßen ein aufmerksamer Beobachter des Zeitgeschehens, aber eben auch stets von vielen Ämtern und Ehrenämtern beansprucht, hier mit viel Fleiß zusammengetragen hat, freilich eher unsystematisch: aus Carl Friedrich Stäudlins Handbuch der kirchlichen Geographie und Statistik 3 4 5
Kurze Darstellung des theologischen Studiums, 2. Aufl., Berlin 1830, §195, 232 (KGA I/6, hg. von Dirk Schmid, Berlin/New York 1998, 394, 408). Kurze Darstellung, 2. Aufl., §234–241 (KGA I/6, 408–410). Vgl. Kurze Darstellung, 2. Aufl., §243f. (KGA I/6, 411). Einen solchen praktischen Nutzen schreibt Schleiermacher auch der Kirchengeschichte zu, vgl. die Vorlesungen zur Kirchengeschichte 1821/22, 98.–99. Stunde (KGA II/6, hg. von Simon Gerber, Berlin/New York 2006, 661).
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von 1804, aus Kirchenzeitungen und Tageszeitungen, aus Fachbüchern und Fachzeitschriften, aus Rechtsquellen und Reiseberichten.6 Vieles davon konnte er in der Vorlesung gar nicht verwerten, wollte es sich aber trotzdem notieren.7 Das andere, was einem auffällt, ist Schleiermachers starkes Interesse für kirchenpolitische und kirchenrechtliche Probleme. In der Vorlesung verzettelt er sich manchmal geradezu in Fragen wie die, wie ein Staat die katholische Kirche auf seinem Territorium organisieren könne, ohne vom Papst über den Tisch gezogen zu werden (291–321 passim). Für die protestantische Kirche wiederum geht es ihm um ihre Unabhängigkeit vom Staat und um die Partizipation der Laien. Als Schleiermacher 1827 zum ersten Mal die Statistik las, konnte er auf Jahrzehnte politischer, besonders kirchenpolitischer Tätigkeit zurückblicken; sein Bemühen um eine Verfassung für Staat und Kirche mit stärkerer Beteiligung der Bürger bzw. der Laien hatte letztlich wenig Erfolg. Daran gemessen urteilt Schleiermacher in seinen Statistik-Vorlesungen eher zurückhaltend.8 Es ging ihm nicht darum, den Studenten seine Sicht der Dinge aufzunötigen, sondern darum, sie für die kommenden politischen Debatten wach und kompetent zu machen.
2. So viel also zum praktischen Nutzen der kirchlichen Statistik. Wie aber steht es mit dem spekulativen Nutzen? Sind Christentum und Kirche, sind die Kirchen überhaupt mit empirischen Erhebungen beschreibbar? Entzieht sich nicht das Eigentliche der Kirche, der Glaube und das Wort, aus dem der Glaube kommt, der statistischen Erfassung? Und hat nicht der Protestantismus und nun zumal die reformierte Kirche, der Schleiermacher angehörte, einen Hang zur unsichtbaren Kirche, also dazu, in der Kirche vor allem die in ihrem Umfang Gott allein offenbare Schar der Gläubigen und Erwählten zu sehen und demgegenüber ihre Institutionen und überhaupt das Sichtbare, soziologisch Fassbare abzuwerten?9
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Vgl. Schleiermacher: Vorlesungen über die kirchliche Geographie und Statistik (KGA II/16), 526–534; Gerber: Schleiermacher und die Kirchenkunde des 19. Jahrhunderts, a.a.O. (Anm.1), 184. Erstaunlich ist es auch, dass Schleiermacher anhand dieser seiner Exzerptsammlung, die weithin einer Rumpelkammer voller interessanter Einzelstücke ähnelt, ein geordnetes, flüssiges Kolleg halten konnte. Vgl. Gerber: Schleiermacher und die Kirchenkunde des 19. Jahrhunderts (Anm.1), 187–192. In diesem Sinne äußerte sich in den 1920er Jahren auch die „Dialektische Theologie“ höchst kritisch zu den kirchlich-statistischen Forschungen Johannes Scheiders
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Die Religion ist für Schleiermacher etwas Geselliges: Sie drängt nach Mitteilung und Gemeinschaft, nach Austausch und Geselligkeit. Von Anfang an ist die Religion immer beides zugleich: ein gemeinsames Gefühl und eine Lebensgemeinschaft auf der Grundlage dieses Gefühls. Und eine solche Religionsgemeinschaft, sobald sie das patriarchalische oder Hordenstadium hinter sich gelassen hat, organisiert dieses gemeinsame Leben nach dem Unterschied zwischen dem Klerus, entsprechend der Obrigkeit im staatlichen Leben, und den Laien, entsprechend den Untertanen. Das Wesen einer Religionsgemeinschaft zeigt sich immer darin, wie das gemeinsame Leben in ihr organisiert ist.10 Das ist die ethische oder kulturtheoretische Begründung, warum man Religionsgemeinschaften statistisch-soziologisch beschreiben kann. Nun ist aber die Statistik, wie Schleiermacher sie entwirft, keine philosophische Disziplin wie etwa die Lehre vom Staat, sondern eine Disziplin der Theologie. Vom Nutzen der Statistik für das Geschäft des Kirchenregiments haben wir schon geredet. Es ist aber nicht nur nützlich, sondern auch aus christlicher Sicht dem Gegenstande adäquat, kirchliche Statistik zu betreiben: Christus ist der Urheber eines neuen Gesamtlebens der Menschheit; von ihm aus breitet sich das göttliche Prinzip aus, erst auf Einzelne, dann auch auf größere Massen. Dieses göttliche Prinzip in Christus kann man nun als Lehre darstellen, als Erkenntnis und Gefühl (christliche Glaubenslehre) und als Lebens- und Handlungsweise (christliche Sittenlehre).11 Man kann das in Christus gesetzte göttliche Prinzip aber auch empirisch betrachten, nämlich nach seinen Wirkungen; denn die Wirksamkeit ist ja nichts, was erst sekundär zu dem göttlichen Prinzip hinzukäme, sondern das Prinzip ist selbst Wirksamkeit und Gemeinschaftsstiftung. Da geht es dann darum, wie das christliche Prinzip sich extensiv und intensiv über die Welt verbreitet, wie es von der Menschheit aufgenommen wurde und wird, wie sich das gemeinsame christliche Leben organisiert.12 Das alles beschreibt für
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11 12
(1857–1930) und anderer, vgl. Gerber: Schleiermacher und die Kirchenkunde des 19. Jahrhunderts, a.a.O. (Anm.1), 213f. Vgl. die vierte Rede über die Religion (KGA I/2, hg. von Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984, 267–271, und Schleiermachers eigene Erläuterungen seit 1821 dazu in KGA I/12, hg. von Günter Meckenstock, Berlin/New York 1995, 220–223); Vorlesung über die Kirchengeschichte 1806, 4. und 5. Stunde (KGA II/6, 12–14); Ethik 1812/23, Das höchste Gut, Erster Teil, §198, 209, 212 (Philosophische Bibliothek 335, hg. von Otto Braun und Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981, 119–122); Der christliche Glaube, 2. Aufl., §6 (KGA I/13/1, hg. von Rolf Schäfer, Berlin/New York 2003, 53–59). Vgl. Die christliche Sitte 1822/23, in: Sämmtliche Werke I/12, hg. von Ludwig Jonas, Berlin 1843, 17–24. Vgl. dazu auch die Vorlesungen zur Kirchengeschichte 1821/22, 2.–3. Stunde (KGA II/6, 22f., 473–477).
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die Vergangenheit die Kirchengeschichte; für die Gegenwart aber entwirft die Statistik ein Gesamtbild des christlichen Lebens. „Also die lebendige Anschauung von der Totalität der Wirkungen, die das Christenthum hervorgebracht hat und von der verschiedenen Intensität, Art und Weise wie es sich in das menschliche Leben hineingebildet hat, das heißt doch nichts anderes: als, die Kenntniß der in dem Christenthum wirkenden Kraft erlangen wir nur durch die Erkenntnis des Gesammtzustands der christlichen Kirche, […] es zeigt sich also daß diese Disciplin etwas sehr wesentliches ist. Das muß auch das natürliche Resultat der Kirchengeschichte sein, welche auch die Totalität der Wirkungen des Christenthums zur Anschauung bringen kann.“ (188)13
In der lutherischen Kirche, in der die Maxime herrscht, dass man sich zur vollen kirchlichen Gemeinschaft nur über die doctrina evangelii und den Gebrauch der Sakramente einigen müsse und dass ansonsten verschiedene Kirchenverfassungen und Zeremonien ohne weiteres friedlich nebeneinander bestehen könnten,14 hatte man sich seit Martin Chemnitz damit beschäftigt, die Bekenntnisse der verschiedenen Kirchen und Konfessionen miteinander zu vergleichen; und Schleiermachers Berliner Kollege Philipp Marheineke, der Begründer der modernen Symbolik, sagte, die Eigenart der verschiedenen Kirchenparteien offenbare sich am reinsten in ihren Symbolen, darum habe, wer die Kirchenkunde betreibe, zuvörderst diese zu betrachten.15 Schleiermacher hingegen geht es um eine Anschauung der „Totalität der Wirkungen des Christentums“, und so kommt er nicht zu einer Symbolik, sondern zu einer Darstellung der christlichen Lebensgemeinschaft insgesamt, zu einer Soziologie des Christentums.16 13
14 15 16
Solche statistischen „Durchschnittsbilder“ (189) lassen sich natürlich nicht nur für die Gegenwart machen. Für Schleiermacher eignen sich indessen nicht alle Zeiten in der Geschichte des Christentums dazu, sondern nur die Zeiten des Umbruchs, in denen dasjenige, was sonst geographisch oder organisch getrennt sei und sich jeweils für sich entwickle, mehr als sonst miteinander zusammenhänge und aufeinander wirke. Solche Zeiten seien die Epochen in der Kirchengeschichte: die Zeit Konstantins des Großen, die Zeit Karls des Großen, die Reformationszeit und schließlich auch die Gegenwart. In der Gegenwart nämlich zeige sich ein stärkeres Zusammenrücken der entfernten Weltteile, ein gemeinsames Bemühen der europäischen protestantischen Kirchen um die Weltmission, das Ende der Spaltung des Protestantismus und ein wachsendes Bemühen um eine Verbesserung der Kirchenverfassung (188–192); vgl. dazu auch Kurze Darstellung, 2. Aufl., §73. 91 (KGA I/6, 355, 361); Vorlesungen zur Kirchengeschichte 1821/22, 5.–8. Stunde (KGA II/6, 24–26, 479–489). Confessio Augustana VII, 2–4 (Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 6. Aufl., Göttingen 1967, 61). Gerber: Schleiermacher und die Kirchenkunde des 19. Jahrhunderts, a.a.O. (Anm.1), 195f., 201–203. Unter den Begriff der Religionssoziologie fasst man verschiedene Themen: die Frage nach der Funktion, die eine Religion für eine Gesellschaft hat (z.B. Kompensation von Frustrationen, Integration, Reprimierung der Triebe), oder auch nach der wech-
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3. Nun nimmt das Christentum im Zuge seiner Ausbreitung die Eigenart und Kultur der Einzelnen und der Völker auf. Weil nun die Menschen, ihre Kultur, ihr Bildungsstand verschieden sind,17 darum gestaltet sich die christliche Lebensgemeinschaft auch überall verschieden. Es entstehen Differenzen innerhalb des Christentums, es bildet sich eine Vielzahl der Kirchengemeinschaften, zugleich gibt es aber auch das Streben, diese Differenzen wieder auszugleichen.18 Der Statistiker muss also vom Christentum der Gegenwart ein differenziertes Bild geben. „In der gegenwärtigen Zerspaltung der christlichen Kirche hat die ganze Disciplin ihren Grund, denn wenn die christliche Kirche auch über die ganze Erde verbreitet wäre und es herrschte dieselbe Lehre und Verfaßung bei allen, so wäre keine andere Kenntniß des Raums als die allgemeine und keine andere Kenntniß der kirchlichen Verhältnisse als die in der wir jetzt leben, und es könnte eine solche Disciplin gar nicht geben. Durch die Spaltung wird sie erst möglich“ (184).
Dass sich das Christentum im Zuge seiner Verbreitung verschieden gestaltet, dass es zu Differenzen, auch zu Streit und Spaltungen in einer Kirche und zwischen den Kirchen kommt, hält Schleiermacher nun für nichts Schlimmes, sondern vielmehr für das gesunde Leben der Kirche. Er rechnet durchaus damit, dass auch in der Zukunft noch neue Gestalten des christlichen Lebens entstehen.19 Zu Missbildungen kommt es nach Schleiermacher erst, wenn die intensive Verbreitung des Christentums mit der extensiven nicht Schritt hält, also wenn ein Christen-
17
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selseitigen Beeinflussung und Abhängigkeit von Gesellschafts- und Wirtschaftssystemen und religiösen Ideen (so in Max Webers berühmten Studien, z. B. über Calvinismus und Kapitalismus). Die Religionssoziologie untersucht das religiöse und soziale Verhalten menschlicher Gemeinschaften mit Hilfe detaillierter Feldforschungen, oder sie beschreibt die Institutionen und sozialen Phänomene einer Religionsgemeinschaft. Vgl. dazu Joachim Matthes: Gesellschaft, in: Praktisch-theologisches Handbuch, hg. von Gert Otto, Hamburg 1970, 199–218, bes. 213–216; Günther Kehrer: Einführung in die Religionssoziologie, Darmstadt 1988; Karl Gabriel und Hans-Richard Reuter: Einleitung, in: Religion und Gesellschaft, hg. von K. Gabriel u. H.-R. Reuter, Paderborn 2004, 11–49. Wenn man Schleiermachers kirchliche Statistik eine Soziologie des Christentums nennen kann, dann vor allem im letzten Sinne, als empirisch-soziologische Beschreibung der Kirchen und ihrer Institutionen. Vgl. auch Die christliche Sitte 1822/23 (Sämmtliche Werke I/12), 57–68. Zum Einfluss des Nationalcharakters auf die jeweilige Gestalt des Christentums und zur besonderen Eignung, die für Schleiermacher das deutsche Wesen für die Aufnahme und Verbreitung des Christentums hat, vgl. Vorlesungen über die kirchliche Geographie und Statistik (KGA II/16), 218, 274–276, 360f., 448. Vgl. Vorlesungen zur Kirchengeschichte 1821/22, 3.–4. Stunde (KGA II/6, 474–479). Vgl. Die christliche Sitte 1822/23 (Sämmtliche Werke I/12), 566–571; 1824/25 (ebd.), 584–588; Der christliche Glaube, 2. Aufl., §150–152 (KGA I/13/2, hg. von Rolf Schäfer, Berlin/New York 2003, 435–443).
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tum ausgebreitet wird, das vom christlichen Prinzip noch gar nicht voll durchdrungen ist und stattdessen Fremdes einmischt, wenn umgekehrt nur die intensive, nicht die extensive Ausbreitung des Christentums gesucht wird – das führt zu Anachoretismus und Konventikeltum –,20 und schließlich dann, wenn sich eine Kirchengemeinschaft von der Ökumene und überhaupt vom geistigen Austausch mit der übrigen Menschheit isoliert. In den Vorlesungen zur Statistik kommt Schleiermacher vor allem auf diese letzte Gefahr zu sprechen. Von der Dynamik des christlichen Glaubens in der Vergangenheit und von der Entwicklungsgeschichte der christlichen Gemeinschaften durch die Jahrhunderte gibt nun für Schleiermacher noch die Gegenwart ein beredtes Zeugnis ab: Es gebe nämlich Kirchen, die noch in ihrem gegenwärtigen Zustand eine frühere Entwicklungsstufe des Christentums repräsentierten als andere. Das Christentum habe sich in seiner Geschichte von Südosten nach Nordwesten verbreitet, von den Semiten zu den Griechen, dann zu den Lateinern und im Mittelalter zu den Germanen und Slawen, und in der Gegenwart breite es sich auch noch aus, z.B. unter den Indianern, und bilde dort neue Gemeinschaften. An dieser Entwicklungs- und Missionsgeschichte orientiert sich Schleiermacher bei der Disposition des Stoffes. Er fängt also bei den Kirchen an, die in der Gegenwart den frühesten Entwicklungsstand darstellen, den altorientalischen und orthodoxen Kirchen, um dann weiterzugehen zu den westlich-katholischen, dann zu den protestantischen Kirchen. Den Schluss hätten die jungen Kirchen in den Missionsgebieten gemacht (197–201, 473); doch ehe Schleiermacher zu ihnen kam, war das Semester zu Ende.
4. Die morgenländischen Kirchen charakterisiert Schleiermacher vor allem mit den Prädikaten Erstarrung und Isolation: Sie seien auf dem Entwicklungsstand der christologischen Auseinandersetzungen, also des fünften Jahrhunderts, stehengeblieben und der christlichen Welt abhandengekommen (205, 214–218, 476f.). Von gedanklicher Durchdringung oder Fortbildung des christlichen Lehrbegriffs sei bei ihnen nichts zu finden; selbst die Probleme der Ein- und Zweinaturenlehre, deretwegen sie seinerzeit von der römisch-byzantinischen Kirche abgesondert wurden, seien ihnen nicht mehr recht verständlich (204, 214). Recht ausführlich stellt Schleiermacher die Verfassung dieser Kirchen dar. Sie hat die alten Abstufungen von Bischof, Presbyter und Dia20
Vgl. Vorlesungen zur Kirchengeschichte 1821/22, 3. Stunde (KGA II/6, 22f., 475f.).
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kon bewahrt, kennt daneben aber noch weitere Ämter: Patriarchen, reisende Visitatoren, Erzpriester und andere; die höheren Ämter würden aus den Mönchen besetzt und lebten zölibatär, während die Presbyter und Diakonen verheiratet seien. Die Laien hätten meist wenig Anteil an der Kirchenleitung, sondern ein Patriarch wähle die Bischöfe und diese wieder den Patriarchen. Doch hätten die Patriarchen erfreulicherweise keinerlei monarchische Ambitionen gegen die anderen Patriarchen (206–223 passim, 479–485 passim). Zu dem oft erbärmlichen Zustand dieser Kirchen trage ihre Unterdrückung durch den Islam bei, besonders bei den Kopten (198f., 211–214, 483); bei ihnen seien die Priester so arm, dass man oft mit Zwang Bauern für den Priesterstand rekrutiere und schon Knaben zu Diakonen weihe (212). Doch sei dieser äußere Druck nicht die eigentliche Ursache des gedrückten Zustands: Die abessinische Kirche sei in Abessinien die herrschende Religionsgemeinschaft, und ihr Zustand sei noch schlechter als der der koptischen Kirche (216–218, 418f.). Vielmehr führt Schleiermacher den Stillstand und Rückgang in den orientalischen Kirchen darauf zurück, dass ihre Verbindung zu anderen Kirchen seit Jahrhunderten abgerissen sei (204f., 218, 477, 487f.), aber auch auf die Art, wie der Kultus in ihnen eingerichtet sei: Im Gottesdienst herrschten die symbolischen Handlungen vor, die Predigt gebe es, wenn überhaupt, nur am Rande (205, 210, 214, 482–488), und dazu werde die Liturgie auch noch in alten, heiligen Sprachen wie Syrisch und Koptisch gehalten, die nur wenige verstünden (205–211, 220, 482–488). Auf solche Weise könne das christliche Leben schwerlich erweckt werden. Eine unzureichende Aufnahme des christlichen Lebensprinzips findet Schleiermacher bei den Maroniten, bei denen es das Institut der Blutrache gebe (485), und bei den Abessiniern, die allerlei jüdische Gesetze und Gebräuche beobachteten und sich vielleicht nicht mehr geistig weiterentwickelt hätten, seit Philippus den ersten von ihnen, den Kämmerer aus Mohrenland, bekehrt habe (216f., 418f., vgl. Apg 8,26–39). Doch daneben macht Schleiermacher auch erfreuliche Beobachtungen: Die Einfachheit der Nestorianer habe schließlich auch ihre gute Seite, von späteren Korruptionen wie dem Marien- und Ikonenkult gebe es bei ihnen nichts. „Solche einfache Gestaltung des Christenthums in einer Analogie mit einem ziemlich gesunden Zustand der älteren Zeit kann und sollte auch immer so fort bestehen; nur daß der Gottesdienst in einer todten Sprache in der syrischen gehalten wird. Das ist ein großes Übel“ (206–208). Und bei den Armeniern, die dank ihren ausgedehnten Handelsbeziehungen vom Rest der Welt nicht ganz isoliert seien, gebe es sogar Predigten in der Volkssprache und Ansätze zu gelehrten Bibelstudien, ihr geistiges Leben sei nicht ganz erstorben (219–223, 481f.).
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Die orthodoxen Kirchen rechnet Schleiermacher in der Statistik-Vorlesung von 1827 mit zu den morgenländischen Kirchen; in der zweiten und letzten Vorlesung 1833/34 zählt er sie als etwas Eigenes zwischen den orientalischen und den abendländischen Kirchen. Tatsächlich teilen sie für ihn viele Eigenarten der Nestorianer und Monophysiten: das Übergewicht der symbolischen Handlung gegenüber Predigt und Wort und den Kultus in einer unverständlichen heiligen Sprache (230–236), Traditionalismus und dogmatische Untätigkeit (229f., 234, 238). Freilich hätten sie sich nach dem fünften Jahrhundert noch weiterentwickelt, hätten sich mit der lateinischen Kirche und im 16. Jahrhundert mit den Reformatoren ausgetauscht und sich noch im 17. Jahrhundert eine Bekenntnisschrift gegeben (227f.). Doch diese Weiterentwicklung gereiche ihnen nicht unbedingt zum Vorteil, habe vielmehr zur Einbürgerung vieler abergläubischen Vorstellungen und Praktiken wie des geradezu fetischistischen Bilderdienstes geführt, auch zur Rezeption der römisch-katholischen Transsubstantiationslehre (228, 230f., 239f., 492). Auf Rituale und Zeremonien werde ein derartiges Gewicht gelegt, dass in der russischen Kirche aufgrund nichtiger liturgischer Differenzen immer wieder schwere Zerrüttungen und Spaltungen ausgebrochen seien, die zuletzt ganz anarchische Züge angenommen hätten. Die Raskolniken haben Schleiermacher mit ihrem Fanatismus und ihrer Radikalität offenbar zugleich abgestoßen und fasziniert (33–35, 236–238). Die Geistlichkeit sei bei den Orthodoxen ähnlich verfasst wie bei den Orientalen, allerdings zeige sich ein größerer Unterschied zwischen höherem und niederem Klerus: Ersterer zeichne sich durch seine Pracht, oft auch durch hohe Bildung aus, letzterer durch Gemeinheit und Unanständigkeit (45, 239). Die äußeren Verhältnisse gestalteten sich verschieden: Einige Kirchen seufzten unter türkischer Herrschaft, wobei das Oberhaupt der Griechen, der Patriarch von Konstantinopel, immerhin ein Pascha von drei Rossschweifen mit auch weltlichen Vollmachten sei (232–234, 241). In Österreich versuche man, die Orthodoxen dem Papst zu unterwerfen (242). In Russland herrsche die orthodoxe Kirche und unterdrücke andere Kirchen, werde aber ihrerseits vom Zaren beherrscht; dazu habe Peter der Große das Patriarchat abgeschafft und eine regierende Synode kreiert (235, 240, 440).
5. Gut die Hälfte der Vorlesungen zur Statistik behandeln die römischkatholische Kirche; der zeitgeschichtliche Hintergrund der Darstellung sind die Restauration des Kirchenstaates und der Jesuiten und das Erstarken des Ultramontanismus, aber auch die Ordnung der Rechtsver-
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hältnisse für die katholischen Kirchen in vielen Staaten Europas. Schleiermacher sieht in der römisch-katholischen Kirche fünf Kräfte wirksam: 1) 2) 3) 4) 5)
das Streben der römischen Kurie nach der Herrschaft, das Anliegen der Staaten, die Kirche auf ihrem Gebiet unter das staatliche Recht zu stellen, das aristokratische, also bischöfliche und konziliare Prinzip, den Volksaberglauben und das Streben nach christlicher Bildung, das sich unschwer als das eigentliche christliche Prinzip nach Schleiermacher identifizieren lässt.
Von den Ostkirchen hebt sich nach Schleiermacher die römisch-katholische Kirche als eigene Gemeinschaft durch ihre monarchische Spitze ab (245–247). Diese bestehe in der Institution des Papsttums, aber mehr noch in der römischen Kurie. Der Machtwille der Kurie sei allumfassend: Sie strebe nach der Unterwerfung anderer Kirchen, aber auch der einzelnen Christen und schließlich auch der weltlichen Gewalt. Das erste zeige sich z.B. darin, dass es ihr bei Unionsschlüssen mit den Ostkirchen fast nur darum gehe, dass diese den Papst als Oberhaupt anerkennten (243, 370–376), das zweite darin, dass sie sich selbst die „katholische“ Kirche nenne, dass sie alles außer ihr als unchristlich ansehe (375, 463f.) und dass sie stets versuche, Proselyten aus anderen Kirchen zu machen, ja, zwischen Mission und solcher Proselytenmacherei gar nicht unterscheide (261, 329f.).21 Das dritte schließlich offenbare sich in dem Bestreben, die katholische Geistlichkeit der weltlichen Rechtsprechung zu entziehen (286f.) und durch die Beichtväter der Fürsten und die Jesuiten das weltliche Regiment unter sich zu bekommen (248–250). Verträge zu ihren Ungunsten erkenne die Kurie prinzipiell nicht an, ebensowenig nichtkatholische Obrigkeiten (315f., 374, 380). Die weltliche Gewalt der geistlichen unterzuordnen, entspreche aber auch der katholischen Vorstellung von der Kirchenverfassung: Dem Katholizismus gelte der Laie als dem Geistlichen in jeder Hinsicht untergeordnet (322f., 371), und da die politischen Obrigkeiten, abgesehen vom Papst, dem Herrscher des Kirchenstaates, Laien seien, müssten sie den Geistlichen gehorchen, auch in politischen Dingen (249f., 392). Papsttum, Kirchenstaat und Kurie werden mit ihren Institutionen ausführlich dargestellt. Bei der Beschreibung der Papstwahlverfahrens kann Schleiermacher sich ein paar ironische Bemerkungen darüber nicht verkneifen, dass dieses „Resultat von Unregelmäßigkeiten …, von abscheulichen Intriguen, Unanständigkeiten und weiß Gott, was Alles“ 21
Vgl. dazu auch Die christliche Sitte 1822/23 (Sämmtliche Werke I/12), 402–407, 572f.; 1824/25 (ebd.), 408f.; 1826/27 (ebd.), 211f., 216, 428.
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als das Werk des Heiligen Geistes angesehen werde (251–255). Das alles Beherrschende sei nicht der Geist Christi, sondern der Geist der römischen Kurie, in dem wohl der nur oberflächlich christianisierte Geist des römischen Imperiums fortlebe; ihm gegenüber habe selbst die Persönlichkeit des einzelnen Papstes kaum Bedeutung (253f.). Nun habe der Katholizismus in der verschiedenen Ländern ganz unterschiedliche Gestalt. In Südeuropa, wo die Katholiken unter sich seien, herrsche ein hemmungsloser Aberglaube, vom christlichen Prinzip kaum berührt. Das kirchliche Leben bestehe vor allem in Heiligenkult und Weihwasserbesprengung – am Festtag des hl. Antonius von Padua, der auch Obergeneral der portugiesischen Armee sei, „gehen die schönsten Ochsen mit den anderen Christen in Procession“ –, man glaube an Legenden wie die von einem Jesusbild, das nachts von einer Dominikanerkirche in eine andere Kirche gewandert sei, Mönche entlohnten Freudenmädchen mit Beichtbescheinigungen, die diese dann weiterverkauften, die Kloster- und Weltgeistlichen seien noch unwissender als in den entlegensten Winkeln der syrischen Wüste usw. All das höre sich zwar lustig an, sei aber ziemlich traurig (75–77, 272–274). Ganz anders sehe es in Ländern aus, wo der Katholizismus mit dem Protestantismus konkurriere, in Frankreich und besonders Deutschland: Hier gebe es echte Seelsorge und Kanzelberedsamkeit, Bildung und gelehrte Bibel- und Väterstudien (297f., 358–361, 371). Dieses vom Protestantismus inspirierte geistige Leben ist nun für Schleiermacher innerhalb des Katholizismus der eigentliche Widerpart der Kurie. „Sehen wir also auf die ganze Vertheilung so ist Rom das Centrum der geistlichen Monarchie und Deutschland das Centrum der intelligenten Kraft. Beide bilden offenbar einen großen Antagonismus gegen einander.“ (371) Kein Wunder, dass von Seiten der Kurie das freie geistige Leben stets gehemmt und ihm gegenüber der Volksaberglaube gefördert werde (274). Die Haltung der Aristokratie, also der bischöflichen Kraft, sei in diesem Antagonismus zweideutig (vgl. 286): Bald widersetze sie sich den päpstlich-kurialen Anmaßungen – wie das in Frankreich der Gallikanismus und in Deutschland der Febronianismus getan hätten (279, 358) –, bald aber auch der Bildung (300, 322f.). Eine staatliche Regierung aber, selbst eine katholische, die sich von den Einflüsterungen der Kurie frei gemacht habe, müsse im eigenen Interesse, aber auch im Interesse der Untertanen und der Kirche, den römischen Einfluss auf die Kirche in ihrem Territorium möglichst einschränken und statt dessen die freie Geistesbildung fördern. Leider sei es aber in letzter Zeit selbst unter protestantischen Regierungen eingerissen, dem Papst immer neue Zugeständnisse zu machen, vielleicht aus falscher Pietät, vielleicht unterschätze man auch die Gefährlichkeit einer
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zentral geleiteten gegenreformatorischen und reaktionären Macht (263f., 300f., 359f., 372f., 379f.).
6. Wie verhält es sich schließlich mit der evangelischen Kirche? Kann man bei ihr überhaupt von einer einzigen Kirche sprechen? Schleiermacher tut dies, obwohl die evangelische Kirche weder eine Gesamtorganisation bilde noch einen einheitlichen Bekenntnisstand habe noch auch einerlei Organisation – schließlich gebe es Kirchen mit bischöflicher, konsistorialer und prebyterial-synodaler Verfassung. Zur Kirchengemeinschaft sei freilich eine einheitliche Organisation oder ein einheitliches Bekenntnis gar nicht vonnöten: Das Verhältnis der verschiedenen evangelischen Kirchen untereinander erinnere ja an das der christlichen Gemeinden in den ersten Jahrhunderten, die seien auch unabhängig voneinander gewesen und hätten sich doch ausgetauscht und einander ihre Mitglieder anempfohlen. Und die evangelischen Kirche hebe sich von den anderen Kirchen auch tatsächlich ab und sei eins, und zwar durch ihre Sozialgestalt, durch die Funktion nämlich, die das geistliche Amt in ihr gegenüber den Laien habe (383–385). Ein Geistlicher nach evangelischer Auffassung sei kein geweihter Priester, der durch einen sakralen Weiheakt vor anderen die Fähigkeit hätte, vor Gott zu treten und heilige Riten zu vollziehen. 22 So werde es z.B. in der orthodoxen Kirche verstanden, wo sich die Bauern von Popen segnen ließen, die sich betrunken hätten und mit denen die Bauern sich noch kurz vorher geprügelt hätten, weil sie den Popen trotz allem qua Priesteramt eine objektive, übernatürlich Heiligkeit zuschrieben (298–300). Andererseits aber schaffe die evangelische Kirche auch nicht wie z.B. die Quäker das geistliche Amt ganz ab. Evangelische Geistliche seien keine Priester, sondern eher Lehrer und Seelsorger. Zu ihrem Beruf seien geistige und sittliche Bildung und ein wissenschaftliches Studium notwendig (396f.).
22
Schleiermacher sieht im Vorherrschen des Ritus über das Wort die typisch katholische Gestalt des Christentums, die an sich noch keine Verderbnis des Christentums sei, vielmehr ihre Daseinsberechtigung gegenüber dem Protestantismus habe (Die christliche Sitte 1826/27, Sämmtliche Werke I/12, 212; Der christliche Glaube, 2. Aufl., §24,1, KGA I/13/1, 164f.). Andererseits führt er auf den Ritualismus aber auch Unsittlichkeit, Freigeisterei und Religionsspötterei unter Katholiken zurück (Vorlesungen über die kirchliche Geographie und Statistik [KGA II/16], 297, 299, 360); vgl. auch die Vorlesungen zur Kirchengeschichte 1821/22, 98.–99. Stunde (KGA II/6, 660).
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Dementsprechend könne es keine so strenge Hierarchie zwischen Geistlichen und Laien und unter den Geistlichen geben wie in den Ostund katholischen Kirchen. Im Katholizismus sei es die vornehmste Pflicht der Laien, ihren Geistlichen zu gehorchen. Die evangelischen Geistlichen dagegen sollten die Laien zur Mündigkeit und zu eigener Urteilskraft erziehen. Jeder solle die heilige Schrift selbständig lesen und verstehen können, und so unterstütze die Kirche auch überall Schulen und Bildungsanstalten (322f.).23 Auf dieser Grundlage beschreibt Schleiermacher die evangelischen Kirchen in Europa in ihrer Mannigfaltigkeit: herrschende, gleichberechtigte und bloß geduldete, Kirchen, die durch Geistliche, durch staatliche Behörden und durch Gremien unter Beteiligung der Ortsgemeinden geleitet würden, lutherische, reformierte und solche, in denen beide Konfessionen zu einer Organisation, zuweilen gar zu einem Bekenntnis zusammenwüchsen. Lutherische und reformierte Kirche sieht Schleiermacher nicht als zwei verschiedene Typen von Kirchengemeinschaft an, sondern als unabhängig voneinander entstandene Gemeinschaften einund desselben Typus: Das Prinzip, auf dessen Grundlage sie sich gebildet hätten, sei identisch, nur hätten es die Sachsen konservativer, die Schweizer kritischer angewendet, und dies habe zu liturgischen Unterschieden geführt, die niemand als kirchentrennend ansehe, aber auch zu dogmatischen Schuldifferenzen, die in Bekenntnissen festgeschrieben worden seien. So seien sie damals noch nicht zu voller Gemeinschaft zusammengewachsen, hätten sich aber auch nie ganz voneinander getrennt (385f., 423f., 499–502).24 Auf die Form der Kirchengemeinschaft erstrecke sich die Differenz jedenfalls nicht: Schleiermacher bestreitet, dass die reformierte Kirche grundsätzlich zur presbyterial-synodalen Verfassung, die lutherische zur konsistorialen oder episkopalen Verfassung neige (418, 442). Immer geht es in Schleiermachers Darstellung der evangelischen Kirchen darum, dass die Kirchenverfassung nicht den freien, öffentli-
23 24
Vgl. auch Die christliche Sitte 1826/27 (Sämmtliche Werke I/12), 208, 434. Vgl. dazu auch die Vorlesungen zur Kirchengeschichte 1821/22, 91.–93. Stunde (KGA II/6, 629–635); Die christliche Sitte 1826/27 (Sämmtliche Werke I/12), 214–216. – Den Prozess einer allmählichen Union der evangelischen Kirchen hält Schleiermacher in der Vorlesung von 1827 für unaufhaltbar: Eine Kirchengemeinschaft sei ja schon dadurch vorhanden, dass auch nicht-unierte Lutheraner und Reformierte (in deren Gebiet es die jeweils andere Seite vielleicht auch gar nicht gebe) mit denjenigen ihrer Konfessionsgenossen, die die Union eingegangen seien, Kirchengemeinschaft hielten (Vorlesungen über die kirchliche Geographie und Statistik [KGA II/16], 389f., 424f.). In der Vorlesung von 1833/34 scheint Schleiermacher die Aussichten der Union skeptischer zu betrachten: Er bezeichnet sie jetzt als Drittes neben Lutheranern und Reformierten (ebd., 501f.).
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chen Austausch der religiösen Gedanken hemmen darf.25 Solange die evangelische Kirche ihren freiheitlichen Prinzipien treu bleibe, werde sie auch allen katholisch-ultramontanen Angriffen trotzen können (378). Schleiermacher tadelt die anglikanische Kirche dafür scharf, dass sie den Buchstaben ihres Bekenntnisses über die freie Erforschung der Schrift stelle und zum Ritualismus tendiere: Wegen dieser Schwächen verbreite sich in England der Katholizismus, noch mehr freilich das Freikirchenwesen (366, 451–455). Die bischöflichen lutherischen Kirchen in Skandinavien werden hingegen milde beurteilt: In ihnen hätten die Laien zwar zu wenig Mitspracherecht, doch davon abgesehen herrsche ein guter, freier Geist (411–416). Insgesamt sei es gut, dass es ebenso Kirchen von größerer Stetigkeit wie die sächsische und die hannöversche gebe wie auch Kirchen mit mehr Lebendigkeit und Unruhe wie die preußische: Jede brauche die andere, denn sie befruchteten einander und bewahrten einander vor Extravaganzen (401, 407, 426f.). In vielen Kirchen stellt Schleiermacher darüber hinaus den Widerstreit zwischen einer mehr rationalistischen und einer mehr orthodoxen Richtung fest; solchen Entwicklungen muss man seiner Meinung nach ihren Lauf lassen, eine gänzliche Separation zu vermeiden suchen, vor allem aber die Kirchenregierungen davon abhalten, ihnen von oben zu steuern (419, 444–450, 457f.). Für die Zukunft erhofft Schleiermacher sich, dass endlich das überwunden wird, was er als den – in der Situation des 16. Jahrhunderts wohl unvermeidlichen – Geburtsfehler der Reformation ansieht, dass nämlich den evangelischen Kirchen eine überstaatliche Organisation fehle, wie sie die römisch-katholische Kirche habe, und dass der weltlichen Obrigkeit bischöfliche Funktionen übertragen seien.26 Die Kirche erscheine so wie ein Staatsinstitut und werde auch oft dafür gehalten, so dass sogar der Kaiser von Österreich und der Zar, die gar nicht evangelisch seien, sich zu obersten Bischöfen der Protestanten in ihren Reichen erklärten (390–396, 438–441). In der Gegenwart stellt die evangelische Kirche für Schleiermacher die späteste Form der Kirchenorganisation dar, nicht nur durch den Zeitpunkt ihrer Entstehung, sondern auch durch den Punkt, auf dem sie innerhalb der Entwicklungsgeschichte des gemeinsamen christlichen Lebens stehe. Denn wenn sich das christliche Prinzip über die Menschheit verbreitet und sich auf seiner Grundlage Gemeinschaften bilden, so 25 26
Vgl. dazu auch Die christliche Sitte 1822/23 (Sämmtliche Werke I/12), 189, 383; 1826/27 (ebd.), 216. Vgl. auch Schleiermachers Verfassungsentwurf für die protestantische Kirche von 1808 (KGA I/9, hg. von Günter Meckenstock und Hans-Friedrich Traulsen, Berlin/New York 2000, 3); Die christliche Sitte 1824/25 (Sämmtliche Werke I/12), 206f.; 1826/27 (ebd.), 335; Kurze Darstellung, 2. Aufl., §324–327 (KGA I/6, 441f.).
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ist ja Ziel und Ende davon, dass alle gleichmäßig vom Christentum durchdrungen sind. Der Unterschied zwischen dem Einzelnen und der Masse, zwischen Klerus und Laien muss sich also immer weiter vermindern. So ist es das Amt der Reformatoren, eine Gemeinschaftsform für das Christentum heraufzuführen, in der sie selbst, die hervorragenden Einzelnen, immer weniger gebraucht werden.27 Besonders vom Einfluss des Protestantismus erwartet Schleiermacher, dass das christliche Prinzip sich weiter in der Menschheit verbreitet und dass es auch die älteren christlichen Gemeinschaften erneuert und belebt (243f., 376–378).
27
Vgl. Vorlesungen zur Kirchengeschichte 1821/22, 5. und 91. Stunde (KGA II/6, 24. 480f. 629); Die christliche Sitte 1826/27 (Sämmtliche Werke I/12), 324; Der christliche Glaube, 2. Aufl., §88,3 (KGA I/13/2, 25).
Schleiermachers Kritik an der Aufklärungspädagogik VON JENS BRACHMANN/WUPPERTAL UND JENA
Friedrich Schleiermacher gilt als einer der entscheidenden Erneuerer des Erziehungsdenkens der Sattelzeit. Tatsächlich dokumentieren die im Zusammenhang mit seiner Direktoratstätigkeit für die Berliner ‚Wissenschaftliche Deputation für den Gelehrten Unterricht‘ entstandenen Gutachten,1 mehr noch aber die drei beispielhaften Vorlesungszyklen über die ‚Grundzüge der Erziehungskunst’2 seine maßgebliche Bedeutung für die pädagogische Institutionen- wie Theoriegeschichte: Die Profilierung der frühneuzeitlichen Gelehrtenschule hin zum humanistischen Gymnasiums preußischer Provenienz wäre ohne diese Beiträge ebenso wenig denkbar wie die Szientifizierung des Erziehungswissens und dessen dauerhafte Verankerung im Institutionensystem der Wissenschaft im 19. Jahrhundert. Dieses umfassende, gleichermaßen schuladministrative wie erziehungsphilosophische Wirken legt den Schluss nahe, Schleiermacher sei nicht weniger ein ausgewiesener pädagogischer Praktiker gewesen wie zugleich auch ein anregender und innovativer Erziehungstheoretiker. Obwohl man ausgehend von der in seiner Güterlehre entwickelten Vorstellung vom „Werden des Sittlichen“ unterstellen darf, dass für ihn die Handlungsräume des Ethischen – Staat, Wissenschaft, Kirche und bürgerlicher Verkehr – in der Tat zwingend koordiniert werden müssen, um das real vorfindliche Leben in optimierender Weise zum höchsten Gut hin zu vermitteln – dass sich also die sozialen Aktivitäten innerhalb der einzelnen Sphären des Sittlichen notwendig ergänzen, um das „Ge1
2
Schleiermachers einschlägige pädagogische Materialien werden unter den üblichen Siglen TP1 bzw. TP2 zitiert nach der Ausgabe: Friedrich Schleiermacher: Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe. Zwei Bände, hg. von Michael Winkler und Jens Brachmann, Frankfurt/M. 2000. Zu den hier erwähnten Entwürfen und Voti vgl. daher ‚Zum Examen pro facultate docendi‘ (TP1, 166ff.), ‚Zum Religionsunterricht an gelehrten Schulen‘ (TP1, 168–172), ‚Für den deutschen Unterricht am Gymnasium‘ (TP1, 172ff.), ‚Über Schulkommissionen in den Städten‘ (TP1, 174ff.), ‚Über die Abiturientenprüfungen‘ (TP1, 176–180), ‚Votum zum Entwurf Natorps‘ (TP1, 180–184) sowie ‚Votum zu Süverns Gesamtinstruktion‘ (TP1, 185–201). Vgl. dazu TP1, 202–272, TP1, 290–380 sowie TP2, 7–404.
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samtleben“ zu befördern –, darf man aber vermuten, dass sich Schleiermachers praktisches Interventionshandeln für die Schulbehörde dennoch anderen Motiven verdankt als die systematische Fundierung einer epistemisch gesicherten Terminologie zum Erziehungswissen in den Vorlesungsmaterialien. Belegt wird diese Annahme zunächst durch den Befund, dass sich die Ausarbeitung der Erziehungssystematik in den Berliner Vorlesungskollegs in erster Linie auf die Konzeption des ethischen Wissens und die Ausdifferenzierung der Architektonik der philosophischen Fächer gründet. Neben der Staatslehre und anderen „technischen Disciplinen“ (SW III/1, 302 bzw. 320ff.) stellt die Pädagogik als „Probe auf die Ethik“ (vgl. TP1, 456) dort den um den Erziehungssachverhalt erweiterten Erfahrungsraum der Sittenlehre dar und ermöglicht die Bezugnahme des real Geschichtlichen auf die spekulative Ethik. Dieser lediglich der eigenen Systemlogik verpflichtete Versuch einer Bestimmung und heuristischen Verortung des Erziehungswissens könnte daher insbesondere die intertextuelle Voraussetzungslosigkeit von Schleiermachers ‚Erziehungslehre‘ erklären, denn abgesehen von wenigen, ohnehin kaum durch detaillierte Quellenkenntnis gesicherten Bezügen etwa auf Jean Pauls ‚Levana‘ (vgl. TP1, 213), auf Jean Jacques Rousseaus ‚Emilé‘ (vgl. TP1, 220 bzw. 308), auf die pädagogischen Schriften von Friedrich Heinrich Christian Schwarz (TP1, 260) oder Johann Heinrich Pestalozzi (TP1, 378) referiert der Autor sonst in keiner Weise auf die breite und sehr lebendige Erziehungsdiskussion der Jahre vor und um 1800. Wenn Schleiermacher nun aber die zumindest hinsichtlich ihrer vielfältigen Angebote ertragreiche Debatte der Schulreformer und Erziehungsschriftsteller der Spätaufklärung nicht zum Gegenstand seines erziehungsphilosophischen Entwurfes macht, dann liegt die Vermutung nahe, dass sich sein praktisches Wirken für die Berliner Kultusadministration möglicherweise allein epistemologischen bzw. wissenschaftsorganisatorischen Interessen verdankt. Andererseits könnte der nahezu vollständige Verzicht auf die Entwürfe der Philanthropen, der neuhumanistisch orientierten Philologen, der enzyklopädisch gelehrten Publizisten oder der engagierten pädagogischen Laien aber ebenso gut als ein Beleg für eine kritische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Erziehungsdiskussion zu begreifen sein. Sein Engagement für die Schulreform wäre dann als eine unmittelbare Reaktion auf einen für ihn unbefriedigenden Diskussionsstand zu den Phänomenen Erziehung und Bildung wie auf die kaum hinreichenden Formen ihren praktischen Realisierung zu verstehen. Entgegen der Befunde aus den Vorlesungsmaterialien würde dies freilich den Schluss nahe legen, dass Schleiermacher den pädagogischen Fachdiskurs im späten 18. und frühen 19.
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Jahrhundert sehr wohl verfolgte und eine gesicherte Kenntnis des preußischen Erziehungswesens und seiner Institutionen hatte. Um dies zu prüfen, soll im Folgenden das einzige pädagogisch einschlägige Textdokument untersuchen werden, dass in direktem Zusammenhang mit Schleiermachers schulpraktischem Wirken entstand – die frühe, erst aus dem Nachlass edierte Abhandlung ‚Über den Geschichtsunterricht‘. Nach einer biografischen Annäherung an die Umstände der Entstehung dieses Textes werde ich dazu einen Überblick über die Erziehungsdiskussion der Spätaufklärung geben, um schließlich zu analysieren, ob sich Schleiermacher von den Exponenten des so genannten „pädagogischen Jahrhunderts“ anregen ließ und inwieweit deren Vorschläge möglicherweise schon im Frühwerk Gegenstand einer umfassenden Kritik waren.
1. Biografische Hintergründe – Friedrich Gedike und das „Seminarium für Gelehrte Schulen“ Schleiermacher hat wohl nie ernsthaft in Erwägung gezogen, das profane Schulamt dauerhaft der seelsorgerischen Laufbahn vorzuziehen. Zwar äußerte der Predigtamtskandidat in Briefen an den Vater gelegentlich seine Bereitschaft, die Pädagogenfron auf sich zu nehmen, dennoch spricht aus diesen Bemerkungen mehr die Vorsicht, sich leichtfertig und vorschnell eine „Carriere“-Option „zu verschließen“ (vgl. Brief vom 21.09.1793, KGA V.1, 311) als eine echte Berufung für den Lehrerstand. Für die eigene Zukunftsplanung gänzlich auf das Schulfach zu verzichten, wäre auch kaum realistisch gewesen, denn immerhin bot sich der großen Zahl der auf eine Predigtamts-Vakanz wartenden Theologieabsolventen über diese Laufbahn ein Broterwerb. Wie andere unbestallte Seelsorger auch nahm es Schleiermacher daher in Kauf, zumindest vorübergehend als Lehrer wirken zu müssen, um sich für eine Hilfspredigerstelle oder eine Pfarramtsvertretung zu empfehlen. Die Arbeit hinter dem Schulkatheder begriff er ebenso wie die Hauslehrertätigkeit somit als einen jener kaum abwendbaren Karriereschritte, die ein zukünftiger Theologe unweigerlich zu durchlaufen habe, der durch die Aussicht auf die Vorläufigkeit eines solchen Amtes aber immerhin erträglich sein sollte. Schon der Student Friedrich Schleiermacher hätte freilich gern anregendere Betätigungsfelder gefunden als die Perspektive, die eine praktische Bewährung im pädagogischen Feld bot: „Wäre nun vollends das Geschenk Jupiters so groß“ – heißt es am 10.06.1789 in einem Brief an den Kommilitonen Carl Gustav von Brinckmann – „daß wir aller […] Gedikeschen Plane (denen Gott übrigens gutes
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Jens Brachmann Gedeihen verleihen wolle) entübrigt seyn könnten, so wollen wir wohl sehn […], was in der Welt zu machen wäre, und ich hoffe, wir wollen so ziemlich glüklich seyn.“ (vgl. KGA V.1, 123)
Wie dieser Brief zeigt, trug sich Schleiermacher offensichtlich schon vor Antritt der Schlobitter Hauslehrerjahre nicht nur mit dem Gedanken, für eine gewisse Zeit in das Schulamt zu wechseln, vielmehr hatte er diese Pläne bereits insoweit konkretisiert, als er dafür eines der wenigen Institute in die engere Wahl zog, die eine professionelle Vorbereitung auf eine Gymnasiallehrerlaufbahn gewährleisteten – Friedrich Gedikes „Seminarium für gelehrte Schulen“ am Friedrichswerderschen Gymnasium zu Berlin. Unmittelbar nach seinem ersten theologischen Examen zerschlug sich dieses Vorhaben noch, weil er als Hofmeister in das Hause des Grafen zu Dohna nach Ostpreußen wechseln konnte. Die Aufkündigung dieses Hauslehrerverhältnisses im Mai 1793 stellte Schleiermacher jedoch abermals vor die Frage nach seinem künftigen Wirkungskreis.3 In dieser Situation besann er sich erneut der Aussicht auf eine Stelle als Schulamtskandidat an einer der führenden Berliner Gelehrtenschulen. Nachdem er auf August Wilhelm Friedrich Sacks Vermittlung hin Gelegenheit bekommen hatte, eine „doppelte Lection auf dem Friedrich-Werderschen Gymnasio“ (KGA V.1, 311) zu halten und Gedike ihn darauf hin einlud, Mitglied des Seminars zu wer4 den, wechselte er Ende September 1793 nun doch als Praktiker in das nur bedingt attraktive Schulfach.5 Diese Entscheidung dürfte ihm jedoch leicht gefallen sein, weil er bereits in Johann Lorenz Schumanns Pläne eingeweiht worden war, ihn für das folgende Frühjahr für eine Predigtamtsadjunktur in Landsberg/Warthe gewinnen zu wollen (vgl. ebd., 312). Mit Friedrich Gedike (1754–1803)6 lernte Schleiermacher an seiner neuen Wirkungsstätte einen der bedeutendsten Schulpraktiker der Spätaufklärung kennen. Der Oberkonsistorialrat und Mitarbeiter im Ober3
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So bekennt er beispielsweise in Briefen an den Vater: „[…] von meiner Zukunft weiß ich Ihnen noch nicht das geringste zu sagen“ (KGA V/1, 306; ähnlich vgl. auch ebd., 307). Vgl. ebd., 310; vgl. auch 314. Gemeinsam mit Schleiermacher waren in jenem Herbst die Kandidaten Barby, Barth, Bartoldy, Bauer, Köpke, Heidemann und Schabe Mitglieder des Seminars (vgl. KGA V/1, LXXIII). Ausführlich zu Gedike vgl. den Personaleintrag in Jens Brachmann: Erziehungsschriftsteller, Schulreformer und Pädagogen der Aufklärung und der Sattelzeit. Ein bio-bibliografisches Handbuch, Stuttgart 2007 [im Druck] sowie die Nekrologe und Monografien Franz Horn: Friedrich Gedike. Eine Biographie. Nebst einer Auswahl aus Gedike’s hinterlassenen, größtentheils noch ungedruckten Papieren, Berlin 1808 bzw. Karl Richard Tränkmann: Friedrich Gedike in seinem Verhältnisse zu den pädagogischen Bestrebungen seiner Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogik im XVIII. Jahrhundert, Borna-Leipzig 1900.
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schulkollegium, der heute meist nur noch im Zusammenhang mit seiner redaktionellen Tätigkeit für die „Berliner Monatsschrift“ Erwähnung findet und dessen übriges publizistisches, schulpraktisches und administratives Wirken7 nahezu vergessen ist, hatte seine beispiellose Pädagogenlaufbahn 1776 als Subrektor am bereits erwähnten Friedrichswerderschen Gymnasium begonnen. Gerade 25-jährig übernahm er 1779 das Direktorat dieses Instituts, das er dann bis 1793 verwaltete. Durch vielfältige Reformen gelang es ihm, das Niveau der lange Zeit vernachlässigten Schule deutlich zu heben: Inspiriert gleichermaßen u.a. von den Ideen des pädagogischen Philanthropismus wie von didaktischen Anregungen neuhumanistischer Philologen führte er dort beispielsweise den Fachunterricht ein oder gab die traditionelle Klassenhierarchisierung nach dem Vorbild der Lateinschulen zugunsten einer Ordnung nach Jahrgangsstufen auf. Die weitreichendste Neuerung war allerdings die Einrichtung des Seminariums, das dem Gymnasium 1787 angegliedert wurde. Die Konzeption einer Professionalisierung der Lehrerbildung durch ihre un7
Publizistisch wurde er zunächst vor allem als Herausgeber, Übersetzer und Kommentator altsprachlicher Texte bekannt u.a. von Pindar, Platon oder Horaz. Daneben veröffentlichte er zahllose Schulprogramme, sprachdidaktische Werke, Lehrbücher, Anthologien und Abhandlungen zur pädagogischen Institutionengeschichte. Überliefert sind u.a. ‚Aristoteles und Basedow oder Fragmente über Erziehung und Schulwesen bei den Alten und Neuern‘ (1779), ‚Einige Gedanken über den jetzigen Zustand der alten Litteratur in unsern gelehrten Schulen‘ (1780), ‚Geschichte des Friedrichswerderschen Gymnasiums‘ (1781), ‚Praktischer Beitrag zur Methodik des öffentlichen Schulunterrichts‘ (1781), ‚Griechisches Lesebuch für die ersten Anfänger‘ (1782), ‚Gedanken über die Gedächtnißübungen‘ (1782), ‚Vertheidigung des Lateinischschreibens und der Schulübungen darin‘ (1783), ‚Gedanken über die Beförderung des Privatfleißes auf öffentlichen Schulen‘ (1784), ‚Einige Gedanken über die Uebung im Lesen‘ (1785), ‚Einige Gedanken über den mündlichen Vortrag des Schulmanns‘ (1786), ‚Pädagogisches Sendschreiben über die Verbesserung der gelehrten Schulen‘ (1787), ‚Einige Gedanken über Schulbücher und Kinderschriften‘ (1787), ‚Gesammlete Schulschriften‘ (1789–1795), ‚Einige Gedanken über die Methode zu examiniren‘ (1789), ‚Kurze französische Grammatik‘ (1789), ‚Ausführliche Nachricht von dem mit dem Friedrichswerderschen Gymnasium verbundene Seminarium für gelehrte Schulen‘ (1790), ‚Einige Gedanken über die Ordnung und Folge der Gegenstände des jugendlichen Unterrichts‘ (1791), ‚Kinderbuch zur ersten Übung im Lesen ohne A.B.C. und Buchstabiren‘ (1791), ‚Luthers Pädagogik oder Gedanken über Erziehung und Schulwesen aus Luthers Schriften gesammlet‘ (1792), ‚Französische Chrestomathie‘ (1792), ‚Einige Gedanken über deutsche Sprach- und Stilübungen auf Schulen‘ (1793), ‚Englisches Lesebuch‘ (1798), ‚Ueber den Begrif einer Bürgerschule‘ (1799), ‚Beantwortung der Frage: Haben wir zu viele oder zu wenige Schulen?‘ (1800), ‚Vermischte Schriften‘ (1801). Er wirkte auch journalistisch u.a. als Mitherausgeber der ‚Allgemeinen Revision‘ (1785) oder der ‚Berliner Monatsschrift‘ (1783); allein veranlasste er Herausgabe der ‚Annalen des Preußischen Schul- und Kirchenwesens‘ (1800) und war zudem Mitarbeiter an diversen Periodika u.a. an den ‚Pädagogische Unterhandlungen‘ (1777) bzw. am ‚Magazin für die Erziehung und Schulen besonders in den Preußischen Staaten‘ (1781).
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mittelbare institutionelle Anbindung an die Schule war indes nicht neu, denn schon 1696 hatte August Hermann Francke am Halleschen Waisenhaus ein vergleichbares Institut, das „Seminarium Praeceptorum“ eröffnet. Ähnliche Gründungen zur Ausbildung von Lehrern an niederen Schulen sind nachfolgend überliefert u.a. aus Stettin (wo Johann Christian Schinmeyer 1732 am Waisenhaus ein Volksschullehrerseminar eingerichtet hatte), aus Magdeburg (1736 wurde hier das Seminar am Kloster Berge ins Leben gerufen), aus Potsdam und Berlin (hier hatte Johann Julius Hecker 1748 die Gründung eines Küster- und Schulmeisterseminars am Waisenhaus angeregt) sowie aus Niesky (hier war von der Herrnhuter Brüdergemeinde 1760 ein „Pädagogium“ eingerichtet worden). Ein alternatives Seminarkonzept hatte sich im Übrigen im Verlauf des 18. Jahrhunderts auch an den Universitäten durchgesetzt, wo fähige Absolventen des Theologenfaches durch verstärkte philologische Studien für eine Tätigkeit an den Gelehrtenschulen qualifiziert werden sollten. Das erste dieser Art war das von Johann Matthias Gesner an der Hannoverschen Landesuniversität in Göttingen 1738 eröffnete „Seminarium Philologicum“, das dann nach der Neubesetzung des Gesner-Lehrstuhls durch Christian Gottlob Heyne ab 1763 in profilierterer Form neueröffnet wurde und an dem nicht nur eine große Zahl später bedeutsame Schulrektoren8 ausgebildet wurden, sondern fast die gesamte Führungselite der preußischen Erziehungs- und Universitätsreform des frühen 19. Jahrhunderts.9 Neu an dem von Gedike errichteten Berliner Institut war die Idee, die beiden bereits etablierten Seminarformen miteinander zu verbinden: Wie an den Volksschullehrerbildungsanstalten vom Typ des „Seminarium Praeceptorum“ sollten die Kandidaten Unterrichtspraxis sammeln, gleichzeitig erhielten sie wie die Universitätsseminaristen aber auch die Möglichkeit, sich durch intensives Selbststudium und fachlichen Austausch zudem theoretisch fortzubilden, allerdings nicht nur als Fachphilologen, sondern zugleich auch als Experten für das Erziehungsgeschäft.
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Zu erwähnen sind hier u.a. die später in Hannover tätigen Rektoren Schumann, Köppen, Ruhkopf, Grotefend, darüber hinaus der später als Rektor in Celle tätige Grunebusch, der in Darmstadt als Gymnasialrektor angestellte Wenck oder der als Erziehungsschriftsteller, Mitherausgeber der ‚Allgemeinen Revision‘ und vor allem als Trapp-Förderer erziehungsgeschichtlich bedeutsame Gymnasiallehrer Martin Ehlers, der nach seiner Zeit als Seminarist und vor seiner Berufung an die Kieler Universität als Rektor in Segeberg, Oldenburg und Altona tätig war. So finden sich unter den Heyne-Schülern beispielsweise Friedrich August Wolf, Johann Heinrich Voss, Wilhelm von Humboldt, August Wilhelm Schlegel, Friedrich Jacobs, Friedrich Wilhelm Thiersch oder Friedrich Schlegel.
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Zu diesem Zweck gründete Gedike eine pädagogische sowie eine philologische „Societät“,10 die jeweils monatlich tagten und in denen von den Seminaristen angefertigte Abhandlungen gemeinsam mit dem Direktor, den Lehrern des Gymnasiums und Interessierten diskutiert wurden. An diesem Prozedere änderte sich auch nichts, als Gedike 1793 endgültig vom Friedrichswerderschen Gymnasium in das Direktorat des Berlinisch-Cöllnischen Gymnasiums zum Grauen Kloster wechselte und das Seminar fortan dort eine neue Heimstätte fand. Bezeugt wird dies u.a. vom Seminariumsnovizen Friedrich Schleiermacher, der just im Herbst dieses Jahres Mitglied der beiden „Societäten“ wurde: Er leistete seine Unterrichtspraxis an der so genannten „Cöllnischen Schule“ ab (vgl. KGA V.1, 325) und beteiligte sich auch an den regelmäßigen Diskussionsaktivitäten: „Man hat bei dieser Stelle wöchentlich 8–10 Stunden zu geben und außerdem alle Vierteljahre ein paar Abhandlungen einzureichen. Es ist eine Anstalt, die eigentlich zur Bildung künftiger Schulmänner eingerichtet ist und unter Gedike’s alleiniger Direction steht. Einnahme ist sehr wenig dabei, nur 120 Rthl., und keine freie Wohnung, aber man hat viele Gelegenheit durch Stunden Geld zu verdienen […].“ (KGA V.1, 311f.)11
Die wahrscheinlich Anfang November des Jahres 1793 entstandene Abhandlung ‚Über den Geschichtsunterricht‘ wurde für die bereits erwähnte pädagogische Societät verfasst und wohl noch vor dem Jahreswechsel dort besprochen.12 Um ihren kritischen Gestus zu erfassen, ist es zunächst notwendig, einen Blick auf den zeitgenössischen Erziehungs- und Unterrichtsdiskurs zu werfen.
2. Die Erziehungsdiskussion der Spätaufklärung Von einer konzeptionell vereinheitlichten, sich personell wie institutionell verstetigenden Bewegung der pädagogischen Aufklärung im deutschen Sprachraum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auszugehen, ist schon angesichts der Befunde zum einschlägigen Publikations10 11
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Vgl. dazu Friedrich Gedike: Gesammlete [sic!] Schulschriften, Bd.2, Berlin 1795, 124–128. Neben den Privatstunden für Gymnasiasten erteilte er auch Religionsunterricht am „Kornmesserschen Waisenhause“, wofür ihm freies Logis geboten wurde (vgl. KGA V/1, 322 bzw. ebd., 324f.). Dafür spricht zum einen, dass Schleiermacher seine Korrespondenz – ungewöhnlich für ihn – in der ersten Novemberhälfte stark vernachlässigte (vgl. KGA V/1, 324). Zudem war er während der Weihnachtsfeiertage dann schon mit der Abfassung der für die Präsentation in der philologischen Societät vorgesehenen Abhandlung ‚Philosophica politica Platonis et Aristoteles‘ beschäftigt (vgl. KGA V/I, 334 bzw. 335 sowie KGA I/1, LXXIIIf.).
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markt äußerst gewagt. Bedenkt man, dass bis zum Jahrhundertwechsel nahezu 1000 Erziehungspublizisten mit insgesamt ca. 10.000 gedruckten Medien belegt sind, dass auf den jährlichen Buchmessen allein in den 1780er und 1790er Dekaden jeweils mehr als 300 pädagogische Neuerscheinungen präsentiert wurden und dass allein die reiche periodische Erziehungspublizistik bis 1800 weit über 100 pädagogische Fach-, Kinder- und Jugendzeitschriften, einschlägige Wochenblätter, Kinderalmanache und Jugendkalender hervor brachte, dann fällt es schwer, die für diese Epoche typische Gemengelage aus programmatischer Innovation und der Hoffnung auf eine maßvoll gezügelten „Befreiung des Menschengeschlechts“ als eine in sich gefestigte, homogene kulturelle Strömung zu begreifen.13 Tatsächlich waren es ganz unterschiedliche Milieus, die ihre pädagogischen Ambitionen in die öffentliche Diskussion einbrachten. Zu denken ist hier an die Philologen der Lateinschulen ebenso wie an die sich als Professionsgruppe konstituierenden Volkschullehrer. In den süd- und westdeutschen Regionen war die Dominanz des katechetisch-pastoraltheologischen Milieus im Erziehungsdiskurs zwar noch nahezu ungebrochen, dennoch verschafften sich aber auch hier Erziehungsphilosophen, Anthropologen und Erfahrungsseelenkundler, pädagogisch aspirierte Universitätsgelehrte und dilettierende Laien zunehmend Gehör. Die größte Anregung erfuhr die pädagogische Reflexion dieser Zeit aber zweifelsohne durch die Vertreter des so genannten Philanthropismus,14 die inspiriert insbesondere durch die Schriften Rousseaus15 und 13
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Allgemein zur pädagogischen Aufklärung vgl. neben diversen Überblicksdarstellungen u.a. Heinz-Elmar Tenorth: Die Aufklärung, in: Pädagogische Epochen, hg. von Rainer Winkel, Düsseldorf 1987, 121–156; Jürgen Oelkers: Aufklärung, in: Dietrich Benner / Jürgen Oelkers: Historisches Wörterbuch der Pädagogik, Weinheim und Basel 2004, 75–105 sowie umfassend und vertiefend: Jens Brachmann: Der pädagogische Diskurs der Sattelzeit, Bad Heilbrunn 2007. Zusammenfassend und vertiefend zur pädagogischen Reformbewegung des „Philanthropismus“ vgl. u.a. August Pinloche: Geschichte des Philanthropismus, Leipzig 1896; Karl Schrader: Die Erziehungstheorie des Philanthropismus. Versuch eines Systems, Langensalza 1928; Wolfgang Sünkel: Zur Entstehung der Pädagogik in Deutschland. Studien über die philanthropische Erziehungsrevision, MS Münster 1970; Das pädagogische Jahrhundert, hg. von Ulrich Herrmann, Weinheim und Basel 1981; Christa Kersting: Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Campes ‚Allgemeine Revision‘ im Kontext neuzeitlicher Wissenschaft, Weinheim 1992; Ulrich Hermann: Die Pädagogik der Philanthropen, in: Aufklärung und Erziehung. Studien zur Funktion der Erziehung im Konstitutionsprozess der bürgerlichen Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert, hg. von Ulrich Hermann, Weinheim 1993, 99–119. Vgl. dazu Jean Jacques Rousseau: Emilé, Amsterdam [Paris] 1762 bzw. die von den Philanthropen in den Lieferungen 12 bis 15 der ‚Allgemeinen Revision des gesammten [sic!] Schul- und Erziehungswesens‘ veranstaltete vierbändige kommentierte Übersetzung des Textes Karl Friedrich Cramers: Emil oder über die Erziehung, Wien und Braunschweig 1789ff.
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Lockes16 die Ideen der europäischen Aufklärung auf pädagogische Handlungsfelder zu übertragen versuchten und Erziehung und Unterricht zu zentralen Schauplätzen ihrer gesellschaftlichen Innovationsbemühungen stilisierten. Mit dem Ziel, so zur Humanisierung des Lebens, zur allgemeinen Glückseligkeit des Volkes und zur Wohlfahrt der ganzen Gemeinschaft beizutragen, versuchten die Anhänger dieser Bewegung, die verfestigten voraufklärerischen Konzepte des Konfessionalismus, des Nationalismus und einer migrationsresistenten Ständeordnung durch neue soziale Interaktionsmodi wie „vernünftige Moralität“, patriotischen Kosmopolitismus, allgemeine Menschenfreundschaft bzw. das Recht des Einzelnen auf sozialen Aufstieg gemäß seiner Verdienste zu ersetzen und diese Entwürfe zur Grundlage einer reformierten Menschenbildung zu machen. Konsequenterweise schlug sich philanthropisches Wirken daher vor allem in bildungsorganisatorischen, allgemein-didaktischen und unterrichtsmethodischen Interventionen nieder. Über das utilitaristische Postulat, mit der Ausbildung des Einzelnen zum nützlichen Bürger die Versittlichung des Gemeinwesens zu befördern, konnte dieses Vorhaben vorübergehend auch verstetigt werden. Ideengeschichtlich gipfelten diese Bemühungen schließlich in der an Rousseau angelehnten Forderung nach einer „natürliche Erziehung“ sowie dem Axiom des Eigenrechtes des Kindes auf persönliches Glück: „Der Hauptzweck der Erziehung soll sein […]“, heißt es in diesem Sinne zusammenfassend etwa in Basedows „Methodenbuch“ von 1770, „die Kinder zu einem gemeinnützigen, patriotischen und glückseligen Leben vorzubereiten“.17 Die von den Reformern favorisierten Erziehungsmittel, um eine entsprechend ganzheitlich ausgerichtete Vervollkommnung und Versittlichung des Menschen zu befördern, beschränkten sich daher auch nicht nur auf kognitive Bereiche, sondern bezogen Handlungsformen der physischen Übung und moralischen Unterweisung ebenso mit ein. Neu am philanthropischen Erziehungskonzept war der Versuch einer konfessionsfreien religiösen Erziehung. Neu an dieser Konzeption war aber auch das Bestreben, die traditionelle Willkür erzieherischer Repression durch ein transparentes System aus Belohnungen und Strafen zu ersetzen und als Anreiz für ein selbsttätiges Lernen der Zöglinge zu nutzen. Andere Postulate wie das Prinzip der Anschaulichkeit des Unterrichts, 16
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Vgl. John Locke: Some Thoughts Concerning Education, London 1693 bzw. die von den Philanthropen als Band 9 der ‚Allgemeinen Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens‘ veranstaltete und speziell von der Hamburger Erziehungspraktikerin Karoline Rudolphie verantwortete Übersetzung: Handbuch der Erziehung aus dem Englischen des John Locke, Wien und Wolfenbüttel 1787. Johann Bernhard Basedow: Methodenbuch für Väter und Mütter der Familien und Völker, Altona 1770, 42.
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der Rückgriff auf Realien und „nützliche“ Lehrinhalte, schließlich die Öffnung des Unterrichts für die Muttersprache bzw. für moderne Fremdsprachen vervollständigten die Agenda der Forderungen.18 Personell konstituierte sich diese Reformbewegung über drei institutionen- und wissenschaftsgeschichtlich bedeutsame Großprojekte – über die Einrichtung des Dessauer Philantropinums ab 1774, über den Versuch der akademischen Etablierung der philanthropischen Reform an der Universität Halle ab 1779, schließlich – und vor allem – über die von der „Gesellschaft practischer Erzieher“ ab 1785 herausgegebene ‚Allgemeinen Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens‘.19 Die kurze wie intensive Rezeption des philanthropischen Paradigmas in den Jahren um 1780 kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bewegung keine tragfähige Alternative zu den überkommenen, insgesamt sehr erfolgreichen pietistischen oder humanistischen Erziehungsvorstellungen darstellte. Angesichts eines von seinen Exponenten vertretenen naiv oberflächlichen Aufklärertums offenbarte sich vielmehr schon während seiner kurzen Blütezeit die Entbehrlichkeit des philanthropischen Denkmodells. Die fehlende Systematik, ihre uneinheitliche Programmatik, ihre szientifische Eklektik,20 schließlich das sich den zeitgenössischen philosophischen und naturwissenschaft-
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Artikuliert worden waren diese Forderungen zwar bereits vorher schon vereinzelt etwa von den Didaktikern der frühen Neuzeit, erst die Philanthropen versuchten aber, diese Unterrichtsprinzipien zur Grundlage ihres Handelns zu machen und sie in der erwähnten Breite und mit dieser Konsequenz umzusetzen (zu den historischen Vorläufern vgl. etwa die Schriften, das praktische Wirken und die Versuche institutioneller Einflussnahme u.a. von Wolfgang Ratke, Johann Amos Comenius, Johann Heinrich Alstedt oder auch von Andreas Reyher). Insgesamt konstituiert sich diese so genannte philanthropische Kerngruppe damit also aus kaum mehr als zwei Dutzend „Pädagogen“. Dazu zählen etwa die längere Zeit als Lehrer oder Erzieher am Philanthropinum tätigen Johann Bernhard Basedow, Wilhelm Gottlieb Becker, Friedrich Gottlieb Busse, Joachim Heinrich Campe, August Friedrich Crome, Jean Jacques DuToit, Johann Christian Feder, Carl Gottfried Neuendorf, Ludwig Heinrich Ferdinand Olivier, Christian Gotthilf Salzmann, Ernst Christian Trapp, Christian Heinrich Wolke sowie die darüber hinaus mit der „Gesellschaft practischer Erzieher“ verbundenen Schulmänner oder Beamten Johann Georg Büsch, Christoph Daniel Ebeling, Martin Ehlers, Peter Villaume, Friedrich Gedike, Karl Philipp Moritz, Friedrich Gabriel Resewitz, Johann Stuve, Karl Friedrich Bahrt, Karoline Rudolphi, Johann Friedrich Oest, Konrad Friedrich Uden, Moritz Adolph von Winterfeld, Johann Christoph Unzer; zu den Personen und zu ihrem jeweiligen Anteil an der Etablierung des philanthropischen Paradigmas vgl. Brachmann: Erziehungsschriftsteller, Schulreformer und Pädagogen der Aufklärung und der Sattelzeit, a.a.O. (Anm.5). Thematisch griffen die Philanthropen auf Angebote der Anthropologie ebenso zurück wie auf Anregungen der Popularphilosophie, der Ästhetik, der Medizin und der Diätetik.
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lichen Forschungsfronten verweigernde Erkenntnisinteresse21 sind weitere Gründe für das Scheitern einer nachhaltigen kulturellen Verankerung und pädagogisch-theoretischen Kanonisierung der philanthropischen Entwürfe. Charakteristisch für diese Traktate war vielmehr die Favorisierung einer naiv-induktiven Methodologie zur Generierung und Sicherung dessen, was die Philanthropen für pädagogische Erkenntnis hielten. Sie setzten verstärkt nur auf die erfahrungsmäßig fundierte Beherrschung der Handlungspraxis, die die Vision einer Vervollkommnung des Individuums der Brauchbarkeit des Bürgers opferte, die blind auf die Regelhaftigkeit und den Schematismus ihrer pädagogischen Einflussnahme vertraute und einen unerschütterlichen Glauben in die Allmacht ihrer pädagogischen „Methode“ hatte. Ausgehend hiervon muss es daher auch nicht verwundern, dass die „Menschenfreunde“ neben ihren allgemeinen Weltverbesserungsentwürfen eine ganze Reihe von konkretisierten Erziehungsplänen und Unterrichtsanleitungen veröffentlichten. Bezeichnenderweise spielt der historische Unterricht dabei kaum eine Rolle. Eines der ganz wenigen einschlägigen Dokumente, die die Geschichtsvermittlung ausführlicher würdigen ist dabei Ernst Christian Trapps ‚Versuch einer Pädagogik‘.22 Geschichtliche Ereignisse interessieren den Autor jedoch genauso wenig als Zäsuren der Enkulturation wie historische Verläufe in ein spannungsreiches Verhältnis zur Gegenwart gestellt werden. Stattdessen begreift er das historische Studium 23 lediglich als eine Möglichkeit zur Schulung der „memoria“. Insofern schon die Erfahrung zeige, „daß manche Erdichtungen lehrreicher sind, als manche Geschichten“, könnten die historischen facti auch nach Belieben durch fiktionale Erzählungen ersetzt oder ergänzt werden. Das Interesse der Jugend an der Vergangenheit werde dabei insbesondere nicht durch einen Vortrag „nach chronologischer Ordnung und im Zusammenhang“ angeregt, vielmehr sollte das Geschichtsstudium „mit der neuesten und gegenwärtigen Geschichte“ beginnen (ebd., 375). Die didaktisch-instrumentelle Unterstützung dieses Verfahrens könne schließlich durch einen reich bebilderten Katalog der „ganzen Geschichte von Adam bis itz“ (ebd., 379) oder durch historische Tabellen erfolgen, die die Schüler nach einem fest vorgegebenen Prozedere memorieren lernten.
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Die Philanthropen verweigerten sich den revolutionären Einsichten der transzendental-spekulativen Epistemologie ebenso wie der idealistischen Systematik oder der Mathematisierung bzw. Empirisierung der Naturerkenntnis. Vgl. Ernst Christian Trapp: Versuch einer Pädagogik, Halle 1779, 372–390. Vgl. ebd., 372.
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Ob Schleiermacher den ‚Versuch einer Pädagogik‘ tatsächlich gelesen hat, lässt sich nicht zweifelsfrei ermitteln.24 Angesichts des vermuteten Bestandes der Gedikeschen Seminarbibliothek – Gedike selbst war wie Trapp auch Mitglied des in engem Kontakt stehenden Herausgebergremiums der ‚Allgemeinen Revision‘ –, darf man aber unterstellen, dass er mit der Thematik und dem Diskussionsstand sehr wohl vertraut war. Tatsächlich setzt seine Kritik an der Semantik der pädagogischen Aufklärung in der Abhandlung ‚Über den Geschichtsunterricht‘ sowohl an der unzureichenden epistemologischen Sorgfalt der Philanthropen und ihrem Methodenschematismus als auch an dem von Trapp offenbarten naiven geschichtsdidaktischen Pragmatismus an.
3. Schleiermachers Kritik der Aufklärungspädagogik in ‚Über den Geschichtsunterricht‘25 Die formal nicht weiter gegliederte Abhandlung besteht aus drei Abschnitten. In einem ersten, einleitenden Teil (vgl. KGA V/1, 489,1 bis 24
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Unter den mehr als 60 Pädagogica in Schleiermachers Bibliothek ist der Band nicht verzeichnet. Zwar finden sich unter den Erziehungsschriften, Schulakten, Schuljahrbüchern, unterrichtsdidaktischen Traktaten, den Schul-, Kinder- und Jugendbüchern auch verstreute Abhandlungen von Basedow und Campe sowie Werkausgaben der philanthropischen Bezugsautoren Rousseau, Locke, dennoch dokumentiert dieser Bestand hingegen Schleiermachers überwiegendes Interesse an erziehungstheoretischen Monografien (zum Bestand der Bibliothek vgl. insgesamt Günther Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek. Bearbeitung des faksimilierten Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, Berlin und New York 1993; speziell zu den Pädagogica vgl. Jens Brachmann: Über die Möglichkeit, „die Ethik […] zerstükkelt mit hervorzubringen“. Die Bestimmung des Verhältnisses von Ethik und „technischen Disciplinen“ und die Rezeption erziehungstheoretischer Texte beim frühen Schleiermacher, in: Ulrich Barth und Claus-Dieter Osthövener: 200 Jahre „Reden über die Religion“. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft, Halle 14.–17. März 1999, Berlin und New York 2000, 878–896. Abgesehen von den editorischen Anmerkungen im Zusammenhang mit der Drucklegung der Abhandlung in den ‚Pädagogischen Schriften‘ (vgl. PS2, 222f.), der ‚Kritischen Gesamtausgabe‘ (KGA I/1, LXIX–LXXII) bzw. den ‚Texten zur Pädagogik‘ (TP1, 382f.) ist diese frühe Skizze bisher kaum Gegenstand der Kritik gewesen. Überliefert sind lediglich: H. Heidenreich: Schleiermachers Stellung zum Geschichtsunterricht, in: Blätter für die Fortbildung des Lehrers und der Lehrerin 11 (1918), 257–265 sowie Kurt Nowak: Schleiermachers Abhandlung „Über den Geschichtsunterricht“ von 1793, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, hg. von Günter Meckenstock, Berlin u.a. 1991, 419–439. Während die erste Studie überwiegend die didaktischen Überlegungen würdigt, beschäftigt sich Nowak vor allem mit Schleiermachers „Forderung nach Ausarbeitung der Geschichte als „Wissenschaft“ (ebd., 436) und der Aufhebung der traditionellen Dichotomie zwischen scientia und historia (vgl. ebd.).
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490,22) beschreibt Schleiermacher systematische und methodologische Probleme der Geschichtsvermittlung. Im Hauptteil (ebd., 490,23–495,39) erörtert er allgemeine Rahmenbedingungen der Geschichtsdidaktik, fundamentale Prinzipien für einen gelingenden Stofftransfer und Möglichkeiten zur Anregung der Selbsterkenntnis der Schüler als zentralem Moment der Aneignung historischen Wissens. Im kurzen dritten Abschnitt (ebd., 496,1–497,30) verweist er schließlich auf spezielle Phänomene, die sich bei der Realisierung der von ihm vorgeschlagenen Methode notwendig ergeben. Bemerkenswert ist, dass diese frühe Skizze damit den später vertrauten dreigliedrigen Aufbau seiner Vorlesungsmaterialien aus „Einleitung“, „Allgemeinem“ und „Besonderem Teil“ vorweg nimmt. Bedeutsam für die zur Diskussion stehende Frage ist dieser Befund allein schon deshalb, weil man die sich hier offenbarende strukturierte, systematische Argumentation als einen methodischen Gegenentwurf zu den epistemischen Strategien des nur Phänomen orientierten Eklektizismus der Philanthropen begreifen kann. Deutlicher noch als in der Form erweist sich Schleiermachers Distanz zu den philanthropischen Schulreformern in der Sache: Seine Kritik gilt (1.) zunächst didaktischen Experimenten, die die Erregung von Aufmerksamkeit über ein fundiertes Geschichtsstudium stellen; im Gegensatz hierzu votiert er (2.) für einen Unterricht, in dem die Aneignung historischer Verläufe als „scientia“ begriffen werden sollte; (3.) schließlich schlägt er ein Verfahren vor, wie das ihm vorschwebende wissenschaftliche Geschichtsstudium die Vernunft, den Verstand und die Einbildungskraft des Zöglings anregen kann und damit dessen allgemeine Bildung und Mündigkeit befördert. (zu 1.) Wie später in den Vorlesungsmaterialien, geht er in seinem einführenden Problemaufriss von einem populären Begriff zum untersuchten Sachverhalt aus – hier: dem Befund, dass historische Kenntnisse selten in einem speziellen Kursus auf den Gelehrtenschulen vermittelt werden. Falls ausnahmsweise doch, dann stehe dort „weniger […] ihr Zusammenstimmen zu einem festgesezten Plan“ im Mittelpunkt als vielmehr „die Convenienz der übrigen Lehrstunden“ (vgl. ebd., 489).26 26
Dass ein eigenständiger Geschichtsunterricht tatsächlich selten auf der curricularen Agenda der Gelehrtenschulen stand, wird u.a. auch durch die Philanthropen belegt. In seinem unterrichtstheoretischen Entwurf für die ‚Allgemeine Revision‘ setzte Ernst Christian Trapp vielmehr auf den Altsprachenunterricht, auf die Vermittlung von Kenntnissen zur deutschen Dichtung, zur spekulativen Philosophie, zur scholastischen Theologie und Dogmatik. Immerhin spricht er sich dort für eine umfassendere, historisch-fundierte Methodologie dieser Fächer aus und empfiehlt: „Vor der Universität müßten, meiner Meinung nach, a) mehr die historischen als die meisten übrigen; b) die meisten übrigen Wissenschaften mehr historisch und populär [..] als systematisch getrieben werden“ (Ernst Christian Trapp: Vom Unterricht überhaupt,
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Den Grund hierfür sieht Schleiermacher in der Art des historischen Wissens, das sich nur schwer in eine lehrbare Form bringen lasse, weil die Momente von „Ordnung und Zusammenhang [sic!]27 bei der Geschichte […] in einer Art von nothwendigem Widerspruch“ stünden; denn „um den Zusammenhang deutlich zu machen muß man oft die Ordnung auf eine für das Gedächtniß höchst verwirrende Weise verlezen“. Andererseits könne „[…] eine gute Realordnung […] zwar manche Vortheile gewähren, aber diesen Streit mit dem Zusammenhange nicht heben“ (vgl. ebd., 490). Für Schleiermacher lässt sich dieser Konflikt zwischen der Vermittlung einer chronografischen Verlaufsgeschichte einerseits und einer konstruktivistischen, auf herausgehobene historische Daten fokussierten Ereignisgeschichte andererseits nicht lösen. Im Hinblick auf die Erfordernisse der Geschichtsvermittlung könne diese Diskrepanz allenfalls entschärft werden (vgl. ebd., 496). Noch schwerer wiegt angesichts dieser systematischen Fragen allerdings das Problem der Begeisterung der Jugend für das Geschichtsstudium. Kaum tragfähig scheinen ihm dabei die vorgeblich attraktiven Angebote der zeitgenössischen Unterrichtstheoretiker, die das Interesse entweder durch Erregung „der Lust an äußern Annehmlichkeiten“ wecken wollen, oder aber auf die „Einsicht“ des Zöglings in die „Unentbehrlichkeit“ der Erlernung der Geschichte vertrauen. Statt didaktische Spielereien zu erproben oder das Interesse zu diktieren müsse es die Aufgabe des Lehrers sein, „Lust und Liebe zur [Geschichte als] Wissenschaft“ hervorzubringen (vgl. ebd., 490). (zu 2.) Die Geschichte als Wissenschaft vorzutragen, gelingt aber nur über die Erarbeitung einer genuinen, methodisch gesicherten, vollständigen Terminologie, über geeignete Kategorien sowie über eine systematische Ordnung des einschlägigen Stoffes: „[…] die richtige und bestimmte Bezeichnung der Materie, welche gleichsam die allgemeine Formel ist, worauf jeder einzelne Theil muß bezogen werden können, und die Vollständigkeit der systematischen Form, welche die Idee der Materie erschöpft; beides muß also die Jugend von Anfang an lieben lernen“ (vgl. ebd., 492).
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in: Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens. 8 Theil, Wien und Wolfenbüttel 1787, 1–210; hier 39; vgl. auch die Anmerkung von Funk zum Studium der Metaphysik: ebd., 33. Noch eindeutiger wird die Referenz im dritten Absatz, wo er – wie Trapp – die memoria-Funktion des Geschichtsstudiums betont, diese allerdings in den Kontext seiner eigenen Methode stellt: „Für das Gedächtniß wird auf diese Weise unstreitig viel gewonnen, weil es überall leichter ist in der Erinnerung von den Folgen zu den Gründen hinaufzusteigen, als umgekehrt“ (ebd., 496). Der an diese Überlegung anschließende Gedanke thematisiert dann erneut den von Trapp bekannten Topos vom „nachtheiligen Streit zwischen Ordnung und Zusammenhang“ (vgl. ebd.).
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(zu 3.) Hier stellt sich nun aber die Frage, wie die Schüler zu einer solche „systematische Behandlung“ (vgl. ebd.) angeregt werden können? Wie die Philanthropen – wir erinnern uns an Trapps Vorschlag – geht Schleiermacher von der Gegenwart und vom Erfahrungshorizont der Zöglinge aus. Allerdings plädiert er nicht für ein chronologisch-formales Zurückschreiten im geschichtlichen Verlauf, vielmehr für ein dialektisch-genetisches, wie es durch Schillers Antrittsvorlesung zur „Universalgeschichte“28 bekannt geworden ist: „Man sage ihnen [den Zöglingen] sie sollen lernen: wie der jetzige Zustand der Menschen nach und nach entstanden ist [..]“ (vgl. ebd., 493). Auf diese Weise werden die Schüler nach Schleiermachers Ansicht nicht nur für ein eigenständiges, ihre Gesinnung bildendes historisches Studium motiviert, sondern zudem auf den Gebrauch wissenschaftlicher Methoden konditioniert: „[…] die Geschichte ist jetzt würklich die Wissenschaft dessen, was ist, denn alles vorige erscheint ihm nun als Grund des gegenwärtigen. Auch an der Einsicht in die Form des Ganzen kann es nun nicht fehlen. Indem man ihnen die Hauptmomente jenes großen Abstandes zeigt, so werden sie mit leichter Mühe das ganze Skelet der Wissenschaft finden“ (493f.)
4. Fazit Anders als die erziehungsphilosophischen Entwürfe aus den Jahren 1813, 1820 oder 1826 vermuten lassen, setzte sich bereits der junge Schleiermacher intensiv mit den Erziehungskonzepten der pädagogischen Aufklärung auseinander. Tatsächlich verfügte er auch über eine fundierte Quellenkenntnis repräsentativer philanthropischer Dokumente (wie etwa Ernst Christian Trapps ‚Versuch einer Pädagogik‘). Mehr noch: Er rezipierte diese Texte nicht nur, sondern ging in zentralen Punkten – etwa im Hinblick auf deren Methodenschematismus bzw. deren zweifelhafte eklektizistische Wissenschaftsvorstellung – auf deutliche Distanz zu den Vertretern dieser Bewegung. Weder als Ideologie, noch als szientifisches Paradigma waren die philanthropischen Vorschläge anschlussfähig an Schleiermachers eigene weltanschauliche bzw. wissenschaftliche Ambitionen. Ihre fast ausschließliche Verankerung im Schul- und Erziehungsdiskurs tat ein Übriges, dass sich der ins Theologen- und Gelehrtenamt strebende Schulamtskandidat dann später vorzugsweise nur noch mit pädagogisch-theoretischen, erziehungssystematischen oder schuladmi28
Vgl. Friedrich Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte, in: Der Teutsche Merkur (1789), Bd.4, 105–135.
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nistrativen Materialien auseinander setzte.29 Schleiermachers Wirken für die preußische Kultusbehörde und sein Plädoyer für eine Verantwortung – genauer: den „Beruf“ – des Staates für das Erziehungsgeschäft sind aber zweifellos durch die Erfahrung mit dem pädagogischen Philanthropismus geprägt. Die Lektüre der konzeptionell enttäuschenden Standardwerke der pädagogischen Spätaufklärung dürfte den szientifisch aspirierten Kandidaten aber auch hinreichend ernüchtert haben. Gedikes Werben, seinen später berühmten Schulamtsnovizen dauerhaft für die Lehramtstätigkeit zu gewinnen,30 musste auch deshalb von Beginn an aussichtslos bleiben. Dass Schleiermacher sich mit dem Verlassen des Seminariums im Frühjahr 1794 letztlich für einen Lebensweg entschied, der seinen Interessen um vieles näher lag, als der dogmatisch-mechanistische „pädagogische Schlendrian“, ist nur zu verständlich. Nur wenige Jahre später hat dies auch der Direktor des Berlinisch-Cöllnischen Gymnasiums zum Grauen Kloster eingesehen. Rückblickend auf den nur kurzzeitigen Aufenthalt Schleiermachers an seinem Seminarium notierte Gedike: „Schleiermacher […] ein sehr guter Kopf, doch er tat wohl, nicht beim Schulamt zu bleiben“.31
29 30
31
Vgl. dazu neben den Vorlesungszyklen insbesondere seine pädagogischen Rezensionen (TP1, 54–165). Im bereits zitierten Brief an den Vater schreibt Schleiermacher diesbezüglich: „Von Amtswegen werde ich mich nun auf philologica legen müssen und meine Privatsorge wird sein, im philosophischen und theologischen Studio nicht zurück zu bleiben. Gedike wollte mich zwar auch dahin bringen, mich ausschließlich dem Schulfach zu widmen; aber ich habe mir auch gegen ihn den Rücken frei gelassen und mich mit den wenigen Aussichten, welche man bei unserer Confession dabei hat, zu entschuldigen gesucht […]“ (KGA V/1, 313). Zitiert nach Hans Heinrich Mandel: Geschichte der Gymnasiallehrerbildung in Preußen-Deutschland 1787–1987, Berlin 1989, 21.
Das Verhältnis von Staat und Erziehung nach Schleiermacher BIRGITTA FUCHS/BONN In diesem Beitrag soll es darum gehen, Schleiermachers systematischen Versuch einer Verhältnisbestimmung von Staat und öffentlicher Erziehung bzw. von Politik und Pädagogik darzustellen. Schleiermacher beschäftigt sich mit dieser Frage zu einem Zeitpunkt, als der Prozess der Verstaatlichung des öffentlichen Bildungswesens, d.h. die Einführung von Schulpflicht und Schulaufsicht und einer zunehmend zentralisierten und staatlich reglementierten Lehrerbildung, durch das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 auf eine gesetzliche Grundlage gestellt worden ist: „Schulen und Universitäten sind Veranstaltungen des Staates, welche den Unterricht der Jugend in nützlichen Kenntnissen und Wissenschaften zur Absicht haben“ (§1); „Alle öffentlichen Schulen und Erziehungsanstalten stehen unter der Aufsicht des Staats und müssen sich den Prüfungen und Visitationen desselben zu allen Zeiten unterwerfen“ (§9).1 Humboldt und Schleiermacher waren in maßgeblichen Positionen an der preußischen Bildungsreform und damit an der Institutionalisierung des staatlichen Schulwesens beteiligt. Das heißt aber nicht, dass Schleiermacher und Humboldt die damit verbundenen Konsequenzen nicht gesehen hätten. Sowohl Schleiermacher als auch Humboldt erstrebten eine Vermittlung der beiden zentralen Motive neuhumanistischen Reformgeistes, nämlich Staatlichkeit und Liberalismus und beide erkannten die Notwendigkeit einer Begrenzung der dominanten Wirksamkeit des Staates durch die rechtlich gesicherte Einbindung pädagogischer Reflexion und einer kritischen und pädagogisch interessierten Öffentlichkeit in die bildungspolitischen Entscheidungen. Ihr Engagement in der preußischen Bildungsreform stand unter dem Motto der Demokratisierung der Bildungschancen und einer durch die Bildungsreform eingeleiteten „Emanzipation des bürgerlichen Individuums“ aus
1
Vgl. L. Wiese’s Sammlung der Verordnungen und Gesetze für die höheren Schulen in Preußen, 3. Aufl., 1. Abt.: Die Schule, Berlin 1886.
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den Fesseln einer ständisch gegliederten feudalen Gesellschaft.2 Eine in der geschichtlichen Situation des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbruchs als unabdingbar empfundene zentralstaatliche Verwaltung des öffentlichen Erziehungs- und Bildungswesens sollte zunehmend von kommunalen Selbstverwaltungseinrichtungen und Sachverständigengremien abgelöst werden.3 Schleiermacher greift in die bildungspolitischen Auseinandersetzungen der Zeit mit seiner Akademieabhandlung ‚Über den Beruf des Staates zur Erziehung‘ (1814) und mit seinen ‚Vorlesungen über Pädagogik‘ aus dem Jahre 1826 ein. In keiner anderen der zahlreichen Stellungnahmen zum Verhältnis von Staat und Schule wird, so die Einschätzung Christa Bergs, eine derart „profunde, diskursiv angegangene Mehrdimensionalität der Fragehaltung“ erreicht und auch Andreas Flitner wertet es als ein Unglück der geschichtlichen Entwicklung, „dass diese Gedanken zunächst so wenig Widerhall gefunden haben, so bald wieder von anderen und minderen Klängen übertont worden sind.“4 5 In seiner Abhandlung ‚Über den Beruf des Staates zur Erziehung‘, welche Schleiermacher am 22. Dezember 1814 vor der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin vortrug, nahm er angesichts der einsetzenden restriktiven Schulpolitik und der bitteren Erfahrung zunehmender Bespitzelung durch reaktionäre Kräfte erstaunlich offen und couragiert zur bildungspolitischen Situation Stellung. In dieser Akademieabhandlung geht es Schleiermacher um eine Kritik der Staatspädagogik, d.h. um den grundlegenden und systematischen Versuch, Recht und Grenzen des staatlichen Eingriffs in das Erziehungs- und Bildungswesen zu bestimmen. Schleiermacher geht jedoch noch einen entscheidenden Schritt weiter, indem er nicht nur das entschiedene Eingreifen des preußischen Reformstaates in das öffentliche Schulwesen und damit seine eigene bildungspolitische Tätigkeit historisch-systematisch begründet und rechtfertigt, sondern indem er unmissverständlich und öffentlich die reaktionäre Schulpolitik als „tyrannisch“ entlarvt.6 Wenn ein Staat, so 2 3 4
5
6
Vgl. dazu H.-G. Herrlitz, W. Hopf u. H. Titze: Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung, Königstein/Ts. 1981, 9f. Vgl. dazu die Darstellung von A. Flitner: Die politische Erziehung in Deutschland. Geschichte und Probleme 1750–1880, Tübingen 1957, 93. Staat und Schule oder Staatsschule. Stellungnahmen von Pädagogen und Schulpolitikern zu einem unerledigten Problem 1787–1889, ausgewählt und eingel. v. Ch. Berg, Königstein/Ts. 1980, XXI; A. Flitner: Die politische Erziehung in Deutschland, a.a.O. (Anm.3), 99. F.D.E. Schleiermacher: Über den Beruf des Staates zur Erziehung (1814), in: Friedrich Schleiermacher. Texte zur Pädagogik, kommentierte Studienausgabe, Bd.1, hg. v. M. Winkler u. J. Brachmann, Frankfurt/M. 2000, 272–290. Vgl. Jeismann: Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft, Stuttgart 1974.
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Schleiermacher, „die Erziehung des ganzen Volkes nach einer solchen Maxime verwaltet wie die aristokratische Regierung die des niedern Standes, wenn sie fürchtet, er werde dem höheren zu Kopfe wachsen, oder auch, wenn sie ihn sucht, in neue außer seiner ursprünglichen Lebensweise liegende Bahnen zu führen, ohne ihn dennoch höher zu erheben, lediglich seiner Nutzbarkeit halber: so ist sie für vollkommen tyrannisch zu halten dem Geiste nach.“7 Schleiermacher kritisiert an dieser Stelle nicht nur die gegen den politischen Liberalismus gerichtete restriktive Bildungspolitik einer ständisch gegliederten Feudalgesellschaft, sondern ebenso die utilitaristische Brauchbarkeitserziehung, welche die Schulbildung auf bloße Berufsqualifikation zu reduzieren sucht. Während Schleiermacher ohne Zweifel den Schritt zu einer Verstaatlichung und Vereinheitlichung des Bildungswesens begrüßt, so werden seine Überlegungen doch bereits von der resignativen Einsicht überschattet, dass sich das liberale und an neuhumanistischen Ideen orientierende Reforminteresse der Pädagogen und Bildungstheoretiker nicht mehr ohne weiteres mit den Zwecken und Intentionen des Staates zu einer Übereinstimmung bringen lässt.8 Seiner Überzeugung folgend, dass sowohl die politische als auch die praktische Vernunft nur diskursiv, d.h. durch das sorgfältige Prüfen divergierender Meinungen und gegensätzlicher Positionen wirksam werden kann, greift Schleiermacher die lebhaft und durchaus kontrovers diskutierten Meinungen auf und ringt um einen theoretisch begründeten Standpunkt im Widerstreit der Positionen.9 Während sich Wilhelm von Humboldt in seinen ‚Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen‘ entschieden gegen einen staatlichen Einfluss auf das Bildungswesen ausspricht: „Öffentliche Erziehung scheint mir daher ganz außerhalb der Schranken zu liegen, in welchen der Staat seine Wirksamkeit halten muß“,10 nimmt Schleiermacher in dieser Diskussion eine besonnen abwägende Position ein. Die Verstaatlichung des Bildungswesens und die Institutionalisierung der Staatsschule wurde von Pädagogen, praktischen Erziehern 7 8 9
10
Schleiermacher: Über den Beruf des Staates zur Erziehung, a.a.O. (Anm.5), 284. Vgl. hierzu C. Menze: Staat und Schule, in: ders.: Bildung und Bildungswesen. Aufsätze zu ihrer Theorie und ihrer Geschichte, Hildesheim 1980, 202–216. Th. Schulze weist zurecht darauf hin, dass Schleiermachers Akademieabhandlung ‚Über den Beruf des Staates zur Erziehung‘ als ein Musterbeispiel für seine dialektische Denkbewegung angesehen werden kann. Vgl. Th. Schulze: Die dialektische Rekonstruktion einer widersprüchlichen und sich wandelnden Erziehungswirklichkeit – aufgezeigt an Schleiermachers Akademieabhandlung ‚Über den Beruf des Staates zur Erziehung‘, in: Internationaler Schleiermacher Kongreß Berlin 1984, hg. v. K.-V. Selge, Teilbd.2, Berlin/New York 1985, 803–836. Wilhelm von Humboldt: Schriften zur Anthropologie und Bildungslehre, hg. v. A. Flitner, Düsseldorf 1956, 135f.
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und Lehrern sowie einer für pädagogische Fragen aufgeschlossenen Öffentlichkeit in weiten Kreisen lebhaft und durchaus kontrovers diskutiert. Die kaum zu überblickende Fülle an öffentlich zugänglichen Publikationen über Fragen der Erziehung und Schulreform stellt ein eigenes Phänomen dar, das es bis dahin in dieser Form nicht gegeben hatte und das dem 18. Jahrhundert wohl mit Recht den Titel „Pädagogisches Jahrhundert“ einbrachte. Die Verstaatlichung des Bildungswesens wurde von einer großen Mehrheit aus politischen, aufklärerisch-philanthropischen und aus ökonomisch-utilitaristischen Beweggründen uneingeschränkt begrüßt. Man erkannte nach dem Zusammenbruch des zentralistischen Staates Friedrichs des Großen und nach der Niederlage Preußens in den napoleonischen Kriegen die notwendige Beziehung zwischen politischer Reorganisation und grundlegender Reform des Erziehungs- und Bildungssystems und folgte zunächst der neuhumanistischen Idee Schleiermachers und Humboldts, die ständische Berufserziehung durch das „egalitäre Prinzip“11 einer allgemeinen Menschenbildung zu ersetzen, welche die berufliche Bildung „aus den Fesseln standesspezifischer Sozialisation“ zu befreien vermochte.12 Die als notwendig empfundenen und als Fortschritt begrüßten Umwandlungen der sozialen und wirtschaftlichen Strukturen, welche die einsetzende Industrialisierung und die Umstrukturierung der ständischen zur frühkapitalistischen Gesellschaft mit sich brachten, stellten neue und von dem traditionellen Erziehungssystem kaum mehr zu leistende Anforderungen an die berufliche Qualifikation der nachwachsenden Generation. Durch die Verstaatlichung des Bildungswesens erhoffte man sich darüber hinaus die Emanzipation der Erziehung aus dem dominanten Einfluss der Kirche. Das Allgemeine Landrecht von 1794 fixiert also, so Clemens Menze, einen Zustand, der einer großen Mehrheit als einzig erstrebenswerte Lösung erschien.13 So ist es kaum verwunderlich, dass Schleiermacher in seiner Akademieabhandlung diese communis opinio aufgreift und seine eigenen Überlegungen daran anschließt. Auch Schleiermacher ist der Meinung, dass allein durch den entschiedenen Eingriff des Staates das Volk „aus einer langen Dumpfheit und Rohheit“ erwachen und „das große Geschäft“ einer geistigen Höherentwicklung umfassender und effektiver gelingen könne.14 Allein durch ein vom Staat getragenes öffentliches Bildungswesen könne das Bildungsniveau der niederen 11 12
13 14
Herrlitz u.a.: Deutsche Schulgeschichte, a.a.O. (Anm.2), 10. Siehe hierzu D. Benner u. H. Kemper: Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, Teil 1: Die pädagogische Bewegung von der Aufklärung bis zum Neuhumanismus, 2. Aufl., Weinheim 2001, 253. Menze: Staat und Schule, a.a.O. (Anm.8), 205. Schleiermacher: Über den Beruf des Staates zur Erziehung, a.a.O. (Anm.5), 272/273.
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Stände an das höhere angeglichen, die Erweiterung und Verbesserung der Volksbildung gegen konservative Kräfte durchgesetzt, gleiche Bildungschancen jenseits festgelegter Standesprivilegien und freie Berufswahl garantiert werden. Schleiermacher will in seiner Akademieabhandlung jedoch auch jenen kritischen Stimmen Gehör verschaffen, welche sich nach der anfänglichen Staatseuphorie in immer größerer Zahl „warnend erheben“ und nicht nur das natürliche Recht auf einen staatlichen Zugriff auf das Erziehungssystem in Frage stellen, sondern grundsätzlich bezweifeln, dass eine im „Treibhaus des Staates erzwungene Bildung“ wirklich gedeihen könne. Diese zur Vorsicht und Besonnenheit mahnenden Stimmen werden, so der Befund Schleiermachers, mehrheitlich als purer Konservatismus oder gar als „Eigensinn der Theorie, über welchen das Leben sich hinwegsetzen muß“, ignoriert oder völlig zum Schweigen gebracht. Dabei waren (und sind auch heute noch) die Bedenken, die überwiegend aus den Reihen von Pädagogen und Bildungspolitikern geäußert wurden, durchaus berechtigt. Man befürchtete nicht nur die vollständige Vereinnahmung von Schule und Unterricht für politische und wirtschaftliche Interessen, sondern auch die Reduzierung schulischer Bildung auf eine die Brauchbarkeit und Nützlichkeit garantierende berufsqualifizierende Ausbildung für einen durch die modernen Produktionsmechanismen veränderten Arbeitsmarkt. In diesem Zusammenhang sind die Bemühungen Schleiermachers und Humboldts zu sehen, durch die Idee einer allgemeinen Bildung die Beschränktheit einer ausschließlich „staats- und wirtschaftsaffinen Erziehung“ zu überwinden.15 Eine deutliche Ernüchterung hinsichtlich der in die Staatsinitiative gesetzten Erwartungen wurde mit dem Wöllnerschen Religionsedikt von 1788 und seiner entschieden antiaufklärerischen restaurativ-reaktionären Bildungspolitik spürbar.16 Die öffentlichen Beiträge, die sich skeptisch gegenüber einem dominanten Einfluss des Staates aussprachen, häuften sich, und selbst Pädagogen, die zunächst uneingeschränkt der Verstaatlichung des öffentlichen Bildungswesens zugestimmt hatten, sahen nun mit aller Deutlichkeit die Notwendigkeit, den Zugriff des Staates zu begrenzen. So stellt Peter Villaume, der sich zunächst entschieden für die staatliche Schule ausgesprochen hatte, 1788 die Frage, „Ob der Staat sich in die Erziehung mischen soll?“ und Ernst Christian Trapp reflektiert kritisch über die Notwendigkeit öffentlicher Schulen 15
16
Vgl. Staat und Schule oder Staatsschule, a.a.O. (Anm.4), XX. Siehe auch D. Benner: Schulische Allgemeinbildung versus allgemeine Menschenbildung?, in: Die Person als Maß von Politik und Pädagogik, hg. v. W. Eykmann u. W. Böhm, Würzburg 2006, 27–45. Vgl. Staat und Schule oder Staatsschule, a.a.O. (Anm.4), XVII.
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und ihr Verhältnis zu Staat und Kirche und gesteht schließlich ein, dass es ein grundlegender und folgenreichen Irrtum gewesen sei, alle Hoffnungen auf eine fruchtbare Reform der Schulbildung ausschließlich auf den Staat zu setzen.17 Herbart fordert den Staat in seiner Schrift ‚Über Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung‘ (1810) auf, der öffentlichen Erziehung und Bildung eine „angemessene Wirkungssphäre“ zu ermöglichen, und Wilhelm von Humboldt spricht sich – wie oben schon angedeutet – in seinen ‚Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen‘ dezidiert gegen jegliche Form eines staatlichen Einflusses auf die Erziehung aus. Die engagiert geführte Diskussion des Verhältnisses von Staat und Schule lässt dabei zweierlei deutlich werden: Pädagogen, Bildungstheoretiker und eine für pädagogische Probleme zunehmend interessierte und aufgeschlossene Öffentlichkeit waren nicht länger bereit, sich ein Mitspracherecht in Fragen der Erziehung und Bildung der nachwachsenden Generation von der staatlichen Obrigkeit streitig machen zu lassen. Man sah gerade in der Etablierung eines öffentlichen Diskurses eine erfolgsversprechende Chance, den Einfluss des Staates auf das Bildungssystem zu begrenzen. Die Notwendigkeit eines öffentlichen Gesprächs über Erziehungs- und Bildungsfragen wurde zunächst durchaus auch von der staatlichen Administration gesehen. Freiherr von Zedlitz wagte wohl als erster entschieden den Schritt in die Öffentlichkeit, indem er seine Vorschläge für eine Reform des Schulwesens in der „Berlinischen Monatsschrift“ publizierte und in der gebildeten Öffentlichkeit um Zustimmung warb.18 Dieser mutige Vorstoß des Staatsministers entsprach zum einen der Forderung eines aufgeklärten Bürgertums nach mehr politischer Transparenz und spiegelte zum anderen Zedlitz’ weitsichtige Überzeugung, dass eine Reform des öffentlichen Schulwesens nur dann von Erfolg gekrönt sein wird, wenn sie nicht nur von oben „verordnet“, sondern von der Öffentlichkeit und den praktischen Pädagogen aus Überzeugung mitgetragen wird. Jene lebhafte Diskussion zwischen staatlicher Administration, Wissenschaft und Öffentlichkeit führt darüber hinaus deutlich vor Augen, dass sich die Verstaatlichung des Schulwesens und damit auch die Annahme, öffentliche Schulen seien zwangsläufig staatliche Schulen, keineswegs widerspruchslos durchsetzt. Mit dem Entstehen des staatlichen 17
18
Vgl. D. Benner u. H. Kemper: Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, Teil 1: Die pädagogische Bewegung von der Aufklärung bis zum Neuhumanismus, 2. Aufl., Weinheim 2003, 243. D. Benner u. St. Hellekamps: Staatspädagogik/Erziehungsstaat, in: Historisches Wörterbuch der Pädagogik, hg. v. D. Benner u. J. Oelkers, Weinheim 2004, 946–970. Vgl. Staat und Schule oder Staatsschule, a.a.O. (Anm.4), XIV.
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Schulwesens formiert sich nahezu zeitgleich eine starke Opposition gegen eine die Erziehung und Bildung normierende Tätigkeit des Staates. Die Entstehungsgeschichte des staatlichen Schulwesens ist „untrennbar mit der bislang allerdings folgenlosen Kritik an ihr verknüpft.“19 Schleiermacher, unter dem Eindruck der einsetzenden Restauration und der Erfahrung der Wirkungslosigkeit seiner eigenen Tätigkeit in der preußischen Bildungspolitik stehend, will diesen kritischen Stimmen Nachdruck verleihen. Sein Hinweis auf die erschreckenden Auswüchse des napoleonischen Erziehungssystems unterstreicht die Dringlichkeit einer Klärung der Frage, ob der Staat überhaupt ein Recht habe, sich in die Erziehung und Bildung einzumischen und, wenn ja, ob dieses Recht nicht immer „mit seinem bestimmten Maß zugleich“ gedacht werden müsse, um Monopolisierungstendenzen von Seiten des Staates vorzugreifen. Die durchaus positiv zu bewertenden Resultate eines Eingriffs des Staates in das Erziehungswesen – Schleiermacher meint hier die Tätigkeit des preußischen Reformstaates – entbinden nicht von der dringenden Klärung der Frage, worauf das Recht des Staates beruhe, „sich das Geschäft der Erziehung anzumaßen“. Die intendierte kritische Bestimmung des Verhältnisses zwischen Staat und öffentlichem Bildungswesen wird von Schleiermacher von zwei unterschiedlichen Standpunkten aus unternommen, nämlich von Seiten der Pädagogik und aus der Perspektive der Politik. Dieser doppelte Argumentationsgang Schleiermachers folgt der Erkenntnis, dass Staat und Erziehung innerhalb der modernen sich zunehmend ausdifferenzierenden Gesellschaft zwei deutlich zu unterscheidende Bereiche menschlicher Praxis darstellen, die jeweils ihrer eigenen Rationalität folgen und von daher nicht ohne weiteres zusammenfallen. Mit einem kritischen Seitenblick auf Platons Erziehungsstaat betont Schleiermacher, dass der Staat nicht mehr „so schlechthin der Inbegriff aller menschlichen Tätigkeiten“ sei, und an anderer Stelle heißt es: „Allein wir können die Pädagogik nicht mehr schlechthin der Politik unterordnen“.20 Die Pädagogik ist also der Politik nicht subordiniert, sondern koordiniert. Wenngleich beide sich als pragmatische Wissenschaften durch die gemeinsame Zuordnung zur praktischen Philosophie vor die gleiche Aufgabe gestellt sehen, nämlich jede auf ihrem Gebiet an der zunehmend vernünftigen Gestaltung menschlicher Verhältnisse mitzu19
20
Vgl. hierzu C. Menze: Über die Notwendigkeit eines Freien Schulwesens, in: ders.: Bildung und Bildungswesen. Aufsätze zu ihrer Theorie und ihrer Geschichte, Hildesheim 1980, 217–233; 222. Pädagogikvorlesung 1826, in: Friedrich Schleiermacher. Texte zur Pädagogik, kommentierte Studienausgabe, Bd.2, hg. v. M. Winkler u. J. Brachmann, Frankfurt/M. 2000, 16.
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wirken, verfolgen sie durchaus eigene Interessen. „Es ist immer ein großer Unterschied zwischen dem“, so Schleiermacher, „was von der bürgerlichen Gesellschaft ausgeht, und dem, was von der Regierung aus geschieht“. Es muss daher gelingen, die Pädagogik als Theorie der erzieherischen Praxis so zu situieren, dass es ihr grundsätzlich möglich wird, unterschiedliche und widerstreitende Interessen von Seiten der bürgerlichen Gesellschaft, des Staates und der Kirche so zu vermitteln, dass sie nicht nur untereinander harmonieren, sondern auch nicht mit dem genuin pädagogischen Interesse in Konflikt geraten. Ob und inwieweit der Staat das Recht habe, legitime Forderungen an die Erziehung zu stellen, hängt nach Schleiermacher von dem Selbstverständnis des Staates ab. Die Forderungen eines absolutistischen Staates nach Erziehung gehorsamer Untertanen, die rein mechanisch ihre Pflicht erfüllen, werden zugunsten der politischen Mündigkeit und des politischen Engagements der Bürger entschieden zurückgewiesen. Folgt man den Ausführungen Schleiermachers in seiner Abhandlung ‚Über den Beruf des Staates zur Erziehung‘, könnte man beinahe den Eindruck gewinnen, Schleiermacher fordere die Subordination der Politik unter die Pädagogik. Schleiermacher lässt keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er seine Hoffnung auf die Realisierung der demokratischen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit an eine grundlegende Reform des Erziehungs- und Bildungswesen knüpft. Für den Prozess der Liberalisierung und Demokratisierung des Gemeinwesens kann die Politik lediglich einen subsidiären Dienst leisten. Die Erziehung sei, so die pointierte Aussage Schleiermachers, die Hauptsache und selbst „wichtiger als das richtige Verfahren bei der allmählichen Eröffnung der inneren Schranken; denn wenn hierbei etwas versehen ist: so wird die Erziehung es leicht wieder gut machen durch die Masse von berichtigenden Einsichten, die sie entwickelt. Hat man aber im pädagogischen Prozeß einen unrichtigen Weg eingeschlagen: so können dadurch die besten und richtigsten Maßregeln der inneren Verwaltung nur unwirksam werden.“21 Schleiermacher spricht hier einen Gedanken aus, der die gesamte Diskussion im politischen und pädagogischen Bereich prägte. Man hatte deutlich erkannt, dass die Überführung einer feudalstaatlichen Gesellschaftsordnung in ein liberal-demokratisches Gemeinwesen und eine damit unabdingbar verbundene Umwälzung nahezu aller sozialen Verhältnisse nicht von oben verordnet, sondern durch aufgeklärte, politisch interessierte und engagierte Bürger mitgetragen werden muss, die durch eine entsprechende Erziehung und Bildung zu eigenständigem Denken und Urteilen gelangt sind. Eine auf politischer Einsicht 21
Schleiermacher: Über den Beruf des Staates zur Erziehung, a.a.O. (Anm.5), 284.
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und besonnenem Handeln beruhende „kontrollierte“ Revolution sollte an die Stelle der mit Bestürzung beobachteten gewaltsamen Ausschreitungen in Frankreich treten.22 In der angestrebten, von einer breiten Öffentlichkeit bejahten und getragenen Reform des gesamten Bildungssystems, erhoffte sich Schleiermacher die Realisierung von Freiheit und Gleichheit ohne Gewalt und revolutionäre Ausschreitungen. Insofern die Etablierung einer engagierten und öffentlich diskutierenden Öffentlichkeit im Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Welt erst geleistet werden muss, spielt die eine aktive und verantwortungsvolle Beteiligung an den angestrebten Reformen überhaupt ermöglichende Erziehung und Bildung eine entscheidende Rolle. Politische Aufklärung und Bildung traten an die Stelle einer Erziehung des obrigkeitstreuen Untertanen. Einer auf berufliche Qualifikation abzielenden Ausbildung vorgelagerte allgemeine Bildung sollte die aktive Teilnahme der Heranwachsenden am öffentlich-politischen Leben ermöglichen und sowohl die Erwachsenen als auch die nachwachsende Generation auf einen verantwortungsvollen und rechten Gebrauch der neu gewährten Freiheiten vorbereiten. Die Schule erscheint in dieser Perspektive nicht nur als der Ort der Überwindung der Standesunterschiede, sondern auch als Garant für politische Mündigkeit. Wenn Schleiermacher in dieser prägnanten Textpassage aus seiner Akademieabhandlung von „berichtigenden Einsichten“ spricht, meint er zum einen die Entwicklung einer liberalen staatsbürgerlichen Gesinnung und zum anderen die für ein demokratisches Staatswesen unverzichtbare Bildung des Gemeingeistes. „Den Ausdruck Gemeingeist“, so Schleiermacher, „beziehen wir auf eine bestimmte Verbindung der Menschen untereinander, besonders auf den bürgerlichen Zustand. Das Interesse für den bürgerlichen Zustand in seiner besonderen Form, in den Einzelnen sich kräftig erweisend, in allen dasselbige und auf dies gemeinschaftliche Leben gerichtet, das ist zunächst der Gemeingeist.“23 Schleiermacher trifft eine klare Unterscheidung zwischen zwei Formen des Gemeingeistes, von denen jede die jeweilige Einstellung des Individuums zum Gemeinwesen widerspiegelt. Der „selbstische“ Gemeingeist, der dem rein an egoistischen Motiven und an der Durchsetzung subjektiver Interessen orientierten Staatsbürger entspricht, beurteilt den bürgerlichen Zustand lediglich im Hinblick auf den eigenen Vorteil und das eigene Wohlergehen. Dieser selbstbezüglichen Form stellt Schleiermacher den „sittlichen“ Gemeingeist gegenüber, welcher
22 23
Herrlitz u.a.: Deutsche Schulgeschichte, a.a.O. (Anm.2), 28. Pädagogikvorlesung 1826, a.a.O. (Anm.20), 373.
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im bürgerlichen Zustand nicht ein „Produkt der Not“, sondern ein „Produkt der Intelligenz, etwas durch sie Aufgegebenes“ sieht.24 Die Entwicklung eines sittlichen Gemeingeistes als zentrale Aufgabe politischer Bildung bleibt an die Einsicht des Einzelnen gebunden, dass das Zusammenleben im Staat der vernünftigen Gestaltung und Organisation durch politisch verantwortungsvoll handelnde Subjekte bedarf, die aus einem motivierten Interesse heraus das Wohl des Gemeinwesens über ihr Eigeninteresse stellen. An dieser Stelle spitzt sich unser Gedankengang auf die Frage zu: Welches Recht kann die Politik vor dem Hintergrund dieser Überlegungen Schleiermachers dann überhaupt noch haben, in das Erziehungswesen einzugreifen. Hat sie überhaupt ein Recht und nicht nur Ansprüche? Zur Beantwortung dieser Frage und zur Lösung der Aufgabe, „aus den Gründen, worauf der Beruf des Staates zur Erziehung beruht, auch die Grenzen dieses Berufes zu erkennen“,25 untersucht Schleiermacher den historischen Moment des Übergangs von einem nichtstaatlichen Zustand in ein staatliches Gemeinwesen und führt zunächst drei mögliche Situationen an. Erstens: Aus einer ursprünglich als Familienverbund lebenden Horde bildet sich ein kleiner Staat. Da die das gemeinschaftliche Zusammenleben regulierenden Sitten und Gebräuche immer älter sind, als die Verfassung, die sich ein Volk gibt, kann die ursprünglich in der Sitte eines Volkes gründende Erziehung weder vom Staat ausgehen noch als von ihm erzeugt gedacht werden. Die Erziehung erscheint als das „gemeinsame, aber freie und nur in freier Gemeinsamkeit gedeihende, unbewußte Erzeugnis des Volkes“,26 das zwar durch staatlichen Eingriff unterdrückt und sanktioniert, aber keinesfalls hervorgebracht werden kann. Ist es einem Volk im staatlichen Zustand gelungen, eine „seine eigentümliche Natur ausdrückende Sitte“ und eine daraus erwachsende „Gleichförmigkeit gemeinsamer Bildung“ zu entwickeln, erscheint jeder Eingriff des Staates in die Erziehung als reine Willkür. Durch das Prinzip der Kohärenz, wonach sich das Gleiche anzieht, und durch das Prinzip der Gleichheit wird auf ganz natürlichem Wege sichergestellt, dass durch die wechselseitige Befruchtung des „Gemeineren“ durch das „Höhere“ die Gemeinschaft nicht unter einen bereits erreichten sittlichen und kulturellen Status herabsinkt.
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25 26
Vgl. hierzu die Ausführungen von U. Krautkrämer: Staat und Erziehung. Begründung öffentlicher Erziehung bei Humboldt, Kant, Fichte, Hegel und Schleiermacher, München 1979, 270f. Schleiermacher: Über den Beruf des Staates zur Erziehung, a.a.O. (Anm.5), 274. Ebd., 280.
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Zweitens: Ein Staat bildet sich nicht durch den relativ konfliktarmen Übergang von der Horde zum staatlichen Gemeinwesen, sondern durch die Zusammenführung zweier unterschiedlicher Volksstämme durch Krieg oder Okkupation. Dieser Zustand eines Ungleichgewichts zwischen einem herrschenden und einem beherrschten Stamm wird sich so lange erhalten können, so lange der herrschende Stand seine privilegierte Stellung durch eine höhere Bildung und „edlere Sitten“ behaupten kann und der beherrschte Stand in Sitte und Bildung zurückbleibt. Hält sich eine solche ständische Gesellschaftsordnung im natürlichen Gleichgewicht, wird die Regierung keinerlei Veranlassung sehen, sich in das Erziehungs- und Bildungssystem einzumischen. Die Notwendigkeit eines staatlichen Eingriffs ergibt sich erst in dem Moment, in dem sich entweder der unterworfene Stamm sukzessive dem herrschenden annähert, so dass er sich kaum noch in Sitte und Bildung vom herrschenden Stamm unterscheidet, oder der herrschende Stamm aufgrund seiner privilegierten Stellung in Trägheit und Arroganz verfällt und in Sitte und Bildung deutlich absinkt. Das in dieser Situation nicht mehr zu vermeidende Tätigwerden des Staates kann auf zweierlei Weise geschehen: Eine dem aristokratischen Prinzip verpflichtete Regierung wird alles daran setzen, die Bildungschancen des niederen Standes bewusst zu beschneiden, um auf „künstliche Art und Weise“ dem aristokratischen Stand, der ohnehin eifersüchtig über seine Privilegien wacht, seine angestammten Vorzüge zu erhalten. Dieses staatliche Vorgehen, das bewusst auf die Unterdrückung des unteren Standes und eine ungerechtfertigte Hebung des oberen setzt, bezeichnet Schleiermacher als den „zerstörenden Beruf des aristokratischen Staates in der Erziehung“, welcher durch das Inkaufnehmen einer Rivalität der beiden Stände entweder die vollständige Auflösung eines staatlichen Gemeinwesens oder gar revolutionäre Reaktionen provoziert.27 Die Absicht, die Schleiermacher verfolgt, ist offensichtlich. Unter dem Deckmantel historischer Betrachtung unterzieht Schleiermacher den bestehenden Staat und seine restaurative Bildungspolitik einer herben Kritik. Konservative und reaktionäre Kräfte sind dafür verantwortlich zu machen, dass die Beseitigung ständischer Bildungsprivilegien nur schleppend und halbherzig vorangetrieben und die dringend erforderliche Erweiterung und Verbesserung der Volksbildung unter dem Deckmantel der Menschenfreundlichkeit gänzlich vernachlässigt wird. Rhetorisch geschickt weist Schleiermacher nicht auf die Konsequenzen für das einzelne Individuum hin, sondern argumentiert mit dem Schaden, der dem Staat aus dieser verfehlten Bildungspolitik entsteht. Dem 27
Ebd., 283.
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Staat gehen auf diesem Wege nicht nur „taugliche Talente“ verloren, sondern es scheint die Regel zu sein, dass nur „mittelmäßig ausgestattete, untaugliche Individuen sich in den höheren Bildungskreis eindrängen.“ Dies sei, so Schleiermacher, offensichtlich auch Platons Motiv gewesen, die Erziehung völlig in die Hände des Staates zu legen, um „gegen das Verderben seiner vaterländischen Demokratien und Aristokratien“ vorzugehen, „deren jene mit demselben Eigensinn wie die Despotien oft ganz gemeine Menschen auf eine Stelle emporheben, die ihnen nie gebühren kann, die letzten aber die äußere Dignität noch festhalten wollen, wenn die innere längst erstorben ist und der herrschende Stamm seine ursprünglichen Vorzüge längst verloren“ hat.28 An das platonische Motiv anknüpfend, begrüßt Schleiermacher in dieser kritischen Situation des sozialen und politischen Umbruchs einen staatlichen Eingriff, knüpft die Staatstätigkeit jedoch an eine wichtige Bedingung. Nur dann nämlich wird sich dieser Eingriff als „heilsam“ erweisen, wenn sich der Staat „aus seiner Angehörigkeit zum oberen Stand“ bereits gelöst und sich dem demokratischen Prinzip verpflichtet hat. Dieser Staat wird unter Vermeidung revolutionärer Zustände, durch umsichtige politische Maßnahmen und durch eine umfassende Reform des Erziehungswesens die beiden Stände einander annähern und das Gemeininteresse gegen das Partikularinteresse der Aristokratie durchzusetzen suchen. Drittens: Eine dritte Möglichkeit der Staatsbildung sieht Schleiermacher darin, dass eine Vielzahl einzelner Volksstämme zu einem Ganzen zusammengefasst werden, so dass die einzelnen Volksstämme – verständlicherweise um ihr „eigentümliches Dasein“ bemüht – lediglich als eine „zusammengesetzte Vielheit“ erscheinen. Früher oder später wird dieser Zustand politische Probleme aufwerfen.29 Die Notwendigkeit wird sich aufdrängen, die politische und kulturelle Integration zu leisten, „die Vielheit in eine wahre Einheit umzuprägen, jedem organischen Teile das Gefühl des Ganzen lebendig einzubilden“,30 das Nationalgefühl durch Gemeingefühl zu ersetzen. Auch in dieser geschichtlichen Situation besteht die Notwendigkeit eines staatlichen Eingriffs in das Erziehungswesen, wenngleich Schleiermacher dieser legitimen Staatstätigkeit mit der Herausbildung einer größeren Nationaleinheit auch hier klare zeitliche Grenzen setzt.
28 29
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Ebd., 281; vgl. dazu W. Kersting: Platons Staat, Darmstadt 1999. Schleiermacher denkt hier vermutlich an die sich überaus schwierig gestaltende Integration okkupierter polnischer Gebiete. In seiner ‚Rezension Zöllner‘ (1805) kommt Schleiermacher auf dieses Problem zu sprechen; vgl. Schleiermacher: Rezension Zöllner, in: Texte zur Pädagogik, a.a.O. (Anm.5), 79–96. Ebd., 285.
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Es lässt sich an dieser Stelle folgendes Fazit ziehen: Schleiermacher attestiert dem Staat eine an bestimmte historisch-politische Bedingungen geknüpfte Berechtigung für Bildungsreformen in seinem Sinne, und zwar immer dann, wenn antagonistische gesellschaftliche Kräfte (ungleichberechtigte Stände) vereinigt oder miteinander harmonisiert werden müssen, oder wenn durch soziale und politische Integration aus einem Aggregat verschiedener Stämme ein organisches Ganzes gebildet werden muss. Schleiermachers Kritik der Staatspädagogik arbeitet auf diese Weise ihre Berechtigung, aber gleichzeitig auch ihre Begrenzung heraus. Ein absolutes Recht wird ihr bestritten: „Erziehung ist von Natur nicht das Geschäft der Regierung“,31 jedoch eine historisch bedingte Berechtigung eingeräumt. Schleiermachers Versuch, „die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ (Humboldt), läuft darauf hinaus, ihm jede Berechtigung zum Zugriff auf das Bildungswesen zu entziehen, die über die Herstellung gesellschaftlicher Gleichheit in Erziehung und durch Erziehung und über die Bildung eines politischen Gemeingeistes hinausgeht. Sind hingegen die rechtmäßigen Ziele der Staatspädagogik durch die gelungene Emanzipation der subalternen Stände und durch die Bildung einer „höheren Potenz der Gemeinschaft“ erreicht, wird das Erziehungswesen „unter den Betrieb und die Leitung des Volkes selbst gestellt“.32 Die Verantwortung für die öffentliche Erziehung wird dann vom Staat auf die kleineren politischen Einheiten der Kommunen übertragen, in denen die Bürger näher an den Entscheidungen über ihre eigenen Angelegenheiten beteiligt und entsprechend engagiert sind. Die Möglichkeit kommunaler Selbstverwaltung war durch die Städteverordnung von 1808 eröffnet worden. Diese sehr abstrakt formulierten Grundgedanken Schleiermachers lassen sich mit dem Blick auf die reale geschichtliche Situation seines bildungspolitischen Wirkens ein wenig konkretisieren. Schleiermacher sieht die Zeit seiner eigenen Wirksamkeit an der Reform des preußischen Unterrichtswesens als Phase eines solchen Übergangs, die aufgrund der politischen Verhältnisse das Eingreifen des Staates rechtfertigt: es braucht hier nicht ausführlich daran erinnert zu werden, dass die Steinschen Reformen darauf hinausliefen, ständische Privilegien zugunsten gleicher Freiheit aufzuheben. Schleiermacher hat damit auch seine eigene Wirksamkeit an der preußischen Bildungsreform legitimiert. Aber damit sind noch nicht alle Fragen beantwortet. Es stellen sich wenigstens noch die zwei folgenden: 31 32
Schleiermacher: Über den Beruf des Staates zur Erziehung, a.a.O. (Anm.5), 286. Ebd., 287.
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Wie ist die Zeit der pädagogischen Staatstätigkeit zu gestalten, dass trotz des zentralstaatlichen Einflusses die Initiative und Mitarbeit des aufgeschlossenen und dafür auch kompetenten Publikums nicht lahmgelegt, sondern im Gegenteil aktiviert wird? Die zweite Frage bezieht sich nicht auf das wie der Gestaltung, sondern auf den Zeitpunkt der allmählichen Beendigung der Staatstätigkeit. Die Frage „Wie werden wir aber von dem gegenwärtigen unvollkommenen Zustande zu einer besseren Organisation der Unterrichtsanstalten gelangen?“ und damit die Frage nach der konkreten Gestaltung der Bildungsreform wird nicht in der Akademieabhandlung ‚Über den Beruf des Staates zur Erziehung‘, sondern in der Pädagogikvorlesung von 1826 gestellt und beantwortet. Eine pädagogische Staatstätigkeit wird auch hier zunächst begrüßt, gewährt doch allein der Einfluss des Staates Stabilität und Kontinuität und damit die Möglichkeit eines an die bestehenden Verhältnisse anknüpfenden moderaten Fortschritts, wodurch „aller Verwirrung“ und sozialen Verunsicherung vorgebeugt werden kann. Pädagogische Reformsucht und ungezügelte Experimentierwut – Schleiermacher denkt hier vermutlich an die zahlreichen Schulversuche pädagogischer Aufklärer – sind für ihn untrügliche Zeichen einer „Unsicherheit“ in den pädagogischen Prinzipien, die nicht nur das Vertrauen in die Politik des Staates erschüttert, sondern die auch die pädagogische Praxis in einem Zustand der Orientierungslosigkeit belässt. Den „revolutionären Charakter“ des Erziehungswesens deutet Schleiermacher als untrügliches Indiz für den zunehmenden kulturellen und sittlichen Verfall einer Gesellschaft.33 Einer alle bestehenden und teilweise auch bewährten Strukturen auflösenden Reformwut gilt es ebenso Einhalt zu gebieten wie einem zu dominanten Einfluss des Staates auf das öffentliche Bildungswesen, der zwangsläufig zur Deaktivierung der Beteiligten und zur Lähmung jeder Eigeninitiative und Spontaneität führen muss. Stabilität und Kontinuität einerseits, Reform und Fortschritt andererseits, sind dann in ein rechtes Verhältnis gesetzt, wenn sich der Staat zwar des Erziehungswesens annimmt, dessen fortschreitende innovative Entwicklung jedoch nicht hemmt, sondern zu seinem eigenen Anliegen macht.34 Einen möglichen Anknüpfungspunkt für die weitere Reform und Umgestaltung des Unterrichtswesens unter staatlicher Aufsicht und Kontrolle sieht Schleiermacher, trotz seiner Vorbehalte gegenüber Reformversuchen und pädagogischen Experimenten, in der scheinbar paradoxen Gründung privater Schulen. So erachtet er es als durchaus wünschenswert, dass der Staat private Initiativen befördert, die korri33 34
Pädagogikvorlesung 1820, a.a.O. (Anm.20), 356. Pädagogikvorlesung 1826, a.a.O. (Anm.20), 367.
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gierende und inspirierende Wirkung „alternativer“ Schulen auf das staatliche Unterrichtswesen nicht als Gefährdung, sondern als notwendige Bereicherung ansieht und dadurch die Möglichkeit eröffnet, die Staatsschulen „von dem, was ihnen noch von altersher Schlechtes anklebt“, zu reinigen.35 In der Gründung freier Schulen, die den Lehrern den Freiraum gewähren, mit Erziehungs- und Unterrichtsmethoden zu experimentieren, sieht Schleiermacher einen erfolgversprechenden Versuch, gegen eine bürokratische Überfrachtung der Schule den Geist des Fortschritts und der Innovation im staatlichen Bildungssystem lebendig zu halten und einem sich zunehmend professionalisierenden Lehrerstand die Entwicklung eines kritischen Selbstbewusstseins zu ermöglichen. Diese Schulen sollen sich allerdings mit der Zeit selbst zu öffentlichen Anstalten unter Leitung und Pflege der Kommunen umgestalten, so dass sich reformpädagogische Ansätze in eine institutionalisierte „Normalpädagogik“ transformieren.36 Ein weiteres und entscheidendes Mittel zur Sicherung des Einflusses pädagogischer Reflexion und einer gebildeten kritischen Öffentlichkeit auf bildungspolitische Entscheidungen sieht Schleiermacher in der von Humboldt initiierten Gründung wissenschaftlicher Deputationen, die als vermittelnde Instanzen zwischen staatliche Administration, wissenschaftliche Reflexion und engagierte Öffentlichkeit treten. Auf Veranlassung Wilhelm v. Humboldts wird Schleiermacher am 26. März 1810 zum Direktor der Wissenschaftlichen Deputation zu Berlin ernannt.37 Die Motive, die zur Gründung der wissenschaftlichen Deputationen in Berlin, Königsberg und Breslau führten, zeugen von dem auf eine liberale Selbstverwaltung setzenden Reformwillens Steins und Humboldts. Beide erhoffen sich von den Deputationen die Sicherung einer engen Zusammenarbeit von staatlicher Administration und Wissenschaft sowie die Gegenwirkung gegen einen starren Bürokratismus. Zu den von der Sektion für Unterricht und Kultur an die Deputationen übertragenen Aufgaben gehörte unter anderem die Prüfung neuer Unterrichtsmethoden, der Entwurf von Lehrplänen und die Unterbreitung von Vorschlägen zur Stellenbesetzung. Es gehörte auch zu ihren Aufga-
35 36 37
Ebd., 369/370. Vgl. dazu den Ansatz reformpädagogischer Geschichtsschreibung von Benner u. Kemper: Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, a.a.O. (Anm. 12), 26f. Vgl. hierzu F. Kade: Schleiermachers Anteil an der Entwicklung des preußischen Bildungswesens von 1808–1818, Leipzig 1925, 45. Unter Schleiermachers Leitung entfaltete die Deputation, so Kade, „eine regelmäßige und wirkungsvolle Tätigkeit. Unter seinem Direktorat arbeitete sie im Geiste Humboldts und sicherte sich durch ihre erfolgreiche Mitarbeit am allgemeinen Schulplan ihre historische Bedeutung.“ Ich beziehe mich im folgenden auf die umfangreichen Studien Kades zum Einfluss Schleiermachers auf das preußische Bildungswesen, 46ff.
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ben, Reformvorschläge aus dem Publikum entgegenzunehmen und der Sektion mögliche Verbesserungsvorschläge vorzulegen. Interessanterweise wird den wissenschaftlichen Deputationen eine kritische Funktion gegenüber der Sektion eingeräumt. Die Deputationen seien, so hebt Süvern ausdrücklich hervor, gleichsam eine „wissenschaftliche Kontrollbehörde für die Sektion“, welche „die Wirklichkeit beständig an dem höheren Ideal der reinen Theorie messen und darnach das von der Sektion befolgte Bildungssystem kritisieren solle.“38 Süvern reformuliert in diesem Zusammenhang erneut den Gedanken, dass das interessierte Engagement der Bürgerschaft am Schulwesen nur dann geweckt und erhalten werden kann, wenn die Möglichkeit gesehen wird, einen entscheidenden Einfluss auf schulpolitische Entscheidungen auszuüben. Ist das Interesse und Engagement der bürgerlichen Gesellschaft erst einmal geweckt, so wirkt sie „weniger unterbrochen und gleichmäßiger, als Staatsbehörden es tun können, die weit mehr dem Wechsel der Personen und Grundsätze und dem Einflusse politischer Ereignisse unterworfen sind.“39 Ganz im Sinne der von Schleiermacher, Humboldt und Süvern betriebenen liberalen Bildungspolitik stellt der von der wissenschaftlichen Deputation erarbeitete Entwurf ‚Zur allgemeinen Errichtung der gelehrten Schulen‘ (1810) klar heraus, dass er nicht im Sinne einer normierenden Einschränkung für die individuelle Entwicklung der Schulen und der freien selbstverantwortlichen pädagogischen Arbeit der Lehrer verstanden werden will, sondern vielmehr als Anknüpfungspunkt für eine „rege und lebendige Wechselwirkung zwischen den Behörden und den gelehrten Schulen“ dienen soll.40 Im Schlusskapitel dieser Schrift heißt es: „Sie kann aber nicht schließen, ohne noch einmal daran zu erinnern, daß ein jetzt entworfener Plan nichts auf lange Zeit Gültiges sein kann, und ist so frei, damit einen Vorschlag zu verbinden, wie zur schnelleren Beförderung des Guten eine lebendige Gemeinschaft aller pädagogischen Einsichten unter uns könnte gestiftet werden.“41 Die von der Gesetzgebungskommission 1810 erlassene ‚Vorläufige Instruktion‘ erstrebte alles andere als eine politische Umsetzung der großen Ideen Steins, Humboldts und Süverns. Der von Humboldt und Schleiermacher gleichermaßen getragene Versuch, politische und pädagogische Tätigkeit, staatliche Administration und wissenschaftliche Kritik in ein fruchtbares und konstruktives Gespräch zu bringen, schei38 39 40 41
Ebd., 46. Siehe auch E. Spranger: Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens, Berlin 1910, 122. F. Kade: Schleiermachers Anteil an der Entwicklung des preußischen Bildungswesens, a.a.O. (Anm.37), 102. Ebd., 59. Ebd., 60.
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terte am reaktionären Widerstand Schuckmanns. Eine Kabinettsorder vom 19. Dezember 1816 ersetzte die wissenschaftlichen Deputationen durch „wissenschaftliche“ Prüfungskommissionen, für welche die Mitarbeit Schleiermachers nicht mehr erwünscht ist. Wenden wir uns nun der zweiten Frage nach dem geeigneten Zeitpunkt für die Transformation der Staatspädagogik in kommunale und von engagierten Privatpersonen ausgehende Bildungsinitiativen zu. Schleiermacher kann zwar die Übergabe der Verantwortung für das Bildungswesen nicht exakt terminieren, er bindet sie aber an die folgende Voraussetzung: Der Verlauf der Französischen Revolution hatte auf eindrucksvolle Weise vor Augen geführt, dass ein liberales und demokratisches Staatswesen sowohl aufgeklärter und mündiger Bürger als auch einer politischen Öffentlichkeit bedarf, in der sich auf dem Wege der diskursiven Verständigung ein gewisser Konsens über entscheidende Fragen der Gestaltung des Gemeinwesens und des Erziehungs- und Bildungswesens herauskristallisiert hat. Schleiermacher versucht selbst mit seinen Vorlesungen zur Pädagogik aus dem Jahre 1826 in diesen Prozess der Formierung eines öffentlichen Willens einzugreifen, wenn er gleich zu Beginn seiner Vorlesung die überraschende Frage stellt: „Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren? Wie wird die Tätigkeit dem Zweck, wie das Resultat der Tätigkeit entsprechen?“42 Eine gebildete und liberale, um die rationale Klärung politischpraktischer Fragen bemühte Öffentlichkeit setzt Schleiermacher bewusst in Opposition gegen eine als „Geheimpraxis“ des absolutistischen Staates empfundene Politik.43 Der Staat kann die Verantwortung für das Bildungswesen in dem Moment an das Volk übergeben, in dem der von einer breiten Öffentlichkeit getragene Konsens in bezug auf die entscheidenden Fragen der Erziehung und Bildung dem öffentlichen Bildungswesen anstelle der staatlichen Gewalt Stabilität und Kontinuität zu gewährleisten vermag. Die Etablierung einer solchen an aktuellen politischen, kulturellen und sozialen Fragen interessierten Öffentlichkeit sieht Schleiermacher in England bereits idealtypisch realisiert. In seinen Vorlesungen zur Pädagogik aus dem Jahre 1826 spricht er von dem in England anzutreffenden regen öffentlichen Leben, das eine „lebendige Zirkulation der Einsichten und Gesinnung“ erlaubt, so dass jeder Bürger in der Lage ist, sich eine Anschauung von den aktuellen Problemen und Fragen zu bilden. Schleiermacher schließt daraus: „Je mehr es unter einem Volk 42 43
Pädagogikvorlesung 1826, a.a.O. (Anm.20), 9. Vgl. dazu J. Habermas: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Neuwied 1963, 11.
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ein öffentliches Leben gibt, das ein lautes Zeugnis ablegt, wie es um die Gesinnung und den Bildungsstand steht, um so mehr wird die Regierung in Beziehung auf das Erziehungssystem sich passiv verhalten können.“44 Wo sich jedoch ein solcher öffentlicher Diskurs aufgrund der politischen Verhältnisse oder mangelnder politischer Bildung noch nicht ausbilden konnte und das Bürgertum daher nach wie vor in einer ignoranten Passivität verharrt, da muss die Regierung auf unmittelbare Weise auf die Erziehung einwirken. Wo jedoch eine solche bürgerliche Öffentlichkeit bereits existiert, da kann die Aufsicht über die Erziehung in die Hände der „Bürgerinitiative“ zurückgegeben werden. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird Schleiermachers Engagement für eine umfassende Reform der Volksbildung verständlich. Seine Vorschläge zu einer Hebung und Verbesserung der Volksbildung zielen auf eine die produktive und innovative Teilnahme am öffentlich-politischen Leben vorbereitende und ermöglichende Allgemeinbildung, die Schleiermacher der beruflichen Qualifikation voranstellt. Schleiermachers Vorstellung, dass der Heranwachsende durch die Schulbildung in den „vollständigen Genuß“ seiner persönlichen und politischen Selbständigkeit gelangen soll, führt bereits in den Volksschulen über die Vermittlung elementarer Lese- und Schreibkompetenzen hinaus zu einer beachtlichen Erweiterung des Unterrichtsstoffes. Zweckmäßige Unterrichtsmethoden sollen eine umfassende Allgemeinbildung bzw. eine von ausnahmslos allen zu durchlaufende Elementarbildung ermöglichen, die den Schülern sowohl einen „klaren sicheren Überblick über die Natur“ als auch eine „vollständige Einsicht in die Lebensverhältnisse“ gewinnen lässt.45 Eine Ausweitung der naturwissenschaftlichen Fächer, allen voran Mathematik und Naturkunde, ist schon aufgrund der rasanten Fortschritte der modernen Naturwissenschaften und der damit einhergehenden wirtschaftlichen Umwälzungen nicht zu umgehen. Ein Verständnis der politischen und sozialen Verhältnisse und die Möglichkeit einer gestaltenden Einflussnahme sollen durch den Geschichtsunterricht und eine fundierte politische Bildung sichergestellt werden. Der Geschichtsunterricht eröffnet ein klares Bewusstsein von den historischen Zusammenhängen und der politischen Situation der Gegenwart. „Der Mensch ohne alles Gedächtnis nur in der Gegenwart lebend“, so Schleiermachers Argument, „verrät eine Armut des Geistes, welche keine Verstandesbildung aufkommen läßt; in Stumpfsinnigkeit wird dann
44 45
Pädagogikvorlesung 1826, a.a.O. (Anm.20), 121. Ebd., 280.
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das Leben geführt und beschlossen.“46 Fundierte Kenntnisse der Rechtsverhältnisse bilden die Grundlage für ein politisch selbstbestimmtes und verantwortungsvolles Handeln. Das öffentliche Schulwesen steht dabei im Dienst der zunehmenden Demokratisierung der Gesellschaft, indem es durch politische Aufklärung an der Relativierung des Gegensatzes zwischen „Leitenden“ und „Geleiteten“ arbeitet. Der demokratische Gedanke verlangt, dass die Staatsbürger durch ihren politischen Willen regiert und nicht durch Empfindungen wie Hoffnung und Furcht in einem unmündigen und knechtischen Zustand gehalten werden. Schleiermacher kritisiert daher die unter dem Deckmantel der Menschenfreundlichkeit betriebene reaktionäre politische Opposition gegen eine Hebung der Volksschulbildung. „Nichts, was wirklich zu erreichen möglich ist“, so Schleiermacher, „soll um deswillen nicht geleistet werden, damit nur die Differenz zwischen den Leitenden und Geleiteten in einer gewissen Spannung bleibe oder gar sich steigere.“47 Die allgemeine geistige Bildung des Menschen und die Möglichkeit der Einflussnahme auf den öffentlichen Prozess der politischen Meinungsbildung bindet Schleiermacher an eine bereits in der Volksschule anzusiedelnde fundierte Sprachbildung. In einem demokratischen Staatswesen kann der politische Einfluss nur in Form gemeinsamer Beratung und argumentierender Rede ausgeübt werden. In seinen Vorlesungen zur Pädagogik von 1826 formuliert Schleiermacher seine Besorgnis darüber, dass es zwar nicht an politisch verständigen Menschen fehle, die durchaus in der Lage seien, die Staatsgeschäfte zu führen, wohl aber an Politikern, „die nur einigermaßen das Geschick hätten, in den öffentlichen Verhandlungen zu reden.“48 Eine ungezügelte Leidenschaftlichkeit und völlige Ungeübtheit im Umgang mit der Sprache sind dafür verantwortlich, dass die öffentliche Diskussion divergierender Meinungen „kein genügendes Resultat“ hervorbringen werde. Schleiermacher erkennt den engen Zusammenhang von Demokratie und Rhetorik und fordert daher eine gründliche Sprachbildung, die von elementaren Übungen der Sprachfertigkeit in den Volksschulen zu einer „Virtuosität“ in der freien Rede führen soll. Die rhetorische Bildung folgt dabei einer stufenweisen Entwicklung, die von dem richtigen Verständnis einer Gedankenreihe und dem schnellen Erfassen des Wesentlichen zu der Fähigkeit führt, die eigenen Gedanken über einen Sachverhalt in klarer und geordneter Weise vorzutragen. Analytisches und kombinatorisches Geschick und entwickelte Kritikfähigkeit dargebote46 47 48
Ebd., 274. Ebd., 269. Pädagogikvorlesung 1826, a.a.O. (Anm.20), 330.
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ner Argumente komplementieren den sprachlichen Unterricht. Schleiermacher bedient sich zur Stärkung einer rhetorischen Bildung in der Schule traditioneller Argumente der rhetorischen Tradition. Nicht nur zeigt er die enge Verbindung von ratio und oratio, von Vernunft und Sprache, sondern er weist darauf hin, dass selbst die trefflichste Einsicht und das beste Argument ohne eine sowohl entsprechende als auch ansprechende sprachliche Darstellung unwirksam bleiben. Die Unfähigkeit, seine Gedanken zu einem Sachverhalt geordnet und klar zu formulieren, sei ein Mangel an Bildung, der eine öffentliche Wirksamkeit nahezu unmöglich macht.49 Das Scheitern der Reformideen Steins, Humboldts, Schleiermachers und Süverns führt nur allzu deutlich vor Augen, dass die Interessen der Pädagogen und des sich zunehmend emanzipierenden Bürgertums mit der restaurativen Bildungspolitik des Staates nicht in Einklang zu bringen sind. Gegenaufklärerische, feudal-konservative Kräfte vereiteln die liberalen Reformbestrebungen. Die kritischen Stimmen, welchen Schleiermacher in seiner Akademieabhandlung ‚Über den Beruf des Staates zur Erziehung‘ Gehör verschaffen will, bleiben zwar nicht ungehört, aber doch ohne politische Konsequenzen und können die Entwicklung zu einer „von keiner wissenschaftlichen Erwägung oder Kritik zu tangierenden Staatspädagogik“50 nicht aufhalten. Gegenüber diesen politischen Entwicklungen bleibt auch Schleiermachers Hinweis wirkungslos, dass die Entscheidungsgewalt über Fragen der Erziehung und Bildung vernünftigerweise in den Händen derer liegen müsse, „die auf einem wissenschaftlichen Standpunkt stehen“, da sich allein ihnen „das Gebiet der Geschichte eröffnet“, so dass sie mit sicherem Urteil „das Bleibende und das Unvollkommene zu unterscheiden“ wissen und durch ihre entwickelte Urteilskraft und ihren kritischen Geist zu einer aller politischen Parteilichkeit enthobenen „wahrhaft liberalen Ansicht des Lebens“ gelangen können.“51 Ein Hinweis, den es vielleicht auch heute erneut zu überdenken gilt.
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Ebd., 336. Vgl. hierzu C. Menze: Staat und Schule, a.a.O. (Anm.8), 202–216. Pädagogikvorlesung 1820/21, in: Friedrich Schleiermacher. Texte zur Pädagogik, kommentierte Studienausgabe, Bd.1, hg. v. M. Winkler und J. Brachmann, Frankfurt/M. 2000, 355.
Kultur
Schleiermachers Beitrag zur preußischen Erziehungsreform VON MICHAEL WINKLER/JENA
Historiographisch eröffnet die Frage nach Schleiermachers Beitrag zur preußischen Erziehungsreform kaum mehr interessante Perspektiven; die Forschungslage stellt sich nämlich als einigermaßen übersichtlich dar. Abgesehen von der im Titel durch den Ausdruck ‚Erziehung‘ anstelle des vertrauten der ‚Bildung‘ schon vorgenommenen Akzentsetzung, muss das Thema wohl anders angegangen werden. Es verlangt einen eher systematischen Zugang, der zunächst aufzeigt, wie Schleiermacher Probleme von Erziehung und Bildung insbesondere im Kontext einer Gesellschaft und ihrer Kultur identifiziert und theoretisch reflektiert hat, dann aber deutlich macht, dass diese, seine Denkleistung mehr als epochal gewesen ist und darin weiter reicht, bis in unsere Gegenwart hinein. Denn dies bildet den entscheidenden, zugleich allerdings irritierenden Befund: Schleiermachers Theorieangebot zeichnet eine überraschende Aktualität aus. Dies trifft sogar gegenwärtig mehr denn je zu, übrigens noch in den Punkten, in welchem man ihm nicht unbedingt folgen will. Als Beispiel wäre zu nennen, dass er im Rückgriff auf die Formen klassischer Universitätsorganisation für gestufte Studiengänge argumentiert; dem grundlegenden, Denkvermögen erst initiierendem, mit scholaren Wissensbeständen angereichertem Studium an der philosophischen Fakultät habe dann das in den Berufsfakultäten zu folgen. Schlimmer noch als das – zumindest im Blick auf gegenwärtig geführte Debatten: Er begreift das Studium an der Universität als Schule, während die wissenschaftliche Tätigkeit in einem strengen Sinne an den Akademien zu erfolgen habe, welche er als wissenschaftliche Eliteeinrichtungen konzipiert, die mit Erziehung und Ausbildung nichts mehr zu tun haben. Schleiermacher verfolgt also nicht unbedingt das Prinzip einer Einheit von Lehre und Forschung. Dennoch: Sein Theorieangebot gewinnt in diesen Tagen, angesichts der Auseinandersetzungen um die Gestaltung des bundesdeutschen Bildungswesens, allzumal angesichts einer Veränderung der Hochschulen, selbst angesichts des eben neu aufflammenden Streits um die politischen Zuständigkeiten für die Organisation von pädagogischen Ange-
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boten eine Gegenwartsnähe, die alles übertrifft, was in den letzten Jahrzehnten der Auseinandersetzung mit Schleiermacher an Beobachtungen zur Modernität und Aktualität seines Denkens gesagt worden ist. Manches liest sich, als wäre es buchstäblich gestern geschrieben, bei vielem wünscht man sich, es morgen in den Zeitungen zu lesen oder in den Nachrichten zu hören. Diese Beobachtung aber und der Befund einer frappierenden Aktualität müssen irritieren und sollten einen gedanklichen Vorbehalt provozieren. Denn die Auseinandersetzung mit Schleiermachers pädagogischem Denken darf die historische Distanz nicht aus den Augen verlieren und sich von der Aktualität wie Modernität seiner Zeitdiagnosen verführen und überwältigen lassen. Sie muss geradezu künstlich und wider die Faszination des von ihm Begriffenen erst einmal die empirische Faktizität der Vergangenheit sich wieder vor Augen stellen, ehe sie seine Überlegungen in gegenwartsdiagnostischer Absicht oder gar als Mittel der Kritik jüngerer Entwicklungen aufgreifen darf. Damit ist kurz der Aufbau der folgenden Überlegungen schon angedeutet: Sie skizzieren in einem ersten Teil den historischen Zusammenhang und nennen gleichsam die rohen Daten, ehe ein zweiter Abschnitt diese in der Schleiermacherschen Problemsicht analysiert. Er will die Intentionen seines Zugangs deutlich machen, wobei ein Schwerpunkt auf das Verhältnis von Staat und Bildungssystem gelegt wird, wie Schleiermacher es entworfen hat. Ein dritter Teil bearbeitet dann, was als entscheidend und zukunftsweisend geltend kann, nämlich sein Verständnis des pädagogischen Geschehens im gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhang.
1. Um der Distanzierung willen stehen die Fakten und der Kontext seines bildungspolitischen Einsatzes am Anfang. Die historischen Grunddaten lassen sich schnell berichten, es gibt zu ihnen keinen nennenswert neuen Forschungsstand, der über die Einsicht Diltheys hinausweisen würde, nach welcher Schleiermacher in der Mitte aller Bestrebungen seiner Generation gestanden habe. Er ist eine Zentralfigur der politischen und pädagogischen Reform zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Preußen, wobei die Wege seiner Wirkung kaum mehr präzise zu rekonstruieren sind, weil diese sich eher implizit, hinter- und untergründig vollzieht. Dabei ist sein unmittelbar bildungspolitisches Engagement in dem knappen Jahrzehnt der preußischen Reformzeit hinreichend be-
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kannt, Franz Kade hat es in seiner Untersuchung von 1925 dargestellt,1 jüngere Arbeiten etwa zu Schleiermachers Tätigkeit an der Berliner Universität schließen daran an:2 Von 1810 bis 1815 wirkt Schleiermacher als Mitglied in der Sektion für den öffentlichen Unterricht, fast zwei Jahre, nämlich 1810 und 1811, leitet er als Direktor die wissenschaftliche Deputation in Berlin, mithin die beratende Körperschaft der staatlichen Unterrichtsverwaltung und Prüfungsbehörde. Ebenfalls 1810 ist er Mitglied der Sonderkommission der Berliner Universität und 1811 Referent für das Seminarwesen der Kurmark. Mit Humboldt legt er die Grundlagen für den Neuaufbau des pädagogischen Systems3 – wobei er im Unterschied zu Humboldt das Problem und den Sachverhalt der Erziehung in den Vordergrund rückt, das Thema Bildung eher vorsichtig betrachtet. Sein Einfluss auf die Lehrplangestaltung ist immens, wobei nicht zuletzt auffällt, welch hohes Gewicht er der Mathematik und den Realia zumisst.4 Schon deutlich früher wird Schleiermacher mit seinen Schriften in der Öffentlichkeit präsent, die systematisch gesehen in einer Auseinandersetzung mit der Aufklärungspädagogik einsetzen, die ihm vertraut gewesen ist:5 Noch unter dem Eindruck seiner Hauslehrertätigkeit, im Zusammenhang des Eintritt in Gedikes Seminar entsteht – 1793 – die Schrift ‚Über den Geschichtsunterricht‘, welche formal schon die Gliederung späterer einschlägiger Abhandlungen aufnimmt. ‚Über die Bildung zur Religion‘ kann als einschlägiger Traktat gesehen werden, doch machen ihn vor allem seine Rezensionen zu Campes ‚Historischem Bilderbüchlein‘, zu Schelling und zu Zöllners ‚Ideen über Nationalerziehung‘ als pädagogisch interessierten Autor und Kritiker bekannt, zumal die beiden letzten in der Jenaer Allgemeinen Literaturzeitung erscheinen. Sie sind eingebettet in eine offensichtlich umfangreiche Lektüre, in der Schleiermacher die zeitgenössischen Debatten so weit aufnimmt, 1 2
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Vgl. Franz Kade: Schleiermachers Anteil an der Entwicklung des preußischen Bildungswesens von 1808–1818, Leipzig 1925. Vgl. Jens Brachmann: Friedrich Schleiermacher. Ein pädagogisches Porträt, Weinheim 2002; Christoph Lüth: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Zur Grundlegung der modernen Pädagogik, in: Pädagogik Unter den Linden. Von der Gründung der Berliner Universität im Jahre 1810 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, hg. v. KlausPeter Horn, Heidemarie Kemnitz, Stuttgart 2002, 37–62; Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution, Stuttgart 1987. Vgl. Clemens Menze: Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts, Hannover u.a. 1975. Vgl. Ingrid Lohmann: Lehrplan und Allgemeinbildung in Preussen. Eine Fallstudie zur Lehrplantheorie F.E.D. Schleiermachers, Frankfurt/M. 1984. Vgl. Brachmann in diesem Band; Christoph Lüth: Schleiermachers Kritik an der Pädagogik der Aufklärung – eine Überwindung der Aufklärungspädagogik?, in: Moral Philosophy and Education in the Enlightenment, hg. v. Dieter Jedan, Christoph Lüth, Bochum 2001.
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dass er die Rezension wichtiger pädagogisch-prinzipientheoretisch relevanter Arbeiten zusagen kann – obwohl es dazu dann doch nicht kommt. Spätestens mit den Jahren 1807 und 1808 profiliert er sich als streitbarer Beiträger zur Universitätsdebatte, allzumal mit seinen ‚Gelegentlichen Gedanken über Universitäten im deutschen Sinne‘, mit welchen er direkt in die Auseinandersetzungen eingreift, zugleich einen der von nun an verbindlichen, aber auch umstrittenen Texte zur Reform der Universitäten vorlegt.6 Aus dem Kontext seiner institutionellen Tätigkeit entstehen ab 1810 eine Reihe von Gutachten, die zum Teil unmittelbar in das Verwaltungshandeln eingehen. Den Abschluss dieser Phase bildet das Votum zu Süverns Gesamtinstruktion von 1814, die nach einer ihm folgenden Überarbeitung einen Denkhorizont markiert, aber politisch nicht umgesetzt wurde. Man muss diesen Text zugleich als Hintergrund für die ebenfalls 1814 erschienene Abhandlung ‚Über den Beruf des Staates zur Erziehung‘ lesen, wie zugleich die Vorarbeiten wohl in die Vorlesungen über Pädagogik von 1813/14 eingegangen sind. Kaum ermessen lässt sich endlich die von Schleiermachers Vortrag ausgehende Wirkung im pädagogischen und bildungspolitischen Feld; die Kommunikationsprozesse lassen sich nur schwer rekonstruieren, doch muss er einen außerordentlichen Einfluss ausgeübt haben, wenngleich sublim und subkutan. Das gilt für beide Vortragszusammenhänge, in welchen er tätig war, nämlich zum einen durch die Vorlesungen zunächst in der Universität, dann in der Akademie, welche durch ihre Methodik einen bis heute kaum ausgemessenen Kreis an Hörenden beeinflusst haben. (Allein schon die Spuren in der pädagogischen Theoriebildung sind beachtlich. Neben Diesterweg und Wichern ist ganz offensichtlich auch Friedrich Fröbel durch Schleiermacher in seinem Denken beeinflusst worden, wie sich nicht zuletzt etwa in Fröbels Hauptwerk „Menschenerziehung“ nachweisen lässt.) Die unmerkliche Einübung in ein wissenschaftliches Denken, das eben nicht dogmatisch, sondern von den erkennbaren und zugänglichen Extrempunkten her erfolgt, konnte zwar – notwendigerweise – keine wissenschaftliche Schule begründen; auch wenn Schleiermacher sein Wissen systematisch geordnet hat, folgte seine Lehre keinem dann dogmatischen System, sondern zeigte am Material und über dieses sprechend, wie es reflexiv zugänglich werden konnte. Zum anderen ging die Wirkung von seinen Predigten aus, die als das zentrale Medium für sein Denken gesehen werden. Man übertreibt nicht, wenn man ihnen eine mentalitätsbildende Funktion zuspricht. In pädagogischer Hinsicht ist dies schon da6
Vgl. Gelegentliche Gedanken über Universitäten von Engel, Erhard, Wolf, Fichte, Schleiermacher, Savigny, v. Humboldt, Hegel, hg. v. Ernst Müller, Leipzig 1990.
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durch gegeben, dass er einschlägige Themen in ungewöhnlicher Breite verhandelt, nämlich in der Konkretion, wie sie beispielsweise in den Predigten über Christliche Kinderzucht zu Tage tritt – ohne dass er übrigens in irgendeiner Weise der Trivialität eines normativ angelegten Ratgebers verfällt. Noch mehr gilt dies, weil er in diesen seine Wahrnehmung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in einer Weise deutlich macht, welche ihm das Prädikat des fortschrittlichen Erziehungsreformers eingebracht hat.7 Viel zitiert ist die berühmte Predigt vom 24. Jänner 1808 „über die rechte Verehrung gegen das einheimische große aus einer früheren Zeit“, die ein ganzes politisches Programm verkündet, gipfelnd in der Empfehlung, dass man nicht „durch jene verfehlte Anhänglichkeit an das vergangene zurückgehalten“ werden dürfe, „dasjenige nicht gern und willig zu thun, was der gegenwärtige Zustand der Dinge von uns fordert“.8 Schon in den ‚Reden‘ hatte er eine scharfe Diagnose der gegebenen Zustände formuliert, hier nun nimmt er eine harte Abrechnung mit den feudalen Verhältnissen und der in ihnen gegebenen Ungerechtigkeit vor, die in die Forderung mündet, „dass alle Bürger gleich sein müssten vor dem Gesez“.9 Es geht ihm um Aufklärung, um Fortschritt hin zu einer bürgerlichen Gesellschaft, die diesen Namen verdient, nicht bloß formal, sondern auf richtige Einsichten gestützt. Man muss den „Sinn für Wahrheit […] erwekken, das Vermögen der Erkenntnis […] stärken und […] beleben!“10 Auf ungewöhnliche Weise verbindet dieses Bildungsprogramm Vorstellungen zum rechtlichen und sozialen Status der Beteiligten mit der Frage nach der eigenen Legitimität von Erkenntnis. Zugleich deutet sich an, wie der politischen und sozialen (zudem kulturellen) Lage die Eindeutigkeit fehlt. Schleiermacher sieht sich – das zeigt sich an vielen Stellen – nicht frei von Skepsis gegenüber den Exzessen der französischen Revolution, welche seine grundsätzliche Sympathie für das Geschehen deutlich mindern,11 ohne die grundlegende Absicht einer Entwicklung zu einer bürgerlichen freien Gesellschaft zu mindern. Das eine Problem stellt sich mithin in einer dramatischen Erfahrung eines kulturellen Bruchs dar, der weder ignoriert werden darf, noch sich einfach überwinden lässt. Allzumal für das Verständnis pädagogischer Pro7 8 9 10 11
Heinz Schuffenhauer: Der fortschrittliche Gehalt der Pädagogik Schleiermachers, Berlin 1956. Friedrich Schleiermacher: Predigt vom 24. Jän. 1808, in: Friedrich Schleiermachers Sämmtliche Werke. Zweite Abteilung, Bd.1, Berlin 1834, 368. Schleiermacher Predigt vom 24. Jän. 1808, 374. Ebd., 375. Vgl. Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, in: Friedrich Schleiermacher Schriften aus der Berliner Zeit 1796–1799, KGA I/2, hg. V. G. Meckenstock, Berlin/New York 1983.
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zesse ist dies maßgeblich, weil so Erziehung in einem geradezu luftleeren Raum, sozial und kulturell ungeerdet erscheint, hinzu kommt, dass er sich – wie er 1806 an Reimer schreibt – gar nicht sicher ist, ob die Erschütterungen tief genug greifen, um die „Trennung des einzelnen vom Staat und der Gebildeten von der Masse“ zu überwinden.12 Die nationale Zersplitterung ist zu groß. Daher fehlen eine gemeinsame Sprache, ein gemeinsamer Sinn, aus welchen heraus eben nicht nur eine Gesellschaft erst entstehen könnten, sondern – wie sich gleich zeigen wird – Erziehung überhaupt erst möglich wird. Es bedarf also, so die Vermutung, möglicherweise einer geradezu usurpatorischen Kraft der Einigung, eines äußeren Zwangs, mithin – systematisch gesehen – eines staatlichen Handelns, das einen solchen sittlichen Zusammenhang herstellt – fast willkürlich, weil ihm eben die Grundlagen fehlen müssen.13 Nur tritt hier das andere Problem auf, das aus der Erfahrung der Napoleonischen Besetzung entsteht: In dieser und mit ihr tritt ein solcher Zwang auf. Er überwindet zwar die Enge und Beschränktheit der historisch gegebenen Verhältnisse, ohne jedoch eine bürgerliche Freiheit zu gewähren – wie sie Schleiermacher noch biographisch durch die Herrnhuter Gemeinde doch wichtig geworden ist. Sein kaum verklausuliertes Urteil über das napoleonische Bildungswesen spricht Bände.14 Eine Bildungsreform sieht für ihn anders aus. Schleiermacher ist sich im Klaren darüber, dass sie von einem Primat der Freiheit auszugehen hat.
2. Schleiermachers Grundvorstellungen zur Gestaltung des – um es zwar ungewöhnlich, aber bewusst vorsichtig so zu benennen – pädagogischen Systems sind erstaunlich konsistent. Schon 1805 sind seine theoretischen Grundpositionen deutlich zu identifizieren, in ihrer Systematik verändern sie sich kaum mehr, sie sind vielmehr in den späteren Entwürfen sowohl der Staatslehre wie der Pädagogik unschwer erneut auszumachen. Skizzieren lassen sie sich mit Bezug zunächst auf seine Rezension zu Zöllners Nationalerziehungsplan, dann vor allem anhand der systematischen Abhandlung über den ‚Beruf des Staates zur Erziehung‘.
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Friedrich Schleiermacher: Brief an G. Reimer, Nov. 1806, in: Briefe Schleiermachers. Ausgewählt und eingel. v. Hermann Mulert, Berlin 1923, 232. Vgl. Friedrich Schleiermacher: Über den Beruf des Staates zur Erziehung, in: Friedrich Schleiermacher. Texte zur Pädagogik, hg. v. M. Winkler u. J. Brachmann, Bd.1, Frankfurt/M. 2000, 276–280. Ebd., 274.
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Terminologisch fällt ins Auge, dass er systematisch stets das Problem und den Sachverhalt der Erziehung in den Mittelpunkt stellt.15 Man kann geradezu von einer spezifischen Differenz sprechen, die sein Denken gegenüber seinen Zeitgenossen auszeichnet, auch und besonders gegenüber jenen, mit welchen er in engerem Kontakt steht. Schleiermacher ist – auch wenn dies als dezidierter Befund überrascht – kein Bildungstheoretiker. Genauer: er verzichtet zwar nicht auf den Begriff, versteht diesen aber weder als systembildenden, epistemologisch zentralen Begriff der Pädagogik, noch als den pädagogisch-sachlich entscheidenden Kern- und Leitbegriff. Dabei bestreitet er keineswegs, dass Bildung in pädagogischen Zusammenhängen eine wesentliche Rolle spielt. Bildung stellt für ihn allerdings eine Voraussetzung dar, um pädagogische Vorgänge überhaupt zu begreifen, weil Bildung im ethischen Prozess der Gattungsreproduktion, in der Einigung von Natur und Vernunft hin zum höchsten Gut stattfindet; mit Bildung muss zugleich gerechnet werden, wenn wir mit Menschen in ihrer Entwicklung zu tun haben, weil dieser Begriff den Zusammenhang der unterschiedlichen Wirkungen im Entwicklungsvorgang denken lässt. Pädagogik muss sich daher zwar schon auf Bildung einlassen, sie ist eine Voraussetzung und eine Bedingung in ihr, aber – so paradox dies klingt – keine genuin pädagogische Kategorie, Bildung gehört nicht zur Systematik von Pädagogik. Mit dieser Differenzierung löst sich Schleiermacher von der Aufklärungspädagogik, die eben mit Bildung nicht rechnete, sondern die Erzeugung des industriösen Menschen zum Thema machte; Bildung kann demgegenüber etwas Widerständiges und Widersetzliches bedeuten, das eine instrumentell denkende Pädagogik nur als Störfaktor, als auszurottend betrachtet. Mit dieser Differenzierung löst sich Schleiermacher allerdings auch von den neuhumanistischen Bildungsdenkern, die das Individuum in seiner Subjektivität in den Mittelpunkt stellen, damit aber das Problem der Einwirkungen ebenso verfehlen wie sie denn auch Schwierigkeiten haben, den scholaren Unterricht zu rechtfertigen. Er schlägt einen Weg ein, der zu einem modernen, bis heute eigentlich nicht angemessenen begriffenen Erziehungsverständnis führt, das so-
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Selbst die Universität leistet für ihn Erziehung – und zwar notwendigerweise: „Soll dieser Geist dem Menschen von ohngefähr kommen im Schlaf? Soll nur das wissenschaftliche Leben aus dem Nichts entstehen, nicht wie jedes andere durch Erzeugung? Soll nur dieses in seinen ersten zarten Äußerungen keiner Pflege bedürfen und keiner Erziehung? Hier also liegt das Wesen der Universität. Diese Erzeugung und Erziehung liegt ihr ob“. Friedrich Schleiermacher: Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn, in: Friedrich Schleiermacher Pädagogische Texte, hg. v. Michael Winkler u. Jens Brachmann, Bd.1, Frankfurt/M. 2000, 116.
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wohl gesellschaftliche Einflüsse wie Autonomie in ihrem Zusammenhang begreifen will. Für Schleiermacher verlangt ein angemessenes Erziehungsverständnis, dass die Intentionalität des Erziehungsgeschehens, die Absichten der Erziehung begriffen und begründet werden durch Einsicht in die faktische Wirksamkeit sozialer und kultureller Vorgänge. Aber: Wer Erziehung gestalten will, muss sich jedoch erst der Grenzen und Möglichkeiten dieser Einflussnahme vergewissern: Was, so fragt Schleiermacher schon in seiner Rezension zu Zöllners Nationalerziehungsplan, darf sich eigentlich ein Erzieher zurecht überhaupt gegenüber dem Zögling herausnehmen? Was darf und kann, mit anderen Worten, der Erzieher wollen?16 Die Vorlesung von 1826 erkennt in eben dieser Frage den Ausgangspunkt aller theoretischen Vergewisserung über Erziehung.17 Dabei geht es nicht nur um eine moralische Frage, sondern schlicht um einen empirischen Sachverhalt, in welchem Funktion und Leistung von Erziehung hervortreten. Zöllner, so Schleiermachers Kritik, hat sich diesem Sachverhalt überhaupt nicht gestellt. Er sieht damit auch die zwei Ebenen nicht, welche aber unbedingt zu unterscheiden sind: Eine direkte, das Subjekt gestaltende Einflussnahme auf den Zögling widerspricht der Sache und ist daher unzulässig; wir können nicht mit dem Nürnberger Trichter arbeiten und so den Zögling überhaupt erst gestalten; das ist nicht möglich, weil – so wird später die Pädagogik-Vorlesung argumentieren – der Zögling sich eben schon selbst bildet, mithin immer als ein Subjekt schon vorauszusetzen ist. Organisierter Unterricht hat demgegenüber zu leisten, dass der Zögling Herr über sich selbst wird – und das ist ebenfalls gar nicht moralisch gemeint. Zu ermöglichen ist vielmehr, dass er seinen Lernprozess zu kontrollieren beginnt und die Fähigkeit gewinnt, autonom die Welt sich anzueignen, um mit dieser umzugehen. „Dadurch wird nun“, so schreibt Schleiermacher mit einer allerdings hochmodernen, von ihm mehrfach verwendeten Formel, „das Lernen des Lernens und die Fertigkeit, Fertigkeiten zu erlangen, der Mittelpunkt allen Unterrichts“.18 Unterricht zielt also auf die Herstellung von Dispositionen, er formt den subjektiven Bildungsprozess so, dass sich das Subjekt selber steuern und begreifen kann, zugleich Handlungsmittel, Methoden gewinnt, die ihm Herrschaft über Welt erlauben – heute sprechen wir von metakognitiven 16 17
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Friedrich Schleiermacher: Rezension Zöllner, in: Friedrich Schleiermacher Texte zur Pädagogik, hg. v. M. Winkler u. J. Brachmann, Bd.1, Frankfurt/M. 2000, 84. Friedrich Schleiermacher: Grundzüge der Erziehungskunst (Vorlesung 1826), in: Friedrich Schleiermacher Texte zur Pädagogik, hg. v. Michael Winkler u. Jens Brachmann, Bd.2, Frankfurt/M. 2000, 9. Schleiermacher: Rezension Zöllner, a.a.O. (Anm. 16), 84; vgl. Friedrich Schleiermacher: Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn, 117.
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Fähigkeiten, dann auch von Kompetenz, um genau diesen Sachverhalt dann doch wieder weniger scharf zu fassen. Warum aber darf Erziehung nicht mehr wollen? Warum darf sie nicht den neuen Menschen schaffen, der doch nach der französischen Revolution, wie für den neuen deutschen Staat so dringend gewünscht wäre? Warum darf man sich nicht auf das Experiment einlassen, das Fichte nicht nur in seinen ‚Reden an die deutsche Nation‘ der Pädagogik abverlangt hat? Schleiermacher distanziert sich erneut sowohl von der Aufklärungspädagogik, die Erziehung als Creatio ex nihilo konstruiert, wie aber von den zeitgenössischen Bildungstheoretikern, die nicht minder ein einsames, in sich stimmiges Subjekt fingieren. Erziehung, so seine Einsicht, ruht immer und unvermeidlich auf dem Nationalcharakter auf, insofern taugen die Vorstellungen wenig, welche – wie Kant und Fichte – gesellschaftliche Veränderung durch Erziehung erhoffen und daher zu seltsam utopischen Konzepten greifen. Erziehung entsteht vielmehr aus einem gelebten und praktizierten sittlichen Zusammenhang heraus. Allerdings zeigt sich als das entscheidende Problem, welches die Idee einer Nationalerziehung rechtfertigen mag: Gesellschaften kann der Gemeingeist fehlen – wenngleich Schleiermacher sofort hinzufügt, dass es ihm nicht um blinde Identität der Auffassungen geht. Gemeingeist begreift er demokratisch, dieser muss mit Freiheit einhergehen – dass und wie er sich damit gegen die napoleonische Herrschaft ausspricht, wird an anderer Stelle deutlich. In der Rezension zu Zöllner wählt er einen zunächst etwas irritierenden Umweg, indem er auf die fehlende Gemeinsamkeit in der Sprache verweist. Das meint aber keinen linguistischen Zusammenhang, sondern – im Sinne des für die Ethik entscheidenden Symbolisierens – ein ethisches und ein politisches Problem: Menschen müssen sich artikulieren können und dürfen, um ihre Humanität geltend zu machen. Schleiermacher schreibt: „Die Anerkennung eines anderen als Menschen geht nämlich ursprünglich von der Mitteilung aus und kann also bei den ungebildeten Volksklassen immer nur unvollkommen sei, wo sie, wenn sie gleich die Möglichkeit der Mitteilung zugeben müssen, doch die Sache selbst nicht bewerkstelligen können“.19 Dem Anerkennungsdefizit korrespondiert also ein fehlendes Wissen in der politischen Sache. Dabei äußert sich dieses als Unzufriedenheit mit einzelnen Teilen der Staatsverwaltung.20 Gemeingeist fehlt, wenn sich Verwaltung und Regierung nicht auf eine hinreichende Legitimation stützen können, weil Menschen das Ganze ihres politischen Ge-
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Schleiermacher: Rezension Zöllner, a.a.O. (Anm. 16), 86. Ebd., 87.
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meinwesens gar nicht kennen.21 Inhaltlich geht es um Fragen, die wir heute als politische Bildung bezeichnen würde, Schleiermacher spricht von einem öffentlichen Unterricht, der ein aussprechbares, die Organisation im Veraltungshandeln artikulierendes Gemeinschaftsgefühl ermöglicht, das seinerseits dem Einzelnen erst die Chance eröffnet, im gemeinsamen Zusammenhang wirken zu können. Dabei nehmen die unterrichtlichen Inhalte einen zweiten Rang ein – mehr noch: deren Auswahl wie die Entscheidung etwa über Schulbücher überlässt er den einzelnen Schulen. Er tritt also für Schulautonomie ein. Maßgebend ist vielmehr, dass und wie durch den gemeinsam erlebten und erfahrenen öffentlichen Unterricht, strukturelle Differenzen einer Gesellschaft ausgeglichen und nur solche der Individuen erfasst werden, dann aber vor allem die sozialisierende Funktion von Gemeinschaft zum Tragen kommt. Man lernt das Lernen, man erwirbt die Fertigkeit zum Erwerb der Fertigkeiten im Medium einer in sich differenzierten Gemeinschaft, welche den Gemeinsinn stiftet, um dem Einzelnen zu erlauben, sich in seiner Individualität so auszusprechen, dass damit die Gemeinschaft selbst wieder vorangebracht wird. Wie aber muss die Politik agieren? Welche Möglichkeiten und Grenzen findet der Staat, wenn er auf diese Vorgänge Einfluss nimmt? Die Abhandlung ‚Über den Beruf des Staates zur Erziehung‘ trifft eine klare Vorentscheidung, der wir fast gleichlautend in den staatswissenschaftlichen Vorlesungen begegnen: „Staat und Erziehung sind zwei Begriffe, welche an und für sich nicht zusammenfallen“.22 Politik und Pädagogik konfrontieren mit unterschiedlichen Sachlogiken, welche nicht miteinander vermengt werden dürfen. Denn in dem einen Bereich geht es um das Verhältnis von Erwachsenen untereinander, mithin um Herrschaftsverhältnisse, während es im anderen um das Generationenverhältnis geht. Diese Differenz ist entscheidend und grundlegend, auf sie muss ein jeder Staat, eine jede Politik sich einlassen, wenn sie Erziehung gestaltet – vice versa gilt allerdings, dass es einem Kategorienfehler gleich käme, würde das Handeln im Generationenverhältnis einem politischen Urteil unterworfen. Man darf die Dinge nicht vermischen. Unter dieser Voraussetzung unterscheidet Schleiermacher im Verfahren einer Extrembestimmung, aus welcher sich dann das reflexive Gerüst entwickeln lässt, zwei Typen des staatlichen Handelns. Den einen Typus findet er im liberalen Staat, der sich auf die Marktverhältnisse einlässt, bzw., wie Schleiermacher präziser formuliert, das „Nebeneinanderbestehen dieser Triebe und Freiheiten“ sichern soll.23 Dieser 21 22 23
Ebd., 89. Schleiermacher: Über den Beruf des Staates zur Erziehung, a.a.O. (Anm. 13), 275. Ebd., 276.
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Staat nimmt keinen Einfluss auf Erziehung – ein Typus, der völlig konträr zur heute erlebten Situation steht, in welcher eine vordergründig liberalisierte Politik mit massiver Einflussnahme auf das pädagogische System auftritt. Schleiermacher antizipiert eine solche Situation und macht aufmerksam darauf, dass damit die Freiheit „als die eigentlich positive Kraft“ beschränkt wird.24 Es sei barbarisch, wenn den Eltern die Freiheit genommen wird, ihre Kinder „sich an[zu]bilden und ihr innerstes Dasein in ihnen zu vervielfältigen [zu] suchen“.25 Er sieht das damit gegebene Risiko und will es aber nicht vermeiden, das Risiko nämlich, dass eine solche „Erziehung viele Menschen ganz verderben“ würde. Doch es nützt nichts: Ein liberaler Staat darf keinen Einfluss nehmen, er muss am Ende dann eben Erwachsene strafen – aber dies ist eben kein pädagogisches Verhältnis.26 Diesem Typus stellt er einen Staat gegenüber, der „nicht bloß als eine hemmende, sondern als eine selbst hervorbringende, bildende, leistende Kraft angesehen wird“.27 Dieser Staat aber steht in der Gefahr, dass er „alles, was er hervorbringen soll, selbst täte, alle einzelnen aber nur mechanisch in seinem Dienste“ wären.28 In einem solchen Staat wäre die Erziehung zwar präventiv angelegt, aber dieser Vorteil bestehe nur vordergründig und bedeute doch nur, dass er damit „der mechanischen Korrektion und Aufsicht im einzelnen überhoben sei“.29 Wie gut die Absicht der Prävention sein mag, sie ist doch korrumpiert, weil ein politisches Kontrollbedürfnis das Generationenverhältnis überformt und eigentlich zunichte gemacht hat. Vor allem aber: Solche präventive Einflussnahme kann gar nicht gelingen. Zwar mag der Staat im Grundsatz eine Absicht mit der Erziehung verbinden, sie lässt sich aber empirisch und faktisch nicht realisieren. Er kann vielleicht das „Was der Erziehung“ steuern, letztendlich entzieht sich diese aber seiner Kenntnis und seinem Zugriff. Erziehung ist systematisch, in ihrer Problemstruktur wie in der Sache, in einen anderen Zusammenhang eingebunden, sie ist eine „gemeinsame oder auch öffentliche Angelegenheit“,30 Aufgabe von Gesellschaft im ethischen Bildungsprozess. Diese aber geht historisch wie systematisch dem staatlichen Handeln voraus, Erziehung ist ein soziales Ereignis, das in gemeinsamer Sitte gründet. Die Macht der Sitte, die Kraft des sittlichen Prozesses ist noch so stark, dass man sich als Einzelner, dass sich eine einzelne Familie ihnen letztendlich nicht zu entziehen vermag. Der je24 25 26 27 28 29 30
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 277. Ebd. Ebd. Ebd., 278.
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den Erziehungsreformer ernüchternde Befund lautet: Man kann nicht „aus dem Geleise der Sitte weichen und seinen Kindern eine Richtung geben, welche gegen den Sinn und Geist des Ganzen anginge“.31 Noch in ihren Veränderungen gründet Erziehung in dem gesellschaftlichen Verhältnis, in Gebräuchen und Sitten eines Volkes, sie ist – darauf kommt es an – „das gemeinsame, aber freie und nur in freier Gemeinsamkeit gedeihende, unbewusste Erzeugnis des Volkes“.32 Ein Schlüsselsatz für Schleiermacher, die rhetorische Figur einer Verstärkung durch Überkreuzstellung des Betonten macht dies deutlich: Gemeinsam frei und freie Gemeinsamkeit. Mit ihr tritt die für Erziehung entscheide Grundspannung hervor, wie zugleich ausgesprochen wird, dass Erziehung als Gesamterzeugnis eines Volkes und somit als Emergenzphänomen des geschichtlich-gesellschaftlichen, des ethischen Prozesses eben nicht intentional hervorgebracht werden kann. Man muss sich auf sie einlassen, darin liegen Aufgaben und Berechtigung des Staates zur Erziehung wie zugleich seine Grenzen. Er darf sich den Einfluss auf Erziehung zwar anmaßen, wenn eine Gesellschaft (und mithin der ethische Prozess zersplittert wird und – extremen Fall – „in eine chaotische Masse von Zufälligkeiten und Willkürlichkeiten zerfällt“,33 er darf und muss dies, wenn sie – im weniger extremen, aber doch vertrauten Fall, sich in Klassen, Schichte oder Milieus auflöst, welche dann ihre Eigenzwecke verfolgen. Letztlich gibt es also eine Berechtigung für den staatlichen Eingriff nur, um demokratische Verhältnisse eines gleichen Zugangs zu schaffen. Aber: Die so gemeinte, eben nur höchst beschränkt zulässige staatliche Einflussnahme auf Erziehung richtet sich paradoxerweise gerade nicht auf die jüngere Generation. Schleiermacher nutzt im Zusammenhang seiner Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Erziehung eigentlich zwei unterschiedliche Begriffe von Erziehung, relativiert insofern die Vorstellung einer Nationalerziehung. Zulässig ist das staatliche Handeln, das der Erziehung gilt, nur dann, wenn es der ganzen Bevölkerung gilt, mithin eigentlich auf das Verhältnis der Erwachsenen untereinander sich richtet. Es geht aber nicht darum, Schulen oder Universitäten zu kontrollieren, schon gar nicht die Familien. Adressaten sind das Volk, genauer: der ethische Prozess des Organisierens und Symbolisierens. Wiederum wirkt der Staat nicht unmittelbar und direkt, sondern darf allein „einen tätigen Anteil an der Erziehung des Volkes neh-
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Ebd., 279. Ebd., 280. Ebd., 288.
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men“, um so „eine höhere Potenz der Gemeinschaft und des Bewusstseins derselben zu stiften“.34 Die Pointe ist evident: Der Staat darf sich, wenn überhaupt, nur unter der Bedingung des Zerfalls in den Prozess der Gemeinschaftsbildung des Volkes einmischen, mithin Aufklärung leisten, Öffentlichkeit herstellen und Bewusstsein fördern, um die Entstehung des Gemeinschaftsgefühls zu stärken. Letztlich muss die Bevölkerung aber dieses schon selbst entwickeln. Er kann nur mittelbar auf ihre Mentalität Einfluss nehmen und das formale, institutionalisierte Bildungssystem verwalten. Eine Aufgabe spezifiziert Schleiermacher dabei: Der Rückschritt in eine Partikularität erzeugende Privaterziehung muss durch ihn verhindert werden. Staatliches Handeln hat sicherzustellen, dass eine öffentliche Erziehung „unter dem Betrieb und der Leitung des Volkes selbst gestellt“ ist, genau das meint ein zureichender Begriff von Nationalerziehung.35 Dies aber lässt sich nur realisieren im Rahmen einer kommunalen Erziehung, die der Kommunalverfassung unterliegt und diese noch bis in das Schulwesen erleben und erfahren lässt. Ein unmittelbarer Einfluss auf das Generationenverhältnis ist ihm aber verboten, mehr als ein „indirekter Zusammenhang“ nicht zulässig, denn dies widerspräche dem Sinne der Erziehung selbst; ihre spezifische Handlungslogik wäre dann dem Eigensinn und Eigennutzen des Staates aufgeopfert. Aber dies verbietet sich für die Erziehung genauso, wie es Schleiermacher verhindern will für die Kirche und die Wissenschaft. Auch für diese fordert er entschiedene Trennung. Der Staat möge sich, so die Politik, ganz ohne Einmischung und Eifersucht seinerseits der Unterstützung durch Kirche und Wissenschaft erfreuen,36 er habe abzuwarten, was an Wissen im wissenschaftlichen Zusammenhang entwickelt werde.
3. Schleiermachers Grundintentionen zielen auf Reform, auf den allmählichen Übergang von einer gesellschaftlichen Situation zur anderen, auf Evolution, nicht auf Revolution, vor allem jedoch weniger auf Politik und mehr auf Erziehung. Dabei spielen mehrere Motive eine Rolle:
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Ebd., 286. Ebd., 287. Friedrich Schleiermacher: Die Lehre vom Staat. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg. v. C. Brandis, in: Schleiermachers Sämmtliche Werke, Dritte Abteilung, Bd.8, 129.
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Zum einen muss man selbstverständlich die theoretischen Grundannahmen seines Denkens nennen. Zwar sieht seine Ethik für den geschichtlichen und gesellschaftlichen Lebensprozess der Gattung, für die Einigung von Vernunft und Natur die Möglichkeit von gleichsam stoßweisen Vorgängen, von Brüchen und radikalen Veränderungen durchaus vor, aufs Ganze gesehen aber hält er kontinuierliche Veränderungen nicht nur für wahrscheinlich, sondern favorisiert diese aus vielerlei Gründen, die er nicht normativ setzt, sondern als sachlich begründet sieht. Der ausgearbeiteten Theorie der Erziehung erscheint zwar der historische Bruch als denkbar und lässt sich von ihr beobachten, er wird geradezu zum Auslöser eines – wenn man so will – hermeneutischen Zuges in seiner pädagogischen Denkform,37 doch zielt schon die Rechtfertigung einer pädagogischen Kunstlehre auf die Sicherung von Gleichmäßigkeit der Veränderung. Eine Rechtfertigung, die übrigens darauf abhebt, dass Gesellschaften eben selbst die Kunst der Erziehung einrichten, wenn sie mit Diskontinuitäten zu tun haben. Zum anderen sieht er in der Lage Preußens eine objektiv gegebene Unübersichtlichkeit, die es gar nicht erlauben würde, Entscheidungen auf prinzipielle Begründungen zu stützen. Möglicherweise in Anspielung auf das Revisionswerk der Philanthropen erinnert Schleiermacher an die Allgemeine Gärung in Erziehungsdingen. Er meint damit, dass die Rahmenbedingungen des pädagogischen Geschehens in einem hohen Maße unklar sind, dass daher nachhaltig tragende Festlegungen gar nicht getroffen werden können. Verfassungsrechtliche Regelungen sind allerdings für ihn ausgeschlossen, er präferiert regelmäßig pragmatische Anstöße für schulorganisatorische Entwicklungen, die das Geschehen für weitere Veränderungen offen lassen. In der Abhandlung ‚Über den Beruf des Staates zur Erziehung‘ schreibt: „Auf diese Weise“, also durch ein revisionsfähiges Verwaltungshandeln „behält auch die Regierung in ihrer Gewalt, diesen Übergang, für den sich doch kein Augenblick als der einzig richtige nachweisen lässt, allmählich zu veranstalten und eben dadurch aller Verwirrung vorzubeugen“.38 Darin klingt endlich, neben der für ihn wichtigen, sozialisationstheoretisch und entwicklungspsychologisch geforderten Ordnungsfunktion einer Organisation pädagogischen Handelns ein Motiv an, das gegenüber dem eben Gesagten fast paradox erscheint: Die Reformabsichten Schleiermachers werden von einem Misstrauen gegenüber dem Staat getragen. Die Funktion des Staates beschränkt sich für ihn entwe37
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Vgl. Michael Winkler: Vom Normalbegriff der Erziehung zur Hermeneutik der pädagogischen Situation: Friedrich Schleiermacher und das moderne Erziehungsdenken. In: Die französische Revolution und die Pädagogik. Beiheft des Jahrgangs 1989 der Zeitschrift für Pädagogik, hg. v. U. Herrmann. J. Oelkers, Weinheim 1989, 211–226 . Schleiermacher: Über den Beruf des Staates zur Erziehung, a.a.O. (Anm. 13), 287.
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der auf den Anstoß, auf die Stiftung und Initiierung von Veränderungen, auf die Öffnung erstarrter Verhältnisse. Die Leistung des Staates besteht darin, einer Gesellschaft in ihrem ethischen Lebensprozess, wenn sie nicht mehr zu sich findet, zerrissen ist oder nicht mehr weiterkommt, d.h. sich selbst nicht mehr fassen kann, die Möglichkeit zu eröffnen, eine neue Qualität zu finden. Der Staat erfüllt darin eine geradezu symbolisierende Funktion. Er muss insofern nahezu als Avantgarde auftreten und ein fortgeschrittenes Bewusstsein etwa durch eine Gesetzgebung aussprechen, welche ihrem Grunde nach in der Lebenspraxis in Latenz vorhanden ist, jedoch noch nicht zum Ausdruck kommt. Oder aber der Staat übt selbst noch eine verzögernde, aufhaltende Wirkung aus. Schleiermacher überrascht damit, dass er dem beharrlichen Moment der Verwaltung ein Gutes abgewinnen kann, weil nämlich zu viele Änderungen, weil zu viele Revolutionen „eine Unsicherheit und Unrichtigkeit in den Prinzipien anzeig[en] und das Ansehen der Regierung schwäch[en], und dies darf nicht sein. Daher ist zu wünschen, dass auch in dem öffentlichen Unterrichtswesen nicht viel und plötzlich geändert werde, sondern allmählich verbessert“.39 Eine wirkliche Legitimation erhält das staatlich politische Handeln auf das Erziehungswesen nur dann, wenn Gesellschaft und Öffentlichkeit zur Selbstgestaltung nicht in der Lage sind – wenn also die Gemeinsamkeit einer Sprache fehlt, welche jenes Symbolisieren erst ermöglicht, das im ethischen Prozess dem Organisieren stets zur Seite tritt. Schleiermacher unterscheidet damit in der Sache, anders als Hegel aber weder terminologisch präzise oder systematisch, zwischen Staat und Gesellschaft, wobei und indem er liberal argumentiert. Es ist die Gesellschaft, die sich in ihren fundamentalen Funktionsweisen differenziert, welche aber als je einzelne nicht dominant werden dürfen, weil sie so den ethischen Prozess schädigen oder gar aufhalten würden. Man muss sich auf den gesellschaftlichen und eigentlich natürlichen, organisierenden und symbolisierenden, in sich komplexen Lebensprozess beziehen, auf diesen stützen, ohne einer der Gütergemeinschaften einen prioritären Rang einräumen zu dürfen; der Zusammenhang des ethischen Prozesses trägt das Veränderungsgeschehen, das zwar durch den Staat punktuell und vorübergehend beeinflusst werden darf und sogar muss, wenngleich diese Einflussnahme eben doch nicht von Dauer sein darf. Die Gesellschaft, Gemeinschaft und Öffentlichkeit, der Gemeingeist und die gemeinsame Sprache haben Vorrang. Schleiermachers Misstrauen gegenüber den Staat und sein Vertrauen in die Funktion der Gemeinschaft sind so stark, dass er selbst noch konflikthaftes, delinquentes Verhalten etwa von Studierenden billigt und gegen den staatlich kon39
Schleiermacher: Grundzüge der Erziehungskunst, a.a.O. (Anm. 17), 368.
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trollierenden wie sanktionierenden Eingriff verteidigt – Fichte macht ihm dies massiv zum Vorwurf und tritt wegen der so gezeigten vorgeblichen Illoyalität von seinem Rektoramt zurück. Dieses Misstrauen gilt nun ganz besonders für den pädagogischen Zusammenhang. Denn Erziehung ist für Schleiermacher – so könnte man ein wenig zugespitzt sagen – ein empfindliches Geschehen, das in seiner spezifischen Eigenlogik durch den staatlichen Eingriff sogar noch in seinen institutionellen Gestalten beschädigt oder gar zerstört werden könnte. Der Staat ist nämlich, so sagt Schleiermacher mehrfach, eigensüchtig, er wirkt in seinem Zugriff notwendig illiberal, unterwerfend. Er versucht sich die individuellen Subjekte eben so anzubilden, dass sie ihm gleichen, um von ihm vereinnahmt werden zu können. Genau dies aber dürfe nicht sein, genau dies verfehlt die Aufgabe und Leistung von Erziehung; Staatsbürger lassen sich eigentlich nicht erziehen, selbst wenn dies heute anders gesehen wird. Erziehung, also genauer: der durch Erziehung ermöglichte und geordnete Bildungsprozess bewegt sich immer – wenn es denn um Erziehung geht – in einer mehrfachen Spannung von Erhalten und Veränderung, von Vergesellschaftung, Ablieferung an gesellschaftliche Mächte, an die Gütergemeinschaften, Ausrichtung am Gemeingeist und dessen Aufnahme einerseits, von Individualisierung andererseits, der Befähigung, als Subjekt einzutreten in soziale und kulturelle Verhältnisse, um diese bewahren oder verändern zu können, in jedem Fall aber, um sich in seiner Individualität in diesen darstellen zu können. Eben diese Spannung, welche der Logik von Erziehung zugrunde liegt, kann das staatliche Handeln niemals sichern. Zugespitzt: staatliches Handeln im Erziehungszusammenhang zerstört noch Erziehung selbst. Dieser sachlogische Zugang wird deutlich daran, dass und wie er den Gesamtzusammenhang des Aufwachsens in den Blick nimmt, dieses eben nicht beschränkt sehen will auf Schule. Das erscheint auf den ersten Blick trivial, verliert jedoch diese Trivialität sofort, wenn wir sehen, dass um ein solches Verständnis einer ganzen Kultur des Aufwachsens heute geradezu gerungen werden muss. Schleiermacher geht dabei von einem ein – in jeder Hinsicht – umfassenden Verständnis von Erziehung aus, das eine allgemein wahrgenommene und – wenn man so will – zwischen allen beteiligten Erziehungsmächten geteilte Aufmerksamkeit und Verantwortung für das Erziehungsgeschehen verlangt. Es ist umfassend, weil es in der Tat von der Familie bis eben hin zur Universität reicht, der Schleiermacher explizit einen Erziehungsauftrag zuspricht – er kann gar nicht anders angesichts seines Grundverständnisses von Erziehung als unauflösbarer Spannung des Ablieferns an die Gemeinschaft und der Individualisierung.
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In diesem umfassenden Verständnis hat Pädagogik darauf zu achten, dass das Erziehungswesen um einen unmittelbar nicht zu beeinflussenden Prozess der Selbstbildung angeordnet werden kann und wird; Unterstützung und Gegenwirkung, wie sie sich in den Vorlesungen zur Pädagogik zeigen, sind aus diesem Zusammenhang gefasst, der seinen organisatorischen Grund in Gemeinschaft und Gesinnung findet. Dem kann das intentionale Erziehungsgeschehen nur zur Seite treten, wenn und indem es Selbstreflexion des Bildungsprozesses auslöst und durch die Inhalte wirkt, welche sich in Fertigkeiten darstellen: Die Subjekte müssen sich mithin in einem letztlich gemeinschaftlichen Zusammenhang so austauschen, dass sie eine Gesinnung finden, welche der entspricht, die im Gemeinwesen besteht – sofern dafür die hinreichenden Bedingungen gegeben sind. Denn die Gesinnung kann nicht absichtsvoll geschaffen werden, sie muss durch die Beteiligten in den jeweiligen praktischen Lebenssphären selbst entstehen, allzumal in der Familie, nicht minder in der Schule, in der das Geschehen, wie Potthoff gezeigt hat, durch die Schulgemeinschaft als einer gleichsam genossenschaftlichen Form der Selbstverwaltung ausgelöst und durch die kommunale Schulverfassung gestützt wird.40 Wieder zeigt sich: Eine Staatsschule leistet dies nicht, sie unterwirft, bleibt den Beteiligten äußerlich und fremd, hat letztlich mit dem ethischen Lebensprozess wenig zu tun. Nötig ist also der kleinräumliche Zusammenhang, in welchem die öffentliche Mitwirkung als gemeinsam übernommene Verantwortung überhaupt erst konkret zum Tragen kommen kann. Die Schule leistet Objektivierungsarbeit, indem sie einerseits eine Ebene der Reflexion einzieht, mit welcher sie ein Lernen initiiert, das sich sozusagen selbst kontrolliert. Man kann von einer Spiegelungsfunktion sprechen, die – wie Schleiermacher mit einer verblüffend modernen Formel ausspricht – das Lernen des Lernens ermöglicht. Andererseits sieht sich Schule darauf beschränkt, das objektive Bewusstsein zu schaffen, nämlich eine hinreichende Ordnung des Wissens, der Kenntnisse und Fertigkeiten; das subjektive Bewusstsein gehört nicht ihrem Aufgabenbereich an. Das Gefühl, die Abhängigkeit vom Gemeinsamen entsteht in der Familie, im scholaren Bereich hingegen nur als eine Wirkung des gemeinsamen Miteinanders, das nicht intentional geschaffen werden kann. Dies berührt sogar noch die religiöse Erziehung, für die Schleiermacher mit fast gleicher Entschiedenheit eine Trennung von der Schule fordert, wie er diese dem Einfluss des Staates entziehen will. Schule kann allenfalls den „religiösen Gedankenerzeugungsprozess anleiten, nicht aber den „eingebildeten Schaz“ erzeugen; das muss schon in der kirchlichen Gemein40
Vgl. Willy Potthoff: Die Idee der Schulgemeinde. Vorstellungen zur genossenschaftlichen Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, Heidelberg 1971.
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schaft selbst geschehen, wie Christiane Ehrhardt erst kürzlich herausgearbeitet hat.41 *** Schleiermachers Beitrag zur preußischen Bildungsreform besteht mithin darin, um ein kleines Fazit zu ziehen, dass er auf eine bis heute nachwirkende, aber uneingelöste Weise für eine radikale Modernität des Erziehungswesens eintritt: Das Erziehungssystem muss säkular, wissenschaftsnahe geschaffen werden, eine Gesellschaft in ihrer sittlichen Qualität reflektieren, den Zusammenhang eines Ganzen präsentieren. In ihm geht es um Freiheit, in der Spannung freilich, dass das einzelne Subjekt dem Ganzen verpflichtet ist, mit der Gemeinschaft übereinstimmt und zu ihrer Entwicklung beiträgt, zugleich aber seine Individualität entwickelt, wiederum für das Ganze, aber eben auch für sich selbst, weil es nur in seiner Individualität dem Ganzen als eines lebendigen Prozesses überhaupt zu dienen vermag. Entscheidend, zugleich aber irritierend, nein: verblüffend ist, dass Schleiermacher ausschließt, Bildung könne organisiert werden. Dagegen sprechen für ihn drei Gründe: Zum einen muss das pädagogische Geschehen als geschichtlich gesellschaftliches Ereignis gelten, das sozusagen vor aller Erziehungskunst schon begründet ist. Obwohl Erziehung ihre eigene Rationalität hat, die in der Spannung zwischen dem Anspruch des Ganzen und dem des Einzelnen gründet, ist das Geschehen nicht in institutioneller Autonomie zu begreifen. Zwar gibt es eine Spezifik des pädagogischen Problems, zwar wissen wir um die Besonderheit einer – wenn man so will – professionell pädagogischen Haltung, welche sich dieser Problemstruktur vergewissert, aber es gibt keine Unabhängigkeit der Pädagogik in institutioneller Hinsicht, es gibt keine Möglichkeit, sie als eine utopische Instanz zu fassen, wie nicht nur Fichte dies vorschwebte. Pädagogik ist eine praktisch einzulösende Struktur, die aber realisiert wird im ethischen Zusammenhang; sie kann nicht gegen eine historisch gegebene Gesellschaft oder als Instanz des gesellschaftlichen Fortschritts realisiert werden. Die Mängel der Erziehung und des Bildungsgeschehens sind allemal Mängel einer Gesellschaft. Nur vorübergehend kann politisches Handeln hier Einfluss nehmen, damit die Mängel tendenziell kompensiert werden, aber im Prinzip geschieht Erziehung aus einer Gesellschaft heraus und muss daher innerhalb dieser begriffen wie bedacht werden, dann eben auch sozial organisiert werden. Insofern ist
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Christiane Ehrhardt: Religion, Bildung und Erziehung bei Schleiermacher. Eine Analyse der Beziehungen und des Widerstreits zwischen den ‚Reden über die Religion‘ und den ‚Monologen‘, Göttingen 2005, 295.
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Erziehung ein sittliches Geschehen, nämlich ein Vorgang, der in den ethischen Prozess eingebettet ist. Zum anderen müssen wir von einer nur sensibel wahrzunehmenden und konkret aufzufassenden Spannung zwischen dem ausgehen, was absichtsvoll im pädagogischen Prozess gestaltet werden kann, und dem, das sich in diesem von selbst entwickelt. Für Fantasien von einer Allmacht über den Zögling, wie sie sich von der Aufklärung über den pädagogischen Utopismus bei Fichte bis in die Gegenwart im pädagogischen Denken abzeichnen und immer wieder fanatisch gepflegt werden, gibt es keinerlei Berechtigung. Wir müssen begreifen, dass die Reflexion des pädagogischen Geschehens sich zwar auf den Gesamtzusammenhang der Bedingungen des Aufwachsens bezieht und für diesen Verantwortung zu übernehmen hat; man muss aufmerksam sein, darf den ethischen Prozess eben nicht aus den Augen verlieren, sondern muss sich sehr wohl darum kümmern, dass dieser als solcher, mithin in einer sittlichen Qualität sich vollzieht. Platt formuliert: Wir müssen schon überlegen, was eine Gesellschaft und ihre Kultur mit uns selbst anstellen, ob wir diese so wollen, wie sie erscheinen, oder ob wir sie selbst ändern und umgestalten. Was aber dieser Gesamtzusammenhang mit den einzelnen in ihrem Entwicklungsprozess anrichtet, darüber lässt sich nicht verfügen. Wie sehr wir uns auch einer Kunst der Erziehung befleißigen, das pädagogische Geschehen ist in seinen letztlich erreichten Wirkungen kontingent. Die Hoffnungen auf eine Steuerung, wie sie gegenwärtig, nach den international vergleichenden Untersuchungen im Zusammenhang des Bildungswesens einmal mehr anzutreffen sind, sprechen schlichten Wahn aus – genauer: sie deuten Vergewaltigungsabsichten an, welche nicht zuletzt ein national-staatliches Handeln auszeichnen, in welchem der Staat an sich selbst interessiert ist, nicht an den Individuen, nicht an den Subjekten, die als freie tätig sein wollen. Einer – wie Schleiermacher sie selbst nennt – neueuropäischen Haltung entspricht dies ganz und gar nicht. Endlich begreift Schleiermacher auf eine ganz radikale Weise Bildung als ein subjektives Geschehen, das sich aus dem gemeinsamen, ethischen Bildungszusammenhang der Subjekte im Prozess der Einigung von Natur und Vernunft ergibt. Diesem kann, darf und muss man vertrauen. Eine freie Gesellschaft, die sich in einer gemeinsamen Sprache verständigt, birgt hinreichende Kraft in sich, die Einzelnen zu integrieren und zugleich in ihrer Eigentümlichkeit zur Darstellung kommen zu lassen. Dazu braucht man keine Zwangsmittel, wohl aber muss man die Chance geben, dass die Sprache in ihrer formellen Gestalt, auch in ihrer Lexik zugänglich wird – ein Schelm, wer hier an die leidigen Debatten um Einbürgerung denkt. In diesem gemeinschaftlichen ethischen und somit praktischen Lebensprozess und aus ihm entstand und ent-
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steht das individuelle Subjekt in seinem ebenfalls individuellen und subjektiven Bildungsprozess, der ihm beides gibt, die Identität mit dem Ganzen und die Differenz diesem gegenüber, in welcher es sich zu erkennen hat. Bildung lässt sich nicht objektivieren, zumindest dann nicht, wenn wir ihre den gesellschaftlichen Veränderungsprozess noch vorantreibende Qualität nicht zerstören wollen. Das bedeutet nicht, dass das pädagogische Geschehen einer absichtlichen Gestaltung entzogen wäre. Auch wenn der frühe Schleiermacher Züge antipädagogischen Denkens nicht verhehlt, mit welchen er sich allzumal dem instrumentalisierenden Zugriff entzieht, wie er in der Aufklärungspädagogik eben im Mittelpunkt stand, ist ihm die Notwendigkeit von Erziehung doch klar. Denn es muss sozusagen eine Vorgeschichte der Bildung geben, die sich als Erziehung begreifen lässt, welche versucht, Ordnung in das Ganze zu bringen, Objektivität sicher zu stellen, an der und durch die sich das Subjekt in seinem Bildungsprozess fassen kann. Gleichwohl: Bildung bleibt hingegen ein Vorgang, der eben nicht zu gestalten, nicht zu organisieren, nicht nützlich zu machen ist, sondern subjektiv, eigenartig und einmalig bleibt, um zu ermöglichen, dass das Individuum sich in seiner Besonderheit frei organisiert und ausspricht. Das ist Bildung, wenigstens in einem modernen, freiheitlichen und bürgerlichen Verständnis, wie es denn gegen seine Verächter ausgesprochen werden muss, die doch an allen Ecken und Enden moderner Gesellschaften lauern. Diese Reform des Erziehungswesen steht noch an, gut zwei Jahrhunderte, nachdem Schleiermacher sie doch schon skizziert hat.
Cultural Theory as Ethics BRENT W. SOCKNESS/STANFORD „Das Willkührliche darf in der Wissenschaft keinen Raum finden“. (‚Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre‘, 1803)
In announcing my contribution to this conference under the title, „Kulturtheorie als Ethik“, my intention is to rub against the grain of twentieth-century interpretation of Schleiermacher’s philosophical ethics. In the interests of full disclosure, I must confess that the motivation for the somewhat contrarian position to follow stems not just from a desire to „get Schleiermacher right“. Impinging upon that noble scholarly aim are cultural factors and intellectual pressures I bring with me from the North American academic milieu that movitate and shape my interest in Schleiermacher’s philosophical ‚Sittenlehre‘. The so-called „cultural turn“ in the humanities is clearly one of these factors and, in certain respects, a negative one at that. I should perhaps rather say that certain excesses in the way the turn to culture has played itself out in American academic circles concern me, for in its most virulent post-modern and anti-foundationalist forms, the cultural turn is often accompanied by a complete indifference toward, or studied ignorance about, the sort of philosophical-anthropological presuppositions that make any talk of culture possible in the first place. For all his celebrated sensibility for the historicity, individuality, and sociality of human life, Schleiermacher never turned his back on such presuppositions. On the contrary, his lectures on dialectics, ethics, and psychology are nothing if not groundbreaking efforts to thematize to their very limit the philosophical foundations of cultural life. Let me get down to business by stating two generalizations borne out by previous research into the reception of Schleiermacher’s ethics.1
1
Cf. Brent W. Sockness: The Forgotten Moralist: Friedrich Schleiermacher and the Science of Spirit, in: Harvard Theological Review 96/3 (2003), 324–335.
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The first is: although Schleiermacher’s moral philosophy never produced a school, he was nonetheless widely regarded by nineteenthcentury German theologians and philosophers alike as the architect of a comprehensive moral theory competing for the same philosophical turf as Kant, Fichte, and Hegel. This holds true from his immediate successor August Twesten to his biographer Wilhelm Dilthey, and is perhaps best captured by Gunter Scholtz’s conclusion that „the mature shape of Schleiermacherian [philosophical] ethics, as it was authentically available already in the Academy treatises, exercised its influence not only on almost all Protestant ethics of the nineteenth century, but also on Catholic (e.g. Karl Werner) and philosophical ethics, especially the ethics of so-called Late-Idealism“.2
In contrast, so far as his philosophical achievement is concerned, the twentieth century witnessed the eclipse of Schleiermacher the moralist by Schleiermacher the father of general hermeneutics. Closely related to this first generalization is a second: namely, almost every significant twentieth-century interpreter of Schleiermacher’s moral theory has been tempted or perhaps driven to interpret the philosophical ethics as something other than a theory of morality. Albert Reble’s 1935 study, ‚Schleiermachers Kulturphilosophie‘, exemplifies this trend. While this dissertation remains the most thorough analysis to date of the lectures on ethics spanning from the ‚Brouillon‘ to the Academy addresses, its author is loathe to treat Schleiermacher’s ‚Sittenlehre‘ as an ethical theory. To the contrary, he faults Schleiermacher for dressing up his philosophy of culture in the guise of an ethics, and repeatedly blames Schleiermacher’s „ethical standpoint“ and interests as responsible for corrupting an otherwise brilliant philosophy of culture.3 Since the 1930s Reble has enjoyed good company. In 1963, Eckhard Garczyk’s Munich dissertation, ‚Mensch, Gesellschaft, Geschichte‘ presented the ethics under the banner of a „philosophical sociology“.4 In 1980, our moderator, Wilhelm Gräb, interpreted the Güterlehre as a „structural theory of history“.5 Gunter Scholz followed in 1995 with a penetrating collection of essays construing the Güterlehre as at once a theory of modern culture and the „foundation of the human sciences“.6
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Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, 23. Albert Reble: Schleiermachers Kulturphilosophie: Eine entwicklungsgeschichtlichsystematische Würdigung, Erfurt 1935, 4, 10, 58, 71, 102–103, 118. Eckhard Garczyk: Mensch, Gesellschaft, Geschichte: F.D.E. Schleiermachers philosophische Soziologie (Ph.D. diss., University of Munich, 1963), München 1964. Wilhelm Gräb: Humanität und Christentumsgeschichte: Eine Untersuchung zum Geschichtsbegriff im Spätwerk Schleiermachers, Göttingen 1980. Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik: Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. 1995.
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Michael Moxter’s treatment of the Güterlehre from the perspective of action theory is, notably, a recent exception to this trend.7 Admittedly, each of these perspectives captures something important in Schleiermacher’s ambitious and highly original ethical program. Yet there is good reason to suspect something has been lost when Schleiermacher’s own clear intention to develop a firmly grounded and comprehensive theory of morality is overlooked. One sure sign that something is awry is that each of the twentieth-century treatments just mentioned all but ignores two of the three constitutive parts of the system: the theories of virtue and duty. In suggesting, then, that Schleiermacher’s theory of culture be interpreted as a function of ethics, instead of the converse, I mean to call attention back to Schleiermacher’s view of the matter, and thereby to take his system of ethics seriously qua moral philosophy. Given the constraints of a single essay, I will defend this corrective by focusing on Schleiemacher’s mature diagnosis of the state of moral theory in his day. This can be found in his six addresses on ethics delivered to his colleagues at the Royal Prussian Academy between 1819–1830.8 A close look at this diagnosis, together with Schleiermacher’s proposed remedy, will leave little doubt that, whatever contribution Schleiermacher’s Güterethik might make to a theory of culture, his reasons for rehabilitating the idea of the highest good and developing a strictly scientific procedure for the formation of ethical concepts place his interests squarely in the realm of fundamental moral theory. For all his insistence that ethics, like all human knowing, is always a work in progress (im Werden), Schleiermacher was convinced that his tripartite system of ethics had put this discipline back on course, indeed, had for the first time in the history begun to fulfill ethics’ aspirations qua Wissenschaft. As with the young author of the ‚Grundlinien‘ and ‚Brouillon‘, so too with the older, wiser Berlin Ordinarius: the science of ethics finds itself in disarray. Compared to the natural sciences it has made little progress over the centuries;9 one system follows upon another without ever approaching a consensus;10 and a general indifference towards this
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9 10
Michael Moxter: Güterbegriff und Handlungstheorie: Eine Studie zur Ethik F. Schleiermachers, Kampen 1992. ‚Über die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffes‘ (1819); ‚Versuch über die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffes‘ (1924); ‚Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz‘ (1825); ‚Über den Begriff des Erlaubten‘ (1826); ‚Über den Begriff des höchsten Gutes. Erste Abhandlung‘ (1827); ‚Über den Begriff des höchsten Gutes. Zweite Abhandlung‘ (1830). All in KGA I/11. KGA I/11, 540. KGA I/11, 537.
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field of inquiry prevails.11 Schleiermacher provides numerous reasons in the Academy lectures for the unhappy state of the science of ethics. In the main, however, they can be organized under two basic criticisms. The first is procedural and concerns the success with which our ethical concepts carve up the powers, activities, and products of individual and communal human action: previous theories in the history of moral philosophy had simply failed to distinguish and combine their concepts properly. We shall see presently that the adequacy of an ethical theory – like that of all thinking that is to count as knowing – is a function of the stringency with which it constructs and derives its concepts. The second basic criticism is directed especially at modern moral theory, viz., that ethics will remain an unhappy science so long as Tugendlehren and Pflichtenlehren are developed independently of a theory of the highest good. Far from being a forward-looking precursor to twentieth-century theories of culture, Schleiermacher was a backwardlooking, if revisionary, retriever of the ancient moral topos of the summum bonum. Indeed, his preference for the ancients and his unabashed appropriation of them as resources for his own theory is a remarkable feature of the Academy addresses. Having briefly identified the two fundamental criticisms of Schleiermacher’s diagnosis, I want to now delve into some of their details. It would be difficult to overemphasize Schleiermacher’s concern for proper scientific procedure in the Academy lectures. The four lectures devoted to the concepts of virtue, duty, and the highest good, all obey a general epistemological canon (the full elaboration and justification of which is to be found in the technical part of the ‚Dialektik‘): „Everywhere a system of concepts is erected in order to bring an object into view [zur Anschauung bringen], the antithesis of unity and multiplicity is the predominant form. This is so regardless of whether the procedure appears more to bring the multiplicity under a unity or to split up the unity into a multiplicity. […] The scientific presentation under the form [of the concept] thus rests on the gift of seeing unity and multiplicity together and being able to transform the one into the other“.12
As in philosophy generally, so too in every branch of ethics: one-sidedness of perspective is to be avoided. In ancient metaphysics, Schleiermacher detected such a one-sidedness in the extremes of pantheism and atomism.13 In ethics, the same extremism underlies the classical debates about whether virtue is one or many.14 Schleiermacher’s consistent employment of four-fold conceptual schemes (Viererschema) across all three 11 12 13 14
KGA I/11, 539. KGA I/11, 316. Ibid. KGA I/11, 316–17.
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branches of his ethical system functions as a check on such one-sided concept-formation. His constant search for internal principles of differentiation (Teilungsgründen) through which basic moral concepts could be systematically ramified was meant to ensure that the gift of seeing unity and multiplicity together is not left entirely to chance.15 One-sidedness of perspective, however, is not the only vice endemic to ethical theory. Proper procedure is also violated when scientifically developed moral concepts are conflated with those circulating in civic or public life. Like any science, ethics‘ sole interest is the pure and complete cognition of its object: das Sittliche, or more precisely, the human activities through which nature becomes the instrument and expression of reason. Properly grounded and developed, the concepts of virtue, duty, and the highest good are meant to fully comprehend and articulate this process. In contrast, ordinary moral terms circulating in public life stand in a „different series“ of concepts than those formed in the interests of science or pure knowing.16 Indeed, ethics as a science can only serve its critical or evaluative function if its concept-formation is pursued strictly independently of popular or practical usage. With respect to the virtues Schleiermacher remarks: „Whoever doesn’t separate these tasks, but wants to justify his generally proposed virtue concept via its applicability to all those often political, often economic, or other concepts having to do with the art of life, will without fail corrupt his business“.17 The implication of all this is that moral theory is not, for Schleiermacher, a matter of putting a culture’s shared moral intuitions and values into reflective equilibrium. Rather, it is the consistent application of a canon of pure knowing to the realm of human action so as to yield a necessary and exhaustive cognition of the moral cosmos that human beings qua rational organisms (or embodied reason) create and inhabit. Necessary in the sense of non-arbitrary and firmly grounded; exhaustive in the sense of leaving no region of the moral landscape uncharted. Schleiermacher spies a particularly insidious instance of the confusion of pure scientific moral concepts with concepts taken from civic life in the Kantian Sollensethik. Far from wanting to do away with a theory of duty, Schleiermacher strove to rescue the concept of duty from the complete separation of „ought“ and „is“ fundamental to Kant and Fichte’s practical philosophy. His 1825 lecture ‚On the Difference Between 15 16
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For examples of such concept ramification, see KGA I/11, 321–324 (‚Tugendlehre‘), 425–428 (‚Pflichtenlehre‘), and 549–552, 664–668 (‚Güterlehre‘). KGA I/11, 318. Cf. Schleiermacher’s discussion of the difference between „geschäftliches“, „künstlerisches“, and „reines Denken“ in the 1833 introduction to the ‚Dialektik‘ prepared for publication (KGA II/10/1, 393–398). KGA I/11, 319.
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Natural and Moral Law‘ is a fascinating attempt to bridge the Kantian bifurcation, in part by providing a genealogy of the thoroughly modern habit of associating morality with a sheer, counterfactual sense of obligation. Psychologically, Schleiermacher traces the notion of the Sollen back to the experience of the interpersonal address of a commander to someone commanded.18 Regarded sociologically, he suspects that the close association of the concept of moral law with the form of a command derives from „the sphere of domestic and civil life“.19 Historically, he argues that the habit of connecting the „ought“ with moral cognition arose when early Christianity adopted Jewish theocratic legislation into its own ethic. Centuries later when rational ethics superceded divine command theory, it nonetheless uncritically retained the form of the Sollen as constitutive of the moral law.20 It is for these reasons, Schleiermacher explains, that there remains „something mysterious and inexplicable“21 about the sheer ought of the categorical imperative. Schleiermacher’s longstanding insistence that ethics be written in the indicative rather than the imperative mood must be understood against the background of such criticisms of „juridical“ ethics. The final words of the 1825 Academy address capture this connection perfectly: „As soon as moral theory has freed itself from the analogy with the political, and the insight has dawned that, because the political itself can only be constructed via moral theory, the form of the political [the ought] may not be regarded as the prototype [Urform] according to which moral theory must be developed. Rather, the best form of moral theory will be that in which intelligence is portrayed as appropriating and shaping as well as disclosing itself in its own self-contained creation – a type which nowhere lies at the foundation of moral theory as clearly as it does in the Platonic construction, but which has yet to blossom into its perfected development“.22 With this pregnant allusion to the Güterlehre we can turn to the second major element in Schleiermacher’s diagnosis of the condition of contemporary moral theory. Here the criticism is not that the theories of virtue and duties are corrupted by the encroachment of concepts from practical and political life. Rather, the problem lies in the hegemony of Pflichtenlehre and Tugendlehre in the modern period or, more precisely, in their status as freestanding ethical theories.
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KGA I/11, 436. KGA I/11, 438. KGA I/11, 439–440. KGA I/11, 435. KGA I/11, 451.
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Divorced from a genuine concept of the good, these theories are judged by Schleiermacher to possess extremely low scientific value. He charges them specifically with: 1) 2) 3) 4)
„compiling only fragmentary particulars“ in which „the moral appears forever conditioned by the existence of the immoral;“23 confining themselves „to the minutia of individual life and confused personal relations;“24 failing to „encompass everything that […] emerges from the free determination of the human will;“25 and achieving nothing for „those needing to navigate the ocean of a truly self-active life“.26
What binds these criticisms together is Schleiermacher’s larger concern that moral theories focused solely on human excellences or right action inevitably ignore the self-perpetuating products of human action, the stable forms of practices and institutions resulting from the action of reason upon nature, the derivation of which belongs to the Güterlehre. This worry begins to make sense as soon as we recall that, for Schleiermacher, comprehensiveness and systematicity are principal criteria of scientific adequacy, and that ethics, no less than physics, aspires to articulate a seamless, organic whole. Only a theory of the highest good can save the science of ethics from its current fragmented and stultified condition, because only attention to the purposes and products of human action can capture the entire scope of the moral. In one of his more lucid justifications of his tripartite system of ethics Schleiermacher writes: „The three concepts – good, virtue, duty – each for itself and taken in its entirety, portray the entire moral domain; yet each does this in its own distinctive way, without it being the case that what is said with one concept could in actuality ever be separated from what is said by the others. Therefore, if all goods are present in the entire human race – and this alone is what we’re here talking about – then so must also all virtues be active in all. And conversely, insofar as all virtues are in all, so must all goods also be present, because these can arise in no other way – neither through accident nor as a divine gift – but only as the activity arising from the necessarily harmonious efficacy of all virtues. Equally so – since duty is the third of those concepts – the other two could not be found somewhere without in the same place also all duties having been fulfilled, just as it would be impossible for all duties to be fulfilled by all without positing in [the agents] all virtues and without
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KGA I/11, 539–540. KGA I/11, 548. KGA I/11, 541. Ibid.
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Brent W. Sockness at the same time all goods having to be acquired by the human community through the fulfillment of duty“.27
Far, then, from wishing to do away with the prevailing forms of modern moral theory in his day, Schleiermacher sought to ground Tugendlehre and Pflichtenlehre in an analysis of the structure of human action as purposive, and thereby to set them into proper relationship to a theory of human ends. And far from wishing to develop a theory of culture for its own sake, he revived and revised the topos of the highest good for the sake of rescuing modern moral theory from incoherence. Much has happened to the concept of culture since Schleiermacher’s day, and in closing, I’d like to make a few brief observations about just how far contemporary theories of culture – as found, for instance, in social and cultural anthropology or more recent cultural studies – deviate from Schleiermacher’s aims qua moral theorist. It is worth reminding ourselves that the term „Kultur“ has a limited scope and application in Schleiermacher’s ethics. It is restricted to the „organ-forming“ activity of reason, through which the talents of individuals are cultivated and the entirety of external nature is asymptotically brought under rational control. The „Idee der Kultur“, Schleiermacher tells us, is exhausted in the „Ausbildung der Personlichkeit“ (e.g., gymnastics in the classic sense of paideia) and the „Anbildung der Natur“ (e.g., agriculture, manufacture, technology).28 Clearly this use of the term stands far closer to the eighteenth-century concept of Kultur than the twentieth. Ever since Franz Boas and the rise of cultural anthropology, we’ve become accustomed to speaking of „cultures“ in the plural and deploying the culture concept as a marker of radical particularity, contingency, and plasticity in human affairs. Ever since Wittgenstein and Geertz it has become common in the humanities to underscore the linguistic embeddedness of the various forms of life we label cultures, and to view „culture“ in terms of complex and highly idiosyncratic symbol systems. For this reason the contemporary concept of culture probably maps better onto the individualizing and symbolizing poles of Schleiermacher’s Viererschema for the highest good than it does onto the formative or organizing function. It may even find a more suitable dwelling place quite elsewhere in Schleiermacher’s system of the sciences: namely in empirical history or Geschichtskunde. Schleiermacher’s aim in constructing a system of ethics in which the doctrine of the good holds pride of place was not to replace the traditional aspirations of practical philosophy with a theory of culture. On 27 28
KGA I/11, 417. See Schleiermacher: Brouillon zur Ethik (1805/1806), ed. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981, 30.
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the contrary, he understood himself to be working squarely in the grand tradition of Western moral philosophy stretching from Plato to Fichte. Moreover, for all his celebrated historical consciousness, Schleiermacher treated his predecessors in the history of ethics as genuine philosophical interlocutors rather than mere historical curiosities. Far from simply reflecting the mores of their various „cultures“, Plato, Aristotle, the Stoics, Spinoza, and even Kant were each held to possess a share of the truth about the moral life. Under any other presupposition, criticism and appropriation of their ideas would be pointless. In seeking to subordinate and integrate the theories of virtue and duty into a comprehensive theory of the highest good, Schleiermacher was simply pursuing the formal desiderata for a scientific treatment of ethics first formulated in the ‚Grundlinien‘, subsequently undergirded by the epistemology of the ‚Dialektik‘, and gradually put into practice in ever more stringent conceptual form in the university lectures on ethics. The result is a unique and fascinating moral theory that continues to perplex and confound those willing to take it seriously.29 While it may be heuristically advantageous for us late-modern interpreters to read the Güterlehre as a theory of culture or an anticipation of the „historische Kulturwissenschaften“, we mustn’t lose sight of the audaciousness of Schleiermacher’s ultimate philosophical ambition: namely, to construct the outlines of the only possible system of ethics. „Denn das Willkührliche darf in der Wissenschaft keinen Raum finden“.30
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For three recent attempts, see: Robert B. Louden’s introduction to Friedrich Schleiermacher: Schleiermacher: Lectures on Philosophical Ethics, trans. Louise Adey Huish, Cambridge 2002, xxix–xxx; Michael Forster: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2003 Edition), ed. Edward N. Zalta, http://plato.stanford.edu/archives/win2003/entries/schleiermacher/; and Frederick C. Beiser: Schleiermacher’s Ethics, in: The Cambridge Companion to Friedrich Schleiermacher, ed. Jacqueline Mariña, Cambridge 2005, 53–71. Grundlinien, KGA I/4, 168.
Emancipation Discourse in the late 18th Century Christian Wilhelm von Dohm on the Jews (1781) RICHARD CROUTER/NORTHFIELD Ich wünsche nur ins aktive Leben zu kommen, da mir das akademische wegen seiner Einförmigkeit, Kabalen und dergleichen immer weniger gefällt. Ich glaube jetzt Theorie genug gesammelt zu haben, und müßte sie nur durch wirkliche Geschäfte fruchtbar machen. (Letter from Dohm to his benefactor, the poet Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 1776)
Whoever speaks about „emancipation“ in a late 18th century context might well be urged to be cautious. This key concept from the Sattelzeit 1750–1850 is scarcely well formed during the late Enlightenment. Yet certain features of it are implicit in the 18th century discourse regarding human rights, which I wish to take up in the case of the emancipation of German Jews.1 Though by the 1830s the term Emanzipation had attained the status of an omnibus catchword for all human aspirations, it only gained this status after the French and the American revolutions and did so earlier in England than in German-speaking lands.2 If today’s political and cultural elites take for granted an undifferentiated human longing for self-realization, this elevation of language did not occur at a single point in time. Indeed, the term Emanzipation evolved from a strictly juridical, largely external, transaction between an ancient Roman father and his son to become a virtual aspiration of peoples in every society. As the goal of specific social classes or groups of persons – Jews, Catholics, peasants, citizens, women, slaves, workers – „emancipation“ 1
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See Karl Martin Grass and Reinhart Koselleck: „Emanzipation“, in: Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, eds. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd.2, Stuttgart 1975, 153–197, as well as Hedda J. Herwig: Formen des Emanzipationsbegriffs: Zur Kritik der unbestimmten Selbstverwirklichung, München 1980. Robert Liberles: From Toleration to Verbesserung: German and English Debates on the Jews in the Eighteenth Century, in: Central European History 22/1 (1989), 21–26.
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Richard Crouter
as the goal of human existence constitutes the political counterpart of the religious quest for salvation.3 To speak of emancipation discourse in late 18th century Prussia may initially seem anachronistic, a modernizing Whig interpretation of history that invites intellectual mischief. Yet it is not foolish to connect the Dohm treatise with the general movement of emancipation. The task at hand is to identify, as precisely as one can, the discursive elements and strategies of persuasion within his argument. Even where the word „emancipation“ is not used (which is the case for Dohm’s work) appeals to various forms of Gleichberechtigkeit, and cognate ways of designating human equality moved the German discussion of the late 18th century in new directions. No longer just the case of an ancient Roman father and a son come of age, Emanzipation as substantive and emanzipieren as verb came to be considered as a general human right, the ultimate (even if often inadequately specified) aspiration of a human self or a societal group. To write and speak about emancipation in the 1781 treatise of Christian Wilhelm von Dohm, ‚Über die bürgerliche Verbessung der Juden‘,4 as I propose doing, is to step inside a world where language is in flux and cultural aspirations in process of being defined. Having worked earlier on the emancipation debate involving Friedländer, Schleiermacher, and Teller in 1799, where the theology of baptism was debated in the context of Prussian Jews’ wish to enter civil society,5 I here wish
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Rather than being restricted to an external act of law, „emancipation“ gradually comes to reflect the innermost political and religious longings of the human spirit, which cries out universally for equal treatment and equal justice in the period of the French revolution. Grass and Koselleck, „Emanzipation“ ibid. (n.1), 165, note that Edmund Burke’s phrase „the emancipating year of 1789“ was translated by Friedrich Gentz as „Erlösungsjahr“. Christian Konrad Wilhelm von Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. 2 Teile in einem Band, Hildesheim/New York 1973, prints both the 1781 and the 1783 treatise, which responds to critics. Most of the first treatise, 7–150, appeared in English as Christian Wilhelm Dohm: Concerning the Amelioration of the Civil Status of the Jews, tr. Helen Lederer, Cincinnati, Ohio 1957; excerpts from Lederer are reprinted in: The Jew in the Modern World: A Documentary History, ed. Paul R. Mendes-Flohr and Jehuda Reinharz, New York/Oxford 1980, 27–34. David Friedländer, Friedrich Schleiermacher, Wilhelm Abraham Teller: A Debate on Jewish Emancipation and Christian Theology in Old Berlin, ed. and trans. Richard Crouter and Julie Klassen, Indianapolis/Cambridge 2004; KGA I/2, ed. Günter Meckenstock, Berlin 1984, LXXVII–LXXXV, 327–361, 373–413. When the analysis that follows makes reference to subsequent debates regarding Jewish emancipation, e.g., David Friedländer’s ‚Sendschreiben jüdischer Hausväter‘ addressed to Probst Wilhelm Abraham Teller or the debate that was entered by Friedrich Schleiermacher’s six fictive letters, the ‚Briefe bei Gelegentheit‘ of 1799, this is done only to highlight the specific state of the debate as framed by the 1781 text, and not as a basis of judg-
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to examine an earlier treatise that appears by hindsight to have set that debate in motion. Though not the first such exploration of the status of Jews in German speaking lands,6 Dohm’s work was the most extensive to date and „had a much more global character than previous exchanges.“7 Though the improved status of the Jews under Friedrich the Great might be viewed as a matter of economic benefit to the state, this impulse was held in check by the widespread prejudice that hundreds of years of Jewish trading and conniving showed them to be of faulty moral character. Yet Dohm’s main claim inverted the usual view of cause and effect. Not an innately corrupt moral character, but the exclusionary policies of the King, and a thousand years of his predecessors, towards Jews caused the lamentable Jewish conniving and immorality in trade and other money practices. His first treatise, which is alone treated here, reflects Dohm’s training in law and economics at Göttingen prior to his 1773 arrival in Berlin and entry into Prussian civil service in 1779 in a relatively minor position as registrar of the archives and councillor in the department of foreign affairs.8 Though cast in narrative form, Dohm’s quasi-legal brief reasons about current policy and practices in a wide-ranging manner. Learned and measured in tone, the work makes excellent use of Dohm’s Göttingen education in Roman law and antiquities, finance, statistics, and a broad range of cultural and religious history. Like a good advocate, he meets the opposing arguments of his day head on. Even though the treatise does not argue theologically, its stance on the boundary between religion and politics caused its author to worry about religious
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ing the adequacy or relevance of Dohm’s contribution or the weight to be given to it in the overall trajectory that surrounds this discussion. Liberles: From Toleration to Verbesserung, ibid. (n.2), 5–9. Steven M. Lowenstein: The Berlin Jewish Community: Enlightenment, Family and Crisis, 1770–1830, New York/Oxford 1994, 75. Cf., Ludwig Geiger: Geschichte der Juden in Berlin I, Berlin 1871, 123: „Das Dohmsche Buch wird zu allen Zeiten ein Merkstein in der Geschichte der Juden bleiben. Es ist keine Schutzschrift, wie sie auch frühere Jahrhunderte gesehen haben, es ist keinen Predigt hartherziger Toleranz, die jene Zeit vielfach hervorbrachte, es ist ein klassisches Werk, das von Gerechtigkeitsliebe und historischem Sinn erzeugt und getragen ist“, quoted in Dambacher, 176, n.2, 23; the ‚Jüdische Lexikon‘ (1927–1930) refers to it as „die Bibel der Emanzipation der Juden“, cited in Heinrich Detering: Christian Wilhelm von Dohm und die Idee der Toleranz, in: Lessing und die Toleranz, eds. Peter Freimark et al., Detroit 1986, 174. Liberles: From Toleration to Verbesserung, ibid. (n.2), 10. See also the epigraph above, a January 1776 letter to his friend and benefactor, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, poet in Halberstadt, cited in Ilsegret Dambacher: Christian Wilhelm von Dohm: Ein Beitrag zur Geschichte des preußischen aufgeklärten Beamtentums und seiner Reformbestrebungen am Ausgang des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1974, 12.
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censorship.9 Apart from historical references that reflect poorly on the Christian tradition, e.g., Chrysostom’s fourth-century diatribes against the Jews, Dohm’s arguments for Jewish rights make only tangential mention of the dogmas and beliefs of Christianity. Dohm is, however, acutely aware that the power of a Christian majority within the state weighs heavily in the debate. The only religious practices that come under his purview are Jewish religious practices (ritual laws, sabbath observance, messianism) that might be considered to conflict with social intercourse, participation in the military, or loyalty to the state.10 Since Dohm’s book took shape under collaboration with Moses Mendelssohn it reflects many, though not all, of the views of the Berlin Jewish philosopher.11 The treatise can also been characterized as the staatsrechtlich and politisch counterpart to Lessing’s two works, the earlier play, ‚Der Jude‘, and the celebrated 1779 plea for toleration, ‚Nathan der Weise‘. Just how Dohm’s work relates to both Mendelssohn and to Lessing is considered further in what follows. The premise of this paper is that where the concepts that reflect human aspiration are in motion, we do well to look with care into the exact nature of Dohm’s language and arguments. Only in this fashion can one gain a sense of Dohm in relation to Lessing and Mendelssohn but also in relation to the subsequent 1799 debate involving Friedländer, Schleiermacher, and Teller. Among recent English-language research on this topic, the pathbreaking book by Ritchie Robertson12 ‚The „Jewish Question“ in German Literature 1749–1939: Emancipation and its Discontents‘ (1999) must be noted. Like Robert Liberles, Robertson sees the phases of emancipation moving from toleration in Holland and England (1600–1750) to Verbesserung in Germany, Austria, and France (1770s– 1780s), to full civil and political rights after the French revolution.13 But Robertson reads the three phases represented by Lessing, Dohm, and Mendelssohn respectively as toleration, mercantilism, and philosophic human rights, and views them all as falling short of the mark. Each of 9
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Dambacher (ibid., 176), notes that Dohm met his concern about censorship by proposing as censor Enlightenment preacher and fellow member of the Wednesday Society, Wilhelm Abraham Teller to his publisher Friedrich Nicolai. Criticisms of the work by the Göttingen Orientalist Johann David Michaelis (1717–91) were taken up and reprinted with responses by Dohm in a second edition of the work (1783), reprinted along with the first edition in Dohm, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, ibid. (n.4). See Alexander Altmann: Moses Mendelssohn: A Biographical Study, Alabama 1973, 450–461, which documents the intimate degree of collaboration between Mendelssohn and Dohm. Ritchie Robertson: The ‚Jewish Question‘ in German Literature 1749–1939. Emancipation and its Discontents, Oxford 1999. Liberles: From Toleration to Verbesserung, ibid. (n.2), 4.
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the stances seems to Robertson to have acculturating elements that serve more to deny than to liberate actual Jewish life.14 Dohm’s work is viewed by Robertson as restricted to mercantilist arguments about Jewish usefulness. Readers of Robertson would not guess that the first Dohm treatise supplies most of the arguments for Jewish emancipation for the next hundred years.15 Robertson’s account of Dohm’s protoemancipatory discourse fits him prematurely into a highly nuanced, but nonetheless thematic treatment of all that transpires in the subsequent German-Jewish reality down to Sigmund Freud and the rise of the Third Reich. To my mind, it behooves us to think about his tract for its own sake, even if the task of analyzing the fate of his epoch-making recommendations must be deferred for another time and place. If Kant’s more prominent book from 1781 set the pace for philosophy over the past two hundred or so years, Dohm’s little read youthful book sketches arguments for socio-economic, political, and religious pluralism, and related issues, that are also unresolved in our own day. Dohm’s 1781 treatise typically presses the universalizability of moral principles, and hence puts into practice what we now think of as Kantian moral philosophy. The thesis to be argued here is that, far from being restricted to narrow quasi-mercantilist arguments, as Robertson maintains, the tract covers a wide range of concerns that fall under the headings of toleration, civic improvement (Verbesserung), and philosophically grounded arguments for the existence of the natural rights of man. Dohm’s arguments are infused with political and economic arguments on behalf of liberty for Prussia’s Jewish population. In promoting these material-economic perspectives, Dohm makes use of legal precedents, historical analogies, and eighteenth-century Prussia’s particular place within the context of European states.
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Robertson: The ‚Jewish Question‘ in German Literature, ibid. (n.12), 31–32: „Given the context of Enlightened prejudice, the writings of Lessing, Dohm, and Mendelssohn introduce a remarkable change in outlook. But, as the following sections argue, all three cases contained weaknesses and contradictions which, in the long run, assisted the dissolution of traditional Judaism without affording Jews more than qualified acceptance in German society“, and 32–76 for his views of Lessing, Dohm, and Mendelssohn. The work of Robertson raises profound questions about the stance of liberalism in modern politics without, however, to my mind, proposing some political theory that might evade its apparent weaknesses. This is the view of Grass and Koselleck: „Emanzipation“, ibid. (n.1), 178–179.
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Jews are economically useful to the Prussian state Unlike theologians and philosophers who begin their plea for civil rights with lofty principles, Dohm holds the material well-being and dilemmas of running a state uppermost in mind. Drawing from 17th–18th century mercantilist assumptions about self-sufficient economies and demographics, he asks how many persons can live most successfully in a square mile, while noting that the optimum population has not yet been reached in any of the great European states.16 He believes that states must pursue paths of acquisition, promote marriage and trade, and give freedom of opinion to subjects, so long as they don’t contradict the purposes of the state, while seeking to exclude the products of foreign industry.17 For Prussia to reach out and pull in more Jews for the sake of its national well-being is fully justified on the basis of the population needs of the Prussian state. Dohm appeals directly to the foreign policies of Friedrich the Great, whose immigration policy had already drawn other peoples, such as Huguenots, Quakers, and French to Prussian territories. Here the discourse of emancipation goes hand in hand with material components, the facts, as it were, of socio-economic reality. By calling attention to actual cultural exchanges between Germans and other groups, the analogy to the Jews invites itself into the reader’s mind. Of course, since the first partition of Poland in 1742 brought Prussia several thousand new Jews, demographics were a significant element in Dohm’s position.18 That said, there was little or no hope for an immediate realization of his proposals in a monarchy that had long made up its mind on how best, short of giving them citizenship, it might use its Jews.19 Behind Dohm’s line of thought is the conviction 16 17
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Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, ibid. (n.4), 4–5. Dohm’s ‚Über die bürgerliche Verbesserung der Juden‘ appeals directly to the aim of self-sufficiency and „protectionism“ and a belief that the states of Europe seek a kind of insularity in which each will produce everything consumed within its borders. See Liberles on numbers of Jews in Poland, which raised number within Prussia significantly in this period. See also Michael Brenner on this period in German-Jewish history. See the remarks of Christian Wilhelm von Dohm, looking back on the treatise in 1819: Denkwürdigkeiten meiner Zeit oder Beiträge zur Geschichte vom lezten Viertel des achtzehnten und vom Anfang des neunzehnten Jahrhunderts 1778 bis 1806, Bd.4, Lemgo 1819, 484, footnote: „Freudig bekennt der Verf. hier seine Ueberzeugung, daß noch jetzt, nachdem so Vieles über diesen Gegenstand, zum Theil in einem ganz andern Sinne wie der seinige, geschrieben ist, eben diese Grundsätze ihm doch noch immer die einzigen zu seyn scheinen, die eine Regierung befolgen muß, der es Ernst ist, die Juden zu brauchbaren Unterthanen zu machen. Sein Buch ist zugleich ein Beweis, wie freimüthig man unter Friedrich die von ihm befolgten Regierungs-Maximen öffentlich beurtheilen durfte; der Verf. übersandte seine Schrift dem Könige, und entwickelte in dem Begleitungsschreiben kurz die Tendenz derselben; er erhielt
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that including diverse populations serves to strengthen, not diminish, the state. Like other non-German populations, Jewish immigrants provide a potential untapped human resource for Prussia. Self-interest, more than altruism or love, motivates his argument. Indeed, Dohm hints that opening up to Jews as a population resource, when other European states may still be inclined to exclude them, will give Prussia the edge in demographic power.20
Common morality and natural rights outweigh religious differences Though the treatise opens with the language of material exchanges of populations, Dohm soon shows an awareness of the personal stakes that are present within the hearts and souls of the Jewish community. Empathy with the plight of Jews requires recognition of this common humanity.21 In a reference to the cultural elites among merchants and Hofjuden, he notes that a Jewish father seldom has the pleasure of living with his children and grandchildren and of establishing the well-being of his family on a secure foundation.22 Dohm’s concern for lived Jewish experience foreshadows the discourse of David Friedländer’s ‚Sendschreiben‘ sent to Probst Teller in 1799, which powerfully conveys the personal costs of a piecemeal policy that allows privileged Jews, though not others, into civil society.23 Like Dohm’s non-Jewish readers, Jewish householders have deep affection for the well-being of their children and grandchildren. Even if this is not stated formally, Dohm’s appeal to a common humanity rests implicitly on Enlightenment principles of natural right. The teachings of Jewish scripture enforce a natural sense of right. „Certainly the present religion of the Jews contains no commandment to hate and to insult different brothers of faith (Glaubensgenossen).“24 The „commandment to love the neighbor“ of the Hebrew
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eine seine Absicht lobende, gütige Antwort. Ein Mehreres war nicht zu erwarten, denn Friedrich war in seinen Regierungs-Maximen zu fest, als daß er durch eine deutsche Schrift eines noch jungen Schriftstellers zum nochmaligen Durchdenken derselben hätte bewogen werden können.“ Ibid., 8. Ibid., 9f. Ibid., 9, „Selten kann also ein jüdischer Vater das Glück geniessen unter seinen Kindern und Enkeln zu leben, den Wohlstand seiner Familie auf eine dauerhafte Art zu gründen.“ Friedländer, Schleiermacher, Teller: A Debate on Jewish Emancipation and Christian Theology in Old Berlin, ibid. (n.5), 42–47. Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, ibid. (n.4), 22.
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Bible does not understand „neighbors“ to refer only to the people of Israel. Murder, theft, and deception committed against outsiders remain crimes in Old Testament law. That is the positive side of morality in the Hebrew bible. When Dohm turns to meet the counterargument that Old Testament religion is predominantly vengeful and hostile towards outsiders his rhetorical strategy does not pursue the familiar, Ah yes, but this account ignores the ways in which the religion of the first covenant also teaches God’s supreme love towards humanity and all of creation. Instead, Dohm acknowledges that Jew baiters like Johann Eisenmenger25 make a habit of stressing the hate and vengeance of Old Testament religion, but Dohm observes that such manifestations arise from an exclusiveness that resides in all religions, „every one of which boasts of itself as the only, or at least as the most sure and direct way to attain the favor of the deity.“26 He continues: „There is thus a sense in which every religion instills in its adherents a kind of disinclination against all the others, which can border on hatred or even contempt, according to whether the political conditions of the various religious societies define their sensitivities towards one another, and the degree to which the rest of culture, the influence of philosophy and science have left the impressions of sacred opinions stronger or weaker.“27
As a realist observer of human affairs, Dohm acknowledges that the exclusiveness of religion is incompatible with Enlightenment rationality. His point is designed to address the „chosen people“ objections to Jewish capacity for citizenship. In effect, all religions feel themselves as special or „chosen“, even if not articulated directly. Lessing’s famous ring parable from ‚Nathan‘ where each religious adherent (Muslim, Jew, Christian) thinks he has the „true ring“, recognizes this as well.28 Despite the habit of religions to privilege themselves, these practices of humanity must be treated with respect, even if the nature of civil society does not allow the state to accept them on their own terms. When Dohm writes: „The Jew is even more a human being than a Jew“ („Der Jude ist noch mehr Mensch als Jude“29) his view repeats the stance put forth by Lessing in ‚Der Jude‘ and in ‚Nathan der Weise‘. In ‚Nathan‘ Act 2, 25
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Ibid. Johann Andreas Eisenmenger (1654–1704), Hebraist in Heidelberg, whose notorious book ‚Entdecktes Judentum‘, published vicious antisemitic stereotypes and polemics from the Middle Ages. Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, ibid. (n.4), 23. Ibid., 23–24. See Lessing: Nathan the Wise, tr. Guenther Reinhardt, Woodbury, NY 1950, Act III, Scene 7, [Nathan to Saladin], 69: „If each of you has his ring from his father, then may each one surely believe his ring to be the real one. It is possible that the father now would no longer tolerate in his family the tyranny of the one ring.“ Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, ibid. (n.4), 28.
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Scene 5, Nathan refuses to identify himself with his people and says to the Christian templar: Despise My nation as you please. We did not choose Our nations, either you or I. Are we Our nations? What does ‚nation‘ mean? Are Jews And Christians first and foremost Jews and Christians, And human only second? Would that I Had found in you another person who Is happy to be human30
When Nathan thus asks the templar to prefer his identity as human to his religious identity, this raises many questions. Even if one might say this of one’s own religious identity, can one claim that the humanity of someone else trumps his sense of self as religious? The argument of Robertson would, in effect, hold that if a Jew or a Christian identifies himself first as Jew or Christian, Enlightenment reason must not be allowed to efface this identity. But to the mind of Dohm the particularities of Jewish existence, including one’s self-identity, continue to stand; on his view, the model of a late eighteenth-century pluralism is supported, not undermined, by a model that affirms the natural rights of one’s humanity as primary. Dohm backs up his view with the social argument that the variety within each religion and its practices, as well as among religions, will flourish best when combined with a freedom of expression protected by the state.31 Since all religions maintain that they are true, the state cannot legitimately single out a particular religion’s adherents and „renounce
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Robertson: The ‚Jewish Question‘ in German Literature, ibid. (n.12), 41. Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise, Stuttgart 1965, 50: „Verachtet Mein Volk so sehr Ihr wollt. Wir haben beide Uns unser Volk nicht auserlesen. Sind Wir unser Volk? Was heißt denn Volk? Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, Als Mensch? Ah! Wenn ich einen mehr in Euch Gefunden hätte, dem es gnügt, ein Mensch Zu heißen!“ Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, ibid. (n.4), 86–87: „Der Genuß der Freyheit in Absicht jener nur eignen Einsichten folgen zu dürfen, macht den Bürgern den Staat, der ihn gestattet, noch lieber, und zugleich alle Pfeile der Schwärmerei stumpf. Bey der grössten Mannigfaltigkeit der religiösen Gesellschaften ist von den Vorurtheilen jeder für den Staat am wenigsten zu besorgen; und es wird den geheiligten Lehren immer am schwersten gelingen, ihren Verehrern ausschliessende Grundsätze einzuflössen, wenn der Staat sie alle mit gleich unpartheyischer Liebe umfasst, wenn sie der Vortheile der bürgerlichen Gesellschaft ganz geniessen können, ohne den Glauben ihrer Väter verleugnen zu dürfen;“ Dohm: Concerning the Amelioration of the Civil Status of the Jews, ibid. (n.4), 45.
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the rights of citizenship of these adherents.“32 If a degree of exclusiveness adheres to all religions, it is irrational to withhold rights of citizenship for this reason only in the case of the Jews.33
Jews will add to the de facto pluralism of society Dohm acknowledges that all religions have a self-regarding feature that could make them objectionable to civil society. His point is only that this need not be the case for the religion of Jews any more than for any other religion. Since religions will apparently not be eradicated from humanity, the state must find its legitimation on other grounds, such as natural rights, or through what we would call contractarian social theory. But since pluralism already exists in Prussia, the state is not endangered by bringing Jews into civil society. This is seen, for example, in separations between the nobles, citizens and peasants; dwellers in cities and farmers; soldiers and civilians; scholars and laity; artists and the untutored. Thus a guild, a trade union, and a government office separate their members from others, just as a Christian, a Jew, and a Moslem, the supporters of Ali and those of Osman, the devotees of the Pope and of Luther, of Socinus and Calvin, the Portuguese Hebrews and the Polish.34
Diversity among citizens already obtains within the social fabric in the relationships that exist between estates, classes, and religious groupings. In a manner that is closer to Max Weber than to the theories of a philosopher or theologian, Dohm argues for de facto Jewish inclusion based on extant social and political reality that is already firmly in place. The de facto coexistence of real and potentially hostile groups in late eighteenth-century Prussia requires some form of natural right argument and assumption of a common humanity for its completion. Com32 33
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Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, ibid. (n.4), 24. See Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, ibid. (n.4), 24: „Wenn also jede Religion mehr oder weniger die natürlichen Bande der Menschheit zerreisst, und dieser Gefühle und Rechte nicht in gleichem Grade denen bewilligt, die durch verschiedne Meynungen getrennt sind, wenn dieses eine natürliche Folge des behaupteten Vorzugs jeder Religion ist; so kann es nicht für einen Grund gelten, deshalb den Anhängern irgend eines Glaubens die Rechte der Bürger zu versagen.“ Lederer, tr., Concerning the Amelioration of the Civil Status of the Jews, ibid. (n.4), 11: “If therefore every religion severs the bond between man and man and makes men withhold affection and justice from those who are not of the same faith, if this is a natural consequence of the boasted superiority of every faith; then this phenomenon cannot be a valid reason for withholding the rights of citizenship from the adherents of any one faith.“ Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, ibid. (n.4), 25–26; Dohm: Concerning the Amelioration of the Civil Status of the Jews, ibid. (n.4), 12.
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pared with Dohm, the dramatic argument of ‚Nathan der Weise‘ might almost appear vapid, if it is read as a mere verbal dialogue, i.e., a matter of words and attitudes, limited to the enlightened spokespersons of the three major European religious confessions.35 In contrast, Dohm has put his finger directly on a level of differentiated social reality by speaking not to an idealized future possibility but to a lived reality of the present. To argue hypothetically for Jewish emancipation because all persons are by nature equal may sound hollow. But it is less apt to do so if one has just demonstrated that persons of diverse and hostile persuasions already live together in relative peace.
Distinctive Jewish practices do not override these arguments I have called attention to the fact that the work of the thirty-year-old Dohm reflects his background in studies of finance, Roman antiquity, history, and jurisprudence. In making the case for Jewish civil equality, Dohm knew that the time-honored opposing arguments must be met head on, and proceeds selectively to address them. Hence his treatise further discusses Jewish practices or beliefs that appear to conflict with affairs of civil society, three of which I mention here: Strict sabbath observance is incompatible with military service, devious practices in business and trade impede the integration of Jews into the social order, and their restrictive laws ensure the permanent segregation of Jews from the rest of the population. At the time, any one of these allegations may have sufficed to block Dohm’s arguments for an improved status of Jews in civil society. It was understandable for the Prussia of Friedrich II that concern with military prowess and participation should be prominent in thinking about Jews. Among other objections, Jews could never be citizens because their strict sabbath observance would prevent them from being soldiers. Being willing and able to serve to protect the fatherland is a sign of deserving the rights that a state like Prussia bestows upon its citizens. This was a serious consideration, not necessarily grounded in bigotry. In facing it, Dohm typically confronts the contemporary concern not with hypothetical or wishful thinking („Enough Jews will break the sabbath to make things work“) but with the historical fact that 35
This is the reading of Robertson: The ‚Jewish Question‘ in German Literature, ibid. (n.12), 42, who sees Lessing (not to mention Dohm) as literally self-effacing and cites the 1843 German novel by Fanny Lewald, Jenny, where a character complains „Nathan, Saladin, and the Templar all sounded like Protestants.“
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pacifist-inclined groups (Mennonites and Quakers) have already found a welcome in the Prussian state. Here Dohm builds on his view that the state thrives best on diversity. Since pacifist-inclined groups are no threat to the civil order, neither should be the Jews.36 As extra insurance on the point, Dohm elsewhere cites Maimonides to the effect that Jews may fight on the sabbath if a single human life is in danger when one’s enemies have surrounded a city.37 Today we know that the view of Jews as a morally corrupt people remained widely in place in the late 18th century. In his ‚Anthropology from a Pragmatic Point of View‘ (1798), Kant maintains that Jews are an irreformable nation of cheats, a view of the Königsberg philosopher that does not seem to have been revised.38 Yet Dohm in 1781 had already used historical arguments to relativize this view. On his reading of the Jewish past, their moral corruption, such as it may exist, results from the fact that Jews have been restricted by the majority society to the practices of trading and usury, i.e. working with exchange of money in areas where cunning business practices prevail. He maintains that this situation will change when Jews have access to all professions and jobs, including agriculture, business, and manufacturing. The attendance at schools that lead to these careers will make them fit for civil society. He doesn’t dispute the point (at least for the sake of argument) that Jews may be more morally corrupt than other nations. But he insists all the more that the tough conditions of their existence explain, even if they do not justify, this situation. He writes in awareness of power relationships and the responsibility that accrues to a political majority: „We were always the rulers, and therefore it would have been up to us to induce the Jew to feel humanly by proving that we have such feelings ourselves. In order to heal him of his prejudices against us we first have to get rid of our own. If, therefore, those prejudices today prevent the Jew from being a good citizen, a social human being, if he feels antipathy and hatred against the Christian, if he feels himself in his dealings with him not so much bound by his moral code, then this is our own doing. […] We ourselves are guilty of the crimes we accuse him of; and the moral turpitude in
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Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, ibid. (n.4), 29. Ibid., 144, n. Immanuel Kant: Anthropology from a Pragmatic Point of View, tr. Victor Lyle Dowdell and ed. Hans H. Rudnick, Carbondale/Edwardsville 1978, 101, footnote *, where Kant, writing some years after Dohm, recognizes the oddity of Jews as “a national of deceivers“ and attributes this to their apparently preferred status as merchants who stand outside civil society as „nonproductive members of society“. See Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, ibid. (n.4), 108, who admits as much as Kant that Jews are obsessed with a „love of profit“, but views this as due to historical conditions, not as a permanent condition.
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which that unfortunate nation is sunk – thanks to a mistaken policy – cannot be a reason that would justify a continuation of that policy.“39
In the situation at hand Dohm is aware that overcoming moral corruption places obligations on the majority culture, too. In temperament and training he is acutely aware of the need for the art of governing to apply theory wisely to real world situations. Human rights do not stand before us as abstractions. One has the impression that Dohm shares Locke’s conviction that natural rights do not stand alone magically but that they inhere among humans amid the fabric of society where they must be undergirded by the hard work of government and the administration of wise policies.40 Ever the social-political realist and comparativist, Dohm notes that newer social-political groups of immigrants frequently come from the underclasses of the countries they leave behind. In the case of the American colonies, he believes this has turned out quite well.41 Then, as if meeting prejudice by appealing to different social prejudice: Even if the Jews take some time to become fully integrated, this will be easier than it would be with the gypsies.42 Though the argument from exceptions is necessarily inconclusive and ambiguous, Dohm also cites the cases of Moses Mendelssohn (1729–1786) and the sephardic Jew Isaac
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Dohm: Concerning the Amelioration of the Civil Status of the Jews, ibid. (n.4), 20–21; see Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, ibid. (n.4), 38–39, „Wir waren immer die herrschenden, uns lag es daher ob, dem Juden menschliche Gefühle dadurch einzuflössen, daß wir ihm Beweise der unsrigen gäben; wir mußten, um ihn von seinen Vorurtheilen gegen uns zu heilen, die eignen zuerst ablegen. Wenn diese also noch itzt den Juden abhalten, ein guter Bürger, ein geselliger Mensch zu seyn, wenn er Abneigung und Haß gegen den Christen fühlt, wenn er sich durch the Gesetze der Redlichkeit gegen ihn nicht so gebunden glaubt; so ist dies Alles unser Werk. […] Wir sind der Vergehungen schuldig, deren wir ihn anklagen; und die sittliche Verderbtheit, in welche diese unglückliche Nation itzt durch eine fehlerhafte Politik versunken ist, kann kein Grund seyn, die fernere Fordauer der letztern zu rechtfertigen.“ See in this regard Michael P. Zuckert: Launching Liberalism: On Lockean Political Philosophy, Lawrence, Kansas 2002, 328: „The ground of rights is indeed individualistic in Locke, but rights can be secured only under social conditions. Government must be concerned directly with the securing of negative rights and indirectly with the conditions for the securing of rights.“ Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, ibid. (n.4), 89. „They seek a happiness in the new world, of which in the old they had made themselves unworthy“ (90). Cf. Lederer, tr., Concerning the Amelioration of the Civil Status of the Jews, ibid. (n.4), 13: „And so today, on the other side of the ocean, Catholics, Episcopalians and Puritans are fighting together for a new state […].“Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, ibid. (n.4), 26. Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, ibid. (n.4), 87–8. „They [the Jews] are not rough and wild gypsies, in no way ignorant and untutored refugees“ (91).
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Pinto (1715–1787) who are as successfully acculturated as the best court Jews of Portugal and Spain.43 But if sabbath laws and sharp trading practices of Jews do not warrant keeping them out of civil society, then surely the exclusive regulations of their Torah observance, including dietary practices, will keep them forever separate and not enable them to enter into fruitful association with the larger society. Here again, Dohm’s appreciation of ancient Roman and other comparative legal precedents comes to the fore. Jews are entitled to their restrictive practices as a means of identifying with their ancestral tradition. His social-political realism acknowledges that the well-being of civil society does not require all groups and classes of persons to share the same rituals and religious practices. Indeed, Dohm differs from David Friedländer in 1799 by insisting that private civil disputes within the Jewish community can and should continue to be adjudicated under rabbinic law, not the laws of the state.44 Unlike Mendelssohn, Dohm also believes that rabbinic authority should retain the right of the ban (Bannrecht), i.e., the ability of rabbinic authority to determine if and when an individual should be expelled from the community, thus ensuring group cohesion as well as autonomy.45 Lastly, in his overall stance, Dohm betrays none of the hostility toward Old Testament legalism that one finds among theologians, not least of all, in the work of Friedrich Schleiermacher. On the contrary, to Dohm’s mind obeying the commandments builds moral character.46 He goes out of his way to argue that in addition to their having high standards of marriage, chastity, and sexual ethics, Jews can be counted upon to care for their own poor.47 The councillor in Prussian civil service would very
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Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, ibid. (n.4), 92. Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, ibid. (n.4), 40–41, notes that Jews were turned over to Roman courts only in instances of capital crimes; see also, 125–126; Lederer, tr., Concerning the Amelioration of the Civil Status of the Jews, ibid. (n.4), 69. Altmann, Moses Mendelssohn, ibid. (n.11), 455–456; Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, ibid. (n.4), 124; Lederer, tr., Concerning the Amelioration of the Civil Status of the Jews, ibid. (n.4), 68–69. Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, ibid. (n.4), 94, „Schon allein diese Anhänglichkeit an den uralten Glauben ihrer Väter giebt dem Charakter der Juden eine Festigkeit, die auch zur Bildung ihrer Moralität überhaupt vortheilhaft ist. Die strenge Beobachtung vieler beschwerlichen Pflichten und Gebräuche nährt zwar von der einen Seite bey ihnen einen gewissen Geist der Kleinigkeiten, macht daß sie in the Beobachtung von Ceremonien zu viel Werth setzen u. dagegen hält sie aber auch von vielen Vergehungen zurück, und bereitet sie zu genauerer Erfüllung ihrer Pflichten überhaupt vor.“ See Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, ibid. (n.4), 95, who argues that the diligence (Fleiß) that is put into careers of trade and money handling will
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much have agreed with Leo Strauss that the legacy of Torah and that of natural rights work hand in hand. In the words of Strauss: „The Second Table of the Decalogue and the principles embodied in it are of infinitely higher dignity than the best regime. It is classic natural right in this profoundly modified form that has exercised the most powerful influence on Western thought.“48 In a similar manner, revealed moral truth within Judaism sustains the sense of natural right that anchors Dohm’s argument.
Practical implementation of the foregoing principles Having advanced his set of arguments on the amelioration of the Jews’ civil status, Dohm proceeds to enumerate the specific legislative decisions and changes that need to be enacted. Far from being mysterious, the task of bürgerliche Verbesserung grounded by natural right will occur over time when it is helped along by wise legislation. The Enlightenment ideals require specific hard won legislative, i.e., sets of legal, conditions. 1. Complete equal rights shall be preserved. Other prejudicial treatment can no longer take place in a just constitution [bei einer gerechten Verfaßung]; 2. Complete freedom of occupation and means of acquisition. Dohm goes so far as to favor limiting the number of Jewish businessmen (Kaufleute) who can live in one place. He knows that, based upon recent experience in France, the trades unions (Zünfte) will resist Jews, unless forbidden to do so.49 3. Similarly Jews must not be denied a chance to support themselves in farming (Ackerbau). The aim here is to have Jews living in physical proximity to their Christian neighbors. It is also an effort to end the typical Judengassen, whether in Frankfurt am Main, where it was literally closed off, or elsewhere.50 4. Though every type of trade shall be open to Jews, none must be left exclusively to them. Dohm recognizes the need to conduct bookkeeping and business dealings in the mother tonque of Germans (not in Hebrew) in order to build confidence within the majority community.
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readily transfer to careers in labor or handwork as well as in farming, once Jews are admitted to these pursuits. Leo Strauss: Natural Right and History, Chicago/London 1953, 144–145. Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, ibid. (n.4), 111–113. Ibid., 115–116.
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Trade will thereby be more easy to conduct with Christians, who in turn will not be nearly as suspicious as they are at the present time.51 5. All educational paths must be opened up to the Jews. Every art, every science must be open to them just as to all other free men. The position and talents of Jews must be developed such that they are accorded honors and rewards. When he maintains that scientific institutions of the state must be open to Jews, this includes training schools and academies as well as universities. At the same ttime, Dohm’s pragmatism and caution shows in his view that it is a further question whether Jews should be permitted to hold public offices.52 Dohm’s cautious tendencies are apparent in his view that the „business spirit of most Jews“ will be better curbed by encouraging them to participate strongly in physical labor. In instances where a Jew may have equally qualified credentials he espouses preferential hiring in favor of Christians. His defence seems to be that – for the time being – this is an appropriate right of the majority community, until such time as Jews can be reformed into wholly equal citizens and all distinctions done away with.53 6. A wise government will call for the moral education and Enlightenment of the Jews, whether this knowledge of nature and its laws occurs in their own Jewish schools or in Christian schools, where they are exempt from Religionsunterricht. Similarly, it is appropriate that duties to the state be stressed in synagogue instruction, just as this is highly desirable among Christians.54 7. For the civil improvement of the Jews’ condition to succeed, Christians must also proceed in equal measure to challenge their prejudices and unkind (lieblos) sentiments. Early in their youth they must be taught to consider Jews their brothers and fellow humans, who pursue what is pleasing to God in a different manner. In one of his few theological references, Dohm cites the parable of the Good Samaritan, urging that it be taught alongside the actions of the apostles of Christ.55 8. Jews must in all places have the freedom to practice their religion, to erect synagogues, to hire teachers at the expense of society on the understanding that where these communities are very small, they will not have the services that are accorded to Christian churches. Dohm reiterates his earlier contention that Jews can care for their own poor, but he also seems open to drawing from general funds for hospital care
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Ibid. Ibid., 118. Ibid., 119–120. Ibid., 120–121. Ibid., 123.
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and that of other institutions. The right of the ban, which he upholds, seems useful within the community as a way of retaining authority over those eligible for services.56 9. Lastly, and not least in order of importance, we note Dohm’s conviction that the written law of Moses as well as oral traditions must be upheld by the Jews as commands of God that are of permanent validity. We have noted the ways in which Dohm hints at the confluence of these commands with a sense of natural right. Similarly Jews must be allowed to teach and judge one another in accord with Torah,57 even while living among others in the same society. The example of liberty granted Jews in Roman antiquity as well as the experience of other states (he thinks of Holland and England) shows that the autonomy granted to them does not necessarily occasion unfortunate consequences.
Conclusions The case of German Jewry is a test case for the incipient rhetoric of emancipation in the time of Friedrich the Great and his successors. The achievement of Dohm is obviously pertinent in the larger cultural setting of Friedrich Schleiermacher who took part in this debate in his famous set of fictive letters, the ‚Briefe bei Gelegentheit‘ (1799), which have recently been analyzed and contextualized in the work not just of Kurt Nowak but in the recently published work of Mattias Wolfes.58 Today it is easy to read a work like that of the thirty-year-old Dohm without proper appreciation. The burden of history is a heavy hermeneutical lense. The most famous use of „emancipation“ in North America, Abraham Lincoln’s ‚Emancipation Proclamation‘ (January 1863) freed America’s slaves de jure at a time when they were very much still in bondage. In this case, brutal warfare and legislation were required to advance the rights in question. But a document and an idea did not alone ensure an outcome. What interests me especially in the thought of Christian Wilhelm von Dohm is his awareness of the interplay between the proclamation of natural rights and the social-political conditions that are necessary for such rights to be implemented by the full powers of the state. 56 57 58
Ibid., 124. Ibid., 126–127. Jewish judges can continue their own functions as notaries and enforce the laws of inheritance in accord with stipulations of Mosaic law. Friedrich Schleiermacher: Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter, ed. Kurt Nowak, Berlin 1984; Mattias Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit, I–II, Berlin 2004, especially TeilII, 326–390.
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Today we can go further than Werner Mosse’s observation that the emancipation of German Jews was a „long and bumpy road.“59 In today’s troubled world of interreligious strife and renewed claims of ethnic pride – if not sacred tribalism – we may wonder whether the long and bumpy road of human emancipation can ever be fully achieved. Whether a regime of any kind can ensure Gleichberechtigung, or whether we as mortals can ever agree fully on what counts as gleichberechtigt, may be in doubt. That said, however, we do not remain standing in a zone of nebulous inquiry where the words, terminology, and rhetorical strategies of the past have no meaning. It is precisely because these rhetorical strategies have socio-political significance that the lonely figure of Christian Wilhelm von Dohm deserves our attention. Indeed, in German research as well as in English-language studies, Dohm’s text is more often cited than it is analyzed.60 In work like that of Ritchie Robertson, which is burdened by the history of setbacks and reversals to Jewish emancipation, the breadth and depth of Dohm’s arguments are not investigated for their own sake, but rather subjected to a larger trajectory that knows only failure. By approaching the Dohm text with detailed care, one can begin to distinguish his work from that of others, including the subsequent 1799 debate involving David Friedländer, Schleiermacher, Teller, and Berlin’s Jews. What I conclude from this inquiry is something like the following. In its practicality and social-political realism the discourse of Christian Wilhelm von Dohm, ‚Über die bürgerliche Verbesserung der Juden‘, 1781, is superior to the plea of David Friedländer addressed to Probst Wilhelm Abraham Teller, and the response to Friedländer by Friedrich Schleiermacher from 1799.61 Compared to Dohm, the latter proposal is unduly burdened by its plea for a sham-baptism, which adds a thorny theological dimension to the debate about equal rights and opportunity.62 For Dohm a direct appeal to a sense of justice and what I have
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Werner E. Mosse: From ‚Schutzjuden‘ to ‚Deutsche Staatsbürger Jüdischen Glaubens‘: The Long and Bumpy Road of Jewish Emancipation in Germany, in: Paths of Emancipation: Jews, States, and Citizenship, eds. Pierre Birnbaum and Ira Katznelson, Princeton 1995, 59–93. A major exception to this is found in the work of Jonathan M. Hess: Germans, Jews and the Claims of Modernity, New Haven 2002, whose book, beginning in chapter one, masterfully traces the impact and significance of the Dohm treatise. See above, n.5. Because of its relative worldliness, sidestepping of theology, and collaboration with Mendelssohn, Dohm’s work does not fit into the pattern sketched by Jeffrey S. Librett: The Rhetoric of Cultural Dialogue: Jews and Germans from Moses Mendelssohn to Richard Wagner and Beyond, Stanford, California 2000, xix: „Jews have been denied by the very structure of the Jewish-Christian relation since St Paul, the right to
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called natural rights arguments is interwoven with detailed arguments about de facto pluralism and socio-economic reality within the Prussian state. When I look back at the six fictive letters of Schleiermacher’s ‚Briefe bei Gelegenheit‘ in light of the foregoing issues his anti-theological rejection of Judaism as religion is in tension with his clear proclamation of human rights for Jews.63 Unlike Dohm, Schleiermacher makes no case for the congruity of Torah and its practices with natural rights. For Schleiermacher, the specific practices of Berlin’s Jews (e.g., ceremonial law, messianic hope) must be sacrificed on the altar of modernity.64 Compared to Christian Wilhelm von Dohm, the stance of Schleiermacher is retrogressive. Unlike Dohm’s proposal, Schleiermacher’s stance does not allow for Jews to flourish on their own terms in a truly pluralistic setting.
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interpret the speech of Christians and Christians have reserved for themselves alone the right to speak the truth of Jewish writing.“ See ‚A Debate on Jewish Emancipation‘ (above, n. 5), 17–24, 80–112, and KGA I/2, 327–361. See ‚A Debate on Jewish Emancipation‘ (above, n. 5), 103; KGA I/2, 352. On this, of course, Schleiermacher is following the lead of David Friedländer’s accommodating gestures in seeking civil rights for Berlin’s Jews.
Alles (nur) Gefühl? Zur Religionstheorie Friedrich Schleiermachers VON HANS-PETER GROSSHANS/GENF
Die bekanntesten Formulierungen Friedrich Schleiermachers handeln vom Gefühl: so seine zur theologischen Allgemeinbildung gehörende Charakterisierung jeglicher Frömmigkeit und Religion als „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ oder seine ähnlich gut bekannte Bestimmung des Wesens der Religion als „Anschauung und Gefühl“ in der zweiten Rede ‚Über die Religion‘. Der Versuch, das Wesen der Religion mit dem in jener Epoche prominenten Gefühlsbegriff zu bestimmen, ist ein aufregender Vorgang, bei dem sich Schleiermacher ganz als Kind seiner Epoche erweist.1 Ich werde im Folgenden zuerst kurz auf diese Epoche einstimmen. In einem zweiten Teil werde ich auf Schleiermachers Verständnis der Religion als Gefühl in den ‚Reden über die Religion‘ eingehen. Im abschließenden dritten Teil werde ich mich dann Schleiermachers Rede vom Gefühl in der ‚Ethik‘ und in der ‚Glaubenslehre‘ zuwenden.
1. Einstimmung In einer Epoche, in der das Gefühl für ein wesentliches Organ des Menschen gehalten wird, legt Schleiermacher die grundlegende Bedeutung des Gefühls für die Religion dar. Schon das gesamte Zeitalter der Aufklärung war vom Verhältnis von Denken und Fühlen, von Kopf und 1
In den Interpretationen von Schleiermachers Religionstheorie wird nach meinem Eindruck der Gefühlsbegriff zu wenig beachtet. Die Aufmerksamkeit gilt häufig sehr viel mehr dem Begriff der „Anschauung“. Beispielhaft kann man dies an Gerhard Ebelings Aufsatz über den Religionsbegriff Schleiermachers beobachten (vgl. G. Ebeling: Zum Religionsbegriff Schleiermachers (1983), in: ders.: Theologie in den Gegensätzen des Lebens, Wort und Glaube IV, Tübingen 1995, 55–75). Zur Einordnung Schleiermachers in die geistige Welt seiner Zeit, insbesondere in die Frühromantik vgl. besonders: K. Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik. Eine literaturgeschichtliche Studie zum romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland, Weimar 1986.
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Herz bestimmt gewesen.2 Geprägt wird Schleiermachers Zeit dann vor allem vom Durchbruch zur unmittelbaren Gefühls-Aussage, wie sie sich beispielsweise in der Literatur des jungen Goethe manifestiert. Das Gefühl spricht selbst und bringt in Gedichten und Hymnen auch die ihm entsprechende Form hervor.3 Beim reiferen Goethe wird gerade auch in der Religion alles aufs Gefühl bezogen, so in Fausts Antwort auf Gretchens berühmte Frage nach der Religion: „Erfüll davon dein Herz, so groß es ist, / Und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist, / nenn es dann, wie du willst: / Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! / Ich habe keinen Namen / Dafür! Gefühl ist alles; / Name ist Schall und Rauch“.4 Was mit dem Gefühl thematisiert wird, ist die Erfahrung einer Bewegung, die den ganzen Menschen erfasst, die ihn selbst überrascht und sich seiner bemächtigt. Es ist eine Bewegung, die empfunden wird als Antwort auf etwas, das einem Menschen zukommt, das ihn ganz und gar in Beschlag nimmt und das er sich zu Eigen macht. „Gefühl ist alles“. Es ist so sehr alles, das es dafür keinen Namen gibt. Es ist nicht zu definieren und nicht zu bezeichnen. Es ist das Ereignis einer Wirkung, die einen Menschen verwandelt. Dies gilt auch für das bedrohliche Gefühl. Nochmals Goethes Faust: „Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil; / Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure, / Ergriffen, fühlt er tief das Ungeheure“.5 Das Gefühl ist ein Ergriffen-Sein. In diesem passiven Zustand ergreift „etwas“ einen Menschen auf eine solche Weise, dass er oder sie sich nicht davon distanzieren kann. Deshalb verschwindet im Gefühl die Differenz von Subjekt und Objekt, die sowohl im Erkennen wie im Handeln das Weltverhältnis des Menschen kennzeichnet. Das menschliche Subjekt ist im Gefühl so ergriffen, dass es ganz von dem Gefühlten bestimmt ist; dieses Gefühlte ist aber nur distanzlos im Gefühl präsent, lässt sich also gerade nicht als Objekt von dem Gefühl distanzieren.
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„Wir haben ein Gefuehl […] des Unstreitigwahren und Ungereimten, das unserm Geiste, bey der Anwendung der Kraft zu denken, zum Fuehrer dienet“, formulierte Christian Fürchtegott Gellert (Chr.F. Gellert, Moralische Vorlesungen, in: ders.: Gesammelte Schriften, Kritische kommentierte Ausgabe, hg. v. B. Witte, Zweite Vorlesung, Bd.VI, hg. v. S. Späth, Berlin 1992, 28). Im Gedicht „Ganymed“ wird gefragt, wohin sich das heilige Gefühl, das im übrigen vom Frühling entzündet ist, wenden soll. „Hinauf“ soll es sich wenden. „Hinauf strebt’s“ – nämlich „Aufwärts an deinem Busen Alliebender Vater!“ (J.W. Goethe: Ganymed, in: ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Vierzig Bände, hg. v. A. Apel u.a., Bd.1: Gedichte 1756–1799, hg. v. K. Eibl, vierte überarbeitete Auflage, Frankfurt a. M. 1987, 331). J.W. Goethe: Faust, in: ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Vierzig Bände, hg. v. A. Apel u.a., Bd.7/1, hg. v. A. Schöne, vierte überarbeitete Auflage, Frankfurt/M. 1999, 3451ff.). Ebd., 6272ff.
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Diese Struktur des Gefühls manifestiert sich auch bei anderen Zeitgenossen Schleiermachers, so besonders markant bei Novalis, der in seinen Fichte-Studien 1795 behauptet, „die Filosofie“ sei „ursprünglich ein Gefühl“ und „die Anschauungen dieses Gefühls begreifen die filosofischen Wissenschaften“.6 Die strengere Philosophie war allerdings vor allem daran interessiert, das Gefühl gegenüber den anderen Vermögen des Menschen abzugrenzen – und es also in Zaum zu halten. Deshalb wird dort das Gefühl definiert als das, „was jederzeit blos subjectiv bleiben muß“7 – so Immanuel Kant, bzw. „lediglich subjektiv“8 sei – so Johann Gottlieb Fichte. Aufgegriffen wird dazu eine Unterscheidung, die sich auch bei David Hume oder auch schon bei Anthony of Shaftesbury findet: die Unterscheidung von Empfindung und Gefühl. In Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘ findet sich dafür folgendes anschauliches Beispiel: Während z.B. die grüne Farbe einer Wiese zur objektiven Empfindung gehört, ist das damit verbundene angenehme Gefühl etwas rein subjektives, mit dem keine Vorstellung eines Gegenstandes verbunden wird.9 6
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Novalis: Fichte-Studien, in: ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd.II, hg. v. P. Kluckhohn und R. Samuel, Stuttgart 1965, 113. Manfred Frank hat zur Auslegung dieses Satzes von Novalis ein ganzes Buch geschrieben (vgl. M. Frank: Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung, Frankfurt/M. 2002). Diese Monographie ist zugleich eine ausführliche begriffsgeschichtliche Untersuchung zum Begriff des Selbstgefühls und enthält detaillierte Ausführungen zur Verwendung des Gefühlsbegriffs in den Epochen der Aufklärung, der Romantik und des Idealismus. I. Kant: Kritik der Urteilskraft, B 9, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd.V, Berlin 1913, 165–356, 206. Weil das Gefühl jederzeit bloß subjektiv bleiben muss, deshalb kann es „schlechterdings keine Vorstellung eines Gegenstandes ausmachen“ (ebd.). Hinzuweisen ist dabei auch auf Kants frühe „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ (1764); vgl. I. Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd.II (Vorkritische Schriften 1757–1777), Berlin 1912. J.G. Fichte: Werke 1793–1795, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. R. Lauth u.a., Bd.I/2, Stuttgart 1965, 419. Kant definiert entsprechend in der ‚Kritik der Urteilskraft‘: „Wir verstehen […] unter dem Worte Empfindung eine objective Vorstellung der Sinne; und […] wollen […] das, was jederzeit blos subjectiv bleiben muß und schlechterdings keine Vorstellung eines Gegenstandes ausmachen kann, mit dem sonst üblichen Namen des Gefühls benennen.“ Kant gibt sogleich ein Beispiel: „Die grüne Farbe der Wiesen gehört zur objectiven Empfindung, als Wahrnehmung eines Gegenstandes des Sinnes; die Annehmlichkeit derselben aber zur subjectivenEmpfindung, wodurch kein Gegenstand vorgestellt wird: d.i. zum Gefühl, wodurch der Gegenstand als Object des Wohlgefallens (welches kein Erkenntnis desselben ist) betrachtet wird“ (Kant: Kritik der Urteilskraft, a.a.O. [Anm.7], 206). Im Anschluss an die englischsprachige Differenz von sensation und sentiment unterscheidet der Philosoph und empirische Psychologe Michael Hissmann 1777 zwischen inneren Empfindungen der beiden edleren äußeren Sinne (sentiments) und solchen der gröberen Sinne (sensation) (vgl. M. Hissmann: Dritter Versuch ueber den inneren Sinn, und die inneren Empfindungen,
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Mit diesen – leicht zu vermehrenden10 – Hinweisen auf die geistige Umgebung, in der Schleiermachers Bestimmung des Wesens der Religion als Gefühl entstand,11 sind wir eingestimmt, um uns nun Schleiermachers eigenen Auskünften darüber zuzuwenden, wie der Zusammenhang von Religion und Gefühl genauer zu verstehen ist.
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Psychologische Versuche. Ein Beitrag zur esoterischen Logik, Frankfurt/Leipzig 1777, 91/92–174, 159f.). Thomas Abbt versucht 1772 die Unterscheidung von sensation und sentiment mit den deutschen Ausdrücken ‚Empfindung‘ (sensation) und ‚Empfindnis‘ (sentiment) wiederzugeben (vgl. Th. Abbt: Vermischte Werke. Erster Theil, welcher die ‚Abhandlung vom Verdienste‘ enthält, Frankfurt/M. 1783, 120). Bei Hissmann finden sich verschiedene Bedeutungen von „Gefühl“, beginnend mit dem „Fühlen“ des Tastsinns als einem unmittelbaren Berühren eines Gegenstandes, das für jeden sinnlichen Direktkontakt mit Gegenständen steht, sofern diese den menschlichen Geist affizieren, bis hin zu „einer reflektierten oder einbildungsvermittelten Art und Weise, Sinneserlebnisse zu verarbeiten (klassischerweise das Gefühl der Lust und Unlust […]). Das Gefühl der Lust und Unlust bewertet […] die Tauglichkeit des empfangenen Eindrucks zur Beförderung oder Hemmung des Lebens“ (Frank, Selbstgefühl, a.a.O. [Anm.6], 12). Schon David Hume hatte im Treatise in der von Kant dann aufgenommenen Begrifflichkeit unterschieden: Empfindungen (sensations, impressions) sind die Eindrücke sinnlicher Gegenstände auf die Seele; als Gefühl im engeren Sinne (sentiments, feelings) bezeichnet er eher emotionale Stellungnahmen zu ersteren (wie Glauben, Lust und Unlust, Begierde […]). Ähnliches findet sich bei Shaftesbury. Gelegentlich wird mit dieser Unterscheidung die Differenz von privat und öffentlich kombiniert. Während Gefühle private Bewusstseinserlebnisse sind, sind Empfindungen (Emotionen) öffentlich beobachtbar, nämlich durch entsprechendes Verhalten. Während bei Denkern wie Kant und Fichte das Gefühl vor allem in seiner Besonderheit im Verhältnis zu den anderen Vermögen und Möglichkeiten des Menschen in den Blick genommen wird (und deshalb der subjektive Charakter des Gefühls hervorgehoben wird), betont im Gegensatz dazu Herder die organische Verbundenheit aller Vermögen des Menschen: „Kein Erkennen ist ohne Empfindung, d.i. ohne Gefühl des Guten und Bösen. […] Die Seele muß fühlen, daß, indem sie erkennet, sie Wahrheit sehe, mithin sich geniesse. […] Das Erkennen der Seele läßt sich also nicht ohne Gefühl des Wohl- und Uebelseyns, ihn die innigste, geistige Empfindung der Wahrheit und Güte denken“ (J.G. Herder: Über Erkennen und Empfinden in der menschlichen Seele (1774), in: ders.: Sämmtliche Werke, Bd.8, hg. v. B. Suphan, Berlin 1892, 236f.). In der Theologie hat nicht nur Schleiermacher den Gefühlsbegriff programmatisch aufgegriffen. Hinzuweisen ist auf Johann Joachim Spalding, der nach Albrecht Beutels Analyse mit Schleiermacher darin übereinstimmt, „daß das Wesen der Religion als Gefühl zu bestimmen sei“ (A. Beutel: Aufklärer höherer Ordnung? Die Bestimmung der Religion bei Schleiermacher (1799) und Spalding (1797), in: ZThK 96 (1999), 351–383, 366).
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2. Religion als Gefühl in den ‚Reden über die Religion‘ Nach der berühmten Definition in den ‚Reden über die Religion‘ ist das Wesen der Religion „Anschauung und Gefühl“.12 Schleiermacher ist zwar auch an einer negativen Abgrenzung dieser Bestimmung zu den anderen Vermögen des Menschen interessiert und stellt deshalb heraus, dass Religion weder Handeln noch Denken ist.13 Doch zugleich geht er intensiv der Dynamik fürs Leben nach, die in dieser Bestimmung von Religion liegt. Anschauen will die Religion das Universum,14 in kindlicher Passivität will sie sich von den unmittelbaren Einflüssen des Universums ergreifen und erfüllen lassen. Im Menschen selbst will die Religion, wie in allen anderen Einzelnen und Endlichen, „das Unendliche sehen, dessen Abdruck, dessen Darstellung“.15 Im Unterschied zu dem Weltverhältnis, welches das Erkennen und Handeln des Menschen kennzeichnet, wird das Einzelne – sei es in mir oder außer mir, sei es ein Gegenstand oder ein Ereignis – in der Religion nicht isoliert wahrgenommen, sondern in seinem Verhältnis zum Universum und insofern als Teil eines Ganzen. Universum heißt: das in eine Einheit Zusammengefasste. Wir haben es zwar erkennend und handelnd immer nur mit Einzelnem zu tun, doch im religiösen Anschauungsakt teilt sich in dem Einzelnen, mit dem wir zu tun haben, das Ganze, das Universum mit. Es teilt sich mir dabei so mit, dass ich, der ich selbst ein Einzelnes bin, am Ganzen, am Universum, teilhabe.16 12
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F.D.E. Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, in: ders.: Kritische Gesamtausgabe, Erste Abteilung, Schriften und Entwürfe, Bd.2, Schriften aus der Berliner Zeit 1796–1799, hg. v. G. Meckenstock, Berlin/New York, 1984, 187–326, 211. Aus einer ähnlichen Abgrenzung resultiert eine zweite berühmte Religionsdefinition in Schleiermachers ‚Reden‘: „Religion ist Sinn und Geschmak fürs Unendliche“ (ebd., 212) – im Unterschied nämlich zur Praxis, die Kunst ist und im Unterschied zur Spekulation, die Wissenschaft ist. Die Interpretationen der Religionstheorie Schleiermachers in den ‚Reden‘ konzentrieren sich häufig auf seine Auskunft, das Wesen der Religion sei „Anschauung“, nämlich Anschauung des Universums. In Verbindung mit dem Unendlichkeitsbegriff, den Schleiermacher auch verwendet, lässt sich diese Auskunft leicht in eine philosophisch-theologische Traditionslinie einordnen, die zurück zu Platon reicht. Nach meinem Urteil ergibt sich dabei auch eine bisher wenig beachtete Nähe zu einigen der griechischen Kirchenväter (v.a. Gregor von Nyssa). Es gibt durchaus Gründe, den Religionsbegriff Schleiermachers von der Rede von der Anschauung des Universums her zu interpretieren. Denn Schleiermacher selbst bezeichnete das Anschauen des Universums als die „Angel“ seiner ganzen Rede über das Wesen der Religion und als die „allgemeinste und höchste Formel der Religion“ (ebd., 213). Ebd., 212. Im Anschauen des Universums lässt Religion „einen höheren Realismus ahnden“ (ebd., 213). Die erkenntnistheoretische Prämisse solchen „Anschauens“ formuliert
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Bei diesem Vorgang entstehen Gefühle, die Gefühle der Religion. Denn jede Anschauung ist ihrem Wesen nach mit einem Gefühl verbunden.17 Schleiermacher beschreibt diesen Zusammenhang so: „Euere Organe vermitteln den Zusammenhang zwischen dem Gegenstande und Euch, derselbe Einfluß des lezteren, der Euch sein Dasein offenbaret, muß sie auf mancherlei Weise erregen, und in Eurem innern Bewußtsein eine Veränderung hervorbringen. Dieses Gefühl, das Ihr freilich oft kaum gewahr werdet, kann in andern Fällen zu einer solchen Heftigkeit heran-
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Schleiermacher so: „Alles Anschauen gehet aus von einen Einfluß des Angeschauten auf den Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln des ersteren, welches dann von dem letzteren seiner Natur gemäß aufgenommen, zusammengefaßt und begriffen wird“ (ebd., 213f). Was der Mensch dabei anschaut und wahrnimmt, „ist nicht die Natur der Dinge“ (ebd., 214), denn die ist im Falle des Universums unerkennbar, „sondern ihr Handeln auf Euch“ (ebd., 214). Schleiermacher setzt dabei voraus, dass das Universum ununterbrochen tätig ist: es „offenbart sich uns jeden Augenblik“ (ebd.). Jede Tätigkeit des Universums ist „ein Handeln desselben auf Uns“ (ebd.). Wird dies so angeschaut und wahrgenommen, daß in jedem einzelnen Ereignis, in jedem Geschehnis das Universum, das als Einheit wahrgenommene Ganze, tätig ist und das Universum sich in jedem Einzelnen darstellt, dann haben wir es mit Religion zu tun. Schleiermacher kann diesen Gedanken auch auf Gott beziehen: „Alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen eines Gottes vorstellen, das ist Religion, es drückt ihre Beziehung auf ein unendliches Ganzes aus“ (ebd.). Mit der Kennzeichnung dieses Ganzen, das in der Religion angeschaut wird, als „unendlich“, bringt Schleiermacher zum Ausdruck, dass es nicht Gegenstand empirischer Erkenntnis sein kann. Die zusammenfassende Schau dessen, was uns empirisch als unendliche Vielfalt von Einzelnem und Individuellem begegnet – in Natur und Geschichte ebenso wie in der Seele des Menschen – ist etwas besonderes und von jeglichem raum-zeitlich sich vollziehenden Erkennen fundamental unterschieden. Wird dann allerdings auch noch über das Sein dieses Gottes vor der Welt und außer der Welt nachgesonnen, so wird nach Schleiermachers Auffassung die Religion verlassen und man begibt sich auf das Feld der Metaphysik oder der Mythologie. Ebenfalls haben wir es auch dann nicht mehr mit Religion zu tun, wenn die Anschauungen und Wahrnehmungen verbunden und zu einem systematischen Ganzen, zu einer religiösen Weltanschauung, zusammengestellt werden. Solche Systematisierung geschieht durch abstraktes Denken. Die Religion bleibt bei diesen „unmittelbaren Erfahrungen vom Dasein und Handeln des Universums, bei den einzelnen Anschauungen und Gefühlen […] stehen“ (ebd., 215). Jede einzelne Anschauung, jedes einzelne Gefühl ist ein für sich bestehendes Werk. Deshalb ist „alles […] in ihr unmittelbar und für sich wahr“ (ebd.). Höchstes Sinnbild der Religion ist deshalb für Schleiermacher das „unendliche Chaos“ der Anschauungen und Gefühle, „wo freilich jeder Punkt eine Welt vorstellt“ (ebd., 216). In diesem Chaos wie in der Religion „ist nur das Einzelne wahr und nothwendig, nichts kann oder darf aus dem andern bewiesen werden“ (ebd.). Der Stoff und die Formen der Religion sind deshalb unendlich. Das Gefühl der unendlichen Fülle des Individuellen und der Verschiedenheit in der Religion dem Inhalt und der Form nach „muß“ nach Schleiermacher jeden Menschen begleiten, der wirklich Religion „hat“ und d.h. der selber religiös ist. Daraus folgt dann vor allem eine grundsätzliche Toleranz gegenüber allen Erscheinungen von Religion: Schleiermacher spricht davon, dass „diese freundliche einladende Duldsamkeit aus dem Begrif der Religion entspringt“ (ebd., 217). Vgl. ebd., 216f.
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wachsen, daß Ihr des Gegenstandes und Euerer selbst darüber vergeßt, Euer ganzes Nervensystem kann so davon durchdrungen werden, daß die Sensation lange allein herrscht und lange noch nachklingt, und der Wirkung anderer Eindrüke widersteht“.18
Schleiermacher skizziert hier physiologisch-psychologisch die Entstehung eines Gefühls. Es entsteht, generell betrachtet, durch einen solchen Einfluss eines – mit irgendeinem der Sinne wahrgenommenen – Gegenstandes auf einen Menschen, der diesen erregt und im Bewusstsein, im innern Bewusstsein, eine Veränderung erzeugt. Die Erregung kann so anwachsen, und mit einer solchen Heftigkeit einen Menschen ergreifen, dass er sich selbst und den Gegenstand, der die Erregung auslöste, darüber vergisst.19 Ein solches Gefühl kann dann so anhaltend im Menschen wirken, dass die gegenteiligen Wirkungen anderer Sinneseindrücke sich dagegen im Menschen nicht durchsetzen können. Was allgemein von Gefühlen gilt, trifft ganz besonders auch auf die Religion zu. Das Universum handelt an einem Menschen, indem es sich ihm im Endlichen offenbart. Dadurch bringt sich das Universum in ein neues Verhältnis zum Gemüt eines Menschen und zu seinem Zustand. Im Blick auf sein Publikum formuliert Schleiermacher: Indem ihr das Universum „anschauet müßt Ihr notwendig von mancherlei Gefühlen ergriffen werden“.20 In solchen Augenblicken sind Anschauung und Gefühl eine ungetrennte und ununterscheidbare Einheit, in der Subjekt und Objekt, also Ich und Universum, ebenfalls ununterscheidbar sind. Es sind Augenblicke, in denen ein Mensch „am Busen der unendlichen Welt“ liegt.21 In solchen Augenblicken ist ein Mensch die Seele der unendlichen Welt, „denn ich fühle alle ihre Kräfte und ihr unendliches Leben, wie mein eigenes, sie ist in diesem Augenblick mein Leib, denn ich durchdringe ihre Muskeln und ihre Glieder wie meine eigenen, und ihre innersten Nerven bewegen sich nach meinem Sinn und meiner Ahndung wie die meinigen“.22
Diese quasi-mystische Vereinigung eines Menschen mit der unendlichen Welt, dem Universum, ist ein Zustand vollkommenen Ergriffenseins, in dem ich nicht mehr zwischen mir und dem Universum unterscheiden kann. 18 19
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Ebd., 218. Offensichtlich stellt sich Schleiermacher diesen Erregungszustand sehr physiologisch-materialistisch vor: er ergreift das Nervensystem und hat dort eine über den Sinneseindruck zeitlich hinausgehende Wirkung. Ebd., 218. Die Anschauungen, in denen sich das Universum einem Menschen darstellt, macht nun das Besondere der jeweils individuellen Religion aus, während die Stärke der damit verbundenen Gefühle den Grad der Religiosität ausmacht. Je stärkere Gefühle, desto religiöser ist ein Mensch. Ebd., 221. Ebd.
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Doch diese Augenblicke verweilen nicht, sondern gehen mit der zeitlichen Struktur menschlichen Lebens dahin, und dann trennen sich auch Anschauung und Gefühl, so dass beides dem Menschen bewusst wird: die Anschauung des Universums steht vor mir und das Gefühl steigt aus meinem Innern empor. Dieser Moment ist nach Schleiermacher „die höchste Blüte der Religion“ und ist „die Geburtsstunde alles Lebendigen in der Religion“.23 Diese Geburt muss jeder Mensch selbst erleben. Kommunikativ lassen sich immer nur die Anschauungen und Gefühle des religiösen Augenblicks getrennt vergegenwärtigen. Keine geistige Beschäftigung damit kann diese Lebendigkeit aus sich erzeugen. Ebenso folgt daraus, dass nur derjenige Mensch, der solches Einssein mit dem Universum erlebte, über die Religion, ihre Anschauungen und Gefühle sachbezogen kommunizieren kann. Denn nur die eigene religiöse Erfahrung ermöglicht es, zu identifizieren, ob auf Religion referiert wird oder nicht, auch wenn auf uneigentliche, vielfältige und variable, sowie wenig übereinstimmende Weise von Religion geredet wird. Schleiermacher operiert unausgesprochen mit der Differenz von Referenz und Darstellung bzw. Beschreibung. Wer Religion und ihre Gefühle hat, der kann zutreffend referieren, auch wenn sich sein Reden über Religion, sein religiöses Darstellen und Beschreiben, der Feststellung von Richtigkeit und Wahrheit entzieht. Schleiermacher rechnet in den ‚Reden über die Religion‘ zu Recht konsequent ab mit jeglichem Verständnis von Religion, das diese vor allem als Vermittlung von Vergangenheit und Tradition – und sei es die der wahren evangelischen Konfession! – versteht. Dazu kann Schleiermacher nur sagen: „Gedächtniß habt Ihr und Nachahmung, aber keine Religion.“24 Eine Religion wird erst dann lebendig, wenn in Menschen die Einheit von religiöser Anschauung und Gefühl erzeugt wird und sich also die Gefühle der Religion tatsächlich in einem Menschen einstellen.25 23 24
25
Ebd., 222. Ebd. Rund fünfzig Jahre später wird in ähnlicher Schärfe Sören Kierkegaard über die Religion des gebildeten Bürgertums, die sich in der Erinnerung vergangenen religiösen Lebens erschöpft, herziehen – wobei er, anders als der junge Schleiermacher, vor allem Hegels Idealismus als diejenige Konzeption menschlichen Selbstbegreifens vor Augen hat, welche dem menschlichen Leben und Geist die Lebendigkeit raubt. Eine ähnliche Leblosigkeit und damit eine Verfehlung des Wesens der Religion stellt sich ein, wenn der Gegenstand, mit dem es der Mensch in der Religion zu tun hat, falsch verstanden wird. In der Religion wird das Universum angeschaut. Dies ist freilich etwas ganz anderes als die empirisch wahrnehmbare Natur, die allerhöchstens einen äußeren Vorhof zur Religion darstellt. Die Natur ist selbst dort, wo sie Menschen bedroht und vernichtet, für den Menschen berechenbar und vorhersehbar geworden. Und auch dort, wo noch ein Rest von Furcht gegenüber der Natur bleibt
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Welche Gefühle hat Schleiermacher dabei vor Augen? Schleiermacher benennt in den ‚Reden über die Religion‘ als die besonderen Gefühle der Religion Ehrfurcht, Demut, Liebe und Zuneigung, Dankbarkeit, Mitleid und Reue.26 Diese Gefühle stellen sich beim Anschauen des Universums ein, wenn der das Universum durchwaltende Weltgeist27 sich auf je andere Weise in Natur und Menschheit einem Menschen zeigt. Wenn das Handeln des Weltgeistes in den Gesetzen der Natur und Geschichte sich zeigt, dann ruft dies das Gefühl der Ehrfurcht hervor. Wird dann das eigene Ich zu dieser Anschauung des Universums in Beziehung gesetzt, so erscheint es unendlich klein und ruft das Gefühl der Demut hervor. Werden in der Anschauung der Welt die Mitmenschen als Brüder und Schwestern wahrgenommen, in ihrer unendlichen individuellen Vielfalt und wie sich in einem jeden Menschen die ganze Menschheit darstellt, so ruft dies Liebe und Zuneigung hervor. Wird dann die Existenz all dieser Mitmenschen auf das eigene Dasein bezogen, so führt dies zum Gefühl der Dankbarkeit. Nun wird aber auch wahrgenommen, dass Menschen gegenüber dem Kosmos des miteinander vernetzten individuellen Lebens unempfänglich sind und sich davon isolieren. Diese Ignoranz des Universums ruft das Gefühl des Mitleids hervor. Und schließlich, wenn wir von all dem Förderlichen, das den Gang der Menschheit positiv steuert, auf das eigene Handeln schauen, so bringt dies das Gefühl zerknirschender Reue hervor über all dasjenige, „was
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(z.B. als Furcht vor dem Einschlag eines Meteoriten; oder vor einem Seebeben) ist zumindest der Weg bekannt, um diese Gefahren irgendwann berechenbar und vorhersehbar zu machen, so dass sich die Menschen darauf einstellen und vorbereiten können. Die Furcht vor der Natur erzeugt ebenso wenig religiöse Anschauungen und Gefühle wie die Bewunderung der Natur, ja, des ganzen Kosmos. Ebd., 236ff. Nach Schleiermacher geht es in der Religion darum, „den Weltgeist zu lieben und freudig seinem Wirken zuzuschauen“ (ebd., 224). Dies ist der eigentliche Bezugspunkt der Religion. Was ist damit gemeint? Schleiermacher geht die Natur von den chemischen Kräften und Teilen, ihren Gesetzen bis hin zur Unendlichkeit des Weltalls durch, um darin den Weltgeist bezeugt zu finden, dessen Wirken er dann ebenso in der unendlichen Vielfalt der Menschheit und ihrer Geschichte entdecken kann. Daran lassen sich die besonderen „Anschauungen der Religion auf dem Gebiet der Natur und der Menschheit“ (ebd., 234) entwerfen. Schleiermacher will dadurch sein Publikum „bis an die letzte Grenze“ ihres „Gesichtskreises“ führen (ebd.). Und er stellt fest: „Hier ist das Ende der Religion für diejenigen, denen Menschheit und Universum gleichviel gilt; von hier könnte ich Euch nur wieder zurükführen ins Einzelne und Kleinere“ (ebd.). Doch er warnt: „Nur glaubt nicht daß dies zugleich die Grenze der Religion sei. Vielmehr kann sie eigentlich hier nicht stehen bleiben, und sieht erst auf der andern Seite dieses Punktes recht hinaus ins Unendliche“ (ebd., 221). Über die Grenze unseres Gesichtskreises hinaus zu wollen – danach strebt alle Religion; „nach einer […] Ahndung von etwas außer und über der Menschheit“ (ebd., 235).
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dem Genius der Menschheit feind ist“,28 und es entsteht „der demühtige Wunsch die Gottheit zu versöhnen, als das sehnlichste Verlangen umzukehren und uns mit allem was uns angehört in jenes heilige Gebiet zu retten, wo allein Sicherheit ist gegen Tod und Zerstörung“.29 Ehrfurcht, Demut, Liebe und Zuneigung, Dankbarkeit, Mitleid und Reue: „Alle diese Gefühle sind Religion, und ebenso alle andere, bei denen das Universum der eine, und auf irgend eine Art Euer eignes Ich der andere von den Punkten ist zwischen denen das Gemüth schwebt.“30 Schleichermacher identifiziert diese Gefühle mit dem von den „Alten“, wie er sagt, verwendeten Ausdruck „Frömmigkeit“.31 Die Analyse der religiösen Gefühle zeigt, dass der Mensch in der Religion abhängig ist von dem Gegenstand – dem Universum und dem in ihm waltenden Weltgeist –, der die religiösen Gefühle hervorruft. Gleichwohl ist der Mensch in der Religion nicht nur fremdbestimmt, sondern durchaus selbsttätig. Denn gerade die Gefühle versteht Schleiermacher als „das Selbsttätige“ in der Religion. Sie sind nicht nur individuell und selbst produziert vom Individuum (obgleich von außen bewirkt), sondern auch in dem Sinne selbsttätig, als sie dem Menschen Universalität geben. Die religiösen Gefühle geben diese Universalität, weil sie das Erkennen und das Handeln des Menschen aus deren jeweiliger notwendiger Beschränktheit herausführen und auf das Ganze hin überschreiten. Die religiösen Gefühle verbinden einen Menschen in seinen einzelnen Lebensakten mit dem großen, universalen Ganzen des Lebens, der Menschheit, der Natur, dem Weltgeist. Nach Schleiermachers Auffassung verleiht erst dies einem Menschenleben Lebendigkeit und „verwandelt“ die zumeist dürre und karge Melodie eines menschlichen Lebens „in eine vollstimmige und prächtige Harmonie“.32 Die Gefühle der Religion sollen einen Menschen „besitzen“ und wir „sollen sie aussprechen, festhalten, darstellen“.33 Sie verändern das Leben eines Menschen, sie bewegen sein Inneres und sie wollen sich artikulieren und zum Ausdruck bringen. Allerdings sollen sie und wollen sie nach Schleiermachers Überzeugung keine Handlungen im eigentli28 29 30 31
32 33
Ebd., 237. Ebd. Ebd. Ebd. Die Pointe dieser Gefühle für den Menschen stellt Schleiermacher durch eine Abgrenzung zur Moral heraus, die eben keine Liebe und Zuneigung mag, sondern „Tätigkeit, die ganz von innen herauskommt, und nicht durch Betrachtung ihres äußeren Gegenstandes erzeugt ist“ (ebd.). Dasselbe gilt auch im Blick auf die anderen religiösen Gefühle, die eben nicht auf ein Handeln abzielen. Deutlich wird an dieser Abgrenzung, dass die Religion nicht in derselben Weise wie die Moral das Reich der Freiheit ist. Auf dem Gebiet der Moral ist der Mensch autonom. Ebd., 239. Ebd., 219.
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chen Sinne veranlassen. Gefühle können keine Moral begründen – und sie sollen es auch nicht. Schleiermacher würde es für eine Verfehlung der Moral und für einen Missbrauch der Gefühle halten, wenn Menschen durch Erzeugung von Gefühlen zum Handeln bewegt werden sollen. Schleiermacher bringt diese Einsicht in der Formel zum Ausdruck, ein Mensch „soll alles mit Religion tun, nichts aus Religion“.34 Damit ist gemeint, dass das Handeln nicht durch Gefühle verursacht und begründet wird und Moral dann auch nicht aus der Religion folgt. Alles Handeln soll – um der Freiheit willen – moralisch sein und d.h. es soll allein aus Vernunft geschehen. Die „religiösen Gefühle“ jedoch „sollen wie eine heilige Musik alles Tun des Menschen begleiten“.35 Religion als Begleitmusik des faktischen, von der Vernunft geleiteten Lebensvollzugs: das ist Schleiermachers romantische Einordnung der Religion ins Leben. Es kommt für Schleiermacher noch ein Grund hinzu, warum Religion nur als Begleitung, nicht aber als Anleitung und als Grund aller Aktivitäten des menschlichen Lebens taugt, der zugleich das bisherige Bild von der Religion als Gefühl vertieft. Im Handeln, sei es im sittlichen, im politischen, aber auch im künstlerischen Leben, soll der Mensch alles mit Ruhe und Besonnenheit verrichten. Schleiermacher greift als Ideal des Lebensvollzugs die klassische Tugend der Besonnenheit auf, die nun aber gerade in der Religion außer Kraft gesetzt zu sein scheint. „Ruhe und Besonnenheit ist verloren, wenn der Mensch sich durch die heftigen und erschütternden Gefühle der Religion zum Handeln treiben läßt“.36 Unsere eigene Gegenwart liefert ja genügend Anschauungsmaterial dafür, was geschieht, wenn das politische und sittliche Handeln von Menschen durch religiöse Gefühle bestimmt wird und sich hinreißen lässt!37 34 35 36 37
Ebd. Ebd. Ebd. Dies gilt für die schlechten und unsinnigen Handlungen – in der Politik, dem gesellschaftlichen Leben, in der Kunst –, die im Namen der Religion ausgeübt wurden; aber auch für die vortrefflichen und guten, mit denen sich die Religionen rühmen und für die sie gelobt werden. Die einen wie die anderen Handlungen sind nach Schleiermachers Urteil, sofern sie auf Religion zurückgeführt oder zur Religion gehörig betrachtet werden, nichts anderes als „sklavischer Aberglaube“ (ebd., 220). Wenn dies geschieht, wird nach Schleiermachers Überzeugung die Religion missverstanden. Denn eigentlich lähmen die religiösen Gefühle die Tatkraft des Menschen; sie laden ihn vielmehr „ein zum stillen hingegebenen Genuß“ (ebd., 219). Deshalb stiegen nach Schleiermachers Beobachtung gerade „die religiösesten Menschen, denen es an andern Antrieben zum Handeln fehlte, und die nichts waren als religiös“, aus dem üblichen Lauf der Welt aus und gaben sich ganz „der müßigen Beschauung“ (ebd.) hin. Die vehemente Erregung, die mit den religiösen Gefühlen verbunden ist, drängt einen Menschen, wenn es der einzige Bestimmungsgrund seines Lebens ist, zu einer
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In Schleiermachers Verständnis von „Gefühl“ finden sich verschiedene Momente, die auch den Gefühlsbegriff seiner Zeit kennzeichnen. Auf seine Weise rezipiert er in den Reden über die Religiondie Unterscheidung von Empfindung und Gefühl: die Empfindungen als die Eindrücke sinnlicher Gegenstände auf die Seele sowie die Gefühle im engeren Sinne als den emotionalen Stellungnahmen zu ersteren. Schleiermacher versteht das Gefühl als etwas ganz und gar individuelles und subjektives, das eindeutig von dem Erkenntnis- und dem Handlungsvermögen, von Metaphysik und Moral, verschieden ist. Dieser Unterschied zeigt sich vor allem darin, dass im Gefühl die Differenz von Subjekt und Objekt aufgehoben ist und so das subjektive Gefühl ganz vom gegebenen Gefühlten und der das Gefühl auslösende Gegenstand ganz vom subjektiven Gefühl bestimmt sind. Es ist genau diese Erfahrung des religiösen Gefühls, welche die Referenz aller wahrhaft religiösen Äußerungen und Mitteilungen des Menschen bildet. Zwar soll die Religion nicht das Handeln bestimmen. Jedoch soll und muss die Religion und das Gefühl sich artikulieren. In der vierten Rede Über das Gesellige in der Religionbezeichnet Schleiermacher es als „etwas höchst widernatürliches […], wenn der Mensch dasjenige, was er in sich erzeugt und ausgearbeitet hat, auch in sich verschließen will“.38 Ganz im Gegenteil: In der Wechselwirkung, in der jeder Mensch mit anderen Menschen steht, „soll er alles äußern und mittheilen, was in ihm ist“.39 Dies gilt ganz besonders auch für die Gefühle, für jedes erregte Gemüt. In der philosophischen Ethik folgert Schleiermacher aus der von ihm angenommenen „Identität von Erkennen und Darstellen“40 für das Gefühl, dass „sein Entstehen zugleich […] sein Aeußerlichwerden ist“ und dadurch „den Andern kund werde“.41 Darin liegt dann im übrigen auch der Grund und die Voraussetzung, warum die Religion ge-
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Lebensweise, die dem antiken Ideal der „Muse“ bzw. des bi,oj qeoretiko,j entspricht. Der religiöse Mensch will, wenn er sich seinen religiösen Gefühlen hingibt, die ihn ergreifen, gerade nichts tun. Er ist – um es mit dem Apostel Paulus zu formulieren – ein mh. evrgazo,menoj , ein nicht Tätiger (Röm 4,5), was eben den Glaubenden auszeichnet. Ebd., 267. Ebd. F.D.E. Schleiermacher: Ethik (1812/13), in: ders.: Werke. Zweiter Band: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, nach den Handschriften Schleiermachers neu herausgegeben und eingeleitet von O. Braun [Neudruck der 2. Auflage, Leipzig 1927], Aalen 1981, 241–420, 262. F.D.E. Schleiermacher: Güterlehre. Letzte Bearbeitung, in: ders.: Werke. Zweiter Band: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, nach den Handschriften Schleiermachers neu herausgegeben und eingeleitet von O. Braun, Neudruck der 2. Auflage, (Leipzig 1927), Aalen 1981, 559–626, 597.
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sellig wird bzw. eine eigene soziale, gesellschaftliche Form hervorbringt, die Schleiermacher ganz allgemein „Kirche“ nennt. Darauf möchte ich nun im abschließenden dritten Teil weiter eingehen, in dem ich einige Momente zum Verhältnis von Religion und Gefühl erörtere, die über das in den ‚Reden über die Religion‘ Beobachtete hinaus in der ‚philosophischen Ethik‘ und in der ‚Glaubenslehre‘ besonders hervortreten.
3. Die Bedeutung des Gefühls für die Religion nach der ‚Ethik‘ und der ‚Glaubenslehre‘ Alles, was sich im Menschen bildet, will sich mitteilen. Für die je ganz und gar individuellen religiösen Gefühle bedarf es dazu jedoch gemeinsamer Ausdrucksmittel, damit sie kommunizierbar werden, ja, damit sie auch schon für das Individuum selbst erschließbar und darstellbar werden. Insofern ist die Kirche, also jede Religionsgesellschaft, eine Kommunikationsgemeinschaft mit gemeinsamen Kommunikationsmedien und Zeichen bzw. Symbolen auf demjenigen Gebiet menschlichen Lebens, in dem die stärkste Eigentümlichkeit und Individualität herrscht. Die Möglichkeit einer Religionsgemeinschaft „beruht“ – wenn wir nun der ‚philosophischen Ethik‘ Schleiermachers folgen „auf der Möglichkeit die Eigenthümlichkeit zur Anschauung zu bringen“.42 Da es dabei immer um ganz individuelle „Erkenntnisakte“ und Gefühle geht, lassen sich diese nicht direkt zur Anschauung bringen. Sie bedürfen eines „vermittelnden Gliede[s]“, welches – wie Schleiermacher hinzufügt „zugleich Ausdruck und Zeichen ist“.43 So wird jedes Gefühl, jede „Erregtheit des Gemüths“ von einem „natürlichen Ausdruck“ begleitet, nämlich von „Ton und Geberde“.44 Ton – Schleiermacher denkt nicht an die Rede, sondern an den Gesang – und Geberde als die unmittelbaren leiblichen Ausdrucksmittel eines Menschen sind „beides ein natürliches und nothwendiges Aeußerlichwerden des rein Innern“.45 Werfen wir nun einen Blick auf diesen Vorgang des Äußerlichwerdens des die Religion kennzeichnenden Gefühls.46 Nach Schleiermacher 42 43 44 45
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Schleiermacher: Ethik, a.a.O. (Anm. 40), 311. Ebd. Ebd. Ebd. In den Vorlesungen über Ästhetik unterscheidet Schleiermacher dann diejenigen Künste, die ein Mensch unmittelbar mit seinem Leib ausübt – Tanz und Gesang – von denjenigen, bei denen er sich eines anderen als Ausdrucksmittel bedient. Nach Äußerungen in der ‚Ethik‘ gehört zum Umfang des je individuellen Erkennens eines Menschen das Gefühl, das Schleiermacher dort explizit mit dem „bestimmten
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– so in der ‚Ethik‘ – ist „jede bestimmte Erregtheit […] begleitet von einem Bilden der Fantasie als einem eigentlich darstellenden Act“.47 Wie sich bei einem Menschen von Kindesbeinen an in Ton und Gebärde der besondere Charakter der äußeren Person entwickelt, so entwickelt sich nach Schleiermachers Auffassung aus dem „Bilden der Fantasie […] der eigenthümliche Charakter der inneren Person“.48 Das Bilden der Fantasie ist „in und mit seinem Heraustreten Kunst“.49 In den Vorlesungen über Ästhetik hat Schleiermacher diesen Vorgang detailliert rekonstruiert. Wenn man nun umgekehrt fragt, was sich denn in der Kunst und als Kunst artikuliert, so bezeichnet Schleiermacher dies in der ‚philosophischen Ethik‘ als Religion. Er schließt daran die Formel an: Es „verhält sich Kunst zur Religion wie Sprache zum Wissen“.50 Wie die Sprache die Form bzw. das Medium des Wissens ist (auf dem Gebiet des identischen Erkennens), so ist die Kunst Medium der Religion. Bevor daraus nun jedoch geschlossen wird, dass sich in jeglicher Kunst Religion artikuliert, muss doch einschränkend auf die offensichtlichen Beobachtungen hingewiesen werden, dass Schleiermacher zum einen in seiner Ästhetik durchaus einen Unterschied zwischen profaner und religiöser Kunst sieht und zum andern nicht jedes Gefühl ein religiöses Gefühl ist, so dass dessen Darstellung als Kunst auch nicht Religion artikuliert. Zwar haben alle Gefühle Kennzeichen des Absoluten, insofern in ihnen die Differenz von Subjekt und Objekt nicht existiert oder zumindest zum Verschwinden neigt, doch nach Schleiermachers Auffassung ist deshalb noch nicht jedes Gefühl Religion. Nur solche Gefühle sind religiös, die durch das Universum oder die Gottheit in deren Anschauung erregt werden. Das gefühlte Mitleid mit einer Fußballmannschaft, wenn sie schon wieder ein Spiel verloren hat, ist trotz aller Ergriffenheit, in der die Differenz von Subjekt und Objekt verschwindet, kein religiöses Gefühl, weil es eben doch nur von einem
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Selbstbewußtsein“ gleichsetzt („das bestimmte Selbstbewußtsein = Gefühl“ – ebd., 310) sowie die „echte synthetische Combination“ (ebd.) – wie Schleiermacher dies nennt –, womit das verbindende Fortschreiten von einer Einheit zu einer anderen, außer ihr liegenden, gemeint ist. Mit dem religiösen Gefühl wird etwas davon Unterschiedenes und außer ihm Liegendes verbunden. Ebd., 313. Schleiermacher hält explizit fest, dass „Fantasie […] synthetisches Vermögen“ (ebd.) ist. Ebd., 313f. Ebd., 314. Ebd., 315. In seinen güterethischen Ausführungen zur Kirche als der sozialen, geselligen Form von Religion taucht diese Formel mehrfach auf. „Wie alles Wissen auf die Sprache, so lassen sich alle Actionen des subjektiven Erkennens auf die Kunst reduciren“ (ebd., 362).
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endlichen Objekt, das als solches empirisch klar zu bestimmen ist, erregt wurde. Von Bedeutung ist nun nicht nur, wie sehr und wie gut sich das religiöse Gefühl als Kunst zum Ausdruck bringt, sondern auch, dass die Artikulation des religiösen Gefühls als Kunst die Mitteilung eines ganz Individuellen bleibt. Gerade die Religion bzw. die Kirche ist der soziale Raum, der – richtig verstanden – von einem Höchstmaß an Liberalität geprägt ist und sein muss. Denn der religiösen Gefühle und ihrer Artikulationen sind so viele verschiedene, wie es Individuen gibt. Daraus folgt dann die hermeneutische Einsicht: „Alle Mittheilung, das Wiedererkennen des Gefühls, erfolgt hier nur vermittelst eines analogischen Verfahrens; nemlich wie die darstellende Bewegung zu einer in mir selbst vorkommenden ähnlichen, so das hervorbringende Gefühl zu dem bei mir zum Grunde liegenden“.51 Damit dieser hermeneutische Vorgang in der Kommunikation von Religion klappt, muss angenommen werden, dass es so etwas wie einen gemeinsamen Bezugspunkt gibt, aufgrund dessen eine Mitteilung als Darstellung eines Gefühls identifiziert werden kann. Diese Identität, auf der dieses Verfahren beruht, sieht Schleiermacher in der – wie er formuliert – „Formation des menschlichen Organismus“52 gegeben. Dies heißt nun nichts anderes, als dass die Kenntnis von Gefühlen, die jeder Mensch hat, die Identifizierung von Gefühlen als dem Inhalt der Mitteilungen anderer Menschen bzw. dem Inhalt ihrer Artikulation in Form von Kunst ermöglicht. Weil sich die Religion und ihre Gefühle als Kunst artikulieren, deshalb ist „die höchste Tendenz der Kirche […] die Bildung eines Kunstschazes, an welchem sich das Gefühl eines jeden bildet, und in welchem jeder seine ausgezeichneten Gefühle niederlegt und die freien Darstellungen seiner Gefühlsweise“.53 Damit ist ein weiterer wesentlicher Gesichtspunkt einer auf das Gefühl bezogenen Religionstheorie angesprochen: die Bildung des religiösen Gefühls. Nach Schleiermacher bedarf das Gefühl eines jeden Menschen der Bildung. Dazu ist der Kunstschatz der Kirche da, dem dann wiederum die Darstellungen derer hinzugefügt werden, die ihre Gefühle entsprechend zum Ausdruck bringen.54 Dieser Zusammenhang ließe sich im Übrigen gut an dem jüngst die Gemüter bewegenden so genannten „Karikaturenstreit“ illustrieren. Denn das am Kunstschatz der christlichen Kirche gebildete religiöse Gefühl vermag an einer reli51 52 53 54
Ebd., 317. Ebd. Ebd., 362. Zur Kunst zu zählen ist auch der Kultus der Kirche, was heutzutage in evangelischen Kirchen leider viel zu selten noch richtig wahrnehmbar ist, jedoch vor allem in den orthodoxen Kirchen und ihren Gottesdiensten noch deutlich zu Tage tritt.
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giösen Karikatur wenig Anstößiges zu sehen, gehört doch zu diesem Kunstschatz gerade auch die religiöse Karikatur in Form des zur Deutlichkeit entstellten Gottessohnes am Kreuz. Zum Schluss möchte ich noch einen kurzen Blick auf Schleiermachers ‚Glaubenslehre‘ und die dortige Charakterisierung der Frömmigkeit als „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“55 werfen. Die Rede vom Gefühl begegnet uns dort formelhaft. Gleichwohl ist auch dort das Verständnis des Gefühls des jungen Schleiermachers weiterhin präsent. In den ‚Lehnsätzen aus der Ethik‘ setzt Schleiermacher den Begriff des Gefühls mit dem Begriff des unmittelbaren Selbstbewusstseins gleich.56 Der Begriff des Gefühls soll dadurch vor der Verwechslung mit der Empfindung geschützt werden. Schleiermacher folgt also der verbreiteten Bestimmung des Gefühls durch die Unterscheidung von Empfindung und Gefühl.57 Mit dem Begriff des unmittelbaren Selbstbewusstseins wird dann das Gefühl als derjenige Ort im Menschen markiert, an dem die entgegengesetzten Bewusstseinsfunktionen zueinander indifferent sind und ein Mensch sich weder erkennend noch handelnd zu sich selbst und der Welt verhält. Auch darin setzt Schleiermacher seine Bestimmung des Gefühls in den Reden fort. Im Gefühl ist ein Mensch ganz bei sich selbst und zugleich ganz bei der Welt, die darin ganz und gar seine Welt ist. Im Gefühl kommen die das menschliche Leben kennzeichnenden Bewegungen des In-sich-Aufnehmens (Erkennen) und Aus-sich-Heraustretens (Organisieren) momentan zur Ruhe und gehen ineinander über.58 Frömmigkeit ist nun, so Schleiermacher, eine solche „Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins“,59 dass sich ein 55
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Vgl. F.D.E. Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, in: ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg. v. H. Fischer u.a., Erste Abteilung, Schriften und Entwürfe, Bd.13, Teilband 1, 2. Auflage (1830/31), hg. v. R. Schäfer, Berlin 2003, §4, 32–40. Vgl. ebd., §3.2, 23. Der Begriff des Selbstbewusstseins andererseits wird präzisiert durch das Attribut „unmittelbar“, „damit niemand an ein solches Selbstbewußtsein denke, welches kein Gefühl ist“, wie z.B. das reflektierende Selbstbewusstsein (ebd., §3.2, 23). Im Gefühl haben wir also eine „Analogie mit dem transzendenten Grunde, nämlich die aufhebende Verknüpfung der relativen Gegensätze“ (F.D.E. Schleiermacher: Vorlesungen über die Dialektik, hg. von A. Arndt, in: ders.: Kritische Gesamtausgabe (KGA II/10/1, Berlin/New York 2002, 266). Aufhebend verknüpft wird der Gegensatz von Denken, bei dem „das Sein der Dinge in uns gesetzt“, und Wollen, bei dem „unser Sein in die Dinge gesetzt“ (ebd.) wird, und damit der Gegensatz von Vernunft und Natur überhaupt. Wenn es im Gefühl keine Differenz zwischen Sein und Bewusstsein, zwischen Objekt und Subjekt, gibt, dann könnte bei einem entsprechenden Gefühl auch angenommen werden, dass das absolute Sein im Bewusstsein als Gefühl präsent ist. Dies ist nach Schleiermachers Analyse im Gefühl einer schlechthinnigen, absoluten Abhängigkeit der Fall; also dann, wenn ein Mensch sich schlechthinnig, absolut abhängig fühlt. Schleiermacher: Der christliche Glaube, a.a.O. (Anm. 55), §3, 20.
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Mensch absolut abhängig fühlt. Dieses Gefühl kann „nur in dem Subjekt zustande“ kommen, obgleich es „nicht von dem Subjekt bewirkt“ wird.60 Das Gefühl, schlechthin abhängig zu sein, kann sich, wie alle wahren Gefühle, nicht selbst erzeugen. Gefühle entstehen, wenn sie in uns erregt werden.61 Im Leitsatz zu §4 der ‚Glaubenslehre‘62 setzt Schleiermacher das Gefühl absoluter Abhängigkeit in eins mit dem Bewusstsein, in Beziehung mit Gott zu sein. In jedem Gefühl ist ein das Gefühl Bewirkendes und Erregendes immer mit gesetzt und präsent; so auch im Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit. Obwohl im Gefühl selbst Subjektives und Objektives nicht unterschieden werden können, lässt sich das Gefühl durchaus auch zum Gegenstand des Erkennens und der Reflexion machen. Dabei tritt dann auseinander, was im Gefühl beisammen ist. Dann lässt sich das im unmittelbaren Selbstbewusstsein, dem religiösen Gefühl, „mitgesetzte Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins“63 eigens in den Blick fassen. Es ist genau dieses Woher, von dem sich ein Mensch absolut abhängig fühlt, das Schleiermacher mit dem Ausdruck Gott bezeichnet. „Insofern kann man […] sagen, Gott sei uns gegeben im Gefühl auf eine ursprüngliche Weise“.64 Mit dem Ausdruck „Gott“ findet das Selbstgefühl des Menschen die Sprache dafür, dass das eigene Dasein mitsamt der es umgebenden Welt in einem grundsätzlichen Sinn gegeben ist.65 In dem jedem Menschen eigenen Gefühl, seinem Selbstgefühl,66 welches für sein Personsein konstitutiv ist, ist das Bewusstsein von Gott mitgegeben. Dies ist kein für sich bestehendes Bewusstsein, sondern nur 60 61
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Ebd., §3.3, 25. Und wenn wir selbst in uns Gefühle erzeugen wollen, müssen wir uns dazu der Vorstellungen dessen bedienen, was uns erregt. Solches geschieht beispielsweise in Träumen und Halbträumen. Schleiermacher: Der christliche Glaube, a.a.O. (Anm. 55), §4, 32. Ebd., §4.4, 39. Ebd., §4.4, 40. Es folgt wiederum aus der Eigenart des Gefühls, dass die Vorstellung, Gott sei dem Menschen äußerlich gegeben, von Schleiermacher abgelehnt wird. Da es im Gefühl die Differenz von außen und innen, von subjektiv und objektiv nicht gibt, lässt sich ein äußerliches Dasein Gottes aus dem Gefühl auch nicht ableiten. Johann Wolfgang von Goethe hat dieses das Gefühl kennzeichnende ununterscheidbare Zusammensein auf seine Weise formuliert: „[…] / Nichts ist drinnen, nichts ist draußen: / Denn was innen, das ist außen. / So ergreifet ohne Säumnis / Heilig öffentlich Geheimnis“ (J.W. Goethe: Epirrhema, in: ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Vierzig Bände, Bd.2, hg. v. u.a. A. Apel, Gedichte 1800–1832, hg. v. K. Eibl, vierte überarbeitete Auflage, Frankfurt/M. 1988, 498). Zur sachlichen Nähe dieses Ausdrucks zu Schleiermachers Rede vom Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit vgl. Frank: Selbstgefühl, a.a.O. (Anm. 6), 190ff.
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die Kehrseite des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit. Deshalb kann sich Schleiermacher auch eine Darstellung der Religion bzw. des christlichen Glaubens vorstellen, in der von Gott gar nicht die Rede ist; eine Darstellung, die sich nur auf das „Gebiet der innern Erfahrung“ beziehen und die frommen, religiösen Gemütszustände des Menschen beschreiben würde.67 Bekanntlich ist Schleiermacher in der ‚Glaubenslehre‘ dennoch so nicht verfahren, sondern hat in der ‚Glaubenslehre‘ auch eine Gotteslehre in Form einer Eigenschaftslehre entfaltet. Die „Eigenschaften“ Gottes werden dabei strikte von den religiösen Gemütszustände abgeleitet. Schleiermacher hat dies als Grundsatz am Anfang seiner Ausführungen zur Gotteslehre so formuliert: „Alle Eigenschaften, welche wir Gott beilegen, sollen nicht etwas besonderes in Gott bezeichnen, sondern nur etwas besonderes in der Art, das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl auf ihn zu beziehen“.68 Schleiermacher versucht also von dem unmittelbaren Selbstgefühl des Menschen ausgehend69 von Gott Aussagen zu formulieren, indem er die in dem schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl enthaltene Referenz präzisiert.70
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Vgl. Schleiermacher: Der christliche Glaube, a.a.O. (Anm. 55), §30.2, 194. Ebd., §50, 300. Die transzendente Voraussetzung menschlichen Lebens und menschlicher Freiheit kann nach Schleiermacher nur so zur Erkenntnis und zur Sprache kommen, wie das menschliche Selbstbewusstsein sich auf sie zu beziehen vermag. Deshalb kann es für ihn nur darum gehen, die Implikationen der eigenen Zuständlichkeit zu formulieren, also des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit. Ein Abhängigkeitsgefühl schließt zwar ein „Wovon“ des Abhängigseins ein, gleichwohl muss dieses „Wovon“ des Abhängigseins unbestimmt bleiben, da es nicht in den Horizont dessen fällt, was das menschliche Bewusstsein gegenständlich erfassen und erkennen und damit auch aussagen kann. In der ‚Dialektik‘ behauptet Schleiermacher deshalb, dass in der Glaubenslehre „der transcendentale Grund […] nicht anders betrachtet werden“ kann „als in der Vermischung mit dem Menschlichen Bewußtsein“ (Schleiermacher: Vorlesungen über die Dialektik, a.a.O., Anm. 58), II. Abteilung, Bd.10/2, 573). Der „Anthropomorphism ist hier nicht zu vermeiden“ (ebd. [Variante Hagenbach]). Der Ausgangspunkt für die Gewinnung aller Eigenschaften Gottes ist für Schleiermacher eine schlechthinnige Ursächlichkeit, auf die das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit zurückweist (vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube, a.a.O. [Anm. 55], §51, 308), indem es ein Woher des eigenen Daseins impliziert; vgl. dazu H.-P. Grosshans: Selbsterkenntnis als Gotteserkenntnis? Zum Verhältnis von schlechthinnigem Abhängigkeitsgefühl und schlechthinniger Ursächlichkeit bei Friedrich Schleiermacher, in: Denkwürdiges Geheimnis. Beiträge zur Gotteslehre, hg. von I.U. Dalferth, J. Fischer und H.P. Grosshans, Tübingen 2004, 127–144. Was dabei geschieht, ist nun selbst kein Vollzug von Religion, sondern Theologie oder Religionsphilosophie; vollzieht sich also nicht mehr auf dem Gebiet des Gefühls, sondern der Erkenntnis und also des theoretischen Vernunftvermögens. Die Frage ist dann, was sich über Gott aussagen lässt, auf den das religiöse Gefühl bzw. das Selbstgefühl von Menschen als sein Woher verweist.
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Neben vier „abgeleiteten“ Eigenschaften Gottes, die von dem durch Jesus Christus vermittelten Bewusstsein der Sünde und Gnade her gewonnen werden – nämlich Heiligkeit, Gerechtigkeit, Weisheit und Liebe – meint Schleiermacher vier „ursprüngliche“ Eigenschaften Gottes gewinnen zu können – nämlich Allmacht, Allwissenheit, Ewigkeit und Allgegenwart –, die sich ganz ohne Vermittlung durch das Gottesbewusstsein Jesu Christi auf das fromme Selbstbewusstsein beziehen, „sofern es das allgemeine Verhältnis zwischen Gott und Welt ausdrückt“.71 Nach Schleiermachers Auffassung kann das im menschlichen Selbstverständnis mitgesetzte Woher des Daseins also nicht nur mit einem die Referenz fixierenden sprachlichen Ausdruck – „Gott“ – benannt werden, sondern auch prädikativ näher bestimmt und ausgesagt werden.72 Das Verdienst dieser Gotteslehre Schleiermachers liegt nun vor allem darin, dass dadurch dieses nach Schleiermachers Überzeugung jedem Menschen eigene Gefühl, dass es wohl so etwas wie Gott oder eine höhere universale Macht gebe, so in Form der Aussage kommunizierbar wird, dass es kritisierbar wird. Die Symbolisierungen des religiösen Gefühls selbst sind ja nicht wirklich diskutierbar und kritisierbar; sie können beeindrucken oder man kann an ihnen mangelnde Authentizität oder einen Mangel an symbolischem Ausdrucksvermögen beklagen. Werden die Implikationen der religiösen Gefühle jedoch in die Form von Aussagen über Gott und die Welt gebracht, dann kann darüber diskutiert und gestritten, und dann kann auch über ihre Wahrheit oder Falschheit geurteilt werden.
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Schleiermacher: Der christliche Glaube, a.a.O. (Anm. 55), 300. Der Weg zu dieser Erkenntnis Gottes führte von einer durch Selbstbeobachtung zugänglichen Verfasstheit des menschlichen Selbst zum Bewusstsein einer absoluten bzw. göttlichen Ursächlichkeit, die unter den ästhetischen und kategorialen Bedingungen menschlichen Erkennens prädikativ näher bestimmt wurde, um dann jedoch die dadurch vollzogene Vergegenständlichung der göttlichen Ursächlichkeit wieder zu entgrenzen. Auf diese Weise holt das in der Reflexion der eigenen Bedingtheit sich selbst entäußernde – und dabei vergegenständlichende – Selbstbewusstsein des Menschen sich wieder in seinen eigenen Vollzug ein. Anders formuliert: die göttliche Ursächlichkeit wird nicht als ein Anderes vom menschlichen Selbstbewusstsein erkannt, sondern als ein Gleiches. Der Mensch versteht sich in seinem unmittelbaren Selbstbewusstsein als ein Lebendiges, das vom Leben selbst her existiert. Wie das menschliche Selbstbewusstsein sich als ein Innerliches und Lebendiges entfaltet, so auch die göttliche Ursächlichkeit, nur eben absolut innerlich und lebendig. Es ist eine prädikativ präzisierte Vorstellung Gottes, die ihrem Ausgangspunkt im menschlichen Selbstbewusstsein und dessen Vollzug entspricht.
Kulturchristentum und Apologetik Versuch im Anschluss an Schleiermacher und Novalis VON ANDREAS KUBIK/BERLIN
1. Zur gegenwärtigen Lage kulturprotestantischer Apologetik „Ach Gott! Wir Theologen sind ja deshalb so heruntergekommen, weil wir uns von allen lumpen lassen, und dann blos kleine Apologetik treiben. Apologetik aber giebt die Sache schon zur Hälfte an fremde Maßstäbe preis, ehe man sie als Ganzes auf die Beine gestellt hat.“1 Sie ist ein Unternehmen, das für den berühmten Kulturprotestanten Albrecht Ritschl offensichtlich obsolet, ja kontraproduktiv geworden ist. Dies gilt auch dann, wenn man von den speziellen historiographischen und systematischen Interessen absieht, die sich mit Ritschls Programm verbinden, „das Christentum auf sich selbst [zu] stellen, da ich es aus sich selbst verstehe“.2 Während es für an altevangelischen Paradigmen orientierten Christentumskonzeptionen nahe liegt, die Notwendigkeit von Apologetik aufzuzeigen und ihr Programm zu entwerfen, wie es jüngst etwa Michael Roth getan hat,3 spricht zumal in einer gegenüber Ritschl noch veränderten Diskurslage in der Tat einiges dafür, dass für einen sich selbst verstehenden Kulturprotestantismus4 die Apologetik keinen Raum mehr hat noch zu haben braucht. Dies sei kurz an drei Punkten schlaglichtartig plausibel gemacht. Zunächst kann die moderne westliche Kultur durchaus als legitimer Abkömmling des Christentums interpretiert werden. Man braucht da-
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Albrecht Ritschl: Brief an Diestel vom 18.6.1875, zit. nach Otto Ritschl: Albrecht Ritschls Leben. Zweiter Band. 1864–1889, Freiburg/Leipzig 1896, 273. Ebd. Vgl. Michael Roth: Gott im Widerspruch? Möglichkeiten und Grenzen der theologischen Apologetik, Berlin/New York 2002. Für die hiesigen Zwecke genügt ein unspezifischer Gebrauch dieses Begriffsausdrucks. Für genauere Analysen vgl. die Beiträge in: Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums, hg. v. Hans Martin Müller, Gütersloh 1992; Friedrich Wilhelm Graf: Art. „Kulturprotestantismus“, in: RGG4, Bd.4 (2001), 1850–1852.
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bei gar nicht so weit zu gehen, ein vollständiges Aufgehen der christlichen Substanz in Kultur und Staat zu behaupten, wie dies hier und da in der Hegelschen Tradition geschehen ist. Gleichwohl zeichnet sich der Kulturprotestantismus durch eine Bejahung der tragenden Wertprinzipien der Moderne aus, selbst wenn sich diese gegen einzelne Manifestationen christlichen Glaubens richten sollten. Das Verwickeltsein in die Strukturen der modernen Welt wird vom Kulturprotestantismus in aller Regel auch nicht per se als Widerspruch zum persönlichen Christentum aufgefasst. Zum zweiten richtet sich die moderne Kultur kaum einmal gegen das Christentum, radikale Christentumskritik ist in der Geschichte der Neuzeit eigentlich stets Außenseiterposition geblieben,5 bzw. ist, wo sie als berechtigt aufgefasst wurde, umgehend in das Religionssystem selbst integriert worden: Den Projektionsverdacht wusste der Kulturprotestantismus mit einer Deutungstheorie der Religion zu unterlaufen. Dem Vorwurf, Religion sei Opium der geknechteten Massen, begegnete man mit ausgefeilten Theorien sozialer Gerechtigkeit und – seit Wilhelm Herrmann6 – auch mit einer prinzipiellen Bejahung gewerkschaftlicher Arbeit. Die wütenden Angriffe Friedrich Nietzsches führten nicht zuletzt dazu, dass inzwischen ‚Lebensdienlichkeit‘ weithin als Kriterium der Theologie akzeptiert ist. Und die Analysen Siegmund Freuds hatten als Effekt auf lange Sicht eine gänzliche Neubesinnung auf dem Felde der Sexualethik sowie eine weitgehende Eliminierung der als neurotisch verdächtigten Züge im Gottesbild. Hier und da ist der positive Bezug auf das Christentum sogar rechtlich verankert.7 Drittens schließlich hatte die christliche Apologetik der ersten Jahrhunderte stets auch eine missionarische Dimension.8 Hier hat nach einer 5
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Zu einer gänzlich anderen Einschätzung kommt Jörg Kniffka: Apologetik und Kirche. Die zeitgenössischen Einstellungen zur Evangelischen Kirche als Aufgabe einer erneuerten Apologetik und Apologie, Diss. Tübingen 2002; allerdings deshalb, weil er über weite Strecken an Oberflächenphänomenen wie der Häufigkeit von Religionsverunglimpfung und dergleichen orientiert ist. Vgl. dazu Thorsten Moos: Staatszweck und Staatsaufgaben in den protestantischen Ethiken des 19. Jahrhunderts, Münster 2005, 196–205. Dies ist etwa im §1 des Berliner Schulgesetzes der Fall – ein Umstand, der im Lichte der jüngsten Weigerung der Koalition von SPD und PDS, den Religionsunterricht in Berlin als Wahlpflichtfach neben dem Fach Ethik einzuführen, besondere Aufmerksamkeit verdient. Vgl. dazu Wolfgang Kubik: Universalität als missionstheologisches Problem. Der Beitrag von Justin dem Märtyrer, Nicolaus Cusanus und Karl Heim zum Gespräch um Christus und die Mission, Diss. Heidelberg 1972, 14–28, 236–238. Die Ansicht, dass Justins logos-spermatikos-Lehre vor allem zur missionarischen Scheidung der Geister und weniger einer versöhnlichen universalen Popularphilosophie diente, wird jetzt wieder bekräftigt von Martin Hailer: Theologische Apologetik und die altkirchlichen Apologeten. Bemerkungen zu (k)einem Gespräch, in: Ad veram religio-
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Übergangsphase der Bejahung einer kulturellen Mission um 1900 ein Umdenken stattgefunden: Heute wird im Kulturprotestantismus gerade wegen der Verflechtung von Mission und Kolonialismus – die allerdings weit vielschichtiger ist als es auf den ersten Blick erscheint – weitgehend auf den Missionsgedanken verzichtet oder zumindest eine völlige Umprägung des ursprünglichen Gehalts vorgenommen. Diese drei – hier natürlich etwas schematisierten – Momente scheinen Ritschl auf der ganzen Linie Recht zu geben: Jede Notwendigkeit und auch jede Motivation christlicher Apologetik scheinen im Kulturprotestantismus zu entfallen. Zu einer diametral entgegengesetzten Einschätzung kann man allerdings kommen, wenn man sich beispielsweise in den materialreichen Artikel zum Thema von Karl Gerhard Steck vertieft.9 Steck weist überzeugend nach, dass im Grunde die gesamte Theologiegeschichte der Neuzeit cum grano salis auch als Geschichte einer neuen Apologetik gelesen werden kann. Bereits zur Zeit des Deismus wird apologetische Literatur, so Steck, „Massenware“ (413). Im 19. Jahrhundert besteht „die ältere Apologetik […] weiter“ (417). Auch im frühen 20. Jahrhundert gilt: „Nur als Vokabel kam Apologetik nach 1918 außer Kurs“ (420). Und für die Gegenwart kann Steck gar behaupten: „Die evangelischen Programme nach 1945 erwachsen alle aus dem apologetischen Anliegen“ (421). Dies betrifft natürlich auch das Weiterwirken von Theologen wie Adolf Harnack, Ernst Troeltsch, Paul Tillich und anderen, die ebenso große Kulturprotestanten wie namhafte Apologeten waren. Kulturprotestantische Apologetik existiert also trotz Ritschls Polemik als Faktum. Um zu ihren ursprünglichen Motiven vorzudringen, legt sich ein Blick auf die ‚Bibel‘ des Kulturprotestantismus, Schleiermachers ‚Reden‘ über die Religion, gleichsam von selbst nahe. Sie zu erheben bedeutet zugleich eine Anfrage an den Kulturprotestantismus der Gegenwart, ob er nicht die von Schleiermacher namhaft gemachten, zur Apologetik drängenden Differenzwahrnehmungen einzuebnen in der Gefahr ist (2). Diese Gefahr zeigt sich noch deutlicher, wenn man die – eher implizite – apologetische Strategie, die Novalis im Anschluss an Schleiermacher entwickelt hat, mit darstellt (3). Denn Abschluss bilden daher einige versuchsweise Thesen zur Funktionsbestimmung heutiger kulturprotestantischer Apologetik (4).
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nem reformare. Frühchristliche Apologetik zwischen Anspruch und Wirklichkeit, hg. v. Christoph Schubert u. Annette von Stockhausen, Erlangen 2006, 1–28. Karl Gerhard Steck: Art. „Apologetik II. Neuzeit“, in: TRE 3 (1978), 411–424. Seitenzahlen im folgenden Absatz stammen aus diesem Artikel.
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2. Beweggründe Schleiermacherscher Apologetik Schaut man sich die jüngere Forschungsgeschichte zu den ‚Reden‘ an, so stehen die Religionstheorie einerseits, die Erhellung der vielfältigen Theoriebezüge, in denen die ‚Reden‘ stehen andererseits, im Vordergrund. So berechtigt und wichtig diese Forschungsinteressen und so beeindruckend die dabei zu Tage geförderten Ergebnisse auch sind,10 es muss erstaunen, wie wenig die Forschung das apologetische Moment der ‚Reden‘, das doch gewiss zu ihren Primärmotivationen zu zählen ist, zum Gegenstand macht. Man kann mindestens drei Beweggründe Schleiermachers unterscheiden, wobei letzterer noch einmal durch ein Stützargument zusätzliches Gewicht erhält. a) Schleiermacher setzt mit dem überdeutlichen Signal an seine Hörerschaft ein, dass sie es mit einem emphatischen Zeitgenossen zu tun hat. Der Redner über die Religion hat nichts mit denen zu tun, die das Herrschen eines vermeintlich der Religion missgünstigen ‚Zeitgeistes‘ beklagen. Das Recht der modernen Kultur auf autonome Ausdrucksformen wird nachdrücklich bekräftigt, und Schleiermacher nimmt diese mit den ‚Reden‘ ja auch für sich selbst in Anspruch. Das bedeutet aber zugleich, dass er sich für seine Apologie aller institutionellen Außenstützen entschlägt: Es ist nichts als die innere Evidenz der Sache selbst, wie sie sich ihm präsentiert hat, die ihn zu seiner Rede motiviert: „Es ist die innere unwiderstehliche Nothwendigkeit meiner Natur, es ist ein göttlicher Beruf“.11 Er kommt in diesem Zusammenhang auch auf seine eigenen schmerzhaften religiösen Kämpfe und Schwierigkeiten, seine Glaubenskrise in Barby zu sprechen. Schleiermacher entlastet den Vortrag nicht von seiner konkreten Subjektivität. Dies stimmt passgenau zu seiner religionstheoretischen Grundeinsicht: Religion ist ja gerade nicht im Allgemeinen des Begriffs oder der Vernunft zu suchen, sondern im auszudeutenden Einzelnen des Gefühls und der Anschauung. Diese Einsicht muss sich auch in ihrer Darstellung niederschlagen: Religion kann „nur als etwas Einzelnes und in einer durchaus bestimmten Ge10
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Hier ist in erster Linie an die Beiträge des großen Schleiermacher-Kongresses von 1999 zu denken: 200 Jahre ‚Reden über die Religion‘. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft, Halle 14.–17. März 1999, hg. v. Ulrich Barth u. Claus-Dieter Osthövener, Berlin/New York 2000. Vgl. aber auch Ulrich Barth: Die Religionstheorie der ‚Reden‘. Schleiermachers religionstheoretisches Modernisierungsprogramm, in: ders.: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 269–289; Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva. Die spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Religionstheorie, Berlin/ New York 2006. Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hg. von Günter Meckenstock, Berlin/New York 2001, 5. Zitiert wird nach der Originalpaginierung.
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stalt wirklich gegeben und mitgetheilt werden […], weil sonst nicht Etwas, sondern in der That nichts“ (189) zur Sprache käme. Apologetik der Religion ist also zugleich Apologie der religiösen Subjektivität, die sie vorträgt. Es wäre aus der Sicht Schleiermachers verfehlt, wollte man konkretem, d.h. individuellem religiösen Werden und Sein keine Bedeutung und keine Erschließungskraft beimessen. b) Schleiermacher gibt zu Protokoll, er könne, um seine Hörer zu interessieren, an nichts anknüpfen als an die Tatsache ihrer Religionsverachtung. Er appelliert also an das mehr oder weniger prätentiös vorgetragene vermeintliche Bildungsinteresse derjenigen Schicht, an die er sich ja bereits im Untertitel ausdrücklich wendet. Freilich geschieht dies in ironischer Absicht. Denn, wie Schleiermacher alsbald aufweist, es herrschen unter den Zeitgenossen gänzlich falsche Begriffe von dem vor, was eigentlich unter Religion und deshalb auch unter dem Christentum zu verstehen sei. Legitimerweise richtet sich daher die Verachtung lediglich gegen die falschen Begriffe und gegen die sich möglicherweise hinter ihnen verbergenden realen Fehlformen – eine Verachtung, in die der Redner über die Religion einzustimmen gern bereit ist. Schleiermacher fordert aber darüber hinaus das Eingeständnis, „daß, was die Religion angeht, Ihr noch nichts von ihr wißt.“ (47). Es ist geradezu ein ceterum censeo von ihm, dass es eigentlich nirgendwo „die Religion und ihr Streben gewesen ist, worauf Euer Unwille sich geworfen hat“ (218). Das bedeutet, dass die Darlegung des wahren Wesens der Religion und des Christentums selbst als apologetische Strategie zu gelten hat. Diese Einsicht ist nicht neu, sie stammt aus der Neologie,12 aber war doch bis dato nie so wuchtig vorgetragen worden. Es ist dies genau der Punkt, den Schleiermacher in der „Kurzen Darstellung“ dann auch als die eigentlich theologisch-technische Aufgabe der Apologetik bestimmt hat13 und der in den Prolegomena zur Glaubenslehre wieder aufgenommen wird.14 Hier hat Schleiermacher dann auch auf diejenigen Theologen gewirkt, die sich selbst nicht als Apologeten verstanden – wie eben z.B. Albrecht Ritschl. Die Wesensdarlegung der Religion setzt voraus, dass Religion als Element der conditio humana verstanden werden kann. Dass sich die
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Vgl. Andreas Kubik: Praktisches Christentum. Versuch über das theologische Interesse der Neologie (Spalding, Jerusalem, Toellner), in: Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne, hg. v. Arnulf v. Scheliha et al., Frankfurt/M. 2005, 30–41. Vgl. Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 2. Ausgabe (1830), hg. von Heinrich Scholz (31910), ND Darmstadt 1993, §§43–53. Vgl. Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2. Ausgabe (1830/31), hg. von Martin Redeker (71960), ND Berlin/New York 1999, §§11–14.
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Anlage nur selten zur vollen Blüte entfaltet, ist für Schleiermacher kein Gegenargument, sondern er selbst setzt es überall voraus, ja, dieser Umstand macht ja gerade das eigentliche Pathos der dritten und vierten Rede aus. Aber man würde das Menschsein selbst schmähen, würde man die recht verstandene Religion noch verachten. Apologetik der Religion ist also auch immer Apologetik eines Menschenbildes, das Religion als Konstituens der menschlichen Natur mit umgreift. Dieses darf aber nicht nur vorausgesetzt, sondern muss auch als solches angesprochen werden: Es wäre aus der Sicht Schleiermachers verfehlt, wollte man es bei der abstrakten Behauptung, alle Menschen seien religiös, belassen. c) Zum Religionsbegriff Schleiermachers gehört notwendig die kommunikative Dimension der Religion hinzu. Wie alle inneren Triebkräfte des Menschen zur Darstellung nach außen drängen, so verhält es sich auch und gerade mit der Religion. Die kommunikative Dimension der Religion ist aber nicht in diesem Drang zur Mitteilung allein begründet. Sie hat noch darüber hinausgehende Funktionen. Wenn sich der Mensch hinsichtlich seiner Religion äußert, will er wenigstens dreierlei erreichen: Die Selbstdarstellung dient zum ersten dazu, sich selbst gleichsam noch einmal mit den Augen der anderen anzuschauen. Dadurch versichert er sich, „daß ihm nichts als menschliches begegnet sei“ (177), als das Universum auf ihn wirkte. Die Kommunikation der Religion fungiert gewissermaßen als Lackmustest ihrer Humanität. Zum zweiten dient sie dazu, die Gleichgesinnten zu suchen, mit denen ein Austausch möglich ist. Denn das höchste Ziel ist auch in der Religion, „mit Freunden und Theilnehmern vollendete Ideen [zu] schauen“ (13). Und sind diese nicht vorhanden, so geht das Trachten gar darauf, „sich die Mitgenoßen selbst zu verschaffen“ (14). Wenn man so will, ist hier das alte missionarische Anliegen der Apologetik unter veränderten Bedingungen erhalten. Religion unterschreitet ihre eigene Intention, verbliebe sie bloß im stillen Kämmerlein. Dies liegt schließlich daran, dass jedes Individuum nur einen Ausschnitt dessen repräsentieren kann, was Religion ist. Das Nach-außen-Treten der Religion dient mithin auch zur wechselseitigen „Ergänzung“ (179) der unendlichen Religion. Das, was ihm selbst fehlt, möchte er, da das Universum sich nicht geneigt hat, es in ihm zu erzeugen, wenigstens „durch ein fremdes Medium wahrnehmen“ (179). Aus all dem folgt, dass eine Apologetik der Religion nach Schleiermacher immer auch zugleich Apologetik der Mitteilung der Religion sein muss. Religion will sich außer sich anschauen, will die lebendige religiöse Zirkulation. Es wäre aus der Sicht Schleiermachers verfehlt, wollte man lediglich der Privatreligion und dem individuellen Nachspüren der Sinnbezüge das Wort reden.
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Dem vorigen Punkt sei noch durch ein Stützargument ex negativo zusätzliches Gewicht verliehen. Es ist nämlich auch auffällig, welche apologetische Strategie Schleiermacher bewusst nicht wählt, ja sogar ablehnt. Für ihn kann Religion in keinem Fall zur Außenstützung der ethischen Balance des Individuums oder des Wertekorsetts der Gesellschaft fungieren. Zugespitzt gesagt: Schleiermacher ist kein Werteapologet. Die allfälligen Synergieeffekte von Religion und Sittlichkeit, die gar nicht bestritten werden, werden von ihm jedenfalls nicht zur Verteidigung der Religion aufgeboten. Auf welche Weise es politisch geschickt ist, von Staats wegen mit der Religion umzugehen, ist keine Frage, welche die Religion selber bewegt. Ihr ureigenes Interesse endet in diesem Zusammenhang da, wo die Rahmenbedingungen für eine freie Kommunikation der Religion geschaffen wurden.15 Schleiermachers Ausführungen zur Apologetik speziell des Christentums wären noch einmal ein Thema für sich, nicht zuletzt deswegen, weil er dieses Thema mit der Frage nach der Absolutheit des Christentums verknüpft hat – eine unter seinen Bedingungen etwas unglückliche Vermischung der Themen, da das entschlossene Plädoyer zugunsten der positiven Religion überhaupt diesem Interesse etwas widerstreitet. An dieser Stelle genügt der Hinweis, dass es unter seinen Prämissen gar nicht anders denkbar ist, als dass er schließlich noch eine Verteidigungsrede derjenigen konkreten Religion hält, der er selbst angehört. Die Zuspitzung auf das Christentum in der fünften Rede ist keineswegs ein peinliches Eingeständnis seiner zunächst verheimlichten eigentlichen Interessen, sondern liegt tief in der Sache selbst begründet.
3. Novalis’ implizite Apologetik Bevor dargelegt wird, was von Novalis aus an das soeben Ausgeführte anzuknüpfen ist, sind zwei Präliminarien zu machen. Die eine betrifft den theologiegeschichtlichen Ort von Novalis, die andere sein Verhältnis zu Schleiermacher. Über Novalis sind die unterschiedlichsten Deutungsansätze im Umlauf; darin aber kommen doch fast alle Interpretinnen und Interpreten überein, dass es sich bei Friedrich v. Hardenberg, wie der Dichter eigentlich hieß, um einen zutiefst vom Pietismus herrnhutischer Prägung geformten Menschen handelt. So verbreitet diese Ansicht auch ist, sie steht von der Quellenlage her auf außerordentlich wackeligen Beinen. Eine genaue, theologiegeschichtliche orientierte Analyse seines dichteri15
Vgl. Eilert Herms: Art. „Apologetik VI. Fundamentaltheologisch“, in: RGG4, Bd.1 (1998), 623–626.
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schen Jugendnachlasses fördert vielmehr zu Tage, dass Novalis eher von der Theologie und Frömmigkeit der Aufklärung berührt war. Seine spätere Nähe insbesondere zum herrnhutischen Jesusbild ist das Resultat einer freien Aneignung und stammt aus einer Zeit, in der Novalis sich überhaupt massiv für die Frömmigkeitsgeschichte der großen Konfessionen zu interessieren begann. Sie ist keineswegs Merkmal einer spezifisch pietistischen Prägung.16 Die zweite Vorbemerkung: Novalis und Schleiermacher sind sich nie begegnet und haben auch keine Briefe ausgetauscht. Ihre wechselseitige Beeinflussung geschah über den gemeinsamen Duzfreund Friedrich Schlegel, war ansonsten aber literarischer Natur. Es spricht einiges dafür, dass Schleiermachers Konzeption des religiösen Mittlers in den ‚Reden‘ angeregt oder zumindest bestärkt wurde durch Hardenbergs so genanntes „Mittlerfragment“ aus der ersten Nummer der Zeitschrift „Athenäum“. Novalis wiederum war von Schleiermachers ‚Reden‘ tief beeindruckt und ließ sich von ihnen zu allerlei schriftstellerischen Plänen, vor allem aber zu seiner berühmt-berüchtigten Rede „Die Christenheit oder Europa“ anregen. Schleiermacher schließlich, obwohl er der „Europa“-Rede skeptisch gegenüberstand, schätzte die späten Gedichte von Novalis, besonders die so genannten „Geistlichen Lieder“ so sehr, dass er sie bis ins hohe Alter als Teil seiner Predigten oder Liturgien verwendete. Wo immer also eine literarische Schuld bestand, hat der andere nicht versäumt, diese – so lang er konnte – mit Zinsen zu begleichen.17 Die von mir so genannte implizite Apologetik des Novalis setzt einen kurzen Seitenblick auf seine Religions- und Christentumstheorie voraus, die ihrerseits im engen Zusammenhang mit seinem grundlegenden philosophischen Ansatz steht. Der Novalis, den wir heute kennen, bildet sich in einer mühsamen, intensiven und kritischen Auseinandersetzung mit der frühen Wissenschaftslehre Johann Gottlieb Fichtes. Novalis unterschreibt dessen Grundeinsicht, dass „die Sfäre des Ich […] für uns alles umschließen“18 muss. Er nimmt aber eine entscheidende Modifikation vor, die zugleich zur Begründung einer Symboltheorie dient. Das Ich, das sich bezieht, versteht das Ich, auf das es sich bezieht, 16 17
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Vgl. dazu Andreas Kubik: Die Symboltheorie bei Novalis. Eine ideengeschichtliche Studie in ästhetischer und theologischer Absicht, Tübingen 2006, 294–301, 359–361. Hans Dierkes: „Schleyermacher hat Eine Art von Liebe, von Religion verkündigt“. Hat er das? Novalis’ Rezeption der Reden ‚Über die Religion‘, in: 200 Jahre ‚Reden über die Religion‘, a.a.O. (Anm. 10), 534–558, geht aber davon aus, dass Schleiermacher insgesamt den Ideen von Novalis nicht viel abgewinnen konnte. Das Einspeisen der Lieder in die Liturgie erkläre sich aus dem gemeinsamen pietistischen Hintergrund. Ich zitiere die Werke von Novalis nach der gängigen dreibändigen Münchener Studienausgabe: Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe, hg. v. Hans-Joachim Mähl u. Richard Samuel, 1987, hier Fichte-Studien, Bd.2, 9.
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als Z e i c h e n für Identität, die es ansonsten stets nur in einem „Scheinsatz“ (Fichtes Ich = Ich) auszudrücken vermag. Das absolute Ich ist deshalb nicht – so kann man Novalis’ Kritik an Fichte zusammenfassen – das Ich der reinen Thesis, sondern muss als absolute Synthesis verstanden werden, in dem sich das Ich mit seinem alienierten Selbst wieder zusammenschließt. Anders gesagt: Die Scheidung zwischen Ich und mir selbst ist nichts Abgeleitetes, wie Fichte meinte, sondern von ihr kommen wir immer schon her. Die eigentliche menschliche Tätigkeit ist demnach nicht das Setzen, sondern das Synthetisieren, das Zusammenfügen.19 Wie fast alles bei Novalis, ist auch das aus dieser Spekulation entspringende geistphilosophische System Entwurf geblieben. Immerhin liegen genügend Materialien vor, um dies Konzept wenigstens zu umreißen. Danach realisiert sich das absolute Synthetisieren unter endlichen Bedingungen in vierfacher Weise. In der Sphäre der praktischen Vernunft zeigt es sich im Prozess der tätigen Weltgestaltung des Ich, im kulturethischen Fortgang der Menschheitsgeschichte. Auf dem Felde der theoretischen Vernunft ist der Zielgedanke der einer Enzyklopädie im anspruchsvollen Sinne, also der Darstellung des gesamten Wissens nach Prinzipien und Gegenständen. Im Bereich des Ästhetischen ist die höchstmögliche Form der moderne Roman, welcher alle Gattungen unter sich begreift und in der Lage ist, biographische Ganzheit in ihrer Entwicklung und in ihrem überindividuellen Bezugsrahmen einzufangen. Schließlich im Areal des Religiösen präsentiert Novalis die Utopie einer transkonfessionellen christlichen Universalkirche, die auf einem ‚Christentum ohne Berührungsängste‘ basiert. Dieses integriert sowohl einen von seinen Engstirnigkeiten und Engherzigkeiten befreiten Protestantismus wie einen vergeistigten Katholizismus und einen poetischen Rückbezug auf die mythischen Grundelemente des Christentums. Eine solche christentumstheoretische Konzeption – um den Gedankengang nun auf diese zuzuspitzen – konnte um 1800 nur auf dem Boden des Protestantismus, und zwar eines aufgeklärten Protestantismus im weiteren Sinne gedacht werden. Was das religionstheoretische Konzept, auf dem seine Vision des ‚Christentums ohne Berührungsängste‘ fußt, angeht, so zeigen sich denn auch in der Tat bis ins Detail hineingehende Übereinstimmungen mit Schleiermacher. Damit meine ich noch nicht einmal so sehr die Verortung der Religion in einer eigenen Provinz im Gemüte – von Novalis bevorzugt „heiliger Sinn“ genannt –, die 19
Es ist eigens darauf hinzuweisen, dass sich diese Auffassung von Novalis’ FichteKritik gänzlich unterscheidet von der Überzeugung Manfred Franks, Novalis habe den idealistischen Rahmen verlassen und für den Gedanken eines unvorgreiflichen Seins im Sinne Hölderlins plädiert; vgl. zu Frank: Andreas Kubik: Die Symboltheorie bei Novalis, a.a.O. (Anm. 16), 20, 134–141.
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gegenüber den anderen Geistessphären unverrechenbar bleibt. Am wichtigsten ist in unserem Zusammenhang der deutliche Anschluss an Schleiermachers Zeitdiagnose der religiösen Gegenwart. Auch für Novalis ist nicht der hier und da auftretende Atheismus das eigentliche Problem, sondern die einseitige Orientierung der Gegenwartskultur an utilitaristischen und ökonomistischen Paradigmen, denen auch das Erkenntnisstreben des Menschen unterworfen wird. Diese Form von Alltags- und Diesseitigkeitskultur gewöhnt die Menschen, „ihr ganzes Dichten und Trachten, den Mitteln des Wohlbefindens allein zuzuwenden, die Bedürfnisse und die Künste ihrer Befriedigung werden verwickelter, der habsüchtige Mensch hat, so viel Zeit nöthig sich mit ihnen bekannt zu machen und Fertigkeiten in ihnen zu erwerben, daß keine Zeit zum stillen Sammeln des Gemüths, zur aufmerksamen Betrachtung der innern Welt übrig bleibt. – In Collisions-Fällen scheint ihm das gegenwärtige Interesse näher zu liegen“.20
Novalis fasst diese Beobachtung in dem Begriff zusammen, die Zeit nähere sich dem „praktischen Unglauben“21 – praktisch deshalb, weil er nicht auf theoretischer Bestreitung der Fundamente des Glaubens beruht, sondern die affektiven Grundlagen des religiösen Lebens betrifft, die „praktisch“ vernachlässigt werden. Das Zusammenprallen jener christlichen Utopie mit der scharfsichtigen Diagnose der religiösen Gegenwart birgt nun ohne Zweifel apologetisches Potential in sich. Novalis hat in der kurzen Zeit, die er noch zu leben hatte, auch einige Überlegungen dazu angestellt, wie dieses Potential auszumünzen wäre. Sie seien im Folgenden kurz umrissen. Um in die diesbezügliche Gedankenwelt von Novalis einzudringen, hat man sich weniger an seine veröffentlichten Schriften zu halten. Zieht man vielmehr den Nachlass hinzu, so stößt man auf eine ganze Reihe von Veröffentlichungsprojekten sehr interessanter Art. Eine relativ frühe Notiz dazu vermerkt Folgendes: „Religiöse Fantasieen – ErbauungsBuch. Geistliche Lieder. Gebete für J[ulie]. Das heilige Leben oder die bessre Welt, eine Geschichte. Loosungen“.22 Dass es sich hierbei um konkrete Arbeitspläne handelt, belegen briefliche Äußerungen Friedrich Schlegels an Schleiermacher, in denen er von einem gemeinsamen Vorhaben Novalis’ und Ludwig Tiecks berichtet, ein Buch mit christlichen Liedern und Musterpredigten herauszugeben und Schleiermacher zu widmen (November 1799; KGA V/3, 240). Auch über den Plan dieser beiden, gemeinsam ein geistliches Journal herauszugeben – aller Wahrscheinlichkeit nach mit ähnlichen Textgattungen – sind wir durch
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Novalis: Werke, a.a.O. (Anm. 18), Die Christenheit oder Europa, §3, Bd.2, 735. Ebd., §7, 738. Novalis: Werke, a.a.O. (Anm. 18), Fragmente und Studien I, Bd.2, 752.
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Nachlassaufzeichnungen informiert. Novalis hatte also vor, Schriften mit christlichem Inhalt zu veröffentlichen und bevorzugte dabei offensichtlich Gattungen eines gleichsam ‚direkten‘ religiösen Sprechens. Wie ist dieser doppelte Befund – zur Apologetik hin offene Zeitdiagnose einerseits, der Plan zu Gedichten, Liedern, Predigten etc. andererseits – zu erklären? Ein Vergleich mit Schleiermacher führt hier weiter. Dessen ‚Reden‘ beziehen ihren Reiz ja nicht zuletzt aus ihrer Mittelstellung zwischen religionstheoretischem Traktat und rhetorisch hochgestimmter Selbstmitteilung. Ist es bei Novalis nun gerade die explizit theoretische Dimension, die in seinen späten Veröffentlichungsplänen wegfällt, so ist damit zweierlei getroffen: erstens die Darlegung des Wesens des Christentums, zweitens die Darlegung eines allgemeinen Religionsbegriffs, unter den sich vorderhand auch Gegner des Christentums sollen subsumieren lassen – beides unzweifelhaft Grundstrategien aufgeklärt-protestantischer Apologetik. Die Option zugunsten anderer Textformen ist von Novalis ganz bewusst gezogen. Seine zugrunde liegenden Überlegungen kann man frei in etwa wie folgt wiedergeben. Zum ersten: Die Darlegung des ‚Wesens des Christentums‘ erzeugt trotz vermeintlich liberalisierender Absicht einen „Abstraktions- und Normativitätsdruck“,23 der aus der Perspektive des ‚Christentums ohne Berührungsängste‘ eine unangemessene Verengung des Standpunktes bedeutet. Zugespitzt gesagt: In der Wesensbeschreibung verbergen sich nach Novalis noch Bedürfnisse nach einer ‚reinen Lehre‘, die letztlich eher auf Abgrenzung denn auf Integration abzielen und verkennen, dass anderen Christenmenschen ganz andere Dinge an ihrer Religion wesentlich sein können als der Wesenstheoretiker meint. Zum zweiten: Wenn der Mensch ohnehin ein religiöses Wesen ist, wie Novalis mit Schleiermacher annimmt, dann ergibt es wenig Sinn, sein Hauptaugenmerk auf den umständlichen Nachweis dieser These zu legen.24 Denn die religionstheoretische Darlegung ist aus der Perspektive des religiösen Bewusstseins selbst stets lediglich als Prä-Text anzusehen. Dieser Prä-Text, versteht man ihn richtig, muss von selbst in die eigentliche religiöse Mitteilung übergehen. Der Neuprotestantismus hat sich aus dieser Perspektive zu sehr um die Produktion von Prä-Text gekümmert; die Entwicklung von Sprachformen, die der direkten religiösen Kommunikation dienten, konnte weder mit dem Ausbau der artifiziellen Religionstheorien noch mit der künstlerischen Sprachentwicklung der Moderne Schritt halten. 23 24
Diesen Ausdruck verwendete – in anderem Kontext – Ulrich Barth in brieflicher Äußerung an mich am 31.12.2005. Dies bedeutet natürlich keineswegs, dass seine späten Schriften einer religionstheoretischen Interpretation nicht zugänglich wären – nur war dies eben nicht ihr kommunikatives Interesse.
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Andreas Kubik
Novalis plädiert keineswegs für eine Theorievergessenheit zugunsten eines vermeintlich naiven Zugangs zur Religion. Er lebt in dem klaren Bewusstsein von der Notwendigkeit einer Umformung des Christentums in der Neuzeit. Aber, und das ist das entscheidende, er begreift diese Umformung vor allem als Sprachaufgabe. Der Kulturprotestantismus kann sich nicht darauf beschränken, den Ort der Religion im menschlichen Geist und die Stelle der Religion im Gesamt der Kultur anzugeben, sondern muss sich auch daran wagen, das innere Herz der Religion in Sprachformen auszudrücken, die seinen kultur- und religionstheoretischen Einsichten angemessen sind. Diese Sprachformen transportieren dann so etwas wie eine implizite Apologetik, die ihre Verteidigungsaufgabe gleichsam unterschwellig vornehmen. Wie Richard Rothe vollkommen richtig bemerkt hat, muss Novalis seinem Selbstverständnis nach als Modernisator der christlichen Frömmigkeit gelten.25 Genau diesem Ziel dienen letztlich die „Europa“-Rede, die geplanten Texte, diesem Ziel die Gedichte und Hymnen, die er zu Lebzeiten noch veröffentlicht hat.
4. Zur Aufgabenbestimmung kulturprotestantischer Apologetik Einige Ergebnisse dieser Studie seien unter Hinzunahme verwandter Aspekte in drei Thesen zur Aufgabenbestimmung neu- oder kulturprotestantischer Apologetik zusammengefasst. Diese Punkte scheinen mir weder durch Ritschls Einspruch noch die eingangs aufsummierten drei Momente abgegolten zu sein. 1.) Kulturprotestantische Apologetik muss sich zunächst als Apologetik der Religion überhaupt auslegen und kann sich keineswegs nur auf das Christentum beschränken. Schleiermachers berühmter Satz „in den Religionen sollt Ihr die Religion entdeken“26 scheint mir bei weitem noch nicht ausgemessen zu sein – Schleiermacher hat ihn ja selbst bekanntlich nicht wirklich ausgeschöpft. Novalis geht sogar noch einen Schritt weiter und erkennt „die Freude an aller Religion“27 (Hervorh. A.K.) als erstes Signum des Christentums. Kulturprotestantische Apologetik wird dann darauf zu achten haben, dass sie auch zur Rechtfertigung expliziter Religionskulturen ansteht und nicht bloß solcher Kulturphänomene, die sie selbst zuvor für religiös erklärt hat. Dass diese 25 26 27
Richard Rothe: Novalis als religiöser Dichter, in: ders.: Gesammelte Vorträge und Abhandlungen, Elberfeld 1886, 64–82. Schleiermacher: Über die Religion, a.a.O. (wie Anm. 11), 238. Novalis: Werke, a.a.O. (Anm. 20), §24, 749.
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These die Berechtigung von Religionskritik nicht tangiert, versteht sich von selbst. 2.) Kulturprotestantische Apologetik muss sich selbst als Implikat der religiösen Mitteilung verstehen. Ihr Anliegen ist darauf gerichtet zu zeigen, wie Schleiermacher sagt, dass dem Subjekt in der religiösen Mitteilung „nichts als menschliches begegnet sei“.28 Es ist eine Verkürzung des Schleiermacherschen Religionsbegriffs, wenn man ihn lediglich zur Begründung der neuzeitlichen Individualisierung der Religion bzw. einer religiösen Individualitätskultur heranzieht. Kulturprotestantische Apologetik muss von daher auch als Apologetik religiöser Vergemeinschaftung und konkreter Religionskommunikation auftreten. 3.) Selbstverständlich kann neuprotestantische Apologetik wie überhaupt die ganze Theologie auf die Darlegung und Kommunikation weder eines allgemeinen und beschreibungskräftigen Religionsbegriffs noch des Wesens des Christentums verzichten. Aus dem Gesagten folgt jedoch darüber hinaus, dass kulturprotestantische Apologetik auch Präsentationsformen neben der religions- und kulturtheoretischen Darlegung finden muss, dass sie also auch ein ‚direktes Sprechen‘ mit einer impliziten Apologetik im Sinne des Novalis verfolgen muss. Denn eine Religionsform, die ihre Selbstbekundungen im Prä-Text erschöpft bzw. sich lediglich aufgrund ihrer Passgenauigkeit zum modernen Verfassungsstaat anbietet, wird letztlich ihre Überzeugungskraft auch genau auf diese Bereiche beschnitten sehen. Sie kann sich jedenfalls nicht auf den Schleiermacher der ‚Reden‘ berufen. Denn, wie dieser in einer Nachlassreflexion notiert: „Was verteidigt werden soll, muss aus sich selbst verteidigt werden, so auch die Religion, nicht zum Zweck“ (KGA I/2, 25). Was für Präsentationsformen das zu sein haben, ist zwar unter den Bedingungen der heutigen medialen Kultur nicht von vornherein ausgemacht. Die Lösung dieser Aufgabe aber dürfte für das Fortbestehen des aufgeklärten Protestantismus als lebendiger Religion schlechterdings unverzichtbar sein.
28
Schleiermacher: Über die Religion, a.a.O. (wie Anm. 11), 177.
Schleiermacher und Weber Zur Ästhetisierung religiöser Erfahrung im Prozess der Entzauberung VON MAGNUS SCHLETTE/ERFURT
An einem schönen Augusttag des Jahres 1913 spaziert ein vornehm gekleidetes Paar eine belebte Wiener Straße entlang, wobei es Zeuge eines Unfalls wird. Ein schwerer Lastwagen hat einen Passanten erfasst und strandet nach jäher Bremsung mit einem der Vorderräder auf der Bordschwelle. Schnell bildet sich ein Kreis von Neugierigen um den Ort des Ereignisses, und auch das besagte Paar tritt näher, um das Verkehrsopfer in Augenschein zu nehmen. – So hat Robert Musil mit emblematischer Prägnanz den Auftakt des ‚Mann ohne Eigenschaften‘ in Szene gesetzt. Die Schilderung der Episode – „Woraus bezeichnender Weise nichts hervorgeht“, wie Musil sie überschrieben hat – entwirft mit wenigen lakonischen Strichen das Sujet des Romanfragments. „Die Dame fühlte etwas Unangenehmes in der Herz-Magengrube, das sie berechtigt war für Mitleid zu halten; es war ein unentschlossenes, lähmendes Gefühl. Der Herr sagte nach einigem Schweigen zu ihr: ‚Diese schweren Kraftwagen, wie sie hier verwendet werden, haben einen zu langen Bremsweg.‘ Die Dame fühlte sich dadurch erleichtert und dankte mit einem aufmerksamen Blick. Sie hatte dieses Wort wohl schon manchmal gehört, aber sie wusste nicht, was ein Bremsweg sei, und wollte es auch nicht wissen; es genügte ihr, dass damit dieser grässliche Vorfall in irgendeine Ordnung zu bringen war und zu einem technischen Problem wurde, das sie nicht mehr unmittelbar anging.“1
Der Einbruch des Unvorhersehbaren in einen zunehmend unübersichtlichen Alltag, seine als beklemmend empfundene Sinnlosigkeit und der Versuch, diese zu bewältigen, indem die Erfahrung als belangloser Vorfall einer technisch operablen Ordnungsstörung erklärt wird, charakterisieren die Unfallszene. Sie dient Musil als ein Zeichen der Zeit. – Szenenwechsel: Im November 1918 hält Max Weber an der Münchner Universität einen Vortrag zur Orientierung über Berufsfragen vor Stu1
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, hg. v. Adolf Frisé, Bd.1, Reinbek bei Hamburg 1978, 11.
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denten, die sich bei der lebensgeschichtlich wichtigen Entscheidung beraten wissen wollen, ob denn der Weg der Wissenschaft der für sie richtige ist. Die geistesgeschichtliche Forschung hat den ein Jahr später veröffentlichten Text dieses Vortrages immer wieder als eine ausgezeichnete Reflexionsgestalt der Moderne in dem zwiefachen Sinne sowohl ihrer Spiegelung wie Deutung gewürdigt. Sein zeitkritischer Duktus nimmt sich wie ein theoretischer Kommentar zu dem Musilschen Sujet aus. Das folgende Zitat daraus taugt geradezu als subscriptio zur pictura der Wiener Sommerszene im ‚Mann ohne Eigenschaften‘ und soll als Ausgangspunkt von Überlegungen dienen, die ich über Webers Bekenntnis anstellen möchte, religiös unmusikalisch zu sein. Dieses Bekenntnis enthält nämlich eine Anspielung auf Schleiermachers berühmte Wendung von der „Musik meiner Religion“ in den ‚Reden‘ und verweist auf eine Auseinandersetzung mit dem romantischen Religionsverständnis. Ziel meiner Überlegungen wird sein, Schleiermacher mit Weber und Weber mit Schleiermacher besser zu verstehen, um zu einer Klärung der Frage zu gelangen, was religiöse Erfahrung in der Gegenwart, also in einem fortgeschrittenen Stadium des gesellschaftlichen Rationalisierungsprozesses bedeuten kann. „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung [der okzidentalen Kultur – M.S.] bedeutet […]“, so Webers Worte in ‚Wissenschaft als Beruf‘ im Geiste der Eingangsszene aus dem ‚Mann ohne Eigenschaften‘, „nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen Mächte gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Be2 rechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.“
Damit scheint Weber das Selbstverständnis der neuzeitlichen Naturwissenschaften seit der Umstellung ihrer theoretischen Grundlagen von der aristotelischen Kategorienlehre auf die mathesis universalis getroffen zu haben.3 Andererseits würden die Naturwissenschaften sich kaum die Beherrschung aller Dinge zutrauen, und auch nicht die grundsätzliche Erkennbarkeit der menschlichen Lebensbedingungen schlechthin. Webers Formulierung zielt auch gar nicht auf die Naturwissenschaften,
2 3
Max Weber: Wissenschaft als Beruf, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. J. Winckelmann, 2. Aufl., Tübingen 1951, 578. Vgl. dazu Ernst Cassirers ‚Darstellung der Grundlegung der modernen Physik bei Descartes’ in: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd.1, Drittes Buch, 1. Kapitel: „Die Einheit der Erkenntnis“. Cassirer umschreibt den neuen Geist so: „Wer einen Gegensatz zwischen Mathematik und Natur anerkennt, der verzichtet damit auf jeden Maßstab und jede Möglichkeit des Vernunfturteils“ (ebd., 464).
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sondern auf die Erwartungen einer positivistischen Weltanschauung, die das naturwissenschaftliche Methodenverständnis und Erkenntnisideal über den Bereich dessen hinaus ausdehnt, was naturwissenschaftlich zugänglich ist. Mit ihrer Erfüllung würde sich auch das Problem einer wertbezogenen Deutung unseres Lebens erübrigen. Ist alles erklärbar, muss nichts mehr verstanden werden. Diese Erwartungen weist Weber gegenüber den mit ihrer Berufswahl konfrontierten Studenten entschieden zurück.4 Dass sie trügen, betont er, indem er argumentiert, ein „über dies rein Praktische und Technische hinausgehender Sinn“ der Wissenschaft sei nicht dieser selbst zu entnehmen, sondern aus einer der Wissenschaft entzogenen Sphäre an diese heranzutragen.5 Dem weltanschaulichen Positivismus unreflektierter Wissenschaftsgläubigkeit korreliert die Entwicklung einer gesellschaftlichen Ordnung, wie Weber in ‚Wirtschaft und Gesellschaft‘ hinlänglich ausführt, deren Stabilität durch die technokratische Planung und Differenzierung des ökonomischen wie des politischen Handelns sowie durch institutionalisierte Funktionsspezifikation und Koordination des Einzelhandelns gesichert wird. Das Wesen okzidentaler Rationalisierung ist laut Weber die Disziplin im Dienst klar definierter kollektiver Handlungsziele und „ihr rationalstes Kind: die Bürokratie […]“.6 Diese aber laufe auf „eine Zurückdrängung der Tragweite individuellen Handelns“ hinaus.7 Zugespitzt formuliert: Der Geist der ‚Entzauberung‘ spukt im bürokratisierten Gehäuse des Fachmenschentums und eskamotiert die menschliche Individualität. In der Protestantismusstudie entwirft Weber ein ebenso eindringliches wie düsteres Bild jenes Fachmenschentums, das dereinst am Ende des okzidentalen Rationalisierungsprozesses stehen könnte. Zu seiner Charakterisierung bedient er sich Zarathustras Wort vom „letzten Menschen“,8 jenem blinzelnden Schwäch4
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Zur Webers Kritik der ‚Entzauberung‘ vgl. Joachim Vahland: Entzauberung: Max Weber und seine Interpreten, in: Kant-Studien 90 (1999), 410–433; ausführlicher: ders.: Max Webers entzauberte Welt, Würzburg 2001. Max Weber: Wissenschaft als Beruf, a.a.O. (Anm. 2), 583. Nebenbei setzt der Glaube an die Berechenbarkeit aller Dinge voraus, mit der kollektiven Verfügung über das naturwissenschaftliche Weltwissen sei auch seine prinzipielle individuelle Verfügbarkeit gegeben. Das aber ist ein Irrtum, vielmehr kennt der Wilde, wie Weber geradezu höhnisch vergleicht, seine Lebensbedingungen besser als das moderne, intellektualisierte und rationalisierte Individuum das technische ‚Gestell‘ jemals wird kennen können, mit dem er sich arbeitsteilig und hochspezialisiert hat umbauen lassen. Jedem einzelnen von uns hat sich der Text dieser, ‚unserer‘ Welt längst bis zur Unkenntlichkeit fragmentarisiert. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hg. v. J. Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1980, 682. Ebd., 681. Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd.I, 9. Aufl., Tübingen 1988, 204.
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ling, der sich in dem kümmerlichen Glück eines jede Seelenregung anästhesierenden Komforts behaglich und bar jeder Willensregung eingehaust hat.9 Webers Anspielung auf Nietzsche macht deutlich, dass seine Entzauberungsthese auf einem normativ gehaltvollen Individualitätskonzept beruht.10 Die Moderne wird als ein gesellschaftlicher Rationalisierungsprozess interpretiert, der als solcher die lebenspraktische Verwirklichung dieses Konzeptes zunehmend erschwert und möglicherweise dereinst – das Stichwort ist hier der ‚letzte Mensch‘ – vollends verunmöglicht. Es ist bezeichnend für Weber, dass er einerseits ein Gespür für die i.w.S. ethischen Folgeschäden der Entzauberung – mit einem Schlagwort: für die Drohung des Persönlichkeitsverlustes – besitzt, andererseits für sich keinesfalls einen der entzauberten Moderne externen Standpunkt reklamiert. Keine ‚intellektuell redliche‘ Kritik – um es mit einem anderen Wort zu sagen, das Weber von Nietzsche geborgt hat – kann hinter die kritisierte Position zurück und für sich die fraglose Evidenz vormoderner Bewusstseinsinhalte in Anspruch nehmen, welche die Verwirklichung eines gehaltvollen Individualitätskonzeptes einstmals mochten ermöglicht haben. Schon der Versuch einer regressiven Überwindung der Moderne mit dem Anspruch der Verwirklichung eines im normativ gehaltvollen Sinne guten Lebens würde diesen als Inszenierung von Individualität desavouieren. Die vollständige Immanenz der modernen Welt kann nicht durch den willkürlichen Appell an eine Transzendenzinstanz unterlaufen werden, die der prosaischen Welt zu neuem Zauber verhelfen soll. Am 19. Februar 1909 äußert sich Weber brieflich gegenüber seinem Kollegen Tönnies über die missliche Lage des modernen Menschen mit einem persönlichen Bekenntnis, das bedauerlicherweise oft unvollständig und daher sinnentstellend zitiert wird: „Denn ich bin zwar religiös absolut ‚unmusikalisch‘“, begründet Weber da seine Reserve gegenüber einem kirchenfeindlich engagierten Atheismus, „und habe weder Bedürfnis noch Fähigkeit irgendwelche seelischen ‚Bauwerke‘ religiösen Charakters in mir zu errichten – das geht einfach nicht, resp. ich lehne es ab. Aber ich bin, nach genauer Prüfung, weder antireligiös 9 10
Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Kritische Studienausgabe, 3. Aufl., München 1993, Bd.4, 18ff. Vgl. dazu die immer noch lesenswerte Dissertation Dieter Henrichs: Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, Tübingen 1952, Teil II, 105–132; vgl. in Nachfolge von Henrichs Interpretation des weberschen Persönlichkeitskonzepts Wolfgang Schluchter: Religion und Lebensführung, Bd.1, Frankfurt/M. 1988, 258ff. und dazu fernerhin Hubert Treiber: Nach-Denken in der Auseinandersetzung mit Max Weber: Zum ‚Persönlichkeitskonzept‘ bei Wolfgang Schluchter, in: Verantwortliches Handeln in gesellschaftlichen Ordnungen. Beiträge zu Wolfgang Schluchters ‚Religion und Lebensführung‘, hg. v. A. Bienfait u. G. Wagner, Frankfurt/M. 1998, 69–120.
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noch irreligiös. Ich empfinde mich auch in dieser Hinsicht als einen Krüppel, als einen verstümmelten Menschen, dessen inneres Schicksal es ist, sich dies ehrlich eingestehen zu müssen, sich damit – um nicht in romantischen Schwindel zu verfallen – abzufinden, aber […] auch nicht als einen Baumstumpf, der hie und da noch auszuschlagen vermag, mich als einen vollen Baum aufzuspielen.“11
Wer dies Bekenntnis als das Geständnis einer persönlichen Idiosynkrasie abtun möchte, wird von Weber andernorts eines Besseren belehrt: „Wir modernen, religiös ‚unmusikalischen‘ Menschen sind schwer imstande“, schreibt er in seinem Aufsatz über ‚Die „Kirchen“ und „Sekten“ in Nordamerika‘, „uns vorzustellen oder auch nur einfach zu glauben, welche gewaltige Rolle in jenen Epochen, wo die Charaktere der modernen Kulturnationen geprägt wurden, diesen religiösen Momenten zufiel, die damals, als die Sorge für das ‚Jenseits‘ den Menschen das Realste von allem war, was es gab, alles überschatteten.“12
Liest man das erste Zitat vollständig, was leider auch der kritische Kommentar der Gesamtausgabe versäumt, also einschließlich Webers Verneinung seiner Irreligiosität, die ja wohl eine bestimmte performative Form der – freilich verhaltenen, agnostisch-skeptischen und einschränkenden – Bejahung seiner Religiosität bedeutet,13 dann ist das Bekenntnis, religiös unmusikalisch zu sein, logisch zwingend im Sinne einer unmusikalischen Religiosität zu verstehen. Eine ‚Synopse‘ der zitierten Textstellen ergibt darüber hinaus, dass Weber sein „inneres Schicksal“ als verallgemeinerbar verstanden hat, dass folglich für Weber Religiosität und Moderne durchaus vereinbar sind, und zwar nicht nur in der Weise seiner gnädigen Aufforderung der weltanschaulich labilen Zeitgenossen in ‚Wissenschaft als Beruf‘, vermöchten sie den Anforderungen der Moderne nicht „männlich“ zu genügen, so seien sie frei, „in die weit und erbarmend geöffneten Arme der alten Kirchen“ zurückzukehren.14 Religiosität gibt es für Weber in der Moderne auch noch diesseits solcher Kapitulationen, aber eben als tendentiell unmusikalische. Dagegen sich diese Musikalität herbeizureden, wenn man sie, wie Weber nach eigenem Befinden, gar nicht besitzt, hieße demnach, so 11 12
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Max Weber: Brief an Ferdinand Tönnies v. 19.2.1909, in: Max Weber-Gesamtausgabe, Abt. 2: Briefe, Bd.6, hg. v. M. R. Lepsius und W. Mommsen, Tübingen 1994, 65. Max Weber: ‚Kirchen‘ und ‚Sekten‘ in Nordamerika, in: ders.: Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik, hg. v. Johannes Winckelmann, 6. Aufl., Stuttgart 1992, 395. Vgl. weitere Belege für diese Religiosität, die bei Friedrich Wilhelm Graf zitiert werden: ders.: Die ‚kompetentesten‘ Gesprächspartner? Implizite theologische Werturteile in Max Webers ‚Protestantischer Ethik‘, in: Religionssoziologie um 1900, hg. v. V. Krech u. H. Tyrell, Würzburg 1995, 211. Max Weber: Wissenschaft als Beruf, a.a.O. (Anm. 2), 596.
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seine Worte an Tönnies, „in romantischen Schwindel zu verfallen“, also eine Lebenslüge zu konstruieren, die dem ethischen Gebot des entzauberten Menschen, seinem Streben nach Klarheit über sich selbst,15 zuwiderliefe. Einer solchen Lüge bezichtigt er bekanntlich so manche moderne Intellektuelle, die, so Weber wieder in ‚Wissenschaft als Beruf‘, „das Bedürfnis haben, sich in ihrer Seele sozusagen mit garantiert echten, alten Sachen auszumöblieren und sich dabei dann noch daran erinnern, dass dazu auch die Religion gehört hat, die sie nun einmal nicht haben, für die sie aber eine Art von spielerisch mit Heiligenbildchen aus aller Herren Länder möblierter Hauskapelle als Ersatz sich aufputzen oder ein Surrogat schaffen in allerhand Arten des Erlebens, denen sie die Würde mystischen Heiligkeitsbesitzes zuschreiben und mit dem sie – auf dem Büchermarkt hausieren gehen“. Dann auch hier das scharfe Wort aus dem Brief an Tönnies: „Das ist einfach: Schwindel oder Selbstbetrug.“16 Es ist nun sehr wahrscheinlich, dass Webers Geständnis, religiös unmusikalisch zu sein, auf Friedrich D.E. Schleiermachers berühmte Formulierung „Musik meiner Religion“ in dessen ‚Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern‘ anspielt, die 1899 zum hundertjährigen Jubiläum ihres Erscheinens von Rudolf Otto in einer neuen Ausgabe herausgegeben worden waren.17 Weber hatte Schleiermacher bereits als Heidelberger Student gelesen.18 Wir dürfen nach allem bisherigen annehmen, dass seiner Auffassung nach Schleiermachers religiöse Musikalität für den modernen Menschen nur noch in sehr eingeschränkter Weise eine intellektuell rechtschaffene Option darstellt. Was aber haben wir uns unter dieser Musikalität vorzustellen? Die Veranschaulichung des Wesens der Religion durch die Musik ist ein geläufiger Topos der deutschen Romantik. Dafür gibt es einen vorderhand einsichtigen Grund: Musik ist dem romantischen Verständnis nach – und zwar auch dann, wenn sie als Vokalmusik die Sprache einschließt – in dem basalen Sinne absolut, dass sie zwar einerseits in überaus komplexer Weise sinnhaft ist, andererseits aber weder auf ein außermusikalisches Signifikat verweist, noch sich in ihrer außermusikalischen Verwertung – nach dem Grundsatz des delectare et prodesse – erschöpft. Das Faszinosum Musik beruht auf der ästhetischen, begrifflich unhintergehbaren Evidenz von Sinn, die der Inspiration eines Motivs oder Themas zukommt, wenn es sich harmonisch ausartikuliert. Dabei besteht ein 15 16 17 18
Ebd., 591. Ebd., 595. F.D.E. Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern [1799], Stuttgart 1993, 90. So Friedrich Wilhelm Graf in ders.: „Die ‚kompetentesten‘ Gesprächspartner?“, a.a.O. (Anm. 5).
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interner Zusammenhang zwischen dem Motiv bzw. dem Thema und seiner Artikulation. Die Einzigartigkeit der Inspiration ist vom Vollzug ihrer harmonischen Ausgestaltung nicht ohne Substanzverlust abstrahierbar. Diesen Gedanken hat Adorno pointiert, als er sich über Sigmund Spaeths Buch ‚Great Symphonies: How to Recognize and Remember Them‘ moniert hat. Spaeth unterlegte den Hauptthemen kanonischer Symphonien Sätze, die sich darauf singen lassen „und die nach Schlagerart die betreffenden musikalischen Phrasen einprägen“. Zum Kopfsatz von Beethovens ‚Fünfter‘ etwa dichtete er: „I am your Fate, come, let me in!“ „Satanisch“ nennt Adorno diese Popularisierung, denn die Sprachschablone, welche die Themen gewaltsam semantisiert, „lenkt vom Wesentlichen, dem strukturellen Verlauf der Musik als ganzer, aufs Atomistische, die stückhafte Einzelmelodie ab“ und erschwert es, „die Musik überhaupt noch als das zu hören, was sie ist“.19 Dagegen gilt, dass die Bedeutung des musikalischen Notats sein Vorkommen innerhalb der sequentiell organisierten Totalität der Komposition (oder Improvisation) ist und nur in dieser seine ästhetisch-sinnhafte Einzigartigkeit wahrt. Genau diese Eigenschaft dient Schleiermacher als Analogie zu seiner Religionsvorstellung.20 Ganz im Sinne der Kritik Adornos an Späth lesen wir in den ‚Reden‘: „Die Virtuosität eines Menschen ist nur gleichsam die Melodie seines Lebens, und es bleibt bei einzelnen Tönen, wenn er ihr nicht die Religion beifügt. Diese begleitet jene in unendlich reicher Abwechselung mit allen Tönen, die ihr nur nicht ganz widerstreben, und verwandelt so den einfachen Gesang des Lebens in eine vollstimmige und prächtige Harmonie.“21
Wie die Harmonie die einzelnen Töne allererst zum unverwechselbaren Melos fügt, so wird die notwendig einseitige, sich nämlich immer in einer bestimmten Hinsicht ausbildende Tätigkeit des Menschen in der Welt nur dann eine einzigartige Ausdrucksgestalt seiner Individualität, wenn sie mit Religion geschieht,22 nach Schleiermachers berühmter Definition also offen ist für die Anschauung des Universums und durchwirkt vom Gefühl seiner Gegenwart. Und wie die im Melos transitorisch erklingende Harmonie nicht auf einen außermusikalischen 19 20 21 22
Theodor W. Adorno: Theorie der Halbbildung, in: ders.: Soziologische SchriftenI, Frankfurt/M. 1979, 113f. Vgl. Carl Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik, Kassel 1978, 87ff.; Gunter Scholtz: Schleiermachers Musikphilosophie, Göttingen 1981, 20ff., 45ff. Schleiermacher: Reden, a.a.O. (Anm.16), 77. Vgl. zur Interpretation dieser Stelle Scholtz: Schleiermachers Musikphilosophie, a.a.O. (Anm.19), 22. „[…] nicht aber aus Religion“, wie Schleiermacher mit einem Seitenhieb auf Kants moralphilosophische Forderung eines Handeln „aus Pflicht“ bemerkt, weil im letzteren Fall das Universum zu einem Handlungsgrund und somit dem Handeln vorausgesetzt, d.h. externalisiert wird. Schleiermacher: Reden, a.a.O. (Anm.16), 47.
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Sachverhalt verweist, so referiert die Anschauung und Empfindung des Universums auf keine der Situativität des Anschauens und Fühlens jenseitige Entität. Wie die Harmonie sich in der ästhetischen Evidenz von Sinn erfüllt, so die Anschauung des Universums in der unmittelbaren Präsenz des Lebensvollzugs als eines jeweils jemeinigen. Schleiermachers Analogie stößt uns auf den Sachverhalt, dass der Begriff ‚Universum‘ auf eine dem richtigen Lebensvollzug kothematische qualitative Erfahrung referiert, die dem Individuum seine existentielle Zuständlichkeit vermittels der jeweiligen intentionalen Zustände seines Lebensvollzuges (wie ‚sehen‘, ‚meinen‘, ‚denken‘, ‚Absichten verfolgen‘ usw.) situativ und attentional als sinnerfüllte vergegenwärtigt. Die Begriffe ‚Anschauung‘ und ‚Gefühl‘ spezifizieren das situativ-attentionale Zuständlichkeitsbewusstsein nach seinem ‚Was‘ und ‚Wie‘. Während ‚Gefühl‘ angibt, dass es affektiv bestimmt ist, steht ‚Anschauung‘ für den Anspruch Schleiermachers, dass die besagte Erfahrung zwar nicht begrifflich einholbar, aber gleichwohl qualitativ gehaltvoll ist. Er dient mithin der Ausschließung einer konstruktivistischen Lesart von Zuständlichkeitserfahrungen samt ihrer kulturalistischen Spielarten, die das ‚Was‘ ins ‚Wie‘ auflösen. Indem ich ein Bewusstsein von einzelnem oder mir selbst in der Welt habe, so die bewusstseinsphilosophische Pointe von Schleiermachers Religion, bin ich zugleich der Zuständlichkeit dieses Selbst- und Weltbewusstseins gewahr, aber eben nicht zusätzlich zu diesem und unabhängig von ihm, sondern so, dass ich die Gegebenheit von innerweltlich Vorkommlichem als subjektiv unverfügbares Ereignis einer individuellen Beziehung zwischen den Relata ‚Ich‘ und ‚Welt‘ bzw. von ‚Ich‘ und ‚Ich in der Welt‘ – im Sinne von Wittgensteins Unterscheidung zwischen dem Subjektgebrauch und dem Objektgebrauch von ‚ich‘23 – erfahre. Deshalb grundiert oder färbt das Zuständlichkeitsbewusstsein die Spitzen des intentionalen Welt- und Selbstbewusstseins, und zwar so, dass sich an mein Erleben der Welt die Ahnung knüpft, diese sei das Resultat eines Polyperspektivismus, zu dem ich hier und jetzt beitrage. Für die Erweckung dieser Ahnung eignen sich zweifellos bestimmte Bewusstseinsinhalte besser als andere; weniger solche, die vollständig routinisierten Handlungen korrelieren, eher diejenigen, die ich auch ohne Religion bereits als außeralltäglich empfinde: gesteigerte ästhetische Erfahrungen, Erfahrungen des Erhabenen, erotische Erfahrungen. Schleiermacher akzeptiert sie daher auch als Vermittler der Religion.24
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Ludwig Wittgenstein: Das Blaue und das Braune Buch, Werkausgabe, Bd.5, Frankfurt/M. 1984, 106f. Vgl. zur Vermittlungsrolle der ästhetischen Erfahrung bei der Erweckung von Religion: Schleiermacher: Reden, a.a.O. (Anm.16), 53f.
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Vor allem aber gilt, dass jeder die Religion entsprechend seinen individuellen Anlagen und seinem Standpunkt in der Welt finden muss.25 Begleiten den Lebensvollzug dagegen nicht Anschauung und Gefühl des Unendlichen, dann zerfällt er in unzusammenhängende Episoden, deren Sinn sich in den jeweiligen Handlungszielen erschöpft. Diese ‚Universumsvergessenheit‘ diagnostiziert Schleiermacher in dem „gewöhnliche(n) Treiben der Menschen, […] wie sie dies und das ergreifen und festhalten, um ihr Ich zu verschanzen und mit mancherlei Außenwerken zu umgeben, damit sie ihr abgesondertes Dasein nach eigner Willkür leiten mögen […]“.26 Zwar solle der Mensch nach Virtuosität, d.h. nach Spezialisierung und Vervollkommung seiner individuellen Fähigkeiten streben, aber „alle Virtuosität beschränkt und macht kalt, einseitig und hart.“27 Der Wahn der Selbstbildung durch Virtuosität allein stamme von dem alten Begehren, „die Menschheit überall aus einem Stück zu haben, welches immer wiederkehrt“.28 Schleiermacher nimmt hier nicht nur (aber auch) den Geist des technokratischen Fachmenschentums aufs Korn, das Weber nicht müde wird zu geißeln. Er richtet sich gegen jedwede ethische Konzeption, derzufolge das Individuum sich um seiner praktischen Identität willen und in dem Streben nach einem guten Leben unter ein allgemeines Gesetz der Lebensführung zu beugen habe, das es mit allen anderen verbinde. Solche und viele andere Passagen in den ‚Reden‘ verraten, dass Schleiermacher seine Religionstheorie als Grundlegung einer Ethik innerhalb der bewusstseinsphilosophischen Konfinien verstanden hat, die ihm vom Zeitgeist vorgeben worden sind, wohlgemerkt als Grundlegung, nicht als Ausführung, zu der er die ersten publizierten Schritte den ‚Monologen‘ vorbehalten hat. Die Pointe dieser Grundlegung besteht in der Kommunikation der Überzeugung, dass ein gegenwartstaugliches Konzept gelingenden Lebens einen Mittelweg finden muss zwischen einerseits dem Plädoyer für die vollständige Immanenz der Lebensführung durch Verwirklichung willkürlich gesetzter Zwecke und andererseits der theologischen Adressierung einer den Menschen in seinem Handeln stützenden und schützenden ‚achsenzeitlichen‘ Transzendenz. Gegen diese spricht, dass sie dem gesteigerten Begründungsdruck der aufgeklärten Zeitgenossen nicht mehr standhält, gegen jenes, dass es die Kontingenzanmutung bloß menschlicher Sinnbildung nicht abzustreifen vermag. Im Grunde könnte auch Schleiermacher Webers Diktum aus dem bereits auszugsweise zitierten Brief an Ferdinand Tönnies vom
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Ebd., 147. Ebd., 74. Ebd., 76. Ebd.
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19. Februar 1909 formuliert haben: „Gewiß: auch ich bin […] der Ansicht“, so Weber dort, „daß, wenn jemand für sein persönliches Handeln die Notwendigkeit der Orientierung an ‚Werten‘, Werturteilen oder wie Sie es nennen wollen, überhaupt anerkennt, wenn er darin nicht ‚unmusikalisch‘ ist, dass dann sich ihm zwingend alle Konsequenzen des Kant’schen Imperativs […] andemonstrieren lassen.“29
Wolfgang Schluchter liest Webers regulativ gebremsten kantianischen Universalismus so, dass, wenn eine Orientierung an Werten anerkannt wird, sich das Individuum zugleich dazu bekennen muss, so zu handeln, dass die Maxime seines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer individuellen Gesetzgebung gelten kann.30 Nur dass ich eine Wertorientierung zu einem individuellen Gesetz mache, beruhe nicht mehr auf seiner rationalen Rechtfertigbarkeit, sondern allein auf dem Glauben an die Werte, die mit entschlossenem Formgebungsanspruch an die eigene Lebensführung übernommen werden. Dieter Thomä hat in Webers Wörtchen „wenn“ „das große ethische „Wenn“ Kierkegaards und Simmels“ vermutet.31 Das sehen Schluchter und sein Lehrer Dieter Henrich wohl ebenso. „Der Mensch“, so diesmal Henrich, „der die Verbindung mit religiöser Einsicht verloren hat, kann die Ideale, welche die seinen werden sollen, nur in der eigenen Brust finden. Er kann die Evidenz des Glaubens, welche trotz aller vernünftigen Erwägung letzthin gefordert ist, nur erreichen, indem er die möglichen Ideale vernünftiger Konsequenz zu vollziehen sucht und im Vollzug bemerkt, welches in ihm die Evidenz der Notwendigkeit herstellt.“32 Das entscheidende Stichwort ist die „Evidenz der Notwendigkeit“. Die Pointe der ‚Reden‘ Schleiermachers beruht auf der Überzeugung, eine solche Evidenz lasse sich aus einer vollständig immanenten Konzeptualisierung der Lebensführung nicht gewinnen – ganz im Sinne Webers, der Kants berüchtigtes „Faktum der Vernunft“, demzufolge die rationale Einsicht in das Sittengesetz zwingend seine praktische Anerkennung zeitige, nur für den Fall der moralischen Musikalität gelten lässt. Aber woher soll diese Musikalität kommen? Schleiermacher zufolge ist das Leben des Menschen bestimmt von „der Zufälligkeit seiner ganzen Form“, dem „geräuschlosen Verschwinden[] seines ganzen Daseins im Unermesslichen“.33 Wer unter solchen Bedingungen seinen persönlichen Standpunkt „durch wissenschaftliches Klügeln ohne wahren
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Weber: Brief an Ferdinand Tönnies, a.a.O. (Anm.10), 63. Schluchter: Religion und Lebensführung, a.a.O. (Anm.9), 260. Dieter Thomä: Vom Glück in der Moderne, Frankfurt/M. 2003, 191. Dieter Henrich: Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, Tübingen 1952, 126. Schleiermacher: Reden, a.a.O. (Anm.16), 36.
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Prinzipien“34 oder mit der „Wut des Verstehens„35 zur Zentralperspektive spreize, sei auf dem sicheren Weg, „sich in grader Richtung vom Universum zu entfernen und, in die jämmerlichste Beschränkung versunken, ein wahrer glebae adscriptus des Flecks zu werden, auf dem man eben von ohngefähr stehe“.36 Schleiermachers ‚Reden‘ verstehen sich als Grundlegung einer Ethik, insofern sie die Voraussetzungen jedweder praktischer Wertbindung kommunizieren. Der Mittelweg zwischen der Immanenz der menschlichen Vernunft und der Transzendenz der göttlichen ist die Fundierung der Lebensführung in Erfahrungen der Selbsttranszendenz, die als solche der Gestalt meines Lebensvollzugs als eines jemeinigen die Evidenz der Notwendigkeit zu verleihen vermögen.37 Diese Evidenz gibt sich als Selbstevidenz des Erlebenden im Erleben, d.h. im attentionalen Bewusstsein der ‚Jemeinigkeit‘ des intentionalen Selbst- oder Gegenstandsbezugs, das als attentional-zuständliches ein Bewusstsein zugleich des Anderen meiner selbst ist. Zurück zu Weber: Dessen implizite Absage an Schleiermacher ist über die geistesgeschichtlichen Bezüge zwischen den beiden Autoren hinaus deshalb von Interesse, weil sich darin eine bestimmte philosophische These verbirgt. Weber meint nämlich, dass die religionstheoretische Grundlegung einer Ethik in Erfahrungen der Selbsttranszendenz unter den Bedingungen der Entzauberung „romantischer Schwindel“ ist. Um diese These auf Augenhöhe Webers kritisch würdigen zu können, ist es nun unerlässlich, zu berücksichtigen, dass das ‚Phänomen Schleiermacher‘ in Webers eigenen universalhistorischen Kategorien erfasst werden kann. Es ist demnach nämlich seinerseits bereits eine Bewusstseinsgestalt der Moderne und ein Produkt ihres Entzauberungsprozesses. Das wird deutlich, wenn wir Schleiermachers musikalische Religiosität charismatheoretisch deuten. Trotz der unbestreitbaren immanenten Widersprüche des Weberschen Charisma-Konzepts, die von der Deutungsindustrie bisher noch nicht einhellig gelöst worden sind,38 können wir folgendes festhalten:
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38
Ebd., 113. Ebd. 96. Ebd., 102. Der hier zur Deutung Schleiermachers herangezogene Begriff der Selbsttranszendenz stützt sich auf Hans Joas’ Arbeiten zur Theoriegeschichte der Erforschung von Selbsttranszendenzerfahrungen als Quelle der Entstehung von Werten. Vgl. Hans Joas: Die Entstehung der Werte, Frankfurt/M. 1999; ders.: Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg 2004. Vgl. Martin Riesebrodt: „Charisma“, in: Max Webers ‚Religionssystematik‘, hg. v. H.G. Kippenberg u. M. Riesebrodt, Tübingen 2001, 151–166.
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Die Selbststilisierung des Autors der ‚Reden‘ entspricht Webers Konzeptualisierung charismatischer Orientierungen.39 Darunter sind Handlungsorientierungen durch erlebnisbestimmte Wertstiftung zu verstehen, die für den Handelnden existentielle Bedeutung besitzen. Webers Erlebnisbestimmung charismatischer Orientierung fußt auf dem Mana-Begriff der Pränanimismustheorie Robert Ranulph Maretts, der die individuelle Erfahrung einer Ermächtigung des einzelnen zu einem bestimmten Handeln durch eine außeralltägliche Macht benennt.40 Und Weber untersucht in seiner Religionssoziologie die ganze phänomenale Bandbreite dieser Machterfahrungen in der Geschichte von Magie und Religion. In unserem Zusammenhang einschlägig ist die praktische Relevanz der Gnadengabe des Charismas für den Träger selbst. Denn obwohl Weber in seiner herrschaftssoziologischen Konzeptualisierung des Charismas fordert, dessen Zuschreibung setze den Glauben Dritter und mithin Gefolgschaftsbildung voraus, Charisma sei also in erster Linie ein Herrschaftsphänomen, so ist doch die Voraussetzung wiederum dieser Gefolgschaftsbildung der Glaube des Charismatikers selbst daran, begnadet zu sein.41 Weber lässt keinen Zweifel an der lebenspraktischen Bedeutung dieses Begnadungsbewusstseins. „Wie entstehen in dieser Welt der Eingestelltheit auf das ‚Regelmäßige‘ als das ‚Geltende‘ irgendwelche ‚Neuerungen‘?, fragt er die Leser von Wirtschaft und Gesellschaft. Die Änderung der äußeren Lebensbedingungen könne zwar der Anlass für Innovationen sein, keinesfalls aber ihr Grund, denn ebenso gut könnte sie auch zum „Untergang des Lebens“ führen.42 Wann wäre das der Fall? Offenbar dann, wenn routinisierte Handlungsschemata nicht mehr den Bedingungen existentiell bedeutsamer Handlungssituationen entsprechen. Kriterien situativer Angemessenheit des Handelns sind unter radikal neuen Handlungsbedingungen nämlich nicht begründungssicher aus Beständen routinisierten Wissens ableitbar. Orientierung beruht in solchen Situationen offenbar auf Intuitionen der Problemlösung. Diese müssen zudem die spezifische Qualität einer Überzeugung haben, der 39
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Der Begriff „charismatische Orientierung“ stammt meines Wissens nicht von Weber selbst, sondern ist im Sinne Webers von Wolfgang Schluchter im Rahmen seiner „Klassifikation von Handlungsorientierungen und Bewusstseinsformen im Anschluss an Weber“ geprägt worden. Der Begriff bezeichnet darin eine Differenzierung des Begriffs affektuellen Handelns in Webers Handlungstypologie. Vgl. Schluchter: Religion und Lebensführung, a.a.O. (Anm.9), 140ff. Die folgende Darstellung der für meine Argumentation wesentlichen Aspekte von Webers CharismaKonzept folgt im wesentlichen der Interpretation Schluchters. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O. (Anm.5), 245; vgl. Robert Ranulph Marett: The Conception of Mana, in: ders.: The Threshold of Religion, London 1909, 115–142. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O. (Anm.5), 657. Ebd., 188.
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Überzeugung nämlich, der intuitiv erfasste Lösungsweg werde sich als richtig erweisen. Die Überzeugungsqualität verleiht den besagten Intuitionen unter dem Entscheidungszwang, der in einer derart ‚offenen‘ Situation auf die Akteure ausgeübt wird, allererst die nötige Entschlusskraft, ins Offene und Ungewisse hinein zu handeln. In Frage steht, wie sich dieser Typus von überzeugungsfesten Intuitionen bildet. Weber fährt in der zuletzt zitierten Passage fort, dass Neuerungen sich dem Einfluss von Individuen verdanken, „welche bestimmt gearteter ‚abnormer‘ […]“ – d.h. außeralltäglicher – „Erlebnisse und durch diese bedingter Einflüsse auf andere fähig sind“.43 Charismatische Begnadungserfahrungen, so können wir bilanzieren, sind angesichts der Zukunftsoffenheit menschlicher Existenz die Voraussetzung der Bewältigung von Krisensituationen. Eine „gewaltige Krisis“ machte auch Schleiermacher in seiner Zeit aus,44 die er mit kulturkritischen Beobachtungen, denen Webers ähnlich, als Endzeit einer depravierten bürgerlichen Lebensform, eingezwängt in eine Melange aus Ökonomismus, Utilitarismus, Konformismus und Moralismus, begriff. Seine Religionstheorie der Selbsttranszendenzerfahrungen wird in Webers Theorierahmen lesbar als ein Plädoyer für charismatische Orientierungen unter der Bedingung, dass die erlebnishafte, wertstiftende Begnadung des einzelnen mit einer außeralltäglichen Kraft sich gegenüber der tiefgreifenden ontologischen Skepsis eines unumkehrbar rationalisierten Zeitalters behaupten muss. Wir wissen von den Bewandtnissen seines Herrnhuter Zöglingslebens, dass diese Skepsis seit der Adoleszenz Schleiermachers eigene war.45 War am Ende auch Schleiermacher religiös unmusikalisch? Meine abschließende These lautet, dass gerade Weber – entgegen seinen eigenen Worten, die auf einer missverständlichen Auslegung Schleiermachers beruhen – es nicht war. Schleiermachers Religionstheorie entspricht im universalgeschichtlichen Entzauberungsprozess, dem ja auch das Charisma unterliegt, der Stufe der „charismatische(n) Verklärung der ‚Vernunft‘ […]“, der „letzte(n) Form, welche das Charisma auf seinem schicksalsreichen Wege überhaupt angenommen hat“.46 Dieser Weg ist bestimmt durch die Versachlichung und Subjektivierung der vom Charismatiker geglaubten außeralltäglichen Kräfte, also ihrer Entpersönlichung und Idealisierung einerseits und ihrer identifikatorischen Integration in die 43 44 45
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Ebd. Schleiermacher: Reden, a.a.O. (Anm.16), 207. Vgl. Kurt Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik. Eine literaturgeschichtliche Studie zum romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland, Weimar 1986, 63ff. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, a.a.O. (Anm.5), 726.
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praktische Identität der Menschen andererseits. So meldet sich im Laufe des Zivilisationsprozesses mit immer drängenderer Macht die Stimme des Gewissens, in Kants vermeintem ‚Faktum der Vernunft‘ ebenso wie in Schleiermachers Zuständlichkeitserfahrung des Individuums, die zumindest in dem ganz schlichten Sinne eine Vernunfterfahrung ist, dass wir laut Schleiermacher ihre Evidenz als Aufforderung zur Verwirklichung des Humanum zu verstehen haben sollen, als eine Form der Sakralisierung von Selbstbildungsprozessen.47 Nichts ist demnach auch nur einen Pfifferling wert, was ich nicht aus ganzem Herzen wollen kann. Schluchter tat gut daran, sich nicht mit Webers Prognose abzufinden, die aufklärerische Verklärung der Vernunft sei die „letzte Form“, die das Charisma universalgeschichtlich angenommen habe. „Die charismatische Orientierung“, so Schluchter, „bleibt gegenüber dem theoretisch-empirischen und moralisch-praktischen Kognitivismus der Moderne ein Stachel.“48 Dieser Stachel hat auch Weber gestochen. Nicht anders ist sein Wort zu verstehen, „daß unsere höchste Kunst eine intime und keine monumentale ist, […] daß heute nur innerhalb der kleinsten Gemeinschaftskreise, von Mensch zu Mensch, im pianissimo, jenes Etwas pulsiert, das dem entspricht, was früher als prophetisches Pneuma in stürmischem Feuer durch die großen Gemeinden ging und sie zusammenschweißte“.49
In beiden kann das Gleiche, freilich in verschiedener Weise gegenwärtig sein, nämlich das Sensorium für die „letzten und sublimsten Werte“, die aus der Öffentlichkeit der entzauberten Moderne zurückgetreten seien. Vermittels der Kunst- oder Gemeinschaftserfahrung, aber auch anderswo, denn Weber liefert uns an dieser Stelle nur Beispiele, geben sie sich mir je für mich. Weber nimmt das pianissimo sehr ernst – denn worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen, wie es ein Bruder im Geiste formuliert hat. Daher schließt er mit einer Kadenz vollendeter Lakonie. Auf die großen Fragen des Menschen: ‚Was soll ich tun?‘ und ‚Was kann ich hoffen?‘ antwortet auch er im pianissimo: „[…] an unsere Arbeit gehen und der ‚Forderung des Tages‘ gerecht werden – menschlich sowohl wie beruflich. Die aber ist schlicht und einfach,
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48 49
Vgl. Trutz Rendtorff: Religion – das ‚vollendetste Resultat der menschlichen Geselligkeit’. Perspektiven einer Individualitätskultur im Verhältnis von Religionstheorie und Gesellschaftstheorie, in: 200 Jahre ‚Reden über die Religion’, hg. v. U. Barth u. C.-D. Osthövener, 79–99; ebd.: Ursula Frost: Das Bildungsverständnis Schleiermachers und Humboldts im Kontext der Frühromantik, 859–877. Schluchter: Religion und Lebensführung, a.a.O. (Anm.9), 144. Weber, Wissenschaft als Beruf, a.a.O. (Anm. 2), 596.
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wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält“.50 Die beiden letzten Sätze aus ‚Wissenschaft als Beruf‘ korrespondieren mit der zuvor zitierten pianissimo-Stelle, ich schlage folgende Konjektur vor: Heute nur noch im pianissimo finden wir unseren Dämon, und dieser ist kein bärtiger Rabauke, der uns wie die von Weber studierten Berserker in die Ekstase reitet, sondern ein subtiler Souffleur, dessen Text uns in einer historischen Situation verzaubert, in der wir den Part vergessen haben, den wir nach Herkunft und Sitte auf den Brettern hätten spielen sollen. Man muss wahrlich keinen Spagat vollbringen, ihn als Chiffre von charismatischen Erfahrungen zu deuten, in denen der Geist von Schleiermachers Religionstheorie anklingt. Warum aber die Chiffrierung? Nur eine Spekulation: Nach seinem grandiosen herrschaftssoziologischen Szenario zögert Weber, auch das pianissimo in denselben Kategorien zu erfassen. Was Weber an Schleiermacher nicht leiden mochte, war nicht das charismatische Sensorium seiner Religion, sondern das fortissimo, in dem es sich bekundete.
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Ebd., 597.
Religion und Kunst VON MICHAEL MOXTER/HAMBURG
Georg Simmel eröffnet seine Studie über die Religion mit einer prima facie wenig einleuchtenden Bemerkung. Geistige Mächte – so lautet sie – könnten ihre paralysierende Wirkung auf unser Leben gerade dadurch verlieren, dass sie das Maß ihrer Ansprüche steigern. Simmel erläutert das mit dem Hinweis auf die Liebe, die zunächst die Routinen der Lebensführung durcheinanderbringe, aber die gesamte Existenz auf neue Weise einige, sobald sie erst einmal ins Zentrum gerückt werde. Entsprechend gewinne die Religion erst dann ihr Format, wenn sie „den entscheidenden Grundton für das Leben“ bilde. Auch in ihr lösten sich Widersprüche und kognitive Dissonanzen – etwa zwischen einzelnen Sätzen der Wissenschaft und solchen der religiösen Tradition – in dem Maße auf, in dem die Religion die ganze Wirklichkeit noch einmal neu schafft. Sie versetze „das ganze Dasein in eine[] besondere[] Tonart“, weshalb sich die „nach anderen Kategorien erbauten Weltbilder“ der Religion und der Wissenschaft „überhaupt nicht kreuzen“ und darum auch nicht widersprechen könnten.1 Wie die Konstitutionsformen der Erfahrung uns stets etwas als etwas sehen lassen, so variiere die religiöse Tonart das individuelle Leben in eigener Prägnanz. Sowohl die Rede vom „ganzen Dasein“ wie die gewählte Leitmetaphorik sprechen für die Vermutung, dass Simmel mit diesen Bemerkungen Pointen der Schleiermacherschen Religionstheorie aufnimmt.2 Wenn Schleiermachers Reden die christliche Religion und einen an Kants Ethik gewonnenen Begriff moralischer Autonomie durch die Forderung, „alles mit Religion [zu] tun, nichts aus Religion“3 in ein produktives Verhältnis setzen, so stützen sie dies mit der berühmten Bemerkung: „die religiösen Gefühlen sollen wie eine heilige Musik alles Thun des Menschen begleiten“.4 Die Glaubenslehre präzisiert diese
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G. Simmel: Die Religion, in: ders.: Philosophie der Mode u.a., hg. v. M. Behr, V. Krech u. G. Schmidt (GA 10), Frankfurt/M. 1995, 39–118; 41 und 45. Das meint auch F. Wagner: Was ist Religion?, Gütersloh 1986, 176. Über die Religion, 1. Aufl. [=Reden], hg. v. G. Meckenstock (KGA I/2), Berlin/New York 1984, 219. Ebd.
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Metapher Jahrzehnte später mit der Feststellung, solche Begleitung vollziehe sich nicht darin, dass das höhere Selbstbewusstsein im „mannigfaltige[n] Wechsel“ der Lebensverhältnisse nur „unison mittöne[]“.5 Denn so bliebe das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit eine Art Hintergrundsrauschen, ohne Beziehung zur Erfahrung. Simmels Metapher einer neuen Tonart, in die das ganze Dasein transponiert wird, schließt dieses Missverständnis aus und charakterisiert die Religion als eine modale Transformation6 der Wirklichkeitseinstellung als ganzer. Religion führt nicht vom Sichtbaren auf das Unsichtbare, vom empirisch Bedingtem zu einer transzendenten Welt, sondern sie lässt alles anders sehen. In Erinnerung an den Zentralbegriff stoischer Kosmologie7 darf man sagen: auch im subjektiven Leben ist der tonos eine innere Spannung, gleichsam eine Kraft, die ein Ganzes in der Gegenläufigkeit seiner Momente zusammenhält. Wie die Anspannung im Sprung oder die Stimmung der Saite stellt sie nichts dar, was neben das empirisch Gegebene als ein weiteres derselben Art treten könnte, sondern sie setzt das, was schon gegeben ist, in ein neues Verhältnis. Die in der Religionstheorie beider Autoren begegnende musikalische Metapher ist nun allerdings kein glücklicher Fund aufgrund eines äußeren Vergleichs, sondern gewinnt ihre Bedeutung aus einer Sachnähe zwischen religiöser und ästhetischer Erfahrung, nach der im folgenden gefragt werden soll. Deshalb ist zunächst festzustellen, dass Schleiermachers Ästhetik das „unmittelbare Selbstbewußtsein in seinem geistigen Gehalt“ einen „Ton des geistigen Lebens“8 nennt. Die geistige Kraft eines Individuums zeige sich darin, wie es inmitten aller Ambivalenzen seiner (sinnlichen) Erfahrung diesen Ton durchzuhalten und immer wieder neu kräftig werden zu lassen versteht. Zugleich muss man den Paragraphen 5 der Glaubenslehre (zweite Auflage bzw. die Paragraphen 10 und 11 der ersten Auflage) als theoretisch maßgebliche Beschreibung der Kraft des höheren Selbstbewusstseins im Verhältnis zu den gegenläufigen Momenten sinnlichen Lebens lesen. Nach diesem Paragraphen kann das ins Selbstbewusstsein eingeschlossene Gottes-
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Der christliche Glaube, 2. Aufl., [=GL2], Bd.1, hg. v. M. Redeker, Berlin 71960, 37. Der Begriff wurde von H. Schrödter eingeführt (vgl. ders.: Nikolaus von Kues: Religion zwischen Diskurs und Gewalt, in: Religionsphilosophie, hg. von M. Jung, M. Moxter u. Th. M. Schmidt, Würzburg 2000, 75–86; 75), wird hier aber in eigener Akzentuierung gebraucht. Vgl. M. Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 61984, 75. Vorlesungen über die Aesthetik [=AeLo], hg. v. C. Lommatzsch (SW III/7), Berlin 1842, 70.
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bewusstsein nur im Verhältnis zu der mit der Sinnlichkeit verbundenen Lust- und Unlust ein „zeiterfüllendes Bewußtsein werden“.9 Die Bedeutung dieses Paragraphen liegt darin, dass er die bestimmtheitstheoretische Seite der Rede vom unmittelbaren Selbstbewusstsein entfaltet. Das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl wäre nämlich „als an und für sich immer sich selbst gleich“10 in genau die Unmittelbarkeit und Inhaltslosigkeit versenkt, die ihm Hegel attestierte, wäre es nicht kraft der Einheit menschlichen Lebens immer schon auf Sinnlichkeit und insbesondere auf die Zeit bezogen. Nur deshalb konkretisiert es sich in einer Vielzahl von Ausdrucksgestalten, religiösen Sätzen und Handlungsformen. Nur in der Einheit mit und in der Differenz zum sinnlichen Selbstbewusstsein kann das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl „alle aus den Beziehungen mit der Natur und dem Menschen sich entwickelnden Bestimmtheiten des Selbstbewußtseins“11 aufnehmen, und nur durch dieses Aufnehmen kann es diese zugleich modifizieren. So gewinnt das unmittelbare Selbstbewusstsein mit Bezug auf die Zeit Bestimmtheit, und stets stellt es sich auch leiblich dar, so dass die beiden Formen der Anschauung (Raum und Zeit; äußerer leiblicher und innerer zeitlicher Sinn) den unmittelbarsten ‚ästhetischen‘ Kontext des religiösen Bewusstseins bilden. Freilich zielen die Reden auf ein anderes und engeres Verhältnis von Religion und Kunst. Wenn sie es zu den Defiziten ihrer Zeit rechnen, dass „Religion und Kunst nebeneinander [stehen] wie zwei befreundete Seelen deren innere Verwandschaft, ob sie sie gleich ahnden, ihnen doch noch unbekannt ist“,12 so liegt die Betonung auf dem Wort ‚noch‘ und damit auf der Hoffnung, dass ein Aufschwung der Kunst auch die Auferstehung der Religion nach sich ziehe. Trotz dieser Verwandtschaftsthese, die sich in der Kunstform der Reden selbst manifestiert, orientiert sich Schleiermachers Denken später an einer kategorialen Differenz zwischen Religion und Kunst. Sie hatte Thomas Lehnerer im Blick, als er zu recht notierte, die in den Reden erhoffte „‚Vereinigung‘ von Kunst und Religion“ bedeute „nicht deren Verschmelzung (im Sinne einer Kunstreligion)“, sondern sei „vor dem Hintergrund
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GL2 I, 37. „Nämlich wie das Hervortreten überhaupt dieses höheren Selbstbewußtseins Lebenserhöhung ist: so ist das jedesmalige leichte Hervortreten desselben, um auf ein bestimmtes Sinnliches, dieses sei nun angenehm oder unangenehm, bezogen zu werden, ein leichter Verlauf jenes höheren Lebens, und trägt, wenn es durch Gegeneinanderhaltung zur Wahrnehmung kommt, das Gepräge der Freude“ (ebd., 38). Ebd., 36. Ebd., 32. Reden, 263.
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strikter Unterschiedenheit beider zu interpretieren“.13 Aufs Ganze gesehen heißt das: Selbst wenn Kunst und Religion ihre innere Verwandtschaft im Zuge religionstheoretischer und ästhetischer Aufklärung bekannt wird, so hebt dies Bewusstsein die Abständigkeit und das wechselseitige Anderssein der ‚zwei befreundeten Seelen‘ nicht auf. Diese kategoriale Differenz herauszuarbeiten, ist das Ziel der folgenden Interpretation.
1. Zunächst zur Eigenart der Kunst bzw. (im Sinne der Theorieperspektiven Schleiermachers) zur Eigenart der Kunsttätigkeit! Schleiermacher erklärt sie aus dem Zusammenspiel von erzeugender Stimmung, gestaltender Urbildung und darstellender Ausführung.14 Schon die Auskunft, dass alle Künste „insgesamt Ausdruck der Stimmung“15 seien, macht deutlich, dass sie nicht dem „unmittelbar erregten Gefühl“16 entspringen. Der Begriff der Stimmung, dem wir bereits in Gestalt der musikalischen Metapher begegneten, muss folglich aufgeklärt werden, wobei es darauf ankommt, ihn genauso konsequent nicht-psychologistisch zu interpretieren wie den Gefühlsbegriff Schleiermachers insgesamt – also als eine Form des Selbstverhältnisses. Schon Herder hatte eine solche Fassung des Stimmungsbegriffs eingeführt, als er die Individualität des Menschen auch als ein je „eignes Maas, gleichsam eine eigne Stimmung aller sinnlichen Gefühle zu einander“17 beschrieb. In der Stimmung manifestiert sich die Typik eines Weltverhältnisses, nicht ein bloß momentaner Affekt, der auf ein einzelnes Vorkommnis reagiert. Heidegger wird das Phänomen als ‚Befindlichkeit‘ zu einem Leitbegriff seiner Daseinsanalyse machen.18 Zentralen Stellenwert innerhalb der Ästhetik erhielt der Begriff nach einer kurzen Vorlaufphase bereits bei Kant, insofern nach der Kritik der ästhetischen Urteilskraft das Geschmacksurteil die subjektive „Stimmung der Erkenntniskräfte“ unter
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Th. Lehnerer: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers [=Lehnerer], Stuttgart 1987, 343. Aesthetik, in: Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32) [=Ästh Leh], hg. v. Th. Lehnerer, Hamburg 1984, 1–150, 44. Ebd., 17. Ebd., 37. J.G. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, hg. v. B. Suphan (SW XIII), Berlin 1887 (ND Hildesheim u.a. 1994), 291. Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 192006, 134f.; ders.: Die Grundbegriffe der Metaphysik, hg. v. F.-W. von Herrmann (GA II/29–30), Frankfurt/M. 1983, 96f.
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der Voraussetzung eines Gemeinsinnes allgemein mitteilbar macht.19 Schleiermacher nennt die Stimmung eine Haltung, in der ein „ursprüngliches Fühlenwollen“, also bereits ein Übergang zur Aktivität ist,20 weshalb die Stimmung von der Passivität eines atmosphärischen Mitgerissenseins strikt unterschieden bleibt. Sie ist stets zeitlich erstreckt,21 so dass sie eine Reihung von ‚Affectionsmomenten‘ ausrichtet. Lehnerer beschreibt sie als „eine Art Disposition“ bzw. als „emotionale[s] Gedächtnis[]“ und sieht in der Einführung dieses Begriffs einen Versuch Schleiermachers, auch „auf der Seite des subjektiven Bewußtseins ein Allgemeines“ zu erschleichen.22 Gegen diesen Vorwurf ist jedoch daran festzuhalten, dass der Begriff einer „Gemütsstimmung, die sich selbst erhält und von subjektiver allgemeiner Gültigkeit ist“,23 ein in der Analytik der kantischen ‚Kritik der Urteilskraft‘ fest verankerter Begriff ist, den Schleiermacher rezipiert und der unterschiedliche Typen des Allgemeinen einführt. Von Erschleichung kann nur die Rede sein, wenn der kantische Begriff des subjektiv Allgemeinen für gegenstandslos erklärt wird.24 Indem die Stimmung Gefühle integriert, aus denen sie sich selbst herleitet, unterscheidet sich die in ihr fundierte Kunsttätigkeit von dem direkten und unmittelbaren Ausdruck eines Erregungszustandes. Kunst ist Darstellung im Unterschied zum Ausdruck. Beide Begriffe teilen gleichwohl bestimmte Momente. Der Ausdruck zeichnet sich nach Schleiermacher durch eine Identität von Erregung und Äußerung aus, „weshalb man auch sagt, die Erregung erlösche in der Aeußerung“.25 Er ist folglich stets unmittelbar und unterliegt daher der Instabilität eines instantanen Vorgangs. Genau davon ist die künstlerische Darstellung abgehoben. Sie unterbricht den Zusammenhang von innerer Erregung und Äußerung, indem sie einen eigentümlichen Typus, ein Urbild, zur Geltung bringt, und sie modifiziert dadurch das Verhältnis von Innerem und Äußerem. Denn: Wird „das unmittelbare Zusammenschlagen von Erregung und Aeußerung aufgehoben: so ändert sich natürlich auch das ganze Verhältniß zwischen beiden“.26 Die Implementierung eines Urbildes wird wiederum hinsichtlich der zeitlichen Dimension charakterisiert und zwar als Verstetigung: Das Urbild sichert die „Wie19 20 21 22 23 24 25 26
I. Kant: Kritik der Urteilskraft [=KdU], §§20f., A 63–65. Ästh Leh, 17. Th.H. Jörgensen: Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis des späteren Schleiermacher, Tübingen 1977, 99. Vgl. Lehnerer, 254f. Lehnerer, 256. KdU §16, A 51. Vgl. KdU §§6 u. 8; A 17ff. Ästh Leh, 11. Über den Begriff der Kunst. Akademiereden (1831/32), Ästh Leh, 151–188, 168.
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derholbarkeit des Momentes“ und konstituiert insofern dessen Identität.27 Mit ihm geht zugleich eine Adressierung an andere einher (darauf ist noch zurückzukommen). Diese Leistung des Urbildes wird in der Stimmung gleichsam präfiguriert. Denn auch sie ist eine Form der Typisierung. In den Psychologievorlesungen erläutert Schleiermacher den Begriff so: „Das ist das, was wir mit dem Ausdrukk Stimmung zu bezeichnen pflegen, wo das was uns afficirt nur in dem Maaße aufgenommen wird, als es in der Receptivität gegeben ist, wie wir in der heitern Stimmung nur das heitere aufnehmen, in einer gedrükkten das, was denselben Typus hat“.28 Die Stimmung entscheidet also über die Aufgeschlossenheit für Gefühle, sie bildet gerade keinen „Durchschnitt“ von ‚Affectionsmomenten‘ (obwohl Schleiermacher manchmal auch so reden kann29), sondern eine formierende, den Stil des Selbst- und Weltverhältnisses prägende Kraft. Mit dieser mäßigenden Kraft der Stimmung verbindet die Unterbrechung des Erregungs-Ausdruckszusammenhangs durch den ästhetischen Darstellungsakt auch dieses, dass sich dieser Akt gegen die Gewalt der unmittelbaren Erregung wendet und die Kraft ästhetischer Ordnung zum Zuge bringt. „Eine andere höhere Gewalt ist zwischen [sc. Erregung und Ausdruck] eingetreten und hat das sonst unmittelbar verbundene geschieden; ein Moment der Besinnung schlägt gleichsam trennend ein, bricht auf der einen Seite schon durch das Anhalten […] jene rohe Gewalt der Erregung und bemächtigt sich zugleich während dieses Anhaltens der schon eingeleiteten Bewegung als ordnendes Princip“.30
Der ästhetische Prozess wird hier mit einer Mischung aus dynamistischen und quasi-soteriologischen Begriffen beschrieben. Man könnte auch von einem apollinischen Moment sprechen, das sich gegen das dionysische durchsetzt. Was hernach in den Kunstwerken äußerlich hervortritt, entspringt aus einem solchen Prozess innerer Bildung. Es bleibt offen, wie sich diese Deskription psychischer Prozesse, die auf Kräfte und psychische Energien, Aufstauung und Entladung quasinaturalistisch rekurriert, methodisch mit der subjektivitätstheoretischen bzw. phänomenologischen Grundlegung zusammengeht, die Schleiermachers Denken als ganzes und auch seine Ästhetik auszeichnet. Wenn Schleiermacher die Stimmung als ein „gehaltene[s] Gefühl“31 charakterisiert, so ist in der zeitlichen Bestimmung kontinuierlichen Sich-Durch27 28 29 30 31
Die christliche Sitte [=ChrSL], hg. v. L. Jonas, (SW I/12), Berlin 1843, 49. Psychologie [Psych], hg. v. L. George (SW III/6), Berlin 1862, 310; zit. nach Lehnerer, 257. Ästh Leh, 17. Akademiereden, Ästh Leh, 162. Ästh Leh, 17.
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haltens jedenfalls ein Selbstverhältnis involviert. Zwar bleibt die Vorstellung ausgeschlossen, ein rationales Subjekt bestimme in freier Selbstverfügung über solche Stimmungsbildung, gilt doch vom unmittelbaren Selbstbewusstsein: „wir haben es nicht in unsrer Gewalt, es in irgend einem Momente auf beliebige Weise zu haben“.32 Aber die Unterbrechung der Erregungszustände verdankt sich nach Schleiermacher einer Macht der Besinnung, die er im strikten Sinne als Selbstbesinnung begreift. In ihr liegt „das Wesen jeder Kunst als solcher“,33 und sie „[erhebt] die Naturthätigkeit über sich selbst“ und „adelt“ sie „zu einer Offenbarung des sich seiner bewußten und die Erregung beherrschenden Geistes“.34 Schleiermachers Ästhetik ist so Teil seiner Subjektivitätstheorie. Inhaltlich zeigt sich das daran, dass auch in der Kunsttätigkeit Passivität und Freiheit in ein gleichursprüngliches Verhältnis treten, an dem sich die Präsenz des höheren Selbstbewusstseins manifestiert. Allerdings zeigt sich der die Erregung beherrschende Geist nur als Selbstbewusstsein und dieses nur in der Zeit, also in der Sukzession integrationsbedürftiger Zustände: „In jedem einzelnen Bewußtsein ist […] ein extensives Fortschreiten in einer Zeitreihe von einzelnen Acten gesezt“.35 Selbstbewusstsein ist Sein in der Zeit, so dass sich das unmittelbare Selbstbewusstsein überhaupt nur im Übergang eines Zustandes in einen anderen (sei es von Lust zu Unlust oder umgekehrt) bemerkbar macht. Stets geht es in ihm darum, dass und wie die Sukzession einzelner Momente als Einheit eines subjektiven Lebens erlebt werden kann. „Jedes Gefühl geht immer auf die Einheit des Lebens, nicht auf etwas Einzelnes“.36 Darin begründet sich zugleich die Individualität. Denn „alle synthetische Fortschreitung von einer Einheit zu einer anderen außer ihr liegenden drückt die Eigenthümlichkeit aus, d.h. sie ist in jedem eine andere, je nachdem sich die verschiedenen Richtungen in ihm überhaupt und im jedesmaligen Moment zu einander verhalten“.37 Individualität zeigt sich als Kombination. Wo es um Deduktion des Besonderen aus dem Allgemeinen geht, tritt sie fast völlig zurück, denn in solcher Ableitung sichern identische Regeln die Gleichheit des Fazits. Wo dagegen im Ausgang von einem besonderen Moment zu einem anderen fortgeschritten wird, lässt sich keine Einheit nach allgemeinen 32 33 34 35 36 37
Ae Lo, 122. Akademiereden, Ästh Leh, 163. Ebd. Ethik (1812/13) §148, in: Ethik (1812/13), hg. v. H.-J. Birkner [Birkner], Hamburg 1990, 1–180, 59. Güterlehre. Letzte Bearbeitung (1816/17) §52, Birkner, 227–296, 259. Ethik (1812/13) §163, Birkner, 62.
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Regeln erzwingen, sondern nur im Vollzug faktisch gewinnen. Wird „jedes Gefühl […] gesezt mit dem Charakter der Eigenthümlichkeit“,38 so kann der Übergang von einem Zustand zu einem anderen nicht aufgrund einer allgemeinen „Formel der Aneinanderreihung“39 erfolgen. Daraus resultiert die Kontingenz aller Individualisierungsprozesse. Die Orientierung an einer durch keinen vorausgesetzten Allgemeinheitsbegriff gebändigten Subjektivität verbindet Schleiermachers Ästhetik – trotz aller sonstigen Unterschiede – mit Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Nach dieser besteht die Modalität des Geschmacksurteils – dem Begriff der reflektierenden Urteilskraft entsprechend – in einer bloß exemplarischen Notwendigkeit, die nicht aus allgemeinen Regeln abgeleitet werden kann, aber doch als „Beispiel einer allgemeinen Regel, die man nicht angeben kann, angesehen wird“.40 Die ästhetische Erfahrung ist bei Kant wie bei Schleiermacher der Ort für eine Regelhaftigkeit ohne Regel, mit der die unvertretbare Subjektivität des Einzelnen zur Geltung kommt. Woran aber hält sich ein Subjekt, wenn es keine allgemeinen Regeln mehr gibt, unter denen es – wie alle anderen auch – voranschreiten könnte? Die Antwort kann nur lauten: an sich selbst. Das Subjekt wird auf seine eigene ‚innere Lebendigkeit‘ zurückgeworfen, der es sich allein im Gefühl bewusst wird.41 „Gefühl und combinatorisches Princip sind Eins“.42 Aber in diesem Rekurs auf sich selbst erfährt sich das unmittelbare Selbstbewusstsein gerade in dem Maß in schlechthinniger Abhängigkeit, in dem sein ganzes ungeteiltes Dasein in einem einzigen Moment, in unmittelbarer Gegenwart, erscheint.43 Unter dieser Voraussetzung zeichnet sich die ästhetische Erfahrung dadurch aus, dass sie Übergänge unter der speziellen Form generiert, dass alle individuellen Kombinationen die Freiheit eines Spiels erhalten. An den Spielräumen, die sich in der alltäglichen Erfahrung nicht auftun,44 bringt das Kunstwerk „den reinen Typus des Dargestellten in seiner Besonderheit heraus“.45 Ihm entspricht die Freiheit spielerischer Anknüpfung, der die ästhetische Produktivität gegenüber allen anderen
38 39 40 41 42 43 44
45
Ebd., §159, 61. Ebd., §149, 59. KdU, §18, A 62. Cf. Lehnerer, 219. Ethik (1812/13), Birkner, 71. Vgl. Ae Lo, 122: „Das unmittelbare Selbstbewußtsein […] ist das völlige Aufgehn des ganzen Daseins in einen Moment“ mit GL2 I, 17. „Was das Kunstwerk macht, ist die freie Combination durch Fantasie, die aber die Vernunft ist unter dem Charakter der Eigenthümlichkeit in der Function des Darstellens.“ Brouillon zur Ethik [=Brouillon], hg. v. H.-J. Birkner, Hamburg 1981, 23. Ästh Leh 33.
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kombinatorischen Akten auszeichnet. Für die Religion ist es dagegen charakteristisch, dass sie die Einheit eines individuellen Lebens gerade dort sucht, wo auch der Grund der Freiheit repräsentiert wird. Kunst und Religion unterscheiden sich also darin, dass in jener der Vollzug der Freiheit, in dieser aber ihr Grund symbolisiert wird.
2. In der Kunsttätigkeit tritt ein Grundzug menschlichen Handelns in den Vordergrund. Stets knüpfen Handlungen an andere Handlungen an, und stets können Handlungsreihen neue Kontinuitäten bilden. Was handlungstheoretisch gilt, hat bei Schleiermacher immer eine selbstbewusstseinstheoretische Entsprechung. Deshalb kennzeichnet der Begriff der produktiven Anreihung auch das Verhältnis von höherem und sinnlich bestimmtem Selbstbewusstsein. Die Mitpräsenz des höheren Selbstbewusstseins in den einzelnen zeiterfüllten Momenten ist nichts anderes als eine Kraft der Einheitsstiftung, die nicht essentialistisch hypostasiert werden muss. Sie ist ein Modus, der nur in einer Kombination besteht, die das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl zuwege bringt.46 Eben dies macht das Gefühl ‚unübertragbar‘ – nicht seine Innerlichkeit oder seine durch je individuell konstituierte Bedeutungen in sich verschlossene Privatwelt, die sich intersubjektiv nicht mitteilen ließe. Das unmittelbare Selbstverhältnis ist unübertragbar, weil es die Einheit eines Lebens als die Art und Weise, wie alles Begegnende aufgenommen wird, repräsentiert. Dass jedes Gefühl Selbstbewusstsein ist,47 steht in einem inneren Zusammenhang mit der Behauptung, „die Succession der einzelnen Gefühle“ bekomme durch den Bezug auf das höhere Selbstbewusstsein „ein anderes Gesez“.48 Kunst und Religion als Selbstmanifestationen des Gefühls bringen folglich den Sinn für die Einheit des je individuellen Lebens in seiner Welterfahrung zur Darstellung. Im Kunstwerk wandelt sich die subjektive Stimmung zum Urbild eines möglichen Weltverhältnisses. Nach der Ästhetikvorlesung von 1819 ist „das in allen Künsten Identische“ 46
47 48
Nach Schleiermacher gehört es zur Eigenart menschlichen Selbstbewusstseins, ein „die geschiedenen Momente zu einer stetigen Einheit des Lebens verbindendes Selbstbewußtsein“ zu sein, während das tierische Leben der Punktualität jeweiliger Augenblicke erliegt. GL2 I, 31. Ebd. Vgl. Brouillon, 104: In diesem Sinne kommt Sittlichkeit ins menschliche Leben, indem „statt des bloß organischen des Reizes und Gegenreizes“ „das höhere der freien individuellen Combination“ wirkmächtig wird.
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das ‚Symbolische‘. Dieses ist definiert als „das, wodurch das Einzelne Darstellung wird von dem bestimmten Allgemeinen, in dem sich die Stimmung abspiegelt“49 und zwar unabhängig von der Frage, ob der Künstler sein eigenes oder das Gefühl eines anderen manifestiert.50 Die Rede von der je eigenen Wahrheit einzelner Kunstwerke, die in der Ästhetikausgabe von Lommatzsch mehrfach begegnet, zielt auf deren Potenz, eine typische Beziehung zur Welt sinnlich zu repräsentieren. Weil die ästhetische Produktion nur eine Seite des allgemeinen Lebensprozesses ausmacht, lässt sich die vollständige Manifestation der Einheit des Lebens im Leben selbst als ein Vorgang beschreiben, der dieses zum Kunstwerk macht. Dazu müsste das menschliche Leben nach der Psychologievorlesung von 1818 nur an den Punkt kommen, „wo die Seele sich selbst in ihrer Eigenthümlichkeit in der besondern Art, wie die Idee der Welt in ihr gesezt ist, so klar ist, daß alle Lebenstheile in ihr mit Bewußtsein in ein bestimmtes Verhältniß treten“. Denn dann gelte: Diese Idee verhält sich „wie die Grundidee eines Kunstwerkes“.51 Doch gegen die Konjunktur des schon von Schleiermacher gebrauchten Begriffs der ‚Lebenskunst’52 muss betont werden, dass dieser Punkt nach Schleiermachers eigenen Worten eine bloße Idee, bzw. ein focus imaginarius bleibt. Eben deshalb repräsentiert die Religion die Einheit des menschlichen Lebens in einer Form, die sich unter der Bedingung seiner Endlichkeit, seiner Kontingenz und Irrationalität, nicht erreichen lässt. Was im Kunstwerk immer nur urbildlich dargestellt werden kann und insofern selbst freie Anknüpfung ermöglicht, kann in den Lebensvollzügen nicht eingeholt werden. Umso bedeutsamer wird für Schleiermachers Zuordnung von Religion und Kunst der symboltheoretische Grundgedanke, dass das unmittelbare Selbstbewusstsein eine Darstellung sucht und diese allein in der Kunst finden kann. Sie führt auf die Folgethese, die Kunst verhalte sich zur Religion „wie Sprache zum Wissen“.53 Die Affinität zwischen Kunst und Religion resultiert aus der internen Relation von Gefühl und Darstellung, die m.E. in Entsprechung zu der 1816 festgehaltenen Generalthesis: „Das Sprechen […] hängt dem Denken so wesentlich an,
49
50 51 52 53
Ästh Leh, 45. Entsprechend heißt es in den einleitenden Bemerkungen der Dialektik von 1811: „Ein Kunstwerk ist ein Einzelnes, in dem sich das Allgemeine unmittelbar darstellt, und in dem ein Unendliches enthalten ist.“ Dialektik (1811) [=Dialektik], hg. v. A. Arndt, Hamburg 1986, 4. Akademiereden, Ästh Leh, 187. Psych, 471. Ein Begriff der Ethik Schleiermachers im Jahr 1816; Ethik (1812/13), §221 Zusatz 1816, 2., Birkner, 73. Ethik (1812/13), §228, Birkner 74f.
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daß kein Gedanke fertig ist, ehe er Wort geworden ist“54 interpretiert werden muss. Sprechen ist keine äußere Verlautbarung des Gedachten, sondern trägt die Artikuliertheit des Gedankens selbst. Deutlich ausgesprochen wird das auch in der Ethik 1812, in der Schleiermacher festhält, „daß die Wahrnehmung des Kindes erst recht objectivirt wird mit seinem Sprechen zugleich“, weshalb „in jedem […] das völlige Bilden der Vorstellung und das Bilden des Wortes dasselbe“55 sei. Solche Ausführungen müssen im Horizont der Humboldtschen Doppelthese interpretiert werden, die Sprache sei „die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen“56 und sie sei „das bildende Organ des Gedanken. Die intellectuelle Thätigkeit […] ist aber auch in sich [!] an die Nothwendigkeit geknüpft, eine Verbindung mit dem Sprachlaute einzugehen; das Denken kann sonst nicht zur Deutlichkeit gelangen, die Vorstellung nicht zum Begriff werden“.57 Der Begriff der Artikulation ordnet der Sprache einen konstitutiven Anteil an der Bestimmtheit des Gedankens zu. Das aber besagt für das Verhältnis von Religion und Kunst: Trotz ihrer kategorialen Differenz bleibt die Religion unhintergehbar ästhetisch codiert – und dies natürlich mit einschneidenden Folgen für den Religionsvollzug. Darauf ist im dritten Abschnitt einzugehen.
3. Man wird weder der Religions- noch der Kunsttheorie Schleiermachers gerecht, wenn man sie allein selbstbewusstseinstheoretisch rekonstruiert. Beide bedürfen einer güterethisch fundierten und also intersubjektivitätstheoretisch geleiteten Gegenlektüre. Beide Theorieperspektiven hängen insofern zusammen, als die sozialtheoretischen Perspektiven dem im Selbstbewusstsein eingeschlossenen Gattungsbewusstsein Rechnung tragen. Sie führen aber zu einer methodischen Erweiterung, weil sie eine Theorie der Mitteilung nach sich ziehen. Die Ästhetik Schleiermachers ist daher wesentlich eine Theorie der Kommunikation des unübertragbaren Gefühls.58 Freilich erfolgt Mittei54 55 56
57 58
Güterlehre. Letzte Bearbeitung (1816/17) §48, Birkner, 256. Ethik (1812/13) §183, Birkner, 66. W. von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts [1830–35], in: ders.: Schriften zur Sprachphilosophie, hg. v. A. Flitner u. K. Giel (Werke in 5 Bänden, III), Darmstadt 1963, 418. Ebd., 426. Cf. Lehnerer, 346.
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lung in den ästhetischen Phänomenen nicht über Sprache (genauer: nicht über explizite Thematisierung in der Sprache), sondern in der Form darstellenden Handelns. Während Wissen auch ohne Mitteilung Allgemeingültigkeit beansprucht und der intersubjektiven Verständigung nur insoweit bedarf, als solche Gültigkeit in den Streit gerät, ist „in der Kunst […] Mitteilung notwendig“.59 Die Unterscheidung von Ausdruck und Darstellung schließt also ein, dass nur die letztere, diese aber stets als Mitteilung zu begreifen ist. Am deutlichsten bringt Schleiermacher dies in den Vorlesungen zur Christlichen Sittenlehre zur Geltung und zwar in den Zusammenhängen, in denen er die Beziehung zwischen darstellendem Handeln und der sozialen Struktur der Kirche erläutert: „Es ist in unserem ursprünglichen Selbstbewußtsein gegeben, daß wir die einzelnen Momente des Daseins nur zusammenknüpfen können, indem was in dem einen Momente war, Object wird für den anderen, und das ist nur möglich in dem Heraustreten in die Erscheinung, daß aber auch die Identität des persönlichen und des Gemeingefühls nur Wahrheit hat, sofern wir in Gemeinschaft stehen mit anderen und unser Selbstbewußtsein austauschen können; so daß alles Darstellen nichts anderes ist, als die beständige Realisation des menschlichen Wesens selbst“.60
Der Zusammenhang zwischen der Kommunikation mit anderem Bewusstsein und der kommunikativen Struktur schon des Bewusstseins selbst wird mehrfach prägnant zum Ausdruck gebracht, wie das letzte Zitat unter Rekurs auf das Verknüpfungstheorem zeigt: Es gäbe noch nicht einmal Einheit des Bewusstseins, ließe sich nicht im Strom der Vorstellungen durch die Wiederaufnahme des zeitlich vorausliegenden Zustandes Kontinuität erzeugen. Solche Wiederaufnahme denkt Schleiermacher in Analogie zu den kommunikativen Darstellungs- und Mitteilungsprozessen als „Heraustreten in die Erscheinung“. Für die Einheit des Bewusstseins ist folglich Darstellung genauso notwendig wie im intersubjektiven Verhältnis. „Wenn der einzelne Mensch nicht nur an sich, sondern in jedem seiner Momente rein für sich selbst wäre und isolirt: so würde sich auch kein Grund zu einem Aeußerlichwerden des inneren denken lassen“.61 Weil aber das Sein des Menschen nur in der Einheit von Individualität und Allgemeinheit angemessen rekonstruiert werden kann, sind zwei Leitüberzeugungen schon für die Bewusstseinstheorie unverzichtbar. Die eine ist die der Zeitlichkeit. Sie lautet knapp summiert: ‚das Zeitlichwerden und Sich als Zeitlichfinden und Wiederaufnehmen ist das Dasein der Vernunft als Bewußtsein‘. Die andere ist die der nicht nur unhintergehbaren, sondern konstitutiven 59 60 61
Dialektik, 12. ChrSL, 517. ChrSL, 509.
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Leiblichkeit menschlichen Bewusstseins. Beide Überzeugungen werden im Begriff der Mitteilung verknüpft. Die Eigenart der Bewußtseinstheorie Schleiermachers hängt daran, daß die Kommunikation „nicht […] als ein zweites zu dem Bewußtsein selbst als einem ersten hinzu[kommt], sondern ursprünglich schon ist beides eins; denn es giebt keine Form des Bewußtseins, die anders als mit ihrer Leiblichkeit zugleich hervortreten könnte. Der Gedanke wird erst als Sprechen […] wirklich, vorher ist er noch nicht Bewußtsein“.62
Dies hat Konsequenzen für die Religionstheorie, weil die These ‚kein Gefühl ohne Darstellung‘ jeden Chorismos zwischen Religionsbegriff und Kirchentheorie ausschließt. In diesem Sinne ist die Selbstmanifestation des Gefühls auch darin vom bloßen Ausdruck unterschieden, dass sie sich an andere adressiert. Sie ist Darstellung umwillen der Mitteilung, wenn auch Mitteilung dessen, was sich nicht übertragen lässt. Dargestellt wird das Unübertragbare, das gerade als solches in Beziehung zum anderen steht. „Die Manifestation ist ein Sich-selbst-jedem-andern-zur-Anerkennung-darbieten, ein Eröffnen der Persönlichkeit vermittelst des Gattungsbewußtseins“.63 Ohne dieses wäre jedes Kunstwerk „eine Nullität“.64 Mitteilung ist Verwirklichung wechselseitiger Anerkennung in den je spezifischen Medien und Kommunikationssystemen. Im darstellenden Handeln vollzieht sich dies im Verhältnis von Produktion und Rezeption. In ihm gründet der anregende Charakter der Mitteilung,65 der sich unter der Alternative von Produktions- oder Rezeptionsästhetik nicht entfalten lässt. Am deutlichsten wird dies in den Psychologievorlesungen: „Um die Kunst ganz als Selbstmanifestation zu verstehen müssen wir auch der Receptivitätsweise eine Manifestation zugestehen“.66 Wie am Anerkennungs- und Mitteilungsbegriff erkennbar wird, dass die Berücksichtigung des Gattungsbewusstseins weder naturalistisch mit dem Hinweis auf ein faktisch vorhandenes Mitgefühl mit dem Dasein anderer noch bewusstseinstheoretisch als Einsicht in die Nicht-Singularität des Selbstbewusstseins eingeholt wird, sondern einer Sozialtheorie bedarf, so präzisiert auch erst der Rezeptionsbegriff, was mit Darstellung gemeint ist.
62 63 64 65 66
Über den Begriff des höchsten Gutes. Zweite Abhandlung (24. Juni 1830), in: Akademievorträge, hg. v. M. Rössler (KGA I/11), Berlin/New York 2002, 657–677, 672. Psych, 248, zit. n. Lehnerer 148. Ae Lo, 146. Brouillon,104f. Psych, 525.
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4. Drei knappe Bemerkungen zum Schluss. Erstens: Man sollte sich nicht davon irritieren lassen, dass Schleiermacher an einigen Stellen den Darstellungsbegriff auf den Ausdrucksbegriff reduziert: „Unsere allgemeine Erklärung war, das darstellende Handeln sei nichts, als das Aeußerlichwerden des inneren, der Ausdrukk des Gefühls in organischen Acten“.67 Das ist darstellendes Handeln zwar immer auch, aber niemals nur. Es stabilisiert sich über die Unmittelbarkeit der bloßen Expression hinweg, indem es mit der Macht der Unterbrechung ‚Kunstelemente’68 hinzuzieht und damit dem Weltverhältnis Spielräume verschafft. Im Unterschied zum bloßen Ausdruck operiert darstellendes Handeln im Gebiet der Mitteilung. Was aus der Perspektive der Selbstbewusstseinstheorie als Einheit von Gefühl und Darstellung beschrieben wird, hat daher stets handlungs- und kommunikationstheoretische Dimensionen. Zweitens: „Alle Kunst hat auf der einen Seite eine religiöse Tendenz, auf der anderen verliert sie sich in das freie Spiel mit dem Einzelnen“.69 In dieser Gegenläufigkeit unterscheiden sich Kunst und Religion nach Maßgabe der Spannung zwischen der konkreten Mitteilung und der Allgemeinheit des Gattungsbewusstseins. Denn zur Eigenart des Kunstwerkes gehört es, dass es trotz seiner Offenheit für unendliche Interpretationen stets „ein gesondertes Ganze[s]“ bildet. Der konkrete Darstellungsprozess hat darum Grenzen, die ihn an kontingente Möglichkeiten der Mitteilung binden. So stark (d.h. hier: allgemeinheitsoffen) ein Urbild sein mag, „im Gebrauch [knüpft sich doch] wieder verworrenes Spiel daran, sowol beim Künstler selbst während der Ausführung als auch beim Betrachter während der Uebertragung und in der Erinnerung“.70 Solche Spielräume gehören notwendigerweise zur Kunst und zur ästhetischen Erfahrung, weshalb Schleiermacher unter dem Titel der nationalen Eigentümlichkeit der Kunstwerke die kulturrelative Gebundenheit des Ästhetischen denkt. Aufgrund der Funktion der Kunst als Sprache der Religion hat dies Konsequenzen für die religiösen Mitteilungs- und Aneignungsprozesse. Religion ist immer bestimmte, positive Religion, nicht nur wegen der Gründungsimpulse, die von ihren historischen Stiftergestalten ausgehen, sondern weil die Möglichkeit, gegenwärtig an sie anzuknüpfen, mit Begrenzungen der Darstellungsprozesse einhergeht. Sie gehören zur Sprache der Religion 67 68 69 70
ChrSL, 545 [im Druck fälschlich gezählt als Seite 455]. Ebd. Ästh Leh, 21. Ästh Leh, 32.
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bzw. -subjektivitätstheoretisch formuliert – zum Verhältnis von Sprache und Bewusstsein. Die Eigenart der Religion stiftet dagegen eine unhintergehbare Beziehung von Selbstbewusstsein und Gattungsbewusstsein bzw. arbeitet diese immer wieder heraus: „Erst die Religion treibt den Menschen zu unbedingter Erweiterung“.71 Insofern hat das Zusammenspiel von Kunst und Religion gerade aufgrund ihrer kategorialen Differenz einen unverzichtbaren Effekt für beide. Im Blick auf die Religion ergibt sich drittens, dass Aneignungs- und Abstoßungsprozesse nach Schleiermacher konstitutiv zur sozialen Gestalt der Religion und damit zum Kirchenbegriff gehören. Deshalb reflektiert Schleiermacher das Verhältnis von Kunst und Religion auch ekklesiologisch: „Die höchste Tendenz der Kirche ist die Bildung eines Kunstschazes, an welchem sich das Gefühl eines jeden bildet, und in welchem jeder seine ausgezeichneten Gefühle niederlegt und die freien Darstellungen seiner Gefühlsweise, wo wie sich auch jeder, dessen darstellende Production mit seinem Gefühl nicht Schritt hält, Darstellungen aneignen kann (…)“72
– natürlich nur, wenn der Kunstschatz der Kirche ästhetisch hinreichend differenziert und d.h. vor allem: durch gegenwärtige ästhetische Erfahrung gebildet ist.
71 72
Ethik (1812/13) §221, Zusatz 1816 ‚Zusatz‘, Birkner, 74. Ethik (1812/13) §213, Birkner, 122.
Plädoyer für eine Betrachtung der „Mittelzustände“ vernünftiger Tätigkeiten oder das künstlerische Denken als innere Geselligkeit VON SARAH SCHMIDT/BERN
„Die freie Geselligkeit aber erstirbt, sobald sie sich nach 1 äußeren Kennzeichen organisiren will“.
1. Kunst als Kunstfertigkeit – Kunst als künstlerische Tätigkeit Dass Kunst und Wissenschaft miteinander in enger Wechselwirkung stehen und sich im wechselseitigen Austausch vollenden, ist ein Allgemeinplatz frühromantischer Philosophie. Dieser Allgemeinplatz trifft (und bei Friedrich Schleiermacher beide Male mit ähnlich zentraler systematischer Bedeutung) auf zwei verschiedene Verwendungsweisen des Begriffs „Kunst“ zu. Die „alte“ Verwendungsweise im Sinne von (Kunst)fertigkeit oder Technik und die „neuen“ im Sinne von künstlerischer Tätigkeit. Der Anspruch an die Philosophie, gleichermaßen Wissenschaft und Wissenschaftstechnik, also „Kunst“ zu sein, Inhalt und Prozesshaftigkeit gleichzeitig zu denken, ist eines der zentralen Themen, wenn nicht das zentrale Thema der ‚Dialektik‘. Schleiermachers Vorlesungen zur ‚Dialektik‘ sind Entwürfe einer Wissenschaftslehre, d.h. sie tritt mit dem Anspruch auf, Wissenschaft des Wissens und eine erkenntnistheoretische Grundlegung für alle Einzelwissenschaften zu sein. Da sich die wissenschaftliche Praxis jedoch als permanentes Streitgespräch offenbart und Wissen nie als vollendetes, sondern als kontingentes, historisches Wissen auftritt, muss sich die Wissenschaftslehre dem Prozess 1
Friedrich Schleiermacher: Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre, auf der Grundlage der Ausgabe von O. Braun, hg. v. H.-J. Birkner, Hamburg 1990 (2. verbesserte Auflage), 127, § 238. Im Folgenden zitiert mit „EthBI“.
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selbst zuwenden. Der ‚Dialektik‘ kommt daher für Schleiermacher die primäre Aufgabe zu, Regeln der Streitschlichtung zu entwerfen oder „Kunst der Gesprächsführung“ zu werden. Der Entwurf einer solchen Kunstlehre ist jedoch ihrerseits auf eine Klärung dessen angewiesen, was Wissen jenseits des streitenden Wissens sein soll, um den Prozess orientieren zu können. Die ‚Dialektik‘ als Wissenschaftslehre zeichnet sich für Schleiermacher daher durch eine grundlegende und nicht aufzulösende wechselseitige Abhängigkeit von Kunstlehre, als Auseinandersetzung und Orientierung mit dem realen Prozess des Wissens oder 2 „gewolltes Hervorbringen“ und Wissenschaft, als Untersuchung der transzendentalen Begründung und Bestimmung von Wissen aus. Aus dieser grundlegenden Abhängigkeit, die die Zweiteilung der Dialektik in einen „transzendentalen“ und einen „technischen“ Teil bestimmt, erwächst die Vorstellung eines unendlichen „Tip-Tops“ zwischen Wissenschaft und Kunst und die Forderung, dass Wissenschaft in 3 ihrer Vollendung Kunst und Kunst Wissenschaft werden soll. Die Wechselwirkung von Wissenschaft und Kunst (im Sinne künstlerischer Tätigkeit) hat eine ebenso große erkenntnistheoretische Bedeutung, allerdings wird sie von Schleiermacher was die Textgrundlage angeht weniger konzentriert diskutiert als das Verhältnis von Kunst(technik) und Wissenschaft. Im Folgenden möchte ich die Wechselwirkung von Kunst und Wissenschaft unter einem Aspekt thematisieren, der meines Wissens in der Sekundärliteratur bisher noch nicht beachtet wurde, gleichwohl er für das zentrale Motiv der „Wechselwirkung“ in Schleiermachers Philosophie eine nicht unwichtige Rolle spielt: die „Mittelzustände“ zwi2
3
Friedrich Schleiermacher: Vorlesungen über die Dialektik, Vorlesungsnachschriften, KGA II/10/2, hg. von A. Arndt, Berlin/New York 2002, 77, § 20. Im Folgenden zitiert mit „DialKGA II/10/2“. Vgl. Friedrich Schleiermacher: Vorlesungen über die Dialektik, Manuskripte Schleiermachers, KGA II/10/1, hg. von A. Arndt, Berlin/New York 2002, 79, § 33: „Man kann also sagen daß in der Philosophie Kunst und Wissenschaft in einer gegenseitigen Approximation zu einander sind; aber auch daß beides zwei verschiedene Arten sind dasselbe Princip zu haben.“ (Im Folgenden zitiert mit „DialKGA II/10/1“) Vgl. auch DialKGA II/10/1, 78, § 29: „Wie die philosophische Kunst aber freilich erst vollendet wird mit der Wissenschaft und umgekehrt: so ist auch jedes einzelne reale Wissen erst als solches bei der Vollendung der philosophischen Kunst und Wissenschaft vollendet.“ Vgl. auch DialKGA II/10/1, 77, § 18ff. u. 78, §§ 28 u. 30. Diese systematische Zweiteilung wird auch in den einleitenden Kapiteln der philosophischen Ethik ausgeführt und gilt für jede einzelne Wissenschaft. Dieser Gedanke der Wechselwirkung von Kunst und Wissenschaft im Sinne der Wechselwirkung von Grundlegung und Technik taucht das erste Mal in der frühen Schrift ‚Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre‘ auf. Hier spricht Schleiermacher von der wechselseitigen Bedingtheit der Wissenschaftslehre als „gehaltloses Abbild des Wissens“ und der „Weltweisheit“ als „gehaltvolles Abbild“ – später dann als „Begriff der Welt“ bezeichnet.
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schen den einzelnen vernünftigen Tätigkeiten. Und unter diesen „Mittelzuständen“ soll exemplarisch ein ganz bestimmter Mittelzustand, der des künstlerischen Denkens untersucht und in seiner erkenntnistheoretischen Bedeutung genauer bestimmt werden. Der Begriff „Mittelzustand“ fällt, soweit ich die Textlage überblicke, 4 nur ein einziges Mal. Dennoch eignet er sich, um eine Problematik zu beschreiben, der man in Schleiermachers philosophischen Vorlesungen immer wieder begegnet. „Mittelzustände“ sind solche Tätigkeiten, die Eigenschaften mehrerer vernünftiger Tätigkeiten aufweisen und mitunter nicht eindeutig nur dem Denken, Kunstschaffen oder Handeln zugeordnet werden können. Sie tragen die Merkmale anderer Tätigkeiten als „Akzidenz“ an sich tragen wie Schleiermacher formuliert. Auch wenn in den Vorlesungen zur philosophischen Ethik, vom ‚Broullion zur Ethik‘ von 1805/06 an, die Wechselwirkung der einzelnen vernünftigen Tätigkeiten, Handeln, Denken und Kunstschaffen als eine notwendige Bedingung der vernünftigen Entwicklung verstanden 5 wird und die Tätigkeiten in Realität die Tätigkeiten nie „rein“ auftre6 ten, bemüht sich Schleiermacher sowohl in den Dialektikvorlesungen als auch in den Vorlesungen zur Ästhetik um eine isolierte Betrachtung der Tätigkeiten. In seiner eigenen Rhetorik verschafft Schleiermacher diesen „Mittelzuständen“ selbst nicht sehr viel Gewicht. Dies muss jedoch nicht be-
4 5
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Vgl. DialKGA II, 595, Std. 58. Vgl. Friedrich Schleiermacher: Broullion zur Ethik (1805/06), auf der Grundlage der Ausgabe von O. Braun, hg. u. eingeleitet von H.-J. Birkner, Hamburg 1981, 12: „Diese Wechselwirkung von Einsehen und Darstellen ist die Oscillation des sittlichen Lebens, und keins von beiden kann ohne das andere gedacht werden. Den Prozeß dieser Operation und die Vermittlung dazu muß sich die Vernunft erst bilden.“ Im Folgenden zitiert mit „BrEthBI“. Vgl. EthBI, 19, § 6ff.: „Die beiden Hauptfunctionen der Vernunft, die organisirende und die erkennende, sind in der Realität nicht getrennt, sondern jeder Act wird nur a parte potiori unter Eine besondere subsumirt, denn mit dem Organbilden wird das Erkennen, und durch jedes Erkennen ist ein neues Organ gesezt. So wird auch mit jeder Darstellung ein Erkennen, und jedes Organ ist zugleich ein Symbol. Wir müssen sie aber isoliren durch Abstraction, aber nicht durch bewußtlose, um hernach desto vollkommener zur lebendigen Anschauung zu kommen. Wie beide in der Realität verbunden sind, so gibt es in der wissenschaftlichen Darstellung keine wahre Priorität zwischen beiden, indem Organe nur gebildet werden durch den Gebrauch und Erkennen nur stattfindet vermittelt durch Organe.“ Vgl. auch Friedrich Schleiermacher: Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32), hg. von Thomas Lehnerer, Hamburg 1984, 9: „Wie aber auch der vorige Gegensaz nicht rein war, sondern in jedem wirklichen Lebensmoment Erkennen und Organisiren beisammen ist, so ist auch nicht etwa das Eigenthümliche etwas zur identischen Natur Hinzukommendes, noch umgekehrt, sondern es ist die Natur selbst, welche sich in jedem eigenthümlich gestaltet, und das Eigenthümliche selbst, in welchem sich das Identische manifestirt.“ Im Folgenden zitiert mit „ÄstL“.
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deuten, dass ihnen von einem systematischen Standpunkt aus nicht mehr Gewicht und Aufmerksamkeit zukommen sollte. Auch dem Begriff der Kritik räumt Schleiermacher in seinen Dialektikvorlesungen nicht den Raum ein, der ihm von seiner systematischen Bedeutung her zukommen müsste, ist er doch das Herzstück des transzendentalen 7 Teils. Was für eine Bedeutung kann den Mittelzustände zukommen? Mittelzustände sind gerade dann interessant, wenn man nach dem Wie der Wechselwirkung fragt, denn sie sind jene Zwittergestalten in und mit denen ein Grenzgang zwischen den Tätigkeiten stattfindet. Untersucht man diesen „Grenzverkehr“ im Detail, wird sich m.E. zeigen, warum ihm gerade für den Prozess der „reinen“ vernünftigen Tätigkeiten eine konstitutive Funktion zukommt. Ich werde zunächst das Denken und die Kunsttätigkeit charakterisieren, wie sie in der ‚Dialektik‘ und ‚Ästhetik‘ als „reine“ Tätigkeiten 8 Darstellung finden. Zur Untersuchung des Mittelzustandes des künstlerischen Denkens werde ich mich mit der Rolle des Phantasierens auseinandersetzen, wie sie innerhalb der ‚Dialektik‘ im Kontext der „Theorie des Irrtums“ beschrieben wird und mich anschließend Schleiermachers Frühschrift ‚Versuch einer Theorie des geselligen Betragens‘ zuwenden. Die Überlegungen zur „freien Geselligkeit“ in dieser Frühschrift können mittels der Idee einer „inneren Geselligkeit“, die Schleiermacher leider nicht weiter ausführt, auch auf das Denken übertragen und mit dem künstlerischen Denken identifiziert werden.
2. Das ewige „Aus-der-Mitte-Anfangen“ des individuellallgemeinen Denkens und die Kunsttätigkeit als progressive Darstellung des Individuellen Schleiermacher bestimmt Dialektik als „Kunst der Gesprächsführung“, die dem ewigen Streitgespräch, als das sich die erkenntnistheoretische Praxis des Menschen darstellt, Regeln der Streitschlichtung entwerfen soll, um das kontingente oder bloß historische Denken einem Wissen anzunähern. Um Regeln der Streitschlichtung zu erlassen, wäre jedoch
7 8
Vgl. Sarah Schmidt: Die Konstruktion des Endlichen. Schleiermachers Philosophie des Endlichen, Berlin/New York 2005, 205ff. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Vorlesungsjahrgängen sind in diesem Zusammenhang sowohl für die Dialektik- als auch für die Ästhetikvorlesungen nicht relevant.
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selbst ein fester Ausgangspunkt notwendig, der im Streit selbst nicht 9 wieder in Frage gestellt werden kann. Schleiermacher sieht einen solchen Ausgangspunkt, von dem aus man die Bedingungen der Möglichkeit des Wissens freilegen kann, im „Wissenwollen“: „Denn die angestrebte Kunstlehre kann keinen anderen Ausgangspunkt haben als das wissenwollen, weil dieses unfehlbar zuerst denen gemeinsam ist, welche auf unserem Gebiet Streit führen 10 dass sie wissen wollen.“ Zwar ist jedes Denken seinem Gehalt nach immer nur ein vermeintliches Wissen, aber in seinem Anspruch, ein Wissen zu sein, der überhaupt erst zum Streit führt, lässt sich die Form des Wissens analysieren. Im Umstand des Streitens selbst offenbart sich sozusagen die innere Zielrichtung des Denkens auf ein Wissen hin. Die zwei „Charaktere des Wissens“, die Schleiermacher aus dem Wissenwollen des Denkens gewinnt sind a) dass seine Konstruktion von allen gemeinsam vollzogen werden kann und b) eine vollkommene Entsprechung von Sein und Denken besteht. Nun besitzen nach Schleiermacher alle Menschen zwar dasselbe Vermögen der Vernunft jedoch nicht in Form einer bestimmten Vernunft, sondern lediglich als Bestreben, Identität oder Einheit herzustellen, als Bestreben das Wahrgenommene zu strukturieren. Dem Anspruch ein Wissen zu sein, steht dem Umstand gegenüber, dass wir Wissen weder von einer gemeinsamen kleinsten Wahrnehmung aus induktiv entwickeln noch von einer höchsten Einsicht deduzieren können, denn Denken fängt, wie Schleiermacher formuliert, immer „aus der Mitte“ an. Die „Formen des Denkens“ – Wahrnehmung, Begriffe, Urteile bauen entgegen den logischen Grundansichten der Zeit für Schleiermacher nicht stufenweise aufeinander auf (aus Wahrnehmungen werden Begriffe, aus Begriffen werden Urteile gebildet, aus Urteilen Schlüsse), sondern setzten sich wechselseitig voraus: Im gleichen Maße, wie das diskursive eher allgemeine Denken auf die eher individuelle Wahrnehmungen angewiesen ist, kann strukturierte Wahrnehmung nur vor dem Hintergrund eines bereits entwickelten diskursiven Denkens stattfinden. Und so wie Urteile nur gebildet werden können, wenn sie Begriffe voraussetzen, verweist die Geschichte der Begriffsbildung auf 11 vorangegangene Urteile. Denken muss sich zwischen den Rändern des Denkens – das gerade noch wahrnehmbare, individuelle Denken auf der einen und das in-
9 10 11
Vgl. DialKGA II/10/1, 422, § 5. DialKGA II/10/1, 373, § 2.5. Vgl. DialKGA II/10/1, 68: „Ehe wir aus der chaotischen Totalität Einheiten gesondert haben nehmen wir Actionen wahr; also Urtheil vor Begriff aber Subject und Prädicat sind in jedem Urtheil als Begriffe; also Begriff vor Urtheil[.]“
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haltsarme allgemeine Denken auf der anderen Seite – in Form des Streites hin und her wenden und in der unendlichen Vermittlung dieses Streites langsam zu einem allgemeinen substantiellen Weltbegriff gelangen. Wie in der ‚Dialektik‘ bemüht sich Schleiermacher in der ‚Ästhetik‘ um eine Betrachtung, die sich allein auf die künstlerische Tätigkeit konzentriert. Schleiermachers ‚Ästhetik‘ wird so zu einer Produktionsästhetik, in der es in erster Linie um die allen Menschen eigene Form der Kunsttätigkeit geht und erst in zweiter Linie um das wie er es nennt „eigentliche Kunstelement“, d.h. um Schönheit oder Vollkommenheit mithin auch um Kunstwerke und die Frage nach der Beurteilung von Kunstwerken – also um eine Rezeptionsästhetik. Die Kunsttätigkeit als individuelles Symbolisieren geht nicht von einem individuellen Denken aus, sie bringt ein individuelles Gefühl zur Darstellung. Es steht dem nach Allgemeinheit strebenden Denken somit nicht wie die vereinzelte individuelle Wahrnehmung gegenüber, seine Individualität setzt auf einer anderen qualitativen Ebene an als die des Denkens. Im Gegensatz zur banalen Gefühlsäußerung entsteht die künstlerische Tätigkeit erst in dem Moment der „Besinnung“, wenn der natürliche Gefühlsausdruck gehemmt wird und eine „Stimmung“ entsteht, die mehr ist als ein Affekt, eine emotionale Reaktion. Es ist eine Stimmung, in der das Subjekt sich seiner eigenen Individualität inne wird und für die ihm in einem zweiten Schritt ein Urbild entsteht, das in einem dritten Schritt eine künstlerische Darstellung findet. Die Individualität des Kunstwerkes ist eine gestaltete in sich komplexe oder bereits „erkannte“ Individualität. Sie ist nicht das Einzelne an den Grenzen der Wahrnehmung, das erste, was sich dem absoluten Chaos vom Denken aus abringen lässt, es ist das Individuelle, das dem Anspruch nach das ganze Universum bereits in sich trägt. Denn als Individuum kann nur erkannt werden, was es seine Verhältnis zu allen anderen Individuum also zur Welt in sich trägt. Das individuelle Symbolisieren tritt dem identischen Symbolisieren daher nicht wie von einem anderen Ende einer Geraden entgegen (als das individuelle Wahrnehmen dem mehr abstrakten begrifflichen Denken) sondern versucht auf einer anderen qualitativen Ebene – der des Gefühls – das Ziel der Erkenntnis zu erreichen: „Nemlich die Indivi12 dualität ist etwas durch den Gedanken nicht Erreichbares.“ Gleichwohl müssen beide Tätigkeiten, die Darstellung des Individuellen in der Kunst und der des Allgemeinen in der Wissenschaft, in ihrer
12
BrEthBI, 50, Std. 29.
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Vollendung zusammenfallen, denn beiden geht es um Erkenntnis der 13 Welt. Schleiermachers Überlegungen in der ‚Dialektik‘ sind von der Prozesshaftigkeit und Vorläufigkeit des reinen Denkens bestimmt und der Prozess des Wissens kann immer nur als unendliche Annäherung verstanden werden. Verglichen mit dem mühseligen Prozess des streitenden Denkens mag einem die individuelle Erkenntnis der Kunsttätigkeit wie ein „Start“ der Erkenntnis von Null auf Hundert vorkommen. Denn wenn in der Kunst das Individuelle zum Ausdruck kommt, in dem bereits seine Beziehung zum Absoluten enthalten ist, sind wir dann nicht schon beim Wissen angelangt? Eine solche Erkenntnis wird in den Reden ‚Über die Religion‘ als religiöse Anschauung beschrieben, die bekanntlich Spinozas Erkenntnis14 art der Intuition sehr nahe steht. Die religiöse Anschauung bezeichnet Schleiermacher auch als Wahrnehmung, allerdings nicht als „reguläre“ Wahrnehmung der Sinne, sondern Wahrnehmung mit den Organen des Geistes, der nicht vom Sonnenlicht, sondern „von der ununterbroche15 nen und unendlichen Tätigkeit des Universums“ affiziert wird. Als solche ist sie zugleich Anschauung des Individuellen wie des Absolu16 ten, unmittelbar aus sich heraus wahr und bedarf keiner Begründung. Kunst und Religion seien, schreibt Schleiermacher in den ‚Reden‘, 17 wie zwei befreundete Seelen. Im Unterschied zur religiösen Anschauung macht die künstlerische Selbstmanifestation einen ebensolchen Annäherungsprozess durch wie das Denken selbst. Kunsttätigkeit in seinen drei Phasen, der Besinnung oder Stimmung, der Vorbildung und der Darstellung, bringt noch nicht zwangsläufig Kunst hervor, ganz in derselben Weise wie Denken noch kein Wissen ist. Zu einem Kunstwerk wird das Produkt der Kunsttätigkeit erst in dem Moment, indem sie vollkommen oder schön ist. Vollkom18 menheit kann als optimale Form der Maßregelung des freien Spiels 13 14
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Vgl. ÄstL, 10. Vgl. dazu die erst vor kurzem erschienene ausführliche Untersuchung zu diesem Thema von Christof Ellsiepen: Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva. Die spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Religionstheorie, Berlin/New York 2006. Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, KGA I/2, 219. Im Folgenden zitiert mit „RRKGA I/2“. Vgl. RRKGA I/2, 215. Vgl. RRKGA I/2, 263. In der ‚Ästhetik‘ unterscheidet Schleiermacher für die Kunst eine „organische“ und eine „elementarische“ Vollkommenheit. Die Bezeichnung „schön“ oder „vollkommen“ in anderen Disziplinen kann sich nach Schleiermacher sowohl auf die eine als auch auf die andere Vollkommenheit beziehen. Beim wissenschaftlichen Werk bezieht sich dieses Urteil beispielsweise auf die Komposition, die organische Vollkom-
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verstanden werden. Maßregelung bedeutet nicht, dass das freie Spiel der Vernunft im Kunstwerk zu einem Ende kommt, aber der Künstler tritt als Regisseur dieses Spiels auf und bestimmt es derart, dass die zu Beginn stehende Stimmung oder das Urbild beim Rezipieren optimal zum Ausdruck kommt. Ziel der Kunsttätigkeit ist der vollendete oder vollkommene Ausdruck des Gefühls bzw. der Stimmung. Kann das individuelle Symbolisieren den ersten Charakter des Wissens, die von allen gemeinsam zu vollziehende Konstruktion, nicht erfüllen – es ist eben nicht identisches, sondern individuelles Symbolisieren – so strebt es in künstlerischer Form als Darstellung eines Ideals in einem höheren Sinne eine Übereinstimmung des Symbols mit dem Sein an. Das Ideal vervollständigt die nur lückenhafte und mangelhafte Erscheinung, ist daher ganz bewusst Erfindung und weicht so von der diskursiven, in wechselseitiger Bestätigung von Erfahrung und Theorie entworfenen „Wirklichkeit“ ab. Indem sie jedoch die mangelhafte Erscheinung zum „inneren Typus“ ergänzt, stellt sie eine Art „höhere Wirklichkeit“ dar. In diesem Sinne verfolgt die Kunsttätigkeit ihre eigene innere Zielgerade und ebenso wie es das absolute Wissen nicht gibt, kann es auch die absolute Vollkommenheit oder das absolute Kunstwerk nicht geben. Jedem Kunstwerk ist der Versuch eigen, jenem inneren individuellen Selbstbewusstsein beizukommen. Die Notwendigkeit einer Kunstkritik, die vor allem Schlegel in seinen Fragmenten für jene „progressive Universalpoesie“ ausführt, unterstreicht genau jene prinzipiell unvollen19 dete oder eben progressive Gestalt von Kunst(werken).
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menheit, und bezeichnet eine besondere Durchgeformtheit, eine Einheit des Werkes, die der Einheit von Kunstwerken gleich kommt. (Vgl. ÄstL, 32ff.) Kunst entsteht darüber hinaus für Schleiermacher nicht im kulturleeren, symbolfreien Raum, knüpft an eine bereits entstehende Formensprachen und Themen an, die ausdifferenziert, zitiert, weitergeführt werden. Zwar kann eine solche Dynamik innerhalb der Kunst nicht als Fortschritt bezeichnet werden, aber kein Kunstwerk ist ein vollkommen für sich bestehendes, es knüpft an eine Tradition an, sonst wäre es nicht lesbar. In den Vorlesungen zur Ästhetik entwirft Schleiermacher den Prozess des Kunstschaffens als Wechsel von Virtuosität und Genialität, die Schleiermacher nicht nur, aber auch dazu verwendet, verschiedene Phasen in der Kunstgeschichte zu charakterisieren. Während Genialität überall dort vorliegt, wo mit einer alten Form gebrochen und eine (relativ) neue gefunden wird, zeichnet sich Virtuosität durch die Beherrschung und Ausdifferenzierung einer bereits bestehenden (Kunst)Form aus (vgl. ÄstL, 44). Dieses fast Kuhnsche Entwicklungsmodell sich ablösender Phasen von Ausdifferenzierung und Umbruch entwirft Schleiermacher auch in der Akademierede ‚Über den Begriff der Hermeneutik‘ (1829) für die Literaturgeschichte (vgl. Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, hg. von M. Frank, Frankfurt/M. 1977, 321f.)
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3. Die Unterscheidung in reines, künstlerisches und geschäftliches Denken Um Streitregeln für das Denken zu entwickeln, bemüht sich Schleiermacher wie bereits erwähnt, in der ‚Dialektik‘ darum, das Denken trotz seiner grundsätzlichen Wechselwirkung mit dem Kunstschaffen und dem Handeln als „reines Denken“ isoliert zu betrachten. Damit diese isolierende Betrachtung gelingt, untersucht Schleiermacher jedoch einleitend das Denken „als die allgemeinste Bezeichnung der bekannten 20 geistigen Function in dem weitesten Umfange“. Das Denken „in dem weitesten Umfang“ unterscheidet sich für Schleiermacher bereits seit der Dialektikvorlesung von 1811 in ein „reines Denken“, ein „künstlerisches“ und ein „geschäftliches Denken“. Eine Ausführung dieser drei Ausrichtungen des Denkens findet sich in der späten Vorlesung von 1822, die zum Druck bestimmte Einleitung zur ‚Dialektik‘ von 1833 21 führt mit dieser Unterscheidung ein. Sowohl das künstlerische als auch das geschäftliche Denken können als gemischte Tätigkeiten betrachtet werden, denn zum reinen Denken gesellt sich hier eine „Akzidenz“ der künstlerischen Tätigkeit bzw. des Handelns. Interessant ist, dass Schleiermacher mit dem Anliegen das reine Denken zu isolieren, hier eine systematische Bestimmung der Mittelzustände vornimmt, auch wenn er ihre Bedeutung für den Prozess des Denkens leider nicht ausreichend verfolgt. Um eine ganz ähnliche Abgrenzung bemüht sich Schleiermacher in der ‚Ästhetik‘, indem er sich vornimmt, sich „zunächst nur an die selb22 ständig auftretende Kunst zu halten“. In der ‚Ästhetik‘ werden diese Mittelzustände oder Mischformen unter dem Stichwort der „uneigentlichen Kunstgebiete“ behandelt, auch wenn er hier weniger systematisch vorgeht wie in der ‚Dialektik‘. Denn das „eigentliche Kunstelement“ oder die Vollkommenheit kann als Maßstab auch auf anderen Gebieten appliziert werde. Auch ein wissenschaftliches Werk oder eine 20 21
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DialKGA II/10/1, 393, § 1.1. Vgl. DialKGA II/10/2, 394f., § 1.2: „Das reine Denken nun unterscheidet sich auf der einen Seite von dem geschäftlichen als nicht um eines anderen sondern um des Denkens selbst willen gesezt, auf der andern Seite von dem künstlerischen dadurch, daß es sich nicht auf die momentane Action des Subjectes nämlich des denkenden Einzelwesens beschränkt, mithin auch sein Maaß nicht hat an dem Wohlgefallen an dessen zeitlichen Erfülltsein […], sondern auch in dem Zusammenbestehen des Denkens in diesem Subject mit dem Denken in allen andern.“ Vgl. auch DialKGA II/10/1, 395, § 1.2: „[…] das reine Denken als das in sich selbst bleibende und sich uns zur Unveränderlichkeit und Allgemeinheit steigernde, das geschäftliche welches in dem Anders werden von etwas oder in der Erreichung eines Zwekkes sein Ende findet, und das künstlerische welches in dem Moment des Wohlgefallens zur Ruhe kommt […].“ ÄstL, 159.
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Handlung kann als vollkommen oder schön bezeichnen werden. Wir sprechen, stellt Schleiermacher fest, neben der Schönheit einer mathematischen Formel auch von der Schönheit einer Volksversammlung, eines geselligen Abends, von der Schönheit des Kosmos oder eines Le24 bens. Das geschäftliche Denken, wie es in der Einleitung zur ‚Dialektik‘ bestimmt wird, ist immer auf einen äußeren Zweck bezogen, dem es sich unterordnet. Zu dem geschäftlichen Denken „rechnen wir alles Denken um eines anderen willen welches dann immer irgend ein Thun 25 sein wird, ein Verändern der Beziehungen des Außer uns auf uns“. Sowohl das künstlerische als auch das reine Denken unterscheiden sich in dieser Hinsicht vom geschäftlichen Denken, denn beide beziehen sich nur auf sich selbst. Der Selbstbezug des künstlerischen Denkens findet in Form eines Wohlgefallens am Gedachten statt, es ist ein Phantasieren, ein freies Spiel der Gedanken. Der Selbstbezug des reinen Denkens besteht im Wissenwollen, das jede Gesprächsführung in ein Streitgespräch 26 überführt. Schleiermacher bestimmt für alle drei Arten des Denkens eine je eigene Gesprächsführung: Geht es im Streitgespräch des reinen Denkens um Wissen, hat in der geschäftlichen Gesprächsführung „die Kunst der 27 Ueberredung ihr eigenthümliches Gebiet“, die „seriöser“ aber auch 23
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Vgl. ÄstL, 157: „Wie oft huldigen wir nicht trefflichen wissenschaftlichen Productionen als allen Fächern ohne Unterschied, selbst mathematische nicht ausgenommen, wie sehr auch der Calculus mit der Kunst scheint in Widerspruch zu stehen, doch zugleich als wahren Kunstwerken! Und zwar nicht nur wegen kunstreicher Behandlung der Sprache, selbst wenn diese für die unmittelbare Abzwekkung wenig austrägt, sondern tief aus dem innern heraus geht uns die Schönheit hervor in dem Ebenmaß und der Fülle der wohlgerundeten Theile, in dem Reichthum der Beziehungen, in der klaren Uebersichtlichkeit des Zusammenhanges.“ Dass Schleiermacher in der ‚Ästhetik‘ sowohl eine „denkenden“ Kunst auch eine „geschäftliche“ Kunst vor Augen hatte, lässt sich vermuten, in dem Moment wo er von den künstlerischen „Randphänomenen“ oder „Mischgattungen“, wie Reiseberichten oder Tagebüchern (vgl. ÄstL, 130), aber auch von der Architektur und Rhetorik spricht (vgl. ÄstL, 129). DialKGA II/10/1, 393, § 1.2. Vgl. DialKGA II/10/1, 394, § 1.2: „Zu diesem künstlerischen aber gehört alles Denken welches nur unterschieden wird an dem größeren oder geringeren Wohlgefallen […]. Das Denken und Bilden ist also hier von dem im Traume anfangend bis zu den Urbildern künstlerischer Werke sich steigernd eigentlich nur der momentane Act des Subjectes, durch den es sich auf bestimte Weise zeitlich erfüllt, und nur das lebendigste und wohlgefälligste davon nach Außen verbreitet.“ Im künstlerischen Denken kommt „das Verhältniß der Gedanken des Einen zu denen des Andern ihrem Inhalt nach so gut als gar nicht in Betracht […], sondern nur die allerdings durch das Wohlgefallen an der Mittheilung zu unterstüzende erregende Kraft welche die Gedankenerzeugung des Einen auf die des Andern ausübt.“ (DialKGA II/10/1, 396, §1.3) DialKGA/II/10/1, 396, §1.3.
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„unseriöser“ Natur sein kann. Im künstlerischen Gespräch des künstlerischen Denkens geht es vor allem um wechselseitige Anregung der Gesprächspartner. Diese Formulierung klingt sehr harmlos und es wird im Folgenden darum gehen, diese „Anregung“ etwas genauer zu bestimmen.
4. Die Bedeutung des Phantasieren oder des Wissens um das Nichtwissen für den Prozess des reinen Denkens Diese drei Arten oder Tendenzen im Denken, wie sie Schleiermacher in der ‚Dialektik‘ bestimmt, treten in der Realität immer vermischt auf und 28 sind in ihren ersten Anfängen gar nicht voneinander zu unterscheiden. Dort, wo diese Vermischung nicht reflektiert wird, stellt sie immer eine Gefahr für das reine Denken dar. Zugleich haben aber sowohl das künstlerische als auch das geschäftliche Denken eine Funktion für den Prozess des Wissens, die Schleiermacher im zweiten technischen Teil vor allem in der Dialektikvorlesung von 1922 diskutiert. Der zweite „technische“ Teil der Dialektik beginnt in allen Vorlesungen mit einer Reflexion über den Irrtum, die Schleiermacher in den 29 Notizen zur Vorlesung von 1818 sogar als „Theorie des Irrthums“ bezeichnet. Diese „Theorie des Irrtums“ ist kein in sich geschlossenes 30 Textstück, sondern eine immer wieder aufgenommene Reflexion. Sie mündet nicht in eine Wissenschaft, mit deren Hilfe man die einzelnen Denkergebnisse kontrollieren, auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen kann, sondern eher in eine erste Gesprächs- oder Streitregel, die eigentlich die Eingangsvoraussetzung für jedes wissenschaftliche Streitgespräch darstellt. Alles Denken oder vermeintliche Wissen wird von einem Überzeugungsgefühl begleitet, also von dem Gefühl, dass das Denken ein Wissen sei. Es ist der Form nach „dasjenige welches einen Act des Denkens 31 für vollendet erklärt und abschließt“. Hinter diesem Überzeugungsgefühl verbirgt sich jedoch lediglich der Anspruch des Denkens, ein Wis32 33 sen zu sein, und kann uns jederzeit fehlleiten. 28 29 30 31 32
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Vgl. DialKGA/II 10/1, 418, § 4.3. DialKGA II/10/1, 24, Nr. 131. Sie finden sich vor allem in der Vorlesung von 1822. DialKGA II/10/1, 161, §10.2. Vgl. DialKGA II/10/1, 86, §63: „Wo ein Ueberzeugungsgefühl ist erstrebt worden (im dumpfsinnigen Zustand geschieht dieses gar nicht) da ist auch das höchste Princip des Wissens thätig gewesen.“ Denn ein Denkakt kann auch als abgeschlossen gelten, sofern in ihm nicht das reine Denken, sondern das Handeln überwiegt, und ein Denkakt, in dem das Handeln
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Es muss daher nicht nur als Wahrheitskriterium abgelehnt werden, sondern es wird mit seinem überzogenen Anspruch, über wahr und falsch zu entscheiden, zum Problem und zum eigentlichen Gegenstand 34 der Kritik. An dieser Stelle setzt Schleiermachers „Theorie des Irrtums“ ein, in dem auch dem künstlerischen Denken als Phantasieren eine zentrale Aufgabe zukommt. Schleiermacher unterscheidet vier Fälle des Verhältnisses von Denken und Überzeugungsgefühl: a) b) c) d)
Wir wissen und sind von uns dieser Entsprechung überzeugt: wir haben ein „Wissen“ vom Wissen. Wir wissen und sind von dieser Entsprechung nicht überzeugt: Wir haben ein „Nichtwissen“ vom Wissen. Wir wissen nicht und sind davon überzeugt: Wir haben ein „Wissen“ vom Nichtwissen. Wir wissen nicht und sind davon nicht überzeugt: Wir haben ein „Nichtwissen“ vom Nichtwissen.
Da die Fälle a) und b) den Grenzfall des vollendeten Wissens darstellen, und alles relative Wissen auch als Nichtwissen bezeichnet werden kann, sind für das werdende Wissen die Fälle c) und b) relevant. Das unreflektierte Nichtwissen oder „ein für Wissen gehaltenes 35 Nichtwissen“ oder die Überzeugung, dass sein Denken ein (absolutes) Wissen sei, bezeichnet Schleiermacher als Irrtum. Der Irrtum ist dabei
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überwiegt, gilt als abgeschlossen, sofern das dem Handeln gesetzte Ziel erreicht ist. Da in jedem endlichen Denken auch Wahrheit steckt, kann das Überzeugungsgefühl der Materie nach fehlleiten, wenn es sich auf das Wahre im Irrtum bezieht. Vgl. dazu auch DialKGA II/10/2, 592: „Nun gäbe es keinen Zustand streitiger Vorstellungen, wenn das Überzeugungsgefühl sich nicht oft zu früh einstellte.“ Vgl. auch DialKGA II/10/1, 84, § 59: „Sie [Die Differenz zwischen Wissen und Irrtum, S.] liegt auch nicht in dem dem Denken mitgegebenen Ueberzeugungsgefühl denn daß die Unvollkommenheit des Wissens im Ueberzeugungsgefühl sich nicht mit abspiegelt ist wieder nur die Unvollkommenheit dieses Ueberzeugungsgefühls, und diese findet sich eben so wohl auf dem speculativen Gebiet als auf dem empirischen.“ Vgl. DialKGA II/10/2, 274: „Wenn das Ueberzeugungsgefühl, welches allein einen Denkact, der auf die Idee des Wissens bezogen wird, abschließt, sich nicht falsch gesellte, könnte kein Zustand des Streites entstehen. Nun wollen wir diesen Zustand vermeiden lernen: also müssen wir zunächst die Verhältnisse des Denkens zu diesem Gefühl fest ins Auge fassen.“ Vgl. auch DialKGA II/10/2, 642: „Ein Überzeugungsgefühl kann hier nur anticipirt werden, und auf jedem Puncte haben wir eine Indifferenz von Wahrheit und Irrthum.“ Vgl. auch DialKGA II/10/1, 158, §7: „Indem wir die Idee des Wissens in der Bewegung betrachten können wir nicht mehr davon abstrahiren ob ein wirkliches Denken mit Recht oder unrecht von dem ihre Angemessenheit aussprechenden Gefühl begleitet ist. Die philosophische Kunst hat auf diesem Gebiet keinen anderen Zwek als reales Wissen zu produciren und sie muß also lehren die Verhältnisse des Denkens zur Idee des Wissens richtig auffassen damit sie wisse was sie anzustreben hat oder zu vermeiden.“ Vgl. auch DialKGA II/10/2, 592, 608ff. 621ff. DialKGA II/10/1, 24, Nr. 132.
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genauso wenig eine absolute Größe wie das Wissen selbst, denn jedes individuelle Denken enthält immer auch etwas Wahres, sodass der Irr36 37 tum „immer nur an der Wahrheit“, „nie absolut“ ist, „und so kann 38 man sagen das Wissen entstehe aus dem Irrthum“. Unter das Wissen des Nichtwissens zählt Schleiermacher das Phantasieren und die skeptische Haltung. Während der Irrtum und auch das Phantasieren sozusagen naturwüchsig sind und sich von selbst einstellen, muss die skeptische Haltung aus der Einsicht in das prinzipiell werdende Wesen des Wissens erst gewonnen werden und ist die eigentlich kritische Aufgabe. Sie ist „das einzige Mittel, zum bewuß39 ten Wissen zu gelangen.“ Das Nichtwissen des Nichtswissens oder die Überzeugung zu wissen stellt beim Irrtum einen quasi natürlichen Anspruch des werdenden Wissens dar, das Phantasieren als künstlerisches Denken erhebt gar nicht den Anspruch, als Wissen aufzutreten. Das Wissen um das Nichtwissen besteht hier im völligen Ausbleiben des Wissensdrangs oder des das Wissen begleitenden Überzeugungsgefühls. Das Wissen um das Nichtwissen der skeptischen Position ist dagegen weder das Überzeugungsgefühl noch sein Ausbleiben, sondern ein tatsächliches Wissen um den relativen Status jedes Denkens oder des Noch-nichtWissens. Es ist ein Wissen um die Endlichkeit oder Individualität allen bestimmten Denkens, das sich auf die Analyse der Idee des Wissens gründet. Die banale Anweisung „den Irrtum vermeiden“, mahnt gegen das unrechtmäßig sich einstellende Überzeugungsgefühl zur prinzipiellen Bereitschaft, die eigene Position aufs Spiel zu setzen und sich auf ein tatsächliches Streitgespräch einzulassen. Es ist die grundsätzliche Voraussetzung für jedes Gespräch, die erste Regel der Gesprächsführung, die alle Gesprächsteilnehmer teilen müssen. Fehlt diese Bereitschaft auf einem gehobenen Wissens- oder Bildungsniveau spricht Schleiermacher sogar vom Irrtum als „Sünde“, „da er auf einem so reflectirenden und selbstbewußten Standpunkte nicht unschuldig sein 40 kann“.
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DialKGA II/10/2, 597. DialKGA II/10/1, 60. DialKGA II/10/1, 53. DialKGA II/10/2, 595. Vgl. auch DialKGA II/10/2, 596: „Der Irrthum ist überall auszuschließen, d. h. das nicht gewußte Nichtwissen muß ausgemerzt werden, und das Nichtwissen erkannt.“ DialKGA II/10/1, 164, § 17.3. Vgl. auch DialKGA II/10/1, 60: „Dies Hervortreten der Persönlichkeit ist Sünde und der Irrthum also entsteht aus der Sünde. Wie auf der ethischen Seite die Menschen nur allmählig von der Sünde zur Tugend übergehen, so auch auf der theoretischen nur allmählig vom Irrthum zur Erkenntniß.“ Vgl. auch DialKGA II/10/2, 598 u. DialKGA II/10/1, 62.
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Auch dem freien Phantasieren als eine Form des gewussten Nichtwissens verstanden nimmt eine wichtige Funktion für das werdende Wissen ein. Es unterscheidet sich von der skeptischen Position dadurch, dass es nicht dem reinen, sondern dem künstlerischen Denken angehört. Seine Leistung für das reine Denken besteht darin, Möglichkeiten und Varianten des Denkens zu produzieren, die vom reinen Denken aufgegriffen werden können. Die einzelnen Akte des Phantasierens lassen sich nicht an ihrem Anspruch auf Wahrheit unterscheiden, sondern an ihrem Maß an Wohlgefallen. Im Gespräch künstlerischen Denkens wird „das Verhältniß der Gedanken des Einen zu denen des Andern ihrem Inhalt nach so gut als gar nicht in Betracht“ gezogen, „sondern nur die allerdings durch das Wohlgefallen an der Mittheilung zu unterstüzende erregende Kraft welche die Gedankenerzeugung des 41 Einen auf die des Andern ausübt“. Der Wert des künstlerischen Denkens für das reine Denken, so wie ihn die ‚Dialektik‘ beschreibt, besteht 42 darin, eine Art externer Ideenlieferant zu sein. Auf untergeordnete Weise ist es sogar in den Akt des reinen Denkens integriert und für diesen unverzichtbar. Denn das „Geschäft“ des reinen Denkens besteht darin, Individuelles und Allgemeines immer wieder neu zu vermitteln und somit in der permanenten Aufgabe „Lücken“ zu schließen, die nur durch einen kreativen Entwurf versuchsweise geschlossen werden können. Das Phantasieren und mithin das künstlerische Denken ist somit „unentbehrlich im combinatorischen Prozeß. Ja es ist eben deshalb im Kleinen auch in einem jeden einzelnen Wissen als Werdenden. Denn man geht allemal wenngleich unbewußt durch eine Manigfaltigkeit von 43 Positionen ehe man bei einer stehen bleibt.“ Dass sich hinter dem Phantasieren des künstlerisches Denkens mehr als nur ein freies Assoziieren oder wildes Spekulieren verbirgt, dass es ein (künstlerisches) System hat und bereits eine Vorarbeit oder Arbeit am Gedanken darstellt auch wenn dies nicht im Modus des Streites stattfindet, soll mit einem Blick auf ein anderes freies Spiel, das freie Spiel innerhalb der freien Geselligkeit, nahe gelegt werden. 41 42
43
DialKGA II/10/1, 396. In eine ähnliche Richtung geht eine Bemerkung aus den ‚Monologen‘, die der Phantasie eine fundamentale, weil realitätserweiternde Rolle für das Handeln zusprechen. Denn die Phantasie entwirft Situationen, an denen sich der praktische Verstand abarbeiten kann. Sie wird so zu einer Art Erfahrungsquelle, mit der man mangelnde reelle Erfahrung kompensieren kann. Dort wo die äußeren Umstände der Entfaltung der Selbstbildung wenig „Stoff“ bieten, erweitert die Phantasie diese Möglichkeit der Anregung, indem sie verschiedenste Situationen imaginiert und durchspielt. Schleiermacher entwickelt diesen Gedanken vor allem im Zusammenhang mit Liebe und Freundschaft. Vgl. Friedrich Schleiermacher: Monologen. Eine Neujahrsgabe, KGA I/3, Berlin/New York 1988, 48f. Im Folgenden zitiert mit „MoKGA“. DialKGA II/10/1, 160, § 9.4.
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5. Das freie Spiel der Geselligkeit Das freie Spiel als Charakteristikum der Kunsttätigkeit findet sich nicht nur „an“ anderen Tätigkeiten, sondern sie bestimmt die gesellschaftliche Sphäre der „freien Geselligkeit“, die Schleiermacher neben Familie, Staat, Kirche und Akademie als eine „ethische Form“ in der Güterlehre der Ethikvorlesungen behandelt. Die freie Geselligkeit findet jedoch schon in der Frühschrift ‚Versuch einer Theorie des geselligen Betragens‘ Beachtung und erfährt dort auch eine differenziertere Auseinandersetzung als in den Ethikvorlesungen. Schleiermacher veröffentlicht den als ersten Teil einer länger geplanten Abhandlung ‚Versuch einer Theorie des geselligen Betragens‘ im Februar 1799 in der Zeitschrift „Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks“. Ihr Mitherausgeber, Ignatius Aurelius Freßler, war zugleich Begründer der „Mittwochsgesellschaft“, die mit anderen Salons der Zeit den ‚empirischen‘ Hintergrund dieser theoretischen Überlegungen abgibt. Die vollständige Ausführung des angekündigten Plans wurde von Schleiermacher zu Gunsten anderer Projekte, allen voran die 44 Arbeit an den ‚Reden‘, fallen gelassen. Die freie Geselligkeit ist ein Raum der Gesellschaft, in der sich die Menschen frei von beruflichen und familiären Verpflichtungen zum Gedankenaustausch treffen und dabei nichts anderes verfolgen als ein freies Spiel der Gedanken (Gefühle und Handlungen). Jede Form der gesellschaftlichen Beschränkung respektive Bestimmung – Klasse, Stand, Religion, Geschlecht, Beruf oder Nationalität – soll im Sinne einer aus ihr folgenden Hierarchie, nicht etwa im Sinne einer durch sie bestimmten Individualität, aufgehoben sein: „Die freie Geselligkeit aber 45 erstirbt, sobald sie sich nach äußeren Kennzeichen organisiren will.“ Der Geist eines jeden unterliegt im Alltags- und Berufsleben einer routinierten Beschränkung auf ein kleines Feld von Tätigkeiten. In der „freien Geselligkeit“ als freie Konversation zwischen unterschiedlichen Berufs- und Gesellschaftsschichten ohne übergeordneten Zweck soll dieser Mangel an Bildungsangebot kompensiert werden. Sie soll dem einzelnen Individuum die Chance geben, dass „alle Erscheinungen der Menschheit ihm nach und nach bekannt, und auch die fremdesten Gemüther und Verhältnisse ihm befreundet und gleichsam nachbarlich 46 werden können“.
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Vgl. Günter Meckenstock: Einleitung, in: Friedrich Schleiermacher, KGA I/2, Berlin/New York 1984, LIIf. Vgl. EthBI, 127 § 238. Friedrich Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, KGA I/2, Berlin/New York 1984, 165. Im Folgenden zitiert mit „GBKGA“.
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Zur detaillierten Untersuchung des geselligen Betragens unterscheidet Schleiermacher ein formales, ein materiales oder inhaltliches und ein quantitatives Gesetz. Ausführung innerhalb dem ‚Versuch einer Theorie des geselligen Betragens‘ erfährt lediglich das quantitative Gesetz. Der Form nach bezeichnet Schleiermacher die freie Geselligkeit als 47 „vollendete Wechselwirkung“ und formuliert damit eine innere Zielgerade der freien Geselligkeit. Mit vollendeter Wechselwirkung ist ein Mit- und Durcheinander der Tätigkeiten bezeichnet, in dem zwei Handlungen ineinander aufgehen, weil sie ein wechselseitiges Handeln oder ein beidseitiges Handeln-Leiden sind – die Tätigkeit des einen 48 bringt als Wirkung die freie Tätigkeit des anderen hervor. Diese gemeinsame Kommunikation der Gesprächspartner, in der Ursache und Wirkung, Spontaneität und Passivität eine Einheit bilden, wird von Schleiermacher in einzelnen Notaten des von 1798-1801 geführten Notizheftes an dem Tätigkeitspaar Hören-Reden illustriert: „Soll das Vernehmen des Hörers eine Thaetigkeit seyn so muß es auch im Redenden etwas wirken. Die Passivitaet muß activ seyn. Dies muß ins unendliche fortgehn und ist dasstumme Spiel der Gesellschaft. Je 49 potentiirter es ist, desto mehr gute Lebensart herrscht.“ Stößt, wie die Schrift ‚Monologen‘ von 1800 formuliert, mit jeder Handlung in der 50 „äußeren Welt“ „Freiheit an der Freiheit sich“, so wird mit dem Begriff der Wechselwirkung nicht nur die Form freier Geselligkeit beschrieben, 47 48
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GBKGA, 169. In den kurzen Ausführungen zu diesem „formalen Gesetz“ der freien Geselligkeit heißt es im Fragment: „[…] die Wirkung eines Jeden soll gehen auf die Thätigkeit der übrigen, und die Thätigkeit eines Jeden soll seyn seine Einwirkung auf die andern. Nun aber kann auf ein freies Wesen nicht anders eingewirkt werden, als dadurch, daß es zur eignen Thätigkeit aufgeregt, und ihr ein Objekt dargeboten wird; und dieses Objekt kann wiederum zufolge des obigen nichts seyn, als die Thätigkeit des Auffodernden (sic) […].“ (GBKGA, 169f.) Vgl. Friedrich Schleiermacher: Vermischte Gedanken und Einfälle (Gedanken I), KGA I/2, Berlin/New York 1984, 34, Nr. 147. Im Folgenden zitiert mit „GIKGA“. Vgl. auch GIKGA, 34, Nr. 146: „Wechselwirkung ist nur da wo jede Thätigkeit des einen Wirkung des andern ist. Also auch die Thaetigkeit des Hörers während des Hörens; er muß also bloß vernehmen – nun aber soll seine Thaetigkeit eine freie Entwicklung seiner Humanität seyn: ich muß ihn also in den Zustand versezen daß er nicht anders kann als vernehmen, und auch in den daß er nichts anders will als vernehmen.“ Vgl. auch GIKGA, 34, Nr. 148: „Das Reden selbst muß aber schon eine Wirkung des Hörenden seyn, dies ist freilich nur divinatorisch möglich nemlich so daß er es gleich als seine Wirkung adoptirt.“ Eine ähnliche Wechselwirkung, eine Symbiose von aktivem und passivem Part, beschreibt Schleiermacher später in den ‚Reden‘ als inniges Verhältnis zwischen Prediger und Gemeinde, aber auch in der Liebe und Freundschaft sind Formen des Miteinanders, in denen Wechselwirkung annäherungsweise realisiert wird. MoKGA, 10.
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sondern als Modell realisierter gesellschaftlicher Freiheit ein ethisches Ideal schlechthin formuliert. Der „Materie“ oder dem Inhalt nach besteht die freie Geselligkeit in einem freien Spiel der intellektuellen Kräfte, also sowohl der symbolisierenden als auch der organisierenden Tätigkeiten. Im geselligen Zusammensein werden Handlungen, Gedanken und Gefühle angespielt, ausgetauscht ohne auf ein gemeinsames Ziel oder auf Wissen hin zu51 sammenfinden zu müssen. Indem in der freien Geselligkeit die Möglichkeit der Konfrontation verschiedener Intentionen oder eines wissenschaftlichen Konfliktes von vorneherein auf ein Minimum reduziert ist, wird sie zu einem optimalen Ort der Realisierung „vollendeter Wechselwirkung“. Die politische oder gesellschaftliche Bedeutung dieses „Ortes“ wird in dem ‚Versuch einer Theorie des geselligen Betragens‘ selbst nicht umrissen. Indem sie idealerweise Schichten, Klassen, Geschlechter, Religionen und Nationalitäten mischt, übernimmt sie eine einigende Funktion und fungiert zugleich, das führt Schmolze aus, als eine Art kreative-oppositionelle Ideenschmiede sowohl für ethische als auch für wissen52 schaftliche Konflikte. Da in ihr Wechselwirkung annäherungsweise realisiert und somit auch (ohne Risiko, die eigenen Interessen zu verlieren) einstudiert werden kann, kann man in ihr einen Ort der Erziehung, eine Art „Gewächshaus“ ethischen Miteinanders sehen. Im Gegensatz zum freien Spiel in der „reinen“ Kunsttätigkeit führt in diesem freien Spiel der intellektuellen Tätigkeiten auch nicht der Anspruch nach Vollkommenheit Regie. Es gibt keine individuelle innere Stimmung, für die die Gesellschaft zum vollkommenen Kunstausdruck 53 wird.
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Die in freier Geselligkeit zusammen kommenden Menschen bezeichnet Schleiermacher aus diesem Grunde auch als Gesellschaft im Gegensatz zu der ein gemeinsames Ziel oder Interesse verfolgenden Gemeinschaft der Menschen (vgl. GBKGA, 169). Vgl. Gerhard Schmolze: ‚Freie Geselligkeit‘. Ein unausgearbeitetes Kapitel der Ethik Schleiermachers, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 16 (1971), 248 u. 252. Dies kann man sich natürlich auch vorstellen, d.h. man kann sich vorstellen, dass ein Raum freier Geselligkeit zur Kunst erklärt und den inneren Regeln der Vollkommenheit entsprechend das freie Spiel „gemaßregelt“ wird. Als Beispiel für einen Fall, in dem eine gesellschaftlicher Raum als „soziale Plastik“ selbst zum Medium künstlerischer Gestaltung wird, könnte Josef Beuys Ansatz der sozialen Plastik, beispielsweise sein Beitrag zur „documenta 5“ gelten, auch wenn dieser Vergleich über die Jahrhunderte weg und vor dem Hintergrund eines stark gewandelten Kunstbegriffs natürlich hinken muss. Als Beitrag zur documenta 5 von 1972 richtete Beuys für die 100 Tage der Ausstellungsdauer ein Informationsbüro für seine mit Johannes Stüttgen ein Jahr zuvor gegründete politische „Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ ein. In diesem Informationsbüro diskutierte Beuys mit den Besuchern über die Idee einer direkten Demokratie. Neben der konkreten Diskussion integrierte
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Dies bedeutet jedoch nicht, dass es in diesem freien Spiel keine Regeln gäbe. Schleiermacher ist sich sehr wohl bewusst, dass dieser gesellschaftliche Zustand eben nur ein Vorzustand ist. Aus diesem Grunde führt er auch weder den formalen Aspekt (die freie Geselligkeit ist vollendete Wechselwirkung) noch den inhaltlichen (die freie Geselligkeit ist freies Spiel) aus, sondern den quantitativen Aspekt, in dem es 54 um die „Bedingungen der Anwendbarkeit“ geht. Dieser quantitative Aspekt ist es jedoch, der auf die Anwendbarkeit reflektiert und sich damit auseinandersetzt, wie dieser scheinbar perfekte Endzustand der „vollendeten Wechselwirkung“ unter den inhaltlichen Bedingungen des freien Spiels realisiert werden kann. Das quantitative Gesetz der freien Geselligkeit reflektiert auf das wechselseitige Verhältnis zwischen Gesellschaft und Gesellschaftsmitglied, darauf, dass jede freie Geselligkeit sich nur in einer konkreten Gesellschaft verwirklichen kann. Die Art und Weise, wie Menschen einander anregen und miteinander in Beziehung treten können, ist unendlich mannigfaltig. Jede Gesellschaft als eigentümliche Zusammensetzung verschiedener Individuen hat jedoch einen ganz eigenen Charakter, sie stellt einen bestimmten Ausschnitt der unendlichen Möglichkeiten menschlicher Konversationsthemen und -formen dar, sie ist wie 55 ihre Mitglieder selbst ein Individuum. Damit sich die Bildung zur Individualität der einzelnen Menschen nicht in die Quere kommen und das freie Spiel der vernünftigen Tätigkeiten innerhalb einer bestimmten Gesellschaft aufrecht erhalten werden kann, entwirft Schleiermacher Maximen der freien Geselligkeit. Das gesellige Verhalten, das nicht der wechselseitigen Bildung, sondern der wechselseitigen Beschränkung von Individuum und Gesellschaft Rechnung tragen soll und zu einer immer wieder neu zu findenden Balance zwischen individuellem Charakter des Einzelnen und Individuellem Charakter der Gesellschaft auffordert, bezeichnet Schleiermacher als 56 Schicklichkeit: „deine gesellige Thätigkeit soll sich immer innerhalb der Schranken halten, in denen allein eine bestimmte Gesellschaft als
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Beuys jedoch auch Elemente und Ausdrucksformen, die im politischen Diskurs nicht zu finden sind, wie das Turnen auf einem Barren. Das Informationsbüro, das einer real existierenden politischen Organisation zugehört, ist „als Kunstwerk“ im Rahmen der weltweit größten Ausstellung für zeitgenössische Kunst ausgestellt, der politische Diskussionsraum ist zugleich ästhetischer Raum, der der Inszenierung des Künstlers unterliegt. Vgl. GBKGA, 170. Vgl. ebd. Einen ganz ähnlichen Begriff wie den der Schicklichkeit formuliert Schleiermacher mit dem Begriff der „Schamhaftigkeit“ in der Schrift ‚Vertraute Briefe zu Schlegels Lucinde‘ von 1800. Auch hier geht es um die Anerkennung der Andersartigkeit als Verhaltensregel zur Realisierung von vollendeter Wechselwirkung (in der Liebe).
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ein Ganzes bestehen kann“. Diese Formel ist eine Maxime, für deren Umsetzung es keine Regel geben kann. „Der Begrif des Schiklichen muß 58 jedesmal aufs neue producirt werden“, formuliert Schleiermacher in einem Notat seiner Notizensammlung von 1798–1801, die er zum Teil für die Schrift ‚Versuch einer Theorie des geselligen Betragens‘ auswertete. Eine weitere Verhaltensform, die dem Erhalt des freien Spiels in der Geselligkeit zuspielen soll, Konfrontationen vermeiden und eine Art Katalysatorfunktion hin zur formalen freien Wechselwirkung einnimmt, 59 ist die Ironie. Im Gegensatz zu Friedrich Schlegel, der der Ironie eine zentrale erkenntnistheoretische Funktion zuspricht und einen sehr komplexen Ironiebegriff entwirft, kommt Schleiermacher in seinen Frühschriften aber auch in seinen späteren philosophischen Vorlesungen kaum auf Ironie zu sprechen. An den Stellen wo er es tut, wie in dem ‚Versuch einer Theorie des geselligen Betragens‘ und ebenso in den Notizen der Sammlung ‚Gedanken I‘, geht es weniger um eine Aufhebung in einer unendlich ironischen Bewegung, die für Schlegel wie allseits bekannt eben auch ein zentrales Moment in der Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft einnimmt. Ironie ist ein einfacher Begriff, 60 wird auf gleicher Höhe mit Witz und Spaß verwendet, und ist eher vom Ethischen oder Zwischenmenschlichen aus gedacht. Ironie und Scherz sind Mittel, um dem Gegenüber wieder Platz einzuräumen und jene aktiv-passive Balance (wieder) herzustellen.
6. Große und kleine Gesellschaften Diese Gesellschaft der freien Geselligkeit kann man sich nun – auch nach Schleiermacher – vergrößert und verkleinert vorstellen. Vergrößert bedeutet dies nicht die freie Geselligkeit von Individuen, sondern von Gemeinschaften oder Gesellschaften. Verkleinert ist sie die freie Geselligkeit einer Person mit sich selbst oder das, was Schleiermacher im Notat 97 des Notizheftes ‚Gedanken I‘ auch als „innere Geselligkeit“ be61 zeichnet. Die vergrößerte Form der Geselligkeit ist dabei politisch be57 58 59 60 61
GBKGA, 171. GIKGA, 38, Nr. 166. Vgl. GBKGA, 182. Vgl. auch GIKGA, 36, Nr. 158 : „Um das Hören thätig zu machen wird schlechterdings Wiz erfordert, in so üblem Credit er auch steht.“ Der Begriff der „inneren“ Geselligkeit mit sich selbst, wird in der Ethik von 1812/13 noch einmal aufgenommen, erhält dort aber nur eine kurze Bemerkung, wie einen Gedanken, den man festhält, um ihn später noch einmal aufzunehmen (vgl. EthBI, 80).
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sonders interessant, wenn sie, wie Schleiermacher das in der Ethikvorlesung von 1812/13 tut, auch als Geselligkeit zwischen „Volksstäm62 men“ bzw. Staaten verstanden wird. Die verkleinerte Form als geistiger Zustand, der die Bildung der Individualität im Denken fördert, ohne das Denken unter ein externes Ziel zu stellen, ist hingegen eher von erkenntnistheoretischer Bedeutung. Das, was sich im Inneren eines Individuums zur freien Geselligkeit trifft, sind vor allem Gedanken und Gefühle, also symbolische Tätigkeiten und es liegt nahe, sie mit dem zu identifizieren, was Schleiermacher in der Einleitung zur ‚Dialektik‘ von 1833 als künstlerisches Denken bezeichnet. Betrachten wir dieses künstlerische Denken noch einmal vor dem Hintergrund der Ausführungen, wie sie der ‚Versuch einer Theorie des geselligen Betragens‘ gibt und übertragen diese auf die verkleinerte Form der inneren freien Geselligkeit. Die innere Geselligkeit ist ein Zustand, der sich offen zeigt für jede symbolische Tätigkeit und verfolgt ausdrücklich keinen äußeren Zweck. Ein äußerer Zweck in diesem Zusammenhang des inneren Raumes könnte darin bestehen, eine Haltung oder Handlung zu untermauern (ich sammele mich, um eine Entscheidung zu treffen oder eine bereits getroffene Entscheidung zu stärken). Das freie Spiel der inneren Geselligkeit ist aber genauso wenig wie auf einen äußeren Zweck darauf aus, ein Wissen zu produzieren (ich sammele mich, sortiere, hierarchisiere und vermittle meine Gedanken auf ein Wissen hin). Die innere Geselligkeit findet weder im Modus des ethischen Abwägens noch des erkenntnistheoretischen Streites und genauso wenig in der Suche nach ästhetischer Vollendung statt. Zu diesem Raum innerer Geselligkeit gibt es keinerlei „Zugangsbegrenzung“ und es mischen sich Gedanken und Gefühle, egal aus welchem Bereich sie stammen, welchem „Genre“ sie angehören, was für einen thematischen Kontext sie evozieren oder auf welche Art sie entstanden sind. Unbeachtet also, ob es sich um Gedanken oder Gefühle handelt, ob sie aus dem Bereich der Naturwissenschaft, der Kunst oder der Philosophie kommen, ob sie aus meinem privaten oder nationalen emotionalen Haushalt stammen, egal, ob sie humoristischer oder wissenschaftlicher Art sind, ob ich sie aus einem Regenbogenblatt, einer 62
EthBI, 33, § 68. Wie diese Geselligkeit zwischen Volksstämmen oder Staaten aussehen kann, in welcher (personalen) Form ein Staat überhaupt gesellig werden kann, lässt sich natürlich nicht so einfach beantworten. Ich denke, dass beispielsweise internationale Fußballturniere oder Weltausstellungen in gewisser Hinsicht als Orte internationaler „freier Geselligkeit“ betrachtet werden können, auch wenn sie natürlich unter festgelegten (Spiel-)regeln stehen oder einer festgelegten Ausstellungslogik folgen.
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Fachzeitschrift bezogen habe oder ob ich sie vom Hörensagen im Kopf habe; die innere Geselligkeit versperrt keinem neu ankommenden Gedanken und Gefühl den Zutritt. Es gibt keine „logische Gesichtskontrolle“, die einzigen Regeln des freien Spiels, zielen darauf ab, dass das freie Spiel in Gang bleibt und jeder der „Anwesenden“ in wechselseitiger Anregung zum Zuge kommt. Ziel ist die „vollendete Wechselwirkung“ als einer passiv-aktiv Balance, einer Balance zwischen dem individuellen Charakter des einzelnen Gedankens oder Gefühls und des individuellem Charakter der inneren Gesellschaft. Auch hier könnte man die „Bedingungen der Anwendbarkeit“ (quantitativer Aspekt) in Form von Maximen und Haltungen anführen, die Schleiermacher in Bezug auf die intersubjektive Geselligkeit entwirft: Schicklichkeit, Witz, Scherz und Ironie. Wie soll man den Ertrag einer solchen inneren Geselligkeit beschreiben? Das freie Spiel der Gedanken, das wurde schon gesagt, hat eine konstitutive Funktion im Wissensprozess, denn das Wissen fängt aus der Mitte an. Es gibt keine von unten aufsteigende oder von oben herabkommende stetige Entwicklung des Denkens, es gibt Lücken und Brüche, die nur durch freie Entwürfe überwunden werden können. Im Vergleich mit der intersubjektiven freien Geselligkeit wird hier jedoch klar, dass diese Phantasie als innere Geselligkeit kein Zufallsgenerator ist, der Ideen ausschleudert, die dann vom Denken aufgegriffen und auf ihre Tauglichkeit geprüft werden, sondern dass im freien Spiel der Gedanken bereits erkenntnistheoretische Arbeit geleistet wird. Die innere Geselligkeit ist eine Art „Gewächshaus“ indem sich die symbolischen Tätigkeiten sich wechselseitig aneinander bilden. Denn sie stehen nicht nur nebeneinander herum wie auf einer Stehparty, sondern sie treten – auf logische und unlogische Weise miteinander in Beziehung und konturieren sich wechselseitig ohne offen miteinander im Streit zu sein. Eine Idee oder ein Entwurf ist daher umso „reifer“ könnte man formulieren, je länger er in dieser inneren Geselligkeit verbracht hat. Die Funktion des künstlerischen Denkens für das „reine“ Denken besteht darin, die in innerer Geselligkeit gereiften oder gebildeten Entwürfe dem Streitgespräch zur Verfügung zu stellen. Der erkenntnistheoretische Modus des künstlerischen Denkens ist der der Bildung.
7. Anmerkungen zu einer systematischen Auseinandersetzung mit den Mittelzuständen Wollte man mit Schleiermacher eine „Theorie der Mittelzustände“ schreiben – was ich für ein spannendes und ebenso wichtiges Unternehmen halte – so müsste man sich mit den Grenzbereichen zwischen Han-
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deln und Denken und Handeln und Kunstschaffen beschäftigt und dabei nicht nur jene von Schleiermacher explizit als Mischformen gekennzeichneten Tätigkeiten im Auge haben. Sondern man müsste darüber hinaus auch jene Mischformen im Schleiermacherschen Text aufsuchen, die er – wie m. E. beispielsweise die Kunstkritik – nicht als Mischformen kennzeichnen, sich gleichwohl aber als solche deuten ließen. Vernunft besteht für Schleiermacher in vernünftiger Tätigkeit, Philosophie kann immer nur als Philosophieren thematisiert werden. Die Dynamik dieses unendlichen Prozesses wird von ihm als Wechselwirkung beschrieben. Sowohl auf die transzendentale Begründung dieser Wechselwirkung als auch die konkrete Analyse ihrer Architektur legt Schleiermacher das Hauptgewicht in seinen philosophischen Schriften. Weit weniger über das Was dieser Wechselwirkung und die Architektur ihrer Struktur erfahren wir jedoch darüber wie sie im Einzelnen vor sich geht. Dies entspricht keinem Vorsatz, ging es Schleiermacher doch explizit darum, diesem Prozess der Wechselwirkung „Regeln“ zu geben und einen technischen Teil zu schreiben, der uns eine Orientierung, ein bewusstes Sich-Verhalten in diesem Prozess ermöglicht. Eine Untersuchung der Mischzustände wäre daher für das Schleiermachersche Denken selbst aufschlussreich. Denn sie sind diejenigen Elemente, die Auskunft über das Wie der Wechselwirkung geben, sind sie doch auf der Grenze selbst angesiedelt. Bei näherer Untersuchung der Mittelzustände wie des künstlerischen Denkens oder der Kunstkritik wird sich m.E. darüber hinaus zeigen, dass sie nicht nur den Grenzverkehr beschreiben, indem sie von der „reinen Tätigkeit“ abweichen, sondern innerhalb der „reinen“ Tätigkeiten eine konstitutive Funktion übernehmen. Die Frage nach dem Wie führt somit wiederum zum Was, indem die Mittelzustände Bausteine der transzententalen Begründung von Wechselwirkung werden. Eine Betrachtung der Mittelzustände erscheint aber auch jenseits einer Schleiermacher internen Argumentation nicht uninteressant, weil aktuell. Denn die „ethischen Formen“ – Gesellschaft, Staat, Religion, Wissenschaft Kunst und Kirche – haben sich seit der Romantik kontinuierlich ausdifferenziert bis hin zu unserer Gegenwart, in der hybride Zustände und ein Grenzgang zwischen den einzelnen vernünftigen Tätigkeiten und „ethischen Formen“ die Regel geworden sind. Eine Definition der Mittelzustände könnte dazu beitragen, ein Instrumentarium für die Analyse solcher Mischformen bereitzustellen. Betreibt man diese Untersuchung der Mittelzustände bei Schleiermacher systematisch, so wird man immer wieder auf ein Problem stoßen, auf das ich zum Schluss meiner Betrachtung hinweisen möchte und dass sozusagen quer zu der Wechselwirkungen von Kunst und Wissenschaft und Kunst und Gesellschaft liegt. Die Kunsttätigkeit ist
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eine medial viel weiter angelegte Ausdrucksform als die des Denkens. Sie umfasst die performativen Formen des Ausdrucks (Musik und Mimik) ebenso wie die Sprache und das Visuelle. Soll nicht nur Kunst an den Rändern diskursiver Erkenntnis in den Streit einbezogen werden, sondern eben auch solche Mittelzustände zwischen Kunst und Wissen Teil eines umfassenden Wissensstreites werden, dann stellt sich die Frage, wie man von einem Medium ins andere übersetzen kann. Fragen der Intermedialität werden bei Schleiermacher nicht ausgeblendet aber ihnen wird sicherlich ein zu geringer Stellenwert zugesprochen. Dies spiegelt sich auch in der Sekundärliteratur wieder. Eine systematische Auseinandersetzung mit den Mittelzuständen käme an einer grundlegenden Untersuchung der Intermedialitätsthematik bei Schleiermacher nicht vorbei.
Das Verhältnis von Hermeneutik und Dialektik im Denken Schleiermachers VON ANDREAS ARNDT/BERLIN
Wer es unternimmt, das Verhältnis von Hermeneutik und Dialektik bei Schleiermacher zu bestimmen, kommt an einer Auseinandersetzung mit der Rezeptionsgeschichte dieser Disziplinen nicht vorbei. Beginnend mit Wilhelm Dilthey1 wurde die Dialektik als Gestalt einer nicht mehr restituierbaren Metaphysik abgewertet und weitgehend ausgeblendet. Im Gegenzug wurde die Hermeneutik von einer technischen zu einer Fundamentaldisziplin erhoben. Zurecht spricht Gunter Scholtz angesichts dieser Umkehrung von einer „fast groteske[n] Verzerrung“2 der Schleiermacherschen Intentionen. Hans-Georg Gadamer dagegen sieht in Schleiermacher „den Urheber einer Wirkungsgeschichte“, in der „das hermeneutische Problem verengt“ worden sei.3 Verantwortlich hierfür sei, so Gadamer, die Zugrundelegung einer „ästhetischen Metaphysik der Individualität“,4 durch welche „die Hermeneutik zu einer von allen
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Vgl. Wilhelm Diltheys Preisschrift zur Hermeneutik von 1860, in: ders.: Leben Schleiermachers, Bd.2, hg. v. M. Redeker, Göttingen 1966, 595–787; ders.: Die Entstehung der Hermeneutik, in: Gesammelte Schriften, Bd.5, 317–338. Dilthey hat die Hermeneutik in seiner Philosophie der Geisteswissenschaften im Rahmen einer an Hegel orientierten Theorie des objektiven Geistes zur Wirkung gebracht, die sich darüber hinaus v.a. auf Schleiermachers Ethik stützte, der bereits seine Dissertation von 1863/64 gewidmet war. Diese Einbettung in einen ihr fremden und Engführung ihres eigenen Kontextes hat die Rezeption der Schleiermacherschen Hermeneutik im Anschluß an Dilthey mitgeprägt. Seine ausführliche Darlegung der Hermeneutik selbst und ihrer geschichtlichen Stellung in der Preisschrift wurde vollständig erst 1966 zugänglich. Schleiermachers Dialektik dagegen, mit deren Durchdringung sich Dilthey zeitlebens schwer tat (vgl. den Briefwechsel 1877–1897 zwischen Dilthey und Paul Graf Yorck von Wartenburg, Halle 1923), wurde von ihm weitgehend umgangen; die voluminösen, gleichwohl fragmentarischen und insgesamt über ein Referat kaum hinausgehenden Aufzeichnungen hierzu erschienen gleichfalls erst 1966 im zweiten Band des ‚Leben Schleiermachers‘, a.a.O., 65–227. Gunter Scholtz: Grundlegung der Geisteswissenschaften, in: Ethik und Hermeneutik, Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. 1995, 86. Hans-Georg Gadamer: Versuch einer Selbstkritik (1985), in: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 2 Bde., Tübingen 61990, Bd.2, 15. Ebd., Bd.1, 193.
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Inhalten abgelösten Methode verselbständigt“ werde.5 Diese Ablösung ist indessen das Ergebnis einer Herauslösung der Hermeneutik aus dem spekulativen Zusammenhang des Wissens, in dem sie bei Schleiermacher stand. Diesen Zusammenhang wieder in den Blick zu bekommen, möchte ich im folgenden in drei Schritten versuchen. Ich frage zunächst nach dem systematischen Ort beider Disziplinen (1), sodann nach Schleiermachers Bestimmung ihrer Berührungspunkte (2) und schließlich nach dem Verhältnis von Sprache und Denken überhaupt bei Schleiermacher (3).
1. In der Forschung ist unstrittig, daß Schleiermacher die Hermeneutik als eine technische Disziplin bestimmt hat.6 Die technischen Disziplinen sind der spekulativen Grundwissenschaft, der Dialektik, sowie den spekulativen Realwissenschaften, der Ethik und Physik (d.h. Naturphilosophie), nachgeordnet. Ihre Aufgabe ist es, die Behandlung der „besondere[n] Gegensäze und besondere[n] Naturbedingungen“ zu klären, in die der sittlich handelnde Einzelne gestellt ist.7 Das „regelgebende oder technische Verfahren“ ist demnach für Schleiermacher „die praktische Beziehung des Beschaulichen und Erfahrungsmäßigen auf einander“, also des Spekulativen und Empirischen, „und liegt außer der Wissenschaft überhaupt auf der Seite der Kunst.8 Kunst meint hier techne, die praktische Fertigkeit, etwas unter gegebenen, raumzeitlichen Bedingungen zu realisieren. Insofern ist die Hermeneutik für Schleiermacher „Kunst des Verstehens“9 und auch das Auslegen selbst ist „Kunst“,10 5
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Ebd., 198. – Zur Kritik der Gadamerschen Interpretation vgl. – mit Hinweis auf weitere Literatur – Andreas Arndt: Schleiermachers Hermeneutik im Horizont Gadamers, in: Gadamer verstehen / Understanding Gadamer, hg. v. Mirko Wischke und Michael Hofer, Darmstadt 2003, 157–168. Vgl. Friedrich Schleiermacher: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, nach den Handschriften Schleiermachers, hg. v. Otto Braun, Leipzig2 1927, in: Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd.2; im folgenden ‚Ethik‘, 356, §189 (Ethik 1812/13): „Von Seiten der Sprache angesehen entsteht aber die technische Disciplin der Hermeneutik daraus, daß jede Rede nur als objective Darstellung gelten kann, inwiefern sie aus der Sprache genommen und aus ihr zu begreifen ist, daß sie aber auf der anderen Seite nur entstehen kann als Action eines Einzelnen, und als solche, wenn sie auch ihrem Gehalte nach analytisch ist, doch von ihren minder wesentlichen Elementen aus freie Synthesis in sich trägt. Die Ausgleichung beider Momente macht das Verstehen und Auslegen zur Kunst.“ Ebd., 252, 59. Ebd., 550, §109 (Ethik 1816). Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt/M. 1977, 75.
Das Verhältnis von Hermeneutik und Dialektik
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nämlich die Fertigkeit, eine besondere Rede oder Schrift nach Regeln zu behandeln. Hierdurch wird das Nichtverstehen – und nach Schleiermacher verstehe ich nichts, „was ich nicht als nothwendig einsehe und construiren kann“11 – in ein Verstehen übergeführt und dadurch der Vernunft zugänglich gemacht. Mit anderen Worten: die Hermeneutik erschließt die Rede oder Schrift für die Vernunft, beurteilt sie aber nicht nach ihrem Vernunftgehalt. Ausdrücklich haben es die technischen Disziplinen nicht damit zu tun, „wie sich die einzelnen Erscheinungen als Darstellungen der Idee sowol dem Grade als der eigenthümlichen Beschränktheit nach verhalten“,12 dies ist vielmehr Aufgabe der kritischen Disziplinen im Unterschied zu den technischen. Für die Hermeneutik folgt hieraus, daß sie in der Tat die Gehalte der Rede oder Schrift nicht nach dem Grad ihrer Vernünftigkeit beurteilt. In dieser Hinsicht hat Gadamer Recht, wenn er Schleiermachers Hermeneutik als von den Inhalten abgelöste Methode bezeichnet. Seine hierauf basierende Kritik an der „romantischen Hermeneutik“ ist dennoch falsch, weil die Hermeneutik für Schleiermacher eben keine Fundamentaldisziplin ist. Als technische Disziplin ist sie schon immer Moment eines Ganzen von Disziplinen, die sie voraussetzt und denen gegenüber sie nicht verselbständigt werden kann. Was Gadamer an der Hermeneutik vermißt und was sie in der Tat als technische Disziplin nicht leistet, leisten andere Disziplinen, zu denen sie als integraler Teil des Systems der Wissenschaften in einer inneren Beziehung steht. Daß sie nicht gegenüber dem Ganzen der Wissenschaften verselbständigt werden darf, gilt auch für diejenige Disziplin, welche es mit den Prinzipien des Philosophierens zu tun hat, nämlich für die Dialektik. Die Verbindung von Philosophie und Leben, von Idealismus und Realismus,13 die Schleiermacher zeitlebens verfolgte, hatte ihn zunächst daran zweifeln lassen, ob eine philosophische Prinzipienlehre bzw.
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Ebd., 80. Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik, hg. v. Heinz Kimmerle, Heidelberg 1959, 31 (Aphorismen 1805). Schleiermacher: Sittenlehre, a.a.O. a.a.O. (Anm.6), 252 (Ethik 1812/13). „Die Vereinigung des Idealismus und Realismus ist das, worauf mein ganzes Streben gerichtet ist, und ich habe darauf nach Vermögen hingedeutet in den Reden sowohl als in den Monologen […] Man kann innerhalb des Idealismus […] nicht stärker entgegengesetzt sein als er [Fichte] und ich. […] Bei dieser großen Verschiedenheit hat es mir immer für die Philosophie leid getan, daß auch vertrautere Schüler von Fichte das Meinige für das Seinige halten konnten […] Indes ist doch der Hauptpunkt unserer Verschiedenheit, daß ich nämlich die von Fichte so oft festgestellte und so dringend postulierte gänzliche Trennung des Lebens vom Philosophieren nicht anerkenne, auch im ersten Monologen schon stark genug angedeutet“ (an F.H.C. Schwarz, 28.3.1801; KGA V/5, 73–76).
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„oberste Wissenschaft“ als selbständige Disziplin überhaupt hervortreten solle und könne.14 In seinem Hallenser ‚Brouillon zur Ethik‘ (1805/06) wendet Schleiermacher sich daher entschieden gegen „die gewöhnlichen Formeln der Transscendental-Philosophie, die ein allgemeines objectives Wissen abstrahirt von aller Individualität sezen will“.15 Die Dialektik, die seit 1811 den Platz der obersten Wissenschaft oder der Prinzipienlehre des Wissens einnimmt, konzipiert Schleiermacher daher auch bewußt als Kunstlehre, welche das Verfahren der Produktion eines realen Wissens zum Gegenstand hat.16 Die Dialektik hat in dieser Hinsicht eine zweifache Bestimmung. Sie ist „1.) Organon des Wissens d.h. Siz aller Formeln seiner Construction“; und sie ist „2.) Mittel sich über jedes Einzelne als Wissen gegebene zu orientieren durch Anknüpfung an die zur Klarheit gebrachten lezten Principien alles Wissens“.17 Die erste Bestimmung wird dadurch erfüllt, daß die Dialektik, ausgehend von den transzendentalen Voraussetzungen des Wissens, in einem zweiten, technischen Teil das werdende Wissen als Konstruktion des Zusammenhangs des Wissens behandelt. Die zweite Bestimmung wird dadurch erfüllt, daß in dieser Konstruktion das einzelne Wissen auf das Ganze des Wissens und somit auf die Idee des Wissens bezogen wird. Hieran schließt sich ein begleitendes kritisches Verfahren an, welches, wie Schleiermacher sich ausdrückt, das Individuelle in einen Begriff konstruiert18 und sich auf die empirische, geschichtliche Dimension des Wissens als das unentbehrliche „Supplement der reinen Wissenschaft“19 bezieht. Die Beziehung der Dialektik auf die Hermeneutik erfolgt, wie noch näher zu erörtern sein wird, im Rahmen der dialektischen Kritik. Wenn Schleiermacher betont, das kritische Verfahren sei nur ein begleitendes, so hebt er jedoch darauf ab, daß es die Dialektik eigentlich mit der Überwindung der Differenzen zur Einheit der Vernunft zu tun hat; die
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Vgl. Andreas Arndt: Schleiermachers Philosophie im Kontext idealistischer Systemprogramme. Anmerkungen zur Systemkonzeption in Schleiermachers Vorlesungen zur philosophischen Ethik 1807/08, in: Archivio di filosofia 52 (1984), 103–121. Schleiermacher: Ethik, a.a.O. (Anm.6), 175. Vgl. Friedrich Schleiermacher: Vorlesungen über die Dialektik, hg. v. Andreas Arndt, Berlin und New York 2002 (KGA II/10/1), 81, §45, wonach die Dialektik „Kunst des Gedankenwechsels von einer Differenz des Denkens aus […] bis zu einer Uebereinstimmung“ ist. Im weitesten Sinne ist jedes reale Wissen „ein Kunstwerk in so fern die beiden philosophischen Elemente [Formal- und Transzendentalphilosophie, Verf.] als ein allgemeines in einem einzelnen Denkact dargestellt werden.“ (Ebd., 81, §45) KGA II/10/1, 82, §§51 b.52. KGA II/10/1, 180, 47. KGA II/10/2, 635 (Kolleg 1822, Nachschrift Kropatscheck).
Das Verhältnis von Hermeneutik und Dialektik
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Individualität erscheint hier als Relativität bzw. Irrationalität.20 Die philosophischen Realwissenschaften – wie die Ethik – sowie die kritischen und technischen Disziplinen haben es dagegen mit den Darstellungen der Vernunft Individuellen sowie den Darstellungen der Vernunft durch die Individuen zu tun. Für die Hermeneutik bedeutet dies zweierlei. Zunächst: sie operiert unter den in der Ethik thematisierten Voraussetzungen der Individualität, indem sie individuelle Äußerungen in Rede oder Schrift dem Verstehen und damit einer kritischen Beurteilung ihres Vernunftgehalts zugänglich macht. Zweitens: die Hermeneutik bezieht sich demgemäß nicht auf die Dialektik als Prinzipienlehre, sondern auf ein das technische Verfahren der Konstruktion des Wissen begleitendes kritisches Verfahren. Für die Dialektik bedeutet dies umgekehrt, daß sie die Hermeneutik weder prinzipientheoretisch begründet noch hermeneutische Verfahren als Bestandteil der dialektischen Konstruktion entwickelt. Diese Thesen möchte ich nun in einem zweiten Schritt anhand der ausdrücklichen Bezugnahmen der Hermeneutik und Dialektik aufeinander näher entwickeln.
2. Am Ende der Theorie der Begriffsbildung im zweiten, technischen Teil der Dialektik behandelt Schleiermacher das Problem, wie die Relativität bzw. Irrationalität der Einzelnen im Blick auf die Einheit der Vernunft überwunden werden könne. „Die Irrationalität der Einzelnen kann nur ausgeglichen werden durch die Einheit der Sprache, und die Irrationalität der Sprache nur durch die Einheit der Vernunft.“21 Wie jeder Einzelne „mit seinem Denken in der Sprache aufgeht“, so gehen auch „die Operationen aller Sprachen auf in denselben Combinationsgesezen und stehen unter selben Regeln.“ Zu diesem Verfahren bemerkt Schleiermacher abschließend: „Auf jeden Fall ist hier die Abhängigkeit der Dialektik von der Hermeneutik, die aber auch wieder von jener abhängig ist.“ Von Seiten der Hermeneutik wird das „Verhältniß zur Dialektik“ dadurch bestimmt, daß das Reden die äußere Seite des Denkens ist, nämlich „Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens“.22 Dieses Verhältnis wird in der Hermeneutik ebenfalls als Abhängigkeit
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KGA II/10/1, 190, 74; Schleiermacher schwankt hier zunächst zwischen den Ausdrücken „Irrationalität“ und „Relativität“. Ebd. (auch die folgenden Zitate). Schleiermacher: Hermeneutik, hg. v. Heinz Kimmerle, a.a.O. (Anm.11), 80 (Manuskript 1819).
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bestimmt: „Die Abhängigkeit darin daß alles Werden des Wissens von beiden [Hermeneutik und Rhetorik, Verf.] abhängig ist.“23 Eine Randbemerkung von 1828 präzisiert im Blick auf Hermeneutik, Kritik und Grammatik: „da es nicht nur keine Mittheilung des Wissens, sondern auch kein Festhalten giebt ohne diese drei und zugleich alles richtige Denken auf richtiges Sprechen ausgeht so sind auch alle drei mit der Dialektik genau verbunden.“24 Die Hermeneutik stellt für Schleiermacher ein notwendiges Mittel dar, die Gemeinschaftlichkeit des Denkens hervorzubringen und hat in dieser Hinsicht die gleiche Tendenz wie die Dialektik, die auf die Einheit des Wissens zielt. Eine Abhängigkeit der Dialektik von der Hermeneutik besteht hier insofern, als die Dialektik voraussetzt, daß die Hermeneutik die Relativität der individuellen Rede zur Einheit der Sprache ausgleichen und sie damit der Vernunft zugänglich machen kann. Daß die Dialektik dies voraussetzt, heißt jedoch zugleich, daß die hermeneutischen Verfahrensweisen nicht Bestandteil des dialektischen Verfahrens selbst sind. Umgekehrt setzt die Hermeneutik die Dialektik in gleicher Weise voraus und ist von ihr abhängig, wenn die Dialektik ihr die Idee des Wissens vorgibt, die das objektive telos auch der hermeneutischen Verfahren bildet und nach der die von der Hermeneutik der Vernunft zugänglich gemachte Rede zu beurteilen ist. Die wechselseitige Abhängigkeit der Hermeneutik und Dialektik voneinander bedeutet also nicht, daß beide (gleichberechtigte) Pole als „Fundamentallehren von der Wirklichkeit des menschlichen Seins“ seien, wie Rudolf Odebrecht dies behauptet hat.25 Ihr Verhältnis ist vielmehr als arbeitsteilig innerhalb einer klaren Hierarchie der Disziplinen zu bestimmen, einer Hierarchie, bei der die Dialektik an der Spitze steht. Andernfalls wäre auch nicht zu erklären, weshalb Schleiermacher die Hermeneutik oder „Auslegungskunst“ nur in seinem Manuskript von 1814/15 und, allen überlieferten Nachschriften zufolge, nur in den
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Ebd., 80. Ebd. – Eine weitere, systematisch wenig ergiebige Bezugnahme auf die Dialektik findet sich sonst nur noch in Schleiermachers Notizen zum Hermeneutik-Kolleg von 1832 (ebd., 159). Der genaue Punkt dieser Verbindung wird in einer von Lücke mitgeteilten Vorlesungsnachschrift von 1832 erläutert: „Betrachten wir nun das Denken im Akte der Mittheilung durch die Sprache, welche eben die Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens ist, so hat dieß keine andere Tendenz als das Wissen als ein allen gemeinsames hervorzubringen. So ergiebt sich das gemeinsame Verhältniß der Grammatik und Hermeneutik zur Dialektik, als der Wissenschaft von der Einheit des Wissens.“ (Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament, hg. v. Friedrich Lücke, Berlin 1838, HL, 11). Einleitung des Herausgebers, in: Schleiermacher: Dialektik, hg. v. Rudolf Odebrecht, Leipzig 1942 (Reprint Darmstadt 1976), XXIII.
Das Verhältnis von Hermeneutik und Dialektik
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Vorlesungen ausdrücklich erwähnt hat;26 ein Befund, den die Verfechter der These, bei Schleiermacher handle es sich um eine „hermeneutische Dialektik“, vollständig ignorieren.27 Bezugspunkt innerhalb der Dialektik ist die Theorie der Begriffsbildung im zweiten, technischen Teil. Der Begriff ist hier Resultat eines Schematisierungsprozesses, in dem allgemeine Bilder erzeugt und in einem sprachlichen Bezeichnungssystem fixiert werden. Während die Bilder individuell erzeugt sind und im Inneren der Individuen verbleiben, wird ihr allgemeiner Gehalt durch die Sprache zur Gemeinschaft der Vernunft vermittelt.28 Hierbei bleiben, wie Schleiermacher betont, „die die Differenz des Gedachten und die Identität des Denkens im Streit“, so daß diese Irrationalität oder Relativität „selbst auf ein Wissen gebracht werden“ muß, indem sie „mitconstruirt“ wird.29 Dies ist, wie schon erwähnt, Aufgabe eines begleitenden kritischen Verfahrens, welches als ein „unnachläßliches Correlatum“ der unmittelbaren Konstruktion des Wissens anzusehen ist und neben diesem beständig herläuft.30 Dieses kritische Verfahren gehört für Schleiermacher zum reinen Denken, d.h. zu demjenigen Denken, welches Wissen will um des Wissens willen. Die „große Masse“, die sich im Bereich der Sprache bewege, komme hiermit gar nicht in Berührung. Dieses Sich-in-der-Sprache-Bewegen unterscheidet für Schleiermacher „das reine Denken vom bedingten durch das jenem zukommende philologische Interesse, und hier der Zusammenhang dieses ganzen Gebietes mit der allgemeinen dialektischen Aufgabe.“31 Das philologische Interesse, welches sich auf die sprachlichen Voraussetzungen des Denkens richtet, hat demnach das bedingte Denken zum Gegenstand. An diese Voraussetzung ist zu erinnern, wenn die Dialektik in der spätesten, scheinbar die größte Nähe zur Hermeneutik anzeigenden Definition von als „Darlegung der Grundsäze für die kunstmäßige Gesprächführung im Gebiet des reinen Denkens“32 bezeichnet wird. Die Gesprächsführung im Gebiet des reinen Denkens ist durch das Interesse der Vernunft geleitet, es ist „Denken um des Den-
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Vgl. Schleiermacher: Vorlesungen über die Dialektik, a.a.O. (Anm.16), Teilbd. 1, 190f. (§74); Teilbd. 2, 335–342. Vgl. Maciej Potepa: Schleiermachers hermeneutische Dialektik, Kampen 1996. Potepas Buch enthält im übrigen auch gar keinen Beleg für die im Titel signalisierte These. Vgl. Schleiermacher: Vorlesungen über die Dialektik, a.a.O. (Anm.16), Teilbd. 2, 304f. Ebd., Teilbd. 1, 179 (§45). Ebd., 180 47f.). Ebd. Ebd., 393.
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kens selbst“ oder „um des Wissens willen“.33 Das philologische Interesse der Hermeneutik dagegen ist um das Verstehen der Artikulationen eines Denkens bemüht, das bedingt ist. D.h. „um eines anderen willen“ geschieht (geschäftliches Denken) oder aber, obgleich selbstzweckhaft, so doch nicht um des Wissens, sondern um eines „Wohlgefallens“ willen vollzogen wird (künstlerisches Denken).34 Nun betont Schleiermacher in seiner Dialektik jedoch von Anfang an, daß das reine bzw. spekulative Denken und Wissen nicht voraussetzungslos anfange, sondern sich aus dem bedingten bzw. empirischen Denken müsse herleiten lassen können. Mehr noch: sofern die Relativität alles Denkens und Wissens unaufhebbar sei und die Einheit des Wissens eine für uns nicht realisierbare Idee bleibe, könne das Denken der Dialektik den Bereich des Bedingten gar nicht hinter sich lassen. Dialektik und Hermeneutik bleiben daher aufeinander bezogen, indem ihre Sphären nicht schlechthin getrennt sind. Der Unterschied, durch den sie relativ voneinander geschieden werden können, besteht vielmehr in der Richtung, die beide Disziplinen als Kunstlehren nehmen: die Hermeneutik (und dies entspricht ihrem Charakter als technische Disziplin) schließt das Bedingte gewissermaßen als solches mit sich zusammen, indem sie es in seiner Bedingtheit zu verstehen sucht; die Dialektik (und dies entspricht ihrem Charakter als spekulative Disziplin) bezieht das Bedingte auf die Idee der Einheit des Wissens und schließt es daher nicht mit sich selbst als Bedingtem, sondern mit dem Bedingenden des Bedingten, dem transzendentalen Grund, zusammen. An den unterschiedlichen Interessen der Hermeneutik und Dialektik scheiden sich demnach die Gebiete und spezifischen Aufgaben beider Disziplinen. Die Hermeneutik ist um ein Verstehen des bedingten Denkens als solchem bemüht, die Dialektik betrachtet es im Blick auf das reine Denken unter dem Gesichtspunkt des werdenden Wissens. Beide vermitteln auf ihre Weise das Individuelle des Denkens und der Rede zur Allgemeinheit, aber die Hermeneutik bleibt dabei den bedingten Intentionen und Mitteln der Denkenden und Mitteilenden verhaftet, während sie die Dialektik zugunsten der Einheit des Wissens transzendiert. Dabei muß jedoch das Verstehen immer wieder geleistet werden; erst dadurch kann die Dialektik die Gesprächsführung im Gebiet des reinen Denkens beginnen, um die verbleibende Irrationalität der Sprache zur Einheit der Vernunft zu transzendieren. Die Auslegungskunst, so heißt es in der Nachschrift zur Vorlesung 1818/19, „beherrscht“ die Relativität des individuellen Denkens und macht es „mit dem allgemeinen Denken übereinstimmend“, wodurch erst 33 34
Ebd., 394. Ebd.
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„die Idee des Wißens realisirt wird. Daran sehen wir wol ist an sich die Dialektik in unserm Sinne eine verschiedne Kunst: allein sie stehet mit jenen beiden [Hermeneutik und Übersetzungskunst, Verf.] in einer beständigen Wechselwirkung, und zwar nicht auf eine leere, sondern vollkommen zusammengehörige Weise, weil eben Denken und Sprechen durchaus zusammengehören müssen: denn wir denken eher eigentlich nicht, als bis wir sprechen. Die Dialektik lehrt nun ein solches Verfahren, wodurch das Denken zum Wissen vervollkommnet dabei aber die Idee des Wissens in Allen gleich vorausgesetzt wird: dies kann aber ohne Vermittelung der Sprache nicht statt haben; es haben also Dialektik und Auslegungskunst beständig einen gemeinsamen Weg zurückzulegen. Auslegungs und Uebertragungskunst sind Auflösung der Sprache in ein Denken. Die Dialectik ist solche Auflösung des Denkens in Sprache, das vollkommene Verständigung dabei ist, indem man die Idee des Wissens vor Augen hat.“35
Die hermeneutische Aufgabe selbst ist nicht Bestandteil der Dialektik, ebensowenig wie es Aufgabe der Hermeneutik ist, rein denken zu wollen. Wohl aber markiert die Hermeneutik, indem sie das Verstehen im Bereich des Bedingten vollbringt, immer wieder neu den Unterschied des reinen vom bedingten Denken, jene Differenz also, die den Einsatzpunkt der Dialektik bildet. Schleiermachers Rede von der wechselseitigen Abhängigkeit beider Disziplinen bezeichnet präzise diesen Sachverhalt. In diese Abhängigkeit ist dann aber über die wechselseitige Vervollkommnung beider in ihrem gemeinsamen Werden hinaus auch nicht mehr hineinzulegen, als eben nur der Vollzug dieser konstitutiven Unterscheidung des reinen vom bedingten Denken: keine Begründung der Hermeneutik in der Dialektik oder umgekehrt, aber auch keine Komplementarität beider als „Fundamentallehren“ im Sinne Odebrechts.
3. Odebrechts Versuch, Dialektik und Hermeneutik gewissermaßen auf Augenhöhe anzusiedeln, basiert auf der seit Dilthey erfolgten Verselbständigung und Aufwertung der Hermeneutik, die dann bei Gadamer ihren Höhepunkt erreicht. Ohne solche massiven Vorentscheidungen hat dagegen Heinz Kimmerle in seiner bei Gadamer entstandenen Dissertation Schleiermachers Hermeneutik in den Zusammenhang seines spekulativen Denkens und dessen Entwicklung eingestellt.36 In ähnlicher Weise, wenn auch mit anderen systematisch-aktualisierenden In35 36
Ebd., Teilbd. 2, 339. Die Hermeneutik Schleiermachers im Zusammenhang seines spekulativen Denkens, Diss. Heidelberg (masch.); ders.: Das Verhältnis Schleiermachers zum transzendentalen Idealismus, in: Kant-Studien
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tentionen, hat Manfred Frank das Schleiermachersche Werk umfassend in seine Interpretation der Hermeneutik einbezogen.37 Beide kommen darin überein, die Hermeneutik letztlich auf die spekulative Grundlegung der Philosophie in Schleiermachers Dialektik zu beziehen.38 Gunter Scholtz hat dagegen die Möglichkeit einer Fundierung der Hermeneutik in der Dialektik bestritten und die These vertreten, Schleiermachers Hermeneutik sei „unmittelbar in der Ethik basiert“.39 Scholtz macht mit Recht geltend, daß die Legitimierung der Hermeneutik durch die Dialektik noch nicht die Grundlegung ihrer spezifischen Verfahren bedeute40 und kann sich darauf berufen, daß die Hermeneutik als technische Disziplin auch für Schleiermacher unmittelbar an die Ethik anschließt. Über diese Stellung der Hermeneutik im Kosmos der Disziplinen und über die bereits erörterten Abgrenzungen von Dialektik und Hermeneutik hinaus spricht aber noch ein weiterer gewichtiger systematischer Einwand gegen eine Engführung von Dialektik und Hermeneutik. Die Reduktion der Dialektik auf dialogisch-kommunikative Vermittlungen, die Gesprächsführung als Verstehensprozeß von Rede und Gegenrede, wird den von Schleiermacher aufgestellten Bedingungen des Wissens nicht gerecht. Nach Schleiermacher ist dasjenige Denken ein Wissen, „welches a. vorgestellt wird mit der Nothwendigkeit daß es von allen Denkensfähigen auf dieselbe Weise producirt werde; und welches b. vorgestellt wird als einem Sein, dem darin gedachten, entsprechend.“41 Die Hermeneutik hat es, wie wir gesehen haben, nur mit dem einen Merkmal, der Gleichmäßigkeit der Produktion in Allen, zu tun, nicht aber damit, ob eine Rede oder Schrift dem Sein entspricht. Und auch das erste Merkmal des Wissens wird nur zum Teil in der Hermeneutik thematisch, nämlich nur insoweit, wie die Sprache das Denken der Einzelnen bedingt. Dies ist Aufgabe der grammatischen
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Vgl. die Einleitung und die Textauswahl in: Hermeneutik und Kritik, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt/M. Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt/M. ders.: Der Text und sein Stil. Schleiermachers Sprachtheorie, in: ders.: Das Sagbare und das Unsagbare, Frankfurt/M. ders.: Die Unhintergehbarkeit von Individualität, Frankfurt/M. Vgl. Heinz Kimmerle: Schleiermachers Dialektik als Grundlegung philosophischtheologischer Systematik und als Ausgangspunkt offener Wechselseitigkeit, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg. v. Kurt-Victor Selge, Berlin und New York Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik, Frankfurt/M. 1995, 108. Ebd., 107. Schleiermacher: Vorlesungen über die Dialektik, a.a.O. (Anm.16), Teilbd. 1, 90 (§87).
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Interpretation,42 während die psychologische Interpretation die Sprache „nur als das Mittel“ betrachtet, „wodurch der einzelne Mensch seine Gedanken mitteilt“.43 Die Vermittlung zur Sprachgemeinschaft erfolgt hier, indem die Sprache einerseits durch das individuelle Reden erst „wird“, auf der anderen Seite die jeweilige Rede aber erst „aus der Totalität der Sprache“ zu verstehen ist.44 Auf eine Formel gebracht: Sprache erscheint nur subjektiv in individualisierter Rede, Individualität aber auch nur objektiv in der Rede als allgemeiner Darstellung. Mit der wechselseitigen Vermittlung beider Seiten wird in der Hermeneutik die Irrationalität des Einzelnen durch die Allgemeinheit der Sprache ausgeglichen. Dies ist eine notwendige, aber noch keine hinreichende Voraussetzung für die Gleichmäßigkeit der Produktion des Wissens in Allen. Diese hängt ebenso von nichtsprachlichen Voraussetzungen ab, nämlich der Einheit der Vernunft in Allen, derer wir uns nur transzendental und nicht in Reflexion auf das Mittel der Sprache vergewissern können. Dem scheint zu widersprechen, daß Schleiermacher in seinem späten, Fragment gebliebenen Entwurf einer Einleitung (1832/33) die Dialektik als Kunst der „Gesprächführung im Gebiet des reinen Denkens“45 ausdrücklich an Sprachkreise bindet: „Die Dialektik kann sich nicht in einer und derselben Gestalt allgemein geltend machen, sondern muß zunächst nur aufgestellt werden für einen bestimmten Sprachkreis; und es ist im voraus zuzugeben, daß sie in verschiedenem Maaß werde anders gestellt werden müssen für jeden anderen.“46 Die Notwendigkeit hierzu hatte Schleiermacher bereits in seinem Entwurf von 1814/15 damit begründet, daß jedes Wissen, selbst das logische, mathematische und transzendentale Wissen, in der Realität nicht rein hervortreten könne, sondern durch die Sprache als Medium der Mitteilung relativiert werde.47 Gleichwohl müssten wir, so betont Schleiermacher, „hinter der Differenz des gesonderten Wissens eine allgemeine Identität nothwendig voraussezen“,48 nämlich die Identität der Vernunft und der Organisation in Allen.49 Schleiermacher betrachtet demnach die Relativität des Wissens als eine Relativität für uns und nicht als eine Relativität des
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Die grammatische Interpretation betrachtet „die Sprache insofern […], als sie das Denken aller Einzelnen bedingt, den einzelnen Menschen aber nur als den Ort für die Sprache und seine Rede nur als das, worin sich diese offenbart.“ (Schleiermacher: Hermeneutik, hg. v. Manfred Frank, a.a.O., Anm.9, 79) Ebd. Ebd., 78. Schleiermacher: Vorlesungen über die Dialektik, a.a.O. (Anm.16), Teild. 1, 393. Ebd., 40l. Vgl. ebd., 98f., §§125f. Ebd., 99, §126. Vgl. ebd., 98, §122.
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Wissens an und für sich. Diese Relativität erscheint in der Differenz der Sprachen, ist aber nicht in der sprachlichen Vefaßtheit des Denkens begründet. Sie gründet vielmehr darin, daß aufgrund der transzendentalen Voraussetzungen der Dialektik jedes Wissen als Wissen sich innerhalb relativer Entgegensetzungen bewegt: des Denkens und des Gedachten sowie der Denkenden untereinander. In diesem Sinne kann Schleiermacher behaupten: „Die Relativität des Wissens ist […] mit dem Bewußtsein des Wissens selbst gesetzt und ihm wesentlich.“50 Diese Relativität fortschreitend auf die vorausgesetzte Identität hin zu überwinden ist Aufgabe der Dialektik, die dabei auch, wie es in der Einleitung von 1832/33 heißt, einleuchtend macht, „wie allen dasselbe zum Grunde liegt, und nur jede Sprache von einer andern geistigen Eigenthümlichkeit aus auch eine andere Natur und Geschichte zu betrachten hat.“51 Daß die mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit auftretende Kunstlehre des reinen Denkens „zunächst“ nur für bestimmte Sprachkreise aufgestellt werden kann, bedeutet demnach keine grundsätzliche Abhängigkeit des Wissens von der Sprache, sondern bezieht sich auf die Vorläufigkeit des Verfahrens in Ansehung der praktischen Unabschließbarkeit des Wissensprozesses. Die in ihm vollzogene relative Einigung, auch wenn sie nur für einen bestimmten Sprachkreis gelten mag, beruht jedoch darauf, daß die Vorläufigkeit der Einigung zugleich auch immer einen Vor-Lauf auf die transzendentale Idee der Einheit des Wissens darstellt, denn für jedes Wissen gilt: „Das Wissen ist im realen Denken nicht inwiefern das Ganze aus dem Einzelnen entsteht, sondern nur in wiefern das Einzelne aus dem Ganzen entsteht.“52 Festzuhalten ist also, daß die Sprache von Schleiermacher in bezug auf das reine Denken als ein Mittel angesehen wird, die nichtsprachlichen Voraussetzungen und Gehalte dieses Denkens zu kommunizieren. Die Analyse dieses Mittels entbindet nicht davon, zu fragen, was es vermittelt. Nach Schleiermacher ist dies zweierlei: (1) die Voraussetzung der einen Vernunft im Denken aller und (2) die Entsprechung des Denkens mit einem Gedachten, dem Sein. Wittgensteins berühmter Satz, daß alle Philosophie ‚Sprachkritik‘ sei,53 könnte Schleiermacher gleichwohl unterschreiben. Er bekäme dann aber einen kritischen Sinn auch gegenüber seiner Auslegung im Rahmen des linguistic turn der sprachanalytischen Philosophie. Die Kritik der Sprache nämlich ist für Schleiermacher nicht nur Analyse im Rahmen der Sprache, sondern auch Kritik als Anstrengung des Denkens, das hinter sich zu lassen, was
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Ebd., 99, §127. Ebd., 404. Ebd., 162, §12 (Dialektik 1814/15). Tractatus logico-philosophicus, 4.0031.
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er die Irrationalität der Sprache nennt. Sie besteht darin, daß die Sprache das Allgemeine der Vernunft immer nur unter bestimmten, individuellen Formen darzustellen vermag, die dem jeweiligen Sprachkreis eigentümlich sind und insofern den allgemeinen Vernunftgehalt selbst verfehlen. Schleiermachers Philosophie, wie sie in der Dialektik begründet wird, ist weder eine hermeneutische Philosophie noch überhaupt eine Sprachphilosophie in dem Sinne, daß alle philosophischen Probleme als sprachliche könnten behandelt werden. Die Dialektik baut eine Brücke zum Sprachdenken, aber nur, indem sie es zugleich mit nichtsprachlichen Voraussetzungen und Gehalten des Sprechens konfrontiert. Und ich halte es keineswegs für ausgemacht, daß Schleiermachers Philosophie deshalb hoffnungslos unzeitgemäß sei. Ihre Aktualität könnte im Gegenteil gerade darin bestehen, daß sie eine höhere Sprachkritik ins Auge faßt, die das Mittel der Sprache nicht als ein unmittelbar und unhintergehbar Gegebenes nimmt, sondern es ihrerseits vermittelt.
Anhang
Schleiermachers Konfirmandenunterricht Nebst einer bislang unbekannten Nachschrift VON WOLFGANG VIRMOND / BERLIN
Der praktische Konfirmandenunterricht ist insgesamt von der historischen Wissenschaft kaum beachtet worden, und er ist auch schwer zu 1 greifen. Aus Schleiermachers Zeit kennen wir zahlreiche Handbüchlein, die dem jeweiligen Lehrer als Stütze dienen sollen, darunter auch einige reformierte, doch sind die meisten sehr schematisch und sagen allenfalls über den jeweiligen Autor und das Ideal seines Unterrichts etwas aus. Von Schleiermacher, der sich selbst freilich solcher Handbüchlein 2 nicht bediente, sind mehrere Zeugnisse aus seinem Unterricht erhalten. – Aus der Zeit in Stolp kennen wir einen Brief an Eleonore Grunow, in dem er auch über seine Katechisationen berichtet: „Ich habe mir […] einen eignen Plan gemacht, mit dem ich recht zufrieden bin; in der Ausführung lasse ich mich noch zu sehr gehen in dem, was mir das Interessanteste ist. Doch lenke ich gern ein, wenn ich merke, daß ich auf einem 3 den Kleinen unzugänglichen Felde bin.“ Diese Spannung zwischen dem selbständigen, forschenden und ausschweifenden Vorgehen Schleiermachers und der begrenzten Fassungskraft der Schüler ist auch für das Berliner Vierteljahrhundert (1809–1834) bestimmend. Zum Unterricht selbst gibt es ein eigenhändiges, undatiertes und bisweilen kryptisches Manuskript von 5 Blatt mit dem Titel „Katechisa-
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Johann Friedrich Christoph Gräffes ‚Vollständiges Lehrbuch der allgemeinen Katechetik nach Kantischen Grundsätzen zum Gebrauche akademischer Vorlesungen’, erschienen von 1796 bis 1799 in 3 Bänden mit über 1700 Seiten, sowie sein ‚Grundriß der allgemeinen Katechetik nach Kantischen Grundsätzen nebst einem kurzen Abrisse der Geschichte der Katechetik von dem entferntesten Althertume bis auf unsere Zeiten’ (erschienen 1796 mit über 430 Seiten) bieten überwiegend Darlegung und Propaganda der Kantischen Grundsätze. Auf eine diesbezügliche Anfrage des Konsistoriums antwortete Schleiermacher: „ich bediene mich gar keines gedrukten Lehrbuches, sondern unterrichte nach Anleitung des apostolischen Glaubensbekenntnisses. Schleiermacher 28/12. 33“ (in der unten zu nennenden Superintendenturakte Blatt 75). Brief 1311 vom 19.8.1802; KGA V/6, 85 f. – Vgl. auch Brief 1342 an Willich vom 15.9.1802, ebd., 146.
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tionen über das Symbolum Apostolicum“, offenbar ein Unterrichtsprotokoll; es bricht mit der 24. Stunde ab, wie denn Schleiermacher oft bei derlei Aufzeichnungen die Lust (und Zeit) verlor. Eine Ergänzung bieten die mitunter umfänglichen inhaltlichen Tagebucheintragungen von 1821, 1823, 1827–28 und 1830–1834; so lautet denn der letzte eigenhändige Tagebuch-Eintrag am 6.2.1834: „Katechisation. Begraben, niedergefahren, Auferstehung, Himmelfahrt. Christus der erste im Aufenthalt der Guten.“ Außerdem hat Schleiermacher auch in früheren Jahren oftmals die Unterrichtstermine in seinem Tagebuch eingetragen; und aus den späten Jahren (1825–1831) finden sich in den erhaltenen Kirchenbüchern sorgfältige Listen der von Schleiermacher konfirmierten Kinder mit Wohnort und Beruf des Vaters. Sodann gibt es eine vielfach aufschlußreiche Superintendenturakte 4 zum Konfirmandenunterricht, die noch nicht gründlich ausgewertet ist, aus der man aber die behördlichen Vorschriften entnehmen kann und worin sich auch Schleiermachers Antworten auf behördliche Anfragen finden. Daß es auch halbauthentische Dokumente, also Nachschriften, gibt, darf nicht verwundern, denn Schleiermacher war eine verehrte Berliner Berühmtheit; seine Predigten etwa wurden so fieberhaft nachgeschrieben, daß schließlich solche Nachschriften (mit Schleiermachers Billigung) in 6 Bänden privat gedruckt wurden; ähnlich wollte man auch ein bleibendes Dokument aus dem Katechumenenunterricht besitzen. – Auguste Wilhelmine Jannette Wedel mochte sich wohl nicht auf ihr Gedächtnis verlassen und hat ihren Vater als Protokollanten mitgenommen: den Johann Heinrich Wedel, einen konvertierten Juden, der wohl des Jiddischen mächtiger war als des Deutschen. Seine Nachschrift jedenfalls, die er seiner „geliebten Tochter Auguste Wilhelmine Jannette. Am Tage ihrer Einsegnung den 6ten May 1826“ überreichte, wimmelt derart von groben und gröbsten Fehlern, daß sie zunächst dekodiert werden mußte (was weithin gelang) und nunmehr vom Unterricht dieses Jahrgangs ein eindringliches Bild bietet. – Drei Schülerinnen (Franziska Delbrück, Bertha Sethe und Helena Buttmann) taten sich 1827/28 zusammen und fertigten eine gemeinsame Nachschrift, deren Original (samt Abschrift) heute verschollen ist, aus der jedoch Auszüge 5 publiziert wurden. 4
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Acta betreffend den ConfirmandenUnterricht auch die Listen der Confirmanden (1803 ff.; im Besitz der Dreifaltigkeitsgemeinde, die zur Superintendentur Friedrichswerder gehörte). – Die Akte bietet insbesondere die Möglichkeit, Schleiermachers Praxis mit der seiner Kollegen innerhalb der Superintendentur zu vergleichen. Christliche Welt 21.1907, 482 und 476 f.; Erwin Wißmann: Religionspädagogik bei Schleiermacher, Gießen 1934, insbesondere Kapitel 4 (156–242), worin auch aus
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Überschaut man diese Zeugnisse, so kann man leicht den Eindruck gewinnen, als habe Schleiermacher (gleichsam wie auf dem Katheder) langatmige Vorträge gehalten, von denen die Schüler kaum etwas verstanden und die sie darum im zweiten Unterrichtsjahr noch einmal (etwas verändert) anhören mußten in der Hoffnung, daß schließlich doch etwas hängen bliebe. Dieser Eindruck ist falsch. Unlängst nämlich ist uns eine weitere Nachschrift zugänglich geworden: geschrieben von einer recht erwachsen wirkenden und zuvor nur zuhaus durch Privatlehrer erzogenen Schülerin namens Auguste Kunzmann – ein sehr sorgfältig geschriebenes Heft aus dem Jahre 1831/32, das nur minimale editorische Eingriffe verlangt und dabei den Eindruck größtmöglicher 6 Authentizität vermittelt. Hieraus sieht man nun leicht, daß es zwar Schleiermachers Sachvorträge gab (oft wohl in einem ersten Teil der Stunde, doch ohne jeden Schematismus), daß aber danach in einem intensiven Dialog mit den Kindern das Thema geradezu durchgekaut wurde. Auguste Kunzmann jedenfalls hat überwiegend diesen Dialog protokolliert, der sich nun mit den Vorträgen bei Wedel in gewisser Weise kombinieren läßt (obwohl Schleiermacher natürlich stets frei – und mithin in jedem Jahr anders – gesprochen hat). Zunächst noch einige Informationen zum Äußeren des Unterrichts. Die Konfirmanden kommen überwiegend (aber nicht nur) aus den besseren und besten Kreisen Berlins; ihr Alter bei der Einsegnung schwankt nach den Angaben in den Kirchenbüchern von 14 bis 18 Jahren. Schleiermacher behandelt sie folglich als junge Erwachsene und spricht sie auch so an. Ein organisatorisches Problem liegt darin, daß nicht nur Knaben und Mädchen getrennt unterrichtet werden,7 sondern auch alljährlich neue Schüler kommen, der Kurs jedoch (mindestens) 2 Jahre dauert: das würde 4 Gruppen bedeuten (Mädchen Anfänger, Mädchen Fortgeschrittene, Knaben Anfänger, Knaben Fortgeschrittene, und zwar jede Gruppe zweimal wöchentlich). Dem war Schleiermacher nun nicht gewachsen, und so hat er am Konzept des einjährigen Kurses festgehalten
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Schleiermachers Schriften und Vorlesungen allerlei Wissenswertes zum Thema zusammengetragen ist. – Ferner findet sich im Schleiermacher-Nachlaß (628) eine undatierte fragmentarische Nachschrift, die mit Elise Hüssener in Verbindung gebracht wurde, jedenfalls aus Schleiermachers Konfirmandenunterricht herrühren soll; allerdings hätte dann nicht Schleiermacher selbst unterrichtet, sondern ein Vertreter, der in manchem Schleiermacher nahe stand. Komplett ist freilich diese Nachschrift nicht; manche Rückverweise laufen ins Leere, woraus wir sehen können, daß Auguste mitunter entweder gefehlt oder aber Eintragungen versäumt hat. Vorgeschrieben war das nicht; offenbar fand Schleiermacher die Aufteilung nach Geschlechtern sinnvoll, sobald wegen der großen Zahl die Gruppe ohnehin aufgeteilt werden mußte.
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und offenbar die Anfänger jeweils in die nunmehr „alte“ Gruppe integriert, wo sie wohl im ersten Jahr überwiegend zugehört und im zweiten Jahr denselben Stoff (verändert) noch einmal gehört, nun aber intensiv mit durchgearbeitet haben, wiederum im Beisein der staunend zuhörenden nunmehrigen „Neuen“.8 Die Gruppen waren – jedenfalls in den späteren Jahren – überraschend groß. 1824 wurden 38 Kinder eingesegnet, 1825 schon 51, 1826 sind es 68 (24 Söhne, 34 Töchter), 1827 nur 48 (17 Söhne, 31 Töchter), 1828 wieder 71 (37 Knaben, 34 Töchter), 1829 58 Kinder, 1830 88 Kinder, ebenso 1833. Nimmt man die jeweils „Neuen“ hinzu, konnte eine Gruppe (Mädchen oder Knaben) also durchaus 80, 90 oder gar 100 Kinder umfassen,9 was für uns nach einem pädagogischen Albtraum klingt, für Schleiermacher aber wohl kein Problem war. Der Unterricht war natürlich kostenlos, aber die angeseheneren und wohlhabenderen unter den Eltern wollten ihrer besonderen Zufriedenheit durch einen mitunter erheblichen Geldbetrag Ausdruck geben. So kamen Summen von über 450 Rth. im Jahre 182110 bis zu ca. 1200 Rth.
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Vorgeschrieben war nur ein einjähriger Unterricht mit 2 Wochenstunden, was offenbar für Schleiermachers so gar nicht in den traditionellen Gleisen laufenden Unterricht nicht ausreichte, weshalb sich bei ihm offenbar nach und nach der 2jährige Unterricht durchgesetzt hat, so daß er in den späten Jahren selbstverständlich war. 1827 schreibt Schleiermacher an die Behörde: „Ich stelle gleich bei der Annahme der Katechumenen die Bedingung daß sie den Unterricht Zwei Jahre besuchen müssen […] Es giebt aber immer mehrere zumal Töchter, welche den Unterricht noch länger besuchen, so wie andere denselben auch nach der Confirmation noch ein halbes Jahr und länger fortsezen.“ (Superintendenturakte f. 46. Ähnlich äußern sich auch manche andern Prediger.) – Es gab auch Versuche, die Anfänger zunächst von einem bezahlten Assistenten unterrichten zu lassen (mehrere Jahre sind Zahlungen für „Katechisationshülfe“ eingetragen; am 28.10.1822 etwa heißt es im Tagebuch: „Deibel schließt seine Katechisation“, am 30. dann: „Die Deibelschen Katechumenen für künftig ins Haus bestellt“, und am 4.11.: „Die Mädchen von Deibel mit herübergenommen“. – Aus einem solchen Vertretungsunterricht mag die oben erwähnte fragmentarische Nachschrift Hüssener stammen (SN 628), die eine vage Ähnlichkeit mit Schleiermachers Unterricht aufweist, im Einzelnen aber von seinen Gedanken kraß abweicht. Tatsächlich wurden diese Versuche völlig aufgegeben, nachdem Deibel eine eigne Stelle angetreten hatte. – Freilich gab es verständlicherweise kurz vor der Einsegnung meist eine Sitzung nur für die eigentlichen „Confirmanden“, also die Abgänger, mit „Instruction“ für die öffentliche Zeremonie; und später wohl auch jeweils eine Sondersitzung für die „neuen Söhne“ und die „neuen Töchter“. Dazu kommen noch mehrere Einzel-Einsegnungen. – Tatsächlich waren durch ein behördliches Rundschreiben die Gruppen auf höchstens 50 Kinder begrenzt, so daß wir annehmen müssen, daß Schleiermacher eine Sondergenehmigung vom Superintendenten hatte oder sich der Kontrolle entzog. Abzüglich einer Zahlung von 30 Rth. an den Assistenten Deibel.
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im Jahre 1833 zusammen, – das war mehr als Schleiermachers Predigergehalt.11 Schleiermacher war sich sehr bewußt, daß er in einer Situation, wo „viele Prediger der reformirten Kirche auf eine unverantwortliche Art den Religionsunterricht vernachlässigen und übereilen“ (so die Behörde namens des Königs in einem Rundschreiben von 1810), gerade auf diesem Gebiet etwas Besonderes leistete. In seiner Vorlesung über praktische Theologie sagte er 1817/18 über den Religionsunterricht, dieser sei „ein für den Prediger immer Wiederkehrendes, das nach gewissen Regeln und mit vollkommenem Bewußtsein geführt werden muß. Die Catechetick ist eben so eine Technik als die Homiletik, aber gewiß eine weit schwierigere, wie das die Erfahrung täglich zeigt, da man weit mehr gute Prediger hat, als Catecheten. Eben so ist auch die Regeln zu 12 geben weit schwieriger, weil nicht alles so vorbereitet werden kann.“ Im Vordergrund des Unterrichts stand nicht das geronnene und abfragbare Wissen, wie es in den zahlreichen zeitgenössischen Handbüchlein dokumentiert ist. Schleiermacher – wenn wir Kunzmanns Heft vertrauen wollen – fragt nur und kritisiert kaum je eine Antwort, auch wenn sie noch so belanglos oder gar schief ist. Er stellt lieber neue Fragen, bis schließlich eine überzeugende Antwort gegeben wird. Ein Beispiel dazu: „So nun dein Feind hungert so speise ihn, dürstet ihn so tränke ihn. Wenn du das thust so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt laden. – Wie ist das wohl? – [Antwort:] Die erste Hälfte des Verses ist sehr gut, aber die zweite nicht; denn Jemand schaden ist nicht recht.“ Offenbar hat die Schülerin die Redenart nicht als solche erkannt, und Schleiermacher fragt und fragt, bis (wahrscheinlich eine andre Schülerin) korrekt antwortet: „Das thut ihm auch weiter keinen Schaden, sondern es soll nur heißen, daß wir ihn dadurch beschämen; denn es geschieht, indem wir ihm Böses mit Gutem vergelten, schadet ihm aber nicht, sondern kann im Gegentheile noch zu seiner Besserung beitragen.“ Schleiermachers Konfirmationsunterricht ist insgesamt sehr eigenwillig. Er stützt sich nicht (wie die meisten seiner Kollegen) auf den Katechismus oder ein dem verwandtes Lehrbuch, sondern er nimmt stets das Credo, das apostolische Glaubensbekenntnis als Leitfaden oder vielmehr als Anknüpfungspunkt; denn besonders aus Artikel 2 werden die meisten Punkte zum Leben und Nachleben Christi nur genannt und 11
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Wegen verschiedener Gold- und Silberwährungen ist ein exaktes Ergebnis nicht zu ermitteln, zumal Schleiermacher ohnehin nur sehr laienhaft und obenhin Buch führte (im Tagebuch). – Übrigens fällt es schwer, in der tiefen Bewunderung von Schleiermachers Predigt- und Konfirmationsgefolgschaft nicht so etwas wie Heiligenverehrung auszumachen, die in Einzelfällen geradezu hysterische Züge annehmen konnte. So in der Nachschrift des Lieblingsschülers Ludwig Jonas (SN 550).
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dann als legendenhaft, irreführend, oberflächlich, belanglos oder nutzlos beiseite geschoben.13 Tatsächlich ist der Inhalt des Unterrichts ein religionsphilosophischer. Die biblischen Geschichten als solche sind kein Gegenstand des Unterrichts, sonder sie werden aufgrund des familiären oder auch schulischen Unterrichts vorausgesetzt, bei Schleiermacher werden sie Anlässe für philosophische Fragen. Diese Fragen an die Katechumenen lauten nicht etwa: was tat Christus, was taten die Apostel, was taten Adam und Eva, – sondern: was ist Allmacht, was ist Allwissen, was ist Tugend, was ist Sünde, was ist Vergebung usf. – Gewiß gibt es auch viele Sacherläuterungen, um vor Mißverständissen zu sichern, oft kleine philologische oder kulturgeschichtliche Exkurse, doch diese scheinen eher das Beiwerk des Unterrichts. Die Bibel ist stets die Grundlage des Unterrichts, aber sie wird gewissermaßen bereinigt, indem alles bloß Geschichtliche ebenso wie alles Legendenhafte, Mythologische unbeachtet bleibt und mithin alle Wunder und und Wunderheilungen, alle Brotvermehrungen etc. gar keine Aufmerksamkeit finden – also alles, was in unsern Augen gerade Jugendliche anzusprechen vermöchte. Die orientalisch farbige Welt der Bibel wird zu einem farblosen „was ist“ und „wie sollen wir handeln“, und doch vermag Schleiermacher dieses philosophisch graue Substrat prismatisch derart funkeln zu lassen, daß Generation um Generation von Kindern sich davon begeistern läßt. Schleiermacher geht dabei nicht auf die Kinder zu, kommt ihnen keinen Schritt entgegen, paßt sich ihnen nicht an, sondern umgekehrt müssen die Kinder sich ihm und seinen bohrenden philosophischen Fragen öffnen, und sie tun es tatsächlich. Es muß schwer, sehr schwer gewesen sein, und man kann sich vorstellen, daß das erste Unterrichtsjahr, wo die Kinder wohl zunächst meist nur zuhörten, besonders diesem radikalen Umstellungsprozeß gewidmet war. Doch mit der radikalen Tilgung alles exotisch-märchenhaft Schillernden aus der Bibel und aus dem Unterricht, mit der Reduktion auf die immer gleiche philosophische Frage „was ist“ entsteht keine, wie man heute so gern sagt, ‚abgehobene‘ oder ‚abstrakte‘ Sphäre, sondern aus der Exotik wird durch die Frage „wie sollen wir handeln?“ der Blick zurückgelenkt auf die eigne Lebenswirklichkeit der Kinder in ihren Familien und ihrer Gemeinde, auf ihre eigne Lebensplanung.
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Insbesondere: empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, […] niedergefahren zur Hölle, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel; sitzend zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dannen er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten.
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Sehr instruktiv ist die Passage über die Mission. Schleiermacher fragt: „Ist es nicht auch unsere Pflicht dazu bei zu tragen, daß sich das Christenthum immer weiter verbreitet?“ und eine Schülerin antwortet sehr entschieden: „Nein; das hieße in die allgemeine Ordnung eingreifen.“ Man sieht schon aus der Formulierung sofort den Bezug auf Schleiermachers einführenden Vortrag. – Nun der Übergang zur eigentlichen Mission: „Wie ist es aber mit den entfernten Völkern, den Indianern, Grönländern u.s.w. die haben doch keine Gelegenheit, bei sich die christliche Religion zu lernen, ist es nun nicht unsere Pflicht zu denen zu gehen, und sie zu unterrichten? Nein. – Ist es etwas Böses, wenn wir es thun? Nein. – Was ist es denn? Etwas Unnützes.“ – Das Thema wird nun weiter im Gespräch erörtert, besonders am Beispiel des britischen Indien, und dann zu folgender Konklusion geführt: „Ist es dann nun unsere Pflicht uns aller Christen anzunehmen und alle zu unterrrichten? Nein. – Oder sollen wir uns um gar keine bekümmern? Das noch weniger. – Was sollen wir denn thun? Es ist unsere Pflicht, so viele Christen zu unterrichten und uns ihrer anzunehmen, wie wir gut können, und da stehen uns denn die am nächsten, mit welchen wir den meisten Umgang haben.“
Die Rückwendung von der Exotik zur eignen Wirklichkeit und ihren Forderungen ist offenkundig, und hier (wie auch sonst) gewinnt man den Eindruck, daß die Mädchen das Thema wirklich verstanden und auch die Anwendung auf ihre Lebenswirklichkeit begriffen haben. Vielleicht gilt das nicht für alle Mädchen, aber gewiß für die Mehrzahl; und auch für die ‚Neuen‘ muß es sehr eindrucksvoll gewesen sein, und sie wollten gewiß die Dinge auch so gut verstehn und aussprechen können wie die ‚Großen‘. Mit dieser Rückwendung auf das eigne Leben beginnt sogar der Unterricht: „Ihre Ältern wissen weshalb sie Sie hergeschickt haben; wissen Sie es aber auch? Um Gott und seinen Willen erkennen zu lernen und dadurch glückselig zu werden.“ Es ist also kein Katechismus-Unterricht, sondern eine im besten Sinne angewandte Wissenschaft, und nach einigen einleitenden Fragen zum Neuen Testament und seinen Verfassern kommen bald sehr ernste Fragen, wie die zur Freiheit eines Christenmenschen: „Haben wir Pflichten gegen Gott? Nein. Wir sollen auch keine haben, denn unter Pflicht verstehen wir etwas, was wir thun müssen, wenn wir es auch nicht gern thun. Unser Verhältniß zu Gott ist mehr ein Geistiges, und unserem Geiste können wir keinen Zwang auf legen; also müssen wir Gott aus Überzeugung lieben und ihm nach Gefallen leben; denn der Pflicht wegen können wir es nicht.“
Entsprechend dem Credo ist Gott das erste Hauptthema: Was ist Gott – Woher wissen wir daß Gott allmächtig ist – Was gehört dazu, die Allmacht zu erkennen – was ist denn eigentlich Weisheit – Liegt die Weis-
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heit Gottes in der Allmacht, usf., und freilich sind die Antworten selten von althergebrachter Art, sondern meist (und anders kann es ja nicht sein bei einem solchen Lehrer) durchaus eigenwillig. Natürlich wird man keine bislang verborgenen Geheimnisse aus Schleiermachers Vorstellungswelt hier im Konfirmandenunterricht zu finden suchen – die Nachschrift des Unterrichts ist wie ein schlichtes Kompendium der in Schriften und Vorlesungen längst und immer wieder vorgetragenen Ideen. Der Maßstab ist stets: Nüchternheit, Besonnenheit, Vernunft. Im Besonderen ist auffällig die Austreibung alles Obskuren, also besonders der Hölle, des Teufels, der Erbsünde; die fleischliche Auferstehung wird derart in Zweifel gezogen, daß man sie ‚echt vergessen kann‘, während die immaterielle Auferstehung als gesichert angenommen wird (obwohl sie für uns nicht konkret vorstellbar ist). Auch die Sünde wird ihres dämonischen Charakters völlig entkleidet. Dem Abendmahl werden alle irrationalen Züge genommen, so daß es zu einer – notwendigen und unentbehrlichen – gemeinschaftbildenden Erinnerungsfeier wird. – Der frühchristliche Kommunismus wird (jedenfalls für die Gegenwart) als unpraktikabel und rückschrittlich verworfen. Die Wunder im Neuen Testament werden zu einem nur didaktischen Mittel erklärt, lediglich „um die ersten Christen in ihrem Glauben zu bestärken, welche weiter noch nichts hatten, woran sie sich halten konnten.“ Außerhalb dieses engen didaktischen Zwecks gibt es keinerlei Wunder, auch der Tod Christi und die Erscheinungen dabei, oder die Himmelfahrt sind ganz natürlich (oder allenfalls bildlich) zu erklären; Christi Höllenfahrt ist „nun vollends fabelhaft“ und so können wir die Passage „ganz heraus streichen“. Ähnlich wird die Bekehrung des Saulus jedes Wunderbaren entkleidet und auf Einsicht und Vernunft zurückgeführt. Eine schöne Formel für derlei zweifelhafte wunder-liche Erscheinungen lautet: „Dies kann man also ganz übergehen.“ Das Pfingstwunder – und besonders die Sprachen-Inspiration – behält zwar provisorisch seinen Wunder-Charakter, der sich jedoch aus der bloßen Notwendigkeit schnellen Handelns ergibt: „damals, wo das Christenthum schnell verbreitet werden sollte, war es auch nothwendig, daß die Jünger schnell fremder Sprachen mächtig waren, um sich desto leichter darin mit theilen zu können, sowohl mündlich als schrifftlich; Übrigens [aber] ist diese ganze Erzählung in der Apostelgeschichte Cap. 2 so unvollkommen, daß man darüber gar nichts recht sagen kann.“
Mit dem Wunder wird auch das Geheimnis verabschiedet: „Das Abendmahl ist nun aber immer als etwas sehr Geheimnißvolles angesehen worden, und hat zu vielen Streitigkeiten Veranlassung gegeben; worin mag nun wohl der Grund dazu liegen? Sobald man es betrachtet,
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wie wir es jetzt betrachtet haben, ist durchaus gar nichts Geheimnißvolles mehr darin.“ Wie das Abendmahl, so werden auch etwa Taufe und Konfirmation oder die Ordination der Prediger sehr nüchtern betrachtet; es kommt nur auf den Inhalt, niemals auf die zufällige Form an. Die Taufzeremonie könnte auch ganz anders sein, und „unsere Prediger […] sind nur der guten Ordnung wegen angestellt zur Vollstreckung der religiösen Feierlichkeiten, und wenn in einem sehr dringenden Falle einmal kein Prediger zu haben wäre, so könnte auch eben so gut ein Anderer sein Amt vertreten.“ Die Menschen des Alten Testaments sind noch ganz befangen in ihren falschen Begriffen, indem „das wahre Licht erst mit Christus gekommen ist“. Das Exemplum ist Abraham, welcher nur „glaubte“, Gott habe ihm die Opferung seines Sohnes befohlen (was jedoch unmöglich und mit unserm Gottesbegriff völlig unvereinbar ist), und auch Moses als Erzähler war durchaus „im Irrthume“, wenn er die Episode als eine Versuchung Gottes interpretiert, „denn Gott weiß so schon was ein je14 der Mensch thun würde, er braucht ihn nicht erst zu versuchen.“ Die Kinder lernen also: (1) Die Bibel ist ein normales Buch wie jedes andere, nirgends ist eine Offenbarung erkennbar. Die sogenannte Offenbarung Johannis wird als apokryph und jedenfalls unverständlich ausgeschieden. „Es ist also gewiß, daß es keine Offenbarungen giebt, noch gegeben hat, in dem Sinne, wie man sie gewöhnlich denkt.“ (2) Manches im Neuen Testament ist für uns unverständlich (so in der Frage des Abendmahls), und hier hilft keine Spekulation, sondern nur Resignation: „Die Jünger müssen das Ganze besser verstanden haben, durch irgend eine andere Erklärung, denn sonst wäre das Abendmahl wohl nicht eingeführt worden; doch diese ist für uns verloren gegangen.“ – Ein sensibles Thema ist die Rolle der Frau in der Familie und in der Gesellschaft. Schleiermacher verknüpft die oft mißlichen Sätze des Paulus mit der vormaligen Gesellschaftsordnung, während in der Gegenwart von einer Unterordnung der Frau unter den Mann keine Rede sein könne; die oft unterschiedlichen Kenntnisse und Fähigkeiten werden mit der unterschiedlichen Erziehung in Verbindung gebracht. *** Im folgenden wird der Wortlaut der bislang gänzlich unbekannten Nachschrift wiedergegeben. Sie wurde in den siebziger Jahren in Berlin bei einer Wohnungsauflösung aus dem Abfall gezogen und seitdem
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Erwartungsgemäß läßt sich Schleiermacher auf das ungeliebte AT gar nicht wirklich ein, und sein Urteil etwa über das so irrationale Buch Hiob dürfte wohl noch strenger gewesen sein als das über Abraham und Moses. Die christliche Lehre ist in Schleiermachers Augen durchaus vernunftgemäß, allerdings auf einem anderen und höheren Niveau als etwa in der oft zu banalen Berliner Spätaufklärung.
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sorgsam gehütet durch Heidemarie Hübner-Prochotta in Frankfurt am Main, die das Büchlein am 8.3.2006 der Schleiermacherforschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften großherzig als Geschenk übergab. Die Konfirmandin ist einem beigelegten, mit Bleistift beschriebenen Zettel zufolge Auguste Kunzmann, Tochter des Johann Heinrich Kunzmann (1755–1858, geh. Hofrat und praktischer Arzt bei Wilhelm, dem späteren Kaiser) und seiner Frau Caroline Luise geb. Schiller (1788– 1863). – Sie heiratete am 18.1.1837 Hermann Heinrich Weseniß, Fabrikbesitzer und Apothekenbesitzer in Potsdam, Nauener Str. – Ihr Geburtsjahr mag um 1815 liegen. Auf einem beigelegten Zettel findet sich (vielleicht aus Anlaß der Übergabe an Kinder oder Enkel) folgende Erklärung der inzwischen gealterten Schreiberin: „Die Fragen sind möglichst wortgetreu, wie Schleiermacher sie an die Eine oder Andre der Mädchen richtete, mit dem Finger auf ihr zeigend, oder auch ihren Namen nennend. Die Antworten entwikelten sich dann aus hinund hersprechen, indem er gegen die angefangene Antwort dies oder jenes Bedenken aufwarf und durch Fragen an Andre gerichtet, oder auch durch eignes hinzuthun das heraus kam, was ich – (ein damals junges Mädchen, die noch nie mit Andern Unterricht gehabt hatte) hier aufgeschrieben habe.“
Das (von mir foliierte) Manuskript umfaßt 142 Blatt bei unregelmäßiger Lagenbildung; die Blätter ab 129 (Lage GG) wurden beim Binden offenbar vergessen und nachträglich unprofessionell hineingepfriemelt, so daß der Buchblock denn auch an dieser Stelle gebrochen ist. Auf Normierung oder Modernisierung konnte verzichtet werden; eingegriffen wurde nur, wo das Verständnis behindert scheinen mochte. Die lateinische Flexion war den Mädchen nicht geläufig, da sie nicht zum Gymnasialunterricht zugelassen waren, so daß man an den vielen falschen „Christi“ und „Christo“ keinen Anstoß nehmen sollte – zumal angesichts des ansonsten hohen (nicht nur) orthographischen Niveaus. Meist blieb auch der gelegentliche Berliner Akkusativ (statt Dativ, „in einen Streich“) als liebenswertes Lokalkolorit erhalten. – Unnötige oder störende Absatzbrüche sind gelegentlich stillschweigend aufgehoben. Fehlende (doppelte) „Anführungszeichen“ sind (statt der unschönen Ergänzung in eckigen Klammern) stillschweigend in Form einfacher 15 ‚Anführungszeichen‘ ergänzt. ‚Fragen‘ und ‚Antworten‘ stehen im Original auf gegenüberstehenden Seiten, auf den ersten beiden Seiten des Ms. geradezu unter diesen 15
Die (wenigen) philologischen Anmerkungen dokumentieren die Schreiberkorrekturen sowie die Eingriffe des Herausgebers und sollen deutlich machen, wie sorgfältig das Ms. insgesamt geschrieben ist.
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Überschriften; sie werden im folgenden zusammengezogen und jeweils durch voneinander abgesetzt. Dabei sind – in {Schweifklammern} – nur die rechten Seitenwechsel angegeben, während bei Schleiermachers beidseitig fortlaufenden Vorträgen (besonders Blatt 81–95) beide Seitenwechsel notiert sind. – Das dem Unterricht zugrunde gelegte apostolische Glaubensbekenntnis sei zur Erinnerung hier wiedergegeben: Glaubensbekenntnis (Luther). (1) Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer Himmels und der Erde. (2) Ich glaube an Jesum Christum, Gottes eingebornen Sohn, unsern Herrn, der empfangen ist vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontio Pilato, gekreuziget, gestorben und begraben, niedergefahren zur Hölle, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel, sitzend zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, von dannen er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten. (3) Ich glaube an den Heiligen Geist, eine heilige christliche Kirche, die Gemeinde der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben. Amen. Glaubensbekenntnis (heute). (1) Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. (2) Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten. (3) Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben.
Aus dem Religionsunterrichte des Professor Fr. Schleiermacher. von Ostern 1830 bis Ostern 1832. [Frage:] Ihre Ältern wissen weshalb sie Sie hergeschickt haben; wissen Sie es aber auch? [Antwort:] Um Gott und seinen Willen erkennen zu lernen und dadurch glückselig zu werden. Warum wollen Sie nun grade Christen werden? Weil die christliche Religion die beste ist. Welches ist unsere vorzüglichste Quelle, aus der wir unsere Religion her nehmen? Die Bibel.
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In welchem Theile der Bibel steht grade etwas von der christlichen Religion? Im zweiten Theile, dem neuen Testamente. Wer hat das geschrieben? Die Jünger Christi. Haben diese Jünger auch alles übereinstimmend geschrieben, und nichts vergessen, was wesentlich wäre und wir aus andern Quellen erfahren hätten? Sie haben nicht alles gleich geschrieben; z. B. nennt Markus die Apostel anders als Lucas, und sie haben verschiedene Worte Christi vergessen, die aber alle nicht wesentlich sind. Haben die Jünger das neue Testament selbst so zusammen getragen, wie es jetzt ist? Nein; es ist erst nach und nach zusammen gekommen. Die Evangelien sind Bücher die sie geschrieben haben, eben so auch die Apostelgeschichte und die Offenbarung Johannes. Die Episteln sind Briefe, die sie den anderen Völkern schrieben, und welche nach und nach zusammen kamen, ohne daß sie ein Bestimmter {4} zusammen trug. Steht im alten Testamente auch etwas von Christus? Nein; außer daß er als Messias verheißen wird. Dürfen wir es deshalb ganz verwerfen? Nein; denn Christus und seine Jünger beziehen sich darauf; auch steht darin ein Hauptstück unseres Glaubens, wonach wir handeln sollen; das sind die 10 Gebote. Was heißt Glaubensbekenntniß? Glaubensbekenntniß ist eine Überzeugung die ein jeder in sich haben muß, um danach zu handeln, wie es Gott recht und wohlgefällig ist. Haben wir Pflichten gegen Gott? Nein. Wir sollen auch keine haben, denn unter Pflicht verstehen wir etwas, was wir thun müssen, wenn wir es auch nicht gern thun. Unser Verhältniß zu Gott ist mehr ein Geistiges, und unserem Geiste können wir keinen Zwang auf legen; also müssen wir Gott aus Überzeugung lieben und ihm nach Gefallen leben; denn der Pflicht wegen können wir es nicht. {5} Ist das ganze Glaubensbekenntniß in einen Streich fort geschrieben? Nein; es besteht aus 3 Artikeln. Wie fängt der erste Artikel an? Ich glaube an Gott, u.s.w. Glauben die Christen das ganz allein? Nein, auch die Juden, aber die anderen 2 Artikel glauben nur wir Christen. Wie nennt man Menschen, die nicht an Gott glauben? Heiden. An was glauben denn die Heiden? An Götzen. Giebt es auch Leute die an gar nichts glauben? Mit Ausnahme von ganz dummen Menschen nicht; denn eine Überzeugung, mag sie vollkommen oder unvollkommen; richtig oder falsch sein, hat ein
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Jeder in sich, wenn er auch, die Mühe scheuend nicht danach handelt. Was ist Gott? Ein allmächtiges Wesen. Wodurch wissen wir, daß Gott eine Allmacht besitzt? Wir können es aus unserer eigenen geringen Macht schließen, daß eine, allen anderen überlegene Macht da sein muß, welche Gott besitzt und von Anfang an besessen hat. Hat Gott die Welt wirklich geschaffen? Ja. Er allein mit seiner Allmacht konnte es; er {6} muß sie aus nichts geschaffen haben, aber es ist ein zu großes Werk, wir können es nicht begreifen. Ist Gott der Vater von Allem was auf der Welt ist? Nein. Vater ist er nur vom Menschen, und allem was darüber ist, von allen Geschöpfen, welche tiefer stehen als der Mensch, ist er nur Schöpfer. Worin sehen wir das? Darin, daß alle Geschöpfe über dem Menschen und der Mensch selbst Gott viel ähnlicher sind, als die anderen; und daß nur sie Verstand, und damit das Vermögen, Gott zu lieben haben; was nothwendig zu dem Begriffe Vater gehört. Wo steht in der Bibel etwas von Erschaffung des Menschen? Im ersten und zweiten Capitel, des ersten Buches Moses. Welche dieser Erzählungen ist besser? Die erste, in welcher steht, daß Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat. Wie müssen wir die zweite verstehen, wonach Gott „den Menschen aus einem Erdenkloße gebildet, und ihm den lebendigen Athem in die Nase geblasen“ hat? Daß Gott ihm erst einen Körper gegeben und ihm dann die Vernunft eingeflößt hat; so soll der Körper, das Irdi16 sche, durch den Erdenkloß, und das Himmlische durch den Athem Gottes bezeichnet werden. {7} Warum liebt Gott nur die höheren Geschöpfe? Weil man eigentlich nur lieben kann, wo eine Gegenliebe vorhanden ist, und die können, wie schon gesagt, nur vernünftige Geschöpfe besitzen. Worin weichen wir denn nun in dem ersten Artikel unseres Glaubensbekenntnisses von den Juden ab? Dadurch, daß wir Gott Vater nennen. Woher wissen wir daß Gott allmächtig ist? Aus dem Glaubensbekenntnisse, wir können es aber auch selbst sehen. Woher wußten es die, die das Glaubensbekenntniß geschrieben haben? Aus dem alten Testamente. 16
Himmlische] korr. aus himmlische
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Und woher hatten es die Schreiber desselben? Denen hat sich Gott in seinen Werken offenbaret. Kennen wir nicht noch andere Eigenschaften Gottes, die nicht zur Allmacht gehören? Wohl nicht; denn auch die Weisheit gehört zur Allmacht, in welche alles andere begriffen ist. Was gehört dazu, die Weisheit aus den Werken Gottes zu erkennen; kann das ein nicht Weiser? Die Allmacht kann er erkennen, ohne sie selbst zu besitzen, aber die Weisheit nicht, ohne selbst solche zu haben. Haben wir die? In einem gewissen Grade, ja.
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Was gehört denn dazu, die Allmacht zu erkennen? Der Verstand. {8} Wir sind durch das Bewußtsein unserer Ohnmacht zur Erkenntniß der Allmacht Gottes gekommen, erkennen wir so auch aus unserer Unweisheit die Weisheit Gottes? In der Allmacht liegt schon die All18 weisheit, so läge in jeder Macht doch auch etwas Weises; danach müßten die Mächtigsten auch die Weisesten sein, doch so ist es nicht; eine beschränkte Macht kann ohne Weisheit; eine beschränkte Weisheit ohne Macht sein; aber bei der Allweisheit und Allmacht kehrt es sich um; doch eine Ähnlichkeit mit dem Menschen können wir hieraus nicht ziehen; denn bei den Menschen ist immer noch ein Unterschied zwischen denen die Macht brauchen, und denen, die sie haben. Aber was ist denn eigentlich Weisheit? Die Wahl der besten Mittel zu den besten Zwecken. Ist das einerlei, oder zweierlei? So ist die Weisheit zusammen gesetzt aus Klugheit und Güte; zum besten Mittel finden gehört Klugheit, und zum besten Zwecke Güte. {9} Können wir das nun auf Gott anwenden? Nein, daß er Mittel zu seinem Zwecke w ä h l t nicht; denn im Wählen liegt eine Unsicherheit, also auch eine Unvollkommenheit, und daher sagen wir besser das Gegenwärtigsein der besten Mittel. Aber braucht denn Gott Mittel um etwas auszuführen? Nein; das sehen wir schon in der Schöpfungsgeschichte, denn Gott hat Alles aus Nichts geschaffen, und so können wir die Wahl der besten Mittel zum besten Zwecke nur für die Weisheit eines beschrenkten Verstandes ansehen; wie es der des Menschen ist.
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ja.] ja? läge] korr. aus liegt
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Woran erkennen wir die Weisheit Gottes in der Schöpfung? An der besten Ordnung dessen, wodurch die Zwecke Gottes erfüllt werden sollen, und wir können diese Weisheit erst beurtheilen, wenn sie etwas bewirkt hat. In der eigentlichen Schöpfung können wir sie gar nicht erkennen, doch am meisten noch in der geistigen Welt. Liegt also die Weisheit Gottes in der Allmacht? Ja. {10} Kann man alle gute Eigenschaften der Menschen auf Gott übertragen? Alle Eigenschaften die etwas Böses, Schlimmes voraussetzen, wie Reue u.s.w. nicht, und alle die ein Leiden, z. B. Mitleiden in sich schließen auch nicht, denn Gott ist keines von beidem fähig, sonst wäre er nicht vollkommen, wohl aber ist er ewig. Aber im ersten Buche Moses Cap 8 Vers 21 steht doch, daß Gott die Menschen bedauerte, ist das kein Mitleid? Nein. Mitleid heißt mit fühlen, und das kann Gott nicht, sondern er hilft nur und so ist er barmherzig. Was liegt in dem Begriffe der Ewigkeit? In der Ewigkeit liegt nur das, daß wir uns gar nichts Zeitliches in ihr denken können, was sie aber eigentlich ist, wissen wir nicht. Wie ist es denn nun mit der Gerechtigkeit, besitzt Gott diese? Ja Ist er mit den Strafen welche sich die Menschen unter einander auferlegt haben zufrieden? Ja; denn sie kommen von ihm selbst, und die 19 Menschen sind nur die Werkzeuge zur Strafe Gottes. {11} Was soll dadurch bewirkt werden? Die Menschen sollen Lust zum Guten, Unlust zum Bösen bekommen, und das durch den Glauben an Christum. Paulus schreibt an die Galater, daß vor Christus Belohnung und Bestrafung war, was ist denn jetzt? Die göttliche Strafe als eine nur menschliche, soll nicht und kann nicht die Besserung bewirken, sondern nur vom Bösen abhalten; wir werden zwar nur natürlich bestraft, aber die Strafen sind doch göttlich, und da wir in Christo leben, brauchen wir keine andere Belohnung oder Bestrafung. Wie ist es denn mit der Heiligkeit, ist die mit der Gerechtigkeit eins? Nicht ganz. Was kann man anders dem Bösen oder dem Guten thun, ohne es zu 20 strafen und zu lohnen? Wir sollen es so machen, daß Anderen das Gute an uns gefällt; und so suchen, den Trieb zum Guten auch in ihnen rege zu machen. {12} 19 20
Werkzeuge] Werkzeugen und] korr. aus nur
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Waren die Menschen als Christus kam gut oder böse? Sie waren böse und unzufrieden, hatten Mißfallen an dem, was sie waren, kannten aber nichts besseres. Jede göttliche Eigenschaft muß etwas bewirken, also muß Gott immer von etwas Ursache sein. Gott ist zwar nicht die Ursache der Besserung des Menschen, aber dessen, was davon der Natur liegt, und das durch die Heiligkeit. Wie nennen wir das, wenn es die Menschen auf sich beziehen? Das Gewissen. Ist die Liebe zu uns selbst nur eine Eigenliebe? Nein, nicht immer; wir können auch aus Liebe zu Anderen Liebe zu uns selbst haben. Hört, wenn die Liebe zum Wohlgefallen da ist, die Eigenliebe auf? Ja. Was für eine Liebe hat Gott zu Christo? Eine thätige. Was steht im zweiten Glaubensartikel? Das Leben Christi auf Erden, und so enthält dieser meist Geschichtliches. {13} Was heißt das: Christus der eingeborne Sohn Gottes? Daß Christus der einzige Sohn Gottes ist. Stellt sich Christus denn mit denen gleich, welche in den Propheten die Götter genannt werden? Nein. Wer stand höher, die Propheten oder die Richter? Je nachdem man es nehmen will. Wenn man sagt: das Gewöhnliche steht höher, als das Außerordentliche, weil es immer sein muß, so waren die Richter höher; sagt man aber das Außerordentliche steht höher, eben weil es nicht immer ist, so standen die Propheten höher. Stand Christus über beide? Über den Richtern stand er, das steht in der Bibel geschrieben, ob er sich aber über die Propheten stellte ist nicht gewiß. Gott hat Christus in die Welt gesandt; hat er aber nicht mit den anderen Menschen dasselbe gethan? Ja; aber er hat Christus als seinen eingebornen Sohn mit mehr Gaben ausgerüstet und so steht er über den anderen Menschen. {14} In der Epistel an die Ebräer steht Cap. 1. Vers 3: ‚Welcher, sintemalen er ist der Glanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens.‘ – Wodurch ist Christus das Ebenbild von Gottes Wesen? Durch die Liebe welche sich in Christo dadurch als eine göttliche zeigte, daß er nur gekommen war um sich mit zu theilen, und durchaus nicht, um sich von anderen etwas mittheilen zu lassen. Und wodurch der Glanz seiner Herrlichkeit? Die Herrlichkeit bezeichnet hier die Allmacht.
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Wie viel Arten von Liebe giebt es? Drei. Die zu Gott, den anderen Menschen und zu sich selbst. Im Evangelisten Lukas steht Cap. 9 Vers 58: ‚Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege.‘ – Was bedeutet das? Daß Christus arm und ohne alle weltliche Macht war. Und im Briefe an die Philipper Cap. 2 V. 6 steht: ‚Welcher, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, hielt er es nicht für einen Raub, Gott gleich 21 sein. 7. Sondern äußerte sich selbst, und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein anderer Mensch und an Gebärde als ein Mensch erfunden.‘ Daraus geht hervor, daß Christus eine geistige Macht wie Gott hatte, welche er auch bewies; weltliche Macht zeigte er nicht, aber {15} er besaß sie auch nicht, und weil er arm geboren war, war es desto leichter, daß das Volk an ihn glaubte, weil man für gewöhnlich von einem armen Menschen weniger erwartet als von einem Vornehmen. Das klingt wieder, als wenn er Macht gehabt und verläugnet hätte? Aber Gott hat doch eine weltliche Macht? Ja; eine sehr große. Dann kann doch Christus nicht das Ebenbild von Gottes Wesen sein, wenn er gar keine weltliche Macht hatte? Christus hatte sie noch nicht; aber das durch ihn gegründete Christenthum besaß sie bald in einem hohen Grade. Hatte Christus alle Eigenschaften Gottes? Ja. Hatte er auch ein Gewissen? Er hatte es wohl, denn er erkannte ja bei Anderen was gut und böse sei; aber für sich brauchte er es nicht, denn er war vollkommen. {16} In einigen Stellen des neuen Testamentes, z. B. Ev. Joh. Cap. 3 und 5. 22 steht, daß Christus nicht gekommen sei zu richten, in anderen wieder, daß er richte; wie ist es nun? Da Christus gebohren wurde um die Welt seelig zu machen, brauchte er zwar nicht zu richten, aber er verstand es. Können wir die Eigenschaften der Allmacht Christus zuschreiben? Ja; so weit es, da er Mensch war, geht. Auch die der Liebe? Wohl eben so. Was unterscheidet denn nun Christus vorzüglich von den anderen Menschen? Daß er keinen Theil an der Sünde hatte. 21 22
sein] sei Joh. 3,17; vgl. Joh. 12,47; dagegen Joh. 5,22.30; 8,16
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Und woraus sehen wir, daß er keinen Theil an der Sünde hatte? Das muß ein Eigenes an ihm, verbunden mit seinen Worten den Menschen gezeigt haben. Im 2ten Briefe an die Corinther C. 5. V 21. steht: ‚Denn er hat den der 23 von keiner Sünde wußte für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt.‘ – Was geht daraus hervor? Daß Christus keine Sünde hatte. {17} Im neuen Testamente steht, die Menschen seien alle Sünder, Christus war aber keiner, konnte er nun doch ein Mensch sein? Ja. Er war der vollkommenste Mensch den es gegeben hat, und er hat die Menschen eigentlich erst zu Menschen gemacht. Er war auch von sündigen Ältern geboren, weshalb hatte er keine Sünde? Eben weil er göttlichen Ursprunges war. Wie kann man die Sünde mit der Krankheit vergleichen? Die Sünde ist eine Krankheit des Geistes, eben so, wie die Krankheit eine Sünde des Körpers ist, besonders wenn sie durch Leidenschaften, Unmäßigkeit u.s.w. herbei geführt ist; und wie es durchaus keinen ganz gesunden Menschen giebt, so giebt es auch keinen von der Sünde ganz freien. Wozu war Christus gekommen? Um die Menschen seelig zu machen. Worin besteht diese Seeligkeit? In Befreiung und Vergebung der Sünden, und in der reinen Erkenntniß Gottes und des Guten. {18} Ein selbst Kranker kann doch einen anderen Kranken heilen, konnte so nicht auch Christus, wenn gleich selbst sündig andere von der Sünde befreien? Wenigstens nicht gut. Hat er denn seinen Beruf des Seeligmachens erfüllt? Ja. Giebt es eine körperliche Herrschaft? Nein, alles Körperliche heißt Zwang. Aber Christus hatte doch eine Herrschaft über uns? Ja; aber eine Herrschaft die ganz in unserem Willen steht; wer ihm nicht freiwillig dient, kann es gar nicht thun. Was gebietet uns Christus? Nur die Liebe. Das kann er aber nicht, und so gebietet er uns eigentlich gar nichts, und ihm zu dienen steht durchaus ganz nach unserem Willen Warum kann uns Christus die Liebe nicht gebieten? Die Liebe ist etwas rein Geistiges und wir haben schon gesagt, daß man dem Geiste keinen Zwang auferlegen kann. 23
daß] das
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Was ist denn eigentlich ein Gebot? Jemandes Willen der eine That verlangt. Worin bestand die Herrschaft Christi? In der Liebe. {19} Wie viele Arten von Herrschaften giebt es? Zwei; eine um des Be24 25 26 herrschten willen und eine um des Herrschenden. Was für eine war von Christus? Eine um der Beherrschten willen.
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Ist die Liebe Christi etwas anderes als die von Gott? Nein, denn Christus handelte nur nach den Befehlen Gottes und so sind beide als eine Person zu betrachten. Liegt in den Worten: „Ich glaube an Jesu Christo den eingebornen Sohn Gottes, unseren Herrn“, schon alles das, was uns Christus ist? Ja. Was bedurfte Christus, um den Willen Gottes auszuführen? Den Willen es zu wollen und die Kraft es zu können; was in den 2 Ausdrücken „eingeborner Sohn Gottes“ und „Herr“ liegt. Bezeichnet jeder dieser Ausdrücke dieses beides, oder bezeichnet jeder eines dieser beiden Dinge für sich? Wie man es nehmen will; ‚Herr‘ bezeichnet eigentlich schon die Kraft und den Willen, eben so wie ‚eingeborner Sohn Gottes‘; in einem näheren Begriffe bezeichnet ‚Herr‘ aber auch nur den Willen und ‚eingeborner Sohn Gottes‘ die Kraft. {20} Aber Christus lebt ja nicht mehr, wie kann er noch herrschen. Die Herrschaft Christi war immer nur eine Geistige, und wird so bis in Ewigkeit fortbestehen. Als er lebte that Christus Wunder; das geschieht jetzt nicht mehr, sind wir ihm denn noch eben so lieb wie diejenigen, welche mit ihm lebten? Ja. Nur den ersten Christen mußte er durch Wunder zeigen, daß er wirklich von Gott gesandt sei, wir können es jetzt an unseren Vorfahren sehen. Christus sagt: Wir müßten um ihm dienen zu können neu geboren werden und ein neues Leben anfangen, ist das Beides dasselbe? Wenn auch nicht dasselbe, so ist doch beides innig mit einander verbunden, denn indem wir uns unter Christi Herrschaft begeben, thun wir beides. Ist das nun etwas Wunderbares? Nein, denn es ist etwas ganz Natürliches, weil es mit jedem Menschen so geschieht. 24 25 26 27
Beherrschten] korr. aus beherrschten willen] Willen des] den willen] Willen
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Werden wir in dem neuen Leben so bleiben wie wir jetzt sind, oder anders werden? Wir werden Christi ähnlicher werden, denn um ihm zu dienen müssen wir ihm auch gleichen. Müssen wir z. B. die Geschichte des Saul als etwas Wunderbares annehmen, weil doch eine Stimme vom Himmel sprach? Nein. Saul war ein gescheuter Mann, dem vielleicht plötzlich ein Licht aufging, und irgend ein äußerlicher Zufall gesellte sich dazu, so {21} daß er es für ein Wunder hielt, was ihm geschah. Er war der klügste aller Apostel, weil er auch zuerst darauf kam, daß diese neue Lehre nicht nur für die Juden allein sondern auch für andere Völker sei und sie verbreitete. Wenn uns ein großer Zufall begegnet, sollen wir den wohl für ein Wunder halten? Nein; aber als eine Schickung von Gott und wir sollen das Göttliche darin erkennen. War Christus deshalb, weil bei seiner Geburt und bei seinem Tode etwas Wunderbares geschah und er früher auferstand als die anderen Menschen, mehr als wir sind? Nein, deshalb noch nicht. Wenn Christus in einem anderen Lande, und von anderen, Gott nicht so ergebenen Ältern geboren worden wäre, wäre er doch dasselbe geworden, was er so war? Da er von Gott kam, ja, aber er hätte mehr Mühe gehabt manches zu erreichen. Warum steht denn aber im Glaubensbekenntnisse die ganze Lebensgeschichte Christi? Weil schon zu der Zeit wo Christus lebte verschiedene Parteien waren, welche verschiedene Ansichten über Christus hatten. Um denen nun zu zeigen, daß Christus Zeit seines Lebens derselbe Mensch blieb. {22} Was dachten denn solche Parteien? Daß Christus erst der eingeborne 28 Sohn geworden wäre, als der heilige Geist über ihn kam, und er von Johannes getauft wurde, doch so ist es nicht, er war es von seiner Geburt an. Warum wollten die Menschen nicht gleich glauben, daß Christus der verheißene Messias sei? Weil die Propheten ihnen gesagt hatten, daß er „sein würde aus der Familie des David“. Würden wir wohl ohne die Wunder die Christus gethan hat an ihn glauben? Ja. Wozu dienten denn die Wunder? Um die ersten Christen in ihrem Glauben zu bestärken, welche weiter noch nichts hatten, woran sie sich halten konnten. 28
wäre,] wäre;
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Warum machte Christus, da er es doch konnte durch seine Wunder 29 nicht alle Menschen gesund? Weil das nicht sein Beruf war, und er nur gekommen war um Gottes Reich auf Erden zu verbreiten. Als was müssen wir denn die Himmelfahrt Christi ansehen? Nur als das, daß er von der Erde fort genommen wurde; denn das Wort Himmel bezeichnet gar keinen Ort, wo er hin kam. {23} War schon als Christus noch auf Erden war eine christliche Kirche? Nein; die kam erst als Christus gen Himmel gefahren war; denn er sagte selbst Joh. 16, V. 7., daß er den heiligen Geist schicken würde ohne welchen keine christliche Kirche bestehen konnte. Wenn Christus keine Jünger gehabt hätte, wäre er für uns doch das geworden was er war? Nein; denn seine Jünger waren seine Werkzeuge, ohne sie wäre wohl seine ganze Lehre untergegangen. Diese mußten sie verbreiten. Was ist größer, die Macht Christi, oder seine geistige Gegenwart? Im weitesten Sinne seine Macht, denn selbst bei den Heiden, wo die Gegenwart Christi nicht ist, ist doch seine Macht, welche durch die Christen auf die Heiden wirkt, aber im engeren Sinne geht seine Gegenwart vor, denn jeder muß erst zum Begriffe der Gegenwart Christi kommen, ehe er ein Christ werden kann. Muß man lieber lange auf Erden leben wollen, oder je eher je lieber zu sterben wünschen? Man muß so lange als möglich auf Erden leben wollen, weil man da desto länger wirken und seinem Zwecke um so näher kommen kann. {24} Aber Christus lebte doch nur kurze Zeit? Christus brauchte nur seine Bestimmung zu erfüllen, was er in so kurzer Zeit thun konnte; dann mußte er von der Erde fort, damit seine Jünger selbstständig würden, denn so lange er da war thaten sie nichts ohne seinen Willen, und so würde sich das Christenthum viel langsamer verbreitet haben. Warum blieb Christus nicht für immer auf der Erde? Weil sich dann alle Christen um ihn versammelt hätten und das Christenthum gar nicht so über die ganze Erde verbreitet worden wäre. Was steht wohl noch im zweiten Glaubensartikel, was wir noch nicht berührt hätten? Daß Christus gestorben und zur Hölle gefahren ist. Ist sein Tod etwas Wunderbares? Nein. Einige behaupten zwar, daß dies etwas Wunderbares sei, daß Christus so bald nach der Kreuzigung starb, das kann man aber eigentlich nicht sagen. 29
Beruf] korrigiert
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Aber geschah bei seinem Tode nicht etwas Wunderbares? Ja; die Evangelisten schreiben es so. Im Mathäus steht Cap. 27 Vers 46 und Vers 51 bis 53: {25} ‚Und von der sechsten Stunde an ward eine Finsterniß über das ganze Land, bis zu der neunten Stunde.‘ 51. ‚Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriß in 2 Stücke, von oben an bis unten aus, 52. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Gräber thaten sich auf und standen auf viele Leiber der Heiligen die da schliefen, 53 Und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung, und kamen in die heilige Stadt, und erschienen vielen.‘ Marcus und Lucas sprechen nur von dem zerrissenen Vorhange und Johannes spricht von gar nichts Wunderbarem. Kann man denn diese Erscheinungen als etwas Wunderbares nehmen? Nein. Das Verfinstern der Sonne und spalten der Felsen zeugt von einem Erdbeben. Das Zerreißen des Vorhanges muß man nur als eine bildliche Darstellung an sehen, denn dieser Vorhang hing im Tempel vor dem Allerheiligsten, wohin nur die Hohenpriester kamen. Durch das Erdbeben konnte dieses Zeug nicht {26} zerreißen, und wäre es zerrißen so hätten es die Priester dem Volke gewiß nicht gesagt, vorausgesetzt, daß sie sich nicht durch dieses Ereigniß dazu veranlaßt zum Christenthume bekehrt hätten, davon findet man aber keine Spur in der Bibel; und man kann das Ganze daher nur als etwas Bildliches annehmen, daß Christus in das Allerheiligste gedrungen und auch allen anderen Menschen den Weg dazu geöffnet habe. Wie ist es aber mit dem Auferstehen und in die Stadt gehen der Heiligen? Das ist ganz unwahrscheinlich und unzusammenhängend, denn wo waren sie denn in den drei Tagen, während welchen Christus todt war? Dies kann man also ganz übergehen. Wie ist nun aber das zu verstehen, daß Christus zur Hölle gefahren ist? Das ist nun vollends fabelhaft, denn wir haben ja gar keinen Begriff, was die Hölle ist und was Christus da gewollt hätte. Wir müssen also entweder glauben, daß die Schriften und Erzählungen, worin wir hierüber eine Aufklärung finden würden, für uns verloren gegangen {27} sind, oder was wahrscheinlicher ist, daß diese Worte erst später zu irgend einem unbekannten Zwecke in das neue Testament aufgenommen sind, und so können wir sie ganz heraus streichen, da wir nicht mehr wissen, was das eigentlich heißen soll. Was hat Pontius Pilatus mit Christus zu thun gehabt, da er mit im zweiten Glaubensartikel angeführt ist? Er war der Richter, welcher obgleich von der Unschuld Christi überzeugt, doch dem Dringen des Volkes nach geben und Christus verdammen mußte. Wer hat Christus angeklagt? Die hohen Priester.
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Weshalb? Sie gaben vor, daß sie von Christus zu fürchten hätten, daß er sich zum Könige mache. Glaubten sie das wirklich? Sie hatten Christus wohl immer bewacht und mußten so auch wissen, daß es nicht seine Absicht war, ein weltliches Reich zu gewinnen, aber sie fürchteten, daß das Volk Christus würde zum Könige wollen, und dann kamen die Römer, denen sie zu dieser Zeit unterworfen waren. Und so wollten sie ein kleines Übel thun um ein großes Gutes zu stiften, nämlich den Frieden des Landes zu erhalten. {28} War das wirklich so? Nein; denn man kann nur durch Gutes Gutes thun. Wenn man Gutes thun kann, muß man es thun? Ja, und es ist auch gar kein Unterschied zwischen: „Gutes was man thun muß“ und „Gutes was man thun kann“. Darf man um einen guten Zweck zu erreichen sich eines bösen Mittels bedienen? Nein; denn man darf die Gerechtigkeit dabei nie aus dem Auge lassen und diese hängt genau mit dem Gewissen zusammen. Also thaten die Hohenpriester etwas Schlechtes, indem sie Christus angaben? Ja. Sie glaubten aber etwas Gutes zu thun, indem sie aus Liebe zu Gott so handelten, und man sieht daraus, wie alle noch zurück waren, und daß das wahre Licht erst mit Christus gekommen ist. Woraus sehen wir wohl noch, daß die Menschen vor Christi einen ganz falschen Begriff von Gott hatten? Aus der Geschichte des Abraham, daß er Isaak opfern wollte, weil er glaubte Gott hätte es ihm befohlen; und auch Moses war noch im Irthume, indem er von dieser Geschichte schrieb, Gott hätte es gethan um Abraham zu versuchen; denn Gott weiß so schon was ein jeder Mensch thun würde, er braucht ihn nicht erst zu versuchen. Ist ein Irthum auch ein Fehler zu nennen? Nein, wohl aber eine Vormeinung. Niemals ein Fehler? Wenn er durch zu voreiliges Urtheil geschieht, so ist er wohl auch ein Fehler. {29} Daß Christus so früh starb, war das für uns übel, gleichgültig oder gut? Gut; aber nicht deshalb, daß sein Leben ein Ende hatte, sondern nur weil, wie schon früher gesagt ist, dadurch die christliche Kirche entstand. Warum mußte Christus am Kreuze sterben? Er starb während seine Feinde einen scheinbaren Triumph über ihn davon trugen und er be-
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hielt seine Geisteskraft bis zum letzten Augenblicke, aus Liebe zu denen, für welche er starb. Das wäre nicht so viel gewesen, wenn Christus eines natürlichen Todes gestorben wäre, und so sieht man auch hier das Göttliche in ihm. Hat Christus in Beziehung auf sich selbst jemals geistige Schmerzen gehabt? Nein, nur in Beziehung auf andere, und so ist seine Empfindung mehr Mitleid gewesen. Darf uns der Tadel anderer gleichgültig sein? Nein. Ist es gut wenn man fest auf seinen Willen besteht und sich durch das Urtheil anderer nicht irren läßt? Ja; aber man muß seine Gründe dazu haben, und die Überzeugung daß man auf dem rechten Wege ist, sonst kann es auch Eigensinn sein. Wie meinte Christus die Worte, die er am Kreuze sprach? ‚Gott, Gott, warum hast Du mich verlassen!‘ –? Wörtlich konnte er sie auf keinen Fall meinen; übertreiben that er auch niemals eine Sache und nun vollends nicht im Augenblicke seines Todes, denn er hätte ja das Volk dadurch irre ge{30}macht; aber er führte damit den 22sten Psalm an, welcher obgleich schon viel früher geschrieben wörtlich mit Christi Leiden und Tod übereintrifft, und mit diesen Worten anfängt. Bedeuten die Worte des heiligen Abendmahles dasselbe was in den Briefen Johannis steht, daß das Blut Christi uns von der Sünde gereinigt habe? Nein; denn Vergebung und Reinigung oder Befreiung ist nicht dasselbe. Welches von beiden ist mehr werth? Die Befreiung, denn sie macht uns rein von Sünde, aber die Vergebung läßt es immer noch zu, daß wir sündig sind. Warum diente nun grade der Tod Christi dazu, uns von der Sünde zu befreien? Weil damit erst das rechte Licht über uns kam. Gott will uns um Christo Willen unsere Sünden vergeben, und Christus zeigte uns, daß der Glaube an ihn allein uns von der Sünde befreien könnte; aber dieser Glaube wurde erst stark und fest in uns durch seinen Tod. Was heißt denn eigentlich vergeben? Etwas so gut wie vergessen sein lassen, und in den Handlungen gegen jemand so sein, als wenn man gar nichts mehr wüßte von dem, was man vergeben hat. {31} Wenn wir gut sind, haben wir dann nicht auch die göttliche Kraft, wie sie Christus hatte, andere Menschen gut zu machen? Ja, in sofern unser gutes Beispiel auf sie einwirkt.
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Wenn wir ganz gut sind, was unterscheidet uns dann noch von Christus? Daß wir durch viele Mühe dahin gekommen sind, und daß er es gleich war. Verstehen wir nun alles was den Tod Christi anbetrifft; und können wir uns alle seine Worte erklären? Ja. Was steht nun noch im zweiten Glaubensartikel? Daß Christus kommen wird zu richten die Lebendigen und die Todten. Ist denn das nothwendig? Nein. Wenn er wieder käme so würde sich alles um ihn drängen, die meisten würden nicht heran kommen, und die christliche Kirche käme in Verfall, wenn er für immer bei uns bleiben wollte; und wenn er wieder sterben würde, so wäre sein Leben etwas vorübergehendes, das zu nichts führen würde. Was heißt das nun also? Es ist damit nur ein geistiges Kommen gemeint; denn wenn er unsere Handlungen richtet, so ist die Gegenwart Christi stärker als gewöhn{32}lich, und wird so mit „Kommen“ bezeichnet. Meinten es so auch die, welche das Glaubensbekenntniß schrieben? Wohl nicht; denn die hatten auch noch einen falschen Begriff von den Worten Christi, welche besonders im Evangelisten Mathias stehen; wo im 24sten Capitel die Rede ist von einem Ende, wo nach vielen Trübsalen und Ängsten des Menschen Sohn erscheinen wird in den Wolken des Himmels, in aller seiner Herrlichkeit, u.s.w. – Damit ist aber keinesweges das Ende der ganzen Welt gemeint, sondern nur das Ende von Jerusalem; denn davon sprach er mit seinen Jüngern, und wie sollte er nun mit einem Male darauf kommen, ohne weiteres vom Ende der Welt zu sprechen? Er sagt auch daß ihr Geschlecht, also ihre Generation es erleben würde. Auch sagt er: in der ganzen Welt würde man dann das Evangelium predigen; aber damals bezeichnete das Wort Welt ganz etwas anderes als jetzt. Die Römer nannten nur ihr Reich so, als den einzigen cultivirten Theil der Erde. Die Juden nannten gar nur ihr Land so, und so heißt das also höchstens: im römischen Lande. {33} Obgleich das Christenthum zur Zeit der Zerstörung Jerusalems schon allgemein bekannt war, so wuchs das Reich Christi doch sehr als der Tempel unterging und das war mit den Worten gemeint Vers 31 Cap. 24: ‚Und er wird senden seine Engel mit hellen Posaunen und sie werden sammeln seine Auserwählten von den vier Winden, von einem Ende des Himmels zu dem anderen.‘ – Viele dieser Dinge sind nun bildlich genommen und erscheinen dadurch anders als sie sind, so, daß nur das Ende von Jerusalem damit gemeint ist. Das sieht man auch darin, daß Johannes von dem allen gar nichts geschrieben hat, denn der stellte nie solche Bilder auf, um die Menschen nicht verwirrt zu machen.
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So wäre also dieses Richten gar nicht mehr für uns. Es muß doch noch für uns sein, in so fern Christus unsere Handlungen nach unserem Tode loben oder tadeln wird. Wenn unser Leben nun mit unserem Tode aufhörte, müßten wir dann doch eben so leben, wie jetzt? Ja. {34} Im ersten Briefe Paulus an die Thessalonicher steht auch etwas vom Wiederkommen Christi; scheint das etwas Körperliches zu sein? Nein; denn es steht da, daß wir ihm entgegen kommen, und dann immer bei ihm bleiben würden und das können wir nur als etwas Geistiges annehmen, wie überhaupt das ganze vierte Capitel dieses Briefes nur eine bildliche Darstellung ist; und am Ende des Capitels ist auch nur von der Auferstehung der Christen die Rede, die Heiden sind ganz übergangen. Dieser Brief hat auch die Veranlassung zu dem Glauben gegeben, daß Christus nach 1000 Jahren wieder kommen würde, was aber eine ganz falsche Vorstellung ist. Werden wir uns in der anderen Welt alle von Anfang an gleich sein? Nein; zuerst wird eine Verschiedenheit sein, denn die Heiden müssen doch erst zur Erkenntniß kommen, dann aber werden wir uns alle gleich sein. Wird die Seele ihr altes Leben fort setzen oder ein ganz Neues anfangen? Das wissen wir nicht recht. Werden wir aber wissen wer und was wir hier auf der Erde gewesen sind? Ja; denn wir werden gewiß ein Bewußtsein der guten oder bösen Thaten in uns behalten, die wir hier auf der Erde gethan haben. {35} Kann es uns gleichgültig sein ob die Welt nach unserem Tode einmal untergehen wird oder nicht? In so fern nicht, weil auch wir dann auferstehen sollen. Was haben wir für uns von dem zu der Zeit verheißenen Richten zu erwarten? Wir wissen eigentlich nicht in wie fern das Richten noch für uns ist, wenigstens dieses allgemeine Richten, denn ein jeder wird nach seinem Tode erst in eine Art Verwirrung kommen, wie beim Erwachen aus einem Schlafe und darauf zur reinen Erkenntniß seiner selbst, und dann wird er auch schon gerichtet sein. Wozu dient das Abendmahl? Zur Gedächtnißfeier des Todes Christi. Wäre es dasselbe wenn Christus auch nicht die Bedeutung seines Fleisches und Blutes hinein gebracht hätte? Nein; sonst bezöge es sich nicht vorzüglich auf seinen Tod, sondern es wäre nur so zu nehmen, daß wie wir jetzt zusammen Brod äßen und Wein tränken auch Christus einst mit seinen Jüngern zusammen gelebt hätte.
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Im Ev. Joh. Cap. 6 Vers 54 steht: ‚Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der hat das ewige Leben und Ich werde ihn am jüngsten Tage auferwecken.‘ Wie ist das zu verstehen? Das ist wieder nur bildlich zu nehmen und heißt so viel als: wer an mich glaubt. Aber vorzüglich diese Stelle ist die Ursache gewesen zu dem falschen Glauben, daß in dem Brode wirklich das Fleisch Christi sei. {36} Im Ev. Math. Cap. 26 Vers 28 steht: ‚Das ist mein Blut des neuen Testamentes‘; worauf bezieht sich das? Das können wir nicht recht wissen, denn die eigentlichen Worte Christi sind uns verloren gegangen, und da jeder Evangelist eigentlich etwas anderes sagt, so wissen wir nicht, was das Rechte ist und können nun nur sagen, daß wir es zum Gedächtniß Christi feiern; wie wir das mit dem Blute und Fleische verstehen sollen, wissen wir nicht ganz genau. Um die Meinung über diesen Punkt war auch der Streit zwischen Protestanten und Lutheranern; da aber beide Glauben sonst ganz überein stimmten und dies nur etwas Unbedeutendes ist, so haben sich beide Gemeinen jetzt vereinigt und nehmen das Abendmahl zusammen. 30
Warum können es nicht eben so gut auch die griechischen und katholischen Christen mit uns nehmen? Weil die denken, daß es wirklich der Leib und das Blut Christi ist, und überhaupt andere Ceremonien dabei haben, besonders aber, weil ihr Glauben auch noch in vielen anderen Stücken von dem Unseren abweicht. Woraus besteht die Beichte? Aus Bekennung und Vergebung der Sünden. Der Prediger bekennt die Sünden für sich und die ganze Gemeinde, und {37} das ist eine Vorbereitung zu dem heiligen Abendmahle. Was ist der heilige Geist? Um das zu beantworten muß man dreierlei wissen, woher er kommt, wozu er dient und was er ist. Warum kam er erst, als Christus wieder fort ging? Weil er in der leiblichen Gegenwart Christi nicht nöthig war. Von wo kam er? Von Gott. Wozu war er denn noch? Die Menschen hatten schon immer gewußt, daß Gott ihr Vater sei; Christus hatte ihnen das deutlicher gemacht, so, daß sie zur wahren Erkenntniß kamen und der heilige Geist brachte sie nun dahin, daß sie diese Erkenntniß auch anwenden konnten. Darf man gleich der Meinung eines jeden beistimmen? Nein; man muß immer selbst erst prüfen, ob es auch richtig ist.
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griechischen] korr. aus ch
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Sobald wir nun den heiligen Geist haben, können wir auch wohl das neue Testament und alles andere entbehren? Das sollten wir können, aber wir sind noch gar nicht so fest, so, daß wir uns immer aus dem neuen Testamente Rath holen müssen, und also ist uns das neue Testament sehr nützlich, bis wir werden zu dem großen Ziele der Christen gekommen sein, daß wir so vom heiligen Geiste durchdrungen sind, {38} daß wir uns ganz darauf verlassen können und dann weiter nichts mehr brauchen. Was haben wir denn durch den heiligen Geist? Freiheit und Selbstständigkeit der Gedanken, des Gemüthes und des Willens, in guten Sachen; denn wir müssen durch den heiligen Geist so fest werden im Guten, daß wir an das Böse gar nicht mehr denken. Wenn wir den heiligen Geist ganz haben, werden wir dann auch noch Pflichten zu erfüllen haben? Nein, weil wir dann alles, was wir jetzt noch als Pflicht thun müssen, ganz freiwillig thun würden, und dadurch dies alles aufhört, Pflicht zu sein. Ist alles das, was in der Bibel Gesetz heißt, Pflicht? Ja. Was giebt es für Pflichten? Nur körperliche, keine geistige, denn der Geist ist ganz frei und kann keine Pflichten erfüllen. Was ist denn das rein Geistige, dem keine Pflicht auferlegt werden kann? Die Liebe. Mit dieser stehen nun aber alle andere geistige Kräfte mehr oder weniger in Verbindung, und so sind also durch die 31 Liebe alle geistige Kräfte von der Pflicht frei. Was unterscheidet unsere Freiheit von der der Thiere? Unsere Freiheit ist vernünftig, die der Thiere unvernünftig. Haben wir Menschen alle gleich viel Vernunft? Ja. Nur bei dem einen ist sie mehr ausgebildet, {39} als bei dem anderen, und dadurch bekommt der eine dann mehr als der andere. Welcher von zwei Menschen, welche beide in gleichem Grade ihre Pflichten erfüllen ist besser, der, dessen Vernunft mehr ausgebildet ist, oder der, dessen weniger? Der, dessen Vernunft mehr ausgebildet ist. Wenn nun aber zwei gleiche Vernunft haben, und der eine seine Pflicht thut, der andere nicht, welcher ist von diesen der beste? Derjenige, welcher seine Pflicht thut. Wenn nun aber zwei Menschen ihre Pflicht nicht thun, und einer mehr geistige Entwickelung hat, als der andere, welcher ist dann der be-
31
frei] korr. aus freu
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ste? Der mit weniger Verstand, denn bei dem kann es mehr Dummheit sein, bei dem anderen ist es Sünde, und auf jeden Fall kann der weniger kluge dann auch weniger Unheil anrichten, als man von dem Klugen fürchten muß. Wenn nun der Kluge aber vorzüglich in seiner Arbeit oder Kunst ist? So ist es ein vortrefflicher Arbeiter oder Künstler, aber deshalb doch 32 ein schlechter Mensch, denn seine körperliche Fähigkeiten stehen mit seinem moralischen Wesen in gar keinem Zusammenhang. Aber was ist denn eigentlich die Pflicht? Ein, vom Gewissen ausge33 hender, innerer Trieb, der erfüllt werden muß, in so fern er mit der vernünf{40}tigen Freiheit des Menschen und der Vernunft selbst in Einklang steht. In der Apostelgeschichte, Vers 17 Cap. 2 ist eine Stelle angeführt aus einer Rede des Propheten Joel, wo der schon vom heiligen Geiste sprach. – Hatte der ihn denn schon selbst? Man muß es glauben, denn sonst hätte er ja nichts davon wissen können. Hatten ihn denn auch wohl schon die Apostel, ehe Christus von ihnen ging? Nein; denn ihre Freiheit fehlte ihnen noch und wir haben gesagt, daß erst mit dieser der heilige Geist kam. In der Apostelgeschichte Cap. 2 Vers 4 steht nach einer Beschreibung, wie der heilige Geist über die Jünger kam: ‚und wurden alle voll des heiligen Geistes, und fingen an zu predigen mit anderen Zungen, nachdem der Geist ihnen eingab auszusprechen.“ – Danach hatten diese doch plötzlich mehre Sprachen gelernt, was der heilige Geist uns nicht thut, ist er deshalb bei uns doch derselbe, wie er bei ihnen war? Ja; denn er gab ihnen auch wohl nur ein, was sie sagen sollten von den großen Thaten Gottes, besonders durch Christus, und das thut er bei uns auch noch. Die Apostel empfingen den heiligen Geist unmittelbar von Christus, aber wodurch hat er sich bis auf uns fortgepflanzt? Durch die christliche Kirche. Welcher Unterschied ist zwischen Wissen und Ahnden? Wissen ist etwas Bestimmtes, Ahnden aber ist nur ein dunkeles Gefühl, daß eine Sache wohl so und so sein {41} könnte, aber ohne Bestimmtheit. Wenn nun der heilige Geist den Jüngern wirklich andere Sprachen eingab, ist er deshalb bei uns nicht mehr derselbe, weil er dies nicht mehr thut? Wir können uns Zeit lassen die Sprache zu lernen; aber
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stehen] korr. aus hängen innerer] innere
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damals, wo das Christenthum schnell verbreitet werden sollte, war es auch nothwendig, daß die Jünger schnell fremder Sprachen mächtig waren, um sich desto leichter darin mit theilen zu können, sowohl mündlich als schrifftlich; Übrigens ist diese ganze Erzählung in der Apostelgeschichte Cap. 2 so unvollkommen, daß man darüber gar nichts recht sagen kann. Wie viel verschiedene Arten von Veränderungen können mit dem Menschen vor gehen? Zweierlei; Innere und Äußere; d. h. solche die durch ihn selbst entstehen, und solche die durch Einwirken von außen geschehen. Wenn wir den heiligen Geist bekommen, so geht doch auch eine Veränderung mit uns vor, ist das eine äußere oder eine innere? Eine äußere, denn wir bekommen den heiligen Geist durch die christliche Kirche. Wenn Jemand den heiligen Geist nicht hat, ist das seine eigene Schuld? 34 In so fern er in Verhältnissen lebt, die es ihm gestatten den heiligen Geist zu besitzen, so hat er wenigstens etwas Schuld daran. Wer hat denn den anderen Theil der Schuld? Die christliche Kirche, oder die ganze Menschheit, denn sie muß den Einzelnen, wenn er nicht ganz verstockt ist, dahin bringen können, den heiligen Geist zu bekommen. {42} Was kommt zuerst, der Glaube oder der heilige Geist? Beides kommt zusammen, denn man kann sich weder einen Menschen denken, welcher den Glauben hat ohne den heiligen Geist, noch umgekehrt. Der heilige Geist kommt zwar durch den Glauben, aber auch mit ihm zugleich. Woraus sehen wir aber, daß der heilige Geist von außen kommt? Das steht in mehren Stellen des neuen Testamentes, z. B. im Ev. Joh. Cap. 16 Vers 7. – Gall. Cap. 3 u.s.w.: daß ihn Christus schicken will. Wenn Jemand den heiligen Geist nicht bekömmt ist das nur die Schuld der christlichen Kirche, gar nicht seine eigene? Ja, er hat auch Theil daran, denn ein jeder Mensch hat gleiche Kraft ihn zu bekommen in sich, und er muß dazu nun noch den Willen haben, die Lehren der Kirche zu befolgen. Wo muß ein jeder die Schuld suchen, wenn Jemand den heiligen Geist nicht hat, und ihn noch bekommen soll? Die Kirche in sich, der Einzelne auch in sich, wenn sich beide dann so entgegen kommen, so wird gewiß noch etwas aus dem Einzelnen werden.
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Verhältnissen] Verhältnisse
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Wann bekommen wir die Fähigkeit, den heiligen Geist mit zu theilen? Sobald wir so viel Vernunft haben, daß die göttliche Lehre einen Eindruck auf uns macht. Sind wir dann auch schon schuldig, wenn wir ihn nicht mit theilen? Nein. Wann werden wir verantwortlich? Wenn wir eingesegnet sind. Warum grade dann erst? Weil die Einsegnung eine öffentliche Anerkennung ist, daß wir durch den genossenen Unterricht fähig sind, den heiligen Geist selbst zu haben und mitzutheilen, und damit {43} eigentlich erst in die christliche Kirche aufgenommen werden. Bekommen wir den heiligen Geist grade durch die Einsegnung? Nein; in uns haben wir ihn schon, auch sind wir uns schon Rechenschaft davon schuldig, aber indem wir durch die Einsegnung das Zeugniß bekommen, daß wir ihn haben, können erst nach derselben die Anderen ihn von uns fordern. Sind wir nun im Klaren mit dem heiligen Geiste? Nein; wir wissen noch nicht was er ist. Hatten die Propheten wirklich schon den heiligen Geist? Nein; sie prophezeiten nur, indem sie das Bewußtsein der Unseeligkeit in sich hatten, eine bessere Zeit und sprachen so von dem Erlöser. Wo hören wir in der Bibel zuerst das Wort Geist? In der Schöpfung, wo da steht: und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser. Was heißt das? Daß das Leben in der Flüssigkeit, wohin auch die Luft gehört, sei. Was ist nun also Geist? Die Kraft des Lebens ist der Geist. Was ist heilig? Alles was mit Gott und der christlichen Kirche in naher Berührung steht. Und was ist nun der heilige Geist? Der heilige Geist ist eine, von Gott ausgehende, das höhere, innere Leben hervorbringende Kraft, die sich in alle Seelen fortpflanzt. – Oder auch: Der heilige Geist ist eine innere Kraft, die das höhere Leben {44} der Seele und eine Verbindung mit der christlichen Kirche bewirkt. 35
Erklärung des Liedes über den heiligen Geist, No. 265. „Geist Gottes aus des Ew’gen Fülle, in unsren Geist herab gesenkt. –“ Das stimmt ganz mit dem was wir schon gesagt haben.
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Im ‚Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für evangelische Gemeinen’, hg. Schleiermacher u. a., Berlin: Reimer 1829, 139 f. – Das Lied ist eine Bearbeitung der Nr. 27 in Karl Bernhard Garve: Christliche Gesänge, Görlitz 1825 (vgl. Bernhard
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„Der auch in unbemerkter Stille, des Herzens Trieb gen Himmel lenkt!“ – Was heißt das? Daß er es weniger oft öffentlich thut in der Kirche, als in einsamer Stille, d. h. wenn man ganz allein ist. Besitzen wir da auch den heiligen Geist, da wir ihn doch nur in der christlichen Kirche haben? Ja; denn wir sind immer Mitglieder der Kirche, und auch wenn wir allein beten ist es eine kirchliche Verrichtung. „Du, der einst Davids Psalm beflügelt, den Sehern Aug’ und Mund entsiegelt“ – Warum sind nur Davids Psalmen benannt, er hat sie ja nicht alle geschrieben? Aber unter den bekannten Dichtern der Psalmen ist David der vorzüglichste, und so werden sie gewöhnlich alle ihm zugeschrieben. 37
Was heißt aber „Davids Psalm beflügelt“? In manchen Sprachen macht man einen Unterschied, indem man sagt: die Rede geht zu Fuß (ist prosaisch) oder sie ist geflügelt (poetisch). Wer sind die Seher? Die Propheten. Was heißt das nun, ihnen Aug und Mund entsiegeln? Das heißt, sie klar sehen, denken und überlegen lassen. {45} 38
„Uns auch noch jetzt mit Gluth durchdringt, auch jetzt uns Gottes Weisheit lehret, und Christi Wahrheit uns verklärt, wer ist’s, der würdig dich besingt?“ Ja, es braucht keine romantische Gluth zu sein, aber eine Gluth für die Religion hat ein jeder in sich. Was heißt aber in diesem Verse das einst und jetzt? Daß er uns noch eben so erleuchtet, wie in vergangenen Zeiten den David. 2. „Du Quell der reinsten Himmelsliebe, die in das Herz lebendig quillt.“ Was ist Himmelsliebe? Die Liebe zwischen uns und Gott. In wiefern kommt die mit dem heiligen Geiste zusammen? Die christliche Kirche und mithin auch der heilige Geist ist nur Liebe. „und so des neuen Menschen Triebe mit heilger Gotteskraft erfüllt.“ Wer ist der neue Mensch? Der erst den heiligen Geist bekommen hat. Was sind Triebe? Ein Trieb ist eine innere Bewegung nach einem gewissen Ziele.
36 37 38
Schmidt: Lied – Kirchenmusik – Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers, Berlin 2002, S. 731). gen] jen beflügelt] beflügelt. aus] auch
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Haben wir das nicht mit den Thieren gemein? Ja; aber in einem viel höheren, mehr geistigen Grade als sie. „Du bist es, der die Schwachheit stützet, im Pilgerlauf sie stärkt und schützet, wenn sich die Seel’ in Schlummer neigt“ – Was für ein Schlummer ist das? Das ist, wenn der Mensch nicht mehr auf sich achtet, {46} und sich der Sünde hin giebt. „Der, – o geschäh es nicht vergebens – als Unterpfand des ewgen Lebens, uns hier des Himmels Krone zeigt.“ Das ist nicht wörtlich zu nehmen, denn der Belohnung wegen dürfen wir das Gute nicht thun. „Du bauest aus lebendgen Steinen der Kirche reines Heiligthum;“ – was heißt das? Die lebendigen Steine sind die Menschen, und „du bauest“ zeigt, daß wir noch nicht fertig sind, wir streben nach Reinheit, die wir aber noch lange nicht erreicht haben. „Erhöhest durch des Herrn Gemeinen des Kreuzes unbesiegten Ruhm. – 39 “ Das deutet auf die Kreuzigung Christi. „Und wo du sprichst mit Feuerzungen, beugst du zu selgen Huldigungen der Heiden überwundne Kraft. Der Hölle Reich muß dir mit Beben die Schaar Gefangner wieder geben, die es in Sünden hingerafft.“ Das heißt, daß die reine Lehre der christlichen Kirche in jedem Gemüthe Eingang findet, und daß, wo sie sich hin verbreitet, auch die in Sünden Versunkenen wieder zum Guten zurück gelenkt werden, und den heiligen Geist bekommen. 4. „Wer kann wie du mit Donnern reden, wenn Du im Schlaf den Sünder schreckst? –“ Das ist das Aufwachen des Gewissens durch den heiligen Geist, in einem der Sünde hingegebenen Menschen. „Wer tröstet so wie Du die Blöden, wenn Du die neue Sehnsucht weckst? –“ Wer sind die Blöden? Die, welche nicht genug Zutraun zu sich selbst haben. {47} Und welche ist die neue Sehnsucht? Die nach Christus und dem heiligen Geiste. „Wenn sie in ihr Verderben schauen, so lehrst du sie dem Ruf vertrauen, der sie mit Gottes Frieden grüßt.“ – Was für ein Ruf ist das? Der, der in uns ruft: „Abba, lieber Vater.“ 40
„Wenn sich der Geist zwar willig zeiget, doch ihn des Fleisches 41 Schwachheit beuget, bist Du es, der das Leid versüßt.“ – Welches Leid? Die Trauer über unsere Schwachheit und Sünde.
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deutet] deuted
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Ist da versüßen ganz genug? Nein; dadurch wird es uns nur leichter, aber an sich bleibt es gleich. 5. „Du drückest der Bewährung Siegel den wohlgeprüften Seelen auf.“ – Was heißt das? Daß wir in der Prüfung bestanden und fest gefunden sind; und also dies als Gewißheit in uns haben. „Du giebst den Zeugen Glaubensflügel,“ Das heißt: du läßt die, welche von Christus zeugen können schnell dessen Lehre über die ganze Erde verbreiten. „Und führst sie im Triumph hinauf. – In aller Trübsal lehrst du beten, du selbst willst unsre Noth vertreten, auch ohne Wort, durch starkes Flehn.“ Durch den Sieg unseres Glaubens. {48} Ist beten und vertreten eins? Nein, aber eins geht aus dem anderen hervor. Sobald der heilige Geist aus uns betet, vertritt er uns auch. „Die Liebe führest du zum Throne und ihren Werken wird zum Lohne, die Kraft in Demuth fest zu stehn.‘ Das heißt, daß die Liebe durch den heiligen Geist uns zu Gottes Macht bringt und uns die Kraft giebt in Demuth fest zu halten an unseren Glauben. 6. „Wenn Christus einst hernieder schwebet, auf das geschloßne Todtenfeld, mit mächtgem Wort es neu belebet, zum Erbtheil in der beßren Welt:“ Das bezieht sich auf die Vorstellung der allgemeinen Auferstehung. „Dann trägt in deiner Kraft die eine bewährte heilige Gemeine zum Throne Herz und Psalm empor; dann ströme du durch alle Glieder, die höhre Gluth der Himmelslieder zum Preise dem, der uns erkohr.“ Das heißt, daß derselbe heilige Geist, der jetzt in uns ist, uns auch nach unserem Tode in jener Welt höhere Lieder lehren wird, um Gott zu besingen. Wann hat die christliche Kirche angefangen? Zu der Zeit wo die Gemeine der Gläubigen so groß wurde, daß sie nicht mehr nur alle zusammen beten konnten, sondern Redner haben mußten; also zwischen dem Anfange der Lehre Jesu und der Ausgießung des heiligen Geistes. {49} Ist die Kirche schon ganz fertig? Ja, aber sie kann noch immer erweitert und verbessert werden. Wird sie jemals aufhören? Nicht eher bis die Menschen werden ausgestorben sein.
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zeiget] zeiged beuget] beuged
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Wodurch pflanzt sie sich fort? Dadurch, daß die Kinder immer wieder Christen werden. Wodurch werden die Kinder immer wieder Christen? Durch die Taufe. Wozu ist die Taufe? Zu einer bildlichen Darstellung, daß sie in der Kirche aufgenommen sind. Muß die Ceremonie nun grade so sein, wie sie ist? Nein; sie könnte eben so gut auch anders sein. 42
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Aber ist es denn recht, daß man schon die kleinen Kinder tauft, die haben doch noch gar keinen Willen, und ohne seinen eigenen Willen kann man keine Religion haben. Es läßt sich aber voraussetzen, daß die Kinder werden in der Religion ihrer Ältern erzogen sein wollen; dies ist nur der Anfang ihrer christlichen Erziehung und erst bei der Einsegnung werden sie durch ihren eigenen Willen in das Christenthum aufgenommen. Warum wurden die ersten Christen als erwachsene Menschen getauft? Weil man damals die Religion noch nirgends hatte, also ihr Gutes auch nicht kannte, und so die Überzeugung bei einem jeden voran gehen mußte, daß diese Religion die beste sei, ehe er sich konnte {50} taufen lassen und so ersetzte damals die Taufe gleichsam die Einsegnung. Wann können wir sagen, daß die Kinder Sünden bekommen? Sobald sie die Vernunft bekommen einzusehen was Recht und Unrecht ist. Was ist ihre erste Sünde? Der Ungehorsam; denn sobald sie noch keine Vernunft haben selbst zu überlegen, so wissen sie doch immer schon Gehorsam und Ungehorsam zu unterscheiden, und danach müssen sie sich richten. Mit der Einsegnung müssen wir nun doch unsere ganze Vernunft haben, hört dann der Ungehorsam auf eine Sünde zu sein? Der Gehorsam hört dann ganz auf, denn was wir bis dahin aus Gehorsam thaten, müssen wir dann aus Überlegung von selbst thun. In der Epistel an die Römer, Cap. 6 Vers 3.4. steht: ‚Wisset ihr nicht, daß alle, die wir in Jesum Christ getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, 44 auf daß, gleichwie Christus ist auferwecket von den Todten, durch die Herrlichkeit des Vaters, also sollen auch wir in einem neuen Le42 43 44
kleinen] kleine tauft,] tauft,? daß] das
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ben wandeln.‘ – Ist das dasselbe, was wir schon immer von der Taufe gesagt haben? Nein; denn hier ist vom Tode Christi die Rede, und davon haben wir noch nie gesprochen in Verbindung mit der Taufe. {51} Wie hängt das wohl zusammen? Im Griechischen, in welcher Sprache doch die Apostel alles schrieben, bedeutet taufen und untertauchen ein Wort, also kann man schon nicht wissen, welches von den Worten hier wirklich stehen soll. Dann wurden die Leute sonst auch bei der Taufe ganz unter getaucht, und kamen, so zu sagen, als ein neuer Mensch hervor. So ist nun das Untertauchen als ein Tod des alten Menschen an zu sehen, und um dies nun hier noch bildlicher zu machen, ist es mit dem Tode Christi in Verbindung gebracht worden. In der ersten Epistel an die Corth. Cap 1. Vers 14.15. steht: ‚ich danke Gott, daß ich niemand unter euch getauft habe ohne Crispum und Gajum; daß nicht jemand sagen möge, ich hätte ihn auf meinen Namen getauft.‘ – Und dann steht im 17. Vers: ‚denn Christus hat mich nicht gesand zu taufen, sondern das Evangelium zu predigen.‘ Hier spricht der Apostel doch von der Taufe wie von etwas Geringem? Nein, das nicht. Er hatte, wie auch früher Christus, Gehülfen bei sich, welche tauften, während er das weit wichtigere Amt, das Predigen des Evangeliums verrichtete. Weiter vor steht, daß viele Parteien entstanden seien, und so dankt er nun Gott, daß er nicht viele getauft hat, damit diese nicht, indem sie glaubten, er habe sie auf einen Namen getauft, wieder eine Partei bildeten. Sonst sieht er die Taufe auch als etwas Großes und Wichtiges an, nur nicht so {52} wichtig, wie das Predigen des Evangeliums. Wann wird die christliche Kirche fertig sein? Wenn alle Menschen den heiligen Geist haben und Christen sein werden. Bekommen wir denn die Kraft Christen zu werden nur durch die Lehre vom Christenthume? Ja. Was mußte eher da sein, der heilige Geist oder die Predigt vom Glauben? Beides mußte zugleich kommen und war vereint in Christus; denn die Predigt kann nur kommen durch den heiligen Geist und der heilige Geist wieder nur durch die Predigt. Auf wie viele Arten können wir zeigen, daß wir den heiligen Geist haben? Auf zweierlei; dadurch, daß wir ihn weiter lehren, und durch unseren Lebenswandel. Das ist denn doch auch eine Art Lehre für die anderen; welche von beiden Lehren ist nun besser? Sie sind beide so genau mit einander verbunden, daß man sie kaum trennen kann; aber da der Lebens-
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wandel weniger aus Verstellung nach gemacht werden kann, als die Predigt, so ist dieser wohl noch wirksamer als diese, denn bei einer Predigt wird man, wenn man fürchtet, daß sie nur Verstellung sein könnte, immer erst auf den Lebenswandel des Predigers sehen, und sie danach ganz verschieden beurtheilen. Ist diese zweifache Lehre das einzige Geschäft der Kirche? Ja. {53} Was lehrt es uns, wie wir wandeln sollen? Unser christliches Gewissen. Ist denn das anders, als ein anderes Gewissen? Ja; denn das Gewissen ist ein Einsehen dessen was recht oder unrecht ist; mit der christlichen Lehre bekommen wir andere Grundsätze; also auch neue Begriffe von Recht und Unrecht, und damit ändert sich unser Gewissen. Ist das Gewissen bei allen Leuten gleich? Nicht ganz, aber wo es nicht bei allen Menschen gleich ist, muß der Eine oder der Andere im Irrthum sein. Was ist ein Irrthum? Die falsche Ansicht einer Sache. Woraus entsteht die? Meist aus Übereilung. Woraus entsteht Übereilung? Immer auf die eine oder die andere Art aus Eigenliebe. So dürfen wir uns selbst also gar nicht lieben? Als wahre Christen müssen unsere Handlungen immer so sein, daß wir sie aus Liebe zu 45 Gott, unserem Nächsten und uns selbst thun. Werden wir das überall durchführen können? Ja. Z. B.: Wußte Christus seinen Tod voraus? Ja. That er etwas, um ihn zu vermeiden? Nein; im Gegentheile blieb er grade bei dem, was ihm denselben bereiten mußte. So starb er also aus Liebe zu den Menschen? Ja. Auch aus Liebe zu Gott? Ja. {54} Aber auch aus Liebe zu sich selbst? Ja; in sofern er dadurch für sich das Bewußtsein hatte, daß er den Willen Gottes erfülle. Entsteht aus der Liebe zu Gott auch die Liebe zum Nächsten? Ja, denn Gott fordert von uns die Liebe zum Nächsten. Auch umgekehrt? Nein, denn die Liebe zum Nächsten entspringt schon früher in uns, als die zu Gott.
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thun.] thun?
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Ist Eigenliebe etwas Gutes? Sobald sie sich nur auf Gott bezieht, ja; aber wenn sie mit der Eitelkeit in Berührung kommt, nicht. Im Briefe an die Römer, Cap. 8 Vers 12.–14. steht: 12.) ‚So sind wir nun lieben Brüder, Schuldner, nicht dem Fleisch, daß wir nach dem Fleisch leben.‘ Was heißt das? Daß wir unserer Sinnlichkeit nichts schuldig sind, sondern nur unserem Geiste. 13.) ‚Denn wo ihr nach dem Fleisch lebet, so werdet ihr sterben müssen; wo ihr aber durch den Geist des Fleisches Geschäfte tödtet, so werdet ihr leben.‘ Ist das verständlich? Ja, denn das Leben und Sterben ist hier nur geistig gemeint. 14.) ‚Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.‘ Was geht aus dem Ganzen hervor? Daß Eigenliebe, als ein Trieb von Gottes Geist uns wohl erlaubt ist. Macht reich oder arm sein in der christlichen Kirche einen Unterschied? Nein. Auch nicht klug oder unwissend sein? Ja, dies ist ein Unterschied. Warum macht das Eine einen Unterschied und das Andere nicht? Reich und arm ist nur sinnlich, klug und unwissend aber geistig. Da die ganze Kirche nun nur etwas Geistiges {55} ist, so kann in ihr auch nur ein geistiger Unterschied eine Verschiedenheit machen. Hat Christus nie etwas gesagt, was sich auf reich und arm bezöge? Ja; in einem Gespräche sagt er: es ist leichter, daß ein Camel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher in das Himmelreich komme. In dieser Unterredung hatte er vorher dem Reichen gerathen, daß er alle seine Schätze verkaufen und das Geld den Armen geben sollte. – Sollen wir es nun auch so machen? Nein, das kann er nicht für alle gemeint haben; denn, wenn jeder seine Reichthümer verschenken sollte, weil er nur dann, frei von Sorgen, die die Schätze immer verursachen, Christus folgen könnte, so würde am Ende auch Niemand die Schätze haben wollen, und die Armuth verursacht doch auch noch viel mehr Sorgen. Kann die Armuth nicht ein großes Hinderniß für die christliche Kirche sein? Ja, größer als der Reichthum. Kann auch die zu große Klugheit ein Hinderniß sein? Nein, denn man kann nie zu klug, wohl aber zu dumm sein und da nun noch sowohl geistige als sinnliche Unterschiede in der christlichen Kirche sind, ist diese weder von außen noch von innen fertig, und es wird daran gebaut werden, so lange es noch Menschen auf der Erde geben wird. Ist es nicht eine Pflicht der christlichen Kirche alle Menschen gleich klug zu machen? Nein, das ist unmöglich. Wir haben zwar schon
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gesagt, daß alle Menschen von Natur gleich viel Verstand haben, aber der Eine hat mehr Mittel und {56} Zeit ihn auszubilden, auch ein besseres Gedächtniß als der Andere, und so ist eine vollkommene Gleichheit unmöglich; kann also auch keine Pflicht für die Kirche sein; wohl aber ist es ihre Pflicht, diese nie ganz zu erreichende Gleichheit so viel als möglich her zu stellen. Wenn nun also die Kirche so weit ist, daß die Gleichheit in Reichthum und Klugheit so viel wie möglich hergestellt ist, ist sie dann fertig? Nein; denn es kann Menschen geben, die sehr gescheut sind, aber doch nichts taugen. Kann es auch schlechte Menschen in der Kirche geben? Nein; sobald jemand von ganzem Herzen zu der christlichen Kirche gehört und ganz nach ihren Gesetzen handelt, kann er nicht mehr schlecht sein, wohl aber noch nicht viel taugen. – Das steht auch im Briefe an die Römer wo im 7ten Capitel, Vers 18 bis 23 die Beschreibung eines Menschen ist, der wider seinen Willen die Sünde thut aber nicht schlecht genannt werden kann; und dann steht im 25sten Verse: „Ich danke Gott, durch Jesum Christum unsern Herrn.“ Was soll das heißen? Daß der uns von der Sünde schon erlößt hat und daß wir also als Christen nicht mehr ganz schlecht sein können. {57} In dieser Stelle steht Vers 24: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes.‘ Was heißt das? Von dem geistigen Tode. Wie weit muß die Kirche nun noch alle Menschen bringen? Daß sie alle gut sind, und auch keiner mehr so ist, daß er nichts taugt. Wird sie das können? Ja. Wenn es eine Gesellschaft von Leuten gäbe, die alle erst in die christliche Kirche gekommen sind, und also gleich weit im Glauben an Christo sind, können die sich unter einander weiter helfen? Wenn sie ganz gleich sind, nicht; dann kann nur die Gemeinschaft mit Christus selbst ihnen helfen. Ist aber eine solche Gleichheit möglich? Nein. Eine Verschiedenheit muß immer sein und sobald die ist, kann doch einer dem anderen helfen. Kann nicht sogar ein jeder Mensch in sich Verschiedenheiten haben? O ja; ein jeder hat in seinem Leben Momente, wo er schwächer ist als gewöhnlich. Muß sich ein Christ aus Lob und Tadel anderer, als vernünftig angesehener Menschen etwas machen? Ja, und zwar je weniger er noch in der Kirche vorwärts geschritten ist, desto mehr muß er sich danach
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richten und darauf hören, sobald er aber weiter darin kommt, so darf ihm das zwar immer nicht gleichgültig sein, aber er braucht sich nicht danach zu richten, denn er muß dann aus eigener Überzeugung handeln, und endlich dahin kommen, daß sein Lob und Tadel Jüngeren das wird, was es ihm einst von {58} anderen gewesen ist. Wo hört man zuerst von Lob und Tadel? Zu Hause. Was ist denn eine größere Gesellschaft in welcher sich der junge Christ etwas aus Lob und Tadel machen muß? Eine jede kleine Gemeinde. Wozu ist eigentlich der öffentliche Gottesdienst? Um uns zu erbauen. Was in demselben erbaut uns denn besonders? denn alles was in der Kirche geschieht, können wir doch auch zu Hause allein treiben. Wir können Predigten lesen, beten, singen; das Hören einer frei gesprochenen Predigt kann es auch nicht sein, denn z. B. in England werden alle Predigten abgelesen und die Leute erbauen sich doch daran. Was ist nun der Hauptgrund, daß wir uns in der Kirche mehr erbauen als zu Hause? Das Zusammensein mit Vielen, von denen wir wissen, daß sie alle mit religiösen Gedanken beschäftigt sind. In England giebt es auch noch eine andere Sekte, die Quäcker genannt, die kommen zusammen, ohne bestimmte Prediger oder dergleichen zu haben, und warten ob ihnen Jemand etwas sagen wird oder nicht; wenn keiner spricht oder singt, so gehen sie nach einer Stunde wieder nach Hause und haben sich doch sehr erbaut, obgleich ihnen nicht das Geringste gesagt wurde. Was haben diese nun dort, das sie nicht auch zu Hause haben könnten? Auch nur das Bewußtsein, daß sie mit vielen Menschen zusammen sind, von denen ein Jeder eben so fromme Gedanken hat, wie sie selbst. {59} Deshalb erbauen uns auch unsere Predigten so, denn wir hätten am Ende dasselbe, wenn wir uns zu Hause etwas aus der Bibel läsen, obgleich uns da einige, zwar nicht sehr wichtige Stellen, nicht ganz ver46 ständlich sein würden, aber die Gemeinschaft würde uns fehlen. Wozu sind nun aber die Prediger, können wir uns nicht denken, daß es mehr Menschen, als grade sie giebt, die die Bibel verstehen, und uns Stellen erklären könnten? O ja. Könnten die nun nicht alle predigen, ohne daß wir bestimmte Prediger hätten? Ja.
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Dieser linksseitig, also als Frage notierte Absatz ließe sich stilistisch auch zu der vorigen Antwort ziehen, so daß die Frage erst mit dem folgenden Absatz begönne.
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Würde das besser sein, oder unsere bestimmte Prediger? Wenn das so vollkommen sein könnte, wie wir es uns eben gedacht haben, wäre dies das beste; da das aber nicht sein kann, so ist die Einrichtung mit unseren Predigern weit vorzuziehen. Ist nun ein Prediger deshalb, weil er die Erlaubniß hat, über Stellen aus der Bibel zu predigen und sie uns zu erklären, besser als andere Leute? Nein; das ist sein Beruf, wie jeder andere auch den Seinen hat und der Prediger, obgleich er das Werkzeug zur Erbauung aller ist, erbaut sich selbst durch die Kirche eben so wie die anderen, denn wir sind alle gleich in Christo. {60} Sind wir nun mit der christlichen Kirche zu Ende? Ja. Was folgt jetzt im Glaubensbekenntniße? Die Gemeine der Heiligen. Was soll das wohl heißen? Das ist eigentlich nur ein anderer Ausdruck für „die christliche Kirche“, denn mit den Heiligen können keine andere gemeint sein, als die Christen und eine Gemeinschaft der Christen ist die Kirche. Übrigens ist dieser Satz auch erst später hinzu gekommen, in den älteren Glaubensbekenntnissen steht er nicht. Aber wohin gehört denn das Abendmahl? Auch zur christlichen Kirche, doch zum Theile auch zur Vergebung der Sünden. Steht das wohl in Verbindung mit der Taufe? Ja. Weshalb können wir das glauben? Weil beides Sakramente sind. Was bedeutet das Wort Sakrament? Im Lateinischen, aus welcher Sprache das Wort genommen ist, bedeutet es den Eid eines Soldaten. Aber wie kommt das nun mit dem Abendmahle und der Taufe zusammen, schwört man denn dabei? Nein; aber das Ja dabei ist so gut wie ein Schwur, denn wir Christen sollen eigentlich gar nicht schwören, das steht in der Bergpredigt, Math. 5. Vers 33–37; auch sollte keine Obrigkeit vor Gericht auf einen Schwur bestehen, sondern das Ja wie einen solchen ansehen; da Christus ausdrücklich den Schwur verboten hat und dieser so gegen die Überzeugung manches Menschen ist. Durch das Ja bei Taufe und Abendmahl verpflichten wir uns Gott und so kann das ein Sakrament genannt werden. {61} Aber ein kleines Kind kann sich doch noch nicht Gott verpflichten? Nein; aber unter Taufe verstehen wir Taufe und Einsegnung zusammen. Wir sehen also ein, daß wir die Taufe ein Sakrament nennen können, sehen wir es mit dem Abendmahle eben so deutlich? Erst müssen wir uns erklären wozu und was das Abendmahl eigentlich ist.
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Wo finden wir etwas von demselben? In den drei ersten Evangelien und dem ersten Briefe an die Corinther. Was sagt Mathäus davon im 26 Cap. Vers 26–28? ‚Da sie aber aßen nahm Jesus das Brod, dankte und brach es und gab es den Jüngern und sprach: Nehmet, esset, das ist mein Leib. Und nahm den Kelch und dankte, gab ihnen den und sprach: Trinket alle daraus. Das ist mein Blut des neuen Testamentes, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.‘ Sind diese Worte verständlich? Nein. Klingt das wie eine Einsetzung und Befehl zur Wiederholung? Nein. Wie kann Christus das gemeint haben, daß er das Brod und den Wein sein Fleisch und Blut nennt? Nur bildlich. Steht im Markus etwas anderes? Nein; da steht ganz dasselbe. Wie ist es mit Lucas? Der sagt mehr, denn da steht Cap. 22 Vers 19.20: ‚Und er nahm das Brod, dankte und brach es, und gab es ihnen und sprach: Das ist mein Leib der für euch gegeben wird, das thut zu meinem Gedächtnisse. {62} Desselbigen Gleichen auch den Kelch nach dem Abendmahle, und sprach: Das ist der Kelch des neuen Testamentes in meinem Blute, das für euch vergossen wird.‘ Steht nun hierin mehr? Ja; denn hieraus sehen wir, daß wir es wiederholen sollen, indem da steht, solches thut zu meinem Gedächtnisse. Was soll das aber heißen: „Das ist das neue Testament in meinem Blute.“? Das ist nicht zu verstehen; wenn nur stände „das Blut des neuen Testamentes‘, so könnte man es sich eher denken, aber so ist es eben so unverständlich, als die Stelle des Mathäus, welcher sagt: Das ist mein Blut des neuen Testamentes. Was sagt denn nun Paulus vom Abendmahle im ersten Briefe an die Corinther Cap. 11. Vers 24.25. ‚Dankte und brach es und sprach: Nehmet, esset, das ist mein Leib, der für euch gebrochen wird, solches thut zu meinem Gedächtnisse. Desselbigen Gleichen auch den Kelch nach dem Abendmahle, und sprach: dieser Kelch ist das neue Testament in meinem Blute; solches thut, so oft ihr es trinket, zu meinem Gedächtnisse.‘ Mit welchem der Evangelisten stimmt das am meisten überein? Mit Lucas, denn er spricht auch von Gedächtniß und „das neue Testament in meinem Blute“.
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ersten] ersten?
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Was sagt er aber anders wie Lucas? Er sagt: ‚der für euch gebrochen wird‘. – Das macht wieder ganz verwirrt, denn nun kann er das nicht mehr bildlich gemeint haben, denn gebrochen wurde der Leib Christi {63} nicht, und zwischen Brod brechen und dem Tode Christi ist durchaus nichts ähnliches; bei ‚geben‘ konnte man sich etwas bildliches denken, denn Christus hat seinen Leib in den Tod gegeben. So haben wir nun also zwei Parteien; Mathäus und Marcus sind sich gleich, Lucas und Paulus auch; welche haben es nun so gesagt, wie sich Christus ausgedrückt hat? Das kann man jetzt nicht mehr wissen. Die Jünger müssen das Ganze besser verstanden haben, durch irgend eine andere Erklärung, denn sonst wäre das Abendmahl wohl nicht eingeführt worden; doch diese ist für uns verloren gegangen. So könnten wir das Abendmahl ganz abschaffen. Nein. Hat es denn noch keine Sekte abgeschafft? O ja, die Quäker, und die berufen sich auf eine Stelle im Evangelium Joh. Cap. 6, welche mit mehren anderen im Johannes überein stimmt. In dieser steht besonders [V. 54]: „Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der hat das ewige Leben und ich werde ihn am jüngsten Tage auferwecken.“ und dann Vers 58: „Dies ist das Brod, das vom Himmel gekommen ist, nicht wie eure Väter haben Manna gegessen und sind gestorben. Wer dies Brod isset, der wird leben in Ewigkeit.“ Mit diesem Brode meint er doch nur sich selbst; denn Vers 48 hatte er auch schon gesagt: „Ich bin das Brod des Lebens.“ – So meint diese Sekte, daß unser Abendmahl eine ganz falsche Auslegung sei. {64} 48
Im Ev. Joh. Cap. 6. Vers 51 sagt Christus: ‚Ich bin das lebendige Brod vom Himmel gekommen.‘ – Wie meint er das? Das kann er nur bildlich gemeint haben. Dann sagt er weiter: ‚Wer von diesem Brod essen wird, der wird leben in Ewigkeit.‘ – Und „das Brod das ich geben werde, ist mein Fleisch, welches ich geben werde für das Leben der Welt.“ Da meint er: wie das Brod eine Nahrung für den Leib ist, so ist er die religiöse Nahrung für den Geist. Wie man aber das verstehen soll: „Dies Brod ist mein Fleisch“, das können wir nicht mehr wissen, und das war auch schon denen, die ihn hörten unverständlich, wie es Vers 52 steht. Vers 53 steht dann: ‚werdet ihr nicht essen das Fleisch des Menschen Sohnes und trinken sein Blut, so habt ihr kein Leben in euch. – Was
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Cap. 6. Vers 51] Cap. 51. Vers 6
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sagt er dadurch? Daß er das Einzige ist, wodurch wir Leben bekommen können. Aber da wir doch ohne den Glauben an Christus leben können, haben wir denn mehr als ein Leben in uns? Nein. Wir können auch nur in Beziehung zu Gott nicht dasselbe Leben haben, was wir haben, wenn wir an Christus glauben. Ähnliche Stellen sind auch noch im Ev. Math. und dem Briefe an die Galater. Wie haben das alles nun seine Jünger bezogen und was haben die geglaubt? Wir müssen glauben, daß sie es durch andere Reden oder Gebräuche verstanden haben, von denen wir nichts mehr wissen. – Allenfalls können wir die Rede von dem Blute auf das Brod übertragen und sagen, das haben sie verstanden, als wenn Christus gesagt hätte „nehmet esset, das ist mein Fleisch des neuen Testamentes“; und dann könnten wir sagen: {65} er nennt dies Brod das Fleisch des neuen Testamentes und das Osterlamm der Juden das Fleisch des alten Testamentes; denn dies beides hat in so fern eine Ähnlichkeit mit einander, daß: wie das Osterlamm gegessen wurde zur Gedächtnißfeier der Befreiung der Juden aus Ägypten, so soll das Brod sein zur Gedächtnißfeier, daß wir durch Christus befreit sind von den alten Sünden. Was hatte das Osterlamm der Juden noch für Namen? Das Fest der 49 süßen oder ungesäuerten Brode, und das Passahfest. 50
Was bedeutet der Name: Passahfest ? Daß in Ägypten der Würgeen51 gel an den Thüren der Juden vorüber ging; denn Passah ist ein hebräisches Wort und bedeutet vorübergehen. Aber warum aßen sie ungesäuertes Brod, daß sie dem Feste auch diesen Namen gaben? Weil sie beim Abmarsche aus Ägypten in der Eile ungesäuertes Brod gebacken hatten, da dies schneller geht und so hatten sie das zur Gedächtnißfeier der Befreiung mit beibehalten. Wenn wir nun auf das Abendmahl zurück kommen, wie ist es mit dem zweiten, dem Blute? Das kann Christus nur verglichen haben mit dem Lammblute, womit die Israeliten in Ägypten ihre Thüren bestrichen, damit der Würgeengel nicht kam. Warum mögen sie dazu grade ein Lamm genommen haben? Damals waren die Kalender noch nicht bekannt. Lämmer giebt es nun nur eine gewisse Zeit im Jahre, und {66} so nahmen sie das Blut eines
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Passahfest] Passatfest Passahfest] Passatfest Passah] Passat
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Lammes, damit ihre Nachkommen dadurch ungefähr sehen könnten, zu welcher Zeit sie ausgewandert wären. 52
Wie erklären wir jetzt die Ceremonie des Abendmahles mit kurzen Worten? So brauchen wir nun also Brod und Wein keinesweges für Blut und Fleisch Christi zu halten, sondern nur für den Körper des neuen Testamentes, das Brod als eine Erinnerung an das ehemalige Osterlamm, den Wein ähnlich wie das Blut des Lammes; beides als Andenken an unsere Befreiung von der Sünde durch Christi, und in so fern und auch weil er die Handlung eingesetzt hat, zur Gedächtnißfeier für Christus. Das Abendmahl ist nun aber immer als etwas sehr Geheimnißvolles angesehen worden, und hat zu vielen Streitigkeiten Veranlassung 53 gegeben; worin mag nun wohl der Grund dazu liegen? Sobald man es so betrachtet, wie wir es jetzt betrachtet haben, ist durchaus gar nichts Geheimnißvolles mehr darin und auch nichts, was Anlaß zu Streit geben kann; wenn man es sich aber rein aus den Worten Christi erklären will, die wir doch gar nicht mehr recht wissen, so kann wohl etwas Geheimnißvolles heraus kommen. Denn buchstäblich genommen können wir sie nicht verstehen, und aus etwas, das man nicht versteht, kann man sich leicht etwas Wunderbares machen, und aus dem entsteht ganz natürlich Streit. {67} Aber haben wir die Stelle im Johannes wohl ordentlich verstanden, wo sich Christus mit dem Weinstocke vergleicht? Ja, da nennt er sich die alleinige geistige Nahrung. Was ist eine geistige Nahrung? oder vielmehr was ist Nahrung überhaupt? Das, was uns das Leben erhält, denn ohne Nahrung können wir nicht leben; und damit auch das, was unsere Kräfte erhält und uns neue sammelt. Wenn wir nun keine Nahrung zu uns nehmen, bleiben unsere Kräfte dann stehen? Nein, dann nehmen sie ab, weil wir nichts haben, was sie uns erneut. Ist es nun eben so mit den geistigen Kräften, daß wir sie durch Nahrung vergrößern? Ja. Wenn wir nun aber keine geistige Nahrung haben, nehmen dann unsere geistige Kräfte auch ab? Nein, dann bleiben sie stehen; denn was wir einmal an geistigen Kräften haben behalten wir auch immer.
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jetzt] korrigiert worin] wozu
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Also was ist nun geistige Nahrung? Das, was unserem Geiste mehr und neue Kräfte giebt. Wodurch bekommen wir die? Durch das Zusammensein mit anderen Menschen. Woher bekamen sie denn die ersten Menschen, die noch nicht mit vielen anderen zusammen waren? Von denen können wir uns überhaupt keinen rechten Begriff machen. Sind wir Menschen, die wir jetzt leben alle gleich in geistiger Hinsicht? Nein, die einen haben mehr Verstand als die anderen, weil sie mehr geistige Nahrung haben, denn sonst haben wir gewiß alle gleich viel Fähigkeiten. Aber wie konnte sich Christus nun für die alleinige, geistige Nahrung halten; war das nicht anmaßend von ihm? Nein. {68} Was liegt aber im Abendmahle, was uns so sehr erbaut; ist es etwas anderes als in der Kirche? Nein. Ist denn etwas ganz neues darin? Nein. Könnten wir es nicht als etwas Überflüssiges abschaffen? Nein. Aber wodurch erbauen wir uns nun so sehr dabei, daß wir es nicht abschaffen wollen? Dadurch, daß wir das Bewußtsein haben, durch dasselbe unsere Verbindung mit Christo und so auch mit den Menschen zu erneuern. So ist das Abendmahl eine Wiederholung des, durch die Taufe geschlossenen Bundes mit Christo; und das Brodessen und Weintrinken ein körperliches Zeichen, um das zu bezeugen, was Christus selbst eingesetzt hat und so für das Abendmahl dasselbe, was für die Taufe das Wasser ist. So können wir das Abendmahl nicht entbehren, denn die Predigt erbaut uns und läßt uns an Christo denken, aber das Abendmahl verbindet uns auf das Neue mit ihm. Was hat das Abendmahl für einen Einfluß auf die Jünger Christi gehabt? Es hat sie vorzüglich zusammen gehalten, ohne dasselbe hätten sie leicht können aus einander gehen. 54
Im [1.] Briefe an die Corinther Cap. 10 V. 16 steht: ‚Der gesegnete Kelch, welchen wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Das Brod das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi?‘ – Was heißt das? Darunter ist das verstanden, was alle Christen zusammen hält zu einem Ganzen in Beziehung auf ihren Glauben, und das bewirkt vorzüglich das Abendmahl. {69}
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10] 14
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Könnte es nicht eine bloße Veränderung im Gottesdienste sein, die eigentlich überflüssig ist? Nein, denn dann müßten wir es ja entbehren können, aber das geht nicht. Was ist für ein Unterschied zwischen einem Priester und einem Prediger? Ein Priester stellt das Verbindungsglied vor zwischen Gott und seiner Gemeine, unsere Prediger aber sind nur der guten Ordnung wegen angestellt zur Vollstreckung der religiösen Feierlichkeiten, und wenn in einem sehr dringenden Falle einmal kein Prediger zu haben wäre, so könnte auch eben so gut ein Anderer sein Amt vertreten. Nun ist es doch aber eine alte Meinung, daß wir alle Priester Gottes sein sollen; was heißt das, wenn wir doch gar keine Priester haben? Christus war unser Priester, wir sollen ihm alle gleich werden, um dann in seiner Gemeinschaft für die, welche nicht Christen sind das zu werden, was uns Christus war, und so Priester für die Heiden, 55 d. h. das Verbindungsglied zwischen diesen und Gott. Kann aber das Abendmahl wohl nur dazu dienen uns mit Christus und den Menschen zu vereinigen? Nein, denn das geschieht auch schon von selbst; denn wir haben gesagt, daß die Liebe zu Gott, Christus und den Menschen, in so enger Verbindung stände, daß wir uns die eine gar nicht ohne die Andere denken könnten, wenigstens nicht in einem vollkommenen Maaße. Was ist nun der Zweck des Abendmahles? Dies zu erklären ist schwer 56 und das, was uns dabei erbaut, liegt nur darin, daß das Abendmahl die {70} einzige Ceremonie in der christlichen Kirche ist, welche wir ganz so begehen wie sie uns Christus vorgeschrieben hat, ohne allen Zusatz der Menschen. So ist es etwas, das uns neben dem Bewußtsein daß er es selbst grade so und nicht anders gewollt hat, an das Größeste im Leben Christi, an seinen Tod, und damit auch an die Vergebung unserer Sünden erinnert. Sind wir nun mit dem Abendmahle fertig? Ja. Wie waren wir aber darauf gekommen? Wir hatten von der christlichen Kirche gesprochen. Sind wir mit der nun auch ganz fertig? Oder was haben wir davon gehabt? Wir haben gefragt ob sie fertig wäre; wozu sie wäre und wann sie angefangen hätte. War sie vor Christi auch schon? Nein, sie hat erst mit ihm angefangen.
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diesen] diese dabei] korr. aus darin
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Wozu brauchen wir aber noch das alte Testament? Weil uns dadurch das neue Testament verständlicher wird. Wodurch unterscheidet sich das neue Testament von einem anderen Buche? Dadurch, daß wir aus diesem vorzüglich das Leben Christi kennen lernen. Was ist denn nun das Vorzüglichste darin? Die Reden Christi. Was gehört außer diesen noch hinein? Das, was seine Jünger die immer um ihn waren und die Lehre unmittelbar von ihm empfangen haben, schrieben. Ist das genug, daß diese es von ihm gehört haben? Nein. Sie mußten es auch richtig verstehen und eben so wieder lehren können. {71} Aber weiß man denn von alle dem, was im neuen Testamente steht, wer es geschrieben hat? Nein; z. B. von der Epistel an die Ebräer weiß man es nicht. Aber wo nun wirklich Namen dabei stehen, weiß man denn von denen gewiß, daß sie das, was sie schrieben, von Christus selbst gehört hatten? Nein, denn einige von denen, welche im neuen Testamente etwas geschrieben haben, stehen gar nicht mit genannt unter den Aposteln im Mathäus oder Lucas. Giebt denn aber der dabeigeschriebene Name eines Apostels die volle Gewißheit, daß dieser es wirklich geschrieben hat? Nein, nicht bei allen, denn es konnte ja viele Leute dieses Namens geben, und bei vielen dieser Schreiber ist es sogar sehr wahrscheinlich, daß sie nicht 57 die Apostel waren, denn sie sprechen von den Aposteln gleichen Namens ohne sich nur im Geringsten merken zu lassen, daß sie es selbst sind. Weiß man es aber von keinem gewiß, daß er der Apostel war? Ja, von Johannes und Paulus. Wenn das nun aus einer anderen Hand, wie von Christo gekommen ist, können wir denn doch gewiß sein, daß es grade das ist, was Christus selbst gesagt hat; können nicht die, die es schrieben ihre eigene Weisheit hinein gemischt haben? Nein, kein anderer als Christus kann dies gesagt haben. Steht im neuen Testamente gar nichts Überflüssiges? O ja; z. B. die Epistel des Judas, der zweite Brief des Johannes, und dgl. Warum läßt man das darin? Weil es weiter nichts schadet und man es aus alter Gewohnheit doch nicht fortwerfen will. {72}
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sprechen] korr. aus sprachen
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Wodurch wissen wir aber so ganz gewiß, daß alles was im neuen Testamente steht nur die Weisheit Christi ist? Weil alle seine Jünger mit Ausnahme des Paulus ganz gewöhnliche Leute waren, die wohl aus sich selbst nichts schöpfen konnten und so am treuesten das wiedererzählten, was sie selbst gehört hatten; und Paulus war vorher ein Pharisäer gewesen, jetzt aber ein großer Feind derselben, und so würde er denn doch nichts von ihrer Lehre in die christliche bringen; von einer anderen wußte er auch nichts, und das kann auch ein jeder sehen, daß aus der jüdischen Lehre nichts in den Briefen des Paulus steht. Wir wollen nun sehen, weshalb das alte Testament zur Bibel gehört. Was steht denn darin? Die Bücher Moses, der Könige, die Psalmen, u.s.w. Wer hat denn die Bücher Moses geschrieben? Moses selbst. Aber am Ende des letzten Buches ist doch der Tod Moses beschrieben? Das haben seine Nachfolger dazu geschrieben. Sind wir denn gewiß, daß er den Anfang geschrieben hat? Wenigstens kann er ihn so gut geschrieben haben wie jeder andere. Woher wußte er aber wie es beim Entstehen der Welt zu ging? Entweder hatte er es sich nach alle dem, was man davon wußte so gedacht, oder Gott hatte es ihm offenbart; wahrscheinlich ist es aber wohl durch Erzählen von einem zum anderen und endlich zu {73} ihm gekommen. Ist es nothwendig für uns den Anfang der Welt zu wissen? Wenn man von einer Sache nicht weiß, wie sie entstanden ist, kann man sie auch niemals recht genau kennen lernen, und so ist es auch mit der Welt. Wenn wir das also alles daraus kennen lernen, so ist denn wohl die Bibel nur ein Buch des Wissens wegen, d. h. um das alles zu lernen? Nein, sondern um Christus erkennen zu lernen. Gehört es aber zu unserem Verhältnisse zu Gott, daß wir wissen, wie die Welt geschaffen ist? Nein, das nicht, wohl aber das Wissen, daß Gott sie geschaffen hat. Der Erzählung von der Schöpfung der Welt folgt im ersten Buche Moses unmittelbar die Schöpfung des Menschen; ist das nun mit der eben 58 so? Ziemlich eben so. Könnten wir die zweite Erzählung von der Schöpfung nicht ganz ent59 behren? Dann wüßten wir ja nicht, wie es zugegangen ist, denn in 58 59
so?] so. entbehren] korrigiert
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der ersten steht, daß Gott die Menschen zu seinem Ebenbilde geschaffen hat, in der zweiten aber wie er es machte. Das ist jedoch sehr unsicher und die erste ist jeden Falles die beste. Hat Gott nur einen Mann und eine Frau geschaffen zu Stammältern für 60 alle Menschen, oder hat jede Race ihren eigenen Stammvater? Das können wir nicht mehr wissen. Wäre das nicht ein ganz anderes Verhältniß, als wenn wir von verschiedenen Menschen abstammen, denn dann wären wir ja alle verwandt? Das ist hier ganz gleich, denn wir lieben uns alle als Menschen, aber nicht als Verwandte. {74} Dann kommt die Geschichte bis zur Sündfluth, war die nicht überflüssig? Nein, denn zu dieser Zeit kam die Sünde. Ist die Sünde in den Menschen hinein gekommen, oder war sie schon von Anfang an in ihm? Das ist schwer zu entscheiden; war sie aber von Anfang an in den Menschen, so war es natürlich, daß schon Adam und Eva sündigen mußten; ist sie erst hinein gekommen, so ist es wohl ziemlich gleich ob sie schon bei den ersten Menschen hinein kam oder erst später. Kam der Gedanke an den Apfel, der doch die Ursache zur ersten Sünde war a u s Eva, oder fuhr er i n sie? Nein, der Gedanke der Schlange, als eines anderen, wurde zu ihrem eigenen. War dadurch die Sünde schon in sie gekommen? Nein. Aber kam sie dadurch zur Sünde, daß sie glaubte, was ihr die Schlange vorsagte: Cap. 3. Vers 1 bis 5? Dadurch ließ sie nach in ihrem Vertrauen zu Gott, aber das war noch keine Sünde; denn es ist nicht Sünde an Gottes Liebe zu zweifeln, noch dazu, da Eva noch gar nicht so viele Erfahrungen gemacht hatte, wie gut es Gott mit ihr meine. War es nun wohl recht, daß sie vom Apfel aß? Eigentlich kann man ihr keinen Vorwurf darüber machen, denn das Unrecht war in ihrem Glauben, daß Gott ihr etwas Gutes verboten hätte; sie war durch die Schlange verführt worden, zu glau{75}ben, daß es nur zu ihrem besten wäre, daß sie von dem Apfel äße und daß es Gott nicht gut mit ihr meinte, indem er ihr dies verbot. So that sie es verblendet. Welcher Grund zur Sünde ist also hier vorhanden? Hier sind zwei Gründe: der daß sie ihre Gedanken vom Guten von den Werken Gottes trennte, und der, daß bei ihr das Sinnliche die Oberhand über das Geistige bekam.
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Stammvater?] Stammvater.
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Ist das beides eines oder zweierlei? Die Ursache zu den schlechten Gedanken von Gott kam ihr schon durch die Sinnlichkeit. 61
Wie entstehen denn Gedanken im Menschen? Sie können aus äußeren Gegenständen entstehen, oder durch die verschiedenen Gesinnungen der Menschen, durch welche dieselben Gegenstände bei dem Einen Ursache zu anderen Gedanken werden, als bei den Anderen. Was sind Gesinnungen? Feststehende Gedanken. Was hat eine weitere Bedeutung, Herz oder Gesinnungen? Herz, denn wie das Herz ist, sind in der Regel auch die Gesinnungen, aber es gehört dann noch ein Etwas mehr zum Herzen, was man nicht Gesinnung nennen kann. Kann man nicht auch das Gegentheil behaupten? Ja; man kann sagen: Gesinnungen ist ein mehr umfassender Audruck, denn nur gewisse gute Gesinnun{76}gen gehören zu einem guten Herzen, andere z. B. Vaterlandsliebe, nicht. Wie entstehen nun wohl die Gedanken? Man kann eigentlich nur sagen, daß sich die Gedanken im Inneren bilden, aber durch Anregung von Außen. Weshalb brauchen wir die Anregung äußerer Gegenstände zum Den62 ken? Weil wir nicht wie Gott alles zugleich denken können, müssen wir eine äußere Anregung haben wodurch ein Gedanke in unserer Seele besonders hervor gehoben wird, sonst würden wir alles zugleich denken wollen und dadurch endlich gar nichts denken. Aber wodurch konnte denn nun in Eva der Gedanke entstehen, daß Gott ihr etwas verböte, was ihr gut sein könnte. Nur durch den sinnlichen Reiz. Was ist denn nun eigentlich die Sünde? Wenn die Sinnlichkeit stärker wird als die Vernunft ist, so ist das die Sünde. War die Sünde der Eva schon anerschaffen? Ja, in so fern in ihr die Sinnlichkeit stärker war, wie es in jedem Kinde ist, und in ihr gleich die Oberhand über die Vernunft bekam. Hat nun Gott dem Menschen überhaupt die Sünde angeschaffen? Nein, im Ganzen nicht, sondern nur in so fern die Sünde leicht in ihm entstehen kann.
61 62
Wie] (Wie denken] dencken
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Was haben wir nun aus dieser Geschichte gelernt? Nur das, daß gleich die ersten Menschen gesündigt haben. {77} Waren die ersten Menschen wie wir sind? Obgleich sie groß zur Welt kamen, waren sie doch wie die Kinder schon in so fern, daß die Sinnlichkeit in ihnen größer war und die Vernunft noch ganz schlief. Hat sie Gott auch so behandelt? Ja, denn hätte er bei ihnen Vernunft vorausgesetzt, so hätte er ihnen nicht mit dem Tode gedroht, sondern ihnen nur um ihr eigenes Bestes verboten, von den Äpfeln zu essen. Wir wollen die Stelle aus dem Briefe an die Römer Cap. 5. Vers 12 nun 63 mit dem, was hier gesagt ist, vergleichen. Nach dieser haben wir wohl eigentlich dem ersten Menschen Sünde und Tod zu verdanken; das ist aber nicht ganz dasselbe was wir gesagt haben; denn das klingt, als hätte er allein die Schuld von aller Sünde gehabt, und auch Eva [habe] sie von ihm bekommen, denn überall in der Bibel steht nur Adam, niemals Eva genannt, doch das macht, weil die Alten ihre Frauen nie zählten, sonst hatte Eva eben so vielen Theil an der Sünde als er. Nun sagen einige Leute: Hätte Adam nicht gesündigt so wären wir vielleicht alle ohne „Sün{77v}de und Tod“. Das kann Paulus aber nicht so gemeint haben, eben weil dann Adam und Eva alle Schuld bekämen. „Tod“ ist hier geistig gemeint und heißt in der jüdischen Sprache jedes Übel. Wäre hiermit ein körperlicher Tod gemeint, so könnten wir auch gar keine Krankheiten haben; es könnte dann überhaupt kein Übel geben, denn das zeugt von einer Abhängigkeit von äußeren Gegenständen, und wo diese ist, muß der Tod früh oder spät erfolgen, und so ist Übel und Tod daselbe, weil keines ohne das andere sein kann. Wohl aber wäre es leichter zu denken, daß die ersten Menschen noch nicht gesündigt hätten, sondern erst spätere, weil die ersten doch gewiß nicht so viel Verführung zur Sünde hatten, als wir, und so die Menschen längere Zeit ohne Sünde leben konnten. Einer mußte aber doch immer zuerst sündigen, und wäre der Keim der Sünde nicht in Adam gewesen, so war es noch die Frage, ob wir 64 sie haben würden. {78}
63
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Das Zitat ist auf dem freien Raum der gegenüberstehenden Seite notiert: ‚Derhalben, wie durch Einen Menschen die Sünde ist gekommen in die Welt, und der Tod durch die Sünde, und ist also der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, dieweil sie alle gesündigt haben;’ würden.] Es folgt ein Leerraum von mehreren Zeilen mit einem ?
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Andere Leute sagen gar: die Sünde sei sonst nicht im Menschen gewesen, sondern die Natur hätte sich nach Genuß des Apfels ganz umgekehrt, und dabei wäre die Sünde hinein gekommen. Das hätte sogar Paulus gemeint in der genannten Stelle; doch ist dies ganz un65 wahr, obgleich wir jetzt diese Stelle noch nicht verstehen, da wir nicht den ganzen Satz gelesen haben. Wir wollen zurück gehen auf das 2. Cpt., da steht Vers 11.12: daß die Heiden und Juden gleich seien vor Gott und in der Sünde. Cpt 5. Vers 14 sagt der Apostel nun wieder, daß alle Menschen gesündigt haben ‚von Adam bis auf Moses“, wenn auch nicht alle die gleiche Ursache zur Sünde hatten, denn nicht alle hatten so ein Verbot von Gott, wie Adam. {78v} In demselben Verse fängt er auch noch an, Adam mit Christus zu vergleichen, indem er ihn „ein Bild Christus“ nennt; das ist aber nur 66 so zusammen zu reimen, daß: wie die Sünde durch Einen Menschen, den Adam auf die Welt kam, so wurde sie auch wieder durch Einen Menschen, Christus, verdrängt. Daraus folgt aber noch gar nicht, daß Paulus meint, die Sünde sei nicht in Adam gewesen. Aus dem allen geht aber am Ende doch nur hervor, daß die Menschen immer sündigen mußten und sündigen werden, weil sie viel zu sinnlich sind. Man kann nicht sagen, daß die Menschen sterblich seien, weil sie sündigen, auch nicht umgekehrt; doch kann man sagen, wenn nicht der Keim der Sünde in ihnen gewesen wäre, so wäre auch nicht der Keim des Todes in ihnen gewesen und umgekehrt. Wir wollen einmal sehen, ob wir das auch auf die Geschichte, oder wie wir es nennen wollen vom Teufel anwenden können. Der Teufel war nicht als Teufel von Gott erschaffen, sondern er war abgefallen von Gott; das war eine Sünde; aber wissen wir dadurch ob der Keim des 67 Todes in ihm war? Das ist schwer zu bestimmen; auch müssen wir erst sehen, ob wir das Ganze eine Geschichte nennen können. {80} Was ist eine Geschichte? Die Erzählung einer wirklich geschehenen Begebenheit. Wie können wir es noch anders sagen? Eine Begebenheit, die sich entwickelt. Finden wir das nicht auch in einem Schauspiele? Ja, denn in einem Schauspiele entwickelt sich eine Geschichte, nur ist es für uns keine 65 66 67
unwahr] korrigiert aus unwohl reimen] räumen Das] korrigiert
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wirkliche Begebenheit, sondern nur die Nachahmung einer solchen. Auch sind solche Schauspiele welche etwas Geschichtliches darstellen aus der Geschichte entnommen; folglich ist einiges darin wirklich historisch, während anderes auch nur erdichtet ist. Wie können wir uns auf die Geschichtschreiber verlassen? Jedem können wir am meisten in der Erzählung dessen trauen, was er selbst erlebt hat, da das nicht selbst erlebte immer nur einer aus dem anderen schöpfen kann. Können wir nun die Sage vom Teufel eine Geschichte nennen? Nein, denn wir haben gar nichts, was mit Gewißheit auf diese Erzählung hin weißt, und es ist auch niemand dabei gewesen. Wir können es also gar nicht glauben, obgleich im neuen Testamente oft steht, daß der Teufel in einen Menschen gefahren sei. Stößt nun der Teufel diese unsere Regel um? Nein, denn wir können seine Erzählung nicht als eine Geschichte ansehen, und wenn es auch wirklich eine Geschichte wäre, so würde unsere Regel doch noch mit Ausnahmen gelten; auf jeden Fall {81} bleibt sie für alle Menschen gültig. Dabei muß uns aber der Zweifel kommen, ob denn die Sage von Adam und Eva eine Geschichte ist? Moses hat es nicht selbst erlebt, und ob Gott es ihm offenbart hat wissen wir auch nicht. Weil wir grade darauf kommen, was ist: offenbaren? Etwas sagen, was man noch nicht weiß. Wie ist nun Moses wahrscheinlich dazu gekommen? Wahrscheinlich hat er es nur durch alte Erzählungen erfahren; waren diese aber richtig so ist es auch eine Geschichte. Was können wir aber damit machen, wenn es unwahrscheinlich ist? Gott erscheint und erschien den Menschen körperlich nie, aber daß er sich ihnen innerlich mittheilt, ist eine nicht zu verwerfende Meinung. Da kommt nun freilich Moses mit seinen Erzählungen zu kurz; wir müssen jedoch denken, daß er auch nur solche innere Offenbarungen gemeint hat, die er dem Volke als etwas äußeres darstellte, um es ihm anschaulicher zu machen. Gibt es nicht noch eine andere Meinung über die Offenbarungen Gottes? [Offenbar Schleiermachers eigne Antwort:] Einige behaupten: In dem alten Testamente, d. h. in der Zeit bis zu Christo habe sich Gott innerlich und äußerlich offenbaret, jetzt offenbare er sich nur innerlich, und es würde eine Zeit kommen, wo er sich gar nicht mehr offenbaren werde. Diese letzte Zeit wäre die beste, weil wir dann so vorzüglich sein müßten, daß wir nichts mehr von Gott zu er-
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fah{81v}ren brauchten, ohne dadurch in unserem nahen Verhältnisse mit Gott gestört zu werden. Das Richtige ist aber: Gott theilt allen Menschen innerlich etwas mit. Diese Mittheilungen sind aber nicht zu verwechseln mit unseren von Gott empfangenen Gaben, wie z. B. Liebe zum Nächsten, Unterscheidungsvermögen des Guten und Bösen, u.s.w.; sondern das Evangelium allein ist für uns eine geistige Mittheilung, die einem jeden offenbaret wird von Gott, durch die Klarheit, welche wir darüber in unserer Seele haben. Damit stimmt auch die Stelle im Paulus Gal. 3. Vers 2. überein, in welcher es heißt: ‚Habt ihr den Geist empfangen durch des Gesetzes Wercke, oder durch die Predigt vom Glauben?‘ – Diese Offenbarung gehört zur Predigt vom Glauben, und bleibt niemals aus, sobald der Mensch erst einen äußeren Standpunkt erreicht hat, durch welchen er im Stande ist, sie zu begreifen und in sich auf zu nehmen. Diese Offenbarung war ursprünglich in Christo, in welchem wir alles zu suchen haben, was zu un{82}serem Verhältnisse mit Gott ge68 hört und die Betrachtung seines ganzen Daseins, Lebens und Wandels bringt uns, in unserer Seele, zum Bewußtsein dieser Offenbarung Gottes. Wir müssen aber sagen: Alles was aus dem zusammenhängenden Denken kommt, ist keine Offenbarung, denn das kommt aus unserem Verstande, und Gott braucht es uns nicht zu offenbaren. Aus demselben Grunde sind die aus dem Denken entspringenden Einfälle keine Offenbarungen. Unsere Offenbarung war also nur in Christo, ging aber auch in diesem ganz natürlich zu. Je leichter man von der Richtigkeit eines Gedankens überzeugt werden kann, je weniger kann man diesen Gedanken für eine Offenbarung halten, weil es immer leichter einzusehen ist, daß er durch die Vernunft konnte hervor gebracht werden. Daher ist auch die Schöpfungsgeschichte dem Moses wahrscheinlich nicht offenbaret worden, denn was wir davon wissen, konnten wir uns auch ohne die Erzählung des Moses denken, und so wäre eine Offen{82v}barung ganz überflüssig gewesen. Aus der Schöpfungsgeschichte lernen wir dann noch, daß die ersten Menschen in einem schönen Garten waren, aus welchen sie nach der Sünde vertrieben wurden. In demselben hatten sie gar nichts gethan, nun mußten sie arbeiten. Das sieht zwar aus, als wenn die Arbeit eine Strafe für die Sünde wäre, das ist es aber nicht; selbst das Miß68
Lebens] Leben
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lingen der Arbeit, zu welchem doch Gott den Adam verdammte, ist noch keine Strafe für die Sünde und es ist viel natürlicher, daß die Sünde aus dem Mißlingen der Arbeit hervor geht, denn dadurch wird der Mensch verdrüßlich, und das führt bald zur Sünde. Einige Leute behaupten nun, und es läßt sich wohl hören, daß das Gute erst aus dem Bösen hervor gehen könnte; und es giebt auch vielerlei Tugenden, die gar nicht sein könnten, wenn nicht das Böse wäre; z. B. Sanftmuth könnten wir nicht zeigen, wenn sich uns nicht Laster entgegen stellten. Auch sind im neuen Testamente {83} verschiedene Stellen, die sich darauf beziehen; z. B.: „Thuet Gutes euren Feinden, segnet die euch fluchen“. Das ist aber nur in so fern richtig, daß im Menschen der Keim zum Guten und Bösen gleich stark ist, der zum Bösen sich aber früher entwickelt, und so das Böse dem Guten voran geht. So kann man zwar nicht sagen wie einige: es war ein Glück, aber doch: es war nothwendig, daß die erste Sünde geschah und die Menschen aus dem Paradiese vertrieben wurden, denn nun mußten sie arbeiten, ihren Verstand gebrauchen; und so entwickelte sich erst der höhere Mensch eigentlich durch Veranlassung der Sünde. Daß wir das wissen, dürfen wir aber gar keiner Offenbarung verdanken wollen, die Moses oder gar uns geschehen wäre, denn, wie es hier ist, müssen wir einsehen, daß es richtig ist; etwas anderes konnte uns also nicht offenbart werden, und dasselbe zu offenbaren war unnütz, weil wir es mit Hülfe unseres Verstandes selbst finden können. {83v} Das nächste große Ereigniß nach der Sünde war die Sündfluth; bei welcher alle Menschen bis auf Noa umkamen. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß grade dieser sollte die ganze Geschichte von Erschaffung der Welt an so genau gewußt haben; so wird also alles Geschichtliche vor der Sündfluth für uns desto unsicherer. Nach der Sündfluth entwickelten sich die Leute geistig immer mehr, und so können wir die Geschichten, je später sie fallen, für desto gewisser halten. Außer dem Geschichtlichen sind im alten Testamente noch die Propheten. Ein Prophet war ein sehr kluger Mann, der weißsagen konnte, und diese Gabe von Gott empfangen zu haben glaubte. Es giebt nun wirkliche und falsche Propheten, d. h. solche die es in der That sind, und solche die es nur vorgaben zu sein. Der erste bekannte Prophet war Beliam, welcher von einem heidnischen Könige gerufen wurde, um das Heer der Juden zu verfluchen. Er kam, aber durch seinen Esel dahin gebracht, segnete er es, statt es zu verfluchen. {84}
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Ein Prophet kam immer, wenn das Volk von seinem Glauben abgewichen und schlecht geworden war; dann war sein Geschäft es zum Guten zurück zu führen, wobei er aber auch weißsagen mußte; doch zu keinem von beiden bedurfte er einer göttlichen Offenbarung, sondern er mußte nur ein besseres und tieferes Bewußtsein von Gott und der Sündlichkeit der Menschen haben, als andere Leute. Das, was die Propheten weissagten, bezog sich besonders auf Christus, und es war etwas das sie mit Hülfe ihres Verstandes voraus sehen konnten, nach dem ganzen Zustande der gegenwärtigen Verhältnisse. Jetzt können wir keine Propheten mehr haben, weil mit Christus der bessere Zustand für die Menschen eintrat und damit alle Prophezeihungen erfüllt waren und aufhören mußten. Als Gott die Welt erschaffen hatte, sagte er: Es ist alles gut. Damals wußte er nun doch schon, daß die Sünde kommen würde, aber er wußte auch, daß Christus kommen würde, und daß sich ohne die Sünde manches nicht bezwecken ließe. {84v} Aber auch dies, daß Gott mit der Welt zufrieden war konnten wir wissen, ohne daß es Moses oder ein Anderer schrieb. Wir können es uns denken, denn wenn Gott nicht mit Allem und auch mit der Sünde, wie es war, zufrieden gewesen wäre, so würde er es ja geändert haben. Außer dem Geschichtlichen und den Propheten sind noch das vorzüglichste im alten Testamente die Psalmen, welches geistliche Gedichte sind. Diese kann ein jeder schreiben, der Talent dazu hat, und so ist auch dazu gar keine Offenbarung nöthig. So haben wir also die Offenbarungen aus dem alten Testamente ganz gestrichen. Gott offenbart sich allen Menschen in Allem was uns umgiebt, aber daß er einem einzelnen Menschen ganz etwas anderes, neues offenbaren sollte, ist nicht der Fall. Wir wollen nun sehen, ob wir auch aus dem neuen Testamente alle Offenbarungen verdrängen können. In diesem finden wir auch erst etwas Geschichtliches in den Evangelien und der Apostelgeschichte, wozu gar keine Offenbarung gehört, die Episteln, welches lehrreiche Briefe sind, und endlich {85} die Offenbarung St. Johannes, welche etwas Dichterisches und zugleich Prophetisches ist. Das ganze neue Testament würde eine Offenbarung sein, wenn Christus ganz verschollen gewesen und erst ein paar hundert Jahre nach ihm dies Buch als etwas ganz Richtiges erschienen wäre; aber das ist nicht, denn obgleich das neue Testament nicht zu Christi Zeit da war, so waren doch die einzelnen Briefe und Schriften bald nach seiner Zeit entstanden, da sie meist von Leuten her rühren, die die
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Lehre mündlich von ihm empfangen hatten; und wenn wir alle Bücher in neuen Testamente durchnehmen, so werden wir in keinem finden, daß es nur den Anschein hätte, als sei es eine Prophezeihung. Das Evangelium Mathäi fängt an: ‚Dies ist das Buch von der Geburt Jesu Christi.“ Dies kann sich aber nur auf die ersten Capitel beziehen, denn wenn wir das ganze Evangelium betrachten, so ist darin die Geburt Christi das Wenigste. Der Anfang des Marcus ist: ‚Dies ist der An{85v}fang des Evange69 lium von Jesu Christi.“ Dieser Anfang bezieht sich auf das ganze Buch, ist sonst aber eben solche Einleitung, wie bei Matthäus. Lucas fängt an: Vers 1.: ‚Sintemal sich es viele unternommen haben, zu stellen die Rede von den Geschichten, so unter uns ergangen sind‘; – und dann – Vers 3: ‚Habe ich es auch für gut angesehen, nachdem ich es alles von Anbeginn erkundet habe, daß ich es zu dir, mein guter Theop[h]ile, mit Fleiß ordentlich schreibe‘. – Daraus geht deutlich hervor, daß er dies alles durch Nachforschen erfahren hatte, nicht durch Offenbarung; aber auch, daß er nicht dabei war, sondern es nur von Leuten, die vielleicht zugegen gewesen waren, erfahren hatte. Zu diesem Evangelium bildet die Apostelgeschichte des Lucas den zweiten Theil, was auch schon deutlich aus dem Anfange derselben hervor geht. Der Johannes hingegen, welcher die Episteln schrieb, war bei der ganzen Begebenheit gewesen; das sieht man deutlich aus dem 1[ten] bis 4[ten] Verse seines ersten Briefes. 70
Bei den meisten andern Episteln steht „ein Knecht {86} und Apostel Jesu Christi“ u.s.w. Daraus folgt auch schon, daß das, was folgt keine Offenbarung sein kann, denn als Apostel hörten sie alles von Christi selbst, und so brauchte ihnen nichts offenbart zu werden. Mit der Offenbarung St. Johannes des Theologen ist es schlimmer, da müssen wir schon genauer die einzelnen Capitel durchgehen. – Zuerst wissen wir gar nicht wer der Johannes eigentlich war; sehr Viele behaupten nun zwar, es sei der Apostel Johannes, der sie in späteren Jahren geschrieben habe; das kann man zwar nicht durchaus abstreiten, aber ein wichtiger Grund gegen diese Behauptung ist der, daß dabei steht: „des Theologen.“; wäre es der Apostel gewesen, so würde das gesagt sein. Das erste Capitel ist überschrieben: Geheimniß der 7 Leuchter und Sterne; das ist ziemlich unverständlich; das 2te: Vier Sendschreiben, 69 70
Jesu] korrigiert andern] anderes
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die u.s.w. Das 3te: Drei Sendschreiben u.s.w. Das macht zusammen 7, und steht in Verbindung mit den 7 Leuchtern, in welchem Capitel auch die Rede ist von 7 Gemeinen in Asien. Man kann aber {86v} gar 71 nicht wissen, ob Johannes viel eine äußere oder eine innere Offen72 barung gehabt habe ; denn Cap. 1. Vers 10 sagt er: ‚Ich war im Geist an des Herrn Tage“, und nun erzählt er das Geheimniß. Hier scheint es also geistig gewesen zu sein, doch andere Stellen klingen auch wieder ganz äußerlich. Übrigens ist die ganze Offenbarung so dunkel, daß man nichts behaupten kann, und man hat mehr denn hundert Auslegungen einer und derselben Stelle darin. Alle Bemühungen sie zu erklären sind ganz unnütz, denn es steht auch überall darin, daß das bald geschehen sollte; entweder hat nun Johannes seine Zeitgenossen getäuscht, welche da doch etwas erwarten mußten, was sie noch erleben könnten; oder, es ist das alles schon in Erfüllung gegangen. Ist dies der Fall, so sind alle Mühen es jetzt zu erklären, umsonst, ist es noch nicht geschehen, so ist das „bald“ des Johannes sehr zweifelhaft, und kann noch tausend Jahre ausbleiben. Dann kann es uns also auch sehr gleichgültig sein, denn wir dürfen uns gar keine Hoffnung machen es zu {87} erleben, und so ist es am besten die Offenbarung ganz liegen zu lassen. Sie ist eigentlich auch nur durch einen Zufall in unser neues Testament gekommen; denn ehe dasselbe so eingerichtet war wie es jetzt ist, war in einem dieses, im anderen jenes Buch ausgelassen. So war denn auch in einem Testamente die Offenbarung nicht, aber dafür die Epistel an die Ebräer; im anderen die Epistel an die Ebräer nicht, aber die Offenbarung. Beide Parteien stritten sich lange deshalb, und kamen endlich überein, daß jeder das ihm fehlende zu seinem Testament dazu nahm. Da nun doch die Epistel an die Ebräer viel besser ist als die Offenbarung, so verdient sie es wohl, daß man diese ihretwegen mit in das Testament nimmt, obgleich sie unnütz ist. Wir haben nun also gesehen, daß auch im ganzen neuen Testamente weiter nichts steht, wozu eine Offenbarung nöthig gewesen wäre; die einzige Offenbarung war in Christo. Nun sagen wieder Einige: Christus ist zwar recht {87v} gut und gescheut gewesen, doch die Apostel hätten ihn nicht verstanden. Das dürfen wir aber gar nicht glauben, denn da wir keine andere Quelle haben, zu erfahren was in jener Zeit geschah, als die Jünger Christi, so lernen wir ja auch nur durch diese Christus kennen.
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viel] hier unpassend und unverständlich; vielleicht zu tilgen habe] haben
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Noch andere sagen, die Apostel hätten erst etwas Gutes und Verständliches aus den Reden Christi gemacht; das kann aber auch nicht sein, denn erstlich waren die Jünger gar nicht Leute, denen man viel Verstand zutrauen konnte und zweitens, wenn sie etwas Gutes gemacht hätten, so würden sie es doch gewiß gewußt haben, und hätten es dann nicht auf Christus geschoben. Das können wir also als gewiß annehmen, daß in Christo eine Offenbarung war, und seine Jünger ihn sehr gut verstanden. Nun scheint es zwar sonderbar, daß wir das neue Testament haben, da Christus niemals etwas gesagt hat, das wie ein Befehl an seine Jünger klänge, dies aufzuschreiben; aber auch seine Jünger hatten {88} noch gar nicht den Willen für die Nachwelt etwas zu schreiben, sie schrieben nur für ihre Zeitgenossen und an diese, und es ist eine weise Fügung Gottes zu nennen, daß dieses Buch so zusammen gekommen ist; denn der Wille Christi und seiner Jünger war, daß sich die Lehre immer mündlich von einen auf den anderen verbreiten sollte. Das wäre auch vielleicht gegangen, obgleich es nicht mit Bestimmtheit zu sagen ist; auf jeden Fall wäre aber die Lehre dadurch unsicher geworden, während wir jetzt mit einem so alten Buche eine viel größere Gewißheit haben, daß sich alles so zugetragen hat, wie es darin geschrieben steht. Fragen wir nun, ob auch im alten Testamente etwas von Christus steht, so müssen wir sagen, daß wir von ihm nur etwas in den Psalmen oder Propheten finden könnten. Im 1 Buche Moses Cap. 3. Vers 14.15. steht etwas von der Schlange und dem Saamen des Weibes, was man auf Christus beziehen wollte, doch das paßt gar nicht; denn die ganze Beschreibung der Schlange ist nicht auf den Teufel anzuwenden, und der Saa{88v}men der Schlange vollends nicht, denn der Teufel hatte keine Nachkommen. Dann sind in den Evangelien andere Stellen angeführt aus den Propheten, aus denen sich die grade angeführten Worte wohl auf Christus beziehn lassen; aber ließt man diese Worte in ihrem wahren Zusammenhange, so ist es grade ganz das Gegentheil von dem, was Christus war und that, und bezog sich auf etwas schon früher Geschehenes. So kann man sagen: Die Propheten hatten zwar eine Ahndung, daß Christus kommen würde, und so ist ihre allgemeine Prophezeihung in Erfüllung gegangen, aber die kleinen Einzelnheiten, welche sich auf einzelne Begebenheiten im Leben Christi beziehen sollten, hatten sie zufällig von Dingen geschrieben, die schon zu ihrer Zeit angefangen hatten, und welche die Apostel nun auf Christus anwendbar gefunden und so mit angeführt hatten; von denen sie aber sehr wohl wußten, daß die Propheten es so nicht gemeint hatten. Und das Wort: „erfüllen“, des-
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sen sich die Apostel bei solchen Stellen immer bedienen ist auch in der hebräischen Sprache ein viel umfas{89}senderes Wort als in der deutschen, und so kann man die Apostel gar nicht des Glaubens beschuldigen, daß das, was sie auf Christus angewendet hatten, sich wirklich auf ihn beziehen sollte. Solche im neuen Testamente angeführte Stellen sind z. B. im Ev. Math. Cap. 2. Vers 15: „Und blieb allda bis nach dem Tode Herodis, auf daß erfüllet würde, das der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht: Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen. (Hos. 11. 1.)“. Aber ließt man diese Stelle im Propheten ganz, so lautet sie: ‚Da Israel jung war, hatte ich ihn lieb: und rief ihn, meinen Sohn aus Ägypten. 2. Aber wenn man ihnen jetzt rufet, so wenden sie sich davon: und opfern den Baalim, und räuchern den Bildern.‘ – Da hat die Stelle gar nichts mehr, was man auf Christus beziehen kann, und man sieht deutlich, daß der Prophet das israelitische Volk und seine Befreiung aus Ägypten meint. Dann steht Math. 2. Vers 17: ‚Da ist erfüllet, was gesagt ist von dem Propheten Jeremia, der da spricht: Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört, viel Klagens, Weinen und Heulens; Rahel beweinte {89v} ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen; denn es war aus mit ihnen.‘ (Jer. 31.15). Aber Vers 16. und 17. heißt es dann: „Aber der Herr spricht also: Laß dein Schreien und Weinen, und die Thränen deiner Augen; denn deine Arbeit wird wohl belohnt werden, spricht der Herr, sie sollen wieder kommen aus dem Lande des Feindes: Und deine Nachkommen haben viel Gutes zu erwarten, spricht der Herr, denn deine Kinder sollen wieder in ihre Grenze kommen.‘ Da sieht man nun deutlich, daß die babylonische Gefangenschaft gemeint ist, noch dazu, da Jeremias zu der Zeit lebte als die Juden nach Babylon gebracht wurden; denn wenn es sich auf den bethle73 hemitischen Kindermord bezöge, so könnte nicht einmal stehen, daß es Rahels Kinder wären, denn Bethlehem lag zwar im Lande Benjamin, aber nach der Gefangenschaft und den vielen Kriegen der Juden war es doch unmöglich, daß noch immer nur die Nachkommen der Rahel hier leben sollten. So sind noch viele Stellen angeführt, aus denen man deutlich sieht, daß die Propheten bei ihren einzelnen Reden gar nicht an Christus gedacht haben, {90} da man eine jede viel anwendbarer auf eine früher geschehene Begebenheit finden wird.
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bethlehemitischen] bethlemnitischen
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In dieser Beziehung ist eine der wichtigsten Stellen im alten Testamente der 22ste Psalm, welcher anfängt: ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!‘ – Das sind die Worte welche Christus am Kreuze sprach, und die ganze Folge ist auf Christi anzuwenden. Dies wollte man nun eine Offenbarung nennen, aber ein deutlicher Beweis, daß es keine ist, und nur zufällig auf Christus paßt, ist der, daß der Schreiber des Psalms immer „ich“ sagt; schon daraus sieht man, daß er nicht an Christus dachte, und dann hätte er auch das Wichtigste, den Tod Christi ausgelassen. Christus führte den Psalm nur an, wie die Evangelisten es mit vielen Stellen thaten, um die Ähnlichkeit mit seiner Lage zu zeigen; und die Worte, obgleich sie an und für sich nicht auf ihn paßten, sagte er, weil sie der Anfang dieses Psalmes waren; und sich ein Jeder nun die Fortsetzung denken konnte. {90v} Es ist zwar die Meinung vieler Menschen, daß Christus sich in diesem Augenblicke wirklich von Gott verlassen 74 glaubte, weil er die Sünden Aller trug; doch das ist gar nicht möglich, denn von Gott, der die Liebe ist, können wir nicht denken, daß er nur für einen Augenblick einen Menschen verlassen sollte, und daß Christus die Strafe für Aller Sünden auf sich nehmen sollte, ist auch unmöglich, denn das ist ganz wider den Begriff, welchen wir von Gottes Gerechtigkeit und Bestrafung der Sünden haben. So ist es gewiß, daß Christus sich nicht von Gott verlassen glaubte und auch nicht bestraft werden konnte, für die Sünden, welche die anderen Menschen begangen hatten. Das alles mußte er ja wissen, und statt 75 einer Kleinmüthigkeit, welche diese Worte allein anzeigen würden, sehen wir so grade in diesen noch wieder recht seine Größe und Geistes Stärke, daß er noch im Sterben die ihn Umstehenden auf die Schrift aufmerksam machte. {91} 76
So ist auch die Geschichte vom Simeon (Lucas 3?) keine Offenbarung. Die Leute hatten schon immer geglaubt, daß die Zeit, in welcher Christus kommen würde heran rückte, so, daß sie es noch erleben könnten; und da das Volk damals sehr abergläubisch war, hatte 77 es allerlei Zeichen, die es für sichere Vorbedeutungen irgend eines Ereignisses ansah; und so war es auch mit Simon gewesen.
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Sünden] korr. aus Sünde welche] korrigiert vielmehr Lukas 2, 25–35 eines] korr. aus einer
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Es ist also gewiß, daß es keine Offenbarungen giebt, noch gegeben 78 hat, in dem Sinne, wie man sie gewöhnlich denkt, sondern daß alle 79 immer nur durch Überlegen und ganz natürlich entstanden sind. Wir waren hierauf gekommen, indem wir eigentlich die Bibel mit andern Büchern vergleichen wollten, was nun noch nicht geschehen ist. Der Vergleich ist, daß im Testamente eben so wenig wie in anderen Büchern eine Offenbarung steht; der Unterschied der, daß das neue Testament die Quelle ist, aus der alle andern Bücher religiösen In80 haltes geschöpft haben, und es ist daher gewiß besser ein Capitel aus dem neuen {91v} Testamente zu lesen, als ein neueres Buch. Nun sagen zwar viele Leute das Gegentheil, und meinen, da im neuen Testamente doch manches Unverständliche stände, könne es uns nichts helfen; und deshalb verbieten auch die Katholiken, es zu lesen, aber diese wenige unverständliche Stellen kann man leicht übergehen, und es ist doch viel besser, das Viele, was darin ganz verständlich ist, selbst zu lesen, als sich allein auf das Sagen eines Anderen zu verlassen. In der Bibel steht, daß alles ein Hirt und eine Heerde werden müsse. Das müßte man sich auch als die Vollendung der christlichen Kirche denken, indem die Menschen sich dann alle gleich wären. Dazu gehörte zuerst: daß keine Obrigkeit mehr sein könnte, denn diese dient vorzüglich dazu, das Böse zu bestrafen, und darauf zu sehen, daß jeder das Gute thut. Das müßte nun zwar bei vollkommener Ausbildung der Kirche jeder von selbst thun, aber sobald die Herrschaft des Einen über den Anderen aufhört, hat auch das Zusammenleben ein Ende; jeder ist auf sich beschränkt, {92} es kann nichts Großes mehr geschehen, selbst die christliche Kirche muß aufhören, denn sobald jedes einzelne Glied ganz auf sich zurück geführt ist, können wir uns nicht mehr eine solche Vereinigung denken, wie sie jetzt in Christus ist. Dann dürften auch keine Sekten in der christlichen Kirche bleiben; die evangelische Religion, als die beste, müßte überall die herrschende sein; und doch sind so sehr viele Verschiedenheiten, besonders zwischen ihr und der katholischen Religion. Die Taufe ist bei allen Religionen gleich, nur die Wiedertäufer taufen noch einmal, wenn Jemand zu ihrer Sekte übertritt. Auch die Bibel ist eigentlich etwas Äußerliches, das in allen christlichen Religionen
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alle] alles Überlegen] korr. aus überlegen Inhaltes] Inhaltens
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ziemlich gleich ist, nur daß die Katholiken die apokryphischen Bücher dem anderen Inhalte der Bibel gleich stellen, während wir sie nur, als eigentlich nicht zur Bibel gehörig, unter dem Namen: nützliche Bücher, hinter dem alten Testamente, und die Engländer sie, als schädlich ganz verworfen haben. Das kommt aber daher: Diese Bücher wurden wahrscheinlich {92v} später geschrieben als die anderen Schriften des alten Testamentes; denn diese sind noch in der hebreischen Sprache vorhanden, während die apokryphischen Bücher griechisch geschrieben wurden. Das alte Testament kam wahrscheinlich zusammen, als die Juden aus Babylon kamen; da war die hebreische Sprache weniger gebräuchlich, als die griechische, und das Ganze wurde griechisch übersetzt. Später übersetzte man die Bibel aus 81 dem Griechischen in das Lateinische, und glaubend, daß diese Bücher mit dazu gehörten, wurden sie auch übersetzt und die Katholiken nahmen das Ganze. Die Protestanten gingen jedoch genauer zu Werke, fanden, daß diese Bücher im Hebreischen nicht vorhanden waren, also nicht zur eigentlichen Bibel gehörten, wollten sie aber, da manches Gute darin steht nicht ganz verwerfen, und hingen sie deshalb an das alte Testament an, unter diesen Titel. Die Engländer, also Episcopalen ließen sie einiger Stellen wegen, die man leicht falsch auslegen kann, ganz fort. – Es gehören zu diesen Büchern besonders: Jesus Sihrach und die Sprüche Salomonis. Die Hauptpunkte, worin sich die evangelische Kirche {93} von der katholischen unterscheidet sind die, daß die Katholiken die Heiligen anbeten, als Leute, die anfangs große Sünder waren, dann aber rein von Sünde wurden; wir aber glauben, daß der Mensch sein Leben lang sündig bleibt, und daß er Gott nicht wohlgefällig wird durch seine Thaten, sondern vielmehr durch seine Gedanken und sein Verhältniß mit Christo. Diese Heiligen aber sollen sich durch ihre viele 82 gute Handlungen Gott verpflichtet haben, daß er deshalb denen, die sie frei sprechen die Sünden vergeben muß. Wir aber glauben, daß alles was wir im Verhältniß zu Gott thuen und denken nur auf uns, nie auf einen Anderen wirken kann. Dann ist auch bei ihnen der Papst ein Statthalter Christi auf Erden, den wir uns gar nicht denken können; und viel dergleichen mehr. So läßt sich eine vollkommene Gleichheit nie erwarten, denn jede Sekte wird immer eine Vorliebe für ihren alten Cultus behalten und sie werden sich nie vereinigen lassen.
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Griechischen] korr. aus griechischen deshalb] deshalb,
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Die Katholiken weichen von den Protestanten ab in Lehre, Verfassung und Gebräuchen. Der Papst {93v} gehört zur Verfassung, das Anbeten der Heiligen aber zur Lehre. Wenn wir beide Kirchen mit einander vergleichen wollen, so müssen wir erst jede einzeln betrachten und sehn, welches ihre Hauptgrundsätze sind. Der evangelische Gottesdienst besteht vorzüglich darin, daß die Leute zusammen kommen, und sich durch Singen, Predigt hören und Beten gemeinschaftlich erbauen. In der katholischen Kirche ist es anders. Ein Chor singt, aber die Gemeine nicht; diese hört nur zu; eine Predigt kann gehalten werden, ist aber auch nicht nöthig und nur eine große Nebensache. Der Hauptgottesdienst der Katholiken ist die Messe. Da macht der Priester aus der Hostie das Abendmahl, d. h. er zeigt dem Volke die Hostie, betet dann, und bekreuzt sie, u.d.gl. Da wird sie zum Leibe Christi und obgleich sie nicht anders aus sieht als erst, glaubt das Volk, daß es nicht mehr dieselbe ist, sondern wirklich der Leib Christi, fallen auf die Knie, beten sie an; und damit {94} ist die Messe beendigt; eine Ceremonie die also weder mit unserer Predigt, noch dem Gebete oder unserem Singen Ähnlichkeit hat, und sich noch am ersten mit unserem Abendmahle vergleichen läßt, weil sie von der Einsetzung des Abendmahles her kommt. Dann ist in der katholischen Kirche noch der Ablaß der Sünden der die Veranlassung zur Reformation war. – Kein Mensch kann dem anderen seine Sünden vergeben, ob sie uns vergeben sind, kann nur jeder in seinem Inneren fühlen, durch sein Gewissen, welches uns niemals täuscht. Übrigens sind uns unsere Sünden vergeben sobald wir Christen sind, denn das steht im Briefe an die Römer Cap. 8 Vers 1.: ‚So ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind, die nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach dem Geiste.‘ – Denn sobald wir wahre Christen sind „leben wir in Christo und Christo in uns“, d. h. Christo lebt in uns, und beseelt uns zum Guten, zu einem reinen gottgefälligen Leben, und wir leben als solche, {94v} die „nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach dem Geiste“ in der christlichen Kirche. – Nach dem Fleische wandeln heißt hier so viel, als: ein sinnliches Leben führen; nach dem Geiste wandeln, heißt: den Gesetzen der Vernunft gemäß leben, wie es unser Gewissen fordert. Wir glauben übrigens, daß Gott gar nicht straft, denn Strafe dient nicht zur Besserung, sondern macht nur Furcht und hindert so an das Wiederthun. So hat auch Christus im Tode nicht die Strafe leiden können für unsere Sünden, denn das wäre gegen unsere Begriffe von
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Gottes Gerechtigkeit; eben so wenig wie uns Gott schon von klein auf, der Erbsünde wegen verdammen könnte. – Wir finden die ganze Vergebung unserer begangenen Sünden im Tode Christi, wie wir es früher erklärt haben, und bedürfen keiner neuen Vergebung, da wir nun ein reines Leben führen müssen. Die Katho{95}liken können jeden Augenblick Vergebung für eine Sünde bekommen, durch irgend einen Heiligen, und durch viele gute Werke ihre Sünde wieder gut machen, und brauchen sich deshalb weniger vor der Sünde zu scheuen. Hierin liegt der Hauptunterschied zwischen beiden Religionen, welcher wirklich sehr bedeutend ist, und einen großen Einfluß hat auf das ganze Leben des Menschen, da der Katholik auf diese Art sein Gewissen viel eher und leichter beruhigen kann, als der Protestant. In unserer Kirche haben wir niemand, der dem Papste der Katholiken nur einigermaßen ähnlich wäre, auch ist dieser keinesweges von Anfang an in der christlichen Kirche gewesen, sondern anfangs waren nur Priester, die unter Bischöfe und Erzbischöfe standen; über alle diese waren 4 Patriarchen, die in den 4 vorzüglichsten Städten der christlichen Länder wohnten, nämlich in Rom, Constantinopel, Allessandria und Antiochien. Aus den 3 letzten wurden sie von den Türken vertrieben, und so blieb nur der eine Bischof {96} oder Patriarch von Rom, der nun die Gewalt über alle andere hatte und endlich zum Papste wurde. Macht der Papst nun einen sehr großen Unterschied zwischen beiden Religionen? Nein; denn der ist eigentlich unnütz, und die Katholiken in Deutschland haben ihn auch schon nicht mehr anerkennen und sich einen Patriarchen wählen wollen. Geschähe dies, so würden es bald auch die anderen Länder thun, und der Papst würde wieder zum Patriarchen von Rom werden. Worin besteht nun der eigentliche Unterschied zwischen den beiden Kirchen? In dem ganzen Verhältniße der Geistlichen zu der Gemeine; die katholischen Geistlichen haben viel mehr Gewalt über das Volk als die evangelischen. Wie kommt das? Weil die katholischen Geistlichen die Sünde vergeben, die evangelischen aber nur die Vergebung der Sünde verkündigen. Könnte das nicht nur ein anderer Sprachgebrauch sein, daß beide am Ende doch dasselbe meinten? Das könnte wohl sein, aber die Katholischen vergeben die Sünden unter gewissen Bedingungen; das 83
uns] aus
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können doch die Evangelischen nicht, denn sobald Jemand die Vergebung seiner Sünden fordert, sieht er ein, daß er gesündigt hat und bereut es, und dadurch hat er schon die Vergebung. So haben die katholischen Geistlichen das Volk viel mehr in ihren Händen, weil sie eine so große Herrschaft über sein Gewissen ausüben. {97} Sind wir nun mit dem Vergleiche fertig? Nein; wir haben nur erst die Lehre und die Verfassung der katholischen Kirche mit der unseren verglichen, es bleiben uns nun noch die Gebräuche. Was ist Gebrauch? Eine bestimmte in diesem oder jenem angenommene Sitte. Welches sind solche Gebräuche bei uns?, und also auch bei den Katholiken? Die Sakramente. Wie viel Sakramente haben wir? Zwei; Taufe und Abendmahl. Die Katholiken? Sieben; Taufe, Abendmahl, Firmelung, letzte Ölung, Priesterweihe, Beichte und Ehe. Wie können wir diese Gebräuche mit denen unserer Kirche vergleichen? Taufe und Abendmahl können wir wohl für gleichbedeutend mit unseren Sakramenten nehmen, obgleich andere Ceremonien dabei sind. Was ist die Firmelung? Mit unserer Einsegnung können wir sie nicht recht vergleichen. Diese Ceremonie besteht darin, daß ein Bischof über jemand betet und die Hände auf ihn legt, wodurch er den heiligen Geist bekommt. Mit der Einsegnung kann man es nicht vergleichen, weil jemand schon vor der Firmelung das Abendmahl nehmen kann. – Die Katholiken leiten dies aus Stellen in der Apostelgeschichte her, Cap. 8. V. 15, und Cap. 19. Vers 6, wo steht, daß Apostel über die schon Getauften beteten, und diese dadurch den heiligen Geist bekamen. Deshalb dürfen es auch nur Bischöfe thun. {98} Wir aber glauben nicht daran, und sagen, daß wir den heiligen Geist schon durch die Taufe bekommen; indem wir dadurch in die christliche Kirche aufgenommen werden, in welcher allein wir desselben theilhaftig werden können. Wie ist es mit der Priesterweihe? Eigentlich haben wir diese auch, sie wird nur anders gefeiert und kein Sakrament genannt. 84
Was ist aber der Unterschied zwischen dem Dominiren unserer Prediger und der katholischen Priesterweihe? Unsere Prediger bekommen das Recht und die Erlaubniß in einer gewissen Gemeine unsere Sakramente zu geben und überhaupt das Predigeramt aus zu üben. 84
gemeint ist offenkundig die Ordination.
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Der katholische Geistliche bekommt durch seine Preisterweihe die Macht das Brod in den Leib Christi zu verwandeln und nach Gutdünken Buße für die begangenen Sünden auf zu erlegen. Also denken sich die Katholiken mehr und Wichtigeres dabei als wir. Wie ist es mit der Beichte? Die haben wir zwar auch, aber in einer ganz anderen Beziehung. In den ältesten Zeiten wurde auch unsere Beichte mit zu den Sakramenten gezählt, doch jetzt nicht mehr. Bei uns ist es auch nur ein allgemeines Bekenntniß, daß wir sündig sind, die Katholiken aber müssen ihre Sünden einzeln nennen, um die Absolution zu empfangen. {99} Aber was ist die letzte Ölung? Die geben die Katholiken nur, wenn Jemand so krank ist, daß er gar nicht wieder besser werden kann, und sie leiten diese Ceremonie her aus einer Stelle des Evg. Marcus, wo steht, daß: wenn Jemand krank sei, die Ältesten des Ortes kommen sollten und ihn ölen, weil das ihn aufrichten würde an Leib und Seele. Nun mögen sie Öl gegen manche Krankheit gebraucht haben, und es sind gewiß danach eben so viele gesund geworden, wie gestorben, aber jeder sah darin eine Beruhigung für sich, indem die Ältesten der Kirche ihm diese Ölung reichten, welche doch von der Gemeine geschickt, und also ein Zeichen für den Kranken war daß er nicht von der Kirche verstoßen sei. Dies soll nun auch die letzte Ölung der Katholiken bedeuten; der Sterbende sieht darin die Liebe der Gemeine zu ihm, indem sie ihm diese Ölung durch ihre Ältesten schickt. – Haben wir irgend eine Ceremonie, die wir mit dieser vergleichen könnten? Nein; gar keine. Wie ist es mit dem siebenten Sakramente, der Ehe? Wir nennen sie kein Sakrament. Hat sie denn mit einem Sakramente die geringste Ähnlichkeit? Nein, selbst nicht einmal mit einem katholischen. Welchen Grund haben die Katholiken, die Ehe ein Sakrament zu nennen? Ihr einziger Grund ist eine Stelle im Briefe an die Eph. Cap. 5. 85 Vers 28–33, in welcher steht, daß: wie Christus {100} das Haupt der christlichen Gemeine wäre, auch der Mann das Haupt der Ehe sei. Ist dieser Vergleich so recht klar einzusehen? Nein, denn Christus hat die Menschen erlößt, der Mann aber erlößt die Frau von nichts. Ist denn die Frau so ganz Unterthan dem Manne? Nein. Jeder hat seinen eigenen Wirkungskreis, der Mann, welcher mehr Kräfte hat, 85
vielmehr Vers 22–24
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muß die Frau beschützen und für das Äußere sorgen; die Frau für das Innere. Der Mann weiß doch immer mehr als die Frau und lernt viel mehr, liegt das nun wohl darin, daß er von Natur verständiger ist als die Frau? Das kann man nicht mit Gewißheit beantworten; es kann sein, es ist aber auch eben so gut möglich, daß der Mann nicht mehr Fähigkeiten hat, und nur daher mehr weiß als die Frau, weil seine Erziehung von klein an dahin gerichtet ist. Aber sollen wir denn dem Apostel ganz Unrecht geben? Nein, denn in einem gewissen Grade ist die Frau immer noch Unterthan dem Manne, und das muß auch sein, nur nicht so sehr, wie der Apostel es sagt; aber der hat dennoch Recht, denn zu seiner Zeit war ein ganz anderes Verhältniß in der Ehe als jetzt, da stand die Frau viel tiefer, und der Mann erlößte sie auch indem er sie heirathete gewissermaßen von Vater und Mutter, die sie nicht wie jetzt die Ältern ihre Kinder behandelten, sondern wie Sklaven; und in so fern hat der Apostel recht, daß in den früheren Zeiten das Verhältniß in der Ehe {101} im Kleinen ganz dasselbe war, wie das zwischen Christus und der Gemeine. Weshalb könnten uns die Katholiken wohl den Vorwurf machen, daß wir die Ehe nicht so heilig hielten als sie? Weil wir die Scheidung haben, die zwar nicht durch die Kirche geschieht, aber doch durch eine christliche Obrigkeit. Können wir ihnen dagegen gar keinen Vorwurf machen? Ja, den, daß sie ihren Priestern die Ehe verboten haben. Die Priester, als Leute, die anderen die Sünden vergeben können, halten sie für etwas sehr Hohes und die Ehe für diese zu schlecht, also setzen sie dieselbe doch tiefer als wir, die wir sie für keinen zu schlecht halten. Was steht wohl über Scheidung in der Bibel? Im Ev. Math. Cap. 19 Vers 3–9 steht viel davon und vorzüglich: ‚Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.‘ Klingt das zu unserem Vortheile? Nein, auf diese Stelle, die sie wörtlich verstehn, gründen die Katholiken ihr Verbot der Ehescheidung. Wie deuten wir es uns? Zu der Zeit da Christus lebte war es mit der Ehe ganz anders als jetzt; sobald ein Mann seine Frau nicht mehr wollte, gab er ihr einen Scheidebrief, wie ihn Moses eingesetzt hatte und ließ sie laufen; die Frau aber konnte dem Manne keinen geben und war daher viel mehr gebunden. Diese Ehescheidung verbot nun
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Christus; sie war {102} aber auch ganz etwas anderes als unsere jetzige Ehescheidung, die durch die Obrigkeit vollzogen wird. Wenn nun Christus unser jetziges Verhältniß sähe, würde er dann mit unserer Ehescheidung zufrieden sein? Wohl nicht ganz; aber doch weniger unzufrieden, wie mit dem Schließen einer solchen Ehe, die nachher geschieden werden muß; denn wo eine Scheidung statt finden muß, hat sie immer einen Grund in einer schon älteren Schuld, welche gewöhnlich darin liegt, daß die Ehe von Anfang an verfehlt war; daß sich zwei Leute zusammen gaben, die sich nicht genug kannten oder nicht zusammen paßten, und nun von Anfang an einen falschen Weg gingen, um zum Ziele der Ehe zu gelangen, das in häuslicher Glückseeligkeit besteht. – Und deshalb ist eine Heirath ein großer Schritt, der viele und genaue Prüfung fordert; die Ehe ist das wichtigste Verhältniß im menschlichen Leben. Wäre es nun nicht gut, die Scheidung ganz aufzuheben? Nein; es ist einmal die Unvollkommenheit da, daß manche Ehe geschlossen wird, die dann nicht glücklich ist und sein kann. Bei einer solchen Ehe ist Scheidung zwar immer etwas Trauri{103}ges und Schreckliches, aber doch am Ende etwas Gutes, denn sie verringert das Übel, während der Zwang des Zusammenbleibens es immer vergrößern würde. Können die Katholiken gar nicht geschieden werden? Nein, aber sie dürfen sich trennen, nur darf keines von beiden wieder heirathen, sie dürfen sich selbst nicht einmal wieder zusammen begeben. Nur der Tod des einen, gestattet dem anderen sich wieder zu verheirathen. Dies erscheint nun, als wenn sie nicht ganz geschieden wären, sondern immer noch Pflichten gegen einander hätten und ist gewiß viel schlimmer als in unserer Kirche, wo die Scheidung sie von allen Pflichten losspricht. Warum ist das schlimmer? Weil ein gegebener Schwur der nicht gehalten wird, viel schlimmer ist als ein von beiden Seiten für nichtig erklärter. Wie ist es nun aber, wenn sich ein evangelischer und ein katholischer Christ heirathen, dann kann sich der eine scheiden lassen, der andere nicht? Eine solche Ehe ist überhaupt sehr schlimm, und ehe man sie eingeht bedarf es noch viel mehr einer Überlegung als bei einer anderen; denn hier ist eine Ungleichheit der Meinungen von Anfang an; in welcher Religion sollen die Kinder erzogen werden? jeder hat die Überzeugung, daß der Glauben des anderen falsch, 86
war] waren
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oder doch wenigstens schlechter als sein eigener ist; {104} das ist der erste Grund zu Streitigkeiten und eine solche Ehe kann schwerlich glücklich sein. Ist es nun ganz klar, daß unsere Religion die beste ist? Ja, denn alle andern haben viele schlechte Einrichtungen. Würde aber ein Katholik die Unterschiede beider Kirchen eben so darstellen? Nein, denn dann wäre es gleich einzusehen, daß wir Recht haben. Sein erster Satz ist, daß wir der Kirche abtrünnig gewordene Ketzer sind. Was sagen wir dagegen? Wir haben nur die schlechten Einrichtungen die später in die Kirche kamen, abschaffen wollen und die Kirche wieder so einrichten, wie sie von Anfang war. Da vertrieb uns der Papst, durch den Bann, den er auf Luther legte aus der Kirche und so mußten wir uns unsere eigene bilden. Stellen die Katholiken die Anbetung der Heiligen eben so dar, wie wir? Nein, sie sagen, daß ein Unterschied ist zwischen ihrer Anbetung Gottes und der Verehrung der Heiligen, welche sie nur bitten zu Gott für sie zu beten. Die Katholiken bemühen sich nun doch auch sehr, uns wieder in die Kirche zu ziehen? Das machen wir eben so; nur mit den Unterschiede, daß wir es allein können indem wir die Katholiken von den Vorzügen unserer Religion überzeugen, während die Katholiken uns mit gutem Gewissen durch Drohungen oder körperliche Versprechungen in die ihre ziehen. Welchen großen Unterschied giebt es noch zwischen diesen beiden Religionen? Den, daß die Katholiken ihre Kirche für die Einzige halten, in welcher man zu der Vereinigung mit Christus kommen kann, während wir nur glauben, daß {105} unsere diejenige ist, in welcher man am besten und aufrichtigsten zu dieser Vereinigung kommt. So zeigen die Katholiken einen größeren Stolz als wir. Kann nun wohl jemals eine vollkommene Gleichheit der Religionen eintreten? Nein, denn nur auf 3 Arten könnten die evangelische und die katholische Kirche vereinigt werden; entweder: daß wir alle wieder katholisch würden, oder: daß die Katholiken evangelisch würden, oder: daß beide Religionen einen Mittelweg einschlügen. 87
Geht von den dreien nicht ein Mittel? Nein; das Erste würden wir nie thun, das zweite die Katholiken eben so wenig und zu dem dritten würden sich beide Religionen nicht verstehen. So, wie sich nie87
nicht] mit
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mals alle Völker in eine Sprache vereinigen werden und können, so kann auch niemals eine einzige Religion entstehen, denn schon die Sprache theilt die Menschen in Hinsicht auf Religion. Wäre aber nicht wenigstens eine größere Gleichheit möglich, als jetzt ist? Ja; besonders dadurch, daß die Katholiken ihre Irrthümer abschafften. Wir haben immer von den Irrthümern der Katholiken gesprochen, haben wir denn gar keine? Wahrscheinlich haben wir auch welche, aber wir kennen sie nicht und können sie deshalb nicht abschaffen. {106} Wäre es nicht unsere Pflicht sie abzuschaffen? Wenn wir sie auffänden, ja. Aber wie sollen wir sie auffinden? Danach suchen können wir nicht, denn dadurch zeigten wir eine Unsicherheit in unserer Religion; wir können sie also nur abschaffen, wenn wir sie zufällig finden. Aber woran erkennen wir sie? Daran, daß sie nicht mit unserem übrigen Glauben zusammen paßten. Würde es nicht sehr schwer sein, so welche zu finden? Ja; denn alles was in unserem Glaubensbekenntnisse aufgenommen ist, ist sehr genau geprüft und durchaus richtig gefunden worden. Was folgt daraus? Daß wir gewiß nicht viel Irrthümer haben könnten; und wo jemand dennoch einen findet, ist es seine Pflicht ihn bekannt zu machen, und ihn auf’s Reine zu bringen; und besonders ist das die Pflicht derjenigen, welche sich hauptsächlich mit Religion beschäftigen, und auch die griechische Sprache verstehen; die können die Fehler am ersten finden, denn sie können die Bibel in der Ur88 sprache lesen und sind so vor jedem Fehler in derselben sicher; während die anderen sich mit der Übersetzung begnügen müssen, die aus Achtung vor Doktor Luther unverbessert geblieben ist, von welcher man jedoch nicht mit Gewißheit sagen kann, daß sie ganz fehlerfrei ist; noch dazu, da manches Wort der griechischen Sprache sich in einer anderen gar nicht so wieder geben läßt, {107} und durch eine falsche Übersetzung doch am leichtesten ein Irrthum entstehen könnte. Deshalb müssen wir uns vorzüglich auf unsere Geistlichen verlassen, die der griechischen Sprache mächtig sind. (Hatten wir nicht vor einigen Stunden auch beiläufig von Neugierde und Wißbegierde gesprochen? Ja. Hatten wir beides schon bestimmt von einander geschieden? Nein. 88
so] nachgetragen
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Wenn nun jemand einen anderen nach einem dritten fragt, den er lange 89 nicht gesehen hat, ist das Neugierde oder Wißbegierde ? Keines von beidem; sondern das ist ein drittes, was zwischen beiden steht, nämlich: Theilnahme. Was haben wir im Allgemeinen über beide Eigenschaften gesagt? Neugierde ist etwas Schlimmes, Wißbegierde etwas Gutes. Ist Wißbegierde immer etwas Gutes? Wenigstens nie etwas Schlimmes, höchstens kann sie am unrechten Orte angebracht sein, so, daß sie sich nicht mit unseren Pflichten verträgt. 90
Wie weit ist Wißbegierde nun immer gut? Soweit sie zu unseren Geschäften gehört, zu welchen aber auch die Geistesausbildung gehört, die ein Jeder haben muß um im gesellschaftlichen Leben wenigstens auf eine Art zu nützen. Wie waren wir aber auf diese Worte gekommen? Durch die Frage ob sich einmal alle Religionen vereinigen könnten, waren wir auf die Frage gekommen, wie es wohl in Zukunft in der Welt werden 91 würde, und diese Frage hatten wir neugierig genannt.) {108} Wie ist es nun mit der Vereinigung der Religionen? Ganz wird sie niemals geschehen, denn wir haben schon gesagt, daß selbst die Sprache einen Unterschied zwischen den Leuten macht, aber doch wird z. B. ein deutscher und ein französischer Protestant besser zusammen leben können, als ein deutscher Protestant und ein deutscher Katholik. Waren wir mit dem Irrthum in unserer Religion schon ganz im Reinen? Nein. Wie ist es nun damit? Wir können nicht mit Gewißheit sagen, daß wir Irrthümer haben, da uns aber die Katholiken so viele vorwerfen, können wir auch nicht mit Bestimmtheit die Möglichkeit durchaus abstreiten. Sollen wir nun die Leute zu unserer Religion bekehren? Ja. Aber um aus einer Religion in die andere zu kommen, muß ein Punkt der Verwirrung und Zweifel sein; dürfen wir dessen ungeachtet die Menschen doch bekehren? Ja; denn bei jeder Überzeugung sind, wenn man vorher etwas anderes glaubte, diese Zweifel nöthig; ehe
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Wißbegierde] korr. aus Ne unseren] korr. aus unserem Die eingeklammerte Passage ist im Manuskript auf beiden Buchseiten (Fragen wie Antworten) eingeklammert.
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wir nicht an die Richtigkeit des Alten zweifeln, können wir nicht die Überzeugung vom Vorzuge des Neuen bekommen. Darf man nun einen jeden Menschen in diese Zweifel bringen? Erst muß man den Menschen genau kennen. Hat er die Kräfte den Weg bis zu dem anderen Glauben auszuhalten, dann kann man ihn mit Recht verwirren, denn man kann ihn nachher durch die Zweifel zum wahren Glauben führen, sieht man aber, daß seine Kräfte nicht hinreichen, so habe man Mitleid mit ihm und lasse ihm seinen falschen Glauben, denn man brächte ihn nur bis zu den Zweifeln und {109} der Verwirrung, und dann nicht wieder zurück bis zum wahren Glauben, und für diese Ungewißheit lasse man den alten Menschen nun lieber ruhig wie er ist, denn wenn sein Glauben auch nicht der rechte ist, so ist er doch fest in demselben und das ist besser, als wenn er nachher an gar nichts glaubt. Bei solchen Leuten und in solchen Verhältnissen hat man denn nur zu sorgen, daß ihre Nachkommen eine bessere Erziehung erhalten, d. h. daß sie vorbereitet werden um den Weg durch die Zweifel zum wahren Glauben machen zu können. Ist das aber nun aber eine duchaus neugierige Frage, wie es um das Verhältniß der Religionen in Zukunft stehen wird? Nein, wenn wir es auch nicht erleben, so sind doch in der Zeit unsere Nachkommen in der Welt, für welche wir immer ein Interesse haben; also ist dies eine Frage aus Theilnahme. Tragen wir nicht auch zu diesem künftigen Verhältnisse bei? Ja, durch die Erziehung unserer Kinder, welche denn doch später nach der Lehre die sie von uns bekommen haben, wieder ihre Kinder erziehen und so fort. Welches ist nun wohl die richtigere Meinung; einer sagt man kann Kindern nicht zeitig genug Begriffe von Gott, Christus und Religion beibringen; ein anderer wieder sagt: man dürfe es ihnen gar nicht zu früh beibringen; was ist nun wohl das Richtige? Das ist sehr 92 schwer zu entscheiden ; das Sicherste ist einem Kinde nicht zu früh von Gott zu sagen; wenn es in einer Umgebung ist die einen richtigen Begriff von Religion hat, so mag die sich in ihren Gesprächen nicht an das Kind stoßen, ist dies so weit, daß es das Gute vom Schlechten unterscheiden kann, so hat es auch die Fähigkeit etwas von Gott zu ver{110}stehen; dann wird es auf die Gespräche aufmerksam sein und fragen. Das ist der Zeitpunkt, wo man ihm das von Gott sagen muß, was es fassen kann; freilich wird es öfter einen
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entscheiden] unterscheiden
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falschen Begriff von diesem oder jenem bekommen, aber das schadet nichts, man kann ihm das später wieder benehmen. Der rechte Zeitpunkt findet sich also von selbst und man braucht sich gar nicht so sehr darum zu bemühen. Haben wir schon von den Pflichten gesprochen, die wir gegen Einzelne haben? Nein, wir haben nur von den Pflichten gesprochen, die jeder Einzelne zu der Kirche hat. Legt uns die Kirche Pflichten gegen einander auf? Nein; denn ihre Hauptpflicht ist der Glaube, aus diesem entspringt die zweite Pflicht, die Liebe und aus der alle andere Pflichten, die wir als Mitglieder der christlichen Kirche haben. Aber dies alles sind eigentlich keine Pflichten, denn Glaube, Liebe u.s.w. sind rein geistige Dinge und wir haben schon früher gesagt, daß man den Geist durch äußere Gewalt zu nichts zwingen könnte, also auch keine Pflichten auferlegen kann, denn Pflicht muß man sich mit Zwang zusammen denken können. Welchen Unterschied müssen wir zwischen Pflichten machen, wenn wir der Liebe doch diesen Namen lassen wollen? Die Pflichten, welche uns das bürgerliche Leben auferlegt, müssen wir unterscheiden von denen der Kirche. Zu den ersten, welche Abgaben und d. gl. betreffen, kann man uns durch äußere Gewalt zwingen, {111} zu den anderen kann uns Niemand zwingen, wenn wir sie nicht aus Überzeugung und unserem Gewissen folgend erfüllen. So unterscheiden wir also äußere Pflichten, die uns von anderen auferlegt werden und innere Pflichten, die unser inneres Selbst uns giebt. Woraus haben wir das geschöpft? Aus einer Stelle im Ev. Joh. Cap. 13. 93 Vers 34, wo Christus sagt: ‚Und ich sage euch nun: Ein neu Gebot 94 gebe ich euch, daß ihr euch unter einander liebet, wie ich euch ge95 liebt habe, auf daß auch ihr einander lieb habet.‘ Meint er damit seine Liebe zu seinen Jüngern oder zu allen Menschen? 96 Die zu seinen Jüngern, denn höchstens eine dieser ähnliche Liebe können wir unter einander haben. Liebte Christus nicht alle Menschen gleich? Nein, seine Jünger liebte er mehr als die anderen. War das recht von ihm? Ja, und auch ganz natürlich. Alle Menschen liebte er nur so, daß er sie erlösen wollte, seine Jünger aber standen ihm näher, die mußte er persönlich lieben. 93 94 95 96
Christus] Christust liebet] liebed habet] korr. aus habed ähnliche] ähnlichen korr. aus ähnlich
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Warum kann in dieser Stelle nicht die Liebe Christi zu allen Menschen gemeint sein? Eben deshalb weil Christus nur eine solche Liebe für sie hatte, daß er sie erlösen wollte; die können wir nicht für einander haben, weil wir ja alle schon durch Christus erlößt sind. Wie soll nun unsere Liebe unter einander sein? So, daß sie nur für die anderen ist, und gar nicht um unserthalben, ähnlich dem, wie Christus seine Jünger liebte. {112} Ist dies nun eine ganz gute Liebe? Ja, wenn sie so ist, ist sie vollkommen gut. Ist auch eine schlechte Liebe denkbar? Ja. In der Ep[istel] a[n] d[ie] Col[osser] Cap. 3. Vers 22, steht: ‚Ihr Knechte seid gehorsam in allen Dingen euren leiblichen Herren, nicht mit Dienst vor Augen um den Menschen zu gefallen, sondern mit Einfältigkeit des Herzens und mit Gottesfurcht.‘ – Was geht daraus hervor? Eben das, daß es eine falsche und eine rechte Liebe giebt; denn Dienst vor den Augen, den Menschen zu gefallen, zeigt an, daß es hinter dem Rücken anders gemeint ist, und das ist dann keine Einfalt des Herzens mehr; denn das ist nur eine Liebe, um den Menschen Ärger zu ersparen, aber im Herzen ist es anders gemeint. Hingegen mit Einfalt des Herzens und mit Gottesfurcht, das deutet die andere wahre, rechte Liebe an, aus welcher man alles so thut wie man es wirklich meint, und das aus Liebe zu Gott, sich selbst und den Menschen; dabei ist nichts verstecktes im Menschen. Kann man ein und denselben Menschen mit verschiedenen Lieben lieben? Nein, denn es giebt nur eine Liebe Aber z. B: Wenn ein Dichter ein sehr schönes Gedicht geschrieben hat, kann man dadurch eine gewisse Liebe zu ihm bekommen? Ja. Wenn er sich nun aber als ein schlechter Mensch beweißt; hört dann die Liebe auf? Nein, denn die ist nur für sein Talent. Wenn er nun aber ein sehr guter Mensch ist, so lieben wir ihn als solchen auch; ist das nicht eine zweite, andere Liebe? Es sieht so aus, aber es muß beides aus einem Grunde entstehen, denn es giebt doch nur eine Liebe {113} Wie ist es nun wohl? Es giebt nur eine Liebe, aber viele Ursachen um 97 deretwillen wir lieben können, und so können wir auch einen Menschen auf verschiedene Arten lieben, nicht mit verschiedenen Lieben, sondern verschiedener Eigenschaften wegen, die er besitzt.
97
so] nachgetragen
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Kann man gegen Jemand verschiedene Pflichten haben? Das läßt sich nicht gleich bestimmen. Hat man gegen einen König Pflichten? z. B. Ja, besonders die, zu gehorchen. Hat man auch Pflichten zu ihm als Christen? Ja. Wenn der König etwas befielt, was gegen unsere Pflichten als Christen ist, können wir gradezu verweigern es zu thun? Nein, wir können nicht kurz weg sagen, daß wir es nicht thun wollen, aber es ist dann unsere Pflicht als Christ, den König von der Falschheit dessen, was er befahl zu überzeugen; denn es ihm nur sagen ist nicht genug. Aber welches sind denn eigentlich unsere Pflichten als Christen? Das müssen wir am leichtesten aus der Bibel sehen können. Da hatten wir schon das gefunden, daß wir uns unter einander lieben sollten, wie Christus seine Jünger liebte. Was für eine Liebe hatte er zu denen eigentlich, und was that er ihnen zu Liebe? Er suchte sich unter dem Volke seine Jünger heraus und unterrichtete sie, so daß dann der heilige Geist über sie kommen konnte. Aber wir können uns doch Niemand aus der christlichen Kirche heraus suchen, den wir nun vorzüglich lieben? Einzelne nicht; aber indem wir uns einsegnen lassen, werden wir evangelische Christen, und dadurch haben wir uns schon diese Kirche unter allen ausgesucht, um mit ihren Gliedern in nähere Verbindung zu treten, und das ist dann gewissermaßen dasselbe, nur im größern Maaßstabe. {114} Ist es nicht auch unsere Pflicht dazu bei zu tragen, daß sich das Christenthum immer weiter verbreitet? Ja. Sollen wir uns deshalb die Christen aussuchen, die uns am wenigsten unterrichtet scheinen, und sie durch unsere Lehre weiter bringen? Nein; das hieße in die allgemeine Ordnung eingreifen. Aufdrängen dürfen wir uns keinem, will ein anderer von uns etwas lernen und kommt deshalb zu uns, so ist es unsere Pflicht ihm so viel mitzutheilen, wie wir selbst wissen; übrigens kann er auch in die Kirche gehen und sich an die dazu bestimmten Prediger wenden; da hat er immer Gelegenheit, in der Religion fester zu werden, ohne daß wir uns um ihn bekümmern. Wie ist es aber mit den entfernten Völkern, den Indianern, Grönländern u.s.w. die haben doch keine Gelegenheit, bei sich die christliche Religion zu lernen, ist es nun nicht unsere Pflicht zu denen zu gehen, und sie zu unterrichten? Nein. Ist es etwas Böses, wenn wir es thun? Nein. Was ist es denn? Etwas Unnützes.
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Aber wie sollen sie unsere Religion kennen lernen? Alle diese Völker stehen doch mit christlichen Völkern in naher Verbindung, besonders durch den Handel, und da ist es nun die Pflicht der Völker, welche an den Grenzen der christlichen Kirche wohnen, ihre heidnischen Nachbaren sobald diese es wollen im Christenthume zu unterrichten. Denen {115} wird es auch am leichtesten, denn sie kommen mit den Leuten am meisten in Berührung, siedeln sich auch am ersten unter ihnen an, und wenn sie nun da in ihrer Mitte eine ordentliche christliche Kirche bilden, so werden sich die heidnischen Völker schon von selbst dazu bekennen, sobald sie den dazu nöthigen Grad von Bildung erreicht haben. Wo können wir das wohl ganz deutlich sehen? In Indien. Dies Land gehört den Engländern, welche sich sonst gar nicht um die Religion bekümmerten, andere Staaten schickten Missionaire hin, aber das Christenthum verbreitete sich gar nicht. Jetzt bekümmern sich die Engländer als Landesherren darum, die englischen Colonisten in Indien haben dort ihre Kirche und ihren Gottesdienst eingerichtet, und die Indianer, sich von selbst zum Christenthume bekennend, vergrößern die Ausdehnung der Kirche, ohne die weit her geschickten Missionaire. Ist es denn nun unsere Pflicht uns aller Christen anzunehmen und alle zu unterrrichten? Nein. Oder sollen wir uns um gar keine bekümmern? Das noch weniger. Was sollen wir denn thun? Es ist unsere Pflicht, so viele Christen zu unterrichten und uns ihrer anzunehmen, wie wir gut können, und da stehen uns denn die am nächsten, mit welchen wir den meisten Umgang haben. Wo finden wir hierüber etwas in der Bibel? In der Apostelgeschichte, Cap. 6, Vers 1 bis 3. {116} Da steht: ‚In den Tagen aber, da der Jünger viele wurden, erhob sich ein Gemurmel unter den Griechen wider die Ebräer.‘ – Wer waren diese Griechen, da doch von Christen die Rede ist? Die Juden wohnten eigentlich in Palästina, da war auch ihre Synagoge und überhaupt waren die mosaischen Gesetze so eingerichtet, daß sie nur hier ganz erfüllt werden konnten. Nun waren aber auch viele Juden des Handels wegen in andere Länder und so auch nach Griechenland gegangen. Diese pflanzten sich dort fort, und nahmen natürlich die griechische Sprache und wahrscheinlich auch manche andere griechi98 sche Sitte an, während sie die hebräische Religion behielten, die 98
hebräische] griechische
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ihnen auch immer wieder eine Sehnsucht nach Palästina einflößte, so, daß solche griechisch gewordene Judenfamilie, wenn sie genug verdient hatte, immer wieder nach Jerusalem zurück ging. Diese hießen nun aber zum Unterschiede von den Anderen, Griechen, und hier sind nur ebräische und griechische Juden gemeint. Dann heißt die Stelle weiter: „darum, daß ihre Witwen übersehen wurden in der täglichen Handreichung‘. – Was ist das, die Handreichung? Im Anfange der christlichen Kirche war es Sitte, daß jeder Christ das, was er durch seine Arbeit verdient hatte zu einer gemeinschaftlichen Kasse brachte, und das wurde dann unter alle Christen vertheilt, und zwar so, daß besonders die, welche nichts verdienen konnten, ihr Theil bekamen. War die Einrichtung nicht so gut, daß sie noch sein sollte? Nein; dann würden die Leute bald alle nichts thun, und jeder sich auf die Kasse und die anderen verlassen. {117} Was geht sonst noch aus dieser Stelle hervor? Daß diese griechische Christen, denn das waren sie nun geworden, glaubten, ihre Witwen, die doch gewöhnlich am meisten hülfsbedürftig sind, bekämen nicht genug und so mit den hebräischen Christen, welche als die Häupter die Austheilung hatten, nicht zufrieden waren. Dann steht im zweiten Verse dieser Stelle: ‚Da riefen die Zwölfe die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es taugt nicht, daß wir das Wort Gottes unterlassen, und zu Tische dienen.‘ – Was geht erstlich daraus hervor? Daß die Zwölfe, welches die Apostel sind, das Amt der Austheilung hatten; und diese waren doch alle Ebräer. 99
Wie ist es zu verstehen, daß sie Gottes Wort unterlassen hätten, u.s.w. Sie sahen ein, daß es nicht recht sei, die Predigt und das Lehramt, was sie unter Gottes Wort verstanden hinten an zu setzen, um vorzüglich zu Tische zu dienen, das will sagen: die Handreichung zu thun; denn dieser Unterschied der Worte liegt nur in der Übersetzung. Vers 3. ‚Darum, ihr lieben Brüder, sehet unter euch nach sieben Männern, die ein gutes Gerücht haben, und voll heiligen Geistes und Weisheit sind, welche wir bestellen mögen zu dieser Nothdurft.‘ Das heißt, einen guten Ruf haben. Wie waren nun diese Sieben? So, wie wir noch jetzt Pastoren und Diakone haben. Diese sieben Männer waren die ersten Diaconen.
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unterlassen] korr. aus verlassen (?)
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Ist denn das bei uns auch noch so? Bei uns grade nicht, aber an anderen Orten, z. B. in Hamburg. Die Pastoren sind die Prediger, die das eigentliche Lehramt haben; die Diaconen werden aus den Bürgern eines jeden Stadtrevieres gewählt, {118} und haben die Versorgung und Verpflegung der Armen und Kranken auf sich, und ein Diacon ist für jeden die erste Stellung, durch die er zu einem öffentlichen Amte kommen kann. Unter den Sieben war nun auch Stephanus, der nachher in der Synagoge disputirte, und dafür hingerichtet wurde. – War das wohl unrecht von ihm? Nein, denn er mischte sich zwar in das Lehramt, aber das war ja nicht in der christlichen Kirche, sondern nur in der Synagoge. Dann steht auch noch im 15ten Capitel Vers 1.: „Wo ihr euch nicht be100 schneiden lasset nach der Weise Moses, so könnt ihr nicht seelig werden.‘ D. h. wenn wir das Gesetz Moses nicht befolgen. ‚Darauf gingen zwei zu den Aposteln und fragten die um Entscheidung des darüber entstandenen Streites.“ – Wir haben doch auch noch so oft Streit, wäre es daher nicht gut, wenn wir auch noch Jemand hätten, der jeden Streit gleich entscheiden könnte? Nein; unsere Streite in der Kirche können wir nur selbst entscheiden, weil zu jedem Schritte der darin geschieht die Überzeugung gehört. Die Apostel entschieden endlich, daß man das Gesetz auch befolgen müsse, bis auf einige Punkte; Besonders, sie „sollten sich enthalten der Abgötterei, vom Erstickten und vom Blute“. – Das sind doch aber ganz unbedeutende Dinge, warum hat der Apostel grade die verboten, und was meinte er damit? Abgötterei konnten die Heiden als Christen freilich nicht mehr treiben, aber sie hatten doch noch sehr viele heidnische Verwandte und wenn die ein Opfer gaben, luden sie die Christen zum Essen mit ein; das ist hier unter Opfer und Abgötterei verstanden. Daß die Juden kein Blut trinken sollten war ein Gesetz, weil sie sich dachten, daß im Blute die Seele des Thieres sei, und sie diese damit bekommen würden. Aus demselben Grunde sollten sie auch nicht das Fleisch von ersticktem Vieh essen, weil sich das Blut da hin{119}ein gezogen hatte. – So waren es nun sehr weise Einrichtungen, daß die Apostel dies alles verboten, denn das hatte zwischen den Heiden und Juden schon eine Spaltung gegeben, und konnte leicht eine Veranlassung werden, daß sich auch die heidnischen und jüdischen Christen trennten, und die Apostel
100 lasset] lassed
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sahen sehr wohl ein, daß Trennung das allerschlimmste für die Kirche sein würde. Im Briefe an die Römer Cap. 13 Vers 1. steht: „Jedermann sei Unterthan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat“; und so fort bis Vers 8: „Seid niemand nichts schuldig, denn daß ihr euch unter einander liebet, denn wer den Anderen liebet, der hat das Gesetz erfüllet“ und Vers 10: „Die Liebe thut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.“ – Wie muß uns diese Stelle gefallen? 101 Nicht besonders, denn daß jeder der Obrigkeit Unterthan ist, das, haben wir schon gesagt, ist nicht eine christliche, sondern eine allgemeine Pflicht. „Seid niemand nichts schuldig“ u.s.w. scheint, als ob die Liebe die einzige christliche Pflicht wäre, aber es giebt doch gewiß noch mehr; und dann „die Liebe thut nichts Böses“ ist zu wenig gesagt und keinesweges die christliche Lehre. Wo findet sich eine Entschuldigung für den Apostel? Diese Stelle klingt nur einzeln so, in ihrem Zusammenhange ist es schon ganz anders, und daß es der Apostel nicht so gemeint hat, besonderes 102 nicht, daß die Liebe dem Nächsten nur nichts Böses thut und daß dies die ganze christliche Pflicht sei, sieht man auch ganz klar, wenn man Cap. 12. ließt; da giebt der Apostel ganz andere Gesetze für die Christen; z. B. segnet {120} die euch fluchen, nehmet euch der heiligen, christlichen Nothdurft an, u.s.w. In wie fern bedeutet das nun mehr? Das ist alles mehr, als „nicht Böses thun“, und so ist es klar, daß der Apostel auch mehr verlangt. In demselben Capitel steht Vers 20: ‚So nun dein Feind hungert so speise ihn, dürstet ihn so tränke ihn. Wenn du das thust so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt laden.‘ – Wie ist das wohl? Die erste Hälfte des Verses ist sehr gut, aber die zweite nicht; denn Jemand schaden ist nicht recht. Wenn durch das erste hier nun immer das zweite entsteht, soll man da doch den Feind tränken u.s.w.? Ja. Soll man das nicht lieber einem anderen überlassen, so hat er doch das Gute und nicht den Schaden davon? Nein; denn dann haben wir es ja nicht gethan. Aber wie ist es denn, Jemand Schaden thun ist doch auf keinen Fall gut? Das thut ihm auch weiter keinen Schaden, sondern es soll nur heißen, daß wir ihn dadurch beschämen; denn das geschieht, indem wir
101 daß] das 102 Nächsten] korr. aus nächsten
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ihm Böses mit Gutem vergelten, schadet ihm aber nicht, sondern kann im Gegentheile noch zu seiner Besserung beitragen. Aber durch alle dies erfahren wir immer noch nicht welches alle Pflichten der Christen unter einander sind. Wie finden wir das? Am besten, wenn wir bei unserer Hauptpflicht Liebe stehen bleiben und von da aus die anderen zu erkennen suchen. Wo finden wir das Meiste von der Liebe gesagt? Im ersten Briefe an die Corinther, Cap 13. Um dies aber recht zu verstehen, müssen wir Cap. 12. Vers 28. anfangen. Was steht da? Da sind verschiedene Ämter genannt, die Gott in die christliche Kirche gesetzt hat und Vers 31 steht: ‚Strebet aber nach den besten Gaben und ich will euch noch einen {121} besseren Weg zeigen.‘ Was bedeutet das? Daß das beste dieser Ämter noch nicht so vortheilhaft für die christlichen Pflichten wäre, als der Weg, den er ihnen zeigen wollte, und nun zeigt er ihnen Cap. 13. als diesen Weg die Liebe. Was sagt er davon? Daß keine gute Eigenschaft eine solche sein könnte, ohne die Liebe und zeigt ihnen was die Liebe ist und thut und was sie nicht thut; wie sie grade das Gegentheil vom Eigennutz ist, und im Stande, jede andere Gottesgabe zu ersetzen. Ist es auch wohl so, wie die Liebe hier beschrieben ist? Es sollte eigentlich so sein, aber es ist nicht; und da nicht alle Menschen so sind, hilft die Langmuth, Freundlichkeit u.s.w. des Einen ihm zu gar nichts, im Gegentheile sie ist dann sehr schlimm für ihn. In der Apostelgeschichte Cap. 8. Vers 20 steht, daß Petrus gesagt hat: ‚Daß du verdammt würdest mit deinem Gelde.‘ – War das langmüthig? Nein; aber in seinem Verhältnisse konnte er keine Langmuth zeigen, und auch die Freundlichkeit kann man weniger nach dem Äußeren als nach ihrem inneren Grunde bestimmen; und so ist ihm dies wohl zu verzeihen, noch dazu wenn man denkt, daß das Wort in der Übersetzung viel härter klingen kann, als es in seiner Sprache gemeint war. Giebt es Leute die immer freundlich sind? Nein, die es wirklich sind, nicht, und solche die eine Freundlichkeit heucheln sind schlecht. {122} 103
So giebt es also eine wahre und eine falsche Freundlichkeit ? Ja.
103 Freundlichkeit] Freundschaft
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Wie ist die falsche? Eine geheuchelte, um anderen zu gefallen. Und die rechte? Ist die, wie man es wirklich meint, die ist zwar auch um anderen zu gefallen, aber doch in einer anderen Art als die falsche. Dann steht in der Stelle: ‚sie freut sich aber der Wahrheit‘. Das stimmt ganz überein mit dem, was wir von der Freundlichkeit gesagt haben. Aber Wahrheit gehört doch wohl eigentlich nicht zur Liebe, denn darunter muß man ja auch Wißbegierde verstehen? Sobald man unter „Liebe zur Wahrheit“ Wißbegierde meint, gehört sie freilich nicht zur Liebe, aber hier steht sie nur, insofern sie mit dem Glauben zusammen hängt. In dieser Stelle steht sie durch ein „aber“ im Gegensatze der Ungerechtigkeit; wie kommen die zwei zusammen? Insofern einer Ungerechtigkeit auch immer eine Unwahrheit zum Grunde liegen muß. „Sie erträgt alles“; einen Menschen der sich alles gefallen läßt nennt man doch dumm? Das ist auch nur in Hinsicht auf den Glauben gemeint. „Sie glaubt alles“, das ist noch schlimmer? Das heißt: die wahre, rechte Liebe hat gar kein Mißtrauen und muß alles glauben. Wo ein Mißtrauen entstehen kann, da muß die Liebe schon aufgehört haben. „Sie hofft alles.“ Über hoffen hat man schon zwei Sprüchwörter, wie heißen die? ‚Hoffen macht nicht zu Schaden‘; und ‚Hoffen und 104 Harren Macht manchen zum Narren‘. {123} Widersprechen diese sich nicht? Nein, denn das erste ist nur: die Hoffnung nicht verlieren, sondern immer nach dem Ziele hinarbeiten; das zweite aber heißt: etwas in Ruhe erwarten, ohne dazu zu helfen. Wie ist es nun hier gemeint? Hier ist die erste Art der Hoffnung gemeint, und die paßt auch zur Liebe. Die wahre Liebe verträgt alles. – Wie muß man das verstehen? Wenn Jemand etwas geschieht, was wirklich schlecht gemeint ist, aber sich nur auf ihn allein bezieht, so ist es recht sich nicht zu widersetzen und durch die Liebe vergilt man auch von selbst Böses mit Gutem. Ist aber das erlittene Unrecht von der Art, daß auch andere darunter leiden können, auf diese oder jene Art, so dürfen wir es uns nicht gefallen lassen, sondern müssen uns, nicht um unserthalben, aber der anderen wegen, widersetzen; denn das wäre sonst die Liebe zu weit getrieben. 104 K.F.W. Wanders ‚Deutsches Sprichwörter-Lexikon’ (1867–1880) führt (unter dem Stichwort ‚hoffen’) nur das zweite (als Nr. 20) auf.
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Ist denn nun die Liebe eine christliche Pflicht? Nein, wir haben schon oft gesagt, daß Liebe gar keine Pflicht ist. Was ist sie denn? Das, woraus alle Pflichten entstehen. Wie können wir eine Pflicht leicht erklären? Eine Pflicht erfüllen heißt einem inneren Drange folgen und etwas thun, was die Vernunft gebietet. Das sind die allgemeinen Pflichten aller Menschen, die jeder von selbst thut; dann giebt {124} es aber auch noch andere, die wir auf jeden Fall, wenn auch gezwungen thun müssen; und das sind die, die uns auferlegt sind durch das Zusammenleben mit anderen Menschen, und wozu uns ein mehr äußerer Drang treibt. Zu unseren Pflichten gehört doch auch wohl Tugend? Ja. Ist das aber eine Pflicht? Nur in so fern Liebe eine ist. Ist die Liebe eine Tugend? Ja; aber wenn man sie eine Tugend nennen will, so ist sie auch die einzige, und alle andern Tugenden sind ihr untergeordnet, d. h. sie entstehen aus ihr, wie auch alle Pflichten aus der Liebe entstehen. Was ist Tugend? Eine gute Eigenschaft der Seele, die man von Jedem verlangen kann, die aber immer einen Kampf in unserem Inneren mit der Sünde voraussetzt. Ist nun Liebe eine Tugend? Das ist schwer zu bestimmen. Ist sie weniger? Nein. Oder mehr? In so fern die christliche Liebe aus der göttlichen entsteht, ist sie keine Tugend, denn da ist sie etwas, was wir uns nicht geben können; aber diese Liebe, die in uns liegt, wird erst durch unsere christ{125}liche Erziehung ausgebildet, und bekommt so durch uns selbst den Grad ihrer Ausbildung den sie hat, und diese Liebe, die also durch unser Dazuthun entsteht, ist allerdings eine Tugend, denn sie muß auch erst die Selbstsucht in uns bekämpfen; während die göttliche Liebe in uns das ist, wodurch wir in den Besitz aller Tugenden kommen können. So gelangen wir also durch die Liebe zur Tugend eben so wie sie uns auch unsere Pflichten erkennen und ausführen hilft. Können wir uns Tugend ohne Liebe denken? Nein, denn jede Tugend entsteht nur aus der Liebe. Entspringt sie nun aus der christlichen Liebe, so ist es eine christliche Tugend, aus der Liebe im gewöhnlichen Umgange entstanden, ist es auch nur eine bürgerliche Tugend. Sind wir nun bald fertig mit den christlichen Pflichten? Ja, denn da uns die Liebe Tugenden und Pflichten erkennen läßt, so zeigt sie uns ja auch alle unsere christliche Pflichten.
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So brauchen wir uns also nicht weiter zu bemühen, unsere einzelne Pflichten aufzufinden? Nein. Wenn wir das müßten, was müßten wir dann noch aufsuchen? Unsere einzelne Tugenden. Sind wir mit denen aber schon ganz fertig? Nein, wir hatten sie auf die Tapferkeit angewandt, {126} und das ging; nun hatten wir auch mit Bescheidenheit angefangen, doch davon waren wir abgekommen. Was ist denn wohl Bescheidenheit? Seinen eigenen Werth geringer achten, und nicht durch Glänzen, mag es nun wirklich oder nur Prahlerei sein, andere verdunkeln wollen, und sie zurücksetzen. Paßt das zu dem, was wir von den Tugenden gesagt haben? Ja. Nun haben wir doch gesagt, Gott hätte keine Tugenden; Gerechtigkeit z. B. nennen wir doch auch Tugend, hat denn Gott die nicht? O ja, aber das muß doch wohl noch etwas anderes sein, als unsere Tugend. Wie haben wir uns Gerechtigkeit früher erklärt? Wir haben gesagt, Gerechtigkeit sei: Belohnen des Guten und Bestrafen des Bösen. Wie macht Gott das? Der belohnt oder bestraft uns durch unser Gewissen; das haben wir ja von ihm, und dann ist auch die Obrigkeit in gewisser Hinsicht die göttliche Gerechtigkeit; denn die handelt nach bestimmten Gesetzen, die vom Gewissen fest gestellt sind, und da wir dies von Gott haben, hat der auch Theil an unseren Gesetzen Gehört zur Gerechtigkeit auch die Liebe? Ja, ohne Liebe können wir uns keine wahre Gerechtigkeit denken. {127} Ist sie denn nun für uns eine Tugend? Ja, denn wir müssen sie uns wie alle andern Tugenden erst zueignen, durch einen Kampf mit dem Sinnlichen; Gott braucht das nicht, da er, als ein vollkommenes Wesen die Gerechtigkeit von Anfang an gehabt hat, und so ist sie für ihn nur eine gute Eigenschaft, wie alle andern. Können wir nun mit Gewißheit behaupten, daß die Liebe zu allen Tugenden nöthig ist? Ja, ohne Liebe kann keine Tugend bestehen. Der Apostel Paulus sagt noch mehr von ihr: Im ersten Briefe an die Corinther steht Cap. 13. Vers 1.: ‚Wenn ich mit Menschen und mit En105 gelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz, oder eine tönende Schelle.‘ – Was heißt das wohl? Wenn ich noch so viel Beredsamkeit hätte, aber die Liebe fehlte mir, so 105 Engelzungen] Engelzugen
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wäre das nichts, denn ich hätte keinen inneren Werth. Das sagt er mit deshalb, weil vorzüglich in Corinth unter den Christen Parteien entstanden, die mehr auf den einen oder anderen Apostel hielten, um seiner Beredsamkeit willen, und obgleich er nun die Beredsamkeit als etwas sehr Gutes annimmt, so sagt er doch, ohne die Liebe wäre sie nichts. Ähnlich ist auch der zweite Vers, nur im dritten steht: ‚Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe, und ließe meinen Leib brennen, und hätte der Liebe nicht, so wäre es nichts nütze.‘ – Ist hierin nichts Auffallendes? Daß man der Liebe wegen alle seine Habe den Armen geben sollte. Klingt der zweite Vers nicht etwas wunderlich? Ja. Wie muß man ihn verstehen? Als wenn da stände: Wenn ich alles vorher sagen {128} könnte, allwissend wäre, alle Kenntnisse besäße, und ein solches Vertrauen auf Gott hätte, daß ich das Schwerste darauf wagte, und hätte die Liebe nicht, so wäre es nichts. Hat der Apostel hierin Recht? Ja, vollkommen, und er hat die Beispiele sehr schön gewählt, indem dies alles mit der wahren Liebe die vollkommenste Tugend, ohne sie eine Sinnlichkeit und etwas schlechtes ist. Wie ist es denn nun mit dem: Alle Habe den Armen geben. – Ist das etwas Gutes? Nein; aber in der ersten Zeit hielt man es für etwas sehr Gutes, den Armen viele Allmosen zu geben; und so nimmt hier der Apostel das größeste an und sagt, daß dieses selbst ohne Liebe nichts Gutes wäre. Kann man es sich aber ohne Liebe denken? Ja, aus Eitelkeit, um gelobt zu werden, oder auch aus Bequemlichkeit, um den Bettelnden los zu werden. Aber warum nennen wir es nichts Gutes? Wie das? Weil es mit sich selbst im Widerspruche steht. 106
Wie das? Entweder, man achtet sein Geld nicht, und dann ist es auch weiter keine Tugend, es den Armen zu geben; oder man hält Armuth für etwas Schlimmes, und dann ist es auch nicht recht sich selbst arm zu machen, weil wir dann, wie jetzt die Armen uns, andere verpflichten uns zu helfen. Und was heißt nun das letzte: seinen Leib brennen Das ist auch nur zu verstehen wie das vorige, es {129} heißt: sich die größesten Qualen
106 Entweder] korr. aus Endweder
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anthun um anderer Willen; und man kann es ganz so verstehen wie das von der Habe. Wie waren wir denn darauf gekommen, uns den Anfang dieses Capitels so zu erklären? Wir hatten von den Tugenden gesprochen und gesagt, daß sie alle aus der Liebe entständen, und wir sie, wenn wir die Liebe hätten, so ganz von selbst erkennen könnten. Haben wir das nun bestättigt gefunden? Ja. Wie können wir in wenig Worte alle Tugenden zusammen fassen? Tugenden sind alles, was aus der Liebe entsteht, und mit sich selbst nicht im Widerspruche ist? Wir wollen doch aber noch eine Probe machen, ob wir auch mit dem durchkommen. – Was ist Vergnügungssucht? Eine Untugend, das bedeutet schon das Wort „Sucht“. Entsteht die aus Mangel an Liebe? Ja. Wie könnte man zu beweisen suchen, daß sie aus Liebe entsteht? Dann müßte man sagen: ein Vergnügen hat man selten allein und so entsteht Vergnügungssucht aus der Liebe zu denen, mit welchen man es theilt. Wie kann man es aber aus Mangel an Liebe herleiten? Vergnügungssucht macht, daß man seine Pflichten vernachläßigt, und so ist es 107 Mangel an Liebe zu denen, gegen die wir Pflichten haben. Ist denn vergnügt sein auch eine Untugend? Nein; für gewöhnlich ist es, wenn auch keine Tugend, doch etwas Gutes; in gewissen Fällen ist es aber auch eine Untugend. Oft zeigt es Mangel an Ernst und das ist nichts Gutes; aber es kann selbst Mangel an Liebe zeigen, denn es giebt Verhält{130}nisse, wo wir ernst und traurig sein sollen, und wer in solchen vergnügt sein kann, zeigt seinen Mangel an Liebe. Paulus sagt selbst: seid fröhlich mit den Fröhlichen, weinet mit den Weinenden. So ist es also etwas Gutes mit den Weinenden zu weinen? Ja, das zeigt Liebe. Ist es auch etwas Gutes zuerst zu weinen? Nein; aber es ist auch nichts Böses, wenn man wirklich Ursache dazu hat, und es wäre widernatürlich seine Traurigkeit bei wirklichem Unglücke ganz zu unterdrücken.
107 an] korr. aus aus
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Wenn nun Vergnügungssucht etwas Schlimmes ist, wäre es dann nicht gut alle Vergnügungen abzuschaffen? Nein, das ist nicht nöthig, denn die haben auch ihr Gutes. Sind Vergnügungen wohl eins mit vergnügt sein? Nein, denn das eine kann ganz gut ohne das andere bestehen; man kann vergnügt sein ohne Vergnügungen zu haben, und Vergnügungen haben ohne vergnügt zu sein. Wozu dienen denn nun die Vergnügungen, da sie doch auch leicht zur Vergnügungssucht führen? Es giebt Leute, die einer solchen Aufmunterung bedürfen um vergnügt zu sein; für diese sind sie; diejeni108 gen die darohne vergnügt sein können, brauchen sie für sich nicht Ist es nun für diese etwas Schlimmes, wenn sie hin gehen? Nein; so lange sie es nicht mit Leidenschaft thun, nicht; solche Leute werden es auch um sich nicht thun, sondern nur für Andere, die sie durch ihre Gegenwart dort mehr aufheitern. {131} Was sind denn eigentlich Vergnügungen? Solche Sachen die dazu dienen, uns als eine Erholung von der Arbeit auf eine angenehme Art zu zerstreuen. Kann man nicht auch bei der Arbeit vergnügt sein? O ja; es verträgt sich nicht nur mit der Arbeit, sondern es erleichtert sie uns auch. Es giebt doch auch Leute, die für sich gar nicht das Bedürfniß eines Vergnügens fühlen sondern immer fort arbeiten; ist das wohl gut? Nein; denn wenn sie immer fort arbeiten, so können sie gar nicht ihre Liebe zu anderen empfinden; die kann nicht in ihnen entstehen und sie müssen zuletzt ganz auf sich beschränkt sein. Was ist denn aber Arbeit? Eine Beschäftigung die unsere Gedanken, oder körperliche Kräfte, je nachdem sie ist, ganz in Anspruch nimmt, so, daß wir sie zu derselben Zeit durchaus zu nichts anderem anwenden können. Ist Musik auch ein Vergnügen? Nein; das ist eine Kunst, die man zwar zum Vergnügen benutzen kann, aber das ist dann nur eine falsche Anwendung derselben, da sie uns eigentlich einen höheren Genuß verschaffen soll, als Vergnügen ist. In sofern wir sie zum Vergnügen anwenden, ist sie uns wie dieses, wenn auch nicht gefährlich, doch entbehrlich. Ist es auch ein Vergnügen in seiner Familie zu leben? Ja, das größeste, weil das durchaus erlaubt und ohne alle Gefahr ist, denn daraus kann nicht Vergnügungssucht entstehen. {132} 108 Seltene Dialekt-Form, etwa bei Herder mehrfach belegt; lies: ‚ohne sie’.
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Sollte das für Männer genug sein? Nein. Warum nicht? Die Frau ist nur für das Haus, sie muß ihr Glück in ihrer Familie finden, der Mann aber ist für das öffentliche Leben, in welchem er sein ganzes Haus representirt. Was können wir nun im Allgemeinen von Vergnügungen sagen? Vergnügungen sind einem jeden erlaubt, so lange er dadurch keine Pflicht versäumt, und sie ohne die geringste Leidenschaft genießt, doch sowie diese dazu kommt, arten sie in Vergnügungssucht aus. Sind wir nun mit der Vergnügungssucht aufs Reine? Ja. Wäre es nicht recht gut noch mehr Untugenden so durch zu nehmen? O ja, doch dies ist zu weitläufig. Wie können wir nun auf kürzerem Wege zur Bestimmung aller Untugenden kommen? Wir müssen sagen: Untugend ist alles was einen Mangel an Liebe zeigt, und aus Selbstsucht entsteht. Das sehen wir bei einigen ganz klar, aber andere Untugenden lassen das nicht gleich einsehen? Bei näherer Betrachtung ist es doch zu finden; wie bei der Vergnügungssucht. Ist die Stelle wohl gut: Weine mit den Weinenden, u.s.w.? Ja. Eigentlich sollten wir so weit sein, daß wir sie nicht recht fänden; denn wir sollten nur traurig sein über unsere Sünden, und da wir doch eigentlich keine haben sollten, so ist das unrecht; oder wir sollten traurig sein über irgend etwas Schlimmes, was uns begegnet wäre; da müßten wir {133} uns gleich trösten können, indem wir denken, daß es eine Schickung von Gott ist, die uns zum Guten gereicht; aber so vollkommen sind wir nicht und so können wir immer weinen mit den Weinenden; und aus demselben Grunde auch uns freuen mit den Fröhlichen. Ist Faulheit auch eine Untugend? Ja. Auch Unordnung? Ja, denn die ist mit der Faulheit nahe verwandt. Bestehen die auch aus Selbstsucht?, man sollte glauben, nein; denn wenn man unordentlich ist, so hat man doch dadurch die Unbequemlichkeit des Aufräumens? Sie entstehen doch aus der Selbstsucht, wenigstens die Unordnung gewiß. Die Faulheit aber ist eine Abstumpfung, die den Menschen, der sie im höchsten Grade besitzt, den Thieren gleich stellt, denn Faulheit setzt einen gänzlichen Mangel an Liebe zu Anderen, sich selbst und damit auch zu Gott voraus. Wir haben doch gesagt: daß alle Tugenden zusammen hängen, indem alle aus der Liebe entstehen; können wir einen solchen Zusammenhang auch unter den Lastern finden? Nein, denn sie stehen alle im Widerspruche mit einander, und eben deshalb ist es auch eine so
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ganz unvernünftige Idee, daß es einen Teufel geben soll, der doch alles Böse in sich vereinigen müßte. Da ein Böses das andere fast aufhebt, ist dies ganz unmöglich. Wie waren wir aber hierher gekommen? Wir hatten von der christlichen Kirche gesprochen, und wollten wissen, was wir als Glieder der Kirche zu thun hätten; so kamen wir auf {134} die Pflichten und von diesen auf die Tugenden und Untugenden. Ist es uns nun klar, was wir als treue Glieder der christlichen Kirche zu thun haben? Ja; nicht nur das, sondern überhaupt was wir als etwas Gutes zu thun, und was als etwas Schlimmes zu lassen haben. Sind wir nun mit der christlichen Kirche fertig? Ja. Was folgt im Glaubensbekenntnisse darauf? Die Gemeinschaft der Heiligen. Was ist das wohl? Wir haben früher schon einmal gesagt, daß das die Gemeinschaft der Christen wäre; es muß aber doch noch etwas anderes bedeuten, sonst brauchte es ja nicht hier zu stehen, weil es dann mit der christlichen Kirche eins wäre. Was kann wohl darunter verstanden sein? In einigen Stellen der Bibel steht, daß im Anfange in der christlichen Kirche alles getheilt wurde, damit alle gleich viel hatten; und diese Gemeinschaft ist hier wohl eigentlich gemeint. Warum wurde die aber aufgehoben, daß wir sie nicht mehr haben? Weil das doch nicht ging, wurde sie schon sehr bald wieder aufgehoben. Das sehen wir schon aus einer Stelle in der Apostelgeschichte, Cap. 5. Vers 4., – da steht: ‚hättest du doch den Acker behalten mögen‘, also schon damals war die Theilung nicht mehr so genau. Aber warum kann eine solche Gemeinschaft aller Habe nicht bestehen? Jeder weiß am besten, was er für sich und sein Haus bedarf, und es ist seine Pflicht, so viel wie {135} möglich für seine Familie zu sorgen; so braucht er das Seine zu diesem Zwecke und es muß ihm der freie Gebrauch desselben gestattet sein. Das war aber bei dieser Einrichtung gar nicht. Soll man nun gar nichts für die Anderen thun? und ihnen geben? O ja, aber nicht alles, sondern nur nach seinem Willen und Kräften, so, daß das alles von der Freiheit ausgeht. Wir haben also gesehen, daß, was Bedürfnisse angeht, die zum Leben durchaus nöthig sind, jeder die Seinen am Besten kennt und so sie auch selbst am besten befriedigen kann. Daher ist es das Rechte, wenn er mit seinem Vermögen ganz nach seinem Willen schaltet und
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also in diesem Punkte durchaus frei ist. Nach der Arbeit muß man sich aber ruhen und erholen; dazu gehört das gesellschaftliche Verhältniß; auch das kostet etwas, muß dazu ebenfalls ein Jeder den freien Gebrauch des Seinen haben? Ja; ein ächter Christ wird da von selbst handeln wie es recht ist, und bei Jedem der noch weltliche Gesinnungen hat muß man suchen diese zu verdrängen, indem man geistig auf ihn wirkt; aber selbst da hat man noch kein Recht, ihn im Gebrauche des Seinen zu stören. Je mehr Vereinigungen es übrigens unter den Christen zu gewissen Zwecken giebt, desto besser ist es, denn desto enger werden sie unter einander zusammen hängen. Doch darf keiner den Anderen zu etwas zwingen, jeder muß das was er thut von selbst und vollkommen aus eigener Überzeugung thun. {136} Was folgt daraus? Daß wir als Christen weder Verdienst noch Schuld haben können, denn, wenn wir etwas Gutes thun ist es unsere Pflicht, und etwas Böses: so war es die Pflicht unserer Mitchristen, für uns zu sorgen, uns zur Erkenntniß zu bringen und von dem Bösen abzuhalten. Unsere Gesinnungen und unsere Werke bestimmen das Gute oder Böse was wir thun, d. h. sie gehören mit dazu, und so erhebt also ein Gutes Werk, wenn es auch den Anschein hat, daß Einer es gethan, nicht diesen allein, sondern die ganze Gemeinschaft: alle haben ihr Theil daran, indem alle vereint für jedes Glied sorgen müssen, obgleich jedes Glied für sich wieder eine unumschränkte Freiheit hat mit dem Seinen zu schalten wie es will. So z. B. gebührt Luther nicht der ganze Ruhm der Reformation, nicht er allein hat sie zu Stande gebracht, sondern alle Christen die sich dazu verstanden; er hat nur unter den Einzelnen das meiste Verdienst, weil er den ersten entscheidenden Schritt dazu that. Eben so hat aber auch der Papst nicht die ganze Schuld, daß sich so viele ihr wider{137}setzten, er theilt sie mit dem ganzen katholischen Theile der Christen, eben weil jeder die Freiheit hat, ganz nach seiner Überzeugung zu handeln. Was folgt nun im Glaubensbekenntnisse? Vergebung der Sünden. Bei welcher Gelegenheit haben wir schon davon gesprochen? Beim Abendmahle und beim Tode Christi. Wie hängt die Vergebung der Sünden mit dem Tode Christi zusammen? Durch seinen Tod wurden wir erst frei und selbstständig, bildeten die christliche Kirche und bekamen die volle Einsicht in die Religion. Und indem wir zur wahren Erkenntniß kamen, wurde uns auch die Vergebung der Sünden klar.
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Haben wir uns auch schon erklärt, warum Christus gewaltsam sterben mußte? Ja, weil das Volk dadurch einsah, daß das Gesetz falsch sei, und davon zurück kam. Aber warum konnten wir nicht unter dem Gesetze bleiben? Wenn das war, konnte es keine christliche Kirche geben. Haben wir nicht dennoch Pflichten zu erfüllen? Ja, das ist aber doch anders wie es mit dem Gesetze war; das Gesetz war ein Zwang, in der christlichen Kirche ist aber nur der Glauben, nach den wir handeln. Wo steht besonders etwas geschrieben über das Gesetz? Im Briefe an die Römer, Capitel 2. und 3. Was heißt wohl eigentlich Vergebung der Sünden? Das ist schwer sogleich zu bestimmen. {138} Was ist Sünde? Eine jede Handlung, die das Mißfallen Gottes erregt. Nur Handlungen? Ja, aber darunter sind begriffen: Werke, Worte und Gedanken. Ist denn ein Wort eine Handlung? Ja. Auch ein Gedanke? Es kann Fälle geben, wo dieser keine Handlung ist, wenn es nur ein so schnell kommender Einfall ist; aber für gewöhnlich ist auch ein Gedanke eine Handlung, denn um zu denken brauchen wir Worte; Worte sind schon Handlungen, also sind es Gedanken dann noch viel mehr. Was heißt Vergeben? Etwas so gut wie nicht geschehen sein lassen. Können wir Menschen uns so unter einander Sünden vergeben? Ja. Geht das auch mit Gott? In Beziehung auf sein Mißfallen kann er so vergeben, (und eben so kann es auch nur unter den Menschen selbst sein); denn da der Keim zur Sünde von der Natur in den Menschen gelegt ist, kann Gott kein Mißfallen am Menschen haben um der Sünde Willen, sondern nur an der Sünde selbst; und so vergißt er sie den Menschen. {139} Kann die Sünde zugleich bestraft und vergeben werden? Ja; die äußerliche Handlung der Sünde muß bestraft werden, aber innerlich kann die Sünde doch schon vergeben sein. Was kommt bei der Beichte von der Sünde vor? Der Geistliche ließt das Bekenntniß der Sünde im Namen der Gemeine und dann die Vergebung derselben. Ließt er die als etwas Neues? Nein, er ruft sie nur in unser Gedächtniß zurück, damit wir das Abendmahl desto ruhiger feiern können.
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In wessen Namen erinnert uns der Geistliche aber an die Vergebung der Sünden? Im Namen der christlichen Kirche. Was heißt nun also Vergebung der Sünden? Es heißt: Wir glauben, daß uns unsere Sünden in der christlichen Kirche so gut wie vergessen sind. Was folgt nun? Auferstehung des Fleisches. Haben wir noch gar nicht von der Auferstehung gesprochen? Bei der Auferstehung Christi. Was haben wir da gesagt? Unsere Auferstehung müsse ganz anders gemeint sein. Aus verschiedenen Stellen die wir aufschlugen, sahen wir, daß die Auferstehung nur bildlich gemeint wäre. Hier steht aber doch Auferstehung des Fleisches? Das muß also noch etwas anderes bedeuten sollen. Wo finden wir noch besonders etwas über die Auferstehung. Im Apo109 stel Paulus. {140} Doch erst: denken wir uns die Auferstehung mit etwas Körperlichem verbunden? Eigentlich können wir sie uns nicht anders denken, denn unser ganzer Geist ist so beschaffen, daß er nichts ohne Körperliches thun kann, denn wir können nicht denken ohne Worte. So können wir uns also auch kein Dasein denken ohne alles Körperliche; aber dennoch kann es eines geben, denn obgleich wir es uns nicht vorstellen können, müssen wir uns Gott doch als ein Leben ganz ohne Körperlichkeit denken, und es kommt nun nur darauf an, ob wir nach der Auferstehung mehr Gott, oder mehr unserem jetzigen Zustande gleich sein werden. Wo steht nun die Stelle im Paulus? Im ersten Briefe an die Corinther, Capitel 15. Was sagt der von der Auferstehung und dem ewigen Leben? Der scheint es sich auch mit einer Körperlichkeit verbunden zu denken; das ist übrigens ziemlich gleich und wir können es nicht bestimmt sagen. Ist die Auferstehung denkbar ohne das ewige Leben? Ja; wenn sie etwas Körperliches sein soll, so können wir auch eben so gut danach im{141}mer wieder sterben und es käme dann nur darauf an, ob Tod oder Leben das letzte wäre.
109 Paulus] Petrus
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Wenn es nun der Tod wäre, hätte dann die Auferstehung einen Werth? Nein, denn da wäre es immer nichts anderes als ein Leben wie unser jetziges. Ist auch ein ewiges Leben ohne Auferstehung denkbar? Ja; dann ist es eben so ein rein geistiges, wie das Dasein Gottes, welches gewiß besser wäre, als ein mit Körperlichkeit verbundenes. Hat das ewige Leben mehr Werth als die Auferstehung? Ja, es ist weit wichtiger, obgleich wir nichts Bestimmtes darüber sagen können, da wir davon nichts wissen, sondern nur glauben. Wann fängt das ewige Leben an? Schon sobald wir auf dieser Erde, um so zu sagen, den Tod besiegt haben; d. h. ihn nicht mehr fürchten und zur wahren Erkenntniß des Göttlichen gekommen sind. Vollkommen wird es erst nach unserem Tode, wenn wir vom Körperlichen befreit sind. Können wir sonst irgend etwas Bestimmtes über die Auferstehung sagen? Nein; wir wissen nicht wie noch wann sie geschehen wird, und aus einer Stelle in der Apostelgeschichte Cap. 1. Vers 7. sehen wir sogar, daß wir es nicht weiter wissen sollen. {142} Wußte wohl Christus mehr davon? Wahrscheinlich auch nicht. Alles andere was im dritten Glaubensartikel steht, hat mit dem heiligen Geiste und der christlichen Kirche in Verbindung gestanden; ist es nun mit dem ewigen Leben und der Auferstehung auch so? Das ewige Leben steht gewiß mit der christlichen Kirche in Verbindung; die Auferstehung wenigstens nicht so genau, denn die muß doch für die Christen und Heiden dieselbe sein. Sind wir nun mit dem ewigen Leben im Reinen? Ja; so weit wir kommen können, denn da wir nur glauben, nichts wissen wie es sein wird, so kann Alles was wir davon sagen auch nur etwas Unbestimmtes sein.