BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 36
DIE BRUT von Michael Marcus Thurner
Die RUBIKON hat die Große Magell...
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BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 36
DIE BRUT von Michael Marcus Thurner
Die RUBIKON hat die Große Magellansche Wolke erreicht. Von dort flohen die Foronen vor Jahrzehntausenden an Bord der Arche vor den übermächtigen Virgh. Im der GMW vorgelagerten »Sonnenhof« werden bis auf Sobek und Siroona sämtliche Foronen an Bord getötet. John Cloud, der mit seinen Gefährten von den Foronen gezwungen worden war, sich der Expedition zur Nachbargalaxis anzuschließen, nutzt die Chance und übernimmt das Kommando der RUBIKON. Ein historischer Moment. Sobek und Siroona finden sich in der Rolle von Gefangenen wieder. Dennoch ist eine Rückkehr zur Milchstraße vorerst ausgeschlossen. Die RUBIKON ist beschädigt. Und so bleibt nur der weitere Vorstoß in die sehr viel näher gelegene alte Heimat der Foronen. Auf dem von den Virgh zerstörten Planeten Galvaur wird Scobee von einem Unbekannten entführt. Und so kommt es zur Begegnung mit den Satoga – und einer folgenschweren Entdeckung...
1. Etwas war in Scobees Kopf explodiert, hatte ihre Sinnesnerven schlagartig gelähmt. Schwärze legte sich um sie. Sie konnte sich nicht bewegen, sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Scobee wusste nur: Sie war von einem Wesen, das sie niemals zuvor gesehen hatte, niedergeschossen worden. Ein unregelmäßiges Knattern wie von einem schlecht justierten Geigerzähler hielt sie gefangen. In diesem zeitlosen Kontinuum, in dem sie sich befand, war dies der einzige Anhaltspunkt dafür, dass sie noch lebte. Möglicherweise... Denn wer wusste schon, was nach dem Tod wartete? Ein seltsamer Gedanke, überlegte sie, und wunderte sich im selben Moment darüber, dass sie erstmals seit langem wieder etwas verstehen konnte. Die Zerrüttung, die ihren Geist erfasst hatte, schien ganz allmählich nachzulassen. Ein Punkt, stechend weiß, bohrte sich zwischen ihre Augen. Feine Risse faserten lautlos von diesem Punkt nach außen weg wie bei einer zerbrechenden Glasscheibe nach einem Steinschlag. Die hell leuchtenden Risse fraßen sich in die Schwärze, die Scobee umgab; brachen die Flecken der Dunkelheit richtiggehend weg, rasch und immer rascher. Dann war Helligkeit. Scobee konnte wieder sehen! *** Das grelle Licht war zweifellos künstlichen Ursprungs. Es kam von der glatten Decke. Es gelang ihr nicht, Kopf, Arme oder Beine zu bewegen.
Ihre Augen schmerzten, als sie den Blick hin und her huschen ließ. Jedes Blinzeln, jedes Zucken tat weh. Eine Art Betäubungsstrahl hat mich erwischt, dachte sie nüchtern. Er muss meine Nerven vollends lahmgelegt und mich in eine Art Stase versetzt haben. Scobee stöhnte auf, als das Kribbeln in Finger- und Zehenspitzen begann. Als würden tausend kleine Blitze in ihren Körper fahren, sich unter ihre Nägel bohren und diese langsam hochbiegen. Nun wurden ihre Lippen warm; immer heißer, so heiß, dass sie am liebsten geschrien hätte. Doch die Muskeln waren zu schwach, ließen nur ein undefinierbares Grunzen zu, das aus ihrer Kehle nach oben drang. Eine kühles Etwas legte sich auf Scobees Stirn, tastete vorsichtig über ihre von Blitzen durchsetzte Haut, fuhr fast zärtlich die Wangenknochen hinab. Eine Hand! Sie konnte sie vorerst nur sehen, aber nicht spüren. Das elektrische Prickeln, das sich allmählich von Fingern, Zehen und Mund weg ausbreitete, übertünchte alles. Es fühlte sich an, als würde endlich wieder Gefühl in ihre eingeschlafenen Glieder zurückkehren – nur ungleich schmerzhafter. Eine rollende Stimme sagte ein paar Wörter oder Sätze, die scheinbar nur aus dunklen Kehllauten und verschluckten Vokalen bestanden. Es hörte sich an wie: »Rrochartk« und konnte alles heißen, von »Ich liebe dich, heirate mich!« über »Deine Haut lässt sich sicherlich gut auf dem Magellanschen Großmarkt verkaufen« bis »öffne bitte den Mund, damit ich dich für mein Mittagessen spicken kann«. Wenn er mir etwas hätte antun wollen, hätte er das einfacher haben können, dachte sie und nahm ihre hechelnde Atmung bewusst zurück. Er sucht also eine Art Verständigung
– so hoffe ich zumindest. Für Minuten überdeckte das Blitzen in ihrem Körper jede andere Sinnesempfindung. Es erfasste Scobee vollends. Dir Körper begann unkontrolliert zu zucken und gleich danach zu verkrampfen. Dann spürte sie einen Stich an ihrer Hüfte, fein und kaum merkbar. Das Fremdwesen, von dem sie nach wie vor nur die fünffingrige, etwas grünlich schimmernde Hand und einen muskulösen Arm sah, hatte ihr eine Spritze gesetzt. Dieser Wahnsinnige! Woher konnte er wissen, was für ihren Metabolismus zuträglich war und was nicht! Möglicherweise hatte er sie soeben dem Tod ausgesetzt, indem er ihr Wirkstoffe verabreichte, die auf den menschlichen Körper letal wirkten. »Ncht... nicht!«, murmelte sie schwach, und drehte den Kopf leicht hin und her. Die Betäubung ließ nun immer rascher nach. Erneut erklang die Stimme des anderen. Tief und scheinbar aus einer breiten Brust kommend. Lachte er? Endlich schob sich sein Oberkörper in ihr nach wie vor eingeschränktes Gesichtsfeld. Die Erinnerung an das Wesen, das sie auf Galvaur niedergeschossen hatte, kam zurück. Nochmals durchlebte sie jenen Moment, als er seine klobige Waffe auf sie anlegte, mit einem süffisanten Grinsen einen Finger krümmte und sie in die Schwärze schickte. Das war derselbe Mann. Das war das Wesen, korrigierte sie sich im selben Moment. Es trug einen Bart und zeigte Züge, die sie als maskulin deutete. Doch die Wunder der letzten Tage, Wochen und Monate hatten sie gelehrt, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.
Die Haare waren das markanteste Merkmal am Kopf des Wesens. Zwanzig bis dreißig rote Haarborsten, von kleinen Knoten durchsetzt, durchstachen die Kopfhaut und standen steil nach oben und hinten weg. An der Stirn, zwischen den wulstigen Augenbrauen, befand sich ein kleiner rosafarbener Höcker und bildete einen merkwürdigen Kontrast zum Lindgrün seiner Haut. Die Iris der tief liegenden Augen war schwarz, die Hornhaut glänzte ebenso wie die schmalen Lippen safrangelb. Kopfform und Nase waren menschenähnlich – die Ohren vielleicht ein wenig zu klein und zu eng anliegend, die Backenknochen zu ausgeprägt. Aber mit etwas gutem Willen hätte man es durchaus als Menschen durchgehen lassen. Und in den Gen-Labors, aus denen ich stamme, ohnehin, dachte Scobee. Der helle Bartschatten, der sie von Beginn an irritiert hatte, zog sich weit nach oben, über die Backenknochen hinweg. Das Grinsen – es stand wie eingebrannt in seinem Gesicht. Als ob sich ihr Entführer permanent über sie lustig machen wollte. Der Höhepunkt der Schmerzen war überschritten. Das Kribbeln ließ nach, sie spürte wieder ihre Glieder. Und konnte sie bewegen! Die Spritze, die ihr gesetzt worden war, schien ihr nicht geschadet zu haben, ganz im Gegenteil. »Durst«, flüsterte sie. Ihr Rachen und die Zunge fühlten sich mit einem Mal wie Schleifpapier an. Unglaubliche Trockenheit in und auf ihrem Leib erweckte eine rasende, nicht zu unterdrückende Gier nach Flüssigkeit. Das Wesen konnte sie mit Sicherheit nicht verstehen – aber die grünlichen Finger hielten ihr einen fasrigen, an eine Kokosnussschale erinnernden Becher vor die Nase. Bitterer, sämiger Saft tropfte ihr auf die halb geöffneten Lippen. Sie
wandte alle Kraft dafür auf, die Flüssigkeit hinab zu würgen. Alles schmerzte. Jede Schluckbewegung, jeder Gesichtsmuskel, jede Anspannung, jeder Flecken ihrer Haut. Es war, als hätte sie einen allumfassenden Muskelkater. Und so war es wohl auch: Die merkwürdige Waffe hatte ihre Nerven vollends betäubt und den Muskelfasern winzigste Beschädigungen zugefügt. Die hart gepolsterte Liege bewegte sich und zwang Scobee in eine annähernd sitzende Position. Fast fiel ihr Kopf hinab auf die Brust, so schwach fühlte sie sich, doch mit aller Willenskraft hielt sie ihn in Position. Das Wesen stellte die halb volle Kokosnussschale neben ihr auf ein Tablett. Scobee sah dem Wesen hinterher, als es mit wuchtigen Schritten durch eine breite Tür ging. Mit einem satten Schmatzen schloss sich das Schott hinter ihm, und sie war alleine. In einem Raum, wie er nüchterner nicht sein konnte. Es gab die Liege, auf der sie mit einem breiten Gurt um die Hüfte festgeschnallt war, einen Tisch, eine weitere Sitzgelegenheit, alles in Weiß gehalten – und das war's auch schon. Nein. Nicht ganz. Ein frei schwebender, schwarzer Tropfen, eine Handbreit hoch und von widerlich öliger Konsistenz, näherte sich ihr langsam. Er breitete sich aus, wurde dünn wie eine Folie – und legte sich um ihr Gesicht. Scobee wurde übergangslos jegliche Luftzufuhr abgeschnitten! 2.
»Sie ist tot! Sie ist gestorben!«, murmelte John Cloud und stürzte haltlos aus dem Sarkophagsitz der RUBIKON. Benommen merkte er, dass ihm Jarvis' kräftige Arme hochhalfen und auf wackelige Beine stellten. Die Arme eines amorphen Wesen, geformt und gegossen aus Nano-Robotern – eine Vitalrüstung der Foronen, aufgepeppt durch die geistige Substanz eines Menschen, der so etwas wie ein Freund für John Cloud war. Jarvis... Der nun letzte ›lebende‹ Begleiter seit Beginn der MarsExpedition. Denn Scobee war tot. Der Schmerz, der ihn vor wenigen Momenten durchzuckt hatte, als er eins mit der RUBIKON gewesen war, hatte mit absoluter Sicherheit die genetische Unterschrift der GenTecFrau getragen. Er wusste auch nicht, wie er sich den Vorgang erklären sollte, und eigentlich war es Cloud auch vollkommen egal. Tatsache war, dass er über Myriaden von Schiffsrezeptoren eine Botschaft empfangen hatte, die das Verwehen von Scobees körperlicher Substanz im Nichts zum Inhalt gehabt hatte. Tränen schossen ihm in die Augen. Durch einen roten Schleier erkannte er, dass ihn Jarvis durch die Zentrale trug. »Komm schon, Mann!«, sagte Jarvis. Er gab ihm einen Schluck Wasser zu trinken. »Reißen Sie sich zusammen, Kommandant!« Jarvis, der Amorphe, hörte sich beinahe so an wie Jarvis, der GenTec. Unwillkürlich straffte Cloud seine Haltung, drängte den Schock beiseite. Jahrelang antrainierte Reflexe griffen mit einem Mal. Er wusste nicht, ob er seinen Ausbildern und Schleifern für die wirksam werdenden Automatismen danken oder sie verfluchen sollte.
Einerlei, sie waren ohnehin alle tot. »Es... es geht wieder«, flüsterte er und riss sich müde von seinem Träger los. Er ging vor zur Panoramawand, die ein virtuelles Standbild des großen Mutterschiffes zeigte, in dem Scobees Entführer verschwunden waren. Ständig fügte die RUBIKON neue Datenreihen hinzu. Sie standen in einem Planetensystem, dessen Sonne laut Auskunft des Schiffes Pint hieß. Ein einzelner Planet stand im Hintergrund des gegnerischen Schiffes. Zentalo war sein Name. Er war verglast wie schon Galvaur. Die RUBIKON maß und extrapolierte unablässig, kombinierte Ergebnisse mit Mutmaßungen. Aus Vermutungen wurden prozentuelle Erwägungen, aus Hochrechnungen Tatsachen. Die KI dachte und handelte auch ohne ihn – doch sie übertrat nicht, so wie bereits früher mehrmals, eine gewisse Grenze. Die Grenze von Reaktion zu Aktion. Die gemischte Besatzung des Schiffes war von seinem, von Clouds, Geisteszustand abhängig. War die Schiffs-KI einmal der Meinung, dass er nicht mehr in der Lage wäre, sie zu führen, würde sie mit Sicherheit Schritte einleiten, die niemandem an Bord zur Freude gereichen würden. So, wie es das Schiff vor wenigen Tagen mit den beiden letzten Foronen an Bord, Sobek und Siroona, getan hatte. Die RUBIKON hatte sie kurzerhand für nicht einsatzfähig erklärt und Cloud das Kommando als einzig Entscheidungsbefugtem übergeben. Er hatte die verdammte Pflicht, dass es dabei blieb, um das Leben der anderen Wesen an Bord nicht zu gefährden. Scobees Tod und die damit verbundene Trauer hatte hintan zu stehen. »RUBIKON, einen Stuhl!«, befahl Cloud.
Binnen weniger Momente entstand eine bequem gepolsterte Sitzgelegenheit, die sich nicht nur wie Leder anfühlte, sondern sogar danach roch. Und dennoch handelte es sich um Nano-Roboter, die im Übermaß in Böden, Decken und Wänden verborgen waren, um ihm, dem Kommandanten, für alle seine Bedürfnisse zur Verfügung zu stehen. Jarvis trat näher heran, während sich Cloud angespannt niedersetzte. »Scobee ist... tot?«, fragte er hohl, während sich sein Aussehen veränderte. Der Schock musste sein menschliches Bewusstsein nunmehr vollends erfasst haben. Er verlor jegliche Kontrolle über den künstlichen Körper. »So ist es«, erwiderte Cloud betont nüchtern. »Es tut mir Leid.« Erneut schob er jeglichen Gedanken an das Schicksal der GenTec beiseite. Er musste sich um das mysteriöse Schiff vor ihm kümmern. Er trug Verantwortung für sieben weitere Wesen, einschließlich ihm. Und möglicherweise war er auch die letzte Hoffnung für eine entmenschlichte Erde. Nur das zählte. Geflissentlich übersah er die weinende Aylea und den völlig schockiert vor sich hinstarrenden Florenhüter Jelto. Trauern konnte er später... *** Scobee griff zitternd und kraftlos an, ihr Gesicht, wollte den Ölfilm abreißen. Doch es gab keine Naht, nichts, an dem sie unterhaken konnte. Das merkwürdige, stinkende Gewebe klebte an ihr wie eine zweite Haut. Die Luft wurde knapp, das Gefühl unerträglich. Fahrig tastete sie umher, um irgendetwas zu finden, mit dem sie den
dünnen und dennoch so zähen Film von der Gesichtshaut lösen konnte. Ihr Herz schlug unnatürlich rasch, der Kreislauf drohte erneut zu kollabieren. Scobees nach wie vor geschwächter Metabolismus vertrug keine weiteren Belastungen. Das ist doch Wahnsinn!, dachte sie. Das kann dieser Unbekannte unmöglich wollen! Was läuft hier bloß schief? Sie hielt es nicht mehr aus, alles in ihr gierte nach Luft, nach ein klein wenig Sauerstoff, nach Leben. Sie gab ihrer Panik nach und wollte schreien. Doch da war kein Platz, kein Raum, um den Schrei zu artikulieren. Ihr Mund, ihre Nase, ihr Kopf, alles war zugeklebt... ... und plötzlich atmete sie. Gänzlich überraschend gab der Ölfilm nach, zerbröselte unter ihren Händen und fiel leicht wie Asche zu Boden. Scobee hustete und würgte, sog den so heftig herbeigesehnten Sauerstoff gierig ein. Sie lebte! *** »Sie ist tot, sie ist tot«, murmelte Jelto gebetsmühlenartig. Er wippte auf seinem breiten Stuhl vor und zurück, vor und zurück. Die langen, zierlichen Hände umklammerten Aylea, die auf seinem Schoß saß. Der Oberkörper der Zehnjährigen zuckte krampfartig. Alle Tränen waren geflossen, nahezu eine Stunde lang. Nun folgte die Erschöpfung, nun forderte der Körper seinen Tribut. Cloud hatte die beiden Menschen so weit wie möglich aus seiner Wahrnehmung ausgeschlossen und konzentrierte sich auf das Abbild des Schiffes vor ihm. Den Ort, an dem Scobee gestorben war. »Systemanalyse abgeschlossen«, sagte die KI der
RUBIKON über ein eng begrenztes Akustikfeld, nur für ihn hörbar. »Statusbericht!«, forderte Cloud kurz angebunden. »Durchmesser des Zentralkörpers zweihundertzwölf Meter. Der äußerste der sechzehn Ringe...« »... dort, wo Scobee gestorben ist...«, warf Cloud müde ein. »... umläuft das tatsächliche Schiff in einem mittlerem Abstand von einhundertsechzig Metern.« »Mittlerer Abstand?«, wunderte sich Cloud. »Ja. Die Ringbahn verläuft nicht rund, sondern beschreibt eine Ellipse. Es gibt eine Abweichung von knapp zwei Metern.« »Was bewirken die Ringe, was bewirken die Kugeln?«, fragte er ungeduldig nach. »Ich bin noch auf unzureichendes Datenmaterial angewiesen«, entgegnete die RUBIKON. »Aber nachdem die Energieemissionen fast ausnahmslos aus den Kugeln dringen, kann man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen, dass in ihnen alle Schiffsaggregate stationiert sind. Antriebsysteme, Schutzschirmprojektoren, Energietransformatoren, Waffensysteme bis hin zu den Ortungsanlagen. Die Zentralkugel hingegen ist energetisch nahezu tot. Anscheinend dient sie ausschließlich zur Unterbringung der Beiboote, des Materials und der Besatzung...« »Wie lautet deine Analyse des Antriebs?«, unterbrach Cloud erneut. »Die Hülle der Zentralkugel ist von einer Legierung mit starkem Neodymium-Anteil ummantelt und wirkt als Magnet. Die sechzehn rotierenden Kugeln sind in ein äußerst komplexes System von Anziehung und Abstoßung eingebunden. Auch ihre Schalen beinhalten NeodymiumEisen-Bor-Verbindungen mit Magnetfeldstärken von bis zu 10
hoch 13 Tera-Tesla. Die permanente gegenseitige Beeinflussung erzeugt einen Energiefluss, der an meine Leistungskapazität herankommt.« »Das, was wir hier vor uns sehen, wirkt also bei Bedarf als sich selbst antreibender Supermagnet«, murmelte Cloud. »Aber wie bewegt sich das Schiff fort?« »Dazu kann ich noch nichts sagen. Möglicherweise erfolgt eine Drehbeschleunigung, bis sich die Zentralkugel aus dem Standarduniversum rotiert und seine sechzehn Satelliten mit sich reißt.« »Hier gibt es also vorerst noch Unsicherheiten, und wir müssen uns auf Überraschungen vorbereiten. Du sagst, dass die Energieleistungsstärke annähernd jener der RUBIKON entspricht?« »Von der Erzeugung her gesehen: ja. Doch das Potenzial alleine ist nicht alles. Wie die Gewichtung des Verbrauchs – Antrieb, Aktivwaffensysteme und Verteidigungssysteme zueinander –, die Flexibilität der gegnerischen KI im Ernstfall und vor allem der Energie-Nutzungsgrad aussehen – da sind die Daten noch zu ungenau und reichen nicht für eine Hochrechnung.« »Wenn wir nun den Ortungsschutz verlassen und diesem seltsamen Atommodell einen Schuss vor den Bug knallen – kannst du derart bluffen, dass der Gegner annimmt, dass wir ihm haushoch überlegen sind? Indem du alles an momentanen Vitalreserven in diesen einen Warnschuss legst? Ich rede nicht von einem Schuss mit der Kontinuumwaffe, und auch nicht von Antimaterie-Torpedos, sondern von hochenergetischem Sperrfeuer. Sodass der Gegner glauben muss, wir hätten noch viel mehr in der Hinterhand?« Die RUBIKON schwieg für einen Moment und sagte schließlich: »Ich müsste das Risiko eingehen, alle meine derzeitigen Energieverbraucher für die Dauer von mehreren
Minuten abzuschalten. Es gäbe keinen Schmiegschirm mehr, keine Ortungssysteme, keine Redundanzkreisläufe für Notfälle. Wir wären dem Gegner, wenn er rasch genug reagiert, hilflos ausgeliefert. Die Umwandlung Dunkler Materie und die Flutung der Energiespeicher dauert seine Zeit.« »Aber wir könnten den Eindruck von übermächtiger Überlegenheit erwecken?«, beharrte Cloud. »Wenn man bei den Wesen dort drüben von einer Denkweise ausgeht, die jener der Foronen oder der Menschen entspricht – ja. Bei den Virgh zum Beispiel würde die Drohgeste nicht verfangen. Ich rate davon ab. Das Risiko ist groß...« Cloud ließ das Schiff wiederum nicht ausreden. »Wie lange könnte der Bluff aufrechterhalten werden?« »Zumindest so lange, wie wir benötigt haben, um das andere Schiff zu vermessen. Eine Stunde vielleicht.« Der Ton der weiblichen Stimme, die die KI der RUBIKON repräsentierte, klang um eine Nuance sachlicher. Cloud wurde einmal mehr bewusst, dass er es mit einer Künstlichen Intelligenz zu tun hatte, die mehr als ein bloßer Rechner war. »Gut«, sagte er. »Wir machen also Folgendes: Aus dem Ortungsschatten ausbrechen, ein überraschender Schuss mit voller Energieleistung vor den Schutzschirm des Atommodells. Dann beten wir, dass der Gegner zu überrascht ist, um gleich zu antworten und uns wegzublasen. Nach erfolgter Flutung der Speicher volle Leistung auf den Schmiegschirm und die AntiOrtungssysteme. Wir müssen so schnell wie möglich wieder unsichtbar werden, sodass wir nicht allzu viel über uns verraten.« »Warum willst du nicht die Kontinuumwaffe anwenden, John Cloud? Wir müssten unsere Defensive nicht preisgeben, und die Wirkung wäre wesentlich imposanter.« »Haben die Foronen die Kontinuumwaffe jemals leichtfertig
eingesetzt? War es nicht so, dass der Rochenschwanz selbst in der letzten großen Auseinandersetzung mit den Virgh erst in der allerletzten Sekunde genutzt wurde?« Cloud dachte kurz nach. »Ist es nicht so, dass ich selbst bei dir eine leichte Unsicherheit spüre, wenn die Waffe ausgelöst wird? Als ob niemand genau wüsste, was mit dem Aufriss des Kontinuums eigentlich bewirkt wird?« Die RUBIKON schwieg. Cloud hatte den letzten Teil seiner Konversation bewusst über die Virtuallautsprecher des Schiffes übertragen lassen, sodass Jelto, Jarvis und Aylea seinen Beschluss ebenfalls mithören konnten. Höchstwahrscheinlich auch die beiden Foronen, Siroona und Sobek, der rätselhafte Boreguir und möglicherweise sogar sein Vater, Nathan Cloud. Es kam keinerlei Reaktion. Fast apathisch nahm die bunt zusammengewürfelte Truppe seine Anweisungen zur Kenntnis. Lediglich im Gesicht des jungen Mädchens Aylea glaubte Cloud, Abscheu zu erkennen. Sie verstand ganz offensichtlich nicht, dass er so einfach über Scobees Tod hinwegging und sofort wieder zum Tagesgeschäft zurückfand. Aylea konnte und würde es nicht verstehen. Er benötigte nun mehr denn je eine Ablenkung. Ein Gegner – zumal es derjenige war, der Scobee auf dem Gewissen hatte – , kam ihm da gerade recht... *** Sechs Stunden später: Die RUBIKON liegt stabil. Zumindest äußerlich gibt es keine Anzeichen dafür, dass sie in wenigen Sekunden ihre volle Leistungskapazität entfalten wird. Cloud, der einmal mehr im Sarkophag ruht, spürt die Ruhe vor dem Sturm fast schmerzhaft. Es ist wie die Fokussierung
auf einen singulären Punkt. Alles, jede Funktion, ist diesem einen Ziel untergeordnet, dem Gegner im Atommodell seine Entschlossenheit zu demonstrieren. Das kommende Manöver gleicht einer Aktion eines geübten Karatekas. Er muss Kime anwenden, die explosionsartige Ausführung einer Technik mit maximaler Kraft in kürzester Zeit. Gleichzeitig kommt es auf Sun Dome an, dem Abstoppen der Technik kurz vor dem Ziel. Das Problem ist, den Widerspruch zwischen den beiden Gedanken zu überbrücken. Die Lösung ist, das Ziel geringfügig vor die jeweilige Körperstelle des Gegners zu verlagern. In diesem Falle also wenige Kilometer vor den äußersten Ring des Atommodells. Trotz der ungeheuer leistungsfähigen KI der RUBIKON stellt diese Aufgabe höchste Anforderungen an Cloud. Er ist nun mal Mensch, und Emotionen lassen sich selbst im Verbund mit dem Schiff kaum unterdrücken. Er zählt die Sekunden herunter, spannt seinen metallen gewordenen Leib an, konzentriert sich auf die Geschütze, die an der Vorderkante des Rochenkörpers in Position gefahren sind. Sechs... Letzte Energieverbraucher werden auf Null gefahren; selbst die künstliche Schwerkraft an Bord der RUBIKON wird aufgehoben. Fünf... Die Zielkalibrierung ist abgeschlossen. Alles in Cloud schreit danach, die Fokussierung einige hundert Meter näher an das gegnerische Schiff heranzulegen. Nur mühsam widersteht er. Vier... Es herrscht Totenstille in der RUBIKON. Selbst die KI des Schiffes hat sich in einen kurzzeitigen, begrenzten Schlaf
begeben. Drei... Cloud hält die Luft an, spannt die Muskulatur und richtet alles, das ihn und die RUBIKON ausmacht, auf den singulären Punkt. Zwei... Die Waffensysteme sind geladen, überfrachtet, drohen zu zerbersten, drängen danach, ihre fürchterliche Ladung auf den Weg zu schicken. Eins... Schutzschirm aus. Passivortung aus. Die RUBIKON ist nur noch ein Klumpen, ein riesiger Brocken, wehrlos einem möglichen Gegenangriff ausgeliefert. Ein leises Kitzeln am Bauch verkündet, dass Cloud im nächsten Moment von den Ortungssystemen des Atommodells entdeckt wird. Doch das spielt nun keine Rolle mehr... Null! Ungeheure Energien fließen, verschwinden in einem rätselhaften Zwischen-Kontinuum und fallen nur geringfügig zeitversetzt im Zielgebiet zurück. Cloud spürt und sieht Licht, so grell, so heiß, so schmerzend. Es explodiert, bringt Raum und Zeit ins Wanken. Die Milliarden Fühler seines Raumschiffes, Produkte unvorstellbar hoch gezüchteter Technik der Foronen, sind gelähmt, geben ihren Geist auf oder tun schlichtweg weh. Energetisches Chaos leckt über den Zielpunkt. Punktgenau getroffen. Eine gute Leistung, lobt ihn die KI der RUBIKON, die soeben wieder ihre Tätigkeit aufnimmt. Sie scheint schwach, und dennoch saugt sie unersättlich Dunkle Materie in riesigen Mengen an. Noch ist Cloud schutz- und wehrlos. Der Zapfvorgang wird Ewigkeiten dauern, mindestens zwei Minuten. Nun muss er bluffen. Stärke zeigen, die er und das Schiff nicht haben.
Er projiziert Bilder, Tonfolgen und simple mathematische Gleichungen, die in ihrer unumstößlichen Logik im ganzen Universum Gültigkeit besitzen. Dann Signale, die einer ersten Kontaktaufnahme dienen und gleichzeitig selbstbewusste Stärke demonstrieren sollen. Ich benehme mich fast wie ein Forone, durchschießt es Cloud. Ich drohe und lasse überheblich die Muskeln spielen. Er findet keine Zeit, sich länger mit diesem unangenehmen Gedanken zu beschäftigen. Nach wie vor sendet er auf xbeliebigen Wellenlängen Botschaften und Logikketten, die, eine Bereitschaft des anderen vorausgesetzt, binnen kürzester Zeit ausreichend Material für eine eingeschränkte Unterhaltung bieten sollten. Energienebel verflüchtigen sich. Clouds Außenfühler erwachen aus der Lähmung und liefern erste brauchbare Daten. Das Atommodell ist unbeschädigt. Möglicherweise sind seine Ortungssysteme und ähnlich empfindliche Messgeräte von den energetischen Erschütterungen in Mitleidenschaft gezogen worden, doch die sechzehn Kugeln tun ihren Dienst und umwandern den Zentralkörper. Der Gegner versucht, einen Schutzschirm aufzubauen und unsere Botschaften damit am Durchdringen zu hindern, sagt die KI. Möglicherweise befürchtet er, dass wir ihm Virenpakete auf den Weg geschickt haben und schützt sich dagegen. Sieh der Wahrheit endlich ins Auge, John Cloud! Sie verweigern jegliche Kontaktaufnahme. Er ignoriert die Einflüsterungen der KI und verstärkt das Bombardement mit Daten- und Informationspaketen. Höfliche, aber bestimmte Botschaften, in wenigen Augenblicken formuliert. Noch sind bei der anderen Seite nur die Bemühungen anzumessen, sich zu schützen. Offenbar sind beim Atommodell
sprichwörtlich ein paar Sicherungen rausgeflogen, und die Redundanzsysteme greifen nur allmählich beziehungsweise unkoordiniert. Zapfung zu dreißig Prozent abgeschlossen. Primärfunktionen können wieder aufgenommen werden. Errichtung des Schmiegschirms möglich... Nein!, denkt Cloud. Instinktiv wechselt er erneut die Strategie. Wir bleiben ungedeckt. Wir zeigen, dass wir uns stark genug fühlen. Und dass wir uns nicht fürchten. Im Notfall können wir nicht rasch genug reagieren, John Cloud!, protestiert die KI. Selbst im besten Fall liefern wir ihren Aktivortern ausreichend Informationen über unser tatsächliches Leistungsvermögen. Das ist bar jeglicher Vernunft! Gehorche!, befiehlt Cloud lapidar. Ich bin nun mal kein streng rational denkender Forone, sondern ein Mensch. Du wirst dich daran gewöhnen müssen. Neunzig Sekunden sind vergangen. Das Energiepotenzial der RUBIKON erreicht allmählich wieder seine Maximalmarke. Auch die Werte des Atommodells nähern sich nach und nach wieder der Standardleistung an, die es vor dem Warnschuss gezeigt hat. Es ist schlichtweg Wahnsinn, noch länger zu warten. Er muss unbedingt den Schmiegschirm aufbauen. Ein einziger Schuss gegen die ungeschützte Hülle der RUBIKON geführt, würde zu einer Katastrophe führen. Auch wenn er im Schiffskörper unheimlich anmutende Reaktionen zeigen kann – gegen mit Überlichtgeschwindigkeit abgefeuerte Geschosse sind auch seine hypersensiblen Sinne chancenlos. Noch einen Moment, eine letzte Sekunde... Sie müssen unsere Stärke anerkennen. Sie müssen endlich akzeptieren, dass es nur ein Warnschuss war und wir sie nicht vernichten wollten. Warum, zur Hölle, sind die bloß so begriffsstutzig? Am
liebsten würde ich ihnen... würde ich ihnen... Sie haben Scobee gefangen, sie getötet! Seine Gedanken verwirren sich immer mehr. Instinktiv schlüpft er ein wenig aus dem Schiff, gewinnt notwendig gewordene Distanz. Übergangslos übernimmt die KI die von ihm aufgegebenen Positionen. Cloud gibt auf. Alles deutet auf eine kriegerische Auseinandersetzung hin. Denn eines steht fest: Solange er nicht erfahren hat, was mit Scobee passiert ist, wird er nicht von hier weichen. Wenn es nicht auf friedlichem Weg geht, nun, dann muss er die Möglichkeiten der RUBIKON anderweitig ausschöpfen. Schmiegschirm aufbauen, befiehlt er. Torrel einsatzbereit machen. Ein Waffensystem, so mächtig, dass es Cloud das Fürchten lehrt. Psi-Strahlung, die ungeahnte mentale Schäden anrichtet und bereits in geringer Streudosierung bei den Betroffenen schwere Depressionen auslöst. Mit Abscheu denkt er an Berichte über Versuche der USA, die in eine ähnliche Richtung abzielten. Damals, zu Beginn und Mitte des 21. Jahrhunderts... Einsatzbereit, meldet die KI. Ohne lange darüber nachzudenken, löst Cloud die Waffe aus. Er kann sich vorstellen, was sich nun an Bord des gegnerischen Schiffes abspielt. Dennoch will sich kein Mitleid einstellen. Scobee ist tot, denkt er bloß. Die Gegenseite meldet sich, sagt die KI plötzlich. Leise Hoffnung – und gleichzeitig Beunruhigung – erfüllt ihn. Ist seine riskante Taktik doch noch von Erfolg gekrönt? Und warum ist die Schiffsbesatzung so stark, dass sie der dosierten Bestrahlung mit Torrel widerstehen kann? Er schlüpft geistig erneut tiefer in die RUBIKON, sodass er
wieder direkt mit allen Sinnen des Schiffes sehen und fühlen kann. Ein längerer Datensatz erreicht ihn, wird isoliert, gefiltert, mit einem beigefügten Algorithmus in eine Bildbotschaft umgewandelt und für seine ausgeweiteten Sinne aufbereitet. Die Qualität ist ausgezeichnet. Die kurze Bildübertragung zeigt einen grell beleuchteten, eintönig gestalteten Raum. Ein Wesen schiebt sich ins Bild. Ein Wesen mit schmerz verzerrter Mimik, ihm nur allzu gut bekannt, beide Hände gegen die Schläfen gepresst. »Schalt um Himmels willen Torrel ab, John! Es ist alles in Ordnung«, wimmert Scobee leise. »Artas will mit dir sprechen.« Scobee! *** Nachdem sich ihr Kreislauf endlich beruhigt hatte, löste Scobee den Halteriemen. Eine Untersuchung der so kahlen und nüchternen Kabine brachte keine neuen Erkenntnisse. Alles, was sie seit dem Erwachen aus der Bewusstlosigkeit erlebte hatte, entbehrte jeglicher Logik. Zumindest jeglicher menschlichen Logik. Das ist das Verrückte daran, überlegte sie. Dieses Wesen wirkt derart menschenähnlich, dass der Verstand befiehlt, seine Handlungsweise an herkömmlichen Maßstäben zu messen. Aber, verflixt noch mal, ich sitze irgendwo in der Großen Magellanschen Wolke fest! Hunderttausende Lichtjahre von der Erde entfernt! Ein tiefes Brummen durchbrach ihre Gedanken. Das Licht wurde um eine Nuance dunkler, und das Schott, der einzige Zugang zu ihrer Kabine, öffnete sich. Vorsichtig und dennoch neugierig näherte sich Scobee dem
Ausgang. Ein leerer Gang erstreckte sich nach links und rechts, ähnlich nüchtern gestaltet wie der Raum, in dem sie erwacht war. Es herrschte gähnende Leere, niemand erwartete sie. Ich befinde mich wahrscheinlich in einem Raumschiff, dachte sie. Leichte Vibrationen unter ihren Füßen, die möglicherweise von großen Maschinenaggregaten stammten, waren hier spürbar. Eine deutliche Krümmung des Ganges ließ eine Kugelform des Schiffes vermuten. Lichtkegel an den Seitenwänden leuchteten hintereinander auf. Es waren wohl Signale, eine bestimmte Richtung einzuschlagen. Zögernd folgte die GenTec dem vorgegebenen Weg. Nach zwanzig Schritten kreuzte sie einen Quergang, der Richtung Inneres des mutmaßlichen Schiffs führte. Neugierig lugte Scobee um die Ecke – fuhr jedoch sofort wieder zurück. Ein schwarzer Öltropfen! Um einiges größer als derjenige, der ihr Gesicht umfangen hatte. Er schwebte mitten im Kreuzgang, ruhig, scheinbar abwartend. Die wegweisenden Lichter erloschen. Stattdessen huschte der Tropfen davon. Furcht, der sie nur zu gerne nachgab, hinderte sie daran, dem widerlichen Ding zu folgen. Der Tropfen schwebte ein paar Schritte voran. Als sie sich nicht bewegte, kam er zurück und glitt unangenehm nahe an ihr Gesicht. Scobee wich zurück, bis sie die Wand des Ganges in ihrem Rücken spürte. »Folgen!«, krächzte der Tropfen. Er sprach! Aber wie... woher... »Rasch!« Scheinbar ungeduldig wippte er auf und ab, immer hektischer werdend.
»Ich komme«, sagte Scobee heiser. Der Tropfen verstand. Er glitt wieder voraus, und nach kurzem Zögern lief die GenTec-Frau hinterher. Das Schiff war von unzähligen Kreis- und Quergängen durchzogen, die ein verwirrendes Labyrinth bildeten. Ihre Ängste ließen sich ungeachtet ihrer gentechnischen Veränderungen kaum im Zaum halten. Dennoch bemühte sie sich, den Weg im Gedächtnis zu bewahren. Es fiel ihr schwer und schwerer. Es gab keinerlei Anhaltspunkte. Alles sah gleich aus. Nirgendwohin zweigten Türen oder Schotts ab. Es kam Scobee fast so vor, als wäre ihre Kabine die einzige im ganzen Schiff gewesen. Manchmal war ein hohles Rauschen zu hören. Als befände sie sich in einem kompliziert vernetzten System aus Gängen, durch die immer wieder der Wind pfiff. Ab und zu zwang sie der Dunkeltropfen, wie ihn Scobee mittlerweile getauft hatte, stehen zu bleiben. Er schoss dann quer über den Gang, so rasch, dass seine Umrisse fast verschwanden, und erzeugte dabei ein weiteres ungewohntes Geräusch. »Kommen wir endlich ans Ziel?«, fragte sie schließlich ihren schwebenden Wegweiser. »Gleich«, antwortete der Dunkeltropfen völlig überraschend. Und tatsächlich – nachdem sie zwei weitere Quergänge passiert hatten, öffnete sich vor Scobees Augen ein Raum. Er besaß die Form einer Kugel von ungefähr zwanzig Meter Durchmesser. Vor ihr ging es steil in die Bodensenke – eigentlich Bodenrundung – hinab. Und dort wartete das Wesen, das sie hierher entführt hatte. Grinsend wie immer. *** »Sprechen!«, forderte sie der Dunkeltropfen auf. »Vieles
Sprechen!« Scobee verstand. Der Translator – um nichts anderes konnte es sich bei dem merkwürdigen Gerät handeln –, benötigte Vokabular. Ohne den grinsenden Außerirdischen auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen, redete sie frei drauf los. Dabei versuchte sie, mit Gesten zu veranschaulichen, was sie meinte. Der Dunkeltropfen schwieg die meiste Zeit und fragte nur selten nach, wenn Scobee zu undeutlich sprach. Schließlich hatte die GenTec genug. Sie deutete auf sich und sagte: »Scobee«. Das Fremdwesen saß mittlerweile in einer schüsselförmigen Vertiefung. Das Grinsen, das es nach wie vor zeigte, war ihm keine Sekunde aus dem Gesicht gewichen. Er lacht gar nicht. Es sind diese kleine Gesichtsfalten, die den Mundwinkel ständig ein wenig nach oben ziehen und für eine Täuschung sorgen, dachte Scobee. Die Physiognomie unserer beider Rassen unterscheidet sich also doch ein wenig. Wahrscheinlich ist er die meiste Zeit todernst und vielleicht genauso nervös wie ich. Langsam und zögernd wiederholte sie ihren Namen und deutete schließlich auf den Fremden. Er verschränkte in einer menschlich scheinenden Geste die Finger ineinander und sagte mit leiser, gutturaler Betonung: »Artas«. Dabei zog er die dünnen Lippen weit nach oben, und diesmal war sich Scobee sicher, dass er grinste. Ich Jane – du Tarzan!, dachte sie erleichtert. Ein erster Schritt war getan. Die Zeit verging wie im Fluge. Doch einige Wörter, die Artas ihr mitzuteilen versuchte, entzogen sich ihrem Auffassungsvermögen. »Kartenspiele, die zum Nacktschneckentod durch Nichtatmen führen«, wie der
Dunkeltropfen in einem Beispiel für ein zweisilbiges Wort übersetzte, blieb schlichtweg rätselhaft. Endlich gab der Satoga – so nannte sich die Rasse des Fremdwesens – das Zeichen für eine Erholungspause. »Periode des Nichtstuns«, übersetzte der Dunkeltropfen sperrig. Erst jetzt, nach mehreren Stunden höchster Konzentration, registrierte Scobee die ungewohnte Geräuschkulisse, die sie umgab. Jenes Pfeifen, Singen und Rauschen, das ihr bereits auf dem Marsch durch die Gänge hierher aufgefallen war, drang von Zeit zu Zeit an ihr Ohr. Es kam und entfernte sich wieder, schuf eine Art atonale Musik. Wesentlich beunruhigender für ihr nach wie vor angespanntes Gemüt waren dutzende Dunkeltropfen, die den Kugelraum durchschwebten und leise vor sich hin flüsterten. Sie kommunizierten auf unheimliche Art und Weise mit- und untereinander. Manchmal berührten sie sich. Ein glockenhelles Geräusch entstand dann, das erst verklang, wenn sie sich wieder trennten. Technik und Funktionalität hier an Bord des Schiffes – übersetzt trug es den Namen PERSPEKTIVE – waren doch gänzlich anders als auf der RUBIKON. Scobee sah nirgendwo Eingabe-Terminals oder sprachgesteuerte Befehlsfelder, an die sie sich auf dem Foronen-Schiff mittlerweile gewöhnt hatte. Nüchternheit durchdrang den Raum, alles war kahl und seltsam nichts sagend. Der bunteste Farbtupfer in der Zentrale war fraglos die feuerrot leuchtende Stachelhaarpracht des Satoga. Sie musterte Artas unverhohlen. Hier in seiner Zentrale trug er die weit über die Schulter hinausragende Rüstung nicht, die ihr auf dem verglasten Planeten Galvaur aufgefallen war. Lediglich ein aus Metallteilen gesponnenes Hemd bedeckte seinen fleischigen, grünen Oberkörper. Tiefe, nur schlecht verheilte Wunden, deren gleichmäßige Anordnung auf rituellen
Ursprung hindeuteten, vernarbten die stark behaarten Arme. Die kräftigen Beine waren von einer eng anliegenden, silbern glänzenden Folie umwickelt. Der Satoga wirkte wie ein Wesen, das innerhalb von wenigen Momenten von null auf hundert beschleunigen konnte – und dann einen fürchterlichen Gegner darstellte. Dabei finde ich ihn durchaus sympathisch, dachte Scobee. Auch wenn dieses Lächeln gar kein Lächeln ist -es erzeugt Vertrauen. Artas erwiderte flüchtig ihren Blick und lümmelte sich schließlich leger in sein ockerfarbenes Möbel. Eine Aura umgab ihn. Nein, es war nicht nur die Persönlichkeit, sondern auch etwas anderes, das tatsächlich spürbar war. Täuschte der Blick, oder verschob sich die optische Wahrnehmung tatsächlich rund um seinen Körper? Als ob heiße Luft um ihn waberte... Artas deutete unvermittelt auf zwei der Dunkeltropfen. Einer schwebte zu ihr, der andere blieb beim Satoga. Wieder erklang die tiefe, nur aus rudimentären Klanglauten bestehende Stimme. Es kribbelte nahezu unangenehm in ihren Ohren, wenn er sprach. Der Dunkeltropfen übersetzte: »Artas macht Fehler. Keine Absicht Scobee auf Glasplaneten zu entführen. Angst vor Wesen mit Waffen, die verglasen Planeten. Glauben, dass Bösewicht ist Scobee. Mitnehmen mit Winzigschiff hierher. Verzeihung? Analyse mit Schwarzhaut zeigen, dass brav Scobee.« Fast hätte sie lauthals drauf losgelacht. An der Grammatik und gewählten Wortfolge des Translator-Tropfens musste noch emsig gearbeitet werden. Doch das würde sich sicherlich mit der Zeit geben. Sie assoziierte »Schwarzhaut« sofort mit jenem Tropfen, der zerfasert war und sich um ihr Gesicht gelegt hatte. Selbst jetzt
noch, als sie sich an das Gefühl des Erstickens erinnerte, rann es ihr kalt über den Rücken. Was hatte dieses Schwarzhaut genannte Ding mit ihr angestellt, dass Artas inzwischen davon überzeugt war, dass sie »brav« war? »Natürlich verzeihe ich«, erwiderte Scobee vorsichtig. »Aber sag mir bitte, wo wir jetzt sind! Und, vor allem, wo meine Begleiter sind? Bist du ihnen begegnet?« Die Übersetzungspause dauerte nur kurz. »Begegnet sind wir Begleitern. Wir Ausweichungen gemacht und geflogen davon. Hierher, zu PERSPEKTIVE.« Auf einen Wink seiner Hand hin öffnete sich eine halbkugelförmige Öffnung vor dem Möbel des Satoga. Es zeigte unvermittelt die Schwärze des Weltalls und einer nahen Sonne. So lebensecht, so hautnah, dass Scobee schwören konnte, den Hauch der absoluten Kälte und gleichzeitig die Hitze des Sterns auf ihrer Haut zu spüren. Dies war keine Projektion, dies war... Wirklichkeit! Geblendet kniff sie die Augen zusammen. Wieder flimmerte davor die Luft, als ob sie beide lediglich eine dünne, energetische Schutzwand davor bewahrte, hinausgezogen zu werden. Doch wie war das möglich? Ihrem Gefühl nach befand sich die Zentralekugel tief im Inneren des Schiffes... Mühsam konzentrierte sie sich auf das Bild, das sie sah. Eine Sonne, blau und kalt scheinend. Sie beleuchtete einen hellgrünen Planeten, von dem sie ein gutes Viertel im Licht des Sterns erkennen konnte. Vielfältige Reflektionen erzeugten Blendeffekte, sodass Scobee ihre Augen mit den Händen schützen musste. »Auch hier sehen Verglasung«, sagte Artas. »Alles Glas. Viele Planeten voll Glas. Wir haben bereits gesichtet einundvierzig Glasplaneten. Alles tot.« Das Ausmaß des Schadens, den die Virgh in der Großen
Magellanschen Wolke angerichtet hatten, gewann durch die Worte eine neue Dimension. Scobee hatte es nach den Erzählungen Sobeks, des Foronen, vermuten müssen, dass deren geheimnisvolle, uralte Gegner eine Schneise des Schreckens und des Todes quer durch die kleine Galaxis geschlagen hatten – doch jetzt, als sie erstmals verbindliche Zahlen hörte, wurde ihr doch ein wenig schwummrig. »Einundvierzig Planeten«, murmelte sie tonlos, sodass es der Dunkeltropfen kaum verstehen konnte, »einundvierzig Welten, die ihres Lebens beraubt worden sind.« Abrupt kehrte sie mit ihren Gedanken in die Gegenwart zurück. »Woher kommen die Satoga?«, fragte sie. »Und wo sind die anderen deiner Rasse?« Entweder dauerte die Übersetzung diesmal länger, oder Artas dachte über eine passende Antwort nach. Schließlich erklärte er: »Wir kommen aus kleiner Galaxis. Erster Sprung über großen Leerraum mit PERSPEKTIVE, wir sind stolz. Andere Satoga ruhen und arbeiten, bloß sind hundert.« Kleine Galaxis... er musste damit die Kleine Magellansche Wolke meinen! Artas und seine Landsleute stellten, wenn sie alles richtig gedeutet hatte, die Speerspitze eines expandierenden Sternenreiches dar, das sich in der unmittelbaren Nachbarschaft seines Herrschaftsgebietes erstmals umsah. Oder, um es weniger kriegerisch zu sehen: Sie befand sich an Bord eines Forschungsraumers. Hoffentlich. »Können wir das Missverständnis mit meinen Leuten aus dem Weg räumen?«, fragte sie vorsichtig. »Ist es möglich, dass ihr mich zurückbringt nach Galvaur? Zum Glasplaneten, auf dem du mich... gefunden hast?« »Schwierig, da Landsfrauen von Scobee nicht erheitert sein
werden«, sagte Artas. Sie hätte schwören können, dass er unruhig auf seinem Sitz hin und her rutschte. Selbst das Dauergrinsen des Satoga wirkte nun ein wenig schief. Offensichtlich war die Flucht vor der RUBIKON von unschönen Szenen begleitet gewesen. »Ich bitte dich darum«, drängte Scobee. »Ich bin mir sicher, dass wir das Missverständnis aufklären können. Sagtest du nicht, die Schwarzhaut zeige, dass du mir vertrauen könntest?« Der Satoga schwieg lange Zeit. Geistesabwesend und mit einer bloßen Handbewegung schloss er die Sichtblende weg, die den verglasten Planeten zeigte. Erleichtert nahm Scobee die schützenden Hände von der Stirn und atmete tief durch. »Scobee ist gut zu vertrauen. Satoga wollen Frieden und erforschen. Wir werden versuchen zurückzureisen. Du redest mit deiner Chefin, dass wir nicht Feinde sind?« In diesem Moment explodierte die Welt um sie! *** Schwere Erschütterungen ließen die PERSPEKTIVE für lange Sekunden erbeben. Haltlos wurde Scobee hin und her geworfen, landete schwer auf dem Rücken, rutschte in den tiefsten Punkt der inversen Kugel, um im nächsten Moment wie ein Pfannkuchen erneut hochgeschleudert zu werden. Es gab nichts, an dem sie sich festhalten konnte, absolut nichts! Scobee musste sich darauf beschränken, mit akrobatischen Körperdrehungen möglichst auf allen vieren zu landen und so schwere Verletzungen zu vermeiden. Endlose Trainingsstunden auf der Erde, die das rein reaktive Umschalten in ungewöhnlichen und gefährlichen Situation als Ziel gehabt hatten, machten sich nun bemerkbar. Die GenTec flog umher – und landete dennoch ein ums andere Mal wie eine Katze.
Endlich ließen die Erschütterungen nach. Cloud, dachte sie sofort, er muss uns gefolgt sein! Hastig rappelte sie sich hoch und eilte zu Artas. Der saß nach wie vor in seinem Lehnstuhl. Die Erschütterungen schienen ihn keinesfalls beeindruckt zu haben – und wenn sie sich nicht täuschte, hatte er sich keinen Millimeter von der Stelle gerührt. Seltsam. Es gab keinerlei Anzeichen für mechanische oder energetisch geformte Haltegurte. Wie hatte sich der Satoga festhalten können? Einerlei. »Artas«, sagte sie hastig, »ich befürchte, dass uns meine Freunde gefolgt sind. Kannst du das Schiff identifizieren, dass uns beschossen hat?« Kommentarlos und mit kleinen Fingerbewegungen sorgte der Satoga dafür, dass sich im Zentrum der Kugel eine Holoprojektion aufbaute. Ein Objekt wurde näher herangezoomt. Die Konturen eines riesenhaften Rochens füllten das Hologramm. Es war tatsächlich die RUBIKON! »Fürchterliche Energieentladung«, sagte Artas via des neben ihr schwebenden Dunkeltropfens. »Gefahr für PERSPEKTIVE.« »Kein Wunder«, murmelte Scobee, »schließlich ist es das Schiff der...« Sie brach ab. Es war vielleicht nicht besonders zielführend, zu diesem Zeitpunkt verwirrende Geschichten zu erzählen, warum und wer die RUBIKON zum jetzigen Zeitpunkt steuerte. Eindringlich fuhr sie fort: »Das war vorerst nur ein Warnschuss! Bitte, beschaffe mir eine Funk- oder Bildverbindung zu meine Freunden!« »Dies ist nicht Leichtes«, entgegnete der Satoga. »Abstimmung schwer. Unnettes Verhalten deiner Freunde«,
fügte er hinzu. Es klang kein Vorwurf in den Worten. Wie auch? Bedeutungen, die in derTonlage des Sprechers lagen, blieben trotz hochwertiger Translator-Technik noch unübersetzbar. »Wir werden das alles so rasch wie möglich klären, Artas.« Scobee stieg nervös von einem Fuß auf den anderen. Es kam auf jede Sekunde an, wollte sie eine weitere Eskalation der Auseinandersetzung verhindern. »Nur starte bitte keinen Gegenangriff – und mach auch keinen Fluchtversuch. In den Augen meiner Freunde hast du mich entführt. Sie wollen mich sicherlich befreien.« Wollte John das wirklich? Sie kannte den Kommandant nur zu gut. Unter keinen Umständen hätte er ein Bombardement begonnen – wenn nicht ein triftiger Grund vorgelegen hätte. Was war passiert, dass Cloud gleich derart heftig um sich schlug? Nervös massierte sie sich den rechten Arm, der geprellt schien. Wenn bloß die Kopfschmerzen nicht wären... Das Grinsen in Artas' Gesicht vertiefte sich. Und endlich, endlich sagte er: »Du bekommst Verbindung. Warten ein wenig, bitte!« Ja, verstand er denn nicht, dass es auf jede Sekunde ankam? Warum lehnte er sich provokant zurück und deutete mit den Fingern ein wenig umher? Als ob er ein unsichtbares Orchester dirigieren wollte... Wie funktionierte die Technik bloß in diesem Schiff? Wo waren die Bedienungselemente? Plötzlich: Schmerz! Ein Stich in ihrem Kopf. Ein feuriges Messer, das ihr Bewusstsein auseinander schnitt. Übelkeit. So schlimm, dass sie sich zu Boden warf und
heftig würgte. Düstere, alles zerfressende Gedanken. Tief aus dem Unterbewusstsein nach oben schwappend, alles andere beiseite schiebend. Blindheit erfasste sie. All ihre Gedanken wurden von der Außenwelt abgeschottet, als ob eine unsichtbare Hülle existierte, die Scobee auf ihr ureigenes Ich, auf ihre Seele reduzierte. Und dieses Ich war verachtenswert, hässlich und böse. »Ich bin schlecht«, murmelte sie, »ich möchte sterben.« Sie kippte zur Seite. Kraftlos, als ob ihre Arme aus Gelee bestünden. Eine neue Form von Schmerz erfasste sie, drängte diese belastende Schwärze, die sie in einen Strudel zu ziehen drohte, für einen kurzen Moment beiseite. Sie war auf den rechten Arm gefallen! Die Prellung! Orientierungslos blickte sie sich um. Was war bloß los, was geschah hier? Dies musste die Wirkung von Torrel sein! Jener Psychowaffe der Foronen, die alle Wesen in ihrem Bereich in den Selbstmord trieb. Scobee stemmte sich mühselig hoch, schlug sich mehrmals kräftig mit der Faust gegen die Prellung, ohne eine bewusste Steuerung ihres Schmerzvermögens vorzunehmen. Tränen traten in ihre Augen – und dennoch war dieser körperliche Schmerz noch immer besser als all das Leid, das sie vor wenigen Momenten in den tiefsten Abgründen ihres Ichs erblickt hatte. Artas saß in seinem Sessel, die gelben Augen weit aufgerissen. Die Mundwinkel hingen schlaff nach unten. Ein Speichelfaden triefte langsam, wie in Zeitlupe, auf die breite Brust. Scobee schlug zu, mit aller verbliebenen Kraft. Links und
rechts jeweils eine Ohrfeige, sodass sich seine Haut in Form ihrer Fingerabdrücke sofort blau färbte. Dunkeltropfen wirbelten um sie, prallten gegen Wände und Boden. Warum hatte ihre Steuerung ausgesetzt? Wurden sie etwa durch Artas' Willen gelenkt? »Artas, komm zu dir!« Sie brüllte ihm ins Ohr, schlug nochmals zu. Der Satoga schnappte plötzlich nach Luft, als wäre er in letzter Sekunde aus todbringendem Wasser an die Oberfläche getaucht. Er sprang auf, stieß sie kräftig von sich, um im nächsten Moment seinen Fehler zu erkennen. Schlagartig legte sich das Chaos. Die Schlingerbewegungen der Dunkeltropfen hörten auf. »Eine Sprechverbindung zum anderen Schiff!«, schrie sie. Ihre Arme verkrampften erneut, Schweiß stand von einem Moment zum nächsten auf ihrer Stirn. Sie war knapp vor einem neuerlichen Anfall – und diesmal würde es wohl keine Rückkehr mehr geben... Ein kurzer Deut des Satoga, und ein schwarz flimmerndes Feld entstand vor ihnen. Datenstrings wurden gesendet und ausgetauscht, seltsame Schriftzeichen verloren und zerfransten sich in der Bildübertragung. Fürchterlich müde taumelte sie knapp vor das Zentrum des Flimmerfeldes und hoffte, dass tatsächlich eine Bildübertragung stattfand. Sie erkannte John Cloud einigermaßen störungsfrei – aber hörte und sah er sie auch? »Sprechen!«, forderte Artas sie auf, und ließ sich erschöpft in seinen Steuerstuhl fallen. Scobee achtete nicht weiter auf ihn. Sie konzentrierte all ihre Kraft darauf, tonnenschwere Gewichte zu heben, die sich auf Lippen und Zungen gelegt hatten. »Schalt um Himmels willen Torrel ab, John! Es ist alles in Ordnung«, flüsterte sie. »Artas will mit dir sprechen.«
Dann brach sie zusammen. 3. Cloud löste sich umgehend aus der RUBIKON. Das Abbild Scobees erschien überlebensgroß auf dem Panoramaschirm. Ihre tätowierten Augenbrauen zitterten unkontrolliert, und ihre Wangen waren leichenblass. Doch sie lebte! Aber... aber wieso? Er hatte doch mit den Sinnen des Schiffes deutlich gespürt, dass ihre Lebensenergie vergangen war, abrupt, wie mit einer Schere abgeschnitten. Sie verdrehte die Augen und kippte nach unten hin weg, aus dem Aufnahmebereich der Bildfläche. »Torrel aus!«, befahl Cloud hastig und löste sich aus dem Sarkophag, der einmal dem Foronen namens Mont gehört hatte. Übergangslos erloschen einige Funktionslichter. Die heimtückischste Waffe, die er jemals kennen gelernt hatte, verstummte. War dies ein Trick? Eine Holoaufnahme, vom Gegner gefertigt, um Zeit zu gewinnen? Das Aufnahmefeld verschob sich räumlich nach links und zeigte ein menschenähnliches Wesen, das sichtlich erschöpft in einem breiten Sessel saß und wie ein Fisch nach Luft schnappte. Cloud nahm sich keine Zeit, Physiognomie und Statur des Gegenübers zu studieren. »Was hast du mit Scobee gemacht?«, brüllte er. Zorn und gleichzeitig grenzenlose Erleichterung erfüllten ihn. Und Verwirrung. Wo hatte er falsch gedacht, wo falsch gehandelt? War alles nur ein einziges Missverständnis gewesen?
»Verzeihen musst du«, radebrechte der Fremde. »Scobee schwach, aber Gesundheit gut.« Er selbst wurde von heftigen Krämpfen gepackt und krümmte sich auf seinem Sessel zusammen. »Ich will Scobee sofort an Bord meines Schiffes sehen«, sagte Cloud mühsam beherrscht. »Und du würdest gut daran tun, sie zu begleiten. Ich bin mir sicher, wir haben Einiges zu bereden.« »Das werde ich tun«, entgegnete das Wesen, dessen Name wohl Artas war. Seine imposante Gestalt wirkte unter den Nachwirkungen Torrels teigig und schlaff. Er stemmte sich hoch. Seine Glieder zitterten. »Ich komme zu dir, wenn du willst, und nehme Scobee mit. Aber zuerst...« Ein hässliches, würgendes Geräusch erklang, und der Mann krümmte sich unter grässlichen Schmerzen. Artas' Metabolismus unterschied sich scheinbar nicht allzu sehr von dem eines Menschen. Torrel war eine bestialische Waffe. *** Drei Stunden später: Alle waren sie in der Zentrale der RUBIKON versammelt – selbst die Foronen Sobek und Siroona. John Cloud hatte sich in Geduld üben und die Form wahren wollen. Doch als Scobee, gestützt von Jarvis, hereingetaumelt kam, war es vorbei mit jeglicher Beherrschung. Cloud eilte auf sie zu und barg sie in seinen Armen. »Was hat er mit dir bloß angestellt«, murmelte er. »Ich habe deinen Tod gespürt. Ich verstehe das alles nicht. Du lebst und...« »Ist schon gut, John«, antwortete Scobee leise. Sie drückte ihn sanft, aber energisch von sich. Ihre grünen Augen
leuchteten dabei hell auf. »Hm... gut«, sagte er. »Jetzt erzähl!« »Ich denke, das sollte besser mein Begleiter machen. Darf ich vorstellen: Artas. Seine Rasse, die Satoga, stammen aus der Kleinen Magellanschen Wolke. Sie befinden sich auf ihrem ersten Erkundungsflug außerhalb ihrer Galaxis.« Der Genannte trat vor, seine und Clouds Blicke trafen sich. Abgesehen von dem Lächeln, das beständig um seine Mundwinkel spielte, wirkte er sehr menschlich. Die Farbnuancen seiner Haut waren nebensächlich. In breiten Kreisen der Gesellschaft im Jahre 2040 wäre er ohne Probleme durchgekommen. Unvermittelt erinnerte sich Cloud an spleenige Schönheitsoperationen, die gegen Mitte des 21. Jahrhunderts auch eine Veränderung der Hautfarbe zum Gegenstand gehabt hatten. Ein kleiner, schwarzer Tropfen schwebte zwischen Artas und ihm. »Ich nenne ihn Dunkeltropfen«, flüsterte Scobee. »Er wird als Translator fungieren.« »RUBIKON«, sagte Cloud, »nimm Kontakt mit dem Dunkeltropfen auf und gleicht eure Sprachsysteme aufeinander ab.« Artas nickte zögernd und deutete mit einer schrullig anmutenden Geste auf seinen Dunkeltropfen. Helle Schlieren umgaben ihn plötzlich, und die KI der RUBIKON berichtete lakonisch: »Kontakt! Sprachregister des Dunkeltropfens zugänglich. Datenaustausch beginnt.« Cloud blickte Artas mittlerweile unsicher an, und er glaubte zu sehen, dass auch dem anderen nicht ganz geheuer zumute war. Beide hatten wohl noch nicht viel Erfahrung mit Erstkontakten. Auch wenn es Johns mittlerweile vielleicht zehnte Begegnung mit Mitgliedern anderer Völker war – diese ersten Aufeinandertreffen stellten jedes Mal eine
Herausforderung dar, die als einzigartig im Gedächtnis hängen blieben. Es vergingen nur wenige Augenblicke, bis die RUBIKON verkündete: »Datenübertragung abgeschlossen...« *** Die Lösung aller Rätsel lag schlichtweg im dem Begriff »Magnetismus« verborgen. Die Satoga hatten, wie Artas ausführte, eine unheimlich anmutende Affinität zu Gravitation und Magnetfeldern. Sowohl die Technik ihres Raumschiffes mit dem wundersamen Namen PERSPEKTIVE als auch die Bedienung nicht sichtbarer Elemente beruhten auf Beschleunigung, Druck und Zug mit Hilfe magnetischer Felder. »Die sechzehn unterschiedlich geladenen Kugeln um euer Zentralschiff sorgen also tatsächlich für ein supermagnetisches Feld, das die Schiffseinheit als Ganzes um die eigene Achse beschleunigt, aus dem Normalraum reißt und an einem willkürlichen Ort im Universum wieder absetzt?« »Im Prinzip ja«, sagte Artas vermittels des Dunkeltropfens. »Es gehört natürlich einiges Geschick dazu, die PERSPEKTIVE zu steuern.« Freimütig erzählte der Satoga über die Prinzipien seiner technischen Anwendungen, ohne allerdings auf Details einzugehen. »Woher weißt du, wo das Schiff wieder in den Normalraum zurückkommen soll?« »Wir Satoga haben ein angeborenes Gespür für Gravitationslinien und -merkmale. Wie wir bereits beim Kontakt mit anderen Völkern in unserer heimatlichen Sterneninsel bemerkten, stehen wir mit diesem Talent ziemlich einzigartig da.« Das konnte sich Cloud lebhaft vorstellen. Immer wieder sah
er Artas erstaunt zu, wenn dieser mit einem leichten Magnetfeld, das er vermittels Fingerbewegungen erzeugte, seinen Dunkeltropfen steuerte. Scobee hatte ihm erzählt, dass in der Zentrale der PERSPEKTIVE keinerlei Bedienungselemente zu sehen gewesen waren. »Ihr spürt also, wo ihr hin wollt?«, stocherte er nach. »So ist es. Dank ständiger Konzentration eines Teils unserer Besatzung und rituellen Übungsmeditationen fühlen wir eine Umgebung, die weit über einhundert Lichtjahre hinaus reicht. Unsere Kräfte lassen sich potenzieren, wenn wir zusammenarbeiten. Dies ermöglichte uns auch, durch den Leerraum in die Große Magellansche Wolke zu steuern.« Artas deutete auf die höckerartige Verformung seiner Stirn, als ob dort der Ursprung seines besonderen Sinnes verborgen lag. Und vielleicht war es auch so... »Warum konntet ihr dann unser Schiff, die RUBIKON, nicht anmessen, als wir euch verfolgten?«, hakte Cloud misstrauisch nach. »Schon aufgrund der Masse des Körpers hättet ihr uns spüren müssen.« »Die Tarnung durch euren Schutzschirm war ausreichend«, antwortete Artas gelassen. »Nun... Wenn ich mich genau auf das Gebiet, in dem ihr euch versteckt hieltet, konzentriert hätte, hätte ich die RUBIKON sicherlich gefunden.« Das mochte ja alles logisch erscheinen, ohne dass sich Cloud näher auf Details einlassen wollte. Für das war später noch Zeit. Doch eine Frage, eine ganz besondere, lag ihm auf der Zunge. »Wir konnten eure Raumjäger bis hierher verfolgen, und auch die Vitalanzeigen Scobees waren für mich stets vorhanden.« Cloud hatte Artas sein besonderes Verhältnis zur RUBIKON – und wie er mit Hilfe des Schiffskörpers erweiterte Sinnesorgane besaß – in wenigen Worten erklärt. »Doch als der Jäger auf der äußersten Kugelbahn der
PERSPEKTIVE landete, spürte ich einen Schockimpuls, der mit Sicherheit von ihr stammte.« Er deutete auf die GenTec. »Es hörte und fühlte sich an wie ein Todesschrei. Und danach war Scobee für mich tot.« Der Satoga saß lange Zeit da, mit einem eingefrorenen Grinsen auf seinen schmalen Lippen. Schließlich sagte er: »Es gibt dafür zwei mögliche Erklärungen: Erstens kennen wir die Sensibilität mancher Wesen gegenüber den starken magnetischen Strahlungen an Bord der PERSPEKTIVE nicht. Deswegen habe ich der Frau kurz nach der Landung auf der sechzehnten Externbahn eine so genannte Schwarzhaut aufgesetzt.« »Schwarzhaut?«, fragte Cloud nach. Ein Seitenblick auf Scobee zeigte ihm, dass sie unangenehme Erinnerungen mit diesem Begriff verband. »Eine Art Imprägnierung, eine Schutzschicht, die es ihr erleichtert, die wirkenden Magnetfelder an Bord der PERSPEKTIVE ohne körperliche Schäden davonzutragen.« Scobees todesähnliche Schreie und der Schmerz, den ich verspürt habe, konnten durchaus mit dieser Schwarzhaut in Zusammenhang stehen, dachte Cloud. Das erklärt aber noch nicht, warum plötzlich alle ihre Vitalimpulse, die ich die ganze Zeit gespürt hatte, weg waren. »Und die zweite Erklärung?«, hakte er nach. »Um das labile Gleichgewicht der verschiedenen magnetischen Strahlungen nicht durch den An- und Abflug unserer Raumjäger zu stören«, führte der Satoga aus, »lassen wir die kleinen Schiffe auf der äußersten Externbahn landen. Sobald die Kugel auf ihrer Umlaufbahn die Beiboote und Raumjäger erfasst, werden sie oder auch nur die Besatzungen durch ein stark geladenes Magnetfeld ins Innere der PERSPEKTIVE versetzt. Die dort herrschenden Bedingungen sorgen wohl dafür, dass du die Vitalimpulse Scobees nicht
mehr anmessen konntest.« Cloud dachte zurück. Die Kugel der sechzehnten Bahn war in gleichmäßigem Tempo scheinbar über die Raumjäger geglitten, hatte sich kurz silbern verfärbt, und im selben Moment war Scobee für ihn gestorben – obwohl sie nur etwas Ähnliches wie eine Transmission durchgemacht hatte! Die starke Strahlung der Zentralkugel, in der sie gelandet war, hatte die Vitalimpulse der GenTec anschließend unterdrückt. Artas' Aussagen klangen glaubwürdig, und es gab keinen Grund mehr, ihm zu misstrauen. Er hatte offen und ehrlich geantwortet. Cloud musste sich eingestehen, dass er auf den äußeren Eindruck des Satoga positiv reagierte. So merkwürdig die Fähigkeiten der Mitglieder dieses neuen Völkchens auch anmutete – Artas wirkte sympathisch. »Also gut«, sagte er schließlich mit einem Lächeln. »Ich glaube, damit wäre wohl alles geklärt. Herzlich willkommen an Bord der RUBIKON!« *** Es war dies eine ungewohnte Situation für John Cloud. Erstmals konnte er aus einer Position der Stärke heraus sprechen und verhandeln. Und wer wusste schon, wie der Satoga reagiert hätte, wenn er nicht die Energiegeschütze abgefeuert und schlussendlich sogar Torrel eingesetzt hätte! Der Einsatz der Waffen schien ihm im Nachhinein also gerechtfertigt – auch wenn er Scobee einige Kopfschmerzen bereitet hatte. In knappen Worten schilderte er Artas, wie sie in die Große Magellansche Wolke gelangt waren, ohne näher auf ihre Suche nach den geheimnisvollen Virgh einzugehen. Auch die undurchsichtige Rolle der Foronen, im speziellen Sobeks und
Siroonas, ließ er unerwähnt. »Und warum habt ihr eure Sternengalaxis verlassen?«, fragte er schließlich den Satoga. Artas zupfte an seinen wenigen dicken Haaren herum. Ein Zeichen von Nervosität? »Wir leben im Randbereich unserer Galaxis in einem eher unscheinbaren Sternensektor«, erwiderte er schließlich. »Vor knapp hundert Jahren unserer Heimatwelt brachten wir unsere manipulativen Fähigkeiten von Magnetfeldern zu ausreichender Vollendung, um das Weltall zu erobern.« Sein Grinsen veränderte sich nicht, als er weitersprach. »Unsere ersten Kontakte mit anderen Völkern verliefen... hm... nicht unbedingt erfolgreich. Die Kleine Magellansche Wolke quillt einerseits über von Völkern und Rassen, die Neuankömmlingen wie uns keinen Platz für eine friedvolle Ausbreitung geben wollen. Winzige und auch große Sternenreiche bekämpfen einander aus den seltsamsten Gründen. Sie okkupieren, intrigieren, brandschatzen und zerstören. Sie schaffen neue Grenzen, die bereits nach wenigen Tagen wieder überschritten werden.« Der Dunkeltropfen, der als Translator fungierte, konnte die Worte übersetzen. Aber die Emotionen, die Artas zweifelsohne beim Sprechen empfand, gingen verloren. »Andererseits erregten wir bei unseren wenigen Kontakten dank unserer besonderen Gabe Aufmerksamkeit«, setzte der Satoga nach kurzer Pause fort. »Es kam zu Kaperungen unserer Schiffe und versuchten Entführungen ganzer Raumschiffsbesatzungen. Man wollte uns in Frondienste zwingen und für fremde Herrscher arbeiten lassen.« »Und das ist euren Feinden bislang nicht gelungen?«, unterbrach ihn Scobee. »Ein Satoga wählt eher den Freitod, als seine Fähigkeiten in den Dienst einer schlechten Sache zu stellen«, erwiderte Artas.
»Bisher konnten wir verhindern, dass die Koordinaten unseres Heimatplaneten bekannt wurden. Doch das kann sich jederzeit ändern. Der Dunkelhaufen, in dem sich Saks befindet, unser Muttergestirn, ist nicht allzu groß. Mag es gezielte Suche sein oder auch bloßer Zufall – der Tag ist nicht mehr fern, da eine Flotte über den Köpfen der Satoga auftauchen wird, der wir nichts entgegenzusetzen haben.« »Also sucht ihr... Asyl? Hier, in der Nachbargalaxis?« Cloud war weit davon entfernt, den Bericht des Satoga anzuzweifeln. Doch wenn man in Betracht zog, dass die Kleine Magellansche Wolke trotz ihres vergleichsweise geringen Durchmessers von knapp 10.000 Lichtjahren noch immer mehr als 2 Milliarden Sonnenmassen besaß, musste es doch ausreichend Möglichkeiten zur friedlichen Ausbreitung geben. War es denn tatsächlich möglich, dass die kleinere der beiden Magellanschen Wolken von intelligentem Leben in jeglicher Form nur so barst? Während die Große Magellansche Wolke laut den Daten der RUBIKON nahezu leblos war? Sehr seltsam... »Kommen wir zurück zu euren und unseren aktuellen Beobachtungen«, sagte Cloud. »Du behauptest, ihr hättet bereits einundvierzig Sonnensysteme mit verglasten Planeten entdeckt?« Artas beugte kurz den Kopf. Ein Ja. »Sahen sie alle gleich aus? War auf Galvaur, der Welt, auf der du Scobee... gefunden hast, irgendetwas anders?« »Nein. Sie alle ähneln einander.« »Warum hast du Scobee eigentlich entführt?« Erneut spürte Cloud Misstrauen aufwallen. Solange nicht jeglicher Verdacht ausgeräumt war, würde er vorsichtig bleiben. »Natürlich dachte ich im ersten Moment, eines jener Wesen vor mir zu haben, das mit der Verglasung zu tun hat. Es erschien mir richtig, Scobee mitzunehmen und in Ruhe zu
befragen. Ich hatte zudem kaum Zeit, mir einen Plan zurecht zu legen. Alles ging so schnell. Ich musste von einem Moment zum anderen eine Entscheidung treffen. Dass ihr ebenso wie wir nur auf die Erforschung des Planeten aus wart, konnte ich doch nicht ahnen!« »Ja, ein sehr großer Zufall«, murmelte Cloud. »Fast zu groß, um wahr zu sein.« »Was war das übrigens für eine Handfeuerwaffe, die du gegen mich eingesetzt hast?«, fragte Scobee. Sie stand hinter Cloud und stieg nervös von einem Fuß auf den anderen. »Sie arbeitet auch auf Basis hochmagnetisierender Felder und zerrüttet das Nervensystem. Synapsen werden getrennt, kein zusammenhängender Gedanke kann mehr getroffen werden. Die meisten Bewusstseine reagieren auf die Beeinflussung, indem sie in eine Art Schockzustand gleiten.« Cloud nickte verstehend. »Wie lange seid ihr schon hier in diesem Gebiet?« »Seit etwas mehr als zwei Monaten.« Der Dunkeltropfen konnte dank der Hilfe der RUBIKON längst irdische Maßeinheiten in jene der Satoga umrechnen – und umgekehrt. »Und seitdem habt ihr bereits einundvierzig Glasplaneten entdeckt? Erstaunlich...« »So erstaunlich auch wieder nicht«, widersprach Artas. »Wie meinst du das?« »Es ist nicht die glasierte Oberfläche alleine, die das Mysterium um diese Planeten ausmacht«, sagte der Satoga. »Wir spüren mit unseren Sinnen auch besondere Störfaktoren. Unreinheiten in den jeweiligen Magnetfeldern, die eine Art Disharmonie schaffen.« Er setzte kurz ab und dachte nach, bevor er fortfuhr: »Du musst dir vorstellen, dass ich und meine Landsleute ein stetiges Prickeln auf Körper und Geist verspüren. Strahlen, die uns bombardieren. Wie bei einer
Dusche mit lauwarmem Wasser, das aus tausenderlei Düsen kommt. Von den Seiten, von oben und von unten. Wenn wir uns drehen, ändert sich das Prickeln, aber die – wie soll ich sagen? – die Gesamtkonzeption der Strahlen bleibt gleich. Doch wenn von den vielen tausend oder millionen Strahlen einer nachlässt, aus einem ungewohnten Winkel aufprallt oder gar verschwindet – so spüren wir das.« »Eine bemerkenswerte Leistung«, gab Cloud zu, ohne sich in Wirklichkeit etwas darunter vorstellen zu können. »Aber was hat das mit den Glasplaneten zu tun?« »Bereits während wir uns der Großen Magellanschen Wolke näherten, bemerkten wir enorm viele kleine Störfaktoren. Erst dachten wir ernsthaft, dass die Rahmenbedingungen für Schwerkraft und Magnetfelder anders als in unserer Heimatgalaxis wären. Wir glaubten gar, dass hier andere physikalische Grundgesetze gelten würden.« Er stieß ein kurzes Husten aus. Cloud interpretierte es als eine Art Lachen. »Aber nach den ersten Untersuchungen«, fuhr Artas fort, »war uns klar, dass die Glasplaneten daran schuld sein mussten! Auch wenn sie nur eine verschwindend kleine Menge inmitten der Sterneninsel mit ihren zehn Milliarden Sonnenmassen ausmachen – von ihnen geht falsche Strahlung aus. Eine Komponente, die das gesamte Gravitationsgefüge der Wolke nachhaltig irritiert.« »Eine Komponente welcher Art?« Cloud dachte nach. Sie hatten den einsamen Planeten Galvaur und seine Doppelsonne doch genau untersucht und keinerlei Unregelmäßigkeiten feststellen können. Zugegeben: Manche Auswertungen waren noch nicht gesichtet; dafür war in den letzten Tagen zu viel passiert, um das er sich vorrangig hatte kümmern müssen. Aber die RUBIKON hätte mit Sicherheit Alarm geschlagen, wenn sie etwas Aufsehen erregendes gefunden hätte. »Etwas, das sich mit... psionische Feldlinien... umschreiben
lässt«, sagte Artas. Der Dunkeltropfen hatte hörbare Schwierigkeiten, den Begriff, den der Satoga in seiner Muttersprache genannt hatte, ins Englische zu übertragen. Psionische Feldlinien... etwas, das zweifelsohne existierte, aber nur schwer nachzuweisen war. Eine Strahlenform, die nur auf ganz wenige Menschen einwirkte und bei diesen die eigenartigsten Reaktionen herbeiführte – Telepathie, Telekinese und so weiter. Cloud hatte sich niemals mit Beobachtungen in grenzwissenschaftlichen Bereichen auseinander gesetzt. Eine Scheu – um nicht zu sagen eine Abscheu – hatte ihn daran gehindert, gewisse Grenzen in seinem Denken zu überschreiten. So sehr er sich auch als aufgeklärter Mensch dagegen wehrte – er war nun mal nicht frei von Vorurteilen. Unauffällig schaltete er ein Akustikfeld zu und befahl der RUBIKON leise, ihm so rasch wie möglich Auswertungen über psionische Beobachtungen in der Nähe Galvaurs zu liefern. Das Schiff meldete sich. Eine Stimme, nur für ihn hörbar, flüsterte ihm ins linke Ohr: »Die Auswertung psionischer Feldlinien ist mir nur indirekt möglich. Ich besitze kaum Informationen darüber, beziehungsweise es scheinen Datenblöcke blockiert zu sein.« »Von wem, verdammt noch mal?«, entfuhr es Cloud. Er achtete nicht auf die Blicke, die ihm die Anwesenden zuwarfen. Sie konnten die Stimme der RUBIKON natürlich nicht hören. »Vermutlich von den Hohen Sieben«, sagte die RUBIKON. »Meine Erbauer ließen sich in manchen Dingen nur ungern in die Karten sehen.« Immer wieder begegnete Cloud den Anzeichen höchstgradiger Paranoia, wenn es um die Foronen ging. Mit
krankhafter Verbissenheit tarnten und täuschten sie, gequält von der Vorstellung, die Virgh wären ihnen noch immer auf den Fersen. Er versuchte, Verständnis dafür zu zeigen, denn das Wenige, das er bislang über den Feind der Foronen erfahren hatte, reichte, um ihre Angst zu begreifen. Andererseits stieß Cloud immer wieder an Grenzen, wenn es darum ging, das Wissen der RUBIKON anzuzapfen. Wissen, das ihm, wie in diesem Falle, mehr als dienlich sein konnte. Er verbiss sich einen zweiten, heftigeren Gefühlsausbruch und sagte leise zur RUBIKON: »Also gut. Du weißt, dass du nichts weißt. Das ist immerhin etwas. Kannst du indirekte Schlüsse ziehen, ähnlich wie Artas, der spürt, dass Magnetfeldlinien und Gravitationsstörungen vorliegen?« War da ein Zögern in der Frauenstimme der KI? »Ich hatte es bislang in den Graubereich möglicher Messungenauigkeiten verschoben«, sagte sie, »aber es stimmt. Es gibt geringfügige gravitationale Unregelmäßigkeiten. Abweichungen im Zentimeterbereich in der Umlaufbahn Galvaurs, ein leichtes Pendelmoment um die eigene Achse oder auch...« »Genug!«, forderte Cloud. »Kannst du mit dem vorhandenen Zahlenmaterial Vergleiche mit dem hiesigen Planetensystem anstellen? Ob dieselben Unregelmäßigkeiten anzumessen sind? Damit wir in Zukunft eine Matrize erhalten, anhand derer wir sagen können, wo die Virgh schon überall waren?« Er überlegte kurz. »Und eventuell sogar, wohin sie sich zurückgezogen haben?« »Die Abweichungen sind wirklich kaum zu erkennen«, entgegnete die RUBIKON. »Mach, was auch immer du kannst. Jedes bisschen an Information kann uns weiterhelfen. Ich hab's satt, vor dieser unsichtbaren und doch so präsenten Bedrohung wegzulaufen. An jeder Ecke vermuten wir virgh'sche Tätigkeiten, obwohl wir keinen Beweis haben, dass sie noch immer in der Großen
Magellanschen Wolke wirken. Wahrscheinlich sind sie schon vor Ewigkeiten weitergezogen – oder ausgestorben...« Er konzentrierte sich wieder auf den Satoga, der das Zwiegespräch zwischen ihm und dem Schiff scheinbar gelangweilt verfolgt hatte. »Warum habt ihr mit der PERSPEKTIVE gerade hier Position bezogen?«, fragte Cloud und folgte damit seiner Intuition. »Gibt es einen besonderen Grund dafür?« Der Satoga beugte sich nach vorne. Muskeln spannten sich unter dem silbernen, breit geschnittenen Schutzanzug, den er am Oberkörper trug. »So ist es«, bestätigte Artas. »Wir hatten ein Problem.« »Ein Problem welcher Art?«, fragte Cloud nach. Dem Satoga war es offensichtlich unangenehm, darüber zu sprechen. »Wir wurden vor mehreren Tagen aus dem Ortungsschatten der Sonne heraus angegriffen«, sagte er schließlich leise. »Von einem raumschiffähnlichen Relikt. Klein, aber wendig. Es zögerte keinen Moment und attackierte uns ohne Vorwarnung.« Cloud musste nicht hinschauen, um zu wissen, dass Sobek naher trat. Er mochte das arrogante Wesen nicht unbedingt in seiner Nähe haben. Doch in diesem Fall war es wohl das gute Recht des Foronen, Bescheid zu wissen. »Du hast Bilder oder Daten dieses Reliktes? Zeig sie mir!«, befahl er in jener grenzenlos überheblichen Art, die seinem Volk zu eigen war. Artas' Grinsen verschwand, bis es nur noch die Karikatur eines Lächelns war. »Bitte«, sagte Cloud, und entschärfte damit die Situation. Mit einer beiläufigen Geste seiner rechten Hand aktivierte der Satoga eine neue Funktion des Dunkeltropfens. Ein Hologramm entstand zwischen ihnen. Es zeigte einen schwarzen und kaum gegen den Hintergrund des Weltalls zu
erkennenden abgeflachten Kegel. Seine Spitze war abgerundet und glänzte matt im indirekten Licht einer nahestehenden Sonne. »Ein Viranha!«, entfuhr es Sobek. Der Forone tat erschrocken einen Schritt zurück. Siroona stieß einen unartikulierten Laut aus. Die dünne Membran, die sich dort befand, wo bei Menschen der Mund saß, raschelte trocken. »Ein was?«, fragte Cloud alarmiert. »Ein Viranha«, wiederholte der Forone. Nur mit Mühe wahrte er das Gleichgewicht. War es körperliche Schwäche oder der bloße Anblick des Dings, das ihn derart verstört reagieren ließ? »Dies ist die Spitze eines virghschen SuperDreizacks. Ein ultrakompaktes Waffensystem, das sich bei Bedarf vom Mutterschiff löst und selbstständig agieren kann. Nur darauf aus, zu zerstören.« Die RUBIKON schuf auf Clouds Befehl mit Hilfe von Kraftfeldern einen Sessel. Sobek ließ sich schwer darauf fallen. »Wo ist es jetzt?«, fragte er nach geraumer Zeit. »Wir haben es zu einem Klumpen Metall geschossen«, antwortete Artas, und ein neues virtuelles Bild bildete sich. Tatsächlich. Dieser unförmige Körper besaß kaum noch Ähnlichkeit mit dem ursprünglichen Kegel. Cloud konnte sich nicht helfen: Selbst in dieser klein gehaltenen dreidimensionalen Abbildung strahlte das Wrack eine latente Bösartigkeit aus. »Ihr könnt von Glück sagen, dass der Viranha einer älteren Baureihe entstammte und mit Sicherheit nicht mehr zuverlässig funktionierte«, sagte Sobek. Langsam fand er seine Fassung zurück. »Wie kommst du da drauf?«, fragte Artas. »Weil es euch sonst nicht mehr gäbe«, erwiderte der Forone
trocken. »Ein voll einsatzfähiger Viranha hätte lächerliches Atommodell wie ein Insekt zerquetscht.«
euer
*** Auch wenn Cloud die übliche Selbstherrlichkeit in Sobeks Worten möglichst unberücksichtigt ließ – es war schlicht und einfach erschreckend, wie hoch der Forone den alten Gegner einschätzte. Und wie sehr er ihn fürchtete. »Wo befindet sich das Wrack?«, fragte Cloud Artas. »Habt ihr es euch näher angesehen?« »Dazu blieb weder Zeit noch Gelegenheit«, erwiderte der Satoga. »Wir konsolidierten die PERSPEKTIVE gerade in einem Orbit um diesen Glasplaneten...« »Nenne den Planeten gefälligst bei seinem Namen!«, forderte Sobek zornig. »Er hieß Zentalo und einst lebten hier mehr als vier Milliarden Foronen, bevor die Virgh kamen und sie alle erbarmungslos abschlachteten!« »Zentalo, meinetwegen«, wiederholte Artas ruhig. Er ließ sich von Sobeks Auftreten nicht beeindrucken. »Wir schwenkten also in den Orbit ein, als wir ohne Vorwarnung beschossen wurden. Strahlen in allen Farben des Spektrums badeten die PERSPEKTIVE und erzeugten ein unregelmäßiges Energiemuster, das unsere Defensivbewaffnung an den Rand der Belastungsgrenzen brachte. Wir – das heißt: mein Stellvertreter, zwei Magnetmeister und ich – fanden uns so rasch wie möglich zu einer Einheit zusammen...« »Magnetmeister?«, mischte sich Scobee in die Diskussion ein. »Trainierte Satoga mit besonders sensibilisiertem Gefühl für Magnetfeldlinien«, erklärte Artas kurz, um dann fortzufahren: »Binnen weniger Augenblicke konnten wir mit unseren Sinnen
den Aufenthaltsort des Angreifers nahe der Sonnenkorona ermitteln und mit einem gezielten Schuss zerstören.« »Mit einem Schuss?«, fragte Sobek ungläubig. »Unmöglich!« »Und doch ist es wahr«, erwiderte der Satoga gelassen. »Der Schutzschirm des Viranha brach zu unserer Überraschung augenblicklich zusammen. Wir zerschmolzen den Körper zu jenem unförmigen Klumpen, den ihr im Hologramm sehen könnt.« »Habt ihr nach überlebenden Feinden gesucht?«, hakte Cloud nach. Er vermied es noch, von Virgh zu sprechen. »Viranhas sind Einheiten mit autonomen Künstlichen Intelligenzen, die ausschließlich auf Vernichtung ausgerichtet sind«, warf Sobek ein. »Es war niemals Personal mit an Bord. Es wäre nicht einmal Platz dafür.« Artas fuhr ungeachtet der Worte des Foronen fort: »Wir haben uns nicht allzu viele Gedanken darüber gemacht, als wir das Gegenfeuer eröffneten. Es war uns, um ehrlich zu sein, auch herzlich egal, ob und wen wir töten würden. Dazu geschah alles viel zu schnell. Wir oder sie – das waren die Alternativen.« »Was ist mit dem Wrack geschehen?« Sobek spielte sich immer mehr in den Mittelpunkt der Unterhaltung. So erregt hatte ihn Cloud noch selten gesehen.Vielleicht lag es daran, dass die Virgh offenbar immer noch aktiv waren. »Unsere Xenokybernetiker sollten sich eigentlich darum kümmern; doch unsere Forschungstätigkeit in dieser Galaxis ist vorrangig. Vorerst haben wir es geborgen und in einem isolierten Schiffsteil der PERSPEKTIVE eingelagert.« »Ihr habt was?« Sobek schien fassungslos. »Ihr habt eines der tödlichsten Instrumente eines erbarmungslosen Gegners einfach zu euch an Bord geholt? Ihr Wahnsinnigen!« Der Forone redete sich immer mehr in Rage. »Ihr hättet den
Viranha zerstören sollen; bestrahlen, bis nicht einmal mehr ein Molekül davon übrig geblieben ist!« »Beruhige dich, Sobek!«, meldete sich Cloud zu Wort. »Ich bin mir sicher, dass Artas die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen getroffen hat...« »Mit den Möglichkeiten dieser winzigen Blechdose? Pah! Hör mir zu, John Cloud, und auch du, Artas: Das Instrumentarium an Bord eines Viranhas besteht nicht nur aus Offensivwaffen wie Strahlenkanonen, transmittierenden Bomben oder einem Arsenal, das in der Lage ist, unkontrollierte Zeitverschiebungen herbeizuführen. Da drinnen wimmelt es von heimtückischen Computerviren, NanobotKolonien und bakteriologischen Kampfstoffen, die sogar gegen das absolute Vakuum resistent sind. Ein Moment der Unsicherheit, ein bloßes Atemholen – und dieses Schiff, das sich PERSPEKTIVE nennt, kann auf HOFFNUNGSLOSIGKEIT umgetauft werden. Die Virgh machen keinen Halt vor einzelnen Schiffen. Sie werden alle Informationen aus euch rausquetschen, verfolgen, woher ihr gekommen seid und euer heimatliches System in einer Wolke aus Schutt und Asche versinken lassen...« »Sobek, es reicht!« Heftig unterbrach Cloud den Foronen. »Du wirst dich ab sofort zurückhalten!« »Wage es nicht, Mensch!« Da war sie wieder. Die Stimme, so beherrschend und befehlsgewohnt, dass Cloud den Drang verspürte, sich unterzuordnen. Doch von Mal zu Mal fiel es ihm leichter, ihr zu widerstehen. »Ich befehle es dir!«, sagte er kalt. Das Duell des Willens, für einen Außenstehenden kaum nachzuvollziehen, endete rasch. Die Widerstandskraft des Foronen hatte in den letzten Tagen nachgelassen. Nur hin und wieder, in emotionalen Momenten wie diesen, fand Sobek in
seine alte Rolle als Kommandant der RUBIKON zurück. Schließlich trat der Forone wortlos einen Schritt zurück. Cloud hatte einen weiteren kleinen Sieg eingefahren. »So, und damit zurück zum Viranha.« Er atmete erleichtert aus und blickte erneut zu Artas, der der kleinen Auseinandersetzung regungslos gefolgt war. »Auch wenn ich nicht immer Sobeks Meinung bin: Wir sollten ihm glauben, wenn es um ein Relikt dieser Virgh geht. Ich würde dir dringend empfehlen, das Wrack schleunigst auszuschleusen oder zumindest alle Sicherheitsmaßnahmen nochmals zu verstärken.« Artas wirkte nachdenklich. Die Streitigkeiten hier an Bord der RUBIKON schienen ihn zu verwirren. Cloud fluchte still in sich hinein. Nur zu gerne hätte er den Eindruck von Einigkeit und Stärke nach außen hin vertreten, doch Sobek hatte ihm einmal mehr einen Strich durch die Rechnung gemacht. »Mag sein, dass wir etwas unvorsichtig waren«, gab der Satoga schließlich zu. »In den letzten Tagen und Stunden ist einfach zu viel passiert. Der Gegner war erledigt, das genügte uns. Wir wollten die Erforschung des Sternensektors so rasch wie möglich vorantreiben. Herausfinden, warum so viele Planeten in diesem verglasten Zustand sind. Die Herkunft der psionischen Unregelmäßigkeiten bestimmen...« »Du musst dich vor mir nicht rechtfertigen«, unterbrach ihn Cloud. »Aber ist es euch denn nicht in den Sinn gekommen, dass der Viranha mit alldem in Verbindung stehen könnte?«, »Wie bereits gesagt: Wir mussten Prioritäten setzen. All unsere Kapazitäten galten der Erstellung eines Sternenkatalogs und der Sichtung der Glasplaneten. Aber nachdem ihr jemanden an Bord habt,« er deutete in einer durchaus menschlichen Geste auf Sobek und Siroona, »der sich mit der Technik dieser Virgh auskennt, möchte ich vorschlagen, dass
wir uns gemeinsam dem Wrack widmen.« »Das Angebot und euer Vertrauen ehrten uns, Artas. Wir möchten gern mit euch zusammenarbeiten.« Doch noch bevor die genauen Details über eine Kooperation festgelegt werden konnten, gellte ein Alarm durch die RUBIKON. Der Satoga stand ruckartig auf, verlor die lindgrüne Farbe in seinem Gesicht und fiel mit verdrehten Augen nieder. Der Dunkeltropfen zerschellte auf dem Boden in tausend Stücke. *** »Statusbericht!«, befahl Cloud. Scobee und Jelto waren mittlerweile zum bewusstlosen Artas geeilt und legten ihn auf die Seite. War dies überhaupt richtig? War der Metabolismus dieses Fremdwesens ähnlich wie der ihre? »Ein Angriff«, berichtete die RUBIKON. »Allerdings nicht auf uns, sondern auf die PERSPEKTIVE. Ich habe einen Hilferuf der KI des Atommodells aufgefangen. Alle Besatzungsmitglieder des Satoga-Schiffes sind ausgefallen, und das Schiff wollte über mich Anweisungen von Artas einholen.« »Ein Angriff welcher Art?«, hakte Cloud ungeduldig nach. Manchmal neigte die RUBIKON zu übermäßiger Geschwätzigkeit. »Von innen? Vom Virgh-Relikt, wie es Sobek prophezeit hat?« »Allem Anschein nach nicht. Ich kann eine undefinierbare magnetische Wirkung feststellen, die aus der Sonnenkorona kommt und auf die PERSPEKTIVE zielt.« »Was für eine Sogwirkung? Ein bisschen präziser, bitte!« »Es handelt sich um eine gewaltsame Umkehrung der
Magnetfeldlinien«, sagte die RUBIKON. »Eine was?« »Das Magnetfeld der Sonne Pint ist starken Unregelmäßigkeiten ausgesetzt. Durch heftige Rotationen der Wasserstoff- und Heliumgase in der Korona erfolgt eine Umkehrung des Sonnenmagnetfeldes. Im jetzigen Fall kam es allerdings zu einer gezielten Beeinflussung und einer überfallartigen Umkehrung der Pole. Der Nordpol wird zum Südpol, und umgekehrt. Der Wechsel findet alle 2,73 Sekunden statt.« Cloud war den Ausführungen des Schiffes konzentriert gefolgt. »Magnetfeldlinien...«, murmelte er. »Kein Wunder, dass unsere neuen Freunde sofort umgekippt sind. Diese Umkehrung in allernächster Nähe muss für ihre empfindlichen Sinne wie ein Schock gewirkt haben.« »Was passiert mit der PERSPEKTIVE?«, mischte sich Scobee in das Zwiegespräch ein. »Warum ist sie einer Sogwirkung ausgesetzt?« »Sie wird von Pints geändertem Magnetfeldsystem angezogen und kann sich nicht dagegen wehren, wie sie es eigentlich sollte. Die Satoga-Besatzung wäre auf natürlich ablaufende Effekte dieser Art sicherlich vorbereitet. Sie würde dementsprechend die Magnetfelder im Schiff umpolen. Aber im jetzigen Fall kam die Änderung zu plötzlich. Jede Gegenbewegung wird zudem von einer überrangigen Befehlskette verhindert, die im Inneren der PERSPEKTIVE entsteht.« »Ich gebe es nur ungern zu«, knurrte Cloud, »aber Sobek dürfte Recht gehabt haben. Mit diesem zusammengeschossenen Relikt der Virgh haben sich die Satoga die Büchse der Pandora an Bord geholt.« »Du meinst...« »Natürlich! Die ›überrangige Befehlskette‹ stammt
bestimmt aus dem Virgh-Wrack. Überleg doch die Raffinesse des Planes: Magnetismus wirkt wie nichts anderes auf den Metabolismus der Satoga! Gleichzeitig ist er eine Kraft, der die PERSPEKTIVE selbstständig nicht viel entgegenzusetzen hat, weil sie selbst bis ins kleinste Detail darauf ausgerichtet ist. Was auch immer sich an Bord des Virgh-Wracks befindet, egal ob Maschine oder Wesen, es hat die Schwächen der Satoga analysiert und kompromisslos gegen diese eingesetzt.« »Aber es muss eine Hilfestellung von außerhalb gegeben haben!« »Da hast du Recht, Scob. Es muss eine Schaltstelle existieren – vielleicht eine Station wie im Sonnenhof –, die das bewirkt hat... Doch das ist momentan zweitrangig. Der Prozess ist bereits am Laufen. Wir müssen in erster Linie das SatogaSchiff und seine Besatzung vor dem Untergang bewahren.« »Und wie willst du das anstellen? Die KI der PERSPEKTIVE wird kaum auf dich hören.« »Können wir das Schiff nicht mit einer Art Zugstrahl einfangen und aus der Gefahrenzone befördern?«, fragte Jarvis. »Die PERSPEKTIVE verweigert die Zusammenarbeit und droht mit Sprengung ihres Körpers«, warf die RUBIKON ein. »Nun... wie es der Zufall so will«, sagte Cloud gedehnt, »haben wir den Kommandanten des Schiffes bei uns an Bord. Und den wird die KI hoffentlich nicht ignorieren. Egal, welche Überrangbefehle künstlich eingespeist wurden.« »Leider ist er bewusstlos«, wandte die GenTec ein. »Und wir haben keine Ahnung, wie wir das ändern können.« »Da wäre ich mir nicht so sicher, Scob. Wie wäre es, wenn wir uns ausreichend weit genug entfernen, sodass dieser Magnetschock der Sonne für Artas nicht mehr spürbar ist?« »Das wäre eine Möglichkeit«, erwiderte Scobee nachdenklich. »Ich muss widersprechen«, meldete sich erneut die KI der
RUBIKON zu Wort. »Die PERSPEKTIVE befindet sich bereits zu nahe an Pint. Koronale Loops, also brückenartige Gebilde längs von Magnetfeldbögen, die nach außen hin abheben, sorgen für ein energetisches Chaos und stören die Kommunikation jeglicher Form empfindlich. Eine Kontaktaufnahme ist nur über geringe Distanzen möglich.« »Geschenkt«, sagte Cloud. »Wir müssten also vor Ort bleiben, um eine Funkverbindung zur PERSPEKTIVE aufrechtzuerhalten.« »Negativ. Im selben Maße, wie sich das Schiff der Sonne nähert, müssen wir nachrücken.« Sie benötigten unbedingt Artas' Hilfe, um sein Schiff zu retten. Ein einziger, simpler Befehl aus dem Mund des Satoga reichte möglicherweise. Doch je mehr sie sich der Sonne und seinem pervertierten Magnetfeld näherten, desto geringer waren die Chancen, dass dieser aus seiner Bewusstlosigkeit erwachen würde. Denk nach, Cloud, denk nach... Wie wäre es denn, wenn Artas' besondere Sinne glauben, dass alles wieder in Ordnung sei? Wenn wir eine Illusion schaffen? Grübelnd fragte er die RUBIKON: »Wie lange wird es dauern, bis das SATOGA-Schiff in der Sonne verglüht?« »Ungefähr sechzig Minuten, wie meine Analyse ihrer Schutzschirme zeigt.« »Und wie viel Zeit benötigst du, um in einem Raum ein Magnet- und Gravitationsfeld aufzubauen, das das Universum rings um uns imitiert? Und zwar so, dass Artas' empfindliche Sinne meinen, der Normalzustand wäre wiederhergestellt?« War die RUBIKON tatsächlich so verblüfft, dass sie mehr als zehn Sekunden lang nicht zu antworten vermochte? »Binnen hundert Minuten kann ich die Messungen abschließen und eine Simulation erzeugen.« »Das ist zu lang. Wir werden uns mit einer Teillösung
zufrieden geben müssen. Mach dich an die Arbeit!«, sagte Cloud grimmig. »Wir haben keine Sekunde zu verlieren.« *** Sie befanden sich in einem abgedunkelten Raum. Ein vorgetäuschter Sternenhimmel umgab sie, so real, dass Cloud glaubte, tatsächlich im Leerraum zu schweben. Kälte kroch in seine Glieder, und er hatte das Gefühl, hinab in die Endlosigkeit zu fallen. »Teufel auch«, fluchte er, und wischte sich Schweißtropfen von der Stirn. Jarvis stand oder schwebte neben ihm und hielt Artas wie eine Puppe in den Armen. »Es ist eine bloße Illusion, John«, sagte der Amorphe beruhigend. »Das weiß ich auch«, war die Antwort, »aber erzähle das mal meinem Körper.« Cloud schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Boden, den er unter seinen Füßen spürte. Allmählich ließ die Täuschung nach. »Wie lange noch für die PERSPEKTIVE?«, fragte er laut. »Noch sechs Minuten«, antwortete die RUBIKON. »Die Zeit läuft uns davon. Alle Berechnungen abbrechen. Aktiviere jetzt die Magnetfeld-Illusion.« »Ich habe die Simulation erst zu siebzig Prozent abgeschlossen«, wandte das Schiff ein. »Es hilft nichts«, sagte Cloud. »Es muss einfach funktionieren. Und zwar jetzt.« Aus einem Grund, den er selbst nicht nachvollziehen konnte, fühlte er sich verantwortlich für Artas' Schicksal und das seiner Besatzung. Cloud wusste, dass er das Richtige tat. Sobald das innere Gleichgewicht des Satoga wiederhergestellt war, würde er aus
seinem Schockzustand erwachen und die PERSPEKTIVE ihm gehorchen. Hoffentlich... Denn alle anderen Versuche, Artas wieder zu Bewusstsein zu bringen, waren fehlgeschlagen. Ein Cocktail aus Stärkungsmitteln, den Proto-Maschinen anhand seines Blutbildes und hastig vorgenommener ganzheitlicher Untersuchungen bestimmt hatten, hatte keine Wirkung gezeigt. Auch der Versuch, Artas in einen Schwebezustand zu versetzen und jegliche magnetische Einstrahlung im Raum um ihn zu neutralisieren, war nicht gelungen. Dieses absolute Gefühlsvakuum hatte den Satoga nur noch mehr in Unruhe versetzt. Wie ein Wilder hatte er trotz seiner Bewusstlosigkeit um sich geschlagen. Der Herzschlag hatte sich beschleunigt, der an sich stabile Kreislauf war an den Rand eines Kollapses gelangt, bis sie die magnetfeldlose Zone wieder ausgeschaltet hatten. Es blieb nur noch der Ausweg, die gesamte Große Magellansche Wolke in all ihren komplexen Verhältnissen zueinander in einer der riesigen Hallen der RUBIKON nachzustellen. Eine gewaltige, eigentlich kaum zu bewältigende Aufgabe, selbst für die KI des Schiffes. Zumal der Zeitfaktor eine bedeutende Rolle spielte. »Gravitationsfreie Zone wird jetzt geschaffen«, sagte die KI. Übergangslos herrschte Schwerelosigkeit. Cloud stieß sich leicht ab, öffnete die Augen und gab sich ganz dem Gefühl des Schwebens hin. Jarvis, der mit ihm der Decke entgegentrieb, ließ Artas los. Aus der Kehle des Satoga drangen abgehackte, urtümliche Laute. Gleichzeitig schlug er wie wild umher, sodass er sich in der Schwerelosigkeit in eine unkoordinierte Drehbewegung versetzte. Cloud musterte kurz die virtuelle Sternenlandschaft mit all ihren Wundern. Gaswolken, das Nichts eines Schwarzen
Loches, der langgezogene Streifen der Milchstraße sowie Sonnen jeglicher Couleur – sie alle wirkten lebensecht. Irgendwo hier mussten sich Wände, der Boden und die Decke befinden. Aber die Simulation war einfach zu perfekt. »Künstlich erzeugte Magnetfeldlinien werden zugeschaltet«, sagte die RUBIKON. Cloud spürte keine Änderung. Wie auch? Lediglich die Sinne dieses merkwürdigen, so menschenähnlichen Lebewesens fühlten die Bestrahlung. Artas wurde in ein dicht gewebtes, unsichtbares Spinnennetz eingewoben. Ein Spinnennetz, das er kannte, das ihm vertraut war. Das für ihn Normalität darstellte, und nicht von den Feldlinien einer pervertierten Quelle, der Sonne Pint, überlagert wurde. Der Satoga schrie auf. »Falsch, alles falsch«, brüllte er in seiner gutturalen Sprache. Die RUBIKON übersetzte. »Es schmerzt, es tut so weh!« »Beruhige dich!«, sagte Cloud und gab dem Schiff Anweisung, den sich überschlagenden Körper Artas' näher an ihn heran zu bringen. »Es ist alles in Ordnung.« Die Augen des Fremden flackerten. Die schwarze Iris vergrößerte und verkleinerte sich stetig. Es schien, als ob der Satoga seine Sicht nicht richtig fokussieren konnte. »Verstehst du mich?« Cloud packte Artas an den muskulösen Oberarmen. »Kannst du mich sehen? Konzentriere dich auf mich, hör auf meine Stimme...« Die Krämpfe, die den Satoga beutelten, ließen allmählich nach. Dennoch blieb ein unruhiges Zittern, das sich auf Clouds Hände übertrug. »Ich... verstehe dich«, sagte Artas. »Aber ich habe
Schmerzen. Ich weiß nicht, wo ich bin. Dieser Ort ist falsch. Grundfalsch. Hier passt einfach nichts zusammen.« »Ganz ruhig, mein Freund, ich kann dir das erklären...« »Noch drei Minuten«, mischte sich die RUBIKON ein. Verdammt, es wurde höllisch eng! »Hör mir jetzt gut zu und stelle ja keine Fragen. Dazu ist die Zeit zu knapp. Wenn dir etwas am Leben deiner Leute liegt, und auch an deinem Schiff, musst du die Schmerzen ignorieren. ..« Mit wenigen Worten erklärte Cloud die Situation. Der Satoga hörte mit zitternden Gliedern zu. »... deswegen schufen wir dieses behelfsmäßiges Netz aus Gravitations- und Magnetfeldlinien, um dich wieder zu Bewusstsein zu bringen«, endete Cloud. »Du musst der KI der PERSPEKTIVE befehlen, den Kurs zu ändern, und so den Sturz in die Sonne verhindern!« »Schaff mir eine Schaltung... zu meinem Schiff!«, ächzte Artas. »Schon geschehen«, antwortete die RUBIKON an Clouds Stelle. »Du kannst sprechen. Eine Minute und zehn Sekunden...« Der Satoga sammelte sich und redete schließlich mit bemüht fester Stimme über ein Akustikfeld mit der PERSPEKTIVE. »Er gibt sich als Kommandant zu erkennen und befiehlt seinem Schiff, umzukehren«, übersetzte die RUBIKON. »Die KI bestätigt und erkennt den Status des Schiffskapitäns an. Sie gehorcht... nein, sie widerruft und gibt an, einem überrangigen Befehl folgen zu müssen.« Cloud fluchte. »Noch dreißig Sekunden«, sagte die RUBIKON ungerührt. »Artas versucht, mündlich mehrere Notfallprogramme zu aktivieren. Codewort eins... von der PERSPEKTIVE abgelehnt. Codewort zwei... ebenfalls abgelehnt. Fünfzehn
Sekunden.« Artas brüllte inzwischen. »Codewort drei...«, erklärte die RUBIKON unbeteiligt, »akzeptiert!« »Ja!« Cloud ballte eine Faust und schrie seine Erleichterung hinaus. »Artas befiehlt der PERSPEKTIVE, den Kurs zu ändern«, berichtete die RUBIKON weiter. »Das Schiff gehorcht und zieht in flachem Winkel aus der Korona der Sonne nach oben. Ich messe ausreichende Beschleunigungswerte an.« »Geschafft!«, jubelte Cloud. »Du hast es geschafft, Artas!« Doch die Worte kamen nicht mehr an. Die Anstrengung und der Schmerz waren für den Satoga zu groß gewesen. Er war erneut in Bewusstlosigkeit gefallen... *** Cloud und Jarvis ließen sich durch einen Zugstrahl aus der Simulation leiten. Die RUBIKON folgte mittlerweile der PERSPEKTIVE, die aus Pints Anziehungsbereich flüchtete. Jede Sekunde, ja, jeder zurückgelegte Kilometer, den sie sich aus dem Sonnensystem entfernten, verschaffte der SatogaBesatzung Linderung. Die RUBIKON verwendete weiterhin einen Großteil ihrer Kapazitäten, um das künstlich erzeugte Magnetfeld weiter zu verbessern und an Artas' gewohnte Bedingungen anzupassen. In wenigen Minuten würden sie den Satoga erneut wecken können. Diesmal in einer Umgebung, die ihm keinerlei Schmerzen mehr bereiten würde. Die Situation war entspannt, die PERSPEKTIVE samt ihrer Besatzung gerettet. Doch das Problem war noch nicht beseitigt. Einerseits befand sich auf dem Satoga-Schiff mit dem
Wrack der Virgh eine heimtückische Bombe, die jederzeit hochgehen konnte. Wer wusste schon, was noch für Gefahren von dem Ding ausgingen? Hier, in diesem Sternenbereich, so spürte Cloud, waren wichtige Hinweise zu finden. Gefahren, die vor Jahrzehntausenden mit Beginn der Schreckensherrschaft der Virgh geschaffen worden waren und ihre düsteren Schatten bis in die Gegenwart warfen, würden in diesem Sonnensystem möglicherweise beseitigt werden können. Es galt, das Virgh-Relikt in einer gefahrlosen Umgebung gründlich zu erforschen. Doch ihr primäres Ziel war selbstverständlich die Suche nach der Schaltstelle, von der aus die Überreizung des Magnetfeldsystems der Sonne Pint ihren Ausgang genommen hatte. Die RUBIKON war zu der Ansicht gelangt, dass sich diese auf dem verglasten Planeten befand. Auf Zentalo. Jarvis und Cloud betraten die Schiffszentrale. Scobee war als Einzige anwesend, was dem Kommandant durchaus angenehm war. Ihm war nicht danach, Jelto; Aylea und Boreguir lang und breit zu berichten, wie es ihnen gelungen war, das Satoga-Schiff aus dem Gefahrenbereich zu bergen. Für das musste später Zeit sein. »Ich möchte ein Kommandounternehmen auf Zentalo absetzen«, sagte er statt einer Begrüßung. »Seid ihr damit einverstanden, dass ich euch beide erneut losschicke?« Scobee und Jarvis blickten sich an. »Wenn Scobee verspricht, diesmal auf Solo-Touren zu verzichten – gerne«, sagte er. Die GenTec nickte knapp. Sie hatte ihren Fehler längst eingesehen und wusste selbst nicht, welcher Teufel sie da geritten hatte. »Du kommst nicht mit?«, fragte sie. »Nein, er kommt nicht mit«, erwiderte die KI der
RUBIKON ungefragt. Einerseits war Cloud unumschränkter Kommandant der RUBIKON. Andererseits war er ihr Gefangener. Das Schiff würde ihn, solange er der einzige Befehlsberechtigte war, keinerlei Risiko außerhalb ihres Einflussbereiches aussetzen. *** Wenige Minuten später erreichte ein geschwächter, aber sich sichtlich besser fühlender Artas die Zentrale. Die Entfernung zum Stern Pint war mittlerweile ausreichend groß, das entartete Magnetfeld wohl nur noch ein kleiner Störfaktor in seiner Gefühlswelt. »Wie geht es dir?«, fragte Cloud den Satoga. »Besser«, antwortete dieser. »Ich muss euch... danken«, sagte der Angesprochene. Die RUBIKON übersetzte wiederum. »Ich werde das nicht vergessen, und ich stehe zutiefst in eurer Schuld. Aber für mich wird es nun Zeit, mich um meine Besatzung zu kümmern.« »Das ist selbstverständlich. Laut Auskunft der PERSPEKTIVE geht es deinen Leuten den Umständen entsprechend gut. Sie werden nach und nach aus ihrer Bewusstlosigkeit erwachen.« Beide Schiffe waren synchron zueinander im Leerraum zur Ruhe gekommen, zehn Lichtminuten vom Pint-System entfernt. »Was spürst du?«, fragte Scobee neugierig. »Ist das falsche Magnetfeld über diese Distanz nach wie vor präsent?« Artas bejahte. »Es ist, als ob sich eine Speerspitze in meine Brust bohrte. Ein erträglicher, aber nichtsdestotrotz unangenehmer Schmerz.« Unvermittelt fragte er: »Wo ist mein Dunkeltropfen?« »Zerstört«, antwortete Cloud.
»Das ist bedauerlich«, sagte der Satoga und zog ein verdrießliches Gesicht. »Könnt ihr mir einen Transport zur PERSPEKTIVE bereitstellen?« »Du kannst eine unserer Transportkugeln verwenden. Jarvis wird dir den Weg dorthin zeigen.« »Danke.« Artas drehte sich um und wollte den Raum verlassen, blickte aber dann doch noch einmal zurück. »Bleibt es dabei, dass wir bei der Untersuchung des Virgh-Reliktes zusammenarbeiten?« »Selbstverständlich«, antwortete Cloud. »Aber zuerst möchten wir Zentalo, den verglasten Planeten, gründlich erforschen. Die Schaltstation, die euch solche Probleme bereitet hat, muss dort zu finden sein. Es ist bedauerlich, dass du und deine Leute uns bei unserer Suche nicht behilflich sein können.« »Ja, das ist es«, erwiderte der Satoga und verließ in Jarvis' Begleitung die Zentrale... 4. Es ist ein langsames, stetiges Wachsen. Mein Geist, von Beginn an hellwach, ist dem Körper weit voraus. Ich muss mich in Geduld üben, auch wenn es mir schwerfällt. Ich weiß, dass meine Zeit kommen wird. Ich giere danach, Leben zu nehmen. Die erneute Annäherung an Zentalo gestaltete sich problemlos. Erste, oberflächliche Messungen ergaben Umweltbedingungen, die Menschen durchaus zuträglich waren. Eine etwas erhöhte Schwerkraft und ein Stickstoffanteil, der nach mehreren Tagen leichte Kopfschmerzen bereiten würde, waren die einzigen Kriterien, die es für Scobee zu verinnerlichen gab. Und eine absolute
Trockenheit, die das Benutzen eines Schutzanzugs ratsam machte. Sie trug auch diesmal ihren dunkelroten Overall und hielt den Helm geschlossen, als sie gemeinsam mit Jarvis die Transportkugel verließ und die Oberfläche Zentalos betrat. Das Licht der Sonne Pint war hell und verursachte einen merkwürdigen Blaustich auf der eintönigen, flachen Landschaft, in der sie standen. Am Gestirn selbst war nichts Außergewöhnliches zu erkennen, das auf die Probleme hindeutete, die es bei den Satoga bewirkte. »Alles wie gehabt«, sagte der Amorphe hohl und stampfte auf. »Es ist wie auf Galvaur.« Rotfarbene Büsche und Savannengräser waren unter ihnen zu sehen. Erstarrt, seit Ewigkeiten gefangen in jenem einen Augenblick, als die glasähnliche Substanz über die Oberfläche geschüttet worden war. »Mag sein, Jarvis«, sagte Scobee nachdenklich. »Doch diesmal wissen wir zumindest, worauf wir uns bei unserer Suche konzentrieren müssen.« »Du meinst diese psionischen Feldlinien? Das ist doch alles viel zu schwammig! Die RUBIKON ist nicht einmal in der Lage, sie richtig anzumessen.« Scobee achtete nicht weiter auf den Amorphen, sondern sagte über Funk: »John, irgendetwas Neues bei dir?« »Nein«, antwortete der Kommandant. »Ich drehe hier oben meine Runden und habe mittlerweile knapp sechzig Prozent der Oberfläche kartographiert. Bislang ist mir nichts Ungewöhnliches aufgefallen.« Seine Stimme klang schleppend, so als wäre er nicht ganz bei der Sache. »Erschreckt jetzt nicht«, erklang seine Stimme aus dem Sprachfeld, und gleich darauf neben ihr: »Ich habe etwas Neues gelernt.«
Trotz seiner Warnung sprang sie zur Seite. »Was zum...« »Ein gedachter Körper«, sagte Cloud, der nur fünf Meter rechts von ihr stand. Und mit Ärger in der Stimme fuhr er fort: »Die RUBIKON hat mir bis jetzt verheimlicht, dass ich einen Abdruck von mir bei euch mitschicken kann.« »Einen Abdruck?« Der John Cloud, der neben ihr stand, war bis ins kleinste Detail identisch mit dem wirklichen. Er schien so echt, dass sie fasziniert nach ihm griff – und mit der Hand durch seinen Leib fuhr. »Ein Hologramm!«, stieß sie erschrocken aus. »Mehr als das«, sagte Cloud. »Die RUBIKON bezeichnet diesen Körper als Inkubus. Er stellt kein statisches, dreidimensionales Bild dar, sondern eines, das ich mit euch schicken kann und das gleichzeitig eine Schnittstelle zum Schiff darstellt. Allerdings kostet sie die Aufrechterhaltung des Körpers unverhältnismäßig viel Energie. Zudem benötige ich einen Vitalimpuls als Verankerung. Ich muss also immer in eurer Nähe bleiben.« »Wie weit kannst du dich von mir entfernen?«, fragte sie. »Maximal einhundert Meter.« Die Möglichkeiten, die sich dadurch ergaben, waren noch nicht abzuschätzen. Verärgert dachte sie an die Expedition auf Galvaur zurück, als sie, ohne auf Jarvis zu warten und ohne auch nur eine Bildübertragung ihres Anzuges zur RUBIKON zu schalten, Artas verfolgt hatte. Gerade ihr, der kühlen, logischen Denkerin war eine geradezu beschämende Aneinanderkettung von Fehlern passiert, die während ihrer gnadenlosen Ausbildungszeit auf der Erde gleichbedeutend mit dem Ausscheiden aus dem Raumfahrtprogramm gewesen wäre. Und wahrscheinlich – wenn sie an die skrupellosen Wissenschaftler und Militärs dachte, die am GenTecProgramm beteiligt gewesen waren – auch gleichbedeutend mit
ihrem Tod... Einerlei. Dieser Zeitabschnitt ihres Lebens war Vergangenheit. Sie blickte John Clouds Hologramm an. Er lächelte spitzbübisch zurück. So, wie sie es an ihm mochte. »Warum gerade Inkubus?«, fragte sie. »Ist das nicht ein Dämon?« »So habe ich es auch in Erinnerung«, entgegnete Cloud. »Aber so hat die RUBIKON die foronische Bezeichnung übersetzt.« Sprache war ein seltsames Ding und ging verschlungene Wege, das wusste Scobee. Aber Clouds holographisches Abbild als dämonisches Wesen zu sehen – das war schon mehr als ungewöhnlich. »Na denn... willkommen auf Zentalo«, sagte Scobee. Mein kleiner Teufel... *** »Nichts«, sagte der Inkubus nach geraumer Zeit, »gar nichts. Eine Energiequelle ist zumindest mit meinen Möglichkeiten hier oben nicht anmessbar; von psionischen Strahlungsfeldern will ich gar nicht reden...« Clouds Hologramm bezog sein Wissen vom Original, das nach wie vor in einem Sarkophag an Bord der RUBIKON ruhte und unermüdlich die Oberfläche des Planeten mit seinen verstärkten Sinnen erforschte. »Es muss aber etwas da sein«, sagte die GenTec. »So schlau bin ich auch, Scob.« Cloud wirkte enttäuscht. Er hatte sich die Suche sicherlich einfacher vorgestellt. »Es hilft nichts. Wir müssen weiterhin systematisch vorgehen«, sagte sie. »An der Oberfläche von einem Ort zum
nächsten springen; Augen auf und auf die geringsten Veränderungen achten.« Es war die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Seit Stunden bewegten sie sich mit Hilfe der Transportkugel nach einem zuvor festgelegten Raster hin und her. Die Landschaft ähnelte jener auf Galvaur. Sie änderte sich kaum und zeigte nur wenige Erhebungen. Endlose Ebenen, unter deren Glassturz meist rötliche, ginsterbuschartige Gewächse erstarrt waren, erinnerten an die amerikanischen Great Plains. Gebirge, wie sie sie von der Erde her kannten, gab es nicht. Städte oder foronische Behausungen waren ebenso wenig zu sehen wie Lebewesen. Dort, wo sich nach Auskunft der RUBIKON einmal die großen Metropolen des Planeten befunden hatten, war nichts. Verkohlte, glatte Flächen zeugten von der Unbarmherzigkeit der Usurpatoren und vom traurigen Schicksal der ehemaligen Bewohner. Nichts, nicht einmal das kleinste Lebewesen, war der Vernichtung durch die Virgh entgangen. Lediglich zwei winzige Gewässer erstreckten sich an den Polen. Doch auch über ihnen befand sich eine dicke Glasschicht. »John«, setzte Scobee an, während sie gerade das Nordmeer überflogen, »ich weiß ja, dass die RUBIKON nicht in der Lage ist, die psionische Strahlung anzumessen. Aber was ist denn mit einer auslösenden Strahlung für das Verrücktspielen des Magnetfelds der Sonne?« »Längst versucht, Scob. Das hat nichts ergeben. Vielleicht war es nur ein einziger Impuls, der irgendetwas in der Sonne aktiviert hat. Da haben wir allerdings auch nichts entdecken können.« »Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig. Wir müssen die Glasschicht um den Planeten mit den Geschützen der
RUBIKON knacken.« »Hältst du das für eine so gute Idee?«, fragte Cloud. »Ich meine, ich könnte sicherlich den ganzen Planeten zerlegen – aber dann sind wir nicht besser als die Virgh.« »Dann... Was sind wir nur für Idioten!«, rief Scobee aus und schlug sich mit der flachen Hand an den Kopf. »Auf diese Idee hätten wir gleich kommen müssen!« »Was meinst du?« John Clouds Inkubus blickte sie irritiert an. »Wo würdest du etwas verstecken, wenn du nicht wolltest, dass es die Foronen entdecken?«, fragte Scobee, statt eine Antwort zu geben. »Ich verstehe nicht...« »Wir sind uns mittlerweile sicher, dass die Virgh für die Verglasung der Planeten verantwortlich sind, nicht wahr? Mussten sie denn nicht damit rechnen, dass die Foronen zurückkehren würden, um zu sehen, was passiert ist? Ist es da nicht logisch, dass sie Sicherheitsmaßnahmen ergriffen haben?« Sie lachte abgehackt. »Erstens, indem sie ein Wachschiff stationierten. Zweitens, indem sie ihre Aktivitäten dort verbargen, wo die Foronen möglichst ungern suchen würden...« »Wasser!«, rief der Inkubus. »Unter Wasser!« »So ist es!« Scobee deutete auf die eingefrorene Wassermenge unter ihren Füßen. Gischtende, mehrere Meter hohe Wellen überschlugen sich seit Ewigkeiten und zeugten von einem schwierigen Seegang zu jenem Zeitpunkt, als die Verglasung eingesetzt hatte. »Ist es nicht seltsam, dass sowohl die Virgh als auch die Foronen auf denselben Gedanken gekommen sind?«, sinnierte Clouds Inkubus. »Sobek und Kumpanen verbargen ihre Flotte schließlich im Aqua-Kubus, weil sie sich dort, von ihrem an und für sich feindlichen Element umhüllt, vor den
Nachstellungen ihrer Feinde sicher fühlten.« »Ja, das hat etwas Ironisches an sich«, sagte Scobee. »Doch zurück zu unseren Ergebnissen: Dieser winzige Ozean hat eine Ausdehnung von knapp sechshundert Quadratkilometern. Das ist nichts, verglichen mit der Gesamtoberfläche Zentalos – aber immer noch viel zu viel, um einfach irgendwo den Spaten anzusetzen und zu graben.« »Da hast du natürlich Recht«, sagte Clouds Inkubus. »Aber knacken wir doch erst einmal die Schale. Dabei müssen wir sowieso vorsichtig sein. Ein paar Grad Kelvin bei einem hochkonzentrierten Energiebeschuss zu viel, und Zentalo zerbricht wie eine Nussschale.« »Noch ein Grund, über dem Meer anzufangen«, warf Jarvis ein. »Da hämmern wir nicht gleich in den Fels. Und selbst wenn wir das Wasser komplett verdampfen – hier lebt nichts, da kann uns das Klima egal sein.« »Dennoch müssen wir wie mit einem Seziermesser arbeiten«, entschied Cloud. »Hauptsache, wir erreichen irgendeine Reaktion.« »Willst du tatsächlich die RUBIKON gefährden?«, fragte Jarvis. »Wenn es sich um eine Virgh-Station handelt, die dort unten versteckt liegt, müssen wir mit Waffensystemen und Defensivwaffen rechnen, die den unseren gleichwertig sind.« »Glaube ich nicht. Die ehemalige SESHA stellt immerhin das Nonplusultra foronischer Leistungsstärke dar und hat auch unter den Virgh kaum einen einzelnen Gegner zu fürchten. Außerdem ist es nicht schwer, ihre Strategie zu durchschauen. Überlegt doch einmal! Der Viranha, der nahe der Sonne versteckt auf mögliche Feinde gewartet hat, stellte die offensive Verteidigung in diesem System dar – sozusagen den Prellbock. Es ergibt keinen Sinn, wenn die Virgh eine Station tief in einem Ozean versteckten, wenn diese waffentechnisch nicht wesentlich schwächer ausgestattet wäre...«
»Was hat denn die Logik hier verloren?« , warf Scobee ein. »Wir wissen von Sobek, dass an die Virgh gänzlich andere Maßstäbe anzulegen sind!« Clouds Inkubus verzog unwillig das Gesicht. »Wir können hier noch endlos lange über alle möglichen Risiken diskutieren. Ich finde, dass wir unser Glück einfach versuchen sollten.« Damit war ein Machtwort gesprochen. Auch wenn Scobee nicht unbedingt Clouds Meinung war – es tat gut, ihn so tatkräftig wie noch selten zuvor sein Ziel verfolgen zu sehen. »Wann willst du mit dem Beschuss beginnen?«, fragte sie. »Sofort!«, antwortete der Inkubus. »Ihr besteigt die Transportkugel und wartet in ausreichender Entfernung. Ich lenke die RUBIKON soeben in einen stationären Orbit, knapp zehn Kilometer oberhalb des Ozeans.« »Nun gut, John.« Scobee betrat hinter Jarvis und dem Inkubus die wartende Transportkugel. Ein Schwall steriler, fade schmeckender Luft erwartete sie, nachdem sie die schmale Doppelschleuse hinter sich gelassen hatten. Auch wenn die Atmosphäre Zentalos absolut geruchlos war – es machte einen Unterschied, ob man hundertfach gefilterten und gereinigten oder sonnendurchtränkten Sauerstoff atmete. Es lohnte nicht, darüber nachzudenken, wie sich an der Oberfläche Zentalos eigentlich eine Lufthülle halten konnte. Es war eines der Geheimnisse der Glasplaneten – aber beileibe nicht das größte. Doch mit ein wenig Glück würden sie in Bälde einige Rätsel aufklären. 5.
Ich wachse. Ich ernähre mich. Ich teste meine Kampforgane, indem ich an der Hüllstruktur kratze. Ich zerfetze und zerreiße in meinen Gedanken den Gegner. Merla, die uns geboren hat und uns nun wärmt, ist sehr zufrieden mit uns. Mit mir – und den unzähligen Geschwistern... Die Transportkugel hatte sie unweit des Meeresufers abgesetzt. Trotz aller Bedenken war Scobee ausgestiegen. Ein erweitertes Schutzfeld, das sowohl das Beiboot als auch sie umschloss, bot Sicherheit. Jarvis und der Inkubus waren wortlos gefolgt. »Ich beginne«, sagte Cloud durch seine simulierte Gestalt. Scobee blickte hoch. Sie konnte Details der RUBIKON erkennen, die nahezu senkrecht oberhalb ihres Standortes schwebte. Zehn Kilometer Sichtweite waren für ihre gentechnisch veränderten Augen eine Kleinigkeit, zumal keinerlei atmosphärische Verunreinigungen den Blick trübten. Zum ersten Mal betrachtete sie das Schiff bewusst im Licht einer Sonne – und musste den genialen Ingenieuren und Technikern der Foronen Beifall zollen. Die Formschönheit und Ästhetik der RUBIKON war in ihren Augen unübertroffen. Scobee empfand so etwas wie Stolz. Stolz, zur Besatzung dieses Schiffes zu gehören. RUBIKON. Noch nie war ihr die Bedeutung dieses einen Wortes so bewusst geworden. Wie viele unglaubliche, noch nie gewagte Schritte hatten sie mit diesem Schiff bereits getan? Wie viele Brücken hatten sie überquert, ohne jemals nach hinten geblickt zu haben? Es war schier unglaublich. Und nach wie vor blieb keine Zeit, um zu verharren und sich zu besinnen.
In den nächsten Sekunden würden sie in den Kampf gegen die Virgh eingreifen – die es möglicherweise in dieser Galaxis gar nicht mehr gab. Die Flügel der RUBIKON, des gräulichen Rochens, waren majestätisch ausgebreitet. Pint, das Zentralgestirn dieses Systems, zauberte einige wenige Reflexe auf die Hülle. Der Schwanz, jene fürchterliche Waffe hingegen, blieb verborgen. Plötzlich ein gelbes Flackern. »Schmiegschirm aktiviert«, sagte der Inkubus mit gedankenverlorenem Blick. Seine Umrisse waren unscharf geworden. Offensichtlich wandte Cloud an Bord der RUBIKON alle Konzentration auf, um nur ja keinen Fehler zu begehen. »Energiesequenzen aktiviert. Strahlenbeschuss beginnt.« Ein flammendroter Strahl stieß aus dem Leib der RUBIKON hinab und prallte lautlos auf die Oberfläche des gefrorenen Ozeans. »Alea iacta est«, murmelte Scobee. »Der Würfel ist gefallen.« *** Die Transportkugel hatte den Schutz um Scobee, Jarvis und den Inkubus weiter verstärkt. »Bislang keine Wirkung«, berichtete der Inkubus knapp. »Ich erhöhe die Energiedosierung in Promilleschritten.« »Was ist, wenn wir mit unseren Aktivitäten eine Wachflotte der Virgh auf den Plan rufen?«, fragte Jarvis. »Es gibt keine Wachflotte mehr!«, behauptete Cloud. »Der Zustand des Viranha-Reliktes, das die Satoga beschädigt haben, spricht doch Bände! Es muss tausende von Jahren alt sein. Alles, was wir hier tun, ist aufzuräumen, zu lernen und die Dämonen der Vergangenheit zu vertreiben.«
Die Minuten flogen nur so dahin. Es war seltsam, die Energiestrahlen in aller Klarheit zu sehen. Kein Körnchen Staub trübte die Sicht, keinerlei erhitzte Feuchtigkeit verwandelte sich in Dampf. Der Boden unter ihren Füßen erwärmte sich allmählich. Also besaß die Glasoberfläche zumindest eine gewisse Leitfähigkeit für Hitze. Sie war gering, wenn man das Inferno im Zentrum des Beschusses berücksichtigte, aber immerhin: Sie war vorhanden. »Da tut sich etwas!«, sagte der Inkubus aufgeregt. »Die gläserne Substanz scheint sich zu erweichen und andernorts spröde zu werden!« Eine von der KI der RUBIKON aufbereitete Simulation zeigte, was sich dort draußen auf dem Ozean abspielte. Es war einfach unbeschreiblich. Allmählich fühlte sich Scobee unwohl. Ohne den immer greller aufleuchtenden Schutzschirm der Transportkugel wären sie selbst auf diese große Distanz längst wie Hühner am Spieß gebraten worden. Es wurde Zeit, Fersengeld zu geben und die Distanz zum Zentrum dieser urtümlichen Gewalten zu vergrößern. Das Glas unter ihnen zitterte und vibrierte – und es begann, in einem kaum hörbaren Bereicht zu singen! »Weg hier!«, schrie sie Jarvis und dem Inkubus über das stetig anwachsende, enervierende Gekreische hinweg zu. »Cloud, du solltest dich ein wenig zurücknehmen! Das kann nicht mehr lange gut gehen...« »Keine Angst, Scob, ich habe alles unter Kontrolle! Nur noch ein bisschen mehr Energie, und die Nuss ist geknackt!« Doch das verschwitzte Antlitz des Inkubus, wahrscheinlich ein momentanes Ebenbild des Originals in seinem Sarkophag, sprach Bände. Die Situation drohte allmählich, außer Kontrolle zu geraten. »Rasch an Bord!«, drängte Scobee ihre Begleiter. Sie schob
Jarvis energisch vor sich her. Ein Knirschen ertönte. Glas brach. Die RUBIKON stellte ihr Feuer augenblicklich ein, doch sie konnte das Splittern der Planeten-Oberfläche nicht verhindern. Eine Glashülle, mehr als fünf Meter dick, Millionen Quadratkilometer in ihrer Ausdehnung weit, zerbrach! Ausgehend von einer einzigen, vergleichsweise winzigen Beschädigung, bildeten sich in Sekundenschnelle Risse, die sich mit ungeheurer Geschwindigkeit in alle Himmelsrichtungen ausdehnten. Von einer Spannung, die Ewigkeiten gehalten hatte, wurden hunderte Meter lange Splitter hochgeschleudert. Wie bei einem Vulkanausbruch bog sich die künstliche Oberfläche hoch. Breite Glasfelder drängten nach, schoben sich übereinander. Wasserdampf zischte, brodelte, kochte. Tektonische Verschiebungen, die über Jahrtausende hinweg unter der gläsernen Umarmung keinen Platz zur Entfaltung gefunden hatten, geschahen nun innerhalb von Sekunden. Ein Strahl schoss hoch, aus dem Zentrum des Wahnsinns, traf die RUBIKON. Der Schutzschirm ihrer Transportkugel brach zusammen. Scobees persönlicher Schirm hingegen hielt. Dennoch wurde sie davongewirbelt, von einer glühend heißen Böe mit mehreren hundert Stundenkilometern erfasst. Wie ein Blatt flog sie dahin, im Bild des momentanen Irrsinns gefangen. Für einen kurzen Augenblick sah sie den Inkubus, bevor dieser verblasste. Clouds Gesicht war schmerzverzerrt. Jarvis, der den elementaren Kräften schutzlos ausgeliefert war, wurde von feinsten Glasgeschossen gespickt und schließlich unter einem riesigen Splitterberg begraben. Die Transportkugel? Wo war sie? Sie verschwand soeben in einem Riss, so tief, das man
durch ihn wohl in des Teufels Wohnzimmer hinabsteigen konnte. Wie eine kleine Murmel stürzte die Kugel hinab in den Schlund, energetisch inaktiv, nur noch ein Klumpen Metall, prallte ein paar Mal auf und verlor sich schließlich im Dunkeln. »John, hörst du mich?«. Verzweifelt schrie Scobee über Funk um Hilfe. »Schmerzen«, antwortete eine schwache Stimme. »Habe... Probleme. Gib mir Zeit... euch zu holen.« Dann verstummte ihr Gerät. Noch immer wirbelte sie parallel zur berstenden Glasoberfläche dahin. Der Schutzschirm nahm die Wucht aus den meisten Kollisionen mit Trümmerteilen, doch er konnte nicht verhindern, dass sie unkontrolliert dahintrudelte. An einen Flug hinauf durch die Troposphäre war nicht zu denken. Stürme unglaublichen Ausmaßes tobten, denen sie wahrscheinlich bloß knapp oberhalb des Erdbodens entkommen konnte. Da, vor ihr! Ein großes, ganz gebliebenes Glasfeld, übersät von tonnenschweren Trümmern. Vielleicht würde sie dort Schutz finden? Scobee steuerte hinab, nutzte alle Energie, die ihr der Anzug zur Verfügung stellen konnte. Unsanft landete sie auf der Schulter, rollte ab, hastete in den vier oder mehr Meter hohen Windschatten eines Riesensplitters. Rötliches Savannengras klebte an ihm, und trockene, sandige Erde. Nahezu unheimliche Stille herrschte hier. Rings um sie war Chaos, wie es schlimmer nicht sein konnte. Doch der Brocken gab ihr ausreichend Schutz, um für ein paar Momente durchzuatmen. »Cloud!«, rief sie erneut in ihren Sender, »du musst uns von hier wegholen!« »Habe Schwierigkeiten, die RUBIKON zu stabilisieren«,
tönte es krächzend aus dem Empfangsteil. »Ihr müsst noch durchhalten!« Der hatte leicht reden! Rund um sie tobte die Apokalypse! Heftige Vibrationen rissen Scobee den Boden unter den Füßen weg. Sie fiel unsanft auf den Rücken, rollte sofort beiseite und wich einem fünf Meter langen Glasstück aus, das scheinbar aus dem Nichts kommend, knapp neben ihr zersplitterte. Nur der auf Hochtouren arbeitende Schutzschirm, überragende Reaktionsschnelligkeit und unverschämtes Glück bewahrten sie in diesen Momenten vor dem Tod. »Cloud! Hilf mir!« Sie schrie es hinaus – doch es kam keine Antwort. Die Funkverbindung war tot. Alle Maschinensätze des Anzugs waren tot. Das Glas unter ihr gab endgültig nach, und sie fiel. Fünfzig Meter tief, hundert Meter. Endlich fingen sie die Flugaggregate auf, brachten sie stotternd wieder näher an die Erdoberfläche heran. So schnell, wie der Spalt entstanden war, so schnell drohte er sich auch wieder zu schließen. Noch trennten sie ein paar Körperlängen von der zweifelhaften Sicherheit der Oberfläche. »Komm schon!« Heftig und zornig schlug sie auf die Steuerungssysteme an Unterarm und Gürtel ein. Doch es nutzte nichts, die Leistung der Aggregate ließ rapide nach. Scobee richtete die Schubdüsen vertikal und steuerte derart mit ihrem letzten bisschen an Energie gegen eine der bizarr geformten Wände. Sie schlug dagegen, tastete instinktiv umher, bekam sprödes Wurzelwerk zu fassen. Mit gespreizten Fingern und weit von sich gestreckten Gliedern krallte sie sich fest. Sie klebte wie eine Fliege an der Wand. Nur nicht hinabsehen in diesen endlosen Abgrund... Mühsam setzte sie eine Hand über die andere. Sechs Meter
vielleicht fehlten ihr noch bis ganz nach oben – aber hier war kein Weiterkommen mehr. Die Glasschicht begann. Weit und breit gab es nichts, an dem sie sich festhalten konnte. Der Spalt schloss sich! Unter heftigen Begleitgeräuschen schoben sich die Wände aufeinander zu. Da und dort trennten sich riesige Erdbrocken ab und stürzten in den Abgrund. »Cloud!«, schrie sie erneut – doch das Funkgerät war tot. Was mach ich nur... Sie überlegte fieberhaft. Wenn es keinen Weg nach oben gibt, muss ich eben nach unten... Wie eine Gämse kletterte sie hinab, nutzte den kleinsten Vorsprung, um sich festzuklammern Noch waren die Wände zehn Meter voneinander entfernt, noch neun, noch acht... Unter ihr stürzte erneut Geröll in dieTiefe. Felsbrocken, so hoch und breit wie drei Männer. Scobees Füße fuhren ins Leere. Ihr ganzes Körpergewicht hing nun an zehn Fingern, die in dünnen Handschuhen steckten. Dennoch ließ sie sich weiter hinab, bis der Oberkörper frei pendelte. Sie schwang zweimal hin und her und krallte sich schließlich im Überhang mit der Kraft ihrer Beine fest. Ein Hohlraum hatte sich hier gebildet, in der sie mit viel Glück eine Chance hatte, den Aufeinanderprall der Erdschichten zu überleben. Oberhalb von ihr wurde es allmählich dunkel. Noch drei, vier Meter breit war der Spalt. Die GenTec erinnerte sich an ihr Messer, zog es aus dem Schaft im Gürtel und stieß es mit aller Kraft ins Erdreich. Stärker, als es je ein Normalgeborener geschafft hätte. Nur noch der Schaft ragte hervor. Mit beiden Händen hängte sie sich daran an und baumelte frei im Hohlraum. Zumindest ein fester Halt... Zum Nachdenken blieb keine Zeit mehr. Die Wände prallten
oberhalb von ihr gegeneinander, drückten und zerrieben sich. Funken sprühten, kleinste Steinchen, aus der Gesteinsdecke gepresst, schwirrten wie querschlagende Geschosse in ihrem schmalen Hohlraum umher. Nur noch etwa zwei Meter im Durchmesser waren ihr geblieben – und unter ihr herrschte undurchdringliche Schwärze. Obwohl die Wände sich bereits aufeinander pressten, kam Zentalo nicht zur Ruhe. Ihr Handlungsspielraum wurde immer geringer. Das Ende nahte... *** Mein Wachstumsprozess wird über alle Maßen beschleunigt. Ich weiß nicht, ob dies beabsichtigt ist oder nicht. Es ist einerlei. Es fehlt nicht mehr viel, und ich darf aus meinem Hautschorf kriechen. Um endlich zu töten. »Glück gehabt«, murmelte Scobee. Unglaubliches Glück. Es war gerade genug Handlungsfreiheit geblieben, um sich zu bewegen. Ein Schacht hatte sich gebildet, in dem sie die Beine gegen die gegenüberliegende Wand pressen und mit relativ geringem Krafteinsatz hinabsteigen konnte, wenn sie es wollte. Aber wollte sie eigentlich? Überall hallte, stöhnte und ächzte es. Durch das Gestein hindurch, durch feinste Ritzen und Risse, war zu hören, wie sehr Zentalo arbeitete. Doch war Cloud an Bord der RUBIKON alleine der Auslöser dieser Apokalypse gewesen? Der Strahl, der aus dem Ozean hervorgeschossen und gegen den Leib des Rochens geprallt war, sprach eine deutliche Sprache. Die Virgh mochten vielleicht nicht mehr hier sein oder gar schon ausgestorben –
aber ihre Überbleibsel bereiteten der Besatzung der RUBIKON nach wie vor Probleme. Aber Scobee hatte nun wirklich andere Sorgen. Sie weigerte sich zu glauben, dass Jarvis zerquetscht worden war. Ein Wesen, das seine Gestalt beliebig verändern und sich bei Bedarf in eine bloß Mikrometer dünne Hautschicht umwandeln konnte, war nicht so leicht umzubringen. Scobee konnte hoffen, dass bald nach ihr gesucht wurde. Ihre Anzugfunktionen waren bis auf Basisfunktionen wie die Sauerstoffversorgung ausgefallen, doch schien es sich hierbei nur um eine Folge des allgemeinen Chaos zu handeln. Sobald sich Cloud an Bord der RUBIKON wieder konsolidiert hatte, würde er sie orten und suchen. Für sie bedeutete das nur eines: Irgendwie musste sie die nächsten Stunden überleben. Und dazu war es nötig, einen Ort zu finden, der ein wenig mehr Schutz bot als dieser kleine Hohlraum, in dem sie jederzeit zerquetscht werden konnte. Mit einem kräftigen Ruck zog sie das Messer aus dem Gestein und begann ihren Abstieg. Ihre Anzuglampe stand auf der Prioritätenliste ihrer Energieversorgung offenbar nicht besonders weit oben. Aber immerhin schuf sie ein schwaches rötliches Licht – immerhin genug, um sich vorsichtig weiter nach unten zu hangeln. Es war ein merkwürdiges Gefühl, sich durch das Innere eines Planeten zu wühlen. Vage erinnerte sie sich an ein Buch Jules Vernes, das ein derartiges Thema zum Inhalt gehabt hatte. Doch bei dem großartigen Visionär des neunzehnten Jahrhunderts hatten Ozeane, riesenhafte Pilze und sogar urtümliche Lebewesen im Mittelpunkt der Beschreibung gestanden. Dinge, die sie hier wohl kaum erwarten würden. Sie rutschte mit dem rechten Bein weg und konnte nur mühsam einen Absturz ins Bodenlose verhindern. Das kommt davon, wenn man nicht aufpasst. Konzentrier
dich gefälligst!, rügte sie sich selbst. Oberhalb von ihr knirschte es. Staub rieselte auf sie herab. Ob sich die Erde noch immer nicht beruhigt hatte? Ein Grund mehr, so rasch wie möglich aus dem schmalen Kamin zu verschwinden und weiter unten zwischen massiven Gesteinsmassen einen Platz zu suchen, der ein wenig mehr Sicherheit bot. Der Spalt verbreiterte sich allmählich. Noch immer war nach unten hin kein Ende auszumachen, doch ihr Licht reichte ja auch nicht besonders weit. Wassergeplätscher ertönte. Das Geräusch wurde lauter und hallender, je weiter sie hinabstieg. Ein unterirdischer See? Ihre Hände begannen allmählich zu verkrampfen. Immer wieder musste sie nun ihr gesamtes Körpergewicht einzig und alleine an die Fingerspitzen hängen und mit den Füßen nach schmalen Graten tasten, an denen sie sich abstützen konnte. Die gegenüberliegende Wand war längst so weit entfernt, dass das Licht nicht mehr ausreichte, sie auszuleuchten. Selbst mit der Infrarotsicht, die ihr gegeben war, konnte sie nichts sehen. Die Temperaturunterschiede reichten einfach nicht aus. Scobee war geschätzte einhundertfünfzig Meter unter der Oberfläche Zentalos. Sie sah und fühlte Querrisse. Keiner war breit genug, um ihr Platz zu bieten und sich auszuruhen. Sie musste einfach weiter hinab... Mit den Füßen loslassen, frei in der Luft baumeln, neuen Halt suchen. Eine halbe Körperlänge tiefer greifen, umhertasten, und wieder von vorne beginnen. Es war ein endloser Rhythmus, tranceartige Akrobatik, getragen von gentechnisch verstärkten Körperkräften. Doch irgendwann erlahmten auch Scobees Energie und Wille. Es ging nicht mehr weiter. Die Arme zitterten unkontrolliert, ihre Beine waren wie tot. Schweiß rann ihr in Bächen über das Gesicht. Sie hatte das
Inferno an der Oberfläche Zentalos wohl schlechter überstanden, als sie gehofft hatte. Wie leicht wäre es, sich einfach fallen zu lassen? Das Gefühl des Fliegens zu genießen, endlich frei zu sein. Es war ein aufregendes Leben gewesen, das schlussendlich auch seinen Sinn erhalten hatte. Irgendwann musste man sich sagen, dass es nicht mehr weiterging, dass Schluss war. Warum nicht jetzt? Weil ich niemals aufgeben werde! »Ooo... bee-bee-bee...«, hallte es in diesem Moment zu ihr hoch. »Scooo-beeee!« Eine Stimme. Verzerrt, hallend – und doch bekannt. Jarvis! Er war hier unten, und er suchte sie! Ihre Kommunikationseinheit funktionierte nicht mehr, die energetische Helmblase war längst erloschen. Also schrie sie einfach in dieTiefe: »Hier bin ich!« Beinahe hätte sie den Halt verloren. Sie krallte sich erneut fest, mit allem, was noch an Kraft in ihr verblieben war. »Ich könnte Hilfe gebrauchen!« Und zwar bitte schnell! Schweiß brannte in ihren Augen, die Kiefer verkrampfen, bis die Zähne knirschten – aber sie ließ nicht los. Bis sie eine unheimliche Kälte spürte und die erlösenden Worte hörte. »Ich hab dich, Scob.« Da erst ließ sie sich fallen... *** Der Hautschorf wird dünner und dünner. Mit meinen langen Klauen kratze und taste ich umher, schabe an der Hülle. Ein einziger, kräftiger Ruck muss genügen, um mich aus der
Umschalung zu befreien. Die Lust ist so groß, unermesslich groß. Ich weiß, dass ich bald töten darf. Töten. Töten. Töten. Sie schrak hoch. Dunkelheit war um sie, und Schmerzen. »Es ist alles in Ordnung, Scob. Ich habe dich ummantelt und halte dich fest. Lasse deinen Körper einfach entspannt. Damit erleichterst du mir die Kletterei.« Die Stimme war um sie. Sie war in Jarvis' Körperhülle gefangen. Er steuerte jeden ihrer Handgriffe, jede ihrer Bewegungen! Er beherrschte sie völlig, er konnte... »Ich weiß, dass dir vor mir graut, Scobee«, sagte er entschuldigend. »Aber es gab keinen anderen Ausweg. Du hättest dich sehen sollen, so kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch.« Jarvis ist mein Freund, dachte sie. Er wird mir nichts antun. »Wo sind wir?«, fragte sie krächzend. Weit voraus meinte sie, einen grünblauen Lichtschimmer auszumachen. Voraus? Das bedeutete – dass sie geradeaus ging! Oder gegangen wurde! Jetzt weiß ich, wie John sich auf der Erde gefühlt hat, als der Amorphe, der noch nicht Jarvis gewesen ist, ihn in sich aufgenommen hat. Und das war nicht einmal ein Freund. »Ich habe dich ganz hinabgetragen«, berichtete Jarvis. »Momentan sind wir in einem Querstollen, der mir relativ sicher erscheint. Die Beben und Verschiebungen dürften allmählich nachlassen. Diese basaltähnliche Gesteinsschicht ist zudem massiv genug, dass wir keine großen Befürchtungen haben müssen, zerquetscht zu werden.« »Wie weit unten sind wir?«, fragte Scobee. »Es müssen um die fünfhundert Meter sein.«
»Wie hast du mich gefunden? Und – ist dir nichts passiert? Ich sah, wie du zerquetscht wurdest...« Jarvis' Gelächter war rund um sie. »Ich wurde nicht zerquetscht, sondern lediglich ein wenig geplättet. Nicht der Rede wert. Dafür, dass es nicht mein eigener Körper ist, ist dieser hier eigentlich ganz okay.« Da ihr Kopf frei war, konnte sie immerhin zustimmend nicken. »Ich sah, dass du vom Sturm vertrieben wurdest und schließlich hinter einer dicken Glasscholle verschwandest«, führte er weiter aus, während er sie vorwärts bewegte. »Als ich dort ankam, schloss sich soeben eine längliche Spalte mit mehreren Einstiegsmöglichkeiten. Ich folgte dir. Leider muss ich einmal in einen falschen Gesteinsriss geglitten sein. Es gibt hier unten ein Labyrinth von sich stetig ändernden Gängen, Ritzen und Spalten, das sage ich dir. Es war Zufall, dass ich dich geortet habe. Und dann hab ich gerufen.« »Danke«, sagte sie. Es gelang ihr nicht, Enthusiasmus in ihre Stimme zu legen. Jarvis' Ummantelung fühlte sich widerwärtig an – so sehr sie sich auch gegen ihre Gefühle wehrte. »Wohin also jetzt?« »Ich kann nach wie vor nicht transmittieren, also habe ich für deinen Körper einen Schacht gesucht, der breit – und sicher – genug ist, um dich nach oben zu bringen.« »Du glaubst, einen gefunden zu haben?« »Ja«, bestätigte er. »Nur haben wir ein Problem.« »Noch ein Problem? Du scherzt!« »Leider nicht. Diese Höhle dort vorne ist nicht natürlichen Ursprungs. Sie gehört zu dem, was die Virgh auf Zentalo hinterlassen haben...« ***
Es war eine gottverdammte Brutstätte. So riesig groß in ihren Ausdehnungen, dass sich Scobees Blicke im hell schimmernden Horizont verloren. Kristallähnliche Formationen – manche flach und mit schmalen Gängen dazwischen, andere steil nach oben ragend, einer nicht erkennbaren Decke entgegen. Sie leuchteten aus sich heraus und erzeugten den diffusen, blaugrünen Schimmer. In den Kristallen steckten Körper. Widerwärtig, hässlich, abstrus waren sie. Sie weckten Erinnerungen an etwas, das Scobee gesehen hatte. In einer Vision oder einem Traum erwachender Foronen, den die RUBIKON an ihre Außenhaut projizierte, während sie endgültig von der Erde geflüchtet waren. Virgh. Sechsbeinige Wesen mit einem Körper, den sie ähnlich einem Seestern umstülpen konnten. Lange, warzenähnliche Tellerflächen bildeten eine Art Saugnäpfe, die sich am Feind, am Foronen, festhielten, um ihm mit ihren offenen, umgestülpten Mägen das Leben aus dem Leib zu saugen. Die lebenden Virgh direkt vor ihr vermittelten zudem etwas, das in den Bildern der RUBIKON nicht hatte übertragen werden können. Scobee konnte mit all ihren Sinnen spüren, dass hier pervertierte Natur am Entstehen war. Kein natürlich heranwachsendes Lebewesen würde eine derartige Abwehrreaktion in ihr herbeiführen, dessen war sie sich sicher. Dies, obwohl beseelt, war der natürliche Gegner allen Lebens. Oder waren sie einfach nur unglaublich fremd? Nein, dies war der Feind. Und Scobee begann, die Foronen zu verstehen. »Leise jetzt«, flüsterte sie Jarvis zu, der nach wie vor die Kontrolle über ihren Körper besaß. Sie schlichen gemeinsam
schmale Wege zwischen den Brutstätten entlang. Es schien ihr, als könnte das geringste falsche Geräusch diese unbarmherzigen Wesen aus ihrem Schlaf wecken. Da und dort zuckten lange Glieder unter der kristallinen Masse. Waren es Nervenreaktionen, oder erwachten die Virgh tatsächlich? Hatte die RUBIKON mit dem Beschuss des Verstecks eine Erweckungssequenz initiiert, oder war dies bereits mit der Ankunft der Foronen in der Großen Magellanschen Wolke geschehen? Wie viele von ihnen warteten hier aufs Erwachen? Wo war die geheimnisvolle Station, die Cloud eigentlich hatte attackieren wollen? »Oh«, machte der Amorphe. »Ich empfange etwas. Hör mal!« »Scobee? Jarvis? Meldet euch! Ich bin's...« Clouds Stimme war zu hören. Scobee erstarrte. Johns Stimme erschien ihr schrecklich laut. Schabende Geräusche wurden ringsum laut. Hastig drehte sie sich im Kreis. Überall regte sich Leben, überall kratzten lange, von einer zähen Flüssigkeit bedeckte Klauen an der Innenseite ihrer Kristallschalen. »Lass mich mit ihm sprechen«, bat Scobee flüsternd. »Mein Anzug hat keine Energie mehr.« »Kein Problem. Ich habe die Zeit, die ich dich umhüllt habe, genutzt, um ihn wieder aufzuladen. Einigermaßen wenigstens.« Jarvis löste sich von ihr. Scobee blickte ihn einen Moment verblüfft an. Sie genoss es, wieder die Herrschaft über ihren Körper zu besitzen. Dann schloss sie ihren Anzug und aktivierte die Helmblase. Die Anzeigen aller Funktionen wanderten wieder in den grünen Bereich! »Ich sehe mich mal um«, entschied Jarvis. »Kümmer du
dich darum, dass er uns hier rausholt.« Im nächsten Moment wandte er sich auch schon um und hetzte davon. »Cloud«, flüsterte sie, »na endlich! Ich befinde mich in einer riesigen Höhle, und soeben beenden geschätzte zwei Millionen Virgh ihr Schönheitsschläfchen. Ich denke, sie fühlen sich durch unsere Anwesenheit empfindlich gestört.« Pause. Starkes statisches Krachen zeigte, dass es an der Oberfläche nach wie vor starke Störungen geben musste. »Auf Zentalo ist die Hölle los, Scob«, bestätigte Cloud wenige Momente später ihre Vermutung. »Der Empfang ist verdammt mies. Wie geht es dir? Und Jarvis? Moment, sagtest du Virgh!« Erst jetzt fiel beim Kommandant der Groschen. »Und gleich zwei Millionen? Das ist kein guter Moment für einen Scherz...« »Ich scherze nicht. Sieh selbst.« Sie aktivierte die Kamera ihres Anzugs, während sie leise weiterwanderte, um möglichst weit weg von den Kristalleiern zu gelangen. Nur ja nicht berühren, ja nicht streifen... Das Zirpen und Schaben blieb gleichmäßig laut. Für einen Moment kam ihr der abstruse Gedanke, ein Schlaflied zu summen und damit die Brut am Schlüpfen zu hindern. Sie schnaubte. Leider ist meine Gesangsstimme nicht die allerschönste... Das Ende der Höhle war in Sicht. Eine steinerne Wand, eine Barriere, die unmöglich natürlichen Ursprungs sein konnte. Erleichtert schlüpfte Scobee in einen gerade mal mannsgroßen Durchschlupf. Sofort war die Funkverbindung zur Oberfläche getrennt. Fluchend eilte sie weiter, nur weg von dieser Albtraumstätte. Dies hier war ein Tunnel oder ein Gang, an dessen Ende sie ein Tor erwartete. Kein Griff war zu sehen, doch als sie sich näherte, öffnete sich das Schott lautlos.
Scobee wusste nicht, was sie erwartet hatte – aber dies war es definitiv nicht. Müde lehnte sie sich gegen die Tür und sah zu, wie die ersten Virgh aus ihren Kristallkokons schlüpften. Denn dies war eine weitere, endlos weit reichende Brutstätte... *** »Hörst du mich, Scobee?« Die Funkverbindung war wieder da. »Gib mir ein Ortungssignal, damit ich zu dir hinabkommen kann.« Hinabkommen? Ach so, er meinte seinen Inkubus! Hastig befolgte sie seine Anweisung, und wenige Sekunden später stand John Cloud neben ihr. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen, so real wirkte der Inkubus. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er stirnrunzelnd. Sie bedachte ihn mit einem wütenden Blick. Was sollte hier unten bitteschön in Ordnung sein? »Wie kommen wir... wie kommen Jarvis und ich hier wieder raus?«, fragte sie stattdessen, und erzählte ihm mit knappen Worten, was ihr widerfahren war. »Und wo ist Jarvis jetzt?«, fragte er, nachdem sie geendet hatte. »Keine Ahnung. Er wollte sich umsehen. Aber ich bin mir fast sicher, dass ihm nicht einmal diese Monstrositäten hier etwas anhaben können.« Scobee deutete mit dem Kopf in Richtung der Brutstätten der Virgh. Die Ersten von ihnen wölbten sandfarbene Körper aus den Kristallschalen und schienen sich zu orientieren. An ein Durchqueren dieser Höhle war kaum noch zu denken. Und wenn sie in geringer Höhe flog? Aber die Kristallstöcke reichten steil und weit hinauf. Auch dreißig, vierzig Meter über ihnen befanden sich tausende Virgh in
Brutstätten, die so aussahen, als würden sie sich auf ihre Beute stürzen, sobald sie sich aus den Kokons befreit hatten. Dennoch war es der einzig Weg. Scobee konnte nur beten, dass ihre Flugaggregate nicht erneut ausfallen würden. John störte ihre Überlegungen. »Die Stürme und Interferenzen an der Oberfläche lassen allmählich nach. Die RUBIKON befindet sich mittlerweile in einem stabilen Orbit. Die Station, die unter dem Ozean lag, ist mittlerweile ein Trümmerhaufen. Ich habe ein paar deftige Schüsse in den Ozean gefeuert und gewaltige Detonationen geortet. Anschließend muss wohl ihre Tarnvorrichtung ausgefallen. Jedenfalls hat die RUBIKON Trümmer entdeckt.« »Wie weit sind wir von dieser zerstörten Station entfernt?«, unterbrach sie ihn. »Wir sind knapp dreißig Kilometer südöstlich, in einer Tiefe von fünfhundertdreißig Metern.« Der Inkubus bekam einen leeren Blick. Ein deutliches Zeichen dafür, dass er die Bindung zu seinem realen Körper in der RUBIKON verstärkte und Informationen einholte. Schließlich sagte er: »Ich suche Spalten, durch die du nach oben fliegen könntest. Aber leider sind die Oberflächenspannungen noch immer nicht ausgeglichen. Das Land formt sich im Minutentakt um. Es wäre Wahnsinn, dich jetzt hochzuschicken. Aber ich habe Jarvis geortet. Er ist ganz in der Nähe.« »Ja, das ist er«, tönte Jarvis' Stimme. »Und? Hast du etwas entdeckt?«, begrüßte ihn Scobee. »Ja. Aber es wird euch nicht gefallen.« »Jetzt sag schon. Gibt es irgendwo einen Aufstieg, den wir nutzen können?« »Nein. Ich fand lediglich Löcher und Durchgänge, die in weitere Höhlen führten. Ober- und unterhalb von uns, links und rechts – überall. Es scheint fast so, als ob gesamt Zentalo unterkellert ist. Es muss hunderte Höhlen geben,
wahrscheinlich tausende.« Er machte eine kurze, theatralische Pause. »Und überall schlüpfen Virgh...« *** Sonderbarerweise konnte sie die neue Enthüllung nicht weiter erschüttern. Was machte es schon für einen Unterschied, ob hier unten zwei oder zweihundert Millionen dieser Geschöpfe heranreiften? »Mir bleibt wohl nichts anderes übrig«, sagte Scobee. »Ich muss es mit dem Flugaggregat versuchen.« Der Inkubus blickte betreten zu Boden. Es war ihm anzusehen, dass er gewünscht hätte, mehr für sie tun zu können. »Kommst du alleine zurecht?«, fragte Scobee den Amorphen. »Ich bleibe bei dir und schütze dich«, sagte Jarvis. »In meinem Körper kann dir nichts passieren.« Scobee antwortete nicht, doch ihr Widerwillen war ihr anzusehen. »Du hast alleine keine Chance«, beschwor sie der Inkubus. »In wenigen Momenten bricht hier die Hölle los...« Als hätte er es beschworen, herrschte von einem Moment zum nächsten das Inferno. Die ersten Tausendschaften der Virgh waren geschlüpft. *** Scobee stieg sofort hoch und schwebte zwanzig Meter über den Kristallfeldern. Der Inkubus wich nicht von ihrer Seite, während Jarvis verschwunden war. Allmählich wurde es dunkler, denn nach und nach
verblasste das grünblaue Leuchten. Sobald ein Virgh geschlüpft war, zerfiel die kristalline Masse zu einem bräunlichen Brei. »Hier entlang!«, rief der Inkubus, der einige Dutzend Meter vor Scobee schwebte. Er flog voraus und erkundete eine Schneise, einen Weg, der sie möglichst unbedrängt von hier wegleiten würde. Doch worauf sollte sie noch hoffen? Selbst an der Decke klebten Kristallnester. So musste es sein, auch wenn sie sie nicht ausmachen konnte. Wie war es sonst zu erklären, dass vereinzelt Virgh herabfielen? Oder sich gar hinabstürzten? Ein Schrei blieb ihr im Hals stecken, als eines der Wesen geradewegs durch den Inkubus hindurchfiel. Jeden Moment konnte es auch sie treffen. Hastig aktivierte sie ihren individuellen Schutzschirm. Aber würde der überhaupt helfen? »Pass auf!«, rief ihr der Inkubus zu. Instinktiv flog sie eine weite Rechtskurve. Zehn oder mehr der Wesen fielen wie plumpe Puppen an ihr vorbei. Sie schrien und zirpten in hohen Tönen, grabschten mit ihren langen Extremitäten nach ihr, wollten sie im Flug mit sich ziehen. Die Geräusche mehrerer dumpfer Aufpralle ertönten. Wahrscheinlich waren sie zu Tode gestürzt; doch sie nahmen keine Rücksicht auf ihr eigenes Leben. Sie wollten nichts anderes als töten. Hatten die Virgh vielleicht Soldaten wie Bienen und Ameisen? Scobee konnte sich nicht vorstellen, dass diese Kreaturen Raumschiffe lenkten. Vor ihr endete die Höhle. Es gab keine Möglichkeit, sie zu verlassen. »Nach rechts«, brüllte der Inkubus vor ihr. Automatisch folgte sie seinen Anweisungen. Ein Landen
war unmöglich geworden. Die Virgh bedeckten inzwischen vollends den Boden und reckten ihre vorderen Extremitäten nach oben. Auch wenn keine Sehorgane zu erkennen waren – die Biester wussten ganz genau, nach wem und wo sie zu suchen hatten. Als ob ein Instinkt sie leiten würde, der ihnen befahl, alles auszurotten, das nicht wie sie war. Scobee flog höher, hinein in den nebligen Schimmer. Sie näherte sich rasch der Decke. Und die bot ein Ebenbild des Bodens. Auch hier waren Virgh festgeklammert und langten mit ihren langen Gliedern in ihre Richtung. Als sie weiterflog, war es, als ob sich Arme aus Seetang in ihrem Kielwasser bewegten. »Scob, ich habe eine Nachricht von Artas erhalten!«, rief ihr Cloud zu. »Er hat einen Plan, sagt er.« Artas? Den hatte sie vollends vergessen! Aber natürlich – seit die Virgh-Station vernichtet war, war das Magnetfeld der Sonne wieder stabil. Doch was konnte der Satoga bewirken, wenn Cloud in Zusammenarbeit mit der RUBIKON bereits scheiterte? »Du sollst dich...« Cloud stockte kurz, bevor er weitersprach, diesmal mit völligem Erstaunen in der Stimme: »Du sollst dich in die nordöstlichste Ecke der Höhle zurückziehen. Dort befindet sich eine Art Nebenraum. In dem sollst du dich verstecken. Verdammt! Woher will er das alles wissen?« Sie hatte keine Zeit, um sich zu wundem oder Fragen zu stellen. Sie reagierte einfach und flog in die angegebene Richtung. Tatsächlich! Hier gab es einen schmalen, aber hohen Durchgang, und ohne lange zu überlegen, flog sie hinein. Auch hier wimmelte es am Boden von Virgh – doch die rötlich gefärbte Decke war weitgehend frei von ihnen. Der Inkubus glitt neben sie und zuckte mit den Achseln. Er
wusste genauso wenig wie sie, was Artas vorhatte – und woher er die Topographie hier unten kannte. Donner ertönte. Langsam, rollend, kam er näher. Er begann scheinbar harmlos, wuchs aber rasch zu einer Lawine an ohrenbetäubenden Tönen an. Explosionsgeräusche! Sprengte dieser Wahnsinnige etwa den halben Planeten, um zu ihr zu gelangen? Quer durch das fragile, ohnehin bis ins Letzte belastete Gesteinsprofil? Das musste ihrenTod bedeuten, erdrückt und erschlagen von Abermilliarden von Tonnen Fels! Eine Sandwolke wuchs heran, und mit ihr kam der Sturm. Scobee drückte sich so weit wie möglich in den hintersten Winkel der Nebenhöhle, hielt sich an einer Felsnadel fest, nur wenige Meter neben einem Kristallstock, aus dem soeben fünf oder sechs Virgh schlüpften. Einer griff gierig nach ihr, durchfuhr scheinbar mühelos den Schutzschirm, berührte ihren Anzug, zog eine schleimige Spur. Einen Moment später wurden er und alle anderen weggeweht und zu Klumpen zerdrückt, während sich die GenTec mit aller Kraft festklammerte. Sie sah nichts mehr, sie hörte nichts mehr. Der aufgewirbelte Staub raubte ihr jegliche Sicht. Nur einmal erhaschte sie einen Blick auf den Inkubus, der mitten im Raum schwebte, unbeeindruckt vom Sturm, und sie verzweifelt ansah. Er konnte ihr nicht helfen. Es dauerte drei oder vier Minuten, dann ließ das Schlimmste nach – und die Höhle existierte nach wie vor. Die Reserven der Anzugaggregate waren zu neunzig Prozent erschöpft. Der Kampf gegen diese urtümlichen Elemente raubte ihrer Ausrüstung die letzten Energien. »Scobee? Kannst du mich hören?« Artas! Dies war seine Stimme! Wo war er?
»Ich bin ganz nahe bei dir! Hab nur noch etwas Geduld.« Langsam sank sie hinab, landete auf dem Geröllfeld, das sich gebildet hatte. Etliche Meter hoch lag hier das Gestein, und der Staub setzte sich allmählich. Nur da und dort ragte ein Arm eines Virgh hervor und zuckte leicht. Der Inkubus war weg. Auch die Funkverbindung war erheblich gestört, und statisches Rauschen drang aus den Lautsprechern. Unglaublich! Warum hatte ausgerechnet die Decke dieser Höhle gehalten? Ein Schatten schwebte auf sie zu. Eine Gestalt. Artas, wie immer grinsend. Der unvermeidliche Dunkeltropfen hing neben ihm in der Luft. »Wir haben nicht viel Zeit«, sagte der Satoga. »In einer Viertelstunde müssen wir an der Oberfläche sein.« Sie war zu erschöpft, um Fragen zu stellen. Artas packte ihre Hand, zog sie einfach mit sich. Instinktiv aktivierte sie die Flugaggregate und ließ sich leiten. In der Höhle, aus der sie gekommen war, war kein Stein auf dem anderen geblieben. Ihre Sicht reichte wegen des Staubes nicht weit genug, um das wahre Ausmaß des Zusammensturzes zu erkennen. Fest stand, dass hier kaum ein Virgh überlebt hatte. Die nächsten Minuten erlebte Scobee wie in Trance. Artas flog voran und leitete sie mit traumwandlerischer Sicherheit durch Löcher, Spalten und Durchbrüche, die vorher noch nicht existiert hatten. Eine Höhle nach der anderen glitt an ihr vorbei, bis es plötzlich aufwärts ging. Licht war oben zu sehen, natürliches Licht! Und noch bevor sie den Gedanken zu Ende gebracht hatte, schoss sie auch schon hoch hinauf, noch immer vom Satoga geführt. Geblendet stellte sie ihre Augen auf die neue Situation ein.
Als diese sich an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, schwebte sie bereits in einer Höhe von mehreren hundert Metern. Unter ihr breitete sich eine zerstörte und verwüstete Landschaft aus. Breite Kratereinbrüche, Risse, dampfende, überquellende Vulkankegel. Darüber gelbbraune Wolken, die von Stürmen vorwärts getragen wurden. Es war ein Bild, das sich für immer einprägte. »Wir müssen weiter!«, drängte Artas, als Scobee nicht weiterflog. »Nein!«, entgegnete sie scharf. »Wir müssen Jarvis suchen!« »Für das ist keine Zeit, Scobee! Hier geht gleich alles hoch.« »Alles?«, fragte sie. »Noch mehr als jetzt?« »Viel mehr!« Verdammt! Erneut trat jemand in ihr Leben, der es liebte, möglichst geheimnisvoll zu tun... »Aber ich kann Jarvis nicht dort unten sitzen lassen!«, rief sie. »Es geht jetzt um dein – um unser – Leben. Wir müssen weg. Ob du es willst oder nicht!« Jetzt war es nicht mehr Artas, der sie festhielt. Es war ein Zugstrahl von oben, von der PERSPEKTIVE, der sie in helles Licht tauchte und sie abrupt zu sich hochzog. »Jarvis!«, schrie sie und kämpfte vergebens gegen die unsichtbaren Strahlen an. So lange, bis sie gelbes, allumfassendes Licht blendete, das von der Oberfläche des geplagten Planeten stammte. Nur einem automatisch vorgeschobenen Dunkelfilter war es zu verdanken, dass Scobee nicht augenblicklich erblindete. Unter ihr verging Zentalo.
6. Ich hatte das Leben, ich zog an ihm, ich dachte, es töten zu können. Ich nährte mich an seiner Angst. Und doch entwischte es. Ich sterbe, ohne getötet zu haben. Meine Existenz hatte keinen Sinn. So wie das von einhundert Milliarden meiner Brüder... Scobee ließ sich in die Schleuse der Zentralkugel des Atommodells fallen und blickte hinab. Sie befanden sich bereits gut eine Millionen Kilometer entfernt. Hinter ihnen war soeben ein ganzer Planet gestorben. Nachdem sich der Lichtschein gelegt hatte, war es zu einer ganzen Reihe von kleinen Explosionen an der Oberfläche gekommen. Fast banal hatte es gewirkt, als Zentalo immer mehr in sich zusammengesackt und rasch erkaltendes Feuer aus dem Planeteninneren hervorgequollen war. Ein lebloser Klumpen war alles, was noch übrig war, und auch dieser würde allmählich zerfallen, bis nur noch kosmischer Staub vorhanden war. Am erschreckendsten empfand Scobee, dass sie eigentlich kein Bedauern fühlte. Millionen oder Milliarden der Virgh waren dort unten verglüht, und das rechtfertigte ihrer Meinung nach jedes Mittel. Doch dass es Jarvis nun endgültig erwischt hatte... »Hast du geglaubt, dass ich dich alleine lasse?« Sie zuckte zusammen. Die Stimme! Jarvis! Wo war er? Quecksilberfarbene Flüssigkeit löste sich da und dort von ihrem Anzug, bröckelte wie Fassadenfarbe ab, floss ineinander und formte sich zu einem hässlichen Stumpf. Fasziniert betrachtete Scobee dünne Fäden, die an ihrem Schuhwerk hingen bis zur Schleuse. Sie flossen langsam in ihre Richtung
und suchten den Kontakt zum Stumpf. Immer mehr Masse bildete sich – bis sie endlich ein verzerrtes Ebenbild Jarvis' anstarrte. »Ein seltsames Gefühl, wenn man sich so ausbreitet«, sagte der Amorphe und streckte sich. »Du... du hast die ganze Zeit an mir geklebt?« »Natürlich! Ich war so eine Art Schutzengel. Das hast du gar nicht bemerkt, was? Ich hätte dich aus dieser Brutstätte herausgebracht – und wenn es notwendig gewesen wäre, auch gegen deinen Willen!« »Du hast erstaunliche Freunde!«, sagte Artas, der hinter Scobee stand. Den hatte sie völlig vergessen! »Das kannst du laut sagen!«, erwiderte sie. Ein erschöpftes Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Und du reihst dich fugenlos in diese Reihe ein.« 7. Zwei Stunden später, an Bord der RUBIKON: »Es gilt, einige Ungereimtheiten aufzuklären«, sagte John Cloud. Er sah dabei Artas direkt in die Augen. »Auch wenn ich dir dankbar bin, dass du zustande gebracht hast, was ich nicht konnte – wie hast du Scobee von Zentalo weg in Sicherheit gebracht? Mir scheint, du hast uns nicht die ganze Wahrheit gesagt, was deine Fähigkeiten betrifft.« »Doch. Das habe ich sehr wohl. Mag sein, dass ich ein kleines Detail weggelassen habe«, der Satoga räusperte sich auf durchaus menschliche Art und Weise, »aber ich habe euch nicht angelogen.« »Nochmal: Wie hast du Scobee in den Höhlen gefunden? Woher wusstest du, wie es dort aussah? Wie hast du sie befreit?«
Cloud war nahe daran, die Geduld zu verlieren. Die Foronen mit ihrer ständigen Geheimnistuerei hatten ihn in letzter Zeit genügend Nerven gekostet. »Wie ich schon früher einmal sagte: Magnetismus.« Der Satoga blickte sich um. »Als ich Scobee an Bord holte und ihr eine Schwarzhaut anlegte, hinterließ ich einen magnetischen Imprint. Keine Angst – es handelt sich dabei um geringfügige Spuren von Magnetstaub, der in den Poren sitzt und nach einer gründlichen Reinigung ausgewaschen ist. Es war eine bloße Sicherheitsmaßnahme, um jederzeit festzustellen, wo sie sich gerade an Bord der PERSPEKTIVE aufhielt.« An Scobee gerichtet, fuhr er fort. »Du erinnerst dich sicherlich: Ich ließ dich aus deiner Kabine lediglich von einem Dunkeltropfen abholen. Wärest du vor ihm aus irgendeinem Grund davongelaufen und gar entkommen, wollte ich dich mit meinen Sinnen im Schiff orten können.« Artas stand auf und machte wenige, kurze Schritte auf und ab, als müsse er konzentriert nachdenken. »Nachdem die Station auf Zentalo weitgehend zerstört war, kehrte das Magnetfeld der Sonne wieder in seinen Normalzustand zurück, und wir konnten den Planeten mit unserem Schiff wieder ansteuern. Ich erkundigte mich bei Cloud, ob wir helfen könnten. Er sagte mir, dass du und dieses amorphe Wesen«, er deutete auf Jarvis, »im Inneren Zentalos verschollen seien. Ich dachte sofort an den magnetischen Imprint und durchforschte die Magnetfelder im Planeten. Nach kurzer Zeit hatte ich deine Kennung gefunden – und eine überraschende Entdeckung gemacht: Dort, wo du dich bewegtest, fand ich stark eisenhaltige Adern, die meine Sinne extrem ansprachen.« Langsam dämmerte es Cloud. Bislang hatte er noch nicht begriffen, welche Gabe den Satoga in die Hände gelegt war – aber mehr und mehr verstand er. »Du konntest die Eisenvorkommen sozusagen ausloten,
nicht wahr?«, fragte er in Richtung Artas'. »So ist es! Im Verbund mit meinen Magnetmeistern gelang es mir, eine Art dreidimensionales Bild des Höhlensystems zu zeichnen. Und nicht nur das: Durch Bündelung unserer Kräfte konnten wir eine sichere Passage von der Oberfläche bis zu den Höhlen schaffen, die durch Magnetfelder abgestützt war. Ich beorderte dich, Scobee, in eine Kaverne, die wir aufgrund breiter Eisenadern besonders gut schützen konnten. Wir sprengten das Höhlensystem, und ich befreite dich.« Stille. Was gab es dazu noch zu sagen? »Nun«, murmelte Cloud schließlich, »dann können wir uns nur bedanken. Du hast dich als Freund erwiesen und mehr gegeben, als wir erwarten durften. Doch...« Er zögerte. »War es tatsächlich notwendig, den gesamten Planeten zu sprengen?« Überraschend mischte sich Scobee ein. »John, du hast es nicht gesehen, und auch nicht gefühlt. Die Brut, die dort unten heranreifte... Sie war – mir fällt kein besserer Begriff ein – sie war böse.« Sie deutete auf Siroona und Sobek, die überraschend ruhig neben den sieben Sarkophagen standen. »Ich beginne zu verstehen, was es bedeutet, gegen die Virgh antreten zu müssen.« Sobek neigte leicht den Kopf, als wolle er sich für diese Worte bedanken. »Mag sein, Scob. Aber wir haben eine riesige Chance vertan, mehr über die Virgh herauszufinden. Wir haben weder diese ominöse Station untersuchen können, noch deren Raumschiffe, die dort unten eingelagert waren...« »Raumschiffe?« Ungläubig blickten ihn die anderen an. »Ja. Während meines kurzen Kampfes mit der Station ortete ich eine ganze Flotte von Dreizacken. Sie war zwar noch nicht betriebsbereit, aber in gutem Zustand.«
»Um so besser, dass Zentalo nun vernichtet ist!«, knurrte Sobek. »Dies war einmal eine Kolonie der Foronen!«, gab Cloud zu bedenken. »Was war, zählt nicht mehr«, unterstützte Siroona ihren Gefährten. »Alle virghschen Relikte müssen vernichtet werden. Wo auch immer wir sie antreffen.« Aylea meldete sich zu Wort. »Wenn hier unter der Glasschicht eine neue Generation von Virgh heranreift – bedeutet das nicht, dass alle verglasten Welten ähnliche Brutstätten im Inneren haben?« »Das mag sein«, entgegnete Cloud. »Ich denke, dass erst wir – schließlich haben wir Foronen an Bord – mit unserem Auftauchen eine Kettenreaktion ausgelöst haben, die zum Erwachen dieser Kreaturen geführt hat. Solange wir die anderen verglasten Welten unberührt lassen, wird meiner Ansicht nach nichts passieren.« »Das ist eine, reine Vermutung«, warf Jarvis ein. »Oder hast du dafür einen Beweis?« »Nein«, entgegnete Cloud zögernd. »Aber ich denke, wir sollten uns der Erforschung des Viranha widmen. Vielleicht erhalten wir da Antworten auf unsere dringlichsten Fragen.« Er sah zu Artas, und auch zu Sobek. »Und wir sollten es gemeinsam tun.« Schweigen. Schließlich fragte Scobee: »Du willst diese Spur der Virgh weiter verfolgen? Und dich nicht um die Reparatur des Wandlers kümmern, sodass wir in die Milchstraße zurückkehren können?« »So ist es«, antwortete John Cloud. Epilog
Der verklumpte Rest des Viranhas wurde Stunden später aus dem Satoga-Schiff ausgeschleust und ruhte nun in einer energetischen Verankerung der RUBIKON. Nach Ansicht der Foronen war dies die sicherste Möglichkeit, das virghsche Waffenschiff an weiteren Attacken zu hindern und es dennoch zu erforschen. Etwa gleichzeitig bemerkte Cloud, während er mit den Sinnen der RUBIKON im Weltall umhertastete, dass Boreguir verschwunden war. Wahrscheinlich hatte er das Schiff verlassen, denn die KI hatte eine Aktivierung der Luftschleuse registriert, ohne das jemand ausgeschleust hatte. Danach verlor sich seine Spur... ENDE