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Brut des Bösen Horror-Roman von Marc J. Forester Der Kapitän schwamm um sein Leben. Mit gehetzten, schnellen Zügen kraulte er durch den Fluss. Er drehte sich nicht um nach der Stelle, an der sich eben noch sein Boot befunden hatte. Sein Boot und der letzte Rest der Besatzung. Nur ein paar große Luftblasen waren von ihnen übrig geblieben. Das Ufer war nicht mehr weit, aber der Kapitän bezweifelte, dass er es erreichen würde. Schon schwanden ihm die Kräfte. Und genau in diesem Moment packte etwas seinen Fuß und zog ihn nach unten. Panisch schlug er um sich. Verzweifelt versuchte er, wieder an die Oberfläche zu gelangen. Doch es war sinnlos. Als die Luft in seinen Lungen verbraucht war, atmete er Wasser ein. Er zuckte noch ein paar Mal, mit offenem Mund. Dann war er tot … * Auf einem Schilfhalm kauend, saß Jake Adams auf dem Holzsteg und betrachtete den Dschungel auf der anderen Seite des Flusses. Er hatte schon viele Orte auf der Welt gesehen. Er war mit Beduinen durch die Sahara-Wüste gezogen. Er hatte in Tibet den Mount Everest bestiegen und war auf Grönland mit Eskimos 2
zur Jagd gegangen. Er hatte Sibirien auf einem Motorrad durchquert und ein halbes Jahr mit Aborigines in Australien gelebt. Er war mit einem Fallschirm über Kanada abgesprungen, um sich alleine durch die Wälder zu schlagen. Und er hatte Buschmänner, Kopfjäger und Einsiedler kennen gelernt. Er kannte auch den Dschungel sehr gut – aus Afrika, Java und Indochina. Aber dies war das erste Mal, dass er in Brasilien war, am Amazonas. »Von wo genau kommen Sie?«, fragte der Mann, der neben Jake auf dem Steg saß. Sein Name war Dr. Farnham, und er war Geologe, wie Jake. Gemeinsam sollten sie im Dschungel Messungen für eine Erdöl fördernde Gesellschaft vornehmen. »Aus Montana«, antwortete Jake. Dr. Farnham zerrte am Ausschnitt seines Hemdes, um Luft hereinzulassen. Das Wasser lief ihm nur so übers Gesicht, so sehr schwitzte er. »Es ist kühler in Montana, nicht wahr?«, sagte er. »Kühler?« Jake schüttelte den Kopf. »Gegen das hier ist Montana ein Gefrierschrank.« Dr. Farnham lächelte ihm matt zu. Jake grinste und spuckte den Schilfhalm aus. Er klopfte dem älteren, etwas dicklichen Mann aufmunternd auf die Schulter. »Sie werden sich an diese schwüle Hitze schon noch gewöhnen.« »Das glaube ich kaum.« Dr. Farnham wischte 3
sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und wrang es aus. Ein paar Tropfen fielen zwischen seine Stiefel. »Ich komme aus Florida und sollte bereits an die Hitze gewöhnt sein. Aber gegen das Schwitzen kann ich nichts machen.« Jake blickte wieder in das dichte Grün auf der anderen Seite des Flusses. Was ihn am Dschungel immer schon fasziniert hatte, das war diese übertriebene Größe und Üppigkeit der Vegetation. Alles war riesiger, mächtiger und imposanter als anderswo auf der Welt: die lianenumwundenen Bäume und die hohen Gräser, die großen, bunten Blütenkelche der Blumen, die einen leichten Verwesungsgeruch ausströmten, und die Insekten, diese immensen Spinnen, Käfer und Fliegen und was da sonst noch alles umherkroch und heranwuchs. Jake mochte dieses Durcheinander, das Chaos, das andere als ›Grüne Hölle‹ bezeichneten. Und auch der Leichengeruch, der von den Blumen kam, störte ihn wenig. »Vielleicht führt uns unser nächster Auftrag ja zum Nordpol«, sagte er zu dem Doktor neben ihm. »Da gibt’s genug frische Luft.« »Das wäre mir dann wieder zu kalt«, sagte Dr. Farnham. Dann blickte er Jake aufmerksam an. »Würden Sie denn noch einen Auftrag von Mutoil annehmen?« »Warum nicht?«, sagte Jake. »Die Bezahlung ist ja nicht übel.« Jake war selbstständig. Frei. Und Geologe war 4
beileibe nicht sein einziger Beruf. Er nahm die Jobs, wie sie gerade kamen, Hauptsache, sie führten ihn in einen Winkel der Welt, den er noch nicht kannte. Er hatte es noch nie besonders lange an einem Ort ausgehalten. »Das freut mich«, sagte Dr. Farnham, »dass Sie gut bezahlt werden. Ich bin jetzt schon fast zwanzig Jahre bei der Firma und kann mich auch nicht beklagen, aber manchmal wünschte ich mir schon, ein bisschen freier zu sein. Mein eigener Herr.« »Noch ist es dafür ja nicht zu spät«, erwiderte Jake. Dr. Farnham lachte müde. »Nein, nein. Ich bin nun schon fünfzig. Sehen Sie die weißen Haare? Bis ich pensioniert bin, werden es sicher noch ein paar mehr sein, aber dann habe ich mein Auskommen sicher, und das werde ich nicht aufs Spiel setzen. Ich bin nicht so ein Abenteurer wie Sie. Meine Sicherheit liegt mir sehr am Herzen. Manchmal träume ich nur ein bisschen von der Freiheit.« Jake betrachtete den Doktor von der Seite. Irgendwie wirkte er bekümmert. Er hatte ein rundliches Gesicht und trug eine unscheinbare Brille, hinter der seine kleinen Augen in die Sonne blinzelten. Ein Abenteurer. Das war eine Bezeichnung, die schon verschiedene Leute benutzt hatten, wenn sie von ihm, Jake, sprachen. Wahrscheinlich war auch etwas dran. Aber Jake kam sein eigenes Leben so 5
selbstverständlich vor, dass er sich fragte, was die Leute eigentlich meinten, wenn sie ihn einen Abenteurer nannten. Das ganze Leben war doch sowieso ein Abenteuer, oder? Naja, vielleicht auch nicht. Wenn er an die Tausenden von Existenzen dachte, die ihr Leben immer am gleichen Ort, mit denselben Menschen und immer der gleichen Tätigkeit verbrachten, dann war sein Leben vielleicht wirklich etwas Besonderes. Nein, es war noch etwas anderes, das ihn an den Menschen verstörte. Es waren diese neidvollen Blicke, die sich auf ihn richteten, wenn er seine Geschichten erzählte, die er irgendwo in der weiten Welt erlebt hatte. Warum nur waren die Menschen neidisch auf ihn? Sie konnten doch ebenso losziehen und etwas erleben! Was hielt sie denn davon ab? Jake griff nach seiner Wasserflasche und nahm ein paar tiefe Schlucke. Dann verschloss er die Flasche wieder, drehte sich um und betrachtete die Ausrüstung, die hinter ihm auf dem Steg stand, teils in Kisten verpackt, teils offen. Es waren nur ein paar relativ leichte Geräte, die drei, vier Mann bequem transportieren konnten, aber sie waren Tausende von Dollars wert. Allein schon der Erdbohrer kostete ein kleines Vermögen, und dabei hätte es ein weniger leistungsstarkes Gerät ebenso getan. Das Gebiet, in das sie mit dem Boot reisen sollten, galt als ausgesprochen sumpfig. Wozu also ein 6
so guter Bohrer? Andererseits sprach es durchaus für die auftraggebende Gesellschaft, wenn sie edleres Gerät als unbedingt nötig zur Verfügung stellte. Er und Dr. Farnham warteten nun schon seit Stunden auf das Boot und auf die beiden anderen Expeditionsteilnehmer, die noch fehlten. »Ist es normal für diesen Mr. White, unseren so genannten Projektleiter, so spät zu kommen?«, fragte Jake. Dr. Farnham zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Ich arbeite das erste Mal mit ihm.« Der Doktor blickte auf seine Stiefel. Ja, irgendetwas hatte er. Irgendetwas bedrückte ihn, das bemerkte Jake nun ganz deutlich. »Beim Ausladen hat er uns auch im Stich gelassen«, sagte Jake. »Ich wüsste schon gerne, wo er steckt.« Dr. Farnham lächelte matt. »Ich könnte mir denken, wo er steckt – oder besser: wo ein gewisser Körperteil von ihm steckt …« Jake starrte ihn ungläubig an. Dann lachte er aus vollem Halse. Der ältere Geologe sah überhaupt nicht nach jemandem aus, der schlüpfrige Witze machte, und er hatte ihn mit seiner lässigen Bemerkung kalt erwischt. Seine Anspielung galt einer gewissen Alice, der vierten Person, die an der Expedition teilnahm. Jake hatte sie am Vorabend kennen gelernt, doch ihre Aufgabe bei der Expedition war ihm 7
nicht ganz klar geworden. »Aber, aber, lieber Herr Doktor …«, sagte Jake tadelnd. Dr. Farnham sah ihn nicht an. Sein über den Fluss gerichteter Blick ließ ahnen, dass er sich mit seiner Äußerung auf ein Gebiet vorgewagt hatte, das er nur höchst selten betrat. Fast schien es so, als sei ihm seine Bemerkung nun peinlich. Was nicht ganz unberechtigt war, wenn man bedachte, dass Mr. White sein unmittelbarer Vorgesetzter war. Zumindest was das aktuelle Projekt betraf. »Mr. White macht auf mich eher den Eindruck eines Maul- als eines Frauenhelden«, sagte Jake, um den Doktor ein bisschen von seiner Verlegenheit zu befreien. Und es wirkte. Dr. Farnham lächelte und nickte ihm zu. »Sie wissen gar nicht, wie recht Sie damit haben.« Jake sagte nichts darauf, denn der Tonfall des älteren Geologen war so gewesen, dass mehr zu erwarten war. Dr. Farnham sah ihn nun wieder direkt an. In seinen Augen waren Sorge und Unbehagen deutlich zu erkennen. »Niemand hat sich um diesen Auftrag gerissen«, vertraute er Jake leise an, »nur Mr. White.« »Wie meinen Sie das?« »Es war schwierig genug, ein Boot zu finden, das uns bis zum Zielort bringt. Aber Mr. White, der hat sich geradezu vorgedrängelt. Ich war 8
bei der Besprechung dabei. Er hat alle anderen als Feiglinge beschimpft, weil niemand den Job wollte.« »Moment«, sagte Jake. »Was soll das heißen, niemand wollte den Job?« »Na ja«, sagte Dr. Farnham gequält. »Glauben Sie, eine Gesellschaft wie Mut-oil, die Tausende und Abertausende Barrel Rohöl pro Jahr fördert – glauben Sie, eine solche Gesellschaft hat nicht genug eigene Geologen, sodass sie einen Freien hinzuziehen muss?« »Aber als man mich eingestellt hat«, widersprach Jake, »da war nur von einem momentanen Engpass die Rede.« Dr. Farnham nickte. »Natürlich. Und das war noch nicht einmal gelogen. Nur: Der Engpass bestand darin, dass sich die meisten einfach weigerten, den Job anzunehmen.« »Aber Sie haben ihn doch angenommen!« »Ich bin ja auch verrückt«, antwortete Dr. Farnham mit einem milden Lächeln, »verrückt nach Brasilien, genauer gesagt. Ich liebe dieses Land. Es ist wie Florida ohne die Touristen, ohne die Reichen, zumindest wenn man die Städte meidet. Für mich ist Brasilien die Erfüllung eines alten Traumes. Ich finde hier meine Kindheit wieder. Mich dürfen Sie nicht zum Maßstab nehmen.« »Und White?« »Der wollte sich nur profilieren, deshalb ist er mitgekommen. Um ehrlich zu sein, ich glaube, das hat ihm seinen Arbeitsplatz gerettet. Er ist kein besonders guter Projektleiter, nach allem, 9
was man so hört.« »Ja, aber … Was soll das? Wieso haben sich alle geweigert, den Job zu machen?« Dr. Farnham sah über die Schulter, fast so, als befürchtete er, belauscht zu werden. Dann blickte er Jake aus seinen kleinen Augen verzweifelt an. »Die Expedition, die wir zurzeit durchführen«, begann er, »einen Ort zu finden, an dem man die ersten Gebäude für eine Förderanlage aufstellen kann … exakt die gleiche Expedition hat vor Jahren schon einmal stattgefunden.« »Und?«, drängte Jake. »Sie ist nie zurückgekehrt«, sagte Dr. Farnham leise. »Und über ihren Verbleib sind die haarsträubendsten Geschichten im Umlauf. Geschichten, die ich Ihnen lieber ersparen möchte.« Jake nickte ihm zu. Er pflückte sich einen neuen Schilfhalm und steckte ihn sich zwischen die Zähne. Er kniff die Augen zusammen und blickte über den dunklen Fluss hinweg in das tiefe, unergründliche Grün des Dschungels. Da war es also, das Abenteuer. Und es roch nach Tod. Nach Verwesung, so wie der Dschungel. * Alice hatte noch nie so lange auf einen Mann gewartet. Und noch dazu vor einem Badezimmer! Es war unverschämt. 10
»Was machst du denn da?«, fragte sie und klopfte ungeduldig gegen die Tür. »Ich bin gleich fertig!«, kam es von innen. Alice stöhnte auf. Er war jetzt schon eine Ewigkeit da drinnen, und seine Antwort hörte sie bereits zum dritten Mal. Was musste sie nicht alles auf sich nehmen, nur um ein Mal nach Brasilien zu kommen! »Deine Männer warten jetzt schon seit über zwei Stunden auf dich!«, rief sie. »Ach, Schatz, mach dir keine Sorgen!«, sagte die Stimme hinter der Tür. »Wir sind in Brasilien, da ist ein bisschen Verspätung normal. Oder glaubst du etwa, das Boot kommt pünktlich?« Alice konnte es nicht fassen. Weder war sie sein ›Schatz‹, noch machte sie sich irgendwelche Sorgen! Lediglich fand sie sein Verhalten unmöglich. Was bildete sich der Typ überhaupt ein? Sie überlegte, was sie ihm gesagt hätte, wäre nicht die Badezimmertür zwischen ihnen gewesen. Und es war gut, dass die Tür da war. Aber jetzt ging sie auf, und immerhin: Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Man merkte Albert White den Dschungel nicht an. Er sah aus wie einer der Geschäftsmänner in einer guten New Yorker Bar in der Mittagspause. Er sah gut aus. Ganz der Mann, der ihr bei ihrer ersten Begegnung so imponiert hatte: smart und erfolgreich. Aber dass man dafür so lange brauchen konnte … »Können wir jetzt gehen?«, fragte er. 11
Er griff nach dem Schlüssel und öffnete die Tür des Hotelzimmers. In der Tür stehend, wartete er auf sie. Wenn sie bedachte, wie er ihr die gemeinsame Zeit in Brasilien ausgemalt hatte … Und jetzt so was! Allein schon die Bezeichnung ›Hotel‹, die für dieses Loch mehr als übertrieben war. Und von der versprochenen Gesellschaft war auch nichts übrig geblieben außer ein paar Männern, die irgendwelche Erdkrümel untersuchten. Eigentlich hätte sie auf der Stelle umkehren müssen, nach Hause zurück fliegen. Aber etwas hielt sie hier. Etwas, von dem sie schon als kleines Mädchen geträumt hatte. Was sie nun schon ihr ganzes Leben begleitete. Sie wollte unbedingt den Dschungel sehen. Von innen. Und nicht nur das bisschen Gesträuch, das hier am Rande der Ortschaft wuchs – den wirklichen Dschungel. Deswegen war sie entschlossen zu bleiben. Deswegen hielt sie sich auch Albert gegenüber zurück und folgte ihm schweigend auf den Hotelflur und ins Treppenhaus. Auf dem Weg nach draußen wurden sie an der Rezeption aufgehalten. Manuel, der etwa zwanzigjährige Porteiro, winkte ihnen mit einem Briefumschlag. »Senhor! Da ist eine Nachricht für Sie gekommen!«, rief er. »Ah, ja … geben Sie nur her!« Albert White blieb stehen, nahm den Umschlag 12
und öffnete ihn. »Kannst du das nicht später machen?«, drängte Alice. »Vielleicht ist es etwas Wichtiges«, sagte er ruhig. Es war ein alter Zeitungsausschnitt, auf den jemand mit Kugelschreiber eine Notiz gemacht hatte. Alles war auf Portugiesisch. Und es war ein schlechtes Schwarzweiß-Foto von fünf Männern zu sehen, die vor einem Boot standen. »Was steht da? Lass doch mal sehen!« Alice stellte sich neben ihn und las das Gekritzel: »Advertencia de um amico – was heißt das wohl?« »Eine Warnung von einem Freund«, übersetzte Manuel. Er sprach die Worte so gelassen aus, als hätten sie keinerlei Bedeutung. »Wer hat das abgegeben?«, fragte Alice. »Ich weiß nicht. Es war bei der Post.« »Ach bitte«, sagte White, »könntest du uns sagen, worum es in dem Artikel geht?« Er reichte dem jungen Portier den Zeitungsausschnitt. Der nahm ihn und überflog den Text. »Ah, ich erinnere mich«, sagte er dann. »Das ist ein paar Jahre her. Sie kennen die Geschichte nicht?« »Welche Geschichte?« »Die von den Männern auf dem Bild. Sie kennen sie wirklich nicht?« »Nein, verdammt!«, sagte White ungeduldig. 13
»Jetzt rede schon!« Manuel betrachtete das Foto. »Sie haben noch Körperteile gefunden von den Männern, die in den Dschungel gegangen sind vor einigen Jahren. Knochen, aber nicht alle. Jedenfalls denken sie, dass es die Männer von dem Bild waren.« Whites Gesicht war wie versteinert, und Alice fühlte ihr Herz im Hals pulsieren. Knochen von Männern, die man im Dschungel gefunden hatte? »Was waren das für Männer? Und was ist mit ihnen geschehen?«, wollte sie wissen. Manuel machte ein ungläubiges Gesicht. »Sie wissen ja wirklich nichts! Es waren Männer von Ihrer Firma. Haben hier im Hotel gelebt wie Sie. Damals ich habe nicht hier gearbeitet, aber mein Vater erzählte mir. Einen Tag, die Männer waren spurlos verschwunden.« »Männer von Mut-oil?« Whites Gesicht machte seinem Namen jetzt alle Ehre – es wurde tatsächlich sehr weiß. »Ich schwöre dir, Alice«, stammelte er, »ich habe nichts davon gewusst!« »Du kannst mir ja viel erzählen«, erwiderte Alice. Er erzählte tatsächlich immer sehr viel. Und es war nie sehr viel dahinter. »Nein, ich schwör’s dir! Wann war diese Expedition, Manuel?« »Vor sieben Jahren, Senhor.« »Na siehst du, da habe ich noch gar nicht bei der Firma gearbeitet.« 14
»Hör auf, Albert!« Sie winkte ab. »Ich habe doch längst gemerkt, dass es egal ist, was du erzählst und was nicht. Also bemüh dich nicht weiter.« Sie hätte lachen können, so einen trostlosen Anblick bot er nun. Und sein geschniegeltes Äußeres verstärkte diese Trostlosigkeit nur. White stöhnte auf. »Ist die Bar geöffnet?«, fragte er. »Ich kann sie öffnen für Sie«, sagte Manuel und machte dazu sein freundliches Portiergesicht, als wenn nichts geschehen wäre. »Das ist gut. Ich brauche jetzt einen Whisky. Und dann will ich mich von dieser Sache nicht weiter ablenken lassen. Ist vielleicht gar nichts dran. Was ist mit dir, Schatz?« Alice fragte sich gerade, wie man morgens Lust auf einen Whisky haben konnte. Aber sie fragte sich auch, was das für eine Geschichte war mit den Männern. »Was steht denn noch in dem Artikel, Manuel?«, sagte sie. »Was war das – man hat Knochen gefunden?« »Nein, Manuel!«, fuhr Albert White mit entschlossener Stimme dazwischen. »Kein Wort mehr! Das interessiert mich alles nicht. Es ist wahrscheinlich bloße Erfindung. Auf jeden Fall will ich nichts mehr davon hören!« »Wie Sie wünschen, Senhor. Und Ihr Whisky?« »Bitte, ja.« Ungeduldig wies er zur Bar. Dann drehte er sich zu Alice um und fragte mit strengem Gesicht: »Was ist mit dir?« 15
Alice brannten tausend Fragen auf der Zunge. Aber eines war klar: Sie wollte in den Dschungel. Wollte es unbedingt. Also hielt sie den Mund und folgte Albert. * Jake hatte nicht mehr gewusst, wie er sich die Zeit vertreiben sollte, und dann vor lauter Langeweile mit dem Messer seine Initialen in einen der Stegpfosten geschnitzt. Da endlich sah er Mr. White samt Begleitung die Straße herunterkommen. Alice sah sogar in der praktischen Tropenkleidung, die sie für die Bootsfahrt angezogen hatte, sexy aus. Sie war eine wirklich schöne Frau mit ihren langen, blonden Haaren, ihrer hübschen Figur und der glatten Haut ihres Gesichts und ihrer bloßen Unterarme. Sie bewegte sich so unbekümmert, als ginge es auf einen Schulausflug. Und er war wie immer korrekt gescheitelt und trug den gewohnt weißen Anzug, der Jake schon bei ihrer ersten Begegnung zu einer Bemerkung hinsichtlich seines Namens White hingerissen hatte. »Na, schau mal einer an!«, rief Jake. Er steckte das Messer ein und ging ihnen entgegen. »Wer gibt sich denn da die Ehre?« »In dieser so genannten Hotelbar gibt es noch nicht einmal Eis«, gab White mürrisch zurück. »Ist das Boot schon da?« »Nein, noch nicht«, sagte Jake. 16
»Na siehst du, Schatz.« White wandte sich seiner Begleiterin zu und gab ihr einen demonstrativen Kuss, den Alice ebenso demonstrativ über sich ergehen ließ. Dann sah er Jake an und zeigte ein überlegenes Grinsen. »Sie müssen noch viel lernen, junger Freund. Sie hätten ebenfalls ausschlafen können! Hier im Süden ticken die Uhren nun mal anders. Beim nächsten Mal wissen Sie’s.« »Ach ja?«, meinte Jake spöttisch. »Und wer hat heute früh die Jeeps alleine entladen?« White lachte auf. »Glauben Sie etwa, ich sei für den Transport Ihrer Instrumente verantwortlich?« »Es sind Ihre Instrumente, Mr. Projektleiter«, sagte Jake trocken. »Und am Proviant dürften Sie auch ein gewisses Interesse haben.« »Für einen Freien nehmen Sie sich aber verdammt viel heraus!«, entgegnete White laut. »Wir wollen uns nicht streiten«, warf Dr. Farnham aus dem Hintergrund ein. Die beiden Männer funkelten sich noch einen Moment lang an. Dann wandte sich Jake ab. »Guten Tag, Mrs. Alice«, sagte er, betont freundlich. »Guten Tag«, erwiderte sie. »Bitte entschuldigen Sie unsere Verspätung.« Sie machte eine kaum merkliche Bewegung mit dem Kopf zu White hin, und Jake lächelte ihr zu. So viel männliche Schönheit forderte Zeit, ganz klar. »Sie wollen mitkommen?«, fragte er sie. Ein 17
bisschen Smalltalk konnte ja nicht schaden. »Keine Sorge, dass es vielleicht zu anstrengend für Sie werden könnte?« »Ich bin ganz gut in Form«, antwortete Alice mit einem frechen Lächeln. »Das kann man wohl sagen«, mischte sich White ein und klopfte ihr auf den Hintern. Alice schlug seine Hand weg. Ihr zorniger Blick sprach Bände. Aber White blieb unerschütterlich und tat so, als machten sie nur einen Scherz. »Ja«, sagte Jake sachlich und sah ihn an. »Ich hätte besser Sie fragen sollen, ob Sie keine Bedenken haben, mitzukommen.« »Jetzt gehen Sie eindeutig zu weit«, sagte White mit leiser Stimme. Nun war es Alice, die bremsend dazwischenging. »Jungs, ihr habt euren Spaß gehabt, lasst es gut sein!«, mahnte sie. »Schließlich wollen wir doch alle wieder heil nach Hause kommen, oder?« Jake sah dem anderen unverwandt fest ins Gesicht. Obwohl dieser Albert für ihn eigentlich kein ernst zu nehmender Gegner war, hätte er das Spielchen weiter getrieben, bis einer einsteckte. Aber in diesem Moment machte Dr. Farnham auf sich aufmerksam. »Ich höre einen Diesel!«, rief er vom Steg aus. »Das Boot!« Und tatsächlich kam wenige Augenblicke später an der Flussbiegung ein Boot zum Vorschein. 18
»Hoffentlich ist es nicht unseres«, meinte Alice, als der Kahn näher kam. Alle anderen dachten ähnlich. Das Boot sah aus, als würde es nur noch von seiner Farbe und Rost zusammengehalten. Und von ersterem war ebenfalls nicht mehr viel übrig. Aber das Winken des alten schwarzen Mannes mit der zerbeulten Kapitänsmütze, der das Boot steuerte, ließ keinen Zweifel daran, dass es ihres war. Kleine dunkle Rußwölkchen ausstoßend, legte der Kahn längsseits am Steg an. Auf dem Deck, das von einer ausgebleichten Plane überdacht war, stand noch ein weiterer Mann, der nicht ganz so alt war wie der Kapitän, aber ein verlebtes Gesicht hatte. Unter seinen Vorfahren waren sicher Weiße gewesen, Spanier vielleicht, aber er hatte auch Züge eines Indios. Jake fing das Tau, das ihm der Mann zuwarf, und machte es wortlos an einem der Pfosten fest. Mr. White baute sich auf dem Steg auf und begutachtete alles mit kritischen Blicken. »Können Sie garantieren«, wandte er sich an den Kapitän, »dass es dieser Kahn noch bis zum Ziel schafft?« Der alte schwarze Mann riss die Augen auf. »Senhor! Ist schon viele Jahre alt das Boot und hat mich noch nie im Stich gelassen!« »Haben Sie ein bisschen Vertrauen«, sagte Jake. Der Kapitän stellte den Motor ab und kam von 19
der Brücke. Das Boot war nicht besonders groß. Alle Personen würden gerade einmal darauf Platz finden, ohne sich auf den Füßen herumzustehen. Am Heck des Boots war mit einem Seil zusätzlich ein kleineres hölzernes Ruderboot festgemacht, das jetzt still auf dem Fluss trieb und noch leer war. Alle machten sich miteinander bekannt. Der alte schwarze Mann stellte sich nur als der Käpt’n vor, und der Name des anderen Mannes war Fernando. Wenn er grinste, was er die meiste Zeit tat, sah man, dass ihm fast alle Zähne fehlten. »Also gut«, sagte Mr. White, »dann wollen wir mal unser Zeug verladen!« Was er damit meinte, war, dass alle anderen anpacken sollten. Doch als Dr. Farnham das Beiboot in Augenschein nahm, weigerte er sich, die Instrumente darin zu transportieren. Es war nicht dicht, auf dem Boden sammelte sich bereits Wasser. Es gab eine kurze Diskussion mit den beiden Schiffern, und schließlich stellte sich heraus, dass es unter Deck noch einen Laderaum gab, der jedoch angeblich voll. war. »Jake, würden Sie bitte mal nachsehen?«, sagte White. Jake fügte sich dem Wunsch ohne Widerworte und betrat das Boot. Der Käpt’n öffnete ihm die kleine, in die Holzplanken eingelassene Luke. Jake fand den Lichtschalter, knipste die trübe Birne an, die das Unterdeck beleuchtete, und 20
stieg die Sprossen der kurzen Leiter hinab. Er konnte nicht aufrecht stehen, so niedrig war das Unterdeck. Zum Heck hin befand sich der Motor, ein schwarzes, öliges Ding, das schon lange Museumsreife hatte. Vorn lag ein wilder Haufen von Kisten, Flaschen und Säcken. Jake staunte nicht schlecht, als er unter einer löchrigen Decke vier volle Kästen Bier entdeckte. Er kletterte wieder ins Freie. »Käpt’n«, sagte er freundlich, »Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn wir ein paar von Ihren Sachen umräumen, oder?« Der Käpt’n sah ihn mit seinen alten Augen an. Dann schüttelte er ganz langsam den Kopf. Am Ende stellte sich heraus, dass viele der Kisten und Flaschen leer waren und der Käpt’n sie gar nicht benötigte. Ein paar wanderten trotzdem ins Beiboot, und die anderen warf Fernando einfach über Bord. Aber als es an die Bierkisten ging, legte er Protest ein. »Nein, nein! Die bleiben da unten!«, rief er, als Jake ihm die Erste nach draußen reichen wollte. »Was ist das?«, wollte Mr. White wissen. »Bier«, sagte der Käpt’n. »Sehr wichtig.« »Ins Beiboot damit«, entschied White. »Sehr, sehr wichtig«, beharrte der alte schwarze Mann. »Keine Widerrede!« Es blieb dabei, und unter Fernandos misstrauischen Blicken wanderten die 21
Bierkisten ins Beiboot. Als dann die Instrumente ins Unterdeck verladen wurden, waren es wieder nur Jake, Dr. Farnham und Fernando, die arbeiteten. Mr. White hatte es sich mit Alice auf dem Deck bequem gemacht, und der Käpt’n stand auf seiner kleinen Brücke und rauchte einen Zigarillo. Schließlich war alles da, wo es hinsollte, auch die Zelte und die Verpflegung, und es konnte losgehen. Nachdem alle anderen an Deck gegangen waren, löste Jake die Sicherungstaue und sprang selbst auch an Bord. Der Käpt’n warf den Motor an, und nach ein paar verzweifelten Ächzern kam der Diesel in Schwung und stieß seine dunklen Rußschwaden aus. * Den ganzen Nachmittag schipperten sie flussaufwärts. Der Käpt’n steuerte das Boot in Seitenarme, die immer schmaler wurden. Immer dichter kam der Urwald an sie heran. Was Jake ein wenig irritierte, das war Alice, die sich auf das schmale Bugdeck gelegt hatte und dort vor sich hin döste. Ihr blondes Haar hatte sie auf dem Deck ausgebreitet, damit es noch blonder wurde, und ihr Tropenhemd stand fast bis zum Bauchnabel offen. Jake hatte von der Brücke aus einen wunderbaren Einblick in das sanfte Tal ihrer wohlgeformten Hügel, wo ihre Haut bestimmt 22
weich war wie Seide. Auch dem alten Käpt’n schien diese Aussicht gut zu gefallen. Er summte leise brasilianische Weisen vor sich hin, während er das Boot lenkte. Dr. Farnham und Mr. White hatten es sich auf zwei Seesäcken bequem gemacht, die auf dem Deck lagen. Fernando, der bei den beiden gesessen hatte, kam die drei Stufen zur Brücke herauf. »Käpt’n«, fragte er vorsichtig, »darf ich noch ein Bier haben?« Jake schmunzelte. Fernando hatte den Tonfall eines kleinen Jungen, der um eine Süßigkeit bat. »Du kennst unsere Abmachung«, sagte der Käpt’n. »Es wäre aber doch erst mein Drittes heute! Und die andere Flasche habe ich nicht angerührt. Ehrlich nicht!« »Na gut«, sagte der Käpt’n. »Hol dir eine Flasche. Aber nur eine! Und biete unseren Gästen auch etwas an.« Fernando nickte eifrig und warf Jake einen fragenden Blick zu. »Danke, gerne«, sagte Jake. Fernando ging über das Deck und zog das Beiboot an dem Tau zu sich heran. Jake bekam mit, wie er drei Bier öffnete und eines davon Mr. White gab. Dann kam er zur Brücke, reichte Jake eine Flasche und prostete ihm mit seinem zahnlosen Grinsen zu. »Pfui Teufel, das ist ja warm!«, rief Mr. White 23
von hinten. Kurz darauf war ein platschenden Geräusch zu hören. Fernando drehte sich um. »Also sowas«, sagte er dann, »’ne volle Flasche Bier wegzuwerfen!« Fassungslos schüttelte er den Kopf. Er hätte damit etwas Besseres anzufangen gewusst! »Da!«, sagte der Käpt’n und deutete auf eine entfernte Stelle am Ufer, wo sich etwas bewegt hatte. »Ein Alligator?«, sagte Jake. Der Käpt’n nickte. »Er ist kaum zu erkennen.« Jake nahm das Fernglas zu Hilfe, das neben dem Schiffskompass stand. Er fand den Kopf des Alligators. Dann setzte er das Glas wieder ab und bemühte seine Augen. Der Alligator lag bewegungslos im Uferschlick und war von den Wasserpflanzen um ihn herum kaum zu unterscheiden. Aber jetzt, da sie näher kamen, konnte Jake sehen, wie groß er wirklich war. Einschließlich Schwanz konnte er es an Länge mit ihrem Boot durchaus aufnehmen. »Das Boot ist ihm egal«, sagte der Käpt’n. »Nur baden sollten Sie hier nicht.« Jake lachte. »Sagen Sie, ist das hier nicht auch die Heimat der Piranhas?« »Piranha, sim«, nickte der Alte. »Aber die Fische sind nur gut für Geschichten von alten Frauen. Gefährlich ist der Alligator.« Der Dschungel, stellte Jake wieder einmal fest, hatte viel Beeindruckendes zu bieten. Das mächtige Wurzelwerk der Bäume, die am 24
Ufer standen. Das dichte Blätterdach, gestützt von einem verschlungenen Gewirr aus Ästen, Zweigen und Stämmen. Die bunten Papageien, deren schillernde Farben unendlich viele Variationen zu haben schienen. Ohne Vorwarnung schossen die Vögel über ihre Köpfe hinweg und glitten, ihre Schreie ausstoßend, durch den grünen Raum, bis sie wieder hinter den Blättern verschwanden. Aber auf die Dauer war der Dschungel doch ermüdend. Jake beschloss, es den anderen gleichzutun und für ein halbes Stündchen die Augen zu schließen. Er war auf halbem Weg zum Deck hinab, als das Boot einen harten Schlag erhielt. Es gab einen richtigen Knall. Man hätte meinen können, sie wären auf eine Mine aufgefahren! Metall und Holz knirschten. Das Boot schaukelte gefährlich. Dr. Farnham rutschte von der Reling und landete unsanft mit den Knien auf dem Deck. Alice schrie laut auf. Sie wäre beinahe über Bord gegangen. »Was ist los?!« »Ich weiß nicht«, sagt der Käpt’n. »Sind wir irgendwo angestoßen?« »Kann sein, aber …« Alice kam vom Bugdeck zu den anderen nach hinten. Sie hielt sich am Kajütendach fest. Ihre Knie zitterten heftig. »Was war das nur?«, stammelte sie. »Ich wäre ja fast ins Wasser gefallen!« »Komm her, komm zu mir«, sagte White mit 25
bemüht ruhiger Stimme und hielt ihr die Hand hin. Sie griff nach seiner Hand und ließ sich von ihm in den Arm nehmen. Aber als Jake die beiden so ansah, fragte er sich, wer da wen beruhigen musste. »Vielleicht ist den Alligatoren unser Boot doch nicht so egal«, meinte er zum Käpt’n. »Vielleicht nicht«, antwortete der alte Mann. Das Boot tuckerte jetzt wieder ruhig vor sich hin, so, als wenn nichts geschehen wäre. »Aber dann war es ein verdammt großer Alligator, Senhor, das kann ich Ihnen sagen!« »Wie dem auch sei. Es ist niemandem etwas passiert, und das Boot ist auch heil geblieben«, meinte Jake. »Außerdem, Käpt’n«, fügte er hinzu, »Fernando sprach vorhin von einer ›anderen Flasche‹. Vielleicht möchten Sie der jungen Dame ja etwas anbieten – auf den Schrecken.« Der alte Mann schlug sich mit der flachen Hand vor seine schwarze Stirn. »Aber natürlich, Senhor! Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin! Könnten Sie solange das Ruder halten?« Jake hielt das Boot auf Kurs, während der Alte eine Tür unter der Instrumententafel öffnete und eine Flasche Whisky sowie ein paar Gläser herausholte. »Ach bitte, Käpt’n«, nuschelte Fernando durch seine Zahnlücken, »ich glaube, wir haben uns alle ein bisschen erschreckt …« »Na schön«, meinte der Alte gutmütig. »Gieß uns allen etwas ein, ja? Dir selbst natürlich 26
auch.« »Danke, Käpt’n.« Fernando schenkte allen ein, wobei er gewissenhaft darauf achtete, dass jeder gleich viel bekam. Jake reichte zwei Gläser an Mr. White und Alice weiter. »Ohne Eis«, sagte er zu White, »aber vielleicht können Sie sich ja trotzdem überwinden, nicht wieder die Fische damit zu füttern.« White nahm sein Glas stumm entgegen und kippte den Alkohol in einem Zug hinunter. Die Stimmung löste sich ersichtlich, als alle ihre Gläser geleert hatten. Der Whisky wärmte wohlig brennend den Magen. Alle entspannten sich und setzten oder legten sich wieder hin. Jake blieb noch für eine Viertelstunde auf der Brücke, bis er sich zurückzog. Er legte sich vorn auf das schmale Bugdeck, wo Alice vorher gelegen hatte. Eine ganze Weile sah er, auf dem Rücken liegend mit hinter dem Kopf gekreuzten Armen, in das über ihm dahinrauschende Blätterdach und bewunderte die bunten Papageien. Dann schloss er die Augen. Er fand nicht die Ruhe für einen wirklichen Schlaf. Aber es war angenehm, mit dem Rücken auf den Holzplanken zu liegen und dem regelmäßigen Tuckern des alten Dieselmotors zu lauschen, während das Boot stetig und ruhig über das Wasser glitt. Jake dachte an seine Heimat, an die kühle Bergwelt der Rocky Mountains. An die 27
schneebedeckten Wipfel der Berge und die großen dunklen Kiefernwälder. Er dachte an seine Mom und seinen Dad, die beide viel zu früh gestorben waren. Er dachte daran, dass er seinen geliebten Mount Helena vor bestimmt sieben Jahren das letzte Mal gesehen hatte. Und bestiegen vor … neun Jahren? Und wie lange war es erst her, dass er in Great Falls gewesen war? Er war kurz vor dem Wegnicken, als er Fernandos Stimme vernahm. »Das Boot! Käpt’n! Das Beiboot!« Jake richtete sich ruckartig auf. Er sah Fernando hinten auf dem anderen Deck stehen, mit dem abgerissenen Ende eines feuchten Taus in der Hand. »Das Beiboot ist weg!« »Verdammt!«, rief der Käpt’n. Er stoppte die Maschine und richtete das Boot auf leichten Kurs zum Ufer hin aus. Dann sprang er aufs Deck hinab und beugte sich hinten über die Heckreling, so als vermutete er, das Beiboot sei vielleicht doch noch da irgendwo versteckt. Er stöhnte auf. »Ich hätte es wissen müssen!« »Was hätten Sie wissen müssen?«, fragte White. »Der Whisky und die lange Fahrt haben mich schläfrig gemacht«, entschuldigte sich der alte Mann, »sonst wäre ich stutzig geworden.« »Wovon reden Sie?« »Vor einiger Zeit, vielleicht eine halbe Stunde, drehte die Maschine plötzlich etwas schneller. Das macht sie ab und zu, deswegen habe ich 28
mir nichts dabei gedacht. Aber es war, weil wir das Beiboot verloren hatten.« »Soll das etwa heißen, Sie wussten, dass das Boot verloren ging?«, erregte sich White. »Nein«, sagte Jake, während er sich zu den anderen stellte. »Er wusste es nicht. Sagte er doch.« »Ich hätte drauf achten müssen.« »Schwamm drüber«, sagte Jake. »Schade um das Bier. Das ist alles.« »Von unserem Proviant war auch etwas auf dem Boot«, warf Dr. Farnham ein, »aber eigentlich nur Trinkwasser. Kein großer Verlust. Da dürfte wieder dranzukommen sein.« »Vielleicht sollten wir trotzdem umkehren und das Boot suchen«, meinte der Käpt’n. »Warum?«, fragte White. »Das Bier … Ich hatte es für einen bestimmten Zweck mitgenommen. Es war nicht eigentlich für uns.« »Was hatten Sie denn damit vor?« »Wir brauchen einen Führer«, sagte der Käpt’n, »jemanden, der sich hier auskennt. Ich weiß ein Indio-Dorf im Dschungel. Die Leute da lieben Bier.« »Sie wollten uns einen Führer besorgen?« »Ja, Senhor.« White lachte hell auf. »Armer alter Mann! Wir haben Laptops, Handys, die besten Karten, GPS, Satellitennavigation – wissen Sie, was das ist?« »Ja, Senhor, ich habe davon gehört.« »Wir brauchen keinen Führer. Und das Bier 29
mögen die Alligatoren trinken. Weiter geht’s!« »Wie Sie wünschen, Senhor.« Der schwarze alte Mann ging zurück an seinen Platz und startete die Maschine wieder. White stellte sich neben ihn und schenkte sich, ohne zu fragen, einen weiteren Whisky ein. Er warf Fernando einen Blick zu. »Na, Freund, auch noch einen?«, sagte er. »Bitte, Senhor«, mischte sich der Käpt’n ein, »jetzt nicht. Vielleicht später.« »Ach was«, sagte White. »Einen kleinen wird unser Freund hier schon noch vertragen können, oder? Kommen Sie, ich trinke so ungern allein.« Der Käpt’n sah starr auf den Fluss hinaus. »Warum fragen Sie nicht einen Ihrer Freunde?« »Ich habe Fernando gefragt. Das ist doch wohl kein Problem. Oder ist das etwa ein Problem, Käpt’n?« Whites Stimme war etwas lauter geworden. »Nein, Senhor«, sagte der Käpt’n kleinmütig. »Kein Problem.« »Na also.« White schenkte zwei Gläser voll ein. »Komm her, Fernando, hoch die Tassen!« Fernando, der die ganze Szene abgewartet hatte, trat näher und nahm sein Glas entgegen. »Danke, Senhor«, sagte er. Beide tranken ihre Gläser aus. Fernando präsentierte White grinsend sein fauliges Gebiss und bedankte sich noch einmal. Er blieb noch einen Moment da stehen, sah in den Dschungel hinaus und redete leise mit sich selbst. Dann warf er allen anderen an Bord 30
einen glasigen Abschiedsblick zu und taumelte über das Deck. Er schaffte es bis zu den Seesäcken, die auf den Planken lagen. Dort ließ er sich fallen und fing augenblicklich an zu schnarchen. »Och«, machte White. »Was hat er denn?« »Das, was jeder ältere Alkoholiker hat, der kurz gehalten wird und dann die volle Dröhnung verpasst bekommt«, sagte Jake. »Das haben Sie prima hinbekommen.« »Woher sollte ich das denn wissen?« »Augen aufmachen.« Der Käpt’n warf einen besorgten Blick über die Schulter. Als er Fernando da so liegen sah, nickte er White nur wortlos zu: gut gemacht. »Herrje!«, rief White. »Ich konnte das doch nicht ahnen!« »Es gibt eine Menge Dinge, die du nicht ahnst, Schatz«, sagte Alice. »Du halt dich da raus!«, giftete er sie an. »Oh, ja klar!«, gab sie zurück. »Entschuldigen Sie bitte, Mr. Unfehlbar!« Wütend stand sie von ihrem Platz nahe der Kajüte auf und stapfte über das Deck. Sie stellte sich zu Jake, der an der Heckreling lehnte. »Ein Idiot«, flüsterte sie. Jake grinste. »Er wird schon seine Qualitäten haben.« »Ja«, bestätigte sie leise, »hier«, und machte mit den Fingern die Bewegung eines redenden Mundes. »Warum«, fragte er, »warum begleiten Sie ihn, 31
wenn Sie ihn nicht mögen?« Die anderen konnten sie bei dem lauten Motorengeräusch nicht hören. »Er hat mir unsere so genannte gemeinsame Reise ganz anders beschrieben«, erklärte Alice. »Er sagte, wir würden viel Zeit für uns haben. Er müsse sich nur nebenbei um einen unwichtigen Job kümmern. Die besten Hotels, schöne Bars, ein kleiner Ausflug in den Urwald. Und so weiter. Mir war ja eigentlich von Anfang an klar, was für ein Aufschneider er ist.« »Aber?« Alice sah Jake mit einem tiefen Blick an. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass sie grüne Augen hatte. Warum hatte er das vorher nicht bemerkt? »Aber ich wollte immer schon mal den Dschungel sehen«, sagte sie. »Ehrlich?« Er war überrascht. »Ja. Seit ich ein kleines Mädchen war. Ich hatte so ein Buch, wo ein kleiner Bär sich in die weite Welt aufmacht und dann Abenteuer im Urwald erlebt. Seitdem wollte ich auch in den Dschungel.« »Unterschätzen Sie den Dschungel nur nicht«, sagte Jake. »Das ist kein Freizeitpark.« »Ich weiß. Trotzdem.« »Bleiben Sie immer bei der Gruppe. In Ihrem eigenen Interesse«, sagte Jake. Aber mit den Gedanken war er ganz woanders. Er hatte sich das abgerissene Ende des Taus genau angesehen. Und es sah ihm nicht danach aus, als sei es an dieser Stelle zu dünn 32
oder sonst wie zu schwach gewesen, sodass es reißen konnte. Es sah eher so aus, als sei das Tau gewaltsam durchtrennt worden. Vielleicht durchgebissen. Aber welcher Alligator war schon scharf auf ein Boot voller Bier? * Albert White konnte nicht fassen, wie schlagartig es hier dunkel wurde. Kaum hatte man bemerkt, dass das Licht schwächer wurde, da war es auch fast schon ganz weg. Eine kurze Dämmerung war normal für die Tropen, aber hier, unter dem dichten Blätterdach, ging der Tag wirklich von einer Minute auf die andere in die Nacht über. Der Käpt’n schaltete den kleinen trüben Suchscheinwerfer ein, der sich steuerbords befand. Ein schmaler Kegel vor dem Boot wurde beleuchtet. Schwarzes Wasser und das Grün der Uferböschung waren zu sehen. Ansonsten nur noch Dunkelheit. »Können Sie so überhaupt fahren?«, fragte White. »Es ist nicht mehr weit.« »Bis zu dem Dorf, meinen Sie.« »Ja«, sagte der Käpt’n. »Wir können dort übernachten.« »Passen Sie nur gut auf«, sagte White. »Mache ich, Senhor. Meine Augen sind noch sehr gut, müssen Sie wissen.« Albert White klopfte dem Alten auf die Schulter. Er verließ die Brücke mit dem guten Gefühl, 33
jetzt wieder alles im Griff zu haben. Ein gutes, sicheres Gefühl. Es war schon schlimm, mit solchen Stümpern zusammen arbeiten zu müssen, die noch nicht einmal auf die Ausrüstung Acht geben konnten. Oder nach zwei Glas Whisky einfach umkippten. Oder wegen jeder Kleinigkeit laut herumkrakeelten wie dieser Jack – nein: Jake hieß er. Na, der sollte nur kommen. Und dann Alice! Wieso hatte er sie überhaupt mitgenommen? Sie wusste ja noch nicht einmal, wie man sich auf einem Boot zu verhalten hatte! Beinahe wäre sie in den Fluss gefallen. Unglaublich, wie ihre Knie gezittert hatten … Aber es war nun alles gut überstanden. Er selbst hatte die Ruhe bewahrt. Und für ein Nachtlager schien auch gesorgt. Solange dieser so genannte Käpt’n nicht wieder auf irgendeinen Baumstumpf auffuhr, konnte eigentlich nichts mehr schief gehen. Albert White war eigentlich ganz zufrieden. Doch dann kam ihm jäh wieder der Zeitungsausschnitt aus dem Briefumschlag in den Sinn. Er zuckte zusammen. Die ganze Zeit über hatte er nicht mehr daran gedacht, und jetzt erschrak er bei dem Gedanken an das Foto von den Männern, die tot waren und von denen man nur noch Überreste gefunden hatte. Sein Herz schlug schneller. Nein, er hatte wirklich nichts von der ganzen Geschichte gewusst. Aber jetzt wurde ihm klar, warum er 34
bei Mut-oil den Auftrag so schnell hatte an sich reißen können. Sie hatten ihn reingelegt! Er atmete tief durch. Er war gelinkt worden! Natürlich: Das erklärte auch die Tatsache, dass er es bei diesem Projekt ausnahmslos mit Stümpern zu tun hatte. Sie wollten ihn abservieren! Wollten, dass sein Projekt scheiterte, um ihn dann aus seiner Position zu drängen. Und plötzlich meinte er, das gesamte Spiel zu durchschauen. Auch der Zeitungsausschnitt stammte von Mut-oil-Mitarbeitern! Er war natürlich gefälscht. Man wollte ihm nur Angst machen! Albert lachte befreit auf. Sie wollten ihm lediglich Angst machen – damit er das Projekt vorzeitig abbrach! Na klar! Das war es! Wer sonst würde wohl auf so einen Schwachsinn kommen wie … irgendwelche Körperteile von irgendwelchen Expeditionsteilnehmern gefunden – das war doch lächerlich! Vergnügt rieb er sich die Hände. Ja, er hatte sie jetzt durchschaut. Und das bedeutete, dass der Trumpf nun bei ihm war. Wartet nur ab, dachte er, wenn ich nach New York zurück komme und den Auftrag Punkt für Punkt erledigt habe. Da wird einigen Herren aber der Schlips zu eng werden! Albert Whites Laune war jetzt so gut, dass er sogar wieder Lust auf Alice bekam. Wofür hatte er sie schließlich mitgenommen? Damit sie sich 35
stundenlang mit diesem Jake unterhielt? Er ging an Dr. Farnham und dem schnarchenden Fernando vorbei übers Deck und stellte sich hinter sie. Sie drehte sich nur kurz zu ihm um und sagte hallo. Dann wandte sie ihm wieder ihr schönes blondes Haar zu. Was hatte dieser Jake denn so Spannendes zu erzählen? White hörte ihm eine Zeit lang zu, wurde aber nicht schlau aus seinen Worten. Es war irgendwas mit Erdbeben. Er fing an, Alice den Nacken zu massieren. Aber sie schien es gar nicht zu registrieren. Verdammt noch mal, warum war es nur so schwer, an sie heranzukommen? Bei allem, was er ihr bot, hätte sie ruhig ein bisschen mehr Dankbarkeit zeigen können … Albert blickte gedankenverloren in das tiefe Schwarz des Dschungels hinaus. Seine Hände hörten auf, Alice den Nacken zu kneten. Gott, war das dunkel da draußen! Hoffentlich dauerte es nicht mehr allzu lange bis zum Dorf. Herrje, dass dieser alte Kahn auch nicht schneller fahren konnte! So langsam wurde ihm doch etwas unheimlich zumute. In diesem Moment rief der Käpt’n, dass sie angekommen seien. Alle Blicke richteten sich nach vorn. Aus der Dunkelheit tauchten ein paar kleine flackernde Lichter auf, schwache Lichtpünktchen nur. Sie sahen zuerst aus wie gelbe Glühwürmer. Als das Boot näher kam, sah man, dass es 36
Fackeln waren, die einen ebenen Platz beleuchteten. Auch die Silhouetten von Menschen waren zu sehen, die am Ufer standen. Der Käpt’n hielt die Maschine an und ließ das Boot austreiben. »Das Ufer ist hier zu flach für uns zum Anlegen«, sagte er. Er ging zum Bug, um den Anker auszuwerfen. Jake half ihm dabei. Ein paar der Eingeborenen waren inzwischen in ihre Boote gestiegen und paddelten ihnen entgegen. Alice winkte ihnen zu, und sie winkten zurück. »Das kann ich mir vorstellen«, sagte White, »dass den Affen da so eine blonde, weiße Frau gefallen würde …« »Fick dich ins Knie«, sagte Alice leise. Verdammt noch mal, was hatte er denn jetzt wieder Falsches gesagt? Konnte man denn noch nicht mal mehr einen kleinen Scherz machen? Wahrscheinlich bekommt sie ihre Tage, dachte Albert. Jetzt kamen die kleinen Boote näher. Ob er gleich vom Häuptling begrüßt werden würde? Nein, von denen sah keiner nach einem Häuptling aus. Was musste er denn jetzt tun? Er war doch hier der Anführer … Der alte Schwarze nahm die Sache in die Hand. Vertraut begrüßte er einen der jungen Männer, die in den Booten waren. Sie sprachen irgendein Kauderwelsch miteinander, das kein 37
Mensch verstehen konnte, Affensprache halt. »Bitte«, sagte der Käpt’n dann, an alle gewandt: »Pro Boot eine Person. Und nur das mitnehmen, was Sie brauchen.« Fernando ließen sie schlafen. Der Käpt’n meinte, er würde sich schon zurechtfinden, und es sei vielleicht ganz gut, wenn einer an Bord bliebe. Natürlich war es wieder dieser Jake, der sich sofort an die Reling stellte, bereit, den anderen in die Boote zu helfen. Nach und nach stiegen sie alle ein. Er, Albert White, würde sich natürlich nicht helfen lassen. »Danke, es geht schon«, sagte er nur, als er an der Reihe war und Jake ihm die Hand hinhielt. Er ließ sich am Geländer hinab und tastete mit den Füßen nach der Strickleiter, die da hing. Was gar nicht so einfach war. Irgendwie war ihm das Boot zu weit weg. Die Strickleiter schlingerte hin und her. Und sein Jackett war verrutscht, und es konnte etwas herausfallen … Jemand lachte. Oh Gott, bloß nicht ins Wasser fallen! Albert White spürte einen festen Griff an seinem Unterarm. »Um Gottes willen!«, rief Jake, ihn fest haltend. »Warum lassen Sie denn auf einmal los?« »Habe ich das?« »Schon gut. Halten Sie Ihre Füße still. Jetzt – jetzt können Sie einsteigen.« Albert blickte bang nach unten ins Dunkel. Doch, da war das Boot. Und nun hielt ihn auch 38
der Indio fest und half ihm beim Einsteigen. Seltsame, knöchrige Hände hatten die. Und paddeln konnten die wie die Verrückten! Er war froh, als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Seine Schuhe waren zwar am Ufer ein wenig nass geworden, aber das machte Albert jetzt nichts aus. * Als das kleine Grüppchen Weißer vollständig am Ufer versammelt war, kam einer der Indios auf den Käpt’n zu. Er trug einen ledernen Lendenschurz und einen komplizierten, bunten Brustschmuck aus allerlei Kordeln und bunten Perlen. Wie sich herausstellte, war es der Sohn des Häuptlings. Er wechselte ein paar Worte mit dem Käpt’n im hiesigen Kauderwelsch. »Es findet gerade ein Fest zu Ehren eines der Dschungelgötter statt«, sagte der Käpt’n dann zu den anderen, »und wir sind zum Mitfeiern aufgefordert. Es gibt Speisen und Getränke.« Die Indios machten freundliche, einladende Gesten, und so machte sich das Grüppchen auf den Weg, weg vom Ufer, in den Dschungel hinein. Jake blieb ein wenig zurück. Er wollte noch kurz allein mit dem Käpt’n reden. Was Alice ihm über diese anonyme Botschaft im Hotel erzählt hatte, beunruhigte ihn. Es passte zu gut zu den dunklen Andeutungen, die Dr. Farnham gemacht hatte. Dazu die 39
seltsamen Geschehnisse auf dem Fluss. Gab es einen Zusammenhang? »Käpt’n?«, sagte er. Der alte schwarze Mann drehte sich zu ihm um. »O que, meu filho?« Jake stutzte. Vor den anderen war er immer auch ein Senhor gewesen, und nun nannte ihn der Alte seinen Sohn. »Was uns da heute Nachmittag begegnet ist … Glauben Sie, dass es wirklich ein Alligator war?« Das Weiß in den Augen des schwarzen Mannes schimmerte im Fackelschein. »Kein Alligator«, sagte er. »Was dann?« Der Alte zuckte nur mit den Schultern. »Ein Geheimnis des Dschungels. Es gibt viele davon.« Jake scharrte mit dem Fuß im Sand. »Irgendetwas schmeckt mir daran nicht.« »Ihr wolltet hierher kommen.« Der Käpt’n wandte sich von ihm ab. Für ihn schien das alles kein Thema zu sein. Jake folgte ihm in das Dorf, das etwa hundert Schritt in den Dschungel hinein lag. Hier waren etliche Fackeln aufgestellt, die einen großen Platz erleuchteten. In der Mitte des Platzes brannte ein Feuer, auf dem Fisch gebraten wurde. Vom Kleinkind bis zum Greis schien alles auf den Beinen zu sein. Jake schätzte hundert bis hundertfünfzig Indios, die das Dorf ausmachten, und alle waren sie da. Ihre bloße Haut glänzte 40
im Schein der Fackeln, wie sie so flink hin und her gingen, sich unterhielten, von den Speisen nahmen und aßen. In einer dunkleren Ecke saßen die Musiker. Manche von ihnen trugen Masken. Monoton erklang der Rhythmus ihrer Trommeln in der Dschungelnacht. Eine einsame Stimme sang dazu eine fremdartige Melodie. Eine einsame Stimme, weit entfernt … »Tomar, meu filho!« Der Käpt’n stand vor Jake und hielt ihm aufgeschnittene Früchte hin: Papaya und Mango. Jake griff zu. Er versenkte seine Zähne so tief in das Fruchtfleisch, dass es ihm am Kinn herunterrann. Süß und saftig – auf so etwas hatte er gewartet. »Nimm auch von dem Fisch«, sagte der Käpt’n, »er ist sehr gut.« »Werde ich tun«, sagte Jake. Er begab sich zu dem Feuer, wo er auf die anderen traf, die dem Sohn des Häuptlings gefolgt waren. Der Fisch wurde mit ein paar Beilagen auf großen Blättern serviert und mit bloßen Händen gegessen. Jake fand es witzig, Mr. White zuzusehen, wie er trotzdem versuchte, dabei saubere Finger zu behalten. »Ein ausgesprochen entwickeltes Indio-Volk«, sagte Dr. Farnham etwas später, der sich zu Jake gesellt hatte. »Ja. Haben Sie die Pfahlbauten bemerkt?« Dr. Farnham nickte und sah nach oben. 41
Viele der ›Bäume‹, die auf dem Platz standen, waren in Wirklichkeit Pfosten, die die Häuser der Indios trugen. Sie lebten in zwanzig, dreißig Fuß Höhe über dem Boden. Die beiden Männer hatten ihre Köpfe in den Nacken gelegt und sahen auf die Fußböden der Hütten über ihren Köpfen. Es gab auch etliche kleine Hängebrücken und Stege dort oben. Ein kompliziertes Netzwerk aus kunstfertig verflochtenen Ästen und Lianen. »Erstaunlich«, sagte Dr. Farnham. »Ein solcher Aufwand nur, um sich vor ein paar Tieren zu schützen?«, fragte sich Jake. »Oder Hochwasser.« »Nein. Im metereologischen Bericht stand nichts von Pegelschwankungen.« »Sie haben Recht«, gab der Doktor zu. »Wer weiß? Vielleicht bauen sie nur deshalb so hoch, weil die Luft da oben besser ist. Oder weil sie so näher an der Sonne sind. Oder ich weiß nicht was.« »Auch ihr Schmuck!«, stellte Jake fest. »Ich hatte von Indios immer ein ganz falsches Bild. Ich dachte nicht, dass sie so etwas herstellen würden. Aber das hier sind wirklich schöne Stücke!« »Ja«, sagte Dr. Farnham. »Es ist irgendwie …« Er blickte um sich. Die Musik wurde nun lauter, und der Gesang schwoll kaum merklich an. »Ich weiß nicht …« »Doktor!«, sagte Jake. »Halten Sie mich fest!« »Was ist?« »Sehen Sie sich diese Frau an!« 42
Jake deutete auf die Trommler und den Sänger, die nun auf den Platz traten. Die Indios bildeten rasch einen Kreis um sie herum, und ein paar von ihnen stimmten in den Gesang mit ein. In der Mitte des Kreises tanzte eine junge Frau, wie Jake noch keine zuvor gesehen hatte. Ihre Haut schimmerte im Feuerschein wie dunkle Seide, und ihr dichtes schwarzes Haar floss um ihre weichen Schultern, sanft wie Wasser. Sie bewegte sich so frei wie ein Mädchen, aber mit dem Anmut einer Göttin. Und in ihre dunklen Augen, wenn sie im Tanz das Gesicht hob, stand ein tiefes, unaussprechliches Geheimnis geschrieben. Sie tanzte nicht lange allein. Bald gesellten sich andere zu ihr, und Jake verlor sie aus dem Blick. Aber er hielt ihr Bild fest. Er war davon überzeugt, soeben die schönste Frau der Welt gesehen zu haben. »Na?«, sagte White, der plötzlich statt Dr. Farnham neben ihm saß. »Ihnen ist sie ja anscheinend auch nicht entgangen.« »Die Frau, meinen Sie?« »Warum haben Sie sie denn nicht mal zum Tanz aufgefordert?«, fragte der Mann in dem weißen Anzug spöttisch. »Sie müssten sich mit den Affen doch ganz gut verstehen.« »Wie bitte?«, sagte Jake. White ließ ein mitwisserisches Augenzwinkern sehen. »Ein kleines Geheimnis, das unter uns bleiben kann. Sie haben doch auch Affenblut in Ihren Adern …« Jake blieb die Spucke weg. Das war unfassbar! 43
Vor etlichen Generationen war auf verschlungen romantischen Wegen tatsächlich ein Indio-Mädchen in seine Familie geraten, seine Ur-Ur-Ur-Urgroßmutter gewissermaßen. Und dieser White wusste das! »Glauben Sie etwa«, fragte ihn White mit einem überlegenen Grinsen, »ich wäre nicht genauestens über meine Mitarbeiter informiert?« »Wenn Sie über alles andere auch nur halb so gut informiert wären«, entgegnete Jake, »dann würden Sie mir auch nur halb so sehr auf den Geist gehen.« White räusperte sich und beugte sich dann vor. »Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht«, sagte er betont höflich, »dass dies Ihr letzter Auftrag von Mut-oil gewesen sein könnte?« Jake mochte diese Art von Drohungen nicht. Trotzdem überlegte er sich, ob es vielleicht gut wäre, White jetzt einfach einmal gewinnen zu lassen. Möglicherweise gab er dann Ruhe. »Ja, ist klar«, sagte er nur. »Fein«, antwortete White mit Nachdruck. »Ich sehe, wir verstehen uns. Ich möchte keinen weiteren Ärger. Okay?« Jake nickte stumm. Albert Whites Gesicht hingegen erhellte sich im stillen Triumph. Er verschränkte die Arme vor der Brust und richtete seinen Blick in die Ferne. Ein Mann, der alles im Griff hatte. Aber als dann die schöne Tänzerin unvermittelt auf die Beiden zukam, wurde er unruhig. 44
»Guten Abend«, sagte die junge Frau und hielt beiden die Hand hin. »Mein Name ist Joana.« Sie sprach Englisch! Und das fließend! »Sehr erfreut«, sagte White verwirrt. Er ergriff ihre Hand und gab ihr einen angedeuteten Handkuss. »White ist mein Name«, stellte er sich vor. »Ich bin Leiter der Expedition.« »Adams«, sagte Jake, während er der Dschungelkönigin die Hand gab, »Jake Adams.« »Schön, Sie kennen zu lernen.« Ihre Blicke verfingen sich ineinander. »Wie kommt es, dass Sie so gut unsere Sprache sprechen?«, fragte Jake, noch immer ihre Hand haltend. »Ich war auf der Universität«, sagte sie stolz. Dann ließ sie seine Hand los. »Ich bin die Tochter des Häuptlings«, fuhr sie erklärend fort, »und möchte Sie alle als unsere Gäste begrüßen. Leider werden Sie noch ein bisschen mit uns feiern müssen, bevor Sie sich zur Ruhe begeben können.« Jake konnte seinen Blick nicht von Joana abwenden. Von ihren kleinen nackten Zehen an, die sich vor ihm in den Sand gruben, bis hin zu ihrer Nasenspitze bewunderte er alles an ihr. Und auch sie blickte ihn immer wieder an und lächelte dabei. »Ein schönes Dorf haben Sie hier«, sagte White. »Nicht wahr?«, antwortete sie. »Deswegen bin ich auch aus São Paulo zurückgekehrt. Die Städte sind so schmutzig. Aber kommen Sie 45
doch feiern!« Sie geleitete die beiden zu den Trommlern und Tänzern, wo sie auch wieder auf Alice und Dr. Farnham stießen. Nur von dem alten Käpt’n war schon lange nichts mehr zu sehen. Das Fest hatte seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. Immer mehr Trommeln kamen auf, der Rhythmus wurde komplizierter und lebendiger, und immer vielstimmiger und lauter wurde der Gesang. White versuchte, Joana dazu zu überreden, noch einmal zu tanzen. Für ihn, wie er sagte. Aber sie wollte nicht. »Jetzt nicht«, sagte sie. »Alles hat seine Zeit. Jetzt nicht.« »Also dann später. Versprochen?« Sie nickte. Aber sie sah ihn dabei sehr seltsam an. Sie wandte sich von White ab und ging. Der lächelte ihr nach. Doch dann machte er ein unglückliches Gesicht. Als hätte er bemerkt, dass es vielleicht nicht korrekt von ihm gewesen sein könnte, mit der Häuptlingstochter so zu sprechen wie mit einer x-beliebigen Frau auf der Straße. »Was hattest du vor?«, fragte Alice spitz. »Sie auf einen exklusiven Trip nach New York einladen? In die feinsten Bars, die besten Hotels … und sie dann in deiner Junggesellenbude verführen?« White starrte sie an. »Ich hätte dich da lassen sollen, wo du hergekommen bist«, sagte er tonlos. Alice kicherte. »Wie sich das anhört. Als hättest 46
du mich aus irgendeiner Gosse gezogen oder so. Aber wer weiß? Vielleicht erzählst du das ja deinen Freunden.« »Hör auf, bitte.« White sah zu Boden. »Senhora e Senhores!«, hörte man plötzlich die Stimme des Käpt’ns. Wie ein Gespenst tauchte er aus der Dunkelheit auf. »Wir wollen nun dem Häuptling einen Besuch abstatten.« In seinen verschränkten Armen trug er vor der Brust einen Beutel, den er vorher nicht bei sich gehabt hatte. Hatte er ihn in der Zwischenzeit vom Boot geholt? »Folgen Sie mir.« Als der alte schwarze Mann losging, klirrte es leise im Beutel. Natürlich, dachte Jake, wieder mal Flaschen. Der Käpt’n führte sie etwas vom Fest weg. Sie gingen ein Stück in den Dschungel hinein, bis der alte Mann unvermittelt neben einem mächtigen, verwachsenen Baumstamm stehen blieb. »Hat jemand Feuer?«, fragte er. Jake holte sein Zippo hervor, öffnete es und schlug die Flamme an. Der Alte hielt ihm eine Fackel hin. Wo auch immer er sie gefunden haben mochte. Mit einer kleinen schwarzen Rußwolke zündete die Fackel, und die Gesichter der Umherstehenden wurden vom Feuerschein beleuchtet. Das Zippo schloss sich mit einem satten Klack und wanderte zurück in Jakes Hosentasche. 47
Plötzlich raschelte es über ihnen, und etwas fiel herab. Es war eine Strickleiter aus Lianen und kurzen Ästen. Alle drehten ihre Köpfe nach oben. »Also dann«, sagte Jake. »Der Anführer zuerst.« White blickte ihn an. Sagte aber nichts, sondern ergriff eine der Sprossen und machte sich an den Aufstieg. Er schaffte es sogar ganz gut. Dr. Farnham folgte ihm, dann Alice. »Meu filho«, sagte der Käpt’n zu Jake. »Könntest du das für einen alten Mann tragen?« Jake nahm ihm den Beutel ab. Dann folgte er dem Alten auf der Strickleiter nach oben. Als er seinen Kopf durch das schmale Loch im Fußboden der Hütte steckte, saßen die meisten anderen schon. Er nickte dem Häuptling zu, der einwandfrei an seiner etwas höheren Sitzposition zu erkennen war, hob den Beutel durch das Loch und stellte ihn auf den Fußboden. Bei dem leise klirrenden Geräusch verzog der Häuptling sein Gesicht. »Oh, oh, oh!«, sagte er in gespielter Sorge. Die anderen Indios, vermutlich seine Familie, strahlten hingegen über beide Backen. »Es ist so«, erklärte der Käpt’n den Weißen, »niemand aus dem Dorf geht jemals in die Stadt. Nur die Tochter des Häuptlings hat es getan. Die anderen nie. Aber als Fernando und ich hier aufkreuzten, lernten sie alle auch den Teufel Alkohol kennen. War nicht zu 48
verhindern. Und so ist es geblieben. Ich würde sie kränken, wenn ich ihnen nichts mitbringen würde.« Er öffnete den Beutel und holte eine Flasche hervor. Er hatte auch ein Glas in dem Beutel. Er öffnete die Flasche und schenkte ein. Dann reichte er das Glas dem Häuptling. Der tat erst so, als wolle er es unter keinen Umständen annehmen. Aber seine gesamte Familie redete ihm zu, und so ließ er sich dann doch überreden und nahm einen vorsichtigen Schluck. Der Häuptling hustete und fluchte und verdrehte die Augen. Was ihn aber nicht davon abhielt, sobald er wieder konnte, den zweiten Schluck zu nehmen. Dann machte die Flasche die Runde. Jeder nahm einen Schluck und reichte die Flasche dann weiter. Nur der Häuptling trank aus dem Glas. Es war ein zuvor nie gesehenes Husten und Prusten und Lachen und Schenkelschlagen. Jake traute seinen Augen nicht. Im Nu wurde aus dem Häuptlingsempfang die lustigste Party, die er je erlebt hatte. »Siehst du«, sagte der alte Käpt’n vergnügt, »so ist es immer, wenn ich herkomme.« * Etliche Stunden vergingen. Auch Joana hatte sich noch in der Hütte eingefunden. Sie trank 49
aber als Einzige nichts. Vielleicht lag es daran, dass sie für alle dolmetschen musste, was oft genug bedeutete, dass sie zwei oder drei Geschichten gleichzeitig zu erzählen hatte. Jake himmelte sie den ganzen Abend über an. Es war verwunderlich, wie sich alle miteinander verständigen konnten, auch wenn Joana gerade nicht übersetzte. Man redete mit Händen und Füßen, schnitt Grimassen und fuchtelte wild in der Luft herum, wenn man etwas erklären wollte. Vieles ging aber in dem allgemeinen Lachen und Schulterschlagen einfach unter. Irgendwann wurden die meisten dann müde, und da der Häuptling andeutete, er müsse noch einer Zeremonie beiwohnen, beschloss man, sich in das Haupthaus zurückzuziehen, in dem sich das Lager für die Nacht befinden sollte. Die kleine Gruppe von Weißen verließ den Häuptling und seine Familie unter vielen Verbeugungen und Kopfnicken. Der Häuptlingssohn sollte sie begleiten. Sie brauchten nicht noch einmal durch die kleine Luke zu steigen, sondern konnten durch eine Tür nach draußen gehen. Von der Tür aus führten Hängebrücken im Zickzack bis zum Haupthaus, das sich auf der anderen Seite des Platzes befand, ebenfalls weit über dem Boden. Man konnte von oben auf das Fest hinabblicken. Der Sohn des Häuptlings ging mit seiner Fackel voran. Die Weißen folgten ihm über die Hängebrücken, zögernd zuerst, dann rascher, 50
weil die Brücken nicht so sehr schwankten, wie man hätte annehmen können. Unter ihnen waren die Alten und die Kinder inzwischen verschwunden. Aber die Trommler heizten die übrig gebliebenen immer noch an. Es gab keinen mehr, der jetzt noch still saß. Alle tanzten und sangen aus Leibeskräften. »Und bei dem Lärm soll nun einer schlafen«, maulte White, der den ganzen Abend über nur dagesessen hatte. »Sie werden schlafen«, sagte der Käpt’n. Der Weg war weiter, als sie gedacht hatten. Auf einer Hängebrücke ging man doch automatisch etwas langsamer. Der Häuptlingssohn trug die Fackel bis ins Innere des Haupthauses und befestigte sie dort schräg an der Wand. Der Käpt’n hatte offenbar dafür gesorgt, dass ihre leichten Schlafsäcke hierher gebracht wurden. Und es waren auch Matten da, auf die man sich legen konnte. »Gott, bin ich müde!«, gähnte Alice. White murmelte irgendetwas in sich hinein. Dann rollten sie alle stumm ihre Schlafsäcke aus und legten sich hin. Das dumpfe Trommeln und die fremdartigen Gesänge erwiesen sich als äußerst einschläfernd. Nur Jake war noch hellwach. Er hatte noch nie viel Schlaf benötigt und an dem selbst gebrannten Fusel nur genippt. In seinem Schlafsack liegend, wartete er ein bisschen, ob er nicht doch einschlafen würde. Aber dann stand er wieder auf. Er wollte allein sein, ohne die anderen. 51
Eigentlich waren sie ja bis auf einen ganz okay, aber sobald dieser White dazukam, wurde es anstrengend. Jake ging nach draußen und stellte sich auf das kleine Podest, das sich vor dem Hütteneingang befand. Unter ihm tanzten und trommelten und sangen sie unentwegt. Dabei war es sicher schon vier Uhr morgens. Jake griff sich eine Liane, die neben dem Podest herabhing, und hangelte sich an ihr hinunter bis zum Boden. Die Indios schienen so in ihren Tanz vertieft, dass er annahm, sie würden ihn gar nicht bemerken. Trotzdem hielt er sich im Schatten, während er sich der Zeremonie näherte. Joanas Vater, der Häuptling, war nun zentraler Mittelpunkt des Geschehens. Er saß mit geschlossenen Augen auf einer Erhöhung vor dem Feuer und sang. Jake meinte sogar, seine tiefe Bassstimme aus dem übrigen Gesang heraushören zu können. Der Häuptling konzentrierte sich so sehr, er presste seine Stimme so stark, dass ihm die Adern auf der Stirn und am Hals anschwollen. Jetzt tauchte Joana aus der Dunkelheit auf. Tanzend näherte sich ihr schlanker, makelloser Körper dem Feuer. Sie bewegte sich jetzt noch anders als beim ersten Mal. Schlangenhafter, verführerischer. Gefährlicher. Vor ihrem Vater machte sie Halt, tanzte auf der Stelle weiter. Er konnte sie nicht sehen, aber er wusste, dass sie da war. Sein Körper richtete 52
sich auf, und sein Gesang veränderte sich. Die monotonen Silben, die er vorher ausgestoßen hatte, schienen zu Sätzen zu werden, zu Versen, die er dann wiederholte. Die Trommeln verloren an Verspieltheit. Ein bestimmter Rhythmus begann, sich durchzusetzen: Dum-dudum-dum, dum-dudumdum … Joana streckte ihre nackten Arme gen Himmel und schlug mit wie vor Schmerz verzerrtem Gesicht mit den Hüften. Immer wilder wurde sie dabei. Ihr zuckendes Becken erregte Jake, aber es hatte auch etwas Furcht einflößendes. Eine weitere Frau betrat die Szenerie, und er wusste sofort, dass es Joanas Mutter war, die Frau des Häuptlings, die bislang niemand zu Gesicht bekommen hatte. Sie war klein, dick und unscheinbar und sah Joana kein bisschen ähnlich, und doch wusste er, dass sie die Mutter war. Zwei Indios bauten in Windeseile einen kleinen Altar, oder etwas in der Art zwischen der tanzenden Joana und ihrer Mutter auf. In der Hand der Häuptlingsfrau erschien ein Messer mit einer langen, schmalen Klinge. Joanas Vater erhob sich, die Augen immer noch geschlossen. Der Gesang schwoll an und steigerte sich, bis er mehr einem Kreischen glich. Der Häuptling selbst sang nun nicht mehr, sondern rief mit lauter Stimme unverständliche Sätze in den Dschungel hinein. Dum-dudum-dum! Dum-dudum-dum! Vier junge Männer kamen angelaufen. Sie 53
trugen ein großes, nasses Tuch, in das etwas Schweres eingewickelt war. Etwas, das lebendig war und zappelte. Sie legten ihre Last auf dem Altar ab, knieten sich auf den Boden und schlugen das Tuch beiseite. Ein mannsgroßer Fisch lag da, dessen riesiges Maul verzweifelt nach Luft rang. Plötzlich schnappte er um sich, und die vier hatten alle Mühe, ihn zu bändigen. Sie packten ihn und hielten ihn dann mit speziellen Haken fest, die aus Holz gefertigt waren. Joanas Tanz wurde zu einem ekstatischen Zucken. Sie reckte die Arme gen Himmel und heulte laut auf, mit verzerrtem Gesicht, so als wolle sie ihrem Vater beistehen, der seine Gebete in die Dunkelheit hinausschrie. Joanas Mutter hob das Messer. Die Klinge blitzte im Feuerschein. Mit einem einzigen schnellen Schnitt schlitzte sie den Fisch auf. Joana hörte auf zu heulen und sah auf den großen, zappelnden Fisch hinab. Die Männer zogen fester an ihren Haken, sodass sich der Schnitt weitete. In diesem Moment hatte Jake das Gefühl, der Fisch würde ihn mit seinem einen Auge stumm anglotzen. Joana streckte beide Arme nach vorn aus und griff in den Fisch. Vorsichtig hob sie das Herz heraus. Es zuckte noch in ihren Händen. Ihre Mutter durchtrennte das herabhängende Adergeflecht. Das Auge des Fisches brach und wurde stumpf 54
und leblos. Joana stieß einen Schrei aus. Immer noch mit den Hüften schlagend, hob sie das Herz hoch über ihren Kopf. Dum!-Dum!-Dum!-Dum!, gingen die Trommeln jetzt. Der Gesang verstummte. Nur der Häuptling rief weiter mit lauter Stimme seine Gebete aus. Bis auch er verstummte. Gleichzeitig hörte auch das Trommeln schlagartig auf. Totenstille herrschte im Dschungel. Langsam senkte Joana das Herz über ihr Gesicht … …und biss hinein. Ein begeistertes Johlen ging durch die Menge. Das Herz zerplatzte. Rotes Blut spritzte Joana entgegen. Sie lachte und ließ es sich ins Gesicht laufen und ihren ganzen Körper herunterrinnen. Tanzend verrieb sie das Blut über ihre Brüste und Schenkel. Die Trommeln waren nun wieder da, und auch der Gesang setzte wieder ein. Er klang gelöster jetzt, befreiter, irgendwie aufatmend. Joana tanzte ausgelassen dazu, während ihr Vater mit geschlossenen Augen und streng zum Himmel gerichteten Gesicht hinter ihr stand und lauschte. Auch Jake horchte auf. Eine weitere Stimme mischte sich in den Gesang. Sie schien von weit entfernt zu kommen. Unmerklich zunächst, leise, nur eine fremde 55
Harmonie, aber dann lauter werdend. Für Jake klang die Stimme wie das Trompeten eines Elefanten, nur tiefer. Und sie kam nicht von den Sängern. Sie kam tief aus dem Urwald. So als würde der Dschungel antworten … Die unheimliche Stimme eines unbekannten Wesens. Nun entspannten sich die Gesichtszüge des Häuptlings. Langsam senkte er den Kopf und öffnete die Augen. Er warf einen zufriedenen Blick auf seine Frau und seine Tochter. Dann drehte er sich um und verließ den Platz mit einem stillen, scheuen Lächeln. * Jake erwachte als Erster: Er pellte sich aus dem leichten Sommerschlafsack, streckte die Arme aus und gähnte. Die anderen lagen noch alle auf ihren Matten und schliefen. Obwohl die Sonne schon recht hoch stehen musste, herrschte im Raum nur dunkles Dämmerlicht. Und durch die Fensteröffnungen war überall nur das grüne Laub zu sehen. Der Raum, das Innere des Haupthauses, war riesig. Eine unglaubliche Konstruktionsleistung musste dahinter stehen, um ein solches Haus in die Bäume zu heben. In seiner Mitte befand sich sogar eine große Feuerstelle, auf einer in 56
den Boden eingelassenen Steinplatte. Jake stand auf, zog seine Hose an und ging durch den Raum ins Freie. Erst jetzt, bei Tage, konnte er sehen, wie groß das Dorf wirklich war. Und dementsprechend unüberschaubar war auch das Gewirr der Hängebrücken, die kreuz und quer zwischen den Bäumen von hier nach dort führten. Wie ein riesiges Spinnennetz, das im Dschungel hing. Ein ganzes Dorf lebte hier in den Bäumen. Und das ohne irgendeinen ersichtlichen Grund. Es gab Häuser hier oben, Wege, Kreuzungen, ja sogar kleine Plätze, Plattformen, auf denen man stehen bleiben und rasten konnte, andere traf und sich unterhielt. Jake grüßte ein paar Indios auf einer der Brücken, die ihn auf der Brüstung entdeckt hatten. Sie lachten ihm zu und zogen dann weiter. Der ganze Ort strahlte Ruhe und Frieden aus. Überall war das Grün des Dschungels. Nur die Papageien, die in den Bäumen saßen, sorgten für ein paar bunte Farbtupfer. Es war so ruhig und friedlich hier, dass Jake die Ereignisse der vergangenen Nacht nur noch wie ein ferner, fremder Traum vorkamen. Aber es war kein Traum gewesen. Das wusste er. Die Zeremonie hatte ihn sogar so beeindruckt, dass er sich zum Ende hin eine Stimme eingebildet hatte, die dem Gesang aus dem Dschungel antwortete. Oder war sie doch da gewesen, die Stimme? 57
Vielleicht stammte sie auch nur aus einem Instrument, das er nicht hatte sehen können. Irgendein Hokuspokus. Jake streckte seinen bloßen Oberkörper und breitete seine muskulösen Arme weit aus. Die Sonne spielte in kleinen Lichtflecken auf seiner bloßen Haut. Ja, so war das feuchtwarme Klima der Tropen zu ertragen. Wenn nur die Moskitos nicht wären! Die Indios rieben sich zu den gewissen Tagesstunden mit Holzasche ein. Und die Weißen trugen ihre Hemden, in denen sie dann schwitzten. Jake stand noch eine Weile da und sah dem gemütlichen Treiben zwischen den Bäumen zu. Gerade wollte er wieder in das Haupthaus zurückgehen, um die anderen zu wecken, als er auf der langen Brücke zur Häuptlingshütte eine Person entdeckte. Es war Joana. Sie winkte ihm zu. Er ging ihr auf der Brücke entgegen, bis sie sich in der Mitte trafen. »Einen guten Morgen«, wünschte sie ihm. »Haben Sie gut geschlafen?« »Tief und fest, vielen Dank«, antwortete er. Das blütenweiße Tuch, in das sie eingewickelt war, verstärkte noch den Kontrast zu ihrer schönen dunklen Haut. Und ihre Augen blickten so klar wie der Morgen. Unfassbar, dass dieses himmlische Wesen dieselbe Frau sein sollte, die Jake in der vergangenen Nacht beobachtet hatte, 58
ekstatisch tanzend und den nackten Körper mit Blut beschmiert. »Sie haben ja noch ein bisschen weiter gefeiert«, sagte er andeutungsweise, »und trotzdem sehen Sie so frisch aus wie der junge Tag. Wie machen Sie das?« »Ich habe nicht geschlafen«, sagte sie nur. Sie betrachtete ihn mit offenem Interesse. Immer wieder glitt ihr Blick von seinem Gesicht ab zu seinem muskulösen Oberkörper. Ihm war nicht unwohl dabei. Er genoss es, mit ihr auf der Hängebrücke zu stehen, zwischen all den Bäumen und Papageien, und sie dabei anzusehen. Obwohl er sie auch schon ganz anders gesehen hatte. Oder gerade deswegen? »Wieso habt ihr eigentlich all das hier gebaut?«, fragte er sie beiläufig. »Der Vater meines Vaters«, erklärte sie, »hat uns gesagt, dass wir so bauen sollen. Damals war er bei uns das, was ihr einen Häuptling nennt. Wir nennen ihn anders. Bei uns ist der Medizinmann der Häuptling.« »Verstehe.« Jake nickte. »Und das Wort des Medizinmanns ist Gesetz.« »So ist es«, bestätigte Joana. »Mein Vater ist ein mächtiger Mann.« »Und du«, sagte er, »bist eine mächtige Frau.« »Nein«, entgegnete sie ahnungslos. »Wie kommst du darauf?« »Ach, nur so. Hat dein Großvater nicht gesagt, warum ihr in den Bäumen bauen sollt?« »Nein. Ghordad wollte es so.« »Ghordad?«, fragte Jake. »War das der Name 59
deines Großvaters?« Joana blickte ihn ungläubig an. Dann lachte sie hell auf. »Nein.« Sie gluckste. »Das ist der Name des Dschungelgottes, für den wir letzte Nacht auch das Fest veranstaltet haben.« »Ah, ja«, sagte Jake. »Ich erinnere mich. Die Party wurde ja wohl erst am Ende richtig lustig, oder?« Sie sah ihm tief in die Augen. Keine Gemütsregung war jetzt von ihrem Gesicht abzulesen. »Weißer Mann«, sagte sie leise und ernst, »ich möchte dich um etwas bitten.« »Nur zu«, forderte Jake sie unbekümmert auf. »Kehr um«, sagte sie. Er sah sie fest an. »Das geht nicht.« »Bitte«, sagte sie. »kehrt um. Geht da nicht hin. Ich weiß sonst nicht, ob ich noch etwas für euch tun kann.« Jake fuhr mit der Hand durch die Luft. Was sollte das nun wieder bedeuten? »Hat das was mit dem Hokuspokus zu tun, den ihr da letzte Nacht veranstaltet habt?«, wollte er wissen. Joana machte ein gequältes Gesicht. »Was meinst du damit?« »Naja«, sagte er, »sagen wir mal so: Wäre ich ein Fisch, würde ich mich vor euch in Acht nehmen.« Sie blickte ihn verzweifelt an. »Es ist nicht gut«, flüsterte sie. »Was?«, fragte Jake. 60
»Es ist nicht gut, dass du das gesehen hast.« »Ach, nun hör aber auf!« Jake lachte. »Bitte«, sagte Joana noch einmal leise und eindringlich. »Fahrt nicht den Fluss hinauf!« Jake schüttelte nur den Kopf. Dann empfahl er sich höflich und ging ins Haupthaus, um die anderen zu wecken. * Fernando traute seinen Augen nicht. Wo waren denn nur alle hin? Und wieso fuhr das Boot nicht mehr? Er stützte sich auf die Holzplanken und stand auf. Es war niemand mehr an Bord, und der Anker war geworfen. Das Boot trieb leise in der sanften Strömung des Flusses. Dann erkannte Fernando den Bootsplatz des Indio-Dorfes wieder, und sofort ging sein Blick zur Sonne. Die stand im Osten, also war es Morgen. Er hatte die ganze Nacht geschlafen, ohne irgendetwas zu bemerken! Er schwor sich, nie wieder zwei Glas Whisky hintereinander zu trinken. Nach dem Ersten war ihm schon so komisch geworden. Und dabei hatte er dem Käpt’n versprochen, immer da zu sein, wenn der ihn brauchte! Wenn er nur nicht wieder böse wurde. Der Käpt’n konnte sehr böse werden, wenn es um sein Trinken ging. Heute jedenfalls würde er überhaupt nichts trinken. Auch das schwor er 61
sich. Ein wenig ratlos stand Fernando nun auf dem Deck. Die anderen waren sicher an Land und hatten dort geschlafen. Jetzt erinnerte er sich auch wieder, dass er wild geträumt hatte. Die ganze Zeit über war getrommelt worden, und die Leute hatten sich alle nur angeschrien, weil es so laut gewesen war. Fernando fing an, aufzuräumen. Was bedeutete, dass er wahllos Dinge hin- und herschleppte. Er wollte sich nützlich machen, wusste aber nicht so recht, wie. Zum Glück erschienen bald ein paar Boote auf dem Fluss, die die Ersten wieder zurückbrachten. »Senhor Jake!«, rief Fernando, sich über die Reling beugend, in ehrlicher Wiedersehensfreude. »Käpt’n!« Er hielt beiden die Hand hin, um sie an Deck zu hieven. »Na? Alles in Ordnung an Bord?«, fragte der alte schwarze Mann, als er sich nach oben ziehen ließ. »Sim, Senhor capitão!« Fernando strahlte über das ganze Gesicht. Der Käpt’n war ihm nicht böse. Er fand es schön, dass sie wieder da waren. Er mochte seinen alten Käpt’n, und dieser Senhor Jake, das war auch ein feiner Kerl. »Wo sind die anderen?«, fragte er. »Die kommen nach.« Als Nächstes kam Dr. Farnham. Fernando half ihm an Bord. Dann wurden die schöne Senhora 62
Alice und Senhor White mit den Booten herangebracht. Senhor White war kaum wiederzuerkennen. Was hatten sie nur mit ihm angestellt? Sein Haar stand wirr in alle Richtungen, und sein Gesicht sah genauso zerknautscht aus wie sein schöner Anzug! »Geht es Ihnen nicht gut, Senhor?«, fragte Fernando besorgt. »Warum sollte es mir nicht gut gehen?«, gab White mürrisch zurück. »Weil Sie nicht gut aussehen, Senhor White. Vielleicht würde ein Gläschen Whisky Ihnen helfen?« »Ach, Blödsinn«, sagte White barsch. Ein lustiger Vogel, dieser Senhor White, dachte Fernando vergnügt. Ob der wohl in seiner Heimat auch so war? Ein paar Männer aus dem Dorf brachten noch Früchte und etwas gebratenen Fisch vorbei, sodass er sich an der Reling nützlich machen konnte. Mit all den Köstlichkeiten vor der Nase fing ihm bald der Magen zu knurren an. Als alles an Bord gehoben war, startete der Käpt’n die alte Dieselmaschine. Winkende Hände in allen Booten. Senhor Jake hob den Anker. Dann fuhren sie los, weiter flussaufwärts. * Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle. Alle machten es sich irgendwo bequem, und Alice 63
hatte sogar ihren alten Platz auf dem Bugdeck wieder eingenommen. Jake und Dr. Farnham hatten ihre Karten ausgebreitet und den GPS-Empfänger an Deck geholt. Sie wollten dem Käpt’n das Gerät erklären, aber der schenkte ihm keinerlei Beachtung. Er deutete nur immer wieder lobend auf seinen alten, verkratzten Kreiselkompass. Die beiden Geologen verglichen den Flussverlauf mit den Angaben auf der Karte und der Position, die ihnen der Empfänger lieferte. »Dürfte nicht mehr lange dauern«, sagte Jake. Keine Viertelstunde später waren sie am Ziel. »Käpt’n«, sagte Dr. Farnham. »Hier können Sie eine Stelle zum Anlegen suchen, auf der linken Flussseite.« »Mit Vergnügen, Senhor.« Der Käpt’n richtete das Boot auf eine Stelle am Ufer aus, wo es steil abfiel. Er drosselte die Maschine und ließ das Boot herantreiben. Dabei hielt er die Augen immer ins Wasser gerichtet, um zu sehen, ob es nicht doch irgendwo eine Untiefe gab. Das Boot quietschte leicht an der Reling, als es die Wurzeln der großen Mangroven berührte, die hier, am Ufer, ins Wasser hingen. Der Käpt’n stellte den Motor ab. Dies war ein stiller Ort. Kein Papageiengeschrei erfüllte die Luft, und nirgendwo regte sich etwas. »Nahezu unheimlich hier«, sagte. Alice, während sie ihr langes blondes Haar zu einem Pferdeschwanz band. 64
Fernando machte das Boot an den Mangrovenwurzeln fest. Er zog die Taue dabei so straff wie möglich. Nach und nach stiegen alle aus. Sie hielten sich an den Wurzeln fest und zogen sich an Land. Jake blieb im Boot und warf ihnen ihre Rucksäcke zu, die sie während der Fahrt bepackt hatten. Dann reichte er Dr. Farnham den Teleskopbohrer hinüber und auch die übrigen Kisten mit dem Zubehör und den Instrumenten. »Die Stangen nicht vergessen!« Nur der Käpt’n blieb an Bord. Er sah zu, wie die anderen die Rucksäcke aufsetzten und sich für den Abmarsch vorbereiteten. Sie winkten ihm noch einmal zu und machten sich auf den Weg. Schnell war das Boot hinter grünen Blättern verschwunden. Die folgenden Stunden wurden für keinen von ihnen einfach, denn nun stand der Marsch durch den Dschungel bevor. Auch Alice musste kräftig mitplackern. Wer hinten ging, hatte schwere Kisten zu schleppen, während die Vorderen mit großen Macheten den Weg frei schlugen. Sie wechselten sich in ihren Positionen ab. Der jeweils Erste sah sich einer undurchdringlich scheinenden grünen Wand gegenüber. Stück für Stück, Hieb für Hieb musste man sich seinen Weg erkämpfen. Der Urwald war hier besonders dicht. Es war ein mühsames Geschäft, mit dem schweren Buschmesser gegen all die Äste, 65
Riesenblätter und Schlingpflanzen anzutreten. Die kurzen Pausen, die der Positionsüberprüfung dienten, waren jedes Mal von neuem eine willkommene Erholung. Und jedes Mal von neuem eine echte Enttäuschung. Sie kamen viel zu langsam voran. Es wurde fraglich, ob sie es überhaupt bis zum Einbruch der Dunkelheit schaffen würden. Aber sie erhoben ihre Macheten immer wieder von neuem und trotzten dem Dschungel Fuß um Fuß seines Gebiets ab. Jake trieb sie dazu an. White hatte ihm stillschweigend die Führung der Gruppe überlassen. Er selbst hatte vor dem Dschungel längst genauso kapituliert wie sein ehemals weißer Anzug, der nun vollständig ramponiert war. Alle hielten sich nur mit dem Gedanken aufrecht, dass der Rückweg sehr viel leichter werden würde. Dann konnten sie einfach den Pfad zurückspazieren, den sie jetzt freischlagen mussten. Die Sonne stand schon bedenklich tief, als sich plötzlich eine offene Ebene vor ihnen auftat, auf der lediglich kurzes Sumpfgras wuchs. Es war seltsam, plötzlich wieder den Himmel zu sehen, der sich über der weiten Lichtung öffnete. »Ist das auch auf der Karte?«, fragte Dr. Farnham. Jake faltete die Karte auseinander. »Nein.« 66
Das Geländeprofil wies die gesamte Gegend als von Dschungel bewachsen aus. Hier und da gab es kleine Symbole für Moore oder Sümpfe, aber nichts, was die freie Fläche vor ihnen beschrieben hätte. »Hm«, machte Jake. »Was halten Sie davon?« »Gefährlich«, antwortete Dr. Farnham. »Zum Bebauen wohl nicht geeignet. Zu sumpfig.« »Es scheint kreisrund«, stellte Jake fest. »Ja, sieht so aus.« »Was könnte es sein?« Dr. Farnham sah seinen jüngeren Kollegen von der Seite an. »Hier soll es mal einen Meteoriteneinschlag gegeben haben«, sagte er. »Aber das war vor hunderten von Jahren.« »Unmöglich«, meinte Jake. »Die Vegetation hätte sich längst davon erholt. Außerdem wäre das hier dann doch eher ein Krater, keine kreisrunde Fläche.« »Tja.« Dr. Farnham zuckte mit den Schultern. »Ich schlage vor, wir suchen uns jetzt einen Platz zum Lagern. Das Licht dürfte gerade noch reichen, um die Zelte aufzuschlagen.« Und so war es. Kaum hatten sie den letzten Hering im weichen Boden versenkt, da verschwand die Sonne im Dschungel, und die Nacht brach herein. Sie hatten sich entschieden, nahe der offenen Ebene zu lagern, sodass sie nun von ihren Zelten aus in den Sternenhimmel über sich blicken konnten. Dr. Farnham entpackte einen der Rucksäcke 67
und bereitete ihnen auf einem Spirituskocher ein Abendessen zu. Die anderen saßen herum und warteten. Keiner sprach ein Wort. Die Anstrengung, der Kampf mit dem Dschungel, saß ihnen allen noch in den Gliedern. Und so lagerten sie erschöpft auf einem Teppich aus abgeschlagenen Blättern und sahen in den funkelnden Sternenhimmel hinauf. Aber kaum jemand drehte sich einmal um und blickte in das tiefe Schwarz des Dschungels hinter ihnen. Von dort waren seltsame Geräusche zu vernehmen. Ein Rascheln und Rauschen ging umher. Urige, kehlige Schreie, die durch die Nacht hallten. Und wenn dann doch einmal Stille herrschte, so wirkte sie nur umso bedrohlicher. Jake räusperte sich. Er erzählte den anderen eine Geschichte, die er mit einem Schäfer in Neuseeland erlebt hatte. Es war eine seiner besten Geschichten, und sie hatte eine gute Pointe. Er erzählte sie, um das betretene Schweigen um ihn herum zu durchbrechen, das die Stimmung der Gruppe bedrohte. Die Pointe bestand aus einem ungewollten ›Stierkampf‹ mit einem durchgedrehten Schafsbock. Sie verfehlte ihre Wirkung nicht. Jake spielte die Szene so überzeugend und komisch nach, dass er alle zum Lachen brachte. Kurz darauf war auch das Essen fertig, und alle stürzten sich auf ihre Blechteller. Es fiel ihnen 68
erst jetzt auf, wie hungrig sie waren. Wie Tiere schlangen sie die Nahrung herunter. Nachdem sie ihre Mägen gefüllt hatten, kehrte allgemein große Müdigkeit ein, und so einigte man sich rasch auf die Verteilung der Zelte. Es war klar, dass Alice und Mr. White das eine erhielten, und Jake und Dr. Farnham das andere. Fernando hatte sein eigenes ›Zelt‹, eine alte, verschlissene Plane, in die er sich zum Schlafen einhüllte. Nur Jake wollte noch ein wenig draußen sitzen bleiben. Er genoss die Ruhe, die einkehrte, und ließ seine Gedanken treiben. Was hatte er in der vergangenen Nacht nicht alles Seltsames erlebt! Wie ein Film liefen die Bilder immer wieder vor seinem inneren Auge ab: Masken. Tanzende Männer. Joana. Ihre Mutter mit dem Messer. Der riesige Fisch, dessen Auge Jake angesehen hatte, als er getötet wurde. Das viele Blut … Er hatte schon einmal einem Opferritual beigewohnt, in Pakistan. Aber das war mit diesem nicht zu vergleichen. Und es war in Indien gewesen. Verdammt, die Orte verschwammen alle miteinander in seinem Kopf. Jake erhob sich und machte ein paar Schritte zu der großen Ebene hin. Mit den Händen in den Hosentaschen stand er da wie am Ufer eines Gewässers und sah hinüber zur anderen Seite. 69
Zwischen den Wipfeln der Bäume wurde es hell. Ein silbriger Schein drang durch die Blätter. Es war der Mond. Der gute, alte Mond ging auf. »Sei mir gegrüßt, Schwester der Nacht«, sagte Jake leise. Das Mondlicht überfloss die Ebene, und nun sah sie wirklich aus wie ein fremdartiges Gewässer. Jake setzte sich. Ergriffen von der Schönheit der Natur, starrte er in die Nacht hinaus. »Mein Gott«, flüsterte Alice hinter ihm. Er hatte ihre Schritte vorher kommen gehört. Sie blieb kurz stehen, mit dem gleichen ergreifenden Bild vor Augen wie Jake. »Kannst du auch nicht schlafen?«, fragte sie dann, sich neben ihn setzend. »Ich wollte noch ein bisschen allein sein.« »Tut mit leid. Das habe ich dir wohl vermasselt.« »Macht nichts«, sagte er. Sie sahen auf die silbrig glänzende Ebene hinaus. »Jake?« »Ja?« Sie rückte näher an ihn heran. Er konnte ihr hübsches Gesicht im Mondschein sehen. Beinahe meinte er sogar, das Grün ihrer Augen zu erkennen. »Ich wollte nicht neben Albert schlafen«, vertraute sie ihm an. »Ach so.« »Ich wollte neben dir schlafen.« 70
Er sah, wie ein sanfter Lufthauch ihr helles, blondes Haar bewegte und sich das Mondlicht darin verfing. Sie schmiegte ihren Kopf an seinen Oberarm, und er lehnte sich zurück und zog sie ein wenig zu sich heran und legte den Arm um sie. »Albert ist so eine Flasche«, gestand sie ihm leise und kurz aufkichernd, »aber du, du bist anders. Du bist so, wie er gerne sein möchte.« »Das glaube ich aber nicht«, sagte Jake, mit ihrem Haar spielend. »Doch«, sagte sie. Sie drehte sich ein bisschen, sodass sie sich ins Gesicht sehen konnten. Jake spürte die Bewegung ihres straffen, warmen Körpers auf dem seinen, und seine Hand konnte es nicht unterlassen, diesen fremden Körper zu ertasten. »Jake«, hauchte sie. »Ich will mit dir schlafen.« »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, sagte er. Sie küsste ihn sanft auf die Lippen. Gleichzeitig schob sie langsam ihre warme, geschmeidige Hand in seine Hose. Und sie hatte verdammt geschickte Finger, stellte Jake fest. »Der da unten fände die Idee aber sehr gut, glaube ich«, flüsterte sie, ihn zärtlich herausfordernd. »Alice«, sagte Jake und hielt ihren Unterarm fest, »wirklich. Besser nicht. Ich fände die Idee auch sehr gut, unter anderen Umständen, aber … Ich habe ein seltsames Gefühl bei der ganzen Sache hier. Keine weiteren 71
Komplikationen. Nicht hier. Und nicht jetzt.« Er zog ihre Hand ans Freie, hielt sie noch einen Moment lang am Gelenk. »Na, du bist mir ja ein Held!«, rief Alice amüsiert. »Versteh mich nicht falsch …«, begann er. »Nein, nein!«, sagte sie lachend. »Ist schon in Ordnung! Modernes Rittertum, das ist hochinteressant. Oder hat dir etwa die schöne Dschungelkönigin den Kopf verdreht?« Jake schwieg. Sie nickte bedächtig, aber der Mondschein zeigte das Schmunzeln auf ihrem Gesicht. »Das ist es also.« Sie lachte. »Der weiße Mann und die Tochter des Häuptlings! Na, wenn das mal gut geht. Aber meinen Segen habt ihr!« »So ein Unsinn«, sagte Jake. Alice piekste ihn in die Seite. »In jeder Stadt eine andere Frau«, sagte sie neckend, »sogar im letzten Indio-Dorf!« Er atmete tief ein. »Es ist Zeit für die Zelte, glaube ich«, sagte er. * Am nächsten Morgen nahmen sie die Vermessungen vor. Nachdem sie einen ersten Messpunkt bestimmt hatten, begann für sie die mühselige Arbeit mit der Machete von neuem. Eine Unzahl von Pflanzen fiel den Buschmessern zum Opfer, damit sie zur Peilung freie Sicht hatten. Fernando stellte sich als große Hilfe heraus, wenn einer der beiden 72
Geologen mit seiner Messstange mal wieder irgendwo im Gehölz steckte und der andere ihn nicht sehen konnte. Er zog dann mit dem Buschmesser los und hackte alles zwischen ihnen kurz und klein. So steckten sie zwei rechteckige, winklig zueinander ausgerichtete Felder ab, ein größeres und ein kleines. Mr. White, der ansonsten nichts zu tun hatte, entwickelte ein plötzliches Interesse an den Karten. Er wollte wissen, warum die beiden Geologen nicht auf der Ebene arbeiteten. »Das wäre sinnlos«, erklärte Dr. Farnham. »Es ist Sumpfgebiet, da kann man nicht bauen.« »Aber auf der Karte«, beharrte Mr. White, »sind Punkte vorgezeichnet.« »Die Leute, die die Punkte eingezeichnet haben«, erklärte Dr. Farnham, »wussten aber nicht, dass da Sumpf ist.« Bis die Messstangen alle verteilt waren, war es Mittag. Nun legten die Männer eine Rast ein. Sie setzten sich vor die Zelte und aßen von dem mitgebrachten Proviant. Schweigend kauten sie vor sich hin. Nur die Moskitos kamen ab und zu vorbei und belästigten sie ein wenig. »Für eine Straße hierher sehe ich aber schwarz«, bemerkte Jake irgendwann einmal. »Es wird keine Straße geben«, sagte Dr. Farnham. »Keine Straße?« »Nein. Nur eine Pipeline. Alles kann mit Hubschraubern hierhergeschafft werden.« 73
»Bei diesem Boden wird man aber eine Menge Material benötigen«, gab Jake zu bedenken. »Mut-oil verwendet in solchen Fällen eine ähnliche Technologie wie bei den großen Plattformen in der See. Was die Hochbauten angeht, eine relativ leichte Konstruktionsweise. Herkömmlich gebaut wird nur die Basisstation, die wir gerade abstecken.« Jake versuchte sich vorzustellen, wie die Gegend hier aussehen würde, wenn da erst einmal so eine Ölbohrplattform hineingestampft worden war. Mit der Stille wär es dann jedenfalls vorbei. Nach dem Essen machten die Männer trotz der sich in der Mittagshitze einstellenden Mattigkeit sofort weiter. Aber die Arbeit mit dem Teleskopbohrer ging schnell und gut von der Hand. Man brauchte das Gerät nur aufzustellen, einzuschalten und dann ab und an eine Röhre nachzugeben, während sich der Bohrer in den Boden fraß. War man tief genug gelangt, schaltete man den Bohrer um und konnte die Röhren eine nach der anderen wieder herausnehmen, eine jede gefüllt mit Erdreich aus der entsprechenden Tiefe. Dr. Farnham und Jake untersuchten die Erde, zerbröselten sie zwischen den Fingern, maßen ihr spezifisches Gewicht, den Feuchtigkeitsgehalt, Anteile von Feststoffen. Jake tippte die Ergebnisse in den Laptop ein, während Dr. Farnham sie zur Sicherheit gleichzeitig handschriftlich festhielt. 74
»Das sieht gut aus«, sagte er. »Auch nicht schlecht«, bei der nächsten Probe. Sie wurden viel schneller damit fertig als erwartet. Und der Grund schien die nötige Festigkeit für die Bauten vorzuweisen. »Etwas Besseres konnte uns jetzt nicht passieren«, freute sich Dr. Farnham. »Wenn wir uns gleich noch mit dem Einpacken ein wenig beeilen, könnten wir es bis Einbruch der Dunkelheit bis zum Boot schaffen.« Aber als sie wieder am Lager ankamen, hielt ihnen Mr. White abermals die Karte unter die Nase. Sie war jetzt vollgekritzelt mit ihren eigenen Eintragungen, die sie nach dem Essen gemacht hatten. »Meine Herren«, sagte White, »ich habe verglichen. Ihre Punkte entsprechen nicht den auf der Karte vorgegebenen.« »Mr. White«, sagte Dr. Farnham ruhig, »ich habe es Ihnen doch erklärt. Es hat keinen Sinn, das Gebiet zu vermessen, weil es zu sumpfig ist.« »Ich habe den Eindruck«, widersprach White, »dass man sehr wohl darauf gehen kann.« »Das mag ja sein. Aber man kann unter keinen Umständen ein Gebäude darauf errichten.« »Hören Sie.« White trat einen Schritt auf die Männer zu. »Ich verlange nicht, dass Sie das Gelände komplett vermessen. Ich verlange nur Bohrproben von den in der Karte angegebenen Punkten. So wie es im Auftrag steht. Sie können es gerne nachlesen. Die Proben sollen an Mut-oil zurückgehen. Dafür ist ein roter 75
Koffer vorgesehen, und der rote Koffer steht dort.« Die Blicke der Geologen folgten seinem ausgestreckten Arm und Zeigefinger, und tatsächlich: Sie hatten einen kleinen roten Hartschalenkoffer dabei. Er war wohl irgendwo in dem übrigen Gepäck versteckt gewesen. »Dann wird wohl aus unserer frühen Rückkehr nichts«, sagte Dr. Farnham bedauernd. Jake zuckte mit den Schultern. »Es waren ja ohnehin zwei Nächte im Zelt vorgesehen.« Seufzend hoben die Männer den Erdbohrer wieder auf und trugen ihn an den Rand der Lichtung. Fernando bot sich an, den Weg für sie abzustechen. Und nun kamen auch Mr. White und Alice und folgten den drei Männern. Der Ort, die große, kreisrunde Ebene, auf der lediglich knöchelhohes Gras wuchs, hatte seine eigenen ›Schwingungen‹. Eine seltsame und mysteriöse Ausstrahlung. Keiner aus der Gruppe hatte ihn alleine beschritten. Niemand von ihnen war auch nur ein kurzes Stück darauf gegangen. Die Ebene schien zu unwirklich. Als sei sie nicht echt. Erst jetzt, in der Gruppe, wagten sie sich hinaus. Dr. Farnham bestimmte die Richtung, aber Fernando ging voran. Mit einer langen, dünnen Eisenstange stach er den Weg vor sich ab. Mit leisem Schmatzen, drang die Spitze immer wieder ein kleines Stück in den morastigen Untergrund ein. Aber kein einziges Mal sank die Eisenstange 76
tiefer als wenige Zoll, und so fasste die Gruppe langsam Vertrauen zu der seltsamen, grasbewachsenen Ebene. »Von wegen Sumpf!«, sagte White, nachdem sie eine Weile gegangen waren. »Einen wunderschönen Rasen haben wir hier!« Er lachte. »Und Sie haben sich durch den Dschungel gequält – für nichts und wieder nichts!« Dr. Farnham sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Eindeutige Sumpfvegetation«, sagte er. »Passen Sie lieber auf, wo Sie hintreten! Im Nu können Sie irgendwo im Erdboden verschwunden sein!« White lachte ihn aus. »So was nenne ich aber einen schlechten Verlierer!« »Sie sind jedenfalls gewarnt worden«, sagte Dr. Farnham trocken und ging weiter. White verließ die Reihe nicht, die nun wieder hinter Fernando herzog. »Anhalten«, sagte Dr. Farnham etwas später. Die beiden Geologen ließen ihre Geräte ab und bestimmten ihre Position mit den Dioptern, indem sie die Zelte und eine der Messlatten aus dem Dschungel als Peilpunkte benutzten. »Noch dreißig Yards in diese Richtung«, entschied Dr. Farnham. »Dort entnehmen wir die erste Probe.« Sie gingen das Stück. Dann setzten Jake und Dr. Farnham den Bohrer an. »Wie tief hätten Sie es denn gerne?« White sah auf die Karte. Neben den 77
vorgegebenen Punkten wären kleine Zahlen eingezeichnet. »Punkt Nummer eins: Zehn Fuß.« Ratternd setzte sich der Bohrer in Betrieb. Wenig später reichte Dr. Farnham White das Rohr mit. der Erdprobe. »Bitte sehr.« White nahm das Rohr entgegen und öffnete den kleinen roten Koffer, den er die ganze Zeit über getragen hatte. In dessen Innerem lagen, durch Halterungen gesichert, fünf längliche Aluminiumbehälter. White holte einen der Behälter heraus, öffnete ihn und ließ das Proberohr hineingleiten. Es passte genau. Er verschloss den Behälter und legte ihn in den Koffer zurück. »Beschriften nicht vergessen«, sagte Jake. »Oh.« White nahm den Permanentmarker von der Innenseite des Kofferdeckels und malte eine schöne, gerade Eins auf das Aluminium. »Zeigen Sie mir mal die Karte.« Dr. Farnham rückte seine Brille zurecht und fuhr mit dem Finger über das Papier. »Der nächste Punkt ist nicht weit weg«, stellte er fest. Er griff nach dem zweiten Stecheisen, das sie mit hergebracht hatten. Er visierte einen Punkt im fernen Dschungel an und marschierte los. Die anderen blieben zurück und sahen, wie er durch das Sumpfgras davonstach. Mr. White und Alice unterhielten sich leise. Jake entfernte ein paar Blätter aus dem Bohrer, 78
die sie aus dem Dschungel mit hierher gebracht hatten. Da! Was war das? Irgendetwas hatte neben seinen Füßen gerade ein schmatzendes Geräusch verursacht. Und ihm war so, als hätte er aus dem Augenwinkel heraus so etwas wie eine Zunge aus dem Sumpfgras schießen sehen. Da war es wieder! Keine zehn Schritt von ihm entfernt! Ein rötlich braunes Ding, das kurz aus dem Boden leckte. »Habt ihr …?« Nein, von den anderen hatte es keiner bemerkt. Träumte Jake? Er befühlte seine Stirn. Ein Hitzestich wäre nicht überraschend gewesen, nach der anstrengenden Arbeit im Dschungel. Aber seine Stirn war nur warm. Und unbekannte Früchte hatte er auch keine gegessen. Was war das nur? Dr. Farnham war ein gutes Stück von ihnen entfernt stehen geblieben. Er hatte jetzt den Diopter vor den Augen und peilte. Jake sah die Zunge, oder was es auch immer war, dreimal kurz hintereinander aus dem Boden schießen. »Doktor!«, rief er. Sie hielt genau auf ihn zu! Dr. Farnham drehte sich den anderen zu und winkte ihnen. »Ihr könnt kommen!«, rief er. Die Zunge kam kurz vor ihm noch einmal aus 79
dem Boden. Jake konnte sie in der Entfernung gerade noch erkennen. Aber Dr. Farnham sah sie trotz Brille nicht. Ganz plötzlich wurde er von irgendetwas nach unten gezogen. Bis zur Hüfte versackte er im Boden. Alice kreischte laut. Die anderen waren starr vor Schreck. Aber Dr. Farnham musste fast lachen. Es war ein komisches Gefühl, plötzlich nur noch aus Oberkörper zu bestehen, weil man die Beine nicht mehr bewegen konnte. »Flach hinlegen, Doktor!«, rief Jake zu ihm herüber. »Die Arme ausbreiten!« Dr. Farnham beugte sich nach vorn. Irgendetwas hielt seine Füße fest. Jake und Fernando lösten sich von der Gruppe und gingen auf ihn zu. Sie kamen aber nur ein paar Schritt weit. Da schrie Dr. Farnham laut auf und versackte vor ihren Augen gänzlich im Boden. Die Männer blieben wie angewurzelt stehen. Niemand sagte einen Ton. Der Doktor war einfach verschwunden! Nichts deutete mehr darauf hin, dass es ihn jemals gegeben hatte. »Ein böser Sumpf«, sagte Fernando mit belegter Stimme. »Nein.« Jakes Hals war ganz trocken. »Es war nicht der Sumpf. Es war etwas anderes.« »Was reden Sie für einen Unsinn«, sagte White. Irgendwo gab es ein ploppendes Geräusch, 80
und alle drehten sich um. Etwas flog über sie hinweg und landete vor ihren Füßen. Dr. Farnham sah sie mit weit aufgerissenen Augen und verzerrtem Mund an. Es war sein Kopf, der da vor ihnen lag! Alice schrie laut auf. White sank mit kalkweißem Gesicht auf die Knie. Jake schlug das Herz schmerzhaft in den Magen. Farnhams Kopf! Der Rest seines Körpers musste noch irgendwo im Sumpf stecken. Aber wieso war nur sein Kopf wieder herausgekommen? * Jake blickte auf den abgetrennten Hals. Er sah zerfetzten rotes Fleisch und leblose Adern. Er konnte sogar ein Stück in die Luftröhre blicken. Er riss sich das Hemd vom Leib und warf es über Farnhaus Kopf. »Hier bleibe ich nicht!«, schrie Alice. Sie rannte los. »Nicht!«, rief Jake. »Festhalten!« Aber White stand nur da und glotzte. Alice lief über das Sumpfgras. Sie rutschte aus, aber sie fing sich wieder. Sie lief und lief. Die anderen sahen ihr nach und beteten, dass sie es bis zur Böschung schaffen würde. Und sie schaffte es, lief ohne einmal anzuhalten in den Dschungel hinein. 81
»Zum Boot«, sagte Jake, »sie läuft zum Boot zurück.« »Sie ist ja auch ein kluges Mädchen«, sagte White. Langsam, fast wie in Zeitlupe, drehte er sich zu Jake und Fernando um. Mit einem Revolver in der Hand. Wo, um alles in der Welt, hatte er plötzlich die Waffe her? »Und wenn Sie ein kluger Junge sind«, fuhr White mit selbstsicherer Stimme fort, »dann versuchen Sie nicht, ihr nachzulaufen.« »Was soll die Scheiße?«, fragte Jake. White deutete mit der Mündung auf ihn. »Der Auftrag wird Punkt für Punkt erledigt. Ich weiß nicht, was hier los ist, aber ich weiß, dass Sie gleich Ihre Instrumente nehmen und weitermachen werden.« »Senhor White …«, schaltete sich Fernando mit brüchiger Stimme dazwischen. »Für dich, Freund«, sagte White und griff in das Innere seines Jacketts, Jake nicht aus dem Blick lassend, »für dich habe ich auch etwas.« Er holte einen silbernen Flachmann hervor und warf ihn Fernando zu. »Senhor!« »Er gehört dir.« Jake und White sahen sich fest in die Augen. Fernando angelte sich die kleine Flasche aus dem Gras und öffnete sie. Er trank sie in einem Zug halb leer. White blickte herausfordernd. »Nun, Mr. Adams?« 82
Jake stand mit bloßem Oberkörper da. Er sah auf den Sumpfgrasboden hinab. Auf die Wölbung des abgetrennten Kopfes unter seinem Hemd, das da lag und jetzt ein paar rote Flecken hatte. Er hätte das Hemd anbehalten sollen. Mit Dr. Farnhams schrecklichem toten Gesicht vor Augen wäre es für White nicht so einfach gewesen. * Joana streckte den Rücken gerade und atmete tief durch. Ihre Brüste hoben sich in der warmen, feuchten Luft des Dschungels. Sie zögerte noch. Sollte sie ihren Vater fragen? Ihn darum bitten? Was geschah, wenn er ablehnte? Es war unausdenkbar. Konnte sie es trotzdem wagen? Wenn er sie zurückwies, würde er für eine lange Zeit unerreichbar für Joana werden, das wusste sie. Und wenn er sich von ihr zurückzog, so würde das ein gefährliches Ungleichgewicht in die Ordnung der Welt bringen, in der sie lebten. Außerdem wäre ihre Bitte ein erstmaliger Vorgang in der Geschichte der Priesterinnen. Etwas ganz Neues. Keine Priesterin hatte bislang ihren Medizinmann um irgendetwas gebeten. Aber sie, Joana, hatte schon oftmals neue Wege beschritten! 83
Sie war stolz darauf gewesen, als ihr Vater sie in die Stadt schickte – als Erste und einzige ihres Stammes. Sogar in São Paulo war sie gewesen. Sie hatte die Sprachen der Fremden erlernt und ihre seltsamen Gebräuche studiert. Und dann war sie zurückgekehrt und hatte allen im Dorf von dem Gesehenen und Erlebten berichtet, ganz so wie vom Vater aufgetragen. War sie nicht immer eine treue und ergebene Dienerin ihres Volkes gewesen? Joana strich ihr langes schwarzes Haar zurück. Und hatte nicht auch eine Dienerin ein Anrecht auf einen Wunsch? Sie erhob sich und wischte sich den Dschungelboden von den Knien. Auf bloßen Füßen ging sie durch den Urwald, auf die kleine versteckte Hütte ihres Vaters zu. Sie wusste, dass er da war. Nachdem er in der vergangenen Nacht den Kontakt hergestellt hatte, würde er nun dasitzen und meditieren, mit Ghordad und den anderen Göttern reden. Eigentlich durfte sie ihn dabei nicht stören. Noch nicht einmal sie durfte das. Die heilige Hütte des Medizinmanns hing hoch über ihrem Kopf im dichten grünen Blätterdach des Dschungels. Mit pochendem Herzen blieb sie unter den Bäumen stehen und blickte hinauf. * Albert White hielt den Revolver mit festem Griff. Er hatte ja geahnt, dass es Ärger geben würde. 84
Aber so nicht! Nicht mit ihm. Nichts in der Welt sollte ihn davon abhalten, mit einem erfüllten Auftrag nach New York zurückzukehren. Diesen Triumph wollte er seinen Gegnern nicht gönnen. Er würde hart bleiben. Sie waren jetzt nur noch zu dritt. Den alten Alkoholiker hatte er ruhig gestellt. Und dieser ach so verwegene andere Bursche wagte nun auch keinen Ton mehr. »Was ist mit Ihnen, Mr. Adams?«, sagte White, den Lauf auf Jake gerichtet. Jakes Körperhaltung war gebeugt. Er hatte aufgegeben! White sah, wie er nach dem Erdbohrer langte. Dann ging er auf die Stelle zu, an der Dr. Farnham verschwunden war. Ging den Weg, den Farnham zuvor gegangen war. White registrierte, dass Jake den Bohrer nicht exakt da ansetzte, wo Dr. Farnham gestanden hatte. Aber so genau wollte er es jetzt nicht nehmen. Ein paar Minuten später kam Jake zurück. In der einen Hand hielt er die Stange, die Dr. Farnham zurückgelassen hatte, und in der anderen den schweren Bohrer, so als wäre er nichts. Muskeln hatte der Junge, das musste White ihm lassen. Aber Muskeln nutzten einem nichts, wenn der andere mit Blei um sich schießen konnte. Und die Machete, die an Jakes Gürtel hing, nutzte ihm jetzt auch nichts mehr. White schob ihm den roten Hartschalenkoffer 85
mit dem Fuß über das feuchte Sumpfgras zu. »Sie wissen ja, was zu tun ist.« Jake öffnete den Koffer, verstaute die Probe und versah den Aluminiumbehälter mit einer Zwei. »Sehr schön«, sagte White. Dann deutete er wortlos mit seinem Kinn auf die Karte, die ein paar Schritte von ihnen entfernt im Gras lag. Stumm zog Jake los und langte nach dem Papier. Herrlich, dachte White, welche Macht einem so ein Stück Metall verlieh! Man braucht nur kurz mit dem Zeigefinger zu zucken, um ganz schnell für Ordnung zu sorgen … Albert White beobachtete, wie Jake mit dem kleinen Diopter vor Augen den nächsten Punkt anvisierte. Hoffentlich konnte der Alkoholiker noch laufen. »Fernando«, sagte White und zeigte mit der Waffe auf die Eisenstange. »Ihr Job.« Fernando sah ihn trübe an. Aber dann bückte er sich nach der langen Stange. Jake steckte die zweite Stange senkrecht in den Boden, nahm die Karte und den Bohrer und wies Fernando die Richtung. White folgte ihnen, den Koffer in der einen, den Revolver in der anderen Hand. Fernando fand auf dem ganzen Weg keine weiteren Sumpflöcher. Der arme Dr. Farnham hatte wohl einfach nur Pech gehabt. Ein einziger falscher Fußtritt hatte ihn das Leben gekostet. Und was hatte er ihn, White, 86
vorher noch wichtig auf die Gefahren des Sumpfes aufmerksam gemacht! »Stümper«, sagte Albert leise, »lauter Stümper.« Etwas später hielten sie an. Jake überprüfte ihre Position anhand der Stange, die er vorher in den Boden gesteckt hatte. Er nahm den Bohrer und ging ein paar Schritte in eine andere Richtung. »Zehn Fuß Tiefe«, sagte White. Jake bohrte. Na also, es ging doch! Die Menschen brauchten nun mal immer einen, der ihnen sagte, was sie zu tun hatten. Solange sie ihren Job machen konnten, waren sie zufrieden und hielten die Klappe. Albert White sah zu, wie der dritte Behälter ordnungsgemäß befüllt und beschriftet wurde. Bei der vierten Probe, die aus fünfzehn Fuß Tiefe geholt werden sollte, geschah etwas Merkwürdiges. Plötzlich fing der Boden unter ihren Füßen an, Wellen zu schlagen. Nur kurz, aber doch so, dass alle ins Schwanken gerieten. »Was war das?«, sagte Jake. »Schön weiterbohren«, antwortete White. Er musste hartnäckig bleiben. Und Jake bohrte weiter. Aber es kam nur noch sumpfiges Wasser. Sie waren bis jetzt noch nicht einmal in der Mitte der großen Ebene angelangt. Und es war schon spät, und der letzte Punkt lag weit hinten am anderen Rand. 87
»White«, sprach Jake ihn an, »Sie wissen, wie langsam wir mit dem Stecheisen vorankommen. Wenn wir erst da hinten sind, kommen wir vor Einbruch der Dunkelheit nicht mehr zurück.« »Wir gehen«, sagte White entschlossen. Aber Jake rührte sich nicht von der Stelle. »Mr. White«, begann er von neuem. »Sie haben nicht gesehen, was ich gesehen habe. Dr. Farnham ist nicht einfach so im Sumpf verschwunden. Er wurde nach unten gezogen …« »Reden Sie keine Scheiße, Mann!«, brüllte White ihn an. »Nehmen Sie den Bohrer und gehen Sie!« Jake blieb weiterhin stehen. Er rührte sich nicht. Whites Augen verengten sich. Dann drückte er ab. Der Knall zerriss die Stille über der Ebene. Grell blitzte das Mündungsfeuer des Revolvers auf. Fernando zuckte zusammen. Jake war nicht getroffen. Er stand nur da, unbeweglich. Die Kugel schien nur knapp an ihm vorbeigegangen zu sein. White hatte den Lauf nur vage in seine Richtung gehalten. Aber er hatte abgedrückt! Hatte es einfach getan! Die Hand brannte ihm immer noch vom Rückschlag der Waffe. Und es roch jetzt nach Rauch. »Beim nächsten Mal«, knurrte White, »ziele ich 88
besser.« Jake sah ihn an. Dann nahm er wortlos den Bohrer auf und drehte sich um. White atmete tief durch. Es ging weiter. Bestimmt eine Stunde lang marschierten sie stur geradeaus in eine Richtung. Fernando vorneweg, mit der Stange den Boden anstechend, obwohl er nie etwas fand. Dahinter Jake, dann White mit dem Koffer und dem Revolver. Irgendwann wurde Albert White müde. Es war jetzt nicht mehr allzu weit bis zur Böschung. Also konnte auch der Bohrpunkt nicht mehr allzu weit weg sein. Er stellte den Koffer ab und setzte sich darauf. Das tat gut. Die anderen gingen schnurstracks weiter. Einmal drehte sich Jake kurz nach ihm um. White gab ihm nur ein knappes Handzeichen, dass er weiterziehen solle. Er saß da und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Gleich würden sie es geschafft haben. Er beobachtete, wie Jake stehen blieb, noch einmal die Position prüfte und dann den Bohrer ansetzte. Ein Rohr nach dem anderen schob er nach. Dann gab es ein merkwürdiges Geräusch. Ein Knirschen, das tief aus dem Inneren der Erde zu stammen schien. Der Bohrer stoppte. White hörte, wie Jake versuchte, ihn neu zu starten, aber es schien 89
nicht zu gehen. Er stand auf. »Was ist los?«, rief White zu den anderen hinüber. Jake ließ das Gerät jetzt rückwärts laufen. Er entnahm alle Proberohre. Dann kippte er den Bohrer zur Seite. »Die Bohrspitze ist weg!«, hörte White ihn rufen. »Abgebrochen!« Albert war fassungslos. Was für einen Schrott hatten sie ihm da angedreht! Aber gut. Dann würde es halt keine Probe Nummer fünf geben. »Macht nichts!«, entschied er. »Kommen Sie zurück!« Er spürte Zorn in sich aufsteigen. Das kam auch in seinen Bericht. Dass sie ihm mangelhaftes Gerät mitgegeben hatten, noch dazu ohne Ersatzteile. Das und noch vieles andere. Wenn er heimkam, wollte er Köpfe rollen sehen bei Mut-oil! Quälend langsam kamen die beiden Männer über das Sumpfgras zu ihm zurück. Dass der alte Alkoholiker auch gerade jetzt noch schlapp machen musste! Einmal blieb er sogar stehen und nahm einen Schluck aus dem Flachmann, den White ihm geschenkt hatte. Dann stocherte er wieder müde und lustlos mit dem langen Eisen vor sich her. Albert White wurden die Beine schwer. Er wollte sich gerade wieder hinsetzen, als er die Dutzenden kleinen Züngelchen bemerkte, 90
die neben seinen Schuhen aus dem feuchten Boden leckten! Was war das? Jetzt wurden sie länger und glitten über seine Schuhe! Rotbraun waren sie und sahen irgendwie schuppig aus … Albert White versackte mit dem linken Bein bis zum Knie im Boden. Herrgott, nein! Er spürte, wie sich etwas um seinen Unterschenkel schmiegte. Etwas Warmes. Dann kam er wieder frei. Er stützte sich mit den Armen auf dem Boden ab und versuchte aufzustehen. Aber das ging nicht richtig. White blickte an sich herab. Sein linker Fuß – er fehlte! Sein ganzer linker Unterschenkel war weg! Er fühlte, dass er erstarrte. Für einen Moment war er bewegungsunfähig. Dann fing sein Herz wieder an zu schlagen. Es raste wie verrückt. Er spürte den Druck im Kopf. Und da waren auch die Zungen wieder. Überall um ihn herum kleine dunkle Zungen, die aus der Erde kamen! Nur weg von hier! Er stützte sich abermals am Boden ab und fiel aufs Gesicht. Mit dem einen Auge sah er Jake und Fernando wie angewurzelt dastehen und ihn anstarren. Das war ja wirklich zu komisch. Jetzt fehlte ihm auch noch der rechte Unterarm! 91
* Der Käpt’n spürte, dass etwas nicht stimmte. Er kannte die Geräusche des Dschungels, und diese gehörten nicht hierher. Kein Tier konnte überall zugleich sein und mit den Blättern rascheln. Und es gab auch kein ihm bekanntes Tier, das solche leise quakend-trompetenden Laute von sich gab. Aber in welche Richtung er auch lauschte, so sehr er seine Augen auch bemühte, wohin er auch blickte, er sah nie etwas, und er fand auch nicht heraus, wo genau die Geräusche herkamen. Schließlich gab er es auf. Wenn der Dschungel meinte, ihm diese Geschichte erzählen zu müssen, so sollte er sie ihm erzählen. Und er wollte dasitzen und zuhören. Und der Dschungel erzählte seine Geschichte zu Ende, ohne dass der alte Käpt’n sie verstanden hätte. Aber er hatte gut zugehört. Als die Laute verstarben, stand der alte schwarze Mann auf und stellte sich an die Reling. Der Dschungel hatte so viele Geheimnisse. Er stand da und sah hinaus in das satte grüne Blattwerk über dem schwarzen Wasser. Eine Nacht und einen Tag hatte er nun schon alleine auf dem Boot verbracht. Er war es gewohnt zu warten, aber dieses Mal schien die 92
Zeit unendlich langsam zu verstreichen. Und er hatte noch eine ganze Nacht und einen Teil des nächsten Tages vor sich. Er beschloss, die Angel auszuwerfen und sein Glück zu versuchen. Obwohl ihm das Wasser zu morastig für guten Fisch erschien. Er suchte seine Ausrüstung zusammen. Als Köder benutzte er altes Brot, das er anfeuchtete und, zu einer Kugel gerollt, auf die Spitze des Hakens setzte. Dann warf er die Angel aus. Als sich der Schwimmer auf der Wasseroberfläche beruhigt hatte, lehnte er die Angelrute gegen die Reling, sodass sie nach oben zeigte. Der Käpt’n machte eine zweite Angel genauso klar und lehnte auch sie gegen die Reling. Dann holte er sich seinen alten Klappstuhl und machte es sich zwischen den beiden Ruten bequem. Eine Zeitlang saß er so da und beobachtete die Schwimmer, und nichts passierte. Dann bewegte sich der erste Schwimmer leicht. Der alte Mann machte sich griffbereit, rührte die Rute aber noch nicht an. Er wartete. Nichts. Nach einer Weile zog er die Angel aus dem Wasser und überprüfte den Haken. Das Brot war weg. Duldsam machte er die Angel wieder klar und warf sie erneut aus. Nach kurzer Zeit fand an der anderen Angel 93
das gleiche Spielchen statt. Wieder bewegte sich der Schwimmer nur leicht, und dann war das Brot abgefressen. Offenbar ein besonders kluger Fisch. Der Käpt’n brachte einen neuen Köder an und warf die Angel wieder aus. Er machte das fünf, sechs, sieben Mal mit. Er zog nackte Haken aus dem Wasser, bestückte sie erneut und warf die Angeln aus. Als er dann einmal nur noch Schnur aus dem Wasser zog, wurde es ihm zu viel. Er holte auch die andere Angel ein und gab auf. Wenn der Fisch meinte, jetzt auch noch den Haken fressen zu müssen, dann sollte er sich einen anderen Wirt suchen. Aber der Käpt’n hatte nun das gute Gefühl, wenigstens etwas getan zu haben. Und so richtete er seinen Klappstuhl in eine andere Richtung aus, sah in den Dschungel und wartete. Und die Zeit verging. Der Käpt’n war gerade ein wenig eingedöst, als er etwas im Wasser schwappen hörte. War er vielleicht nun doch noch gekommen, sein Fisch? Er stand auf und sah in den Fluss. Die grünen Algenstückchen, die auf dem dunklen Wasser trieben, machten eine kreisförmige Bewegung. Aber sonst war nichts zu sehen. Für einen so großen Fisch brauchte man ohnehin eine Harpune. Oder einen Speer. Plötzlich rumpelte es, und das Boot schaukelte 94
stark. Der Käpt’n hielt sich an der Reling fest. Nein, das war nicht gut. Das Boot schwankte und stieß gegen die Mangrovenwurzeln. Der Käpt’n schloss die Augen. Der Dschungel sollte dieses Geheimnis für sich behalten. Er wollte es nicht wissen. Er betete ein schnelles Avemaria. Dann noch eines und noch eines … Wenn nur sein Gott stärker war als die Götter des Dschungels! Und siehe da, es kehrte wieder Ruhe ein. Das Boot lag ruhig in der sanften Strömung des Flusses, und der Käpt’n öffnete die Augen. Er entspannte seine Hände und ließ die Reling los. »Ich danke dir, Mutter Maria«, flüsterte er. Dann wischte er sich eine kleine Träne aus dem Auge, drehte sich um und … Groß wie ein breiter, schuppiger Schwanz stand es aus dem Wasser und starrte ihn an. Der Käpt’n schrie auf. Was zu viel war, war zu viel! Hastig öffnete er die kleine Luke in den Planken und ließ sich ins Unterdeck fallen. Er knipste das Licht an, schob eilig ein paar Kisten zur Seite und riss eine kleine versteckte Luke auf, die sich in einer dunklen Ecke zum Bug hin befand. Er holte den schweren Gegenstand hervor, der sich hinter der Luke verbarg und in ölige Tücher eingewickelt war. Der Käpt’n schlug die fleckigen Tücher beiseite 95
und sah auf sein Maschinengewehr. Wann hatte er es zum letzten Mal gereinigt? Egal. Er holte die Gurte mit den Patronen aus der versteckten kleinen Kammer und spannte die erste Ladung ein. Den zweiten Gurt warf er sich über die Schulter. Dann blickte er durch die Luke nach oben aufs Deck. Unwillkürlich hielt er den Atem an. Es war nichts zu sehen. Das Ding war verschwunden. Der Käpt’n stieg die Leiter hoch und zog das MG nach. Gott, leichter wurde die alte Emma aber auch nicht! Er klappte den hohen Dreifuß aus und brachte das Maschinengewehr mittschiffs in Position. Er arretierte es mit flinken Bewegungen. Er hatte nichts verlernt. Aufrecht stehend, machte er sich schussbereit. Und sah in den Dschungel hinaus. Und wartete. Und nichts tat sich. Der Käpt’n wischte sich über die Augen. Hatte er sich das etwa nur eingebildet? Diesen großen dunklen Schatten, der da vor dem Boot aus dem Flusswasser geragt war? Doch da! Jetzt raschelte es wieder im Blattwerk! Der Käpt’n riss das MG herum und visierte das Geräusch an. Er war kurz davor, den Abzug zu reißen, als er sie erkannte. »Senhora Alice!«, rief er erstaunt. Alice stand außer Atem auf den Wurzeln der 96
Mangroven am Ufer. Ihr Gesicht war erhitzt, und sie keuchte und hielt sich krampfhaft die Seite. »Dem Himmel sei Dank«, presste sie atemlos hervor, »dass Sie da sind …« * »Großer Gott«, sagte Jake leise. Fernando stand steif. Vor ihnen wälzte sich Mr. White mit seltsamen Verrenkungen im Sumpfgras. Er zuckte und machte glucksende Geräusche dabei und wurde immer kleiner. Dann war plötzlich nichts mehr von ihm zu sehen. Fernando biss sich auf die Unterlippe. Er holte den Flachmann hervor und leerte ihn bis auf den letzten Tropfen. Jake zerschlug einen Moskito, der sich auf seine bloße Brust gesetzt hatte. »Geht es, Fernando?« Der andere nickte stumm. »Dann weiter.« Jake sah, dass Fernandos Hände zitterten, während sie die Eisenstange hielten. Die beiden Männer stachen sich zu der Stelle vor, an der White gestanden hatte. Von White war nichts übrig geblieben. Nur der rote Koffer war noch da. Jake nahm ihn an sich. Im gleichen Moment spürte er, dass sich der Untergrund bewegte. Es war wieder eine dieser 97
Wellen, aber schwächer als bei dem anderen Bohrloch. Direkt vor ihnen öffnete sich der Boden. Ein kleiner runder Schlund entstand. Und spuckte einen blutigen Brei aus. Rote Suppe quoll aus dem Boden, durchsetzt mit blanken Knochen. Es waren Menschenknochen! Und auch Whites Revolver fehlte nicht. Fernando hielt sich an seiner Stange fest und würgte. Jake war wie gelähmt. Dann sah er die kleinen braunen Zungen, wie sie um ihn herum aus dem Boden zischten. »Lauf!«, schrie er Fernando zu. Und rannte selbst auch los. Den Koffer ließ er fallen. Er war schneller als der ältere Mann. Immer wieder drehte er sich nach ihm um. Dann stolperte Fernando und fiel ins Sumpfgras, und sofort waren die Zungen bei ihm. Jake machte auf der Stelle kehrt. Im Laufen löste er das große Buschmesser von seinem Gürtel. Eine Zunge hatte bereits Fernandos Fuß ergriffen und zog daran. Jake hackte sie mit der Machete ab. Ein grünlicher Schleim quoll aus der Schnittstelle. Fernandos Augen standen weit offen. Er war starr vor Angst. Jake hackte auch die Zunge ab, die gerade über Fernandos Hals glitt. 98
»Steh auf!«, schrie er den am Boden Liegenden an. Aber Fernando rührte sich nicht. Mit der freien Hand riss Jake ihn hoch, mit der anderen hieb er auf eine besonders lange Zunge ein, die Fernandos Arm ergriffen hatte. »Lauf!«, schrie Jake. »Lauf um dein Leben!« Fernando erwachte aus seiner Starre. Und er rannte. Rannte schneller als je zuvor. Jetzt stürzten sich die Zungen auf Jake. Er zerhackte die Erste, die seine Fessel umschlungen hatte. Dann schoss ein langes Ding aus dem Boden und griff nach seinem Arm, der die Machete hielt. Beinahe hätte er das Buschmesser verloren, konnte aber gerade noch die Hand wechseln und die Zunge abschlagen. Aber für jede Zunge, die er durchhackte, kamen zwei neue. Jake hackte wie wild um sich. Der grüne Saft spritzte nur so auf, schoss in Fontänen durch die Luft und brannte ihm auf der Haut. »Verdammte Scheiße«, brüllte Jake. »So eine Scheiße!« Fernando, sah er aus dem Augenwinkel, war schon ein gutes Stück weit gekommen. Jake hieb weiter mit dem Buschmesser auf die braunen, schuppigen Dinger ein. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Als würde alles in Zeitlupe vor sich gehen. Neben seinen Füßen sammelten sich die Zungen. Sie lagen dort auf dem Boden und 99
zuckten und wanden sich wie Schlangen. Er war über und über mit dem grünen, ätzenden Schleim bedeckt. Wie ein wildes Tier schlug er mit der Machete um sich und hackte alles kurz und klein. Dann, ganz plötzlich, schien der Spuk vorbei zu sein. Jake nutzte die Atempause und rannte los. Er war sich sicher, einen neuen Weltrekord im Sprint aufzustellen. Die Lungen wollten ihm bersten, so schnell lief er. Wenn man sich nicht lange mit dem Stechen aufhält, dachte Jake, dann erscheint die Ebene gar nicht mehr so groß. Aber angesichts dessen, was er gerade gesehen hatte, waren ihm die Sumpflöcher egal, in die er womöglich treten konnte. Irgendetwas hatte White zu Mus verarbeitet und dann wieder ausgespuckt. Und dann hatte es sich über Fernando und ihn hermachen wollen. Er rannte und rannte. Als Jake am Lager ankam, hatte er Fernando eingeholt. Die Sonne stand schon tief hinter den Bäumen. Er öffnete eines der beiden Zelte. Das vertraute Geräusch des Reißverschlusses beruhigte ihn ein wenig. Er kramte hastig in einem der Rucksäcke, holte sein zweites Hemd hervor und zog es über. Dann suchte er nach einer Lampe. Als er eine gefunden hatte, verließ er das Zelt wieder. Er machte sich nicht die Mühe, es zu verschließen. 100
Es wurde jetzt dunkel. Fernando stand, bleich vor Angst, da und zitterte am ganzen Leib. »Wir lassen alles hier«, sagte Jake, indem er die Lampe anknipste, »und laufen zum Boot.« * Joana hockte nun schon seit Stunden in der heiligen Hütte ihres Vaters und sah ihn an. Er hatte sich noch kein einziges Mal bewegt. Die ganze Zeit über hatte er nur dagesessen, aufrecht und stolz, mit geschlossenen Augen. Man hätte ihn für tot halten können, wären nicht seine ruhigen und regelmäßigen Atemzüge gewesen, die seinen Brustkorb kaum merklich hoben und senkten. Er sprach mit den Göttern des Dschungels. Die Hütte war in ein geheimnisvolles Zwielicht getaucht. Draußen war es dunkel, und das bisschen Licht in der Hütte stammte von einer schwachen Tranleuchte, die draußen vor einem der Fenster stand und unentwegt brannte. Es war Aufgabe der Frau des Medizinmannes, darauf zu achten, dass dieses Licht niemals ausging. In der Hütte roch es nach den geheimen Substanzen, die der Vater verbrannt hatte, um die Meditation zu vertiefen. Schon nach kurzer Zeit hatte Joana die betäubende und zugleich anregende Wirkung des Rauches verspürt. Er vernebelte ihre Sinne, aber er half ihr auch, die Zeit des Wartens zu überstehen. Manchmal meinte Joana, die Stimmen der 101
Götter vernehmen zu können. Ghordads Stimme war besonders deutlich. Aber sie konnte nicht verstehen, worüber sie sprachen. Es stand sogar einer Priesterin eigentlich nicht zu, den Gesprächen beizuwohnen. Dass sie die Stimmen trotzdem hören konnte, bewertete sie als gutes Zeichen. Vielleicht war ihr Vorhaben doch nicht ganz hoffnungslos. Doch Joana wusste, dass sie ihren Vater nicht ansprechen durfte. Dass sie sich in Geduld üben und notfalls sogar so lange warten musste, bis es zu spät war. Dann hatte es nicht in ihrer Macht gelegen, die Dinge zu ändern. Aber sie war fest entschlossen, so lange zu warten, bis ihr Vater, der Medizinmann, seine Augen öffnete und sie mit ihm reden ließ. * »Werfen Sie den Motor an, Käpt’n!« »Jake! Fernando!« Die beiden Männer kamen aus dem Dunkel der Nacht und sprangen geradewegs von den Mangrovenwurzeln aufs Boot. »Den Motor, Käpt’n!«, rief Jake. Er machte sich an den Tauen zu schaffen, mit denen das Boot an den Wurzeln festgemacht war. Fernando kniete auf dem Deck und keuchte und hustete. Der lange Lauf hatte ihm seinen letzten Atem geraubt. »Wo ist Albert?«, fragte Alice. Sie stand vor der Brücke und starrte die beiden 102
Männer an, als wären sie Geister. »Tot«, sagte Jake. Er hatte jetzt das zweite Tau gelöst. Der Käpt’n brachte die Maschine zum Laufen und wendete das Boot. »Oh, mein Gott«, stieß Alice kraftlos hervor. Sie schüttelte den Kopf und weinte. »Es tut mir so leid«, wimmerte sie, »es tut mir so leid …« »Ganz ruhig«, sagte Jake und drückte sie an sich. Aber er wusste, was sie meinte. Bei aller Abneigung, die sie zuletzt gegen White entwickelt hatte, hatte sie doch einmal etwas für ihn empfunden – wie wenig es auch immer gewesen sein mochte. Und nun schlug ihr das Gewissen. »Sie tragen keine Schuld an seinem Tod«, versuchte er sie zu beruhigen. Sie presste die Lippen aufeinander und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. Ab und zu zuckte sie in ihrem Schmerz. »Es ist gut«, sagte Jake mit leiser Stimme. »Weinen Sie nur. Es wird Sie befreien.« Sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Jake fühlte, wie sie sein Hemd durchnässten. Er hielt Alice in seinen Armen und streichelte ihr blondes Haar und redete ihr sanft zu. Der Käpt’n steuerte das Boot flussabwärts. Von Zeit zu Zeit drehte er sich um und sah nach den anderen. Fernando war nun wieder einigermaßen bei Atem. 103
Unruhig ging er auf dem Deck auf und ab und warf Seitenblicke auf das Maschinengewehr, das da aufgebaut war. Endlich entschloss er sich. »Käpt’n«, fragte er zögernd, »das Gewehr … Wieso steht das Gewehr da? Ist es hier etwa auch gewesen … das Monster?« Der Käpt’n drehte sich um und sah ihn ernst an. »Nein«, sagte er dann, sich wieder dem Ruder zuwendend. »Ich habe mich nur getäuscht.« Fernando schien beruhigt. Er stellte sich an die Heckreling, kaute mit seinen wenigen Zähnen auf der Unterlippe herum und sah Jake und Alice an. Auch Alice wurde nun ruhiger. Jake fühlte, wie das Zittern und Beben ihres Körpers nachließ. Doch dann riss sie die Augen weit auf! Ihr Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei. Jake folgte ihrem Blick. »Fernando! Weg von der Reling!«, brüllte er. Fernando machte ein erstauntes Gesicht. Und dann war es auch schon zu spät. Mit einem fauchenden Geräusch fegte der Schatten über ihn hinweg und wischte ihn von Bord. Von einer Sekunde auf die andere war da kein Fernando mehr. Jake sprang auf und griff sich das Maschinengewehr. Der Dreifuß hing lose herab, während er, das MG im Anschlag, breitbeinig auf dem Deck stand und in alle Richtungen absicherte. 104
Aber es war nichts zu sehen. Es war ja auch viel zu dunkel! Jetzt zischte eine Welle neben dem Boot entlang, und dann war der Schatten vor ihnen. Im schmalen Kegel des Suchscheinwerfers war Fernando deutlich zu sehen. Er zappelte und ruderte mit den Armen, während das Ding ihn aus dem Wasser in die Luft hob. »Hilfe!«, schrie er. »Hilfe!« In Windeseile war Jake vorne auf dem Bugdeck und feuerte auf den Rumpf des Dings. Es machte eine schnelle Wendung und schleuderte Fernando gegen einen der Mangrovenbäume, die im Lichtkegel auftauchten. Trotz des Lärms, den das MG verursachte, war das Bersten seiner Knochen zu hören. Dann fiel Fernandos lebloser Körper ins Wasser. Jake feuerte das ganze Magazin leer. Das Ding bäumte sich vor ihm auf und gab klagende, röhrende Laute von sich. Die Kugeln zerfetzten es in kleine Stücke, die von ihm absprangen und ins Wasser und auf das Bugdeck klatschten. Es wurde zerfetzt, spritzte förmlich nach allen Seiten hin auseinander. Als die letzte Kugel verschossen war, kehrte Ruhe ein. Absolute Stille. Der Käpt’n hatte die Maschine angehalten. Lautlos trieb das Boot auf dem Fluss. »Sie haben es erwischt«, sagte er. »Ja«, knurrte Jake. Er legte das MG ab und langte nach dem 105
Scheinwerfer. Jake leuchtete das Wasser um das Boot herum ab. Überall trieben die Fetzen des Dings, das er erlegt hatte, und auch auf dem Bugdeck lagen sie herum, vermischt mit grünem Schleim. Missmutig stieß Jake die Stückchen mit dem Fuß ins Wasser. Er hatte Fernando gemocht. Und Dr. Farnham. Und auch wenn er White nicht gemocht hatte, dieses Ende hätte er ihm nicht gewünscht. Er leuchtete noch einmal das Wasser ab. Aber von Fernandos Körper war nichts mehr zu sehen. Wahrscheinlich hatte die Strömung ihn schon fortgetrieben oder hinter die Mangrovenwurzeln gespült. »Verdammte Sauerei«, schimpfte Jake leise in sich hinein. Er hängte den Suchscheinwerfer wieder an seinen Platz, nahm das MG und begab sich heckwärts. Alice war nun auf der Brücke. Sie kauerte zu Füßen des Käptn’s vor der Tafel mit den Instrumenten und hatte ihren Kopf in den Armen verborgen, die ihre Knie umschlangen. Ihr ganzer Körper bebte. Der Käpt’n hatte seine Mütze abgenommen und starrte auf die Planken des Decks. Seine Stirn lag in Falten, und seine Kiefernmuskeln arbeiteten angestrengt. Jake spannte mit ernstem Gesicht das zweite Magazin in das MG ein. Klick, klick … Vertraute, metallene Geräusche in der Dschungelnacht. 106
Alice hob ihr bleiches, von Tränen überströmtes Gesicht und sah ihn an. Ihre Lippen zitterten. »Fernando?«, fragte sie mit brüchiger Stimme. Mehr brachte sie nicht heraus. Jake schüttelte den Kopf. * Endlich öffnete der Medizinmann seine Augen und richtete sie auf Joana. Sie spürte ihr Herz schneller schlagen. »Meine Tochter«, sagte er leise. Es klang eher wie eine Frage. Seine Stimme war belegt und schien von weit, weit weg zu kommen. »Deine Priesterin«, erwiderte Joana ebenso leise, »ergebene Dienerin deines Volkes.« Sie kniete sich vor ihn und senkte ihren Oberkörper tief hinab, dass ihr Gesicht den Boden berührte. »Erhebe dich, meine Tochter.« Joana blieb vor ihm liegen. Sie hatte Angst. »Erhebe dich«, sagte er noch einmal. Nun hob sie ihren Kopf und zwang sich dazu, ihrem Vater ins Gesicht zu sehen. In seinen Augen stand noch der trübe Schimmer der Trance, aus der er soeben erwacht war. »Was führt dich zu mir?«, fragte er. Sie öffnete die Lippen, aber … Nein, sie konnte die Frage nicht stellen! Es stand ihr nicht zu! Joana fiel ihm wieder zu Füßen. Regungslos verharrte sie in dieser Position. 107
»Meine Tochter«, sagte der Medizinmann noch einmal. Er berührte sie sanft an der Schulter, strich ihr über den Kopf. Joana verzweifelte. Wo war nur ihre Stimme geblieben? Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, dass sie vor ihrem Vater kniete. Doch nach und nach wurde sie von seiner streichelnden Hand beruhigt, und dann konnte sie ihm wieder ins Gesicht sehen. Sein Blick war nun etwas klarer. »Es muss etwas Ernstes sein, das dich zu mir führt«, sagte er. Sie nickte stumm. »Hat es etwas mit den Weißen zu tun?« Joana nickte abermals, heftiger jetzt. Ihr Vater lächelte sie an. Sie nahm seine Hand und küsste sie. »Stelle deine Frage«, forderte der Vater sie auf. Sie öffnete den Mund, doch kein Ton kam heraus. War das möglich? Mit zusammengekniffenen Lippen schüttelte sie den Kopf. Der Medizinmann schloss seine Augen und atmete tief ein. Er konzentrierte sich. »Du willst Ghordad um Gnade für die Weißen bitten. Habe ich Recht?«, fragte er. »Ja«, brachte sie heraus, doch es klang nicht wie ihre Stimme. Er lauschte den fernen Stimmen, das spürte sie. Der Kontakt zu den Göttern war noch nicht gänzlich abgebrochen. »Eine ungewöhnliche Bitte«, sagte der Vater. »Ghordad kam einst von den Sternen zu uns. 108
Er will nicht, dass die Weißen von seiner Existenz erfahren, denn er kann nicht zurück zu seiner Welt. Deshalb sieht er dieses Gebiet als seinen Herrschaftsbereich an und vernichtet jeden Fremden. Er ist ein Wesen mit unglaublichen Fähigkeiten. Er ist ein Gott. Die Weißen sollen nicht wissen, dass er existiert.« »Ich weiß«, sagte sie leise. »Verzeih mir.« Er nickte. »Für einige von ihnen ist es bereits zu spät«, stellte er fest. Dann öffnete er die Augen wieder. »Aber es geht dir um den einen … nur um den einen, nicht wahr?« Joana nickte heftig. Sie spürte die Tränen der Verzweiflung in ihren Augen aufsteigen. »Du liebst ihn.« »Ja, Vater, ich liebe ihn«, stieß sie hervor. »Bitte verzeih mir!« Und wieder fiel sie ihm zu Füßen. Er legte seine Hand auf ihren Kopf. Sie rührte sich nicht. »Es gibt nichts zu verzeihen«, sagte er mit sanfter, ruhiger Stimme. »Aber es ist noch nicht zu Ende. Du wirst dein Herz später noch einmal befragen müssen.« * Der Morgen dämmerte heran. Alice hatte ihren Platz auf der Brücke nicht mehr verlassen. Hier fühlte sie sich sicher. Jake und der Käpt’n standen neben ihr. Alle 109
drei hatten müde Gesichter und rot unterlaufene Augen von der durchwachten Nacht. Richtig wach war nur Jake. Er war es auch, der bemerkte, dass der Käpt’n auf ein großes Stück Treibgut zusteuerte, das vor ihnen im Fluss schwamm. »Vorsicht, Käpt’n!«, rief er. »Der Baum!« Der Käpt’n rieb sich seine alten Augen, steuerte dann hastig ein Stück nach Backbord. Aber der Baum war größer, als sie sehen konnten. Unter Wasser lief das Boot auf einen seiner gewaltigen Äste. Das Metall des Kiels knirschte auf dem Holz, und das Boot stellte sich quer zur Strömung. »Tut mir leid«, sagte der Käpt’n. »Macht ja nichts«, antwortete Jake. Der Käpt’n versuchte, die Maschine rückwärts laufen zu lassen, aber das brachte keinen Erfolg. »Mein Fehler«, sagte er. »Übernehmen Sie das Ruder.« »Gut.« Jake stellte sich hinter das Steuerrad. Über die Schulter beobachtete er, wie der Käpt’n den Enterhaken von der Reling löste und damit im Wasser herumstocherte, bis er eine feste Stelle gefunden hatte, an der er das Boot abstoßen konnte. »Ruder nach Steuerbord«, sagte der Käpt’n, »und halbe Kraft.« Jake führte die Kommandos aus, aber nichts tat 110
sich. »Volle Kraft!«, rief der Käpt’n. Jake ließ den alten Motor aufheulen. Immer noch nichts. Er nahm den Schub wieder zurück. Der Käpt’n suchte weiter hinten nach einer anderen geeigneten Stelle. Er setzte den Enterhaken erneut an und drückte nach Leibeskräften. »Noch mal!«, rief er. Jake gab nun sofort volle Kraft. Ein Zittern lief durch den Rumpf des Bootes. Das Metall knarrte. Dann waren sie frei. »Alles klar!«, rief Jake und drehte sich nach dem alten schwarzen Mann um. »Der Haken hat sich verfangen!«, rief der Käpt’n zurück. Jake zog an dem Schubhebel. Das Boot verlangsamte, aber der Käpt’n stand gefährlich weit über die Reling gebeugt. Warum nur ließ er den Enterhaken nicht los? »Käpt’n!« »Aargh!« Er fiel in den Fluss. Jake und Alice sprangen zur Reling. Aber vom Käpt’n war nichts mehr zu sehen. Nur schwarzes, morastiges Wasser. »Wo ist er nur?«, schrie Alice panisch. Da tauchte er wieder auf, aber nur ganz kurz und ein gutes Stück hinter dem Boot. Der Motor lief immer noch. Jake schnappte sich das MG, das sie wieder auf dem Deck aufgestellt hatten, und baute sich 111
am Heck auf. Alice warf ihm bange Blicke zu. Jetzt sah er das Gesicht des Käpt’ns wieder. Keine drei Schritte von ihm entfernt tauchte es im Wasser auf. Seine Augen blickten ihn angsterfüllt an. Ein seltsames Geräusch war zu hören, so als würde etwas in einer Maschine zerkleinert. Das Gesicht des Käpt’ns näherte sich dem Boot und … Er wurde in die Schiffsschraube geschoben! »Stell den Motor ab!«, rief Jake Alice zu. Er feuerte über den Kopf des alten Mannes hinweg ins Wasser. Das MG ratterte in seinen Armen. Kleine Fontänen spritzten im Fluss auf. Alice war auf dem Weg zur Brücke. »Wie geht das?«, schrie sie. Aber es war bereits zu spät. Der Käpt’n kam immer näher, schrie und kreischte. Stück für Stück wurde er in die Schiffsschraube geschoben und von ihr zerhäckselt. Jake feuerte weiter. Es gab einen lauten Knall unter ihm, der das ganze Boot erzittern ließ. Der Dieselmotor heulte auf und drehte durch. Dann eine Explosion unter Deck. Alice schrie auf. Und plötzlich war es still. Das Magazin war leer, und der Motor lief nicht mehr. Hinter dem Boot färbte sich das Wasser rot. Jake senkte das MG. Nun hatte es also auch den Käpt’n erwischt. Langsam schüttelte er den Kopf. Das konnte doch alles nicht wahr sein! 112
Die Schiffsschraube war hin, der Motor war geplatzt, und Munition war auch keine mehr da. Alice beugte sich über die Reling und übergab sich ins Wasser. Er stellte sich neben sie, bis sie fertig war, und half ihr. »Das ist das Ende«, sagte sie kraftlos. »Nein«, erwiderte Jake. »Wir können uns immer noch von der Strömung treiben lassen. Bis zu dem Indio-Dorf kann es nicht mehr allzu weit sein.« Alice schüttelte den Kopf. »Das ist das Ende. Ich weiß es.« Jake führte sie zu der Kajüte. Er musste jede ihrer Bewegungen kontrollieren. Sie war vollkommen apathisch und zu nichts mehr in der Lage. Es ist der Schock, sagte er sich. Aber er musste sich eingestehen, dass so allmählich ein Punkt erreicht war, an dem auch er nicht mehr weiter wusste. Er öffnete die kleine Tür unter der Instrumententafel, holte die Flasche und zwei Gläser heraus und schenkte ein. Er führte das eine Glas an Alices Lippen und gebot ihr, zu trinken. Sie nahm zwei Schlucke. Auch er gönnte sich einen Whisky. Dann sah er etwas schwarzen Rauch aus der kleinen Luke im Deck steigen. Er öffnete die Luke und sah nach. Mehr schwarzer Rauch quoll ihm entgegen, aber es schien kein Feuer unter Deck zu geben. Es war nur ein letzter Abschiedsgruß vom Dieselmotor. 113
Jake verschloss die Luke wieder. Ein paar Regentropfen fielen auf die alte Plane über ihm, die das Deck überspannte. Na prima, dachte er, das passt ja zur allgemeinen Stimmung. Der Regen wurde stärker. Er malte tausende kleiner Ringe auf das Flusswasser und rauschte im Blätterdach über dem Boot. Es wurde jetzt auch merklich düsterer. Jake stand auf dem Deck und trank seinen Whisky. Alice war vor Erschöpfung eingeschlafen. Sie lag ganz friedlich zusammengerollt auf der Seite und atmete in ruhigen, regelmäßigen Zügen. Jake schenkte sich einen zweiten Whisky ein. Er konnte immer nur wieder mit dem Kopf schütteln. Nie zuvor im Leben war er in einer solchen Situation gewesen. Noch nie war er so machtlos, so ausgeliefert gewesen. Es hatte immer etwas gegeben, was er tun konnte. Nicht so jetzt. Er war dazu verdammt, zu warten. Und die Strömung des Flusses war so schwach, dass das Boot kaum vorwärts kam. Aber immerhin, es bewegte sich. Jake hob sein Glas. »Ghordad«, sagte er, »auf dich, alter Junge! Du hast es uns ordentlich gegeben.« Er leerte das Glas in einem Zug. Dann verstaute er es zusammen mit der Flasche unter den Instrumenten. 114
Täuschte er sich, oder hatte er da etwas gehört? Nein, es war wohl nur eine Einbildung. Einsam stand Jake auf der Brücke, sah in den Regen hinaus, blickte von Zeit zu Zeit zu der schlafenden Alice hinunter und ließ die Zeit verstreichen. Es hatte sich jetzt eingeregnet. Quälend langsam gingen die Stunden vorüber. Einmal trieb aus einem Nebenarm des Flusses etwas heran. Es dauerte ein wenig, bis Jake das alte Beiboot wiedererkannte, das sie auf dem Hinweg zusammen mit den Bierkisten verloren hatten. Er rieb sich die müden Augen. War das Fernando, der da im Boot saß? Halluzinierte er? Nein, es war tatsächlich Fernando. Sein Kopf lag an der Spitze des Bootes. Daneben hingen seine Arme schlaff über die Reling, sodass die Fingerspitzen das Wasser berührten. Als das Boot näher kam, sah Jake, dass nur noch Fernandos Oberkörper übrig war. Der Rest von ihm schwamm als blutiger Brei auf dem Boden des Bootes, vermengt mit den Glasscherben der Bierflaschen. Es war ein grausiger Anblick. Fernandos Gedärme hingen lose aus ihm heraus. Die beiden Boote trieben genau nebeneinander her. Wenn Alice aufwachte, würde ihr Fernandos Anblick den Rest geben. Jake überlegte, wie er ihr das ersparen konnte. 115
Schließlich fand er eine Angel, befestigte den Haken am Beiboot und schleuderte die Rute über Bord, sodass sie sich in der Uferböschung verfing. Eine halbe Stunde später war das Boot außer Sicht. Jake war nun so müde, dass er beschloss, sich hinzulegen. Und wenn ihn das Unglück im Schlaf übermannen sollte, so sollte ihm das auch egal sein. Er legte sich neben Alice, umarmte sie und glitt kurze Zeit später ins Reich der Träume hinüber. Sie schliefen beide tief und fest. Es brauchte schon den gewaltigen Donnerschlag eines niederfahrenden Blitzes, um sie wieder zu wecken. Es war ganz dunkel inzwischen, und der Regen hatte an Heftigkeit zugenommen. Mehr noch, jetzt tobte ein richtiges Gewitter über ihnen. »Mein Gott«, sagte Alice leise, »wir leben ja noch!« Ja, sie lebten noch. Und das war ein gutes Gefühl, wie Jake fand. Und es war auch ein gutes Gefühl, Alice neben sich zu spüren, die Wärme ihres Körpers, ihre glatte Haut … »Bitte«, sagte sie, »geh nicht weg. Lass deine Hand da.« Und sie presste seine Hand gegen ihre Brust. Jake hatte gar nicht vor, seine Hand wegzunehmen oder zu gehen. Er atmete ihren Geruch ein, versenkte sein Gesicht in ihren Haaren. 116
Er küsste ihren Nacken. Dann richtete er sich ein wenig auf und küsste ihr Gesicht. Sie drehte sich ihm zu. Ihre Lippen fanden sich. Er öffnete ihren Mund, spielte mit ihrer Zunge. Sie schob ihm ihre Hand unter das Hemd. Er nestelte an ihrer Hose herum, ließ seine Finger zwischen ihre bloßen Schenkel gleiten und rieb sie. Sie stöhnte auf und wurde feucht. Kurz darauf liebten sie sich leidenschaftlich im Prasseln des Regens und unter den zuckenden Blitzen. Die Ahnung des herannahenden Todes befreite sie von allen Fesseln. Es gab keine Grenzen mehr, keine Tabus – nichts, was man nicht tun durfte … Ihre nackten Körper stießen einander in wilden Verrenkungen, immer und immer wieder. Als es vorüber war, lagen sie atemlos, erschöpft und glücklich auf den Planken des Decks. »Jake«, sagte Alice, »egal, was jetzt noch passiert … Ich bin froh, dass ich das erlebt habe.« »Ich auch«, antwortete er. Er zog sie zu sich heran und küsste sie. Sie erstarrte. »Was ist?«, fragte er. Sie brachte keinen Ton hervor. Sie krümmte und wand sich. Etwas stimmte nicht. Sie schrumpfte! Sie schrumpfte in seinen Armen! 117
Jake richtete sich auf. Ein Blitz erhellte die Szenerie ganz kurz. Etwas war an Deck gekrochen und in sie hinein gefahren und saugte sie aus! Er suchte nach der Machete, aber er konnte sie in der Dunkelheit nicht finden. Er tastete nach Alice. Sie war nur noch ein kleines Häuflein rohes Fleisch, das sich neben ihm zusammenkrümmte. Er schrie auf. Im gleichen Moment wurde das Boot gewaltsam auf die Seite geworfen, und er fiel ins Wasser. Er fühlte, dass etwas nach seinen Beinen griff. Aber er war stark und kämpfte sich frei. Er schlug um sich und ruderte mit den Armen, bis er etwas fand, an dem er sich fest halten konnte. Das Wasser toste um ihn herum. * Joana hatte einen Stich verspürt, als ihr Geliebter mit der anderen Frau schlief. Ein hohles Schmerzgefühl im Magen. »Nun, meine Tochter?« Ihr Vater sah sie an – ernst, aber sanftmütig. »Willst du ihn immer noch?« Sie zögerte mit der Antwort, obwohl sie wusste, dass sie bereits feststand. »Ja«, sagte sie dann. »Ja, ich will ihn immer noch.« Er nickte und schloss die Augen. »Ghordad 118
sagt, du kannst ihn haben, wenn du ihn willst.« Er öffnete die Augen wieder. Jetzt lag eine gewisse Strenge in seinem Blick. »Aber«, sagte er, »es gibt eine Bedingung: Er muss bei uns bleiben.« »Oh, Vater!« Joana küsste seine Hände. »Er muss bei uns bleiben«, fuhr er fort, »und es geht auch nur, weil er etwas von unserem Blute hat.« »Er wird bei uns bleiben, das verspreche ich dir!«, rief Joana. »Ja«, sagte der Vater weise, »er wird bei uns bleiben.« * Jake öffnete die Augen. Der Regen … Der Regen war immer noch da. Aber Jake war nicht mehr auf dem Boot. Wo war er? Über sich eine Zimmerdecke aus Holz und Laub, neben sich Wände aus Holz und Laub, unter sich eine Matte auf dem Fußboden … Das musste das Indio-Dorf sein. Er, fühlte sich schlapp und kraftlos, so wie nach einem viel zu langen Schlaf. Aber vielleicht hatte er ja viel zu lange geschlafen. Sein ganzer Körper war von einem dumpfen Schmerz erfüllt. Er streckte die Arme aus, gähnte und rieb sich über das Gesicht. Sollte er tatsächlich als Einziger überlebt 119
haben? Es kam ihm alles wie ein wirrer Traum vor. Wenn er es genau betrachtete, kam ihm sein gesamtes bisheriges Leben wie ein wirrer Traum vor. Oder war das hier der Traum und er in Wirklichkeit ganz woanders – oder sogar tot? Die schlanke Silhouette einer Person erschien in der Tür. Er erkannte sie wieder. Es war Joana. Traum oder Wirklichkeit? Sie lächelte ihn an. »Schau an, bist du doch endlich aufgewacht?«, fragte sie. »Wie lange habe ich geschlafen?«, entgegnete er. Als Jake seine eigene Stimme hörte, ahnte er, dass dies kein Traum war. »Einige Tage«, antwortete Joana, »und es ist gut so. Warte einen Moment.« Sie verschwand in der Tür, kehrte aber kurz darauf mit einer hölzernen Schale zurück. »Trink das«, sagte sie. Es war irgendeine Art von Suppe. Jake nahm ein paar vorsichtige Schlucke. »Du musst wieder zu Kräften kommen«, sagte Joana. Er nickte und sah sie an. Ihren weichen, geschwungenen Mund, ihr langes schwarzes Haar, ihre schönen Hände … »Wo sind wir hier?«, fragte er. »Wessen Hütte ist das?« »Es ist unsere Hütte«, sagte sie und lächelte 120
ihn glücklich an, »deine und meine.« Jake schloss die Augen. War es vielleicht doch ein Traum? Aber als er die Augen wieder öffnete und Joana immer noch da war, war er sich ganz sicher, in der Wirklichkeit zu sein. Joana war wunderschön. Sanft blickte sie ihn aus ihren dunklen Augen an. »Mein Geliebter«, sagte sie leise. Jake nahm noch etwas von der Suppe. Sie war gut, und er spürte, wie seine Kräfte langsam zu ihm zurückkehrten. Er wagte sogar den Versuch, sich aufzurichten. »Sei vorsichtig!«, mahnte Joana und half ihm. »Es geht schon«, sagte er. Aber es ging nicht sehr gut. Obwohl er das Gefühl hatte, seine Beine zu spüren, konnte er sie nicht richtig bewegen. »Was ist das denn?«, sagte er. Er schlug die Decke zurück, unter der er lag. Und traute seinen Augen nicht. Sein Körper hörte an den Oberschenkeln einfach auf! Er hatte keine Beine mehr! Nur noch zwei kurze Stümpfe waren da, kunstfertig eingewickelt in Kräuter und Blätter. Jake stöhnte auf und ließ sich zurückfallen. »Es musste sein«, sagte Joana mit bekümmertem Gesicht. »Du musst bei uns bleiben. Anders wäre es nicht gegangen …« Jake verbarg sein Gesicht hinter den Händen und schüttelte den Kopf. Joana streichelte seine Brust. 121
»Alles andere ist noch da«, sagte sie sanft. Er öffnete die Augen wieder und richtete sich auf. Er zog sich am Rand des Fensters nach oben, das sich neben seiner Matte befand. Draußen regnete es. Es regnete so stark, und das wohl schon seit Tagen, dass unter den Hütten nur noch Wasser zu sehen war. Wo die Indios vorher umhergelaufen waren, paddelten sie nun mit ihren Booten herum. Jetzt wusste er, warum sie ihre Hütten in den Bäumen gebaut hatten! Und aus der Ferne war Ghordads trompetendes Triumphgeschrei zu hören … ENDE
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Die mordenden Bilder# von A. F. Morland# »Töte ihn!«, kreischte Brian Black wie von Sinnen. »Töte Tony Ballard!« Der Knochenmann holte zum nächsten Streich aus. Ich warf mich ihm entgegen, griff mit beiden Händen nach dem Sensenstiel, versuchte dem Tod seine Waffe zu entreißen, während Black sein Wahnsinnsgeschöpf mit kreischenden Schreien fortwährend anfeuerte. Das Monster verfügte über die Kraft der Hölle. Ich war ihm nicht gewachsen. Trotzdem kämpfte ich erbittert um den Sieg. Brian Black hetzte das Scheusal unermüdlich auf mich. Zuerst wich ich vor dem Dämon zurück. Aber dann stieß ich gegen die Wand. »Ja!«, schrie Brian Black begeistert. »Ja. Jetzt hast du ihn! Nimm ihm das Leben! Mach Schluß mit Tony Ballard!« Mein Schicksal schien besiegelt …
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