R. W. Mackelworth
DER MOND-STAAT Science-fiction-Roman BASTEI LÜBBE BASTEI-SCIENCE-FICTION-TASCHENBUCH Nr. 21092 Amerik...
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R. W. Mackelworth
DER MOND-STAAT Science-fiction-Roman BASTEI LÜBBE BASTEI-SCIENCE-FICTION-TASCHENBUCH Nr. 21092 Amerikanischer Originaltitel: STARFLIGHT 3000 Übertragen ins Deutsche von Dr. Ingrid Rothmann © Copyright 1972 by R. W. Mackelworth Deutsche Lizenzausgabe 1977 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach Printed in Western Germany Titelillustration: Sphere Books Umschlaggestaltung: Eva Braunova-Kokstein Gesamtherstellung: Mohndruck Reinhard Mohn OHG, Gütersloh ISBN 5-404-00635-6
I Der große freie Platz hieß La Primavera. Mit seinen grünen Kristallwänden, die hoch zu den steil abfallenden, grünen Dachziegeln aufragten, wirkte er frisch und schön. Er war einer von vier solchen Plazas, die sich um das Stadtzentrum gruppierten. Jeder dieser Plätze war einer Jahreszeit gewidmet. La Primavera war der schönste, weil sein Thema der Frühling war. Das kurze Vorspiel zur eigentlichen Blüte, wenn Gras und Bäume bereits grünen, die Blüten aber noch fest in den Knospen stecken das war der Eindruck, der hier erweckt werden sollte. Am nördlichen Rand ging der Mosaikboden in ein Gelb-Weiß- und Gelb-Grün-Gemisch über. Es war dies ein Übergang zum Platz des Winters, der Plaza L'Inverno. Hugo hatte für die ihn umgebende Schönheit kaum einen Blick. Hinter ihm wuchsen - Schwanenhälsen gleich - die Bauten von L'Inverno in die Höhe, schlanke Türme und zahlreiche Eisbrücken, die die weiten Räume der Stadt überspannten. Er schenkte ihnen keinerlei Beachtung und sah auch den Himmel nicht, der durch die große, sämtliche Bauten wie eine Glasschüssel bedeckende Kuppel deutlich zu sehen war, einen Himmel, den die hier angewandte Architektur so kunstvoll eingefangen hatte, daß er gleichsam zu einem ihrer Bestandteile wurde: bleich, von ewiger Kälte und von den Wolken einer launischen Atmosphäre verdunkelt. Er sah von alldem nichts, denn seine Augen starrten ins Leere, in eine nur für ihn sichtbare Ferne. Eiskalt war sein Schweiß. Und seine Angst war genauso alt wie das leise Klickern, das ihn nun schon seit Stunden verfolgte - ihn mit dem Tod verfolgte. Aber es war nicht nur der Tod, den er fürchtete. Die Kugel konnte alles sehen und hören und stellte einen zur Perfektion gebrachten Verfolger dar. Da sie ihn aufgespürt hatte, würde sie ihre Überwachung erst aufgeben, wenn Milcon sich zufriedengestellt sah. Was immer er auch unternahm, es würde weiterberichtet werden. Und wenn es ihnen nicht paßte, würde man ihn schnappen - falls er da noch am Leben war. Und dann würden sie alles wissen. Der Tod blieb sein einziger Ausweg. Die kleine Silberkugel schimmerte in der Sonne. Sie folgte ihm über den Platz, harmlos dahinrollend wie ein Kinderspielzeug. Und doch würde sie explodieren, wenn er eine Berührung wagte. Und genau das mußte er tun, sobald er seine Botschaft weitergegeben hatte. Das Klickern war ihm
knapp auf den Fersen. Er blieb absichtlich stehen und sah sich um. Beim Betreten des Platzes waren ihm ein paar frühe Spaziergänger begegnet, welche die ersten Stunden eines überlangen Tages genießen wollten und nach langer, langer Nacht die Freiheit auskosteten. Trotz seiner Angst hatte er ein Lächeln nicht unterdrücken können, als sie ihm hastig auswichen und im Schatten der schmalen Gassen zu beiden Seiten Schutz suchten. Bis auf ein kleines Kind, das am Ende des anderen Platzes unbeirrt mit seiner Puppe weiterspielte, war er allein. Hoffentlich würde jemand die Kleine wegholen. Er hielt es für ziemlich sicher, daß Milcon mit der Festnahme wartete, bis er zu Hause war. Hier gab es zu viele, aus den schmalen Gassen spähende Augen, die Milcons Seelenfrieden hätten stören können. Und Milcon zog es vor, unbeobachtet zur Tat zu schreiten. Aber gerade daran lag ihm sehr. Irgendwo da drinnen in den Schatten wartete sein Kontaktmann. Nach ihrer Zusammenkunft würde alles egal sein. Beinahe vergnügt dachte er, daß er sowohl seinen Auftrag erfüllen, als auch gleichzeitig Milcon öffentlich bloßstellen würde. Abermals schätzte er die Entfernung zwischen sich und dem spielenden Kind ab. Ja, die Kleine war außerhalb des Gefahrenbereiches. Trotzdem verwünschte er insgeheim die Eltern, die das Kind so frei herumlaufen ließen. Langsam wandte er den Kopf. Die Kugel lauerte in einer Entfernung von nur wenigen Metern. Sie drehte sich um die eigene Achse und schien dabei kaum den Boden zu berühren - glatt und vollendet. Er kniete nieder und legte sich flach auf den Bauch. Mit unendlicher Vorsicht kroch er auf die Kugel zu. Das Kind sah interessiert auf und kam auf ihn zugekrabbelt. Halb spürte er und halb hörte er die Kleine. Gleichzeitig nahm er wahr, daß ein niedriges Fahrzeug, welches sich auf großen Ballonreifen fortbewegte, auf den Platz rollte. Sekundenlang verspürte er ein Gefühl der Niederlage. Die Männer auf dem Streifenwagen kümmerten ihn keinen Deut, doch brachte er es nicht übers Herz, das Kind zu gefährden. Er hatte erwartet, sein Kontaktmann würde genau im richtigen Moment zur Stelle sein. Er hatte gehofft, im Augenblick der Berührung mit der Kugel das weitergeben zu können, was er weitergeben mußte, weil er wußte, daß die Kugel in diesem Augenblick neue elektronische Kreise abtasten und in dieser Zeitspanne die Verbindung mit den Sensoren unterbrochen sein würde. Die Kugel war nicht imstande, sich auf den Tod vorzubereiten und gleichzeitig zu lauschen, so wie er. Milcon hatte diese Möglichkeit nicht eingeplant. Sogar in diesem Augenblick würden die Alarmanlagen im Kontrollraum ihrer Festung schrillen. Langsam kehrte seine Hoffnung wieder. Wenn sein Kontaktmann flink war, würde er es schaffen. Die Streife würde ihn nicht aufhalten. Hugo streckte die Hand aus. Aus einer Seitenstraße stürzte ein Mann hervor und blieb knapp vor ihm stehen. Seine Miene drückte höchste Besorgnis aus entweder echt oder hervorragend gespielt. »Das Kind!« In der Stimme des Fremden lag eine eindringliche Warnung. Hugo sah zu ihm auf. Leise, jedoch mit Nachdruck murmelte er: »Der Griffen befindet sich in Milcons Festung.« Aus dem konsternierten Blick des Mannes erkannte er, daß er es bei dieser Mitteilung nicht bewenden lassen konnte. Polcon war immer bestrebt, sogar bei den eigenen Leuten den Eindruck zu erwecken, der >Griffen< wäre ein menschliches Wesen und nicht bloß eine hochintelligente Maschine. Hugo wußte dies - aber dieser Mann hier würde deswegen vielleicht in Panik geraten, weil man Menschen unter Folter schließlich zum Reden bringen konnte. »Nein, nicht was Sie glauben«, beruhigte er den Mann. »Er hat uns nicht verraten.« Die Angst wollte nicht aus den aufgerissenen Augen weichen. Hugo log verzweifelt weiter. »Er sitzt in ihrer Rechnungsabteilung. Man hat dort keine Ahnung, wer er ist.« Wäre er bei der
Wahrheit geblieben, so hätte er sagen müssen, daß der Griffen mit einer Anzahl ausgeklügelter Apparate zusammengeschaltet war. Er hätte weiter sagen müssen, daß Milcon wisse, daß der Griffen für Polcons Pläne unentbehrlich sei, aber nicht mehr. Der andere stieß einen befriedigten Seufzer aus. Er gab sich mit einem Helden zufrieden, der als Rechnungsprüfer getarnt, den Gegner an der Nase herumführen konnte - oder dergleichen. Hugo überlegte, wie bedauerlich es doch war, von einer Maschine abhängig zu sein. Seinen bekümmerten Erwägungen war keine lange Lebensdauer beschieden, war er doch jetzt im Begriff, für Griffen und Polcon zu sterben - einen Tod, den der Griffen nie erleiden konnte. Hugo richtete seinen Blick nach oben, als wollte er die Silberkugel nicht mehr sehen und seine letzten Sekunden in sich selbst versunken verbringen. Bald würde die Streife da drüben Verdacht schöpfen - und er hatte ja noch eine Mitteilung zu machen! »Richte Polcon aus, man möge zur Befreiung des Griffen einen Mann namens Boldre einsetzen. Wenn es jemandem glückt, ins Innere der Festung einzudringen, dann ist er es. Momentan arbeitet er im Süden an einem Problem der Umweltverschmutzung.« Insgeheim lächelte er. Polcon würde darüber erfreut sein, Boldre dagegen gar nicht. Laut schrie er dem Mann zu: »Pack das Kind und laß mich in Ruhe!« Er schrie dies in überzeugend hysterischem Tonfall. Sein Ausruf genügte, um die Männer auf dem Fahrzeug endgültig zu überzeugen. Sie wendeten in panischer Hast, um von dem Platz wegzukommen, riefen einander widersprechende Befehle zu. Der Mann lief zu dem kleinen Mädchen hin. Hugo sah, daß er das Kind packte. Mit Aufbietung aller Willenskräfte wollte er die Sekunden in die Länge ziehen und trotzdem an seinem Mut nichts einbüßen. Der Mann blieb stehen - näher, als es günstig war. Sein Mitgefühl bildete einen deutlichen Gegensatz zu dem gleichgültigneugierigem Blick des Mädchens. »Lauf los!« flüsterte er Hugo zu. Dieser schüttelte den Kopf. Das war unmöglich. Sie beide wußten das. Noch ehe er vom Platz wäre, hätte Milcon ihn geschnappt und die Wahrheit aus ihm herausgequetscht. Nur mit seinem Tod gab er dem Kontaktmann eine Fluchtchance. »Höchste Zeit, daß du wegkommst«, gab er leise zur Antwort. Der Mann murmelte etwas und beschrieb mit leicht gekrümmten Fingern ein Kreuzzeichen in der Luft. Die Geste war nicht mißzuverstehen. So wie sie ausgeführt wurde, schien es, als ob es ein Geheimnis anderer Art zwischen ihnen gäbe. Jetzt erst sah Hugo, daß der Mann Priester war. Er hatte in seinem Leben nur wenige zu Gesicht bekommen und hielt es für eine Ironie des Schicksals, daß er einem - noch dazu richtigen - Priester in diesem Augenblick begegnet war. Fast hätte er vor Verwunderung aufgelacht. Er hatte sein Leben so dahingelebt, als gäbe es darüber hinaus nichts mehr, und war sich nun nicht sicher, ob man sich über ihn lustig machen wollte oder ihn zum Trost zu guter Letzt einen Knochen zuwarf. Milcon hatte die Priester nämlich schon längst in Acht und Bann getan. An diesem Punkt seiner Überlegungen angelangt, gab er sich zu seiner Selbstbestätigung der Hoffnung hin, an einer Sache mitgewirkt zu haben, die immerhin von einiger Bedeutung war. Der Priester war verschwunden. Hugo erteilte nun seinerseits einen Segen - einem Mann namens Boldre, jenem unfreiwilligen Rekruten, der den >Griffen< an Polcon zurückbringen wurde. Er dachte auch an einen Mann mit Namen Tabiner, der eine lange, einsame Reise zu den Sternen antreten würde, falls Boldre Erfolg hatte - eine Reise als Wegbereiter. Zwei Männer, zwei Glieder einer Kette. Wenn beide ihre Aufgabe erfolgreich erfüllten, dann würde das gewaltige, als Biosphäre bekannte Raumschiff, seine vieltausend Insassen in die Freiheit tragen, weg von der Tyrannei Milcons. Polcon hätte damit einen tausendjährigen Kampf gewonnen. Vielleicht würde auch sein eigenes Volk diese Reise schaffen, sein Volk, das festgekrallt an der Oberfläche einer winzigen
Welt lebte, deren Atmosphäre bestenfalls als zufällig zu bezeichnen war. Aus diesem Grund hatte er für Polcon gearbeitet, für eine Organisation, der er eigentlich gar nicht traute. Er konnte nämlich nicht vergessen, daß Polcon angeblich nur ein Teil Milcons war, ein unruhiger Satellit, in stillem Aufruhr begriffen. Dennoch - er wollte noch immer an die Organisation und ihren Traum glauben. Hugo verscheuchte den Gedanken. Er war ein Rädchen, nur ein kleines Rädchen des Schicksals. Flüchtig kam ihm eine Erinnerung an Glück in den Sinn. Er wunderte sich über seinen Sinn für Humor, der ihn lächeln ließ, während er nach der Silberkugel faßte. Nur wenige in der Stadt unter der Kuppel sahen ihn sterben, und kein einziger seiner Art da draußen - draußen auf der kahlen Oberfläche des uralten Mondes, dem ein Zufall eine instabile Atmosphäre und eine um ihr Dasein kämpfende Vegetation beschert hatte -, keiner von ihnen würde wissen, daß er sie unwissentlich verraten hatte. Boldre stand genau am Rande der Ebene und starrte hinauf zum Hügelkamm. Ein einsamer, eigentlich unmöglicher Baum, hob sich gegen den Himmel ab. Außerhalb der Stadtkuppel hatte er noch nie einen Baum gesehen, und er konnte es jetzt noch nicht fassen. Der Baum hob sich purpurfarben vom weißen Licht ab, das von dem großen Krater dahinter stammte. Hin und wieder wurde der Schein von einem zarten roten Dunst getönt, der sich wie ein windgetriebener Schleier über den Hügelkamm erhob. Ein schwaches Geräusch durchzog widerhallend die leere Ebene. Boldre übersprang eine schmale Kluft. Hinter einem Geröllhaufen suchte er Schutz. Das entfernte Geräusch ließ sich jetzt nicht wieder hören. Von seinem Versteck aus konnte er noch immer den Baum sehen und dazu den sich langsam verändernden Himmel, einen Himmel, der in Wirklichkeit eine tiefhängende Nebeldecke war. Zum hundertsten Male fragte er sich, warum er überhaupt gekommen war und warum Polcon diesen einsamen Ort als Treffpunkt ausgewählt hatte. Auf diese letzte Frage wußte er nur eine Antwort: hier würde niemand nach ihnen suchen. Nach einem Blick über die Schulter überlief ihn ein Schauder. Die offenbar elastischweiche Landschaft verschwamm in einer trügerischen Ferne, wurde willkürlich undeutlicher geformt, bis das Auge keinen Fixpunkt mehr fand. Diese verführerische Szenerie war mit Vorbedacht geschaffen worden, um Staub und blanken Fels zu verbergen. Alles war jetzt ein Trugbild grüner Fruchtbarkeit. Das Tal mit seiner trügerischen Weite drohte ihn zu ersticken. Hier drinnen wurde alles verschluckt, löste sich auf. Er hatte das Gefühl, in einem Traum zu ertrinken, und es war unglaublich, daß unter diesem Tal das riesige unterirdische Straßengewirr einer Stadt lag - Hunderte langer Korridore und Tausende lebender Zellen, Heim genannt. Die Stadt durchbrach die Oberfläche der Kuppel nur dort, wo die vier Plazas ihr eine Spur Schönheit und Würde verliehen. Auf dem Hügelrücken wurde der Baum sichtbar heller, so, als fiele momentan Sonnenschein auf ihn. Und plötzlich verwandelte er sich in eine helllodernde Flamme. Ein Leuchtfeuer, das meilenweit zu sehen war. Eine Sirene ertönte. Boldre schätzte ihre Entfernung auf drei Meilen. Ihm blieben etwa zehn Minuten. Er lief den Abhang hinauf, er lief, als könne er das Feuer im Raum ersticken, und im Laufen verfluchte er Polcon. Polcon war angekommen. Die Organisation hatte ihr Kommen angekündigt und ihre Anwesenheit allen enthüllt, die zufällig zusahen. Und Milcon sah zu. Die Zeit wurde plötzlich kostbar: Zeit zu hören, was Polcon zu sagen hatte, und Zeit, um zu entkommen, ehe man ihn festnehmen konnte. Als das Harz Feuer fing, gab es weder kleine Explosionen, noch das erwartete Knistern brennenden Holzes. Das Feuer brannte in aller Stille. Und man hörte nichts außer leisem Laubgeraschel. Er hielt inne und sah zurück. Polcon hatte sich auf seine Kosten einen schrecklichen Scherz erlaubt. Man wollte ihm von allem Anfang an Macht demonstrieren. Für den Fall, daß
er dafür einen Beweis haben wollte. Der rosig schimmernde Nebel aus dem Krater vermischte sich mit den Flammen des Baumes, und schließlich wurde der Baum zum Brennpunkt des Hintergrundes. Boldre war von den Farben beeindruckt. Doch er wußte, daß der Nebel eine Schranke todbringender Dünste war, die aus dem Kraterboden drangen, und daß sowohl er als auch Polcon verbotenerweise hier waren. Die schimmernden Farben zeigten das Ende der Sicherheit und das Nahen der Gefahr an. Boldre lächelte voll Ingrimm. Er selbst war da, aber Polcon war nirgendwo. Sie gaben ihre Vorstellung von einem in hohem Umlauf befindlichen Satelliten aus oder sogar von jenem geheimnisvollen Planeten, der Erde, dessen helles Antlitz von einer Wolkenschicht verborgen wurde. Und doch war sie immer vorhanden, über den ewigen Nebeln auf dieser Seite des Mondes. Boldres Kenntnisse der Erde galten als geringfügig. Halb erwartete er, eine Stimme würde aus dem brennenden Baum zu ihm sprechen, statt dessen aber erstarben die Flammen so rasch, wie sie aufgeflammt waren. Unversehrt und lebendig tauchte der schlanke Stamm des Baumes aus dem simulierten Schmelzofen auf. Am Fuße des Baumes lag ins Gras gebettet ein kleines goldenes Ei. Er hob es auf und lief wieder in Deckung. Da blieb er eine Weile sitzen und wartete ab. Es war ganz ruhig. Die Streife Milcons war offenbar falsch abgebogen, denn er hörte ihr Motorengeräusch von links aus großer Entfernung. Auch möglich, daß sie glaubten, der Feuerschein gehöre zu dem Wechselspiel des Lichtes aus dem Krater. Er drehte die goldene Kugel in seiner Hand. Ihretwegen war er gekommen. Jemand hatte sie hier unter großen Schwierigkeiten hinterlegt. Er wußte, daß sie nur ein Recorder war, der eine rasche Folge von Pictogrammen abspielen würde. Die Informationen wurden in knappen, leichtverständlichen Bildern weitergegeben. Den alten Code des Schreibens hatten die meisten Menschen fast vergessen. Boldres Bequemlichkeit wußte das zu schätzen. Lesen konnte er nämlich nur, weil er von einer der freien Inseln stammte. Die Inseln waren an die tausend Jahre hinter der Zeit zurückgeblieben. Sie lagen in den seichten Meeren, felsig, einsam, die ersten Früchte eines Wunders. Einst waren sie bloße Bodenwülste in ausgedörrten Staubebenen. Im Verlauf der langen Jahrhunderte war sogar niedere Vegetation auf den Inseln entstanden - dort wo sich grau-grünes Erdreich hin und wieder in Mulden gesammelt hatte. Die Inselbewohner waren zum Großteil knapp am Verhungern, aber irgendwie hatten sie immer überlebt. Und doch wurden die Inseln >Sieben Häfen des Himmels« genannt, weil sie noch frei waren. Niemand wußte, warum. Das war Teil einer geschichtlichen Entwicklung, die aus Bequemlichkeit in Vergessenheit geraten war . . . oder aus Gründen der Vernunft. Boldre legte den Recorder weg. Er war versucht, seine unsichtbaren Gefährten zu ärgern. Die Minuten verbringen, während er den hellen Gegenstand auf dem Boden anstarrte und nachdachte. Er hatte nicht kommen wollen, und er hatte keine Ahnung, warum Polcon ihn gesucht hatte. Boldre hatte ihrer Aufforderung nur stattgegeben, weil Hugo es gewollt hatte und weil dies Hugos letzter Wunsch gewesen war. Es war Teil dessen, was die Inselbewohner Solidarität nannten - daß man nämlich eine Schuld zurückzahlen mußte, egal wie schwer es einem fiel. Und doch hatte er das Gefühl, daß Hugo eine schlechte Wahl getroffen hatte. Noch nie zuvor hatte Boldre freiwillig an einem Kreuzzug teilgenommen oder war hinter einer Flagge hermarschiert. Bis zu diesem Zeitpunkt war er groß, freundlich und indolent gewesen. Sämtliche Laster der Inselbewohner wurden von ihm gehegt und gepflegt, ganz besonders aber die Neugier. Falls Hugo Verstand hatte, dann war es ein praktischer Verstand, weil auch er von den Inseln stammte. Boldre vermutete, daß es irgendwie mit seiner unbeschränkten Vollmacht zu tun haben mußte. Milcon hatte sie ihm gegeben, als er für Milcon ein großes
Entseuchungsprogramm bearbeitete. Hugo wußte, daß er - Boldre - es versäumt hatte, die Vollmacht zurückzugeben. Und jetzt suchte die Opposition ein Gespräch mit ihm. Oder vielmehr wollte man, daß er den Recorder ablas, was bedeutete, daß dieser Anweisungen enthielt. In diesem Fall war Polcon bereits entschlossen, sich seiner zu bedienen. Und das hatte Hugo gewollt. Es war genau die Art Humor, die er genossen hätte. Boldre faßte den Entschluß, es den anderen nicht so einfach zu machen. Polcon mußte ihm erst ein paar Fragen beantworten. Im Augenblick wußte er nicht, was er tun sollte. II Sicher beobachteten sie ihn, und er brauchte nur etwas zu sagen. Es entsprach seinem Sinn für Komik, daß er jetzt zu einen Baum auf einem einsam gelegenen Hügel sprechen mußte. Man konnte denken, er wäre verrückt und wolle sich über sie lustig machen. Beides würde gut passen. Er sah den Baum angestrengt an. Dieser bewegte sich unbehaglich, als wäre auch er nicht ganz unbefangen. Seine Blätter raschelten entschuldigend. Boldres Stimme erscholl über den Hügelkamm. »Ich möchte wissen, für wen ich arbeite.« Diese Worte wurden, kaum verklungen, immer wieder wie ein Echo wiederholt, bis Boldre sich ernsthaft fragte, ob nicht jemand auf der anderen Seite des Hügels stünde und sie zurückriefe. Die richtige Antwort kam ganz unerwartet. Bildlich und nicht verbal. Die Luft neben dem Baum geriet in Bewegung wie ein Vorhang und änderte die Farbe. Allmählich löste sich eine Gestalt aus dem Nichts. Sie trat aus dem Hintergrund, dem sie Substanz und Form entnahm. Sekundenlang war es ein Geist und wurde gleich darauf zu einem Menschen. Der Mensch war aus Fleisch und Blut, so schien es, aber das Gefühl der Realität wollte sich nicht recht einstellen. Boldres aufmerksamen Augen schien es absurd, daß er keinen Schatten warf. Ebenso absurd war es, daß das Gesicht Groll ausdrückte. Der Fremde war offensichtlich kleinwüchsig, aber in der Projektion schien er übergroß, denn er wirkte ebenso groß wie Boldre. Durch die schüttere gelbe Haarschicht schimmerte eine kahle Stelle. Die kleinen Augen waren intelligent, drückten aber Gemeinheit aus. »Warum?« Boldre fiel seine Frage wieder ein. Er stützte die großen Hände in die Hüften und lächelte wegen der abrupten Antwort, die jeglichen sinnlosen Vorgeplänkels entbehrte. Er wollte sich diesem Stil anpassen. »Sie möchten, daß ich für Sie arbeite. Ich möchte mehr über meinen Job wissen und möchte meinen Boß kennenlernen - namentlich.« Sein Verlangen klang recht vernünftig. »Was wissen Sie bereits?« gab der Mann zurück. Seine Frage ließ amüsiertes Interesse erkennen. Boldre machte ein nachdenkliches Gesicht, während er nach einer Antwort suchte. »Hugo wußte, daß ich von Milcon eine unbeschränkte Vollmacht hatte. Ich schätze, daß Sie nun wollen, daß ich für Sie in die Festung eindringe.« Er machte eine Pause, damit das Gesagte seine Wirkung tun konnte. »Es muß die Festung sein, denn nichts sonst ist von so großer Bedeutung . . . oder so unverwundbar.« Das Gesicht legte den Groll ab. An seine Stelle trat etwas wie Respekt. »Es ist alles im Recorder aufgezeichnet, Boldre.« Es folgte ein Achselzucken. »Und was alles übrige betrifft, so ist Nichtwissen Ihre einzige Sicherheit.« »Unschuld ist Sicherheit«, korrigierte Boldre ihn. »Bleibt also nur Ihr Name.« Er starrte das viel zu reale Bild an. »Falls Sie der Boß sind.« »Das steht außer Frage.« Boldre spielte den Verwunderten. »Kein Name? Dann werde ich also hinuntersteigen nach Milcon City.« Er deutete auf den Recorder. »Und das da werde ich den Männern auf der Plaza L'Inverno geben.« »Mein Name ist Hart.« Boldre
lächelte. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Hart. Sie müssen innerhalb von Polcon eine große Nummer sein. Na, jedenfalls gibt es in der Festung ein Geheimnis, hinter dem Sie wie wild her sind.« Hart schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht.« Diesmal war Boldre erstaunt. Die Festung wurde ferngesteuert: eine leere Maschine, die vor sich hin tickte. Wenn das kein Geheimnis war, was sonst? »Wir möchten einen Computer.« Boldre runzelte die Stirn. »Und wie zum Henker soll ich einen Computer klauen, ohne Milcon zu alarmieren?«»Man wird Ihnen helfen.« Ich halte es für ausgeschlossen. Ich kenne doch Milcon.« Plötzlich wurde Hart lebendig. »Was wissen Sie von Milcon?« Sein Blick drückte eher Unglauben als Neugier aus. Wollen Sie alles hören?« Boldre verspottete ihn gekonnt. »Am Anfang bedeutete Milcon die Militärkonferenz des Jahres 2000. Man einigte sich darauf, die Einflußsphären zu teilen, weil man eine geeinte Front darstellen wollte.« »Gegen wen?« »Gegen die Politiker.« Verächtlich bemerkte Hart: »Da wissen Sie aber sehr wenig.« Boldre ging ihm nicht in die Falle. Er wollte nicht mehr preisgeben. Von einem Inselbewohner setzte man Unwissenheit voraus. Doch Boldre hatte über jene helle, Erde genannte Welt sehr viel in Erfahrung gebracht. Sie stand am Himmel, Tag und Nacht. Aber nur von dieser Seite seiner eigenen Welt aus gesehen und auch nur, wenn der Wolkenschleier sich teilte. Er hatte schon zu viel gesagt. Die MilconKonferenz hatte auf der Erde stattgefunden. Sie gehörte der verbotenen Vergangenheit an. »Was sonst?« half Hart nach. »Ich stehe am Rand des Bailly-Kraters. An der Südwand.« Er wies nach Südosten. »Milcon hat seine Festung in den Doerful Mountains. In alten Zeiten hieß das der Dritte Quadrant. Ich stamme von einer Insel namens Riphaen im Märe Nubium.« Hart wurde ungeduldig. »Diese Namen kennt jeder Mensch.« Boldre lachte. »Aber wie viele wissen schon, daß diese Namen aus einer Zeit stammen, als dieser Planet noch unbewohnbar war? Wie viele wissen, daß er öde war ohne Luft - eine tote Welt, bis ein Genie auf der Erde einen Organismus züchtete, der Gestein in Atmosphäre verwandeln konnte?« Hart nickte bedächtig. »Das ist nicht viel, aber für Milcon reicht es.« Die Drohung war klar. Boldre wußte jetzt, er hatte Hart einen Hebel zum Ansetzen gegeben. Trotzdem ritt ihn sein persönlicher kleiner Teufel weiter. »Es gab gewaltige technische und biologische Schwierigkeiten. Wegen der geringen Anziehungskraft mußte man ein der Umgebung entsprechendes Kontrollsystem schaffen, um die neue Atmosphäre zu erhalten. Möchten Sie Einzelheiten?« »Nein.« Boldre war zufrieden. Die Wahrheit brachte ihm Zufriedenheit. Die Menschen auf der Erde hatten schon vor langer Zeit ihre Ansicht von Wahrheit geändert. Sie dachten nicht einmal mehr in gleichen Bahnen. Aber Harts Miene war undurchdringlich. Seine Stimme trug einen leisen, warnenden Unterton. »Was Sie noch nicht wissen, Boldre, ist die Tatsache, daß der Mond nur der erste war. Dasselbe hat man mit dem Mars gemacht.« Er sah ihn eindringlich an. »Das ist ein Geheimnis.« Boldre mußte sich eingestehen, daß es Teil jenes Wissens war, das Milcon vor den Inselbewohnern zurückhielt. »Warum brauchen Sie diesen Computer?« »Was wollen Sie hören - technische oder menschliche Gründe?« Hart hatte seine Maske für einen Augenblick fallen gelassen. Man konnte sogar einen Anflug von Würde an ihm entdecken. »Die menschlichen Gründe müßten ausreichen.« »Wir möchten uns von Milcon befreien.« Boldre studierte ihn eingehend. »Ich habe gehört, daß Polcon eigentlich nur eine andere Fassade für Milcon ist. Ich sehe nicht ein, was eine politische Konferenz ohne Handlungsvollmacht nach tausend Jahren noch jemandem nützen könnte.« Hart lächelte dünn. »Es ist kompliziert, aber wir haben gehandelt. Wir haben eine Lösung gefunden.« Boldre fragte sich, ob er das ernst nehmen
konnte. Harts Plänen mangelte es an jener Aufrichtigkeit, die der Mann vortäuschte. »Welche Lösung?« »Den Flug zu den Sternen.« »Der Mensch kann den Sternenflug nicht überleben.« Boldre sagte das nicht ohne Schärfe, weil er die Antwort auf seine eigene Frage zu kennen glaubte. Er wollte Hart zu einem Eingeständnis zwingen. Der Mann sagte nichts. Boldre lenkte ein. »Aber automatische Sonden schaffen es. Sie könnten sauerstoffproduzierende Organismen auf andere Planeten schaffen, um diese auf den Zeitpunkt vorzubereiten, an dem der Mensch nachfolgen kann. Spirillum oxygen schafft eine Atmosphäre, braucht selbst aber weder Luft noch Wärme.« Hart unterbrach ihn. »Woher wissen Sie das?« Die kleinen Augen waren voll widerwilliger Bewunderung. »Hugo berichtete uns, Sie wären ein ungewöhnlicher Mensch. Wir hätten schon früher auf ihn hören sollen.« Irgendwo in weiter Ferne scharrte er mit den Füßen und machte ein verlegenes Gesicht. »Aber Sie irren sich in bezug auf den Sternenflug.« Der furchterregende Luftzug streifte Boldres Wange. Ganz in der Nähe hörte er das leise Surren eines Motors. Die Sicherheitsstreife näherte sich ihnen beängstigend. »Ich weiß«, flüsterte er. »Werden Sie für uns arbeiten?« fragte Hart. »Ist der Computer so wichtig?« »Ja.« Boldre fiel kein Gegenargument mehr ein. Es war schließlich nichts Unrechtes, sein Glück bei Menschen zu versuchen, die kahles Gestein zu Leben erwecken konnten . . . wie immer auch ihre Motive aussehen mochten. Er sagte einfach: »Ich möchte von Ihnen ein Versprechen.« Hart lächelte ermutigend. »Sollten Sie Erfolg haben, dann sollen die Inselbewohner einen Anteil an den neuen Welten bekommen.« Der kleine Mann nickte. »Das wäre möglich.« Das sagte er mit der vorsichtigen Betonung eines Menschen, den man zu einer halben Lüge zwang. Zu einer Unterlassungssünde eher, als zu einer Lüge. Möglicherweise war es pure Verlegenheit, die sein Bild jetzt verblassen ließ. Kaum hundert Meter weiter heulte die Sirene. Boldre zischte ihm zu. »Der einzige Weg in die Festung ist der legale Weg. Ich gehe zurück nach Riphaen und versuche einen Termin zu fixieren.« Er sprach über seine Schulter hinweg zu Hart, während er im dunstigen Hintergrund den Standort der Sirene festzustellen versuchte.« Bin ich erst in der Festung, dann brauche ich Ihre Hilfe.« Hart flüsterte: »Sie könnten ja noch andere in die Festung mitnehmen, falls es sich um ein Problem der Umweltverschmutzung handelt.« Boldre fuhr pfeilschnell herum. Die amüsierte Bemerkung enthüllte Wissen. In der Tat hatte er geplant, ein Umweltverschmutzungsproblem für Milcon zu arrangieren. Eines, das nur er lösen konnte. Es sollte ihm den Weg in die Festung ebnen. Aber Hart hatte es vorausgeahnt. Von dem Bild war nichts übriggeblieben. Es war vom Hintergrund auf wunderbare Weise aufgesogen worden. Nur Baum und Hügelrücken waren wirklich und real. Sogar jetzt noch hatte er seine Zweifel, was den Baum anlangte. Als er sich jedoch den Abhang entlangtastete, war er befriedigt. Hart hatte ihm eine halbe Lüge erzählt - das hatte er gefühlt. Aber auch er hatte Hart nicht die ganze Wahrheit gesagt. Hugo hatte ihm vor langer Zeit vom Flug zu den Sternen erzählt. Falls Hugo für die Inselbewohner einen Platz auf den Sternen gesucht hatte, so erklärte das manches. Es war eine Erklärung dafür, warum er seine Aufgabe an Boldre weitergegeben hatte. Weiter unten am Abhang bemerke er Bewegung. Er wandte sich nach Südosten, zum Vorgebirge der Doerful Mountains. Es war zwar nicht die richtige Richtung, aber damit vermied er die Gefahren des Kraters samt seinem roten Nebel. Er verspürte kein Verlangen, vor seiner Zeit zu sterben. Später würde er sich weiter nördlich halten. In weniger als einem Tag, einem Tag mit ein paar hundert Stunden und einem Dutzend Schlafperioden, würde er das seichte Meer, genannt Märe Nubium, erreichen - ein Meer, das einst eine stauberfüllte Ebene war. Und jetzt war es ein richtiges Meer, obwohl das Wasser nur eine Tiefe
von zwanzig Fuß hatte und meist in ständiger wilder Bewegung war. Er würde leichtfüßig ausschreiten und sich auf Muskeln verlassen, die bei einer größeren Anziehungskraft als der des Mondes hinderlich gewesen wären. Aus diesem Grunde würde er auch nicht ermüden. In seiner eigenen Welt war er ein Riese. Er würde doppelt so lange leben als die auf der Erde Lebenden, doppelt so lange als seine Ahnen, die vor tausend Jahren die Erde verlassen hatten. Das erklärte zum Teil, warum Milcon die Inselbewohner so wirkungsvoll abgesondert hielt. Wäre da nicht ein alter Vertrag gewesen und die Fähigkeit der Inselbewohner, Unruhe zu stiften, hätte Milcon sie schon längst unterdrückt. Eines Tages würde es vielleicht so weit kommen. Boldre konzentrierte sich jetzt darauf, sie abzuhängen. III Die lange Halbinsel war leblos und voll Staub. Hier hatte das neue Leben nicht Fuß fassen können. Unter Boldres langsamen Sprüngen stieg ein grauer Dunst hoch. Der Staub blieb in der unbewegten Luft hängen, als wolle er den Weg markieren, den Boldre genommen hatte. Ein einziges Mal war er kurz stehengeblieben, um einen Blick auf den Recorder zu werfen, ansonsten war er ständig in Bewegung geblieben. Die dicke Wolkenschicht über ihm war schwarz und drohte paradoxerweise mit Unwettern und schweren Regenfällen, obwohl die Feuchtigkeit hoch oben festgehalten zu sein schien. Auch das Licht war gefangen. Es schien zwischen Wolken und Boden in einer eigenen Schicht zu lagern und dadurch ein weiteres Paradoxon, das der Reflexion, zu schaffen. Boldre sah Wolken und Licht und beschleunigte sein Tempo. Am Spätnachmittag eines langen Tages waren solche Gewitter nicht ungewöhnlich, wenn die Erde mit ihrer Anziehungskraft besonders nachhaltig auf die junge Atmosphäre einwirkte. Zu seiner Linken sah er die schattigen Höhen, die den Krater Hippalus umgaben. Der Krater öffnete sich wie eine schräg geneigte Tasse zum Märe Humorum. Wenn das Wasser der Zugkraft der Erde nachgab, würde es in dieser Tasse brodeln. Das Meer würde angriffslustig an den Felswänden lecken und den Meeresboden an manchen Stellen sekundenlang unbedeckt lassen. Plötzlich kamen ihm Zweifel, ob er sich vor Einbruch der Dunkelheit ans Wasser wagen sollte. Während der Nacht würden sich die Gewässer zwischen den Gezeiten vielleicht beruhigen, aber er würde ohne Sicht Kurs halten müssen, falls nicht der Erdenschein durch die Wolken durchdrang. Auf jeden Fall mußte der Zeitpunkt der Überquerung sorgfältig gewählt werden, damit er in gewissen Abständen an den vorbereiteten Stellen Zuflucht suchen konnte. Auf einigen der kleinen Inseln war es noch sicher. Er war froh, daß er das Märe Nubium und nicht das Märe Humorum überqueren mußte, weil es größer und etwas ruhiger war. Einen Augenblick lang beneidete er Milcon um seine Fluggeräte. Dann aber sagte er sich, daß eben nur ein Inselbewohner imstande war, die Fahrt mit einem Boot zu unternehmen. Darin lag sogar seine Sicherheit. War er erst auf dem Wasser, konnte Milcon ihn nicht mehr sehen, geschweige denn fassen. Ein Schwall heißer Luft blies ihm ins Gesicht. Er verlangsamte seinen Schritt und versuchte sich auszurechnen, ob er noch Zeit hatte, das Boot zu erreichen, das er an der Spitze der Halbinsel verborgen hatte. Es war unwahrscheinlich, und er wandte seine Überlegung einem passenden Unterschlupf zu. In der Nähe gab es nur die hohe Wand von Hippalus oder einen kleinen Krater, Moore genannt, der einige Meilen zu seiner Rechten lag. Automatisch wählte er letzteren, weil er nahe am Wasser lag, aber noch genügend hoch, um Sicherheit zu bieten. Dazu kam, daß die Stelle etwas
weiter nördlich und damit näher zum Boot lag. Der Wind zerrte an seiner Jacke, und Boldre ergriff die Flucht vor seiner Gewalt. Ein Menschenalter schien zu vergehen, ehe der Steilhang der Kraterwand vor ihm auftauchte. Jetzt heulte der Wind mit der Stimme eines wunden Tieres. Die ersten Meter des langen Aufstieges wurde er von der Gewalt des Sturmes angetrieben. Er fiel einige Male hin, und seine Hände krallten sich in den öligen Schutt, der am Gestein haftete. Die ersten Anzeichen aufkommender Panik überfielen ihn unvermutet, und er fragte sich, wovor er Angst haben sollte. Dann merkte er, daß seine Furcht eine Reaktion auf die vor langer Zeit in der Kindheit erworbenen Instinkte war. Was hier tobte, war kein gewöhnliches Unwetter. In der Felswand zeigte sich eine Öffnung, und er schlüpfte hinein, dankbar, daß er endlich vor dem Wind geschützt war. Eine Weile kauerte er sich dort nieder. Boldre versuchte angestrengt, sich in Erinnerung zu rufen, wie der Kraterboden unter ihm beschaffen war. Schließlich fiel ihm ein, daß er dorthin noch nie einen Fuß gesetzt hatte und sich immer nur hoch oben an der Kraterwand entlanggetastet hatte. Irgendwo im Hintergrund seines Bewußtseins wurde die Erinnerung an eine Reihe schwarzmäuliger Höhlen wach, die unter ihm an der Innenseite der Hänge liegen mußten. Vielleicht konnten sie ihm Zuflucht bieten. Damals waren sie ihm aufgefallen. Inselbewohnern fielen Tatsachen dieser Art immer auf. Große Regentropfen fielen klatschend auf die Felswand. Sie fielen wie schimmernde Kieselsteine, und da sie vom Wind getrieben wurden, ließen sie das seltsame, fast zeitlupenartige langsame Fallen des Regens der ruhigen Tage vermissen. Vielleicht waren seine Augenreflexe eine Spur zu schnell oder die schwache Anziehungskraft bewirkte diesen Effekt. Das hatte Boldre nie richtig herausbekommen. Er wußte nur, daß der Regen immer viel zu langsam zu fallen schien. Das gehörte zu jenen Kleinigkeiten, die ihn oft grundlos bedrückten und ihn mit blinder, zielloser Sehnsucht erfüllten. Irgendwie hatte er nie herausbekommen können, warum er glaubte, es müßte für seine Niedergeschlagenheit einen Grund geben. Er wußte, es hatte etwas mit der Forderung zu tun, die er an Hart gestellt hatte, als er für die Inselbewohner einen Anteil an Polcons neuer Welt verlangte. Langsam tastete er sich den Hang bergab. Ein Stück weiter, und seine Füße traten ins Leere. Einen verzweifelten Augenblick lang versuchte er sich festzuhalten, indem er den Körper nach oben schnellen ließ und sich an der Oberfläche festkrallte. Schließlich verlor er aber den Halt und glitt in das Nichts, das seine Füße bereits erfühlt hatten, während er einen kleinen Steinhagel mitriß, der weiter unten ins Wasser prasselte. Er fiel auf, rollte bergab, aber es war zu spät, sich absichern zu können. Aus der Ferne vernahm er ein Geräusch wie brechendes Holz. Durch eine Welle des Schmerzes hindurch traf ihn die Erkenntnis, daß es sein Knöchel war. Wie ein schwarzer Mantel umhüllte ihn Dunkelheit, die sich mit Schmerz abwechselte. Seine Gedanken waren ein chaotisches Durcheinander. Nichts ergab Sinn oder versprach Linderung. Die Gedanken schienen ihm statt dessen den Kopf aufzuspalten, so daß das ansteigende Wasser sich hinein ergießen und sie ertränken konnte. Er war sich des Wassers bewußt, als es seinen Körper umspülte, ihn hochhob und wieder fallen ließ, als es sich geheimnisvoll zurückzog. Bald aber war es aus mit seinen Gedanken und die Dunkelheit war vollkommen. Als das Licht wiederkehrte, brachte es Schmerz mit sich: er hörte, bevor er sehen konnte, und konnte sehen, bevor er etwas spürte. Was er hörte, hielt er zunächst für Stimmen in seinem Kopf. Die Stimmen des Deliriums. Allmählich mußte er entdecken, daß sie außerhalb seiner selbst waren und in einer großen weit entfernten Leere murmelten. Er sah Lichtflackern, das kleiner und größer wurde und lange, schlecht zu erkennende Schatten warf. Im Vergleich dazu war der
Schmerz Wirklichkeit. Mit gewaltiger Anstrengung wandte er den Kopf um ein geringes. So blieb er liegen und versuchte eine Wirklichkeit zu erkennen, die so klar und deutlich war wie sein Schmerz. Langsam geriet sie in den Brennpunkt, wie Objekte eines Fieberwahns. Die sich bewegenden Schatten waren Menschen. Sie hoben sich schemenhaft vor einer gewölbten Felswand ab. Eine nackte Flamme warf ihre Schatten auf die beleuchtete Felsoberfläche. Er konnte einen Mann erkennen, der die übrigen um Kopf- und Schulterhöhe überragte. Seitlich davon fiel das Licht auf die weichen Züge eines Mädchengesichtes. Alles übrige war undeutlich, aber er wußte, daß es Männer und Frauen waren. Er erkannte es daran, wie sie saßen oder standen. Ihre Haltung verriet mehr als ihre Gesichter. Sein Knöchel war steif, als er ihn ein wenig zu bewegen versuchte. Der scharfe Stich des Schmerzes entlockte ihm ein Stöhnen, trotz des Bemühens, ruhig zu bleiben. Der Mann sah zu ihm hin. Einen Augenblick lang sah er ihn schweigend an. Sein Antlitz war hart und wurde nur von der deutlich zutage tretenden Intelligenz vor dem Eindruck der Grausamkeit bewahrt. Sein Blick verriet nichts. Am Rande der kleinen Gruppe bewegte sich jemand gemächlich und kam auf Boldre zu. Es war ein Mann, dessen Gesicht es an Intelligenz und auch an Grausamkeit mangelte, das aber keineswegs vertrauenerweckend wirkte. Es war jene Art Gesicht, die nichts von sich gab, aber alles nahm. Zu Boldres Erleichterung stieß ein Mädchen den Mann beiseite und kniete an seiner Seite nieder. Es war das Mädchen, dessen Gesicht er im Licht gesehen hatte. Ihre Hände berührten ihn an Stirn und Gesicht. Sie tat, als könne sie seine Schmerzen und seine Verwirrung nachfühlen. »Wo bin ich?« Seine Stimme war schwach und doch spürte er Ansätze seines verrückten Humors, als er diese Worte äußerte. Die Frage war so normal und doch so sinnlos. Er wußte, sie würde ihm jetzt keine Antwort darauf geben. Er wünschte, es wäre ihm eine originellere Frage eingefallen. Er spürte, wie ihre Hände seinen Knöchel untersuchten. Dabei merkte er, daß man ihn geschient und verbunden hatte. Sicher war es diese Frau gewesen. Ihre Finger verrieten Geschick und Sicherheit bei der Untersuchung. Als sie wieder aufsah, verriet ihr Lächeln Sicherheit, die auf Können beruhte. Doch ihre freundliche Offenheit stammte nicht aus dem Erste-HilfeHandbuch. Ihre Stimme war sanft. Boldre hatte eigentlich spröde Tüchtigkeit erwartet. »Es ist nicht so schlimm, wie Sie glauben. Nach einem Monat hinken Sie nicht mehr.« Wieder lächelte sie. »In der Zwischenzeit müssen Sie sich schonen.« Jetzt wußte Boldre eines. Er wußte, daß sie noch nicht lange auf einem Planeten lebte, auf dem man nicht von Monaten sprach. Der Begriff Mond gehörte zur Erde. Vielleicht spürte sie, daß sie zuviel gesagt hatte. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. Sie stand auf. »Na?« Der große Mann brummte die Frage, als hätte er voll Ungeduld das Ende der Untersuchung abgewartet. Sein Ton verriet keine Drohung, nur kaltes Interesse. »Wir können ihn nicht bewegen.« Boldre hörte Widerspruchsgeist aus der Antwort des Mädchens heraus und segnete sie deswegen. Der Mann starrte sie an. »Aber er kann doch hoffentlich Fragen beantworten?« Die Frage klang eher wie eine Forderung, eine deutliche Absicht und keine Bitte. »Möchten Sie in seinem Zustand Fragen beantworten?« fragte das Mädchen ruhig zurück. »Ich möchte ihn zuerst für ein paar Stunden einschläfern.« Der andere brummte und schüttelte den Kopf. Er stellte sich vor Boldre hin. Dem aufblickenden Boldre erschien er als Koloß. Das düstere Gesicht wirkte im matten Licht wie aus grobem Holz geschnitzt. In der Hand des Mannes lag die kleine goldene Kugel, der Recorder Polcons. Boldre hielt es für passend, jetzt das Eis zu
brechen. Mit erschöpftem Lächeln sagte er: »Ich heiße Boldre. Vielen Dank dafür, daß Sie sich um mein Bein gekümmert haben.« Der Mann sah ihn verwundert an. Das Mädchen meldete sich hinter seiner Schulter zu Wort. Wieder klang eine Andeutung von Trotz heraus. »Er heißt Delph.« Delph drehte sich zu ihr um. Seine Miene war die klassische Verkörperung des Zorns, doch er bewahrte Ruhe, während sie zu Boldre ebenso ruhig sagte: »Ich heiße Jan.« Boldre nahm zur Kenntnis, daß sie ihm ihren Vornamen verraten hatte und akzeptierte diese Vertraulichkeit. Er war zudem über die Zurückhaltung Delphs erleichtert. Der Große gehörte nämlich zu der Sorte Menschen mit dem Hang zu kalter Grausamkeit, und das Mädchen hatte seinen Ärger erregt. »Das da«, sagte Delph mit einem Blick auf den Recorder, »interessiert mich. Ich möchte mehr darüber wissen.« Er schien zu merken, daß er einen ungünstigen Standort hatte. Also nahm, er zu Füßen Boldres Aufstellung, so daß das Licht auf das Gesicht des Verletzten fiel, während er selbst im Schatten blieb. »Wir haben alles abgespielt, und es ergibt beinahe einen Sinn.« Boldre mußte den Kopf heben, um Delph sehen zu können. Dadurch geriet der andere noch mehr in Vorteil. »Ich hatte noch keine Zeit zum Abspielen«, log er aalglatt. »Das Unwetter hat mich vorher erwischt.« Delph tat, als akzeptiere er die Lüge. »Falls es Ihnen zugedacht war, dann möchte jemand, daß Sie in die Festung eindringen. Warum, ist nicht klar.« Etwas in der Haltung des Mannes war ungereimt, fast so falsch, als spiele er nur ein Spiel. Aber die Aufzeichnung des Recorders war nicht einmal für Boldre klar. Sie hatte ihm den Namen Griffen zugeworfen, ohne genauer zu definieren, was der Griffen war. Statt dessen hatte die letzte Aufnahme aus dem Recorder für den Bruchteil einer Sekunde das Bild eines kleinen technischen Gerätes gezeigt. Boldre konnte kaum glauben, daß dieses kleine Aggregat der Griffen sein sollte. Der Name war zu persönlich, zu menschlich für eine Maschine. Er hoffte auf einen näheren Anhaltspunkt im Computerraum. Andernfalls würde er sehr albern aussehen, wenn er die gleichgültige Elektronik begaffte und wartete, bis etwas passierte. »Na?« Schmerzgepeinigt hob er den Kopf. »Sagen Sie, was Sie wissen wollen, und ich kann Ihnen vielleicht helfen.« Er ließ den Kopf sinken, fuhr aber gequält auf, als ihm jemand einen Tritt gegen den Knöchel versetzte. Delph war nicht der Übeltäter, sondern der Mann mit dem Gesicht, das eher nahm als gab. Der Schmerz war scharf und qualvoll. Boldre hielt es für richtig, sich diesen Tritt für die Zukunft zu merken. Gerechtigkeit bedeutete ja nicht bloß Vergeltung. »Bey, das genügt.« Der große Mann war ungehalten, und Bey verschwand in der Dunkelheit. Sein Gesicht drückte zuletzt stille Neutralität aus. Delph unternahm keinen Versuch der Entschuldigung. Statt dessen erklärte er unverblümt: »Wir möchten ebenfalls in die Festung eindringen.« »Warum?« fragte Boldre vorsichtig. Delph zuckte die Achseln. »Um sie zu zerstören.« Boldre war geschockt. Er überlegte. »Ich glaube nicht, daß Sie Polcon sind.« Und ehe der andere antworten konnte: »Das heißt also, daß Sie nur einen Zwist, eine Rechnung zu begleichen haben.« »So ähnlich«, pflichtete Delph ihm willig bei. Boldre wußte, daß er keine echte Wahl hatte. Matt nickte er. Und indem er hinzufügte: »Solange ich meine Arbeit tue, können Sie machen, was Sie wollen«, gestand er unbeabsichtigt ein, daß er doch wußte, was der Recorder enthielt. Alle waren befriedigt. Das Mädchen nützte diese Chance. Sie reichte ihm ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit und überredete ihn, es zu leeren. »Jetzt können Sie schlafen«, flüsterte sie. Boldre hatte das Gefühl, daß er sich jetzt Schlaf leisten konnte, weil es ihn nicht sonderlich interessierte, was als nächstes passierte. Das leichte Schwanken einer Tragbahre weckte ihn. Sie trugen ihn über den flachen Boden eines Kraters. Er konnte die Umrisse der Kraterwände in der Dämmerung ausnehmen. Obwohl er es warm und gemütlich hatte, fühlte er plötzlich Unbehagen.
Er mußte sich mit seiner eigenen Hilflosigkeit abfinden und mit den unbeholfenen Bewegungen seiner Träger, ein Zeichen dafür, daß die geringe Anziehungskraft für sie ungewohnt war. Aber sein sechster Sinn war wieder erwacht und warnte ihn. Er mußte herausbekommen, warum. Die Wolken waren wie ein zerrissenes Laken vom Himmel gefegt. Geschwungene Linien in Rot und Pupur erstreckten sich über die gesamte Himmel s Wölbung und umgaben das blauweiße Antlitz der aufgehenden Erde. Sie hing über ihm, als behielte sie ihn persönlich im Auge. Die letzten Strahlen der sinkenden Sonne schafften es nicht, den blau-grünen Schein zu dämpfen. Der goldene Schimmer des Abends würde bald nur mehr eine verschwommene Erinnerung an den Tag sein, etwa eine Stunde verweilen und schließlich gänzlich verblassen. Boldre wollte sich aufsetzen. Eine schmale Hand faßte nach seiner Schulter, und er ließ sich widerstrebend zurücksinken. Er wandte den Kopf und sah Jan. »Wir überqueren eben ein Mascon.« Sein Flüstern klang drängend. »Falls die Anziehungskraft der Erde ein kleines Beben verursacht, haben wir hier keine Chance.« Seine Warnung konnte sie nicht verstanden haben, aber sie erkannte die Dringlichkeit des Tones. Sie starrte ihn mit aufgerissenen Augen an und suchte nach einer Erklärung. Boldre versuchte die Dunkelheit knapp über dem Boden zu durchdringen. Es war von größter Wichtigkeit, den schnellsten Ausweg zu finden. Aber das schwache blaue Funkeln schien allgegenwärtig. Vorwärts war ebensogut wie jede andere Richtung. »Sagen Sie ihnen, daß sie laufen sollen«, erklärte er ruhig. Es sprach für Delph, daß er sich auf keine Diskussion einließ. Wahrscheinlich fiel es ihm leicht, einem Menschen auf einer Tragbahre zu glauben, der selbst nichts unternehmen konnte. Oder vielleicht war auch ihm der magnetische Schimmer aufgefallen, und er war auf der Hut. Im Laufen geriet die Bahre ins Schwanken, doch Boldre kümmerte das nicht, solange man ihn nicht fallen ließ. Zwar hätte er die Chance, daß er wegkriechen könnte, bevor das unausweichliche Beben den unvermeidlichen Prozeß in Gang setzte, aber er wollte sein Leben nicht einer bloßen Möglichkeit überlassen. Links von ihm schrie eine Stimme auf. Außer dunklem Fels und einer schattenhaften Bewegung konnte er nichts sehen. Das blaue Licht schien mit der dahinkriechenden Dunkelheit im Bund, um den Boden unsichtbar zu machen. Als Gegensatz dazu folgte der helle Himmel einer eigenen, umgekehrten Logik. Oben war es hell und unten dunkel. Es war wie Himmel und Hölle. Hinter ihnen wölbten sich tausend schwarze Formen ein wenig aus dem Felsboden empor und sanken dann wieder herab. Der Boden schwankte leise. Boldre hatte gewußt, daß es ein Beben geben würde. Manchmal waren diese Beben so leicht, daß sie unbemerkt blieben, aber das leiseste Beben genügte, um das Magnetfeld zu verzerren. Wieder hoben sich die Formen, diesmal schnellten sie senkrecht in die Höhe. Sekundenlang waren sie vor unmittelbarer Gefahr sicher. Sie hatten inzwischen höhergelegenes Gelände erklommen und hatten jetzt Zeit, innezuhalten und von der Anhöhe aus Umschau zu halten. Ein riesiger Wald spitzer Nadeln stand da. Einige waren scharf, andere flach wie seitlich gedrehte Messer. Im blauen Magnetstrom wirkten sie wie eine behelmte, federgeschmückte Armee. Sie begannen sich aufeinander zu zu bewegen, links und rechts, unter Drehen und Wenden. Manche neigten sich, bis sie fast den Boden berührten. Das ganze sah aus wie eine Militärparade. Und während sie schwankten und marschierten, erbebte die Luft unter hohem Gesumm. Der dumpfe Geruch glühenden Eisens färbte die leise Brise. Schließlich drehten sie sich gleichzeitig um und stiegen weiter hügelan. Boldre flüsterte: »Bleibt hier. Diese Gebilde können vom flachen Boden nicht weg.« »Was ist mit denen?« flüsterte Jan zurück. »Man nennt sie das Ferrum.« Er lächelte ihr tröstlich zu, aber das konnte sie in der Dunkelheit nicht sehen. »Es sind nur große
Eisensplitter. Denselben Trick schafft man mit Eisenspänen in einem magnetischen Feld.« Ernster fügte er hinzu: »Falls es Sie jemals über einem Mascon erwischt, wenn dieser Vorgang einsetzt . . .« »Kann ich mir vorstellen.« Das Mädchen schauderte. Boldre brauchte es sich nicht vorzustellen. Einmal hatte er mit angesehen, wie ein Mann durch den irren Kontertanz in Stücke geschnitten worden war. Die scharfen Kanten hatten ihn zerschnitten, als er zu fliehen versuchte. Und dann hatte er das Gefühl, daß dies nun auch wieder passiert wäre. Einer aus der kleinen Gruppe fehlte, und Boldre fiel der Schrei ein, den er gehört hatte. Einer von ihnen war in der Dunkelheit in ein kleines Kraterloch gestolpert und hatte den Preis der Unerfahrenheit bezahlt. Delph kam zugleich mit ihm zu dieser Erkenntnis und wollte auf die sich wild bewegenden Formen zugehen. Boldre rief warnend: »Warten Sie! Nicht jetzt. Noch eine Minute, und alles ist vorbei.« Es war in weniger als einer Minute vorüber. Jetzt trat Stille ein, die tiefer war als jede Stille, die sie je erlebt hatten. Still und erhaben wie der erste Augenblick der Dämmerung oder der angehaltene Atem des Publikums, wenn eine Vorstellung zu Ende ist und die Wirklichkeit wiederkehrt. Aus dieser Stille drang ein einsamer, isolierter Laut. Es war wie das schwache Miauen einer Katze. Delph hastete, lief den Hang hinunter, und sie hörten ihn über die unwirtliche Ebene laufen, hörten ihn suchen und rufen. Schockiert nahm Boldre wahr, daß der Name einer Frau gerufen wurde, doch konnte er dem gehörten Namen kein Gesicht zugesellen. Langsam zählte er seine Begleiter ab. Es waren sieben, und nachdem er sie gezählt hatte, kannte er sie alle, jedes einzelne verschattete Gesicht. Zwei Frauen und fünf Männer. Zusammen mit Delph mußten neun in der Höhle gewesen sein. »Seid ihr neun?« fragte er Jan. »Am Anfang waren wir zwölf«, antwortete sie tonlos. »Kurz nach der Landung muß Milcon unser Schiff entdeckt haben. Es wurde in Stücke zerrissen. Ein Glück, daß die meisten von uns nicht an Bord waren.« Ein Gedanke kam ihm. Er fragte sich, warum er nicht schon früher gefragt hatte. »Wohin sollen wir jetzt?« Plötzlich wünschte er, er hätte schon früher gefragt. »Zur Festung«, entgegnete Jan verwundert darüber, daß er es nicht wußte. Boldre sah jetzt, daß sie sich nach Verlassen der Höhle entlang der Kraterwand südwärts gewandt hatten. Das ergab jetzt einen Sinn. Wären sie nämlich nach Norden ans Meer gegangen, wären sie nicht in dieses Schlamassel geraten. Sie hatten ihn einfach beim Wort genommen und nicht an Vorbereitungen oder Vorsichtsmaßnahmen gedacht. Wie Lemminge hatten sie auf ihr Ziel zugehalten, und er hegte den Verdacht, daß keiner es auch nur in Frage gestellt hatte. Der große Mann kam wieder den Hang herauf gestolpert. »Sie ist tot.« Das war endgültig und voller Verzweiflung. »Können wir jetzt weiter?« fragte er Boldre. Boldre schüttelte den Kopf. »Man kann doch nicht so ohne weiteres zur Festung. Ich muß rüber zu den Inseln und meine Vorkehrungen treffen.« Delph starrte ihn mißtrauisch an. »Alles ist bereits ausgearbeitet«, sagte Boldre gelassen. »Einer meiner Freunde sorgt dafür, daß Milcon mich ruft - wegen eines dringenden Umweltverschmutzungsproblems. Man wird ein Fluggerät schicken, und ich spaziere einfach in die Festung hinein.« Scheußlich mit ansehen zu müssen, wie das Begreifen sich einem Krebsgeschwür gleich auf Delphs Gesicht ausbreitete. Ihn traf die Erkenntnis, daß er die Frau unnötig geopfert hatte, und es schmerzte ihn. Boldre begann sich für ihn zu erwärmen. Er bedauerte die Tote draußen auf dem Mascon. »Verdammte Gegend!« stieß Delph hervor. Boldre schüttelte den Kopf. »Die Gefahren sind zwar anders, aber auch nicht größer als anderswo.« Fast bedauerte er, daß er das gesagt hatte, aber er wollte seine Felsenwelt verteidigen -sogar die merkwürdigen magnetischen Felder, die man Mascons nannte. Das alles war Teil seiner selbst, und er kannte nichts anderes. »Wir
gehen jetzt zurück zu meinem Boot und überlegen dort weiter.« Er sah jeden einzelnen an. Dann sagte er: »Die Nacht dauert hier sehr lange.« IV Das Boot lag noch immer dort, wo er es verlassen hatte. Es war eine plumpe Stahlröhre, die er außer Reichweite der leckenden See auf Land gebracht hatte. Die Stelle war zu beiden Seiten von hohen Felsen umgeben, ein schmaler Felsspalt dazwischen bildete den Zugang zum Wasser. Aus dem Hintergrund der Gruppe her fragte Bey: »Soll das ein Boot sein?« Er glitt an Boldres Seite und bedachte ihn dabei mit einem Blick, als würde er ihm nur allzugern einen weiteren Tritt verpassen. Boldre begegnete dem Blick der farblosen Augen und sah dann zu Delph hinüber. Delphs kantiges Gesicht war in blaugrünes Licht getaucht. Einer verlorenen Seele gleich, brütete der Mann über seinen Gedanken. »Mußten Sie ihn unbedingt auf eine wichtige Mission mitnehmen?« fragte Boldre. »Mir wäre dieses Risiko zu groß gewesen - außerdem zieht er Ihre edlen Prinzipien in den Schmutz.« Ganz unerwartet lächelte Delph: »Er ist Vernichtungsexperte. Wir brauchen ihn.« Und da sein grübelnder Verstand nunmehr die Situation erfaßt zu haben schien, fuhr er fort: »Sie müssen also auf Ihre Insel zurück, damit Milcon Sie dort finden kann!« Boldre nickte. »Wenn plötzlich ein Umweltverschmutzungsproblem auftaucht, wird man mich dort suchen. Und dann würde man Verdacht schöpfen.« »In diesem Fall«, murmelte der Große, »werden Sie Bey mitnehmen.« Er begleitete dieses Ansinnen mit einem Lächeln. Boldre wurde es unheimlich zumute, aber jetzt mischte sich Jan leise ein. »Ich werde mit ihm gehen müssen!« Sie versuchte gar nicht, einen plausiblen Grund vorzubringen. Sie sagte es so, als könne sie ihren Willen ohne weiteres durchsetzen. Erstaunlich, daß der Große zustimmend brummte. Der Wind schlug um. Der lange Felskamin bebte, als der 3° Wind seewärts blies. Jetzt war es Zeit zum Aufbruch. Die Flut lief hinaus zu Riphaen, und der Himmel war klar. Boldre erklärte Delph die Lage. Der Große begriff. »Wir müssen nur noch die Einzelheiten besprechen.« Er sprach von den Zeitpunkten, von den Orten - sehr überzeugend und klar. Seine Gruppe würde auf dem Landweg die Festung erreichen und dort warten. Boldre würde versuchen, Bey und Jan als seine Assistenten in die Festung einzuschleusen. Er würde sie Milcon gegenüber als Insulaner ausgeben. Sollte es Milcon einfallen, sie genau unter die Lupe zu nehmen, würde allerdings alles auffliegen - die drei müßten sich eben auf ihr Glück verlassen. Das klang so einfach. Boldre zweifelte, ob alles so glatt verlaufen würde, aber es fiel ihm ein, was Hart bezüglich einer Hilfe hatte verlauten lassen. Er wußte jetzt, daß sein Leben von dessen Mitarbeit abhing. Bei näherem Nachdenken war er über Delphs Absichten jetzt sogar erfreut. Hugo hatte oft gescherzt: die Insulaner wären für und gegen jeden - wenn nur der Weiterbestand der Inseln gesichert blieb. Bey folgte der Tragbahre und dem Mädchen auf dem Weg zum Boot hinunter. Vielleicht war ihm schließlich doch klargeworden, daß er mit Boldre nicht nach Belieben umspringen konnte. Waren sie erst auf See, dann waren ihm ohnehin die Hände gebunden. Boldre beugte sich von der Bahre herunter und schob die gewölbte Einstiegluke des Bootes zurück. Er schwang das heile Bein von der Bahre herunter und kämpfte sich ins Bootsinnere. Schweigend schoben die Männer und Frauen den Bootsrumpf ins seichte Wasser. »Los - an Bord!« Boldre lächelte Jan zu und setzte sich auf den schmalen Sitz. Er bemerkte Mißtrauen und Angst in ihrer Miene, als sie das Cockpit sah. Schließlich zwängte sie sich herein und setzte sich neben ihn. Bey mußte sich in
den spitz zulaufenden Bug hineinpressen. Wie angelötet hockte er nun auf kleinstem Raum, den Kopf vorgebeugt, die Knie an die Brust gedrückt. Die Schiebeluke glitt zu, und nun waren sie von der Außenwelt abgeschnitten. Nur der schwache Schein einer kleinen Lampe erhellte die überfüllte Röhre. Trotzdem war Boldre jetzt glücklich. Das Boot bedeutete ihm mehr als nur eine Hülle. Er wußte, es würde zu Leben erwachen, sobald die Flut es erfaßte. Der Mast würde aus seinem Gehäuse ausklappen, und sie würden sich vorwärtsbewegen, sobald der Metallstreifen, der als Segel diente, sich am Mast entfaltet hatte. Er faßte nach dem winzigen Ruder und tastete nach den Fußstützen. Sein Knöchel schmerzte. Es war aber nicht unerträglich. Jetzt brauchte er nur Steuer und Kompaß. Alles übrige war Intuition und gründliche Kenntnis der seichten Meere. Das Boot wurde jetzt gehoben. Er hörte das Wasser den Rumpf entlangstreifen. In drei Stunden würden sie die Hälfte des Weges zurückgelegt haben. Dann würden sie sich ein paar Stunden lang auf einer der kleinen Inseln verstecken. Wenn die Flut ein zweites Mal kam, konnten sie die Fahrt fortsetzen. Bey sah elend aus, und Boldre lächelte vergnügt. Das Mädchen begann zu zittern, als ihr Tempo sich immer mehr steigerte. Boldre versuchte, ihr alles zu erklären. »Ein offenes Boot wäre in diesen Gewässern nutzlos. Es würde vollaufen, sobald es stürmisch wird. Die meiste Zeit sind wir, bis auf den Mast, unter Wasser.« Sie starrte ihn an. »Und wieso kippen wir nicht um . . . und was ist mit der Luft?«»Am Mast ist ein Schnorchel installiert und im Rumpf selbst ein Luftvorrat für den Notfall. Und was das Umkippen betrifft, so haben wir zwei Flossen, die aus dem Rumpf ausklappen, sobald wir uns in Bewegung setzen.« Jan gab sich mit seiner Erklärung nicht ganz zufrieden. Sie beobachtete ihn aus dem Augenwinkel und nagte nachdenklich an ihrer Lippe. Dann fragte sie: »Und wie halten Sie Kurs?« Er klopfte auf den Kompaß und zog dann einen kleinen Hebel. Genau über Beys Kopf erschien ein Lichtviereck, das aussah wie eine gewölbte Glaswand, die sich von der größeren Wölbung des Decks abhob. Jetzt reichte die Sicht bis an den Horizont. Zu beiden Seiten schäumte die Gischt. Am Bug bildete das Wasser Wirbel, als tauche es in einen Abgrund. Das von den Wolken gebrochene Licht leuchtete in dunklen Grün- und Blautönen. Der allgemeine Eindruck war der einer großen Geschwindigkeit. Das Mädchen schauderte und warf Boldre einen ängstlichen Blick zu. Er schüttelte den Kopf. »Hier sind wir sicher - aber bald werden wir zwischen kleine Felseilande geraten.« Er sah zur Sichtscheibe hinauf. Die Nacht jagte das Tageslicht vom Himmel. In wenigen Minuten herrschte völlige Dunkelheit, und es war nichts mehr zu sehen als das brodelnde Wasser am Torpedobug. Doch bald tauchten die flachen Formen von Felsen auf, einmal auf dieser, dann auf der anderen Seite, so wie er das Steuer drehte. Es waren Phantome, die nahe herankamen, um sie zu beäugen, bis ein kräftiger Griff Boldres das Boot drehte und sie knapp vorbeiglitten. Er schien ihren Standort zu erkennen, noch ehe man sie deutlich sehen konnte. Die See kochte über den Felsen und zerstob in Millionen Atome weißen Schaumes. Die Fluten hoben und senkten das Boot und fielen manchmal wie ein wildes Tier darüber her. Es gab kurze Perioden dankbar hingenommener Erleichterung, wenn sich das Wasser flach verlief - aber das war nur selten. Sie befanden sich in einem eisigen Kessel, in dem es außer der unmittelbaren Gefahr nichts Sicheres gab. Bey senkte den Kopf und ließ alles über sich ergehen. Er stieß einen Seufzer aus, als hätte man seine Lungen punktiert, und legte den Kopf zwischen die Knie wie ein dunkler Embryo, vor Angst zusammengekrümmt. Dann war es vorbei. Das Boot trieb in ein langsames Auf und Ab, in eine große purpurne Leere. Boldre entspannte sich. Er sah Jan an. Ihre Augen waren aufgerissen, die Lippen rund geschürzt. Ihr Kinn wies noch immer den Anflug von Entschlossenheit
auf, doch das übrige Gesicht glich einer weißen Perle, fast durchsichtig in dem schwachen Licht, eingefaßt und isoliert im Rahmen des dunklen Haares. Boldre sah sie jetzt zum ersten Mal richtig. Er war insgeheim beeindruckt - nicht nur ihrer Schönheit wegen, sondern von ihrem Gefühlsreichtum, mit dem sie Delph - von Bey ganz zu schweigen - haushoch überragte. Er erkannte in ihr Entschlossenheit und Autorität. Plötzlich wurde er unsicher. Er ahnte, daß er eine falsche Entscheidung getroffen hatte und wie ein Baby hinters Licht geführt worden war. »Ist es immer so schlimm?« Das sagte sie in ihrem traulichgelassenen Ton. Er runzelte die Stirn seine eigenen Gedanken und ihre Frage stimmten ihn nachdenklich. Statt ihr eine Antwort zu geben, fragte er: »Wie ist es denn auf der Erde?« Sie wurde von dieser Frage überrascht, doch fand sie bald ihr Lächeln wieder, so, als wäre ihr sein Verdacht gar nicht aufgefallen. »Das Land oder die Menschen?« »Zuerst die Menschen.« In ihren Augen und in ihrer Stimme schien etwas alles Verbergendes zu liegen; was sie sprach, waren nur Worte um des Sprechens willen. »Sie sind sehr ordentlich. Niemand protestiert. Die meisten haben begriffen, daß Gewalt nur Unschuldige trifft.« »Das haben sie nicht immer begriffen«, warf Boldre ein. »Jeder, der nur ein paar passende Schlagworte zur Hand hatte, besaß damit auch eine Entschuldigung, zu rauben und zu morden.« »Wenn Sie damit die Revolutionen meinen, so waren nicht alle von dieser Art.« Sie war verärgert und ließ sich aus ihrer vorsichtig gehüteten Reserve locken. »Die meisten begannen aus gutem Grunde!« »Aber immer sind die Falschen ans Ruder gekommen«, fügte er hastig hinzu. »Leute wie Bey.« Er wollte auch den Mann provozieren, weil er hoffte, daß einer der beiden sich verraten würde. Bey aber kämpfte mit seiner Übelkeit. Das Mädchen setzte sich so, daß sie Boldre ins Gesicht sehen konnte. »Kein Mensch gibt mehr wirklich etwas auf geschichtliche Ereignisse, und ich weiß, daß Sie diesbezüglich nicht auf Milcon hören. Sie wollen mich bloß aushorchen.« Angesichts solcher Offenheiten beugte Boldre sein Haupt ironisch. »Die Insulaner jedenfalls würden gegen Milcon kämpfen, falls es zum Äußersten käme.« Sie ging zu kalter Herausforderung über. »Sie werden uns helfen, und wir werden die Festung in die Luft jagen. Ist das keine Revolution?« Er schüttelte den Kopf. »Das ist keine. Es ist bloß ein Akt der Zweckmäßigkeit. Geschähe es auf die von Ihnen erwähnte Weise, dann würden die nicht wissen, worum es mir gegangen ist.« »Aber sicher wird es Tote geben«, sagte sie jetzt leise. »Falsch«, antwortete Boldre mit Bestimmtheit. »Die Festung wird ferngesteuert. Man läßt Menschen höchstens für Spezialaufgaben ein.« Jetzt war er der Herausforderer. »Auch das wissen Sie, Jan.« Sie sagte nichts darauf. »Und damit wird alles zu einem Betrug.« Sie schloß kurz die Augen. »Sie haben mich auch nach der Landschaft gefragt.« Jetzt öffnete sie die Augen und starrte geradeaus. Er wollte ihr entgegenkommen und ließ zu, daß sie das Thema wechselte. »Sie ist schön«, sagte sie mit einer Stimme, die ihre Aussage zu verneinen schien. »Schön - wie ein großer, übervölkerter Park. Es gibt nicht mehr als eine Handvoll wirklich naturbelassener Gegenden . . . aber ich mag die Menschenmassen.« Wieder schloß sie die Augen, als wollte sie die wogende See aussperren und durch eine Vision der Erde ersetzen- oder vielleicht, weil sie log. »Es ist nicht so übel, wie Sie vielleicht denken.« Boldres Spannung hatte nachgelassen. »Dennoch sind Sie so sehr darauf bedacht, alles zu verändern - und das ist doch seltsam, nicht?« Er spürte Mitleid mit ihr und dem Dilemma der Erde. Sie und Delph bekämpften Milcon. Ob sie es für Polcon oder auf eigene Rechnung taten, war nicht klar. Vielleicht spielte es auch keine Rolle. Draußen drängte sich grünes Licht aus einer nadelstichfeinen Öffnung in der
Wolkendecke und breitete sich über das Wasser aus. Ein hoher Kristallturm ragte aus dem Wasser und wurde von dem neuen Licht beschienen. Boldre betätigte einen Hebel, worauf das Boot langsamer wurde, als es sich dem Turm näherte. Jetzt sah man, daß es eine natürliche Insel war, deren Flanken hell erglänzten. Das Boot legte die letzten Meter zurück, durchpflügte einen dunkleren Kreis und wurde plötzlich in eine Flut gedämpfter Farben getaucht. Sie befanden sich in einer Jade-Höhle und trieben auf einer phosphoreszierenden Wasserfläche dahin. Das Boot war nun ein kleines Objekt, das sich in einer Lichtbahn fortbewegte, von allen Seiten von Licht umgeben. Jan hob die Hände und schob die Luke zurück. Das war eine völlig spontane Handlung, so, als hätte sie sich plötzlich entschlossen, jegliche Angst abzulegen. Sie stand auf - ihr Körper strebte nach Freiheit. Ihre Hände wurden, von tiefen Blau- und Grüntönen umspielt, und wenn sie sie höher hielt, tauchten sie in ein neues, weißes Licht. Boldre stellte sich neben sie. »Diese Insel besteht aus Glas. Manche Gebiete wurden umgeschmolzen und umgeformt - auch diese Insel.« Seine Stimme verlor sich in dem leisen Gemurmel des Wassers. Er war viel größer als das Mädchen. Neben ihm wirkte sie wie ein kleines Mädchen. »Hier bleiben wir ein paar Stunden und warten auf die Flut. Dann erst können wir weiter.« Das Mädchen sah zum Mast und dem kleinen Metallsegel empor. Sie konnte es nicht fassen, daß ein so gebrechliches Ding sie so sicher durch das Wasser gesteuert hatte. Sie wußte natürlich, daß Flut und Wind für die Geschwindigkeit gesorgt hatten und daß Boldre diese Naturkräfte gründlich genutzt hatte. Das Boot hielt an einer Felsplattform, Boldre beugte sich hinaus und faßte nach einem von oben herabhängenden Stück Draht und zog es durch einen Ring neben der Einsteigluke. »Sie müssen an Land springen und uns festmachen«, wies er das Mädchen an. »In einem Schränkchen im Heck finden Sie ein Seil. Im Fels ist ein zweiter Ring eingelassen.« Sie stemmte sich auf die Plattform, fand den Schrank und machte das dünne Seil am Ring fest. Boldre setzte sich auf den Lukenrand. Sein Knöchel machte sich wieder bemerkbar, der Schmerz trieb ihm Schweiß auf die Stirn. Trotzdem versuchte er die Schmerzen zurückzudrängen. Er mußte mehr über das Mädchen und ihre Mission herausbekommen. Dabei brachte er es nicht übers Herz, sie förmlich zu verhören, denn sie befand sich noch immer im Zustand einer Betäubung angesichts der sie umgebenden Schönheit. Ein kleines Kind in einem unerwartet entdeckten Garten. Er unterbrach sie jäh in ihren Betrachtungen, und seine Worte hallten in der Unermeßlichkeit der Höhle wider. »Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht.« Sie erschrak, als wäre sie unsanft aus einem Traum geweckt worden. Vielleicht überraschte sie seine Bemerkung, und sie war, da sie seine Stimmung fühlte, verärgert. Langsam sagte er: »Ich dachte, Sie hätten mit Polcon nichts zu tun - aber ich habe mich geirrt. Man hat Sie nach mir ausgeschickt. Sie sind die Hilfe, die Hart mir versprach.« Jan schüttelte den Kopf, weniger aus Ablehnung, als aus Ärger. Sie wich seinem Blick aus. Ihre Antwort kam leise und aufrichtig. »Auch ich habe mich geirrt. Diese Welt hier ist nicht schlecht - vor allem aber ist es nur eine künstliche Welt.« Als sie den Kopf wieder wandte, umfloß weißes und grünes Licht ihre Konturen. Die tieferen Grüntöne fingen sich in ihrem Haar und warfen lange Schatten nach unten. Die helleren Reflexe des Wassers schimmerten auf ihrer Haut. Sie war wie verwandelt sie war jetzt ein Teil dieser großen Höhle. Dann setzte der Gezeitenfluß ein und das Wasser strömte aus der Höhle. Das im Kästchen aufgerollte Seil spulte ab, als das Boot an Höhe verlor und der vertikale Draht senkte sich gleichzeitig mit dem Boot. Das Mädchen stand bald allein da, fünf Fuß über dem Deck und starrte in die Helligkeit unter der Wasseroberfläche. Das Felsbett war aus Glas - ein schimmernder
Spiegel, in dem das schwimmende Schiff deutlich in allen Einzelheiten reflektiert wurde. Wie in Trance ging sie in die Hocke und blieb so, das Kinn in die Hand gestützt. Bey steckte den ramponierten Kopf aus der Luke und sah sich ungehalten um. Der Anblick bewirkte, daß er sich wieder zurücksinken ließ. Aus dem Bootsinneren kam jammernd und grollend seine Stimme, und schließlich schrie er Boldre an: »Wo, zum Teufel, sind wir denn?« Mit ungeheurer Wucht kam die Flut wieder. Sie toste in die Höhle, gab grollend und zischend ihr Kommen zu erkennen, verstärkt durch das tausendfache Echo. Ohne Hilfe kroch Jan durch die Luke und setzte sich neben Boldre. Dieser wartete, bis die Flut die Höchstmarke erreicht hatte, und betätigte dann das Steuer. Zunächst blieb das Boot noch schaukelnd liegen. Dann aber erspürte es eine Strömung und einen leisen Windhauch, der aus einer verborgenen Öffnung der Höhle kam, und trieb langsam dem Ausgang zu. Draußen hatten sich die Wolken verdichtet und bewegten sich nun in anderer Richtung über den Himmel. Das grüne Licht verblaßte zu einem schwachen Nachschimmern, das an der Unterseite der Wolkendecke zu haften schien. In knapp drei Stunden hatten sie einen anderen Felsen im Meer erreicht. Es waren die ersten Umrisse einer Landmasse, die sich schwarz über den Horizont erstreckte, als paßte sie sich seiner Erscheinung an. »Riphaen.« Jan blickte auf die kleine Scheibe. »Ich kann noch nicht einlaufen«, erklärte Boldre. »Wir müssen abwarten, bis es heller wird.« Er lächelte. Seine Hände ruhten auf dem Steuer. »Wir müssen hier vor Anker gehen und warten.« »Wie können Sie jetzt Helligkeit erwarten? Es ist Nacht und überall Wolken.« Das fragte sie, als wüßte sie die einfache Antwort ohnehin, wollte sie aber von ihm selbst hören. Er tat ihr den Gefallen. »Die Wolken ändern ständig ihre Gestalt. Alle paar Stunden reißen sie auf, und das Licht von der Erde kann durchdringen. Wenn der Wind die Wolken vertreibt, haben wir fünfzehn Minuten Zeit, bevor Ebbe eintritt - die Veränderungen folgen einander regelmäßig, wie von einem Uhrwerk getrieben.« »So ähnlich wie auf der Erde - nur viel rascher hintereinander«, bemerkte Jan. Sie faßte nach seinem Arm und deutete auf den Sichtschirm. Dort, wo die Landmasse ins Wasser überging, schimmerte sie, und an ihrem oberen Rande sah man eine Unzahl weißer Flecken. »Was bedeutet das?« Boldre lachte. »Eine Art Winter. Hier wechseln die Jahreszeiten so häufig wie Tag und Nacht. Während der Nacht kommt und geht der Schnee in diesen Breiten. Es ist zwar nicht viel, reicht aber, um als Jahreszeit zu gelten.« Ihre Phantasie war angeregt. Sie lachte. Bey warf ihr einen düsteren Blick zu und versuchte die Beine auszustrecken. Dabei stieß er sich ein Knie an und zog die Beine rasch wieder an. »Wissen Sie eigentlich«, sagte er unfreundlich, »daß dies alles nur einem Zufall zu danken ist?« Boldre runzelte die Stirn, und das Mädchen warf Bey einen wütenden Blick zu, der ihn allerdings nicht zum Schweigen brachte. »Der Mond war ein riesiges Labor - Vakuumtechnik und dergleichen. Er diente als Observatorium und als idealer Startort für Raumschiffe. Die Erde machte von ihren Schürfrechten rücksichtslos Gebrauch.« Bey seufzte befriedigt. »Dann machte irgendein Idiot ein Experiment - in nur begrenztem Umfang -, aber schon war die Hölle los. Das Verseuchungsmittel breitete sich überall aus ... es löste das Oberflächengestein und erzeugte die Anfänge einer Atmosphäre. Kein Mensch konnte es zunächst glauben. Auch jetzt noch wollen es viele nicht glauben. Daher die Kuppel über Milcon City.« Boldre sagte nichts. Es war ziemlich einerlei, ob die Anfänge auf einen Zufall oder auf eine großangelegte Planung zurückzuführen waren. Das Ganze hatte sich ohnehin zu einem Großprojekt von fast epischen Ausmaßen ausgewachsen, insbesondere bezüglich des Gleichgewichtes der Gase, die die Atmosphäre bildeten und der hier angewandten Methode, die Atmosphäre
auch zu erhalten. Es war ein aus Verzweiflung geborenes technisches Wunder - aber dann war der Mond nicht mehr ein öder, von Strahlung bombardierter Planet. Er war eine Welt voll zaghaften, neuen Lebens. Das biologische Gleichgewicht wurde allerdings auf fragwürdige Art - mittels eines winzigen Organismus, eines hochentwickelten Kontrollsystems und einer kargen Vegetation aufrechterhalten. Eigentlich hatte Boldre selbst immer erwartet, es würde schiefgehen. Es war doch immer so, daß das Leben die Welten geschaffen hatte und nicht umgekehrt. Der erwartete Riß in den Wolken wurde sichtbar. Boldre machte sich zum Einlaufen bereit. Langgestreckte Gebirgszüge ragten ihnen aus dem Wasser entgegen. Sie waren nicht hoch, obwohl der Erdenschein sie größer erscheinen ließ. Flecken grünen Lebens sprenkelten die Felsen, und man sah die Lichter einer Ansiedlung. Ein heller Fleck, der nicht von der Landmasse stammte, wurde sichtbar und senkte sich mit großer Geschwindigkeit auf die Insel herab. Boldre bemerkte es und wurde von Unruhe erfaßt. »Milcon ist schon da, bevor wir Vorkehrungen treffen konnten ! « Seine Miene drückte Ingrimm aus. Er fühlte, daß ein geheimer Plan sich selbständig gemacht und eigene Kräfte entwickelt hatte und daß alles außer Kontrolle geraten war. Alles wurde für ihn entschieden - und das war für ihn befremdend. War er doch der Meinung gewesen war, daß er alle Entscheidungen selbst getroffen hatte. Der zylindrische Fahrstuhl sank in der großen Sphärenwelt abwärts, durch Tausende, sich kreuzende Korridore und Myriaden von Räumen. John Otley spürte das pulsierende Leben um sich herum und wurde demütig, wenn er an seine Verantwortung dachte. Die Sphärenwelt war gleichsam ein Molekül der Komplexität. Die Korridore und Räume stellten die Stränge seines inneren Aufbaus dar. Und über all dies war er der Herr. Auf einer Stufe ohne Namensbezeichnung, tief unten in der Sphäre, konnte er einen kurzen Blick auf ein Gesicht werfen. Das Gesicht lächelte, und er erwiderte das Lächeln. Wie gewöhnlich war er der Meinung, er hätte zu langsam reagiert, und er fragte sich, ob zum Beispiel Hart sich über derartige Dinge je Gedanken gemacht hätte. Aber für Hart war diese Biosphäre schließlich nur ein riesiges Werkzeug seiner Wissenschaft, während Otley sich bewußt war, daß sie die Heimat vieler Menschen war. Seine Stimmung änderte sich, als der Fahrstuhl lautlos anhielt. Es fiel ihm schwer, sich Tabiner als Menschen vorzustellen, und eben diesen Tabiner wollte er jetzt aufsuchen. Es gab eine Entschuldigung für diese seine Vorstellungen über Tabiner: es gab nur wenige, die die Wahrheit um Tabiner glauben konnten. Der in mittleren Jahren stehende Mann war wie eine längst vergessene Erinnerung aus den Tiefen des Alls zu ihnen zurückgekehrt. Und es fiel leichter, ihn als zusätzlichen Beweis der Allgemeinen Relativitätstheorie anzusehen. Was an Tabiner so beunruhigend wirkte, war seine Normalität. Er war eine Zeitbombe an wissenschaftlichen Kenntnissen, Augenzeuge der ungeheueren Schönheit des Weltraumes; und doch sang er - bar jeder Nostalgie - Lieder aus der letzten Ecke seiner Vergangenheit und genoß das Dasein mit unglaublicher Unbefangenheit. Der Mann hatte tausend Jahre irdischer Geschichte hinter sich, hatte zehn Jahre eigenen Lebens in einem Raumschiff verbracht - und schien gar nichts zu bedauern. Otley wußte, daß er den Verlust dessen, worin er verwurzelt war, bedauert hätte. Ganz nüchtern machte er sich klar, daß er mit den anderen Mitgliedern von Tabiners Besatzung gestorben wäre - er wäre wie ein Tier verendet, das den Lebenswillen verloren hatte. Man war versucht, Tabiner für gefühllos zu halten, aber auch das stimmte nicht. Er hatte überlebt, weil er sich einen unausgesprochenen Glauben an das Leben selbst bewahrt hatte, und er war so intelligent, dabei zu bleiben. Otley ging den breiten Gang entlang. Die Mauern umschlossen ihn von allen Seiten, und er fragte sich, ob er imstande wäre,
die Reise an einen Ort zu ertragen, der bei Tabiners Fahrt nur eine Stufe gebildet hatte. Ungeduldig brummte er vor sich hin. Für Gefühle gab es Raum, nicht aber für Zweifel. Das alte Aufwallen unterdrückter Erregung trat an die Stelle von Zweifeln, sogar als er an Tabiners Tür klopfte. Eine Sekunde Wartezeit, dann bat ihn Tabiners Stimme herein - vielleicht ein wenig ungeduldig wegen einer Formalität, die andere eifersüchtig hüteten. Er war lange Zeit allein gewesen und kam aus einem weniger bevölkerten Zeitalter. Trotz seiner tiefen Stimme war er schlank, hell und nicht sehr groß. Sein Körper wirkte sauber und straff. Es war eine beharrliche Freundlichkeit an ihm, die alle entwaffnete. Er strafte das Paradoxon Lügen, daß seit seiner Geburt tausend Erdenjahre vergangen waren. Und um das Paradoxon noch unglaubwürdiger zu machen, sah er nicht mal nach vierzig Jahren aus, die er tatsächlich erlebt hatte. »Commander Otley!« Er stand auf und faßte nach Otleys Hand. »Freut mich.« Er deutete auf den gewölbten Sichtschirm, der die Tiefe und Genauigkeit eines Fensters ins All aufwies. »Den Anblick kenne ich jetzt zur Genüge.« Der Blick führte ins Dunkle, Samtige, das von unbewegt leuchtenden Sternen besetzt war, von Sternen, die perspektivisch erschienen, die dahintrieben, wie türkisfarbene Gemmen in einem weichen, schwarzen Teich. Als sich die Biosphäre ein Stück drehte, tauchte der Rand der Erde auf, abgeschnitten wie eine Melonenscheibe. Otley verspürte den üblichen Stich und sah Tabiner an. Im Laufe der Jahre war die akute Erinnerung an die Heimat zu einem stechenden Schmerz geworden und hatte nicht nachgelassen, wie man es mit Recht hätte erwarten können. Allein aus diesem Grund lehnte er den Machtkampf zwischen Polcon und den verschiedenen Strömungen Milcons ab. Wäre da nicht ihr nie versagender Konflikt gewesen, hätte er sein langes Exil durch ein paar Fahrten hinunter zur schimmernden Erde unterbrochen. Er brummte vor sich hin. Die Welt war weder unter noch über ihm, sie war nur in der Nähe. Die relativen Umlaufbahnen waren die neuen >Oben< und >Unten<. Otley begann sehr förmlich: »Hart sagt, wir können mit den Vorarbeiten für Ihren Flug beginnen.« Wie alle Erklärungen von großer Tragweite, klang auch seine nur farblos und routinemäßig. Trotzdem hüstelte er entschuldigend, als wünschte er keinem Hund diesen Flug. »Wir haben den Griffen ausgeforscht und werden ihn in den nächsten Tagen zurückbekommen. Dann können wir unsere Berechnungen zu Ende führen.« Tabiner blieb scheinbar unberührt. Sein einziges Interesse galt den Berechnungen. Er nickte mit einem Anflug von Begeisterung. »Und wenn wir den Griffen haben, dann bekommen wir unseren Anzug - stimmt's?« Der Kommandant lächelte sauer. Tabiners Flug hing vom lebensrettenden Anzug, den er beim Flug tragen würde, ab. Otley wechselte das Thema. Er sprach, als wäre er ein alter Köter, der sich nicht entschließen konnte, ob er bellen oder sich auf dem Rücken wälzen sollte. »Man hat auch bereits die ersten Menschen für die Reise in die Biosphäre gefunden.« Seine Stimme war zu einem Murmeln verkümmert. Tabiner war erstaunt. »Das klingt aber nicht so, als ob Sie einverstanden wären, Otley.« Er lächelte ermutigend. »Wie haben sie das geschafft?« »Es ist schwer erklärbar.« Otley fragte sich, wieviel er sagen durfte, und merkte, daß dies eine echte Schwierigkeit war. Er stürzte sich kopfüber hinein. »Auf dem Mond lebt eine solche Gruppe von Menschen - und es ist eben nur eine Sache der Überredungskunst.« »Welcher Art ist denn diese Überredung?« Otley wurde unbehaglich zumute. Sogar er dachte in anderen Dimensionen als dieser Mann aus der Vergangenheit. Trotz seines Gewissens, das - nach modernen Maßstäben gemessen - als zartbesaitet anzusehen war, verfügte er nicht über die ethische Haltung Tabiners. »Es ist sehr kompliziert«, sagte er schließlich. Tabiner sagte nichts, und Otley dachte an den raffinierten Betrug, mit dem sie Boldre und die vielen tausend isolierter Insulaner
hereingelegt hatten. Dabei schien es noch ein anständiges Arrangement und bei weitem nicht so hinterhältig wie viele andere, die sie schon begangen hatten. Er suchte für Tabiners seltsame Anständigkeit Verständnis aufzubringen, wußte aber, daß es zwecklos war. Trotzdem sagte er: »Sie sind zu lange weg gewesen, um für unsere Methoden noch Verständnis aufzubringen.« »Ich werde mich sehr bemühen«, antwortete Tabiner. Schließlich hatte Otley genügend Mut gefaßt. »Nun - ich kann Ihnen sagen, warum wir speziell diese Leute wollten. Sie sind zäh, an ein Leben in feindlicher Umgebung gewohnt. Sie dürfen nicht vergessen, daß die Atmosphäre des Mondes ein Zufall ist, ein unglaublicher Zufall sogar, der einem riesigen Kontrollsystem anhängt, das der schwachen Anziehungskraft entgegenwirkt. Und doch leben die Menschen im Freien, haben große Widerstandskraft gegen Strahlen entwickelt und können für eine Weile sogar verpestete Luft aushaken. Irgendwie haben die sich angepaßt.« Tabiner dachte an die Theorie über den Willen zur Evolution, die durch die Geschwindigkeit erklärt wurde, mit der Menschen sich anpassen konnten. »Und warum leben sie nicht wie die übrige Mondbevölkerung unter der Mondoberfläche?« Otley seufzte und wirkte noch verlegener. Wie er es haßte, Tabiner gegenüber das Vorgefallene zu rechtfertigen! Denn dieser Mann machte - ohne viel zu sagen - immer den Eindruck, daß man das Vorgefallene vor ihm gar nicht rechtfertigen könnte jedenfalls nicht nach seinen Maßstäben, den Maßstäben eines kleinen Teils einer lang untergegangenen Gesellschaft. »Das ist der Preis, den sie für ihre Unabhängigkeit bezahlen. Milcon kann nur die brauchen, die ins System passen.« Ein verbotener Gedanke bewirkte ein Stirnrunzeln bei Otley. »Möglich, daß diese Gruppe einst für ein großes Raumfahrtabenteuer vorgesehen war. Ansonsten ergibt der Vertrag, der ihnen besondere Rechte zusichert, keinen Sinn.« Tabiner stieß ein leises Lachen aus. »Jetzt versuchen Sie wieder, sich zu rechtfertigen. Sagen Sie - wie bringen Sie die Menschen dazu, mitzumachen? Wie wollen Sie sie zu einer Wartezeit von zwölf Jahren und zu einer ebensolangen Fahrt in die Biosphäre bringen? «Das kann ich Ihnen nicht sagen.« »Dann sagen Sie mir, warum Sie nicht Ihre eigenen Leute von der Erde dazu bringen?« Jede Spur von Freundlichkeit war aus Tabiners Stimme verschwunden. »Warum benutzen Sie diese . . . wie heißen die denn . . .« »Insulaner!« Otley wurde unerwartet heftig. »Wir nehmen auch Bewohner von Erde und Mars, aber die sind nicht so geeignet für Pionierleistungen in neuen Welten. Wir brauchen solche, die sich allein durchschlagen . . . und eine Lebensbasis für andere schaffen.« Tabiner sah hinaus auf die vorübergleitende Szene im Raumfenster, vielleicht in der Hoffnung, einen ersten Blick auf den Mond tun zu können. Aber der Mond wurde noch immer von der Masse der Biosphäre verdeckt. Was er von den Inselbewohnern da gehört hatte, gefiel ihm - ihm gefiel jeder, der sich auf einem Planeten, den er nur als blanken Fels kannte, Insulaner nannte. Wenn ihre Vorfahren auf dem Mond überlebt hatten, konnten sie es sicher auch auf dem dritten oder vierten Planeten von Tau Ceti schaffen. Ärgerlich dabei war nur, daß die Erde genau wußte, wo sich diese Planeten befanden, obwohl sie fast zwölf Lichtjahre weit weg waren. Es war nur eine Sache der Berechnung, sie zentimetergenau zu fixieren und jemanden hinzuschicken. »Es wird für die Insulaner nicht so ganz einfach werden. Otley war erstaunt. »Warum?« »Die erste Aufgabe auf einem neuen Planeten besteht darin, die menschliche Immunität gegen dort beheimatete Krankheitskeime festzustellen.« Er starrte sein beunruhigtes Gegenüber an, dessen gealtertes Gesicht Spuren der Zeit zeigte. »Je fruchtbarer eine Welt, desto größer die Gefahr. Jene Insulaner, die als erste landen, werden eingehen wie die Fliegen. Sie erkaufen damit die Immunität für die folgenden - besonders auf Tau
Ceti Drei.« Er machte eine Pause. »Wenn ich Insulaner wäre, würde ich für Tau Ceti Vier optieren, der dank eurer, mit Raumsonden dorthin eingeflogenen Keimbehältern, ein organisches Leben hat.« Mit unmerklicher Lenkung des Gesprächs hatte Tabiner das ganze Vorhaben als unanständig und unehrlich dargestellt. Und was ärger war er hatte recht. Es war typisch für die Planungsvorhaben, die wie Monstren aus dem Labyrinth Polcons emporwuchsen. Er war wütend. »Ich muß mit Hart sprechen.« Tabiner faßte nach seinem Arm. »Das würde ich nicht tun. Wenn er die Wahrheit kennt, wird er es nicht zulassen, daß Sie sich da einmischen. Das ist doch klar.« Er hoffte, mit dieser Bemerkung die Intelligenz des Commanders nicht in Zweifel gezogen zu haben, aber das hätte auch einem Idioten klar sein müssen. Der Commander schüttelte den Arm ab. »Glauben Sie, ich ließe es zu, daß die Mondatmosphäre zerstört wird - sei sie nun zufällig entstanden oder nicht -, nur, um die Insulaner als Versuchskaninchen auf einem Planeten zu opfern, den sie niemals in Besitz nehmen könnten?« Tabiner machte ein ernstes Gesicht. »Das ist es! Auf diese Weise möchte Hart die Leute dazu bringen, auf die Biosphäre zu kommen.« Otley zögerte. Der Gedanke, er könnte eine weitere Niederlage erleiden, wirkte wie ein Funken, der seinen Zorn zum Ausbruch brachte. »Ich nehme an, daß die Insulaner ihre Chancen dennoch wahrnehmen werden.« Tabiner beachtete ihn nicht weiter. Er war in den Anblick des hellen Fensters vertieft. Wie lange, versuchte er sich auszurechnen, würde es dauern, bis die Mondatmosphäre vollkommen ins All entwichen sein würde? Wenn sie sich infolge der geringen Anziehungskraft loslöste und durch keinen dauernden Umwandlungsprozeß von festem Gestein in Gas mehr ersetzt wurde? Irgendwo im Hintergrund seines Denkens schlummerte eine Lösungsformel, aber das spielte keine Rolle mehr, weil die Luft ohnehin zuerst vergiftet und dann mit einem gewaltigen Knall auseinandergerissen werden würde. Und die Insulaner würden sich in das Unabänderliche fügen müssen. Und keiner von Polcon würde die Katastrophe auf sich nehmen müssen. Tabiner durchschaute jetzt ihre Methoden. Es war offensichtlich, daß sie bereits einen Plan zur Tarnung ausgeheckt hatten und nun Sündenböcke für das Unternehmen gesucht wurden. Wie immer man nach Schuld oder Unschuld fragen wollte - sie hatten ja einen anderen für sich arbeiten lassen. Das war das Prinzip, nach dem die Organisation vorging. Otley hatte von Vernichtung gesprochen. Das ergab einen Sinn. Der Griffen war in der Festung. Irgendein Unauffälliger von Milcon hatte ihn dorthin geschafft. Man wollte wissen, was Polcon vorhatte. Vielleicht war das eine der Kriegslisten, für die sie berühmt waren: auf den Busch klopfen, um herauszubekommen, woher der Wind weht. Dann konnte Hart Gegenmaßnahmen treffen. Aber Hart brauchte auch Menschen für die Biosphäre - Pionierteams für die neuen Welten, die dazu bestimmt waren, Immunität gegen unbekannte Krankheiten und Gefahren zu erkaufen«. Die Insulaner waren es nun, die geopfert werden sollten, damit Harts irdische Gefolgsleute von Polcon später - wenn das Ärgste vorbei war - landen konnten. Die Festung bildete nun das Kontrollzentrum für eine Anzahl lebenswichtiger Systeme - und dazu gehörte auch die atmosphärische Steuerung des halben Planeten. Ein sorgfältig gehütetes Geheimnis - das wichtigste Geheimnis. Mit einem einzigen, raschen Handstreich konnte man den Griffen entfernen und die Luft an der Oberfläche vergiften. Und dazu brauchte man einen Schuldigen. Nur, um Milcon zu überzeugen, daß Polcon selbst damit nichts zu tun hatte. Tabiner wußte, daß er wenig dagegen tun konnte ... im Moment. Trotzdem bewunderte er das Raffinement des Planes. So wie man dem Griffen eine menschliche Natur zugeschrieben hatte, die er nie besaß. Es war jedoch einfacher, die Menschen zu überreden, für eine Person zu arbeiten - oder gar zu sterben - als
für eine intelligente Maschine. Hugo gehörte zu diesen Märtyrern. Vielleicht würde es den Insulanern glücken, irgendwie den Spieß umzukehren. Wenn ja, dann würde er einen Weg finden, ihnen zu helfen - denn auch er war nur einer, dessen man sich bediente! Sein erster Flug war ein ähnlicher Glücksfall gewesen, wie das neue Leben auf dem Mond - und vor allem sehr gefährlich. Und jetzt sollte er einen zweiten Flug unternehmen, in einem auf Grund der Berechnungen des Griffen entworfenen Anzug und ebensolchem Schiff. Davon hing der spätere Flug der Biosphäre ab. Das Raumfenster zeigte keine Sterne mehr, sondern ein eigenes, inneres Bild einer jüngeren Erde - Kindheitserinnerungen an eine kleine Farm in Vermont, mit einem Pfad, der zu einem verwilderten Obstgarten führte. Der mechanische Teil seines Bewußtseins nahm eine Berichtigung vor: Die Erde, die er sich vorstellte, war nicht jünger, sie war nur unerfahrener. Im All hatte er erfahren müssen, daß alle Ereignisse ein bloßes Ein- und Ausatmen waren und daß man nicht unterscheiden konnte, welches Ereignis einem anderen vorausging. Das Licht war es, das alles meldete und erlebte . . . gleichzeitig. Er summte eine uralte Weise, um es sich selbst zu beweisen, bis eine Aufwallung von Kummer ihm das Lied in der Kehle erstickte. VI Das Gras stand dicht, war aber unecht, eine haftende Hülle, die aussah, als könne man sie vom blanken Fels abziehen. Aus horizontalen Rissen hoch oben in den Felsen drang Licht und fiel auf die grünen Hänge. Die Beleuchtung wetteiferte mit dem unausgesetzten Zucken eines blauen Blitzes an der Wolkenbasis. Boldre ließ sich von einer kleinen Gruppe der Insulaner den Hang hinauftragen. Das Mädchen ging neben ihm, ohne dem mürrischen Schatten Beys Beachtung zu schenken, der dem Entgegenkommen und dem lebhaften Interesse des Fremden auswich, als hätte er vor ihnen etwas zu verbergen. Weiter im Norden ging der Rumpf des Bergmassivs in die Wolken über, trat aber in dem Licht der Blitze immer wieder deutlich zutage. Boldre unterhielt sich mit einem der Männer im Flüsterton. Die Antwort war kurz und unhörbar. Jan beugte sich angestrengt vor, um etwas zu verstehen, aber sie ahnte, was er gesagt hatte. Er wollte etwas über das herabfallende Licht erfahren, das sie vom Wasser aus gesehen hatte. Die Antwort war daher klar. Milcon war da. Einen Augenblick lang fürchtete sie das Zusammentreffen mit Milcons Vertreter. Ebensolche Angst jagte ihr Boldres Unverblümtheit und die vorzeitige Ankunft des Flugkörpers ein. Wie leicht konnte er sie durch eine harmlose Bemerkung unabsichtlich verraten . . . falls ihr Besucher nicht von Polcon eingeschleust war. Die Irrungen und Wirrungen der Intrige würden sie vielleicht doch noch überrunden. Sie betraten einen schmalen Durchgang im Fels. Er führte in eine geräumige Kammer. Am Eingang sah sie eine Vertiefung im Boden. Wahrscheinlich hatte man darin einst die Türen einer Luftschleuse versenkt. Solche Schleusen waren einst, als der Mond noch keine Luft hatte, lebenswichtig. Damals mußten sogar die Insulaner ständig unterirdisch leben. Die ungestüme Atmosphäre erodierte die an der Oberfläche gelegenen Bauwerke. Sie erodierten viel zu rasch, und nur die Städte Milcons, die unter ihren Kuppeln gesichert waren, konnten überleben. Auch jetzt schliefen die Insulaner noch unterirdisch. Aber die Türen und die Sauerstoffvorräte waren nicht mehr vorhanden. Jan wurde von einem Schuldgefühl überwältigt. Sie fühlte sich noch elender, als sie in die Gesichter von Boldres Freunden sah. Sie würde mithelfen, sie zu betrügen, und Boldre würde man die Schuld daran geben. Wenn sie ihnen nur hätte erklären können, daß es um ihretwillen und der Erde willen geschah. Verbittert
mußte sie sich jedoch eingestehen, daß beides nicht stimmte. Der Betrug geschah nur um der Erde willen. Die Insulaner waren bloße Unterpfänder. Falls es überhaupt eine Entschuldigung gab, dann die, daß die Erde selbst ums Überleben kämpfte. Der Mann aus der Festung stand an der entgegengesetzten Wand der Kammer. Er war groß und gut gebaut. Die helle Uniform und der Glashelm ließen ihn irgendwie unmenschlich erscheinen. Der Helm war nicht unbedingt notwendig, außer gegen die seltsamen zufälligen Veränderungen in der Atmosphäre, der Neuankömmlinge von der Erde oft zum Opfer fielen, aber er trug ihn wie ein Dienst-Symbol - oder vielleicht zur Einschüchterung. Die Insulaner waren nicht weiter beeindruckt. Obwohl nach irdischen Maßstäben groß gewachsen, hatten sie den Nachteil, schwächere Muskeln zu besitzen - bis auf Boldre und sein spezielles Erbe -, aber sie wußten mit der geringen Anziehungskraft umzugehen. Aus diesem Grund belächelten sie ihren Besucher. Sie wußten, daß sie ihm in einem Kampf gewachsen waren. Und außerdem würden sie nur zur Selbstverteidigung kämpfen. Boldres Miene war anzumerken, daß ihm sein Knöchel Kummer machte. Dabei wollte er aufrecht stehen und dem Soldaten auf gleicher Ebene begegnen. Jan lächelte ihm zu. »Wie war's mit Krücken?« Er nickte. »Die brauchen wir oft.« Innerhalb kürzester Zeit hatte er Krücken gefunden. Boldre löste sich aus den starken Armen, die ihn hielten. Das Gesicht des Soldaten war ernst und unbeweglich. Boldre betrachtete ihn mit amüsiertem Interesse, wie ein Fuchs den Jagdhund, ein Fuchs, der ein Dutzend Fluchtwege kennt und dem sein Instinkt meldet, wenn die Bedrohung ernst wird. Jan sah ihn von einer neuen Seite, so wie er wirklich war. Plötzlich verspürte sie erregende Vorfreude. Die Geschichten, die sie über die Insulaner gehört hatte, schienen ihr jetzt durchaus glaubwürdig. In ihr war neue Hoffnung. Es war eine Hoffnung, die sie dringend brauchte, und doch war diese Hoffnung noch zu ungewohnt. Sie brachte ihr Verwirrung. Auf der Erde hatte die Abkehr von der Gewalt die Menschen in die Knechtschaft geführt. Aber in dieser rauhen Ecke des Solaren Reiches gab es eine Art von Gewalt, die Freiheit bedeuten konnte. In den Augen der Insulaner. Aber so einfach war es nicht, weil es nicht eine Gewalt war, wie sie einer Revolution innewohnt. Vielleicht war es eine andere Alternative. Auf der Erde hatte man die Wahl zwischen wohlgeordneter Disziplin oder Anarchie, und sie war nie sicher gewesen, was dabei das wahre Übel war. Wenn überhaupt, dann war wahrscheinlich beides schlecht. Jetzt spürte sie, daß die Insulaner eine dritte Möglichkeit hatten. Vielleicht hatten sie die Wirklichkeit besonders im Griff. Sie bemühte sich um eine Definition, aber für eine Beschreibung fehlten ihr die Worte. Vielleicht hatte es mit dem wahren Zweck des Überlebens zu tun. Boldre fragte: »Möchten Sie mit mir sprechen?« Jan glaubte, sie wäre gemeint, und fuhr schuldbewußt zusammen. Boldre aber hatte zu dem Soldaten gesprochen, der Haltung annahm. Die Frage hatte ihn belebt, als hätte man ihn mit einem Steckkontakt verbunden. Er übergab Boldre ein kleines Paket. Boldre wog es leicht in seiner Hand. Er starrte den Boten mit hellen Augen an. »Jede Wette, daß es wieder um Umweltverschmutzung geht.« Er blinzelte Jan zu und erschreckte sie damit halb zu Tode. Der Mann war reglos. Er stand kerzengerade, als hätte er einen Stock verschluckt. Jan hatte die Wahrheit über den Soldaten längst geahnt. Seine einzigen Reflexe waren das leise Klicken der Absätze und das Anheben des eckigen Kinns. Sie hatte das Gefühl, die Absätze würden kastagnettengleich zu klicken beginnen, wenn Boldre ihn zu sehr auf den Arm nahm, aber dieses Bild war sofort verschwunden. Der Soldat war darüber hinaus zu weit mehr fähig. Zu ihrer
Erleichterung trat Boldre in eine Ecke und riß das Paket auf. Er entnahm ihm einen kleinen Recorder. Das Licht aus der kleinen Öffnung bildete einen unruhigen Fleck auf seiner Wange, während er die Botschaft las. Schließlich entnahm er der Hülle eine Karte und reichte sie ihr. Die Karte war eine Blanko-Vollmacht. »Eine habe ich schon«, flüsterte er. »Aber anders als diese.« Sie deutete auf den unauffälligen Aufdruck, der seinen zwei Assistenten gestattete, mit ihm gemeinsam die Festung zu betreten. Sie hoffte, er werde den zweiten Grund für die Ausgabe dieser Karte nicht durchschauen. Damit Polcon die Nummer kannte und sofort wußte, wann sie benutzt wurde. Seine Miene enthüllte seinen Verdacht mit belustigter Resignation. »Sieht aus, als hätte jemand das zweite Gesicht.« Sie mußte eingestehen: »Es war arrangiert.« »Das ist die von Hart versprochene Hilfe«, murmelte er. Jan sagte nichts darauf. Zu Boldres Verwunderung meldete sich der Soldat schließlich zu Wort. Seine Stimme klang merkwürdig. Es war ein metallisches Krächzen und war bar jeglichen Gefühls. »Ich soll Sie befehlsgemäß direkt in die Festung bringen.« Boldre lachte ihn aus. »Wenn Sie das tun, werden wir in die Luft geblasen.« Er setzte sich zwischen seine Krücken auf einen Vorsprung der Steinmauer. »Wir können in einer oder zwei Stunden gehen. Die sind jetzt mit der Ozonfabrikation beschäftigt. « Er wies mit dem Daumen auf die unsichtbaren Wolken, wo die Blitze Fangen spielten. Obwohl Jan wußte, daß es unmöglich war, hoffte sie halb, der Soldat würde lachen, aber das leere Gesicht blieb ernst. Falls das mechanische Hirn begriff, wie elektrische Entladung Ozon hervorbringen konnte, das seinerseits die Oberfläche vor Strahlung schützte, hielt er es offenbar für keine Sache, die auf dem Mond belacht werden durfte. Statt dessen vermutete sie, daß bereits ein Signal vom Soldaten zur Basis und umgekehrt gegeben worden war, als Boldre sprach, ein unhörbares und geheimes Signal. Aber Boldre spielte sein Spiel weiter. »Jan«, fragte er und starrte dabei den Soldaten nachdenklich an. »Wie macht man solche Tricks auf dem Mars? Wie macht man das auf Entfernung - auf Planeten, die zu anderen Sternen gehören?« Sie hielt den Atem an, aber der Soldat reagierte nicht. Boldre meinte wahrscheinlich die Schaffung der Atmosphäre. Er wollte sie und den Soldaten auf die Probe stellen und hoffte auf eine Reaktion, die einen der beiden verraten würde. Das las sie aus seiner Miene ab. Es stimmte auch, daß er nicht so unschuldig war, wie er tat. Er hätte eigentlich von den Riesenraumschiffen nichts wissen dürfen, die man ins All schickte, damit sie andere Planeten vorbereiteten. Es waren 5 unbemannte Schiffe, die ihre Aufgaben automatisch ausführten. Boldre kannte zwar nicht alle Einzelheiten, hatte sich aber das Wichtigste zusammengereimt. Das hatte ihr Hart gesagt. Sie dachte an die Einzelheiten, ehe sie ihm Antwort gab. Tabiner hatte seine erste lange Reise vor fast tausend Jahren begonnen. Sein Schiff hatte unausgesetzt Informationen zur Erde gefunkt, tausend Jahre lang, bis zu einem Punkt, als die Nachrichten langsamer als sein Schiff ankamen. Die ferne Besatzung meldete neuentdeckte Planeten, die sich an die warmen Kittel eines fernen Sternes klammerten. Dann kam Tabiner allein zurück, aber einige Planeten waren bereits in Aufruhr und Veränderung begriffen, oder auch in Wiedergeburt. Manche übersprangen Millionen Jahre der Evolution, weil aus noch ungeordneten Massen von Methan, Ammoniak und Wasserdampf Luft gemacht wurde. Obgleich das Werk noch unvollendet war, so waren zwei Planeten doch offensichtlich bereit. Das keimtragende Schiff, das Tau Ceti Drei umkreiste, hatte eine Erfolgsmeldung gebracht. Tau Ceti Drei war überhaupt das größte Wunder. Der Planet war der Erde so ähnlich, daß es Wunder und Rätsel zugleich war. Seine Umweltbedingungen mußten nur geringfügig verändert werden. »Na?« half Boldre sachte nach. Sie
seufzte. »Sie wissen bereits genug.« Leise fragte er sie. »Wird Hart sich an den Handel halten?« »Welchen Handel?« Plötzlich war sie voll Anspannung und Angst. »Er versprach uns einen Anteil an seinen neuen Welten.« Boldre wies mit einem Kopfnicken auf die in zwanglosen Gruppen in der Felskammer stehenden Männer. »Für die ... wenn sie es wollen.« Jan war erstaunt. Boldre sagte eben, daß sie freiwillig gehen würden, und Hart verhielt sich so, als müßte man sie zum Gehen zwingen und als wäre seine feingesponnene Intrige pure Notwendigkeit. Plötzlich erschien ihr der ganze Plan als blanker Unsinn. Doch dann fiel ihr ein, daß zum Schluß die Welten Polcons irdischen Helfern gehören würden. Ihr war ebenso klar, daß Hart eine andere Alternative als den Zwang gar nicht in Betracht gezogen hatte. Jedenfalls wollte er nicht, daß ihnen eine andere Wahl blieb . . . kein anderer Ort, an den sie zurückkehren konnten. Also war der Plan für ihn noch immer lebenswichtig. In seinen Augen würde er das immer sein. Hart konnte die völlig andere Denkweise der Insulaner nicht verstehen oder tolerieren. Sie war aus tausendjähriger Trennung erwachsen. Boldre starrte sie an. »Ich fragte mich schon, wie ich mich in Ihnen so täuschen konnte.« Jan sah ihn mißtrauisch an. »Sie sind genau die richtige Person, aber sie arbeiten für Polcon. Vielleicht sind Sie wie Hugo.« Er studierte sie eingehend. »Ich hätte wissen müssen, daß Sie von Hart kommen. Es hätte mir von allem Anfang an klar sein müssen. Wir sind uns im Krater Moore nicht zufällig begegnet. Sie haben mich erwartet. Nicht Delph und die anderen, sondern Sie.« Sein Blick hielt sie beharrlich fest. »Ich akzeptiere Delphs Gründe für die Vernichtung der Festung, aber Sie verstehe ich nicht.« Jan bemühte sich, ihre Verzweiflung zu verbergen. Er konnte ja nicht wissen, daß die Zerstörung der Festung dem Leben im Freien ein Ende setzen würde. Gleichzeitig spürte sie, daß seine Intuition wie wild arbeitete und er der Wahrheit bereits sehr nahe gekommen war. Sie hätte ihm gern alles enthüllt, aber ihre Logik hielt sie davon ab. Die Wahrheit würde ihm nichts nützen. Wenn sie versagte, würde Delph in seiner brutalen Unbekümmertheit einen Weg finden, die Sache erfolgreich zu erledigen - mit schnelleren Ergebnissen. »Wir mußten uns erst vergewissern, daß Sie Ihre Rolle spielten, daß Sie Ihre Aufgabe erfüllten. Polcon brauchte den Griffen.« Sie sprach ganz leise, als würden dann ihre Worte unverdächtiger. »Wir gestatten Delph der Zerstörung der Festung als Tarnaktion.« Sie dachte daran, daß Hart gesagt hatte, daß alles viel besser aussehen würde, wenn man Boldre als den Saboteur identifizierte. Und das würde nur der Fall sein, wenn Boldre davon nichts wußte. »Sie kommen also von Polcon. Aber Delph nicht?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann es hier jetzt nicht erklären.« Ihr Blick wanderte zu dem Soldaten. Sie nahm ihn als Vorwand, obwohl sie wußte, daß der Soldat auch von Polcon gesteuert wurde. Sie zitterte, ihre Hände waren eiskalt. Zum ersten Mal hätte sie am liebsten alles hingeworfen. Aber Hart hatte auf seine abwegige Art recht. Die Insulaner würden in der Biosphäre nur Platz finden, wenn Milcon einverstanden war, wenn man sie überzeugen konnte, daß alles ein Zufall war - auch die dringende Notwendigkeit, die Mondoberfläche plötzlich verlassen zu müssen. Milcon würde das akzeptieren. So wie Milcon Verständnis dafür haben würde, daß man die Insulaner als Versuchskaninchen benutzte. Jan kam das alles merkwürdig vor. Beide Gruppen wollten bis zu diesem Punkt dasselbe. Sie hätten sich in völliger Übereinstimmung befunden, aber Hart hatte trotzdem zu einem Betrug gegriffen. Der Unterschied lag natürlich im endgültigen Ziel Polcons. Dieses endgültigen Zieles wegen würden sich die Insulaner unterwerfen müssen. Hart brauchte sie als Voraustruppe, weil die andere Alternative die Roboter Milcons waren. Das wiederum bedeutete, daß Milcon wie immer die Kontrolle ausüben würde und nicht die oberste Machtinstanz wäre. Sie
fragte sich, ob Hart nicht noch ganz andere Ziele hatte. Der Konflikt mit Milcon war vielleicht nur ein Ränkespiel, dessen Hintergründe sie nie erfahren würde. Dann dachte sie an die Erde und deren viele Nöte und glaubte, wenigstens einen der Gründe erkennen zu können. Eine Sirene heulte. Es war ein feierlicher lauter Ton, der ihre Gedanken verdrängte. Sie sah, daß Boldre eine Handbewegung vollführte, die so schwungvoll war wie seine Lebensart. Er rief ihr zu: »Wir müssen laufen.« Sie sah sich verwirrt um. »Was passiert jetzt?« Menschen begannen zu laufen und verteilten sich in Dutzende von Gängen in den Felswänden. Die Höhle war jetzt fast leer. Unter ihren Füßen bebte der Fels. »Runter in die Schutzräume!« Boldre schrie ihr diese Worte zu. Ein schreckliches lautes Donnergrollen übertönte seine Stimme, während er loshumpelte und sie vor sich herschob. Der Donner klang wie das wütende Gebrüll eines aus dem Käfig entsprungenen Ungeheuers, das der Welt das Herz herausriß. Es verfolgte sie tief ins Innere des Berges. Sie stolperte und wurde unsanft gegen die Wand gedrückt. »Was ist das?« Er schob sie einfach weiter. »Eine Art atmosphärischer Explosion.« Sie wollte stehenbleiben und mehr darüber erfahren, aber er riß sie mit, als würde er seinerseits von einer unsichtbaren Macht getrieben. Undeutlich hörte sie ihn den Wind und das markerschütternde Getöse übertönen. »Das Kontrollsystem. Es gerät manchmal aus den Fugen. Damit werden die nicht fertig. Dann passiert so was.« In dieser sonderbaren und turbulenten Höllenszenerie erkannte sie eine Prophezeiung wieder. Falls Polcon seinen Plan gegen Boldre und seine Welt durchführte, würde es von Übel sein. Es war eine Art Blasphemie. Von irgendwoher wußte sie, daß nicht die fruchtbaren Welten Leben schufen, sondern das Leben die fruchtbaren Welten. Das Leben selbst schuf Luft und Erdreich durch den Lebensprozeß. Und jemand würde für diese Blasphemie büßen müssen. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, als ihre tiefsten Instinkte ihr eigenes Schicksal vorausahnten. Aber Boldre hob sie samt ihrer Angst hoch und brachte sie in vorübergehende Sicherheit. VII Begleitet vom letzten Donnergrollen stiegen sie im Flug aufwärts, in einen strahlenden Jade-Himmel, der diese >Neue Erde< im Bogen umspannte. Sie stiegen sehr rasch, als wollten sie sich schleunigst vom Mond entfernen. Die zwischen den Landmassen eingeschlossenen Meere warfen, gleich schimmernden Schildern, das grüne Licht zurück. Das Flugzeug war eine Silberblase. Sie konnten nach allen Richtungen sehen und schienen am Busen des Himmels zu hängen. Ihre Sicht nach vorn wurde nur von dem aufrechten Rücken des Piloten behindert. In einer halben Stunde würden sie auf die Doerful Mountains und die Festung niedergehen. Die Silberkuppel von Milcon City tauchte auf, und sie sahen bereits die Dächer der Häuser und die vielen Morgen künstlicher Parklandschaft, welche die Stadt umgaben. Aus ihrer Höhe wurde das Charakteristische dieser einst öden Welt deutlich sichtbar: eine noch naturbelassene Welt, die nur zögernd die neue, fremde und ihr aufgezwungene Lebensform annahm. Ja - wenn es glücken sollte, auf allen Welten in den Weiten des Alls derartiges zu schaffen, dann war das Unternehmen hier sinnvoll, dachte Boldre. Aber er sagte sich sogleich, ob das so einfach wäre. Vielleicht gab es andere Alternativen: reiche Planeten, die nur auf Ausbeutung warteten, wo es zwar Risiken anderer Art, dafür aber auch süßeren Lohn gab. Er gab seine Überlegungen auf und ließ sich von der Aussicht gefangennehmen. Das Mädchen bemerkte sein Staunen, suchte es zu begreifen und sich an Boldres Stelle
zu versetzen. Nur Bey blieb gleichgültig. Jan hatte dem Drang widerstanden, Boldre die Wahrheit zu sagen. Sie wußte, daß es auf lange Sicht nichts nützen würde. Zugleich aber bedrückte sie der Gedanke an ihr betrügerisches Verhalten, fühlte sie, daß dieser Verrat schon an eine Art Blasphemie heranreichte. Und dieses Gefühl hatte sie seither nicht mehr verlassen. Instinktiv fühlte sie und glaubte es zu wissen, daß sie dafür ihren Preis würde bezahlen müssen. Ihre Erregung ließ alles um sie herum furchterweckend erscheinen, sie fühlte sich ohnmächtig auf den Weg eines übermächtigen Schicksals gestoßen. Schließlich ging das Fluggerät tiefer. Über die Rundung der kleinen Welt ragten hohe Berge empor. Sie wurden vom Erdenschein beleuchtet und standen da wie Schildwachen. Der Flugkörper umkreiste das Gebirge und hielt dann auf ein enges Tal zu. Es lag halb im Schatten, dennoch war die riesige Festung erkennbar, die ihr Vorhandensein durch hohe Mauern und weite, flache Dächer ankündigte. Ein Ende des Hauptgebäudes wurde von einem häßlichen Turm gekrönt. In genauen Zeitabständen blitzte ein Licht auf und wies ihnen die Richtung. Der Flieger zog einige Kreise und landete dann. Sie befanden sich nun in einem von Mauern umgebenen quadratischen Hof. Der Soldat stieg aus und wartete geduldig, bis sie nachkamen. Sein Gesicht blieb unbewegt wie ein Wachsbild unter einem Glassturz, ohne Willkommen oder Ablehnung - absolut gleichgültig. »Wohin?« fragte Boldre. Der Soldat führte sie zu den in der Mauer befindlichen Türen. Sie glitten auf und schlössen sich leise hinter ihnen. Sie standen nun in einem Licht, das jegliche Farbe verschluckte - weißes Licht, das alle Farben hätte erstrahlen lassen sollen. Die Kälte des Lichtes ließ sie frösteln - so wie Eis imstande ist, den Gedanken an Wärme einzufrieren. Und dennoch war es hier drinnen warm. Die Wärme entströmte leise surrenden Ventilatoren, ein indifferenter, geruchloser Lufthauch. Auch das einzige Geräusch der Ventilatoren wirkte unbestimmbar, unwirklich und umgab sie, aus den glatten Wänden des Raumes dringend, allgegenwärtig. In der Mitte des Raumes stand eine Bank. Der Soldat streckte den Arm aus und bedeutete ihnen, sich zu setzen. Sie taten es nicht, sondern umstanden in spontanem, gegenseitigen Schweigen die Bank. Sie war ein Teil des Raumes, ebenso stoisch indifferent, wie alles übrige - ein zur Benutzung bestimmter Gegenstand, dem es gleichgültig war, ob sie saßen oder standen. Sogar der Soldat wirkte weniger natürlich, als er sich jetzt steifbeinig entfernte. Boldre sah ihm nach, und seine Intuition riet ihm, auf der Hut zu sein. Schließlich verschwand der Soldat in einer der vielen Türen, die einander vollkommen glichen. Jan sah Boldre unsicher an. Er hing gebückt zwischen seinen Krücken, das kraftvolle Gesicht starr wie eine eiserne Maske. Nur Bey schien unbeschwert. Er reagierte sehr vernünftig auf seine Umgebung. Seine flinken Augen tasteten die leere Sauberkeit ab, und man konnte ihm fast ansehen, wie er insgeheim Pläne schmiedete. Er hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt und nickte beifällig. Er lächelte Jan zu und wollte etwas sagen, sie brachte ihn aber mit einem Stirnrunzeln zum Schweigen. Boldre sagte leise: »Die hören jedes Wort, das hier gesprochen wird. Die hören sogar das Gras wachsen.« Er lächelte nachsichtig und zog ein Gesicht, als hätte er jemandem listig ein Bein gestellt. Sie warteten schweigend, bis ihr Begleiter wiederkam. Ihm folgte ein Mann im weißen Kittel, dessen Gesicht ebenfalls eine unveränderliche Miene zur Schau trug. Seine Augen jedoch verrieten einen reichen Vorrat an Charakterzügen von unaussprechlicher Gemeinheit. Er war ein Typ, den man lieber hier in Isolation hielt, als ihn anderen zuzumuten. »Boldre?« Boldre fragte sich, ob er den Mann nicht schon bei einem seiner Besuche gesehen hatte. Grimmig dachte er daran, was man sich von Zuchtwahl auf der Erde erzählte. Wenn er diesem Kerl da noch nicht begegnet war, dann zumindest seinem Zwillingsbruder. Der Mann musterte sie alle. Sein Blick blieb
an Boldres Krücken hängen. »Können Sie denn arbeiten?« Boldre nickte. »Wenn Sie mir Mikroskop und Proben geben.« Er lächelte. »Alles andere ist Instinkt.« Das stimmte. Der Wert seiner Arbeit lag nicht in der Feststellung der Vergiftungsart, sondern im Erkennen der Quelle. Er brauchte nur zu bestätigen, was sie in technischer Hinsicht bereits wußten. Der Rest war höhere Eingebung, die allerdings auf gesundem Verstand beruhte. Und Milcon mangelte es oft daran. »Und die anderen da?« Boldre ließ sich mit dem Mann nicht auf Argumente oder Ausreden ein. Wenn er jetzt sagte, er brauche Hilfe, würde das zu weiteren Fragen führen über Umfang, Art und Wert der Hilfe. Statt dessen hielt er ihm die unbeschränkte Vollmacht unter die Nase. Sie wirkte wie ein Zauber und war völlig ausreichend. Die bösartigen Augen zeigten jetzt Respekt. Der Weißbekittelte führte sie in ein Labor am Ende eines schier endlosen Ganges. Er öffnete die Tür und bat sie hinein. »Ich lasse Sie allein.« Boldre war einverstanden, ohne viel Begeisterung zu verraten. »Sie müssen uns einsperren, bis wir fertig sind. Auf mein Zeichen hin können Sie uns wieder hinauslassen.« Der Mann verstand. Das war keine ungewöhnliche Vorgangsweise. Man hielt sämtliche Luftschleusen in so einem Fall geschlossen, bis die Verseuchung erkannt und die Quelle festgestellt worden war. Wo immer Menschen in einem umschlossenen System lebten, folgte man dieser Vorgangsweise - sei es im All oder unter einer geschlossenen Kuppel auf der Planetenoberfläche. Boldre genoß den Gedanken, daß das auf dem Mond nicht mehr ganz notwendig war. Diesmal war es auch aus anderen Gründen nicht mehr nötig, da es sich um eine Finte von Polcon handelte. Dann überlegte er grimmig, daß diese Finte vielleicht in ernste Wirklichkeit umschlagen könnte. Die Verseuchung könnte tatsächlich um sich greifen. Und wenn sie zur Tatsache geworden wäre, dann hätte er gern gewußt, wie man diese letzte Schandtat in Szene gesetzt und wo man die Seuchenerreger versteckt hatte, die die Alarmanlagen auslöst. Er setzte sich unbeholfen vor das Mikroskop. Es war ein Elektronenmikroskop, das die Probe vergrößerte. Das vergrößerte Bild wurde sodann auf einen fluoreszierenden Schirm projiziert und von einer Kamera aufgezeichnet. Auf einem Block neben dem Instrument lagen säuberlich geschriebene Anmerkungen parat, die er durchlas. Erstaunt mußte er entdecken, daß sie bereits jene Antwort gaben, die er erst geben sollte. Es war zu einfach. Sie hatten ihre Zeit glatt verschwendet, als sie nach ihnen schickten. Er machte sich nicht die Mühe, die ganze Prozedur abzuspulen - nicht einmal, um den Schein zu wahren. Jetzt wunderte es ihn nicht mehr, warum Milcon nach ihm geschickt hatte, obwohl die Antworten bereits vorlagen. Denn in einem von Menschen nur spärlich bewohnten Bau wie hier konnten nicht solche Mengen organischer Abfallprodukte in den tiefer gelegenen Korridoren vorhanden sein. Boldre tippte sofort auf die richtige Quelle. Milcon hatte die auf der Hand liegenden Tatsachen nicht so rasch zu erkennen vermocht. Sie waren so überorganisiert, daß sie sich die Tatsache eines fachmännisch durchgeführten Sabotageaktes nicht vorstellen, geschweige denn akzeptieren konnten. Polcon hatte das Abwassersystem von Milcon City mit den Festungsgewölben verbunden. Sicher war jemand in der Stadt sehr verwundert darüber, daß das Recycling-System zusammengebrochen war, ohne zu merken, daß der sich steigernde Verlust wertvollen Materials mit dem Verschmutzungsgrad in Milcons eigener Bastei Hand in Hand ging. Der Plan war einfach perfekt und würde sogar einen Computer verwirren. Wäre Hugo noch am Leben gewesen, so hätte Boldre sofort auf den Übeltäter tippen können. Aber Hugo war tot, und so mußte Polcon mindestens über ein weiteres Genie des Humors verfügen. Er betätigte die Taste der Sprechanlage. »Die Quelle liegt außerhalb der Festung«, meldete er. »Ich muß die Sache von hier drinnen aus
weiterverfolgen.« »Sie melden sich, sobald Sie sie gefunden haben.« Die Stimme klang blechern, hart und spröde durch den Lautsprecher. Sie ließ jede Spur von Humor vermissen. »Wenn ich die Erregerquelle finde, melde ich mich.« Boldre schaltete aus und sah Bey mit dem Anflug eines Lächelns an. »Sie treffen Ihre Vorbereitungen, ich die meinen.« Bey machte ein erstauntes Gesicht. Boldre wandte sich an das Mädchen: »Ich gehe jetzt in den Computerraum. Wenn Sie wollen, können Sie mitkommen. Ich weiß nicht, wie wir es anstellen sollen, um diese Maschine herauszubekommen.« Der gegen Milcon gerichtete Streich schien ihm jetzt gar nicht mehr so komisch. Trotz seiner unbeschränkten Vollmacht würde man ihm Fragen stellen. Bey sagte: »Ich komme auch mit.« Das Mädchen pflichtete ihm bei. »Ja, er muß mit. Wenn Sie erst den Griffen gefunden haben, übernimmt er alles weitere.« Boldre untersuchte den Raum, ob er nicht etwas übersehen hätte. Er überdachte, ob man sie wohl belauschen könnte, obwohl sie von der Außenwelt hermetisch abgeschlossen waren. Da fiel ihm die Sprechanlage ein, und er hielt das für unwahrscheinlich. Wenn man schon sämtliche Zugänge absperrte, würde man es der Vollständigkeit halber vollständig tun. »Wie wird Delph hereinkommen?« Diesmal schüttelte sie den Kopf. »Die werden alle draußen bleiben. Bey wird drinnen alles erledigen. Wenn wir flüchten müssen, werden Delph und seine Leute uns Deckung geben.« Boldre staunte. Er hatte eigentlich etwas Ausgeklügelteres erwartet. Hart hatte ihm Hilfe versprochen - das hier sah aber gar nicht nach richtiger Hilfe aus. Er hatte geglaubt, Delph würde es sich nicht nehmen lassen, in der Festung zu ihnen zu stoßen, und nun mußte er sehen, daß er sich irrte. Es wurde ihm klar, daß es ohne Tote nicht abgehen würde. »Wir brauchen keine Deckung. Ich werde schon einen Weg hinaus finden, und niemandem wird ein Haar gekrümmt werden.« Jan sah zu Boden und schwieg. Boldre versuchte es von neuem. »Sie sagten, die Erde wäre friedlich. Und doch ist Delph bereit zu kämpfen.« Er machte eine Pause - sie gab wieder keine Antwort. »Delph kann kämpfen und Bey kann zerstören - wie kann es dann auf der Erde sehr friedlich zugehen? Sind Sie sicher, daß da niemand zurückschlägt?« Das Mädchen starrte ihn an. Bey lachte verhalten. »Erzähl ihm nur von den vielen Unfällen - von den Bränden und Explosionen, die sich ständig ereignen!« »Vorsätzliche, gewaltsame Unfälle?« Boldre dämmerte es jetzt. »So also arbeitet Polcon - mit Verschleierungen?« Jan hob den Blick. »Welchen anderen Weg gäbe es denn sonst?« Boldre sah sie eine ganze Weile an - und dann wandte sich sein Interesse den Türen zu, die ins Innere der Festung führten. Jemand hatte die automatischen Sperren geöffnet, um sie durchzulassen, weil er angekündigt hatte, er müsse der Spur der Verseuchung von innen her folgen. Er stieß sie auf und betrat einen Gang, der sich endlos vor ihnen zu erstrecken schien. Der Computerraum war einer von vier Räumen im Herzen des Baues. Boldre blieb am Eingang stehen und lauschte nach dem leisen Summen von drinnen. Ein sonderbarer Friede, der hier herrschte. Bey schlurfte an seine Seite und sah in den Raum. Schimmernde Glasund Metallpulte starrten ihnen entgegen. »Hier nicht.« Jan dirigierte ihn zielsicher zu einer anderen Tür, und er humpelte ihr nach. Boldre sah jetzt einen größeren, komplexeren Raum. An den Wänden ganze Reihen von Instrumenten. Er hätte gern gewußt, wozu sie dienten und woher Jan darüber Bescheid wußte. Mit einem Achselzucken machte er sich an seine Aufgabe. Er fand den gesuchten Apparat sofort. Langsam schritt er auf ihn zu und nahm ihn in Augenschein. Seitlich war die Aufschrift: >Griffen< angebracht. Genau, wie Polcons Recorder es ihm vorangezeigt hatte. Jetzt galt es, den Apparat herauszuschaffen. Er hob ihn hoch und fand, daß er erstaunlich leicht war. Ein einziges Kabel hing daran und führte zu einer großen
Konsole. Energisch riß er es durch und übergab den Griffen Jan. Bey stand indessen im Nebenraum vor dem dort befindlichen Hauptkontrollgerät. Er erweckte den Eindruck, als hätte er seine Aufgabe zufriedenstellend gelöst. Obwohl mit dem Rücken zu ihnen gewendet, sah man es ihm an, wie befriedigt er über sein Werk war. Boldre holte zum Schlag mit den Krücken aus. Jan fiel ihm in den Arm, er stieß sie weg, denn er hatte ein kleines Schild erspäht, bei dessen Aufschrift es ihn wie ein Donnerschlag durchfuhr. Die wenigen Worte bezogen sich auf etwas, das einen immerwährenden Alptraum für die Insulaner darstellte: Gefahr! Umweltkontrollzentrum! Er sprang auf Bey los. Die Krücken krachten zu Boden. Aber noch bevor er ihn zu fassen bekam, wußte er, daß er zu spät gekommen war. VIII Bey lag ausgestreckt auf dem Boden wie ein erwürgtes Huhn, doch Boldre konnte in dem Raum kein sichtbares Zeichen von Sabotage entdecken. Die Apparate gaben noch immer ihr geheimes Gemurmel von sich, und die zahlreichen Lämpchen brannten hell wie gewohnt. Boldre wußte aber, daß er darauf nicht zählen durfte. Auch durfte er nicht mit einem Wunder in letzter Minute rechnen. Er hatte das Gefühl, daß Bey ein hervorragender Fachmann war. Er faßte nach dem Türstock. Seine Schmerzen brachten ihn aus dem Gleichgewicht. Jan stand da, als hätten die Ereignisse sie glatt überrumpelt. Als sie sich wieder gefaßt hatte, sah sie Boldre anklagend an. Sie klagte abwechselnd sich und ihn an. Sie stellte Boldre die alberne Frage: »Was haben Sie Bey angetan?« Diese Frage setzte ihn einigermaßen in Erstaunen. Sie wußte doch, was Bey getan hatte, und doch fragte sie ihn, warum er Bey niedergeschlagen hatte. Seine Stimme war ein wütendes Zischen: »Seien Sie versichert, daß es ein relativ gewaltloser Vorgang war. Ich hätte ihn töten können.« Sein Gesicht war grau vor Schmerzen, kleine Schweißperlen glänzten auf der Stirn. Plötzlich erkannte Jan ihre eigene Dummheit, doch ihre Reaktion stellte sie abermals bloß. »Überlaß ihn Milcon. Wir haben nicht mehr viel Zeit.« Sie wußte schon, als sie es aussprach, daß sie nach seinen Begriffen eine auf ihre Ausbildung und ihre irdische Herkunft zurückzuführende falsche Antwort gegeben hatte. Sie hob die Krücken auf und schob sie ihm unter die Arme. »Nein.« Das sagte er leise, aber mit Bestimmtheit. Das Mädchen zupfte an seiner Tunika und drängte ihn zum Weitergehen. »Sie müssen zur Sprechanlage und veranlassen, daß die Tür geöffnet wird. Wenn wir noch länger warten, werden die merken, daß etwas schiefgelaufen ist.« »Wie lange?« fragte er. Sie verstand diese Frage. Hart hatte gesagt, daß sie etwa eine Stunde Zeit hätten, ehe der Zusammenbruch der atmosphärischen Steuerung ein Entkommen unmöglich machte. »Nicht viel mehr als eine Stunde.« Boldre sah hinunter auf den bewußtlosen Bey. »Und er nimmt die Schuld auf sich.« Er beobachtete ihren Gesichtsausdruck. »Auch auf Delph und die anderen fällt Schuld. Deswegen hat man sie beauftragt, unseren Rückzug zu decken.« Sie hob den Apparat vom Boden auf, wo sie ihn abgestellt hatte, als sie die Krücken aufhob. »Wir haben für Fragen keine Zeit.» Ihre Miene war eine Mischung aus Selbstverachtung und neuer Angst. »Hart hat es so eingerichtet, daß wir abgeholt werden. « »Uns?« fragte er. »Ja, uns. Ich versichere es Ihnen.« Boldre schüttelte den Kopf. »Nur Sie. So hat er es arrangiert. Sie sind Polcon und dürfen nicht als Beteiligte erscheinen. Alle anderen sind zu Sündenböcken bestimmt - ich eingeschlossen.« Seine Stimme schwoll mit der Steigerung seiner kochenden Wut an. »Sie haben vielleicht in bezug auf mich Ihre Meinung geändert, aber auch ich
habe meine Meinung über Bey geändert. Wenn wir gehen, kommt er mit.« Das Mädchen wich langsam vor ihm zurück. »Wenn Milcon die Wahrheit entdeckt, sind die Insulaner geliefert. Sie werden hier auf der Oberfläche bleiben und sterben müssen, wenn die Luft vergiftet wird und in gewaltigen Explosionen entweicht.« »Das macht keinen Unterschied mehr«, sagte er gelassen. »Wir lassen keine Geiseln zurück. Wir lassen auch keine Sündenböcke zurück, die unsere Schuld auf sich nehmen.« »Wir können Bey nicht wegbringen.« »Sie schaffen das schon.« Jan starrte ihn an. »Ich soll ihn tragen? Er ist zu schwer.« Sie suchte nach Argumenten, um seine Meinung zu ändern, doch das alles klang auch in ihren Ohren nur sehr lahm. »Hier nicht. Er hat hier nur ein Sechstel seines Erdengewichtes und wiegt so viel wie ein Kind.« Er versuchte sie zu überzeugen. »Sie glauben doch nicht, Hart hätte die Absicht gehabt, ihn lebendig fangen zu lassen? Auch Delph nicht und die anderen armen Teufel, die ihr eingespannt habt.« Er riß ihr den Apparat aus den Armen. Sie leistete keinen Widerstand, auch als die Anstrengung ihn fast umwarf. Statt dessen blieb sie stocksteif stehen und wartete, daß er etwas sagte, das sie in Aktivität versetzen würde. »Jede Wette, daß zunächst unser Freund, der Soldat, hereinkommen wird. Er wird Bey töten. Dann wird er uns hinausführen und in seinem Fluggerät fortbringen. Nach der Landung wird er mich ebenfalls töten. In der Zwischenzeit haben Delph und die anderen draußen einen sinnlosen Kampf geliefert und werden ausnahmslos von den Festungstruppen hingemetzelt.« Boldre wußte, daß dies die Wahrheit war. Es war wie ein schwarzer Faden, dem er folgen konnte, wie ein Hund einer starken Witterung. »Sie alle sind als Unzufriedene bekannt, die niemandem Gefolgschaft leisten wollen - ideale Sündenböcke also.« »Aber Hart wird die Insulaner auf die Biosphäre schaffen«, rief sie laut in ihrem Bemühen, ihm alles verständlich zu machen. Boldre verstand völlig. Hart hatte sich mit ihm einen zweifachen Scherz erlaubt. Alles paßte haargenau. Er, Boldre, hatte für die Insulaner einen Anteil an den neuen Welten erbeten, aber Hart hatte bereits entschieden, die Insulaner für seine eigenen Vorhaben mitzunehmen. Aus diesem Grunde hatte er die Grundlage des Überlebens auf dem Mond zerstört. »Es ist einerlei. Wenn ich erst den Griffen übergeben habe, werde ich getötet oder . . .« Er lächelte insgeheim. »Ja, das ist es. Hart wird so tun, als hätte man mich an Milcon ausgeliefert.« »Er sagte, Sie würden am Leben bleiben«, schrie Jan ihm zu. »Nein. Sie würden es nicht wagen, mich lebend zu übergeben.« Jan bückte sich hastig und packte Bey. Er war ganz leicht, wie Boldre gesagt hatte. Sie wankte den Korridor entlang, den Bewußtlosen halb schleifend und halb tragend. Es war sehr mühsam, aber sie schaffte es. Der sorgsam erlernte Mond-Schritt, den sie in vielstündigem Training im Simulator auf der Erde erlernt hatte, war jetzt vergessen. Bei jedem Schritt stieß sie mit der Schulter gegen die glatte Wand und wurde wie ein Gummiball zur Gegenwand geschleudert. Hinter ihr kam Boldre unter Schmerzen dahergehumpelt. Das Labor war leer. Boldre quälte sich an den Schalter der Sprechanlage und drückte ihn. »Es gibt hier Ärger. Lassen Sie uns raus.« Keine Antwort. Statt dessen klickte der Apparat unter seinem Arm. Er klickte und summte, und die Türen gingen auf. Ohne zu fragen, wie oder warum, beeilten sie sich, hinaus in den nächsten Gang zu gelangen. Auch die letzte Tür stand offen und war als stecknadeldünner kalter Lichtfaden in einiger Entfernung erkennbar. Im Eingang tauchte der Schatten des Soldaten auf. Er wartete. Als er den Mann in Jans Armen sah, legte er die Waffe an. Das Mädchen ließ den Körper nicht los und sah dem Soldaten herausfordernd entgegen. Er trat vor und stieß sie beiseite. Die Waffe blitzte einmal auf, und in Beys Stirn wurde eine rote
Öffnung sichtbar. Er zuckte zusammen, als versuchte er in der letzten Lebenssekunde zu entfliehen. Dann blieb er auf dem Boden wie eine schlaffe Puppe liegen. Boldre tat einen Schritt über ihn und schwang eine Krücke gegen den glasbehelmten Kopf des Soldaten. Der Helm splitterte und der Soldat fiel neben Bey zu Boden. Da lagen sie nebeneinander wie Spielzeuge nach einem Spiel, das längst zu Ende und schon vergessen war. Aber der Soldat besaß keinen Kopf. Boldre starrte den zerbrochenen Helm und den Anzug an - er war innen leer, bis auf die unbedingt nötige mechanische Konstruktion, die dem säuberlich unter dem Kragen verpackten Schaltsystem gehorcht hatte. Er deutete auf den Soldaten. Jans Augen waren groß vor Entsetzen. »Wie viele von dieser Sorte gibt es?« Seine drängende Frage klang ihr in den Ohren, doch sie wußte keine Antwort darauf. Ihr fielen nur die vielen Tausende unerbittlicher Gesichter ein, die ihr Leben auf der Erde gelenkt hatten. »Sie müssen sich nun wohl fragen: Was ist Milcon eigentlich?« Sie seufzte und wandte sich ab. »Und was Polcon?« Jetzt war es an ihm, sie zu drängen. Der Haupteingang, eine Doppeltür, öffnete sich wie die anderen. Da waren keine weißbekittelten Arbeiter, die auf sie zustürzten und sie zurückhielten. Das Fluggerät wartete, eine hellerleuchtete Kugel im Innenhof. Boldre trieb Jan zur Eile an, und sie stiegen ein. Er legte die Krücken beiseite und untersuchte verzweifelt den Steuermechanismus. Er hatte von diesem System keine Ahnung. Die Skalen waren wie helle leere Augen, die ihm nichts sagten, nur die Steuersäule war ihm überhaupt bekannt. »Wie?« fragte er das Mädchen. Automatengleich griff sie nach vorne. Ihre Finger glitten unsicher über Skalen und Schalter. Die Maschine hob sich vibrierend. Um die Kugel herum schwankte alles wie wahnsinnig, aber sie flogen immer höher, bis Wolken sie umschlossen und festhielten. Schon bedeutend ruhiger faßte sie nach der Steuersäule, und sie brausten durch die Wolken wie eine Hand, die den dunklen Nebel der Magie aufrührt. Rote Lichter blinkten stetig an den kleinen Konsolen, dunkle Schatten wirbelten aus den Wolken hoch und verloren sich wieder. Boldre übernahm das Steuer. Er entspannte sich wie damals im Boot, als er spürte, wie die Maschine reagierte. Langsam ging er mit der Höhe herunter und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie unter die Wolkendecke abfielen. Unter sich sah er den grauen Sand einer langgestreckten Halbinsel und die hohen Wände des Kraters Hippalus. Wenn es ihm glückte, da unten zu landen, konnte er zufrieden sein. Rein zufällig fand er den Hebel zur Herabsetzung der Flughöhe. Das Fluggerät hatte schräg geneigt aufgesetzt. Boldre war durch die offene Tür gefallen, das Mädchen ihm nach. Die Griffenapparatur lag zu seinen Füßen, ein schimmerndes Kästchen, das aussah wie das Endprodukt eines obskuren Fließbandes, das lauter schimmernde Kästchen zu keinem ersichtlichen Zweck produzierte. Jan öffnete die Augen. »Geschafft«, sagte sie. Das klang ganz sachlich. »Sie sind meines Wissens das erste menschliche Wesen, das ein solches Ding geflogen und auch gelandet hat.« Er nahm ihr Kompliment als das, was es war. »Damit wollen Sie wohl sagen, daß die Menschen auf der Erde vollkommen auf Roboter und Maschinen angewiesen sind.« Er wollte jetzt alles bereinigen, als wäre es die letzte Schuld in ihrer gegenseitigen Rechnung. »Sie müssen von Anfang an gewußt haben, was dieser Soldat war.« Sie wandte sich ab. »Vielleicht ja, vielleicht auch nicht. Nichts auf der Erde ist so klar wie das. Wir nehmen sie als normal hin.« Sie nahm eine Faust voll Erde. »Übrigens - wie viele Ihres Volkes haben sich darüber Fragen gestellt? Ebensowenig, wie sich unsere Vorfahren über ihre Umwelt Fragen stellten.« Er sagte mit Überzeugung: »Wir taten es alle. Wenn man an der Oberfläche lebt, weiß man, daß die Luft explodieren oder entweichen kann. Man weiß, daß das vorhandene karge Leben schon morgen absterben kann.«
Sie war traurig und unerwartet nachdenklich. »Dann wurden die Insulaner also um etwas gebracht. Ich selbst bin wie alle übrigen meiner Art. Wir haben nie die richtigen Fragen gestellt.« »Aber Hart hat die richtigen Fragen gestellt«, sagte er. Sie war erschrocken. »Was meinen Sie damit?« »Die Insulaner leiden an einer speziellen Angst, die auf jene Zeit zurückgeht, als sie noch unter luftdichten Kuppeln lebten. Vielleicht gibt es auf der Erde nichts, das diesem Alptraum gleicht. Es ist der Grund dafür, daß ich Hart um einen Anteil an seinem Projekt bat. Vor allem anderen fürchten wir den Verlust der Atemluft.« Jan ließ den trockenen Sand durch die Finger rinnen. Sie blies die Reste weg und die Teilchen fielen langsam zu Boden, als würden sie von einem Gegenwind daran gehindert. »Ich kann es mir vorstellen. Dasselbe Gefühl haben wir auf der Erde, wenn wieder eine Grünfläche oder ein Baum geopfert wird. Wir beobachten täglich, wie ein Stück Erde stirbt.« Sie riß sich zusammen. »Wenn hier die dünne Atmosphäre verlorengeht, ist es ähnlich.« Boldre lächelte düster. »Eine Sache der Schwerkraft.« »Genug Schwerkraft«, sagte sie leise, »um mich des schwersten Verbrechens schuldig zu machen, dessentwegen Sie mich in ein paar Stunden hassen werden.« Der krampfhafte Scherz mißlang bei ihrer verzweifelten Stimmung. Es hatte keinen Sinn, wenn sie ihre Gründe erklärte. Aufrichtigkeit genügte jetzt nicht mehr. Auch ihr leiser Versuch nicht, ihn wie ein menschliches Wesen zum Lachen zu bringen. Sie hatte kein Talent zum Spaßmachen. Trotzdem war es ein wenig spaßhaft. Verdrossen sah er zu den Wolken hoch. »Wir müssen uns ein Ziel suchen.« Hilflos hob sie die Hände. »Aber wo? Hart wird nicht wissen, wo wir sind.« Verbittert fuhr sie fort. »Schon immer wußte ich, daß es sich an mir rächen würde - was immer mit Polcon geschieht.« Es war ganz still. Boldre wußte, es war die Ruhe vor dem Sturm. Auch sie war nur ein Sündenbock. »Wieviel Zeit bleibt uns?« Jan konnte ihrer Antwort selbst kaum glauben, nun da es ernst geworden war. »Hart sagte, es würde etwas über eine Stunde dauern.« Boldre brachte seine instinktive Furcht zur Räson. »Dann können wir also nichts mehr tun.« Das sagte er voll Resignation, zermarterte sich aber trotzdem den Kopf nach einer Lösung. Sein Blick streifte hilflos die kleine Griffen genannte Box. »Wenn der Computer etwas taugt, dann müßte er jetzt einen Ausweg für uns parat haben«, sagte er. Aber der Griffen hockte selbstzufrieden da und lieferte keine Antwort. Jan erstarrte. Dann sank sie wieder in sich zusammen. »Er hat keinen elektrischen Anschluß und kann nicht selbständig arbeiten.« Wütend starrte sie das Ding an. »Und das soll die sogenannte Wunderbox sein, die über tausend Jahre lang alle großen Probleme löste?« Boldre fragte nicht, warum oder wie. Das schien sinnlos. Als wäre er urplötzlich zum Leben erwacht, fing der Apparat zu summen an. Ein sachter Fußabdruck wurde im Sand sichtbar. Weitere Abdrücke traten in gerader Linie zutage, immer im Schrittabstand. Jan sprang auf. »Der Griffen!« rief sie. Boldre konnte es nicht fassen! Es war unmöglich. Kein rational funktionierender Verstand konnte das fassen. Sie wollte ihm erklären, was es mit der Simulation auf sich hatte, und wie ein weit entferntes Signal die Einheit in Betrieb gesetzt hatte, aber sie sparte sich jedes Wort. Er kämpfte sich neben dem Mädchen auf die Beine. Die Abdrücke entstanden sehr schnell und verschwanden schließlich in der Dunkelheit, als wären sämtliche Teufel der Hölle hinter ihnen her. Das Mädchen packte die kleine Box und machte einen Schritt. Der Griffen tickte zufrieden in ihren Armen. Die Spuren im Sand phosphoreszierten. Sie fanden sogar auf der nackten Felswand Halt, die den darunterliegenden Krater umgab. Sie schienen hinauf in die schwarze Nacht zu führen, wie die Fußspuren eines Gespenstes, das ins Nichts zurücksteigt. Schließlich machten sie halt. Jan blieb am unteren Teil des Hanges stehen. Sie war nicht sicher, ob das nicht alles doch eine Täuschung war. Sie starrte hinauf in die
Nacht und ließ sich schließlich überzeugen. Jan stellte den Apparat auf den Boden und setzte sich daneben. »Wir müssen hier warten.« Das war eher ein Glaubensgrundsatz als reine Vernunft. »Die Leute können hier landen. Hier gibt es harten Boden.« Boldre lehnte sich gegen einen Fels. Er beobachtete den Griffen. Aus den Tiefen seines Bewußtseins tauchte eine Zeile aus einem uralten Buch auf. Jemand hatte gesagt, die Maschine besäße keinen Geist. Das schien seltsam dogmatisch und lächerlich, da doch diese Maschine hier geheimnisvoll Körper und Geist vereinte. Wer das Gegenteil behauptet hatte, wußte nicht, daß eine Maschine Geist simulieren und den Menschen zum Narren halten konnte. Eine gelbe Flammenzunge hing hoch oben wie eine helle Träne am samtigen Himmel. Hunderte andere blitzten auf, bis die Luft vom Schlag einer tonlosen Harfe erbebte. Der Boden begann zu zittern. Jan nickte Boldre zu. »Sie kommen.« Das sagte sie, als wäre das völlig normal und erwartungsgemäß. Was da kommen sollte, sagte sie nicht. Sie wies auf eine kleine Flamme, die sich ganz in ihrer Nähe von der anderen löste. Boldre sah, was sie meinte. Die Dunkelheit verschwand mit einem Schlag. Das Geräusch wurde intensiver. Ein leises Murmeln, das zu einem unterdrückten Getöse anschwoll. Es wiederholte sich im Osten und Westen und kam auf sie zugerollt, als bildeten sie den Brennpunkt eines großen Konfliktes Boldre ließ sich zu Boden gleiten. Zum ersten Mal sah er die großen Raketen aus der Nähe. Hugo hatte oft voll Ehrfurcht von ihnen gesprochen. Ihre Erhabenheit war überwältigend und man konnte sich nicht vorstellen, daß es Kräfte gab, die sie während ihres Abstieges aufrecht halten konnten. Das Getöse bedrängte sie. Das Geräusch verschlang wie ein wildes Tier den Raum zwischen ihnen, und ihre Körper gerieten hilflos ins Zittern. »Es sind die Raketen. Der Antrieb macht den Lärm«, rief Jan. Aber Boldre schüttelte den Kopf. Das waren nicht nur die Raketen. Nein, vielmehr. Jan wurde in das Erdenlicht getaucht, als die Wolken entzweirissen. Das Licht war blaugrün und kalt wie der Tod. »Runter!« rief er. Als hätte sie vorausgesehen, was da gekommen war, um sie zu holen, lächelte sie. Es war ein Lächeln des Entsetzens. Langsam drehte sie sich um und breitete die Arme aus. Der Wind hob sie hoch und trieb sie immer weiter in die Höhe. Boldre raffte sich auf, wurde gegen den Felsen gedrückt und blieb mit gespreizten Beinen stehen. Zuerst tanzte die eine Krücke und dann die andere wie ein Zündholz davon und krachte hoch oben gegen den Fels. Mit wachsendem Entsetzen merkte er, daß dieselbe Kraft, die ihn an die Felswand nagelte, das Mädchen in sein Zentrum riß. Einen Augenblick lang streckte sie Arme und Beine aus, aber gleich darauf schlug sie wild um sich und wurde um die eigene Achse gedreht. Schließlich wurde sie zurück zu Boden geschleudert. Der Wind heulte über den Kratergipfel und verlor sich in der verborgenen Kratersenke. Dort brüllte er auf, wütend ob der plötzlichen Beschränkung. Boldre vergaß die Schmerzen im Knöchel und kämpfte sich zu dem Mädchen durch. Jeder Schritt war ein glühendheißer Stich, der seine Lebensgeister durchschnitt, aber er hatte die Entfernung in Sekundenschnelle überwunden. Sie lag reglos da. Zuerst konnte er nichts Besonderes an ihr entdecken. Sie hatte die Beine angezogen und die Arme friedlich ausgebreitet. Die Augen standen offen und starrten ihn an. Er kniete nieder und berührte ihr Gesicht. Aus dem Auge lief eine Träne, als hätte sie keinerlei Anteil daran. Boldre sah in ihr leeres Gesicht und fand kein Zeichen des Erkennens. Und doch wußte er, daß sie noch am Leben war. Gefangene eines Körpers, der sich nicht mehr bewegen konnte, hinter Augen, die sehen konnten. Ihr Rückgrat war gebrochen. Erneuter Donner erfüllte die Luft. Auf beide fiel nun Licht, über ihnen schwebte eine Lichtkugel. »Lassen Sie sie liegen. Bringen Sie den Apparat mit.« Er hörte nicht auf den Befehl und strich sachte über ihren Körper. Er
suchte eine sichtbare Verletzung. Es gab keine. Sie wirkte jetzt vollkommener als in ihren unbeholfenen lebendigen Bewegungen, wenn sie sich der geringen Schwerkraft anzupassen suchte. Boldre sah über seine Schulter. Zwei behelmte Soldaten näherten sich ihm. Sie waren eben aus der hohlen Kugel des Fluggerätes gesprungen und erwarteten ihn. »Ihr müßt sie auch mitnehmen«, zischte er. Sie standen stocksteif da. Boldre schob die Hände unter den Mädchenkörper und hob sie behutsam, so daß sie ihre horizontale Lage nicht veränderte. Er legte sie auf den Rücksitz des Fluggerätes und deutete auf die kleine Box auf dem Boden. »Nehmt das da.« Einer der Soldaten packte den Griffen. Beide kletterten in das Fluggerät. Die Maschine erhob sich und trieb die Kraterwände entlang. Sie umrundeten einen hohen Fels und schlössen sich eng an die hohen schlanken Metallnadeln dahinter an. Ein Lichtviereck winkte ihnen, und sie schwebten hinein. Das Lichtviereck war eine Aufhängevorrichtung, dem Fluggerät genau angepaßt. Hinter ihnen glitt eine Tür zu. Das leise Summen ihres Motors erstarb, und mit gewaltiger Kraft schoß die Rakete mit ihnen gegen den Himmel. Boldre wurde in seinen Sitz so zurückgepreßt, daß er das Gefühl bekam, er sollte darin begraben werden. Sein Gesicht wurde flachgedrückt und verzerrt, bis er spürte, daß sein Mund riß und seine Augen hervorquollen. Dabei sah er die glatten, ungerührten Gesichter seiner Wachen und erlebte zum erstenmal im Leben das Gefühl völliger Unzulänglichkeit. Die langen qualvollen Sekunden wurden zu Minuten. Das Herz schlug wild gegen den Käfig der Rippen, und sein Atem kam in kurzen, krampfartigen Stößen. Dunkle Leere durchdrang sein Bewußtsein. Die Erleichterung kam ganz plötzlich. Die Antriebe ließen nach, und er wurde erlöst. Sein Körper war jetzt eine Feder, die sachte über dem Sitz schwebte. Mit einer Hand hielt er das Mädchen auf den Sitz gedrückt, mit der anderen Hand stützte er sich an der Wand des Fluggerätes ab. Jetzt hatte er Zeit zum Überlegen. Mit den Gedanken kam die Trauer. Er wußte, daß er die bekannte Umgebung und das gewohnte Leben hinter sich gelassen hatte und in eine Existenz überging, die ihm fremd war wie der Tod. Der Schmerz, der diesen Übergang begleitete, war nicht nur die Qual der Beschleunigung, sondern der Schmerz über die Trennung von allem, was ihm lieb war. Irgendwo unter ihm fand ein größeres Leben sein Ende. Eine Wesenheit verlor das Leben aus ihrem schwachen Griff, und ihr langsames Vergehen würde Luft und Wärme mit sich nehmen. Seine Welt würde wieder leer werden. Fast so leer wie sein verzweifeltes Ich. IX Rund und roh geformt - so umkreiste die Biosphäre in einer flachen Umlaufbahn den Mond. Sie maß 25 Meilen im Durchmesser und barg in sich einen riesigen Bienenkorb. Die Oberfläche war durchlöchert, war von grauem und schwarzem Fels gestreift und an manchen Stellen tief mit Staub bedeckt. Auf den ersten Blick sah sie verlassen und trostlos aus. Birnenförmige Flammen entströmten züngelnd, jede einzelne Flamme verschwand in einer der hundert Öffnungen ihrer Flanken. Als wäre ihre Zeit gekommen, begann sie jetzt ihre Umlaufbahn zu verlassen. Stichflammen blitzten auf, die Biosphäre steigerte ihre Geschwindigkeit, um die erste Hälfte einer Achterschleife zu beschreiben, die sie in die Umlaufbahn zur Erde bringen sollte. Angefangen von den gewaltigen Explosionen bis zu der mit Kreide auf ein verstecktes Bullauge gekritzelten witzigen Aufschrift, stellte sie etwas ganz Neues im Universum dar - etwas, das man lieben oder hassen konnte. Sogar der hingekritzelte Witz war außergewöhnlich: »Geklaut aus dem Asteroiden-Gürtel«, hieß es da.
Tatsächlich hatte die Biosphäre als Felsfragment begonnen, das gemeinsam mit einer Million anderer Fragmente die Sonne umkreiste. Fünfzig Jahre hing sie sodann im Orbit auf der blinden Seite des Mondes, während Tausende eine neue Welt innerhalb ihrer Kruste zu schaffen begannen. Diese Kruste war noch immer eine halbe Meile dick und schützte die vielen Schichten der Schöpfung im Inneren. Die Gesteine im Inneren hatte man verändert und umgeformt. Man hatte sie zu den raffiniertesten Formen umgeschmiedet, zu Tausenden neuer Strukturen. Boldre sah nichts davon, bis er auf neuen Krücken aus der Luftschleuse der Rakete hervorkam. Er befand sich in einer freundlichen, hellen Landschaft, die keinen nahen Horizont zu haben schien. Es war ein Traum voller Wärme. Er merkte, wie sein Körper nun größerer Gravitation unterlag. Zum ersten Mal sah er grüne Bäume, wie man sie auf der Erde kannte. Sie waren auf einem sanften Abhang angeordnet, über dem weitflächigen Feld, auf dem die Raketen in ihren Gerüsten standen groß und gleichgültig, aber irgendwie Teil des sanften grünen Landes. Er dachte an die Gegend um Milcon City und fragte sich, ob es sich hier um eine ähnliche Täuschung handelte. Wenn ja, dann war sie hervorragend. Instinktiv hielt er alles für echt. Es war ein künstlich geschaffener Ort, aber trotzdem wirklich. Auf diese Weise fing man die Wirklichkeit ein und erhielt sie. Um ihn herum war eine Erde im Kleinen. Der Himmel war blau, mit weißen Wolken durchsetzt. Eine Sonne stand milde eine Stunde vor ihrem Höhepunkt, und die frische Brise kam direkt aus dem Süden. Ein Felsbrocken im All - das war also die Biosphäre. Boldre stand zwischen den zwei aufrechten und teilnahmslosen Soldaten. Er dachte an den Soldaten in der Festung und an das, was aus ihm geworden war, nachdem er ihm den Helm zerschmettert hatte. Er war nicht aus Fleisch und Blut gewesen. Diese hier auch nicht. Es waren komplizierte, unpersönliche Maschinen. Das spürte Boldre, wie ein wildes Tier die Falle wittert, bevor es sich darin fängt. Er zuckte die Achseln. Er sah wenig Unterschied zwischen Menschen, die wie Maschinen waren und Maschinen, die wie Menschen waren., Diese waren nicht mal richtige Soldaten. Sie hatten die Uniform, aber nicht den Geist von Soldaten angenommen, so wie ihre menschlichen Vorgänger, die Geheimpolizei und ihre Brut, die Nächte des Schreckens durch das Tragen einer Uniform >würdevoll< gestalteten. Dies und noch mehr ging Boldre durch den Kopf. Milcon und Polcon waren ein und dasselbe. Sie waren sich über die Verteilung der Beute uneinig, aber beide stellten dasselbe in verschiedener Verkleidung dar - oder war die Verkleidung gar nicht so verschieden? Er stand da und dachte nach. Soldaten und Politiker, beide durch immense technische Machtmittel korrumpiert, hatten dasselbe unbewußte Ziel erreicht noch mehr Macht. Es war möglich, daß die ganze Erde, mit all ihren verschiedenen Berufen und Tätigkeitsbereichen, von diesem Streben besessen gewesen war - auch die, die es gut meinten. Hier, in der Biosphäre war es aber schön. Etwas, das dies alles schließlich doch überlebt hatte. Er hörte ein leises Geräusch hinter sich und sah ein niedriges Fahrzeug auf die Rakete zurollen. Die Ballonreifen waren übergroß und schwammig. Genau vor der Luftschleuse blieb es stehen, und Männer in weißen Mänteln stürzten herbei. Sie hoben Jan behutsam aus dem Fluggerät und trugen sie heraus. Einer warf Boldre einen neugierigen Blick zu. Boldre stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Die wenigstens waren menschlich. Er machte einen Schritt und stolperte. Sofort waren sie an seiner Seite und stützten ihn. Er wurde zu einem Krankenwagen geführt und auf einer der langen Sitzbänke plaziert. Durch ein kleines Fenster beobachtete er, wie die großen Raketen hinter der ansteigenden Kurve des nahen Horizontes verschwanden. Dann fuhren sie eine schmale Straße unter Bäumen dahin, und er spürte Baumschatten, der das Licht
sprenkelte und ihm eine neue Erfahrung vermittelte. Das Licht war vielleicht nicht wie das der Erde, aber es war warm und tröstlich. Schließlich merkte er den Grund seiner eigenen, unerklärlichen Sehnsucht. Es war eine Art verzweifelter Trauer um etwas, das er nie gekannt hatte. Er wußte jetzt, warum ihm das Fallen des Regens auf dem Mond immer zu langsam erschienen war. Sogar die Reflexe seiner Augen und des Gehirns gehörten in eine andere Welt. Eine Öffnung im Hügel schluckte sie. Das Licht wurde anders. Es war jetzt klinisch hell. Das Fahrzeug hielt an, und er sah knapp vor dem Fenster eine glatte Wand. Sein Magen hob sich, als sie abwärts sanken, bis er eine leichte Veränderung der Schwerkraft merkte. Plötzlich fühlte er sich wieder befreit. Ein Wärter kam durch den Vordereinstieg herein. »Das ist ein großer Plumps abwärts«, erklärte er. »Wohin geht es?« fragte Boldre. »In den Spitalstrakt.« Boldre nickte. Der Mann wollte freundlich sein. »Der Trakt ist näher der Null-Schwerkraft - näher dem Mittelpunkt.« Er lächelte. »Da ist es leichter, obwohl wir auch Trakte auf höheren Stufen haben.« »Können Sie mein Bein wieder in Ordnung bringen?« »Wir können alles in Ordnung bringen.« Und mit einem Blick auf das Mädchen:». . .oder fast alles.«Sein Blick drückte echtes Mitgefühl aus. »Die wird die schwache Anziehungskraft brauchen . . . und viel Glück dazu.« Boldre sah Jan an. Ihr Gesicht war so weiß wie das Laken, das man ihr unter den Nacken gestopft hatte. Es fiel ihm schwer, jetzt Mitleid für sie aufzubringen, da sie nun sicher ihren eigenen Leuten übergeben wurde. Sie hatte ihn und die Insulaner betrogen. Wenn sie dafür einen Preis bezahlt hatte, dann war es nur der Preis, den die Natur abzuverlangen pflegt. Er wandte sich ab. Es lag ihm nicht, zu rechten, wenn es um Tod oder Krankheit ging. So hielt man es beim Stamm der Vertriebenen. Man widmete solchen Dingen einen Augenblick stillen Gedenkens, dann ging das Leben weiter. Vielleicht hatte man es auf der Erde zu arg getrieben. Man hatte gekämpft um Sicherheit Sicherheit der Person und der Macht -, und man hatte sich dabei selbst in Ketten gelegt. Die Zeit zu kaufen, kostete zu viel. Es waren Minuten - vielleicht Stunden vergangen, bis sie wieder anhielten. Boldre konnte es nicht abschätzen. Über sich fühlte er das riesige Gewicht des Felsgesteins, so, als wäre er in den Mittelpunkt einer wirklichen Welt hinuntergesunken. Die Schwerkraft war geringer als auf dem Mond. Man rollte ihn hinaus, einen Gang entlang, in dem warmes Licht schimmerte und in dem es von Menschen wimmelte. Die lange Decke des Ganges glitt über ihn hinweg, und er roch den Geruch scharfer Desinfektionsmittel. Dann war er in einem kleinen Raum und wurde auf ein Bett gehoben. Geschickt streifte ihm der Wärter die Kleider vom Leibe. Über ihm öffneten sich Düsen, und sein Körper wurde durch kühlen Dampf gereinigt und von warmer Luft getrocknet. Allmählich wurde er in Schlaf versenkt. Licht drang durch seine Lider. Er öffnete die Augen und nahm das Licht in sich auf. Eine Stimme sprach ihn an, zurückhaltend und distinguiert. »Mein Name ist John Otley. Ich bin Kommandant der Biosphäre.« Sein Gesicht war nicht mehr jung und trug die Zeichen ständiger Sorgen - als wären es seine Rangabzeichen. Der kahle Kopf glänzte wie ein poliertes Ei. Boldre erkannte das Sorgenvolle an dem Mann und schätzte ihn richtig ein. Er gehörte zu jener Sorte, die sich um alles und jedes Sorgen machte, weil es einfach zu ihrer Natur gehörte. Boldre erkannte, daß es unfair wäre, ihn deswegen gering zu schätzen. Solche Menschen hatten die Empfindlichkeit eines feinen Empfangsgerätes - sie sogen den Kummer gleichsam in sich auf, ob sie wollten oder nicht. Er, Boldre, wußte sich da von ganz anderer, deswegen aber nicht weniger menschlicher Natur. Dabei fühlte er sich glücklich. Otley würde Glück gar nicht erkennen können, auch wenn es ihm über den Weg lief. »Hart möchte Sie sprechen.« Boldre seufzte. »Ich fragte mich schon, wann ich ihn wiedersehen würde.« Er lächelte Otley zu. »Sie verlieren keine Zeit und kommen sofort zur Sache.« Er lächelte, weil Menschen wie Otley ihre Loyalität immer
den Falschen schenkten und ihre Ängste und Nöte mit Leuten zu teilen pflegten, die sich keinen Deut darum scherten. »Jemand soll mir Krücken besorgen.« Otley runzelte die Stirn. »Aber Sie können doch gehen.« Boldre sah ihn mißtrauisch an. Er schwang seine Beine auf den Boden und mußte feststellen, daß die Schwerkraft beträchtlich zugenommen hatte, daß aber sein Knöchel nicht mehr schmerzte. Es stimmte - er konnte gehen. »Ich wußte nicht, daß wir vom Zentrum der Null-Schwerkraft so weit entfernt wären.« Otley nickte. »Wir werden schneller. In wenigen Stunden befinden wir uns in der Umlaufbahn um die Erde. Dann wird die normale Schwerkraft innerhalb der Biosphäre wieder von der Zentrifugalkraft abhängen. Sie und Ihre Leute werden auf der für Sie angepaßten Schwerkraftstufe leben.« Die Redeweise des Commanders war sonderbar altertümlich, sein ganzes Gehabe war merkwürdig gespreizt und geschraubt. Als Boldre zu gehen begann, entdeckte er, daß er noch immer hinkte. Er hatte das Gefühl, er würde das Hinken sein Leben lang nicht loswerden. Selbst moderne Wunder hatten ihre Grenzen, und das normale Einrenken seines Knöchels war sehr vernachlässigt worden. Sie gingen zu dem unvermeidlichen Fahrstuhl, der sie rasch auf eine höhere Stufe brachte. Schließlich hielt er, und Otley ging auf eine Tür am Ende des Ganges zu, vor der zwei behelmte Posten unbewegt Wache hielten. Ihre Gesichter waren aus dem gleichen Guß wie bei allen anderen Soldaten, als hätte es ihrem Schöpfer sowohl an Phantasie als auch an Skrupeln gemangelt. Die Tür glitt auf. Hart thronte hinter einem schweren Schreibtisch, der ihn zu einem Zwerg degradierte und viel kleiner machte, als er war. Die verengten Augen schienen mitten auf Boldres Brust einen Bezugspunkt zu suchen. In seinem Blick lauerte etwas Verstohlenes. Boldre grinste reumütig. »Mein Wunsch hat sich erfüllt. . . aber anders, als ich es wollte.« Er starrte den kahl werdenden Kopf und das schüttere, gelbe, vergeblich ums Überleben kämpfende Haar ungeniert an. »In Fleisch und Blut sehen Sie längst nicht so eindrucksvoll aus.« Hart ging auf den Köder nicht ein. Falls sein Zorn gereizt war, ließ er sich nichts anmerken. Statt dessen zeigte er Ansätze eines schwachen Lächelns. »Boldre, ich habe es nicht nötig, jemanden zu beeindrucken. Alle wissen, wer ich bin. Das genügt.« Boldre warf einen Blick auf Otley. »Er hat das Kommando auf der Biosphäre, aber Sie sind der Boß.« Sein Blick hatte Otley unvorbereitet getroffen. Der Mann trat verlegen auf der Stelle, als wäre ein ungeschriebenes Gesetz der Höflichkeit bereits verletzt worden. Er schien beunruhigt und hüstelte diskret. Hart wies auf einen Sessel. »Setzen Sie sich.« Die kleinen Augen blieben an Otley haften und entließen ihn. Der Commander entfernte sich zögernd, wahrscheinlich von dem Gefühl geplagt, eine frühere Aufforderung zum Gehen übersehen und sich deswegen den kalten Blick eingehandelt zu haben. Boldre setzte sich. Im Raum war es sehr warm. Es war, als brauchte Hart diese Wärme, weil er selbst eiskalt war. Er sog Wärme auf, nur um seine innere Kälte aufrechterhalten zu können. Boldre fragte sich, ob es irgendwo in der Biosphäre einen ähnlichen Raum gab, der zur Aufrechterhaltung des Umweltgleichgewichtes diente und wer dessen Kälte um Harts willen erdulden mußte. Harts Stimme war tatsächlich eiskalt. »Boldre, es ist nun alles vorbei. Ihr Volk ist in der Biosphäre auf den entsprechenden Lebensstufen untergebracht. Sie machen uns keine Schwierigkeiten, da ihnen die Gefahr, in der sie schwebten, klar war.« Wieder die Vortäuschung eines Lächelns, ähnlich einer dünnen Eisschicht. »Alle wissen, daß Sie das atmosphärische Steuerungssystem der Festung zerstört haben, und haben unser freundliches Rettungsangebot angenommen.« Boldre wußte, daß dies der Wahrheit entsprach. Alles - bis auf Harts zynische Lüge. Bey hatte die Mondatmosphäre zerstört, aber Hart hatte genügend falsche Beweise produziert, um
ihn, Boldre, zu belasten. Aber entscheidender war wohl die tiefe Angst gewesen, welche die Insulaner verleitet hatte, auf die Biosphäre zu kommen. Er teilte ihre Angst, weil sie angeboren war, ein Erbe von Generationen, die vor allem anderen den Verlust der Atemluft oder die Vergiftung der Luftvorräte gefürchtet hatten. Trotzdem gelang es ihm zu sagen: »Die Insulaner werden an meine Schuld nicht glauben, wenn sie es nicht aus meinem Munde bestätigt hören. Und auch dann werden sie es mir überlassen, mir die Strafe auszusuchen . . . falls eine Strafe überhaupt nötig wäre.« »Nötig?« fragte Hart mit Schärfe. Boldre erwiderte mit einem Achselzucken: »Wir glauben, daß ein schlechtes Gewissen schon Strafe genug ist. Wir glauben auch, daß ein Mensch kein Glück mehr im Leben hat, wenn er eine Schuld auf sich geladen hat.« Er machte eine Pause. »So wie Jan.« »Abergläubischer Unsinn!« Der Kleine schüttelte den Kopf. Er begriff nicht, daß diese Legende das Produkt einer Lebensauffassung war, die auf örtlichen Gegebenheiten beruhte und dieselbe Gültigkeit besaß, wie jeder andere Ehrenkodex. »Und ich nehme nicht an, daß Sie sich schuldig fühlen.« »Ich fühle mich nicht dessen schuldig, was Sie getan haben«, antwortete Boldre. Hart sagte: »Die Schuldfrage ändert nichts an Ihrer Bestrafung. Die steht schon fest. Milcon wird Ihnen den Prozeß machen.« Boldre verkrampfte die Hände. Kein irdisches Gericht würde an dem, was er fühlte, etwas ändern können - daß das nämlich allein eine Sache des für sie geltenden Brauches war - andernfalls würde es weiterhin wahrscheinlich kein Ehrgefühl mehr geben. »Aber ich weiß zu viel«, sagte er. »Wie können Sie mich ausliefern? Wäre da ein Unfall auf dem Transport zur Erde nicht ratsamer - den die anderen mit ansehen können?« Hart war unerwartet erfreut. »Boldre, Sie hätten einen großartigen Politiker abgegeben. Ich wünschte wirklich, das alles wäre nicht nötig.« Er drückte auf einen Knopf auf dem Schreibtisch und stand auf. Sofort wurde ihm seine fehlende Größe bewußt, als er Boldre gegenüberstand, und er setzte sich hastig. »Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als Ihnen >bon voyage< zu wünschen.« Die zwei Posten marschierten auf. Boldre ließ sich abführen. Er hätte Hart seine Verachtung ins Gesicht schreien mögen oder mit einem Lächeln gehen können, das dem kleinen Mann Unruhe bereitet hätte. Er unterließ es jedoch, denn er hatte einen anderen Plan gefaßt. Der leise Druck auf dem Arm überzeugte Boldre davon, daß die Maschinen-Soldaten keinen Widerstand erwarteten. Das machte ihre Arroganz aus. Jahrhunderte hatte man die Erde zum demütigen Hinnehmen getrimmt. Seine erste Begegnung mit einem Soldaten in der Festung hatte ihn etwas gelehrt - wie ein ethischer Grundsatz zum Fallstrick werden konnte, wenn man nicht vorsichtig war. Aber auch er konnte Ethik mißbrauchen. Hart hatte einen Fehler begangen. Er hatte erwartet, Boldre würde sich so benehmen, wie sich vielleicht Jan benehmen würde. Wenn er die Sache genauer überlegt hätte, wäre er vielleicht dahintergekommen, daß ein Insulaner als moralischer Mensch alle ethischen Werte beachten würde, als wären sie blindlings zu befolgende Regeln. Ihm war nicht klargeworden, daß Boldre sich das Urteil unbedingt bei den Insulanern einholen würde und daß darin dessen Überlegenheit bestand. Aus diesem Grunde aber mußte Boldre fliehen. Die Insulaner waren dort untergebracht, wo die Schwerkraft für sie am geeignetsten war. Sie betrug dort ein Sechstel der Erdschwerkraft und lag deshalb um so viel tiefer in der Biosphäre. Er mußte sie finden. Doch die Wachen führten ihn auf die höchste Stufe hinauf. Dort erwartete ihn die für die Erde bestimmte Rakete. Er faßte den Entschluß, sein Vorhaben vom Fahrstuhl aus zu versuchen, sobald die Türen geöffnet wurden, da er noch nicht wußte, wie diese Türen aufgingen. Boldre geriet in Schweiß, als die kugelsicheren
Glastüren des Fahrstuhls aufglitten. Ganz plötzlich ließ er die Arme hochschnellen. Er packte die Helme der beiden von unten und stieß sie gegeneinander. Seine Muskeln platzten fast vor Anstrengung, während die Helme immer wieder gegeneinander krachten. Sie zersplitterten wie Eier - leere Eier. Die Soldaten fielen um, und Boldre betrat den Fahrstuhl. Der Gang war leer, ganz in der Nähe ertönte eine Alarmsirene. Hilflos stand er da und suchte nach der Steuerung des Liftes. Es gab keine. »Eindringling auf Stufe 400!« Klar und deutlich kam die Stimme aus der Sprechanlage. Sie gab das Signal zu emsiger Aktivität auf allen Stufen der Biosphäre, zu aufgeregtem Krabbeln menschlicher Ameisen, hin zu allen neuralgischen und strategischen Punkten. Soldaten und Arbeiter, Maschinenmenschen und menschliche Wesen zerstoben nach einem scheinbar sinn- und planlosen Schema, nahmen schließlich ihre Posten ein und verharrten dort. Tabiner warf einen langen Bogen mit Berechnungen, den er gerade in Händen hielt, hin und öffnete die Tür. Draußen herrschte Stille. Die Stille war ein Teil des Drills. Leise ging er den Gang entlang und ließ den Fahrstuhl kommen. Dieser kam auf einen Impuls hin, den er durch das kleine Gerät an Tabiners Gürtel empfangen hatte. Tabiner betrat den Fahrstuhl. Auf Stufe 400 hielt er an, und die Tür öffnete sich. Er fand die langgestreckte Kurve des Hauptganges leer und schlich, in der Hoffnung auf ein Wunder, das bestenfalls unwahrscheinlich war, weiter. Es wäre ein unmöglicher Zufall, wenn Boldre hier in der Nähe irgendwo steckte. Einen Augenblick lang blieb er an einer Kreuzung, gebildet durch einen querführenden kleinen Korridor, stehen und überlegte. Hier war die Verwaltungsstufe der Biosphäre. Vielleicht hatte man Boldre zu Hart gebracht. Ja, das wäre logisch. Er lief den Seitengang entlang, bis dieser wieder einen anderen Gang kreuzte. Dort bog er rechts ab und hielt auf Harts Räume zu. Bis dorthin war es noch ziemlich weit, und er wußte, daß es ein Wettlauf mit der Zeit sein würde, da auch die Wachen diesen Teil durchsuchen würden. Nur würden sie es mit ihren gewohnt gemessenen Schritten tun - ein weiteres Charakteristikum der Arroganz, mit der sie programmiert waren. Zu spät - mit seinem Glück war es vorbei. Ein kleiner Silberball rotierte am Schnittpunkt des Korridors mit dem kurzen Zugang zu Harts Büro. Tabiner blieb in einiger Entfernung vor dem Silberball stehen. Die Kugel drehte sich anmutig und versperrte ihm den Weg, als hätte sie in sein Bewußtsein geblickt und seine Absicht gelesen. Er wußte zwar, daß er ihr gegenüber immun war. Die Kugel konnte ihm ebensowenig etwas antun, wie sie auch Hart und einem Dutzend anderer Personen von Wichtigkeit nichts anhaben konnte. Aber sie hatte seine Position an die Kontrolle weitergegeben. Man wußte jetzt, wo er war. Er ging langsam näher, und die Kugel zog sich zurück. »Tabiner, verlassen Sie diesen Bereich!« Das war Harts Stimme aus der Sprechanlage. Tabiner überlegte ganz kühl: Boldre war nicht in Harts Büro und befand sich daher wahrscheinlich im Fahrstuhl. Wäre es anders gewesen, so hätte der Ballspion ihn verfolgt. Wenn Boldre im Fahrstuhl war, dann wußte er sicher nicht, wie dieser zu betätigen war. Er löste das kleine Kontrollgerät, das er um die Körpermitte trug, und nahm es in die Hand. Die Kugel zog sich langsam vor ihm zurück und rollte, bis sie sich zwischen ihm und dem Fahrstuhl befand. Tabiner schlich die Wand entlang - und stand plötzlich von Angesicht zu Angesicht Boldre gegenüber. Der große Mann dräute wie ein triumphierender Jäger über den zerschmetterten Robotern. Der Insulaner war nicht genau das, was Tabiner erwartet hatte. Boldre war nicht nur groß, er war auch schwer gebaut -trotz der geringen Schwerkraft auf dem Mond. Sein Körper war kompakt, wie der eines Tigers. Und sein Gesicht zeigte eine Mischung von Humor, Gerissenheit und Kraft. Tabiner lächelte und warf ihm die Kontrollbox zu. Boldre wich nicht aus. Er hätte Verdacht schöpfen und die Box für einen Sprengkörper halten können. Statt
dessen lächelte er bloß und drückte mit einem Nicken seinen Dank aus. Offenbar verließ er sich auf seinen Instinkt. »Wer sind Sie ?« flüsterte der große Mann ganz leise und voller Zutrauen, während er die winzigen Knöpfe an der Box begutachtete. Ebenso leise flüsterte Tabiner seinen Namen. Die Kugel rotierte vor dem Eingang zum Fahrstuhl, gefangen zwischen zwei Männern. Sie war in eine unmögliche Position gezwungen worden. Ihre elektronischen Kreise schrien den Alarm hinaus, gaben Zeichen, die dringend und allumfassend waren und nur für die Zentrale einen Sinn ergaben. Auf der einen Seite stand ein Mann, den sie nicht vernichten konnte, und auf der anderen Seite ein Mann, den sie nur verfolgen sollte und der dem ersten auf jeden Fall zu nahe stand. Boldre besah die Box in seiner Hand näher und entdeckte jetzt die quadratisch angeordneten Zahlen 1 bis 10. Er nahm an, er brauchte bloß die richtige Zahl zu drücken, um auf den gewünschten >Level< aufoder abzusteigen. Aber noch wußte er nicht, welche Stufe er zu wählen hatte. »Wo sind die Insulaner?« Seine Stimme war kaum hörbar, doch Tabiner verstand ihn. Möglich, daß die Kugel ihren Wortwechsel weiterleitete, aber Boldre mußte die Frage stellen, und Tabiner mußte sie beantworten. Boldre hatte sich den Glauben an seine Landsleute bewahrt. Zumindest hoffte er zuversichtlich, sich rechtfertigen und seinen Anteil an der Katastrophe, welche die Mondatmosphäre vergiftet hatte, aufklären zu können. Hart hatte geglaubt, die Insulaner würden Boldre auf der Stelle lynchen. Hart hatte sich aber geirrt. Denn er kannte zwar ihre Neigung zu Gewaltanwendung, nicht aber ihr Verständnis füreinander. Blitzschnell erwog Tabiner, daß er die von Boldre gewünschte Information ruhig sogar herausschreien könnte - denn Hart würde sich von seiner Meinung über das Verhältnis zwischen Boldre und dessen Leuten keineswegs abbringen lassen. Er würde nie einen Irrtum zugeben. »Stufe 90«, sagte Tabiner also zu Boldre. Boldre drückte unverzüglich die Ziffern. Tabiner blieb mit dem Spionenball zurück. Er lehnte sich an die Wand und wartete auf das Erscheinen Harts. Er wußte, daß dieser kommen würde. Zum ersten Mal war er glücklich. Er war einem Menschen begegnet, der auf Ereignisse Einfluß nehmen, sie ändern konnte. Das war eine mögliche Antwort auf alle ihre Probleme, ein Schlüssel, mit dessen Hilfe der Mensch die richtigen Türen im All öffnen und dennoch menschlich bleiben konnte. Endlich kam der kleine Mann. Seine Miene drückte Mißtrauen und steigende Mißbilligung aus. Sein Auftauchen aus dem kurzen, zu seinem Büro führenden Korridor, wirkte gespenstisch. Tabiner beeilte sich, ihn zu beruhigen. »Sie sagten, es gäbe eine zweite Alternative. Nun, statt eines Unfalls auf der Fahrt zur Erde, werden seine eigenen Leute mit ihm abrechnen. Milcon würde auch dies als einen Unfall akzeptieren.« Hart nickte. Tabiner fragte sich, wie es einem so durchtriebenen Menschen an Einfühlungsvermögen fehlen konnte. Aber das Spiel hatte sich gelohnt. Die Insulaner würden Boldre seinem Gewissen überlassen, und dieser wiederum hatte keinen Grund, sich schuldig zu fühlen. Vertrauensvoll lächelte er Hart zu. Das war ein Fehler, weil Hart sich plötzlich seiner selbst nicht mehr sicher fühlte. Der Fahrstuhl sank durch dichten Nebel nach unten und glitt entlang einer hohen Felswand in eine dunkle Öffnung hinab. Die Tür öffnete sich. Jetzt befand sich Boldre in einem leeren Raum. Allmählich erkannte er, daß er sich im Ausläufer einer Felshöhle befand. Er trat hinaus. Der Boden war hier rauh und holprig. Ein langer Pfad führte aufwärts, dorthin, von wo gedämpftes Licht eindrang. Grünes Licht, das ihm sehr vertraut war. Langsam hielt er auf die Öffnung zu. Die veränderte Schwerkraft machte sich sofort bemerkbar. Es war jetzt die Mondschwerkraft. Das bedeutete, daß er sich auf der richtigen Stufe in der Biosphäre befand und letztere sich nicht mehr beschleunigte. Jetzt mußte er seinem Volk gegenübertreten und in
dessen Augen seine Schuld ablesen. Plötzlich fragte er sich, ob er wirklich so ganz schuldlos war. Er hatte schließlich Polcon dadurch Hilfe geleistet, daß er Bey in die Festung geschafft hatte. Boldre stemmte sich zur Öffnung hoch. Draußen war alles graugrün, Farben die er nur zu gut kannte. Jenseits einer Wasserfläche erstreckte sich ein Felshang hinauf zu den Wolken. Der Hang war grün und sah wie ein Belag aus. Fetzen gelben Lichtes drangen aus den in die Felsoberfläche eingelassenen horizontalen Fensteröffnungen. Ein genaues Duplikat von Riphaen. Der letzte Schimmer einer simulierten Erde, wie vor Eintritt der Dämmerung, schien durch die Wolken. Die Szenerie war so echt, daß Boldre wie betäubt stehenblieb. Er konnte alles sehen, aber er konnte es kaum fassen. Sein Bewußtsein sträubte sich dagegen, als wäre das alles nur eine Halluzination, die logisch erklärt und um der seelischen Gesundheit willen rasch vergessen gehörte. Aber die Szene verging nicht. Das Bild blieb. Er ließ sich den Steilhang zum Ufer hinuntergleiten. Auch diese Hang war ihm vertraut. Da lag das kleine Eiland vor dem Ufer Riphaens fast genau an der Stelle, wo er mit Jan an Land gegangen war. An dieser Stelle war das Wasser ganz seicht, er wußte, daß er durchwaten konnte. Automatisch suchte er den Himmel nach Anzeichen aufziehenden Unwetters ab. Das war natürlich sinnlos, weil hier alles, ebenso wie auf der höchsten Stufe, nur simuliert war. Dort war es die Erde, hier der Mond. Irgendwo dazwischen, wo die Schwerkraft stimmte, war sicher auch Platz für den Mars und ein Dutzend anderer simulierter Umwelten. Falls man sie brauchte. Er sprang ins Wasser. Der große Eingang zu den unterirdischen Kammern war immer von der Außenwelt durch schwere Türen abgeschlossen gewesen. Das hatte man hier geändert. In den Türen verbargen sich Luftschleusen. Vor langer Zeit hatten auch auf Riphaen ähnliche Türen existiert, und er fühlte sich den längst dahingeschiedenen Geistern einer luftlosen Vergangenheit verbunden. Mit erhobener Faust schlug er an die Türen. Niemand gab Antwort, niemand öffnete. Und doch war er sicher, daß man von seinem Kommen wußte. Das also war ihre Antwort. Genau das, was er eigentlich hätte erwarten sollen: offene Zurückweisung, eine Verurteilung seines Verrates, ohne ihm die Möglichkeit einer Rechtfertigung zu geben. Zweifellos waren alle sieben Inseln in dieser Miniaturwelt -in dieser winzigen Sphäre innerhalb einer Sphäre - bevölkert. Wie man das angestellt hatte, wie man außerdem die Meere reproduziert hatte, das ging über sein Fassungsvermögen hinaus. Nach einer Weile zog er sich in die Schatten zurück und blieb sitzen. Er beobachtete die Veränderungen des Lichtes, wie die Pseudo-Sonne die Pseudo-Nacht verscheuchte. Das geschah so allmählich wie auf dem echten Riphaen. In dieser Weltimitation mußte man die Sonne in einen Umlauf um die eigenen Kinder schicken - eine Travestie der natürlichen Ordnung. Dafür mußte jene Lichtquelle, welche die Rolle der Erde spielte, tausend Fuß über ihm und halbversteckt, selbst die Reise zum Horizont antreten. Erleichtert stellte er fest, daß wenigstens die Lichtverhältnisse nicht ganz echt waren. Zu seiner Verwunderung wurden jetzt die Türen geöffnet. Ein Mann überquerte den Hang und kam auf ihn zu. Sein Gesicht war ausdruckslos. Die Lachfältchen um seine Augen waren Linien des Hasses. Er hielt sich beim Gehen steif, wie ein Mensch, der gegen Kälte ankämpft. Nur die Hände zitterten leicht. Er starrte Boldre an und sagte nicht. Knapp vor ihm blieb er stehen. Zu sagen gab es nichts, denn er war nur gekommen, um etwas zu hören. Boldre holte tief Luft. »Sag ihnen, daß ich nicht schuldig bin.« Für einen Augenblick schimmerte in den Augen des Mannes Hoffnung und Traurigkeit auf. Seine Hände versuchten eine Geste des Mitleids. Aber dann schien Unglauben alle anderen Gefühle auszulöschen, und Verachtung und Wut verzerrten das weiche Gesicht. Boldre senkte den Kopf. Der Mann trat zurück, ohne
den Blick von Boldres Gesicht zu wenden. Sein Blick war direkt und anklagend. Gleich würde er sich umgedreht haben. Boldre reckte den Kopf empor. »Nicht schuldig!« Der andere machte ein verwundertes Gesicht, zögerte aber nur kurz, ehe er zum Höhleneingang zurückging. Die Türen wurden geöffnet und lautlos hinter ihm geschlossen. Eine Lichtflut ergoß sich jetzt über die Felsen und machte sie besonders plastisch. Sie wirkten jetzt kahl und gleichzeitig abweisend. Boldre ging zum Ufer hinunter. Es war ein instinktiver Entschluß, der dem Bedürfnis entsprang, irgend etwas zu tun, etwas, das seinen Verstand beschäftigt hielt. Er watete durch das knietiefe Wasser zum Eiland und kletterte zu der Öffnung in der Felsoberfläche hoch. Nun ließ er sich in die Höhle hinabgleiten, in welcher der Fahr stuhl verborgen war. In einem von irgendwo einfallenden Lichtstrahl schimmerten die Glastüren des Fahrstuhls, der noch da war. Er nahm die Steuerungsbox aus seinem Gürtel. Ob er es wagen konnte, sie erneut zu benutzen? Er drückte eine der Tasten - und die Türen öffneten sich. Trotzdem rührte sich Boldre nicht von der Stelle - denn die kleine Silberkugel erwartete ihn im Fahrstuhl und kam jetzt vom Inneren des Fahrstuhls aus auf ihn zugerollt, als schätze sie sorgfältig die Entfernung ab. Rasch schob er die Türen wieder zu. Aber durch den kleinen, noch verbliebenen Spalt rollte die Kugel heraus. Nun, auf gröberem Untergrund, drehte sie sich schneller, behielt aber ihre Richtung bei. Sie pfiff und summte und drehte in knapper Entfernung vor dem Wartenden kleine Kreise. Boldre zog sich in Richtung des Hanges zurück. Es war ihm klar, daß sich Zweck und Ziel der Kugel geändert hatte. Sie war jetzt nicht bloß Spion. Er konnte sich denken, was sich da geändert hatte. Man hatte den Silberball programmiert, ihn zu töten. Mit einem Satz war er oben am Abhang angelangt. Die Kugel setzte ihm nach, doch er schaffte es, taumelnd ins Freie zu gelangen. Er lief zum Wasser und warf sich hinein. Mit einem kurzen Blick nach hinten stellte er fest, daß sein Verfolger in der grauen See hinter ihm verschwand. Ihm blieb nur eine Chance. Wenn man ihm erlaubte, in der Höhle Schutz zu suchen, dann konnte man das Ding wenigstens vorübergehend aussperren. Es war aber eine Chance, die er nicht ergreifen durfte. Nicht, weil sein eigenes Volk ihn nicht gerettet hätte, sondern weil er damit ein ungeschriebenes Gesetz gebrochen hätte, ein Gesetz ohne Worte. Er mußte sich seinem Feind stellen und wußte doch, daß er ihn, außer mit dem Einsatz seines Lebens, nicht besiegen konnte. Es war Hugos Lösung gewesen. Jetzt war es die seine. Hätte es eine Alternative gegeben, so hätte er gekämpft, das wußte er. Da aber die Antwort so klar und der Tod so unvermeidlich war, würde er nicht einmal versuchen, davonzulaufen. Er war auf dem Abhang angelangt, der wie ein grüner Überwurf vor den horizontalen Fenstern seiner Heimat lag. Fast glaubte er wirklich, es sei seine Heimat, eine Vorstellung, die er seinem allzuwilligen Verstand vorspiegeln konnte, war doch da drinnen sein Volk -ganz in der Nähe. Der Silberball tauchte aus dem Wasser empor, als stiege er dank eines inneren Antriebes aus den Tiefen. Während er den Abhang hinaufrollte, summte er wie eine wütende Biene. Boldre hob den Kopf und sah ihm trotzig entgegen. Er sah durch dessen mechanische Gleichgültigkeit hindurch, sah, was dahinter lag, und identifizierte es als einen antiseptischen Feind, der alles auslöschte. Polcon und Milcon waren ein und dasselbe, beide stellten die Quintessenz von Machtstreben dar . . . Macht, im wahren Sinne des Wortes. Gedanken rasten durch sein Hirn. Er hatte von Tausenden Ideen gelesen, guten und schlechten die, einmal organisiert und in eine bestimmte Richtung gelenkt, doch immer zu demselben Schluß führten. Ob zweckerfüllt oder von anarchischer Leere die Bestrebungen fanden immer in nüchternen Zwängen ihr Ende. Das Ziel absoluter Sicherheit oder absoluter Freiheit und Ungebundenheit mußte eben mit Zwang
erreicht werden. Der logische Schluß jeden Systems führte immer wieder zu einer Art Tyrannei. Boldre stand jetzt der Silberkugel, diesem Spion-Ball, nicht gegenüber, weil er gegen die Vernunft oder gegen eine Idee gekämpft hatte, sondern nur, weil er unersättlichem Machtstreben im Wege stand. Die Kugel kam immer näher. Aufrecht und reglos stand er da. Irgendwo aus der Höhle, wo die Insulaner waren, blitzte ein Licht auf, als eine Tür geöffnet wurde. Stimmen riefen ihm beschwörend zu. Menschen kamen auf ihn zugelaufen. Er wußte um die Gefahr, in der sie schwebten, und machte einen Sprung auf den hellen Ball zu. Einer seiner Leute kam ihm um den Bruchteil einer Sekunde zuvor. Der Ball flammte auf und blendete ihn. Diesmal kam er sehr langsam zu sich. Sein Verstand hatte sich an eine Idee geheftet, die ihn mit erwachendem Bewußtsein wieder beschäftigte, Milcon und Polcon waren also eins. Die Menschen in der Biosphäre waren ebenso Sklaven wie jene auf der Erde. Sie waren Endprodukte der Macht: Unterpfänder für die Zwecke eines anderen. Sogar die Insulaner. Das war ihre Rolle, die sie in dem Felsbrocken, Biosphäre genannt, spielten, weil dies die einzige Art von Besatzung war, die Polcon brauchen konnte. Ein Gesicht sah auf ihn nieder. Es war unkörperlich, schwebte in einem schmerzlosen, unaufhaltsamen Strom, lächelte leicht und triumphierend. Seine Stimme flüsterte ihm ins Ohr, wurde in den Gewölben seines Kopfes in ein Echo der Verachtung verwandelt, das endlos widerhallte. »Du hast ganz recht, Boldre.« Das Gesicht gehörte Hart, die Stimme ebenfalls. Boldre hob die schweren Arme und langte nach dem Gesicht. Seine Hände beruhten den unsichtbaren Hals, wurden aber weggestoßen. Jetzt blickte er in die Augen des Gegners. Die Augen waren nicht leer, sie verrieten, daß das Vakuum der Macht mit den eigentlichen Zielen aufgefüllt war, randvoll von merkwürdig gleichgültigem Haß. Er erkannte das Böse. Und plötzlich war Boldre zufrieden. Er hatte sich in einem wichtigen Punkt geirrt, aber er hatte gefunden, was er instinktiv gesucht hatte. Das war es, was er bekämpfen konnte. Es existierte und war wirklich. In der Dunkelheit kam und ging der Friede. Als er völlig erwachte, war er allein. Der Raum war klein und abgeschieden, ordentlich mit kompletter medizinischer Einrichtung ausgestattet, die nötig war, um ihn am Leben zu erhalten. Boldre tastete unter die Decke. Seine Beine hörten an den Knien auf. Tabiner stand auf dem Brückendeck, einem Bereich, der so groß wie eine Kleinstadt war. Mit ruhiger Befriedigung genoß er das Gefühl, genau im Mittelpunkt der Dinge zu stehen. Es war fast so befriedigend wie damals, auf der Kommandobrücke bei der Marine, vor fünfzehn Jahren, während seiner persönlichen Lebenszeit - aber untergegangen in tausend Jahren der Geschichte. Der Unterschied zwischen damals und jetzt bestand nur im Ausmaß der Verantwortung. Die Biosphäre war eine ganze Welt, die sich durch den unveränderlichen Raum bewegte, während sein Schiff damals eine, mit dem Ozean kämpfende Nußschale gewesen war, die sich wie ein störrisches Pferd unter seinen Füßen aufbäumte. Es bedurfte seiner ganzen Vorstellungskraft, um sich die riesigen Entfernungen vorzustellen, welche die Biosphäre durchflog. Sie näherten sich der Umlaufbahn des Mars und hatten die Erde bereits weit hinter sich gelassen. Hart hatte auf der Erde eine Unzahl von Menschen an Bord genommen und machte sich seither nicht mehr die Mühe, einen Vorwand für seine Aktion vorzuschützen. Polcon stand im Begriff, die Planeten für sich zu erobern - und Hart war Polcon. Es blieb ein Geheimnis, wie es ihm geglückt war, Milcon dazu zu bewegen, dies zu akzeptieren - aber es war nun einmal so. Tabiner war besorgt, ob man sich da nicht täuschte, aber Hart wußte, daß er noch immer zu diesem Experiment - dem Probeflug - entschlossen war. Er würde es schon um der vielen Hunderttausend in der Biosphäre willen tun, wegen der vielen Un-
schuldigen, die man in das Abenteuer gelockt hatte. Hart seinerseits hatte ein paar Zugeständnisse gemacht - eines davon war Boldres Leben. Die Hauptziele waren klar: Polcon übernahm die Tyrannei Milcons an einem anderen Ort unter einem anderen Namen. Und wenn jemand Freiheit gewonnen hatte, dann war es nur Hart. Die Biosphäre war ebenso ein Schiff der Verdammten wie die plumpen, hölzernen Kästen der Vergangenheit. Tabiner mußte Hart dennoch widerstrebend Bewunderung zollen, denn dieser hatte den gewaltigsten Betrug aller Zeiten vollbracht. Damit konnte sich höchstens Milcons Machtübernahme auf der Erde messen. Doch damals hatte es wenigstens den Anschein eines Vorwandes gegeben: Anarchie im Westen und Tyrannei im Osten - eine Welt voller Konflikte. Jetzt aber schien kein rechtfertigender Grund vorzuliegen - nur etwas, das Tabiner bei Jan und einigen der maßgebenden Offiziere Polcons herauszufühlen glaubte. Vielleicht wußten sie etwas, das der Chef nicht wußte. Durch Tausende Jahre hatte Milcon sozusagen den Tiger am Schwanz gehalten: es hatte eine Art Frieden geherrscht eine universale Gewaltlosigkeit, die in Wirklichkeit ein Kompromiß des Schreckens und paradoxerweise ein langsamer Tod war. An einem einzigen Menschen war Harts Triumph abgeprallt - an Kapitän Otley. Mit dem zur Kabinenwand gedrehten Gesicht lag der Mann meist auf seiner Pritsche und verharrte in grüblerischem Eigensinn. Tabiner hatte nicht das Gefühl, daß die Lage so verzweifelt war. So einfach würde Hart nicht gewinnen. Dafür würden Boldre und seine Insulaner sorgen. Die weitflächigen Sichtschirme vor ihm zeigten gerade jetzt eine Unzahl heller Punkte jeder einzelne ein Nadelstich ohne Funken. Tabiner sah in ihnen Millionen Augen, die die kümmerlichen Eindringlinge im All beobachteten. Auch die würde Hart erst einmal austricksen müssen. Die Insulaner hatten bei Tabiner ein Zurückkehren zu seiner eigenen, unkomplizierten Natur bewirkt. Er hatte sich für den letzten seiner Art gehalten, für einen jener, die noch an Geheimnisse glaubten. Irgendwie hatte der Wunderglauben auch unter den Insulanern überlebt. Und deswegen fühlte sich Tabiner bei ihnen heimisch. Möglich, daß derartiges auch bei den Marsbewohnern noch vorhanden war. Bei den Erdenmenschen war der Wunderglaube völlig abhanden gekommen. Der Aufruhr konnte von innen kommen, ebenso war eine Opposition von außen möglich. Hart war nur ein Mensch, trotz seines unbeirrbaren Glaubens an seine eigene Unverletzlichkeit. Lange Erfahrung hatte den kleinen Mann zur Überzeugung gebracht, daß niemand ihm oder seinen Soldaten entgegentreten würde. Tatsächlich aber wäre es sehr einfach: Man brauchte nur die Macht zu brechen, entweder mit einem Hieb oder einem Fingerdruck auf einen Knopf. Hart war in einer fatalen Selbsttäuschung befangen. Doch da war ein Haken. Wer immer Hart erledigte, wäre ebenso schlecht wie dieser, weil er den einzigen, noch gültigen ethischen Grundsatz der Erde gebrochen hätte. Möglicherweise war der Mörder ebenso übel wie der Ermordete. Er versuchte, alle Möglichkeiten durchzudenken. Nur ein Insulaner käme dafür in Frage, weil er sich hinterher selbst strafend zur Verantwortung ziehen würde. Aber Tabiner wußte, daß man das nicht so einfach verlangen konnte. Langsam ging er an den Reihen der aufgestellten Computer entlang und blickte auf die kleinen Lichtvierecke, die sich dauernd veränderten. Sie zeigten Figuren und Muster, die voller Bedeutung waren, wenn man sich die Zeit nahm, sie zu entziffern. Eine lange Reihe von Apparaten war im Halbkreis angeordnet, sie standen in einiger Entfernung voneinander. An jedem der Apparate arbeitete ein Mann oder eine Frau, alle irdischen Ursprungs. Bemerkenswert an ihnen, wie schweigsam sie waren. Sie hatten zu den grausamsten ihrer Art gehört, waren aber durch ihre Erinnerung an Gewalt zahm geworden. Und für solche Leute würden Insulaner sterben müssen. Dieser Gedanke bestärkte Tabiner darin, die aufrührerischen Insulaner in seinen Plan einzubauen.
Denn die Erde hoffte offensichtlich, diese Leute würden für sie wie bezahlte Söldner kämpfen. Sie sollten die Soldaten Milcons ersetzen, wenn es hart auf hart ging. So wie die Insulaner die Immunität gegen unbekannte Seuchen erkaufen sollten, waren sie außerdem noch als Kanonenfutter eingeplant. Verzweiflung drohte ihn bei diesem Gedanken zu überwältigen. Aber schließlich war das ja auch Harts Problem. Die große Entfernung bedeutete noch lange keinen Schutz vor Milcon. Man würde sie verfolgen, falls es glückte, eine zweite Biosphäre schaffen. Ihre Soldaten stellten keine hohen Ansprüche. Andererseits - vielleicht würden die Insulaner gar nicht kämpfen. Sie hatten ihre Grundsätze, und wenn sie Gewalt anwendeten, geschah es nicht primitiv. Sie huldigten einem verfeinerten Realismus. Plötzlich fiel ihm eine Lösung ein. Er mußte unbedingt mit Boldre sprechen. Falls er die richtige Saat ausstreute, würde es vielleicht gelingen. Gerade als er zum Fahrstuhl gehen wollte, stand er Hart gegenüber. Hart mußte seine angespannte Erregung gefühlt haben. Ein Schatten verdüsterte sein häßliches Gesicht. Er bewegte verlegen die Finger, ehe er die Hände hinter dem Rücken verschränkte. Er verstand es, seine Gedanken beim Sprechen so gut zu verbergen, daß seine Worte ruhig, ja vergnügt klangen. »Sicher freut es Sie zu hören, daß der Griffen einen Entwurf für Ihren Raumanzug lieferte, der alle unsere Tests überstanden hat.« Tabiner nickte und heuchelte ein Lächeln. »Ja, das freut mich.« Der böse Blick bohrte sich in ihn. »Es geht nun darum, eine Verbindung zwischen Ihnen und einem Vertrauensmann in der Biosphäre zu finden und herzustellen. Wir möchten, daß der Griffen ein Gehirnschema entwirft, das dem Ihren entspricht. An Hand dieses Schemas können wir dann Ihren Vertrauensmann aussuchen.« Tabiners innere Erregung wuchs, und er lehnte Harts Vorhaben, das er kannte, innerlich ab. Obwohl kein Teilchen einer Masse schneller sein konnte als das Licht, gab es nämlich Teilchen ohne Masse, die eine Ausnahme bildeten. Weil es ihnen an Masse fehlte, konnten sie zur Fortbewegung nicht angetrieben werden, aber sie konnten Gedanken befördern - Signale aus dem All übertrugen sie unmittelbar. Man brauchte Apparate, um sie auszusenden und zu empfangen - aber man brauchte ebenso Menschen dazu. Nur das menschliche Gehirn konnte ein anderes menschliches Gehirn auswerten. Telepathie war es nicht. Die Erklärung war viel einfacher. Die als Tachyonen bekannten Teilchen waren die Überträger und existierten außerhalb des Gehirns. Vielleicht waren sie die rationale Erklärung für Telepathie, aber im nüchternen Licht der Physik wurden sie als bloße »Quantität mit speziellen Verhaltungsregeln« qualifiziert. Das war alles und entsprach dem Wesen der Sache. Auch wenn es wie Metaphysik aussah. Tabiner wagte einen Vorstoß. »Ich könnte mir denken, wer für mich der passende Partner wäre.« Dabei setzte er eine gleichgültige Miene auf, um sich nicht zu verraten. »Und ich glaube, ich kann mich auf mein Urteilsvermögen verlassen.« Hart war wütend. Er war zu sehr Wissenschaftler, um nicht Intuition geradezu als Beleidigung aufzufassen. »Ihre Vermutung ist einen Dreck wert, Tabiner!« Er wollte sich schon umdrehen, hielt aber inne. »Wer ist der Mann?« Tabiner sprach den Namen aus: »Boldre.« Hart fuhr wie elektrisiert auf, hielt jedoch abermals inne. »Boldre?« »Ja.« Jetzt konnte Hart seine Wut nicht länger zügeln. »Dieser Krüppel!« Er beruhigte sich langsam. Das Aussprechen dieser Worte allein schien ihn schon erleichtert zu haben. »Vielleicht haben Sie recht. Wir können ja einen Versuch machen.« Tabiner nahm seinen Vorteil wahr. »Ein Krüppel ist eigentlich die beste Lösung. Der braucht doch nichts zu tun, außer sich zu konzentrieren - und damit ist schon alles halb gewonnen. Außerdem haben die
Insulaner mit mir mehr gemeinsam als alle anderen, die Sie mir anbieten können.« Jetzt trat ein längeres Schweigen ein. »Wie das Mädchen«, überlegte Hart inkonsequent. »Sie soll Ihre Vertrauensperson für die Erde sein.« Er blinzelte. »Milcon hat darauf bestanden. Sie sehen, man vertraut ihr.« Tabiner war erschüttert von der offensichtlichen Dummheit derer, die glaubten, keine Angst mehr haben zu müssen. »Wissen denn die nicht, daß das Mädchen gegen sie gearbeitet hat?« Hart schüttelt den Kopf. Jetzt lachten beide. Sie lachten aus verschiedenen Gründen. Tabiner vor Erleichterung, Hart, weil er Tabiner zum Narren gehalten hatte. So wie es Jan gelungen war, Milcon an der Nase herumzuführen. Das Gelächter verbreitete sich, drang über die offenen Flächen der Brücke - aber niemand wandte den Kopf, keiner der vielen Hundert, die an den hochempfindlichen Apparaten der Gehirnzentrale der Biosphäre am Werk waren. Die Tür ging auf, und Boldre sah den Mann, in dessen Schuld er seit der Szene vor dem Fahrstuhl stand. Jetzt war er sicher gekommen, um seine Forderung einzutreiben, oder um die Schuld noch zu vergrößern, und das gefiel Boldre gar nicht. Er wußte, es würde sich um das eine oder das andere handeln. Tabiner ging zum Lautsprecher an der Wand und drehte ihn auf größte Lautstärke. Seine Bewegungen waren exakt und sparsam. »Ich bin Tabiner«, sagte er leise. Jetzt wurde der Raum von Musik überflutet - eine sehnsüchtige, traurige Musik. Tabiner nahm einen Sessel und zog ihn ans Bett. »In früheren Zeiten pflegte man Obst mitzubringen, ein wenig Musik zu hören, über Belangloses zu plaudern und dann wieder zu gehen.« Dabei lächelte Tabiner, als dächte er an einen Witz, aber an keinen von der doppelbödigen Art Harts. Boldre fühlte sich sympathisch angesprochen, fand aber schwer eine freundliche Antwort. Er hatte Vertrauen zu Tabiner gefaßt. Das bedeutete, daß er auf Fragen mehr verraten würde, als er eigentlich wollte. Innerhalb kurzer Zeit hatte er sich weitgehend engagiert, hatte er sich für eine Sache gewinnen lassen. Welche Rechnung würde man ihm dafür präsentieren? »Sie werden wieder gehen können«, bemerkte Tabiner aufmunternd. »Man wird Sie mit neuen Beinen versehen, an die Sie sich im Handumdrehen gewöhnen werden.« Boldre grollte. »Was sagt man, wenn ein Freund im Sterben liegt? Sagt man ihm, es wäre nicht so schlimm, wenn man sich nur daran gewöhnt hat?« Sein Groll verflog, da er merkte, daß Tabiner nicht bloß daherredete, sondern in irgendeiner Richtung sondieren wollte - wegen einer Aktion oder etwas ähnlichem. Boldres Augen blitzten Tabiner an. »Warum sind Sie gekommen?« Tabiner stand auf und ging an den Lautsprecher. Er stellte ihn so laut ein, daß das Geräusch den kleinen Raum ausfüllte. Er trat wieder an das Bett und beugte sich über Boldre. Sein Gesicht war jetzt sehr ernst. »Wir haben zwei Auf gaben, und Sie sind dabei die Schlüsselfigur. Zuerst gilt es, Hart loszuwerden. Wenn er verschwindet, verschwindet mit ihm das ganze Kontrollsystem.« »Ihn töten?« fragte Boldre mit Schärfe. Tabiner reagierte mit einem Achselzucken. Boldre hob den Kopf und starrte in das sympathische Gesicht. »Würde ich nicht tun. Sie müssen eine andere Alternative zur Hand haben.« Letzteres war eine Feststellung, keine Frage. »Ja.« »Was ?« »Beseitigung des Systems.« Boldre nickte. »Gegen die Vernichtung der Schutztruppe kann niemand einen Einwand haben. Das ist keine Gewaltanwendung.« Sogleich stellte er jedoch diese seine Schlußfolgerung in Frage und zog die Brauen hoch. Er hatte nämlich das Gefühl, Tabiner wollte ihm dartun, warum die Menschen von der Erde die Robotermaschinen, die sie Soldaten nannten, nicht töten würden. »Das oberste Gebot in der Philosophie der Erde ist Gewaltlosigkeit. Wenn man sie dazu bringt, das System zu zerstören, würde man auch das Prinzip der Gewaltlosigkeit zerstören, und an seiner Stelle entstünde eine Leere.« Tabiner wartete auf Boldres Erklärung.
Boldre gab sie ihm. Er hatte begriffen. »Ihr oberstes Gebot ist eben falsch. Es ist negativ. Das ursprüngliche Gebot lautete, daß man einander lieben soll, und das bedeutet viel mehr. Es bedeutet . . .« Er zögerte und sah Tabiner an. »Weiter.« »Es bedeutet, daß man bis zu einem gewissen Grad Gewalt bei sich selbst akzeptieren muß.« »Nicht ganz.« Boldre dachte nach und stellte fest, daß er in Schweiß geraten war. Er merkte, daß er leicht mit seiner eigenen Philosophie in Konflikt geraten könnte, mit dem obersten Gebot, an dem die Insulaner festhielten. Tabiner gab ihm die Antwort. »Es bedeutet, daß es eines Unterscheidungsvermögens bedarf, was gut und was böse ist. Wir müssen entscheiden, ob ein gerechter Fall vorliegt, und demgemäß handeln.« »Auch das ist aber nicht ganz richtig«, sagte Boldre. Er hatte es ja erlebt, wie unzulänglich dieses Urteilsvermögen sein konnte und menschliches Vermögen überstieg. »Können wir Hart wirklich guten Gewissens ausschalten?« Tabiner beendete die Aussprache. »Wir können seine Stützen beseitigen, und dann wird er selbst über sich ein Urteil sprechen müssen. Er wird nackt und bloß dastehen. Dann wird er Zeit zum Nachdenken haben, und ich glaube, er wird sich dem irdischen Imperativ beugen. Er wird seinen Kampf aufgeben.« Boldre glaubte zwar nicht daran, daß Hart den Kampf aufgeben würde, aber er gab sich geschlagen. Denn es gehörte ja zu dem obersten Gebot der Insulaner, einen Menschen seinem eigenen Gewissen zu überantworten. Und man verlangte somit von ihm, Boldre, bloß, Hart in die Lage zu versetzen, sein Gewissen zu erwecken und sprechen zu lassen. Offensichtlich aber war das Gebot der Insulaner nicht von allgemeiner Gültigkeit. Es war kein Gebot, das allen Umständen und Menschentypen Rechnung trug. Was gebraucht würde, wäre komplizierte Perfektion, um allgemein gültige Wertmaßstäbe festzusetzen - etwas, was nur scheinbar leicht ist. Und diese sollten an die Stelle kurzsichtiger Schlüsse treten, wie sie praktischerweise von den Menschen gezogen werden. Das brachte ihn wieder zu der Überlegung, wie schwierig es doch für die Menschen war, sich hinaus ins All zu wagen. Auch ihr Überleben hing von einfacher, aber dennoch komplizierter Perfektion ab. Perfektion - so nahm er jetzt an - war das einzige Gesetz, das zählte. Sei es, daß sie durch Instinkt erworben oder über Tausende von Jahren hindurch unter Schmerzen erlernt wurde. Bis jetzt aber hatten sie nicht mehr, als Halbwahrheiten erfahren. »Gibt es denn eine natürliche Moral?« fragte Boldre. Tabiner grinste. »Die Moral der Natur heißt Fressen und gefressen werden. Das Gesetz vom Überleben des Stärkeren. Eigentlich gar keine Moral. Aber es war die erste, und Hart wird sie sich schließlich als letzte zueigen machen.« Boldre ließ sich zu einem Kompromiß herbei. »Die Insulaner werden die Roboter übernehmen.« »Gut. Aber jetzt noch nicht. Es bleiben Ihnen noch einige Jahre zur Vorbereitung - und um die zu überreden, die noch nicht begreifen. Ich werde veranlassen, daß Sie der einzige sind, der während des Probefluges mit mir in Verbindung steht.« »Warum?« »Weil ich möchte, daß Sie Werturteile fällen«, flüsterte Tabiner. »Wenn die Zeit gekommen ist, werden Sie mich verstehen. Es hängt mit unseren obersten Geboten zusammen.« Und wie lange wird das dauern?« »Nach Ihrer Zeitrechnung etwa vierzehn Jahre - die Transitzeit für mein Schiff. Ich werde nur ein paar Stunden bewußt erleben. Während der Beschleunigung gehe ich in Winterschlaf über. Sobald ich 95 % Lichtgeschwindigkeit erreicht habe, werde ich für ein paar Stunden wiederbelebt. Als eine Art Test. Die Biosphäre wird diese Geschwindigkeit nie erreichen, aber man möchte die Wirkung kennenlernen. Schließlich werde ich dann wieder geweckt, wenn ich den dritten Planeten von Tau Ceti umkreise. Dann werden wir es sicher wissen.« Boldre schloß die Augen und dachte nach - er dachte an die Riesenentfernung, die man zu wenigen Stunden des Erlebens hatte schrumpfen lassen. Auch wenn Tabiner wach bliebe, würde der Flug für ihn nicht mehr als zwei oder drei Jahre dauern. Noch etwas machte ihm
Kopfzerbrechen. »Wie treten wir in Verbindung?« Tabiner erklärte es ihm. Eine Erklärung, die eine weitere Unmöglichkeit für Boldre schien. Aber Boldre mußte auch das akzeptieren. Über die langen Jahre hinweg würden die Verbindungen nur Stunden in seinem Leben ausmachen. Bis dahin würde sein Leben ohnehin der Biosphäre gehören. Als erstes würde ein Versuchsflug unternommen - eine Umkreisung von Uran und Neptun. Damit wollte man die thermonuklearen Maschinen und den Photon-Hauptantrieb überprüfen. Dann würde man Kurs auf Tau Ceti nehmen. »Und was ist mit Jan?« Diese Frage kam zögernd - aber Boldre mußte sie einfach stellen. »Sie lebt. Sie stellt unser Verbindungsglied zur Erde dar.« Boldre setzte sich auf - ein schmerzhaftes Bemühen. Tabiner fuhr fort: »Sie kann denken und fühlen. Seit vergangener Woche kann sie auch deutlich sprechen.« Der adrette kleine Mann ging an die Tür und öffnete. Als er einen Blick zurück auf Boldre warf, war sein Gesicht ernst. »Aber zu mehr wird es bei ihr nie reichen.« Boldre wandte sich ab. »Schalten Sie gefälligst die verdammte Musik ab, bevor Sie gehen«, murmelte er. XII Der Raum im Schwerkraftzentrum war kaum als ein Raum im konventionellen Sinne zu bezeichnen. Er war eine durchscheinende Glaselipse, die mit Stille angefüllt zu sein schien, wie ein Gefäß mit einer Flüssigkeit. Das von außen eindringende, durch dickes Glas gefilterte Licht war von milchiger Durchsichtigkeit. Hier herrschte Frieden, der zu Entspannung einlud. Boldre verwünschte diese Art der Geruhsamkeit und wünschte sich, er könnte die kurze Entfernung überwinden, die ihn von dem Mädchen trennte. Die Unbeweglichkeit ihres Körpers hielt sie wie in einer Falle gefangen. Wäre sie nicht von einer Phalanx von Apparaten umgeben gewesen, die sie mit dem Tachyonen-Kommunikator verband, wäre sie hilflos bis zur Decke des hochgewölbten Raumes emporgeschwebt. Aber ihr Gesicht war lebendig. Sie hatte versucht, ihm zuzulächeln. Das Lächeln hatte sich nicht über das ganze Gesicht ausbreiten können, es war in ihren Augen liegengeblieben. Sie konnte sogar sprechen, langsam und gehemmt, als wäre sie schüchtern oder verlegen wegen des Gesagten. Boldre, in seiner eigenen Apparaten-Falle gefangen, hatte versucht, sie zu beruhigen, wenn er sie schon nicht tröstend berühren konnte. Er dachte an die zahllosen Partikel, die den Kommunikator durchliefen. Sie wurden nicht von der Maschine ausgeschickt. Sie wurden nur mit der Botschaft beladen, mit gewichtslosen Gedanken, während sie vorüberzogen - beladen wie galoppierende Pferde und sorgsam gelenkt. Boldre hoffte, daß die Richtung stimmte. Es lag eine Ironie darin, daß harmlose und ungezwungene Privatgespräche in das All ausgestreut wurden. Er wäre nur dann darüber glücklich gewesen, wenn es eine direkte Verbindung mit Tabiner gegeben hätte. Genausowenig sagte ihm eine weitere, die visuelle, Interpretation zu, die für den Kontrollraum vorgesehen war und von derselben Maschine besorgt wurde. Hart und seine Wissenschaftler würden zwar die Feinheiten nicht mitbekommen, aber es konnte trotzdem peinlich werden. Sie konnten womöglich zuviel erfahren. Jan schien seine Gefühle zu kennen. Mit bebender Stimme gab sie ihm ihr Verständnis zu erkennen. »Wenn diese Kontaktaufnahme vorbei ist, werden Sie für lange Zeit frei sein.« »Ja, das ist richtig.« Ihre Augen drückten mütterliche Wärme und Freundschaft aus, trotz ihres bizarren Gebundenseins an einen nutzlosen Körper. »Merkwürdig, wie wir dazu kamen - Sie und ich. Als man uns fallen ließ, hätte es das Ende bedeuten sollen. Und jetzt sind wir beide wichtige Glieder in einer langen Kette.« Das klang sogar glücklich.
Boldre starrte sie an. Es war klar, daß sie von der Verschwörung gegen Hart wußte. Tabiner hatte einen Weg gefunden, sie einzuweihen, sich ihrer Unterstützung zu versichern und ihr damit zusätzlich einen Lebenszweck zu geben. Boldre schüttelte diese Gedanken ab. Er würde sich Hart gegenüber zu leicht verraten, wenn seine Gefühle die Gedanken lenkten und diese Gedanken auf dem Bildschirm gelesen und verstanden wurden. Das Mädchen war es aber, welches das Thema wechselte. Vielleicht war auch das, was sie zu sagen hatte, für sie bedeutsamer als der gegen Hart gerichtete Plan. »Boldre, ich habe über Sie nachgedacht. Sie gehören dem Clan der Insulaner an, und dennoch scheinen Sie so einsam zu sein. Wie steht es mit Ihrer Familie?« Er schüttelte den Kopf. »Ich hatte nur einen Bruder. Und der ist tot.« »Tut mir leid.« Er lächelte. »Er hieß Hugo.« In ihren Augen lag kein Lächeln mehr. »Das war der traurige Beginn dieses ganzen Abenteuers.« Sie erwartete keine Antwort. Die Bitterkeit über das, was er so unbekümmert und mit grimmigem Humor enthüllt hatte, war die Antwort genug. Und Boldre lächelte bereits wieder. »Die Insulaner brauchen keine persönlichen Familienbindungen. Wir alle stehen einander sehr nahe.« Er sah sie forschend an. »Ist das auf der Erde ebenso?« Ihr Kopf bewegte sich unmerklich. »Das haben Sie mich schon einmal gefragt. Von der Erde könnte Ihnen jemand anderer berichten.« Sie wußte, daß sein forschender Geist sich wieder regte. Es war dieselbe Frage, die er ihr bereits auf dem Mond gestellt hatte, eine Frage, die wie mit einem scharfen Messer nach der Wahrheit bohrte. Beide vernahmen Harts Stimme. Barsch und drängend. »Boldre - wir verbinden Sie.« Tabiner war ein Kokon. Er genoß diese Vorstellung und lachte vor sich hin. Er wußte, daß er ein Kokon war, weil er sein verzerrtes Spiegelbild in der sanft gewölbten Fläche der gegenüberliegenden Wand sah. Er wurde größer, wenn er sich noch vorn bewegte und schrumpfte zusammen, wenn er sich zurückbeugte. Er war eingefangen in Metall und Plastik. Sein Kopf steckte in einem runden Helm mit kleinem Glasfenster. Der Kopf wurde von großen, schwarzen Gewichten niedergehalten. Er sah einem menschlichen Wesen gar nicht mehr ähnlich. Wenn der Raumanzug endlich bereitgestellt sein würde, dann würde er wie eine Maschine darin stecken. Der Anzug bedeutete eine neue Lebensweise. Wenn der Anzug einmal im Raumschiff einmontiert war, dann würden er, der Anzug und das Schiff eins werden. Draußen in der hellen Leere würden Anzug und Schiff das Leben und er ihre schlafende Seele sein. Die Techniker waren emsig mit zahllosen Arbeiten und Vorbereitungen beschäftigt, und so war er inmitten dieses Wirbels eine Weile allein geblieben. Hätte er darüber nachgedacht, dann hätte er sich wahrscheinlich über seine eigene Ruhe gewundert - aber er war völlig entspannt und konnte sich einfach nicht aufregen. Das war nicht bloß eine vorübergehende Stimmung. Es gab nur wenig, das er von seiner Umwelt nicht wußte. Nichts war ihm fremd, und fast alles war schön. Manche Menschen waren nicht schön. Hart, der Wissenschaftler vielmehr Hart, der Politiker, war noch immer häßlich wie die Sünde: innen und außen. Und doch besaß er ein unvergleichliches Gehirn. Er war eine Institution, kein menschliches Wesen. Seine Stimme war zwar deutlich, hatte aber einen antiquiertnachlässigen Unterton angenommen, ein flaches Näseln, als hätte die Züchtung einen Kümmerling aus ihm gemacht. Tabiner wußte über Harts Herkunft nur sehr wenig, aber er war sicher, daß er sich aus dem Nichts hochgekämpft hatte oder aus dem, was man im allgemeinen Nichts nannte. Er hatte sich dank seines überragenden Verstandes und seines rücksichtslosen Ehrgeizes hochgekämpft, war kalt, praktisch. Ein Materialist, der den Mechanismus liebte, dem es gleichgültig war, wohin der Zug fuhr. Der Assistent, den er an Stelle Otleys gesetzt hatte, war völlig anders. Melier war von weicherer Natur. Er redete wie ein Kunstkritiker. Seine
Sprechweise war gedehnt, sein Gesicht glatt und rot wie eine überreife Pflaume. Sogar die sonst schweigsamen Techniker lehnten Meiler ab. »Tabiner, wir müssen Sie jetzt in Bewegung setzen.« Das klang eher wie eine Beleidigung als eine Entschuldigung. Der Ton war zwar korrekt, im Inneren dachte er aus ganzem Herzen etwas Unhöfliches. Tabiner unternahm den angestrengten Versuch, sich selbst zu bewegen. Gesichter und Dinge schwebten vorüber, als wäre er ein Goldfisch in einer Glaskugel, der die Außenwelt von dort aus unter dem eigenen Blickwinkel beäugte. Sein Spiegelbild an der Wand beugte sich und zerfloß, und als sein Helm die Wand streifte, gab es ein hartes, hohles Geräusch. Techniker umlauerten ihn, vermieden es aber, ihm zu helfen. Eines Tages würde er sich ja ohne fremde Hilfe auf einem fremden Planeten bewegen müssen. Harts Stimme drang aus dem Kopfhörer. »Nur noch eine Stunde. Wir stellen jetzt die Verbindung mit Boldre her. Sind Sie bereit, Mister Tabiner?« Dabei betonte er das Wort >Mister< so, als wäre es sowohl minderwertig als auch verächtlich. Wahrscheinlich unbeabsichtigt. Es war so seine Art. Tabiner brummte eine Antwort. Das kurze lohfarbene Gestrüpp, das die kahle Stelle auf Harts Kopf um wucherte, kam in Sicht, und das Gesicht darunter nahm sich wie eine häßliche, unmenschliche Schnitzarbeit aus. »Sobald Sie das Signal hören, haben Sie Kontakt.« Seine scharfen Augen suchten Tabiners Blick durch die kleine runde Gesichtsplatte. Er machte sich richtige Sorgen, und Tabiner konnte daran erkennen, daß der Mann den Berechnungen des Griffen gegenüber ein gesundes Mißtrauen hegte. Er hatte für diesen Probeflug viel aufs Spiel gesetzt. Wenn der Flug nicht klappte, dann konnte die Biosphäre nicht fort, und Milcon wußte genau, wo sie - und er - zu finden waren. Tabiner selbst machte sich keine Sorgen. Er nahm ein geringeres Risiko auf sich als die Seefahrer, die die ersten großen Fahrten auf den Ozeanen der Erde gewagt hatten. Er wußte auch, wo das Ziel zu suchen war, und wußte ungefähr, was ihn erwartete. Er wußte zum Beispiel, daß es zumindest auf einem der Planeten von Tau Ceti von Leben wimmelte. Ein anderer Planet besaß eine Atmosphäre, obwohl er im kalten Griff einer ausgedehnten Eisdecke lag. Wenn er überhaupt Zweifel hegte, dann bezüglich der Eigenheiten der Lebensformen auf den Planeten, besonders auf Tau Ceti Drei. Vielleicht hing alles von den automatischen Schiffen ab, welche Keime auf die Planeten beförderten. Hatten diese Schiffe ganze und gute Arbeit geleistet, dann waren die Probleme gelöst, und er brauchte keine Gewissenskonflikte zu haben. Wenn keine Schäden aufgetreten waren, dann hätten beide Planeten die für Menschen annähernd geeigneten Lebensbedingungen bieten müssen. Seine Intuition hatte aber eine andere Alternative parat. Und sein Gewissen war darüber weitaus glücklicher. Obwohl der vierte Planet kalt und die Atmosphäre nicht ganz geeignet war, konnte sich der Mensch dort, ohne Schaden zu nehmen, ansiedeln. Man konnte in Kuppelstädten leben, bis die Eiszeit einer wärmeren Periode wich. Man konnte die eigene Ökologie vom blanken Gestein her aufbauen. Seine Zweifel konzentrierten sich um den dritten Planeten aus gegenteiligen Gründen. Der war nämlich für eine Besiedlung zu schade. Abgesehen von den Viren, die die Menschen auf diesen Planeten einschleppen würden, war nicht abzusehen, was sie mit dem dort bereits existierenden Leben anfangen würden, wenn sie den Planeten in Besitz nahmen. Das Leben befand sich dort schon im eigenen, richtigen Kreislauf, und das Leben selbst war es, das bewohnbare Planeten schuf und nicht umgekehrt. Von seinem Standpunkt aus konnte er jetzt das Bimssteingesicht der Biosphäre sehen. Er stand in der kleinen Raum-Zwischenstation, und wenn er nach oben blickte, >hing< die Biosphäre über ihm. Hier, in der kleinen Raumstation, ging man daran, ihn für den Weiterflug mit dem stationär in der Umlaufbahn wartenden Raumschiff
herzurichten. Er konnte dessen spitze Umrisse sehen, es wirkte klein und so einsam. Hätte er die große Scheibe des Mars sehen können, hätte er auf ihr eine kleine, blauweiße Insel in volles Rot eingebettet entdeckt, die sich lieblich wie eine Blume von dem dunklen Nichts abhob. Er mußte an Boldre und dessen kluge Fragen, anläßlich eines wiederholten Besuches bei diesem, denken. Dieser große Mann hatte ein expositionelles Diagramm über die zur Erreichung der Lichtgeschwindigkeit erforderlichen technischen Bedingungen und Antriebskräfte entwickelt. Er hatte damit in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts begonnen und das Werk knapp vor dem Jahr zweitausend - vor Tabiners erstem Flug - beendet. Tabiner starrte in die Richtung des jetzt durch die Biosphäre verdeckten Planeten Mars. Er dachte daran, daß dieser einst eine leere, rote Wüste gewesen war. Und dann hatte der Planet den Rekord aller Zeiten, was die Zerstörungskraft des Menschen anlangt, erlebt: man hatte Leben dort oben entwickelt und es in weniger als tausend Jahren durch schleichende Vergiftung wieder erstickt. Die Schönheit der Blume war eine Täuschung. Sie war ebenso problematisch wie Boldres Darstellungen. Was Boldre ihm gesagt hatte, war richtig. Die Erwartungsberechnungen hatten keinen Sinn. Sein Mißtrauen war berechtigt. Die Flucht zu den Sternen war unmöglich, unmöglich die Technologie, für Planeten eine Atmosphäre zu schaffen, diese aber gleichzeitig zu steuern und aufrechtzuerhalten. Einst hatte ja Tabiner das gleiche Experiment versucht und hatte ebendiese Unmöglichkeit entdecken müssen. Er hatte sich über die Geheimniskrämerei gewundert, die den ersten niedrigen Flug zum Mars umgab. Er hatte sich gefragt, was man wohl auf den Mars-Satelliten und den MarsAequilateralen - an den Punkten des Schwerkraftgleichgewichtes zweier Körper - gefunden hatte, ob jemand oder etwas dort vielleicht ein Überraschunggeschenk für die Erde versteckt hatte. Hatte die Erde wirklich ein solches Geschenk - etwa in Form einer hochentwickelten Technologie - erhalten, dann erklärten sich damit die gesteigerten Erwartungen der diesbezüglichen Hochrechnungen. Vielleicht lag darin auch die Erklärung für Milcon. Die Militärs hatten sich zusammengetan, entweder gegen eine mögliche Bedrohung von außen, oder, um die Erde für ein größeres Unternehmen vorzubereiten. Tabiner glaubte sicher zu wissen, was man gefunden hatte. Nur der Griffen erfüllte alle diese Erfordernisse, Eine einzige, kleine technische Einheit, ein kleiner Apparat, besaß sämtliches erforderliche Wissen und Können. Als einzige Frage blieb die Frage seiner endgültigen Bestimmung offen. Tabiner blickte nun durch ein anderes Fenster hinaus, auf die andere kahle Seite der Biosphäre. Sie war von Sternen erhellt, die im offenen All als stille Lichter - ohne zu funkeln glühten. Auch auf diese großen Entfernungen waren die Sterne rot, weiß und gelb nicht einfach blau, wie in Liedern besungen. Er wußte nicht, warum es ihm warm ums Herz wurde. Jetzt umdrängten ihn wieder die emsigen Techniker und trieben die Vorbereitungen voran. Die nächste Stunde verging wie im Flug, die Stimmen um ihn herum wurden aufgeregter, drängender. Der eine oder andere lächelte ihm zu, und das Lächeln wünschte ihm alles Gute - als wolle ihn jeder einzelne mit einem Glücksbringer berühren -, und das Lächeln war das einzige zur Verfügung Stehende. Harts Stimme machte dem Stimmengewirr ein Ende und erinnerte die Techniker an die Notwendigkeit wissenschaftlicher Disziplin. Diese Notwendigkeit bestand gar nicht, weil ihre Handgriffe automatisch erfolgten und so eingeübt waren, daß sie längst zu Instinkten geworden waren. Über sie und ihr Können nachzugrübeln, war sinnlos – es wäre fast inzestiöses Eindringen in die ihnen eigene Perfektion gewesen. Als man Tabiner nun auf den Rücken legte, verglich er seine Situation mit jener der gepanzerten Ritter, die man mit Flaschenzügen auf die Pferde hievte. Ein
menschliches Wesen war noch nie für wertvoller erachtet worden als die Rüstung, in der es steckte. Ein Leben bedeutete nichts, wenn man nur die Trümmer der kostbaren Rüstung, in der es gesteckt hatte, wieder zusammenflicken und wieder verwenden konnte! Die kleine Tür hinter ihm wurde versperrt. Tabiner versank sofort in sein Kissen geistiger Entspannung. Wenn er je einer Gefahr ausgesetzt war, so war es jetzt, wenn er sein Denken auf den Aufbruch konzentrierte und seine Nerven damit belastete. Das hätte vor seiner ersten Reise eintreten können- aber diesmal nicht. Es war weder seine Zeit noch seine Heimat, die er verließ. Er rief sich jene Gedanken herbei, die ihm Zufriedenheit bereiteten, und ließ sich, wie ein zarter Schmetterling auf eine Blume, darauf nieder. Solche Gedanken hatten ihn immer vor Selbstentfremdung und innerer Zerrissenheit bewahrt - Erinnerungen an einen Ort und an ein Erlebnis aus seiner Kindheit waren immer vorhanden. Er war froh, daß er diesen Ort nach seiner Rückkehr auf die Erde nicht besucht hatte. So war er in seinem Bewußtsein noch immer unversehrt. Und weil der Ort unversehrt war, war es auch das Erlebnis. Die Kapsel, in der er sich befand, entschwebte jetzt der Raumstation - ein Stück Treibholz, das von einem unsichtbaren Strom erfaßt wurde. Bald würde sie das Raumschiff orten und dort Zuflucht suchen. Tabiner öffnete die Augen und ließ es zu, daß die gesamte Herrlichkeit von Mars, Biosphäre und Sternen sich in sein Bewußtsein senkte. Er sah rund um sich, während er auf das Raumschiff zutrieb. Die Sterne waren wunderschön in ihrer Natürlichkeit. Er konnte sogar ein kleines, Erde genanntes Licht erspähen. In Gedanken vergrößerte er es, bis es zu einer Welt voll frischen Schnees aus seiner Winterkindheit wurde. Seine Eltern hatten eine kleine Farm besessen. Sie waren gute und warmherzige Menschen, die an ihren Grundsätzen festhielten. Die zerbrechliche Schlichtheit dieser Lebensauffassung hatte eine Zeit überlebt, da Menschenquälerei eine Art Vorzugsstellung einnahm und der Trost des Glaubens in Frage gestellt wurde. Irgendwie kam es, daß sie von diesen Dingen gar nichts merkten. Und diesen Frieden hatten sie an Tabiner weitergegeben. Und als er das erste Mal von zu Hause wegging, sehr jung und' neugierig, ob die ganze Welt so wie dieser friedliche Hafen wäre, da war auch er eingehüllt in ihre Unverwundbarkeit. Er hatte nur etwas gefunden und mitgebracht, was für ihn richtig war - eine neue, faszinierende Welt. Dieses Gefühl hatte ihn stets begleitet. Er hatte sich seine Unschuld bewahrt. Die Luftschleuse des Raumschiffes öffnete sich und schluckte die Kapsel, in der er sich befand. Er wurde jetzt durch das Schiff hindurch zur Steuerung auf dem Hauptdeck geschleust. Die Kapsel fiel zu beiden Seiten seines Anzuges ab und er wurde in seine Dauerstellung eingeriegelt. Die Systeme des Schiffes erwachten zum Leben, eines nachdem anderen. Boldre stellte von der Biosphäre aus den ersten Kontakt her. Er formte in seinem Bewußtsein Worte statt Bilder. Tabiner hörte sie und löste sie in Sprache auf, wie sie seine Ohren aufgenommen hätten. Er bestätigte die Verbindung. Im Bemühen, seine innere Befriedigung zu verbergen, redete er über das Schiff und formte klar die gedachten Worte. Das Raumschiff war gewaltig, tausend Fuß lang und dreihundert breit. Diese Größe war notwendig, weil es sowohl Antriebsaggregate, als auch die Photon-Maschinen enthielt, die aus dem fast völligen Vakuum des Alls Energieteilchen aufnehmen konnten. Es war bezeichnend, daß man das Schiff nach dem merkwürdigen kleinen Mars-Satelliten >Phobos< genannt hatte, dachte er. Aber es bestand zu neunzig Prozent aus Treibstoff und war winzig im Vergleich zur Biosphäre, die eine Million Menschen ins All befördern konnte. Tabiner stellte Kontakt mit Boldre her und fing dabei eine Reihe von Gedankensplittern auf. Tabiner war nicht sicher, ob sie ihm von Boldre zugedacht waren oder nur drängende Fragen waren, die Boldre beschäftigten. »Wie steht es mit der Erde?« war die Frage.
Er antwortete nach einiger Überlegung: »Weniger bevölkert, als man annehmen möchte. Jedoch abgenutzt und müde. Sicherlich friedlich - aber erschöpft.« »Keine übervölkerten Parks?« fragte die unhörbare Stimme. »Jede Menge an einsamen Gegenden.« »Und der Mars?« - »Dasselbe.« Tabiner merkte, daß er den großen Mann zum Schweigen gebracht hatte. Bei näherem Nachdenken über all dies fand er jene Antwort, nach der er schon lange gesucht hatte. Milcon stellte nur eine vorübergehende Pause dar, aber auch dieses System würde sich verewigen wollen. Hart und Polcon waren bisher vielleicht mehr Werkzeug als Gegner und das aus einem sehr gewichtigen Grund. Und dieser Grund hatte etwas mit der Erde zutun. Er hing auch mit Tau Ceti Drei zusammen. Tabiner wandte sich jetzt Gedanken über den Flug zu. Bei einer Beschleunigung von neunzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit würde der Zeitbegriff differieren. Vierzehn Jahre Erdenzeit würden für ihn weniger als zwei Jahre sein. Es war, als wären die Gesetze der Relativität für die Raumschiffahrt unter Berücksichtigung personeller Belange geschaffen worden. Ohne sie und den Kunstgriff des langen Winterschlafes wären große Fahrten ins All tatsächlich unmöglich. Undeutlich hörte er jetzt den Countdown. Und einen Aufschrei der Verzweiflung in seinem Kopf. Verbissen kämpfte er um seine Fassung. Das war unerwartet gekommen und hatte ihn überrumpelt. Einen Augenblick fragte er sich, ob er eine Gefühlsübertragung Boldres aufgenommen hatte - aber er kannte ja den Mann und seine eiserne Entschlossenheit. Boldre besaß zwar nicht die gleiche Gewissensruhe wie er, dafür ein felsenstarkes Selbstbewußtsein. Das Schiff vibrierte jetzt. Tabiner überdachte die Gründe für seine Fahrt. Er flog nicht nur allein der Menschen auf der Biosphäre wegen. Er war auch derjenige, der entscheiden sollte, wo sie landen würden, derjenige, der eine Bleibe für sie vorbereitete. Er würde für sie die Wahl treffen, und es mußte eine gute Wahl sein. Tabiner wandte jetzt jene eingedrillte Methode geistigen Abschaltens an, die zu völliger Versunkenheit führte. Langsam blieb die Biosphäre zurück, als wäre sie ein Spielball, der ins Nichts fiel. Er spürte den gesteigerten Widerstand und hörte Hart über sein Empfangsgerät. »Flugbahn perfekt.« Vor tausend kurzen Jahren hatte er genau diese Worte auch schon gehört. Dann hatte er aus hoher Umlaufbahn die Erde gesehen. Er hatte Ozeane und Kontinente unterscheiden können, blau und grün, licht und dunkel, das alles größtenteils vom Dunst dahintreibender Wolken bedeckt. Die Wolken selbst waren nahe der Lichtgrenze lachsrosa. Die Erde hatte von der Umlaufbahn aus riesig ausgesehen, schrumpfte aber rasch zusammen, als er an Entfernung gewann, bis sie auf die Größe einer kleinen Melone reduziert war und die Perspektive sie in den Augen des einsamen Raumfahrers noch verkleinerte. Und dann war ihm die Farm in Vermont geblieben. »Fünf Minuten«, meldete die klare, kalte Stimme der regelmäßigen Kontrolle. Tabiner ließ den Blick rasch über die Steuerungs- und Meßapparate schweifen. Alles in Ordnung. Die in den Anzug geleitete Atmosphäre veränderte sich planmäßig. Der hohe Sauerstoffgehalt wurde durch eine Mischung ersetzt, die Narkose herbeiführen würde. Schließlich würden sämtliche körperlichen Prozesse verlangsamt werden, und er würde in tiefen Schlaf verfallen. Der Anzug würde ihn ernähren - direkt in den Blutkreislauf - und auch alle Ausscheidungen entfernen. Nur sein Gehirn sollte auf der geringsten Lebensstufe weiterticken. Er ließ sich in eine Traumwelt hinabgleiten. Sein letztes Gefühl war das ruhiger Zufriedenheit. Auf der glatten Tür stand: >Tabiner<. Hinter der Tür befand sich ein Raum. Er lag in der Biosphäre, unterhalb der Erdschwerkraftsstufe, auf einer Stufe, die Hunderte solcher Räume enthielt. Obwohl der Raum groß war, war er nur einer von Tausenden in dem Riesenkörper. Ein Lichtglobus im großen Felsblock. Rings um den Raum gab es andere, ähnliche Zellen, die der Vollendung
entgegenstrebten, wie langsam heranwachsende kleine Embryos in einem dunklen Mutterleib. Oberhalb dieser Stufe der Biosphäre befand sich der kreisförmige, grüne Bereich der Erdstufe, unterhalb die zwei Kreise von Mars und Mond. Der Raum war von Wichtigkeit, weil er eines der Gebiete war, in denen das Gehirn der gesamten Maschinerie unter schmerzvollen Erfahrungen ins Leben getreten war, so wie eine primitive Intelligenz aus Erfahrungen neue Lebensmuster gewinnt und danach zu leben lernt. Bei einem flüchtigen Blick schien der Raum fast leer - bis auf einen, im Halbrund verlaufenden Tisch. Ein näherer Blick enthüllte, daß dieser Tisch eine komplexe Konsole darstellte, in der Skalen und Meßapparate eingebettet waren. Das Ganze sah aus wie ein schimmernder Ebenholzblock, mit Edelsteinen besetzt. Die Wände waren Glasschirme. Sanftes Licht wurde hindurchgefiltert und ließ die Scheiben als flache, perlgraue Meere erscheinen. Eine Wand im besonderen lenkte den Blick auf sich. An ihr waren ganze Farbteiche strahlender Farben zu sehen, die sich in der Größe und Tönung unterschieden. Die größten waren am mildesten getönt, zwischen ihnen viele andere, kleiner und leuchtender. Das von den Farbteichen ausstrahlende Licht verebbte und nahm wieder zu. Manchmal versprühte es Funken, die sich im Glühen zu eigenen, goldenen Mustern formten. Nur eine einzige Stelle blieb ständig unbewegt und ruhig - ruhig, wie das einzige Auge eines Zyklopen. An einer anderen Wand hing eine Sternen-Karte, die dreidimensional war. Die Erde war ein einziger grüner Fleck, dargestellt mit dem fast nicht mehr sichtbaren Mond, der sie umkreiste. Die Dimensionen waren nicht richtig proportioniert. So war die Sonne als ein großes gelbes Ei dargestellt, aber nicht von der Größe, wie es ein korrekter Maßstab verlangt hätte. Das spielte keine Rolle - für das bloße Auge war die Anlage akzeptabel. Eine dünne rote Linie zog sich wie ein blutiger Faden bis in die tiefsten Tiefen des Weltraum-Planetariums. Die Linie begann im Umlauf um den Mars, umkreiste die Sonne und die äußeren Planeten. Jeder einzelne Himmelskörper hatte an dem Faden gezerrt und ihn ein wenig aus seiner Flugbahn gebracht, und nun schwebte er zwischen der Sonne und einem weiteren gelben Ei, das kleiner und weiter entfernt war. Durch diese gutdurchdachte Simulierung konnte man auch fünf Planeten sehen, die diese entferntere Sonne umschwebten, man konnte den dritten, vierten und so weiter, mit Leichtigkeit auffinden. Drei Männer betraten jetzt den Raum. Der erste war Hart. Er sah sich die Anlage an und schnüffelte mißtrauisch. Ein oder zweimal hatte er sich bei dem Gedanken ertappt, der Griffen wäre menschlich dieser Raum war nämlich das Werk des Griffen und hatte eine leicht persönliche Note angenommen. Oft sah er sich geradezu genötigt, hinter die diversen Schirme zu treten, um sich zu vergewissern, daß die kleine Zauberbox, die gemütlich und harmlos zwischen den massiven Computern hockte, tatsächlich bloß eine Maschine war. Hier war ihr Reich. Die beiden anderen Männer waren Melier und Finister. Hart hatte diesen Finister aus den Reihen der Techniker der Erdenstufe ausgewählt. Alle nannten ihn den finsteren Finn, was Hart gar nicht so lustig, eher ärgerlich fand. Es war ein weiteres, deutliches Anzeichen langsamer Veränderungen auf der Erdenstufe. Von irgendwoher war dort Sinn für Humor eingerissen. Natürlich hatte er Boldre im Verdacht. Sein Name war überall bekannt. Entweder sein richtiger Name oder sein Spitzname: Eisenstiefel. Jegliche Befriedigung, die Hart immer erfüllt hatte, wenn er den Insulaner auf seinen künstlichen Beinen umherstelzen sah, war längst verflogen und hatte sich in ausgesprochene Abneigung verwandelt. Die drei nahmen ihren Platz am Tisch ein. »Zweite Kontaktaufnahme!« dröhnte Hart. Melier sagte gedehnt: »Ist Boldre an seinem Platz?« Hart seufzte mit finsterer Miene. »Wer weiß schon, was Boldre so treibt. Sehen Sie nach.« Melier drückte die Sprechtaste. Boldre
mußte das Klicken sofort gehört haben. Seine Stimme tönte aus dem Lautsprecher. »Haben Sie irgendwelche Sorgen, Meiler?« Hart sah Boldre vor seinem geistigen Auge. Boldre und die Frau waren zusammen in dem Raum mit Null-Schwerkraft, und beide lachten ihn aus. Um das zu wissen, brauchte er sie nicht zu sehen. Er wünschte, er könnte sie auf die kalte Oberfläche jener Welt, die nur fünfzigtausend Meilen entfernt war, fallen lassen. Bei minus zweihundertzwanzig Kältegraden wäre ihnen auf Neptun der Humor vergangen. »Sagen Sie ihnen, daß die zweite Kontaktaufnahme erfolgt«, knurrte er. Meiler wiederholte und Boldre bestätigte das Gehörte. Hart fragte sich, ob der große Mann wohl wüßte, um welchen Anlaß es sich handelte. Es war die zweite Kontaktaufnahme seit sechs Jahren, und irgendwie hatten sich die Jahre für immer verloren. Auch andere Dinge waren verloren. Mit der Erde hatte es weniger Verbindung gegeben, und er und das Mädchen wußten, warum. Es war ihr Geheimnis, und sogar die von der Erde Gekommenen wußten es nicht. Vielleicht wußten sie teilweise Bescheid, aber sie hatten nie so viel erfahren, um sich alles zusammenreimen zu können. Was ihn immer wieder in Erstaunen versetzt hatte, war die Tatsache, daß Milcon Passivität vorgezogen hatte. Milcon war bei seinen Leuten geblieben. Möglich, tröstete er sich, daß sie vor der Fahrt ins All noch mehr Angst gehabt hatten. XIII Die schwere Hand auf seinen Augen hob sich, und Tabiner merkte, daß er die Augen öffnen konnte. Seine Reaktionen waren noch immer viel zu langsam, aber er war genau wie geplant wieder zum Leben erwacht. Er hegte den Verdacht, daß einige der allgemeinen Voraussagen nicht stimmten, aber das war nur so, eine Ahnung: er hatte keine Tatsachen in der Hand. Letztes Mal war er der Lichtgeschwindigkeit längst nicht so nahe gekommen. Er war sich eines unerwarteten und unzulänglich definierten Gebietes bewußt, das er erkunden mußte und von dem er einiges spürte, aber wenig wußte. Er war erst halb bei Bewußtsein. Er konnte den Kopf ein Stück bewegen und seinen Blick an die draußen herrschende Helligkeit gewöhnen, aber wenig mehr. Es war wie die Vorstellungen, die man von einer Wiedergeburt hatte, das Ausschlüpfen eines Schmetterlings aus dem Gefängnis der Puppe -eine Gefangenschaft, die sie in anderer Form, in niedrigerer Form angetreten hatte. Tabiner verdrängte diesen Gedanken aus dem Bewußtsein. Vor ihm lagen verschiedene Aufgaben, aber die größte bestand darin, sich an die Realität zu halten und an Boldre und die Biosphäre eine Beschreibung der Fakten zu liefern. Er wußte, daß das, was er sah, möglicherweise von seiner eigenen Überzeugung gefärbt wurde, doch er mußte sein Möglichstes tun. Er sah nach unten und konnte halb und halb seinen Anzug sehen. Langsam tastete er nach der Steuerung, die seine Beine in seinen Gesichtskreis bringen würde. Sie funkelten helleuchtend und waren ihrer Form nach schwer von dem hellen Hintergrund zu unterscheiden. Er kam sich wie in geschmolzene Edelsteine eingebettet vor und wie ertränkt in ihrem Glanz. Wieder untersuchten seine Finger die Steuereinrichtung. Er entdeckte den Schalter, der ihn mit Boldre verband, unternahm aber nicht den Versuch, in seinem Bewußtsein Wortbilder zu formen. Statt dessen sah er zur Seite, zu dem viereckigen Kristall, der einst das Ausguckfenster war. Sterne sprangen wie scharfe Glasnadeln in sein Gesichtsfeld, wirbelten und glitzerten unter einer schimmernden Decke eisigen Diamantenwassers. Er konnte sie alle ganz deutlich sehen, so klar, als könne er heute zum ersten Mal sehen. Die Sterne bewegten sich nach allen Richtungen, und
das war falsch. Es war, als würde das Schiff wie ein irregewordener Fußball rollen. Das war irrational. Falls die Instrumente das Rollen bestätigten, dann war Gefahr im Anzug. Er sah die Steuerungsinstrumente durch und fand auch gleich den Stabilitätsindikator. Das Schiff war danach weder ins Rollen noch ins Schlingern geraten. Kalt schätzte er die Lage ab. Was er sah, war nicht glaubwürdig. Es war subjektiv. Gleichzeitig mußte er es aber melden, weil man in der Biosphäre keine Massenhalluzination riskieren konnte, falls es sich um eine solche handelte. Er formte die Worte, kurz und bündig. »Wiederbelebung geglückt. . . erste Eindrücke sind illusionär.« Er fragte sich, ob die Täuschung fortschreiten würde. Unterscheidungsvermögen war eine Sache der Selbstdisziplin, aber falls die Eindrücke auf Tatsachen beruhten, bedeuteten sie ebenfalls Gefahr für die Biosphäre. Sollte die Abschirmung, das gewaltige Äquivalent seines Anzuges, während des Fluges zusammenbrechen, dann würde es Panik und Katastrophe geben. Tabiner spürte die Isolation des einsamen Abenteuers. Er hatte niemanden, der seine Eindrücke nachprüfen konnte, und er glaubte zu wissen, wie der erste im All verlorengegangene Astronaut sich gefühlt haben mußte. Dann fiel ihm ein, daß der Mann seinen Bericht ruhig bis zum Schluß fortgesetzt hatte. Und auf der Erde hatte es Proteste und Demonstrationen gegen die Weltraumfahrt gegeben. Ein goldener Schwärm kleiner Partikel kreiste draußen in der plötzlichen Dunkelheit. Er beobachtete, wie sie millionenfach manövrierten, hin und wieder eines plötzlich den Schwärm verließ, als wären es intelligente Wesen. Er zwang sich zur Konzentration. Verbissen begann er die Apparate auf der Konsole abzulesen. Jeder einzelne hatte mit dem Zustand des Schiffes zu tun. Er formte jede einzelne Zahl deutlich im Bewußtsein, bis er mit dem Ablesen zu Ende war. Die Skalen waren Farbenblocks und die Ziffern abwechselnd weit oder nah, wobei jede ihre Lage nach Belieben änderte. Er suchte einen Präzedenzfall. Die Situation war ähnlich wie beim ersten Durchbrechen der Schallmauer oder den ersten Erfahrungen mit der Schwerelosigkeit. Er machte sich klar, daß er sich der Lichtschranke näherte: er befand sich fünf Prozent unter ihrer Schwelle. Es war immerhin möglich, daß sein Nervensystem auf eine Verzerrung der Energiefelder reagierte oder die visuellen Effekte mit der Natur des Lichtes bei dieser Geschwindigkeit in Verbindung standen. Er spielte mit dem Gedanken, daß das Licht selbst der Zeitausdehnung unterworfen war. Neugierig stellte er sich die Frage, ob das bedeutete, daß aus diesem Grunde die Sterne weiter entfernt waren, als man dachte. Das schied er sofort als Unsinn aus. Er hatte die Sterne ja bereits erreicht und war an Hunderten von ihnen vorbeigeflogen. Nur hatte er nie zuvor diese Geschwindigkeit erreicht. Beim letzten Mal war er nur auf achtzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit gekommen. Tabiner nahm seinen ganzen Willen zusammen, um seine Zweifel zu erhalten. Die Illusionen nahmen nämlich eigene Formen an. Die Instrumente hatten neue Gestalt und neue Perspektive angenommen, waren aber noch sinnvoll. Mühsam las er sie ab und verglich die Ergebnisse mit denen, die er bereits weitergegeben hatte. Es waren dieselben. Erleichtert seufzte er auf, aber die ganz Kabine war plötzlich von Licht und Farben neuer Art erfüllt. Zu seiner stillen Verwunderung hörte er seine eigene Stimme sagen: »Es ist wunderschön. Licht und Farben sind schön. Anders als alle Farben, die ich je gesehen habe. Sogar die Sterne haben Tiefe und bewegen sich sachte wie winzige Bläschen. Dazwischen ist samtene Leere, aber irgendwie von Festigkeit erfüllt, als läge da ein Stapel Stoff.« Plötzlich war ihm kalt. Er hörte Boldres unausgesprochene Frage. »Hart möchte wissen, wie es mit der Kälte steht.« Tabiner studierte seine Empfindungen, als wären sie ein zu prüfendes und zu beschreibendes Objekt. »Mein Körper ist warm, aber mein Gehirn ist kalt, ein
abgeschiedenes Universum aus Eis, ein gigantischer Kristall.« Boldre war ganz aufgeregt. »Ich spüre es ebenso.« Und dann zögernd: »Hart fragt, ob Sie sich einsam fühlen . . . verlassen. Ist es erträglich?« Tabiner hielt die Luft an. Die Frage verblüffte ihn. Zum ersten Mal fühlte er sich wirklich einsam, und er fragte sich, wie Hart auf die Wahrheit gestoßen war. Er wollte sein neues Entsetzen über die Frage hinausschrein, da fiel ihm ein, daß es genau das war, was seinen Gefährten auf dem ersten Flug das Leben gekostet hatte. Die Kälte in seinem Kopf brachte ihn zum Zittern. Er sah hinab auf seine behandschuhten Hände. Sie waren verkrampft. »Ich möchte nicht hier draußen bleiben.« Keine Antwort. Statt dessen hörte er Musik. Es war Jazz. Ein gedämpfter und hervorragender Blues drang in seine traurige Stimmung. Die Weise durchströmte ihn und filterte ins Bewußtsein, als fülle sie einen leeren Ballon. Irgendwo war Stimmengemurmel, ganz in der Nähe, in seinem Kopf. Schritte gingen gemächlich vorbei, als gingen sie in großer Sommerhitze, spät abends, sicher und voll Frieden. Er roch den duftenden Hauch guten Tabaks. Er zwang sich die kalten harten Worte ab. »Nicht beachten. Ich habe Halluzinationen.« Weitere Erklärungen taumelten durch die Illusion und kämpften darum, die Verführung des Traumes zu überleben. Falls sie einen Sinn ergaben, dann bedeutete es, daß seine Nerven am Zerreißen waren. Er mußte wissen, ob es ein physischer Zusammenbruch oder geistiges Mürbewerden war. Tief innen in dem kalten Knoten seines Verstandes wußte er, daß er sich wehren mußte. Die Angst würde den Kreis vollenden und ihn fertigmachen, also mußte er die Angst verdrängen. Die Illusionen kamen aus seinem Inneren. Es war dies das alte Bild von dem Ertrinkenden, der sein gesamtes Leben vor dem inneren Auge ablaufen sieht. Tabiner ertrank in alten Bildern, in alten Erinnerungen, die die Intensität gegenwärtiger Wirklichkeit hatten. Er mußte in seiner Erinnerung wählerisch sein. Er mußte eine finden und sie festhalten. Unerwartet hörte er bitterliches Kindergeschrei. Er hörte es und versuchte es in seinem Erinnerungsvorrat zu identifizieren. Welche Erinnerung war es? War es die, die er wollte? Die Frage verlor sich in der Illusion. Die vertraute Form der Kabine war verschwunden. An ihrer Stelle trat ein ebenso vertrauter Raum. Der Raum, in dem er als Kind geschlafen hatte. Auf seinen Wangen spürte er die sanfte Berührung von Tränen. Eine Stimme sprach leise zu ihn. Er erkannte sie halb. Er spürte ihre Gegenwart mehr, als daß er sie hörte. Die Stimme war voll Wärme. Beziehungslose Kraft umfloß ihn, und er spürte wieder Zutrauen. Alle unterdrückte Angst war von ihm genommen, obwohl er nicht genau wußte, was man ihm gesagt hatte. Nicht Boldre hatte gesprochen, sondern jemand anderer. Er wurde in eine andere Erinnerung geschleudert. Es war Winter. Die Farm hob sich als dunkles Rechteck von der weißen Fläche ab. Dahinter stieg ein Hügel an. Eine übermütige Katze tollte im Schnee und sprang wie wild in eine Schneewächte. Er sah zu, wie sie das lange Gras beroch, das den Schnee mit dünnen Halmen und Blättern durchbohrte. Die Pfoten schlugen aus nicht ersichtlichem Grund in die Luft, als wolle sie ein kleines Insekt fangen. Die Erinnerung war stark und bewegt. Plötzlich war alles vorbei. Sein Sichtvermögen schien zu schrumpfen. Einen Augenblick lang war es wieder dunkel, aber auch die Dunkelheit begann zu schrumpfen. Sie wurde auf das knappe, runde Oval seines Gesichtsumfanges reduziert. Die Sterne bildeten helle Streifen, und die Farben waren noch immer nicht richtig. Sie waren verzerrt und leuchtend, aber er hatte sie integriert. Er konnte mit ihnen leben. Das gab er an Boldre durch. Die Kommunikation beschränkte sich auf blanke Tatsachen. »Wir müssen diese Krise auch auf dem ersten Flug durchgemacht haben, aber mir ist sie damals kaum aufgefallen. Auf der Biosphäre wird man jetzt darauf gefaßt sein müssen. Da sie sich
mit einem geringeren Prozentsatz an Lichtgeschwindigkeit fortbewegt, wird diese Erscheinung vielleicht gar nicht auftreten.« Er hörte Boldre sprechen, und das Geräusch in seinem Kopf war jetzt nicht mehr eindrucksvoller als eine Stimme in seinen Kopfhörern. Seine Finger berührten den Knopf am Armaturenbrett, und wieder wurde er auf den Rücken gelegt und ganz ausgestreckt. Er entspannte sich. Er war er selbst. Die Sterne draußen hatten ihre korrekten Positionen eingenommen. Boldre wußte, daß Tabiner eine Zeit großer Gefahr durchgemacht und sie überlebt hatte. Er war beeindruckt. Jetzt begriff er, wie der Mann zu dem geworden war, was er darstellte. Er war bedrückt, daß es ihm an dieser Charakterstärke mangelte. Er verstand jetzt, warum alle menschlichen Beziehungen schwierig waren. Es gab wenig Tabiners und noch weniger Wintertage von Bedeutung. Was Tabiner von der Erde hatte, hatte er selbst nie gehabt. Falls er über etwas ähnliches verfügte, so war es eine Episode mit Hugo vor langer Zeit, als sie mit ihrem ersten Boot hinaus in die wilden Wasser um Riphaen gefahren waren. Indem er die Erde durch Tabiners Augen gesehen hatte, hatte er mehr von der Erde erfahren, als er je zu hoffen wagte. Er fragte sich, wie Hart oder die anderen sie hatten verlassen können oder zugelassen hatten, daß Milcon sie ihnen wegnahm. Jan bewegte sich auf ihrem harten Lager. »Was gibt es denn so Arges?« Er hob den Kopf. »Nicht arg, aber gefährlich.« Sie schloß die Augen und sagte leise: »Es wird Hart nicht aufhalten.« Boldre entfernte die Apparate, die den geistigen Verkehr zwischen ihm und dem fernen Astronauten bewältigten. Sein Körper schwebte über dem Sitz, und er zwang sich auf den Boden. Vorsichtig stieß er sich vom Boden ab, bis er bei dem Mädchen war. Er berührte ihr Gesicht, und sie öffnete die Augen. Hart sah sich um, als Boldre hereinhumpelte. Er nickte und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den zwei Bildschirmen zu: der Weltraumkarte und dem Schirm, der Tabiners Gehirntätigkeit darstellte. Dieser Schirm war jetzt bis auf einen weißen Fleck in der Mitte leer. Der Schirm war nur simuliert, aus der Computererinnerung an die Gehirntätigkeit zusammengestellt, aber es waren darauf die von Tabiner eingelaufenen Informationen aufgezeichnet worden. Jetzt war alles vorbei, und nur das eine Licht blieb. Hart deutete auf den weißen Fleck. »Sicher wieder in Schlaf versunken.« Er seufzte und sog Luft ein. »Es mußte eine starke Interferenz der Synapsen, der Verbindungen zwischen den Nervenenden gegeben haben. Das hat das Schema drastisch umgeworfen. Wir dachten schon, er würde sterben, aber er hat überlebt.« Meiler pflichtete ihm bei und äußerte sich, ohne dabei ein Wort von Bedeutung verlauten zu lassen. Finister brummte bloß. Boldre wartete angespannt wie eine Katze. Er hatte sechs Jahre lang gewartet. Seine Gelegenheit würde kommen, und er hatte das starke Gefühl, daß sie ganz nahe war. Er haßte ihre selbstzufriedene Gleichgültigkeit, das kühle Abschätzen. Hart studierte ihn eingehend. »Boldre, es war ungemein nützlich. Ich habe jetzt Gewißheit, daß die Biosphäre die Fahrt sicher überstehen wird, obwohl wir unterwegs vielleicht ein paar Menschen verlieren werden.« Er wippte auf dem Stuhl, ohne den Blick von Boldre abzuwenden. »Die Zeit bis zur dritten Kontaktnahme, wenn Tabiner tatsächlich landet, wird sich lange hinziehen. Sie werden wenig zu tun haben. Ich nehme an, Jan hat Ihnen nicht gesagt, daß Milcon unsere Rückkehr zur Erde wünscht?« Boldre erstarrte. Jan hatte nichts dergleichen gesagt. Hart war wieder selbstsicher und arrogant. Er wußte, daß Milcon nicht nur angefragt, sondern darum gebeten hatte. Das bedeutete, daß Milcon nicht mehr über die Mittel verfügte, die Biosphäre zu zerstören. »Wir kehren nicht zur Erde zurück. Statt dessen nehmen wir direkt Kurs auf Tau Ceti.« »Ohne die dritte Kontaktaufnahme abzuwarten?« Das kam als ein halbes Flüstern Boldres. »Wie
können wir losfahren, ehe Tabiner uns berichtet, ob die Planeten bewohnbar sind?« »Das macht nichts«, sagte Hart. »Wir nehmen den Kontakt noch während des Fluges auf. Das Risiko gehen wir ein. Ich bin absolut sicher, daß Tau Ceti bewohnbar ist, und Tabiner wird es bestätigen.« »Angenommen, es stimmt nicht?« Hart stemmte sich aus dem Stuhl hoch wie eine Sprungfeder. Es schien, als wolle er Boldre in Stücke reißen, es aber nicht wagte. »Es gibt kein Zurück.« Boldre nahm sich vor, die folgenden Worte herauszuschreien, aber seine Stimme war kaum hörbar: »Sie haben Angst vor Milcon. Sie fürchten die Rückkehr auf die Erde«, sagte Boldre. Seltsamerweise schüttelte der kleine Mann den Kopf. Er beruhigte sich und lächelte. Es war, als würde ihm klar, daß er die Karten in der Hand hielt. . . jetzt zumindest. »Fragen Sie Jan. Sie wird es Ihnen sagen.« Er wußte, Boldre würde Jan nicht fragen. XIV Die riesige Höhle war eine gekonnte Nachbildung des Originals auf Riphaen. Man hatte nur wenig verändert. Sogar die Tore vor dem breiten Eingang sahen wie früher aus. Jetzt waren sie geschlossen und wurden von helmtragenden Soldaten bewacht. Im Inneren waren einige tausend Insulaner versammelt. Sie saßen in schweigenden Gruppen beisammen und sahen mit schlecht verhohlener Verachtung der Pantomime auf dem Podium am entgegengesetzten Ende zu. Im Verlauf der sechsjährigen Fahrt zu Tau Ceti hatten sie sich an die merkwürdige, mit Mängeln behaftete Gerichtsbarkeit der Erde gewöhnt. Für sie war es nur einer von vielen unbedeutenden Schauprozessen mit einem von vornherein feststehenden Urteil. Hätte man allen Männern, Frauen und Kindern den Prozeß gemacht und sie verurteilt, hätte es ihnen auch nicht viel ausgemacht. Für die Insulaner gab es keinen Unterschied zwischen einem Tod aus den Händen der Robotersoldaten oder einem Tod aus hundert anderen Gründen - dem Beschleunigungsstreß etwa oder den Hunderten anderer Unfallmöglichkeiten der Raumfahrt. Leicht ironisch gefärbter Beifall empfing den Richter bei seinem Eintreten. Mit gespreizter Würde nahm er auf seinem Sitz Platz. Man wußte, daß der Griffen und seine namenlose Computerphalanx das Verfahren leitete. Beweise und Entlastungsanträge waren Zeitverschwendung. Die weiße Perücke des Richters, seine wallende Robe und der Richtersitz aus rotem Plüsch gaben Zeugnis von etwas längst Verlorenem und Vergessenem. Diese Äußerlichkeiten bedeuteten nur mehr wenig. Die Insulaner wußten, daß der Richter durch Lichtsignale einer Batterie und unverschämtes Geklingel zur Räson gebracht wurde, falls er sich das leiseste Zugeständnis zuschulden kommen ließ. Die Computer würden ihn ermahnen, seine Gewissensregungen einzudämmen. Auf jeden Fall wurde der alte Mann von den farbigen Knöpfen auf den Konsolen und den Teleschirmen links und rechts fast um den Verstand gebracht. Er saß da wie ein bühnenerfahrener Schauspieler. Das Gesicht war durch lange Gewohnheit zu einer unerbittlichen Maske starrer Unparteilichkeit geworden. Im Gegensatz dazu hatte Harts Staatsanwalt das Aussehen eines Wolfes. Die Glocke schrillte einmal, und der Schriftführer ermahnte die Anwesenden, sich zu erheben. Die Insulaner standen widerstrebend auf. Sie verharrten unschlüssig, als wollten sie sich sofort wieder setzen und ihre Füße entlasten. Soldaten drängten sich vor, und die Menge reagierte darauf mit sofortigem Hinsetzen, wobei die Mienen allgemein Belustigung und Triumph zeigten. Es wurde weder auf Schuld noch auf Unschuld plädiert. Nach irdischem Recht war das alles ein Anachronismus. Ein Mensch konnte doch über seine Unschuld nicht seine eigene
Meinung kundtun. Ein Urteil, das der Anklage zuwiderlief, hätte einen Justizirrtum dargestellt, da das Urteil unweigerlich auf schuldig zu lauten hatte. Der Verteidiger erhob sich und sah den Richter mit strahlender Miene an. Die Insulaner kamen plötzlich zur Ruhe und ließen sich von diesem Teil des Schauspiels fesseln, da diese Rolle besondere Fähigkeit der Darsteller erforderte. Der Verteidiger mußte nämlich den überzeugenden Eindruck erwecken, daß er für die Sache des Angeklagten eintrat, während von einer echten Verteidigung natürlich keine Rede sein konnte. Dazu bedurfte es eines wahren Meisters an Takt und Einfühlungsvermögen. Sie hörten, wie er sein phrasenhaftes Geschwätz und seine einleitenden Darstellungen vom Stapel ließ, und spendeten höflich Applaus an den falschen Stellen, während er den Fall seines Klienten geschickt in einem schlechten Licht erscheinen ließ. Der Ankläger färbte seine Worte mit derart ätzendem Hohn, daß es einem Bewunderung abnötigte. Er stellte den Fall so hin, als spielte das Gesagte wirklich eine Rolle, und tat, als müßte die Schuld des Angeklagten eingehend erläutert werden, damit eine Verurteilung erreicht werden könne. »Der als Gann bekannte Angeklagte wird der Verletzung des >Separationsgesetzes< angeklagt, da er den ihm zugeteilten Bereich verließ und das den Erdenbewohnern zugewiesene Gebiet betrat. Ich werde beweisen, daß er es aus politischen Gründen getan hat und einen gegen die Behörden gerichteten Aufruhr plante, der alle Bewohner der Biosphäre gefährdet hätte.« Beifälliges Gelächter wurde hörbar. Gann stand vor der Anklagebank, als hätte er die Star-Rolle in einer Sportart zu spielen, deren Regeln er nicht kannte. Er hörte sich die Anklagerede höflich interessiert an, ließ aber keine Anzeichen von Furcht erkennen. Obwohl er nicht wußte, was Boldre wußte, hatte er noch keine Angst. Sein Gewissen hatte ihn nicht verurteilt, und er sah nicht ein, wie jemand anderer für ihn Gewissen spielen konnte. Am Ende der Rede brummte er, und das momentane Staunen schwand aus seiner Miene. Plötzlich war ihm nämlich klargeworden, daß Erdenmenschen entweder gar kein Gewissen hatten oder es aus Bequemlichkeit Maschinen anvertrauten. Langsam begriff er die erste Regel des Spieles. Jetzt erst war er imstande, aufmerksames Interesse aufzubringen. Auf einem Sichtschirm wurde es hell. Es wurden ausgewählte Bilder seines Eindringens in die Erdregion gezeigt. Man hatte ihn bei einem Gespräch mit einer Gruppe auf dem Raketengelände ertappt. »Darf ich eine Frage stellen?« Der Richter nickte. »Könnten die Computer diesen Beweis nicht vortäuschen?« Der Richter runzelte die Stirn und besprach sich im Flüsterton mit dem Schriftführer. Plötzlich sprang der Anklagevertreter auf. »Sämtliche maschinellen Beweise sind zulässig. Dafür haben wir Präzedenzfälle. Maschinen sind immer präziser als menschliche Wesen.« Der Richter warf dem Verteidiger einen Blick zu. »Haben Sie einen Einwand?« Dieser war leicht schockiert und sah seinen Klienten finster an. »Ein Einwand ist meines Erachtens nicht gerechtfertigt. Aber wenn mein Klient darauf beharrt. . .« Gann beharrte darauf. Dafür meldete sich jetzt beharrliches Geklingel. Der Richter zog den Computer-Output zu Rate und war angemessen beeindruckt. »Es geht darum, ob es sich um vorgetäuschtes Beweismaterial handelt oder nicht. Haben Sie uns einen Beweis anzubieten, daß es vorgetäuscht ist?« Er wandte sich mit der Frage direkt an Gann. Gann schüttelte zufrieden den Kopf. »Nein. Es hat mich bloß interessiert, ob eine Vortäuschung möglich wäre.« Er machte ein Gesicht, als hätte er die zweite Spielregel durchschaut und wäre befriedigt. Die Insulaner brüllten vor Begeisterung. Auch Boldre sparte nicht mit Beifall. Die Verhandlung wurde auf der ganzen Biosphäre übertragen, gewöhnlich wurden aber derartige Übertragungen dann nur teilweise gesendet, wenn es galt, Pannen solcher Art auszuklammern. Diesmal war es anders, und Garms Haltung war genau das, was Boldre wollte. In der nächsten
Stunde beobachtete er den langen Aufmarsch der Zeugen. Bis auf einen waren es Soldatenmaschinen, die ihre Aussage mit impertinenter Exaktheit machten. Eine Ausnahme bildete ein gutgebauter Mann. Boldre erkannte ihn sofort. Es war Delph. Der Verteidiger verbiß sich in ihn. Es war klar, daß er krampfhaft nach einer Grundlage für eine Anklage gegen Delph suchte und nicht so sehr an die Verteidigung seines Klienten dachte. Insgeheim beglückwünschte Boldre Gann dazu, daß er den richtigen Kontakt zur richtigen Zeit aufgenommen hatte. Er fragte sich außerdem, wie Delph den Vorfall in der Festung überlebt hatte. Delph machte seine Aussage ohne Umschweife. »Gann sagte mir, die Insulaner wollten die ganze Biosphäre übernehmen. Das war mir recht. Einige von uns hatten ähnliche Pläne auf der Erdenstufe. Wir hätten uns auf einen Kampf eingelassen, aber Gann sagte, es wäre viel einfacher, die Maschinen auszuschalten, die Soldaten zu entwaffnen und Hart zu isolieren. Ich sagte ihm, das alles wäre ganz in meinem Sinne.« Boldre brach der Schweiß aus. Er hatte das Signal des Aufruhrs noch nicht erhalten und dachte, jetzt ginge vielleicht alles schief. Er fragte sich, ob Delph überhaupt auf ihrer Seite stand. Wenn nicht, so war damit erklärt, wie er vom Mond hatte fliehen können. Andererseits hatte er vielleicht die richtigen Worte zum genau richtigen Zeitpunkt ausgesprochen. Inzwischen war nämlich Hart sicher auch ins Schwitzen geraten. Wenn ja, dann war Delph ein kluger Mann oder ein Glückspilz. Die Maschinen auf dem Podium klapperten, und wieder ertönte schrilles Klingeln. Der Richter sagte zu Delph gewandt: »Welche Beweise haben Sie? Hat Gann sich darüber ausgelassen, wie diese Machtübernahme geplant war?« Er sprach hastig und sein Blick hüpfte ängstlich die schweigende Reihe der Soldaten im Hintergrund der großen Halle entlang. Delph schien belustigt. »Man hat die Hauptstromkreise gefunden. Sobald man die ausgeschaltet hat, wird man es auf der gesamten Biosphäre verkünden. Damit wird das Signal zur Zerstörung der Soldaten gegeben.« »Was sonst?« »Dann wird das Brückendeck übernommen.« Er zögerte. Sein Blick suchte Boldre, als hätte er gewußt, daß dieser halbverborgen in der Masse saß. »Ich hätte Hart gern selbst übernommen, aber die Insulaner haben da ihre eigenen Gesetze.« »Und wann soll das stattfinden?« Der alte Mann übertönte schrill das Maschinengeratter. »Wann?« rief er abermals. Die Türen schwangen auf, und ein Kind lief herein. Einen Augenblick blieb es stehen und sah sich um. Dann hatte sein Blick Boldre erfaßt. Das Kind lächelte. Boldre bahnte sich zwischen den Insulanern hindurch einen Weg zum Podium. Vor dem Richtertisch blieb er stehen. »Jetzt!« Der alte Mann schrumpfte in seinem Sitz zusammen. Der Ankläger gab den starren Soldatenreihen mit einem Fingerschnalzen ein Zeichen. Keiner rührte sich. Hart hastete durch die langen Gänge der Verwaltungsetage. Er wußte, Delph hatte die Jagd nicht aufgegeben und würde ihn früher oder später stellen. Hin und wieder blieb er stehen und sah den eilig Herumschwirrenden nach, die aber keinen Blick für ihn übrig hatten. Nach einer Weile wurde ihm unbehaglich zumute, und er suchte wieder Zuflucht in seinem Raum. Dort setzte er sich in den tiefen Sessel hinter dem Schreibtisch und begann Knöpfe zu drücken, die nicht mehr funktionierten. Er seufzte vor sich hin und fragte sich, wie das so rasch hatte kommen können. Der Aufruhr hatte ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Rückblickend mußte er sich eingestehen, daß er eine auf diese Art geführte Attacke hätte erwarten müssen. Und doch hatte er sie nicht erwartet, weil Boldre nicht der Mann war, der sich etwas so Einfaches und Abscheuliches ausdenken konnte und dann ohne Skrupel danach handelte. Er hatte eher Delph oder Jan im Verdacht. . . oder sogar den sanften harmlosen Tabiner. Aber nicht Boldre. Unmöglich, daß dieser sich alles ausgedacht hatte und sich zum Führer aufschwingen wollte. So war es und nicht anders. Er hörte ein kratzendes
Geräusch an der Tür und duckte sich hinter den Schreibtisch. Dann beruhigte er sich. Wahrscheinlich war es ein Kind, denn Boldre hatte ihm bis jetzt Schutz gewährt, und sein Wort war Gesetz. Vielleicht nicht ein Gesetz, wie es hätte sein sollen, weil Boldre von Macht nichts verstand. Er verstand es nicht, sie in die Hand zu nehmen und einzusetzen, und er würde es nie tun können. Wieder stieß Hart einen Seufzer aus. Am Ende würde alles in Anarchie münden. Das war immer so, wenn sich kein Führer fand, kein Bewahrer der Macht, einer, der die Macht um ihrer selbst willen liebte oder damit eine Leere in sich ausfüllen wollte. Die Tür ging auf. Hart sah den Führer. Er sah ihn und er wußte, wer er war, als dieser die kleine Waffe abschoß, die Hart Sehen und Bewußtsein nahm. In gewissem Sinn starb der kleine Mann zufrieden. Delph fühlte wenig Bedauern und wenig Befriedigung. Für ihn war es nicht mehr als ein weiterer kleiner Schritt die Leiter hinauf. XV »Dritte Kontaktaufnahme!« Die Stimme meldete sich in seinem Kopf. Tabiner wußte, daß er einer großen Gefahr entronnen war. Sie lauerte noch in unmittelbarer Nähe, eine Gefahr, die um so bedrohlicher war, weil sie dunkel wie ein Alptraum schien. Seit damals hatte er seine zweite Schlafperiode durchgemacht. Jetzt war er wieder voll bei Bewußtsein und befand sich im Umlauf um eine kleine gelbe Sonne. Die Sonne war so nahe, daß sie riesig wirkte, obwohl sie kleiner war, als seine eigene Sonne. Sie hatte dieselbe Lichtqualität, und das beruhigte ihn. Er hätte zu gern gewußt, ob die Riesencomputer in der Biosphäre auch nur ein Viertel dessen wahrnahmen, was er zu sehen bekam - wenn auch nur auf Datengrundlage - oder, ob der menschliche Computer in Boldres Hirn mehr sah. Wenn auf dem Stern Leben möglich war, dann war seine lange Fahrt von Erfolg gekrönt - nach Harts Begriffen wenigstens. Für Tabiner stellte sich noch die Frage, was für eine Art von Leben es gab. Das würde er schon zu beurteilen wissen. Das Schiff ging jetzt in eine größere Umlaufbahn über und löste sich von dem unmittelbaren Schwerefeld der Sonne. Die gesteigerte Geschwindigkeit drückte den Anzug in die Liege zurück, während das Schiff auf die inneren Planeten zuhielt. Er stellte den gedanklichen Kontakt mit Boldre her. »Es dauert noch eine Woche - auch bei dieser Geschwindigkeit.« Er verschloß sein Bewußtsein. Wenn er ungehemmt seine Gedanken sprechen ließ, hätte er sein Problem verraten. Tabiner stellte daher eine Testfrage. »Was ist mit Hart?« »Wir haben die Macht übernommen«, antwortete Boldre knapp. »Hart ist tot.« Das Schiff hatte seine Fahrt beendet. Die Welten lagen hier einander sehr nahe. Zwar genügend weit entfernt, um nicht richtige Doppelsterne zu bilden, aber doch wieder so nahe, daß sie größer erschienen als die, ihren Hintergrund bildenden Sterne. Es waren Geschwistergestirne: das eine überaus begünstigt, das andere kalt und öde. Tabiner betrachtete den am nächsten gelegenen der beiden Planeten: er war grün und blau, der Erde so ähnlich, aber jünger und hoffnungsvoller. Es war die Welt, die man als Tau Ceti Drei eingeordnet hatte. Die Hauptantriebe gingen auf Hochimpuls über, und die Umlaufbahn wurde flacher, als das Schiff die Fahrt verlangsamte. Es war Zeit, Vorbereitungen zu treffen. Tabiner vollzog den langsamen Übergang in die Planetenkapsel, jene kleine Kapsel, die ihn auf diese neue Welt fallen lassen würde. Das Blau und Grün wurde von Wolken verschleiert. Es sah fast so aus, als wollten die Wolken nach ihm hochgreifen. Zwei Monde gab es: einer war ein natürlicher Satellit, der andere das Saatschiff, ein grober Felsklotz, der von der Erde ausgesandt worden war und alles für ein Umweltsystem Erforderliche beinhaltete. Er stellte sich
die Frage, ob man in der Biosphäre mit dem, was man hier vorfinden würde, wohl zufrieden sein würde. Die erste Reise hatte er unter Selbstaufopferung willig auf sich genommen, aber er war tatsächlich nie zuvor auf einem anderen Planeten gelandet, und das war eine echte Ironie. Er hatte Hunderte von Planeten wohl gesehen, aber dies hier war der erste, den er nach der Erde tatsächlich betreten sollte. Und plötzlich hatte er alle Hände voll zu tun. Die Meßwerte vor ihm zeigten an, daß die Atmosphäre sauerstoffreich war. Das war schon so gewesen, bevor man das Saatschiff ausgesandt hatte. Es stand für ihn fest, daß er auch jetzt noch an dem für ihn grundlegenden moralischen Prinzip festhielt, das ihn schon auf der Biosphäre bewegt hatte. Er wollte eine Landung auf einem von Leben erfüllten Planeten vermeiden, nicht nur um die Insulaner vor den erbitterten Attacken neuer Krankheiten zu bewahren, sondern auch, um das fremde Leben selbst zu schützen. Hart jedoch war darauf aus, beides aufs Spiel zu setzen. Er konnte nur auf ein Wunder hoffen - daß nämlich die Lebensformen irgendwie nebeneinander existieren und ohne Katastrophe überleben konnten. Der Neigungswinkel des Planeten glich dem der Erde. Obgleich der Planet seiner Sonne näher war, war die Hitze nicht größer als auf der Erde - Tau Ceti war nämlich kleiner. Tag- und Jahreszeitenlänge waren ähnlich, doch hatte er das Gefühl, daß die Umwelt freundlicher war als auf der Erde. Soweit dies alles den dritten Planeten betraf. Er wandte den Kopf und sah ganz klar auch den vierten Planeten. Ein blauweißer Diamant. Er hatte das Gefühl, daß die Bedingungen auch dort erträglich, aber härter wären. Er betätigte die Automatik zur Senkung des Gasdruckes in seinem Anzug und bereitete sich zum Absprung mit der Planetenkapsel vor. Die Luken hinter ihm schlössen sich ganz dicht. »Ich gehe jetzt nieder!« Sein Verstand war hellwach und aufmerksam. Angst hatte er nicht. Es war alles so aufregend wie seine ersten Entdeckungsstreifzüge auf der Farm in Vermont. Die Kapsel wurde vom Schiff ausgestoßen und schwenkte den Hitzeschirm aus, als sie in die Atmosphäre hineinstieß. Der Boden kam ihm entgegen, weich wie eine große Hand, die eine Motte einfangen will. Der dünne Wolkenschleier lichtete auf, und Tabiner konnte jetzt weitere Einzelheiten wahrnehmen. Hügel ragten ihm entgegen. Täler senkten sich. Ein großer, tiefblauer Ozean breitete sich sanft über einen weiten Horizont wie ein azurblaues Cape über eine glatte, runde Schulter. Alles war der Erde so ähnlich. Sein Landeplatz jedoch lag in einer Wüste. Dort gab es keine Vegetation, weder Gras noch Bäume, keinen dräuenden Dschungel und widerspenstige Steppe. Das Land war von einer welligen roten Staubdecke bedeckt, arm an Leben. Während des Fallens starrte ihm die Wüste wie ein rotes Auge entgegen - desinteressiert, seine Geheimnisse verbergend. Er fühlte Enttäuschung. Dabei hatte er das Landungsgebiet mit Absicht ausgewählt. Er wollte möglicherweise vorhandenes Leben nicht stören. Er mußte es finden, indem er es beschlich und unbeobachtet belauerte. Und doch spürte er bittere Reue. Er hätte zusätzliche Energie aus der Kapsel zur Überquerung des Meeres verwenden können oder zur Erkundung des Inneren des Festlandes, aber dann hätte er zu wenig Antriebskraft für die Rückkehr zum Schiff gehabt. Die Treibstoffkapazität war sorgfältig so berechnet worden, daß er auf dem Planeten niedergehen und zum Schiff zurückkehren konnte. Die langen Beine streckten sich tastend aus - wie bei einem Insekt, einer zierlichen Spinne. Tabiner sah rings um sich die rote Staubdecke. Da und dort drang dunkler Fels an die Oberfläche, Felsenhänge, die sanft zu einem Vorgebirge ausliefen. Tabiner wurde das Gefühl nicht los, daß die Gegend früher einmal fruchtbar gewesen sein mußte. Sie erinnerte ihn an eine reizvolle, unfruchtbare Frau. Er betätigte die Bremsvorrichtung, und die Kapsel sank zu Boden, indem sie ihre Beine verlängerte
und knickte, bis er mit der Bodenfläche auf einer Ebene war. Tabiner bewegte sich mit seinem halbbeweglichen Anzug zur Luftschleuse hin und drehte langsam das Öffnungsrad. Sein Anzug wäre zwar allein sicher genug gewesen, aber die Kapsel verfügte über ein zusätzliches Sicherungssystem, falls der Anzug versagte. Und dann stand er im Freien. Mühsam bückte er sich, um mit seiner dick behandschuhten Hand ein wenig Staub einzuschaufeln. Dieser Staub enthielt Limonit - ein sauerstoffreicher Stoff mit hohem Wassergehalt. Möglich, daß dieses Gebiet einst reichlich bewässert gewesen war. Die Hügel lockten ihn. Nach einer Stunde hatte er sie erreicht. Der Anzug verfügte über ein wenig Fortbewegungsenergie, und so schaffte Tabiner die Entfernung ganz leicht. Wie ein wandelnder Riese hatte er die Staubebene überquert. Vor seinem geistigen Auge entstand das Bild eines ihm begegnenden ungebildeten Primitiven, erfüllt von Schreck und Entsetzen, deutlich und realistisch. Aber auch eine intelligente, technisch hochentwickelte Kultur hätte ihn schwerlich hingenommen und wenn, nur mit Feindseligkeit. Nun erreichte er den Hügelkamm und hielt kurz davor inne. Fast hatte er Angst, einen Blick darüber auf die andere Seite zu werfen. Der Staub lag hier nicht so tief. Wind und Erosion hatten den felsigen Untergrund fast freigelegt. Als er sich umsah, merkte er, daß sein Landeplatz in einem natürlichen Becken lag. Die Senke war von Hügeln vollständig umgeben. Das war günstig. Sollte je das Wasser in dieses Ödland zurückkehren, dann würde es wie von einem Riesenschwamm aufgesogen werden. Hoffnung durchdrang sein Gewissen. Eine sich widersprechende Hoffnung. Er wollte Leben finden, und doch wußte er, daß die heiße Wüste für eine Niederlassung das geeignetere Gelände abgäbe als jedes grüne Paradies. Und gleich darauf fand er es. Eine kleine Blume. Auf der Erde wäre sie gewöhnliches Unkraut gewesen, hier aber wirkte sie wie ein weißes Auge im roten Staub - ein kontrastierender Bestandteil. Die Blume hatte Mutationen mitgemacht. Sie wuchs ganz nahe am Boden, der Stengel war verdickt. Die Blütenblätter waren geschlossen. Er fühlte Mitleid mit der einsamen Blume. Die Blume hatte die riesige Leere überwunden, aber gleich ihm war sie allein - ein einsames Wesen in einer Welt, die, wie Tabiner wußte, bevölkert sein mußte. Sie hatte ihm eines kundgetan: diese Welt war fruchtbar. Saatkeime von der Erde hatten hier überlebt. Er ahnte eine weitere Wahrheit. Diese Blume stand hier allein, weil anderes Leben sich vor ihr zurückgezogen hatte. Vermutlich hatte der Planet gegen das fremde Leben angekämpft und verloren. Ein kleines Gefecht in einem großen Feldzug. Während er so dastand, war er sich seiner Verantwortung bewußt. Er brauchte Boldre nur zu überzeugen, daß dies hier nichts zu bedeuten hätte, ein unbedeutender Zwischenfall - und die Biosphäre würde ihren Voraustrupp ausschicken. Der Mensch würde gewinnen. Er war sicher, daß der Mensch gewinnen würde. Die Blüte öffnete sich. Die Blütenblätter bebten leise, als spürten sie einen Windhauch. Einen Augenblick lang fragte er sich, warum - aber dann sah er die dunklen Schatten von Regenwolken am fernen Horizont und begriff. Tabiner erstieg einen höheren Hügel. Diese Anhöhe lief auf der anderen Seite in eine große Ebene aus. Er erbebte vor überwältigender Erregung. Da lag die Antwort. Boldre kämpfte krampfhaft um Konzentration. Er war der Erschöpfung nahe. Eine Woche lang hatte er sich dem Kontakt mit Tabiner gewidmet, und das Bild war klar und deutlich erschienen. Jetzt war es verwirrend. Jan befand sich auf der Erd-Stufe der Biosphäre und stand nicht mehr mit der richtigen Erde in Kontakt. Seit vielen Monaten hatte sie mit niemandem mehr gesprochen. Ihr Kampfgeist hatte sie verlassen. Sie wollte nur mehr daliegen und die grünen Felder und den angeblich unendlichen Himmel sehen. Delph hatte sich in dem mit >Tabiner< bezeichneten Raum niedergelassen. Niemand hatte es ihm verwehrt. Boldre ahnte, daß Delph mit Harts Verschwinden zu tun hatte, doch der Mann zeigte keine Anzeichen von Reue oder Gewissensbissen. Er beließ
es dabei, denn Delph stand unter genauer Beobachtung. In relativer Zeit befanden sie sich nur ein Jahr vor der Verlangsamung, aber das bedeutete weitere fünf Jahre bis zum Niedergang auf den Planeten. Entfernung mußte auch in relativer Zeit mit Zeit bezahlt werden. Sobald die großen Maschinen gedrosselt zu arbeiten begannen, würde die normale Zeit vollen Tribut fordern, und weitere Insulaner würden sterben müssen, während die Schwerkraft zunahm und die große Kugel gegen die Anziehungskraft ankämpfte. Bei angenäherter Lichtgeschwindigkeit mußten sie ebenfalls eine weitverbreitete Halluzinations-Epidemie hinnehmen - wie Tabiner vorausgesagt hatte. Aber irgendwie überstanden sie auch diese. Die Biosphäre war nun eine Welt nach ganz eigenem Gesetz. Ihre Bewohner nahmen die Bedingungen als gegeben hin. Ihre Kinder kannten nichts anderes und ersehnten auch nichts anderes. Unter den Älteren gab es kein Sendungsbewußtsein mehr. Sie lebten auf verschiedenen Stufen der Biosphäre. Es fehlte ihnen ein Führer. Einige hatten versucht, Boldre zum Führer zu machen, doch konnte er sich dieser Aufgabe entziehen. Die Aufgabe war so widersinnig wie der Spitzname, mit dem man ihn bedachte: Eisenstiefel. Der Name wurde mit belustigtem Respekt ausgesprochen. Im Gegensatz dazu wurde der Name jener Frau, die als seine Gefährtin galt, voll Ehrfurcht ausgesprochen. Man sah sie selten, gedachte ihrer immer als regloser Gestalt mit marmornen Zügen, aber warmen und lebhaften Augen. Jan. Ihr Name war das Flüstern einer in Verbannung geschickten Romantik. Ein gewisser Hang zur Tradition hatte sich zur Besessenheit gesteigert. Ohne Diskussion fanden keine Veränderungen mehr statt, die Trennung der einzelnen Stufen auf der Biosphäre wurde streng eingehalten und innerhalb dieser jede neue Technologie abgelehnt, die der Umwelt hätte schaden können. Das war jenes Problem, das Delph bewegte und dessen er sich als Sprecher selbst anzunehmen, in aller Stille vornahm. Ansonsten beobachtete er Boldres Beziehungen zu den Menschen mit düsterer Ironie, als wüßte er um das Schicksal aller führerlosen Utopien. Boldre allein war es, der sich Gedanken über Tabiner und die neuen Welten von Tau Ceti machte. Allein in seinem Kontaktraum, suchte er verzweifelt Tabiner wieder zu erreichen. Schließlich bekam er Antwort. Tabiner blickte hinab auf eine Ebene, die mit Buschwerk beginnend, bald in eine weite Tundra überging. Es war ein Riesengebiet, das wie Grasland aussah. Dem war aber nicht so. Er ging bergab und erreichte den Rand der Grünfläche, der sich wie eine Gezeitenmarke abhob. Es gab da feines, krauses Moos, ganz dicht wachsend, das eine dicke Matte bildete. In der Ferne grüne Wolken, die wie Wälder aussahen, aber auch etwas anderes waren. Er hielt es einfach für das, was er zu sehen glaubte. Eine Weile blieb er stehen und beobachtete. Bald hatte er die Gewißheit, daß es auch tierisches Leben gab. Er entdeckte ein Gewirr von Wildfährten im Schutz baumartiger Gewächse. Er ahnte, daß diese Lebensformen sich kaum über die unterste Stufe erhoben hatten, daß die Intelligenz auf diesem Planeten erst im Begriff stand, die ersten schwierigen Hürden zu nehmen. Was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, war ein Gebiet der Verwüstung zu seiner Rechten: Erdvegetation und Erdviren hatten sich hier einen erbitterten Kampf geliefert. Das Moos war mit häßlichen grauen und gelben Flecken durchsetzt. Selbst aus der Entfernung konnte er einen fauligen Geruch verspüren. Die Kulturen würden sich also nicht vermischen. Beide waren zum Überleben entschlossen. Die Samen der Erde hatten versucht, den Bruchteil einer jungfräulichen Ökologie zu besiegen, doch der Planet hatte Widerstand geleistet und hatte gesiegt. Nur wenn der Mensch selbst käme, würde sie zusammenbrechen und untergehen. Vielleicht würde sie unter neuen Bedingungen wieder aufleben, aber etwas Kostbares und Einzigartiges würde für immer verloren
sein. Wie einen Geist hörte er Boldre in seinem Kopf. Er war mit Boldre durch den Tachyonenempfänger des Raumschiffes verbunden. Tabiners Antwort war ein knappes »Nein«. »Sind Sie sicher?« Tabiner stieß einen ungeduldigen Seufzer aus. »Falls wir hier landen, werden wir Tausende unserer Leute verlieren - vielleicht aber siegen. Die größte Schwierigkeit besteht darin, daß wir den Planeten verseuchen würden. Wir können nicht ein ganzes ökologisches System impfen. Kein ehrlicher Mensch könnte das tun.« Seine Worte waren knapp und endgültig. Planet Vier war ein Ort hoher Berge. Tabiner schöpfte Hoffnung, weil er kalt und scheinbar leer war. Er konnte einige grüne Täler sehen, aber die waren vereinzelt wie Farbtupfen zwischen Bergen eingeschlossen. Der Planet machte eine Eiszeit durch, das Leben stand auf niedrigster Stufe. Die Kapsel war wieder aufgetankt, aber er zögerte, auf der Oberfläche des Planeten zu landen. Er wollte zunächst das Saat-Schiff suchen. Es war reiner Instinkt, der ihn veranlaßte, dieses ganz genau zu überprüfen. Während der zweiten Umkreisung paßte er daher seine Geschwindigkeit diesem einsamen Felsbrocken an, der den Planeten bereits seit fast tausend Jahren umkreiste. Er machte eine visuelle Kontrolle des Saat-Schiffes und checkte es dann mittels Instrumenten durch. Keine Reaktion. Er stellte die Sensoren seines eigenen Schiffes auf Empfang. Der Sauerstoffgehalt des Planeten war äußerst niedrig, fast zu niedrig. Es gab auch keinerlei Anzeichen dafür, daß das künstliche Umweltsystem je funktioniert hatte. Was an Atmosphäre vorhanden war, war vom Planeten selbst produziert worden. Die Vegetation war nicht von der Erde importiert, und sogar die seichten Meere waren gefroren. Das Rätsel löste sich von selbst: Das Saatschiff hatte nie seine Funktion ausgeübt. Auf der Erde hatte jemand die Entscheidung getroffen, es nicht in Funktion treten zu lassen, wenn es sich nicht um einen >guten< Planeten handelte. Man hatte nicht die Absicht, öde Planeten zu retten, sondern sie wollten sich nur der besten bemächtigen. Boldre hatte ursprünglich die Absicht, Jan als erster von den Neuigkeiten zu berichten, aber Delph trat ihm in den Weg. »Landung auf Drei«, rief er im Befehlston. Boldre schüttelte den Kopf. Ohne zu fragen, woher Delph seine Nachrichten hatte, sagte er: »Das können wir nicht.« Der Mann sah aus, als wolle er vor plötzlicher Frustration platzen. »Was haben Sie denn anderes erwartet?« Seine Stimme bebte vor Wut. »Wußten Sie nicht, daß wir von Anfang an keine andere Wahl hatten?« Verzweifelt rang er nach Fassung. »Wir haben die Wahl zwischen einem lebenden Planeten oder einem fast toten. Wenn die Größe mit der Erde übereinstimmt, wird er Leben hervorbringen . . . weil es dort Wärme und eine Atmosphäre gibt. Wenn er der Sonne nahe ist und bis jetzt keine Fruchtbarkeiten aufweist, dann ist er zu klein.« Boldre versuchte ihn beiseite zu drängen. Der Mann blieb stocksteif stehen. »Planet Vier ist ein Grenzfall. Aber er ist zu kalt. Wir wissen nicht, ob er sich jemals erwärmt und ein Leben im Freien gestattet.« Der große Mann starrte Delph an. Er wußte, daß seine Berechnungen korrekt waren und die Wahrscheinlichkeiten sich in vernünftigen Grenzen hielten. Und doch änderte das nichts für ihn. Der Mensch hatte von der Fahrt zu den Sternen geträumt und dabei das wichtigste Problem nicht begriffen: daß Angepaßtheit an die eigene Umwelt - in allen Belangen - ihn an der Landung hindern mußte, es sei denn, er würde zerstören, um wiederaufzubauen. Schon die kleinsten Unterschiede in den Umweltbedingungen würden infolge der Viren, die der Mensch in sich trug, zu Ansteckungen führen. Und er fügte seiner eigenen Begründung eine Ergänzung hinzu: Was den Menschen von einer solchen Landung abhalten sollte, war nicht die für ihn selbst bestehende Gefahr. Vielmehr ein ethischer Grundsatz - die Gefahr für das auf den Planeten bestehende Leben zu vermeiden. »Wenn wir landen, verfallen
wir wieder in den alten Grundsatz: Töten oder getötet werden. Wenn wir den Planeten erobern, werden wir ihn brutalisieren.« Er hatte seine Gründe leise und ruhig dargelegt. »Dann werden wir die Trümmer zusammenklauben und uns mit dem, was übrigblieb, bescheiden müssen.« Delph nickte. »Diese Entscheidung hat der Führer zu treffen. Er muß sich daher seiner Opposition entledigen. Und damit bleibt Ihnen die Wahl überlassen, was immer geschehen mag.« Der Große runzelte die Stirn. »Ich bin nicht der Führer. Die Menschen müssen selbst zu einem Entschluß kommen.« Er bemerkte einen belustigten Zug in Delphs Miene und dachte daran, was Hart passiert war. Er mußte zugeben, daß an den Worten Delphs etwas Wahres und in seiner Art Gültiges war. »Wenn Sie nicht der Führer sind, dann müssen Sie die Biosphäre einem anderen ausliefern oder Sie müssen der Anarchie ins Auge sehen. Die Menschen wollen, daß man für sie entscheidet. Dann kämpfen sie auch für die Entscheidung eines anderen. Früher oder später wird jemand das Vakuum ausfüllen, das Sie hinterlassen.« Seine Stimme ließ sorgfältig berechnete Aufrichtigkeit heraushören, als er erbarmungslos fortfuhr: »Das war einer der Gründe, warum wir die Erde verloren. Milcon hatte die Führung aufgegeben. Es war ein Kompromiß zwischen Menschen und Maschinen, das den Maschinen die Führung überließ. Wir wollten wieder Leben - Leben in Hülle und Fülle. Tau Ceti Drei hat Leben - und die Erde hat es verloren.« Jetzt war Boldre plötzlich alles klar. Er wußte nun, warum Milcon Hart gestattet hatte, zu gehen. Es war eine Krise eingetreten. Man sah einander ins Gesicht - und hatte die Wahrheit erkannt. »Sagen Sie«, drang er in Delph, »bei unserer kleinen Expedition in die Festung - vertrat Jan Polcon. Bey war irgendein Wahnsinniger. Was waren Sie eigentlich?« Es bedurfte gar keiner Antwort, Boldre wußte, daß Delph Milcon dargestellt hatte. »Die Leute von Milcon waren es, die alles von Anbeginn geplant hatten. Das war ihre Alternative.« Neue Gedanken tauchten in ihm auf und verdichteten sich zu neuen Erkenntnissen. »Der Konflikt zwischen Milcon und Polcon war ein Scheingefecht -ein Betrug. Es gehörte dies zum Spiel. Es diente als Sicherheitsventil, bis man eine dauernde Lösung fand - bis der Flug zu den Sternen möglich wurde.« Delph beobachtet ihn aus halbgeschlossenen Augen. Er schien belustigt, daß Boldre blindlings herumtappte, um sich die Tatsachen zusammenzureimen. Der Große wurde immer erregter, beachtete gar nicht, daß der andere ihn ständig beobachtete. »Einige Jahre hindurch kam es zu einer unglaublichen technischen Explosion, dann war tausend Jahre Winterschlaf, währenddessen man abwartete. Das war gar kein Zufall. Es war deswegen, weil man Hart losgeschickt hatte. Auch das Signal, das wir erhielten, als wir den Mars umkreisten, stand damit in Zusammenhang. Es war ein Verzweiflungsruf, der ebenfalls damit zusammenhing.« »Was für ein Signal?« Delphs Stimme klang hart, er war offenbar schmerzlich berührt. Boldre war erstaunt. »Jenes, das Hart ignoriert hat.« Diesmal sagte Delph kein Wort. In seinen Augen funkelte Wut. Boldre war es, der weiter in Delph drang. »Was soll Ihre Frage?« Delphs Antwort war ausweichend. »Das werden Sie schon herausfinden wenn Sie jemals wieder zur Erde zurückkehren.« Es klang nach Schadenfreude. »Oder - wenn Jan es Ihnen sagt!« Selbst Schadenfreude konnte seine schmerzlichen Gefühle nicht verbergen. »Hart verdiente, getötet zu werden.« Die letzten Worte sagte er mehr zu sich selbst und lachte dann: »Sie werden Jan doch nicht fragen wollen - oder?« Wieder wechselte seine Stimmung rapid. »Boldre - Sie werden etwas tun müssen. Wir haben schon einen zu langen Weg hinter uns und können uns kein Versagen leisten. Ein Zurück gibt es nicht mehr.« Boldre verdrängte alle Gedanken, die durch seinen Kopf schwirrten. Seine Unsicherheit war wie weggeblasen. Er hatte jetzt einen Entschluß gefaßt - bestimmt und klar. »Wir landen auf Planet Vier!« Delph widersprach nicht
mehr. »Sie haben also diesen Entschluß gefaßt - aber Sie können die Durchführung nur erzwingen, weil die Insulaner noch hinter ihnen stehen. Das wird sich eines Tages ändern.« Er lächelte. »Sie sehen, auch Sie üben Macht aus - wenn Sie auch vorgeben, Macht spiele keine Rolle.« Boldre schenkte ihm keine Beachtung mehr. Er dachte bereits an Einzelheiten. Man würde ein Dutzend separater Kolonien zur Landung bringen, von denen jede einzelne von der anderen und deren Umwelt isoliert sein würde. Es würden autarke Kommunen sein, die unter Stadtkuppeln lebten oder unterirdisch, mit Recycling-Systemen, die -, wenn nötig, ständige Einrichtungen bleiben würden. Planet Vier würde fruchtbar gemacht werden. Die Verbindungsraketen würden zur Biosphäre zurückkehren. Niemand würde auf Tau Ceti Drei landen. Diese von Boldre geäußerten Ideen veranlaßten Delph zu der Frage: »Und was geschieht mit den anderen? Wir können nur ein paar tausend landen. Und in der Biosphäre haben wir fast eine Million.« »Tabiner wird weiter ins All vordringen, und die Biosphäre wird ihm folgen. Wo wir einen passenden Planeten finden, gehen wir ähnlich vor, bis alle Landungswilligen einen Planeten gefunden haben.« »Und was dann?« »Dann kehren wir zur Erde zurück.« Delph zuckte mit den Schultern. »Ist Ihnen nicht klar, daß eine solche Rückkehr in einem sehr fernen Zeitpunkt der Zukunft der Erde liegen würde? Hunderte, wenn nicht Tausende von Erdenjahren werden vergangen sein, ehe wir zurückkehren.« Boldre zog die Brauen hoch. »Sie und ich werden noch am Leben sein. Wir können die Geschwindigkeit der Biosphäre steigern und mehr Zeit bei relativer Geschwindigkeit verbringen. Und - ist es denn nicht gleichgültig, um wieviel die Erde in der Zwischenzeit gealtert sein wird ?« Er wartete auf eine Antwort, von der er sich weitere Bestätigungen für seinen Verdacht erhoffte. Vielleicht ließ sich dann der Sinn der Machenschaften von Milcon und Polcon endgültig erkennen. Der andere spürte die Falle und schüttelte den Kopf. »Es spielt wirklich keine Rolle.« Ein dünnes Lächeln überflog sein hageres Gesicht. »Sie sind jetzt der Führer.« Boldre sagte darauf nichts. Es war nur eine halbe Wahrheit, obzwar sich der Gedanke daran in seinem Inneren bereits festgesetzt hatte und ihn gar nicht mehr bedrückte. Auch Delph starrte ihn schweigend an. Er fragte sich, ob er nichts Wesentliches außer acht gelassen hätte. Er wandte sich zum Gehen. Boldre hielt ihn zurück. »Noch etwas. Was ist der Griffen?« Delph schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Man fand ihn, als der erste Flug zum Mars unternommen wurde. Es heißt, er sei so alt wie der Mensch.« Seine Miene zeigte keine Regungen. »Wahrscheinlich wurde er in irgendeinem Institut des zwanzigsten Jahrhunderts geschaffen.« Boldre wollte es dabei nicht belassen. »Was sonst?« Mit ausdruckslosem Gesicht gab Delph zur Antwort: »Man sagt, ohne Griffen würde Apollo noch immer auf dem Mond Steine suchen. Die Insulaner hätten nicht existiert und der Mond wäre noch immer unfruchtbar. Wir hätten auch die Biosphäre nicht schaffen können. Kein seriöser Wissenschaftler vor tausend Jahren hätte daran geglaubt. Er stellt auch wirklich eine gigantische Unmöglichkeit dar.« Seine Augen flackerten. »Es wäre sinnvoller, wenn Sie nach dem letzten Zweck des Griffen fragten.« Boldre blieb ruhig und beherrscht. »Hoffentlich werden wir ihn eines Tages ausschalten können.«
XVI Die große Glocke ertönte. Lange, ungeordnete Menschenmassen schlängelten sich durch das kleine Tal auf das Raketengelände zu. Hinter ihnen brachten geräuschlose Fahrstühle andere Menschen aus den unter der Erdenstufe liegenden Tiefen der Biosphäre herauf. Einige waren alt und schlurften resigniert mit, nur, weil die Kinder fortgingen. Die Jungen konnten ihrer Aufregung kaum Herr werden. Ihre Augen funkelten vor Erwartung dessen, was aus verbreiteten Erzählungen in ihnen genährt worden war. Da und dort sah man die grünen Uniformen der >Verderer< Männer, die die Autorität verkörperten, deren einzige unbeschränkte Machtbefugnisse sich jedoch darauf beschränkten, die Unverletzlichkeit fremden Lebens zu gewährleisten. Wegen dieser Machtbefugnisse genossen sie auch absolut Respekt obwohl Boldre diesbezüglich einige Zweifel hegte. Boldre hatte sein Bestes getan - jede Rakete nahm Hunderte auf und erleichterte ihm seine Verantwortung. Hoch oben in der Außenhülle der Biosphäre waren die riesigen Luftschleusen zum öffnen bereit. Die Zielplaneten waren durch das Raumfenster deutlich sichtbar. Es waren ihrer drei. Die drei Welten von Delta Pavonis. Diese Welten lagen in der richtigen Entfernung zur warmen, gelben Sonne. Jede der Welten war kahl und kalt. Sie waren Tau Ceti Vier sehr ähnlich, jener ersten von der Biosphäre besiedelten Welt, die nun dreißig relative Jahre - und Tausende Planetenjahre - weit entfernt war. Auf Tau Ceti kamen Kolonisten aus ihren Stadtkuppeln und atmeten die neue Luft eines wiedererschaffenen Planeten ein. Auf den drei Planeten von Delta Pavonis würde menschliches Leben ebenfalls Tausende Jahre lang auf Kuppelbauten beschränkt bleiben. Das war der Preis, der nun einmal zu bezahlen war. Derselbe Prozeß war auf einem Dutzend anderer Welten im Gange, innerhalb des großen Orbits von zehn Lichtjahren von der Erde. Jeder Planet war von den übrigen getrennt, damit er seine eigene Kultur in Ruhe entwickeln konnte - zum Guten oder Schlechten. Alle aber hatten ihre >Verderer< und ihre Tachyonen-Verbindung zur Biosphäre. Alle hatten ferner ihre Bibliothek der Irrtümer - das wichtigste Erbe der Erde, in der die vielen Arten der Ausrottung festgehalten waren, aber auch viele, scheinbar harmlose Ideen, mit denen sich die Menschen herumgeplagt hatten. Jeder Planet mußte seine eigenen Richtlinien finden. Das kleine Tal auf Erdenstufe war unerwarteterweise leer. Die Raketen erhoben sich in rascher Folge und verschwanden. Sie näherten sich ihrem Ziel und gingen schließlich neben den großen Kuppeln nieder. Die Kuppeln überspannten Stadt und jungfräuliches Land, das im Laufe kurzer Zeit zum Leben erwacht war. Das Gras der Erde und die Menschen der Erde waren nun in ihren >Lebensblasen< gefangen. Außerhalb der durchsichtigen Kuppeln waren der kalte Fels hoher Berge oder der Staub ausgedehnter Ebenen weiterhin kahl und unverändert geblieben. Die Atmosphäre wurde verändert oder allmählich ausgeweitet, während der kleine Organismus von der Erde Feld zu Gras verwandelte. Und mit einemmal war die Biosphäre fast leer, bis auf ein paar tausend auf verschiedenen Stufen und schäbiger hundert auf dem Brückendeck. Die Stille war eine Stille des leeren Raumes, des zur Ruhe gebrachten Herzens einer verlassenen Maschine. Boldre saß in dem harten Sessel vor dem großen Raumfenster und sah
hinaus. Jan lag daneben auf einer Couch, die am Kopfende leicht angehoben war. Zwischen ihnen lag Erfahrung, von der Zeit verbittert und zerbeult, aber von beiden geschätzt. Für ihn hatte es kleinere Triumphe gegeben - für sie nur kleinere Fortschritte: das Bewegen der Hand oder eine Kopfwendung, ohne Schmerz dabei zu empfinden. Für beide gab es nur ein Ziel. In weniger als zehn Jahren Raumzeit würden sie die Umkreisung der Erde beginnen, einer Erde, die viele tausend Jahre älter geworden war. In dreißig Jahren hatte man die Antriebsmaschinen verbessern können. Und jetzt stand gerade noch genug Treibstoff zur Rückkehr zur Verfügung. Falls sie die zehn Jahre erlebten, würde es ihnen dann rückblickend kürzer als ein langer Augenblick vorkommen. Aber immer noch länger als die von Tabiner verbrachte Zeit, der noch tiefer in Raum und Zeit steckte und für sie auf ewig verloren war. Boldre lächelte, das Mädchen sah ihn an. Sie brauchte ihn nicht erst zu fragen, woran er dachte. Er dachte an Tabiner, der Milcon überlebte und der selbst zur Erde zurück konnte, wenn er es wollte - in einer Million Jahren. Es war merkwürdig, wie Tabiner aine der Menschheitsbestrebungen verkörperte: den Wissensdrang. Er stellte sich die Frage, ob Tabiner wohl mit der Besiedlung der neuen Planeten, die sie ausgewählt hatten, einverstanden wäre. Jener Welten, von denen sie so viel gelernt hatten, daß sie der Erde eine neue Chance geben konnten. Das glaubte er wenigstens. Jan war darüber froh und überließ ihn seinen Gedanken. Sie stellte sich selbst die Frage, warum sie gewillt war, mit ihm zurückzukehren, und warum sie ihm nie die Wahrheit über die Erde gesagt hatte. Aber sie wußte, daß er das gar nicht wollte - vielleicht weil er die Wahrheit bereits ahnte, sicher aber auch deswegen, weil sie in Wirklichkeit nur einander wollten. Tabiner hatte die besten Zeiten miterlebt, dachte sie. Er hatte die Anfänge erlebt - bevor die Wahrheit sichtbar geworden war und schließlich den Verstand der Menschen erfaßt und beherrscht hatte. Vielleicht hatte Hart den ganzen Alptraum besser erfaßt, als die meisten anderen. Er hatte bereits das weit besser begriffen, was Jan zu dieser Zeit bloß ahnte. Es hatte zwar auch schon zu Tabiners Zeiten langsame Veränderungen gegeben. Die Zielrichtung begann sich bereits abzuzeichnen: dem bloßen Protest der auf ihr Recht pochenden Individuen, gegenüber der gestaltenden Entschlußkraft des Individuums, Vorrang zu geben. Alte Einsichten und Grundsätze, die die Menschen vielleicht hätten retten können, gingen im Taumel ungezügelter Besitzgier unter. Wäre man zu einem, auch nur geringen Kompromiß gelangt, so hätte man den Griffen nicht gebraucht. Man hätte ihn wohl entdeckt, aber man hätte ihn ignorieren oder für bessere Zwecke verwenden können. Jan mußte nun auch lächeln. Der Griffen hatte sich zwar verläßlicher als ein Mensch, aber weniger verläßlich als eine Gottheit erwiesen. Die Maschine hatte nur zu einer Ausweitung der Gleichmacherei beigetragen, zu einem Betätigungsfeld beschränkter Gehirne. Der Mensch wurde gezwungen, alles, bis auf die Maschine, abzulehnen, nur, weil er die Einzigartigkeit seiner Persönlichkeit im völlig Sicheren verwirklicht sah - dies ohne Rücksicht auf die Wurzeln und Bindungen seiner Herkunft. Darin lag zu viel des Widerspruchs. Der Mensch wollte einen fix und fertig gelieferten Himmel. Und nun wollte Boldre zur Erde zurück. Das erkannte Jan nur zu gut. Einst hatte sie alles mit bloßem Verstand bewältigen wollen, dann aber alles einem unausbleiblichem Entwicklungsprozeß zugeschrieben. Jetzt hatte sie das Bedauern gelernt. Bedauern für das Individuum und das Ganze. Vergewaltiger und Vergewaltigte taten ihr leid. Über beide war das Urteil schon gesprochen. Jan wußte, die Maschine hatte einen eigenen Zweck, träumte einen eigenen Traum von Erfüllung. In der Zwischenzeit war sie zufrieden, noch zehn Jahre bis zur Rückkehr zur Erde vor sich zu haben. Dann würde Boldre sich des Griffens entledigen. Ihre
Verbindung zur Erde war schon seit langem beendet, aber sie wußte, worauf die Erde zutrieb. Die alte Verseuchung würde den Sieg davontragen. Wenn die Biosphäre die Erde erreichte, würde es zu spät sein. Vor Tausenden von Jahren hatte jemand den Grundstein weggestoßen und die Erde um ihre Zukunft bestohlen. Für sie selbst war die Erde seit damals tot. Und jetzt war sie wirklich tot. Deswegen hatte Milcon sie alle in den Weltraum geschickt um eine Antwort zu finden. Wieder sah sie Boldre an, weil sie an ihn und seine Rolle in diesem Abenteuer dachte. Aber er stand nur da und starrte auf den Sichtschirm. Auch Jan sah jetzt hin. Sie sah, daß die Planeten sich entfernten und der nächstgelegene still und beständig zu einer winzigen Scheibe zusammenschrumpfte. Die Maschinen der Biosphäre lagen noch still. Es war kein Vibrieren zu verspüren, keine schmerzhafte Schwerkraftsteigerung, die nur mit Drogen erleichtert werden konnte - und doch schienen sie sich mit unglaublicher Beschleunigung in den Raum hinaus zu bewegen. XVII Boldre schob den Sessel zurück und lief steifbeinig die endlosen Computeranlagen und Konsolen entlang. Er las jeden Meßwert ab. Am anderen Ende des Brückendecks betätigte er den Knopf für das allgemeine Alarmsignal. Der Alarm würde die Brückenbesatzung auf die Sprünge bringen. Es vergingen kostbare Minuten, während man noch nichts unternehmen konnte. Boldre konnte nur gewisse Schlüsse ziehen, hatte aber keine konkreten Tatsachen zur Hand. Es sah so aus, als wären nur die Bildschirme betroffen, da an den Apparaten keine Veränderungen am Zustand der Biosphäre abzulesen war. Die Computer meldeten, daß man sich noch immer in der Umlaufbahn befand und kein Antrieb gezündet worden war. Und doch verließen sie, den Sichtschirmen nach zu schließen, mit unglaublicher Geschwindigkeit die Umlaufbahn und würden danach bald das gesamte System weit hinter sich lassen. Boldre bemühte sich, Ruhe zubewahren. Sollte der Fehler an den Schirmen liegen, dann waren es mit Absicht herbeigeführte Fehler. Das Problem bestand darin, daß eigentlich niemand diesen Fehler herbeigeführt haben konnte. Es war wie ein sehr sorgfältig hergestellter Film - nicht einmal so, als würde er nur ihren Eintritt in das System in umgekehrter Reihenfolge wiederholen. Die Besatzung nahm ihre Plätze um ihn herum ein. Er sah zu, wie sie die Daten immer wieder überprüften. Einer nach dem anderen stutzte. Erstaunt und wortlos sahen sie Boldre an. Und er konnte ihnen lange keine Antwort geben. Es dauerte ziemlich lang, bis er einigermaßen begriffen hatte. »Kontrolliert die Rückkehr der Raketen von den Planeten!« Einige machten sich an die Arbeit und einer meldete: »Raketen gehen auf der Biosphäre nieder.« Wie um diese Meldung zu beweisen, trat die erste Rakete in die Luftschleuse ein und landete auf ihrer Basis auf der Erdenstufe. Sie warteten, bis alle Raketen sicher gelandet waren. Eins stand fest: was immer auf den Bildschirmen gezeigt wurde - sie hatten die Umlaufbahn nicht verlassen. Die von den Planeten zurückkehrenden Raketen waren der beste Beweis dafür. »Kontrolle der SchirmKreisläufe.« Beinahe wollte er diesen Befehl wieder rückgängig machen er wollte aber trotzdem die Meldungen noch abwarten. Die Stromkreisläufe waren intakt, woran es lag, war, daß das System des Einschaltens der Kreisläufe außer Kontrolle geraten war. In wenigen Minuten hatte er die Schalter überprüft und gemerkt, daß sie nicht reagierten. Jemand anderer hatte die Schaltung übernommen. Aber so einfach konnte das nicht sein. Obwohl also jemand das Schaltsystem betätigte, bediente sich dieser Jemand nicht der normalen Schalter, sondern hatte einen Weg gefunden, die
Sichtschirme ohne diese Schalter in Funktion zu setzen. Da die Kreise intakt waren, benutzte man also Fernsteuerung. Boldre hatte nur eine einzige mögliche Erklärung zur Hand. Nicht einzelne Techniker oder eine Gruppe von ihnen hätte diese völlig neue Methode der Fernsteuerung erfinden können. Nur der Griffen hatte das nötige Know-how beisteuern können. Der Griffen aber hätte in einem der Lagerräume wohlverwahrt eingesperrt sein sollen. Boldre gab diese Frage einem Computer ein und vergewisserte sich, daß man den Griffen sicher verwahrt hatte. Die Angaben über Zeitpunkt und Ort der Verwahrung erfolgten mit jener an Anmaßung grenzenden Exaktheit, die ihm immer Unbehagen bereitete. Es kam ihm vor, als hätte der Computer eine falsche Auskunft gegeben, weil ihm der Griffen diese Antwort vorprogrammiert hatte. Boldre drückte die Knöpfe für die Nachrichtenanlagen. Seine Stimme hallte über das Brückendeck und wurde auf der gesamten Biosphäre wiederholt. »Wir suchen den Griffen. Durchsucht die Biosphäre. Sucht überall. Die visuellen Berichte auf den Sichtschirmen sind falsch. Der Griffen ist daran schuld.« Er gab nicht einmal den Lagerraum bekannt, in dem man den Apparat verstaut hatte. Er war ohnehin nicht mehr dort - das wußte er. Was ihm Kopfzerbrechen machte, war die Frage, warum der Griffen dieses Täuschungsmanöver inszeniert hatte. Das große Raumfenster gab seine Falschmeldungen von sich, als wären sie Wirklichkeit. Das System Delta Pavonis war danach nur mehr eine Erinnerung. Es war eine Sonne, die zum Stern geworden war, und seine Planeten waren nur mehr unsichtbare Erinnerungen geworden. Ihm blieb nur eines übrig - er mußte das Spiel des Griffen mitmachen. Boldre nahm an, daß er es allmählich ganz würde durchschauen können. Er setzte die GroßComputer in Betrieb. Sie spuckten Zahlen aus - eine nach der anderen -, die besagten, daß sie sich der Lichtgeschwindigkeit näherten und die Schwelle bald überschritten haben würden. Sie meldeten den Treibstoff stand, Schwerkraft und Beschleunigungsgrad - lauter unmögliche Dinge. Die Schirme besagten das eine, die Tatsachen das andere. Die Computer konnten nichts anderes tun, als die scheinbaren, von den Sichtschirmen gemeldeten Daten wiederzugeben, als wären sie wahr. Es war eine Vortäuschung und nicht mehr. Jetzt gab es eine FarbExplosion, die sich über die Flächen der Sichtschirme ausbreitete. Die Computer enträtselten das Phänomen. Boldre mußte an Tabiners Erfahrungen bei Erreichung der Grenze der Lichtgeschwindigkeit denken. Das hier ließ sich damit nicht vergleichen. Es war, als sähe man einen gewöhnlichen Film, der das Ereignis verflachte, es langweilig und routinemäßig ablaufen ließ. Und er an dem Ereignis gar nicht teilhatte. Die Farbtönung veränderte sich und wurde schwächer, bis der Eindruck gewaltiger Größe in großer Ferne entstand. In wenigen Minuten näherten sich die Farbphänomene wieder, wurden stärker und füllten die Schirme wieder voll aus. Rasch aber lösten sie sich sodann in einzelne stecknadelgroße Lichtpünktchen auf. Boldre erkannte, was es war. Es waren Sterne. Die Anordnung der Pünktchen ergab keinen Sinn. Er überließ das den Computern. Diesmal schienen sie unendlich lang zu brauchen. Und als die Antwort kam, war er wie betäubt - von der Antwort und ihrer Bedeutung. Die Computer hatten bei einem einzigen, winzigen Hinweis am simulierten Himmel eingehakt, der eine Deutung zuließ. Sie hatten jene Galaxis gefunden, in der die Erde ein Sandkorn darstellte. Und sie hatten ihre eigene, simulierte Position als am Rande einer anderen - Andromeda genannten - Galaxis befindlich, ausgemacht. Während Boldre die Bildschirme beobachtete, löste sich ein Licht in eine Ellipse auf, die allmählich den Schirm ausfüllte, aber keine Helligkeit mehr besaß. Sie verwandelte sich in farbloses Felsgestein, glatt wie Metall. Es umschloß die Biosphäre, wurde zu einem langen Tunnel, in den sie hineinfielen wie
ein Kieselstein. Schließlich öffnete sich der Tunnel wieder. Unter ihnen war keine Fläche mehr - nur Leere -, und im Mittelpunkt der Leere glühte eine gelbe Sonne. Darüber eine schalenartige Umhüllung, die, so konnte Boldre nur ahnen, in alle Richtungen, scheinbar unendlich, weiterreichte. Heller Sonnenschein überflutete jetzt das Brückendeck, und es wurde die Vorstellung in ihm erweckt, daß man nun in die Sonnenhülle herabfallen würde. Er ahnte, daß Licht und Temperatur innerhalb der Schalenhülle für das Leben dort genau richtig sein würden, auch für jene hochentwickelte Technik, die aus einem ganzen Sonnensystem eine Biosphäre geschaffen hatte, in dem die Planeten dieses Systems zu einer allumfassenden Hülle zuammengefaßt worden waren und erforderliches Material von Welten herangeschafft wurde, die sich aufgebraucht hatten. Jan war stumm vor Entsetzen, man konnte von ihrem Gesicht ablesen, was sie bewegte. Auf dem ganzen Brückendeck wurde Entsetzen spürbar und brachte alle zum Schweigen. Boldre kam endlich zu einer Deutung des phantastischen Phänomens. Der Griffen hatte ihnen gezeigt, daß es einen Weg zur Umgehung von Zeit und Raum gab, daß man von einer Galaxis zur anderen >springen< konnte, um die neuesten technischen Errungenschaften zu sehen: Errungenschaften von Überlebenden. Als die Sonne näher kam, gingen sie in die Umlaufbahn über. Die Sonne war jener der Erde sehr ähnlich. Schließlich öffnete sich die Umlaufbahn, und sie näherten sich der Innenseite der Sonnenhülle. Blitzartige Nahaufnahmen der Oberfläche wurden sichtbar - aber was sie da sahen, war grenzenlos mechanisch. Es gab Formen mit Ecken und geraden Linien, keine natürlichen Bögen oder Rundungen. Die Formen besaßen eine leere Konformität - sonst gar nichts. Es waren leere Augen und verlassene Räume, ohne den Hauch menschlicher Anwesenheit. Und doch irgendwo Leben: leere Augen und verlassene Räume. Das Leben überall ausgedörrt und dennoch kalter Überlebenswille. Leise befahl Boldre: »Sichtschirme schließen.« Die großen Schirme wurden versenkt. Alle fühlten sich wieder abgeschirmt und gesichert. Jan sah Boldre verwundert und gequält an. »Was wollten die von uns?« fragte sie. Boldre erwiderte ihren Blick mit finsterer Miene. Er glaubte die Antwort zu wissen ,wollte sie aber nicht aussprechen. Er wußte mit Sicherheit, daß sie von dieser Zurschaustellung von Perfektion, von Verlorenem, nichts lernen konnten. Und es war ihm klar, daß Jan sich ihre Frage selbst beantwortet hatte. Zum erstenmal war ihm der Zweck des Griffen klar. Er verstand jetzt den Grund seiner Auseinandersetzungen mit Hart und die besonderen Instinkte, die Tabiner so viel Sicherheit verliehen. Das Geschlecht, das den Griffen und die eine Sonne umschließende Biosphäre geschaffen hatte, wollte wissen, welches Dogma die Menschen veranlaßte, fremdes Leben eher zu retten, als es zu opfern. Man wollte den Grundsatz kennenlernen, die instinktive Richtlinie, die das Unvollkommene zur Vollkommenheit heranwachsen ließ. Boldre hatte Tau Ceti gerettet, aber auch Tausende andere hatten ähnliche Entscheidungen getroffen, ohne logischen Grund und nur um eines namenlosen Prinzips willen, das in den tiefsten Beweggründen eines jeden menschlichen Wesens versteckt lag und das man nur fühlen konnte. Es war blind und formlos, doch Boldre erkannte es letztlich doch. Und die leeren Augen und verlassenen Räume da unten vielleicht auch. Boldre ließ die Lichtschirme wieder aufleuchten. Die gefangene Sonne war verschwunden. An ihre Stelle waren jetzt Delta Pavonis und dessen Planeten getreten. Boldre atmete tief und erleichtert ein. Als hätte er kein Recht auf Ruhe, begann es in den Lautsprechern zu knacken. Er vernahm eine bekannte Stimme. Eine barsche und grausam klingende Stimme. Boldre schloß die Augen und dachte an damals, als er im Krater Bailly die Stimme gehört hatte. »Boldre, nimmst
du die Herausforderung an?« Boldre ging an die Konsole und nahm ein Mikrophon zur Hand. Er dachte nach, ehe er antwortete, aber es gab für ihn nicht mehr viel zu überlegen. Auch wenn der Griffen entschlossen war, ihnen die Geheimnisse der Überschreitung der Lichtgeschwindigkeit anzuvertrauen, sä wollte er dies nicht mehr. Delph mochte ehrgeizige Pläne haben, aber das war kein ausreichender Grund. »Nein.« Das sagte er klar und endgültig. Jan lächelte nachdenklich, ihr Blick war ernst. »Kann Delph jetzt noch etwas unternehmen?« Boldre nickte. Er stand wie ein drohendes Standbild vor der Sichtscheibe. Seine Miene war ernst. Sein früherer Humor war längst vergangen. »Delph hat schon seit langem einen Aufstand geplant. Und dies jetzt bietet einen ausreichenden Vorwand. Ich kann ihn zwar von hier drinnen fernhalten, ich kann auch verhindern, daß er sich unsere Verbindungsraketen aneignet, aber ich kann nicht verhindern, daß er alles übrige auf der Biosphäre zerstört.« Dem Mädchen verging das Lächeln, es starb in der Blässe ihres Gesichtes. Sie starrte die noch immer an ihren Plätzen verharrenden Männer und Frauen an. Falls einige darunter waren, die zu Delph hielten, dann bot sich ihnen jezt die Gelegenheit, entsprechend zu handeln. Aber sie alle warteten ab. Ihre Aufmerksamkeit galt unbeirrbar dem großen Mann, Boldre. Jan wußte, daß er zu ihnen etwas sagen mußte. Er mußte zugeben, daß er die Verantwortung hatte, und er mußte beweisen, daß er, so es um ihn ging, hart sein konnte. Während die Minuten vorübertickten, wurde ihr klar, daß er nichts sagen würde. Er würde es nicht versuchen, sich zu behaupten. Die Männer und Frauen wandten sich - einer nach dem anderen - wieder ihrer Arbeit zu, und Jan merkte, daß es schon zu spät sei. Obwohl das Gesehene ihnen einen Schock eingejagt hatte, würden sie noch immer nach einem Führer verlangen. Und Delph würde dieser Führer sein. Auch wenn er sie der vom Griffen dargestellten endgültigen Bestimmung zuführte. Mit übermenschlicher Anstrengung kämpfte sie sich hoch und stützte sich mit den Händen an der harten Kante der Liege. Boldre sah ihr Bemühen und wollte ihr helfen. Sie flüsterte: »Warum?« Er nahm ihre Hand und lächelte. »Hoffentlich kommt Delph zu spät. Wenn die Menschen, die wir auf den Planeten zurückließen, die richtige Entscheidung getroffen haben, hat er den Kampf bereits verloren. Wenn nicht, dann war es auch für uns zu spät.« Sie suchte seinen Blick. Sie mußte ihm jetzt die Wahrheit sagen. »Boldre, die Hoffnung ist sehr gering. Auf den anderen wird das eintreten, was auf der Erde eintrat. Der Mensch verbraucht die Welten. Um des Überlebens willen ist er zur Ausbeutung gezwungen.« Boldre schüttelte den Kopf. »Die Erde ist unfruchtbar«, sagte sie. Einen Sekundenbruchteil lang merkte man ihm den Schock an. »Das habe ich schon vor langer Zeit gehört - aber ich glaube es nicht.« Das sagte er ganz ruhig. Sie zögerte. »Ich sah es mit eigenen Augen. Es passierte lange bevor ich wegging. Der Bau der Biosphäre war die allerletzte Hoffnung und die letzte Möglichkeit, denn er verschlang die wertvollsten Rohstoffreserven. Du hast mich immer nach der Erde gefragt. Nun, es kam wie das langsame Nahen des Winters. Sogar die Luft war vergiftet. Die Menschen starben, nur weil sie atmeten. Sie fühlten sich sicher und erstickten im nächsten Augenblick an ihrem eigenen Unrat. Ein Überleben war unmöglich. Es war der letzte verzweifelte Sprung eines Seiltänzers, den er am Ende eines unendlich langen Hochseils tut, um sich in Sicherheit zu bringen.« Der Große stand auf. Sie las hartnäckigen Unglauben in seiner Miene. Wie auf ein Stichwort hörte sie wieder Delphs Stimme. »Wir brauchen Treibstoffnachschub, wenn wir wieder Kurs ins All nehmen. Es gibt nur einen Ort, an dem er lagert und wo er nicht gebraucht wird.« Hoffnung schimmerte in Boldres Miene auf. Delph fuhr fort mit seiner kratzenden Stimme über die Sprechanlage, die jemand auf dem Brückendeck
heimlich eingeschaltet hatte: »Wir kehren zurück zur Erde.« Delph war zu einem Entschluß gekommen, den Boldre akzeptieren konnte. Der Aufstand war kurz und ohne Blutvergießen vor sich gegangen, wenn auch mit seiner Entscheidung nur ein einziges Leben gerettet wurde - das Leben Boldres. Denn nun brauchte Boldre den Kampf nicht aufzunehmen, und keiner der anderen Leute hätte für einen Mann gekämpft, der die Führung abgelehnt hatte- sogar die wenigen übriggebliebenen Insulaner nicht. »Türen öffnen«, befahl Boldre - unnötigerweise. Sie waren bereits offen. Delph hatte die Macht übernommen. Der Mann, der auf den Planeten hinuntersah, war gealtert. Er sah aus wie ein Schiffswrack, von rauhen Gezeiten glattgescheuert, sich aber noch immer mit aller Kraft an eine zerklüftete Küste klammernd. Seine Hände zitterten leicht, seine Tränen waren nicht jene des Alters. Falls die zwei jungen Bewacher hinter ihm ihn störten, ließ es es sich jedenfalls nicht anmerken. Seine Gedanken hielten bei mancherlei Dingen und verbanden Anfänge mit der Gegenwart, als wäre nur ein Tag dazwischen vergangen. Oft fiel es ihm schwer, den weißen Schatten der dazwischenliegenden Jahre sich ins Gedächtnis zu rufen, jener Jahre, ehe Delph ihn von Jan getrennt hatte. Er wünschte sich brennend, sie wäre bei ihm. Vielleicht konnte sie von einem anderen Fenster aus alles mit ansehen. Voll Ungeduld stampfte er mit seinen Metallprothesen auf den harten Boden, als wolle er damit die Nebel vom Angesicht der Welt da unten vertreiben. »Ist das Staub?« Verbitterung schwang in seinem Flüstern mit. Einer der jungen Männer rührte sich verlegen. Er warf seinem Gefährten einen Blick zu und griff an seine Mütze. Dann fingerte er nervös am engen Kragen seiner schlichten Uniform - doch der zweite Wachtposten warf ihm einen warnenden Blick zu. Der alte Mann merkte die Geste und lächelte. »Abwarten, bis der Dunst sich verzieht. Dann werden wir sehen«, sagte er. »Dann haben wir Sicherheit.« Das wiederholte er leise vor sich hin murmelnd. Wenn er recht hatte, dann hatte der verbitterte Führer in Harts altem Büro den Kampf verloren. Die Disziplin auf der Biosphäre würde zerfallen. Das war übrigens unvermeidlich - falls sie auf einem hoffnungsvollen Planeten landeten. Andernfalls würde Delph das Schiff bewaffnen, auftanken und als Eroberer neuer Kolonien im All dorthin zurückkehren. Er und Delph wollten von der Erde ganz unterschiedliche Dinge. Boldre schauderte, lächelte dann aber. Einen Augenblick dachte er an eine andere Alternative - das hätte aber bedeutet, daß Delph ihn schließlich doch korrumpiert hatte. Denn es wäre so einfach, den Mann zu töten und die zukünftige Ordnung der Dinge in die Hand zu nehmen. Aber das war nicht die Antwort. Und das war der Grund, warum er den Teufel in seinem Inneren bekämpft hatte. Die Nebel auf dem Planeten lichteten sich. Er drückte sein Gesicht an die Scheibe und hielt den Atem an. Bald würde er es sicher wissen. Vor ihrer gewaltsamen Trennung hatte Jan ihn beinahe überzeugt, daß die Erde tot sei. Aber er war sicher, daß die Erde und ihre Kinder sich wiederbeleben und noch gesunden konnten. Er wußte, daß es Anlagen gab, die sie erretten konnten - fruchtbare Anlagen, eine fruchtbare Saat. Er rieb sich die Augen. Der Nebel hatte sich verzogen, und er konnte jetzt besser sehen. Die zwei jungen Männer drängten sich vor und lugten neugierig rechts und links über seine Schulter. Bangigkeit befiel ihn, als er sah, was Jan im Geiste gesehen und gehört hatte, all die Jahre hindurch. Aber die beiden jungen Männer stießen erregte Rufe aus. Ihre Stimmen waren kräftig und tönend. Sie liefen durch das Labyrinth von Gängen und riefen die gute Nachricht aus. Boldre konnte seinen Ohren nicht trauen. Er stolperte ihnen nach und hörte den Ausbruch des Jubels. Irgendwo in einem breiten Gang blieb er stehen und holte schweratmend Luft. Für ihn war es zu spät. Ihm blieb nur Verbitterung - das ganze Spiel bedeutete für ihn nur Bitterkeit und Härte. Die anderen schrien noch immer. Delphs Stimme aus den Lautsprechern blieb ungehört und unbeachtet. Boldre ließ
sich auf einen Sitz fallen. Er begriff nicht mehr, was um ihn herum vorging. Er saß noch immer da, als das Mädchen am anderen Ende des Korridors auftauchte. Boldre erkannte sie nicht - ihren schwankenden, zögernden Gang, und während sie näher kam, verlor sie mit jedem Schritt ein Stück Jugend. Es war zu lange her, seitdem sie gegangen war, zu lange, seitdem er sie gesehen hatte. »Boldre.« Langsam stand er auf. Sie stand jetzt vor ihm und stützte sich auf seine Arme. Ihr Gesicht näherte sich dem seinen, und ihre Augen suchten seinen Blick. »Erinnerst du dich an die Glashöhle?« fragte sie leise. »Ich sagte, sie wäre schön. Und sie war nur aus Glas und nur eine Höhle, im kahlen Gestein des Alls. Auch nur Zufall und eine Täuschung.« Er war noch verwirrt. »Die Leute haben die Erde gesehen.« Er verstand sie noch immer nicht. Sie schüttelte ihn sanft. »Für die ist die Erde ein Mythos. Sie ist noch immer schön. Und wenn sie landen, werden sie einen Sonnenuntergang sehen und nie wieder fort wollen. Das wissen die Leute, und deswegen ihre Freudenrufe. Wenn sie Glück haben, wird die Erde wieder leben wie vor Hunderten von Jahren . . . bevor wir sie verlassen haben.« Er schüttelte den Kopf. Plötzlich schien er besiegt zu sein von dem, was die Wahrheit war. »So leicht wird das nicht sein.« Er war voll Ungeduld, weil eine alte Frau nicht hoffen konnte, die Dinge richtig zu verstehen. Sie war nicht imstande, die Natur der Macht zu begreifen, weder ihr Drängen, noch ihre Blindheit. Das Ethos, um dessen Einführung sie gekämpft hatten - auch das für ein langfristiges Überleben von Menschen auf der Erde oder im All notwendige Ethos -, es war zu anfällig. So wie alle anderen ethischen Prinzipien, deren unmittelbaren und praktischen Zweck der Mensch nicht einsehen konnte. Er starrte sie an. Sie war unzweifelhaft eine alte Frau, und doch redete sie, als wüßte sie, was nur Jan wissen konnte - die legendäre Jan, die ihm Delph für immer weggenommen hatte. Sein Gehirn mühte sich mit den Berechnungen der in Beschleunigung verbrachten Zeiten, dazu kamen die in der Umlaufbahn um viele Planeten verbrachten Jahre. Zu dieser grobberechneten Summe kam noch die Zeit für die etwas verlangsamte Rückkehr zur Erde, während welcher die Biosphäre den notwendigen Prozentsatz an Lichtgeschwindigkeit nicht erreichte. Das hatte die Reise um Jahre verlängert. Die Summe der Jahre betrug mehr als eine halbe Lebensspanne. Es war ungeheuer wichtig, die alte Frau von ihrem Irrtum zu überzeugen. Gelang es nicht, dann fand vielleicht sie das langersehnte Argument, das ihn froh stimmen und von seinen Befürchtungen befreien könnte. Befürchtungen und Zweifel, die ihn immer in Momenten scheinbaren Triumphes befielen. »Delph wird einen Kampf beginnen«, sagte er. Sie nickte ernst. Boldre fuhr eifernd fort: »Und wenn Delph kämpft, dann wird man zurückschlagen, und der alte Kreislauf beginnt von neuem. Jemand wird die Macht übernehmen, und die Erde wird wieder mißbraucht.« Ihr Blick war mild. Sie lächelte, als wäre er ein trostbedürftiges Kind, das wußte, daß Trost eben nicht Wahrheit bedeutete. »Du hast dies schon einmal mitgemacht und dich für besiegt gehalten. Und doch weißt du, daß du recht hattest. Du hast zusammen mit Tabiner nach einem Ethos getrachtet, das niemals verloren war. Was du nicht begriffen hast, ist, daß Ethos auf seine Art Lehren erteilt.« »Wie?« fragte er. Sie faßte nach seinen Schultern. »Warum fragst du? Du weißt doch, daß der Mensch ein Wesen ist, das erst aus dem Fenster sehen muß, um sich selbst zu sehen. Das ist der Grund, warum solche Lehren nur langsam begriffen werden. Sie werden erlernt durch die Grausamkeit zurückgewiesener Liebe, durch ungezügelten Besitzwillen. Die Erde hat den Menschen nicht ausgestoßen. Der Mensch hat sie selbst verlassen.« Sie sah ihn an. »Aber wir können nicht für immer von ihr lassen, weil sie in allen Teilen des Universums existiert und wir sie überall, wo wir sein mögen, haben wollen. Wir können uns also nur einem Komplott anschließen, das ihre
Wiedererrichtung zum Endziel hat.« »Wir könnten die Erde immer noch zerstören.« Sie ließ sich nicht abbringen. »Wir können die Erde als den Planeten da draußen zerstören- aber sie wird nicht aufhören zu existieren. Anderswo würden wir sie wiederschaffen, oder sie würde für uns geschaffen werden. Das Ethos ist ewig. Wenn der Mensch sich selbst zerstört, wird es einen neuen Menschen schaffen, wie es eine andere Erde schaffen wird. Auch Delph ist Teil eines solchen Komplotts.« Er seufzte verwirrt und ermattet. »Dann ist es aber nicht unser Ethos. Wir sind nur Unterpfänder. Es handelt sich um eine Art Unmoral, in der wir nur die Rolle von Pfändern spielen.« Sie ließ die Hände sinken. »Dir bleibt die Wahl. Was du jetzt verlangt hast, ist etwas Unmögliches. Und deine persönliche Eitelkeit ist mir verdammt gleichgültig. Ich rede von der Wahrheit.« Sie lächelte dabei mit einer Sanftmut, die ihre Worte Lügen strafte. »Wer wollte gleichzeitig Vater und Sohn sein? Es genügt zu wissen, daß wir nur Maschinen spielen, welche die letzten Entscheidungen treffen. Die echte Wahrheit ist völlig anders.« Boldre begriff einen Teil dessen, was sie sagte, obwohl sie es nicht ausgesprochen hatte. Sie setzte zuversichtlich auf das Leben. »Siehst du denn nicht, daß du gewonnen hast?« flüsterte sie. Zögernd, als wollte er nicht wahrhaben, daß es das war, was er hatte hören wollen, antwortete er: »Ich weiß, daß dies möglicherweise der Fall ist. Gleichzeitig aber ist es auch in einer Weise eine Niederlage. Ich frage mich also wer hat wirklich gewonnen?« Die Frau schloß die Augen. Jede Frau, die die Liebe erlebt hatte, hätte dies fragen und über die Antwort frohlocken können. Seine Stimme war jetzt gedämpft. »Sie müssen Jan sein!« Jan konnte keine Antwort geben. Zu lange zurückgehaltene Tränen brachten sie zum Schweigen. Die Wahrheit, die vielleicht nicht mehr als ein Gefühl war, hatte die Logik, die alles zu erklären versuchte, überwunden. Stattdessen mischte sich eine andere Stimme ein. Sie meldete sich aus der Lautsprecheranlage und erreichte alle auf dem Deck Anwesenden. Delph kämpfte verzweifelt mit seinem Problem. Boldre mußte lachen. Er konnte jetzt abschätzen, wie das Ethos wirken würde. Delph war wirklich ein Gefangener des großen Komplotts. Wenn er auf der Erde landete, riskierte er, daß man von ihm abfiel. In dem erhebenden Augenblick der Wiedervereinigung mit der Erde war es gut möglich, daß seine Untertanen seine Befehle mißachteten und er sie für immer verlor. Andererseits konnte er nicht ewig in der Umlaufbahn verharren. Die lang aufgestaute Erwartung würde sich in einer Explosion Luft machen. Zu einem anderen Planeten konnte er auch nicht zurückkehren - nicht nur aus Treibstoff- und Zeitmangel. Die Enttäuschung würde ebenso zu einem Aufruhr führen. Eine Chance war ihm geblieben. Falls ihm Zeit blieb, alle in einer bestimmten Richtung zu beeinflussen, dann konnte er noch Oberhand behalten. Seine erste Maßnahme war, den Zugang zu den Raketen zu verbieten. Als zweites erließ er eine Informationssperre, wozu er plausible Gründe heranzog, die für den Augenblick akzeptiert wurden. Solange die Nachricht nicht die drei getrennten, in der Biosphäre enthaltenen Welten erreichte, war er Herr der Lage. Boldre spürte, daß der Ausgang von einer geheimen, inneren Revolte abhing. Ebenso, daß es ein um das Ethos geführter Kampf sein mußte, von Menschen geführt, die das Ethos nicht begriffen, eine Revolution ohne Sieger. Was Harts Niederlage bewirkt hatte, konnte ebenso Delph zustoßen, aber es mußte dazukommen, daß die Sieger die mit dem Sieg errungene Macht ablehnten. Sie mußten Macht verantwortungsvoll und diszipliniert ausüben, ohne zur Gottheit aufzusteigen. Ob eine Notwendigkeit von Machtausübung bestand oder nicht - wie immer dies die Siegenden beurteilen mochten -, sie mußten Macht um ihrer selbst willen ablehnen, ob es nun um Erreichung kleinerer oder größerer Ziele ging. Und
ihre Ablehnung durfte nicht das Ergebnis kühler Berechnung sein, sondern von Verständnis und Warmherzigkeit getragen sein. Dies überdenkend, sagte er dennoch laut: »Unmöglich.« Jan verstand und schüttelte den Kopf. »Es ist gar nicht unmöglich«, sagte sie. Er runzelte die Stirn über sie und ihren hartnäckigen Glauben. Sie fuhr fort: »Es wird möglich werden, wenn die Leute erkennen, daß sie das, was sie anderen wegnehmen, selbst tragen müssen. Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben, falls sie auch diesmal wieder in ihre Fehler verfallen, denn die letzte Lektion erfüllt ihren Zweck ebenso, wie es die erste tut.« Sie warteten gemeinsam ab, bis die Posten wieder kamen. Die jungen Männer kamen langsamen Schrittes daher, mit düsteren Mienen der Enttäuschung. Als sie wieder neben dem alten Mann Aufstellung genommen hatten, war es, als gäbe es nichts, außer ihren geheimen Gedanken. Boldre drückte Jans Arm. »Kannst du dich erinnern, wie wir die Rückfahrt zur Erde antraten?« Sie nickte. »Du sagtest mir, die Erde sei unfruchtbar. Du hattest behauptet, der Mensch wäre verdammt und würde alles zerstören, was ihm in die Finger käme.« Ihre Augen waren groß und unschuldig. »Damals glaubte ich nicht, was ich sagte - genauso, wie du jetzt nicht an deine Argumente glaubst. Kein Mensch vermag mit einer These der Hoffnungslosigkeit weiterzuleben. Das bildet wahrscheinlich den stärksten Impuls, das doch Wahre an allem zu erkennen.« Boldre lächelte. Er schweifte in Gedanken zurück, zu der düsteren Kraterlandschaft des Mondes, in der er seine Jugend verlebt hatte. Auch das war eigentlich eine Unmöglichkeit gewesen. Und doch hatte er sie hingenommen - und sogar geliebt. XVIII Die Biosphäre kreiste in ihrer Umlaufbahn hoch über der Erde und schien nicht mehr zu sein als ein wandernder Felsbrocken -ein Gefangener eigener, unaufhörlicher Unrast. Und doch enthielt sie in ihrem Inneren so zahlreiche Facetten des Lebens wie ein lebender Diamant. Obgleich nur ein Punkt am Nachthimmel, betrug ihr Durchmesser beinahe 25 Meilen und der Umfang 78 Meilen. Eine kleine Welt, eigenen Rechts, eine Welt mit fahlem Antlitz. Die alles umfassende Felshülle war ausreichend dick, um das kostbare Geheimnis zu bewahren. Auch jetzt noch gab es Augen, die auf die Erde hinuntersahen oder die Sterne beobachteten und ihre Bahnen maßen. Felsspeichen reichten vom Mittelpunkt zur äußeren Hülle und ließen das Gebilde als ein dreidimensionales Rad erkennen. Das Rad drehte sich um den Mittelpunkt, und die Schwerkraft nahm steigend zu, bis sie an der Außenhülle ungefähr Erdschwerkraft erreichte. Für die meisten derer, die knapp unter der Außenhülle oder gar auf niedrigeren Stufen lebten, waren dies halbvergessene Tatsachen. Nur wenige ahnten die ganze Wahrheit, und diese Männer sah man nicht und stellte ihnen keine Fragen. Es waren jene, welche die Erde beobachteten -, Olympier des Wissens, die sich gerade aus diesem Grund verbargen - verborgene Schattengestalten in der Finsternis der Unwissenheit. Und selbst ihnen wäre es bange zumute gewesen, hätte sie wirklich die ganze Wahrheit gewußt. Auf dem breiten Busen der Erde gab es Augen, die wiederum sie beobachteten und sich über die Gegenwart der Biosphäre wunderten, die viele Jahrhunderte lang hurtig die Erde umkreist hatte. Auf der Erdenstufe der Biosphäre, unter der Außenkrümmung des Felsens, konnten sich einige der Älteren noch an die Legenden von den goldenen Göttern erinnern, den Gründern ihrer Welt- an Boldre, an Tabiner und an die Liebesgöttin Jan. Sie kannten auch die anderen. Sie wußten von den bösen Geistern, genannt Hart und Delph, und einem Myriadenschwarm geringerer Wesen.
Sie erzählten die Geschichte des Bilderteichs, in den Delph Boldre und Jan eingeschlossen hatte, und sie berichteten von dem Triumphepos Tabiners, der zu den Sternen floh, wo er jetzt noch lebte. In all ihren Sagen lag eine seltsame Abkehr von logischen Erwartungen. Es wurde allgemein geglaubt, daß diese Götter im endgültigen Sinne sterblich wären und der einzige Unterschied zwischen Gut und Böse darin läge, ob etwas sterblich oder unsterblich sei. Und obwohl es also Menschen, ausgestattet mit der Machtbefugnis des Götterhimmels, gab, waren auch sie sterblich. Von solchen Legenden abgesehen, bedeutete für die meisten die Biosphäre das einzige Stück Realität. Sie war die Welt und es gab für sie keine anderen Welten. Und auf der Erdenstufe wirkte alles zusammen, um dies zu beweisen. Ihr 75 Meilen umfassender Bereich war geschickt mit Kuppeln und Hügeln aufgelockert, und die Innenwölbung des Felsens darüber bildete einen Himmel, hoch über der vorgetäuschten Landschaft. Ein heller Ball zog von einem Horizont zum anderen und war eine Sonne, wie jede andere Sonne. Es gab zwölf Stunden des Lichts und zwölf Stunden der Dunkelheit. Im Gegensatz zur Erde gab es keine Jahreszeiten, dafür fiel hin und wieder leichter Regen. Weil sie nichts anderes kannten, gaben sich die Jungen zufrieden. Wie ihre Väter vor ihnen bearbeiteten sie das Land oder führten die ihnen aufgetragenen Arbeiten in den Werkstätten aus. Einige wenige wurden ausgewählt und in besonderen Camps in anderen Sparten unterrichtet. Sie erfuhren streng gehütete Geheimnisse, die keinen praktischen Bezug zum täglichen Leben hatten, die aber in sich reinste Logik waren. Diese Ausbildung war eine Art Vorbereitung auf einen Tag, der vielleicht kommen mochte oder auch nicht. Das hing davon ab, ob sich ihre Generation als würdig erwies. Alle vorhergehenden Generationen hatten nämlich irgendwie versagt. Das Endziel wurde nie richtig enthüllt, sondern nur angedeutet. Einer Generation, deren Wissen und Disziplin sich der Vollkommenheit näherte, würde ein Erbe zufallen, eine zu erfüllende Aufgabe, die es ihr ermöglichte, die Menschen der Biosphäre durchs leere Nichts zu ungeahnten Eroberungen zu führen. Die Zynischen unter den Jungen, waren vielleicht zu dem Schluß gelangt, daß die Ausbildung ein Endziel in sich selbst wäre. Sie waren bloßer Ersatz für die schattenhaften Männer, die in Wahrheit die Biosphäre beherrschten. Möglich, daß sie den Traum von der Eroberung nur als Traum auffaßten. Einer oder der andere ahnte, daß der wahre Zweck der Ausbildung die Verhinderung von Rebellion war, ein Manipulieren des Verstandes, das schon allzulang andauerte. Schwitzend kämpften sich David und Thomas die Anhöhe hinan und sehnten das Ende der täglichen Übungen herbei. Man täuschte sie in allem und jedem und gönnte ihnen kaum Rast. Ihre knapp sitzenden Kragen waren schweißnaß, die Beine schwer von der gesunden Müdigkeit der Jugend. War der eine an der Arbeit, so arbeitete der andere auch. Hin und wieder warfen sie einander Blicke zu - immer gleichzeitig aufeinander abgestimmt, als teilten sie sich in einen gemeinsamen Verstand. Der Trupp junger Männer und Frauen, vor einer Stunde noch ein geschlossener Haufen, war hinter den beiden weit zurückgeblieben, und die beiden Jungen genossen das Gefühl, daß sie die ersten waren. Die Flecken auf der Uniform waren ihr Stolz - der Beweis ihres Durchhaltevermögens. Auf dem Hügelkamm angekommen, hielten sie einen kurzen Augenblick inne und sahen zurück. Dann lachten sie und setzten den Weg bergab fort. Sie hatten gesehen, wie ihr Kommandant die Säumigen antrieb und hatten auch die müden, verärgerten Blicke derer im Hintergrund gesehen. Die niedrigen Umrisse des Camps schmiegten sich an den Talboden. In einer halben Stunde würden sie in dem großen, gemeinsamen Bad liegen und die Zuspätkommenden mit Ausrufen des Spotts begrüßen. Sie würden die ersten beim Baden und Essen sein. Nachher
würden sie ein wenig plaudern und sich das Genörgel des Kommandanten anhören, der seinen üblichen Unmut über die Tagesleistung Luft machen würde. David lächelte Thomas zu. Er deutete auf einen steilaufragenden Felssporn, der sich auf dem Hang erhob und auf verbotenem Gelände lag. Sie hatten ihn des öfteren mit sehnsüchtigen Augen bedacht - eben, weil er auf verbotenem Gelände lag. Der Fels ragte kahl aus dem Boden, und sie hatten einmal ausgerechnet, daß dessen Spitze nur mit einem gewaltigen Sprung und anschließendem verzweifelten Gekielter zu erreichen war, bei dem der Springer den Schwung nützen mußte. Ohne Vorwarnung nahm David einen Anlauf in Richtung zum Fels und sprang. Seine Füße erreichten die harte Flanke, und er kroch hinauf. Sekundenlang hing er knapp unter der Spitze. Thomas hielt den Atem an. Wenn David jetzt herunterfiel, würde er sich den Hals brechen oder ein Bein verletzen. Das Vergehen wäre dann nicht mehr zu verheimlichen. Die ganze Truppe würde eine saftige Strafe aufgebrummt bekommen. Er korrigierte sich im Geiste - David war jetzt wichtiger als jede Strafe. Aber David schaffte es bis zur Spitze. Mit übermenschlicher Anstrengung ließ er sich hochschnellen und hielt sich am Rand fest. Im Nu hatte er sich hochgestemmt und stand triumphierend da. Thomas nahm seine Kräfte zusammen und wollte ihm nach. Eine rauhe Stimme meldete sich knapp von unterhalb des Hügelkammes und er sah, daß David sich auf seinem Felsen flach hinlegte, während die untersetzte Gestalt des Kommandanten auch schon in Sicht kam. Das Gesicht des Mannes war hochrot und mißtrauisch, aber er hatte offenbar nichts gesehen. Thomas stieß einen erleichterten Seufzer aus und ermahnte sich zur Ruhe, um die unvermeidliche Lüge anzubringen. »Wo ist er?« Die Stimme des Kommandanten klang wie ein gebrochenes Krächzen. Es war nicht ärger als der Mann selbst. Thomas spürte einen kalten Klumpen in seinem Magen, der eine Konfrontation ankündigte, die mit Sicherheit ungünstig für ihn enden mußte. Trotzdem antwortete er in ruhigem Ton: »Er ist vorgelaufen.« Er wollte seiner Antwort mehr Überzeugungskraft verleihen, indem er hinunter ins Tal wies, in dem Abendnebel gnädig die Lagerbauten verbarg. Der Mann starrte nachdenklich hinunter. »Ich kann ihn nicht sehen.« »Er wollte als erster im Bad sein.« Das klang nach Wahrheit. Der Befehl hatte gelautet auf »Gehen«, und Thomas hatte gesagt, David wäre gelaufen. Damit war das Eingeständnis verbunden, daß David sich gegen die Vorschriften vergangen hatte. »Gut. Du bleibst bei mir. Dein Kumpel kommt heute abend auf die Strafliste. Wie gefällt dir das?« Die grobe Hand wurde zur Faust geballt und drohend vor Thomas' Gesicht gehalten. »Du wirst als Zeuge aussagen, da du die Übertretung mit angesehen hast.« Sein Tonfall verriet Vergnügen. Seine Bosheit war überheblich, wie der ganze untersetzte Körper, der die schlichte Uniform prall ausfüllte. Thomas stand reglos da und sagte gar nichts. David hatte das Vergehen begangen, aber die Strafe mußten alle auf sich nehmen. Auch das war eine Regel. Niemand trug allein die Strafe, was immer er verbrochen haben sollte. Der Kommandant brummte und drehte sich um, um die ersten des Trupps zu beschimpfen, die den Gipfel eben taumelnd erreichten. Er schrie sie wütend an. Sie marschierten hintereinander an Thomas vorbei und beäugten ihn mit heimlicher Bestürzung. Sie wußten nicht, was passiert war. Sie wußten nur, daß es von Übel war. Der letzte kam herauf und ging nun vorüber. Thomas folgte ihnen langsam und sah sich nicht um. Hätte er den Kopf gewendet, so hätte es der Kommandant sofort bemerkt. Die Nacht kam bald. David hatte den Entschluß gefaßt, sich nach Einbruch der Dunkelheit heruntergleiten zu lassen. Der Kommandant würde seine Abwesenheit inzwischen bemerkt haben, aber es war immer noch besser, sich eine gute Geschichte zusammenzubrauen, weil das mehr galt als ein knapper Bericht. Den
Ausflug auf die Felsspitze wollte er unerwähnt lassen. Im letzten Licht des Tages hätte man ihn hier eventuell noch sehen können, deswegen wartete er noch. Nun konnte man ihn nicht mehr sehen. Er wollte sich von oben vorsichtig hinunterlassen, in der Hoffnung, den Rest der Strecke rutschend zurücklegen zu können. Er wußte, daß er nicht einmal einen verstauchten Knöchel riskieren durfte, weil das zusätzlicher Erklärungen bedurft hätte. Sorgfältig wählte er die geeignete Stelle für den Absprung. Plötzlich aber wurde sein Blick von einer unauffälligen grünen Wölbung des Hügels zu seiner Linken angezogen. Im Dickicht einer kleinen Baumgruppe, die er gut kannte, glühte ein Licht. Der Boden unter ihm bebte leise. Zum zweiten Mal legte er sich flach hin und preßte sich an die harte Oberfläche. Eine merkwürdige Neugier bewirkte, daß seine Aufmerksamkeit an dem Licht haften blieb. Sein Körper war straff wie eine gespannte Saite. Er hatte das Wäldchen schon öfter durchstreift, obwohl auch das verboten war. Seine Streifzüge hatten ihm aber außer düster aufragenden Bäumen und einem weichen Laubteppich nichts enthüllt. Das Licht wurde größer, wurde zu einem Viereck. Die Ränder des Vierecks waren durch Baumumrisse und das vom Viereck ausstrahlende Licht unregelmäßig verzerrt. David entsann sich eines Felsblocks im Waldboden, ähnlich dem Fels auf dem er lag, aber viel niedriger und kleiner - wenig mehr als mannsgroß. In dem Lichtviereck bewegte sich etwas. Eine durchscheinende Wand glitt beiseite und ein im Viereck stehender Mann war nun deutlich zu sehen. Groß und steif stand er da wie ein Soldat. David hielt den Atem an. Der Mann war sehr groß. Er war mindestens um eine Kopf- und Schulterhöhe größer als alle, die David je gesehen hatte. Die Uniform des Mannes schimmerte im Licht und ließ ihn so massiv erscheinen wie ein aus dem Fels gehauenes Standbild. Die Gestalt trat aus dem Viereck hervor. Sie wurde von den Schatten verschluckt, als sie sich weiterbewegte. Die Nacht war still, als verharre sie in Schrecken - und da sah man um das Camp herum das Aufblitzen von Fackeln. David ließ sich seitlich am Felsen hinuntergleiten und dachte nicht mehr an Verletzungen. Als er mit den Füßen den Boden berührte, ließ er sich weiterrollen und milderte damit den Aufprall. Hastig strebte er dem Camp zu. Er hatte schon ein ganzes Stück hinter sich, als sich vor ihm ein Schatten erhob. Er war breit und sehr groß, so wie die Gestalt vorhin im Licht. Im Bruchteil einer Sekunde erkannte David ihn und tauchte seitwärts weg. Er lief wie noch nie in seinem Leben und kämpfte sich durch die Baumgruppe durch, die er vom Fels aus gesehen hatte. Die Bäume hatten ihn magnetisch angezogen, weil ihm sein blinder Instinkt sagte, sie böten mehr Sicherheit als das offene Gelände oder das Camp. Das Lichtvierek brachte ihn zum Stehen. Die Schritte seines Verfolgers waren dicht hinter ihm. Verzweifelt hob er einen Felsbrocken vom Boden auf, als die Gestalt einen Sprung auf ihn machte. Das Gesicht war grausam, bar jeden Ausdrucks. In den Händen blinkte stumpf eine Waffe. Er schleuderte den Stein mitten ins Gesicht der Verfolgers. Der Stein traf sein Ziel. Der Verfolger blieb aufrecht stehen, starr wie eine Statue. Nach langen Sekunden des Schreckens fiel er vornüber um. Der Körper stürzte steif auf den weichen Laubboden und blieb reglos liegen. David fiel auf die Knie. Die stille Gestalt auf dem Boden wirkte nun gar nicht mehr bedrohlich. Er fragte sich, wie er einen so großen Menschen so leicht hatte töten können - so, als wäre der Riesenschädel bloß ein Ei. Er legte seine Hände auf den Rücken des still Daliegenden. Der Rücken war hart und kalt und flach. Als er den Kopf berührte, hatte er das Gefühl, er berühre kaltes Metall. Angst durchbebte ihn. David wollte davonlaufen und nie mehr stehenbleiben. Er bezwang jedoch seine Furcht und hatte bald seine Fassung wiedererlangt. Zielloses Davonlaufen löste kein Problem. Jenseits des Camps und einer niedrigen Hügelkette gab es einen Wasserlauf und einen
Fleckenteppich von Feldern. Man durfte das Wasser nicht überqueren, aber er wußte, daß es Menschen auf der anderen Seite der Grenze gab. Aber die würden ihn ohnehin wieder zurückschicken. Vor langer Zeit war er einmal mit Thomas ans Flußufer gekommen. Sie hatten sich hingesetzt und einem Mann zugesehen, der auf den fruchtbaren Äckern an der Arbeit war. Verwegen hatten sie ihm zugerufen, und der Mann hatte sich zuerst nach dieser, dann nach jener Seite umgesehen, ehe er ihnen zuwinkte. Später am Tag hatte er sich an das gegenüberliegende Ufer gesetzt und sich mit ihnen unterhalten. Er nannte den Wasserlauf Fluß - sie hielten es für eine bloße Floskel, ohne zu wissen, warum. Was David besonders im Gedächtnis geblieben war, war die Furcht des Mannes. Davids Augen wurden wieder von dem beleuchteten Viereck angezogen. Er schlich sich näher, als wäre es ein wildes Tier. Licht und Wärme schienen ihn heranzulocken, und er faßte Mut. Die einfache Gegenwart des Gegenstandes verlieh ihm Sicherheit. Jetzt konnte er drei Glaswände erkennen auf einem lichtdurchlässigen Boden und eine Decke, dazu den Rand einer Tür, die beiseite geglitten war, um den Fremden herauszulassen, den er vorhin niedergeschlagen hatte. Langsam schlich er näher und betrat schließlich das helle Lichtviereck. Seine Hände berührten die glatten Wände. Seine Finger tateten nach einer Box, die an einem kleinen Glashäkchen hing. Die Box baumelte an einem schmalen Gürtel, und er konnte sich vorstellen, daß dieser Gürtel einst die Körpermitte des stillen Körpers da draußen umspannt hatte. Auf der Box befand sich eine Anzahl von Knöpfen. Das sagte David nichts, doch er erfaßte sogleich, daß man sie in beliebiger Reihenfolge niederdrücken und ihre Wirkungsweise dreifach verändern konnte. In weiter Ferne hörte er Rufe und das wütende Bellen eines Jagdhundes. Ihn überlief ein Schaudern, denn er erkannte das Gekläff des riesigen, schwarzen Köters des Kommandanten, dem es gefiel, das Biest unterernährt zu halten, um dessen Schärfe zu steigern. David faßte nach der Box. Die Tür glitt zu, und der Boden unter ihm sackte ab. Er starrte die Box an und merkte, daß er drei Knöpfe gedrückt hatte. Eine graue Mauer glitt an ihm vorüber, und er schien endlos in den dunkles Fels zu versinken. Überraschende Stille beruhigte Geist und Körper. In seinem Inneren spürte er eine ungewohnte Übelkeit aufsteigen, sein Magen wollte sich die Kehle hinaufdrängen. Er nahm es hin, denn irgendwie war es unter diesen Umständen begreiflich. Das Dunkle des Felsens wurde jetzt von helleren Schichten abgelöst, die an ihm vorüberglitten. Jede Stufe, die er durchfuhr, gestattete ihm einen Blick auf Boden, Korridore oder einen großen, hellerleuchteten Raum. Sein Körper schien ihm erneut einen Streich zu spielen, denn er fühlte sich immer leichter, je tiefer er hinunterglitt. Dann kam plötzlich das Gefühl von Freiheit - er fühlte sich wie ein auf einer warmen Luftströmung dahintreibender Vogel. Und doch war er im Fallen begriffen. David verwarf daher diesen Vergleich. Er befand sich in einer neuen Dimension. Die ihm bekannte Welt war grün, mit einem blauen Himmel und einer gelben Sonne. Sie hatten sich nie weiter als fünf oder sechs Meilen vom Camp entfernen dürfen. Diejenigen, die mehr Kenntnisse hatten, wußten, daß man sie von anderen ihrer Art fernhielt, aber keiner hatte geahnt, was eigentlich unter der von ihnen bewohnten Welt lag. Weil sie für eine besondere Zukunft ausgebildet wurden, hegten sie die sonderbare Idee, daß ihre unmittelbare Umgebung nur ein kleiner Teil von etwas Größerem wäre. Die fünf oder sechs Meilen bedeuteten gar nichts, wenn sie an die unbegrenzte Energie und die großen Fahrten in die unendliche Leere dachten, von denen man ihnen erzählt hatte. Und jetzt warf Davids Verstand Fragen auf, für die er keine Antworten fand. Das Leben im Camp war durch straffe Disziplin geregelt, aber den Menschen blieb trotzdem Zeit, sich über ihre Existenz Gedanken zu machen. Abgesehen von der auf Logik ausgerichteten Ausbildung und der Andeutung künftiger Ereignisse, war David alles immer unwirklich erschienen. Die
unendliche Vielfalt unter der Oberfläche betäubte und erleuchtete ihn gleichzeitig. Die Welt war keine unteilbare Einheit mehr. Dann sah er ein Gesicht. Ein kurzer Blick war es, auf einen großen, gehenden Mann. Der Mann benahm sich völlig normal - kein Phantasiegebilde in einem Tunnel der Träume. David riß sich zusammen. Was er sah, war Wirklichkeit. Der Mann faßte seine Umwelt offenbar als eine vollständige Welt auf, so wie es auf den höheren Stufen der Fall war. Vielleicht lebte er nach Belieben auf alten Stufen - über oder unter seiner eigenen. Wieder wurde es finster außerhalb des hellen Vierecks. Eine gewaltige Felswand schob sich jetzt vor seine Augen. Mit flachen Händen drückte er sich an die Glaswand und schien über die glatte, schwarze Wand dahinzugleiten, während die Kabine mit ihm abwärtsglitt. Der Fels endete unvermittelt. An seine Stelle trat jetzt eine weitläufige, rote Landschaft. Hier sah er Höhen, die sich wie große umgedrehte Tassen erhoben, große Krater mit schrundigen, aufgeworfenen Lippen. Um sie herum rotfarbene Ebenen. Lange glitt er so in die Tiefe. Drei Seiten seiner Kabine waren geschlossen, die vierte war offen und während er längs eines Kamins in der Felswand hinabglitt, vermeinte er, wenn er hinsah, durch die Öffnung ins Leere fallen zu können. Schließlich blieb die Kabine stehen und eine Tür glitt auf. David blieb reglos stehen und starrte in die seltsame Welt, die ihn draußen erwartete. Vor ihm erstreckte sich eine weite Landschaft, in der Ferne Erhebungen. Eine gelbe Sonne, von Wolken wie von zarten Spinnwegen umgeben, stand über einer Mauer höherer Berge. Sie waren zwar nicht so hoch, wie sie aussahen, aber die Illusion war vollkommen. Ein schwacher Wind blies über die Ebene, Staub wirbelte auf, wie aus eigener Kraft hochgetrieben. David tat einen Schritt und stolperte. Sein Körper war wie eine zu stark aufgezogene Feder, die Mus kein zu stark für die Aufgabe, die leichte Masse seines Körpers weiterzubewegen. Er hatte das Gefühl, als könnte er mit ausgestreckten Armen fliegen. Noch einen Schritt - und er entsann sich der ziffernbewehrten Box, die er in der Kabine zurückgelassen hatte. Doch als er sich umdrehte, glitt die Tür zu, und die Kabine fuhr hinab in den unendlichen Schacht und ließ ihn allein. Er war nun Gefangener einer neuen Welt, die ihm sofort fremd und entlegen vorkam. Das gierige Heulen, ein Signal aus der Ferne, brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Er wurde noch immer gejagt, und die Häscher waren ganz in der Nähe. Sie wußten, daß er hier war. Sehnsüchtig wünschte er sich, Thomas wäre bei ihm. Dann wurde ihm klar, daß er allein besser dran war. Thomas war von Natur aus ängstlich und folgsam, sein Pflichtgefühl hätte ihm dieses Abenteuer zur Qual gemacht. David bewegte sich nach rechts, in Richtung zu der roten Wüste hin. Er wollte dem Hornsignal und seinen Verfolgern entkommen. Das Signal ertönte schrill und furchteinflößend, furchteinflößend seiner linken Seite her, und er hatte aus dieser Richtung eine Staubwolke gesehen. Die Wüste war nicht so öde, wie er zunächst angenommen hatte. Stämmige Gewächse durchbrachen die staubige Oberfläche. Ihre dünnen Äste sproßten lanzenartig an Stellen, an denen der Boden dunkler war. Ansonsten bedeckte ein dunkelroter Teppich die Wüste. Es war eine schwammige Matte, die so üppig wirkte wie das Gras auf seiner eigenen Lebensstufe. Jeder Schritt, den er machte, war ein ausholender Sprung oder ein katastrophales Stolpern. Er mußte sich richtig konzentrieren, um vorwärts zu kommen. Und doch ragten die Kraterwände vor ihm früher auf, als er erwartet hatte. Sie waren nicht mit den Hügeln zu verwechseln, die er bis jetzt kennengelernt hatte. Hinter ihm blitzte etwas in der Wüste. Es war klein und aus Silber - eine rollende Kugel, die ihm auf den Fersen war. David stand der Schweiß auf der Stirn, und es fror ihn zum ersten Mal. Es war kalter Angstschweiß. Er bog ab und suchte den Schutz der gedrungenen Felsen. Unbeirrt rollte die Kugel hinter ihm her. Sie war kaum zehn Schritte von ihm entfernt, als
er mit dem Schienbein an eine scharfe Kante anstieß und vor Schmerz niederstürzte. Die Silberkugel quietschte und summte und begann sich auf der Stelle zu drehen. Resigniert bereitete sich David auf das unvermeidliche Ende vor. Wie Boldre Generationen vor ihm - stand er aufrecht da und sah seinem Gegner lieber entgegen, als vor diesem Ding ohne Verstand im Staub zu kriechen. Aus den Felsen heraus, redete ihn eine Stimme an. Zuerst glaubte er, die Kugel hätte gesprochen, doch er wußte ja, daß sie ein Ding und kein Mensch war und daß er sich geirrt hatte. Hände zogen ihn in den schützenden Stein. Die Silberkugel folgte ihm nicht nach. Sie drehte sich in ihrer Aura aus rotem Staub, wobei ihr Schein Regenbogenfarben her vorbrachte. »Kannst du stehen?« David suchte nach der Stimme und entdeckte den Mann. Der Unbekannte war groß, mager und schmutzig. Staub bedeckte seine Kleider, als hätte er sich darin gewälzt, doch der Schmutz war nur die Folge von Anstrengungen und Hitze. Das Haar war lang und verfilzt. Sogar die groben Hände starrten vor Schmutz. Nur die Augen waren frei von Schmutz und Staub. Sie waren klar und tiefblau. Sie lächelten. »Du kommst von der Erdenstufe.« Das Lächeln steigerte sich zu einem Gelächter. »Ganz klar, daß du ein paar Gesetze übertreten hast.« David runzelte die Stirn. »Zumindest hast du gegen das erste Gebot verstoßen - daß du nicht auf der Hut warst und dich hast erwischen lassen.« Er starrte Davids Uniform an. »Und man hat dich für diesen Delph ausgebildet, der längst tot ist. Seltsam, wie sein Wahn fortlebt.« David war erschüttert. Delphs Name wurde im Camp nur voll Ehrfurcht genannt. Sein Bild hing in der Messe und wurde morgens und abends mit geballter Faust und ausgestrecktem Arm gegrüßt. David konnte sich vor Erstaunen nicht fassen. »Was sagst du da vom ersten Gebot?« Der Ältere lächelte. »Das war nur ein Scherz. Das erste wirkliche Gesetz dieser Leute ist das Gesetz der Trennung, der Separation, das Leben in voneinander abgetrennten Rechtssphären.« Er sah das aufsteigende Entsetzen in der Miene des Jungen und wollte ihn trösten. »Davon hast du doch gehört, nicht?« Er faßte nach Davids Arm. »Es bedeutet, daß niemand seine Stufe ohne Erlaubnis verlassen darf - eine Abart des Grundsatzes: >Teile und herrschen Natürlich scheren wir uns hier keinen Deut darum.« David setzte sich. Sein Verstand setzte plötzlich aus. Er versuchte, seiner Angst Herr zu werden. »Vielleicht spielt das in meinem Fall keine Rolle. Ich habe etwas Ärgeres getan - ich habe einen Menschen getötet.« Langsam ließ er den Kopf auf die Brust sinken und stammelte seine Geschichte hervor. Der andere schüttelte den Kopf. »Ich sehe, daß man auch Boldres Ethos mißbraucht hat. Es ist schlecht, um des Tötens willen zu töten, oder wenn es einen anderen Ausweg gibt. Selbstverteidigung aber steht auf einem anderen Blatt. Das hätte man euch beibringen müssen.« Er hob den Kopf des Jungen. »Außerdem war es kein Mensch. Es war eine ihrer Maschinen.« David sah ihn scharf an. »Hat Boldre je getötet?« Der Mann hob die Schultern. »Er war am Ende von seinen ethischen Grundsätzen besessen. Er hat Delph zu leicht nachgegeben. Sogar Jan konnte nicht begreifen, daß sie das Recht zum Kämpfen gehabt hätte, als Delph ihnen die Landung nicht erlaubte.« David hatte die Legenden gehört. Das eben Gehörte ließ sie in einem neuen Licht erscheinen, aber er war damit nicht einverstanden. »Man hat uns gelehrt, Konflikten aus dem Weg zu gehen.« »Ach so, das hat man euch also gelehrt. Und trotzdem hätte man euch veranlaßt, bei der Rückkehr zu anderen Planeten auf Distanz zu töten. So sah nämlich Delphs Plan aus.« Der Junge wußte keine Antwort. Er war mit seinem Verständnis am Ende. Ihm bedeutete es keinen Trost, daß er nur eine Maschine zerstört hatte. Denn im Augenblick der Tat hatte er ja geglaubt, es wäre ein Mensch. »Du mußt mitkommen.« Die Stimme schien weit entfernt. Der Junge runzelte die
Stirn und blieb sitzen, als könnte er Körper und Verstand nicht mehr gebrauchen. Die Stimme war nahe und tröstlich. »Wie heißt du?« »David.« »Ich heiße Gozo.« Dann trat wieder Stille ein. Plötzlich überstürzten sich die Fragen in Davids Kopf. Er starrte in Gozos Gesicht, konnte aber nur die schmutzgestreiften Wangen und die blauen Augen sehen. Er wollte aber wissen, was Gozo gemeint hatte, als er sagte, Delph hätte die Landung verboten und hätte zu anderen Planeten gewollt. Die Fragen verbanden sich auf seltsame, logische Weise mit seinem früheren Wissen, mit allem, was man ihn gelehrt hatte. Er stellte die Fragen nicht, aber sein Kopf war jetzt klar. »Ich komme mit.« Später sollte er sich an den langen Weg durch den Fels erinnern, an den Aufstieg in das Herz des Kraters. Es war eine Wiedergeburt, ein Übergang. Meist hielt Gozo ihn am Arm und führte ihn so einen schwach erleuchteten Weg entlang. Im Gang verblaßte der Fels von Rot zu einem gleichförmigen Steingrau. Er wußte, das war wieder eine Welt innerhalb einer Welt. In diesem Steinherz lag die wirkliche Welt, das fühlte er, und alles übrige war nur Hülle und großartige Illusion. Schließlich machten sie Rast. Er wollte Gozo seine Fragen stellen, aber der Mann schüttelte den Kopf und bereitete ihm ein Lager aus Steinen. David überließ sich der überwältigenden Müdigkeit seines Körpers und schlief ein. Als er erwachte, war Gozo nicht mehr allein. Vier andere hatten sich zu ihm gesellt. Sie saßen gedrängt an der Felswand gegenüber und schienen mit der rohbehauenen Mauer zu verschmelzenso hart und staubig sahen sie aus. David fühlte sich bedroht es schienen ihm Felsengeister zu sein, die ihn heimlich beobachteten. Gozos Lachen klang trocken und hart. »Immer mit der Ruhe«, sagte er mit unerwartet menschlicher Stimme. »Das sind meine Freunde. Also keine Bange.« Seine blauen Augen leuchteten unter einem von irgendwo einfallenden Lichtstrahl. Er reichte David eine Tasse. Einer der anderen brach einen Keks entzwei. »Mehr haben wir im Moment nicht«, sagte Gozo. »Aber wir werden für dich bald etwas Besseres auf treiben.« Er lächelte ermutigend, als der Junge das Angebotene annahm. Dann verschwand das Lächeln. »Jetzt gehen wir an einen anderen Ort.« »Wohin?« fragte der Junge zögernd. »An einen Ort, wo du eine Entscheidung treffen kannst.« »Welche Entscheidung?« Gozo rieb sich die Hände, als wäre er jetzt nervös, daß er das Thema zur Sprache gebracht hatte. »Das wirst du sehen, wenn wir da sind.« Einer der Männer mischte sich mit knarrender Stimme ein. »Wir müssen wissen, wo er steht, bevor du weitergehst.« Der große Mann schien enttäuscht. »Dieser Kommandant er ist sicher ein brutaler Mensch?« Das war eine halbe Frage, aber Gozo wartete die Antwort erst gar nicht ab. »Und du hast nie begriffen, welchem Zweck das Camp dienen soll. Ich werde es dir sagen: es besteht, weil die Männer, die Delphs Macht erbten, verloren sind und nicht mehr aus und ein wissen. Sie vertreten eine verlorene Sache, die schon immer verloren war. Wenn du bei ihnen bleibst, wirst du niemals deinen oder ihren Traum erfüllen. Daher sage ich - komme mit uns!« Wieder war David aufs höchste verwirrt. »Ich sagte ja, ich wolle mit euch gehen. Was wollt ihr von mir? Warum fragst du mich noch einmal?« Gozo behielt seine Gefährten im Auge. Sein Blick war hoffnungsvoll und ängstlich zugleich. Einer der Männer hantierte mit einem Lumpenbündel herum. Der Griff einer Waffe rutschte zwischen den Lumpen hervor und wurde hastig wieder eingewickelt, als solle es der Junge nicht sehen. »Sie wollen wissen, ob du gewillt bist, Änderungen zu akzeptieren«, sagte Gozo sanft, »ohne Näheres zu wissen, und daß du sicher bist, nicht zu bereuen, was du hinter dir gelassen hast.« Er wies mit einer Kopfbewegung auf die anderen. »Sie sind die Hüter des Vorhabens. Bei ihnen liegt die endgültige Entscheidung. Sie können dich mittun lassen oder dich zurückschicken.« David wußte die Antwort. »Ich bedauere nur Thomas.« Der Mann mit der rauhen Stimme sagte: »Warum?« »Weil er mein Freund ist.« Der Mann starrte ihn an und nickte. »Bring ihn her, Gozo!« Gozo lächelte freudig. »Und jetzt
kann ich alles erklären.« David war gespannt. »Erstens: der Ort an dem wir leben und den wir Biosphäre nennen, ist nur eine kleine Welt. Sie wurde vor langer Zeit von Menschen mit einer bestimmten Absicht geschaffen. Du glaubst sicher, sie sei riesig, aber es gibt andere Biosphären - nicht von Menschen geschaffene -, die sich von unserer dadurch unterscheiden, daß es Außen-Biosphären sind. Das Leben spielt sich auf ihnen und nicht in ihrem Inneren ab. Diese kleine Welt gehorcht einigen Gesetzen, die auch für größere Welten anwendbar sind - aber nicht bei allen. Es ist eine gelenkte Welt, sie kann sich dorthin bewegen, wohin wir wollen. Sie kann die Leere zwischen den größeren Welten überbrücken.« David sah ihn stirnrunzelnd an. Die Geschichte klang vernünftig, war aber nicht vollständig. »Diese größeren Welten nennt man Planeten?« Gozo sah seine Gefährten triumphierend an. »Richtig. Die Geschichte unserer Biosphäre ist die Geschichte unseres Fluges von einem Planeten zum anderen. Bedauernswerterweise war es eigentlich kein Flug, sondern eine Flucht. Alle Biosphären - ob nun Außen- oder Innenbiosphären, ob groß oder klein - sind anfällig. Und der Mensch hat seinen Planeten zugrunde gerichtet und ist geflohen, um andere zu suchen.« Er schien betrübt. »Wir entdeckten, daß wir eigentlich nicht neue Welten suchten, sondern einen Kompromiß, der uns zu leben gestattet, ohne das, was wir zum Leben brauchen, zu zerstören. Es schien ein einfaches, rein praktisches Problem zu sein, erwies sich aber als ungeheuer komplex.« David begriff. »Und es wurde also nicht gelöst.« Gozo war erstaunt. »Warum sagst du das?« Der Junge nickte vor sich hin. »Ich sagte es, weil wir uns ja nicht auf einem bloßen Flug befinden, andererseits auch nicht landen können. So hast du es ja dargestellt. Trotz langer Vorbereitungen, trotz vieler Generationen, sind wir noch nicht soweit, landen zu können. Das einzige, was wir vermeiden konnten, war die Zerstörung der Biosphäre, auf der wir leben. Boldres ethische Grundsätze konnten sich auch nicht durchsetzen.« »Nicht vollständig«, meinte Gozo. »Was er nicht bedachte, war, daß sich diese Grundsätze nur teilweise bewähren konnten, weil wir sie an unrichtiger Stelle anwendeten und innerhalb unserer Zeit verwirklichen wollten, während sich dies nur jenseits unserer Zeitvorstellungen und frei von Zwängen, die sich aus Konflikten ergeben, zur Gänze in die Tat umsetzen ließe. Nicht weit von unserer Biosphäre entfernt ist der Planet, auf dem alles anfing - die Erde. Delph konnte nicht landen, weil er von unserer Seite einen Aufruhr befürchtete. Schließlich entdeckte er aber auch, daß wir überhaupt nicht hätten landen können. Die Erde hat sich im Laufe der Jahrhunderte in anderer Form erneuert, das Leben dort hat sich der von uns geschaffenen Giftatmosphäre angepaßt, was bei uns nicht der Fall ist - wir sind hinter dieser Entwicklung zurückgeblieben. Wir konnten uns auch keinen Treibstoff für die Biosphäre be schaffen. Da wir die Erde ausgeraubt hatten, wies sie uns jetzt ab.« Er wurde jetzt sehr nachdenklich. »Eine Ironie ist es, daß auch die, die dies alles wissen , ebenfalls in der Falle sitzen. Obwohl Jan und Boldre gegen Delph hätten kämpfen sollen - es hätte ihnen nichts eingebracht. Die Verwirklichung ihres Ethos wäre im Zeichen eines Konfliktes gestanden. Und so wie zwischen Mann und Frau können Konflikte Liebe noch zulassen oder sie ausschließen.« David starrte ihn an. »Dann besteht also keine Hoffnung?« Der große Mann schüttelte den Kopf. »Bevor der Mensch nach der Zukunft zu fassen versuchte, ging es in Ordnung, weil er sich innerhalb der ihm gesteckten Grenzen hielt. Und es wird wieder in Ordnung kommen, wenn die Grenzen erweitert werden. Wir müssen die Grenzen weiter stecken. Es bliebe ein Makel der Schuld an dem, was geschehen ist, an uns haften, wenn wir es nicht zustande brächten, alles wieder ins rechte Lot zu bringen. Einstein sagte, daß Gott nicht schlecht sein könne. Es wird eine Lösung geben.« David fragte ihn mit
erstaunten Augen. »Wer ist Gott?« Der Mann mit der rauhen Stimme lachte kurz auf. »Es gibt welche, die sagen, es ist Tabiner.« Gozo warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Tabiner fand die Antwort - aber er ist nicht Gott.« Er beruhigte sich wieder. »Es stimmt, daß Tabiner einen ähnlichen Weg gegangen sein muß, wie Gott es tat - aber Tabiner ist nicht allwissend. Wenn man Gott sein will, muß man allwissend sein und die ganze Bürde der Allwissenheit tragen.« »Wenn dieser Gott alles weiß - warum sagte er uns nichts?« fragte David unschuldig. Gozo drehte den Kopf weg. Seine Augen waren hart. »Das würde uns zu weniger als einem Nichts degradieren. Und wir wurden nicht geschaffen, um geringer als nichts zu sein.« Mit sanfterer Stimme fuhr er fort: »Jetzt müssen wir gehen.« XIX Gozo brachte David in eine Höhle der Mondstufe. Von der Marsebene aus waren sie durch eine Reihe langer Schächte zu einer Riphaen genannten Insel abgestiegen. Von da weg fuhren sie über das seichte Meer zu der Höhle. Die See war einmal ruhig wie ein Weiher, dann wieder wild wie ein tosendes Unwetter gewesen, aber Gozo hatte das Röhrenboot durch Sturm und Stille sicher gesteuert. Im Inneren der Höhle, auf einem Sims sitzend, warteten sie jetzt. Gozo fand daran Vergnügen, die Wartezeit mit mystischen Erzählungen auszufüllen, obzwar auch David zahlreiche Fragen stellte. Gozo wandte hierbei den Trick eines Märchenerzählers auf einem Markt an, der seinen Zuhörern alles, bis auf das entscheidende Ende erzählt, damit die Zuhörer sicher wiederkämen. Seine Art hatte David bezaubert. Nach einer Stunde bewegte sich etwas in den leuchtenden, glasigen Tiefen. Eine hellere Form kam langsam an die Oberfläche und entpuppte sich als die Gestalt einer jungen Frau. David fuhr auf und wollte weg. Der andere hielt ihn fest. »Das hier ist nichts Wirkliches. Was du hier siehst, ist eine Art Luftspiegelung, eine von Jan hinterlassene Aufzeichnung. Du wirst sie sehen und hören. Sie wird sogar zu dir sprechen und dich auch scheinbar verstehen - dabei ist alles nur das Werk eines in den Felsen verborgenen Computers.« Der Junge ließ sich wieder näher am Ufer nieder. »Dann ist es nur ein Trugbild?« fragte er. »Nein. In gewissem Sinn ist die Aufzeichnung Jan selbst. Sie kann reden, erzählen, auch Entscheidungen treffen und vorschlagen. Aus diesem Grund haben wir dich hierhergebracht.« Er stand auf. »In meiner Gegenwart wird sie nicht mit dir reden. Ich nehme das Boot und komme erst wieder, wenn ihr zu Ende gekommen seid. Und du mußt mir sagen, welche Entscheidungen sie getroffen hat.« Er zögerte. »Vielleicht aber wirst du es mir gar nicht sagen können.« Sein Gesicht wurde traurig. »Es kann ja sein, daß wir uns nicht wiedersehen. Falls es so kommt, dann bin ich froh, daß wir uns begegnet sind, David! Ich möchte, daß du mich im Gedächtnis behältst - so wie auch ich dich in meinem Gedächtnis behalten werde.« Ehe David ihn aufhalten konnte, sprang Gozo ins Boot und preßte seinen Leib in den runden Rumpf. Das Boot lief aus, als das Segel sich von der Luft, die von irgendwo herkam, spannte. David war nun allein mit der hellen Gestalt im Wasser. Seine Isoliertheit war so vollkommen, daß sie Tabiners durchgemachter Einsamkeit nahekam. Für längere Zeit war er Teil von dessen Seele geworden. Sie zerrte an seinem Sein und drohte ihn zu überwältigen. Er klammerte sich an Erinnerungen - an die Menschen, die er kannte, an die Inspiration von Gozos Erzählungen, aber dieses Gefühl furchtbarer Einsamkeit ließ sich nicht unterdrücken. Er spürte, daß es die Gegenwart der Frau in der Höhle bewirkt hatte. Mehr noch, er spürte, daß sie es für ihn geschaffen hatte. Nach einer Weile sah er sie an. »Was
willst du von mir?« fragte er. Sie ließ sich nach oben treiben, bis sie in Ufernähe war. Ihr Antlitz war weiß und schön. Er lächelte, weil es ihm bezeichnend für die weibliche Eitelkeit schien, daß es ausgerechnet eine Aufzeichnung der Schönheit war, die sie hinterlassen hatte. »Was möchtest du von mir?« wiederholte er. Ihr Gesicht war ihm jetzt voll zugewandt. Leise sprach sie ein einziges Wort: »Nichts.« Er war erstaunt. »Warum aber . . .?« Die Stimme sprach wie ein Flüstern aus den Hintergründen der Höhle. »Findest du diesen Ort nicht zauberhaft?« Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr sie fort: »Auf der Erde und den Planeten gibt es viele solcher Orte. Du bist jung und mußt sie finden.« Sie machte eine Pause. Ihr Zögern wirkte fast lebendig. »Gozo schickte dich zu mir, weil er glaubte, du wärest bereit - aber es ist noch zu früh für dich. Du mußt noch dein Leben dort führen, wo es Konflikte gibt. Vielleicht wirst du dann eines Tages hierher zurückkommen und es wird alles anders sein.« David spürte unendliche Erleichterung. Die Einsamkeit war ihm weggenommen worden, wie eine schwere Bürde. »Du hast die Prüfung bestanden, aber nur für eine kleine Weile. Hätte es noch länger gedauert, so hätte der Körper sein Recht verlangt und du hättest um Rückkehr in ihn gekämpft.« »Aber was willst du mir sagen?« David wurde ungeduldig. Die Frau trieb ein Spiel mit ihm, das fühlte er instinktiv, so wie Boldre es gefühlt hatte - vor langer, langer Zeit. Ihr Seufzen erfüllte die Höhle wie ein tiefes Aufatmen. »Du bist ihm sehr ähnlich.« David brauchte nicht zu fragen. Sie sprach von Boldre. Langsam wurde er neugierig, wieviel von ihr bloß die Projektion einer Maschine und wieviel ihr eigener Geist war, den sie jetzt darstellte. »Ich werde dir von Tabiner erzählen.« Sie hatte Boldre damit verdrängt. David ließ es geschehen, obwohl sie damit auch ihn irgendwie verdrängte. »Tabiner war ein praktischer Mensch«, flüsterte sie. »Er hielt nach Lösungen Ausschau. Wir konnten die Biosphäre nicht verlassen - wir konnten aber auch auf den Planeten nicht überleben, wenn wir sie nicht veränderten und dadurch gleichzeitig zerstörten. Tabiner fand eine andere Antwort.« Der Junge war begierig, alles zu erfahren. Es ging ja um jenes Problem, das Gozo abgetan hatte, als wäre es eine Bagatelle. »Als wir daran waren, zu verzweifeln, erzählte er uns vom All. Wenn Delph nur erkannt hätte, wie einfach Tabiners Antwort auf unser Problem war. Er erkannte es einfach nicht. Er wußte nicht, daß die Lösung in der Existenz der Stufen lag, an die er so unbeirrbar glaubte. Wie es stoffliche Stufen gibt, gibt es auch Stufen der Geschwindigkeit, Stufen des Bewußtseins. Das war es, was Tabiner entdeckt hatte: Es gibt ein Tachyon genanntes Teilchen. Es hat unendliche Geschwindigkeit, aber keine Masse. Wenn wir es versuchten, etwas anderes, als ein gesprochenes Wort oder einen Gedanken mittels eines solchen Tachyons zu übertragen, würde es logischerweise zerstört. An der Grenze zur Lichtgeschwindigkeit jedoch wird die Materie allmählich verwandelt.« David beugte sich jetzt zum Wasser hinunter, sein Blick drückte Ungläubigkeit aus und er sagte: »Das haben wir aber genau studiert. Man hat uns gelehrt, man benötige unendlich viel Energie, um Materie über diese Grenze zu bringen.« Die Stimme antwortete mit Bestimmtheit: »Man hat euch etwas gelehrt, ohne daß ihr es verstanden habt. Man hat euch Tatsachen ohne Erklärung vorgelegt. Hat man euch vom All und den Planeten erzählt?« Er glaubte, sie wolle sich über ihn lustig machen. »Eine solche Erklärung gab es, und Delph hätte es wissen müssen«, fuhr sie fort. »Die Biosphäre verbrauchte nämlich weit weniger Energie, als es sein sollte. Sie verbrauchte nur einen Bruchteil des ursprünglich eingeplanten Treibstoffes, um Strecken zu überwinden, die nicht eingeplant waren. Das war unsere Antwort, wie du siehst. Wenn wir genügend Energie hatten, um diesen Prozeß in Gang zu setzen, dann konnte sich der Mensch auch mit unendlicher Geschwindigkeit zu seinem gewählten Ziel hinbewegen. Schließlich
würde er die Biosphäre gar nicht mehr brauchen. Er könnte den Raum nach Belieben durchmessen. Mit der Zeit könnte er sogar das Problem fremder Krankheitskeime lösen, weil sein Körper unendlich lange Zeit dazu hatte, Abwehrkräfte dagegen zu entwickeln.« David lehnte sich zurück und dachte nach. Ruhig bemerk teer: »Das alles mag stimmen, aber ich glaube, Sie wissen nicht, ob und wie er dies ohne Maschine bewerkstelligen könnte. Man kann einen Menschen ausschicken, aber er muß auch ankommen und das heißt, daß eine Maschine dort sein muß, um ihn in Empfang zu nehmen. Er mag auch imstande sein, seinen Stoffwechsel zu ändern, aber er braucht Maschinen um für Energie zu sorgen.« Ihre Stimme klang jetzt respektvoll: »Vielleicht bist du mehr Tabiner ähnlich. Die Maschine, von der du sprichst, existiert. Weil sie existiert, beherrscht der Mensch die Zeit im All. Er ist Herr - nicht über die Ewigkeit, aber über die Zeit. Er kann ein Leben an einem Ort oder an einer Unendlichkeit von Orten verbringen.« »Schließlich aber wird er sein Leben zu Ende gelebt haben.« David hatte Ruhe gefunden. Er hatte erfahren, wie sehr der Mensch sich abgemüht hatte und aus Erfahrungen gelernt hatte. »Ich werde meine Zeit hier oder auf der Erde verbringen«, sagte er. »Ich möchte viel herumkommen und Menschen kennenlernen. Ich möchte lebendig sein. Andere mögen in die Unendlichkeit fliegen und leben, um die Existenz der Erde zu vergessen, aber ich möchte jetzt am Leben Anteil haben. Außerdem bin ich froh, daß es ein Ende gibt denn es wird auch das Ende meiner Verantwortlichkeit bedeuten.« Jan war von seiner Weisheit bewegt. Sie verglich die Rolle, die sie gespielt hatte, mit der seinen und fand, daß es ihr an allem, nur nicht an Erinnerungen mangelte. »David - die Erde wird dich wiederhaben.« Er hörte ihre Worte und blickte ungeduldig zum Höhleneingang. Er erwartete Gozo. »Leb wohl, David«, flüsterte sie. Ein Strom von Energie durchflutete die Höhle und verzerrte die Perspektiven. Jene Erdenbewohner, die sich über das helle Licht der Biosphäre, hoch über der Erde, gewundert hatten, Erdenbewohner, die sich ihrer nunmehrigen Erde angepaßt und überlebt hatten - sie standen kurz davor, den ersten Besucher nach einer langen, langen Zeit zu empfangen. Den ersten von vielen. ENDE