Sir John Retcliffe
Auf heißer Erde
Zum Geleit Der vorliegende Band bringt den Roman „Auf heißer Erde“, der wie die v...
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Sir John Retcliffe
Auf heißer Erde
Zum Geleit Der vorliegende Band bringt den Roman „Auf heißer Erde“, der wie die vorhergehenden aus den historisch-politischen Romanen Sir John Retcliffes herausgeschält, ergänzt und abgerundet worden ist. In deren Stoffüberfülle sind außerdem oft nur halb angedeutete, fesselnde Skizzen, begonnene Einzelerzählungen unvollkommen geblieben und bei der vorwärtsstürmen-den Haupthandlung vergessen worden. Es war daher Sache der Bearbeitung, diese echten Retcliffe-Bruchstücke so herauszumeißeln, daß aus ihnen ein Ganzes wurde. Der packende Roman „Auf heißer Erde“, der unter Briganten am Monte Vittore spielt, bringt die italienischen Erlebnisse des griechischen Freiheitskämpfers Grimaldi, dem wir später in den Bänden „Volk in Folter“, „Maharani Margarethe“ und „Ram, Ram, Mahadeo“ wieder begegnen. Er ist dem ersten Band der Nena-Sahib-Romane entnommen; desgleichen die Novelle „Das Fest der schwarzen Liebe“. „Die Felsengrotten von Kantara“ stammen aus dem ersten Band der ehemaligen „Puebla“Romane, und die markante Gestalt des Grafen Aimé Raousset-Boulbon taucht hier zum erstenmal auf. Seine späteren Abenteuer bringen die Bände „Die Abenteurer der Sonora“, „Zu den Quellen des Buenaventura“ und „Goldfieber“. Aus den vier Krimkrieg-Werken ist die Novelle „Das Blut Schamyls“ herausgezogen.
Diese vier Handlungen in den römischen Apeninen, im Buschwerk des Kaplands, auf den Bergen von Algier und in den polnischen Wäldern vereinigen all den romantischen Reiz und die niemals nachlassende Spannung, die auch die größeren Werke Retcliffes auszeichnen. Vielleicht ist gerade auch ihre knappe und dramatische Entwicklung ein Vorzug. Barthel-Winkler
Ein Geächteter Die sengende Glut der Junisonne war milder geworden; Zypressen und Pinien, Berge und Felsen warfen lange, verzerrte Schatten; das Tagesgestirn neigte sich zum Untergang in die blauen Wellen des Mittelländischen Meeres. Sommer in Italien; aber noch hatte die Hitze nicht Zeit gehabt, aus Moor und Sumpf die giftige, verderbenbringende Malaria zu brauen. Der Duft der Blumen und Kräuter füllte würzig die Luft. Auf den Höhen der Apenninen erschien die Natur noch kräftiger, frischer als im Tal, die Luft reiner. Aus den Klüften der Abruzzen strich der Seewind der Adria oft kalt herüber. An einer einsamen, schlecht erhaltenen und nur selten von Reisenden benutzten Seitenstraße, die von Spoleto, der neapolitanischen Grenze, nach Ascoli geht und dort in den großen Küstenweg nach dem Wallfahrtsort Loretto mündet, lag auf dem westlichen Abhang des Gebirgs eine kleine, halb verfallene Osteria. Eine riesige Pinie streckte ihre Äste über das tiefgesenkte Dach. Das ärmliche Haus lehnte an die zerklüfteten Felsen, als finde es darunter einen Versteck; wilder Wein und Efeu wucherte an seinen Wänden und den morschen Holzpfeilern seiner Veranda; das ganze Aussehen der kleinen Herberge ließ darauf schließen, daß es mehr ein Schlupfwinkel der römischen und neapolitanischen Schmuggler oder noch gefährlicheren Gesindels sei, als eine Unterkunft für Reisende.
Der Fremde indes, der unter der Veranda des Hauses, den Kopf in die Hand gestützt, saß, gehörte nicht zu den gewöhnlichen Gästen der Osteria. Sein Äußeres war anziehend und besonders, obwohl er außer dem hohen griechischen Fez einfache französische Kleidung trug. Er war von hohem Wuchs, breiter Brust und breiten Schultern, und mochte ungefähr dreißig Jahre zählen. In der vollen Blüte männlicher Schönheit und Kraft, lag doch eine tiefe Trauer über seinem klassisch edlen Gesicht. Durchsichtige Bräune färbte gleichmäßig die Wangen. Seine tief dunklen, von langen Wimpern beschatteten und von fein gezeichneten, bogenartig nach der Nasenwurzel sich senkenden Brauen überwölbten Augen sannen in Träumerei und matter Ruhe, die sich mit Gedankenschnelle zum Blick kühner Entschlossenheit und unwiderstehlichen Befehls wandeln konnten. Ein dunkler Schnurrbart hing lang über die Mundwinkel herab. Im ganzen Wesen und der Gestalt des Mannes lag soldatischer Charakter, wenn ihm auch die geregelten Formen und Bewegungen der nordländischen Militärerziehung fehlten. Die Aussicht über die Berghöhen von Fogliano und Norcia war köstlich. Bis nach Spoleto und Trevi hin schweifte der Blick, und durch die Öffnung der Sabinischen Berge ließ sich an den äußersten Grenzen des Horizonts das mit den Wolken verschwimmende Mittelländische Meer erkennen. Im Rücken erhoben sich die dunklen Wände der römischen Apenninen; der Monte Vittore, der Berg der Sybille und der Monte Gatto sperrten die
Aussicht nach der adriatischen Küste. Weit hinein in die Felsenklüfte und Höhen der Abruzzen, jenseits der neapolitanischen Grenze, ließ sich der Lauf des hinter Amatrice entspringenden Tronto verfolgen. Die Augen des Fremden waren auf den einzelnen leuchtenden Punkt des fast fünfzig Miglien entfernten Meeres gerichtet. Der Wirt der armseligen Posada drückte sich schon lange um den Schweigsamen herum und haschte nach jeder Gelegenheit, um auf ihn einzusprechen. Nun füllte er aufs neue seinen Krug aus dem Ziegenschlauch mit dem Wein von Velletri und schob ihn ihm zu. Als der Gast jetzt wortlos den Krug zurückwies, setzte ihn der Wirt selber, unwillig den Kopf schüttelnd, an den Mund und tat einen langen Zug. „Nichts für ungut, Signor Capitano! - Aber es ist eine Sünde, die edle Gottesgabe verkommen zu lassen. - Ich trinke auf das Wohl Eurer glücklichen Überfahrt.“ „Der Himmel wird mir nach so vielen Leiden und Gefahren doch endlich einen Weg öffnen.“ „Wahrlich, Kapitän, es war Zeit, daß Euch die guten Väter von St. Benedetto fortschafften, und Theodoros, Euer Diener, Euch zu mir, seinem alten Kameraden, brachte.“ Abermals wartete der Wirt vergeblich auf eine Antwort. „Ihr wart freilich noch krank und schwach. Aber die österreichischen Spürhunde lungerten arg um das Kloster. An Eurer Stelle, Signor, hätte ich die Amnestie des Heiligen Vaters angenommen, und
spazierte jetzt stolz über das Forum. Wenn Ihr's recht angefangen, hätte man Euch am Ende gar Eure alte Kompagnie wiedergegeben. Und ich will ein Schuft sein, wenn ich nicht selber wieder Handgeld genommen hätte.“ Der Capitano schüttelte trübe lächelnd den Kopf. „Du weißt, Franzesco, daß ein doppelter Preis auf meinen Kopf gesetzt ist. Der Kaiser von Österreich und Seine Herrlichkeit, der König von Ionien, Sir Henry Ward, bemühen sich gemeinschaftlich.“ „Aber die verdammten Franzosen in Rom -“ „Den Franzosen tust du unrecht. General Gemeau hat mich auf meinen Brief wissen lassen, daß es ihm unmöglich sei, ohne seine strengen Befehle zu brechen, mir offen Schutz zu gewähren. Aber der Wink wegen der französischen Handelsbrigg, die in Ancona ankert, gleicht die Weigerung vollkommen aus. Wäre ich in die Hände der Schergen Neapels gefallen, hätte man mich, wenn auch nicht nach Korfu, doch sicher an die Österreicher ausgeliefert. - Ob Theodoros morgen abend in Ripatransone sein wird?“ „Unmöglich, Signor Capitano“, erklärte der Wirt. „So gewandt und verschlagen der Bursche ist, so sind es doch neunzig Miglien bis Ancona, und sechzig von dort zurück nach Ripatransone. Er braucht Zeit, um den französischen Schiffer zu finden und sich mit ihm zu verständigen.“ „Also dann erst übermorgen abend!“ „Seid unbesorgt, Signor. Euer Weg durch die Gebirge über Force und Montalto ist zwar länger als die Poststraße über Ascoli, aber wenig besucht.
Und die Soldaten haben genug zu tun in den Scharmützeln mit den Räuberbanden, um auf einen einzelnen Reisenden zu achten; benutzen Sie nur meinen Rat und meine Kleidung. - Die Verwegenheit dieses Teufels, des Pepe Mamiami, wird alle Tage größer. Bei der Jungfrau, ich sage Ihnen, es sind tapfere Burschen unter seiner Bande, die sich auf den Mauern Roms gegen die französischen Kanonen verteidigten und unter Garibaldi sechs Wochen lang in den Apenninen gegen Österreicher, Franzosen und Neapolitaner gekämpft haben.“ „Ich glaubte, sie seien alle entkommen oder hätten die Amnestie angenommen?“ „Ah bah“ - der Wirt warf mit einer verächtlichen Gebärde die Finger von sich - „Amnestie! Was braucht jemand Amnestie, der sein Stilett und seine Büchse hat und die Felsenpfade der Apenninen kennt! - Als General Garibaldi von der Fregatte Oreste - versenkt sei sie auf den Grund des Meeres! - bei der Flucht nach Venetia sich angegriffen sah und die Küste bei Volano wieder gewann, suchten seine Begleiter in den Gebirgen Schutz. Heilige Mutter von Loretto, was blieb ihnen übrig, als ehrliche Banditen zu werden? - Der Mensch will leben, Signor! Sie fechten für ihre Freiheit, wie sie vor zwei Jahren für die Freiheit Italiens fochten. Dennoch, glaube ich, würden Sie manchen Mann unter den Leuten der Berge finden, der Sie gern auf das französische Schiff begleiten möchte.“ Ein Peitschenknall, das Geklingel von Maultieren, das Wiehern von Pferden und Geschrei
der Vetturins auf der durch Felsen verdeckten, sich aus der Tiefe emporwindenden Straße unterbrach das Gespräch. Beide horchten auf das Geräusch. Dann warf der Kapitän einen Blick umher, als ob er sich vor neuen Ankömmlingen unbemerkt entfernen wolle; aber die Felsenspalten zu erreichen, war nicht mehr Zeit. Der Flüchtling hatte kaum das kleine Gemach der Osteria betreten, als einer der Reiter, den anderen voran, vor die Osteria sprengte und laut nach Bedienung rief. Bestürzt blickte der Wirt auf seinen Gast. „Gebenedeite Mutter der sieben Schmerzen,“ jammerte er, „ich bin verloren, wenn man Sie hier findet. Geschwind hinaus, Signor, durch das hintere Fenster. Der wilde Wein verbirgt Ihre Flucht und Sie sind schnell zwischen den Felsen in Sicherheit.“ Der Capitano schaute durch das Fenster und winkte abwehrend. „Geh ruhig hinaus“, sagte er. „Nimm dem Herrn das Maultier ab. Wenn ich recht sehe, habe ich von ihm nichts zu fürchten. Und sollte es sein, je nun, so oder so muß es einmal zu Ende gehen.“ Er kreuzte die Arme, blieb ruhig, an das Fenster gelehnt, stehen und erwartete die Ankommenden. Der Reiter warf dem Wirt die Zügel zu, gab ihm einige Anweisungen und trat ins Haus. Der Reisende war ein ernster Mann mit Anstand und ruhiger Würde, etwas älter als der Capitano. Helles Haar, durchsichtig blaue Augen und gemessene Haltung bezeichne-ten ihn als einen Sohn Englands. Aber seinem kräftigen selbstbewußten Gesicht fehlte nicht ein Zug von
Milde und Wohlwollen. Er begrüßte den Anwesenden in italienischer Sprache. Kaum aber hatte er ihn näher betrachtet, als sein Fuß wie gebannt an der Schwelle haften blieb. Mit erstaunten, aber auch zugleich besorgten Blicken maß er den Offizier. „Um Gott,“ sagte er endlich, „Sie sind es wirklich, Kapitan Grimaldi? Sie sind noch hier in diesem unglücklichen Land? - Kaum traue ich meinen Augen! Ich glaubte Sie in Griechenland, längst in Sicherheit!“ Der Kapitän Grimaldi trat rasch auf ihn zu und reichte ihm die Hand. „Richard Hunter - so sind wir also noch immer Freunde - trotz dem Preise, den Ihr Oheim, Sir Henry Ward, auf meinen Kopf gesetzt?“ „Wie können Sie zweifeln? - Ich las jene traurige Ankündigung in den Zeitungen.“ „Sie kommen nicht von Korfu?“ „Nein, Freund - ich komme von London - über Rom. Schon vor zwei Jahren habe ich Korfu verlassen und von Ihnen nur gehört, daß Sie an dem Kampf in Venedig und später an dem Aufstand in Kephalonien teilgenommen haben. - Ich bitte Sie, erzählen Sie mir von Ihren Schicksalen“, bat Richard Hunter teilnahmsvoll. Der Kapitän lächelte. „Sie wissen, daß ich wegen meines Widerstandes im Senat und wegen der Unterzeichnung des Aufrufes für den Anschluß an Griechenland von Korfu verbannt wurde. Ich ging nach Rom zurück und trat in die päpstliche Leibgarde, in der ich schon früher gedient. Das war
im Jahre achtundvierzig; drei Monate nachher wurde Graf Rossi ermordet und die römische Revolution brach aus.“ „Sie schlossen sich ihr an?“ „Nein, Sir! Ich hatte dem Heiligen Vater meinen Eid geleistet und schlug mich mit den Schweizer Kompagnien und meinen Albanesen drei Tage lang in den Straßen Roms. Sie wissen, daß das Volk gegen uns Partei nahm. Der Papst erkannte die provisorische Regierung an und floh. Die Leibwache wurde aufgelöst. Als ich, von einer Wunde genesen, mich nach Griechenland einschiffen wollte, traf die Nachricht von der Bedrohung Venedigs durch die Österreicher ein. Sie wissen, daß Venedig die alte Heimat meines Geschlechts ist - sein Name stand in den goldenen Büchern der Republik verzeichnet.“ „Wer kennt den Namen Grimaldi nicht aus der Geschichte?“ „Meine Familie wohnte seit hundertfünfzig Jahren auf ihren großen Besitzungen in Korfu und Zante. Aber die alte Heimat blieb uns so teuer wie die neue. Ich eilte nach Venedig, wie viele andere von den griechischen Inseln, und half, das Fort Sankt Secondo gegen die österreichischen Schergen zu verteidigen. Die Welt kennt unsern Kampf unter Manin. Auch Garibaldi1 stieß nach dem Fall von Rom zu uns. Als General Pepe am 22. August auf der Villa Papadopoli den Vertrag zur Übergabe Venedigs mit Radetzky schloß, flüchtete ich mit mehreren meiner Gefährten auf einem Handelsschiff - zurück in meine Heimat. Verbannt 1
vergl. Band „Garibaldi“ und die folgenden.
aus Korfu, wollte ich Zante nur betreten, um meine Verhältnisse zu ordnen und nach Griechenland zu gehen. Im Hafen von Korfu - an Bord des neutralen Schiffs - wurde ich verhaftet und in die Kerker der Zitadelle gebracht. In Kephalonien war am 27. August die Erhebung erfolgt, die Freiheit der Republik oder die Vereinigung mit Griechenland forderte. Mein älterer Bruder, Anastasio, stand an ihrer Spitze. Dreihundert Ionier, darunter Männer aus den edelsten Familien, wurden von Ihren Landsleuten, den Briten, hingerichtet - von Ihrer Nation, der Europa den Schutz des jungen Staates anvertraut - und die uns zu ihren Knechten gemacht hat! - Ich sah sie sterben, die Märtyrer ihrer Rechte, am Galgen - auf der Esplanada von Korfu. Neun Monate später öffnete sich die Tür meines Kerkers - ein Freund hatte an den Gefangenen gedacht und sich seiner angenommen. Mir wurde bedeutet, nach Zante zu gehen und dort unter strenger Aufsicht, fern von aller politischen Teilnahme, zu leben - widrigenfalls mich das Schicksal meines Bruders erwarte.“ Richard Hunter senkte den Blick vor den flammenden Augen Grimaldis. „Es ist hart mit Ihnen von der Regierung verfahren, ich gestehe es.“ „Das sagen Sie, der Engländer“, lachte in bitterem Hohn der Kapitän. „Bedenken Sie, wie ich, wie jeder Ionier in seinem Herzen fühlt! - Englische Festungen und drohende Kanonen auf jeder Spitze unserer Felsen! Die Wappen Englands auf jedem unserer öffentlichen Gebäude; jedes Amt, jeder Posten, bis zu dem geringsten herab, in den
Händen jüngerer Söhne und Müßiggänger, die England hier versorgt; die reichen Einkünfte unserer Ernten nicht zur Kultur unseres Landes, sondern zum Unterhalt eines vertragswidrigen Heeres, zum Bau neuer Zwingburgen, zur Bereicherung habsüchtiger Beamten verwendet! Unser Parlament - eine Spielerei ohne Bedeutung, die jede Laune Ihres Onkels auflöst, bis sie seinen Willen tut. Freie Presse, ein Wahn unter der liberalen Herrschaft Englands - außer der Regierungsdruckerei in Korfu duldet es ja doch keine Druckerei, keine Zeitung in dem ganzen Staat. Sagen Sie selber,“ - er faßte den Arm des Briten - „habe ich mit einer Silbe übertrieben?“ Richard Hunter senkte abermals den Kopf. Ein düsteres Schweigen hing im Raum. „Ich ging nach Zante, auf das kleine Eigentum, das bei der Beschlagnahme unserer Güter mir blieb“, fuhr beherrscht der Kapitän fort. „Das untätige Leben, das tägliche Schauspiel maßloser Unterdrückung fraß an meinem Herzen. Ich schrieb an meine Freunde in Athen, um in das griechische Heer zu treten - das arme Griechenland war geknechtet, gleich uns. England forderte, allem Völkerrecht zum Trotz, die Inseln Sapienza und Cervi für sein Ionien - und dreimalhunderttausend Drachmen für fremde Kaufleute, die von irgendeinem Räuber geplündert waren. Seine Flotte sperrte den Piräus. Seine Willkür hatte alle griechischen Schiffe beschlagnahmt, trotz dem Widerspruch Frankreichs und Rußlands. Kein Ionier durfte in Griechenland Zuflucht finden - meine Hoffnung war vereitelt. Ich lebte kümmerlich - nur
der Schmerz in meinem Innern wuchs riesengroß. Da kam von den albanesischen Küsten und aus Montenegro die heimliche Nachricht zu uns, daß russische Agenten sich dort aufhielten. Ich konnte nicht hinüber, denn jeder meiner Schritte war bewacht, jeder Ausflug verboten. Heimlich kam ich mit getreuen Männern zusammen. Ich sandte einen vertrauten Diener mit Briefen ab nach Patras, in denen wir dem alten Freund Griechenlands, dem Zaren, unsere Dienste anboten und von ihm Hilfe für unser Elend forderten.“ Wieder unterbrach sich der Kapitän. Die Unruhe trieb ihn im Zimmer auf und ab. „In einer Oktobernacht -- das Meer stürmte klopfte es an meine Haustür. Ein Unbekannter reichte ein Papier herein und verschwand. Mein alter Diener Theodoros, der mich nie verlassen hat, brachte mir den Zettel. Er enthielt die Worte: ‘Fliehen Sie - die Briefe nach Petersburg sind aufgefangen und in den Händen Sir Henry Wards. Befehl zu Ihrer Verhaftung! Der Weg nach Griechenland gesperrt. - Italien!’ Noch in der Nacht erreichte ich Vromi, und schiffte mich auf einer Barke ein. Nach zwei Tagen Umherkreuzen auf offenem Meer - jede Stunde konnte zehnmal den Tod bringen - trafen wir ein Messina-Schiff, das nach Tarent ging. So erreichte ich das Festland.“ „Doch wie kommen Sie aus Kalabrien hierher, nach so langer Zeit - warum suchten Sie nicht längst Schutz in einem anderen Land?“
„Fragen Sie die Motte, warum sie das Licht nicht flieht, das ihre Flügel versengt.“ sagte mit trübem Spott der Capitano. „Es war nicht möglich! - In Neapel konnte ich nicht hoffen, mich einzuschiffen; durch den Aufstand in Sizilien war hier die Aufsicht streng und ausgedehnt. Ich glaubte im römischen Gebiet leichter die Küste des Mittelländischen Meeres zu erreichen und durchwanderte die Abruzzen. In Rieti, auf päpstlichem Gebiet, wurde ich erkannt - kaum entrann ich den Österreichern; denn mein Name stand von Venedig her auf ihrer Liste. Mein plötzliches Erscheinen galt als Beweis neuer revolutionärer Versuche; der englische Konsul in Rom, Ihr Gesandter in Neapel schlossen sich der Verfolgung an. Gehetzt wie der Eber der Abruzzen, floh ich zurück in die Gebirge.“ „Armer Freund!“ „Ein Preis stand auf meinen Kopf - meine Kraft war gebrochen; im Schnee der Apenninen sank ich fiebernd zusammen und wünschte mir den Tod. Mein treuer Diener Theodoros trug mich an die Pforten des Klosters St. Benedetto - hoch im Gebirg an der neapolitanischen Grenze. Dort lag ich monatelang krank, geborgen im Schutz der frommen Väter. Sie entließen mich nach meiner Genesung erst dann, als mir durch einen Zufall Verrat und Gefahr drohte. Seit zehn Tagen bin ich hier bei einem Mann, der vor Jahren in Rom unter mir gedient hat - dem Wirt dieser Schenke. Sein Dank gibt mir Obdach!“ Kapitän Grimaldi stützte sich auf den Tisch. Richard Hunter sah ihn mitfühlend an.
„Und was gedenken Sie zu tun? Wie kann ich Ihnen helfen? - Wenn ich auch ein Diener der Religion und des Friedens bin - ich scheue keine Gefahr, um dem Freund, dem Retter meines Lebens in den Schluchten des St. Salvador1 zu beweisen, daß die Verschiedenheit politischer Meinungen nicht die Pflichten der Dankbarkeit und der Freundschaft aufhebt.“ Kapitän Grimaldi reichte ihm die Hand. „Ich weiß, es fehlt nicht an edlen Herzen in Ihrem Volk. An Herzen, so groß und schön, so stolz und edel, wie Gott sie nur schaffen konnte... Vielleicht ist Ihre Hilfe unnötig. - In Ancona ankert ein französischer Kauffahrer, der mich an der Küste aufnehmen soll. In Ripatransone erwarte ich Botschaft. Es gilt nur, diesen Ort ungefährdet zu erreichen.“ „Das träfe sich herrlich“, sagte Hunter lebhaft. „Wir gehen nach Ascoli und an die Küste. Niemand in unserer Reisegesellschaft kennt Sie - Sie werden uns begleiten.“ „Sie haben mir noch nicht erzählt, welcher Zufall Sie in diese Gebirge führt, und wer Ihre Begleiter sind?“ „Vier junge Landsleute, jüngere Söhne erster englischer Familien, die meiner Obhut anvertraut sind. Ich habe mit ihnen die Reise durch Frankreich, Deutschland und Italien gemacht. Ihre Bestimmung ruft sie in das Heer und die Verwaltung nach Ostindien. Und dorthin, Freund Grimaldi, führt auch mich mein Schicksal. Ich gehöre zur Mission von Bengalen. Wenn ich mein 1
Korfu
Lebensglück durch die Erfüllung meines teuersten Wunsches gesichert habe, preise ich nach Suez, um mich von dort nach Kalkutta mit meiner künftigen Gattin einzuschiffen. - Doch da kommen meine Begleiter - und wenn Sie auch keiner kennt, ist es doch nötig, Sie unter anderm Namen einzuführen.“ Während der Unterredung der Freunde im Innern der Osteria war vor der Tür die Gesellschaft angekommen und hatte haltgemacht. Mehrere Reiter stiegen von ihren Eseln und Maultieren. Ein leichter Karren mit Gepäck wurde an das Haus geschoben. Vier junge Männer, von denen noch keiner das zwanzigste Jahr erreicht hatte, riefen lachend und auf den schlechten Gebirgsweg scheltend nach ihrem Begleiter. Lärmend kamen die jungen Herren ins Haus. Der Vikar, dessen Ansehen und ruhiger Würde sich alle bereitwillig zu fügen schienen, trat ihnen entgegen und führte ihnen den Kapitän zu. „Sehen Sie, wie glücklich ich gewesen bin, daß ich diesmal Ihrem Willen nachgegeben und statt der großen Straße den Weg durchs Gebirge eingeschlagen habe.“ sagte er. „Ein Glück läßt mich in dieser Osteria einen alten Freund aus Neapel, den Conte di Griffeo treffen. Erlauben Sie mir, lieber Graf, Ihnen hier meine jungen Reisegefährten vorzustellen. Fähnrich Stuart Sanders, in Ihrer Majestät 84. Regiment in Ostindien; Kornett Pond, der Neffe des Generals Wheeler; Hugh Flinton und James Ward, mein Vetter, der Sohn meines Oheims in Korfu, der seither in England erzogen wurde.“
Kapitän Grimaldi verneigte sich höflich vor den jungen Männern. Seine stolze, edle Erscheinung gefiel ihnen, und da er englisch sprach, war die Unterhaltung bald im Gang. Die Diener gaben den ermüdeten Tieren Futter, und der Wirt schaffte für die Gäste einige Flaschen Wein von Montefiascone herbei, mit denen sein Felsenkeller durch Schmuggler reich versehen war. Im Laufe des Gespräches fragte Grimaldi, weshalb sein Freund Hunter, den er vor drei Jahren in Korfu als Kaplan gekannt hatte, einen Posten in der indischen Mission angenommen habe und so weit von der Heimat sein Glück suchen wolle. „Ich will wirken, schaffen in meinem Beruf - und dazu ist in England wenig Platz“, antwortete Richard Hunter. „Vielleicht ist es auch der Drang, der uns Briten so häufig nach fernen Zonen zieht. Sie werden sich erinnern, daß ich die Naturwissenschaften mit Vorliebe treibe und schon in Korfu jede freie Stunde dazu benutzte.“ Er wandte sich an seine jungen Freunde. „Gerade diese Neigung hat auch unser Freundschaftsbündnis geschlossen, als mich der Conte mit Lebensgefahr aus der Felsenschlucht und der wütenden Brandung rettete, in die ich durch einen Sturz geriet.“ Er drückte Grimaldi die Hand. „Dort, wohin ich gehe, will ich der Natur und den mächtigen Erinnerungen der Vorzeit leben. Indien ist noch immer ein jungfräuliches Land, das alle Herrschsucht, alle falschen Maßregeln der Ostindischen Kompagnie nicht zugrunde zu richten vermocht haben. Eine großartige Natur - die ganze, ursprüngliche
Wissenschaft und Bildung des Menschengeschlechts - erwarten mich dort; der Charakter des Volkes ist weich und empfänglich; die Segnungen des Christentums haben ein weites, ergiebiges Feld und - es ist unnütz, es Ihnen zu verhehlen - auch der Gedanke zieht mich an, so manches Unrecht, das meine Landsleute den armen Hindus zufügen, durch Gottes Wort vergüten zu können. Darum nahm ich das Anerbieten des Erzbischofs von Canterbury an, zu dessen Diözese das Indische Reich gehört. Und - da die Frau, der meine Achtung und meine Liebe gehört, eingewilligt hat, mir dahin zu folgen - ja gewissermaßen die Anregung dazu gab - wollen wir beide mit dem Leben und für das Leben kämpfen.“ Er sah Grimaldi warm an und führte ihn auf die Seite. „Eine liebe Erinnerung würde es für mich sein, wenn ich beim Verlassen Europas noch zur Sicherung Ihres Schicksals das Meine tun könnte. Nehmen Sie meinen Vorschlag an! Sie können ohne Gefährdung mit uns reisen. Wir haben genügende Papiere, die uns gegen alle Belästigungen, auch der österreichischen Militärwachen, schützen; überdies ist einer der kommandierenden Offiziere durch die Schwester meines Vaters, die nach Deutschland heiratete, mir verwandt. Wir wollen bald weiter; denn wir beabsichtigen noch vor Anbruch der Nacht Osole zu erreichen. Ich stehe für Ihre Sicherheit und habe die Freude, Ihnen ein klein wenig meine Schuld abzutragen.“
Der Kapitän schlug ein.„Ich erkenne Ihre Güte,“ sagte er, „und weiß, wem ich vertraue. Aber auf eins möchte ich Sie aufmerksam machen. Sie kennen diese Gebirge zu wenig, und die Sonne naht schon ihrem Untergang. Es ist selbst bei Tage auf diesen Nebenwegen, ja häufig auf der großen Landstraße, zu reisen gefährlich. Zahlreiche Banden lagern auf dem Monte Vittore und in den Abruzzen, und streifen oft hier herüber, ja bis an die große Straße von Foligno und an die Meeresküste. Es würde besser sein, während der Nacht hierzubleiben.“ „So besorgt, Freund?“ erwiderte lachend der Vikar. „Sie haben doch schon so lange selber in dieser Wildnis zugebracht. Nein, wir müssen fort. Wir sind, außer dem Führer und den beiden Treibern der Maultiere, zehn gut bewaffnete Männer. Und wenn mein Amt auch friedlich ist, verstehe ich doch im Notfall sehr gut, mich der Waffen zu bedienen. Es fehlt mir nicht an Willen und Mut dazu. - Überdies“ - ein Lächeln umspielte seinen Mund - „werde ich morgen erwartet, und denke, auch Ihnen eine kleine Überraschung zu bereiten. - Die Räuberbanden haben sich nach Berichten, die wir in Terni erhielten, gänzlich auf das neapolitanische Gebiet, in die unzugänglichsten Teile der Abruzzen zurückgezogen, da sie überall von den französischen und österreichischen Truppen bedrängt werden. Starke Streifkorps sind auf der ganzen Grenze verteilt. Ich hätte sonst sicherlich nicht diesen Weg gewählt. - Heda, Wirt, wie weit rechnet Ihr noch bis Osole?“
„Neun Miglien1, Exzellenza zu dienen.“ „Werden wir noch vor Einbruch der Nacht den Ort erreichen?“ Der Wirt zuckte vielsagend die Achseln. „Die Wege durchs Gebirge sind beschwerlich, Exzellenza“, sagte er. „Wenn ich's mir herausnehmen dürfte, einem so vornehmen Herrn zu raten, möchte ich ihn bitten, mit meiner geringen Osteria fürlieb zu nehmen, oder auch nach Norcia zurückzukehren. Es hält sich viel Gesindel in den Bergen auf. Sonst sind aber durch die schlechte Zeit ganz ehrliche Leute gezwungen, mit Büchse und Stiletto ihr Brot zu verdienen; die Bauern in den Tälern munkeln sogar, daß der glorreiche Pepe Mamiami“ - er sah sich vorsichtig um - „ein so blutdürstiger und verwegener Schurke, wie Exzellenza nur einen denken können - wieder seine Streifzüge über die Grenze macht. Exzellenza könnte ein Unfall betreffen, und ich wäre untröstlich...“ „Schon gut, Herr Wirt“, unterbrach ihn Hunter. „Wir haben noch eine Stunde bis zum Sonnenuntergang vor uns. Ich frage Euch, ob es möglich ist, in zwei Stunden Osole zu erreichen?“ „Möglich wohl, Exzellenza, indes - die Jahreszeit -“ „Lassen Sie die Tiere vorführen, James. Sie, lieber Pond, treiben unsere Führer zum Aufbruch; die Kerle besitzen eine großartige Faulheit. - Wie bringen wir Sie aber fort, mein Freund?“ wandte er sich leise an den Kapitän. „Einer unserer Bedienten 1
Etwas über zwei deutsche Meilen.
mag sich auf den Karren setzen und Ihnen sein Maultier abtreten.“ „Machen Sie sich keine Sorge deshalb“, erwiderte der angebliche Conte di Griffeo. „Ich besitze ein kleines Gebirgspferd; es befindet sich hier in der Nähe. - Wenn Sie erlauben, meine Herren, schließe ich mich Ihrer Gesellschaft an, bis unsere Wege sich trennen. - Holen Sie mein Pferd, Franzesco; und Sie, Freund Hunter, warten Sie nicht auf mich. Treten Sie den Weg nur an. Dort erheben sich schwere Wolken über dem Monte Cavallo. In wenigen Minuten hole ich Sie ein.“ Er reichte dem Geistlichen herzlich die Hand, winkte dem Wirt und verschwand mit ihm. Die Dienerschaft legte den Tieren wieder Sättel und Zäume an. Die Führer und Träger, mit mürrischen, verdrossenen Mienen über den schleunigen Aufbruch, nahmen das Gepäck auf und schickten sich nach allerlei Zögern zum Weitergehen an. Endlich war alles bereit. Der Zug setzte sich in Bewegung. Voran schritt ein starker und rauh aussehender Gebirgsbewohner als Führer. Er gab Richard Hunter auf seine Fragen nur kurze Antworten und erweckte wenig Zutrauen. Die wilde Straße führte in die Berge hinein. Die sinkende Sonne warf auf die Hecken von wilden Feigen und Taxus und auf die bläulichen Schiefer des Gesteins rote Strahlen. Franzesco, der Wirt, hatte inzwischen das kleine Gebirgspferd, das er für den Kapitän gekauft, aus der Felsenspalte geholt, die als Stall eingerichtet war. Markos Grimaldi teilte den spärlichen Inhalt seiner Börse und legte die Geldstücke heimlich auf
den Fenstersims für den Getreuen. Dann gab er ihm die nötigen Anweisungen für den Fall, daß er seinen Diener und Fluchtgefährten in Ripatransone nicht treffen sollte, und bestimmte einen Ort an der Küste zum Stelldichein. Der Capitano nahm die Zügel aus der Hand des alten Wirtes und legte ihm die Linke auf die Schulter. „Lebe wohl, braver Mann“, sagte er. „Das Schicksal zwingt mich, zu gehen - ich glaube auf immer. Kann ich dir je vergelten, was du in deiner Treue für mich getan, so soll es, bei Gott, geschehen - wenn nicht, nimm fürlieb mit dem Dank eines Heimatlosen.“ Weinend, mit tausend Segenswünschen, beugte sich der Wirt der Osteria auf die Hand und küßte sie; Grimaldi drückte ihn an die Brust, dann sprang er in den Sattel. Das kräftige Tier jagte davon. Franzesco, der Wirt, winkte noch lange dem Scheidenden nach.
In der Falle Die Dämmerung nahte, als Grimaldi den Zug erreichte. Er schloß sich seinem Freund an. Eine kurze Strecke hinter den Dienern folgend, plauderte er mit ihm über die gemeinschaftlichen Erinnerungen und die Europa erschütternden Ereignisse der letzten zwei Jahre. So achteten sie wenig darauf, daß drohende Gewitterwolken den Abendhimmel umzogen und den Weg verdunkelten, der sich, fast zur Unkenntlichkeit verlaufend, immer tiefer und wüster in die Berge hineinzog. Erst als das ferne Wetterleuchten zwischen den Berggipfeln aufblitzte, und der Diener des Geistlichen, ein Schotte von gesetzten Jahren, zu ihnen herankam, schreckte Grimaldi hoch. Der Diener raunte ihnen zu, er fürchte, sie seien längst vom rechten Weg abgekommen. Der Führer flüstere fortwährend mit den beiden Maultiertreibern, und scheine ihm verdächtig. Da fiel es auch Hunter und Grimaldi auf, daß sie die von dem Wirt angegebene Entfernung schon zurückgelegt haben, oder wenigstens Osole sehr nahe sein mußten. Dennoch war im Dunkel keine Spur einer von Menschen bewohnten Gegend zu sehen. Beide begannen die Besorgnisse des Dieners für begründet zu halten. Hunter wollte sofort den Führer rufen. Der Kapitän jedoch hielt ihn zurück und bat, ihm erst eine kurze, scheinbar absichtslose Prüfung des Mannes zu gestatten. Er
trennte sich von ihm und ritt nach der Spitze des Zuges. Dort stieg er ab und ging neben dem Führer her. Er bat um Feuer für seine Zigarette und knüpfte ein Gespräch mit ihm an. Der Mann blieb jedoch, gegen die Gewohnheit der Italiener, sehr einsilbig. Sein Gesicht war von einem ergrauenden Bart umgeben und durch eine tiefe, über die Nase laufende und sie verunstaltende Narbe gezeichnet. „Wie weit rechnet Ihr noch bis Osole, Amico?“ fragte Grimaldi leicht. „Drei Miglien, Exzellenza. Die Wege sind schlecht, und wir haben nur wenig über die Hälfte hinter uns.“ Grimaldi wußte, daß der Mann log; sie waren jetzt zwei volle Stunden unterwegs, und konnten, auch bei dem schlechtesten Weg, die Entfernung nach Osole recht gut zurückgelegt haben. Er unterdrückte jedoch alle weiteren kritischen Bemerkungen. „Jedenfalls müssen wir über Gatto hinaus sein; und dennoch habe ich keine Spur davon gesehen.“ „Exzellenza müßten dazu Adleraugen haben - es liegt dort hinter jenen Bergen. Er wies nach links. Doch war es dem Kapitän aufgefallen, daß sie von der Osteria, statt geradeaus, sich immer links gehalten hatten, so daß sie also auf den Weiler hätten stoßen müssen. „Das Wetter scheint drohend zu werden“, fuhr Grimaldi fort. „Es wird Zeit, daß wir unser Nachtlager bald erreichen - Ihr seid doch Eures Weges sicher, Freund? Wo seid Ihr her? Wie ist Euer Name?“
„Antonio Pescare - aus der Campagna, Signor. Ich mache den Weg jetzt fünfzehn Jahre und kenne jeden Stein.“ Der Mensch log wieder. Der Dialekt der italienischen Landschaften ist so verschieden, daß man leicht daraus die Heimat eines Mannes erkennen kann. Der des Führers war offenbar nicht der römische, sondern der des Bergbewohners von Kalabrien. Überdies hatte Francesco, der Wirt, der jetzt schon zwei Jahre die Osteria an der Straße hielt, geäußert, der Führer sei ihm unbekannt. Unauffällig blieb der Kapitän langsam zurück, bis er sich wieder an der Seite des Freundes befand. „Ich möchte Ihnen gern eine bessere Kunde geben“, sagte er zu Hunter. „Ich glaube, wir befinden uns in sehr schlechten Händen. Der Führer ist offenbar nicht das, für was er sich ausgibt. Er hat uns vom rechten Weg abgeführt. Ich bin überzeugt, daß wir weit links, in den wildesten Teil des Gebirges, geraten sind. Es wäre das beste, daß wir uns seiner versichern und dann unsern Weg zurückgehen. Ihn nicht aus den Augen und aus unserer Gewalt zu lassen, wird jedenfalls nötig sein.“ Der Vikar Hunter war bestürzt, doch kannte er Grimaldi genug, um sich auf ihn zu verlassen. Nach kurzer Beratung beschlossen sie, daß Hunter sich zum Führen begeben und die Umkehr befehlen sollte. Der Kapitän blieb zurück, um die Leute im Auge zu behalten und die Flucht zu verhindern. Hunter gab der kleinen Karawane das Zeichen zum Halten und ritt zum Führer hin. Antonio
Pescare, auf seinen langen Gebirgsstock gestützt, erwartete ihn trotzig. „Meine Begleiter und ich sind der Ansicht,“ sagte er freundlich, „daß wir zuweit links in die Berge geraten sind. Was meint Ihr dazu, Freund?“ Pescare schaute ihn mißtrauisch von der Seite an. „Wenn Exzellenza in diesen Bergen besser Bescheid zu wissen meinen als ich, so werden Sie am besten tun, sich selber zu führen.“ „Dazu habe ich Euch gemietet“, sagte der Geistliche ernst. „Ihr müßt uns dahin geleiten, wohin ich es Euch bestimme. Jetzt werden wir unseren Weg zurücknehmen nach der Osteria, die wir vor zwei Stunden verlassen haben. - Also laßt die Tiere und die Leute umwenden.“ Der Führer biß die Zähne zusammen und warf tückische Blicke auf den Sprechenden. „Ich und meine Gefährten gehen keinen Schritt zurück; wir versprachen, Sie nach Osole zu bringen. Wir haben selber Geschäfte dort; unser Weg geht vorwärts!“ Damit steckte er den Finger in den Mund, tat einen schrillen Pfiff und schritt, unbekümmert um die Reisenden, voran. Die beiden Maultiertreiber blickten bei dem Laut aufmerksam nach ihm hin, wie ein Pferd die Ohren spitzt, wenn der Ton der Trompete zum Kampf ruft. Hunter aber, von seinem Verdacht jetzt überzeugt, war rasch an seiner Seite und packte ihn beim Kragen. „Halt, Kerl!“ rief er. „Wenn du nicht in Güte hörst, werden wir dich zum Gehorsam zwingen.“ „Laßt mich los, Signor, oder...“
„Henry, herbei!“ schrie Hunter dem Bedienten zu, „Faßt mir den Halunken und bindet ihn!“ „Maladetta bestia!“ knirschte der Italiener. Er riß sich mit einem Ruck aus den Händen des Engländers. Hunter fühlte die Schneide eines Messers an seinem linken Arm hingleiten und leicht das Fleisch ritzen; durch eine rasche Bewegung aber entging er dem Stoß und versuchte aufs neue, den Burschen zu fassen; denn er war ein Mann von großem Mut und bedeutender Körperkraft. Aber mit der Gewandtheit einer Katze war Pescare an den Wegrand gesprungen, der sich abschüssig in dichtes Gebüsch senkte, und ließ einen zweiten Pfiff ertönen. Ein Gegenruf der beiden Maultiertreiber antwortete. Ehe die Reisenden oder ihre Diener es verhindern konnten, waren sie aus der Reihe gesprungen, und kletterten an den Felsen hoch. Ein greller Blitz aus der Wolkenwand, die sich über den nördlichen und östlichen Himmel türmte, zeigte Antonio, den Führer, im Gebüsch, und sein höhnisches Lachen wurde vom Donner verschlungen. Dann erscholl der Knall eines Pistols. Em zorniger italienischer Fluch - und der Verräter verschwand am Abhang. Die Gesellschaft wußte kaum, was das alles zu bedeuten hatte. Die jungen Männer schrien und fragten bunt durcheinander. Nur Hunter und der Kapitän behaupteten ihre ruhige Entschlossenheit. Grimaldi, der den Schuß auf den Flüchtling getan, behauptete mit Bestimmtheit, er müsse ihn verwundet haben. Mit flüchtigen Worten wurde den anderen ihre gefährliche Lage klargemacht. Ein
rascher Entschluß war um so nötiger, als plötzlich das Unwetter in voller Kraft losbrach. Schlag auf Schlag entlud sich. Menschen und Tiere schienen minutenlang an dem hohen Abhang im Feuer zu stehen. Blitze kreuzten sich über den Köpfen und unter den Füßen der Reisenden. Der Donner durchdröhnte unaufhörlich die Luft in so gewaltigen, vom Echo hundertfach wiederholten Schlägen, daß die Maultiere zitternd, mit gesträubter Mähne an ihrem Platze hielten, und die Menschen fast betäubt wurden. Dennoch geschah kein Unglück. Ebenso rasch, wie die Wolken im Sturm dahergebraust, flogen sie vorüber und senkten sich in die nahen Talkessel. Eine Hagelwolke wetterte ihre scharfen, eisigen Körner in dichten Massen nieder. Nur mit der größten Anstrengung gelang es den Herren und Dienern, die Tiere festzuhalten, daß sie nicht in blinder Tollheit, ohne Ziel und Pfad, davon rannten. Die Reisenden befanden sich in einer trostlosen, durch die Ungewißheit um so gefährlicheren Lage. Wie in solchen Augenblicken sich die kräftigen, entschlossenen Menschen stets der Leitung bemächtigen, so geschah es auch hier. der angebliche neapolitanische Graf trat an ihre Spitze. Den jungen Männern und den Dienern, unter denen sich nur zwei aus Rom befanden, deutete Grimaldi die Gefahr der Lage an. Auf sein Drängen beschloß man, nicht die Umkehr zu versuchen, sondern, trotz dem noch immer tobenden und sich in heftige Regengüsse auflösenden Wetter
vorwärtszudringen. Grimaldi erklärte die Gründe, die ihn zu diesem Vorschlag bewogen. Offenbar hatten die Entwichenen, die sich der Gesellschaft auf dem letzten Halt in der Nähe von Norcia als Führer aufgedrängt, von vornherein die Absicht gehabt, sie unterwegs irrezuleiten und in irgendeinen Hinterhalt zu locken. Es ließ sich mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß wenigstens der eine zu einer Bande gehörte, und die Vetturins die willigen Werkzeuge waren. Da man nun den Entschluß geäußert hatte, nach der Osteria Franzescos zurückzukehren, so würden die Verräter sie gewiß mit ihren Genossen auf dem Weg dahin im Dunkel der Nacht überfallen. Selbst im glücklichsten Fall bot die einsam gelegene, von jeder Hilfe abgeschnittene Osteria keinen genügenden Schutz gegen einen Angriff. Dagegen war es möglich, bei mutigem Vorwärtsdringen durch das Unerwartete den harrenden Feinden zu entgehen. Sie mußten durch das Unwetter ebenso behindert sein wie die Reisenden. Der strömende Regen verwischte jede Spur ihres Zuges. Auch wenn sie keine bewohnte Gegend erreichten, war es besser, in irgendeinem abgelegenen Dickicht den Tag zu erwarten und die etwaigen Verfolger so über ihren Weg zu täuschen. Die Ansicht des Kapitäns entschied. Man sah ein, daß es unmöglich war, den Karren mit dem Gepäck weiter fortzubringen. Deshalb spannte man das Pferd, das ihn zog, aus, verteilte die Gepäckstücke auf die Tiere der Dienerschaft und stürzte den Karren den Felsenabhang hinunter. Dann setzte man die Waffen in Bereitschaft, und
der ganze Trupp, dicht aneinanderhaltend und auf plötzlichen Überfall gefaßt, bewegte sich mitten in den Wolkenzug hinein. Aber nur das tobende Wetter schien ihnen noch Ungemach bereiten zu wollen. Seit dem Verschwinden Antonio Pescares und seiner beiden Genossen hatte man nichts wieder von ihnen gesehen oder gehört, als anfangs einzelne Zeichen durch schrilles Pfeifen. Sie verloren sich aber immer mehr in der Ferne oder wurden von dem Brüllen des Donners übertönt. Grimaldi schloß daraus, daß sie sich ganz entfernt oder in irgendeinem Zufluchtsort Schutz gegen das Wetter gefunden hatten. Um so dringender trieb er alle an, ihren Marsch zu beschleunigen. Wohl eine halbe Stunde waren die Männer auf der Berghöhe vorgedrungen, als das Unwetter sich zu legen begann, und mit jenen schnellen Übergängen des Südens sich bald verlor und einer klaren, sternenhellen Nacht Platz machte. Sie hatten die Hochebene, seit einiger Zeit bergabsteigend, verlassen, und waren immer tiefer ins Tal - quer durch einen Wald von italienischen Fichten - vorwärts gegangen. Plötzlich stieß einer der beiden römischen Bedienten, der sich gerade an der Spitze des Zuges befand, einen Ruf der Freude aus und wies auf einen fernen Lichtschimmer, der sich zwischen den Bäumen hindurch zeigte. Allgemeine Zufriedenheit erfaßte die Reisenden, als sie dies Zeichen menschlicher Nähe erblickten. Der Kapitän hielt jedoch die Voraneilenden zurück, um sich erst nähere Kunde zu verschaffen.
„Vor allen Dingen ist Vorsicht nötig“, sagte er. „Der Lichtschein dort unten kann ebensogut von einem Feuer der Banditen, wie aus der Wohnung eines ehrlichen Mannes kommen - obgleich zehn gegen eins zu wetten ist, daß von der Art nicht viel in dieser Wildnis leben. Ich erinnere mich übrigens, von einem Gehöft in der Tiefe des Gebirges gehört zu haben - einem alten Gemäuer, das in früheren Jahrhunderten zu einem Kastell oder sonst einem Zweck gedient hat. Es steht nicht im besten Ruf. Sollten wir dorthin geraten sein, so können die Möglichkeiten ebenso leicht günstig wie schlimm für uns ausfallen. Denn es wird darauf ankommen, von wem wir es bewohnt finden. Es kann jedoch unmöglich fern von der Straße nach Amandola liegen. Jedenfalls: ist es ein Gehöft, müssen wir versuchen, für die Nacht dort ein Unterkommen zu finden; denn unsere Tiere sind erschöpft. Und wir können auch kaum noch den Beschwerden widerstehen.“ Sie waren unterdessen an den Rand des Waldes gelangt. Vor ihnen lag ein weiter, vom Gehölz freier Talgrund. In seiner Mitte, die Vermutung Grimaldis bestätigend, zeichnete sich ein großes, dunkles Gebäude vom Nachthimmel ab. Von ihm kam der einsame Lichtstrahl. „Lassen Sie mich vorausreiten“, bat Grimaldi. „Ich will zuerst allein um Einlaß ersuchen. Einem einzelnen werden die Leute, die dort hausen, weit eher öffnen. Ich kann mich dabei überzeugen, ob nicht vielleicht eine uns überlegene Zahl von Feinden dort Schutz vor dem Wetter gesucht hat. Hören Sie einen Schuß, so bin ich in Gefahr, und
Sie tun am besten, sich wieder in die Berge zu werfen. Mein Ruf soll Sie benachrichtigen, wenn das Feld rein ist und wir eine Herberge finden. Bis dahin aber - halten Sie sich im Dunkel des Waldes.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, gab er seinem kleinen Pferd die Sporen, und ritt auf das Gebäude zu. Es war ein breiter, viereckiger Turm aus zwei niedrigen Stockwerken. und an der Frontseite von einer Mauer umgeben, die im Halbkreis einen Hofraum umschloß. Ein Tor von schweren Eichenbohlen öffnete den Zugang. Das Bauwerk mochte aus dem fünfzehnten oder sechzehnten Jahrhundert stammen und schien in den Kämpfen der italienischen Edlen jener Zeit als fester Zufluchtsort oder verborgener Waffenplatz, vielleicht auch nur als sicherer Aufenthalt während der Jagdstreifen im Gebirge gedient zu haben. In einzelnen Teilen verfallen, schien es doch im ganzen noch gut imstande und von fester Bauart zu sein. Kapitän Grimaldi konnte sich nicht verhehlen, daß das Gebäude einen guten Schlupfwinkel für Räuber und anderes Gesindel abgab; zugleich aber erkannte sein militärischer Scharfblick auch. wenn seine Gesellschaft das Haus unbesetzt fand, und es ihr gelang, hier ein Unterkommen zu erhalten, war es der geeignetste Ort, sich gegen eine Gefahr zu verteidige und einen Angriff mit geringen Kräften abzuschlagen. Deshalb klopfte er ohne Zögern mit dem Kolben seines Pistols an das verschlossene Hoftor. Der Schall dröhnte laut durch die Nacht. Noch hallte das Echo nach, als sich schon ein kleines Fenster im unteren Geschoß öffnete.
„Wer klopft? - Ist es einer von uns?“ „Ja“, antwortete der Kapitän unbedenklich, mit leiser und verstellter Stimme. Der Schatten des Tores, an das er dicht herangetreten war, deckte ihn. „Mach' auf, und sage, ob du allein bist.“ „Heilige Jungfrau von Loreto! - Niemand ist im Haus, als Mutter Therese und ich. Komm getrost herein, Freund. Ich wunderte mich schon, wo ihr in diesem Höllenwetter stecktet. Im Augenblick bin ich bei dir.“ Der Lichtschein verschwand und die innere Tür wurde geöffnet. Der hohle Husten des Mannes, der über den Hof kam und die schweren Riegel von dem Tor hob, und die matte Stimme überzeugten ihn, daß er alt sei. Als der Türflügel zurückwich, stand ein kleiner, zusammengeschrumpfter Greis vor ihm. Das volle Licht der Laterne, die der Alte in der Hand trug, fiel auf die kriegerische Erscheinung des Kapitäns und ließ ihn zu seinem Schreck einen Fremden erkennen. „Heiliger Januario, mein Padrone!“ rief er. „Wer seid Ihr und was wollt Ihr, daß Ihr einen armen, einsamen Mann so erschreckt?“ Er versuchte eilig das Tor wieder zu schließen. Aber Grimaldi trat dazwischen, und ohne lange zu fragen, führte er sein Pferd in den Hofraum. „Nichts für ungut, Alter! Not kennt kein Gebot. Ich bin ein verirrter Reisender. Ihr könnt Christenleuten nach einem solchen Unwetter nicht einen Aufenthalt verweigern. Kriegsrecht gilt überall; ich habe einige Freunde bei mir, die draußen harren, und muß mich vergewissern, ob
sie ohne Gefahr hier eintreten können. - Also voran, Alter! Zeigt mir Eure Spelunke.“ Er nahm seinen Säbel in den linken Arm, spannte das Pistol und bedeutete den Wirt, voranzugehen. Mit Schreck und Ärger betrachtete der Alte den Entschlossenen. „Heiliger Jakob von Compostella!“ rief er. „Meint Ihr denn, mein Haus sei eine Herberge für alle Leute, die in den Gebirgen umherstrolchen? Geht in Frieden, Signor, und laßt mich das Tor schließen. Ich kann so viele Leute nicht beherbergen. Und zu finden ist hier nichts in diesen öden Mauern.“ „Haltet Ihr uns für Räuber und Spitzbuben?“ lachte Grimaldi. „Ihr sollt Eure Gastfreundschaft nicht umsonst geben. Es sind Engländer. Ihr wißt, die bezahlen reichlich.“ „Inglesi?“ fragte der Alte. - „Veramente! Diese Herren Engländer haben gewöhnlich viel Gold. Mit Gottes und der heiligen Jungfrau Hilfe könnte da vielleicht auch ein Stück für den armen Jacopo abfallen.“ Er schmatzte mit den Lippen. „Legt Euer Mißtrauen ab, Exzellenza. Ruft Eure Freunde. Im ganzen Haus ist keine Seele, als ich und der alte Drache, mein Weib, das mich das Fegefeuer schon hier auf Erden schmecken läßt. Und ein kleiner, armer Bube dazu. Ihr werdet hier so sicher aufgehoben sein wie im Schoß des Heiligen Vaters.“ „Ich pflege nur meinen eigenen Augen zu trauen“, erwiderte Kapitän Grimaldi trocken. „Also voran, zeigt mir den Weg. Meint Ihr es ehrlich, so wird sich das leicht bewähren und nicht zu Eurem Schaden sein.“
Der Alte sah ein, daß ihm nichts übrigblieb, als zu gehorchen. Unter verschwenderischen Beteuerungen seiner Redlichkeit und der Sicherheit seines Hauses, die er geläufig bei allen Heiligen des italienischen Kalenders beschwor, fügte er sich in den Willen seines Gastes und geleitete ihn die zerbröckelten Steinstufen zum Hause hinauf. Das Erdgeschoß nahm fast ganz eine weite Halle ein, die zur Küche diente. Ein kleines Feuer brannte auf dem Herd. Ein altes, von Jahren und Gicht krumm gezogenes Weib saß mit mürrischer Miene dabei und spann. Von einem Mooslager daneben erhob sich beim Eintritt der Männer ein Knabe von etwa elf Jahren und betrachtete mit forschenden, verschlagenen Augen den Fremden. Zwei Türen, die der Wirt öffnete, zeigten nur zwei leere und wüste Kammern ohne weiteren Ausgang. Auch im oberen Stockwerk, das wieder eine große Halle und zwei anstoßende leere Zellen enthielt, fand sich nichts Verdächtiges. Um so weniger Zutrauen flößte freilich der Wirt ein, den Grimaldi beim Schein des Feuers und der eisernen Lampe, die an einer Kette von der Decke hing, näher ins Auge fassen konnte. Der Mann war ein hinfälliger, schwacher Greis; aber in seinem faltigen, vom Alter vertrockneten einäugigen Spitzbubengesicht lag doch so viel Lauerndes, Boshaftes und - bei seinem Bestreben, sich angenehm zu machen - Heuchlerisches, daß es unwillkürlich den Kapitän anwiderte. „Einstweilen scheint mir Euer Haus sicher“, sagte Grimaldi kurz. „Ich werde meine Freunde holen. Nur möchte ich vorher noch wissen, wen Ihr
eigentlich erwartetet, als Ihr mir das Tor aufgemacht habt.“ „Santa Teresa - wen sollte ich erwartet haben?“ fragte der Wirt. „Hier - des kleinen Peppo Eltern aus Arquata - meine Frau Muhme und meinen Vetter wollten uns heute besuchen und den Burschen abholen. Wir glaubten sie verspätet durch das höllische Wetter im Gebirge. Aber Exzellenza wollen mir die Frage erlauben, wie Sie denn bei diesem schrecklichen Gewitter hierher geraten und mein armes Haus gefunden haben?“ „Ich sagte Euch schon - wir kommen von Terni und haben uns im Gebirge verirrt. Der Führer und die Vetturins haben uns hintergangen und sind entflohen; ihre Tiere haben sie im Stich gelassen. Der Schurke, der sich in Terni meinen Freunden zum Führer anbot, hatte sicherlich Helfershelfer im Gebirge, denen er uns in die Hände spielen wollte.“ „Kennt Exzellenza den Namen des Mannes?“ „Antonio Pescare nannte er sich.“ Der Knabe am Feuer machte eine unbewachte Bewegung. Der Wirt und sein Weib blieben jedoch ruhig und unbefangen. „Sorgt für ein gutes Feuer, und was Euer Haus sonst vermag“, sagte Grimaldi. „Ich bin sogleich mit meinen Freunden zurück.“ Der Wirt leuchtete ihm aus der Tür und kehrte dann in die Halle zurück. „Der Vater hat es gewagt“, sagte der Knabe mit blitzenden Augen zu dem Mann. „Und bei Sankt Peter - die englischen Ketzer sollen ihm nicht entgehen!“
„Aber was sollen wir tun, kleine Ratte?“ meinte der Alte. „Sie werden zahlreich sein; wer weiß, wo unsere Leute nach dem Wetter in den Bergen zerstreut liegen. Wir können vielleicht ohne Gefahr ein hübsches Stück Geld verdienen, wenn wir diesen Engländern weiterhelfen.“ „Che rinegato!“ kreischte das Weib. „Hat der alte, feige Schuft nicht gehört, daß es Inglesi, Ketzer sind, die zu töten ein gutes Werk ist? - Höre nicht auf ihn, Peppo, mein Jüngelchen! - Ich möchte schwören, daß dein braver Vater in der SanktLorenzo-Kapelle Schutz vor dem Wetter gefunden hat, und dort den Aufgang des Mondes erwartet, um die Teufelsbrut zu verfolgen. Er ist nicht der Mann, der seine schönen Maultiere im Stich läßt. Peppino, du bist ein flinker Bursche. Du kennst alle Stege des Gebirges. Du wirst ihn finden. Bring' Antonio Nachricht, wo er die Fremden trifft. Jacopo wird dafür sorgen, daß ihr das Tor unverschlossen findet.“ Der Knabe warf sich einen kurzen Mantel von Ziegenhaaren um und setzte seinen spitzen Filzhut auf. „Seid unbesorgt, Muhme“, sagte er. „Ich werde sie finden und sende euch Botschaft. Merkt nur auf, ob ihr den Rabenschrei hört.“ Der alte Banditenhehler kratzte sich hinter den Ohren. „Es wird freilich das beste sein - wenn die Unsern nur so zahlreich beisammen sind, daß es keinen Kampf gibt. So im Schlaf, ein blankes Messer über die Kehle - und kein Laut mehr. Hehe! - Die Inglesi sind Tiere; ich werde ihnen guten Wein vorsetzen, daß sie ihren Verstand darin
lassen. Aber dem Kerl, der eben hier war, traue ich nicht. Er redet unsere Sprache wie ein Italiener. Der ist kein Fremder.“ „Bah,“ lachte der Kleine, „mein Vater ist mit anderen fertig geworden. Addio, Mütterchen! Sorge nur, daß ich auch meinen Teil von der Beute bekomme!“ „Ein Teufelsjunge, der Peppino.“ schmunzelte der Alte. Er folgte dem Knaben nach einer der Kammern. „Ich möchte zehn Skudi gegen einen Bajokko wetten, daß er, ehe zehn Jahre vergehen, das beste Stilett zwischen Spoleto und Terracina führt.“ Als er zurückkam, war er allein. Draußen vor der Tür tönte das Geräusch der Ankommenden. Er trippelte hustend und keuchend hinunter, die Gäste zu empfangen.
Verlorenes Glück Kapitän Grimaldi hatte seinen Freund von dem Zustand des Zufluchtsorts unterrichtet. Hunter stimmte zu, daß sie sich seiner bis zum Tagesanbruch versichern müßten. Er ließ das Tor wieder sorgsam schließen. Die Maultiere und Pferde wurden in einem Schuppen im Hof untergebracht und mit Futter versehen. Das Gepäck trugen die Diener in die Halle des Erdgeschosses, wo sich die vier jungen Männer um das Feuer versammelt hatten. Das überstandene Ungemach und die Gefahr rasch vergessend, trieben sie mit der alten Frau ihren Scherz, sprachen dem guten Wein, den der Wirt herbeischaffte, zu, und machten es sich bequem. Erst auf die ernsten Vorstellungen Hunters beschäftigte sich jeder mit der Instandsetzung und Reinigung der verregneten Waffen, - indes die beiden italienischen Diener das Abendbrot bereiteten und einen starken Tee kochten. Die vier jungen Herren und der Vikar führten gute Enfieldgewehre, mehrere Pistolen und Revolver bei sich. Mit Säbeln und Degen konnte die Dienerschaft ausreichend bewaffnet werden. Jetzt erst, als die Polenta aufgetragen wurde, bemerkte der Falkenblick Grimaldis, daß der Knabe verschwunden war. Er fragte sogleich nach dem Grund. Aber die alte Hexe war geschwind mit einer Geschichte bei der Hand. Sie habe den Burschen nach einem zwei Miglien entfernten Weiler geschickt, um dort Milch und Brot für das
Morgenmahl der Herren Engländer zu holen. Da Grimaldi das Geschehene nicht mehr ändern konnte, und auch keinen weiteren Anhalt für seinen Verdacht fand, mußte er sich mit dieser Auskunft begnügen. Er erklärte jedoch eindringlich dem Wirt und seinem Weib, daß die Reisenden sich bei dem geringsten Anzeichen eines Verrats ihrer bemächtigen und sie zuerst dafür büßen lassen würden. Das Verschwinden des Knaben beunruhigte Grimaldi. Er verabredete mit Hunter, abwechselnd im oberen Stock, den man zur Schlafstätte gewählt, Wache zu halten. Einer der Diener sollte das gleiche in der Halle des Erdgeschosses tun. Zum großen Arger des Vikars hatten seine vier Schutzbefohlenen sich aus Tee und Rum einen Punsch gebraut und ihm so stark zugesprochen, daß es das beste für sie war, bald ihre Lager aufzusuchen. Aus Stroh, Mänteln und Decken waren sie in der oberen Halle bereitet worden. Da Master Hunter darauf bestanden hatte, die erste Wache zu übernehmen, streckte sich Kapitän Grimaldi, Säbel und Pistolen neben sich, in einem der oberen Seitengemächer gleichfalls auf den Boden, um einige Stunden zu ruhen. Elf Uhr. Alles im Haus war ruhig und still. Das Feuer erlosch, bis auf das leichte Flackern der Kohlen im Kamin. Der mit der ersten Wache in der unteren Halle beauftragte Diener, von den Strapazen des Tages ermattet, schlummerte neben seinen Gefährten ein. Richard Hunter hatte die Lampe gelöscht und saß, den Kopf in die Hand gestützt, am offenen
Fenster. Sein Blick richtete sich bald auf den gestirnten, durchsichtigen Nachthimmel, bald auf die Schatten, die der Mond, der sich eben über die Tannen und Pinien erhob, durch das Tal warf. Noch nicht lange hatte er so seinen Gedanken nachgehangen, als aus dem Dunkel der Pinien eine Gestalt langsam und vorsichtig über die vom Mond beleuchteten Stellen hinwegglitt und sich in den bergenden Schatten der Hofmauer stahl. Ein schlecht nachgeahmter Rabenschrei ließ sich hören und wiederholte sich dreimal. Dann war es dem Lauscher, als klänge ein Fenster, dicht unter ihm. „Wer ist da?“ flüsterte eine Stimme. In dem unterdrückten Hüsteln erkannte er den Ton des Wirts. „Manigoldo! Wer sonst, als die Raben des Gebirges! Laß mich ein, alte Eule! Bei dem Kreuz von Suli - kennst du Danilos, den Uskoken, nicht?“ „Der tolle Seebär!“ murmelte der Wirt. „Verwünscht, der Bursche ist so unbesonnen, daß er sie alle wecken wird! - Ich komme, schöner Danilos - einen Augenblick Geduld. Ich will mich nur überzeugen, ob die Fremden schlafen; denn es sind ein paar Augen unter ihnen, denen ich nicht traue.“ Eine Verwünschung in fremder Sprache; dann hörte der Vikar das Fenster schließen, und bald kamen leise, katzenartige Schritte die Stiege herauf. Er hatte kaum Zeit, sich auf den Boden zu werfen und sich schlafend zu stellen, als Jacopo, der Wirt, hereinschlich.
Er ließ das Licht einer Blendlaterne auf die einzelnen Schläfer fallen und lauschte besonders sorgfältig bei ihm. Endlich schien er sich überzeugt zu haben. Er kehrte wieder in das untere Stockwerk zurück, und schob im Vorbeigehen leise den Riegel vor die Tür der Kammer, in der Grimaldi schlief. Dem Vikar pochte das Herz. Er konnte, wo es sein Beruf und seine Pflicht verlangten, dem Tod und der Gefahr mutig ins Auge schauen. Auch im Gebrauch der Waffen war er nicht ungeübt, da seine Erziehung ihn mit der Jagd im schottischen Hochland bekanntgemacht hatte. Dennoch schwankte er einen Augenblick - die Gefahr, die ihm hier entgegentrat, war ganz ungewohnt. Doch dauerte dieses Überlegen nicht lange. Der Gedanke siegte, daß beim Lärmmachen der Spion und der Wirt leicht entfliehen konnten; er nahm deshalb den Säbel eines der jungen Männer auf und schlich leise die Treppe hinunter nach der Halle. Hier lag alles in tiefem Schlaf. Ein schwacher, dünner Lichtstrahl unter der Tür einer der Kammern zeigte ihm den Aufenthalt der Feinde. Er tastete sich dicht heran und legte das Ohr an einen Spalt. So konnte er jedes Wort deutlich hören. „Warum ist Antonio nicht selber gekommen? Warum schickt er einen Fremden?“ fragte die Frau gedämpft. „Bah, alte Hexe, was weiß ich! - Er steuert hinter seinen Kameraden her, um sie in allen Winkeln der Berge zusammenzusuchen. Er bat mich, zu euch zu gehen und euch zu sagen, daß er um ein Uhr hier sein wird, um dieser englischen Brut ein Ende
zu machen! Das Fegefeuer über sie! Seit sie mir meine treffliche Tartane1 verbrannt haben, hasse ich sie wie die schwarze Pest.“ „Das Geschäft geht jetzt herzlich schlecht, Signor Danilos“, keuchte der Alte. „Der Schmuggel zur See muß Euch aber doch ein hübsches Stück Geld abwerfen. Die Landtransporte über die neapolitanische Grenze bleiben immer nur ein Stückwerk gegen so eine hübsche Schiffsladung glücklich in einen der Häfen gebracht. - Gedenkt Ihr nicht bald wieder in See zu gehen?“ „Narr!“ Der Mann lachte. „Meinst du, ich bleibe aus Vergnügen in eurem schlechten Land? Wenn ich nicht einen wichtigen Auftrag hier auszurichten hätte, wäre ich längst wieder in der Kraina oder auf blauer See. So nahm ich das Anerbieten deines schuftigen Vetters an. Pah, ich hab' mit ihm manche gute Ladung getauscht, als er noch in Kalabrien den Schmuggler spielte. Und ich denke, Engländer und Österreicher sind gleich schlecht beide stahlen den tapferen Uskoken die Herrschaft auf dem Wasser! Und ob auf dem Meer oder dem Land - wenn man ihnen das Messer zwischen die Zähne rennen oder eine Kugel zwischen die Rippen schicken kann, tut man ein gutes Werk und soll die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen! - Darum bin ich dabei, wenn es einen Streich gegen die Engländer gibt. Verflucht seien ihre Schiffe, die alle Freiheit knechten! - Sind die Burschen fett? Fett an Gold, wie sie es an Übermut und Stolz sind?“ 1
Tartane= ein ungedecktes Fischerfahrzeug mit einem Pfahlmast, einem lateinischen Segel und zwei Klüvern am Klüverbaum.
„Ich hoffe, es wird ein schönes Teil auf jeden kommen. - Aber sagt mir, Signor Danilos, was ist's für ein Auftrag, den Ihr habt? Bei der heiligen Jungfrau, ich möchte Euch helfen, wenn etwas dabei zu verdienen ist.“ „Still, alter Schwätzer - ich suche jemanden in diesen Bergen, den deine Unkenaugen doch nicht finden würden. Aber 's ist Zeit. Addio, alter Schurke! Und halte die Vögel bereit!“ „Also eine Stunde nach Mitternacht! - Sie schlafen wie die Ochsen. - Ich lasse euch ein. Ihr könnt ihnen die Kehlen abschneiden, ehe sie eine Ave sprechen, wenn diese Ketzer überhaupt beten.“ „A rivederci!“ sagte die tiefe Stimme des Uskoken. Der Vikar hörte das Öffnen einer Tür. Er fühlte, der Augenblick des Handelns war gekommen. Mit einem Ruck riß er die Tür der Kammer auf und sprang, den Säbel in der Faust, hinein. Zugleich rief er laut den Freund und die Gefährten zum Beistand. Der Anblick, der sich ihm bot, erklärte ihm, auf welche Weise der Bandit in das Innere des Turmes gekommen war, und früher der Knabe ihn verlassen hatte. Eine Falltür gähnte im Winkel der Zelle und zeigte eine Reihe von Stufen, die in die Tiefe führten; Jacopo hielt die Tür, und der Fremde war im Begriff, hinunterzusteigen. Es war eine schlanke, prächtige Gestalt in albanesischer Seemannstracht. Die rote,
phrygische Mütze saß zur Seite auf dem geflochtenen, schwarzen Haar, Messer und Pistolen steckten im Gürtel. Kühnheit blitzte aus den dicht an der Nasenwurzel zusammenliegenden Augen. Der Korsar war jung, in voller Manneskraft einer jener tollen See-Uskoken, die auf ihren Barken aus den unzugänglichen Felsenspalten der albanesischen Küste mit der Schnelligkeit der Schwalben die blauen Wellen der Adria, des Ionischen und griechischen Meeres durchstreichen. Bald Handelsleute, bald Schmuggler oder Korsaren, wurden sie von den Österreichern und Türken gefürchtet, von den Engländern gehaßt und verfolgt. Aber die Küstenvölker jeden Glaubens feiern sie als die letzten Helden ihrer alten Freiheit, als ihre Versorger mit Munition und verbotenen Gütern. Als die Tür der Zelle aufflog, und der Vikar hereinstürzte, ließ Jacopo im Schreck die schwere Falltür seiner Hand entschlüpfen. Donnernd schlug sie zu. Im nächsten Augenblick stand Hunter auf ihr und schwang den Säbel. „Ergebt euch, Schurken! Ihr seid gefangen!“ Ein Fluch entfuhr dem Mund des Korsaren. Er sprang wie ein Tiger auf den Vikar zu. Den Säbelhieb, der seine linke Schulter verwundete, beachtete er nicht. Oben im Gebäude krachte ein Schuß; die plötzlich erweckten Schläfer sprangen auf und fragten wirr durcheinander. Durch den Ansprung des Uskoken war der Vikar zu Boden gerissen worden. Das Knie des Korsaren lag auf seiner Brust. Der Dolch war zum Todesstoß erhoben.
„Schmach über Danilos Petrowitsch, wenn er den Besiegten tötet!“ sagte eine feste Stimme. „Es ist unwürdig eines freien Klementi1!“ Die Worte hatten Zaubergewalt über den wilden Uskoken. Die Faust mit dem Messer sank nieder, ohne zu töten. Er erhob sich von der Brust des Engländers. Seine Blicke suchten den Sprecher. Durch die Tür drangen jetzt die jungen Offiziere und ihre Diener herein. Die Augen des Ukoken fielen auf den Ionier, der kaltblütig, die abgeschossene Pistole, mit der er den Riegel seiner Tür gesprengt, in der Hand, vor ihm stand. „Capitano Grimaldi! - Die Panagia2 sei gelobt, daß ich dich finden!“ Er eilte auf den Offizier zu und wollte seine Hand ergreifen. Grimaldi blieb ruhig. „Ich kann es nicht glauben, daß Danilos Petrowitsch, der Meeradler, der sich mit seiner Tartane zweimal durch die Schiffe der Schwabi3 schlug und den Kriegern Venedigs Tapfere zuführte, der selber mit auf den Schanzen von Sankt Secondo kämpfte, jetzt ein Genosse von Banditen und Mördern ist!“ Die Stimme Kapitän Grimaldis schien eine merkwürdige Herrschaft über den jungen Korsaren zu üben. Seine Augenlider senkten sich. Die Faust preßte sich auf die Brust, und die Zähne drückten sich in die Lippen. 1
Die katholischen Albanesen Heilige Jungfrau 3 Die Deutschen (Österreicher) 2
„Diavolo!“ sagte er endlich mürrisch, „so darf bei den sieben Heiligen - nur Markos, mein Milchbruder, zu mir sprechen! - Weswegen bin ich hier, als um deinetwillen? Wer, zum Teufel, sollte ein Unrecht darin finden, wenn ich ein halbes Dutzend rothaariger Inglesi in die andere Welt befördern helfe! Sind sie nicht deine Feinde, wie die meinen?“ „Still, Danilos.“ sagte schnell der Kapitän. „Reisende plündern und morden, bleibt die Sache eines Banditen, nicht die eines freien Kriegers. Die Herren hier stehen unter meinem Schutz. Ich teile ihr Los, das merke dir.“ - Dann trat er auf den Vikar zu, dem die Diener aufgeholfen hatten. Erstaunt wohnten sie mit den anderen der seltsamen Begegnung bei. Grimaldi reichte Hunter die Hand. „Es freut mich, daß ich noch im rechten Augenblick kam. Haben Sie keine Sorge. Ich kenne diesen Mann. Er ist ein Korsar der albanischen Küste, aber ein tapferes und wackeres Herz. Seine Mutter war meine Amme; ich bürge für ihn. Lassen Sie jedoch diesen alten Halunken und die Hexe, sein Weib, binden und in Verwahrung bringen. Wir wollen den Ausgang untersuchen, zu dem diese Falltür führt.“ Das war in wenig Minuten geschehen. Das Wirtspaar wurde, trotz allem Jammern und Wehren, geknebelt und in einen Winkel der Zelle geworfen. Kapitän Grimaldi führte unterdes den Seemann in die größere Halle. „Was sollten deine Worte bedeuten“, fragte er ihn in griechischer Sprache. „Du sagtest, du befändest dich meinetwegen hier?“
„Was ich gesagt, ist die Wahrheit.“ Es lag noch immer ein gewisser Trotz auf dem kühnen Gesicht des Uskoken. „Das Gerücht war von Korfu zu uns herübergekommen, du hieltest dich an der neapolitanischen Grenze verborgen. Ich übernahm es, den Mann, der dich aufsuchen sollte, an die italienische Küste zu bringen. Ich bin seit vier Tagen in den Bergen, bei Mamiamis Bande, unter der ich manchen alten Freund vom Schmuggelhandel an der Küste habe. Ich glaubte, durch die Burschen am besten deine Spur zu finden. Es sind nicht wenige dabei, die in Rom und Venedig mit dir fochten.“ „Weißt du, wer der Mann ist, der mich sucht?“ „Es ist ein Offizier des großen Zaren in Moskau. Er lebt schon seit Jahresfrist unter den Stämmen des Hochlands und reist bald hier-, bald dorthin. Ich führte ihn zweimal heimlich nach Korfu.“ Kapitän Grimaldi ging bewegt auf und nieder, ohne die mißtrauischen Blicke zu beachten, die von den jungen Engländern auf ihn gerichtet wurden. Der Vikar traf unterdes neue Anordnungen zur Sicherung des Hauses. „Wo ist der russische Offizier?“ fragte Grimaldi. „Bei Mamiami - in irgendeinem Schlupfwinkel. Ich ließ ihn dort mit einem meiner Matrosen, und zog mit Pescare, weil ich hörte, daß ein Fremder im Kloster St. Benedetto sich aufgehalten habe. Seine Beschreibung paßte auf dich.“ „Verzeihen Sie, Sir“, sagte jetzt, mit seinen Gefährten hinzutretend, der Kornett Pond. „Wir müssen Ihr gewiß sehr wichtiges Gespräch mit
diesem ehrlichen Mann leider unterbrechen. Aber ich glaube, wir haben Ihnen um unserer eigenen Sicherheit willen einige Fragen vorzulegen. Master Hunter hat Sie uns als den Grafen di Griffeo aus Neapel vorgestellt. Dieser Mann aber nannte Sie Kapitän Grimaldi.“ Grimaldi fühlte, wie sein Gesicht sich mit dunkler Glut färbte. „Und was folgern Sie daraus, Sir, wenn ich bitten darf?“ fragte er unwillig. „Unser Freund, James Ward, hier behauptet, Grimaldi sei der Name eines entflohenen griechischen Rebellen. Es ist nötig, Sir, daß wir als Gentlemen wissen, woran wir mit einem Herrn sind, der so - seltsame Bekanntschaft mit den Helfershelfern der Banditen hat.“ Noch ehe Kapitän Grimaldi antworten konnte, kam der Vikar herbei. Erstaunt über die fast drohende Haltung der jungen Männer gegen seinen Freund, fragte er nach dem Vorgefallenen. „Diese Herren“, sagte Kapitän Grimaldi, und bitterer Hohn umzog seinen Mund, „befragen mich soeben, welche Rechte ich auf den edlen Stammbaum der Partannas1 habe. Ich muß ihnen erwidern, daß sie eben nur in der Freundschaft Master Hunters bestehen. Ich bin wirklich der Kapitän Grimaldi, den der Vater dieses jungen Herrn da sich nicht scheut, wie einen österreichischen Sbirren zu verfolgen.“ „Wenn Sie Kapitän Grimaldi sind,“ rief der junge Ward heftig, „so verhaften wir Sie.“ 1
Die Herzöge von Partanna sind Grafen di Griffeo
„James, sind Sie wahnsinnig? - Wollen Sie uns alle zugrunde richten?“ rief Vikar Hunter entrüstet. „Welches Recht haben Sie an diesem Mann, törichter Knabe?“ „Er ist ein Rebell! Ein Verräter gegen die Krone Englands!“ erwiderte James Ward trotzig. „Er steht mit Banditen im Bund und ist dem Galgen verfallen! - Ich selber habe die Aufrufe gelesen, die einen Preis auf seinen Kopf setzen. Ich wäre ein schlechter Sohn meines Vaters, wollte ich die Gelegenheit vorübergehen lassen, seinen Feind unschädlich zu machen.“ „Sie sind würdig, sein Sohn zu heißen“, erwiderte mit stolzem Hohn der Grieche. „Das Blut Englands zeigt sich überall. - Lassen Sie uns die Tür öffnen, Richard - ich und dieser Mann wollen die Nacht lieber bei den Wölfen der Apenninen zubringen, als unter den ehrenwerten Gentlemen, die gegen einen Gefährten in der Gefahr die Häscher spielen! Komm, Danilos!“ „Freund, ich beschwöre Sie...“ Kapitän Grimaldi schritt tief verletzt der Pforte zu. Aber Kornett Pond und der junge Ward warfen sich ihm in den Weg. „Nicht von der Stelle, Sir!“ „So bin ich also wirklich Ihr Gefangener?“ „Unsere eigene Sicherheit erfordert es!“ Kapitän Grimaldi setzte sich schweigend auf einen Sessel am Herd. Sein Wink fesselte den Korsaren neben sich. Die Hand am Griff der Pistole, war Danilos mit den Augen seinen Mienen
gefolgt, da er das Gespräch in englischer Sprache nicht vollständig verstanden hatte. „Ich bitte Sie, mein Freund,“ sagte der Vikar, „hören Sie nicht auf die Worte dieser jungen Toren. - Ihnen, meine Herren, befehle ich, kraft der Aufsicht, die mir über Sie anvertraut ist, sich jeder Beleidigung dieses Mannes zu enthalten.“ „Euer Ehrwürden,“ entgegnete Fähnrich Sanders, „fassen, glaube ich, Ihr Verhältnis zu uns irrig auf. Wir sind Offiziere und Ihnen Achtung, aber keinen Gehorsam schuldig. Diese beiden Leute werden uns morgen als Gefangene begleiten.“ Der Vikar sah ihn groß an. „Und wissen Sie so gewiß, Sir, daß Sie und Ihre trotzigen Kameraden morgen dies Haus wieder verlassen werden?“ „Wie meinen Sie das?“ „In zwei Stunden“, sagte der Vikar mit Nachdruck „wird Ihnen die Ankunft einer Bande von Mördern, die es auf uns abgesehen hat, die Antwort geben. Wir sind hier in der Höhle der Banditen, denen wir entkommen wollten.“ „Dann hat uns der verräterische Grieche hineingelockt!“ schrie der Fähnrich. „Zu Boden mit ihm und seinem Spießgesellen!“ „Schämen Sie sich, Sir!“ zürnte der Geistliche. „Wenn uns etwas retten kann, so ist es seine Hilfe! Ich bürge mit meinem Leben für seine Ehre.“ Diese Worte verfehlten ihren Eindruck nicht. Die Ankündigung der nahen, furchtbaren Gefahr machte die jungen Männer betroffen. „Aber was sollen wir tun? -- Wir müssen das Haus verlassen. Wir müssen uns durchschlagen!“
„Ich fürchte, das würde ein vergeblicher Versuch sein und uns sicherem Verderben aussetzen. Kapitän Grimaldi, auf Ihren Rat ist unsere einzige Hoffnung gebaut. Sie sind ein Mann von Ehre. Sie werden vergessen, was diese jungen Leute gegen Sie gefehlt.“ Der Kapitän hatte bisher schweigend und anscheinend gleichgültig dem Gespräch zugehört. Jetzt wandte er sich an den Seemann in italienischer Sprache. „Ist die Bande des Pepe Mamiami zahlreich?“ „An fünfzig Mann. Die Hälfte hat sein Leutnant Pescare um sich versammelt und sich an die Fersen dieser Inglesi geheftet.“ „Also führt Mamiami nicht selber unsere Gegner?“ „Der Hauptmann hat sich nach einem Weiberraub im Neapolitanischen auf den Monte Vittore geflüchtet.“ „Ist es möglich, ungefährdet von hier zu entkommen?“ „Demonio! - Was kümmerst du dich um diese Engländer? Pescare wird nicht wagen, dir auch nur ein Haar zu krümmen.“ „Antworte auf meine Frage, Danilos. Bei dem heiligen Kreuz von Missolunghi, in dessen Kampf mein Vater starb: das Schicksal dieser Männer wird auch das meine sein!“ Der Korsar sah unwirsch vor sich hin. „Dies alte Gemäuer ist keine drei Büchsenschuß von der Straße nach Monako und Amandola entfernt. Aber Pescare versteht sein Handwerk und
hat alle Ausgänge besetzt. Ehe Ihr zwei Miglien macht, würde er Euch auf den Fersen sein.“ „Monako?“ fragte der Vikar. „Der Name ist mir nicht unbekannt. - Ist ein solcher Ort in der Nähe?“ „Ein Flecken von kaum fünfzig Häusern - fünf Miglien von hier.“ Der Vikar suchte eifrig in seiner Brieftasche. Der Kapitän setzte seine Fragen fort. „So habe ich mich nicht darin getäuscht. Der Führer und die Vetturins waren mit den Banditen im Bunde?“ „Der Führer war Pescare. Er schäumte vor Wut, ein Schuß von Euch hat ihm den linken Arm für lange Zeit gelähmt. Nur der plötzliche Ausbruch des Gewitters hat euch gerettet und die Bande zerstreut. Vergeblich suchten wir seit einer Stunde verlorene Spur. Da brachte die kleine Schlange, Antonios Knabe, die Botschaft, daß die Inglesi ihnen gerade ins Netz gelaufen seien. Ich übernahm es, unterdes Pescare die Burschen sammelt, Botschaft hierheran den alten Jacopo zu bringen; denn ich hasse die Engländer - so blutig wie du, Capitano.“ „Endlich! Gefunden!“ rief der Vikar, und entfaltete einen Brief. „Es ist der gleiche Ort - sie müssen schon dort sein. Wenn es gelingt, sind wir gerettet.“ „Was meinen Sie damit?“ „Ich sagte Ihnen, daß ein Verwandter von mir Offizier in österreichischen Diensten ist. Er schrieb mir nach Rom, daß er mit seinem Kommando Husaren nach Monako an der neapolitanischen Grenze kommandiert sei.“
„Eine Abteilung der Schwabi ist gestern in den Flecken eingezogen“, nickte Danilos auf die Frage Grimaldis. „Wenn es uns gelänge, Botschaft dorthin zu senden, wären wir gerettet. - Aber wer von uns vermag den Weg in der Nacht, durch das Gebirge und die Wachen der Banditen zu finden!“ Ein allgemeines Schweigen. Alle sahen sich niedergeschlagen an. Alle empfanden: das Unternehmen war unmöglich. Kapitän Markos Grimaldi erhob sich. Einen Augenblick lang streifte sein ernster Blick mit bitterm Ausdruck über die Gruppe der Engländer, die sich noch vor kurzem als seine Verfolger gezeigt; dann wandte er sich zu dem Uskoken. „Danilos Petrowitsch, lege alle deine Waffen ab“, sagte er ruhig. Ohne eine Frage, ohne ein Wort der Gegenrede legte der Albanese sie auf den Fußboden neben sich. „Jetzt, Richard Hunter,“ fuhr der Kapitän fort, „bitte ich Sie, einen aus Ihrer Gesellschaft auszuwählen -- wohlbewaffnet -, der diesen waffenlosen Mann begleitet. Er wird ihn bis zum Eingang des von den Österreichern besetzten Ortes führen. Dort mag Ihr Bote die erwünschte Hilfe erbitten. - Kein unnützes Mißtrauen, kein Zögern, Freund! Es ist die einzige Rettung, die Ihnen bleibt!“ Die Gefahr lag zu nahe, als daß nicht alle Bedenklichkeiten selbst bei den früheren Gegnern hätten schweigen müssen. Aber ebensowenig mochte einer sich freiwillig zu dem gefährlichen
Gang entschließen. Selbst wenn der Korsar sich als treu erwies, mußten doch hundert Gefahren lauern. Eine lange Pause, ein leises Flüstern folgte. Der Vikar riß ein Blatt aus dem Taschenbuch und setzte sich nieder, um einige Zeilen zu schreiben. „Hier auf dem Kamin steht ein altes Schreibzeug“, sagte Kornett Pond. „Bedienen Sie sich seiner, wenn die Tinte nicht vertrocknet ist.“ Er nahm es herunter und stellte es vor den Vikar. Hunter begann eilig zu schreiben. Alle umstanden ihn und folgten fast ängstlich den flüchtigen Zügen. „Da liegt ein Blatt eingeklemmt unter dem Tintenfaß, wie ein Brief gefaltet“, bemerkte der junge Ward. Er zog es hervor und hielt es an das Licht der Lampe. „Wahrhaftig, ein wirklicher Brief, und - Gott verdamm' meine Augen, das Blatt ist an Sie gerichtet, Vetter Hunter! Und mir ist, als kenne ich die Handschrift.“ Alle blickten erschrocken und erstaunt auf. Der Vikar nahm dem jungen Mann das Blatt fort und warf einen Blick auf die Handschrift. Wie vom Blitz getroffen, sank er auf den Sessel zurück. Totenblässe überzog sein Gesicht. „Adelaide“, stammelte er. „Um aller Heiligen willen, was ist Ihnen, Richard? Was wollen Sie mit diesem Namen sagen?“ forschte Grimaldi. „Lesen Sie!“ Der junge Ward ergriff das Blatt. „Bei meiner Seele, es ist von meiner Cousine Adelaide! - Ihr Name ist unterzeichnet!“ „Lesen Sie, Sir!“
Die Stimme Kapitän Grimaldis klang heiser, rauh. Befehlend stieß er die Worte heraus. Eine tiefe Erregung durchrüttelte ihn. James Ward las die Worte vor. „An den Vikar Richard Hunter! Banditen sind diese Nacht in die Villa des Marchese Sorenti eingebrochen, wo ich mich seit drei Wochen aufhalte und Sie erwarte. Man hat mich fortgeführt, wie ich fürchte, nicht nur um eines Lösegeldes willen; denn der Anführer der Räuber verfolgt mich schon jetzt mit seiner Zudringlichkeit. In diesem Haus gönnte man mir einige Stunden Ruhe. Ich benutze Sie, um diese Zeilen zu schreiben. Vielleicht fallen Sie in die Hände eines Menschen, der um die Belohnung willen Sie abgibt. Wenigstens können Sie - wenn es zu spät ist, mich zu retten - Kunde von meinem Schicksal geben. Man führt mich auf den Monte Vittore, wie ich aus den Gesprächen der Räuber entnehme. Leben Sie wohl - ich weiß, wenn es sein muß, zu sterben. Adelaide Seymour.“ Der Brief war an den Vikar Hunter gerichtet, abzugeben im englischen Generalkonsulat zu Rom, gegen eine Belohnung von hundert Lire. Alle standen verstummt von dem neuen Schlag. „Es ist hart für ihn“, sagte endlich der Kornett Pond mit einer Kopfbewegung zum Vikar hin. „Im Augenblick, wo er seine Braut zu finden hofft, sie zu verlieren.“
„Seine Braut? - Lady Adelaide die Braut -“ Die Stimme Kapitän Grimaldis versagte; seine Hand legte sich wie eine Eisenklammer um den Arm des jungen Mannes. „Ist Ihnen das unbekannt, Sir?“ fragte der junge Ward, unwillig über den rauhen Griff. „Meine Verwandten sind mit der Zustimmung meines Vaters verlobt. Master Hunter machte den Weg mit uns, um sich die Gattin zu holen.“ „Seine Braut! - Auch das Letzte ist verloren!“ Dieser leise Schmerzensruf eines gebrochenen Herzens war von keinem fremden Ohr verstanden worden. „Wir müssen den Österreichern zuerst vom Raub der Dame Kenntnis geben!“ rief Fähnrich Sanders. „Sie haben recht, Sir“, sagte Kapitän Grimaldi. Ein Augenblick hatte genügt, ihm wenigstens die äußere Fassung wiederzugeben: „Aber das allein würde hier wenig helfen; die Lady würde vorläufig ohne Schutz in den Händen der Räuber bleiben. Sie könnten leicht ihre Beute in die Abruzzen führen, ehe die Soldaten sie erreichen. Nur List und ein kühnes Wagnis können hier helfen.“ Er wandte sich, selber im Innersten tief erschüttert, zu Hunter. „Ermannen Sie sich, mein Freund! - Die Schläge des Schicksals dürfen den Mann und den Diener Gottes nicht zu Boden werfen. Es gilt, alle Kräfte der Seele zu sammeln und dem Unglück die Stirn zu bieten. Fassen Sie sich, Richard. Geben Sie diesen Herren ein Beispiel! Nicht Sie allein hat dieser Schlag betroffen.“ Der Vikar warf sich an seine Brust; Grimaldi führte ihn in das Nebengemach.
„Ein Wort mit Ihnen allein“, sagte er ernst. „Lady Adelaide, Ihre Verwandte, ist jetzt Ihre Braut? - Sie nannten mir früher den Namen Ihrer Verlobten nicht. Sie lieben die Lady . . .“ Er stockte, als würge ihm eine Hand die Kehle. „Von ganzer Seele, mein Freund! - Aber ich begreife nicht . . .“ „Noch eine Frage“, unterbrach ihn heiser Grimaldi. „Lady Adelaide hat sich - selber Ihnen verlobt - und erwidert Ihre Liebe?“ „Unsere Verlobung ist auf gegenseitige Achtung und Neigung gebaut. Meine Liebe gehörte ihr schon früher, als ich in Korfu lebte; doch fand ich keine Gelegenheit, sie auszusprechen. Jetzt hat mein Oheim gegen mich den Wunsch geäußert. Und als ich Adelaide meine Hand antrug, nahm sie sie an. Sie selber wünschte, daß ich nach Indien gehe. - Doch erklären Sie mir . . .“ „Später, mein Freund.“ wehrte Kapitän Grimaldi. Seine Hand legte sich einen Augenblick über die Augen. „Jetzt lassen Sie uns ans Handeln denken. Bei Gott, wenn mit dem Opfer meines Lebens die Rettung Ihrer Braut erkauft werden kann, so soll sie frei sein, bevor die Sonne noch einmal untersinkt! Lassen Sie uns zu den andern gehen - jede Minute ist kostbar.“ Er ging in die Halle zurück und berührte den Uskoken an der Schulter. „Danilos Petrowitsch,“ sagte er, „du sprachst vorhin von dem Raub einer Frau, den Mamiami jenseits der Grenze verübt hat. Erzähle mir, was dir davon bekannt ist!“ „Laß den Schurken Jacopo herführen, Markos“, sagte der Korsar. „Er weiß mehr als ich von der
Geschichte. Er kann dir alle Auskunft geben. Mamiami beabsichtigte einen Zug ins Neapolitanische, als wir sein Lager verließen. Er wollte das Haus eines Nobile, unfern Civitella, überfallen. Er ist ein Junak1, aber er liebt die Weiber zu sehr. Er sprach viel von der Schönheit einer Frau, die er gelobt hat, zu entführen. Ich sagte dir, daß die Hälfte der Bande mit ihm ist. - Da bringen sie den Schurken Jacopo! - Mögen seine Väter verdammt sein! Jage ihm Furcht für sein elendes Leben ein, Capitano, und er verrät seine Seele zehnmal in einem Atemzug den Unterirdischen!“ Auf einen Wink Grimaldis hatten MacAllan, der Diener des Geistlichen, und ein anderer den geknebelten Wirt herbeigeschleppt. Der Vikar packte ihn bei der Schulter und schüttelte ihn. „Mann,“ schrie er, „rede, sprich! Was ist aus meiner Braut geworden - ihr Teufel habt sie diesen Morgen hier gefangen gehalten!“ „Heilige Madonna“, wimmerte der Alte. - „Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht, Exzellenza. Wenn dieser Verräter Euch eine Unwahrheit aufgebunden hat,“ - er deutete auf den Uskoken - „so glaubt ihm nicht. Er ist ein lügnerischer Grieche, ein Seeräuber!“ Grimaldi schob den Geistlichen sanft beiseite. „Lassen Sie mich ihm die Fragen vorlegen, die Zeit drängt.“ Er hielt dem Wirt den Brief der Lady vor. „Dies Blatt hat die Lady hier zu verbergen gewußt. Wir sind von dem Raub Mamiamis 1
Ein Tapferer
unterrichtet. - Wann ist die Signora durch die Banditen von hier fortgeführt worden?“ „Exzellenza fragen mich unbekannte Dinge. Bei der Madonna, ich weiß von keiner Frau, als von dem alten Drachen, meinem eigenen Weib!“ Der Kapitän zog ruhig sein Terzerol aus der Brusttasche, spannte den Hahn und legte die Mündung dicht an die Schläfe des Alten. „Treten Sie einen Augenblick zurück, meine Herren,“ sagte er kalt, „damit Sie das Blut dieses Elenden nicht beschmutzt. - Antworte! - Wenn ich drei gezählt habe, zerschmettert die Kugel dein Gehirn! - Eins -“ „Exzellenza,“ stotterte der Alte, „halten Sie ein! Ich will sagen, was ich weiß. - Aber bei der Jungfrau und allen Heiligen, ich bin unschuldig! Heute morgen, um die achte Stunde -“ „Wohin ist die Signora gebracht? War sie die einzige Gefangene?“ „Ganz allein, Signor - die Männer haben sie nach dem Monte Vittore geführt, diesseits Castelluccio. Von dort können Sie die unzugänglichen Felsen sehen.“ „Weißt du sonst noch etwas? - Wurde die Lady in deiner Gegenwart beleidigt?“ „Ach, Exzellenza verzeihen, die Signora hat eine Art zu sprechen, daß auch die Wildesten vor ihr Scheu hatten. Selbst Pepe begegnete ihr mit Höflichkeit. Hätte ich nur gewußt, daß die schöne Signora Exzellenzas Braut ist...“ Der Kapitän unterbrach ihn. „Stopfen Sie dem Wicht den Knebel wieder in den Mund und werfen Sie ihn zu seinem Weib!“
Trotz Jacopos Bitten und Sträuben wurde der Befehl vollzogen. Grimaldi wandte sich zu Hunter. „Einer von uns muß in das Gebirge, und den Spuren der Räuber bis zum Vittore folgen. Er muß sich unter irgendeinem Vorwand an die Bande anschließen, um Lady Adelaide einstweilen Schutz gewähren zu können. Dann muß er versuchen, ihre Flucht möglich zu machen, oder die Banditen an einen Ort zu locken, wo sie leicht angegriffen werden können. - Wollen Sie mir diesen Gang vertrauen? Sie selber würden die Rettung nur erschweren, selbst wenn es Ihnen gelingen sollte, bis zu Ihrer Braut zu dringen!“ Richard Hunter sah ihn fast entsetzt an. „Wie, Sie allein - Sie wollen...“ Eiserne Entschlossenheit malte sich auf Grimaldis Antlitz. „Sie kennen mich. Sie wissen, daß nur der Tod mich von der Erreichung dessen abhalten wird, was ich mir vorgenommen habe. Merken Sie jetzt auf jedes meiner Worte - Sie und diese Herren, die mich in diesem Augenblick wohl nicht mehr zurückhalten werden.“ Einen nach dem andern faßte sein Blick. Keiner der jungen Engländer wagte eine Bewegung. „Wenn es Ihnen gelingt, mit Hilfe des Militärs der drohenden Gefahr zu entrinnen,“ fuhr Grimaldi langsam und deutlich fort, „so setzen Sie den kommandierenden Offizier, wenn er von dem frechen Streich Mamiamis noch keine Kunde hat, sofort von dem Raub in Kenntnis. Fordern Sie ihn auf, auch die päpstlichen Abteilungen in der Nähe aufzubieten und den Fuß des Vittore von allen Seiten einzuschließen.
Begeben Sie sich mit den Soldaten in die Osteria, in der wir uns heute nachmittag getroffen haben. Teilen Sie dem Wirt alles mit, was vorgefallen ist. Er ist ein alter Soldat, diente in Rom in meiner Kompagnie und kennt alle Schleichwege des Gebirges. Er wird Ihnen die beste Anweisung geben, die Pässe und Zugänge des Vittore zu besetzen, wenn Sie ihm sagen, ich verlangte diesen Dienst von ihm. Gelingt uns die Flucht, so bringe ich Lady Adelaide bis zur Osteria. Hören Sie dagegen bis morgen um Mitternacht nichts von mir, so ist mir ein Unglück begegnet. Dann ist die Gewalt der Waffen das einzige, was Sie zur Rettung Lady Adelaides noch versuchen können. Jetzt beendigen Sie rasch den Brief, er muß fort nach Monako, wenn Sie nicht alle Hoffnung auf Beistand aufgeben wollen.“ Der Vikar reichte ihm die Hand. „Gott segne Sie, Freund“, sagte er tief bewegt. „Sie retten mein Leben zum zweitenmal. Ich werde Ihnen beweisen, daß Sie sich nicht in mir irren.“ Er setzte sich zum Schreiben nieder. „Aber wer bringt die Botschaft nach Monako?“ fragte der Fähnrich Sanders. „Sie tun recht, mich daran zu erinnern“, bemerkte der Kapitän. „Es ist keine gefahrlose Aufgabe. Es erfordert Besonnenheit und Mut. Wer von Ihnen getraut sich, sie zu übernehmen?“ Er blickte auffordernd umher - aber alle schwiegen zögernd. Keiner mochte gern den, wenn auch geringen, Schutz des Hauses und der Gesellschaft verlassen.
„So gehe ich selber!“ sagte entschlossen der Vikar und faltete das Blatt. „Unterrichten Sie meinen Begleiter - vor ein Uhr bin ich zurück.“ MacAllan, sein schottischer Diener, trat ihm entgegen. „Nein, Hochwürden,“ sagte er entschlossen, „Sie dürfen diese jungen Herren nicht allein lassen. Auf Ihre Ruhe und Vorsicht allein ist ihre Hoffnung gebaut. Begegnete Ihnen ein Unglück, so wären wir alle verloren. Geben Sie mir den Brief; wenn es der Mensch da ehrlich mit uns meint und das Wort dieses Herrn erfüllt, soll er richtig überliefert werden.“ Alle dankten dem Diener und sahen auf den Kapitän. Grimaldi wandte sich an den Korsaren, der mürrisch und stumm verharrte. „Danilos Petrowitsch!“ „Was willst du von mir?“ „Übergib dem Mann hier deine Waffen?“ „Wozu, Markos?“ „Du wirst es erfahren. - Willst du das Wort deines Bruders zum Atem der Winde, zum Spott der Engländer machen?“ „Verflucht seien sie! - Nie soll ein Inglese zu sagen wagen, daß Markos Grimaldi unter den Uskoken der See oder der Gebirge keinen gefunden hat, der sein Wort lösen wollte.“ Er stieß den Dolch und die Pistolen, die auf dem Boden lagen, mit dem Fuß nach MacAllan hin. „Nehmt sie an Euch!“ fuhr der Kapitän zu dem Schotten fort. „Danilos ist jetzt unbewaffnet, in Eurer Gewalt, wenn Ihr Verrat fürchtet. Ihr werdet
sie ihm zurückgeben, wenn er Euch bis zum ersten Posten der Soldaten geleitet hat.“ Er wandte sich wieder an den Albanesen. „Du hast gehört, Danilos, daß ich diesen Fremden mein Versprechen verpfändet habe, ihren Boten sicher nach Monako zu schaffen. Du hast auch vernommen, wohin ich will. Hast du deinen Auftrag erfüllt, so eile nach dem Monte Vittore, um mich dort zu treffen. Ich könnte deiner bedürfen. Der Schutz der heiligen Jungfrau möge uns auf unseren Wegen begleiten.“ „Dieser Mann“, sagte der Korsar, „wird nach Monako kommen, oder Danilos wird ein Toter sein!“ Kapitän Grimaldi ließ sich von Danilos den Weg nach dem Vittore und den Zugang des Schlupfwinkels der Banditen beschreiben. Danilos nannte ihm die Namen seiner beiden Begleiter, die er in der Gesellschaft des russischen Offiziers dort zurückgelassen hatte, und das Paßwort der Banditen. Dann machten sich die drei fertig, den gefährlichen Weg anzutreten. Der Kapitän steckte seine Pistolen und ein Messer zu sich. MacAllan nahm die Waffen des Uskoken. Sie waren bereit. Schweigend, mit ernsten Gesichtern, umgab sie die Gesellschaft. „Meine Herren,“ sagte Kapitän Grimaldi mit gehobener Stimme, „der Zufall hat Sie zu Mitwissern meines Geheimnisses gemacht. Ich bitte Sie, wenigstens so lange darüber zu schweigen, bis ich die Pflicht, die ich übernahm,
gelöst habe. In zwei Tagen trennt uns dann hoffentlich das Meer oder - der Tod.“ Er wies nach einer großen hölzernen Uhr neben dem Kamin. „Sie haben anderthalb Stunden Zeit. Die Husaren können noch vor ein Uhr hier sein. Sie sind dann gerettet. Gebe der Himmel, daß sie zur rechten Zeit eintreffen. - Dennoch rate ich Ihnen, auch vorher keine Maßregel zu Ihrer Sicherheit zu versäumen. Machen Sie sich zum Kampf bereit. Munition und Waffen finden Sie in den Kellern dieses Hauses, wie mir Danilos sagt. Mit Mut und Glück können Sie sich gewiß bis zum Morgen halten. - Richard, leben Sie wohl! - Der Himmel, der über allem wacht, wird gnädig sein und Ihre Braut beschützen! - Machen Sie Lady Adelaide glücklich im fernen Land - recht glücklich - “ seine Stimme brach. Er sah Richard Hunter glühend an. „In diesem Leben sehen wir uns wohl nicht wieder. - Darum - leben Sie wohl! - Und nun - Danilos - vorwärts!“ Der Vikar drückte ihn schweigend an die Brust. Dann winkte der Kapitän allen, bis auf den Diener, zurückzubleiben. Die drei kühnen Abenteurer stiegen durch die Falltür zu der Pforte hinab, die an der hintern Grundmauer des Hauses einen unbelauschten Ausgang in das Gebirge öffnete. Der Mond warf sein bleiches Licht über Felsen und Tal und zeichnete den Schatten des alten Raubnestes in dunkler Masse bis zum nächsten Buschwerk. In seinem Schutz erreichten die drei mit großer Vorsicht den Wald. Grimaldi drückte Danilos die Hand. Sie trennten sich und schlugen verschiedene Richtungen in das wilde Gebirge ein.
Aus dem Haus schaute ihnen ein blasses Gesicht nach.
Der Kampf um den Turm Die Uhr schlug drei Viertel auf Mitternacht. Wenig über eine Stunde noch - dann entschied sich das Schicksal der Zurückbleibenden. Richard Hunter ermunterte seine Gefährten, dem Rat des Kapitäns zu folgen. Er legte überall mit Hand ans Werk. Die kleine Pforte an der Hinterwand und das äußere Hoftor verschlossen sie sorgfältig und häuften Holzblöcke und Gerät davor an. Dann verrammelte man die Fenster des Erdgeschosses mit Möbeln und Holz. Die beiden jungen Offiziere zwangen durch Todesdrohungen den Wirt Jacopo, ihnen den Zugang der Keller zu zeigen. Dort fanden sie die Beute der Banditen von ihren Raubzügen, die ihnen die Habsucht ihres Hehlers abgenommen; auch Waffen und Pulver, und bald war jeder mit einem Gewehr oder mit Pistolen und Säbel bewaffnet. Alle zeigten Eifer und Mut nur die beiden italienischen Diener beteten in ihrer Herzensangst ein Ave um das andere und verwünschten die nächtliche Reise. Als der Vikar in der Küchenhalle seine kleine Schar musterte, schlug die Uhr die erste Viertelstunde nach Mitternacht. Alle Gesichter wurden bleicher bei dem einfachen Ton. „Noch eine halbe Stunde“, sagte Hunter. „Dann kann Hilfe hier sein! - Mut und Besonnenheit, meine Lieben! - Wir wollen unsere Posten verteilen.“
Die beiden jungen Soldaten konnten, obgleich es ihnen nicht an Mut fehlte, hier wenig helfen; die Anordnungen blieben dem älteren, besonneneren Mann allein überlassen. Er traf sie mit Umsicht für den Fall, daß irgendein Hindernis die Ankunft der Soldaten verzögern sollte, und es zum Kampf käme. Die beiden Italiener, einen der Bedienten und den Kornett Pond postierte er im oberen Stock. Von dort sollten sie Feuer auf die Angreifenden unterhalten. Die anderen Diener und seine Reisegefährten wurden im Erdgeschoß, von wo man die Mauer und das Tor bestreichen konnte, aufgestellt. Die Zellentüren wurden ausgehoben oder eingeschlagen, um nirgends behindert zu sein. Darüber war mehr als eine Viertelstunde vergangen - die Uhr schlug dreimal - drei Viertel nach Mitternacht. Gespannt lauschten alle in die Nacht. Der Wind strich durch die Berge; Felsen und Bäume warfen ihre Schatten; klar ließen die Mondstrahlen die ganze Umgebung des Hauses erkennen - aber kein Laut ließ sich von der Richtung der Straße nach Monako vernehmen. Heftiger pochten die Herzen. Jede Hand faßte krampfhafter die Waffe; nur der Pendel der Uhr tickte ruhig seinen Takt. Minute auf Minute verrann - kein Ton, keine schmetternde Fanfare verkündete das Nahen der Ersehnten. Der Vikar rief die Männer noch einmal zusammen. Auf allen Gesichtern malte sich quälendste Spannung. „Meine Freunde,“ sagte Hunter mit Fassung, „es ist kein Zweifel mehr, daß irgendein unglücklicher
Zufall unsern Boten verhindert oder verspätet hat. Verlieren wir die Hoffnung nicht. Noch kann die Hilfe zu rechter Zeit eintreffen; aber laßt uns auch vorbereitet sein auf alles. Beweisen wir, daß wir Männer und Briten sind! - Das Haus ist fest. Tut ein jeder seine Schuldigkeit, so können wir im schlimmsten Fall einen Angriff abschlagen. Vor allem aber laßt uns auf Gott, den Allmächtigen vertrauen und seinen Beistand erbitten -- er ist besser, als jede irdische Hilfe.“ Auf dem Boden der Halle, der vielleicht bald von ihrem Blut getränkt wurde, kniete der junge Geistliche nieder. Ein kurzes, heißes Gebet stieg zum Himmel auf. Dann nahm er seine Waffen; der Diener der Kirche wich dem tapferen, unerschrockenen Kämpfer. „Jetzt - auf unsere Posten, meine Freunde! -Haltet euch wie Männer!“ Die Lampe in der Halle war gelöscht worden. Der weiße Schein des hochstehenden Mondes verbreitete Helle genug und ließ auch in der Umgebung des Hauses jeden Gegenstand deutlich erkennen. Den Fähnrich Sanders und seinen Vetter behielt der Vikar in seiner Nähe. Die übrigen begaben sich auf ihre Plätze. Tiefer, stiller Friede ruhte auf dem Gebirge. Da schlug die Uhr voll, in hellen Schlägen. Jedes Herz zählte pochend die einzelnen Klänge. Kein Laut. Man hätte ein Blatt fallen hören können in dem alten Turm.
Horch -- ein Pfeifen - entfernt, aber deutlich. Eine Minute, lang und bang - das Pfeifen wiederholte sich - näher - es konnte kein Zweifel mehr sein . . . Am Waldesrand entlang von den Felsenschluchten her - bewegten sich dunkle Gestalten im silbernen Mondesglanz. Der Vikar drückte den Freunden die Hand. „Sie sind da und die Hilfe bleibt aus. Jetzt gilt es! - Gott möge uns beistehen!“ Immer mehr finstere Schatten tauchten, Gespenstern gleich, zwischen Felsen und Bäumen auf und sammelten sich. Vorsichtig kam die dichtgedrängte Schar näher und näher dem Hause zu, in dem sie ihre Opfer sorglos wähnten. Am Hoftor zauderten sie. Der Vikar zählte; es waren sechsundzwanzig Mann, wie Danilos, der Korsar, angegeben hatte; lauter verwegene Gesellen, bis an die Zähne bewaffnet. Nun trennte sieh einer der Banditen von den andern, um die Hofmauer nach der Hinterseite des Hauses zu dem Pförtchen zu umschleichen. Die Engländer hörten das verabredete Zeichen: einen Rabenschrei. Dreimal wiederholte es sich, ungeduldiger und lauter. Aber die Pforte blieb verschlossen. Nichts regte sich im Turm. Auch das leise Klopfen an der Tür blieb unbeachtet. Verdutzt schlich der Bandit zurück und berichtete den Mißerfolg seinen Gefährten. Die Männer drängten sich um den Anführer. Eifrig und flüsternd berieten sie. An der hohen Gestalt, den eckigen
Gebärden und dem Tuch um den linken Arm konnte der Vikar Antonio Pescare, ihren verräterischen Führer, wiedererkennen. Der Vikar winkte seinen Gefährten, sich bereitzuhalten. „Warten Sie alle,“ sagte er leise, „bis ich oben das Zeichen zum Feuern gebe.“ Er eilte nach dem oberen Stock. Kornett Pond vermochte kaum seine Ungeduld zu zügeln. Es zuckte ihm in den Fingern, in den dichten Haufen der Banditen einen Schuß zu tun. Ihre Beratung schien jetzt zu Ende. Antonio Pescare, der Führer, trat an das Tor. Die Bedrohten legten lautlos Büchsen und Flinten in die Fenster. Lauter und lauter klopfte der Bandit. Endlich donnerten zwanzig Fäuste an das Hoftor. „Pitoccone1!“ fluchte laut die Stimme Antonios. „Wo steckt der Kerl? Warum öffnet er nicht? - Die Brut ist ausgeflogen - der der Schuft von Wirt hat uns verraten! - Über die Mauer, Kameraden schlagt die Tür ein, damit wir sehen, was geschehen ist!“ Die Büchsenkolben krachten gegen das Tor. Über die Hofmauer hoben sich dunkle Gestalten. Zweimal legte der Vikar die Flinte an und zielte. Jedesmal setzte er sie wieder ab; so gefährlich die Lage war, er konnte es noch nicht über sich gewinnen, auf einen Menschen zu schießen. Jetzt sprang einer der Briganten von der Mauer in den Hof - fünf andere saßen schon oben, zum Sprung bereit. 1
Schurke
Richard Hunter fühlte, daß es ein Verbrechen gegen das eigene und das Leben der Freunde gewesen wäre, noch länger zu zögern. Laut und deutlich, auch im unteren Raum hörbar, erscholl sein Befehl. „Feuer!“ Neun Gewehre sandten ihre Kugeln. Der Kerl im Hof stürzte zusammen; Fähnrich Sanders hatte ihn durch den Kopf geschossen. Ein anderer warf die Arme in die Luft und fiel tot von der Mauer nach außen. Zwei waren verwundet und glitten mit ihren Gefährten in den Schutz der Wand. Ein heiseres Geschrei der Banditen antwortete dieser er-sten glücklichen Abwehr der Bedrohten. Pescare stieß zornige Flüche aus und ermunterte seine Leute zum Angriff. Flintenkugeln krachten gegen das Gemäuer des Turmes und in die Verrammelung der Fenster. Aber da alle nur aufs Geratewohl gefeuert wurden, verfehlten sie ihr Ziel. Fünf Briganten rannten um die Mauer nach der Hinterpforte des Turmes und versuchten, sie zu sprengen. Aber Riegel und Querbalken spotteten aller Anstrengungen. Die Schüsse der Belagerten aus den oberen Fenstern jagten sie zurück. Ein unregelmäßiges Feuern entspann sich. In allen möglichen Stellungen suchten sich die Banditen zu decken, denn sie waren gefährdeter als ihre Gegner im Schutz des Turms. Wo aus einem der Fenster ein Schuß aufblitzte, schlugen sofort die Kugeln der Banditen ein. Hunter eilte von einem zum andern.
„Vorwärts! Mut!“ Er riet ihnen, langsam und ruhig zu schießen und jeden aufs Korn zu nehmen, der sich der Hofmauer nahte oder ihren Schutz verließ. Die beiden Italiener, auf deren Mut und Hilfe man am wenigsten vertraut hatte, wirkten am glücklichsten durch ihre Schüsse aus den obersten Fenstern. Hunter erkannte, dass noch mehrere der Banditen verwundet waren; auch eine dritte Leiche lag auf dem vom Mond beschienenen Grund. Antonio Pescare stand gedeckt durch das Tor, bisher allen Kugeln glücklich entgangen. Seine Wut steigerte sich mit jedem Schuß; aber er vergaß nicht, seinen Leuten die nötige Vorsicht anzubefehlen. Er gab das Ziel jedesmal an, und binnen kurzem waren auch zwei Briten leicht verwundet. Indes die Banditen von vorn das Schießen unterhielten, erklang plötzlich ein Hilferuf aus dem Erdgeschoß. Der Vikar ließ die beiden Italiener an den oberen Fenstern zurück und eilte die Treppe hinunter. Zu seinem Entsetzen sah er die Räuber Faust an Faust mit den Seinen an den Seitenfenstern kämpfen. Einer auf des anderen Schultern, versuchten sie den Eingang zu erzwingen. Ihre Kolben zertrümmerten das Bollwerk aus Hausgeräten. Lange Dolche und Messer stießen in die Öffnungen, Pistolenschüsse knallten. Die Engländer wehrten sich verbissen. Niemand achtete der Wunden, wenn es nur gelang, sie dem Gegner zu vergelten. Der dichte Pulverdampf erhöhte noch die Dunkelheit im Innern. Ohne die Gegner zu erkennen, rangen sie mit den
emporklimmenden Banditen und suchten sie zurückzuwerfen. Der Vikar sprang heran und stürzte durch einen kräftigen Kolbenstoß einen Räuber, der auf dem Fensterbrett kniete, herab. Da drang ein röchelnder Ton durch den Lärm des Kampfes, und ein frohlockender Ruf in italienischer Sprache erklang. Hunter warf sich vom Fenster in die Halle zurück und nach der Kammer, woher der Laut zu kommen schien. Der Mond leuchtete durch das offene Fenster, dessen schützendes Bollwerk niedergerissen und eingestoßen war. Am Boden lag in Todeszuckungen der junge Flinton. Aus einer breiten, klaffenden Wunde über der Gurgel strömte das Blut. Ein kräftiger Bandit stand schon im Gemach, nach dem Fenster gebückt, um einem Kameraden hereinzuhelfen. Der Schreckensruf des Vikars riß ihn herum. Im Nu stürzte er sich auf ihn und stieß mit dem Dolch nach seiner Brust. Hunter fühlte einen scharfen, schneidenden Schmerz zwischen Brust und Arm. Aber der Stoß hatte ihn nicht gefährlich verwundet. Er schleuderte den Banditen mit aller Kraft von sich, sprang zurück und hob die Flinte. Der Schuß krachte dem Räuber ins Gesicht. Mit zerschmettertem Kopf brach er schwer auf sein Opfer nieder. Ein Kolbenschlag traf die sich am Fenster festklammernde Hand des zweiten Banditen - er ließ mit einem Aufschrei los und verlor den Halt.
Unbekümmert um die Gefahr kniete der Vikar neben dem jungen Engländer nieder und versuchte, das Blut zu stillen. Vergeblich - die Wunde war zu tief, als daß menschliche Macht vermocht hätte, das fliehende Leben zu halten. Mit jedem Röcheln des Sterbenden quollen Ströme von Blut aus der durchschnittenen Kehle. Der junge Körper zuckte noch einigemal und streckte sich dann. In Hunters Schmerz jubelte der Siegesruf seiner Gefährten; die Banditen waren auf allen Punkten glücklich zurückgeworfen und flohen, heulend vor Wut, mit ihren Verwundeten nach dem Rand des Waldes. Tief ergriffen teilte der Vikar den Seinen den Fall ihres Gefährten mit. Ein kalter Schauer überlief die erhitzten, aufgeregten Kämpfer. Einen Augenblick hockte das Grauen in ihrem Nacken wie ein Alp ... Die Entmutigung der Räuber und die Kampfespause benutzend, ließ Hunter die zerstörten Verteidigungen wieder herstellen und verstärken. Die Gewehre wurden wieder geladen. Einer der Diener, der früher in England bei einem Wundarzt in Dienst gestanden und einige Handgriffe der Heilkunst erlernt hatte, verband die Wunden. Erst zuletzt litt es der Vikar, daß er die seine, die schmerzhaft, aber nicht gefährlich war, nachsah. Der Stoß des Banditen war an den Rippen abgeglitten, und hatte nur das Fleisch der Brustwand und des linken Oberarms zerschnitten. Eine Stunde war seit dem ersten Angriff vergangen. - Niemand rechnete jetzt noch auf die
Hilfe des österreichischen Militärs. Aber man hoffte, die Banditen durch den starken Verlust von jedem neuen Versuch abgeschreckt zu haben. Wagten sie indes, den Angriff zu erneuern, glaubten sich die Belagerten doch bis zum Anbruch des Tages verteidigen zu können. Da machte Fähnrich Sanders auf die Gefahr aufmerksam, die ihnen der Untergang des Mondes und die dadurch wieder eintretende Dunkelheit bringen konnte. Der Vikar erkannte das Zutreffende dieses Einwandes. Er wies alle sofort wieder an ihre Posten und empfahl den Wachen an den oberen Fenstern verdoppelte Aufmerksamkeit. Als der letzte Strahl des Mondes hinter den hohen Fichten verschwunden war, verkündete einer der luchsäugigen Italiener, daß ein neuer Angriff bevorstehe. Im Sternenschimmer beobachtete der Vikar vom oberen Stock eine dunkle Masse, die sich über den Talgrund bewegte und einen großen Gegenstand mitschleppte. In Flintenschußweite trennte sich die Masse - ein Teil - der auf etwa achtzehn Mann verminderten Schar blieb um den dunklen Gegenstand versammelt; die anderen zerstreuten sich um den Turm. „Ich bin neugierig, was die Schurken beabsichtigen!“ sagte Fähnrich Sanders. „Ich sehe glimmende Funken - wie Lunten“, erwiderte der Vikar. - „Sie scheinen Feuer zu schlagen.“ „Damned - die Burschen zünden Fackeln an, damit wir besser auf sie zielen können“, rief
Sanders. Er streckte sein Gewehr aus dem Fenster. „Um Gottes willen - langsam und vorsichtig, Stuart“, warnte der Vikar. - „Schießen Sie nicht eher, als bis sie näher kommen und Sie Ihres Schusses gewiß sind. - Die Sache kommt mir unheimlich vor. - Vetter Ward, kommen Sie mit dem Kornett hier herauf. Wir werden alle guten Schützen brauchen!“ Noch ehe die jungen Männer ihre neuen Posten einnehmen konnten, krachten Flintenschüsse gegen die Fenster. Mehrere der Verteidiger ließen sich verleiten, das Feuer zu erwidern. Zugleich liefen die einzelnen Banditen, ihre Fackeln schwingend, auf das Haus zu. Die Wachen, die ihre Schüsse aufgespart, feuerten. Einer der Fackelträger fiel. Die anderen gelangten glücklich vor den Turm und schleuderten ihre Brände - große Kienäste, mit Zeuglappen umwickelt - gegen das alte, moosbewachsene Schindeldach des Gebäudes. „Schießt, schießt auf die Mordbrenner!“ schrie der Vikar. „Freunde, es gilt euer Leben!“ Aber das Vorgehen des Feindes war diesmal sehr geschickt berechnet. Das Feuer der Verteidiger, zerstreut und unsicher durch die Trennung und die raschen Bewegungen der Angreifer hatte sie nicht beirrt. Während alle Aufmerksamkeit der Engländer auf die Männer mit den Zündfackeln gerichtet gewesen war, gelang es dem größeren Teil der Banditen, mit ihrer Last einem schweren Baumstamm - in den Schutz des Torwegs zu kommen.
„Die Halunken! - Gott verdamm' ihre Augen!“ rief der Kornett. „Sie haben uns den Vorteil abgewonnen! Aber ich hoffe, es nützt ihnen wenig; widersteht das Tor nicht, so sind sie im Hof unseren Kugeln frei ausgesetzt, und wir können sie niederschießen wie ein Volk Hühner!“ „Aber das Dach - wenn es Feuer fängt!“ erwiderte Hunter besorgt. „Wir können nicht hinauf, um zu löschen!“ „Bah! - Das Hundewetter von gestern abend muß es durch und durch getränkt haben. Ihre Brände müssen verlöschen!“ Leider täuschte diese Hoffnung. Der Wolkenbruch hatte die Gegend nur wenig berührt und der scharfe Gebirgswind hatte auch die Nässe längst wieder ausgetrocknet. Das Turmdach bestand aus Fichtenbalken und Brettern, die in der warmen italienischen Sonne längst bis zum Springen zusammengezogen waren. Ihre Moosbekleidung sog wie Schwamm jeden Funken auf. Schon nach wenigen Minuten verbreitete sich ein dichter Rauch durch das obere Geschoß. Bald knisterte und loderte es über ihren Köpfen. „Allmächtiger Gott!“ rief der Vikar - „das Dach ist wirklich in Brand geraten! Die Mordbrenner haben ihren Zweck erreicht! - Wir sind verloren!“ An einer Stelle flammte das Holzwerk lichterloh auf. Wildes Jubelgeschrei überzeugte die Belagerten, daß die Banditen wußten: trotz aller tapferen Gegenwehr mußte ihnen jetzt die Beute zufallen. Sie hatten sich in den Schutz der Hofmauer
zurückgezogen. Bald erdröhnten gegen das äußere Tor die Stöße des Baumstammes. Verzweiflung malte sich auf den Gesichtern der Bedrängten. Achtlos ließen die meisten ihre Waffen sinken. Im oberen Stock krachten die Balken. Der niederstürzende Feuerregen und der erstickende Dampf nötigte alle, sich in den unteren Raum zurückzuziehen. Durch die starken Gewölbe waren sie hier vor den einstürzenden Balken vorerst gesichert. Aber der Qualm und die Hitze machten bald auch diese Räume unerträglich, da die Türen vorhin ausgebrochen und eingeschlagen worden waren. Sie waren genötigt, die Bollwerke vor den Fenstern abzureißen und die Scheiben einzustoßen, um dem Dampf einen Ausweg zu gewähren. Der Vikar umfaßte krampfhaft den Griff seines Säbels. Vergebens sandte er seinen suchenden Blick umher; überall drohte Tod und Verderben. Er fühlte, es galt zu sterben. Seine Gedanken flohen hin zu der bedrängten Braut. Ein stummes Gebet stieg aus seinem Herzen auf. Die jungen Männer und die Diener drängten sich um ihn. Jeder Blick hing an seinen Lippen - er sollte raten - helfen - führen. „Freunde,“ sagte er, tief erschüttert, nicht helfen zu können, „sterben müssen wir, wenn Gott nicht ein Wunder tut. Gnade von den Banditen zu hoffen, wäre nach unserem Widerstand Torheit. Laßt uns bis zum letzten Augenblick den Mut nicht verlieren. Kämpfen und fallen wir wie Männer. Eine einzige Aussicht noch bleibt uns. In dieser Glut können wir
nicht länger atmen - wir müssen den Turm verlassen und uns im Hof zu halten suchen. Laßt uns den Schuppen gewinnen, wo die Pferde und Maultiere stehen. Wenn das Tor zusammenbricht, gelingt es uns vielleicht, im Sattel - den Säbel in der Faust - unsere Verfolger zu überreiten!“ Niemand wußte besseren Rat in der verzweifelten Lage. Die italienischen Diener luden die Leiche des jungen Flinton, die Hunter nicht den Flammen überlassen wollte, auf den Rücken. „Haltet fest zusammen“, mahnte der Vikar. „Braucht die Pistolen nur in der Nähe!“ So, dicht aneinandergedrängt, Pistole und Säbel in der Faust, traten sie an die Haustür. Die Riegel wurden zurückgestoßen. Die Tür flog auf. Hunter voran, stürzten sie in den Hof. Aber da krachte auch das Hoftor ein, das so lange den Stößen der Banditen widerstanden hatte. Über die Trümmer hinweg brauste die jubelnde, wilde Räuberschar in den Hof - an der Spitze, seine Büchse schwingend, Antonio Pescare. „Drauf! - Gott helfe uns!“ rief Hunter laut. Den Säbel hoch, sprang er auf den Banditenführer zu. Pistolenschüsse knallten, Hiebe klirrten, gellendes Geheul mischte sich mit dem angstvollen Wiehern und Schreien der angebundenen Tiere. Über dem Kampfgewirr schlug die Feuersglut zum Nachthimmel auf und beleuchtete die Ringenden mit ihrem roten Schein. Antonio Pescare ließ den Kolben seiner schweren Büchse auf Hunter niedersausen. Hunter fing den Hieb glücklich mit dem Säbel auf; aber die Klinge zersplitterte bis zum Griff unter der
gewaltigen Wucht des Schlages. Waffenlos stand er im Kampfgetümmel. Mit teuflischem Lachen hob Pescare noch einmal die Büchse zum Schlag. Rasch entschlossen unterlief Hunter seinen Gegner und umfaßte ihn mit beiden Armen. Pescare ließ das Gewehr fallen und packte gleichfalls seinen Feind. In heißem Ringen bogen und wanden sich die Männer. Beiden war der linke Arm verwundet. Der leichte Verband löste sich, das Blut floß. Sie stießen und drängten sich, indes rings umher das Handgemenge in voller Wut tobte. Hunter setzte alle Kraft ein. Schwer stieß er den Atem aus, keuchte - die Zähne knirschend aufeinandergebissen - da strauchelte er über den Körper eines Erschossenen und fiel. Aber noch im Stürzen klammerte er sich fest an den Gegner und riß ihn mit sich zu Boden. Auf der Erde wälzten sie sich in erbittertem Kampf. Jeder bemüht, den anderen zu würgen oder sich von ihm zu befreien. Doch die Kräfte des Vikars schwanden vor dem eisernen Griff des Banditen. Es gelang Pescare, die rechte Hand an Hunters Kehle zu bringen. Er lag unter dem Räuber. Sein Knie drückte seine Brust. Dunkel flimmerte es vor seinen Augen - er wehrte sich nur noch machtlos mit der Rechten. Da fühlte seine Linke am Gürtel des Feindes etwas Hartes den Griff eines Messers. Mit einem verzweifelten Ruck hatte er es erfaßt und stieß die scharfe, dreischneidige Klinge zweimal in die Seite des Banditen. Ein warmer Blutstrom spritzte über ihn weg. Mit schrillem Schmerzgeheul brach der Räuber zusammen. Die gespannten Muskeln der
Faust öffneten sich vom Hals des Gegners. Mit ächzendem Fluch auf den Lippen wälzte er sich in seinem Blut. Der Vikar schüttelte die blutige Last ab und taumelte auf. Aber einer der Banditen, der seinen Anführer stürzen sah, schwang über dem halb Ohnmächtigen die Büchse zum Todesschlag. Hunter erkannte, daß er keinen Widerstand mehr leisten konnte. Sekundenlang zuckte sein Blick in die Runde - er sah keine Freundeshand, die ihm half - nur blitzende, blutige Mordmesser, erhobene Kolben, Rauch - Flammen . . . . . . Allmächtiger Gott! ... Ein letzter Aufschrei seiner Todesangst. Da - da - ! Rettung! Rettung! Trompeten schmetterten. Der Hurraruf österreichischer Reiter klang zu ihm herüber. Gleich rächenden Blitzstrahlen funkelten Husarensäbel im Flammenschein über den flüchtenden Räubern. Der Vikar hatte den vom plötzlichen Schreck geschwächten und abgleitenden Hieb seines Gegners mit dem Arm aufgefangen. Aber betäubt vom Schmerz und vom Blutverlust, stürzte er ohnmächtig zu Boden. Wie aus weiter Ferne nur hallte der Siegesruf seiner Gefährten und das letzte Kampfgeschrei der Banditen an seine Ohren. Als Hunter wieder zu sich kam, lag heller Sonnenschein freundlich über dem düsteren Tal. Neben ihm, seinen Kopf im Schoß haltend, kniete MacAllan, sein schottischer Diener. Um ihn her ruhten die Gefährten mit verbundenen Köpfen,
Armen und Beinen. Nur Hugh Flinton und einer der italienischen Diener fehlten - ihre Leichen lagen friedlich im Hof neben denen der gefallenen Räuber. Der Turm war ausgebrannt. Nur die leeren Mauern standen noch. Das zusammenstürzende Gebälk, unter dem auch der spitzbübische Wirt und sein Weib einen qualvollen Tod gefunden, dampfte und qualmte in den frischen Morgenhimmel. Ringsumher standen Wachen und Posten von österreichischen Husaren und päpstlichen Gendarmen. Sechs trotzig blickende Banditen, die Hände auf dem Rücken geschnürt, harrten ihrer Überführung nach Monako und der Strafe am Galgen oder der Garotte. Auf den Ruf MacAllans traten die Engländer schnell zu ihrem Landsmann. Auch der Rittmeister Graf Sternberg, der das Kommando befehligte, ein entschlossener und strenger Soldat, kam herbei, um den geretteten Verwandten zu begrüßen, den er in Mailand kennengelernt, als Hunter Korfu verlassen hatte. Der Graf sprach seine Freude aus, daß er gerade noch zu rechter Zeit gekommen sei, um die kleine Schar der Engländer zu retten. Er und der Schotte klärten bald die Verzögerung auf. MacAllan hatte mit Danilos, dem Uskoken, den Weg glücklich, wenn auch langsam, zurückgelegt. Die Fleischwunde, die der Uskoke von dem Vikar erhalten, begann unterwegs wieder zu bluten und Allan mußte sie verbinden. Außerdem mußten sie große Umwege machen, um nicht auf die Bande Pescares zu stoßen. So brauchten sie weit über die veranschlagte Zeit zu dem Weg. Als nahe an dem
Eingang des Fleckens Monako, wo sie die erste österreichische Wache im Mondlicht halten sahen, der Uskoke seinen Begleiter verließ, um in das Gebirge zurückzukehren, hatte Allan das Mißgeschick, auf einen ungarischen Reiter zu stoßen, mit dem er sich nicht verständigen konnte. Der Ungar ließ ihn nicht vom Platz, bis die Runde zur Ablösung kam - zum Glück mit ihr der Rittmeister selber, um die Posten zu untersuchen. Ihm konnte endlich MacAllan den Brief übergeben. Er erzählte mit fliegenden Worten ihre Not. Nun schmetterte das Alarmsignal durch die Straße des kleinen Ortes. Pferde wurden gesattelt, Führer gesucht, Waffen klirrten, und ehe eine halbe Stunde verging, sprengte der Rittmeister Graf Sternberg, an der Spitze der Hälfte seiner Leute, mit dem schottischen Diener durch das Tor. Freilich konnte man auf dem steilen Gebirgsweg und in der Nacht nicht so eilig vorrücken, wie es die kampflustigen Husaren gern getan hätten. Nach einer halben Stunde scharfen Rittes hörte man in der Ferne das Knallen der Büchsen. Das feuerte alle zur Verdoppelung der Eile an. Kaum eine Viertelstunde waren sie noch von dem alten Turm entfernt, als am dunklen Nachthimmel die rote Glut der Feuersbrunst emporloderte. Im halsbrecherischen Galopp ging es jetzt auf dem beschwerlichen Weg voran, und glücklich traf die Schar noch im rechten Augenblick auf dem Kampfplatz ein. Da die Banditen keine Wachen in ihrem Rücken zurückgelassen hatten und im Getümmel des Gefechts das Nahen der Reiter überhörten, wurden sie vollständig überrascht. Graf
Sternberg hatte seine Befehle so umsichtig erteilt, daß kein einziger entrann. Alle wurden niedergehauen, bis auf jene sechs Gefangenen, die knirschend an ihren Banden zerrten. Die Betäubung Hunters durch den Kolbenschlag wich bald. Die sorgfältig verbundene Arm- und Seitenwunde war gefahrlos und nur der Blutverlust hatte ihn erschöpft. Er konnte mit seinem Vetter ohne Mühe die Stätte des Kampfes betreten. Auf dem Hof, wo die Husaren eingehauen, und die Banditen von den Kugeln der ausfallenden Engländer begrüßt worden waren, lagen zwölf Leichen - alle mit verzerrten Mienen, wie sie fluchend dem Tode Trotz geboten. Bei dem eingestürzten Tor war der riesige Leib des erstochenen Führers zusammengebrochen. Ein Knabe saß neben ihm und hielt das Haupt des Toten in seinem Schoß. Peppino, der seiner Bande die Botschaft von der Ankunft der Engländer gebracht hatte; mit zornigen Blicken empfing er die Nahenden. Schon seit dem Morgen hatte er so gesessen, ohne Tränen, ohne Klage - nur den stieren Blick auf die verhaßten Feinde gerichtet. Die Soldaten hatten auf den Knaben wenig geachtet und es nicht der Mühe wert gehalten, sich seiner zu bemächtigen. Der Vikar näherte sich ihm mit dem Rittmeister. Hunter berichtete dem Grafen Sternberg, was ihm zunächst am Herzen lag: die Entführung der Lady Adelaide, die Auffindung ihres Briefes, und was zu ihrer Befreiung geschehen war. Unwillkürlich bedienten sie sich der italienischen Sprache, die dem Österreicher geläufiger war als Englisch.
Hunter beschwor ihn, seine Mannschaft gleich aufbrechen zu lassen, um das kühne Unternehmen Grimaldis zu unterstützen, den er jedoch nur als seinen Freund, den Conte di Griffeo, bezeichnete. Graf Sternberg hatte ihm aufmerksam zugehört. „Ich habe gestern abend schon Kunde bekommen von dem Überfall der Villa Sorrenti durch das Gesindel“, sagte er. „Für morgen ist nun ein allgemeiner Streifzug sowohl im Neapolitanischen, als in sämtlichen Grenzgebieten, angeordnet. Deshalb war auch eine Abteilung Gendarmen und päpstlicher Carabinieri zu mir gestoßen. - Die Nachricht, daß die Geraubte Ihnen so nahe steht, kann natürlich meinen Eifer nur verdoppeln. Ich glaube, wir tun am besten, dem Rat Ihres kühnen und umsichtigen Freundes, des Conte di Griffeo zu folgen. - Die Nachricht, daß die Bande Mamiamis auf dem Monte Vittore lagert, ist mir neu und von größter Wichtigkeit. Fünf meiner Leute sollen die gefangenen Banditen nach Monako bringen und zugleich meine Befehle weitergeben. Ich werde Ordonnanzen nachsenden und die Führer der Truppenkommandos und der Gendarmen benachrichtigen lassen. Wenn Sie und Ihre Freunde sich etwas erholt haben, wollen wir nach der Osteria aufbrechen. Wir müssen sie zum Ausgangspunkt unseres Unternehmens machen. Dort können wir leicht die Verwundeten unterbringen oder sie nachschaffen. Wir wollen den Rest der Bande dieses alten Rebellen Mamiami vernichten - so wahr ich Sternberg heiße. Kein einziger der Schurken soll mir entgehen.“
Ein kurzes Hohngeschrei unterbrach den Grafen. Sie wandten sich um - der Knabe Peppino, der, in ihrer Nähe zusammengekauert, die Worte gehört hatte, drohte ihnen mit tückischer und triumphierender Gebärde. Der Rittmeister rief die Wache; aber wie der Blitz war Peppino zwischen den Soldaten hindurchgeschlüpft und rannte über den Talgrund den Felsen zu, an denen er wie eine Ziege hochkletterte. Graf Sternberg schämte sich im ersten Augenblick, den Befehl zum Feuern zu geben. Aber das Entkommen des Knaben konnte ihr ganzes Unternehmen vereiteln. „Schießen!“ rief er der Wache zu. Peppino war indes schon so weit entfernt, daß die Kugel ihr Ziel verfehlte. Oben, auf einer Felsklippe stand er noch einmal still und drohte mit der Hand - dann verschwand er eilig. Das kleine Ereignis bewog Sternberg, nur um so rascher die beschlossenen Maßregeln auszuführen. Es kam darauf an, daß ihr Plan durch den jungen Spion nicht zu frühzeitig den Banditen verraten wurde, so daß sie ihre Schlupfwinkel verlassen konnten, ehe das Netz um sie geschlossen war. Sternberg befahl den Aufbruch. Er ließ eine Wache auf der Brandstätte zurück, da man aus den Kellern des alten Turmes noch die dort aufgehäufte Beute zu retten hoffte. Eine andere Abteilung brach mit den an die Steigbügel gebundenen, gefangenen Banditen nach Monako auf. Die Leiche des jungen Flinton wurde auf dem Sattel seines Maultieres befestigt,
und für zwei der Schwerverwundeten bereitete man leichte Tragbahren aus Ästen. Die Trompete gab das Zeichen zum Aufsitzen. Der Zug verließ das Tal auf einem Waldweg in der Richtung nach Norcia, wo die Osteria Franzescos lag. Die Soldaten der Wache aber gruben ein weites Grab für die Erschlagenen.
Maritana Der Mond, der dem Kampf der Engländer mit den Banditen geleuchtet, beschien acht Miglien davon entfernt - auf der Höhe des Monte Vittore ein anderes, fast ebenso ungewöhnliches Bild. Der Schlupfwinkel der Briganten, der nur den vertrautesten Helfershelfern bekannt war, konnte nicht vorteilhafter gewählt sein. Offenbar der Krater eines längst erloschenen Vulkans; der Kessel war ringsum mit Kalkfelsen umgeben, die nur an einer Stelle einen Durchbruch zeigten. Dieser diente als Zugang. Aus großen Höhlen und Rissen waren durch leichte Holzbauten Wohnungen geschaffen worden. Von der Höhle des Felsenwalles, zu der aus dem Kessel teils natürliche Wege, teils in den weichen Stein gehauene Stufen führten, hatte man eine weite Aussicht auf Castelluccio, Norcia und Fogliano. Das Versteck, und selbst der Schein seiner Feuer war durch die große Höhe und die Lage der Felsen vor aller Beobachtung aus der Ebene und den Tälern geschützt. Das Gewitter, das die Engländer auf dem Wege nach Ascoli betroffen, hatte auf der Höhe des Monte Vittore nur wenig Schaden angerichtet; es vertobte sich in den Talkesseln zwischen den Bergwänden, und die geringen Spuren der Regengüsse hatte der Boden und der scharfe Luftzug der Höhen längst aufgetrocknet. Zwei Feuer brannten vor den Felshütten. Abenteuerliche Männer umlagerten sie - manche
putzten ihre Waffen, andere faulenzten lang ausgestreckt auf dem Boden; auf Steinen und Holzkloben sitzend, zerstreuten sich die meisten mit Karten und Würfelspiel. Eine Gruppe hörte den prahlerischen Geschichten eines kecken Aufschneiders zu; ein langer Kalabrese mit aufgeschlagenen Hemdärmeln vertrat die Stelle der Hexenmutter und rührte einen großen Kessel auf dem Feuer um, aus dem köstlicher Dampf von Fleisch und Zwiebeln aufstieg. Am anderen Feuer wurde an dem Ladestock einer Flinte ein Hammel gebraten, den einer der Burschen im Tal gestohlen hatte. Gelächter, Gezänk, Geschrei erklang mit italienischer Lebhaftigkeit von allen Seiten: Branntweinflaschen machten die Runde, und aus dem auf einem Felsblock ruhenden Schlauch von Ziegenfell wurden immer wieder mit dem roten Wein von Velletri die Becher gefüllt. An dem größten Feuer saß Pepe Mamiami, der Banditenhäuptling, mit zweien seiner Unteranführer und dem russischen Agenten. Der Oberst Berger war ein großer, entschlossen aussehender Mann mit schlauen Augen und einem dicken Knebelbart. Er trug albanesische Tracht, Fez und Fustanella, und im Gürtel schöne, mit Silber ausgelegte Pistolen. Pepe Mamiami war mittelgroß und kraftvoll, etwa vierzig Jahr alt; ein krauser, kurzer, schwarzer Bart bedeckte die tierische Bildung seines Unterkiefers. Eine schmale Adlernase sprang zwischen blitzenden Augen vor und eine breite Stirn überwölbte die buschigen Augenbrauen. Er trug
eine halb militärische, halb kalabresische Tracht und die mit Pistolen und Dolchen gespickte Leibbinde. Sein Gesicht glühte vom Velletri-Wein und von der Aufregung des Würfelspiels. Der eine seiner Unterführer, die an dem Gelage teilnahmen, war ein gewöhnlicher italienischer Bandit; der andere, Federigo, ein verkommener deutscher Maler. Ausschweifungen und Leiden hatten sein noch junges Gesicht abgezehrt und seinen Blick getrübt und unstet gemacht. Er trug langgelocktes, blondes Haar und einen fadenscheinigen, polnischen Schnürrock. „Cospetto! - Hundert Lire auf einen Wurf!“ fluchte Mamiami. „Halt, Signor, ich verdopple den Satz!“ „Wie's Ihnen gefällt, Oberst“, gab ihm der Russe höflich den Titel, den er in dem Revolutionsheer geführt. „Aber dann keinen Bajocchi mehr. Ihr habt heut' Unglück im Spiel. In solchem Fall darf man es nicht zwingen wollen!“ Man sah an der Bewegung des verkappten Offiziers, als er die zehn Imperials zu dem Geld der Banditen warf, daß er einst gewohnt gewesen, andere Summen am grünen Tisch aufs Spiel zu setzen, als diese Kleinigkeit bei den Briganten von Monte Vittore. „Das Sprichwort sagt mit Recht. Unglück im Spiel, Glück in der Liebe“, fuhr der Russe fort. Er zeigte mit spöttischem Lachen die weißen Zähne unter dem Schnurrbart. „Die Beute, die Sie diesen Morgen hier eingebracht haben, ist der Mühe wert.“ Die Augen des Banditen funkelten eifersüchtig, doch überbot die Leidenschaft des Spiels jede andere. In diesem Augenblick kam leicht und
zierlich ein junges, etwa sechzehnjähriges Mädchen in der Tracht der abruzzer Gebirgsbewohner heran. Auf dem Weg zu dem anderen Feuer verweilte es einige Augenblicke, um neugierig dem Spiel zuzusehen und eine Frage zu tun. Ihr braunes, frisches Gesicht hatte die edlen römischen Formen; das weiße Kopftuch bedeckte ihr in bläulichem Schwarz glänzendes Haar. Die dunklen Augen lachten heiter und glücklich. „Ho, Väterchen.“ sagte der Russe lustig. „Da steht die hübsche Kammerjungfer Ihrer Eroberung gerade hinter Ihnen, Oberst - sie wird Ihnen Glück bringen. K tschortu1! Ich wüßte nicht, welche von beiden ich vorziehen würde.“ Mamiami warf einen zornigen Blick hinter sich auf die Störerin. Unwillkürlich bebte das Mädchen zurück. Dann hob er den Becher und warf. „Demonio! - Endlich!“ frohlockte er. „Vierzehn, Signor Bergero! Es dürfte Euch schwer werden, mehr zu werfen. - Reich' deinen Becher her, Federigo!“ „Sechzehn, Oberst - Sie haben dennoch verloren!“ Der Bandit fuhr auf, als hätte ihn eine Natter gestochen. „Maledetto! - Es kann nicht sein - es gilt nicht der Wurf ist falsch!“ Die Hand des Offiziers fuhr an den Pistolengriff. ,,Wagen Sie zu denken, ich hätte falsch gespielt?“
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Zum Henker!
Mamiamis Vorteil blieb zu sehr im Spiel, als daß er nicht mit Gewalt seinen Ärger hätte unterdrücken können. „Verzeiht, Signor“, sagte er. „Die Hitze riß mich hin! - Was willst du hier?“ fuhr er das Mädchen an, das noch immer in der Nähe stand. „Deine verfluchte Larve ist schuld, daß ich verliere!“ ,,Die Signora“, sagte zitternd das Mädchen, ,,sendet mich, zu fragen, ob der Bote, den Ihr wegen des Lösegeldes nach Civitella senden wolltet, noch nicht zurück ist?“ Mamiami lachte hell auf. „Cospetto di Bacco! Hat das Täubchen immer noch törichte Gedanken? Es ist Zeit, daß ein Ende damit gemacht wird. - Wir wollen mit dir den Anfang machen, cara mia! Dann kannst du ihr von dem Gebrauch der Freischaren der Apenninen erzählen - und was sie zu erwarten hat, wenn sie sich nicht gutwillig fügt!“ Seine rohe Hand erhaschte den kurzen, faltigen Rock des Mädchens, zog es mit Gewalt heran und warf es über seinen Schoß. Das Mädchen schrie laut auf und sträubte sich. „Heilige Madonna - laßt mich! Laßt mich! Nicolo, zu Hilfe! Zu Hilfe!“ „Sträube dich nicht, Närrin!“ zürnte Mamiami. „Hast du mir Unglück gebracht im Spiel, sollst du mir's wenigstens mit deinen Küssen vergelten!“ Er preßte das sich sträubende Mädchen an sich. Plötzlich wurde er heftig zurückgestoßen. Vom zweiten Feuer war bei dem Lärm und dem Hilferuf Nicolo Zaccha, ein junger Bandit, herbeigeeilt und stellte sich schützend vor das
Mädchen, das sich ängstlich an seinen Arm klammerte. Mamiami fuhr auf. „Bist du verrückt, Nicolo, daß du es wagst, Hand an mich zu legen?“ „Maritana ist meine Sposa1, Hauptmann - Ihr wißt es!“ „Zum Teufel mit deiner Sposa, Schurke - und mit allen Bräuten des Kirchenstaats! - Weißt du nicht mehr, was Gesetz ist bei den freien Männern der Gebirge? Kennst du den Eid nicht, den du geschworen?“ „Ihr werdet nicht unmenschlich sein, Pepe Mamiami“, bat Nicolo und versuchte, seine leidenschaftliche Erregung zu unterdrücken. „Ihr wißt, daß ich auf Euren Befehl Maritanas Liebe suchte - um durch sie die Gelegenheit zu finden, die Villa ihres Herrn auszuspähen.“ „Narr! Befahl ich dir, dich im Ernst in das Puppengesicht zu verlieben?“ „Wer kann für das Herz?“ sagte mit dem Schwung erster Leidenschaft der Bandit. „Ich sprach mit Maritana und liebte sie; sie soll mein Weib werden und in einem der Dörfer wohnen. - Ich habe genug erspart, ihr ein Häuschen zu kaufen.“ Mamiami lachte. „Schaut, der kecke Nicolo ein verliebter Schäfer! - Tu es, mein Bursche! Aber nicht eher, als bis wir unser Recht gehabt haben! Du hast das Gesetz durch deine Frechheit herausgefordert - es soll nach ihm verfahren werden!“ 1
Verlobte
Die ganze Bande hatte sich um die Streitenden versammelt - außer den Männern, die in den Zugängen der Schlupfwinkel auf Posten standen. Es waren fünfundzwanzig Köpfe. „Ich berufe mich auf meine Kameraden und auf mein Recht!“ rief Nicolo. „Maritana ist mir freiwillig hierher gefolgt.“ „Das lügst du, Bursche“, schrie Mamiami. „Nicht freiwillig - und deshalb verfällt sie der Bande und ihrem Gesetz. Pietro Rusconi und Ugo Spinola, tretet vor! Sagt auf euren Dolcheid, wo ihr das Mädchen fandet!“ „Wir trafen sie, als wir uns von der Plünderung der Villa Sorrenti zurückzogen, im Garten“, berichtete Rusconi. „Sie floh vor uns, aber wir ergriffen sie doch und schleppten sie fort, bis wir wieder zu den andern stießen. Du befahlst, sie mitzunehmen nach dem Monte Vittore, um die Signora aus der Villa zu bedienen... Erst auf dem Weg hierher kam Nicolo wieder zu uns und nahm sie als seine Sposa in Anspruch.“ „Aber ich suchte sie vergeblich beim Überfall der Villa“, drang Nicolo in den Brigantenhäuptling. „Es war verabredet, daß sie mich begleiten sollte! Nur ihre törichte Furcht verleitete sie zur Flucht.“ „Das tut mir leid um deinetwillen“, höhnte Mamiami. Er stürzte einen Becher Wein herunter. „Du hast mich beleidigt! Du hast es gewagt, die Dirne von meinem Schoß zu reißen! Dein Recht willst du? - Dir soll dein Recht werden. - Heran, Kameraden!“ Die Banditen drängten sich an das Feuer. Der Russe rauchte, ruhig und aufmerksam den Vorgang
betrachtend, seine Zigarre. Mamiami gegenüber stand trotzig Nicolo Zaccha. Den Arm hatte er um seine zitternde Braut geschlungen. „Ihr habt Nicolo gehört - und die beiden Zeugen“, sagte Pepe Mamiami. - „Entscheidet jetzt, Kameraden: ist das Mädchen als unsere Beute zu betrachten oder als Eigentum Nicolos?“ „Per dio! - Sie ist unsere Beute!“ Nur wenige schwiegen. Ein befriedigtes Lachen verzog Mamiamis Gesicht. „Gut! - Ich stelle ihr Lösegeld auf fünfhundert römische Taler. - Hast du Verwandte, Mädchen, die das Geld zahlen können?“ „Nicht hundert Bajocchi, Signor!“ schluchzte Maritana laut. „Meine Mutter ist eine arme Witwe!“ „Hier sind zwanzig Zechinen“, rief heiser Nicolo. „Hier - und diese Uhr! - Nehmt meinen Anteil an dem Lösegeld der Signora dazu!“ „Babuasso!“ lachte Mamiami. „Behalte dein Gold! Es reicht nicht; und was die Signora betrifft ich mag kein Lösegeld. Wenn du hübsch warten willst, sollst du deinen Anteil an ihr haben, wie ich jetzt an deiner Sposa! Sprich, Luigi Schiavo - du bist der Älteste. Was besagt unser Eid über das Weib?“ „Sie gehört zunächst dir, Hauptmann - dann uns als Frau, wie das Spielerglück es entscheidet; jedem auf vierundzwanzig Stunden!“ Pepe Mamiamis Augen blitzten im Kreise. „Ihr habt es gehört. - Nehmt sie fort. Bringt sie in meine Kammer.“
Zehn Hände langten nach dem Mädchen, aber Maritana klammerte sich fest an Nicolo. „Heilige Jungfrau! Habt Erbarmen mit mir! Nicolo, mein Geliebter, schütze mich!“ Nicolo Zaccha stieß mit zornglühendem Gesicht die Kameraden fort und schwang sein Stilett. „Zurück! - Ich stoße jedem das Messer in die Brust, der sie anzurühren wagt.“ Pepe Mamiami trat langsam auf ihn zu. Seine sprühenden Augen lähmten die Kraft des Gegners. „Bist du wahnsinnig, Bursche? - Du wagst meinen Befehlen zu trotzen?“ Er packte Maritana bei den Schultern und stieß sie den Banditen zu. Wie ein stummes Opfer brach sie lautlos zusammen. Nicolos Arme sanken erschlafft an seinem Körper nieder. Nur sein keuchender Atem hob die Brust. „Bringt sie fort!“ brüllte Mamiami noch einmal. „Und du, Nicolo Zaccha, denk' an deinen Eid! Hüte dich, daß ich dich nicht zum zweitenmal ungehorsam finde! Du kennst Pepe Mamiami! Jetzt macht das weitere unter euch ab! Wer gewinnt, mag die Dirne in einer Stunde bei mir holen!“ Er trat gelassen zu dem russischen Offizier. Die Banditen zogen sich lärmend und lästerlich scherzend zum zweiten Feuer zurück. Ihren willenlosen, jungen Kameraden zerrten sie mit. Federigo und der andere Unteranführer folgten ihnen. Pepe rief dem deutschen Maler nach, eine Wache vor den Zugang seiner Felsenhütte zu stellen, damit das Mädchen nicht entwische.
“Noch einen Trunk, Signor“, sagte Mamiami zu dem Obersten Berger. “Ihr habt gesehen, daß mich zärtliche Gesellschaft erwartet. Die freien Gesellen der Gebirge, Signor, haben nicht Zeit, die girrenden Schäfer zu spielen. Sie müssen die Liebe nehmen, wo ihr gutes Glück sie bietet. - Immer noch besser, als daß diese verfluchten Franzosen unsere Weiber verführen!“ Der Russe drehte sich behaglich eine Zigarette und nickte ihm zu. Die dem Menschenrecht Hohn sprechende Sitte der eigenen Heimat, in der damals noch der Grundherr Gebieter war über Leib und Seele seiner Leibeigenen - die Töchter des Dorfes oft zum Vergnügen seiner ebenso grausamen Gäste aufs Schloß entbieten ließ, machte ihn gegen das Schicksal des armen, niedrig geborenen Mädchens gleichgültig. Die vornehme Gefangene ritterlich in Schutz zu nehmen, hätte er keinen Augenblick gezögert. “Lassen Sie sich nicht stören, Oberst“, sagte er, die Zigarette in Brand setzend. “Ich bin nicht gewohnt, mich so zeitig niederzulegen. Ich werde noch ein Stündchen am Feuer sitzen bleiben.“ Damit nickte er vertraulich dem Briganten gute Nacht. Er zog eine Brieftafel aus der Tasche und begann darin zu lesen. Pepe Mamiami, der ehemalige Oberst der römischen Republik, dessen weingerötetes Gesicht von der entflammten Leidenschaft glühte, taumelte davon. Am zweiten Feuer tobten und lärmten die Briganten und zechten in wüstem Gelage. Lautlos
vor sich hinstarrend, die Zähne fest aufeinander gepreßt, hockte Nicolo Zaccha, der jüngste der Bande, noch nicht abgestorben gegen jedes bessere Gefühl, im Kreis seiner Genossen. Zwei Männer saßen neben ihm, um ihn nötigenfalls mit Gewalt festzuhalten. „Bei Sankt Jacob von Compostella!“ schwor der eine, „Maritana ist hübsch; aber ich sage dir, Nicolo, es gibt tausend gleich schöne! Wenn sie erst alt wird, ist sie ebenso häßlich wie die Hexe Jacopos im Turm von Monako!“ „Schlag sie dir aus dem Sinn, Nicolo,“ ermahnte ihn ein anderer. „Sei froh, daß Pescare mit seinen Bravos nicht hier ist; die Gewinnmöglichkeiten für dich wären dann noch schlechter als jetzt!“ „Trink, Bursche! - Irgend ein gutmütiger Priester tut ein übriges und traut euch noch, als wär' ihr nichts geschehen, und sie trüge den Kranz mit Ehren.“ „Der Teufel hole die Weiber!“ gröhlte ein anderer. „Sie haben die Männer immer betrogen!“ „Munter, mein Bursche!“ mahnte der deutsche Maler. „Du, der Kühnste und Tollste sonst von uns allen. Ich bekomme wahrhaftig Lust, die traurige Fratze, die du schneidest, abzuzeichnen - für die Staubsäule in Fogliano als Steckbrief! Hier sind die Lose - fünfundzwanzig - der Uskoke zählt nicht mit. Du sollst das Recht haben, zuerst zu ziehen, weil du doch einmal ihr Amoroso bist und uns das Vögelchen in die Falle gelockt hast.“ Ein schriller Schrei unterbrach den frechen Spötter. Ersterbend sank er unter im Dunkel der Nacht.
Nicolo Zaccha fuhr auf wie von einer Kugel getroffen. Sein Gesicht war totenbleich. Im Übermaß des Schmerzes schloß er die Augen und taumelte... Aber die Zwei an seiner Seite zogen ihn unter rohem Gelächter wieder herunter. „Sei ein Mann“, raunte ihm der alte Luigi zu, der den Jüngling wohl leiden mochte und Mitleid mit ihm empfand. „Sei ein Mann, Nicolo Zaccha! Trage das Unvermeidliche - der Eid muß gehalten werden! Aber es gibt einen Gedanken, der dich trösten mag - er blickte sich scheu um und flüsterte ihm ins Ohr: „Die Rache!“ Nicolo Zaccha sah ihn starr an - ihre Blicke begegneten sich. Der Alte nickte ihm zu, die Hand am Griff seines Dolches. Nicolo wußte jetzt, daß er einen Freund haben werde; der alte Luigi grollte mit Pepe, weil er ihn bei der Verteilung von Beute einmal ins Gesicht geschlagen. Nicolo Zaccha schien ruhiger, - ergeben. Nicht einen Blick mehr warf er nach der Felsenkammer, in der längst jeder Klagelaut verstummt war, - das Weib, das er mit leidenschaftlicher Glut liebte, ruhte in den Armen eines anderen. „Willst du jetzt dein Los nehmen?“ fragte Federigo. „Oder verzichtest du darauf?“ „Gebt!“ Nicolo Zaccha griff entschlossen nach dem Kartenspiel, das man ihm vorhielt, und zog. Jeder der anderen tat das gleiche.
Dann deckten alle zugleich ihre Karten auf nach dem alten Gebrauch machte Herz den Anfang; dann folgte Karo, Treff und Pik. Vor Nicolo lag die Herzen-Zwei. „Verflucht!“ schrie einer. „Der Hauptmann hat uns erlaubt, schon diese Nacht die Kleine für vierundzwanzig Stunden zu holen. Und nun habe ich die Nachtwache im Felsenpaß! - Da ist HerzenEins!“ Er warf die Karte in den Kreis. „Tausch' mit Nicolo.“ riefen mehrere. „Er wird dir's Dank wissen!“ Der Verhöhnte war noch immer sehr bleich; aber in seinen dunklen Augen glühte ein Geheimnis, ein ruhiger, fester Entschluß. Er nahm den ledernen Beutel aus seinem Gürtel, den er vorhin Mamiami angeboten, und warf ihn dem Briganten zu. „Es sind zwanzig venetianische Zechinen darin, Tancredi“, sagte er. „Nimm sie und laß mir Maritana bis zum Sonnenaufgang. Ich komme dann, dich abzulösen von der Wache. Du magst Maritana behalten für die Zeit, die unser Gesetz dir bestimmt.“ „Einverstande!“ rief Tancredi. Er steckte das Geld in die Tasche. „Du bist ein nobler Kamerad, Nicolo. Man kann dir etwas zu Gefallen tun!“ Er reichte ihm die Karte - Herzen-Eins - nahm die Büchse über die Schulter, tat einen tüchtigen Schluck aus der kreisenden Branntweinflasche und machte sich auf den Weg an seinen Posten.
Nicolo blieb ruhig und teilnahmlos sitzen. Die Banditen nahmen unter wüsten Liedern, Trinken und rohen Späßen ihr Abendessen. Gegen Mitternacht trat Pepe Mamiami wieder in ihren Kreis. Sein Gesicht war finster und verdrossen. „Schafft mir die heulende Närrin fort“, sagte er barsch. „Nichts als weinen und jammern. Das langweilt mich - Wem gehört sie für morgen?“ Nicolo stand auf. „Mir, Hauptmann!“ sagte er kalt. Mamiami fuhr zurück - doch scheuchte er das unbehagliche Gefühl fort. „Nimm sie“, sagte er, „und geh zum Teufel!“ „Daher hole ich sie, Pepe Mamiami!“ sagte Nicolo Zaccha ruhig und schritt nach der Felsenhöhle. Pepe warf sich, in seinen Mantel gehüllt, am Feuer neben dem russischen Offizier nieder; Oberst Berger lag schon sorglos im Schlaf. Nicolo Zaccha trat aus der Hütte des Hauptmanns. Von seinem Arm umschlungen, wankte auch Maritana heraus. Sie hatte das Gesicht mit ihrem Kopftuch verhüllt. Ihr unterdrücktes Schluchzen klang durch das jähe Schweigen der Trunkenen. Nicolo Zaccha führte seine Braut nach dem dunklen Hintergrund der Felsen. Keiner der Banditen wagte, ihm noch eine rohe Verhöhnung nachzurufen. Es wurde stiller und stiller um die verlöschenden Feuer; die einen schlenderten nach den Hütten und
Höhlen, die ihnen zum Nachtlager dienten; die anderen streckten sich auf dem Boden aus, wo sie gesessen. Bald wandelte nur im bleichen, gespenstigen Mondlicht der Schatten der Wache, die auf dem Rand des Kraters einsam den Rundgang antrat.
Banditenrecht Tancredi saß auf einem Stein, den Kopf an den Fels gelehnt und die Flinte zwischen den Knien. Er war auf der Wache im Felsenpaß, der zum Gipfel des Vittore führte, eingeschlummert. Eine Männerhand legte sich auf seine Schulter. „Steh auf, Tancredi - deine Zeit ist gekommen!“ Der Schlummernde fuhr auf und griff nach seinem Gewehr. Als er Nicolo Zaccha erkannte, ließ er es sinken. „Zum Henker - du hast mich erschreckt. Der verfluchte Branntwein ist schuld, daß ich eingenickt bin. Ich will hoffen, du hast eine angenehmere Nacht zugebracht als ich.“ Nicolo Zaccha sah ihn an. „In einer Viertelstunde geht die Sonne auf“, sagte er eintönig und mit starrem Blick ins Leere. „Ich komme, mein Wort zu halten. - Geh und nimm sie!“ „Diavolo! Wie siehst du aus?“ fragte Tancredi, und ein seltenes Mitgefühl regte sich in ihm. „Höre, so viel liegt mir nicht daran; es gibt Weiber genug in der Welt. Ich kann auch etwas tun für einen Kameraden. - Wenn du's nicht ertragen kannst, will ich mein Recht an dem Mädchen aufgeben und mit den anderen sprechen. - Ich glaube, es war nicht gut getan vom Hauptmann!“ Nicolo winkte ungeduldig. „Geh. - Ich will allein sein!“ Tancredi warf die Flinte über.
„Andiamo, mir kann's recht sein! Gute Wache! Um Mittag wirst du abgelöst.“ Er schlug den kaum erkennbaren und nur für Ziegen und den Fuß kühner Gebirgsbewohner beschreitbaren Felsenpfad ein und verschwand hinter dem nächsten Vorsprung. Nicolo Zaccha setzte sich und lehnte sein Gewehr gegen den Stein. Dann stützte er die Stirn in die linke Hand, zog den Dolch aus dem Gürtel und legte ihn auf sein Knie. An der glänzenden Klinge, auf der ein erster Sonnenblick zitterte, waren feuchte, dunkle Flecken. Unvermittelt lachte Nicolo schluchzend auf und hob das Stilett empor gegen den Morgenhimmel, dem zwischen rosigen Wolken ein zarter Lichtglanz entströmte. Die Flecken auf der Klinge waren Blut, rotes Blut. Der leere Blick Nicolos, dessen Stilett schon manches unschuldige Blut vergossen, dessen Kugel manches Leben zerrissen hatte, ohne Reue, ohne Bedenken, starrte auf die erwachende Landschaft. Zu seinen Füßen weitete sich das italienische Land, nach Süden hin von den fernen Felsenwänden der neapolitanischen Abruzzen begrenzt; zur Rechten schweifte der Blick über Norcia und Fogliano bis Spoleto und Terni. Hoch hob der Monte Fionchi sein Haupt über die niederen Gebirgszüge. Durch die Pässe des Monte Gatto nach Osten hin waren die fernen Türme von Ascoli zu erkennen, und darüber hinaus zwischen den Höhenrücken der lichtweiße Schimmer der
Adria. Im Rücken türmte der Monte Vittore seine felsigen Massen über die römischen Apenninen auf. Nicolo küßte den Dolch und das Blut an der Klinge. Dann legte er ihn neben sich auf das Moos und zog ein Pistol. Wie zum Gebet faltete er die Hände über dem Kolben. Die Linke hob das kleine, silberne, in Loretto geweihte Kreuz, das an einer Schnur um seine Brust hing, an die Lippen. Tief atmend setzte Nicolo die Waffe an die Stirn. Das Pistol entlud sich - zur Seite geschleudert von kräftiger Hand. „Nur Feiglinge suchen dem Kampf des Lebens durch Selbstmord zu entfliehen“, sagte eine tiefe Stimme. „Nicht Männer, die der Welt die Stirn bieten! Lebe, um zu kämpfen, bis Gott deine Zeit bestimmt!“ Nicolo sah verwirrt und bestürzt auf den Unbekannten. Dann, der Gewohnheit unwillkürlich nachgebend, ergriff er seine Flinte und schlug auf den Fremden an: „Wer seid Ihr? - Die Losung? - Oder ich schieße!“ „Zum Dank dafür, daß ich dich eben hinderte, dir eine Kugel durch den Kopf zu jagen?“ lächelte der Unbekannte. „Wär' ich ein Feind, hätte ich nur eine Minute warten brauchen, um den Weg frei zu finden. - Die Losung: 'Sorrenti und die Brüder vom Dolch!'“ Nicolo setzte erstaunt die Flinte nieder.
„Aber wer seid Ihr? - Was wollt Ihr hier auf dem Vittore?“ Ernst bannte ihn der Blick des Fremden Kapitän Grimaldi kreuzte die Arme. „Ich bin ein Unglücklicher wie du, dem das Schicksal seine teuerste, seine einzige Hoffnung genommen hat. - Was ich will? - Ich will zu Pepe Mamiami - Sicherheit bei ihm suchen; denn ich bin wie du ein Geächteter.“ „Sicherheit? - Schutz?“ lachte hart und höhnisch Nicolo. „Sicherheit in der Höhle des Wolfes? Fremder, ich weiß nicht, ob ich Euch danken soll dafür, daß Ihr mir dies verhaßte Leben noch einige Stunden aufgezwungen habt. Aber warnen will ich Euch: geht nicht zu Pepe Mamiami! Die Teufel fühlen menschlicher, als sein grausames Herz!“ Kapitän Grimaldi fühlte Teilnahme für diese Verzweiflung. Der bittere Haß Nicolos gegen den Banditenhäuptling gab ihm anderseits auch Aussicht, einen Bundesgenossen bei seinem verwegenen Unternehmen zu gewinnen. Er sprach deshalb freundlich mit ihm und fragte ihn, wie er zum Lager gelange. „Ich darf Euch, trotz der Losung, nicht vorüber lassen“,sagte Nicolo. „Ihr seid mir unbekannt. Wartet hier! - Ich glaube, die Runde wird bald kommen. - Sie sollen sehen, daß ich meinen Eid halte!“ Nicolo Zaccha lachte wild auf. Grimaldi ließ sich auf dem Felsstück neben dem Verzweifelten nieder. Seinen Worten gelang es endlich, die starre Schranke um sein Herz zu lösen. In ausbrechendem Schmerz überflutete Nicolos
Leidenschaft alle Grenzen. Er schilderte Grimaldi seine Liebe zu Maritana, den Überfall der Villa Sorrenti und den schändlichen Mißbrauch, den Mamiami von seiner Gewalt gemacht. Jedes Wort atmete tiefsten Haß und den glühenden Wunsch, sich zu rächen. „Und - Maritana - Was ist mit ihr geschehen? Warum hast du sie nicht vor den anderen bewahrt?“ „Ich habe sie befreit“, sagte Nicolo dumpf. „Fragt mich nicht mehr, Ihr werdet das Weitere auf dem Vittore hören!“ Kapitän Grimaldi nahm seine Hand. „Du hast mir dein Vertrauen geschenkt. Ich will Gleiches mit Gleichem vergelten. Ich komme nicht, um Sicherheit bei Mamiami zu suchen - ich will ihm die Beute entreißen, die durch deine Hilfe ans der Villa Sorrenti geraubt worden ist.“ Der Bandit schaute ihn scharf an. „Wer seid Ihr?“ „Kein Spion - kein Sbirre. Ein Ausgestoßener wie du. Aber ich liebe die Geraubte, wie du Maritana geliebt hast. Ich will sie retten aus den Händen dieses Schurken - oder mein Leben dabei lassen. Willst du mir helfen, dich an Pepe Mamiami zu rächen und deine Schuld an dem Weiberraub gutzumachen?“ Nicolo Zaccha hob das Kreuz von Loretto in die Höhe. „So wahr die heilige Jungfrau für meine Sünden bitten möge, so wahr ich an die Dreieinigkeit und die Heiligen glaube - ich will Euch beistehen mit dem letzten Blutstropfen meines Herzens! - Aber
still! Ich höre Schritte - man kommt, mich zu holen. - Hüte dich, Pepe Mamiami!“ Er stützte sich ruhig und entschlossen auf seine Flinte und erwartete mit finstrer Stirn die Nahenden. Von der Höhe des Berges herab stiegen der deutsche Leutnant des Banditenführers, Federigo oder Friedrich, und Pietro, einer der Leute. Beide waren offenbar sehr erstaunt, Nicolo auf seinem Posten zu finden. „Veramente!“ rief der Leutnant. „Das hätte ich nicht gedacht. Dir ware besser, du hättest das Weite gesucht. Pepes Wut über deinen Streich ist unbeschreiblich!“ „Warum sollte ich entweichen?“ fragte Nicolo trotzig. „Der Hauptmann hält seinen Eid - und ich den meinigen. Was ich getan, werde ich verantworten. „Nun, es ist deine Sache. - Kein Mensch glaubte dich noch hier. Deshalb sollte Pietro deinen Posten einnehmen. Tancredi hat einen verteufelten Schreck gehabt! - Aber wer ist das?“ „Der Mann hat die Losung“, sagte Nicolo rasch. „Er will den Hauptmann sprechen. - Da ich ihn nicht kannte, hielt ich ihn zurück.“ „Das war gut, amico!“ meinte der Leutnant. „Ich sehe, du bist ein Mann streng nach der Order. Wollen Sie vielleicht bei uns eintreten, Signor?“ „Ich bin ein Freund von Danilos Petrowitsch, dem Uskoken“, sagte Grimaldi. „Er hat mir diesen Ort bezeichnet, um seine Rückkehr zu erwarten und mir das Losungswort genannt. Er weiß, daß Sie mir vertrauen können.“
„Der Schmuggler ist wahrhaftig zu unvorsichtig“, brummte der Leutnant. „Er wird noch unser bestes Versteck verraten. Wir haben schon einen Fremden bei uns, den er uns zugeführt hat. Aber kommen Sie; und du, Nicolo - corraggio! Pietro wird an deiner Stelle bleiben.“ Nicolo warf mit verächtlicher Miene die Flinte über die Schulter.„Ich bedarf Ihres Wunsches nicht, Signor Federigo“, sagte er. „Wer tat, was ich getan, dem ist der Zorn eines Pepe Mamiami gleichgültig!“ Er stieg den beiden voran, auf dem steilen, kaum sichtbaren Weg. Kapitän Grimaldi gab auf die Erkundigungen des ehemaligen Malers nur ausweichende Antworten. Eine halbe Stunde stiegen sie bergan. Grimaldi suchte sich sorgfältig alle Windungen des Weges einzuprägen. Da hörten sie wiederholt Schüsse. Sie näherten sich dem Felsenwall, der den Schlupfwinkel der Banditen verbarg. „Diavolo!“ fluchte Federigo. - „Pepe ist wieder bei seinem Lieblingsspiel - ich glaube, er übt seine Hand. - Nimm dich in acht, Nicolo, daß es nicht dir gilt!“ Nicolo zuckte die Achseln und schob ruhig die Efeuwand auseinander, die den Felsspalt vor dem Krater schloß. „Hier herein, Signor,“ sagte er, „und der Teufel segne Euren Eingang.“ An der Seite des Leutnants betrat Grimaldi das Versteck der Briganten. Mit einem weiten Blick überflog er den Krater.
Die Banditen standen um Mamiami und den russischen Offizier gedrängt, die sich mit Pistolenschießen nach einem auf den Ast eines Kastanienbaums gespießten alten Hut belustigten. Mamiami lärmte laut, indes seine Leute fast durchgängig in mißmutigem Schweigen verharrten. Das Scheibenschießen schien offenbar von ihm begonnen, um die Gedanken der Banditen von ihrer Aufregung abzulenken. Der Eintritt Federigos, Zacchas und Grimaldis nahm sofort die Aufmerksamkeit in Anspruch. Die Adern an Pepe Mamiamis Stirn schwollen, als Nicolo Zaccha trotzig den Platz betrat und, ohne zu zaudern, auf ihn zuschritt. Seine Finger spielten mit dem Kolben des Pistols, das er in der Hand hielt. „Per dio, Bursche! - Dein Mut ist nicht von gestern! - Du wagst es, vor mir zu erscheinen?“ Nicolo sah ihm ruhig ins Gesicht. „Warum sollte ich nicht? Ich gehorche dem Gesetz unsrer Genossenschaft. Weiter kümmert mich nichts. Ihr habt mich holen lassen, Hauptmann. Hier bin ich!“ Mamiami blieb einen Augenblick stumm vor Zorn und Überraschung; dann winkte er Nicolo gebieterisch, ihm zu folgen. Er schritt, von der ganzen Schar begleitet, nach einer der offenen Höhlungen. In dem Felsenbogen lag, von einem alten Mantel bedeckt, ein langer Gegenstand. Eine Blutlache hatte den weißen Kalkboden gefärbt. Pepe Mamiami zog den Mantel weg - unter ihm starrte das blasse Antlitz Maritanas, der toten
Geliebten Nicolos, in den Himmel. Es war sanft und ruhig, obgleich das Haar sich wirr und aufgelöst über ihren nackten Schultern bauschte. Zwei Flecken im Gesicht zeugten von kurz vorhergegangenen Mißhandlungen. Über dem zerrissenen Mieder zeigte die linke Brust eine breite, klaffende Wunde. „Kennst du das, Nicolo Zaccha?“ fragte der Hauptmann heiser. Nicolo sah die Tote ruhig an. - Keine Muskel zuckte in seinem Gesicht. „Maritana!“ „Weißt du, wer sie getötet hat?“ „Gracia a Dio, Hauptmann! - Ich!“ „Was kannst du sagen zu deiner Rechtfertigung?“ schrie Mamiami. Drohend hob er das Pistol. Nicolo lachte hart. „Zu meiner Rechtfertigung? - Habe ich mich zu rechtfertigen? Unser Gesetz sagt, daß Euch, Pepe Mamiami, dieses Mädchen für vierundzwanzig Stunden gehört. Ihr habt von diesem Recht Gebrauch gemacht - oder habt Ihr nicht, Hauptmann?“ Eine Sekunde überzuckte das junge Gesicht Nicolos ein Schauer von tollem Haß. Aber schon hatte er sich wieder gefaßt. „Weiter, Bursche!“ „Dann kam durch die Würfel und durch Kauf das Recht an mich. Und ich - hab' es geübt. - Jeder nach seiner Art, Hauptmann! Die nach mir kommen, mögen meine Sposa nehmen - und mit ihr tun, was ihnen beliebt!“
Heiser krächzte er den Hohn heraus und stieß die Leiche mit dem Fuß in den Kreis der Männer. So sehr diese Männer an Mord und Verbrechen gewöhnt waren, die durch Schmerz und Verzweiflung geweckte Roheit Nicolos ließ ihre wilden Gesichter erbleichen und ihre Herzen erbeben. „Verfluchter!“ schrie Mamiami. „Fahr zur Hölle!“ Aber der alte Luigi fiel ihm in den erhobenen Arm. „Halt! Hauptmann Mamiami - Nicolo ist in seinem Recht. Er kann nur für ein Vergehen gegen unser Gesetz Strafe erleiden. Das Gesetz sagt, daß Leib und Leben der Weiber jedem auf vierundzwanzig Stunden gehören. Es ist schrecklich, was er getan hat - aber ich glaube - er hat recht getan!“ „Nicolo hat wie ein Mann gehandelt! Wir dulden kein Unrecht!“ schrien rauhe Stimmen aus der Schar. Pepe sah einen Augenblick grimmig um sich, wie zu rascher Tat entschlossen. Aber die Mienen der dichtgedrängten Briganten zeigten ihm, daß er auf keinen Beistand rechnen durfte. Er mußte nachgeben - und seinen Haß gegen Nicolo bis zu einer günstigeren Gelegenheit unterdrücken. Er schob seinen Unterkiefer vor und zurück, als mahle das Gebiß eines Raubtieres. Seine schwarzbewimperten Lider senkten sich - dann blitzte der Blick wieder auf und die Augen saugten sich fest auf den Rächer Maritanas. „Deine Kameraden haben entschieden über dich“, sagte er. „Aber hüte dich, Nicolo Zaccha! Mein Auge ist über dir!“
Er wandte sich, um sein Spiel fortzusetzen. „Bringt das Weib fort!“ befahl er. Jetzt erblickte er Grimaldi - und stutzte. „Wer ist dieser da? - Wie kommt der Fremde in unsere Mitte?“ Federigo erstattete eilig Bericht. Nicolo, der bei der Todesdrohung Mamiamis kalt und unerschüttert seinem Blick begegnet war, hob jetzt den blutigen Leichnam seiner Geliebten auf. Nun quollen Tränen aus seinen Augen und tropften auf die Brust Maritans nieder. Tief wühlte der Schmerz in seinem Innern. Zwanzig Hände streckten sich aus, ihm die Last tragen zu helfen. Aber er winkte alle zurück bis auf den alten Luigi. Mit ihm trug er die Tote nach dem Ausgang der Felsenrunde, - den Bergabhang hinab bis zu einer Mulde, in der wilder Oleander und Myrten in dem lockern Boden wucherten. Dort, unter den grünen Zweigen - hoch über dem Tal, gruben sie in der sonnigen Bergluft das Grab.
Beim Kreuz von Spoleto! Mamiami betrachtete mißtrauisch den Fremden. „Sie sind ein kühner Mann, daß Sie es auf das Wort eines Schmugglers wagten, hierher zu kommen. Nicht viele haben diesen Ort wieder verlassen, ohne für ihre Verschwiegenheit Bürgschaft zu geben mit ihrem Leben. - Wie ist Ihr Name? Aus welcher Ursache kommen Sie hierher?“ „Meinen Namen, Oberst Mamiami,“ erwiderte Grimaldi mit einer Ruhe und einem Stolz, die ihren Eindruck auf den Banditen nicht verfehlten, „werde ich Ihnen später nennen. Die Bürgschaft von Danilos Petrowitsch kann Ihnen Sicherheit genug geben. Ich bin ohnehin in Ihrer Gewalt. - Mein Kommen betrifft Oberst Berger, in Diensten Seiner Majestät des Zaren Nikolaus.“ Der Russe horchte auf. „Ich bin Oberst Berger.“ Grimaldi verneigte sich höflich. „Danilos Petrowitsch gab mir Nachricht, daß Sie den Kapitän Grimaldi aus Korfu in diesen Gebirgen suchen. Ich bin sein Freund. Ich habe das Recht, Ihnen jede Auskunft über ihn zu geben.“ Der Russe reichte ihm die Hand. „Seien Sie mir willkommen, Signor - wer Sie auch sein mögen. Ich gab schon alle Hoffnung auf, den Kapitän zu finden, und glaubte, daß er Italien schon verlassen habe. Um so lieber ist mir Ihre Nachricht. Wo kann ich ihn treffen, wann ihn sprechen?“
„Der Kapitän,“ sagte Grimaldi ausweichend, „hat Zuflucht in einem Kloster gefunden; die österreichische Polizei und das britische Gouvernement haben einen Preis auf seinen Kopf gesetzt. Er muß sich verborgen halten. Ich bin bevollmächtigt, ihn zu vertreten. Dies als Beweis.“ Er legte einen Brief in die Hände des Obersten Berger. „Ein Schreiben, das ich von Athen aus an den Kapitän nach Zante gerichtet habe.“ - Oberst Berger nickte zufrieden. „Aber Sie werden angegriffen sein, mein Herr. Der Weg ist weit und beschwerlich. Oberst Mamiami wird gewiß die Güte haben, das Frühstück Ihretwegen zu wiederholen. Wir können dann später über unsere Geschäfte reden.“ Offenbar wollte der diplomatische Agent nicht in der Gegenwart des Brigantenhäuptlings verhandeln. „Wo haben Sie den Uskoken verlassen, Signor?“ fragte Pepe, nachdem er Befehl gegeben, Wein, Kaffee und Brot zu bringen. „In der Gegend von Monako.“ „Haben Sie nichts von den Österreichern und Franzosen gehört? Man sagt, daß ihre Wachtposten im Gebirge verstärkt werden sollen.“ „Das sind sie schon, Capitano“, berichtete Grimaldi. „Ihr kühner Streich gegen die Villa Sorrenti ist bekannt und hat die ganze Grenze in Aufruhr gesetzt. Sie werden einen schlimmen Stand haben gegen die streifenden Soldaten.“ „Bah - ich bin hier sicher auf dem Vittore. Dieser Platz ist nur wenig Leuten in der Gegend bekannt -
und es gibt keinen Verräter unter ihnen. Wenn Antonio Pescare mit seinen Leuten zu mir stößt, kann ich den Vittore gegen eine Division Soldaten verteidigen. Der Schurke, der allzu gern auf eigene Faust plündert, müßte längst hier sein!“ „Rechnen Sie nicht auf die Hilfe Pescares“, sagte ruhig der Kapitän. „Er hat gestern abend eine Gesellschaft reisender Engländer angegriffen und ist wahrscheinlich dabei mit den österreichischen Streifern in Kampf geraten. Danilos sendet Ihnen die Nachricht!“ „Verflucht sei Pescare!“ tobte Pepe. „Mögen sie ihn an die nächste Fichte hängen! Was läßt sich tun? - Wir müssen nähere Nachricht von ihm oder einem unserer Freunde abwarten. Einstweilen sind wir sicher auf dem Vittore. - Federigo, verdoppele die Posten auf dem Weg. Stelle einen Späher an die verfallene Kapelle am Fuße des Berges.“ Er machte eine leichtherzige, verächtliche Bewegung. „Und nun, Burschen, kümmert euch nicht um die Sbirren und die Österreicher. Fahrt fort in eurem Spiel. - Wer ist am Schuß?“ Tancredi meldete sich. Indes sich alles wieder herandrängte, zielte er bedächtig mit der Pistole, feuerte und streifte den Rand des Hutes. Ein zweiter Bandit fehlte das Ziel ganz. Mamiami bemerkte das eigentümliche Lächeln, das den Mund des Fremden umzog. Eifersüchtig auf den Ruf eines ausgezeichneten Schützen, stieß er den nächsten in der Reihe zurück. „Was gilt die Wette, Signor Bergero - daß ich die Mitte des Hutes treffe?“ „Fünf Imperials, Oberst Pepe!“
„Ebbene! Es gilt.“ - Er zielte und schoß. Ein 'Evviva' der Bande begrüßte den Schuß. Die Kugel hatte die Spitze des Hutes durchbohrt. Mamiami steckte mit habsüchtiger Befriedigung das Gold, das der Russe ihm reichte, in die Tasche. „Nun, Signor,“ sagte er spöttelnd zu Grimaldi, „Sie tragen da sehr schöne Pistolen im Gürtel. Hoffentlich sind Sie auch ein guter Schütze?“ „Sie haben es erraten, Capitano. - Nur pflege ich mein Ziel etwas schwieriger zu wählen.“ „Cospetto oiò! Wir wollen das Zitronenspiel nehmen. - Eine Frucht her!“ Einer der Männer holte eine Zitrone und hielt sie zum Wurf bereit. Pepe hob das Pistol. „Auf!“ Der Mann warf die Frucht. Als sie niederfiel, schoß Pepe. Lärmend brachten die Leute die Zitrone herbei. Die Kugel hatte die Schale gestreift. „Nun, Signor?“ sagte der Schütze überlegen. „Getrauen Sie sich das auch?“ Grimaldi zog eine der Pistolen aus seinem Gürtel. „Wollen Sie die Frucht noch einmal werfen lassen, Signor Capitano?“ Sie flog in die Höhe. Grimaldi folgte ihr mit den Augen, bis sie einen Augenblick unbeweglich in der Luft zu schweben schien. Dann erst hob er blitzschnell das Pistol und feuerte. Die Stücke der Zitrone flogen auseinander. Allgemeines Schweigen der Banditen feierte den Erfolg. Nur der Russe klatschte in die Hände. „Per dio! Ein guter Schuß!“ sagte der Hauptmann und strich sich den Bart. „Ich glaubte, es gäbe nur
einen Mann in Italien, der sich mit mir im Pistolenschießen messen könne!“ „Und wer ist das, Signor?“ „Sie kennen ihn ja - Ihr Freund - der ehemalige Kapitän der päpstlichen Leibgarde, von dem Sie die Botschaft an Signor Bergero bringen. - Haben Sie das Kunststück von ihm gelernt?“ „Ich habe wohl von seiner Geschicklichkeit gehört“, wich Grimaldi aus. „Er soll die Büchse ebenso vortrefflich handhaben, wie die Pistole“, meinte der Russe. „Pah - er hat viel Glück. Aber ich glaube nicht, daß er, wo es gilt, seines Schusses so sicher ist wie ich“, prahlte Pepe Mamiami. „Verstehen Sie auch mit der Büchse so sicher umzugehen, wie mit dem Pistol, Signor Straniero1?“ „Ich darf mir einige Geschicklichkeit zutrauen.“ „Wir wollen eine kleine Probe machen - um einen Einsatz, der lohnt. - Was gilt die Wette, Signor?“ „Ich kann auf einen Schuß nicht rechnen, Signor Capitano,“ sagte Grimaldi, „ehe ich nicht das Gewehr erprobt habe. - Auch fürchte ich, daß der stärkere Knall der Büchsen unten in den Tälern gehört werden und den Soldaten unsern Aufenthalt verraten kann.“ Mamiami sah in der Weigerung des Fremden nur den Versuch eines Rückzuges. Durch die Niederlage im Pistolenschießen eifersüchtig und aufgeregt, beharrte er jedoch eigensinnig auf seinem Vorsatz. 1
Fremder
„Beunruhigen Sie sich nicht, Signor“, sagte er spöttisch. „Der Schall des Schusses wird von diesen Bergwänden aufgefangen, geht in die Höhe und ist tausend Fuß tiefer schon nicht mehr zu hören. Wir sind hier vollkommen sicher. Wählen Sie nur ein Gewehr und machen Sie einen Probeschuß.“ Mehrere der Banditen, entzückt durch den Vorschlag des Hauptmanns und seiner Geschicklichkeit sicher, boten ihre Büchsen an. „Wenn Sie Ihres Schusses einigermaßen gewiß sind,“ sagte der Russe in englischer Sprache, „so geben Sie dem Schurken doch eine Lehre!“ Ein flüchtiges Lächeln gab ihm Antwort. „Ich habe wenig bei mir, Kapitän Mamiami,“ sagte Grimaldi zaudernd, „was ich gegen Sie setzen könnte.“ „Ich halte den Einsatz für Sie“, erbot sich Oberst Berger. „Nicht doch, Signor!“ rief Pepe lebhaft. „Der Signor Straniero hat etwas, das ich wohl zu gewinnen wünschte! Seine Pistolen sind vorzüglich. Wir wollen um sie schießen - er mag selber den Gegenwert bestimmen.“ Grimaldi nahm von den dargereichten Gewehren die Büchse Nicolos und untersuchte Schloß und Kaliber. Bei dem Anerbieten Mamiamis zuckte ein Gedanke durch seine Seele. „Ich möchte mein Glück versuchen“, sagte er, absichtlich noch immer zögernd, als wage er den Wettkampf doch nicht recht. „Die Pistolen habe ich zum Geschenk erhalten und mag daher ihren Wert
in Geld nicht setzen. Aber lassen Sie mich zum Andenken an unsere Begegnung ein beliebiges Stück Ihrer Beute auswählen, wenn das Glück sich für mich entscheidet, Signor Capitano. Auch muß ich das Ziel bestimmen dürfen.“ Pepe sah in der letzteren Bedingung wieder nur den Wunsch, sich zu entziehen. „Es gilt! Signor Straniero, ich nehme den Vorschlag an!“ sagte er überlegen. Grimaldi trat, von Nicolo gefolgt, der ihm laut noch einige Winke über die Büchse gab, einige Schritte vor, um anzuschlagen. Als er das Gewehr hob, flüsterte Nicolo: „Ich habe Ihre Absicht begriffen, Exzellenza. Lassen Sie ihn beim Kreuz von Spoleto schwören! Es ist der einzige Eid, den diese Männer halten!“ Der Schuß fiel gegen die Felsenwand, ohne daß man wußte, nach welchem Punkt der Schütze gehalten hatte. Sein scharfes Auge versicherte ihn jedoch des Erfolges. Er kehrte sich, Gleichgültigkeit erheuchelnd, nach Mamiami um. „Das Gewehr scheint mir gut,“ sagte er unschlüssig, „nur verlangt es ein sehr feines Korn.“ „Nicolos Büchse ist berühmt“, erwiderte Mamiami. „Aber Sie haben die Wette angenommen, Signor; alle werden es bezeugen!“ „Ich bin auch gewohnt, mein Wort zu halten, Capitano“, sagte Grimaldi. Er nahm die Pistolen aus dem Gürtel und legte sie auf den Boden. „Ich werde mein Glück gegen Sie versuchen und, bei dem Kreuz von Spoleto! - diese Pistolen sind die ihrigen, wenn Sie siegen!“
Einen Augenblick betrachtete ihn Pepe mißtrauisch. Aber er wußte recht gut, daß die Pistolen einen bedeutenden Wert hatten, der jedem noch vorhandenen Beutestück der Bande an Uhren und anderen Kleinodien gleichkam. So zögerte er nicht, sein Anerbieten spöttisch zu wiederholen. „Bei dem Kreuz von Spoleto, Signor - obgleich das Wort Pepe Mamiamis hinreichen sollte - Sie haben freie Wahl unter allem, was von der Beute noch im Lager ist, wenn Sie mir den Rang abgewinnen.“ Ein tiefer Atemzug hob die Brust Grimaldis. Mit den Worten des Banditen war eine schwere Last von ihm abgefallen. „Hat einer von euch eine dünne, feste Schnur?“ Die Banditen suchten in ihren Taschen. Nicolo nahm die Schnur von seinem Nacken, an der er das geweihte Amulett von Loretto trug, und reichte sie ihm. „Möge sie Euch Glück bringen!“ Ein zorniger Blick Pepes belohnte den Wunsch. Alle sahen gespannt dem Vorhaben des Fremden zu. Er prüfte die Schnur, die von festem, geteertem Hanf war. Dann ließ er sich von Nicolo mehrere Büchsenkugeln reichen und wählte die glatteste. Zuletzt zog er von seinem Finger einen einfachen, starken, goldenen Reif und versuchte die Kugel an seiner Höhlung. Sie füllte sie genau aus. „Zum Henker!“ drängte der Hauptmann ungeduldig. „Was sollen alle diese Schnurrpfeifereien, Signor? Wollen Sie etwa mit
gefeiten Kugeln schießen? - Wählen Sie das Ziel, und lassen Sie uns anfangen.“ „Einen Augenblick Geduld, Signor Capitano. Ich bin eben dabei. Wird die Entfernung der niederen Korkeiche dort genügen?“ „Ich sollte meinen. Sie wird achtzig bis neunzig Schritt entfernt sein und gewährt einen schönen Schuß.“ Grimaldi band jetzt den Ring an das eine Ende der Schnur fest. „Darf ich Sie bitten, mich zu begleiten?“ Er ging allen voran nach der Korkeiche hin und blieb vor einem weit vorgestreckten, verdorrten Seitenast stehen. „Hier ist ein Fünflirestück für den, der den Baum besteigt und das zweite Ende der Schnur fest um den Ast wickelt - dort!“ sagte er. Er wies mit dem Büchsenlauf nach einer Stelle des Astes, die ganz frei von Zweigen und überhängendem Laubwerk war. Sofort erkletterte einer den Baum und knüpfte die ihm zugereichte Schnur so um den Ast, daß der Ring etwa fünf Fuß hoch vom Boden frei in der Luft hing. „Aber was soll das alles?“ murrte Pepe. „Wir wollen versuchen, Signor Capitano, wer von uns beiden seine Kugel in diesen Ring schießt“, erwiderte Grimaldi leicht. Ein Schweigen des Erstaunens folgte diesem Vorschlag. Dann schlug der Hauptmann ein lautes Gelächter auf. „Sind Sie toll, Signor? - Ihr Ring ist auf die Entfernung von achtzig Schritt kaum zu sehen, viel weniger zu treffen!“
„Lassen Sie uns zur Sache kommen.“ wiederholte Grimaldi spielerisch Pepes Worte. Er schritt, von den Briganten gefolgt, nach der Stelle zurück, von wo er zuvor geschossen. Der Ring hing, von keinem Luftzug bewegt, an der Schnur. Er erschien von hier aus auf dem weißen Hintergrund der Felsen nur wie ein Punkt. Nur ein sehr scharfes Auge konnte seine Öffnung erkennen. „Tollheit, nach einem solchen Ziel zu schießen“, wiederholte Mamiami. „Wir werden beide unser Pulver verlieren und die Wette aufgeben - oder ein anderes Ziel wählen müssen.“ „Es kommt darauf an!“ bemerkte der Russe, der schweigend dem Auftritt beigewohnt hatte. Er beobachtete den Fremden scharf. „Signor Mamiami,“ sagte Grimaldi höflich, „Sie haben den Ruf des besten Schützen. Der erste Schuß gehört Ihnen.“ Pepe fühlte, daß er unmöglich zurücktreten konnte, obgleich ihn bei dem sichern Auftreten seines Gegners die Herausforderung zu reuen begann. Er zielte mit großer Bedächtigkeit und gab dann Feuer. Als der Pulverdampf sich verzogen hatte, schwankte der Ring hin und her vom Luftdruck der Kugel. Sie mußte dicht an ihm vorbeigegangen sein. Ein „Brava“ der Banditen begrüßte den guten Schuß. Grimaldi hatte ruhig den Erfolg beobachtet. Er lud sorgfältig die Büchse Nicolos und maß genau das Pulver ab.
Dann trat er vor. Er war bleich. Von allen Anwesenden ahnte Nicolo allein, welche Wichtigkeit der Erfolg für ihn hatte. Atemlose Stille herrschte. Grimaldi lag im Anschlag. Seine Gestalt schien aus Stein gemeißelt - so regungslos stand er da. Der Schuß knallte. Der Rauch wirbelte in die Höhe. Ein Ausruf des Erstaunens - dann ein übermütiges Hohnlachen. Der Ring war verschwunden - mit ihm die Schnur. „Die Kugel hat die Schnur zerrissen - es ist ein Fehlschuß!“ schrie Pepe frohlockend. Grimaldi stand, auf die Büchse gelehnt, nach dem Schuß ruhig da. Sein Gesicht war von innerer Freude gerötet. „Sie irren, Signor Capitano - Sie haben verloren. Sehen Sie nach.“ Zehn Männer waren nach dem Abfeuern der Büchse zum Ziel gelaufen. Lautes Geschrei der Verwunderung erklang. Der Hauptmann eilte erregt nach der Eiche. Der Schütze und der russische Offizier folgten langsam. Die Schnur war in vielen Schlingen fest um den Ast gewickelt. An ihrem Ende hing der Ring. In seiner Öffnung steckte die Kugel, fest hineingekeilt. Stumm stierte Pepe Mamiami den Ring an. „Evviva!“ riefen die Briganten und drängten sich bewundernd um den Schützen. Pepe sprang auf den bejubelten Fremden zu und faßte ihn am Arm.
„Sie sind der Teufel in Person, Signor - oder der Kapitän Grimaldi! Es gibt außer ihm keinen solchen Schützen in Italien!“ „Ich bin Kapitän Grimaldi“, sagte gelassen der Grieche, und verneigte sich höflich gegen den russischen Agenten. „Verzeihen Sie, mein Oberst, daß ich Sie kurze Zeit darüber in Zweifel ließ. Signor Capitano, ich hoffe, Sie werden mir auch unter meinem wirklichen Namen einen kurzen Aufenthalt in Ihrem Lager nicht versagen. Ich verpflichte mich mit meinem Ehrenwort. wenn ich es verlasse, wird nichts von dem, was ich hier sehe und höre, über meine Lippen kommen!“ „Seien Sie willkommen, Herr Kamerad“, schrie Pepe Mamiami entzückt und zudringlich. Er schüttelte ihm die Hand, ehe Grimaldi es hindern konnte. „Es ist keine Schande, von dem besten Schützen Italiens besiegt zu werden! Werden Sie der Unsere, Kapitän! Wir wollen zusammen den Sbirren, den Franzosen und Österreichern zu tun geben, daß man von Venedig bis Reggio davon reden soll!“ „Ich bedaure, Signor,“ sagte Grimaldi kühl, „mein Schicksal zwingt mich, Italien zu verlassen. Ich hoffe, ich werde Sie nur wenige Stunden belästigen und wünsche Ihren Leuten, daß sie bei dem Angriff, der wahrscheinlich bevorsteht, allen Gefahren glücklich entkommen mögen. - Wenn es Ihnen gefällig ist, Oberst Berger, stehe ich Ihnen, mit Erlaubnis unseres Wirtes, zu Diensten.“ „Tun Sie ganz nach Ihrem Gefallen“, murrte der Banditenhäuptling verletzt. „Cospetto Diana di Bacco! Mamiamis Freundschaft und Schutz soll
keinem aufgedrängt werden, - auch wenn seine Vorfahren zu den Krämerfürsten Venedigs zählten und im goldenen Buch einer Republik standen!“ Grimaldi hätte vielleicht durch eine stolze Antwort einen Streit hervorgerufen, wenn in diesem Augenblick nicht der Ruf der Wache vom Felsenwall die Ankunft eines Fremden angezeigt hätte. Es war ein Bauer aus der Gegend von Monako, einer jener Helfershelfer und Spione der Banditen, die durch das ganze Landvolk verbreitet sind. Ihre Hilfe machte oft alle Maßregeln der Regierung unnütz. Er trieb zwei mit Weinschläuchen, Fleisch, Früchten und Brot beladene Esel zur Verpflegung der Briganten des Monte Vittore und brachte zugleich wichtige Neuigkeiten. Die Nachricht von der Niederlage Pescares und dem Brand des Turms war mit wunderbarer Schnelligkeit im Gebirge bekannt geworden. Er selber hatte die sechs gefangenen Banditen, an die Steigbügel der Husaren gebunden, auf der Straße nach Monako vorüberführen sehen. Eilig hatte er sich aufgemacht, diese Kunde und die Nachricht vom Aufbruch der Soldaten auf Schleichwegen nach dem Lager des Vittore zu bringen. Die Nachrichten des Hehlers nahmen alle Aufmerksamkeit Pepes in Anspruch. Noch immer nicht wollte er an eine wirkliche Gefahr glauben. Er verließ sich auf die Heimlichkeit und die oft bewährte Sicherheit ihres Schlupfwinkels. Die üblichen Vorsichtsmaßregeln wurden nur dadurch verstärkt, daß die Tiere des Bauern im Lager
zurückbehalten wurden. Er selber sollte sich auf verborgenen Pfaden wieder zurück in die Nähe der Militärposten schleichen, um weiter zu kundschaften. Unterdes war die Mittagszeit herangekommen, und bald loderte ein mächtiges Feuer, an dem man das Mahl bereitete. Oberst Berger und Grimaldi stiegen die Stufen zu dem Wall des Kraters hinan. Von einem überhängenden Felsen gegen jede Beobachtung geschützt, ließen sie sich nieder und vertieften sich in ein politisches Gespräch. „Sie sehen, Kapitän,“ sagte der russische Agent nach einer längeren Erörterung, „alles ist sorgfältig vorbereitet. Ich weiß, daß ich zu einem Mann von Ehre spreche; deshalb habe ich Ihnen offen die Absichten meines Gebieters enthüllt. Rußlands Zukunft, sein Welteinfluß liegen am Bosporus. Seit vier Jahrhunderten ist die griechische Kirche - mehr als fünfzehn Millionen griechischer Christen - von drei Millionen Türken geknechtet. Man wirft Rußland die Strafe der Knute und Sibiriens gegen seine Verbrecher vor - und läßt die eigenen Glaubensgenossen durch den Türken martern! Der Zar ist entschlossen, ein Ende zu machen. Die religiösen Bedrückungen können in jedem Augenblick nach dem Traktat von Unghiar-Skelessi die Gelegenheit zum Abbruch der diplomatischen Verbindungen und zum Einrücken unserer Armee geben. In dem Augenblick, wo das geschieht, oder besser noch vorher, muß ein Aufstand der Christen in den griechisch-türkischen Provinzen, in Albanien, Epirus, Thessalien, Mazedonien und selbst in
Bulgarien ausbrechen - die ganze griechische Christenheit muß Befreiung vom türkischen Joch fordern. Das gibt dem Zaren, als dem natürlichen Schutzherrn der griechischen Kirche, Veranlassung, diese Forderung vor den Mächten Europas zu vertreten und die Wiederherstellung des alten byzantinischen Kaisertums vorzuschlagen.“ „Und - wer soll dessen Herrscher werden?“ fragte Grimaldi zurückhaltend. „Natürlich vorerst König Otto. Die Königin ist eine kluge Frau und mit dem Plan vollkommen einverstanden. Da König Otto keine Leibeserben hat, wird dann Seine Kaiserliche Hoheit, der Großfürst Konstantin, zum Erben des Thrones bestimmt werden.“ „Aber die Mächte Europas - werden sie in die Vergrößerung der Macht Rußlands willigen?“ „Das ist Sache unserer Diplomatie. Es unterliegt keinem Zweifel, daß wir uns mit England leicht verständigen werden. England bedarf des Überlandwegs nach Indien. Die Abtretung von Kandia, Zypern und Suez wird ihm unendliche Vorteile bieten und zu Gibraltar, Malta und Korfu die letzten und wichtigsten Stützpunkte fügen.“ Grimaldi erschrak über den selbstsüchtigen Vorschlag des Russen. „Aber den Ionischen Inseln ist schon jetzt der englische Druck unerträglich! Kandia und Zypern, die unter dem türkischen Joch verbluten, gehören so gut zu dem einigen Griechenland, wie Athen und Euböa! Ihr ganzes Hoffen ist auf die politische Vereinigung mit ihm gesetzt!“
„Es wird sich schwerlich anders machen lassen!“ sagte gleichgültig der Russe. „Der Pariser Vertrag vom 5. November 1815, durch den wir das Protektorat über die sieben Inseln an England abtraten, war ein Meisterstreich Castlereaghs und allerdings ein großer Fehler von uns. Aber er läßt sich gegenwärtig nicht ungeschehen machen. Wir müssen England bedeutende Vorteile gewähren, um uns sein Bündnis zu sichern. Österreich wird sich leicht an der Donau beruhigen lassen.“ „Aber Frankreich, Herr Oberst?“ „Frankreich kann Tunis und Algerien nehmen. Wir wehren es ihm nicht. Ohnehin ist es sehr zweifelhaft, was aus der gegenwärtigen französischen Republik und ihrem Präsidenten werden wird. Sind die englischen Pläne mit den unseren verbunden, brauchen wir nach Frankreich nicht weiter zu fragen!“ Kapitän Grimaldi war seit der Enthüllung über die selbstsüchtige russische Politik, die sein eigenes Vaterland Ionien der Unterdrückung preisgab, nachdenklich und zurückhaltend geworden. „Und welche Rolle, Herr Oberst, bestimmen Sie mir in der großen politischen Werbung zugunsten Rußlands?“ Der Agent stutzte und sah ihn von der Seite an; indes er fühlte, er war zu weit gegangen, um mit seinem Vertrauen jetzt zurückhalten zu können. Er war auch der Überzeugung, daß dem griechischen Offizier keine andere Aussicht blieb, als die unbedingte Hingabe an die russischen Pläne. „Ich habe Ihnen gesagt, Kapitän, daß ich in Montenegro bleiben werde, um die Bewegungen
der tapferen, uns ergebenen Bergvölker zu leiten. Nötigenfalls muß ich Omer Pascha einen Riegel vorschieben, wenn er die Bosniaken zu stark bedrängen sollte. Ihr Name, Ihre Familie, Herr, sind in Griechenland und bei den albanesischen Stämmen bekannt und geachtet. Ich weiß, daß Sie zur Hetärie1 gehören.“ Grimaldi unterdrückte nur schlecht seine Überraschung. „Sie scheinen gut unterrichtet, Herr Oberst!“ „Ausgezeichnet! - Wir werden ganz vorzüglich bedient. Also, Herr Kapitän, Sie sollen, mit reichen Mitteln versehen, das griechische Festland und den Archipel bereisen, die Verbindungen der Hetärie überall erneuern und die verschiedenen Gegenden für den Aufstand vorbereiten. Wir haben in der griechischen Armee zwar ganz ergebene Männer, die nur darauf warten, das blau-weiße Banner gegen den Halbmond zu entfalten. Doch werden sie am Hof von Athen scharf durch den englischen und französischen Einfluß beobachtet. Wir dürfen aber das Kabinett von St. James nicht zu früh mit den Absichten und Hilfsmitteln vertraut machen. Der Zar sichert Ihnen den Rang eines Obersten in der russischen Armee. Ich werde für die Zeit der Werbung jede Summe zu Ihrer Verfügung stellen. Diese Brieftasche, die unseren höchst ehrenwerten Wirt, wenn er davon wüßte, wahrscheinlich stark in Versuchung führen würde, enthält zwanzigtausend Rubel in englischen Banknoten und mag für die Kosten Ihrer Ausrüstung dienen.“ 1
Hetärie, ein 1814 inOdessa entstandener Geheimbund, der Griechenlands Befreiung vom türkischen Joch anstrebte.
Grimaldi hob abwehrend die Hand. „Wir werden uns darüber später verständigen, wenn ich mit mir über die Aufgabe einig bin, die Sie mir anbieten. Sie werden verstehen, wenn ich um eine kurze Bedenkzeit bitte, bevor ich meinen Entschluß ausspreche. Ich habe auch noch eine Aufgabe hier zu lösen, deren Ausgang leicht alle unsere Verabredungen über den Haufen werfen könnte. Es ist sehr freundlich von Ihnen gewesen, sich um meinetwillen in diese Gebirge und diese Gesellschaft zu wagen; aber ich wünschte wirklich, Sie wieder glücklich auf der Feluke Danilos oder wenigstens an der Küste zu wissen. Ehe wir nicht beide frei sind, kann ich Ihnen keine Antwort geben.“ „Sie hegen Besorgnis wegen dieses Briganten, der sich Oberst der römischen Republik schelten läßt?“ lachte der Russe. „Er wird es nicht wagen, uns ein Haar zu krümmen; denn er weiß, daß ich ihn jeden Augenblick hängen lassen könnte, wenn es mir beliebte.“ „Sie kennen die verzweifelte Leidenschaftlichkeit dieser Männer nicht, Herr Oberst, die nichts fürchtet in ihren Ausbrüchen. Ich habe eine Abrechnung mit Pepe Mamiami, und muß den Tiger reizen in seinem eigenen Lager.“ „Ich glaubte so etwas zu bemerken! - Was auch Ihre Absicht sein mag, Kapitän, es kann immer nur eine Handlung der Ehre sein gegenüber diesem Schurken; bitte, zählen Sie auf mich. - Doch sehen Sie - wir müssen unsere Unterredung auf eine andere Gelegenheit verschieben; Mamiami winkt, daß die Mahlzeit
bereit sei. Und ich muß gestehen, die Bergluft macht Appetit.“ Grimaldi hielt ihn noch zurück. „Sagen Sie mir, Oberst Berger, warum verbindet sich Rußland nicht lieber mit Frankreich zu der großen Aufgabe, die der Kaiser sich gestellt? Ein solches Bündnis würde uns Griechen weit natürlicher und lieber sein.“ „Viele meiner Landsleute sind der gleichen Meinung“, sagte der Russe. „Aber der Kaiser hat einmal eine Vorliebe für England und haßt alles, was Napoleon heißt. So lange Kaiser Nikolaus lebt, ist auf eine Gemeinsamkeit Rußlands und Frankreichs nicht zu hoffen.“ „So erinnern Sie sich meiner Voraussage. England wird das Vertrauen des Zaren seinen eigenen Zielen opfern. Seine Eifersucht unterjocht alles auf dem Erdball - sie wird nie die Vergrößerung Rußlands dulden; denn Rußland ist sein gefährlicher Feind in Asien! Nie wird England ohne Kampf zugeben, daß Rußland sich am Bosporus festsetzt - und sollte es sich mit Frankreich zu diesem Kampf verbinden! Glauben Sie, der Zar rechnet falsch! Das griechische Blut wird vergebens fließen, wenn man auf englische Hilfe baut!“ Der Russe erwiderte nichts. Viele Russen dachten ebenso, und nur die Selbsttäuschung des Zaren und die deutsch-russische Partei am Hof vertrauten blindlings dem englischen Kabinett. Oberst Berger ging dem Kapitän voran, die Stufen hinunter, nach dem Feuer. Mamiami schien den Zwiespalt vergessen und ein tüchtiges Gelage im Sinn zu haben. Einer der
Weinschläuche war geöffnet, Krüge und Becher standen umher. Die Küche war einfach: ein großer gebratener Hammelrücken mit Brot und Früchten, auf einem Brett aufgetragen. Jeder bediente sich seines Dolchmessers. Die Becher kreisten lebhaft. Mamiami sprach mit dem russischen Offizier über die Vorgänge in Rom, über die französische Herrschaft und über den Weg, den sie nehmen wollten, um den Militärposten zu entgehen. Mamiami hatte neue Kundschafter ausgesandt und beschloß, nach ihrer Auskunft während der Nacht den Vittore zu verlassen und sich nach der adriatischen Küste zurückzuziehen. Es fiel Oberst Berger auf, daß Kapitän Grimaldi unter dem Vorwand eines Unwohlseins ablehnte, an dem Mahl teilzunehmen. Er begnügte sich mit einem Becher Wein, den Nicolo ihm reichte. Oberst Berger fing einen Blick auf, den Grimaldi mit Nicolo tauschte. Nicolo wies nach einer entfernten, durch eine hölzerne Tür geschlossenen Felsspalte, vor der ein Mann Wache stand. Pepe Mamiami lärmte wie gewöhnlich und kümmerte sich wenig um die Stimmung seiner Gäste. Auf einmal schien er sich auf etwas zu besinnen; er forderte reines Geschirr, legte Fleisch und Früchte in die Schüssel und schenkte einen silbernen Becher voll Wein. „Nicolo Zaccha“, sagte er. „Du scheinst so wenig Eßlust zu haben wie der Signor Capitano hier. Nimm die Schüssel und den Wein. Löse deinen Kameraden an meiner Hochzeitskammer ab und bringe der stolzen Signora ihr Mahl. Sage ihr, daß
Pepe Mamiami seine Siesta bei ihr halten will. Meine Geduld ist jetzt zu Ende. Du hast die beste Gelegenheit dabei,“ fügte er roh hinzu, „der Signora deine Entschuldigung zu machen, daß du sie ihrer Cameriera beraubt hast.“ Nicolo erhob sich und nahm Schüssel und Becher. Grimaldi stieß wie zufällig an seinen Arm; der Wein wurde verschüttet. „Verzeihung, Signor Capitano“, sagte der Kapitän zu Mamiami. Er ergriff rasch den Becher und füllte ihn wieder aus dem Schlauch. Dabei ließ er den Ring, der kurz zuvor die Entscheidung des Spiels herbeigeführt hatte, auf den Boden des Bechers gleiten. Nicolo trug Fleisch und Wein fort. Grimaldi setzte sich zu den andern. Mamiami erzählte von der Verteidigung Roms gegen die Franzosen unter Garibaldi1. Die Erinnerung riß ihn hin, und Grimaldi bemühte sich, ihn durch Einwürfe und Fragen immer wieder zu fesseln. Die Stunde der gewöhnlichen Siesta war fast vorüber; bis auf den Russen und den Kapitän hatten sich alle in den Schatten der Felsen zur Ruhe hingestreckt und lagen schon im Schlaf. Mamiami sprang auf. „Fermate, Signori!“ rief er. „Das Plaudern hat uns fast um die Siesta gebracht und mich alles vergessen lassen! Suchen Sie sich einen schattigen Fleck aus - und lassen Sie sich nicht stören, wenn Sie ein wenig Weibergekreisch hören sollten.“ Grimaldi erhob sich. 1
Vergleiche die Bände „Garibaldi“ und folgende
Seine Augen funkelten drohend; doch Mamiami achtete nicht auf ihn. „Wohin wollen Sie, Signor Capitano?“ „Sie haben Ihre Geschäfte, und ich die meinen, Signori!“ wies der Hauptmann ihn mit häßlichem Lachen augenzwinkernd ab. „Leben Sie wohl. Ruhen Sie im voraus für unseren Nachtmarsch.“ Sein Gesicht war gerötet von Wein und Aufregung. Ohne weiter auf die beiden Offiziere zu achten, ging er davon, dem Eingang des Felsengemachs zu, bei dem Nicolo an einem Stein lehnte. „Schlaf nicht!“ sagte er und stieß ihn mit dem Fuß an. „Sorge dafür, daß ich nicht gestört werde!“ Dann öffnete er die Holztür und verschwand. Kapitän Grimaldi stand aufrecht; seine Hand lag am Pistol - sein Blick folgte dem Banditen. „K tschortu! - Wohin wollen Sie, Freund? - Was kümmert uns das Treiben des Schurken!“ „Eine Frau schützen,“ sagte Grimaldi heftig, „die mir tausendmal teurer ist als das eigene Leben! Wenn Sie ein Mann von Ehre sind, folgen Sie mir.“
Gerichtet In dem Raum, vor dem Nicolo Wache hielt, saß an einem Tisch, die Stirn in die Hand gestützt, Lady Adelaide. Becher und Schüssel waren zur Seite geschoben; sie hatte nur etwas Brot und Früchte genossen. Der Wein stand berührt. Braunblondes, lockiges Haar umgab das blasse Gesicht. Die zarte Nase, der feine Mund und das schöngefärbte Kinn prägten ihrem jungen Antlitz Kühle und mädchenhafte Hoheit auf. Aber in den klaren, blauen Augen leuchtete ihre starke Seele. Bewußte Würde, Festigkeit und Entschlossenheit lag um den schmalen Mund. Düstere Schwermut zeichnete ihre Schatten um die großen Augen. Die Lider waren gerötet von der Aufregung, der Angst und der Anstrengung des nächtlichen Wachens. Zuweilen hob sich ihr Blick vom Boden und wanderte flehend umher. Voller Unrast stand sie auf und durchmaß das enge Felsengemach. Sie kämpfte mit einem Entschluß. Wieder durchirrten ihre Augen den Raum, als suchten sie eine Möglichkeit zur Flucht, einen Schutz gegen den angedrohten Besuch des Banditenhäuptlings. Aber Pepe hatte sorgfältig jede Waffe und jedes Gerät aus dem Gefängnis seiner schönen Beute entfernt. Wie magnetisch angezogen - sie stand an der entgegengesetzten Wand - fielen ihre Blicke auf
den verschmähten Wein. Es war ihr, als schwebe ein goldener Glanz auf seiner Oberfläche. Befremdet nahm sie den Becher und schüttete den Wein auf den Boden aus - der Ring Grimaldis fiel in ihre Hand. Ihr Gesicht wurde noch bleicher - dann überschoß es eine hohe Röte der Erregung und der Freude. Mit Staunen und Zärtlichkeit betrachtete sie das Kleinod, als traue sie ihren Augen kaum - und als erwecke der Ring süße Erinnerungen in ihrem Herzen. „Es ist mein Ring und er - er sendet ihn mir!“ hauchte sie endlich leise, tief bewegt, vor sich hin. Unwillkürlich drückte sie den kleinen, goldenen, nur mit einer dunklen Perle gezierten Reif an die Brust. „Er sendet ihn mir, denn selbst im Tod hätte er sich nicht von ihm getrennt! - Fünf lange Jahre war er mir verloren - und nur in meinem Herzen lebte sein Bild - und das Glück, daß ich ihn retten durfte aus den Kerkern der Zitadelle von Korfu. Und jetzt - in meiner größten Not ist er mir nah und sendet mir ein Zeichen! - Aber wie kommt er hierher? Wie hat er Kenntnis von meiner Gefahr?“ Tausend Gedanken durchkreuzten ihren Kopf. Ihr Herz schlug ruhiger. Sie vertraute der ewigen Vorsehung. Da störte sie ein leises Geräusch; die Tür hatte sich geöffnet. Sie wandte sich um - vor ihr stand Pepe Mamiami mit erhitztem Gesicht, und betrachtete mit lüsternen, leidenschaftlichen Blicken seine Beute. Mit einem Schrei sank Adelaide auf den Schemel.
„Signora“, sagte Pepe und trat frech auf sie zu „Es ist Zeit, daß wir wissen, woran wir beide miteinander sind. Ihre Sprödigkeit muß aufhören! Pepe Mamiami hat Sie nicht aus der Villa Sorrenti geholt, um lange den schmachtenden Liebhaber zu spielen. Ich bin in dich vernarrt, Täubchen. Du sollst die Meine werden, noch ehe wir heute nacht den Monte Vittore verlassen.“ Er versuchte sie zu umarmen; heftig stieß Adelaide ihn von sich. „Widerwärtiger Mensch“, rief sie. Ihre Augen flammten. „Eher wollte ich meine Stirn an diesem Felsen zerschmettern, als diese unsaubere Berührung dulden. Um was kann es einem solchen Mann zu tun sein, als um Geld? - Meine Freunde in Rom werden das geforderte Lösegeld zahlen. Jeden Augenblick kann der Bote zurückkehren - “ Der Bandit kraute sich lachend den Bart. „Schöne Signora, mit dem Lösegeld ist es nichts. Haben Sie nicht gemerkt, daß kein Bote abgegangen ist? Ich will nicht dein Geld, ich will deine Liebe? - Später läßt sich vielleicht auch von solchem Geld reden. Jetzt aber hat dich Pepe Mamiami für sein Vergnügen geholt - der Teufel soll mich zerreißen, wenn ich's mir nicht erzwinge!“ Er suchte sie zu fassen, aber Adelaide entwich ihm gewandt. „Cospetto Diana di Bacco! - Mach' keine Umstände, Täubchen!“ lachte er ärgerlich. „Wenn dir's auf Pfaffensegen ankommt, verspreche ich dir auf meinen Dolch: sobald wir in Sicherheit sind, lasse ich einen Mönch holen. Ich weiß ein schönes Häuschen im Aquiler Gebirge. Da wollen wir unsere
Flitterwochen zubringen und einstweilen den Eifer der Sbirren etwas verrauchen lassen. - Und nun laß uns die Siesta halten - kein Heiliger des Kalenders, und wenn der Heilige Vater selber sie anriefe, kann dir helfen.“ Adelaide sank an der Felsenwand nieder und hob ihre Hände flehend zum Himmel. Verzweifelnd irrten ihre Augen umher. Der Ring... der Ring... wo blieb die Hilfe? Mamiami umfaßte sie roh. „Jetzt aber Schluß mit dem dummen Getue!“ knurrte er ungeduldig. „Barmherziger Himmel!“ schrie Adelaide auf. Leib an Leib rang sie mit ihm. Aber Pepes riesige Kräfte brachen leicht ihren Widerstand. Da fühlte ihre Hand in seinem Gürtel den Griff einer Pistole. Sie entriß sie ihm und entglitt seinen Armen. Taumelnd flüchtete sie an die Felsen und streckte ihm drohend die Waffe entgegen. „Halt!“ rief sie heiser vor Erschöpfung. Ihre Knie brachen fast unter ihr und dunkle Schleier kreisten über ihren Augen. „Gott hat dich jetzt in meine Macht gegeben. Flieh, oder du fällst von meiner Hand!“ Mit gespannter Pistole trieb sie den knirschenden Banditen durch den Raum zum Eingang zurück. Da ließ eine von außen tönende Stimme, deren Klang fünf Jahre der Trennung in ihrem Herzen nicht hatten verstummen lassen, sie einen Augenblick die Vorsicht vergessen. Die Waffe senkte sich unwillkürlich - im Nu sprang Pepe auf sie los, wand ihr die Pistole und schleuderte sie in die Ecke.
„Gefährliche Katze!“ lachte er. „Feuerhaar und Feuerblut - das lieb' ich! - Komm, zieh die Krallen ein!“ „Markos! Zu Hilfe!“ Wieder keuchte der heiße Atem Pepe Mamiamis über ihrem Gesicht, wieder packten sie die breiten, harten Hände und suchten sie niederzuzwingen. Sie fühlte ihre letzen Kräfte schwinden - sie sank in die Knie - ihr Wille zum Widerstand war gebrochen. Da riß eine Faust den Banditen zurück. Adelaide sah auf - verwirrten sich schon ihre Gedanken, oder war es Wirklichkeit? - Zwischen ihr und der menschlichen Bestie stand groß und stark, von der hellen Felsenpforte her wie mit einem Segensschein umflossen: Markos Grimaldi. Pepe Mamiami war bei dem Ruck ausgeglitten und an den Felsen geschlagen. Knirschend vor Wut und Schmerz sprang er auf. „Hund!“ brüllte er. „Wie kannst du es wagen, hier einzudringen? - Fort - oder fürchte meine Strafe!“ „Ich dich fürchten?“ lachte Grimaldi verächtlich. „Diese Signora ist mir bekannt. Sie steht unter meinem Schutz! - Wage es nicht, sie zu beleidigen!“ Er trat schützend vor Adelaide. „Verräter!“ schäumte der Brigant. „Spion!“ Mit der Gewandtheit eines Tigers sprang er zurück, raffte die Waffe vom Boden auf und schlug sie auf den Gegner an. „Laß das Weib los!“ „Niemals!“ „So stirb!“
Der Schuß krachte, zu gleicher Zeit von zwei Händen zur Seite geschlagen. Die Kugel plattete sich an der Felswand ab. Oberst Berger und Danilos Petrowitsch, der erst eben im Lager angelangt war, hatten den Schuß von Grimaldi abgewendet und rangen dem Wütenden das Pistol aus der Hand. „Bei der Panagia!“ drohte der Uskoke. „Seid Ihr toll geworden, Pepe Mamiami - daß Ihr auf einen Mann zu schießen wagt, der besser ist als hundert euresgleichen? Wagt ihm ein Haar zu krümmen, und ich schlage Euch den Schädel ein!“ Durch den Schuß und den Lärm geweckt, drängten sich die Banditen am Eingang der Höhle. Der Trotz Mamiamis wuchs beim Anblick seiner Leute. „Ist das der Dank für die Gastfreundschaft, mit der ich die fremde Brut aufgenommen habe? Herbei, ihr Leute! Entwaffnet das Gezücht! macht es unschädlich!“ Es wäre sicherlich zu einem Kampf gekommen; denn Danilos und Oberst Berger griffen nach ihren Waffen und mehrere der Banditen sprangen unbedenklich vor; andere, darunter Nicolo und der alte Luigi, hielten sich zurück. Aber da trat Kapitän Grimaldi dazwischen. Er richtete sich gebieterisch auf, und seine blitzenden Augen, seine vorhin bewiesene Geschicklichkeit im Schießen und sein Ruf verfehlten ihre Wirkung auf die wilden Söhne des Gebirges nicht. „Zurück, Männer! Ich habe einige Worte mit Eurem Hauptmann zu reden.“
Die Briganten stutzten und blieben murrend und ungewiß, aber unwillkürlich gehorsam stehen. Grimaldi wandte sich zu Mamiami: „Sie sagten mit Unrecht, Capitano, ich habe Ihre Gastfreundschaft verraten! Erinnern Sie sich, daß zwischen uns weder Salz noch Brot genommen worden ist. Ich stehe Ihnen mit gleichem Recht gegenüber. Ich kam freiwillig hierher, um mit Oberst Berger zu verhandeln und - zu einem zweiten Zweck. diese Signora, die Sie geraubt haben, gegen Sie zu schützen. Und das habe ich getan und werde ich weiter tun - bis sie ihren natürlichen Beschützer wiederfindet.“ „Bei meinem Bart, das soll nicht geschehen!“ schrie der Hauptmann. Grimaldi hob den Kopf - laut und fest klang seine Stimme, daß keinem der Zuhörer ein Wort entging. „Beim Kreuz von Spoleto schworen Sie mir das Recht zu, jeden beliebigen Teil Ihrer Beute zu fordern! - Die Beute, die ich wähle, ist diese Signora. Wagen Sie es, mir mein Recht zu verweigern?“ Pepe Mamiami stutzte - wich zurück. Er stierte den Kapitän an - sein vorher hochgerötetes Gesicht nahm eine fahle Farbe an. In lächelnder Überlegenheit stand Grimaldi abwartend vor Adelaide. Aber in Wut und Trotz bäumte sich Mamiami auf. Er riß sein Stilett aus dem Gürtel. Schaum stand vor seinem Munde. „Pepe Mamiami hält seinen Eid! Du sollst sie haben!“ fauchte er gleich einem Raubtier. „Nimm sie - aber nicht lebendig!“ Mit einem Sprung warf er sich auf Adelaide und führte einen Stoß nach ihrem
Herzen. Doch schneller noch als Wut und Eifersucht war die Hand der Liebe. Kapitän Grimaldi schleuderte ihn zurück. In seinen beiden Händen blitzten die Pistolen. „Feiger Schurke! Nicht an Weibern, an Männern übe deine Wut! Komm - wenn du Mut hast! - Und ihr Männer, die ihr auf den Wällen Roms im Kampf gestanden - duldet ihr, daß dieser Meuchelmörder eure und seine Ehre schändet - daß er den Eid bricht, der jedem von euch heilig ist?“ „Der Signor Straniero hat recht! Das Weib gehört ihm, wenn er es fordert. Es gehört zur Beute - er hat es ehrlich erworben!“ Die Stimmen klangen wild durcheinander. Selbst der verkommene deutsche Maler, der willige Diener des Brigantenhäuptlings bei allen seinen Missetaten, wagte nicht, seine Sache zu vertreten. „Das Wort des Hauptmanns muß gelöst werden“, erklärte der alte Luigi. „Wir wollen dich mit unserem Leben gegen jeden Verrat und jede Gefahr schützen - nach unserem Eid, Hauptmann! - Aber keiner soll sagen, daß wir beim Kreuz von Spoleto wortbrüchig wurden. Laß sie schwören, Hauptmann, daß sie nichts von unseren Geheimnissen verraten wollen. Und dann schicke die Fremden und das Weib fort; ihre Anwesenheit hetzt uns nur die Soldaten auf den Hals, statt uns ein tüchtiges Lösegeld einzubringen.“ Die offenen Worte Luigis fanden allgemeine Zustimmung. Pepe Mamiami sah sich so zwischen zwei Gegnern. Er mußte nachgeben, um sein Ansehen nicht aufs Spiel zu setzen.
Die Fäuste geballt, die Brauen zusammengezogen, lehnte er am Felsen. „Nehmt die Dirne!“ sagte er barsch. „Der Teufel segne es euch. Ich löse mein Wort. Aber fort mit euch - zwei Stunden geb' ich euch Zeit! Dann wird Pepe Mamiami mit seinen Leuten hinter euch sein, - allen Soldaten und Sbirren zum Trotz. - Wehe euch, wenn er euch erreicht!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er die Höhle und befahl seinen Leuten, ihm zu folgen. Kapitän Grimaldi und Oberst Berger hatten genug von dem ungezügelten und selbstsüchtigen Tyrannen gesehen, um nicht zu wissen, daß ihre Rettung davon abhing, den Berg so bald wie möglich zu verlassen. Rasch trafen sie ihre Maßregeln. Der alte Luigi führte ihnen einen der Esel des Bauern zu, für den Oberst Berger ihn reichlich beschenkte. Ein Kissen diente als Damensattel. In finsterem Schweigen schauten die Banditen dem Aufbruch der kleinen Gesellschaft zu. Kapitän Grimaldi hielt den Zügel des Tieres in der Hand; zur Seite standen Oberst Berger und der albanesische Matrose. Danilos Petrowitsch trat noch einmal zu dem Hauptmann, der mit Grimm und Hohn die vier kühnen Männer betrachtete. „Laß uns in Frieden scheiden, Pepe Mamiami“, sagte der Uskoke. „Höre meine Warnung. Ich verlasse ungern die Junaks in der Stunde der Gefahr; aber Markos Grimaldi ist mein Milchbruder - und dem Krieger des Zaren habe ich mein Wort
verpfändet. Pepe Mamiami, rufe deine Tapferen und begleite uns! Die Stunde, die ihr länger hier verweilt, mehrt die Gefahr für euch! Daß Antonio Pescare von den Soldaten erschlagen worden ist, weißt du. Der Teufel ist los in den Tälern. Die Soldaten haben sich an zehn Punkten versammelt und wollen den Monte Vittore einschließen. Ich wäre schon heute morgen hier gewesen, wenn ich nicht genaue Kundschaft hätte einziehen wollen. Dabei bin ich selber von ihnen gejagt worden. Noch ist der Weg durch die Schluchten des Monte Sybillino frei - schließt euch uns an! Wenn es zum Kampf kommt, wollen wir Schulter an Schulter...“ „Halte den Verräter, Oheim Pepe!“ schrie in diese ernste Mahnung eine helle Knabenstimme Peppino sprang in den Kreis. Der Bauer, der am Morgen Kundschaft gebracht, und zwei der Banditen, die Wachen am Fuß des Berges, folgten ihm. „Nieder mit dem albanesischen Schelm - er hat uns alle verraten! - Er hat meinen Vater gemordet! Ich war dabei, als die Offiziere der Welschen davon sprachen! - Und mich hat er mit diesem Strick geknebelt und ins Gebüsch geworfen!“ Danilos war bei dem Anblick des Knaben zurückgefahren. Aber ehe er noch seine Waffen gebrauchen konnte, hatten sich die beiden mit dem Knaben gekommenen Banditen auf ihn geworfen und ihn entwaffnet. Grimaldi ging es ebenso - auf den Wink des Hauptmanns fielen die meisten anderen Banditen über ihn her. Nur der Russe mit seiner kalten, gleichgültigen Haltung blieb unangetastet, nun der einzige Schutz Adelaides.
Pepe Mamiami blickte gehässig auf die Gefesselten. „Ich ahnte, daß unsere Rechnung noch nicht abgeschlossen sei, Signor Grimaldi!“ höhnte er. „Die Verräter sollen ihren Lohn haben - und wenn im nächsten Augenblick die welschen Schergen hier zur Stelle sind! - Und du, falsche Katze, bist jetzt aufs neue meine Beute. Mach' dich bereit, in anderer Gesellschaft deinen Weg anzutreten.“ „Die Signora steht unter meinem Schutz, Oberst Mamiami“, mahnte der Russe. „Ich werde jede Beleidigung als mir angetan ansehen.“ „Das wird sich finden, Signor“, blitzte der Bandit ihn an. „Beim Kreuz von Spoleto, sie gehört mir, und ich werde sie zähmen, ehe der Mond über den Monte Vittore steigt! - Tritt her, Peppino. Sag', was du weißt.“ Grimaldi stand auch in seinen Banden ungebeugt und begegnete mit Verachtung dem boshaften Blick seines Gegners. Nur wenn seine Augen hinüberschweiften zu Adelaide, die er schon glücklich gerettet glaubte, trübten Schmerz und Sorge seine Züge. Der sonst so kühne, jeder Gefahr trotzende Uskoke aber stand schlaff und finster. Das Gewissen des einfachen Natursohnes machte ihm Vorwürfe - nach den Grundsätzen seines Volkes hatte er einen Verrat an der Gastfreundschaft, und sei es auch der eines Räubers, begangen. Er hatte seinen Feinden gedient; und nur der Gedanke an die noch heiligere Pflicht gegen den Milchbruder hielt ihn aufrecht. Kurz berichtete Peppino, daß der Uskoke von seinem Vater nach dem Turm gesandt worden war,
schilderte den unglücklichen Ausgang des Gefechts und das, was er von der Unterredung des Vikars Hunter und des Grafen Sternberg über den bevorstehenden Angriff der Österreicher erlauscht hatte. Auf dem Weg nach dem Vittore war er auf Danilos gestoßen. In der Erbitterung verriet er ihm seine Absicht und wurde von ihm gebunden, geknebelt und in ein Dickicht am Fuß des Berges geworfen. Am Nachmittag fand ihn dort der kundschaftende Bauer und befreite ihn. Bei ihrem Rückweg stießen sie auf die äußersten Wachen der Bande und brachten die Nachricht, daß österreichische Husaren und päpstliche Karabinieri den Fuß des Berges besetzt hatten. Aus allen Orten von Süden und Westen her zogen starke Soldaten- und Gendarmenabteilungen gegen die Briganten vom Monte Vittore heran. Schweigend hatte ihm Pepe Mamiami zugehört. Dann warf er einen harten Blick auf den Kapitän Grimaldi. „Wir wollen auch die Verräter nicht ungehört verurteilen“, sagte er mit Hohn. „Sprechen Sie, Kapitän Grimaldi. Was haben Sie zu Ihrer Rechtfertigung anzuführen; unsere Zeit ist kostbar!“ „Sie wissen so gut wie ich, Pepe Mamiami,“ antwortete Grimaldi verächtlich, „daß ich Ihnen keine Verpflichtung schulde. Der Schurke Pescare griff meine Freunde an. Ich freue mich, daß sie durch meine Hilfe gerettet wurden. Als Ihr Feind kam ich hierher, um die Signora zu befreien; ich bin in Ihrer Hand - morden Sie mich, wenn Sie wollen. Aber lassen Sie die Signora ungekränkt ziehen -
und diesen Mann, der nur auf meinen Befehl gehandelt hat.“ Pepe Mamiami wandte sich, ohne ihm zu antworten, an den Uskoken.„Und du, Danilos Petrowitsch? Der du manches gute Geschäft mit uns gemacht und mein Brot und mein Salz gegessen hast? Was hast du zu sagen über deinen gemeinen Verrat?“ „Der Teufel hat dich getrieben, das Weib da zu rauben, Pepe Mamiami“, fluchte der Uskoke. „Vom Weib kommt alles Unheil. Das Wort des Kapitäns Grimaldi ist Gesetz für mich. Deshalb tu du mit mir, was du willst.“ „Es ist gut“, erwiderte der Hauptmann. „Dem Verräter seinen Lohn! - Ihr habt gehört, Männer, was sie zu sagen hatten. - Entscheidet nach unserm Gesetz, was sie verdienen!“ In einer kurzen, heftigen Beratung widersetzte sich Nicolo dem Willen des Hauptmanns. Pepes Grimm steigerte sich, als die Mehrzahl der Bande auch diesmal der Ansicht Zacchas und Luigis beitrat. Fluchend stieß er den Dolch in die Scheide und wandte sich zu den Gefangenen. „Sie sind frei, Kapitän Grimaldi,“ knirschte er haßerfüllt - „nach dem Willen dieser Narren. Sie sollen mit uns ziehen, bis wir der Gefahr entgangen sind. Doch unter einer Bedingung - und merken Sie wohl, es ist die meine! - Dieser Mann muß sterben, noch ehe wir fortziehen. Er hat Verrat geübt an denen, die ihm vertrauten. Sie aber, Kapitän Grimaldi, der Sie ein so vortrefflicher Schütze sind, Sie sollen selber das Urteil an dem Verräter vollstrecken, oder - beim Kreuz von Spoleto, mit
dem Sie mich überlistet: Sie alle fünf sollen sterben - und dieses Weib zuerst!“ Kapitän Grimaldi, dessen Arme Nicolo Zaccha wieder befreit, bebte zurück. „Wagen Sie es wirklich, einem Mann von Ehre solchen Vorschlag zu machen? - Wenn Ihrem Haß und Ihrer Rache ein Opfer fallen soll, so lassen Sie es mich sein!“ „Ich hab' es geschworen beim Kreuz von Spoleto. Der Verbrecher durch Ihre Hand - oder ihr alle!“ „Hören Sie mich, Pepe Mamiami, und ihr alle“, rief Grimaldi. Er zog aus seiner Brusttasche einen Beutel. „Raub ist euer Gewerbe und Gold für Blut eure Losung. Dies Kleinod ist der einzige Schatz, der mir von dem Reichtum meiner Familie geblieben ist. Jeder Juwelier in Rom oder Neapel wird euch mit Freuden fünftausend Zechinen für diese Steine geben! - Nehmt sie - und laßt den Mann mit uns gehen!“ „Ich hab's geschworen!“ Drohend überflog Pepes Blick die Bande, deren Habsucht sich bei dem Vorschlag zu regen begann. „Ohnehin, Signor Grimaldi, wird Ihre Habe unser Eigentum, wenn Sie sich weigern!“ Danilos Petrowitsch hatte bisher stumm der Verhandlung über sein Leben zugehört. „Markos Grimaldi,“ unterbrach er jetzt, „ich will nicht fallen von der Hand eines Hundes. Die Männer meines Volkes sollen nicht sagen können, Danilos Petrowitsch, der Uskoke, sei im Bett gestorben1. Du sollst mein Leichenmahl halten, 1
Od boga, starok kronika! Die Redensart bedeutet: „eines
wenn du auf dem Verdeck meiner Tartane oder in den Felsenklüften Schamuriens stehst! Der Tod von der Hand eines Bruders ist süß, wenn es uns bestimmt ist, zu sterben! Bei dem Altar der armen Heiligen, Markos, sei ein Junak!“ Er schritt nach einem Feigenbaum und bot die Brust seinen Gegnern. „Bindet mir den Arm los, Männer, damit ein Tapferer nicht wie ein Sklave sterbe, wenn er den Blutpreis bezahlt!“ Luigi löste ihm die Hände. „Du dauerst mich, Danilos; aber der Hauptmann ist ein Teufel - er muß wenigstens ein Opfer haben.“ Pepe Mamiami nahm eine der drei goldenen Uhren, die er prahlerisch an seinen roten Brustlatz gehängt, in die Hand. „Fünf Minuten, Capitano Grimaldi! - Sind Sie entschlossen?“ „Ich bin es!“ Selbst Nicolo trat erschrocken zurück, als Grimaldi den Hahn seiner Pistole spannte offenbar bereit, dem grausamen Verlangen des Banditenhäuptlings zu willfahren: sich zum Henker des eigenen Freundes und Milchbruders zu machen - nicht, um sein eigenes Leben zu retten, aber das der fremden Frau. Adelaide flog durch die Schar der Männer auf den Freund zu. „Bei allem, was uns heilig ist, Markos - opfern Sie Ihre Ehre nicht um meinetwillen. - Lassen Sie uns zusammen sterben - und dort oben vereint sein, wenn uns hier das Schicksal trennt!“ natürlichen Todes gestorben“! – was bei den wilden albanesischen Stämmen fast einer Schmach gleichkommt.
Sie umklammerte seinen Arm; Grimaldi machte sich sanft los und übergab Adelaide dem russischen Obersten. Zwischen seinen dunklen Brauen lag eine drohende Falte. „Die Zeit ist um, Signor.“ Pepe Mamiami zeigte ihm die Uhr. Seine Oberlippe hob sich von den blinkenden Zähnen -- in seinen Raubtieraugen funkelte heiß und böse die Glut der Rache. „Schieß, Markos!“ rief der Uskoke. „Möge die Pagania einst seine verfluchte Seele jagen! - Grüß meine Taube und die Schwarzen Berge! Danilos hat sein Totenlied gesungen!“ Grimaldi erhob das Pistol. „Diese Männer sind Zeugen, daß jene dort frei ausgehen, wenn ich das blutige Gericht vollstrecke?“ „Zum Teufel! Schießen Sie, oder...“ Der Schuß fiel. Aber das Ziel war ein anderes - er selber, Pepe Mamiami, stürzte mit zerschmettertem Kopf zu Boden. Starr standen die wilden Gesellen, entsetzt über die unerwartete Tat. Erst der Jammerlaut Peppinos, der sich über die blutige, noch zuckende Leiche des Oheims warf, weckte sie aus ihrer Bestürzung. Der Kapitän sprang schützend vor Adelaide, die bei dem Schuß ohnmächtig niedergesunken war. An seiner Seite standen der russische Offizier und Danilos - in tollem Jubel über die kühne Tat schwenkte er die rote Mütze.
Die Hähne der Büchsen knackten - Messer und Dolche funkelten in den Fäusten der Räuber. „Zurück, Brüder!“ schrie Nicolo Zaccha. Luigi schwenkte die Büchse durch die Luft. „Der Tyrann hat nun seinen Lohn!“ rief der Alte. „Wer eine Hand gegen diesen Mann hebt, der uns von dem Schändlichen befreit hat, bekommt es mit uns zu tun! -Nieder mit allen, die es mit Mamiami halten! Evviva für den Capitano Grimaldi!“ Als prallten die Stürmenden vor einer unsichtbaren Mauer zurück, schwebten Dolche, Messer und Gewehrkolben sekundenlang in der Luft - Dann sanken sie langsam nieder. Hell klang noch der Ruf Luigis über die Felsen da trug das Echo jäh aus der Tiefe Flintenschüsse herauf. Kein Zweifel - die Vorposten des Banditenlagers mußten ange-griffen worden und mit den Soldaten in Kampf geraten sein. Verwirrt von der Überraschung, rannten die Räuber durcheinander. Die beiden Unteranführer mühten sich vergeblich, Ordnung herzustellen und Gehorsam zu finden. Jetzt zeigte sich die Führernatur Grimaldis. Er sprang auf einen nahen Stein; seine Stimme donnerte über die ganze Rundung des Felsenkessels. „Hierher, Männer - her zu mir! Hab' ich euch des Führers beraubt, so will ich euch auch führen im Kampf gegen die Schergen der Gewalt - meine Feinde, so gut wie die euren! -- Ruhe und Gehorsam, Männer! Mutig der Gefahr ins Auge gesehen!“
Als hätte er sich mit diesem Ruf ihres Willens, ihrer Hingabe bemächtigt, scharten sie sich willig um den neuen Führer. Seine Kühnheit und Tapferkeit war ihnen allen bekannt. Selbst Federigo, der Leutnant Mamiamis, fügte sich. In kurzen Sätzen erteilte Grimaldi seine Anordnungen. Zehn Banditen, unter seinem Milchbruder Danilos, sandte er den im Kampf begriffenen Posten zu Hilfe. Sie hatten den Felsenpaß zu halten, an dessen Eingang er am Morgen Nicolo getroffen. Von Nicolo und dem alten Luigi erfuhr er, daß am Ende des Felsenkessels, zwischen den Klippen verborgen, ein Ausweg nach der entgegengesetzten Seite führte. Durch die für alle Fälle vorbereitete leichte Sprengung der überhängenden Felsenmassen war er hinter ihrer Flucht zu schließen. Der nur den Vertrautesten bekannte Pfad führte an schroffen Abgründen vorbei in das Hochgebirge. Er konnte unmöglich von den Soldaten und Gendarmen entdeckt und versperrt sein. Indes die Räuber ihre beste Habe auf das zweite Saumtier und auf ihre eigenen Schultern luden, sandte Grimaldi Luigi und einen anderen voraus, den Weg auszukundschaften. Nicolo sollte alles zur Sprengung der Felsen bereithalten. Oberst Berger war es gelungen, Adelaide aus ihrer Ohnmacht zu erwecken. Er hob die Erschöpfte in den Sattel. Sie sah jetzt matt, aber gefaßt und ruhig den Maßregeln zu, die der Mann ihrer Jugendliebe mit Umsicht und Entschlossenheit traf.
Ein Zeichen des Rückzuges wurde verabredet. Dann verschwanden die Gewandtesten der Räuber auf den Stufen, die zu der Höhle des Felsenwalls führten. Dort legten sie sich in Hinterhalt. Erst jetzt trat Kapitän Grimaldi zu Adelaide und sah ihr in die Augen, die ihn - seit sie aus ihrer Ohnmacht erwacht war - nicht verlassen hatten. „Ihre Freunde und Befreier nahen früher, als ich gedacht, Adelaide“, sagte er. „In einer halben Stunde werden sie hier sein; denn ich denke ihnen nur so lange den Weg streitig zu machen, wie es zu unserer Rettung nötig ist. - Wenn Sie hier zurückbleiben wollen, werden Sie bald in Sicherheit sein.“ Tiefer und dunkler tauchte sein Blick in den ihren - und wie ein Hauch nur - klang ein schmerzlicher Unterton in seinen Worten. „Bei den Truppen ist Richard Hunter, Ihr Verlobter, gewiß unter den Vordersten. - Sagen Sie ihm, ich hätte mein Wort gehalten! - Leben Sie wohl - und die heilige Jungfrau segne Sie!“ Ihre Hand legte sich auf seinen Arm und hielt ihn zurück. „Und wohin gehen Sie - Markos?“ „Ich bin ein gehetztes Wild, Adelaide.“ Grimaldi zuckte die Achseln. „Ausgestoßen von den Menschen - wie diese Männer hier. Mein Bleiben wäre Tod oder ewiger Kerker. In Ripatransone erwartet mich die schnelle Tartane meines Milchbruders - sie wird mich zu einer anderen Küste führen - zu einem heiligeren Kampf für die Freiheit meines Glaubens und meines Volkes.“ „Ich verlasse Sie nicht, Markos“. Ernst und entschlossen griff sie nach dem Zügel ihres
Reittieres. „Nicht, bis ich Sie in Sicherheit weiß. Ich begleite Sie an das Meer - lassen Sie mir die letzte Pflicht und das letzte Glück meines Herzens!“ Er küßte in wahrer Freude ihre Hand; dann rief er den Russen und bat ihn, unter Federigos Beistand den Rückzug mit der Signora und dem Gepäck anzutreten. Der Kampf hatte sich näher und näher den Berg heraufgezogen. Aus dem Knall der Büchsen und den Hornrufen des Militärs hörte man, daß er jetzt um den Felsenpaß wogte, der Hauptverteidigung des Bergzugangs. Grimaldi verließ den Lagerplatz und eilte zu den Kämpfenden. Trotz der großen Überzahl der Gendarmen und Soldaten hielten sie noch den Paß. Der Abend begann sich auf die Täler niederzusenken. Die Berghöhen leuchteten in den Strahlen der scheidenden Sonne. Kapitän Grimaldi sah ein, daß ihre Flucht gesichert war, wenn die Verteidigung nur bis zur Dämmerung hingezogen werden konnte. Drei der Banditen waren schon gefallen; die Gendarmen gingen mit ungewöhnlicher Kühnheit vor, durch die Karabiner der abgestiegenen Husaren unterstützt. In ihren vordersten Reihen focht ein Zivilist, den linken Arm trug er in einer Binde. „Maledetta bestia!“ fluchte Tancredi. Der Zivilist hatte mit seiner leichten Flinte über den verwundeten Arm hin eine wohlgezielte Kugel in sein Versteck gesandt. Dicht über dem Kopf Tancredis plattete sie sich an dem Felsen ab. „Es
soll deine letzte sein, so wahr ich ein Kalabrese bin!“ Damit rammte er die Kugel in den Lauf, schlug über einen Stein an und zielte. Der Stoß einer Hand gab jedoch dem Schuß eine andere Richtung; die Kugel traf einen der Husaren; er warf die Arme in die Luft und stürzte zu Boden. „Es ist Zeit, daß wir unsern Rückzug antreten“, flüsterte neben ihm Kapitän Grimaldi. „Mach' dich fort - zum Eingang des Lagers.“ Tancredi verschwand. Grimaldi sah einen Augenblick mit einem Sturm widersprechender Gefühle im Herzen zu dem glücklichen Gegner seiner Liebe hinüber. Zum drittenmal hatte er sein Leben gerettet. Dann eilte auch er zurück. Ein schriller Pfiff. Die Briganten glitten wie Schatten im Zwielicht zwischen den Felsquadern und Klippen hin, dem durch die Efeuwand verborgenen Eingang des Kraters zu. Als ihre Gegner ihnen mit raschen Sprüngen folgen wollten, empfing sie eine Salve der auf der Höhe des Walls liegenden Räuber und trieb sie mit blutigen Köpfen zurück. Nur noch einige Schüsse wurden gewechselt; dann sammelte Rittmeister Graf Sternberg, der den Angriff leitete, seine Leute zu einem gemeinsamen Ansturm. Die Trompete schmetterte. Die Soldaten stürzten gegen den Wall und die Felsenöffnung, klommen empor und drangen ein Aber sie fanden keinen Widerstand mehr.
Als die ersten, unter ihnen Richard Hunter und sein Vetter, Graf Sternberg, den Lagerplatz betraten, war er leer. Eben verschwanden die dunklen Gestalten der letzten Banditen, wie von der Erde verschlungen, zwischen den Felsenwänden der gegenüberliegenden Seite. Sie eilten den Flüchtenden nach. Hinter einer vorspringenden Klippenwand öffnete sich torartig ein Felseneinschnitt. Da flammte und blitzte es oben auf der Höhe der Klippenmauer. Eine Sprengung schleuderte gewaltige Fels-und Steintrümmer herab und versperrten jeden Ausgang. Als nach kurzem Zögern die Stürmer über Wall und Trümmer kletterten, sahen sie einen jähen Abgrund vor sich. Sein früherer, brückenartiger Übergang war durch die Sprengung in die Tiefe gestürzt. Jede Verfolgung nach dem gegenüberliegenden Felsengewirr war unmöglich. Mit schwelenden Kienfackeln wurde sorgsam der Lagerplatz der Banditen untersucht. Er war geräumt; was man fand, war wertlose, zerstreute Beute. Nur in der Mitte des Raumes - nahe dem wilden Feigenbaum - lag, auf den Boden gestreckt, einer der bisherigen Herren des Monte Vittore. die blutige Leiche Pepe Mamiamis. Auf ihrer Brust schimmerte ein weißes Blatt, auf dem mit Bleistift geschrieben war: „Gerichtet für den Raub der Lady Adelaide Seymour!“
Richard Hunter erkannte die Hand, die dies geschrieben hatte...
Der kleine Verräter In der Osteria Franzescos an der Straße von Spoleto nach Ascoli, unterhalb des Monte Vittore, herrschte am andern Vormittag ein reges Leben. Gendarmen und Soldaten lagerten ringsum. Streifen kamen und gingen. Die Schenke war zum fliegenden Lazarett für die beim Kampf an dem alten Jagdkastell und auf dem Monte Vittore Verwundeten eingerichtet. Unwirsch schritt der Husarenrittmeister, Graf Sternberg, mit einem Gendarmerieoffizier vor dem Hause auf und ab. Am Tisch unter einem Kastanienbaum saß sinnend der Vikar auf einer Rasenbank. Die jungen Engländer, Köpfe und Arme in Binden, unterhielten sich mit einem Husarenkornett, so gut es ihre beiderseitigen Sprachkenntnisse erlaubten. „Es ist, als ob die Erde sie verschlungen hätte“, sagte ärgerlich der Graf. Er stieß mit der Säbelscheide klirrend auf den Boden. „Von Castelluccio bis Monako haben meine Streifen das Gebirge noch in der Nacht durchsucht. Auf allen Wegen stehen starke Wachen. Aber keine Spur von den Banditen. Ich muß gestehen, Sie haben ein seltsames Vertrauen, Vetter Hunter, in Ihren seltsamen Freund - diesen neapolitanischen Conte. Sie scheinen wirklich, seit wir den Lagerplatz der Banditen erstürmt und den Leichnam ihres Führers gefunden haben, keine Besorgnis mehr zu hegen um Ihre Braut.“
„Sie ist in Gottes Hand“, sagte leicht befangen der Geistliche. „Ich glaubte bestimmt: hätten wir nach meines Freundes Anweisung bis um Mitternacht mit dem Angriff gezögert, wir würden weitere Nachricht von ihm erhalten haben. - Jetzt ist er vielleicht genötigt gewesen, die Banditen zu begleiten und sich mit ihnen zu verbergen.“ Der Vikar sprach nicht aus, warum ihm diese Annahme wahrscheinlich war. Der Graf aber gab dem sich ihm immer mehr aufdrängenden Bedenken unmutig Worte. „Nur ein Wahnsinniger oder ein Mann, der mit den Räubern in geheimer Verbindung steht, konnte es wagen, in ihren Schlupfwinkel einzudringen! Die Geschichte, die Sie mir erzählt haben von dem Erkennen eines früheren Dieners, der ihm das Räubernest auf dem Vittore verraten haben soll, ist auch auffällig. Ebenso die Zurückhaltung, die Sie alle über diesen - neapolitanischen Grafen beobachten.“ „Ich glaube selber, daß wir nicht länger Rücksicht gegen den Menschen bewahren dürfen“, sagte der junge Ward plötzlich. „Ich weiß überhaupt nicht, ob sie sich mit der Pflicht gegen meinen Vater und unser Land verträgt!“ „Gegen Ihr Land?“ fragte erstaunt Graf Sternberg. Der Vikar sah den Sprecher streng an. „Hüten Sie sich, James, eine Handlung zu begehen, die eines Gentleman unwürdig wäre! Bedenken Sie wohl, daß wir alle ihm allein unsere Rettung verdanken.“
In diesem Augenblick unterbrach Franzesco, der Wirt, das gefährlich werdende Gespräch. Er näherte sich mit vielen Verbeugungen, einen Brief in der Hand. „Exzellenza,“ sagte er zu Hunter, „hier ist ein Brief an Sie - wenigstens glaube ich, daß er an Sie gerichtet ist.“ „Ein Brief an mich? - Gib her! - Gott sei Dank, es ist eine Nachricht von ihm!“ Alle scharten sich neugierig um ihn. Nur Graf Sternberg trat zum Wirt. „Wer brachte den Brief?“ „Ein Bauer aus dem Gebirge, Signor.“ „Wo ist der Mann? - Führt mich zu ihm!“ „Verzeihung, Exzellenza! Der Mann ist schon seit einer halben Stunde wieder fort. Ich kannte ihn nicht. Ich habe nur nicht gewagt, das Gespräch der Signori zu unterbrechen!“ Der Offizier warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. Überzeugt, daß er von dem schlauen Italiener nichts erfahren werde, wandte er sich wieder der Gruppe der Engländer zu. Der Vikar stand abseits und las den Brief still für sich... „Mein Freund! Lady Adelaide ist gerettet und ungekränkt in Sicherheit; ihr Räuber ist von meiner Hand gefallen. Gestern, als Sie an der Spitze der Soldaten den Vittore stürmten, war ich Ihnen nahe. Der Angriff hat uns zur Flucht gezwungen und verhindert, dass Lady Adelaide schon jetzt bei ihnen ist. Sie selber, in allzu großem Dank für das wenige, das ich
getan, besteht darauf, mich bis zur Küste zu begleiten. Sie werden die Lady morgen früh um die neunte Stunde in der Osteria des Dorfes Gasoli, auf der Straße von Ripatransone nach Grottamare, finden. Bringen Sie bitte eine Dienerin und Kleidung für Sie mit. Wir, mein Freund sehen uns nicht wieder. Zu welcher Küste mich die Woge morgen trägt - ich werde der Feind Englands sein. Wenn uns auch Meere und Welten trennen, vergessen Sie mich aber nicht in Ihrem Glück an Adelaidens Seite! G.“ „Sie ist frei! - Sie ist gerettet!“ rief der Vikar und wandte sich um. „Morgen wird sie in unserer Mitte sein! - Der Bandit auf dem Monte Vittore ist von seiner Hand gefallen!“ „Er ist ein wackerer Soldat - und es kümmert mich nicht, was Ihrer Majestät Regierung gegen ihn haben mag“, rief Kornett Pond. Er nahm einen Becher Wein vom Tisch. „Ein Hurra für den Kapitän Grimaldi und seine wackere Tat!“ Er schwang den Becher - im nächsten Augenblick aber wurde er bleich; denn seine Augen begegneten dem forschenden Blick des österreichischen Offiziers. Er fühlte die Unvorsichtigkeit, die er begangen. Noch ehe der Vikar irgendeinen Ausweg finden konnte, wandte sich der Rittmeister an den Kornett. „Kapitän Grimaldi, sagten Sie - ein ionischer Flüchtling - einer der Rebellenführer von Venedig?
Die Regierung meines Kaisers und die Ihrige haben einen Preis auf seinen Kopf gesetzt...“ „Entschuldigen Sie, Sir“, entgegnete der Kornett unwillig. „Das, was ich sagte, galt für mich und diese Herren. Ich bin Ihnen über die Namen, die es mir zu nennen beliebt, keine Rechenschaft schuldig.“ „Sehr wohl, mein Herr“, sagte Graf Sternberg stolz. „Ich möchte Sie nur daran erinnern, daß ich der kommandierende Offizier bin und daher jedes Recht zur Nachfrage habe. - Doch Sie, Vetter Hunter, werden mir die Auskunft nicht verweigern. Wollen Sie mir nicht mitteilen, was dieser Brief enthält?“ Der Vikar war verlegen. „Verzeihen Sie, Vetter,“ sagte er, „daß ich bei allem Dank, den wir Ihnen schuldig sind, doch Ihrem Verlangen nicht entsprechen kann. Dieser Brief enthält unter anderem die Mitteilung, daß Lady Seymour in Sicherheit ist - und die Aufforderung, sie zu treffen.“ „Wo?“ Der Vikar schwieg. „Sie wollen mir nicht sagen, wo Sie die junge Dame und Ihren Ritter treffen wollen?“ „Ich bin gezwungen, es Ihnen wenigstens für die nächsten zwei Tage zu verschweigen. Sie sollen alles erfahren - nur jetzt nicht. Sie werden mir recht geben, daß einzig die Pflicht...“ „Die erste Pflicht, die ich kenne,“ sagte Graf Sternberg kalt, „ist die gegen meinen Kaiser. Ich bin Soldat und kein Polizeibeamter. Deshalb habe ich Ihnen nur glückliche Reise zu wünschen.“
Er verbeugte sich, ohne die ihm von dem Vikar versöhnlich entgegengestreckte Hand anzunehmen, und entfernte sich mit dem Offizier der päpstlichen Gendarmen. Die Engländer trafen Anstalten zu eiligem Aufbruch, ohne daß der Vikar seinen jungen Freunden etwas Näheres mitgeteilt hatte. In dieser Zeit entfernte sich der österreichische Offizier mit seinem Begleiter in ärgerlichem Gespräch von der Osteria. Sie schritten eine Strecke auf dem Gebirgsweg aufwärts, als Graf Sternberg sich an der Uniform gezogen fühlte. Er blickte sich um. Neben ihm stand der Knabe Peppino und blickte ihn mit boshaft funkelnden Augen an. Der Graf erinnerte sich seines sonnverbrannten Gesichtes nicht sogleich. Er glaubte, der Bursche wolle ihn anbetteln und reichte ihm eine kleine Münze. „Pack' dich!“ Aber der Knabe wies das Geldstück zurück. „Bist du der Offizier über alle Soldaten?“ fragte er. „Ich bin's. - Was willst du von mir?“ „Höre, Signor, ich will dir etwas anvertrauen. Suchst du niemanden in diesen Bergen?“ „O ja, - Leute deiner Familie, - denn du scheinst mir zu dem Gesindel zu gehören. Ah, und jetzt erinnere ich mich - du bist der Sohn des erschlagenen Räubers. Ich kenne dich. - Nicht von der Stelle, Bursche. Ich glaube, du kannst mir die beste Kunde geben!“ Peppino sah den Rittmeister trotzig an.
„Du kannst mich nicht zwingen. Ich werde kein Wort sprechen. Ich bin kein Verräter wie der verfluchte Albanese. Aber ich habe ihm Rache geschworen - ihm und dem Fremden, der meinen Oheim erschossen hat - und der ganzen Bande! Keiner hatte den Mut, seinen Hauptmann zu rächen.“ „Von welchem Fremden sprichst du? Warst du auf dem Vittore?“ „Ja!“ antworte Peppino stolz. „Meinst du, ich hätte meinen Oheim nicht Kunde bringen sollen von Eurer Absicht? - Hätte mich der verdammte Schmuggler nicht gebunden und hätte Oheim Pepe die Banditen geführt statt des fremden Capitano, auf dessen Kopf ein Preis von hundert Skudi steht Ihr wäret nicht so leicht auf den Vittore gekommen!“ „Höll' und Teufel! - So wäre meine Vermutung richtig? - Weißt du, wie der Mann heißt, von dem du sprichst?“ „Capitano Grimaldi nannte die Signora ihn. Ich hörte, wie er sagte, er müsse mit den Banditen flüchten, weil ein Preis auf seinen Kopf gesetzt sei. Es war noch ein anderer Mann bei ihnen, den Danilos zu meinem Oheim gebracht - aber ich kenne ihn nicht.“ „Und dieser Grimaldi leitete die Verteidigung der Banditen gegen uns? Kannst du ihn mir beschreiben?“ „Er gab ihnen die Befehle. Die Feiglinge gehorchten ihm. Er ist ein großer Mann mit dunklem Haar, auf der Stirn eine Narbe.“ Der Rittmeister suchte in seiner Brieftasche nach einem Steckbrief.
„Es ist Kapitän Grimaldi, der Rebell von Korfu und Venedig - kein Zweifel!“ „Gibst du mir die hundert Skudi, wenn ich ihn in deine Hände liefere?“ fragte rachsüchtig Peppino. „Du sollst sie haben. Deine Banditen und Straßenräuber kümmern mich wenig, wenn ich auf der Spur dieses Mannes bin!“ Er lachte triumphierend vor sich hin. „Also das, mein kluger Herr Vetter, ist die Ursache deines Schweigens. Es ist klar, daß Hunter ihn von Korfu her kennt; das erklärt alles; aber es kann mich nicht hindern, meine Pflicht zu tun. - Schnell, Knabe, sprich: wo ist der Kapitän? Wie können wir uns seiner bemächtigen?“ „Ich will dir vertrauen“, nickte Peppino. „Der Capitano Grimaldi geht mit der Signora nach Ripatransone. Weshalb, weiß ich nicht. Aber ich habe erlauscht, daß übermorgen früh, eine Stunde nach Sonnenaufgang, der Capitano zwei Miglien jenseits Grottamare - wo das Gebirge ins Meer fällt - sich auf der Tartane des Schurken Danilos mit dem Fremden einschiffen wird.“ „Wie weit ist Grottamare von hier?“ „Fünfunddreißig Miglien, Exzellenza. Aber du mußt mich mit dir nehmen, damit ich es sehe, wenn der verdammte Schmuggler und der Capitano gehängt werden.“ „Du sollst mit, Bursche, und sollst - bei meinem Wort - die ausgesetzte Belohnung empfangen. Jetzt gilt es Eile und Vorsicht, daß die Engländer nichts von unserer Absicht merken und den Rebellen warnen. Flink, verbirg dich wieder im
Gebüsch, damit dich niemand bemerkt. Ich hole dich ab, wenn wir bereit sind.“ Schnell kehrte der Rittmeister mit dem Gendarmerieoffizier zu der Osteria zurück. Hier fand er zu seiner Freude den Vikar im Begriff, mit seinen Begleitern und den Dienern, deren Wunden das Reiten gestattete, aufzubrechen. Hunter nahm ein wenig bedrückt Abschied von dem Grafen; doch half ihm Sternberg wider Erwarten über den unangenehmen Augenblick hinweg. Er schüttelte ihm die Hand, und sagte mit leichtem Spott: „Meine Fragen sollen Sie nicht weiter belästigen, Vetter. Es freut mich, daß ich imstande war, Ihnen einen kleinen Dienst zu leisten. Drücken Sie Ihrer Braut mein Bedauern aus, daß ich ihre Rettung einem anderen überlassen mußte und sie nicht selber in Ihre Arme führen konnte. - Vielleicht, daß sich noch einmal im Leben Gelegenheit findet, die Heldin so romantischer Abenteuer zu bewundern!“ Er grüßte kühl die jungen britischen Offiziere und wandte sich zur Osteria. Hunter gab das Zeichen zum Aufbruch. Kaum aber waren sie in den Felsenwegen verschwunden, so erteilte der Rittmeister den Befehl, die ausgestellten Wachen zurückzurufen. Ehe eine Stunde vergangen war, schlug er mit einer Abteilung Husaren und einigen berittenen römischen Gendarmen den Weg nach seiner Station ein. Nur er und der Offizier der Gendarmen kannten den Zweck des überstürzten Aufbruchs. Neben dem Pferd Graf Sternbergs trabte rüstig Peppino, der kleine Verräter.
Der Sprung in die Freiheit Die Brandung peitschte gegen den Felsenwall der Straße, die dicht am Ufer des Adriatischen Meers von Grottamare nach Norden führt. Lady Adelaide und Kapitän Grimaldi hatten bei Sonnenaufgang die kleine Osteria verlassen, in der Vikar Hunter Lady Adelaide am Morgen treffen sollte. Vergeblich erwartete Grimaldi in Ripatransone seinen alten Diener und eine Nachricht von der französischen Handelsbrigg. So blieb ihm nur übrig, sich Danilos Schmugglertartane anzuvertrauen und von dem Anerbieten des Obersten Berger Gebrauch zu machen. Der russische Agent war mit Danilos schon am Abend aufgebrochen, um die in den Felsenbuchten verborgene Tartane aufzusuchen. Lady Adelaide hatte darauf bestanden, Grimaldi bis zum Strand zu begleiten. Von den Banditen hatten sie sich schon vor Ripatransone getrennt. Grimaldi zahlte ihnen ein fürstliches Lösegeld für Adelaide -- er zerbrach den kostbaren Schmuck, sein einziges Erbe, und gab die Hälfte den Räubern. Der Matrose, der Danilos in die Gebirge begleitet, war bei ihm zurückgeblieben, um den Kapitän zu der Bucht zu führen, in der die Tartane lag. Er folgte in einiger Entfernung dem Paar. Grimaldi schritt neben dem Maultier Lady Adelaidens her, die Hand auf die Lehne des Sattels gestützt.
„Es wird meinem alten Diener Theodoros leicht sein, die albanesische Küste zu erreichen und mich in Cetinje aufzusuchen“, sagte er zu Adelaide. Seine Stimme klang müde und abgehetzt. „Da Sie Ihre Güte so weit treiben wollen, Theodoros in Ripatransone zu erwarten - sagen Sie ihm, daß ich nur mit Widerstreben ihn hier zurücklasse. - Die Treue ist selten im Leben. Wo man sie findet, muß man sie teuer halten und wahren!“ Adelaide schwieg. Ihre Augen blickten feucht in die Weite. „Dort ist die See!“ fuhr Grimaldi fort. Er deutete auf die glänzende Fläche. „Und dort, sehen Sie dort, Adelaide - der von dunklem Baumwuchs und Gebüsch umgebene Felsenvorsprung - Dort müssen wir scheiden. Die Tanne neben der Klippe und hier das Kreuz am Weg, von dem Stephanos uns gesagt. - Sehen Sie, er winkt uns hinüber.“ Wieder umfingen sie seine dunklen Augen. „Neuer Kampf, neues Ringen um diese Spanne von Leben. Unter den Freiheitskämpfen meines Volkes, unter Strömen von Blut werde ich an Sie denken. O, könnte ich mit Ihnen ziehen, vereint, zu einem Land des Glücks und der Ruhe - zu einer Freiheit, fern von den Vorurteilen der Welt.“ Er griff nach ihrer Hand. Adelaide wehrte ihm nicht. Ihr Blick kehrte sich ihm wehmütig zu. „Es kann nicht sein, Markos! - Unser Glaube, der ganze Haß und Stolz zweier Völker - und mehr als das: das freie Wort, das ich dem Mann gab, der mich liebte - dann erst gab, als ich Sie nie mehr wiederzusehen glaubte - das alles trennt uns für immer. Der erbitterte Kampf, den Sie gegen
England führen, duldet keine Vereinigung. Englands Tochter kann nicht das Weib seines Feindes sein. Einst, Markos, in schöneren Tagen, träumte ich von Glück. Aber die grausame Politik der Völker griff in unser bescheidenes Leben und trennte uns und unsere Liebe.“ Stephanos, der Matrose, war herangekommen und schritt nun voran, um sie zu führen. Grimaldi lenkte das Reittier schweigend von der Heerstraße ab. Stumm setzten beide den Weg hinter dem Matrosen fort. Aus dem Dickicht niederer Tannen und wilder Rankengewächse streckte sich eine mächtige Felsplatte weit hinüber ins Meer. Stephanos sandte seine spähenden Augen umher und richtete sie dann hinaus auf die See. Mehr und mehr senkten sich die Morgennebel. Adelaides Hand faßte krampfhaft die ihres Freundes, die andere wies hinaus nach dem Meer. „Dort! Dort! - O mein Gott!“ Aus den weißen Nebelmassen ragten in der Ferne die Spitzen zweier Masten. Mit Staunen betrachtete sie Stephanos. „Bei den blutigen Heiligen von Ostrog! Diese Masten gehören nicht zur 'Meerschwalbe'.“ „Dann liegt sie noch im Nebel verborgen - oder du irrst dich. Wenn du gewiß weißt, daß dies der richtige Ort ist, wo das Boot landen soll, können wir es jeden Augenblick erwarten. Der Nebel verhindert uns, das Zeichen zu geben. Geh an den Fuß der Klippe und rufe, wenn du sie nahen hörst.“ Stephanos gehorchte schweigend. Kopfschüttelnd sah er hinüber zu den fernen,
flaggenlosen Spieren; denn er erwartete unten, am Strand der engen Buchtung, in der die Brandung über dem überhängenden Felsen schäumte, noch etwas anderes zu finden, das er dem Kapitän bis jetzt verschwiegen. Grimaldi und Adelaide waren wieder allein. Sie zeigte ihm den Ring an ihrem Finger, den er ihr in dem Weinbecher gesandt hatte. „Lassen Sie mich ihn zurücknehmen und tragen zu Ihrem Andenken - und zum Gedächtnis der Liebe, die sich in Blut und Tod bewährt“, bat sie weich. „Nehmen Sie dies Medaillon dafür; es ist das einzige, was ich Ihnen noch geben darf!“ Er preßte das Medaillon, das eine Locke und ihr Bild umschloß, an seine Lippen. Seine geübten Ohren hörten ein Geräusch. Er hob den Kopf und lauschte. Dann wies er nach der Straße von Grottamare, die auf weite Entfernung hin von hier aus übersehen werden konnte. „Adelaide, lassen Sie uns scheiden!“ Zwei Reitergruppen näherten sich im Abstand voneinander eilig auf den sonnenbeglänzten Weg. Die erste, nähere, bestand aus vier Reitern - die scharfen Angen Grimaldis hatten sie erkannt. Die zweite Gruppe war noch nicht zu unterscheiden. „Richard Hunter mit seinen Freunden naht, Adelaide. Er hat die Zeit nicht erwarten können, Sie zu sehen! - Wollen Sie, daß ich Zeuge seines Glückes werde?“ Sie trieb ihr Maultier unwillkürlich an - aber nach den ersten Schritten hielt sie es zurück.
„Adelaide - für immer!“ Aus ihren großen Augen tropften Tränen. Sie kehrte zurück zu ihm, neigte sich aus dem Sattel und küßte seine Stirn. „Für immer - leb' wohl, Markos!“ Die Hände zu Fäusten geballt - den Kopf zurückgebogen, empfing Grimaldi stumm den Kuß. Dann galoppierte ihr Tier den Klippenhang hinab - der Straße zu. Die Arme über die Brust gekreuzt, stand Grimaldi und verfolgte mit starren Augen die Reiterin. Hart schlug die Brandung an den Felsen. Sie, die er liebte, ritt dahin - einem anderen entgegen . . . „Da ist der Capitano Grimaldi, Signor. - Ich habe mein Geld verdient!“ Er zuckte auf - neben ihm stand ein zerlumpter Knabe - Peppino und bei ihm der Rittmeister Graf Sternberg. Grimaldi taumelte vor der verhaßten Uniform seiner Häscher unwillkürlich zurück. „Mein Herr,“ sagte Graf Sternberg, „ich bedauere einen tapferen Soldaten - aber die Pflicht zwingt mich: im Namen Seiner Majestät des Kaisers - Sie sind mein Gefangener!“ Ein rascher Sprung rückwärts auf den Felsengrat über der Brandung brachte Grimaldi aus dem Bereich der Hand seines Feindes. Seine Augen blitzten; alle Weichheit, aller Schmerz des Verlierens versank - er war nichts anderes als der kühne, zu allem entschlossene Krieger.
„Noch nicht, Signor! - Ich gebe meine Freiheit nicht so leicht in Kauf!“ Seine Hände hielten die Pistolen. „Vergießen Sie nicht unnütz Blut, Signor. Tragen Sie das Unabänderliche wie ein Mann“, mahnte Graf Sternberg. „Sie sehen“, - er deutete nach dem Fuß der Klippe, um den Husaren zu Fuß und Gendarmen, aus ihrem Versteck in den Büschen auftauchend, eine Kette bildeten. -„Jeder Ausweg ist Ihnen versperrt. Hinter Ihnen das Meer.“ „Cospetto - auch alte Freunde sind da, die den Capitano nicht im Stich lassen!“ Ein Flintenschuß knallte hinter der unbekannten Stimme her aus den wilden Myrtenbüschen der Felsspalten. Die Kugel riß das Kaskett des Offiziers ab. „Herbei, Kameraden! Zu Hilfe dem tapferen Capitano, der den Hund Pepe erschoß!“ Nicolo, die abgeschossene Flinte in der Hand, sprang im Rücken des Bedrängten auf die Felsenspalte; ihm folgten vier andere Banditen, darunter Federigo und der alte Luigi. „Wundern Sie sich nicht, Capitano, uns hier zu sehen?“ lachte der Alte. „Wir haben's mit Stephanos, dem Matrosen, abgemacht, daß er uns mitnimmt auf der Tartane; denn der Boden ist für einige Zeit zu heiß für uns durch die verdammten Soldaten. Bis das Boot kommt, Capitano, wollen wir die Burschen da schon abhalten!“ „Sie sehen, ich habe unerwartete Hilfe erhalten“, wandte sich Grimaldi an den Grafen. „Ziehen Sie sich zurück und lassen Sie mich und diese Männer ungehindert den Boden Italiens verlassen.“
Der Rittmeister wandte sich verächtlich ab. „Ich bin nicht gewohnt, mit einem Genossen von Räubern und Mördern zu unterhandeln! Schreiben Sie es sich selber zu, wenn Sie als solcher behandelt werden!“ Er verließ mit festem Schritt den Felsengrat und zog sich zu seinen Leuten zurück. Grimaldi verhinderte die Banditen, auf ihn zu schießen. Die gefährliche Lage, in der sie sich befanden, veranlaßte ihn zu schnellem Handeln. Er mußte den Felsenvorsprung bis zur Ankunft des Bootes der Tartane verteidigen. Auch Graf Sternberg gab seine Befehle. Die Husaren zu Pferde schnitten jede Flucht nach der Landseite hin ab. Den Karabiner schußbereit, drang eine Abteilung Soldaten und Gendarmen zu Fuß langsam zur Höhe der Klippe vor. Ein Blick zur Straße zeigte dem Kapitän, daß Adelaide mit ihren Freunden zusammengetroffen war. Aber anstatt umzukehren auf den Weg nach Grottamare, kamen sie, durch den Schuß aufmerksam gemacht und den Angriff der Soldaten gewahrend, herangeritten. Auch die zwei entfernten Reiter näherten sich mehr und mehr. Indes blieb Grimaldi nicht viel Zeit zu Beobachtungen; die dringende Gefahr nahm alle seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Die Banditen hatten auf der Höhe der Klippe, die den Zugang beherrschte, Deckung gesucht hinter Felsstücken und verkrüppelten Baumstämmen. Die Nebel über der Bucht begannen sich zu verziehen.
Der vom Schicksal so grausam Verfolgte und vor sicherer Rettung noch Getäuschte stand auf der Höhe der Felsplatte - stolz und allein - den Kugeln der Soldaten ein freies Ziel. Trotz dem warnenden Zuruf seiner unerwarteten Verteidiger achtete er der Gefahr nicht. Müde der Verfolgungen, der Hetze, des Kampfes, gab er sein Leben preis. Konnte er einen schöneren Tod sterben, als mit den Waffen in der Hand, im Angesicht des Weibes, das er liebte - und das ihm im Leben verloren war? Der Rittmeister schwenkte den Säbel. Das Feuer begann. Auf den ersten Schuß Nicolos brach einer der Gendarmen zusammen. Aber die Erwiderung der Soldaten schien auf den Befehl des Rittmeisters nicht gegen ihn, sondern nur gegen die versteckten Banditen gerichtet. Die Briten jagten heran bis an die Postenkette der Husaren. Sie wurden gehindert, sich weiter zu nähern. Grimaldi sah Richard Hunter wiederholt versuchen, zu dem österreichischen Offizier vorzudringen. Aber seine lebhaften Vorstellungen und Bitten wurden kalt von diesem zurückgewiesen. Adelaide ließ ihr Tuch wehen Grimaldi hob die Hand mit dem Säbel, den Nicolo, der Bandit, ihm gereicht. Aber um ihn krachten die Schüsse der Verfolger. Schritt um Schritt, Sprung um Sprung drangen die Soldaten und Gendarmen vor. Zwei der Banditen waren schon gefallen, ein dritter verwundet. Nur noch die Büchsen Nicolos und des alten Luigi trennten Grimaldi von seinen Feinden. Langsam zog die kleine Schar sich weiter
und weiter an dem Felsen hinauf. Die beiden Banditen, die hier keine Deckung mehr fanden, standen am Zugang der Felsenplatte, entschlossen, nicht lebend in die Hände der Sbirren zu fallen. Die Gegner standen einander auf zehn Schritte gegenüber. Einen Augenblick ruhte das Feuer. Grimaldi, in der Linken das Pistol, in der Rechten den Stahl, war bereit zum letzten Kampf. Da schwang sich der Matrose Stephanos von der Seite her über die zackige Felswand. Sein Jubelruf verkündete das Nahen eines Bootes. Durch die Soldaten und Gendarmen brachen sich mit Gewalt zwei Männer Bahn und sprangen zwischen die Kämpfenden. Der eine von ihnen - fast ein Greis - stürzte dem Kapitän zu Füßen und umfaßte ihn. „Der heiligen Panagia sei Dank! Wir kommen noch zur rechten Zeit, Herr!“ Grimaldi drückte Theodoros, den treuen Diener, an sich. Ihm blieb keine Zeit, zu fragen; die Ereignisse drängten mit Gedankenschnelle. Mit Theodoros war ein ihm Fremder gekommen. Sein Gesicht, von einem dunkeln Bart umschattet, war von kühnem Schnitt. Eine gewisse rastlose Beweglichkeit kennzeichnete ihn. Er trug die Uniform eines französischen Infanteriemajors. „Fort da, Männer! - Halten Sie Ihre Leute zurück, mein Herr!“ rief er heftig dem Grafen Sternberg zu. „Ich mache Sie verantwortlich für alles, was gegen diesen Mann geschieht - er ist französischer Untertan!“ Damit stellte er sich schützend vor Grimaldi.
Dieser unerwartete Zwischenfall verblüffte die Soldaten und hielt sie in ihrem Vordringen auf. „Mit welchem Recht, Herr,“ drohte der Rittmeister, „wagen Sie es, meine Soldaten in ihrer Pflicht zu hindern? -Ich kenne Sie nicht! - Dieser Mann da ist kein französischer, sondern ein englischer Untertan - ein Rebell gegen seine Regierung und ein Feind der meinen!“ „Einen Augenblick, Herr“, unterbrach der Franzose, als der Rittmeister aufs neue seinen Leuten das Zeichen zum Angriff geben wollte. „Dieser Herr ist doch der ehemalige Kapitän Grimaldi von der albanesischen Leibwache des Heiligen Vaters?“ „So ist es. Ein Rebell von Korfu und Venedig - in die Amnestie nicht eingeschlossen und deshalb ...“ „Was Signor Grimaldi früher war, kümmert mich nicht! - Er ist gegenwärtig Franzose, Kapitän im ersten Bataillon der Fremdenlegion von Algerien. Hier ist das Patent, von Seiner Hoheit, dem PrinzPräsidenten unterzeichnet und vom General Gemeau in Rom bestätigt.“ Er reichte das Dokument dem verdutzten österreichischen Offizier. Graf Sternberg prüfte es sorgfältig. „Ich muß Ihnen wiederholen,“ sagte er, „daß ich nicht die Ehre habe, Sie zu kennen!“ „Ich bin französischer Offizier - wie Ihnen meine Uniform zeigt. Kommandant Dugonier, im Generalstab des Generals Gemeau. Wenn Sie gefälligst Ihren Blick dorthin wenden wollen, werden Sie unsere Flagge sehen, unter deren Schutz ich hierher gekommen bin.“
Aller Augen wandten sich nach der See. Der Nebel war jetzt vollkommen gewichen. In einiger Entfernung schaukelte an ihrem Anker eine stattliche Kauffahrer-Brigg; von den Masten wehte lustig die dreifarbige Flagge im Morgenwind. Ein Boot arbeitete auf halbem Weg von der Brigg zum Ufer. Als der Offizier sein Kaskett erhob und nach dem Schiff hinüberwinkte, donnerte ein Signalschuß von Bord. Weiter hinaus, mehrere Meilen entfernt, fuhren zwei Segler. Der Größere der beiden schien den anderen, den Stephanos seegeübtes Auge erkannte, zu verfolgen. Grimaldi faßte den Arm seines unverhofften Retters. „Aber erklären Sie mir . . .“ „Still!“ flüsterte Kapitän Dugonier. „Ich kam leider zu spät in Ripatransone an und verfolgte Ihre Spur. Es bleibt Ihnen keine Wahl. Das griechische Schiff, das Sie aufnehmen wollte, mußte gestern seine Anker kappen. Dort hinten wird es von einem englischen Kriegsschoner gejagt.“ Graf Sternberg reichte das Patent zurück. „Es hat seine Richtigkeit, Herr Kamerad“, sagte er kurz. „Ich bedauere deshalb um so mehr, darauf keine Rücksicht nehmen und von meinen Befehlen nicht abgehen zu können. Sie befinden sich hier auf dem Boden von Ancona, das nicht von französischen, sondern von österreichischen Truppen besetzt ist. Dieser Herr dort ist in Gesellschaft von Banditen, im Kampf gegen die gesetzmäßige Obrigkeit, betroffen
worden. Sie sehen selber die Briganten, von denen er sich schützen läßt! - Meine Pflicht verlangt, ihn wenigstens als den Gefährten von Räubern und Banditen zu verhaften und in Gewahrsam zu bringen. Ihre Regierung mag ihn dann fordern, wenn sie das Recht zu haben glaubt. Die Entscheidung darüber muß ich meinen Vorgesetzten überlassen.“ Dugonier warf einen ärgerlichen Blick auf die drei Banditen, die, zu neuem Kampf bereit, vor den Soldaten standen. „Was kümmert uns das Gesindel? Nehmen Sie es und hängen Sie es an den nächsten Galgen. Aber legen Sie Ihre Hand nicht an einen französischen Offizier!“ „Ich habe nichts gemein mit diesen Männern“, sagte Kapitän Grimaldi. „Aber ich werde die nicht verlassen, die im Augenblick der Gefahr willig ihr Leben und ihr Blut für meine Rettung gegeben haben - gleichviel ob es Räuber und Geächtete sind!“ Dugonier wollte ihm entgegnen - da stürzte jedoch Nicolo Zaccha vor. „Wenn wir sterben sollen, dann sei es ein Tod im Kampf gegen die Schergen!“ Er schwang den Dolch gegen den Grafen Sternberg. Aber der Stoß wurde durch eine rasche Bewegung des Rittmeisters vereitelt; er streifte nur seinen Arm. Im nächsten Augenblick flammte der Kampf wieder auf. Die drei Briganten vom Monte Vittore wußten: Jetzt kam das Ende - Ihre Hände krampften sich um die Dolche - die Rechte hob die
Kolben der abgeschossenen Gewehre. Wild gellten ihre Schreie durch die Luft. Das Blut floß aus tiefen Wunden. Der alte Luigi brach in die Knie. Neben ihm kauerte einer der päpstlichen Gendarmen und setzte ihm das Pistol an die Stirn. Im gleichen Augenblick fiel der Bandit neben ihm von einem Bajonettstich. Nur noch Nicolo Zaccha stand - rot rieselte es ihm über Stirn und Augen. Geblendet vom Blut, taumelte er vorwärts und hieb blind auf die Feinde ein. „Für Maritana - nimm das, du Hund!“ Im Stürzen noch glaubte er, halb von Sinnen vor Kampfgier und Blutverlust, den Hauptmann zu sehen, der ihm das Liebste geraubt - Pepe Mamiami . . . So fiel er - den Namen seiner Geliebten auf den Lippen. Grimaldi hatte seine Pistolen gehoben, um denen beizustehen, die ihm geholfen hatten. Aber Dugonier drängte ihn zurück und wies nach den Felsen. „Dort hinab.“ rief er ihm zu. „Suchen Sie das Ufer zu gewinnen. In wenigen Minuten muß das Boot der Brigg am Strand sein - ich decke Ihren Rückzug!“ Stephanos faßte ihn am Arm und zog ihn zum Abhang hin. Er schwang sich über den Rand des Felsens. Da blitzten ihm auch aus dem Buschwerk, das unten die Seitenwand der Klippe bedeckte, Bajonette entgegen.
Der Gendarmerieoffizier hatte die Verhandlung auf der Felsklippe benutzt, um durch seine Leute dem Verfolgten dort jeden Ausweg abzuschneiden. Peppino, der Sohn Pescares, sprang ihnen - ein Pistol in der Hand, vor den Soldaten entgegen. Getäuscht von der Aufregung des Kampfes und von der ähnlichen Kleidung hielt er Stephanos, den albanesischen Matrosen, für Danilos, den Herrn der Tartane, der die Engländer vor dem Überfall der Räuber gerettet; denn er hob ihm die Waffe entgegen und schoß sie auf den Albanesen ab. „Blut für den Vater und Pepe Mamiami!“ Die Kugel durchbohrte das Herz. Stephanos warf die Arme in die Luft und rollte tot den Klippenabhang hinunter. Mit zwei Säbelhieben brach sich Kapitän Grimaldi Bahn vor den andrängenden Gendarmen und schwang sich auf die Höhe der Klippe zurück. Vergeblich suchte Dugonier mit ausgebreiteten Armen die Soldaten zurückzuhalten. Er wurde zur Seite gedrängt. Eine feindliche Mauer wuchs um Grimaldi. „Ergeben Sie sich, Kapitän Grimaldi!“ tönte der Ruf des Rittmeisters. „Jeder Ausweg ist abgeschnitten - legen Sie die Waffen nieder - Sie sind in unserer Gewalt!“ Grimaldi preßte mit der Linken das Medaillon Adelaidens an die Lippen; sein Säbel beschrieb sausend einen blitzenden Kreis um ihn. Die Feinde wichen zurück. „Niemals!“
Einen Sprung rückwärts - er war am Rand der Klippe, hoch über der kochenden Brandung. In gewaltigem Sprung durchschnitt der Körper Grimaldis die Luft. Ein Schrei des Entsetzens aus dem Munde kampf- und blutgewöhnter Männer Die Klippe war leer. Einen Augenblick standen alle starr, erschreckt vor der entschlossenen Tat. Dann stürzten sie vor an den Rand der Klippe hoch über dem tosenden Grab des Tapferen. Die enge und tiefe Bucht, von hohen Felsenwänden eingeschlossen, war auf dem Grund noch von Nebeln bedeckt. Kein Zeichen, ob der kühne Springer an den Steinen zerschellt war, ob er in den Wellen einen schweren Todeskampf rang. Nur das Schäumen der Brandung an den Felsenwänden . . . Das Boot der französischen Brigg ruderte schon in der Nähe des Buchteingangs. Noch standen alle schweigend und beklommen; da löste sich ein Schrei von den Lippen Dugoniers. „Grace à Dieu!“ Seine Rechte wies auf eine Stelle in einem ziehenden Nebelfetzen. Aus den Wellen hob sich eine dunkle Gestalt ein Kopf tauchte auf, kräftige Arme teilten das Wasser. Der Schwimmer tauchte gegen die anstürmenden Wogen und benutzte geschickt jede rückprallende Welle, um das freie Meer zu gewinnen . . .
„Vive la République! Vive la Fortune!“ jubelte der Franzose. - „Er wird entkommen, er wird das Boot erreichen!“ Seine Hand schwang das Kaskett über dem Kopf, um die Matrosen anzutreiben. Sie hatten vom Kamm einer Welle den Schwimmer gesehen und warfen sich mit verdoppelter Anstrengung in die Riemen. „Fertig zum Feuern! - Schlagt an! - Feuer auf den Rebellen!“ Die harte Stimme des Grafen Sternberg donnerte das Kommando. Noch ehe der Franzose sich schützend vor die Mündungen werfen konnte, krachte die Salve. „Fluch der feigen Tat!“ Über den Wall von Gewehren hinweg kreuzten sich Sternbergs und Dugoniers Blicke wie tödlicher Stahl... Als der Pulverdampf verzog, sah man den Schwimmer mit halbem Leib aus den Wellen tauchen. Ein dunkler Strom rötete das Wasser um ihn - das Boot der Brigg war kaum dreißig Schritt von ihm entfernt. Grimaldi warf die Arme aus dem Wasser - es war wie eine letzte Drohung gegen seine Häscher dann sank er in die Tiefe. Ein Windstoß fegte vom Land her die Nebel aus der Bucht hinaus auf die offene See. Sie bedeckten das Boot und die Stelle, wo der kühne Streiter für die Freiheit seines Volkes in Meer und Blut versunken war. Graf Sternberg faßte den Arm des Franzosen.
„Sie werden mir Rechenschaft geben, Herr, für Ihre Beleidigung. Was ich tat, war meine Pflicht!“ Dugonier machte sich los. „Die Pflicht des Soldaten, mein Herr,“ sagte er, „geht nicht bis zum Mord. Wo Gott selber so schützend die Hand über den Verfolgten ausstreckt, da ist Beharren auf seinem Verderben nichts anderes als Mord! Keine Politik der Welt kann solche Taten rechtfertigen. Wenn Sie Genugtuung für meine Worte und meine Meinung wünschen, werden Sie mich in der Umgebung des Generals Gemeau in Rom finden. Für jetzt ruft mich die Pflicht an Bord der Brigg!“ Er wandte ihm stolz den Rücken und schritt durch die Reihe der Soldaten. Am Fuß der Klippen bestieg er sein zurückgelassenes Pferd. Im Vorüberschreiten sah er Lady Adelaide bewußtlos auf dem Rasen in den Armen ihres Verlobten. Kein Laut, kein Schrei hatte sich ihrer Brust entrungen; starr und gefaßt hatte sie den Todessprung des Geliebten gesehen. Doch bei der Salve der Soldaten hatte sich eine mitleidige Ohnmacht um ihre Sinne gelegt. Unten zerstreuten sich die letzten Nebel. Im Sonnenschein flimmerten die Wellen der Adria.
Anmerkung: Die weiteren Schicksale des Kapitäns Grimaldi, der Lady Adelaide und der Engländer werden erzählt in den Romanen Sir John Retcliffs „Volk in Folter“, „Maharani Magarete“ und „Ram, Ram, Mahadeo!“
Das Fest der schwarzen Liebe
Das Fest der schwarzen Liebe1 Der Morgenwind trieb die Wolken gen Westen. Klar und blau empfing der Himmel den Gruß der aufsteigenden Sonne; der Osten glühte im gleißendem Golde. Im Flußtal braute noch weißlich-grauer Nebel; kühlere Luft wehte; und erst allmählich hoben sich über der schimmernden Wasserfläche die Schleier der Nacht. Erst als der Feuerball aufsprang über dem Horizont gleich einem Engel in Purpurflammen, durchdrang das Licht Ebene und Wald, Berghalde und Fluß: es wurde Tag in Afrika. Auf einem Felsen, der, vom Land aus steil emporsteigend, seinen flachen Gipfel fünfzig Fuß hoch, gleich einer Warte, über den Spiegel des Om-Kai 2 reckte, ruhten drei Männer. Zwei von ihnen schienen eben erst aus dem Schlaf erwacht; der dritte hatte Wache gehalten. Die von Dornen zerrissenen Leinenhosen, die schmutzig-rote, mit Militärknöpfen versehene Jacke und das Komißgewehr mit dem Bajonett, das neben dem jungen, erschöpften Mann lag, kennzeichneten ihn als britischen Soldaten. Auf dem Kopfe trug er einen Hut von Rohrgeflecht; sein wohlgebauter, kräftiger Körper schauerte zuweilen zusammen; denn die dünne Kleidung vermochte ihn gegen die Kühle des Morgens und den erkältenden Tau nur wenig zu schützen. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, von dunklen Rändern umgeben, und blickten düster und starr vor sich hin. Den Mann, der neben ihm lag, schienen Luft und Tau 1
Diese Novelle ist dem ersten Band der Nena-Sahib-Romane entnommen. 2 Fluß im Kafferland - heute Südafrika
ebensowenig zu kümmern, wie die glühenden Strahlen der Sonne. Der fast nackte Körper war von der rotbraunen fast schwarzen Farbe des Kaffers. Der Karoß, ein Mantel aus Tierhaut über den Schultern, am Hals mit den Vorderklauen verschlungen, bildete seine Hauptkleidung. Daß sein Karoß aus einem prächtigen Tigerfell bestand, statt der gewöhnlichen Leopardenhaut, bewies, daß er ein Häuptling war; ebenso auch sein Schmuck: die großen, goldenen Ohrringe, die Goldspange am linken Arm und die Schnur großer Glasperlen. An einem schmalen Gürtel von Anitlopenhaut hing ein schmaler Shorts von geflochtenen und fransenartigen Riemchen. Sie bildete mit dem Karoß und den feinen mit Tiersehnen ausgenähten Sandalen die einzige Bekleidung des Mannes. Sein Kopf war unbedeckt. Eine dichte Masse wolliger, krauser Haare, ein filziges helmartiges Gewebe, schützte ihn besser als jede europäische Kopfbedeckung. Aus diesem Haarwulst ragte der zierlich geschnitzte Stiel des kleinen Elfenbeinlöffels hervor, mit dem der Kaffer seine Nase mit Schnupftabak zu füllen pflegt; den Tabak trug er in einem kleinen, ausgehöhlten Kürbis an seinem Gürtel; an dem auch Pulverhorn und Kugelbeutel hingen. Neben dem Häuptling lagen seine Waffen bereit: eine schöne Büchse französischer Arbeit, mit sorgfältig umhülltem Schloß; der Assagai, der gefährliche Wurfspieß des Volkes, aus dem zähen Holze der Cartisia faginea geschnitzt; Bogen und Pfeile, und die Kerie, die kurze und dicke Keule von hartem Holz. Die Züge des Afrikaners näherten sich der Reinheit der klassischen Linien; nur die breiteren Backenknochen und die volleren, wenn auch keineswegs unschönen Lippen, verrieten, wie die Hautfarbe, den Ursprung.
Der Mann, der in der stolzen Nacktheit seines Volkes, europäischer Sitte und Weichlichkeit spottet, auf den Boden ruhte, war Tzatzoe, der kühne und von den Briten gefürchtete Gaika-Häuptling; er hatte eine Erziehung in England genossen und dort eine geraume Zeit ganz nach europäischer Weise gelebt. Er sprach fertig die französische, englische und holländische Sprache, und war mit vielen Künsten der Zivilisation vertraut; aber bei der Rückkehr in die Heimat warf er alles Europäische von sich und nahm mit dem Karoß wieder die wilde Majestät eines Häuptlings an. Der dritte war ein breitschultriger, kräftiger Bur, dessen zähe Stärke und Tätigkeit das Alter von sechzig Jahren noch wenig gebeugt hatte: Andries Pretorius, der berühmte Führer der Buren in der Boomplaats-Schlacht am 22. November 1845, in der die Ausgewanderten für ihre Freiheit gegen britische Willkür kämpften1. Der alte Bur hatte ein kluges, entschlossenes Gesicht, in dem jedoch auch der gutmütige Ausdruck des Holländers unverkennbar war. Er trug eine kurze Jacke von grobem Tuch, Lederhosen mit Sandalen und einen breiten geflochtenen Hut, in dessen Band seine kurze Pfeife steckte. Quer über seinem Knie lag eine der sogenannten Pavianspoten, die sechs Fuß langen überaus schweren Lieblingsgewehre –„Roere“ – der Buren, aus denen sie mit verblüffender Treffsicherheit in unglaublicher Entfernung schießen. Uneingeweihten ist ihr Gebrauch freilich nicht zu raten, da der Rückstoß ihm den Arm zerschmettern oder ihn zu Boden schleudern würde. Das polierte Pulverhorn der lederne Kugelgürtel und eine wollene Decke bildeten den Rest seiner Ausrüstung. 1
Der Gouverneur Sir Harry Smith setzte damals einen Preis von 1000 Pfund auf seinen Kopf; Andries Pretorius antwortete damit, daß er den doppelten Preis gegen den Kopf des Gouverneurs setzte.
„Nimm die Decke, Neef Piet1 sagte der Alte. „Der kalte Tau macht die verwöhnten Stadtleute frieren, selbst in den heißen Monaten. Und dein roter Rock ist unseren Augen nicht angenehm.“ „Fluch ihm und allen, die ihn tragen!“ rief Peter Pritorius mit wildem Grimm. „Hast du etwas Ungewöhnliches vernommen während deiner Wache?“ „Nichts, Oom Andries; nur das Schnauben der Hyäne und das ferne Brüllen eines Löwen.“ „Hat der junge Abalungo“, fragte der Kaffer, „das winseln des Schakals gehört, der den Herrn der Wüste begleitet?“ „Ich erinnere mich – vor einer Stunde, ehe noch die erste Morgendämmerung sich zeigte, erklang ein Geschrei, wie das eines Kindes. Es kam vom anderen Ufer, aber aus ziemlicher Entfernung:“ Der Kaffer nickte. „Tzatzoe ist zehn Sommer fern gewesen im Lande der großen Mutter2 aber er hat die Stimme seiner Jugend in seinem Ohr zurückgebracht in das Land seiner Väter.“ „Der Junge ist in Kapstadt erzogen worden,“ entschuldigte der alte Bur den Neffen, „und nur selten zu seinen Verwandten gekommen. Doch ich glaube, es ist Zeit, daß wir aufbrechen – die Sonne wird uns jetzt die Fährte weiter verfolgen lassen.“ Aber der Kaffer hielt ihn zurück; er legte die Hand auf seinen Arm. „Der Inkosi Inculu der Dutchmen3 wird wohltun, zu warten. Die Büffel sind noch nicht zur Tränke 1
Neffe Peter Königin Viktoria 3 Großer Häuptling der Holländer – Deutschen – wie der Kaffer alle Europäer, außer den Engländern, benennt. 2
gekommen. Und die Büsche des Rohrs wehen Unheil.“ Der Alte sah scharf auf das bezeichnete Dickicht von Binsen und Rohr, das seine Federbüsche fünf bis sechs Ellen hoch in die Luft erhob. Nach dem Flußufer zu zeigte sich eine Lücke; das Rohr bewegte sich in heftigen Stößen, die nicht von dem Luftzug herrühren konnten. Der Bur griff nach seinem Roer und wollte das Tuch abwickeln mit dem das Schloß gegen den Nachttau geschützt worden war; aber wieder hinderte ihn der Häuptling. „Mein Bruder möge bedenken,“ sagte er, „daß der Donner der Feuerwaffe uns unseren Feinden verraten wird, wenn sie jenseits des Kai ihr Nachtlager aufgeschlagen haben. Wir müssen harren, bis der Herr der Wüste sein Mahl gehalten hat, wenn wir ihre Spur nicht verlieren wollen.“ Der Holländer nickte und begnügte sich mit der Frage: „Wie lange werden wir warten müssen?“ „Das Gestirn des Tages muß eine Stunde am Himmel stehen, ehe der Büffel sich zeigt.“ „Sie werden ihre Fährten verwischen, Tzatzoe?“ „Die Büffel kommen vom Morgen – die Spuren unserer weißen Feinde wenden sich gegen Niedergang.“ Damit streckte der Kaffer sich wieder auf seinen Karoß und füllte seine Nase mit Schnupftabak. „So haben wir noch eine halbe Stunde Zeit, NeefPiet“, meinte der Bur und stopfte die kurze Pfeife aus seiner Ledertasche. „Du magst uns jetzt ausführlich berichten, was dich hierher gebracht hat; als wir dich gestern abend fanden, war es zu spät dazu.“ „Du sollst alles erfahren Oom Andries“, knirschte der junge Mann; „meine Schande – und die Sehnsucht – die tolle Glut nach Rache, die mich verzehrt!“ Er riß die alte Uniform vom Leibe und ließ das Hemd über die Schultern fallen. Ein schrecklicher Anblick
zeigte sich den Augen seiner beiden Gefährten: der Rücken war mit langen, meist nur halb oder schlecht geheilten Wunden bedeckt, die offenbar durch Peitschenhiebe veranlaßt waren; viele waren so tief, daß man die Finger in die halb offenen Narben legen konnte. Der alte Bur schauderte zurück. Das Blut seiner alten Familie regte sich in ihm, die seiner europäischen Heimat reiche Handelsfürsten, mächtige Ratsherren und kühne Kriege gegeben hatte; er fragte den Neffen, der sein erglühendes Gesicht in den Händen verborgen hielt, kurz rauh: „Wer tat dir das?“ Der Kaffer sah ihn mit höhnischem Blick an: „Warum fragt mein Bruder? Der Amakosa tötet seine Söhne, wenn sie unrecht getan, aber er entehrt sie nicht! Tzatzoe hat gar oft gesehen, als er im Land der großen Mutter war, daß die Krieger, die dieses Kleid tragen, geschlagen wurden wie Hunde.“ „Die Engländer also? – Rede, Neffe – welches Verbrechens hast du dich schuldig gemacht?“ Wieder lachte Tzatzoe auf.
„Alter Häuptling,“ sagte er bitter, „warum fragst du diesen da, was er verbrochen? Was hatten die Kinder meines Volkes getan? – Sie wohnten friedlich an den Quellen des Nicokamma, bis er sich mischt mit dem großen Salzsee gen Mittag1 als die Engländer ihnen befahlen, binnen zwei Monden das Land zu räumen. Das Land, das ihre Väter besessen, ehe der Abalungo an unsere Küsten kamen. Was hatten sie getan – daß Greise, Männer, Weiber und Kinder niedergeschossen wurden wie die Hyäne der Felsgebirge – alle, die 1
in der Delagoa-Bai; - Die von dem Kaffern erwähnte Handlungsweise des britischen Gouvernements ist historisch und ereignete sich 1812.
man noch nach der festgesetzten Frist im Lande fand? Nur, weil sie sich nicht so leicht von den Gräbern der Ihren trennen konnten!“ Das Auge des Kaffern leuchte im wildem Haß bei der Erinnerung an diese grausame Maßregel, die durch nichts gerechtfertigt noch entschuldigt werden kann, und deren Gedächtnis unvertilgbar im Herzen der Stämme fortlebt. „Als der Dutchmen an die Küsten meines Volkes gekommen ist,“ fuhr der Häuptling fort, „gab er ihm Perlen und viele Dinge, die der Kaffer nie gekannt. Meine Väter waren schwach, und sie gaben dem Fremdling Land dafür; aber es war ein ehrlicher Handel; und wenn auch der Abalungo reich und mächtig wurde, und der schwarze Mann arm an Weiden und Herden, sie handelten ehrlich miteinander, sie kämpften als Krieger, wenn sie Streit hatten; ihr Land wurde ihnen nicht ohne Kampf genommen, um es den schlechten Hottentotten zu geben, und die Medizinmänner im schwarzen Kleid drangen ihnen nicht einen blutigen Gott auf, den ihre Väter nicht kannten, statt Utika, des Schönen1!– Tzatzoe hat geprüft und mit eigenen Augen geschaut; er hat erfahren, daß das Volk der großen Mutter mehr Schelme zählt als selbst der Hottentott und der Buschmann. Er ist weise geworden und wird lieber sterben auf dem Land, das er bewohnt, ehe er es in die Hände seiner und deiner Feinde gibt. Der Amakosa und der Dutchmen haben den Assagai vergraben und sind Brüder geworden im Kampf gegen den Engländer.“ Der Häuptling verließ seinen Platz und verschwand, ohne zu sagen, wohin er sich begeben wolle. Seine Waffen ließ er zurück. „Neef Piet,“ sagte der tapfere Anführer der Buren, „wir sind jetzt allein. Ich bin dein ältester Verwandter von 1
bei den südlichen Stämmen das höchste Wesen
deines Vaters Seite her; du mußt zu mir sprechen, als ob du zum Pfarrherrn sprächest. Dein Vater war mein Bruder, aber er war einer von den Studierten und schied aus den Reihen seines Volkes, als er die Engländerin, deine Mutter, heiratete.“ Peter Pretorius senkte den Kopf. „Ich weiß, Oom, daß mein Vater unrecht tat, von den alten Gebräuchen der Familie zu weichen; ich glaube, er hat es später hin oft bereut, obwohl er meine Mutter herzlich liebte.“ „Laß es gut sein, Piet“, meinte der andere. „Er war ein unruhiges Blut, volle 10 Jahre jünger als ich; nun ruht er auf dem Kirchhof am Kap. Ich bot deiner Mutter an, als ich vor 8 Jahren zur Kapstadt kam, dich mit mir zu nehmen und in unserem Stand zu erziehen. Sie wollte aber, daß du ein Bücherwurm würdest wie dein Vater. Vielleicht war es gut für dich; denn zwei Jahre später setzte Sir Harry Smith tausend Pfund auf den Kopf deines Ooms.“ „Meine Mutter starb“, sagte der Neffe; „wir hatten mancherlei Anfeindungen auszustehen, Oom Andries, weil wir deinen Namen trugen. Aber meine Mutter segnete dich noch auf dem Sterbelager; denn sie wußte, von wem nach meines Vaters Tode die Mittel ihr gekommen waren, sich und mich zu ernähren. Ich wollte nach England gehen, um Advokat zu werden, Oom Andries. Um die Sache meiner unterdrückten Landsleute vor den Schranken der Gerichtshöfe führen zu können; denn ich fühlte das Blut meines Vaters in mir und war stolz, als ich von euren tapferen Kämpfen um die neue Heimat hörte.“ „Und wie kamst du zu diesem Rock, Neef Piet?“ Der junge Mann atmete tief auf. „Ich liebte die Tochter eines deutschen Missionars, den der große Missionsverein in Berlin hierher geschickt hat. Luise hieß das Mädchen; ich glaube, sie liebte mich
wieder. Zu der Zeit kam ins Haus ihres Vaters ein englischer Kapitän, John Riley vom 93. Linienregiment. Was soll ich weiter sagen! Wir wurden Nebenbuhler; er, der wohlhabendere, mächtigere, von der Mutter unterstützt – ich auf das Herz der Geliebten vertrauend. Er haßte mich, ich wußte es; aber sein Zorn war mir gleichgültig. Ich ahnte nicht, daß er mir eine tückische Schlinge gelegt hatte. Eines Abends war ich mit mehreren Gefährten, Schreibern, Advokaten und Praktikanten, in einer fröhlichen Gesellschaft gewesen; der Konstantiawein wurde nicht geschont. Schon halb berauscht, ließ ich mich verleiten, noch eine Schenke zu besuchen, in der Soldaten und Matrosen ihr Wesen trieben. Ein Mann, den ich oft gesehen im Gespräch mit den Offizieren der Stadt, machte sich an mich – er trank mir zu; Weiber kamen zum Tanz, wir wechselten im trunkenen Jubel die Röcke zur tollen Maskerade, ich trank auf die Gesundheit der Königin und – als ich am anderen Morgen erwachte, lag ich in der Wachtstube der Kaserne; man sagte mir, ich hätte das Werbegeld genommen und sei Rekrut!“ „Schändlich!“ murrte der Bur. „Und doch kannst du dich bedanken, daß sie dich zum Soldaten geworben und dich nicht als Matrosen gepreßt und nach entlegenen Meeren gesandt haben.“ „Ich wollte, es wäre geschehen!“ stöhnte der junge Mann. „Vieles wäre mir erspart worden. Aber Rileys teuflische Bosheit hatte gerade dieses Los für mich ausgesucht. All mein Wehren, mein Flehen half mir nichts – man warf mir mein holländisch Blut, meinen Namen vor und meinte, ich möge als Soldat beweisen, daß ich kein Rebell gegen die Krone sei wie du. Ich wurde dem Regiment und der Kompagnie meines Nebenbuhlers zugeteilt; und bald erfuhr ich durch einen mitleidigen Serganten, daß alles das, ja auch meine Anwerbung, allein Rileys Werk sei. Ich hatte
beschlossen, mein Schicksal wie ein Mann zu tragen; aber, Oom Andries, es gibt auch für den Stärksten, für den Geduldigsten eine Grenze; das sollte ich bald erfahren. Ein Leben voll Höllenqualen begann für mich; Riley wußte täglich Gelegenheit zu finden, mich zu demütigen und mit Strafen zu belegen. Des Morgens führte er seine Kompagnie zum Exerzieren an Luises Wohnung vorbei. Jedes kleine Versehen, jede Unkenntnis des Dienstes wurde mit der größten Härte bestraft; die Zahl meiner Quäler war bald stark angewachsen, als die Korporale und Sergeanten merkten, daß sie sich dadurch ihrem Kapitän angenehm machten.“ Der junge Mann ballte die Fäuste. „Zwei Dinge hielten mich damals nur noch aufrecht; das war der Schutz und Trost, den mir ein junger Leutnant unserer Kompagnie, Edward Delaune, zuteil werden ließ, und – ein Zettel, den mir eines Abends, als ich vor der Kaserne Posten stand, ein Knabe in die Hand steckte. Er kam von ihr; Worte des Trostes, der Hoffnung und der Liebe; sie gelobte mir Treue. Aber es war zugleich der Abschied. Ich sollte sie nicht mehr sehen – sie zog mit ihrem Vater nach einer Missionsstation an den Grenzen des Kafferngebiets.“ Peter Pretorius legte die Hände über die Augen. Der alte Bur fühlte, wie schwer sich aus ihm die Worte losrangen. „An der Bosheit des Kapitäns sah ich, daß seine Bewerbungen um Luise fruchtlos ausgefallen waren. Alles frühere Leiden wog nichts gegen die neuen Peinigungen. Riley wählte gerade mich aus der ganzen Kompagnie zu seinem Burschen.“ „Der Herr züchtigt, die er lieb hat“, sagte der alte Bur feierlich. Das Regiment war nach Fort Beaufort beordnet; man sprach von einem Zug gegen die Kaffern. An einem
Tage, bei einem Kundschaftergang an den Ufern des Katzenflusses, befahl Riley mir, mit einem Handpferd nach dem anderen Ufer überzusetzen und ihn dort zu erwarten. Das Tier war unbändig und wild; in der Mitte des Stromes scheute es und riß sich los; ich vermochte es nicht zu halten. Das Pferd wurde von der angeschwollenen Flut erfaßt und stromabwärts gerissen; alle Versuche, es zu retten, blieben vergebens. An den glatten Klippen bemühte es sich hinauf zu glimmen. Aber es glitt ab, überschlug und war verloren. Riley hielt zornrot am Ufer, als ich es erreichte. Ich wollte mich rechtfertigen – hundert Zeugen standen umher, die wußten, daß mich keine Schuld traf; er aber hieb mir mit der Reitgerte ins Gesicht, daß das Blut herabfloß, und rief: ‚Schurke, du hast mein bestes Pferd mutwillig umkommen lassen!‘ – Das Blut kochte in mir, aber ich dachte an den militärischen Gehorsam – und an Luise; ich schwieg. Ein zweiter Hieb folgte, ein dritter – da war ich meiner nicht mehr mächtig! Ich drückte dem Pferd, das mir inzwischen gebracht, die Sporen in den Leib und warf mich auf ihn. Er hielt dicht am Rand des Stroms: der heftige Anprall warf ihn samt dem Roß in die Wellen.“ Der Neffe des alten Pretorius strich mit der Hand über die gerötete Stirn. Seine Stimme klang heiser vor Aufregung. „Ein Schrei des Schreckens kam von allen Lippen; ich stand stumm und bestürzt. Dann schoß der Gedanke an die Folgen wie ein Blitz durch mein Gehirn. Ich sprang vom Pferd, ihm nach in das Wasser. Sein Tier hatte sich emporgearbeitet; mein Feind aber war versunken. Nur die Hand noch, die mich eben geschlagen, tauchte aus den Wellen. Einen Augenblick lang dachte ich daran, mit meinem Peiniger zu sterben. Im nächsten aber war ich bei ihm, tauchte unter und brachte ihn mit unerhörter Anstrengung an die
Oberfläche. Gott lieh mir Kraft; es gelang mir, den Besinnungslosen ans Ufer zu bringen. Dort fiel ich, selber zum Tod erschöpft, in Ohnmacht. Als ich wieder zu mir kam, stand Riley neben mir, bleich, triefend – mit boshaft funkelnden Augen. ‚Dies mal Bursche,‘ keuchte er in erbittertem Haß, ‚sollst du dem Verbrechertod nicht entgehen! Bindet ihn!‘ Seine Kreaturen warfen sich auf mich und schnürten mir die Arme auf den Rücken, daß mir die Stricke tief in das Fleisch einschnitten.“ Im Schweigen der beiden Männer hörte man nur den knirschenden Ton der Zähne des alten Buren. „Laß es mich kurz machen, Oom. Der Mann, den ich mit Gefahr meines Lebens wieder aus den Wellen geholt, übergab mich einem Kriegsgericht und wurde mein erbitterter Ankläger. Ich wünschte den Tod; er wäre mir willkommen gewesen; aber wegen meines guten Betragens, und weil den Oberoffizieren vielleicht so manches zu Ohren gekommen, wurde ich begnadigt – begnadigt zu dreihundert Peitschenhieben.“ Der junge Pretorius bedeckte das Gesicht wieder mit den Händen; der Bur schwieg, stumm vor sich hinschauend. „Das Urteil wurde vollstreckt“, fuhr jener fort. „Als der Schambock1 mein Fleisch in blutige Fetzen riß, sah ich meinen Peiniger wenige Schritte vor mir stehen und mit seinen Genossen lachend eine Wette schließen, wie viele Streiche ich aushalten würde. Da, Oom Andries, biß ich die Zähne zusammen und schwor, daß kein Laut des Jammers sein Herz erfreuen sollte. Aber auch einen anderen Schwur tat ich: wenn ich lebendig davon käme, mich blutig an ihm zu rächen und ihn zu töten, wie die Bestien der Wüste.“ „Frevle nicht, Neef Piet“, werde der Alte. „Für das Vaterland und deine Brüder magst du kämpfen; aber, ‚die Rache ist mein‘, sagt der Herr; er allein hat sie sich 1
Peitsche aus Rhinozeroshaut
vorbehalten.“ „Der junge Abalungo fühlt seine Wunden“, sprach die Stimme des Kaffern neben ihm. „Jede ruft ihm zu, daß er seinen Feind töten muß. So will es das Gesetz der Wüste und der tapferen Männer, wenn auch Jankanna 1 anders lehrt. Mein Vater ist alt und sein Blut ist weiß; er fühlt nicht mehr wie die Jugend, wenn er auch ein tapferer und weiser Führer ist in der Schlacht. Ich bitte dich, junger Freund, laß deinen schwarzen Bruder die Wunden heilen, die deine weißen Brüder dir geschlagen haben.“ Damit legte der Häuptling ihm heilende Kräuter auf den Rücken, die er soeben an den Felsen gesucht und zwischen zwei Steinen zerrieben hatte. Dann bekleidete er ihn sorgsam wieder mit dem Hemde und der Jacke. Der junge Pretorius drückte ihm dankbar die Hand; ein Blick des Einverständnisses, den die beiden tauschten, zeigte zur Genüge, daß sie über das Gefühl der Rache anderer Ansicht waren als der Bur. Dann fuhr der Soldat fort: „Kein Laut kam über meine Lippen. Ich verbiß den Schmerz, bis ich ohnmächtig wurde. – Von Zeugen hörte ich, daß das letzte Dritteil der Strafe an einem leblosen Körper vollstreckt wurde. Der Büttel selber muß Mitleid bei seinen Streichen gefühlt haben, sonst hätte ich die furchtbare Zahl unmöglich überstehen können. Als ich wieder zu mir kam, lag ich im Lazarett des Forts. Mehrere Wochen brachte ich dort zu, ehe ich wieder hergestellt war. Dann mußte ich ohne Barmherzigkeit fort, dem Regiment nach, das schon an den Ufern des Kapusi an der Grenze des Kafferngebiets stand. Meinen Feind sah ich nicht wieder, auch den Leutnant Delaune nicht, der mir allein Wohlwollen bezeigt; es hieß, sie wären auf einem Posten weiter hin am Amatolagebirge. 1
der Kaffernname eines unter den Stämmen vielgeehrten holländischen Missionars Dr. van Kemp.
Mein Schicksal war allgemein bekannt, ich las es in jedem Blick; aber ich war auch entschlossen, die erste Gelegenheit zu benutzen, um die Fesseln meiner Knechtschaft zu brechen. Ich wollte zu euch, zu den Feinden meiner Tyrannen, fliehen.“ „Aber wie erfuhrst du unser Versteck?“ „Es trieb sich ein trunkener Kaffer in der Umgebung unseres Lagers umher; ein Mensch, den der Branntwein entnervt und zum Spott der Engländer gemacht hatte. In allen Kantinen war er zu finden; man sagte, er sei fürstlicher Abkunft, und deshalb behandelte man ihn mit desto größerem Hohn. Als ich das erstemal wieder auf Posten stand, taumelte er betrunken in meiner Nähe zu Boden. Ich kümmerte mich nicht um ihn, denn meine Seele hatte nur Raum für einen Gedanken. Plötzlich hörte ich meinen Namen nennen – der trunkene Kaffer wälzte sich immer näher zu mir heran. Ich sah auf ihn. Zu meinem Erstaunen blickten seine Augen mich listig und verständig an, sein Finger lag auf den Lippen zum Zeichen des Schweigens. Ich begriff, daß er mir unbemerkt etwas Wichtiges sagen wollte. Deshalb setzte ich vor den Augen meiner Kameraden das Aufund Niedergehen fort und verweilte nur wie zufällig, wenn ich wieder in seine Nähe kam, einige Zeit bei dem Trunkenen; denn ich wußte, daß ich von vielen boshaften Augen beobachtet werden konnte. ‚Bist du der Blutsfreund des Inkosi Inculu der Dutchmen, der auf dem Boomplaat gegen die Rotröcke gekämpft?‘ fragte der Trunkene. Ich bejahte. ‚Ich weiß, was dir geschehen‘, fuhr er das nächstemal fort; ‚wird der junge Krieger bei denen bleiben, die ihn geschlagen, wie einen Hund?‘ – ‚Fluch ihnen,‘ knirschte ich, ‚jede Stunde, die ich hier aushalten muß, wird mir zur Höllenqual!‘ – ‚Wenn der junge Abalungo‘, flüsterte jener, ‚eine Stunde vor Sonnenaufgang seien Posten verlassen will und immer in der Richtung des Berges
dort fortgeht, wird er am Abend an die Quelle des Bolo kommen, der seine Wasser in den Kai ergießt. Dort, wo drei mächtige Dattelpalmen ihre Federn in die Luft strecken, möge er das Wort rufen, das ich ihm sagen werde; er wird einen Blutsfreund finden.‘ Ich überlegte, hin und her gehend, die Worte des Mannes,; als ich zu ihm zurückkehrte, war ich entschlossen, seinen Rat zu folgen. ‚Möge der junge Krieger unbemerkt zu mir bücken‘, sprach er weiter. ‚Was ich ihm geben werde, soll er in die Hand des Mannes legen, den er bei seinem Verwandten finden wird. Der Name ‚Macomo‘ wird ihm Schutz und Beistand sichern, wenn er einem schwarzen Mann begegnet.‘ Ich stolperte wie zufällig über den Trunkenbold und ließ mein Gewehr fallen. Indem ich mich schmähend bückte, es aufzuheben, drückte er mir das Stückchen Haut in die Hand, das ich dir gab, Häuptling. Bald darauf taumelte der Trunkene, der sich mir als Freund erwiesen, der nächsten Branntweinschenke wieder zu, und gab vor zwei jungen Fähnrichen für ein Glas Rum den Kriegstanz seines Stammes zum besten, Zielscheibe des brutalen Hohns aller Umstehenden, bis er, seiner Sinne gänzlich beraubt, zu Boden fiel!“ Der Gaika-Häuptling lächelte ernst. „Der junge Abalungo sieht mit dem Auge seiner Kameraden. Wenn Macomo, der Sohn der großen Frau der Gaikas, auf seinen Tamtam schlägt, werden tausend Krieger zu Fuß und eine gleiche Zahl auf schnellen Rossen seinem Rufe antworten. Macomo ist ein großer Häuptling in Kaffaria; er weiß das Auge seiner Feinde zu verdunkeln. Mein Bruder hat wohlgetan, ihm zu folgen.“ Ein lautes Schnauben am jenseitigen Ufer unterbrach ihn. Aufblickend, sahen sie durch das Rohrgebüsch zwei mächtige Büffel sich dem Flusse nähern. Der breite, mit zottigem, langem Haar bedeckte Kopf, die
starken kurzen Hörner und der tückische Blick gaben diesen Tieren etwas überaus Wildes. Sie kamen ihn kurzem Galopp über die Ebene, die sich jenseits des Flusses ausdehnte, auf einer zum Wasser führenden breiten Fährte heran; ihn einiger Entfernung zeigte sich eine größere Schar. Nahe am Ufer erhielten sie plötzlich die Witterung eines gefährlichen Feindes. Sie stutzten, schnaubten wild und peitschten mit ihren Schweifen die Luft; dann drehte sich der Vorderste plötzlich um und galoppierte mit lautem Brüllen davon; der andere, als erkenne er, daß er der Gefahr nicht mehr entfliehen könne, stemmte die Vorderfüße in den Boden und senkte den dicken Kopf. Da erscholl ein donnerartiges Gebrüll, unter dem das Herz des jungen Soldaten erbebte. Er sah aus dem dichten Rohrgebüsch eine dunkle Masse sich mit gewaltigem Sprung auf den Büffel werfen. „Der Löwe!“ flüsterte der Bur. Der überfallene Büffel war ein Bulle von ungewöhnlicher Größe und durch seine Witterung auf den Kampf vorbereitet. Der Löwe fiel kaum auf den Nacken seines kräftigen Gegners, als er auch schon, wieder in die Luft geschleudert, blutend in das Rohrgebüsch zurückfiel. Wohl zwei Minuten lang – während der die drei Männer auf dem Felsen unbeweglich verharrten, maßen sich die beiden Kämpfer. Der Löwe blutete aus ein paar leichten Wunden. Er hielt den Kopf zwischen den Vordertatzen; der heiße Dampf aus seinem roten Rachen drang stoßweise hervor, sein wütendes Gebrüll erschütterte die Luft und trieb alle Tiere in die Flucht; sein trotziger Feind hielt wieder die Stirn ihm zugekehrt, die Hörner zum Empfang bereit. Einer jähen Anwandlung des Schreckens unterliegend, sprang er scheu zur Seite und begann, den Schweif hoch emporgestreckt, davon zu galoppieren. Doch nach vier Sprüngen war sein
königlicher Gegner ihm zur Seite und warf sich mit gewaltigem Satz auf den Rücken des Stiers. Der Anprall war so heftig, daß das Tier, trotz seiner riesigen Kraft, zu Boden stürzte; in einem Knäuel wälzten sich Glieder, umherfliegendes Gestrüpp und Erdboden, das gelblich fahle Fell des Löwen mit der dunklen Haut des Büffels. Der kräftigere Feind, der Löwe, hatte den empfindlichsten Teil, die Schnauze des Büffels, gepackt und zermalmte sie in seinem Gebiß. Die langen, scharfen Krallen zerrissen Hals und Brust des Stiers, daß der warme Lebensstrom aus den zerfetzten Adern sprudelte. Der kräftige Bulle zuckte und schlug röchelnd, indes der Löwe sein Blut aus den Kehladern schlürfte; dann streckte er verendend die Glieder. Noch bevor das Leben entflohen, saß der Löwe auf dem Körper und riß große Stücke rauchenden Fleisches ab. Der Bur und der Kaffernhäuptling waren alte, mit der Wildnis vertraute Jäger. Mehr als einmal hob sich das lange Gewehr des Buren, um dem gefährlichsten Feinde seiner Herden das tötende Blei zuzusenden, aber immer wieder hielt ihn Tzatzoe zurück. Ungestört durfte der Wüstenkönig seine Mahlzeit verzehren; daß krachen der großen Markknochen zwischen seinen gewaltigen Zähnen drang bis ans andere Ufer. Erst nach etwa einer Stunde erhob sich der Gaika und kündigte seinen beiden Gefährten an, daß die Zeit zum Übersetzen gekommen sei. Der alte Bur folgte ihm ohne Verwunderung, der Erfahrung des Eingeborenen vertrauend; nur Peter zögerte, da ihr gefährlicher Feind noch immer am anderen Ufer lagerte. Tzatzoe ging schweigend eine kurze Strecke am Ufer entlang; bald verkündete das Gebrüll des Löwen, daß er den Menschen bemerkt. Unbekümmert suchte der Häuptling unter dem Gestrüpp weiter; aber ein mißvergnügter Ausruf begleitete seine Enttäuschung. Er kam eilig zu dem Bur zurück.
„Macomo sprach die Wahrheit“, sagte er. „Der schwarze Mann, der die weißen Späher begleitet, führt nicht ohne Grund das Bild der Schlange. Es ist Congod, der Fingoe. Verflucht sei sein verräterisches Geschlecht. Die Bambus des Floßes sind alle fort. Er hat sie mit zum andern Ufer genommen, oder sie den Strom hinab treiben lassen.“ „Wir werden uns neue fällen“, entgegnete der Bur; er zog ein kleines scharfes Beil aus dem Gürtel und schritt nach dem nächsten Rohrdickicht. „Mein Bruder vergißt, daß es uns zu lange aufhalten würde. Zwanzig Stämme von der Dicke meines Schenkels würden die Arbeit vieler Stunden erfordern; wir haben schon zu lange gesäumt. Tzatzoe wird prüfen, ob ein Alligator lauert.“ Die Kaffern führen den Übergang über die Ströme, die sie wegen der Alligatoren nicht zu durchschwimmen wagen, gewöhnlich auf einem Floß von Bambushölzern aus. Die oft fußdicken Stämme werden in der Nähe gefällt, mit Wurzeln und Zweigen zusammengebunden und bilden durch ihre Leichtigkeit ein äußerst tragfähiges Fahrzeug. Ei ist unter ihnen Sitte, die wieder gelösten Hölzer an den Ufern der Fährten zum Gebrauch der Nächstkommenden liegen zu lassen. Auf diese Rohrbalken hatte Tzatzoe vergeblich gerechnet. Der Häuptling ließ seine Büchse bei den Freunden zurück und verschwand, mit der Kerie bewaffnet, zwischen den Felsen. Als er nach kurzer Zeit zurückkehrte, barg er in seinem Karoß ein großes Stachelschwein, das durch die Schläge seiner kurzen Keule betäubt, in sich zusammengerollt lag. Er schnitt rasch ein Paar an acht Ellen lange, junge Bambusrohre ab und band an die Spitze des einen das Stachelschwein. Das Tier war aus der Betäubung erwacht und schrie kläglich. Der Löwe schien jetzt gesättigt und saß auf den zerfleischten Resten seines
Opfers, die Bewegungen seiner menschlichen Gegner am andern Ufer belauernd. Der Bur steckte die Bambusstange mit dem schreienden Stachelschwein in ein Felsspalt des Ufers und befestigte sie, so daß die Spitze sich weit über das Wasser bog und das Tier etwa zwei Fuß über dessen Fläche hielt. Indes beobachtete der Gaika aufmerksam den fast durchsichtigen Umkreis der Wellen; er hielt sich dabei versteckt. Das Stachelschwein quiekte noch lauter als zuvor und ballte sich zusammen. Auch der Bur und sein Neffe versteckten sich hinter den Felsen. Nach wenigen Minuten bewegte sich auf dem Grund des Flusses eine dunkle Masse hin und her. Plötzlich erhob sich der lange Kopf eines Alligators über die Wasserfläche und schnappte nach der Beute. Durch eine geschickte Bewegung des Gaika an dem Rohr verfehlte er sie bei dem ersten– und zweitenmal; aber die grimmige Bestie wiederholte den Versuch. Sobald der Häuptling sich davon überzeugt, daß der Alligator allein blieb, ließ er das Rohr fallen; die Bestie verschlang mit einem gewaltigen Biß das Stachelschwein. Die Mahlzeit schien ihm aber schlecht zu bekommen, denn Blut färbte sogleich die Stelle, wo es niedergetaucht war; die kräftigen Schwanzschläge machten das Wasser schäumen. Das durch die Stacheln in Hals und Gaumen schwer verletzte Tier schoß stromabwärts davon, als könne es sich durch seien wütende Flucht den Schmerzen entziehen. Der Gaika lachte still vor sich hin. „Ehe eine Stunde vergeht, „ sagte er, „wird dieser Vater des bösen Geistes seinen weißen Leib nach oben kehren. Es ist gut, daß er allein war. Ist der alte Häuptling der Dutchmen bereit, für seinen Sohn einen Schuß zu tun, wenn der Dieb der Wüste nicht auf seine Stimme hören will?“ Der Holländer nickte, er legte sein langes Gewehr auf
einen Felsvorsprung so in Anschlag, daß der Löwe nichts davon bemerken konnte. Der Fluß war hier etwa vierzig Schritte breit. Der Gaika ließ seine Büchse, sein Pulverhorn und den Karoß zurück und schritt, nur mit dem Assagai bewaffnet, in das Wasser, das ihm fast bis an die Brust ging; nur in der Mitte brauchte er eine kurze Strecke zu schwimmen. Als er das Ufer erreicht hatte, befand er sich zwanzig Schritt von dem Löwen. Er stieß den Spieß in die Erde und stand dem Tiere nun ganz waffenlos gegenüber. Der Löwe hatte unverwandt das Näherkommen des Mannes beobachtet. Tzatzoe befand sich kaum auf festen Grund, als er die seltsamsten Kapriolen zu machen begann. Er hob die Arme und Beine, sprang, tanzte und schrie dazu aus Leibeskräften wie ein Verrückter; „O, du großer Dieb, du Sohn eines großen Diebes, was willst du von uns! Du hast deinen Hunger gesättigt! Entferne dich, Sohn einer bösen Mutter, und laß dem Sohn des Weibes den Weg frei.“ Das majestätische Tier erhob sich langsam von dem getöteten Büffel und wich vor dem Tänzer einige Schritte zurück. Tzatzoe folgte sofort, den Löwen nicht aus den Augen verlierend, mit neuem Geschrei und neuem Tanz. „O, du Wegelagerer, der du dich den Tapfersten nennst,“ beschimpfte ihn der Kaffer, „glaubst du, mir Furcht einzuflößen? Ich bin Tzatzoe, der Sohn Jalushas, der zehn deiner Verwandten getötet hat! Mache dich eilig davon, du Rinderdieb, daß meine Geduld nicht ihr Ende erreicht.“ Der Löwe wich immer weiter zurück. Endlich schien der Herr der Wüste der beschämenden Rolle müde zu sein; als er den Rand des Gestrüpps erreicht hatte, wandte er sich um, stieß ein Geheul aus und
verschwand mit einem Satz. Der Gaika kehrte an das Ufer zurück und rief seine Freunde. Der Bur, der mit seinem Gewehr, den Finger am Drücker, den Kopf des Löwen nicht von dem Korn verloren hatte, setzte den Hahn in Ruhe. Rasch banden die beiden die anderen Bambusstöcke kreuzweise; an diese Worte der Karoß Tzatzoes als hohle Mulde befestigt, die breit und leicht auf dem Wasser schwamm. Dahinein wurden die Gewehre und alle Gegenstände gelegt, die man nicht durchnässen lassen wollte; dann führten die beiden Holländer, den Ersatzkahn vor sich herschiebend, ihren Übergang in gleicher Weise wie Tzatzoe aus. Der Häuptling hatte sich, ohne ihre Ankunft abzuwarten, sofort auf die Wiederauffindung der verfolgten Spuren gemacht, nachdem er von den Überresten des Büffels ein großes Stück Fleisch abgeschnitten. Sein Ruf führte die beiden zu ihm. „Möge mein weißer Vater die Eindrücke dieser Hufe betrachten“, sagte er; „es sind die beiden Pferde der Weißen. Hier daneben laufen die Spuren dieses Hundes von Fingoe.“ „Sie sind gestern abend noch weitergezogen?“ „Der Tau der Nacht steht in den Eindrücken der Hufe.“ „Aber woher kannst du unterscheiden, daß dies die Fährte der Spione ist?“ fragte der junge Pretorius, der zum erstenmal Gelegenheit hatte, den Scharfsinn Tzatzoes im Aufspüren einer Fährte zu bewundern. Der Gaika lächelte. „Das Auge der Abalungos ist trübe, wenn es jung ist; es wird erst scharf, wenn das Alter ihr Haupt färbt. Möge mein junger Bruder seinen weißen Bruder fragen.“ „Die Sache ist sehr einfach“, sagte der Bur, immer auf den Spuren fortschreitend. „Wir haben die Spuren
der Pferde bis an die Furt des Kai verfolgt. Die Tiere gehören zur europäischen Rasse; denn ihre Hufe sind breit und hoch gefesselt, während die kleinen einheimischen Pferde die Fessel so tief haben, daß ihr Haarbusch sich mit in den Spuren abzeichnen.“ „Die Rosse gehören den Kriegern der großen Mutter“, fügte Tzatzoe bei. „Das zeigen die Eindrücke ihrer Eisen.“ „Aber wenn ich die Deutlichkeit dieser Spuren jetzt nach der Beschreibung auch selber erkenne, die einer leichten Sandale vermag ich nicht einmal zu sehen, viel weniger zu verfolgen.“ „Die niedergebeugten Halme der Gräser genügen für das Auge eines Kenners. Meint der Häuptling, das unsere Feinde die ganze Nacht fortgezogen sind, oder daß sie in der Nähe gerastet haben?“ Tzatzoe wies nach einem etwa eine halbe Meile entfernten, baumbestandenen Hügel. „Mein Vater wird dort die Antwort finden.“ Nach einem raschen Marsch erreichten die drei Männer den Ort, dessen Aussehen bewies, daß die Verfolgten die Nacht hier zugebracht hatten. Der nicht sehr große Hügel war an seinem Fuß ringsumher von stachligen Kaktusgewächsen umgeben, die eine sichere Schutzwand gegen den Besuch wilder Tiere boten und zugleich den Schein des kleinen Feuers verbargen, das die Männer zur Bereitung ihrer Mahlzeit angezündet hatten. Man hatte ein Loch gegraben, mit Steinen ausgelegt, und in diesem ein Feuer angezündet. Die Steine und die Asche waren noch heiß, ein Beweis, daß das Feuer bis Tagesanbruch unterhalten gewesen war; der Gaika hatte nichts Eiligeres zu tun, als das mitgenommene Stück Büffelfleisch, in einige breite Blätter gewickelt, in das Feuerloch zu stecken und es wieder mit Erde zu beschütten; erst dann ging er an eine weitere Untersuchung.
Er wendete Steine und Zweige, betastete die Erde, streifte Grashalme durch seine Finger und lag lang am Boden. Die beiden Holländer sahen ihm aufmerksam zu. Endlich kam er zu dem Feuerplatz zurück, setzte sich nieder und zog das Stück Antilopenhaut aus dem Gürtel, das ihm der junge Soldat von dem trunkenen Kaffer überbracht hatte. Auf dem Innern der Haut waren verschiedene Zeichen eingeritzt. Zwei Linien stellten mit großer Genauigkeit den Lauf des Kai und seines Nebenflusses, des Bolosi, dar. In der Nähe der Vereinigung beider Ströme war ein Querzeichen angegeben, das offenbar einen Übergangspunkt über den Strom bedeutete. Darunter befanden sich die Zeichnungen einer Schlange und zweier europäischer Bajonette in roher Form, zwei Augen und die Abbildung eines Kaffernkraals. Neben den Bajonetten waren zwei Pferdeköpfe eingerissen. „Die Schrift des Häuptlings Macomo ist klar wie der Tag“, sagte der Bur zu seinem Neffe; „drei Männer, zwei Engländer und ein Führer, dessen Bild die Schlange bedeutet und der , wie Tzatzoe sagt, der verräterische Fingoe Congod ist, sind in die Kafferndörfer als Späher ausgeschickt; an der Stelle, die hier bezeichnet worden ist, sind sie über den Kai gegangen. Aber es ist mir unbegreiflich, daß es zwei Soldaten es wagen sollten, über die Grenze von Kaffaria vorzudringen; der Krieg ist fast so gut wie ausgebrochen; der Tod lauert jedem ihrer Schritte.“ Der Gaika nahm einige Büschel Gras, die er bei seiner Untersuchung des Bodens abgerissen, und hielt sie seinem Verbündeten unter die Nase. „Was riecht mein Bruder?“ Der Alte beroch es aufmerksam, schien aber nichts Ungewöhnliches daran zu finden. „Meine Sinne werden alt, Häuptling; was meinst du
damit?“ „Zwei Männer, die die Weißen Tochtgänger oder Smause nennen, sind auf dem Handel mit dem schwarzen Mann; sie wissen, daß ihm die Flinten und das Pulver willkommen sein werden. Aber sie führen auch das Gift mit sich, mit dem der Abalungo die Völker unterjocht, denen die warme Sonne eine andere Farbe gegeben, als in seinem kalten Nebelland.“ „Du meinst Branntwein?“ Der Kaffer nickte und wies nach einem Baum. „An diesem Stamm haben die Späher die Last ihrer Pferde abgeladen – es waren zwei Fäßchen des flüssigen Feuers dabei; selbst der Rasen, auf dem sie geruht, ist von ihnen vergiftet worden. - Kennt der junge Krieger dieses?“ Er zeigte dem jungen Holländer einen Bleiknopf, auf dem sich eine Zahl befand. „Es ist ein Knopf von eignen Kleidung, ein Gamaschenknopf mit der Nummer meines Regiments.“ „Wenn der junge Krieger die Knöpfe seines Anzugs zählt, wird er finden, daß sie allen an ihren Stellen sind. Diesen hat einer verloren, der vor wenig Stunden hier an diesem Ort schlief.“ „Dann sind die beiden Weißen Leute meines Regiments?“ Der Wilde nickte. „Erzählte mein Bruder nicht, daß er zwei seiner Offiziere im Lager nicht gesehen habe? Erinnert sich der junge Krieger vielleicht, ob diese in fremden Zungen sprechen können?“ „Bei Gott im Himmel, Häuptling, du könntest recht haben. Kapitän Riley versteht die holländische Sprache und auch etwas vom Kafferndialekt. Er gab dem Vater Luisens Anleitung darin; das war die Ursache, die ihn in die Familie brachte. Auch mehrere andere Offiziere des Regiments bemühten sich, sie zu lernen.“ „Kennt mein Bruder etwas Besonderes am Gange
seines Feindes?“ Der junge Mann errötete bis über die Stirn, denn die Frage rief ihm die Erinnerung seiner Dienstbarkeit bei dem zurück, der ihn so tief gedemütigt; doch konnte er nicht erraten, was Tzatzoe meinte. „Der linke Fuß seines Feindes ist breiter als der rechte.“ Der Soldat dachte nach und erinnerte sich in der Tat; Tzatzoe führte ihn zu dem Baum, unter dem das Gepäck gelegen; verfaulte Rinde bildete umher einen lockeren Boden, in dem zwei Fußspuren deutlich zu erkennen waren. Die linke war um etwa einen Viertel Zoll breiter als die rechte; daß scharfe Auge des Kaffers hatte diesen einem gewöhnlichen Beobachter gewiß unbemerkt gebliebenen Unterschied sogleich entdeckt. „Es ist Riley“, rief er Mißhandelte. „Kein Zweifel! Fluch ihm und mir, wenn ich diese Gelegenheit nicht benutze, mich zu rächen. Laßt uns aufbrechen! Jeder Augenblick des Zögerns ist eine neue Qual für mich!“ „Geduld ist die Mutter der Taten“, sagte der Häuptling. „Mein junger Freund möge sich gedulden; Tzatzoe verspricht ihm, daß er das Weiße im Auge seines Feindes schauen soll, noch ehe die Sonne im Lande der Buschmänner niedersinkt. Der Häuptling der Gaikas wandelt auf dem Kriegspfad; es ist Zeit, daß er sich Utika in dem Schmuck des Mannes zeige.“ Ohne sich um die Ungeduld des jungen Pretorius zu kümmern, öffnete er die Feuergrube und zog das Stück Büffelfleisch heraus, das, halb gebraten, Duft verbreitete. Jeder schnitt oder riß seinen Teil ab. Selbst der Kaffer begnügte sich, bloß die dreifache Menge als seine Gefährten zu verschlingen, statt sich der Unmäßigkeit zu überlassen, der sich die eingeborenen Stämme oft hingeben. Sobald Tzatzoe mit der Mahlzeit fertig war, entnahm er einem kleinen Säckchen, das am Gürtel neben dem
Tabaksbeutel hing, Farben. Er bemalte sich das Gesicht und die nackte Brust mit roten und schwarzen Streifen, ähnlich der Kriegsmalerei der nordamerikanischen Wilden. Noch hatte die Versammlung der Amapahatis 1 nicht das Kriegswort ausgesprochen; aber die Vorbereitungen Tzatzoes, des grimmigen Häuptling der Gaikas, bewiesen, daß er seine Feindseligkeiten allein zu eröffnen gedachte; ohne weitere Verzögerungen machten sich die drei auf die neue Verfolgung der Spur. *
Die Nachmittagssonne sandte ihre heißen Strahlen auf die weite Ebene von Sand und Lehmboden, die sich zwischen Kai und Somo bis zu den fruchtbaren Tälern und grünbewachsenen Wänden der gegen Osten aufsteigenden UmtataBerge erstreckt. Dieser Richtung schritt eine andere Gesellschaft von drei Personen rüstig zu. Zwei weiße Männer, ihrer Kleidung nach Tochtgänger, marschierten neben starken Pferden her, denen durch das bloße Auflegen einer Decke statt des Sattels und durch einige andere Veränderungen das Aussehen von Saumrossen gegeben; der Rücken der Tiere war mit Paketen und Fäßchen, einem Dutzend alter Flinten, Kavalleriepistolen, Pulver, Branntwein, Glasperlen und englischen Schnittwaren beladen. Jeder der drei Tochtgänger trug ein altes Gewehr auf der Schulter; doch hätte ein schärferes, waffenkundiges Auge leicht bemerkt, daß die beiden Flinten der Weißen keineswegs von so schlechter Beschaffenheit waren, wie ihr Äußeres schließen ließ. Der dritte 1
Die hohen Räte, der Rat der Greise, der alle wichtigen Angelegenheiten der Kaffernstämme entscheidet.
war ein Mischling, halb Hottentott, halb Kaffer, in zerlumpten Linnenhosen und gleicher Bluse, mit einem Gesicht voller List und Verschlagenheit. Die beiden Tochtgänger in ihrer holländischen Kleidung waren noch junge Männer; der eine etwa dreißig Jahre, der andere acht bis neun Jahre jünger; die englische Sprache und manche andere Anzeichen, auf die sie bei der Abwesenheit aller Gefahr jetzt weniger achteten, verrieten leicht ihre Abstammung. „Die Fabel, daß wir unsere Ochsenwagen am Kai zurückgelassen haben, weil das Vieh an der Klaauwzinkte 1 erkrankte, ist nicht übel“, sagte der ältere der beiden Weißen. „Sie wird uns für ein paar Tage helfen; inzwischen wird es uns hoffentlich gelingen, über die Versammlung der schwarzen Schufte ins klare zu kommen. Höll` und Verdammnis! Wäre die Aufregung des gefährlichen Abenteuers nicht eine kleine Entschädigung und hätte mich nicht noch ein anderer Grund getrieben, - Sir Georges hätte sich einen anderen suchen können, der mit diesen schmutzigen, stinkenden Bestien in der Maske eines faulen Mynheers Handel treibt. Kapitän Riley von ihrer Majestät dreiundneunzigstem Regiment fühlt sich zu was Besserem geboren! Wie gefällt Ihnen denn der Marsch, Leutnant Delaune?“ „Dieser Zug ins Innere“, erwiderte der jüngere Offizier, „ist mir etwas Neues, Spannendes; jede Stunde bringt mir frische Anregungen! Die Hoffnung auf den glücklichen Erfolg unserer Sendung läßt mich das Unangenehme vergessen.“ „Hüten Sie sich nur, des Guten zu viel zu tun, Kamerad“, lachte der Kapitän. „Es müßte mit dem 1
Klauenfäule, eine bei den schwierigen Transporten durch das Innere des Kaplandes häufig vorkommende Krankheit der Zugochsen, die sich auf dem steinigen Grund das Horn der Füße durchlaufen.
Teufel zugehen, wenn Sie als französischer und ich als holländischer Händler die dummen Wilden nicht täuschen sollten. Die einzige Gefahr ist, daß einer der französischen Missionare von Madagaskar sich unter ihnen befände. Und eben deshalb hat der General Sie kommandiert, weil Sie französisch sprechen wie Ihre Muttersprache. Das Vorgeben, ein Franzose zu sein, wird uns am sichersten unsern Hauptauftrag ausführen lassen – zu ermitteln, auf welche Unterstützung diese schwarzen Halunken rechnen. Wie weit ist es noch bis zu dem Kraal, Congod?“ Der Fingoe zeigte zweimal die fünf Finger seiner Hand. „So viele Meilen, Herr, dann werden wir vor dem Kraal Sandilis stehen. Es ist Zeit, Herr, daß dein Mund die Sprache der Inglishmen verlernt; denn die Bäume und Büsche können das Ohr eines Amakosas verbergen; es war gut, daß die Krieger der großen Mutter die Pferde verlassen hatten, als wir den Männern vorhin begegneten.“ In der Tat war es eine notwendige Vorsichtsmaßregel des Fingoe gewesen, als sie sich mehr dem Wohnsitz des Stammes näherten, die Pferde zu verlassen und ihren Weg, wie wirkliche Tochtgänger, zu Fuß fortzusetzen. Denn bald darauf waren sie einzelnen kleinen Abteilungen von Kaffern begegnet, die, ohne der in den Grenzgebieten sehr gewöhnlichen Erscheinung der Tochtgänger besonders zu achten, rasch an ihnen vorüberzogen, alle nach einem Ziel: dem großen Kraal der Gaikas. „Du bist also gewiß, daß eine Versammlung der Häuptlinge im Werke ist?“ fragte der Kapitän den Spion. „Um die Zeit des Vollmondes ist der große Runlho des Stammes, Herr“, berichtete der Fingoe. „Es ist nicht ungewöhnlich, daß der Amapahati zur selben Zeit mit den Jünglingen und Jungfrauen des Volkes die Häuptlinge und Krieger dann zur Beratung
zusammenruft. Die Männer und Frauen, denen wir begegnet, waren geschmückt mit den Blüten des Granatapfels; der Runlho muß nahe sein; wir werden zur rechten Zeit eintreffen.“ „Was ist ein Runlho?“ fragte Delaune. „Wie?“ lachte der Kapitän. – „Sie kennen wirklich nicht diese treffliche Sitte unserer schwarzen Nachbarn – oder stellen Sie sich bloß so?“ „Sie wissen, Kapitän, daß ich erst seit vierzehn Monaten am Kap bin und die Stadt bis zum Ausmarsch nach Fort Beaufort nur auf kurze Strecken verlassen habe. Man sieht nur wenig Kaffern in der Kapstadt.“ „Teufel,“ lachte der Kapitän, „wollten die schwarzbraunen Burschen ihr Runlho in der Nähe der Kapstadt oder eines anderen zivilisierten Ortes halten, sie würden verdammt vielen Zuspruch genießen, trotz dem Zetermordio, das die Missionare und die ganze Pfaffensippschaft dagegen erheben würde! – Denn auf Ehre, Kamerad! Die dunklen Weiber und Mädchen könnten einem Bildhauer zum Modell einer Venus dienen. Die Formen sind tadellos, daß Fleisch kernig und fest, und manche unter den Dirnen hat Augen und Zähne, die sich jede Lady in Whitehall wünschen könnte.“ Der jüngere Offizier errötete unter der bräunlichen Färbung, die sein Gesicht verbarg. „In der Tat, wir sahen im Fort, als die Kaffernfrauen in voriger Woche die Pfirsiche, Guaven und Muskmelonen zum Kauf brachten, schöne und stattliche Gestalten unter ihnen. Erinnern Sie sich eines Mädchens, Kapitän, das ziemlich gut auf englisch sich verständlich machen konnte und eine fast klassische Gesichtsbildung hatte? Gulma nannte man sie.“ Der Kapitän lachte roh. „ Diese dunklen Weiber lieb` ich wegen ihrer reizenden Formen. Ich schere mich den Teufel um ihre Farbe. Hoffentlich haben Sie Ihr Glück
bei der schwarzen Schönheit nicht zu teuer bezahlt?“ „Ich verstehe Sie nicht, Sir“, erwiderte ernst und von Schamröte übergossen der junge Mann. „Ich meine, einige blanke Knöpfe und Glasperlen genügen, um diesen hübschen braunen Katzen den Kopf zu verdrehen. Freilich ist man dabei der Nebenbuhlerschaft jedes Rekruten ausgesetzt; denn zu welchem Zweck kommen die Dirnen zu uns ins Lager?“ Die Stirn des Leutnants hatte sich bei der brutalen Spötterei verfinstert; doch unterdrückter er seinen Unwillen gewaltsam und suchte das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu bringen. „Sie haben mir noch immer nicht gesagt, was der Runlho ist?“ Ein Faunenlächeln spielte um die tiefgezeichneten, sinnlichen Züge des älteren Offiziers, als er seinen Gefährten betrachtete. „Sie werden Gelegenheit haben, selber zu schauen, Kamerad. Ich will Ihre jungfräuliche Seele nicht im voraus zu sehr aufregen. Nur machen Sie sich auf eine Einrichtung gefaßt, die so viel naturwüchsige Vorteile mit sich bringt, daß ich in der Tat staune, warum so ein praktisches Volk, wie wir Briten sind, sie nicht längst zugunsten Ihrer Majestät Flotte und Armee eingeführt hat.“ Delaune schwieg – er mochte nicht weiter fragen. Da der Kapitän ein Gespräch mit dem Fingoe begann, schritt er stumm neben ihnen her, seinen Gedanken nachhängend. Sie galten der jungen Kafferin, deren er vorhin Erwähnung getan, der schlanken, reizenden Gestalt, dem eigentümlichen, feurigen und zärtlichen Ausdruck der jungen Farbigen. Es kam sehr häufig vor, daß sowohl zu den Garnisonen des Grenzforts als bei den häufigen Kriegen und Streitigkeiten zu den lagernden Truppen die Frauen und Mädchen der feindlichen Stämme ganz unbesorgt
kamen und Milch, Früchte und andere Lebensbedürfnisse zum Verkauf brachten. Der Kaffer sendet nie männliche Spione aus; das Beispiel Macomos, der von besonderem Haß zu der Rolle des trunkenen getrieben wurde, die er so trefflich spielte, steht vereinzelt in den Kriegen des Kaplandes. Fast immer erreichten die weiblichen Spione ihren Zweck; und ein blutiger Überfall in den Engpässen der Berge, ein nächtliches Gemetzel oder die völlige Vernichtung einer abgeschnittenen kleineren Abteilung war fast jedesmal die Folge von der Torheit der britischen Posten. Bald zog indes die veränderte Umgebung Leutnant Delaune von den Träumereien um die reizende Gulma ab. Das Umtatagebirge hob sich majestätisch, voll Fruchtbarkeit und Großartigkeit, je tiefer sie in die Berge eindrangen. Belebende Quellen sprudelten zwischen den Felsen hervor: die gigantische Aloe und der Kaktus in seinen tausend verschiedenen Abarten verdeckte das Gestein; auf den Abhängen erhoben sich dunkle Wälder von Palmen, Zypressen, Fichten und Korkeichen, um deren Stamm und Äste die Schlingpflanzen ihr Gewinde zogen. In den Tälern wuchsen die kleineren Palmietten, der Brotbaum, dieser Segen der Tropen, mit seinen langen Fächerblättern, die Dattelpalme mit ihrer Federkrone, die Orange, der Feigen- und Mandelbaum, der Pfirsich und die dunkle Granate. Ein Strom von Duft würzte die Luft. Herden wohlgenährter Rinder weideten auf den Berghängen; auf den Hügeln zerstreut hockten die Wohnungen der Kaffern, zahlreiche runde, bienenkorbähnliche Hütten. Die Hütten waren leer; nur Kinder und ältere Frauen sah man bei den Zelten. – Der Weg, den der Fingoe genau kannte, führte bergan durch gewaltige, von Felsen gebildete Schluchten. Beide Offiziere gewannen die Überzeugung, daß es keine geringe Anstrengung
auch der besten Truppen kosten würde dieses Bergund Waldgelände zu erkämpfen. Als sie aus den dichten Gebüschen hervor traten, bot sich ihren Augen ein ebenso unerwartetes wie belebtes Bild. Vor ihnen lag, von der Abendsonne beleuchtet, eine etwa zwei englischen Meilen lange Bergebene, auf der Amatata, die große Siedlung der östlichen Gaikas stand. Die Hütten, vielleicht dreihundert, lagen um einen sanft aufsteigenden Hügel; auf dessen Spitze umgab ein Kreis riesiger Korkeichen den großen Beratungsplatz des Stammes. Rauchwolken stiegen von den vor jeder Hütte angelegten Feuerungsplätzen, um die sich Männer, Frauen und Kinder versammelt hatten, empor. Ochsenviertel, Wild und Hammel brieten an hölzernen Spießen oder zwischen heißen Steinen; überall standen Milchvorräte in weichen, elastischen Körben, die die Kaffernfrauen aus zähen Grashalmen und dünnen Zweigen so undurchlässig zu flechten verstehen, daß keine Feuchtigkeit sie durchdringt; diese Gefäße erhalten durch die größere Verdunstung die Milch eiskalt. Weiber stampften in hölzernen Mörsern das Hirseund Kafferkorn zur Bereitung des Breies. Andere breiteten die Früchte des Kubu und des Melkhout auf riesigen Palmenblättern aus. Auf den Knien oder auf dem Leib lagen Männer im dichten Kreis um ein mit Wasser gefülltes Loch, an dessen Rand eine kleine Höhle mit Tabak gefüllt war. In diese Höhle waren lange, hohle Schilfe durch das Wasser geführt, aus denen sie gekühlte Rauchwolken einschlürften und durch Nase und Mund von sich stießen. Scharen von jungen Männern und Mädchen, mit den Blüten des Granatbaumes geschmückt, Zweige in den Händen, zogen zwischen den Kraalen umher. „Runlho! Runlho!“ erklang immer wieder aus Männer- und Frauenkehlen
der helle, freudige Ruf. Wenn sich auch die Züge da und dort begegneten, so hielten sich doch Jünglinge und Mädchen voneinander streng gesondert. Krieger und junge Männer jagten auf der Ebene auf den kleinen Pferden des Kaplandes umher; andere übten sich im Wettwerfen mit dem Assagai, oder im Schießen mit Pfeil und Flinte; denn die Holländer und Franzosen, und selbst die Habsucht der Engländer, hatten den Kaffern viele Feuerwaffen in die Hand gegeben und ihnen ihren tödlichen Gebrauch gelehrt. Überall war Jubel, Geschrei, Leben und Bewegung. Die falschen Tochtgänger waren kaum aus dem Dickicht getreten, als sie auch sofort von einer anwachsenden Menge umgeben wurden; sie drängte, keineswegs unfreundlich, die Ankömmlinge nach dem Innern des Kraals. Der Smause oder Tochtgänger ist ein dem Eingeborenen fast ebenso bekannter Mann wie den Buren, und als ein Abnehmer ihrer Jagdbeute sehr willkommen. Der Anblick der Flinten, der Hauptladung der Pferde, war besonders geeignet, die Aufmerksamkeit zu erregen. Man führte die Gäste zu einer der ersten Hütten und reichte ihnen Milch und Fleisch zum Zeichen der Gastfreundschaft. Der Fingoe, vollkommen mit den Dialekten der Stämme vertraut, übernahm das Amt des Dolmetschers; er erzählte den Kaffern, daß die Wagen der Tochtgänger eine Tagereise weit zurückgeblieben, die Händler aber auf die Nachricht von der Versammlung und dem Runlhofeste mit einigen Waren vorausgeeilt seien. Er benahm sich dabei sehr gewandt und kriechend; die freien Kaffern verachteten den Fingoe, obgleich er zu ihrem Volk gehörte, und betrachteten den Stamm als Sklaven der Engländer. Es bestand deshalb zwischen den beiden ein alter Haß, der indes ihre Handelsgeschäfte nicht hinderte. Riley und Delaune luden inzwischen ihre Tiere ab,
fütterten und tränkten sie und führten sie in die Nähe des ihnen angewiesenen Raumes. Nun begannen sie ihre Packen zu öffnen und mit allerlei Kleinigkeiten zu handeln. Während Riley mit großer Sicherheit die Ausdrucksweise eines holländischen Tochtgängers nachahmte, wußte Leutnant Delaune mit gleicher Gewandtheit den Franzosen zu spielen; das Gemisch von französischen, englischen und EingeborenenWorten, in dem er sich ausdrückte, hätte wohl selbst schärfere Beobachter als diese Naturkinder getäuscht. Das Gerücht von der Ankunft der Tochtgänger hatte sich bald durch das ganze Dorf verbreitet; die Kundschafter hatten sich noch nicht lange niedergelassen als sie durch zwei Krieger auf den Versammlungsplatz der Amapahati und vor den berühmten ersten Häuptling der Gaikas, Sandili, beschieden wurden. Sandili führte an Stelle seiner Mutter, der alten Königin Suta, die Herrschaft über die Stämme. Er war der erbittertste und gefährlichste Feind der Engländer. Die Offiziere hatten rasch ihr Gepäck wieder zusammengerafft und auf die Pferde geladen, mit der Vorsicht echter Handelsleute, die ihre Güter nie aus den Augen verlieren; sie folgten, von der Menge der Kaffern umgeben, ihren Führern zu dem Hügel, auf dem die Vornehmen und Weisen des Volkes versammelt waren. Es war unterdes Abend geworden; die kurze Dämmerung der Tropen ging rasch in das Dunkel über, das hundert Feuer erhellten. Ein sorglos flackerndes Lagerfeuer brannte auch in der Mitte des Platzes und beleuchtete den Blätterdom der riesigen Korkeichen und die dunklen Gesichter der Männer, die in einem großen Kreise auf einer Art Erdbank umhersaßen und lagen. Es waren zum Teil sehr alte Männer mit sehr weißem Haar, verwitterten,
faltenreichen Zügen, den Bauch geschwellt von ungeheuerer Gefräßigkeit. Stolze, prächtige Kriegsgestalten mit dem Karoß um die Schultern, die Flinte oder den Assagai in der nervigen Hand, befanden sich unter ihnen; ihre Namen klangen den Ansiedlern der Kolonie schon seit langen Zeiten schrecklich: Umahala, das mächtige Oberhaupt der H`Llambins, mit seinen Unterhäuptlingen Pato und Sewani; die beiden Söhne Macomaos; Kona und Namba, Kreli, der Führer der Tambukis, und die Häuptlinge der Gaikas: Stoch, Thlatlha, Zana und Faudala. Nicht ohne Gefühl der Besorgnis bemerkten die Offiziere unter den Kaffern auch mehrere weiße Männer – kräftige Buren, entschlossene Gesichter, und einen ganz von diesen verschiedenen Mann, der zwar die gewöhnliche Kleidung eines Reisenden trug, dessen ganze Haltung, dessen scharfer, entschlossener Blick und dessen wohlgestutzter Schnurr- und Knebelbart jedoch den Soldaten und Europäer erkennen ließ ... Die Führer geleiteten die Tochtgänger um den Kreis nach der Stelle, wo auch die weißen Männer standen. Neben Sandili, dem Oberhäuptling, saß hier die Königin Suta. Die greise, achtzigjährige Frau, von Alter und Krankheit gebeugt, kauerte auf einer mit Matten bedeckten Erderhöhung, den Rücken an ein Felsstück gelehnt. Sie war in einen Mantel von weichem Pantherfell gehüllt; der Kopf eines Raubtieres bedeckte, gleich einer Kapuze, abschreckend ihr graues, runzliges Haupt. Aus den großen, vom Alter schwer getrübten Augen leuchtete nur zuweilen noch ein Blitz des früheren Geistes. Neben ihr kniete ein überraschend schönes Kaffernmädchen. Arme, Brust und Knöchel waren reich mit goldenen Ringen und bunten Glasperlen geschmückt; in dem wohlgeflochtenen Haar trug es einen Kranz von Granatblüten und um die Hüfte eine Lendenschürze von weißer Wolle, das Zeichen für die
Weihe zum Runlho. Die großen ausdrucksvollen Augen richteten sich auf die Fremden; sie begegneten den Blick des Leutnants Delaune und blieben mit wachsendem Erstaunen an ihm haften. Edward Delaune erbebte – er erkannte sofort in dem Mädchen Gulma. Auch er, trotz seiner Entstellung und Verkleidung, mußte von ihr erkannt sein. Er sah, wie die Lippen der Kafferin zu einem Ruf öffneten, wie ihre Hand sich hob, auf ihn zu deuten. Unwillkürlich, von der Gefahr überwältigt, heftete er einen bittenden Blick auf das Mädchen. Er sah, wie ihr Mund sich schloß, einen Finger der kleinen, starken Hand sich an die Lippen hob und ihr hübsches Gesicht sich senkte. Erleichtert atmete er auf. Seine volle Geistesgegenwart und Besorgnis wurde jedoch bald von anderer Seite in Anspruch genommen. Hinter der alten Königin stand der Tsanuse – der große Medizinmann des Kraals, der die Namen der Umtakatis, der eingebildeten, bösen Zauberer, aufzufinden und sie ihrer Strafe zu überliefern vermag. Die Haut eines großen Springbocks bildete seinen Mantel, so daß die langen Hörner des Tiers hoch über seinen bemalten Kopf hinwegragten. Ein Bündel von Assagaien und Keries war um seinen Leib gebunden; am Gürtel hingen Schwänze wilder Tiere; Schlangenhäute, kleinere Felle und getrocknete Eidechsen waren um den Hals und alle Gelenke befestigt, und große Geierfedern ragten aus dem struppigen Helm seiner Haare hervor. Sandili, der Vater Gulmas, war eine hohe Gestalt mit männlich-schönem Gesicht. Er trug die großen goldenen Ohrringe der Kaffern, die Spange am linken Arm und die Schnur großer Glasperlen um den Hals; aber sein Karoß war ein riesiges, weich gegerbtes Löwenfell; der mächtige Schweif schleppte bei seinen Bewegungen lang hinter ihm drein auf den Boden. Sein forschendes stolzes Auge saugte sich fest auf
die Ankömmlinge; er wartete einige Augenblicke, ehe er das Schweigen brach. „Fliegen die weißen Raben durch die Wüste der schwarzen Männer, wenn der Sturm weht?“ fragte er in gebrochenem Englisch. „Wissen die Händler der Abalungos nicht, daß Streit ist zwischen meinem und ihrem Volk?“ Die Worte waren an Kapitän Riley gerichtet; der Häuptling verschmähte es, sich des verachteten Fingoe als Dolmetscher zu bedienen. Der Kapitän war jedoch zu gewandt und wohlvorbereitet, um in die Falle zu gehen; er antwortete in holländischer Sprache mit einer anderen Frage: „Hat der Inkosi Inculu der Gaikas die Smause je als Feinde auf seinem Wege gefunden? – Sie hassen die Rotröcke wie du und bringen seinem Volke das Pulver und die weittragenden Flinten.“ Der Fingoe hatte den Kram der falschen Händler unterdes im Kreise auszubreiten begonnen; der Kapitän nahm zum Beweise seiner Worte einige der Gewehre und legte sie vor dem Häuptling nieder; dieser aber trat einen Schritt vor, hob das Fell, das einen der Packen bedeckte, und zeigte auf die Branntweinfäßchen. „Ist dies das Pulver, das der Smause den Gaikas bringen will?“ Der scharfe Geruchssinn des Eingeborenen hatte ihm das Gift verraten, das schon so viele seines Volkes verdorben hatte. Im ersten Augenblick war der Kapitän verdutzt; dann aber antwortete er rasch: „Der Inkosi Inculu weiß, daß ein armer Smause mit allem handelt; der Feuertrank ist für die Ooms aus ihrem Volke bestimmt, denen er auf seinem Trekken1 begegnen wird. Das Pulver ist das Eigentum dieses französischen Händlers. Der Häuptling weiß, daß die Rotröcke den Dutchmen nicht gestatten, damit zu 1
Umherziehen
handeln.“ Der Häuptling wandte sich lebhaft zu dem jungen Mann. „Wenn mein Sohn von dem Volk stammt, das der Feind der Inglishmen ist, so wird er seine Sprache verstehen?“ Delaune antwortete französisch. „So möge der junge Smause mit seinem Bruder reden und ihm sagen, woher er kommt und was er weiß von den Feinden der schwarzen Männer.“ Sandili winkte zugleich dem fremden Weißen, dessen militärisches Aussehen den verkleideten Offizieren schon früher aufgefallen war. „Mein Bruder Tzatzoe, der seine Sprache redet, ist mit dem weisen Vater der Dutchmen noch auf dem Kriegspfad und fehlt am Beratungsfeuer. Möge unser Freund prüfen, ob der Smause von seiner Nation ist.“ „Parbleu, Häuptling“, sagte der Fremde, sich den Schnurrbart streichend. „Das wollen wir bald erfahren. – Wie heißt du, Bursche? Wo kommt ihr her?“ wandte er sich in französischer Sprache an den jungen Mann. Delaune stammte aus einer Emigrantenfamilie, die sich in England niedergelassen; er sprach das Französische als zweite Muttersprache. Geläufig erzählte er nach vorher besprochenen Plan, daß er Kommis einer französischen Handlung auf Mauritius sei; trotz der strengen britischen Aufsicht treibe diese Firma einen ausgedehnten Schmuggelhandel an den Ostküsten Afrikas und versorge holländische Händler mit den verbotenen Waren. Es sei ihnen kürzlich gelungen, eine Ladung in die Mündung des Kai zu schmuggeln; mehrere französische und holländische Tochtgänger wären in diesem Augenblicke damit beschäftigt, sie durch das Land zu verbreiten. Die Insel Mauritius nannte er vorsichtig, weil er annehmen durfte, daß der militärische Agent – denn ein solcher war
offenbar sein Gegner – von Madagaskar oder noch unter französischer Herrschaft stehenden Insel Bourbon gekommen sein müsse. Zugleich berichtete er die Geschichte von den in der Einöde zurückgebliebenen Wagen. Der Dialekt Delaunes war so unverfälscht, der Schmuggelhandel und Tochtgang eine so bekannte Sache, daß der Franzose keineswegs Verdacht schöpfte. Als Delaune sich nun für einen geborenen Pariser ausgab, und dies durch mancherlei Erwähnungen glaubhaft machte, nahm ihn der Agent unter seinen besonderen Schutz und beseitigte jedes Mißtrauen des Häuptlings. Während dieses Gesprächs war auch Riley nicht müßig gewesen; er unterhielt sich mit den vier Buren, die sich ohne weiteres um ihn drängten, um das willkommene „Gut“, den Branntwein, zu versuchen. Das Holländisch, das Riley sprach, genügte vollkommen sie zu überzeugen, daß er, wenn ihnen auch unbekannt, ein echter Tochtgänger sei; denn selten versteht ein Engländer die Sprache der unterdrückten Kolonisten. Er gab, um sich das Vertrauen zu sichern, eine Menge teils wahrer, teils falscher Nachrichten von der Stellung der englischen Streitmacht jenseits des Kai und ihren drohenden Bewegungen. Er erzählte, er sei selber im Lager gewesen, als er in den Forts alte Gewehre gekauft. Dafür hörte er von den arglosen Buren, daß sie Abgesandte der in der Boomplaatsschlacht zerstreuten Kolonisten und der Ansiedler im Victorialande, Port Natal, seien, die sich mit den Kafferstämmen in dem drohenden Kriege diesmal gegen ihre englischen Unterdrücker verbinden wollten. Der Verdacht der Kaffern war nun ganz geschwunden und es hatte sich ein lebhafter Handel um das Gut der mit Milch und Fleisch bewirteten Tochtgänger entsponnen, während Sandili und der
französische Agent noch bemüht waren, Nachrichten über die feindliche Stellung einzuziehen. Der Fingoe, der durch Schmutz im Gesicht und durch seine Kleidung einem Hottentotten ähnlich und durch ein Pflaster auf einem Auge unkenntlich war, besorgte unterdessen den Handel mit den Kaffern. Der Kapitän hatte an die einzelnen Häuptlinge und ihre Weiber einige kleine Geschenke von Tabak, Ringen und Glasperlen verteilt; dabei war es ihm gelungen, mit einem bedeutsamen Blick dem Medizinmann ein Päckchen mit Gold in die Hand zu drücken; Edward Delaune hatte zwei schöne Schnüre von Bernsteinperlen der alten Königin und Gulma übergeben. Ihre Augen begegneten sich; er glaubte in den ihrigen das Versprechen des Schweigens und die Mahnung zur Vorsicht zu lesen. Deutlich fühlte er, wie ihre kleine Hand bei der Berührung der seinen zitterte. Plötzlich erklang indes aus der Menge der Ruf: „Tzatzoe!“ und „Oom Pretorius!“ Der Kreis, der sich um die Händler gebildet, gab Raum. Sandili bewillkommnete mit großer Freude den Häuptling der westlichen Gaikastämme und den Anführer der aufständigen Buren, denn auf sie hatte man gewartet, um die Beratung zu beginnen. Er gab Befehl, daß sich die beiden weißen Händler, die niederen Krieger, Frauen und Kinder aus dem Bereich des geheiligten Kreises des Rates entfernen sollten. Tzatzoe winkte ihnen jedoch, zu bleiben. „Wenn es der Inkosi Inculu aller Gaikas gestattet,“ sagte er in der Sprache seines Volkes, „möchte ich diese beiden Männer noch einiges fragen, bevor sie Ruhe suchen für die Nacht, die unserer großen Mutter geheiligt ist. Tzatzoe ist gewohnt, den weißen Gesichtern nicht zu trauen, wenn er sie nicht viele Sommer kennt.“ „Tzatzoe ist ein großer Häuptling“, erwiderte Sandili,
beleidigt über dies Mißtrauen gegen seinen Scharfblick. „Wir haben diese Männer geprüft und nichts Verdächtiges an ihnen gefunden. Es sind Kaufleute und Feinde der Inglishmen.“ „Vielleicht vermögen sie uns eine Nachricht zu bringen von Macomo“, beharrte Tzatzoe. „Erlaubt mein Bruder, sie danach zu fragen?“ Sandili nickte ungeduldig Gewährung; denn es drängte ihn, zu den wichtigen Verhandlungen des Abends zu kommen. Riley hatte mit Ungeduld und Besorgnis die neue Gefahr erkannt; doch gab es kein Mittel, ihr zu entgehen: man mußte ihr kühn die Stirn bieten. Ihm gefiel weder das Aussehen des Häuptlings, noch des Buren. Seine Besorgnis wurde noch gesteigert, als er sich niederbückte, um ein Paket zusammenzubinden und der Fingoe ihm dabei ins Ohr flüsterte: „Hüte dich und eile zu den Pferden!“ Im nächsten Augenblick bemerkte er, daß der schwarze Führer durch eine geschickte Bewegung von seiner Seite glitt und im Gedränge verschwand. Er hatte weder Zeit noch Gelegenheit, dem Leutnant Delaune einen Wink zu geben, und versicherte sich nur durch einen raschen Griff des Revolvers unter seinem Jagdhemd. Dann wandte er kühn seine Augen auf Tzatzoe, der ihnen näher getreten war. „Haben die Smause der weißen Männer gehört, wie es dem Häuptling Macomo geht, der bei ihren Brüdern in der festen Stadt am Keiskamma wohnt? Bringen sie uns vielleicht Botschaft von ihm?“ Riley schüttelte den Kopf. „Wir haben Fort Cox schon vor zehn Tagen verlassen“, sagte er in holländischer Sprache; „damals trieb sich wohl ein trunkener Kaffer dort umher, der sich Macomo nannte; aber wir kennen ihn nicht.“ „Macomo hat uns dies gesandt“, fuhr der Häuptling
mit scharfen Blick fort. „Der Bote verließ das Fort der weißen Männer vor zwei Nächten.“ – Er reichte Sandili die Haut mit den eingeschnittenen Zeichen. „Ich höre, die Smause haben ihre Wagen auf dem Wege hierher zurückgelassen“, wandte er sich dann in französischer Sprache an Delaune. „Will mein junger Bruder mir sagen, wo er ihre Spur verloren hat?“ „Am Bolofluß beim Übergang über den Kai“, sagte Delaune rasch. „Der Smause muß sich irren oder sein Gedächtnis ist zu kurz“, bemerkte mit höhnischem Lächeln der Kaffer. „Tzatzoe und der Vater der Buren sind an den Ufern des Bolo und des Knebia umhergestreift seit vier Sonnen; doch sie haben keinen Tochtwagen gesehen. Die schwarzen Männer haben die Augen des Adlers und sehen in das Herz eines Verräters. Der Smause erhebe sein Angesicht in die Höhe, und sage mir, ob er diesen Fremdling kennt?“ Seine ausgestreckte Hand zeigte auf Pieter Pretorius, der neben seinen Oheim getreten war. Der Kapitän erkannte den Todfeind. „Verdammt! – In die Hölle mit dem Hund!“ Riley wußte, daß jede fernere Verstellung unnütz und alles verloren sei; er riß den Revolver aus der Bluse; der Schuß krachte nach dem jungen Holländer hin. Aber eine rasche Bewegung, die dieser gemacht, um sich auf den Feind zu werfen, rettete ihn; die Kugel schlug in die unbeschützte Brust eines grimmigen Kaffernkriegers, der hinter ihm gestanden. „Kapitän Riley! Laßt ihn mir, laßt ihn mir!“ schrie Pretorius. Ein zweiter Schuß Rileys streckte den Häuptling Zana zu Boden. Sein Angriff war so plötzlich, so überraschend gekommen, daß er, mit großer Stärke begabt, wirklich den dichten Kreis der Kaffern durchbrach, ehe diese noch zur Besinnung gekommen
waren. Dennoch wäre er gewiß nicht dem raschen Zuspringen des Kaffernhäuptlings und der Verfolgung des jungen Holländers entgangen, wenn Delaune nicht mit Preisgabe des eigenen Lebens seine Flucht gedeckt und sich Tzatzoe entgegengeworfen hätte, den Wurf seines Assagai zur Seite lenkend. Im nächsten Augenblick war er zu Boden gerissen; über ihn hinweg stürmten die rasenden Häuptlinge und Krieger dem Flüchtigen nach. Riley hatte jedoch schon den Fuß des Hügels erreicht und stürzte durch den Kraal. Zwei dunkle große Gestalten horchten ihm halb vorgebeugt im Schein des Feuers entgegen. Es war Congod, der Fingoe, der die beiden Pferde rasch hierher geleitet hatte und selber auf dem einen saß. Der Kapitän sprang mit einem Satz auf den Rücken seines Tieres. Ein dritter Schuß streckte einen schwarzen Krieger zu Boden, der sich den Pferden entgegenwerfen wollte. Ein Kerriewurf traf in furchtbarem Schwung die linke Schulter des Flüchtlings; doch achtete er in der Aufregung des gewaltigen Schmerzes nicht; im nächsten Augenblick sprengten die beiden Rosse in rasendem Lauf über die Hochebene, mitten durch die Feuer des Kraals. Der Tumult war betäubend. Pfeil- und Flintenschüsse folgten den Flüchtigen; aber Entfernung und Dunkelheit schützen sie. Wild rannte alles durcheinander nach der Weide der kleinen, den Bewohnern des Kraals gehörenden Pferde. Die wenigsten waren angebunden, und es dauerte lange, ehe zwölf Krieger mit Tzatzoe und Pieter Pretorius den Fliehenden folgten. Während der ersten Verwirrung hatte sich niemand um den zu Boden geworfenen Delaune gekümmert. Von Stößen und Tritten getroffen, lag er halb betäubt und kam erst wieder zum vollen Bewußtsein seiner Lage, als Gulma auf einen Wink des Tsanuse ihn zu Füßen ihrer Großmutter zog, so daß seine Hand ihren Mantel
berühren konnte. Das rettete ihn vom augenblicklichen Tod; denn nach der Sitte der Gaikastämme kann ein Verbrecher, dem es gelungen, die Königin, die „große Frau“, zu berühren, nur auf den Beschluß der Amapahati getötet werden. Die erhobenen Kerries und Assagaien sanken nieder. Auch dieser Schutz hätte Delaune auf die Dauer nicht gesichert, wenn nicht ein anderes Ereignis seiner Retterin zu Hilfe gekommen wäre. Den wütenden Lärm übertönend, daß das Echo von den Bergwänden zurückschlug, dröhnte der majestätische Klang eines riesigen Tamtam in drei langverhallenden Schlägen. Als übe der mächtige Klang eine Zauberwirkung aus, folgte plötzlich eine tiefe Stille. – Jedes Antlitz wandte sich nach Osten. Über die Bergwände begann sich langsam die glänzende Scheibe des Vollmonds zu erheben. Eine gewaltige Stimme von der Spitze des Hügels her rief: „Runlho! Runlho!“ Die Gaikas, Männer, Weiber und Kinder, hatten sich auf den Boden geworfen und stimmten einen Gesang an zu Ehren Atalmas, der Göttin der Liebe und der Fruchtbarkeit. Dann sammelten sich die jungen unverheirateten Männer und die Mädchen. Sie stellten sich getrennt voneinander zum Zuge nach dem Beratungshügel auf. Männer und Frauen zogen voran und vollführten auf den zweisaitigen Hottentottenfiedeln, einer klingenden Trommel und Schilfflöten einen ohrenzerreißenden Lärm. Die Mitglieder des Amapahati stellten sich mit den Häuptlingen zur rechten Seite der alten Königin; die andere blieb frei. Von den Kriegern mit finsteren Blicken bewacht, stand Edward Delaune, sein Schicksal erwartend, in der Nähe der alten Frau. Jetzt nahte, unter den Klängen unsichtbare
Tamtamschläger, der Zug der Mädchen, Gulma an ihrer Spitze. Er stellte sich auf der anderen Seite der Königin auf, ihr am nächsten die mit der weißen Schürze Geschmückten, die Jungfrauen, die zum erstenmal zum Opfer des Runlho bestimmt waren. – – – Runlho! – Seltsam feierlicher Opferkult des unverbildeten Naturvolks! – Wenn die Mondgöttin ihre milden Strahlen über die Frühlingserde entsendet, dann schweigen die Stimmen der rauhen Krieger, die das Weib antreiben zur Arbeit; dann schweigt die Jagdlust, dann ruht Feilschen und Handeln. Vergessen ist, daß das Weib ein gekauftes Gut, daß man es den Eltern abgehandelt wie ein Tier. Vergessen ist der nüchterne Tag, die kalte Sitte ... Die Liebe selber schreitet durch die duftende Nacht Afrikas: junge, keusche Menschen mit unverdorbenen Sinnen lauschen dem Geheimnis der Macht entgegen, die Geschlecht um Geschlecht schafft und aus dem Schoß der Familie Völker hervorgehen läßt. Runlho ... im Zauber des Mondes finden sich die Liebenden! – – – Auf ein Zeichen des Tsanuse begann der langsame Zug der jungen Männer. Sie schritten einzeln an dem Sitz der alten Königin vorbei und beugten sich, die Hände über die Brust gekreuzt; jedesmal trat eines der weißgeschürzten Mädchen hervor und gab dem Mann ihrer Wahl den Granatenzweig aus ihren Haaren. Die Jungfrauen des Stammes, die zum erstenmal den Runlho feiern, genießen das unbedingte und nie von den Verwandten bestrittene Recht, den Gefährten zu wählen. Die jungen Männer, die nicht durch eine solche Wahl ausgezeichnet werden, suchen nach Belieben unter den anderen Mädchen ihre Genossin. Jüngling auf Jüngling zog vorüber – die Jungfrauen
hatten alle schon den Geliebten gewählt – nur wenige von den Mädchen standen noch am Sitze der greisen Königin. Noch immer nicht hatte sich Gulma, die Tochter Sandilis, von ihrem Platz gerührt. Noch immer glühte das Rot der Granaten in ihrem mit Perlen durchflochtenen Haar. Verwundert sahen alle auf das Mädchen, als auch Kona und Namba, die Söhne Macomos, ohne das beglückende Zeichen vorbeigeschritten waren; denn man wußte, daß die tapferen Brüder sich um das Kind des Oberhäuptlings bewarben. Die Schar der jungen Männer nahte ihrem Ende. Gulma stand noch immer, den Blick zu Boden gesenkt, neben der alten Frau; alle ihre Gespielinnen waren längst mit ihren Erwählten im Dunkel der Nacht den Augen der übrigen Zuschauer entschwunden. Abseits standen noch mehrere der jungen Männer, darunter die Brüder Kona und Namba, als sich Sandili mit strenger Miene an seine Tochter wandte. „Es ist ungewöhnlich und gegen das Gesetz Atalmas,“ tadelte er, „das eine Jungfrau bei dem Runlho zurückbleibt, ohne die Pflicht gegen ihr Volk zu erfüllen. Gulma ist die Tochter eines Häuptlings. Sie möge wählen, und es wird keiner sein, der sie verschmäht!“ Blässe und Röte bedeckte im flüchtigem Wechsel das schöne dunkle Gesicht des Mädchens. Sie hob langsam das Haupt und nahm die Granatblüte aus ihrem Haar. „Befiehlt der Häuptling, mein Vater, daß ich wähle nach meinem Willen?“ fragte sie mit leiser Stimme. „Ich befehle es!“ rief ungeduldig Sandili. „Das Kind meines Blutes darf die Sitten seines Volkes nicht gering achten.“ Das Mädchen trat einen Schritt vor. Ihre großen, dunklen Augen streiften furchtlos und herausfordernd die Menge, dann blieb sie entschlossen vor Delaune
stehen, reichte ihm den Granatenzweig und kreuzte die Arme über die Brust zum Zeichen des Gehorsams. Ein lauter Schrei des Erstaunens und der Entrüstung schallte von allen Lippen. Gulma antwortete mit einem trotzigen, kühnen Blick. „Hat meine Tochter das Licht des Geistes verloren?“ schrie der stolze Sandili. „Oder wagt sie es, ihr Volk zu verhöhnen, daß sie seinen Feind wählt? Hinweg mit ihm! Er ist dem Tod geweiht!“ Er wollte sie fortreißen; aber das Mädchen klammerte sich an die alte Königin. „Schütze mich, Mutter! Um der Liebe Utikas willen, schütze das Recht Gulmas!“ Die alte Frau, aus ihrer Teilnahmslosigkeit erweckt und zum Schutz ihres Lieblings bereit, richtete sich halb empor und streckte die Hand aus. „Wer wagt es, den Frieden des Runlho zu stören? Das Angesicht Atalmas ist über die Berge emporgestiegen! Der große Sohn der großen Mutter möge sprechen!“ Der Oberhäuptling beugte sich, trotz seinem Zorn, ehrerbietig. „Gulma, das Licht deiner Augen, die deine Hand selber geschmückt zum Runlho, hat es verweigert, einen jungen Krieger zu wählen, der ihr Lager zum erstenmal teilen soll.“ „Aber ich sehe mein Kind an der Hand eines Mannes“; sagte die Greisin, ihre trüben Augen auf den jungen Offizier richtend. „Der Mann, den die Törin gewählt, ist nicht von deinem Volk; er ist ein Abalungo, ein Feind!“ „Warum hat ihn der Speer meines Sohnes nicht getötet?“ „Er hat deine Hand berührt, Mutter; das Gesetz sagt, daß dann nur der Amapahati ihm das Leben nehmen darf.“
Die alte Königin wandte sich nach dem Tsanuse. „Was spricht der weise Mann und das Gesetz der Väter?“ Der Tsanuse, ein heimlicher Anhänger der Engländer und durch ihr Geld gewonnen, benutzte eilig die Gelegenheit. „Kein Gesetz des freien Volkes von Kaffaria beschränkt die Wahl der Jungfrau zum Runlho, wenn der Mann von Atalma gesegnet und fähig ist, ein Krieger zu sein.“ „Ist der Fremdling ein Krieger?“ „Er hat sich als tapfer bewährt“, erwiderte Sandili, zu stolz um zu lügen. „Er ist nicht geflohen, wie sein Gefährte.“ „So möge mein Kind ihn zu ihrer Hütte nehmen und ihn morgen, wenn die Sonne aus dem großen Salzsee steigt, hierher zurückführen, daß ihm geschehe, wie der Amapahati mit ihm beschließt. Utika, der Schöne, segne deinen Schoß in dieser Nacht!“ Keiner der Häuptlinge und Krieger hätte es nach dieser Entscheidung gewagt, hindernd dazwischezutreten. Gulma führte an ihrer Hand Delaune aus dem schweigenden Kreise. Die alte Frau versank wieder in ihren halb schlummernden, teilnahmslosen Zustand. Auf der kräftigen Stirn Sandilis lagen tiefe Falten verhaltenen Grolls. Er winkte die beiden Söhne Macomos und einige jüngere verheiratete Krieger zu sich. „Das Wort der großen Frau muß vom Stamm der Gaikas geehrt werden. Eure Sorge sei es, alle Ausgänge des Kraals zu bewachen, daß es dem Verräter nicht gelinge, im Schatten der Nacht zu entfliehen. Die jungen Männer meines Volkes werden morgen die Sicherheit ihrer Flinten und die Kraft ihrer Assagaien versuchen können. – Der Rat der Häuptlinge
und der Amapahati hat wichtige Dinge zu bedenken in dieser Nacht. Keiner möge sich nahen dem geheiligten Kreise!“ Nach diesem strengen Gebot zog sich alles Volk zu den Feuern zurück. Die Nacht galt dem Essen und Trinken von halbrohem Fleisch, Brei und dem T`ttualo – dem halbspirituösen Getränk von gegorenem Kafferkorn. Die Häuptlinge auf dem Hügel traten mit den Bevollmächtigten der Buren und den französischen Agenten in eifrige und wichtige Beratung. An der Hand der verwirrten, schamhaften Gulma schritt Edward Delaune willenlos immer weiter hinein in die vom Mond bleich übergossene Fläche. Es war eine prächtige, milde Sommernacht – aus den Zweigen der mächtigen Korkeichen flötete der Spottvogel; von dem schon fernliegenden Kraal her tönte der Lärm des Gelages und das wilde Zusammenschlagen der Kerries und Assagaien. Aus den Tälern stiegen mit den Nebeln der Nacht berauschende Düfte von Kräutern und Blumen, die der im Kapland so seltene, vor wenig Tagen gefallene Regen mit zauberischer Üppigkeit überall hervorgetrieben hatte. Die ungewöhnliche Feier und die frechen Anspielungen, die Kapitän Riley unterwegs gemacht, hatten Delaune die eigentümliche Sitte ahnen lassen. Von seltsamen Gefühlen bedrängt, schritt auch er deshalb schweigend neben dem Mädchen her; Gulma geleitete ihn in den Schatten von Bäumen und Felsen. Sie kamen an vielen Hütten und Lauben vorüber, die aus Zweigen und Ästen flüchtig erbaut und über die ganze Ebene zerstreut, unter ihrer dichten Blätterhülle süße Geheimnisse zu verbergen schienen. Leises, zärtliches Flüstern – Seufzen aus erregter Brust; im Nachthauch, der aus den Schluchten des Gebirges strich, erstarben leise, leidenschaftliche Laute.
Das Antlitz des jungen Soldaten glühte dunkel. Er faßte den Arm des Mädchens, sich erinnernd, daß sie etwas Englisch verstand. „Wohin führst du mich?“ Gulma stand still; eine Laubhütte von Ästen und Zweigen des Orangenbaumes zeigte vor ihnen ihre dunkle Öffnung. Riesige Palmenblätter bildeten das Dach; große Geranien schlangen ihre Blüten durch das Laub – aus dem seltsamen Liebesnest duftete es, wie ein Bett von wohlriechenden Kräutern und Blumen; eine große Korkeiche streckte ihre riesigen Äste über das Brautlager und hüllte es in ihren Schatten vor dem bleichen Strahl des Mondes. Gulma hatte das Haupt gesenkt; sie wagte nicht, den Blick emporzuschlagen. „Verzeihe, aber es war das einzige Mittel, dich zu retten!“ hauchte sie. „Du warst so freundlich und gütig zu dem armen Kaffernmädchen, als es auf das Geheiß ihres Vaters mit den Frauen ihres Volkes im Lager der weißen Krieger war.“ „So hast du mich wirklich erkannt?“ „Die Augen Gulmas blickten aus ihrem Herzen. Sie glaubte nie, den jungen Tapfern wiederzusehen.“ Beide schwiegen befangen. „Was soll aus mir werden, Gulma?“ fragte endlich der Offizier. „Ich verstehe die Sprache deines Volkes nicht. Ich weiß nicht, was mich erwartet. Kannst du es mir sagen?“ „Der Tod!“ flüsterte sie. „Die Flinten und Speere der jungen Männer meines Volkes werden ihr Ziel nicht verfehlen.“ Delaune erschauerte. Er war jung, so voll mutiger Hoffnungen! Als er die Hand erhob und Gulmas warmen, weichen Arm fühlte, ihre Brust stürmisch wogen sah, da überkam ihn gewaltig der Gegensatz des glühenden Lebens und des
kalten, bittern Todes. Er preßte die Hand vor die Stirn. Seine Augen schweiften sehnsüchtig in die freie Ferne. Es war nur ein Mädchen, ein schwaches Geschöpf, das ihn hier zurückhielt. Es konnte seine Flucht nicht hindern. Er trug seinen Revolver noch unter der Bluse auf der Brust – wenn es ihm gelang, einen der Felsenpässe zu erreichen ... „Will der weiße Krieger sich auf das Moos dieser Laube niederlassen?“ fragte schüchtern das Mädchen. „Er wird der Kräfte bedürfen, die der Schlummer gibt.“ „Schlafen? – Schlafen – und in wenigen Stunden ein schrecklicher Tod? – Sprich, Gulma, ist keine Rettung möglich? – Die Flucht? – Hilf mir! Du hast mich schon einmal gerettet! Niemals will ich es dir vergessen!“ „Utika streckt die Hand über alle guten Menschen“, sagte Gulma sanft. „Meint der junge Krieger der Abalungos, daß Gulma ihn hierher geführt hätte, wenn sie nicht wenigstens versuchen wollte, ihn zu retten? – aber Atalma mit seinem bleichen Gesicht steht hoch am Himmel und wirft seinen verräterischen Strahl über die Wohnungen der Gaikas. Ihr Auge ist scharf, ihr Ohr wachsam für die Tritte des Feindes. Erst wenn das bleiche Gesicht hinter der Spitze des Pavianberges steht, und seine Schatten über die Ebene wirft, wird Gulma versuchen, einen Pfad zu finden für ihren weißen Freund.“ „Und bis dahin ...“ „Muß der junge Krieger sich gedulden in dieser Hütte, damit die Leute meines Stammes denken, daß er sich ihrer Sitte gefügt, und kein spähendes Auge ihn entdeckt und bewacht.“ Der junge Mann fühlte die Notwendigkeit und das Zweckmäßige des Rates. Er beugte sich nieder, um sich in die kleine Hütte, die kaum Raum gewährte für zwei Menschen, zurückzuziehen. Plötzlich hielt er inne.
„Aber du, Gulma?“ Hätte er im Schatten zu sehen vermocht, welch tiefe, brennende Glut das Antlitz des Mädchens überströmte – er hätte nicht gefragt. „Der junge Krieger der großen Königin muß erlauben, daß Gulma zu seinen Füßen einen Platz sucht; denn es würde ihn verraten, wenn man sie jetzt außerhalb der Hütte sähe.“ Schweigend kroch Delaune in die Hütte und streckte sich auf dem weichen Lager von Moos und duftigen Kräutern des Gebirges. Er fühlte, wie eng zusammengeschmiegt das schwarze Mädchen am Eingang der Laube kauerte. Sowenig Raum sie aber auch einzunehmen versuchte: die Hütte war zu eng, als daß nicht jede unwillkürliche Bewegung den jungen Mann mit dem warmblütigem Kaffernmädchen hätte in Berührung bringen müssen. Wenn er die Hand ausstreckte, fühlte er die samtweiche Haut ihrer schön gerundeten Schultern. Der Atem ihrer halb ängstlich, halb leidenschaftlich wogenden Brust drang warm an sein Gesicht. Seine Pulse klopften, seine Augen schienen das Dunkel zu durchdringen. Höher und höher stieg das bleiche Gesicht Atalmas am glänzenden Nachthimmel – eine Stunde war verronnen. Durch die Blätter der Korkeiche, in den Zweigen und Blumen der Laubhütte rauschte der Wind und flüsterte seltsame Fragen und Melodien – drüben am Kraal erloschen die Feuer der Kaffern. In das Flüstern des Nachtwindes, in das Rauschen der Blätter und den leisen, klagenden Ton des Spottvogels mischte sich ein anderer Laut, leise, schmerzlich verhalten, mühsam unterdrückt. „Gulma – du weinst?“ Da brach es wie ein Strom, der im mächtigem Drang die Dämme überflutet, aus den schwarzen Augen des
Kaffernmädchens; volle, heiße Tränen eines tiefverwundeten Herzens. „Gulma!“ Seine ausgestreckte Hand traf die Locken des Mädchens, ihre Wange, ihren Mund. Stürmisch drückte Gulma seine Finger an die Brust, küßte sie inbrünstig. Dann glitt Delaunes Hand fieberzitternd weiter umschlang das weinende Mädchen und zog es näher und näher. Die heißen Tränen des Schmerzes wurden selige Tränen der Freude. Runlho! – Das Fest der schwarzen Liebe ... Mitternacht war vorüber. Der gigantische Paviansberg verbarg die große Scheibe des Mondes und warf seine gewaltigen Schatten über die ganze Ebene. Eine dunkle, schlanke Gestalt glitt aus dem Schutz der mächtigen Korkeichen und eilte gleich dem flüchtigen Windhauch über die Ebene. Plötzlich stockte ihr Fuß. Vor ihr erhob sich, wie aus dem Boden gestiegen, ein anderer dunkler Schatten; furchtbar war die Gestalt anzusehen; aber über das Haupt streckten sich lange Hörner in die Luft. Es rauschte und klapperte um sie her so seltsam wie das Rasseln von Schlangen und Totengebein. Gulma erschrak; im nächsten Augenblick erkannte sie die Gestalt: es war der Tsanuse – der Mann, den sie suchte. „Wohin eilt die Tochter des Häuptlings in der Nacht, da sie dem gehört, den sie liebt?“ „Weil ich ihn liebe,“ sagte das Mädchen entschlossen, „suchte ich dich. Du warst im Kreis der Amapahati. Sprich, was hat man über ihn beschlossen?“
Der schlaue Betrüger, der durch manche Vorteile der Tochter des Oberhäuptlings verbunden war, hütete sich wohl, zu verraten, daß er schon seit einer halben Stunde ihre Hütte umschlichen hatte,
um eine Gelegenheit zu finden, sich mit dem Gefangenem zu besprechen. Wohlvertraut mit den leicht erregten Leidenschaften und Gefühlen eines Naturkindes fand er es für gut, die Angst des Mädchens zu steigern. Er war grausam genug, ihr ohne Schonung mitzuteilen, daß der Rat der Alten und der Häuptlinge, durch die Erbitterung Sandilis bestimmt, den Tod des jungen Mannes am Morgen beschlossen habe. „Höre mich an, Tsanuse“, raunte leidenschaftlich Gulma. „Ich weiß, du liebst das Gold über alles. Ich sah, wie du heimlich etwas nahmst, das dir der entflohene Inglishman zusteckte. Dein Ruf zum Runlho war es, der im gefährlichen Augenblick seine Flucht sicherte und die meisten Verfolger zum Kraal zurückführte. Rette seinen Gefährten, und du sollst die Spangen an meinem Arm und meinem Fuß haben. Sie sind den Preis von hundert Rindern wert.“ „Laß mich mit dem Inglishman selber sprechen“, erwiderte klug der Zauberer. „Mein Ohr ist offen und deine Worte sind nicht vergeblich hineingefallen. Führe ihn vorsichtig an den Stamm dort, wo uns niemand belauschen kann.“ Gulma entfernte sich so eilig, wie sie gekommen war. Mit gleicher Vorsicht brachte sie Edward Delaune herbei. „Meine Tochter möge aufpassen, daß und kein Späher belausche“, sagte der Tsanuse. Er wollte verhindern, daß Gulma von seiner geheimen Verbindung mit den Engländern Kenntnis erhielt. Er führte den Offizier einige Schritte weit hinweg. „Hat der junge Krieger von dem roten Golde der Inglishmen bei sich?“ „Ich habe zwanzig Guineen bei mit“, erwiderte Delaune. „Ich bin bereit, sie dir zu geben, wenn du mich aus dieser Lage befreien willst, Mann. Weißt du, ob
meine entflohenen Gefährten glücklich entkommen sind?“ „Tzatzoe ist zurückgekehrt, um an dem großen Rat teilzunehmen“, berichtete der Zauberer. „Man hat die Deinen bis zur Affenschlucht verfolgt, wo die Ebene des Kraals endet. Die Tollkühnen sind mit ihren Rossen da hinuntergejagt, wo der Jäger des Springbocks beim Licht des Tages nur mit Gefahr einen Weg zum Niedersteigen findet. Man sah sie am Rand verschwinden und ihre Leiber müssen zerschmettert in der Tiefe liegen. Wenn das große Gestirn des Tages emporsteigt, wird eine Schar ausziehen, die Toten zu suchen. Der junge Abalungo muß bis dahin fern sein von dieser Stelle.“ „Aber wie soll ich entkommen?“ „Mein Sohn öffne seine Ohren, ehe wir das Mädchen zurückrufen. Gulma liebt meinen Sohn und wird uns helfen. Wenn der junge Krieger zu den Seinen kommt, möge er dem großen Führer 1 berichten, daß der Amapahati aller südlichen Kaffernstämme einen großen Krieg beschlossen hat. Auch die Zulus und die Dutchmen werden in Haufen herbeiziehen. Sie werden die Dickichte des Kai verteidigen mit ihren Leibern. Sandili ist ein großer Häuptling und seinem Ruf folgen zehntausend Krieger. Der Sohn des großen Königs 2, den die Inglishmen getötet haben auf dem Eiland im Meer, hat den Kaffern seine Hilfe zugesagt. Sein Bote ist unter ihnen und viel Pulver und Flinten lagern verborgen am Meer. In der vierten Nacht von heute wird Sandili mit seinen Kriegern über den Kabusi gehen und die festen Städte der Inglishmen am Büffelgebirge angreifen.“ Der Offizier hatte aufmerksam den ihm in gebrochenem Englisch gegebenen Mitteilungen 1 2
General Chathcart Kaiser Napoleon
zugehört. „Das sind wichtige Nachrichten“, sagte er. „Wie soll ich sie dem General überbringen?“ Der Tsanuse rief leise das Mädchen, das sogleich herbeikam. „Die Ausgänge der Ebene sind von deinem Vater mit Wachen besetzt“, berichtete er. „Der Tsanuse hat jedoch ein Mittel ungesehen den jungen Krieger an den Fuß der Felsen zu bringen. Aber er ist kein Kind der Wildnis. Wie soll er zu seinen Landsleuten kommen, ohne daß ihn am Morgen unsere jungen Männer fangen?“ „Ich werde ihn geleiten“, sagte Gulma. „Bedenke, meine Tochter, welcher Gefahr du dich aussetzt, wenn am Morgen der Oberhäuptling dich nicht findet.“ „Ich werde da sein, wenn die Nacht auf den Kraal der Gaikas sinkt. Der weise Mann möge mir dann helfen, in den Schutz der Königin zu gelangen. Gulma kann für den Mann sterben, dessen Weib sie geworden.“ „So höre mich an. Aber gelobe mir, wenn du zurückkehrst, keinem zu sagen, was du gesehen.“ „Ich schwöre es bei Utika, dem Schönen.“ „Du kennst meine Wohnung an der Wand des Pavianberges. Du mußt den Abalungo heimlich dahin bringen, indes ich Namba, der am Fuß des Berges Wache hält, beschäftige.“ „Kein Krieger wagt es, die Hütte des großen Zauberers zu betreten“, sagte schaudernd das sonst so mutige Mädchen. „Wie sollte mein Fuß die Schwelle überschreiten, hinter der die bösen Geister der Berge gebannt liegen?“ „Die Nähe eines Weißen hebt den Zauber auf, der dem Auge des Gaika Verderben bringen würde“, erwiderte gewandt der Betrüger. „Meine Tochter möge durch die Hütte schreiten. An ihrem Ende wird sie die
Büffelhaut heben. Sie wird einen geheimen Eingang in den Felsen sehen. Wenn sie die Hand zur Linken auf den Boden legt, wird sie einen Haufen Stäbe von dem harzigen Holz der Fichte fühlen, die in unsern Bergen wächst. Sie möge drei davon nehmen, damit sie ihr zur Leuchte dienen durch die Windungen der Höhle, durch die sie nun mit dem Abalungo ihren Weg nehmen muß. Gulmas Fuß ist leicht und ihre Hand sicher. Die Gefahr wird sie nicht schrecken; der Tsanuse kann weiter nichts für sie tun; er hat gesprochen.“ Nach kurzem Zaudern erklärte sich Gulma bereit. Delaune hielt noch einen Augenblick den Zauberer an. „Ich bin nur ungenügend bewaffnet. Wenn wir verfolgt werden, kann ich mich schlecht verteidigen.“ „Der junge Krieger“, sagte der Tsanuse leise, „möge mir sein Gold geben. Wenn er auf die andere Seite dieser Eiche tritt, wird er an ihrem Stamm seine Flinte finden. Das Pulverhorn trägt er noch an seinem Gürtel. Utika beschütze seinen Weg. Die Zeit eilt. Er muß in einer Stunde am Fuße der Berge sein, wenn er gerettet werden soll.“ Damit machte der Tsanuse sich eilig davon. Der junge Offizier fand das Gewehr hinter dem Stamm; nachdem sie einige Augenblicke gewartet hatten, um dem Zauberer den nötigen Vorsprung zu lassen, ergriff das Kaffernmädchen die Hand Delaunes und schlug mit ihm vorsichtig die Richtung nach dem Paviansberg ein. Der Fuß dieser steil emporsteigenden Klippe war von der Stelle, wo die Zusammenkunft mit dem Tsanuse stattgefunden etwa eine Viertelstunde entfernt. Als sie im Schutz der Felsen und in gebückter Stellung näher schlichen, hörten sie die Stimme ihres Verbündeten, der mit Namba und zwei älteren Kriegern der Gaikas sprach, die am Eingang der Schlucht eine Wache
bezogen hatten. Das Mädchen voran, begannen sie an der anderen Seite die Bergklippe zu erklimmen, auf der Hütte des Zauberers etwa hundert Fuß hoch über der Ebene lag. Die scharfen Stacheln des Kaktus und die spitzen Schiefer des Felsens rissen ihre Hände und Füße blutig, ohne daß ein Laut des Schmerzes ihre Anwesenheit verraten durfte. Nur durch die Hilfe der Kafferin wurde es Delaune möglich, die Felswand zu ersteigen. Nach mühsamem gefährlichem halbstündigen Klettern erreichten sie endlich die Felsenplatte. Edward Delaune fühlte, wie das Mädchen beim Anblick der Hütte des Tsanuse erzitterte; so viel Macht übte der gewohnte Aberglaube über ihr festes Herz und ihr starkes Gemüt; er selber schrak zurück und griff nach seinem Gewehr, als er ein dumpfes, grimmiges Schnauben vor sich hörte und zwei große, blutgierige Augen in grünlichem Feuer aus dem Dunkel funkeln sah. Erst als ihre Blicke sich an die Umgebung gewöhnt, überzeugten sie sich, daß der vermeintliche Angreifer nur eine gezähmte Hyäne war, die der Tsanuse in der Nähe des Eingangs angekettet hielt. Der Bau war geräumiger als die Hütten der Kaffern sonst zu sein pflegen. Er war nicht in Kegelform abgerundet, sondern lehnte mit der Rückseite an die Bergwand. Delaune und Gulma krochen durch den niedrigen Eingang; drinnen machte er mit einem Feuerzeug, das er in seiner Jagdtasche trug, Licht, und zündete eine kleine Kerze an, die hinreichend die Umgebung erhellte. Das Innere des Zaubererhauses bot einen seltsamen und auf den Aberglauben wirkenden Anblick dar. Rings umher war die Wand mit gebleichten Tierschädeln, dem riesigen Kopf des Elefanten und des Rhinozerosses, mit den langen Stoßhörnern der Schädel von Antilopen, mit Köpfen von Alligatoren, Springböcken, wilden Hunden,
Panthern und Löwen geschmückt. Von der Decke hingen große, getrocknete Schlangenhäute und Eidechsen, Bündel von Straußenfedern und allerlei Kräuter der Wüste. Den meisten Schrecken verursachte Gulma, obgleich Delaune ein Lächeln nicht unterdrücken konnte, eine chinesische Figur, die durch die Bewegung ihrer Schritte oder eine geheime Vorrichtung mit unheimlichem Geklapper Kopf und Hände bewegte; der Tsanuse mochte sie bei irgendeiner Gelegenheit an der Küste erhandelt und in seinem Heim zur Abschreckung aller Unberufenen aufgestellt haben. Delaune brachte den tönernen Kobold zur Ruhe. Dann sahen sie sich nach dem geheimen Ausgang um und fanden ihn nach kurzem Suchen. Hinter einer großen Büffelhaut trafen sie einen mannshohen, engen Felsenspalt, der sich allmählich erweiternd, in sanfter Abdachung tief in das Innere des Berges zu führen schien. Sie versahen sich mit Kienspänen, entzündeten die eine Leuchte und traten ihren Weg eilig an; denn sie wußten, daß die Schwierigkeit der Flucht mit jedem Augenblick wuchs. Die Wölbung wurde schon nach fünfzig Schritten so hoch und geräumig, daß das Licht ihrer Fackel den Umfang nicht mehr erleuchtete; die Fußspuren in dem weichen Sand zeigten ihnen die Richtung, die sie zu verfolgen hatten. Um ihre Häupter schwirrten unheimlich, von der Helle aus ihren finstern Löchern aufgeschreckt, Fledermäuse; Gewürm raschelte über ihren Weg; aber Delaune zog unaufhaltsam seine scheue Begleiterin mit sich fort. Sie hatten den dritten Span in Brand gesetzt, als der frische Hauch der Nachtluft ihnen entgegenwehte. Nach einer Wendung um die Höhle sahen sie durch eine Öffnung zwischen Gesträuch und langen Kaktusgewinden den hellen Strahl des Mondes. Sie begriffen, daß sie auf der Südseite des Berges und außerhalb der Ebene des
Gaika-Kraals standen. Vorsichtig schritten sie, nun ohne Fackellicht, bis an den Rand des Ausgangs. Zu ihrem Schrecken sahen sie den Felsen aufs neue etwa vierzig Schritt senkrecht abfallen. Bei der Überlegung jedoch, daß der Tsanuse selber hier irgendein Hilfsmittel besitzen müsse, um diesen Ausgang benutzen zu können, und nach sorgfältigem Umhertasten fanden sie auch an einem Felsvorsprung im Innern befestigt ein langes Seil von Aloefasern. Auf jede Armeslänge war ein kurzer Stab von hartem Holz eingeknüpft. Als sie diese einfache Strickleiter über den Rand der Felsenöffnung geworfen, überzeugten sie sich, daß sie bis zum Ende der Felswand reichte. Rasch stiegen sie hinab, das Mädchen zuerst. Dann folgten sie der Schlucht, die sie auf einem mühsamen Weg ins Tal führte. Hier machten sie einen Augenblick halt, um sich auszuruhen. „Durch des Himmels und deine Hilfe, Gulma,“ sagte der Offizier, „bin ich einem schrecklichen Tod entgangen. Wo aber sollen wir uns hinwenden?“ „Kennt der junge Krieger die Siedlung des weißen Vaters mit dem schwarzen Gewand, der von eurem Gott erzählt – an den Ufern des Somo?“ „Du meinst das Haus des Missionars? Ich hörte davon.“ „Es ist der nächste eines weißen Mannes. Wenn der junge Krieger befielt, wird ihn Gulma dahin geleiten. Ehe die Sonne im Mittag steht, werden wir dort sein.“ „Ich vertraue mich ganz deiner Leitung, Gulma. Wenn du es willst, sollst du mich nicht wieder verlassen müssen.“ Er hatte ihre Hand gefaßt, zog sie an sich und küßte sie auf die Stirn. Dann setzte das junge Paar seinen Weg fort. Der Mond war untergegangen; die erste Dämmerung begann eben das Tal zu lichten, als das Mädchen
plötzlich den Arm ihres Begleiters faßte. Sie deutete nach einer Seitenöffnung des Grundes, aus der zwei dunkle Gestalten aufwärts stiegen. Im Nu hatte Edward Delaune die Flinte an der Wange – aber auch die Fremden hatten ihn erblickt. Beide waren mit Gewehren bewaffnet und richteten die tödliche Mündung auf sie. „Tritt hinter mich, Mädchen“, knirschte Delaune. „Sie sollen mich wenigstens nicht lebendig wieder fangen.“ Er nahm fest den größeren Gegner aufs Korn und legte den Finger an den Drücker. Gulma faßte die Hand ihres Schützlings. „Schieße nicht – meine Augen sind schärfer als die deinen. Es sind Freunde, Abalungos!“ Der Leutnant setzte die Büchse ab. „Stop! Wer da?“ „Der Teufel verdamm` meine Augen, wenn das nicht Delaune ist!“ Dieser Ausruf ließ den Leutnant die Stimme seines Vorgesetzten, des Kapitäns Riley, erkennen. Riley eilte mit dem Fingoe auf Delaune zu. Die Fragen über das wunderbare, glückliche Entkommen wechselten in Hast und nur halb beantwortet hinüber und herüber. Als der Kapitän die junge Kafferin sah, lachte er auf. „Damned! Nun begreife ich alles! Das ist die schwarze Dirne, die im Lager war! Sie ist verliebt in Sie, Delaune, bis über die Ohren, und hat Sie unter den Assagaien und Kerries ihrer liebenswürdigen Landsleute hervorgeholt. Es ist gut, daß Sie sie mitgebracht haben. Sie kann einen trefflichen Spion abgeben und uns die Pässe und Zugänge verraten.“ „Gulma ist die Tochter Sandilis, des berühmten Häuptlings der Gaikas“, sagte Delaune unwillig über Rileys leichten Ton. „Sie besteht darauf, heute abend in den Kraal ihres Vaters zurückzukehren!“ „Wer wird mit einer schwarzen Dirne viel Umstände
machen; sie wird als Geisel zurückbehalten für die Ruhe ihres Vaters, des schwarzen Spitzbuben. Wohin beabsichtigen Sie Ihre Flucht zu richten?“ „Nach den Ufern des Somo – zu der Missionsstation, die sich dort befinden soll. – Aber wie entkamen Sie denn, Kapitän Riley?“ „Das verdanke ich den Teufeleien des Fingoe. Am Rand der Paviansschlucht waren die schwarzen Halunken auf unseren Fersen, kaum fünfhundert Schritt hinter uns. Congod rief mir zu, die einzige Möglichkeit der Rettung sei, unsere Verfolger zu täuschen. Sie müßten glauben, daß wir den wahnsinnigen Ritt in den Abgrund gewagt hätten. Wir ließen uns am Abhang von den Pferden gleiten, trieben sie in die Schlucht hinunter, wo sie hundert gegen eins das Genick gebrochen haben. Dann krochen wir auf Händen und Füßen am Felsensturz hinab. Die Narren gingen richtig in die Falle. Wir hörten sie toben, und überzeugt von unserem Tod, zurückkehren zu ihrer sauberen Gesellschaft." „Sie irren, Kapitän! Pieter Pretorius ist auf Ihrer Spur mit ihm sechs der tapfersten Gaikakrieger. In diesem Augenblick ist auch Tzatzoe, unser erbitterter Feind, wahrscheinlich mit seiner Schar zu unserer Verfolgung aufgebrochen!“ Ein Fluch antwortete dieser Nachricht. Eine kurze Beratung erfolgte. Man beschloß, dem Plan des Mädchens treu zu bleiben. Gulma versprach, sie auf ihr bekannten Pfaden nach der Missionsstation am Somo zu führen. In einer Indianerreihe, einer hinter dem anderen, schritten sie voran, nachdem sie zuvor mit einem Zweig die Spuren an der Stelle der Zusammenkunft verwischt hatten. Die Sonne erhob sich über den Horizont, und das Leben der Wildnis erwachte. Auf der Höhe einer Felswand wandte sich Gulma um und stieß einen Schrei des Schreckens aus. In der
Entfernung von etwa drei Meilen sprengte in dem Tal, das sie verlassen hatten, eine kleine Reiterschar eilig heran. Die scharfen Augen der Kafferin und des Fingoe unterschieden deutlich, daß es ihre Verfolger waren. „Wir müssen uns eine geeignete Stelle zur Verteidigung suchen und sie aus dem Hinterhalt von ihren Pferden schießen“, überlegte hastig der Kapitän. „Sonst haben sie uns, ehe eine halbe Stunde vergeht. Es sind ihrer nur sechs und wir haben drei Flinten.“ „Fort, fort!“ drängte das Mädchen in gebrochenem Englisch, „wenn euch euer Leben lieb ist!“ „Aber wohin?“ Gulma wies nach einer etwa eine Meile entfernten breiten und tiefen Schlucht, die die hohen Massen des Gebirges durchbrach. Trotz der Entfernung konnte man einzelne kleine Tiere aus einem der westlichen Täler über den Grund eilen und in den Paß verschwinden sehen. „Die Springböcke!“ Das war die einzige Erwiderung des Mädchens, das unaufhaltsam vorwärts eilte. Unbekannt mit ihrer Absicht folgten ihr Riley und Delaune; nur der Fingoe begriff, was sie meinte. Die Verfolger hatten jetzt die Flüchtigen erblickt. Sie schwangen ihre Waffen und kamen im Galopp heran. Aber die Richtung des Tales machte es ihnen unmöglich, zu erkennen, wohin ihre Feinde eilten. Die Worte und Winke Congods bewiesen den Offizieren, daß auch er nur in der Eile dieser Flucht eine Hoffnung sah. Endlich blieb der Kapitän erschöpft stehen. „Der Teufel soll mich holen, wenn ich weiterrenne, ehe ich weiß, was die Böcke mit unserer Flucht zu tun haben. Hier ist ein gelegener Ort, wo wir die schwarzen Kanaillen erwarten können.“
Der Fingoe faßte seinen Arm. „Die Flinten der Gaikas verfehlen so wenig ihr Ziel, wie das Blei der weißen Männer. Will der Abalungo sterben, da er nur noch wenige Schritte von seiner Rettung entfernt ist?“ „Aber wo?“ fragte Delaune, seine Flinte schußbereit haltend. „Ich halte auch den Kampf für das einzige!“ „Sieh!“ Gulma deutete gegen den Eingang des breiten Tales, aus dem die einzelnen Tiere der Öffnung der Schlucht zugerannt waren; jetzt mehrten sich die Scharen und stürmten immer eiliger heran. Die Schlucht lag etwa noch tausend Schritte von ihnen entfernt. Ihr Zugang war überlaufen von jenen Tieren, die sie aus der Ferne gesehen. Es war eine Antilopenart, von der längern Gliederung ihrer Hinterfüße und der Leichtigkeit ihre springenden Laufs „Springböcke“ genannt. Der Anblick talaufwärts war ein überraschender. Die ganze Breite des Tales glich, so weit das Auge reichte, einem wogenden, wallenden Strom von lebendigen Geschöpfen. Je weiter hinauf, desto mehr schien sich die Menge zu verdichten, so unförmig und fest, daß keine Spur des Bodens mehr zu sehen war. Ein Stein, unter sie geworfen, hätte nicht den Raum gehabt, zur Erde zu fallen. Jetzt erst wurde es den Offizieren klar, was Gulma und der Fingoe mit ihrem Ruf und ihrer Eile gemeint hatten. Sie rannten, von den anderen gefolgt, ohne Besinnen der Schlucht zu. Als sie keuchend an ihrem Rand anlangten, schoß der Fingoe in die Schar, die sich immer mehr in den Paß zwängte. Der Tierstrom stutzte, bäumte sich, drängte zurück. Für Sekunden entstand eine schmale Lücke zwischen den Leibern. Hier hinein warfen sich auf den Ruf Congods die Flüchtlinge. Sofort schloß sich wieder
der Raum mit den Tieren, die, sonst so flüchtig und scheu, hier alle Angst vor den Menschen verloren zu haben schienen und dicht zusammengepreßt vorwärts strebten. Fest aneinanderhaltend und sich gegenseitig unterstützend, ließen sich die vier von der Woge der Tiere vorwärts tragen, immer tiefer in den Gebirgspaß hinein. Nach kurzer Zeit verkündete ihnen eine Gewehrsalve, daß ihre Verfolger an der Schlucht angelangt waren und sich mit dem gleichen Mittel Raum zu verschaffen suchten. Aber der Fingoe beruhigte lachend ihre Besorgnis – die zehn Minuten hatten eine für die nächsten zwei oder drei Stunden unübersteigbare lebende Mauer zwischen ihnen und den Gaikas aufgebaut; die große Masse der Tiere hatte sich im tosenden Schwall in den Paß gestürzt, so daß selbst eine Metzelei unter ihnen nicht mehr vermocht hätte, Raum für einen Menschen, viel weniger für eine Anzahl Reiter zu gewähren. Diese plötzlichen Züge der Springböcke sind in den afrikanischen Gegenden nicht unbekannt. Millionen von Antilopen rotten sich jäh aus dem unerforschten Innern des Erdteils zusammen, wo sie in unzählbaren Massen leben. Vielleicht vom Durst, vielleicht von anderen Ursachen getrieben, dringen sie durch die Pässe der Gebirge und verbreiten sich in den Ebenen des Kaplandes. Der Geier schwebt über diesen Massen; der Löwe, der Panther und der Schakal wüten in ihren Reihen; die Lanze des Eingeborenen, die Flinte des Ansiedlers richten ein unermeßliches Blutbad unter ihnen an. Tausende von Tieren fallen. Tausend andere treten im nächsten Augenblick an ihre Stelle. Nichts hält ihren Zug auf. Sie vernichten die Ernte des Buren. Ganze Gegenden sind in wenig Stunden jedes Halms, jedes Blattes beraubt. Und ebenso plötzlich wie sie gekommen, sind sie verschwunden. Die Offiziere und ihre Begleiter waren fast eine halbe
Stunde lang in diesem Gewühl fortgetragen und geschoben worden, ehe die Felswände des Passes sich wieder ausbreiteten. Erst dann war es ihnen möglich, sich zu befreien; das Meer von Springböcken begann sich über die Ebene auszubreiten. Freilich waren die Glieder der Flüchtlinge arg zerstoßen und zerquetschst; aber das Gefühl, gerettet zu sein, kräftigte sie. Nach kurzer Rast setzten sie ihren Marsch fort. Gulma hatte sich hier von ihnen trennen und auf die Gefahr, ein Opfer des Zorns ihres Vaters zu werden, nach dem großen Kraal der Gaikas zurückkehren wollen. Es gelang aber Delaune, sie zu bewegen, mit ihnen noch weiter bis zur Missionsstation zu wandern. Kapitän Riley, dessen freche Scherze und Witzeleien nur die Gefahr unterbrochen hatte, bestand darauf, daß die Kafferin als Gefangene und Geisel zu betrachten sei. Gulma schien sich nicht ungern dem halben Zwang zu fügen. Die Sonne brannte jetzt so heiß, daß sie nur langsam ihren Marsch fortsetzen konnten; erst gegen Mittag erreichten sei das Ufer des Somo und sahen sich dem Missionshause gegenüber. Der Fluß hatte sich hier ein ziemlich breites und tiefes Bett ausgewühlt; jetzt jedoch war er fast wasserlos, so daß die Flüchtigen ihn leicht durchschreiten konnten. Zu ihrer Freude sahen sie am anderen Ufer einen englischen Posten. Als sie die Station betraten, fanden sie eine Abteilung Dragoner und eine Abteilung von fünfzig Jägern. Sir George Cathcart, der Befehlshaber der Truppen, befand sich – auf einem Kundschaftsritt – augenblicklich in der Mission. Leutnant Delaune erfuhr jetzt erst, was der Kapitän längst gewußt: daß sie sich auf der Station des deutschen Missionars befanden, den sie vor einiger Zeit in Kapstadt kennengelernt, und dessen Tochter Luise die unfreiwillige Ursache zu der grausamen Verfolgung
des armen Pieter Pretorius geworden war. Der Missionar, der bisher in Frieden und in gutem Einverständnis mit seinen eingeborenen Nachbarn gelebt hatte, war in großer Besorgnis, weil die Soldaten hier Posto gefaßt. Er fürchtete einen Ausbruch des Kampfes und die Rache der Kaffern. Er konnte freilich nichts tun, um sich der ungebetenen Gäste zu erwehren. Seine Besorgnis stieg noch höher, als die drei Kundschafter jetzt von den Soldaten mit Jubel herbeigeführt wurden. Der General ließ sich sogleich von ihnen Bericht erstatten. Edward Delaune, der bisher von den Nachrichten, die ihm der verräterische Tsanuse über die Beschlüsse der Kaffern gegeben, in Gegenwart des Fingoe und der Häuptlingstochter geschwiegen, berichtete jetzt knapp. Der General hielt mit den ihn begleitenden Offizieren Kriegsrat, um einen raschen Entschluß zu fassen. Das Ergebnis war der Beschluß, daß Kapitän Riley und Leutnant Delaune das Kommando der Jägerabteilung, von einigen Reitern unterstützt, übernehmen und mit diesen auf der Station zurückbleiben sollten, um den Übergang über den Fluß besetzt zu halten. Die Dragoner sollten sofort vom Kambusi aufbrechen, den Kai überschreiten und am anderen Mittag in der Nähe der Mission eintreffen, um den Kaffern zuvorzukommen; sie sollten einen Einfall in ihr Gebiet machen, noch ehe sie Zeit gehabt, ihre Macht zu sammeln. Der Kapitän hatte sich selber zur Übernahme des gefährlichen Postens im feindlichen Gebiet angeboten. Es gab ihm erwünschte Gelegenheit, seine Bewerbung um Luise, die Tochter des Missionars, fortzusetzen; er hoffte auch, Pretorius, den verhaßten Rivalen, der sicher seine Spur verfolgte, vor den Augen des Mädchens, die ihm den Vorzug gegeben, züchtigen zu
können. General Cathcart verließ das Haus, um aufzusitzen und zu seinen Truppen zurückzukehren. Der Kapitän traf sofort Anstalten, die Kaffern, wenn sie sich zeigten, in die Falle zu locken. Der Posten am Ufer des Flusses wurde zurückgezogen; der Fingoe legte sich im Gebüsch auf die Lauer. Alle Zeichen, daß die Station von britischem Militär besetzt war, wurde sorgfältig verborgen, die Soldaten wurden in die Hintergebäude befohlen. Der Kapitän zeigte sich dagegen offen und spazierte auch am Ufer entlang. Luise hatte mit Erschrecken den Feind ihres Geliebten erkannt und war ihm bisher ausgewichen. Sie hatte Gulma, die ihr schon seit längerer Zeit von ihren Streifereien bekannt war, freundlich aufgenommen. Jetzt, als alle Vorbereitungen getroffen waren, betrat Riley das Haus, um nach Luise zu suchen. Die Familie saß unter der Veranda, die das aus Bambus und Holz aufgeführte niedere Missionshaus umgab. Kapitän Riley setzte sich zu dem würdigen Geistlichen und wußte bald das Gespräch auf ihre Bekanntschaft in Kapstadt zu lenken. Mit großem Wohlbehagen erzählte er, daß Pretorius desertiert sei und sich zu den aufrührerischen Buren geflüchtet habe; er, der Verräter, habe seine Landsleute, die Engländer, in der Versammlung der Kaffern verraten. – Alles Vorhergegangene verschwieg er. Eine ehrlose Tat des Geliebten – als solche stellte sie der Kapitän dar – mußte das reine Herz des deutschen Mädchens tief verwunden; einer Ohnmacht nahe, erhob sie sich und wankte davon, indes Vater und Mutter den jungen Mann verdammten und die gute Meinung beklagten, die sie früher von ihm gehegt. Die Hitze des Tages war vorüber. In den fernen Gebirgen lagerten schwere Gewitterwolken. Da erschien der Fingoe mit der Nachricht, daß am
jenseitigen Ufer sich Kaffernreiter gezeigt hätten; darunter der junge Holländer. Sie seien, die wieder aufgefundenen Spuren verfolgend, bis an den Rand des Flußbettes gekommen. Sofort gab Kapitän Riley Befehl, den vorher festgelegten Plan, die kleine Schar der Eingeborenen zum Angriff zu verlocken und sie womöglich gefangen zu nehmen, auszuführen. In teuflischem Triumph sprach der die Hoffnung aus, den Gehaßten wieder in seine Hände zu bekommen und ihn den schmählichen Tod des Verräters erleiden zu lassen. Der Kapitän verließ das Haus mit dem Fingoe auf einem Spazierweg nach dem nahen Ufer des Somo. Unbekümmert um die im Dickicht des anderen Ufers versteckten feindlichen Späher, gingen sie plaudernd auf und ab. Indes Kapitän Riley auf diese Weise den Feinden eine Falle legte, eilte die junge Deutsche bleich und aufgeregt aus dem Hause. Sie war wider Willen die geheime Zeugin der Unterredung des Offiziers mit dem Spion gewesen; denn sie hatte neben der nur durch Bambus gebildeten Wand des Gemachs auf ihrem Ruhebett gelegen und so den ganzen Anschlag gehört. Die Gefahr des Geliebten folterte ihr Herz trotz der falschen Erzählung des Kapitäns über den Verrat und Eidbruch des jungen Mannes. In diesem Seelenzustand traf sie auf Leutnant Delaune und Gulma. In Gulma rang die Liebe für den weißen Mann mit dem Gedanken an die Heimat. Edward hatte ihr angeboten, sie mit nach Kapstadt zu nehmen und sie dort vorläufig bei einer europäischen Familie unterzubringen. Bei Luises Anblick trat Delaune an sie heran. „Miß Luise,“ sagte er freimütig, „ich suchte schon lange vergeblich die Gelegenheit, Sie einige Augenblicke allein zu sprechen. Ich habe wohl den schmerzlichen Eindruck bemerkt, den die Erzählung des
Kapitäns auf Sie gemacht hat. Und ich halte es für meine Pflicht, auch dem Feinde Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.“ So schonend wie möglich, ohne die Flucht des jungen Pretorius vom soldatischen Standpunkt entschuldigen zu wollen, teilte er der aufhorchenden Luise mit, was vorhergegangen, und verschwieg auch nicht die furchtbare und grausame Strafe, der man den Unglücklichen unterworfen hatte. Luise hörte bebend den Worten zu; dann aber schien ihr zaghaftes Gemüt zu erstarken. Ihre Augen leuchteten vor Stolz und Entrüstung. „Ich habe gehört, die Engländer hielten sich für die freieste und hochherzigste Nation der Welt, bestimmt, Christentum und Kultur über die Erde zu tragen! Ich bin ein unwissendes und unerfahrenes Mädchen; aber was ich schon gesehen und erlebt habe in diesem Land, hat mir bewiesen, wie herzlos und grausam dieses ‚Volk der Gerechtigkeit‘ ist. Jetzt will ich es laut bekennen: ich liebe den Unglücklichen – und seinen Quäler werde ich verachten, solange das Herz in meiner Brust schlägt. Gott ist mit den Unschuldigen! Er wird mir Kraft geben, die Schlingen seiner Feinde zunichte zu machen!“ „Rechnen Sie mich nicht zu Ihren Feinden“, bat Delaune herzlich. „Wenn ich Ihnen dienen kann, so befehlen Sie über mich.“ Das deutsche Mädchen ergriff wortlos die Hand der Schwarzen und zog sie mit sich fort. – Es war Nacht. – In den Bergen flammten und krachten die furchtbaren Schläge der Gewitter des Südens. Zwei Schatten schlichen stromaufwärts am Ufer des Somo entlang. „Dort – wo aus dem Dickicht der Farnkräuter der hohle Korkbaum sich über das Ufer hebt,“ flüsterte eine Mädchenstimme, „liegt das Boot. Wenn du die Richtung
gemerkt hast, wo sie lagern, werden wir dort sein, ehe eine Viertelstunde vergeht. Unsere Nachricht rettet ihn und die Deinen.“ „Sie wird mir die Rückkehr zu meinem Volk erkaufen“, sagte Gulma. „Der große Häuptling wird wissen, daß sein Kind das Herz einer Kafferin hat, auch wenn sie den weißen Mann liebt. Utika sieht auf die Herzen, nicht auf die Farbe der Haut.“ Die Tochter des Missionars drückte ihr die Hand. „Dein Herz ist gut und edel, Gulma. Es verdient, den heiligen Lehren des Christentums geöffnet zu sein. Du sollst bei uns bleiben, wenn du willst; ich werde deine Schwester sein.“ Gulma glitt gewandt an der Uferböschung hinab und half Luise. Nach wenigen Schritten fanden sie den Kahn; Gulma trieb ihn mit sicheren Schlägen über den Strom, der von dem Regen, der am Abend in den Bergen gefallen war, zu wachsen begann. Am anderen Ufer befestigten sie den Nachen und glommen die Uferbank hinauf. Vorsichtig strichen sie jetzt stromabwärts. Gulma ahmte von Zeit zu Zeit den eigentümlichen Ton des Spottvogels nach. Plötzlich erhob sich aus den riesigen Büschen der Farnkräuter eine dunkle Gestalt und schwang den Assagai; aber der rasche Blick Gulmas hatte die drohende Bewegung erkannt. Ihr Zuruf hemmte den todbringenden Wurf und ließ den Kaffernkrieger aus seinem Versteck hervortreten. Die große, kräftige Gestalt kam bis dicht an die Mädchen, lehnte sich auf den langen Wurfspieß und betrachtete sie einige Augenblicke. „Die Tochter Sandilis“, sagte er endlich, „tut nicht wohl daran, heimzukehren, ehe der Zorn des großen Häuptlings sich gelegt hat. Ihr Flüstern ist nicht stark genug, um seinen Groll zu besänftigen. Sein Grimm wird sie töten, ehe sie Zeit hat, ein Wort zu sagen.“
„Ich bin nicht auf dem Weg zur Heimat, Umtakoe“, erwiderte Gulma. „Ich fürchte den Zorn Sandilis nicht; denn es wär ein schlechtes Weib, das den Mann ihres Runlho nicht rettete vor der Wut seiner Feinde. – Ich bringe dem Häuptling das Leben von sechs seiner tapfersten Krieger. „Wir wissen es! – Die beiden falschen Smause und der Hund von Fingoe! – Ehe der Morgen graut, werden ihre Schädel in unserer Hand sein!“ „Der Krieger der Gaikas hat die Augen eines Maulwurfs. Er möge sich hüten, in eine Falle zu gehen. Ich komme, euch vor Verrat zu warnen; auf jenem Ufer liegen mehr Krieger verborgen als ihr ahnt!“ „Was tut es? Seit einer Stunde ist Tzatzoe mit seiner Schar bei uns.“ „Um so dringender ist meine Botschaft. Tzatzoe darf ich nicht sprechen. Er ist ein wilder Krieger, der auf die Bitte nicht hört. Du aber bist der Sohn der Frau, deren Milch ich getrunken, als meine Mutter gestorben war. – Eile zurück und führe heimlich den jungen Dutchman hierher, der der Spur seines Feindes gefolgt ist. Meine weiße Schwester muß ihn sprechen.“ Der junge Krieger nickte und glitt mit der Gewandtheit einer Schlange fort. Die Mädchen blieben unter dem Schutz eines Ebenholzbaumes stehen und horchten auf das ferne Wetter. In das dumpfe Rollen des Donners mischte sich jetzt ein anderer, gewaltiger, ferner Ton gleich dem Heranbrausen einer mächtigen Windsbraut. Eine Viertelstunde war vergangen, als zwei Männer eilig daherkamen. Es waren Pieter Pretorius und der Kaffer. Der junge Holländer hatte von dem jungen Krieger gehört, daß eine weiße Frau sich bei Gulma befand; aber er hatte doch keine Ahnung, daß es die Geliebte sei. Ein Tränenstrom stürzte aus seinen Augen, als er sie erkannte. Gulma winkte dem Krieger, mit ihr zur Seite zu treten;
sie ließ sich von ihm die Vorgänge nach ihrer Flucht erzählen. Zweimal beugte dabei der Kaffer lauschend den Kopf zur Seite nach dem zunehmenden fernen Geräusch. Gulma hörte ihm aufmerksam zu; dann trug sie ihm auf, Wache zu stehen, damit sie nicht überlistet würden. Als er sich entfernt, blieb sie lange allein in schwermütigem Nachdenken, ehe sie zu Luise und ihrem Geliebten zurückkehrte. Sie fand beide Hand in Hand unter dem Baum sitzen. „Hat meine weiße Schwester dem Abalungo die Gefahren gesagt?“ fragte die Kafferin. „Es ist Zeit, daß wir aufbrechen, damit niemand unsere Abwesenheit bemerkt. Noch liegt ein Unheil in der Luft, das ich nicht verstehe.“ „Pieter ist von den Plänen des Kapitäns unterrichtet. Er weiß, daß die Hauptmacht der Engländer morgen eintreffen wird, um über den Fluß zu gehen und in das Gebiet der Kaffern einzufallen. Er glaubte seine Begleitung zwar stark genug, um einen Kampf mit dem Posten des Kapitäns Riley zu wagen, aber er wird um meinetwillen den Häuptling überreden, davon abzustehen!“ „So laß uns eilen! Atalma, der die Liebenden beschützt, möge das Zeichen eures Wiedersehens sein!“ Sie eilte, von einer ihr selber unerklärlichen Besorgnis getrieben, zum Ufer des Flusses. Das donnernde, brausende Geräusch aus der Ferne kam näher und näher und wurde immer lauter. Langsam folgten ihr die Liebenden, nicht achtend auf die warnenden Stimmen in der Natur. Gulma war bereits im Flußbett; sie hatte den Nachen losgemacht und stand bis an die Hüften im Wasser, so rasch war es gewachsen. „Geschwind in den Kahn!“ rief das Kaffernmädchen; „das Wasser wächst.“
Luise riß sich los aus den Armen des Geliebten. Pretorius half ihr in den Nachen, den Gulma mit starker Hand ans Ufer drängte. Das schwache Fahrzeug stieß ab. Der Fluß war mehrere Fuß hoch gewachsen. Das Donnern klang immer näher. Doch schien noch keine Gefahr, die sie vom Übersetzen hätte abhalten können. Pretorius schaute einige Augenblicke dem im Dunkel verschwindenden Kahn nach und eilte dann, der Pflicht gegen die Häuptlinge gedenkend, davon. Er hatte jedoch kaum hundert Schritt getan, als die Erde unter seinen Füßen zu erbeben schien. Ein dumpfer, donnerartiger Ton zerriß die Luft. Erschrocken zurückblickend auf den Fluß, sah er zwischen den dreißig Fuß hohen Ufern eine weiße riesige Mauer heranbrüllen. Er stand erstarrt. Da faste Umtakoe seine Schulter und rüttelte ihn aus seiner Betäubung. „Das sind die Wasser des Gebirges! – Wo sind die Weiber?“ Sprachlos deutete Pretorius auf den Fluß. „So möge Utika ihnen bestehen! Sie sind verloren!“ Pieter Pretorius stürzte zum Fluß, in dem die gewaltige Masse von Schaum und Wasser mit der Schnelligkeit des Sturmes dahinbrauste. „Luisge! Luisge!“ übertönte sein schriller Ruf das Brausen und Donnern. Ihm war`s, als hörte er aus der Nacht der Gewässer einen leisen, fernen Schrei als Antwort. Weit vorgebeugt, mit einer Hand an dem Stamm eines Baumes geklammert, schaute er auf das Wirbeln, Kreisen, Überstürzen und Aufwogen der Flut. Die beiden Mädchen hatten noch nicht die Mitte des Flusses erreicht, als Gulma, die mit starkem Arm den gebrechlichen Kahn vorwärts trieb, plötzlich empfand, daß das Boot ihr nicht mehr gehorchte. Von einer
unbekannten Gewalt erfaßt, drehte es sich zweimal um sich selber und schoß dann mit Blitzesschnelle vorwärts. Im gleichen Augenblick vernahm sie das furchtbare Brüllen und Rauschen hinter sich und sah den Berg schäumenden Wassers auf sie zu stürzen. „Das Wasser des Gebirges! Halte dich fest, weiße Schwester, halte dich fest!“ Es war alles, was sie der entsetzten Luise zuzurufen vermochte. Mit weitgeöffneten Augen starrte die Tochter des Missionars den Berg von Wasser an, der sich hinter ihnen heranwälzte. Mit übermenschlicher Kraft hielt das Kaffernmädchen den Kahn in gerader Richtung. Da stürzte in rasendem Schwall das Wasser über sie her, riß das Ruder aus ihrer Hand und begrub die Frauen und das Fahrzeug. Das Donnern der Gewässer, die Luise begruben, betäubte ihre Sinne; dann, emporgehoben mit dem gebrechlichen Fahrzeug, glaubte sie auf Bergesgipfeln von Schaum und Gicht zu schweben – wähnte die Stimme des Geliebten zu hören: „Luisge! Luisge!“ Vergebens versuchte sie, ihm zu antworten; sie fühlte, wie ihre Stimme sich machtlos im Zischen und Brausen verlor. Mit atemberaubender Geschwindigkeit schoß das Boot vorwärts. Fast gegenüber dem Missionsgebäude stieß es auf einen der in der Mitte des Flußbettes verstreuten Felsblöcke und zerschmetterte in Stücke. Die beiden Mädchen wurden augenblicklich wieder von der Flut begraben. Luise verlor das Bewußtsein. Als sie wieder zu sich kam, brüllten noch immer die Wasser um sie her, peitschte der schäumende Gischt mit der Schnelligkeit eines Pfeils an ihr vorüber; aber sie fühlte festen Boden unter den Füßen und sah sich über der Fläche des brausenden Stromes – die Blumen und Schlingpflanzen, die sich über sie neigten, das einfache,
hölzerne Kreuz, das sich hoch gegen den Nachthimmel abzeichnete, zeigten ihr, wo sie sich befand. Gerade gegenüber der Missionsstation erhob sich aus der Mitte des Flusses eine kleine Felseninsel, deren Oberfläche mit üppigem Pflanzenwuchs und duftenden Blumen bedeckt war. Der deutsche Missionar hatte dort von den Bekehrten ein großes hölzernes Kreuz errichten lassen. Luise hatte aus den Blumen und Schlingpflanzen eine Laube über einer Rasenbank gezogen, die ihr Lieblingsplätzchen geworden war. Da das Strombett den größten Teil des Jahres über seicht und trocken war, konnte man, von einem Stein zum andern schreitend, ohne den Fuß zu benetzen, die Felseninsel erreichen. In das Ufer hatte man zum Aufstieg einfache Stufen eingehauen. Einen großen Teil ihrer freien Zeit brachte Luise hier zu, wo sie ungestört, nur von der gewaltigen Natur umgeben, ihren Gedanken und Empfindungen nachhängen konnte. Auf dieser Rasenbank lag sie ausgestreckt; neben ihr kniete Gulma, ohne die Schrecken ringsumher zu beachten. Sie versuchte das Blut, das aus einer leichten Stirnwunde ihrer weißen Freundin rann, zu stillen und sie wieder ins Bewußtsein zu bringen. Als der Nachen unter ihnen zerschellte und die beiden Mädchen in die tobende Flut stürzten, hatte die Kafferin Luise mit starkem Arm erfaßt und, mit ihr auftauchend, sie über Wasser gehalten, bis es ihr schwimmend gelang, die von dem Rand des Felseneilandes weit herabhängenden Lianen im Vorbeitreiben zu erfassen. Geschützt durch den die Strömung unterbrechenden Felsen, konnte sie festen Fuß fassen. Mühsam erklomm sie mit ihrer ohnmächtigen Last die Höhe. Luise hatte die Augen aufgeschlagen; die Erinnerung an die entsetzliche Gefahr kehrte rasch zurück. Sie richtete sich hastig auf und schaute umher.
Nur dunkel und undeutlich zeichneten sich die fernen Stromufer von der weißen Schaummasse ab, die vorund rückwärts wogte, soweit das Auge reichte. In den Gebäuden der Mission sah man Lichter sich hin und her bewegen; die Eltern Luises hatten, durch das furchtbare, ihnen noch ungewohnte Naturereignis geweckt, die Abwesenheit des einzigen Kindes entdeckt; ihre Angst war grenzenlos; die Offiziere boten ihre Soldaten auf; der das Brausen des Wassers zuweilen durchbrechende Ruf verkündete, daß man die Verlorenen am Stromufer suchte. Aber auch auf dem fernen linken Ufer herrschte die gleiche Erregung; ein mächtiges Feuer begann dicht am Rande der Wasser emporzuflammen und wurde, trotz dem Sturm, fortwährend genährt, daß es hoch in der Luft flackerte. Dunkle Schatten bewegten sich in dem Lichtkreis hin und her. Verzweifelnder Ruf am Ufer auf und ab: „Luisge! Luisge!“ „Die weiße Taube ist gerettet“, sagte das Kaffernmädchen. „Ihre Freunde suchen sie, aber unsere Stimmen sind zu schwach, um jenen Kunde zu bringen, ehe das Licht des Tages sie gibt. Was sollen wir tun?“ „Laß uns beten!“ „Beten? – Was ist das?“ „Ich will es dich lehren, meine Schwester!“ Die Wasser brausten und tobten fort. – Das nahende Gewitter mit seinen Donnern und Blitzen zog über den Häuptern der Betenden dahin. Über die riesigen Kuppeln und Spitzen des UmtataGebirges zitterten die ersten Strahlen des anbrechenden Tages an dem wolkenleeren Himmel; Frieden nach dem Sturm lagerte auf der erwachenden Natur. Nur der hoch geschwollene Strom rauschte in seinem
breiten Bett. Auf die Schulter des jungen Pretorius, der, das Gesicht verzweifelnd in den feuchten Rasen gepreßt, auf dem Boden lag, legte sich eine Hand. – Es war der wilde Häuptling Tzatzoe, der ihn rüttelte. „Der junge Abalungo ist ein Krieger. Möge er ertragen lernen das Böse und das Gute. Er blicke hinaus auf die Wasser, die der böse Geist gesandt hat!“ Der junge Mann richtete sich auf und heftete den wirren Blick auf die rauschende, schäumende Flut. Die Dämmerung hüllte ihre Fläche noch in Schleier, die sich allmählich zu lichten begannen. Plötzlich entrang sich ein jubelnder Schrei seiner gequälten Brust. Seine Augen hatten die Gestalten der Mädchen erblickt. „Luisge! Ewiger Gott – sie ist gerettet!“ Er wollte sich vorwärts stürzen. Aber wieder hielt ihn die Hand des Gaika-Häuptlings zurück. „Tzatzoe hat dem jungen Abalungo gesagt, ein Krieger müsse Gutes und Böses ertragen lernen. Mein Sohn möge sich nicht täuschen – er prüfe die Gewässer, in deren Mitte sein Herz ist!“ Pieter Pretorius schaute ihn entsetzt fragend an. In der Mission hatte nach der furchtbaren Entdeckung sich kein Auge mehr geschlossen. Die Mutter weinte in trostlosem Jammer. Der Vater wanderte traurig durch das Toben des Wetters und streckte die gefalteten Hände in bitterm Schmerz empor zum Allmächtigen. Kein Trost – keine Ruhe, als der Morgen dämmerte. Kapitän Riley hatte am Ufer entlang noch während der Nacht seine Posten aufgestellt. Das Feuer der Kaffern bewies ihm, daß er den Gedanken, sie zu einem unvorsichtigen Überfall zu verlocken, aufgeben mußte. Leutnant Delaune hatte die ganze Nacht am Ufer
zugebracht; das Herz war ihm gepreßt und schwer, wenn er an das schwarze Mädchen und ihr Verschwinden dachte. Der Kapitän prüfte selber die Posten; sein Gesicht drückte rachgierige Entschlossenheit aus. „Ich hoffe, ehe der Tag um zwei Stunden älter ist,“ sagte er mit unbesieglichem Haß in den Augen, „diesen schwarzen Bestien eine Lehre zu geben, von der sie jahrelang in ihren Kraals erzählen sollen.“ Plötzlich berührte der Fingoe, der ihn begleitete, seinen Arm. „Massa Kapitän,“ flüsterte er, „noch ist die weiße Missis nicht tot! Schau!“ Seine Hand wies nach dem Eiland – ein Ruf des Staunens entfloh den Lippen der beiden Offiziere. – Der erste Sonnenstrahl, der die letzten Nebel der Nacht vertrieb und sein mildes Licht auf Strom und Ufer warf, zeigte Luise die furchtbare Gefahr, in der sie geschwebt. Zugleich sah sie an beiden Ufern die Gruppen der Briten und Kaffern. Aller Blicke waren auf die Felseninsel gerichtet. Luise konnte deutlich an den etwa siebzig Schritt auf beiden Seiten entfernten Ufern die Gesichter erkennen: auf dem einen die winkenden Gestalten von Vater und Mutter, auf dem andern die des Geliebten unter der Schar der Kaffernkrieger, die mit wildem Jubel bei dem Anblick der Feinde ihre Waffen schwangen und einen Kriegstanz begannen. Der Strom brauste, obgleich der Himmel jetzt klar und rein war, noch immer mit fast unveränderter Heftigkeit fort. „Gott der Allmächtige hat uns gerettet!“ sagte mit freudiger Erhebung die Tochter des Missionars. „Du, Gulma, warst das Werkzeug in seiner Hand, das mich einem schrecklichem Tod entriß. Unsere Freunde sehen uns; sie werden ihre Kräfte vereinen, uns aus dieser schlimmen Lage zu befreien.“
Das schwarze Mädchen schüttelte traurig das Haupt. „Utika oder Gott, wie meine Schwester das große Heilige nennt, wollte nicht, daß wir sterben, ohne die wiedergesehen zu haben, die wir lieben. Er hat uns den Trost gegeben, ehe unsere Geister zu ihm gehen.“ „Warum zweifelst du an unserer Rettung? Ist die Gefahr nicht beseitigt?“ Die Kafferin legte ihre Hand auf den Arm Luisens. „Ich weiß, daß es meiner weißen Schwester schwer wird, vom Leben zu scheiden; denn der Mann, den sie liebt, liebt auch sie.“ „Gulma – ich beschwöre dich –“ „Glaubt das weiße Mädchen wirklich, der Haß der schwarzen und weißen Männer werde sich beugen, um zwei arme Frauen zu retten? – Und wenn die Menschen es wollten – Atalma fordert seine Opfer. Wir werden eingehen zu den seligen Geistern aller Guten!“ „Gulma, ich verstehe dich nicht! Rede, sprich!“ Das Kaffernmädchen wies auf das brausende Gewässer. „Als wir uns retteten, bedeckten die Wellen noch nicht jenen Stein. Wenn die Gewitter am Vollmond brüllen und die Springfluten von den Gebirgen niederstürzen, schwellen die Wasser zwölf Stunden lang. Erst wenn die Sonne über den Gykomore dort steht, wird der Strom zu fallen beginnen. Dann aber hat er längst diesen Fels überflutet und alles, was lebt, hinweggeführt. Luise starrte entsetzt das Kind der Wildnis an; das traurige, ergebene Gesicht Gulmas bewies ihr, daß sie die Wahrheit gesprochen. Ihre starren, verzweifelten Augen wendeten sich hilfesuchend nach der Seite der Engländer. Eine weiße Wolke kräuselte von dort aus dem grünen Busch empor – der Knall der Büchse schlug an ihr Ohr. Sie hörte das Zischen des Bleies über ihr Haupt hinweg – der Kampf
hatte von dieser Seite begonnen. Sie sank in die Knie. Hinüber zum Ufer der Kaffern kehrte sich ihr Blick. Dort hatte die Eröffnung des Feuers eine allgemeine Bewegung hervorgerufen; die wenigen Flinten, die die Kaffern besaßen, knallten zur Erwiderung. Dazwischen krachte der Donner eines der riesigen Gewehre, der Pavianspoten der holländischen Kolonisten, und bewies, daß sich einige Buren unter der Schar befanden. Das weithintreffende Rohr hatte nicht umsonst die sichere Kugel versendet. Einer der englischen Jäger warf die Arme in die Luft und stürzte zu Boden. Vergeblich eilten flehend der alte Missionar und die Matrone zwischen den Schützen umher; die Salven der Enfieldbüchsen folgten jetzt ununterbrochen. Aber auf dem Ufer der Kaffern schienen die Krieger nicht bloß mit der Erwiderung des Feuers und dem wilden Kampf beschäftigt. Luise sah, wie eine Anzahl der Männer, in deren Mitte ihr Geliebter stand, wiederholt mit Gebärden der Angst nach ihr hindeutend, sich eifrig zu beraten schien. Das Schicksal, das den Frauen auf dem Felsen drohte, konnte den erfahrenen Söhnen des Landes nicht unbekannt sein. Auch der Fingoe sprach eifrig zu dem britischen Kapitän; aber dieser wies ihn heftig zurück, seine Jäger zum ununterbrochenen Feuern anspornend. Jetzt eilte eine kleine Abteilung der Kaffern stromabwärts, und bald konnte man in den Pausen des Gefechts regelmäßige Beilschläge vernehmen. Pieter Pretorius war zurückgeblieben. Er verließ das Ufer gegenüber der Felseninsel keinen Augenblick und trotzte furchtlos dem Feuer der Engländer. Auf beiden Seiten waren schon mehrere der Krieger gefallen, und jede neue Wunde vermehrte die Erbitterung der Kämpfenden. Wenn auch die schlechten Gewehre der Kaffern kaum über den Strom reichten und
ihre Kugeln meist schadlos ins Wasser fielen, so knallten nie die beiden Pavianspoten, ohne daß ein Brite den Todesschrei ausstieß. In der Erbitterung des Gefechts achteten die Gegner nur wenig auf die beiden unglücklichen Mädchen. Höher und höher schien mit jeder Minute der Fluß zu schwellen. Die Wassermassen, die sich vom Gebirge her wälzten, wurden immer gewaltiger. Schon begannen die dahinsausenden Wellen auf die Höhe des Felsens zu schlagen und die Füße der Bedrängten zu netzen. Sie waren zu dem Kreuz, der höchsten Stelle der kleinen Insel, geflüchtet. Luise hielt den Stamm umschlungen, in Todesangst den Eltern, den Freunden winkend. Gulma kauerte still zu ihren Füßen. Am Ufer der Mission lag der Greis, Luisens Vater, auf den Knien. Sein weißes Haar flatterte im Luftzug, seine Arme waren zum Gebet erhoben. Die Mutter rang neben ihm die Hände und schrie den Namen ihres Kindes. In das Gebet des Alten, in das Jammergeschrei der Mutter krachte der Donner der Schüsse. Höher und höher schwoll die Flut. Zoll um Zoll rückte sie gegen das Kreuz. Dem Tod gegenüber hatte Luise im Gebet allen Mut, alle Fassung wieder gewonnen. Ihre Augen wandten sich von den Eltern und dem Geliebten auf ihre Gefährtin. Starren Blickes schaute der junge Bur nach dem Eiland. Tzatzoe, der Häuptling, stand neben ihm. Jeder Blick auf den rasend schnellen Sturz des Wassers zeigte die Unmöglichkeit, die Insel zu erreichen. Der Häuptling sprach dem Verzweifelten Mut und Hoffnung zu. Er deutete wiederholt stromaufwärts. Plötzlich verkündeten Rufe der britischen Posten etwas Neues, Unerhörtes. Die Kaffern stellten ihr Feuer ein und stürzten, jede Gefahr verachtend, nach dem Ufer. Ihr Geschrei, ihr Winken deutete den Mädchen an, ihre Aufmerksamkeit stromaufwärts zu richten.
Gulma sprang auf. „Rettung, Schwester, Rettung! Die Krieger meines Volkes kommen!“ Auf der brausenden Flut schoß aus dem Dunkel des Busches, der weit hinauf die Ufer bedeckte, ein schwankes Floß, aus dünnen Baumstämmen und Ästen leicht zusammengezimmert und durch zähe Lianenranken verbunden. Drei junge Kaffernkrieger trug das Floß: Kona und Namba, die Verschmähten, standen mit Stangen auf beiden Seiten des Fahrzeugs, seinen Lauf zu leiten, während die hohe, kräftige Gestalt des dritten mit der Rechten ein Steuer zu lenken suchte, indes seine Linke einen grünen Zweig über dem Haupte schwenkte. Das Floß kam mit rasender Schnelligkeit heran. „Nehmt die drei Schurken aufs Korn! Zehn Guineen den Schützen, die sie herunter holen“, schrie die heisere Stimme des Kapitäns Riley. „Um Gottes Willen, Sir! Die Männer hegen keine feindliche Absicht, sie wollen die Mädchen retten!“ Delaune riß dem Schützen neben ihm das Gewehr aus der Hand. Die Mutter Luisens fiel vor dem Offizier in die Knie. „Erbarmen, Sir, rauben sie einer Mutter nicht ihr Kind!“ „Es sind Macomos Söhne“, flüsterte der Fingoe ...“Sie haben einen Streich vor – hüte dich, Massa! ...“ Pieter Pretorius schwang das Tuch über seinem Haupte. „Rettung! Rettung!“ Der Blick des britischen Offiziers fiel auf die Gestalt des Jubelnden. „Feuer! – Herunter mit den Schwarzen!“ Fünf Büchsen der englischen Jäger knallten zu gleicher Zeit. Der Kaffer am Steuer tat einen hohen Sprung und stürzte rückwärts in den Strom. Kona
verschwand in den Wellen. Seinem Bruder entfiel das Ruder, er brach auf dem Floß zusammen. Der rote Blutstrom aus seiner Brust vermischte sich mit dem Wasser. Seine geballte Faust drohte im Todeskampf den Feinden Verderben. Ein Schrei der Wut, der Entrüstung gellte aus hundert Kehlen vom Ufer der Kaffern. Wild schwangen die Krieger die Waffen. Der Jammerruf der unglücklichen Mutter mischte sich in das Wutgeschrei der Eingeborenen. „Das ist niedriger Meuchelmord – schämen Sie sich, Sir!“ Kapitän Riley griff wutflammend nach dem Degen; aber Leutnant Delaune, der ihm die Verachtung ins Gesicht geschleudert, ließ ihn allein und stürzte nach dem Rande des Stromes. Das Floß, jeder Steuerung beraubt, schoß mit entsetzlicher Kraft an den fußhoch von der Flut bedeckten Fels. Es drehte sich um sich selber und schlug mit seinem Ende gegen das Kreuz, an das, einander umschlingend, die Mädchen sich geklammert hatten. Ein entsetzlicher, gellender Todesschrei; der Anprall hatte die schwachen Bänder des Floßes gelöst; seine Balken flogen auseinander; hin und her schwankte das Kreuz. Dann, dem Druck der Wasser nachgebend, neigte sich das Zeichen des britischen Christentums und stürzte in die brausende Flut, die die blutenden Körper der Mädchen davon trug. „Luisge!“ – „Gulma!“ Von dem Ufer der Kaffern warf sich mit gewaltigem Sprung, den Armen Tzatzoes sich entreißend, Pieter Pretorius in die Flut. – Im gleichen Augenblick verschwand vom anderen Ufer Edward Delaune. Mit gewaltigem Arm griffen die Schwimmer aus. Wie auf einen Antrieb eilten die wilden Krieger und
die britischen Schützen bis an die Brust ins Wasser oder am Ufer entlang, den Kühnen zu Hilfe, Schüsse wechselnd, die Todesdrohung im Auge und Mund, aber von der undurchdringlichen Wasserflut geschieden. Kapitän Riley hatte dem Fingoe die Büchse entrissen; sein Schuß krachte auf den eben emportauchenden Todfeind. Der junge Bur erhob sich aus den Wellen – er streckte die von dem Blei zerschmetterte Linke in ohnmächtigem Fluch dem Herzlosen entgegen und überließ sich dem Strom. Die starke Hand Tzatzoes erfaßte ihn und zog ihn zum Ufer. – Eine Meile unterhalb der Mission, auf einer hohen vorspringenden Felswand, fanden zwei Stunden später, als die Wasser so rasch, wie sie gekommen, zu fallen begannen, die britischen Soldaten die zerschmetterten Leichen der beiden Mädchen – unfern von ihnen Delaune und das Kreuz. Am Nachmittag dieses Tages schon führte General Cathcart die britischen Truppen durch das fast wasserlose Strombett zum Einfall in das Land; der Rauch der brennenden Kraals bezeichnete seinen Weg. – In einem der folgenden Kämpfe des Kaffernkrieges fand man unter den britischen Gefallenen die Leiche des Kapitäns Riley mit fürchterlichen Verstümmlungen; es schien, als habe an diesem einen grausamen Feind ein ganzes Volk seine Rache genommen. Von dem jungen Pieter Pretorius hörte man nie wieder etwas im Kapläne. Man sagte, der Tod des deutschen Mädchens habe ihn zum glücklosen, unsteten Wanderer gemacht.
Die Felsengrotten Kantara
von
Die Felsengrotten von Kantara1 Selten hatte Frankreich in seinen Kolonien mit einem kühneren und hartnäckigeren Feind zu kämpfen als dem Emir von Mascara: Abd el Kader. Sidi el Hadschi Abd el Kader Uled Mahiddin – so lautete sein vollständiger Name – war 1807 in der Ghetna bei Mascara als Sprößling eines Marabuts, eines Priesters, geboren worden, der seinen Stamm bis zu den Fatimiden zurückführte. Auch er wurde zum Priester ausgebildet, wanderte aber, vom Dei von Algier bedroht, nach Kairo aus und wurde durch eine Pilgerfahrt nach dem heiligen Mekka Hadschi. 1830, nach dem Sturz des Dei, kehrte er in die Heimat zurück, gewann großen Einfluß und wurde von den aufständischen Stämmen bei Mascara zum Emir gewählt. Seit zwanzig Jahren erschütterten schon die Feindseligkeiten Frankreichs gegen Algerien den Frieden des nordafrikanischen Küstenlandes, des alten Numidiens. Unsägliche Anstrengungen an Geld und Menschenleben hatte dieser Eroberungskampf gefordert, trotzdem war Abd el Kader in allen entscheidenden Schlachten mit seinen verwegenen Kriegern Sieger geblieben. Die Kraft der Verzweiflung, der Gedanke, daß es um 1
Diese Erzählung war ursprünglich Bestandteil des ersten Bandes der „Puebla“-Romane als Kapitel 6 „Der erste Löwe“; die Gestalt des Grafen Aimé Raousset-Boulbon taucht hier zum erstemal auf.
die Freiheit der geliebten Heimat ging, machte sie zu gefürchteten Gegnern. Ein Friede, der 1834 mit Abd el Kader zustande kam, schlug schon im Jahr darauf in neue Feindseligkeiten um, da er den eingeborenen Stämmen nicht die volle Freiheit verbürgte. Am 30. Mai 1837 schloß General Bugeaud einen zweiten Frieden; aber auch dieser war kaum etwas anderes als ein Waffenstillstand, da Frankreich seine Eroberungsabsichten nicht aufgab und ihm also an einem Dauerfrieden nichts gelegen sein konnte. Im eigenen Land von den zähen französischen Eindringlingen ständig bedroht, entrollte Abd el Kader im Jahre 1839 die grüne Fahne des Propheten und rief den heiligen Krieg gegen die Franzosen aus. Ein Sturm von Begeisterung brauste durch das bedrängte Land; Greise, Frauen und Kinder warfen sich den Kugeln und Bajonetten der Feinde entgegen. Aber vor den überlegenen Waffen und dem unaufhörlichen Nachschub über das Mittelmeer mußte auch dieser heldenhafte Widerstand endlich zerbrechen. Der übermenschliche Kampf des freiheitsgewohnten Volkes ging verloren; Abd el Kader mußte fliehen und bei dem Sultan von Marokko Zuflucht suchen. So schien endlich durch Marschall Bugeauds rücksichtslose und umsichtige Leitung die französische Herrschaft in Algerien gesichert. Da plötzlich, im Sommer 1842, tauchte der vernichtet geglaubte Emir aufs neue in Algerien auf. Viele der freiheitlich gesinnten Stämme waren ihm
sofort wieder zugefallen. An Hilfsmitteln unerschöpflich, hatte er sich abermals eine Macht zu bilden gewußt. Und wieder flammte in allen Winkeln des Landes der Haß gegen die Feinde auf. Die Generale Lamoricière, d Arbonfille und Changarnier, die an alles weniger als an seinen Angriff dachten, erlitten Ende August und im Lauf des Septembers bei Tedekempt am obern Schelif, und bei Mascara Niederlagen. Es bedurfte eines entschlossenen, gemeinschaftlichen Vorgehens, um ihn wieder zurückzudrängen und die ‚aufrührerischen‘ Stämme zu unterwerfen. Besonders die Kabylen erhoben sich bis Konstantine hin. Fünftausend Mann griffen den Setif an. Durch gefährliche Streifzüge am Rand der Wüste hin, vom Dschurdschura bis zur marokkanischen Grenze, in Gegenden, die noch nie ein Franzose betreten, suchte der Generalgouverneur den Emir auf einen engen Raum am Schelif zu beschränken; denn ihn ganz zu vertreiben, gelang nicht. Bugeaud stellte sich im September selber an die Spitze einer Expedition ins Innere der östlichen Landesteile, um die widerspenstigen Kabylenstämme zur Unterwerfung zu zwingen. Eine fünftausend Mann starke Kolonne brach unter dem Kommando Lamoricières in einer Septembernacht von Algier auf, um durch die Metidjah in die Gebirge des Atlas zu rücken und die Stämme der Beni-Azaum und Beni-Atia zu züchtigen, die ein französisches Kommando überfallen und ermordet hatten.
Die Kolonne bestand aus zwei leichten Infanteriebataillonen und einem Jägerbataillon, einer Kompagnie Zuaven, einer Abteilung berittener Jäger und einer Abteilung Spahis nebst einer Batterie Gebirgsartillerie. Der Morgen, der die Kolonne schon in der Metidjah traf, war wunderschön und von belebender Frische. Über Nacht war starker Tau gefallen. Dichte Gebüsche von Myrten, Tamarinden und Aloes begrünten die Hügelreihen, die den Pfad umsäumten. Ein fast betäubender Wohlgeruch stieg auf. Die französischen Soldaten rückten heiter und zwanglos vor. Spahis und berittene Jäger tummelten ihre gewandten Berberrosse und jagten im tollen Galopp die steilen Höhen auf und nieder. Obgleich die Sonne bald glühend niederbrannte, ließen sich die daran gewöhnten Soldaten wenig von den Beschwerden anfechten. Man machte es sich bequem, öffnete die Uniform, nahm die Halsbinden ab, setzte die Käppis mit dem Nackentuch locker und trug die Gewehre bald wie Spazierstöcke, bald wie einen Knüppel unter dem Arm. Trotzdem wurde der Marsch bald beschwerlicher; gegen Mittag kam der Zug an einen reißenden Bergstrom. Die Kavallerie durchquerte ihn leichter; die Strömung war indes so stark, daß manches Roß den Grund verlor; die Infanterie mußte das Wasser durchwaten. Die ersten Reiter, die den Fluß kreuzten, nahmen ein am dieseitigen Ufer an einem starken Pfahl befestigtes Seil mit hinüber, daß es den
Schwächeren einen sicheren Anhalt gewährte. So setzte bald die ganze Truppe über. Der Vormarsch in dem nun sehr unerquicklichen Gelände wurde immer anstrengender. Der General hatte unter dem Kommandanten Yussuf hier ein Bataillon und einen Teil der Kavallerie aufgestellt, um den Rückzug aus dem Gebirge zu decken. Denn nun teilte sich die Kolonne und rückte in zwei Richtungen in die Berge vor. Die Abteilung, bei der sich die berittenen Jäger und das Jägerbataillon MacMahon befanden, stieg nach einer kurzen Rast zwei Stunden an. Die Luft war so heiß wie in einem glühenden Backofen. Da meldete ein Korporal der Vorhut, daß man rechts in den Bergen wiederholt Flintenschüsse höre. Wie ein Blitz durchzuckte die Soldaten die Nachricht, daß ihre Kameraden auf den Feind gestoßen seien. Jede Ermüdung schwand. Zwei Kompagnien wurden mit den berittenen Jägern vorangeschickt, um die Gegend auszukundschaften. Eine halbe Stunde war man so in dem sich verengenden Tal vorgedrungen, als es sich plötzlich zu einer breiten, mit hohen Dattelpalmen bewachsenen und von steilen, schluchtenzerrissenen Bergen umgebenen Ebene öffnete. Einige hundert Schritt weiter stürzte plötzlich eine Reiterschar aus einer dieser Schluchten hervor, an achthundert Pferde stark; im wilden Durcheinander stürmte die Feindesmasse dahin. Gell heulte das Kampfgeschrei der Kabylen; aber
eben so schnell wie ihr Angriff war auch die Abwehrstellung der französischen Kompagnien. Zu festem Karree geschlossen, stand das Bataillon da, bevor noch eine Minute vergangen war. Ebenso schnell hatten sich die zurückjagenden Berittenen in das Innere dieses Karrees zurückgezogen. Erwartungsvolle Ungeduld lag auf den braunen Gesichtern der Jäger, als die Schar der Beduinen heranstürmte. Aber die Hoffnung auf ein regelrechtes Gefecht war vergeblich; denn die arabischen Reiter schwenkten, da sie die Kolonne so fest geordnet sahen und aus Erfahrung das Nutzlose eines solchen Angriffs kannten, in einer Entfernung von fünfhundert Schritt wieder ab und verschwanden ebenso rasch, wie sie herangekommen waren. Nach dem das Karree noch eine Weile fest geschlossen gestanden hatte, ließ der Kommandant die Kompagnien in verbundenen Kolonnen den Marsch weiter fortsetzen. Sie waren indes kaum über den Talkessel hinaus, und die Vorhut bog eben in eine enge Schlucht, als unerwartet aus den dicken Myrten- und Tamarindengebüsch am Bergabhang Schüsse auf sie niederkrachten. Ein berittener stürzte mit seinem Pferd tot zusammen; auch zwei Jäger waren tödlich getroffen, einige andere verwundet. Der Kommandant ließ sofort die Plänkler vorrücken. Die Kompagnien mußten sich wieder in Karrees schließen, um plötzlichen Reiterangriffen zu begegnen. Mit großer Gewandtheit und Schnelligkeit drangen die Züge in die Schlucht ein. Da und dort knallten Flintenschüsse. Die Plänkler
hatten das Gefecht mit dem Feinde begonnen. Wenn auch das dichte Gebüsch es nicht erlaubte, die einzelnen Soldaten zu sehen, konnte man doch den schwächeren, aber schärferen Knall der gezogenen Büchsen der französischen Jäger von dem dumpfen Ton der langen Flinten der Kabylen unterscheiden. Das kleine Gefecht hatte schon eine halbe Stunde gedauert, als man auf einer kahlen Klippe, die in Höhe von tausend Fuß einen Berggipfel bildete, mehrere Kabylen in ihren schwarzen Burnussen – die langen Flinten in den Händen – flüchten und einen Ausweg suchen sah. Aber die Klippe war überall von schroffen Felsenabhängen umgürtet. Bald nach den Kabylen erschien die Gestalt eines emsig nachklimmenden Jägers. Wie eine Katze, so rasch und gewandt, kletterte die kleine grüne Gestalt dem Feinde nach, jedes Felsstück, jede Kante zur Deckung gegen das Geschoß der Feinde benutzend. Jetzt legte ein Kabyle seine lange Flinte auf den Jäger an. Aber schnell wie ein Kobold hockte er hinter einem Felsblock, und die feindliche Kugel riß ihm nur das Käppi vom Kopf. Im gleichen Augenblick feuerte der Jäger und tödlich getroffen stürzte ein Kabyle zusammen. Die Soldaten im Tal verfolgten mit Spannung den Kampf auf der Felskuppe. Als der Jäger geschossen hatte, blieb er auf dem Boden liegen und lud seinen Büchse aufs neue. Ein zweiter Plänkler kam geklettert, seinem ersten Kameraden zur Unterstützung. Die drei übrigen Kabylen feuerten nun ihre Gewehre auf den neuen Feind ab
– nicht ohne Erfolg, denn er wankte hin und her und fiel dann in ein dichtes Gestrüpp zurück. Diesen Augenblick hatte der erste Jäger benutzt, von neuem geschossen und wieder einen Kabylen zu Boden gestreckt. Rufe des Bedauerns über den Fall des Kameraden wechselten unter den Soldaten im Tal mit Freudengeschrei über die Gewandtheit und Tapferkeit des andern. Immer noch blieb dieser hinter dem schützenden Gestein auf den Knien liegen. In wildem Sprung stürzte ein Kabyle auf den Jäger zu, um ihn im Handgemenge anzugreifen. Mit dem blitzenden Hirschfänger begegnete ihm der Franzose, jetzt aufgerichtet und mit dem Rücken gegen einen Felsblock gelehnt. Der zweite Kabyle kam seinem Gefährten zu Hilfe. Vereint drangen sie auf den Jäger ein. Blitzschnell hin und her springend mußte dieser aber den Kampf mit beiden Gegnern fortsetzen. Rasch schwirrte seine Waffe in leuchtenden Kreisen umher. Mit ängstlicher, steigender Spannung verfolgten alle unten im Tal diesen Kampf. Lange schien der tapfere Jäger nicht mehr Widerstand leisten zu können; denn indes der eine heftig auf ihn eindrang, lud der andere sein Gewehr, um ihn mit einem Schusse niederzustrecken. Da machte der Bedrängte eine gewaltige Anstrengung, sprang auf den Block und hieb dem Kabylen mit dem Bajonett so über den Kopf, daß er zusammenstürzte. Plötzlich tauchten in wilder Flucht fünf Kabylen wieder aus den Gebüschen oben hervor. Mit ihnen zugleich kamen mehr und mehr Plänkler, eifrig verfolgend, heran. Ein allgemeiner Kampf begann
jetzt von neuem auf der Klippe; denn die Araber, denen jene weitere Flucht abgeschnitten war, mußten kämpfen oder sich ergeben. Die Jäger drängten nach, überall aus den Büschen schimmerten ihre schwarzen Käppis. Die Büchsen knallten. Als der Pulverdampf sich verzog, sah man alle Kabylen tot am Boden liegen, und die Plänkler untersuchten ihre Burnusse nach Beute. Der Kommandant des Bataillons ließ die Hornisten das Zeichen zum Sammeln und Zurückgehen geben, und die Hornisten der Plänkler wiederholten es. In größeren und kleineren Trupps, wie sie sich beim Klettern zusammengefunden, kamen die Soldaten allmählich zurück. Obwohl die Uniformen von der Kletterei hart mitgenommen aussahen und manche der Jäger auch tüchtig an den Händen zerschunden oder im Gesicht zerkratzt waren, herrschte bei allen Freude und Begeisterung über das bestandene kleine Gefecht. Namentlich der Jäger, der sich auf der Klippe so heldenmütig verteidigt hatte, wurde von seinen Kameraden mit Jubel empfangen und von den Offizieren und dem Kommandanten belobt. Dann wurde von den Jägern ein Grab gegraben, um die beiden Kameraden, deren Leichen man mühsam von den Klippen herunterbrachte, mit den im Tal Erschossenen zu beerdigen. In ihre Regenmäntel gehüllt, wurden die Leichen in die Grube gelegt. Eine dreimalige Salve erklang als letzte militärische Ehre über die Toten hin. Auf das Grab wurden große Felsstücke gewälzt, um Schakale und Hyänen abzuhalten, die Leichen wieder auszugraben. Ein einfaches Kreuz
bezeichnete die letzte Ruhestätte gefallener französischer Soldaten. Am Eingang der Schlucht im Tale schlugen die Truppen ihr Biwak auf, denn der Abend nahte und der Kommandant wagte nicht, in der Dunkelheit weiter vorzurücken. Der starke Tagesmarsch in der furchtbaren Hitze und der Kampf hatte alle ermüdet. Im Schatten hochstämmiger Orangenbäume, deren Blüten die Luft mit ihrem Duft erfüllten, waren bald die kleinen Kochfeuer angezündet, um aus Reis und gedörrtem Fleisch eine dicke Suppe zu bereiten. Frische Orangen von seltener Süße und Fülle des Saftes, die man nur von den Bäumen herabzuschütteln brauchte, bildeten den köstlichen Nachtisch des einfachen, aber durch hundert Späße, Lieder und Erzählungen von Jagd- und Kriegsabenteuern gewürzten Mahles. Am anderen Tag vereinigten sich die beiden Kolonnen wieder. Es gelang ihnen, die Stämme der Beni-Azaum zu überfallen, nach einer blutigen, aber vergeblichen Gegenwehr ihre Dacheras1 in Brand zu stecken und bedeutende Viehherden zu erbeuten. Mit diesem Ergebnis zufrieden, beschloß der General den Rückzug. Denn durch die verschiedenen, an den Felspässen zurückgebliebenen Abteilungen war die Kolonne zu sehr geschwächt, um den Zug mit Sicherheit noch weiter ausdehnen zu können. Aber dieser Rückzug sollte nicht so gefahrlos werden wie das Vordringen; denn die Stämme der 1
Wohnplätze der Kabylen; die der Araber heißen Duars.
Beni-Mus, Beni-Atia und Beni-Gamat hatten sich gesammelt und sperrten den Weg nach der Arba, erbittert über die Zerstörung ihres Eigentums. Die Kolonne zögerte um vierundzwanzig Stunden zu lange; vierzig vereinigte Stämme hatten schon alle Pässe von den warmen Bädern bei Meluan bis zum Marabut von Sidi Ali am Djemaa besetzt. Eine lange Waldschlucht, in der drei Stunden lang nur einer hinter dem andern gehen konnte, mußte durchwandert werden. Diesen Punkt hatten sich die Araber ausersehen, um einen Hauptangriff auszuführen. Hinter den Felsen und Gebüschen zur Rechten und Linken und auf dem Rücken der benachbarten Berge folgten die Beduinen, beinahe sicher vor den französischen Kugeln, und unterhielten mit ihren Flinten, die – fast doppelt so lang als die der Gegner – auch viel weiter reichten, ein ununterbrochenes Feuer. Besonders heftig wurde dem Nachtrab zugesetzt. Fast alle Offiziere, die ihn begleiteten, fielen oder wurden schwer verwundet. Die Leute, vom Feind gedrängt und mit Erbitterung angegriffen, gerieten in Verwirrung. Nur das Eintreffen des Generals Lamoricière und des Kommandanten MacMahon vermochte die Unordnung wieder zu heben, die sich schon dem nächsten Bataillon mitgeteilt hatte. Der Verlust der Franzosen war entsetzlich. Der Rückzug nach dem Djemaa bildet eine der blutigsten Niederlagen in der Geschichte der Eroberung Algeriens. Endlich erreichten die Korps einen kleinen, von Felsen und Gebüsch umgebenen Talgrund, der ihm
erlaubte, in Kolonne zu marschieren und die Bergkanonen aufzustellen. Kein einziger Feind zeigte sich mehr. Man glaubte, daß alle in ihre Dacheras zurückgekehrt waren, zufrieden mit der Rache an ihren Gegnern. Aus Vorsicht sollten jedoch kleinere Abteilungen auf die Anhöhen und in die Gebüsche am Weg vorausgeschickt werden. General Lamoricière rief Freiwillige auf. Unter denen, die sich meldeten, war der erste der junge, dreiundzwanzigjährige Graf RaoussetBoulbon1. Sein Pferd war im Engpaß erschossen worden, so daß er sich den Fußtruppen hatte anschließen müssen. Er erhielt den Auftrag, sich mit zwölf Plänklern links zu halten und in einiger Entfernung dem Nachtrab zu folgen, um eine erneuerte Annäherung der Feinde sofort zu entdecken. In kurzen Abständen nacheinander drangen die Leute mit den furchtbarsten Anstrengungen auf rauher, steinigem, durchglühtem Boden in versengender Hitze über Felsen und Schluchten. Dichte Gebüsche von Dornen, Aloe und Kaktus zerrissen ihre Kleider. Erst nachdem sie eine halbe Stunde so in das gefährliche Gebirge zurückgekehrt waren, machten sie wieder kehrt und folgten nun dem Hauptkorps. Nach einer Stunde war der Nachzug des Korps hinter einer Felswand dem Blick des Grafen Boulbon entschwunden, und auch die Plänkler hatten sich in dem hier ziemlich hohen und dichten Olivengehölz verloren. Da wurde der junge Offizier plötzlich von fünfzehn Kabylen, die hinter ihm aus 1
Siehe auch Retcliffe: „Die Abenteurer der Sonora“, „Zu den Quellen des Buenaventura“ und „Goldfieber“.
den Hecken hervorbrachen, angefallen. Nach kurzer Gegenwehr und fruchtlosem Hilferufen streckte ihn ein Kolbenschlag besinnungslos zu Boden. Die Feinde machten sich eben daran, ihm den Kopf abzuschneiden, als sie in einiger Entfernung die Plänkler bemerkten. Die Leute sahen zwar mehrere Araber davonsprengen, ahnten indes nicht, daß ihr Führe von ihnen überfallen und verwundet worden war. Deshalb setzten sie ihren Weg hinter dem Korps her ohne ihn fort. Leutnant Horace Aimé de Bourbon blieb mehrere Stunden bewußtlos in seinem Blut liegen; als er wieder zu sich kam, war die Sonne nur noch wenige Grad über dem Blickfeld. Vom Blutverlust außerordentlich geschwächt, von den Schmerzen, die ihm die an sich nicht gefährlichen Wunden verursachten, und von quälendem Durst gepeinigt, von seinen Kameraden getrennt, fand er sich mitten in unbekanntem, unwegsamem Land und umgeben von rachedurstigen Feinden. Er gab jedoch noch nicht alle Hoffnung auf. Glücklicherweise hatten ihn die Feinde in ihrer Eile Waffen und Kleider gelassen; daß Jägergewehr wollte zwar einer der Araber mitnehmen, warf es dann aber einige Schritte weiter wieder von sich. Aimé zerriß sein Hemd, um seine Wunden zu verbinden, lud sorgfältig seine Büchse und schleppte sich, anfangs nur mit größter Mühe, in der Richtung der Kolonne fort. Er hatte seine Feldflasche noch halb gefüllt mit Branntwein und
trank ab und zu einen Schluck zur Stärkung und Anregung. Nur langsam folgte er durch den Gebirgspaß der Kolonne nach, die ihm wenigstens schon fünf Stunden voraus sein mußte. Aber kaum hatte er etwa eine Meile zurückgelegt, als er zu seinem Schrecken drei bewaffnete Mauren hinter einer Felswand hervor im Galopp, mit geschwungenen Yatagans, auf sich einstürmen sah. Die Reiter folgten einander in einer Entfernung von zwanzig bis dreißig Schritten, so daß er Zeit genug behielt, auf den ersten zu feuern, ehe der zweite herankam. Der erste stürzte tot vom Pferd. Als der zweite herbeistürmte, verteidigte Aimé sich mit dem Bajonett und brachte zuerst dem Pferd einen Stich in die Nase bei, und als dieses sich bäumte, stach er den Reiter in die linke Seite. Schon war der dritte, der, ohne zu treffen, seine Flinte und eine Pistole auf ihn abgefeuert, bis auf etwa fünf Schritt herangekommen, als der Graf noch mit seinem zweiten Feinde beschäftigt war. Sofort ließ Aimé ihn fallen und machte sich zu dem neuen Kampf bereit. Da wandte sein dritter Gegner sein Roß kurz auf den Hinterbeinen um und jagte mit dem Fluch: „Fahr `in die Hölle, Giaur!“ im Galopp über Felsen und Büsche davon. Auch die beiden sattelleeren Pferde folgten, ehe der Offizier sich ihrer bemächtigen konnte. Der eine Tote, der zuerst gefallen war, mochte sechzig Jahre alt sein; er hatte ein vornehmes, aber finsteres und wildes Aussehen. Der andere konnte kaum über die Zwanzig zählen. Er war in voller
Jugendkraft und Schönheit; seine Oberlippe war von einem langen schwarzen Schnurrbart überschattet, und seine Gesichtsfarbe und Kleidung ließ den in der Stadt aufgewachsenen Sohn einer wohlhabenden Familie erkennen. Sein weißer Turban war vom Haupt gefallen. Sein feinwollener Burnus lag im Blut ausgebreitet und ließ eine reich mit Gold durchwirkte türkische Weste und weite rote Beinkleider sehen. An einem mit Perlen gestickten Leibgürtel hingen zwei schöne, mit Silber ausgelegte Pistolen. Aimé de Bourbon hatte keine Zeit zu verlieren. Er verschmähte jede andere Beute und nahm nur den Gürtel mit den Pistolen des Jüngern zu sich, die ihm nützlich sein konnten. Er band ihn unter seinem Mantel fest. Da er von dem am Leben gebliebenen Araber, der Stammesgenossen herbeiholen mochte, verfolgt zu werden fürchtete, setzte er seinen Marsch mit Eile und Behutsamkeit fort. Er war froh, daß die bald eintretende Nacht, ihm größern Schutz gewährte, dachte aber nicht daran, daß er im Dunkeln ohne Zweifel den Weg verlieren und sich in den unbekannten Gebirgen verirren würde. Der Pfad zog sich bald rechts, bald links durch Gebüsche und über nackte, kahle Felsen, wo er ganz unsichtbar wurde. Graf Bourbon verlor bald jede Spur und sah sich genötigt, über Schluchten und Felsen, durch Dornen und Sträucher aufs Geratewohl die Richtung zu folgen, in der er sich die Metidjah und das Meer dachte. War er nur erst unten in der Ebene, so sah er sich schon als gerettet an – obwohl er dort ebenso großer Gefahr
von seiten der Araber und auch durch wilde Tiere ausgesetzt war. Aber all sein Suchen nach einem Ausweg aus dem Waldgebirge war fruchtlos. Wenn er zwischen den Bergen einen freien Raum zu entdecken glaubte, so stellte sich, wenn er näher kam, eine neue Anhöhe, ein neuer Fels seinem Vordringen entgegen. Wasser, seinen brennenden Durst zu löschen, fand er gar nicht. Alle Bäche des Gebirges, alle Quellen schienen vertrocknet; dabei begannen seine Wunden immer heftiger zu schmerzen. Er war endlich gegen Mitternacht so müde und erschöpft, daß er sich ohne Rücksicht auf Gefahr niederlegen wollte, als sich das vor ihm liegende Gebüsch öffnete. Er lief gegen die Gebirgsspalte hin und erblickte endlich zu seinem Entzücken in der Tiefe vor sich die Ebene Metidjah, und fern zeichnete sich das Meer aus dem stillen Dunkel mit weißem Schein ab. Eine Reihe von Feuern, die in der Ebene brannten, schien zu dem Lager der Seinen zu gehören. Neu gestärkt durch diese erfreuliche Gewißheit, begann er die Gebirgsabdachung hinabzusteigen, um zu seinem Korps zu stoßen. Von der Höhe schien ihm die Entfernung nicht mehr als eine halbe Stunde zu betragen, aber er fand sich schwer getäuscht. Er brauchte ungefähr eine Stunde, bis er unten war; denn mehr als zehnmal mußte er vor schroffen Felsenwänden oder tiefen Schluchten umkehren und bald zur Rechten, bald zur Linken ausweichen. Am Fuß des Gebirges wußte er nicht mehr, welche Richtung er nehmen sollte; denn die Feuer waren mit all den Punkten, die ihm von der
Höhe aus als Merkzeichen dienen konnten, aus den Augen verschwunden. Er konnte wieder nur ungefähr der Richtung folgen, die ihm die beste schien; und bald verirrte er sich aufs neue. Eben umschritt er einige niedere Felsen, als er das Rauschen einer Quelle zu hören glaubte. Erfreut hielt er den Schritt an und horchte – er hatte sich nicht getäuscht. In geringer Entfernung von ihm murmelte deutlich der Fall des Wassers als kleiner Bach oder Quell aus einer Felsenspalte. Von den Leiden des Durstes fast aufgerieben, riß er die Zweige auseinander, die ihn von dem Rasengrund der Quelle trennten, als ihn ein eigentümlich prasselndes Krachen, wie wenn Knochen zermalmt würden, und ein murrendes, dumpfes Brummen zurückschreckten. Zwischen ihm und der Quelle wuchs ein dunkler Schatten. Im Sternenlicht der Steinschlucht stand vor ihm – kaum zwanzig Schritt entfernt – ein großer Löwe. Offenbar aus dem Gebirge herabgekommen, um an der Quelle – vielleicht der einzigen auf viele Meilen in der Runde – zu trinken, hatte er hier sein Lager genommen, um an sich nähernden Tieren sein Mahlzeit zu halten. Der junge Jäger konnte am Rand der Quelle den Überrest einer Antilope erkennen, die der Löwe dort erlegt und verzehrt hatte. Einen Augenblick lang stand Graf Boulbon in regungslosem Entsetzten vor dieser neuen und furchtbaren Gefahr. Er wagte kaum zu atmen. Der Löwe stieß ein Brüllen aus, das von den naheliegenden Felsen donnernd zurückgeworfen wurde, und den Offizier bis in das innerste Mark
erschaudern ließ. Die Augen des Raubtieres leuchteten wie zwei Kohlen in der halben Dunkelheit. Boulbons Karabiner war zwar geladen; aber er wußte aus den Erzählungen von Hassan, dem berühmten Löwenjäger Hamed Beys und Vorgänger Gérards, der damals eben erst nach Bona gekommen war und bei dem Korps des jungen Grafen stand, daß der Löwe selten auf den ersten Schuß fällt, die Kugel müßte ihm denn durch das Auge ins Gehirn gedrungen sein. Aber er hatte eben nur eine Kugel; der König der Tiere ließ ihm gewiß nicht Zeit, den Karabiner wieder zu laden. Er wußte nicht einmal, ob die Pistolen, die er dem getöteten jungen Araber abgenommen, geladen waren. Dennoch dachte er keinen Augenblick an einen Rückzug. Er erinnerte sich mit jener Gedankenschnelle, die in Augenblicken der Gefahr ein ganzes Leben zu durchlaufen scheint, daß erst sehr wenige französische Offiziere seit der Eroberung Algeriens das Jagdglück gehabt hatten, einen Löwen zu erlegen. Und wo dies geschah, nur bei großen Jagden inmitten von Schützen und Treibern oder höchstens von einem gesicherten Anstand aus. Und schon stand auch der Entschluß bei ihm fest, die Beute eines gefährlicheren Sieges als des über die Kabylen ins Lager zu bringen, oder an der Quelle sein Leben zu lassen. Er rief sich rasch alles ins Gedächtnis zurück, was er über den Charakter und die Kampfart der Löwen gehört hatte.
Den Karabiner ließ er in die linke Hand gleiten. So stand er schußbereit dem Löwen gegenüber und erwartete ihn mit festem Blick. Der Löwe war ein riesiges Tier von der gefürchteten Art, die der Araber el ad rea nennt, und die sich gewöhnlich nur im Gebirge aufhält. Sein Kopf war groß, mit einer dichten und langen schwarzen Mähne besetzt. Er hatte bei der blitzschnellen Bewegung des Offiziers und dem Knacken des Hahns einen Sprung vorwärts getan und war jetzt nur noch zehn Schritt von seinem Gegner entfernt. Auf den Boden niedergekauert, den Kopf zwischen den Vorderpranken, betrachtete er ihn aus kleinen, glühenden Augen. Wohl eine halbe Minute lang standen sich so der Mann und das Raubtier bewegungslos gegenüber. Der Graf fühlte, daß er die Spannung nicht länger ertragen könne, ohne seine Ruhe zu verlieren. Er mußte den Kampf eröffnen. Langsam begann er den Karabiner zu heben, um ihn in schußgerechte Lage an die Wange zu bringen. Aber so langsam und vorsichtig auch diese Bewegung war – dem scharfen Auge der Bestie entging sie nicht. Der Löwe stieß ein markerschütterndes Gebrüll aus. Im Nu war der Karabiner an der Schulter des Schützen. Der Schuß krachte. Aimé hatte keine Zeit gehabt, um zu zielen und nur auf die dunkle Masse gehalten. Aber er war ein sicherer Schütze und konnte schwerlich gefehlt haben.
Dennoch schien die Kugel keine Wirkung auf das Raubtier zu haben; denn der dunkle Körper flog im Sprung auf ihn zu und fiel kaum zwei Schritte vor ihm nieder – so dicht, daß er den heißen Brodem des Rachens fühlte. Der Graf begriff, er im nächsten Augenblick verloren war, wenn es ihm nicht gelang, den Löwen kampfunfähig zu machen. Er drehte den Karabiner um und schmetterte mit einem so wuchtigen Schwung den Kolben auf den Schädel des Löwen nieder, daß das Holz in hundert Splitter zersprang; den Lauf allein behielt er in der Hand. Die merkwürdige Körperkraft des Grafen war schon in seinen jüngeren Jahren in der ganzen Armee von Algerien bekannt. Der Schlag hatte den Löwen so betäubt, daß er auf den Rücken fiel und mit den Pranken durch die Luft schlug. Diese Pause benutzte Aimé. Er warf den unnützen Gewehrlauf fort und riß seinen Säbel heraus. Ohne Zögern stürzte er sich mit der blanken Waffe auf den fürchterlichen Gegner und schlug ihm mit einem gewaltigen Hieb die rechte Vorderpranke im Gelenk durch, so daß sie nur noch mit der Haut und einigen Sehnen am Bein hing. Das Gebrüll des Löwen bei diesem neuen Schmerz war so entsetzlich, daß es selbst das furchtlose Herz des Siegers erbeben machte. Das königliche Tier versuchte sich wieder auf die Füße zu werfen und zu einem neuen Sprung anzusetzen. Aber Aimé stieß ihm wiederholt den Säbel in den Rachen und den Leib. Die zerhauene Pranke hinderte den Löwen an der raschen Bewegung.
Sein Blut rann in Strömen aus mehreren Wunden; denn auch der Schuß hatte getroffen, wenn auch nicht an einer tödlichen Stelle. Dagegen brach ein Hieb mit der gesunden Tatze die Klinge des Säbels fast am Griff ab, und Aimé war jetzt nur noch mit den beiden Pistolen des jungen Scheiks bewaffnet. Er fühlte, daß er Sieger sein würde, daß der grimmige Feind, der sich brüllend am Boden wälzte, ihm nicht mehr zu schaden vermochte. Er selber war mit Ausnahme einiger unbedeutender Schrammen in dem gefährlichen Kampf ohne weitere Verletzung geblieben. Einige Schritte zurücktretend, um dem wilden Schlagen der Tatzen zu entgehen, betrachtete er den Todeskampf des mächtigen Tieres. So erschöpft er auch war, er dachte jetzt doch nicht mehr an die Quelle, um die sie gekämpft hatten. Ja, er fühlte ein gewisses Mitleid mit dem besiegten Gegner. Er zog die eine der Pistolen des Arabers aus dem Gürtel, trat dem Löwen wieder näher und richtete sie auf den Kopf, um seinen Todeskampf zu enden. Aber das Abdrücken belehrte ihn, daß die Waffe abgeschossen war. Erst das zweite Pistol gab Feuer. Er hatte nach dem Auge gezielt und mit sicherer Hand geschossen; der riesige Körper des Löwen zuckte beim Empfang der Kugel zusammen. Dann streckte er die Glieder und blieb bewegungslos liegen. Der Graf steckte die Pistolen wieder in den Gürtel, nahm den Lauf des Karabiners auf und stieß wiederholt den Löwen an – das Tier war tot.
Mit einem Gefühl des Stolzes setzte er seinen Fuß auf den leblosen Körper. Er dachte daran, was seine Kameraden sagen würden, wenn er ihnen die Beweise seiner Siege brächte. Endlich erinnerte sein trockener Gaumen ihn an den furchtbaren Durst und erweckte ihn aus diesen eitlen und kindlichen Gedanken. Er verließ den Löwen und warf sich am Rand der Quelle nieder, um den heißersehnten kühlen Trank in langen Zügen in die brennende Kehle zu schlürfen. Nachdem er sich erfrischt und Kopf, Hände und Füße gebadet und seine Wunden neu verbunden hatte, trat er wieder zu seinem toten Feind und schnitt ihm als Zeichen und Andenken seines Sieges beide Pranken ab. Dann machte er sich wieder auf den Weg. Das Wasser hatte ihn zwar etwas erfrischt, indes die furchtbare Anstrengung und Aufregung hatte ihn doch so ermattet, daß er nur mühsam weiterschwanken konnte. Als er endlich, aus dem Schatten eines Gehölzes von Korkeichen tretend, den schwachen Schimmer eines Lichtes gewahrte, beschloß er, hier Unterkommen zu suchen, selbst auf die Gefahr hin, in feindliche Hände zu fallen. Näher taumelnd, fand er ein kleines Gehöft der Kabylen aus mehreren steinernen Hütten; aber nur aus einer schimmerte Licht. Die Hunde, ohne die kein Kabylen- und Araberdorf bestehen zu können scheint, erhoben ein wütendes Gebell. Er vermochte kaum, sie abzuwehren, als er auf die Tür zuschritt. Im Vorübergehen bemerkte er in einer großen, von hoher Einfassung umgebenen Hürde mehrere Pferde und Ochsen, ein Beweis, daß der
Herr des Hauses zu der wohlhabenderen Klasse gehörte. Noch ehe er die Tür erreicht, öffnete sie sich, und ein Araber, in seinen Burnus gehüllt, trat auf die Schwelle – in der Rechten die Flinte. Hinter ihm fiel ein heller Feuerschein ins Freie. Über die Schulter des Mannes wurde sein Weib sichtbar. Er mußte jemanden erwarten, denn noch bevor er den Nahenden erkennen konnte, rief er ihm entgegen: „Maschallah, Dank sei dem Propheten, daß du kommst!“ Sein Schutzgeist gab Aimé ein, diese Begrüßung sogleich durch jene Formel zu erwidern, mit der ein Fremder die arabische Gastfreundschaft anruft. Kein Araber darf ihm diese Gastfreundschaft verweigern, ohne sich der höchsten Schande auszusetzen. Aimé kannte diese Gebräuche aus den Erzählungen seiner Kameraden, und da er das Arabische ziemlich gut verstand, sagte er ohne Zaudern: „Dif-Erbi, ein Eingeladener Gottes!“ Der Kabyle, obgleich getäuscht in seiner Erwartung, zögerte doch nicht, zu erwidern: „Marsaba-Bick, du bist willkommen!“ Zugleich machte er dem Gast Platz, damit dieser über die Schwelle treten könne. Bei dem ersten Schritt, den Aimé in die Hütte tat, erkannte er im Licht einer Fackel und eines Feuers auf dem niedern Herd, daß er sich in dem Haus eines Kriegers, und zwar eines Mannes befand, der eben erst aus dem Kampf gegen die Franzosen und von ihrer Verfolgung zurückgekehrt war.
An der Wand lagen Sattel und Zaum, daneben Pistolen, Yatagan, Säbel und Kugeltasche und ein mit Blut befleckter französischer Militärmantel. Auf einer Matte waren Lebensmittel ausgebreitet; der Hausherr hatte wahrscheinlich eben seine Mahlzeit eingenommen. Im Schein der Fackel bemerkte Aimé den finstern Blick, den der Kabyle ihm zuwarf, als er seine Uniform erkannte. Sofort trat er auf die Matte zu, brach ein Stück des Maiskuchens ab, tauchte es in Salz und aß es; damit hatte er sich unter den Schutz des Hausherrn gestellt, und dieser war für alles, was ihm solange er sein Gastfreund war, geschah, verantwortlich. Die Stirn des Arabers wurde dunkel. Doch bezwang er sich gewaltsam, nahm den Rest des Brotes und aß ihn. Dann lud er den Gast ein, sein Mahl zu teilen. „Du bist von der Schar der Franken, die die Duars unsere Brüder, der Beni-Azaum, zerstört haben?“ „Ich gehöre zur Kolonne des Generals Lamoricière, die von den Arabern angegriffen wurde. – Du warst einer unserer Feinde?“ „Inschallah! – Ich bin ein Ben-Hocein! –Weißt du Franke, wer die Beni-Hocein sind?“ „Nein, Aga!“ „Die Beni-Hocein sind die wahren Abkömmlinge derer, die über das Meer herkamen vor der Zeit, da unsere Väter in Granada waren. Es sind die Kinder der Romani1 und niemals werden sie die Sklaven der fränkischen Hunde sein! Ich war dabei, als die 1
Der Römer. Die Beni-Hocein leiten wirklich noch ihre Abstammung von den römischen Eroberern her.
Rechtgläubigen eure Reihen schlugen im Paß von Zerguin. Diese Flinte da hat zehn der Deinen getötet!“ Der junge Franzose konnte sich nicht enthalten, seinen Gastfreund mißtrauisch anzublicken bei dieser Erzählung. Es war ihm um so unheimlicher zumute, als es ihm vorkam, als habe er sein Gesicht schon irgendwo gesehen. Doch konnte er sich nicht erinnern, wo dies geschehen. Da zu den erbeuteten Pistolen des jungen Arabers ihm die passende Munition fehlte, war er jetzt aller seiner Waffen verlustig, widerstandslos dem erbitterten Feind preisgegeben. „Ich habe mich verirrt von unseren Truppen“, sagte er endlich. „Ich bin allein in deiner Gewalt. Aber es würde unedelmütig von dir sein, deinen Vorteil zu mißbrauchen. Ich weiß, daß dein Prophet den zur Dschehennah verdammt hat, der den Gast kränkt. Ich habe des Kampfes und der Gefahren heute zur Genüge bestanden.“ Damit zog er die blutigen Tatzen des Löwen unter seinem Uniformburnus hervor und legte sie vor seinen Wirt. Der Hocein blickte ihn erstaunt an. „Bismillah! Was ist das?“ „Du siehst es, Freund. Die Tatzen eines Löwen, den ich unfern von hier an einer Quelle erlegte!“ Der Araber sprang erfreut empor und rief seinem Weib zu: „Komm her, Zulmah, und sieh diesen Franken! Bei Allah, er hat Johann, den Sohn Johanns, getötet, den wir diese Nacht brüllen hörten. Seit fünf Jahren mordet er die Herden unserer
Dacheras, ohne daß ein Sohn des Propheten zu töten vermochte! – Sprich, Franke, wie ist es dir gelungen, zu tun, was die beste Flinte des Gebirges nicht vermocht hat?“ Aimé de Boulbon erzählte den Hergang. Seine beiden Wirte sahen ihn mit unverhohlenem Erstaunen an. „Du bist ein Tapferer“, sagte der Araber und reichte ihm die Hand. „Ich achte und liebe die Tapferen, wenn ich auch dein Volk hasse als die Unterdrücker des meinen und – die Verführer meines einzigen Kindes! Von ihrer falschen Zunge betört, hat es das Zelt seiner Väter verlassen. Aber es wiedergekehrt in das Haus, das es geboren. Es hat die gespaltene Rede der Männer aus Frangistan kennengelernt, und es ist wieder ein Araber unter Arabern geworden. Im heutigen Kampf war mein Sohn an meiner Seite und auf euren flüchtigen Fersen. Er wird heimkehren mit Ruhm und Beute an die Schwelle seiner Eltern.Aber fürchte dich nicht, du bist mein Gast und hast mein Brot gegessen. Niemand soll dir etwas zuleide tun, solange Ibrahim Ben Hocein lebt!“ Er schwieg einen Augenblick, als warte er auf Antwort. Als er aber bemerkte, daß seinem Gast die Augen zufielen, lud er ihn höflich ein, sich auf das für ihn im Winkel des als Küche und Männerwohnung benutzten Raumes bereitete Lager zu legen. Aimé warf sich, in seinen Burnus gehüllt, auf die Filzteppiche, und selbst die Gewißheit, daß ihm während des Schlafs der erbitterte Feind den Hals abschneiden würde, hätte ihn nicht vermocht, auch nur eine einzige Minute länger wach zu bleiben.
Aimé de Boulbon mochte etwa vier Stunden fest und traumlos, ohne die geringste Störung zu empfinden, geschlafen haben, als er am Arm aufgerüttelt wurde. Er richtete sich hoch. Ein Blick zeigte ihm, was geschehen. Durch seine Bewegungen im Schlaf war sein Burnus zurückgefallen, und die Augen der drei Menschen, die sein Lager umstanden, waren mit dem Ausdruck des Hasses und des Schmerzes auf den Perlengürtel gerichtet, den er am Tag vorher dem jungen, erstochenen Araber abgenommen hatte, und den er um den Leib geschnallt trug. Das Weib seines Wirtes schluchzte heftig; in der Aufregung des Schmerzes hatte sie die Schleier von ihrem Haupt gerissen, und die langen schwarzen Haare schlugen wirr um das tränenfeuchte, noch immer schöne Gesicht. Der Hausherr stand, krampfhaft die Hand um den Griff seines Yatagans gepreßt, und schaute mit finsteren Blicken auf den jungen Soldaten. Mit Entsetzen erkannte Aimé in dem wilden, rachedurstigen Gesicht des dritten den Araber wieder, der zuletzt von jenen dreien ihn angegriffen und, nachdem er vergeblich auf ihn geschossen hatte, geflohen war. „Was zauderst du, Ibrahim Ben-Hocein?“ rief der Fremde wild. „Laß uns die Schlange, die gezischt hat, töten – zur Ehre Allahs und zur Sühne des Blutes, das sie vergossen!“ Er schwang den Yatagan über dem Haupt des jungen Soldaten, der unwillkürlich nach den
nutzlosen Pistolen griff. Aber der Hausherr streckte schützend den Arm dazwischen. „Zurück, Achmed! Wärst du so tapfer gewesen gegen den kämpfenden Feind, wie du es jetzt gegen den Wehrlosen bist – Bugrada und Assaunah, die Hoceini, wären längst gerächt, und nicht Schmach gekommen über ihres Blutes Haus! – Steh auf, Franke! Folge mir, denn du darfst nicht länger mehr in diesen Mauern weilen!“ Aimé, noch betäubt von dem, was er sah und hörte, erhob sich und folgte seinem Hauswirt vor die Schwelle der Tür. Der Tag war angebrochen. Goldene Wolken verkündeten den nahen Aufgang der Sonne. „Bringe ‚Pfeil‘ und ‚Schwalbe‘“, befahl der Hausherr. Achmed gehorchte und führte zwei arabische Pferde aus der Umzäunung, denen er rasch Sattel und Zaum anlegte. Aimé sah schweigend, aber mit Verwunderung zu. „Franke,“ sagte Ibrahim Ben Hocein, „du hast, wie mir dieser Mann berichtet, gestern im Kampf meinen Bruder und meinen Sohn erschlagen. Der Gürtel, den du um deinen Leib trägst, verrät dich – er ist der seine! Aber ich habe dir Gastfreundschaft gewährt, und Allahs Fluch würde mich treffen, wollte ich das Blut meines Gastes nehmen. Du bist ein Tapferer und hast wie ein Tapferer getan. Nimm den Gürtel und die Tatzen des Löwen, das Zeichen deines Sieges, und wähle dir eines dieser beiden Pferde. Ihre Schnelligkeit ist wie der Wind. Sie sind von der Rasse der Geflügelten und einander gleich.
Steige auf und fliehe! Dort hinaus“, er wies nach einem Punkt am nördlichen Himmel, „ist das Lager der Deinen. Wenn die Scheibe der Sonne über den Rand der Erde sich erhoben, werde ich auf deiner Ferse sein. Eile, denn deine Augenblicke sind gezählt!“ Aimé fühlte, daß hier nicht der Augenblick zum Zögern oder Erklären sei. Er sprang in den Sattel. Der Araberhäuptling – bis zum letzten Augenblick dem erhabenen Gebrauch der Gastfreundschaft getreu – hielt ihm den Steigbügel. Die blutigen Pranken des Löwen in den Taschen seines Burnus bergend, spornte Aimé mit dem üblichen Ruf: „Erbi Ikelef Alikun, Gott gebe es dir wieder!“ sein Roß. Er schoß wie ein Pfeil von den Hügeln, zwischen denen der Hausch1 des Hocein lag, und flog über die Ebene. Aimé wagte nicht, sich umzusehen. Erst, als die Sonne über dem Horizont stand, wandte er sich im Sattel. – Wie einen dunklen Punkt am Rand der Ebene sah er den Verfolger heraufkommen. Das edle Roß, das ihn trug, strich mit ihm über die Fläche, wie der Vogel, dessen Namen es führte. Und dennoch fühlte er, ohne daß er den Blick nochmals zurückwandte, gleichsam durch ein geheimes, magnetisches Band, das Näherkommen seines Feindes. Die erbeuteten Pistolen waren nutzlos. Er besaß keine andere Waffe mehr. Es blieb ihm daher nichts übrig, als sich allein auf die Trefflichkeit und Ausdauer seines Pferdes zu verlassen. Selbst wenn er bewaffnet gewesen wäre, hätte es ihm 1
Ein arabisches Landgut.
widerstanden, die Waffen gegen den Mann zu brachen, dessen Sohn er erschlagen, und dessen Brot er gegessen hatte. Die wütende Jagd flog wie ein Sturmwind über die weite Ebene. Aber ein so tüchtiger Reiter auch der Graf war – sei es, daß der Araber besser die Natur seines Pferdes anzuspornen und zu benutzen verstand, sein es, daß dieses noch trefflicher war, als sein Gefährte: - als Aimé sich jetzt im Sattel umkehrte, erkannte er deutlich die volle Gestalt des Feindes und sah, wie er ihm näher und näher kam. Die Lebenslust, das Verlangen, einem Kampf auszuweichen, die Hoffnung des Entrinnens, ließ ihn sein edles Roß auf alle Weise zur Verdoppelung seiner Schnelligkeit antreiben. Er stachelte seine Flanken mit der Spitze der breiten Steigbügel, daß sein Blut auf das harte Erdreich tropfte, über das er hinflog. Schon konnte er deutlich das Biwak und die Zelte der Kolonne erkennen, die in der Ebene gelagert war. Nach dieser Stelle lenkte er den Lauf seines Pferdes. Sein Verfolger, jetzt mit der vollen Erbitterung des unversöhnlichen Rächers ihn jagend, suchte ihn immer weiter nach rechts zu drängen. Dort erhob sich in einiger Entfernung der runde Bau eines arabischen Marabuts auf einer hügelartigen Erhöhung, von der niederes Gesträuch sich weit in die Ebene dehnte. Aimé war jetzt etwa noch eine Meile vom Lager entfernt; man schien dort den Flüchtling bemerkt zu haben, und er sah einige Reiter die Kolonne
verlassen, um zu kundschaften und die Nahenden zu beobachten. Plötzlich stieß der Araber ein wildes Geschrei aus, das bis zu seinen Ohren drang, und jagte gerade auf ihn zu. Aimé spornte sein Pferd. Er sah in der Ferne seine Kameraden eilig heran kommen und konnte erkennen, daß sie ihm winkten. Aber er verstand nicht, was es bedeuten sollte, daß ihre Zeichen ihn gerade seinem Feind entgegen wiesen, dessen gellendes Rachegeschrei immer gellender in seine Ohren tönte. Er preßte dem edlen Berberroß die spitzen Bügel aufs neue in die Flanken und schoß auf den Rand des niederen Gebüsches zu. Da enthüllte sich ihm mit einem Blick das Vorhaben seines Verfolgers, die Warnung seiner Kameraden. Vor ihm öffnete sich eine jener breiten, tiefen Erdspalten, von denen die ganze Metidjah durchfurcht ist, und die vom entfernten Ufer des Djema bis weit über den Marabut hinaus verlief. Der Hocein hatte mit seiner größeren Ortskenntnis das Ende der Schlucht ihm abgewonnen und ihn so in eine Falle gebracht, aus der er ohne Kampf nicht zu entrinnen hoffen durfte. Aber Aimé besaß zu seiner Verteidigung nichts als den kurzen Säbelstumpf. Er sah, zur Seite blickend, wie der Araber im Heranjagen eine lange Reiterpistole erhob. Aimé sprengte am Rand der Schlucht hin. Der Knall eines Pistolenschusses schlug an sein Ohr. Eine Kugel flog dicht an seinem Kopf vorüber.
Er wußte, der Araber hatte noch eine zweite zu versenden. Jetzt faßte er einen verzweifelten Entschluß. Er lenkte das Pferd in vollem Rennen von der Schlucht ab, als wolle er sich in die Ebene zurückwerfen. Der Verfolger stieß ein Freudengeschrei aus. Dann aber wandte Aimé den Kopf des Rosses, und im Galopp an die Schlucht zurückkehrend, hob er das edle Tier und stieß ihm tief die Stacheln der Bügel in die Weichen. Die Schlucht war über zwanzig Fuß breit. Aber dennoch tat das Berberpferd den verzweifelten Sprung. Sein edles Blut bewährte sich. Das entgegengesetzte Ufer des Felsenspaltes lag zum Glück etwas tiefer, und das wackere Tier erreichte glücklich den Rand. Aber während es mit den Vorderfüßen festen Boden gewann, fühlte der Reiter, wie seine Hinterhufe vergeblich an dem bröckelnden Rand des Abhanges Halt zu gewinnen strebten. Das Erdreich löste sich unter ihnen. Er hatte nur noch Zeit und Entschlossenheit genug, sich über den Kopf des Pferdes auf den Boden zu werfen; dann überschlug sich das Tier und stürzte in den Abgrund. Als Aimé aufschaute, sah er seinen Feind am anderen Ufer der Schlucht sein Pferd zügeln. Er wagte nicht, den furchtbaren Sprung ihm nachzutun. Dann riß er es im Aufbäumen dicht am Rand der Schlucht um, daß die Vorderhufe einen Halbkreis über der Tiefe beschrieben, und jagte, ohne seine Pistole zu brauchen, mit der Faust stumm hinüber drohend, davon.
Er hatte sich vor dem Kismet gebeugt – sein Feind war gerettet. Als die französischen Reiter herankamen, war er schon weit aus dem Bereich ihrer Kugeln. Boulbons Kameraden jubelten über die Rettung Aimés und führten ihn im Triumph zum Lager zurück. General Lamoricière hatte selber die gefährliche Jagd mit angesehen. Man war in die Schlucht hinabgestiegen und das edle Berberpferd dort betäubt, aber wunderbarerweise ohne erhebliche Verletzungen gefunden. Die dichten Ranken der Schlingpflanzen hatten die Gewalt seines Sturzes gebrochen. Es wurde dem jungen Offizier als sein wohlerworbenes Eigentum zum Lager nachgeführt. Ein Brigadegeneral bot ihm bald eine bedeutende Summe dafür. Aber der Graf weigerte sich, es zu verkaufen. Er sandte es von Algier aus mit einem den Franzosen bekannten Araber an den Hocein zurück. Doch der Bote brachte das Pferd wieder mit der Erklärung des Eigentümers: er wolle ein Tier nicht mehr sehen, das seinen Feind treulos seiner Rache entzogen habe. Der Franke möge es behalten als Dank dafür, daß er die Gegend von dem Löwen befreit. Es sei aber Kampf und Blutrache zwischen ihnen bis zum letzten Hauch! – Später hörte Aimé, daß der Häuptling seinen bisherigen Wohnsitz ganz verlassen und tiefer ins Gebirge zu den unabhängigen Stämmen gezogen war.
Bald nach jenem tollen Ritt wurde Graf Raousset-Boulbon zum Kapitän befördert und Bugeaud, der Generalstatthalter von Algerien, machte ihn zu seinem Adjutanten. Er schlug die Schlacht am Isly mit, der Graf neben dem Marschall, oft im dichtesten Kampfgedränge. Er holte sich in der Schlacht das Kreuz der Ehrenlegion und wurde zum Bataillonschef ernannt. Später wurde der Graf mit seinem Bataillon zu der Expedition des Obersten Pelissier in den Dahra kommandiert. Pelisier, ein so tapferer und kühner Mann er auch war, seine Kameraden und Offiziere nannten ihn grob und unverträglich. Er zog bei jeder Gelegenheit die Zuaven und Zephire vor und häkelte sich mit den regulären Soldaten. Boulbon, der geborene Aristokrat, war dem Emporkömmling gegenüber wenig geduldig, und so prallten denn zwei harte Steine aufeinander. Aber es gab in Nordafrika mehr zu tun als sich zu zanken, und die Flinten der Araber sorgten lange dafür, daß es keine Zeit gab zu einem wirklichen Streit. Pelissier ging drauf wie der Teufel, und die Zuaven, die er stets vorn ins Gefecht schickte, warfen die Kabylen von Schlucht zu Schlucht, von Fels zu Fels. Jeder Tote, der beim Nachrücken gefunden wurde, war ausgezogen bis auf die Haut und es fehlten ihm die Ohren – des Obersten Zuaven hatten sie abgeschnitten und einstweilen in die Brotbeutel gesteckt, um die Prämie dafür nicht zu verlieren.
Am Abend eines blutigen Tages kam der Graf, der mehreremal bis zur Spitze der Truppen vorgeritten war, zu einem Kameraden und sprach ihn an. „Beaumont – wissen Sie, wen ich in den Reihen unserer Feinde gesehen habe?“ „Zum Teufel,“ antwortete der kecke Jäger, „es wird doch nicht die schöne Fatime gewesen sein, daß Sie in so gewaltiger Aufregung darüber sind!“ Die schöne Fatime war eine kleine maurische Tänzerin, deren feurige Augen den Grafen im Winter vorher in Algier lebhaft gefesselt hatten. „Nein! Nichte von dem Unsinn! Ibrahim, der Hocein, der Herr meines edlen Rosses, dessen Sprung am Marabut mir das Leben rettete, als er mich auf Tod und Leben verfolgte!“ „Hui!“ Kapitän de Beaumont, der damals gleich Boulbon unter Bugeaud gedient und das Abenteuer mit erlebt hatte, pfiff durch die Zähne. „Die Sache ist verdammt ernst! Mit einem verfluchten Kabylen, wenn er einem Christenmenschen Rache geschworen hat, ist nicht zu spaßen. Wie hat sich der braune Satan benommen? Hat er sie erkannt?“ Aimé Boulbon erzählte dem Kameraden kurz den Vorfall. Bei einem Reiterangriff der Araber, den die Zuaven mit einem schnell gebildeten Karree zurückgewiesen hatten, befand sich der Graf mit dem kommandierenden Offizier zu Pferd in der Mitte. Die Soldaten hatten auf etwa zwanzig Schritte Feuer gegeben, und fast ein Drittel der Beduinen mußten die Sättel räumen. Unter denen, die den Kugeln entkommen und ihre Rosse zur
Flucht wenden konnten, hatte sich der Hocein befunden. Sein Pferd, der ‚Pfeil‘, hatte ihn dicht an die Bajonette getragen, ehe er es herumwerfen konnte. Als er sich in den kurzen Bügeln erhob und mit dem Säbel hinüber drohte, traf sein Auge das des Grafen. Das Erkennen war ein gegenseitiges. Der Kabyle stieß eine grimmige Verwünschung hervor und rief den Namen Boulbon, den er wahrscheinlich damals von dem Vermittler, der ihm das Pferd zurückbringen sollte, erfahren hatte, zweimal herausfordernd in das Kampfgewühl. Dann jagte er davon. Seit dem hatte man ihn bei jedem wiederholten Angriff an der Spitze gesehen. Immer schrie er den Namen seines Feindes als herausfordernden Schlachtruf. „Ich bin nicht der Mann, der sich lange rufen läßt“, schloß der Graf. „Aber in diesem Falle mag ich mit dem braunen Halunken nicht freiwillig anbinden. Nicht aus Furcht, Beaumont – ich habe seinen Sohn getötet und nachher sein Brot gegessen!“ Kapitän de Beaumont wunderte sich über den Ernst in dem sonst so leichtsinnigen Gesicht des Grafen. Aber er verstand das Gefühl, das ihn abhielt, dem Hocein gegenüberzutreten. Daß Graf Boulbon nicht in den Verdacht der Feigheit geriet, dafür sorgte der Ruf, den ihm seine kühnen Taten errungen. – Die Beduinen wurden Schritt um Schritt immer weiter zurückgeschlagen. Der Kampf war grimmiger als vorher. Tagelang, vom frühen Morgen bis zum Abend, entwickelten sich Plänkeleien, Gefechte,
Kämpfe bis zu blutigster Erbitterung. Bis plötzlich über Nacht alle Kabylen verschwunden waren, als wären sie von der Erde verschlungen. – Erst am Tage darauf erfuhren die Franzosen durch Kundschafter, was geschehen war. Der ganze Stamm der Beni-Ramah, zu dem der Hocein mit seinem Weib gezogen war, weil dieser zu den unversöhnlichsten Feinden der Franken gehörte und die Unterwerfung weigerte, hatte seine Weiber, Kinder und Haustiere in eine große Felsenhöhle geflüchtet. Sie konnte an tausend Menschen bergen. Die „Grotten von Ferschiech“ hießen diese Felsenhöhlen der Kantara. Aber statt sich hier ruhig zu halten, trotzten sie auf die Sicherheit ihrer natürlichen Feste und schossen auf die Franzosen, die unter ihr im Grunde vorüberzogen. Pelissier geriet in maßlose Wut. Er ließ den Marsch der Kolonne sofort unterbrechen und lagerte vor dem Eingang der Grotten. Kundschafter hatten ihm verraten, daß die Grotte nur zwei Zugänge hatte, beide nur schmale Felsspalten. Vorn lagen beide Eingänge übereinander, auf der Rückseite des Berges nur ein Paar enge Spalten, die leicht mit Felsstücken, Steinen und Ästen zu verstopfen waren. Der Oberst stellte einen starken Posten davor. So hatte er sie wie eine Maus in der Falle. Als die Kolonne sich gelagert hatte, schickte der Oberst einen Unterhändler an den Feind, einen Offizier, der das Arabischer fertig sprach. Er ließ sie wissen, daß sie sich ergeben oder alle sterben müßten. Die Antwort waren Flintenschüsse, die
einen Begleiter des Unterhändlers tot zu Boden streckten und ihn selber verwundeten. Pelissier tobte. Alle Grausamkeit, alle eiserne Herrschsucht, die später auch im Krimkrieg diesen französischen Offizier berüchtigt machte, flammte vor dem tapferen, todesmutigen Widerstand freigeborener und verachteter Kinder der Wildnis auf. Die halbe Truppe mußte sich zerstreuen und was auf eine Meile in der Runde nur irgend zum Brennen tauglich war, abhauen und sammeln. Es wurden Reisigbündel gemacht, und der Wall, der sich trotz der Flintenschüsse der Araber vor dem doppelten Eingang türmte, reichte bald bis über die obere Felsspalte hinauf. Sie wußten, was ihnen bevorstand. Von Zeit zu Zeit erschien einer ihrer Krieger in den Öffnungen, schoß seine lange Flinte ab und stieß Verwünschungen gegen das Volk der Franken aus. Oberst Pelissier gab den Befehl zum Anzünden des ersten Holzwalles. Bald erhob sich die züngelnde Flamme und leckte an den dürren Reisern mit ungeheurer Schnelligkeit empor. Die Zephire, mit allen Kniffen und Quälereien vertraut, hatten Kamelmist und stinkende Kräuter zwischen die Reisigbündel gehäuft. Ein erstickender Qualm erhob sich und wurde von dem Luftzug gerade in den Eingang der Höhle getrieben. Geheul drang durch diesen Rauch, Gebrüll von Tieren, Hohngeschrei von Weibern und Kinder, wilde Verwünschungen. Die meisten Offiziere standen schweigend, auf ihre Säbel gestützt, in einiger Entfernung. Die
Soldaten, das Gewehr neben sich, hatten sich ringsumher gelagert und rissen Witze über die Unglücklichen. Wie Teufel liefen die Zuaven vom Regiment Pelissiers umher, stocherten die Flammen und schleppten immer wieder frische Reisigbündel herbei. Für den Oberst war ein Zelt aufgeschlagen worden. Nachdem er den Befehl zum Anzünden der Holzwälle erteilt hatte, zog er sich dahin zurück. Der Posten hatte strengen Befehl, niemanden zu ihm zu lassen, als einen Adjutanten, der von Stunde zu Stunde Bericht brachte. Gegen Sonnenuntergang waren die Holzstöße in Brand gesetzt worden. Das Feuer brannte die ganze Nacht. Aber bei dem geringen Luftzug drang der Dampf nur langsam in die Öffnungen der Höhle. In den ersten zwei Stunden verhöhnten die Eingeschlossenen ihre Belagerer. Sie kamen wiederholt an die Öffnung, stießen Schmähungen aus und schossen ihre Flinten und Pistolen ab. Endlich drang der Rauch dichter und dichter in die Höhle – die ausgedehnte Grotte begann sich zu füllen. Dann hörten die Belagerer das Brüllen der Stiere, das Blöken der Schafe, das unruhige Gewieher der edlen Pferde, die von den Arabern als ihr größter Reichtum mit in die Grotten geführt worden waren. Zwischen das Brüllen der Tiere mischte sich bald das Klagegeschrei und das Stöhnen von Menschen.
Es war das Geschrei der Klageweiber, die am Totenlager standen; ein Geschrei, daß selbst die Nerven der rohesten Krieger erbeben machte. Wieder vergingen zwei Stunden. Die Wachen am Feuer, die mit dessen Unterhaltung beauftragt waren, lösten sich alle Stunden ab. Graf Aimé Boulbon, in seinen Burnus gehüllt, hatte sich unter einem Felsen auf den Boden geworfen. Es mochte eine Stunde vor Sonnenaufgang sein, als er durch Schüsse geweckt wurde. Aber sie waren nicht auf die Belagerer gerichtet, sondern fielen im Innern der Höhle. Dazwischen mischte sich Geheul und Wehklagen und das Brüllen der Tiere. Die Franzosen glaubten anfangs, die BeniRamah wollten einen Ausfall machen und erwarteten sie alle Augenblicke durch die Wand von Feuer und Qualm vor den Ausgängen hervorbrechen zu sehen. Aber nichts geschah. Als die Dämmerung das nahe Aufsteigen der Sonne verkündeten, war alles in der Höhle wieder still – bis sich mit dem ersten Strahl des Tagesgestirns vom oberen Eingang her die rauhe und halberstickte Stimme des Muezzins mit dem Ruf zum Gebet erhob: „La Jllaha ila Allah, Mohammed rhassul Allah! – Es ist nur ein Gott und Mohammed ist sein Prophet!“ Der Graf hatte während der ganzen Nacht kein Auge zugetan. Jetzt, als die Hornisten die Reveille bliesen. Ging er entschlossen auf das Zelt des Obersten zu und verlangte, mit ihm zu sprechen.
Mehrere Offiziere waren dem Grafen gefolgt. Pelissier trat aus dem Zelt. „Was wünschen Sie, Mon sieu r le Comman d an t?“ „Oberst, es sind vielleicht noch Menschenleben zu retten!“ Pelissier musterte den Grafen Boulbon mit scharfem Blick. „Wo?“ „Wie können Sie fragen? – Drüben in den Grotten von Freschiech!“ „Ich kenne dort nur Feinde der französischen Armee!“ „Aber es sind zur Hälfte Weiber und Kinder!“ „So sind es Mütter von Feinden oder künftige Mütter.“ „Mon sieu r l e Col on el ,“ sagte langsam der Graf. „Ich glaube, es ist genug geschehen, sie in Schrecken zu setzen – wenn nicht bereits zuviel! – Ich bitte Sie im Namen dieser Herren, im Namen der Menschlichkeit, noch einmal einen Unterhändler abzusenden und sie zur Ergebung auffordern zu lassen!“ „Ich habe nicht Lust, noch weiter französische Soldaten zu opfern. Man hat auf die Unterhändler geschossen!“ „Dann erlauben Sie, Oberst, daß ich selber gehe?“ Pelissier sah ihn höhnisch an. „Wenn Sie den Mut dazu haben?“ Der Graf wurde blutrot.
„Sie vergessen, Oberst,“ sagte er stolz, „daß in meinen Adern das Blut Heinrichs IV. fließt – und nicht das eines Fleischerknechts!“ Die so verdoppelt erwiderte Beleidigung – denn der Großvater des Obersten Pelissier war ein Schlächter – schien ihn sehr gleichgültig zu lassen. Seine Grobheit war schon damals sprichwörtlich, und er war gewohnt, auch sein Teil einzustecken. „Bah!“ sagte er, „Sie haben recht. Es kann im Grunde nur einen Offizier kosten – und das macht nichts als eine Beförderung! – Gehen Sie denn, Mon sieu r l e Comman d an t! – Aber merken Sie sich, daß ich Sie im Auge halte!“ Graf Aimé drehte sich ohne ein Wort der Entgegnung um und schritt nach dem Feuerwall. Auf seinen Befehl rissen mehrere Leute vom Genie-Korps eine Bresche in die brennende Mauer gerade vor dem Eingang. Der Graf winkte einen Hornisten zu sich und ließ ihn ein Zeichen blasen. Bei der dritten Wiederholung erschienen drein Gestalten im obern Zugang der Grotte. Die Unterbrechung des Feuers hatte den Rauch und Qualm gelichtet. Die Gestalten im Eingang waren drei Männer in weißen Burnussen, deren Kappe sie zum Schutz gegen den Rauch tief über das Gesicht gezogen hatten. Aber diese Burnusse hatten jetzt ihre Farbe verloren. Sie waren schwarz von Rauch und an vielen Stellen zerrissen und blutbedeckt. Der Zustand der Männer war erbarmenswert. Sie konnten sich kaum noch aufrecht erhalten und lehnten halb ohnmächtig an der Wand oder auf ihren Flinten.
Dennoch glühten ihre Augen in blutigem Haß unter der Kapuze hervor, und ihre Gebärden waren wilde Drohungen. „Wo ist der Aga des Stammes, der Häuptling der Beni-Ramah, daß ich mit ihm rede?“ fragte der Graf, der jetzt genug Arabisch verstand, um die Unterhaltung selber zu führen. „Die Kugeln der Giaurs haben Mulei-Ramah getötet – der Scheitan vergelte es ihnen!“ sagte der kräftigste der Männer. „Was will der Kafir? Ich bin an seine Stelle getreten und werde seinen Tod rächen!“ „Dein Tod ist sicher – und der aller deiner Gefährten, eurer Weiber und Kinder, wenn ihr nicht die Waffen streckt und euch ergebt“, entgegnete warnend der Graf. „Beschme! – Auf meine Augen komme es!“ „Wenn du wahnsinnig genug bist, dein Verderben zu wollen, Kabyle,“ rief der Graf, „so werden deine Brüder und Freunde verständiger sein. Hört mich, ihr Männer und Frauen! Der Befehlshaber läßt euch Gnade angedeihen und schenkt jedem das Leben, Mann oder Weib, die herauskommen und Unterwerfung schwören!“ „Halt ein, Giaur! – Habt ihr Frankenhunde keine Ohren?“ „Wie meist du das?“ „Maschallah! – Ehe die Sonne aufging, haben die Tapfern der Beni-Ramah und ihre Freunde selber die Verräter getötet, die lieber sich den Christenhunden ergeben, als zur Ehre Allahs sterben wollten! – Kein Anhänger des Propheten wird lebend diese Pforte, die Allah selber gebaut
zum Schutz seiner Gläubigen, überschreiten, um sich in die Hände der Verfluchten zu liefern!“ „Wahnsinniger! – So opfert wenigstens nicht eure Frauen und Kinder!“ Der Maure lachte grell auf. „Unsere Frauen und Kinder? – Bei dem Barte des Propheten, Giaur, du erinnerst mich zur rechten Zeit daran! Einen Augenblick, und du sollst sehen, ob wir unsere Weiber noch zu opfern brauchen!“ Er sprang in die Höhle zurück und kehrte nach kurzem Verweilen mit einer Last im Arm zurück, die er bis an den Eingang der Höhle schleppte. Es war ein totes Weib. Die langen, schwarzen Haare schleiften auf dem Boden. In der von dem Feredschi, dem Schleier, entblößten Brust öffnete sich eine furchtbare, noch blutende Wunde, die das Horn eines der von dem Qualm wild gewordenen Stiere ihr gestoßen hatte. „Kennst du diese, Hund von einem Franken?“ rief der Araber wild. „Es ist Zulmah, mein Weib, die Mutter des Knaben, den du erschlagen und ich“ – er riß den Burnus von seinem Haupt – „ich bin Ibrahim, der Hocein, dessen Stamm du seiner Zweige beraubt! – Möge Allah mich an deinem verfluchten Geschlecht rächen und alle Ungläubigen töten, wie ich dich!“ Und mit Blitzesschnelle sein Pistol aus dem Gürtel reißend, sprang er mit gewaltigem Satz nieder aus der wohl zwanzig Fuß vom Boden gähnenden Öffnung und schoß im Flug seinen Waffe auf Aimé Boulbon ab.
Die Kugel verfehlte ihr Ziel. Sie zerschmetterte den Schädel des Hornisten. Der Hocein war in kauernder Stellung mitten zwischen die noch glühenden und dampfenden Reisigbündel niedergefallen. Im nächsten Augenblick schnellte er, statt der als nutzlos fortgeschleuderten Pistole jetzt den blitzenden Yatagan in der Faust, in leichtem Sprung wieder auf und stürzte sich auf seinen Todfeind. Aber seine Gewänder, durch die Hitze trocken wie ein Zunder, fingen Feuer. Als er sich gegen den Grafen warf, loderten die Flammen an seinem Burnus und seinem Hemd in die Höhe. Ein Schrei des Entsetzens ertönte ringsum, als diese doppelte Gefahr, das Feuer und das Eisen, den jungen Franzosen bedrohte. Mehrere Soldaten sprangen herbei. Aber zugleich feuerten die beiden Araber aus dem oberen Eingang der Höhle, und zwei der Jäger wurden verwundet; den dritten streckte ein furchtbarer Hieb des Yatagans zu Boden. Der brennende Hocein stand jetzt dicht vor dem Grafen und hob das blutige Eisen. „Zur Dschehennah mit dir, Hund von einem Mörder!“ Der Arm fiel nieder. – Aber fast im gleichen Augenblick erhob sich die Feuermasse des brennenden Kabylen vom Boden und flog wie ein flammender Drache durch die Luft – mehr als zehn Schritt mitten zwischen die Holzwälle hinein, die im gleichen Augenblick über ihm loderten und züngelten.
Der Graf stand unversehrt. Unbeweglich und finster blickte er in das Feuer, als seine Freunde herbeieilten, um ihn zu seiner Rettung zu beglückwünschen. Hastig wehrte er ab – es sah fast aus, als reue es ihn, den Kabylen, der ihm nach dem Leben strebte, getötet zu haben. Aber er hatte keine Zeit, sich dem Bedauern hinzugeben; denn der Araber schrie noch seinen letzten Todesschrei auf dem Scheiterhaufen, als hinter dem Grafen die rauhe Stimme des Oberstkommandierenden erklang. „Mon sieu r l e Comman d an t“, sagte der grobe Pelissier. „Sie werden sofort meinem Adjutanten Ihren Degen abgeben und sich vierundzwanzig Stunden als unter Arrest ansehen.“ Bestürzt sahen sich die Kameraden Boulbons an. „Darf ich fragen, warum?“ fragte der Graf kalt. „Parb l eu! – Weil Sie mit Ihrer verdammten Weichherzigkeit solchen Schurken gegenüber unnütz das Leben zweier Soldaten geopfert haben! – Füllt die Lücke wieder aus, Burschen, die dieser Herr euch machen hieß! Setzt das Ausbrennen fort!“ Graf Aimé gab ohne ein Wort seinen Säbel ab und schloß sich dem Troß an, wo er blieb, bis das Trauerspiel endete. Die Zuaven warfen aufs neue Reisig und Stroh zusammen und schürten die Flammen, die ihre erstickenden Dämpfe in das Innere der Höhle sandten. Das Brüllen der Tiere, das dumpfe Stöhnen der Männer, das Wehklagen der Weiber und das
Ächzen sterbender Kinder während der nächsten zwei Stunden war schrecklich. Dazwischen ertönte hier und da aus dem Innern der Grotten ein Schuß; später fanden die Franzosen, daß er nicht die Kugeln Verzweifelter waren, die es vorzogen, ein dem Tod geweihtes Leben durch eigene Hand rascher und schmerzloser zu enden, sondern ein Kampf von wenigen, die gleich dem Hocein den Ausgang versperrt hielten – gegen alle, die sich ergeben wollten. Die lieber auf die eigenen Freunde schossen, als ihnen gestatteten, dem Märtyrertod zu entrinnen und sich den Franzosen zu unterwerfen. Endlich, gegen ein Uhr morgens, war alles still; selbst die Wachen am Feuer, die rohen, wüsten Soldaten, wagten nicht laut zu sprechen. Sie verhielten sich stumm oder flüsterten nur. Als die Sonne über den Felsenkuppen der Dahra aufging, war es allen, als würde ihnen eine Last vom Herzen genommen. Erst um acht Uhr erteilte Oberst Pelissier der ersten Ingenieurkompagnie Befehl, in die Grotten zu dringen. Nach dem das Feuer davor längst verloschen war, und man die hintern verstopften Felsenspalten geöffnet hatte, trieb aus den Felsenspalten ein dicker, stinkender Rauch hervor. Pelissier sandte dem Grafen Boulbon den Säbel zurück. Aber der Graf verweigerte seine Annahme; er erklärte, daß er vor ein Kriegsgericht gestellt werden wolle. Unterdes drang eine Abteilung der französischen Soldaten in das Innere der Höhlen ein, und der Anblick, der sich den Schrecken und
Tod Gewöhnten bot, war so entsetzlich, daß mancher von ihnen laut aufschrie. Gleich am Eingang der Grotte lag das Weib des Hocein mit ihrer furchtbaren Todeswunde in der Brust – jetzt geschwärzt von dem dicken Rauch, der stundenlang hier hineingezogen war. Daneben, im wüsten Gedränge, Männer, den Yatagan und die Flinte in der Hand, wie sie einander in wildem Kampf angefallen hatten und doch zuletzt alle dem gemeinsamen Feind erlegen waren. Zwei halb verkohlte Stiere, deren Häupter die Araber mit ihren Burnussen umwickelt hatten, um die Augen der vom Feuer wütend gemachten Tiere zu blenden und sie die Menschen verfehlen zu lassen. Daneben kauerte die Leiche einer Mutter, die der Tod ereilt hatte, während sie ihr Kind gegen die Wut eines dritten Stieres verteidigte; denn noch hielt sie die Hörner des Tieres mit beiden Händen umfaßt. Ganze Haufen von toten Körpern drängten sich den Belagerern entgegen, vom Todeskampf schrecklich verzerrt. Ihrem Mund entquoll noch ein schwarzer, halb geronnener Blutstrahl. Der ehrwürdige Scheik des Stammes war, von der Wucht seines eigenen Renners, unter dessen Leiche die seine gefunden wurde, erdrückt. Zwei Liebende hatte der unerbittliche Tod Arm in Arm erreicht. Grauen, entsetzlichen Jammer prägte das unsägliche Leiden auf den Gesichtern der Toten. Einem Mädchen hatte sich der Huf eines wütenden Hengstes blutig in die Stirn eingedrückt. Dem Tier, das, im eigenen Todeskampf wahnsinnig um sich tretend, ihren Tod verursacht hatte, ruhte die Araberin zur Seite. An vielen Stellen mußten die
Flammen in die Grotten eingedrungen sein und die Kleider der Unglücklichen ergriffen haben; denn Haufen verkohlter Gebeine und gräßlicher Überreste grinsten aus allen Ecken. Im tiefsten Winkel der Höhle hockte die erstickte Leiche einer alten Frau, die noch einen Krug Wasser an ihren Mund zu halten schien. Ihre Arme waren auf einen Felsvorsprung gestützt. Das graue Haar hing in schlaffen Strähnen über ihr Gesicht. So hatte sie der Tod erreicht, als sie eben durch Flammen und Rauch, von versengendem Durst gepeinigt, das bisher sorgfältig versteckte, labende Naß an ihre welken Lippen bringen wollte. Pferde und Männer, Frauen und Lämmer, Kinder und Ziegen, Waffen und Gewänder, alles lag verbrannt, versengt, eingeäschert in grauser, wahnsinniger Unordnung auf dem vom Rauch geschwärzten Boden. Kein Laut, der von einem geretteten Leben zeugte. Kein Wort der Klage oder der Rache aus diesen für ewig geschlossenen tausend Lippen! Der Stamm der Beni-Ramah war vernichtet! – Graf Aimé de Boulbon blieb noch längere Zeit in Afrika und focht auch noch unter dem späteren Marschall St. Arnaud. Viel grausame, blutige Taten düngten den Boden Algeriens für die französische Kolonisation, aber keine war so entsetzlich und unbarmherzig wie die Nacht der Felsenhöhlen von Kantara. Noch lange widerstrebten die Kabylen der französischen Herrschaft, und die Seele des immer wieder emporlodernden Aufstandes, der kühne Freiheitskämpfer Abd el Kader, bereitete Frankreich
noch bis zum Jahre 1847 große Schwierigkeiten. Am 22. Dezember 1847 wurde er von den Franzosen gefangen. Nach längeren Aufenthalten in Toulon, Schloß Pau und Amboise wurde er 1852 wieder in Freiheit gesetzt. Er ließ sich zu Brussa in Kleinasien nieder, verließ es nach dem Erdbeben von 1855 und lebte dann in Damaskus. Bei der Christenverfolgung im Sommer 1860 nahm er sich der Verfolgten an. Er starb erst 1883, am 26. Mai, zu Damaskus.
Das Blut Schamyls
1
DAS BLUT SCHAMYLS
Immer wieder peitschte der Wind düstere Schneewolken an dem matten Glanz des Mondes vorüber. „Hui – hui!” Peitschenknall Dezemberabend.
drang
durch
den
trüben
Auf einer langen, straßenähnlichen Lichtung am Saum eines der ungeheuren Urwälder, die noch große Flächen der Ukraine und Wolhyniens bedeckten, flog ein polnischer, dreispänniger Schlitten über die Schneedecke. Ein alter Mann, straff, militärisch, mit noch jugendlich feurigem Blick und weißem Haar, hielt seine Begleiterin sorgsam gestützt: ein junges Mädchengesicht, liebreizend und zart, blickte aus den Kragen, Tüchern und Hüllen heraus. Auf dem Vordersitz des Schlittens, neben dem Postillion, saß ein Diener – ein Mann von mittleren Jahren, die weiße polnische Mütze über die Ohren gezogen. „Das Wetter will mir wenig gefallen, Herr Graf”, wandte sich der Diener an den alten Herrn, den Grafen Lubomirski. „Ehe eine Viertelstunde vergeht, werden wir Schneetreiben haben. Und dieser Wald scheint kein Ende zu nehmen.” „Hast du den Postillion gefragt, wie weit es noch bis zum Schloß des Fürsten ist?” „Drei Stunden, Herr Graf. Wir werden vor elf Uhr in keinem Fall ankommen – wenn – wir überhaupt 1
Diese Erzählung war in den Erstausgaben Bestandteil des Bandes II „Die Reveille der Völker“, hier als Kapitel 4 unter gleichem Titel
ankommen.” „Wie meinst du das, Bogislaw?” Der Diener schwieg einige Augenblicke; dann sagte er auf deutsch: „Die Schneefälle sind gefährlich in diesen Wäldern, Herr Graf; wir könnten auch auf Wölfe stoßen. Die ganze vorige Woche war harter Frost. Das bringt die Bestien von den Karpathen und aus den Sümpfen her.“ Graf Lubomirski beugte sich besorgt vor. „Ich habe selber schon bedauert, nicht in Owrucz geblieben zu sein”, sagte er gleichfalls deutsch, das seine Nichte Wanda nicht verstand. ”Doch hatte ich dem Fürsten Lubienski zu heute meine Ankunft angezeigt, um morgen mit ihm das heilige Christfest zu feiern. Es bleibt uns nichts übrig, als so rasch wie möglich vorwärts zu kommen. Frage den Postillion, ob es denn keinen Halteplatz gibt bis zum Schloß.“ Nach einer kurzen Unterredung berichtete Bogislaw, daß zwar ein Gehöft, ein Krug für die Holzfäller, eine Meile weiter seitab im Wald liege; doch sei es besser, den geraden Weg zu verfolgen.
„Was fürchten Sie, Oheim?” fragte jetzt die Gräfin Wanda. ”Haben wir uns vielleicht verirrt?” „Nein, mein Kind”, beruhigte der Graf. ”Es ist kein Grund zur Besorgnis vorhanden. Der Weg führt geradeaus durch die Lichtung und ist kaum zu verfehlen.” Ein furchtbarer Windstoß, der die riesigen Stämme zu entwurzeln drohte, erschreckte das junge Mädchen. Bald brach das gefürchtete Unwetter los. Die Wolken entluden sich in einem dichten Schneegestöber. Binnen wenigen Minuten waren die Reisenden und ihr Fuhrwerk in einen weißen Mantel eingehüllt. Die Flocken fielen so dicht, daß man rechts und links die dunkle Baumwand nicht zu erkennen vermochte. Man mußte die Pferde ihrem Gefühl überlassen.
Das tolle Wetter dauerte eine halbe Stunde, von einzelnen heftigen Windstößen unterbrochen; dann begann es nachzulassen und sich aufzuklären – es verzog sich, so rasch es gekommen war. Trotz allen Anstrengungen der Pferde hatten die Reisenden während des Wetters nur wenig Weg gewonnen. Nach kurzer Zeit erklärte der Postillion, er wisse nicht, ob sie noch auf dem rechten Weg seien. Das Schneegestöber hatte jede Spur verdeckt. Vor ihnen breitete sich im Mondschein, der wieder klar und hell vom Himmel strahlte, noch immer eine Lichtung aus. Dem Zweifel und der Beratung wurde ein kurzes Ende gemacht. – Ein noch entfernter klagender, heulender Ton verzitterte über dem gespenstischen Wie? der Waldebene. Bei diesem Laut spitzten die ermüdeten Pferde die Ohren und setzten sich, ohne Antrieb von Zügel und Peitsche, wieder in Galopp. „Haben Sie gehört, Oheim?” fragte Wanda freudig. „Wir sind Wohnungen nahe. Das war das Heulen eines Hundes.” Der Graf antwortete nicht; aber er nahm unter der Decke des Schlittens zwei gesicherte Jagdgewehre hervor und reichte das eine dem Diener Bogislaw. „Ehe zehn Minuten vergehen, werden wir die Bestien auf dem Hals haben.” Diesmal hatte er polnisch gesprochen. „Um Gott, Onkel – was gibt’s?” „Nichts von Bedeutung, Wanda; einige Wölfe auf unserer Spur. Wir werden sie mit blutigen Köpfen zurückschicken.” Wanda war Polin, in Warschau erzogen. Sie kannte aber doch die Gefahren der Wälder ihres Vaterlandes. Entsetzt umklammerte ihre Hand den Arm ihres Onkels. „Wir sind verloren, wenn uns die Wölfe in dieser
Wildnis erreichen!” Als solle ihre Furcht bestätigt werden, erscholl dicht zur Seite des Schlittens, am Waldrand, ein durchdringendes Geheul. Ein dunkler Körper schoß aus dem Schatten der Bäume über die helle Fläche des Schnees und sprang dem linken Handpferd an die Kehle. Ein Knall – der Wolf stürzte; Bogislaw war beim Anblick der Gefahr vom Schlitten gesprungen und hatte dem Wolf den Kopf zerschmettert. „Vorwärts! Vorwärts!” Er schwang sich schnell wie ein Gedanke auf seinen Sitz zurück. Die Pferde, die scheuend vor dem unerwarteten Angriff kaum einen Augenblick angehalten hatten, brausten davon. Lautes Geheul drang hinter ihnen drein. Als Graf Lubomirski sich umwandte, sah er einige hundert Schritt entfernt eine dunkle, bewegliche Masse auf der Schneefläche hinter ihnen herjagen. Feurige, hüpfende Punkte glühten gleich Johanniskäfern aus dem dunklen Knäuel. „Lade schnell, Bogislaw! – ich halte sie in Respekt!” befahl der Graf. ”Ich habe so manches Mal meine Flinte auf die Bestien im Bialowitzer Wald abgefeuert, daß ich wohl auch heute noch mein Ziel finden werde.“ Wanda barg ihr Gesicht im Pelz. Bald knallte neben ihr die Büchse des Grafen. Schmerzgeheul tönte aus dem Rudel. „Sie werden einige Minuten zögern und ihren Gefährten verzehren”, sagte Bogislaw. ”Ich kenne das Geschmeiß – hab` oft mit ihnen zu tun gehabt, als ich noch Büchsenspanner und Jäger beim seligen Grafen war.” Nach kurzer Zeit indes waren die Wölfe wieder hinterdrein. Noch zweimal schoß der Graf mit gleichem Erfolg. Aber der Fall der getroffenen Wölfe vermochte nur wenige Augenblicke die Verfolger aufzuhalten und
zurückzuscheuchen. „Jesus Maria, ich sehe Licht!” Der Ruf der jungen Gräfin ließ die Männer herumfahren. „Es ist das Schloß oder ein Gehöft – in einer Viertelstunde sind wir dort. – Hölle und Teufel, was ist das?” Der Diener Bogislaw beugte sich vorwärts. „Die Bestie hat das Pferd schwerer verletzt als ich dachte – es stürzt! – Herunter, Postillion! – Rasch! rasch! – Schneide die Stränge los, ehe sie uns einholen! – Es gilt Tod und Leben!” Er stieß den Zitternden fast mit Gewalt vom Bock und drückte ihm das Messer in die Hand. Er selber mühte sich, die Zugstränge des Handpferdes zu lösen. An einer Halsarterie verletzt, war es nur von der Furcht getrieben worden, so lange auszuhalten. Jetzt war es zusammengebrochen und schlug wild um sich. „Den Vordersten, Herr Graf, den Vordersten!” Wieder knallte die Büchse. Der Leitwolf sprang in die Luft und fiel. Aber an ihm vorbei jagte die Meute. – Rechts und links am Schlitten vorüber glitten zwei große Wölfe; der eine fuhr am Vordersitz hoch. Gleich feurigen Kugeln glühten die Augen. Aus dem weitgeöffneten Rachen lechzte die Zunge. Laut schrillte der Angstschrei der Gräfin Wanda. Graf Lubomirski suchte mit dem Büchsenlauf die Bestie zurückzuhalten. In diesem Augenblick gelang es Bogislaw und dem Postillion, die Stränge abzuschneiden. Als die beiden Pferde sich von der hemmenden Last befreit fühlten, sprangen sie vorwärts und rissen dabei den noch an ihrem Vorderzeug beschäftigten Postillion zu Boden. Bogislaw hatte kaum Zeit sich auf die Deichsel zu schwingen und sich festzuklammern, als der Schlitten zwei schwere Rucke erhielt – er schnellte über
Hindernisse hinweg, daß die Insassen fast hinausgeschleudert wurden. Dann sauste das Gefährt wieder über die Fläche dahin. Ein wilder Angst- und Schmerzensruf gellte auf – das wütende Geheul der Bestien antwortete. Alles geschah blitzschnell; erst jetzt bemerkten der Graf und Bogislaw den Wolf, der sich, halb erschrocken, noch immer am Schlitten festklammerte, ohne durch die rasche Fahrt zum Angriff kommen zu können. Noch mit dem langen Messer bewaffnet, fuhr im Nu die Faust des früheren Jägers nach dem Rachen der Bestie. Man hörte das Knirschen des Stahls an dem harten Kiefer und den Zähnen; der Wolf ließ los und stürzte rücklings in den Schnee. Die beiden Pferde jagten toll dem sich rasch nähernden Lichtschein entgegen. Mühsam gelang es Bogislaw, ihrer mit den Zügeln, die er zum Glück um die linke Hand geschlungen hatte, wieder Herr zu werden. Erst jetzt wagte Gräfin Wanda den Kopf zu heben. Scheu blickte sie umher. „Um Gottes willen, Onkel – Bogislaw – der Postillion?” Die beiden Männer antworteten nicht. Bogislaw peitschte die Pferde. Wanda brach in Tränen aus; das Zurückbleiben der Wölfe und ihr Geheul ließen sie ahnen, welchem entsetzlichen Opfer sie die Rettung verdankten. Vor dem Gehöft mitten im Wald, dessen Lichtschein sie bemerkt, bewegten sich Kienfackeln. Lautes Rufen verkündete die Nähe von Helfern in der Not. Einige Augenblicke später umringten sie mehrere Männer, mit Stangen und Äxten bewaffnet. Bewohner des düsteren Waldes, die das wiederholte Schießen von dem wärmenden Herd in der elenden Waldherberge weggelockt hatte. Der Schlitten hielt vor dem Hoftor. Das Heulen der Bestien, die sich außer dem
Lichtkreis der Fackeln hielten, verkündete ihre Wut:, daß ihnen ihre Beute entgangen war. Es war offenbar ganz nutzlos, Menschenleben zu gefährden bei einem Versuch, den armen Postillion zu retten. Ehe der Schlitten noch den dritten Teil des Weges bis zum schützenden Haus zurück- gelegt hatte, mußte jedes seiner Glieder zerrissen sein. Dennoch – als der Graf und Bogislaw kaum die noch immer zitternde Wanda in den großen Raum getragen hatten, der Flur und Küche des ärmlichen Gebäudes bildete, wandte er sich auf ihre Bitte sogleich an die Leute, die mit stumpfer Neugier umherstanden. Er nahm eine Handvoll Silber aus seiner Börse und bot es ihnen für die Aufsuchung des Verunglückten. Als die Männer das Silber sahen, das der Graf mit so unvorsichtiger Freigebigkeit verschenkte, wanderten ihre dunklen Augen von einem zum andern. Sie erklärten sich bereit, und drei machten sich mit frischen Kienspänen und Äxten auf den Weg. Nur der Wirt, eine grobe, vierschrötige Gestalt mit dem finstern tückischen Aussehen der niedersten Slawenrasse, blieb im Haus bei den unerwarteten Gästen.
Die Hütte, ein mit Sumpfbinsen gedecktes, einstöckiges Gebäude von Lehm und Holz, bot ein trauriges Bild von Dürftigkeit, Unordnung und Schmutz. Der größte Teil war für Pferde, Rinderund Schweineherden eingerichtet, die von den Hirten der Gegend hierhin zur Sicherung gegen Kälte und Raubtiere getrieben wurden. Für diese und die Holzschläger, ein armseliges Geschlecht von Leibeigenen, war ein Teil des Hauses zum Krug eingerichtet. Ein halb verfallener Bretterzaun umgab das Hauptgebäude und zwei Aufbewahrungsräume für die Futtervorräte. Die
Küche nahm den größten Teil des einen Flügels ein. Sie war rechts und links von Verschlägen begrenzt. Im Kamin brannten dicke Kloben von Holz und verbreiteten Licht und Wärme. Die Wände klafften in zahllosen Spalten, durch die der Wind pfiff. Solch träge Vernachlässigung inmitten aller Hilfsquellen war eine niederdrückende Eigenschaft der ärmeren polnischen Schichten. Mit dem zehnten Teil der Arbeit, die der Pole darauf verwendet, das Holz zum Brennen herbeizuschaffen, würde man das Haus dauernd in festen, wohnlichen Stand setzen. Der Arme lässt ruhig seine Hütte verfallen, bis ihr Einsturz ihn endlich zwingt, eine neue zu bauen. In einem großen Kessel auf dem Feuer kochten zwei Frauen, Mutter und Tochter, das Abendbrot: Speck und Grütze. Erst auf eine handgreifliche Ermahnung des Vaters bequemten sie sich zur Bedienung der jungen Gräfin. Der Wirt blickte finster und trotzig. Er trug einen schmutzigen Schafspelz, die fettglänzende Mütze bis über die Ohren heruntergezogen. Dennoch lag bei aller Roheit in seinem Wesen eine kriechende Höflichkeit gegen den vornehmen Gast, ein Belauern jeder Bewegung. Bogislaw schaffte aus dem Schlitten Decken und Mäntel herbei und trug sie nach dem durch einen starken Holzverschlag von der Küche getrennten Raum, der von den Weibern auf Verlangen des Dieners schnell von altem Gerät und Holz gereinigt wurde. Hier war man wenigstens entfernter von dem Schmutz der Tiere auf der anderen Seite.
An ein Weiterkommen in dieser Nacht war nicht zu denken. Die Pferde hatte der rasende Lauf zu Tode erschöpft. Und der Wirt versicherte sie, daß sie von der rechten Straße ab und auf einen Nebenweg geraten waren. Im Dunkel der Nacht hätte man unter zwei Stunden das Schloß des Fürsten Lubienski nicht zu erreichen vermögen – selbst wenn man der Gefahr durch die Wölfe hätte trotzen wollen. Es blieb nur übrig, den Tag hier zu erwarten. Gräfin Wanda wärmte sich, müde und zerschlagen, am Feuer. Bogislaw bereitete aus seinen Vorräten Tee. Das glänzende Silbergeschirr erregte die schlecht verhehlte gierige Aufmerksamkeit der Hüttenbewohner. Indes suchte der Graf von dem Wirt ein Bild über die Bewohner der Gegend, die Ansichten und die Stimmung des Volkes zu erhalten, stieß aber auf hartnäckiges Ausweichen, von dem er nicht wußte, ob es Trotz und Verstellung oder angeborene Dummheit war. Endlich gab er die unnütze Mühe auf. Nach einer Stunde etwa kehrten die ausgeschickten Männer – zwei Söhne des Wirts und ein fremder Holzschläger – zurück. Von dem unglücklichen Postillion hatten sie nur Knochenund Kleiderreste gefunden, so vollständig war von den Wölfen das gräßliche Werk getan. ”Aber die Büchse? – Ich verlor im letzten Kampf das Gewehr. Es muß sich auf dem Platz gefunden haben?” fragte Bogislaw. Die Männer schauten einander an und verneinten die Frage. Der eine meinte, die Wölfe hätten die Büchse vielleicht unter den Schnee
gestampft, oder sie sei später vom Schlitten gefallen. Man werde sie morgen bei Tageslicht leichter finden. Dieser Meinung trat auch der Graf bei; sein Diener schüttelte aber bedenklich den Kopf und erklärte, er wisse ganz gewiß, daß er das Gewehr bei dem augenblicklichen Halt durch das Stürzen des Pferdes verloren habe. Ohne weiter zu antworten, setzten sich die Männer in einem Winkel der Küche zusammen, um ihr Abendbrot zu verzehren. Der Graf fügte eine Flasche Rum aus seinem Vorrat dazu. Die Leute schienen von der Gegenwart der vornehmen Gäste bedrückt; sie sprachen wenig und nur flüsternd. Dagegen bemerkte der mißtrauische Bogislaw, daß hin und wieder einer oder der andere auf einen Wink des Wirtes das Haus verließ, und draußen mit ihm heimlich zu sprechen schien. So verging eine zweite Stunde. Die Reisenden machten sich bereit, ihr Nachtlager aus Pelzen und Mänteln einzunehmen, als am Eingang des Gehöfts ein Ruf erscholl. Mit finsterem Gesicht trat der Wirt zur Tür: „Niech cie djabli wezma! – Der Teufel mag dich holen! – Ich kann keine Leute mehr beherbergen, sie müssen weiter!” Aber schon waren auch der Graf und sein Diener an die Tür getreten. Draußen hielten zu Pferd, in Mäntel gehüllt, ein Ulanenoffizier und sein Bursche. Der noch junge Offizier sprang vom Pferd. Er warf den Zügel einem der Männer zu und befahl mühsam in polnischer Sprache, ihm behilflich zu sein, seinen Begleiter aus dem Sattel zu heben. Er habe bei einem Sturz den Fuß gebrochen.
Vergeblich erklärte der Wirt, er könne keine Herberge mehr geben – man möge weiterreiten. Der Offizier kümmerte sich wenig darum und drohte nur mit dem Kantschu, der statt der Reitgerte an seiner Faust hing. Der Graf erklärte, er werde sich gern jede Unbequemlichkeit gefallen lassen, um Hilfe zu schaffen. Endlich brachte man den Wirt und seine Söhne dazu, den Soldaten in den Küchenraum zu tragen. Man legte ihn auf einem Strohlager nieder. Der junge Offizier brachte die Pferde unter und schüttelte den Schnee vom Mantel. Dann trat er ein und begrüßte, höflich und bewundernd, Gräfin Wanda, die sich schon um den Leidenden gekümmert und ihn mit Tee erquickt hatte. Auf die Einladung des Grafen nahm der Offizier am Feuer Platz.Es entspann sich bald in französischer Sprache eine Unterhaltung. Zu seinem Erstaunen erfuhr Graf Lubomirski, daß der Offizier, der zur Garnison des Städtchens Olewsk gehörte, sich gleichfalls auf dem Weg zum Schloß des Fürsten Lubienski befand. Auf die Einladung des reichen Grundbesitzers sollte er mit einigen vorausgerittenen Kameraden die Festtage dort zubringen. Der Dienst hatte ihn verhindert, eher als am späten Nachmittag aufzubrechen. Vom Schneewetter im Wald überrascht, wurde durch einen Sturz über eine Baumwurzel sein Bursche so unglücklich vom Pferd geworfen, daß er den Fuß brach. Dadurch war der Offizier gezwungen, ihn langsam weiterzugeleiten, bis er in die Nähe des ihm von Ansehen bekannten Kruges kam.
Mit Verwunderung hörte der Graf, daß die Waldschenke nicht weit ab von der Straße zum Schloß des Fürsten lag. In einer starken Stunde konnten sie morgen an ihr Ziel gelangen. Die Wirtsleute des Kruges hatten sie also getäuscht... Der fremde Offizier hatte seinen Namen nicht genannt; dennoch erwies das Gespräch ihn als einen Mann von Bildung und Erziehung. Eine zufällige Bemerkung ergab, daß er erst seit drei Monaten hier in Garnison stand. Ein Zug von Schwermut erhöhte die Aufmerksamkeit des Grafen und auch der jungen Gräfin Wanda für ihn. Nur die Begeisterung, mit der er den russischen Zaren erwähnte, machte den Polen mißtrauisch und zurückhaltend. Endlich mußte man aber an die Ruhe für die Nacht denken. Gräfin Wanda war sehr erschöpft. Der Wirt schlug vor, der junge Offizier möge den Verschlag zur Linken der Küche benutzen. Da dieser jedoch von Schmutz strotzte, erklärte der Offizier, er zöge es vor, die Nacht am Herdfeuer zuzubringen. Der Jäger Bogislaw wollte ihm Gesellschaft leisten. Diese Anordnung schien dem Wirt wenig zu behagen. Er gab sich Mühe, dem Fremden die Kammer oder den mit Stroh und Heu angefüllten Boden anzupreisen. Als er sah, daß sie auf ihrem Willen bestanden, fügte er sich endlich und trieb die Weiber in die Kammer. Er selber wollte mit seinen Söhnen und dem fremden Holzhauer im Pferdestall schlafen.
Es war etwas in dem Wesen der Familie, was dem aufmerksamen Bogislaw nicht gefiel. Dennoch lag kein Grund vor, sein Mißtrauen zu äußern. Er bereitete für sich und den Offizier zu den Seiten des Herdes ein Lager. Als alle anderen den Raum verlassen hatten, streckten sich beide zur Ruhe nieder. In wenigen Minuten lag der junge Offizier in festem Schlaf. Bogislaw blieb wach und schmauchte seine Pfeife. Ein eigentümliches Geräusch erregte aufs neue seinen Verdacht. Ihm war, als hätte er einen Reiter vorsichtig den Hofraum verlassen und davonjagen hören. Bald darauf öffnete sich leise die Kammertür. Die Wirtin streckte vorsichtig den Kopf heraus, um nach den Schläfern zu lauschen. Sie schreckte zurück, als sie die glänzenden Augen Bogislaws auf sich gerichtet sah. Noch immer indes hatte sich nichts ereignet, das genügt hätte, den Verdacht des Jägers zu rechtfertigen. Dennoch wurde er von Minute zu Minute stärker, bis Bogislaw endlich beschloß, sich auf jeden Fall zu überzeugen. Die Herdglut warf nur mattes Licht über den weiten Raum. Da sich sein Lager im tiefen Schatten befand, gelang es ihm leicht, seinen Plan auszuführen. Er ließ den Pelz so liegen, als ruhe ein Körper darunter, wand sich daraus vor und schlich zu der Leiter, die zum offenen Eingang des Bodenraumes führte. Mit katzenartiger Vorsicht stieg er hinauf und verschwand im Dunkel.
Zur gleichen Zeit saßen im entgegengesetzten Flügel des Gebäudes – am Ende des Stalles, der an fünfzig kräftige Ukrainer Pferde, außer denen der Fremden, enthielt – der Wirt mit einem seiner Söhne und dem Holzfäller um eine dürftige Lampe. „Ich sage dir, Stenko,” murrte der Bauer, „deine Feigheit wird alles verderben. Warum den Segen, den uns die heilige Mutter von Czenstochau in unsere Armut geschickt, erst mit den anderen teilen? – Der Kranke zählt nicht. Und mit den dreien wären wir allein fertig geworden.” „Du redest, wie du’s verstehst, sobaczy synu1!” schalt der Wirt. „Der Teufel könnte sein Spiel haben. Entkommt einer, dann wären wir alle verloren. Sie sind bewaffnet und würden sich scharf wehren. Die Freunde, die Jarkow herbeiholt, werden mit der Heiligen Schutz hier sein, ehe der Tag graut. Dann liegen sie im tiefsten Schlaf. Wir brauchen auch Hilfe, um den Schlitten und die Pferde wegzuführen, damit wir alle zu Hause getroffen werden und kein Verdacht auf uns fällt.” „Es war gut, Vater,“ meinte der junge Bursche, „daß wir die Büchse beiseite gebracht haben. Die Narren glauben sie dort unterm Schnee – und hier ist sie wohl aufgehoben!” Er brachte das Gewehr unter der Spreu zum Vorschein und besah es von allen Seiten. „Verflucht, daß wir’s nicht brauchen können”, grollte der Alte. „Es ist eines von den neuen Dingern, ohne Schloß und Stein. Aber unsereins versteht damit nicht umzugehen. Schande, daß uns 1
Hundesohn
der Herr die Flinten weggenommen und uns bloß die Äxte und Messer gelassen hat.” „Eine Axt ist ein schönes Ding”, meinte der andere. „Wo sie hinschlägt, trifft sie sicher. – Die Brüder sagen, der russische Kaiser habe es befohlen, daß die Armen keine Flinten mehr besitzen sollen. Hei! Was war es für ein ander Leben, da wir vor vier Jahren Büchse und Säbel hatten und die Schlösser der Edelleute plünderten und die Köpfe der stolzen Herren einschlugen, als wäre der Donner des Himmels über sie gekommen!” „Du warst ein wilder Teufel, Jankowitsch. Es war gut, daß sie dich nicht fingen. Sie hätten dich am ersten Baum aufgeknüpft.” „Ei, ich weiß, daß du nicht besser warst, als du bei den Weißmützen standest unter Uminski. Boris hat mir’s oft genug erzählt.” „Tysiac byci maé mordowalo! – Mögen die Teufel deine Mutter quälen! – Sollten wir unser Leben denn für die Edelleute opfern, wenn es dabei nicht etwas zu plündern gegeben hätte? Ein Herr ist wie der andere. Drüben in Rußland haben sie’s wahrscheinlich noch besser als wir hier. Müssen wir nicht Holz fällen und das Vieh hüten in den Sümpfen – jahraus, jahrein? Und haben die Wölfe oder Bären ein Stück zerrissen, muß es unser Rücken nicht entgelten?” Sie schwiegen und sahen finster vor sich hin. „Ob Boris mit den Jungen kommen wird?” fragte der Holzfäller. „Warum sollt’ er nicht? – Ein solcher Fang findet sich selten. Er läßt einen Freund nicht im Stich,
wenn er auf seine Faust und sein Messer rechnet. – Reich’ mir die Wodkaflasche, Michael.” Der Branntwein machte die Runde. „Nun legt euch aufs Ohr und schlaft”, sagte der Wirt. „Vor dem zweiten Hahnenkräh können sie unmöglich hier sein. Und ich wüßte nicht, weswegen wir den Schlaf verlieren sollten. Wir haben morgen in der Früh genug zu tun, um alle Spuren zu tilgen und das Gut fortzuschaffen. Jarkow wird uns schon wecken, wenn er kommt.” Er warf sich auf die Streu. Die beiden anderen folgten seinem Beispiel. – Das Feuer des Herdes war vor dem Verlöschen und der Raum fast dunkel. Eine Hand berührte leise die Schulter des jungen Offiziers. An rasches Erwachen gewöhnt, fuhr er auf und griff nach dem Säbel. Doch die Hand legte sich rasch auf seinen Mund. Eine Stimme flüsterte an sein Ohr: „Still – es gilt unser Leben!” Der Offizier erkannte im Halbdunkel den Jäger Bogislaw, der sich lang an seine Seite legte. „Bleiben Sie still auf Ihrem Lager. Jede Bewegung könnte uns zu früh verraten. Ich traue den Weibern da drinnen nicht.” Der Offizier tat, was der Jäger verlangte. „Wir sind einer jener Banden in die Hände gefallen,” flüsterte Bogislaw, „die bei dem Aufstande von 1849 an der galizischen Grenze raubten und plünderten. Der Wirt hat seinen Sohn nach Genossen ausgeschickt, uns zu überfallen. Wie viele kommen, weiß ich nicht. Ich hab’ sie belauscht. Wir haben Zeit zur Vorbereitung. Sie
gedenken, uns erst im Morgenschlaf zu überraschen. „Das soll den Schuften nicht gelingen”, sagte der junge Offizier. „Sie werden sich blutige Köpfe holen. – Aber was hindert uns, ihnen zuvorzukommen? Wir sind drei gegen drei – und gut bewaffnet. Sie vermögen nicht, uns aufzuhalten.“ „Sie vergessen den Wald und die Wölfe. Ohne Führer werden wir uns schwerlich bei Nacht zurechtfinden und den Mördern vielleicht gerade in die Hände laufen. Auch hindern uns die Gräfin und Ihr Bursche dort an der Flucht. Hören Sie, wie er im Wundfieber stöhnt – wir können ihn doch nicht ihrem Messer überlassen!” „Aber was ist zu tun? – Wir wollen den Grafen wecken.” „Noch nicht, Herr. Wir müssen erst unseren Verteidigungsplan entwerfen. Ich weiß nicht, ob die Weiber da drinnen schlafen – jede Bewegung könnte uns verraten. Ich sehe, Sie haben Ihre Sattelpistolen bei sich.” „Sie sind geladen, und auch die meines Burschen. Aber wir haben keine Patronen!” „Tut nichts. Drinnen beim Grafen liegen Pulverhorn und Kugelbeutel, und die Jagdflinte des Herrn. Meine Büchse haben die Schurken gestohlen, aber sie nutzt ihnen nichts. Da sie weiter kein Gewehr haben, sind wir im Vorteil. – Ich denke, wir lassen den Grafen und die junge Gräfin noch ein paar Stunden ruhen und halten abwechselnd Wache, Herr. Wecken Sie mich in zwei Stunden, oder wenn Sie das geringste
verdächtige Geräusch hören. Vielleicht kommt mir im Schlaf ein guter Gedanke.” Er hob vorsichtig die Leiter ab, die zum Boden führte, und schob sie leise quer vor die Kammertür. Dann schlich er zu seinem Lager. Der Offizier, der zu seinem bedächtigen und mutigen Gefährten volles Vertrauen fühlte, beschloß, sich ganz seiner Einsicht zu fügen. Die Pistolen im Bereich der Hand, stützte er den Kopf auf den Arm und versank in tiefes Nachsinnen. Wohin führten ihn seine Gedanken? Wohin wanderte seine Erinnerung? – Bilder seiner Kindheit: Der mächtige Felsenhorst, auf dem der Adler nistet... wilde, abenteuerliche Gestalten im blitzenden Silberpanzer... Waffen... brausende Bergströme. Das Toben des Kampfes. Ströme von Blut. Er selber – als Knabe – emporgehoben von den Armen eines hohen, blassen Mannes mit langem, dunklem Bart und blitzendem Auge... Dann Nacht um ihn her, gerötet vom Flammenschein brennender Häuser; das Geheul der Stürmenden. Blitzende Bajonette – donnernde Salven. Dampf, Rauch, Blut, Feuer. – Tod und Gefahr ringsum! – Und wieder aus der frühesten Kindheit – liebliche, seltsame Bilder: Frauen, in dichte Schleier gehüllt, die Brust von dem weichen Leder des Berghirsches eng umschlossen. Funkelnde Steine und Geschmeide um Haar und Hals; am dunkeln Felsenhang die kletternde Ziege. Von hohen Bergwällen der Blick des spielenden Knaben, hinabtauchend auf Fels und Tal – und weit darüber
hin die silberglänzende Fläche des weiten Meeres. – Welches Land wuchs da in seiner Erinnerung? Ein Märchenland – oder das Land seiner Kindheit? Das freie Daghestan – das Land – Schamyls? – Dann die Erinnerungen seiner späteren Jahre: die Erziehung im Korps zu Petersburg; Jugendfreunde und Kameraden, der Zar, dem er Treue geschworen... Und nun sollte er hier vielleicht unrühmlich, ohne Namen, ohne Taten enden unter dem Beil eines Mörders? Vergessen werden unter dem Leichenhügel des Schnees? Zerrissen von den gierigen Bestien des Waldes, die seine Leiche aus der heimlichen Gruft scharrten... Und jäh wuchs ein lichtes, schönes Bild auf – vor wenigen Stunden zuerst geschaut; verlockend, reizend. Wanda, die junge Gräfin. Eine aufbrausende Kraft strömte durch seine Adern; er fühlte: die dunklen, schwärmerischen Augen Wandas würden ihn zu jeder Tat, jeder Anstrengung begeistern. So im Dahindämmern verrann Stunde auf Stunde... Es war Zeit, den Jäger zu wecken. Im Augenblick war Bogislaw munter. Aber der junge Offizier war zu aufgeregt, als daß er Schlaf zu finden vermocht hätte. Er überließ Bogislaw, ohne sich einzumischen, alle Vorbereitungen; doch schaute er ihm aufmerksam von seinem Lager aus zu.
Bogislaw horchte erst am Eingang zur Kammer der Weiber. Dann untersuchte er sorgfältig die Haustür. Sie war ziemlich fest, aber ohne Verschluß. Nur ein starker Querbaum in Haspen konnte davor gelegt werden. Bogislaw hob ihn und hängte ihn ein. Dann baute er vor der Kammer der Frauen von den in der Küche aufgetürmten, großen Holzblöcken einen Wall, der bald halbe Manneshöhe erreicht hatte. Darauf schob er ein neues Scheit in das Feuer und fachte es wieder an. „Es wird gut sein”, sagte er leise, „wenn wir meine Herrschaft schlafen lassen, bis zum Augenblick der Gefahr. Der Graf ist ein alter Soldat – er wird auf dem Platz sein.” Die Uhr des Offiziers zeigte die vierte Stunde. Plötzlich ließ sich in der tiefen Stille draußen ein leises Geräusch hören. Bogislaw winkte seinem Gefährten. „Sie kommen”, flüsterte er. „Möge die Heilige Jungfrau uns schützen. Halten Sie die Bodenluke im Auge – ich werde die Tür nehmen. Nieder mit jedem, der einzudringen wagt!” Der Offizier faßte an der Wand, gegenüber der Bodenluke, Posten, der Jäger an der Tür, beide mit Kavalleriepistolen bewaffnet. Zwei kleine Fensterchen, wie sie in polnischen Hütten üblich sind, befanden sich links und rechts von der Tür – groß genug, um Licht und Luft hereinzulassen, aber zu eng, zum Einsteigen. Beide waren von außen mit Läden verschlossen – die kleinen
Fensterscheiben längst zerbrochen und mit Papier ausgeflickt. Auch die Bodenluke war zum Glück nur so groß, daß ein Mann gebückt hindurchklettern konnte. Bogislaw hatte absichtlich nur spärlich das Feuer wieder aufgefrischt. Schwaches Licht durchdämmerte den Raum. „Wenn ich nur wüßte”, flüsterte der Jäger, „wieviel es sind! Es ist zu dunkel draußen, um sie zu zählen. Ich darf es nicht wagen, sie noch einmal wie vorhin zu belauern.” Das Geräusch hatte sich verstärkt. Man hörte deutlich, daß mehrere Menschen vorsichtig in das Gehöft kamen und am Haus entlang schlichen. Der Schnee, der unter ihren Sohlen knirschte, verriet sie. Dann war wieder alles still. – Mit verhaltenem Atem harrten Bogislaw und der junge Offizier. Ihre Mäntel lagen auf den verlassenen Lagerstätten. Sie konnten in dem matten Licht leicht fremde Augen täuschen. Sie selber standen im Schatten verborgen. Wiederum knirschte der Schnee – leise Schritte tappten heran – hielten an der Haustür. Jetzt vernahmen die Lauscher auch ein Geräusch auf dem Boden. In der Luke tauchte ein Gesicht auf – der Wirt. Der Offizier sah, daß seine Rechte ein kurzes, schweres Beil hielt. Die Linke tastete nach der Leiter. Sie suchte vergeblich. Der Kopf des Wirtes bog sich vor aus der Luke. Das Blut des jungen Ulanen fieberte. Seine Hand spannte sich um den Kolben
der Pistole. Aber Ruhe und Vorsicht galt hier mehr, als Mut und Tapferkeit. „Przekleçie! Die Hundesöhne haben richtig die Leiter weggenommen”, flüsterte oben eine Stimme. „Bleib du hier. – Die Weiber sollen uns öffnen. – Die beiden liegen am Feuer.” Der Kopf verschwand. Wieder eine endlose Pause. Der Jäger hörte an das Fenster der Kammer klopfen. Eines der Weiber antwortete. Kurzes Geflüster – ein Versuch, die Kammertür zu öffnen. Aber die Tür gab nicht nach. Der Holzwall hielt. Draußen ein unterdrückter Fluch. Der Wirt kam wieder an die Bodenluke – schaute sich um – und schickte sich an, hinunterzuspringen. „Zurück! – Bleib dort oben – oder ich schicke dir eine Kugel durch den Kopf!” Ein wütender Fluch antwortete. „Mögen die Teufel deine Mutter quälen! – Bin ich Herr in meinem Haus oder nicht? – Setzt die Leiter an. Ich muß hinunter!” „Bleib wo du bist, Schurke”, lachte der Jäger. „Wir wissen, was du willst und welch vornehme Gesellschaft du bei dir hast. So wahr ich an Gott und die Heiligen glaube – jeder, der diesen Raum vor Tagesanbruch betritt, ist ein Kind des Todes! Also troll’ dich! Laß uns in Frieden.” „Hundesohn! – Her mit der Leiter, Michael! Wir wollen doch sehen, ob sie uns aus dem eigenen Haus zu jagen wagen.” Eine Leiter schob sich durch die Luke. Der Wirt half.
„Hinunter, Michael; ich will sie von den Pferden zerreißen lassen, wenn sie es wagen, dir ein Haar zu krümmen. – Hinunter, Junge!” Der Sohn setzte den Fuß auf die erste Stufe der Leiter. Ein dritter Mann zeigte sich hinter ihnen. Kaltblütig hob der Offizier, der bis jetzt im Schatten gestanden, die Pistole; der Schuß krachte. Der junge Bauer öffnete die Arme, stieß einen Schrei aus und stürzte schwer von der Höhe herab, auf die Tenne des Küchenflurs. Gleichzeitig mit dem Schuß sprang Bogislaw unter die Luke und entriß die Leiter den Händen, die sie oben hielten. „Verflucht! – Ihr habt mein Kind erschossen!” kreischte droben der Wirt. Die kurze, schwere Axt flog durch die Luft. Aber Bogislaw und der Offizier bückten sich rasch; unschädlich sauste sie an ihnen vorbei und schlug an die Kammertür zur Rechten. Mit einem Stoß von innen prallte die Tür auf. Der Graf, seine Pistolen in der Hand – und hinter ihm, bleich und verstört, aus tiefem Schlaf geweckt, die Gräfin Wanda – standen auf der Schwelle. In der Kammer kreischten die Weiber – draußen lärmten die Männer, die sich verraten sahen. Ihre Axtschläge donnerten gegen Tür und Läden. Stenko, der Wirt, stemmte sich in der Luke, um in seiner Wut hinabzuspringen. Bedächtig hob sich der Arm des jungen Offiziers mit der zweiten Pistole und zielte nach ihm. „Zurück!” Der dritte, der mit Stenko auf dem Boden war, riß den Wirt von der Luke zurück. – „Hinunter zu den anderen!”
Sie verschwanden. Gräfin Wanda wies zitternd auf den Blutenden, der sich am Boden krümmte. „Um Gottes willen! – Was ist geschehen?” „Was bedeutet das alles, Bogislaw?” forschte der Graf. „Werden wir angegriffen?“ „Mein Verdacht hat sich bestätigt”, berichtete der Jäger kurz. „Wir sind in einer Falle. Der Wirt hat seine Helfershelfer herbei gerufen. – Wahren Sie uns den Rücken nach dem Boden zu, Herr Graf! – Hierher, Herr Leutnant!” Draußen zerschmetterten Axtschläge die Fensterläden und donnerten gegen die starke Tür. Stenko hatte den beutelustigen Genossen mitgeteilt, daß sie entdeckt waren. In ihrer Wut versuchten sie einen allgemeinen, heftigen Angriff. Der Ulanenleutnant sprang an das Fenster zur Rechten. Durch die zerbrochenen Scheiben langte eben ein Arm nach dem Riegel, um ihn aus den Haspen zu heben. „Sparen Sie den Schuß. – Den Säbel, den Säbel!” Der Offizier griff die eindringende Faust. Aber die schwieligen Finger öffneten sich und umklammerten die seinen. Die Kraft war stärker als die seine – sie zog seinen linken Arm aus dem Fenster fast bis an die Schulter hinaus. Zwei, drei Hände krallten sich draußen um seinen Arm. Er war völlig wehrlos. Da entriß Graf Lubomirski ihm den Säbel. Die Klinge fuhr dicht an seinem Kopf vorbei durch das Fenster. Der Stoß mußte getroffen haben. Ein Schrei schrillte auf – der Arm wurde losgelassen.
Zugleich knallte aus dem anderen Fenster ein Pistolenschuß Bogislaws. Die tollen Verwünschungen, das Schmerzensgestöhn draußen bewiesen, daß der erste Angriff blutig abgewiesen worden war – die Tobenden zogen sich zurück aus dem Bereich der Schußwaffen. Jetzt erst gewann Bogislaw Zeit, seinen Herrn zu unterrichten. Es war klar, daß der Angriff wiederholt werden würde. Bogislaw wollte aus dem Gepäck seines Herrn die Pulvertasche holen, um neu zu laden. „Ich kann sie nirgends finden – die Weiber müssen sie gestohlen haben!” Bogislaw klatschte sich ärgerlich auf das Knie. „Aber wir haben noch Ihre Flinte und die Pistolen, Herr Graf. Sie sind geladen. – Wer nimmt den Posten in der Kammer ein, damit die Schurken nicht hier durch das Fenster brechen?“ Es war die am wenigsten gefährdete Stelle; Bogislaw sah die junge Gräfin an, die neben dem Wirtssohn kniete. Der Verwundete hatte qualvoll gegen die innere Verblutung gekämpft; die Kugel war in die Brust gedrungen. Während des Kampfes an den Fenstern streckte sich der Leib und lag dann still und starr. Graf Lubomirski hob Wanda auf und führte sie nach der Kammer. Er konnte sie in ihrer Erschütterung nicht schonen. „Achte auf das Fenster! – Machen sich die Burschen daran zu tun, dann rufe uns!” Bogislaw und der Offizier trugen den aus seinem Fieberschlaf erwachten Soldaten an die Wand, gegenüber der Bodenluke.
Die Räuber hatten sich zurückgezogen und blieben unsichtbar. Es war noch Nacht. Nahe dem zweiten Fenster lag eine dunkle Gestalt regungslos auf der Schneefläche: der Angriff hatte ein zweites Menschenleben gekostet. Im Innern harrten die belagerten Männer; sie wechselten nur wenige Worte, immer aufmerksam, lauschend, schußbereit. Die Anspannung hielt alle ihre Sinne überwach. Es schien fast, als ob die Gegner das Grauen des Morgens abwarten wollten. Die Weiber in der Kammer hatten mehrfach versucht, die Tür zu öffnen. Seit einiger Zeit waren sie still geworden. Da vernahm das scharfe Ohr des Jägers ein neues Geräusch – als arbeite man vorsichtig an einer Wand. Plötzlich donnerten wütende Axtschläge an die Eingangspforte; zugleich sprengten aus dem Innern der Kammer gleich kräftige Hiebe die Tür in Stücke. Bogislaw hatte ähnliches erwartet. Die Tür zersplitterte – aber bis zur Manneshöhe lagen jetzt Stühle, Tische, Holzklötze aufgehäuft, die allen Anstrengungen spotteten. Durch die Zwischenräume der Verschanzung streckte der Graf mit der ganzen Kaltblütigkeit eines alten Soldaten sein Jagdgewehr und zielte auf die Angreifer. Aber der Hahn knackte nieder, ohne daß ein Schuß erfolgte. Er warf die Flinte zu Boden und drückte eine der Pistolen durch die Öffnung ab – vergeblich. Graf Lubomirski entging dem Stoß eines durch die Öffnung funkelnden, langen Messers nur durch eine rasche Seitenbewegung. Ein Aufschrei Wandas verkündete auch auf ihrem Posten Gefahr – der Ulanenleutnant war mit
einem Sprung an ihrer Seite. Ein Mann bemühte sich, durch die enge Fensteröffnung einzubrechen. Einige Säbelstöße trieben ihn zurück. Fast gleichzeitig knallte ein Schuß des Jägers durch ein Fenster. Wieder brach einer der Gesellen zusammen und schleppte sich stöhnend zur Seite. Zum zweitenmal wichen die Räuber – doch diesmal nur aus dem Bereich der Fenster. „Wir müssen zu Ende kommen”, knirschte der Wirt. „Der Tag graut. Es darf keiner von ihnen leben, sonst sind wir verloren! – Michael ist erschossen, Stephanowitsch tot, Boris verwundet. Wir müssen Rache haben – und sollte es unser letztes Blut kosten. – Drauf!” Er wollte aufs neue zur Tür; doch Boris, der Verwundete, riß ihn zurück. „Zum Boden!” raunte er. „Die Garben hinunter – und dann über sie her. Ich und Sarko halten die Tür.” Die andern begriffen. Sie eilten zum Aufgang, der in den Ställen zum Boden führte. „Es sind noch immer sechs mit dem Kerl, den ich gezeichnet habe”, sagte ärgerlich der Jäger. „Der Bursche wandte sich gerade um und bekam die Kugel nur ins Fleisch. – Doch, Herr – jetzt glaub’ ich, wird es ernst.” Graf Lubomirski hatte das Gewehr und die Pistolen untersucht. Aus den Läufen tropfte Feuchtigkeit. Die Weiber mußten die Gelegenheit benutzt haben, beim Aufschlagen des Nachtlagers in der Kammer Wasser in die Läufe zu gießen und die Pulverflasche zu stehlen. Er bewaffnete sich mit dem Säbel des verwundeten Ulanen.
„Das Tageslicht dämmert”, sagte der Leutnant. „Wenn wir uns noch eine Stunde halten! Sie werden es nicht wagen, den vollen Tag abzuwarten.“ Ein Ruf des Soldaten unterbrach ihn – er zeigte zur Bodenluke. Ein großer Bund von Schilf und Schobenstreu, von denen der Boden voll lag, füllte sie aus. Das Bund wurde von unsichtbarer Hand hinabgestoßen, und schon drängten sich von der Seite ein zweites und drittes schützend vor die Öffnung. Rasch fuhr die Pistole des Ulanenleutnants in die Höhe. Aber ein Hohngelächter begleitete den unschädlichen Schuß. Die Kugel hatte nicht durch den Garbenschutz zu dringen vermocht. Rasch hintereinander fielen zwei Bunde herunter, andere drängten nach. Alle begriffen den Plan der Elenden. Noch einige Bunde – und die Räuber konnten unbesorgt herabspringen und sie im Handgemenge angreifen. Der junge Offizier trat schützend vor die halb ohnmächtige Wanda. Seine Faust spannte sich fester um den Säbelgriff. Sein Blick blitzte fast zärtlich auf die angstvoll Kniende. Da durchfuhr ein glücklicher Gedanke den Jäger. Im Nu war er am Herd. Sein Fuß stieß die noch glühende Asche auseinander – er suchte einen halbverkohlten Brand. Noch ehe die nächste Garbe den Boden erreichte, flog er in die geöffnete Luke. Rasch ein zweiter, ein dritter. In den wutfauchenden Fluch knisterten Flammen. Und schon schlug drobend die volle Lohe empor. –
Das Feuer hatte die Schoben und das Gestreu, das um die Luke gehäuft war, erfaßt. Vergeblich waren alle Anstrengungen der Feinde, die Flamme zu ersticken. Gleich einer züngelnden Schlange kroch sie durch die trockenen Vorräte des Bodens hin. Kaum hatten sie Zeit, zurückzuflüchten bis zum Ausgang nach den Ställen. Qualm und Rauch erfüllten den langen Raum. Bogislaw rief die anderen zu Hilfe, die heruntergeworfenen Garben fortzuräumen, damit die aus der Luke sprühenden Funken sie nicht entzünden konnten. Der frische Morgenwind hatte unterdes das Feuer weiter angefacht. Nach kaum einer Viertelstunde stand fast das ganze Dach des langen Gebäudes – trotz der Nässe – in hellen Flammen. Pferde und Vieh rissen sich in den Ställen bei dem herabfallenden Feuerregen los und stürzten durch die von den Räubern offengelassenen Türen ins Freie. Sie irrten im Gehöft, vor dem lodernden Brand scheuend, umher, oder durchbrachen die Einhegung und flohen in den Wald. Die Wut der Betrogenen äußerte sich in tobenden Flüchen. Sie mußten sich jetzt für verloren halten; denn der Brand erregte sicherlich Aufmerksamkeit und entriß ihnen die Beute. Im Morgenlicht sahen die Belagerten, wie sie zwischen den stampfenden Pferden ziellos umherliefen und – nicht an ihre Rettung denkend – ratlos herüberdrohten zu den Männern, die ihrer Überzahl so glücklich trotzten. Aber die Lage der Verteidiger wurde jetzt immer gefährlicher und verzweifelter. Wenn auch der mit
Streu gefüllte Boden nicht über den Küchenflur hinlief, sondern mit einer Wand abschloß, so war doch diese zu schwach, um lange das Feuer aufzuhalten. Auch der Dachstuhl über der Küche geriet in Flammen. Nur wenige Augenblicke durften sie noch ohne Lebensgefahr in dem Raum verweilen. Es gab nur noch einen Entschluß: sich mit bewaffneter Hand Bahn durch die Gegner zu brechen. Die Ausführung war schwierig; drei Männer, wenn auch verwegen, aber ohne Feuerwaffen, standen einer doppelten Anzahl rücksichtsloser Feinde gegenüber und hatten noch das junge Mädchen und den hilflosen Kranken zu schützen. Aber einen anderen Weg zu ihrer Rettung gab es nicht. Bei hellem Tageslicht übersah der Adlerblick des jungen Offiziers die Gefahr – er erkannte rasch die letzte Hoffnung. Gerade dem Haus gegenüber, nahe am Eingang des Gehöfts, lag ein halb offenes Schuppengebäude. Dort war auch der Schlitten der Reisenden untergebracht. Konnte man diesen Schuppen erreichen, so vermochte man sich wenigstens mit größerer Sicherheit zu verteidigen. Einige Worte genügten zur Verständigung. Der Offizier und Wanda richteten den verwundeten Soldaten auf. Wanda legte seinen Arm um ihren Nacken und stützte ihn, daß er sich auf dem gesunden Fuß und einem Stock aus dem Holzhaufen langsam fortbewegen konnte. Der alte Graf, mit dem Säbel des Burschen bewaffnet, trat
an die linke, der Offizier an die rechte Seite. Der Jäger Bogislaw legte die Hand auf den Holzriegel – die Büchse des Grafen zur Seite; das Messer, das die Kehle des Wolfes durchschnitten, im Gürtel. Ein Krachen beschleunigte ihren Entschluß. Hinter ihnen brach ein Teil des Daches zusammen. Die Trümmer begruben die Leiche des Wirtssohnes. Rachejubel der Männer und Weiber erscholl draußen. Sie glaubten die Reisenden verloren. Bogislaw riß den Riegel zurück – die Tür flog auf. Über die Schwelle sprangen der alte und der junge Soldat. Hinter ihnen drein schwankte das Mädchen mit dem Kranken. Der Jäger deckte ihnen den Rücken. Der Schuppen, den sie sich zur Zuflucht ersehen, war kaum vierzig Schritt von dem brennenden Haus entfernt. Dennoch war der kurze Weg ein Kampf um das Leben. Einen Augenblick lang starrten die Räuber sie an, bestürzt über den kühnen Streich. Dann, auf Stenkos gellenden Ruf, stürzten sie von allen Seiten in wütendem Angriff auf die kleine Schar. Der Wirt führte einen schweren Axthieb nach dem Ulanenleutnant, der ihm den Säbel mitten durchbrach. Ein anderer warf sich zwischen den Offizier und seine Schutzbefohlene, und riß Wanda von dem Verletzten, der vergebens einen Schlag mit dem Stock nach ihm führte. Er wurde zu Boden geworfen. Boris, der von dem Jäger an der linken Schulter verwundet war, hatte mit einem Gefährten den Grafen angegriffen. Bogislaw wehrte sich mit dem Kolben gegen die beiden letzten.
Der Graf verteidigte sich am glücklichsten. Ein scharfer Hieb seiner alten, kampfgewohnten Faust lähmte im ersten Augenblick schon den rechten Arm seines zweiten Bedrängers. Seine scharfen Hiebe und Stöße wehrten den riesigen Boris ab. „Zum Teufel”, rief der Graf. „Das Gesicht kenn’ ich! Will ein Pole seinen Obersten morden, unter dem er bei Grochow und Ostrolenka gekämpft hat?” „Niech cie djabli wezma! – Möge der Teufel dich holen!” fluchte Boris. „Ich hab’ dich längst erkannt! – Verderben über euch Edelleute! – Nieder mit dir, alter Rebell!” Er unterlief den Greis und umschlang ihn. Beide rangen miteinander, der eine geschwächt durch seine Jahre, der andere durch die Wunde. Bogislaw kämpfte verzweifelt gegen zwei wilde Burschen. Der Offizier hatte seine zersplitterte Waffe fortgeworfen. Er packte seinen Angreifer und umfaßte ihn. Ein Todesschrei hielt die fliehende Wanda auf – sie sah, wie das Beil des Räubers, der sie von dem Soldaten gerissen, den Kopf des Verletzten spaltete. Die Augen vor dem grauenhaften Anblick mit den Händen bedeckend, sank sie in die Knie. Im nächsten Augenblick war der Mörder an ihrer Seite und schwang die Axt über ihrem Kopf. Mit einer letzten Anspannung jeder Muskelfaser schleuderte der Ulanenleutnant den Wirt von sich. Gleich dem Tiger, der sein Junges verteidigt, setzte er mit einem Sprung in die Nähe der Gräfin. Seine Linke fing den Stiel der Mordaxt auf und hielt sie
fest. Die Rechte faßte die im Kampf aufgerissene Uniform und riß mit Gewalt einen Gegenstand los, der darunter um den Hals geschlungen schien. Eine kleine, stählerne Scheide flog auf den Schnee – und eine kaum handlange, blaugraue Klinge tauchte mit kräftigem Stoß in das Herzblut des Feindes. Wie im Sturmwind faßte der junge Offizier die Gräfin und schleifte sie halb zum Schuppen. Wie ein Cherub sprang er mit seiner kurzen, unzureichenden Waffe in den Eingang. Es war der zweite Sohn des Wirts gewesen, den sein Dolch zu Tode getroffen; heulend, wie der grimmige Wolf seiner Wälder, stürzte der Vater auf ihn zu – rücksichtslos gegen das eigene Leben. „Przekleçie! Du hast meine Söhne gemordet! Du mußt sterben!” Der Stoß des Dolches streifte seine Wangen und riß sie blutig; aber er achtete der Wunde nicht. Er hob beide Arme, schmetterte die Fäuste nieder und warf in gewaltigem Anprall den Offizier zu Baden. Auf seiner Brust bohrte sich Stenkos Knie ein. Der Offizier umklammerte seine Hand. Alle Furien des Hasses und der Wut flammten in den Augen, in den fletschenden Zähnen des wahnwitzigen Vaters. Die losgerungene Faust holte weit aus zum Todestoß – „Main! – Djemala-Din! – Retten Sie Djemala-Din!” Eine fremde Stimme schrie es dicht neben den Kämpfenden. Das Messer des Wirts fuhr nieder. Eine rasche Bewegung des Offiziers wendete den Stoß. Die spitze Klinge durchbohrte nur den linken Unterarm. Im nächsten Augenblick spritzten Blut und Gehirn über den Liegenden – mit zerschmettertem Schädel stürzte Stenko über sein Opfer hin. Ein Fußstoß warf die blutige
Leiche zur Seite, und eine kräftige Hand half dem so unerwartet Geretteten auf.
Zwei fremde Männer standen neben ihm, in weitem, jüdischem Talar, unter dem seltsame Tracht hervorschimmerte. Beide hielten lange, mit Silber und Elfenbein ausgelegte Pistolen in den Händen – die eine rauchte noch von dem eben getanen Schuß. Starke, gebogene Nasen, dunkel blitzende Augen; schwarze, sorgfältig gepflegte Bärte umrahmten Gesichter von fremdartigem Schnitt. Einige Schritte hinter ihnen stand ein dritter Mann in jüdischer Tracht, Angst und Entsetzen in Ausdruck und Haltung. Die Augen der Männer waren fragend auf den jungen Ulanen gerichtet. „Bist du wirklich Djemala-Din, des großen Imam Sohn ?” Die Frage wurde in einer Sprache an ihn gerichtet, die sein Ohr seit sechzehn Jahren nur selten vernommen. „Schamyl ist mein Vater!” antwortete er in der gleichen Sprache. „Aber seht! – Helft!” – Er eilte dem Jäger zu, der hart bedrängt war. Ohne Besinnen sprangen die Fremden an seine Seite und warfen sich auf die noch kämpfenden Räuber. Bei der unerwarteten Verstärkung suchten sie zu entrinnen. Aber nur Boris gelang die Flucht – er schwang sich auf eines der Pferde, und, im Glutregen des einfallenden Daches davonjagend, gewann er das Tor und den Wald. Die anderen drei, davon zwei verwundet, wurden nach kurzem Widerstand überwältigt, zu Boden geworfen und gebunden. Die beiden Weiber waren schon während des Kampfes geflüchtet. Graf Lubomirski und der Jäger bluteten aus leichten Wunden. Dankbar über die unverhoffte Rettung
atmeten sie auf. Bogislaw und die Fremden bemühten sich, die wildgewordenen Tiere abzuwehren und den Schlitten der Reisenden aus dem Brand zu retten; alles andere war unter den Trümmern des Hauses begraben. Auch die dürftigen Nebengebäude fraßen die Flammen schon an. Die gefangenen Räuber band man an die nächsten Bäume. Gräfin Wanda war tief erschüttert. Der Graf und ihr Retter, der junge Offizier, führten sie zu dem Schlitten der Fremden, der in der Nähe des Gehöfts auf einem einsamen Weg angebunden war. Erst jetzt bemerkte sie, daß der Leutnant verwundet war; das Blut drang stark aus seinem Ärmel hervor. Auf ihre Bitten entblößte er den Arm, und Wanda schlang ihr Tuch fest um die Wunde. Indessen kamen auch der Jäger und die Fremden herbei. Die sonderbaren Männer stürzten sich auf den Offizier und küßten den verwundeten Arm. Sie verbanden ihn und auch den Grafen und Bogislaw mit seidenen Tüchern und Salben, offenbar in solchen Dingen geschickt und erfahren. Der Offizier wechselte einige Worte mit den Fremden in ihrer Sprache. Dann führte er den Grafen zur Seite. „Mein Herr”, sagte er, „das Schicksal hat uns seltsam zusammengeführt und uns gemeinsam schwere Gefahren bestehen lassen. Die glückliche Fügung unserer Rettung ist mir selber noch unklar; aber ich habe eine Bitte an – Ihre Ehre! Wenn Sie das Schloß des Fürsten Lubienski mit jenem Gespann – ich stelle es zu Ihrer Verfügung – erreichen, erwähnen Sie bitte in der dort versammelten Gesellschaft nicht näher die beiden Männer, die unsere Rettung bewirkt haben. – Ich muß hier mit ihnen zusammenbleiben.“ – „Sie müssen mit uns gehen”, entgegnete bestimmt der Graf. „Sie bedürfen von uns allen zuerst besserer
Hilfe. Mein Jäger und unsere fremden Retter können hier zurückbleiben, bis wir Beistand senden können – man hat sicherlich auch den Brand bemerkt.” – „Es ist unmöglich, mein Herr. Ich habe mit diesen Männern zu sprechen.” „So sind sie Ihnen bekannt? – Ich hörte Sie in fremder Sprache mit ihnen reden und – einen Namen. Sie sind...” „Ich bin Djemala-Din, der älteste Sohn des Imam Schamyl und russischer Offizier.” „Sie waren noch diesen Sommer im Kadettenkorps zu Petersburg? – Verzeihen Sie diese Frage.” „So ist es!” „Dann kennen wir Sie schon lange – nicht nur durch Ihr unglückliches Schicksal, das Sie in die Hände Ihrer Feinde, der Russen, geliefert hat als Geisel – sondern auch durch die Freundlichkeit und den Schutz, den Sie meinem Enkel, dem Kind meiner einzigen Tochter, erwiesen haben. Der Knabe – Michael von Lasarow1 – war mit Ihnen im Korps und hat uns oft von Ihnen geschrieben.” Er reichte ihm mit sichtlicher Freude die Hand. Djemala-Din nahm sie zögernd an. Sein Erröten färbte leicht das vom Blutverlust bleiche Gesicht. „Ich kenne den Knaben und liebe ihn”, sagte er. „Aber Sie irren, mein Herr, wenn Sie sagen, ein – unglückliches Schicksal habe mich in die Hände von Feinden geführt. Der Zar ist mir ein Vater gewesen. Ich verdanke ihm mehr, als meinem Erzeuger in den Schluchten des Elbrus. Nie wird meine Treue und Dankbarkeit für ihn enden.” Graf Lubomirski machte eine erstaunte, fast unwillige Bewegung. „Mißverstehen Sie mich nicht, Herr Graf”, fuhr Djemala-Din fort, „wenn ich Sie dennoch bitte, von 1
Vergleiche „Die Wölfin von Skadar“ und „Sewastopol“.
meiner Zusammenkunft mit jenen Männern zu schweigen. Ich spreche zu einem Mann von Ehre – und ich sage Ihnen daher unverhohlen: es sind Leute meines Volkes, die mein Vater mit einer vertraulichen Botschaft an mich gesandt zu haben scheint. Das Weitere weiß ich selber noch nicht. – Doch ist es oft geschehen, auch in Petersburg, daß ich auf ähnliche Weise Kunde erhielt von meiner entfernten Familie. Aber es könnte mir und den Männern nur Gefahr drohen, wenn unsere Zusammenkunft argwöhnischen Spähern bekannt würde.” Der Graf reichte ihm die Hand. „Nehmen Sie mein Wort, Herr Leutnant. Bogislaw, mein Diener, ist ein treuer Mann. Er wird Sie nicht belästigen, wenn ich ihn hier zur Ihrem Beistand zurücklasse. – Der Jude, der Ihre Freunde hierher geführt hat, versichert, wir könnten in einer Stunde im Schloß meines Freundes sein und Ihnen Hilfe senden. Dort sprechen wir dann weiter!” Der Graf wandte sich den andern zu. Als sich Djemala-Din dem Schlitten näherte, streckte ihm Wanda die Hand entgegen. Ihre Augen ruhten innig auf seinem blassen Gesicht.
„Ich höre von meinem Onkel”, sagte sie, „daß Sie hier noch zurückbleiben wollen. Kommen Sie uns ja recht bald nach, damit ich Ihnen besser als hier sagen kann, wie tief wir Ihnen verpflichtet sind.” – Djemala-Din beugte sich errötend über ihre Hand und küßte sie.
Der Schlitten zog an – und eine schmale, kleine Mädchenhand winkte noch einen Gruß zurück. Eine seltsame Gruppe – die sich jetzt um die dampfenden Trümmer des Hauses versammelt hatte. Der noch fortglimmende Brand gewährte
Schutz gegen die Kälte des Wintermorgens. Auf einem halb versengten Mantel saß – in den zurückgelassenen Pelz des Juden gehüllt – Djemala-Din, bleich von Blutverlust und Aufregung. Vor ihm auf dem Boden kauerten die beiden Tscherkessen, die Boten des mächtigen Häuptlings, seines Vaters. In einiger Entfernung hatte sich der Jäger Bogislaw eine warme Stelle gesucht. Er bewachte die drei gebundenen Polen, die Flinte für jeden Angriff zwischen den Knien. An der Leiche des Wirtes hatte er das gestohlene Pulverhorn wiedergefunden. Dicht daneben lagen die drei im letzten Kampf Erschlagenen. Die beiden anderen hatten die Trümmer des Hauses begraben. Über allem wölbte sich der ungetrübte, blaue Winterhimmel – so heiter und rein, als ahnte er nicht, welchen Schrecken und Mord der dunkel qualmende Rauch ihm zuführte. „Du hast uns gesagt, o Herr”, begann der älteste der Tscherkessen, „daß du Djemala-Din bist – der Sohn und Erbe des heiligen Mannes, der das Volk von Daghestan beherrscht und zum Kampf führt gegen die Feinde seiner Freiheit. – Kannst du uns ein Zeichen geben, an dem wir erkennen, daß unter dem Gewand unserer Feinde wirklich ein Herz schlägt vom Blut Schamyls 1?” Djemala-Din zog den kleinen Dolch hervor, mit dem er Stenko durchbohrt hatte. Auf der blaugrauen Klinge war ein Spruch des Korans eingegraben. „Das ist das einzige, was mein Vater mir gab, ehe er 1
Der Tscherkessenhäuptling Schamyl, geboren 1797 im Aul Himry im nördlichen Daghestan, gestorben im März 1871 in Medina, wurde Muride – Geistlicher. Durch religiöse Begeisterung vereinigte er die Stämme Daghestans und wurde ihr als Heiliger verehrter Führer. Während des Krimkrieges und auch nachher führte er mit Rußland heftige Kämpfe um die Freiheit Kaukasiens.
sich von der Felsenwand Achulgos in den Strom warf, der ihn aus der Gewalt seiner Feinde trug.” Die beiden Tscherkessen empfingen mit Ehrfurcht die Waffe. Sie sahen sie genau an und drückten sie auf Brust und Stirn. „Wir sehen die Zeichen des Imam und glauben dir, o Jüngling. Djemala-Din, Sohn des unbesiegbaren Fürsten im Kaukasus – nimm den Gruß Muhrad Ben Hassans und Alis, des Ossethen.” Sie neigten beide das Haupt vor ihm und führten seine linke Hand an Stirn und Brust. Dann zog der ältere der Boten aus dem Futter seines Rockes ein Schreiben, küßte es und legte es in die Hand Djemala-Dins. „Der Imam hat zu zweien seiner Tapferen gesprochen: ,Es ist Zeit, daß der Erstgeborene meines Samens heimkehre in das Land seiner Väter und stehe an der Seite seiner Brüder in dem großen Kampf, der sich bereitet. Geht und bringt ihn vor mein Angesicht.’ – Deine Diener, o Djemala-Din, sind zur großen Stadt Odessa gekommen. Dort lebt dem Imam ein treuer Mann, der über der Hoffnung der Tscherkessen offene Augen hielt. Von ihm erfuhren wir, daß der Zar der Moskows dich von seinem Antlitz gewiesen und in dieses Land der Wälder geschickt hat. – Die Männer des Elbrus bargen sich in fremde Tracht und wandten sich nach Kiew. Der Mann aus jenem Volk, das bestimmt ist, Handel zu treiben über die ganze Welt, führte uns dir nach. So kamen wir gestern heimlich nach der Stadt, in der du lebst mit deinen Kriegern. Aber wir hörten, daß du sie verlassen habest, und säumten nicht, uns aufzumachen – lange, ehe die Schatten der Nacht gewichen waren – um dir nachzufolgen. Der Prophet hat es gnädig gewollt, daß der Flammenschein dieses Hauses uns vom Pfad ab zu der Stätte rief, da der Sohn Schamyls in Not war. Wir segnen den Propheten – er
hat uns erlaubt, Djemala-Din aus der Hand der Mörder zu erretten, die seiner Tapferkeit zuviel waren.” Djemala-Din reichte beiden die Hand. „Ich danke euch, meine Edlen. Ich werde dieser Stunde nie vergessen – komme auch, was da wolle!" Er entfaltete das Schreiben seines Vaters. Es war in russischer und türkischer Sprache abgefaßt; indes er las, grub sich eine düstere Falte in die männlich freie Stirn. „Mein Vater schreibt mir”, sagte er endlich, „daß ich seinen Boten folgen soll – bei Tag und Nacht. Mein Vater vergißt, daß sein Wort verpfändet ist dem großen Zaren.” „Der Imam hat nichts vergessen”, entgegnete der Tscherkesse. „Aber der Geist hat ihm verkündet, daß die Zeit um sei, da sein Sohn als Geisel dienen muß dem fremden Herrn. Er hat das Recht, ihn an seine Seite zu rufen.” „Dann möge mein Vater seinen Erstgeborenen zurückfordern vom Zaren.” „Es ist nicht Zeit dazu. Große Dinge bereiten sich im Osten. Die Herrschaft der Moskowiten an unsern gesegneten Küsten 1 ist ihrem Ende nahe. Dein Vater befiehlt – Djemala-Din muß gehorchen.” „Wenn der Fürst des freien Volkes von Daghestan auch sein Wort gelöst glaubt”, sagte Djemala-Din ernst, „so möge er doch bedenken, daß ich dem Zaren den Schwur des Kriegers verpfändet habe. Diesen Eid kann ich nur als gelöst erachten, wenn der Zar mich daraus entläßt. Ich wiederhole es: mein Vater möge mich von seinen Feinden zurückfordern, wie er mich ihnen als Geisel gegeben. Dann wird Djemala-Din dem Willen Schamyls freudig gehorchen. Ich kann mich nicht, wie ein Dieb in der Nacht, aus diesem Reich stehlen, nicht wie ein feiger Verräter meinen Posten verlassen.” 1
Daghestan liegt am Kaspischen Meer.
Als habe ein Hauch die Würde und Ruhe der Tscherkessenkrieger hinweggeweht, fuhr Ali vom Baden auf. „Beim Barte Schamyls!” rief er wild. „Du wirst uns folgen, wie uns der Imam befohlen! – Hier ist Gold! Hier ist ein Kleid für dich! – Auf dein Haupt komme die Gefahr, wenn du dich weigerst!” Djemala-Din erhob sich – taumelnd vor Schwäche, aber fest und stolz. Er riß den blutigen Verband vom Arm. „Beim Blute Schamyls, das aus diesen Adern rinnt – ein höherer Schwur - denn der deine! – Ich werde nicht gehen, bis der Zar, dem mein Schwur verpfändet ist, mich selber freigibt. Bring dies meinem Vater. Sag’ ihm, sein Sohn sei bereit, alle Bande zu zerreißen, die er sechzehn lange Jahre hier geknüpft. Sei bereit, in sein Haus zurückzukehren. Aber nie opfere er seine Ehre als flüchtiger Verräter!” Der Tscherkesse legte zornsprühend die Hand an den Gürtel, als wolle er seine Drohung mit der Waffe durchsetzen. Doch sein Gefährte Muhrad Ben Hassan beruhigte ihn. „Halt ein, o Ali, mein Bruder”, sagte er. „Der Prophet verbietet Zorn und Streit unter den Kindern des Volks. – Du aber, Jüngling, sage uns, welcher Eid dich bindet.” „Ich schwor dem Zaren der Moskowiten Treue und Gehorsam als Soldat.” „So tust du recht, dich zu weigern; denn der Koran sagt, ein freier Eid muß ein heilig Ding sein dem Gläubigen, auch gegen den Feind. – Der Imam wußte nicht, daß du schon der Fahne des Zaren geschworen. Er wird betrübt sein, daß sein Auge den Sohn nicht sieht. Aber er wird ein Mittel finden, ihn aus der Knechtschaft zu lösen. – Lebe wohl, Djemala-Din. – Mein Ohr vernimmt das Nahen fremder Männer. Möge der Prophet dich schützen, bis wir uns wiedersehen – in
den Schluchten des Elbrus.” Er legte die Hand an Haupt und Brust und barg das blutige Tuch in seinem Gewand. Dann verließ er mit Ali den Sohn Schamyls und setzte sich, entfernt von ihm, neben den Jäger. Sein scharfes Gehör hatte ihn nicht getäuscht. Ehe eine Viertelstunde verging, nahten Menschen und Gefährte. Sie waren unterwegs Leuten vom Schloß begegnet, die der Fürst auf den Schein des Brandes hinausgeschickt hatte. Der Graf sandte mit ihnen den Schlitten zurück – er hatte in einem Schlitten vom Schloß die Fahrt fortgesetzt. Djemala-Din verweilte nur noch so lange auf der Brandstätte, bis die verkleideten Tscherkessen ihren Rückweg angetreten hatten. Nicht sein Herz – nur seine guten Wünsche – begleiteten sie zur fernen Heimat. – Sein Herz träumte den nächsten Stunden entgegen. Mit Bogislaw sprengte er, den Schmerz der Wunde nicht achtend, auf den vom Fürsten Lubienski gesandten Pferden dahin – zwei träumerischen Frauenaugen nach...
Das Weihnachtsfest war vorüber – die Gäste hatten das Schloß des Fürsten verlassen. Nur Graf Lubomirski mit seiner Nichte war bei dem alten Freund zurückgeblieben. Auch Leutnant DjemalaDin war dazu gezwungen worden; seine Wunde hatte sich durch die Kälte und den scharfen Ritt verschlimmert. Ein heftiges Wundfieber warf ihn mehrere Tage aufs Krankenlager. Das altertümliche Schloß des Fürsten, noch zur Zeit Augusts des Starken erbaut, lag mitten im Wald, fern vom Verkehr der Welt; nur einmal alljährlich verließ es sein Eigentümer, um in Warschau oder Moskau einige Wochen
zuzubringen. Der Fürst hielt streng diese Besuche ein, um sich dort den Gewalthabern zu zeigen und so jeden Verdacht gegen sich zu zerstreuen. Als einer der Führer des polnischen Aufstands von 1831, hatte er nur durch die Gnade des Zaren Amnestie und Erlaubnis erhalten, auf seinen Gütern in Wolhynien zu leben. Mit unbeschränkter Gastfreiheit, selbst gegen den Unwillkommenen, ja, den Gegner, unterhielt er auch Verkehr mit den Offizieren der nächsten Garnisonstädte. Bei jeder Gelegenheit fanden sich heitere Gäste auf dem fürstlichen Schloß ein. Die kleine Gesellschaft hatte die große Speisehalle im Erdgeschoß aufgesucht. Die dunkle, eichene Täfelung der Wände, die Waffen und Jagdbeuten an den vier Wänden und die beiden stubenartigen Kamine gaben der Halle ein ehrwürdiges Aussehen. Unter den Waffengruppen befanden sich slawische Rüstungen früherer Jahrhunderte und türkische Waffen aus der Heldenschlacht Sobieskis vor dem erretteten Wien. Eine lange, eichene Tafel stand in der Mitte der Halle. Sie war jedoch jetzt noch unbenutzt. In den beiden Kaminen flammten mächtige Eichenkloben. Eine angenehme, behagliche Wärme durchströmte den weiten Raum. Von Zeit zu Zeit hob einer der Diener, die sich am Eingang der Halle aufhielten, den türkischen Teppich und schlich mit leisem Tritt durch das Gemach, schürte das Feuer, oder wartete, ob man ihn rief. Am Kamin beim Eingang saßen Graf Lubomirski und Fürst Lubienski – ein Fünfziger mit weißem
Haar und klugem, aufgewecktem Gesicht. Sie spielten Schach – in langen Pausen von Geplauder unterbrochen. Am anderen Ende der Halle, entfernt genug, um nicht zu stören und gestört zu werden, saß Gräfin Wanda mit einer Handarbeit. Auf dem Ruhebett lehnte Djemala-Din, der Sohn Schamyls, noch bleich und angegriffen und den Arm in der Binde. Er las der Gräfin Wanda aus einem Buche vor. Wanda hatte sich von der Aufregung des räuberischen Überfalls rasch erholt. Ein Eindruck jedoch hatte starke Wurzel in ihrem Gemüt, in ihrem Herzen gefaßt: das Gefühl für ihren Retter – und sein seltsames Schicksal. Ohne Ziererei und Zurückhaltung gab sie sich frei und ungezwungen ihren Empfindungen für ihn hin. Sobald er das Krankenlager wieder verlassen hatte und im Gesellschaftssaal erschien, hielt sie sich unbefangen in seiner Nähe und zeigte ihm durch Aufmerksamkeiten und freundliche Worte ihren Dank. Wanda, kaum mittelgroß, doch zierlich gerundet, zeigte die Vorzüge der polnischen Schönheiten. Das Gesicht, von schwarzen Locken umrahmt, war schmal und hatte jene matte, seidenartige Farbe, die den Polinnen so eigentümlich ist. Braune, lebhafte Augen, die bei Freude oder Schmerz wechselten in lichterem oder dunklerem Glanz, ruhten oft schwärmerisch und innig auf dem jungen Tscherkessen. „Sie sind ermüdet, Herr Leutnant”, sagte Wanda freundlich. – „Brechen Sie ab und fahren Sie
morgen fort. – Lassen Sie uns plaudern – erzählen Sie mir wieder von Ihrer Heimat.” Djemala-Dins ernste Augen sahen sie lange an. „Was können die verblaßten Erinnerungen eines Knaben von einem fernen Lande Ihnen sagen?” Nachdenklich sah Wanda ihn an. „Liegt nicht in dem Charakter und dem Kampf unserer beiden Völker eine gewisse Ähnlichkeit? Haben sie nicht einen gemeinsamen Feind, gegen den sie für ihre Freiheit kämpfen? Sind die Söhne beider Länder nicht geborene Krieger – hängen sie nicht mit jeder Fiber ihrer Seele und ihrer Hoffnung an der Heimat, für die sie so oft ihr Herzblut vergossen haben?” Das aufsteigende, dunkle Blut färbte die Stirn des jungen Offiziers. Die Gräfin bemerkte zu spät, daß sie ihn verletzt hatte. Sie legte ihre Hand auf die seine. „Wir beide, Herr Leutnant,“ sagte sie, „dürfen uns nicht mißverstehen. Sie haben nicht selber Ihren Weg gewählt. Und wenn Sie auch gewiß gleiche Liebe zu dem Land hegen, das Sie geboren, wie ich zu dem meinen, muß es Ihnen doch ferner stehen. Nur wenige Erinnerungen knüpfen sich daran – Sie haben sein Leiden und Kämpfe nicht selber erlebt. – Mein Volk ist gebeugt, besiegt, ach – bei aller Begeisterung im Herzen fühle ich es tief! – Das ihre aber ist unbezwungen, frei! Im Heldenkampf um die teuersten Güter – siegreich unter der tapferen Hand Ihres Vaters! Sie brauchen nicht seine Freiheit zu wünschen und es zu beweinen; denn es hat sie nie verloren!” Djemala-Din lächelte trübe.
„Wissen Sie auch, Gräfin, was Freiheit in einem Land wie dem meinen bedeutet? Wissen Sie auch, was – Freiheit im Orient ist?” Sie sah ihn groß an. Seine Augen glitten an ihren schlanken Armen hinauf über die feinen Schultern nach dem glänzenden, dunklen Haar... Wie schön – wie rührend – wie gut sie war zu ihm, dem nie eine Frauenhand Güte gezeigt – der aufgewachsen war im herben Zwang des Kadettenhauses... im strengen Herrenjoch. Nichts als kalte, militärische Begriffe von Pflicht, Ehre, Gehorsam kannte er – jedes freiere Gefühl hatte längst die russische Erziehung getötet... War es wirklich – tot? Regte sich’s nicht gerade jetzt – unter den warmen Worten des stolzen Mädchens? Wuchs in ihm nicht je und zwingend der Wunsch, zu denken, zu empfinden – wie sie? – „Freiheit?” fragte Wanda. Ein Leuchten, golden und klar, strahlte in ihren Augen auf. „Frei ist das Volk, das nicht das schimpfliche Joch eines andern trägt! Das nur dem selbstgewählten Führer gehorcht. Frei ist das Volk, in dem jeder sein Recht hat, das Recht eines jeden geehrt und nicht von Fremden mit Füßen getreten wird; wo Sprache, Gewohnheit und Glaube Eigentum des Volkes sind; wo die Einrichtungen seiner Väter ihm ungekränkt geblieben; wo der Bewohner nicht der Sklave des Unterdrückers ist, und sein Blut und seinen Schweiß nur für den eigenen Herd vergießt!” Djemala-Din sah bitter zu Boden.
„Freiheit – wissen Sie auch, Gräfin, daß wir dennoch einen fremden Oberherrn haben? – Den Sultan in Konstantinopel?” „Der ist fern – nur ein Schatten!” „Aber er nennt sich Herr über uns. – Auch der Zar wohnt in Petersburg. – Ich habe wenig Erinnerungen an meine Heimat – und doch könnte ich Sie mit dem wenigen widerlegen. Der Mächtige, der Reiche, Gräfin, herrscht überall. Auf den Höhen des Kuban wie in den Steppen Ihres eigenen Vaterlandes, wo der Bauer der unterdrückte Sklave des Edelmannes war. Der Fanatismus schwingt in meiner Heimat seine Geißel blutiger als irgendwo und verfolgt seine Gegner. Da gibt es Edle und Knechte wie hier. Und die Kluft zwischen beiden ist noch schärfer. Halten Sie das Volk für frei, das seine eigenen Töchter und Söhne an seine Oberherren in Stambul als Sklaven verkauft – ihren Lüsten zu dienen und ihren Befehlen zu gehorchen? Glauben Sie wirklich türkische Herrschaft leichter als die des russischen Zaren? Sollten wir wirklich für die eine kämpfen – um die andere zu gewinnen?” Gräfin Wanda lehnte sich zurück. In ihren Augen sank der Glanz – wie eine Enttäuschung stieg es auf. „Spricht das der Fürstensohn eines freien Volkes?” „Er spricht es, Gräfin! – Sein Vater gab ihn fort, und sechzehn lange Jahre hat er keine Heimat gehabt als das Haus des Zaren, kein Eigentum als das Kleid des Zaren.”
Und, wenn Schamyl, Ihr Vater, Sie wieder forderte? – Wenn er Sie riefe zum Kampf an seiner Seite?“ Djemala-Din sah sie finster an. „Er tat es. – Jene Männer, die uns beide gerettet haben, waren seine Boten!” Wanda Zerbona öffnete die Lippen und schloß sie wieder. In unterdrückter Erregung krampften sich ihre Finger... „Und darf ich wissen, was Schamyls Sohn dem Ruf eines freien Volkes erwidert hat’?” „Der Offizier antwortete, was seine Pflicht war. – Der Fürstensohn, was seine Ehre gebot. Herz und Seele würden ja dennoch zurückbleiben.” „Ehre – Pflicht?” Gräfin Wanda beugte sich vor. „Ist es Ehre, was uns die Unterdrücker aufzwingen? Ist die Pflicht gegen die, die unsere Freiheit mit Füßen treten, größer und stärker als die Pflicht gegen das eigene Blut, das eigene Volk, das eigene Land? – Ehre? Pflicht? – Das hält Sie bei dem russischen Zaren? – Nein, Djemala- Din! Nur die Liebe soll unsere Herzen, unsere Taten führen und begeistern! Die Liebe zu Volk und Stamm und Menschen – die Liebe zur Wahrheit, zur Freiheit!” Schwer atmete der Sohn Schamyls. Wie anders klangen diese Worte in ihm, als der kalte Ruf der Boten seines Volkes. Wie brauste und drängte diese Mädchenstimme in seinem Herzen... Er schwieg. Er wagte nicht auf die stumme Frage ihrer Augen zu antworten. Als sänke sie in sich zusammen, beugte sich Wanda tief über ihre Arbeit.
„Dann ist mir eine große Freude versagt”, lächelte sie traurig. „Ich träumte es mir so schön, Sie auf jenen Felsenhöhen mir gegenüber zu wissen - wie der Adler horstend und herabstoßend auf silberumpanzertem Roß. Wie stolz wäre ich gewesen, Ihren Namen täglich zu hören, als den edelsten Helden des Gebirges.” „Gräfin! - Wie meinen Sie das?” „Daß ich vergeblich harren werde! Daß DjemalaDin, der kühne Führer der Tscherkessen, nicht in einer wolkenumdüsterten Nacht hervorbricht über den Kuban nach unserem armen Schloß – und mich davonführt aus der Gewalt der schmutzigen Kosaken...” Djemala-Dins Augen wurden schwarz vor innerem Erschrecken – das Blut strömte ihm aus dem Gesicht. „Sie spotten, Gräfin!” Befremdet schüttelte Wanda den Kopf. „Spotten? – Wie, wissen Sie wirklich nicht, daß ich nach dem Kaukasus gehe? – Sie können mir Empfehlungsbriefe geben – an Ihre Vettern und Verwandten, da Sie mich nicht selber schützen wollen!” „Gräfin Wanda – Sie reisen nach dem Kaukasus? – Ich beschwöre Sie, enden Sie den Scherz!” „Ich scherze nicht! Ich glaubte, mein Oheim hätte Sie davon unterrichtet? – Ich bin eine gute Polin; aber ich habe noch eine ältere Stiefschwester, die es nicht ist, die Gattin des Obersten Fürsten Tscheftsawadse. Sie wohnt mit ihm im russischen Grenzgebiet am Kuban, wo er kommandiert. – Ich
bin auf dem Wege dorthin. Mein Oheim begleitet mich bis Odessa, von wo mein Schwager mich abholen läßt. – Begreifen Sie nun, daß ich hoffte, von Ihnen dort zu hören?” Der junge Tscherkesse war bleich. wie der Tod. Seine gesunde Hand zuckte krampfhaft nach dem Herzen– seine großen, dunklen Augen weiteten sich. „Sie nach dem Kaukasus – und ich hier? – Großer Gott, ich glaubte, Sie kehrten nach Warschau zurück!” Er taumelte auf von dem Ruhebett. „Was ist Ihnen, mein Freund? – Fassen Sie sich – man wird auf uns achten.” „Was kümmert mich Ihr Oheim – was der Fürst! Ich Tor! – Fort, ihnen nach, daß sie meinem Vater sagen: sein Sohn ist bereit! – Und meine Ehre – mein Eid – –“ Als ersticke ihn das Wort, tastete seine Hand nach der Kehle. „Um Gottes willen – Sie sind ganz außer sich! – Was kümmert Sie ein elternloses Mädchen? Sie lieben Ihre Heimat nicht mehr –” „Ich mein Vaterland nicht lieben – wo Sie sind? – Ich soll Sie nicht wiedersehen – Sie, Wanda, die mich herausgerissen hat aus der Tiefe, in die ich versunken war? –” Er verkrampfte die Hände ineinander und gegen die Brust. Der Verband des Armes löste sich – die kaum verharschte Wunde riß auf – ein purpurner Strom schoß heraus.
„Beim Blut Schamyls weigerte ich meinem Vater den Gehorsam! – Beim Blut Schamyls: Wanda, am Elbrus sehen wir uns wieder!” Ohnmächtig sank er zurück auf das Ruhebett. –