Diana Lengersdorf Arbeitsalltag ordnen
Diana Lengersdorf
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Diana Lengersdorf Arbeitsalltag ordnen
Diana Lengersdorf
Arbeitsalltag ordnen Soziale Praktiken in einer Internetagentur
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Dissertation Technische Universität Dortmund, 2011
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch | Anita Wilke VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18196-7
Danksagung
Das Rheinland ist der Entstehungsort der vorliegenden Dissertation. Damit eröffnet sich ein kultureller Raum, der maßgeblich von einer Tradition des Lustigen geprägt ist. Diese Tradierungen, die auch als personale Eigenschaft oder Lebensart erfahren werden, haben allerdings nichts mit einer humoristischen Leichtigkeit zu tun, wie sie vielleicht in anderen Regionen Deutschlands gepflegt wird, sie basieren vielmehr auf einem ehernem Grundgesetz. Die 11 Paragrafen des Gesetzes gilt es zu kennen,1 um ein reibungsloses Leben in Städten wie Düsseldorf oder – ganz anders natürlich – in Köln, führen zu können. Das erste Rheinische Gesetz wird als „Et is, wie et is“ (hochdeutsch: Es ist, wie es ist) festgeschrieben. Es ist die nahezu phänomenologische Einsicht, dass Dinge, aber auch Ereignisse, sind, wie sie uns erscheinen. Dabei kommt uns unser Leben quasi entgegen, Handlungszug um Handlungszug, denn „Et kütt wie et kütt“ (hochdeutsch: „Es kommt wie es kommt“). Im Vertrauen auch auf den dritten Paragraphen „Et hät noch immer jot jejange“ (hochdeutsch: „Es ist noch immer gut gegangen“) kommt der Entlastungsmoment zum Ausdruck: In der Vergangenheit wurden bereits Erfahrungen mit Ereignissen, Tatsachen und Dingen gemacht. Auf diese Erfahrungen können wir vertrauen. Als Rheinländerin konnte ich beim Verfassen dieser Dissertation somit auf eine Tradition bauen, die mich bestärkte, das Risiko einzugehen, vielfältige Denkwege zu beschreiten und mich auch von häufiger wechselnden institutionellen Rahmenbedingungen nicht beeindrucken zu lassen. Glücklicherweise hatte ich mit meinen Doktoreltern Prof. Michael Meuser (TU Dortmund) und Prof. Julia Reuter (Universität Trier) zwei Personen an der Seite, die auf den gleichen Traditionshorizont verweisen und so jeden formalen Wechsel mit vollzogen. Danken möchte ich ihnen aber vor allem für ihr anhaltendes Vertrauen in den Fortschritt der Arbeit und in die von mir beschrittenen erkenntnislogischen Wege. Zugleich stellen beide als Autorin und Autor zentrale Bezugspunkte meines Denkens dar. Zu diesem Referenzsystem gehören auch die Arbeiten Prof. Karl H. Hörnings. Prof. Hörning (Berlin) möchte ich darüber hinaus für seine fortdauernde Unterstützung danken, von der ersten ungeschliffenen Idee bis zum nun 1
Diese sind Teil eines zivilen Wissenbestands, der sich u.a. auf zahlreichen Internetseiten nachlesen lässt.
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Danksagung
abgeschlossenen Werk. Seine Anmerkungen und Kritiken waren wichtige Anstöße, das „praxistheoretische Anliegen“ immer wieder in das Zentrum meiner Bemühungen zu stellen. Ferner möchte ich Prof. Rainer Winter (Alpen-AdriaUniversität Klagenfurt) danken, der nicht zuletzt mit seinen Seminaren in der Studienzeit an der RWTH Aachen mein soziologisches Interesse für die „popular culture“ und kulturtheoretische Zugänge überhaupt öffnete. Meine Begeisterung für die Ethnografie verdanke ich vor allem Prof. Ronald Hitzler (TU Dortmund), als Autor und Mensch, dem ich zugleich für seine Bereitschaft danken möchte, Mitglied meiner Prüfungskommission geworden zu sein, obwohl er kein Rheinländer ist. Schließlich möchte ich Prof. Brigitte Aulenbacher (Johannes Kepler Universität Linz) danken, die mich dabei unterstützte mein Forschungsprojekt zu einem sehr frühen Zeitpunkt auf einer Fachtagung vorzustellen und auch in dem zentralen Sammelband der Geschlechterforschung „FrauenMännerGeschlechterforschung – State of the Art“ (hrsg. Aulenbacher, Brigitte/Bereswill, Mechthild/ Löw, Martina u.a. 2006) zu publizieren. Zur Diskussion zentraler Thesen, irrgeleiteter Fragestellungen und manierierter Texte konnte ich immer wieder auf einen Kreis enger Vertrauter bauen, insbesondere Jörg Lengersdorf (Köln-Düsseldorf) sowie Dr. Mona Motakef (Universität Duisburg-Essen) und Dr. Antje Michel (LMU München), denen ich zudem eine hohe Sensibilität für Verschleierungen asymmetrischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse verdanke. Herzlich danken für ihre Anregungen und Kommentierungen möchte ich auch meinen Kolleginnen und Kollegen im Lehr- und Forschungsgebiet „Soziologie der Geschlechterverhältnisse“ an der TU Dortmund: Oktay Aktan, Prof. Dr. Cornelia Behnke (jetzt: Katholische Stiftungsfachhochschule München), Dr. Daniela Eichholz, Nicole Kirchhoff, Dr. Iris Koall (jetzt: Bergische Universität Wuppertal), Ivonne Küsters und Cornelia Hippmann, der ich insbesondere für ihre Unterstützung bei der Neustrukturierung und Titelfindung meines Methodenkapitels danken möchte. Auch Institutionen gebührt mein Dank, denn ohne die Soziologiekongresse der DGS wäre das Soziologinnenleben nur halb so schön und ohne das Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW würde ich des Öfteren an den (Rest-) Beständen männlicher Hegemonie im Wissenschaftsbetrieb verzweifeln. Damit betreiben beide Institutionen Nachwuchsförderung der besten Art: Sie halten die Leidenschaft am Forschen im Allgemeinen und der Soziologie im Besonderen am Brennen. Danken möchte ich auch dem Essener Kolleg für Geschlechterforschung, vor allem der damaligen Leitungsebene Prof. Doris Janshen (Universität Duisburg-Essen) und Heike Gebhard (jetzt: MdL, Gelsenkirchen). Sie ermöglichten es mir, fundierte Erfahrungen in der Hochschulpolitik und des Wissenschaftsmanagements erwerben zu können.
Danksagung
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Sehr zu Dank verpflichtet bin ich natürlich der untersuchten Internetagentur, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ohne die Bereitschaft, mich in ihrer Mitte aufzunehmen und an den relevanten Praktiken ihres Alltages teilhaben zu lassen, wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Schließlich gilt mein herzlicher Dank Julia Wolff-Gregory (Los Angeles) vor allem für ihre Geduld mit der Korrektur, die weit über reine Rechtschreibkontrolle hinausging, Roland Wolff (Mönchengladbach) und Maja Kempka (TU Dortmund) für ihre hilfreichen Anmerkungen, Christian Bauer (Düsseldorf) für Deleuze, Regina Klöckner und Joseph Sappler (Düsseldorf) für unzählige Diskussionen sowie Elna und Detlef Wirth (Luxemburg) für das Denken in verschiedenen Seinslagen. Für ihre Unterstützung danken möchte ich Elfriede und Rudolph Lengersdorf (Hückelhoven-Baal) sowie Stefanie und Michael WirthHermanns (Baesweiler). Mein abschließender Dank gilt Friederike Lengersdorf (Düsseldorf) für ihre Kooperationsbereitschaft und Geduld in vielen Lebenslagen. Düsseldorf im Karneval 2011 Diana Lengersdorf
Inhalt
Danksagung …………………………………………………………………
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1 Einleitung: Arbeit, Alltag und Ordnung ………………...…………… 1.1. Arbeit: Prognosen der Instabilität – Instabile Prognosen ………...… 1.2. Alltag: Interpretation des Alltäglichen – Alltägliche Interpretation 1.3. Ordnung: Soziale Ordnung – Ordnungen des Sozialen ………...… 1.4. Soziale Praktiken ………………………………………………...… 1.5. Aufbau der Arbeit ………………………………………...…………
11 12 16 21 22 24
2 Ordnungen des Arbeitsalltags herausgefordert ……………………… 2.1. Mit „Arbeit“ auf Herausforderungen blicken …………...………… 2.2. Mit „Technik“ auf Herausforderungen blicken …………………… 2.3. Mit „Geschlecht“ auf Herausforderungen blicken ………………… 2.4. Arbeitsalltag in Internetagenturen …………………………………
27 31 35 38 42
3 Ordnungen des Arbeitsalltags untersuchen …………………………… 3.1. Ordnung durch Subjektivieren: Subjektivierung von Arbeit ……… 3.2. Ordnung durch Interagieren und Involvieren: Workplace Studies …… 3.3. Ordnung durch Geschlecht-Tun: Doing Gender ……………………
47 49 54 58
4 Soziologie sozialer Praktiken …………………………………………… 4.1. Soziales Handeln – oder: Wo und wie findet das Soziale statt ……… 4.2. Sozialer Sinn – oder: Was ist im Sozialen möglich und bedeutsam …… 4.3. Soziale Ordnung – oder: Wie kann das Soziale geordnet erscheinen …… 4.4. Konsequenzen ………………………………………………………
65 67 69 71 72
5 Theoretisch-methodische Übergänge …………………………………. 79 5.1. Erkenntnistheoretische Diskussion ………………………………… 79 5.2. Erkenntnisstrategien – Ethnografie ………………………………… 93 5.3. Untersuchungsfeld: Auswahl, Zugang und erste Beschreibungen 100 5.4. Projektverlauf ……………………………………………………… 107 5.4.1. Datenerhebung (zusammenfassend) ……………………………… 115 5.4.2. Datenauswertung …………………………………………………… 116
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Inhalt
6 Praktiken des Ordnens ………………………………………………… 119 6.1. Passungspraktiken ………………………………………………… 120 6.2. Bereitstellungspraktiken angemessener Akteure ……………………130 6.3. Bereitstellungspraktiken angemessen ein Geschlecht zu haben …… 138 6.4. Bereitstellungspraktiken angemessener Orte und Räume ………… 145 6.5. Kooperationspraktiken …………………………………………… 149 7 (Relative) Stabilität ……………………………………………………… 159 8 Schluss: Gewissheiten und Gewusstes ………………………………… 165 8.1. Neue Schlussfolgerungen für diagnostizierte Phänomene ………… 166 8.2. Schlussfolgerungen für Erkenntniszusammenhänge ……………… 173 8.3. Schlussfolgerungen für die Forschungspraxis ………………………176 Literatur ……………………………………………………………………. 179
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Einleitung: Arbeit, Alltag, Ordnung
Alltägliche Phänomene schaffen es immer wieder, Soziologinnen und Soziologen in Erstaunen zu versetzen. Sich vom Alltäglichen erstaunen zu lassen, setzt voraus, dass auch Dinge überraschen, die scheinbar selbstverständlich und unhinterfragt sind. So konnte ich während einer vergangenen Berufstätigkeit erleben, wie sich der Alltag in einer Internetagentur in nur wenigen Jahren veränderte. Eine Euphorie des Neuen umgab noch im Jahr 2000 das Arbeitsfeld.2 Für die wenigen Agenturen stand viel „Spielgeld“ zum Experimentieren mit einem bis dahin kaum kommerziell genutzten Medium zur Verfügung. Diese Pioniere nahmen das Geld ihrer Kunden und experimentierten nicht nur mit dem Einsatz von HTML, sondern auch mit Arbeitsformen und Hierarchien. Grenzen der traditionellen Arbeitswelt verschwammen: Tag und Nacht, zu Hause und in der Arbeit, Chef und Praktikant. Mitzwanziger in Jeans und T-Shirt präsentierten ihre Webkonzepte vor Vorstandsmitgliedern börsennotierter Unternehmen und Frauen mit virtuellen Großkalibern „erschossen“ in Computerspielen ihre Kollegen. Mit dem Börsencrash und dem Vertrauensverlust in die New Economy blieb das „Spielgeld“ aus. Kunden wollten wissen, was ihre Investitionen brachten, Jeans wurden gegen Anzüge ausgetauscht, Stundenerfassungssysteme traten in Kraft und der nächste Projektleiter musste ein Mann sein. Dennoch hinterließen neue Gewohnheiten ihre kulturellen Spuren und wurden mit älteren Traditionen zu einem Gewebe verbunden, welches heute den Alltag in Internetagenturen ausmacht. In diesem Spannungsfeld war das vorliegende Forschungsprojekt angesiedelt: es bewegt sich zwischen Veränderungen und Beharrungen, die sich in diesem sehr jungen Tätigkeitsfeld entdecken lassen. Die Studie richtet ihren Fokus dabei auf die Wiederholung und die gleichzeitige Neujustierung sozialer Praktiken im Arbeitsalltag einer Internetagentur, einem Alltag, der durch ein hohes Maß an Unplanbarkeit und Unsicherheit geprägt ist. Es war zu vermuten, dass der „kontingente Charakter“ des Alltags in besonderen Maße durch neue Formen von Arbeitsorganisation, neue Technologien und neue Geschlechterarrangements evoziert wird.
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Zur Internetbranche liegen nur wenige Studien und Erkenntnisse vor (vgl. Manske 2007: 65ff.).
D. Lengersdorf, Arbeitsalltag ordnen, DOI 10.1007/978-3-531-93291-0_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1 Einleitung: Arbeit, Alltag, Ordnung
Bei Internetagenturen handelt es sich um Unternehmen, die im Zuge der Kommerzialisierung des Internets Mitte der 1990er Jahre entstanden sind (vgl. Mayer-Ahuja/Wolf 2005, Manske 2007).3 Für das Forschungsvorhaben sind sie besonders interessant, da die tägliche Arbeit nicht nur an neuen Technologien (vernetzten Computern), sondern auch mit neuen Technologien (Kommunikations-Software, Servern, Internet etc.) und für neue Technologien (Erstellung von Webapplikationen, Datenbanksystemen etc.) stattfindet. Diese Arbeit, so konnte erwartet werden, weist typische Merkmale von Wissens-, Kommunikations- und Informationsarbeit auf, die zu den neuen Formen von Arbeit gezählt werden (vgl. Knoblauch 1996, Castells 2001). Darüber hinaus legten zum Erhebungszeitpunkt erste Studien zum „High-Tech“-Bereich und Geschlecht eine gewisse Offenheit für neue Geschlechterarrangements im Untersuchungsfeld nahe (vgl. Nickel/Frey/ Hüning 2003), oder zumindest die Verhandlung geschlechtlicher Kategorisierungen, wie Cecilia Ridgeway es für Unternehmen in „Umbruchphase“ feststellte (vgl. Ridgeway 2001). Wie bereits angedeutet, ist es vor allem die Analyse von gegenwärtigen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, die die Untersuchung anleitet. Diese Transformationen stellen die Soziologie vor neue Herausforderungen - zum einen, da bisher vorherrschende Verständnisse zentraler soziologischer Grundkategorien nicht mehr geeignet erscheinen, um die sich entfaltende Komplexität des Sozialen angemessen zu erfassen, und zum anderen, da das Verständnis vom gesellschaftlichen Wandel als Fortschreiten des Sozialen weder in einer zeitlichen, noch weniger jedoch in einer wertorientierten Dimension tragfähig ist. Für die vorliegende Studie werden beide Aspekte entlang der Kategorien „Arbeit“, „Technik“ und „Geschlecht“ diskutiert und vor dem Hintergrund des Wandels von Erwerbsarbeit untersucht. 1.1 Arbeit: Prognosen der Instabilität – Instabile Prognosen Die soziologischen Diagnosen und Prognosen zu den sich gegenwärtig vollziehenden Veränderungen von Erwerbsarbeit weisen auf vielfache Herausforderungen für eine vormals in stärkerem Maße begrenzte, stabile und dauerhafte Erwerbsarbeit hin. Zentrale Begriffe der Diskussion sind „Entgrenzung“, „Destabilisierung“ oder „Erosion“. Dabei kommt Arbeit nach wie vor eine zentrale Bedeutung in unserer Gesellschaft zu. Sie reguliert Teilhabechancen, strukturiert gesellschaftliche Positionen, Sphären und Biografieentwürfe (vgl. u.a. Cas-
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Zur technischen Entwicklung des Internets und seiner Kommerzialisierung: vgl. Castells 2001.
1.1 Arbeit: Prognosen der Instabilität – Instabile Prognosen
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tel/Dörre 2009, Aulenbacher/Wetterer 2009), und sie ist eine Grundtatsache unseres Lebens (vgl. Mikl-Horke 1994: 352).
Viele Veränderungen werden auf einen Wandel in den betrieblichen Koordinations- und Steuerungsmechanismen zurückgeführt, die als „Internalisierung des Marktes“ oder auch „Vermarktlichung“ beschrieben werden und ihren Ausdruck in einer Zunahme der Bedeutung des „Subjekts“ als Produktivfaktor finden (vgl. u.a. Nickel 2007, Moldaschl 2002, Dörre 2005, Drinkuth 2007). Hierbei treten subjektive Potenziale und Leistungen in den Fokus, die eigenverantwortlich gemäß den Betriebszielen in den Arbeitsprozess eingebracht werden müssen (vgl. Moldaschl 2002: 14, Aulenbacher 2005: 37, Pongratz/Voß 1998). Aus Unternehmensperspektive lässt sich diese am Markt orientierte Steuerung der Erwerbsarbeit als organisatorische Dezentralisierung beschreiben (vgl. Dörre 2005: 183). Der unternehmerische Zugriff auf die Arbeitskraft und deren Kontrolle wird vom Vorgesetzten auf die Arbeitende und den Arbeitenden selbst verlagert. Neben dem Zwang zur Strukturierung, Rationalisierung und Verwertung des Arbeitsprozesses kommen gleichzeitig Gestaltungsmöglichkeiten des Arbeitenden in den Blick (vgl. Moldaschl/Voß 2002: 14): Zu ihnen zählen nicht nur „Selbst-Kontrolle“, „Selbst-Ökonomisierung“ sowie „SelbstRationalisierung“, die sich im Typus des Arbeitskraftunternehmers zeigen (vgl. Pongratz/Voß 2001: 44), sondern auch die Formulierung von eigensinnigen Ansprüchen und Gestaltungsvorstellungen an die Arbeitstätigkeit, die als Sinn- und Selbstverwirklichungsansprüche beschrieben werden (vgl. Kleemann/Matuschek/Voß 2002: 83, Nickel 2007: 29). Zusätzlich zu explizitem fachlichem Wissen und formal erworbener Qualifikation werden zunehmend implizite Wissensformen bedeutsam (vgl. Castells 2001: 319, Nonaka/Takeuchi 1997, Degele 2000). Hierzu zählen unter anderem das Wissen um kulturelle Besonderheiten (vgl. Mikl-Horke 1994), das Wissen um die richtige „Selbst-Inszenierung“ (vgl. Voß 2007), wie auch das Wissen um die richtige Inszenierung von Wissen (vgl. Degele 2002: 168). Neue Technologien spielen für diese Entwicklung eine zentrale Rolle (vgl. Castells 2001). So bringt der Computer als Arbeitsgerät Wissen in eine verarbeitungs- und inszenierungsfreundliche Form (vgl. Degele 2002: 168), wobei er einen doppelten Zwang ausübt: zum einen computerkompatibles Wissen zu generieren und zum anderen das Wissen darüber, wie Technik geschickt in den jeweiligen Alltag einzupassen ist (vgl. Degele 2000: 110, Hörning/Ahrens/Gerhard 1997). Darüber hinaus werden Datenbanken, Firmenintranets und Serverlandschaften zu bedeutungsvollen Orten der „Konservierung“ von Wissen (vgl. Castells 2001, Rammert 2007).
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1 Einleitung: Arbeit, Alltag, Ordnung Neben die Normalerwerbsbiografie í einer ungebrochenen Erwerbstätigkeit í treten zunehmend Erwerbsverläufe, die durch atypische Beschäftigungsverhältnisse und Diskontinuitäten gekennzeichnet sind (vgl. MayerAhuja/Wolff 2005: 12, Meuser 2007a). Die Erwerbsbiografie unterliegt vermehrt einer aktiven Ausgestaltung (vgl. Kleemann/Matuschek/Voß 2002: 80), was durch Tendenzen zur Vervielfältigung und Entstandardisierung von Karriereverläufen noch verstärkt wird (vgl. Hitzler/Pfadenhauer 2003). Es lässt sich nicht mehr allein die Orientierung an eine Laufbahnkarriere, die an Unternehmenszugehörigkeit, Treue und Loyalität geknüpft ist, beobachten (vgl. Dörre 2007: 289); vielmehr treten vermehrt solche Karrieren hinzu, die sich an subjektiven Leistungsfähigkeiten, wie sie in Vorgesetzten-Mitarbeitergesprächen als Zielgrößen definiert werden, orientieren (vgl. Hermann 2004). Damit wird die Karrieregestaltung zu einer subjektiven Leistung, die unabhängig vom Unternehmen vollzogen wird. Es gilt, passend zu sein für viele Unternehmen (vgl. Connell 2005: 5). In Unternehmen lassen sich neben geschlechteregalitären auch geschlechterasymmetrische Arrangements feststellen (vgl. Heintz et al. 1997, Wilz 2008). Der starke Zustrom von Frauen in die Erwerbsarbeit und auf nahezu allen Qualifikationsstufen (vgl. Castells 2001: 285) schafft Bedingungen, in denen Frauen und Männer kooperieren müssen, aber auch zu Konkurrenten um knapper werdende Arbeitsplätze werden können (vgl. Priddat 2004: 165, Meuser 2007). Dabei lässt sich eine gestiegene Nachfrage nach Eigenschaften feststellen, über die Frauen qua Geschlecht eher zu verfügen scheinen als Männer (vgl. Voß/Weiß 2005, Aulenbacher 2005, Bröckling 2002). Allerdings stellen Männer immer noch den Maßstab für den „normalen Beschäftigten“ dar (vgl. Acker 1990, Hearn 2009). Die Ausführung von Arbeit ist nicht mehr an einen Ort oder eine Zeit gebunden. Diese Entwicklung ist maßgeblich an den Einsatz von neuen Informations- und Kommunikationstechnologien gekoppelt (vgl. Rammert 2007, Hörning/Sieprath 2004, Mayer-Ahuja/Wolf 2005, Degele 2000). Sie ermöglichen eine „Variablisierung des Arbeitsortes“ (Lohr/Nickel 2005: 216) und eine Zusammenarbeit von Teams, die nicht an einem Ort arbeiten (vgl. Frohnen 2005). Zudem treten neben Arbeiten, die in der Arbeitsstätte, der „Erwerbssphäre“ getätigt werden auch Arbeitstätigkeiten, die in der „Privatsphäre“ ausgeführt werden. Das Verhältnis von „Arbeit“ und „Leben“ muss zunehmend aktiv gestaltet werden (vgl. Kleemann/Matuschek/ Voß 2002: 71), was auch zu einer Neuaushandlung der geschlechtlichen Arbeitsteilung führen kann (vgl. Halford 2006). Tarifliche Bestimmungen und rechtliche Schutzregelungen werden tendenziell zum Zielobjekt von Verwertungsstrategien (vgl. Dörre 2005: 184). Die
1.1 Arbeit: Prognosen der Instabilität – Instabile Prognosen
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Erosion von (sozialstaatlicher) Absicherung der Erwerbsarbeit geht mit einer Prekarisierung einher (vgl. Dörre 2007, 2005, Castel/Dörre 2009, Völker 2009) und fordert die Arbeitenden zu mehr Selbstsicherung und Selbstverantwortlichkeit heraus (vgl. Pohlmann 2007, Nickel 2007). Zugleich gefährdet diese Entwicklung die Position des Mannes als Alleinernährer (vgl. Baur/Luedtke 2008, Kelan 2008). Dieses Modell, so ist vielfach nachgewiesen worden, ist in hohem Maße an das Normalarbeitsverhältnis gekoppelt (vgl. u.a. Scholz 2009, Lengersdorf/Meuser 2010, Meuser 2007a). Bereits dieser kursorische Überblick prognostizierter und diagnostizierter Phänomene lässt drei „Zentren“ für Wandlungen erkennen: Veränderungen durch neue Formen der Arbeitsorganisation, den Einsatz neuer Technologien sowie neuer Geschlechterarrangements. Dabei zeichnet sich ein enger Zusammenhang zwischen den drei Elementen ab (vgl. u.a. Aulenbacher 1991, Castells 2001, Teubner 2009, Degele 2002, Wajcman 2004). Zugleich lässt sich die Art und Weise, wie die Elemente miteinander zusammenhängen, als widersprüchlich beschreiben. Widersprüche sind vor allem in der Gleichzeitigkeit von Veränderungen und Persistenzen, zwischen kollektiven Orientierungsmustern und praktiziertem Alltag, sowie zwischen Gestaltungsautonomie und Normierungszwang zu erkennen. So bringt die Subjektivierung von Arbeit auf der einen Seite neue Zwänge für die Arbeitenden, andererseits jedoch auch neue Gestaltungsmöglichkeiten mit sich (vgl. Moldaschl/Voß 2002). Die Suche nach Kommunikationsfähigkeit und Empathie bringt zwar „weibliche softskills“ in den unternehmerischen Fokus, ermöglicht aber keinen breiten Zugang für Frauen zu TopPositionen (vgl. Pasero 2004). Der Einsatz neuer Technologien erweitert den Aktionsraum autonomen Handelns, erfordert gleichzeitig aber ein standardisiertes Agieren (vgl. Degele 2000, Pfeiffer 2004, Rammert 2007). Während das Normalarbeitsverhältnis für immer weniger Menschen realisierbar ist, scheinen gerade diese an dem Normalarbeitsverhältnis als Orientierung festzuhalten (vgl. Egert 2009 et al., Dörre 2005, Scholz 2007, Bereswill 2006, Kreher 2007). Im Hinblick auf Männlichkeit und Weiblichkeit lassen sich wachsende Friktionen zwischen Vorstellungen und praktizierten Arrangements feststellen (vgl. Völker 2009, Scholz 2009, Kaufmann 1994, Koppetsch/Burkart 1999), die sich auch in widersprüchlicher Weise mit Veränderungen der Erwerbsarbeit verbinden (vgl. Aulenbacher/Wetterer 2009). Für eine soziologische Erforschung solch komplexer Wandlungsphänomene stellt sich die Frage, wie Veränderungen und Persistenzen gleichermaßen untersucht werden können, ohne dass „Neu“ als Gegensatz zu „Alt“ gefasst wird, sondern als zwei Modi der gleichen Wandlungsbewegung betrachtet werden. Diese Bewegung müsste nicht nur quer zu „Alt“ und „Neu“ analysiert werden,
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1 Einleitung: Arbeit, Alltag, Ordnung
sondern auch zu verschiedenen Ebenen des Sozialen, um z.B. Einstellungen und praktizierte Arrangements gleichermaßen erfassen zu können. Zugleich stellt sich die Frage, wie man verschiedene Forschungsperspektiven einbringen kann, um komplexe Phänomene zu fassen. Wie kann man im gleichen Forschungsprozess „Technik“, „Geschlecht“ und „Arbeit“ als bedeutsame Elemente des Sozialen begreifen, wenn innersoziologische Diskurse die Erkenntnisse untereinander teilweise ignorieren: die Industrie- und Arbeitssoziologie vernachlässigt die Erkenntnisse der Geschlechtersoziologie (kritisch: vgl. u.a. Aulenbacher/Wetterer 2009), die Geschlechtersoziologie die der Techniksoziologie (kritisch: vgl. u.a. Wajcman 2004), die Techniksoziologie ignoriert die Arbeiten der Geschlechtersoziologie (kritisch: vgl. u.a. Degele 2002), usw. 1.2 Alltag: Interpretation des Alltäglichen – Alltägliche Interpretation4 Der hier gewählte Lösungsansatz wendet sich dem Alltag zu. Wie sich zeigen wird, liegt in der Hinwendung zum Alltag die Chance, sich den vielfältigen Konstruktionen von Wirklichkeit – auch soziologischen, erkenntnistheoretischen und methodischen – analytisch zu nähern, deutend und interpretierend vielschichtige Phänomene zu betrachten und Klarheit darüber zu gewinnen, dass dieser Interpretationsprozess keine Anwendung bestehender (Be-)deutungen, sondern als ein formender Prozess zu vollziehen ist. Damit wird „Alltag“ nicht als Analysekategorie eingesetzt, es wird keine Soziologie des Alltags betrieben, sondern durch die Analyse von Alltagswissen, Alltagsaktivitäten und Alltagserfahrungen werden soziologische Theorien und Methoden (weiter-)entwickelt. „Alltag“ ist ein soziologisch schwer zu fassender Begriff.5 Er reicht von einer eigenständigen Lebenssphäre über (routinisierte) Ereignisbereiche des gesellschaftlichen Lebens bis zum Tagesablauf ganzer Bevölkerungsschichten. Norbert Elias formuliert für den soziologischen Gebrauch des Alltagsbegriffs, dass eine scheinbare Einheit der ihn nutzenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor allem auf der gemeinsamen Ablehnung zuvor herrschender Theorieentwürfe beruht, ohne den Anspruch der Schaffung eines neuen, einheitlichen Entwurfs: „So scheinen sich die Vertreter einer nicht unbeträchtlichen Gruppe von soziologischen Alltagstheoretikern, zu der etwa Ethnomethodologen und phänomenologisch-orientierte Soziologen gehören, vor allem einig zu sein in ihrer gemeinsamen Ablehnung aller derjenigen theoretischen und empirischen soziologischen Forschungsbemühungen, die bei der Auslese ihrer 4 5
Die Überschrift vor dem sich eröffnenden Auslegungsrahmen von Hans-Georg Soeffners Publika tion „Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung“ (2004) zu interpretieren, kann ich nur befürworten. Instruktiv ist (noch immer) der Sammelband von Kurt Hammerich und Michael Klein (1978).
1.2 Alltag: Interpretation des Alltäglichen – Alltägliche Interpretation
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Probleme die Aufmerksamkeit auf die objektartigen, um nicht zu sagen objektiven, Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens von Menschen richten.“ (Elias 1978: 22)
Es ist vor allem die Kritik an den traditionellen positivistischen Positionen, die eint. Für die vorliegende Untersuchung sind dabei zwei soziologische Traditionen besonders bedeutsam: Die erste lässt sich – wie bereits bei Norbert Elias angedeutet – mit Alfred Schütz' Arbeiten zu einer sozialwissenschaftlichen Phänomenologie sowie über die wissenssoziologische Konzeption der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit seiner Schüler Thomas Luckmann und Peter Berger erfassen. „Alltagswissen“ stellt hier die zentrale analytische Kategorie dar. Die zweite ist im Anschluss an Georg Herbert Meads pragmatistischer Sozialtheorie und dem symbolischen Interaktionismus Herbert Blumers zu verorten. Dieser „Strang“ ist hinsichtlich seiner Überlegungen zu alltäglicher Interaktion bedeutsam. Zentrale verbindende Kategorie beider Strömungen ist die alltägliche Erfahrung: in der pragmatistischen Tradition die Erfahrung von Gesellschaftlichkeit durch den Umgang mit Anderen bzw. Anderem und in der phänomenologisch-wissenssoziologischen das Wissen um typische Erfahrung. Zudem ist beiden Traditionen gemein, dass sie von einer generellen Interpretationsleistung ausgehen: Sozialität bedarf der Interpretation. Soziologie muss, um diese Interpretationsleistungen analytisch offenzulegen, selbst interpretierend vorgehen. Geteiltes Alltagswissen6 Eine Interpretation ist notwendig, da das Alltagswissen einem spezifischen Modus unterliegt: es ist eine alltägliche Gewissheit, die zumeist im Selbstverständlichen liegt und einfach hingenommen wird. Peter Berger und Thomas Luckmann bezeichnen dieses Wissen als die Gewissheit, dass Phänomene wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben (vgl. 1997 [1966]: 1), um mit Alfred Schütz anzuschließen: „dass die Welt, in der wir leben, eine Welt von mehr oder weniger genau umrissenen Gegenständen (ist), zwischen denen wir uns bewegen, die uns widerstehen und auf die wir einwirken können“ (Schütz 2004 [1953]: 161). Alltäglich ist dieses Wissen auch, weil es Teil eines gesellschaftlichen Wissensvorrats ist, somit nicht individuell, sondern sozial begründet. Der Wissensvorrat speist sich aus typischen Erfahrungen, welche „offene Horizonte zu erwartender ähnlicher Erfahrungen mit sich“ tragen (Schütz 2004: 161), „die für die Haupt6
Der folgende Abschnitt fokussiert in der Rezeption Schütz und Berger/Luckmanns unterschiedliche Wissensformen und -vorräte und weniger ihre Konstruktion. Daher treten die prominenten Begrifflichkeiten der „Common Sense-Konstruktionen“ (Schütz) und der „Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit“ (Berger/Luckmann) nicht hervor.
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1 Einleitung: Arbeit, Alltag, Ordnung
routinen der Alltagswelt nötig sind“ (Berger/Luckmann 1997: 45). Der Wissensvorrat steht dabei als „Jedermannwissen“ zur Verfügung, das Berger und Luckmann von einem „fest umzirkelten Bedeutungs- und Erfahrungswissen“, z.B. der theoretischen Physik abgrenzen (vgl. Berger/Luckmann 1997: 26). Das Alltagswissen zeichnet sich dabei in sich durch eine hierarchische Ordnung von Wissensvorräten aus, wobei das „Rezeptwissen, das sich auf Routineverrichtungen beschränkt“, an vorderster Stelle steht, da nach Berger und Luckmann Zweckmäßigkeitsmotive die Alltagswelt leiten (vgl. Berger/Luckmann 1997: 44). Beim Rezeptwissen handelt es sich um sozial anerkannte Regeln und Vorschriften, nach denen man „mit typischen Problemen durch Anwendung typischer Mittel im Blick auf typische Ziele fertig wird“ (Schütz 2004: 179). Konsequenterweise richtet sich eine soziologische Analyse vor diesem Hintergrund auf die Untersuchung „jenes Wissens, welches das Verhalten in der Alltagswelt reguliert“ (Berger/Luckmann 1997: 21). Dabei kann man mit Anselm Strauss (2004 [1987]) anschließen, dass in einem solchen Forschungsprozess nicht nur das Fachwissen und die Forschungserfahrungen der Wissenschaftlerin oder des Wissenschaftlers, ihr fest umzirkeltes Wissen, zentral sind, sondern auch ihre persönlichen Erfahrungen, ihr „Jedermannwissen“. Beide Wissensbestände bilden das, was Strauss als das „Kontextwissen“ (2004: 440) der Forscherin und des Forschers bezeichnet. Nur so ist es möglich, die Komplexität der untersuchten Wirklichkeit (Phänomene) zu erfassen und überzeugend zu formulieren (vgl. ebd.: 439). Geteilte alltägliche (Inter-)Aktionen Mit Anselm Strauss, einem Schüler Herbert Blumers, kann auf die zweite soziologische Tradition hingewiesen werden. Sie richtet ihren Blickwinkel auf alltägliche Interaktionsprozesse. Die Bedeutung, die u.a. George H. Mead und sein Schüler Herbert Blumer der Interaktion beimessen,7 liegt in der Erkenntnis begründet, dass „die soziale Interaktion ein Prozess ist, der menschliches Verhalten formt, der also nicht nur ein Mittel oder einen Rahmen für die Äußerung oder die Freisetzung menschlichen Verhaltens darstellt“ (Blumer 2004 [1969]: 328). Um diese Perspektive noch deutlicher zu machen: Die Interaktionsprozesse bzw. gesellschaftlichen Prozesse sind dem menschlichen Verhalten, und – wie Mead verdeutlicht (vgl. 1968 [1934]: 273) – dem menschlichen Geist und seiner Identität vorgängig, denn „es ist der soziale Prozess des Zusammenlebens, der die 7
Für Mead selbst stellte „Interaktion“ keine zentrale begriffliche Kategorie dar. Dennoch wird er als Ahnherr des Interaktionismus bezeichnet, vor allem auf Grund seiner Konzeption von „Kommunikation“, wie dies u.a. Heinz Abels in seiner Einführung in die Soziologie beschreibt.
1.2 Alltag: Interpretation des Alltäglichen – Alltägliche Interpretation
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Regeln schafft und aufrechterhält, und es sind nicht umgekehrt die Regeln, die das Zusammenleben schaffen und erhalten“ (Blumer 2004: 340). Dabei kommen zwei Aspekte zum Tragen: Erstens, dass sich Handelnde in andere hineinversetzen sowie sich selbst im Agieren beobachten und verstehen; Zweitens, dass Handelnde sich beständig anzeigen, wie sie eine Situation verstehen und wie andere sie verstehen sollen. Dies setzt zunächst die von Mead entwickelte Konzeption des „Social Self“ voraus. Meads Überlegungen gehen davon aus, dass das Subjekt „I“ immer auch ein Objekt seiner Selbst inkludiert: das „Me“, das soziale Selbst (vgl. u.a. Mead 1981 [1913]). „I“ kann auf das „Me“ reagieren; sie stehen über Erfahrungen bzw. Erfahrenes in Verbindung (vgl. Mead 1981: 143, auch: Blumer 2004: 334). Die meisten Erfahrungen müssen dabei nicht mehr selbst gemacht werden, da sie vorstellbar sind. Dies ist durch den generalisierten oder verallgemeinerten Anderen möglich: Es ist die organisierte Gemeinschaft oder gesellschaftliche Gruppe, die eine allgemeine Haltung vorgibt (vgl. Mead 1968: 196): „In der Form des verallgemeinerten Anderen beeinflusst der gesellschaftliche Prozess das Verhalten der ihn abwickelnden Individuen, das heißt, die Gemeinschaft übt die Kontrolle über das Verhalten ihrer einzelnen Mitglieder aus, denn in dieser Form tritt der gesellschaftliche Prozess oder die Gemeinschaft als bestimmender Faktor in das Denken des Einzelnen ein.“ (Mead 1968: 198)
Das verallgemeinerte Andere muss keine Gruppe lebender Menschen sein, Mead räumt auch unbelebten Gegenständen den Status eines Teilelements ein, denn „jeder Gegenstand – jedes Objekt oder jede Gruppe von Objekten, ob nun lebendig oder unbelebt, menschlich, tierisch oder einfach physisch –, im Hinblick auf den der Mensch handelt oder auf den er gesellschaftlich reagiert, ist für ihn ein Element des verallgemeinerten Anderen“ (Mead 1968: 196, Fn). Während für Mead der Prozess des Hineinversetzens in sich selbst und in den generalisierten Anderen und die daraus resultierende Interaktions- bzw. Kommunikationsordnung im Vordergrund steht, geht sein Schüler Herbert Blumer einen Schritt weiter und nimmt das fortlaufende Anzeigen, wie Situationen zu verstehen sind und wie andere diese zu verstehen haben, in den Fokus. „Wir müssen erkennen, dass die Aktivität der Menschen darin besteht, dass sie einem ständigen Fluss von Situationen begegnen, in denen sie handeln müssen, und dass ihr Handeln auf der Grundlage dessen aufgebaut ist, was sie wahrnehmen, wie sie das Wahrgenommene einschätzen und interpretieren und welche Art geplanter Handlungslinien sie entwerfen.“ (Blumer 2004: 337)
Um tagtäglich Handeln zu können, ist es demnach notwendig, dass man sich der Bedeutung, die die Handlung für andere Beteiligte in derselben Situation hat,
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1 Einleitung: Arbeit, Alltag, Ordnung
versichert und seine Handlungen aufgrund dieser Einschätzung/Interpretation plant und ausführt. Das menschliche Zusammenleben besteht aus und in dem gegenseitigen Aufeinander-Abstimmen von Handlungslinien durch die Beteiligten (vgl. Blumer 2004: 338). Nicht nur eine neue Form gemeinsamen Handelns, die zum ersten Mal entwickelt wird, bedarf der Interpretation, sondern auch wiederkehrendes Handeln ist in einem ebensolchen Ausmaß das Ergebnis eines Interpretationsprozesses (vgl. Blumer 2004: 340). „Beispiele für wiederkehrende und vorgefertigte Formen gemeinsamen Handelns sind so zahlreich und alltäglich, dass es leicht ist zu verstehen, warum Wissenschaftler sie als das Wesentliche oder die natürliche Form des menschlichen Zusammenlebens betrachtet haben. Solch eine Sichtweise wird besonders deutlich in den Konzepten von ‚Kultur‘ und ‚sozialer Ordnung‘, die in der sozialwissenschaftlichen Literatur so dominieren.“ (Blumer 2004: 339)
Geteilte Kultur Dass es sich bei wiederkehrenden und vorgefertigten Formen gemeinsamen Handelns nicht um die „natürliche“ Form des Zusammenlebens handelt, gegen die man innovative und kreative Formen als die „kulturelle“ Form des Zusammenlebens abgrenzen kann, war schon Alfred Schütz gewiss: „Es ist eine Kulturwelt, da die Welt des täglichen Lebens von allem Anfang an für uns ein Universum von Bedeutungen ist, also ein Sinnzusammenhang, den wir interpretieren müssen, um uns in ihm zurechtzufinden und mit ihm ins Reine zu kommen.“ (Schütz 2004: 163)
Selbst wenn Bedeutungen, wie hier bei Schütz, der Interpretation vorgängig sind, sind sie uns nicht unmittelbar zugänglich, sondern erst in der Auslegung handhabbar. Blumer verlegt diesen Auslegungsprozess – in pragmatistischer Tradition – in die Auseinandersetzung von Personen mit den ihnen begegnenden Dingen; hier werden Bedeutungen benutzt, gehandhabt und abgeändert (vgl. Blumer 2004: 322). Kultur ist für Blumer aus dem abgeleitet, was Menschen tun: aus der Gesamtheit fortlaufender Aktivitäten, die das Gruppenleben ausmachen (vgl. Blumer 2004: 327). Bedeutungen werden dabei (zumeist) nicht als völlig frei flottierend erfahren, sondern – um bei Alfred Schütz' Bild des Universums zu bleiben – als durch bestimmte Gravitationen geordnet: Je nach soziologischer Tradition richtet sich der Fokus auf die Anordnung von Bedeutungen selbst, wie gegebene Sets von Bedeutungen (vgl. Blumer 2004: 341), oder auf die Anordnung bedeutsamer, wie nach Mustern vor-arrangierter Phänomene (vgl. Berger/Luckmann 1997: 24). Doch auch diese gegebenen Sets oder Muster sind durch Interpretationsleistungen erzeugt und werden fortlaufend (re-)interpretiert.
1.3 Ordnung: Soziale Ordnung – Ordnung des Sozialen
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1.3 Ordnung: Soziale Ordnung – Ordnung des Sozialen Wenn wir von Bedeutungs- oder Wissensordnungen ausgehen müssen, die das Soziale konstituieren, aber in sich keine feste, verbindliche, andauernde Struktur haben, dann stellt sich grundsätzlich die Frage, wie Soziologie eine Ordnung des Sozialen konzipieren kann. Wie auch beim Begriff des Alltags steht zu Beginn der Infragestellung einer objektiven Realität des Sozialen bzw. seines „Ordnungsgerüsts“ im ausgehenden 20. Jahrhundert die Kritik. Diese richtet sich zunächst vor allem an die eigenen wissenschaftlichen Standpunkte, den „Ort“ wissenschaftlicher Erkenntnis innerhalb des Sozialen. Es ist die zunehmende Skepsis gegenüber monolithischen Wissenschaftsstandpunkten, die von einer heterogenen Gruppe von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen geteilt wird: Michel Foucaults (1974) Bedenken gegenüber einer kontinuierlichen historischen Wissenschaftsentwicklung, Pierre Bourdieus (1976) Kritik an den scholastischen Grundlagen des philosophischen Denkens oder Harold Garfinkels (1967) Wende gegen die objektive Realität sozialer Tatsachen, um nur einige wenige prominente Beispiele zu nennen. Flankiert werden diese Auseinandersetzungen von Kontroversen an den disziplinären „Rändern“ der Soziologie, die ebenfalls die Vorstellung eines substanziellen Kerns des Sozialen herausfordern. Dazu lassen sich jene der Ethnologie zählen, die das Verständnis von „fremden“ Kulturen provoziert, aber auch die Arbeiten der Cultural Studies, die sich gegen das vorherrschende Verständnis „eigener“ Kultur wenden. Bedeutungsvoll wurden darüber hinaus die Forschungsaktivitäten der Geschlechterforschung, der Postcolonial Studies und der Technikforschung, die mit dem Aufdecken der Verschleierung sozialer Vielfalt diese ins Zentrum rücken: die Vielfalt des Sozialen und die Vielfalt des Wandels, des ständig neuen Hervorbringens des Sozialen, sowie die in diese Prozesse eingelagerten Kräfteverhältnisse. Ihnen allen gemein ist, dass sie als ganz selbstverständlich anerkannte Grenzziehungen infrage stellen. Wenn aber das Soziale das Substanzielle, das Totale und das Territoriale verliert und geöffnet wird für Prozesse, Relationen und Aktivitäten, dann müssen bis dato selbstverständliche soziologische Grenzziehungen ebenfalls in Frage gestellt werden, wie die Grenze zwischen Einheit spendender Gesellschaft und Einheit empfangendem Individuum oder zwischen Erfahrungsräume spendenden Individuen und einer Gesellschaft, die Wirklichkeitsordnungen empfängt. Die Fragen nach sozialer Ordnung wandeln sich nun von einer Frage der Stratifikation hin zur Frage, welche Ordnungsleistungen das Soziale zusammenhalten und wie soziale Ordnungen überdauern und eine (relative) Stabilität aufweisen können (vgl. Soeffner 1992). Denn wenn soziale Ordnung keinen „Kern“, kein „Wesen“ hat, dann kann Stabilität nicht im Sinne einer unverrückbaren
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1 Einleitung: Arbeit, Alltag, Ordnung
Gewissheit oder eines Naturgesetzes verstanden werden, sondern als eine partielle, aber empirisch durchaus beobachtbare Beständigkeit, die unterschiedliche Formen annehmen kann. 1.4 Soziale Praktiken Mit dem Konzept der sozialen Praktiken soll der Frage nachgegangen werden, durch welche Ordnungs- und Orientierungsprozesse ein Soziales zusammengehalten wird, dessen Status quo im Wandel liegt. Vor diesem Hintergrund werden soziale Praktiken in einer Internetagentur untersucht; soziale Praktiken verstanden als „ein typisiertes, routinisiertes und sozial ‚verstehbares’ Bündel von Aktivitäten“ (Reckwitz 2003: 289). Die Studie zielt demnach nicht auf eine Analyse der organisatorischen Spezifik, sie ist weder Betriebsfallsstudie noch wird Organisationsforschung im engen Sinne betrieben, es geht vielmehr um die Beschreibung und Analyse von alltäglichen Praktiken. Der analytische Blick richtet sich dabei methodologisch nicht von der Gesellschaft auf das Individuum oder schließt von handelnden Individuen auf die Gesellschaft, sondern versucht, das „Dazwischen“ zu fassen: Vollzüge, Prozesse, Beziehungsgeflechte, Handlungsabfolgen, Bewegungsaktivitäten usw. Es soll eruiert werden, inwiefern soziale Praktiken und welche dieser Praktiken an der „Stabilisierung“ eines unplanbaren und unsicheren Arbeitsalltags beteiligt sind, wie sie am Laufen gehalten werden und wen oder was sie involvieren. Wie kann es sein, dass routinisierte Handlungen sich immer weiter vollziehen, selbst wenn sie beständig auf „neue Situationen“ treffen? Wie wird verhindert, dass sie nicht vollständig ins Stocken geraten? Wer ist daran beteiligt? Sind es kreative und flexibel handelnde Akteure (vgl. Joas 1992)? Sind es widerständige Praktiker (vgl. Hörning/Winter 1999)? Oder sind es intelligente Software und das Internet (vgl. Castells 2001)? Dabei zeigt sich im Forschungsalltag, dass die Untersuchung sozialer Praktiken einige Probleme mit sich bringt, die vor allem durch ihre theoretische „Heimatlosigkeit“ gekennzeichnet sind. Bei den „Theorien sozialer Praktiken“ handelt es sich um ein Bündel von Ansätzen, die jeweils eine spezifische praxistheoretische Perspektive einsetzen.8 In jüngster Zeit werden Anstrengungen unternommen, die theoretischen „Grundelemente“ (vgl. Reckwitz 2003) zu systematisieren und eine soziologische Praxistheorie zu entwickeln, die sich auf alle Phänomenbereiche der Soziologie anwenden lässt (vgl. Hillebrandt 2009: 14). 8
Theorien sozialer Praktiken haben sich in einem internationalen Kontext entwickelt, u.a. von Anthony Giddens, über Pierre Bourdieu und Harold Garfinkel bis Theodore Schatzki und Erving Goffman.
1.4 Soziale Praktiken
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Die vorliegende Untersuchung setzt an diesem Punkt der soziologischen Theorieentwicklung an und nimmt vor allem Bezug auf die Arbeiten von Andreas Reckwitz (2003, 2008b), Karl H. Hörning und Julia Reuter (2004), Karl H. Hörning (2001), Stefan Hirschauer (2004, 2008), Frank Hillebrandt (2009) sowie Andrea Bührmann und Werner Schneider (2008). Es lässt sich allerdings konstatieren, dass in dem Bemühen um eine theoretische Systematisierung bisher methodologische und methodische Fragestellungen wenig berücksichtigt worden sind; die Auseinandersetzung um geeignete Verfahren steht noch am Anfang.9 Dies liegt m.E. auch an einer der zentralen methodischen Herausforderung für die Untersuchungen sozialer Praktiken: der Entfaltung von Wissen im Handeln (vgl. Hörning 2004: 20). Im Vollzug der Praktiken wird ein praktisches Wissen „angefordert“, dass die Involvierung in den Vollzug möglich macht. Hierbei handelt es sich um implizites und zumeist inkorporiertes Wissen. In den Handlungsfluss treten so auch mit inkorporiertem Wissen ausgestattete Körper, die z.B. um den Unterschied zwischen angemessenem Schulterklopfen und unangemessenem Zuschlagen wissen. Dabei fehlt es der Soziologie an einer methodischen Reflexion darüber, wie die körperliche Dimension des Handelns angemessen erfasst werden kann, und zwar nicht nur hinsichtlich von Körperinszenierungen, sondern vor allem hinsichtlich habitualisierter, fraglos gegebener, vorreflexiver Körperroutinen (vgl. Meuser 2007: 223). Neben diesem „Wissen im Einsatz“ (Hörning/Reuter 2006: 54) wird im Vollzug auch Wissen generiert. Es ist ein praktisches Wissen, ein „Gewusst-Wie“, dass sich im Umgang mit Akteuren, Artefakten und anderen kulturellen Objekten ausbildet und sich als praktisch eingeübte und eingelebte Fähigkeit zeigt, in einer bestimmten erwartbaren und einsichtigen Weise mit Menschen, Dingen und Ereignissen umzugehen (vgl. Hörning 2001: 185). Dies stellt ein Problem für den soziologischen Erkenntnisprozess dar, weil unklar ist, wie das weithin implizite praktische Wissen und Können der Beteiligten zum Vorschein gebracht werden kann (vgl. Hörning 2004: 20, Hirschauer 2004). Daran anschließend stellt die spezifische Zeitlichkeit sozialer Praktiken eine methodisch zu lösende Schwierigkeit dar. Praktiken beginnen nie von Grund auf neu, sondern vollziehen sich in der Gegenwart vor dem Hintergrund vergangener Erfahrungen und dem Erwartungshorizont zukünftiger Ereignisse (vgl. Reckwitz 2003: 295). Sie sind somit nicht an Situationen oder Kontexte gebunden, sondern laufen quasi über sie hinweg. Eine Analyse von Handlungsabfolgen in Situationen oder Situationssequenzen ist demnach kein hinreichendes Instrument zur Untersuchung sozialer Praktiken (vgl. Scheffer 2008), wie auch die Gewinnung von Daten an einzelnen Erhebungspunkten unzureichend ist (vgl. Breidenstein 9
Vgl. Hirschauer 2004, 2008; Bührmann/Schneider 2008; Reckwitz 2008b
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1 Einleitung: Arbeit, Alltag, Ordnung
2006: 20ff). Es bedarf eines Verfahrens, das den transsituativen und „transsequentiellen“ (Scheffer 2008: 368) Charakter sozialer Praktiken zu erfassen und analysieren vermag. Mit der Ethnografie wird eine Erkenntnisstrategie in die Untersuchung eingebracht, die traditionell in hohem Maße über eine Praxis der Reflexion ihrer Beobachtungen und der Beschreibungen dieser verfügt (vgl. Breidenstein 2006: 20). Ebenso bringt sie einen pluralen Datenkorpus hervor (vgl. Marcus/Holmes 2000), der gewährleistet, dass die Beobachtungen und Erfahrungen sozialer Praktiken mit in Texten dokumentierten und in Interviews rekonstruierten Praktiken kontrastiert werden können. Der methodische Schwerpunkt der Studie liegt auf einer explorativen, unstrukturierten, offen teilnehmenden Beobachtung (vgl. Münst 2004, Lüders 2003). In die Untersuchung geht darüber hinaus der Erfahrungsraum einer zurückliegenden Berufstätigkeit in der Mutteragentur der untersuchten Internetagentur ein.10 Die teilnehmende Beobachtung richtet sich zunächst auf die beobachtende Entdeckung sozialer Praktiken. Neben der dichten Beschreibung als Analyseinstrument wird die Auswertung an interpretative, rekonstruktive Verfahren, wie der dokumentarischen Methode von Ralf Bohnsack (2008), angelehnt. In einem mehrstufigen Interpretationsverfahren werden soziale Praktiken und Verkettungen von Praktiken rekonstruiert. Der Aufenthalt im Feld fand von April 2005 bis September 2005 in einer Internetagentur statt, die zu einem lokalen und internationalen WerbeagenturenNetzwerk gehört. 1.5 Aufbau der Arbeit Kennzeichen dieser Arbeit sind vielfältige Perspektivwechsel, die sich der Leserschaft eröffnen. Der Wechsel findet zwischen theoretischen Strömungen, Konzepten und Begriffen statt. Dabei soll es zu Irritationen kommen, die immer wieder zu einer Verschiebung des Blickwinkels herausfordern und neue Perspektiven ermöglichen (vgl. Lindemann 2008). Es ist der Versuch, dem nahe zu kommen, was Frank Hillebrandt einen „neuen Theoriestil“ nennt, der sich durch eine reflexive Theorie- und Begriffsbildung auszeichnet und sich zwischen Theorie und Praxis bewegt (Hillebrandt 2009: 83, vgl. auch Kalthoff/Hirschauer/Lindemann 2008). Zu Beginn der Studie werden Störpotenziale für den Arbeitsalltag in einer Internetagentur eruiert (2). Während in der Einleitung generelle Veränderungstendenzen des Wandels von Erwerbsarbeit verdeutlicht wurden, schließt sich nun 10 Die Berufstätigkeit in der Mutteragentur belief sich auf 20 Monate (siehe auch Kapitel 5).
1.5 Aufbau der Arbeit
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die Analyse potenzieller Herausforderungen an, die vor allem einen Alltag in einer wissens- und technologiebasierten Branche treffen können. Herausforderungen werden dabei begriffen als Irritationen des Arbeitsflusses, die sich durch Unplanbarkeit und Unvorhersehbarkeit ausdrücken. Dabei werden drei Blickwinkel eingenommen, die im weiteren Verlauf der Untersuchung immer mehr ausdifferenziert werden. Zunächst wird in arbeitssoziologischer Perspektive auf Herausforderungen geblickt. So kommen Irritationen ins Blickfeld, die das treffen, was in der Agentur „Arbeit“ konstituiert – von der Kundenbeziehung über vervielfältigende Kommunikationsformen bis zu Konflikten durch unangemessenes geschlechtliches Verhalten. Die beiden anderen Perspektiven betrachten diese Herausforderungen mit Hilfe der Kategorien „Technik“ und „Geschlecht“. Es wird sich zeigen, dass das Gelingen einer Arbeit immer weniger von formalen und fest institutionalisierten Regeln abhängt, sondern zunehmend von Faktoren, die sich an sozialer Angemessenheit und Erwünschtheit festmachen lassen und häufig aushandlungsbedürftig sind. Dies macht ein Verständnis von „Arbeit“ notwendig, das weniger in der Logik von Produktionsbedingungen und organisatorischen Rationalitäten gefasst wird, sondern mehr als Grundtatsache des Lebens in seinen gesellschaftlichen Voraussetzungen und subjektiven Bedingungen (vgl. Mikl-Horke 1994: 352). Um „Arbeit“ konzeptionell in das Geflecht des alltäglichen Lebens zurückzuholen und die Ordnung eines Arbeitsalltags als soziales Phänomen zu fassen, werden im Folgenden synthetisierend ein arbeitsund industriesoziologischer, ein technik- sowie ein geschlechtersoziologischer Diskurs aufgefächert (3). Im Zuge der Auseinandersetzung werden „blinde Flecken“ dieser Perspektiven offen gelegt. Mit den Theorien sozialer Praktiken wird nun ein neuer Blickwinkel in die Untersuchung eingebracht (4). Zunächst wird die genuin soziologische Frage nach dem sozialen Handeln praxistheoretisch gewendet, zu einer Frage danach, wie und wo das Soziale stattfindet (4.1). Dieser Perspektivwechsel ermöglicht es, den „Ort“ des Sozialen im spezifischen Geflecht sozialer Praktiken zu suchen. Damit wird es auch notwendig, die Frage nach dem sozialen Sinn anders zu stellen (4.2). Es sind weniger die Sinngehalte, die in den Fokus rücken, als vielmehr die Sinnerzeugung. Praxistheorien fragen danach, wie und wo Bedeutungen erzeugt werden und weniger, welche Bedeutungen vorzufinden sind. Zugleich verändert sich die Frage nach den Problemen sozialer Ordnung, da das Soziale in diesem Blickwinkel keine abgeschlossene Stabilität oder eine fixierte Struktur haben kann (4.3). Das Problem sozialer Ordnung liegt nun darin, wie ein Fortbestehen der Form des Sozialen jeden Tag aufs Neue durch Praktiken gewährleistet wird. Die sich aus der praxistheoretischen Perspektive ergebenden erkenntnistheoretischen Fragen werden im Kapitel 5 diskutiert. Es wird sich zeigen, dass diese
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1 Einleitung: Arbeit, Alltag, Ordnung
sich vor allem an einem anderen Verhältnis von Theorie und Praxis festmachen lassen. Die neue Relation zwischen Theorie und Praxis macht es notwendig, im Forschungsprozess fortlaufend nicht nur Begründungs-, sondern auch Entdeckungszusammenhänge zu reflektieren (vgl. Hillebrandt 2009: 83). Dies wird durch den Einsatz einer Ethnografie als „Erkenntnisstrategie“ (Hirschauer/Amann 1997: 20) ermöglicht (5.2). Die Analyse relevanter sozialer Praktiken leitet ein interpretativ-rekonstruktives Verfahren an. An der Herstellung von Ordnung sind dabei vor allem fünf Praktikenkomplexe beteiligt, die zugleich die spezifische Form des Untersuchungsfeldes ausmachen (6). Zentrales Ergebnis der Untersuchung ist, dass die Stabilität der Internetagentur an fortlaufende antagonistische Beziehungskonstellationen gebunden ist (7). Zugleich ließen sich mit der Erforschung sozialer Praktiken neue Schlüsse für die erarbeiten Diagnosen und Prognosen des Wandels ziehen und die aufgeworfenen erkenntnistheoretischen sowie forschungspraktischen Problemfelder teilweise klären (8).
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Ordnungen des Arbeitsalltags herausgefordert
Der Arbeitsalltag braucht Ordnung! Dieses an väterliche Strenge erinnernde Postulat eröffnet nicht nur einen erzieherischen Rahmen, sondern ganze „Welten“ an unternehmerischen Tätigkeiten, an gesetzlichen Regelungen und an gesellschaftlichen Übereinkünften. Ordnung wird in der Regel verstanden als Strukturiertheit, die Verlässlichkeit und Planbarkeit des Arbeitstages garantiert, und Ordnung ist nötig, um effizient und erfolgreich Arbeitsaufgaben zu erledigen. Damit sich das alles bewältigen lässt, stehen uns Garanten zur Seite. Diese können vielfältige Formen annehmen: Stechuhren zur Zeitkontrolle, Fließbänder zur Standardisierung von Arbeitsschritten oder Öffnungszeiten zur Normierung der Anwesenheit von Kunden. Gleichzeitig finden die Garanten ihren Ausdruck in genormten Berufswegen, in örtlichen angesiedelten Arbeitsstätten oder in zeitlich-geregelten Verfügbarkeiten. Und sie tragen ein Diesseits und Jenseits täglicher Erwerbsarbeit im Gepäck: der gelernte Facharbeiter gehört dazu, die Hausfrau nicht; das Büro gehört dazu, das Schlafzimmer nicht; montags 9 Uhr gehört dazu, samstags 23 Uhr nicht. Diesen räumlichen, zeitlichen, aber auch inhaltlichen Grenzziehungen zwischen „Arbeit“ und „Leben“ werden wiederum weitere Bürgen der Ordnung an die Seite gestellt, wie z.B. das Ehegattensplitting, das eine Alleinernährer-Familie begünstigt und damit Vätern die Arbeit und Müttern das Heim nahe legt. Empirisch nachweisbar entfalteten diese Garanten ihre „Kraft“ am stärksten ab den 1950er bis in die 1970er Jahre hinein (vgl. Hirsch-Kreinsen 2005: 244, Aulenbacher/Riegraf 2009: 230). Diese relativ kurze Phase wird mit einem breiten Wohlstand und kontinuierlichem Wirtschaftswachstum in Verbindung gebracht und in Termini von Sicherheit und Stabilität beschrieben. Spätestens seit Mitte der 1970er Jahre findet diese Phase, als historisch diagnostiziert, ein schleichendes Ende (vgl. Sauer 2003). Vermehrt seit den 1990ern werden auch die soziologischen Beschreibungen der bisherigen Ordnung der „Arbeitswelt“ durch Diagnosen und Prognosen einer zunehmenden Unordnung herausgefordert: die „Normbiografie“ wird durch Diskontinuitäten bedroht (vgl. u.a. Bonß/Zinn 2005, Hitzler/Honer 1994, Voß 2007), das „Normalarbeitsverhältnis“ durch „atypische Arbeitsverhältnisse“ (vgl. u.a. Mayer-Ahuja 2003, Dörre 2005, Manske 2007, De Grip/Hoevenberg/Willems 1997, Oschmiansky/ Oschmiansky
D. Lengersdorf, Arbeitsalltag ordnen, DOI 10.1007/978-3-531-93291-0_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2 Ordnungen des Arbeitsalltags herausgefordert
2003), das „fordistisch-tayloristische Produktionsregime“ durch den „Postfordismus“ (vgl. u.a. Castells 2001, Knoblauch 1996, Hirsch-Kreinsen 2005, Hirsch/Roth 1986). Dabei ging es zunächst darum, die aufkommende Unordentlichkeit der Ordnung zu diagnostizieren und Prognosen einer neuen Ordnung zu entfalten. „Das Informationszeitalter“ von Manuel Castells (2001 [1996]) ist wohl der bekannteste Versuch. Das Aufkommen einer grundsätzlich neuen Ordnung wird heute zumindest in Frage gestellt (vgl. u.a. Aulenbacher et al. 2007, Reckwitz/Bohnacker 2008, Sauer 2001). Vielmehr scheint die neue Ordnung auch eine alte zu sein, die das Neue ertragen muss. Von Unentscheidbarkeit, Paradoxie oder – weniger bedrohlich – von Vielfalt ist die Rede (instruktiv: Aulenbacher/Wetterer 2009). Dabei sind es vor allem die Gewissheiten über Grenzziehungen, die ihre Eindeutigkeit einbüßen (vgl. u.a. Moldaschl/Voß 2002). Die Industrie- und Arbeitssoziologie – als soziologische „Heimat“ der Fragestellungen zu Arbeit, Arbeitsprozessen und Produktion – diskutiert den Verlust an Trennschärfe vor allem entlang der „Entgrenzungs-Metapher“ (vgl. u.a. Mayer-Ahuja/Wolf 2005, Drinkuth 2007, Kratzer/Sauer 2007, Gottschall/Voß 2003, Nickel 2007, Kleemann et al. 2002). Die Thematisierung von „Entgrenzung“, so ließe sich auch formulieren, wird heraufbeschworen durch Wandlungsphänomene, die sich nicht mehr in den bis dato üblichen Kategorien zur Beschreibung von wirtschaftlichen Aktivitäten und von Erwerbsarbeit fassen lassen. „Entgrenzung“ stellt ein neues Beschreibungsinstrumentarium dar, das vor allem der Benennung von sich auflösenden Grenzen und der Eruierung neuer Grenzen dient. Es ist die Suche nach einer klaren, neuen Kontur, die sich auch als Schärfung von unscharfen Grenzen in der Forschungspraxis ausmachen lässt, wie dies zum Beispiel bei Nicole Mayer-Ahuja und Harald Wolf expliziert wird: "Wir gehen hingegen davon aus, dass die gesellschaftliche Organisation von Arbeit immer die Existenz von Regulierungsmechansimen voraussetzt, die im dialektischen Zusammenwirken von Struktur und Prozess an veränderte Umweltbedingungen angepasst werden (können). Entsprechend haben wir uns auf die Suche nach neuen (und teilweise auch alten) ‚Stabilisatoren‘ gemacht" (Mayer-Ahuja/Wolf 2005: 15).
Für die Techniksoziologie wird die Auflösung von Grenzziehungen im Arbeitsalltag vor allem entlang der Frage, welche Effekte neue Technologien auf die Arbeitsorganisation haben, geführt (vgl. u.a. Grint/Woolgar 1997, Rammert 2007, Hörning 2001, Wajcman 2004). Neue Technologien stellen andere, neue Anforderungen an den Arbeitsalltag, da sie eine hohe Eigenkomplexität aufweisen und daher offener für verschiedene Verwendungszusammenhänge und Nutzungsoptionen sind. Gleichzeitig setzen sie zunehmend mehr Standards und schränken damit wiederum Handlungsoptionen ein, z.B. durch Eingabemasken. Für die Forschung kommt zudem, vor allem durch die Untersuchungen der
2 Ordnungen des Arbeitsalltags herausgefordert
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Workplace Studies, die Verwicklung menschlicher und technischer Entitäten im Arbeitsprozess in den Blick, vom Bleistift über den PC bis zur Sekretärin. Diese Verwobenheit macht neue Beschreibungsmöglichkeiten notwendig, um das Gewebe zwischen unterschiedliche in den Arbeitsalltag involvierte Entitäten zu fassen. Die Geschlechtersoziologie interessiert sich bei der Analyse von Transformationsprozessen der Erwerbsarbeit verstärkt für die grundlegende Frage, inwiefern mit diesen Entwicklungen eine Veränderung der Geschlechterarrangements und des gesellschaftlichen Verständnisses von Geschlecht einhergeht (vgl. u.a. Heintz/Nadai 1998, Aulenbacher/Wetterer 2009, Meuser 2007). Vor allem durch den Zustrom von Frauen in nahezu alle Bereiche der Erwerbsarbeit und Qualifikationsstufen werden bisher klare Grenzen zunehmend brüchig. Diese stellen Modelle wie den männlichen Alleinernährer ebenso in Frage, wie geschlechterexklusive Räume z.B. im Management oder bei der Polizei. Mit den Veränderungen werden auch Konzepte der Geschlechterforschung herausgefordert, wie die Omnirelevanz, die Unhintergehbarkeit von Geschlecht. Es zeichnet sich eine Neuordnung oder eine Neujustierung ab, die sich bis dato noch schwer fassen lässt (vgl. Aulenbacher/Wetterer 2009), zum einen hinsichtlich der Uneindeutigkeit beobachtbarer Phänomene und zum anderen auf Grund zunehmend unzureichender theoretischer Konzepte zur Analyse dieser Phänomene. Für Internetagenturen können nun verschiedene Neuordnungen erwartet werden, evoziert durch neue Formen von Arbeitsorganisation, einem massiven Einsatz neuer Technologien und die damit einhergehenden Veränderungspotenziale für Geschlechterarrangements, die sich hier zu einem spezifischen Arbeitsalltag verflechten. Dabei bewegen sich Internetagenturen als Dienstleistungsbetriebe11 in einem Spannungsfeld zwischen Kunden und neuer vernetzter Technologie. Die hier zu verrichtende Arbeit weist typische Merkmale von Wissensarbeit, Informations- und Kommunikationsarbeit für hochqualifizierte Beschäftigte auf (vgl. Knoblauch 1996), und die Arbeitsrealität zeichnet sich durch „dezentrale, beteiligungsintensive Entscheidungsstrukturen, hohe Freiheitsgrade und lockere Arbeitsatmosphäre sowie durch häufige Beschäftigungswechsel und raschen Wissensverschleiß“ (Mayer-Ahuja 2005: 62) aus. Laut ihres Selbstverständnisses (Bundesverband der Digitalen Wirtschaft e.V., Fachgruppe Agenturen) werden Internetagenturen beschrieben als „Agenturen, deren Schwerpunkte 11 Internetagenturen werden im Folgenden als produktionsbezogene Dienstleistungsbetriebe untersucht. Die Zuordnung zu den so genannten „Creative Industries“, die zum Erhebungszeitraum gerade erst in den Fokus wissenschaftlicher Analysen traten, gestaltet sich schwierig, wie Alexandra Manske (2007) darlegt. Es handelt sich um eine „Hybridbranche“ (Mayer-Ahuja/ Wolf 2005), da Internetagenturen zwar auf der Grafik- und Werbebranche aufbauen aber zugleich auch der IT-Branche zuzuordnen sind.
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in der Konzeption, Kreation, Kommunikation, Marketing, Media und der Produktion liegen. Die Mitgliedsunternehmen sind eigenständige Unternehmen sowie Abteilungen klassischer Werbe- oder Direktmarketingagenturen bzw. deren Tochterunternehmen.“ Eine Analyse verschiedener Selbstdarstellungen von Internetagenturen lässt eine detailreichere Beschreibung zu: Internetagenturen werden verstanden als privatwirtschaftliche Unternehmen, welche im Auftrag eines Kunden nach dessen Wünschen weniger umfangreiche Software entwickeln, Homepages sowie Werbung für das Internet konzipieren, realisieren und pflegen sowie Beratungsleistungen rund um das Internet erbringen, wozu auch kleinere serverseitige Netzwerklösungen zählen. Es deutet sich an, dass der Arbeitsalltag von Internetagenturen im besonderen Maße durch Ko-Ordinationen und Ko-Operation zwischen Kunde und Agentur, aber auch zwischen Beschäftigten und Technologie, sowie zwischen unterschiedlichen Technologien gekennzeichnet ist. Wissen scheint eine zentrale Ressource für die tägliche Arbeit zu sein. Im Folgenden soll sich dem Arbeitsalltag in einer Internetagentur noch weiter angenähert werden. Im Alltag, so die Argumentation der Untersuchung, ist das Zusammenkommen verschiedener Herausforderungen zu erwarten, die die Ordnung praktisch „bedrohen“ und damit das Gelingen der Arbeit unsicher machen. Um ein weites Spannungsfeld aufziehen zu können, werden drei Blickwinkel eingenommen: Zunächst wird das Feld potenzieller Herausforderungen mit dem Fokus auf „Arbeit“ betreten. Es gilt nachzuzeichnen, wie Arbeitsprozesse, Arbeitsorganisationen und Arbeitshandeln durch den Dienst am Kunden gekennzeichnet sind, wie die Implementierung neuer Technologien Unplanbarkeiten erzeugt und wie Veränderungen in den Geschlechterarrangements Ungewissheiten im Arbeitsalltag evozieren. Der zweite Fokus nähert sich von der „Technik“ her der Internetagentur. Anders als im Fokus „Arbeit“ wird hier der Frage nachgegangen, wie neue Technologien durch ihr „Technik-Sein“ den Arbeitsalltag herausfordern. Dies betrifft „Wirkzonen“ des Arbeitshandelns ebenso wie Konstellationen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten oder Vorstellungen einer männlichen Technik. Im letzten Abschnitt wird mit „Geschlecht“ auf Herausforderungen geblickt. Neben der strukturierenden „Wirkung“ von Geschlecht für die Arbeitsorganisation wird danach gefragt, wo Geschlecht relevant gemacht wird und wie unsere Vorstellungen von Frau- und Mann-Sein durch neue Technologien herausgefordert werden.
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2.1 Mit „Arbeit“ auf Herausforderungen blicken Mit Beginn der kommerziellen Nutzung des Internets entstanden die ersten Internetagenturen (vgl. Manske 2007). Es handelt sich um ein junges Erwerbsfeld, in welchem neue Formen von Arbeit im Dienstleistungsbereich vermutet werden können. „Dienstleistung“ stellt dabei einen analytisch schwer fassbaren Begriff dar. Zwei prominente Ansätze beschreiben Dienstleistung einmal als residuale Kategorie in Beschäftigungsstatistiken, „die all das umfasst, was nicht unter Landwirtschaft, Bergbau, Bau, öffentliche Versorgungsunternehmen oder Industrie fällt“ (Castells 2001: 234) und zum anderen í unter dem Terminus der Tertiarisierung í als „natürliche“ Entwicklungslinie von westlichen Volkswirtschaften (vgl. Fourastié 1954). Geht Fourastié noch von den grundsätzlich unerschöpflichen Beschäftigungsmöglichkeiten des Dienstleistungssektors aus (vgl. Fourastié 1954), so konnte Manuel Castells sehr heterogene Ausprägungen der Beschäftigungszahlen für die G7-Länder diagnostizieren (vgl. Castells 2001: 231ff). Für Deutschland ist die Entwicklung weniger durch Auflösungstendenzen der Industriearbeit und eine Neuformierung der Beschäftigung vornehmlich im Dienstleistungssektor gekennzeichnet; vielmehr zeichnet sich ab, dass ein hohes Maß an Dienstleistungstätigkeiten in deutschen produzierenden Unternehmen stattfinden (vgl. Castells 2001: 241). Eine strikte Abtrennung der Dienstleistungs- von der Industriearbeit lässt sich statistisch nicht erkennen. Für die Internalisierung von Dienstleistungstätigkeiten auch in produzierenden Unternehmen wurde der Begriff der „Dienstleistifizierung“ (Jacobsen/Voswinkel 2005: 9) eingeführt. Engt man den Begriff der Dienstleistung weiter auf den der produktionsbezogenen Dienstleistungen ein, so lassen sich diese als „die strategischen Dienstleistungen der neuen Wirtschaftsform, die Information und Beratung für die Steigerung der Produktivität und Effizienz der Unternehmen bereitstellen“ (Castells 2001: 240), beschreiben. Den produktionsbezogenen Dienstleistungen kommt demnach eine besondere Bedeutung in den von Manuel Castells beschriebenen Transformationen zu. Internetagenturen lassen sich, der Castell’schen Definition nach, als produktionsbezogene Dienstleistungsbetriebe fassen. Ein Merkmal der Beziehung zwischen Kunde – als Käufer der Dienstleistungen – und Dienstleister ist, dass die Grenzen zwischen Aufgaben- und Tätigkeitsbereichen des produzierenden und des dienstleistenden Unternehmens nicht strikt gezogen werden können, vielmehr sind Kunden häufig unverzichtbare Koproduzenten von Gütern und Dienstleistungen (vgl. Bauer 2005: 242). Damit wird die Koordination von Tätigkeiten und die Verständigung über Inhalte oder Ziele zum wesentlichen Bestandteil des täglichen Arbeitshandelns. Die Koordinations- und Kommunikationsprozesse in der Dienstleistungsinteraktion sind
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dabei nicht nur durch fachliches Wissen gekennzeichnet, sondern auch durch das Wissen um kulturelle (Klassen-)Differenzen oder Sprachstile (vgl. Mikl-Horke 1994: 213). Dieses häufig implizite Wissen geht in die tägliche Dienstleistungsarbeit ein, die sich vor allem als Aufbau, Pflege und Aufrechterhaltung der Kundenbeziehung zeigt (vgl. Mikl-Horke 1994, Bauer 2005, Sauer 2002). Missverständnisse oder Irritationen durch unangemessenes Handeln können Abläufe empfindlich stören und die Beziehung zum Kunden gefährden. Dies gilt umso mehr, als sich die Kundenwünsche und -anforderungen in der Ausgestaltung der Projekte und Produkte widerspiegeln müssen. Die sichere Kenntnis darüber, „wie der Kunde tickt“, ermöglicht es, diese Wünsche rechtzeitig zu „erspüren“ und das tägliche Arbeitshandeln zu routinisieren, da das Verhalten des Interaktionspartners vorhersagbarer wird (vgl. Shire 2005). Die Routinisierung von Handlungsflüssen dient somit zum einen der Steigerung der Produktivität durch die Einsparung von Zeit und zum anderen der Bewältigung von Unsicherheiten, die sich aus der Dienstleistungsarbeit im Kundenkontakt ergeben (vgl. Bauer 2005: 241). Technik irritiert Arbeit Die Kontingenz im Arbeitsalltag eines Dienstleistungsbetriebs wird nicht alleine durch den Kunden evoziert, sondern auch durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien. Bereits 1999 nutzten bis zu 86 Prozent aller Tätigen „in den Bereichen, die durch einen hohen Grad an Recherche, Auswertung oder Planungs- und Entwicklungsaufgaben gekennzeichnet sind, sowie in allen klassischen Bürotätigkeiten“ den Computer als wichtigstes Arbeitsmittel (vgl. Kleemann/Matuschek 2001: 258). Den neuen Technologien werden dabei grundlegende Transformationspotenziale auf die Arbeits- und Organisationsformen sowie auf die Gesellschaft im Allgemeinen zugeschrieben, die sich im Begriff der Informationsgesellschaft zusammenfassen lassen.12 Eine technikdeterministische Perspektive greift hierbei allerdings zu kurz, vielmehr ist von komplexen Wechselwirkungen zwischen Technologien und Arbeitsorganisation auszugehen: neue Technologien entfalten durch ihre technischen Potenziale und auch Restriktionen ihre Wirkung auf Organisationen, die Organisation ihrerseits bestimmt die Gestaltung und Implementierung der Technologien (vgl. Flecker/RieseneckerCaba/Stry 2001: 161). Dies wiederum steht in Wechselwirkung zu „konkrete(n) Anwendungsweisen durch die Subjekte im Arbeitsalltag“ (Matuschek/Hennin12
Vgl. hierzu u.a. Castells 2001, und im Überblick zur Diskussion Knoblauch 1996, Flecker/Riesenecker-Caba/Stry 2001.
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ger/Kleemann 2001: 8). Die beschriebene Komplexität wird verstärkt durch die Vielschichtigkeit vor allem des vernetzten Computers: Hardware, Software, Maschine, Medium oder digitaler Aktenordner. Es besteht eine analytische Spannung zwischen der Geschlossenheit der lokalen Rechnereinheit und der Offenheit des vernetzen Informations- und Kommunikationsmediums. Die Durchdringung des Arbeitsalltags mit neuen Technologien wird in dieser Perspektive zu einer Frage sich vervielfältigender Kommunikations- und Arbeitsformen. Neben die Kommunikation unter Anwesenden treten verstärkt auch Kommunikationspraktiken, die über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg verlaufen: „Technologie erschließt uns eine ,sekundäre Wirkzone’ des Handelns, das sich an räumlich und zeitlich verteilte Akteure richten kann“ (Knoblauch 1996: 355). Alte Kommunikationsformen werden nicht vollständig ersetzt, sondern die Vielfalt der zur Verfügung stehenden Kommunikationsmedien wird erhöht (vgl. Hörning/Sieprath 2004: 57) und in den Kommunikationspraktiken in einer je spezifischen Weise eingesetzt. Damit wird die richtige Wahl der Kommunikationsform zu einem zentralen Moment des Arbeitsalltags. Die Auswahl wird nicht nur durch Fragen der Erreichbarkeit oder der technischen Kompetenz des Kommunikationspartners beeinflusst, sondern in sie geht auch das häufig implizite Wissen über die Angemessenheit der Kommunikationsform im jeweiligen Kontext ein. An der kommunikativen Praxis nimmt der Computer dabei nicht nur zur Herstellung oder Irritation des Kommunikationsprozesses teil, sondern auch als Thema der Kommunikation und als Sprechanlass, wie in der begleitenden Kommentierung von Handlungsschritten bei der Nutzung des Computers (vgl. Habscheid 2001, Knoblauch 1996) oder durch das Hinzuziehen von Kolleginnen zur gemeinsamen Bewältigung von Störungen des Arbeitsprozesses, ausgelöst durch ein Nichtfunktionieren der Maschine oder Software (vgl. Hörning 2001: 99). Die Arbeit an und mit neuen Technologien ist nicht nur eine Frage sich vervielfältigender Kommunikationsformen, sondern auch neuer Arbeitsformen. Erste Beschreibungen dieser neuen Formen von Arbeit gingen noch von einer Zunahme an Gestaltungs- und Entscheidungsmöglichkeiten aus. Es zeichnete sich allerdings in weiteren Studien ein sehr heterogenes Feld von Tätigkeiten, die von standardisierter Dateneingabe bis hin zu komplexen Informationsaufbereitungen reichen und damit auch einen unterschiedlichen „Subjektbedarf“ (vgl. Baukrowitz/Boes/Schmiede 2001: 23, Holtgrewe 1997) aufweisen. Sabine Pfeiffer (2001) nimmt eine Typisierung vor, die die Bezüglichkeit von Arbeitsmedium, Arbeitsobjekt und subjektivierendem Arbeitshandeln aufzeigt und verdeutlicht, dass in der spezifischen Zusammensetzung dieser Kategorien das jeweils qualitativ Typische der Arbeit liegt. So wird unterschiedliches Wissen erforderlich, um die an den Arbeitenden gestellten Aufgaben bewältigen zu können: Er
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muss überschauen können, wie das Gewebe der Arbeit strukturiert ist und wie es praktisch handhabbar gemacht werden kann, unter Berücksichtigung der je spezifischen Besonderheiten der am Arbeitsprozess beteiligten Technologien. „Was Technik aber trotz aller nützlichen Errungenschaften nicht hervorbringt, ist die Einsicht in und ein Urteil über die praktische Situation, in der sie eingesetzt werden soll. Dafür ist praktisches Wissen notwendig, das nicht nur über die Angemessenheit bestimmter praktischer Einsatzweisen befindet, sondern auch Vorstellungen davon enthält, welche Formen des sozialen Lebens wünschenswert und welche es weniger sind.“ (Hörning 2001: 165)
Geschlecht irritiert Arbeit Die Frage der Angemessenheit, und vor allem die Frage nach dem sozial Erwünschten, stellt sich im Arbeitsalltag auch entlang der Kategorie Geschlecht. Alte Gewissheiten und Grenzziehungen sind auch hier nicht mehr als selbstverständlich voraussetzbar. Zunächst lässt sich ein starker Zustrom von Frauen in die bezahlte Erwerbsarbeit konstatieren: „In den OECD-Ländern stieg die Beteiligung der Frauen an der Erwerbstätigkeit von durchschnittlich 48,3 Prozent 1973 auf 61,6 Prozent 1993, während sie für die Männer von 88,2 Prozent auf 81,3 Prozent zurückging“ (Castells 2001: 170). Für unternehmensbezogene Dienstleistungen ist ein besonders starkes Wachstum zu verzeichnen, das für die gesamte Skala der Qualifikationsstruktur gilt (ebd.: 177). Formale Barrieren, wie rechtliche Diskriminierungen von Frauen am Arbeitsmarkt, wurden beseitigt. Gleichstellungsmaßnahmen für Frau und Mann werden unter dem Label „Gender Diversity“ auch in Wirtschaftsunternehmen implementiert, und Genderberaterinnen und -berater unterstützen Unternehmen in ihrem Bestreben, ihr weibliches und männliches „Human-Kapital“ besser zu nutzen (vgl. Koall/Bruchhagen/ Höher 2002, Andresen 2008). Neue Möglichkeiten zur Ausgestaltung von Geschlechterstruktur und -verhältnissen lassen sich vor allem dort vermuten, wo sich ein organisationeller Wandel vollzieht (vgl. u.a. Nickel/Frey/Hüning 2003, Priddat 2004, Peinl/Völker 2001). Denn in jenen „Übergangsphasen, in denen eindeutige institutionelle Vorgaben und Handlungsanweisungen fehlen, sind geschlechtliche Kategorisierungen, Status- und Vergleichsprozesse ein wesentliches Element der Interaktionen, durch die Organisationsregeln und Strukturformen geschaffen werden.“ (Ridgeway 2001: S. 261). Wie und welche geschlechtlichen Arrangements sich ausbilden, ist in dieser Perspektive eine praktische Aushandlungssache, bei der geschlechterdifferenzierende Praktiken grundlegende Neujustierungen erfahren, aber auch auf altbewährte Weise wiederholt werden können. So verwundert es nicht, dass einige Untersuchungen zu eher ernüchternden Ergebnissen hinsicht-
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lich einer Transformation der Geschlechterverhältnisse in der Arbeitswelt kommen. Ursula Hornung arbeitet in einer Analyse zahlreicher Studien heraus, dass von einem „Umbruch“ im Sinne einer qualitativ neuen Stufe keine Rede ist, eher muss von einer Reproduktion althergebrachter Ungleichheiten im neuen Gewand gesprochen werden (vgl. Hornung 2003: 144). Dies führt sie zurück auf eine fehlende „deutliche Zunahme der Verteilungsgerechtigkeit im Hinblick auf die Zugangsmöglichkeiten von Frauen zu attraktiven Arbeitsplätzen, Einkommen und gesellschaftlichen Machtpositionen“ (ebd.). Diese Einschätzung wird durch andere Untersuchungen bestätigt, wie für Unternehmen der New Economy (vgl. Ortlieb/Rokitte 2004) oder für das Top Management der oberen 10 Prozent (vgl. Pasero 2004). Vertikale und horizontale Segregationen entlang von Geschlecht auf formaler Ebene sind ebenso auszumachen wie informelle Strukturen bei der Rekrutierung von Personal und den Beziehungsnetzen des Unternehmens, die Asymmetrien zwischen den Geschlechtern herstellen und reproduzieren. Und selbst wenn Positionen, z.B. bei der Teamarbeit, gleich verteilt sind, können erhebliche Irritationen auftreten, wenn Männer oder Frauen geschlechtstypische Repertoires verlassen und „unangemessen“ oder „inkompetent“ handeln: Geschlechter-Differenzen tragen zu einer Störung von Kooperationsprozessen bei (vgl. Priddat 2004: 182). „Der Bezug auf Geschlecht, so kann man zusammenfassen, wird eingebaut in organisationstypische Formen der Herstellung sozialer Ordnung, er ist relevant in Organisationen, aber nicht immer, nicht überall und nicht immer gleich, er ist also situationsabhängig, er ist kontextabhängig, und er ist variabel.“ (Wilz 2004: 247)
2.2 Mit „Technik“ auf Herausforderungen blicken Die Arbeit in Internetagenturen ist eng mit Technik verbunden. Dabei geht es um die Arbeit mit Technik, um z.B. per E-Mail zu korrespondieren, aber auch um die Arbeit an Technik, welche z.B. in der Erstellung von Websites deutlich wird, und schließlich die Arbeit durch Technik, weil Technik auch Arbeit macht, z.B. im Nichtfunktionieren oder beim Pflegen und Warten. Herausforderungen der Ordnung im Arbeitsalltag müssen daher auch in der Technik selbst gesucht werden. Anders als der Forschungsgegenstand „Arbeit“, der der Soziologie abhanden zu kommen droht, wird „Technik“ wieder in den Horizont der soziologischen Forschung zurückgeholt. Technik galt der Soziologie lange Zeit als außersozial (vgl. Rammert 2007). Wenn überhaupt, dann wurde Technik eine determinierende Wirkung auf das Soziale zugesprochen und Technik als Sach-Technik zum Gegenstand der Soziologie (vgl. Rammert 2007). Fragestellungen nach dem
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Funktionieren, Fehl- oder Nichtfunktionieren vor allem mechanisch-technischer Geräte und Anlagen traten in den Fokus. Die Erforschung der Entstehung von Sachtechnik, zunächst im Rahmen der Technikgeneseforschung, erweiterte den Blick auf die gesellschaftliche Situiertheit und soziale Konstruktion von Technik (vgl. Degele 2002). Die Handlungstechnik und mit ihr die Entwicklung und der Gebrauch technischer Artefakte werden nun in den Begriff der Technik inkludiert: „Denn Technik bezieht sich nicht nur auf die Artefakte, die Kunstprodukte, sondern auch auf die Kunstfertigkeiten und Kunstgriffe, das heißt die Techniken, sich mehr oder weniger kenntnisreich und geschickt auf eine Sache einzulassen und sie gekonnt zu betreiben, um so bestimmte Wirkungen zu erzielen.“ (Hörning 2001: 231f)
Korrespondierende Softwareagenten, mediale Internetanwendungen oder digitale Kommunikationssysteme bringen schließlich eine weitere Dimension von Technik ins Spiel, den der Technologie: „Der Begriff der Technologie betont den systematischen, an spezifischen Effizienzkriterien ausgerichteten Korpus technischen Wissens und technischer Regelwerke“ (Hörning 2001: 34, Hervorh. im Original), der sich z.B. in Zeichensystemen, Codes und Protokollen zeigt. Arbeit irritiert Technik Der Computer macht die Komplexität von Technik besonders deutlich. Er ist „hard“ und „soft“ zugleich, er ist Maschine und Medium, Werkzeug und Interaktionspartner und er ist allgegenwärtig. Doch erst mit der hinter ihm liegenden technischen Infrastruktur, den Servern, Backbones, Protokollen und Zeichensystemen, die sich als Internet, Intranet oder E-Mails zeigen, wird der Computer zu der „zentralen Chiffre für das Zeitalter, in dem wir gegenwärtig leben“ (Rammert 2007: 179). Durch die Vernetzung des Computers erweitert sich der Aktionsraum des lokalen Computerarbeitsplatzes erheblich. Dies nicht nur räumlich und zeitlich, sondern grundsätzlich, indem er einen weiteren „Handlungs- und Erfahrungsraum“ eröffnet (vgl. Rammert 2007: 181). Zu diesem neuen Erfahrungsraum gehört, dass der Computer, durch seine „Formenvielfalt und seinen Formwechsel, mit seinen Beiträgen und Produkten“, erfahrbar werden lässt, „dass Komplexität nicht bewältigt und Probleme nicht gelöst werden, sondern permanent kommunikativ be- und überarbeitet werden müssen“ (Hörning 2001: 112). Der Computer evoziert darüber hinaus voraussetzungsvolle Interaktionen, da es im Prozess der Bearbeitung von Problemen gilt, verschiedene Perspektiven auf und Beziehungen zu vernetzen Computer in Einklang zu bringen. Unterschiedliche Akteure bringen unterschiedliche praktische Erfahrungen im Um-
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gang mit der Technik mit, die unterschiedliche Anpassungen des Körpers, der Wahrnehmung und des Verhaltens an die soziotechnischen Skripte hervorbringen (vgl. Hirschauer 2004: 79). Um ein Problem in einer angemessenen Weise lösen zu können, müssen Kenntnisse darüber vorliegen, welche Akteure anzurufen sind und bei welchem vom größtmöglichen Lösungserfolg ausgegangen werden kann. Hierbei können auch nichtmenschliche Lösungshilfen in Anspruch genommen werden, wie Foren, Handbücher oder Herstellerwebsites. Die sich hier abzeichnenden Konstellationen zwischen Techniken und menschlichen Akteuren kann noch erweitert werden, wenn man den Entwicklungsprozess von Technik mitdenkt. Welche Möglichkeiten im Umgang mit Technik bestehen, wird auch durch materiale und technologische Rahmen beschränkt bzw. ermöglicht. So ist ein Computer kein Handmixer und ein Handmixer kein Mobiltelefon. Ein Computer kann aber ein Mobiltelefon werden, wenn es sich um ein Laptop handelt, eine Verbindung zum Internet besteht, Mirkofon und Lautsprecher funktionieren und eine Kommunikationssoftware wie Skype installiert ist. Dennoch wäre ein zentrales erwartetes Merkmal des Mobiltelefons, der Tragekomfort, stark eingeschränkt. Dieses Beispiel soll illustrieren, dass bei der Entwicklung von Technik auch bestimmte Modelle seiner Nutzung und seiner Nutzer und Nutzerinnen eingehen (vgl. Degele 1994: 96, Jelden 1999: 166). Dabei ist Modellbildung, z.B. in Forschungs- und Entwicklungsabteilungen von Mobiltelefonherstellern, ein Aushandlungsprozess, der von Kooperation und Konkurrenz gekennzeichnet ist und an dem unterschiedliche Akteure mit jeweils unterschiedlichen Visionen, Entwürfen und Erwartungen beteiligt sind (vgl. Rammert 2007: 20). Geschlecht irritiert Technik Unterschiedliche Visionen, Entwürfe und Erwartungen werden in unserer Gesellschaft auch entlang der Geschlechterdimension entwickelt. Da Artefakte soziale Beziehungen inkorporieren und mit sozialen Konstruktionsleistungen verknüpft sind, geht in sie auch die Beziehung der Geschlechter ein (vgl. Degele 2002: 105). Die feministische Technikforschung und die jüngere Techniksoziologie haben zahlreichen Entwicklungslinien von technischen Innovationen nachgespürt und aufgezeigt, wie Geschlecht in diesem Prozess bedeutsam wird.13 Dabei ist von Bedeutung, dass der Beruf des Ingenieurs und der neue Beruf des Programmierers nach wie vor Männerdomänen sind (vgl. Baily et.al. 2006, Teubner 2009). Technische Innovationen werden in den Forschungs- und Ent13 Zu einem Forschungsüberblick sei auf Degele 2002 verwiesen.
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wicklungsabteilungen vor allem von Männern entwickelt und im hohen Maße auch von Männern supervisiert. Sie sind im größeren Maße als Frauen daran beteiligt, Standards, Routinen und Handhabungen bei der Modellbildung zu definieren und ihre Vorstellungen von prospektiven Nutzern und Nutzerinnen einzubringen (vgl. Wajcman 2004: 48). Im Entwicklungsprozess stehen die unterschiedlichen Erfahrungshorizonte der beteiligten männlichen Akteure zur Aushandlung. Wie im Mainstream der – auch feministischen – Technikforschung ist davon auszugehen, dass Männlichkeiten dabei nicht expliziert, sondern als Standard unhinterfragt vorausgesetzt werden (vgl. Wajcman 2004: 45). Zum Entwicklungsprozess gehört eine Phase der Stabilisierung und Standardisierung (vgl. Rammert 2007: 29), welche dadurch gekennzeichnet ist, dass sie „necessarily involve negating the experience of those who are not the standard“ (Wajcman 2004: 42). Schließlich wird durch Marketing und Verkauf versucht, Vorstellungen von dem, was wünschenswert und angemessen ist, und damit bestimmte Formen des Umgangs mit dem technischen Artefakt nahezulegen: „Gendering does not begin and end with design and manufacturing“ (ebd.: 47). Wie sich „Gendering“ zeigt, ist eine empirische Frage, denn „trotz aller genau eingebauter und eingeschriebener Handlungsanweisungen, deren Befolgung gerade für Laien die optimale Funktionsnutzung verspricht, bietet Technik oft erhebliche Spielräume der Nutzung“ (Hörning 2001: 35). Damit wird die Bedeutung von Technik in den Umgangspraktiken zu einer kontinuierlichen Aushandlungssache und einer ständigen Neu-Erfindung (vgl. Wajcman 2004: 47). 2.3 Mit „Geschlecht“ auf Herausforderungen blicken Es ließ sich bereits nachzeichnen, dass Arbeitshandlungen, Arbeitsstrukturen und -organisationen durch Veränderungen der Geschlechterverhältnisse herausgefordert werden. Bei technologieorientierten Tätigkeitsfeldern wie Internetagenturen tritt hinzu, dass in die tägliche Arbeit, z.B. die Entwicklung neuer Internetapplikationen, geschlechtliche Erfahrungsräume zumeist männlicher Entwickler in Nutzungsmodelle eingehen. Wenig beleuchtet wurde bisher hingegen, inwiefern die Konstruktion von Geschlecht, d.h. die grundsätzlichen Vorstellung vom Frau- und Mann-Sein, durch Transformationsprozesse herausgefordert werden. Der Forschungsgegenstand „Geschlecht“ hat in der kurzen Zeit seiner wissenschaftlichen Existenz ein breites Spektrum an Forschungsaktivitäten ausgelöst. Es lässt sich eine Entwicklung beginnend mit der Erforschung der Lebenslagen von Frauen über die Verhältnisse von Frauen und Männern hin zu Weiblichkeiten und Männlichkeiten sowie der Erkenntnis, dass Geschlecht auch im-
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mer ein Binnenverhältnis inkludiert, nachzeichnen. Die fortlaufende Reflexion des eigenen Gegenstands und auch des Standpunkts der Forscherin und des Forschers im Erkenntnisprozess gehört zu zentralen Aspekten der geschlechtersoziologischen Wissenschaftstradition (vgl. Aulenbacher et al. 2006: 9, vgl. auch: Knapp 2003). Arbeit irritiert Geschlecht Im ausgehenden 19. Jahrhundert bildeten sich bis heute gängige Vorstellungen davon aus, was eine Frau und einen Mann ausmacht (vgl. u.a. Meuser 2007: 35). Eng verwoben ist diese Entwicklung mit der (bürgerlichen) Trennung von „Privatsphäre“ und „Erwerbsphäre“, die als bipolar konstruiert und je einem Geschlecht zugeordnet wurde. Für Männer entwickelte sich das Bild des außerhäuslichen, öffentlich agierenden Menschen, der mit seiner Erwerbsarbeit die Existenz der Familie sichert. Dies wurde abgesichert durch das „Normalarbeitsverhältnis“, das eine Linearität der Berufsbiografien und der Karriereverläufe garantierte. Komplementär dazu zeigten sich (Haus-)Frauen zuständig für die Umsetzung der familiären Grundversorgung und der Stabilität sozialer Bindungen. Sie sicherten der Familie die praktische Einbettung in die gesellschaftlich relevanten Beziehungen. Die „Erwerbsphäre“ war nicht nur der relevante Ort für den Mann, sondern (viele) Männer waren maßgeblich an der Ausbildung der hier vollzogenen Praktiken beteiligt und verfügten so über die Macht, Relevanzen zu definieren (vgl. Hearn 2009). Die Idealisierung der „Sphären“ der Reproduktion und der Produktion diente auch der Konturierung der Geschlechter-Grenzen, die existierende Übergänge zwischen ihnen ausblendet. Die „Sphären“ wurden geschlechterexklusiv konstruiert und bildeten so den Kern einer industriegesellschaftlichen Geschlechterordnung (vgl. Meuser 2007: 34). Die geschlechtliche Segregation des Arbeitsmarktes setzte die Grenzziehung fort, indem Berufe, Tätigkeitsbereiche, Aufgaben und hierarchische Positionen einem Geschlecht zugeordnet werden und sich Schließungspraktiken gegen das je andere Geschlecht ausbildeten (vgl. Allmendinger/Podsiadlowski 2001). Im Zuge dieser Prozesse finden nicht nur Zuweisung von Personen zu einem Geschlecht und damit zu z.B. einem geschlechteradäquaten Tätigkeitsfeld statt, sondern durch die Tätigkeiten vergeschlechtlichter Personen werden auch Tätigkeitsfelder vergeschlechtlicht. Dies konnte in Studien über Berufe gezeigt werden, die historisch einen „Geschlechtswechsel“ vollzogen haben, wie der Sekretärin (vgl. Buhr/Buchholz 1999) oder dem Programmier (vgl. Hoffmann 1987). Es entsteht demnach ein Wechselverhältnis zwischen Tätigkeitsbereichen und Personen: Vornehmlich von Männern ausgeübte Tätigkeiten werden männlich
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und Personen, die Männer sind, üben männliche Tätigkeiten aus. So „erinnern“ Tätigkeit und Personen sich und andere gegenseitig an „ihr“ Geschlecht (vgl. Wilz 2008). Spätestens seit den 1980er Jahren lässt sich eine Vielzahl von Veränderungen in der Arbeitswelt empirisch beobachten, die in den theoretischen Konzepten der Subjektivierung und Entgrenzung von Arbeit (vgl. Moldaschl 2002), des Arbeitskraftunternehmers (vgl. Pongratz/Voß 1998), aber auch in den Diagnosen des Post-Taylorismus oder der informationellen Revolution (vgl. Castells 2001) ihre Beschreibung suchen. Gemein ist den Befunden, dass sie neben Dynamiken in den Strukturen der Erwerbsarbeit auch solche in den vormals starren Grenzziehungen erkennen lassen, die sich entlang der Geschlechtergrenzen ausgebildet haben. Beispielsweise fordert die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses das Modell des männlichen Alleinernährers heraus, die Entstandardisierung von Arbeitszeit- und Arbeitsraumarrangements tangiert die Trennung der „weiblichen“ Reproduktions- und der „männlichen“ Produktionsphäre, die Zunahme der Bedeutung von Subjektivität in der Arbeitsorganisation bringt neben bis dato vorherrschenden männlichen Eigenschaften auch weibliche Eigenschaften als „Human-Ressource“ zur Bedeutung (vgl. Meuser 2007). Um mit Bettina Heintz zu sprechen: „Das Geschlechterverhältnis ist ordentlich in Unordnung geraten“ (Heintz 2001: 9). Forschungsansätze, die systematisch neben einer Relevanzsetzung von Geschlecht auch eine Nicht-Relevanzsetzung der Kategorie Geschlecht integriert haben, legen nahe, dass sich erst in der Praxis ergibt, ob und inwiefern Geschlecht zur Bedeutung gebracht wird (vgl. Heintz et al. 1997). Damit wäre nicht nur das Geschlechterverhältnis mit Ungewissheiten belegt, sondern auch Geschlecht, da es sowohl relevant gesetzt, als auch „sozial vergessen“ (Hirschauer 2001: 208) werden kann. Da Geschlecht hier als eine relationale Kategorie sozialer Ordnung zu verstehen ist, gilt es erneut hervorzuheben, dass die Veränderungen Frauen und Männer betreffen bzw. Weiblichkeiten und Männlichkeiten. Dank der Frauenforschung liegen zahlreiche Befunde zu Veränderungen weiblicher Lebenslagen vor; ob und inwiefern Männlichkeit(en) von den Neuerungen in der Arbeitswelt betroffen sind und sich die Erwerbsarbeit für Männer verändert hat, wird nur sehr wenig expliziert und ist empirisch kaum erforscht (vgl. Meuser 2009). Technik irritiert Geschlecht Den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien wird, häufig in einer deterministischen Sichtweise, ein maßgeblicher Einfluss auf die Veränderungstendenzen von Geschlechterverhältnissen am Arbeitsplatz zugesprochen. Dies
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vor allem, da sich die neuen Technologien in vielen Arten von den klassischen Maschinen unterscheiden und sich daher auch für geschlechtliche Zuschreibungen von Technik neue Möglichkeitshorizonte vermuten lassen (vgl. u.a. Schmitt 1999: 213, Janshen et.al. 1990: 11). Worin allerdings das typisch Neue für die Veränderung in den geschlechtlichen Zuschreibungen liegt, bleibt in diesen Analysen weithin im Dunkeln. Die Frage bleibt, wie Technik, oder präziser Technologien, neue oder andere Möglichkeiten des Mann- und Frau-Seins eröffnen oder ob es neue geschlechtliche Merkmale sind, die Technik zugeschrieben werden oder aber ob neue Technologien den Gebrauch durch ein (anderes) Geschlecht nahe legen. Eine Annäherung an die Frage eröffnet die Auseinandersetzung mit einem erweiterten „Handlungs- und Erfahrungsraum“ (vgl. Rammert 2007: 181). Dieser wird vom vernetzten Computer ermöglicht und kann als „sekundäre Wirkzone“ des Handelns (vgl. Knoblauch 1996: 355) beschrieben werden. Dieser erweiterte Möglichkeitshorizont richtet sich einmal nach „außen“, indem er sich weitgehend unabhängig von Raum und Zeit gestaltet, aber - und das ist von besonderem Interesse - auch nach „innen“, da die Eigenkomplexität des Computers „alle Vorstellungen des zwanghaft Notwendigen oder des natürlich Gegebenen, alle So-und-nicht-anders-Vorstellungen“ (vgl. Hörning 2001: 112) unterläuft. Eine wie auch immer geartete geschlechtliche Konnotierung von Computer(technologie) ist demnach nicht zwangsläufig notwendig, nicht immer da und immer gleich, sondern auch diese muss immer wieder hergestellt und reproduziert werden (vgl. Wajcman 2004: 54). In der Technikforschung hingegen wurde lange Zeit implizit eine eindeutige geschlechtlichen Konnotierung von Technik unterstellt, was sich auch in der Auswahl der Forschungsgegenstände der Techniksoziologie ablesen lässt. Diese stammen zumeist aus männlichen Lebenszusammenhängen: männlich dominierte Tätigkeitsbereiche wie das Kontrollzentrum der Londoner U-Bahn (vgl. Heath/Luff 1992), männlich dominierte digitale Spiele wie Ego-Shooter (vgl. Hahne 2006), männlich konnotierte Artfakte wie das Auto (vgl. Callon 1983). Erst durch die feministische Forschung wurden technische Artefakte des häuslichen Gebrauchs in den Blick gerückt (vgl. Wajcman 2004: 48, Degele 2002). Mit dieser Perspektiverweiterung wird nicht nur der Kreis „forschungswürdiger“ technischer Dinge vergrößert, sondern es vollzieht sich auch eine Verflüssigung der Grenzen zwischen Produktion und Konsumption von Technik. Die Bedeutungsaushandlung von Technik endet nicht mehr nach der Entwicklungsphase, sondern setzt sich in den Umgangspraktiken des alltäglichen Gebrauchs fort. Damit wird der Blick für das Wechselspiel zwischen den Logiken der Umgangspraktiken in den Entwicklungs- und Produktionsprozessen und jenen in den Nutzungs- und Konsumptionsprozessen sichtbar.
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2.4 Arbeitsalltag in Internetagenturen Das Untersuchungsfeld Internetagentur weist typische Merkmale von produktionsbezogenen Dienstleistungsbetrieben auf. Internetagenturen sind eigenständige Unternehmen, die ihren (zumeist) extern lokalisierten Kunden Informationen und Beratung anbieten, um deren Produktivität und Effizienz zu steigern, wie dies Manuel Castells (2001) als typisch beschreibt. Ihre Expertise liegt dabei im Internet, genauer gesagt in den Feldern der kommerziellen Nutzung des Internets. Sie beraten ihre Kunden über die Möglichkeiten der Ausnutzung des Internets, um Marktanteile, Verkaufszahlen oder Beziehungen zu den Kunden der Kunden zu optimieren. Dazu sind Formen von Arbeit in der Agentur notwendig, die exemplarisch für Wissensarbeit, Kommunikationsarbeit oder auch informationelle Arbeit sind. Wie u.a. Nicole Mayer-Ahuja und Harald Wolf (2005) betonen, ist gerade in den durch Internetagenturen repräsentierten Untersuchungsfeldern von einer Häufung von Wandlungsphänomenen auszugehen. Wandlung impliziert, in Anlehnung an Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (2006), dass bestehende Ordnungen sich neu formieren. In der vorliegenden Untersuchung interessieren hierbei sich vervielfältigende Grenzziehungen, die Ordnungen herausfordern können. Eine erste Literaturanalyse zeigte ein weites Feld an relevanten Herausforderungen auf, die das Gelingen von Arbeit in Frage stellen. Zunächst lässt sich die Kundenbeziehung hervorheben. Die tagtägliche Interaktion mit dem Kunden gehört zum basalen „Geschäft“ von Dienstleistungsbetrieben. Die Erkennung von Kundenwünschen oder die Eingrenzung von Zielvorstellung der Projekte ist dabei ein voraussetzungsvolles Tätigkeitsfeld, das eine sehr enge Beziehung zum Kunden erfordert, um Wissen darüber zu generieren, wie der Kunden „tickt“ (vgl. Shire 2005). Erst wenn dieses Wissen in ausreichendem Umfang vorhanden ist, können sich Arbeitsroutinen ausbilden, die helfen Unvorhersehbarkeiten in einer standardisierten Weise zu „managen“, wie Karen Shire (2005) ausführt. Zum Wissen „wie der Kunde tickt“ gehört auch, das Wissen über kulturelle Besonderheiten, Anstandregeln oder spezifische Sprachstile im Umgang mit dem Kunden zu haben (vgl. Mikl-Horke 1994). Die Interaktion mit dem Kunden erfolgt nicht nur unter physisch Anwesenden, sondern auch mittels neuer Kommunikationstechnologien. Das Gleiche gilt für die Interaktion mit Kolleginnen oder weiteren Geschäftspartnern. Neben der computervermittelten Kommunikation bleiben auch alte Kommunikationsformen, wie persönliche Gespräche oder Telefonate, weiter bestehen, so dass von einer Vervielfältigung der Kommunikationsformen auszugehen ist (vgl. Hörning/Sieprath 2004). Die Auswahl der „richtigen“ Form wird zu einer vorausset-
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zungsvollen Arbeitshandlung, die nicht nur ein Wissen über technische Möglichkeiten beinhaltet, sondern auch über Regeln der sozialen Erwünschtheit. Die neuen Technologien sind in Internetagenturen allerdings nicht nur für die Kommunikation von Bedeutung, vielmehr wird an ihnen gearbeitet, mit ihnen gearbeitet und sie werden auch bearbeitet. Am Arbeitsprozess lassen sich vielfältige Beteiligte ausmachen, menschliche wie auch nicht menschliche, so dass es gilt, sich virtuos in diesem spezifischen Geflecht zu bewegen. Dies setzt weiteres praktisches Wissen voraus, um die verschiedenen Beteiligten in einer effizienten Weise aufeinander abzustimmen. Technisches Können, Eingabenotwendigkeiten oder Softwarevoraussetzungen müssen eingeschätzt und im Arbeitsprozess eingeplant werden (vgl. Pfeiffer 2004). Die Gewissheit, immer die richtige Wahl zu treffen, wird auch durch Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen herausgefordert. Neben Männern strömen Frauen auf den Arbeitsmarkt und konkurrieren zunehmend um (nahezu) alle Positionen. Dabei bieten vor allem neue Tätigkeitsfelder, wie in Internetagenturen, eine gewisse Offenheit für neue Geschlechterarrangements, da Hierarchieebenen, Aufgabenbereiche und Beschäftigungsstrukturen noch wenig institutionalisiert sind (vgl. Ridgeway 2001). Gewissheiten über geschlechtliche Zuweisungen und Positionen im Unternehmen können nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Bedeutsam wird dies auch vor dem Hintergrund eines gestiegenen Bedarfs an Kooperationen z.B. bei projektorientierter Teamarbeit, bei der Männer nun nicht mehr nur mit anderen Männern kooperieren müssen, sondern auch mit Frauen. Damit ist es nicht mehr nur ausreichend, über ein hinreichendes Wissen des eigenen Geschlechts zu verfügen, sondern ebenso notwendig wird es, etwas über die Regeln der Angemessenheit des „anderen“ Geschlechts zu wissen. Denn gerade in Kooperationssituationen können erhebliche Irritationen auftreten, wenn Männer oder Frauen inkompetent mit geschlechtsspezifischen Repertoires umgehen (vgl. Priddat 2004). Die neuen Technologien, maßgeblich der vernetzte Computer, treten nicht nur hinsichtlich der Implementierungsprozesse in Unternehmen in den Blick, sondern auch durch das ihnen inhärente „Neue“. Dieses ist vor allem in der hohen Eigenkomplexität der Technik zu suchen, wie Hörning (2001) ausführt. Sie fordert ständig zur Bearbeitung heraus, da sie Fragen aufwirft und Probleme provoziert, die dann verhandelt und gelöst werden müssen. Im Arbeitsalltag ist es daher notwendig, beständig andere Akteure zu involvieren, die allerdings je über spezifische Perspektiven auf den Computer verfügen, wie auch in unterschiedlichen Beziehungen zu ihm stehen. Wer zu welcher Zeit und für welches Problem hinzuzuziehen ist, stellt eine voraussetzungsvolle Frage dar. In Internetagenturen erhöht sich die Bearbeitungsnotwendigkeit, da Technologien und Techniken sehr zahlreich eingesetzt werden und der Umgang mit ihnen vielfälti-
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ge Formen annimmt. Denn nicht nur die Verwendung von Software für die tägliche Arbeit wird bedeutsam, sondern auch die Entwicklung von Software. So ist auch das Internet nicht nur eine Quelle der Information, sondern ein „ZeichenRaum“ (vgl. Rammert 2007: 15), der von den Arbeiterinnen und Arbeitern in der Agentur „beschrieben“ wird. Die Arbeit in Internetagenturen ist immer auch eine Entwicklungsarbeit in einem ingenieurswissenschaftlichen Sinne, als SoftwareEngineering. Der Entwicklungsprozess von Technik, wie er z.B. von Judy Wajcman (2004) analysiert wurde, zeichnet sich durch einen offenen Aushandlungsprozess unterschiedlichster Akteure aus. Auch Werner Rammert (2007) hat verdeutlicht, dass dabei unterschiedliche Visionen, Entwürfe und Erwartungen in die Entwicklung eingehen. Dieser Entwicklungsprozess ist zunächst ergebnisoffen und wird erst durch verschiedene Phasen „stabilisiert“ (vgl. Bijker/Pinch 2001). Dabei setzen sich Standards durch, die sich auch in einer standardisierten Vorstellung prospektiver Nutzer und Nutzerinnen sowie ihrem Umgang mit der jeweiligen Technik zeigen. Bedeutsam wird hier, dass die Entwicklung zumeist in männerdominierten organisationalen Räumen stattfindet. Entgegen der – häufig impliziten – Unterstellung, Männer seien eine homogene soziale Gruppe, ist hier auch von der Aushandlung und Abstimmung unterschiedlicher männlicher Erfahrungshorizonte auszugehen. Demgegenüber nehmen Frauen nur sehr selten überhaupt an diesen Prozessen teil. Die Technikentwicklung endet allerdings nicht am „Reißbrett“ der Ingenieure, wie die feministische Technikforschung dargelegt (vgl. Wajcman 2004), sondern sie ist ein fortlaufender Prozess, der über Vertrieb und Konsum weiterläuft. Für Internetagenturen zeigt sich, dass die enge Verwobenheit nicht nur zum Kunden und seinen Wünschen, sondern auch zum Nutzer, der entwickelten Internetsoftware den beschriebenen Entwicklungsprozess weiter verdichtet. Das Internet bietet vielfältige Möglichkeiten, die Nutzung sichtbar zu machen, wie z.B. über Trackingsysteme, welche die Fragen beantworten können, wer wann was nutzt. Internetagenturen verfügen so über weit reichende Kenntnisse, wie die Nutzer ihrer Produkte „ticken“. Diese Kenntnisse werden beständig aktualisiert und immer wieder in den Entwicklungsprozess zurückgespielt. Desweiteren müssen sie sich immer wieder mit den Erwartungen ihrer Klienten auseinandersetzen, die wichtige Rahmenbedingungen definieren. Im Arbeitsalltag von Internetagenturen wird ein weiterer Faktor relevant: eine potenzielle geschlechtliche Konnotierung von Technik. Diese Konnotierung, die in der Frauenforschung als männlich beschrieben wird (vgl. Janshen et. al 1990), kann in der alltäglichen Interaktion immer wieder an Geschlecht „erinnern“. Dabei wird den neuen Technologien, vor allem in Kontrast zu den industriellen Produktionsmaschinen, eine Offenheit für geschlechtliche Zuschreibun-
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gen attestiert. Judy Wajcman (2004) hat dargelegt, dass auch eine geschlechtliche Konnotierung von Technik immer wieder hergestellt und reproduziert werden muss. Darüber hinaus ist es vor allem die hohe Eigenkomplexität der neuen Technologien, die klare Grenzmarkierungen generell als unwahrscheinlich erscheinen lässt. Damit werden Grenzübertritte oder verschwimmende Grenzen zu einer alltäglichen Erfahrung in der Arbeit z.B. mit dem vernetzten Computer. Dieser neue Erfahrungshorizont kann sich potenziell auch auf andere soziale Grenzen ausweiten, so dass auch die Grenzen zwischen Frau und Mann, oder unter Männern und unter Frauen, nicht mehr als starr erlebt werden, sondern Gegenstand von Aushandlungen sein können. Es ist vor allem die Erweiterung des Erfahrungs- und Handlungsraumes, der die neuen Technologien auszeichnet (vgl. Knoblauch 1996). Zentrales Merkmal ist dabei, dass der vernetzte Computer erfahrbar werden lässt, dass es keine reine Zweckrationalität und keine grundsätzlich stabile Ordnung im Arbeitsalltag geben kann, wie Hörning (2001) deutlich macht. Gerade die Planbarkeit, Machbarkeit und Steuerbarkeit alltäglicher Arbeitszusammenhänge werden als kontingent erlebt (vgl. Hörning 2001: 112).
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„Arbeit“ als einer der Urbegriffe der Soziologie gerät seit spätestens den 1980er Jahren immer wieder in die Kontroverse.14 „Arbeit“ wurde in der Arbeits- und Industriesoziologie vor allem als Industriearbeit verstanden und der „Arbeitende“ aus der Perspektive der technisch-organisatorischen Prozesse heraus betrachtet (vgl. Mikl-Horke 1994: 349). Diese Perspektive wird den komplexen Befunden zur Heterogenität von Arbeitsformen, Arbeitsverhältnissen, von Wissens- und Dienstleistungsarbeit nicht mehr gerecht und vor allem Entgrenzungsphänomene von Arbeit können nicht systematisch inkludiert werden. Die Richtung, die die Transformationsprozesse einnehmen, ist schwer prognostizierbar (vgl. Sauer 2002), vor allem auch, weil „es [..] die Entwicklung von Arbeit selbst [ist], in der sich die Umbrüche manifestieren“ (Kratzer/Sauer 2007: 236). Es geht somit nicht nur um eine inhaltliche Diskussion über den Wandel von Arbeitsstrukturen, Tätigkeitsfeldern oder Arbeitshandeln, sondern um ein generell anderes Verständnis von Arbeit in der Soziologie. Im Folgenden werden drei soziologische Perspektiven auf Arbeit nachgezeichnet, die nur teilweise in den arbeits- und industriesoziologischen Mainstream eingegangen sind. Maßgeblich ist hierbei die Fragestellung, wie man Arbeit weniger in der Logik von Produktionsbedingungen und organisatorischen Rationalitäten fassen kann, sondern mehr als Grundtatsache des Lebens in seinen gesellschaftlichen Voraussetzungen und subjektiven Bedingungen (vgl. MiklHorke 1994: 352) – anders formuliert: wie man Arbeit in das Geflecht des alltäglichen Lebens zurückholen kann. Zunächst werden wir der arbeits- und industriesoziologischen Debatte zur Subjektivierung von Arbeit folgen. Mit der Fokussierung auf die Prozesse des Zugriffs auf Subjektivität bei der Arbeit und der Einbringung von Subjektivität in die Arbeit kommt der Person des Arbeitenden eine neue Rolle zu – nicht nur in der analysierten Arbeitswirklichkeit, sondern auch in der Forschung. Das Subjekt wird als Bindeglied zwischen Veränderungsprozessen von Märkten und dem Wandel in Unternehmen entdeckt. Diese Entwicklungen werden zunehmend entlang von Entgrenzungsphänomenen diskutiert (vgl. Drinkuth 2007). Die Stu14 Zur Diskussion um den häufig zelebrierten Tod des Arbeitsbegriffs siehe u.a. Hirsch-Kreinsen 2003, Kühl 2004.
D. Lengersdorf, Arbeitsalltag ordnen, DOI 10.1007/978-3-531-93291-0_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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dien zeigen, dass die Subjektivierung auch jenseits der Arbeitsstätte ihre Wirkung entfaltet. Wie sich zeigen wird, kommt den neuen Technologien in diesen Prozessen eine maßgebliche Rolle zu. Aufgrund der spezifischen industrieproduktionellen Perspektive vermag es das Konzept der Subjektivierung von Arbeit allerdings nicht, die Involviertheit von Technik im alltäglichen Arbeitshandeln ausreichend der Analyse zugänglich zu machen. So erfahren wir etwas über veränderte Produktions- und Organisationsbedingungen durch Technologie, aber wenig über den alltäglichen Umgang mit Technik und ihre Involvierung in Arbeitsprozesse. Dass die Abstimmung von verschiedenen Subjekten untereinander, vor allem in Zusammenarbeit mit technischen Artefakten, ein voraussetzungsvoller Prozess ist, wird durch die Arbeiten der Workplace Studies untermauert. Die Subjekte des alltäglichen Tuns „auf der Arbeit“ werden in dieser Perspektive wichtiger und unwichtiger zugleich genommen: Im Gegensatz zum Diskurs der Subjektivierung von Arbeit wird das Subjekt wichtiger genommen, da es nicht nur um eine Nutzung und Einbringung von dem, was das Subjekt in den Arbeitsprozess „mitbringt“, geht, sondern vielmehr darum, dass Arbeitswirklichkeit grundsätzlich erst durch das Handeln von Akteuren entsteht. Zugleich wird das Subjekt weniger bedeutsam, da nicht nur Subjekte, sondern auch (vermeintliche) Objekte, wie Technologien, ihren Platz im alltäglichen Gefüge erhalten. Dass dieses Gefüge auch noch durch soziale Kategorien zusammengehalten wird, zeigt der dritte Diskurs, dem wir folgen wollen. Hierbei wird die Ordnungskategorie Geschlecht in ihrer Relevanz für die Geordnetheit des Arbeitsalltags sichtbar gemacht. Die sich bereits in den Analysen der Workplace Studies abzeichnende Herstellung von Ordnung als Produktions- und Aushandlungsprozess zwischen Subjekten und technischen Artefakten als konstitutives Moment von Arbeitsalltagen wird mit der Geschlechtersoziologie noch erweitert. Hinzu treten Prozesse, die gekennzeichnet sind von gesellschaftlichen Kategorisierungsprozessen, die am Subjekt stattfinden und seine innere Konstitution ebenso betreffen wie seine äußere Erscheinung. Wie auch im Konzept der Subjektivierung von Arbeit werden Machtasymmetrien deutlich, die in den Prozessen quasi eingelagert sind und auch auf die Konstitution des Subjekts einen Einfluss haben. Die Geschlechtersoziologie allerdings macht deutlich, dass sich diese Prozesse nicht nur auf die Arbeitswirklichkeit beziehen, sondern als elementares Bindeglied zwischen jeglicher Form von „Wirklichkeit“ oder „Sphäre“ zu begreifen sind. Zentral für die Erforschung von alltäglichen Wirklichkeitszusammenhängen ist dabei die Omnirelevanz-These. Dieses Konzept bringt grundlegende Problemstellungen für die Untersuchung von Veränderungen und gleichzeitige Beharrungen mit sich, wie darzulegen ist.
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3.1 Ordnung durch Subjektivieren: Subjektivierung von Arbeit Hintergrund für den arbeits- und industriesoziologischen Diskurs zur Subjektivierung von Arbeit sind heterogene Entwicklungen in vielen Wirtschafts- und Betriebsbereichen, die sich u.a. in einer erhöhten Flexibilität der Produktion zeigen, wie auch in einer Verkürzung von Reaktionszeiten auf Marktveränderungen und in einer stärkeren Anpassung der Produkte an Bedürfnisse sich diversifizierender Kundengruppen. Diese Entwicklungen fordern Unternehmen zu einer Flexibilisierung von Arbeit heraus (vgl. u.a. Castells 2001, Sennet 1998, Dörre 2005, Knoblauch 1996). Die unternehmerischen Aktivitäten zielen auf eine Veränderung der Arbeitsstrukturen (vgl. Moldaschl/Voß 2002) und der Organisation von Arbeit (vgl. Knoblauch 1996). Dabei lassen sich vielfältige betriebliche Strategien beobachten: z.B. die Einführung von dezentralisierter Gruppenarbeit und flexiblen Produktionsteams, die Flexibilisierung von vertraglichen Vereinbarungen und der verstärkte Einsatz von Leiharbeiten, aber auch die Implementierung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Den Entwicklungen gemein ist, dass sie eine andere Form der Kontrolle und Steuerung in Unternehmen erfordern, die sich mehr als Ressourcen- und Kontextsteuerung zeigt und weniger in den alten Parametern des HerrschaftsKnechtprinzips (vgl. Moldaschl 2002). Ein reibungsloser Ablauf von Produktions- und Arbeitsprozessen setzt vielmehr eine schnelle, flexible Reaktion voraus, die eigenverantwortliche Entscheidungen, effizientes Handeln und Selbststeuerung von den Arbeitenden erfordert. So treten u.a. Improvisationstalent, kommunikative Fähigkeiten, empathische Eigenschaften und ein „Gewußt-wie“ in den Fokus unternehmerischen Verwertungsinteresses (vgl. Kleemann/Matuschek/ Voß 2002, Nonaka/Takeuchi 1997, Kratzer/Sauer 2007). Diese werden von Unternehmen in der Person der Arbeitskraft selbst vermutet. Entgegen der bisher vorherrschenden tayloristisch-fordistischen Logik, demnach es galt, den Arbeitsprozess vom „subjektiven Faktor“ unabhängig zu machen (vgl. Moldaschl/Voß 2002: 28), erweist sich die strikte Trennung der Arbeitskraft von der Person zunehmend als kontraproduktiv (vgl. Kratzer/Sauer 2007, Kleemann/Matuschek/ Voß 2002, Nickel 2007). „Subjektivierung meint also zunächst eine infolge betrieblicher Veränderungen tendenziell zunehmende Bedeutung von subjektiven Potentialen und Leistungen im Arbeitsprozess – und zwar in zweifacher Hinsicht: einmal als wachsende Chance, Subjektivität in den Arbeitsprozess einzubringen und umzusetzen, zum anderen aber auch ein doppelter Zwang, nämlich erstens, mit subjektiven Beiträgen den Arbeitsprozess auch unter entgrenzten Bedingungen im Sinne der Betriebsziele aufrecht zu erhalten; und zweitens, die eigene Arbeit viel mehr als bisher aktiv zu strukturieren, selbst zu rationalisieren und zu verwerten.“ (Moldaschl/Voß 2002: 14)
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Die bis dato paradigmatische Grenze zwischen dem „Arbeitssubjekt“ und „Arbeitsobjekt“ weicht auf: das Subjekt wird selbst zu einem Objekt der Arbeit (vgl. Moldaschl/Voß 2002: 15). Es gilt, ständig an sich zu arbeiten, um leistungsfähig zu bleiben. Die hier bereits angedeutete Vermarktlichungsthese stellt einen entscheidenden Ausgangspunkt für den Diskurs zur Subjektivierung von Arbeit dar (vgl. Drinkuth 2007: 18). „Vermarktlichung“ meint die Durchdringung aller Arbeitsund Lebensbereiche von den Prinzipien der kapitalistischen Verwertungslogik (vgl. Nickel 2007: 29).15 „Der Arbeitende wird weitgehend ‚dem Markt‘ ausgesetzt und soll, ja muss in diesem Kontext so agieren wie ein ‚unternehmerisches Subjekt‘. Man externalisiert gewissermaßen die Transaktionskosten organisations- bzw. betriebsförmiger Wirtschaftstätigkeit ‚nach innen‘, an die Arbeitssubjekte. Sie ihrerseits internalisieren ‚den Markt‘.“ (Moldaschl 2002: 30)
In diesen neuen betrieblichen Beziehungen werden die klassischen fordistischen Verhältnisse zwischen Markt und Organisation, Arbeitskraft und Person aufgebrochen (vgl. Kratzer/Sauer 2007: 238). Hans Pongratz und Günter Voß (1998) haben für jenen neuen Arbeitskrafttypus den Begriff des „Arbeitskraftunternehmers“ eingeführt. Der Arbeitskraftunternehmer stellt das Konzept eines sich formierenden „Typus der gesellschaftlichen Verfassung der Ware Arbeitskraft“ (Pongratz/Voß 2001: 42) dar, der prognostiziert zum neuen normativen Leittypus für die Veränderungen von Arbeits- und Erwerbsbedingungen werden wird (ebd: 48). Er wird beschrieben als ein „neuer aktiver Typus von Arbeitskraft, der sich nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch innerhalb des Betriebes kontinuierlich zur Leistung anbietet und seinen Arbeitsprozess gezielt selbst organisiert“ (ebd.: 44). Die Merkmale der Selbst-Kontrolle, der SelbstÖkonomisierung sowie der Selbst-Rationalisierung sind kennzeichnend (ebd.). „Der Unternehmer-Begriff soll in diesem Rahmen verdeutlichen, dass eine neue Stufe der Ökonomisierung von Arbeitskraft erreicht wird, die mit spezifischen, von der Situation selbständiger Erwerbstätiger bekannten Gefahren von Selbstausbeutung und Scheitern verbunden ist.“ (ebd.: 50)
Als Unternehmer seiner selbst werden auch jene Grenzen tangiert, die bis dato z.B. dem Erhalt der Arbeitskraft dienten und in der „Reproduktionssphäre“ verortet wurden: jene zwischen „Arbeit“ und „Leben“ (vgl. Voß/Weiß 2007). Damit werden weitere Grenzziehungen herausgefordert, wie die Grenze zwischen dem be15
Die Diskussion zum „unternehmerischen Selbst“ (vgl. Miller/Rose 1995, Opitz 2004, Bröckling 2007) wird an dieser Stelle nicht nachgezeichnet, da es sich in erster Linie um eine Auseinandersetzung innerhalb der Gouvernementalitätsstudien handelt und erst langsam in arbeits- und industriesoziologische Überlegungen Eingang findet (vgl. Rau 2010).
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rufstätigen Mann und der Haus-Frau oder zwischen Normbiografie und Bastelbiografie (vgl. Kleemann/Matuschek/Voß 2002). Im wissenschaftlichen Diskurs lässt sich im Zuge der Fokussierung auf die Erosion von Grenzziehungen eine Verschiebung des Gegenstandes ausmachen (vgl. Drinkuth 2007: 28): von der Analyse des Einsatzes und des Zugriffs auf subjektive Potenziale hin zu den Folgeerscheinungen dieses neuen „Modus der Rationalisierung“ (Moldaschl 2002: 28). Dazu lassen sich auch die Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse, die zeitliche und räumliche Neubestimmung der Grenzen von Arbeit und das Aufweichen der Grenzen von Arbeitsteilung und Arbeitsanforderungen zählen (vgl. Gottschall/Voß 2003, MayerAhuja/Wolf 2005: 12). Diskussion Durch die Einbringung von Subjektivität und Subjekt werden der Fortbestand des Arbeitsprozesses gewährleistet und die Handlungsfähigkeit der Arbeitenden garantiert. Zudem wird durch die betriebliche Nutzung von Subjektivität und Subjekt die Steuerung und Kontrolle der Arbeitsprozesse durch die Arbeitenden selbst gewährleistet. Im Diskurs um die Subjektivierung von Arbeit lassen sich dabei einige zentrale offene Fragen ermitteln: Wie können die diagnostizierten widersprüchlichen Entwicklungen von Altem im Neuen erfasst werden (vgl. Moldaschl/Voß 2002: 15)? Und, daran anschließend: wie können wir Entgrenzung begreifen, wenn wir Altes im Neuen und keine Auflösung des Alten hin zu einem Neuen analysieren? Wie genau sind das Subjekt und die Subjektivität bestimmt, die Ordnung in die „Unordnung“ bringt? Schließlich: wie können wir den Fortbestand des Arbeitsprozesses unter entgrenzten Bedingungen analysieren, wenn wir diesen Prozess gerade nicht als Abfolge linearer Handlungsflüsse begreifen, sondern entlang der sich abzeichnenden „nachindustriellen“ Organisation von Arbeit mit parallelen, selbstorganisierten Arbeitsvorgängen? Es sind gerade die „janusköpfigen Erscheinungen in modernen Arbeits- und Beschäftigungsformen“ (Moldaschl/Voß 2002: 15), die diskutiert werden. Die neuen Entwicklungen der Erwerbsarbeit scheinen von großen Ambivalenzen gekennzeichnet zu sein, die einmal zu Diagnosen des „alten Wein in neuen Schläuchen“ und dann wiederum zur Feststellung eines grundsätzlichen Wandels herausfordern (ebd.: 14). Manfred Moldaschl und Günter Voß (2002) folgend, sehe ich in der Analyse des „Dazwischen“, des „Eben-auch“ einen aufschlussreichen Ansatz, um Widersprüchlichkeit und Vielfalt der Entwicklungen erfassen und beschreiben zu können. Damit sind die Bewegungsrichtungen des Wandels nicht als bloßer linearer Fortschritt zu beschreiben, sondern als ein nebeneinan-
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der von „Vor“ und „Zurück“. Anders formuliert müssen wir heute davon ausgehen, dass sich Gleichzeitigkeiten vervielfältigt haben in Gleichzeitigkeiten von Veränderungstendenzen und Beharrungen. Erschwert wird die Analyse durch die „Anwesenheit“ von Ungleichzeitigkeiten, die sich im Verhältnis zwischen Veränderungstendenzen und Beharrungen zeigen. So kann ein Wandlungsphänomen unterschiedliche Grade an Veränderungen ebenso aufweisen wie unterschiedliche Grade an Beharrungsvermögen innerhalb des Prozesses der Wandlung (vgl. zu Entgrenzungsphänomenen: u.a. Mayer-Ahuja/Wolf 2005, Drinkuth 2007). Der prozessuale Charakter der Wandlung ließe sich mit dem Begriff der Wandlungsbewegungen beschreiben. Wandlungsbewegungen gehen mit Veränderungsphänomenen einher. Diese zeigen sich in einer Veränderung dessen, was bedeutsam gemacht wird. Etwas, das vorher keine oder kaum Bedeutung hatte, wird nun zur Bedeutung gebracht, wie dies am Diskurs der Subjektivierung von Arbeit deutlich wird. Dabei gehe ich davon aus, dass es keine Ablösung von Bedeutungen gibt, sondern dass eine Vervielfältigung dessen, was bedeutsam gemacht wird, zu beobachten ist. Zentrale Analysegegenstände der Debatte um die Subjektivierung von Arbeit sind Subjektivität und Subjekt. Beide Begriffe verbleiben im industrie- und arbeitssoziologischen Diskurs der industrieproduktionellen Logik verhaftet: das Subjekt wird als Arbeits-Subjekt verstanden (u.a. vgl. Moldaschl/Voß 2002: 13) und von „Subjektivierung zu sprechen hat nur Sinn in Bezug auf eine vorherrschende ‚Logik‘ der Arbeitskraftnutzung, für die als Chiffren Taylorismus, Fordismus und Bürokratie stehen: Strategien der Rationalitätssteigerung von Organisation eben durch Objektivierung (Entsubjektivierung). Sie zielen darauf ab, das Funktionieren des Arbeitsprozesses und der zweckrationalen Organisation vom ‚subjektiven Faktor‘ unabhängig zu machen.“ (Moldaschl/Voß 2002: 28)
Damit sind Subjekt und Subjektivität unmittelbar an den Arbeitsprozess gekoppelt. Da aber die Subjektivierung von Arbeit – die ständige Einbringung von subjektiven Potentialen unter dem Druck der Vermarktlichung – die Entgrenzung von Arbeit herausfordert (vgl. Drinkuth 2007: 185), können wir in diesem Prozess dann noch von einem Arbeits-Subjekt ausgehen, einem Subjekt, welches sich vor allem aus Arbeitsprozessen konstituiert? Wenn wir davon ausgehen, dass gerade die Verschränkung der Logiken der Arbeitssphäre und der Privatsphäre kennzeichnend sind für diese Entwicklungen (vgl. Weiß/Voß 2007), dann ist eine Trennung von Arbeits-Subjekt und Privat-Subjekt zwar forschungspraktisch einladend, aber kaum aufrechtzuerhalten. Die Prozesse der Konstitution von Subjekten in den Prozessen der Arbeit müssen an Relevanz in den Analysen
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gewinnen (vgl. Moldaschl/Voß 2002: 15).16 Erst wenn wir mehr über die Figuration der Subjekte wissen, dann können präzise Aussage darüber getroffen werden, welche und vor allem wie sie ihre subjektiven Potenziale einbringen. Dabei ist auch die Handlungsfähigkeit von Arbeitenden an ihr Subjekt gekoppelt, wenn wir das Subjekt als sozial-kulturelle Form verstehen, „in der sich das Individuum ausprägt, in der sich die Praxis in ihm einprägt; als Subjekt verleibt sich der Einzelne sozial-kulturelle Kriterien der Subjekthaftigkeit ein, er unterwirft sich ihnen, um aktiv werden zu können" (Reckwitz 2006: 95). Subjektivität und Arbeit sind beide aufs engste miteinander verwoben, sie drücken sich quasi gegenseitig „ihren Stempel“ auf. Aber weder das Subjekt noch die Arbeit sind in ihrer Verwobenheit aufeinander begrenzt, sondern figurieren auch Elemente anderer „Logiken“ in sich. Die Analysen zeigen, dass die Aufrechterhaltung des Arbeitsprozesses im unternehmerischen Fokus der Maßnahmen zur Subjektivierung von Arbeit steht. Damit muss zunächst der ungestörte Prozessverlauf garantiert werden, was maßgeblich die Handlungsfähigkeit der am Prozess beteiligten Akteure einschließt. Anders als noch in der (idealtypischen) fordistischen Produktion sind zentrale Merkmale neuer Produktionsweisen die Dezentralität und die enge Kooperation zwischen Projektteams oder auch Unternehmensteilen und externen Zuliefern. Der Projektverlauf ist von parallel laufenden Prozessen gekennzeichnet, die zwar aufeinander abgestimmt sind, aber nicht völlig synchron laufen. Gerade die Synchronisierung und die Abstimmung der verschiedenen Projektflüsse macht die alltägliche Arbeit in komplexen Produktionszusammenhängen aus. Damit richtet sich die Frage nach der Aufrechterhaltung eher auf einen „Strom“ von Prozessverläufen als auf einen linearen Verlauf eines Prozesses. Die Handlungsfähigkeit der Arbeitenden ist dann quasi mitten in den Prozessen zu verorten, auf ihre Abstimmung, ihr Formieren, Auseinanderdividieren und Reformieren. Die Analyse solcher Prozessströme erfordert eine Perspektive, die das „Arbeitssubjekt“ oder auch die „ganze Person“ des Arbeitenden nicht als Beherrscher des Arbeitsobjekts oder auch Arbeitsprozesses begreift, sondern das spezifische Geflecht der in die Projektverläufe Involvierten in den Blick nimmt, denn Arbeit ist keine isoliert betriebene Tätigkeit (vgl. Knoblauch 1996, Corbin/Strauss 1993).
16 Auch die Studie Ulrich Bröcklings (2007) zum unternehmerischen Selbst gibt hierüber keinen Aufschluss, da Bröckling seine Untersuchung entlang von Managementratgeber-Literatur entfaltet.
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3.2 Ordnung durch Interagieren und Involvieren: Workplace Studies Wenn Arbeit keine isoliert betriebene Tätigkeit ist, dann stellt sich die Frage, wer oder was involviert wird und vor allem, wie diese involviert werden. Bereits in den 1970ern begannen vor allem im angloamerikanischen Raum Forschungen, die ganz unterschiedliche Formen von Arbeit dahingehend untersuchten, wie trotz – oder gerade wegen – tagtäglicher „Inter-Aktivitäten“ Ordnung in Organisationen hergestellt wird. Diese kamen zum einen aus den wissenssoziologischen Laborstudien (vgl. u.a. Latour/Woolgar 1986, Knorr-Cetina 2003) aber auch aus den ethnomethodologischen Studies of Work um Harold Garfinkel (1986). Beide Forschungsrichtungen arbeiten explizit empirisch-qualitativ, vor allem ethnografisch, um die Ethnomethoden des Arbeitsalltags zu erforschen, „the rational properties of indexical expressions and other practical actions as contingent ongoing accomplishments of organized artful practices of everyday life“ (Garfinkel 2008 [1967]: 11). Es wird eine Perspektive jenseits von Beschäftigungsstrukturen und Arbeitsbereichen eingenommen, indem explizit alltägliche Arbeitsaktivitäten untersucht werden. Dabei steht nicht nur die einzelne Arbeitshandlung im Fokus, sondern vielmehr die sich aus den einzelnen Inter-Aktivitäten ergebende Organisiertheit in Organisationen. Diese Organisiertheit zeigt sich nicht als starres Gerüst einer Organisation, sondern als kontingente Aushandlung, die fortlaufend vollzogen wird und werden muss. In ihren Studien folgen die Studies of Work z.B. Biologen (vgl. Latour/Woolgar 1986) oder Kung Fu-Lehrern (vgl. Girton 1986) in ihren Arbeitsalltag, um ihre alltäglichen Praktiken zu beobachten und das ihnen eigene praktische Wissen zu rekonstruieren – das Wissen darüber, was und wie es zu tun ist. Es geht somit nicht nur um die Analyse des Arbeitsprozesses als Teil der (industriellen) Produktion, sondern es geht in einem engeren Sinne um die Arbeit am Prozess, die Arbeit am Vollzug der Praktiken, die Arbeit an deren Fortbestand. Diese Arbeit erst macht die geteilte Wirklichkeit am Arbeitsplatz aus, die sich durch eine spezifischen Ordnung des Arbeitslebens („work life“) auszeichnet. Die Studies of Work beziehen in ihren Analysen nicht nur arbeitende Menschen ein, sondern auch ihre „Werkzeuge“, all die Dinge des täglichen Arbeitsalltags von der Petrischale über Papierdokumente bis hin zu Diagrammen an Schautafeln. „[There]exists a locally produced order of work’s things; [..] they make up a massive domain of organizational phenomena“ (Garfinkel 1986: vii). Mit der breiten Implementierung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien und ihrem “Eindringen” in den Arbeitsalltag stellten sich die Fragen nach der „Arbeit in Interaktion“ (Knoblauch 1996) neu. Die Technologien traten dabei im Kontext veränderter Arbeitsorganisation in den Fokus; im Zuge dessen ließ sich eine verstärkte Interaktion der Beteiligten beobachten, die
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sich zunehmend in kommunikativen Handlungen äußerte (vgl. Knoblauch 1996: 344). Die qualitative Untersuchung von Arbeitsprozessen in hochtechnologischen Organisationen wurde im angloamerikanischen Raum maßgeblich von den Workplace Studies angestoßen (vgl. u.a. Suchman 1987, Luff/Hindmarsh/Heath 2000, Knoblauch/Heath 1999), die sich im Kontext der Arbeiten zu Computer Supported Collaborative Work (CSCW) entwickelten. Das Forschungsinteresse richtete sich auf die Entwicklung, Gestaltung und Anwendung neuer Technologien, „vor dem Hintergrund einer eigenartigen Mischung aus akademischen und praktischen Fragestellungen“, die sich aus dem Bekanntwerden von „Ausfällen, Fehlentwicklungen und Zusammenbrüche neuer technologischer Systeme, wie etwa des teuren Informations-Systems für die Londoner Ambulanzen“, speisten (Knoblauch/Heath 1999: 164f). So waren es vor allem die Bemühungen, bessere Methoden zur Bestimmung der Anforderungen an komplexe technologische Systeme zu entwickeln, die Informations- und Ingenieurwissenschaftler mit Sozialwissenschaftlern zusammenbrachten (ebd.). Entgegen der damals üblichen Praxis, Nutzungen von Technologien in experimentellen Settings zu analysieren, arbeiteten die Workplace Studies mit ethnomethodologischen Instrumenten wie der Konversationsanalyse und der teilnehmenden Beobachtung. Sie können als „ethnographische, ‚naturalistisch’ orientierte Untersuchungen der Koordination und Kollaboration bei der Arbeit betrachtet werden“ (Knoblauch 1996: 353). Damit rücken explizit die Kontextabhängigkeit der Nutzung und die Situationsbezogenheit der Aktivitäten in den Blick (vgl. Schubert 2006: 140). Die Forschungsperspektive der Workplace Studies richtet sich nicht allein auf Technik, sondern vielmehr auf neue Formen von Arbeitsaktivitäten, die mit der Implementierung von Technologien einhergehen. Es geht auch darum, Schlüsse über die Ausformungen neuer Arbeitstätigkeiten zu ziehen, die als Informationsarbeit, informatisierte Arbeit oder auch Kommunikationsarbeit beschrieben werden (vgl. Knoblauch 1996, Heath/Knoblauch 1999, Suchman 2000). Dabei nehmen sie, wie Paul Luff, Jon Hindmarsh und Christian Heath (2000) verdeutlichen, keine modernisierungstheoretische Perspektive ein, sondern halten sich – in einem ethnografischen Sinne – an den feinen Details täglicher Arbeit auf. “In various ways these studies are concerned with the social and interactional organisation of technology in the workplace. They direct attention towards the fine details of human conduct and coordination, and demonstrate how technologies, ranking from paper documents through to complex multimedia systems, rely upon the working procedures and practical reasoning of members of particular settings and organisations. They are concerned, in a sense, with the work to make technologies work; with the tacit and “seen but unnoticed” resources through which organisational activities are accomplished in and through tools and technology.” (Luff/Hindmarsh/Heath 2000: xii)
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Neben hochtechnologischen Arbeitskontexten prägen ihre heterogenen Untersuchungsfelder, dass „eine Reihe von Handelnden zu bestimmten Zeiten die räumlich verteilten Aktivitäten einer anderen Reihe von Akteuren organisiert“ (Knoblauch 1996: 354). Diese Formen der Arbeit lassen sich z.B. in Notrufzentralen oder in Flughafentowern beobachten und erweisen sich als wenig regelhaft, sondern vielmehr ausgeprägt situationsabhängig (ebd.). Die Hauptarbeit besteht in der Koordination und Synchronisation von Arbeitsaktivitäten räumlich getrennter Akteure und wird mit Hilfe vielfältiger Techniken bewältigt. Dabei sind die Technologien nicht immer nur hilfreich; sie koennen auch stoeren und Arbeitsablaeufe lahm legen. Gerade der Umstand des potenziellen Nichtfunktionierens, des Abweichens vom Normalfall macht die Bearbeitung von Technologie im Arbeitsprozess notwendig. In den Blick kommt Technologie dann, wenn sie behandelt wird (vgl. Knoblauch/Heath 1999: 172). Die Workplace Studies versuchen die jeweils spezifische Art und Weise zu verstehen, „in which artefacts and technologies are utilised in everyday workplaces“ (Luff/Hindmarsh/Heath 2000: 12). Dabei geht es auch um die Frage „how the use and intelligibility of objects is produced and constituted in and through social action and interaction” (ebd: 17). Die Art und Weise, wie Artefakte und Technologien in Arbeitsprozesse eingebunden werden, ist nicht allein durch die ihnen eigene Funktion bestimmt, sondern ist ein fortlaufender Herstellungsprozess, der maßgeblich durch gemeinsame Interaktion bestimmt wird. So zeigt Lucy Suchman (2000) aufschlussreich, wie im Arbeitsvorgang einer Anwaltskanzlei das Papierdokument einer Unternehmenstätigkeit einmal der objektive Datensatz einer routinisierten Arbeitstätigkeit wird, um dann auf der anderen Seite als subjektiv-interpretierbares Prozessdokument einer hochkomplexen Wissensarbeitstätigkeit seinen Weg im juristischen Prozessverlauf zu nehmen. Es ist gerade diese lokale Produktion von Arbeit und auch Organisation (vgl. Luff/Hindmarsh/Heath 2000: 19), die sich in der tagtäglichen gemeinsam abgestimmten Anordnung von Arbeitsschritten, Personen, Artefakten und Technologien zeigt, die die Workplace Studies in den Blick nehmen. Diskussion Die Workplace Studies bieten einen theoretischen und methodischen Rahmen, um alltägliche Arbeitsvollzüge in den Blick zu nehmen. Dies gilt vor allem für Arbeitsplätze, die eng mit neuen Technologien verwoben sind und sich durch einen hohen Grad an Koordinationsarbeit auszeichnen. Dabei liegt ihre Stärke in der detaillierten Beschreibung der Art und Weise, wie Personen, Artefakte, Technologien und Techniken aufeinander und miteinander abgestimmt werden
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müssen. Arbeit zeigt sich hier auch als Arbeit zur Herstellung von Ordnung im Sinne einer Aufrechterhaltung von Routinen. Durch die Fokussierung auf den Kontext von Arbeitsaktivitäten und ihre Situationsabhängigkeit stellt sich allerdings die Frage, wie Herstellungsleistungen über die Situation hinaus „am Laufen“ gehalten werden und wie erklärt werden kann, dass Logiken „alter“ Aktivitäten in „neue“ hineinragen. Denn neue Arbeitsformen, genau wie auch neue Technologien (vgl. dazu Wajcman 2004), gestalten sich nie von Grund auf neu, sondern sie speisen sich aus bereits vorhandenen Arbeitsaktivitäten, die sich dann mit neuen quasi „verweben“. Nimmt man den Anspruch der Workplace Studies ernst, dass es ihnen auch um eine differenzierte Beschreibung neuer Formen von Arbeit geht, dann erweist sich die Situations- und Kontextabhängigkeit ihrer Methoden als „Bremse“, die an den Grenzen der jeweiligen – z.B. videoaufgezeichneten – Situation halt macht. Mit den situationsabhängigen Verfahrensweisen kommen nur solche Aktivitäten in den Blick, die sich als Ad-hoc-Ausübungen beschreiben lassen und nicht als chronische Handlungsvollzüge. Die Untersuchungen der Workplace Studies richten ihr Interesse auch auf das Verhältnis zwischen dem Sozialen und dem Technischen, „und zwar weniger mit dem alleinigen Ziel der Schaffung theoretischer Aussagen, sondern eher im Sinne der detaillierten empirischen Untersuchung des Gebrauchs komplexer technischer Systeme als einer praktischer Handlungsleistung“ (Knoblauch/Heath 1999: 164). Diese Perspektive soll sich absetzen von jenen Forschungen, die sich mit Fragen des „how technology shapes society, how societal forces shape the development of technologies (Mackenzie and Wajcman 1985) and how we construct the ‚meaning’ of technology (Woolgar 1991)” (Luff/Hindmarsh/Heath 2000: 21) beschäftigen. Der Argumentation Buttons (1993) folgend führen Luff, Hindmarsh und Heath weiter aus, dass „throughout these various approaches the technology in question strangely remains epiphenomenal to the analysis. This focus tends to remain on traditional sociological concerns – class, gender, power and so forth. Workplace studies on the other hand forefront the technology and its situated intelligibility through the explication of the collaborative practices in and through which it is constituted.” (Luff/Hindmarsh/Heath 2000: 21)
Diese legitime und hier auch explizierte Fokussierung der Forschungsperspektive impliziert aber auch, dass bei den Aushandlungsprozessen der kollaborativen Arbeit die Relevanz sozialer Kategorien nicht sichtbar werden kann. Zieht man Untersuchungen z.B. der Geschlechterforschung hinzu, so ist empirisch und theoretisch schwer nachvollziehbar, wie z.B. die „nützlichste und angemessenste Weise, neue Technologie in Organisationen einzusetzen“ (Knoblauch/Heath 1999) rekonstruiert werden kann, ohne Angemessenheit und Nützlichkeit auf
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soziale Kategorien zu beziehen. Die Relevanzkriterien bleiben an Funktionalität verhaftet, wie z.B. entlang der Frage, ob eine Person ausreichend technisches Knowhow zur Lösung eines Problems hat oder ob der Arbeitsschritt A immer dann ausgeführt wird, wenn das Serversystem droht, zusammenzubrechen. Die Exklusion sozialer Kategorien erstaunt umso mehr, als dass die Workplace Studies von einer „grundlegenden Sozialität“ aller menschlichen Arbeit ausgehen (vgl. Knoblauch/Heath 1999: 177). „Das bedeutet nicht nur, dass Arbeit eine Form des Handelns ist, weil sie sozial erst zur Arbeit definiert wird. Es bedeutet auch, dass alle Arbeitsaktivitäten eine Form der Kooperation mit anderen erfordert, die Interaktion und Kommunikation notwendig macht.“ (ebd.). Nicht zuletzt dank Goffmann (1994) gilt es als common sense, dass Interaktion und Kommunikation aufs engste mit Geschlecht verknüpft sind. Dies nicht nur, um z.B. Interaktionsteilnehmer einer sozialen Kategorie zuzuordnen, sondern auch um bestimmte Interaktionsverläufe nahe zulegen (vgl. auch Hirschauer 2001). 3.3 Ordnung durch Geschlecht-Tun: Doing Gender Dass Geschlecht nicht nur in die Struktur unserer Gesellschaft „eingelassen“ ist, sondern sich auch als Ordnungsprinzip in alltäglichen Interaktionen, Kommunikationen und Praktiken zeigt, wird in der Frauen- und Geschlechterforschung vermehrt seit Mitte der 1980er Jahre untersucht. Maßgeblich ist hierbei das um Candance West und Don Zimmerman (1987) entwickelte Konzept des doing genders. Ebenso wie die Workplace Studies ist auch diese Forschungsrichtung durch die Ethnomethodologie Garfinkels beeinflusst. Auch hier werden die (Ethno)methoden zur Herstellung einer Unterscheidung in den Blick genommen: nicht jene zwischen Technik und dem Sozialen, sondern zwischen Mann und Frau. Dabei bilden alltägliche Interaktionen ihren Forschungsboden, der „gender as a routine accomplishment embedded in everyday interaction“ (West/Zimmerman 1987: 125) versteht. Zentral für die Perspektive des doing genders ist, dass Geschlecht nicht einer Person zu eigen (als Teil des natürlichen oder biologischen „Kerns“ einer Person), noch eine Eigenschaft (wie „männlich-sein“) oder ein gesellschaftliches Strukturmerkmal (wie das Patriarchat) ist, sondern etwas, das getan werden muss. Damit rücken jene sozialen Prozesse in den Blick, „in denen ‚Geschlecht’ als sozial folgenreiche Unterscheidung hervorgebracht und reproduziert wird“ (Gildemeister 2008: 137). Dem Konzept des doing gender liegt eine Auseinandersetzung mit dem sex/gender-Modell zu Grunde. Die soziale Konstruktion von Geschlecht wurde in diesem Modell auf dem Fundament eines biologischen Geschlechts (sex) begründet. Candance West und Don Zimmerman richten sich explizit gegen die
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natürliche Essenz von Geschlecht und arbeiten heraus, dass ihre „biologische“ Grundlage, ihre Natur erst durch kulturelle Deutungsprozesse in die Konstruktion von Geschlecht hereingeholt wird. “We contend that the ‘doing’ of gender is undertaken by women and men whose competence as member of society is hostage to its production. Doing gender involves a complex of socially guided perceptual, interactional, and micropolitical activities that cast particular pursuits as expressions of masculine and feminine ‘natures’.” (West/Zimmerman 1991: 14)
Dazu unterscheiden sie drei Klassifikationsmuster: sex, sex category und gender. Sex wird verstanden als Zugehörigkeit zu einem und nur einem Geschlecht aufgrund biologischer Merkmale, die bei der Geburt klassifiziert werden. Die Einordnung einer Person, z.B. aufgrund seiner Genitalien, ermöglicht es dann to „continue through our social rounds to ‚observe’ a world of two naturally, normally sexed persons. It is the presumption that essential criteria exist, and would or should be there if looked for“ (West/Zimmerman 1991: 19). Die zweite Klassifikation, sex category, setzt an alltäglichen und vor allem allgemeingültigen Kategorisierungen an, die mit einer Darstellungs- und Attributionsleistung verknüpft sind. Personen zeigen sich als Mitglieder eines Geschlechts, und werden dann auch entsprechend als solche erkannt: „Not only do we want to know the sex category of those around us (to see it at glance, perhaps), but we persume that others are displaying it for us in as decisive a fashion as they can“ (ebd.: 21). Gender hingegen verweist auf „die intersubjektive Validierung in Interaktionsprozessen durch ein situationsadäquates Verhalten und Handeln im Lichte normativer Vorgaben und unter Berücksichtigung der Tätigkeiten, welche der in Anspruch genommenen Geschlechtskategorie angemessen sind“ (Gildemeister 2008: 138). Geschlecht ist somit nicht an Personen gebunden, sondern an soziale Kategorisierungen, die mehrere „Mitspieler“ am doing gender involvieren, ohne jedoch dass „den Beteiligten ihre Gender-Symbolik unbedingt klar ist, die aber dennoch ihre Konsequenzen hat“ (Hörning/Reuter 2006: 58). Kompetent ein Geschlecht „zu haben“, bedeutet dann, nicht nur dieses kompetent darzustellen und als solches kenntlich zu machen, sondern auch von anderen in der Einordnung erkannt und anerkannt zu werden. Es gilt, sich zuständig zu zeigen für die Herstellung „seines“ Geschlechts und an dessen Geltung teilzuhaben (vgl. Hirschauer 1999: 50). Doing gender-Prozesse können dabei ihre „Wirkmacht“ nur entfalten, da sie mit dem Deutungsrahmen der Zweigeschlechtlichkeit verwoben sind. Zweigeschlechtlichkeit meint, dass es ein kollektiv geteiltes Wissen darüber gibt, dass es nur zwei Geschlechter geben kann: Männer und Frauen. Jede Person wird in diese Matrix eingeordnet und passend gemacht bzw. ordnet sich selbst ein und macht sich selbst passend. Dies wird deutlich z.B. beim Recht auf einen Ge-
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schlechtswechsel, wenn man „im falschen Körper“ geboren ist oder den zahlreichen (Selbst-)Disziplinierungsmaßnahmen, wie auf die „richtige“ Toilette zu gehen oder die „richtige“ Anrede zu wählen. „[…] es [sind] nicht allein Individuen, die an der Geschlechterkonstruktion (passiv oder aktiv) beteiligt sind, sondern auch andere kulturelle Objekte, denen ihrerseits ein Geschlecht zugeschrieben wird: Artefakte, Substantive, Charaktereigenschaften, Räume, soziale Beziehungen, Tätigkeiten usw. […] Die Geschichte der geschlechtlichen Differenz hat eine Vielzahl von institutionellen Arrangements hervorgebracht, in denen sich die Praxis der Geschlechterunterscheidung gewissermaßen wieder begegnet und an sich selbst erinnert.“ (Hirschauer 2001: 222)
Der „Vorteil“ der binären Kategorisierung liegt in ihrer komplexitätsreduzierenden Wirkung, einer erzeugten Selbstverständlichkeit und der ihr inhärenten Flexibilität. Denn selbst wenn Frauen nicht weiblich reagieren, sind sie keine NichtFrauen (vgl. Gildemeister 2008: 138). Diese Flexibilität kann Geschlecht nur „haben“ – ohne seine Stabilität zu gefährden – weil der interaktive Aufbau der Geschlechterdifferenz einer Wiederholung der Geschlechterunterscheidung bedarf (vgl. Hirschauer 2001: 217). Der Wiederholung zu eigen ist eine – teilweise kaum merkliche – Neujustierung, denn eine Wiederholung läuft nie von Grund auf neu ab, sondern stellt eine Fortsetzung des Vorhandenen dar. Geschlecht bliebe sozial folgenlos, wenn sich im Geschlecht-Tun nicht auch Ordnungsprinzipien offenbaren, die helfen, Personen zu separieren und auf spezialisierte soziale Räume zu verweisen (vgl. Heintz/Nadai 1998: 75). Die Zuweisung auf soziale „Plätze“ ist nie völlig erstarrt, da den „Plätzen“ oder Positionen eine gewissen Offenheit inhärent ist. Am Beispiel des Tätigkeitsfelds „Programmier“ lässt sich nachzeichnen, wie sich innerhalb weniger Jahrzehnte ein typischer Frauenberuf in einen Männerberuf transformierte, also quasi einen Geschlechtswechsel vollzog (vgl. Hoffmann 1987). Doch nicht nur die Zeitachse hält Transformationen bereit, sondern auch der örtliche Raum. Während das Arbeiten auf dem Bau in Europa typischerweise von Männern verrichtet wird, gilt dies in Indien als typische Frauentätigkeit. Das Konzept des doing gender in seiner Konzeption von West und Zimmerman sieht Gender dabei auch als Mechanismus an, der soziale Ungleichheit produziert (vgl. West/Fenstermaker 1995: 8). Im Geschlecht-Tun wird Macht mit getan, und diese Macht drückt sich in einer Asymmetrie zwischen den Geschlechtern aus, die sich z.B. im unterschiedlichen Zugang zur Ressourcen zeigt. In dieser Perspektive ist es nicht mehr allein die Zuweisung auf spezialisierte Positionen, sondern die damit einhergehende Exklusion von anderen ressourcenreicheren Positionen. Gerade diese soziale „Konsequenz“ der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht gilt Candance West und Don Zimmerman als Beleg für die Omnirelevanz des doing gender. Geschlecht-Tun ist unumgänglich, “because of
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the social consequences of sex-category membership: the allocation of power and resources not only in the domestic, economic, and political domains but also in the broad arena of interpersonal relations” (West/Zimmerman 1987: 145). Die Omnirelevanz von Geschlecht ist innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung nicht undiskutiert geblieben. Vor allem die selbstverständliche Koppelung an Machtasymmetrien zugunsten von Männern und die Unschärfe des Zusammenhangs von Relevanz und doing führten zu Weiterentwicklungen des Konzepts. Untersuchungen, wie jene von Bettina Heintz, Eva Nadai, Regula Fischer und Hannes Ummel (1997) haben gezeigt, dass es unterschiedliche Grade an Relevanz geben kann, die sich auch als Auflösen der Bedeutung von Geschlecht deuten lassen. Helga Kotthoff (2002) analysierte Differenzen in den Relevanzstrukturen und arbeitet dabei fünf Ebenen heraus, die sich im Vollzug des doing gender auch gegenseitig stützen, ausgleichen oder marginalisieren können. Arbeiten, wie jene von Herbert Kalthoff (2006) zu doing class in exklusiven Internatsschulen oder Jürgen Budde (2005) zu doing student in Schulklassen zeigen die Verwobenheit verschiedener sozialer Kategorien und weisen auf komplexe „Relevanzkonstellationen“ mit wechselnden Prozessen des ZurBedeutungen-Bringens hin.17 Ausgehend vom Argument des Relevant-Machens muss, so Stefan Hirschauer (2001), auch ein Absehen von der Relevanz der Geschlechterunterscheidung möglich und denkbar sein: ein undoing gender. Dieses ist z.B. in der „Neutralisierung“ von Weiblichkeit im Management zu beobachten, die sich in schwarzen Hosenanzügen und tieferer Stimmlage bei Frauen zeigt. Diese Perspektive ermöglicht nicht nur, den Blick auf Veränderungen, Verschiebungen und Überlappungen von Positionen zu lenken, die wir für Mann und Frau bereit halten, sondern auch auf jene der „Leitdifferenz“ (Kotthoff 2002: 4) selbst. Es deutet sich damit nicht nur eine Differenzierung zwischen der Omnipräsenz der Kategorie Geschlecht und ihrer differenziellen Relevanz an (vgl. Gildemeister 2008: 143), sondern darüber hinaus auch ein Perspektivwechsel von der Ordnungskategorie Geschlecht zum Ordnungsprozess Geschlecht. Oder anders formuliert: mehr doing, weniger category. Diskussion Das doing gender-Konzept eröffnet, neben der Analyse von Beteiligungen an Interaktionszusammenhängen, auch die Untersuchung von sozialen Ordnungskategorien in eben diesen Interaktionen. Geschlecht wird in Darstellungs-, Attribu17 Das Konzept der „Intersektionalität“ (vgl. u.a. Klinger 2003, Knapp 2005, Winkler/Degele 2009) knüpft an diese Überlegungen an.
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tions- und Herstellungsvollzügen rekonstruierbar, die notwendigerweise andere Mitwirkende inkludieren. Dabei ist Geschlecht auch daran beteiligt, in Interaktionen spezifische Handlungsanschlüsse nahezulegen.18 Das doing gender-Konzept vermag es weiterhin offenzulegen, wie aus einem kleinen Unterschied eine große Unterscheidung und wie diese Unterscheidung folgenreich wird. Während in früheren Studien der Hauptakzent auf den Folgen der Unterscheidung „Mann-Frau“ lag – der ungleichen Verteilung und dem ungleichen Zugang zu Ressourcen, Positionen oder Aufgaben –, verschiebt sich der Fokus zunehmend in Richtung des „doing“ und rückt das „Wie“ der Unterscheidung in den Vordergrund. Diese Akzentverschiebung erfordert allerdings eine stärker theoretische Fundierung des „doing“-Konzeptes. Candance West und Don Zimmerman verstehen „doing“ im Sinne eines fortlaufenden gemeinsamen Tuns. Dieses Tun ist ein „situated doing“ (West/Zimmerman 1987: 126). Situiert dahingehend, dass es aus sozialen Situationen hervorgeht (ebd.). Dabei gehen sie von verschiedenen Arten sozialer „doings“ aus, die erst in spezifischen Konstellationen z.B. Geschlecht hervorbringen (ebd.: S.129). Im Vordergrund, auch der daran anschließenden empirischen Forschungen, stehen „doings“, die in konkreten Interaktionen analysiert werden. Der Analysefokus liegt dabei vor allem auf den sozialen Situationen und weniger auf den Vollzügen des „doings“. Damit stellen sich u.a. Fragen nach der Erfassung unterschiedlicher Dimensionen von Handeln, wie routinisierte und unbewusste Handlungskomplexe (vgl. Hörnig/Reuter 2006), der „Synthese“ einzelner „doings“ aus der Vielfalt an „doings“, die sich in Situationen beobachten lassen (vgl. Kelle 2001) oder auch der Bedeutung der (körperlichen) Materialität von Inszenierungen (vgl. Kotthoff 2002). Damit einhergeht die Frage, wem oder was eine Mitwirkung an doingProzessen zugesprochen werden kann. Dass Geschlecht mehr eine soziale als eine personale Kategorie ist (vgl. Hörning/Reuter 2006: 58, Kotthoff 2002: 15), eröffnet die analytische Möglichkeit, von lebenden Menschen ein Stück weit abzusehen und auch andere Mitwirkende in den Blick zu rücken, die jenseits eines „personalen Kerns“ liegen. Um eine Antwort auf die Frage zu finden, wie Geschlechterpraktiken am Laufen gehalten werden, d.h. wie aus einer akuten Interaktion ein „ongoing accomplishment“ (West/Zimmerman 1987) werden kann, ist es notwendig, jene kulturellen Objekte ausfindig zu machen, die es vermögen, immer wieder an Geschlecht zu erinnern oder geschlechtliches Tun nahezulegen. Dabei kann es sich um eine Thematisierung von Geschlecht handeln, wie z.B. durch Anredepraktiken („Sehr verehrter Herr Hirschauer“) oder die Verwen18 Dieser, für Interaktionen konstitutiver Zusammenhang zwischen Ordnungskategorie und Handlungsanschluss wird von den Workplace Studies verkannt.
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dung grammatikalisch-geschlechtlicher Konventionen („Friseurinnen gesucht“), aber auch durch Ornamentierungspraktiken, wie dem roten Lippenstift auf dem Mund. Artefakten, wie der Prinzessin Lilifee-Puppe, kommt in diesem Zusammenhang eine große Bedeutung zu, da sie die Verwendung durch ein Geschlecht nahelegen können. Wie bereits die Arbeiten der Workplace Studies, noch mehr jedoch die techniksoziologischen Arbeiten von Bruno Latour gezeigt haben, ist das Geflecht von menschlichen und nichtmenschlichen Entitäten zunehmend enger geknüpft (vgl. Latour 2005). Interaktionsarrangements, auch solche, in der Geschlecht zur Bedeutung gebracht werden – was von den Herren Latour und Callon oder jenen der Workplace Studies gerne vergessen oder ignoriert wird –, müssen jedoch auch hinsichtlich ihrer Verflechtungen von „humans“ und „nonhumans“ analysierbar sein. Schließlich stellt sich im Zusammenhang mit dem doing gender-Konzept die Frage, ob es analytisch ausreicht, nur der „Leitdifferenz“ (Kotthoff 2002) zwischen „Mann“ und „Frau“ Aufmerksamkeit zu schenken. Gerade wenn wir von Geschlecht als einer sozialen Kategorie ausgehen, wird die Frage interessant, welche Möglichkeiten des Frau-Tuns oder Mann-Tuns je zur Verfügung stehen. Für Männlichkeit konnten die konzeptionellen Arbeiten von Connell (1987) und Bourdieu (2005) zeigen, dass die Differenzierung zwischen verschiedenen Männlichkeiten konstitutiv für Männlichkeit überhaupt ist. Die Leitdifferenz ließe sich eher als „Mann“ und „Nichtmann“ beschreiben (vgl. dazu auch Egert et al. 2009), mit den von Connell vorgeschlagenen Binnendifferenzierungen hegemoniale, komplizenhafte, untergeordnete und marginale Männlichkeit. Dabei spielen Frauen nur (wenn überhaupt) eine marginale Rolle. Was je als anerkannte Männlichkeit gilt, wird dabei in den „ernsten Spiele des Wettbewerbs“ unter Männern ausgehandelt, wie Bourdieu (2005) darlegt. Hier wird das kulturelle Wissen über Mann-„Sein“ in einem kompetitiven Aushandlungsprozess erworben und es werden Kompetenzen und Inkompetenzen erfahrbar. Das, was Männer untereinander tun, ist dabei nicht nur von Distinktion gekennzeichnet, sondern auch von Konjunktion (vgl. Meuser 2007a): Damit wird der Prozess der Herstellung von Differenzen, das doing difference, mit der Herstellung von Gemeinschaft und Solidarität – man könnte formulieren: einem doing unity – verbunden.
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Soziologie sozialer Praktiken
Die Heterogenität und Uneindeutigkeit der Befunde zu gegenwärtigen Transformationsprozessen lässt sich am Beispiel von „Geschlecht“, „Arbeit“ und „Technik“ besonders aufschlussreich analysieren. Es zeichnet sich ab, dass diese Grundtatsachen unseres Lebens an Eindeutigkeit einbüßen und damit partiell zu Aushandlungssachen werden. „Partiell“ deutet auf den Umstand hin, dass sich in allen Diagnosen und Prognosen Gleichzeitigkeiten zwischen Veränderungen und Persistenzen abzeichnen. Es sind dabei nicht allein die empirischen Befunde, die auf irritierende Uneindeutigkeiten verweisen, sondern auch das zunehmende Unvermögen zentraler soziologischer Analysekonzepte zur Erfassung dieser Veränderungen. Wenn das Konzept „Arbeit“ nun nicht mehr vornehmlich an Erwerbsarbeit geknüpft ist, sondern auf die gesellschaftliche Gesamtarbeit verweist (vgl. Aulenbacher/Wetterer 2009), wenn „Geschlecht“ nun nicht mehr vornehmlich auf Frauen verweist, sondern auch Relationen zwischen Männern inkludiert (vgl. Meuser 2006), wenn „Technik“ nicht mehr vornehmlich auf Artefakte deutet, sondern auch auf Handlungstechniken (vgl. Rammert 2007), dann wird die „Mainstreamsoziologie“ herausgefordert. Diese Herausforderung besteht nicht allein darin, geeignete Analyse- und Beschreibungsmöglichkeiten innerhalb der Technik-, Geschlechter- oder Arbeits- und Industriesoziologie z.B. für die Arbeit an Computern zu finden, sondern grundsätzlicher: in einer neuen Hinwendung zu den Selbstverständlichkeiten und „Fundamenten“ der Soziologie. Es transformiert sich der Zugang zu den Gegenständen, der Blick-Winkel in einem eigentlichen Sinne. Um den Winkel des Blicks systematisch verschieben zu können, wird es zunehmend notwendig andere, geeignetere Begriffs-Apparate zu entwickeln. Diese Herausforderung stellt eine theoretische Strömung innerhalb der Soziologie und der Kulturwissenschaften in das Zentrum ihrer Forschungsaktivitäten, die als Theorien sozialer Praktiken oder auch Praxistheorien beschrieben werden. Auch wenn wir bis dato vor allem von einer Theorienfamilie sprechen können, die keine abgeschlossene Form aufweist, gibt es in jüngster Zeit zunehmend Bestrebungen einer Systematisierung theoretischer Grundlagen (vgl. u.a. Reckwitz 2003, 2008b; Hirschauer 2004; Hörning/Reuter 2004a, 2006; Bührmann/Schneider 2008) und der Schaffung einer Praxistheorie hin zu einer allgemeinen soziologischen Theorie (Hillebrandt 2009). Dabei zeichnen sich zuneh-
D. Lengersdorf, Arbeitsalltag ordnen, DOI 10.1007/978-3-531-93291-0_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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mend drei Hauptströmungen ab: zum einen Forschungsaktivitäten, die im Anschluss an Bourdieu soziale Praxis und den Habitus als einheitstiftendem Konzept fokussieren, desweiteren als mikrosoziologisch zu bezeichnende Ansätze, die das Performative sozialer Praktiken hervorheben, sowie ein dritter Strang, der sich den sozialen Praktiken über die Auseinandersetzung mit Foucaults Überlegungen zu diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken nähert, die er im Rahmen seiner Arbeiten zu Regierungs- und Selbsttechnologien entwickelte. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Handlungsgewohnheiten, Fertigkeiten und Handlungswissen verweist auf eine lange soziologische Tradition. In den letzten Jahrzehnten nehmen die Forschungsaktivitäten verstärkt zu, was sich vor allem auf eine konzeptuelle „Neuorientierung der Sozialwissenschaften in Richtung kulturwissenschaftlicher und kulturtheoretischer Argumente und Schwerpunkte“ (Reckwitz 1999: 19) zurückführen lässt. Es ist „die Kritik an einer einseitigen Fassung des Begriffs ‚Kultur’ als kollektives Sinnsystem, als ein symbolischer Code oder als ein tragender Wert- und Normkomplex“ (Hörning/Reuter 2006: 51). Damit stellt sich die Frage, wo Kultur zu verorten ist, neu. Mit dem Vorschlag, Kultur als Praxis zu fassen und damit das Praktizieren von Kultur in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken, werden eingelebte Umgangsweisen, geteilte Gewohnheiten und Verhaltensroutinen zum zentralen Bezugspunkt der Analysen. Zentrales Paradigma der Praxistheorien ist so ein erweitertes Verständnis von Kultur: Kultur wird „getan“, Kultur wird praktiziert. Der Begriff des „doing culture“ (Hörning/Reuter 2004b: 10) bringt die praxistheoretische Perspektive auf Kultur zum Ausdruck. Kultur findet überall statt, nicht nur in Theatern und Museen, sondern auch vor dem PC, in Körperaktivitäten bei der Arbeit oder in Beziehungen zwischen Mann und Frau. Kultur erlangt „den Status eines grundlegenden Phänomens sozialer Ordnung zurück, das sämtliche Gesellschaftsbereiche durchdringt“ (ebd.: 9). Soziale Praktiken können dabei als kleinste Einheit der sozialwissenschaftlichen Analyse gefasst werden (vgl. Reckwitz 2003: 290) oder als Letztelemente der Sozialität (vgl. Hillebrandt 2009: 50, vgl. auch Giddens 1984). Sie sind als „ein typisiertes, routinisiertes und sozial ‚verstehbares’ Bündel von Aktivitäten“ (Reckwitz 2003: 289) aufzufassen, als „eingespieltes In-Gang-Setzen von Verändertem, als neuartige Fortsetzung von Eingelebten, als andersartige Hervorbringung von Vertrautem“ (Hörning 2001: 163), als Ereignisse, die operativ aufeinander bezogen sind und sich regelmäßig verketten (vgl. Hillebrandt 2009: 54), als „nexus of doings and sayings“ (Schatzki 1996: 89).
4.1 Soziales Handeln – oder: Wo und wie findet das Soziale statt?
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4.1 Soziales Handeln – oder: Wo und wie findet das Soziale statt? Das soziologisch relevante Konzept des Handelns wird nach wie vor ganz im Sinne Max Webers verstanden als ein soziales Handeln, „welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert“ (Weber 1988 [1921]: 542) und vom bloßen Verhalten abzugrenzen ist. Die Vorstellung eines kognitiven menschlichen Vorgangs als zentrale Grundlage sozialen Handelns wird dabei zunehmend herausgefordert. Techniksoziologische Forschungen haben immer wieder darauf hingewiesen, dass reaktive Verhaltenmechanismen sich ebenso zum menschlichen Handlungsrepertoire zählen lassen wie selbstverständliche Handlungskoordinationen in Interaktionen (vgl. Rammert 2007). Dies trifft aber auch auf andere Entitäten zu, denen bis dato der Akteurstatus versagt bleibt, wie Software-Applikationen, Hunde oder Sex-Puppen19. Daran ließe sich die Frage anschließen, ob Handelnde interpretationsfähig sein müssen, wie dies u.a. Alfred Schütz nahelegt. Benötigt die Fähigkeit zur Interpretation Augenlicht, Gehör, ein Alter jenseits der 12 oder ein passendes Geschlecht? Empirische Arbeiten belegen eindrucksvoll, wie variabel der benötigte Grad menschlichen Handelns und der Interpretationsleistung für komplexe soziale Phänomene ist, z.B. im Fahrstuhl (vgl. Hirschauer 1999), in der Bahnhofsdrehtür (vgl. Frers 2007) aber auch bei Hirntoten (vgl. Lindemann 2002) oder Orten (vgl. Meier 2009). Schon Alfred Schütz und Thomas Luckmann haben deutlich gemacht, dass die Grenze zwischen Verhalten und Handeln nicht immer eindeutig bestimmbar ist (vgl. Schütz/Luckmann 2003 [1975], auch Schimank 2000: 26). Und auch Weber selbst hat mit dem Begriff des „traditionalen sozialen Handelns“, das durch eingelebte Gewohnheiten bestimmt ist, eine gewisse „Flüssigkeit“ der Grenze bescheinigt: „Der Grund der Flüssigkeit liegt in diesen wie in anderen Fällen darin, dass die Orientierung an fremden Verhalten und der Sinn des eigenen Handelns ja keineswegs immer eindeutig feststellbar oder auch nur bewusst und noch seltener vollständig bewusst ist.“ (Weber 1988: 564).
Für Weber – anders als für viele noch lebende Soziologen und Soziologinnen – stellt dies kein weiteres Problem dar, denn zwar ist das soziale Handeln der genuin soziologische Tatbestand, die Soziologie hat es aber keinesfalls nur mit sozialem Handeln zu tun (vgl. Weber 1988: 565). Der Soziologie steht demnach ein „Hintertürchen“ offen, z.B. für die grundlegende Frage, welche Bedeutung sie kognitiven Vorgängen beim Handeln zukünftig einräumen will, und daran 19 Auch auf dem Gebiet von Sex-Puppen sind erhebliche technische Weiterentwicklungen zu verzeichnen: exemplarisch sei auf die „Real Doll“ verwiesen (www.realdoll.com).
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anschließend: wen sie sich als relevant innerhalb des Sozialen vorstellen kann und für forschungswürdig erachtet. Zur traditionellen Antwort „das Individuum“ oder „der Akteur“ treten in den letzten Jahren zahlreiche Konzeptionsvorschläge, die ergänzend oder gar ersetzend gemeint sind: wie Aktanten (vgl. Latour 1996), Cyborgs (vgl. Harraway 1995), Partizipanden (vgl. Hirschauer 2004) oder Subjektformationen (vgl. Reckwitz 2006). Notwendig geworden sind diese Überlegungen auch durch die endgültige Verabschiedung eines kohärenten inneren Kerns von Menschen, der bis dato mit dem Begriff der „Identität“ beschrieben wurde. Nicht zuletzt die Geschlechtersoziologie konnte darlegen, wie komplex und voraussetzungsreich das kompetente „Zusammenhalten“ einer Person ist, die sich und andere als Frau oder Mann erfährt.20 Theorien sozialer Praktiken interessieren sich weniger dafür, wer im Sozialen z.B. handlungsfähig ist, sondern mehr dafür, wo und wie das Soziale stattfindet. Für sie ist der „Ort“ des Sozialen im spezifischen Geflecht sozialer Praktiken zu suchen. Dieses Geflecht lässt sich als lose gekoppelte Komplexe von Praktiken (vgl. Reckwitz 2003) oder als Praxisformen (vgl. Hillebrandt 2009) beschreiben, die einen spezifischen eigenständigen Charakter aufweisen. Begründet ist dieser „Charakter“ in der jeweiligen Verknüpfung, die eine spezifische Form aufweist. Dabei können die einzelnen Praktiken durchaus widerspruchsvoll aufeinander abgestimmt sein; widerspruchsvoll in dem Sinne, dass sie sich in ihren Anforderungen an das praktische Wissen voneinander unterscheiden. „Soziales Leben ist dann ein Geflecht eng miteinander verbundener Handlungspraktiken, in deren Vollzug die Handelnden nicht nur Routinen einüben und Gebrauchwissen erlangen, sondern auch Einblick in und Verständnis für die Mithandelnden und die Sachwelt gewinnen und sich so allmählich und weithin unthematisch gemeinsame Handlungskriterien und Beurteilungsmaßstäbe herausbilden“ (Hörning 2001: 162).
Wie im Zitat von Karl H. Hörning bereits deutlich wird, gehen Theorien sozialer Praktiken davon aus, dass Denken und Wissen im Handeln hervorgebracht werden. Sie verwirklichen sich im Handeln. Anders als z.B. Alfred Schütz und Thomas Luckmann, die von einer Ursprünglichkeit und einer davon abgeleiteten Konstitution des Handlungssinn ausgingen, wird hier die Position vertreten, dass von einer eigenständigen Bedeutung der sozialen Handlungskonstitution im sozialen Handeln ausgegangen werden muss (vgl. Schulz-Schaeffer 2007: 20). Dieser Perspektivwechsel wird auch denkbar durch die „Entdeckung“ impliziten Wissens. Dieses nicht explizit gewusste, nicht kognitive, sprachlich häufig nicht verfügbare, noch sprachlich verfasste Wissen entfaltet trotz seiner –
20 Vor allem auf die „Transsexualitätsforschung“ sei verwiesen: vgl. u.a. Garfinkel (1967), Lindemann (1993), Hirschauer (1999).
4.2 Sozialer Sinn – oder: Was ist im Sozialen möglich und bedeutsam?
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in einem kognitivistischen Sinne – Intentionslosigkeit sozial bedeutungsvolle Wirkungen, wie dies Pierre Bourdieu (1982) für die feinen Unterschiede in der französischen Gesellschaft oder Ikujiro Nonaka und Hirotaka Takeuchi (1997) für das strategische Wissensmanagement in Konzernen verdeutlicht haben.21 Implizites Wissen kann dabei inkorporiert (vgl. Bourdieu 1993) sein, es bildet sich im Umgang mit kulturellen Objekten aus (vgl. Hirschauer 1997) und zeigt sich als Erfahrungswissen, als ein Gewußt-wie (vgl. Hörning 2001). Wissen wird so zu einem zentralen Modus von Kultur, das sich zum einem im Sinne einer Kompetenz, als die praktische Fähigkeit, in einer bestimmten Weise mit anderen einsichtig und erwartbar umzugehen zeigt und zum anderen als kollektive Schemata, als Repertoires, die sich je spezifisch formiert haben und sich unter ständiger „Erneuerung“ konfigurieren (vgl. Hörning 2001: 185). Das praktische Wissen ist eingeübt, einverleibt und wird kollektiv geteilt. Diese praxistheoretische Perspektive führt zu einer „Verschiebung“ des Wissensbegriffs, indem z.B. der Körper nicht nur als beobachtbare „Symptome für die Gedanken des anderen“ (Schütz 2004: 169) gefasst wird, sondern als Praktiken ermöglichende „materielle Instanz“ (Reckwitz 2003: 290) vom kommunikativen Einsatz bei Darstellungen über selbsttätigen Ausübungen in technischen Settings bis zur Bereitstellung eines anatomischen und physiologischen Wissenssystemen (vgl. Hirschauer 2004). Die Wirklichkeit der Alltagswelt ist demnach nicht um das „Hier“ des Körpers herum angeordnet, wie dies Peter Berger und Thomas Luckmann formulieren (vgl. Berger/Luckmann 1997: 25), sondern der Körper ist mittendrin in der gesellschaftlich konstruierten Wirklichkeit (vgl. Meuser 2006b). Gleiches lässt sich für Dinge sagen. Artfakte werden in den Theorien sozialer Praktiken nicht nur als „Gefäße“ von Wissensbeständen gefasst, ebenso wenig wie sie bloße instrumentelle Hilfsmittel sind, die aus sozialen Schöpfungsprozessen hervorgehen (vgl. Blumer 2004: 332), sondern sie sind ebenso wie Menschen in Handlungsflüssen involviert. Sie sind beteiligt an der Herstellung von Standards, an der Reproduktion gezeigter Ordnung oder auch an der Unterlassung einer Handlung; sie können stören, irritieren und befördern (vgl. Hörning 2001). 4.2 Sozialer Sinn – oder: Was ist im Sozialen möglich und bedeutsam? Zugunsten der Frage nach der Schaffung von Sinn im Handeln tritt damit die Frage nach dem Sinnstiftungszentrum im Handlungssubjekt in den Hintergrund. 21 Intentionslos ist dieses Wissen, wie ausgeführt, nur in einer – häufig praktizierten – kognitivistischen Engführung. Intentionalität kann aber durchaus auch an den Leib gebunden sein, als eine „leibliche Intentionalität“ (Meuser 2006b: 111), die an eine körperliche Erkenntnis geknüpft ist (vgl. Bourdieu 2004).
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4 Soziologie sozialer Praktiken
Die Theorien sozialer Praktiken können so ein relatives „Desinteresse“ an Akteuren und ihrer Sinnstiftung entwickeln, ein Desinteresse am Ursprung des Handelns in einem personalen Komplex aus Motiven, Intentionen und Selbstbeobachtungen (vgl. Hirschauer 2004: 73). Da Theorien sozialer Praktiken sich wenig für die Sinnstiftung der Akteure interessieren, können ihre Analysen auch nicht auf die Rekonstruktion eines für bestimmte Akteursgruppen typischen Sinns oder der Typologien von subjektiv gemeintem Sinn gerichtet sein. Vielmehr interessieren sie sich für die Hervorbringung von Sinn und Bedeutung in Praktiken: Praktiken werden im Vollzug mit Sinn versehen, der wiederum die Bedeutung der Praktik ausdrückt (vgl. Hillebrandt 2009: 77, Hörning/Reuter 2006: 51). Praxistheorien fragen demnach, wie etwas bedeutsam gemacht und wo etwas zur Bedeutung gebracht wird und nicht danach, welche Bedeutungen erzeugt werden. So interessiert sich z.B. Erving Goffman (2008 [1974]) vor allem für Sinntransformationen, quasi kollektive Transformationen der Wirklichkeit im Gegensatz zu kollektiven Konstruktionen von Wirklichkeit bei Berger und Luckmann (vgl. Knoblauch 1994: 27). Und Pierre Bourdieu (u.a. 1993) fokussiert in seinen Arbeiten die Zusammensetzung verschiedener praktischer Sinne; praktischer Sinn als eine wirkende Dimension des Habitus. Es ist daher auch nicht die Analyse des Erlernens oder Lehrens reflexiver kultureller Bedeutungen, die im Fokus praxistheoretischer Forschungen stehen, sondern das wiederholte gemeinsame Praktizieren. Im Zusammenhandeln entfalten sich „gemeinsame Kriterien und Maßstäbe ‚richtigen’, passenden, angemessenen Tuns, die dem Handeln Richtung und Anschluss vermitteln.“ (Hörning 2004: 20). Diese Kriterien und Maßstäbe müssen Toleranzen aufweisen. Dies zum einen, da verschiedene Praktiken mit einer ihnen eigenen inneren Geregeltheit in lose Beziehungen treten und desweiteren, da eine Praktik auch in der Wiederholung nie völlig identisch abläuft. Praktiken haben keinen Zu-Stand, auf den fixe Kriterien angewandt werden könnten, vielmehr steht dem einzelnen Handelnden eine begrenzte Bandbreite an möglichen Handlungen zur Verfügung, aus denen das Handeln hervorgeht. Die Begrenzung stellen Angemessenheit und Erwünschtheit dar. Aussagen wie „Das war noch im Rahmen“ oder „Das ging hart an die Grenze“ zeigen die Variabilität auf, verweisen aber zugleich auf den Möglichkeitshorizont.22 Der Erfolg des Vollzugs bemisst sich demnach daran, ob man sich in diesem Möglichkeitshorizont bewegt. Der Horizont stellt keine Grenzmarke dar, sondern eine nie erreichbare Kontur im Blickfeld, die durch die kulturellen Repertoires gespiegelt wird. Der praxistheoreti22 Hier wird deutlich, dass die „Rahmen-Metapher“ im Goffman’schen Sinne zu eng gefasst ist, sie legt zu stark Analogien zu Grenzmarken und Fixierungen nahe (vgl. auch Soeffner 2004: 165).
4.3 Soziale Ordnung – oder: Wie kann das Soziale geordnet erscheinen?
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sche Blick richtet sich damit nicht auf klar voneinander abgrenzbare Sinn- und Bedeutungsstrukturen, sondern auf die vielfältigen Praktiken inmitten und zwischen Akteuren, Territorien und Orten, in denen kulturelle Ordnungen gelebt, repräsentiert und in Beziehung gesetzt werden (vgl. Reuter 2004: 239). 4.3 Soziale Ordnung – oder: Wie kann das Soziale geordnet erscheinen? Wenn „das Soziale“ im spezifischen Geflecht sozialer Praktiken zu suchen ist, so richtet sich die Frage nach der sozialen Ordnung auf das Ordnen eben dieses Sozialen: das Ordnen und die (An-)Ordnung des Geflechts sozialer Praktiken. Grundlegend für ein Verständnis sozialer Ordnung in praxistheoretischer Perspektive ist, dass soziale Praktiken nicht über einen Ursprungspunkt verfügen: „Soziale Praktiken stützen sich auf Vorhandenes, auf Repertoires. Sie beginnen nie von Grund auf neu. Praktiken sind fraglose Anwendungen von bereits bestehenden Möglichkeiten, sind wiederholte Aneignungen, sind immer wieder erneuerte Realisierungen von bereits Vorhandenem. Aber zur gleichen Zeit sind Praktiken auch produktiv zu denken: als eingespieltes InGang-Setzen von Verändertem, als neuartige Fortsetzung von Eingelebtem, als andersartige Hervorbringung von Vertrautem. Praktiken sind immer beides: Wiederholung und Neuerschließung“ (Hörning 2004: 33).
Ein vollständiges, umfassendes und endgültiges Gelingen bzw. Misslingen des Vollzuges ist daher nie erreichbar. Damit ist auch eine grundlegende Instabilität oder Flexibilisierung auf der einen Seite und eine völlige Stabilität oder Kristallisation sozialer Ordnungen auf der anderen Seite in dieser Perspektive nicht denkbar: „Wir müssen folglich die Offenheit des Sozialen als konstitutiven Grund beziehungsweise als 'negative Essenz' des Existierenden ansehen sowie die verschiedenen 'sozialen Ordnungen' als prekäre und letztlich verfehlte Versuche, das Feld der Differenzen zu zähmen. Demnach kann die Vielgestaltigkeit des Sozialen weder als System von Vermittlungen noch die 'soziale Ordnung' als ein zugrunde liegendes Prinzip begriffen werden. Es gibt keinen 'der Gesellschaft' eigentümlichen genähten Raum, weil das Soziale selbst kein Wesen hat.“ (Laclau und Mouffe 2006: 130)
Damit verändert sich auch die Frage der Probleme sozialer Ordnung. Es ist nicht mehr (allein) eines der Stratifikation (Positionen im Sozialen) oder der Teilhabe an gesellschaftlich relevanten Gütern (relevante Orte des Sozialen), sondern “The true locus of the ‘problem of order’ is [...] of how continuity of form is achieved in day-to-day conduct of social activity“ (Giddens 1979: 216) und mit Andreas Reckwitz:
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4 Soziologie sozialer Praktiken „Das Problem des Sozialen ist aus praxeologischer Perspektive das Problem, wie es dazu kommt, das in der sozialen Welt ‚Raum und Zeit gebunden werden’, d.h. wie eine zumindest relative Reproduzierbarkeit und Repetititvität von Handlungen über zeitliche Grenzen und über räumliche Grenzen hinweg möglich wird.“ (Reckwitz 2003: 289)
Dies hat weit reichende Konsequenzen für das Verständnis zentraler Gegenstände aus der Erforschung sozialer Ordnung. Sie werden (kulturtheoretisch) geöffnet für Überlagerungen, Verschiebungen und Überschneidungen. So werden kulturelle Differenzen nicht als Unterschiede zwischen Entitäten verstanden, sondern sie werden in der – teils routinisierten, teils konflikthaften – aktiven interpretativen Aneignung unterschiedlicher, einander „überlagernder“ Sinn- und Aktivitätselemente, die ganz verschiedener räumlicher und zeitlicher Herkunft sein können, untersucht (Reckwitz 2005: 100f). Da soziale Praxis „immer schon mit Bewertungen, mit Interpretationen, Selbst- und Fremddeutungen verknüpft“ ist, macht „eine Unterscheidung von sozialer und kultureller Praxis ebenso wie die dualistische Gegenüberstellung von sozialer Ungleichheit und kulturellen Unterschieden wenig Sinn“ (Hörning/Reuter 2004: 11). Und auch der Blickwinkel auf Macht entfernt sich von dem Begriff der Herrschaft hin zu einem Verständnis einer fein verästelten, heterogenen Machtausübung in einem foucaultschen Sinne: „Machtausübung bezeichnet nicht einfach ein Verhältnis zwischen individuellen oder kollektiven Partnern, sondern die Wirkungsweise gewisser Handlungen, die andere verändern“ (Foucault 1994: 254). Soziale Ordnung ist in dieser Perspektive nicht das „stabile Skelett“ einer Gesellschaft, das über eine grundlegende Einheit oder einen inneren Kern verfügt. Soziale Ordnungen sind als Stabilisierungsprozesse zu verstehen. Stabilität wird dabei über das Gelingen alltäglicher Praxisvollzüge hergestellt. 4.4 Konsequenzen Die neuen Analysemöglichkeiten der Theorien sozialer Praktiken eröffnen nun einen anderen Blick auf die Problemfelder zur Untersuchung der Ordnungen des Arbeitsalltages, wie sie im Kapitel 3 herausgearbeitet wurden. Nicht Entgrenzung, sondern Grenzziehung Im Diskurs der Subjektivierung von Arbeit zeichnete sich eine generelle Schwierigkeit ab, Veränderungen und Persistenzen adäquat zu erfassen. Dies wird besonders am Beispiel der „Entgrenzungsmetapher“ deutlich. „Entgrenzung“ wird dabei vor allem als eine Auflösung vormals eindeutiger Trennungen zwischen
4.4 Konsequenzen
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Berufs- und Privatsphäre verstanden (u.a. Mayer-Ahuja/Wolff 2005). Wie bereits ausgeführt, lässt sich dies auch als eine Verschiebung von Bedeutungskonstellationen deuten, auf Grund einer Vervielfältigung dessen, was bedeutsam wird. In praxistheoretischer Perspektive zeigt sich, ob etwas – im Vollzug der sozialen Praktiken – Sinn macht oder wichtig wird, und weist dabei auf die Angemessenheit und Erwünschtheit von Handlungsvollzügen im Arbeitsalltag. Angemessenheit und Erwünschtheit stellen den Horizont dessen, was möglich ist. Eine Vervielfältigung an Bedeutungen geht demnach mit einer Vervielfältigung dessen einher, was z.B. in einer Internetagentur als möglich erscheint oder auch nicht. Damit ist die Praxis des zur-Bedeutung-bringen eine Grenzziehungspraxis zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen. Dies führt uns zu der These, dass eine Vervielfältigung der Grenzziehungen stattfindet. Entgrenzung ist dann keine Auflösung von Grenzmarken, also keine Auflösung der Grenze z.B. zwischen Arbeitsplatz und Zuhause, sondern eine starke Zunahme von Grenzziehungen, so dass es zu vielfältigen Überlappungen von Grenzen kommt: inhaltliche, räumliche, strukturelle etc.. Die Kontur der einzelnen Grenze wird sozusagen „verunreinigt“ und büßt ihre Trennschärfe ein. Grenzziehungen müssen dann über fortlaufende Aushandlungs- und Gestaltungsprozess hergestellt werden. Der Fokus verschiebt sich von Veränderungen und Persistenzen in der Wandlungsbewegung auf die sich hier ständig vollziehenden Grenzziehungen, auf das Praktizieren von Grenzen. Neuschöpfung und Wiederholung sind diesem Vollzug gleichermaßen zu eigen. Nicht Arbeits-Subjekt, sondern Subjektformationen Zur Entwicklung des Subjekt-Begriffs in der Industrie- und Arbeitssoziologie bietet sich eine praxistheoretische Perspektive an, da diese es vermag, die sich abzeichnenden Dynamiken des Wandels von Erwerbsarbeit analytisch an einen Wandel der Subjekte auf und bei der Arbeit zu koppeln. Subjekte existieren in dieser Perspektive nur im Vollzug der Praktik, indem Praktiken zur Einpassung in den Handlungsfluss auffordern. Man könnte formulieren, dass jede Praktik eine andere Stromlinienform anfordert. „Stromlinienförmig“ ist nicht als Disposition einer Person oder als Persönlichkeitsmerkmal zu verstehen, sondern als Handlungsanforderung. Soziale Praktiken produzieren subjektive Eigenschaften bzw. spezifische Subjektformen (Reckwitz 2008c: 135). Damit bringen z.B. bestimmte Produktionsregime, verstanden als Komplexe von Praktiken, bestimmte Subjek(-eigenschaften) hervor. Die für den „Toyo-
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4 Soziologie sozialer Praktiken
tismus“23 typische Teamarbeit fordert Kommunikationsfähigkeit, Empathie und Aushandlungsgeschick an, während die historische agrarische Produktion mit ihren Herrschafts-Knecht-Verhältnissen Durchsetzungsfähigkeit und Strenge, aber auch Unterwerfungsfähigkeit benötigte. Die im Diskurs der Subjektivierung von Arbeit gestellte Frage nach den subjektiven Potenzialen der Arbeitenden, die in den Arbeitsprozess eingebracht werden sollen, muss so aufgelöst werden in die Frage, welche Praktiken im Arbeitsprozess welche Subjekte anfordern bzw. welche Subjekte in welchen Praktiken involviert und welche „Eigenschaften“ dabei zur Bedeutung gebracht werden. Nicht linear, sondern simultan Kennzeichnend für neue Formen von Arbeit ist auch die hohe Dichte von Arbeitsabläufen, die bewältigt werden muss. Die Aufrechterhaltung des Arbeitsprozesses lässt sich dann als eine Synchronisationsarbeit verschiedener Projektflüsse verstehen. Theorien sozialer Praktiken können durch die Konzeption der Komplexe sozialer Praktiken einen Analysenrahmen bereitstellen, der keine Linearität im Sinne einer Abfolge von Arbeitsschritten erforderlich macht, wie dies in der Industrie- und Arbeitssoziologie häufig impliziert wird. Soziale Praktiken sind lose miteinander verkoppelt. „Lose“ verweist auf den Umstand, dass ein vollständiges Gelingen der Verkoppelung nicht möglich ist und die Verkoppelung mehr als Netz denn als Schnur zu denken ist. Da die Koppelung nicht zwingend eine logische Verknüpfung voraussetzt, sondern Praktiken auch widerspruchsvoll aufeinander abgestimmt sind (Reckwitz 2003: 295), können auch unlogische Verbindungen zwischen Praktiken in den Blick kommen, die der Forscherin bisher nicht ersichtlich waren. Es eröffnet sich eine Perspektive, die Parallelitäten und Überlappungen analytisch zugänglich macht. Damit wird die Frage nach der sozialen Ordnung in den Arbeitsprozess hereingeholt, die Frage, wie sich die Arbeitenden simultane Aktivitäten handhabbar machen und eine Routinisierung ihrer Handlungen möglich wird.
23 Der Begriff des „Toyotismus“ steht für ein aus Japan stammendes Produktionsmodell, in dem sich die Produktion an der unmittelbaren Nachfrage bzw. den Kundenwünschen orientiert. Es findet keine großen Lagerhaltungen statt, sondern eine „Just-in-Time“-Produktion. Für den Arbeitsalltag bedeutete dies vor allem eine hohe Flexibilisierung. (Siehe dazu u.a. Steinkühler 1995).
4.4 Konsequenzen
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Nicht ad hoc, sondern chronisch In der Auseinandersetzung mit den Forschungen der Workplace Studies (u.a. Luff/Hindmarsh/Heath 2000, Knoblauch/Heath 1999) wurde deutlich, dass ein zentrales Problem dieser Untersuchungen darin besteht, dass sie routinisierte Arbeitsaktivitäten eher im Sinne einer Ad-hoc-Ausübungsfähigkeit und weniger als chronische Handlungsvollzüge betrachten. In den Theorien sozialer Praktiken wird hingegen davon ausgegangen, dass den sozialen Praktiken Konventionen zugrunde liegen, die sich erst durch häufiges gemeinsames Tun als Kollektivschemata ausgebildet haben und auch nur in ihrem weiteren Vollzug „existieren“. Sie sind zwar auch kontextabhängig, in dem Sinne, dass der Kontext den Vollzug bestimmter Praktiken nahe legt, sie sind aber nicht kontextspezifisch, da sie auch in anderen Kontexten vollzogen werden können. Damit öffnet sich der Blickwinkel für die Frage, wie nicht nur ein spezifisches Setting von Kooperationspartnern, Techniken, Artefakten oder Aktivitäten den Arbeitsprozess fließen lassen kann, sondern wie spezifische Formationen von Praktiken beteiligt sind. Praktiken, die sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie über die aktuelle Situation hinaus weisen und damit eine räumliche und zeitliche Unabhängigkeit aufweisen. Nicht ohne, sondern mit Praxistheoretische Untersuchungen brauchen soziale Ordnungskategorien nicht zu scheuen, vielmehr können die „Leistungen“ der Kategorien zur Ordnung des Sozialen sichtbar gemacht werden. Es stellt sich dann die Frage, wie Menschen sich als männlich oder weiblich, als weiß oder schwarz, als christlich oder muslimisch zu erkennen geben und wie sie als solche erkannt werden – aber auch, wie ein Computerspiel dem „Männlichen“ und eine Lillifee-Puppe dem „Weiblichen“ zugeordnet wird. Der Vollzug sozialer Praktiken ist ohne kulturelle Differenzen nicht machbar, denn soziale Praktiken bewegen sich stets im Möglichkeitshorizont des Angemessenen und Erwünschten, was die „Existenz“ des Gegenhorizonts des Unangemessenen und Unerwünschten einschließt. Um in einer passenden, „richtigen“ Weise z.B. als Mann in Praktiken involviert zu werden, muss ein praktisches Wissen über die internen Maßstäbe der „Richtigkeit“ vorliegen, die für einen „geregelten“ Fortgang der Praxis sorgen (vgl. Hörning/Reuter 2006: 64). Diese Maßstäbe bilden sich im gemeinsamen Miteinanderhandeln aus. Ein „richtiger“ Mann muss demnach an den „richtigen“ Praktiken beteiligt sein, damit er weiterhin „up-to-date“ ist, was sein Wissen über „richtiges“ Mann-Sein angeht.
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4 Soziologie sozialer Praktiken
Ohne dieses Wissen verliert er die praktische Fähigkeit, das Knowhow, um weiterhin involviert zu werden. Dies öffnet den Blick für die Verflechtung von Praktiken zur Herstellung eines Geschlechts mit Praktiken zur Herstellung von Differenzen zwischen Geschlechtern bzw. Relationen innerhalb der Geschlechter, aber auch mit Herrschafts- oder Unterwerfungspraktiken oder subversiven und widerständigen Praktiken. Nicht Machen, sondern Tun In der Diskussion um die Fassung des „doing“ im Konzept des doing gender eröffnen die Praxistheorien eine Möglichkeit, „doing“ in einem erweiterten und grundsätzlichen Sinne als „Kultur-Tun“ zu verstehen. Diese Perspektive, die programmatisch im Sammelband von Karl H. Hörning und Julia Reuter (2004) zusammengeführt wird, lässt sich als praxistheoretisch beschreiben: „Doing culture sieht Kultur in ihrem praktischen Vollzug. Es bezeichnet ein Programm, das den praktischen Einsatz statt die vorgefertigten kognitiven Bedeutungs- und Sinnstrukturen von Kultur analysiert. Es zielt auf die Pragmatik von Kultur; auf Praxiszusammenhänge, in die das Kulturelle unweigerlich verwickelt ist, in denen es zum Ausdruck kommt, seine Verfestigungen und seinen Wandel erfährt. Die praktischen Verhältnisse des sozialen Lebens lassen Kultur erst zu ihrer Wirkung erlangen. Damit treten Fragen nach der praktischen Hereinnahme, des konkreten Vollzugs und der Reproduktion von Kultur, aber auch Fragen nach ihrer ungleichen Verteilung und Handhabung in den Vordergrund.“ (Hörning/Reuter 2004: 10)
„Doing“ ist dann weniger das konkrete und individuelle „Machen“, sondern das immer wiederkehrende und auf gemeinsame Gepflogenheiten basierende „Tun“; „Doing“ wird nicht bewusst und gestaltend gemacht, sondern häufig selbstverständlich und routiniert getan. Zum Zuge kommen dabei auch kulturspezifischen Wissensbestände, die dem alltäglichen Umgang mit Dingen, dem Körper und anderen „Mitwissern“ entspringen – im Sinne einer Akkumulationen von Erfahrungen (vgl. Hörning/Reuter 2006: 58). Geschlecht-Tun heißt dann auch spezifische Gesten, Gesichter, Gangarten oder Kleidungsstücke gekonnt einzusetzen (vgl. Hirschauer 2004: 77). Gekonnt meint, dass der Einsatz im Rahmen dessen stattfindet, was kulturspezifisch als angemessen und erwünscht gilt. Für das doing gender-Konzept eröffnet dies auch die Möglichkeit, jene Vollzüge in den Blick zu bekommen, die häufig jenseits des konkreten Thematisierens und des „individuellen Aktionsradius“ (Hörning/Reuter 2006: 58) liegen. Diese „Images“ von Vollzugswirklichkeiten werden nicht unmittelbar interaktiv erzeugt, sondern werden rezipiert wie in Vorabend-Serien oder Patientinnenbroschüren. Durch sie werden Idealbilder von Geschlecht hergestellt und sie führen vor Augen, dass Geschlecht relevant gesetzt wird, dass Geschlecht seine „Wirk-
4.4 Konsequenzen
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macht“ als Leitdifferenz noch immer und fortdauernd hat (vgl. Kotthoff 2002: 20). Dabei mobilisieren die Idealbilder kulturelle Wissensbestände über Geschlecht. Kulturelle Wissensbestände können auch als Inkorporierungen zum Einsatz kommen. Diese werden nicht kognitiv bewusst in konkreten Situationen eingesetzt, sondern erzeugen im gemeinsamen Vollzug, den man unbemerkt als Frau oder Mann ausführt, eine fraglose und selbstverständliche Hintergrundstruktur (vgl. Hörning/Reuter 2006: 59).
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Theoretisch-methodische Übergänge
Soziale Praktiken werden in der vorliegenden Untersuchung explizit vor dem theoretischen Rahmen synthetisierender Arbeiten zu den Theorien sozialer Praktiken bzw. einer Soziologie sozialer Praktiken untersucht (vor allem: Hörning 2001, Reckwitz 2003, Hörning/Reuter 2004, Hirschauer 2004, Hillebrandt 2009). Das Forschungsprojekt bewegt sich dabei in einer Pendelbewegung zwischen der empirischen Erforschung sozialer Praktiken – vor dem Hintergrund der Theorien sozialer Praktiken – und der Theoriengenerierung – vor dem Hintergrund der empirischen Erforschung sozialer Praktiken. Um diese Relation ertragreich in den Forschungsprozess einbringen zu können, bedarf es theoretisch-methodischer Übergänge, die weniger durch eine klare Fließrichtung von der Theorie zur Methode gekennzeichnet sind, als vielmehr von wechselseitiger Durchdringung. Mit der praxistheoretischen Perspektive ergibt sich ferner, wie gezeigt werden konnte, ein anderer Blick auf das Soziale, das im spezifischen Geflecht sozialer Praktiken zu suchen ist. Daraus erwachsen empirisch zu beantwortende Fragestellungen, wie die Frage wer oder was zum Sozialen zählt oder wie ein Fortbestehen der Form des Sozialen jeden Tag aufs Neue durch Praktiken gewährleistet wird. Diese Frage soll in der vorliegenden Untersuchung an den Arbeitsalltag in einer Internetagentur gerichtet werden. Damit der Alltag „antworten“ kann und diese Antwort wissenschaftlich verständlich wird, bedarf es eines methodischen Rahmens, der es dem Alltag zunächst überhaupt erlaubt seine „Sprache“ zu entfalten. Dazu wurde eine Ethnografie im Sinne einer „Erkenntnisstrategie“ (Hirschauer/Amann 1997) eingesetzt, wie im letzten Teil des Abschnitts dargelegt wird. Zuvor wird durch eine erkenntnistheoretische Diskussion ein eigener Forschungsstandpunkt für das empirische Verfahren entwickelt. 5.1 Erkenntnistheoretische Diskussion Als einer der zentralen Schwierigkeiten lässt sich die „Formung“ des Forschungsgegenstandes bezeichnen: Wie lässt sich ein Forschungsgegenstand empirisch zugänglich machen, der sich theoretisch aus nur lose miteinander verbundenen konzeptuellen Bausteinen erschließt, die sich wiederum aus einer ganzen
D. Lengersdorf, Arbeitsalltag ordnen, DOI 10.1007/978-3-531-93291-0_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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5 Theoretisch-methodische Übergänge
Reihe von Diskussionssträngen ergeben, welche sich in einer grundbegrifflichen Debatte zuspitzen (vgl. Reckwitz 2008d: 98)? Und welche Methoden sind bei einem Forschungsgegenstand einzusetzen, der sich durch eine „Doppelstruktur als materiale Körperbewegungen und als implizite Sinnstruktur, als Kombination einer Präsenz, der Körper und Dinge, die der Beobachtung zugänglich sind, und einer Abwesenheit des impliziten Wissens, dessen indirekte Erschließung immer unvollständig bleiben muss“ (Reckwitz 2008b: 196) auszeichnet? Die praxistheoretische Forschung verfügt bislang über keine erprobten Methoden, die speziell für die Erforschung sozialer Praktiken entwickelt wurden und kann auf noch keinen etablierten methodologischen Standpunkt verweisen. Dies lässt sich auf die erst jungen Bemühungen zur Synthetisierung einer Soziologie der Praktiken zurückführen. Die methodologische und methodische Diskussion steht gerade erst am Anfang (vgl. Hirschauer 2004, 2008; Bührmann/Schneider 2008; Reckwitz 2008, Hillebrandt 2009), wobei sich ein reflexives Verhältnis zwischen (Forschungs-)Praxis und Theorie abzeichnet, das auch eine stärkere Reflexion des eigenen Forschungsstandpunktes beinhaltet sowie ein Primat qualitativer Forschungsmethoden, das in einem interpretativ-rekonstruktiven Methodenzusammenhang verortet werden kann. Um einen für die vorliegende Studie ertragreichen methodologischen Standpunkt zu entwickeln war es m.E. nicht ausreichend sich allein auf diese junge Diskussionen zu beziehen. Vielmehr werden sich meine Forschungen auch vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung solcher Arbeiten entfalten, die sich der praxistheoretischen „Familie“ zuschlagen lassen, ohne dass sie die (Weiter-)Entwicklung einer Soziologie der Praktiken als ein zentrales Anliegen ihrer Forschungsaktivitäten betrachten. Diese Arbeiten setzen erprobte Methoden ihrer jeweiligen Forschungstradition ein. In den Blick genommen werden dabei drei zentrale Hauptströmungen, die sich gegenwärtig in der Entwicklung einer Soziologie der Praktiken abzeichnen: eine ethnomethodologische, diskursanalytischen sowie habitustheoretische. Es wird notwendig sein, die jeweilig spezifischen Perspektiven dieser Forschungsrichtungen zu entfalten und sich dabei kritisch mit den Ausblendungen auseinanderzusetzen, um daran anknüpfend die eigenen erkenntnistheoretischen Forschungsthemen zu entfalten. Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht damit nicht die „Exegese“ der methodologischen Entwicklungslinien der drei Strömungen, sondern vor allem das Nachzeichnen eines spezifischen Blickwinkels mit seinen Blickrichtungen und Fokussierungen, wie er sich für den Forschungsalltag erwarten lässt. In der Reflexion dieses Blickwinkels soll die Eignung für eine Erforschung sozialer Praktiken entfaltet werden. Um eine Verortung in Entwicklungslinien, Traditionen und Chronologien zu umgehen, wird die Auseinandersetzung unter Hinzuziehung dreier Studien vorgenommen, die erst vor Kurzem publiziert wurden. Es handelt sich zudem um
5.1 Erkenntnistheoretische Diskussion
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Dissertationsmonografien, da hier von einer größeren Erklärungsnotwendigkeit der eigenen erkenntnistheoretischen Verortung ausgegangen werden kann. Die drei Studien eint, dass sie sich mit Tätigkeitsfeldern beschäftigen, die neue Formen von Arbeit aufweisen und durch einen Wandel der organisatorischen Rahmenbedingungen gekennzeichnet sind: Automobilbranche, Finanzsektor und Wohlfahrtspflege. Zugleich lassen sie sich einer der drei Hauptströmungen der Theorien sozialer Praktiken zuordnen, so dass hier auch die für die Untersuchung relevanten Standpunkte der jeweiligen Strömung diskutiert werden können. Es wird im Folgenden demnach nicht darum gehen, eine Rezension der ausgewählten Studien vorzunehmen, diese sind vielmehr die Plattform, von der aus die eigenen erkenntnistheoretischen und methodischen Positionen erreicht werden. Ethnomethodologischer Erkenntnisrahmen Die erste ausgewählte Studie „Diversity in Action: Multinationalität in globalen Unternehmen am Beispiel Ford“ (2005) von Anja Frohnen zieht einen ethnomethodologischen Referenzrahmen ein, um die Relevanz nationaler Herkunft als Mitgliedschaftskategorie in globalen Unternehmen zu untersuchen. Soziale Praktiken kommen für Frohnen als „Praktiken der Mitarbeiter“ (Frohnen 2005: 16) in den Blick, die als Kompetenzen und Routinen im Arbeitsalltag internationaler Team untersucht werden, ohne einen explizit praxistheoretischen Rahmen zu eröffnen. Der Fokus liegt auf dem konkreten Vollzug, genauer auf Interaktionsund Kommunikationsabfolgen in spezifischen Situationen, und auf dem praktischen Wissen der Teilnehmer, dass sich als ein „Gewusst-Wie“ des Umgangs in konkreten Situationen zeigt. Wie sich erweisen wird, lässt die ethnomethodologische Perspektive zentrale Fragen der Erforschung sozialer Praktiken unbeantwortet, vor allem wie die Transsituativität sozialer Praktiken erfassbar ist, wie ihr „wirken“ zwischen Struktur und Handeln analysiert und wie die Formation sozialer Praktiken und weniger ihre formale Regelung untersucht werden können. Die Ethnomethodologie geht maßgeblich auf Harold Garfinkel zurück. Er positionierte sich in seiner richtungweisenden Publikation „Studies in Ethnomethodology“ (1967) in Opposition zu Versionen von Soziologie, die, wie jene Durkheims, „teach that the objective reality of social facts is sociology’s fundamental principle“ (Garfinkel 2008 [1967]: vii). Garfinkel hingegen ergründet den zentralen Gegenstand soziologischer Forschung nicht durch “fundamentale Prinzipien”, sondern durch die “fundamentale Einsicht”, „that the objective reality of social facts as an ongoing accomplishment of the concerted activities of daily life, with the ordinary, artful ways of that accomplishment being by members
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5 Theoretisch-methodische Übergänge
known, used, and taken for granted, is, for members doing sociology, a fundamental phenomenon” (ebd.). Ob Soziologie oder Zähneputzen betrieben wird, für beide Aktivitäten ist ein methodisch kompetentes Vorgehen notwendig und der Alltag findet im Badezimmer ebenso statt wie im soziologischen Institut. „The interests of ethnomethodological research are directed to provide, through detailed analyses, that account-able phenomena are through and through practical accomplishments“ (Garfinkel/Sacks 1986: 163). Die zentrale ethnomethodologische Perspektive richtet sich daher auf die von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Alltags geteilten Methoden. Diese Methoden, „members’methods“ sind relevanter und wirkungsmächtiger als die Absichten der einzelnen Akteure (vgl. Garfinkel/Sacks 1986: 166) und setzen ein spezifisches praktisches Wissen voraus, um ein kompetenter Teilnehmer des Alltags bzw. ein kompetentes Mitglied der Gesellschaft zu sein. Praktisch ist das Wissen, da es sowohl im gemeinsamen Handeln mit anderen erworben wird, als es dort auch aktualisiert und hier auch erst mobilisiert wird (vgl. Hirschauer 2001). Wie Anja Frohnen in ihrer Studie deutlich macht, ist das „Gewußt-Wie“ nicht auf alle Mitglieder einer Gesellschaft in ihrer Gesamtheit gleich verteilt, sondern es liegt für bestimmte Gruppen von Mitgliedern, wie den Ingenieuren bei Ford, ein bestimmtes praktisches Wissen vor, dass eine andere Gruppe, z.B. die Manager bei Ford, nicht kennen und auch nicht zu kennen brauchen. Für ethnomethodologische Forschung tritt die Frage, wie kulturelles Wissen praktisch aufgebaut und realisiert wird, damit in den Fokus, wobei dieses Wissen sich vor allem darauf richtet, was in einer bestimmten Situation jeweils zu tun ist. Die für Frohnen zentrale Analysekategorie der nationalen Herkunft geht so als praktisch hergestelltes und reproduziertes Wissen, als sich „im Handeln manifestierendes Alltagswissen, das von den „Einheimischen“ unhinterfragt und routiniert verwendet wird“ (Frohnen 2005: 13) in die Untersuchung ein. Mitglieder einer Gesellschaft nehmen sich als „kulturelle Kollegen“ wahr, so Frohnen, und schreiben sich im Alltag die gleichen Mitgliedschaftskompetenzen zu (vgl. Frohnen 2005: 52). Dabei können Akteure multiple Mitgliedschaften innehaben, die unterschiedliche Kompetenzen als praktisches Wissen voraussetzen (ebd.). Für Frohnen ist die Frage wichtig, wo und wie die nationale Herkunft im Arbeitsalltag als Mitgliedschaftskategorie bedeutsam wird. Die Kontextualisierung der Forschungsfrage ist für sie zwingend erforderlich (vgl. Frohnen 2005: 11). Sie ist erforderlich, da sie das Prozesshafte kultureller Differenz erfassen will und sich damit der Blick öffnet für Mobilisierungen, aber auch Inaktivierungen von Differenzierungen. Diese Perspektive wiederum wird erst ermöglicht, indem kulturelle Differenzen nicht mehr als personale Eigenschaften verstanden werden, sondern als Mitgliedschaftskategorien. Mitgliedschaftskategorien können dabei nur „zum Leben erweckt werden“, wenn das praktische Wissen bei Akteu-
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ren vorliegt, wie die jeweilige Kategorie anzuzeigen, darzustellen und anzuerkennen ist. Das praktische Wissen wird im Alltäglichen, im Agieren und Kommunizieren erworben, aktualisiert und weitergegeben (vgl. Frohnen 2005: 52). Durch die Fokussierung des „Durchführungscharakters“ (Hörning/Reuter 2006: 56) der ethnomethodologischen Perspektive wird allerdings der Blick auf die Dauerhaftigkeit der Vollzugs-Form und ihren Übertritt in andere Situationen und andere soziale Felder verstellt. Praktiken sind nicht situationsgebunden oder gar situationsspezifisch. Sie weisen vielmehr über Situationen hinaus, da sie sowohl auf vergangene (erfahrene) Situationen verweisen, wie auch auf (Erwartungen) zukünftige(r) (vgl. Reckwitz 2003). Da Praktiken keine „Quelle“ ihrer Entstehung haben (vgl. Hillebrandt 2009: 83), kann auch eine Situation nicht zum Ausgangspunkt des Vollzugs bestimmt werden oder zum konstitutiven Moment.24 Es sind vielmehr die Praktiken selbst, in ihrer losen Koppelung aneinander und den darin involvierten Partizipanden, die an sich erinnern und damit ihre Dauerhaftigkeit begründen. Frank Hillebrandt formuliert: „Weil es keinen Ursprung der Praxis geben kann, ist sie immer mit objektivierten Schemata verbunden (vgl. Hirschauer 2004: 73), die Praxisformen in kulturellen Mustern und Symbolen repräsentieren.“ (Hillebrandt 2009: 84). Um von der einzelnen Interaktion abheben zu können und die Ebene der Organisation für ihre Forschungen zugänglich zu machen, „nötigt“ das ethnomethodologische Verständnis von Praktiken Anja Frohnen dazu, die Systemtheorie hinzuziehen: „Die Systemtheorie ermöglicht einen Wechsel der Perspektive, da sie verschiedene soziale Systeme unterscheidet und nicht alles auf Interaktionen oder mikrosoziologische Prozessanalysen zurückführt“ (Frohnen 2005: 83). Praktiken werden in den Theorien sozialer Praktiken als kleinste oder letzte Elemente des Sozialen gefasst. Da das Soziale alle Ebenen von Makro bis Mirko, von Handlung bis zur Struktur umfasst, alle „Aggregatzustände der Sozialität“ (Hillebrandt 2009: 88), lassen sich mit einer praxistheoretischen Perspektive auch Organisation und Interaktion gleichermaßen erfassen und der Analyse zugänglich machen. Dies wird möglich, da die Analyse von „Einzel“-Praktiken abhebt und Verkettungen von Praktiken in den Blick nehmen kann.
24 Eine Methode, die nur Erhebungspunkte erfasst, kann soziale Praktiken nicht offen legen. Die Analyse von Skripten einzelner, „natürlicher“ Situationen, gleich ob sie auf videoaufgezeichnete Handlungskonstellationen zwischen Computern und Fluglotsen basieren oder audioaufgezeichnete Konversationsverläufe zwischen Schülerinnen, würde eine wesentliche Dimension sozialer Praktiken vernachlässigen: dass sie über Raum und Zeit hinweg laufen (vgl. Reckwitz 2003: 295, Hillebrandt 2009: 84) und sich gerade aus ihrer Wiederholung und der gleichzeitigen Neuerschließung ihre innere Geregeltheit erschließt.
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5 Theoretisch-methodische Übergänge „Dabei lassen sich Praktiken-Komplexe unter zwei verschiedenen Aspekten betrachten: als ‚soziale Felder’, in denen Praktiken ‚der Sache nach’ zusammenhängen und aufeinander abgestimmt sind – etwa in einer Institution, einer Organisation oder sog. ‚Funktionssystemen’– und als ‚Lebensformen’“ (Reckwitz 2003: 295).
Das ethnomethodologische Interesse richtet sich auf die Herstellungsregeln der formalen Struktur der Interaktion und Kommunikation (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008: 33, Bohnsack 2007: 228). Man könnte auch formulieren, dass es eine Suche nach dem Einen ist, was alles zusammenhält, in diesem Falle: das „Regel-Werken“ der Ethnomethoden. Die praxistheoretische Perspektive interessiert sich weniger für die formale Regelung, als vielmehr für die Form(ation) des Vollzuges. Es ist das spezifische Muster bzw. die Anordnung von Vollzügen, die in den Blick kommen und die Frage, wodurch die Form relativ stabil bleibt. Eine wie auch immer geartete Kausalität, eine endgültige Fixierung des Sozialen ist generell als Illusion zu betrachten, im „Kleinen“ wie im „Großen“ (vgl. Hillebrandt 2009: 23). Mit den Begriffen der „inneren Geregeltheit“ (Hörning 2001: 163) oder der „impliziten Logik“ (Reckwitz 2003: 291) wird darauf verwiesen, dass soziale Praktiken „ihre relative (wenngleich keineswegs vollständige) Reproduktivität in der Zeit und im Raum durch ihre materiale Verankerung in den mit inkorporierten Wissen ausgestatteten Körpern [gewinnen – DL], die – in der Dauer ihrer physischen Existenz – praxiskompetent sind, und in den Artefakten, in denen sich – deren Haltbarkeit oder Erneuerbarkeit vorausgesetzt – Praktiken über Zeit und Raum hinweg verankert sind.“ (Reckwitz 2003: 291)
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass eine ethnomethodologische Perspektive auf Praktiken aufschlussreich ist, um Praktiken als eine Abfolge von Aktivitäten zu fassen, eine Abfolge, die nicht beliebig ist, sondern über eine spezifische innere Geregeltheit verfügt. Um sich in den Handlungsfluss „einklinken“ zu können, ist dabei ein praktisches Wissen notwendig, wie Anja Frohnen für die Belegschaft von Ford zeigen konnte. Es ist ein Wissen über die relevanten Ethnomethoden des Untersuchungsfeldes. Dies eröffnet zugleich die Möglichkeit zu erkennen, dass es eine wirkungsmächtigere Instanz als die subjektiven Absichten der Akteure im Sozialen gibt, was wiederum die Möglichkeit eröffnet, ein stückweit von Akteuren abzusehen. Dies wird auch erleichtet, indem kulturelle Differenzen wie Geschlecht oder Ethnizität nicht mehr als personale Eigenschaften gedacht werden müssen, sondern als kategoriale Ordnungsprinzipien fassbar sind. Allerdings verstellt die Ethnomethodologie den Blick auf die Transsituativität sozialer Praktiken, da sie vor allem an dem Durchführungscharakter von konkreten Handlungsvollzügen interessiert ist. Die mittlerweile etablierte Zuordnung der Ethnomethodologie – wenn auch nicht von ihren „Gründern“
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intendiert – zu einer Mikrosoziologie, erschwert es ferner den Zusammenhang zwischen Struktur und Handeln als ein relationales Verhältnis zu fassen. Es ist gerade die Analyse von Verkettungen sozialer Praktiken zu Praktikenkomplexen und Makroaggregaten, wie Organisationen, die eine praxistheortische Forschung ertragreich machen kann. So ist eine Soziologie der Praktiken auch weniger an der Analyse der formalen Regelung von Handlungsvollzügen interessiert als vielmehr an ihrer Formation. Diskursanalytischer Erkenntnisrahmen Während Anja Frohnen sich auf einen ethnomethodologischen Erkenntnisrahmen bezieht, liegt der Fokus der zweiten Perspektive, die sich mit der Studie „Das Einpassen in den Ort. Der Alltag deutscher Finanzmanager in London und Singapur“ (2009) von Lars Meier eröffnet, auf Diskursen. Der Unterschied beider erkenntnistheoretischen Bezüge liegt maßgeblich darin, dass die Diskurstheorien „sich weder für sozialstrukturelle Formungen des Sprachgebrauchs noch für den Sprachgebrauch als Handlungsform oder -vollzug interessieren. (…) Im Zentrum der hier vorgestellten Perspektive steht vielmehr die Analyse institutioneller Regulierungen von Aussagepraktiken und deren performative, wirklichkeitskonstruierende Macht“ (Keller 2007: 8).
Auch Meier stellt keinen expliziten Bezug zu den Theorien sozialer Praktiken her, konzipiert allerdings sein zentrales Konzept des „Einpassens“ als „die Herstellung von Identitäten durch alltägliche Praktiken und Images in Abhängigkeit zu dem spezifischen Ort ihrer Ausbildung“ (Meier 2009: 40). Der Fokus liegt auf den Wissensordnungen über das Eigene und das Fremde, die disziplinierend auf den Prozess des Einpassens einwirken. Um die „alltäglichen Handlungen der Individuen“ (Meier 2009: 51) und den „identitätsgebundenen Prozess“ (Meier 2009: 50) des Einpassens gleichermaßen untersuchen zu können, werden in der Studie Praktiken als diskursive Praktiken relevant gemacht. Die Diskursanalyse wurde durch die Arbeiten Michel Foucaults bekannt. Foucault entwickelte seine Überlegungen zu Diskursen aus der Analyse historischen Materials, anhand dessen er sich von „allen Vorstellungen einer kontinuierlichen historischen Wissenschaftsentwicklung im Sinne ständig fortschreitender Wahrheitsfindung“ (Keller 2007 16) verabschiedete. In seinem Fokus steht die Entfaltung spezifischer Wissens- und Machtdispositive (vgl. Foucault 1974: 126), wobei man ein Dispositiv als ein Netz möglichen Handelns und Denkens
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fassen kann.25 Wissen und Macht stellen die zentralen Topoi der foucaultschen Arbeiten dar. In den Fokus kommen Institutionalisierungen kollektiv verbindlicher Wissensordnungen (vgl. Keller 2007: 7). Diese werden temporär erreicht durch mehr oder weniger erfolgreiche Versuche, Bedeutungszuschreibungen und Sinn-Ordnungen zumindest auf Zeit zu stabilisieren (ebd.). Das Konzept des Diskurses setzt genau hier an, zwischen der Macht, Bedeutungen sowie Sinn temporär auf Dauer zu stellen und í in der gleichen Bewegung í die Anordnung von kollektiv-geteiltem Wissen zu regulieren: „Der Diskurs wird konstituiert durch die Differenz zwischen dem, was man korrekt in einer Epoche sagen könnte (nach den Regeln der Grammatik und denen der Logik) und dem, was tatsächlich gesagt wird. Das diskursive Feld ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt, das Gesetz dieser Differenz. Es definiert so eine gewisse Zahl von Operationen, die nicht der Ordnung der linguistischen Konstruktion oder der formalen Logik angehören.“ (Foucault 1978: 316)
Diskurse sind demnach „Systeme, die regulieren, welche Bedeutungen im jeweiligen Kontext als intelligibel erscheinen. […] Das Soziale ist damit aus dieser Perspektive Diskurs: Diskurse sind Signifikationsregime, die jegliche Form menschlichen Handelns als sinnhaftes Handeln fundieren“ (Reckwitz 2008b: 192). Lars Meier interessiert sich dafür, wie Identitäten in der Interaktion mit dem besonderen Ort, der aktivierenden Struktur des Ortes und dem diesen Ort entgegengebrachten Images produziert werden. Identitäten und Images sind für Meier von Spannungsverhältnissen gekennzeichnet, so dass sie als dynamische und umkämpfte Gebilde gefasst werden müssen (vgl. Meier 2009: 51). In diese „Kämpfe um Bedeutungen“ (ebd.) werden die Materialitäten der Orte, die Körper der Finanzmanager, der Rhythmus einer Stadt und andere kulturelle Objekte involviert und zur Bedeutung gebracht. Diese Perspektive wird möglich, da Meier mit der Diskurstheorie ein spezifisches diskursives und daher (relativ) dynamisches Beziehungsgeflecht zwischen Orten und Handlungen in den Blick bekommt, das disziplinierend sowie ein- und ausschließend wirkt (vgl. Meier 2009: 50). Er kann so nachweisen, dass Orte spezifische Identitätsperformance anregen, die „in Interaktion mit den materiellen Strukturen und immateriellen Images des konkreten Ortes erfahrbar und sichtbar“ (Meier 2009: 274) werden. Meier begründet diese Perspektive mit Foucault, demnach Diskurse als Praktiken zu behandeln sind, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen: „Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung von Sachen.“ (Foucault 1973: 74). Das „mehr“ 25 Eine differenzierte Analyse und Genese des Dispositiv-Begriffs ist bei Andrea Bührmann und Werner Schneider (2008) zu finden.
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fasst Meier als alltägliche Handlungen, die in seinem Untersuchungsfokus stehen (vgl. Meier 2009: 51). Die spezifischen Strukturen der Orte wiederum werden von ihm „aus einer Vielzahl von Elementen, wie aus ihrer Materialität, Atmosphäre, sozialen Struktur und seinem Rhythmus, die für die Finanzmanager direkt vor Ort spürbar werden und die von ihnen bestimmte Handlungen im Einpassen in den Ort einfordern“ (Meier 2009: 29) zugänglich gemacht. Das Einpassen in den Ort erfolgt mit allen Sinnen des Körpers der Finanzmanager (vgl. ebd.). Die Fokussierung auf diskursive Praktiken macht es allerdings erforderlich, den Sinn oder die Bedeutung einer Sache aus Aussagen zu rekonstruieren, denn nur so können Codes interpretiert und ihre Wirksamkeit angemessen abgeschätzt werden (vgl. Reckwitz 2008b: 201). Damit werden Sinn und auch die Ordnung dieses Sinns an Sprache gebunden, an Sprache wohlgemerkt im weiten Sinne: das gesprochene Wort, Texte, aber auch visuelle Darstellungen, wie die Welt repräsentiert wird, welche Möglichkeiten des Denkbaren und Sagbaren sich hier zeigen. Daher spricht Andreas Reckwitz auch von diskursiven Praktiken als „Praktiken der Repräsentation“ (Reckwitz 2008b: 203). In dieser Perspektive können allerdings jene Praktiken nicht in den Blick kommen, in denen Sinnzusammenhänge selbst nicht explizit zum Thema werden (vgl. Reckwitz 2008b: 205). In diesen nicht-diskursiven Praktiken sind auch Sinn- und Wissensordnungen enthalten, die sich in ihnen und mit ihnen vollziehen, aber sie „produzieren und explizieren selber – über den Weg von Argumentationen, Narrationen, Montagen usw.“ (ebd.) keine Ordnungen des Wissens und des Sinns. Umgangspraktiken sind hier ein gutes Beispiel. Texte verweisen nicht nur auf Aussagen, sondern sie sind auch Dokumente, z.B. Papierstücke in einer Anwaltskanzlei (vgl. Suchman 2000). Der Umgang mit diesen Papierstücken ist routinisiert und macht einen entscheidenden Teil des Arbeitsalltages aus. Die Umgangspraktiken umfassen dabei Aktivitäten, wie Abheften, Rausholen, Markieren oder Vorlegen. Sie bringen die Bedeutung des Papierstücks immer wieder insofern hervor, als das das Papier in den Handlungsfluss involviert wird. Dabei steht das Papierstück in dieser Perspektive nicht für etwas, z.B. den Rechtsstaat, sondern es ist etwas, weil es in den Vollzug involviert wird.26 26 Methodisch stellt das Erkennen der jeweiligen Relevanz eine Herausforderung dar. Diese Problematik wird innerhalb der Geschlechterforschung seit Jahren verhandelt, da sich hieran das Konzept der Omnirelevanz von Geschlecht reibt (vgl. u.a. Kelle 2001, Kotthoff 2002, Hirschauer 2001). Die Omnirelevanz-These geht davon aus, dass Geschlecht fortlaufend zur Bedeutung gebracht wird, auch dann, wenn es nicht thematisiert wird. Im Zuge der Debatte wurde deutlich, dass es verschiedene Relevanzgrade oder gar Hierarchien von Relevanzen geben kann. Damit ist es nicht allein ausreichend, Relevanzen im Feld zu erkennen, sondern ihre je spezifische Relation zueinander auszumachen. In die Diskussion um die Analyse von Relevanzen ragt auch die Frage hinein, wie ein Nicht-Relevant-Machen möglich sein kann und vor allem, wie dieses empirisch
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Eine entscheidende Leistung von Diskursanalysen liegt in der Erkenntnis, dass Macht und auch Herrschaft kulturell und historisch situiert sind. Für „moderne Gesellschaften“ stellt Foucault weniger große Ideologien oder Herrschaftssysteme als Machtinstrumente fest, sondern Disziplinierung und Normalisierung als Techniken der Macht (vgl. Foucault 1994). Lars Meier hat mit seiner Konzeption vom „Einpassen“ eine solche Disziplinierung und Normalisierung der entsandten Finanzmanager zum „Expatriat“ beschrieben. Durch die starke Fokussierung auf Disziplinierung und Normierung, in denen das „Regelwerken“ der Macht beobachtbar wird, tritt die Seite der Wiederholung von Praktiken in den Vordergrund. In den Hintergrund hingegen tritt der Aspekt der Neujustierung, der sich innerhalb des gleichen Vollzugs ereignet. Dies bringt zweierlei Konsequenzen mit sich: eine vollständige, abgeschlossene Disziplinierung des Expatriats kann nicht gelingen, da sich die disziplinierenden Praktiken beständig neu konfigurieren, außerdem fordern die disziplinierenden Praktiken durch die ihnen inhärente Neujustierung auch immer neujustierte (Subjektkonfigurationen des) Expatriats an. Macht als Teil des Sozialen unterliegt damit ebenso dem „Postulat“ der Unabgeschlossenheit, wie alle anderen Elemente des Sozialen auch (vgl. Laclau/Mouffe 2006). In der Auseinandersetzung mit dem diskurstheoretischen Erkenntnisrahmen der Studie von Lars Meier ließ sich nicht nur zeigen, dass personale Eigenschaften soziale sind, wie dies die Ethnomethodologie eröffnet, sondern, das auch Identitäten über soziale Praktiken erzeugt werden.27 Besonders hervorzuheben ist ferner, dass Meier die Materialität der Praktiken mit seiner Konzeption des „Ortes“ in den Blick rückt. Es wird deutlich wie sehr z.B. Körper, architektonische Räume und Artefakte in einem dynamischen Beziehungsgeflecht miteinander verwoben sind und welche Bedeutungen ihnen in den Konstruktionsprozessen von Identität zukommt. Diskurse werden so auch spür- und erfahrbar. Hier zeigt sich, dass es nicht allein das praktische Wissen, im Sinne einer Wissenskompetenz ist, wie dies Anja Frohnen durch den von ihr hinzugezogenen ethnomethodologischen Erkenntnisrahmen ausarbeitete, sondern auch sich ereignende Wisaussehen könnte (vgl. Hirschauer 2001, Heintz et al. 1997). Muss es sich um ein bewusstes Absehen handeln oder ist schon ein unbewusstes Anders-Tun, also eine neue Relevanzsetzung, entgegen des Üblichen ausreichend? Damit wird die Frage, was als „Relevanz“ je verstanden wird und wie es methodisch zugänglich gemacht wird, zentral für die Untersuchung. 27 Damit löst sich eine weitere Dimension dessen auf, was gemeinhin als individueller „Kern“ einer Person gefasst wird: einer Person sind weder ihre „Eigenschaften“ zu Eigen, noch ihre „Identität“. Wie sich im Laufe der vorliegenden Studie zeigen wird, gilt dies auch für den Körper. Es stellt sich m.E. die Frage, inwiefern der „Mensch“ in dieser Perspektive noch eine soziologisch relevante Entität sein kann bzw. ob empirisch rekonstruierte Formen des Menschseins noch ausreichen, um die Konzeption von „Mensch“ aufrecht zu erhalten, vor allem auch in Abgrenzung zu „Nicht-Menschen“ wie z.B. Tieren oder Artefakten (vgl. u.a. Latour 2007, Harraway 1990).
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sensordnungen, die mit der Diskursanalyse erfassbar werden. Diese temporär fixierten Anordnungen von Wissen geben damit auch einen weiteren Anhaltspunkt zur Beantwortung der Frage wie Praktiken auf Dauer gestellt werden können: während die Ethnomethodologie zeigen konnte, wie Praktiken am Laufen gehalten werden, z.B. indem sie immer wieder kompetent agierende Ingenieure „nutzen“, verweist die Diskursanalyse auf (temporär) stabilisierte Wissensordnung, die den Möglichkeitshorizont ihres Vollzuges stabilisieren. Allerdings verbleibt die Analyse dieser Wissensordnungen auf der Ebene von Aussagen bzw. Aussagesystemen. So kommen lediglich Praktiken der Repräsentation in den Blick. Andere Praktikenkomplexe, wie Umgangspraktiken werden nicht analysierbar. Habitustheoretischer Erkenntnisrahmen Mit der Untersuchung „Habituelle Konstruktionen sozialer Differenz. Eine rekonstruktive Studie am Beispiel von Organisationen der freien Wohlfahrtspflege“ (2008) von Sonja Kubisch wird abschließend ein habitustheoretischer Erkenntnisrahmen eröffnet. Wie sich zeigen wird, ist auch hier Wissen eine zentrale theoretische Komponente, die neben der diskursanalytischen Konzeption von Wissensordnungen und der ethnomethodologischen von Wissenskompetenzen nun den Aspekt der Wissensressource, dem Erfahrungswissen als Ressource z.B. zur Erzeugung kultureller Ungleichheit bedeutsam werden lässt. Kubisch geht in ihrer Untersuchung der Frage nach, „ob es so etwas wie habituelle und organisationskulturelle Muster im Umgang mit sozialer Differenz gibt“ (Kubisch 2008: 12). Die Antwort studiert sie anhand von Organisationen, in deren „Alltagswelten“ sie einen Blick wirft, mit dem Ziel einer genauen „Rekonstruktion der handlungsleitenden Orientierungen, d.h. des Habitus (bzw. der verschiedenen Habitusformen) der Organisationsmitglieder“ (Kubisch 2008: 12). Soziale Praktiken interessieren in diesem Fokus als Hinweis oder Nachweis der Wirkungen des Habitus, der ihre „Erzeugungsgrundlage“ (Bourdieu 1993: 98) ist. Mit der Analyse des Habitus kommen die Erzeugungsprinzipien von Wirklichkeit in den Blick – einer „gemeinsamen sinnhaften Welt“, wie es Bourdieu ausdrückt (vgl. Bourdieu 1987: 730). Die Habitustheorie, wie sie von Sonja Kubisch eingesetzt wird, geht auf die Arbeiten von Pierre Bourdieu zurück. Bourdieu entwickelte seine Konzepte aus einer radikalen Kritik an den scholastischen Grundlagen des philosophischen Denkens heraus und arbeitete an einer neuen, soziologischen Erkenntnistheorie (vgl. u.a. Bourdieu 1993, 2004). Diese ist maßgeblich durch Marx beeinflusst und setzt an der Relation zwischen Theorie und Praxis an:
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5 Theoretisch-methodische Übergänge „Die Theorie der Praxis als Praxis erinnert den positivistischen Materialismus daran, dass Objekte der Erkenntnis konstruiert und nicht passiv registriert werden, und gegen den intellektualistischen Idealismus, dass diese Konstruktion auf dem System von strukturierten und strukturierenden Dispositionen beruht, das in der Praxis gebildet wird und stets auf praktische Funktionen ausgerichtet ist.“ (Bourdieu 1993: 97)
Dieses System von Dispositionen oder auch das „Erzeugungsprinzip von Strategien, die es ermöglichen, unvorhergesehenen und fortwährend neuartigen Situationen entgegenzutreten“ (Bourdieu 1979: 165), ist der Habitus. Der Habitus ist allerdings nicht individuell oder gar beliebig, sondern basiert auf einer spezifischen Soziallage bzw. einer spezifischen Position im sozialen Feld. So tendieren Akteure, die sich durch eine gemeinsame Soziallage auszeichnen, dazu, soziale Situationen in ähnlicher Weise wahrzunehmen und ähnlich zu handeln (vgl. Meuser 2006: 113). Dies schließt auch ein, dass etwas was nicht sein darf, nicht sein kann und damit als undenkbar ganz selbstverständlich als Option ausscheidet (vgl. Bourdieu 1993: 100). Der Habitus strukturiert damit auch die Wahrnehmungen, Interpretationen und Deutungen und wirkt in ihnen und mit ihnen als Orientierungsmuster. „Darüber hinaus generiert er als Produkt der Geschichte individuelle und kollektive Praktiken, also Geschichte, nach den von der Geschichte erzeugten Schemata; er gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen und die Übereinstimmung und Konstantheit der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle formalen Regeln und expliziten Normen zu gewährleisten sucht.“ (Bourdieu 1993: 101)
Die Konstantheit von Praktiken wird von Bourdieu durch die Hereinnahme des Körpers in seine Theorie der Praxis konzipiert. Im Körper „materialisiert“ sich der Habitus: „es ist das Ergebnis des Eingehens des Sozialen in die Körper“ (Bourdieu/Waquant 1996: 160, auch: Hillebrandt 2009: 44). Diese „Einverleibung des Sozialen“ (Alkemeyer et al. 2009: 13) oder mit Bourdieu „Inkorporierung“ (u.a. Bourdieu 1987: 729ff) ermöglicht und begrenzt das Handeln der Akteure. Es sind Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen, die sich als habitualisierte Formen „inkorporierter sozialer Struktur“ (Bourdieu 1987: 730) fassen lassen. Damit holt Bourdieu den Handelnden wieder in die Sozialstrukturanalyse zurück, wie Michael Meuser formuliert, denn in „den erfindungsreichen, gleichwohl habituell gebundenen Interpretationen der Akteure – und nur darin – ‚leben’ die sozialen Strukturen“ (Meuser 2007b: 209). Sonja Kubisch interessiert so, ob der Umgang mit sozialer Differenz nicht nur durch situationsabhängige Konstruktionsleitungen immer wieder hergestellt wird, wie dies ethnomethodologische Studien zeigen, sondern sich auch an einem kollektiv-geteilten Orientierungsmuster, dem Habitus, festmachen lässt. In dieser Perspektive wird soziale Differenz über einen Habitus stabilisiert, der den
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Umgang und die Konstruktion sozialer Differenz „reguliert“, da er das Erzeugungsprinzip der Umgangs- und Konstruktionspraktiken ist. Es ist die Verbindung von Handlungs- und Strukturebene, die diese Perspektive ermöglicht, indem die Wirkungen gesellschaftlicher Strukturen im Handeln der Akteure aufzeigt wird (vgl. Kubisch 2008: 79). Soziale Differenz wird von Kubisch dabei verstanden als kollektive Konstruktion und die Umgangsweisen mit sozialer Differenz als personenbezogene oder positionsbezogene Differenzierungen gefasst (vgl. Kubisch 2008: 129). Demnach zielt die Untersuchung auch auf eine Rekonstruktion des hier zum Einsatz kommenden kollektiven, impliziten und handlungsleitenden Erfahrungswissens der Organisationsmitglieder, auf welches sich ihre Wirklichkeitskonstruktionen gründen (vgl. Kubisch 2008: 113). Sinn wird so als „gesellschaftlicher Orientierungssinn“ bedeutsam, der durch den Habitus wirksam wird und sich als praktischer Sinn zeigt (vgl. Kubisch 2008: 69, mit Bourdieu 1998: 728). Soziale Praktiken kommen in der Studie von Sonja Kubisch nur als „Ausdruck“ des Habitus in den analytischen Blick. In der hier vollzogenen forschenden Praxis wird damit eine Trennung von Orientierungsmuster und Praktiken praktiziert. Dabei bleibt eine andere „Bewegung“ des Habitus ausgeblendet: dass er sich in Praktiken reproduziert (vgl. Meuser 2006: 117). Theorien sozialer Praktiken eröffnen eine Perspektive auf die spezifische Formation dessen, was zum Vorstellbaren, zum fraglos Akzeptierten, zum legitim Wahrgenommenen etc. zählt und gleichzeitig, wie sich das Vorstellbare, Akzeptierte und Wahrgenommene zeigt. Oder anders formuliert: Theorien sozialer Praktiken geben Aufschluss über die Anordnung von Wissen im Sozialen und die Hervorbringung von Wissen im Handeln, indem sie den Ausdruck und die Wirkung von Wissen in der Praxis gleichermaßen analysieren (vgl. Hörning 2004: 20). Damit nehmen sie Praxis als „Ort“ ernster, in dem Verstehen und Einsicht der Akteure hervorgebracht und in dem kulturelle Repertoires der Deutung und Bedeutung eingespielt werden (Hörning 2004: 20, Hervh. DL).28 Um dies zu bewerkstelligen, nehmen Theorien sozialer Praktiken eine Perspektive ein, die Wittgenstein auf den Punkt brachte: „Beginn mit den Praktiken – denk nicht“ (Wittgenstein 2004: 277, auch Hörning 2004: 22). Die Analyse beginnt mit den Handlungsflüssen, mit dem Vollzug von Praktiken und weitet 28 Es stellt sich damit die Herausforderung, soziale Praktiken nicht als „unmittelbar und verständlich zu begreifen, sondern die dahinter liegenden kulturellen Formen und Sinnbezüge herauszuarbeiten, die bewirken, dass Praktiken als unmittelbar verständlich und vorhersehbar wahrgenommen werden“ (vgl. Bourdieu 1987: 108, auch Hörning/Reuter 2004: 13). Dabei gilt es, nicht den eigenen Relevanzsetzungen zu trauen, sondern die Relevanzen des Feldes ernst zu nehmen. Bedeutungen müssen erst aufgespürt und als solche erkannt werden (vgl. Hirschauer/Amann 1997: 20, Hitzler 2003: 50).
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den Blick dann für die „Übertragungen und Schaltungen“ (Hörning 2004: 22) zwischen den lose miteinander verbundenen „Letztelementen“ (Hillebrandt 2009: 50) des Sozialen. In dieser Perspektive sind Praktiken und Orientierungsmuster durch den fortlaufenden Vollzug oder besser im Vollzug vereint. Weder das eine noch das andere ist vorgängig oder für das andere generativ. Konstitutiv für beide ist der Vollzug, der Handlungsfluss. Denn hier erleben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in sozialen Praktiken, „ob ihr Handeln passt oder nicht, indem die anderen Teilnehmer ihr Handeln ‚beantworten’, Anschlusshandlungen ansetzen, also stillschweigend mitteilen, dass sie das Handeln für ‚korrekt’ halten“ (Hörning 2004: 23). Es sind weniger über die Jahre ausgebildete Dispositionen in Körpern als vielmehr implizite Handlungskriterien, deren Maßstäbe und Kriterienkataloge an den Vollzug gekoppelt sind. Da der Vollzug sozialer Praktiken gekennzeichnet ist durch Neuerschließung und Wiederholung, verändern sich auch die Kriterien und Maßstäbe fortlaufend. Die Gleichförmigkeit der sozialen Welt kann so nicht allein durch kollektive Wissensordnungen zum Ausdruck kommen, die in einem kulturellen Reservoir symbolisch-sinnhafter Regeln und Deutungen begründet ist (vgl. Hörning 2004: 28). Vielmehr muss die Beständigkeit des Sozialen im Ablauf der Praktiken selbst gesucht werden. Auch mit der Habitustheorie lassen sich weitere zentrale Aspekte eines praxistheoretischen Erkenntnisrahmens ableiten. So kann der Habitus herangezogen werden, um eine weitere Antwort auf die Frage des Fortbestands sozialer Praktiken zu klären, die sich in der Inkorporierung des praktischen Wissens finden lässt. Zudem wird mit dem Habitus eine Verbindung zwischen Handeln und Struktur gezogen, die im ethnomethodologischen Erkenntnisrahmen nicht entfaltet wurde. Zugleich lassen sich hier weitere Erkenntnisse gewinnen, wie Sinn jenseits eines von Akteuren gemeinten Sinns verstanden werden kann: als „sense practique“, als praktischer Sinn. Durch den Habitus tritt allerdings eine weitere Unvereinbarkeit mit der praxistheoretischen Konzeption sozialer Praktiken hinzu. Diese geht nicht von einer Vorgängigkeit eines Orientierungsmusters oder -sinns aus, wie dies in der habitustheoretisch-basierten Forschung zunehmend praktiziert wird. Es gibt nichts, was den Praktiken vorgängig wäre, es sei denn Praktiken. Der Habitus ist kein einheitsspendendes Element im Sozialen, sondern Teil alltäglicher Vollzüge. Entlang dreier Studien wurden zentrale erkenntnistheoretische Problemfelder zur Erforschung sozialer Praktiken entfaltet und diskutiert. Diese resultieren vor allem aus einer verkürzten Fassung des Praktiken-Konzepts, welche sich wiederum aus spezifischen methodologischen Traditionen ergibt. Die Untersuchung von Praktiken bedarf demnach eines eigenen methodologischen Rahmens, um das theoretische Potenzial voll auszuschöpfen. Es konnte gezeigt werden, dass dieser Rahmen vor allem über bisherige Grenzziehungen hinausweisen muss, z.B. über konkrete Interaktionssituationen, aber auch über individuelle Handlungs- und ge-
5.2 Erkenntnisstrategien – Ethnografie
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sellschaftliche Strukturebenen sowie über außeralltägliches Theoretisieren und alltägliches Praktizieren. 5.2 Erkenntnisstrategien – Ethnografie Theorien sozialer Praktiken sind kulturtheoretisch fundiert (vgl. u.a. Hörning/Reuter 2004, Reckwitz 2003, Hillebrandt 2009). Dies bedeutet im Wesentlichen, „dass in ihrem Verständnis die soziale Welt ihre Gleichförmigkeit über sinnhafte Wissensordnungen, über kollektive Formen des Verstehens und Bedeutens, durch im weitesten Sinne symbolische Ordnungen erhält“ (Reckwitz 2003: 287). Kultur wird damit an Praxis gebunden (vgl. Hörning/Reuter 2004: 10, Hillebrandt 2009: 84): „Doch Kultur drückt sich gleichermaßen in kulturell eingelebten Gepflogenheiten, Wissensbeständen und Kompetenzen aus, die in die Praktiken und Handlungsmuster einfließen, die in der Welt ihrer Wirksamkeiten entfalten und zusammen mit anderen Praktiken Wirklichkeiten transformieren und stabilisieren.“ (Hörning 2001:157)
Mit der kulturtheoretischen Fundierung der Theorien sozialer Praktiken und der praxistheoretischen Fundierung von Kultur wird Wissen als zentraler Modus von Praxis bedeutsam gemacht (vgl. Hörning 2001: 222). Es ist das praktische Wissen, dass sich im praktischen Können zeigt; eingeübte Handlungsrepertoires, in denen sich ein praktisches Wissen ausdrückt und den sozialen Praktiken Richtung und Anschluss vermittelt (vgl. Hörning/Reuter 2006: 52). Die empirische Erforschung sozialer Praktiken muss daher über Verfahren verfügen, um diese Form des Wissens, des Verstehens, des Denkens und des Sinns im Handeln zu erschließen. In Anlehnung an Ralf Bohnsack, der diesen Zusammenhang für menschliche „Forschungsgegenstände“ beschrieben hat, kann formuliert werden, dass den sozialen Praktiken Gelegenheit gegeben werden muss, ihre Aktivitäten zu entfalten (vgl. Bohnsack 2008: 24). Erst wenn sie sich auch für die Forscherin ereignen, können sie entdeckt werden. Dies legt zumindest unstandardisierte Verfahren nahe, wenn nicht gar explorative. Da soziale Praktiken sich nicht isoliert voneinander ereignen (vgl. Reckwitz 2003: 295), muss eine praxistheoretische empirische Forschung zum einen Komplexe von Praktiken als Komplexe erkennen, sowie die einzelnen Praktiken aus dem Komplex „herauspräparieren“ können. Dies ist notwendig, da der Praktikenkomplex über eine eigene innere Geregeltheit verfügt, die über die Logik der „Einzel“-Praktik hinausweist, sich vielmehr aus dem spezifischen Gewebe der lose miteinander verbundenen Praktiken ergibt (vgl. Reckwitz 2003: 295, Hillebrandt 2009: 83). Anderseits muss die Logik der „Einzel“-Praktik erkannt werden, um ihren eventuellen Verknüp-
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fungen mit anderen Praktikenkomplexen folgen zu können. Innerhalb dieses Vorgehens werden interpretative Verfahren bedeutsam, zum einen, um verschiedene Praktiken und Praktikenkomplexe voneinander getrennt betrachten zu können, und zum anderen, um das „einfache Miteinandertun“ von sozialen Praktiken zu unterscheiden. Denn nicht „jede Hantierung, nicht jedes Tun ist schon Praxis. Erst durch häufiges und regelmäßiges Miteinandertun bilden sich gemeinsame Handlungsgepflogenheiten heraus, die soziale Praktiken ausmachen“ (Hörning/Reuter 2006: 12). Es müssen demnach „Regel-Mäßigkeiten“ erkannt werden: dies einmal in einer Häufung des Vollzuges, aber auch in den zugrunde liegenden Kriterien und Maßstäben, die sich mit vollziehen. Interpretative Verfahren wie die dokumentarische Methode (vgl. Bohnsack 2008) schaffen einen Zugang zu geteilten Kriterien und Maßstäben, die sich einer reflektierten Aussage entziehen bzw. explizit nicht geäußert werden (können). Diese Verfahren sind für die Erforschung menschlicher Äußerungen konzipiert und die Daten werden z.B. mit dem Instrument der Gruppendiskussion erhoben. Dabei gilt die Gruppendiskussion als ein Weg, um durch die „Gruppendynamik“ während des Diskussionsvorgangs eine weitere implizite Wissensebene zu erreichen, die sich mit Karl Mannheim als geteilter Erfahrungsraum beschreiben lässt und sich z.B. durch geschilderte Ereignisse oder spontane Lautäußerungen erst interpretativ erschließt (vgl. Schäffer 2003: 76). Es geht demnach um die Rekonstruktion kollektiver Sinngehalte (vgl. Meuser 2006: 140). Wie in den theoretischen Auseinandersetzungen zu sozialen Praktiken bereits deutlich wurde, werden soziale Praktiken im Vollzug mit Sinn versehen, der wiederum die Bedeutung der Praktik ausdrückt (vgl. Hillebrandt 2009: 77). Soziale Praktiken sind demnach immer sozial geteilt als Gepflogenheiten, Gewohnheiten oder Routinen. Verfahren, die kollektive Sinngehalte in Gruppenprozessen von Menschen rekonstruieren können, sollten nahe liegende Methoden sein, um kollektive Sinngehalte in Vollzügen von Praktiken zu rekonstruieren. Wenn weiter in anerkannten und erfolgreich erprobten Verfahren zur Sinnerschließung in Gruppendiskussionen davon ausgegangen wird, dass sich Sinn z.B. auch durch Laut-Äußerungen erschließen lassen, wie einem stockenden „äh“, einem suchenden „fff“ oder einem Auflachen („das is einfach so weil äh das fff das is ne gute Frage (lacht)“ – Interviewfragment aus Meuser 2006: 197) oder aber durch sekundenlange Nicht-Äußerungen („das mag im Beruflichen sicherlich so sein (1) da gibt es aber (1) ganz äh vernünftige Erklärungen dafür“ – Interviewfragment aus Meuser 2006: 208), dann sollte die Erschließung des Sinns durch körperlichen Äußerungen, wie einem Knibbeln an der Oberlippe (Bewegung), starren auf den Monitor (Nicht-Bewegung) oder Schweißperlen auf der Stirn (Austritt von Körperflüssigkeiten) ebenso möglich sein.
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Zudem tritt der Körper auch hinsichtlich der Einverleibung von Wissen (Inkorporierung) und der habitualisierten Abstimmung von (Körper-)aktivitäten in den Blick. Allerdings wird in der vorliegenden Untersuchung weniger der Habitus bzw. das milieuspezifische Orientierungswissen fokussiert, als vielmehr die den Habitus erzeugenden und vom Habitus erzeugten Praktiken. Das empirische Verfahren muss demnach quer zu den rein ethnomethodologischen Analysen formaler Handlungsstrukturen liegen, aber zugleich auch zu den milieuspezifischen Erfahrungsräumen Mannheimscher Provenienz. Dies auch, da das Akteurswissen nicht als zentrale Basis der Analysen gilt, sondern auch der Akteur selbst als ein Wissensbündel verstanden wird. Akteure sind in all ihren Merkmalen Produkte historisch und kulturell spezifischer Praktiken und existieren nur innerhalb des Vollzugs sozialer Praktiken (vgl. Reckwitz 2003: 296). Die Untersuchung muss sich somit auch darauf richten, die relevanten Akteure des Feldes zu rekonstruieren. Um ein breites Spektrum sozialer Praktiken erfassen zu können, müssen Verfahren gewählt werden, die Aktivitäten verschiedenster Art zu erfassen vermögen: Körperbewegungen, Gesprochenes, aber auch der Umgang mit Dingen, Personen oder das Zeigen von Emotionen. Wie bereits von Reckwitz (2008b) diagnostiziert, werden Praktiken vornehmlich mit der teilnehmenden Beobachtung sowie Interviewverfahren erfasst. Teilnehmende Beobachtung heißt hier auch, die Fähigkeiten zu erwerben, sich in die für die Forscherin zugänglichen Praktiken einzupassen und sich involvieren zu lassen. In diesem Falle könnte man von einer „involvierten Beobachtung“ sprechen (vgl. auch Honer 1993: 58). Involvierte Beobachtung ist zu fassen als eine relationale Bewegung zwischen dem Pol, sich konkret involvieren zu lassen, den Vollzug zu erfahren und das hier vorhandene implizite Wissen zu erleben und zum anderen den gesamten Handlungsfluss investigativ zu verfolgen und begutachtend zu reflektieren. Da Praktiken ein je spezifisches Wissen anfordern und darüber regulieren, wer oder was in den Vollzug involviert wird, ist es unmöglich, in alle Praktiken involviert zu werden. Einige sind dennoch beobachtbar, quasi von „außen“ stellvertretend vollzogen, oder aber können aus Dokumenten, Schilderungen oder digitalen Aktivitäten erschlossen werden (vgl. Reckwitz 2008b). Die im Zuge des Forschungsprozesses ermittelten sozialen Praktiken werden für das zu untersuchende soziale Phänomen nicht alle gleichermaßen relevant sein. Damit stellt sich die Frage, welche Verfahren anzuwenden sind, um aus einer Fülle an Praktiken und Praktikenkomplexen jene zu rekonstruieren, die bedeutsam sind. Auch hier erachte ich die Methoden rekonstruktiver Verfahren als erfolgversprechend. Zunächst wird quasi allen Praktiken, die „Gelegenheit“ gegeben anzuzeigen, wer oder was in welcher Weise für sie relevant ist. Relevant ist zu diesem Zeitpunkt, wer oder was involviert wird und damit über das angeforderte Knowhow verfügt. Ausgehend von einer Praktik oder eines Praktiken-
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komplex, der am ehesten an der Erzeugung des Phänomens beteiligt ist, werden sukzessive weitere Praktiken/Praktikenkomplexe hinzugezogen, die sich hier mitvollziehen, bis klar ist, ob die zunächst ausgewählte Praktik wirklich eine Relevanz hat. Im weiteren Verlauf werden dann durch eine vergleichende Logik immer weitere Praktiken hinzugezogen, die damit das „Makro-Aggregat“ (Reckwitz 2003: 295) des Sozialen formieren, das das soziale Phänomen bildet. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die vorliegende Studie wesentliche Paradigmen rekonstruktiver, interpretativer Verfahren teilt: es gibt keinen privilegierten Zugang zur „Realität“ und keine absolute Objektivität des Beobachters oder der Beobachterin; Aufgabe des Forschungsprozesses ist es, das implizite Wissen zur begrifflich-theoretischen Explikation zu bringen und einen Zugang zur Handlungspraxis und zu der dieser Praxis zugrundeliegenden Prozessstruktur zu gewinnen; dabei richtet sich der Hauptfokus auf die Frage des „Wie“ der Herstellung von Handlungspraxis bzw. des Vollzugs sozialer Praktiken; durch ein mehrschrittiges Interpretationsverfahren wird der Zugang zu spezifischen Wissensrepertoires und Wissenskompetenzen möglich, die durch die Teilnahme an Praktiken erworben werden und hier zum Einsatz kommen; dieses Wissen eröffnet einen geteilten Erfahrungsraum. Dabei gewinnen Theorien sozialer Praktiken aus dem Spannungsverhältnis der Relation zwischen Theorie und Praxis ihre Begriffe (Hillebrandt 2009: 83). Stefan Hirschauer (2004) beschreibt das Verhältnis derart: „Eine Theorie der Praktiken muss sich auf andere Weise ins Verhältnis zu ihrem Gegenstand setzen als Formen soziologischer Theorie, die sich empirischem Stress entziehen und ihre Vokabularien als maximal deklinationsfähig behaupten – bis hin zum grammatikalischen Unsinn. Theorien der Praxis können gelassen auf ihre empirische Relativierung eingestellt sein. Sie geben damit etwas von dem preis, was ‚Theorie’ in der Soziologie bedeutet, aber sie gewinnen dafür etwas anderes: dass sie überhaupt Schritt halten können mit der Raffinesse und dem Reichtum an Varianz mit der kulturelle Praktiken unseren Gegenstand erfinden.“ (Hirschauer 2004: 89)
Diese Perspektive steht im klaren Gegensatz zu Verfahren, die theoriegeleitet Daten über die soziale Realität sammeln mit dem Ziel, vorangestellte Theorien und Hypothesen zu überprüfen (vgl. Atteslander 2006: 70). Vielmehr orientiert sich das praxistheoretische Vorgehen stärker an der sukzessiven Erweiterung des Möglichen: „Entdeckungen werden gemacht, indem man Möglichkeiten nachgeht, die vom vorliegenden Wissen eröffnet werden“ (Polanyi 1985: 58, vgl. auch Bohnsack 2008: 191). Mit Ralf Bohnsack ließe sich schließen, dass gerade wegen der Abschwächung erkenntnislogischer Richtlinien Erkenntnisgewinne zu verzeichnen sind, denn die „Forschenden verfahren eher intuitiv, nutzen ihre intuitiven, nicht explizierten Alltagskompetenzen und verfeinern sie auf der Grundlage ihrer Forschungserfahrungen“ (Bohnsack 2008: 24, vgl. auch Kalt-
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hoff 2008). Durch dieses andere Verhältnis von Theorie und Praxis ist es im Forschungsprozess erforderlich, nicht nur die Begründungszusammenhänge, sondern auch die Entdeckungszusammenhänge zu reflektieren (vgl. Hillebrandt 2009: 83). Die Ethnografie stellt eine geeignete Erkenntnisstrategie dar, um einen hohen Reflexionsgrad von Begründungs- und Erkenntniszusammenhängen im Forschungsprozess zu gewährleisten. Im Folgenden wird die Erkenntnisstrategie der Ethnografie genauer erläutert, um dann zu einer detaillierten Beschreibung des ausgewählten Untersuchungsfeldes, wie auch des Forschungsprozesses im nächsten Kapitel überzuleiten. Ethnografie Soziologische Ethnografien, zur Erforschung der „eigenen“ Kultur, gehören in Deutschland nicht zum Mainstream qualitativer Forschungen (vgl. u.a. Knoblauch 2001, Breidenstein 2006). Dies erstaunt auf zwei Ebenen: Zum einen lässt sich eine generelle Bedeutungszunahme des Stellenwerts von „Kultur“ auch innerhalb der Soziologie verzeichnen, die u.a. mit dem Begriff des „cultural turn“ innerhalb der Sozialwissenschaften beschrieben wird, zum anderen sind zentrale Fragestellungen, die sich aus dieser Neuausrichtung ergeben; durch ethnografische Forschung inspiriert. Dazu lässt sich vor allem die Frage nach der Konstruktion der Differenz zwischen „eigener“ und „fremder“ Kultur zählen, aber auch die Vorstellung einer monolithischen Kultur, die sich zugunsten vielfältiger Kulturen auflöst, wie auch die Frage der Repräsentation und damit des „eigenen Forscher-Selbst“ im Forschungsprozess (vgl. Winter 2001). Dennoch bleibt ein breiterer Einsatz von Ethnografien bis dato aus. Dies mag an dem ressourcen-verschlingenden Aufwand liegen (vgl. Hirschauer/Amann 1997), an fehlendem Raum innerhalb der Methodenausbildung oder einem fehlendem Bewusstsein ethnografischer Traditionen innerhalb der Soziologie (vgl. Knoblauch 2001). Dabei liegt das Potenzial ethnografisch-soziologischer Forschung vor allem in einer spezifischen Haltung: „nur dann, wenn wir nicht davon ausgehen, dass alles, was uns nicht auf Anhieb außerordentlich befremdlich erscheint, damit auch schon unzweifelhaft verstanden ist, nur dann, wenn wir davon nicht ausgehen, wird ethnografisches Arbeiten in der Soziologie sinnvoll.“ (Hitzler/Honer 1997: 14).
Damit befähigt die Ethnografie den Forscher zu einem methodischen Virtuosenstück: das eigene Verständnis des Phänomens, die eigene Wahrnehmung der
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Situation, die eigene Interpretation der Ereignisse zu explizieren und als empirisches Wissen zu mobilisieren, Erreicht wird dies durch ein unstandardisiertes und exploratives Vorgehen (vgl. Blumer 2004, Hitzler 2003, Honer 1993). Die Ethnografie ist dabei „keine kanonisierbare und anwendbare ‚Methode’, sondern eine opportunistische und feldspezifische Erkenntnisstrategie“ (Hirschauer/Amann 1997: 20): Ein taktisches Vorgehen, um „Ein-Sicht“ in die soziale Praxis des Feldes zu erlangen. Dies impliziert den wissensbasierten, theoretisch-gerahmten Akt und gleichzeitig die flexible, entdeckende, sich an die Gegebenheiten des Feldes herantastende Aktion. „Es geht um den zeitgleichen, aufmerksamen und mit Aufzeichnungen unterstützten Mitvollzug einer, eigene kulturelle Ordnungen konstruierenden, lokalen Praxis und ihre distanzierende Rekonstruktion“ (Hirschauer/Amann 1997: 21). Ethnografien gehen vielfältig vor, was sich auch in ihren Benennungen widerspiegelt: deskriptive Ethnografie (vgl. Hirschauer/Amann 1997), fokussierte Ethnografie (vgl. Knoblauch 2001), exotische, komparative, semantische Ethnografie (vgl. Hitzler 2003) oder Auto-Ethnografie (vgl. Jones 2000). Sie konzipieren dabei das Wissen der Akteure je anders, woraus sich andere Strategien zur Erschließung der lebensweltlichen Relevanzen ergeben (vgl. Kelle 1999: 308). Strategiespezifisch sind dabei auch die eingesetzten Methoden, wie die sich daraus ergebenden Instrumente und Erhebungszeiträume: „Das methodische Ideal der (vorzugsweise nichtstandardisierten) ethnografischen Datenerhebung ist dabei die Kombination bzw. Triangulation möglichst vielfältiger Verfahren“ (Hitzler/Honer 1997: 13). Die Anwesenheit der Forscherin im Feld über eine andauernde Erhebungstrecke ist die zentrale ethnografische Methode (vgl. Hitzler/Honer 1997: 13). Dem Vorgehen liegt die theoretische Annahme zugrunde, dass das „(kultur)soziologisch Relevante sich nur unter situativen Präsenzbedingungen zeigt“ (Hirschauer/Amann 1997: 22). Der englische Begriff des „field work“ beschreibt die Methode des „Da-Sein“, „Dabei-Sein“, „Am-Gleichen-Ort-Zur-GleichenZeit-Sein“ am treffendsten. Die Forschungsarbeit findet im Feld statt. Hypothesen werden hier entwickelt. Der Verlauf des Forschungsprozesses wird durch die Vorgänge im Feld bestimmt. So ist zu Beginn des Feldaufenthaltes alles als bedeutsam zu betrachten, da erst im Verlauf erkennbar wird, was im Feld je relevant ist und damit besonders beachtenswert, deutungs- und erklärungsbedürftig (vgl. Hitzler 2003: 50). Erst im Laufe des Forschungsprozesses ergeben sich Fokussierungen der Beobachtung, idealerweise theoriegeleitet (vgl. Hitzler/Honer 1997: 13). Hierzu wird das Instrument der teilnehmenden Beobachtung eingesetzt (vgl. Münst 2004: 331). Dabei lassen sich unterschiedliche Grade der Partizipation ausmachen, die sich während des Feldaufenthalts zwischen den Polen des Teilnehmens und Beobachtens bewegen:
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„Wer vollständig teilnimmt, kann nicht mehr beobachten (denn er muss allen Erfordernissen der Teilnahme nachkommen). Wer nur beobachtet ohne teilzunehmen, dem fehlt die eigene Erfahrung mit der zu beforschenden Kultur, die ein entscheidendes Erkenntnispotenzial ethnografischer Forschung darstellt. Es gilt, sich involvieren zu lassen in die fremde Praxis, um zu erfahren, was es heißt, den Anforderungen dieser Praxis ausgesetzt zu sein.“ (Breidenstein 2006: 21)
Zu Beginn des Forschungsaufenthaltes ist die Trennung noch sehr einfach zu vollziehen, da die Forscherin noch nicht integriert und involviert ist. Mit zunehmender Aufnahme im Feld, gekennzeichnet durch Vertrauen, Teilnahme, Mitwirkung, wird die Distanzierung schwieriger. Es besteht die Gefahr, dass sich auch für den Forscher das zu explizierende Wissen als selbstverständlich zeigt und damit unhinterfragt bleibt. Dieser Vorgang wird als „going native“ beschrieben. Erreicht wird die Perspektivtrennung durch die „Strategie des kontrollierten Fremdverstehens“ bzw. den immer wieder zu erneuernden Akt der „Befremdung des eigenen Blicks“ (Hirschauer/Amann 1997: 20). Durch systematische Distanzierungspraktiken, wie der schriftlichen Reflexion und Selbstbeobachtung, dem regelmäßigen Rückzug zum universitären Schreibtisch sowie der kollegialen Kontrolle in gemeinsamen Sitzungen, wird die Befremdung des eigenen Blicks immer wieder erneuert und Nachvollziehbarkeit erster Interpretationen in der eigenen Gemeinschaft überprüft. Ein wesentlicher Bestandteil des „Ethno-Grafierens“ liegt in der Produktion von Textdokumenten - „Denn was wäre ein Bemerken, ohne Notiz zu nehmen“ (Tyler 1991: 291). Die Textdokumente sind unterschiedlichster Art: Neben selbst angefertigten Feldnotizen und Forschungstagebuchaufzeichnungen reichen sie auch von Raumbeschreibungen bis zu analytischen Notizen. Hierbei steht weniger das Rekapitulieren von Aktivitäten im Fokus, sondern deren Rekonstruktion. Textproduktionen mit unterschiedlichem Informations- und Reflektionsgehalt werden systematisch verdichtet, um zu tiefer liegenden Sinn- und Bedeutungsschichten vorzustoßen (vgl. Hitzler 2003: 51). Dazu werden weitere „natürliche“ Textdokumente hinzugezogen, die im Feld (ein)gesammelt worden sind. Den Prozess des Verdichtens und Vorstoßens gilt es wiederum in Texten festzuhalten und nachvollziehbar zu machen. Ethnografische Beschreibungen „sollen nicht nur die textimmanente Nachvollziehbarkeit einer theoretischen Interpretation sichern, sondern auch die Möglichkeit des sekundären Mitvollzugs einer Erfahrung und einer Praxis eröffnen“ (Hirschauer/Amann 1997: 35). Dies erfordert, dass die Forscherin die Bedeutungen von Ereignissen erfassen muss, was im Postulat der „dichten Beschreibung“ von Clifford Geertz (1983) zum Ausdruck kommt (vgl. Breidenstein 2006: 24). Die Verbindung von Textproduktion und Erfahrungen der Forscherin erfordert während des gesamten Forschungsprozesses eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit der Prozess der
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Analyse und der Beschreibung von Erfahrungen diese mit konstituieren.29 Zentral ist hierbei die Vorstellung, dass die Praktiken der Forscher situierte Praktiken darstellen, die kontextspezifische und partikulare „Wahrheiten“ produzieren (vgl. Winter 2001: 44). In der Methodenliteratur häufig als selbstverständlich vorausgesetzt, stellt die Praxis des Anonymisierens oder des Beseitigens von Erkennbarem in der Ethnografie einen komplexen Prozess des Unkenntlichmachens dar. Es gilt, nicht nur personenbezogene Daten zu anonymisieren, um Persönlichkeitsrechte zu schützen, sondern auch Lokalitäten, Situationen, Technologien nachvollziehbar zu beschreiben, ohne Rückschlüsse auf Organisationen oder, wie im vorliegenden Fall, Kunden zu ermöglichen. Dabei müssen Anonymisierungspraktiken immer wieder überprüft und neujustiert werden, denn mit zunehmender Kenntnis der Relevanzen des Feldes ändert sich auch der Bedarf an Beseitigung: was gestern noch ein unwichtiger Name war, kann morgen schon ein bedeutendes Differenzierungskriterium im Feld sein. Auch bei Anonymisierungen ist die Distanzierung ein wichtiges Kriterium. Das mühsam gewonnene Vertrauen der Personen im Feld möchte man im Prozess des Unkenntlichmachens nicht zerstören und verlängert damit die Gefahren des „going native“, des Verlierens der Distanz gegenüber dem Feld, über die eigentliche Feldphase hinaus. Das „Zu-VielBeseitigen“ steht dem „Zu-Wenig“ gegenüber und muss in der Praxis immer wieder bewusst gemacht und überprüft werden. 5.3 Untersuchungsfeld: Auswahl, Zugang und erste Beschreibungen Zentrales Kriterium zur Auswahl des Untersuchungsfeldes „Internetagentur“ war der hohe Grad der Implementierung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien (im Folgenden: IuK-Technologien). Ausgehend von der These, dass die neuen IuK-Technologien maßgeblich an der Ausbildung von neuen Arbeitsorganisationen, Arbeitstätigkeiten oder Arbeitsanforderungen beteiligt sind, war zu vermuten, dass die von der Technologie evozierten Prozesse in enger Wechselwirkung zu Transformationsprozessen in den Organisationen sowie in Wechselwirkung zu den konkreten Anwendungsvollzügen der Userinnen stehen (vgl. Flecker/Riesenecker-Caba/Stry 2001, Matuschek/Henninger/ Kleemann 2001). Der kreative Umgang mit den Technologien, der Nutzung verschiedener Anwendungen, sowie ein hoher Autonomiegrad im Arbeitshandeln sind Zuschreibungen, die den Tätigkeiten in der Internetbranche zukommen (vgl. Mayer-Ahuja/Wolf 2005). Es blieb weiter zu vermuten, dass vor allem in 29 Siehe dazu die Debatte des „writing culture“-Ansatzes (perspektivisch: Marcus/Holmes 2000).
5.3 Untersuchungsfeld: Auswahl, Zugang und erste Beschreibungen
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Bezug auf die zu untersuchenden Interaktions- und Kommunikationsstrukturen von einer größeren Koordination der Arbeitstätigkeiten mit anderen Beschäftigten, Kunden und Dienstleistern auszugehen ist (vgl. Shire 2005, Knoblauch 1996). Desweiteren können die Technologien, insbesondere der vernetzte Computer, in ihren Besonderheiten im Kontext der alltäglichen Verwendung sowie in ihrer Einbettung in Kommunikationsprozesse deutlich sichtbar gemacht werden. In die Auswahl des Unternehmensstandorts flossen vor allem forschungspraktische Erwägungen ein. Die Eigenfinanzierung des Projektes machte einen dauerhaften Aufenthalt in einem weit entfernten Ort nicht möglich. Zudem sollten die Kenntnisse und Erfahrungen aus meiner Berufstätigkeit in der Branche zu einem hohen Grade nutzbar gemacht werden, um den Forschungsprozess zu verkürzen. Hierbei ist auch das Vorwissen über lokale Branchenstrukturen und Beziehungsgeflechte zwischen Agenturen bedeutsam. Weiteres zentrales Kriterium war der Gründungszeitpunkt des Unternehmens. Dieser sollte vor 1999 liegen und damit in die „Pionierzeit“ der kommerziellen Nutzung des Internets fallen. Es war zu vermuten, dass Einflüsse auf die Entwicklung des Unternehmens durch den Vertrauensverlust in das „Electronic Business“ ab 2000 und die damit einhergehenden dramatisch sinkenden KundenEtats analysierbar werden (vgl. Manske 2007). In diesem wirtschaftlichen Spannungsfeld waren Effekte auf die Beziehungskonstellationen zwischen Agentur und Kunde wie auch auf das hierarchische Gefüge in der Agentur zu erwarten. Nach der Durchführung von drei Expertengesprächen in der Vorbereitungsphase des Feldzugangs zeigte sich, dass ein weiteres zentrales Kriterium hinzuzuziehen ist: eine persönliche Empfehlung oder Bekanntschaft zur Führungsriege der Agentur. Die Experten führten aus, dass Leiter von Internetagenturen ihnen unbekannten Personen gegenüber sehr zurückhaltend seien, da in Agenturen hochsensible Kundendaten zugänglich sind. Die Gesprächspartner empfahlen, über einen bestehenden „guten“ Kontakt den Feldzugang zu erwirken, oder aber sich als Praktikantin zu bewerben und die wissenschaftlichen Motive zu verschleiern. Die zweite Variante erschien mir als zu riskant, da ich durch meine Berufstätigkeit in der Branche auf Personen treffen könnte, denen ich bekannt bin. Zudem erschien es mir unmöglich, über einen längeren Zeitraum hinweg den Eindruck zu erwecken, mir wären Tätigkeiten und Abläufe in einer Agentur gänzlich unbekannt. Darüber hinaus ergeben sich aus einer verdeckten Beobachtung forschungsethische Fragen, vor allem der Eigenbestimmungsrechte der Teilnehmer (vgl. Atteslander 2006: 97). Somit entschied ich mich über bestehende Kontakte den Zugang zu erreichen. Die drei von mir befragten Experten hatten bereits im ersten Gespräch deutlich gemacht, dass sie aufgrund ihres Status des „Freelancers“ keine ausreichende Referenz seien. Als erste Kontaktaufnahme wählte ich daher eine Agentur, bei deren Mutterunternehmen ich im Zeitraum
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von 1998 bis 2000 als Kundenberaterin tätig war. Der Kontakt sollte über einen alten Bekannten aus der Zeit der Erwerbstätigkeit erfolgen. Die Strategie war erfolgreich. Vor-Feld Das Feld ist mir über neun Jahre bekannt. Zunächst durch ein Praktikum, welches ich 1996 in einer Beratungsgruppe absolvierte. Während des Praktikums entwickelte ich eine erste Idee für mein Magisterarbeitsthema30 und konnte die damalige Geschäftsführerin zur Zusammenarbeit gewinnen. Während dieser Zeit bildete sich die Internetagentur als Abteilung der Mutteragentur aus. Erste Internetprojekte wurden konzipiert und umgesetzt. Kurz vor Abschluss des Studiums wurde mir eine Stelle als Innenkontakterin in einer Beratungsgruppe angeboten, die ich 1998 annahm. Meine Beschäftigungszeit fiel mit dem Boom der Werbeund Internetbranche sowie einer starken personellen Expansion des Unternehmens zusammen. Die Beschäftigungszeit belief sich auf nahezu zwei Jahre, in denen ich im Beratungsteam vor allem für die Koordination und Überwachung interner Abläufe zuständig war. Die Tätigkeit zeichnete sich durch einen hohen Grad an Kommunikationsarbeit mit anderen Agenturmitarbeitern aus. Die „innere Geregeltheit“ der Agentur war mir sehr vertraut und das Wissen darum ein wesentlicher Bestandteil meiner damaligen Tätigkeit. In den letzten Monaten meiner Beschäftigung kamen zusätzlich Abstimmungsprozesse mit Kunden hinzu. Feldzugang Der Feldzugang wurde über einen ehemaligen Vorgesetzten, der zum höheren Management der Agentur gehört, erreicht. Die Kontaktaufnahme erfolgte via EMail. Der Mailtext war so konzipiert, der Agentur ein „Vorzugsrecht“ einzuräumen, sich an den Forschungen zu beteiligen, bevor andere „große Agenturen“ kontaktiert würden. Der Duktus war persönlich, aber doch geschäftlich. Die Reaktion war wie gewünscht: das Argument des Vorzugsrechts griff („…so klein sind wir nun auch wieder nicht :-)“: Auszug aus der E-Mail Korrespondenz mit Jan31). Ich schlug daraufhin ein persönliches Treffen per Mail vor, um mein Forschungsprojekt vorzustellen. In der Mail anhängend befand sich ein Gutachten des betreuenden Professors. Hier und auch in den nächstfolgenden Beschrei30 Diana Lengersdorf (1998) „Fremde in einer männerbestimmten Arbeitswelt – über die Marginalität von Frauen in Führungspositionen“, unveröffentlichte Magisterarbeit, RWTH Aachen 31 Kursiv gesetzte Namen sind zur Anonymisierung veränderte Namen.
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bungen des Forschungsprojektes legte ich den Schwerpunkt in den Ausführungen auf die Dimensionen Arbeit und Technik. „Geschlecht“ als Forschungskategorie erwähnte ich nur sehr beiläufig, da ich, auch gestützt durch meine Erfahrungen im Feld während meiner Berufstätigkeit, davon ausging, dass Geschlecht oder Geschlechterverhältnisse kein Thema in der Agentur sind. Daraus schloss ich ferner, dass bei einer Thematisierung von Geschlecht außerorganisatorische Interpretationsrahmen hinzugezogen werden würden, wie Feminismus oder Frauenbewegung. Ich musste annehmen, mit der „Einführung“ politischer Themen den Zugang zum Feld zu erschweren. Jan willigte ein und nannte einen Ort und ein Datum für ein erstes Treffen. Dies sollte während der Mittagspause von Jan in einem Bistro stattfinden. Das Treffen wurde von Jan als privates Treffen allerdings im beruflichen Kontext inszeniert, wie es unter Kollegen und Kolleginnen der Werbebranche üblich ist: Man trifft sich kurz in der Mittagspause, da für ein ausgedehntes abendliches Treffen aufgrund der Arbeitsauslastung keine Zeit besteht. Hierbei stellte sich heraus, dass Jan noch keinerlei Gespräche in der Agentur z.B. mit der Abteilungsleiterin geführt hatte. Dieser Umstand verwunderte mich, da er dem Forschungsvorhaben in der Unterhaltung mehrfach zugestimmt hatte. Auch diese Situation bestärkte mich in der Annahme, dass Jan nur aus alter Bekanntschaft heraus dem Treffen zugestimmt und sich des Projektes lediglich angenommen hatte, da er mir einen persönlichen Gefallen tun wollte. Das Forschungsprojekt schien inhaltlich oder geschäftlich keine Bedeutung für ihn zu haben. Dieser Umstand entlastete mich von der Notwendigkeit, eine imaginäre „Win-Win-Situation“ bzw. eine unternehmerische Relevanz für die Agentur zu konstruieren und damit ökonomisch verwertbare Ergebnisse liefern zu müssen. Jan teilte mir abschließend mit, dass er nun die Zustimmung der Geschäftsführung einholen und ein erstes Gespräch mit der Abteilungsleitung führen werde. Im Anschluss an das Treffen erwirkte Jan einen Termin bei der Abteilungsleiterin Sandra, die mir ebenfalls noch persönlich bekannt war. Die Kontaktaufnahme von ihr erfolgte per Telefon. Ich wurde zu einem Gespräch während der Arbeitszeit in ihr Büro eingeladen. Das Treffen hatte einen offizielleren Charakter. Dies zeigte sich u.a. daran, dass ich mich beim Eintreffen am Empfang anmelden musste, um dann von Sandra abgeholt zu werden. Inhaltlich orientierte sich Sandra sehr stark an den praktischen Details meiner Forschungen. Sie versuchte zunächst die eingesetzte Methode der teilnehmenden Beobachtung nachzuvollziehen: „Dann sprechen wir über mein Forschungsprojekt. Ich habe den Eindruck, dass sie meine Forschungsmethode als willkürlich empfindet, da ich nicht genau sagen kann, was ich beobachte, wo, wann und wie lange. Sie sagt häufig ‚Ich verstehe das zwar nicht, aber…’.“ (FT002)
Auch wenn sie nicht verstand, was ich machen wollte, stellte sie das Vorhaben nicht grundsätzlich in Frage. Dies irritierte mich, da sie die Leitung der Abtei-
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lung innehatte. Es entstand der Eindruck, dass mein Zugang zum Feld durch eine „Anweisung von oben“ durchgesetzt wurde. Die Annahme, dass meine Forschungen auf der Ebene von Jan autorisiert wurden, wurde von Sandra in einem Gespräch, das im Abschluss an die teilnehmende Beobachtung stattfand, bestätigt. Auch der mir von Sandra zugeordnete Mitarbeiter erhielt kein Mitspracherecht, was die Anwesenheit meiner Person betraf. Ich wurde ihm von Sandra bei einem an das Gespräch anschließenden Rundgang mit den Worten vorgestellt: „‘Wenn die Praktikantin weg ist, kommt sie zu Dir. Sie promoviert’. Sandra führt nichts weiter zu meinem Forschungsvorhaben aus, nur ‚Und sie guckt sich an, wie wir so arbeiten’. Ich habe den Eindruck, dass Philipp denkt, er solle kontrolliert werden. Der Eindruck verstärkt sich noch: Er sagt etwas von ‚Big Brother is watching you’.“ (FT002)
Zwischen der ersten Kontaktaufnahme per Mail und dem ersten Tag des Feldaufenthalts lagen ca. sechs Wochen.
Feldbeschreibung Untersuchte Internetagentur organisatorisch Die untersuchte Internetagentur wurde Mitte der 1990er Jahre als Unternehmensteil einer Werbeagentur gegründet, der zwar formal über eine Selbstständigkeit verfügte, aber eng an ein lokales Agenturendach gebunden war. Sowohl die Mutter- als auch die Internetagentur fokussieren ihr Kerngeschäft auf bestimmte Kommunikationsdisziplinen wie die Internet- oder so genannte Below-the-lineWerbung und stellen ihre Arbeiten unter das Dach der lokalen Netzwerkagentur. Diese wird in Branchenkreisen als „eine integrierte Full Service Kommunikationsagentur“ (GWP media marketing 2006) beschrieben und integriert noch weitere Abteilungen unter ihr Dach. Die lokale Netzwerkagentur ist wiederum Teil eines nationalen und internationalen Unternehmensnetzwerks mit Hauptsitz in einer europäischen Hauptstadt. Das Netzwerk gibt Kennzahlen und Erfolgskriterien vor und stellt den administrativen Unterbau. Weitere Aufgaben des Netzwerks sind mir nicht einsichtig. Die Führungsebene der Internetagentur besteht aus der Abteilungsleitung und einer Leitung des Kreativ-Bereichs sowie des Programmierungsbereichs. Es handelt sich hierbei um eine branchenübliche Struktur. Die Abteilungsleitung stellt die oberste Leitungsposition der Internetagentur dar, ist aber nicht einer Geschäftsführung gleichgestellt. So nimmt sie an keinen Gremiensitzungen zu Unternehmensentscheidungen teil und ist auch nicht stimmberechtigt. Die Leite-
5.3 Untersuchungsfeld: Auswahl, Zugang und erste Beschreibungen
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rin des Kreativ-Bereichs, „Creative Director“ genannt, zeichnet vor allem für die gestalterischen Leistungen der Internetagentur verantwortlich sowie für das kreative Personal. Analoges gilt für den Leiter der Programmierung, der ebenfalls über eine inhaltliche und personelle Leitungsfunktion verfügt. Untersuchte Internetagentur räumlich Die Agentur ist mit der lokalen Netzwerkagentur zusammen in einem Gebäude lokalisiert. Von außen erscheint das Gebäude weder innovativ noch modern. Man würde hier eher eine Versicherung als eine Werbeagentur vermuten. Auch andere große Werbeagenturen der Stadt sind in unscheinbaren Gebäuden untergebracht, so dass die Agentur keine Ausnahme darstellt. Aus Äußerungen der Abteilungsleitung kann vermutet werden, dass langfristige Mietverträge einen Umzug in ein moderneres Gebäude verhindern. Die Agentur ist auf zwei Flure einer Etage verteilt, die als „Gänge“ bezeichnet werden. Die gläsernen aber undurchsichtigen Türen der Büroräume gehen immer rechts und links gleichermaßen vom Gang ab und stehen alle offen. Die Gänge wirken sehr leer, da sich nichts außer weißer Farbe an den Wänden befindet. Jeder Gang verfügt über eine Kaffeeküche, die mit einer Einbauküche ausgestattet ist. Neben den Küchen liegen jeweils Damen- und Herrentoiletten. Am Ende des Ganges lässt sich ein fensterloser Druckerraum finden. Im zentralen Kopierraum ist ein Kickertisch untergebracht. Die Büros sind alle ungefähr gleich groß. In der Regel sitzen zwei Personen zusammen in einem Büro. An den Wänden hinter dem Arbeitsplatz sind jeweils Pinnwände angebracht, an welchen neben organisatorischen Zetteln auch persönliche Dinge angeheftet sind. In der Mitte stehen sich zwei Bürotische gegenüber und zwei weitere an der Fensterfront, so dass die Tische ein „T“ bilden. Für Utensilien steht jedem Arbeitsplatz ein Rollcontainer unter dem Tisch zur Verfügung, wo auch der PC steht. Je nach Tätigkeitsfeld kann eine Mitarbeiterin auch mehrere Rechner oder mehrere Monitore haben. Personen in Leitungspositionen haben abweichend ein eigenes Büro für sich alleine. Für Sitzungen und Kundenbesprechungen ist ein Konferenzraum vorgesehen. Der Raum ist ungefähr drei Büroräume groß. Die Ausstattung des Konferenzraumes ist wesentlich höher- und neuwertiger als die der Büros.
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Untersuchte Internetagentur geschäftlich Unter den Kunden der Internetagentur befinden sich viele große Konzerne. Aus den Interviews ging hervor, dass ein Grossteil der Kunden über das lokale Agenturendach zur Internetagentur kommt. Dies geschieht in der Regel entweder über den expliziten Wunsch des Kunden, auch eine digitale Werbemaßnahme einsetzen zu wollen, oder auf Vorstoß der lokalen Netzwerkagentur, die eine solche Maßnahme dem Kunden empfiehlt und die Umsetzung dann an die Internetagentur weiterreicht. Die Internetagentur ist damit für einen Teil der Maßnahmen zuständig, die im Agenturendach für den Kunden entwickelt und umgesetzt werden. Diese Projekte führt die Internetagentur selbstständig mit dem Kunden ohne weiteren Einfluss der lokalen Netzwerkagentur durch, was dann für eventuelle Folgeaufträge auch für die Konzeptionsphase zutrifft. Die Kostenplanung sowie die Rechnungsstellung erfolgen in der Regel durch die Internetagentur. Viele Kunden sind schon seit Jahren bei der Agentur. Untersuchte Internetagentur personell Zum Zeitpunkt des Feldaufenthaltes beschäftigt die Internetagentur 33 festangestellte Personen sowie ca. fünf freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die lokale Netzwerkagentur zählt insgesamt weit über 100 Beschäftigte, womit die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Internetagentur einen Anteil von knapp 1/3 der Beschäftigten im lokalen Agenturnetzwerk ausmachen. Die beschäftigten Personen verteilen sich auf 24 Männer und 9 Frauen. Diese lassen sich drei Gruppen zuordnen: Beratung, Kreation und Programmierung. Die Kategorisierung ist branchenüblich und orientiert sich an den Strukturen in klassischen Werbeagenturen32. Die Verteilung stellt sich wie folgt dar: 12 Personen in der Beratung, 8 in der Kreation und 13 in der Programmierung. Weiter nach Geschlecht differenziert zeigt sich, dass in der Programmierung nur Männer beschäftigt sind, in der Beratung ein Verhältnis von 7 Frauen zu 5 Männern zu zählen ist und in der Kreation 3 Frauen und 5 Männer zuordenbar sind. Das Alter der Beschäftigten bewegt sich zwischen 25 und 35 Jahren. Lediglich zwei Angestellte sind verheiratet, einer mit Kindern. Heteronormativität herrscht vor. Über homosexuelle Beziehung ist mir nichts bekannt, noch konnte ich welche beobachten. Hingegen sind heterosexuelle Beziehungen durchaus Thema. Nahezu alle Beschäftigten haben Abitur und ein Fach- oder Hochschulstudium absolviert bzw. begonnen. 32 Als „Klassisch“ werden jene Agenturen oder auch Abteilungen von Werbeagenturen bezeichnet, die sich auf die klassischen „Kommunikations“- bzw. Werbekanäle (TV-Spot, Anzeigen in Zeitschriften und Magazinen) fokussieren, mit dem Hauptziel der Imagewerbung für eine Marke.
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Die Verweildauer im Unternehmen liegt bei ca. zwei Jahren, was als üblich angesehen wird. Zum Zeitpunkt der Untersuchung waren viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weitaus länger in der Internetagentur, was diese auf die Krisenzeit der Branche zurückführten. Der Wechsel in eine andere Agentur ist ein notwendiger Karriereschritt, da es nahezu keinen internen Arbeitsmarkt gibt. Die Körper der Mitarbeiterinnen zeigen sich als sportlich, schlank, häufig leicht gebräunt und sehr gepflegt. Der Kleidungsstil und auch die Frisuren lassen sich als sportlich, modisch, aber eher unauffällig umschreiben. Es herrschen Jeans und TShirt oder Hemd im Alltäglichen vor. Untersuchte Internetagentur technologisch Zu jedem Arbeitsplatz gehört mindestens ein Rechner mit dem dazu gehörigen Monitor. Zum Zeitpunkt des Feldaufenthaltes wurden gerade die Büros der Beratungsgruppen mit neuen Windows-PCs ausgestattet. In der Kreation werden Macintosh-Rechner eingesetzt. In der Flashprogrammierung, der Programmierung laut eigener Aussage mit hohem Gestaltungsanteil, lassen sich jeweils ein werden Macintosh- und ein Windows-Rechner pro Platz beobachten und in der übrigen Programmierung nur Windowsrechner. Alle Rechner sind in einem internen Netzwerk der lokalen Netzwerkagentur über zentrale Server miteinander und dem Internet verbunden. Die Office-Software, die Internetanbindung, die Kommunikationssoftware (E-Mail, Kalender etc.) und der Ablageserver zur gemeinsamen Nutzung von Dateien werden zentral von der lokalen Netzwerkagentur verwaltet. Darüber hinaus haben alle Personen Zugang zum Internet und einem passwort-geschützten Intranet, auf welchem auch Informationen bereitgestellt werden können. Das Intranet wird nicht von allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gleichermaßen genutzt. Für die Programmierung stehen weitere Server zu Verfügung, die maßgeblich der konzeptionierenden und vorbereitenden Programmierung dienen, bevor der Kunde sich etwas anschauen und testen kann. Die Server der Internetagentur werden von ihr selbst verwaltet. Für die Arbeitsplatzrechner ist die Technikabteilung der lokalen Netzwerkagentur zuständig, sowohl was die Wartung als auch den Einkauf angeht. 5.4 Projektverlauf Insgesamt belief sich der Feldaufenthalt auf einen Zeitraum von sechs Monaten in der Jahresmitte 2005. In der ersten intensiven Phase der Anwesenheit von fünf Wochen hielt ich mich vier Tage die Woche im Feld auf und nutzte den fünften
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Tag als Rückzug an den akademischen Schreibtisch. Die tägliche Zeit der Teilnahme orientierte sich an den Gegebenheiten des Feldes. In der Regel begann ich morgens um 9:00 Uhr und beendete den Arbeitstag gegen 18:30 Uhr, was den Kernarbeitszeiten der Agentur entsprach. Da im Feld keine eindeutigen Anfangsund Endzeiten der Anwesenheit existierten, variierte ich diese. Ein wesentliches Ausdehnen der Anwesenheit, z.B. sehr viel früher da sein oder sehr viel später nach Hause gehen als mein Büronachbar, erwies sich als problematisch. Mein Büronachbar zeigte sich sehr irritiert und passte seine Anwesenheit der meinen an, um auf jeden Fall später nach Hause zu gehen als ich. Daraufhin stellte ich die Varianz der Anwesenheit ein, da sich mein zeitliches Verhalten negativ auf unsere Beziehung auswirkte. Nach der ersten Phase kehrte ich zunächst wöchentlich einmal für einen ganzen Arbeitstag und dann nur noch sporadisch stundenweise ins Feld zurück.33 Meine Person wurde als Doktorandin vorgestellt, die erforscht, wie gearbeitet wird. Die „Passung“ meines Erscheinungsbildes und Alters in das Mitarbeiterteam war „augenfällig“. Zu Beginn des Feldaufenthaltes erfuhr ich von meiner Schwangerschaft, was gegen Ende der teilnehmenden Beobachtung und den anschließenden Interviews auch gut sichtbar war. Mit dem Beginn des Feldaufenthalts kommt der Etablierung von Anonymisierungspraktiken eine besondere Bedeutung zu. Die Anonymisierungspraktiken unterlagen ständigen Neujustierungen, die sich an den unterschiedlichen Grad der Auswertung orientierte. Etabliert hat sich eine Zuweisung von fiktiven Namen für Personen, um eine gute Lesbarkeit zu gewährleisten. Beschreibungen sind an relevanten Stellen allgemein gehalten, wie z.B. bei der Zuordnung der Agentur zu einer Stadt oder dem Titel eines Produktes. Kundennamen sind generell nicht angegeben und werden mit dem Begriff „(Kundenname)“ beschrieben. Dokumente wurden mit einer Kombination von Buchstaben und Ziffern versehen, um eine Zuordnung z.B. über Kalenderdaten zu verhindern. Neben der wissenschaftlich erforderlichen Anonymisierungspraxis kommt hinzu, dass zu Beginn des Feldaufenthaltes die Unterzeichnung einer Geheimhaltungsverpflichtung von der Abteilungsleitung eingefordert wurde. Diese richtet sich vor allem auf den Schutz von kundenbezogenen Daten. Die Anwesenheit im Feld lässt sich in drei Phasen einteilen, die zum einen den unterschiedlichen Status meiner Person aufzeigen, als auch unterschiedliche Untersuchungsstrategien umfassen: bedeutungslos, beteiligt und aktiv suchend.
33 Die temporäre Anwesenheit von Personen ist eine übliche Praxis in der Internetagentur und bezieht verschiedene Personengruppen ein: freie Mitarbeiterinnen, Praktikanten, Trainees, Auszubildende oder Mitarbeiterinnen, die über einen längeren Zeitraum beim Kunden vor Ort arbeiten.
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Bedeutungslos: erste Feldphase In der Planung für die teilnehmende Beobachtung musste ich mich mit der Schwierigkeit auseinandersetzen, dass mir vieles im Feld bereits bekannt sein und dies „die Befremdung des eigenen Blicks“ (Hirschauer/Amann 1997: 20) erheblich erschweren würde. Die Bekanntheit umschloss nicht nur Personen, sondern auch Räume, Gewohnheiten oder Regeln. Daher entschied ich mich für eine extreme Zurückhaltung meiner gesamten Person, um zunächst eine radikale Distanz herzustellen. Die Zurückhaltung äußerte sich dahingehend, dass ich mich bemühte, keine Gespräche zu initiieren, mich nicht aktiv in Arbeitsprozesse einzubringen, keinen Kontakt zu forcieren oder mich räumlich auf meine Initiative hin zu bewegen. So verbrachte ich die meiste Zeit an dem mir zugewiesenen Schreibtisch vor dem Rechner sitzend. Mir schien es, dass mein Büronachbar, Philipp, sich mir gegenüber sehr zurückhaltend verhielt. Er wechselte nur sporadisch einige Worte mit mir, die sich zumeist auf Inhalte der Internetseite www.bild.de bezogen oder auf das laufende Radioprogramm. Wir verbrachten ungefähr 80% der Arbeitszeit schweigend einander gegenübersitzend vor unseren PC-Monitoren. Die übrige Zeit wurde durch gelegentlich eintretende Kolleginnen unterbrochen, die kurze Arbeitsanweisungen oder -bitten an Philipp äußerten oder aber ihn zu einem Kickerspiel abholten. Auch körperlich zeigte sich wenig Aktivität, die sich vor allem als Mouse-klicken und gelegentliches Aufstehen beobachten ließ. Diese Situation brachte einige Schwierigkeiten mit sich. Zunächst ging ich davon aus, in einen hektischen Agenturalltag einzutauchen, in dem ich mich dem Problem gegenübersehen würde, ein hohes Arbeitsvolumen bewältigen zu müssen. Darüber hinaus hatte ich vermutet, dass es sehr viel körperliche Aktivität, Interaktivität und Kommunikation zu beobachten gäbe. Für diesen Fall hatte ich vorgesehen, auch ein Audioaufnahmegerät einzusetzen, um zeitraubende handschriftliche Notizen unnötig zu machen. Nun sah ich mich dem Problem gegenüber, dass interaktive Beobachtungspunkte in dem Büro nur sehr wenige festzustellen waren. Vor allem für den Einsatz des doing genderKonzeptes, das auf Interaktionszusammenhängen fußt, schien ich neue Strategien einsetzen zu müssen. Ich entschied mich dafür, zunächst keine neuen Taktiken zu entwickeln, sondern mich in die Routinen des Büros einzufügen: der Praxis des schweigenden Arbeitens vor dem Rechner. Die Zeit nutzte ich, um die Schreibpraxis der Feldnotizen und des Forschungstagebuches zu verfeinern und zu konfigurieren, sowie zur Schulung meiner Beobachtungsfähigkeiten. Zudem wandte ich mich der Beschreibungen der materialen Umwelt zu und analysierte erste im Feld vorliegende Dokumente. Es zeigte sich, dass handschriftliche Notizen, z.B. Feldnotizen oder Skizzen, zu sehr die Beobachtung meines Büronachbarn als
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auch in das Büro hineintretender Personen auf sich zog. Es war ständig nötig, das Notieren zu erklären bzw. zu verschleiern. Daraufhin nahm ich während des Tages kleinere Notizen direkt in den Computer vor. Die Anfertigung der Eintragungen für das Forschungstagebuch variierte ich in der ersten Phase. Zunächst erprobte ich das Schreiben des Tagebuches am Abend nach der Anwesenheit im Feld. Dieses Vorgehen nahm allerdings so viel Zeit in Anspruch, dass sich meine Arbeitszeit bis weit in den Abend ausdehnte und die Qualität der Eintragungen stark nachließ. Es zeigte sich, dass das Anfertigen der Eintragungen gegen Ende der Anwesenheit oder am frühen Morgen in der Agentur direkt am Büroschreibtisch am effizientesten war. Eintragungen, die ich weit nach dem Datum des Ereignisses anfertigte, hatten ebenfalls eine geringere Qualität, da das Geschehen zu weit zurück lag, um Details zu erinnern. In der ersten Feldphase fertigte ich am Ende der Woche zusätzlich „Interpretative Notizen“ an, in der erste Verdichtungen von Handlungssituationen vorgenommen wurden. Als Grundlage dienten die Forschungstagebucheintragungen. Dieses Vorgehen richtete sich auf die Ausbildung eines spezifischen Blickwinkels auf soziale Praktiken, um diesen gezielter nachspüren zu können. Eine Variation des Verhältnisses zwischen berichtsartigen Beschreibungen und des Festhaltens von emotionalen Eindrücken wie Unsicherheiten, Freude oder Aufregungen stellte sich ebenfalls als fruchtbar für den Forschungsprozess heraus. Die Bedeutung dieses methodischen Vorgehens kristallisierte sich in der ersten „Krise“ während des Feldaufenthaltes heraus, die sich als Nichtwahrnehmung meiner Person zeigte: „Was mich völlig überrascht, ist die Tatsache, dass sich das Feld als so spröde erweist. Ich bin davon ausgegangen, sehr schnell einen guten Kontakt herzustellen und mich mühelos in die Gruppe zu integrieren. Zudem hatte ich eher die Befürchtung, dass ich zuviel als zuwenig zu tun haben werde. All diese Annahmen haben sich nicht bewahrheitet. Ich habe hingegen des Öfteren fast schon schmerzliche Erfahrungen des Ausgeschlossenseins hinnehmen müssen. Dies zeigt sich u.a. darin, dass ich mittags nicht gefragt werde, ob ich mit Essen gehen will. Ich werde nicht zum Kickerspielen eingeladen. Bei einer Abschiedsfeier habe ich über eine halbe Stunde alleine auf dem einzigen Sofa gesessen, umringt von 20 Leuten, ohne dass nur eine Person Anstalten machte, mit mir in Kontakt zu treten. In der ersten Woche kamen noch Bemerkungen zu meiner Person hinzu, die mich als Beobachterin hervorhoben. Bisher wurden mir auch nur zwei Aufgaben übertragen. Ich beschäftige mich recht viel mit der Frage nach möglichen Gründen für diese Situation. Zunächst hatte ich den Verdacht, dass man mich als Spionin der Geschäftsführung sieht. Die Agentur wurde von einigen heftigen Entlassungswellen getroffen. Dann schien es mir so, dass die Beziehungen zwischen den Mitarbeitern eher funktionale sind, ich hier natürlich wenig zu bieten habe. Für beide Annahmen habe ich allerdings keine systematischen Bestätigungen sammeln können.“ (IN004)
Durch die Zusammenführung von emotionalen Beschreibungen dieser Art und faktenartigen Darstellungen alltäglicher Abläufe wurde eine Einordnung der eigenen Erfahrungen in den Kontext der Praktiken des Feldes möglich. Die Re-
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levanz für den Forschungsprozess ist erheblich, da es sich um die Einübung und Konfiguration von Distanzierungspraktiken handelt. Der zweite methodische Schwerpunkt lag in dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zu meinem Büronachbarn. Dies erreichte ich vor allem durch die Auslotung und darauf folgende Thematisierung von relevanten Gesprächsthemen. Als maßgeblich sind hier die Skandalgeschichten rund um den Popstar Britney Spears zu nennen. Wir verfolgten die Geschichten auf der Internetseite der Bild-Zeitung und tauschten uns fortlaufend scherzend darüber aus. Darüber hinaus galt Philipps Interesse meinen universitären Erfahrungen. Er plante zum Zeitpunkt meiner Anwesenheit, den Beruf des Kundenberaters aufzugeben, um ein Studium aufzunehmen, was er zum Wintersemester auch erfolgreich realisierte. Der Umstand, dass Philipp aktiv plante, seine berufliche Zukunft neu zu gestalten, zeigte sich auch in seiner Arbeitshaltung und seine Haltung zur Agentur, die durch Distanzierung gekennzeichnet war. Er suchte nach Möglichkeiten, sich so im Agenturgefüge zu positionieren, dass er als Teilzeitkraft während des Studiums weiter beschäftigt werden würde. So übernahm er für andere Mitarbeiterinnen die Rechnungsstellung oder kleinere administrative Aufgaben sowie unterstützende Tätigkeiten zur Vorbereitung von Konzeptionen. Das eigentliche Aufgabenfeld von Philipp war durch den Wegfall wichtiger Kundenetats stark geschrumpft und ist nicht durch neue ersetzt worden. Dies erstaunte mich, da in anderen Beratungsgruppen eine enorme Überbelastung in gemeinsamen Kapazitätssitzungen bemängelt wurde. Philipp führte die Tatsache, dass er zu wenig zu tun habe, auch als Grund für seinen beruflichen Wechsel an. Meine Position innerhalb der Agentur definierte sich zu diesem Zeitpunkt sehr stark über Philipp. Man kann den Status als „Schutzbefohlene“ von Philipp beschreiben. Dies zeigte sich u.a. darin, dass trotz meiner Anwesenheit im Raum von verschiedenen Personen Anfragen, die an mich zu richten wären, an Philipp gerichtet wurden. Er zeigte sich darüber hinaus zuständig für die Aufgabenzuweisung an meine Person. Der abnehmende Erkenntnisgewinn durch die vornehmliche Anwesenheit im zugewiesenen Büro und die Einschränkung von Beziehungen zu anderen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen auf Grundlage des Beziehungsgeflechts von Philipp machte es notwendig, eine neue Feldstrategie zu entwickeln. Einige Urlaubstage von Philipp nutzte ich, um mich in anderen Büros zu platzieren. Da sich Philipp für mich zuständig fühlte und von den anderen Kollegen und Kolleginnen auch als solches betrachtet wurde, wäre mein Wunsch, in einem anderen Büro einige Beobachtungszeit zu verbringen, nur mit großen Erklärungen möglich gewesen. So war es allen eingängig, dass ich ohne Philipp die Zeit auch bei anderen verbringen würde. Mit der Abteilungsleiterin und den zuständigen Gruppenleitern vereinbarte ich, in der Programmierergruppe sowie im Textbereich
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Zeit zu verbringen. Hierfür wurde mir jeweils ein Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus sah die Planung der zweiten Feldphase vor, das sehr zurückhaltende Verhalten zugunsten des Aufbaus von weiteren vertrauensvollen Beziehungen aufzugeben. Dies plante ich durch die Initiierung und das Aufsuchen von Gesprächssituationen herbeizuführen wie auch durch ein gezieltes Bewegen im Raum, um körperliche Präsenz zu zeigen und für einen größeren Personenkreis sichtbar zu werden. Einhergehen sollten diese Maßnahmen mit dem Versuch, mich noch stärker als Arbeitskraft anzubieten. Beteiligt: zweite Feldphase Die zweite Feldphase war gekennzeichnet durch eine zunehmende Unabhängigkeit von Philipp und eine steigende Relevanz meiner Person innerhalb des Agenturengeflechts. Arbeitsaufträge wurden nun direkt an mich herangetragen und meine Meinung wurde eingeholt. Einladungen zu Mittagsessen oder zur Teilnahme an Besprechungen folgten. Einher ging dies auch mit einer Zunahme des Interesses an dem Forschungsvorhaben und an mir als Forscherin. Aufschlussreich ist allerdings, dass meine vergangene Berufstätigkeit als Kundenberaterin, das daraus resultierende Knowhow und die Erfahrungen kaum an Bedeutung gewannen. Arbeitsaufträge blieben auf dem Niveau einer unerfahrenen Praktikantin. Dies erstaunte umso mehr, als dass ich durchaus Möglichkeiten hatte, mein Knowhow zu thematisieren und dieses auch zu zeigen. Methodisch erwies sich das aus der vergangenen Berufstätigkeit gewonnene Wissen als wertvoller Erkenntnishorizont.34 Hierbei handelte es sich zum einen um explizierbares Wissen, z.B. über Besonderheiten von Branchen oder Zuständigkeiten innerhalb der Agentur, und zum anderen um implizites Wissen, dass sich z.B. als praktische Fertigkeiten und angemessene Umgangsweisen zeigte. So war es möglich, die spezifische Zeitlichkeit von Praktiken zu erfassen. Vergangenes war durch gesammelte Erfahrungen aus der früheren Tätigkeit zugänglich, die im gegenwärtigen Vollzug ihre Anwendung fanden unter der Erwartung einer gewissen Sicherheit über den erfolgreichen Fortlauf der Praktik in der Zukunft, wie dies in der folgenden Interpretativen Notiz deutlich wird:
34 Es ist in diesem Zusammenhang m.E. noch einmal notwendig zu betonen, dass die vorliegende Ethnografie nicht auf einer teilnehmenden Beobachtung vor dem Hintergrund einer vergangenen beobachtenden Teilnahme basiert, denn die gemachten Beobachtungen und Erfahrungen während der Berufstätigkeit dienten nicht dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, sondern dem Erwerb eines professionellen Wissens.
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„Dennoch bin ich einmal sehr stark von inkorporiertem35 Wissen ‚übermannt’ worden: Hierbei handelte es sich um eine Besprechungssituation. Philipp hatte einen Website-Strukturplan erarbeitet und mich gebeten noch einmal drüber zu schauen. Dies hatte ich sehr sorgfältig gemacht und zahlreiche Anmerkungen, die vor allem sehr weit in die Tiefe der Struktur gingen, handschriftlich notiert. Philipp holte zur Klärung der Frage, wie tief die Struktur gehen solle, Sandra hinzu. Philipp erläuterte die Struktur und deutete Probleme an, wobei er mich hinzuzog. Mir erschienen die Erläuterungen nicht weit genug zu gehen und nach einer Einladung zur Äußerung von Philipp ließ ich mich hinreißen die Führung im Gespräch zu übernehmen. Dies geschah nicht bewusst, sondern völlig routinisiert. Ich hatte den Eindruck, dass unsere Arbeit von Philipp nicht richtig dargestellt wurde und er nicht zum Kern der Sache vorstieß. Die wissenschaftliche Kontrolle meiner Handlungen schlug fehl.“ (IN004)
Die wachsende Kenntnis des Untersuchungsfeldes machte es über erste lose Zusammenhänge hinaus möglich, vertiefende Informationen und Beobachtungen zu sammeln. Erste Relevanzen wurden deutlich und zeigten weitere Beobachtungspunkte auf. Neben Handlungssituationen gewannen auch weitere Dokumente und Daten an Bedeutung, wie der Raumbelegungsplan, die quantitative Analyse von Informationsmails oder der Netzwerk-Newsletter. Die Einsicht in die E-Mail Korrespondenz beschränkte sich auf allgemeine Mails, die an viele Empfänger gesandt wurden. Direkt an mich versandte Mails waren die Ausnahme und hatten zumeist einen formellen Charakter. Dies änderte sich auch nicht als meine Person in der Gruppe „etabliert“ war. Da ich keinen Zugang zur Mailkorrespondenz anderer Beschäftigte hatte, setzte ich zur Klärung der Frage nach den Kommunikationsformen eine strukturierte Befragung verschiedener Personengruppen ein und wertete diese Aussagen aus. Zur gezielten Klärung offener Fragen, die auf Häufigkeiten, Zuständigkeiten oder Definitionen verwiesen, setzte ich während dieser Phase des Feldaufenthalts einen Fragebogen ein, den ich mit Philipp durchsprach, und wiederholte das Procedere gegen Ende der Anwesenheitszeit noch einmal. Das Ende der intensiven Phase des Aufenthaltes im Feld, die auch durch organisatorische Gründe begrenzt war, erschien mir zunächst als abrupt und verfrüht. Nach einigen Tagen im universitären Umfeld und der ersten Auseinandersetzung mit den gesammelten Materialien zeigte sich allerdings, dass eine erste theoretische Sättigung erreicht war und dies durch den Prozess des „going native“ verschleiert wurde. Die dritte und letzte Phase des Feldaufenthaltes zeichnete sich nun durch eine nur sporadische, aber gezielte Anwesenheit im Feld aus.
35 „Inkorporiert“ ist in diesem Zusammenhang nicht korrekt, da es sich nicht um ein „einverleibtes“ Wissen handelt, dass durch den Körper gezeigt wird, sondern um ein zwar implizites aber kognitiv-zugängliches Wissen. Das Datum der Interpretativen Notiz ist im Original wiedergeben und enthält diesen Fehler.
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Aktiv (auf)suchend: dritte Feldphase Bereits in der ersten und zweiten Phase des Feldaufenthaltes liefen Erhebungen von Daten und deren Auswertung parallel. Die Rekursivität von Datenerhebung und Datenauswertung sowie der einhergehenden Erkenntnisgewinne im Sinne einer zirkulären, spiralförmigen Bewegung (vgl. Hitzler 2003: S. 49) intensivierte sich in dem Maße, wie sich die „Geordnetheit“ des Feldes aus den Beobachtungen „herausschälte“. In der dritten Phase galt es nun, Relevanz-Kristallisationspunkte noch weiter zu verdichten. Die gezielte Auswahl eines Anwesenheitsdatums, der Anwesenheitszeit sowie der räumlichen Positionierung gehörten ebenso zu diesem methodischen Vorgehen wie die nun detaillierte Vorbereitung von Beobachtungspunkten, Fragebögen oder Rechercheplanungen für Dokumente. Darüber hinaus diente die Sichtbarkeit meiner Person der Aufrechterhaltung des Vertrauensverhältnisses zu Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, um neuerliche Aufenthalte zu ermöglichen. Zu diesem Zwecke unterhielt ich auch einen nahezu täglichen E-Mail Kontakt zu Philipp mit vor allem kurzweiligen, unterhaltsamen Inhalten. Bereits in einem deutlich größeren zeitlichen Abstand fanden zwei Interviews statt, die mit den beiden Leitungspersonen geführt wurden. Die dritte Leitungsperson hatte im Laufe der Zeit gewechselt und es bestand kein Kontakt zu dem Nachfolger. Die Auswahl der Personen richtete sich nach dem vermuteten Einblick in diese Prozesse. Die Abteilungsleitung und die Leitung der Programmierung waren beide, zum Zeitpunkt der Untersuchung, seit über sieben Jahren im Unternehmen und seit fünf Jahren auf ihren Leitungspositionen. Sie haben Einblick in Personalentwicklung, Vernetzungsprozesse sowie relevante Unternehmensentscheidungen. Ferner verfügen beide über intensiven Kundenkontakt, Einsicht in und Gestaltung von Vertragsmodalitäten und sind an Konzeptionen und strategischen Planungen von Projektmaßnahmen supervisierend beteiligt. Beide Interviews wurden in den Büros der Personen geführt. Während des Feldaufenthaltes zeigte sich, dass der Verabschiedung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine große Bedeutung beigemessen wurde. Die Größe der Relevanz ging einher mit dem Status der Person wie auch mit dem Zeitraum der Beschäftigung. Ich sah mich daher in der Situation, ebenso einen kleinen Abschied vorzubereiten. Da ich von der Abteilungsleitung gebeten wurde, meine „Ergebnisse“ zu präsentieren, nahm ich dies zum Anlass, mich mit einem kleinen Imbiss zu bedanken und gleichzeitig zu verabschieden. Der Einladung folgten lediglich fünf Mitarbeiter. Weitere drei stießen zum Imbiss hinzu. Die Präsentation stellt den Schlusspunkt des Feldaufenthaltes dar.
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5.4.1 Datenerhebung (zusammenfassend) Die vorliegende Ethnografie bringt verschiedene Methoden hervor, die einen pluralen Datenkorpus produzieren (vgl. Marcus/Holmes 2000). Der methodische Schwerpunkt liegt auf einer explorativen und unstrukturierten teilnehmenden Beobachtung (vgl. Münst 2004, Lüders 2003). Diese richtete sich zunächst auf die beobachtende Entdeckung soziale Praktiken: „Praktiken sind zuallererst in der Vielgestaltigkeit des alltäglichen Geschehens als solche zu identifizieren, um sie der Analyse zu erschließen“ (Breidenstein 2006: 18). Die Beobachtungsstrategie wechselte im Zuge des Feldaufenthaltes von bedeutungslos über beteiligt bis zu aktiv (auf)suchend. Beobachtungen wurden teilweise direkt im Arbeitscomputer als Feldnotizen festgehalten, die dann als Grundlage für die Forschungstagebucheintragungen dienten. Das Forschungstagebuch verband analytische Notizen, die erste reflexive Interpretationen enthielten, mit selbstreflexiven Fixierungen (vgl. Hirschauer/Amann 1997: 27). Zur Erfassung von Räumen und Dingen führte ich Beobachtungsrundgänge durch, die in Beschreibungen festgehalten wurden und jene aus dem Forschungstagebuch ergänzten. Relevante natürliche Dokumente wurden eingesammelt und inhaltlich analysiert. Die Beobachtungen ergänzend, setzte ich unterschiedliche Befragungsmethoden ein, vor allem um soziale Praktiken in Erzählungen von Ereignissen und Situationen zu entdecken. Im Vorfeld dienten drei Expertengespräche einer ersten Exploration des Feldes sowie der Eruierung eines Feldzugangs. Diese wurden unstandardisiert und unstrukturiert durchgeführt. Während des Feldaufenthaltes fanden zahlreiche Ad-hoc-Gespräche statt, die im Forschungstagebuch als Erinnerungen der Gesprächssituation festgehalten wurden. Diese ergaben sich spontan und hatten einen aus der Situation ergebenden thematischen Inhalt. EMail Korrespondenzen, die einen Gesprächscharakter aufwiesen, wurden ebenfalls als Daten gesichert. Zur Klärung konkreter Fragen führte ich dreimal standardisierte Befragungen mit offenen Antwortmöglichkeiten durch. Die Antworten wurden handschriftlich festgehalten und später elektronisch erfasst. Im Anschluss an die Feldphase fanden zwei ca. 2-stündige leitfadengestützte, offene, thematische Interviews statt (vgl. Marotzki 2003). Der Leitfaden diente mir als thematische Orientierungshilfe, nicht als Strukturierung der Interviewsituation. Die Themenfelder richteten sich auf das Unternehmen als Organisation und sollten Verläufe der Unternehmensgeschichte erfassen. Die Interviews wurden akustisch aufgezeichnet und transkribiert. Sämtliche Daten wurden mit Codes versehen, die den Dokumententyp sowie eine fortlaufende Nummerierung enthält.36 36 FT für Forschungstagebuch, IN für Interpretative Notizen, DM für natürliches Dokumentenmaterial, TI für Transkript des Interviews
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5.4.2 Datenauswertung Die Analyse der Daten richtet sich zum einen auf die Rekonstruktion der spezifischen Verkettung sozialer Praktiken, die die Internetagentur formiert und desweiteren auf die Rekonstruktion der impliziten Logik dieser Praktikenkomplexe (vgl. Breidenstein 2006: 18). Die Datenauswertung erfolgte nicht als singuläre Handlung innerhalb eines vorab festgelegten linearen Forschungsprozesses, sondern im Sinne des „theoretical sampling“ nach Glaser (1978) in einer spiralförmigen Bewegung in Verbund mit Datenerhebung und Theoriebildung (vgl. Hitzler 2003). Die Theorie entsteht aus der „Interaktion der Analysierenden mit dem Datenmaterial“ (Corbin 2003: 71) als empirisch fundierte Theorie, als „Grounded Theory“ (vgl. Strauss 2004). Die Pendelbewegung der Trias Erhebung – Auswertung – Theoriebildung bewegt sich hier vor dem Hintergrund der Person der Ethnografin. Sie ist „personaler Aufzeichnungsapparat“ (Hirschauer/Amann 1997: 25), nicht nur des gesprochenen Wortes und des augenscheinlich Beobachtbaren, sondern auch der „Spuren“, welche Momente, Situationen und Ereignisse in der Forscherin hinterlassen (vgl. ebd.: 31). Die Auswertung beginnt bereits mit der „künstlichen“ Beschreibung der erlebten Ereignisse (vgl. Hitzler 2003: 50). Das als „dichte Beschreibung“ bezeichnete Verfahren integriert Deskription und Analyse (vgl. Kelle 1999: 309). Sie dient nicht nur der textimmanenten Nachvollziehbarkeit einer theoretischen Interpretation, sondern auch der Möglichkeit des sekundären Mitvollzugs einer Erfahrung und Praxis (vgl. Hirschauer/Amann 1997: 35). Zudem verlangt die dichte Beschreibung danach, die Bedeutungen von Ereignissen zu erfassen (vgl. Breidenstein 2006: 24). Nach der Beendigung des Feldaufenthaltes wurde auch der Prozess der Datensammlung abgeschlossen. In den folgenden Forschungsprozess gingen sämtliche erzeugte Textdokumente wie auch die gesammelten „natürlichen“ Dokumente gleichberechtigt als Daten ein. Die Anfertigung wöchentlicher Interpretativer Notizen, welche Tagebucheintragungen, gesammelte Materialien und angefertigte Textinterpretationen zusammenführten, diente als erster Erfahrungshorizont für die Entwicklung eines Mehrebenen-Interpretationsprozesses. Dieser orientiert sich am Verfahren der dokumentarischen Methode (vgl. Bohnsack 2008).37
37 Weitere vielversprechende Forschungsaktivitäten zu Auswertungsverfahren sozialer Praktiken lassen sich bei Bührmann/Schneiders (2008) in diskursanalytischer Tradition mit der Dispositivanalyse finden (vgl. dazu auch Keller 2005), bei Stefan Hirschauer (2004, 2008) in ethnomethodologischer Tradition. Darüber hinaus ließen sich für zukünftige Forschungen auch Analyseverfahren zu Kommunikations- bzw. Handlungsmustern hinzuziehen, wie das Verfahren der Gattungsanalyse (vgl. Knoblauch/Luckmann 2004).
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Um sich der Frage des „Wie“ (vollziehen sich die relevanten sozialen Praktiken des Feldes) anzunähern, nimmt das Auswertungsverfahren seinen Ausgangspunkt bei der praxistheoretischen Fundierung des Verständnisses sozialer Praktiken als ein typisiertes, routinisiertes und sozial verstehbares Bündel von Aktivitäten (vgl. Reckwitz 2003: 289, Herv. DL). Bevor in der Analyse jedoch davon ausgegangen werden kann, dass es sich um ein relevantes und zusammenhängendes „Bündel“ handelt und dass dieses sozial verstehbar – und soziologisch relevant – ist, sprechen wir nicht von Praktiken, sondern von Aktivitäten. Der Begriff der „Aktivität“ wird hierbei zunächst auf alle Betriebsamkeiten im Feld angewandt. Dazu zählt menschliches Tun ebenso wie technologisches Aufblinken. In einer ersten Interpretationsphase wurden zunächst die Forschungstagebücher nach „Aktivitätssituationen“ thematisch gegliedert. Der Begriff der „Aktivitätssituation“ verweist auf den Umstand, dass die Relevanz und Sinnhaftigkeit der hier vollzogenen Aktivität noch ungeklärt ist und man daher nicht von einem Ereignis sprechen kann (vgl. Hillebrandt 2009). Diese wurden nun zu Gruppen wiederkehrender Aktivitäten zusammengefasst, wie dies z.B. beim Unterschreiben von Glückwunschkarten der Fall war: „Wieder kommt ein Kollege mit einem braunen DIN A4 Umschlag rein und sammelt Geld für einen Geburtstag. Wie zuvor auch wiederholt sich das Ritual, ob ich auch zahlen soll.“ (FT006) „Wieder kommt ein Kollege (den ich noch von früher kenne) zum GeburtstagspappenUnterschreiben vorbei. Ob ich auch unterschreiben wolle, werde ich gefragt. ‚Darf ich denn, auch wenn ich nicht bezahlt habe?’ ‚Ja, wenn Du zum Singen kommst.’ Damit erkläre ich mich bereit und unterzeichne.“ (FT007) „Wieder kommt ein Kollege vorbei mit einer Pappe (die gleiche Größe wie immer) zum unterschreiben. […] Philipp und auch ich unterschreiben. Ich kündige an, dass ich dann auch wieder singen werde.“ (FT008)
Die Aktivitätsgruppen wurden ausgewählt, um sie einer ausführlichen Interpretation zu unterziehen. Die Auswahl richtet sich auf erste erkennbare Relevanzen für den Arbeitsalltag. Zur Beurteilung der Relevanz der so gewonnen Aktivitätsgruppen war es notwendig, ein Konzept von „Relevanz“ zu entwickeln, dass diese im Vollzug von Aktivitäten erkennen lässt. Hierzu entwickelte ich das Konzept des „Zur-Bedeutung-Bringens“,38 das sich auf die Hervorbringung von Bedeutung und ihrer Organisation, ihrer Anordnung bezieht. Der Vorgang ist nicht kognitiv-intentional oder reflexiv. Ob etwas Sinn macht oder wichtig wird, zeigt sich im fortlaufenden Vollzug aufeinander bezogener Praktiken und weist 38 In Anlehnung an Georg Soeffners Ausführungen zur pragmatischen Inszenierung von Handlungen ( vgl. Soeffner 2004: 175).
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dabei auf Angemessenheit und Erwünschtheit. Diese Konzeption von Sinn setzt sich von einem subjektiv gemeinten Sinnverständnis ab und verlegt den Fokus von Sinngehalten auf Sinnerzeugung. Sinnlos ist demnach eine unangemessene Aktivität, die irritiert, stört und zu Reflexionen herausfordert, sprich in der die Erzeugung von Sinn nicht reibungslos ablaufen kann. Relevante Aktivitäten lassen sich nun als soziale Praktiken beschreiben, die über die einzelne Situation hinaus Bestand haben und auch in anderen Situationen gleichermaßen Sinn machen. Die ausgewählten Aktivitätseinheiten werden zunächst einer detaillierten formulierenden Interpretation unterzogen, indem eine Feingliederung der Handlungsvollzüge vorgenommen wird. Die zweite Phase zielt auf eine Rekonstruktion und Explikation des Rahmens, innerhalb dessen sich die Praktiken ereignen. Hierzu wird weiteres Datenmaterial hinzugezogen.39 Für den Fall der Glückwunschkarten stellen sich hier die Fragen: zu welchen Anlässen werden Glückwunschkarten unterschrieben, wie sehen die Karten aus, sind sie immer aus dem gleichen Material, wer kommt mit der Karte vorbei, geht er in jedes Büro, wer oder was erstellt die Karte usw. Dabei werden die Grenzen des Möglichen der Praktiken herausgearbeitet, die sich aus dem Angemessenen und Erwünschten ergeben. So war es für die untersuchte Internetagentur „völlig unmöglich“, eine gekaufte Karte zu verschenken, vielmehr musste es eine Karte sein, die von der Kreation eigens gestaltet wurde. Dies eröffnet einen geteilten Erfahrungsraum, innerhalb dessen sich Praktiken vollziehen können. Dieser Erfahrungsraum ergibt sich zum einen aus dem Wissen über die spezifische Anordnung der Praktiken und ihrer Abfolge und zum anderen aus dem Knowhow, wie die Praktiken auszuführen sind und wer weiter zu involvieren ist. Es handelt sich demnach nicht um einen konjunktiven Erfahrungsraum in einem engen Mannheimschen Sinne, sondern um einen „praktischen Erfahrungsraum“, der in den weiteren Analysen ein zentraler analytischer Bezugspunkt bleibt. Im weiteren Verlauf der reflektierenden Interpretation wird nun die Organisation des Handlungsvollzugs rekonstruiert, die Frage, was die Vollzüge am Laufen hält (vgl. Hirschauer 2004). Hierbei werden verschiedene Praktiken miteinander verglichen, so dass es zu einer Abhebung vom einzelnen Vollzug kommt und die Verschränkung ineinander deutlich wird. Die Geburtstagskarte ist in weitere Aktivitäten eingebettet, wie das Geburtstagssingen und die Geschenkübergabe. In der dritten Interpretationsphase werden die so am einzelnen Fall gewonnenen Erkenntnisse aufeinander bezogen und verschiedene Typen von Praktiken rekonstruiert, die als Praktikenkomplexe beschrieben werden können. Auch hier erfolgt die Interpretation gemäß einer komparativen Logik, bei der weitere Fälle als Vergleichshorizonte hinzugezogen werden. 39 Das für die dokumentarische Methode typische Verfahren der Kontrastierung findet in der vorliegenden Untersuchung auch in der Phase der teilnehmenden Beobachtung statt, indem z.B. ähnliche oder gänzlich unterschiedliche Situationen aufgesucht werden.
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Praktiken des Ordnens
Das, was in der alltäglichen Arbeit möglich ist, hat sich vervielfältigt und ist verwickelter geworden. Es muss viel getan werden, um das Soziale zu ordnen. Die Handlungsfähigkeit muss immer wieder aufs Neue hergestellt werden. Dies geschieht selten bewusst und reflexiv, sondern zumeist routinisiert und unhinterfragt im Vollzug sozialer Praktiken. In praxistheoretischer Perspektive ist Ordnung so eine Frage des Fortsetzens, des Überdauerns der Form des Sozialen, die jeden Tag aufs Neue durch Praktiken hergestellt und gewährleistet wird. Es wird sich zeigen, dass das Wechselspiel zwischen Phänomenen der Unplanbarkeit und der Unentscheidbarkeit und die durch Ordnungspraktiken hergestellte Ordnung produktiv sind. Damit dieser Prozess nicht kontra-produktiv und damit erschöpft, unergiebig und unerträglich wird, bilden sich Routinen aus, die den Einzelnen entlasten und die Möglichkeiten des Handelns begrenzen. Auf der Arbeit – in einer Internetagentur – wird vor allem an Projekten gearbeitet, es werden Kunden bearbeitet und Maßnahmenkonzepte erarbeitet. Dabei erscheint der Arbeitsalltag auf den ersten Blick sehr geordnet. Die Arbeitenden sitzen die meiste Zeit in ihren Büros; mittags essen sie zwar nicht gemeinschaftlich, aber gemeinsam ihr Fastfood; sie stimmen sich regelmäßig in gemeinschaftlichen Sitzungen ab. Arbeitsbereiche und Arbeitsgruppen sind klar erkennbar und Zuständigkeiten eindeutig geregelt. Im Zuge der Feldphase wurde immer deutlicher, dass diese Ordnung mühsam hergestellt wird und immer wieder am Laufen gehalten werden muss. Denn der Arbeitsalltag in der Agentur ist auch gekennzeichnet von Faktoren, die die Ordnung beständig herausfordern und die Handlungsflüsse stören. Routinen geraten ins Stottern und andere Praktiken müssen zügig mobilisiert werden, damit der Projektfluss nicht zum Erliegen kommt. Jene Praktikenkomplexe, die das Soziale ordnen, werden im Folgenden als Ordnungspraktiken beschrieben. Praktikenkomplexe sind lose miteinander verwobene Praktiken: „lose gekoppelte Komplexe von Praktiken, die häufig nur bedingt und widerspruchsvoll aufeinander abgestimmt und gegeneinander abgegrenzt sind“ (Reckwitz 2003: 295). Das entstehende Geflecht sozialer Praktiken folgt dabei ebenso einer spezifischen inneren Geregeltheit, wie jede einzelne soziale Praktik wiederum ihre je spezifische innere Logik aufweist. Das Geflecht ist nicht beliebig, aber jederzeit auflösbar, zerfallbar. Denn die einzelnen sozia-
D. Lengersdorf, Arbeitsalltag ordnen, DOI 10.1007/978-3-531-93291-0_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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len Praktiken vollziehen sich auch unabhängig von der Ordnungspraktik, die Ordnungspraktik hingegen vollzieht sich nur in dem spezifischen Flechtwerk der „Einzel“-Praktiken. Die Ordnungspraktiken in einer Internetagentur wurden anhand ethnografisch gewonnener Daten interpretativ-rekonstruktiv analysiert. Die Untersuchung zeigte, dass die Praktikenkomplexe der Ordnungspraktiken wiederum in sich zu fünf Formationen verketten sind.40 Diese geben der Internetagentur ihr spezifisches „Muster“, umspannen hier das Feld des Sozialen (vgl. Bourdieu 1987: 171ff, Reckwitz 2003: 295). 6.1 Passungspraktiken Denkt man an Ordnung in Unternehmen, so drängen sich zunächst Bilder von kontrollierenden Chefs und anweisenden Vorgesetzen auf. In der untersuchten Agentur lässt sich die Kontrolle und Steuerung der Arbeiten und der Beschäftigten nicht als direkte Machtausübung im Sinne eines Herrschafts-Knecht-Prinzips feststellen, sondern mehr als eine „Anleitung“ zur Selbstdisziplin (vgl. Moldaschl 2002). Es lassen sich deutliche Tendenzen einer Subjektivierung von Arbeit und der hier vorherrschenden Steuerungsmodi erkennen (vgl. Aulenbacher 2005). Diese entfalten sich in Selbstdisziplinierungsmaßnahmen und auch in Vergemeinschaftungsritualen. Entscheidend ist bei beiden, dass z.B. die Disziplinierung der eigenen Speisegewohnheiten oder die Teilnahme an einem Fußballtunier kein „Privatvergnügen“ ist, sondern der (Ein-)Passung in das Unternehmen dienen. „Passung“ wird hier verstanden als passend für die relevanten Praktiken der Internetagentur, vor allem jenen, die den Arbeitsprozess konstituieren. Die Teilnahme am Vollzug setzt demnach eine fortlaufende „Passung“ voraus. Es ist ein praktisches Wissen, das angeeignet und ständig aktualisiert werden muss, ein Wissen, in welcher Art und Weise man angemessen in der Agentur zu handeln hat. Erst so kann von einem reibungslosen Ablauf ausgegangen werden bzw. wird ein reibungsloser Ablauf wahrscheinlich. Sich normalisieren Die Einpassung in die Internetagentur ist ein Normalisierungsprozess, bei dem praktisches Wissen über Standards und Gewohnheiten der Internetagentur von 40 Nur sehr wenige Praktikenkomplexe ließen keine Verkettung mit diesen Formationen erkennen. Sie finden in der weiteren Analyse keine Berücksichtigung, da der Fokus auf den für das Feld besonders bedeutungsvollen Formationen von Ordnungspraktiken liegt.
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Personen angeeignet wird. Diese Praktiken lassen sich verstärkt entlang der Arbeitszeitorganisation lokalisieren. Obwohl es keine Zeiterfassungssysteme gibt und auch sonst keine institutionalisierten Kontrollmechanismen existieren, funktioniert die Selbstorganisation der Arbeitszeit im Sinne des Unternehmens (vgl. Kratzer/Sauer 2005, Böhle 1999). Abweichungen von der Regel sind vorzufinden, allerdings zugunsten des Unternehmens. „Die geregelte Arbeitszeit geht bis 18:00 Uhr. Mir schien es, dass das Ende der Arbeitszeit eher ausgleitet. Um 18:00 Uhr geht nahezu niemand. Gegen 18:30 beginnen die ersten aufzubrechen. Auch Philipp blieb zumeist länger, obwohl er recht wenig Arbeit über den Tag verteilt zu erledigen hat und somit pünktlich gehen könnte. In einigen Gesprächen wurden die Überstunden thematisiert. Hierbei gewann ich den Eindruck, dass neben dem „Stöhnen“ darüber, auch ein gewisser Stolz in der Stimme mitschwang. Mir schien es, dass die Überstunden nicht unbedingt etwas Unangenehmes sind. In einem Gruppengespräch wurde von einigen Beratern Scherze über Abteilungen der Mutteragentur gemacht, die sich sehr strikt an die Arbeitszeiten halten. Hierbei handelt es sich um Verwaltungsabteilungen. Deren Handhabung der Arbeitszeit wird von den Beratern als kontraproduktiv angesehen. Ihre eigene Arbeit und vor allem die Kundenwünsche würden sich auch nicht an geregelte Zeiten halten. Der Arbeitsbeginn wird ebenso gleitend gehandhabt wie das Ende. Die meisten MitarbeiterInnen treffen gegen 9:15 ein. Zur Kontrolle der Arbeitszeit werden keine Stechuhren oder andere Zeiterfassungssysteme eingesetzt. Auch konnte ich nicht beobachten, dass verbal Kontrolle ausgeübt wird. Allerdings schien es mir so zu sein, dass Philipp bemüht war das Büro nach mir zu verlassen und möglichst vor mir da zu sein. Dies trifft vor allem auf die Anfangsphase zu, als wir uns noch nicht so gut kannten.“ (IN003)
Wie die Interpretativen Notizen beschreiben, wird eine Kernarbeitszeit von 9:15 Uhr bis 18:30 Uhr praktiziert. Das Wissen über die Handhabung von Arbeitszeitpraktiken wird in den Bürogemeinschaften und informellen Treffen vermittelt. Dies einmal durch demonstratives Handeln, wie im Falle von Philipp, der zumeist länger bleibt „obwohl er recht wenig Arbeit über den Tag verteilt zu erledigen hat und somit pünktlich gehen könnte“. Aber auch durch das Kontrastieren von anderen Arbeitszeitregelungen, wie jenen der Kunden oder der Serviceabteilungen des Agenturendach. „Deren Handhabung der Arbeitszeit wird von den Beratern als kontraproduktiv angesehen“ í kontraproduktiv für den Projektfluss, der den Möglichkeitshorizont der Zeitpraktiken stellt. Das Überschreiten der Arbeitszeit wird von den Mitarbeitern als Zeichen ihres Engagements erwartet. Durch ein wöchentliches „Meeting“41 wird diese Logik immer wieder mobilisiert, da hier die Leitungspersonen durch das Heranführen von Beispielen den Rahmen des Erwünschten stecken. So führt z.B. der Leiter der Programmierung aus, „dass ein Mitarbeiter, der zwei Wochen Urlaub hat, diesen zwei Tage für ein Projekt unterbrechen wird, er dann aber nur (mit Nachdruck) für dieses Projekt 41 Zur Logik des „Meetings“ siehe folgender Exkurs.
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arbeiten werde“ (FT010). Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entsprechen der Erwartung und leisten umfangreiche Überstunden. Wichtiger noch als Überstunden zu machen, ist allerdings diese demonstrativ zu thematisieren. Erst durch das verbale „Sichtbar-Machen“ von Überstunden wird das geleistete Engagement zur Bedeutung gebracht. Der folgende Auszug aus dem Forschungstagebuch illustriert dies anhand der Beschreibungen eines Beraters: „Das Problem sei der Druck, dass am Freitag alles fertig sein muss, führt er aus. Zumal, ergänzt Sascha, die Zeitknappheit häufig dadurch zustande kommt, dass man auf Freigaben warten muss. In diesem Falle wird auch versucht durch telefonieren den Kunden zur Freigabe zu bewegen. ‚Früher habe ich mich immer auf Freitag gefreut, weil dann Wochenende ist, heute nicht mehr‘ teilt Sascha mit. Letzten Freitag sei er bis 21 Uhr hier gewesen und seine Spitzenzeit sei 1 Uhr nachts. Ich versuche mehrmals rauszubekommen, was denn der Durchschnittswert sei. Schließlich erfahre ich, dass es ca. 19-19:30 Uhr sei. Die normale freitags Arbeitszeit geht bis 15:30 Uhr.“ (FT009)
Sascha beschreibt seine Leistungen innerhalb des Projektflusses und Probleme mit denen er sich konfrontiert sieht. Das Verbalisieren seiner Überstunden leitet er mit dem emotionalen Satz ein: „Früher habe ich mich immer auf Freitag gefreut, weil dann Wochenende ist, heute nicht mehr“. Er erbringt ein emotionales Opfer für den Projektfluss: er bezahlt mit Freude und dies nicht nur einmalig, sondern gegenwärtig jedes Wochenende. Die Dramatisierung des Opfers wird durch die nun folgenden Zeitangaben „21 Uhr“ und „1 Uhr“ untermauert. Mein Nachfragen zu den Durchschnittswerten wird nur widerwillig beantwortet, obwohl selbst diese noch weit über der normalen Arbeitszeit liegen, aber Durchschnittswerte sind bei den Ausführungen von Sascha nicht das Thema. Zusammenfassend kann man schließen, dass die in der Internetagentur vollzogenen Arbeitszeitpraktiken eine ausufernde Präsenzkultur erzeugen (vgl. Döge/Behnke 2005: 11f). --Exkurs: Das Meeting Das Meeting, das vor allem der Planung von Kapazitäten dient, stellt eine wöchentlich wiederkehrende Praxis dar. Es besteht stets aus den gleichen Handlungsvollzügen: „Gegen 9:30 Uhr gehen viele Personen in einen Konferenzraum der Agentur. [...] Es scheinen nicht alle Mitarbeiter der Abteilung zu kommen, was Philipp später auch bestätigt. Es sind alle Berater anwesend, einige Kreative und wenige Programmierer. Wer zuerst kommt, nimmt im Stuhl platz, die anderen sitzen auf dem Boden (es scheint mir, dass dies alles Nicht-Berater sind). Erst werden generelle Kundenentwicklungen und Projekte im Überblick angesprochen,
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sozusagen ‚News‘. Berichtende haben Notizen vor sich liegen. Es herrscht eine gelöste Atmosphäre. Als Kommentar wird teilweise gelacht. Einige Berater erzählen von neuen Jobs oder neuen Kunden bzw. Neukundengewinnungsmaßnahmen. Danach verlassen alle bis auf die Berater und die Leitungspersonen den Raum. Jeder Berater trägt vor, welche Personen er aus Kreation und Programmierung braucht. [...] Einzeln wird vorgetragen: ‚Ich brauche (Person) für (Tätigkeit)‘. Je nachdem, ob die Person jemand aus der Kreation oder aus der Programmierung ist, werden von den entsprechenden Leitungspersonen anhand einer eigenen Liste, in welcher scheinbar die anfallenden Tätigkeiten der einzelnen Personen bereits vermerkt sind, überprüft, ob die Person dafür vorgesehen ist und ob bereits ein Eintrag besteht. Falls nicht, wird teilweise diskutiert wer das Projekt übernehmen soll. [...] Die Tätigkeiten werden sehr schnell vorgetragen. Es wird nicht über die Tätigkeiten im Einzelnen gesprochen, sondern mehr über Tätigkeitsfelder (‚Hier brauche ich Text‘). Ferner scheint es so zu sein, dass die Tätigkeiten nicht nur neue sind sondern auch solche, die sich noch ‚im Fluss‘ befinden. Darüber hinaus scheint es Zuständigkeiten von Personen zu Kunden oder Projekten zu geben. Das Meeting endet um ca. 10 Uhr. Das Ressourcenmeeting findet immer zu gleichen Zeit und am gleichen Ort statt. Erstaunlich finde ich, dass die ausführenden Personen durch andere Personen repräsentiert werden, die deren Interessen zu vertreten scheinen. Ferner manifestiert sich hier erneut die Trennung zwischen Beratern und Kreativen, Programmieren. Die Leitungspersonen der Kreation und Programmierung scheinen Schnittstellen zwischen Beratern und Kreativen/Programmierern zu sein. Das sehr schnelle Tempo der Besprechung überrascht mich ebenfalls. Es ist sehr funktional angelegt.“ (IN002)
--Die Handlungsvollzüge der Praktik „Mittags-Pause-Machen“ zeigen sich ebenfalls als Normalisierungen. Die Büronachbarin oder der Büronachbar ist auch hier wichtiger Orientierungspunkt, indem sie/er den Rahmen des Möglichen aufzeigt. „Die meisten Mitarbeiterinnen beginnen zwischen 12:30 und 13:00 Uhr ihre Mittagspause. In dieser Zeit herrscht die größte Unruhe während des Tages im Küchenbereich. Ich habe verschiedentlich mitbekommen, dass die Pause für Besorgungen genutzt wird. Die Agentur liegt in unmittelbarer Nähe zur Einkaufsstraße. Essen oder Essen gehen scheint keine große Bedeutung zu haben, sondern eher eine Notwendigkeit zu sein. Viele machen sich kleine Mikrowellengerichte warm und essen diese vor ihrem Rechner während sie weiter arbeiten oder im Internet surfen. Bei auswärtigen Mittagspausen, an denen ich teilhatte, wurde Fastfood gegessen. Dabei kommt es scheinbar nicht auf Genuss, sondern auf ‚eben schnell mal was Essen‘ an. So wurde ich an meinem ersten Tag í Philipp war sehr ausführlich í über Essensmöglichkeiten informiert, allerdings stand vor allem Fastfood im Zentrum seiner Ausführungen. Das Essverhalten wurde mir gegenüber häufig scherzhaft als „mal wieder was Ungesundes“ kommentiert. Es herrscht durchaus ein Bewusstsein für gesundes Essen, es wird nur nicht praktiziert. Ob in der Freizeit am Abend dann „richtig“ gegessen wird, habe ich nicht erfahren, da es nie thematisiert wurde.“ (IN003)
Die in den Interpretativen Notizen beschriebenen Normalisierungen sind weitreichend. Sowohl die Uhrzeit als auch der Ort, die zu essenden Lebensmittel und die Zubereitungsart werden durch die Praktik reguliert. Aber auch mit wem man
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die Mittagspause verbringt unterliegt Regulierungen. Ausgangspunkt ist der Büronachbar, mit dem die Gestaltung der Mittagspause besprochen und verhandelt wird. Interessen austarieren Die Praktiken des Voranstellens bzw. reziprok des Zurückstellens individueller Handlungsoptionen schaffen ebenfalls einen Rahmen des Angemessenen. Es handelt sich um ein sich gegenseitig abwiegendes System zwischen individuellen Interessen und denen des Unternehmens, im klassischen „Geben und Nehmen“Sinne. Es ist nicht nur ein „Erlernen“ dessen, was möglich ist – wie weit ich als Mitarbeiter oder Mitarbeiterin gehen darf – sondern es ist auch ein „eigensinniger“ Akt der Unterwanderung des unternehmerischen Zugriffs auf die eigene Person (vgl. Moldaschl/Sauer 2000: 219). Aus Sicht der angestellten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen geben sie dem Unternehmen vor allem Freizeit und Lebenszeit: Beschäftigte unterbrechen ihren Urlaub, kommen am Wochenende in die Agentur oder verbringen ihre Nächte im Büro. Dieses hohe zeitliche Engagement können sie aber nicht in reale Aufstiegsmöglichkeiten umwandeln, wie ein Berater erläutert: „Im weiteren Gespräch stellt sich heraus, dass man in der Agentur nur Karriere machen könne, wenn man 20 Jahre bleibt. Aber das würde man gar nicht schaffen, weil man schon vorher kaputt sei“ (FT012). Dennoch schaffen die Beschäftigten einen „Ausgleich“. Dieser gestaltet sich dahingehend, dass die individuellen Interessen denen des Unternehmens im Arbeitsalltag immer wieder systematisch vorangestellt werden. Dies zeigt sich vor allem als Erledigen von privaten Angelegenheiten während der Arbeitszeit bzw. als Nutzung von Unternehmensressourcen für Privates. Der Projektfluss stellt die Grenze des Angemessenen dar. Nur wenn dieser nicht gefährdet ist, wird die Arbeitszeit für Privates genutzt. Obwohl es sich um eine gängige Praxis handelt und der Unternehmensleitung bekannt sein muss, wird sie nie expliziert oder verbalisiert, sondern eher „im Geheimen“ betrieben. Dahingegen werden andere Praktiken, die ebenfalls eine Überlappung zwischen Privatem und dem Unternehmen darstellen, von der Internetagentur gestützt und sogar gefördert: das Kickerspielen und der Bauer Agency Cup (BAC)42, sowie das Geburtstagssingen und das Abschiedsfeiern. Auch diese Überlappungen finden vor allem auf zeitlicher Ebene statt. Alle vier Aktivitäten werden während der vertraglichen Arbeitszeit praktiziert, wobei sich die Veran42 Der vom Bauer Verlag und zahlreichen anderen Firmen gesponserte Bauer-Agency-Cup (BAC) ist ein jährlich stattfindendes Fußballturnier zwischen den größten Agenturen Deutschlands.
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staltungen auch in den Feierabend bzw. ins Wochenende ziehen können. Da teilweise Vor- und Nachbereitungen getroffen werden müssen, dehnt sich der Zeitumfang noch weiter aus. Das Geburtstagsingen und Abschiedsfeiern sind í nicht explizite í Pflichtveranstaltungen für alle Beschäftigte. Die Arbeit wird unterbrochen, die Büros werden verlassen und man trifft sich an einem zentralen Ort. „Im Falle eines Geburtstages wird Geld eingesammelt und eine Karte (DIN A3 Präsentationspappe) zum Unterschreiben vorbereitet. Zuständig dafür ist der Büronachbar, wie mir durch einige Äußerungen deutlich wird. Wir erhalten einen Termin per Mail als Benachrichtigung, wann sich alle im Büro des „Geburtstagskindes“ einzufinden haben. Die meisten Mitarbeiterinnen gehen zum Büro des Gratulanten. Dieser sitzt auf seinem Platz. Alle anderen kommen in den Raum und versuchen einen Platz möglichst weit in Tür- und Wandnähe zu ergattern. Die Leiterin der Kreation bemerkt, dass wir jetzt anfangen könnten. Niemand singt. Sie zählt vor: ‚Eins, zwei, drei‘. Alle singen verlegen und sehr tief ‚Happy Birthday‘. Nach dem Singen wird geklatscht und eine große Geburtstagspappe (mit einem bearbeiteten Langscheid-Wörterbuch als Motiv – das ‚Geburtstagskind‘ ist englischsprechend) und ein Geschenk (Buch?) überreicht. Sobald das Geschenk ausgepackt ist, stellt jemand fest: „Ich hab’ ja schon gesungen“ und verlässt den Raum. Sofort löst sich die gesamte Gruppe fluchtartig auf. Philipp stellt nachher im Büro fest, dass es doch eine etwas überholte Tradition sei und kaum einer Lust zum Singen habe. Die Aussage von Philipp finde ich in der Situation bestätigt. Es scheint eine unangenehme Pflicht zu sein. Mir ist diese Tradition noch aus meiner damaligen Beschäftigung bekannt, so dass es sich um eine langwährende Tradition handelt. Interessant erscheint mir, dass sie so beständig ist, obwohl offensichtlich niemand der Tradition etwas Positives abgewinnen kann, inklusive des Beschenkten.“ (IN002)
Während bei der Praktik des Geburtstagssingens die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Arbeit komplett unterbrechen, auch wenn sie dies nur für ein absolut notwendiges Maß tun, ist die Abschiedsfeier von Fluktuationen gekennzeichnet. Die Beschäftigten wechseln zwischen ihrem Arbeitsplatz und der Feier hin und her. Dies geschieht auffällig und wird auch thematisiert. Dennoch zeigt sich das Abschiedsfeiern als eine beliebte Zusammenkunft, bei der Alkohol getrunken und zusammen etwas gegessen wird. Die Teilnahme am Bauer Agency Cup und am Kickerspielen wird nicht von Leitungspersonen koordiniert bzw. kontrolliert. Beide Aktivitäten werden allerdings mit Unternehmensressourcen unterstützt: durch das Bereitstellen des Kickers und die finanzielle Unterstützung der BAC-Aktivitäten. Während man den BAC noch in einem unternehmerischen Sinne deuten kann, da es sich um einen Wettbewerb zwischen Agenturen handelt, ist das Kickerspielen „reines Privatvergnügen“. „Das Kickerspielen ist ein fester Bestandteil des Alltags von Philipp und anderer mir bis dato nicht bekannter Personen. Der Kicker steht in einem separaten Raum im Aufzugbereich, in welchen ein Großkopierer und anderes technisches Gerät stehen. Die Aufforderung zu einem
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6 Praktiken des Ordnens Spiel wird unmittelbar ausgesprochen. Der Herausforderer erscheint spontan (für mich ist keine Vorankündigung sicht- oder hörbar) in der Tür und macht eine deutende Bewegung Richtung Kickerraum oder eine kurze verbale Äußerung wie ‚Kommst Du?!‘. Daraufhin wird der Kickerraum aufgesucht. Die Zeiten sind nicht nur auf Mittagspausen oder Feierabende beschränkt. Teilweise wird auch die gerade getätigte Arbeit unterbrochen. Philipp teilt mir mit, dass schon lange gekickert werde und man, neben den täglichen Spielen, auch Turniere austrage. Seit diesem Jahr gibt es eine eigene Kicker-Internetseite, auf welcher sich zahlreiche Ranglisten und Statistiken befinden. Einige Bereiche der Seite sind Passwort geschützt. Philipp führt mich in die Kicker-Seite ein und erläutert mir einige Spezialregeln, die ich allerdings nicht verstehe. Bis dato sind nur männliche Kollegen zum Spielen gekommen, ob es auch Spielerinnen gibt, ist mir nicht bekannt.“ (IN001)
Das Kickerspielen wird von mehreren Personen in der Internetagentur praktiziert und ist der gesamten Agenturleitung bekannt, wie ich aus Äußerungen entnehmen konnte. Zu keiner Zeit ließ sich allerdings Kritisches dazu beobachten oder vernehmen, weder zur Lautstärke, noch zur Unterbrechung der Arbeitszeit. Angemessene Technik verwenden Die Passung eines Akteurs wird auch über Wissensbestände über Technik reguliert. Dabei gilt es Wissen darüber anzueignen, welche Technik die je angemessene ist. So wird die komplexe technische Infrastruktur handhabbar gemacht, vor allem, indem eindeutige Zuordnungen zur Beratung, Kreation und Programmierung vollzogen werden. Die Notwendigkeit, über solche Wissensbestände zu verfügen, ist maßgeblich durch die Komplexität der „technischen Infrastruktur“ gegeben. So reicht eine einfache Eingruppierung in Hard- oder Software für die eingesetzten Technologien in der Internetagentur nicht aus. Die Grenzen zwischen den materialen Dingen und den algorithmisierten Funktionen sind fließender. Die als Hardware zu bezeichnenden Rechnereinheiten werden zu „Maschinen“. Die technische Entwicklung macht es heute allerdings möglich, dass Maschinen nicht nur physikalisch als Gehäuse, Platinen, Kabel etc. existent sein können, sondern auch als Rechner im Rechner, als „virtuelle Maschine“, wie es der Leiter der Programmierung verdeutlicht: „Also ich glaube im Endeffekt…das hört man nicht aber du siehst es jetzt (ein Blatt wird hervorgeholt)…ähm…sind das alles irgendwo Maschinen, die für die (Kundenname) hier im Haus laufen, wo irgendwelche Aufgaben für die (Kundenname) drauf passieren…(Nachfrage DL: …und das sind alles eigene Rechnereinheiten?)…ne das sind zwei physikalische Rechner und da sind dann jeweils die drei virtuellen drauf [...] so’ne Umgebung auch mit virtuellen Maschinen und so weiter hat’s natürlich vor fünf Jahren noch nicht gegeben.“ (T002)
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Gleichzeitig werden komplexe Funktionssysteme auch als „Maschine“ oder Englisch als „Engine“ bezeichnet, und verwischen die Grenze zwischen Platinen und Software noch weiter. Eine eindeutige Gruppierung, im Sinne einer Grenzmarke, war mir während des Feldaufenthaltes nicht einsichtig. Die Eingruppierung von Technik wird von der Programmierung durch ein System von Über- und Unterordnungspraktiken weiter differenziert, indem die „produzierende Maschine“ anderen Techniken vorangestellt wird. Dies korrespondiert mit einer Rangliste der Tätigkeiten. Tätigkeiten, die an Maschinen vollzogen werden, rangieren höher als die am anderen Ende befindlichen gestaltungslastigen Programmierungen, die vornehmlich an Macintosh-Rechnern umgesetzt werden. „...dann sind das eher die, die sich mit…ähm…ja mit wirklicher Geschäftslogikprogrammierung und äh…ja…das was man richtig Programmierung nennt...beschäftigen…ähm…Gregor beschäftigt sich einfach damit: wie macht man Softwarearchitektur…wie baue ich ein Klassendiagramm und so Sachen auf [...] und das bewegt sich eigentlich immer mehr auseinander…oder ja…es sind eigentlich zwei Richtungen…du hast einmal die Kreativen, die flashen rum…Hauptsache es sieht gut aus…ähm…und dann hast du Leute wie den Thomas bei uns, der programmiert richtig in Flash…er schafft’s aber auch riesen tolle Teile irgendwie in wenigen KB zu verpacken oder so…wobei das einfach alles nur noch Code ist…“ (TA002)
Wie der Leiter der Programmierung ausführt, gibt es unter den Tätigkeiten der Programmierung das, „was man richtig Programmierung nennt“ und dann das „Rumflashen“, das auf ein gutes Aussehen gerichtet ist. Das „Rumflashen“ wird von den „Kreativen“ vollzogen, wobei es sich nicht um Angehörige der Kreation handelt, sondern um Programmierer. „Richtig Programmieren“ wird beschrieben als „Architektur machen“, als Aufbauen von Diagrammen, als Geschäftslogikprogrammierung, als Verpacken von riesen, tollen Teilen, so dass „einfach alles nur noch Code ist“. Die Auswertung weiteren Datenmaterials zeigt zudem, dass das aktive Tun der Programmierer häufig in Begriffen beschrieben wird, die an körperliche, industrielle Arbeit erinnern: packen, aufbauen, pflanzen, ans Laufen bringen, aufsetzen oder produzieren. Diese Tätigkeiten finden an bzw. auf „Maschinen“ statt und der Vorgang des Programmierens wird als Produktionsprozess verstanden. Die körperliche Arbeit an der Maschine rangiert in der Logik der Programmierung weit über dem kreativen Rumflashen zum Schönaussehen, „und das bewegt sich eigentlich immer mehr auseinander…oder ja…es sind eigentlich zwei Richtungen…“, wie der Leiter der Programmierung im Interview verdeutlicht. Die Einordnung von Servern wird durch die Einordnung nach ihrer Funktion (Fileserver, Spiegelserver etc.) und durch die Zuordnung zur Beratung, Kreation oder Programmierung gewährleistet. Für die Kreation und Beratung spielen die Server im alltäglichen Tun nur eine untergeordnete Rolle. Sie werden ledig-
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lich relevant gemacht, wenn sie nicht richtig oder falsch funktionieren. Die Nutzung der Server beschränkt sich hier vor allem auf die Ablage von Daten zur Archivierung oder um anderen Kollegen Daten zur Bearbeitung zugänglich zu machen. Die Programmierer hingegen verfügen über zahlreiche Server, die den Mittelpunkt ihrer Arbeitsaktivitäten darstellen. Auf diesen wird „mehr getan“ als nur Dateien abgelegt. Zur eindeutigen Identifizierung tragen die Server alle einen Namen. Diese scheinen willkürlich vergeben: neben Namen aus SciencefictionFilmen und aus der griechischen Göttermythologie leiten sich die Bezeichnungen auch von ihrer Funktion ab, wie dem DEV-Server für Entwicklungsserver (DEV vom Englischen „Development“). Der Programmierung obliegt die Einrichtung und Benennung der Server. Damit einher geht die Zuordnung der Technik. Die Logik der Zuordnungspraxis – was wo für wen liegt – wird von der Programmierung definiert und ist den anderen Beschäftigten nicht vollständig einsichtig, wie eine Szene aus dem „Meeting“ verdeutlicht: „Jemand fragt, ob er sich schon eine Testversion (der neuen Agenturhomepage – Anm. DL) anschauen könne. Der Leiter der Programmierung bemerkt, dass dies bestimmt auf dem (Servername) liegen würde. Der Fragende will nun wissen ‚Wo denn da?‘ Das wisse er auch nicht genau, da müsse er mal im Intranet nachschauen, erwidert der Leiter genervt. Warum weiß der Berater nicht, wo er suchen soll, wobei es doch scheinbar ein durchaus üblicher Ort ist, wie ich aus den Ausführungen von Jan entnehme.“ (FT013)
Auch die genutzte Software wird der Beratung, Kreation oder Programmierung zugeordnet. So ist das Abrechnungssystem eine „Beratersoftware“ und Photoshop wird von „der Kreation“ genutzt. Es kann zwar zu einer Überschreitung von Nutzungsgrenzen kommen, dies wird aber nur unwillig getan und mit allen Mitteln vermieden. Ein Mittel ist dabei die zentrale Verwaltung der Software und der Nutzungsrechte durch die Technikabteilung der lokalen Netzwerkagentur. Die Software wird von zentralen Servern runtergeladen und lokal auf dem jeweiligen Rechner installiert. Damit ist die Nutzung von „Beratersoftware“ nur an PCs von Beraterinnen und Beratern möglich. Die Software wird somit auch örtlich zugeordnet. Einher geht diese Praxis mit der Zuordnung von MacintoshRechnern und Windows-Rechnern: Die Beratung arbeitet ausschließlich auf PCs und die Kreation ausschließlich auf Macs. In der Programmierung nutzen die meisten nur PCs, lediglich die Flashprogrammierer setzen sowohl PCs als auch Macs ein.
6.1 Passungspraktiken
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Zusammenfassung In einem ersten Schritt konnte gezeigt werden, dass die Ordnung des Arbeitsalltages durch zahlreiche Praktiken gewährleistet wird, die einen Zwang zur Disziplinierung bzw. Normalisierung ausüben. Aufschlussreich ist, dass diese Praktiken sich weniger um Arbeitsprozesse herum formiert haben, als sich vielmehr in den „informellen“ Bereichen des Arbeitsalltags ereignen. Vom Mittagessen bis zum Kickerspiel werden Regeln des angemessenen Miteinanders angezeigt. Diese lassen sich als Vergemeinschaftungsrituale beschreiben. Des Weiteren ist es vor allem die Kontrolle der Arbeitszeit, die über Praktiken geregelt wird. Diese schaffen eine ausufernde Präsenzkultur, der sich jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin zu unterwerfen hat (vgl. Döge/Behnke 2005). „Unterwerfen“ vollgemerkt als ein Akt des „Mitmachens“, ein Mitwirken an den im Unternehmen üblichen Zeitpraktiken, an den sich hier entfaltenden Kriterien des Angemessenen. Es zeigte sich allerdings, dass dieser intensive Zugriff auf die Beschäftigten durch ritualisierte Möglichkeiten des Austarierens „abgefedert“ werden, durch eine Kultur des „Gebens-und-Nehmens“, die im Verborgenen betrieben, aber von allen mitgetragen wird.43 Zentral für die Einpassung in das Tätigkeitsfeld mit komplexer technischer Infrastruktur ist zudem das Aneignen relevanter Wissensbestände über den Umgang mit Technik, vor allem das Wissen darüber, welche Technik die je angemessene ist (vgl. Rammert 2007). Dabei ließ sich zeigen, dass der Zugang zur Technik reguliert ist. Der Beratung, Kreation und Programmierung stehen andere Technologien zur Verfügung, von der Hardware bis zu Software, so dass sich spezifische Wissensrepertoires ausbilden. Die Gruppe der Programmierer ist dabei exklusiv an Praktiken der Technikeingruppierung und -zuweisung beteiligt. Sie verfügt so über eine Regulierungsmacht: Indem sie den Zugang zur Technik reguliert, reguliert sie zugleich den Zugang zu Wissensbeständen, die im Umgang mit dieser Technik angeeignet werden können. Für die Programmierung ließ sich darüber hinaus feststellen, dass die Einpassung ihrer Akteure auch an das Wissen über eine Rangliste der Tätigkeiten innerhalb der Programmierung gekoppelt ist. Dieses wiederum ist über den Zugang zu bestimmten Technologien geregelt. Alfred Schütz hat im Zusammenhang mit Selbsttypisierungen formuliert, dass ich mein Handeln in solch typischer Weise entwerfen muss, wie es meiner Ansicht nach ein typischer Postbeamter vom Verhalten eines typischen Kunden 43 Hier lässt sich der ambivalente Charakter neuer Formen von Arbeit erkennen, wie dieser z.B. in der Diskussion zur Subjektivierung von Arbeit beschrieben wird: auf der einen Seite der Zwang zur Selbstdisziplinierung und „Unterwerfung“ und auf der anderen Seite die zunehmenden Möglichkeiten eigensinnig den Arbeitsalltag gestalten zu können (vgl. Kleemann et al. 2002).
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erwartet (vgl. Schütz 2004: 177). In gleicher Weise kann man in der Agentur beobachten, wie die Beschäftigten lernen müssen, sich einmal als typische Beschäftigte des Unternehmens zu entwerfen, dann aber auch als typische Berater, Kreative und Programmierer. Auch diese Ordnungsleistung wird in der Agentur durch soziale Praktiken ermöglicht, wie sich im folgenden Abschnitt zeigen wird. 6.2 Bereitstellungspraktiken angemessener Akteure Dass die Ordnung des Sozialen durch die Bereitstellung von angemessenen Akteuren hergestellt werden kann, verweist auf die praxistheoretische Konzeption des Akteurs. Akteure sind Produkte sozialer Praktiken, indem sich ihre „Eigenschaften“ aus den Anforderungen ergeben, die Praktiken an sie stellen. Soziale Akteure werden als ein Kreuzungspunkt von Wissensformen relevant.44 Dies ist kein neuer Gedanke. Auch George H. Mead ging davon aus, dass ein Subjekt sich nur in Verbindung mit einem sozialen Selbst konstituieren kann und dass sich dieses durch Erfahrungen mit den Objekten der sozialen Welt speist (vgl. u.a. Mead 1981). Ebenso kann man den Begriff des gesellschaftlichen Wissensvorrates von Alfred Schütz als ein Bündel von Wissensformen beschreiben, das sich durch die Erfahrung mit den Gegenständen unserer Welt füllt und dem einzelnen als typisierte Erfahrungen zugänglich ist (vgl. u.a. Schütz 2004: 161). Akteure „bereitzustellen“ soll darauf verweisen, dass ein empirisch vorfindbares und interpretativ zugängliches Bündel von Praktiken wiederholt die gleichen „Eigenschaften“ von Personen produziert und diese im Vollzug fortlaufend anfordert. Berater, Kreative, Programmierer: das negative Selbst Als besonders relevanter Praktikenkomplex erweist sich die Zugehörigkeit zu einem der drei Kollektivakteure45 der Agentur, die sich als Beratung, Kreation 44 Zur praxistheoretischen Auseinandersetzung mit soziologischen und kulturtheoretischen Konzeptionen des Akteurs bzw. des Subjekts: vgl. Andreas Reckwitz (2008). 45 Der Begriff des „Kollektivakteurs“ verweist auf die kollektive Zugehörigkeit ihrer Akteure. Die sich aus der Zugehörigkeit bildende „Akteurs-Form“ weist über die einzelnen Akteure hinaus, indem es eine kollektive Form der Bündelung von praktischen Wissensformen darstellt. Reckwitz führt den Begriff der „Subjektform“ (vgl. Reckwitz 2006) ein. Ich verbleibe bei der Terminologie des Akteurs, da dieser ein für die Soziologie – in einer interpretativ-hermeneutischen Tradition - üblicherer und vor allem für die techniksoziologischen Überlegungen an schlussfähiger Begriff ist.
6.2 Bereitstellungspraktiken angemessener Akteure
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und Programmierung rekonstruieren lassen. Die Zuordnung von Personen zu den Kollektivakteuren ist branchenüblich und weist zunächst auf die unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche hin: beraten, gestalten und í in Internetagenturen zusätzlich í programmieren. Branchenüblich bedeutet hier auch, dass es eine Einordnung ist, die über Raum und Zeit hinausweist und nicht auf ein Unternehmen zu begrenzen ist. Die Zuordnung zeigt sich als Zugehörigkeit im Sinne einer Mitgliedschaft.46 Ein Wechsel dieser Mitgliedschaft steht außerhalb des Üblichen: es ist nicht angemessen und nicht erwünscht. Ebenso ist eine eindeutige Zuweisung einer Person zu einem der Kollektivakteure unabdingbar. Damit ist sowohl die Fremdzuordnung als auch die Selbstzuordnung von hoher Relevanz für das Feld. Die Zugehörigkeit wird durch zahlreiche Praktiken hergestellt und „am Laufen“ gehalten. Zentral ist die Zuordnung der Kreativen, Berater und auch Programmierer über die ihnen zugeschriebenen und selbstzugeschriebenen typischen Eigenarten. Durch diese sind sie eindeutig identifizierbar. Die Eigenarten werden als Fremdzuschreibungen verbalisiert und an die Mitglieder der eigenen Akteursgruppe weitergegeben. Die Zuschreibung des jeweiligen Kollektivakteurs wird als unüberbrückbarer Gegensatz zur eigenen Gruppe formuliert – die andere ist das negative Selbst. „Beim Holen einer Wasserflasche besuche ich kurz Sascha, um Hallo zu sagen. Er erzählt mir, dass letzte Woche Freitag eingebrochen worden sei. Die Einbrecher seien nachts gekommen und haben ausschließlich Rechner, vornehmlich Macs, aus der Kreation mitgenommen. [...] Ich mache Sascha gegenüber eine Bemerkung, dass es ja eine Katastrophe sei, wenn man seine Daten lokal gespeichert hat und nun der Rechner weg ist. Dies nimmt Sascha zum Anlass, um über die Kreation zu „lästern“, die ihre Sachen oft lokal speichern würden. Wir erzählen uns beide Geschichten aus unserer beruflichen Erfahrung, die in diese Richtung gehen. Sascha macht deutlich, dass man denen das 1000mal erklären könne, sie es aber dann doch wieder nicht auf dem Server speichern würden. Warum könne er sich auch nicht erklären, vielleicht wollen sie die Sachen nicht rausgeben und auf ihren Ideen hocken, mutmaßt er. Im Gespräch gewinne ich den Eindruck, dass die Kreation die Unterstützung der Beratung braucht, um überhaupt überlebensfähig zu sein. Was durch Sascha auch radikal unterstrichen wird: „Kreative, die haben keinen Bezug zur Realität“.“ (FT020)
Das Gespräch über einen Diebstahl in der Agentur wird vom Berater Sascha zum Anlass genommen, mir eine Praxis der Kreation zu erläutern: sie speichern projektbezogene Daten häufig lokal auf ihrem Arbeitsplatzrechner und nicht auf dem von allen gemeinsam genutzten Server. Bei den Ausführungen treten keine Einzelpersonen in Erscheinung, sondern es wird ausschließlich über „die Kreati46 Anja Frohnen (2005) hat in ihrer Studie über die Forschungs- und Entwicklungsabteilung eines Automobilherstellers ebenfalls eine solch hergestellte Mitgliedschaft feststellen können. Diese war an Nationalität gebunden.
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on“ gesprochen. „Man könne denen das 1000mal erklären“ trotzdem würden sie anders handeln. Die Logik dieses Anders-Handelns ist Sascha nicht klar. Ihm bleiben nur Mutmaßungen, wie z.B., dass die Kreation auf ihren Ideen hocken möchte. Was für Kreative Sinn macht, ist für Sascha nicht einsichtig. Mit der Bemerkung „Kreative, die haben keinen Bezug zur Realität“ verdeutlicht er, dass es auch kein Verstehen geben könne, da sich Kreative außerhalb der Realität bewegen würden. Sascha kontrastiert in seinen Erläuterungen implizit die Kreation gegen die Beratung, dessen Vertreter er ist. Kreative speichern ihre Arbeiten häufig lokal – Berater tun dies nicht. Kreative lassen sich von Fakten nicht überzeugen – Berater sehr wohl. Kreative geben ihre erarbeiteten Materialien und Ideen nicht vollständig weiter – Berater tun dies. Kreative haben keinen Bezug zur Realität – Berater erkennen, was Realität ist. Die Praxis, die anderen Kollektivakteure gegen sich selbst abzugrenzen, wird täglich vollzogen. Das Selbst bleibt dabei als implizite Positivfolie im Hintergrund der Ausführungen. Das Selbst ist in dieser Zuordnungspraktik nicht als Individuum auszumachen, sondern als einer der Kollektivakteure zu interpretieren. Entscheidend ist, dass das „positive“ Selbst, der eigene Kollektivakteur, und das „negative“ Selbst, die anderen Kollektivakteure, im gleichen Bezugsrahmen bleiben. Die beobachteten Umschreibungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Kreative sind verträumt, halten sich zu sehr an Details auf, haben keinen Blick für Zeitpläne und halten sich für Künstler. Berater kommen immer zu spät mit Jobs, geben beim Kunden immer zu schnell nach und würden am liebsten alles selber machen. Programmierer haben keine Sozialkompetenz, sind trinkfest und feierfreudig und brauchen für Jobs immer länger, als sie gesagt haben. Zuordnungen sind für die geübte Beobachterin auch über unterschiedliche Kleidungspraktiken, Frisuren und Köpergestaltungen möglich. Zunächst können alle Beschäftigte als schlanke, urbane, weiße Mitteleuropäer und Mitteleuropäerinnen beschrieben werden, die sich „casual“ mit einer Tendenz zum „Trendigen“ kleiden. Auf den ersten, ungeübten Blick wirken die Angestellten optisch sehr homogen. Nach einiger Zeit werden feine Differenzen erkennbar: Berater tragen eher unauffälligere Kleidung und Haarschnitte. Der typische Berater trägt im Agenturenalltag eine leger-geschnittene Bluejeans, ein klassisches Hemd mit dezentem Muster und Lederschuhe. Wenn er einen Kundentermin hat, wechselt er zu einem nicht zu klassischen, mittelpreisigen, zweiteiligen Anzug. Der Körper ist schlank, aber nicht durchtrainiert und die Haut eher blässlich und gepflegt. Der Kreative hingegen zeigt sich „mutiger“, indem er seine Haare ganz abrasiert und dazu eine Designerbrille oder ein schrilles T-Shirt zur eng geschnitten Jeans trägt. Für den Kundentermin wählt auch er einen zweitteiligen Anzug, der aber etwas unkonventioneller geschnitten ist als jener der Berater und in einer Trendfarbe gehalten. Kreative sind eher durchtrainiert und oft gebräunt.
6.2 Bereitstellungspraktiken angemessener Akteure
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Viele scheinen einen Kosmetiker aufzusuchen, was ich aus der sehr glatten Haut, den gepflegten Augenbrauen und manikürten Nägeln schließe. Texter müssen bei den Kreativen ein Stück weit herausgenommen werden. Sie ähneln optisch eher den Beratern. Die Programmierer scheinen wenig Zeit und Mühen auf ihr Äußeres zu legen. Sie tragen auch Bluejeans, diese sehen nicht gebügelt aus wie die der Berater. Dazu ein T-Shirt oder Hemd ohne Aufdruck, in dezenten Farben und nicht sehr modisch. Man könnte den Kleidungsstil auch als neutral bezeichnen. Die Haut ist eher blass- bis grauhäutig. Die Körper sind eher schlank. Ein sichtbarer Unterschied zwischen Männern und Frauen existiert vor allem darin, dass Frauen Damen-Frisuren und Kleidung aus der Damenkollektion tragen. Der Kunde: ein hilfsbedürftiges Anderes Der Kunde ist in praxistheoretischer Perspektive nicht als Firma relevant oder als Marktteilnehmer, sondern, was den Kunden je ausmacht, wird durch die sozialen Praktiken des Feldes konstruiert. „Der Kunde“ existiert außerhalb dieser Praktiken nicht. Er wird im Alltäglichen der Internetagentur sehr häufig als Negativfolie verbal herangezogen. Die verbalen Attacken gegen den Kunden kennen kaum Grenzen. Er ist immer wieder Thema, Ausgangspunkt von Aufregungen und Zielscheibe für Witze. Die Negativierungen beziehen sich dabei zumeist auf Fachwissen und Fähigkeiten, Arbeitsabläufe und vertikale Entscheidungsstrukturen. Vor allem ist der Kunde das Andere: Er ist all das, was die Agentur garantiert nicht ist. Die Konstruktion des Kunden als Anderes wird durch eine Sprachpraxis untermauert, die den Kunden zu einem unpersönlichen Gegenüber macht: Die Kundin wird nie beim persönlichen Namen genannt, sondern nur als „der Kunde“ bezeichnet, mit dem Firmennamen betitelt oder selten die innehabenden Position des Kundenmitarbeiters genannt. Man arbeitet auch nicht für den Kunden XY, sondern auf dem Kunden XY (auf dem Kundenetat). Diese klare Zuordnungsleistung des Kunden als unpersönliches Außen ist umso bemerkenswerter, als die alltäglichen Arbeitsprozesse aufs engste mit denen des Kunden verwoben sind und in der Regel eine sehr enge Kundinnenbeziehung besteht. Die Beziehungsarbeit mit dem Kunden ist ein wesentlicher Bestandteil der täglichen Arbeit des Beraters, der in der Werbesprache auch als „Kontakter“ bezeichnet wird (vgl. Jacobsen/Voswinkel 2005). In der direkten Interaktion mit der Kundin ist das Verhältnis sehr vertraut, persönlich und fast herzlich. Es werden nicht nur funktionelle Informationen ausgetaucht, sondern es wird auch über Privates gesprochen. Um die í auch zahlenmäßige í Relevanz der Ordnungspraktiken zur
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6 Praktiken des Ordnens
Konstruktion des Kunden zu verdeutlichen, werden im Folgenden einige Szenen aus dem Forschungstagebuch aneinandergereiht dargestellt: „Das Gespräch über die Freigaben nehmen beide (die Berater Michael und Sascha - DL) zum Anlass, um mir von dem Kunden zu erzählen. Im Marketing (in der Marktingabteilung des Kunden í DL) gibt es extra Mitarbeiter, die nur für Internetaktivitäten zuständig sind, wird hervorgehoben. Trotz dessen hätten diese keine Ahnung und würden nicht nachdenken bevor sie handeln. So würde die Agentur oft unausgegorene Aufträge bekommen, die keinen Sinn machen oder erst mal auf ihren Sinngehalt hin überprüft werden müssen. Michael und Sascha nehmen eine Annahme meinerseits, dass der Kunde wohl erwarte, dass die Agentur genau das übernimmt, zum Anlass, sich selbst in Bezug zum Kunden zu beschreiben: Mülleimer, Therapeut, Kindergärtner. Abschließend berichten mir Michael und Sascha noch von einem Tool, welches bereits seit einigen Monaten auf die Freigabe wartet. Dieses soll über eine Eingabemaske die Anfragen der Kunden optimieren. Der Webmaster habe angekündigt, dass das Tool jetzt bald eingesetzt werden soll. Bisher sei das wohl daran gescheitert, dass das System oder der Webmaster an seine Grenzen gestoßen sei, was die Implementierung angeht, mutmaßen Sascha und Michael. Sie führen weiter aus, dass der Webmaster gar nicht mitbekommt, dass er sich mit dem Tool selbst überflüssig macht. Derzeit ist geplant, dass die Auftraggeber im Kundenunternehmen über die Eingabemaske die Anfrage erfassen und diese wird dann an den Webmaster weitergeleitet, der wiederum den Auftrag in die Auftragssoftware eingibt. Dabei sei es kein Problem, wenn man beide Systeme miteinander verknüpft, so dass der Auftrag direkt vom Auftraggeber über das Tool digital übergeben wird, informieren mich die beiden und machen kein Geheimnis daraus, dass sie den Webmaster für zu blöd halten das mitzubekommen.“ (FT009) „Max und Sascha sprechen über Abläufe von Jobs letzte Woche, die ich leider nicht mehr genau rekonstruieren kann. Es geht um einen Auftrag, welcher durchgeführt wurde. Nachher hat der Kunde feststellt, dass er es doch anders haben wolle. Max bemerkt: ‚Das war von meiner Seite aus alles ok.’. Sascha beruhigt ihn, dass sei nicht die Verantwortung der Agentur ‚Die sind ein bisschen blöd’.“ (FT016) „Wir gehen zur Frittenbude. Ich gehe vorweg. Hinter mir erzählt der eine Kollege seinem ‚Gehnachbarn‘ von einem Kundenmeeting, welches er gerade gehabt hat. Aus seinen Aussagen schließe ich, dass es ein Erstgespräch mit einem Neukunden war. Er erzählt, dass die Marketingabteilung des Unternehmens zehn Mitarbeiter hat. Alle Kundenmitarbeiter sollten nacheinander sagen, wofür sie zuständig seien. Ich erinnere mich nicht mehr an die genaue Zahl aber der größte Teil der Mitarbeiter ist für Broschüren zuständig. Der Kollege bemerkt ‚Und dabei haben die aus den letzten Jahren nur fünf Broschüren im Schrank.‘ Alle lachen verächtlich.“ (FT005)
Das häufigste Wort im Zusammenhang mit dem Kunden ist „blöd“, wie auch die Beispiele illustrieren. „Blöd“ zeigt sich darin, dass der Kunde nicht nachdenkt, bevor er handelt. „Blöd“ auch, weil der Kundenmitarbeiter nicht merkt, dass er sich selbst überflüssig macht. Und „blöd“, weil der Kunde sich, nachdem alles fertig ist, anders entscheidet und ineffektiv arbeitet, ohne es zu merken. Das Handeln des Kunden wird als irrsinnig oder schwachsinnig beschrieben. Der Kunde ist nicht in der Lage, sinniges Handeln zu vollziehen, weil er irrt oder ihm generell die Fähigkeit zu sinnigem Handeln abgesprochen wird. Die Selbstbeschreibung der beiden Berater Sascha und Michael unterstreichen dies ein-
6.2 Bereitstellungspraktiken angemessener Akteure
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drucksvoll: sie seien Mülleimer, Therapeuten oder Kindergärtner. Während Mülleimer noch auf die nicht wehrhafte Position des Dienstleistenden seinem Auftraggeber gegenüber verweist, sind Therapeuten und vor allem Kindergärtner ihren Klienten überlegen. Der Kunde wird zum psychisch Kranken und zum Kleinkind. Beiden wird volle Handlungsfähigkeit, Reflexivität und das Einschätzen von Konsequenzen abgesprochen (vgl. u.a. Schulz-Schaeffer 2007). Anders als bei der Konstruktion der Beratung, Kreation und Programmierung sind Mutmaßungen oder Erklärungsversuche, die dem Handeln des Kunden Sinn geben, nicht zu beobachten. Der Kunde bleibt das hilfsbedürftige Andere. Erst durch die Agentur erhält sein Handeln Sinn. Die Klassik: die privilegierte Andere Die Internetagentur gehört zu einem lokalen Agenturennetzwerk, deren Teile in einem Gebäude ansässig sind. Es gibt unternehmerische Bestrebungen, das lokale Netzwerk durch einen festeren institutionellen Rahmen zu einem Unternehmen zu „verschmelzen“, wie es sich im Zusammenlegen der Kreation beider Unternehmensteile zeigt. Dies wird von einer Texterin verdeutlicht: „Klara bewertet den Umzug zur Kreation der Mutteragentur durchaus positiv. Man kenne „die da oben“ doch gar nicht (dies verwundert: eigentlich kennt Klara einige Mitarbeiter ganz gut, da es für einen gemeinsamen Kunden ein spezielles Meeting einmal pro Woche gibt, an dem alle, die auf dem Kunden arbeiten, beteiligt sind - DL). Und das sei schlecht, da die viel mehr Informationen hätten, die die Internetagentur nicht erfährt, da es keinen Austausch gibt. Das hat bei einigen Kunden schon zu Problemen geführt, weil diese keinen Unterschied zwischen Internetagentur und Mutteragentur machen. Für die Kunden sei das schon lange nicht mehr einsichtig. Es sei des Öfteren vorgekommen, dass wichtige Informationen nicht weitergegeben wurden oder der Kunde davon ausgegangen ist, dass die Internetagentur die Informationen ganz selbstverständlich hätte. Klara hält die Trennung auch für unnatürlich. Die Internetagentur ist die letzte Abteilung der Mutter. Alle anderen sind bereits vollständig in ihr aufgegangen.“ (FT015)
Die Texterin veranschaulicht hier sehr deutlich, dass sie die Trennung zwischen der Internetagentur und der Mutteragentur „für unnatürlich“ hält. Sie kann zahlreiche Gründe explizieren, die für eine weitere Fusion sprechen. Vor allem der mangelnde Informationsfluss wird unterstrichen. Gleichzeitig reproduziert sie die Grenzlinie aber immer wieder aufs Neue: „man kennt die von oben doch gar nicht“ oder „die haben viel mehr Informationen“. Es zeigt sich, dass die Praxis, „die von oben“ als Andere zu konstruieren, Tradition hat. Die Abteilungsleiterin führt dies anhand der Beschreibung einer weiter zurückliegenden Fusion, zwischen dem lokalen Agenturendach und einer ihrer Tochterunternehmen, weiter aus:
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6 Praktiken des Ordnens „Also da hatten die so am Anfang glaube ich alle so’n leichten Kulturschock miteinander bekommen…äh…weil ja doch so die Arbeitsweisen so’n bisschen andere waren…und ich glaube auch so die…die ehemaligen Mitarbeiter des Agenturendachs ein bisschen so von ihrem hohen Ross so ne: ‚wir machen hier so die große Werbung und ihr macht ja hier nur irgendwie so’...ich will nicht sagen: den Abfall…aber so in die Richtung (DL parallel: Ja so ist man echt behandelt worden)…ja es war ja so’n bisschen die Tendenz dabei…wobei es ja im Endeffekt…ich mein, wenn man sich anschaut, aus dem lokalen Agenturendach der Kunde (Kundenname) z.B., da wird fast 80 Prozent Literatur gemacht und im Tochterunternehmen gab es ja dann auch diverse Kunden wo dann auch TV und Anzeigen gemacht wurden…also ich glaube wenn man sich mal so die…den Kommunikationsanteil der Kunden angeschaut hätte…irgendwie…wär’ man wahrscheinlich gar nicht so weit auseinander gewesen…“ (TA001)
Auch hier wird deutlich, dass die Trennlinie zwischen dem lokalen Agenturendach und den anderen Unternehmensteilen eine Konstruktion ist, die der reflektierten Überprüfung nicht Stand hält: „irgendwie…wär’ man wahrscheinlich gar nicht soweit auseinander gewesen“ führt die Abteilungsleiterin in Bezug auf die „Kommunikationsanteile“ aus. Dennoch beschreibt sie den Unterschied als gravierend, als „Kulturschock“ und führt dies einmal auf die unterschiedlichen Arbeitsweisen zurück, bringt dann aber ein Differenzierungsmerkmal zur Bedeutung, dass es dem lokalen Agenturendach ermöglicht, von einem „hohen Ross runterzukommen“: die Werbekommunikationsform. Dabei steht die klassische Werbung í TV-Werbung und Anzeigen í auf der Rangordnung ganz oben, während Literatur í Kataloge und Broschüren í am unteren Ende den „Abfall“ repräsentieren. An anderer Stelle führt die Abteilungsleiterin dies noch weiter aus und bringt es in einen Zusammenhang mit Internetwerbung: „ich glaube nicht dass das jetzt passieren würde, dass die Geschäftsführung irgendwo einen Termin hat, wo keiner vom Internetbereich dabei wäre und der Kunde es auch nicht fordert und unsere Geschäftsführung sagen würde: „Macht doch einfach ’nen Großteil irgendwie Internet.“…also es wird glaube ich immer…ne…von der Hierarchie immer erstmal oben angefangen: „Lasst uns doch ’nen TV-Spot…wir müssen noch die Marke aufbauen, die Marke stützen, im Markt bekannt machen“…und irgendwie ne Anzeige oder vielleicht auch ne Promotionen mit Internet und vielleicht PR und dann halt irgendwie die Literatur dazu…also so…glaube ich, ist der gängige Weg von oben nach unten…“ (TA001)
„Die da oben“ planen und realisieren die von der Unternehmensleitung bevorzugte Werbekommunikationsform, die als klassisch beschrieben wird: „die da oben“ sind „die Klassik“ und sie werden von der Geschäftsführung privilegiert, was sich vor allem in einem privilegierten Erstzugang zum Kunden zeigt. Die Klassik hat die Hoheit über die ranghöchste Werbekommunikationsform im Agenturendach. Ihre Mitglieder werden von den anderen Mitarbeitern als privilegiert wahrgenommen und sie demonstrieren dies, wie die Abteilungsleiterin nachahmt: „wir machen hier so die große Werbung“.
6.2 Bereitstellungspraktiken angemessener Akteure
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Die Nicht-Zugehörigkeit zur Klassik zeigt sich als umkehrbar: man kann von einer Nicht-Zugehörigkeit zur Klassik in eine Zugehörigkeit wechseln, wie es die Mitarbeiterinnen des Tochterunternehmens vollzogen haben. Dies geht mit einem „Aufstieg“ innerhalb des Agenturgefüges einher. Ob eine Zugehörigkeit auch umkehrbar in die andere Richtung ist, d.h. ein Wechsel von der Klassik weg vollzogen werden kann, konnte ich hingegen nicht beobachten. Zusammenfassung Die zentrale Ordnungsleistung des beschriebenen Praktikenkomplexes der Bereitstellung angemessener Akteure besteht in einer fortlaufenden Grenzziehung, die sich in der Umgrenzung eigener Zugehörigkeitskategorien zeigt und einer Abgrenzung „fremder“. So wird ein praktisches Wissen bereitgestellt, welche Akteure in der Internetagentur relevant sind und vor allem, welche je „eingenommen“ werden sollten. Darüber hinaus werden nicht nur Akteure umgrenzt, sondern auch mit Eigenschaften „angefüllt“. Diese „Eigenschaften“ sind keine personalen Merkmale, sondern soziale Bedeutungskonstellationen, wie man z.B. als Berater zu sein hat. Dabei ist entscheidend, dass die so bereitgestellten Eigenschaften von Beratern, Kreativen und Programmieren sich durch Antagonismen auszeichnen, sich demnach als polar gegenüberstehende Gegensätze beschreiben lassen, die aber zugleich, wie Ernesto Laclau und Chantal Mouffe dies beschrieben haben, innerhalb eines Bedeutungssystems verbleiben und dieses stabilisieren (vgl. Laclau/Mouffe 2006: 177). Demnach kann es einen „Berater“ nur geben, weil es einen „Kreativen“ gibt, von dem man sich abgrenzen kann. Zugleich werden die Kollektivakteure durch den Akteur „Kunde“ gestützt, der das radikale Außen darstellt. Nur indem immer wieder auf dieses Außen verwiesen werden kann, wird das Innen zusammengehalten.47 Ob etwas in der Internetagentur Sinn macht, entscheidet sich somit auch danach, ob man „dazu gehört“ oder nicht. Sinn kann nur im „Inneren“ der Agentur vor dem Hintergrund eines „Außens“ (dem Kunden) erzeugt werden und es gibt im „Innen“ unterschiedliche Sinnprovenienzen, je nachdem zu welchem Kollektivakteur man gehört.
47 Es ist nicht allein der Prozess des „Zusammenhaltens“ als vielmehr die Erzeugung der Illusion, dass das „Innen“ über eine Totalität verfügt. Eine Totalität mit klaren Grenzmarken nach „Außen“ (vgl. Laclau/Mouffe 2006: 142).
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6 Praktiken des Ordnens
6.3 Bereitstellungspraktiken angemessen ein Geschlecht zu haben In praxistheoretischer Perspektive ist ein zentraler Wissensbestand das Wissen um die angemessene Wahrnehmung, Darstellung und Interpretation von Geschlecht (vgl. Hirschauer 1999, 2001; Hörning/Reuter 2006). Geschlecht ist einer Person nur insofern zu eigen, als dass diese über ein praktisches Wissen darüber verfügt, wie man angemessen ein Geschlecht wahrnimmt, darstellt und als solches interpretiert. In der Aneignung und Anwendung dieses Wissens im „Miteindertun“ – dem Einsatz von und dem Umgang mit Geschlecht – werden Merkmale angezeigt, die damit dem (Wissens-)Träger des Geschlechts zu eigen werden: geschlechtstypische Eigenschaften (vgl. Hirschauer 2001). In der untersuchten Internetagentur werden nur bestimmte Arten und Weisen des Geschlecht-Habens und des Geschlecht-Seins angefordert, oder anders formuliert: aus dem großen „Fundus der Geschlechterrepertoires“ gewährleisten nur bestimmte Repertoires ein reibungsloses Miteinander in der Agentur. Diese Repertoires wiederum sind den Praktiken in der Agentur nicht vorgängig, sondern werden hier erst hergestellt und reproduziert (vgl. Wetterer 2002). Ferner „stellt“ die Internetagentur institutionalisierte Mobilisierungspunkte „bereit“, die den Einsatz von Geschlecht herausfordern und die Möglichkeit der Aktualisierung geschlechtlicher Praktiken bieten (vgl. Kotthoff 2002). Eindeutig zu „Mann“ oder „Frau“ gehören Die Zugehörigkeit zu „Frau“ oder „Mann“ wird durch zahlreiche Praktiken gewährleistet, die zum einen am Körper stattfinden und zum anderen ihren Ausdruck in den institutionalisierten Benennungspraktiken der Agentur findet. Die Zuordnung einer Person zu einem der beiden Geschlechter stellte im Feld nie ein Problem dar, sondern war stets eindeutig vollziehbar und wurde nie irritiert. Offensichtlich erkennbar als „Frau“ oder „Mann“ wurden Personen durch Kleidung, die eindeutig der Herren- oder Damenkollektion zuzuordnen ist, Frisuren, die Frauen mit längeren Haaren und Männer mit kurzen Haaren hervorbringen, und Bewegungsaktivitäten. Dabei wurden die Unterschiede zwischen „Mann“ und „Frau“ gut sichtbar markiert, aber keine zu großen Unterscheidungen praktiziert (vgl. Heintz 2001). So stellen urbane, männliche Bekleidungsstile den Orientierungspunkt für die Bekleidungspraktiken dar, die von beiden Geschlechtern gleichermaßen gezeigt wurden. T-Shirt und Jeans oder Anzug für den Kundenbesuch waren zu beobachten. Die Zugehörigkeit zu einem der beiden Geschlechter ließ sich dann durch die Mobilisierung des Wissens über Damen- und Her-
6.3 Bereitstellungspraktiken angemessen ein Geschlecht zu haben
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renkollektionen realisieren. Sehr weibliche Kleidungsstile, wie Röcke, Schmuck, Tücher oder hohe Schuhe wurden hingegen nie gezeigt. Die Zuordnung einer Person zu einem Geschlecht wird ferner durch institutionalisierte Benennungspraktiken vollzogen. Namensschilder an der Bürotür, EMail Adressen, Namenslisten im digitalen Adressbuch oder auch im Telefondisplay zeigen stets den Nach- und den Vornamen. Die Vornamen waren alle eindeutig geschlechtlich zuordenbar und stellt damit einen Mobilisierungspunkt für Praktiken des doing gender dar (vgl. Hirschauer 2001). Der Mobilisierungspunkt des Vornamens wird auch durch die Praktik des Duzens in der Internetagentur gestützt, die dem Vorname bei der Anrede in der internen verbalen Kommunikation einen zentralen Platz einräumt. Sich als bestimmter Typ „Frau“ oder „Mann“ einstufen Die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht wird durch Einstufungspraktiken weiter ausdifferenziert. Hierbei machen sich Personen als ein bestimmter Typus „Mann“ oder „Frau“ kenntlich. So demonstrieren die meisten Männer sehr häufig ihre Trinkfestigkeit, z.B. durch Geschichten aus dem Urlaub oder durch Bierkästen im Büro. Vor allem in der Programmierung ist dies gängige Praxis. Sich als technikbegeistert zu zeigen, ist ebenfalls üblich unter den Männern der Internetagentur. Technik kann sich dabei als Auto, Computerspiel, Kicker oder auch Motorroller zeigen, an dem am Wochenende „rumgeschraubt“ wird. Für Frauen lassen sich vor allem Treue dem Partner gegenüber, Maßhalten hinsichtlich des Alkoholkonsums, sowie Ordentlichkeit rekonstruieren. Aber auch Weltoffenheit und Fremdsprachengewandtheit ließen sich ausmachen. Diese Einstufungspraktiken werden vor allem als Selbsteinstufungen praktiziert. Anders als dies z.B. bei den Einstufungspraktiken zu den Leistungen im Arbeitsprozess praktiziert wird, werden diese nicht innerhalb institutionalisierter Zusammenkünfte, wie dem „Meeting“ ausgehandelt, sondern in kleinen Gruppen von zwei, drei Personen. Dies erfolgt in der Regel durch die Beschreibung von Handlungssituationen. Im Gespräch mit zwei Texterinnen berichtet eine der beiden Frauen über ihre Erlebnisse beim Bauer Agency Cup und expliziert hier ihren Umgang mit Alkohol, wie der Auszug aus dem Forschungstagebuch verdeutlicht: „Die Unterbringung sei toll gewesen und es hat ihr viel Spaß gemacht, wobei sie immer wieder hinzufügt, dass sie nicht so viel getrunken habe. Mir scheint dies eher entschuldigend zu klingen, da sie auch betont (wie nebenbei) Party gemacht zu haben. Sie expliziert praktische Gründe, warum sie sich nicht ‚ganz abgeschossen‘ hat: Zugreise am Anfang, wo man anschließend ja noch zur Party wollte; auf der Party, wo man am nächsten Morgen früh auf dem Platz stehen musste, Samstagabend, wo man doch ziemlich kaputt war und am nächsten Morgen die Heimreise bewältigen musste. Klara kommt ihr zur Hilfe und bemerkt, dass sie auch nicht so viel
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6 Praktiken des Ordnens trinken könne. Ich pflichte beiden bei. Explizit nach peinlichen Geschichten gefragt, erfahre ich nur sehr zögerlich, dass eine Frau sich im Zug ins Waschbecken übergeben habe.“ (FT021)
Die Texterin verdeutlicht in ihrer Erzählung mehrfach, dass sie nicht viel getrunken hat. Sie macht sich als „maßvoll“ im Bezug auf Alkoholkonsum kenntlich. Dabei wird „maßvoll“ in einen Zusammenhang zur Einsatzfähigkeit, zur Leistungsfähigkeit gebracht. Ihre Kollegin erweitert diese Perspektive um eine grundsätzliche Komponente und führt die persönliche Disposition ein. Damit wird ein maßvoller Alkoholkonsum an eine persönliche Disposition gekoppelt. Das Beispiel der sich übergebenden Frau expliziert nun den Zusammenhang zwischen persönlicher Disposition und „Frau“ und eröffnet damit den drei an der Situation beteiligten Frauen die Grenzen des Angemessenen: angemessen ist für Frauen ein Maßhalten ihres Alkoholgenusses, da sie ihre körperliche Disposition in unangemessene Situationen bringen kann. Sich anderen Männern überordnen Bei der Überordnungspraktik, die unter Männern vollzogen wird, gilt es, sich gegenüber anderen Männern auszuzeichnen. Dies erfolgt vor allem über das Kickerspiel, in ad hoc Face-to-Face Situationen, aber auch durch die Aufwertung eines Mannes durch die verbalisierte Zuordnung zu einer ranghöheren Programmierweise. Das Kickerspiel stellt dabei einen zentralen Mobilisierungsanlass dar – als täglich wiederkehrender Wettbewerb. Durch die Digitalisierung der Ergebnisse auf der eigens eingerichteten Website werden der Wettbewerb und damit der Rang eines Spielers offensichtlich gemacht. Das Kickerspielen stellt eine klassische homosoziale Männergemeinschaft her, die von der Logik des Überordnens ebenso geprägt ist wie durch die Logik der Zugehörigkeit, die alle Mitglieder des Spiels vereint (vgl. Bourdieu 2005, Meuser 2009). Da die Überordnungspraktiken über Wettbewerb oder wettbewerbsähnliche Praktiken vollzogen werden, ist der erworbene Rang immer fragil (vgl. Meuser 2010). Es gilt, ihn zu verteidigen, ihn zu verbessern. Eine Niederlage bedeutet keinen Ausschluss vom Spiel oder eine Unterordnung, sondern eine momentan nicht geglückte Überordnung. Diese kann z.B. durch eine an das Kickerspiel anschließende Verfolgungsjagd über den Gang wieder glücken. In der Programmierung, einem Kollektivakteur, dem ausschließlich Männer angehören, wird der Wettbewerb auch durch das Demonstrieren von Trinkfestigkeit und Partyexzesse ausgetragen. Dies geht sogar soweit, dass Trinkfestigkeit ein zentrales Passungsmerkmal für die Programmierung darstellt, wie der folgende Auszug aus dem Interview mit der Abteilungsleiterin verdeutlicht:
6.3 Bereitstellungspraktiken angemessen ein Geschlecht zu haben
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„und äh…James (der Neuling – Anm. DL) und ich waren so die ersten…bei dieser Abschiedsfeier und er dann: Komm Jungs wir trinken noch einen. Ich geb’ noch mal ne Runde, jetzt machen wir noch mal Prost hier.’ Da haben wir genau den Richtigen gefunden (beide lachen)…also der war eher derjenige, der die anderen noch ein bisschen angespornt hat…herzlichen Glückwunsch…der totale Glücksgriff…den haben wir auf jeden Fall schnell integriert gehabt…das war echt ganz cool…siehste, da haben wir jemanden eingestellt und der passt 100%ig da rein…da hab ich zu Lars gesagt: Da haben wir den Richtigen gefunden.“ (T001)
Ferner bietet die Rangordnung zwischen „richtiger Programmierung“ und „Rumflashen“ ebenso einen Anlass, sich anderen überzuordnen. Das „richtige Programmieren“ wird in Termini körperlich-industrieller Arbeit beschrieben und an Maschinen innerhalb eines Produktionsprozesses vollzogen. Die körperlichindustrielle Arbeit ist männlich konnotiert und gilt als klassische Männerdomäne (vgl. Aulenbacher/Wetterer 2009). Wie bereits ausgeführt, wird die gestaltungslastige Programmierung hingegen zunehmend der Kreation zugeschrieben. Die Kreation mit ihren Tätigkeiten des Gestaltens, des „Schönmachens“, ist eine klassische Frauendomäne in der Werbebranche (vgl. Fröhlich 2008: 106). Über den Wechsel von der gestaltungslastigen Programmierung hin zur richtigen Programmierung erfährt der Programmierer eine Aufwertung. Im Interview mit dem Leiter der Programmierung führt dieser das Beispiel eines Flashprogrammierers an, der den Wechsel vom Gestalten in Flash hin zum Programmieren in Flash vollzogen hat und jetzt „richtig tolle Sachen machen kann“: „was ja auch immer dazu gehört ist der Flashbereich…auch wenn man den immer so’n bisschen vergisst (DL wirft lachend ein „Die Flasher“), weil der sehr gestaltungslastig ist…ähm…aber auch das…also eigentlich ändert sich das sogar sehr, sehr stark (…) Flash ist zu’ner…joah…fast vollwertigen Programmierumgebung geworden…ähm…du hast ne vollwertige Programmiersprache, die sehr an Java angelehnt ist (…) also kannst richtig tolle Sachen damit machen…ähm…deshalb ist ja der André irgendwann zu uns gekommen und hat gesagt „Ich würd’ mich eigentlich viel lieber mit dem Programmieren beschäftigen in Flash als mit dem Gestalten in Flash“…“ (TA002)
Die männliche grammatikalische Form voranstellen In der Internetagentur ist es gängige Praxis, die männliche grammatikalische Form anderen sprachlichen Ausdruckmöglichkeiten vorzuziehen. Dies betrifft Stellenausschreibungen ebenso wie Positionsbezeichnungen, E-Mail-Signaturen oder den Internetauftritt.48 Im Fokus stehen dabei vor allem die Positionsbe-
48 Es sei darauf hingewiesen, dass Stellenausschreibungen oder Unternehmensdarstellungen sich zwar in erster Linie nach „Außen“ (an die Öffentlichkeit außerhalb der Agentur) richten, aber im
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zeichnungen. Gerade bei Stellenausschreibungen würde man hier eine Bezeichnung erwarten, die beide Geschlechter gleichermaßen anspricht, da dies rechtlich vorgeschrieben ist. Die Internetagentur erfüllt die legitime Verordnung durch Anhängung eines „m/w“, für männlich/weiblich, an die Positionsbezeichnung. Diese Praxis ist auf den Einsatz von englischsprachigen Titeln zurückzuführen, wie ein Etat Director mir in einem Gespräch erläutert: dies sei wichtig, „da man viele internationale Kunden hat und die sind daran gewöhnt“ (FT022). Dies hat zur Folge, dass selbst deutsche Titelbezeichnungen in Stellenausschreibungen in diesem Sinne behandelt werden, wie bei einer Ausschreibung für die Beratung deutlich wird: „Kundenberater/Projektleiter (m/w). So sieht’s bei uns aus. Als Kundenberater oder Projektleiter führen Sie verantwortlich ein bis zwei Juniorberater. [...] Sie sind täglicher Ansprechpartner für New Media Manager, ITVerantwortliche, Marketing- und Vertriebsentscheider. Innerhalb des Teams, bestehend aus 6 bis 20 Projektmanagern, Mediaplanern, Textern, Redakteuren, Designern und Entwicklern übernehmen Sie die Projektleitung und realisieren zusammen mit dem Team die Strategie, das Detailkonzept und stellen die geforderte Qualität unter Einhaltung der Kosten- und Zeitfaktoren sicher.“ (DM036)
Der Auszug zeigt weiterhin, dass die männliche grammatikalische Form im gesamten Text exklusiv eingesetzt wird. In der Sprechpraxis englischsprachiger Titel ist zu beobachten, dass diese deutsch ausgesprochen werden und so aus einem „geschlechtsneutralen“ Titel des „art director“ die eindeutig männliche grammatikalische Sprechform des „Art Direktors“ wird. Die Verwendung der weiblichen grammatikalischen Form wäre im täglichen Sprechen damit jederzeit möglich, wird aber nicht praktiziert. Eine Analyse von E-Mailsignaturen zeigt, dass bei der Verwendung einer Positionsbezeichnung 67 Prozent die männliche grammatikalische Form nutzen, 19 Prozent die weibliche und 15 Prozent eine geschlechtsneutrale.49 Aufschlussreich ist dies auch hinsichtlich jener Positionen, die mit der weiblichen grammatikalischen Form bezeichnet werden: hierbei handelt es sich um Assistentinnen der Geschäftsführung und eine Junior Texterin. Die neutrale Form wird von den Serviceabteilungen der Agentur genutzt, wie der Rechnungs- oder Personalabteilung.
„Innen“ geplant, erarbeitet, freigegeben und schließlich auch von den Beschäftigten in den Medien wahrgenommen und gelesen werden. 49 Absolute Zahlen: N = 80, davon mit Signatur n = 37 (46%) und mit Positionsbezeichnung n = 27 (34%). Unter die männliche grammatikalische Form sind gemäß der gängigen Praxis die englischsprachigen Bezeichnungen inkludiert.
6.3 Bereitstellungspraktiken angemessen ein Geschlecht zu haben
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Den geschlechtlichen Platz auferlegen Bei der Auferlegungspraktik unterliegen Personen dem Zwang, sich der AkteursPosition „Frau“ oder „Mann“ zuzuordnen, bzw. sie werden direkt einer Position durch eine andere Person zugeschlagen. Die Positionen „Frau“ und „Mann“ werden im Vollzug dieser Praktik eindeutig hierarchisch strukturiert, wobei das Zuschlagen zu einer Position mit einer Zuweisung zu einem hierarchischen Platz verbunden ist. Der „Frau“ stehen dabei marginalisierte Positionen zu. Besonders aufschlussreich waren die Praktiken rund um den Bauer Agency Cup, hier vor allem die Trennung in Fußballspieler und Cheerleader, die geschlechtsexklusiv vollzogen wird. Im Jahr des Feldaufenthaltes waren die Fußballspieler als Polizisten und die Cheerleader als Politessen verkleidet. Cheerleader sind keine aktiven Feldsportlerinnen, sondern für die Unterstützung der Sportler zuständig. Politessen sind keine Polizistinnen, sondern stehen im beruflichen Gefüge unter der Polizei. Die Auferlegungspraxis von beruflicher Position und Geschlecht wird auch im Arbeitsalltag des Agenturennetzwerks vollzogen. Die Position der Assistentin der Geschäftsführung wird ebenso geschlechtsexklusiv vollzogen, wie jene des Geschäftsführers. Unterstützende Tätigkeitsfelder, wie Eindecken des Konferenzraumes oder der Empfang, werden ausschließlich durch Frauen besetzt und Führungsaufgaben vor allem durch Männer. Es zeigt sich eine als traditionell bezeichenbare Segregation des Arbeitsfeldes (vgl. u.a. Allmendinger/Podsiadlowski 2001). Auch nicht-menschliche Partizipanden können einen geschlechtlichen Platz erhalten, wie die beiden Handlungssituationen aufzeigen: „Sascha kommt ins Büro und teilt mit, dass er ein paar elektronische Aufträge zu Bearbeitung freigegeben hat. Er wendet sich an mich und führt aus, dass auch zwei Aufträge für mich dabei seien. Ich bekomme etwas Panik, ob ich das wirklich erledigen könne und bemerke, dass ich ja nicht programmieren kann. „Das sind Mädchen-Aufträge“ beruhigt er mich.“ (FT016) „Ich bekomme von einer Mitarbeiterin (auf einer Abschiedsfeier – Anm. DL) einen Platz angeboten. Darüber freue ich mich sehr, da sich bis dato keiner an mich gewandt hat. Sie deutet auf ihr Bier „Mädchen-Bier“ und ich mache eine Bemerkung, dass mir das Bier auch etwas zu mild ist.“ (FT008)
Ein Bier und ein elektronischer Auftrag werden der geschlechtlichen Position „Mädchen“ zugeschlagen. Es wird vorausgesetzt, dass mir die Kategorie selbstverständlich geläufig ist, denn keiner der Akteure macht sich die Mühe, dies weiter auszuführen. Partizipanden, die „Mädchen“ werden, zeigen sich in ihrer harmlosen, milden Form.
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6 Praktiken des Ordnens
Zusammenfassung Das Soziale in der untersuchten Internetagentur wird bedeutend durch Geschlechterpraktiken geordnet. Diese reichen vom Sprachgebrauch über die Kleidung bis hin zu separierten geschlechtlichen Positionen und zeigen sich als Homogenisierungen (vgl. Bruchhagen/Höher/Koall 2002): Übergänge zwischen den Geschlechtern, z.B. durch die beiden weiblichen Führungspersonen, sind kulturell bedeutungslos. Demgegenüber finden wir Dramatisierungen von Weiblichkeit und Männlichkeit, die an traditionelle Vorstellungen anknüpfen (vgl. Goffman 1994). Dabei sind Dramatisierungen des weiblichen Geschlechts vor allem auf das jährlich stattfindende Fußballtunier beschränkt, während das Inszenieren einer „traditionellen“50 Männlichkeit in den Arbeitsalltag eingelassen ist. Diese Asymmetrie zwischen den beiden Geschlechtern setzt sich in einer beständig praktizierten Bevorzugung des „Männlichen“ und einer Unterordnung des „Weiblichen“ fort. Überspitzt formuliert lässt sich konstatieren, dass eine „konkurrenzfähige Weiblichkeit“, die eine Herausforderung für die Männer der Agentur darstellt (vgl. Priddat 2004), nicht stattfindet. In der homosozialen Dimension zwischen Männern lassen sich „Refugien“, beobachten, in denen Männer geschlechtsexklusiv Praktiken des doing masculinity vollziehen. Die „ernsten Spiele des Wettbewerbs“51 (Bourdieu 1997: 203; 2005) sind hierbei auch Spiele im eigentlichen Sinne: Kicker-Spiele, SaufSpiele, Computer-Spiele. Hierfür stehen den Männern der Agentur angemessene Räume zur Verfügung. Mit dem Begriff des „homosozialen Raumes“ kommt die Doppeldeutigkeit von Raum zum Tragen: einmal im Sinne eines Ortes, indem sich die Männer der Internetagentur exklusiv aufhalten und des Weiteren als sozialer Raum, als Bereich des Sozialen mit seinen Positionen, Entfernungen und Abständen, wie zwischen den siegenden und den unterlegenen Männern beim Kickerspiel (vgl. Meuser 2009). Doch es ist nicht allein der „Kickerraum“, der dabei von Bedeutung ist, wie sich im Folgenden zeigen wird.
50 „Traditionell“ verweist auf das industriegesellschaftliche Männlichkeitskonstrukt (vgl. Meuser 2007). 51 Im Aufsatz „Die Männliche Herrschaft“ entwickelt Bourdieu das Konzept der „ernsten Spiele des Wettbewerbs“, demnach der Mann dazu erzogen wird diejenigen gesellschaftlichen „Spiele“ und Einsätze anzuerkennen und zu lieben, bei denen es um Herrschaft geht. Ein solches Spiel „par excellence“, wie Bourdieu betont, ist der Krieg (Bourdieu 1997: 196). Die relevanten Spiele und Einsätze eignen sich Männer in den ihnen vorbehaltenen sozialen Räumen an; von diesen Spielen „rechtlich oder faktisch ausgeschlossen“ sind Frauen (ebd.: 203).
6.4 Bereitstellungspraktiken angemessener Orte und Räume
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6.4 Bereitstellungspraktiken angemessener Orte und Räume Nicht erst seit der Ethnomethodologie, vor allem aber seit den Arbeiten Erving Goffmans kommt dem Interaktions-Raum eine zentrale Bedeutung zu. Neu hingegen ist das Verständnis, dass dieser Raum kein „Behälter“ oder „Container“ für Interaktionen ist, sondern dass auch Räume sozial gemacht sind und damit spezifische „Spacingleistungen“ erbracht werden müssen (vgl. Löw 2001), Leistungen, den Raum zu ordnen und zu organisieren, Menschen und Güter zu platzieren. Raum wird dann im Sinne eines sozialen Relationsraumes verstanden. Dies gilt auch für die Ordnung in der Internetagentur. In den Blick kommen dabei vor allem architektonische Besonderheiten, die spezifische Praktiken ermöglichen, die wiederum spezifische Relationen und Positionierungen zwischen Akteuren eröffnen. Berater-, Programmierer-, Kreationsgang Zunächst lässt sich ein Aufteilen des örtlichen Raumes in Zugehörigkeitskategorien feststellen, die die Kollektivakteure der Agentur mit konstruieren. Dies materialisiert sich in der Zuordnung von um Flure angeordnete Büroräume, die vornehmlich von den jeweiligen Kollektivakteuren besetzt sind und auch sprachlich zugeordnet werden: der Beratergang, der Kreationsgang und der Programmierergang. Obwohl auch eine andere Zuordnung denkbar wäre, macht die Aufteilung nach Beratung, Kreation und Programmierung für das Feld mehr Sinn. In der Praxis der Raumplanung und -belegung wird viel Zeit auf die Durchsetzung dieses Sinns gelegt. Die folgende Situation beschreibt die Abteilungsleiterin. Sie erhält von der Geschäftsführung der lokalen Netzwerkagentur den Auftrag, einen Raumbelegungsplan für eine neue Etage zu erstellen: „…oder plötzlich kriegste einen anderen Gang (bei der Raumplanung zugeteilt – Anm. DL)…ne du kriegst jetzt nicht den A- und C-Gang, sondern den…den B- und C-Gang und bei B ist dann schon wieder irgendwie ein Raum mehr oder weniger…weil da kein Konferenzraum ist…ne und dann fängst du wieder von vorne an und planst dann hin und her und dann geht das schon wieder nicht auf…und dann musst du einen Berater in den Kreationsgang setzen…das macht auch keinen Sinn, ja…“ (TI001)
In dem beschriebenen Fall sieht sich die Abteilungsleiterin mit der Aufgabe konfrontiert, ihre Beschäftigten zwei Gängen zuzuordnen. Die Gänge verfügen über eine bestimmte Anzahl von Büroräumen, die je nach Gang schwanken kann. Die Schwierigkeit besteht nun darin, die Personen den Büroräumen so zuzuordnen, dass auf den Gängen möglichst keine Berater mit Kreativen oder
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6 Praktiken des Ordnens
Programmierern zusammensitzen. Das mache keinen Sinn, führt die Abteilungsleiterin aus. Wieso dies keinen Sinn macht, wird nicht erläutert, die Antwort scheint selbstverständlich. Die Zuordnung von Personen zu den kollektiven Akteuren ist nicht nur in der Internetagentur gängige Praxis, sondern auch in den anderen Agenturen unter dem lokalen Agenturendach. Hervorzuheben ist, dass dabei die Zuordnung zu dem Kollektivakteur bedeutsamer ist als diejenige zu einem Unternehmensteil. Deutlich wird dies im Zusammenhang mit den üblichen Umzügen. Umzüge durch das Gebäude gehören zum Alltag der Internetagentur und der anderen Agenturteile. Nahezu alle 12 bis 24 Monate steht ein räumlicher Wechsel an, bei dem durch die neue Zuordnung Unternehmensteile miteinander vermischt werden und eine Integration der Personen erwartet wird. Die „Vermischung“ findet allerdings nur zwischen Beschäftigten der unterschiedlichen Unternehmensteile statt und nicht zwischen der Beratung, Kreation und Programmierung. Mit den häufigen Umzügen beständen zahlreiche Möglichkeiten, auch eine Vermischung der Kollektivakteure zu vollziehen. Dies wird nie in Erwägung gezogen oder bei der Raumverteilung praktiziert. Bemerkenswert ist dies umso mehr, da die Umzüge jeweils zu einer Umstrukturierung des Agenturendachs genutzt werden: Die Geschäftsführung verfolgt unternehmerische Ziele mit der Raumverteilung, erprobt diese und justiert sie bei der nächsten Gelegenheit neu. Eine der Logik der Kollektivakteure widersprechende Raumbelegungspraxis erscheint von außen betrachtet nicht sehr risikoreich, da sie schnell wieder revidiert werden könnte. Denkbar wäre die Zusammensetzung nach Projektteams oder nach Kundenteams, wie sie in anderen Branchen üblich ist. Sinn macht für das Feld allerdings allein die Raumbelegungspraxis nach der Zuordnung zu den Kollektivakteuren. Einem Büronachbarn zugeordnet werden Neben der Zugehörigkeit zu einem der kollektiven Akteure ist das Zu-EinemBüronachbarn-Zugeordnet-Werden eine gängige Praxis in der Internetagentur. Zunächst wird die Bürogemeinschaft räumlich hergestellt, durch das Zuordnen einer neuen Mitarbeiterin oder eines neuen Mitarbeiters in einen Büroraum. In diesem sitzt in der Regel bereits eine andere Person, welche zur gleichen Tätigkeitsgruppe gehört wie z.B. zur Beratung. Von der Abteilungsleitung werden bei der Neuinitialisierung von Büronachbarschaften funktionale Kriterien angeführt, die eine Rolle spielen: Für die Beratung gelte, dass die Beschäftigten für den gleichen Kunden arbeiten, für Programmierung und Kreation, dass sie in dem gleichen Tätigkeitsfeld aktiv sind, wie z.B. Text oder Flashprogrammierung. Über die Büronachbarin oder den Büronachbarn findet die Integration in die
6.4 Bereitstellungspraktiken angemessener Orte und Räume
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Internetagentur statt. Es wird über gängige Praktiken, Personen und Abläufe informiert. Existiert in der Bürogemeinschaft ein hierarchisches Gefälle, was häufig der Fall ist, so obliegt dem Büronachbarn oder der Büronachbarin auch die Organisation und Kontrolle der Arbeit des Neuen. Weite Strecken der Arbeitszeit verbringen die Personen zusammen im Büro. Durch die Teilhabe an vertrauensvollen Informationen und Beziehungen mit anderen Beschäftigten wird ein Vertrauensverhältnis hergestellt, welches zunehmend auch durch private Gesprächsinhalte, gemeinsame Mittagspausen oder Freizeitaktivitäten intensiviert wird. Im Feld gilt: Funktionierende Bürogemeinschaften sind zentral für funktionierende Arbeitsabläufe. Damit können Büronachbarschaften auch weiter existieren, wenn die ursprünglich einmal funktionalen Kriterien für die Gemeinschaft nicht mehr bestehen, wie auch die Ausführungen der Abteilungsleiterin zeigen. Es werden einige Beispiele von Bürogemeinschaften beschrieben. Sie zeigt auf, warum man sie initiiert hat und wie schwer es für sie als Abteilungsleiterin ist, diese Gemeinschaft wieder zu trennen: „Manchmal…ich mein…ja…so Philipp und Michael saßen halt lange Zeit zusammen, weil die halt früher mal auf einem Kunden gearbeitet haben und wenn es dann nicht unbedingt sein muss, setzt du die Kund(…) äh die Leute auch nicht auseinander. Also wir hatten das lange Zeit so, dass…äh…Sascha und Miriam halt zusammen saßen, weil die vorher (Kundenname) zusammen gemacht haben und Philipp und Michael zusammen saßen weil die früher auf (Kundenname) und anderen Kunden halt zusammengearbeitet haben. Und die wollten halt gerne zusammensitzen und solange das irgendwie funktioniert, haben wir das auch so gelassen…ähm…und irgendwann hat Thomas irgendwann gesagt: „na es würde irgendwie Sinn machen, wenn Sascha und Michael halt zusammensitzen würden…ähm…weil die sich auf (Kundenname) besser austauschen sollen, „da laufen halt die Informationen nicht, setz halt die beiden zusammen.“ Das fanden Michael und Philipp am Anfang nicht so lustig, weil die sich irgendwie aneinander gewöhnt hatten. Aber das ging dann irgendwann auch…und dann…tauscht man das eben ein bisschen…bisschen durch. Also eigentlich…sowohl dass man…dass die Leute a) zufrieden sind mit ihrem gegenüber…denn das bringt jetzt auch nichts zwei gegenüber zu setzen, die irgendwie nicht miteinander können…ähm…und dann halt auch, dass die Projekte halt…ähm ganz günstig laufen.[...] Ja…wie gesagt…manchmal ist es auch eher zufällig…also Miriam z.B. hat als Praktikantin bei uns angefangen…und saß halt irgendwann bei Petra…so…und dann haben die beiden sich halt gut verstanden…die haben zwar jetzt auch keinen…kein gemeinsames Projekt, was die zusammen machen…ähm…pfff…aber da die irgendwie sich gegenseitig aufbauen und pushen und keine Ahnung was machen und halt gesagt haben…jedes Mal wenn ich einen Umzug plane: (heulende Stimme nachmachend) „Wir wollen aber zusammen sitzen“ (beide lachen)…und dann irgendwie…da praktisch nichts dagegen spricht, dass die nicht zusammensitzen sollten…warum soll ich die dann auseinandersetzen…da irgendwie hinzugehen und: „jetzt mischen wir aber mal kunterbunt“ (beide lachen) ist auch nicht so mein Ding.“ (TI002)
Die Abteilungsleiterin expliziert, dass die Stiftung von Bürogemeinschaften als erstes danach entschieden wird, ob „die Leute a) zufrieden sind mit ihrem gegenüber…denn das bringt jetzt auch nichts zwei gegenüber zu setzen, die irgendwie nicht miteinander können“. Die Zufriedenheit der Bürogemeinschaft
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6 Praktiken des Ordnens
zeigt sich in dem beschriebenen Fall von Miriam und Petra auch darin, dass sie sich „irgendwie (…) gegenseitig aufbauen und pushen“. Erst als zweites Kriterium wird angeführt, „dass die Projekte halt…ähm ganz günstig laufen“. Wenn dies nicht mehr der Fall ist, wie z.B., dass auf einem Kunden „die Informationen nicht laufen“, dann werden Bürogemeinschaften von der Abteilungsleitung wieder aufgelöst. Die Beschreibungen der Reaktion auf eine (drohende) Auflösung erinnert sehr an Szenen aus der Schulzeit: Philipp und Michael fanden das gar nicht lustig, Petra und Miriam „heulen“: „Wir wollen aber zusammen sitzen“. Die Ausgestaltung der Raumbelegung obliegt der Abteilungsleiterin. Den Mitarbeitern bleibt die Hoffnung, zusammensitzen zu dürfen. Geschlechterordnende Raumbesetzungen gestalten Die Raumbelegung zeigt sich demnach mehr als ausgehandelte Raumbesetzung, denn als planerische Belegung. Dieser Zusammenhang wird bedeutungsvoller, wenn man hinzuzieht, dass eine gleichgeschlechtliche Besetzung von Büroräumen zu einem großen Teil die Regel ist, wie die Auswertung von Raumbelegungsplänen zeigt. Nur ca. 21 Prozent aller Arbeitenden teilen ihr Büro mit einem andersgeschlechtlichen Nachbarn.52 Damit sind Frauen und Männer räumlich und auch zeitlich im Arbeitsalltag zumeist separiert. Und es kann davon ausgegangen werden, dass diese Separierung nicht nur durch planvolle Zusammensetzung, sondern auch in Aushandlungsprozessen zwischen Leitung und Beschäftigten erfolgt. Vor dem Hintergrund, dass die Büronachbarschaft ein zentraler Ort der Aneignung und Aushandlung von relevanten Praktiken ist, lässt sich konstatieren, dass Männer und Frauen zumeist an anderen Aushandlungsprozessen beteiligt sind und damit auch unterschiedliche Wissensbestände mit in den Vollzug einbringen. Zudem können die männlichen Bürogemeinschaften – 11 Männer sind „unter sich“ – zu „Austragungsorte“ der „ernsten Spiele des Wettbewerbs“ (vgl. Bourdieu 1997: 203; 2005) werden, Orten, an denen Männlichkeit ausgehandelt und demonstriert wird. Bei den Praktiken der Raumbesetzung wird zudem ein hierarchisches Merkmal zur Bedeutung gebracht: Personen mit Führungsaufgaben erhalten ein Einzelbüro, welches von der Größe dem eines Zweipersonenbüros gleicht und ein sichtbares Zeichen ihrer Privilegierung ist. Dies wird auch durch die Ausstattung des Büros unterstrichen. Damit kann das Büro jederzeit mobilisiert werden, um die eigene hierarchische Position in der Internetagentur zu zeigen oder als 52 N=33, Gruppenbüros: nur Frauen n=4, nur Männer n=11, Gemischt n=7; Einzelbüros: Frauen n=2, Männer n=9
6.5 Kooperationspraktiken
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Führungsperson erkannt zu werden. Es zeigt sich, dass von allen Beschäftigten neun Männer und nur zwei Frauen über den potenziellen Mobilisierungspunkt eines Einzelbüros verfügen. Hierbei ist praxistheoretisch unbedeutend, ob die Personen realiter Führungspersonen sind, sondern lediglich, ob sie im Mobilisierungspunkt „Einzelbüro“, der eine Position im sozialen Raum anzeigt, arbeiten. Zusammenfassung Schon Peter Berger und Thomas Luckmann haben der räumlichen Strukturierung der Alltagswelt einen Platz eingeräumt, allerdings einen, der für ihre Überlegungen „ziemlich nebensächlich“ ist, wie sie ausführen (Berger/Luckmann 1997: 29). In der untersuchten Agentur hingegen ist der Raum in vielerlei Hinsicht ein bedeutungsvoller Mobilisierungspunkt für soziale Ordnung. Zunächst lässt sich eine Umgrenzung des soziale Raums in der Internetagentur feststellen: es werden drei Gänge auf einem Flur in einem Gebäude bewohnt. Diese Gänge sind den Kollektivakteuren Beratung, Kreation und Programmierung – auch verbal – zugeordnet. Die Aufteilung der von den Gängen abgehenden Büroräume erfolgt durch einen komplexen Aushandlungsprozess, der seinen Ausgang in einer planerischen Raumbelegung nimmt. Notwendig wird dies auch durch ständige Umzüge, die die bestehende örtliche Ordnung herausfordern. Dabei zeigt sich vor allem eine Zuordnung von Personen zu Büroräumen, die entlang der Kollektivakteure praktiziert wird. Hinzu tritt das Geschlecht, so dass sich verstärkt gleichgeschlechtliche Räume ergeben. Ebenfalls an Orte gebunden werden hierarchische Positionen durch eine Privilegierung von Einzelbüros. Mit der Aufteilung des Raumes werden so soziale Positionen vergeben bzw. angezeigt und es wird eine Separierung nach Geschlecht sowie nach Kollektivakteuren vollzogen. 6.5 Kooperationspraktiken Das Zusammenarbeiten in der Internetagentur erscheint vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen eine unsichere Angelegenheit zu sein. Ordnung wird vor allem durch Separierung, Grenzziehung und Mobilisierung von Differenzen gewährleistet. In der Agentur sind allerdings auch Praktiken rekonstruierbar, die einen angemessenen Rahmen für Kooperationen „bereitstellen“. Damit das Zusammenwirken verschiedener menschlicher und nicht-menschlicher Partizipanden sich reibungslos vollziehen kann, müssen Operationen aufeinander abge-
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6 Praktiken des Ordnens
stimmt werden. Ko-Operation setzt damit auch das Einpassen bzw. das Passendmachen in den Arbeitsfluss voraus. Dieser „Arbeitsfluss“ oder Arbeitsprozess wird für die Beteiligten als Zeitspanne relevant gemacht. Man könnte auch von einer Zeit-Schnur sprechen, auf der sich die einzelnen Schritte wie Perlen aufgereiht darstellen. Der kooperative Charakter der Arbeit zeigt sich als Aushandlungsprozess. Ziel der Aushandlung ist es, einzelne Arbeitsschritte aus dem Prozess an eine Kollegin oder einen Kollektivakteur zur Bearbeitung auszulagern. Der bearbeitete Arbeitsschritt bzw. das Ergebnis wird dann wieder in den Ursprungsarbeitsprozess re-integriert. Eine Linearität der Arbeit wird erzeugt und die komplexe Struktur von parallel laufenden Prozessen wird zu einem linearen „Originalprozess“ und seinen Ablegern. In der Ko-Operation wird so die Grenzziehungen, z.B. zwischen den Kollektivakteuren, genutzt, um den Verlauf zu gewährleisten. Abläufe einschätzen Zentral für die Realisierung von kooperativen Arbeitsprozessen ist die Praktik des Einschätzens: Sie expliziert Ordnungsleistungen. Einschätzungen werden verbal geäußert und mit anderen gemeinsam abgewogen. Die Angemessenheit steht unmittelbar zur Diskussion. Im Feld sehr häufig zu beobachten sind Zeiteinschätzungen, die sich auf die Arbeitsorganisation beziehen. Hierzu zählen vor allem ad-hoc-Fragen nach „Haste mal ne Minute“ oder „Bis wann brauchst du das“. Die angefragte Zeit wird mit dem eigenen Arbeitsverlauf abgestimmt und auf seine Angemessenheit hin überprüft. „Sandra kommt vorbei und hat einen Job für Philipp: er soll den Strukturbaum einer Internetseite im Programm Visio (für ein Neukundengespräch - Anm. DL) erstellen. Philipp fragt bis wann das fertig sein soll. ‚Bis spätestens Montag‘. Philipp signalisiert Erstaunen, dass er soviel Zeit hat: ‚Na das sollte ich schaffen‘ (ironisch). Sandra fügt hinzu: ‚Ich sag mal: vor Montag wäre super und nach Montag wäre schlecht!‘“ (FT008)
Dies ist eine typische Situation im Arbeitsalltag der Internetagentur: Jemand kommt ins Büro, stellt sehr kurz und knapp seine Arbeitsanfrage, und der Kollege bittet um eine Einschätzung des Zeitrahmens. Gegebenenfalls wird dieser noch diskutiert. Ob eine Anfrage bearbeitet werden kann oder nicht, bemisst sich am veranschlagten Zeitrahmen. Das Einschätzen von Leistungen anderer gehört ebenso zur relevanten Praktik des Einschätzens von Abläufen. Die Leistung wird hinsichtlich der Angemessenheit für den Arbeitsfluss thematisiert und die Einschätzung vor allem im „Meeting“ praktiziert, wo der Einsatz von Personen für bestimmte Tätigkeiten
6.5 Kooperationspraktiken
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zur Disposition steht. Die Einschätzung findet sehr sachlich und unaufgeregt statt. Im Zentrum der Betrachtungen steht der Projektfluss: „Die Bedenken gegenüber ‚Neuen‘ verdichten sich diesmal (im Meeting – Anm. DL). Das Problem scheint zum einen in mangelnden Kenntnissen und zum anderen im Nichteinhalten von Zeitvorgaben zu liegen. Eine Beraterin schildert, dass sie in einem ersten Gespräch mit einem ‚Neuen‘ Rückfragen bekam, die auf mangelnde Kenntnisse schließen lassen‚[...] da war ich schon irritiert‘. Der zuständige Leiter Lars sieht das Problem bei dieser Person eher in der mangelnden Fähigkeit, Zeitbudgets einzuhalten.“ (FT010)
Die Beraterin stellt durch die Beschreibung einer Gesprächssituation mit einem Neuen dessen Leistungen zur gemeinsamen Einschätzung. Dies wurde ihren Ausführungen nach notwendig, da die Rückfragen des Neuen sie irritiert haben. Die Reaktion des Neuen war demnach nicht angemessen und hat den Handlungsfluss gestört. Eine Reflexion der Situation wird nötig und gemeinschaftlich vollzogen. Die Beraterin schätzt als Ursache des unangemessenen Handelns mangelnde Kenntnisse ein, der für den Neuen zuständige Leiter hingegen die „mangelnde Fähigkeit, Zeitbudgets einzuhalten“. Nach dieser sehr kurzen Erörterung ist die Einschätzung abgeschlossen. Kennzeichnend für den Alltag in der Internetagentur ist die Verwobenheit zwischen digitalen und nichtdigitalen Arbeitsschritten. Es ist viel Erfahrungswissen notwendig, um jeweils die richtige Form für den nächsten Schritt zu wählen. Auch diese Einschätzungspraktik, wie die der Einschätzung von Leistungen anderer, wird vor allem durch den Zeitfaktor begrenzt, welche Form schneller zur Erledigung und damit zur Einleitung des folgenden Arbeitschritts führt. „Ich frage nach, ob ich nicht einmal zu Sascha gehen solle, um die offene Frage zu klären. Katja lehnt dies ab. Sie wolle zu einem Programmierer gehen oder noch mal im Internet schauen. Klara empfiehlt ihr, nicht im Internet „stundenlang rumzusuchen“, sondern sich direkt an jemanden aus der Technik zu wenden. Sie schlägt da Lars vor.“ (FT015)
Die beschriebene Szene findet in der Kreation statt. Ein Text-Trainee (Katja) wird von der Büronachbarin (Klara) in einer offenen Entscheidungsfrage über den Rahmen des Angemessenen informiert. Sie erläutert, dass es besser ist, den persönlichen Kontakt zu suchen als „stundenlang“ im Internet zu recherchieren. Die Suche im Internet ist zu Klärung offener Frage nur solange angemessen, wie es in einem überschaubaren Zeitrahmen stattfindet. Der Möglichkeitshorizont wird von der Büronachbarin aufgezeigt. Neben dem zeitlichen Horizont geht auch die Frage nach den generellen Nutzungsmöglichkeiten – das Wissen darüber, welcher Akteur welche Technik nutzen kann – in die Einschätzungspraktik ein. Die Zuordnung der Technik zu den Kollektivakteuren, wie der Software und den Servern, beschränkt deren Handlungsmöglichkeiten, da der Zugang und die
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6 Praktiken des Ordnens
Auswahl der Technik limitiert werden. Und auch das technische Verständnis, im Sinne einer Umgangsfähigkeit, ist unterschiedlich verteilt. Dies zeigt sich vor allem in verschränkten Arbeitsprozessen mit „der Klassik“. So können selbstverständliche Kommunikationspraktiken innerhalb der Internetagentur nicht als selbstverständlich in der Kommunikation mit „der Klassik“ vorausgesetzt werden. Im Interview verdeutlicht der Leiter der Programmierung dies anhand der Kalenderfunktion der Kommunikationssoftware: „Das ist einfach…die Arbeitsweise…also wir arbeiten schon immer mit Kalendern und Terminen und so (in der Kommunikationssoftware – Anm. DL)…es gibt andere, die machen das einfach nicht…also…die haben ihr Büchlein und arbeiten damit und gut ist (…) Ja…das macht’s halt aufwendiger, ne…also…wenn du halt nen…irgend’nen Termin hier mit drei Leuten hier von der Internetagentur machst…ähm…dann guckst du halt nach…hat der Zeit …taktaktak…ok, schick’ ich dem nen Termin…ähm…wenn du einen Termin mit drei Leuten von oben…sag’ ich jetzt mal…machen willst…dann telefonierst du sicherlich ne viertel Stunde durch die Gegend „wann hast du denn Zeit?“ „wann hast du denn Zeit?“ „Ja, ach ne da kann der andere nicht, wart’ mal ich ruf den anderen noch mal an“…bis du dann die Termine abgeglichen hast…das ist halt der negative Effekt dabei…“ (TA002)
Vielfältiges Wissen entfaltet sich: über die Nicht-Nutzung der Kalenderfunktion durch die „von oben“, über die Alternative des Telefons zur Abstimmung, über einzuplanende Zeitspannen bei der Terminfindung, Aufwände in Form geblockter Kapazitäten und darüber, dass die unterschiedlichen Terminfindungspraktiken unhintergehbare Tatsachen sind, denn die Internetagentur nutzt die digitale Variante untereinander weiter und „die Klassik“, „die machen das einfach nicht …also…die haben ihr Büchlein und arbeiten damit und gut ist“, wie der Leiter ausführt. Für Arbeitsschritte passend machen Zu einem wesentlichen Teil des Arbeitsalltags in der Internetagentur gehört das „Passend-Machen“ von digitalen und nichtdigitalen Inhalten. Es handelt sich um eine Standardisierung und Einpassung der Inhalte in die Arbeitsschritte, um den weiteren Verlauf des Projektes zu gewährleisten. Zunächst lässt sich dazu die Umwandlung digitaler Formen in nichtdigitale zählen. Diese Standardisierung zielt in der Regel auf eine bessere Vermittelbarkeit ab. Informationen müssen „kommuniziert“ werden, und die digitale Form ist hierfür nicht oder weniger geeignet. Besser vermittelbar scheint die nichtdigitale Form auch, weil die mit ihr verbundenen Praktiken noch aus einer Zeit stammen, in der digitale Formen nicht existent bzw. ein Randphänomen waren. Die Praktiken haben sich lediglich leicht modifiziert, ihre innere Geregeltheit bleibt aber weitestgehend erhalten.
6.5 Kooperationspraktiken
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Die Vorbereitung zur weiteren Bearbeitung lässt sich dazu zählen. Hier werden Kundenmails ausgedruckt und mit Post-its versehen, auf denen Handlungsanweisungen handschriftlich vermerkt sind, oder Ausdrucke von Layouts werden mit handschriftlichen Anmerkungen beschriftet. Die Kontrolle von Arbeiten findet ebenfalls anhand von Ausdrucken statt. Die Normalisierung digitaler Inhalte ist dabei eng verwoben mit der Wiederdigitalisierung, denn die Verarbeitung der handschriftlichen Notizen erfolgt wiederum digital. Sehr häufig zu beobachten ist eine Weiterverarbeitung in einem anderen Programm, wie die folgende Situation beschreibt. Zur Präsentation vor dem Kunden soll die Struktur einer Internetseite abgebildet werden. Diese wird zunächst handschriftlich erarbeitet, in einem Darstellungsprogramm wieder digitalisiert, um dann als Ausdruck vor dem Kunden präsentiert zu werden. Änderungen werden in diesem Prozess jeweils handschriftlich an Ausdrucken vorgenommen und besprochen: „Sandra kommt vorbei und hat einen Job für Philipp: er soll eine Strukturbaum einer Internetseite im Programm Visio erstellen. [...] Philipp holt sich ein großes Blatt und einen Bleistift. Ich scherze: „Und Du malst nun ein bisschen“. Philipp erläutert, dass er das auch direkt elektronisch machen könnte, er aber lieber erst mal auf dem Papier arbeitet. Auf dem großen DIN A3 Blatt werden nun Kästchen (Menüpunkte) aufgezeichnet und durch Pfeile mit Untermenüpunkten verbunden. Die Namen der Menüpunkte werden auch notiert.“ (FT008) „Bereits beim Eintreffen im Büro informiert mich Philipp, dass er mich bittet, die erstellte Struktur von ihm nachzuprüfen. Er erläutert mir den Weg zu den entsprechenden Internetseiten und die Symbole seines Strukturplanes, der aus zahlreichen aneinander geklebten Ausdrucken aus Visio besteht. Ich beginne zu prüfen und notiere meine Anmerkungen handschriftlich in den riesigen Strukturplan. Nach einiger Zeit schaut Philipp rüber und fragt nach der einen oder anderen Notiz und ich erläutere diese.“ (FT010)
Das In-die-Form-Bringen von Kundenwünschen dient ebenfalls der Einpassung in die nächsten Arbeitsschritte. Dieses zeigt sich vor allem als Definieren und Strukturieren entlang der Standards der jeweiligen Software. Es werden Bearbeitungs-, Kontroll- sowie Freigabeinstanzen definiert: ein Workflow entsteht, der sich an der jeweils eingesetzten Software orientiert. Besonders in der Programmierung ist das Arbeitshandeln an die Technik angepasst. Jeder Arbeitsschritt muss mit einer Software durchgeführt werden, die durch ihre Funktionsweise die Nutzung vordefiniert. Besonders aufschlussreich zeigt sich dies anhand der Bearbeitung von elektronischen Aufträgen für die Durchführung von Änderungen im Internetsystem eines Kunden der Internetagentur. Der Auszug aus dem Forschungstagebuch beschreibt die Bearbeitungsinstanz in diesem Arbeitsprozess: „Nach einer Weile kommt Max auf mich zu und erläutert, wie ich die elektronischen Aufträge bearbeiten soll. [...] Er sendet mir zwei Mails jeweils mit einer Powerpointfolie (Screenshot mit Anmerkungen über Änderungen) sowie ein Worddokument mit dem kopierten Auftrag zu. Die Mail ist kurz und formlos. Ich rolle mit meinem Stuhl rüber zu Hans, um an seinem Rechner
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6 Praktiken des Ordnens alles durchzugehen. Um die Aufträge zu bearbeiten, brauche ich zahlreiche Programme: Internetbrowser (mit URL des DEV-Servers und des Stage-Servers), eine Software, um die Änderungen im Code vorzunehmen, eine um die Dateien zur Bearbeitung für andere User zu sperren (auschecken) und dann wieder freizugeben (einchecken)).“ (FT016)
Es zeigt sich ein komplexes Gewebe zwischen digitalen (Powerpoint-, Worddokumente etc.), und menschlichen Partizipanden (Max, Hans etc.), die am Vollzug der Praktik beteiligt sind. Dabei kommt den digitalen Partizipanden eine übergeordnete Rolle zu: an ihnen wird alles durchgegangen, mit ihnen wird der Code verändert, über sie werden andere User ausgesperrt oder eingecheckt, sie machen Änderungen sichtbar und fordern zur Eingabe von Kommentaren auf. Der Arbeitsablauf ist auf die Technik abgestimmt. Im Vorfeld solch komplexer Aktivitäten steht häufig das „Nutzbarmachen“ von Kundenanforderungen. „Auf Seiten des Kunden entsteht der Wunsch nach einer Neuerung, eine Änderung soll durchgeführt oder ein Fehler soll behoben werden. Dies leitet der entsprechende Kunden-Mitarbeiter an einen eigens dafür zuständigen Mitarbeiter weiter. Dieser ist laut Sascha und Michael dafür zuständig, die einkommenden Wünsche zu sortieren und zu konkretisieren. Daraufhin wird der Wunsch als elektronischer Auftrag in die Auftragsbearbeitungssoftware über eine Eingabemaske erfasst.“ (FT009)
Die Kundenwünsche werden von einer eigens dafür eingerichteten Instanz beim Kunden vorsortiert und konkretisiert. Diese Person ist auch dafür zuständig, die Wünsche in einen digital zu verarbeitenden Auftrag umzuwandeln, welcher dann in die Software eingespeist wird. Die Software gibt den Raum (Zeichenzahl) und die Struktur für die Eingabe (definierte Eingabefelder) vor. Die Umwandlung der Inhalte muss so aufbereitet sein, dass das System sie verarbeiten kann. Umgangsweisen mit Technik definieren Für den Ablauf des Arbeitsprozesses sind routinisierte Umgangsweisen mit Technik entscheidend. Dazu lassen sich vor allem drei Praktikenkomplexe zählen: Anweisen im Sinne eines Hinweisens und Wegweisens, in deren Zentrum der Monitor steht; Definition des „so-und-nicht-anders“, das sich aus der Funktionsweise der Technik ergibt sowie des Einschränkens von Umgangsweisen durch die Vergabe von Zugangs- und Zugriffsrechten. Die Anweisungspraktik wird durch eine Ad-hoc-Bitte um Weisung aktiviert oder durch ein Erlassen der Anweisung. In beiden Fällen übernimmt eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter die Führung. Das Hinweisen findet direkt vor dem Monitor desjenigen Mitarbeiters statt, der hingewiesen werden soll, und erfolgt
6.5 Kooperationspraktiken
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als Fingerzeig. Aufgezeigt werden Fehler, Änderungswünsche, aber auch Ablageorte oder Programme in Übersichten. Die Weisung eines Weges hingegen findet an zwei verschiedenen Monitoren statt. Der Wegweiser beschreibt dem zu Weisenden verbal anhand seines Monitors die einzelnen Schritte oder Linkwege zum gewünschten Ziel und dieser vollzieht den Weg am eigenen Monitor nach. Die Wegweisungspraktik vollzieht sich vor allem unter den Büronachbarn, die ihre Monitore gegenüber platziert haben. Durch die Anweisungspraktik werden Standardisierungen der Arbeitsweisen vermittelt und angeeignet. Im Vollzug der Praktik wird ein hierarchisches Gefälle hergestellt – basierend nicht nur auf Positionen, sondern vor allem auf Knowhow, dass sich als praktisches Wissen darüber zeigt, in welchem Rahmen des Angemessenen sich die Umgangsweise mit der Technik bewegen muss. Im täglichen Umgang ist es immer wieder notwendig, das eigene „Wunschhandeln“ der Technik unterzuordnen, um den gewünschten Nutzen zu erzielen. Der vernetzte Computer gibt dabei einen Nutzungsrahmen vor, der sich aus seinen Funktionsmöglichkeiten ergibt. Damit existieren große Unterschiede zwischen den einzelnen Kollektivakteuren, da ihnen verschieden ausgestattete Rechner zur Verfügung stehen. Im Alltäglichen läuft die Normalisierung des menschlichen Handelns an die Nutzungszwänge der Technik routinisiert und damit unhinterfragt ab. Bei der Einführung neuer Softwaresysteme hingegen treten die Zwänge deutlich zu Tage, wie das folgende Beispiel über die Einführung eines neuen Abrechnungssystems in der Beratung zeigt: „Ich frage Philipp, ob er mir das Abrechnungssystem erklärt. Wie sich herausstellt, handelt es sich um ein neues System, welches seit Anfang des Jahres in Betrieb ist. Philipp wurde auf einer mehrtägigen Schulung, als einziger aus der Agentur, geschult und hat dann die gesamte Beratung darüber informiert. Das System besteht aus mehreren Programmen, z.B. für die Rechnungserfassung, Rechnungsstellung, Stundenerfassung, Kostenvoranschlagserstellung. Das alte System sei wesentlich „intuitiver“ gewesen. Philipp bemängelt vor allem die ganz unterschiedlichen Oberflächen der einzelnen Programme für die Eingabe der Daten, die zwischen Eingabemaske und tabellarischer Darstellung wechseln und sehr unkomfortabel sind. Dies führt dazu, dass Philipp sich weigert, die Kostenvoranschlagssoftware zu nutzen: zum einen, weil die Eingabe sehr unkomfortabel ist und zum anderen, weil das Aussehen der Kostenvoranschläge an eine Rechnung erinnert und keine Möglichkeit bietet, noch Details zu einzelnen Kostenpunkten hinzuzufügen. Er verwendet für einen Kostenvoranschlag ein Word-Dokument, welches von den meisten anderen Beratern auch genutzt wird.“ (FT008)
Philipp hat im Umgang mit dem neuen System feststellen müssen, dass es an manchen Stellen Mängel aufweist, die sich als „unkomfortabel“ erweisen. Darüber hinaus bietet die Formatvorlage für die Kostenvoranschläge nicht die dringend erforderlichen Gestaltungsspielräume und das Aussehen der Formatvorlage entspricht nicht den praktischen Anforderungen von Philipp. Der Einsatz des Systems macht für ihn an manchen Stellen keinen Sinn. Um den Sinn wieder
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6 Praktiken des Ordnens
herzustellen, entzieht er sich dem Zwang durch Weigerung zur Nutzung. Damit verliert die von dem Softwaresystem vorgegebene Funktion ihre Relevanz und wird durch andere Umgangsweisen ersetzt, die der menschliche Akteur definiert. Obwohl davon auszugehen ist, dass die Schulung, an der Philipp teilnahm, nicht nur über Funktionsweisen informiert, sondern auch auf die „richtige“ Nutzung, den „richtigen“ Einsatz vorbereitet und damit Standards definiert, wird erst im täglichen Umgang die Erwünschtheit ersichtlich (vgl. Hörning 2001: 165). Das System der Abrechnung – auch im Sinne einer Abfolge von Arbeitsschritten – erfährt durch Philipp eine Neujustierung. Da ihm die interne Schulung seiner Kolleginnen obliegt, wird der Umgang mit dem System in einer von Philipp novellierten Fassung vermittelt. Die wohl eindeutigste Definition von Umgangsweisen wurde bereits in anderen Praktiken beschrieben, da sie zentraler Mobilisierungspunkt ist: die Einschränkung der Umgangsweisen durch die Vergabe von Zugangs- und Zugriffsrechten. Wer zu welcher Software Zugang hat, wer auf welchen Server zugreifen darf oder auch, wer wo was löschen darf, ist genau geregelt. Die Rechte werden zentral verwaltet. Die Verwaltung obliegt der Technikabteilung der lokalen Netzwerkagentur, einer Serviceabteilung für das gesamte Haus, und zu einem gewissen Grad der Programmierung der Internetagentur. Wo genau dieser Grad zu verorten ist, ließ sich im Feld nicht eindeutig eruieren. Dies mag auch an der engen Zusammenarbeit der Akteure liegen. Das „Wer?“ ist bei der Vergabe der Rechte keine personengebundene Frage, sondern eine Frage der Mitgliedschaft zu einem der drei Kollektivakteure. Der Zugang bzw. Zugriff ermöglicht Umgangsweisen, schließt sie aber auch aus. Eine „Subversion“, eine Umgehung der Regeln, ist nur durch den örtlichen Wechsel an einen anderen Rechner zwar möglich, allerdings keine gängige Praxis. Der Umgang mit Technik wird nicht allein durch menschliche Partizipanden definiert, sondern auch durch die Technik vorgegeben – „vorgegeben“ nicht (allein) in einem funktionalistischen Sinne, wie z.B. dass man einen Computerbildschirm zum Anschauen von digital erzeugten Abbildungen nutzen muss, sondern auch indem Technik Bedingungen schafft, die der Klärung bedürfen und so weitere Handlungsschritte auferlegen (vgl. Rammert 2007, Hörning/Ahrens/Gerhard 1997). Technik fordert unmittelbar zu Kooperation auf. Die Bedingungen zeigen sich dabei als spezielle Funktionsweisen, die neue Möglichkeiten schaffen oder gewünschte ausschließen, als Zugriffverweigerungen durch fehlende Nutzungsrechte oder als Anders-Funktionieren als erwartet. Um den Handlungsfluss „am Laufen zu halten“, werden weitere Akteure und nicht-menschliche Partizipanden am Vollzug beteiligt. Dies geschieht einmal im Rahmen institutionalisierter Räume, wie dem wöchentlichen „Meeting“ mit dem Kunden oder dem „Meeting“ in der Internetagentur, und dann auch ad hoc, z.B.
6.5 Kooperationspraktiken
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als Ratsuche beim Kollegen oder als Internetrecherche in einem Forum. In der folgenden Handlungssituation wird deutlich, wie die Beteiligten am Vollzug immer zahlreicher werden: „Offensichtlich hat Philipp nicht Zugang zu allen Bereichen der Homepage, da ein Kollege vorbeikommt und ihm seine Zugangsdaten zur Verfügung stellt. Wie sich herausstellt, muss auch noch eine kleine Software installiert werden. Der Kollege fragt, ob Philipp denn AdminRechte auf seinem Rechner hätte, er verneint dies. Somit kann er die Software nicht runterladen. Man einigt sich darauf, dass Philipp morgen kurz an den Arbeitsplatz des Kollegen kann, um sich die geschützten Seiten anzusehen. Der Kollege ist während dieser Zeit bei einem anderen Kollegen.“ (FT008)
Zunächst sind Philipp und sein vernetzter Rechner involviert, mit Hilfe dessen eine Internetseite aufgerufen wird, die es abzubilden gilt. Da einige Bereiche der Homepage geschützt sind und Philipp keinen Zugang hat, zieht er einen Kollegen hinzu. Im Gespräch stellt sich heraus, dass noch eine weitere Software beteiligt werden muss. Um diese installieren zu können, wären Installationsrechte erforderlich, die Philipp an seinem Rechner nicht hat. Um dennoch auf die geschützten Bereiche zugreifen zu können, vereinbaren er und seine Kollegin, ihren Rechner hinzuzuziehen. Dies erfordert allerdings eine arbeitsorganisatorische Koordination. Zusammenfassung In der untersuchten Agentur ist das Zusammenwirken – man könnte auch sagen das Zusammen-Werkeln – zentral für die Ordnung. Diese Kooperation ereignet sich in weiten Teilen routinisiert, durch die Mobilisierung von Praktiken. Auch Aushandlungspraktiken lassen sich dazu zählen. Es sind routinisierte Formen der Verbalisierung und Einschätzung, z.B. der Leistungen anderer. Möglich wird dies durch ein praktisch erworbenes und praktisch hervorgebrachtes Wissen, dass sich in der Internetagentur auch maßgeblich im Umgang mit Technik entfaltet. An Technik und mit Technik werden angemessene Formen der Kooperation angezeigt; zugleich erhält die Technik im Umgang ihre Bedeutung für den weiteren Projektverlauf (vgl. Blumer 2004: 325). Technik fordert aber auch zu widerständigem Handeln heraus, ebenso wie zu Aushandlungsprozessen mit anderen Beteiligten und zu Standardisierungen des menschlichen Handelns (vgl. Hörning/Sieprath 2004). Mit Mead lässt sich für die Agentur schließen, dass die zum Einsatz kommende Technik ein Element des generalisierten Anderen ist (explizit für unbelebte Objekte: Mead 1968: 196 Fn). Sie ist daran beteiligt, eine Haltung und Erwartung auszubilden, wie man in der jeweiligen Situation zu handeln hat.
7
(Relative) Stabilität
Die untersuchte Internetagentur erschien auf den ersten Blick – während des Feldaufenthaltes – sehr geordnet zu sein. Auf den zweiten Blick wurde deutlich, dass diese Ordnung auf zahlreichen Praktiken basiert, die beständig das Ordnen des Sozialen übernehmen und so eine relative Stabilität erzeugen, die sich als äußerst stabil zeigt. Diese Stabilität beruht maßgeblich auf dem Beziehungsgeflecht zwischen den Kollektivakteuren Beratung, Programmierung und Kreation (1). Dieses Beziehungsgeflecht ist durch eine antagonistische Konstellation von Praktikenkomplexen gekennzeichnet (2). Diese Komplexe von Praktiken fordern weitere Praktikenkomplexe zur Verkettung auf, die an Geschlecht gebunden sind (3). Die Stabilität der Internetagentur ist somit an fortlaufende trennende Grenzeffekte gebunden, die sich in einem gemeinschaftlichen (Bedeutungs-)Raum ereignen. 1) Die Kollektivakteure werden durch zahlreiche Praktiken hervorgebracht, die sich zu Praktikenkomplexen verketten. Während der einzelne Akteur eine eigene Zeitlichkeit hat und ein spezifischer Körper und Geist ist – als kulturell geformter und sich formender –, ist der Kollektivakteur das Korrelat des sozial geregelten Praktikenkomplexes, so dass die Zeitlichkeit des Kollektivakteurs mit der Zeitlichkeit des Komplexes von Praktiken identisch ist (vgl. Reckwitz 2006: 43). In der Untersuchung ließen sich verschiedene Praktiken rekonstruieren, die den Praktikenkomplex z.B. des Programmierers formieren: Programmierer sitzen in Programmiererbüros mit anderen Programmieren zusammen (Raumkomponente), sie kleiden sich nicht auffällig und sehen eher grau aus (Körperkomponente), sie haben keine Sozialkompetenz, sind trinkfest und feierfreudig (Eigenschaftenkomponente), sie sind alle Männer und betreiben untereinander „Männerspiele“ (Geschlechterkomponente) usw. Dennoch sind sie kein „Mensch aus Fleisch und Blut“, sondern kulturelle Muster einer gelungenen Art und Weise des Programmierer-Seins, gelungen im Sinne von passend für den Vollzug der für Programmierer relevanten Praktiken. „Der Programmierer“ und „die Programmierung“ existieren nur innerhalb des Vollzugs „ihres“ Praktikenkomplexes. In diesem wird die Relation des Angemessenen und Erwünschten für „Programmierer“ aufgespannt. Der Berater Philipp kann so nie ein Programmierer sein, weil er nicht
D. Lengersdorf, Arbeitsalltag ordnen, DOI 10.1007/978-3-531-93291-0_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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7 (Relative) Stabilität
an den Praktiken der Programmierer beteiligt ist. Er verfügt weder über die relevanten Kenntnisse noch das praktische Wissen, um beteiligt zu werden. Zugleich kann Philipp, anders als z.B. Hans, sich dieses Knowhow nicht aneignen, weil er nicht das Programmierer-Sein praktiziert. Denn nur im gemeinsamen Tun erlangt man das notwendige Wissen über die relevanten Kriterien und Maßstäbe. 2) In der Internetagentur zeichnen sich die Praktikenkomplexe zur Konstruktion der Kollektivakteure vor allem durch ihren Mitgliedschaftscharakter aus, der die einzelnen Akteure z.B. über Zuordnungspraktiken und Selbsteinordnungspraktiken in Zugehörigkeit vereint. Diese Konjunktion ereignet sich nur in der gleichzeitigen Distinktion gegenüber den Anderen. Die Beziehung z.B. zwischen Beratern und Programmierern ist somit durch einen Antagonismus gekennzeichnet: es sind polar gegenüberstehende Gegensätze, die – und das ist entscheidend – gleichzeitig existent sind.53 Nur indem immer wieder auf die Unterscheidung zum Anderen verwiesen wird, indem immer wieder dessen Negativität betont wird, kann der Kollektivakteur sich selbst bezeichnen (vgl. Laclau/Mouffe 2006: 186). Im Abschnitt 4.2 wurde dazu ein Beispiel angeführt, bei dem die Akteure „Sascha“ und „ich“54 im Handlungsfluss durch die Mobilisierung verschiedener Differenzen, innerhalb dessen sich die Kontur der „Kreation“ herausbildet, zur „Beratung“ werden: Die Beratung zeichne sich dadurch aus, dass man ihr im Gegensatz zur Kreation nicht 1000mal alles erklären müsse, dass sie sich nicht nicht um die Sicherheit der Daten kümmere, usw. Damit wird das Andere aber auch zum Garanten der Stabilität des Eigenen. Die „Existenz“ der Beratung wäre erst dann gefährdet, wenn plötzlich auch die Kreativen begännen, eine schnelle Auffassungsgabe zu zeigen, ein sicheres Datenmanagement zu nutzen oder pragmatisch zu sein, und damit „Eigenschaften“ hätten, die die Kontur der Berater ausmacht. Die Grenze zwischen Beratern und Kreativen würde fluider. Das Andere (Kreation) würde durch die Auflösung von Grenzen das Eigene (Beratung) destabilisieren. Oder anders ausgedrückt: Indem es dann keine eindeutigen idealen Muster 53 Pierre Bourdieu hat für Frauen und Männer ebenfalls einen antagonistischen Charakter der Beziehung zueinander verdeutlicht: „Die Antizipation des im Zentrum der sozialen Ordnung verankerten negativen Vorurteils und die von ihnen geförderten Praktiken, die jene nur bestätigen können, verstärken sich gegenseitig. Männer und Frauen werden dadurch in einen Zirkel von Spiegeln eingeschlossen, die antagonistische, aber zur wechselseitigen Bestätigung geeignete Bilder unendlich reflektieren“ (Bourdieu 1997: 163). 54 Die hier ebenfalls sichtbar werdende Erzeugung der „Forscherin“, die „ich“ ebenfalls mit voll zieht, soll hier unberücksichtigt bleiben, da sie für die weitere Argumentation nicht ausschlaggebend ist.
7 (Relative) Stabilität
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mehr eines gelungenen „Berater-Seins“ gäbe, wäre die Frage, welche „Eigenschaften“ passend und angemessen sind für den reibungslosen Vollzug der Praktiken, an denen Berater üblicherweise beteiligt sind, nicht mehr eindeutig (sozial) zu beantworten. Sascha wüsste dann nicht mehr eindeutig, wie er die Leistungen von Philipp einschätzen soll, er wüsste nicht mehr, ob er Office-Word verwenden soll oder Photoshop und er würde sich ärgern, dass er keinen Zugang zum Kreations-Server hat. Viele im Feld vorgefundene Praktiken erhalten so eine zusätzliche Bedeutung, da sie zur Stabilität des Eigenen und des Anderen beitragen, indem sie die Differenzen immer wieder mobilisieren, z.B. durch eine räumliche Separierung, durch klar getrennte Arbeitsschritte und Zuständigkeiten, durch Aushandlungsräume, die einen kollektiven Rahmen der Austragung zwischen den Kollektivakteuren bieten usw. Mit Ernesto Laclau und Chantal Mouffe lässt sich folgern, dass sich ein organisiertes Differenzsystem erkennen lässt, welche die Bedeutung des Sozialen teilweise fixiert (Laclau/Mouffe 2006: 176f). 3) Wie bereits eingangs erwähnt, werden Kollektivakteure durch Praktikenkomplexe konstituiert. Diese können mit weiteren Praktikenkomplexen verkettet sein, die so ebenfalls durch ihre Koppelung in die Konstitution des Kollektivakteurs involviert werden (vgl. Reckwitz 2003: 295). Für den Kollektivakteur „Programmierung“ zeigte sich im Feld eine Verknüpfung mit jenen Praktiken, die eine besonders attraktive Form des Mann-Seins im Feld hervorbringen. „Der Mann“ ist in dieser Perspektive auch ein Kollektivakteur, der durch spezifische Praktikenkomplexe konstituiert wird. Diese erzeugen spezifische passende männliche „Eigenschaften“ und geben vor, welche die passenden und angemessenen Formen des Mann-Seins in der Internetagentur sind. In der Untersuchung ließ sich zeigen, dass Akteure, die dem Kollektivakteur „Programmierung“ angehören, sich alle als Männer darstellen und auch als solche erkannt werden. Im Feld werden diese in Praktiken involviert, die an der Herstellung von Männlichkeit beteiligt sind. Hier werden Eigenschaften einer virilen, trinkfreudigen und technikaffinen Männlichkeit hervorgebracht. Programmierer lassen sich darüber hinaus von jenen Praktiken im Feld im besonderen Maße mobilisieren, in denen unter Männern die Einsätze und Regeln der „ernsten Spiele des Wettbewerbs“ der Internetagentur ausgehandelt werden, wie dem Kickerspiel inklusive der Beteiligung an der Kickerrangliste und die obligatorischen Berichte von Saufgelagen am Wochenende. Wie relevant diese Form von Männlichkeit ist, zeigt sich instruktiv am Bei-
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7 (Relative) Stabilität
spiel eines „Beraters“, der sich sehr viel Mühe gab, um eine Passung zu erzeugen: „Ich gehe ins Büro von Michael. Er sitzt gerade alleine da. Ich mache eine Bemerkung, dass er wohl nicht zum BAC fahre. Aus früheren Gesprächen hatte ich bereits seine Abneigung erfahren. Er expliziert dies noch mal. Die Sauferei sei nichts für ihn. Er hätte es einmal probiert, da musste er aber früher abreisen, weil er es so schrecklich fand.“ (FT020)
Trinkfreudigkeit ist dabei nicht nur eine erwünschte Eigenschaft von Männern in der Agentur, sondern auch von Programmierern. Der Programmierung wird innerhalb der lokalen Netzwerkagentur eine besondere Trinkfreudig- und Trinkfestigkeit attestiert. Es ist eine zentrale Eigenschaft der Programmierung in der Fremdzuschreibung. Zugleich werden in der Programmierung Praktiken hervorgebracht, die in besondere Weise technikaffine „Eigenschaften“ produzieren und die angemessenen Formen von Technik ausgestalten. Hier werden Unterscheidungen zwischen „richtiger Technik“ bzw. dem an „richtiger Technik“ praktiziertem „richtigen Programmieren“ und „Mädchen-Technik“ bzw. „gestaltungslastigem Programmieren“ hervorgebracht. Die „körperliche Arbeit“ an der Maschine rangiert in der Logik der Programmierung weit über dem „kreativen Rumflashen“ zum Schönaussehen. Dies lässt den Schluss zu, dass sich eine wechselseitige Relation zwischen der passendsten Art und Weise des Programmierer-Seins und des Mann-Seins in der Agentur aufzieht. Akteure, die passende Programmierer sind, sind auch passende Männer. Zugleich haben nicht alle Männer an jenen Praktiken teil, die die passendste Art des Umgangs mit Technik hervorbringt und damit die passendste Art der Inszenierung einer Affinität zur „richtigen“ Technik, was ein Element passender Männlichkeit in der Agentur darstellt. An Justierungen von Praktiken, z.B. der Aushandlung von gemeinsamen Maßstäben und Kriterien können allerdings nur jene Akteure mitwirken, die beteiligt sind. Somit steht dem Kollektivakteur „Programmierung“ ein breiterer Möglichkeitshorizont zur Verfügung, um die relevante Form des MannSeins hervorzubringen. Vor dem Hintergrund, dass erstens sich die Internetagentur durchaus als „androzentrisch“ beschreiben lässt, als männlichkeitsorientiert (vgl. u.a. Kessler/McKenna 1978: 162, Hearn 2009) und zweitens das Wissen um die angemessenen technischen Formen und passende Umgangsweisen mit Technik besonders bedeutungsvoll ist, nehmen Programmierer eine besonders relevante Position im sozialen Raum der Agentur ein.
7 (Relative) Stabilität
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In praxistheoretischer Perspektive zielen die Versuche, Stabilität herzustellen, auf die Gewährleistung einer relativen Reproduzierbarkeit und Repetititvität von Handlungen über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg (vgl. Reckwitz 2003: 289). Wie sich für die untersuchte Internetagentur zeigen ließ, wird Stabilität hier maßgeblich über Praktikenkomplexe gewährleistet, die durch Antagonismen gekennzeichnet sind. Denn nicht nur die Beziehungen zwischen den Kollektivakteuren lässt sich als antagonistisch fassen, sondern auch die Beziehung von Frauen und Männern bzw. von Weiblichkeit und Männlichkeit zueinander (vgl. Bourdieu 1997: 163). Damit wird Stabilität nicht nur durch die den jeweiligen „Einzel“-Praktiken inhärente Vollzugsoffenheit für Wiederholung und Neuerschließung herausgefordert, sondern zudem durch ein antagonistisches – ein entgegengesetzt widersprüchliches – Verhältnis besonders relevanter Praktikenkomplexe zueinander. "Die Grenze des Sozialen muss innerhalb des Sozialen selbst gegeben sein, als etwas, das es untergräbt, seinen Wunsch nach voller Präsenz zerstört. Gesellschaft kann niemals vollständig Gesellschaft sein, weil alles in ihr von ihren Grenzen durchdrungen ist, die verhindern, dass sie sich selbst als objektive Realität konstituiert." (Laclau und Mouffe 2006: 167)
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Schluss: Gewissheiten und Gewusstes
Der Arbeitsalltag in der untersuchten Internetagentur ist geordnet. Geordnet meint hier nicht zwangsläufig ordentlich: Kunden halten sich nicht an vereinbarte Freigabezeiten, ein Problem auf dem Server legt die Arbeit für Stunden lahm und eine erneute Restrukturierung des Unternehmens bringt Planungsunsicherheit. Dennoch werden in der Agentur Projekte erfolgreich abgeschlossen. Dabei spielen traditionelle Formen der Organisation, Steuerung und Kontrolle von Arbeit nur eine untergeordnete Rolle: es gibt keine Stechuhren zur Erfassung der Arbeitszeit, formale Zuständigkeiten, klare Urlaubsregelungen oder strukturierte Rekrutierungen sind ebenso unbedeutend wie Laufbahnkarrieren oder Beförderungsregelungen. Die Untersuchung zeigte vielmehr, dass es soziale Praktiken sind, die die Ordnung garantieren. Durch die Theorien sozialer Praktiken wurde in der Untersuchung eine theoretische Perspektive eingebracht, die „Wissen im Handeln“ nachvollziehbar macht. Dies eröffnet die Möglichkeit, nicht nur jenes Wissen zu erforschen, das explizit gewusst und damit auch sprachlich verfügbar ist, sondern auch einen Zugang zum Wissen zu erlangen, dass im Selbstverständlichen liegt. Es wird beobachtbar, da es im Sinne von Wissensrepertoires und Wissenskompetenzen in sozialen Praktiken zum Einsatz kommt (vgl. Hörning 2001: 185). Der Vollzug sozialer Praktiken ist dabei gekennzeichnet durch Wiederholung und Neuerschließung (vgl. Hörning 2004: 33), sowie durch eine potenzielle Verkettung mit anderen Praktiken, die nicht zwingend eine logische Verknüpfung voraussetzt (vgl. Reckwitz 2003: 295), sondern sogar als antagonistisch beschrieben werden kann. Da Praktiken das Letztelement des Sozialen sind (vgl. Hillebrandt 2009: 50), werden auch Grenzziehungen im Sozialen über Praktiken vollzogen. Der Vollzug von Praktiken zur Ziehung von Grenzen ereignet sich immer in vertrauter Weise – in einem Modus des sicher Gewussten – und gleichzeitig in einer andersartigen Hervorbringung genau dieses Vertrauten – im Modus des Gewissheit-Verschaffens. Alte und neue Gewissheiten sind so aneinander gekoppelt, aus alten Gewissheiten entspringen modifizierte, neue, optimierte. Karl H. Hörning beschreibt diese Relation als „eingespieltes In-Gang-Setzen von Verändertem, als neuartige Fortsetzung von Eingelebten, als andersartige Hervorbringung von Vertrautem“ (Hörning 2001: 163). Eine abschließende Sicherheit über den Er-
D. Lengersdorf, Arbeitsalltag ordnen, DOI 10.1007/978-3-531-93291-0_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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8 Schluss: Gewissheiten und Gewusstes
folg des Vollzuges kann es demnach nicht geben, denn die Praxis bewegt sich immer „zwischen einer relativen ‚Geschlossenheit’ der Wiederholung und einer relativen ‚Offenheit’ für Misslingen, Neuinterpretationen und Konflikthaftigkeit des alltäglichen Vollzugs“ (Reckwitz 2003: 294). Durch die praxistheoretische Perspektive verändert sich der Blick auf soziale Phänomene, wie sie im ersten Kapitel beschrieben wurden. Diese Verschiebung des Blickwinkels basiert auf einer in der Untersuchung praktizierten Bewegung zwischen Theorie und Empirie. So lassen sich mit den sozialen Praktiken im Untersuchungsfeld andere Schlussfolgerungen für die in der Literatur diagnostizierten Phänomene ziehen. 8.1 Neue Schlussfolgerungen für diagnostizierte Phänomene Wissen um die Bedeutung kultureller Differenzen und unterschiedlicher Erfahrungshorizonte Wie Frank Bauer (2005) darlegt, ist die Arbeit als Dienstleister für Kunden gekennzeichnet durch eine fortlaufende Verständigung über Inhalte und Ziele der Projekte. Gertraude Mikl-Horke (1994) zeigt auf, das in diesen Verständigungsprozessen neben fachlichen Kenntnissen vor allem ein Wissen um kulturelle Differenzen bedeutsam ist, das über die Interaktionspartner besteht. Kulturelle Differenzen werden hier verstanden als Klassenunterschiede oder unterschiedliche Sprachstile. In der Untersuchung zeigte sich, dass es weniger Differenzen zwischen einzelnen Personen sind, die zur Bedeutung gebracht werden, als vielmehr zwischen den konstruierten Kollektivakteuren. „Der Kunde“ und z.B. „die Beratung“ sind Konstruktionen, die auf dem fortlaufenden Vollzug von je unterschiedlichen sozialen Praktiken basieren. Konstitutiv sind dabei die Zuordnungsund Einordnungspraktiken, die soziale Mitgliedschaften herstellen. In ähnlicher Weise hat dies Anja Frohnen (2005) beim Automobilhersteller Ford für Manager und Ingenieure beschrieben. Es werden fortlaufend Grenzziehungen zwischen den Kollektivakteuren vollzogen, die an Eigenschaftszuschreibung, Verteilungen im Raum oder Zuordnungen von Technologien beobachtbar sind. „Der Kunde“ wird in der Internetagentur dabei als hilfsbedürftiges Anderes konstruiert, dessen Handlungen erst durch die Agentur einen Sinn erhalten. Diese Konstruktionen bestimmen wiederum das tägliche Arbeitshandeln. So lässt sich die Pflege und Aufrechterhaltung der Kundenbeziehung, die maßgeblich für Dienstleistungsarbeit ist (vgl. Mikl-Horke 1994, Bauer 2005, Sauer 2002, Jacobsen/Voswinkel 2005), in der Internetagentur als Betreuung eines Hilfsbedürftigen beschreiben. Die konkrete Interaktion zwischen Agentur- und Kundenmitarbeiter kann sich
8.1 Neue Schlussfolgerungen für diagnostizierte Phänomene
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dabei durchaus als freundlich und partnerschaftlich gestalten, in der Agentur ist „der Kunde“ aber jenseits der Person des Kundenmitarbeiters von Bedeutung. Es zeigt sich, dass die Beschäftigten weniger an ihrer partnerschaftlich-kooperativen Beziehung zur Kundin arbeiten, als vielmehr daran, den „Kunden“ immer wieder als bedürftig zu konstruieren. Es lässt sich demnach keine Ko-Ordination erkennen, als vielmehr eine Sub-Ordination des Kunden. Somit ist auch die sichere Kenntnis, „wie der Kunde tickt“ (Shire 2005), weniger wichtig, um das Arbeitshandeln zu routinisieren. Das Handeln „des Kunden“ kann nicht vorhergesehen werden, weil es nicht sinnig ist, es sich der Logik der anderen Kollektivakteure entzieht. Es sind vielmehr die Beziehungen zu den Kollektivakteuren, die es ermöglichen, das eigene Handeln zu routinisieren (vgl. Reckwitz 2003: 289). Das Wissen um kulturelle Differenzen ist nicht an einzelnen, wechselnden Personen festgemacht, auf die man sich immer wieder neu einstellen muss, sondern an „gemeinsamen Kriterien und Maßstäben ‚richtigen’, passenden, angemessenen Tuns, die dem Handeln Richtung und Anschluss vermitteln.“ (Hörning 2004: 20). Es ist ein praktisches Wissen, das sich im Umgang mit den Zugehörigen des eigenen Kollektivs ausbildet und nicht – wie erwartet – im Umgang mit dem Kundenmitarbeiter. Neben den für das Feld spezifischen Kollektivakteuren wird mit den Kategorien „Mann“ und „Frau“ eine weitere Differenz bedeutsam. Wie Bettina Heintz bereits 1997 so treffend formulierte, ist das Geschlechterverhältnis ordentlich in Unordnung geraten. Wir wissen noch um die Zuordnung von Frauen und Männern zu Aufgabenfeldern und Berufen, können uns dessen aber nicht mehr sicher sein. Den Arbeitenden in der Internetagentur stehen zahlreiche Praktiken zur Verfügung, um diese Unsicherheit nicht „aufkommen“ zu lassen. Die Praktiken richten sich dabei vor allem auf eine Überordnung von Männern und Männlichkeit (vgl. Hearn 2009, Wilz 2008). Das Bevorzugen der männlichengrammatikalischen Form in Stellenausschreibungen, E-Mail-Signaturen oder der Homepage gehört ebenso dazu wie die Besetzung von Führungspositionen und Einzelbüros mit Männern. Demgegenüber ließ sich beobachten, dass Weiblichkeit nicht relevant gemacht wurde, und weibliche Lebenslagen nicht von Interesse waren – dies auch nicht, wenn es von mir thematisiert oder provoziert wurde. Selbst meine Schwangerschaft wurde sowohl von Frauen als auch von Männern ignoriert. Man kann mit Hirschauer (2001) von einem (nicht-)bewussten Absehen von Weiblichkeit sprechen: einen undoing feminity. Weiblichkeiten, weiblich-geschlechtsspezifische Repertoires forderten keine männlichen heraus. Es ließ sich weder ein „Gender Trouble“ noch eine „Gender Kooperation“ feststellen, wie dies von Birger Priddat (2004) beschrieben wurde. Das Wissen um verschiedene Männlichkeiten, ihre Verbindung zu den Kollektivakteuren sowie die jeweiligen Praktiken des doing masculinity ist hingegen
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8 Schluss: Gewissheiten und Gewusstes
sehr bedeutsam für das Feld. Dem Kollektivakteur „Programmierung“ kommt dabei eine hegemoniale Position zu. Die hier praktizierte Form von Männlichkeit ist Orientierungsmuster für andere Männlichkeiten innerhalb der Internetagentur.55 Sie stellen die Norm, an welcher sich andere Formen von Männlichkeit messen müssen. Dieses Phänomen lässt sich anhand der Unternehmensgesichte plausibilisieren: Während die Kollektivakteure „Beratung“ und „Kreation“ traditionell zu Agenturen gehören, ist die „Programmierung“ erst seit den späten 1990er Jahren Teil der Werbebranche und auch der Mutteragentur. Sie sind „das Besondere“ innerhalb des Agenturendachs, das, was die Internetagentur von den anderen Units unterscheidet. Dabei kommt den Programmierern die Stellvertreterrolle für die gesamte Internetagentur im Agenturgefüge zu. Der Internetagentur werden Eigenschaften zugeschrieben, die vornehmlich durch die Programmierung vollzogen werden. Diese Eigenschaften sind eng mit einer technikaffinen, virilen und trinkfesten Männlichkeit verwoben. Dieser Befund lässt sich mit Cecilia Ridgeway (2001) als Ordnungsleistung entlang von geschlechtlichen Kategorisierungen deuten. In der Phase der Ausbildung der Internetagentur als eigenständige Unit, in der eindeutige institutionelle Vorgaben fehlten, griffen geschlechtliche Kategorisierungen, um Strukturformen und Organisationsregeln herzustellen. Der Kollektivakteur „Programmierer“ wurde um eine bestimmte Form von Männlichkeit organisiert bzw. wird durch das doing masculinity dieser Männer mit konstruiert. Die Zugehörigkeit zur Programmierung erfordert ein Praktizieren von Männlichkeit, das sich darüber hinaus entlang der Tätigkeitsfelder innerhalb der Programmierung graduell unterscheidet. Die Untersuchung zeigt damit auch, dass neue geschlechtliche Arrangements entstehen, wie dies von einigen Autorinnen für den High-Tech-Bereich vermutet wird (vgl. u.a. Nickel/Frey/Hüning 2003). Diese sind im Falle der Internetagentur vor allem in der homosozialen Dimension zu suchen. Denn hier sind mit dem Hinzukommen eines gänzlich neuen technischen Tätigkeitsfeldes, der Programmierung, neue Formen von Männlichkeit aufgekommen, die dann ein Orientierungsmuster für andere Gruppen von Männern werden. Gleichzeitig stehen den Männern in der Internetagentur homosoziale Räume zur Verfügung, vor allem beim Kickern, in denen sie sich ihrer Männlichkeit versichern und aushandeln, was noch im Rahmen des Angemessenen liegt (vgl. Meuser u.a. 2006, 2007, 2009). Das Kicker-Spiel wird bezeichnenderweise zahlenmäßig von Programmierern beherrscht, die so maßgeblich an den männlichen Aushandlungspraktiken beteiligt sind. 55 Es handelt sich somit um eine hegemoniale Form der Männlichkeit innerhalb der Agentur. Ob es sich dabei auch um „hegemoniale Männlichkeit“ in einem Connell’schen Sinne handelt (vgl. Connell 1987), ein generelles Orientierungsmuster aller Männer, lässt sich im Rahmen dieser Untersuchung nicht beantworten.
8.1 Neue Schlussfolgerungen für diagnostizierte Phänomene
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Relevant für kulturelle Differenzierungen in der Internetagentur wird darüber hinaus eine geschlechtliche Konnotierung von Technik, dies vor allem für den Kollektivakteur Programmierung. Hier muss ein differenziertes Wissen darüber vorliegen, welche Formen von Männlichkeit existieren und an welche Formen von Technologie diese gebunden sind. Im Ausüben der Arbeitstätigkeit kommen männliche und technologische Formen zusammen, die wesentlicher Bestandteil der hier vollzogenen Praktiken sind. Deutlich wird dies an der Beschreibung der Programmierertätigkeiten in Begriffen körperlicher Arbeit, der Technik als Maschine, sowie deren Einbettungen in einen industriellen Produktionsprozess, der männlich konnotiert ist. Die Konnotierung bewegt sich somit in zwei Richtungen: Männlichkeit in der Programmierung ist nicht ohne Technik und Technik nicht ohne Männlichkeit zu denken. Die von einigen Autorinnen erwarteten neuen Möglichkeiten für geschlechtliche Zuschreibungen der neuen Technologien auf Grund ihrer Andersartigkeit zu klassischen Maschinen (vgl. Schmitt 1999, Janshen et al. 1990) – gemeint ist eine weibliche Konnotierung – wird hier ad absurdum geführt. Gerade weil die neuen Technologien eine spezifische hohe Eigenkomplexität aufweisen, können sie eben auch in einem klassischen Maschinensinne konnotiert werden und daher auch industriell-männlich. Dennoch lässt sich in der Internetagentur und auch in der Programmierung feststellen, dass es andere Technologien und Techniken gibt, wie die gestaltungslastige Flashprogrammierung, die eine andere – weniger attraktive – Form von Mann-Sein offeriert. Judy Wajcmans (2004) Diagnose, dass eine wie auch immer geartete geschlechtliche Konnotierung von (Computer-)Technologie immer wieder hergestellt und reproduziert werden muss und nicht zwanghaft notwendig ist, lässt sich in der Untersuchung bestätigen. Dies macht es allerdings erforderlich, dass man das Wissen um die jeweils relevante geschlechtliche Konnotierung besitzt. Zentraler Bezugspunkt in der Agentur ist das Wissen um unterschiedliche Erfahrungshorizonte. „Erfahrungshorizont“ verweist auf ein „angehäuftes“ praktisches Wissen, was gezeigt und erwartet wird. Der Erfahrungshorizont der menschlichen Akteure wird, so zeigen es einige Prognosen (vgl. Hörning 2001, Rammert 2007, Knoblauch 1996), durch den vernetzten Computer maßgeblich erweitert. In der Internetagentur offenbart sich allerdings, dass die neuen Möglichkeiten nicht notwendigerweise mit einem entsprechend erweiternden Umgang korrespondieren müssen, wie dies die Nichtnutzung der Kalenderfunktion durch „die Klassik“ deutlich macht. Erfahrungen können, müssen aber nicht gemacht werden. Damit ist eine technikinhärente Möglichkeit zur Erweiterung von Erfahrungen an die praktische Anwendung und damit an im praktischen Umgang gewonnene Erfahrungen gekoppelt (vgl. Hörning 2001). Dies gilt auch für eine „sekundäre“ Wirkzone, wie sie Hubert Knoblauch (1996) beschreibt. Dennoch ist auch hier ein potenzieller
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8 Schluss: Gewissheiten und Gewusstes
Erfahrungshorizont mit dem praktischen Einsatz in Verbindung zu setzen. Das Wissen, wer über welche Erfahrungen verfügt bzw. zu verfügen hat, wird so voraussetzungsvoll. Erneut treten die Kollektivakteure hinzu, um eine Routinisierung zu gewährleisten. Die Limitierung von Soft- und Hardware auf bestimmte Kollektivakteure, wie auch der Zugang zu Intranet und Administrationsrechten, grenzt Nutzungsmöglichkeiten ein und damit auch potenzielle Erfahrungshorizonte. Die Erwartung von Erfahrungen wird ferner durch die Zuschreibungen von Fähigkeiten zu den Kollektivakteuren limitiert, die an spezielle Umgangsweisen gebunden wird. Durch das Montagsmeeting steht ein wiederkehrender Rahmen zur Verfügung, indem fortlaufend konkrete Umgangssituationen präsentiert werden, die die Zuschreibungen bestätigen. Wissen um die Bedeutung von Involvierung und Disziplinierung Die Möglichkeit, den Kunden oder die Beraterin nicht als Person zu denken, sondern als ein über Praktiken hergestelltes Konstrukt, öffnet den Blick für andere Beziehungsgeflechte, in denen auch nicht-menschliche Entitäten einen Platz haben. Sabine Pfeiffer (2005) hatte darauf hingewiesen, dass das qualitativ Typische neuer Formen von Arbeit in der spezifischen Verbindung von Arbeitsmedium, Arbeitsobjekt und Arbeitshandeln liegt. In der Internetagentur zeigt sich dies vor allem als Integrationsleistung vielfältiger am Arbeitsprozess Beteiligter. Die Abstimmung, wie diese je zu involvieren sind, erfolgt routinisiert, indem erneut die Kollektivakteure zur Bedeutung gebracht werden. Der komplexe Projektprozess wird in Arbeitsschritte zerlegt, die den unterschiedlichen Kollektivakteuren zugeordnet sind. Diese bearbeiten die Teilprozesse in ihrer eigenen Handlungslogik und „reihen“ die Arbeitsabschnitte in den „Strom“ vielfältiger Teilprozesse ein. Die Involvierung von Akteuren wird dabei durch die jeweiligen Kollektivakteure definiert, die über je spezifische Beziehungsverhältnisse zu Technologien oder anderen Kollektivakteuren verfügen. Das komplexe Gewebe des Projektes erhält so für die Beteiligten eine Linearität von Abfolgen. Die Auswahl der konkreten Mitglieder der Kollektivakteure für die Bearbeitung erfolgt über die Praktik des Einschätzens, die einen gemeinschaftlichen Aushandlungsprozess darstellt und seinen wiederkehrenden Rahmen mit dem „Meeting“ hat. Die offene Aushandlung gibt damit auch Grenzen vor, was und wer passen, denn zentral für die Ko-Operation aller Beteiligten ist, dass sie zueinander passen. Dafür können sie auch noch passend gemacht werden. Die Ein-Passung ist ein Normalisierungsprozess, bei dem implizites Wissen über Unterordnungspraktiken angeeignet wird. Die Studie von Lars Meier (2009) zu Einpassungsprozessen von Finanzmanagern
8.1 Neue Schlussfolgerungen für diagnostizierte Phänomene
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in (neue) Orte ihres Schaffens zeigt, wie komplex das Wissen über relevante Passungspraktiken ist. Für neue Mitarbeiterinnen gilt es nicht nur, sich schnell einzuarbeiten, sondern sich auch schnell einzupassen. In der Internetagentur ließen sich darüber hinaus Praktiken rekonstruieren, die sich nicht nur auf menschliche Akteure beziehen, sondern auch die Passung involvierter Technologien oder Artefakte, wie Dokumente, garantieren. Diese „wechseln“ ihre Materialität von digitalen in nicht-digitale Formen. Die Passung wird notwendig, da die Technologien, wie z.B. Screen-Design-Entwürfe, in „alte“ Praktiken aus der vordigitalen Zeit passen müssen. Dazu werden die Entwürfe ausgedruckt, in den Handlungsfluss beteiligt und dann wieder in eine digitale Form zurück überführt. Ebenso können auch nichtdigitale Arbeitsschritte für die digitale Verarbeitung passend gemacht werden. Die Technologie setzt hier den Rahmen, in denen Handlungen vollzogen werden müssen. Dazu kann es erforderlich sein, dass z.B. Kundenwünsche zunächst so in Form gebracht werden müssen, dass sie mit den technischen Abläufen kompatibel sind. Routinen entstehen demnach entlang der technischen Begebenheiten, die Standards setzen. Eine Routinisierung von Arbeitsabläufen erfolgt ebenfalls durch die Koppelung von Kommunikationspraktiken an die Kollektivakteure. Mit der Vervielfältigung der Kommunikationsformen in Unternehmen, vor allem durch die neuen Technologien, wird die Frage nach der angemessenen Kommunikationsform komplexer, wie dies Karl Hörning und Norbert Sieprath (2004) zeigen. Im Untersuchungsfeld ließ sich ein Gewebe von digitalen und nicht digitalen Kommunikationsformen, von Post-Its bis zu E-Mails, von Face-to-Face bis zu elektronisch vermittelt beobachten. Bei der Auswahl der Kommunikationsform wird weniger der zu transportierende Inhalt bedeutsam gemacht, als vielmehr die Frage, mit welchem Kollektivakteur die Kommunikation stattfinden soll. Den Kollektivakteuren werden verschiedene Nutzungsfähigkeiten und -verhalten zugesprochen, die die Auswahl routinisieren. So kann die Terminabstimmung mit „der Klassik“ nicht über die elektronische Kommunikationssoftware laufen, sondern muss per Telefon durchgeführt werden. Ebenso kann man von einem Berater nicht erwarten, dass er Änderungen an einer Website elektronisch kommentiert, sondern er ist nur fähig, dies per handschriftlichen Notizen am Ausdruck vorzunehmen. Auch wenn die Passung aller Beteiligten durch Praktiken geregelt ist, kommt es dennoch immer wieder zum Nichtfunktionieren spezifischer Konstellationen, Menschen oder Techniken: erwartbare Aktivitäten bleiben aus und der Handlungsvollzug wird gestört (vgl. Hörning/Gerhard/ Michailow 1998). Die Einschätzungspraktik der Leistungen von Mitarbeiterinnen zeigt eindrucksvoll, wie das Ausbleiben erwartbarer Leistungen Grund gemeinschaftlicher Aushandlungen wird. Was je „erwartbar“ ist, wird durch die Kollektivakteure gerahmt. Ein „Nichtfunktionieren“ von Mitarbeitern verweist auf ein inkompetentes Han-
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8 Schluss: Gewissheiten und Gewusstes
deln im Rahmen des jeweiligen Kollektivakteurs, denn über die Zugehörigkeit wird auch der Rahmen gesetzt, in dem angemessenes und erwünschtes Handeln – und damit erwartbares Handeln – vollzogen wird. „Nichtfunktionieren“ geht daher mit Inkompetenz einher, man hat die Logik der eigenen Gruppe nicht verstanden. Dahingegen kann von einem anderen Kollektivakteur kein angemessenes Handeln erwartet werden, da diese je eigene Handlungslogiken aufweisen, die sich den anderen Kollektivakteuren nicht gänzlich sinnig erschließt. Eine letztendlich vollständige Abstimmung und Einpassung aller Beteiligten ist daher nicht möglich – sie verbleiben im Bereich des Unplanbaren, des Unkontrollierbaren. Für ein Nichtfunktionieren von Technologien ließ sich beobachten, dass das Hinzuziehen von Kolleginnen, aber auch anderer Technologien bei Problemen gängige Praxis ist, wie dies Karl H. Hörning (2001) beschrieben hat. Die Angemessenheit und Erwünschtheit, wer Hinzuzuziehen ist und wie dies zu geschehen hat, wird unmittelbar zur Diskussion gestellt. Wissen um die Stromlinienform In der untersuchten Internetagentur zeigte sich ein scheinbarer Widerspruch zwischen hohem Grad der Unplanbarkeit des Arbeitsalltages und gleichzeitig hohem Grad an routinisiertem Handeln. Theorien sozialer Praktiken eröffnen hier eine Perspektive auf die soziale Welt, die sich im Spannungsfeld zweier grundsätzlicher Strukturmerkmale bewegt: der Routinisiertheit einerseits und der Unberechenbarkeit andererseits (vgl. Reckwitz 2003: 294). So lässt sich die „Unverträglichkeit“ zwischen Routine und Kreativität, zwischen Iteration und Innovation auflösen und beide als zwei Seiten einer umfassenden sozialen Praxis begreifen (vgl. Hörning 2004: 19). Damit soziale Praktiken am Laufen gehalten werden, bedarf es einer fortlaufenden Wiederholung, aber auch einer flexiblen Neujustierung sowie Bedingungen, die dieses zulassen, wie eine Interpretations- und Entscheidungsoffenheit, eine Vollzugsoffenheit im Sinne einer Offenheit über das Gelingen und Misslingen, aber auch die Möglichkeit, praktisches Können anzuwenden und implizites Wissen auszubilden (vgl. Reckwitz 2003). Damit finden soziale Praktiken in der ausgewählten Internetagentur den perfekten „Nährboden“: sie verfügen über „ungeordnete“ Arbeitszusammenhänge mit einer hohen Kontingenz der Arbeitsbedingungen ebenso wie über die Notwendigkeit einer schnellen Reaktion, die kaum Zeit für Reflexionen bietet. Soziale Praktiken werden zu einer Entlastung, nicht jedes Handeln reflexiv abstimmen oder koordinieren zu müssen, indem sie spezifische Handlungen abfordern. Dies bedeutet zugleich auch, dass, um von Praktiken profitieren zu können, die Akteure in der Agentur sich in den
8.2 Schlussfolgerungen für Erkenntniszusammenhänge
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Strom der Handlungsflüsse einpassen müssen. „Stromlinienförmig“ ist dabei keine Disposition oder ein Persönlichkeitsmerkmal, sondern eine Handlungsanforderung. Jede Praktik fordert eine andere Stromlinienform an. Diese muss man „parat“ haben. Praktiken involvieren Akteure und Partizipanden in einer ihnen eigenen Weise. Ein Abwägen aller Handlungsoptionen ist so nicht mehr notwendig, ein sofortiges Agieren hingegen schon. Das „Meeting“ der Agentur ist hierfür ein aufschlussreiches Beispiel. Die Sitzung dauert immer nur wenige Minuten, obwohl hochkomplexe Entscheidungen gemeinschaftlich abgewogen und beschlossen werden. Dabei ist alles routinisiert, sogar der Umgang mit Unwägbarkeiten: von der Sitzordnung, der Sprechreihenfolge, den mitgebrachten Unterlagen bis zum Aushandeln. Teilnahmeberechtigt sind nur Personen, die bereits passend sind und damit einen reibungslosen Ablauf garantieren. Neue Personen müssen sich erst über eine „teilnehmende Beobachtung“ qualifizieren. Die Fähigkeit zu Handeln ergibt sich demnach aus einem praktischen Wissen um die spezifischen Anforderungen von Praktiken und einem praktischen Können, den Forderungen unmittelbar nachzukommen. 8.2 Schlussfolgerungen für Erkenntniszusammenhänge Die Erforschung sozialer Praktiken in einer Internetagentur sollte Aufschluss über Praktiken bei der Arbeit und auf der Arbeit bringen. Es galt, den Praktiken in den Arbeitsalltag zu folgen, ihr Wirken zu beschreiben und interpretativrekonstruktiv zu analysieren. Dabei spannten sich Möglichkeitshorizonte auf, innerhalb deren sich ein angemessenes und passendes Miteinandertun auf der Arbeit in der Agentur vollzieht. Ein weiteres Ziel der Untersuchung war es, die Erkenntnispotenziale der Theorien sozialer Praktiken „auszuloten“ und zur Schärfung eines praxistheoretischen Programms beizutragen. Dazu wurden die Theorien sozialer Praktiken in vielfältiger Weise „konfrontiert“. Zunächst traten Phänomene durch die Diskussion soziologischer Diagnosen in den Blick, die Anforderungen für neue Beschreibungsmöglichkeiten deutlich machten. Die neuen Beschreibungsmöglichkeiten wurden zum einen notwendig, da bisherige Konzepte die Heterogenität der Befunde nicht mehr zu fassen vermochten und zum anderen, da deutlich wurde, dass der Zugang zu den Phänomen und in den Diagnosen verwendeter Begriffe ein bestimmter, z.B. weißer, männlicher, bürgerlicher ist. Des Weiteren wurden verschiedene erkenntnistheoretische Rahmen auf ihre Tragfähigkeit hinsichtlich der Erforschung sozialer Praktiken analysiert, da es bis dato an einer methodologischen Diskussion weitestgehend fehlt. Schließlich waren es die sozialen Praktiken im Untersuchungsfeld selbst und die
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8 Schluss: Gewissheiten und Gewusstes
sich daraus ergebenden Fragen, die auf eine praktische und theoretische Lösung drängten. Im Zuge dieses „Konfrontations“-Prozesses wurde deutlich, dass Theorien sozialer Praktiken sich in Relation zwischen Theorien über soziale Praktiken und Theorien der Praktiken bewegen. Denn das Theoretisieren über Praktiken erzeugt eine eigene, theoretische Logik, die sich von der praktischen Logik í die von Praktiken erzeugt wird í grundlegend unterscheidet (vgl. Hillebrandt 2009: 13). Gerade aus diesem Spannungsverhältnis heraus gewinnt das vorliegende Forschungsprojekt seine Begriffe. Stefan Hirschauer beschreibt dieses Verhältnis dahingehend, dass Theorien der Praxis gelassen auf ihre empirische Relativierung eingestellt sein können (vgl. Hirschauer 2004: 89). Es ist ein reflexiver Prozess der Begriffs- und Theoriebildung, der einen neuen Theoriestil ermöglicht (vgl. Hillebrandt 2009: 83). Dieser neue „Stil“ bringt neue Beschreibungsmöglichkeiten für bekannte Phänomene hervor und ermöglicht, „alte“ Fragen der Soziologie in neuer Weise zustellen (vgl. Hirschauer 2004: 89). Vor diesem Hintergrund erwies es sich als erkenntnisreich, nicht nur drei – in dieser Trias selten zusammen gedachte56 – Ordnungskategorien zusammenzubringen, sondern aus dem jeweiligen technik-, geschlechter-, sowie arbeits- und industriesoziologischen Forschungsfeld heraus als Gegenstände analytisch zugänglich zu machen. Darüber hinaus wurden relevante Fragestellungen der Dimensionen „Arbeit“, „Technik“ und „Geschlecht“ innerhalb des jeweiligen innerdisziplinären Blickwinkels erörtert. Der Begriff „Technik“ bspw. wurde entlang der techniksoziologischen Debatten konturiert. Für die Studie wurden relevante Phänomene im Bereich der Technik ebenfalls techniksoziologisch untersucht. Zugleich ging „Technik“ als Untersuchungsdimension auch innerhalb der Analysen von „Arbeit“ und „Geschlecht“ ein, wie z.B. bei der Frage nach den Auswirkungen einer hohen Implementierung neuer Technologien auf die Arbeitsorganisation oder nach den Potenzialen neuer Technologien für neue Geschlechterverhältnisse. In der folgenden Auseinandersetzung mit den vielfältig beschriebenen Phänomenen und den unterschiedlichen Blickwinkeln auf „Technik“ innerhalb der Soziologie konnte der für die empirische Untersuchung „einzusetzende“ Blickwinkel auf Praktiken, die sich im Umgang mit Technik vollziehen, erweitert werden und damit das, was für die Forscherin denkbar, wahrnehmbar, interpretierbar und letztlich sagbar wird. Zugleich wurde in der Untersuchung unter Zuhilfenahme verschiedener erkenntnistheoretischer Rahmen anderer Studien auf der einen
56 Ausnahmen u.a.: Ulrike Teubner 2009, Nina Degele 1996, Judy Wajcman 2004.
8.2 Schlussfolgerungen für Erkenntniszusammenhänge
175
Seite und der Theorien sozialer Praktiken auf der anderen die eingenommene Perspektive auf den Gegenstand „soziale Praktiken“ geschärft. Es ist gerade die lose Verbindung der Theorien sozialer Praktiken, die ermöglichend auf den Forschungsprozess „wirkt“. Dies einmal, da sie eine Heterogenität der theoretischen Zugänge zu den Forschungsgegenständen gewährleistet. Und des Weiteren, da so eine immer wieder aufs Neue stattfindende Auseinandersetzung mit erkenntnistheoretischen Rahmen und eine immer wieder neue Standortbestimmung in dem sich aufziehenden Feld gesichert bleiben (vgl. Hillebrandt 2009: 12). Nur so, um mit Stefan Hirschauer zu sprechen, können wir überhaupt Schritt halten mit der Raffinesse und dem Reichtum an Varianz, mit der kulturelle Praktiken unseren Forschungsgegenstand erfinden (vgl. Hirschauer 2004: 89). Gleiches gilt für die Pluralität methodischer Verfahrensweisen. Wie man soziale Praktiken mit unterschiedlichen theoretischen Perspektiven folgen muss, um die für das zu untersuchende Phänomen relevanten Praktiken in den Blick zu bekommen, so sind auch unterschiedliche Verfahren notwendig, um soziale Praktiken aus dem „Schwarm“ an Aktivitäten zu fassen. Die Produktivität der Art und Weise, wie Theorien sozialer Praktiken miteinander verbunden sind, als „ein Bündel von Theorien mit ‚Familienähnlichkeit’“ (Reckwitz 2003: 283) stimmt einen skeptisch gegenüber den Bemühungen, eine Theorie sozialer Praktiken oder eine Praxistheorie zu entwickeln, wie sie z.B. von Frank Hillebrandt (2009) explizit angestrebt wird, der eine soziologische Theorie der Praxis formt. Andererseits zeigte die Diskussion der Studien mit einem ethnomethodologischen, habitustheoretischen und diskursanalytischen Zugang zu Praktiken, dass zentrale Aspekte sozialer Praktiken ausgeblendet bleiben, wenn kein praxistheoretischer Erkenntnisrahmen vorliegt. Zudem findet so keine systematische „Rückführung“ oder Irritation der Theorien sozialer Praktiken statt. Ein Erkenntnisfortschritt, in dem man aus dem „Zirkel“ aussteigt und einen neuen „Zirkel“ initiiert, bleibt aus (vgl. Bohnsack 2008: 29). Die Initiierung eines „neuen Zirkels“ bietet sich auch aus der Empirie an. „Praktiken haben eine andere Empirizität“ (Hirschauer 2004: 73), denn sie laufen immer schon, sind dabei vollständig öffentlich und beobachtbar. Es gilt, den sozialen Praktiken in den Handlungsfluss zu folgen (vgl. Hörning 2004: 22) und hier ihr Wirken zu analysieren. „Wirklichkeit“ wird so in der Analyse sozialer Praktiken nicht als „Realität“, sondern in einem wörtlichen Sinne als Wirklichkeit bedeutsam. Im Mittelpunkt steht das Wirken, das Bewirken sozialer Praktiken. Da ihr Wirken immer unvollendet bleiben muss, einmal auf Grund ihrer Bewegung zwischen Wiederholung und Neuerschließung und des Weiteren auf Grund ihrer Verkettung zu Praktikenkomplexen (vgl. Reckwitz 2003: 294f), kann auch eine Erforschung ihres Wirkens nicht abschließend erfolgreich sein. Was wir hingegen analysieren und auch in Form von Phänomenen beobachten
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8 Schluss: Gewissheiten und Gewusstes
können, ist, was soziale Praktiken möglich machen bzw. wozu sie imstande sind, in der Internetagentur z.B. zur Konstruktion von Kollektivakteuren, zur Normalisierung von neuen Mitarbeitern oder zur Überordnung der männlichgrammatikalischen Form im gesprochenen Wort und Texten. Praktiken eröffnen Möglichkeitshorizonte, innerhalb dessen sie sich ereignen können, innerhalb dessen angemessen und erwünscht gehandelt werden kann. Damit richtet sich der forschende Blick auf das, was möglich ist. Eine Analyse von Praktiken bringt demnach weniger Erkenntnisse über Vollzugswirklichkeiten, sondern über Möglichkeiten, innerhalb dessen Wirklichkeit vollzogen werden kann. 8.3 Schlussfolgerungen für die Forschungspraxis Anders als für Loïc Wacquant (1996) war es für diese Untersuchung nicht notwendig, sich über Jahre im Boxring praktisches Wissen einzuverleiben, da die Forscherin, da ich mich nicht zum ersten Mal auf die Praktiken des Feldes einließ. So ging ich in den Forschungsprozess nicht nur als lebender „Aufzeichnungsapparat“ (Hirschauer/Amann 1997: 25), sondern auch als alter „Tontopf“ angehäuft mit vergangenen Erfahrung ein. Diese Erfahrungen lagen in Form von Erinnerungen an Ereignisse vor. „Erinnerung“ meint hier ein vielfältiges Hervorbringen von Vergangenem. So traten Szenen vergangener Ereignisse vor mein inneres Auge, die ich wie Beobachtungen schriftlich festhalten konnte. In Gesprächen mit Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Internetagentur wurden „alte“ Meinungen und Einstellungen von mir reaktiviert, die geteilte Erfahrungsräume im Gesprächsverlauf erzeugten. Über den Umgang mit bekannten Dingen und Personen wurde „altes“ professionelles Erfahrungswissen mobilisiert. Es ist vor allem der Körper, der sich an Mousebetätigungen oder Blickrichtungen erinnert. Durch das „Hervorbrechen“ des „Alten“ schärfte sich zugleich der innere Blick auf das „Neue“. Vor allem durch die Wechselbewegung zwischen beiden Wissensrepertoires wurde das implizite Wissen reflexiv und damit auch empirisch zugänglich. In den Analysen kommt immer wieder die Vergangenheit als Horizont zur Beurteilung gegenwärtiger Aktivitäten in den Blick. So gelingt es, die Transsituativität sozialer Praktiken, – dass sie über eine konkrete Situation hinaus Bestand haben –, zu fassen, indem aktuelle Ereignisse gegen bereits Erlebtes kontrastieren. Diese beiden Phänomene, dass ich Zugang zu inkorporiertem und impliziten Wissen sowie zu verschiedenen Zeithorizonten von Praktiken hatte, ist methodisch weder Segen noch Fluch, es ist eine allgemeine Forscherwirklichkeit. Bereits seitdem die Ethnografie auch zur Erforschung der „eigenen Kultur“ eingesetzt wird, stellt sich die Frage, wie von der Forscherin bereits Gewusstes, viel-
8.3 Schlussfolgerungen für die Forschungspraxis
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leicht sogar selbstverständliche Gewissheiten, kontrolliert und zugänglich gemacht werden können (vgl. u.a. Hirschauer/Amann 1997, Hitzler/Honer 1997). Diese Debatte findet auch innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung statt, die sich hier auf das Alltagswissen über das Geschlecht der Forscherin – weil auch sie ein Geschlecht „hat“ – fokussiert (vgl. u.a. zur Diskussion: Behnke/Meuser 1999: 77ff). Gleichermaßen ließe sich fragen, ob die Erforschung der US-Fernsehserie „X-Files“ (X-Akte) unmöglich sei, wenn die Forscherin ein jahrelanger Fan der Serie ist und an die Existenz Außerirdischer glaubt? Oder: Kann ein junger Forscher das Phänomen Aquafitness für Seniorinnen erforschen? Letztendlich entfaltet sich die Frage entlang des theoretischen und des praktischen Wissens des Forschers, sowie entlang des Akteurs „Forscher“ und der Person XY, der Forscher ist. Gerade die praxistheoretische Forschung zeigt, dass diese Trennungen Konstruktionen sind, die, wie es Hillebrandt mit Bourdieu formuliert, als Illusio der wissenschaftlichen Praxis verstanden werden können und hier wirken: „das Prinzip der modernen Wissenschaften, sich von ihrem Gegenstand so weit wie möglich zu entfernen, um wissenschaftliche Erkenntnisse zu produzieren“ (Hillebrandt 2009: 41). Die Reflexion von Entdeckungs- und Begründungszusammenhängen ist demnach ein notwendiges Regulativ, dass auch bei der Auswahl und dem Einsatz von Verfahrensweisen zum Tragen kommt. In der vorliegenden Untersuchung wird eine Ethnografie eingesetzt, die diese Reflexion besonders begünstigt, indem sie mit „künstlichen“ Distanzierungsverfahren arbeitet. Lars Meier, der Finanzmanager in Singapur und London untersucht, formuliert dies für sein Vorgehen so: „Aus dieser kunstvollen Fremdheit, der ‚Befremdung der eigenen Kultur’ (Hirschauer/Amann 1997), konnte ich so Alltägliches und mir Vertrautes besser entdecken und Einsichten in mir teilweise bekannte Identitäten und Lebensweisen erlangen“ (Meier 2009: 43). „Alltägliches“ und „Vertrautes“ begegnet der Forscherin immer, da sie Teil des Sozialen ist. Und das, was zu Beginn der Forschungen „exotisch“ und „fremd“ erscheint, wird im Laufe des Feldaufenthaltes immer alltäglicher und vertrauter, ebenso wie das „Alltägliche“ und „Vertraute“ „exotischer“ und „fremder“ werden kann. Durch die Methode der teilnehmenden Beobachtung wurde in der Untersuchung die Körperlichkeit und Artefaktabhängigkeit sozialer Praktiken nicht nur beobachtbar, sondern auch erleb- und erfahrbar. Das praktische Wissen wird in der Forscherin „wirksam“ und befähigt sie, sich in die Praktiken zu involvieren. Wissen wird so nicht nur kognitiv wahr- und aufgenommen, sondern auch über den eigenen Körper zugänglich. In der Zusammenführung dieses praktisch erfahrenen Wissens mit anderen Wissensquellen, wie verbalen Äußerungen in Interviews oder der Analyse von Dokumenten, ergibt sich ein breites Spektrum des Zugangs auch zu implizitem Wissen.
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8 Schluss: Gewissheiten und Gewusstes
Die Erfassung und die Analyse der spezifischen Zeitlichkeit von Praktiken lassen sich ebenfalls über eine Methodenpluralität erreichen. Die Problematik liegt hier in dem fortlaufenden Vollzug, der neben vergangenen Erfahrungen auch auf zukünftige Erwartungen verweist. Dieses Problem stellt sich allerdings „Praktikern“ ebenso wie „Forscherinnen“, denn auch wenn ich als neu Eingestellte eine Firma betrete, sind bereits Praktiken vorhanden, die mir größtenteils nicht geläufig sind. Vielleicht erhält man ein Handbuch, aus dem hervorgeht, wo man sein Frühstücksbrötchen oder eine CD-Rom erhält. Vielleicht bekommt man einen Mentor auf Zeit an die Seite gestellt, der das Firmenintranet erklärt und einen zum Teammeeting mitnimmt. In Organisationen haben sich je eigene Praktiken zur Einführung und Einpassung Neuer entwickelt. An diesen wird auch die Forscherin teilhaben oder sie kann diese beobachten, Dokumente über die Firmengeschichte einsammeln und in Gesprächen auf vergangene Verfahrensweisen schließen. Ein grundsätzliches „Zugänglichkeitsproblem“ (Reckwitz 2008b: 1995ff) zur Erforschung sozialer Praktiken lässt sich aus den forschungspraktischen Erfahrungen nicht ableiten. Dass der Zugang zum Sozialen grundsätzlich unvollständig sein muss í für „Forscherinnen“ ebenso wie für „Praktiker“ í lässt sich mit Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (2006) im Sozialen selbst begründen: Das Soziale selbst hat kein Wesen, das Soziale ist in sich immer unvollständig.
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