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>The Ring of Truth« ist erstmals in >Mike Shane Mystery Magazine< erschienen, >Symbol of Authority< in >Ellery Queen's Mystery Magazine«; die anderen Geschichten erschienen alle erstmals in >Alfred Hitchcock's Mystery Magazine< >Whosits Disease« © 1962 by H. S. D. Publications, Inc. ist unter dem Titel >Die unbekannte Krankheit« im Tintenfaß 8 erstmals in deutscher Sprache erschienen. Copyright an dieser Auswahl © 1985 by Henry Siesar. Umschlagillustration von
Tomi Ungerer
Deutsche Erstausgabe Alle deutschen Rechte vorbehalten Copyright © 1985 by Diogenes Verlag AG Zürich 80/86/29/3 ISBN 3 257 21248 8
Inhalt Der zweite Schuldspruch The Second Verdict
7
Glockenschlag der Wahrheit
45
The Ring of Truth
Terror will geplant sein 78 Terror Requires Preparation
Mord mit Verspätung 95 Murder Delayed
Eine explosive Lösung 101 The Ahsent-minded Murder
Das Machtsymbol 108 Symbol ofAuthority
Zwei Zehntel 119 Faster than an Honest Man
Die unbenannte Krankheit 131 Whosits Disease
Ruths Problem 139 The Trouble with Ruth
Ein Opfer der Rezession 156 The Life You Lose
Der zweite Schuldspruch kamen zurück. Ich versuchte gar nicht erst in ihre SieGesichter zu blicken, um davon die Entscheidung abzulesen, und auch nicht, nachdem ich das kurze Lächeln der Geschworenen Nummer 8 gesehen hatte, der Dame mit dem silberblauen Haar, die sich in geradezu mütterlicher Konzentration mein Plädoyer angehört hatte. Ich hatte sie wohl seit dem dritten Tag des Prozesses in der Tasche; trotzdem konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, ob ihr Lächeln mich nun beruhigen oder nur mütterliches Mitgefühl ausdrücken sollte. Aber wozu alles Herumrätseln? In weiteren dreißig Sekunden war Rydell entweder frei oder tot. Ich wandte mich der Richterbank zu. »Meine Damen und Herren Geschworenen ...« Auf dem Stuhl neben mir schmolz Rydells eiserne Beherrschung etwas. Ich versuchte mir vorzustellen, was er in diesem Augenblick fühlte, wie es wohl wäre, mit seinen Augen auf die geschürzten Lippen des Jurysprechers zu starren, mit seinen Ohren das Räuspern und die langsamen Worte zu hören, die ihm — was in Aussicht stellten? Das Recht zu atmen, sich auszuschlafen, kaltes Bier zu trinken, im Park spazierenzugehen? Oder einen rasierten Schädel, einen Schlitz in der Hose, einen letzten schlurfenden Marsch durch einen grauen Korridor? Nein, ich konnte mir nicht vorstellen, was Rydell empfand. Niemand konnte das. In diesem Augenblick nahm ich nur den pulsierenden Druck in meiner Brust wahr.
Laß es gutgehen, dachte ich. Bitte, liebe/ Gott, gib mir diesen Sieg, ich brauche ihn dringend. Ein Anwalt, der zwei Mandanten an den Henker verliert, kann sein Namensschild getrost von der Tür nehmen, denn es wird niemand mehr anklopfen. Sie können mich ruhig hartherzig schimpfen, aber das waren meine Gedanken vor dieser Jury, die ihre Entscheidung getroffen hatte. »Bitte lesen Sie dem Gericht Ihre Entscheidung vor.« Bitte, Gott! dachte ich. Ich werde Tiere nett behandeln, ich werde für die Wohlfahrt spenden und nie, nie wieder trinken. »Der Angeklagte, Lewis Rydell, ist nicht schuldig.« Na ja, nie war vielleicht ein bißchen hart. Ich wurde am Arm herumgezerrt, zuerst von Schwartz, meinem Assistenten, der mir die Hand schütteln wollte, dann vom alten Ostrim, der übers Geländer gesprungen sein mußte, um an mich heranzukommen. Alle möglichen Leute riefen und jubelten mir ins Ohr; ich sah, wie Rydell die Lippen bewegte, verstand seine Worte aber nicht. Ich fürchtete schon, Ostrim würde mich vor Begeisterung küssen, ein Privileg, das eigentlich nur seiner Tochter zustand. Karen war zu Hause geblieben - doch für private Gratulationen war später noch Zeit. Trotzdem bekam ich meinen Kuß, von Rydells Frau - und für einen Burschen, der angeblich aus Eifersucht gemordet hatte, reagierte Rydell darauf ausgesprochen gelassen. Aber die schönste Geste kam wohl vom Richter selbst. Ich kannte Richter Lincoln Arthur, seit ich ein Kind war, und mein seliger Vater im Ersten Circuit mit ihm auf der Richterbank saß. Was im Gerichtssaal aber nicht das geringste ausmachte, denn Linc war so stur wie das ganze Alphabet des Gesetzes und schenkte niemandem etwas. In diesem
Augenblick aber bemerkte ich, wie er mir gratulierend zublinzelte. Wir fünf verließen gemeinsam den Gerichtssaal, doch schon im Korridor verdrückte sich Schwartz. Ostrim empfahl sich als nächster; er schüttelte mir noch einmal energisch die Hand und erinnerte mich an die Siegesfeier, die er am Abend angesetzt hatte; dann verschwand er in den Fond seines Wagens und ließ sich davonchauffieren. Ich war mit den Rydells allein. »Am besten machen wir gleich Kasse, Mr. Murray«, sagte Lew Rydell. »Fahren wir kurz in Ihrem Büro vorbei?« »Das hat keine Eile«, sagte ich lächelnd. »Ich an Ihrer Stelle würde mich jetzt betrinken. Nicht, daß ich Ihnen das empfehle.« »Lew trinkt nicht«, sagte Melanie Rydell kühl. »Lew hat keine Laster, nicht wahr, Lew?« »Ich möchte die Sache mit dem Honorar regeln«, sagte Rydell. »Am liebsten gleich, Mr. Murray, wenn Sie nichts dagegen haben.« »Also gut«, sagte ich. »Wenn Sie es so haben wollen.« »Wir setzen dich zu Hause ab«, sagte Rydell zu seiner Frau. »Du siehst müde aus.« »Ich bin müde«, antwortete Melanie, dabei sah sie ganz und gar nicht müde aus, sondern ausgesprochen hübsch. Melanie gehörte zu jener Sorte luchsäugiger Blondinen, die nicht nach der Uhrzeit fragen können, ohne daß es wie eine Einladung klingt. Schon wie sie stand oder saß oder ging, ließ die Männer sehnsüchtige Augen machen. Kein Wunder, daß Lew Rydell zuweilen von Eifersucht zerfressen wurde. Ich winkte ein Taxi herbei, und wir ließen Melanie vor
dem Sandsteinhaus in der Morton Street aussteigen, in dem die Rydells die beiden Jahre ihrer Ehe verbracht hatten und vor dem ein großäugiger junger Supermarktbote namens Yost gestorben war - mit gebrochenem Hals am Fuße einer Kellertreppe ... »Ich bin in ein paar Stunden zu Hause«, sagte Rydell. »Dann gehen wir groß zum Essen, ja? Lasagne und Wein und so weiter. Wir haben tüchtig zu feiern, Melanie.« »Aber ja«, sagte sie matt und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Dann fuhren wir in die Stadt zur Praxis von Ostrim, Wright und Morgan, Rechtsanwälte. Mein Büro, das zwei Türen von Ostrims entfernt war, kam mir heute seltsam klein vor. Das einzige Fenster war schmutzig, und der kleine Schreibtisch überbordete von den Riesenstapeln von Dokumenten und Berichten. Nach meinem letzten Fall hatte ich den Raum ganz und gar nicht klein gefunden. Ich war an jenem Tag aus dem Gerichtssaal gekommen, das »Schuldig« des Obmanns noch im Ohr, und hatte ein Gefühl der Dankbarkeit empfunden, daß ich in dem gemütlichen kleinen Zimmer Schutz suchen durfte. Jetzt aber kam mir das Büro eng vor, keine Frage. Ich mußte mit Ostrim darüber sprechen. »Ich habe über Ihren Vorschlag nachgedacht«, sagte Rydell, »über den Zahlungsmodus. Ich habe mir ausgerechnet, daß ich monatlich hundertfünfzig zahlen kann, bis die Schuld beglichen ist. Wäre das in Ordnung?« - »Sicher.« »Soll ich etwas unterschreiben oder so?« »Das ist nicht erforderlich«, sagte ich. »Um das zu regeln, brauchten wir nicht hier ins Büro zu kommen, das habe ich Ihnen schon im Taxi gesagt.« 10
»Ich wollte aber zu Ihnen«, sagte Rydell. »Liegt wohl daran, daß ich das Wiedersehen mit Melanie noch ein paar Stunden hinauszögern will - ich brauchte einen Vorwand, verstehen Sie?« »Aber klar«, sagte ich und blickte in sein graues, angespanntes Gesicht. Rydell war ein durchschnittlich aussehender Mann, der vor zehn Jahren vielleicht noch jungenhaften Charme besessen hatte, der inzwischen aber zu viele Haare verloren und zu viele Falten dazugewonnen hatte. Seine Haut wirkte leichenhaft fahl, und nur seine Augen fielen aus dem Rahmen: sie hatten einen seltsamen öligen Glanz. »Wie war's mit einem Drink?« fragte ich ruhig. »Ich habe eine Flasche hier.« »Sehr gut«, sagte er. »Etwas zu trinken kann ich jetzt vertragen.« Ich schenkte eine Runde ein und äußerte einen unverfänglichen Trinkspruch auf die glückliche Zukunft. Rydell schlug vor, wir sollten auf Melanie trinken, und ich stimmte ihm zu. Er kippte sich den Whisky in Nullkommanichts hinter die Binde. Der Alkohol ließ seine Augen noch heller schimmern. »Sie ist wunderschön, nicht wahr?« fragte er. »Nicht wahr?« »Ihre Frau? Ja, eine sehr attraktive Erscheinung.« »Sie kann nicht anders, wissen Sie. Die Männer laufen ihr andauernd nach. Ein einziger Blick, schon haben die Kerle einen falschen Eindruck. Es ist nicht ihre Schuld.« »Nein«, sagte ich. »Sie kapiert das selber nicht richtig, sie weiß nicht, was Männer so denken. Manchmal geht sie in ihrem knappen Hausmantel an die Tür. Da müssen die Männer ja auf
Ideen kommen, wie der junge Yost. Der Junge tut mir leid, wissen Sie das?« »Ja, sicher«, antwortete ich. »Nur dumm, daß er ausgerechnet einen Tag, nachdem Sie ihn aus dem Haus geworfen hatten, überfallen werden mußte. Hätte Ihnen viel Ärger erspart.« Rydell schenkte sich den zweiten Whisky selbst ein. Nachdenklich nippte er an dem Getränk. »Ja, er tut mir leid. Aber ich würde es wieder tun, so bin ich nun mal gestrickt. Ich sehe rot und kann mich nicht mehr halten.« Langsam hob er den Kopf. »Ich schulde Ihnen viel, Mr. Murray. Und mehr als Geld.« »Vergessen Sie's. Versuchen Siesichnurzu beherrschen.« »Wissen Sie, ich habe den Burschen wirklich umgebracht. « Ich setzte das Glas ab. In meinem Kopf setzte ein Summen ein, und der Whisky schmeckte plötzlich sauer. »O ja, ich hab's getan«, sagte Rydell und lächelte traurig. »Ich lauerte ihm am nächsten Tag auf und schnappte ihn mir. Ein dürres Bürschchen, es war, als drehte ich einem Huhn den Hals um. Ich nahm ihm sein Geld ab, damit es wie ein Raub aussah. Komische Sache - später brachte ich es nicht über mich, das Geld auszugeben. Ich habe es weggeworfen, jeden Penny ...« »Halten Sie den Mund!« brüllte ich los. »Um Himmels willen, halten Sie den Mund!« »Ich würde es wieder tun, wenn ich müßte. Die Männer, die meine Frau belästigen, sie müssen endlich lernen. . .«Er standauf. »Ichsolltejetztgehen. Melaniewartetaufmich.« Ich war vor ihm an der Tür. »Sie haben mich angelogen!« sagte ich. »Jedes einzelne verdammte Wort war eine Lüge!«
»Ich konnte Ihnen doch nicht gut die Wahrheit sagen, oder?« Er lächelte noch immer; allerdings war seine Traurigkeit verflogen, und er genoß meinen Zorn. »Sie hatten die Aufgabe, mich aus der Klemme zu holen, Mr. Murray. Dafür wurden Sie engagiert, und das haben Sie dann auch getan.« »Wofür halten Sie mich? Glauben Sie etwa, ich hätte Sie auf unschuldig plädieren lassen, wenn ...« »Nein, natürlich nicht«, sagte Rydell ernsthaft. »Sie sehen also, daß mein Verhalten ganz richtig war.« »Hören Sie, Rydell...« »Ich muß jetzt gehen, Mr. Murray.« »Glauben Sie wirklich, daß das so einfach ist?« Meine Hand war zur Faust geballt. Am liebsten hätte ich ihm das lächelnde Gesicht mit den seltsam leuchtenden Augen eingeschlagen. »Glauben Sie etwa, Sie können hier einfach so davonmarschieren und ...« »Melanie erwartet mich«, sagte er. »Sie ißt gern früh zu Abend, Mr. Murray. Ich muß jetzt wirklich los.« Mir fiel nichts anderes ein, als zur Seite zu treten. Rydell öffnete die Tür und verließ das Büro. Ich hörte seine Schritte im Korridor, die gemessenen Schritte eines Mannes, der es nicht im geringsten eilig hat. Es tat mir leid, daß ich ihn nicht geschlagen hatte. Diese Erlösung von meinem Zorn wäre sicher besser gewesen als die Frustration, die ich jetzt empfand. Ich hatte einen tiefen Sturz von den Höhen meines Triumphs hinter mir und verwünschte den Impuls, der Rydell zu seinem Geständnis getrieben hatte. Schlimm genug, daß er mich belogen hatte, schlimm genug, daß ich einen Mörder verteidigt und vor der Rache des Gesetzes bewahrt hatte. Aber warum mußte er es mir auch noch sagen!
Ich ging trotzdem zu Ostrims Party - fragen Sie mich nicht warum. Mein erster Gedanke war, den alten Herrn anzurufen und zu sagen, ich sei erschöpft und hätte Fieber. Ich wollte nicht, daß mein Sieg gefeiert wurde. Soviel Ironie konnte ich nicht vertragen. Zuletzt ging ich aber doch hin, hauptsächlich weil Karen auch dort sein würde und ich sie sprechen mußte. Ostrims schicke Duplexwohnung war gefüllt mit schick aussehenden Leuten, Männern in Abendanzügen, Frauen in Satinkleidern mit Perlen- und Diamantenschmuck. Ein seltsamer Querschnitt durch die Gesellschaft: mit Ausnahme einiger weniger persönlicher Freunde und einer Handvoll Anwälte — sie trugen dunkelblaue Anzüge, wirkten ein wenig linkisch und unterhielten sich murmelnd grüppchenweise in den Ecken - handelte es sich bei den Gästen um Mandanten und Ex-Mandanten. Natürlich konnten einige an der Party nicht teilnehmen; sie waren damit beschäftigt, in Staats- oder Bundesgefängnissen ihre Strafen abzusitzen. Die Anwesenden waren die Glücklichen. -Ich frage mich, wie viele so wie Rydell »Glück« gehabt hatten. Ostrims Diener nahm mir Hut und Mantel ab und setzte ein besonders breites Grinsen auf zum Zeichen, daß er in mir den Ehrengast erkannte. Der alte Mann brüllte bei meinem Anblick begeistert los und faßte mir in den Nakken. »Alle mal herhören!« verkündete er. »Hier ist der Mann, auf den wir gewartet haben! Ned Murray, Leute, der größte Strafverteidiger seit Clarence ... nein, seit Harry Ostrim!« Die Gäste lachten und jubelten und applaudierten, und ich haßte mich, weil ich so dumm war, die Komplimente
wie ein Schwamm in mich aufzusaugen. Jemand drückte mir einen Drink in die Hand, und schon war ich von Gratulanten umringt. Man hämmerte mir dutzendmal auf die Schulter, und die Frauen umraschelten mich mit bewunderndem Lächeln, als wäre ich ein Filmstar nach einer erfolgreichen Premiere. Hastig kippte ich den ersten Drink hinunter und bekam sofort ein zweites Glas gereicht. Komisch, wie schnell meine Erinnerung an Rydells Besuch verblaßte, wie einfach es mir vorkam, bis auf den Triumph alles zu verdrängen. Wieder war ich in Hochstimmung. Ich redete mir ein, daß ich, schuldig oder nicht, die Arbeit getan hatte, für die ich engagiert worden war, und daß ich eine gute Leistung gebracht hatte. Ich hatte dies alles verdient. Im nächsten Augenblick drängte sich Karen durch die Menge und demonstrierte den übrigen ihre Vorrechte. Sie umschlang mich, und wir küßten uns inmitten der lachenden Zuschauer. Das Pfeifen und Johlen verklang. Für mich war dies der einzige Glückwunsch, der wirklich zählte. Nach einer Weile ließ man uns in Ruhe, und Karen führte mich in eine Ecke. »Vater sagt, du hättest dich großartig geschlagen«, berichtete sie. »Er sagt, du wärst im Gerichtssaal genauso gewesen früher. Und von ihm gibt es kein größeres Lob.« Sie kicherte. > »Vergessen wir die Sache«, sagte ich. »Der Prozeß ist vorbei.« »Ich will es aber nicht vergessen. »Ich bin stolz auf dich, Ned. Du weißt, wie schlecht der Mann zuerst dastand, und doch ...«
»Es wird zuviel Aufhebens davon gemacht. Rydell war nichts Besonderes.« »Er war etwas Besonderes für Vater. Vater hat gesagt, wenn du diesen Prozeß gewinnst, kannst du alles gewinnen - das würde für die Firma viel bedeuten. Weißt du, was ich glaube? Er wird nicht mehr lange mit seinem Versprechen warten, und du wirst Junior-Partner, schneller als du denkst.« Genau das wollte ich. Niemand konnte es mir verargen, daß mein Herz bei diesen Worten schneller schlug. Sie legte ihre Lippen an mein Ohr. »Dann kannst du mir nicht mehr entwischen, mein Schatz. Bald mußt du den Tag festlegen.« Zehn Minuten später betrat Tony Eigo den Raum. Ich hatte Tony noch nie bei Ostrim gesehen. Er mochte keine Parties. Tonys Schneider war vermutlich noch besser und teurer als der von Ostrim, trotzdem schien er sich in seinem Smoking nicht wohl zu fühlen. Immer wieder fuhr er sich mit der Hand über das krause graue Haar an seinen Schläfen und blickte sich nervös um, als hoffe er, ein freundliches Gesicht zu finden. Schließlich entdeckte er das meine, und setzte ein breites Lächeln auf. Seine Zähne strahlten in dem gebräunten Gesicht. »Hallo, Ned«, sagte er. »Sind Sie für gewöhnliche Leute noch zu sprechen? Eine Berühmtheit wie Sie?« »Hören Sie auf!« sagte ich. »Karen, du kennst doch Tony Eigo?« »Ja«, sagte sie mit eisigem Lächeln. »Entschuldigen Sie, ich muß mich ein bißchen um die anderen Gäste kümmern.« Sie stand auf und ging. Das war ein Problem bei Karen; sie hatte zwar auf dem College allerhand mitbekommen, doch ihre Manieren waren nicht die besten. 16
Tony bemerkte es nicht oder sah darüber hinweg. Er setzte sich auf den Stuhl, den sie freigemacht hatte. »Ich war heute und die letzten vier Tage im Gerichtssaal«, sagte Tony. »Ich wette, das haben Sie nicht gemerkt.« »Nein«, sagte ich. »Nett von Ihnen, Tony. Dabei haben Sie sicher viel zu tun.« »Ich hatte ein persönliches Interesse an der Sache.« Verlegen zündete er sich eine Zigarette an. »Ob man in dieser Bude wohl einen Drink bekommt?« Ich ging zur Bar und holte ihm einen. Dabei fiel mir auf, daß Ostrim mich mißbilligend von der Seite musterte. Er mochte Tony Eigo nicht, auch wenn er ihn stets einlud in der Hoffnung, daß Tony so anständig sein würde, zu Hause zu bleiben. Nun, heute abend wollte Tony nicht zu Hause bleiben, und soweit es mich betraf, war das ganz in Ordnung. Tony war mehr als ein ehemaliger Klient; er war mein Freund. Ich war mit dieser Tatsache nie hausieren gegangen, doch es stimmte. Ich lernte ihn 1959 kennen, in meinem ersten Jahr bei Ostrim, Wright und Morgan. Er war nicht gerade ein Mandant, wie ihn sich die Kollegen wünschten, ein Aktiver der Unterwelt, ein Mann, der zwischen verbrecherischen Deals und legitimen Geschäften nicht genau zu unterscheiden vermochte. Die Grenze ist zuweilen verwischt und schwer feststellbar, und dann bemüht sich das Gesetz um eine klare Definition. 1959 drohte ihm mehr als nur ein kleiner Schlag auf die Finger. Man beschuldigte ihn des Mordes. Nur, Tony war unschuldig. Er lieferte mir den Beweis, und ich bewies seine Unschuld vor Gericht. Ich glaube, sogar Ostrim war überrascht. Er hatte mit einem dicken Honorar und einem Schuldspruch gerechnet, ohne daß der Ruf
seiner Firma darunter leiden müßte. Schließlich war ich der jüngste Anwalt seines Ladens und konnte mir solche Rückschläge leisten. Doch so kam es nicht. Ich bekam Tony frei, was er mir bis an sein Lebensende nicht vergessen würde. Ich brachte ihm sein Glas, und er prostete mir zu. »Auf Ihre Gesundheit«, sagte er. »Dieser Rydell hatte großes Glück, an Sie zu geraten.« »Vielen Dank.« »Meine Frau Angie mochte ihn nicht. Sein Aussehen gefiel ihr nicht.« »Wie geht es Angie denn so?« »Sehr gut.« Tony starrte mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Was ist los, Ned?« »Los?« Ich grinste. »Nichts!« »Ich bitte Sie! Ich habe doch Augen im Kopf. Für einen Burschen, der gerade einen großen Prozeß gewonnen hat, sehen Sie nicht gerade begeistert aus - eher wie der Verlierer. Sie erinnern mich an jemanden, dem gerade eine Vier-Pferde-Wette geplatzt ist.« »Ich bin wohl etwas abgespannt.« »Klar«, sagte Tony. »Hören Sie, es tut mir leid, daß ich Ihr Mädchen verscheucht habe. Ich verziehe mich jetzt, dann können Sie zu ihr gehen.« »Dazu ist später noch Zeit. Ich habe Sie seit Monaten nicht mehr gesehen, Tony.« »Richtig.« Er blies den Rauch zwischen seine Knie und legte eine Hand über die Augen. »Hören Sie, Ned, erinnern Sie sich, was ich Ihnen früher mal gesagt habe? Wenn Sie Sorgen haben, mit denen Sie nicht fertigwerden, müssen Sie mir davon erzählen. Sie haben einen Gefallen bei mir gut, ich möchte ihn endlich loswerden.« 18
»Das ist lange her, Tony. Sie schulden mir gar nichts.« »Meine Buchführung ist in Ordnung«, erwiderte er. »Erzählen Sie mir bloß nicht, wem ich was schulde!« Er schlug mir leicht gegen den Arm und lächelte. »Gehen Sie schon zu Ihrer Kleinen. Vielleicht bringt die Sie wieder auf Vordermann.« Alles war in Ordnung, solange die Party andauerte, solange Leute mich umringten und mir sagten, was für ein großartiger Kerl ich doch war und was für einen tollen Sieg ich da errungen hatte. Als ich später aber mit mir allein war und mir in der Kochnische meiner EineinhalbZimmer-Wohnung ein Glas Milch warmmachte, waren die Lobes- und Glückwunschworte aus meiner Erinnerung verschwunden - da erinnerte ich mich nur noch an Lew Rydells Stimme. Wissen Sie, ich habe den Burschen wirklich umgebracht. Und ich hatte ihn damit durchkommen lassen! Einfach so! Rydell mußte großen Spaß an dieser Szene gehabt haben, er mußte gewußt haben, wie ich die Nachricht aufnehmen würde. Vielleicht war er insgeheim stolz darauf, vielleicht mußte er damit herumprahlen, solange er außer Gefahr war. Ja, er war nicht mehr gefährdet, das wußte er vermutlich. Das Gesetz schützte ihn vor einem neuen Verfahren; er konnte nicht zweimal desselben Verbrechens angeklagt werden. Technisch gesehen ließ er sich nicht dadurch erwischen, daß ich dem Staatsanwalt sein Geständnis zuleitete, das ich außerdem gar nicht untermauern konnte. Hatte ich nicht gerade vor Gericht gestanden und das Gegenteil bewiesen? Nein, ich mußte die Sache vergessen. Die einzige sinn-
volle Konsequenz - ein glatter Fall von Gedächtnisschwund. Wenn ich müßte, würde ich dasselbe wieder tun. Die Männer, die meine Frau belästigen, müssen endlich lernen ... Hier lag das eigentliche Problem. Yost, der Junge, der für den Supermarkt Bestellungen ausgefahren hatte nichts und niemand würde sein Wangenrot zurückholen oder das Pfeifen wieder auf seine Lippen zaubern. Melanie aber war noch immer eine schöne Frau, und es würde andere Männer geben, die wie Yost in ihren Luchsaugen die falsche Botschaft lasen. Ich hatte Mühe einzuschlafen. Der Gedanke, der mir endlich den erlösenden Schlummer brachte, war der Entschluß, gleich am nächsten Tag Melanie Rydell aufzusuchen. »Treten Sie ein«, sagte sie. »Lew ist nicht zu Hause. Er ist bei Mr. Fleming und will ihn fragen, ob er bei der alten Firma wieder anfangen kann. Sie glauben doch nicht, daß er dabei Schwierigkeiten hat, oder?« »Ich wußte, daß er nicht zu Hause ist«, sagte ich. Ich setzte mich, ohne den Mantel auszuziehen. Die Wohnung \var unaufgeräumt, und Melanie wirkte ungepflegt und einigermaßen durcheinander. In ihrem Haar hing lose ein vergessener Lockenwickler. »Glauben Sie, daß er seinen Posten zurückbekommt?« fragte sie mit sorgenvollem Blick. »Er war der beste Vertreter der Firma vor ... vor dieser Sache. Man wird ihm das doch nicht zur Last legen, oder?« »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Wahrscheinlich nicht.« »Wir sind ziemlich knapp bei Kasse.« Sie biß sich auf
die Lippen, vielleicht war ihr aufgegangen, daß ich ja auch Forderungen gegen ihren Mann hatte. »Darf ich Ihnen einen Saft einschenken? Whisky haben wir leider nicht im Haus.« »Nein, danke. Würden Sie sich bitte setzen, Mrs. Rydell? Ich wollte Ihnen ein paar Fragen stellen.« »Aber klar.« Ich hatte mir die Fragen auf dem Herweg zurechtgelegt, trotzdem mußte ich mich zusammenreißen. »Mrs. Rydell, Sie sagten mir vor dem Prozeß, ihr Mann neige zur Eifersucht, nicht wahr?« »Ja, Lew ist in dieser Beziehung irgendwie komisch.« »Einen effektiven Grund für seine Eifersucht hat es doch aber nie gegeben?« Sie erstarrte. »Hören Sie, ich wüßte nicht, warum wir das noch einmal alles durchkauen müssen. Der Prozeß ist vorbei, oder?« »Bitte!« sagte ich. »Es ist wichtiger, als Sie annehmen. Es geht um den Botenjungen Yost ... vor Gericht habe ich Lews Zorn heruntergespielt, doch in Wirklichkeit hat sich Lew über den Annäherungsversuch ziemlich aufgeregt, nicht wahr?« »Aber das habe ich Ihnen doch schon alles gesagt! Ja, Lew war sauer. Er geriet völlig aus dem Häuschen, so ist er nun mal. Ich wollte ihm gar nicht mal sagen, was der Junge getan hatte, ich hatte Angst, er würde -« Sie schürzte die Lippen - »na, tun, was er dann auch getan hat. Den Kleinen durchbeuteln.« Ich überlegte mir meine nächste Frage sorgfältig. »Mrs. Rydell, der Prozeß ist vorbei, wie Sie eben sagten. Niemand könnte Lew das Verbrechen noch zur Last legen; so steht es bei uns im Gesetz. Sie haben also
nichts zu befürchten, wenn Sie mir die volle Wahrheit sagen.« »Was soll das heißen?« »Lew hat den Jungen wirklich umgebracht, nicht wahr? -< Ich beobachtete ihr Gesicht. Sie sah aus, als hätte ich ihr eine Ohrfeige versetzt. »Das ist eine verdammte Lüge! Wie kommen ausgerechnet Sie dazu ...« »Na schön, vielleicht haben Sie die Wahrheit nicht gewußt. Aber hören Sie mir bitte gut zu. Lew hat Yost tatsächlich ermordet! Sein Zorn gewann die Oberhand, und da ist es dann passiert.« »Raus hier!« »Bitte setzen Sie sich. Ich bin noch nicht fertig. Daß ich meiner Sache so sicher bin, hat folgenden Grund: Lew hat es mir selbst gesagt. Gestern in meinem Büro. Ich weiß nicht, warum er mir schließlich doch die Wahrheit auftischte, aber er hat es getan.« »Sie sind ein verdammter Lügner!« Melanies Augen füllten sich mit Tränen, und sie deutete auf die Tür. »Raus, Mr. Murray! Verschwinden Sie und kommen Sie nie wieder!« »Ich habe Sie gebeten, sich zu setzen!« Sie muß ein wenig Angst vor mir gehabt haben. Langsam kam sie meiner Aufforderung nach und betrachtete mich, als sei ich eine Schlange, bereit vorzuschnellen und zuzubeißen. »Mir macht dieses Gespräch wirklich keinen Spaß«, fuhr ich fort. »Als Ihr Mann mir seine Eröffnung machte, wollte ich davor die Ohren verschließen, so wie Sie es jetzt tun. Aber dazu ist es zu spät. Wir kennen die Wahr-
heit und müssen ihr ins Gesicht sehen.« Ich beugte mich vor. »Wichtig ist nur dies: Er wird sich nicht ändern, nur weil er vor Gericht gestanden hat. Er ist ein krankhaft eifersüchtiger Mann und brächte es fertig, seine Tat zu wiederholen.« Tränen rollten ihr über die Wangen, doch sie äußerte keinen Laut. »Deshalb mußte ich Sie sprechen. Ich mußte Ihnen sagen, wie es um Lew steht. Er hat einen Mord begangen und wird dafür nicht bestraft - das macht mich zwar krank, doch ich kann nicht mehr viel dagegen unternehmen. Vielleicht können Sie beim nächstenmal mehr tun.« »Beim nächstenmal?« Ihre Stimme bebte. »Sie müssen vorsichtig sein. Haben Sie verstanden? Sie kennen ihn besser als irgendwer sonst, Sie wissen, wozu er fähig ist. Sie müssen dafür sorgen, daß er keinen Grund zur Eifersucht mehr hat.« »Hören Sie! Wenn Sie glauben, ich ...« »Ich glaube überhaupt nichts. Aber wenn Lew glauben sollte, Sie würden herumflirten, auch wenn er Ihr Verhalten mißversteht, könnte das einen anderen Menschen das Leben kosten. Beim nächstenmal fällt es ihm vielleicht sogar leichter. Er ist ja schließlich schon einmal davongekommen.« »So was würde ich nie tun! Ich liebe Lew ...« »Klar«, sagte ich. »Sicher tun Sie das. Deshalb möchte ich Sie ja auch warnen, Mrs. Rydell. Wenn Sie Lew lieben, sollten Sie vorsichtig sein. Mehr wollte ich Ihnen nicht sagen.« Ich stand auf und ging zur Tür. Von der Schwelle blickte ich zurück, doch sie rührte sich nicht.
Ich ging allein hinaus und fühlte mich jetzt doch ein wenig besser. Als ich am nächsten Morgen das Büro betrat, fand ich einen Zettel auf meinem Tisch. Mr. Ostrim möchte Sie sprechen. L. Ich ging in das Büro des Alten und stellte fest, daß alle sechs Jalousien herabgelassen waren. Ostrim saß hinter seinem Schreibtisch und wirkte wie ein drohendes Gewitter. Im ledernen Besucherstuhl saß Lew Rydell. Er hatte den Mantel im Schoß und eine Zigarette in der Hand. »Setzen Sie sich, Ned«, sagte Ostrim. Ich kam der Aufforderung nach, ohne Rydell anzusehen. Der Anblick dieses Mannes genügte, um mir einen Stein in den Magen zu zaubern. »Mr. Rydell hat mir etwas mitgeteilt, das ich kaum glauben kann. Ich habe erwidert, er müsse sich irren, doch er schwört, es sei die Wahrheit. Haben Sie gestern Mrs. Rydell besucht?« »Ja.« Ich hörte Rydell den Rauch ausatmen; vielleicht war es auch ein Laut der Erleichterung, ich wußte es nicht genau. »Warum hielten Sie es für erforderlich, zu Mrs. Rydell zu gehen?« »Ich mußte ihr etwas mitteilen«, antwortete ich. »Es war ein rein inoffizieller Besuch.« »Sie haben ihr gesagt, ich sei schuldig«, sagte Rydell heiser. »Sie sind zu mir nach Hause gefahren, mit der Absicht, sie zu erschrecken. Ich sollte Sie deswegen verklagen, Mr. Murray.«
Ostrims Blick hatte beinahe etwas Flehendes. »Was ist das für ein Unsinn, Ned? Sie haben das doch nicht gesagt, oder? Ich glaube es nicht!« »O doch, Sir. Das habe ich gesagt. Ich wollte Mrs. Rydell aber nicht erschrecken, sondern nur warnen. Unmittelbar nach dem Verfahren machte mir Mr. Rydell ein hübsches kleines Geständnis. Ein wenig spät«, fügte ich verbittert hinzu. »Geständnis? Was reden Sie da?« »Alles gelogen«, sagte Rydell. »Ich weiß nicht, was Sie gegen mich haben, Mr. Murray. Ihr Verhalten als Rechtsanwalt finde ich unerhört. Ich habe den Jungen nicht umgebracht. Das meint die Jury ebenfalls. Sie haben kein Recht, mich oder meine Frau damit zu belästigen. « »Ned«, sagte Ostrim in klagendem Ton. »Ned, bitte machen Sie jetzt nicht alles kaputt. Wenn Mr. Rydell etwas Törichtes gesagt hat, etwas, das Sie glauben ließ . . . « »Mr. Rydell drückte sich sehr klar aus. Er sagte, er habe Yost umgebracht. Er sagte außerdem, daß er wieder so handeln würde, sollte ihm ein zweiter Yost begegnen. So war es, Mr. Ostrim. Meinen Sie nicht, daß mich die Sache ebenfalls bedrückt? Ich war bereit, zum Staatsanwalt zu gehen ...« Rydell war aufgesprungen, sein leichenstarres Gesicht nun von Zorn belebt, die ölig schimmernden Augen hervorquellend. »Es ist alles vorbei! Der Prozeß ist aus! Man kann das Ganze doch nicht wieder aufrollen, unmöglich!« »Nein, nein«, beruhigte ihn Mr. Ostrim. »Natürlich nicht, Mr. Rydell. Sie haben keinen Grund zur Aufre-
gung. Mr. Murray hat Sie nur mißverstanden, das ist alles.« »Ich habe ihn sehr gut verstanden«, sagte ich. »Natürlich war mir klar, daß ich ihn nicht wieder vor Gericht bringen konnte, wenn ich zum Staatsanwalt ging - nicht für den Mord an Yost. Doch beim nächstenmal hätte er sich sehr in acht genommen.« »Ich zeige Sie an!« kreischte Rydell, wirbelte zu Ostrim herum und hob den Finger, als tadele er ein Kind. »Hören Sie, Mr. Ostrim! Wenn Sie ihn nicht davon abbringen, so zu reden, verklage ich diese Firma wegen übler Nachrede!« »Bitte, Ned!« Ostrim wischte sich den Schweiß von der breiten Stirn. »Entschuldigen Sie sich bei Mr. Rydell. Sagen Sie ihm, daß Sie es nicht so gemeint haben.« »Mich entschuldigen? O ja, entschuldigen müßte ich mich - und zwar beim Staat, weil ich ihm das Leben gerettet habe ...« Ostrim kam hinter dem Tisch hervor und baute sich vor mir auf. Die Gewitterwolke war zu einem ausgewachsenen Donnerwetter geworden. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu«, sagte er drohend. »Ich weiß nicht, was zwischen Ihnen und diesem Mann vorgefallen ist, es ist mir auch egal. Aber er ist ein Mandant, verstehen Sie, mein Mandant, auch wenn Sie den Fall geführt haben. Alles was Sie tun, fällt auf mich zurück, auf die Art, wie ich diese Firma leite. Mr. Rydell hat einen fairen Prozeß bekommen ...« »Mehr als fair«, sagte ich. »Ja, und die Jury sprach ihn von jeder Schuld frei, mehr hat uns nicht zu interessieren. Sie haben kein Recht, vertrauliche Mitteilungen zu mißbrauchen, die Ihnen ge26
macht werden - worum immer es sich dabei auch handelt. Hat man Ihnen das auf der Universität nicht beigebracht?« »Man hat mir auch etwas anderes beigebracht«, sagte ich. »Daß nämlich der Anwalt in erster Linie der Gerechtigkeit dienen muß.« Ostrim bleckte die Zähne. »Sie Kücken, Sie! Wollen Sie mir hier einen Vortrag über Gerechtigkeit halten? Woher nehmen Sie sich das Recht, mich zu belehren?« »So habe ich das nicht gemeint...« »Was ist das Ihrer Meinung nach hier - ein Gangsterladen? Meinen Sie etwa, ich hätte die Praxis auf diese Weise groß bekommen?« »Hören Sie, Mr. Ostrim . . . » »Sie sprechen von Gerechtigkeit, soso? Dann' sollten Sie mal zu Ihrem Gangsterfreund gehen, zu diesem Tony Eigo. Wenn es wirklich eine Gerechtigkeit gäbe, würde dieser Gauner dann frei in der Gegend herumlaufen?« Meine Wangen hatten zu brennen begonnen und röteten sich noch mehr, als ich Rydells breites Grinsen bemerkte. »Na schön«, sagte ich. »Ich wollte Sie nicht ärgern, Mr. Ostrim. Aber ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt.« »Mir ist egal, was Sie mir gesagt haben!« Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging zur Tür. Die Gesichter, die ich zurückließ, interessierten mich nicht mehr. Ich hörte Ostrim brüllen: »Ned!«, aber das hielt mich auch nicht zurück. Ich ging den Flur hinab, vorbei an meinem Büro, vorbei an dem verwirrten Blick meiner Sekretärin, und verließ das Gebäude.
Ich saß im Wohnzimmer über dem zweiten Drittel der Flasche, als es an der Tür klingelte. Ich hatte bereits drei Anrufe vorzeitig beendet, einen von Schwanz und zwei von Ostrim persönlich, hätte aber wissen müssen, daß man es dabei nicht bewenden lassen würde. Diesmal kam ein Sonderbotschafter, der beste, den sie hatten. »Hallo, Ned«, sagte Karen. »Sieh mal, was ich dir mitgebracht habe.« Sie reichte mir ein kleines längliches Paket, das ich verständnislos anstarrte. »Was ist das?« fragte ich mit schwerer Zunge. Ich hatte nichts zu Mittag gegessen, und der Whisky verschaffte mir die ersehnte Betäubung. »Mach's auf«, sagte sie. »Es ist die Pfeife, auf die du so scharf warst, die mit dem geschnitzten Elfenbeinkopf. Ich hatte sie eigentlich für einen besonderen Anlaß gedacht, aber dein Geburtstag ist erst in sechs Monaten.« Ich ging ins Zimmer zurück und fummelte an dem Paket herum. Karen nahm es mir lächelnd ab und packte die Pfeife aus. Dann ging sie zu dem Tabaktopf aus Birkenholz, der auf meinem Tisch stand, und stopfte sie vorsichtig. »Ich kenne mich damit aus«, sagte sie. »Unten ein wenig fester, oben lockerer. Ich habe Vater oft die Pfeife gestopft, schon als kleines Mädchen.« Sie brachte mir die Pfeife zum Sofa, und ich sagte: »Vergiß es, Karen. Wenn du mich bestechen willst, ist mir Bargeld lieber.« • »Ach wirklich?« Sie glitt die Seitenlehne des Sofas herab in meine Arme. »Ich dachte eher an meinen Sex-Appeal. Wie man mir sagt, ist das eine bombensichere Sache.« Ich küßte sie, weil mir danach war. Dann schob ich sie
fort und holte mir einen neuen Drink. Sie beobachtete mich und begann zu lachen. »Was findest du denn so komisch?« fragte ich. »Das Ganze. Du. Vater. Er hat mir die Szene im Büro geschildert. Ich wünschte, ich hätte dabei sein können. Muß gewesen sein wie zwischen Clarence Darrow und William Jennings Bryan.« »O nein«, knurrte ich. »Die ganze Sache war dumm und kindisch. Und nur wegen dieses ...« »Ja, alles wegen des dummen kleinen Mannes mit den Glubschaugen. Ihr Männer! Viel Aufregung um nichts.« Sie zog die Füße unter sich. »Aber versteh mich nicht falsch, Liebling. Ich meine, Vater hat mindestens genausoviel Schuld daran, und das habe ich ihm auch gesagt. Er findet das alles schrecklich.« »Ach, sicher!« »Um Himmels willen, Ned, warum willst du jetzt alles verderben? Na schön, vielleicht hat der idiotische Mann den Jungen vom Supermarkt wirklich umgebracht. Ich will ja nicht behaupten, daß er es nicht war. Du glaubst doch nicht etwa, daß zum erstenmal ein Schuldiger ...« Ich knallte das Glas so heftig auf den Tisch, daß die Eiswürfel durch die Luft flogen. »Aber es ist für mich das erstemal! Und darum geht es!« »Stimmt das wirklich, Liebling? Dieser Eigo ...« »Tony war unschuldig! Ich habe einen Unschuldigen verteidigt.« »Unschuldig an dem Verbrechen, das mag ja sein. Aber was ist mit all den anderen? Vielleicht hat er ein Dutzend Männer umgebracht oder umbringen lassen.« »Er stand nicht vor Gericht, weil er ein Dutzend Män-
ner umgebracht haben sollte - sondern nur einen. Diese Tat aber hatte er nicht begangen.« Ihr Lächeln verschwand. »Ich hätte es wissen müssen. Es hat keinen Sinn, mit dir zu reden, wenn du trinkst - dann tritt deine Sturheit besonders klar zutage.« »Hat dich dein Vater gebeten, mich zu besuchen?« »Auf den Gedanken bin ich allein gekommen.« »Warum?« fragte ich. »Dachtest du, du könntest mich umstimmen? Ich gehe morgen zum Staatsanwalt, Karen. Selbst wenn es absolut nichts nützt - hinterher wird mir besser sein.« »Weißt du, was der Staatsanwalt dir antworten wird? Er wird sagen, du bist ein Dummkopf. Alle werden das sagen.« »Mir egal.« »Du hast keinen Beweis, nicht den geringsten Beweis. Und alle Beweise der Welt könnten Rydell nicht wieder auf die Anklagebank bringen. Das wfeißt du doch, nicht wahr?« »Und ob! Wie dein Vater gesagt hat, Karen, schließlich war ich ja auf der Universität!« »Weißt du, was er noch sagt? Er sagt, wenn du morgen zum Staatsanwalt gehst, kannst du anderswo Anschluß suchen.« Betrunken oder nüchtern, das ließ mich doch hochfahren. »Und was ist mit dir?« fragte ich. »Was ist mit dem Anschluß zwischen dir und mir?« Sie schwang die Beine auf den Boden und betrachtete ihre Zehenspitzen. »Ich habe lange genug darauf gewartet, daß du ernste
Absichten entwickelst, Ned! Ich kann noch ein bißchen länger warten - bis du wieder zur Vernunft gekommen bist.« »Ach, das ist wohl das eigentliche Druckmittel, nicht wahr?« höhnte ich. »Das hat Daddy dir zu sagen aufgetragen, ja?« Sie reagierte wie ein aufflammendes Streichholz. »Er braucht mir nicht vorzuschreiben, was ich sagen soll, Herr Anwalt. Ich schreibe meine Reden selbst. Stopf dir das in deine Pfeife und rauch es!« Sie zerrte ihren Mantel vom Sessel und warf ihn sich um die Schultern. Ich hatte Karen auch schon zornig gesehen, sie war dann wie eine Lokomotive, nicht aufzuhalten. Sie marschierte aus der Wohnung und knallte die Tür hinter sich zu. Ich nahm das zweite Drittel der Flasche in Angriff — der logische nächste Schritt. Ein zorniger Betrunkener ist so ziemlich das Schlimmste: als ich wieder klar denken konnte, blickte ich auf die weiße Elfenbeinpfeife auf dem Fußboden und wunderte mich, wie sie dorthin gekommen war. Ich bückte mich, um sie aufzuheben, und sah die Wildlederschuhe und scharfen Bügelfalten Tony Eigos vor mir. Ich hatte keine Ahnung, wie Tony in die Wohnung gekommen war oder warum er im anderen Sessel saß und mich mit einem kleinen, geduldigen Lächeln auf seinem südländischen Gesicht musterte. »Eine hübsche Pfeife«, sagte er leise. »Sie sollten sie nicht so behandeln, Ned.« »Was wollen Sie hier?« »Ich bin eingeladen, wissen Sie das nicht mehr?« Er lachte leise. »Nein, vielleicht haben Sie es wirklich vergessen. Sie haben mich vor etwa einer halben Stunde an-
gerufen und zu einem Drink eingeladen. Nun, hier bin ich. Soll ich wieder verschwinden?« »Ja«, sagte ich verständnislos. »Nehmen Sie sich einen Drink, Tony. Auf das Verbrechen!« Ich tastete nach meinem Glas, in dem sich nichts weiter befand als geschmacklich angereichertes Eis. »Ich trinke lieber nicht mit«, sagte Tony. »Sie sind mir zu weit voraus. Wenn Sie neu anfangen wollen, dann gern. Ich setze Kaffee auf, dann unterhalten wir uns.« »Wissen Sie was?« fragte ich. »Ich glaube, mir wird übel.« Eine Viertelstunde später stellte Tony eine dampfende Kaffeetasse vor mich hin. »Ihre Feier dauert aber wirklich lange, Ned. Was ist los?« »Mit der Feierei ist Schluß«, sagte ich. »Ich bin schon beim Bemitleiden. Das ist das richtige Wort, nicht wahr? Be-mit-leiden. Den armen Yost, den kleinen Dummkopf vom Supermarkt.« Meine Umwelt rückte erst langsam wieder in die gewohnte Schärfe, und ich erkannte die Verwirrung auf Tonys Gesicht. Es war das netteste Gesicht, das ich in diesem Augenblick kannte, vielleicht das einzige Gesicht, das richtig auf die Geschichte reagieren würde, die ich loswerden mußte. Und ich erzählte sie. Ich erzählte ihm von Lew Rydell, dem glubschäugigen, krankhaft eifersüchtigen Killer, der den Mund nicht halten konnte. Ich berichtete von unserer kleinen Zusammenkunft im Büro, von Rydells Lüge und Ostrims Drohungen und Karens Kuß, der in Wirklichkeit ein Abschied gewesen war. Ich behielt recht. Tonys Gesicht zeigte Verständnis. Seine Augen spiegelten
den Schmerz wider, den ich empfand, und seine Lippen preßten sich in mitfühlender Entrüstung zusammen. »Und Sie kommen nicht an ihn heran?« fragte er verbittert. »Man kann ihn nicht festnageln?« »Das Gesetz ist da ganz klar, Tony. Sie wissen ja Bescheid. Ein Verfahren pro Kunde.« »Da sind schon bessere als er an den Galgen gekommen. Und er geht frei aus!« »So ist es nun mal. So steht's im Gesetz.« »Gesetz«, sagte Tony trocken. »Die Statue der Justitia, Tony, wissen Sie, was mit der nicht stimmt? Eigentlich müßte sie sich diensteifrig bükken, ja, so müßte sie aussehen. Wir haben sie so tief dienern lassen, daß Rydell jetzt frei herumläuft und nur darauf wartet, einem anderen armen Schweine den Hals umzudrehen.« »Man müßte ihn einlochen«, sagte Tony. »Einen Kerl wie den!« »Nun sagen Sie mir bloß noch, wie!« »Er müßte dafür bezahlen. Wie alle anderen.« »Zu spät«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Zu spät, Tony.« Ich wußte nicht, was er dachte. Ich war viel zu verwirrt, um die logischen Gedanken nachzuvollziehen, die ihm durch den Kopf gingen. Ich saß nur da und trank von dem heißen Kaffee und tat mir selbst leid. Dann sagte Tony: »Ich habe lange darauf gewartet, Ned. Ich wußte nicht, was ich für Sie tun könnte, welcher Gefallen für Sie wichtig sein würde. Jetzt weiß ich es.« »Wie bitte? Was soll das heißen - Gefallen?« »Ein Gefallen nicht nur für Sie«, sagte er lächelnd, 33
»sondern wohl für alle, für den ganzen Staat. Nur gilt es Ihnen, Ned, denken Sie bitte daran.« Ich hörte die Schritte und merkte, daß er auf dem Weg zur Tür war. Ich erhob mich, so schnell es mein schmerzender Kopf zuließ, und versuchte, ihn aufzuhalten. »Moment! Moment!« sagte ich. »Was haben Sie da eben gesagt, Tony? Was haben Sie vor?« »Nichts, Kleiner, nichts.« Er lächelte schläfrig. »Kommen Sie, ich hab mein gutes Werk für heute getan. Lassen Sie mich gehen.« »Tony, wohin wollen Sie?« »Auf meine Runde, wohin sonst? Sie wissen ja, ich habe viel zu tun. Ich muß Leute treffen und alles mögliche organisieren.« Er schlug mir auf den Arm. »Gehen Sie zu Bett. Sie brauchen Ihre Kräfte für den Kater morgen früh.« »Ich möchte wissen, was Sie mit Ihrem Gefallen meinen!« Ich blickte ihm in die Augen und wußte Bescheid. »Sie wollen Rydell umbringen ...« »Sie gehen zu oft ins Kino, Kleiner.« »Tony, machen Sie keine dummen Sachen! Diese Art Gefallen will ich nicht, verstanden?« »Klar. Aber frei herumlaufen soll er? Was macht es schon, wenn er ungeschoren davonkommt? Passiert ja oft. Sie haben mir selbst gesagt, ein Verrückter wie Rydell würde es immer wieder versuchen ...« »Ihn umzubringen ist keine Lösung!« " »Sicher - also soll ein anderer armer Schlucker daran glauben? Ist das eine bessere Lösung?« »Ich habe das alles gar nicht ernstgemeint, Tony. Sie ziehen die falschen Schlüsse!« »Dieser Kerl hat nicht nur einen Supermarktboten um34
gebracht. Er bringt Sie jetzt auch noch um, mein Freund und das geht mir nahe. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Auf Sie fällt nichts zurück.« Tony lächelte schief. »Ich verstehe mein Handwerk, Ned, so wie Sie Ihres.« »Tony!« Aber er war schon den Flur hinunter geeilt und im Fahrstuhl verschwunden, ehe ich einen neuen Protest anbringen konnte. Ich blickte auf die Uhr; die Zeiger deuteten auf zwanzig nach sieben. Es war ein langer Tag. Ich warf mich in einen Stuhl und massierte meine dröhnenden Schläfen mit den Daumenspitzen. Ich ging ins Badezimmer, schüttelte mir drei Aspirintabletten in die Hand und schluckte sie. Dabei sah ich mich im Spiegel des Arzneischranks und fuhr erschrocken zusammen. Das Gesicht, das mich anschaute, wirkte völlig gelassen - die Augen waren ein wenig rot gerändert, das Haar war verwuschelt, doch es war nicht das Gesicht, das ich erwartet hatte. Es hätte angespannt und verwüstet aussehen müssen, im gnadenlosen Griff eines gepeinigten Gewissens. Das Gesicht aber war friedlich, und ich begann mich zu fragen, wie es um mein Gewissen wirklich bestellt war. »Du kannst ihn doch nicht gewähren lassen«, sagte ich laut. Mein Gesicht starrte mich an und antwortete stumm: »Warum nicht?« Zornig schaltete ich das Licht aus, damit ich mich nicht mehr sehen mußte. Dann kehrte ich ins Wohnzimmer zurück und ging zum Telefon. Ich hatte mehrere Alternativen. Ich brauchte die Dinge nicht einfach laufen zu lassen. Die Polizei kam nicht in Frage. Ich wollte Tony 35
nicht für Rydell opfern, auf keinen Fall. Ostrim? Was der von Tony hielt, wußte ich. Der einzige vernünftige Weg war ein Anruf bei Rydell selbst. Eine Warnung. Ich würde sie nicht näher erklären müssen, ich brauchte ja nicht einmal meinen Namen zu sagen ... Aber würde er mir überhaupt glauben . . . ob ich mich nun meldete oder anonym blieb, würde er mir glauben? Ich nahm den Hörer auf und legte ihn wieder hin. Vielleicht hatte Tony ja recht. Es war kein Mord, sondern eine Hinrichtung, die Ausführung eines verzögerten Urteils. Es war kein sinnloser Tod, sondern ein Präventivschlag ... Plötzlich wußte ich, wen ich anrufen wollte. Der einzige, mit dem ich sprechen konnte, der mir die gewünschte Antwort geben konnte. Ich rief die Auskunft an. »Ich hätte gern die Nummer von Mr. Lincoln Arthur, East Hamil Street 14.« Außerhalb des Gerichtssaals hatte Linc wenig Ähnlichkeit mit einem Richter. Wenn er hinter dem hohen Tisch saß, ausgestattet mit weiter schwarzer Robe und Hämmerchen, war es leicht, sich ein strenges, unbeugsames Gesicht vorzustellen. In Wirklichkeit waren seine Züge eher weich, er wirkte mehr wie ein warmherziger Lehrer als wie jemand, der Recht spricht. Außerdem kam ich mir tatsächlich wie in der Schule vor, als ich nun herumstotterte wie ein kleiner Junge, der seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. »Sprechen Sie doch ein bißchen langsamer«, sagte er ruhig und lehnte sich in seinem Arbeitssessel zurück. 36
»Ich kann Ihrer Geschichte nicht folgen, Ned. Ist es eine Parabel, oder was?« »Mehr ein Rätsel«, antwortete ich bedrückt. »Ein juristisches Rätsel. Nur kenne ich die Lösung bereits.« »Na schön«, sagte er lächelnd. »Mal sehen, ob ich sie auch herausbekomme.« Ich atmete tief ein. »Es geht um einen Anwalt«, begann ich, »einen Strafverteidiger, der in einem Mordfall einen Angeklagten mit Erfolg verteidigt. Ich betone, er ist von der Unschuld seines Mandanten überzeugt, und diese Überzeugung hilft ihm, den Freispruch zu erwirken. Doch unmittelbar nach dem Prozeß macht er eine Entdeckung. Sein Mandant ist doch schuldig, verstehen Sie?« »Wie macht er diese Entdeckung?« »Ist das wichtig?« »Möglich. Aufgrund von Beweisen, die im Verfahren vorgelegt worden waren? Beweise, die er falsch interpretiert oder unwissentlich zurückgehalten hatte?« »Nein«, sagte ich. »Es war ein Geständnis.« »Wie ist er an das Geständnis gekommen?« »Es wird ihm von dem Mandanten unaufgefordert gemacht. « »Warum?« fragte Linc geradeheraus. »Ich kenne den Grund nicht! Aber so ist es nun mal. Der Anwalt weiß nun die Wahrheit über seinen Mandanten - und noch etwas Schlimmeres. Daß der Mann nämlich fähig ist, ein zweites Verbrechen zu begehen, daß er geradezu stolz mit dieser Möglichkeit herumprahlt...« »Gibt es Zeugen für das Geständnis?« »Nein. Damit konfrontiert, streitet der Mandant ab, es je gemacht zu haben.« 37
Linc rieb sich das Kinn. »Sie stellen mir da keine juristische Frage, Ned. Sie wissen sicher, wo Ihr - hypothetischer Anwalt juristisch steht. Im Niemandsland. Handelt es sich also um eine moralische Frage?« »Das könnte man sagen. Wenn Sie dieser Anwalt wären, Richter, was würden Sie tun?« Es hatte zu regnen begonnen, die ersten dicken Tropfen prallten hörbar gegen das Fenster hinter dem Schreibtisch des Richters. Linc erhob sich ächzend und sicherte den Fensterverschluß. Ich hatte vergessen, wie alt er geworden war, und begann zu bereuen, ihn mit Fragen belästigt zu haben, auf die es keine Antwort gab. »Wenn ich dieser Anwalt wäre«, sagte er, nachdem er sich wieder gesetzt hatte, »und wenn ich so alt wäre wie Sie, würde es mir vermutlich genauso gehen wie Ihnen, Ned. Ich würde zornig sein - auf meinen Mandanten, auf mich selbst, sogar auf das Gesetz. Wäre ich aber in meinem Alter, würde ich wohl anders denken.« »Inwiefern anders?« »Ich würde keinen Zorn empfinden, sondern nur Mitleid. « Ich konnte nicht anders - ich mußte meinen Widerwillen zum Ausdruck bringen. »Mitleid? Mit einem Mann wie dem?« »Ja, mit einem Mann wie dem. Ein Mann, der sich zu dem Geständnis getrieben fühlte, mußte ähnlich zum Töten getrieben worden sein. Es sind Symptome derselben Krankheit. Und wenn es etwas gibt, das das Gesetz in diesem Jahrhundert dazugelernt hat, dann die Nachsicht gegenüber Kranken.« »Er ist krank, das ist wohl richtig, das macht doch aber keine ...«
»Ned!« Seine Stimme klang so scharf, daß ich den Blick hob und die Strenge des Gerichtssaals in seinen Augen fand. »Ihre Parabel. Geht es dabei um Rydell?« »Ja.« »Er hat Ihnen mitgeteilt, er habe Yost tatsächlich umgebracht?« »Jawohl, Richter, ich schwöre es. In meinem Büro, noch am Tage des Urteils. Ich glaube, es hat ihm Spaß gemacht.« »Ja«, sagte Linc. »Da haben Sie wohl recht.« »Er wußte, daß ihm nichts mehr geschehen konnte, daß er nicht wieder auf die Anklagebank mußte . . . » »Das rationale Denken des Irrationalen . . . » »Was?« »Um Himmels willen, Ned, gebrauchen Sie doch Ihren Verstand! Erkennen Sie nicht, daß der Mann geisteskrank ist? Alles deutet darauf hin. Er bringt einen jungen Mann um, weil der einmal den Arm um seine Frau gelegt hat. Er gesteht die Tat, obwohl gar keine Notwendigkeit dazu besteht. Lohnt es sich, einem Kranken gegenüber soviel Zorn aufzubringen?« »Aber er ist gefährlich! Er wird es wieder tun, Richter! Sobald ein anderer seine Frau nur schief ansieht, hat er einen Vorwand für einen neuen Mord!« »Hätte er Ihnen das Geständnis vor dem Ende des Prozesses gemacht, hätte man ihn schuldig gesprochen ...« »Ja, hätte! Dann wäre er jetzt an dem Ort, wohin er gehört - in der Todeszelle!« »Sie vergessen eins, Ned. Ich war Richter bei dem Verfahren. Es lag anjmir, das Strafmaß festzulegen, nicht an Ihnen.« »Es war Mord Ersten Grades; vorsätzlich verübt!« »Glauben Sie, das hätte einen Unterschied gemacht? 39
Das Todesurteil ergeht nicht automatisch. Das Recht, die Strafe zu bemessen, stand mir zu.« »Soll das heißen, Sie hätten nicht... ?« Linc erhob sich hinter seinem Tisch und war plötzlich, auch ohne Robe, ganz der Richter. »Nein«, sagte er gelassen. »Hätte mir die Jury einen Schuldspruch gebracht, ich hätte Rydell nicht in die Todeszelle geschickt. Ich weiß genau, was ich getan hätte. Ich hätte eine psychiatrische Untersuchung empfohlen und veranlaßt, daß man ihn in eine psychiatrische Klinik einweist...« Lines Worte lösten keine Gefühle in mir aus - kein Bedauern, kein Schuldempfinden. Ich spürte den Boden nicht mehr unter den Füßen und nicht den Druck meiner Hände auf den Armlehnen des Sessels. Ich saß einfach nur da und starrte ausdruckslos in Lines Gesicht, in einem Vakuum der Emotion gefangen, unwillig, diesen Freiraum zu verlassen und mich meinen eigenen Gedanken zu stellen. Ich hatte die Antwort erhalten, die ich gesucht hatte, von dem einzigen, der sie mir geben konnte. Aber es gab da noch einen anderen, einen lächelnden, dunkelhäutigen Mann, der eine Dankesschuld mit sich herumtrug, die Lines Urteil sinnlos machen würde ... »Ich muß los«, sagte ich und stemmte mich hoch. »Vielen Dank, Richter«, setzte ich leise hinzu. »Vielen Dank.« »Ned, Sie sollten sich das alles nicht so zu Herzen nehmen.« »Tut mir leid«, sagte ich. »Ich muß dringend etwas erledigen.« Der Regen war stärker geworden, und die Straßen der Stadt schimmerten schwärzlich. Nachdem ich nun wußte, was ich tun mußte, war es, als hätten sich Gott und die 40
Taxigesellschaft dagegen verschworen. Ich stand an der Ecke und pfiff die Wagen an, die leer oder besetzt an mir vorbeirollten. Ich kannte die Gegend nicht, hatte keine Ahnung von den Besonderheiten der hiesigen U-Bahnöder Buslinien, und mein Ziel lag vierzig Querstraßen entfernt. Wieder spielte ich mit dem Gedanken, Rydell anzurufen, und formulierte bereits die Worte, die ihn von der Gefahr überzeugen sollten, in der er schwebte. Ich dachte auch daran, Tony anzurufen, doch Tony war nach Einbruch der Dunkelheit nicht zu erreichen. Das war seine Arbeitszeit. Ich marschierte durch die nassen Straßen und flehte darum, Tony möge heute nicht arbeiten, nicht an der Sache, die er mir versprochen hatte. Ich hielt mir selbst die Daumen. An einer Kreuzung trat ich vom Bürgersteig und wurde beinahe von einem Taxi überfahren. Eine Frau stieg aus, machte eine schrille Bemerkung über ihre ruinierte Frisur und hastete unter einen Überhang. Ich hielt mich am Türgriff fest, sprang auf den Rücksitz und brüllte Lew Rydells Anschrift. Ich fühlte mich ausgesprochen elend und war nicht in der Stimmung, mit dem Taxifahrer zu plaudern. Der aber war um so gesprächiger, und ich mußte mir seine Klagen anhören: der Freitagabendverkehr, das Wetter, die Knausrigkeit der Frauen, der Mangel an tüchtigen Weitschlägern beim örtlichen Baseball-Klub. Ich hätte am liebsten gesagt: Halt den Mund, Kumpel, willst du mal richtige Sorgen hören? Jede Ampel stand auf Rot. Im Zentrum stießen wir auf eine Baustelle, die uns nur im Kriechtempo vorbeiließ. Jedes Ticken des Taxameters war wie ein Herzschlag. Immer wieder dachte ich: Vielleicht tut es Tony ja nicht.
Vielleicht hat er nur geblufft. Vielleicht tut er's nicht heute abend, vielleicht ist noch Zeit... Wir bogen ab. Ich beugte mich zum Fenster und zählte die Straßenkreuzungen. Endlich waren wir in der Morton Street, und mein erster Gedanke war: 2,u spät! »He, was ist da los?« fragte der Fahrer. »Muß etwas passiert sein! Sehen Sie sich die Bullen an!« Zwei Streifenwagen flankierten die Einfahrt zu Lew Rydells Sandsteinhaus, und ein Krankenwagen parkte auf der anderen Straßenseite. Trotz des Regens drängte sich eine Menschenmenge vor dem Haus, schiebend, einen guten Platz erstrebend, begierig auf die Tragödie, die es hier zu sehen gab. Ich warf dem Fahrer zwei Scheine in den Schoß und sprang aus dem Wagen. Die Menge widersetzte sich meinen Versuchen, den Hauseingang zu erreichen. Ich versuchte die Aufmerksamkeit des Streifenbeamten zu erregen, der die Zuschauer zurückhielt, doch für ihn war ich nur ein Gesicht von vielen. Dann entdeckte ich Dov Gerhart von der Mordkommission West. Dov mußte sich an mich erinnern, vielleicht nicht gerade mit Freuden - doch er kannte mich. Ich brüllte seinen Namen, bis er sich umdrehte und in meine Richtung blickte. »Moment mal«, sagte Dov und kam auf mich zu. »In Ordnung, Phil, den können Sie durchlassen.« »Vielen Dank«, sagte ich. »Hören Sie, Dov ...« -Aber Dov hörte mir nicht zu. Er wandte sich um und blickte zum Hauseingang hinüber. Die weißgekleideten Bahrenträger brachten soeben das Opfer des Abends ins Freie. Sie hatten es nicht eilig - was kein Wunder war. Das Tuch bedeckte auch den Kopf.
»Dov, hören Sie zu ...«, wiederholte ich. Der Kriminalbeamte zog eine Grimasse und sagte: »Ja, gern. Er war doch Ihr Kumpel, nicht wahr? Mein Beileid.« »Mein Kumpel?« »Tony Eigo.« Er wandte sich um und sah zu, wie die Leiche in den Krankenwagen geschoben wurde. »Das ist nun mal ein Ding. Gibt wohl ein halbes Dutzend Leute, die Tony Eigo im Leichenschauhaus sehen möchten, und wer erwischt ihn? Ein eifersüchtiger Ehemann!« »Tony?« fragte ich. »Tony ist tot?« »Ihr Ex-Mandant war's«, sagte Dov grimmig. »Dieser Rydell. Er erwischte Tony, wie er ums Haus herumstrich und die Eingänge beobachtete. Rydell behauptet, er habe es auf seine Frau abgesehen. Wissen Sie Näheres darüber, Ned?« »Das haut nicht hin«, sagte ich kopfschüttelnd. »Er kannte die Frau nicht einmal, Dov, ich schwor's! Rydell ist verrückt...« »Das ist das richtige Wort. Als Tony in den Flur kam, raste Rydell die Treppe herunter und erschoß ihn. Jagte ihm fünf Kugeln in den Leib und kreischte dabei wie von Sinnen.« »Wo ist er?« fragte ich dumpf. »Wo ist Rydell?« »Oben, wird gerade verhört. Diesmal entwischt er uns nicht, nicht wie beim letztenmal, Herr Anwalt.« Er blickte mich an und verzog den Mund. »Oder was meinen Sie? Glauben Sie, Sie können ihn ein zweites Mal vor dem Strick retten?« Ich machte Anstalten, die Treppe zu ersteigen, und Dov packte mich am Arm. »Moment mal! Wohin wollen Sie?« 43
»Ich will mit ihm sprechen, Dov. Er hat das Recht, einen Anwalt zu empfangen, oder nicht?« »Sie müssen selbst verrückt sein. Es gibt ein halbes Dutzend Tatzeugen!« »Darf ich hinauf?« Er schob den Hut in den Nacken. »Sie wollen diesen Irren tatsächlich wieder verteidigen? Der ist doch völlig verrückt, begreifen Sie das nicht?« »O doch«, antwortete ich. »Und genau das will ich beweisen.« Dov nahm die Hand von meinem Arm, und ich ging nach oben, um mit meinem Mandanten zu sprechen.
Glockenschlag der Wahrheit egen neun Uhr zog Professor Douglas Kitteridge Gdie Aufmerksamkeit der zuletzt angekommenen Partygäste auf sich: Verleger Harold Pryor und Frau hatten die berühmten Turmuhrglocken noch nicht gehört, geschweige denn die Geschichte, die sich damit verband. Die anderen Partygäste wußten Bescheid - sie hatten das ohrenbetäubende Erlebnis bereits hinter sich, doch niemand hatte etwas dagegen, daß der Professor die Geschichte noch einmal vortrug. »Harold, haben Sie sich nicht schon über dieses Haus gewundert?« fragte Kitteridge und zupfte an seinem eckigen grauen Bart. »Haben Sie sich nicht gefragt, wie ein pensionierter Professor es schafft, mit seiner bescheidenen Pension und Ihren lächerlichen Honorarabrechnungen ein solches Haus zu unterhalten?« Der Verleger hatte sich derartige Fragen nicht gestellt, doch er lächelte freundlich. Das Haus war eigentlich ganz ansprechend, wenn auch viel zu groß, um gemütlich zu sein, und es klebte an der Flanke eines öffentlichen Gebäudes. »Unser Nachbar«, sagte Kitteridge, »ist das Rathaus von Rushford. Vor einigen Jahren spendete ein dankbarer ehemaliger Ratsherr - vielleicht war er dankbar, hier herauszukommen - der Stadt eine großartige Glocke, die die Stunden schlägt. Aber während der Glockenschlag in der näheren Umgebung leise und melodisch zu hören ist, haben die Bewohner dieses Hauses das Gefühl, in der Glocke selbst zu wohnen. 45
Der arme Besitzer - er hieß Jennings - bot das Haus schließlich zum Verkauf an, zu einem Preis, den sich sogar College-Professoren leisten konnten. Und wie Sie wissen«, fuhr Kitteridge fort und berührte die Schnur seines Hörgeräts, »bin ich anderen Leuten in gewisser Hinsicht voraus. Wenn mir danach ist, bin ich taub.« Er wartete auf Pryors trockenes Lachen und ging zu Lorna. Seine Tochter lächelte ihn an - sie besaß den hübsch geschwungenen Mund seiner Frau und seine großen, heiteren Augen. »Natürlich hatte Lorna in der Sache mitzubestimmen. Es sollte doch auch ihr Zuhause sein, und sie ist nicht schwerhörig.« Er kniff ihr liebevoll ins Ohr. »Sie verliebte sich aber in das Haus, und die Glocke war ihr gleichgültig.« »Glauben Sie ihm nicht«, warf das Mädchen ein. »Daddy wußte, daß ich im Ausland studieren wollte und daß ich danach wahrscheinlich ...« Sie stockte und blickte zu Mark Dixon hinüber, der kein großes Interesse daran zu haben schien, was sie hatte sagen wollen. Vielmehr stand er auf und machte sich mit steifen Bewegungen daran, sein Glas neu zu füllen. Wenn er sich unbehaglich fühlte oder zornig war — oder beides -, wirkte er groß und ungelenk. Lorna runzelte betrübt die Stirn, denn sie kannte die Ursache für seine Verstimmung, doch schon sagte Mrs. Pryor: »Es ist fast neun Uhr. Sollten wir uns die Ohren zuhalten?« »Was?« fragte Kitteridge in gespieltem Entsetzen. »Wollen Sie die herrlichen Töne verpassen? Es ist, als höre man die Glocken der Wahrheit, wie Tennyson sie vernahm: Hört, hört!«
Bong! machte die Glocke, und der Professor schwenkte aufgeregt den Arm und rief: »Laut' aus das Alte, ein das Neue!« Bong! »Laut* ein die edlere Lebensart, von sanft'rem Sinn und bess'rem Gesetz!« Bong! »Laut' fort der Goldgier enge Pein, den tausend Kriegen läute Nein!« Bong! »Laut' ein die ewige Friedenszeit!« Bong! »Laut' ein den Menschen mutig und frei, das weite Herz, die hilfreiche Hand!« Bong! »Laut' fort die Düsternis über dem Land - laut' ein den Christus, der da komm herbei!« Bong, bong, bong! dröhnte die Glocke der Turmuhr. Die Gesichter der Pryors wirkten angespannt, als die Qual endlich vorüber war; die anderen Gäste dagegen sahen ganz gelöst aus. Die kurze Deklamation schien Kitteridge erschöpft zu haben; er murmelte etwas von einem Drink, ein Wunsch, dem Lorna sofort nachkam. Anschließend nahm sie zwei übervolle Aschenbecher vom Tisch und glitt auf dem Weg in die Küche an Mark Dixon vorbei. »Küche!« flüsterte sie. Das Kommando wurde offenbar verstanden, denn eine Minute später kam er durch die Pendeltür und stellte sich zu ihr an den Abwaschtrog. Zuerst widersetzte sie sich dem Kuß, den er anbot, dann überlegte sie es sich aber anders und genoß die Zärtlichkeit. Noch in seinen Armen liegend, sagte sie: »Du siehst wieder mal unangenehm berührt aus, Mark. Um Himmels willen, gewöhn dich an Daddys Glockenstory! Ich muß ja auch damit leben.« »Ich will dir die Wahrheit sagen«, meinte er mürrisch. »Ich glaube, du heiratest mich nur, um von dem verdammten Gedröhn wegzukommen.« Er legte die Stirn in Falten. »Du heiratest mich doch, Lorna, oder? Ich hab das nicht nur geträumt?« 47
»Ich heirate dich. Gewiß, es ist eine Weile her, daß wir darüber gesprochen haben. Aber du weißt ja, was mit Daddy ...« »Ja, ich weiß mehr über Daddy als über dich. Über ihn reden wir mehr als über unsere gemeinsame Zukunft. « »Mark!« »Würde mich nicht überraschen, wenn bei unserer Hochzeit nicht aus der Bibel, sondern aus seinem neuesten Buch gelesen würde.« Sie löste sich gewaltsam aus seinem Griff, ein kräftiges Mädchen, das seinem Zorn Ausdruck verlieh. Mark rieb sich reumütig den Arm und setzte das scheue Lächeln auf, das ihr besonders gefiel. Heute aber blieb die Wirkung aus. »Du hast dich in eine gemeine Abneigung gegenüber meinem Vater hineingesteigert...« »Hör mal, ich verabscheue deinen Vater nicht. Wie könnte ich das? Dein Vater ist ein großer Mann. Das weiß ich so gut wie jeder hier.« »Wirklich?« »Natürlich! Er ist ein großartiger Gelehrter. Außerdem ein Mann mit Idealen, der Albert Schweitzer von Neuengland. Ich dagegen bin nur ein armer Makler-Typ, aber das weiß ich auch. Und ich bin bereit, ihn deinetwegen über mich ergehen zu lassen.« »Über dich ergehen lassen?« fragte sie entsetzt. »Wie kannst du nur so etwas sagen!« - »Ach, es wird eine Last, ganz bestimmt. Ein grober materialistisch eingestellter Bursche wie ich, der in solch hohe Sphären hineinheiratet. Aber was soll ich tun? Ich bin nun mal in dich verknallt.« »Was für ein Dummkopf du doch bist!« sagte Lorna,
ließ sich aber wieder in seine Arme sinken. »Na schön, ich spreche mit Daddy, sobald die anderen gegangen sind. Natürlich ahnt er die Wahrheit. Schwerhörig mag er sein, aber seine Augen sind in Ordnung.« Er blickte sie ernst an. »Er wird über unsere Pläne nicht glücklich sein, Lorna. Er will dich bestimmt nicht verlieren.« »Eines Tages muß es geschehen, das weiß er auch.« »Dann sag ihm, daß der Tag gekommen ist. Sag ihm die Wahrheit.« Sie barg den Kopf an seiner Schulter. »Ich sage Daddy immer die Wahrheit«, antwortete sie. Aber so einfach, wie Lorna es sich vorgestellt hatte, war es doch nicht. Als die Partygeräusche verstummt waren und der Glockenturm für die Nacht schwieg, umgab Kitteridge eine Aura der Hilflosigkeit. Er war kleingewachsen, eine gepflegte Erscheinung in maßgeschneidertem Smoking. Auf seine Figur und den gepflegten Bart hielt er sich etwas zugute. Diese Eitelkeit, eine Neigung zur Gicht, die er bewußt ignorierte, und ein Übermaß an liebevoller Abhängigkeit von seiner Tochter waren die einzigen Dinge, die Lorna gegen ihn vorbringen konnte. Mark hatte recht: er war ein großer Mann. Kitteridge war ein Shakespeare-Forscher, dessen Ansehen im Quadrat zur Entfernung zunahm. In Rushford wurde er respektiert. An den Universitäten galt er als Autorität. Im Ausland wurde er angebetet. Für seine Tochter, die seit dem fünften Lebensjahr ohne Mutter auskommen mußte, war er der Quell von Wärme und Sicherheit und von etwas, das sie inzwischen für noch wichtiger hielt: die 49
Ideale von Wahrheit und Schönheit, die er ihr seit frühester Kindheit eingetrichtert hatte. Er blickte sie ausdruckslos an, als sie ihm die große Eröffnung machte. »Heirat?« Aus seinem Mund klang es wie ein Fremdwort. »Mir war klar, daß du Mark magst. Lorna, aber ...« »Du hast sicher mehr geahnt, Daddy. Wenn ich ihn nur - gemocht hätte, wäre ich nicht so oft mit ihm ausgegangen.« Kitteridge betastete sein Hörgerät, als hätte er das Gespräch am liebsten abgeschaltet. Dann lächelte er. »Was für ein alter Schwindler ich doch bin«, sagte er lächelnd. »Ich wollte schon sagen, daß mir der Gedanke nie gekommen wäre. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, daß du jetzt schon heiraten möchtest. Ich meine, ehe du deinen Doktor hast, ehe du all die Dinge getan hast, die wir gemeinsam in Angriff nehmen wollten.« »Die Ehe würde doch nicht alle unsere Pläne zerstören«, sagte Lorna. »Und was deine Vortragsreise angeht . . .« »Ich weiß nicht, ob ich ohne dich fahren will. Ich bin allmählich ein bißchen zu alt, um allein in Europa herumzureisen.« »Aber Mark und ich könnten dich begleiten.« »Hast du Mark schon gefragt? Er ist Geschäftsmann. Kann er einfach alles stehen und liegen lassen, nur weil ich ein paar Reden halten muß?« . »Nein«, antwortete Lorna niedergeschlagen. »Aber er weiß, daß ich dich nicht einfach so - sitzenlassen kann. So herzlos bin ich nicht.« »Das ist das letzte Adjektiv, das auf dich zuträfe«, sagte Lornas Vater. Er trat neben sie und legte ihr eine Hand 5°
auf die Schulter. »Dein Herz kenne ich nur zu gut, mein Liebling. Ich weiß, was für ein zärtliches kleines Ding in deiner Brust schlägt. Ich hatte immer Angst vor dem Mann, der es eines Tages einfangen würde.« »Wenn du Mark nur besser kennen würdest! Er ist kein Gelehrter, aber .. .« »Ich sage nichts gegen Mark«, sagte Kitteridge und lächelte freudlos. »Mir wäre bei jedem anderen genauso zumute - wie der müde alte König aus dem Märchen, den die Zustände in seinem Königreich zwingen, die Hand seiner Prinzessin einem Bürgerlichen zu geben.« Sie berührte seine Hand; ihre Finger legten sich wie die eines Kindes um die seinen. Bei Bruno war kein gutes Lokal für das Gespräch, das Lorna zu führen beabsichtigte. Es war das, was man in Rushford unter einer Cocktail-Bar verstand, schlecht gelüftet und grell beleuchtet. Mark mochte das Lokal aber, vorwiegend wegen seiner Nachteile, und so saßen sie denn in einer mit Kunstleder ausgeschlagenen Tischnische gegenüber den blitzenden roten Lichtern einer Musicbox, als sie ihm ihre Entscheidung bekanntgab. »Es sind ja nicht mal sechs Monate«, sagte sie. »Dann habe ich meinen Doktor - oder auch nicht - und Daddys Vortragsreise ist beendet.« Mark stürzte den dritten Drink des Abends hinunter und bestellte einen vierten, ohne Lorna zu fragen, ob sie mithalten wollte. »Jetzt habe ich langsam genug von deinem Schweigen«, sagte sie gereizt. »Ich weiß genau, was du denkst, Mark, da kannst du es genausogut auch laut sagen.« »Ich habe überhaupt nichts gedacht«, antwortete er
und drehte das leere Glas in der Hand. »Ich habe mir nur vorgestellt, wie gut du es doch mit einem solchen Vater hast. Schauen wir uns dagegen meinen alten Herrn an, den guten alten Charlie Dixon, seines Zeichens Makler. Ich kann mir nicht vorstellen, daß der je von Ethik oder Idealen gehört hat. Der könnte im Lügen und Betrügen mit den besten der Branche mithalten, ja, dazu wäre • Charlie in der Lage. Deshalb ist aus mir wohl auch so etwas Mieses geworden.« »Du trinkst zuviel. Wie immer, wenn du wütend bist, Mark.« »Noch ein Charakterfehler«, stellte er grinsend fest. »Fällt bei meiner schwarzen Persönlichkeit kaum noch auf!« Der vierte Drink wurde serviert und war fast sofort verschwunden. »Du gibst dir keine Mühe, mich zu verstehen. Daddy hat nichts gegen dich. Ich könnte dich gleich morgen früh heiraten ...« »Aber du tust es nicht, oder?« Er winkte dem Mann hinter der Bar zu. »Mark, du willst doch nicht noch einen trinken?« »Beantworte zuerst meine Frage!« Lorna betrachtete die feuchten Kreise auf der Tischplatte. »Nein, Mark. Das ginge nicht.« Mark ließ den Drink kommen, leerte das Glas und schlug vor zu gehen. -Sie hatte ihn eigentlich nicht ans Steuer lassen wollen, aber draußen blieb ihr keine andere Wahl. Lorna hatte ihren Führerschein erst kürzlich erworben, doch er galt nur für Automaticwagen, während Mark einen lauten Sportwagen mit Knüppelschaltung vorzog.
Kaum hatten sie Brunos Parkplatz verlassen, da wußte sie, daß sein Zorn zu einer aggressiven Fahrweise führen würde, und begann ihn zur Vorsicht zu mahnen. Mark hörte natürlich nicht auf sie. Es war spät, Nieselregen fiel, und auf den Straßen um Rushford herrschte kaum Verkehr. Ja, so zeigte Mark der Welt, in welcher Stimmung er war: trotz Lornas warnender Worte ließ er den Motor aufheulen und verlangte ihm das Äußerste ab. Auf der Ridge Road, die den Heimweg um gut einen Kilometer abkürzte, tötete er die dünne Frau in dem gelbgepunkteten Kleid. Kein Zweifel, sie war tot. Mark und Lorna brauchten den Wagen gar nicht zu verlassen, um zu wissen, daß hier jeder Arzt zu spät kam. Der Wagen fuhr die Frau mit großer Geschwindigkeit an und traf sie mit solcher Wucht, daß sie in die Höhe wirbelte und gegen die Windschutzscheibe prallte, wobei ihr Gesicht durch das Glas blutig zerschmetterte. Sie landete wie eine gebrochene Schaufensterpuppe im Graben neben ihrem eigenen Briefkasten, dessen Abholflagge hochgestellt, dessen Türchen noch geöffnet war: die eben hineingesteckten Briefe ragten ein Stück heraus. Wie durch ein Wunder waren die beiden Insassen des Wagens unverletzt geblieben; Sicherheitsgurte hatten jeden Schaden verhindert. Mark mühte sich mit tauben Fingern an der Gurtschnalle ab und stieg endlich aus dem Wagen. Lorna wollte das Fahrzeug gar nicht verlassen. Sie barg das Gesicht in den Händen und zitterte vor Kälte. »Lorna«, hörte sie Mark sagen. »Lorna, die Frau ist tot. Ich muß das melden.« Sie sah sein fragendes bleiches Gesicht. »Ob ich ins Haus gehe?« fragte er in jämmerlichem Ton. »Sag mir doch, was ich tun soll!« 53
Sie wußte später nicht mehr, ob sie ihm geantwortet hatte, doch Mark kam schließlich zu sich. Er betrat das Haus der Frau und rief die Polizei an. Ein etwa zehnjähriger Junge hatte im Obergeschoß geschlafen. Er kam zum Treppenabsatz und starrte schläfrig auf den Fremden hinab, der da das Telefon benutzte. Natürlich war Mark Dixon bei der Polizei bekannt. Sein Vater hatte als führender Häusermakler in Rushford gegolten, Mark war sein Erbe. Die Beamten kannten auch Lorna Kitteridge. Anna Moger, das Opfer des Unfalls, war schon weniger bekannt. Die Frau war Witwe gewesen und hinterließ ihren Sohn Ronald. Sie war vor einem Jahr nach Rushford gezogen und hatte das kleine Haus aus einer Versicherungszahlung erstanden. Die Nachbarn kannten sie kaum; nun war keine Gelegenheit mehr, sich näher mit ihr anzufreunden. Im Wohnzimmer der Mogers unterhielt sich die Polizei mit Dixon, während draußen unangenehmere Dinge erledigt wurden. »Nein«, sagte er. »Ich habe sie nicht gesehen. Sie ist einfach auf die Straße gelaufen. Sie hatte wohl gerade ein paar Briefe in den Kasten gesteckt. Ich weiß nicht, warum sie sich so dumm benahm. Sie muß meinen Wagen doch gehört haben! Der Motor ist ziemlich laut.« »Und wie schnell sind Sie gefahren?« fragte der leitende Beamte, Sergeant McKeon. Marks Hand berührte etwas auf dem Sofa, ein weiches Bündel Strickwolle, in dem noch die Nadeln steckten. Er sah zu Lorna, die auf der anderen Seite des Zimmers saß. »Nicht mehr als fünfzig«, antwortete er. »Sie muß mich gehört haben. Vielleicht dachte sie, sie käme noch vor mir über die Straße.« 54
»Die Leute reagieren manchmal schon komisch«, sagte McKeon hilfsbereit. Er wandte sich an Lorna, und Mark biß die Zähne zusammen. »Alles in Ordnung, Miss Kitteridge? Möchten Sie einen Schluck Kaffee?« »Nein«, sagte Lorna erschaudernd. »Vielen Dank, nichts.« »Natürlich findet eine Untersuchung statt«, fuhr der Sergeant fort. »Das ist Ihnen klar, Mr. Dixon?« »Ja, natürlich. Sie können sich nicht vorstellen, wie mies mir zumute ist.« »Es ist eben eine durch und durch miese Situation«, stellte der Beamte fest. »Aber es wäre sinnlos, sie noch schlimmer zu machen, als sie ist. Sie sollten jetzt nach Hause fahren, da sind Sie am besten aufgehoben.« »Nach Hause«, sagte Lorna vor sich hin. Als sie eintraf, schlief Professor Kitteridge - oder tat jedenfalls so. Seit etwa einem Jahr, seit Lornas einundzwanzigstem Geburtstag, kümmerte er sich nicht mehr darum, wann sie abends nach Hause kam. Sie mußte sich überwinden, ihn nicht zu wecken, ihm die fürchterliche Geschichte nicht sofort zu erzählen und in seinen Armen Trost zu suchen. Aber sie ging zu Bett, kämpfte mit dem Schlaf, nur um sich im Reich der Alpträume wiederzufinden; schließlich wachte sie auf, laut nach ihm schreiend. »Lorna! Lorna, Liebling!« sagte er beruhigend. »Ist ja schon gut, was immer es ist.« Schluchzend erzählte sie ihm alles, dankbar für seine Gegenwart, für den Schutzwall seiner Schultern. Erst am Morgen, an einem Tag, der zynischerweise sonnenklar war, erzählte sie ihm den Rest, den Aspekt, 55
der ihr noch mehr zu schaffen machte als die physischen Schrecknisse, die sie gesehen hatte. »Ich bin schuld, daß Mark soviel getrunken hat«, sagte sie. »Eigentlich mag er Whisky ja gar nicht. Aber ich hatte ihm gesagt, wie ich mir unsere Heirat vorstelle, nach der Europareise.« »Deine Schuld?« fragte Kitteridge sanft. »Das wäre eine anfechtbare Interpretation, Liebling.« »Wie auch immer, er hat jedenfalls getrunken, und zwar viel. Zuviel. Er ist wild gefahren, wild und rücksichtslos. Als es passierte, muß er neunzig oder hundert gefahren sein - an einer Stelle, wo höchstens sechzig erlaubt sind.« Professor Kitteridge schwieg. »Die Polizei kannte Mark. Wahrscheinlich hat man ihn deshalb nicht gefragt, ob er getrunken hatte.« »Hat man ihn nicht ins Röhrchen pusten lassen?« »Niemand sprach davon. Mark wirkte nicht betrunken - jedenfalls nach dem Unfall nicht. Es war alles schrecklich ernüchternd. Er erwähnte den Alkohol auch nicht, er sagte nichts ...« Sie blickte ihn gequält an. »Er hat wegen seiner Geschwindigkeit gelogen. Er sagte, er sei fünfzig Kilometer in der Stunde gefahren, das stimmt nicht, Daddy.« »Natürlich war er überreizt. In einem solchen Augenblick . ..« »Das ist wohl richtig. Aber er wußte, was er sagte. Er wußte, was es für Folgen haben konnte, wenn er die Wahrheit sagte. Dann wäre es ein Verbrechen, nicht walir?« »Ich glaube, so etwas heißt Totschlag im Straßenverkehr. «
»Könnte er dafür ins Gefängnis kommen?« »Möglich.« Lornas Vater schritt einige Sekunden lang auf und ab, als lege er sich die nächste Frage zurecht. »Und was hast du gesagt, Lorna? Als die Polizei dich wegen des Unfalls befragte?« »Aber das hat sie nicht getan. Niemand hat mich gefragt. Die Beamten sagten, es würde eine Untersuchung stattfinden, um die Tatsachen festzuhalten. Vermutlich muß ich dann aussagen.« »Ja, ganz bestimmt sogar.« In ihren Augen schimmerten Tränen. »Daddy, das bringe ich nicht fertig! Ich kann mich nicht vor all die Leute hinstellen - nicht nach gestern nacht. Ich schaffe es nicht!« »Was nicht, Lorna? Den Leuten zu sagen, was du weißt?« »Wenn du nur Marks Gesicht gesehen hättest! Er war wie ein Kind, wie ein kleiner Junge, der Angst vor Bestrafung hat. Er sagte zu mir: >Du stehst mir doch bei, Lorna, ja?<« »Was hat er damit gemeint?« »Er will, daß ich seine Aussage bestätige - wegen der Geschwindigkeit. Und ich soll nichts von den Drinks sagen.« »Aber der Barmann bei Bruno . ..« »Mark sagt, Bruno spielt das Ganze herunter. Er will keinen Ärger, denn seine Schanklizenz ist auch ziemlich wacklig. Bruno hält den Mund. Mark käme also durch, wenn ich .. .« »Wenn du für ihn lügst, Lorna?« »Daddy, ich liebe Mark! Ich werde ihn heiraten!« 57
»Ah!« machte Kitteridge. »Die Frau ist tot! Nichts kann sie ins Leben zurückrufen - nicht Lüge und nicht die Wahrheit! Wem nützt es etwas, wenn Mark ins Gefängnis muß?« »Du hast natürlich recht. In diesem Fall bringt die Wahrheit nichts, überhaupt nichts.« Sie sah ihn aufmerksam an. »Dann bist du meiner Meinung, Daddy? Wirklich? Ich hatte schon Angst...« »Sie mag nichts bringen, Lorna. Das heißt, außer einem Verlust. Aber darüber mußt du dir allein klar werden, über das Ausmaß des Verlustes. Du weißt, welche Einstellung ich zur Wahrheit habe, was ich dir immer wieder gesagt habe.« Mit bebenden Lippen drehte sie den Kopf zur Seite. »Ja«, sagte sie und zitierte bedrückt: »>Wag's mit der Wahrheit, die Lüge hat niemals Sinn, der Fehler, der sie am dringendsten braucht, wird dadurch doppelt schlimm.<« »Das kleine Verslein hat dir früher gefallen«, sagte ihr Vater. »So hast du die Zeilen noch nie gesprochen. So verächtlich!« »Nein, Daddy! Nicht verächtlich. Nur- hör doch! Ich brauchte ja nicht wirklich zu lügen, oder? Es gibt Möglichkeiten, Lüge und Wahrheit aus dem Weg zu gehen. Ich brauche nicht zu sagen, ob Mark betrunken war - das ist ohnehin etwas Subjektives. Ich brauche nicht zu sagen, daß er zu schnell gefahren ist, wenn man mich fragt. Ich brauche nur ...« »Lorna!« Seine Stimme klang barsch und kompromißlos. »Tu, was du willst, Lorna. Du bist erwachsen und von mir
unabhängig - unabhängig auch von meinen altmodischen Ideen. Lüge ruhig, lüge, wenn du willst. Aber fordere nicht meine Zustimmung dazu.« »Aber Daddy ...« »Hör zu, Lorna! Das ist deine Entscheidung. Bitte mich nicht um meinen Segen!« Er verließ das Zimmer. Gleich darauf begannen die Glocken zu schlagen, begannen die Stunden des neuen Morgens zu zählen. Sie fuhr hoch, als habe sie eine überraschende Stimme gehört. Ihr Gesicht war gequält verzogen. Die amtliche Untersuchung über den Tod Anna Mogers aus der Ridge Road fand im County-Gericht in Oakmont statt, sechs Kilometer von Rushford entfernt. Sie begann an einem Mittwochvormittag um zehn Uhr, aber trotz des Termins waren viele Zuschauer erschienen. Richter Arthur Driscoll, der die Sitzung leitete, schrieb das rege Interesse seinem Freund Professor Kitteridge zu und der Möglichkeit, daß im Zusammenhang mit seiner Tochter ein kleiner Skandal ans Tageslicht kam. Der Respekt der Stadt vor dem Professor schloß den Wunsch nicht aus, daß er mal einen kleinen Schuß vor den Bug bekam. Gegen elf Uhr wurde das Publikum langsam ungeduldig. Sergeant Joe McKeon hatte den Unfall ausführlich geschildert und dabei die Verletzungen der Toten detailliert aufgeführt. Richter Driscoll stellte nun zwei Fragen, die das Interesse der Menge weckten. Die erste lautete: »Sergeant McKeon, sind die Bremsspuren am Unfallort ausgemessen worden, damit die Geschwindigkeit des Fahrzeugs ermittelt werden konnte?«
Der Sergeant wirkte völlig gelassen, als er antwortete: »Nein, Sir. Der Zustand der Straße und der leichte Regen zum Unfallzeitpunkt verwischten den Unterschied zwischen Bremsspur und regulärer Reifenspur. Deshalb wurde keine Messung vorgenommen.« Der Richter runzelte die Stirn und fuhr fort: »Es wurde ausgesagt, der Fahrer des Wagens, Mark Dixon, habe kurz vor dem Unfall das Lokal mit dem Namen Bei Bruno verlassen. Da Brunos Gewerbe darin besteht, hochprozentigen Alkohol auszuschenken, hat da die Polizei bei Mr. Dixon eine Blutprobe gemacht?« »Nein, Sir.« Mehrere Stühle knarrten im Saal. »Sehen Sie, Sir«, fuhr McKeon fort, »wir wußten danals ja nicht, woher Mr. Dixon kam. Wir wußten nur, laß Mrs. Moger tot war. Mr. Dixon wirkte nicht so, als hätte er getrunken. Er kam mir nüchtern vor wie ein Richter.« Richter Driscoll räusperte sich trocken. Dann machte Mark Dixon seine Aussage. »Ja, wir - Miss Kitteridge und ich - verließen Bei Bruno etwa eine halbe Stunde vor dem Unfall. Ich hatte ein Glas getrunken, einen Whisky Sour. Sie können Mr. Bruno danach fragen, er hat mich persönlich bedient.« Der Lokalbesitzer und Barmann, der in der zweiten Reihe saß, verlagerte den Mantel von einem Knie auf das andere. Sein unschuldiger Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, daß er die Aussage bestätigen würde. »Als ich die Route 24 erreichte, beschloß ich die Ridge Road zu nehmen, als Abkürzung in die Stadt. Ich fuhr zwischen vierzig und fünfzig Kilometer und weiß noch, daß ich das Tempo drosselte, als der Regen begann. Ich 60
hatte die Scheibenwischer eingestellt, als ich über den Hügelkamm kam, meine Sicht war also gut. Trotzdem sah ich Mrs. Moger nicht, ehe sie unmittelbar vor dem Wagen auf die Straße trat. Es geschah blitzschnell, schon knallte sie gegen die Windschutzscheibe. Ich trat sofort auf die Bremse, aber da war es längst zu spät.« Er preßte die Faust an den Mund und starrte mit reuig-tragischem Blick zu Boden. In der ersten Reihe brach Professor Kitteridge das gebannte Schweigen mit einem trockenen Hüsteln. Dieser Laut schien Richter Driscoll ebenfalls aus einer Art Lethargie zu reißen. »Miss Lorna Kitteridge bitte in den Zeugenstand«, sagte er. Darauf hatte die Menge natürlich gewartet. Das hübsche Kitteridge-Mädchen (sieht sie nicht schrecklich bleich aus?), kaum ein Jahr aus dem College, und schon beim Trinken in der Kneipe. Man verdrehte sich die Hälse, um die Tochter des berühmten Mannes besser sehen zu können, während Lorna der Aufforderung des Richters mit langsamen Bewegungen nachkam. »Miss Kitteridge, Sie waren am Abend des Unfalls in Mr. Dixons Begleitung?« »Ja.« Schon dieses kurze Wort schien ihr Mühe zu machen. »Wann etwa trafen sie bei Bruno's ein?« »Gegen neun Uhr. Kurz nach zehn Uhr fuhren wir wieder.« »Und haben Sie etwas getrunken?« »Ja«, antwortete das Mädchen. »Einen Whisky Sour.« »Dasselbe wie Mr. Dixon.« »Ja.« Sie stellte fest, daß Mark sie mit Blicken förmlich aufspießte, konnte sich aber nicht abwenden. 61
»Als Mr. Dixons Wagen sich Mrs. Mogers Einfahrt näherte, haben Sie da die Frau gesehen, ehe es zu dem Unfall kam?« »Nein. Ich bemerkte sie erst, als es passierte, als sie gegen die Windschutzscheibe prallte. Selbst dann war ich nicht sicher, was geschehen war, es ging alles so schnell.« »Wußten Sie, wie schnell der Wagen fuhr?« Marks Blick fesselte sie; trotzdem löste sie sich aus seinem Bann. »Ich weiß nicht genau, wie schnell wir fuhren«, sagte sie. »Würden Sie bitte einmal schätzen«, sagte der Richter langsam. »Mr. Dixon meint, es seien zwischen vierzig und fünfzig Stundenkilometer gewesen. Sind Sie auch dieser Ansicht?« Nur ein winziger Muskel zuckte im Gesicht ihres Vaters. Sein Kopf machte nur eine kleine Bewegung, trotzdem schien sich der eckige graue Bart zornig vorzurecken. »Nein«, flüsterte Lorna. »Das kann nicht stimmen. Es waren eher achtzig oder neunzig.« Das erschrockene Luftholen des Publikums schien allein aus Marks offenem Mund zu kommen. »Neunzig? Miss Kitteridge, ich hoffe, Sie haben sich diese Antwort gut überlegt.« »Ja«, sagte sie matt. »Wir fuhren mindestens so schnell. Erst wenige Sekunden vorher hatte ich auf den Tachometer geschaut. Ich ermahnte Mark wegen der Geschwindigkeit. Er wollte aber nicht auf mich hören. Er war dazu nicht aufgelegt. Er war wütend und betrunken.« »Lorna!« Es war kein Wutschrei und auch kein klagender Aufschrei; Mark stand einfach auf und brüllte ihren Namen. »Es ist die Wahrheit! Die Wahrheit!« schluchzte Lorna.
»Ich kann nicht anders! Er hat getrunken! Er hatte fünf Drinks bestellt und war betrunken! Er fuhr wie ein Wahnsinniger, so sehr ich ihn auch davon abzuhalten versuchte. Er dachte natürlich nicht, daß zu so später Stunde eine Frau auf der Straße sein würde - und er hörte nicht auf mich!« Der Richter hatte keinen Hammer mitgebracht; er hatte ihn nicht für nötig gehalten. Jetzt hätte er ihn gebraucht, um die erregte Menge zu beruhigen. McKeon setzte seine dröhnende Stimme ein, aber das Durcheinander war beinahe total. Kitteridge, dem die Gerichtsvorschriften gleichgültig waren, eilte zum Zeugenstand und nahm seine schluchzende Tochter in die Arme. Nur Mark Dixon schien von der Aufregung unberührt zu sein. Er stand stocksteif an seinem Platz, sein Gesicht zu einem Ausdruck erstarrt, den er noch in mehreren Gerichtssälen zur Schau stellen sollte. Vor dem eigentlichen Prozeß sah Lorna ihn nur noch einmal. Es war eine Zufallsbegegnung im Korridor vor der Praxis der Anwälte Grierson & Moore, die Marks Verteidigung übernommen hatten. Eine Sekunde lang verflog der Groll, den er seit der Untersuchung gegen Lorna gehegt hatte. Beinahe hätte er sie in die Arme genommen. Allerdings war Professor Kitteridge anwesend; seine mißbilligenden grauen Augen hielten ihn von der Geste ab. »Lorna, könnte ich dich mal einen Augenblick allein sprechen?« Sie blickte ihren Vater an. »Hören Sie, Mark«, sagte dieser. »Ich weiß, wie Ihnen zumute sein muß.«
»Was ich zu sagen habe, möchte ich Lorna allein mitteilen, Professor Kitteridge.« Der Professor nickte, entfernte sich aber nur ein kleines Stück. Mark senkte die Stimme und sagte: »Um Himmels willen, Lorna, wie hast du das nur tun können?« Sie antwortete nicht. »Weißt du, was behauptet wird? Der Klatsch in der Stadt? Es heißt, wir hätten uns gestritten, wie das zwischen Liebenden üblich ist, und du wolltest mir eins auswischen.« »Du weißt, daß das nicht stimmt, Mark!« »Ja! Aber die andere Erklärung ergibt noch viel weniger Sinn. Daß du einfach nicht anders konntest, daß du die Wahrheit sagen mußtest!« »Es ist mir nicht leicht gefallen. Lügen wäre einfacher gewesen.« »Eine kleine Lüge! Mehr brauchtest du nicht auf dich zu nehmen. Hast du soviel Angst vor der Hölle, daß du nicht einmal für mich lügen wolltest?« »Ich rechne nicht damit, daß du mich verstehst!« »Aber ich verstehe dich doch! Vielleicht sogar besser als du selbst. Es war seine Idee, nicht wahr? Die hübsche Schau vor Gericht. Professor Kitteridges kleine Tochter sagt immer die Wahrheit!« »Bitte, Mark!« Er umfaßte ihre Arme, eine Geste, die Kitteridge aufmerken ließ. Aber der alte Mann blieb stehen; er wartete ab, was nun geschehen würde. »Er hat dir eingeschärft, die Wahrheit zu sagen, nicht wahr? Er veranlaßte seinen Freund, den Richter, dich ins Verhör zu nehmen. Er nannte dir alle möglichen 64
hochgestochenen ethischen Gründe, die dafür sprachen, die Wahrheit zu sagen, nichts als die Wahrheit! Alle möglichen Gründe - nur den wirklichen nicht.« »Ich habe mir das selbst überlegt! Ich kann nicht lügen, Mark, nicht einmal für dich, für niemanden! Ich dachte, daß ich es könnte, aber das war ein Irrtum.« »Dein Vater wußte, was geschehen würde! Die Wahrheit würde uns trennen. Und das war sein eigentliches Ziel, Lorna. Das ist die Wahrheit, von der er dir nichts gesagt hat.« Er schien nicht zu merken, daß er sie zu schütteln begonnen hatte. Er ließ sie los; gleichzeitig machte sie kehrt und hastete durch den Korridor davon. Der Prozeß dauerte vier Tage, und Mark Dixon wurde des Totschlags mit einem Fahrzeug für schuldig befunden. Das Urteil lautete auf die Höchststrafe von fünf Jahren Gefängnis. Die freundlichen Anwälte von Grierson & Moore versprachen ihrem Klienten die sofortige Revision und versicherten ihm, daß, sollte die Revision scheitern, sein Verbrechen so geartet war, daß er bestimmt früh begnadigt wurde. Sechs Monate später trug Mark Dixon noch immer Gefängniskleidung. Professor Kitteridge verbrachte diese sechs Monate ebenfalls nicht ganz unbeschwert. Die Gicht in seinem Bein wurde schlimmer, und er mußte zum Gehen einen Stock benutzen. Widerstrebend hatte er die Europareise abgesagt, zum Nachteil seiner Selbsteinschätzung und seines Geldbeutels, doch nicht nur wegen der Gicht. Lorna war nicht ganz gesund. Krank war sie auch nicht. Physische Symptome gab es wenig. Es handelte 65
sich vielmehr um jenes nachhaltige Leiden, das man »Erschöpfung« nennt. Kitteridge wußte, daß die Gründe dafür emotional waren, und Lorna ebenfalls, doch keiner von beiden schlug die Behandlung vor, die auf der Hand lag. Kitteridge hatte nichts gegen die Psychiatrie. Er hatte sogar einmal ein gescheites Buch zum Thema Shakespeare und Freud verfaßt, doch die Vorstellung, Lorna solchen Einflüssen auszusetzen, war ihm widerlich. Sie mußte vergessen, ja, das war das Richtige. Sie mußte aufhören, sich wegen Mark Dixon schuldig zu fühlen. Sie mußte eine neue Lebenseinstellung finden. Sie hatte einen einzigen Versuch gemacht, Mark im Gefängnis zu besuchen, ein Angebot, das sofort und geradezu heftig abgelehnt worden war. Ein Brief war von ihm gekommen, ein kurzes, barsches Dokument, das er in seiner dritten Woche im Gefängnis verfaßt hatte. Der Text stellte mit brutaler Deutlichkeit klar, daß er ihre Besuche und ihr Mitleid nicht wollte. Er wünschte ihr Glück mit ihrem hochgestochenen Vater und gratulierte ihr zu ihrem edlen Charakter. Als sie diesen Brief erhielt, weinte Lorna zum erstenund einzigenmal seit dem Prozeß. Mit dem Ablauf dieses schlimmen halben Jahres erkundigte sich Professor Kitteridge bei Richter Arthur Driscoll, ob ein Gefangener auch gezwungen werden konnte, einen Besucher zu empfangen. Der Richter meinte, das sei nicht ohne Präzedenzfall, unter gewissen Umständen. So schaffte es Kitteridge, mit Mark Dixon zu sprechen. Beim Anblick seines gepflegten Besuchers runzelte Mark die Stirn und wollte sich nicht dem Gitter nähern, 66
das Gefangene und Besucher trennt. Dann zuckte er die Achseln und setzte sich doch. »Anscheinend habe ich keine Rechte mehr«, sagte er trocken. »Obwohl ich schon so lange hier bin, kann ich nicht vergessen, wie es ist, über seine Handlungen und Gesprächspartner selbst zu entscheiden.« »Ich habe besondere Gründe«, sagte Kitteridge. »Es geht um die Gesundheit.« »Wessen Gesundheit?« »Lornas.« Mark zuckte nicht mit der Wimper. »Vermutlich macht sie sich meinetwegen Vorwürfe. Nun, meine Nächte sind angefüllt mit süßen Träumen, Professor, und in einem davon spielt sie die Hauptrolle. Sagen Sie ihr das.« »Ich möchte, daß Sie sie empfangen, Mark.« Mark lächelte. »An Ihrer Stelle würde ich nicht darauf bestehen, Professor Kitteridge. Ich habe Ihrer Tochter keine Nettigkeiten zu sagen.« »Mark, Sie haben Lorna mißverstanden. Es war natürlich nicht zu erwarten, daß Sie ihrem Verhalten vor Gericht beipflichten würden. Aber wenn Sie einmal genau darüber nachdenken, über die Ideale, von denen sie sich leiten ließ ...« »Wessen Ideale waren das? Ihre oder Lornas?« »Muß es da eine Trennung geben?« »Ja!« sagte Mark heftig. »Dabei können Sie das gar nicht, Professor! Lorna ist Ihr Geschöpf, Sie haben sie zwischen ihrer Ethik und ihren Instinkten hängenlassen. Vermutlich sind Sie noch stolz auf das Ergebnis, aber es ist alles nur Fassade!« Kitteridge richtete sich auf. »An Lorna ist nichts Fassade! Ihre Prinzipien . ..« 67
»Sie bildet sich vielleicht ein, daß sie Prinzipien hat! In Wirklichkeit hat sie nur Sie, Professor - das leuchtende Vorbild. Sie möchte, daß Sie sie lieben und bewundern, deshalb benimmt sie sich so, wie Sie es wollen. Daddys kleine Tochter - sagt immer die Wahrheit!« »Ja«, sagte Kitteridge gepreßt. »Ja, das tut sie.« »Und ihr Vater? Was ist mit dem?« »Ich verabscheue Lügen.« »Sie belügen sich nicht einmal selbst, wie? Aber sagen Sie mir eins. Waren Sie nicht glücklich, als Lorna und ich auseinandergingen? Hat das nicht ihr trautes Heim gerettet?« Der Professor stand auf. »Ich sehe ein, daß mein Herkommen ein Fehler war, Mark. Es tut mir leid.« »Sie sind ein Heuchler!« rief Mark. »Die ganze Sache ist Ihre Schuld, Kitteridge! Das ist die Wahrheit. Ihre Schuld!« Er brüllte noch, als sein Besucher längst gegangen war. Mark Dixon wurde ein Jahr und drei Wochen nach dem Tag, an dem er das Gefängnis betreten hatte, entlassen. In Rushford sprach sich diese Nachricht schnell herum, gefolgt von erwartungsvoller Spannung bei allen Leuten, die ihn kannten, eine Stimmung, die bei Ankunft jedes Zuges einen neuen Höhepunkt erreichte. Mark Dixon aber kehrte nicht nach Hause zurück. Gut zwei Monate lang hörte man nichts von ihm oder über ihn. Dann aber erklang Marks Name wieder, und zwar von den Lippen Harold Pryors. Der Verleger besuchte Professor Kitteridge, um die Annotation einer neuen Shakespeare-Ausgabe zu besprechen, und sagte in einer Ge68
sprächspause: »Wissen Sie, Douglas, da beginnt jemand bohrende Fragen über Sie zu stellen.« »Fragen? Wer denn?« »Dieser Dixon - der Kerl, der den Autounfall hatte. Zum Beispiel hat er mit Merrit-Hobbs gesprochen, den Leuten, die Ihre ersten Bücher herausgebracht haben. Und mit Angehörigen meines Personals. Er versuchte sogar, einen Termin mit mir zu bekommen, ich habe ihn aber abgewiesen.« Beunruhigt zupfte sich Kitteridge am Bart. »Was er wohl will? Er ist ein verbitterter junger Mann.« »Ich habe mit George Merrit gesprochen. Er wußte nichts von Lorna und Dixon. Er hielt Dixon für einen Artikelschreiber, der biographisches Material sammelt. Seiner Meinung nach wußte er verflixt viel über Sie, Douglas.« Der Professor brummte vor sich hin. »Das bezweifle ich nicht. Sehr unschön, daß jemand wie der in meinem Leben herumschnüffelt.« »Was bezweckt er damit?« »Schwer zu sagen. Vermutlich Rachsucht. Er hofft, in meiner Vergangenheit etwas Unangenehmes zu finden.« Pryor lachte leise vor sich hin. »Meinen Sie, er kann fündig werden?« Stirnrunzelnd blickte Kitteridge auf den Umschlagentwurf in seiner Hand. »Das ist für eine Shakespeare-Edition zu reißerisch, Harold, meinen Sie nicht auch?« Seiner Tochter gegenüber erwähnte er Pyrors Neuigkeit nicht. Er sprach ungern über Mark Dixon: der Mann war ein Gespenst, das er für immer aus seinem Haus vertreiben wollte. 69
Aber der Geist war beharrlich. Eines Tages kam Lorna von einer Fahrt in die Stadt zurück und brachte die Post mit. Sie gab ihm einen kleinen weißen Umschlag, der in New Haven aufgegeben worden war. »Von Mark«, sagte sie tonlos. »Hat er tatsächlich geschrieben?« »Der Brief ist an dich gerichtet«, sagte sie. Er riß den Umschlag auf und las hastig die kurze Nachricht. Lorna wartete schweigend. »Viel schreibt er nicht«, sagte Kitteridge. »Er möchte mich am Neunten besuchen.« Sein Blick wanderte zum Kalender. »Das wäre ja heute! Er sagt nicht, was er will, nur daß er mich gegen neun Uhr sprechen muß.« Es muß Lorna hoch angerechnet werden, daß sich ihr Gesichtsausdruck nicht veränderte. »Da bin ich lieber nicht hier«, sagte sie. »Natürlich, ganz, wie du willst, Liebling. Ich rechne nicht damit, daß es ein angenehmer Plausch wird, nicht nach unserem letzten Gespräch im Gefängnis ...« Er stockte, als ihm einfiel, daß er ihr von seinem Besuch bei Mark Dixon nichts erzählt hatte. Lorna blickte ihn seltsam an, und er fuhr fort: »Vielleicht hätte ich es dir erzählen sollen. Vor etwa sechs Monaten habe ich Mark besucht. Ich hatte Arthur Driscoll gebeten, mir das zu ermöglichen.« »Warum, Daddy?« »Ich weiß es eigentlich nicht. Jedenfalls verlief die Sache sehr unangenehm.« »Du hast es meinetwegen getan. Du wolltest ihn dazu bringen - mich zu verstehen.« »Ich tat, was ich für richtig hielt, Lorna!« »Natürlich!« 7°
»Lorna, Mark legt mir dein Verhalten vor Gericht zur Last, das dürfte klar sein. Er konnte sich nicht eingestehen, daß deine eigene Wahrheitsliebe dahintersteht.« »Meine Wahrheitsliebe?« Sie lachte, und der rauhe Klang ihrer Stimme erschütterte ihn. »Daddy, du selbst hast mich nie richtig verstanden, wie könntest du mich da einem anderen gegenüber erklären? Ich habe nicht die Wahrheit geliebt, sondern Mark!« »Du hast getan, was du tun mußtest. Was dein Gewissen dir vorschrieb.« Er machte einen Schritt in ihre Richtung und streckte die Hand aus. »Lorna! Ich dachte, wir wären uns einig, dieses abgedroschene Thema fallen zu lassen.« »Mein Gewissen?« fragte sie leise. »Habe ich mein Gewissen beruhigt, Daddy? Die kleine leise Stimme in mir?« »Die sich aber zu einer sehr lauten Stimme auswachsen kann, Liebling, zu einer zwingenden Stimme!« »Aber ich höre sie noch immer!« rief Lorna. »Sie spricht noch immer auf mich ein. Und weißt du, was sie sagt? >Du Dummkopf! Du Dummkopf!<« Auf Lornas Tränen war er nicht gefaßt, ebensowenig auf ihren schnellen Abgang. Ausdruckslos starrte er auf die Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte, dann zerknüllte er Mark Dixons Brief in der Hand. Ihm war gleichgültig, wo Lorna den Abend verbrachte, im Haus einer Freundin oder im Kino, solange sie sich nur nicht dort aufhielt, wo Mark Dixon sein Wiedererscheinen in Rushford angekündigt hatte. Um 21.40 Uhr klingelte es. Kitteridge, dessen Bein heute abend besonders schmerzte, humpelte auf den
Stock gestützt zur Tür. Eine bewußte Willensanstrengung war erforderlich, um den Knauf herumzudrehen. Mark hatte sich verändert. Obwohl er es hätte voraussehen müssen, war der Professor überrascht. Der kurze Gefängnisaufenthalt hatte den anderen Gewicht, Farbe und den Glanz der Augen gekostet. Sein Gesicht war eingefallen und die Lippen bildeten eine entschlossenere Linie. Die Stimme aber klang durchaus normal, war fast ganz der alte Mark. »Nett von Ihnen, daß Sie mich empfangen, Professor. Ich wußte nicht, wie Sie auf meine Ankündigung reagieren würden - nach unserem letzten Gespräch.« »Treten Sie ein«, sagte Kitteridge energisch. »Ich hoffe nicht, daß Sie Lorna zu sehen erwartet haben; sie ist nicht hier.« »Nein«, sagte Mark. »Mit ihr habe ich nicht gerechnet.« Sie gingen ins Wohnzimmer, und Kitteridge kehrte den aufmerksamen Gastgeber hervor und bot dem anderen einen Drink an. Mark entschied sich für einen Whisky on the Rocks. Er dankte höflich und erkundigte sich nach dem Befinden des anderen, dann setzten sie sich. »Nun?« fragte Kitteridge. »Kommen Sie doch bitte gleich zur Sache.« »Ja«, sagte Mark. »Zur Sache, Professor. Ich bin hier wegen der Wahrheit.« Der Professor stieß einen müden Laut aus. »Mißverstehen Sie mich nicht«, sagte er. »Solche -philosophischen Diskussionen sind das A und O für alte Universitätsstreitrösser wie mich. Aber im Augenblick habe ich genug von dem Thema. Wirklich genug.« Der jüngere Mann grinste. »Das könnte ich auch von mir sagen. Ich habe gerade eine zweimonatige Suche nach
der Wahrheit hinter mir, Professor, es waren lange und anstrengende Wochen. Und ich glaube, ich weiß endlich, was ich wissen wollte.« »Sie haben in meiner Vergangenheit herumgeschnüffelt, nicht wahr?« Kitteridge rieb den weißen Elfenbeinlöwen, der den Griff seines Stocks zierte. »Nun, ich hoffe, Sie hatten Spaß daran.« »Nein«, antwortete Mark. »Nicht besonders, Professor. Wissen Sie, ich machte den Fehler, mit Ihren Feinden zu sprechen. Mit den Verlegern, die von Ihnen im Stich gelassen wurden, den Freunden, zu denen Sie nicht mehr gehen, den Gelehrten, mit denen Sie sich gestritten haben.« »Und dabei erfuhren Sie was?« »Daß Ihre Feinde die Wahrheit, die ich suchte, nicht kannten.« Mark grinste breit. »Die kannten nur Ihre Freunde. Zum Beispiel Avery Hays.« Es gab keine Möglichkeit, die Reaktion zu verbergen. Wer von einem Schlag getroffen wird, zuckt zusammen, und Kitteridges Gesicht errötete vom Schmerz der Erkenntnis. Avery Hays! »Seltsam«, sagte Mark Dixon, »wie wenig Leute überhaupt noch den Namen des armen alten Mannes kannten, obwohl Sie ihm Ihr viertes - oder war es das fünfte? Buch widmeten. George Merrit kannte ihn natürlich. Mr. Merrit nannte Sie seinen >Förderer<, Professor. Er sagte, Hays wäre ein Alkoholiker gewesen, um den Sie sich jahrelang gekümmert hätten.« »Er war mein Freund«, sagte Kitteridge heiser. »Ja, er war ein guter Freund von Ihnen, und Sie behandelten ihn gut. Das ist ein Kapitel Ihrer Vergangenheit, 73
auf das Sie in jeder Beziehung stolz sein können, nicht wahr? Ich weiß nicht, warum ich mich so für diesen unwichtigen Mann interessierte.« »Avery ist seit zehn Jahren tot. Zum Teufel, was wollten Sie von ihm?« »Nichts, Professor. Ich dachte mir nur, daß ein solcher Mann ein wenig Anerkennung verdient hätte, und wenn auch nur für seine frühere Verbindung zu Ihnen. Ich sprach also mit Leuten, die ihn kannten, mit seinen alten Kumpeln, seiner Familie - sein Bruder lebt noch, wissen Sie, ein zittriger alter Knabe in der Intensivstation des County-Krankenhauses. Er heißt Ezra, der passende Name für den Kerl, und wissen Sie was? Er besitzt noch immer den alten Kram, den Avery bei seinem Tode hinterließ - eine lächerliche Sammlung von Büchern und Papieren.« Kitteridge stützte sich schwer auf seinen Stock. »Sie erwarten doch hoffentlich nicht, daß ich das glaube. Avery hat nie etwas aufbewahrt, nichts. Er war ein törichter, betrunkener alter . . . » »Aber er war zugleich genial, nicht wahr? Er kam durch ein Stipendium an die Universität. Sie konnten ihn auf der Liste der ehrenvollen Erwähnungen nur überrunden, weil er Alkoholiker war.« »Sie sprechen über Ereignisse, die vierzig Jahre zurückliegen!« »Er war ein Trunkenbold, und er war unehrlich, richtig? Damit finanzierte er sein wildes Leben. Er verkaufte seine Gelehrtendienste an jeden, der dafür bezahlen konnte!« Kitteridge rieb sich das Bein, aber der Schmerz ließ sich nicht eindämmen, breitete sich jetzt auch auf Brust, Arme und Rücken aus. 74
»Mark, ich fühle mich gar nicht besonders«, sagte er. »Wenn Sie nichts dagegen haben ...« »So ungewöhnlich war das gar nicht. Wahrscheinlich geht heute Ähnliches vor. Jedenfalls meinte das Avery in seinem Brief - ein Brief, den er an eine gewisse Jean schrieb. Ich weiß nicht, wer Jean war oder warum Avery den Brief nie abschickte. Jedenfalls liegt das Schreiben vor. Avery erwähnt darin, er verdiene ganz gut, fünfzig, hundert Dollar im Monat, und könne sicher vor dem Ende des Semesters seine Schulden ganz zurückzahlen. Dann erwähnte er die Doktorarbeit, eine umfangreiche Sache. Für diesen Job allein rechnete er mit zweihundert. Wissen Sie, welche Arbeit er meinte, Professor?« »Bitte gehen Sie!« flüsterte Kitteridge. »Ich habe genug von diesem Schmutz!« »Die Sieben Geheimnisse Shakespeares«, sagte Mark lächelnd. »Klingt wie ein Kriminalroman. Dabei war es ein vorzügliches Stück Arbeit, weit mehr als eine Dissertation. Der Text wurde als Buch weltberühmt. Er begründete den fachlichen Ruf eines Wissenschaftlers. Ihren Ruf, Professor.« »Lügner!« rief Kitteridge. Mark Dixon stand auf. »Ja«, sagte er leise. »Darum geht es, Professor. Um Wahrheit und Lüge!« »Verschwinden Sie!« »Sie haben Avery für die Arbeit bezahlt und schrieben Ihren Namen darunter. Sie hätten den Text sicher auch selbst verfassen können, aber Sie waren jung und faul und hatten genug Geld. Dann entdeckten Sie den wahren Wert der Sache, und da war es für beide zu spät. Der weitere Lauf der Dinge stand fest.« »Mark!« sagte Kitteridge mit einer Stimme, die kaum 75
wiederzuerkennen war. »Verlassen Sie mein Haus! Verschwinden Sie!« »Ich gehe ja schon, Professor, ich gehe. Ich wollte Ihnen nur diese kleine Geschichte über die Wahrheit erzählen. Ich hoffte, daß Sie Spaß daran hätten. Und ich wollte Ihnen noch etwas sagen. Ich habe Avery Hays' Brief'!« Über den beiden Männern dröhnte der erste Glockenschlag vom Turm und begann die zehnte Stunde zu verkünden. Mark Dixon blickte grinsend zur Decke und betastete seinen Hut. »Wem die Stunde schlägt«, sagte er. Bong! Mark machte kehrt und ging zur Tür. Bong! hallte es durch das Haus. Kitteridge, dessen Augen unnatürlich funkelten, folgte ihm mit zwei schnellen Schritten. Bong! dröhnte die Glocke, als er den Elfenbeinlöwen in die Luft schwang und auf den Kopf des jungen Mannes niedersausen ließ. Der Schlag ließ Mark Dixon taumeln, und er stolperte, als die Glocke erneut anschlug. Kitteridge schlug wieder zu, diesmal gegen Marks Schläfe, und ließ das Blut über seine Stirn spritzen. Bong! vibrierte die riesige Glocke, als Mark schlaff auf den Teppich sank, während seine Augäpfel blicklos herumrollten. Kitteridge, eingehüllt in jenen allesverdeckenden roten Nebel des Mordens, ging kein Risiko ein und schlug erneut zu, und bong! hallte die Glocke vom hohen Turm. -»Daddy! Daddyl« Der Nebel verzog sich, und er sah Lorna in der Tür stehen. Ihre Augen wanderten hin und her, sahen alles. »Lorna«, flüsterte er, während die Glocke von neuem erdröhnte. »Lorna, Gott sei Dank, daß du hier bist! Du
hast gesehen, was geschehen ist, was dieser verrückte Idiot mir antun wollte, ...« Sie kam in den Raum, und die Glocke hallte vibrierend, und sie preßte die Hände über die Ohren. »Lorna, du hast doch alles gesehen!« rief Kitteridge. »Du weißt, wie sehr Mark mich haßte! Er hat mich angegriffen. « Lorna senkte langsam die Hände und starrte ihren Vater an. »Er hat mich angegriffen!« brüllte Kitteridge durch den letzten Schlag der Glocke. »Er wollte mich umbringen! Deshalb habe ich es getan, Lorna! Deshalb habe ich ihn niedergeschlagen!« Er umfaßte ihre Oberarme. Seine Tochter bewegte den Kopf hin und her. Sie löste sich aus seinem Griff, trat zurück und schüttelte den Kopf. »Nein!« sagte sie verbittert. »Nein, Daddy. Ich habe es genau gesehen. Du hast Mark ermordet. Das ist die Wahrheit. Du hast mir immer eingeschärft, ich soll die Wahrheit sagen. Das ist das einzig Wichtige - die Wahrheit!«
Terror will geplant sein heftig aufwallenden Zorn hatte Lou Spencer Iman ersten, eine Waffe gedacht. In der Pension, in der er wohnte, hatte er seinen Schrank demoliert, als er ein Kriegssouvenir suchte, das er aus Iwojima mit nach Hause gebracht hatte, aber er fand nur ein rostzerfressenes Relikt, das zur Vergeltung nicht taugte. Doch das machte nichts, denn in dem Moment, als er sich hinter das Steuer seines Buick setzte, merkte er, daß er eine viel wirksamere Waffe hatte. Er packte das Lenkrad, als handle es sich um den Griff eines Maschinengewehrs, und lenkte den Wagen nach Osten, hin zur Hochzeit seiner Exfrau, Jenny, mit Harry Lake. Während er dahinfuhr, verspürte er in seinem Magen ein Gefühl der Übelkeit, das aber nichts mit seinen gewalttätigen Absichten zu tun hatte. Ihm wurde vielmehr schlecht bei dem Gedanken, daß er ums Haar diese Gelegenheit verpaßt hätte. Wäre nicht Thelma, Jennys ehemalige Zimmergenossin, gewesen, hätte er nie von den Heiratsplänen erfahren; die beiden wären womöglich in eine rosa Wolke ehelicher Glückseligkeit entschwunden und nie wieder aufgetaucht. Gott sei Dank gab es Thelma. Lou lachte zufrieden und segnete ihre gute Nase. Er hatte sie früher verflucht, da ihre Besitzerin die Angewohnheit hatte, sie in Dinge zu stecken, die sie nichts angingen, aber jetzt segnete er sie. Gute alte Spürnase. Gute alte geschwätzige Thelma. Sein Glück hielt an. Gegenüber dem Mietshaus, wo die 78
Zeremonie stattfand, war ein Parkplatz frei, in BuickGröße. Er parkte den Wagen rückwärts ein, schaltete die Zündung aus und wartete. Wie Thelma sagte, war die Hochzeit auf zwölf Uhr angesetzt; jetzt war es zehn vor zwölf. Zeit nachzudenken. Er dachte über Jennys Gesicht nach, die großen Hundeaugen und den zarten Mund, das zerzauste braune Haar, das sein Gesicht kitzelte, wenn sie sich küßten. Die Erinnerung daran ließ ihn die Augen schließen. Zwei Jahre lang hatte er versucht, Jenny dazu zu bringen, ihn zu lieben. Als ihm das nicht gelang, versuchte er, sie dazu zu bringen, ihn zu fürchten. Das war ihm gelungen. Aber dann tat sie das Unerwartete: sie bat ihn um die Scheidung. In einem Gerichtssaal hatte er den zarten Mund Worte der Bitternis und des Hasses ausstoßen hören; danach hatte er das Urteil des Richters vernommen: Der Antrag ist angenommen. Begründung: Grausamkeit. Grausamkeit! Sie wußte nicht, was Grausamkeit war. Hinter dem Steuerrad sitzend, knurrte Lou Spencer sein Gesicht an, das sich in der Windschutzscheibe geisterhaft spiegelte. Er hatte sie gewarnt vor dem, was geschehen würde, falls sie wieder heiratete. Er hatte ihr gesagt, wie er sie dafür bestrafen würde. Wenn er sie nicht halten konnte, war das eine Sache. Aber in den Armen eines ändern ... »Harry Lake«, hatte Thelma gesagt. »Wer?« Er hatte die Frage so nebenbei gestellt. Sie hatten sich durch Zufall (Schicksal!) in einer Cocktailbar im Stadtzentrum getroffen. Er erkannte sie an dem großen Schlapphut wieder, am schrillen Lachen, an der spitzen neugierigen Nase. Mit all der Nonchalance, die er aufbringen konnte, hatte er sich zu ihr gesellt, um Neues über Jenny zu erfahren. 79
»Harry Lake«, hatte Thelma gesagt. »Er arbeitet in Jennys Büro. Hast du nichts davon gewußt?« »Nein«, hatte er leichthin geantwortet. »Ich habe sie ein bißchen aus den Augen verloren.« »Sie heiraten am Freitag, um zwölf. Ohne großes Trara; Jenny hat nicht einmal mich eingeladen. Im Haus von Harry wohnt ein Friedensrichter. Danach gehts ab nach Kanada.« Sie fing an, ein Gesicht zu machen, als sei sie unsicher, ob sie nicht zuviel gesagt hatte. Er lächelte beruhigend und sagte: »Ich hoffe wirklich, daß sie glücklich wird. Jenny verdient es.« »Ja«, meinte Thelma abwesend. Jenny verdient es, dachte Lou Spencer und fingerte am schwarzen Lenkrad herum. Er hatte Harry Lake im Telefonbuch gefunden. Das Mietshaus lag am oberen Ende der Park Avenue. Er warf erst einen flüchtigen Blick auf das Gebäude, danach auf seine Uhr. Es war zehn Minuten nach zwölf. Um zwölf Uhr dreißig grinste der Pförtner das junge Paar an, das das Haus verließ. Lou brauchte ihr Gesicht nicht zu sehen, um zu erkennen, daß es Jenny war. Harry Lake schaute er nicht einmal an; wie Lake aussah, wollte er gar nicht wissen. Der Pförtner nahm Jenny den kleinen Koffer aus der Hand und trug ihn zu dem taubenblauen Chevvy, der unweit vom überdachten Eingang des Gebäudes geparkt war. Er legte ihn auf den Rücksitz; er hielt auch die Tür auf, während Harry Lake sich ans Steuer setzte. Nachdem Jenny eingestiegen war, tippte er an seine Mütze und winkte hinter dem wegfahrenden Chewy her. Lou wartete nur, bis das Auto an der nächsten Ecke war, dann drehte er den Zündschlüssel. 80
Der Verkehr war genau richtig. Nicht so dicht, daß er sie verlieren würde, nicht so spärlich, daß ihnen der Buick in ihrem Rücken auffallen würde. Er mußte auch nicht befürchten, Jenny würde den Wagen erkennen; er war sechs Monate nach der Scheidung gekauft worden. Alles klappte so gut, daß Lou überzeugt war, sein Handeln werde von einer höheren Macht gebilligt. Es dauerte sehr lange, bis er zum Zug kam. Der Chevvy rollte in mäßigem Tempo dahin, den ganzen West Side Highway hinauf, weiter auf dem Saw Mill Parkway, so als sei sich Harry Lake seiner kostbaren Fracht überaus bewußt. Der Verkehr sauste an dem Chewy vorbei, aber Lou Spencer folgte dessen Beispiel der Mäßigung. Endlich kam die Belohnung in Sicht, in Form eines abzweigenden Highways, der sich zur Rechten eines Bergs in einer langgezogenen Kurve am Rand eines großen, steil abfallenden Dammes entlangzog. Sanft drückte Lou Spencer den Fuß aufs Gaspedal, bis die Nase des Buick nur noch wenige Meter von ihrem Ziel entfernt war. Der Chewy wurde langsamer, ganz so, als glaube Harry Lake, er versuche ihn zu überholen. Lou grinste und drehte das Lenkrad nach links, um sich im seitlichen Abstand von wenigen Zentimetern neben den anderen Wagen zu setzen. Für einen flüchtigen Moment sah er das Gesicht des Bräutigams, gerade lange genug, um die Verärgerung auf seinen Zügen zu erkennen; dann, am Scheitelpunkt der Kurve riß er das Steuer nach rechts und sah Harry Lake dieselbe Bewegung machen. Er hörte Jennys zornigen Schrei, noch ohne Angst darin. Die Angst würde später kommen. Er setzte sich vor den Chevvy; Harry Lake brüllte in seine Richtung, und er hörte die Reifen quietschen. Er 81
dachte, es käme vom Bremsen, aber es war Jenny. Als er zurückblickte, sah er Harry Lake beim Versuch, seinen Wagen wieder unter Kontrolle zu bekommen, immer noch auf der Straße Zickzack fahren; er verringerte sein Tempo, bis der Chevvy wieder auf gleicher Höhe war, dann warf er das Lenkrad erneut nach rechts. Diesmal berührte die Karosserie des Buick den Chevvy. Er wurde vom Aufprall durchgerüttelt, doch einen Augenblick später stieß er einen triumphierenden Schrei aus: der Chevvy war plötzlich weg, einfach verschwunden über den Damm. Da trat er hart aufs Gaspedal und raste weg vom Ort des Zusammenstoßes, während die Reifen auf der Fahrbahn ihr fröhliches Lied sangen. An diesem Abend stellte er den Buick in einer ihm unbekannten Garage ab, zwölf Häuserblocks von seiner Pension entfernt. Einer der Angestellten kommentierte lakonisch die Delle in seinem rechten vorderen Kotflügel, aber Lou sagte, er sei daran gewöhnt und lachte. Er ging den Rest seines Heimwegs zu Fuß, und kaufte unterwegs die Abendzeitung. Als er die Schlagzeile sah, fühlte er plötzlich sein Herz hämmern. Sie lautete: AUTOUNFALL AUF DEM PARKWAY, EIN TOTER, EIN VERLETZTER. Es fiel ihm schwer, den Rest zu lesen, aber er tat es. Harry Lake war tot, das war sicher. Er war sofort tot gewesen, die Brust vom Steuerrad zerquetscht. Aber Jenny war am Leben. (Die großen Hundeaugen immer noch offen, der zarte Mund immer noch in Bewegung.) Ihr Zustand wurde als zufriedenstellend beschrieben, nicht einmal als kritisch - dem Artikel zufolge -, ihre schwerste Verletzung eine Gehirnerschütterung. Wie die Zeitung schrieb, würde sie wohl am Le82
ben bleiben, und im Halbdunkel seines Zimmers glaubte Lou Spencer leises Gelächter zu vernehmen. Er legte die Zeitung weg, und sah um sich; und dann las er mit konzentriertem Blick die Meldung noch einmal. Harry Lake tot, Jenny am Leben. Jenny lebte! Er wollte schreien, fluchen, toben, zerfetzen, zerstören. Stattdessen weinte er. Nachdem sich sein Weinen gelegt hatte, ließ er sich aufs Bett fallen, rauchte ein halbes Päckchen Zigaretten, sah dem Rauch zu, wie er sich zur Decke hochringelte, und forschte in den sich windenden blauen Schwaden nach einem neuen Plan. Sein erster Gedanke war der schwächste, der Gedanke, sie im Krankenhaus zu besuchen, seine Hände um ihren weißen Hals zu legen, während sie hilflos in den Kissen lag ... Nein, so ging's nicht. Sie einfach so zu töten, schien ihm jetzt unangemessen, unangemessen und unbefriedigend. Das durfte unmöglich alles sein. Er würde es überschlafen. Er schlief, und seine Träume waren ein einziges Gruselkabinett. Als er aufwachte, war seine Idee geboren, noch ehe er die Rollos für den neuen Tag hochgezogen hatte. Lou Spencer setzte Kaffeewasser auf und machte es sich mit dem Telefonbuch bequem. Zuerst rief er die Zeitung an, wo er von so vielen Stimmen zu so vielen weiteren Stimmen weitergereicht wurde, daß er es aufgab. Stattdessen wählte er die Nummer der Polizei. Man war kurz angebunden, aber höflich. Der Mann am anderen Ende verband ihn nur einmal weiter, nämlich mit dem Büro des Leichenbeschauers; während er sprach, goß sich Lou eine Tasse Kaffee ein und trank ihn schwarz. Man war hilfsbereit im Büro des Leichenbeschauers; als er erklärte, er sei ein Freund des verstorbenen Harry Lake gewesen, war 83
man mehr als gewillt, ihm zu sagen, wo der Beerdigungsgottesdienst stattfinden sollte - in der Walden-Kapelle an der 81. Straße, unweit der Columbus Avenue. Nein, Harry Lake hatte keine Angehörigen, die sich um die Totenfeier kümmern würden; sein Büro war zuständig dafür, daß er eine ordentliche Beerdigung erhielt. Lou Spencer dankte den Leuten im Büro des Leichenbeschauers vielmals und trank eine zweite Tasse Kaffee. Als nächstes telefonierte er mit der Walden-Kapelle, und die gedämpfte Antwort, die er erhielt, war ganz in seinem Sinne. Ja, Harry Lakes Leiche ruhte dort, und er konnte dem Verstorbenen jederzeit die letzte Ehre erweisen, solange er zwischen sieben und zehn Uhr abends kam. Mit ebenso feierlicher Stimme bedankte sich Lou Spencer. An diesem Nachmittag ließ er seinen Buick in der Garage und nahm ein Taxi zur Walden-Kapelle. Es war eine kleine, nicht sehr eindrucksvolle Leichenhalle, weit weniger imposant als ihre geschnitzten Holztüren und das ziemlich lange Schirmdach vorm Eingang. Die Empfangsdame, eine kräftige Frau mit rotgefärbtem Haar, fragte ihn, warum er ihren Chef sehen wolle, aber er lächelte nur sanft und antwortete, es handle sich um eine persönliche Angelegenheit. Sie zuckte die Schultern und ging in ein anderes Zimmer, von wo sie nach einem kurzen Moment in Begleitung eines glatzköpfigen Mannes mit fahlen Gesichtszügen und einem pechschwarzen Schnurrbart zurückkam. »Ich bin Mr. Waiden«, er lächelte matt und streckte seine Hand aus. »Wollten Sie Vorkehrungen treffen ... ?« »Können wir uns nicht in Ihrem Büro unterhalten, Mr. Waiden?« 84
»Doch, natürlich«, erwiderte der Leichenbestatter, wohlwissend, daß es manchmal peinlich war, über den Tod zu sprechen. Er ließ Lou Spencer den Vortritt und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. »Es geht um Harry Lake«, erklärte Lou endlich. »Ah.« »Wann soll er beerdigt werden, Mr. Waiden?« »Morgen, um drei Uhr. Auf dem Province-Cemetery in Long Island City. Falls Ihnen ein neutrales Fahrzeug lieber ist...« »Nein, nichts dergleichen«, unterbrach ihn Lou. »Eigentlich wollte ich Sie fragen, Mr. Waiden, ob Sie die Beerdigung nicht überhaupt streichen könnten.« Er lächelte, als der Bestatter blinzelte. »Oder wenn das nicht in Frage kommt, können Sie vielleicht die Sache durchführen, nur eben ohne Harry Lake. Sie verstehen, was ich meine?« »Leider nicht.« »Ich will es mal so ausdrücken: Ich biete Ihnen dreihundert Dollar für Harry Lakes Leiche, Mr. Waiden.« Dann lehnte sich Lou zurück und wartete darauf, daß der Handel losging. Er wußte, wie er ablaufen würde. Zunächst protestierte der Leichenbestatter und weigerte sich kategorisch. Daraufhin verlangte er eine ausführliche Erklärung, und als Lou sie mit einem Schulterzucken verweigerte, wiederholte er seine Weigerung. Lou erhöhte um einen Hunderter und der Bestatter erwiderte, es ginge ihm nicht ums Geld. Eine halbe Stunde beredeten sie die Sache. Lou versicherte ihm, es seien die am leichtesten verdienten vierhundert, die er je kriegen würde. Er argumentierte damit, daß die Täuschung narrensicher sei und nieman85
dem wehtun würde. Als Mr. Waiden Worte wie »Respekt« gebrauchte, lächelte Lou bloß. Schließlich trennte man sich im Einvernehmen darüber, daß Mr. Waiden »es sich überlegen würde«. Bevor er hinausging, erhöhte Lou sein Angebot auf fünfhundert. Er rief die Walden-Kapelle noch am selben Abend an, und Mr. Waiden, der erst einmal seine Sekretärin hinausschickte, senkte seine Stimme auf ein Flüstern und nahm die Bedingungen an. »Hier die Adresse«, sagte Lou. »Laurie Street Nr. 906, Apartment 4~C.« Der Leichenbestatter wiederholte sie nervös. »Ist den ganzen Tag jemand zu Hause?« »Den ganzen Tag«, Lou Spencer lächelte. Früh am nächsten Morgen holte er den Buick aus der Garage und fuhr Richtung Künstlerviertel, Greenwich Village. In der Straße, wo er und Jenny ihr Leben als Ehepaar begonnen hatten, parkte er. Er empfand absolut nichts, als er die Freitreppe des kleinen Wohnhauses hinaufging, und dann die vier Treppen zum obersten Stock hochstieg. Einen kurzen Moment überkamen ihn Zweifel, als er am letzten Treppenabsatz anlangte: hatte Jenny etwa das Türschloß auswechseln lassen? Sobald er den Schlüssel hineingesteckt hatte, entspannte sich sein Gesicht. Der alte Schlüssel paßte noch. Viel hatte sich nicht verändert. Jennys intellektuelle Persönlichkeit war überall anwesend: die Bücher, die er nie verstehen, die Bilder, an denen er nie Gefallen finden konnte. Sie hatte darauf bestanden, daß ihre Ehe hier beginnen sollte, und hier endete sie auch. Er fand Whiskey in einem Küchenschrank und mixte sich einen Drink. Seltsamerweise fühlte er sich hier jetzt mehr zuhause als 86
zu der Zeit, da sie noch Mann und Frau waren. Er kam sich wie der Besitzer der Wohnung vor, obwohl er ein Eindringling war. Während er dasaß, trank und auf die Ankunft seines grausigen Pakets wartete, beschloß er, sein Zimmer in der Pension aufzugeben und wieder hier einzuziehen. Wen würde das schon interessieren oder kümmern? Menschen kamen und gingen in diesem Wohnhaus im Village, ohne daß sich jemand damit aufhielt, Fragen zu stellen. Früher hatte er diesen Bohemestil verachtet; jetzt war er dankbar dafür. An diesem Abend um sechs läutete es unten. Lou drückte den Türöffner und streckte dann den Kopf zum Fenster hinaus. Auf der Straße sah er den glänzenden schwarzen Kombi mit der diskreten Beschriftung WALDEN CHAPEL stehen. Es war kein Leichenwagen, Gott sei Dank; der Leichenbestatter zeigte mehr Verstand, als er ihm zugetraut hätte. Waiden selbst hatte die Angelegenheit übernommen, assistiert von einem Jungen mit leerem Gesicht und gelbem Haar. Die beiden mühten sich mit der langen Holzkiste hinten im Kombi ab und brachten sie schließlich zwischen sich. Fünf Minuten später waren sie an seiner Wohnungstür, stöhnend und schnaubend. »Dachte, ich erledige das besser selbst«, keuchte Waiden und wischte sich den Schweiß vom kahlen Schädel. »Wo soll sie hin?« »Stellen Sie sie nur ins Wohnzimmer«, antwortete Lou lässig und sah den Jungen an. Waiden bemerkte den Blick. »Mein Sohn«, erklärte er. »Oh.« Lou zog seine Brieftasche hervor und fing an zu zählen.
Nachdem sie gegangen waren, trank er seinen Whiskey aus, dann ging er zu der Holzkiste. Er empfand keinerlei primitive Furcht durch die Anwesenheit des Toten in seinem Zimmer. Er empfand nichts. Aber als er sich entschloß, den Inhalt der Kiste zu überprüfen, um sicherzugehen, daß er auch die Ware erhalten hatte, für die er bezahlt hatte, lief es ihm einen Moment kalt den Rücken herunter. Er verfluchte seine Reaktion und hob den Dekkel an. Jetzt wußte er, wie Harry Lake aussah. Ein junger Mann mit gleichmäßigen Zügen und kurzgeschnittenem braunen Haar. Zufrieden schloß er die Kiste mit dem dringenden Verlangen nach einem weiteren Drink. Er genehmigte sich zwei. Am Montag ging er wieder zur Arbeit. Er war technischer Zeichner in einer Maschinenbaufirma, doch auf dem weißen Papier unter seiner Reißschiene sah er fortwährend Bilder, die nichts mit den genau berechneten Linien und Kreisen seiner Tätigkeit zu tun hatten. Im Geist malte er sich den Tag aus, an dem Jenny aus dem Krankenhaus entlassen würde. Er konnte ihre Schritte auf der Treppe hören. Er konnte hören, wie sich ihr Schlüssel im Schloß drehte. Er konnte sehen, wie sich langsam die Tür öffnete. Er konnte sehen, wie sie im Türrahmen stand mit ihren großen Hundeaugen, die sich vor Entsetzen weiteten, mit ihrem zarten Mund, der sich öffnete, während sie in das vertraute Zimmer blickte und das Grauenvolle sah, das sie erwartete, dieses Etwas im bequemen Sessel, die toten Augen, die sie anschauten, der tote Mund, der ein makabres Willkommen grinste. Er konnte sie schreien hören! In dieser Nacht zog er in die Wohnung in Greenwich Village ein und rief die Klinik an.
»Mrs. Lake geht es den Umständen entsprechend gut«, sagte die kühle Stimme. »Was heißt das?« »Ihr Zustand ist gut«, antwortete die Schwester. »Leider darf ich Ihnen nicht mehr sagen. Wenn Sie mit ihrem Arzt sprechen wollen —« »Ja, gerne. Wie heißt er?« »Sind Sie mit Mrs. Lake verwandt?« Lou legte den Hörer auf. Na schön. Er konnte warten. Es würde noch einige Tage dauern, bis Harry Lakes Körper zu verwesen begann. Und falls der Prozeß schon früher einsetzte, was machte das schon? Er konnte es aushaken. Um so eindringlicher war die Wirkung, wenn Jenny zur Tür hereinkam ... Im Büro fiel er auf. Brundage, sein Vorgesetzter, fing an, sich nach seiner Gesundheit zu erkundigen. »Mir geht's gut«, schnauzte Lou. »Sind Sie da sicher, Junge? In letzter Zeit sehen Sie aus, als ob Sie Fieber hätten. Und diese schlechte Angewohnheit von Ihnen, Sie wissen, was ich meine, nicht?« »Was für eine Angewohnheit?« »Diese Selbstgespräche. Am Zeichenbrett. Lassen Sie das lieber bleiben, Spencer.« Er war sich seiner Selbstgespräche nicht bewußt gewesen. Sie beunruhigten ihn nicht. Er wußte, sie würden mit Jennys Schreckensschrei aufhören. Gegen Ende der Woche telefonierte er wieder mit dem Krankenhaus. »Mrs. Lake geht es wirklich gut«, sagte die Schwester. »Was bedeutet das?« »Wir hoffen, daß sie das Krankenhaus sehr bald verlassen kann.« 89
»Wie bald?« Aber man gab ihm keine bestimmte Antwort. Nacht für Nacht kehrte er in die Wohnung und zur Leiche von Jennys Bräutigam zurück. Er schlief schlecht und bildete sich ein, daß sich der Verwesungsgeruch ausbreitete. Langsam befürchtete er, sein Plan sei vergebens gewesen; sie würde die Klinik nie rechtzeitig verlassen, und sogar falls sie das täte, würde sie vielleicht nicht in die Wohnung zurückkommen. Die Ungewißheit trieb ihn zum Wahnsinn. Er rief zweimal täglich im Krankenhaus an. Jedesmal waren die Antworten, die man ihm gab, ausweichend. Bis die Krankenschwester eines Abends erklärte: »Mrs. Lake? Sie verläßt uns am Samstagmorgen. Sie können mit ihr sprechen, wenn Sie wollen.« »Nein, nein.« »Sind Sie ein Verwandter?« »Jemand, der ihr alles Gute wünscht«, erwiderte Lou Spencer grimmig. »Um welche Zeit wird sie das Krankenhaus verlassen?« »Ungefähr um zehn«, antwortete die Schwester freundlich. »Wir sind wirklich sehr stolz auf die Fortschritte, die sie gemacht hat.« »Ja«, sagte Lou Spencer, und ließ den Hörer auf die Gabel fallen. Zehn Uhr. An diesem Samstag. Zwei Tage. Am Freitag zitterten seine Hände zu stark für die minutiöse Arbeit, die von ihnen erwartet wurde. Er gab vor, krank zu sein, und bemerkte, daß Brundage ihn sonderbar anschaute. Als er in die Wohnung im Village zurückkehrte, wußte er, daß der Übelkeit erregende Geruch, der sie erfüllte, mehr war als nur ein Produkt seiner fiebrigen Fantasie. Schlafen war unmöglich; also 90
ging er in ein Kino, das die ganze Nacht geöffnet hatte, und während er den epischen Bibelfilm zum drittenmal über sich ergehen ließ, fiel er in einen tranceähnlichen Schlaf, der bis um sieben Uhr am nächsten Morgen dauerte. In der Wohnung duschte er, ohne dadurch erfrischt zu werden, und blickte verstohlen in den Badezimmerspiegel, als fürchte er sich vor dem Gesicht, das ihn daraus anschauen würde. Er zwang sich, sein Spiegelbild anzugrinsen. Das Ganze war ein Witz. Es war komisch. Warum konnte er nicht lachen? Dann traf er die Vorbereitungen für Jennys Ankunft. Er öffnete den Sargdeckel und hob Harry Lakes Körper heraus. Er erledigte die Prozedur bemerkenswert kaltblütig; die eisige Starre der Leiche störte ihn nicht. Jetzt, da der Augenblick wirklich gekommen war, hatte er wieder all seine Sinne beisammen. Er plazierte den Körper im bequemen Sessel mit dem geblümten Schonbezug und zwang die steifen Gelenke in eine sitzende Haltung. Nachdem die Leiche zu seiner Zufriedenheit arrangiert war, schob er den Sessel in die Nähe der Vordertür, die dem Eingang gegenüber lag. Er konnte Harry Lake nicht dazu bringen, die Augen zu öffnen; auf diesen Effekt mußte er verzichten. Er trat ein paar Schritte zurück und bewunderte sein Werk. Er schloß die Augen, um sich den Entsetzensschrei vorzustellen, der dieses Zimmer innerhalb der nächsten zwei Stunden erfüllen würde. Er versuchte, sich Jennys Gesicht vorzustellen, von Entsetzen verzerrt, und fragte sich, was mit ihr geschehen würde. Würde sie vor Angst sterben? Würde ihr kleines Herz aufhören, das lebensspendende Blut zu pumpen? Würde sie verrückt
werden? Er lächelte bei dem Gedanken, wie vollkommen sein Racheplan war. Perfekter als Mord. Es war halb neun. Er machte eine Kanne Kaffee. Um zehn konnte er nicht mehr still dasitzen und warten. Er stand auf und ging im Wohnzimmer auf und ab. Um zehn Uhr zwanzig hielt er inne und wandte sich zur Tür, als erwartete er, daß sie sich genau in dieser Sekunde öffnen würde. Nichts geschah. Konnte die Schwester sich geirrt haben? Um halb elf, beinah krank vor Sorge, rief er noch einmal die Klinik an. Ja, Mrs. Lake hatte sie bereits verlassen. Um fünf vor elf hörte er draußen Schritte. Das Geräusch ließ ihn erstarren, aber er zwang sich zu einer Bewegung. Er hatte bis jetzt noch nicht an ein Versteck gedacht. Wo sollte er hin? In Sekundenschnelle rasten ihm verschiedene Überlegungen durch den Kopf. Sollte er sich hinter den Sessel kauern, vielleicht mit geisterhafter Stimme sprechen? Er verwarf den Einfall. Der Schock, den Harry Lakes totes Gesicht auslöste, würde schrecklich genug sein. Vor der Wohnungstür hatten die Schritte haltgemacht. Sollte er sich im Schlafzimmer verstecken und damit den Anblick von Jennys Gesicht verpassen? Nein, damit würde er sich selbst betrügen. Am Fenster zur Straße hingen lange Vorhänge. Sollte er sich dort verbergen? Ein Schlüssel wurde ins Schloß gesteckt. Ja! Die Vorhänge waren genau richtig. Er eilte zum Fenster und zog sie mit nervösen Fingern zu. Sie klemmten für einen Moment, und er verlor beinah die Nerven. Die Tür öffnete sich. Da! Jetzt stand er hinter den Vorhängen. Er hörte eine Stimme, Jennys Stimme. War jemand bei ihr? Wer?
»Vorsichtig, Mrs. Lake -« Eine Männerstimme. Jemand vom Krankenhaus, natürlich, jemand, der ihr auf der Fahrt vom Krankenhaus nach Hause half. Er spähte hinaus. Jenny trat ins Zimmer. Er hielt den Atem an, als sie im Eingang stand, teilnahmslos. Ihr Kopf bewegte sich langsam hin und her, ohne innezuhalten, um das Etwas im Sessel anzusehen. Ihr Gesicht veränderte sich nicht. Der Mann trat hinter ihr in die Wohnung. Er war groß, mit groben Gesichtszügen. »Froh, wieder daheim zu sein?« fragte er. »Ja«, antwortete Jenny. Lou sah sie schwach lächeln. Mit dem Gesicht zu dem Etwas gewandt, der Leiche ihres Ehemannes im Sessel, lächelte sie! »Ich bin froh, wieder daheim zu sein«, wiederholte sie und tat einen weiteren Schritt ins Zimmer hinein, ohne ihn zu beachten, ohne sich um ihn zu kümmern, ungerührt, unerschrocken. »Mein Gott -« Es war der Mann. Er starrte den Sessel an, starrte Harry Lakes Leiche an. Sein Gesicht wurde blaß, und er wich einen Schritt zurück. Wie Suchscheinwerfer bewegten sich seine Augen durch den Raum, und Lou Spencer wußte, daß sie die Wellenbewegung der Vorhänge gesehen hatten. Es war sinnlos, dort zu bleiben; er stürzte aus seinem Versteck, Richtung Schlafzimmer. Der große Mann hinter ihm her, er brüllte etwas, drohte. »Halt, halt, oder ich schieße -« Das Schlafzimmerfenster stand offen. Die Feuerleiter draußen lockte, bot ihm Zuflucht. Schluchzend zwängte er seinen Körper durch die Öffnung, spürte, wie seine 93
Füße den Metallboden berührten. Die Hand des Mannes packte den Ärmel seines Hemds; er riß sich mit einem Ruck los, schrie irgendetwas. Der Mann kletterte ihm nach; Lou trat nach seinen Händen auf dem Fensterbrett und hechtete nach der Leiter, die zum unteren Geschoß führte. Seine Hände verpaßten das Geländer, seine Füße glitten von den Stufen ab, als seien sie eingefettet. Das Gefühl zu schweben war beinahe ein Trost; es dauerte einen langen Augenblick, bis er erkannte, daß er gestürzt war und daß der Beton ihm entgegenraste. Er erkannte die Einzelheiten von Rissen und Sprüngen auf dem Boden des Hinterhofs, sah die stumme Reihe von Abfalleimern, ihre Deckel kühl im Schatten, sah eine Katze mit aufgerichtetem Schwanz davonhuschen, um dem schrecklichen Ding zu entkommen, das da vom Himmel fiel. Dann war es vorbei. Am Fenster im vierten Stock verzog der Polizeibeamte den Mund und sah weg. Als er sich aufrichtete, bemerkte er, daß die Frau langsam den Weg ins Schlafzimmer gefunden hatte, indem sie sich mit den Händen die Wand entlangtastete. »Keine Sorge«, sagte er behutsam. »Es ist alles in Ordnung, Mrs. Lake.« Aber dennoch blickten ihn ihre blinden Augen fragend an.
Mord mit Verspätung warm heute«, bemerkte der Reporter. Wirklich »Stört es Sie, wenn ich das Fenster ein bißchen mehr aufmache?« »Nicht im geringsten«, erwiderte Joe Harper. Er stand langsam aus seinem Sessel auf und ging vorsichtig zur Hausbar. Als er den Drink eingoß, einen großen, kühlen Drink, waren seine Bewegungen steif und überlegt. Der Reporter, der den Grund dafür kannte, sah ihn voll Mitgefühl an. »Sie müssen sich nicht bemühen«, sagte er. »Kein Problem«, antwortete Harper. »Ich komme immer noch ganz gut zurecht, solang ich nichts übertreibe.« Er brachte ihm den Drink und lächelte. Das Lächeln brachte keine Entspannung in das verkrampfte, schmale Gesicht. Es verging, sobald Harper seinen abgemagerten Körper wieder in den Sessel sinken ließ. Er war Ende Vierzig, und - hätte das Leiden keine Spuren hinterlassen - seine weichen Gesichtszüge und sein dunkles Haar hätten ihn vielleicht jünger erscheinen lassen. »Wahrscheinlich haben Sie die Geschichte schon oft erzählt«, meinte der Reporter. »Ich weiß es wirklich zu schätzen, daß Sie Zeit für mich haben.« »Nicht so oft. Am Anfang, gleich nach dem Überfall und während der Verhandlung, interessierten sich viele Zeitungen dafür. Aber dann, sobald Nally verurteilt und eingesperrt war, schienen mich alle zu vergessen. Der 95
Artikel soll in der Sonntagsausgabe Ihrer Zeitung erscheinen?« »Genau. Schicksale, wissen Sie?« »Ja«, sagte Harper. »Ich hätte nie gedacht, daß so etwas passieren würde, als ich die Stelle bei Mr. Fachmann annahm«, erzählte Harper. »Er war ein so gütiger alter Mann, mit einem so kleinen Geschäft. Im selben Gebäude mit Fachmanns Diamanten An- und Verkauf müssen gut fünfzig wichtige Händler ihre Büros gehabt haben. Aber vielleicht war es gerade das, was Nally an der Sache reizte. Vielleicht dachte er, der Laden des alten Mannes würde keine Probleme bereiten. Nachdem ich ein. paar Monate dort gearbeitet hatte, wickelte ich die meisten Geschäfte mit den Kunden ab, auch wenn Fachmann das Schätzen der Steine ausschließlich selbst besorgte. Er muß um die siebzig gewesen sein und wollte sich nicht mehr sonderlich anstrengen. Meistens kam er nur zwei- oder dreimal die Woche ins Geschäft. Am Tag, den Nally für sein Vorhaben wählte, war Fachmann nicht da. Es war an einem Dienstag morgen, und ich hatte Ruthie, unsere Sekretärin, gerade zum Kaffeeholen weggeschickt. Ich war also allein, als dieser junge Mann in dem knalligen Sportjackett hereinkam. Sein Aufzug schockierte mich nicht; Sie müßten mal ein paar von den schäbig aussehenden Kunden sehen, die wir hatten, einige mit Diamanten im Wert von mehreren Tausend Dollar in der Tasche. Mißtrauisch wurde ich erst, als er anfing, etwas über einen Kauf zu stammeln. Schließlich machte er mir klar, daß er ein paar Steine mit Smaragdschliff sehen woll96
te, für einen Verlobungsring. Ich holte das Tablett heraus, stellte es aber in der Nähe des Alarmknopfes auf den Tisch. Er muß sofort gemerkt haben, was ich vorhatte, weil er genau in dem Moment die Pistole herauszog. Ehrlich gesagt, ich hatte viel zu viel Angst, als daß ich mich mit ihm hätte anlegen wollen. Das Geschäft gehörte ja schließlich nicht mir, und ich wußte, daß Fachmann versichert war, und wem nützte es, wenn ich mich umbringen ließ? Ich sah zu, wie er die Diamanten vom Tablett räumte; dann befahl er mir, weitere aus den Schubladen zu holen. Er zitterte heftig und ich auch. Als ich das zweite Tablett herauszog, konnten meine Finger es nicht halten, und ich ließ es auf den Boden fallen. Als ich mich bückte, um die verstreuten Steine aufzuheben, kam meine Hand ziemlich nahe an den Alarmknopf; er muß angenommen haben, daß ich ihn reinlegen wollte. Da hat er auf mich geschossen. Ich erinnere mich kaum noch an etwas danach, außer an das Zuknallen der Tür, als er rausrannte. Dann wurde ich bewußtlos und wachte nur für ein paar Sekunden im Krankenwagen auf. Ich kann mich auch noch vage daran erinnern, wie ich flach auf dem Rücken liegend den Krankenhauskorridor zum Operationssaal entlanggerollt wurde und die Deckenlampen vorbeiziehen sah. Erst als ich drei Stunden später aus der Narkose aufwachte, konnte ich mit der Polizei sprechen und erfuhr, daß man Nally noch im Gebäude geschnappt hatte. Es gab nur einen Ausgang, wissen Sie, alle diese Diamantenhäuser an der 47. Straße kann man nur durch ein und dieselbe Tür betreten oder verlassen. Aber es wurde Mittwoch, bis ich erfuhr, daß es nicht gelungen war, die Kugel, die Nally mir verpaßt hatte, zu entfernen. 97
Das war das Schlimmste an der ganzen Sache. Die Kugel hatte mich in die Brust getroffen und Herz und Lunge knapp verfehlt. Aber sie war an einer Stelle steckengeblieben, wo man sie nicht herausoperieren konnte, ohne Gefahr zu laufen, das eine oder andere lebenswichtige Organ zu verletzen. Man zeigte mir meine Röntgenbilder, hielt mir schöne lange Vorlesungen über Anatomie, und ich fing an zu begreifen, daß sich mit großer Wahrscheinlichkeit die Kugel eines Tages durch eine Erschütterung lockern und mich töten würde. Ich war immer noch im Krankenhaus, als gegen Nally wegen des Überfalls und des Schusses auf mich Anklage erhoben wurde. Ich bekam jede Menge Besuch damals. Spezialisten, die vorbeikamen und über den Röntgenaufnahmen brüteten und den Kopf schüttelten. Reporter, die wissen wollten, wie ich mich fühlte, mit einem Todesurteil in der Brust. Dann, zu guter Letzt, brachte man Nally selbst, damit ich ihn identifizieren sollte. Das habe ich dann auch getan. Es war kurz vor seiner Verhandlung, als man im Krankenhaus entschied, daß man nichts mehr für mich tun konnte, und so wurde ich entlassen. Man riet mir, vorsichtig zu sein, nichts zu übertreiben, jede anstrengende Tätigkeit zu vermeiden. Je ruhiger ich mich verhielte, desto größer sei meine Überlebenschance. Aber diese beruhigenden Worte waren geheuchelt, das wußte ich. Die Kugel würde mich erwischen. In einer Woche, in einem Monat, vielleicht sogar in einem Jahr, jedenfalls war ich ein toter Mann. Der Bezirksstaatsanwalt fragte mich, ob ich bei der Verhandlung aussagen würde. Klar, sagte ich. Ich wollte sehen, wie Nally kriegte, was er verdiente, und ich war
derjenige, der dafür sorgen konnte, daß genau das geschah. Den Tag werde ich nie vergessen. Der halbe Gerichtssaal war von Nallys Verwandten besetzt, die alle weinten und sich aufführten, als seien sie nicht bei einer Verhandlung, sondern bei einer Totenwache. Es schien, als stamme er aus einer dieser großen, treusorgenden Familien mit ihrem ausgeprägten Zusammengehörigkeitsgefühl. Der Richter mußte den Saal räumen lassen, soviel Krach machten die. Der Verteidiger versuchte, Nallys Jugend als Milderungsgrund vorzubringen. Aber nachdem ich meine Aussage gemacht hatte, war er geliefert. Tja, Sie wissen ja, wie das Urteil lautete: Nally bekam dreißig Jahre. Er war ein Mörder, und er gehörte auf den elektrischen Stuhl, aber vom juristischen Standpunkt aus konnte man nicht das volle Strafmaß verhängen, nicht, solange ich noch lebendig herumlief. Aber das war nur vorübergehend. So leicht sollte er nicht davonkommen. Wäre nicht diese Kugel in mir drin, könnte er seine Strafe absitzen, vielleicht sogar auf Bewährung rauskommen, ehe er ein alter Mann wäre. Aber da war diese Kugel. Und eines Tages würde sie mich umbringen. Und wenn sie das tat, würde aus Nally ein Killer mit einer Mordanklage am Hals. Komisch, nicht? Der Junge sitzt jetzt oben in Ossining und betet für meine Gesundheit. Aber wenn die Herren Ärzte recht haben, werden seine Gebete genausowenig nützen wie meine. Sobald ich tot bin, wird er wieder unter Anklage gestellt, diesmal für Mord ersten Grades. Er wird sich auch nicht damit herausreden können, daß er zweimal wegen desselben Verbrechens angeklagt würde, dafür hat der Bezirksstaatsanwalt schon gesorgt. Die 99
Anklage wird völlig anders lauten, und Nally wird damit nicht durchkommen. Das ist mein einziger Trost. Wenn meine Zeit gekommen ist, ist auch Nallys Zeit gekommen. Wenn ich sterbe, stirbt er. Wenig Grund zum Jubel - aber in meiner Lage muß man genügsam sein.« Während Joe Harper sprach, war er im Zimmer auf und ab gegangen, langsam, vorsichtig. Er hielt am offenen Fenster inne und sah hinaus. Es dämmerte bereits; einige wenige Sterne erschienen am purpurroten Himmel. Er sah flüchtig zu ihnen hinauf und seufzte. »Das ist hart«, sagte der Reporter ernst. »Es tut mir wirklich leid, Mr. Harper. Aber wenn es jemanden noch härter treffen kann, dann wahrscheinlich Frank Nally.« »Glauben Sie etwa, das kümmert mich?« rief Harper höhnisch. »Nein«, antwortete der Reporter. »Vermutlich nicht.« Er ging von hinten auf Harper zu und packte seinen Ellbogen. »Es tut mir leid«, wiederholte er. Er brachte Harper aus dem Gleichgewicht, und Harper sah ihn überrascht an. Es waren nur zwei Schritte bis zum Fenster. Als Harper fühlte, wie er am Rande des Nichts hin und her schwankte, starrte er mit offenem Mund in das angespannte junge Gesicht, in der Hoffnung auf Gnade oder auf eine Erklärung. »Ich bin kein Reporter«, sagte der Mann. »Ich bin Nallys Bruder.« Und Joe Harper, so oder so zum Tod verurteilt, fand unten auf dem Gehweg sein Ende.
Eine explosive Lösung äre Willard Pell nicht Forschungschemiker, sonWdern Lehrer gewesen, er hätte die klassische Karikatur des zerstreuten Professors abgeben können. Seine Studenten hätten in den Korridoren leise über seinen neuesten zerstreuten Lapsus gelacht; sie hätten Geschichten erfunden, in denen er die Katze küßte und seine Frau vor die Tür setzte; sie hätten mit liebevoller Zuneigung von seinen Gewohnheiten und Marotten gesprochen. Unglücklicherweise hatte es Willard Pell weder mit Studenten noch mit liebevoller Zuneigung zu tun. Seine Arbeitgeber, die Abernathy Chemical Corporation, empfanden seine Zerstreutheit als nachteilig für die Firma. Und seine Frau Katherine war ganz einfach angewidert von seiner vergeßlichen Lebensweise. Eines morgens, nachdem Willard eine Kanne Kaffee aufgesetzt und sich anschließend eine Tasse Tee aufgebrüht hatte, zog sie den Gürtel ihres Morgenmantels straff und sagte ihm deutlich ihre Meinung. Das war für Willard nichts Neues; er hörte diese mißtönende Melodie nicht zum ersten Mal, und es bereitete ihm keine Schwierigkeiten, Diskant und Vibrato auszufiltern. »Du hörst mir ja nicht einmal zu«, sagte Katherine schrill. »Du schwebst in irgendeinem Wölkenkuckucksheim. Du hörst mir nie zu!« »Du hast ja auch nie viel zu sagen«, antwortete Willard milde und tauchte seinen Teebeutel ins Wasser. »Wir ha-
ben eben keinen richtigen Kontakt mehr zueinander, Katherine, das ist alles.« »Wir haben keinen Kontakt mehr? Du lebst doch seit Jahren ohne Kontakt zur Umwelt! Wie lange glaubst du, kann man das aushaken?« »Es gibt Leute, die's können!« »Du meinst Constance Glass?« Katherine stellte sich in Positur, aufrecht wie ein Zinnsoldat. »Diese schwefelverschmierte Assistentin von dir?« Willard seufzte, stand vom Tisch auf und holte seinen Wintermantel aus dem Schrank. Seine Frau, viel zu aufgebracht durch das Gespräch, machte sich nicht die Mühe, ihn daran zu erinnern, daß schon bald Sommer war. Er verließ das Haus und kehrte gleich darauf zurück, murrend über das warme Wetter. Er wechselte den Mantel und fuhr ins Labor. Seine Stimmung war stark bewölkt, bis er den gelben Sonnenschein von Constance Glass' Haar sah. »Guten Morgen, Constance«, sagte er gemessen. »Guten Morgen, Willard. Die Fällungs-Analysen sind alle abgeschlossen.« Sie sagte es liebevoll. Constance war ein mageres Mädchen, umgeben von einer Aura intensiver Konzentration. Ihre feinen Gesichtszüge wurden grausam von einer dickglasigen Brille dominiert. Sie war hoffnungslos in ihn verliebt. »Stimmt etwas nicht, Willard? Du siehst unglücklich aus.« »Das bin ich auch«, antwortete er knapp und zog seinen Laborkittel über. »Deine Socken passen nicht zusammen«, sagte Constance wehmütig. »Jemand müßte sich richtig um dich kümmern, Willard.« »Nicht diese Frau«, knurrte er. »Ich spiele ernsthaft mit dem Gedanken, sie zu verlassen, Constance.«
»Ach, Willard!« seufzte sie. Er hätte sie in die Arme genommen, wenn in diesem Moment nicht ein Laborassistent hereingekommen wäre. Statt dessen flüsterte er etwas über ein gemeinsames Mittagessen, und die beiden tauschten einen Händedruck. Am gleichen Abend kehrte Willard mit neuer Entschlossenheit nach Hause zurück. Anstatt seine Absicht mit Katherine zu diskutieren, machte er sie klar, indem er feierlich einen Koffer zu packen begann. »Was soll denn das? Wohin willst du?« fragte sie von der Tür, die Arme in die Hüften gestemmt. »Ich gehe, ich verlasse dich«, sagte er ohne Umschweife. »Ich ziehe zu Constance. Da du keine Scheidung willst...« »In ihre Wohnung?« Katherine lächelte dünn. »Wirklich, Willard, das hätte ich dir nie zugetraut. Und was glaubst du kommt dabei heraus? Ich könnte dich nämlich wegen böswilligen Verlassens verklagen!« »Tu, was du nicht lassen kannst«, knurrte Willard. »Constance und ich haben ausführlich darüber gesprochen und sind zu dem Schluß gekommen, daß es so für uns das beste ist. Wir scheren uns einen Dreck um deine kleinbürgerliche Moral -« »Ich spreche nicht von Moral«, sagte sie eisig. »Ich spreche von etwas viel Konkreterem. Wenn du mich verläßt, Willard, bringe ich dich um jeden Penny. Ich lasse dein Gehalt pfänden. Ich sorge dafür, daß sie dich feuern, ich sorge dafür, daß du keine Stellung mehr findest...« »Das ist nicht logisch«, sagte er. »Wenn ich nicht arbeite, wie willst du dann Geld aus mir herausholen?« »Ach, du mit deiner verdammten Logik!« schrie sie. 103
»Ich mache dich so fertig, daß du dir wünschst, du wärst nie geboren worden! Und um Himmels willen - hör auf, meine Nachthemden einzupacken!« Seine Frau stürmte wenige Minuten später aus dem Haus, so daß sich Willard in Ruhe mit ihren Drohungen befassen konnte. Um seine Stellung machte er sich keine Sorgen; als Forschungschemiker war er zu gut, um wegen eines häuslichen Problems entlassen zu werden. Aber der Gedanke an den Kummer, den Katherine der armen Constance Glass zufügen konnte, bereitete ihm körperliche Schmerzen. Es war Constance schwer gefallen, sich um ihrer Liebe willen über gesellschaftliche Konventionen hinwegzusetzen. Und Katherine würde dafür sorgen, daß sie den Entschluß bedauerte. Seufzend schloß er den Koffer auf dem Bett. Nein, einen einfachen Ausweg gab es nicht. Das Problem mußte auf drastischere, endgültigere Weise gelöst werden. Scharf nachdenkend ging er in den Keller des Hauses und inspizierte den Vorrat an Chemikalien, den er in seinem behelfsmäßigen Heim-Labor aufbewahrte. Es war einige Monate her, seit er zum letztenmal hier experimentiert hatte; Katherines boshafte Proteste gegen die unvermeidlichen Gerüche hatten ihm jede Lust daran genommen. Er setzte sich an den staubbedeckten Tisch und verschränkte die Hände unter dem Kinn. Innerhalb weniger Minuten hatte er eine passende explosive Formel ausgetüftelt, die sich im wesentlichen aus Terpentin und Hypochlorid zusammensetzte. Entscheidend war es, die Katastrophe in einem Augenblick eintreten zu lassen, da ihn keine Schuld treffen konnte. Er brauchte einen Katalysa104
tor, der die explosiven Chemikalien zum gewünschten Zeitpunkt in Kontakt brachte. Es dauerte nicht lange, bis er das Problem gelöst hatte, und als er alles erledigt hatte, war er überzeugt, daß er sich von morgen um die gleiche Zeit an wegen Katherine nie mehr Sorgen zu machen brauchen würde. Als er die Treppe heraufkam, war seine Frau noch nicht zurück. Für einen Moment überlegte er, ob er ihr einen Zettel hinterlassen sollte, aber dann entschied er, daß seine Abwesenheit seine Absicht deutlich genug machen würde. Er nahm seinen Koffer in die Hand, warf einen letzten Blick auf den Schauplatz seiner Unzufriedenheit und verließ das Haus. Er nahm ein Taxi zu Constance Glass" Wohnung in einem Apartmenthaus an der oberen West End Avenue. Constance öffnete ihm die Tür und blickte ihn scheu an. »Willkommen daheim, Willard.« Am nächsten Morgen machte er sich gutgelaunt, und mit passenden Socken (kontrolliert von Constance), auf den Weg zur Abernathy Chemical Company. Wie vereinbart, folgte Constance zwanzig Minuten später. Es würde keinen guten Eindruck machen, wenn man jeden Tag zusammen kam und wieder ging; möglicherweise hatte die Firma für das Arrangement kein Verständnis. Den ganzen Tag, in einem Zustand vollkommener Glückseligkeit, arbeitete er Seite an Seite mit der Frau, die er liebte. Nur einmal wurde Katherine erwähnt. Es war beim Mittagessen. Constance, die Augen hinter den enormen Brillengläsern verborgen, spielte mit ihrer Gabel und fragte: »Was ist mit ihr, Willard? Was wird Sie unternehmen?« 105
»Ich glaube nicht, daß sie irgendetwas unternimmt«, sagte er und tätschelte ihr die Hand. »Ich glaube nicht, daß wir uns ihretwegen jemals Gedanken zu machen brauchen.« An diesem Abend zog er den Laborkittel aus und verließ mit einem letzten, warmen Austausch von Blicken zwischen ihm und Constance die Labors der Abernathy Company. Constance sollte eine halbe Stunde später folgen. Er betrat die Wohnung, ging summend in die Küche und setzte eine Kanne Kaffee auf. Seit der Zeit vor seiner unglücklichen Ehe hatte er nie mehr ein solches Gefühl des Friedens empfunden. Aber es war sinnlos, die Fehler der Vergangenheit zu bedauern; er hatte diese Fehler ausgesprochen gründlich korrigiert! Er empfand keine Gewissensbisse über Katherines vorzeitiges Hinscheiden; dazu war dessen Zweck viel zu logisch. Etwas Glück hatte er sich verdient, und er würde es genießen. Er setzte sich gemütlich in seinen Lieblingssessel und zündete sich die Pfeife an, die Katherine so haßte. Dann griff er nach der neuesten Ausgabe seiner bevorzugten chemischen Fachzeitschrift und las einen Artikel über Aminosäuren, hörbar uneinig mit den Schlußfolgerungen des Autors. Er war unfaßbar glücklich - bis er sich über sein Wohlbehagen zu wundern begann. Wenn er sich in Constance Glass' Wohnung befand, was hatte dann sein Lieblingssessel hier zu suchen? Er senkte den Blick und erkannte den geblümten Schonbezug. Da realisierte er, daß er ja gar nicht in Constances Wohnung war, sondern daß er automatisch den Bus nach Hause genommen hatte und jetzt im gewohnten Wohnzimmer saß. Er lachte glucksend bei dem Gedanken, wie sehr sich Constance über 106
seinen dummen Irrtum amüsieren würde. Er stand auf, um sie anzurufen, und wählte gerade ihre Nummer, als ihm die Chemikalien einfielen, die sich im Keller auf eine äußerst heftige Reaktion vorbereiteten. Plötzlich fragte er sich, ob seine Berechnungen stimmten. Einen Augenblick später, als der Fußboden explodierte und sich unter seinen Füßen in Nichts auflöste, wußte er, daß dem so war. Sein letzter flüchtiger Gedanke gehörte der Zufriedenheit mit seiner Arbeit.
Das Macktsymbol in Arthur Whittens Leben ergab DersichWendepunkt eines Samstagnachmittags, als er unangenehme Unterleibskrämpfe bekam. Es war typisch für ihn, daß er mit dem Arztbesuch bis Donnerstag wartete, bis zu seinem freien Tag in der Druckerei. Der sachliche junge Mann mit der bärtigen Oberlippe diagnostizierte Dickdarmkatarrh. Er gab Arthur eine kleine weiße Karte mit, die ihn einem Internisten namens Collins vorstellte, der seine Praxis in der 37. Straße, nicht weit von der Fifth Avenue, hatte. Es war eine bemerkenswert vornehme Praxis, und Arthur mußte sich im Wartezimmer eine kleine ChippendaleLiebescouch mit einer rundlichen Matrone teilen, die Reichtum und gute Herkunft verströmte. Er saß zur Hälfte auf dem Sitz und zur Hälfte auf ihrem weiten Nerzmantel, bis die hübsche junge Schwester ihn aus der wartenden Menge erwählte und zu Dr. Collins führte. Hier erlebte er etwas, das er sich immer als »Schmetterlingsflattern im Magen« vorgestellt hatte, und fragte sich, ob die Untersuchung des Arztes dadurch beeinträchtigt wurde. Er wurde durchgewalkt und befragt und erhielt schließlich ein undeutlich geschriebenes Rezept und einen vervielfältigten Diätplan. Das Rezept verlor er auf der Rückfahrt in der U-Bahn, doch er war so dankbar, die eindrucksvolle Praxis heil verlassen zu haben, daß es ihm nichts ausmachte. Seltsamerweise fühlte er sich besser. Zwei Monate später traten die Unterleibsschmerzen 108
wieder auf, diesmal von anderen unangenehmen Symptomen begleitet. Seine Frau, ein dünnes, scheues Wesen, das sich in den vier Jahren ihrer Ehe einen strengen Unteroffizierston angewöhnt hatte, kommandierte ihn wieder zu Dr. Collins. Dieser Besuch führte zu seinem Aufenthalt im Allgemeinen Krankenhaus von New York und zu der Entdekkung, wie schön es doch war, Arzt zu sein. Er teilte sich ein gemütliches Zimmer mit einem älteren Herrn, der von Magengeschwüren geplagt wurde, und sie verbrachten manch verträumte Stunde im Gespräch über ihr Inneres. In den ersten beiden Tagen wurden sie ständig gestört, doch bald setzte sich die Krankenhausroutine durch, und Arthur paßte sich mit derselben natürlichen Selbstverständlichkeit an, die ihm auch schon die Armee und seinen Beruf erleichtert hatte. Zu seiner Überraschung erschien Dr. Collins persönlich an seinem Krankenbett, in Zivil und mit einem Stethoskop über dem Jackett. Arthur war ungemein beeindruckt - noch mehr als bei seinen Besuchen in der Praxis des Arztes. Dr. Collins war kein besonders auffälliger Mann. Er war klein, der Anzug saß ihm schlecht, dazu ging ihm auf sehr unattraktive Weise das Haar aus. Aber die Aura der Macht und Freundlichkeit, die ihn umgab, machte solche Mängel mehr als wett. Seine Haltung ging über bloße Väterlichkeit hinaus; in ihm schien das Charisma des Ärztestandes, der Armee, der Geistlichkeit und des Führungsmanagements miteinander zu verschmelzen. Es gab mehrere andere »Zivilärzte«, die im Krankenhaus nach ihren Patienten sahen, und sie alle, unweigerlich mit einem Stethoskop ausgestattet, erregten die größ109
te Bewunderung und beinahe Ehrerbietung des bettlägerigen Arthur. Am vierten Tag seines Krankenhausaufenthalts durfte Arthur auf dem Flur Spazierengehen. Er wagte sich nicht recht hinaus, da sein Morgenmantel ziemlich verschlissen war. Bei dieser Gelegenheit aber fand er einen weiteren Grund für seine Bewunderung: der Respekt, der den Ärzten von den weißgekleideten Angehörigen des Krankenhauspersonals entgegengebracht wurde. Ein Arzt machte die Flure zu Gängen in einer Burg, da Seiner Königlichen Majestät, das Statussymbol auf der Brust, Respekt gezollt wurde. Als Arthur nach Hause durfte, galten seine Gedanken mehr den Ärzten als den medizinischen Mühen, die in seinem Falle zum Erfolg geführt hatten. Mehrere Monate später ließ ihn auf dem Weg zur Arbeit ein vertrauter Anblick stutzen; im Fenster eines Pfandhauses lag ein Stethoskop, wahrscheinlich aus dem Besitz eines gescheiterten Medizinstudenten, und der Preis, weniger als ein Dollar, entsprach Arthur Whittens Geldbörse. Ohne über seinen Schritt nachzudenken, betrat Arthur den Laden, räusperte sich energisch, wie er es bei Dr. Collins oft gehört hatte, und erwarb das Instrument. Während der Arbeit ließ er es in der Innentasche seines Mantels stecken. Aber er kam frühzeitig vom Essen zurück und nahm das Stethoskop mit zur Toilette. Dort legte er es um. Sein Anblick im Spiegel war erfreulich. Am gleichen Abend erzählte er seiner Frau von dem Kauf, in einer Aufwallung guter Laune nach einer lustigen Fernsehsendung.
»Was hast du gekauft?« fragte sie. »Ein Stethoskop. Willst du es mal sehen?« »Ja«, sagte sie ungläubig. »Zeig mal.« Er eilte zu seinem Mantel und kehrte ins Zimmer zurück, das Stethoskop an Ort und Stelle, nervös an dem kleinen runden Trichter herumtastend. »Mann!« sagte sie kopfschüttelnd. »Mann!« »Gefällt es dir?« Sie fragte nach dem Preis, und er nannte den Betrag. Dann lachte er und versuchte den Trichter auf ihre ziemlich flache Brust zu setzen. Sie kreischte auf und schlug das Ding zur Seite, so kräftig, daß es emporschnellte und Arthur gegen die Nase schlug. »Schätzchen!« sagte er anklagend. »Ich spreche erst wieder mit dir, wenn du das blöde Ding zurückgebracht hast!« Sie verschränkte die Arme und wandte sich wieder dem Fernsehschirm zu. Arthurs Frau vergaß den Zwischenfall aber schnell wieder, und er behielt sein Stethoskop. Der Plan kam nicht aus heiterem Himmel. Er reifte einigermaßen langsam heran, während er sein mittägliches Brot aß, und in den Pausen zwischen der Arbeit und den Fernsehprogrammen. Der Gedanke erregte und erschreckte ihn zugleich. An einem Donnerstag Anfang April stand er ziemlich früh auf und machte sich selbst das Frühstück. Der Vorgang überraschte seine Frau, ebenso seine Absicht, einen Morgenspaziergang zu machen. Normalerweise schlief er an seinem freien Tag bis halb elf, lief dann in Pantoffeln im Haus herum, hockte vor dem kleinen Fernseher oder löste Kreuzworträtsel. Frühe Spaziergänge hatten noch nie auf seinem Programm gestanden.
Das milde Wetter bot genau den Anreiz, den er für seinen Plan noch brauchte. Er stieg am oberen Broadway in die U-Bahn, fuhr in die Stadt und ging von der Station zum Medizinischen Institut von New York an der i i . Straße. Er atmete einmal tief ein, öffnete das Portal und marschierte mit energischen Schritten über den rosa Marmor zum Fahrstuhl. Dort wartete eine kleine Gruppe, die er mit väterlichem Lächeln musterte. Eine Hand steckte in der Tasche, sein Daumen streichelte die glatte Oberfläche des Stethoskops. Arthur trat im Fahrstuhl ganz nach hinten und legte beiläufig sein Instrument um. Die Krankenschwester im dritten Stockwerk lächelte ihn fragend an, sagte aber nichts. Schüchtern erwiderte er das Lächeln, während seine Finger an dem kleinen Trichter spielten, und ging dann an ihrem Tisch vorbei durch den Korridor. Es schien sich um eine Privatstation zu handeln, mit Pendeltüren links und rechts. So konnte er oberhalb und unterhalb der Türen in die Zimmer schauen: die Beine von Betten, Stühlen und Besuchern, weiße Decken und von Zeit zu Zeit den Schädel eines großgewachsenen Mannes. Er ging bis zum Ende des Korridors, drehte um und kehrte zum Fahrstuhl zurück. Beim Liftführer verlangte er das vierte Stockwerk und stellte fest, daß die Station hier halb privat war. Er führte eine ähnlich sinnlose Inspektionstour durch, wobei ihm das Lächeln im Gesicht gefror. Dann versuchte er es mit der sechsten Etage. Hier war die Herausforderung schon größer, denn es handelte sich um eine offene Abteilung. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und ging mit schweren Schritten durch den Mittelgang; das Stethoskop hüpfte ihm dabei 112
auf der Brust. Die Patienten beachteten ihn nicht weiter, was ihm nur recht war. Schließlich war dies sein erster Tag. Als Arthur um vier Uhr nach Hause zurückkehrte, war er im Frieden mit sich und der Welt. Nur eins bekümmerte ihn, daß er die neu gefundene Persönlichkeit nicht seiner Frau offenbaren konnte. Am nächsten Donnerstag tat er dasselbe. Diesmal verbrachte er schon mehr Zeit auf den Stationen. Am dritten Donnerstag machte er sich mit einigen Patienten bekannt, plauderte kurz mit ihnen über ihre Sorgen und versicherte ihnen, daß sie sich keine Sorgen machen müßten. Nach einigen Monaten war er im Medizinischen Institut von New York allgemein bekannt und begann mit den diensthabenden Schwestern und Liftführern und anderen Angehörigen des Personals ein paar scherzhafte Worte auszutauschen. Es kam sogar soweit, daß sein Fehlen bemerkt wurde, als er einmal wegen Grippe im Bett blieb: am darauffolgenden Donnerstag erkundigte sich die Schwester am Haupteingang besorgt nach seinem Ausbleiben. »Ach, nur eine kleine Erkältung«, antwortete er fröhlich. »Ärzte werden auch mal krank, wissen Sie.« Das war das schönste Erlebnis dieses Tages. Das Ende seiner Arztkarriere begann an einem ganz normalen Donnerstag - an einem Tag, da er sich darauf beschränkte, in einer der Stationen mit den Patienten zu plaudern. Ein junger Assistenzarzt namens Morrison begann sich plötzlich für ihn zu interessieren und fragte ihn ehrerbietig nach seiner Meinung über einen Fall von Venenentzündung. Es muß Arthur hoch angerechnet wer-
den, daß er nicht in Panik geriet; er lächelte nur herablassend und gestand bescheiden ein, daß er auf diesem Gebiet keine Ahnung habe. Der junge Mann nahm die Antwort kommentarlos hin. Das Unglück geschah bei seiner Visite in der nächsten Woche. An diesem Tag schien man ihm mit besonderem Respekt zu begegnen; er fühlte sich, wie sich Dr. Collins seiner Meinung nach fühlen mußte. Auf diese Weise ermutigt, suchte er die Privatstation auf, schaute sogar in verschiedene Zimmer und äußerte muntere Worte des Mitgefühls und der Ermutigung. Vor einem Zimmer mit der Nummer 310 unterhielten sich zwei weißgekleidete junge Männer ziemlich laut miteinander; dabei fiel auch das Wort Dickdarmkatarrh. Arthur hob die Augenbrauen und blieb stehen. »Oh, hallo«, sagte einer der jungen Männer lächelnd. »Sie erinnern sich an mich, Doktor? Morrison?« »Ach ja«, sagte Arthur nur leicht beunruhigt. »Habe ich Sie da eben von Dickdarmkatarrh sprechen hören?« »Ja. Ein interessanter Fall. Eiternder Dickdarmkatarrh bei einer dreiundsechzigjährigen Frau.« »Ach ja, über Dickdarmkatarrh weiß ich Bescheid«, sagte Arthur arglos. »Sind Sie Internist?« »Nein.« Arthurs Unruhe nahm zu, und er beschloß der unmittelbaren Gefahr aus dem Weg zu gehen. »Nein, ich bin - Chirurg.« »Ich verstehe.« Morrison bewegte die blonden Wimpern. »Haben Sie mit diesem Krankenhaus zu tun, Doktor?« 114
»Nein, nein«, antwortete Arthur und fummelte an dem kleinen Gummitrichter herum. »Meine Praxis liegt außerhalb der Stadt. Ich mache - nur mal eben einen Tagesbesuch. « »Tagesbesuch?« »Na, ich bin öfter hier«, berichtigte sich Arthur. »Ich habe hier einen Freund ...« Obwohl er sich zu beherrschen suchte, geriet er durcheinander. »Einen anderen Arzt.« »Und der heißt?« »Nun, Doktor...« Er hielt inne. Die ruckhaften Bewegungen, die er mit dem Stethoskop vollführte, ließen das Instrument zu Boden fallen. Er hob es auf und sagte: »Ich muß jetzt gehen.« Er eilte davon in dem Bewußtsein, daß er sich nicht gerade geschickt verhalten hatte. Er verließ den Fahrstuhl im Erdgeschoß und steuerte den Ausgang an, als ihm ein stämmiger junger Mann mit kurzem blondem Haar den Weg verstellte. »Würden Sie bitte einen Augenblick warten, Doktor?« »Warten? Worauf denn?« »Es dauert nur eine Sekunde.« Eine eindrucksvolle schwergewichtige Schwester näherte sich. »Das ist der Mann?« fragte sie mit tiefer Stimme. »Ich bin Dr. Whitten. Was ist los?« »Haben Sie einen Ausweis, Doktor?« »Ausweis?« Arthur klopfte seine Jacke ab. »Nein, ich habe nichts bei mir.« Er sah Morrison aus dem Fahrstuhl kommen und begann zu zittern. »Hören Sie«, sagte der blonde Assistenzarzt leise. »Würden Sie bitte mit ins Büro kommen? Ich glaube, wir
können die Sache ohne Umstände aus der Welt schaffen. Einverstanden?« Arthur nickte. »Ich begreife das alles nicht.« »Uns geht es genauso«, meinte die Schwester stirnrunzelnd. »Kommen Sie bitte mit, Doktor.« Er durfte eine Zigarette rauchen, während sie in dem schmalen Büro am Ende des Korridors warteten. Er nahm das Stethoskop ab und steckte es in die Tasche. Die anderen stellten keine Fragen mehr, und er wagte sich nicht zu erkundigen, worauf sie eigentlich warteten. Das erfuhr er bald. Ein großer breitschultriger Mann trat ein. Sein Gesicht war zerfurcht, die Nase ausgeprägt und knochig, der Mund eine dünne, verkniffene Linie. Er setzte sich lässig auf die Tischkante, schob den grauen Filzhut in den Nacken und zündete sich geschickt eine Zigarette an. Dann blies er Arthur eine Rauchwolke vor die Brust und zückte ein dickes L^deretui. Arthur hielt den Atem an, als der Mann das Etui aufschnellen ließ und das schwere Silberabzeichen enthüllte. »Morgen«, sagte er. »Polizei. Was ist hier los, alter Knabe?« Arthur stammelte eine Erklärung. Sein ärztliches Gehabe wurde abgeworfen wie ein Morgenmantel. Seine Stimme tremulierte haltlos durch alle Tonlagen, seine Hände fuchtelten unkontrolliert. Er hatte doch keinen Schaden anrichten wollen. Er hatte keine Äußerungen gemacht, die als ärztlicher Rat anzusehen wären. Er hatte lediglich das Gefühl des Prestiges und der Macht genossen, ohne die Arbeit und den ärztlichen Ruf der Klinik irgendwie zu beeinträchtigen. »Das ist alles, alter Knabe?« fragte der große Mann. Arthur versicherte, daß nichts weiter vorgefallen sei. Er 116
schwor auf seine Unschuld. Er versprach inbrünstig, er wolle seine Vorstellung weder hier noch in einem anderen Krankenhaus wiederholen. Dramatisch fügte er hinzu, er habe seine Lektion ja nun erhalten. »Was meinen Sie?« wandte sich der Beamte an die Schwester. »Klapsmühle«, sagte die Frau stirnrunzelnd. »Ach, lassen Sie ihn laufen«, meinte Morrison und nickte. »Na schön, alter Knabe«, sagte der Kriminalbeamte. »Sie können verduften. Aber wenn wir Sie noch einmal bei so etwas erwischen ...« Er fuhr sich mit dem Finger über die Kehle. »Vielen Dank«, sagte Arthur schluckend. »Vielen Dank.« Er verließ das Krankenhaus im Trab und behielt das Tempo bei, bis er den Einkaufsdistrikt im südlichen New York erreicht hatte. In der Vierzehnten Straße hielt er atemlos inne und steckte die Hände in die Hosentaschen. Dabei bemerkte er, daß er das Stethoskop liegengelassen hatte; der Verlust bedeutete ihm aber nichts mehr. Bedrückt schlenderte er die belebte Straße entlang. Es war kurz nach siebzehn Uhr, und es herrschte Berufsverkehr. Das blinde Streben der Menschen zu den U-Bahnen und Bussen war besorgniserregend; er stellte sich in eine Tür, um nicht andauernd angerempelt zu werden. Es handelte sich um den Eingang zu einem Spielzeugladen; im Fenster herrschte ein wildes Durcheinander von Puppen und verpackten Spielen und Plastiknachbildungen. Sein Blick fiel auf ein Regal weiter unten, und er hielt den Atem an, als er das schimmernde Objekt entdeckte,
an dem das Schild befestigt war: Schaut Kinder, sieht aus wie echt! Er betrat den Laden und stützte einen Ellenbogen auf den gläsernen Tresen. Der kleine Ladenbesitzer blinzelte und lächelte ihn an. Arthur sagte: »Alter Knabe, wir wollen uns doch mal das Abzeichen ansehen.«
Zwei Zehntel kommt es an«, sagte Hart. Er lehnte sich Aifin diederBeine engen Eßecke nach vorn, wobei die Tischkante in seinen Bierbauch schnitt. Skinner, der ihm gegenüber saß, einen Fingerknöchel im Mund, betrachtete Harts fleischige Mittelpartie und kam sich nicht mehr so unterlegen vor. Zugegeben, er war nur Taxifahrer und der Stoff von Harts Anzug fühlte sich so weich an wie Seide, aber Skinner hatte noch immer einen durchtrainierten Körper unter seiner Arbeitskleidung. Er war in Form, Beine inbegriffen. »Meine Beine sind in Ordnung«, meinte er lässig. »Aber was hat das mit der Sache zu tun? Worum geht's überhaupt?« »Das sagt dir Stanley«, antwortete Hart. Er blickte auf die kostspielige Uhr an seinem feisten Handgelenk. »Er muß jeden Moment hier sein.« »Hör mal, ich kann hier nicht zu meinem Vergnügen rumsitzen -« »Einen Moment, einen kleinen Moment noch«, grinste Hart. Skinner hatte ihn seit beinahe sieben Jahren nicht mehr gesehen, seit sie bei der Abschlußfeier an der Montgomery High School in derselben Reihe gestanden hatten. In diesen sieben Jahren war Hart zu Übergewicht und Vermögen gekommen. Skinner wußte nicht genau wie, aber wenn Stanley Peace sein Partner war, konnte er es sich schon genau vorstellen. Peace hatte nicht in derselben Reihe gestanden, sondern war ein Jahr vor der 119
Abschlußfeier an eine andere Schule übergewechselt - an die Bezirksschule für Schwererziehbare. »Da kommt er ja!« rief Hart. Skinner sah auf, als Peace durch die Drehtür des Restaurants hereinkam. Peace war ein dünner Mann mit runden Schultern, der seinen kleinen Kopf ständig schief hielt, so als horche er auf etwas. Das tat er gewöhnlich auch. Er konnte einen Polizistenschuh auf fünfzig Meter Entfernung quietschen hören. »Na wenn das nicht Speedy Skinner ist«, sagte Peace und gab sich kumpelhaft. »Freut mich wirklich, dich wiederzusehen. Sag mal, nennt man dich eigentlich immer noch so, Speedy, meine ich?« Skinner errötete. Mit der rötlich schimmernden Haut unter seinem blonden Bürstenschnitt sah er wieder wie ein Gymnasiast aus. »Nein«, murmelte er. Peace ließ sich neben Hart auf die Sitzbank gleiten. »Den Namen hast du dir wirklich verdient, alter Freund. Hab nie jemanden so rennen sehen wie dich. Wie war doch gleich dein Meilenrekord?« »4 :10, aber das war nur Schulrekord. Meinen großen Rekord habe ich im zoo-Meter Sprint aufgestellt.« »Klar, klar«, meinte Peace vage und schnippte dabei mit den Fingern nach einem Kellner. »Heh, könnte ich vielleicht einen Kaffee kriegen?« »Die 200 Meter habe ich unter vierundzwanzig Sekunden geschafft. Das war in dem Jahr, als Bragg den amerikanischen Rekord auf einundzwanzig eins drückte. Ich hätte beinahe die Staatsmeisterschaften der High Schools gewonnen, aber Lester Arnow hat mich um zwei Sekunden geschlagen. Stellt euch das mal vor: zwei lausige Sekunden!«
»Ja, ja«, Hart lachte glucksend. »Ich war sicher, du hättest ihn im Griff, Speedy. Ich konnte diesen aufgeblasenen Kerl Lester Arnow nie ausstehen.« »Was ist eigentlich aus ihm geworden?« fragte Peace. »Keine Ahnung«, antwortete Skinner mürrisch. »Wahrscheinlich ist er ein großes Tier in irgend so 'ner Firma. Er war der Typ dafür.« »Ja, ich weiß, was du meinst. Und was machst du denn so jetzt?« versetzte Peace hinterhältig. »Ich? Ich bin Taxifahrer.« Peace schloß die Augen und lächelte. »Lester Arnow ist ein großes Tier, und du bist Taxifahrer. Scheint, als hätte er dich schon wieder geschlagen, nicht?« Skinner ballte die Fäuste auf dem Tisch. »Hört mal. Ihr habt doch irgendwas vor, also raus damit. Ihr müßt doch einen Grund gehabt haben, mich herzubestellen.« »Na klar, Speedy. Fünfzigtausend Gründe.« »Was?« »Fünfzig Riesen, Speedy. Möchtest du mal soviel Geld verdienen?« Skinner erblaßte, und die Blässe machte ihn wieder älter. »Ihr meint einen Überfall?« flüsterte er. »Ist es das, was ihr damit meint?« »Du weißt doch, was Hart und ich machen, Speedy, tu nicht so überrascht. Wenn du nicht interessiert bist, nehmen wir's dir nicht übel. Wir machen dann einfach einen anderen reich.« »Aber warum ich?« fragte Skinner. »Ich war in der Schule nie mit euch beiden zusammen. Wie kommt ihr gerade auf mich?« »Es kommt dabei auf Beine an«, erklärte Hart. »Ich hab's dir doch schon gesagt.«
Peace sagte: »Die Sache geht schnell und ist idiotensicher. Es schaut eine Menge dabei heraus. Machst du mit oder nicht?« »Wie soll ich das wissen?« Peace nickte verständnisvoll; dann neigte er sich näher zu Skinner. »Kennst du die Triton-Werkzeugfabrik?« »Klar, jeder in der Stadt kennt die. Hab in den Sommermonaten selbst oft dort gearbeitet.« »Hart hier arbeitet seit 2 Monaten da, in der Wartungsabteilung, nur um rauszukriegen, wie's anzustellen ist.« »Einfach Klasse«, grinste Hart. »Das schönste Ding, das je mit Lohngeldern gedreht wurde.« »Lohngelder?« »Mindestens hundertfünfzig Riesen«, sagte Peace. »An jedem Ersten werden sie in einem gepanzerten Fahrzeug hingeschafft.« Er holte ein zusammengefaltetes Papierviereck aus der Tasche, das schon so oft gefalzt worden war, daß es weich war wie ein Handtuch. Skinner betrachtete das in groben Zügen aufgezeichnete Schema, wurde daraus aber nicht schlau. Peace erklärte es ihm, wobei er das Blatt glattstrich und auf verschiedene Stellen zeigte. »Das ganze Gebiet hier ist der Fabrikvorhof. Es ist ein wirklich großer Hof, vielleicht hundertfünfzig Meter breit; er wurde als Parkplatz benutzt, bis man das Gelände auf der anderen Seite kaufte. Jetzt ist das Ganze umzäunt; mit einem Wagen kommt man nirgends an das Hauptgebäude ran. Deshalb müssen wir die Sache anders anpacken.« »Anders?« »Das erklär ich dir gleich. Also das hier ist der Vordereingang, wo die Arbeiter reinkommen, und das hier ist
der Seiteneingang; hier kommen die verschiedenen Chefs rein. Kapiert?« »Ich glaub schon.« »Also, es gibt eine Situation, wo die Moneten offen rumliegen, und das ist an Zahltagen. Sie holen das Geld aus dem Safe und stecken es in kleine Umschläge; Triton zahlt gern bar aus. Hart hat den Zeitpunkt fünf Wochen lang kontrolliert, und er stimmt immer auf die Minute zehn Uhr fünfzehn, jeden Freitagmorgen, schließen sich Wexler, der Kassenleiter und drei alte Sekretärinnen im Büro ein und fangen an, es aufzuteilen.« »Aber wenn sie doch die Tür abschließen -« »An dem Tag wird sie nicht abgeschlossen sein«, unterbrach ihn Peace. »Dafür sorgt Hart schon, nicht?« »Darauf kannst du wetten«, sagte Hart. »Schau Speedy, ich bin doch beim Wartungstrupp. Am Tag davor mache ich eine Routinekontrolle aller Schlösser. Dabei sorge ich dafür, daß man der Tür nur einen kräftigen Schubs zu geben braucht und sie auffliegt. Du wirst überhaupt keine Probleme haben.« »Ich?« fragte Skinner. »Nur ein Kerl wie du kann das machen«, besänftigte ihn Peace. »Es ist keine Kunst, die Geldtasche zu schnappen; der alte Wexler wird viel zu viel Angst haben, als daß er Ärger macht. Der schwierige Teil ist das Wegkommen; wie ich schon sagte, können wir den Fluchtwagen nicht nahe genug am Büro parken. Einer muß wohl rennen.« »Es sind gute hundertfünfzig Meter vom Lohnbüro bis zum Seiteneingang«, erklärte Hart. »Der Haupteingang liegt näher, aber der ist um diese Zeit immer schon geschlossen. «
»O nein«, rief Skinner. »Dieses Risiko gehe ich nicht ein, nicht einmal für eine Million Dollar. Außerdem, wie würde ich überhaupt da rezwkommen? Man muß sich ausweisen können, wenn man -« »Du nimmst Harts Erkennungsmarke. An diesem Tag wird er nicht arbeiten; er sitzt in einem Wagen beim Seiteneingang, mit mir. Niemand wird dich anhalten; es melden sich jeden Tag neue Arbeiter in der Fabrik. Glaub mir, Speedy, die ganze Sache ist ein Kinderspiel - für jemanden wie dich, der rennen kann.« »Ich kann nicht schneller rennen als eine Kugel -« »Kugeln wird's keine geben«, fiel Hart ihm ins Wort. »Der alte Wexler könnte niemals auf jemanden schießen, selbst wenn er eine Pistole hätte. Alles, was du tun mußt, ist rennen, wie wenn der Teufel hinter dir her wäre.« »Fünfzig Riesen«, sagte Peace träumerisch. »Du könntest deine Karre da draußen vergessen. Du könntest dir eine ganze Flotte leisten ...« »Tut mir leid, das ist nichts für mich.« »Was hab ich dir gesagt?« meinte Peace verächtlich. »Ich hab dir doch gesagt, er kann nicht mehr rennen, Hart.« »Das ist es nicht —« »Klar, wir verstehen schon. Es liegt an deiner Kondition. Deswegen hast du dich ja auch von Lester Arnow schlagen lassen.« Peace lachte, und ließ einen Dollar auf den Tisch fallen. »Komm schon, Hart, hauen wir ab.« Er stand auf und berührte Skinners Schulter. »Falls du deine Meinung änderst, Speedy, ruf Hart im Palace Hotel an.« »Ich ändere meine Meinung nicht«, sagte Skinner. Aber an diesem Abend rief er Hart an und tat genau das. 124
Am Samstagmorgen wachte Skinner um sechs Uhr auf, zog ein Sweatshirt, Khakihosen und ein Paar Trainingsschuhe an. Er nahm den Bus zum Green Park am Rand der Stadt. Um diese Zeit war noch kein Mensch dort; nur die Vögel und Eichhörnchen sahen, wie er auf dem leeren Ballspielplatz hundert Meter abschritt und dann die Distanz rannte, so schnell er nur konnte. Er keuchte stark, als er die imaginäre Ziellinie erreichte, aber dennoch war er mit der Leistung seiner Beine zufrieden. Am Sonntagmorgen absolvierte er einen weiteren Probelauf im Gelände, wobei er sein Tempo sogar noch steigerte. Er war zufrieden mit sich; die ganze Woche träumte er von den Staatsmeisterschaften, damals an der High School — nur daß er diesmal das Zielband vor Arnow zerriß. Am Mittwochmorgen testeten sie die eine Hälfte des Plans. Skinner nahm Harts Erkennungsmarke, zog einen schmutzigen Overall an und ging zur Arbeit bei der Triton Tool Company. Die Wache am Haupteingang beachtete ihn nicht im geringsten. Eine Weile spazierte Skinner in den Gebäuden herum, dann schlenderte er wie selbstverständlich über den Fabrikhof. Der entsprach genau Peaces Beschreibung; Skinner konnte das Fenster vom Lohnbüro sehen, und den alten Mann am vordersten Schreibtisch. Er schätzte die Entfernung zwischen Büro und Seiteneingang; sie war nicht größer als hundertfünfzig Meter. Es würde nicht schwer sein. Am Donnerstag abend traf sich das Trio in Harts Hotelzimmer, um den Plan noch einmal durchzusprechen, sorgfältig, Schritt für Schritt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Skinner das alles schon so oft gehört, daß ihm davon übel wurde; aber ihm wurde erst recht übel, als ihm Peace den
kleinen Revolver in die Hand drückte, der zu dem Plan gehörte. »Er ist nicht geladen«, sagte Peace. »Brauchst keine Angst zu haben, Speedy, wir gehen kein Risiko ein.« »Ich hab keine Angst«, Skinner schluckte einmal leer und steckte die Waffe ein. »Bist du sicher wegen dieser Tür, Hart?« »Absolut. Ein kräftiger Stoß genügt. Aber mach schnell: halt Wexler die Kanone vor die Nase und schnapp dir die Geldtasche. Und sei ja keine Sekunde später da als zehn Uhr fünfzehn.« »Wie steht's mit der Kondition?« grinste Peace. Skinners Kondition ließ zu wünschen übrig, als ihn am Freitagmorgen der Wecker aus dem Schlaf riß. Er wußte, es war nur eine Eigentümlichkeit seines Nervensystems; bisher hatte sich vor jedem Rennen diese Kurzatmigkeit bei ihm eingestellt. Als er durch den Haupteingang der Triton Company ging, klopfte sein Herz wie wild unter der großen Metallmarke, die ihn als Mitglied der Wartungsmannschaft auswies. Diesmal nickte ihm der Wachtposten am Tor sogar wie einem Bekannten zu. Er ließ sich im Strom der Angestellten bis zum Hauptgebäude der Fabrik treiben, löste sich aber von ihnen, ehe er die Stechuhren erreichte. Am Ende eines langen Ganges war eine Herrentoilette; er ging hinein und schloß sich in einer der Toiletten bis fünf vor zehn ein. Dann kam er heraus und ging auf den Fabrikhof. Zwei Männer in Straßenanzügen schlenderten auf dem Hof herum, beide grauhaarig und korpulent; sie sahen aus wie leitende Firmenangestellte auf einer Inspektions126
tour. Skinner begann, in dem für ihn ungewohnten Overall zu schwitzen; da hatte er den Einfall, ein herumliegendes kleines Brett aufzuheben und damit über den Hof zu marschieren. Das Requisit gab ihm das Gefühl, authentischer zu wirken; er pfiff sogar vor sich hin, als er an den beiden Herren vorbeiging, die ihm keinerlei Beachtung schenkten. Um fünf Minuten nach zehn verschwanden die grauhaarigen Typen im Verwaltungsgebäude. Skinner, allein auf dem leeren Hof, überkam das Gefühl, daß er auffiel. Er lehnte das Brett gegen die Mauer und bückte sich, um seine Schnürsenkel zu binden. Dann machte er sich auf, um den Hof zu überqueren, langsam, um Wexler, dem Kassenleiter, viel Zeit zu lassen. Er steckte die Hand in die Tasche und spürte die kalte Mündung des kleinen Revolvers. Es war noch nicht ganz zehn Uhr fünfzehn, als er sich dem Lohnbüro näherte, aber er hatte Glück. Wexler hatte früher als sonst angefangen; er stand über den klobigen Bürosafe gebeugt und drehte gerade an dessen Griff. Skinner ging weiter; seine Zeiteinteilung war perfekt. Genau in dem Moment, als er nur noch einen Fingerbreit vom Türgriff entfernt war, hob Wexler die schwere schwarze Tasche aus dem Safe. Er legte seine Hand auf den Türgriff und drückte die Klinke herunter. Die Tür leistete einen Moment lang Widerstand, und Skinner geriet beinahe in Panik. Dann drückte er nochmal, und sie gab nach. Der alte Kassenleiter sah auf mit einem Gesichtsausdruck, der eher ärgerlich war als überrascht oder erschrocken. Skinner fummelte in seiner rechten Tasche I2
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herum und brachte die Waffe zum Vorschein. Die Frau im Büro gab einen kurzen, schrillen Schrei von sich, worauf Skinner schnauzte: »Maul halten, alle! Verstanden? Gib die Tasche da rüber, du!« »Ich kann nicht!« stieß der alte Mann hervor. »Das sind unsere Löhne!« »Die will ich ja auch«, knurrte Skinner. »Gib sie her!« »Mr. Wexler!« wimmerte die Frau. »Gib schon her!« Zögernd übergab ihm der alte Mann die Tasche. Skinner packte sie und war erstaunt über ihr Gewicht. Sie wog gute sechs Kilo; das würde ein Handikap sein, aber er konnte damit fertig werden. »Keinen Laut«, er ging rückwärts zur Tür. »Wenn mir jemand folgt, schieße ich!« Dann war er draußen. Er knallte die Tür zu und fing an zu rennen. Speedy! Speedy! Hopp, hopp, hopp! Es war wie vor sieben Jahren. Fast konnte er das Tosen der Menge hören. Er konnte seine Beine fühlen, die wundervoll arbeiteten. Er konnte die Sonne auf seinem Gesicht fühlen, und den Wind hören, wie er an seinen Ohren vorbeipfiff. Hinter sich vernahm er das Geräusch fremder Füße, die ihm über den Betonbelag des Fabrikhofs nachjagten, doch diese Füße waren bleiern, seine hingegen beflügelt. Vor sich sah er den Seiteneingang, heißer ersehnt als jedes Zielband, das er je hatte erreichen wollen, und er wußte, er lief das Rennen seines Lebens. Schneller, immer schneller, mit dem Wunsch, daß seine Zeit gestoppt würde, mit dem Wunsch, daß 128
seine Leistung für immer in die Annalen des Sports einginge ... Speedy! Speedy! Hopp, hopp, h Jemand packte ihn von hinten! Er sah, wie ihm der Betonboden entgegenkam, und es gelang ihm, seinen Körper herumzuwerfen und ihn mit der Schulter abzufangen. Der Aufprall preßte das letzte bißchen Luft aus seinen Lungen. Er versuchte, aufzustehen und weiterzurennen, aber seine Beine wurden festgehalten. Ungläubig schrie er auf; er war noch nie so gut gelaufen. Wie konnte das passieren? Er drehte mühsam den Kopf. Der junge Mann, der seine Knöchel festhielt, sah ihn an und machte eine Grimasse. »Tut mir leid, Junge«, keuchte er. »Ich konnte dich nicht mit unseren Moneten abhauen lassen. Mein Gehalt ist auch da drin -« Skinner starrte ihn an; langsam setzte die Erinnerung ein. Das Haar des Mannes war dunkler und spärlicher geworden. Sein Kinn war markant und noch immer energisch. Er hatte seit der Schulzeit nicht zugenommen, und das machte es leichter, ihn wiederzuerkennen: Lester Arnow, der Kurzstrecken-Meister. »Arnow«, stöhnte er. »Lester Arnow! Was tust du denn hier?« »Ich arbeite hier«, erwiderte Arnow steif. »Ich bin Abteilungsleiter. Was dagegen?« Dann waren noch andere um ihn herum, die zuerst das Geld aufhoben und dann Skinner; vage hörte er sie über die zwei Männer sprechen, die von den Wachtposten der Fabrik vor dem Tor festgenommen worden
waren. Aber das Schicksal von Peace und Hart kümmerte ihn nicht - ebensowenig sein eigenes. Nicht einmal die Lohngelder kümmerten ihn. Das einzige, was ihn kümmerte, war die Tatsache, daß er wieder nur Zweiter geworden war.
Die unbenannte Krankheit viel an dem kleinen, helläugigen Mann, EsderwarDr.nichtCraverts Behandlungszimmer betrat, und es wurde noch weniger, nachdem er Schulterpolster, Hemd und Krawatte abgelegt hatte. Seine Gesichtsfarbe war fahl, sein Ausdruck melancholisch, und die grobknochigen Hände, die am Ende von stengelhaft dürren Armen baumelten, zitterten unaufhörlich. Er klagte über Gelenkschmerzen, Schlaflosigkeit, ein Summen im linken Ohr und ein Zucken im rechten Auge, und um seine nackte Taille formte ein seltsamer blauer Ausschlag einen Kummerbund. Er hieß Herman Kunkle, Alter 38, und er fuhr einen Milchwagen. »Hmm«, machte Dr. Cravert seinem Berufsstand entsprechend. »Wie lange haben Sie diesen Ausschlag schon?« »Drei, vier Wochen«, seufzte Kunkle. »Er juckt nicht, macht keine Beschwerden. Dafür kitzelt's mich nachts an den Füßen.« »Kitzeln?« »Ja, kitzeln, mitten in der Nacht. Ich muß immer so laut lachen, daß ich aufwache.« »Ich glaube, wir machen besser eine gründliche Untersuchung«, meinte Dr. Cravert düster. Der Arzt löste sein Versprechen ein, soweit ihm das seine diagnostischen Apparaturen erlaubten. Craverts Praxis lag in einem Stadtteil, mit dem es seit zwanzig Jahren abwärts ging. Als die Städteplaner endlich Neu-
bauten errichteten, war er zu alt, um mit der Poliklinik zu konkurrieren, die zu diesem Projekt gehörte. Er war einmal ehrgeizig gewesen, brennend nach Anerkennung und Ruhm. Jetzt, da er die seltsamen Veränderungen an Herman Kunkles Körper untersuchte, flackerte diese Flamme wieder auf. »Mr. Kunkle«, er schlug sich das Reflexhämmerchen in die Handfläche. »Was immer mit Ihnen nicht stimmt etwas Alltägliches ist es nicht. Ich möchte Sie zunächst gründlich röntgen lassen, ehe ich mir eine Meinung bilde.« »Können Sie mir nicht irgendwas geben? Vielleicht Penizillin?« »Das kann ich erst entscheiden, wenn meine Diagnose abgeschlossen ist. Durchaus möglich ...« Er holte tief Luft. »Durchaus möglich, daß Sie eine völlig unbekannte Krankheit haben, Mr. Kunkle.« Als Kunkle ging, unzufrieden, die Anschrift eines Röntgenarztes in der Tasche, nutzte Dr. Cravert die Pause zwischen zwei Patienten, um das Problem zu überdenken. Die Pause war lang - und je mehr er über Kunkles Syndrom brütete, desto stärker wurde seine Überzeugung, daß er hier über etwas völlig Neues gestolpert war. Eine Möglichkeit nach der anderen ging er durch und verwarf sie. Cravert war stolz auf seine enzyklopädische Kenntnis der Pathologie; sein erstaunliches Gedächtnis während seiner Studienzeit hatte ihn zum Klassenbesten gemacht. Leider hatte er bald darauf erfahren müssen, daß für den Erfolg eines Arztes nicht allein Gedächtnis und akademische Fähigkeiten ausschlaggebend waren. Es spielte noch ein intuitives, geheimnisvolles Etwas mit, das ihm fehlte; vielleicht Persönlichkeit. Zuerst war er cnt-
täuscht, dann verbittert, und schließlich fand er sich mit 5-Dollar Honoraren und Kurzzeitpatienten ab: Kunkle zum Beispiel war von der Straße hereingekommen. Aber was stimmte mit Kunkle nicht? Zurück zu seinen Nachforschungen. In dieser Nacht saß er vier Stunden über seinen Fachbüchern und suchte nach einer Stelle, die ihm entfallen sein könnte. Je mehr er suchte, desto mehr nahm seine Erregung zu. Während er einen Band nach dem anderen beiseitelegte, hoffte er in Wirklichkeit, er möge keine Beschreibung von Kunkles Beschwerden finden. Er wollte nicht, daß sie existierte. Er wollte, daß Kunkle eine Entdeckung war - seine Entdeckung. Als der Arzt zu Bett ging, verfaßte er im Kopf bereits die ersten Sätze seines Fachartikels: »Die Cravertsche Krankheit äußert sich in folgenden Symptomen .. .« Kunkle kehrte zwei Tage später mit den Röntgenaufnahmen zurück. Cravert las die dazugehörigen Berichte des Röntgenologen und verschaffte sich eine Bestätigung, indem er sorgfältig die Negative untersuchte. Kein Zweifel: die Röntgenanalyse lieferte keine weiteren Hinweise. »Na, Doc?« fragte Kunkle. »Was sehen Sie?« »Nichts Ungewöhnliches. Fraglos leiden Sie an etwas Seltenem - etwas Einzigartigem, um genau zu sein. Ich möchte mir gerne Ihr Blutbild, Ihren Stoffwechselrhythmus und so weiter genauer ansehen, dann sehen wir weiter. Übrigens«, sagte er, als Kunkle langsam das Hemd auszog. »Es dürfte Sie interessieren zu erfahren, daß ich den ärztlichen Fachzeitschriften einen Bericht über Ihren Fall vorlegen werde.« Er lachte vergnügt in
sich hinein. »Sie werden berühmt, Mr. Kunkle - der erste Mann mit der Cravertschen Krankheit.« »Mit was?« Kunkle blinzelte. »Mit der Cravertschen Krankheit«, antwortete der Arzt. »So nenne ich sie-. Würden Sie bitte den linken Arm ausstrecken?« »Haben Sie nicht gesagt, Sie kennen die Krankheit gar nicht?« »Nein, deshalb gebe ich ihr ja einen Namen.« Cravert strahlte ihn an und nahm eine Blutprobe. Kunkle verfolgte den Vorgang teilnahmslos; sein Mund verzerrt durch die Qualen eines unbestimmten Gefühls. »Das kapier ich nicht!« brach es aus ihm heraus. »Wie kommen Sie auf den Namen Cravertsche Krankheit?« »Na, weil das mein Name ist - Cravert.« »Ja schon, aber Sie haben die Krankheit doch nicht, Doc! Ich habe sie.« Cravert lachte und schüttelte die Probe im Reagenzglas. »Das ist mir bekannt, Mr. Kunkle, aber so wird das nun mal gemacht. Eine neue Krankheit wird stets nach ihrem Entdecker benannt. Und das bin ich.« »Sie!« Kunkles Kiefer verkrampften sich angriffslustig. »Was soll das heißen - Sie? Ich habe sie entdeckt, ich muß mich damit herumschlagen. Sie müßten sie Kunklesche Krankheit nennen.« »Aber das ist einfach nicht üblich! Haben Sie schon mal von der Brightschen Krankheit gehört? Von der Hodgkinschen Krankheit? Oder von der Parkinsonschen Krankheit? Die sind alle nach dem Arzt benannt, der sie als erster diagnostiziert hat.« »Die sind mir völlig gleichgültig!« Kunkle gestikulierte wild mit seinen dünnen Armen - das erste Zeichen von '34
Leben, das er seit seinem Erscheinen an den Tag legte. »Es ist nicht fair, sie irgendwie anders zu nennen als Kunklesche Krankheit! Ich habe die Krankheit, mir gebührt der Ruhm!« »Aber, Mr. Kunkle ...« »Kommen Sie mir nicht so!« schrie Kunkle. »Sie nennen sie besser nicht Cravertsche Krankheit, dazu haben Sie kein Recht!« »Ich fürchte, darüber haben Sie nicht zu befinden ...« »Ach nein?« Kunkle schnappte sich sein Hemd und begann, es sich überzuzerren. »Was machen Sie denn da?« »Ich verschwinde!« versetzte Kunkle erregt. »Genau das mache ich! Ich suche mir einen anderen Arzt...« »Das können Sie nicht tun! Ich habe schon begonnen ...« »Niemand kann mir verbieten, mir den Arzt auszusuchen, der mir paßt! Ich finde einen, der das, was ich da habe, beim richtigen Namen nennt!« Er ließ die Krawatte um seinen dünnen Hals schnellen. »Die Kunklesche Krankheit!« rief er, mit behenden Händen den Stoff zurechtzerrend. »Herman-Kunkle-Krankheit! Das lasse ich mir von Ihnen nicht nehmen, Mister!« Mit wehendem Hemdzipfel verließ Kunkle steifbeinig das Behandlungszimmer. Die Tür fiel so heftig ins Schloß, das Cravert das Reagenzglas aus der Hand rutschte. Es zerbrach klirrend auf dem Fußboden und der Arzt starrte ausdruckslos die Blutspritzer auf den weißen Kacheln an. Für den Rest des Tages fühlte er sich entnervt. Immer wieder las er die erste Seite des Artikels, den er hatte veröffentlichen lassen wollen. Der Text war erst ein Ent-
wurf, abhängig von den Ergebnissen seiner weiteren Untersuchungen; bis jetzt stand lediglich der Titel fest: Bericht über die Entdeckung der Cravertschen Krankheit. Worte, die ihn nun zu verhöhnen schienen. Zornig zerriß er die Seite und ließ die Fetzen in den Papierkorb flattern. Die Endgültigkeit der Geste schmerzte ihn; der Schmerz wurde schließlich körperlich, so daß er ein Schmerzmittel nahm. Als das Telefon klingelte und ein Patient einen Termin vereinbaren wollte, brummte er eine Entschuldigung; er hatte keine Lust, mit irgendjemanden zu reden. Zum ersten Mal, seit Herman Kunkle seinen blauen Ausschlag und seine eigenartigen Symptome in seine Praxis gebracht hatte, erkannte er, wie wichtig, wie lebensnotwendig die Gelegenheit war, die sich ihm damit bot. Das Versprechen von Ruhm aus seiner Studentenzeit stand kurz vor seiner Erfüllung; nach der Anerkennung, die ihm versagt geblieben war, hätte er jetzt nur die Spritze auszustrecken brauchen. Herman Kunkle war mehr als ein Patient. Er verkörperte Craverts Unsterblichkeit! An diesem Abend, in der trüben Stille seiner Wohnung, traf er die erforderliche Entscheidung. Er rief Kunkle an. »Mr. Kunkle? Hier Dr. Cravert.« »Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen, Doc. Ich bin morgen früh in der Poliklinik angemeldet.« Cravert verzog das Gesicht. -»Mr. Kunkle. Sie machen einen Fehler! Ich habe die richtige Behandlung für Ihre Krankheit bereits gefunden. Sie sind es sich selbst schuldig, sich von mir helfen zu lassen.« »Aber ich habe keine Cravertsche Krankheit...« 136
»Ich habe nichts von einer Cravertschen Krankheit gesagt. Da Ihnen dieser Punkt so wichtig ist, verspreche ich Ihnen, sie nicht so zu nennen.« »Ehrlich?« fragte Kunkle mißtrauisch. »Ehrlich. Natürlich will ich nach wie vor meinen Artikel schreiben; das bin ich meinem Berufsstand schuldig. Aber wenn Sie möchten, daß ich sie Kunklesche Krankheit nenne, oder wie auch immer, dann werde ich das tun.« »Wer gibt mir die Garantie?« »Wie bitte?« »Wer garantiert mir, daß Sie Ihr Wort halten?« Cravert seufzte. »Ich geb's Ihnen schriftlich. Ich lasse mein Versprechen öffentlich bekanntgeben. Sie können den Artikel selbst abschicken. Ich tue alles, was Sie sagen. Können Sie morgen wieder in meine Praxis kommen?« Ein kurzes Schweigen. »Na schön, Doc. Solange Sie Ihr Versprechen halten.« Kunkle kam am nächsten Tag, und nach einer umfassenden Reihe von Tests und Untersuchungen begann Dr. Cravert seine erste Behandlung mit einer intravenösen Injektion. »Damit komme ich zum Schluß, meine Herren«, sagte Dr. Cravert, wobei er sich langsam drehte, um das gesamte Auditorium mit seinem Blick zu umfassen. »Wenn wir vom Ärztestand es auch vorziehen, die Gesamtheit des medizinischen Wissens durch neue Heilmethoden, und nicht durch neue Krankheiten zu erweitern, so ist unsere Aufgabe doch klar. Die Cravertsche '37
Krankheit hat Eingang ins Lexikon der menschlichen Leiden gefunden. Und so selten die Krankheit auch sein mag, ist sie doch leider als tödlich einzustufen. Zumindest«, fügte er würdevoll hinzu, »in diesem besonderen Fall.«
Ruths Problem as Geräusch der Wohnungstür, die sich hinter DRalph schloß, hatte etwas Schroffes an sich, das Ruth wie ein Schlag traf. Zwischen ihnen wuchs eine Mauer empor; beide haßten sie und konnten nichts dagegen tun. Sie waren nun schon fast zehn Jahre verheiratet und hatten es sich zur Regel gemacht, einen Streit nie ungeklärt in der Luft hängen zu lassen. Doch die Lippen der beiden waren kalt geblieben, als Ralph sie zum Abschied geküßt hatte. Ruth seufzte und ging ins Wohnzimmer. Auf dem Fernsehgerät lag eine offene Zigarettenpackung. Sie zündete sich eine an. Die Zigarette schmeckte ausgesprochen scheußlich; sie drückte sie ungestüm wieder aus. Dann ging sie in die Küche, schenkte sich eine zweite Tasse Kaffee ein, setzte sich hin und wartete. Sie wußte genau, wie es weitergehen würde. In einer halben Stunde traf ihr Mann im Büro ein. Fünf Minuten später würde er am Telefon hängen, um ihrer Mutter in taktloser Weise vom gestrigen Vorfall zu berichten, dem dritten in drei Wochen. Die Stimme ihrer Mutter würde bewundernswert fest bleiben, solange sie ihm antwortete, doch wenn sie dann Ruths Nummer wählte, stieg bereits das Schluchzen in ihr empor, und schon die ersten Worte würde sie nur erstickt und kummervoll herausbringen. Um viertel nach zehn klingelte das Telefon. Ruth griff nach dem Hörer. Fast hätte sie gelächelt, so genau traf ihre Voraussage ein. »Hallo?«
Natürlich war es ihre Mutter, deren dünne Stimme Worte der Sorge und des Mitgefühls herausschluchzte. »Mutter, bitte!« Ruth schloß die Augen. »Du mußt dich endlich an den Gedanken gewöhnen. Ich stehle, Mama. Ich kann nichts dafür. Versuch das doch zu verstehen . ..« Die Stimme am Telefon sprach von Ärzten und Reisen ins Ausland - Dinge, die sich Ruth und ihr Mann nach Ruths Ansicht einfach nicht leisten konnten. »Ich weiß, es ist eine Krankheit«, sagte sie. »Ich weiß, es ist nicht angenehm. Heutzutage ist man als Mörder oder Alkoholiker besser dran. Es wird einem mehr Verständnis entgegengebracht...« Ihre Mutter weinte. »Bitte, Mama. So hilfst du mir nicht. So hilfst du mir wirklich überhaupt nicht.« Als sie einen ruhigen Moment erwischte, der lange genug anhielt, um sich zu verabschieden und aufzulegen, kehrte Ruth ins Wohnzimmer zurück und legte den Kopf auf die Sofalehne. Wieder quälten sie die Fragen. Wie passiert es eigentlich? Warum kommt es dazu? Warum stehle ich? Könnte ein Arzt - einer von diesen Ärzten - ihr helfen? Sie schauderte. Als Kind war sie völlig normal. Ihre Familie hatte Geld, nicht viel, aber immerhin. Man hatte in einem vornehmen doppelstöckigen Haus mit Blick auf die Bucht von San Francisco gewohnt. In der Schule war sie gut mitgekommen, eine der besten Schülerinnen. Niemand brachte mehr beste Noten mit nach Hause als sie, nicht einmal die beiden kühlen, abweisenden jungen Damen, die Ruths ältere Schwestern waren. Außerdem war sie beliebt. 140
Aber die Diebstähle - damals schon. Ihr erstes Verbrechen war Fanny Ritters Bleistiftschachtel, wunderschön mit blauer Borte und Geheimfächern. Sie hatte den Fehler begangen, ihren neuen Besitz zu Hause vorzuzeigen, und da wußte man Bescheid. Alle wußten Bescheid. Sie war eine Diebin! Ruth Moody, jetzt achtundzwanzig, weinte in ihrem Wohnzimmer über den Kummer einer Dreizehnjährigen. Nein, entschied Ruth schließlich, wie schon so oft zuvor. Es lag nicht an irgendetwas in der Vergangenheit. Ihre Vergangenheit war gut und unschuldig. Doch noch immer fehlte die Antwort auf die Frage: warum stahl sie? Warum ließ sie im Warenhaus an der Washington Avenue Fadenspulen mitgehen? Billige Perlknöpfe vom Kurzwarenstand? Warum verließ sie das Modegeschäft an der Fourth Avenue mit einer nicht bezahlten Abendtasche? Man hatte sich verständnisvoll gezeigt. Ausnahmslos. Man hatte Ralph angerufen. Man war sich bewußt, daß sie in Wirklichkeit keine Ladendiebin war, sondern eine Frau mit einem Problem. Es lief alles ganz einfach ab. Ralph bezahlte die mitgenommene Ware, eine ordentliche Quittung wurde ausgestellt. Ruths Name und Beschreibung wurden griffbereit in den Unterlagen festgehalten, falls so etwas noch einmal geschehen sollte ... Gegen elf Uhr ließ ein Klingeln sie auffahren. Sie war eingeschlafen und blickte zunächst zum Telefon; dann erkannte sie, daß es die Türglocke war. Der Mann vor der Tür nahm bei ihrem Erscheinen den Hut ab, aber das war seine einzige höfliche Geste. Unaufgefordert trat er ein und schloß die Tür hinter sich. Er war klein, und sein Gesicht hatte ein erhitztes, verbrann141
tes Aussehen, als hätte er zu lange unter der Höhensonne gelegen. Sein dichtes Haar schimmerte, und sein Anzug war zu gut gebügelt. »Sie sind Ruth Moody?« fragte er. »Ja.« Sie war eher verärgert als verängstigt. Er lächelte und zeigte tabakgelbe Zähne. »Ich muß mit Ihnen was Geschäftliches besprechen, Mrs. Moody.« Er machte eine Kopfbewegung Richtung Wohnzimmer. »Gehen wir rein?« »Welche Art von Geschäft? Wenn Sie mir etwas verkaufen wollen ...« »Ich kaufe, Mrs. Moody.« Er lachte selbstzufrieden. »Haben Sie was dagegen, wenn ich mich setze?« Schon saß er auf dem Sofa, wobei er die Hosenbeine an den Knien hochzog, um die messerscharfen Bügelfalten zu schonen. »Ich rate Ihnen, mir zuzuhören«, sagte er bedächtig. »Es geht um Ihren Mann.« Ihre Hand verkrampfte sich in ihren Morgenmantel. Sie setzte sich auf der anderen Seite des Zimmers. »Was soll das heißen?« »Ich weiß etwas über Ihren Mann«, bemerkte er. »Und noch viel mehr weiß ich über Sie. Wenn man das zusammennimmt, kann es Probleme geben.« Er legte seinen Hut auf das Kissen neben sich. »Mrs. Moody«, fuhr er fort, »möchten Sie tausend Dollar verdienen?« »Was?« fragte Ruth verwirrt. »Sie haben richtig gehört. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Wenn Sie mitmachen, kriegen Sie tausend Dollar mit der Post. Wenn nicht - nun, dann könnte es Ihrem Mann schwerfallen, seine Familie weiterhin zu ernähren wie bisher. Können Sie mir folgen?« 142
»Nein!« »Dann will ich's mal anders ausdrücken. Wenn Sie der Boss eines Mannes wären und herausfänden, daß die Frau dieses Mannes eine Ladendiebin ist...« Ruths Hände flogen an ihren Mund. »Na bitte. Sie verstehen endlich, was ich meine! Es macht schon einen Unterschied, nicht wahr? Heutzutage ist die Familie ziemlich wichtig für die Karriere eines Mannes. Man muß ja an den Ruf der Firma denken und so. Sie verstehen, nicht wahr?« »Woher wissen Sie davon?« fragte Ruth elend. »Wer hat Ihnen das gesagt?« »Das dürfen Sie mich nicht fragen, Mrs. Moody. Sagen wir, ich habe so meine Quellen. Aber regen Sie sich nicht auf. Es ist ja eine Krankheit, wie Lungenentzündung oder Heuschnupfen. Sie können einfach nichts dafür . . . » Ruth musterte den Mann mit scharfem Blick. »Wieviel wollen Sie?« fragte sie schließlich. Er winkte ab. »An Ihrem Kleingeld bin ich nicht interessiert, Mrs. Moody. Hab ich's Ihnen nicht schon gesagt? Ich bin hier, um etwas zu kaufen.» »Was denn?« »Ihre Dienste. Sie brauchen nur mitzuspielen, dann kriegen Sie tausend Scheinchen. Glauben Sie mir, Sie haben nichts zu verlieren.« »Was soll ich tun?« »Das kann ich Ihnen nicht im einzelnen sagen. Aber ich habe einen Freund, sehen Sie? Der erklärt Ihnen die Details. Sie brauchen jetzt nur noch Hut und Mantel anzuziehen und mitzukommen. Mein Freund wird Ihnen die ganze Angelegenheit auseinandersetzen. Kinderleicht, glauben Sie mir! Sie werden es keine Minute bereuen ...« '43
Sie stand auf. »Ich komme nicht mit!« »Wie Sie wollen.« Es schien ihm wirklich nichts auszumachen. »Wir sind auf Ihre Hilfe nicht angewiesen, Mrs. Moody. Wir wollten Ihnen ja auch nur eine Chance geben.« Seufzend stand er auf und nahm seinen Hut vom Sofa. »Aber wenn Sie nicht mitmachen wollen ...« »Sie sprechen doch nicht im Ernst. . . » Er lächelte, griff in eine Brusttasche und brachte eine kleine Visitenkarte zum Vorschein. Er las eine mit Bleistift hingeworfene Notiz. »Otto Mavius und Co., Fifth Avenue 420. Dort arbeitet doch Ihr Mann, nicht wahr?« »Aber ich bin noch gar nicht angezogen!« sagte sie verzweifelt. »Ich kann nicht sofort mitkommen!« »Ich kann warten, Mrs. Moody. Ich habe es nicht eilig.« Die beiden schauten sich einen Augenblick lang an, dann fuhr Ruth herum und rannte ins Schlafzimmer. Eine halbe Stunde später saßen sie in einem Taxi, und der Mann mit dem Sonnenbrand nannte dem Fahrer den Namen eines einfachen Hotels in der Stadt. Ohne ihn anzusehen, ließ sich Ruth in die andere Ecke der Sitzbank fallen, die Arme eng an ihre Brust gepreßt, um zu verbergen, daß sie am ganzen Körper zitterte. Der Mann schien ebenfalls schweigen zu wollen; er starrte nachdenklich aus dem Seitenfenster. Aber als das Taxi vor dem nicht gerade noblen Hoteleingang hielt, hellte sich sein Gesicht auf. Vor der Tür zu Zimmer Nr. 408 sagte er: »Sie können ganz beruhigt sein, Mrs. Moody. Mein Freund wird Ihnen gefallen. Er ist ein Gentleman.« Der Gentleman trug einen mit Brokat eingefaßten 144
Hausmantel und rauchte eine türkische Zigarette. Er hatte es sich in Zimmer 408 gemütlich eingerichtet; trotzdem herrschte in dem Raum eine Atmosphäre plötzlicher Ankünfte und unverhoffter Abreisen. Er saß auf dem klobigen Sofa und benutzte einen rechteckigen Couchtisch als improvisierten Schreibtisch. Papiere lagen darauf verstreut, und er kritzelte etwas auf das oberste Blatt; dabei fuhr er sich mit der Zungenspitze an der Oberlippe entlang. Als Ruth und der Mann mit dem Sonnenbrand eintraten, blickte er hoch; sein noch junges, bleiches Gesicht wurde plötzlich herzlich. Er schrieb seine Notizen zu Ende, legte den Füllfederhalter aus der Hand und winkte seine Besucher herein. »Sie müssen Ruth Moody sein«, sagte er zuvorkommend. »Setzen Sie sich auf das Sofa - das einzige bequeme Möbel hier.« Er wandte sich an den anderen Mann. »Machen Sie Mrs. Moody einen Drink?« »Klar. Was möchten Sie, Mrs. Moody?« »Könnte ich einen Kaffee haben?« »Selbstverständlich«, antwortete der Gentleman und forderte den anderen mit einer Kopfbewegung auf, eine Tasse zu holen. Der Mann trat an einen mit den Überresten eines Hotelfrühstücks beladenen Tisch. »Also, Mrs. Moody.« Der Gentleman lehnte sich zurück und faltete die Hände über einem Knie. »Hat Ihnen mein Freund schon Näheres über unseren Plan verraten?« »Nein.« »Das ist vielleicht auch besser so. Dann will ich Ihnen jetzt alles Nötige verraten.« Er drückte seine Zigarette aus.
»Im Grunde ist es sehr einfach«, fuhr er locker fort und sah zu, wie der andere Mann den Kaffee vor sie hinstellte. »Zufällig wissen wir, Mrs. Moody, daß Sie eine Kleptomanin sind. Aber, aber. Regen Sie sich doch nicht auf! Meinem Freund und mir ist es durchaus bewußt, daß Sie das nicht zur Kriminellen macht. Wir respektieren Ihre Krankheit. Nicht wahr?« Der Mann mit dem Sonnenbrand nickte. »Also, wir möchten Ihnen ein kleines Angebot machen«, fuhr der Gentleman fort. »Wir hoffen, daß Sie nicht ablehnen, denn wenn Sie das tun . . . » »Ich hab's ihr gesagt, Harry.« »Gut. Dann brauche ich auf diesen Aspekt nicht weiter einzugehen. Aber Sie sollten sich eins vor Augen halten, Mrs. Moody - was immer geschieht, Ihnen kann nichts passieren. Verstehen Sie? Wegen der Sache, die Sie für uns tun sollen, können Sie nicht verhaftet werden.« Sie schnappte nach Luft. »Verhaftet?« »Ja. Wissen Sie, juristisch sind Sie für Ihre kleinen Diebstähle nicht verantwortlich. Das müssen Sie inzwischen selbst herausgefunden haben. Sie stehlen, weil Sie stehlen müssen, aus keinem anderen Grund. Wenn Sie erwischt werden - nun, dann geben Sie einfach zurück, was Sie gestohlen haben, und schon ist alles erledigt.« »Ich verstehe nicht, was Sie wollen.« Ihre Stimme wurde langsam schrill, und sie versuchte krampfhaft, ihre Stimmbänder wieder in den Griff zu bekommen. »Bitte. Ich will es Ihnen erklären. Wir wissen, daß man Sie dreimal geschnappt hat.« ' Sie trank schlückchenweise den lauwarmen Kaffee; ihr Arm zitterte, als sie die Tasse anhob. »Das heißt, daß Sie bereits als Kleptomanin registriert 146
sind, Mrs. Moody. Läden und Polizei wissen genau über Sie Bescheid. Wenn man Sie jetzt erwischen würde, wie Sie etwas stehlen - etwas, sagen wir, das ein bißchen wertvoller ist als ein paar Fadenspulen ...« Sie riß die Augen auf, und der andere Mann lachte zufrieden. »Sie scheinen endlich zu merken, worauf wir hinauswollen, Mrs. Moody. Jetzt möchte ich Ihnen unseren Plan im einzelnen erklären.« Er nahm ein Blatt Papier vom Couchtisch. »Die Sache läuft folgendermaßen ab: Morgen nachmittag um Viertel nach zwölf betreten Sie Travells an der Forty-seventh Street. Sie kennen den Laden möglicherweise nicht, es handelt sich um ein ziemlich feines Juweliergeschäft, vielleicht nicht gerade Tiffany's, aber es hat einen sehr guten Ruf. Sie werden auf einen der Ladentische zugehen, den ich Ihnen noch aufzeichne, und die Aufmerksamkeit des Verkäufers auf sich ziehen. Sie lassen sich ein bestimmtes Präsentiertablett zeigen - das beschreibe ich Ihnen auch noch -, und sobald Sie sich das Tablett ansehen, gibt es im Laden einen Aufruhr.« Der kleine Mann lachte ausgesprochen vergnügt. Der Gentleman fuhr fort: »Zehn zu eins, daß der Verkäufer Sie mit dem Tablett allein läßt, da der Aufruhr sich ganz in der Nähe ereignet. Auf jeden Fall wird er so lange abgelenkt sein, daß Sie Zeit haben, die Nadel zu nehmen, ohne daß er es merkt. Wie auch immer, Sie nehmen das Diamantschmuckstück oben rechts und verlassen den Laden. Ganz einfach.« Ruth Moody's Haut wurde feucht und kalt. »Verstehen Sie mich richtig - Sie brauchen nicht zu rennen. Sie gehen durch die Tür. Draußen sehen Sie einen
Mann mit einer gelben Büchse; er sammelt für einen Kinderhilfsfond. Sie lassen die Diamantnadel in die Öffnung oben an der Büchse fallen und gehen zur Ecke. Dort befindet sich ein Taxistand. Sie steigen in den Wagen ein, der dort wartet, und nennen dem Fahrer Ihre Anschrift.« Er lehnte sich zurück und lächelte. »Und das ist alles.« Sie brachte kein Wort heraus. Ziellos blickte sie zur Tür, dann zum Fenster. Schließlich griff sie nach der Tasse, aber der Kaffee war kalt und schal. »Das schaffe ich nie und nimmer«, flüsterte sie. »So etwas kann ich nicht.« »Wie ich schon sagte«, bemerkte der Gentleman aalglatt, »kann Ihnen überhaupt nichts passieren. Sie haben gar nichts zu verlieren, Mrs. Moody. Wenn man Sie vor dem Ausgang aufhält, geben Sie einfach alles zu. Wenn Travells von Ihrer Eigenart erfährt, erleiden Sie keinen Schaden. Das wissen Sie. Schließlich handelt es sich nur um einen weiteren - gesundheitlich bedingten Vorfall. Das ist alles.« »Ich schaffe es nicht! Dazu fehlt mir der Mumm!« Wieder lächelte der Gentleman. »Mumm, Mrs. Moody? Ich bitte Sie!« Er wandte sich an den kleinen Mann. »Wo arbeitet Mr. Moody doch gleich?« Grinsend griff der Mann mit dem Sonnenbrand in die Manteltasche. »Schon gut«, sagte Ruth. »Sagen Sie mir genau, was ich tun muß.« Die Fassade von Travells war ausgesprochen anspruchsvoll gestaltet, jedoch nicht pretentiös. Mehr als ein Schmuckstück pro Fenster schien als unfein zu gelten, 148
dafür bedurften die Ausstellungsstücke nicht der Lupe des Experten - ihr Wert war offenkundig. Ruth Moody, die ihr bestes Kleid, den guten Mantel und ihren neuesten Hut trug, betrat den Laden und kam sich wie die Diebin vor, zu der sie bald werden sollte. Sie orientierte sich mühelos nach der detaillierten Zeichnung, die ihr der Gentleman am Vortag gezeigt hatte. Fünfzehn bis zwanzig Einzeltische, jeweils betreut von einem eleganten Verkäufer in dunklem Anzug und silbergrauer Krawatte; eine Decke, die es mit der einer Kathedrale aufnehmen könnte, mit dem dazugehörigen ehrfürchtigen Schweigen. Etwa ein Dutzend Kunden erwiesen den ausgestellten Schmuckstücken in den verschiedenen Vitrinen ihre Reverenz. Ruth ging zu dem vorgesehenen Ladentisch. Der Verkäufer dahinter verneigte sich kaum merklich und fragte, ob er ihr behilflich sein könne. Gott steh mir bei, flüsterte Ruth vor sich hin. »Dieses Tablett«, sagte sie leise und stützte ihren bebenden Körper mit beiden Händen am Ladentisch ab. »Das zweite von oben. Dürfte ich es mir bitte mal ansehen?« »Gewiß, Madam!« Er reagierte, als habe sie einen bemerkenswerten Geschmack. Er entriegelte die Rückseite des Tisches und zog ein samtbespanntes Tablett hervor, das sie mit glitzernden, helleuchtenden Sternen blendete. »Einige der schönsten Steine unserer Kollektion«, sagte der Mann begeistert. »Hatten Sie an etwas Bestimmtes gedacht?« »Ich weiß nicht.« Ihr Blick fiel auf die herrliche Diamant-Nadel in der obersten Reihe. Was passiert jetzt? überlegte sie. 149
Die Antwort kam fast sofort. Keine fünf Schritt entfernt stand ein Gentleman in einem Mantel mit Samtkragen und einem Homburg mit perlgrauem Band, der plötzlich etwas ausrief, das sich anhörte wie: »Himmel!« Aber sein Ruf ging im enervierenden - an diesem Ort furchterregenden - Klirren zerbrechenden Glases unter. Sie sah, wie das Gesicht ihres Verkäufers um einiges blasser wurde, als er das Geräusch hörte. Der Gentleman mit dem Homburg hatte einen Regenschirm mit schwerem Metallgriff bei sich. Diesen hatte er, viel zu unachtsam, herumgeschwungen, und die Bewegung hatte das Glas zersplittern lassen. »Entschuldigen Sie ...!« Der Verkäufer zögerte einen Sekundenbruchteil lang, als wolle er das Präsentiertablett mitnehmen, dann aber eilte er an den Ort des Geschehens. Ruth hörte das Durcheinander und brauchte fünf kostbare Sekunden, um sich zu erinnern, was sie tun sollte. Dann zuckte ihre Hand vor und schloß sich um die riesige Diamantennadel oben rechts auf dem Tablett. Sie ließ das Schmuckstück in ihrer Manteltasche verschwinden und begann den langen Marsch zum Ausgang. Die Entfernung betrug nur fünfzehn Meter, doch als die Tür hinter ihr zuschwang, war sie total erschöpft. Die Straße leuchtete im Sonnenlicht, und die Passanten gingen mit energischen Schritten vorbei. Lachen ertönte, das Klicken von Absätzen, auch zahlreiche andere vollkommen alltägliche Geräusche, die ihr Selbstvertrauen wieder steigerten. Trotzdem hatte sie Angst. Als sie das bekannte sonnenverbrannte Gesicht erblickte und das Klappern von Münzen in einer Spendenbüchse hörte, war sie wahrhaftig dankbar. 150
»Spendefürden Kinderhilfsfonds, Lady?« grinste ersiean. »Ja«, sagte Ruth wie in Trance. »Ja, natürlich.« Sie machte ihre Spende. »An der Ecke steht ein Taxi«, sagte der Mann leise und schüttelte die Büchse. »Fahren Sie nach Hause, Mrs. Moody.« »Ja«, sagte Ruth. Als er sich zum Gehen wandte, in entgegengesetzter Richtung, sah sie eine ältere Frau fünfundzwanzig Cents in seine Büchse stecken. Das sonnenverbrannte Gesicht strahlte vor Dankbarkeit. Sie stieg in das Taxi, erinnerte sich aber nicht an ihre Adresse, bis der Wagen schon fast an der nächsten Straßenecke war. Als Ralph Moody am Abend nach Hause kam, fand er seine Frau in Tränen aufgelöst. »Liebling! Was ist denn los? Was ist passiert?« »O Ralph...« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Ist es schon wieder passiert? Ist es das?« Sie nickte, elend. »Was war es denn diesmal?« fragte er und versuchte sich seinen Zorn nicht anmerken zu lassen. »Was hast du genommen?« »Travells«, schluchzte sie. »Was?« »Travells, der Juwelier ...« »Ruth! Doch keinen Schmuck ...« »Du verstehst nicht, was ich meine. Ich habe es nicht genommen, Ralph. Ich hab's gestohlen. Begreifst du nicht? Ich habe etwas gestohlen ...«
Nach einer Weile, als sich sein Zorn gelegt hatte, holte er mit sanftem Zureden die ganze Geschichte aus ihr heraus. »Ich hatte ja solche Angst«, sagte sie. »Ich wußte nicht, was ich tun sollte.« Sie klammerte sich an seinen Ärmel. »Ralph, ich tue, was ihr vorgeschlagen habt, du und Mutter. Ich gehe zu einem Arzt.« »Vielleicht ist es für eine Heilung schon zu spät«, antwortete er. »Diesmal geht es ja nicht um eine Fadenspule oder eine Handtasche, sondern um etwas wirklich Wertvolles - Gott allein weiß, wie wertvoll!« »Aber sie haben mich gezwungen, es zu tun! Erpreßt!« »Wollen wir das der Polizei erzählen?« »Der Polizei?« »Natürlich! Wir müssen sie anrufen, Ruth. Verstehst du das denn nicht?« »Warum? Warum müssen wir?« »Weil es gefährlich wäre, es nicht zu tun. Wenn man dich erkannt hat - wenn dieser Verkäufer dich beschreiben kann, dann sieht es gleich viel schlimmer aus, als es in Wirklichkeit ist. Begreifst du das nicht? Wir müssen die Sache melden!« Während er schon wählte, sagte Ruth: »Aber Ralph was ist, wenn man mir nicht glaubt?« Captain Samuel Wright, ein im Dienst ergrauter intelligenter Polizeibeamter, zeigte sich durchaus nicht so ungläubig. Allerdings waren seine Ratschläge in bezug auf Ruths Geschichte nicht gerade ermutigend. »Hören Sie, Mrs. Moody. Falls Sie irgend etwas für sich behalten haben, rücken Sie lieber gleich damit heraus. Ich will nicht behaupten, daß Ihre Geschichte gelo-
gen ist. Nach meiner eigenen unmaßgeblichen Meinung ist sie viel zu verrückt, um gelogen zu sein. Aber ich könnte mich irren, unheimlich irren. Wenn Sie die Männer nur identifizieren könnten ...!« Ruths Mann sagte hitzig: »Weshalb sollte sie Sie belügen? Was hat sie zu gewinnen?« Der Captain schüttelte den Kopf. »Mm-m, das ist kein Argument. Sie könnte einen Diamanten gewinnen, einen Diamanten, der acht- bis zehntausend Dollar wert ist. Sie könnte ihre Komplizen hereinlegen wollen. Sie könnte sich ausgerechnet haben, daß man sie bei Travells erkannt hat, woraufhin sie nun mit dieser irren Story auf Nummer sicher geht.« Er hob seine Hand. »Ich behaupte nicht, daß es wirklich so ist. Aber schließlich sitze ich nicht auf der Richterbank, Mr. Moody. Ich bin Polizist.« »Aber es ist die Wahrheit!« sagte Ruth in klagendem Ton. »Wirklich und wahrhaftig!« »Eine ziemlich verrückte Raubmethode, das müssen Sie doch zugeben! Wer mag Ihnen Ihre Version glauben?« Er hob zweifelnd seine breiten Schultern. Dann ging er eine Zeitlang im Zimmer auf und ab. »Wenn Sie mir wenigstens eine bessere Beschreibung geben könnten! Abgesehen davon, daß einer der beiden einen Sonnenbrand hat, haben wir keinen richtigen Anhaltspunkt. Nach ihren Worten sehen die beiden ganz >normal< aus.« »Aber Sie haben doch das Hotel überprüft! Sie wissen, daß die beiden in dem Zimmer waren.« »Wir wissen nur, daß irgendjemand in dem Zimmer war, Mrs. Moody. Jemand, der sich als Fred Johnson aus Cleveland eintrug. Wir können nicht nachprüfen, ob es
sich dabei um einen falschen Namen handelt oder nicht der Kerl ist schließlich wieder ausgezogen.« »Beweist das denn nicht...« »Es beweist überhaupt nichts. Die beiden können sich inzwischen die Haare gefärbt und ihr Aussehen verändert haben. Der Sonnenbrand zum Beispiel - der wird sich nicht lange halten.« Er kaute auf seiner Lippe herum. Ralph schnippte mit den Fingern. »Die tausend Dollar! Die Kerle haben Ruth tausend Dollar versprochen, falls sie mitmachte. Wäre das nicht zumindest ein Beweis für die Unschuld meiner Frau?« »Rechnen Sie lieber nicht mit dem Tausender, Mr. Moody. Wenn Ihre Frau wirklich die Wahrheit sagt, melden sich die Burschen bestimmt nicht wieder.« Der Captain setzte sich; sein Gesicht wirkte angespannt. »Na schön! Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht hat man hier einen neuen Trick ausprobiert. Vielleicht bringen es die Kerle fertig, ihre >risikolosen< Raubzüge überall abzuziehen. Vielleicht arbeitet einer von ihnen in einem Warenhaus und erfährt dabei die Namen der registrierten Kleptomanen ...« »Könnten wir nicht die Läden überprüfen? Die Angestellten identifizieren?« »Sie wissen selbst, wie viele Leute in solchen Firmen arbeiten. Das ginge wirklich zu weit, Mr. Moody.« Ruth kamen wieder die Tränen, und sie griff nach ihrer Handtasche und einem Taschentuch. Mit einer Ecke tupfte sie ihre feuchten Augen ab. Gerade als sie die Tasche wieder schließen wollte, blieb ihr Blick an einem Gegenstand in ihrem Innern hängen. Sie nahm ihn heraus und starrte ihn an. Dann drehte sie ihn um und betrachtete ihn von neuem.
Als sie schließlich den Kopf hob, waren ihre Augen strahlend und wie durch ein Wunder trocken. »Captain! ...« »Ja, Mrs. Moody?« »Sie brauchen eine bessere Identifizierung. Genügt Ihnen dazu der Name des Mannes im Hotelzimmer?« »Sein Name?« Der Captain stemmte die Hände in die Hüften. »Machen Sie Witze? Können Sie mir wirklich seinen Namen nennen?« »O ja, das kann ich!« sagte Ruth. Dann begann sie zu lachen. Das Geräusch erschreckte ihren Ehemann, ehe er erkannte, daß es von echter, ehrlicher Heiterkeit herrührte. »Hier«, sie gab ihm den Gegenstand, den sie in der Tasche gefunden hatte. »Ich weiß nicht, warum ich es getan habe - aber ich hab's getan. Ich habe das Ding gestern aus dem Hotelzimmer mitgenommen.« Der Captain drehte den Gegenstand in der Hand. Es handelte sich um einen nicht billigen goldenen Füllfederhalter mit schwarzer Kappe. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er auf die eingravierten Goldbuchstaben: Harrison V. Moyer. Dann grinste er Ruth an und ging ans Telefon. Er benutzte ein Ende des Füllfederhalters, um die Nummer des Hauptquartiers zu wählen.
Ein Opfer der Rezession er Jaguar, schlank und weiß wie eine Raubkatze, Dsaß im Vorführraum und drehte sich herausfordernd auf seiner Plattform. Lou Rice starrte durch die Schaufensterscheibe und spürte, wie sein Mund trocken wurde und sein Magen sich verkrampfte. Schon der Anblick des Wagens machte ihn krank. Krank vor Haß auf das klapprige 49er Detroit-Produkt, das wie eine Beleidigung für sein Prestige in der Hotelgarage hockte. Krank vor Sehnsucht nach dem Gefühl der hochklassigen Lederpolsterung des Jaguars an seinem Rücken, nach dem Versprechen von Kraft unter der Motorhaube, nach dem Aufblitzen der verchromten Speichenfelgen, wenn er das kleine Schmuckstück auf hundert, hundertzwanzig, hundertvierzig beschleunigte. Mit einer Daumenbewegung schob er sich den flachen Hut in den Nacken und seufzte. Er spielte mit dem Gedanken, den Laden zu betreten und sich das Geschwätz des Verkäufers anzuhören, um sich den Luxus von ein paar Augenblicken hinter dem Steuer des Jaguars zu leisten. Was machte es schon, wenn er nicht einmal das Geld für einen Chevrolet aus zweiter Hand hatte? Er wirkte gut betucht. Seine Kleidung war gepflegt. Er mochte ein aufstrebender Kader sein aus einem der schicken Bürogebäude an der Straße. Sicher, warum nicht? Dann schnaubte er, angewidert von sich selbst, schob die Hände in die Taschen und ging weiter die Straße 156
hinunter. Nicht heute, Mister, dachte er. Bald, aber nicht heute. Als er den Zeitungsstand an der Ecke erreicht hatte, kreiste ein Vorsatz in seinem Gehirn wie die Leuchtschrift-Nachrichtenmeldungen um das Gebäude der New York Times. Er würde schwer arbeiten. Er würde viel sparen. Ab sofort würde es ihm besser, viel besser gehen. Er erstand die Morgenzeitung und kehrte in das düstere, in einer Seitenstraße gelegene Wohnhotel The Grant zurück. Er nickte dem Pagen Charlie auffordernd zu und fuhr mit dem quietschenden Aufzug in die zweite Etage. Im Zimmer angekommen, riß er sich die Jacke herunter, setzte sich auf das noch ungemachte Bett und legte Zeitung, Zigaretten und einen Aschenbecher zurecht. Fünf Minuten später servierte Charlie eine dampfende Kanne Kaffee. Die Arbeit konnte beginnen. Die Seite mit den Todesanzeigen sah vielversprechend aus, schon auf den ersten Blick. Drei wichtigen Leichen waren Nachrufe gewidmet, jede mit Foto. Der erste war Manager einer Gummifirma, Alter 66. Lou fuhr mit dem Finger an der Spalte entlang. Die Leiche hatte in Cleveland gewohnt; das kam also nicht in Frage. Das zweite Opfer war ein New Yorker und schien viel Geld zu haben. Das Problem lag bei den Hinterbliebenen. Der alte Knabe hatte seine engeren Verwandten überlebt und hinterließ nur einen Cousin in Wichita. »Wieder nichts«, sagte Lou. Daß Nummer Drei der richtige war, wußte Lou schon beim Überfliegen der ersten Zeilen. GERALD T. OTWELL, FABRIKANT, OPFER EINES UNFALLS MIT FAHRERFLUCHT.
Begierig las er den Bericht. '57
White Plains, N. Y., //. Mai. - Gerald T. Otwell, Präsident der Textilfirma Otwell & Bashara, New York City, wurde heute früh von einem nicht identifizierten Fahrzeug getötet. Der Unfall ereignete sich vier Straßenkreuzungen von seinem Heim am East Ridgeview 21, Scarsdale. Er war $8 Jahre alt. Die Polizei sucht den flüchtigen Fahrer. Mr. Otwell wurde in Plainfield, New Jersey, geboren. In einem Waisenhaus groß geworden, begann er als Tagelöhner in einer Tuchfabrik und stieg zum Eigentümer und Präsidenten der viertgrößten Textilfirma des Ostens auf... Er hinterläßt seine Frau Leona. Lou trank den Kaffee und betrachtete das Spaltenbreite Foto. Es war nicht gerade eine scharfe Aufnahme, doch es würde genügen. Otwell blickte den Leser an wie ein Schuljunge, dem bereits die Haare ausgehen. Vorsichtig riß Lou den Artikel heraus und steckte ihn zusammengefaltet in seine Brieftasche. Dann griff er nach dem Telefon, rief die Galerie Hoffman an und eröffnete Arnie, daß es in Kürze Arbeit für ihn gebe. Arnie erhob Einwände wegen des Geldes, doch Lou ließ sich auf keine Diskussionen ein. Statt dessen knallte er den Hörer auf die Gabel, zog den Mantel wieder an und verließ das Hotel. Er fühlte sich ausgesprochen gut, bis der Garagenwärter mit seiner Klapperkiste vorfuhr. Wenn er den alten Schrotthaufen nur schon anschaute, bekam er Magenkrämpfe. Als der Motor schwindsüchtig zu husten begann, glaubte er den jungen Mann grinsen zu sehen. Er gab ihm fünfzehn Cents anstelle der üblichen fünfundzwanzig und preschte mit jeder einzelnen Pferdestärke, 158
die er aus den gequälten Kolben noch herausholen konnte, aus der Garage. Er fand einen Parkplatz direkt vor der Galerie Hoffman; das stellte seine gute Laune wieder her. Mit großem Hallo begrüßte er Arnie, aber der blieb mürrisch. »Mach nicht so ein Gesicht!« sagte Lou und versetzte Arnie einen Hieb gegen seinen dünnen Oberarm. Er bearbeitete diese Stelle, seit sie zusammen in der High School gewesen waren. Arnie fuhr sich durch das drahtige rote Haar und sagte: »Hör mal, Lou, für den letzten Job habe ich noch keinen Penny gesehen. So kann ich nicht arbeiten.« »Was ist los, Rembrandt? Seit wann hast du soviel zu tun?« Spöttisch sah sich Lou in dem überfüllten Raum um. »Außerdem brauchst du dazu höchstens zwei Stunden. Ich glaube, diesmal habe ich einen wirklich guten Fisch an der Angel. Schau doch: das Gesicht schaffst du mit verbundenen Augen!« Er gab dem Künstler den Zeitungsausschnitt, und Arnie betrachtete das Gesicht. »Das reicht nicht«, sagte er mit gerunzelter Stirn. »Ich brauche ein besseres Bild, Lou.« »Braver Junge!« lachte Lou. »Ich wußte doch, daß du es machst. Sie zu, daß du bis Donnerstag vormittag fertig bist. Nichts Ausgefallenes; nur ein sauberes Ölbild. Aber tu's in einen hübschen Rahmen.« Er war an der Tür, ehe Arnie erneut protestieren konnte. Lou kehrte am Donnerstag um zehn Uhr morgens in die Galerie zurück. Arnie murrte, führte Lou aber nach hinten, wo das Atelier war. Auf einer Staffelei, schon von
einem vergoldeten Rahmen eingefaßt, stand eine geschickte Ölkopie des Zeitungsfotos von Gerald T. Otwell, Alter 58. »Du wirst ja immer besser«, grinste Lou und versetzte Arnie den üblichen Hieb. »Jetzt pack mir das Ding ein, damit es nicht verwischt. Und ich rufe dich an, wenn ich deinen Anteil habe.« »Wieviel, Lou?« »Die alte Dame müßte für mindestens fünfhundert gut sein. Zweihundert sind für dich, Arnieboy.« Fünf Minuten später ging er mit dem Paket unter dem Arm. Als er es im Kofferraum verstaute, war er mit sich selbst sehr zufrieden. Er plante, tausend Dollar zu verlangen, nicht weniger. Zweihundert für Arnie, achthundert für sich selbst. »Und ich spare jeden Penny!« sagte er laut und energisch, erfüllt vom Geiste Benjamin Franklins. Auf dem Hudson Parkway herrschte um diese Morgenstunde wenig Verkehr, und Lou legte die Strecke nach Scarsdale in weniger als einer halben Stunde zurück. Während er durch die exclusiven Wohnstraßen kutschierte, wurde ihm der Wagen, in dem er saß, schmerzhaft bewußt. Am liebsten hätte er sein Gesicht versteckt, hätte er jedem Passanten zugerufen, daß dies nicht der wahre Lou Rice sei. Der wahre Lou Rice fuhr einen großen, tief grollenden weißen Jaguar, nicht diesen klappernden, knirschenden Schraubenhaufen. Er erkundigte sich bei einem Polizisten an der nächsten Kreuzung nach East Ridgeview 21 und fand es zehn Minuten später. Die Auffahrt führte durch hundert Meter bewaldetes Gebiet, das Haus selbst war ein großer mo160
derner Bau, mindestens hundertfünfundsiebzigtausend wert, wie geschaffen für ein Titelbild von Schöner Wohnen. Er parkte den Wagen in diskreter Entfernung vom Eingang und stieg aus. Er holte das eingepackte Porträt aus dem Kofferraum, rückte Hut und Krawatte zurecht und ging über den gekiesten Vorplatz zur Tür. Ein Hausmädchen öffnete. »Ist Mrs. Otwell zu Hause?« fragte er. »Werden Sie erwartet?« »Nein, aber ich glaube, daß sie mich empfängt. Ich habe etwas, das Mr. Otwell noch bestellt hat.« Das Mädchen warf einen neugierigen Blick auf das große flache Paket und verschwand. Sie kam nicht zurück, sondern wurde durch eine große schlanke Frau Anfang Dreißig ersetzt. Sie trug eine Samthose und eine glänzende Bluse mit dem tiefsten V-Ausschnitt, den er je gesehen hatte. Ihre Figur war nicht üppig; man konnte sie sogar als hager bezeichnen. Doch die Art, wie sie ging, wie sie sich kleidete, die Art, wie das glatte blonde Haar über ihre weiche rechte Wange herabfiel, ließ sie sexy und teuer aussehen. »Ja?« fragte sie. »Mrs. Otwell ...« Er nahm den Hut ab und lächelte zurückhaltend. »Es tut mir schrecklich leid, Sie in einem solchen Moment belästigen zu müssen. Ich heiße Richardson und komme von der Galerie Hoffman in New York. Dürfte ich einen Augenblick eintreten?« Sie kaute unentschlossen auf der Lippe, dann nickte sie. Er folgte ihr in ein weitläufiges niedriges Wohnzimmer mit einem großen Steinkamin, der wie ein umgedrehter Schornstein in der Mitte des Bodens steckte. Umgeben wurde er von einem nicht ganz geschlossenen grauen So161
farund. Er lehnte sein Paket dagegen und machte Anstalten, die Schnur zu lösen. »Moment mal!« sagte sie scharf. »Worum geht es überhaupt?« »Oh, es tut mir leid. Ich muß das wohl erklären, Mrs. Otwell. Vor etwa einem Monat kam Ihr Mann in unsere Galerie und bestellte ein Porträt von sich. Sie wußten sicher nichts davon; es sollte eine Überraschung sein. Wahrscheinlich als Geschenk zu einer passenden Gelegenheit?« Er blickte sie fragend an. »Im nächsten Monat hätten wir Hochzeitstag gehabt«, sagte die Frau und stemmte eine Hand in die schmale Hüfte. »Das muß es wohl gewesen sein«, seufzte Lou. »Ja, es wäre ein wunderbares Geschenk gewesen. Was für eine Schande, daß der Unfall ... Jedenfalls stellte unser Künstler - Mr. Hoffman, ein sehr talentierter Mann übrigens, der schon viele berühmte Leute porträtiert hat - das Bild gerade fertig, als wir die tragische Nachricht erhielten. Zunächst wußten wir nicht recht, was wir unternehmen sollten, aber dann meinte Mr. Hoffman, daß Sie das Bild vielleicht sehen wollten. Und, wenn Sie geneigt wären ...« »... es zu kaufen?« Mrs. Otwell hob eine Augenbraue. Lou unterzog sie einer genaueren Betrachtung. Von Kummer war auf ihrem knochigen Gesicht nichts zu bemerken. Ihre Augen, die unter dem dicken Lidschatten grünlich schimmerten, wirkten nicht im geringsten verweint. Der breite Mund war kühl. Ihre Haltung hatte etwas vage Herausforderndes. Er begann nervös zu werden, beendete aber mühevoll das Auspacken und zerrte das Porträt ans Licht. Hier 162
wirkte es womöglich noch schlimmer als bei Arnie; es hatte die grelle Buntheit eines Filmplakats. Doch er hielt es ehrfürchtig in die Höhe, als handelte es sich um einen Van Gogh. Die Frau kam näher. Sie roch stark nach Lavendel. Sie neigte den Kopf, um sich das Bild anzuschauen, und das seidige Haar strich über seine Finger. Dann lachte sie. »Ich verstehe nicht«, sagte Lou steif. »Wenn Ihnen die Darstellung nicht behagt...« »Von Kunst habe ich nicht die blasseste Ahnung«, antwortete sie. »Ich finde das Ding sogar ganz gut. Darauf sieht Jerry ein bißchen aus wie Edward Arnold; so gut hat er in Wirklichkeit gar nicht ausgesehen. Aber wenn Sie sich einbilden, ich würde das Ding kaufen, Mr. ...« »Richardson.« Sie begegnete seinem Blick und verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Kommen Sie, Mr. Richardson. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.« Er stellte das Bild hin und folgte ihr in ein anderes Zimmer - ein Eßzimmer mit Möbeln aus graubraunem Holz. Sie blieb vor einem Bild stehen, das über einer kleinen Anrichte hing, und er betrachtete es. Es handelte sich um ein Porträt von Gerald T. Otwell, 58. Keine Pfuscherei, sondern die sauber ausgeführte Arbeit eines Profis. Otwell hielt ein Buch in der Hand und wirkte wie ein Richter des Obersten Gerichtshofs. »Dieses kleine Meisterwerk hat mir mein Mann vor zwei Jahren geschenkt. Offen gestanden ist Ihres viel origineller, Mr. Richardson. Aber wenn Sie sich einbilden, ich würde auf den hübschen kleinen Trick hereinfallen, haben Sie den Verstand verloren.« 163
Zuerst wollte er davonlaufen, dann davonkriechen. Er spürte die Schamhitze in sein Gesicht steigen, fuhr herum und eilte ins Wohnzimmer zurück. Er wußte, daß sie seine Flucht beobachtete, die Arme vor der flachen Brust verschränkt, die Lippen zu einem grausamen Lächeln gekräuselt. Er machte Anstalten, sein Paket zusammenzupacken, als sie ins Zimmer zurückkam und sagte: »Moment noch. Wie heißen Sie doch gleich?« »Richardson«, schnauzte Lou. »Nein, wie heißen Sie wirklich ?« »Hören Sie, Lady!« knurrte er. »Ihr Scharfsinn ist nicht zu überbieten! Aber treiben Sie's nicht zu weit!« »Sie würden doch nicht gewalttätig werden, oder? So sehen Sie gar nicht aus.« Er drehte sich um, um sie mit Blicken zu durchbohren, und bemerkte ihr amüsiertes Gesicht. Plötzlich sah er Mrs. Otwell in einem ganz anderen Licht. Er wischte den gekränkten, mürrischen Ausdruck von seinem Gesicht und ersetzte ihn durch ein lüsternes Grinsen. Er musterte sie von Kopf bis Fuß, von der schimmernden Haarkrone bis hinab zu den nackten Zehen in ihren Sandalen. Sie unterwarf sich der Einschätzung, ohne mit der Wimper zu zucken. »Warum setzen wir uns nicht?« fragte sie. »Wir können etwas Kühles trinken und die Sache besprechen.« »Welche Sache?« " »Na, das alles.« Sie klingelte nicht nach dem Mädchen, sondern machte die Drinks selbst - hohe Gläser bis zum Rand mit Gin und Zitronenwasser gefüllt. Dann zog sie ein Bein unter sich, setzte sich auf das Sofa und betrachtete ihn prüfend. 164
»Besitzen Sie einen Wagen, Mr. Richardson?« »Das ist meine Karre da draußen.« Sie blickte aus dem Panoramafenster, und er errötete, während sie das uralte Auto in ihrer Auffahrt betrachtete. Er kam sich nackt vor. »Toll ist es nicht«, sagte er. »Das Kunstgeschäft geht in letzter Zeit nicht so gut. Ich bin ein Opfer der Rezession, wie alle ändern auch.« Er kicherte boshaft und trank einen großen Schluck. Der Gin strömte wie Lava seine Kehle hinunter. »Es ist wirklich kein übles Porträt«, sagte sie. »Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen fünfundzwanzigtausend Dollar dafür biete?« »Hah?« »Fünfundzwanzigtausend!« lachte sie und warf den Wasserfall blonden Haares zurück. »Immerhin stand mir Jerry sehr nahe. Wir waren nur vier Jahre lang verheiratet. Warum sollte ich nicht zwei Bilder von ihm wollen? Natürlich gibt's da noch eine andere kleine Bedingung ...« »Das hatte ich mir beinahe gedacht«, sagte Lou. »Wen soll ich umbringen?« »Was für eine schreckliche Idee; etwas so Schlimmes möchte ich gar nicht von Ihnen.« Sie stellte ihr Glas hin. »Sie sollen lediglich behaupten, meinen Mann getötet zu haben.« »Wiederholen Sie das bitte?« »Wirklich keine große Sache. Sie gehen einfach zur Polizei und sagen, Sie hätten diese Fahrerflucht begangen. Sie töteten Gerald, bekamen Angst, und fuhren davon. Solche Sachen passieren ja tagtäglich. Sie werden nicht sehr schwer bestraft werden.« 165
»Sie sind verrückt!« sagte Lou. »Ich war nicht mal in der Nähe von White Plains, als es geschah. Ich fuhr gerade nach Long Beach.« »Allein?« »Ja.« »Wußte jemand, wo Sie waren? Hätten Sie zur Zeit von Jerrys Unfall in Scarsdale sein können?« »Ich hätte da sein können, aber ich war's nicht. Und ich gestehe keine Fahrerflucht - auch nicht für fünfundzwanzig Riesen. Wenn Sie mich also bitte entschuldigen würden ...« Er stand auf, zögernd, denn er wußte, daß sie versuchen würde, ihn zu überzeugen. »Das ist viel Geld«, bemerkte Mrs. Otwell und rührte mit dem Finger ihre Eiswürfel um. »Und für so eine Kleinigkeit! Das Gericht wird nachsichtig sein; das sind sie in solchen Fällen immer. Es sei denn, Sie hatten schon mal Ärger mit der Polizei...« »Bin noch nie gebüßt worden. Nicht mal für zu langes Parken.« »Um so besser. Begreifen Sie nicht? Wenn Sie ein ehrliches Geständnis ablegen, wenn Sie sagen, Sie hätten einfach Angst bekommen und wären losgerast, nachdem Sie meinen Mann umgefahren hatten - na, was kann man Ihnen da schon tun?« »Mich einsperren«, sagte Lou. »Und verurteilen.« »Es würde kein sehr hartes Urteil sein. Sie würden fünfundzwanzigtausend in bar verdienen und brauchen dafür nur ein paar Monate in einer hübschen kühlen Zelle zu sitzen. Ich finde, das ist eine gute Investition. Aber wenn Sie kein Interesse haben ...« »Nicht so hastig.« Er schürzte die Lippen. »Was haben 166
Sie für ein Interesse daran, Mrs. Otwell? Warum wollen Sie den wahren Schuldigen davonkommen lassen?« »Ach, wer schert sich denn um den wahren Schuldigen! Tun Sie's oder tun Sie's nicht?« »Vielleicht hat er Ihnen einen Gefallen getan?« fragte Lou, der sich plötzlich viel wohler fühlte. »Vielleicht haben Sie gar nichts dagegen, Witwe zu sein!« »Wir wollen doch nicht persönlich werden, Mr. Richardson. Ich habe Ihnen ein geschäftliches Angebot gemacht. Sie können es annehmen oder ablehnen. Ich hätte gedacht, daß fünfundzwanzigtausend Dollar Ihnen viel bedeuten ...« Erst in diesem Augenblick wurde ihm die volle Tragweite ihrer Worte bewußt. Plötzlich sah er nicht mehr einen Stapel Geldnoten, sondern den weißen Jaguar, geschmeidig und katzengleich im Fenster des Vorführraumes. Er sah sich den Laden betreten, unterwürfig bedient vom Händler, der ihm die Wagentür öffnete. Er sah sich den Fuß auf den mit Teppich bespannten Boden des Jaguars setzen und die Hände liebevoll um das Steuer gleiten lassen ... Er trat ans Fenster und blickte hinaus auf die Auffahrt. »Ich begreife das nicht«, sagte er. »Was nützt es Ihnen?« »Ich will ehrlich mit Ihnen sein, Mr. Richardson. Mein Mann und ich sind nicht besonders gut miteinander ausgekommen; etliche Leute sind der Meinung, mein Interesse hätte weniger ihm als seinem Geld gegolten. Seit dem Unfall hat es alle möglichen üblen Andeutungen und Gerüchte gegeben ... ich möchte dem ein Ende machen. Ich glaube nicht, daß die Polizei den wirklichen Fahrer jemals findet. Deshalb will ich diesen Leuten ein für allemal das Schandmaul stopfen. Verstehen Sie, was ich meine?« 167
»Aber ja«, sagte Lou und verbarg sein höhnisches Lächeln. »Ich verstehe Sie sehr gut, Mrs. Otwell.« »Dann tun Sie's also?« Wieder sah er nach draußen. »Was für einen Wagen fahren Sie, Mrs. Otwell?« »Wir haben einen Cadillac und einen Mercedes.« »Hübsch«, sagte Lou. »Haben Sie schon mal den neuen Jaguar gesehen, den XKi5o?« »Nein.« »Ein richtiges Prachtstück. Ich habe mir dieses Baby schon seit langer Zeit versprochen. Deshalb sage ich ja, Mrs. Otwell.« Sie lächelte und ließ sich auf dem Sofa zurücksinken. »In Wirklichkeit heiße ich Rice«, fuhr er fort. »Lou Rice.« Zwei Stunden später fuhr er zum Polizeirevier von White Plains, in seinem Magen ein dicker Klumpen aus Angst vor dem, was er tun würde. Doch als er eintrat und die gelangweilten, desinteressierten Gesichter der Beamten sah, stieg eine alberne Vorfreude auf die Reaktion in ihm hoch, die er auslösen würde. Er trat vor den diensthabenden Sergeanten und sagte: »Ich glaube, ich werde gesucht. Ich heiße Lou Rice. Ich habe diesen Burschen umgebracht - diesen Otwell.« Seine Worte schlugen ein wie eine Bombe. Nach knapp fünf Minuten war er von blauen Uniformen umringt und wurde mit Fragen überschüttet. Er antwortete in aller Ruhe, gut vorbereitet, von Otwells Frau. Er schilderte den Beamten, wo der Unfall stattgefunden hatte, er beschrieb Otwells Kleidung, er malte ihnen die überwältigende Angst aus, die ihn zum Weiterfahren veranlaßt hat168
te. Wiederum zehn Minuten später bemühten sich Reporter lautstark um seine Aussage und sein Foto. Ein dunkelhäutiger Mann von der Staatsanwaltschaft führte in einem Hinterzimmer ein gedämpftes, höfliches Gespräch mit ihm. Dabei wurde Lou angeraten, sich einen Anwalt zu besorgen. Als er seine Vermögenslage klarmachte, versprach man, einen Pflichtverteidiger zu stellen und versicherte ihm, daß seine Rechte geschützt würden. Man begegnete ihm viel höflicher, als er es für möglich gehalten hatte. Noch nie in seinem ganzen Leben war er sich so wichtig vorgekommen. Selbst als man ihm entschuldigend mitteilte, daß er im örtlichen Gefängnis Quartier beziehen müßte, kam er sich nicht vor wie ein verhafteter Verbrecher, sondern wie ein zu Besuch weilender Würdenträger. Die Mühlen der Justiz mahlten in seinem Fall schnell; er stand bereits acht Tage später vor Gericht. Der ihm vom Staat zugeteilte Anwalt war ein eifriger, kompetenter junger Mann, der ihm den Rat gab, sich schuldig zu erklären und sich der Gnade des Gerichts zu unterwerfen. Der Rat war gut. Als der Tag des Urteils anbrach, redete ihm der Richter wegen seines Leichtsinns und seiner Feigheit wortgewaltig ins Gewissen und verurteilte ihn schließlich wegen Totschlags zu einer Gefängnisstrafe von fünf bis zehn Jahren. Lou blieb fast das Herz stehen, bis der Richter mit etwas mehr gedämpfter Stimme eine Ergänzung anfügte und die harte Strafe auf sechzehn Monate herabsetzte. Sechzehn Monate - fünfundzwanzigtausend Dollar. Kein schlechtes Geschäft, überlegte er. Wahrhaftig nicht. Mrs. Otwell saß im Gerichtssaal, und er sah zu ihr hinüber, als er hinausgeführt wurde. Ihr ausdrucksloses Ge169
sieht verriet nichts, doch er wußte, was sie in diesem Augenblick dachte. Für fünfundzwanzigtausend Dollar hatte sie sich Immunität erkauft, nicht nur vor Andeutungen und Gerüchten, sondern auch vor der häßlichen Wahrheit um den Tod ihres Mannes. Nach zwölf Monaten befand die Kommission für bedingte Haftentlassung über den Fall Lou Rice. Man berücksichtigte die Vorgeschichte, die Unterlagen über sein einwandfreies Verhalten im Gefängnis, das Fehlen von früheren Verurteilungen, die allgemein günstigen Charakterschilderungen. Man lud ihn vor und unterhielt sich mit ihm. Er antwortete höflich und direkt auf alle Fragen. Man schien beeindruckt. Zwei Tage später kam die gute Nachricht. Er war ein freier Mann. Am Tage seiner Entlassung wurde er ins Büro des Gefängnisdirektors geführt. Die offizielle Abschiedszeremonie stand bevor. Der Direktor war ein rundköpfiger Mann mit dem Aussehen und Benehmen eines kleinen Geschäftsmannes. »Ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, Mr. Rice, daß dieser Augenblick mir immer am meisten Freude macht. Ich weiß, was er Ihnen bedeutet und kann nur sagen, daß ich Sie hier hoffentlich nie wiedersehe.« Er lächelte, reichte dem anderen die Hand und schnippte plötzlich mit den Fingern. »Ach, Moment! Dieser Umschlag ist für Sie gekommen.« Er gab Lou ein schmales, braunes Kuvert, auf dem zahlreiche Marken klebten. Es war schwer. Lou ließ es in die Hosentasche gleiten, schüttelte dem Direktor die Hand und begleitete den Wächter zum Ausgang. 170
Im Bus Richtung Stadt riß er eine Ecke des Umschlags auf. Er enthielt zwei Schlüssel an einer Kette, außerdem einen Zettel: Wenn Sie in die Stadt kommen, gehen Sie an die südöstliche Ecke der Kreuzung Main Street und Sutton Avenue. Und Danke. Unter dem Text stand keine Unterschrift, aber die dünnen Linien und kunstvollen Schnörkel deuteten auf eine weibliche Handschrift hin. An der besagten Kreuzung angekommen, überquerte er die breite Straße Richtung Sutton Avenue und wußte, wofür die Schlüssel waren. Mitten auf der Straße blieb er plötzlich stehen. Ein Bäckereilieferwagen konnte ihm gerade noch ausweichen, wobei der Fahrer sich aus dem Fenster beugte und seine Dummheit verfluchte. Lou hörte ihn nicht. Er hörte überhaupt nichts. Seine Sinne waren auf eine einzige Sache konzentriert, ein langes, geschwungenes, glänzendweißes Chassis, das an der Bordkante der Sutton Avenue zu kleben schien. Verchromte Speichenfelgen schimmerten im Sonnenschein des späten Vormittags. Großzügige rotlederne Polster, ein schimmerndes Armaturenbrett, ein glattes schwarzes Steuerrad, das seine liebevolle Berührung erwartete. Es war der Jaguar, die weiße Schönheit, der XKijo. Nicht in der sterilen Atmosphäre des Vorführraums, sondern auf hartem Asphalt und unter blauem Himmel, bereit für seinen Herrn und Meister. Schweratmend, ohne sich um die neugierigen Blicke der Passanten zu kümmern, riß er die Schlüssel aus der Tasche und fummelte am Schloß herum. Die Tür ging auf, er stieg ein und ließ sich auf die Ledercouch hinter
dem Steuer sinken. Ohne daran zu denken, daß sein Führerschein nicht mehr gültig war, steckte er den anderen Schlüssel in die Zündung und weckte ein süßes, schnurrendes Grollen unter der Motorhaube. »Baby, Baby«, flüsterte Lou, mit Tränen in den Augen. Er steuerte den Jaguar vom Bordstein fort und fuhr langsam weg. Wie ein König auf einem fahrenden Thron kam er sich vor, die erhabene Köstlichkeit des Augenblicks genießend, die Augen vor Ehrfurcht, Demut und Glück halb geschlossen. Nachdem er bei Grün über die Kreuzung geschossen war, erreichte er die offene Straße. Er lachte gackernd vor Freude über die plötzlich losbrechende Kraft, die sein Fuß durch einen Druck auf das Gaspedal freisetzte; er flitzte an einem dahinschleichenden Chevrolet vorbei und belachte laut das vorbeihuschende Gesicht des Fahrers, den.er mit offenem Mund hinter sich ließ. Er trat noch stärker aufs Gas, und der Jaguar zischte los wie ein weißer Blitz; der Wind pfiff ihm um die Ohren und sang das schönste Lied, das er je gehört hatte. Immer schneller fuhr er, mit Reifen, die auf dem Schotter summten, und schwelgte in der Erregung und dem Wunder der reinen Geschwindigkeit, bis sein Blick auf den Tachometer fiel, wo die Nadel über hundertzehn, hundertdreißig, hundertvierzig hinauswanderte. Dann sah er den Lkw, der vor ihm auf die Straße einbog, und berührte mit seinem Zeh das Bremspedal. Nichts geschah, also wiederholte er die Bewegung. Nichts geschah, also schrie er, aus Wut über die Bremsen, die nicht reagieren wollten, aus Wut über den Verrat, der an ihm begangen worden war, aus Wut über das Schicksal, das ihn erwartete, in einer Entfernung von zwanzig, zehn, fünf Metern ...