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DIE BRUT AUS DEM MOORSEE Von Manfred Weiland Tausend versteckte, hungrige, Millionen Jahre alte Augen schienen auf i...
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DIE BRUT AUS DEM MOORSEE Von Manfred Weiland Tausend versteckte, hungrige, Millionen Jahre alte Augen schienen auf ihn herabzustarren. Gestern war er angekommen in diesem Reservat der Vergangenheit, das sie DINO-LAND nannten und wo Gestalten über eine Erde stampften, wie sie in der frühen Kreidezeit ausgesehen hatte. Vor hundertzwanzig Millionen Jahren. Es war nicht vorstellbar. Als wäre man mit einem Raumschiff über Lichtjahre hinweg zu einem fremden Himmelskörper gelangt und hinab getaucht in eine Landschaft, die aussah, wie man sich die Flora und Fauna der Erde vor hundertzwanzig Millionen Jahren vorstellte. Oder als hätte jemand einen künstlichen Park nach seiner Phantasie erschaffen. 2
Nein, dachte er und zog so gierig an seiner Zigarette, wie man es nur in dieser grünen Hölle tun konnte, wenn man von anderen umgeben war und sich doch allein fühlte. Nein, wiederholte er den Gedanken, begreifen ließ sich das nicht. Er verließ die erhöhte Veranda und wollte dem markierten, flutlichterhellten Pfad folgen, als Sondstrups Stimme ihn erreichte. »Eingewöhnungsschwierigkeiten?« Er drehte sich um und musterte den Mann, der der wissen schaftliche Leiter dieses Areals innerhalb von DINO-LAND war. Sondstrup hielt sich seines Wissens nicht permanent, sondern nur in Ausnahmefällen in diesem Camp auf, das vor zweieinhalb Monaten, knapp 26 Monaten nach dem ersten Zeitbeben, in einem Randbezirk errichtet worden war. In einem damaligen Randbezirk. Mittlerweile hatte sich die Grenze durch neue Beben verschoben, so daß eine gute Strecke durch dichten Urwald zurückgelegt werden mußte, um den Stützpunkt zu erreichen. Am zweckmäßigsten geschah dies per Helikopter, aber auch eine planierte Straße zur Wüstengrenze war mittlerweile entstanden. »Nein«, log er, warf den Zigarettenstummel zu Boden und zertrat ihn. »Die Ankunft Ihrer Kollegen verzögert sich etwas«, fuhr Sondstrup fort. »Es kann noch ein, zwei Wochen dauern. Es war nicht absehbar, tut mir leid. Aber wir wollen die Besten, weshalb wir auch kleinere Verzögerungen in Kauf nehmen. Sie hoffentlich auch ...« Er zuckte die Achseln. »Das ist mir egal. Mein Gehalt läuft seit Vertragsunterzeichnung. Wenn ich es durch Warten verdienen soll, werde ich das tun.« »Damit Sie keinen frühzeitigen Lagerkoller bekommen, erhalten Sie die Wochenenden zur freien Verfügung. Ein Kopter kann sie von hier wegbringen und wieder abholen. Ich habe bereits alles mit dem General abgesprochen.« 3
»Sie sind ein angenehmer Arbeitgeber«, lobte er und hoffte, endlich wieder alleingelassen zu werden. Sondstrup blieb vor ihm stehen und schien ergründen zu wollen, was er von der Schmeichelei zu halten hatte. »Ich lasse Sie jetzt wieder allein«, sagte er unerwartet feinfühlig. »Wenn Sie Lust auf Gesellschaft oder ein Gespräch haben, werden Sie sich zu helfen wissen.« Er drehte sich um und kehrte in die Station zurück. Von irgendwo aus der Nacht außerhalb der Zäune wehten die Schreie eines Sauriers herüber, der gerade von einem Schlaue ren oder Stärkeren zerfleischt wurde. Darwins Gesetz, dachte der Mann auf dem Pfad und setzte langsam seine unterbrochenen Schritte fort, bis er dem Zaun so nahe war, wie es innerhalb des Lagers erlaubt war. Von hier aus konnte er in das schattenhafte Leben des fahl vom Sternen licht erhellten Waldes blicken und auch das hohe Zirpen der tödlichen Energie hören, die den schützenden Metallwall durchlief. Vor hundertzwanzig Millionen Jahren hatte es noch keine Vögel im herkömmlichen Sinn gegeben, vom legendären Ar chaeopteryx einmal abgesehen, der noch beides in sich barg: Vogel- und Reptilmerkmale. Aber es gab Flugsaurier, die meist in Gruppen auftraten. Um das Camp auch gegen »Luftangriffe« zu sichern, war zu den Zäunen auch eine Art Decke eingezogen worden, in der sich Korridore für startende oder landende Helikopter je nach Bedarf öffnen ließen. Der Mann am Zaun dachte an das große Gewässer, das irgendwo zwei, drei Meilen entfernt vom Lager aus der Zeit herausgespült worden war, vor drei Tagen erst, und dem er sein Hiersein verdankte. Deshalb hatte man ihn angeheuert. Eine reizvolle Aufgabe. Wer von seinen Kollegen bekam schon Gelegenheit, am lebenden Objekt Forschungen durch 4
zuführen. Für DINO-LAND, soviel stand mittlerweile fest, konnte man sich nicht bewerben, man wurde geworben. Erst seit den Zeitbeben war es möglich geworden, das Herz, die Lunge, die Niere oder die Leber eines Dinosauriers zu beurteilen, in seltenen Fällen sogar zu berühren, was vorher anhand der reinen Skelettfunde immer eine Spekulation geblieben war. Erst jetzt wußte man, wie der komplizierte Stoffwechsel dieser Riesen und Zwerge - es gab alle Schattie rungen - funktioniert hatte. Obwohl er eher ein unterkühlter Typ war, geriet der Mann am Zaun jetzt doch ins Schwärmen. Die Düfte der Nacht, das Rauschen der Baumwipfel, ja selbst die allmählich verstum menden Todesschreie verfehlten nicht ihre Wirkung. Auch Spannung machte sich in ihm breit. Er hatte Sondstrup auch in diesem Punkt belogen: Warten hatte er noch nie gemocht. Vielleicht war es Zufall, vielleicht geschah es durch äußeren Einfluß. Später hätte er es nicht mehr zu sagen gewußt, selbst wenn er darüber nachgedacht hätte - was nicht der Fall war. Einer der Generatoren oder zumindest die Lampe, die diesen Teil des Camps bestrich, setzte ohne jede Vorwarnung aus. Finsternis schwappte wie eine Welle über dem Paläontologen zusammen. Gleichzeitig schien sich ihm ein Geräusch zu nähern, das er zunächst für erhöhtes Summen des energetischen Zaunes hielt. Statt in Panik zu verfallen, drehte er sich einfach um und ging in Richtung auf die immer noch erhellte Station zurück. Als das Summen einen Moment aussetzte, traf ihn der Schmerz im Nacken wie ein glühender Nadelstich. Zuerst erstarrte er, dann schlug seine flache Hand reflexartig nach hinten. Sie traf ins Leere. Dafür klang erneut das seltsame Geräusch auf. Diesmal entfernte es sich in die Dunkelheit. Der Schmerz hatte längst wieder nachgelassen. Nur ein Juck reiz war zurückgeblieben. 5
Aber es markierte den Anfang einer alptraumhaften Verände rung, die den Mann von dieser Sekunde an unentrinnbar in ihren Würgegriff nahm. Er sollte nicht der Letzte bleiben - aber er war mit Bestimmt heit der Erste. In dieser Zeit. * 333 Stunden später ... Nebel lag in der Luft. Kein englischer - Allan Hunter lächelte beim bloßen Gedanken an seine Heimat, die nicht nur tausende Meilen entfernt, sondern auf einem ganz anderen Planeten zu liegen schien -, nein, es handelte sich um einen extrem war men, feuchten, schweren, fast mit einem scharfen Messer teilbaren Dunst, dem man zutraute, jemanden zu ersticken, wenn dieser es nur wagte, sich hineinzubegeben. Er trotzte der Schwerkraft über der sanft im Wind gekräuselten, ansonsten aber dunkel und fremdartig wirkenden Wasseroberfläche. Urnebel, dachte Hunter. Und das stimmte wohl, denn alles, was seit den ersten Beben hier in der Gegenwart aufgetaucht war, verdiente diese Vorsilbe. Die Beben ... das waren keine Erd-, sondern Zeitstöße, und sie rissen keine klaffende Wunden in die kalte Kruste des Planeten, sondern entsprangen einem Phänomen, für das man bis heute, knapp zwei Jahre nach dem ersten Auftreten, immer noch keine vollgültige Erklärung parat hatte. Erfolge gab es dennoch zu verzeichnen, wie Hunter, dessen Fachgebiet ein völlig anderes war, neidlos anerkannte. Mittlerweile war die Mannschaft um Professor Schneider sogar soweit, die »Epizentren« noch zu erwartender Zeitbeben mit hoher Wahrscheinlichkeit vorauszuberechnen. Hunters Gedanken kehrten zu dem urweltlichen Gewässer 6
zurück, dessen Auftauchen für Nadjas und sein Hiersein - und für den Nebel - verantwortlich war. Rein pragmatisch betrachtet, beruhten die Schwaden auf der simplen Tatsache, daß es hier, zumindest tagsüber, wesentlich heißer war als dort, von wo das Reservoir kam. Die Wüsten sonne zog das Wasser förmlich heraus, und es war nur eine Frage der Zeit, bis die so gewaltig anmutende Fläche völlig ausgetrocknet sein würde. Erste dahingehende Beobachtungen waren schon gemacht worden, und das war auch nur logisch, denn die Quelle, die den See speiste, war offensichtlich nicht mit transferiert worden. »Unheimlich«, sagte Nadja. »Laß uns ins Lager zurückkeh ren. Der Transport muß jeden Moment eintreffen. Sondstrup ist ein guter Mann, aber es sind unsere Babies. Ich will dabei sein, wenn sie mit ihrer vorläufigen Zwischenstation konfrontiert werden.« Sie hob kurz wie witternd die Nase und fügte hinzu: »Hoffentlich reißt diese Suppe auch irgendwann einmal auf. Einladend sieht es nicht gerade aus ...« Allan Hunter drehte sich zu ihr um und sagte in bestimmtem Ton: »Es hat uns auch niemand eingeladen - abgesehen von Sondstrup. Ich würde sogar sagen, wir treiben uns hier völlig uneingeladen herum. Denn niemand kann sich dafür -« er machte eine ausholende Geste, »- wirklich zuständig erklären. Aber das wußten wir vorher - zumindest hätten wir es wissen sollen. Denkst du an einen Rückzieher?« Die Soldaten, die mit ihren M3 - Gewehren in der Nähe standen, konnten aus dem Umgang, den Allan und Nadja öffentlich miteinander pflegten, unmöglich den Schluß ziehen, daß sich zwischen den beiden privat etwas abspielte. Keiner hatte das bislang bemerkt, und so wollten sie es auch weiterhin halten. »Einen Rückzieher?« Auf Nadjas Gesicht deutete sich ein Ausdruck an, den Hunter schon voll entwickelt zu spüren bekommen hatte. Es war eine Mischung aus Staunen, keimen 7
der Wut und dem Starrsinn eines Kindes, das sich bei einer Entdeckungsreise gestört fühlt. »Du könntest mich nur noch auf zwei Arten davon abhalten, dem Rätsel dieses paradoxen Sees auf den Grund zu gehen.« »Zu „gründeln“«, meinte Hunter mit sanftem Spott und fügte hinzu: »Ich wäre interessiert.« »Woran?« »An den zwei Möglichkeiten. Laß hören.« Nadja trat einen Schritt auf ihn zu, und, es war eigenartig, sie schien dabei zu schrumpfen. Mit ihrer Überzeugungsgabe, ihrem Wissensschatz und einer faszinierenden Ausstrahlung konnte sie in Gesprächen ein Bild von sich entwerfen, das einen eigenartigen Widerspruch zu der zierlichen, zarten Nadja Bancroft darstellte, als die sie sich objektiv betrachtet gab. Zumal, wenn es um ihr gemeinsames Fachgebiet ging, Meeres kunde und Paläobiologie. Aber gerade dieser Widerspruch machte sie aus Hunters Sicht besonders reizvoll. »Wie du willst.« Ihre grünen Augen blitzten. »Du könntest mich beispielsweise den Sauriern zum Fraß vorwerfen, das wäre die eine Möglichkeit. Oder …« »Oder?« Er erkannte schon an ihrem Tonfall, daß jetzt die eigentliche, für ihn bedrohliche Alternative kam. »Oder mich endlich heiraten.« Sie hatte die Stimme gesenkt, so daß niemand aus ihrer Eskorte verstehen konnte, was hier an weltbewegenden Dingen im Angesicht eines JahrmillionenMysteriums ausgetauscht wurde. Hunter reagierte ohnehin auf andere Weise, als zu erwarten gewesen wäre. »Stone?« rief er einem der Uniformierten zu, der mit seiner Bewaffnung und in seiner Kampf-Tarn-Kombination ein besonders grimmiges und entschlossenes Exemplar der soldatischen Gattung verkörperte. Die Streifen an seinem Revers wiesen ihn als Lieutenant aus. »Ja, Sir?« kam es peitschend zurück. 8
»Wir können zurückfahren. Wir haben gesehen, was zu sehen war.« Das war nicht einmal gelogen, denn vom eigentlichen Ziel ihres Ausflugs aus dem militärischen Stützpunkt, der im Herzen von DINO-LAND mit allen erdenklichen Sicherheits vorkehrungen geschützt lag, hatten sie dank des allgegenwärti gen Nebels kaum etwas zu Gesicht bekommen. Dies bestätigte wiederum ihre eigene, vor dem Gremium vertretene Auffassung, daß sie auf und in das aus dem Meso zoikum stammende Gewässer gehen mußten, um seine Rätsel zu lösen. »Feigling!« raunte Nadja, aber sie dachte nicht daran, mehr zu tun, als an seine »Mannesehre« zu appellieren. Lieber ein feiger Junggeselle als ein verheirateter Held, lautete Hunters Motto. Er hatte etwas krause Vorstellungen von einem Eheleben, was mit dem Umstand zusammenhing, daß sich seine Eltern voneinander trennten, als er sie gerade am nötigsten gebraucht hätte; im beginnenden Pubertätsalter. Sowohl seine Mutter als auch sein Vater hatten danach wieder geheiratet - und waren zwischenzeitlich wieder geschieden. Gab es schlüssigere Beweise, daß »Glück« und »Ehe« nicht zusammenpaßten, sondern sich nach Art von Materie und Antimaterie gegenseitig vernichteten? Sie marschierten zu den gepanzerten Jeeps zurück, in deren Konstruktion angeblich alle bisherigen Erkenntnisse über den Wald und seine Bewohner berücksichtigt waren. Selbst den Angriffen einer Deinonychus-Herde sollten die Fahrzeuge so lange widerstehen können, bis Kopterverstärkung oder andere Hilfe eintraf. Das jedenfalls behaupteten die klugen Konstrukteure in ihren sauriersicheren Büros; in die Verlegenheit, es auszuprobieren, war bislang noch kein Außenkommando gekommen. Die beiden Jeeps standen auf einer kleinen Lichtung, die nicht natürlich entstanden war, sondern ebenso wie die Zufahrts 9
schneise von einem Voraustrupp und einer Planierraupe plattgewalzt worden war. Die Rücksichtslosigkeit, mit der hier Pflanzenarten nieder gemacht wurden, die abseits von DINO-LAND seit dem Ende der Kreidezeit ausgestorben waren, hatte schon so manchen gewissenhaften Paläobotaniker im Camp über Nacht ergrauen lassen. Die Militärs unter General Pounder ließen sich davon jedoch nicht von ihrer pragmatischen Linie abbringen. Der See war vor zwei Wochen aufgetaucht und hatte für einigen Aufruhr gesorgt. Nicht nur seiner Größe und den Prophezeiungen der Zeitseismologen wegen, daß noch weitere Wassermassen »herüberrutschen« könnten, sondern wegen der sehr schnell durchgeführten Gewässeranalyse. Der See war mit Salzwasser gefüllt, was niemand erwartet hatte, und seitdem spekulierte man, ob es sich wirklich um einen See oder um ein Stück Meer handelte - Teil einer Lagune vielleicht, die von dem Beben abgetrennt worden war. Die Aufgabe von Allan Hunter und Nadja Bancroft bestand unter anderem auch darin, das herauszufinden. Für die beiden war dies, spätestens seit sie hier am Ufer des urzeitlichen Gewässers gestanden hatten, aber nur noch die vordergründige Rechtfertigung für ihren mit Macht erwachten Entdeckerdrang. Wenn die Regierung ihre Salzwasser-Erklärung haben wollte, sollte sie sie bekommen. Daß den Meereskundlern dabei noch »beiläufig« der Blick auf einen Lebensraum ermöglicht wurde, der zwar in allen Büchern über die Erdfrühgeschichte erwähnt wurde, aber noch nie vom Auge eines Menschen »live« hatte betrachtet werden können, war die eigentliche Triebfeder ihres großen Engage ments. Das hatte sie vom ersten Tag ihrer Ankunft an für manchen Eisenschädel in Uniform suspekt gemacht. Was wiederum die beiden mehr als verdächtig fanden ... »Beeilen Sie sich!« rief Stone. Bei ihm wirkte jedes gespro 10
chene Wort, als würde er es zwischen den ausgeprägten Kieferreihen zerkauen. »Ich bekomme gerade Sturmwarnung!« Er tippte mit dem Zeigefinger gegen den Ohrstöpsel, der über Kabel in seiner Brusttasche mündete. Unter dem Kragen befand sich ein Kehlkopfmikrofon. Beides gehörte zur Stan dardausrüstung aller Soldaten in DINO-LAND, weil HandWalkie-talkies die Unart besaßen, fünf Finger für den lebens wichtigen Umgang mit schwerem Waffenkaliber zu blockieren. »Sturmwarnung«, wiederholte Nadja kopfschüttelnd, stieg aber sofort durch die offene Luke in den Fond des Panzerfahr zeugs, mit dem sie auch gekommen waren. Im anderen fand das halbe Dutzend Soldaten unter Stones Führung Platz, während bei den Meeresforschern nur noch zwei Uniformierte, darunter der Fahrer, zustiegen. Geisterstürme, dachte Hunter, der Nadja gefolgt war und sich auf dem harten Sitz zurücklehnte, während die Luken auf Knopfdruck leise fauchend schlossen. Einen Moment war er versucht, den Arm um Nadja zu legen, aber er erinnerte sich rechtzeitig an ihr Abkommen und verzichtete. Geisterstürme, dachte er noch einmal, den skeptischen Blick durch die zehn Zentimeter dicke Bleiglasplatte in der Wagen decke nach draußen gerichtet. Er selbst hatte den Begriff geprägt, weil das Wetter in diesem einstigen Wüstengebiet im Süden Nevadas Kapriolen schlug, seit DINO-LAND mit seiner eigenen »altmodischen« Biosphäre aufgetaucht war. DINO-LAND umfaßte mittlerweile ein Gebiet von knapp zweitausend Quadratmeilen. Es hatte Las Vegas verschlungen (auch wenn das nicht sehr wissenschaftlich ausgedrückt war), eine komplette Stadt mit trotz Evakuierungsmaßnahmen immer noch etlichen Bewohnern, und breitete sich seit geraumer Zeit wieder aggressiver und - Hunter konnte sich des rein emotiona len Eindrucks nicht erwehren - hungriger aus. Der ganze Komplex, der aus der Vergangenheit »herüberge wachsen« war, schien den herrschenden und allgemein 11
gültigen physikalischen Gesetzen Hohn zu sprechen. Nicht in allem, aber in vielem. Vor allem in Details, in denen ja auch sprichwörtlich der Teufel steckte. Bei jedem Beben gab es eine rasiermesserscharfe, absolut glatte Schnittlinie zwischen dem, was herüberkam und dem, was in der Gegenwart erhalten blieb. Das ging in manchen Fällen sogar so weit, daß lebendige Saurier, die beim Übergang ungünstig gestanden hatten, in der Mitte sauber durchtrennt worden waren. Bei den »Geisterstürmen« trat ein Effekt auf, der damit nichts zu tun hatte. Es kam vor, daß auf dem vergleichsweise winzi gen Areal von DINO-LAND das Wetter binnen weniger Minuten umschlug, als fände immer noch ein Luftaustausch mit der angestammten Zeitebene statt - mittlerweile stand aber fest, daß dies nicht der Fall war. Es hing einfach mit der mitgebrachten Biosphäre zusammen, die hier auf eine völlig fremdartige traf und auch mal ein Unwetter entfesselte. Dort, wo es früher einmal im Jahr geregnet hatte, gingen heute tropische Regengüsse nieder, begleitet von Blitz und Donner, die ein herkömmliches Gewitter wie einen Sturm im Wasserglas erscheinen ließen. Die beiden Soldaten vorne unterhielten sich halblaut und wie Hunter fand - beinahe verschwörerisch. Aus ihrer Meinung über die Zivilisten, die sie gegebenenfalls unter Einsatz ihres eigenen Lebens zu schützen hatten, machten sie so wenig ein Hehl, wie es umgekehrt oft genug vorkam. Auch Allan Hunter war kein Freund gewalttätiger Lösungen, aber manchmal, davon war er mit seinen inzwischen fünfund dreißig Jahren überzeugt, führte kein Weg daran vorbei, und dann war es gut, daß es Leute gab, die den miesen Job erledig ten. Er verachtete keinen Soldaten. Es war ähnlich wie mit Metzgern: Ab und zu aß Hunter gern ein Stück Fleisch, aber das hieß nicht, daß er es selbst schlach ten, zerlegen und entbeinen wollte - und es hieß auch nicht, daß 12
sich unter seinen Freunden Fleischer befanden. »Meinst du, daß wir uns in direkter Gefahr befinden?« fragte Nadja. Sie tat es, wahrscheinlich unbewußt, ebenso leise und verschwörerisch wie die beiden Soldaten. »Nein«, sagte Hunter und wünschte, daß er wirklich recht behalten würde. Zum Camp waren es genau 2,6 Meilen, das hatten sie bei der Herfahrt anhand des sehr präzisen Tachos gestoppt. Im Normalfall war dies eine Strecke von wenigen Minuten. Hier, umgeben von Bäumen, die keine Bäume im herkömmlichen Sinn waren, und Büschen, aus denen sich schon mal ein gefräßiges kleines Maul reckte, zählte das alles nicht. Man war Sauriern begegnet, die kaum größer als ein Mensch, schnell und wendig wie ein Leopard und blutrünstig wie ein Tyrannosaurus über Expeditionen hergefallen waren - vom T. Rex selbst ganz abgesehen. Nein, er hatte auf jeden Fall gelogen, gestand sich Hunter ein. Hier draußen befand man sich jede verdammte Sekunde in direkter Gefahr, ganz gleich, ob man zu Fuß oder im vermeint lichen Schutz eines Panzers unterwegs war! Besonders bei Nebel ... So plötzlich, daß sich der Jeep wie ein bockendes Pferd aufbäumte, schlug unmittelbar vor ihnen ein Blitz ein. Und das war schlecht. Doppelt schlecht sogar. Denn vor ihnen war die ganze Zeit, gerade noch in Sichtwei te, der zweite Jeep gefahren. Jetzt gab es dort für fast endlose Sekunden nur noch einen dampfenden Einschlagkrater, der den festgestampften Waldboden wie nach einem Granateinschlag aufgeworfen hatte. Ein waghalsiges Ausweichmanöver verhinderte, daß der Jeep mit Hunter und Nadja in das Schlagloch geriet. Statt dessen machten sie Bekanntschaft mit einem Baum, der kein Baum war, sondern ein ins Riesenhafte vergrößertes Farngewächs. 13
Das Mahlen aller vier Räder war als unheilvolles Omen bis ins Innere der Fahrzeugkabine zu hören. Der leistungsstarke Vierradantrieb konnte nicht verhindern, daß das Reifenprofil, einmal von der provisorischen Straße abgekommen, im weichen Urwaldboden nicht mehr griff, sondern durchdrehte und sich selbst immer tiefer in die krumige, lockere Erde grub. Der Jeep schien in einem langsamen Lastenaufzug abwärts getragen zu werden - solange, bis der Fahrzeugboden aufsetzte und dem Effekt ein Ende bereitete. »Scheiße!« fluchte der Fahrer etwas unsoldatisch, aber durch aus verständlich. »Dinoscheiße«, brachte es sein Kollege auf den Punkt. »Was ist?« rief Nadja. Sie bemühte sich, aber es gelang ihr nicht, den Anflug von Panik zu verbergen. »Sitzen wir fest?« Die Antwort auf die wohl nur rhetorische Frage blieb aus. Der Fahrer ließ nicht ab von seinem stupiden Versuch, durch Spielen mit Gas und Kupplung doch noch Wirkung zu erzielen, und sein Nebenmann war darauf konzentriert, Funkverbindung zum zweiten Jeep herzustellen. Beides mißlang, wenn man das Verhalten von Stones Män nern richtig deutete. »Wir müssen nach den anderen sehen. Es könnte -« Allan Hunter brach mitten im Satz ab. Etwas Seltsames geschah. In der Luft lag plötzlich ein hohes, helles, fast quiekendes Geräusch. Es erinnerte ihn unwillkür lich an die Sonarortung seiner besonderen Schützlinge, die hoffentlich wohlbehalten im Camp ankamen - auch wenn sich ihre Rückkehr nun etwas verzögern sollte. Spät erkannte er, daß er immer noch nicht gelernt hatte, die Umgebung richtig einzuschätzen. »Da!« Die Hand des Fahrers stieß plötzlich in eine Richtung, wo der Nebel besonders dicht und gespenstisch waberte. »Was ist?« fragte Hunter angespannt. »Da war etwas ...« 14
»Was?« »Ich habe nur die Bewegung gesehen.« »Vielleicht der andere Jeep. Sie haben gemerkt, daß wir nicht mehr folgen, und sind umgekehrt ...« Der Soldat schüttelte den Kopf, nicht einmal heftig, aber sehr bestimmt. »Es war zu groß«, sagte er. »Das kann täuschen. Der Nebel verfälscht.« »Ich verständige die Basis«, sagte der andere von Stones Männern. »Was soll das bringen?« fragte Hunter. »Sie müssen uns jemanden schicken. Stone meldet sich nicht über Funk. Das kann mit dem Blitz zusammenhängen. Aber er müßte längst gemerkt haben, daß wir zurückgeblieben sind! Warum kommen sie nicht nachsehen?« Das Trommeln auf dem Dach des Jeeps setzte so warnungslos ein, daß selbst das Quieken übertönt wurde, und im ersten Moment zuckten alle zusammen. Aber es war nur der Regen, der mit einer Heftigkeit niederprasselte, als wollte er den Nebel aus der Luft waschen. Hunter wünschte sich, daß es gelingen würde. Gleichzeitig wußte er, daß ein anhaltender, heftiger Niederschlag ihre Probleme noch verschärfte. Er hatte längst begriffen, was in den Köpfen der beiden vom Rest ihre Truppe abgeschnittenen Soldaten herumspukte. »Das ist nicht Ihr Ernst«, herrschte Hunter den Beifahrer an. »Sie wollen hier drinnen warten, bis Hilfe kommt?« »Hast du einen besseren Vorschlag, Mann?« Unbewußt verfiel der Angesprochene in eine Vertraulichkeit, die am besten unterstrich, wie brisant ihre Lage bereits war. Schlichtend meinte der andere Soldat: »Wir müssen jetzt vor allem Ruhe bewahren!« Er wandte sich an seinen Kollegen: »Versuch's, Darryl. Sie müssen uns hier rauspauken!« In diesem Moment begriff Allan Hunter, daß nicht die beiden Soldaten Probleme mit der Einschätzung ihrer Lage hatten, 15
sondern dies nur für ihn und Nadja galt. Stones Männer waren nicht zum ersten Mal hier draußen, und man durfte annehmen, daß sie die Risiken realistischer sahen als zwei Meereskundler, die mal eben aus ihrem Institut bei Miami eingeflogen und mit fetter Gage geködert worden waren und nun in einem Schlammloch inmitten einer vor mehr als hundert Millionen Jahren entstandenen Landschaft festsaßen. »Was - ist das?« fragte Nadja. Alle lauschten. Der abrupt einsetzende Sturm war so laut, daß niemand sicher war, ob es wirklich Schüsse und Schreie waren - menschliche Schreie! - die zu ihnen herüberwehten und schon nach ein, zwei Minuten wieder abbrachen. Das riesige Waldgebiet, das bis dicht an den neu erschienenen See heranreichte, war von üppiger Vegetation bedeckt. Laubgehölze hatte es damals noch nirgends gegeben; aus schließlich Koniferen, Farne, Schachtelhalme und Zykado phyten. Sie bogen sich unter den kräftigen Windböen, die es tatsächlich schafften, die vom See herübertreibenden Nebelfel der in kurzer Zeit aufzulösen. Gerade die Koniferen zeichneten sich durch ein Riesenwachs tum aus, das sie leicht mit Bäumen der Gegenwart verwechseln ließ. Eines dieser besonders mächtigen Nadelgewächse ragte vor dem Jeep auf, und nur der Rammschutz hatte verhindert, daß der Motor Schaden genommen hatte. So plötzlich, wie er begonnen hatte, hörte der Regen dann wieder auf. Fernes Donnergrollen verriet, daß das Gewitter mit unglaublichem Tempo davongezogen war. »Die Sicht ist besser geworden«, meldete sich nun auch wieder Nadja, die sich auffällig still verhalten hatte. »Wir müssen nach den anderen sehen.« »Nein!« blieb der Soldat am Funkgerät hart. Er korrigierte die Frequenz und begann, seinen Mayday-Ruf abzusetzen. Das Camp meldete sich nach wenigen Versuchen, und es wurde sofort klar, daß man dort die Einschätzung der beiden Soldaten 16
teilte. Auch der dortige Funker versuchte, Kontakt mit Stones Jeep herzustellen. Es mißlang. Daraufhin erhielten sie Weisung, sich keinen Meter von der Stelle zu rühren. Der Peilsender, der sich in jedem Erkun dungsfahrzeug befand, wurde mit einem lautlosen Impuls aktiviert. In diesem Augenblick leuchtete auf einer Karte im Kontrollraum ein Signal auf, ganz am Rand des bislang kartographierten Gebiets. »Okay«, kam die sofortige Antwort. »Wir haben euch. Scheinwerfer aus. Gespräche auf das Nötigste reduzieren ...« Er spulte ein ganzes Programm von Anweisungen ab. Das mit den Scheinwerfern war ohnehin längst erledigt. Und die Gespräche ... »Glauben die ernsthaft, wir könnten eine Gefahr provozieren, wenn wir uns nur miteinander unterhalten?« fragte Nadja. Sie beantwortete sich ihre Frage selbst, denn sie flüsterte. Einer der Soldaten reichte ihnen eine Wasserflasche nach hinten. Hunter trank. Nadja lehnte ab; sie fühlte sich nicht durstig. Nur hungrig, aber das wagte sie nicht zu sagen, weil sie selbst daran erinnert wurde, daß nicht nur sie eine Leere im Magen empfinden mochte. Dort draußen hinter der trügerisch sicheren Schale ihres Jeeps wimmelte es von Geschöpfen, die an nichts anderes denken mochten als an die Stillung ihres Hungers ... »Man hört nichts mehr«, sagte Hunter. Nadja nickte befangen. Die Soldaten tauschten Blicke. Einmal vibrierte das Fahrzeug, als in geringer Distanz ein gigantischer Herbivore vorbeistampfte. Der Silhouette nach, die sich unter dem Zwielicht der Baumwipfel abzeichnete, handelte es sich um einen Diplodocus, der mit seinem schlan ken langen Hals wie geschaffen zum Abäsen hoher Koniferen war. Seine zehn Tonnen Gewicht spürte man bis in die Fede rung des Jeeps, doch als reiner Vegetarier konnte er den 17
Insassen höchstens durch Unbedacht, Zufall oder aus eigener Panik gefährlich werden. Nichts von alledem geschah. Der Gigant, dessen mächtiger Leib auf vier Säulenbeinen stand, trottete behäbig vorbei. Daß er sich, wie es durchaus möglich gewesen wäre, auf seinen beiden Hinterbeinen erhoben hätte, war bei der geringeren Höhe der hier wachsenden Nadelgehölze nicht nötig. Bald geriet er außer Sichtweite. »An einen Helikoptereinsatz ist bei der herrschenden Witte rung und in diesem dichtbewachsenen Gebiet nicht zu den ken«, sagte der Soldat am Steuer. »Man wird andere Jeeps aussenden.« »Was mag mit Lieutenant Stone passiert sein?« fragte Nadja bleich. Der Soldat preßte kurz die Lippen zusammen und zuckte dann die Schultern. »Wie heißen Sie?« fragte Nadja. Sie hatte plötzlich das Bedürfnis, die Namen derer zu kennen, die ihr Schicksal teilten. »Porter. Gemeiner Soldat Charles Porter«, sagte der Mann und strafte sich damit selbst Lügen. »Gemeine Soldaten« hatten keine Chance, zu General Pounders Spezialeinheit in DINO-LAND zu gelangen. »Und Sie?« fragte Nadja den Mann daneben. »Parker Gatsby«, antwortete der Soldat, der weiter die Funk verbindung mit dem Camp aufrechterhielt. »Ich heiße Nadja. Das ist Allan.« Man hätte ihre Bemühungen belächeln können, aber auf diesen Gedanken verfiel niemand. Am wenigsten Allan Hunter, der sich irgendwann während des zähen Wartens einen Teufel um die eigenen Vorsätze scherte und behutsam Nadjas Hand drückte. Als der Hilfstrupp endlich bei ihnen eintraf, um sie aus der Misere zu befreien, war an den bloßen Gesichtern der An 18
kömmlinge zu ersehen, daß etwas nicht stimmte. »Was ist los?« wandte sich Hunter an Porter, der sich leise mit einem der Männer unterhalten hatte und dabei geschockt zurückgewichen war. Porter floh regelrecht in das bereitstehende Hilfsfahrzeug, ohne sich weiter um den eigenen Jeep zu kümmern, der an einer Winde herausgezogen wurde, und ohne Hunter eine Antwort zu geben. Ein paar Minuten später, auf dem forcierten Rückzug, sah er selbst, was passiert war. Gleichzeitig wurde ihm bewußt, daß er, der sich vor jedem Kriegsdienst hatte fernhalten können, noch nie in seinem Leben etwas Grauenhafteres gesehen hatte als dies. Dennoch rief er: »Stopp! Anhalten, sofort!« und schaffte es tatsächlich, daß das Fahrzeug, als es die Stelle hundert Meter von Ort ihres Unfalls entfernt passieren wollte, gebremst wurde. Nadja hätte ihn dafür steinigen können ... * Sie lag da wie hingegossen auf dem satinglänzenden Bett überwurf und starrte ihn aus glasharten Augen an. Daß sie zu Lebzeiten ein Bündel an Temperament und erotischer Finesse gewesen war, sah man ihr kaum noch an. Schön war sie immer noch. Kühl und schön wie eine Porzel lanpuppe, und genaugenommen wirkte sie auf Norman Frohn in diesem Zustand sogar wesentlich zufriedenstellender als zuvor. Er hatte sie in einem dieser seit dem Verschwinden von Las Vegas wie Pilze aus dem Boden schießenden Casinos von Bullhead City nahe der kalifornischen Grenze, kennengelernt. Sie war willig, aber nicht billig gewesen. Und sie hatte ihm sein freies Wochenende versüßt, ohne zu ahnen, daß Frohn nie wirklich beabsichtigt hatte, ihre horrenden Honorarsätze zu 19
akzeptieren. Die 500 Dollar, im voraus beglichen, holte er jetzt ohne Hast aus Jills Handtasche und stopfte sie in die Tasche seiner Hose, die er erst danach richtig zu schließen begann. Während er sich vollständig anzog, warf er ab und zu einen Blick auf die Tote, die ihn schon ihres Todes wegen faszinier te. Er selbst hatte sie, nachdem ihre Bewegungen unter dem flauschigen Kissen schwächer geworden waren und endlich ganz aufgehört hatten, so arrangiert, daß sie nun dem Bild entsprach, das er seit seiner Jugend mit sich herumschleppte. Daß sie blond war, wasserstoffblond, perfektionierte die Sache, aber eigentlich war er immer auf blond fixiert gewesen. Frohn achtete bei seiner Auswahl entscheidend auf solche Details. Dennoch hatte er bisher das erhoffte Ziel noch nicht erreicht ... Was immer dieses Ziel sein mochte, denn darüber war er sich selbst nicht im klaren. »Der Weg ist das Ziel«, murmelte er zynisch. Er hielt kurz in seinen Bewegungen inne und kratzte sich mit den Fingernägeln an jener Stelle im Nacken, etwa daumenbreit unter dem Kragenrand, wo ihn vor zwei Wochen nachts dieses Biest gestochen hatte, von dem er nicht einmal wußte, was es gewesen war. Anfangs hatte es wie eine kinderfaustdicke Beule ausgesehen, rot entzündet und in den ersten Nächten so brennend heiß, regelrecht pulsierend, daß Frohn sofort den Lager-Doc aufge sucht hatte. Dieser hatte ihm eine entzündungshemmende Spritze verpaßt mit der Weisung, sofort wieder anzutanzen, wenn sich die Sache verschlimmerte. Die Sache war jedoch nicht schlimmer geworden. Sie war, rein optisch, sogar abgeklungen, aber sie war auch nach zwei Wochen immer noch vorhanden. Als er die Hand zurückzog, haftete etwas Klebriges an den Fingern. Es fühlte sich an wie Blut, aber es war deutlich dunkler, blauschwarz, und erstaunlicherweise beunruhigte es 20
ihn nicht im geringsten. Er wischte die Finger am Hosenbein ab und streifte die Jacke über. Der Juckreiz im Nacken hatte aufgehört. Als er das Apartment wenig später verließ, hatte er sich nicht einmal die Mühe gemacht, Fingerabdrücke zu beseitigen. Er benahm sich so sorglos, als hätte er wirklich nur einen ganz normalen Besuch absolviert und würde sich jetzt auf den Heimweg begeben. Im Grunde genommen hatte ihn das zurückliegende Wochen ende keinen einzigen Cent gekostet. Gewinn und Verlust am Spieltisch hatten sich in etwa die Waage gehalten, und dank Jills Entgegenkommen hatte er sogar sein Hotelzimmer eingespart. Frohn beglückwünschte sich zu dem Entschluß, sich nur mit Edelnutten abzugeben. Erstens hatten die in aller Regel ein eigenes Apartment in diskreter Lage, und zweitens arbeiteten die wirklichen Klassefrauen auf eigene Rechnung, ohne einen Zuhälter, der gegebenenfalls meinte, den Bodyguard mimen zu müssen ... Frohn war allein im Lift, als er in die Tiefgarage fuhr, in der er seinen Wagen mit der Airbrush-Malerei eines zähneflet schenden Allosaurus an beiden Flanken auf einem der Besu cherplätze geparkt hatte. Auch auf dem Weg dorthin begegnete ihm niemand. Es war früher Vormittag. Zu früh für viele, die hier wohnten und ihren Geschäften bevorzugt bei Nacht nachgingen. Strahlender Sonnenschein begleitete ihn, als er über Laughlin auf den Interstate Highway 95 wechselte und dann Kurs auf Boulder City nahm. Puls und Blutdruck, wären sie von jeman dem gemessen worden, hätten den verblüffenden Wert erge ben, daß bei Frohn von Aufregung nicht die Rede sein konnte. Nicht einmal von Nervosität. Genaugenommen hätte er, diesen Werten nach, im Koma liegen müssen. Stattdessen lenkte er selbstvergessen seinen Rover über den 21
Highway - und kratzte sich ab und zu. * Das wahre Grauen erschloß sich Allan Hunter erst, als er aus dem stillstehenden Fahrzeug heraussprang und zu dem auf die Seite gekippten Jeep rannte, der von Stone und dessen Leuten benutzt worden war. Die im Schnitt zwei Zentimeter, stellenweise sogar noch dickere Blechhaut, mit Kammern und Verstrebungen verstärkt, war wie eine Sardinenbüchse zerquetscht und aufgerissen worden. Ein Blick auf die Innenausstattung zeigte das makabre Detail, daß die Sitze und sonstigen Einrichtungen fast unbe rührt geblieben waren. Als hätten »spitze Finger« die Insassen herausgeklaubt. Vielleicht vermittelten ihm die in großer Zahl patrouillierenden Soldaten und das halbe Dutzend hinzugekommener Fahrzeuge dennoch ein ausreichendes Sicherheitsgefühl, das rationaler Betrachtung kaum standgehalten hätte. Auch die Soldaten um Stone waren schwerbewaffnet gewesen ... Nadja blieb zurück, und Hunter war froh darüber. Um so mehr, als er sich auf die andere, vom Wrack des Jeeps verdeckte Seite begab und die verstreuten Leichenteile sowie Waffen und Uniformreste sah, die wie beim mißlungenen Dekorationsversuch eines Psychopathen in weitem Umkreis auf die Farne oder einfach auf den Moosuntergrund verstreut worden waren. »Verschwinden Sie von hier!« fuhr ein Mann Hunter an, der den Einsatz der Soldaten zu koordinieren schien. Hunter kannte ihn nicht, was aber nicht viel zu sagen hatte, denn er war viel zu kurz im Camp, um überhaupt mehr als drei Leute zu kennen. Er schüttelte den Kopf und fragte: »Sind sie alle …?« »Tot?« Der Offizier wurde sofort zugänglicher. »Das wissen 22
wir nicht. Wir haben noch keinen einzigen am Stück gefun den.« »Soll das heißen …?« »Das soll heißen, daß hier nur Gliedmaßen, genauer: Teile von Gliedmaßen herumliegen. Kein einziger Torso. Das Biest hat sie alle verschleppt!« »Das Biest?« »Soll ich Ihnen jetzt auch noch den Namen nennen?« »Wissen Sie ihn?« »Nein.« Hunter sog die Luft ein. »Ich habe noch von keinem Carnivo ren gehört, der ein Dutzend bestausgebildeter Männer killt, einsammelt und dann auch noch mitnimmt. Ich ...« »Sie halten jetzt besser das Maul und verschwinden von hier. Ihr Taxi wartet! Das hier …« Er wurde vom Zuruf eines Soldaten unterbrochen, der sich im Unterholz zu schaffen gemacht hatte. »Sir, hier ...« Der Rest ging in einer Lautfolge unter, die eindeutig bezeugte, daß sich der Soldat mitten im Satz übergeben hatte. Der Einsatzleiter ließ Hunter stehen und eilte in die betref fende Richtung. Auf seinen Befehl hin schlossen sich mehrere Bewaffnete an. Auch Hunter folgte, obwohl er wußte, daß er nicht willkom men war. »Graben!« bekam er gerade noch den Befehl des Offiziers mit. Graben? echote es in ihm. Er trat näher. Niemand stellte sich ihm in den Weg. Aus einer etwas dunkleren Bodenschicht, als sie in der Umgebung zu finden war - die allgemeine Nässe ließ den Unterschied aber kaum auffallen -, ragte etwas pilzartig hervor, das Hunter erst als Armstumpf erkannte, als mehrere Männer vorsichtig begannen, das Deckmaterial aus losen Nadeln, Erde und kleineren Zweigen mit ihren behandschuhten Händen abzutragen und als Wall ringsum aufzuhäufen. 23
Dem Meereskundler wurde hundeelend, als immer mehr von dem vergrabenen Leichnam zum Vorschein kam. Dennoch konnte er sich nicht abwenden. Das Geschehen bannte ihn, als ahnte er intuitiv, daß das noch nicht alles sein würde - daß noch etwas viel Schlimmeres bevorstand ... Und es kam schlimmer. Allan Hunter war ein phantasiebegabter Mensch. Aber mit dem, was dann freigelegt wurde, hatte er nicht ansatzweise gerechnet. »Ein ... Ei ...!« würgte jemand. Andere Kommentare fielen ein. Die Kontrolle drohte dem Kommandeur zu entgleiten. Seine Befehle gingen eine Weile tatsächlich in Chaos, Bestürzung und nacktem Entsetzen unter. Die Soldaten der Spezialeinheit besaßen kein verzärteltes Gemüt. Der Anblick des aschgrau gesprenkelten, straußen eigroßen, ovalen Gebildes, das aus der offenen Bauchhöhle des Leichnams ihres Kameraden herausragte, brachte dennoch ausnahmslos alle aus der Fassung. Der Befehl, nach den anderen Verschollenen zu suchen, verschaffte ihnen eine Beschäftigung, die vermutlich nicht nach ihrem Geschmack war. Wie Hunter sie einschätzte, hätten sie sich lieber mit durchgeladenem M 3 einem amoklaufenden Dienonychus entgegengestellt, wenn sie vor die Wahl gestellt worden wären. Ein erneuter, heiser-erstickter Ruf ließ den Meereskundler sich um 180 Grad nach links wenden. Seine Beine setzten sich wie von selbst in Bewegung. »Spuren!« rief jemand. Und es stimmte. Unmittelbar neben dem »Grab« begannen die knöcheltiefen Eindrücke eines Schwergewichts, das sich auf vier Beinen bewegte und dabei offenbar einen Schwanz nachschleifte. Die Länge zwischen Vorder- und Hinterbeinen betrug etwa drei Meter. Der Schwanz, wenn es ein solcher war, brachte es noch einmal auf etwa anderthalb Meter. 24
Es nützte nichts mehr, daß Pounder das Gebiet vor ihrem Aufbruch in einem Anflug schwarzen Humors zur »saurierfrei en Zone« erklärt hatte. Das hier waren Saurierspuren, auch wenn der dazugehörige Verursacher aus Fleisch und Blut noch fehlte. Gott sei Dank fehlte. Anhand der Form der Abdrücke, die nichts entsprachen, was die Männer um Hunter oder Hunter selbst je gesehen hatten, war nicht auszumachen, ob sich das dazugehörige Geschöpf vorwärts oder rückwärts bewegt hatte. Allerdings führten die Spuren, die man auch danach noch entdeckte, allesamt von der »Begräbnisstätte« in eine Richtung weg: auf das neu entstan dene Gewässer zu! Nach und nach fand man weitere zehn vergrabene und sehr sorgfältig zugedeckte Tote. Insgesamt waren es am Ende elf Eier, die mit den Leichen verladen wurden, um sie ins Camp zu transportieren. Nur einen von zwölf fand man nicht: Lieutenant Stone. Ohne ihn mußten sie die komplikationslos verlaufene Rückfahrt antreten. Im Lager war man bereits vorab über Funk informiert wor den. Pounder selbst nahm die uniformierten Rückkehrer in Emp fang, und Professor Sondstrup kümmerte sich um Allan Hunter und Nadja Bancroft. Er war nicht allein, als er ihnen die Hände schüttelte und seiner Erleichterung Ausdruck verlieh, daß wenigstens ihnen nichts passiert war. In seiner Begleitung befand sich ein hagerer, fast sechs Fuß großer Mann in sportlicher Windjacke und bequemen Baum wollhosen. Das einzig Auffällige an ihm waren seine Augen, in denen dieselben flirrenden Pünktchen zu tanzen schienen, die einem Zeitbeben vorangingen. »Darf ich Ihnen einen exzellenten Paläontologen vorstellen«, sagte Sondstrup und deutete auf seinen Begleiter. »Ich habe 25
mich entschieden, ihn zu Ihrer Unterstützung abzustellen, auch wenn er mitunter etwas merkwürdige Theorien …« »Ist die Schule schon eingetroffen?« unterbrach ihn Nadja, die nicht ganz so unter dem Eindruck des Geschehens stand wie Allan Hunter. »Die Schule?« fragte der Hagere. »Sie sind da.« Professor Sondstrup nickte. »Schneller sogar als die Jacht. Sie wird nicht vor morgen eintreffen. Aber ich muß mich leider entschuldigen. Pounder steht mir mit seinen Riesenlatschen auf den Zehen, und ich kann es ausnahmsweise sogar verstehen. Scheußliche Sache. Ich werde versuchen, die Spezies zu ermitteln, die für dieses beispiellose ... Massaker verantwortlich ist.« »Wie?« fragte Hunter rauh. Er hatte nicht gesehen, daß Gipsabdrücke gemacht worden waren, und das Naheliegendste fiel ihm erst ein, als Sondstrup mit dünnem Lächeln erwiderte: »Die Eier. - Norman wird Sie in allem Nötigen unterweisen.« »Norman?« fragte Nadja. Sondstrup deutete auf seinen Begleiter. »Norman Frohn. Sie werden sich schon zusammenraufen ...« »Was hat er vorhin mit „Schule“ gemeint?« Frohn sah Sondstrup nach, als wollte er sich versichern, daß der wissen schaftliche Chef des Camps auch tatsächlich hinter der Tür der Station verschwand. »Eine Delphinschule«, antwortete Allan Hunter. Er musterte Frohn ohne sichtbares Mißtrauen, aber wer ihn kannte, wußte, daß eine seltene und eigentlich für ihn untypische Zurückhal tung mitschwang. Der von Sondstrup als exzellenter Paläonto loge gepriesene, hagere Mann war ihm einfach nicht sympa thisch. So etwas kam vor, und er machte sich einstweilen keine allzu großen Gedanken darüber, obschon er sich Angenehmeres vorstellen konnte, als längere Zeit mit Frohn auf einer engen Jacht zu verbringen. »Genaugenommen sind es Tümmler aus 26
der Familie der Delphine. Es sind fünf. Eine solche Gruppe nennt man im Fachjargon „Schule“.« »Aha.« Frohn hatte den schulmeisterlichen Unterton durchaus bemerkt, und er schien ihm nicht zu gefallen. »Und was haben sie mit Ihren „Schülern“ vor?« »Oh, sie sind nicht meine Schüler, eher umgekehrt. Sie scheinen nicht viel über Delphine zu wissen, sonst wäre Ihnen bekannt, über welch hohes Maß an Intelligenz …« »Ich kenne Fisch nur vom Teller her«, unterbrach Frohn ihn grob. »Ich sehe schon, Sie sind ein komischer Kerl ...« »Heh!« griff Nadja ein. »Was ist so komisch daran …« »Laß nur.« Hunter lächelte. So wenig Erbauliches es über die erste Begegnung mit Norman Frohn zu sagen gab - sie half ihm wenigstens etwas über die Bilder hinweg, die sich hartnäckig in sein Gedächtnis gebrannt hatten und die er gern vergessen hätte. Hier aber wurde ihm das »fotografische Gedächtnis«, das ihm über manchen Prüfungsstreß hinweggeholfen hatte, zum Fluch. »Ich hoffe«, ging er dem Reizthema aus dem Weg, »man sucht weiter mit allen Mitteln nach Stone. Vielleicht konnte er ja fliehen ...« Frohn selbst schien in dem Bewußtsein, nicht geliebt zu werden, geradezu aufzublühen. »Kommen Sie. Ich zeige Ihnen, wo Flipper untergebracht ist.« »Idiot!« fauchte Nadja. Sie tat es leise, aber Frohn mußte es gehört haben, denn sein Lächeln vertiefte sich. Der Kenworth-Truck, der im Schatten der Gebäude stand, war ein Allrounder der allerneuesten Serie. Sein CaterpillarMotor entsprach bereits den strengen Kat-Bestimmungen, die auf der 3. Globalen Umweltkonferenz vor sechs Monaten in Rio de Janeiro von allen Industriestaaten, mit Ausnahme Chinas, angenommen und verabschiedet worden waren. Wie es mit den Chinesen weitergehen sollte, wußte noch niemand so recht. Sie kochten nicht nur umweltpolitisch ihr eigenes 27
Süppchen, mit steigendem Trend zu neuen kalten Kriegern. Die Zugmaschine interessierte weder Nadja noch Allan Hunter sonderlich. Sie gingen gleich weiter zum AquaContainer, der in einen speziellen Auflieger integriert war. Über eine herunterklappbare Leiter gelangten sie auf eine Rampe und von dort aus über ein Schott mit »Bullauge« in den Korridor, der das dahinter befindliche Aquarium ein Stück weit begehbar machte. Der Korridor bestand aus einer volltransparenten Glaslegie rung, die dem enormen Wasserdruck standhielt. Ebenfalls integriert in den Gesamtaufbau war eine Umwälz- und Kon trollanlage, die für ein optimales Klima sowohl im Wasser als auch in der Atmosphärenschicht darüber für die Tümmler sorgte. »Ich wette«, Frohn gestikulierte linkisch vor den elegant im Wasser manövrierenden, silbergrauen Torpedos, »Sie haben ihnen sogar Namen gegeben.« »Stimmt genau.« Hunter ließ sich nicht provozieren. »Ich würde sie Ihnen gern auch namentlich vorstellen, aber ich fürchte, Sie könnten sie sich nicht merken. Sie sind sehr kompliziert.« Nadja sagte: »Merkwürdig. Sie kommen nicht näher. Als würden sie sich vor etwas fürchten.« »Vermutlich vor mir«, spottete Frohn. »Es gefällt ihnen nicht, daß ich ihre Verwandten für eine Delikatesse halte und verspeise.« »Durchaus möglich«, nickte Hunter ernsthaft. »So wenig wie es Ihnen vermutlich gefällt, wenn Verwandte der Delphine Menschen verspeisen.« »Sie nehmen das zu persönlich«, lachte Frohn, aber seine Augen blieben erschreckend ausdruckslos, obwohl kleine Lichtpünktchen darin zu wirbeln schienen, die Hunter zum ersten Mal auffielen. »Besser, ihr beiden geht und kümmert euch um die weiteren 28
Expeditionsvorbereitungen - vielleicht weiß man auch schon mehr über Stone oder sonst etwas«, nahm Nadja Hunter beiseite. »Ich bleibe bei den Babies; vermutlich hat der lange Transport sie mitgenommen. Ich werde sie füttern, mit ihnen reden und sie wieder auf die Reihe bringen. Okay?« »Okay«, sagte Hunter, obwohl er selbst lieber hiergeblieben wäre, statt die Zeit mit Frohn zu verbringen. Andererseits war er ein positiv denkender Mensch und konnte sich infolgedessen nicht vorstellen, daß Frohn nur ein Kotzbrocken war. Irgendei ne gute Seite, die es zu entdecken galt, mußte selbst er besitzen ... Sie gingen ins Casino und setzten sich an einen freien Fens tertisch, der ihnen den Blick auf die Umzäunungen gestattete, die das Camp in eine uneinnehmbare Festung verwandelten zumindest, wenn es nach dem Willen ihrer Konstrukteure ging. Seit dem Vorfall im Wald mit den angeblich sauriersicheren Panzerjeeps hatte Hunter zu diesem Thema eine etwas diffe renziertere Ansicht. »Was meinte Sondstrup vorhin damit, Sie hätten manchmal etwas merkwürdige Theorien?« fragte er. Frohn lächelte sein kaltes Lächeln. »Nichts Besonderes. Haben Sie die nicht auch - gerade Sie?« »Möglich.« Hunter bestellte Kaffee, Frohn einen Whisky. »Erzählen Sie mir etwas darüber«, bat Hunter. »Warum?« »Ich möchte Sie näher kennenlernen.« »Das werden Sie noch früh genug.« »Aber dann ist vermutlich viel Wasser um uns herum, und ich kann Ihnen nicht so leicht einen Tritt verpassen wie momentan noch. Sie könnten als Frühstückshappen eines amphibischen Urzeitwesens enden ... Aber das brauche ich Ihnen kaum zu erzählen. Es ist Ihr Fachgebiet.« »Aber Ihre Skrupel.« Frohn lachte. »Selbst schuld.« Hunter blieb beharrlich. Auch nachdem Kaffee und Whisky 29
von einer Bedienung gebracht worden waren. »Also?« fragte er. »Es interessiert Sie wirklich?« »Ja.« »Komisch. Sonst muß ich die Leute immer zwingen, daß sie mir zuhören ... Aber gut.« Er stürzte den Whisky in einem Zug hinunter und orderte sofort den nächsten. Hunter sagte nichts, aber die Aussicht, die Forschungsjacht nicht nur mit einem Sympathiebolzen von Frohns Kaliber, sondern auch noch mit jemandem zu teilen, der ein Alkohol problem hatte, war alles andere als verlockend. Der Entschluß, mit Sondstrup zu reden, nahm feste Konturen an, noch ehe der Paläontologe zu weiteren Ausführungen ansetzte. »Ich will es ganz simpel formulieren ...« »Weil ich es sonst nicht verstünde.« Hunter nickte. Zu seiner Überraschung schüttelte Frohn den Kopf. »Jeder versteht es. Nur mit dem Glauben hapert es. Warum sollte ich also allzu wissenschaftlich werden? Auch Sie werden keine Ausnahme bilden ...« »Geht es um Dinosaurier?« fragte Hunter. Frohn hielt sich am zweiten Whisky etwas länger fest. »Alles dreht sich um die Dinos ... oder?« Er gab sich einen sichtbaren, inneren Ruck. »Also hören Sie zu: Die Erde ist ein kompliziertes System - nicht ein simpler Brocken, außen kühl, innen mit heißem Magmakern, sondern etwas phantastisch Komplexes. Die Natur, oder was wir „Natur“ nennen, ist nichts anderes als ein geschlossenes System. Man hat sie auch schon mit einem gigantischen Computer verglichen, aber das ist mir zu technisch. Und zu einfach.« »Das klingt nicht so neu«, sagte Hunter ungeduldig. »Was ist denn nun Ihre Theorie, mit der sich niemand anfreunden will?« »Sind wir uns soweit einig?« stellte Frohn die Gegenfrage, von der er offenbar seine weitere Erklärung abhängig machte. Hunter beschloß zu bejahen. 30
Frohn reagierte bemerkenswert mißmutig. »Soweit«, sagte er, »folgen mir alle. Ich gehe aber weiter. Ich behaupte, daß jedes lebende Wesen, ob Mensch, Tier oder Pflanze, eine bestimmte Funktion innerhalb des Systems innehat - einen Sinn, dessen Bedeutung der armselige menschliche Verstand nicht einmal annähernd analysieren könnte ...« »Ihr Verstand demzufolge auch nicht«, nickte Hunter. Frohn umfaßte das Whiskyglas so heftig, daß es zu zerbersten drohte. »Ich rede von Schöpfung!« ereiferte er sich. »Maßen Sie sich an, die Schöpfung zu begreifen?« »Das habe ich nie behauptet«, erwiderte Hunter sachlich. Ihm war jetzt klar, worin Frohns Problem bestand: Er nahm sich selbst und seine Idee zu ernst. Der Paläontologe beruhigte sich wieder. »Es geht darum«, sagte er in gesenkter Lautstärke, »daß jedes Wesen auf der Welt und in der Gegenwart in unsichtbarer Wechselbeziehung zueinander steht. Alles hat seine Aufgabe. Selbst die Arten, die mannigfach jeden Tag aussterben, tun es zwar, weil ein Teil des Ganzen, nämlich der Mensch, immer stärker entartet, aber sie verlassen die Bühne in der Gegenwart. Zyniker ...« Wie du, dachte Hunter. »... könnten argumentieren, der Mensch entartet nicht, son dern er macht sich die Erde Untertan, wie es schon in der Bibel geschrieben steht ... Aber lassen wir das einmal beiseite. Für mich steht außer Frage, daß hier um uns herum - in DINO LAND - etwas geschieht, was es in all den Jahrmilliarden, die die Erde brauchte, um sich zum heutigen System zu entwi ckeln, noch nie gab. Es handelt sich um einen Totalangriff auf das Öko-System, der die natürliche Chronologie über den Haufen wirft.« Hunter nickte. Er begriff jetzt, worauf Frohn umschweifig hinauswollte. »Warum sagen Sie nicht einfach, daß das, was uns Schneiders Experiment beschert hat, Risiken für die Gegenwart birgt? Darin sind wir uns doch wohl alle einig.« 31
»Nicht nur für die Gegenwart.« Frohn seufzte. »Für die Zukunft ebenso. Für den Fortbestand des Univer sums womöglich ... Ich prophezeie Ihnen, daß das Stück Vergangenheit, das wir heute fast verliebt-exotisch DINO LAND nennen, und jedes weitere Fleckchen, das dazukommt, in der Konsequenz unser aller Untergang besiegeln wird! Nicht in Form einer hungrigen Echse, die uns vielleicht auffrißt und dabei letztlich nichts anderes tut als wir, wenn wir uns an den gedeckten Tisch setzen - nein, ich spreche von einem Parado xon!« »Ein Zeitparadoxon?« fragte Hunter, nur noch mäßig interes siert. Denn wenn es das war, was Frohn beunruhigte, konnte er ihm wirklich nicht bis zum Ende seiner Gedankenkette folgen, die zwar viel Wahres beinhaltete, aber abenteuerliche Schlüsse ohne jede Beweisgrundlage zog. Wenn es eine berechtigte Angst vor Zeitparadoxa gegeben hätte, hätte das, was jeder Mensch für sich als subjektive Realität empfand, schon längst wie unter einem Kippschalter erloschen sein müssen. Seit zwei Jahren tummelten sich Menschen der Gegenwart in einer Zeit, die man wahrhaftig nicht als ihre angestammte bezeichnen konnte. Sie trampelten hundertzwanzig Millionen Jahre entfernt über Moose, Farne oder mausgroße Säuger, die als ihre definitiven Vorfahren gelten konnten - oder sie erschossen Saurier aus bloßer »Notwehr«. Bei all dem Kleinen und Großen mußte schon so viel zu Bruch gegangen sein, daß es längst Auswirkungen auf die Gegenwartsrealität hätte zeigen müssen. Aber außer daß immer mehr Urzeit im Austausch mit Gegenwärtigem herüberrutschte, geschah nichts. Selbst die anfangs so gefürchteten und nicht von der Hand zu weisenden Ängste vor einer epidemilogischen Gefahr hatten sich bis heute nicht bewahrheitet. Glücklicherweise nicht! Ein Bild von apokalyptischen Dimensionen stieg wie flüchti 32
ger Rauch vor Allan Hunters geistigem Auge auf. Ihn schau derte. Frohns Fausthieb, mit dem er die Stabilität des Tisches testete, holte ihn in die nüchterne Wirklichkeit zurück. »Sie begreifen nichts!« behauptete der Paläontologe. »Sie reden darüber, aber Sie begreifen nichts ...!« Er stand wütend auf und verließ das Casino, ohne Hunter noch eines einzigen Blickes zu würdigen. Das kann ja heiter werden, dachte der Meereskundler. Ich werde doch nicht mit Sondstrup reden - ich werde ihn be knien... * Daß dies der mit Abstand tödlichste Ort des ganzen Planeten war, daran zweifelte Sergeant Sy Kidredge nicht mehr im mindesten. Kidredge hatte sich vor drei Monaten, als das Camp gegrün det wurde - etwas blauäugig, wie er sich im nachhinein eingestand -, freiwillig nach DINO-LAND gemeldet. Freiwillig in die Hölle. Denn nichts anderes war dieser grüne Moloch, der, falls die Eierköpfe von Wissenschaftlern recht behielten, aus tiefster Erdvergangenheit peu a peu zu ihnen herüberglitt und dabei, so ganz nebenbei, immer weitere Flecken Gegen wart auffraß. Kidredge war nur ein einfacher Soldat, und das war die Art, wie er die Sache sah. Daß die Gegenwart sozusagen »im Austausch« in die Vergangenheit rutschte, daran glaubte er nicht, obwohl es angeblich stichhaltige Beweise gab. Wer Kidredge fragte - aber das taten wenige -, bekam von ihm eine andere Einschätzung des Vorgangs zu hören. Wer, wenn nicht er, kannte die Militärs und wußte deshalb, wie man eine Bevölkerung - in diesem Fall sogar die ganze Welt einlullte, damit um Gottes willen keine Panik aufbrach. Und die wäre ausgebrochen, wenn man sich öffentlich dazu bekannt 33
hätte, daß Las Vegas mit seinen Bewohnern, die der Evakuie rung aus welchem Grund auch immer entronnen waren, und all die anderen, die in den Bereich eines Zeitbebens geraten waren, auf immer und ewig in ihre Moleküle zerstäubt worden waren, statt irgendwann weiterzuexistieren. Elf Kameraden waren tot. Vielleicht zwölf. Gekillt von einer Bestie, die ihre Opfer offenbar dazu auserkoren hatte, den Fortbestand der eigenen Rasse zu sichern, und von der nie mand die leiseste Ahnung zu haben schien, wie sie aussah und was man sich darunter vorzustellen hatte. Elf tote Kameraden. Kidredge war kein Mann mit besonders ausgeprägten Ängs ten. Einige Ängste hatte man ihm sogar antrainieren müssen, weil sie von Natur aus nicht bei ihm vorhanden schienen, man aber ein gewisses Maß an Furcht - auch als Soldat - brauchte, um nicht einfach blindwütig auf jede Herausforderung loszu gehen. Eines der großen Rätsel, die das Massaker hinterlassen hatte, war, warum die schwerbewaffneten Männer unter Lieutenant Stone ihre Waffen nicht wirkungsvoll gegen den Angreifer hatten einsetzen können. Wie es momentan aussah, war sogar kaum geschossen worden. »Wir brechen die Suche zwei Stunden vor Einbruch der Dunkelheit ab«, tönte Harryhausens Stimme aus Kidredges Ohrstöpsel. Der Commander watete etwa zehn Meter voraus an der Spitze der dreißig Mann starken Truppe durch den Morast, der diese Uferregion auszeichnete. Dreißig Mann! Normalerweise hätte die Truppenstärke beruhigen müssen. Bei Kidredge, und wie er zu spüren glaubte bei etlichen anderen auch, bewirkte sie jedoch das genaue Gegenteil. Die Frage, die sich jedem unweigerlich stellte, war: Auf welchem Himmelfahrtskommando befanden sie sich eigent lich? 34
Wenn das Ungeheuer ein Dutzend gutausgebildete Kämpfer in einem Panzerfahrzeug fast mühelos erledigt hatte, wie konnte sich dann eine nicht ganz dreifache Menge sicher fühlen? Dabei war es einem einzigen M13 Schützen mit etwas Glück möglich, selbst einen T-Rex niederzustrecken! »Verdammt!« fluchte Kidredge. »Wer war das?« reagierte Harryhausen sofort. Kidredge hatte noch nie vor etwas gekniffen, das er kannte. »Sergeant Kidredge, Sir!« meldete er sich, ohne in der eigenen Vorwärtsbewegung innezuhalten und damit Sand ins Getriebe der Einheit zu bringen. Auch Harryhausen machte keine Anstalten zu stoppen oder sich auch nur nach ihm umzudrehen. »Behalten Sie Ihre verdammten Weisheiten für sich! Ich dulde keine Äußerungen, die die Moral der Truppe untergraben! Schreiben Sie sich das hinter die Ohren, Sergeant Kidredge! Und jetzt etwas schnel ler! Wir haben einen Job zu erledigen und die verfluchte Pflicht, ihn gut zu machen. Vielleicht sind wir Stones letzte Chance!« Jemand kicherte am Rande der Hysterie. »Wer war das?« Jetzt klang Harryhausen ernstlich sauer. »Kidredge?« »Nein, Sir!« »Wer immer es war: Sollte ich ihn in die Finger kriegen, wird er für lange Zeit nicht mehr das Geringste zu lachen haben!« Niemand, der ihn kannte, stellte diese Drohung in Zweifel. Sie setzten ihren Marsch entlang des Urzeitsees durch das dichte Gebüsch aus Farnen fort. In einiger Entfernung, bereits im seichten Wasser, wuchsen wie ein Schilfgürtel große Schachtelhalme empor. Immer wieder wurden Insekten unter den schweren Stiefeln zertreten oder verscheucht. Größere Lebewesen ließen sich nicht blicken, als scheuten sie den federnden, fauligen Untergrund, der ein wahres Paradies für Tausendfüßler, Schaben, Spinnen und Skorpione sein 35
mochte. Kidredge und alle Beteiligten an der Suche nach Stone trugen trotz der feuchtwarmen Witterung über der normalen Einsatz kleidung dichtschließende Kunststoffoveralls und weit über die Knie reichende Gamaschen - Saunaeffekt inbegriffen. Wenigstens konnte die Nässe des Morasts nicht in Schuhwerk und Kleidung dringen, dennoch war es eine ekelhafte Angele genheit. Die Sauggeräusche bei jedem Schritt nagten an den Nerven, und ganz nebenbei kostete diese Art der Fortbewegung auch noch mehr Kraft als in einer feinen Sandwüste, was normalerweise der Horror eines jeden Soldaten mit Marschbe fehl war. Vor Kidredges Nase flog eine Libelle vorbei. Sie war etwa so groß wie eine Zigarette, wobei die Spannweite ihrer filigranen Hautflügel fast doppelt so lang war, und nur für einen Sekun denbruchteil sichtbar. Dann verschmolz sie wieder mit der Umgebung, der sie sich perfekt angeglichen hatte. Kidredge entschied spontan, Libellen zu lieben. Sie hatten ihn schon im zarten Knabenalter fasziniert, und daß sie selbst hier in dieser uralten, bedrohlichen Umgebung ebenso friedlich wirkten wie ihre Nachfahren der Gegenwart, war Balsam auf sein angeschlagenes Gemüt. Dann geschah das, was seine positive Grundhaltung zu Fluginsekten schlagartig in Zweifel stellte. Harryhausen rief: »Ich sehe etwas! Langsam aufrücken! Was, zur Hölle, ist das?!« Kidredge vereiste innerlich, weil er fürchtete, der Comman der könne eine Spur des Mega-Killers entdeckt haben. Oder Stones Leiche. Wenn der Lieutenant die Orientierung verloren hatte, konnte er überall sein ... Es war aber weder das eine noch das andere. Gehorsam schlossen die Soldaten zu ihrem Einsatzleiter auf und starrten gebannt in die Richtung, die Harryhausen ihnen anzeigte. Kidredge bildete keine Ausnahme. 36
Über dem Tümpel, dem man von dieser Stelle aus seine wahre Größe nicht ansah, weil die erwähnten Schachtelhalme in einiger Distanz wie eine Trennwand dazwischenstanden, schwebte eine »Wolke«. Eine schillernde, lebendige Wolke, in der sich das sterbende Licht des Tages brach! Es war Harryhausen, der erneut keuchte: »Was ist das bloß?« Doch er fing sich erstaunlich rasch und forderte den dunkel häutigen Bowie auf: »Machen Sie eine Aufnahme! Halten Sie das Ding fest!« Bowie, ein Hüne, der alle anderen um einen guten Kopf überragte, machte sich mit seinem Camcorder sofort ans Werk. Die anderen diskutierten halblaut. »Sir?« rief Kidredge. So nah, wie sie zusammenstanden, hörten die anderen ihn sowohl durch den Ohrstöpsel als auch auf normalakustischem Weg. »Was ist?« fragte Harryhausen ungnädig. »Ich glaube, es kommt auf uns zu, Sir«, wies Kidredge auf ein Detail hin, das noch niemand sonst bemerkt zu haben schien. * Allan Hunter erhielt keine Audienz beim wissenschaftlichen Leiter des Camps. Sondstrups Sekretärin verwies darauf, daß der Professor sich gemeinsam mit ein paar Spezialisten vollkommen in einem der Labortrakts abgeschottet hatte und von nichts und niemandem gestört werden wollte. Hunter nahm an, daß es um die geborgenen Eier ging. Er akzeptierte es, wenn auch widerwillig, denn er und Nadja (von Frohn gar nicht zu reden) hatten ebenfalls eine Mission, die unmittelbar bevorstand und in einigen Punkten noch der Abstimmung bedurfte. Er einigte sich mit der Sekretärin darauf, daß sie ihn bevor 37
zugt in Sondstrups Terminplanung einfügen würde, sobald sich eine Lücke auftat. Das war ein fauler Kompromiß, aber immerhin ein Kompromiß. Als er sich auf direktem Weg zu Nadja begeben wollte, kam ihm einer von Pounders engeren Vertrauten entgegen. »Da sind Sie ja ...« Hunter wußte nicht, was er darauf antworten sollte. »Die Kopter sind im Anflug«, erfuhr er. »Sie müssen jede Minute hier eintreffen.« »Mit der Jacht?« fragte er. »Womit sonst? Der General meinte, ich solle Ihnen Bescheid geben.« »Was Sie hiermit getan haben, danke. Wo findet das Ereignis statt?« »Planquadrat C, das einzige freie Feld zur Zeit. Soll ich Sie begleiten?« »Danke, das schaffe ich allein.« Hunter holte Nadja ab, die sich immer noch im AquaContainer aufhielt. »Alles okay?« fragte er. »Und bei dir?« Er nickte und erzählte ihr, daß die Jacht gleich da sein würde. Zusammen begaben sie sich ins Planquadrat C, was einen Fußmarsch von knapp zehn Minuten bedeutete. Zeit genug, sich über Norman Frohn auszulassen. Nadjas Urteil fiel kurz, bündig und fatal aus: »Mit dem darfst du mich nie auch nur eine Sekunde alleinlassen, versprich mir das!« »Warum?« »Hast du seine Augen nicht gesehen?« Dir waren die flirrenden Punkte also auch aufgefallen; be merkenswert. »Doch. Eine Laune der Natur.« »Der Typ macht mir aber keine Laune! Er ist ein richtiger ...« 38
»Ich weiß, was du sagen willst«, unterbrach Hunter sie schmunzelnd. Seltsamerweise spürte er das Verlangen, Frohn in Schutz zu nehmen, obwohl er ein paar Minuten vorher noch drauf und dran gewesen war, sich bei Sondstrup von ihm »freizukaufen«. »Dann ist es ja gut.« »Vielleicht schätzen wir ihn völlig falsch ein. Es gibt Menschen, die nur nicht so richtig zeigen können, daß sie im Grunde ihres Herzens eine ganz passable Einstellung besitzen ...« »Willst du ihn etwa entschuldigen?« Ihr Disput verflachte, als sie die internen Sicherheitssperren durchliefen. Auf dem Landefeld, das von Koptern geräumt war, wurden sje von einem Lotsen begrüßt, der die beiden synchron operie renden Lastenhubschrauber (einer allein hätte das Gewicht des Forschungsbootes gar nicht bewältigen können) im Landean flug koordinieren und einweisen sollte. Minuten später schwebte die Pangaea ein; eine schnittige Motorjacht von zwanzig Metern Länge und maximal sechs Metern Breite. Ihr Deckaufbau beschränkte sich auf die Kajüte mit allen Steuereinheiten, einem vertäuten, simplen Beiboot und der noch leeren, beweglichen Aufhängvorrichtung für das erwartete Ein-Mann-Tauchboot, dessen Ankunft sich verzöger te. Die Wohn-Arbeitsbereiche waren ausschließlich im Bauch des Schiffes untergebracht und vom absolut Feinsten, zumin dest was die Gerätschaften, weniger die Schlafkojen betraf. Auch damit hatte man die beiden Meereskundler und Delphi nologen geködert, denn ihr eigenes Boot war deutlich beschei dener, nicht nur von der Ausstattung her, sondern auch größenmäßig. Ihr Arbeitsverhältnis mit der Regierung war auf vorläufig sechs Monate befristet, mit beiderseitiger Option für ein weiteres halbes Jahr. Aber selbst wenn diese nicht ausge 39
schöpft würde, bewegte sich das vereinbarte Salär in Berei chen, von denen Allan Hunter und Nadja Bancroft bisher nur hatten träumen dürfen. Die Pangaea hatte noch nicht endgültig Platz auf der fahrba ren Tragvorrichtung genommen, als Norman Frohn, wie es sich für eine richtige Plage geziemte, pünktlich neben ihnen eintraf. Offenbar hatte Pounders Adjutant auch ihn gefunden. »Beachtlich«, sagte der Paläontologe. »Ich hoffe, Sie können damit umgehen. Ich selbst würde vermutlich nur die Selbstvernichtungsanlage aktivieren.« »Es hat keine Selbstvernichtungsanlage.« »Ich würde sie trotzdem finden.« Die nächsten Stunden gehörten der Erkundung der Pangaea. * »Feuer!« brüllte Harryhausen. Es war ein lächerlicher, aus der Not geborener Befehl. Jetzt, da die »Wolke« in atemberaubendem Tempo auf sie zujagte, ein Geräusch verursachend, das unheimlicher klang als alles, was ihnen je zu Ohren gekommen war, konnte ein jeder sehen, was es mit dem schillernden Gebilde auf sich hatte. Entsprechend unsinnig mutete der Schießbefehl des Com manders an. Aber, ehrlich, was hätte er sonst befehlen sollen? Kidredge jedenfalls wußte es nicht. Und auch den anderen, die diese Moskito-Wolke auf sich zujagen sahen, erging es kaum besser. Das erste harte Tackern einer M13 setzte ein - und andere folgten wie in einem unseligen Dominoeffekt. Kidredge bildete keine Ausnahme. Er spürte, etwas mußten sie tun. Sie wußten, wie man auf bewegliche Ziele anlegte. Aber noch niemand hatte es mit einem Ziel versucht, das so schnell war und dabei noch diese unvorhersehbaren Kurswechsel veranstal 40
tete! Keines - soweit es zu sehen war, wirklich keines - der Projek tile zeigte Wirkung. Vermutlich hätten sie noch bis Weihnach ten weiterballern können, ohne daß sich daran Nennenswertes geändert hätte. Nur würde das »Geschwader« nicht so lange auf sich warten lassen ... »Rückzug!« orderte Harryhausen, als sich auch bei ihm die Erkenntnis durchsetzte, daß alles, was sie im Moment tun konnten, wahrscheinlich das Falsche war. Es wurde eine »heillose« Flucht, die so funktionierte, daß einer der Schnellste war, die Richtung vorgab, und alle anderen ihm wie die Lemminge folgten. Das hatte jedoch den Vorteil, daß sie sich nicht verstreuten und einzelne von der Truppe abgesprengt wurden. Niemand schoß mehr. Es war sinnlos. Dafür erklangen die ersten Schmerzensschreie. Niemand rechnete mehr ernstlich damit, und die Praxis bestätigte es auch, daß die Plastikhülle, die sie sich zum Schutz vor allem Möglichen übergestreift hatten, vor diesen Brum mern, die mindestens so groß wie der Daumen eines ausge wachsenen Mannes waren, keinen Schutz bot! Die ersten Stachel, jahrmillionenalt, bohrten sich in Fleisch der Neuzeit! Kidredge sah sich gehetzt um, stolperte über einen herumlie genden Ast, schlug hin, verlor das Gewehr und rappelte sich sofort wieder auf, ohne der Waffe Beachtung zu schenken. Mit stechenden Lungen rannte er weiter - soweit ihre Art der Fortbewegung im Morast überhaupt diesen Namen verdiente. Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung, während das begleitende Unheilgeräusch anschwoll. Instinktiv schlug er um sich- und führte mit den Armen scheuchende Bewegungen aus, die auch seinen Rücken schützen sollten. Er hatte nicht mehr Glück als alle anderen. 41
Der ziehende Schmerz erreichte ihn sogar von drei, vier Stellen auf seinem Rücken gleichzeitig. Mehrere auf einmal mußten ihn eingeholt haben. Kidredge schrie mehr aus Schreck als vor wirklichem Schmerz, denn dieser hielt sich erstaunlich in Grenzen. Er hastete weiter, ohne stehenzubleiben. Plötzlich tauchte vor ihm etwas im Morast auf, das mehrere Quadratmeter einnahm und den Fliehenden gar keine andere Wahl ließ, als mitten hindurchzubrechen. Kidredges Stiefel hinterließen eine Spur der Vernichtung in dem brüchigen, wabenähnlichen, sumpfbraun und stumpf wirkenden Gebilde, das erst aus geringer Entfernung sichtbar wurde. Und was unter den Trümmern einzelner Waben zum Vorschein kam, ließ eine Welle von Ekel in ihm aufsteigen ... Kidredge mobilisierte die letzten Reserven, um von dem bröckelnden »Teppich« herunterzukommen. Er zählte die Stiche längst nicht mehr, aber wie durch ein Wunder stellten die Riesenmoskitos ihre Attacke kurz darauf ein und kehrten zum Wasser zurück. Die Erleichterung war allgemein. Als Harryhausen die Zäh lung durchführte, nahm das zweite Wunder Kontur an: Nie mand war ohne Blessuren davongekommen, aber es war auch niemand bei der überstürzten Flucht verlorengegangen! »Allmächtiger, was war das, Sir?« rief Bowie, als der Com mander sich darum bemühte, wieder Ordnung in den Haufen zu bekommen. Sie hatten Zeit verloren, die Orientierung aber erstaunlich schnell wiedergefunden. Jetzt mußten sie sich beeilen, um zum Stützpunkt zurückzukommen, bevor die Nacht einbrach. »Haben Sie noch die Kamera?« fragte Harryhausen. »Ja, Sir, aber - was war es?« »Das müßten Sie sich selbst beantworten können. Ihre Brut. Die Biester sind gerade am Schlüpfen ...«
42
*
Die Spannung in dem kleinen Raum, Meilen von Harryhau sens Truppe entfernt, war fast körperlich spürbar, auch wenn sie nach den Mißerfolgen etwas gesunken war. Auf dem Monitor verfolgte Professor Sondstrup mit seinen engsten Mitarbeitern den Verlauf der Mammographie, die bei dem letzten der geborgenen Eier durchgeführt wurde. Alle bisherigen Versuche waren an der Tatsache gescheitert, daß sie es hier zwar vermutlich mit befruchteten Eiern zu tun hatten, keines der bisherigen Schalengebilde aber etwas barg, das mit einem Embryo vergleichbar gewesen wäre. Und auch beim elften und letzten Ei änderte sich an diesem Befund nichts. »Wir hätten es wissen müssen«, seufzte der wissenschaftliche Leiter von DINO-LAND. »Es ist zu früh. Viel zu früh. Die Föten reifen erst heran. Wir können vorläufig nichts tun als versuchen, die optimalen Brutbedingungen so perfekt wie möglich zu simulieren.« Seine Worte riefen einige Betroffenheit hervor. Zu gut war allen noch in Erinnerung, wie die naturgewollten »Brutbedingungen« dieser unbekannten Spezies aussahen. »Wir sollten Sicherheitsmaßnahmen treffen«, warf jemand ein. Sondstrup belächelte ihn milde. »Haben Sie Angst vor einem Et!« »Ich habe Angst vor dem, was sich daraus entwickeln kann.« Sondstrup sah ein, daß es nicht angebracht war, einen seiner Leute öffentlich bloßzustellen, nur weil er eine eigene Meinung vertrat, die noch dazu so von der Hand zu weisen nicht war. Jedenfalls nicht in Hinblick auf die nächste Zukunft. »Okay«, lenkte er ein. »Alles, was wir bisher wissen oder zu wissen glauben, ist, daß das ausgewachsene Exemplar, inklusi ve Kopf und Schwanz, etwa sechs Meter Länge besitzt. Wobei, 43
was den Kopf angeht, den Spekulationen noch Tür und Tor geöffnet ist. Hier können wir nur vermuten« »Pounder wird sich damit nicht zufriedengeben.« Das Telefon summte. Der Nächststehende hob ab. »Der General«, sagte er. »Persönlich.« »Wenn man vom Teufel spricht ...« Sondstrup nahm das Gespräch entgegen, während ringsum die Diskussionen neu entbrannten. »Hören Sie«, gab er sich von Anfang an unwirsch, »wir sind hier keine Magier. Die Untersuchung, vor allem die Bewertung der Eier braucht ihre …« »Ersparen Sie mir dieses Gewäsch!« fiel ihm Pounder ins Wort. »Deshalb rufe ich gar nicht an. Ich wollte Sie bitten, sofort hier vorbeizukommen. Der Suchtrupp ist gerade zurück gekehrt. Ich würde gerne Ihre Meinung hören. Es ist dringend ...« * Allan Hunter erschien mit rotverästelten Augen und einem Kater von der Größe und Reizbarkeit eines Säbelzahntigers am Frühstückstisch. Nadjas eisigem Charme einer ägyptischen Rachegöttin hätte es gar nicht mehr bedurft, um ihn darauf hinzuweisen, daß in der zurückliegenden Nacht alles in die Hose gegangen war, was überhaupt hatte danebengehen können. Gerade als Hunter sein Zimmer verlassen und zu dem mit Nadja vereinbarten Date hatte aufbrechen wollen, war Norman Frohn mit zwei Flaschen Whisky bei ihm aufgetaucht. Um den Streit vom Nachmittag zu bereinigen, wie Frohn augenzwinkernd vorgeschlagen hatte. Und irgendwie - Hunter wußte selbst nicht mehr, warum hatte er sich breitschlagen lassen. Eine Flasche hatte Frohn ohnehin für sich selbst mitgebracht, aus der anderen hatte er während der ganzen Nacht Hunters Glas nicht mehr leer 44
werden lassen. Was sie geredet hatten, wußte der Meereskund ler schon gar nicht mehr. Nur daß es spät geworden war. Zu spät für Nadja. »Probleme?« begrüßte sie ihn mit schadenfrohem Unterton. Sie konnte unmöglich wissen, was passiert war, aber wie alle Frauen besaß sie die Gabe der Intuition, sogar in besonders ausgeprägter Form. »Nicht so laut ...« Er stellte das Tablett vor sich auf dem Tisch ab, setzte sich und massierte die Schläfen. »Bitte nicht so laut ...« »Entschuldige.« Nadjas Miene blieb zuvorkommend. »Ich habe leider kein Megaphon zur Hand.« »Das brächtest du übers Herz?« »Das brächte ich übers Herz.« Ehe sie richtig warm wurden, tat Norman Frohn das, was er ganz offensichtlich am liebsten tat: Er tauchte auf. Ebenfalls mit einem vollen Serviertablett bewaffnet und ebenfalls diesen Tisch ansteuernd. Nur eines unterschied ihn wesentlich von Allan Hunter: Er litt unter keinerlei Nachwehen. Und er nutzte seine Fitneß ausgiebig zu Anspielungen auf Hunters bemitleidenswerten Zustand, wobei er ausnahmsweise in Nadja eine leidenschaftliche Verbündete fand. Spätestens hier schwor sich Hunter, sich von dieser Ausge burt an Hinterlist nie wieder zu irgend etwas überreden zu lassen! Frohn hatte eine aktuelle Tageszeitung mitgebracht, der er aber keine Beachtung schenkte, weil er sich mit Nadja unter hielt. Was diese, schon um Hunter eins auszuwischen, über sich ergehen ließ. Hunter lieh sich das Blatt aus, das der Morgenhelikopter, der die Verbindung zur Zivilisation auf rechterhielt,. mitgebracht haben mußte. Eine Schlagzeile gleich auf der Titelseite fand seine Auf merksamkeit. Es mochte an der drastischen Formulierung 45
liegen, aber auch er war nur ein Mensch. Momentan ein etwas beleidigter Mensch. ZWEITES OPFER DES MARILYNKILLERS ENTDECKT! Während er sich ein Brötchen und eine Tasse Kaffee einver leibte, strich sein Blick über das Kleingedruckte. Bullhead City (apm). Das zweite Mordopfer aus Prostituiertenkreisen wurde ges tern nachmittag in seiner Wohnung am St. Elmos Square aufgefunden. Wie in dem erst eine Woche zurückliegenden Fall des blonden Callgirls Nadine Ashford fand die Polizei auch die Leiche der 23jährigen Jill Eklund in der berühmten Marilyn-Monroe-Pose, mit der die früh durch Selbstmord verstorbene Schauspielerin damals als Pin-Up-Girl weltweites Aufsehen erregte ... »Bullhead City ... Das ist doch hier ganz in der Nähe ...« Allan Hunter bemerkte zunächst kaum, daß er seine Gedan ken laut ausgesprochen hatte. Erst Frohns Bemerkung machte es ihm bewußt. »Korrekt. Ich verbringe dort meine Wochenenden, seit ich in DINO-LAND arbeite. Etwas Abwechslung braucht der Mensch schließlich. Ich bin begeisterter Black-Jack-Spieler. Gerade wollte ich Miß Bancroft dazu einladen, mich bei nächster Gelegenheit zu begleiten. Eine schöne blonde Frau kann nur Glück bringen und offengestanden, ich hätte es nötig.« Er ließ offen, was genau er nötig hätte. »Was gibt es dort Besonderes?« fragte Nadja. »Einen Killer«, sagte Hunter und schob ihr die Zeitung zu. Sein Schädelbrummen hatte sich etwas beruhigt. Frohn beugte sich weit zu Nadja und las bei ihr mit. »Solche Kerle«, kommentierte er schließlich, »sind den Schuß Pulver nicht wert, mit dem man sie erschießen sollte!« »Wieder so ein Abartiger«, bekräftigte Nadja. 46
»Besser, du schlägst Mister Frohns Einladung aus.« Hunter nippte an seinem Kaffee und spähte über den Tassen rand zu der Frau, in die er zweifellos verliebt war. Er fand, daß sie allmählich mit dem Spielchen wieder aufhören konnte. »Warum? Denkst du etwa, ich wäre in Gefahr?« »Nun ...« Er merkte zu spät, daß sie ihn aufs Glatteis geführt hatte. »Ich bin keine Hure, folglich auch nicht in Gefahr ...« Sie lächelte in Frohns Richtung. »Wir werden uns noch über Ihr Angebot unterhalten müssen.« »Jederzeit gern.« Der Paläontologe genoß es, Zwist nicht nur zu säen, sondern auch auf die Spitze zu treiben. »Bleibt es dabei, daß wir morgen mit der Wasserung der Jacht und den ersten Untersuchungen beginnen?« »Ich wüßte nichts Gegenteiliges«, erwiderte Hunter kühl. »Warum fragen Sie?« »Sie? Heute nacht haben wir doch noch Brüderschaft getrun ken ...« »Darüber schweigt mein Erinnerungsvermögen erfreulicher weise.« »Sie werden doch nicht nachtragend sein?« Hunter schüttelte den Kopf. »Nein, ich verspreche, ich werde Ihnen in meinem ganzen Leben niemals etwas nachtragen.« Sie benutzten das gleiche Vokabular, meinten aber offenbar nicht dasselbe. »Warum fragen Sie überhaupt?« wollte Hunter wissen. »Es kursieren Gerüchte«, erklärte Frohn mit Verschwörer miene. »Gerüchte?« interessierte sich sofort auch Nadja. »Gestern sehr spät soll der Erkundungstrupp zurückgekehrt sein, der nach Stone suchte.« »Und? Erfolgreich?« Hunter machte eine ungeduldige Geste. »Lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen!« Frohn blieb unbeeindruckt. »Das kommt darauf an«, sagte er, 47
»was man unter Erfolg versteht ...« Er machte eine kleine Pause, als wollte er Hunter provozieren. »Nein, von Stone fanden sie keine Spur. Dafür wurden sie selbst fast Opfer.« »Es waren um die dreißig Mann!« warf Nadja ungläubig ein. Sie hatte die Zahl irgendwo aufgeschnappt. Seit ihrer eigenen Rückkehr aus dem Wald gab es allgemein kaum ein anderes Gesprächsthema. »Wieder dieses unbekannte Tier ...?« Frohn schüttelte den Kopf. »Einzelheiten konnte ich noch nicht in Erfahrung bringen.« »Nicht einmal als Spitzel würden Sie sich eignen«, knurrte Hunter leise. »Bitte?« fragte Frohn. »Nicht so wichtig.« Er stand auf und verabschiedete sich mit einem Kopfnicken von Nadja. »Ich habe viel zu tun. Ich muß noch den Bordcomputer mit der ganzen Software laden und alles durchspielen, was wir morgen benötigen ...« Er drehte sich um und wollte davongehen. Nadjas Stimme hielt ihn zurück. »Halt! Warte auf mich! Hast du schon vergessen, was du mir versprechen mußtest?« Hunter blieb erstaunt stehen. »Ich wußte nicht, daß das noch Gültigkeit hat.« Sein Blick streifte Frohn, der tat, als würde er sich voll auf die Zeitung konzentrieren. »Fehlt nur noch, daß ihr zwei Brüderschaft trinkt.« »Du bist ja doch nachtragend.« »Aber nur bei dir.« »Einverstanden.« * Der Mann hieß Noel Duchenay und hatte in Sondstrups Namen, beziehungsweise in Pounders Namen, dem der militärische Oberbefehl über DINO-LAND oblag, die Ver 48
tragsverhandlungen mit Allan Hunter und Nadja Bancroft geführt. Er fing die beiden kurz nach Verlassen des Casinos ab. »Entschuldigen Sie bitte, Miß Bancroft ...« »Ja, Mister Duchenay? Was kann ich für Sie tun?« Der Bevollmächtigte sah aus wie der Prototyp eines Advoka ten, aber er hatte sich als fairer Partner erwiesen. Es gab also keinen Grund, sich ihm gegenüber anders zu verhalten. »Aus meinen Unterlagen geht hervor, daß Sie einige Semes ter Medizin studiert und ein Praktikum in Veterinärmedizin absolviert haben.« Nadja nickte lachend. »Dazu stehe ich.« »Es gibt auch keinen Grund, dies nicht zu tun. Im Gegenteil. Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Aber ich sage gleich dazu -« er lächelte entschuldigend in Hunters Richtung, »- daß es sich um eine streng geheime Angelegenheit handelt. Sie dürften vorläufig mit niemandem darüber sprechen.« »Ich kann schweigen.« Duchenay nahm es als Zustimmung und war sichtlich erleich tert. »Wenn Sie mir gleich folgen könnten ...« »Du hast doch nichts dagegen?« Sie musterte Allan Hunter eindringlich. »Natürlich nicht. Ich erwähnte bereits, daß ich genug Arbeit am Hals habe. Bis später dann.« Er setzte den Weg ohne sie fort. »Ich wollte ihm bestimmt nicht an der Ehre kratzen.«, begann Duchenay. »Wo also liegt Ihr Problem?« überging Nadja den Einwand. Sie genoß ihre kleine Rache immer noch und fand sie kein bißchen überzogen. Sie und Allan würden beizeiten die »Kapitulationsbedingungen« aushandeln. »Bilden Sie sich selbst ein Urteil.« Duchenay ließ sich auf keine weiteren Erklärungen ein, sondern leitete sie, an Wachen vorbei, in einen Trakt der Station, von dem jeder wußte, daß er den Militärs vorbehalten 49
war. Am Ende eines langen Korridors bot sich ihnen die Möglich keit, in einen Raum zu blicken, dessen Wandseite, vor der sie stehenblieben, ab halber Höhe vollständig aus Glas war. Dahinter sah es aus wie in einem überbelegten Feldlazarett. Das Licht war jedoch so stark gedämpft, daß kaum mehr als die Konturen der Betten und die Silhouetten der Patienten erkenn bar waren. »Wegen ein paar Kranker haben Sie mich hergerufen?« fragte Nadja. »Ich fürchte, ich muß Sie enttäuschen. Ich werde Ihnen kaum medizinisch unter die Arme greifen können. Außerdem wird die Station doch wohl über eigene Ärzte verfügen. Notfalls können Sie welche einfliegen lassen ...« »Jetzt reden Sie wie Pounder«, entgegnete Duchenay unfroh. »Es ist jemand unterwegs. Unser Doc vom Dienst hatte einen Unfall, als er sich kurz nach Boulder City begab. Es gab eine Häufung widriger Umstände ... Sein Ersatz muß in Kürze eintreffen, aber Sondstrup und ich sind uns einig, daß derweil Sie vielleicht ...« Nadja fixierte Duchenay starr. »Irgend etwas stimmt doch hier nicht. Wer sind die Männer, und was fehlt Ihnen?« »Sie ... wurden gestochen.« »Gestochen?« »Es ist der Suchtrupp, der nach Stone fahndete. Er wurde von Moskitos überfallen.« »Der komplette Trupp.« Duchenay nickte. »Trotzdem.« Nadja schüttelte den Kopf. »Ich begreife Ihre Geheimniskrä merei nicht. Ein paar Moskitos bringen niemanden um, und die Männer sehen auch nicht gerade todkrank aus ...« Noel Duchenay nagte an seiner Unterlippe. »Okay.« Nadja atmete hörbar aus. »Einen Blick. Danach verschwinde ich wieder zu meinem Job.« 50
»Einverstanden. Danke!« Nadja wollte sich der Tür zuwenden, aber Duchenay lenkte sie in einen Nebenraum, wo sie einen Kittel über ihre Klei dung, andere Schuhe und einen Mundschutz anziehen mußten. »Was soll das jetzt wieder?« »Pounder hat Quarantäne für die Männer angeordnet.« »Quarantäne? Wegen einiger Moskitostiche?« Duchenay trippelte nervös auf der Stelle. »Das allein ist es ja nicht. Einige haben sich ... verändert.« »Inwiefern verändert?« »Warten Sie es bitte ab. Ich will nicht, daß Sie ihnen vorein genommen gegenübertreten.« Nadja gestand sich ein, daß Duchenays Verhalten sie allmäh lich neugierig stimmte. Endlich konnten sie in den Quarantä nebereich hinüberwechseln. Ihr Erscheinen - weniger das von Sondstrups Vertrautem - rief verhaltene Begeisterung bei den Patienten hervor. Einige der üblichen Witzchen mußten herhalten. Die meisten lagen jedoch brav in ihren Betten, nur einige waren auf den Beinen oder saßen bei Kameraden an deren Betten. Duchenays erste Handlung bestand darin, die Helligkeit hochzudimmen. Nadja hielt unwillkürlich den Atem an, als sie in das verquol lene Gesicht des Mannes sah, der ihr am nächsten lag. »Das haben Moskitos angerichtet?!« Ihr Blick schweifte weiter, und nach wenigen Sekunden war klar, daß dies kein Einzelfall, sondern eher die Regel war. Nicht alle Gesichter sahen so schlimm aus. Aber alle waren sichtbar aufgedunsen und angeschwollen. Darüber hinaus sah sie Männer mit freien Oberkörpern in ihren Betten sitzen. Die Beulen, die ihre Haut übersäten, wirkten furchtbar; manche schillerten in allen Regenbogenfarben. »Die Ärmsten müssen fürchterliche Schmerzen haben ...« Duchenay schüttelte den Kopf. »Erstaunlicherweise nicht. Sie 51
können sie fragen. Jeder einzelne wird Ihnen bestätigen, daß er sich eher schwammig fühlt, als hätte man sein Gewebe mit einer Spritze betäubt.« Der Mann, dessen Gesicht am übelsten zugerichtet war, starrte zu Nadja empor und gab etwas Unverständliches von sich. Duchenay schien dennoch zu wissen, was er gesagt hatte. An alle gewandt, sagte er: »Das ist Dr. Bancroft. Ich habe sie gebeten, sich einen Eindruck über das ... Problem zu verschaf fen.« »Ist sie Ärztin?« rief jemand aus dem Hintergrund. Ehe Duchenay antworten konnte, sagte Nadja laut und deut lich: »Nein. Ich bin Meereskundlerin, Schwerpunkt Pa läobiologie.« »Was will sie dann hier?« Es klang fast aggressiv. »Wir wollen endlich jemanden sehen, der Ahnung von so etwas hat! Das ist unser Recht! Wir haben doch noch Rechte, oder ...?« Nadja wußte nicht, ob Duchenay es auch spürte, aber sie empfand ganz entschieden die unterschwellige Feindseligkeit, die bei den meisten hier Stationierten vorhanden war. »Behandelt man die Männer nicht?« raunte sie Duchenay zu. »Es kann doch nicht schwer sein, die Schwellungen mit einer Tinktur zum Abklingen zu …« »Wir haben alles versucht. Die Männer wurden alle mit dem versorgt, was man in Fällen zu tun pflegt, wenn man es mit normalen Moskitos zu tun hat. Nur die Dosierung wurde entsprechend erhöht. Bislang spricht niemand auf die Behand lung an, die jeder Sanitäter durchführen kann. Aber ...« »Aber?« »Das ist nicht unser eigentliches Problem.« »Sondern?« fragte Nadja verdutzt. »Aaaaaarrrrggghh . ..!« Nadja wirbelte herum. Fast am Ende des langgestreckten Raumes schoß ein Soldat, der bisher wie schlafend dagelegen hatte, in die Höhe und schrie aus Leibeskräften, als ramme ihm 52
jemand ein Messer in den Magen. Genauso schnell wie der Schrei eingesetzt hatte, brach er auch wieder ab. Der Mann fiel zurück und gab nur noch leise wimmernde Laute von sich. Sofort eilten zwei, drei Kameraden zu ihm und redeten beruhigend auf ihn ein. Dennoch schnappte Nadja noch ein paar Wortfetzen des Betroffenen auf, die sie wider Willen innerlich erschaudern ließen. »So dunkel ... so feucht ... modrig ... Hunger ... Nebel ...« »Was … hat er?« Nadja spürte einen Kloß im Hals. »Wer ist der Mann?« »Harryhausen.« Duchenay zuckte mit den Achseln. »Er führte das Kommando über den Suchtrupp. Jetzt halluziniert er. Alle halluzinieren - glücklicherweise nicht alle gleichzeitig. Noch nicht. Momentan ist es so, daß sich immer welche um denjeni gen kümmern, der davon befallen wird. Das bringt mehr, als wenn Fremde es tun. Soviel fanden wir bereits heraus. Deshalb haben wir uns entschieden, die Betreuung der Gruppe eigen verantwortlich zu gestalten, bis die Experten eintreffen ...« »Sind Psychologen darunter?« fragte Nadja. »Psychologen und Tropenmediziner«, nickte Duchenay. »Wie ich sehe, können Sie auch nichts damit anfangen.« Die Feststellung klang resigniert. »Leiden die Betroffenen unter Fieberschüben?« Nadja ertappte sich dabei, daß sie alle Fragen an Duchenay richtete, statt in direkten Erfahrungsaustausch mit den Patien ten zu treten. Sie fand ihr eigenes Verhalten unmöglich, ohne es ändern zu können. »Nein, im Gegenteil. Die meisten haben Untertemperatur.« Nadja fühlte sich von Sekunde zu Sekunde unwohler in dem Raum. »Was sollte vorhin Ihre Bemerkung über „normale Moskitos“?« »Es waren keine normalen«, sagte Duchenay. »Sondern?« »Fliegende Monster!« rief jemand mit schriller Stimme. 53
»Schweigen Sie, Kidredge!« Duchenay zögerte kurz, gab sich dann aber einen Ruck und wandte sich an Nadja. »Warum sollte ich es Ihnen nicht zeigen ... Kommen Sie.« »Die Ratten verlassen das sinkende Schiff!« Ein häßliches Lachen begleitete sie, bis sie die Station verließen. Diesmal fiel Nadja auf, daß der Zugang automatisch hinter ihnen verriegelt wurde. Unter diesen Umständen war es erstaunlich, daß nicht mehr Aufruhr unter den Eingeschlossenen herrschte. Als ihr Blick zur Decke schweifte, erkannte sie das Kamera auge, mit dem dieser Bereich überwacht wurde. Danach hatte sie keine Zweifel mehr, daß auch die gesamte Quarantänezone kontrolliert wurde. Duchenay führte sie in einen belebteren Bereich. An der Tür des bescheiden eingerichteten Büros, das sie schließlich betraten, stand sein Name. Duchenay räumte einen Papierstapel von einem Stuhl und bot ihr Platz vor einem Monitor an. Dann aktivierte er ein dazugehöriges Abspielgerät, worauf der Bildschirm sich erhellte. Ein paar Augenblicke später erschie nen die ersten Bilder. »Das haben uns die Jungs von ihrem Ausflug mitgebracht ...« Nadja entdeckte eine neue Seite an Duchenay: den Zyniker. Gleich darauf konzentrierte sie sich jedoch ausschließlich auf die wackligen Szenen, die man vermutlich nachträglich soweit aufbereitet hatte, daß überhaupt Details hervortraten. »Was ist das?« fragte sie, als die Kamera über eine morastige Sumpfzone strich und dann hinüber zum offenen Gewässer schwenkte. Dort glitzerte und wogte etwas in der Luft hunderte flügelschlagender Einzelwesen, die sich erst zu Individuen auflösten, als das kameraeigene Zoom und das der Nachbearbeitung ein Bildsegment mit phantastischer Ge schwindigkeit vergrößerte. Es entstand der Eindruck, als würde einer der Moskitos aus dem Bildschirm heraus auf Nadja zujagen wie ein japanischer Kamikazeflieger im Zweiten Weltkrieg. 54
Nadjas Augen weiteten sich. Ihre grüne Iris zitterte wie in der REM-Phase des Schlafes, wenn Träume einsetzten - nur eben mit offenen Augen und bei fast schmerzhaft wachem Verstand. Das hier fiel in ihr Fachgebiet! Und dennoch konnte sie es kaum glauben! Sicher, es gab Computeranimationen, aber das waren Spiele reien, nicht wahrheitsgetreuer als die ersten Bleistiftradierun gen, mit denen man das Aussehen von Lebewesen der Urzeit visuell begreifbarer hatte machen wollen - nur eben perfekter. Das, was hier von der Kameraoptik eingefangen worden war, stellte etwas völlig anderes dar. Die Wirklichkeit! Und die Wirklichkeit stellte jede noch so fundierte Phantasie in den Schatten! Dieser Moskito mußte groß, gewaltig, gigantisch sein, gemes sen an seinen heutigen Nachfahren, und dies auch ganz ohne Vergrößerungstechnik. Mit etwas Vorstellungsvermögen konnte man in die großflächigen Facettenaugen sogar eine gewisse Heimtücke hineininterpretieren ... Die Szene setzte abrupt aus. Das Kameraobjektiv richtete sich gen Boden, zeigte flüchtig ein paar gamaschengeschützte, schlammüberzogene Stiefel, und jagte dann mit dem fliehenden Kameraträger durch die dunstige, düstere Morastlandschaft. Zu intensives Hinschauen bewirkte Kopfweh, so ruckartig schwenkte die Kamera hin und her. »Was war das?« stieß Nadja kratzig hervor. Als hätte Duchenay die ganze Zeit auf ihren Einwand gewar tet, spulte er sofort per Fernbedienung um eine Sequenz zurück. »Wir nehmen an, die Brut«, sagte er. »Die was?« Duchenay wiederholte, was er gesagt hatte. »Es handelt sich schon um die „entschärfte“ Fassung. Die wirklich krassen Detailvergrößerungen, die einen Blick in die zertretenen 55
Waben gestatten, wollte mir Pounder nicht für Sie freigeben. Ich kann Ihnen jedoch versichern, daß ich noch nie etwas Ekelerregenderes gesehen habe. Sie selbst werden es anders beurteilen. Für Sie mag es eine einmalige Chance sein …« »Die Brut ernährt sich von ... Blut?« »Davon gehen wir aus.« »Saurierblut?« »Im Regelfall sicher. Sonst steht ihnen auch nichts zur Verfü gung. Aber wie wir mittlerweile wissen, scheuen sie sich auch nicht, ein „Säugetier“ auf die Speisekarte zu nehmen ...« Nadja wußte, daß er recht hatte. Dennoch weigerte sich ihr Bewußtsein standhaft, es zu akzeptieren. »Hat man ... Proben mitgebracht?« Duchenay lachte gekünstelt. »Schön wär's ja. Aber Harryhau sens Truppe hat nach der Attacke nur noch eins im Sinn gehabt: zur Basis zurückzukehren. Und ist wohl auch begreif lich.« »Wann setzten die Halluzinationen ein?« »Etwa drei Stunden nach der Rückkehr. Man beachtete sie zunächst nicht weiter. Folgen des Schocks bei manchen, dachten wir.« »Das wäre doch auch eine Erklärung.« »Natürlich. Es gibt vermutlich eine ganze Anzahl glaubwür diger Erklärungen. Was Pounder, Sondstrup, mich und einige andere aber etwas weniger nervös und dafür zuversichtlicher machen würde, wäre, definitiv zu wissen, was dahintersteckt. Momentan geschieht so viel in und um DINO-LAND, daß man eine natürliche Aversion gegen Rätsel entwickelt.« »Gibt es Gründe, unsere Mission zu verschieben?« fragte Nadja. »Setzen wir uns der Gefahr aus, ebenfalls Bekanntschaft mit den Riesenmoskitos zu machen?« »Wenn es nach uns geht, läuft alles planmäßig. Ob die Mos kitos 'Menschenblut geleckt' haben, wird sich zeigen müssen. Da Sie, Mister Hunter und Mister Frohn aber vorläufig nicht 56
die Sumpf- und Moorzonen des Gewässers erforschen sollen, dürfte es zu keinem Zwischenfall in dieser Hinsicht kommen. Wenn doch: Das Boot verfügt nicht Hinüber hochempfindliche Sonartechnik, die Sie vor der Annäherung unter der Oberfläche schwimmender Körper warnt, sondern auch über eine vorzügli che Luftradarortung.« »Sie wollen sagen, die Ortungstechnik würde sogar beim Anflug eines Moskitoschwarms Alarm schlagen?« »Natürlich.« Nadja betrachtete ihn intensiv, fand aber keinerlei Anzeichen, die verrieten, ob er scherzte. Kurz darauf entließ Duchenay sie mit der erneuten dringen den Bitte, zu niemandem ein Wort über das Erfahrene zu verlieren. Eine Panikreaktion innerhalb von DINO-LAND konnte sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt niemand leisten. Nadja versprach, es zu berücksichtigen, suchte ohne Umweg Hunter auf und berichtete ihm unter dem Siegel der Ver schwiegenheit, was sie erfahren hatte. »Ich habe auch eine Neuigkeit«, sagte Hunter. »Nach den Berechnungen der Zeitseismologen wird in Kürze ein weiteres Stück aus der Vergangenheit auftauchen und das bisherige Gewässer vermutlich noch vergrößern.« »Wann?« »Noch heute.« Zehn Minuten später rief Duchenay bei Hunter an und bat ihn, mit Frohn bei ihm vorbeizukommen, weil er ihn ebenfalls in Nadjas Geheimnis einweihen wollte. »Wir haben noch einmal beraten«, sagte er. »Alle an der Pangaea-Mission Beteiligten sollten Bescheid wissen.« Hunter mimte glaubhaft den völlig Ahnungslosen. »Wir kommen, sobald ich Frohn aufgestöbert habe«, ver sprach er. * 57
Es war Dienstag nachmittag, 02:22 Uhr Ortszeit, als das Schauspiel einsetzte, das auch beim hundertsten Betrachten nichts an fremdartiger Faszination einbüßte. Für Allan Hunter und Nadja Bancroft war es eine Premiere. Entsprechend aufgeregt waren sie auf ihrem Logenplatz, fünfzig Meter über Bodenniveau und in alleiniger Gesellschaft des Hubschrauber piloten und Norman Frohns. Sondstrup hatte sich eingeschaltet und darauf bestanden, daß das künftige Pangaea-Team erstens mehr Zusammenhalt und zweitens ein Fingerspitzengefühl für die Dinge entwickelte, mit denen sie bald in hautnahen Kontakt geraten würden. Er hatte nicht die Zeitbeben gemeint. Damit wollte niemand in zu engen Kontakt treten. Sondstrup meinte die Fremde, die bereits entstanden war und permanent wuchs, Neues herüberbrachte. Neues, dem man neben der ganzen verständlichen Furcht auch Respekt und Achtung zollen sollte. Denn es war Leben. Und es war nicht dazu da - wie es sich findige Reiseunternehmer im ersten Enthusiasmus ausgemalt und womit sie vermutlich sogar schon in Prospekten geworben hatten -, um Gutbetuchten Jagdsafaris auf Dinosaurier zu ermöglichen. Das »letzte, wirkliche Abenteuer«. Der letzte Nervenkitzel, der astronomische Adrenalinwerte erzeugte. Nichts war daraus geworden. Außer ein paar Aussichtsplattformen außerhalb des DINO LAND umfassenden Sicherheitszaunes, auf denen sich heran gekarrte Touristenheere drängelten, gab es keine Eingeständ nisse an die reine Sensationslust. »Es fängt an«, gab der Pilot über Kopfhörer durch. Sein ausgestreckter Arm wies die Richtung. Nadja stieß Hunter, der neben ihr saß, während Frohn vorn Platz genommen hatte, unbewußt mit dem Ellbogen in die 58
Seite. Aber auch er registrierte es nicht, weil sie das Flirren und das ganze wahnwitzige Phänomen, das sie bislang nur vom Bildschirm kannten, zum ersten Mal live und aus nächster Nähe erlebten. Es sieht wirklich aus wie Beamen, dachte Hunter beklommen. Sein Gedächtnis, das nichts mehr verlor, was es einmal gespeichert hatte, bekam allerhand zu tun. »Gehen Sie näher!« keuchte Frohn. Als Hunter zu ihm blickte, erschrak er über die Veränderung, die im Gesicht des Mannes vonstatten gegangen war. Es war verzerrt wie in einer Konzentrationsphase, die ihm alles abverlangte. Hunter stieß ihn kurz an, aber es brachte keine Entspannung. »Unmöglich«, sagte der Pilot. »Wir sind schon am Limit.« »Verdammt, gehen Sie näher ran! Ich befehle es Ihnen!« Frohn krallte sich an seinem Sitz fest, als wollte er im nächsten Moment durch die Scheibe springen, wenn seinem Wunsch nicht sofort entsprochen wurde. »Sie haben mir nichts zu befehlen«, sagte der Pilot selbstbe wußt. Frohn lachte heiser und ohne Humor. »Beruhigen Sie sich!« griff Hunter ein. Frohn schien ihn gar nicht zu verstehen. Erst als Nadja von hinten beruhigend die Hand auf seine Schulter legte, ent krampfte er sich und erwachte wie aus einem Traum. »Es tut mir leid«, sagte er tonlos. Der Pilot zuckte die Achseln. Für ihn war die Sache erledigt. Und auch die anderen wurden viel zu sehr von dem Geschehen draußen beansprucht, als daß sie sich weiter mit Frohn befaßt hätten, der wieder friedlich wie ein Unschuldslamm verharrte. Aus den Myriaden glitzernder Punkte bildete sich dort, wo vorher nur rotverbrannter Wüstenboden existiert hatte, etwas heraus, das frappierende Ähnlichkeit mit dem bereits in der Gegenwart existenten Urzeitsee hatte. 59
Sekundenlang ähnelte der Vorgang einer Doppelbelichtung beide Landschaften schienen gleichzeitig zu existieren, schemenhaft sichtbar und durchdrungen von flirrendem, blendendem Licht, das - was war? Zeit? Sah so Zeit aus? Etwas, das man gar nicht sehen konnte? »Es ist - grandios«, flüsterte Nadja. »Unnatürlich träfe es eher«, seufzte Hunter. Er wurde das Gefühl nicht los, daß sie sich vordergründig wie naive, kleine Kinder ihrem Entdeckerdrang hingaben - und daß aus einer Richtung, die ihnen noch nicht bekannt war, bereits die Katastrophe in einer Größenordnung lauerte, die eine Wasser stoffbombe, in New York gezündet, an mörderischer Wucht noch übertreffen würde. Zugleich wurde ihm eindringlich klar, daß Frohns »metaphy sisches Gequatsche«, wie er es in Gedanken zunächst abgekan zelt hatte, Zweifel in ihm in Bewegung gesetzt hatte, die sich, wenn es weiter Nahrung erhielt, zu einer Lawine auswachsen konnten. »Gehst du jetzt unter die Miesepeter?« wunderte sich Nadja. Er lächelte entkräftend. Aber es wurde Frohns Grimasse von vorhin verflucht ähnlich. Es dauerte nicht mehr lange, bis das gewaltige Stück Urzeit schräg unter ihnen seine endgültige Form angenommen hatte und vollständig materialisiert war. Gleichzeitig kam ein kräftiger Wind auf; auch dies ein Vorgang, der mit jedem Zeitbeben einsetzte und sich sogar zu einem Orkan auswachsen konnte, wenn das in der Zeit versetzte Stück groß genug war. Es mußte mit den verschiedenen Klimazonen zusammen hängen, die auf diese Weise aufeinandertrafen. Aber das allein reichte als Erklärung nicht aus. Die Wissenschaftler und Meteorologen waren sich einig, daß es noch andere, viel diffizilere Gründe für die Wirbel gab. Aber wer konnte schon das Mysterium Zeit erfassen, geschweige denn ergründen? Der Hubschrauberpilot hatte offensichtlich schon seine 60
Erfahrungen gemacht; bei der ersten Bö ließ er die Maschine herumschwenken und brachte zwischen sich und das neu hinzugekommene Gebiet einen Abstand von gut einer Meile. Bis hierhin reichte der Sturm nicht, der erst jetzt richtig loszubrechen schien, denn die Oberfläche des Gewässers wurde gepeitscht wie auf hoher See. Es war ein bizarrer Anblick, vor allem, weil sich dort unten vor wenigen Sekunden noch staubtrockene, hitzedurchglühte Wüste befunden hatte. Falls sich ein Mensch oder ein anderes Lebewesen in der betroffenen Region der Nevadawüste aufgehalten hatte, führte sich Hunter vor Augen, so atmete er beziehungsweise es jetzt bereits Millionen Jahre in der Vergangenheit weiter. Nein, dachte er im nächsten Moment, das war ein klarer Denkfehler. Alles, was im Austausch hinübergerutscht war, war seit über hundert Millionen Jahren tot. Aus subjektiver Sicht mochten die Männer und Frauen sich für die Spanne ihres dortigen Lebens als existent empfinden - aus heutiger Sicht waren sie bereits zu weniger als Staub zerfallen. Und ein Zurück, das hatten Beobachtungen eindeutig belegt, gab es für sie nicht. Die Zeit war zwar keine Einbahnstraße aber eine Einmalstraße. Nichts, was einmal in ein Beben geraten war, überlebte dies ein zweites Mal. Einmal in die Vergangenheit oder einmal in die Zukunft. Mehr war nicht drin. Weder für Menschen noch für Dinosaurier. Man munkelte, daß dies wohl der Sicherheitsmechanismus der Schöpfung war - aber niemand wußte es wirklich. Sie blieben noch etwa zehn Minuten auf ihrer Beobachtungs position. Das Ansuchen, in den Luftraum über der jüngsten DINO-LAND-Erweiterung einzudringen, lehnte der Pilot auch noch ab, als sich die Verhältnisse stabilisiert hatten. Als der Befehl aus dem Camp kam, drehte er ab und flog »Heimat kurs«. Die Wasserfläche hatte sich im zweiten Anlauf nicht nur 61
mindestens verdoppelt, sie wirkte nunmehr auch komplett. Jeder Laie konnte nun feststellen, daß es sich nicht um den abgeschnittenen Teil eines Meeres, sondern um einen in den Uferzonen morastigen See handelte. Die Frage, warum er sich aus Salzwasser zusammensetzte, blieb dennoch bestehen. Allan Hunter tippte auf eine unterseeische Verbindung zum Meer, dessen Entfernung während der frühen Kreidezeit nur geschätzt werden konnte. Neueste wissenschaftliche Abhandlungen gingen überein stimmend davon aus, daß der Meeresspiegel damals um einiges höher gelegen hatte als heute, wodurch die gegenwärtig beachtliche Distanz von etwa 250 Meilen um einiges geringer gewesen sein könnte. Vielleicht hatte die Küste damals nur 50 Meilen entfernt oder noch näher gelegen. Einen Moment lang fragte sich Hunter, was geschehen würde, wenn sich DINO-LAND soweit ausdehnte, daß tatsächlich Ozean mit herüberkam. Wie würde sich die Schnittstelle verhalten, wenn man berücksichtigte, daß der Meeresspiegel in der Vergangenheit deutlich höher gelegen hatte ...? * Norman Frohn erwachte mitten in der Nacht, und als er die Augen aufschlug, wußte er, daß er von Nadja Bancroft ge träumt hatte. Er knipste das Licht an. Der Raum war von bedrückender Enge. Frohn setzte sich im Bett auf, zog die Knie eng an den Körper und schlang beide Arme darum. Wer ihn in diesem Moment hätte sehen können, wäre konsterniert gewesen. Denn dieser Norman Frohn hatte weder etwas mit dem Großmaul noch mit dem Mörder Norman Frohn gemeinsam. Er kauerte da wie ein Verlorener. Jemand, dem für kurze Zeit bewußt wurde, was er getan hatte und im Begriff stand zu tun. 62
Die Schattenungeheuer ... Aus den Augenwinkeln glaubte er, sie auf sich zustampfen zu sehen. Sein Herz schlug wild. Das Blut in seinen Adern schien dabei zu Frost zu erstarren und als tanzende Eiskristalle weiterzudriften. Für unbestimmte Zeit schienen die Dimensionen des Raumes zu verwischen. Die Wände falteten sich zusammen, schoben sich ohne einen Laut auf Frohn zu, begruben ihn unter sich, zermahnten ihn, ohne ihm weh zu tun, und standen im nächsten Wimpernschlag wieder neu und verändert vor ihm auf. Wurden zu einer düsteren, feuchten, lärmerfüllten Kulisse, in der keine Farbe außer tausend Grünschattierungen zu existieren schie nen. Er glaubte, den Wald förmlich riechen zu können. Das modrige Leben im fauligen Untergrund. Dann - vom angestrengten Pochen seines Herzens weggefegt - floh dieses Bild und wich dem vertrauten, einsamen Raum. Die Depression befiel Frohn so jäh, daß er das Gesicht in die Arme bettete und so heftig zu weinen begann, daß Kopf und Oberkörper hin- und hergeschüttelt wurden. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, daß daumenbreit unter seinem Nacken etwas unter der Haut erwachte, das vorher mit ihm geschlummert, mit ihm geträumt hatte. Eine Idee von verführerischer Kraft keimte plötzlich auf. Doch er wagte noch nicht, sie sich selbst einzugestehen. Es war noch zu früh. Er hatte sie ja noch nicht gefunden. Marilyn ... * Der Morgen war trübe, als das Pangaea-Team per Helikopter zu dem Forschungsschiff gebracht wurde, das ungefähr im Zentrum des Gewässers vor Anker lag. Dem See sah man nicht an, daß er quasi aus zwei Teilen zusammengesetzt war. 63
Die Lastenhubschrauber hatten das technische Wunderwerk bereits am Vorabend hier abgesetzt. Eine ganze Nacht hatte die Pangaea, die ihren Namen nach dem Superkontinent trug, der vor der Kontinentaldrift existierte, unbemannt hier draußen in der Fremde schadlos, wie es schien, überstanden. »Dieses merkwürdige Leuchten - seht ihr es auch?« rief Nadja. »Es ist kein Leuchten«, korrigierte Frohn. »Es sieht eher aus wie züngelnde, bläuliche Blitze, die über die Hülle tanzen ...« »Hat man Sie denn nicht informiert?« fragte der Pilot. »Worüber informiert?« »Über den Defensivschild des Schiffes«, lautete die Antwort. »Er kann nur aktiviert werden, wenn sich kein Besatzungs mitglied mehr an Bord befindet - oder im äußersten Notfall. Er ist nicht ungefährlich. Wir schalten ihn jetzt per Funkimpuls ab, bevor Sie die Planken betreten.« »Wie rücksichtsvoll«, spöttelte Allan Hunter. »Ich hoffe, wir sind den Jungs von der Army ebensoviel wert wie ihr gegen alle Eventualitäten abgesichertes Schiffchen.« »Darüber liegen mir keine Informationen vor, Sir«, meinte der Pilot lapidar. Offenbar hatte er das erwähnte Signal bereits losgesandt, denn unten erloschen die schützenden »Spezialeffekte« in diesem Moment. »Sie holen uns doch vor Einbruch der Dunkelheit wieder ab?« vergewisserte sich Nadja. »Wie verabredet. Ich möchte hier, ehrlich gesagt, auch nicht übernachten.« Der Mann am Steuer lachte rauh. Die nächsten Minuten wurden davon beansprucht, sich aus etwa fünfzehn Fuß Höhe auf das Deck der Pangaea abzuseilen. Während dieser Zeit stand der Kopter sanft schaukelnd in der Luft. Eine Landefläche gab es für ihn nicht. Alles ging gut. Ein letzter Wink, dann entfernte sich der Kopter mit zuneh 64
mender Geschwindigkeit auf das wuchernde Grün des Waldes zu, der die fernen Ufer nach allen Seiten säumte. »Scheiße!« fluchte Nadja undamenhaft. Sie hatte vorsichtig tastend die Metallreling berührt (man konnte schließlich nicht wissen, wie lange blauer Reststrom zirkulierte) und dabei einen Blick auf die unmittelbare Umgebung des Schiffs geworfen. Hunter und Frohn sahen es etwas später als sie. Der Kadaver eines toten Meeresreptils schwamm mit dem Bauch nach oben auf der Wasserfläche. Das Tier hatte große Ähnlichkeit mit einem Krokodil, jedoch keine für ein Leben auf dem Land geeigneten Gliedmaßen, sondern Paddelflossen. Der schuppige Bauch sah aus wie verbrannt, ebenso die lange Schnauze mit dem weit aufgerissenen, in dieser Stellung erstarrten Schlund, in dem mörderische, leicht nach hinten gebogene Zähne verhinderten, daß eine Beute beim Verschlin gen entweichen konnte. Wie die meisten maritimen Raubfische und -reptilien schien auch diese Spezies ihre Opfer komplett, also unzerkaut zu schlucken. Im Magen befindliche Steine halfen meist bei der anschließenden Zerkleinerung und Verdauung. »Ein Metriorhynchus brachyrhynchus«, sagte Nadja. Kurz darauf entdeckten sie einen ganzen Schwarm kleiner Knochenfische, die tot in der Nähe der Pangaea schwammen. »Damit bin ich nicht einverstanden«, erklärte die Paläobiolo gin trotzig. Hunter hielt sich mit Kommentaren auffallend zurück. Als er dann jedoch sagte: »Sehen wir uns gleich den Käfig an«, wußte Nadja, daß er in Gedanken schon einen Schritt weiter war als sie. Sie erbleichte. Dann nickte sie. Die roten Markierungsbojen leuchteten in geringem Abstand vom Schiff. »Übernehmen Sie das Echolot«, forderte Hunter den Paläon tologen auf, der sich wirklich ungewöhnlich verhielt. Seit dem 65
Zeitbeben war das Flirren aus seinen Augen verschwunden, und irgendwie schien ihm das, obwohl es absurd war, nur gutgetan zu haben. »Okay«, sagte Frohn. Vorher half er ihnen dabei, das Beiboot über den schwenkba ren »Galgen« zu Wasser zu bringen. Im Boot befand sich alles, was gebraucht wurde. Sogar ein geladenes Gewehr für den absoluten Notfall und eine Signalpistole, falls der momentan leichte Dunst wieder überhand nehmen sollte und man sich etwas weiter von der Pangaea entfernte. Sie waren fast fertig, als ein Geräusch von der anderen Boots seite sie aufschreckte. Es entstand nur einen Moment lang und hörte sich wie zusammenklatschende Wassermassen an. Da kaum Wind vorhanden war, mit entsprechend geringem Wellengang, wurde das Team sofort argwöhnisch und wechsel te unverzüglich zum vorderen Heck. »Nichts«, sagte Frohn nach einer Weile des Beobachtens. Hunter holte seinen Feldstecher und suchte auch die weitere Umgebung ab. Ebenfalls ohne Erfolg. »Vielleicht haben wir uns geirrt ...« Im selben Augenblick schrie Nadja leise auf. »Der Metri orhynchus ...!« Der Kadaver des Reptils war verschwunden. »Er ist mit Wasser vollgelaufen und zum Grund abgesunken«, schusterte sich Frohn eine Erklärung zurecht, die niemand glauben wollte. Hunter und Nadja rannten unter Deck. Frohn folgte. Sie mußten das Echolot und die dazugehörigen Ortungs mechanismen erst einschalten. Es dauerte Sekunden, bis alles funktionsfähig arbeitete. Hunter zeigte auf den grünen Schirm, auf dem sich ein be wegliches Signal rasch von zwei anderen, die starr blieben, entfernte. Die beiden fixen Signale waren die Pangaea und der Käfig. Das flüchtige ... 66
»Der Kadaver muß noch über gute Reflexe verfügen, wenn er sich eigenständig auf diese Weise davonmacht«, sagte Hunter an Frohn gerichtet. Der Paläontologe zuckte nur die Schultern. »Um was handelt es sich?« »Das läßt sich anhand dieser Ortung kaum feststellen«, sagte Nadja. »Aber seht euch die Größe des Signals an. Es ist kaum kleiner als das des Schiffes ...« Hunter nickte und fluchte synchron. »Sie werden jetzt hier vor dem Schirm bleiben«, sagte er zu Frohn. Obwohl es keine Befehlsgewalt eines einzelnen Teamangehörigen über den anderen gab, war es ein Befehl. Das Echolot besaß einen ungefähren Radius von einer halben Meile. Das geortete Objekt entfernte sich mit enormer Ge schwindigkeit aus diesem Ring, bis es unsichtbar geworden war. »Was hast du vor?« fragte Nadja. »Wir müssen zum Käfig, nach den Delphinen sehen«, sagte Hunter. »Ganz egal, was da draußen herumschwimmt. Aber ich möchte wenigstens gewarnt sein, wenn es zurückkehrt ...« Sein Blick nagelte Frohn förmlich auf dem Stuhl vor der Ortung fest. »Wir bleiben in permanentem Funkkontakt.« »Kein Problem.« Frohn nickte. Hunter schob Nadja vor sich her an Deck zurück. »Ist das nicht ein zu hohes Risiko, das wir eingehen? Sollten wir nicht das Camp verständigen, damit …« »Damit was? Sie uns gleich wieder abholen? Himmel, wir sind hier, um das Salzwasserrätsel zu lösen und die Artenviel falt des Sees zu erkunden, und wir können nicht bei der ersten Schwierigkeit den Schwanz einziehen. Uns kann nichts passieren, solange derjenige, der die Ortung im Auge behalten soll, spurt. Wir werden uns regelmäßig ablösen. Das heißt selbstredend, daß du und ich auch mal mit unserem Mister 67
zusammenarbeiten müssen ...« Er senkte den Daumen wie ein römischer Imperator nach unten, aber es gab ohnehin keinen Zweifel, wen er meinte. Kurz darauf brachen sie zum Käfig auf - und erlebten die nächste, üble Überraschung. Schon bei der Annäherung wuchsen die düsteren Vorahnun gen. Sie bemerkten, daß eine der insgesamt vier Bojen ver schwunden war, so daß nicht mehr das Quadrat des Käfigs, sondern ein Dreieck markiert wurde. Da die stabilen, luftge füllten Kugeln verhindern sollten, daß das Gitterwerk zum Grund absank, war zu befürchten, daß der Käfig Schlagseite bekommen hatte. Hunter und Nadja befürchteten nicht, daß die Tümmler die Gelegenheit benutzt hatten, um das Gebilde zu verlassen - das konnten sie ohnehin jederzeit, denn es besaß oben eine Öff nung zum Luftholen, die groß genug war, einen der schlanken, biegsamen Delphinkörper passieren zu lassen. Der Käfig war nicht als Gefängnis, sondern zum Schutz konstruiert und sollte lediglich verhindern, daß etwas Größeres zu ihnen hereinkam. Die Tümmler waren darauf vergattert, im Gefahrenfall sofort in den Käfig zurückzuschlüpfen und dort auch sonst für die Dauer der Mission auszuharren, ausgenom men den Zeiten, in denen sie mit Hunter und Nadja zusammen arbeiteten. Das sollte ihre Gefährdung in einer ihnen ebenso wie dem Menschen fremden Umgebung minimieren - ganz auszuschließen war sie nicht, wie die jetzige Annäherung bewies. Hunter legte direkt neben dem abgekippten oberen Rand an und nahm das Sichtgerät zur Hand, das wie ein modifiziertes Periskop aussah. An die obere Mulde des rohrförmigen Geräts konnte man beide Augen gleichzeitig anlegen. Das Ende des armlangen Instruments tauchte unter Wasser und ermöglichte, inklusive zuschaltbarem Scheinwerfer, eine erstaunlich verzerrungsfreie Beobachtung geringer Tiefen. 68
Hunters Kehle wurde eng, als er die Tiere nicht sofort ent deckte und sich seine Befürchtungen mehrten. Aber dann fand er sie doch - verängstigt zusammengepfercht in einem der unteren hinteren Winkel des Gitterquaders. »Wie sieht es aus?« fragte Nadja angespannt. »Sie haben Angst, aber sonst scheinen sie okay«, antwortete er. Während Nadja über ein Wassermikrofon beruhigende Laut folgen abspielte, sah Hunter sich den Käfig näher an, ohne das Boot zu verlassen. Als die ersten Tümmler mit schnatternden Klicklauten und einer Physiognomie, die selbst im Panikzustand die Maske der Fröhlichkeit nicht abstreifen konnte, neben Hunter auftauchten, brach er seine Untersuchung ab, beschäftigte sich eine Weile mit den immer noch verstörten Tieren und wandte sich dann an Nadja: »Die Stahlverstrebungen sind teilweise verbogen. Hier war etwas mit enormer Kraft am Werk. Vermutlich im guten Glauben, daß unsere Babies zur Verfütterung bereitgestellt wurden ...« »Hör auf, so von ihnen zu reden«, rief Nadja erbost. »Ob der Metriorhynchus dahintersteckt?« »Wohl eher der, der sich vorhin seinen Kadaver als Appetit happen geschnappt hat. Mit dem „Kroko“ wären unsere Freunde bestimmt fertiggeworden.« Nadja nickte, ohne ihre Skepsis ganz überwinden zu können. Wer wußte schon sicher, womit man in diesem urzeitlichen Gewässer fertigwerden konnte oder nicht. »Wir können die Tiere unmöglich noch eine Nacht hier sich selbst überlassen«, sagte sie. »Das müssen wir aber. Sogar wohl noch einige Nächte. Von den Tagen gar nicht zu reden. Und ich bitte dich, nicht vorzu schlagen, daß wir uns solidarisieren sollten. Für uns bleibt alles beim alten. Ich überlege nur, ob es nicht besser wäre, ihnen den 69
Käfig zu verbieten. Er könnte sich leicht in eine Falle verkeh ren. Viel hätte jetzt schon nicht mehr gefehlt. Wenn sie sich ein eigenes Quartier für die Nacht suchen würden ...« »Du beschäftigst dich länger mit ihnen«, zeigte sich Nadja wider Erwarten zugänglich. »Wenn du es für die bessere von zwei schlechten Lösungen hältst ...« Hunter schaltete das Aufzeichnungsgerät ab, das die Panik laute der Tümmler konserviert hatte. »Kehren wir zur Pangaea zurück. Vielleicht kann ich mit dem Computer entschlüsseln, was unseren Babies an die Haut wollte. Danach werde ich ihr Auftragsprogramm gegebenenfalls modifizieren.« »Du willst sie auf jeden Fall heute noch ausschicken?« »Den See zu erkunden? Natürlich.« »Wissenschaftler!« fauchte Nadja, und es klang nicht zufällig wie ein Schimpfwort. Sie verständigten sich durch Zeichen, die der Lautmalerei nicht bedurften, mit der Delphin-Schule. Solange Frohn keinen Alarm schlug, gab es keinen Grund, weshalb sie sich nicht weiter frei im Umkreis des Schiffes bewegen sollten. Es konnte nicht schaden, wenn sie sich früh mit der ungewohnten Wasserwelt anfreundeten. »Okay, wir kehren jetzt zurück«, sagte Nadja in das HandWalkie-talkie, das die ganze Zeit unbeachtet zwischen den anderen Instrumenten gelegen hatte. Hunter startete den Motor, dessen Antriebsschraube durch ein engmaschiges Gitter abgeschirmt war, um die Delphine oder andere Wasserlebewesen nicht zu gefährden. »Alles klar bei Ihnen, Norman?« hakte Nadja nach, als Frohn sich nicht meldete. Hunter spürte den Ärger als heiße Welle in sich hochsteigen. »Wenn er vor seinem Schirm eingedöst ist ...« Weiter kam er nicht. Direkt vor ihnen, am Bug des kleinen Bootes, glitt etwas Dunkles, etwas Großes und Bedrohliches unter der Wasserflä 70
che auf sie zu - und zwar so rasend schnell, daß zwischen der flüchtigen, schattenhaften Wahrnehmung und dem unwider stehlichen Auftauchen der unwirklichen Kreatur mit dem schlangenähnlich gebogenen Hals nur ein Wimpernschlag zu liegen schien! Hunter, der das Ruder in der Hand hielt, versuchte, das Boot mit einer Instinktbewegung herumzureißen. Aber die Korrektur kam zu spät. Der spitz zulaufende Bug rammte bereits das graue Gebirge aus Fleisch und Blut, das sich unter dem Spiegel des Sees in ihre nächste Nähe gebracht hatte und jetzt wie eine Klippe vor ihnen aufstieg. Nadja schrie gellend. Hunter war viel zu beschäftigt, um sich zu beteiligen. Erneut riß er das Handruder in die andere Richtung. Der Bug schabte mit häßlichem Quietschton über den grau getupften, tangüber zogenen, dunkel-ölig glänzenden Rumpf und verleitete seinerseits das Wesen, das den Alpträumen mittelalterlicher Seefahrer entsprungen schien, zu unkontrollierten, ruckhaften Bewegungen des mit einem mörderischen Gebiß bewehrten Schädels. Das gurgelnde, fauchende Begleitgeräusch sträubte Nadjas Nackenhärchen, und sie erwartete fast, einen Feuerstoß aus dem Rachen des Ungeheuers hervorschießen zu sehen. Sekun denlang war sie wie gelähmt, und alles spielte sich in diesen wenigen Sekunden ab! »Frohn, Sie Arschloch!« schrie Hunter und ließ das Ruder fahren. Seine Hände griffen am Walkie-talkie vorbei nach dem Gewehr. Nadja saß schreckensbleich zwischen ihm und dem Plesiosaurier. Ihre Augen waren weit aufgerissen und in diesem Ausdruck erstarrt. Sie schien vollkommen bewegungs unfähig, bis der lange, dünne Hals des Sauriers wie eine imaginäre Seeschlange zurückknickte und der Kopf mit geöffnetem Rachen auf die Paläobiologin zustieß. 71
Da erst streifte sie die Paralyse ab, sprang mit rudernden, wild und sinnlos fuchtelnden Armen auf und brachte nur noch erstickte Laute hervor. Kurz bevor das Reptil sie in seine blitzenden Fänge nehmen konnte, verlor sie im schwankenden Boot das Gleichgewicht und ging über Bord. Ihre Schreie wurden vom über ihr zusam menschlagenden Wasser erstickt. Hunters donnernder Schuß fiel mit diesem Ereignis fast zeitgleich zusammen. Vorher hatte er gar nicht abdrücken können, weil ihm Nadja die Schußlinie verstellt hatte. Jetzt strich glühendheißes Blei durch die Luft, verfehlte aber, wie es aussah, und der erste Schuß blieb zugleich der letzte, denn im nächsten Moment brachte ein künstliches Seebeben die Nußschale zum Kentern. Dazu genügte ein kurzes Auf bäumen des breiten, mit kräftigen Paddeln und einer Schwanzflosse versehenen Körpers, der sich schüttelte, als wollte er seinem Unmut über die versuchte Gegenwehr Ausdruck Allan Hunter verleihen. wurde kopfüber ins Wasser geschleudert. Er verlor dabei das Gewehr - aber nicht das Bewußtsein. Ob er das als Glück verbuchen konnte, wußte er in diesem Moment noch nicht. Vielleicht wäre es besser gewesen, betäubt in die Fänge des sofort nachsetzenden Reptils zu geraten. Seltsamerweise empfand er kaum Angst um sich selbst. Seine Gedanken kreisten fast ausschließlich um Nadja, von der er in den wirbelnden Massen nichts mehr sah oder hörte. Mit unvorstellbarer Leichtigkeit glitt das »Gebirge« auf ihn zu. Hunter hatte es gerade geschafft, sich mühsam zur Oberflä che zurückzukämpfen und nach Luft zu schnappen, als der Kopf, der nicht größer als sein eigener war, wie am Ende einer langen Peitschenschnur auf ihn niederzuckte. Hunter versuchte, rechtzeitig abzutauchen und gleichzeitig seitlich auszuweichen. Aber noch während der Bemühungen spürte er, daß er viel zu langsam und schwerfällig in die Tat umsetzte, was sein Gehirn anordnete. 72
Er kam kaum von der Stelle. Wie in einem nächtlichen Angst traum. Sein Gegner war schnell. Er war in allen physischen Belangen überlegen, und er schien nicht einfach nur aus Wut zu agieren, sondern aus Hunger. Das Wasser war trübe. Obwohl Hunter die Augen offen hatte, sah er wenig mehr als die schemenhaften Umrisse seines Feindes. Jeden Moment erwartete er das Zuschnappen der leicht nach hinten gekrümmten Zähne. Doch der mörderische Stoß kam und kam nicht. Nichts riß ihm einen blutigen Fetzen Fleisch aus dem Leib nichts zog seine verheerende Spur über den von der Kleidung nur trügerisch geschützten Körper. Warum nicht? Die Frage formulierte sich träge in seinem Gehirn, das nach Sauerstoff lechzte und ihn halb betäubt zur Oberfläche zurück zwang - ganz gleich, was dort auf ihn warten mochte. Nach Atem ringend, tauchte er schließlich wieder auf, schwamm um die eigene Achse und orientierte sich. Das zornige Brüllen zeigte ihm sofort den neuen Standort des Plesiosauriers, der sich einige Fadenlängen von ihm entfernt hatte. Weil er eine attraktivere Beute ausgemacht hatte? Nadja? Hunter schrie ihren Namen. Aber er erhielt weder eine Ant wort, noch fand er auf Anhieb eine Spur von ihr. Dafür begriff er schnell, daß das mächtige Meeresreptil nicht aus freien Stücken von ihm abgelassen hatte. Während es sich wie eine Schildkröte in Achterschlingen davonstahl, ohne von der Möglichkeit, unterzutauchen, Gebrauch zu machen, wurde sein Körper immer wieder von heftigen Erschütterungen durchlaufen. Allan Hunter fand keine andere Erklärung für dieses Phäno men, außer daß das gewaltige amphibische Reptil nun selbst attackiert wurde. 73
Die Tümmler! schoß es ihm schließlich durch den Sinn. Die Ursache des abrupten Beuteverzichts wäre damit zu erklären gewesen. Delphine scheuten sich in Extremsituationen nicht einmal vor Verteidigungsattacken gegen Haie. Wobei sie zielsicher mit ihren harten, knochigen Schnauzen die empfind liche, von keinem festen Brustkorb geschützte Unterseite anvisierten, um die inneren Organe zu quetschen. Nicht wenige Haie hatten diese Entschlossenheit der eigentlich schwächeren Spezies mit dem Leben bezahlt. Daß sich dieses Bild jedoch so ohne weiteres auf einen ausgewachsenen Plesiosaurier übertragen ließ, der für die Delphine ein mindestens so fremdartiges Wesen sein mußte wie für den Menschen, mutete schon etwas fragwürdig an. Das Rätsel vertiefte sich, als Hunter vom typischen Keckem der von ihm betreuten Schule abgelenkt wurde. Das Geräusch kam jedoch aus ganz anderer Richtung. Ohne sich länger auf den fliehenden Plesiosaurier zu konzentrieren, schwamm er in Richtung der Pangaea und erlebte dort das nächste blaue Wunder. Im Schatten des Schiffes, vom Ort des Kenterns uneinsehbar, hielten sich alle fünf Delphine auf. Sie hatten ihre Klick- und Quietschlaute inzwischen zu einer Sinfonie des Schreckens gesteigert, wie sie sich kein Komponist eindringlicher hätte ausdenken können. Sie bewegten sich sehr verhalten, beinahe übervorsichtig, in einer geschlossenen Phalanx, Leib an Leib, und bildeten dabei eine Unterlage für die bewußtlose Nadja, die auch nach Hunters Ankunft noch nicht wieder zu sich kam. Sie mußte beim Eintritt ins Wasser ohnmächtig geworden sein und eine ganze Menge Wasser geschluckt haben. Noch im Wasser untersuchte Hunter sie oberflächlich. Erleichtert stellte er fest, daß Puls und Atmung stabil waren. Er hangelte sich an Bord der Pangaea und dirigierte die Schule so, daß es ihm mit einiger Anstrengung gelang, Nadjas 74
schlaffen Körper zu sich heraufzubefördern. Kaum war sie an Bord, wurde das Geschnatter der Tümmler sofort ruhiger. Hunter führte Erste-Hilfe-Maßnahmen durch und pumpte eine erkleckliche Menge Salzwasser aus ihren Lungen. »Warte hier - ich bin gleich zurück!« Als sie zu blinzeln und zu husten begann, ließ er abrupt von ihr ab und stürmte unter Deck. Er hatte Norman Frohn in dem ganzen Geschehen nicht vergessen - nur in den hintersten Winkel seines Verstandes verbannt. Jetzt klaubte er ihn hervor. Jetzt wollte er sich Zeit für diesen Mann nehmen, der seine Pflichten in unglaublicher Weise vernachlässigte und dabei das Leben seiner Teamgefährten aufs Spiel setzte, als befänden sie sich auf einem harmlosen Sonntagsausflug! Doch Hunter erlebte die nächste Überraschung, als er die Kabine mit den Ortungseinrichtungen betrat. Norman Frohn saß nicht mehr auf seinem Halbschalensitz. Er lag verkrümmt und wimmernd am Boden. Das Hemd hatte er sich selbst vom Leib gerissen, sich dabei in den Ärmeln verheddert und selbst unfreiwillig gefesselt. Mittlerweile machte er nicht einmal mehr einen Befreiungs versuch. Er wandte Hunter den nackten Rücken zu, der kaum noch Ähnlichkeit mit menschlicher Haut besaß. Zunächst erinnerte der Anblick an einen schillernden Bluterguß. Doch es war mehr. Schrecklich viel mehr. Nicht einmal ein Furunkel kam der Sache auch nur nahe. Dazu paßte das sinnlose Ge brabbel, das aus Frohns Mund rann. »Gütiger Gott ...!« rief Allan Hunter gepreßt. * Dr. Steven Green war Tropenmediziner und ein As in Psy chologie. Außerdem war er das, was man in Ermangelung 75
differenzierterer Begriffe als »Kauz« bezeichnete. Weniger vom Äußeren her, als was die versteckten Spleens anging. Er war weder sehr alt noch sehr grauhaarig. Eigentlich war er sogar noch recht jung mit seinen 43 Jahren, elf Monaten und zwanzig Tagen. Sein Phlegma, das er in keiner Situation verleugnen konnte, auch nicht, wenn er sich richtig in eine Sache hineinkniete, hatte ihm vor ein paar Tagen gemeldet, daß in Kürze sein 44. Geburtstag anstand. Seitdem hielt er sich täglich anhand eines sprechfähigen, in die Armbanduhr integrierten Kalenders auf dem laufenden. Seine »Schnapszahl« wollte er unter keinen Umständen versäumen. So ein Ereignis kehrte frühestens in elf Jahren wieder. Ein Mensch, ging man von einer wohlwollen den Lebenserwartung von 88 Jahren aus, konnte seine Schnapszahlen also im günstigsten Fall achtmal feiern. Green war der Meinung, daß man diese seltenen Gelegen heiten nicht fahrlässig verstreichen lassen durfte. Eine große Party war angesagt, wo immer er sich an diesem Tag befinden sollte. Notfalls würde er sich nicht scheuen, sogar mit Dinosau riern zu feiern ... So ein Typ war Dr. Steven Green. Als er aus dem zweipropellerigen Air-Force-Kopter stieg und über das Landefeld auf die beiden wartenden Männer zuging, bückte er sich nicht wie die meisten Leute unter dem rotierenden und beachtliche Winde erzeugenden Rotorblatt, sondern marschierte aufrecht, den Aktenkoffer vorsorglich in der linken Hand. Die Rechte brauchte er zum Shakehands, und es hätte ein unnötiges Umgreifen verlangt, wenn er den Ablauf der Begegnung nicht schon vorher in Gedanken durchgespielt hätte. Auch das war charakteristisch für ihn. Er haßte jede umsonst vergeudete Kalorie. »Dr. Green?« Den Mann, der ihm als erster die Hand entgegenstreckte, 76
kannte er bereits persönlich. »Duchenay. Ich grüße Sie.« »Darf ich Ihnen Major Healy vorstellen? Er ist General Pounders Stellvertreter im Camp. Der General mußte dringend nach Washington ...« Er brauchte nicht extra zu betonen, daß sie damit im Endeffekt alle seiner Befehlsgewalt unterstanden. Der Uniformträger ließ die Vorstellung ohne sichtbare Re gung über sich ergehen. Seine Ähnlichkeit mit dem mittlerwei le legendären General Schwarzkopf aus dem ebenso legendä ren Golf-Krieg (legendär deshalb, weil er den letzten Propa ganda-geeigneten Sieg einer US-Streitmacht seit einem runden Jahrzehnt markierte) mußte Zufall sein. Nunmehr stand die Jahrtausendwende unmittelbar bevor, und es wurde höchste Zeit für neue, gleichwie geartete Erfolge. »Major ...« Dieser Händedruck fiel reservierter aus. »Doc ...« Die Verachtung beruhte auf Gegenseitigkeit, auch wenn Healy ebenso den Schein wahrte wie Green. »Wenn es Ihnen recht ist«, versuchte Duchenay die Situation zu entfrosten, »verlieren wir keine Zeit.« »Ist etwas Neues vorgefallen, seit wir telefonierten?« fragte Green, der auf die förmliche Anrede soviel Wert legt wie auf Krätze. »Sehen Sie selbst ...« Ehe sie die Krankenstation betraten, entfernte sich Major Healy unter einem Vorwand. »Endlich«, seufzte Green. »Sie sagten mir nie, daß Sie keine Militärs mögen«, sagte Duchenay. »Ich sage auch niemandem, daß ich keine Pickel mag.« Duchenay machte eine ähnliche Vorführung, wie er es zuvor schon für Nadja Bancroft getan hatte. Noch vor dem Besuch bei Harryhausens Truppe im Quarantänebereich zeigte er die Aufnahmen der Moskitos aus dem Sumpf bereich des neuent standenen Sees. Green zeigte sich beeindruckt wie bisher jeder. 77
Aber er stellte erstaunlich wenig Fragen. Vielmehr drängte er darauf, sich die Menschen anzusehen, die von den Stichen betroffen waren. Die Situation im Lazarett war einigermaßen stabil geblieben. Nur eines zeichnete sich mittlerweile ab: Es gab Personen, die häufiger gestochen worden waren als andere und keine halluzinatorischen Symptome zeigten. Und es gab zwei, drei Beispiele, die jeweils nur von einem einzigen Moskitostich betroffen waren, dafür aber unter stündlich stärker auftretenden Halluzinationen zu leiden hatten! Dennoch wagte niemand, die scheinbar problemlosen Fälle auszusondern oder gar als gesund zu betrachten. Steven Green nahm sich jeden einzelnen der insgesamt dreißig Soldaten geduldig und der Reihe nach vor. Mit jedem sprach er mindestens zwei, drei Minuten, und es dauerte zwei Stunden, bis er diese erste Begegnung mit seinen künftigen Patienten beendete. Während all der Zeit war Noel Duchenay dabei, und er vermerkte mit einer Mischung aus Erstaunen und Zufrieden heit, daß die Soldaten von Beginn an keine Aggression gegen Green aufbauten. Er schien ihnen im Gegenteil vom ersten Moment an Vertrauen einzuflößen, und das war weit mehr, als Duchenay fürs erste zu hoffen gewagt hatte. »Was sagen Sie?« fragte er, als er mit Green allein auf den Gang zurücktrat. »Noch nichts. Ich werde Blutuntersuchungen vornehmen.« »Und die Halluzinationen?« »Können traumatische Ursachen haben.« Duchenay blieb stehen und sagte: »Ich muß Ihnen noch jemanden zeigen.« »Einen weiteren Patienten?« Duchenay nickte, schränkte aber ein: »Bis vor einer Stunde wußten wir noch nichts davon.« Green sah ihn fragend an, aber Duchenay führte ihn weiter zu 78
einem verschlossenen Raum mit einer zusätzlichen Wache davor. »Ist das nicht übertrieben?« fragte der Stoiker. Er hatte bereits mit innerer Ablehnung registriert, daß die Quarantäne zone einem ausbruchsicheren Gefängnis ähnelte. »Das Camp innerhalb von DINO-LAND existiert erst seit knapp drei Monaten«, sagte Professor Sondstrups rechte Hand. »Die Bedrohung von außen genügt bereits, eine zusätzliche innere können wir uns nicht leisten. Lieber etwas zuviel Vorsicht als …« »Ich rede eigentlich von Würde«, fiel ihm Green in fast beiläufigem Ton ins Wort. »Von der Würde der Patienten. Möchten Sie eingesperrt werden, wenn man bei Ihnen bisher unbekannte Symptome feststellt?« »Ich würde mich damit abfinden.« Aus Duchenays Mund klang dies sogar glaubwürdig. Green ließ es vorerst damit bewenden. Der Zugang wurde entriegelt, und sie betraten, immer noch mit Kittel und Mundschutz gewappnet, die dahinterliegende, hell erleuchtete Kammer. Der bewaffnete Wächter blieb draußen. Die Temperatur im Raum lag hoch, um die achtzig Fahren heitsgrade. Nicht ungewöhnlich schien deshalb, daß der Mann, der seitlich auf einer Pritsche lag, das Gesicht zur Wand, splitternackt war. Er selbst schien an seiner Blöße auch nichts auszusetzen zu haben; vielleicht schlief er, denn er rührte sich nicht. »Ein Sonderfall«, sagte Dr. Steven Green und trat wie von einem Magneten angezogen auf den Mann zu. »Fortgeschritte neres Stadium als alle anderen ...« Duchenay folgte ihm nickend. »So sehe ich es auch. Und der Mann bestätigte es selbst, als er einen Moment zu Bewußtsein kam.« »Wer ist er?« 79
»Ein Wissenschaftler.« Green tastete vorsichtig den Rücken ab, der sich in eine unglaubliche Landschaft aus Farben und Erhebungen verwan delt hatte. Die Haut selbst fühlte sich ölig und kalt an. »Erzählen Sie«, forderte er Duchenay auf, ohne seine Unter suchung zu unterbrechen. »Sein Name ist Norman Frohn. Er gehört einem Team an, das heute damit beginnen sollte, den neuentstandenen Salzsee auszukundschaften. Er brach auf dem Expeditionsschiff zusammen. Er hatte sich die Kleidung vom Leib gefetzt. Dadurch wurde dies hier erst sichtbar. Niemand ahnte etwas davon. Die Expedition wurde sofort abgebrochen und der Mann hierher eingeliefert. Ich sprach kurz mit ihm, als er eine wache Phase hatte. Er schwört Stein und Bein, daß er bereits vor etwa zwei Wochen nachts im Camp von irgend etwas gestochen wurde. Er war auch bei unserem Lager-Arzt, der sich nicht mehr im Camp aufhält, sondern in Boulder City. Offenbar wurde die Sache falsch eingeschätzt. Man schenkte ihr zu wenig Beachtung, und Frohn konsultierte auch niemanden mehr deswegen.« »Wie konnte er das -« Green deutete auf den Rücken, »- so lange ignorieren?« Duchenay zuckte die Achseln. »Leidet er an Halluzinationen?« »Er behauptet, nein.« »Vierzehn Tage alt soll dieser Moskito-Kontakt sein ...« Green richtete sich auf und trat einen Schritt von Frohn weg. An Duchenay gewandt, fragte er: »Wann kam der See in der Gegenwart an?« »Der erste Teil vor etwa zwei Wochen«, sagte Duchenay. »Aber den ersten Kontakt mit dem Moskitoschwarm hatten Harryhausens Leute. Sie ...« »Es paßt trotzdem. Die Begegnung mit dem Schwarm war 80
spektakulär, sie schließt aber in keiner Weise aus, daß es schon vorher zu vereinzelten Kontakten kam. Möglicherweise auch nur zu einem, nämlich mit diesem Mann hier.« »Sie meinen, eine Art Moskito-Irrläufer?« »Wie immer Sie es bezeichnen wollen. Was nicht paßt, ist nur, daß er unter keinen Wahnvorstellungen zu leiden hat.« Er machte einen vergleichsweise schnellen Schritt nach vorn und beugte sich tief über den reglosen Mann, der mit offenen Augen gegen die Wand starrte und dies offenbar schon die ganze Zeit getan hatte. »Das sagten Sie doch, Norman ...?« »Ja«, sagte Frohn. »Darf ich jetzt wieder zurück an meine Arbeit gehen?« * Der Befehl war von oben gekommen. Von ganz oben. Und auch die Regie kam von »oben« - aus einem Helikopter in grüngrauem Tarnkleid, der aus sicherer Höhe über den Wipfeln der Koniferen, Ginkgos und Zykaden Tips für den Marsch durch die grüne Hölle gab. Sternheim war gewarnt. Das Schicksal von Harryhausens Trupp und auch jenes der Stone-Gruppe hing wie ein Damo klesschwert an seidenem Faden über seinen acht männlichen und zwei weiblichen Elitesoldaten. Er selbst hatte jeden einzelnen ausgewählt, und er wußte, wenn er es nicht mit diesen Zehn schaffte, dann war es nicht zu schaffen. Aber eigentlich machte er sich darüber keine Sorgen. Wie die meisten Leute in gehobener Position gab er sich dem Trugschluß hin, daß sie auch die Kleinigkeiten ins Kalkül zogen, die von den anderen mißachtet worden waren. Ein Fehlschlag der Mission lag außerhalb jeder Diskussions würdigkeit, auch wenn er gegenüber seinen Vorgesetzten betont hatte, daß sie die Gefahr nicht unterschätzten und 81
buchstäblich mit allem rechneten. Sternheim war so sehr eingefleischter Soldat, daß er sich die kleine Lüge, die mit seinem Stolz und seinem Selbstbewußt sein vereinbar war, gern verzieh. Mit einem Fahrzeug waren sie vom Camp aus so nahe an die Uferzone des Sees gegangen, wie es der morastige Untergrund zugelassen hatte. Das Kreischen eines Flugsauriers hoch am dunstgrauen Himmel lenkte Sternheims Aufmerksamkeit kurz ab. Da aus dem Kopter jedoch kein Kommentar kam, durfte davon ausgegangen werden, daß es bei diesem einen Exemplar blieb. Weder für das Fluggerät noch für den Trupp bestand aus dieser Richtung also eine Bedrohung. »Sie erreichen gleich die Stelle«, sagte Stretter aus der Kop terkanzel. »Können Sie etwas sehen?« gab Sternheim über Kehlkopf mikro zurück. Die Antwort kam zögernd. »Noch nicht, Sir.« »Was soll das heißen?« fragte Sternheim kalt. »Weder die „Wolke“ noch die von Harryhausen beschriebene Brutstätte lassen sich ausmachen, Sir.« »Dann gehen Sie tiefer.« »Sir, ich befinde mich bereits ein Stück unter der zugelasse nen Grenzhöhe für Beobach…« »Tiefer!« knurrte Sternheim. Seine Leute hörten mit. Einer lachte. Einer lacht immer, dachte Sternheim emotionslos. Sein Blick strich über die im fahlen Sonnenlicht mattglänzenden Rüstun gen, an denen sich die verdammten Blutsauger die Rüssel abbrechen würden. Die damit verbundenen Einbußen an Beweglichkeit nahm man dafür billigend in Kauf. Außer Sternheim waren auch alle zu den M13-Gewehren mit einem zweigeteilten Zehn-Kilo-Rückentornister und einem Kescher ausgerüstet. Ein Ablacher mußte da erlaubt sein, wenn 82
die Laune nicht ganz im Sumpf versinken sollte. »Ay, Sir!« Wenig später kam der Nachsatz des Piloten: »Nichts, Sir. Die Waben sind verschwunden.« Sternheim glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. »Soll das heißen, wir tappen hier wegen eines Hirngespinsts durchs Moor?!« Die Stimme im Ohrstöpsel schwieg. Erst nach einer Pause kam die Meldung: »Ich fliege mal die Umgebung ab ...« Sternheim stieß eine üble Verwünschung aus. Seine Leute waren stehengeblieben. Man sondierte das feuchtwarme Umfeld und sicherte nach allen Seiten. Eine der Frauen spielte mit einer Schockgranate an ihrem Gürtel, bis Sternheim sie barsch zurechtwies. Kurz darauf meldete sich der Helikopterpilot. »Ich habe da etwas, Sir. Von Ihrer Position etwa dreihundert Meter nördlich entlang des Sees entfernt. Aber der Boden sieht nicht sehr vertrauenerweckend aus.« »Sind Sie sicher, daß es sich um die gesuchten Waben han delt?« »Eindeutig, Sir.« »Okay, lotsen Sie uns, wir versuchen es! Wo die Brut ist, sind auch die geschlüpften Biester nicht weit ...« Seine Leute schienen froh zu sein, als es endlich weiterging. Den Hinweisen des Piloten zu folgen, erwies sich als ziemlich unproblematisch. Dennoch fragte sich Sternheim zwischenzeit lich, ob es nicht einfacher und auch wesentlich ungefährlicher gewesen wäre, das gesamte Unternehmen per Hubschrauber zu vollziehen. Technisch wäre es sicher möglich gewesen, einen Teil der Brutstätte aus der Luft auszuheben. Und auch der Fang eines oder mehrerer lebender Moskitos konnte mit einer entsprechenden Vorrichtung kein unüber windbares Problem darstellen. Wäre er nicht mit diesem unerschütterlichen Selbstvertrauen 83
gesegnet gewesen, hätte er sich vielleicht als simples, strategi sches Kanonenfutter mißverstanden. So aber ... Der Boden unter ihren Stiefeln wurde in der Tat immer zweifelhafter. Je nach Gewicht der Person sanken sie mitunter fast bis zu den Knien in der schlammigen Brühe ein. Sternheim wollte gerade die Frage an den Piloten richten, wann sie nun endlich die Stelle erreichen würden, als das Wabengeflecht vor ihnen auftauchte. Es war von seiner Farbgebung dem Sumpf angepaßt, so daß sie fast darüber stolperten, ehe sie es entdeckten. Die Enttäuschung nach dem anstrengenden Marsch war groß. »Leer ...!« Es war eine Tatsache, an der sich nicht rütteln ließ: Binnen eines Tages nach der ersten Entdeckung durch Harryhausens Truppe mußten alle Moskitos geschlüpft sein und die Brutstätte verlassen haben. Selbst die immer noch erkennbaren, von Stiefeltritten zertrümmerten Bereiche wiesen keinen Inhalt mehr auf. Das ganze Wabengeflecht sah aus, als sei es nicht nur verlassen, sondern auch noch sorgfältig gereinigt worden! »Da bewegt sich etwas, Sir!« Sternheim folgte dem ausgestreckten Arm. Genau in der Mitte des Geflechts (das aus was eigentlich bestand?) vibrierte etwas. »Sehen Sie nach, Walsh!« befahl Sternheim dem Soldaten, der die Entdeckung gemacht hatte. »Nehmen Sie diesen kindischen Kescher und bringen sie mit, was immer es ist.« Den Bewegungen nach konnte, es nichts Großes sein. Viel leicht doch ein zurückgebliebener Teil der Brut? Walsh war ebensowenig ein Freund langatmiger Debatten wie Sternheim. Walsh gehorchte. Das gesamte Wabengeflecht maß etwa sechs Meter in der Länge und drei Meter in der Breite. Damit sah es aus wie ein Teppich, den ein Wesen mit skurrilem Humor hier draußen in 84
der Sumpfzone ausgerollt hatte, um sie »gemütlicher« einzu richten. Der »Teppich« federte galertartig unter jedem schwankenden Schritt, den sich Walsh unter leisen Anfeuerungsrufen der Kameraden auf die Mitte zubewegte. Die marionettenhaft abgehackten Bewegungen lagen zum Großteil auch in der starren Struktur seiner Rüstung begründet. Während er selbst sein M13 gegen den Kescher mit dem hauchfeinen Drahtvlies vertauscht hatte, deckten die anderen seinen Vorstoß mit entsicherten Gewehren. Sternheim wollte kein Risiko eingehen, und wer konnte schon sagen, was plötzlich aus dem Wald gebrochen kam, auch wenn der Kopter nichts dergleichen ankündigte? Walsh blieb stehen, als er die Stelle erreichte. »Was sehen Sie?« fragte Sternheim. »Nichts«, sagte Walsh. »Es ist ...« Er drehte den Kescher um und schabte mit dem stumpfen Stielende über die schlammge füllte Wabe, die sie irrtümlich für noch intakt gehalten hatten. »... ich fürchte, wir haben uns getäuscht, Sir.« Sternheims Fluch war nicht das erhoffte Signal zur Umkehr. »Was, zum Henker, haben wir denn dann gesehen? Die Bewegung ...« Walsh zog den Stiel zurück. Er wollte sich umdrehen, um das Gesicht der Truppe zuzuwenden, als der Schlamm vor ihm plötzlich eine Blase warf. Mehr nicht. Danach war wieder Ruhe. Walsh brachte den Kescher mit einer geschickten Drehung in die richtige Position und dachte: Na warte! Er wollte mit quergestelltem Ring und mit einem wuchtigen Hieb in den Wabenbereich hineindringen und was immer es war mit dem Keschernetz herausschöpfen. Er verschwand, noch ehe er überhaupt ausholen konnte.
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*
Sie hatten Protest eingelegt, offiziellen Protest, gegen die Ignoranz, mit der man seitens der Militärs ihren berechtigten Einwänden begegnet war. Aber die Reaktionen demonstrierten Allan Hunter und Nadja Bancroft deutlicher als das Kleinge druckte in ihren Verträgen, daß sie die denkbar kleinsten Rädchen im DINO-LAND-Getriebe waren. Nicht einmal Sondstrup konnte oder wollte sich für sie ein setzen, und am deprimierendsten war, daß er ihnen dies nicht persönlich sagte, sondern über Duchenay beibringen ließ. Seit man sie nach ihrem Notruf von der Pangaea abgeholt und ins Camp zurückgebracht hatte, waren 24 Stunden vergangen. Seit genau dieser Zeit war der Kontakt zu der Delphinschule im See abgebrochen. Die Tümmler waren dort völlig auf sich allein gestellt. Die Zeit hatte nicht einmal gereicht, ihnen neue Instruktionen oder Verhaltenstips zu vermitteln. Nadja fand Hunter vor einem Notebook in dessen Unterkunft, als sie von einem Termin bei Duchenay zurückkehrte. »Und?« fragte Hunter. »Nichts zu machen. Unsere Sorgen haben für ihn keinen hohen Stellenwert. Die Tiere sind ihm schnuppe. Er interessier te sich nur für Frohn.« Hunter nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. »Wie geht es ihm?« »Das ist es ja. Duchenay sagte, er möchte wieder arbeiten.« »Das ist doch eine gute Nachricht.« »Kaum. Sie trauen ihm nicht.« Hunter unterbrach seine Beschäftigung. Er war dabei, die Lautäußerungen der Delphine auszuwerten, die sie im See aufgenommen hatten. Kurz vor der Attacke des - wie sie inzwischen katalogisiert hatten - Elasmosaurus aus der Familie der Plesiosaurier. Und kurz vor Frohns Zusammenbruch. 86
»Was soll das heißen?« Sie zuckte die Schultern. »Offenbar ist der angekündigte Spezialist eingetroffen. Alle Moskitogeschädigten werden zur Zeit auf Herz und Nieren untersucht. Dazu gehört auch Frohn. Aber gerade an ihm scheiden sich die Geister. Nur er selbst tut so, als sei nichts vorgefallen. Angesichts der prekären Proble me der meisten Betroffenen nimmt ihm das offenbar niemand ab. Zumal sein Immunsystem am heftigsten von allen reagiert hat. Seine Rückenpartie ist fast nicht mehr ... menschlich.« »Sagt Duchenay.« Nadja nickte. »Ich glaube ihm. Ich habe die anderen mit eigenen Augen gesehen ... Wie weit bist du?« Hunter lächelte schwach. »Wir sind schon komisch.« »Wie meinst du das?« Hunter schwenkte im Drehstuhl herum, faßte Nadja an der Hand und zog sie schwungvoll zu sich heran, so daß sie auf seinem Schoß Platz nehmen mußte. Viel Überwindung schien es sie nicht zu kosten. Dennoch rief sie: »Aber Herr Doktor! Wenn uns jemand sieht ...!« Hunter küßte sie fast schon verboten lustvoll. »Wir sind wirklich von allen guten Geistern verlassen«, seufzte er, als er sich von ihr löste. »Eigentlich müßten wir feiern!« »Feiern?« »Sind wir nicht beide dem Sensenmann eben noch von der Schippe gesprungen?« Nadja lachte. »Ich versuche mir das gerade bildlich vorzustel len. Aber du hast recht.« »Konsequenz?« »Diese Nacht gehört uns!« Offenbar hatte er genau darauf gewartet. »Bei dir oder bei mir?« »Bei mir natürlich. Hier sieht's aus wie in der Folterkammer eines Computerfreaks! Wo bleibt da die Romantik?« Nach diesem rein privaten Geplänkel half sie ihm bei der 87
weiteren Auswertung der Töne. Mittels eines von Allan Hunter langjährig entwickelten, computergestützten Übersetzungspro gramms war eine schnörkellose Kommunikation mit den intelligenten Meeressäugern in engem Rahmen möglich geworden. Auch anderenorts wurde an solchen Verständigungshilfen gearbeitet, aber Hunters Methode wurde allgemein als die erfolgversprechendste angesehen und weltweit adaptiert. Vielleicht war dies einer der Gründe, weshalb er und Nadja in die engere Wahl zur Erforschung des Urzeitgewässers genom men worden waren und letztlich den Zuschlag erhalten hatten. Da das private Notebook des Meereskundlers nicht einmal annähernd die Kapazität des Bordcomputers oder eines der mobilen Camp-Terminals besaß (an die man sie unter faden scheinigen Begründungen momentan nicht heranließ), brauchte die Umwandlung der Töne in auch nur grob verständliche Begriffe seine Zeit. Als die Auflösung endlich zur Verfügung stand, taten sich statt Antworten weitere Fragen vor ihnen auf. Die Aufzeich nung stammte aus der Zeit vor der Attacke des Elasmosauriers auf das Beiboot, als die Tümmler gerade verängstigt aus dem beschädigten Käfig geschwommen waren. Den bildhaften Beschreibungen zufolge konnte es sich bei dem Angreifer auf den Gitterkäfig nur um den Plesiosaurier gehandelt haben, der sich später auch den Kadaver des Metri orhynchus geschnappt hatte. Er mußte beängstigende Kräfte besitzen, und mit seinem extrem lang ausgebildeten Hals war er geradezu prädestiniert dazu, den Inhalt des Käfigs durch die Stäbe oder das obere Schlupfloch zu ernten. »Vermutlich ereignete sich der Angriff auf den Käfig erst kurz vor unserer Ankunft«, sagte Nadja fröstelnd. »Ich glaube nicht, daß der Elasmo große Mühe gehabt hätte, sein Vorhaben zu Ende zu bringen, wenn er nicht gestört worden wäre ...« Hunters Miene verriet, daß er zu der gleichen Ansicht gelangt 88
war. »Er wird es wieder versuchen«, prophezeite er düster. »Mein Schuß hat ihn nicht getroffen.« »Aber was hat uns dann gerettet?« fragte Nadja. »Von selbst hat er es sich bestimmt nicht anders überlegt. Wenn es die Tümmler nicht waren, weil sie sich die ganze Zeit um mich kümmerten, wer war es dann?« Darüber gab auch die Bandaufzeichnung keinen Aufschluß. Nur einmal produzierte einer der Tümmler Lautfolgen, die das Notebook als »FRIEDLICHE NÄCHTLICHE BESUCHER« übersetzte. Damit konnte alles gemeint sein. Von harmlosen Ammoniten bis hin zu Knochenfischen, die sich als Mahlzeit für die Delphine angetragen hatten ... »Glaubst du, daß es sich bei dem Elasmo um den Killer handeln könnte, der Stones Gruppe auf dem Gewissen hat?« fragte Nadja. »Soweit ich weiß, können Plesiosaurier ihre Eier nicht im Wasser ablegen, sondern müssen an Land und sie wie Schildkröten vergraben.« Hunter schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke nicht, daß wir den Killer gefunden haben, der seine ganz eigenen Brutvor stellungen besitzt. Das Massaker hat eine bislang völlig unbekannte Dinosaurier-Kreatur verursacht. Ihr Verhalten paßt in kein Muster - jedenfalls wüßte ich keines. Ich habe davon gehört, daß Eier mit einer Art Komposthülle aus verrottbarem Material umgeben wurden, damit die entstehende Gärwärme den Brutprozeß vorantrieb. Aber diese Methode ist mir neu ...« »Sie haben Stone immer noch nicht gefunden«, sagte Nadja, nur scheinbar zusammenhanglos. Hunter nickte. »Ich glaube auch nicht, daß man ihn noch findet.« * Es geschah so selbstverständlich und lief so glatt ab, daß 89
Walsh bereits vollständig von der Bildfläche verschwunden war, als seine Begleiter erst langsam zu realisieren begannen, was sich direkt vor ihren Augen - direkt vor den Mündungen ihrer Gewehre - abgespielt hatte! In Sternheims Ausruf: »Nicht schießen!« lag die ganze Hilflosigkeit, die nicht nur ihn, sondern jeden ergriffen hatte, der mitansehen mußte, wie sich der zunächst immerhin tragfähige Wabenteppich mit Walsh in seiner Mitte zusam menzog und unter gespenstischem Gurgeln wie durch einen darunterliegenden Gully abgesogen wurde. Die Wahrheit war, daß sich dort, wo der Teppich hinver schleppt worden war, kein fester Untergrund mehr befand, sondern eine tückische Moorzone, was sofort jene zu spüren bekamen, die auf Sternheims Befehl vordrangen und ihre Gewehre auf den Punkt richteten, der Walsh zum Verhängnis geworden war. Niemand wagte zu schießen, weil die Gefahr, Walsh umzu bringen, größer war als die Möglichkeit, die Kreatur zu treffen, die ihn sich geschnappt hatte und die dort unten in der breiigen Masse hauste. Vier von Sternheims Elitekämpfern versanken schon nach dem ersten Schritt bis zum Bauch im Sumpf, der Treibsandqua litäten besaß und ihre instinktiven Befreiungsversuche damit quittierte, daß er sie binnen Sekunden bis zu den Schultern einbrechen ließ. Nur den zurückgebliebenen Kameraden war es zu verdanken, daß sie sich an den hingestreckten Keschern festhalten und mühsam befreien konnten. Die Rüstungen, die ihnen zu Schutz hatten dienen sollen, wurden ihn durch ihre Starre dabei fast zum Verhängnis. Hinzu kam das an den Nerven zerrende Gefühl, daß das, was Walsh gepackt hatte, gleich auch sie von unten umschlingen und in die morastige Tiefe zerren würde. Doch das geschah, aus welchen Gründen auch immer, nicht. Vielleicht war das Ungeheuer gerade damit beschäftigt, Walshs 90
Plastikpanzer zu knacken ... »Okay«, sagte Sternheim, als sich die verbliebenen neun Männer um ihn versammelt hatten und mit ihren Gewehren und mit flackerndem Blick den Moorstreifen anvisierten, in dem das Unbegreifliche zugeschlagen hatte. Sternheim wußte genau, daß etwas unternommen werden mußte, weil sonst die jetzt noch unterschwellige Panik offen ausbrechen würde. Seine Kämpfer waren nur dann gut, wenn sie kämpfen konnten. Gegen einen Feind, der nicht einmal zu sehen war, würden sie kläglich versagen. »Für Walsh können wir nichts mehr tun - außer ihm vielleicht einen schnellen Tod schenken. Hardy - machen sie sofort eine XP-100 scharf! Zündpunkt zwanzig Sekunden ...« Das Flackern in ihren Blicken hörte schlagartig auf. Jeder schien froh über diese Entscheidung zu sein, auch wenn sie für einen von ihnen den sicheren Tod bedeutete. Aber auf den Tod waren sie alle eingeschworen, auch Walsh. Was viel fatalere Auswirkungen auf sie gehabt hätte, wäre ein Gegner, der unsichtbar blieb und in ihrer Phantasie zu etwas Übermächti gem mutierte. Eine XP-100 war die einzig richtige Antwort darauf. Hardy pflückte sie von seinem Gürtel und tippte Sternheims Zündvorgabe in den digitalen Speicher. Dann entsicherte er das faustgroße Ding mit der anthrazitfarbenen, zernarbten Oberflä che, die an einen Schildkrötenpanzer erinnerte, und schleuderte es mit einem kraftvollen Wurf genau zu der Stelle, wo Walsh und das Wabengeflecht verschwunden waren. Kaum drei Minuten waren seither verstrichen, und an der Mooroberfläche, in der die Granate dank ihrer Eigenschwere rasch versank, war nicht einmal mehr ein Zittern festzustellen. Bleiern ruhte der zähe Schlamm. Wie geronnenes, dunkel fauliges Blut. Sternheim und seine Leute wichen zurück, bis sie einen respektablen Abstand erreichten. 91
Kurz darauf detonierte die Granate in einiger Tiefe und schleuderte Dreck und Blut bis zu der Stelle, wo der Trupp erwartungsvoll ausharrte. »Wir haben das Biest!« rief jemand. »Wir haben Walsh«, machte ein anderer in Skepsis. Die Wahrheit lag irgendwo dazwischen, wie sie bei der vorsichtigen Annäherung erkannten. Der Explosionsdruck hatte etwas zerrissen und an die Oberfläche gespült, das sich nicht einmal mit Abstrichen zu einem glaubhaften Ganzen zusammensetzen ließ. Einiges davon wirkte menschlich, vieles wie ein zerstückel tes, bleiches, wurmähnliches Geschöpf - jedenfalls wie etwas, das in keinem Buch über das Mesozoikum geführt wurde. Vielleicht weil es, wenn der Eindruck anhand dieser Reste stimmte, nicht einmal über ein fossilbildendes Skelett verfügte. Jeder von denen, die hier standen und starrten, kannte die Legenden und Sagen über mittelalterliche Lindwürmer, die zumeist unter den Brunnen und Bäumen im Stadtkern gehaust und den Menschen die Lebensadern abgeschnitten haben sollten. Die Vorstellung, hier vielleicht mit dem realen Kern solcher Märchen konfrontiert worden zu sein, hinterließ fast einen noch schaleren Nachgeschmack als der Tod ihres Kameraden, an dem es nun nichts mehr zu zweifeln gab. Besonders die weißlich blutenden Teile der unbekannten Kreatur lösten dann einen Nebeneffekt aus, an den niemand in diesen Momenten dachte. Die übelriechende Körperflüssigkeit lockte jene an, die sich von Natur aus auf Blut spezialisiert hatten und nicht wählerisch zu sein schienen. Plötzlich lag dieses unheimliche Geräusch in der Luft. Dann folgten die Moskitos. Nicht ein paar wenige - sie waren Legionen. Zu einer Panik kam es nicht, denn diesmal trafen die Blutsau ger nicht auf wehrlose »Wirtskörper«. Die Plastikpanzer der 92
speziellen Kleidung erwiesen sich als unüberwindbar. Ehe der Schwarm diese Erkenntnis in Rückzug umsetzte, traten die Kescher in Aktion. Und danach ... »Filter überstreifen!« befahl Sternheim, der sich wieder als Herr der Situation fühlte. Jeder seiner Leute hatte mindestens einen der Riesenmoskitos eingefangen und ihn im Schutz undurchdringlicher Handschu he samt abtrennbarem Keschernetz im unteren Teil der Tornister verstaut. Sternheims Befehl nun erinnerte sie daran, weshalb sie noch gekommen waren. Die Filter waren Bestand teile ihrer Helme und mußten nur gegen Mund und Nase gepreßt werden. Sie waren selbsthaftend. Danach lösten sie ein flexibles Schlauchende vom Tornister, an dem sich eine Sprühvorrichtung befand. Die in der Evoluti on Jahrmillionen entfernten Moskitos waren völlig arglos. Der dünne Chemikalienfilm traf sie im Flug und legte sich tödlich um ihre aggressiv gestylten Körper. Obwohl der weitaus größte Teil entkam, hinterließ der Erfolg tiefe Befriedigung bei den Elitesoldaten. Das Bewußtsein, daß die hilflos zu Boden torkelnden, in unkontrollierten Zuckungen verendenden Insekten keine unbesiegbare Ausgeburt prähistorischer Schöpfung waren, tat dem angeschlagenen Selbstwertgefühl gut. Schnell machten die ersten Zoten die Runde. Sternheim ließ es geschehen - wie das erste Lachen vor Walshs Tod. Seine »Psychologie« wurde vom Bauch gesteuert. Für Freudsche Studien hatte er nichts übrig. Und er sah sich in seiner Methode bestätigt. Als sie zum Rückzug bliesen, sah es in ihrem unmittelbaren Umfeld wie nach einer abgewehrten biblischen Plage aus. Daß es sich statt gefräßiger Heuschrecken um gefräßige Moskitos handelte, machte für die Beteiligten keinen Unterschied. Nicht einmal für Walsh.
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*
Es wurde spät, gegen zehn Uhr nachts, bis sich die Wege von Nadja und Hunter nach außen hin trennten. Die Paläobiologin mit Schwerpunktinteresse Meereskunde zog sich auf ihr Zimmer zurück, duschte ausgiebig, löschte das Licht und legte sich dann frei von störenden Textilien ins Bett. Hunter und sie hatten noch einmal sowohl bei Duchenay als auch bei Major Healy, der General Pounder im Camp vertrat, wegen der Rücksichtslosigkeit interveniert, mit der man die Delphine behandelte, die draußen auf dem Urzeitsee zurück geblieben waren. Erfolglos. Der eine wie der andere verschanz ten sich hinter ihren angeblichen Weisungen, und an Sondstrup war noch immer nicht heranzukommen. Blieb zu wünschen, daß die Tümmler sich ihrer Intelligenz würdig erwiesen und den nötigen Abstand zu der wieder zur Hochenergiefalle avancierten Pangaea wahrten. Wenn nicht ... Nadja verdrängte die mögliche Konsequenz. Sie hatten die intelligenten Meeressäuger zu ihrer Unterstüt zung aus dem von ihnen betreuten Delphinarium heranschaffen lassen. Mit ihrer Hilfe hatten sie sich eine schnelle Auslotung der Seeflora und -fauna erhofft, und das war dank Hunters Sprachtransferprogramm bei weitem nichts Utopisches. Was sie nicht gutheißen konnten, war, daß man nach Frohns Zusammenbruch und den damit verbundenen Unwägbarkeiten offenbar von militärischer Seite bereit war, die komplette Schule notfalls zu opfern! Angesichts dieser drückenden Sorgen fragte sich Nadja, als sie erstmals Zeit hatte, nüchtern darüber nachzudenken, ob es eine gute Idee gewesen war, ein Rendezvous mit Hunter auszumachen. Es gab weiß Gott schon genug Aufregung auch ohne private Komplikationen, und sie zweifelte stark, daß sie heute in der Stimmung für Intimitäten war und daß es Hunter 94
gelingen würde, sie die Alltagssorgen vergessen zu lassen. Sie war drauf und dran, ihm Bescheid zu sagen, daß es heute nichts mit ihnen werden würde. Aber dann schweiften ihre Gedanken wieder zu den Tümmlern und zu dem See mit seinen weitgehend noch unbekannten Gefahren ab. Und ehe sie sich versah, war sie eingeschlummert. Was ihr Unterbewußtsein zum Anlaß nahm, die Geschehnisse des Tages noch einmal auf seine Weise aufzuarbeiten. Mit einem Alptraum der besonders heimtückischen Sorte, weil er zunächst in eine trügerische Idylle verpackt war. Nadja ruderte mit Allan bei strahlendem Sonnenschein auf einem See. Als das Ufer weit genug entfernt war, sanken sie sich in die Arme, küßten und streichelten sich, und der Held ihres Traumes begann gerade, sie behutsam zu entkleiden, als direkt neben ihnen ein Seeungeheuer auftauchte. Das Monster brüllte infernalisch, schnappte sich Hunter und verschlang ihn mit einem Bissen! Mit einem leisen Schrei wachte Nadja auf. Als ihr bewußt wurde, daß sie nur geträumt hatte, sank sie erleichtert ins Kissen zurück. Ihr Herz hämmerte dennoch weiter, als hätte sich das Traumerlebnis wirklich so zugetragen. Es sollte auch nicht zur Ruhe kommen. Ein Luftzug aus dem Dunkel streifte ihr erhitztes Gesicht. Im nächsten Moment setzte sich etwas schwer neben sie auf die Matratze. Nadja erschrak, seufzte aber im selben Atemzug: »Oh, Allan, gut, daß du...« Hier brach sie ab, weil sie plötzlich von einem ganz fremdar tigen Gefühl beschlichen wurde. »Allan?« »Marilyn ...?« *
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Er rieb sich kurz über die angestrengten Augen, die mit seinem regen Interesse, das keinerlei Müdigkeit kannte, nicht Schritt zu halten vermochten und erste Erschöpfungszeichen zeigten. »Die berühmten Killerbienen sind ein Dreck dagegen«, sagte Duchenay, der das Wort Schlaf ebenso wie Dr. Steven Green aus seinem Vokabular gestrichen hatte, in die Stille. Der Plexiglasbehälter mit den feinen Luftschlitzen stand vor ihnen auf einem Labortisch und wurde beinahe schattenfrei von mehreren Speziallampen erhellt. Der daumengroße Moskito saß ruhig und gelassen auf einem Stab, der in halber Höhe des Behälters von einer Wand zur anderen lief. Seine Facettenaugen schienen Eigenglimmer zu produzieren und nicht einfach nur das Raumlicht zurückzuwer fen. Ein dumpfes Glühen befand sich darin, so fremd und kalt, daß sich Green und Duchenay dieselbe Frage im selben Moment stellten: Standen sie wirklich nur einem monströs vergrößerten, absolut intelligenzlosen Insekt gegenüber - oder etwas, das sie mit kühler Berechnung von jenseits des Glases taxierte und sich gerade seine eigene Meinung bildete? Es war eine groteske Vorstellung - wie so vieles, was mit DINO-LAND zusammenhing. Im Gegensatz zu Duchenay bereitete Green die Idee jedoch kein Unbehagen - er fand sie höchst faszinierend. Es hätte gar nicht zu seiner Mentalität gepaßt, sich deshalb zu beunruhigen. Für ihn war dies hier und alles, was damit in Verbindung stand - eine einmalige Gelegenheit. Eine Chance, die nie wiederkommen würde. Die dreißig Kranken waren nur eine Facette der Gesamtprob lematik, die sich der Menschheit mit Erscheinen dieses gewaltigen, immer noch wachsenden Stücks Urzeit erschloß. Green hatte sein halbes Leben mit zum Teil schwersten und unheilbaren Krankheiten zu tun gehabt. Für ihn war es normal, die Welt durch diese Brille zu betrachten, und da sah er einiges auf sie zukommen! 96
Einhundertzwanzig Millionen Jahre alte Krankheitserreger Bakterien- und Virenstämme - prallten warnungslos mit dem Immunsystem der Menschen der Gegenwart zusammen. Das Ganze weckte ungute Erinnerungen an das voreilige und unbedachte Bestreben etlicher Generationen von Eroberern, Missionaren und Forschern, die in die tiefsten Urwälder Süd amerikas vorgedrungen waren und dort durch ihre neuzeitli chen Krankheiten das große Sterben unter unzähligen Angehö rigen sogenannter primitiver Stämme verschuldet hatten. Für Green war im Grunde das eigentliche Wunder, daß nach zwei Jahren DINO-LAND und dem fast kindlich-unbesorgten Umgang damit noch nicht mehr passiert war. Daß noch nicht der halbe Planet ausgerottet war in einem gespenstischen Ansteckungsprozeß, der sich mit jedem weiteren Kranken selbst potenzierte! Dreißig vermutete Kranke, von denen nicht einmal alle Symptome zeigten, waren ein Klacks gegen das, was hätte passieren können! »Legen Sie sich etwas hin«, sagte Green, ohne den Blick von den Augen der Stechmücke zu wenden, bei der alle Anzeichen darauf hindeuteten, daß sie vollgesogen mit Blut war. Dem Blut eines Soldaten aus Harryhausens Truppe - oder mit dem Blut eines archaischen Dinosauriers? Die alte Streitfrage der Paläontologen, ob warmblütig oder ektotherm, also kaltblütig, schien sich nach allen bisherigen Beobachtungen am »lebenden Objekt« zugunsten der Warm blüter-Theorie beantwortet zu haben. Auch wenn sich manche, die das Mißvergnügen gehabt hatten, einem leibhaftigen T. Rex zu begegnen, lieber das Gegenteil gewünscht hätten. Einem in »Zeitlupe« angreifenden Giganten hätte ein Mensch vermutlich im mäßigen Sprint ohne große Probleme davonlaufen können. Die Praxis war davon so lichtjahreweit entfernt, daß es nicht einmal lohnte, einen Gedanken über das Wenn und Aber zu 97
verschwenden. Die Karten waren verteilt, und die, die sich in den Kopf gesetzt hatten, die Urzeit risikolos »hautnah« erforschen zu können, mußten einsehen, daß die Trümpfe nicht in ihrer Hand lagen. Trotz modernster Waffentechnik und einem gewaltigen Intelligenzvorsprung nicht. »Sie können mir doch nicht helfen. Ich schließe noch ein paar Versuchsreihen ab, dann mache ich auch Feierabend für heute.« Green lächelte, als könnte er selbst noch nicht daran glauben, daß er das wirklich tun würde. »Mich beunruhigt die dramatische Zunahme von ungeklärten Ereignissen gerade in jüngster Zeit«, sagte Duchenay. »Ich werde kaum Schlaf finden können.« »Lesen Sie ein gutes Buch.« Green ließ nicht erkennen, ob er es scherzhaft meinte. Jetzt sah er doch auf und suchte Duche nays leicht um Fassung ringenden Blick. »Aber ich verstehe Sie. Erst dieser Stone mit seinen Männern, von denen Sie nur erzählt haben, dann die dreißig Patienten, von denen wir noch nicht wissen, ob sie nur an einer unbe kannten Malariaform leiden. Und jetzt erneut der Verlust eines Mannes durch eine Kreatur, von der wir nicht einmal wußten, daß es sie gibt, und die im Moor auf unvorsichtige Spaziergänger wartet ... Dabei scheint dieser Sternheim noch Glück gehabt zu haben.« »Er hat sich gut aus der Affäre gezogen«, nickte Duchenay. »Und gegen die Moskitos war er gerüstet. Dank seiner Erfah rung verfügen wir nun über ein knappes Dutzend lebender Exemplare dieser Biester, die wir für die Überträger der Halluzinationskrankheit halten ... Das hört sich alles recht gut an, und ich zweifle gewiß nicht an Ihren Fähigkeiten. Ich bin sicher, Sie bekommen die Sache in den Griff. Probleme bereitet mir aber beispielsweise die Art, wie dieser Soldat ums Leben kam. Das ... Ding im Moor scheint mit der verlassenen Brutwabe eine regelrechte Falle aufgestellt zu haben. Das setzt etwas voraus, was ich lieber nicht in einen Saurier oder ein ihm 98
verwandtes Wesen interpretieren möchte, weil ich sicher bin, daß ich dann nie wieder ruhig schlafen würde!« »Das sind alles Spekulationen, die sich momentan an Wild heit gegenseitig überbieten.« Green blieb gelassen. »Es ist nicht mein Gebiet, sonst könnte ich vielleicht mehr darüber sagen. Mein Rat lautet schlicht: Lassen Sie sich nicht verrückt machen. Über kurz oder lang werden wir auch diesem Mikro kosmos alle Geheimnisse entrissen haben, und die Welt wird dadurch wieder etwas ärmer werden. Darin sind wir doch ganz groß ...« »Ihr Phlegma ist ja schon krankhaft«, erwiderte Duchenay kopfschüttelnd. »Vielleicht, aber heißt es nicht, man muß selbst ein bißchen verrückt sein, um sich in Verrückte hineinversetzen zu können? Genauso verhält es sich bei mir. Ein bißchen krank sind wir doch alle, wenn wir ehrlich sind. Ich bemühe mich lediglich, es zu meinem Vorteil auszulegen ...« Duchenay wackelte noch heftiger mit dem Kopf, streifte ein letztes Mal mit seinem Blick den Behälter mit dem Riesenmos kito und ließ Green dann mit seiner verqueren Weltsicht allein. Green hielt ihn nicht auf. Er arbeitete am liebsten solo und ohne jede Gesellschaft. Duchenay schien nicht einmal gemerkt zu haben, daß er es gerade mit dem Psychologen im Tropenme diziner zu tun bekommen hatte. Green hatte bewußt etwas tief in die Kiste gegriffen und in seinen Formulierungen übertrieben, um endlich allein mit seiner Arbeit fortfahren zu können. Duchenay hatte sich in den letzten Stunden zunehmend zu einer Klette entwickelt. Wahr scheinlich erhoffte er sich etwas Zuspruch von Green, und es war schon fast deprimierend, daß Sondstrups engster Vertrau ter sonst niemanden - zumindest nicht hier im Camp - zu kennen schien, an den er sich wenden konnte. Den Rest hatte ihm offenbar die Rückkehr der von Green geforderten neuerli chen Expedition zum Moorsee versetzt. 99
Green bedauerte, was einem der Soldaten zugestoßen war. Gleichzeitig war er jedoch mit sich selbst soweit im reinen, daß er deshalb keine Schuldkomplexe entwickelte. Er war tagtäg lich auf seinem Gebiet bereit, sich dem Tod in einer manchmal noch gemeineren, weil mit normalem Auge unsichtbaren Form zu stellen. Im Dienste seiner Patienten. Und er wäre vermutlich nicht der erste Arzt gewesen, der sich selbst im Umgang mit anderer Leute Krankheit den Tod geholt hätte... Er wandte sich den Ergebnissen der Blutuntersuchungen aller dreißig in Quarantäne befindlichen Personen zu. Einunddreißig, korrigierte er sich selbst und bezog damit den interessantesten aller Fälle, Norman Frohn, mit ein. Neun Männer wiesen bislang Halluzinationssymptome auf, ohne deshalb zugleich an Fieber oder einem anderen offen sichtlichen Krankheitsmerkmal zu leiden. Norman Frohn, von dem niemand sicher wußte, was ihn gestochen hatte, litt eigenen Angaben zufolge nicht an Wahn vorstellungen. Dafür hatte sich die »entzündete« Zone um den Einstich mittlerweile über den gesamten Rücken erweitert und dort Veränderungen bewirkt, die selbst die Eisenschädel in den höchsten Militärkreisen beunruhigten. Wenn Frohn beispielge bend für die anderen Betroffenen war, denen er knapp zwei Wochen Inkubationszeit voraushatte, zeichnete sich eine Katastrophe ab. Greens letzte Beobachtung bei dem Paläontologen, der dem Pangaea-Team zugeordnet war, ging dahin, daß sich Frohns schorfig gewordene Haut langsam vom Rücken zu lösen begann. Sie schien zu verspröden, auszutrocknen, und wenn die damit verbundene Zerstörung so weiterging, würde er noch vor Ende der Entwicklung mit offenem Mund ersticken. Wie jemand, der hochgradige, irreparable Verbrennungen erlitten hatte. Green wußte selbst nicht, warum, aber er traute Frohn nicht über den Weg. Die Ausstrahlung des Mannes war durch und 100
durch negativ, wobei Green selbst nicht zu sagen vermochte, ob dies mit der erschreckenden körperlichen Veränderung zu tun hatte. Möglich war es. Solange sie nicht wußten, was Frohn veränderte, war alles möglich! Die Blutuntersuchungen hatten kein greifbares Ergebnis erbracht, weder bei den neun Erkrankten noch bei den latenten Opfern. Nicht einmal bei Frohn, dessen Blutbild zwar nicht in Ordnung war - das konnte es bei diesen sichtbaren Auswirkun gen gar nicht sein -, aus dem sich aber auch nicht die Ursache dafür lesen ließ. Green war sicher, daß es dennoch etwas gab. Es mußte einen Erreger geben; nur war es ihnen bislang nicht gelungen, ihn zu isolieren. Es ist wie bei den HIV-Spielarten, dachte er. Auch dort hatte es selbst nach Erkennung der mörderischen Symptome eine ungleich längere Zeit gebraucht, bis man den Grund aufspüren konnte. Er beschloß, die unbefriedigenden Testergebnisse zu über schlafen, vorher aber noch einmal bei Frohn vorbeizusehen. Von einem Gespräch mit dem Paläontologen erhoffte er sich immer noch am meisten, ohne sagen zu können, woher dieser unbegründete Optimismus rührte. Das Labor, das man ihm zur Verfügung gestellt hatte, lag ganz am anderen Ende der Station, die auf General Pounders Befehl innerhalb von DINO-LAND errichtet worden war und jetzt wie ein Vorposten der Zivilisation inmitten feindlicher Natur wirkte. Das Camp war in vier gleichgroße Planquadrate unterteilt. Umgeben und geschützt wurde das Gesamtquadrat von 60 Fuß hohen Hochspannungszäunen, deren einzelne Drahtseile dick wie Schiffstaue waren und an massiven Pfeilern entlangliefen, an denen sich Videoüberwachungskameras mit Infrarotlinsen 101
befanden. Davor lief ein mehrere Meter breiter Rundumgraben, der mit einer für Sauriernasen penetrant stinkenden Brühe gefüllt war. Wer das Lager durch das nördliche oder südliche Tor verlassen wollte, mußte ein Art Zugbrücke passieren und an jeweils zwei waffenstarrenden Zinnen vorbei. Wenn Green richtig unterrichtet war, hatte man sich für ein »Fort« innerhalb der urzeitlichen Landschaft entschieden, um vor Ort gezielter agieren zu können. Jeder Stützpunkt in unmittelbarer Nähe außerhalb hätte der ständigen Gefährdung unterlegen, daß er mit einem Beben in die Vergangenheit gerissen würde. Das war in DINO-LAND auszuschließen. Zumal es niemanden gab, der Schneiders Formel zur Voraus sage von Zeitbeben vorbehaltlos traute. Außer Schneider selbst vielleicht. Steven Green legte ein Tuch über den Plexiglaswürfel mit dem Moskito. Er tat es, ohne groß darüber nachzudenken, und auch wenn er selbst keine Erleichterung in sich zu spüren glaubte, nachdem das monströse Insektenwesen unsichtbar geworden war, entsprang diese Handlung mit Sicherheit einem unbewußten Reflex. Unsichtbar... Er lächelte schwach, als er das Labor verließ und einen der um diese Zeit verlassenen, aber permanent erleuchteten Gänge entlangschritt. Mit Projekt LAURIN hatte alles begonnen, soviel wußte inzwischen jeder Leser des TIME-LIFE-Magazins oder anderer Wissenschafts- und Nachrichtenblätter. Mit dem Wahn von der Unsichtbarkeit. Die Militärs hatten mit dem Tarnkappeneffekt aus der Sage geliebäugelt. Auf ihre Weise. Mit der Energie eines Zyklot rons, die ausgereicht hätte, ein ganzes großstädtisches Strom netz zu speisen, hatte man stattdessen einen klaffenden Riß in die Wirklichkeit gerissen, was letztendlich zur Geburt von 102
DINO-LAND und seinen lebenden Fossilien führte. Reagierte auch hier die Natur wieder einmal, diesmal durch »schleichende Katastrophen«, auf ihre Vergewaltigung? Es war noch zu früh, um ein schlüssiges Resümee zu ziehen, aber Green war bereit, jede mögliche Entwicklung ins Auge zu fassen. Nur einmal begegnete er zwei Nachtschichtlern auf seinem Weg. Sie trugen Uniform und hatten sich beide einen Kaffee aus einem Flurautomaten gezogen. Green grüßte höflich. Seine Aversion gegen das Militär betraf nicht die unteren Ränge, die in aller Regel ohnehin die Dummen waren, die die von oben kommenden Befehle in Taten umzusetzen hatten. Ob es Sinn machte oder nicht. Als er kurz darauf vor Frohns Kammer ankam, brauchte er Sekunden, um zu begreifen, was ihn hier irritierte. Zu sehr schwebte er gedanklich noch in anderen Regionen. Der Wächter vor der Tür war verschwunden; der leere Stuhl stand noch da. Hatte Healy den Mann abgezogen, ohne Frohn zu unterrichten? Oder vertrat sich der Soldat eben mal kurz die Beine? Beide Erklärungen hatten einen Makel: Sie gefielen Green überhaupt nicht. Noch weniger behagte ihn, daß die Tür nur noch eingerastet, nicht aber, wie es der Fall hätte sein müssen, abgeschlossen war. Der Schlüssel steckte außen. Ganz leicht ließ sich der Knauf drehen. Die Tür schwang fast von selbst nach innen. Wo es hell war und warm wie immer. Und wo der tote Wächter lag. * Als Allan Hunter sich gerade auf den Weg zu Nadja machen wollte, hallte gellender Alarm durch die Station. Auf dem Gang rannten Uniformierte an ihm vorbei, die ihn von Frohns 103
Ausbruch in Kenntnis setzten. Bei der Behauptung, Frohn habe seinen Bewacher buchstäblich massakriert, mußte Hunter mehr als einmal schlucken. Sein Schäferstündchen mit Nadja hakte er innerlich ab. Stattdessen beschloß er, sie »ganz offiziell« aufzusuchen. Wenn sie erfuhr, was der Grund für die nächtliche Ruhestörung war, würde sie seelischen Beistand mehr als heimlichen Sex brauchen. Nadjas Zimmer lag nur wenige Schritte von seinem entfernt. Er klopfte, erhielt aber keine Antwort. Die Sirene war mittler weile verstummt; daran konnte es nicht liegen, daß sie ihn nicht hörte. Es war aber auch undenkbar, daß sie nach diesem Lärm noch schlief. Er klopfte abermals und rief nach ihr. Keine Antwort. Die Tür war verschlossen. Ob der Schlüssel von innen steck te, war an Schlössern dieser Art nicht erkennbar. Hunter bastelte sich die Erklärung zurecht, daß Nadja schon vor ihm durch den Alarm aufgeschreckt worden war und jetzt irgendwo herumirrte. Warum sie nicht geradewegs zu ihm gekommen war, wurde dadurch allerdings nicht beantwortet. Er ging in sein Zimmer zurück und versuchte Duchenay telefonisch über die campinterne Sprechanlage zu erreichen. Es gelang, aber Sondstrups rechte Hand klang wenig kooperativ. Frohns Kurzschlußhandlung - oder wie sonst sollte man es bezeichnen? - schien sein Nervenkostüm ziemlich löchrig gemacht zu haben. »Ich habe wirklich genug echte Probleme«, gab er mürrisch zurück. »Haben Sie Miß Bancroft schon über die Internanlage zu erreichen versucht?« »Nein«, antwortete Hunter, der nicht einsah, wie sie ans Telefon gehen konnte, wenn sie nicht da war. »Dann versuchen Sie es bitte jetzt«, versetzte Duchenay. Aus dem Hintergrund klangen aufgeregte Stimmen. Bei ihm mußte 104
wirklich das Chaos ausgebrochen sein. Er legte auf, ohne Hunters Erwiderung abzuwarten. Hunter fluchte. Dann suchte er Nadjas Nummer auf der Telefonliste. Sie hatten diese Art, sich Liebkosungen ins Ohr zu hauchen, von Anfang an wie die Pest gemieden, weil Hunter einmal Zeuge wurde, wie eine »interne Anlage« gehandhabt wurde. Da gab es irgendwo ein stilles Kämmerchen, meist zugleich die Funkbude, die den Kontakt zur Außenwelt aufrechterhielt und wo alle Drähte zusammenliefen. Der gelangweilte Diensthabende kauerte nachts vor seinen Geräten und startete schon mal einen »Lauschangriff« auf dieses oder jenes Gespräch, das ihn absolut nichts anging. Es läutete mehrfach durch, ohne daß abgehoben wurde. Hunter spürte, wie sich seine Laune zusehends verschlechterte. Er wollte den Hörer zurück auf die Gabel pflanzen, als doch noch abgenommen wurde. Es war aber nicht Nadjas, sondern Frohns Stimme, die ihm eine nicht endenwollende Gänsehaut bescherte. »Joe Arthur Miller DiMaggio«, meldete sich Frohn mit heiserer Stimme. »Du rufst zu spät an, John. Sie ist tot. Sie hat sich das Leben genommen wegen einem Schweinehund wie dir. Aber ich weiß etwas, was du nicht weißt: Dich werden Sie auch killen. Drüben in Dallas. An einem herrlichen Tag werden sie dir den Schädel wegpusten, und das hast du verdient, du mieser …« »Frohn?« unterbrach ihn Hunter. »Ist Nadja bei Ihnen? Frohn ...?« »Du wirst sie auch im Himmel nicht wiedertreffen und wieder verletzen können, denn du wirst garantiert in der Hölle schmo ren, John!« Hunter zögerte nicht länger. Frohn mußte völlig den Verstand eingebüßt haben. Dieser Wahnsinnige hielt ihn für John F. Kennedy! 105
Hastig unterbrach er die Verbindung. Als er das nächste Mal bei Duchenay anrief, nahm sich dieser Zeit für ihn. * Hier oben, fast an der Oberfläche, wimmelte es vor langwei ligem Leben. Quallen, Schwämme, Teile von Seelilien, Ammoniten in großer Vielfalt und ab und zu etwas Tang schwebten vorüber. Die Achterschlingen der Flossen und Körperpaddel wühlten Schlamm in der Randzone des Sees auf und trübten das Wasser. Ein kleinerer Schwarm gepanzerter Fische nahm Reißaus. Uninteressant. Langweilig. Zurück in die tieferen Regionen, wo die Delikatessen schwammen. Näher am Grund des Sees, wo Muscheln, Schnecken, Armfüßler und Borstenwürmer im Sand lagen, krabbelten, bohrten ... Nur nicht zu nahe dorthin, wo ES hauste! ES, das selbst ihm gefährlich werden konnte und das sich nicht auf harmlose Verteidigungsstöße beschränkte wie einige Delikatessen. Dort unten, wo die Uferzone felsig wurde, wo unterirdische Riffe schroff und spitz wie ausgestreckte Klauen emporstachen. SEIN Revier. Das Revier des Unersättlichen, das niemand neben sich duldete. Nicht einmal etwas von der gleichen Art. Der Einzel gänger. Der Kannibale, den alle fürchteten. Alle. Seine Panzer waren undurchdringlich, seine Stacheln giftig, seine Kraft und Schnelligkeit hier unten jedem überlegen! Dort in den Nischen, in den Höhlen und den unterseeischen Stollen hauste ES, schlief ES und vertilgte es die geschlagene Beute. Nichts mit funktionierendem Instinkt bewegte sich 106
freiwillig dorthin, von wo nichts zurückkehrte. Von wo manchmal Blut emporgeschwemmt wurde. Wo alle Schreie endeten im Bauch des Vernichters ... Sy Kidredge schlug die Augen auf und suchte etwas in der Dunkelheit, woran er sich festhalten konnte. Festkrallen. Sein Herz pumpte wie ein löchriger Blasebalg. Er war schweißgebadet. Klebte förmlich am Laken und an der Zudecke. Aus der Finsternis hörte er das Atmen, Wälzen, Rascheln und Schnarchen der anderen. Sie schliefen. Ob sie auch solche Träume hatten? Ob sie sich auch plötzlich so leer, ausgebrannt und mutlos fühlten? Er stand auf, schnippte mit den Fingern und brachte damit die kleine rote Sonne im Zentrum des Raumes zum Brennen. Er ging von einem der Kameraden zum anderen. Sie rührten sich nicht mehr. Keiner von ihnen. Vor Harryhausens Pritsche blieb er länger stehen. Der Commander hatte die Augen offen. Kristalle schienen darin zu tanzen. »Ich bin stolz, unter Ihnen dienen zu dürfen, Sir«, sagte Kidredge. »Ich liebe Sie. Sterben Sie mit mir, Sir.« Er streckte die Hand nach Harryhausens Gesicht aus. Die Pupillen folgten ihm wie die Knopfaugen eines Harlekins. Die Berührung von Harryhausens Wange, so sacht sie erfolg te, zerbrach den Körper wie einen trockenen Kokon aus Spinnweben! Der Commander zerfiel unter Kidredges sehn süchtigem Streicheln. »Sir ...!« Schwereloses Dahingleiten. Modrige Wärme in seichtem Uferschlamm. Regentropfen, die auf seine ölige Haut trommel ten, Algen abwuschen. Vertraute Geräusche. Naher Horizont, wo alles endete ... Kidredge glitt von einer Phantasie in die nächste, ohne es zu begreifen. Es war noch nicht vorbei. Es ging weiter. Er hatte nur geträumt, erwacht zu sein ... 107
* »Er meldete sich wirklich mit dieser eigenwilligen Komposi tion aus den Namen von Marilyn Monroes Ex-Ehemännern und beschimpfte Sie, als wären Sie der tote John F. Kennedy?« Major Healy faßte das zusammen, was Allan Hunter bereits zum x-ten Mal hatte wiederholen müssen. Sie standen vor Nadjas verriegelter Zimmertür. Duchenay flankierte Hunter rechts, Healy tat es links. Mehrere schwerbewaffnete Männer in kugelsicheren Kombi nationen hatten Aufstellung genommen und waren bereit zum Sturm auf den Raum. Inzwischen war sicher, daß Frohn die Waffe des ermordeten Wächters mitgenommen hatte. Hunter wußte nicht, ob seine Nerven diese Phase überstehen würden. Seine zentralen Gedanken drehten sich um Nadja. Es stand zu befürchten, daß sie bereits ein Opfer des geistig Verwirrten geworden war. Aber noch gab es Hoffnung. Er schüttelte den Kopf, weil Healy nichts begriffen hatte und imstande war, auch noch den letzten Hoffnungsrest zu gefähr den. »Als wäre ich der lebende John F. Kennedy«, korrigierte er. »Lassen Sie mich mit ihm verhandeln, Healy, bitte!« Man sah, daß auch Healy eine Korrektur auf den Lippen lag. Der völlig deplazierte Hinweis, daß er Major sei, beispielswei se. Erstaunlicherweise verkniff er sich diese billige Retourkut sche. Ohne Hunter anzusehen, fragte er Duchenay: »Was meinen Sie? Es ist einer der von Ihnen und Sondstrups ausgesuchten Männern. Da Sondstrup sich sogar in dieser prekären Situation verleugnen läßt ...« Ein Soldat kam im Laufschritt um die Biegung des Ganges. Er grüßte vorschriftsmäßig und meldete: »Wir haben Norman Frohns Unterkunft wie befohlen kontrolliert und konnten nichts 108
Besonderes feststellen.« »Nichts?« echote Healy enttäuscht. »Nichts außer der Tatsache, daß alle vier Wände seines Zimmers mit ...« »Mit?« überbrückte Healy das Zögern seines Soldaten scharf. »... mit Dutzenden Marilyn-Monroe-Zeitungsausschnitten tapeziert sind. Es handelt sich um vergrößerte Kopien. Und alle Fotos zeigen nur ein einziges Motiv: Die tote Marilyn, wie ihr Bild damals um die ganze Welt ging. Selbst ich kenne …« »Danach habe ich nicht gefragt!« schnauzte der Major. Der Soldat salutierte und trat weg. Hunter fiel der Zeitungsbericht ein, den er über den als »Marilyn-Killer« postulierten Täter von Bullhead City gelesen hatte. In der Cafeteria. In Nadjas und Frohns Beisein. Frohn hatte sogar noch darauf hingewiesen, daß er die Wochenenden in der Stadt verbrachte ... Als er Healy darauf aufmerksam machte, bekam er zur Ant wort: »Mich interessieren nur Fakten! Wir haben hier eine Gefahr für die ganze Station zu beseitigen! Wenn Frohn tatsächlich der gesuchte Mörder wäre, gäbe es nur eine Schlußfolgerung: Wir können das Zimmer sofort stürmen, denn dann ist Ihre Kollegin aller Wahrscheinlichkeit nach längst tot! Sagte das nicht auch Frohn, als Sie ihn am Telefon hatten?« »Er kann geblufft haben. Sie dürfen nicht riskieren ...« Healy winkte barsch ab. »Versuchen Sie es! Zwei Minuten! Danach entscheide ich neu!« »Zwei Minuten ...?« rief Hunter entrüstet. Healy hob ungerührt den Arm und drehte das Handgelenk, so daß er freien Blick auf seine Uhr hatte. »Eine Minute und fünfzig Sekunden, um genau zu sein.« Das war der Moment, als ein weiterer Bote bei Major Healy eintraf und ihm eine nicht näher bezeichnete Revolte im Quarantänetrakt meldete. Und der Moment, als drinnen hinter verschlossener Tür ein 109
Schuß fiel und Allan Hunter das Heft des Handelns aufs Grausamste aus der Hand nahm ... * »Unmöglich«, sagte Professor Sondstrup. »Sie müssen sich irren!« Der Assistent, der ihm die Ergebnisse der neuesten Mammo graphie vorgelegt hatte, schüttelte selbstbewußt den Kopf. »Ich habe alle Geräte überprüft und sofort eine zweite Durch leuchtung ausgeführt. Das Resultat blieb gleich.« »Wissen Sie, was Sie da behaupten?« Sondstrup, sonst die Ruhe in Person, geriet außer sich und brachte damit auch seinen jungen Assistenten in stürmischeres Fahrwasser. »Rufen Sie meinen Stab zusammen!« Der Wissenschaftler ging, und Sondstrup blieb eine Weile allein vor dem Nest zurück, in dem elf Eier umhüllt von wärmendem Rotlicht hinter zentimeterdickem Plexiglas lagen. Das eng bedruckte Papier in seiner Hand würdigte er keines Blickes mehr. Er hatte das Wesentliche, was daraufstand, behalten. Er hätte es auswendig herunterbeten können, denn wenn es stimmte, war es eine Sensation ersten Ranges, und wenn nicht ... Die ersten Mitarbeiter trafen ein. Es war tiefste Nacht, aber das zählte hier drinnen, in dem abgeschotteten Bereich der Labors, nichts. Hier war Nacht, wenn Sondstrup es wollte. »Major Healy hat mehrfach nach Ihnen gefragt«, richtete eine der wenigen Frauen im Team ihm aus. »Es gab Alarm ...« Sondstrup brachte sie mit einer brüsken Geste zum Schwei gen. In erstaunlich ruhigem Ton schilderte er dann, was die jüngste Mammographie der Eier ergeben hatte. Die Folge war Opposition aus den eigenen Reihen. Niemand glaubte, was er sagte, und damit lagen sie genau auf seiner Linie. »Ein Fötus im Anfangsstadium?« wurde ihm vorgehalten. 110
»Das würde bedeuten, daß er innerhalb eines Tages herange reift wäre ... Eine absurde Vorstellung!« »Wenn nur eines der Eier dieses „absurde“ Ergebnis erbracht hätte, könnte man einen Irrtum im Vorfeld in Erwägung ziehen«, entgegnete Sondstrup, dessen Gesicht leuchtete, als würde ihn das Phänomen selbst, wenn auch nur in geistiger Hinsicht, befruchten. »Aber alle elf zeigen dieses Resultat. Jedes der Eier enthält heute, vierundzwanzig Stunden nach der letzten Untersuchung, einen noch nicht voll entwickelten, aber gut erkennbaren Fötus. Hier sind die Aufnahmen ...« Die Ausdrucke gingen von Hand zu Hand und lösten fast einen Tumult aus, obwohl noch keinerlei Details zu erkennen waren, aus denen man sich ein Bild der hier heranwachsenden Kreaturen machen konnte. »Ich gibt nur zwei Erklärungen aus meiner Sicht«, sagte Sondstrup, nachdem er die Bilder hatte wirken lassen und wieder einigermaßen Ruhe eingekehrt war. »Entweder wir haben es mit den „schnellsten Brütern“ aller Zeiten zu tun, oder ...« »Oder?« Der Einwurf kam aus der Menge. Jeder hätte ihn bringen können. »Wir wissen noch sehr wenig über das physikalische Phäno men, das DINO-LAND geboren hat«, fuhr Sondstrup fort. »Vielleicht …«, er zögerte, und alle spürten, daß er sich auf das dünne Eis purer Spekulation begab, »… vielleicht haben die Eier bereits im Mutterleib einen Knacks abbekommen, als sie im Zeitbeben herüberkamen ...« »Einen Knacks?« Professor Sondstrup lächelte zaghaft. »Vielleicht haben die Eier«, sagte er langsam, »etwas von dem abbekommen, was wir in Ermangelung anderer Begriffe als „Zeit“ definieren. Vielleicht tickt die Uhr des Kosmos innerhalb der Schalen schneller als im übrigen Universum ...« Er schwieg und ließ den Blick in die Runde schweifen. 111
Unter den Versammelten waren einige, die aussahen, als glaubten sie, daß ihr Chef die natürliche Verschrobenheit aller Wissenschaftler übertrieb und nun endgültig den Verstand verloren hatte. Epilog Draußen auf dem salzhaltigen Moorsee zogen indes die fünf Tümmler bei Nacht ihre Kreise. Erneut spürten sie den Hauch eisiger Fremde. Im Stich gelassen vom Menschen, der sie hier ausgesetzt hatte. Den Käfig mieden sie instinktiv. Und auch wenn sie ahnten, was Einsamkeit bedeutet, allein waren sie nicht. Tausend Augen lauerten auf sie aus der Luft, vom Land her und aus den Tiefen des Wassers. Tausend versteckte, hungrige, Millionen Jahre alte Augen ...
ENDE des ersten Teils
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Eine neue, schreckliche Gefahr geht von DINO LAND aus! Doch die infizierten Soldaten im Camp sind nur die Spitze des Eisbergs. Was, wenn die rätselhafte Seuche weiter um sich greift? Es gibt keinerlei Medikamente dagegen; binnen kurzer Zeit würde sie sich über den ganzen amerikanischen Kontinent ausbreiten. Weder Wissenschaftler noch Militärs ahnen, daß diese Katastrophe kurz bevorsteht. Denn durch Frohns Kontakte zu Prostituierten wurde die Seuche bereits weitergegeben! Ein Wett lauf mit der Zeit beginnt - die Jagd nach dem Gegen serum ...
DINO FIEBER Ein Roman von Manfred Weinland
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