BELGIEN in einer Nusschale von FERNAND DESONAY der Académie royale de langue et de littérature françaises
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BELGIEN in einer Nusschale von FERNAND DESONAY der Académie royale de langue et de littérature françaises
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LUMIÈRE VERLAG BRÜSSEL
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ELGIEN ist ein Naturwunder durch die Zahl seiner Ecken, hat ein grosser Historiker gesagt; man könnte auch von einem Kreuzweg oder einer Drehscheibe sprechen. Dieser Kreuzweg des Westens, gelegen an der Grenzscheide der germanischen_Welt und der mittelländischen Kultur, hat stets die gegenseitige Fühlungnahme begünstigt. Auf den Karten von Belgien zeichnen sich viele Ortsnamen durch jene gekreuzten Schwerter aus, aus denen hervorgeht, dass sich dort einstmals Angehörige feindlicher Heere, auf Tod und Leben gegenüber gestanden haben. Aber in unseren Tagen erfüllt eine unendliche Hoffnung die Herzen der Friedliebenden; und Brüssel ist stolz darauf, immer öfters als Versammlungsort zu dienen für die, die guten Willens sind.
BAUDOUIN I König der Belgier
Belgien ist eine konstitutionelle Monarchie auf sehr demokratischer Grundlage. Die Verfassung, die am 7. Februar 1831 angenommen worden ist, geht gleichzeitig auf die alten kommunalen Freiheiten wie auf die berühmte Verkündung der Menschen- und Bürgerrechte zurück, die ihrerseits wieder auf der englischen Verfassung beruht. „Alle Macht geht vom Volk aus“ (Art. 25). Der König erkennt eine Art von Pakt an und schwört, denselben zu befolgen; die Vorrechte über die er verfügt, sind die, die ihm das Volk auf Grund dieses Grundgesetzes anvertraut hat. Alle Belgier sind „gleich vor dem Gesetz“ (Art. 6). Gewährleistet sind, abgesehen von der persönlichen Freiheit, Freiheit des Bekenntnisses, Freiheit der Schule, Freiheit der Presse, Versammlungsfreiheit, Petitionsfreiheit und freie Wahl der Muttersprache. Die gesetzgebende Gewalt liegt in den Händen des Königs und der beiden Kammern (Abgeordnetenhaus und
Senat), die ausübende Gewalt geht vom König aus, der seine Minister ernennt, während die richterliche Gewalt von den Gerichtshöfen abhängt. Die Verfassung kann nur mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Volksvertretung geändert werden. Eine solche Abänderung hat am 7. September 1893 stattgefunden; sie gestattete Belgien u. a. Kolonien zu erwerben; ebenso ersetzte sie das Klassenwahlrecht durch das allgemeine, allerdings Mehrstimmenwahlrecht, das den Männern vorbehalten war. Seit 1949 erst sind auch die Frauen sowohl für das Abgeordnetenhaus wie für den Senat wahlberechtigt. Seither ist das allgemeine Wahlrecht unbeschränkt. Brüssel, die Hauptstadt, ist Sitz des Königs wie des Parlamentes. Belgien umfasst neun Provinzen: Westflandern, Ostflandern, Antwerpen, Limburg, Brabant, Hennegau, Namur, Lüttich und Luxemburg. In der Ver-
Luftbild des königlichen Palastes, zu Brüssel
waltung der Provinzen macht sich noch die Nachwirkung der politischen Zentralisation bemerkbar, welche die Herzöge von Burgund einführten und die nach ihnen die Herrschaft der Habsburger (die spanischen und dar nach die österreichischen) und die französische Periode verschärften. Der Gouverneur der Provinz vertritt den König, der ihn ernennt und der ihn abberufen kann. Der Provinziallandtag geht aus allgemeinen Wahlen hervor; er bestimmt aus seinen Mitgliedern eine „beständige Deputation“. Dagegen bewahren die Einrichtungen der Gemeinden noch Zeichen jener „Kirchturmspolitik“, deren Geist bei den Belgiern durch Jahrhunderte hindurch die Einmischung der Fürsten wach hielt. Gothisches Rathaus von Brüssel.
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Brüssel. Triumphbogen der Fünfzigjahrfeier, errichtet zur Erinnerung an die fünfzigste Wiederkehr des Geburtstages der Unabhängigkeit. Ļ
Pro vinz ANT W E RPEN .
Luftbild der Kathedrale von Antwerpen mit der Turmspitze der Kathedrale (123 m. Höhe).
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Der Wachtturm des Rathauses von Lierre. ĺ
Mecheln. Die Kathedrale Saint-Rombaut und ihr massiger, viereckiger Turm (97 m. Höhe). Er besitzt das berühmteste Glockenspiel Europas. Ļ
WESTFLANDERN.
Das romantische Brügge im Schnee.
ĸ Das Nonnenkloster von Courtrai.
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Die berühmte Tuchhalle von Ypern (XIII. Jahrhundert); sie ist nach dem ersten Weltkrieg wiederhergestellt worden. Ļ
OSTFLANDERN. Das Rathaus von Audenarde, ein Kleinod der flämischen Renaissance.
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Der Wachtturm von Alost.
Der alte Hafen von Gent. Ļ
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Provinz LUTTICH. Panorama von Lüttich, Musterbeispiel einer wallonischen Stadt.
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Spa, der älteste Kurort Europas.
Lüttich. Der Perron, Symbol der Kämpfe der Stadt für ihre Freiheit.ĺ
Provinz LIMBURG. Alte Häuser in Hasselt. Ļ
Provinz HENNEGAU. Der Wachtturm und die Kathedrale von Tournai, einer der ältesten JStädte Belgiens, die im zweiten Weltkrieg, schwer beschädigt wurde. ĸ Mons. Alter Brunnen.
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Mons. Kirche Sainte-Waudru.
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NAMUR, die Provinz deren Naturschönheiten dem Theater zur Kulisse dienen könnten. Die Maas bei Namur mit der alten Pfeilerbrücke und die Citadelle.
ĸ Am Fusse der Citadelle von Dinant erhebt sich diese bemerkenswerte Kirche aus dem XIII. Jahrhundert. Luftbild des „Château d’Ardenne“, einer ehemaligen königlichen Residenz. Ļ
Provinz LUXEMBURG. Bouillon an der Semois. Von dieser Burg aus trat Gottfried von Bouillon den Kreuzzug an.
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Arlon. Die Kirche Saint-Donat (XVII. Jahrhundert), errichtet an der Stelle des Schlosses der Grafen von Arlon. ĺ
Luftbild von Durbuy, der kleinsten der belgischen Städte. Ļ
Stätten der Kunst
Antwerpen : 257.634 Einwohner. (Französisch, Anvers; Flämisch, Antwerpen). Einer der tätigsten Häfen des Erdballs, bietet dieses Neue Carthago dem Turisten den vielfachen Glanz seiner Kunstschätze. Seine Diamantschleifereien sind berühmt. Nahe am Bahnhof hat ein Zoologischer Garten zur Freude der Kinder und zahlloser Besucher sich bemüht, einer Anzahl von Tieren ihre natürliche Umgebung zu schaffen. Das Aquarium, die Sammlung exotischer Vögel und das Okapi aus dem belgischen Kongo gehören zu den begehrtesten Sehenswürdigkeiten. Vom ,,Meir“, dessen lebhaftes Treiben an ein antikes Forum erinnert, an einem Wolkenkratzer von vierundzwanzig Stockwerken vorbei gelangt man zum ,,Stehen“ und den Kais der Schelde, wo Überseeschiffe aller seefahrenden Nationen verankert sind. Man kann auf Vergnügungsbooten die verschiedenen Becken des Hafens durchfahren und sich von der Bedeutung seiner Ausrüstung, der Kräne, Getreideaufzüge und der riesigen Schleusen Rechenschaft geben. In der Altstadt liegt die Kathedrale, deren Turmspitze eine Höhe von 123 Metern erreicht, und die ein Meisterwerk der Gotik ist; in ihrem Inneren befindet sich die berühmte Kreuzabnahme von Peter-Paul Rubens. Es lohnt sich, das Plantin Museum, das malerische Haus der Schlachtergilde, die Gärten und das Haus des Rubens zu besichtigen. Ebenso das Königliche Museum der Schönen Künste. Neue, breite, baumbestandene Strassen mit vornehmen Häusern hinterlassen einen Eindruck von Reichtum. Antwerpen, diese „gegen das Herz Englands gerichtete Pistole“, wie Napoleon sagte, hat manchesmal die Rolle eines verschanzten Lagers gespielt. Arlon : 11.950 Einwohner. (Fl. Aarlen). Dies ist der recht bescheidene Hauptort der am schwächsten bevölkerten aber ohne Zweifel malerischsten Provinz, der Provinz Luxemburg. Und doch kann sich Arlon einer weit zurückgehenden Vergangenheit rühmen; kürzlich vorgenommene Ausgrabungen haben die Stadtmauern der einstigen römischen Stadt freigelegt. Ein alter Kalvarienberg wacht über den Schieferdächern, die der viereckige Turm der Kirche Saint-Donat beherrscht. Audenarde : 6.545 Einwohner. (Fl. Oudenaarde). Die flämische Renaissance hat das edle Kleinod des Rathauses von Audenarde geschaffen. Die Aussenseite zeichnet sich durch ihr unübertreffliches Ebenmass, durch das Gleichgewicht ihrer Baumassen und durch die Pracht ihrer Ausschmückung aus, ohne überladen zu wirken; der Mittelturm mit seinen durchbrochenen Baikonen hat nichts schweres oder lastendes. 22
und der Geschichte
Brügge : 51.834 Einwohner. (Fr. Bruges; Fl. Brugge). Es gibt eine Romantik von Brügge, von „Brügge der toten“, wie sie zum grossen Schaden der Brügger selber Georges Rodenbach getauft hat. Der Öldruck mit den verschlafenen Kanälen, den Schwänen, die über das „Minnewater“ gleiten, dem schlanken Glockenturm des Beguinenklosters und den gezackten Giebeln, die sich im dunklen Wasser spiegeln, hat lange seine Schuldigkeit getan. Aber die bürgerlichen und kirchlichen Bauten bezeugen klar und mit unvergleichlichem Stolze, dass die Zeit der Commune und der Weber den Triumph von „Brügge der lebenden“ bedeutete, eines der Kreuzwege des westlichen Handels. Die im XIII. und XIV. Jahrhundert errichteten Hallen bilden das stämmige Fundament für den Wachtturm, diesen unersetzlichen Hintergrund für das Spiel vom Heiligen Blut, das alle fünf Jahre die farbenfrohen Mengen der Stadt in gläubige Inbrunst versetzt. Der Palast_Gruuthuuse beherbergt eine wundervolle Sammlung von Spitzen. In den engen Strassen lassen vor den Türen mit den blinkenden Beschlägen, die in blitzblanke Hausinnere führen, die letzten Spitzenklöpplerinnen ihre flinken Klöppel spielen. Das Hospital Saint-Jean bewahrt zahlreiche Bilder von Memlinc : Heilige und Jungfrauen mit gewölbter Stirn, junge Männer mit träumerischem Blick und kraftloser Lippe... Brüssel : 178.942 Einwohner (annähernd eine Million mit Einschluss der Vororte). (Fr. Bruxelles; Fl. Brussel). Wenn Brüssel dank seiner Tuchindustrie, seiner Messerschmiede und Goldschmiede schon am Ende des XIV. Jahrhunderts den Höhepunkt seiner wirtschaftlichen Macht erreicht hatte, so schmückt es sich unter den Herzögen von Burgund als Stätte des Vergnügens. Das Rathaus, dessen rechter Flügel kürzer ist als der linke, stellt mit Stolz seine Fassade zur Schau, auf der die Bildhauer Gegenwart und Vergangenheit in den Stein gemeisselt haben. Der 90 Meter hohe Turm ist gekrönt von einem kupfernen Sankt Michael, der den Drachen niederwirft. Der Grosse Platz von Brüssel gilt mit Recht als einer der schönsten der Welt: die Zunfthäuser in italienisch-flamischem Stil sind nach der verheerenden Beschiessung durch Villeroy vom 13. bis 15. August 1695 wieder aufgebaut worden. Die im Gang befindlichen Arbeiten der Verbindung Nord-Süd haben das alte, vornehme Viertel des Sablon und die volksreichen Sackgassen der Putterie in Mitleidenschaft gezogen. Das augenblickliche Gesicht der Stadt verdankt seine Eigentümlichkeit den Bauten des Barock, wie Notre-Dame der Sieben Schmerzen, den Riches-Claires oder dem Portal 23
der Brauerei zum Striegel (Etrille), sowie den zeitgemässeren Bauten, zu denen Leopold II., der Königliche Bauherr, Anlass gegeben hat. Zur Verbindung der Oberstadt mit der Unterstadt hatte Leopold II. den Plan einer monumentalen Treppe entworfen, — des Mont des Arts, — der mit den Reihen seiner Standbilder und mit seinen hängenden Gärten den Glanz des Roms der Cäsaren hätte wieder aufleben lassen. Auf seine unmittelbare Veranlassung wurde endgültig in Angriff genommen der Ringboulevard von den glatten Stämmen des Cambrewaldes bis zum japanischen Turm von Laken. Die Avenue von Tervüren verlängert die Rue de la Loi, geht unter dem Triumphbogen des Cinquantenaire hindurch und eröffnet einen vielversprechenden Blick auf das Kolonialmuseum und seine Sammlungen afrikanischer Kunst. Was für Gegensätze zwischen dem Haus des Erasmus_in_Anderlecht, der Königlichen Bibliothek im beschaulichen Rahmen einer fürstlichen Residenz, Sainte-Gudule und ihren Zwillingstürmen und dem „babylonischen“ Justizpalast. Brüssel hat seine schönen Viertel, die hauptsächlich nach dem Walde zu liegen, einem wundervollen Buchenbestand, den die Luxuswagen durchfahren. Und Brüssel hat auch das flinke Mundwerk seiner kleinen Leute, seine Trachtenumzüge, seine farbenfrohen Kirchweihfeste und das Neonlicht seiner Schilder : die ganze Lebhaftigkeit einer reichen und genussfreudigen Stadt, glückliches Gewimmel, wo die Arbeit König ist, und das Vergnügen allgemein. Brüssel, hervorgegangen aus einem bescheidenen Castrum, oder Inselschloss das von den Sümpfen der Senne beschützt wurde. Charleroi : 25.982 Einwohner. Die Fabriken und Kohlengruben geben dieser lebhaftesten Stadt des Kohlenreviers das Aussehen der Schmiede des Vulkan. Aber diese Kohlenhalden, diese Schornsteine, die ununterbrochen ihren Rauch ausstossen, diese blanken Schienen und der glühende Fluss des geschmolzenen Metalls sind von einer eigenen Schönheit. Trotz seiner buntgemischten Bevölkerung — es gibt zahllose ausländische Grubenarbeiter — bleibt Charleroi eine Stadt, die singt. Das Mühsal der Menschen hat auf den rauhen Gesichtern, die der Kohlenstaub mit bläulichen Flecken sprenkelt, das Lachen nicht ausgelöscht. Chimay : 3.220 Einwohner. Dieses etwas schläfrige Städtchen ist fürstliche Residenz und bekannt durch sein Schloss, den See von Virelles, eine Automobilrennbahn, den Umkreis seiner Wälder und ein Cistercienserkloster, dessen Mönche dem Durchreisenden Bier und Käse eigener Erzeugung anbieten. Courtrai : 40.657 Einwohner. (Fl. Kortrijk). Dies ist die Stadt des Flachses, dessen Blüten himmelblau wie Kinderaugen sind, und dessen Stengel in den Wassern der Lys lange Zeit eingeweicht, oder wie es heisst geröstet werden; dieser Vorgang erfüllt die ganze Luft mit einem schweren, scharfen Geruch. Das Rathaus ist ein Muster der flammenden, flamboyanten, Gotik. Die Kirche Saint-Martin reckt ihren Turm mit den fünf Spitzen zum Himmel. Das Beguinenkloster wird für das schönste Belgiens gehalten. 24
Dinant : 6.314 Einwohner. Der wirtschaftliche Ruf von Dinant ist stark zurückgegangen seit der Zeit, da die „Copères“ oder Kupferschläger den Herzögen von Burgund so schwer zu schaffen machten, als noch 20 000 Einwohner die Stadt und ihre Vorstädte bevölkerten. Man findet noch in Dinant Kessel, Leuchter und Schüsseln aus handgearbeitetem Kupfer; und man geniesst dort einen kernhaften mit Honig bereiteten Pfefferkuchen. Der zwiebelförmige Glockenturm der Kirche aus dem XIII. Jahrhundert zeichnet sich von dem Felsen, am Fusse der Stadtfeste, ab. Die grellfarbigen Dächer spiegeln sich in der Maas. In einiger Entfernung von der Stadt erinnert der Bayardfelsen an die mittelalterliche Sage von den vier Haymonskindern und jenem sagenhaften Pferde, das seine eisernen Kniee spannte, um — hupp, — in einem Sprunge über das Bett des Flusses zu setzen. Gent : 164.260 Einwohner. (Fr. Gand; Fl. Gent). Karl V. liebte zu sagen : ,,Ich stecke Paris in meinen Handschuh“. (Handschuh französisch gleich gant (Gent)). Es ist die stolzeste Stadt Belgiens. Unbezwungen und unbezwingbar befanden sich die „Gentenaars“, die Genter, stets an der Spitze der Revolutionen. Die Kais der Schelde sind ebenso poesiegeladen wie die von Brügge. Im Herzen von Gent bilden drei Türme, der von Saint-Bavon, der Stadtturm und der von Saint-Nicolas die eindrucksvollste Reihenfolge. Etwas weiter versinnbildlichen die herausfordernden Zinnen des Grafenschlosses in vollendeter Weise den Geist des Aufruhrs, der jedem echten Bewohner von Gent teuer ist. Schlagender Gegensatz : die Fassade des Museums ist mit der Vornehmheit ihrer Linien und der Schönheit ihrer Verhältnisse eines der vollendetsten Musterbeispiele der französischen Architektur. Seine Blumenfeste sind regelmässig ein Anziehungspunkt für Scharen von Besuchern, denn die Zucht der seltensten Blumen, wie der Orchideen, der kräftigsten, wie der Hortensien oder der farbenfreudigsten, wie der Begonias, hat aus der Ebene von Gent und den Ufern der Lys einen vielfarbigen Garten gemacht. Hasselt : 31.888 Einwohner. Ein alter Fachwerkbau erheitert den Grossen Platz. Aber Hasselt erwacht aus seinem langen Halbschlaf als grosser ländlicher Marktflecken. Die Entdeckung von Kohle im Untergrund der limburger Ebene hat dieselbe magische Wirkung wie der Kuss des Prinzen auf Dornröschens Stirn. Die Industrie hat nicht den Reiz eines ebenen Landes getötet, wo die Heide blüht und wo die Jäger in den Sümpfen der Sumpfschnepfe nachstellen. Huy : 13.119 Einwohner. (Fl. Hoei). Seine „Tschestia“ oder Stadtfestung, die „Bassinia“ oder der kupferne Brunnen, die „Rondia“ oder die Fensterrose der Kollegialkirche, die „Pontia“ oder die alte Brücke, die der Krieg zerstört hat : das waren die vier Wunder des Maasstädtchens. Ist man über die ,,Pontia“, auf der Seite, wo die Stadt unterhalb der holländischen Festung eine Anzahl Häuser zu einer Gruppe zusammenfasst, von der man glauben könnte, sie sei in ihrem reizenden Durcheinander aus der Kiepe eines Teufels gefallen, der zugleich Theater25
regisseur war, so steht man voll Staunen vor den Bogengängen und den leuchtenden Farben der Fassaden. Auf den nach Süden liegenden Hängen liess die Sonne lange die letzten Trauben des Tales zur Reife kommen. Das ist der Grund, weshalb die Gemüsegärtner von Saint-Pierre sich noch immer des Weinbaus erinnern, und in ihrem Wappen im roten Felde drei goldene Trauben und ein Winzermesser aus klarem Silber führen. Lüttich : 155.900 Einwohner. (Fr. Liege; Fl. Luik). Die Lütticher möchten ihre Stadt gern mit Paris vergleichen. Sie hat Anmut, Schwung, eine Empfindsamkeit, die nicht sehr entfernt vom Spott ist, den sanft geschwungenen Bogen seines Flusses, das Geläut seiner Glocken und seine Brunnen. „Es sprudelt hier gar mancher frische und klare Brunnen“ sagt schon Guicciardini voller Bewunderung. Der Brunnen auf dem Platz vor dem Rathaus, der „Violette“ wie es genannt wird, trägt an seiner Spitze den glorreichen Perron; um die Becken und Pfeiler, die Stufen und die achteckige Galerie mit Marmor und Bildwerken, mit Bronzen und Reliefs zu schmücken, arbeiteten die Meister der Bildhauerkunst wie Jean Delcour mit all der Leidenschaft, deren ihr Meissel fähig war. Das Wasser fliesst in die Becken, die durch leichte, kleine Säulen voneinander getrennt sind; der Perron selbst erhebt sich auf einer durchbrochenen Galerie, getragen von vier liegenden Löwen; die Gruppe der drei Grazien hat die losen Mädchen abgelöst; der Tannzapfen, vom Kreuze gekrönt, ist unter freiem Himmel als Sinnbild der kommunalen Freiheiten aufgerichtet. Etwas weiter befindet sich das Meisterwerk von Renier von Huy, dem guten Goldschmied, der dem Heiligen Elegius, dem Schutzherrn seiner Zunft Ehre macht. Es ist das aus Messing gegossene Taufbecken in der Kirche Saint-Barthélemy, das auf einer Untermauerung ruht, aus der zwölf Rinder hervortreten. Der Platz SaintLambert mit dem Palast der Fürsterzbischöfe ist das Herz von Lüttich. Dieses Lüttich, das das Herz von Grétry aufbewahrt. Die drei reichen Kirchen Sainte-Croix, Saint-Jean und Saint-Jacques erinnern an das Sprichwort, wonach die Stadt Notkers ein Paradies für Priester war. Der Lütticher hat die Überlieferung der anspruchsvollsten Arbeit hochgehalten, der Arbeit die es versteht, das gewünschte Werk im Herzen des härtesten und widerstrebendsten Stoffes anzubringen. So kommt es, dass ein Gewehr aus Lüttich ein Produkt der Geduld und der Liebe ist. Eingelegt wie ein orientalischer Dolch, macht die Waffe den Stolz dessen aus, der es verstand, das Wappenschild einzugraben und nach eigenem Entwurf die Verzierung aus goldenen und silbernen Fäden einzulassen. Lierre : 28.836 Einwohner. (Fl. Lier), Das Rathaus dieser klein flämischen Stadt verschmilzt — und diese Verschmelzung bleibt einzigartig — einen spitzen Wachtturm des XIV. Jahrhunderts mit einem Giebelbau im reinsten Stil des französischen XVIII. Jahrhunderts. Die Kirche Saint-Gommaire besitzt ein berühmtes Glockenspiel. Der Turm Zimmer birgt eine astronomische Uhr, deren Gang kunstvoll verwickelt ist. Von den Innenseiten des Beguinenklosters mit ihren dreikreuzigen Fensterrahmen und von ihren sanft geschwungenen Türen geht der Eindruck friedlicher Eintönigkeit aus, wie von den Wechselgesängen einer im Chor geleierten Litanei. 26
Löwen : 35.272 Einwohner. (Fr. Louvain; Fl. Leuven). Die Alma Mater der Universität hat seit dem XV. Jahrhundert ihre Adelstitel; heute bevölkern 9 000 Studenten ungefähr ihre Institute, Kollegien, Hörsäle, Laboratorien und Seminare. Die Universitätsbibliothek fiel zweimal dem Brande zum Opfer, 1914 und 1940; sie ist beinahe gänzlich wiederhergestellt. Löwen ist stolz auf sein prachtvolles Rathaus flammenden (flamboyanten) Spitzbogenstils aus dem XV. Jahrhundert. Die Kirche Saint-Pierre verdient es, dass man sich bei ihr aufhält, ebenso die Abtei von Sainte-Gertrude. Vor den Toren der Stadt bewahrt die norbertinische Abtei du Parc in einem Rahmen, so friedlich wie man ihn nur wünschen kann, eine sehr bemerkenswerte Sammlung von Täfelwerk, Wandteppichen und Gemälden. Mecheln : 62.714 Einwohner. (Fr. Malines; Fl. Mechelen). Eine der Städte Belgiens, deren Bevölkerungslinie am lebhaftesten ansteigt. Mecheln „die Schöne“ hat noch nicht den Glanz von ehemals vergessen, als es Residenzstadt und Sitz der burgundischen Ämter war. Es beherbergt in seinen Mauern den Palast des Erzbischofs. Ein Spaziergang durch Mecheln, längs der alten Uferwege, ist eine Quelle höchster Verwunderung : alle Stile von XV. bis zum XVIII. Jahrhundert begegnen sich hier und wetteifern im besten Geschmack. Auf dem Marktplatz erhebt sich der mächtige Turm der Kathedrale Saint-Rombaut, der an den schönen Sommerabenden die schmeichelnden Töne seines Glockenspieles entsendet, das Victor Hugo zum Träumen brachte. Die Kirche Saint-Jean ist voll Vornehmheit. Notre-Dame d’Hanswijk ist das Ziel zahlreicher Wallfahrten. Malmedy : 5.835 Einwohner. Im Grunde einer Art Trichter, am Fusse der Fagnes gelegen, bietet Malmedy den Forellenfischern, den Jägern und den beharrlichen Fussgängern unverfälschte und gesunde Freuden. Die Warche, eine Art von Wildstrom, fliesst der Amblève zu. Die alten Häuser im Lütticher Stil haben das Ungemach eines Luftangriffes über sich ergehen lassen müssen. Aber die Natur genügt sich hier selbst. Die Automobilrennstrecke von Francorchamps ist unweit Malmedy zwischen Tannenwäldern und Ginsterbüschen angelegt. Mons : 25.464 Einwohner. (Fl. Bergen). Der „Lumeçon“ oder Drache erliegt hier jedes Jahr nach einem Kampf auf Tod und Leben gegen den guten Sankt Georg. Auf dem Marktplatz erfüllt ein kleiner_Affe aus Bronze, dessen Schädel durch die Liebkosungen der auf einander folgenden Geschlechter nicht mehr und nicht weniger abgewetzt ist, als der Fuss des heiligen Peter in der Basilika des Vatikan, unentwegt seine Aufgabe als Schutzgeist. Die Kollegialkirche von Sainte-Waudru ist ein Kleinod des späten Spitzbogenstils; der Chor mit seinen absidenförmigen Kapellen zeigt Linien von erstaunlicher Reinheit. Der Wachtturm von Mons ist das einzige Beispiel eines solchen im Stile des Barock, der auf unserem Boden gediehen ist. Namur : 31.804 Einwohner. (Fl. Namen). Das Lied der Bewohner von Namur lautet ,,Li bia bouquet” : es bedeutet 27
den schönsten und wohlriechendsten Strauss aus Maiblumen, den der Liebhaber anbietet und den die Erwählte an ihr Mieder steckt. Aber sollte das „Schöne Bouquet“ von Namur, am Zusammenfluss der_Maas und der Sambre, nicht eher die unvergleichliche Pracht seiner grauen Dächer sein, die das Auge von der Höhe der Citadelle aus entdeckt? Die Citadelle, ganz aus Steinblöcken, liegt auf dem Felsvorsprung. Die mittelalterliche Stadt hatte sich in dem Winkel zusammengedrängt, in dem die beiden Flüsse zusammenstossen : Namur bleibt eine enge und winklige Stadt. Die Kirchenglocke von Saint-Jean, den echten Bewohnern von Namur fast ebenso teuer wie die von San Giovanni dem Herzen Dantes, genügt, um sie samt den Vororten zu erfüllen. Namur hat eine ganze Anzahl von Belagerungen und Beschiessungen mitgemacht; aber nach jedem Kriege wiederholt es die Gebärde des Mannes, der Halt macht, um sein Haus zu bauen oder wieder aufzubauen am Ufer des Flusses, der in seinem Laufe nie Halt macht. Nivelles : 12.486 Einwohner. (Fl. Nijvel). Gertrud, die Tochter Philipps von Landen, weigerte sich einen Baron zu ehelichen, den ihr der König Dagobert ganz in Seide gekleidet und mit Gold bedeckt, vorstellte; und sie gründete in Nivelles in Brabant ein Kloster. Als sie im Frieden des Herrn entschlief, fanden am Eingang der Krypte, in der sie ruht, Wunder statt, und so kommt es, dass es keinem, der eine tötliche Sünde auf sich geladen hat, gelingt, zwischen der Säule am Grabmal der heiligen Klosterfrau und der benachbarten Wand durchzugleiten. Der romanische Kreuzgang von Sainte-Gertrude hat schwer unter der Welle von Eisen und Feuer gelitten, die in den ersten Tagen des letzten Krieges über die Stadt hinwegging. Aber die Mauern sind bereits heute wieder aufgerichtet, und die „Aclots“ — so lautet dar Spitznahme der Bewohner von Nivelles — haben ihr Lächeln wiedergefunden. Ostende : 52 649 Einwohner. (Fl. Oostende). Ostende ist die Königin der belgischen Strandbäder, mit seinem Strand aus hellem und feinem Sand, den der Kranz der Dünen zusammenhält. Stadt und Hafen haben unter den Beschiessungen vom Mai 1940 und unter der Errichtung der berühmten „Atlantischen Mauer“ gelitten, deren Widerstandskraft übrigens eine eitle Hoffnung war. Auch hier geht der Wiederaufbau seinem Ende entgegen. Der Rennplatz von Wellington und der Kursaal öffnen wieder ihre Pforten. Was den Turisten hauptsächlich nach Ostende zieht, ist das liebenswürdige Wesen einer Küste, wo sich die Kinder nach Herzenslust zwischen den Krevettenfischern und den mit Muscheln bedeckten Wellenbrechern tummeln können im Angesichte der opalisierenden Schattierungen des Meeres, das nur selten heftig wird. Tongres : 14.690 Einwohner. (Fl. Tongeren). Sehr alte und sehr bedeutende römische Stadt an der grossen Landstrasse von Bavai nach Köln. Vor der Basilika von Notre-Dame mit ihrem romanischbyzantinischen Kreuzgang aus dem XII. Jahrhundert steht das Bronzedenkmal des Ambiorix, Häuptlings der Eburonen. Immer gelang es dem ungreifbaren Ambiorix, dem sagenhaften Jäger, gehetzt aber frei, von der 28
Maas bis zum Rhein, und vom Rhein bis zur Maas den römischen Reitern zu entwischen, die hinter ihm her hetzten. „Unter dem Schutze der Nacht“ schreibt Cäsar, „wich er nach einer anderen Gegend, nach einer anderen Richtung aus, von nicht mehr als vier Reitern begleitet, den einzigen, denen er sein Leben anzuvertrauen wagte“. Nicht weit von Tongres, in Russon, wird jedes Jahr am ersten Mai das halb heidnische, halb christliche Fest des Heiligen Evermar und seiner Gefährten gefeiert. Tournai : 33.000 Einwohner. (Fl. Doornik). Noch eine römische Stadt, die später Residenz der fränkischen Könige wurde. Die Kathedrale mit ihren fünf Türmen ist in der ganzen Welt berühmt; ihre romanischen Teile, wie die Pfeiler des Mittelschiffs, lassen rheinische Einflüsse erkennen. Tournai bewahrt von seinen alten Verteidigungsanlagen die mächtigen Türme und diese Brücke der Trous mit ihren drei gedrungenen Brückenbogen. Gewisse Strassen im Stadtkern bieten eine einzigartige Mustersammlung von Fassaden in den Stilen von der Zeit der Renaissance an bis zum Ende des XVIII. Jahrhunderts. Der Krieg hat diese Stadt schwer mitgenommen, die in sich ein Museum war, und verdiente, an der Seite von Brügge genannt zu werden. Die Porzellane von Tournai sind wahre Wunder. Die Bibliothek beherbergte Schätze, die leider gänzlich zerstört worden sind. Man bewandert in den hauptsächlichen Museen Europas gotische Wandteppiche, die in Tournai gewebt worden sind. Verviers : 38.674 Einwohner. Nur wenige bürgerliche oder kirchliche Bauten sind erwähnenswert. Aber Verviers ist ein betriebsamer Bienenkorb, und seine Ringstrassen auf den Höhen von Heusy umgeben es mit einem grünen Kranze. In kurzer Entfernung von der Tuchmacherstadt erheben sich in der waldreichen Gegend von Herzogenwald die beiden Staudämme der Gileppe und von Eupen. Ypern : 17.107 Einwohner. (Fr. Ypres; Fl. Ieper). Früher neben Brügge und Gent einer der bedeutendsten Sitze der Weber und Walker in Flandern, hat Ypern im Laufe der Jahrhunderte viel von seinem Glanz verloren. Im Kriege 1914-1918 wurde es der Mittelpunkt einer denkwürdigen Schlacht zwischen den englischen Heeren und den Truppen des Kaisers. Aber die berühmten Tuchhallen sind wiederaufgebaut und Ypern fasst neue Hoffnungen. Ortsnamen auf Deutsch wo möglich.
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FLAMEN UND
WALLONEN
Wer die Absicht hat, mit den Belgiern in Berührung zu kommen, der tut gut, sich vor jeder anderen Erwägung darüber klar zu werden, dass er es mit zwei ethnischen Gruppen. zu tun hat: den Flamen und den Wallonen: Brüssel ist darinnen eine Insel, in der sich wie in einem Schmelztiegel die den beiden Rassen eigenen Züge mischen, ohne doch ineinander aufzugehen. Die Scheidelinie geht von Westen nach Osten und verläuft annähernd von Hazebrouck (Frankreich) nach Aachen (Deutschland), also leicht südlich des 51. Breitengrades. Nach Angaben des statistischen Landesamtes (vom 31. Dezember 1952) beträgt die Einwohnerzahl Belgiens 8.798.055, wovon .mehr als die Hälfte Flamen (4.445.605); die Wallonen zählen 3.010.650; die Einwohnerzahl des Bezirks Brüssel erreicht 1.341.800. Die Gesamtfläche des Landes beträgt 3.050.707 Hektar. Das Land ist also ausserordentlich dicht bevölkert: aber die Bevölkerung Belgiens hat in diesem letzten Vierteljahrhundert nur um etwa zwei Millionen zugenommen, sodass seine Stellung als dichtbevölkertstes Land yon seiner nördlichen Nachbarin Holland ausserordentlich bedroht ist. Es würde den Rahmen dieser kur-
zen Übersicht sprengen, wenn wir es unternehmen wollten, Wallonen und Flamen, die Brüder durch die Nation, wenn schon nicht durch die Kasse sind, aus ihren körperlichen Besonderheiten und unter geistigen Gesichtspunkten zu kennzeichnen. In Wirklichkeit ist jeder einzelne Belgier eine Ausnahme, die keine Regel bestätigt, ganz gleich, ob er nun Hafenarbeiter in Antwerpen oder Monteur im Gebiet von Charleroi ist, ob er den ziegelfarbigen Südwester des Ostender Fischers oder den Arbeitskittel des Lütticher WaffenSchmiedes überzieht, ob er die Erde der dem Meere abgerungenen Polder oder den gerodeten Waldboden auf den Hochgbenen der_Ardennen bearbeitet, oder ob er den Ausländer hinter dem Ladentisch seines Geschäftes in der Rue Neuve in Brüssel bedient. 31
Kurzer Geschichtsüberblick
Reiterstandbild Karls des Grossen in Lüttich.
Vorgeschichtliche Zeit — Die Rasse der Troglodyten oder Höhlenmenschen erscheint vor unseren Augen im Skelett des „Mannes von Spy”; und die Museen des Cinquantenaire in Brüssel zeigen uns die feinen Nadeln aus Bein aus der Grotte von Chaleux (Tal der Lesse). 57-51 v. C. — Eroberung durch die Römer. Die Belgier, welche Cäsar unterwarf, waren Kelten. Der Eroberer bestätigte bekanntlich ihren ausserordentlichen Mut. Vom I. bis V. Jahrhundert n. C. — Es ist die Zeit des „Römischen Friedens“. Die ersten Missionare verbreiten das Christentum. 511 — Tod Chlodwigs, des grössten Königs der merovingischen Franken. Die Franken waren germanischen Ursprungs. Vom Beginn des V. Jahrhunderts an, stiessen ihre Einfälle bis zur Somme und sogar bis zur Seine vor; aber im Süden des heutigen Belgien liess sich das gallo-romanische Element nie überfluten und im Laufe des VI., VII. und VIII. Jahrhunderts fand sogar ein Rückgang der „Germanisierung“ auf eine Art Gleichgewichtsstellung statt, die noch heute die Sprachgrenze bestimmt. 768-814 — Der Karolinger Karl überragt mit Kopf und Schultern und den 46 Jahren seiner Regierung sein ganzes Zeitalter; Wiederhersteller des Reiches, Gesetzgeber, Urheber einer geistigen Wiedergeburt, die übrigens auf die Geistlichkeit beschränkt blieb.
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843 — Der berühmte Vertrag von Verdun teilt die Erbschaft Karls des Grossen unter seine Enkel, wobei die Schelde als Grenzlinie dient. Lothringen, östlich des Flusses, wird als ein Pufferstaat zwischen Frankreich und Deutschland gebildet. Feudalzeit — Die Feudalität ist eine Art vertikalen Systems, in dem die Lehnsherrn die Schwäche des Königs ausnützen und sich durch Schaffung von Vasallen, durch Raub, durch Kauf und durch Heirat Fürstentümer zusammenraffen, deren Umfang nur durch die Grenzen ihres Ehrgeizes bestimmt ist. Die belgischen Provinzen haben hier ihren Ursprung. Vor Allem löst sich Lothringen auf; der Herzog von Brabant leistet dem deutschen Kaiser Widerstand (Schlacht bei Worringen, 1288). Schwerer fällt die Befreiung Flanderns aus der Suzeränität der kapetingischen Könige. Das Bistum Lüttich neigt dazu ein Land für sich zu bilden. Die Kommunen — Henri Pirenne, der Historiker von Weltruf, hat die Bedeutung der wirtschaftlichen Faktoren für die Bildung der Städte betont. Die Gemeinden Flanderns, Brabants und Lüttichs entfalten sich seit dem XI. Jahrhundert. Ihre Bürger sammeln sich um den Fuss des Wachtturmes oder des Turmes der Markthalle oder der Freitreppe des Rathauses. Sie erhalten Freibriefe, die im Lande Lüttich demokratischer ausfallen, als überall anderswo. Flandern fabriziert Tuch; Brabant eröffnet seine Messen; Gelbgiesser und Eisenhämmerer sind die Vorfahren der Hüttenarbeiter im Moselland. 1384 — Philipp der Beherzte, Bruder des Königs von Frankreich, nimmt das Herzogtum Burgund in Besitz. Er heiratet Margarete von Maele, künftige Gräfin von Flandern. Artois und Franche-Comté. 1419-1467 — Die burgundischen Fürsten haben als erste feudale Besitzungen in ihrer Hand vereinigt. Vor allem Philipp der Gute, „der Fürst mit den hundert Armen“. Innerhalb von elf Regierungsjahren, und ohne dass er mehr als zwei Schlachten zu liefern gehabt hätte, ist Philipp „von Gottes Gnaden“ Graf von Namur, Graf von Hennegau, von Holland und Seeland, Lehnsherr von Friesland, Herzog von Jörabant, von Limburg und Lothringen und Markgraf des H. Römischen Reiches geworden. Er kaufte Luxemburg und setzte auf den Bischofssitz Notkers (Lüttich) seinen eigenen Neffen Ludwig von Bourbon. 1477 — Tod Karls des Kühnen, der auf dem Eis eines Teiches in Lothringen unter den Streichen der Spiesse und der Hellebarden fiel. Seine Tochter Marie hat grosse Mühe, die „Grosse Erbschaft“ zusammenzuhalten. Sie heiratet den schönen Maximilian, Sohn des Kaisers Friedrich III. aus dem Hause Habsburg. 1515-1555 — Karl V. mit der hängenden Unterlippe vereinigt die 17 Provinzen : sieben Grafschaften, vier Herzogtümer, fünf Lehnsherrschaften und die Stadt Antwerpen; mit dem Bischof von Lüttich, der wieder unabhängig geworden ist, wird ein Vertrag abgeschlossen. 33
1560 — Die absolutische Politik Philipps II. entfesselt die Revolution des XVI. Jahrhunderts. 1579 — Unterdessen erheben sich die nördlichen Provinzen, die den Calvinismus angenommen haben, gegen die südlichen Provinzen. Die Katholiken des Südens schliessen sich endlich wieder an die legitime Regierung an, die ihre Anordnungen von Madrid am; erteilt. 1
XVII. Jahrhundert — Frankreich einerseits, die Vereinigten Provinzen, oder „Nordisten“, die sich im Aufruhr gegen Spanien befinden, andererseits, möchten die Arme ihrer Kneifzange über uns schliessen. 1713 — Frieden von Utrecht; Ende des spanischen Erbfolgekrieges. Die katholischen Niederlande fallen an Karl von Habsburg : einen österreichischen Habsburger. 1740 — Thronbesteigung Maria Theresias. 1789 — Joseph II., der „Kirchendiener als Kaiser“ verursacht den Aufstand in Brabant. Belgien hisst zum ersten Male seine dreifarbige Fahne, zusammengesetzt aus dem Schwarz und Gelb Flanderns _und_“Brabants und dem Gelb und Rot des Hennegaus. Bis zum Ende des Ancien Régime führt das Fürstentum Lüttich sein eigenes Dasein. 1790 — Die österreichische Herrschaft wird wiederhergestellt. 1792 — Schlacht von Jemappes. Eroberung durch die Franzosen. Seit 1804 — Der Kaiser Napoleon organisiert unsere Provinzen, die Departements geworden sind, in der Form eines straff zentralisierten Staates. 1815 — Vertrag von Wien. — Waterloo. Die wiederhergestellten Niederlande lassen auf der Karte Westeuropas die siebzehn Provinzen Karls V. wiedererstehen. Wilhelm I. von Oranien wird als deren König anerkannt. 23-26. September 1830 — Die Revolutionstage der Unabhängigkeit. 4. Oktober 1830 — Verkündung der Unabhängigkeit. 26. Juni 1831 — Die Konferenz von London ratifiziert, nicht ohne Zögern, den Spruch der Barrikaden. 21. Juli 1831 — Leopold von Sachsen-Coburg, ein Fürst, der englische Erziehung genossen hatte, wird zum ersten König der Belgier eingesetzt. Dieser Tag ist der Tag des Nationalfestes geworden. 1831-1865 — Regierung Leopolds I. Der „Gründer“ festigt das junge Königreich, dem die Mächte dauernde Neutralität aufgelegt haben. 34
1865-1909 — Regierung Leopolds II. Sohnes Leopolds I. Dieser „Riese“ verdient die dreifache Krone des Entdeckers vom Imperium, des grossen Bauherrn, des Verteidigers der Grenzen : er gab Belgien den Kongo, prachtvolle Gärten, Paläste, die Befestigungen an der Ostgrenze und Soldaten, die nicht mehr durch die Ungerechtigkeit der Auslosung zu ihrem Berufe bestimmt werden. 1909-1934 — Regierung_unseres dritten Herrschers : Albert, Neffe Leopolds II. Albert ist von einem Ende der Welt bis zum anderen bekannt als der Ritterliche König. Die belgische Armee nahm unter dem persönlichen Befehl des Königs den Kampf gegen den Ansturm der Deutschen auf : bei Lüttich am 4. August 1914. dann bei_ Antwerpen., dann hinter der Yser. Der Waffenstillstand vom 11. November 1918 feierte den grössten der Siege. Seit der Wiederherstellung des Friedens widmete der König Albert alle seine Kräfte der wissenschaftlichen Ausrüstung des Landes. Sein tragisches Ende löste eine weltweite Trauer aus. Er stürzte von einem Felsen, den er in Marche-les-Dames aus Freude am Wagnis erkletterte. 1934 — Thronbesteigung Leopold III. 1935 — Tod der jungen Königin Astrid durch Unfall. 10. Mai 1940 — Einfall der deutschen Armee in Belgien. 28. Mai 1940 — Erdrückt von der zahlenmässigen Überlegenheit der Gegner kapituliert die belgische Armee nach einem Feldzug von 18 Tagen. 1940-1944 — Belgien unter deutscher Besatzung. Die belgische Regierung in London. Die geheime Widerstandsbewegung organisiert sich im Innern des Landes. September 1944 — Befreiung Belgiens. Kurz darauf wird dem Prinzen Karl die Regentschaft des Königreiches übertragen. Dezember 1944 — Deutsche Gegenoffensive unter dem Oberbefehl von Rundstedts. Erste Wochen 1945 — Schlacht in den Ardennen. Verteidigung von Bastogne. Die in Bastogne eingeschlossenen Amerikaner fordern ihre Gegner mit dem berühmten „Nuts“ heraus. Das auf dem Hügel von Mardasson errichtete Denkmal feiert diesen Sieg unscheinbaren Heldentums. Juli 1950 — Leopold III. überträgt die Funktionen seines Amtes seinem ältesten Sohne und Erben, dem Prinzen Baudouin, der den Titel Kronprinz annimmt. 36
Das Denkmal von Mardasson, errichtet zum Andenken der bei den Kämpfen im Dezember 1944 gefallenen amerikanischen Soldaten.
Juli 1951 — Abdankung des Königs Leopold zu Gunsten seines ältesten Sohnes. Der junge König Baudouin leistet den Eid auf die Verfassung. April 1953 — In Luxemburg heiratet die Prinzessin Josephine-Charlotte den Erbprinzen Johann von Luxemburg.
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WIRTSCHAFT, HANDEL UND INDUSTRIE
Dieses Heft möchte vor Allem Nachdruck legen auf das geistige und künstlerische Erbe, dessen Verwaltung in den Händen des belgischen Volkes liegt; es ist deshalb nicht möglich, die wirtschaftlichen Statistiken sprechen zu lassen. Immerhin verdient es der Name, den sich Belgien dadurch gemacht hat, dass es siegreich die fürchterlichen Rückschläge eines zweiten Weltkrieges, mehr als hundert Monate Besatzung im Zeitraum von wenig mehr als dreissig Jahren überwunden hat, dass man sich einen Augenblick mit diesem andauernden Wunder befasst, das das unablässige Verlangen von Millionen von Belgiern nach Arbeit darstellt. 39
Der belgische Franc ist stabil; die Wirtschaftler bezeichnen ihn in ihrer Sprache als eine „harte“ Währung. Berechnet auf der Grundlage des Francs von 1939 ist der Metallvorrat der Nationalbank höher, als vor dem Kriege. Wie jede Medaille, auch wenn sie von Gold ist, eine Rückseite hat, so ist gerade die Stabilität unseres Franc ein Hindernis für den Warenaustausch : tatsächlich sind die Nationen, denen eine „harte“ Währung fehlt, gezwungen den Umfang ihrer Käufe bei uns einzuschränken. Trotzdem überschreitet der Warenverkehr des Hafens von Antwerpen mit 38.556.043 Nettotonnen im Jahre 1954 seinen Vorkriegsumfang. Antwerpen entging der Zerstörung dank der Geistes-
gegenwart einiger bewaffneter Angehöriger der Widerstandsbewegung. Während sich unter dem Befehle von Eisenhower und „Monty” die Feldzüge in Holland und im Rheinland abspielten, leistete der Hafen den verbündeten Truppen unschätzbare Dienste. Gegenwärtig betragen die Eingänge an Devisen, die der jährliche Umschlag des Hafens von Antwerpen einbringt, 2 Milliarden; und man muss 4 Milliarden rechnen, wenn man in die Rechnung die Eingänge aus den Fluss- und Eisenbahnfrachten einbezieht. Zwölf bis fünfzehn tausend Hafenarbeiter laden und entladen die Dampfer, die zwischen den gewaltigen Schleusen an den Dutzenden von Kilometern von Kais und Binnenhäfen verankert sind.
Kohlenindustrie Seit langem nennt man die Kohle das „schwarze Brot“ Belgiens. Das Kohlenrevier folgt im Allgemeinen der Linie des Sambre- und Maastals. Die Ausbeutung der Kohlenvorkommen geht bis ins Mittelalter zurück. Bedeutende Kohlengebieie sind das Zentrum, das Borinage, Charleroi, die Lütticher Gegend und die Schächte des neuen und sehr bedeutenden Beckens der Campine, nördlich der Linie Hasselt-Maastricht (erst seit dem Beginn des Jahrhunderts gebohrt). Vor dem zweiten Weltkrieg betrug die Gesamtkohlenförderung der belgischen Gruben 35 Millionen Tonnen jährlich. Während der letzten Monate der Besatzung (1940-1944) war 40
die Förderung auf etwa ein Drittel gesunken. In zehn Jahren unablässiger Anstrengungen und dank der Hilfe tausender ausländischer Grubenarbeiter (es sind heute ungefähr 150.000 Arbeitnehmer beschäftigt) ist die F'örderung im Jahre 1954 wieder auf über 29.100.000 Tonnen gestiegen. Was noch wichtiger ist, die Ausrüstung und die hygienischen Bedingungen haben grosse Fortschritte gemacht. Ein Landesverband der Gruben, der Vertreter der Arbeitnehmer wie der Arbeitgeber umfasst, berät, jedesmal wenn es notwendig ist, die Probleme der sozialen Sicherheit und der Gehälter.
Eisenerzeugung Der erste Hochofen wurde im Jahre 1821 in Seraing, einem Vorort von Lüttich, angeblasen. Der Name des Engländers John Cockerill wird immer mit dieser grundlegenden Änderung in der Behandlung des Erzes verbunden sein. Trotz der Luftangriffe und trotz der Sabotageakte der Widerstandsbewegung im zweiten Weltkrieg hatte die Eisen- und Stahlindustrie bis zum Herbst 1944 keine allzu schweren Schäden erlitten. Sieht man von den Statistiken des Jahres 1929 ab, in welchem die belgische Gusseisen- und Stahlerzeugung einen Höchststand erreichte, so kann man sagen, dass die eisenerzeugenden Werke wieder einen Höchststand der Erzeugung erreicht haben, hauptsächlich dank der auswärtigen Märkte. Kürzlich ist ein Niederofen in den Werken John Cockerill in Gang gesetzt worden : ein neuer Schritt vorwärts in der Ent-
wickelung der Eisen schaffenden Industrie. Es ist allgemein bekannt, dass annähernd 60 % der Erzeugung für den Export bestimmt sind; die hauptsächlichen Absatzmärkte sind Holland, die Schweiz, Schweden, Dänemark und Südamerika. Die weiterverarbeitenden Werke hängen eng vom Gedeihen der Eisen schaffenden Industrien ab. Im Jahre 1954 beschäftigten die Hochöfen, Stahl- und Walzwerke im Monatsdurchschnitt 46.978 Arbeiter. Die Gesamtproduktion betrug 1.099.000 Tonnen. Davon wurde für 27.802 Millionen Francs exportiert. Obgleich die Eisen schaffenden Arbeiter die Erben einer der ältesten an bestimmte Gegenden gebundenen Überlieferung sind, so sind doch heute die Werke über das ganze Land zerstreut; nur die Lütticher Waffenschmiede haben eifersüchtig ihren ständigen Aufenthalt gewahrt.
Industrielle Anlagen in Charleroi.
Textilindustrie Die Textilindustrie Belgiens ist durchaus nicht neuen Datums : flämische Gemeinde und Tuchhalle sind sinnverwandt, und die bemerkenswerten Eigenschaften des Flusses, der den Namen Vesdre führt, sind seit Jahrhunderten bekannt. Die Zahl der in den Textilfabriken beschäftigten Arbeitnehmern beiderlei Geschlechts betrug im Jahre 1954 im Monatsdurchschnitt 113.935. (Versicherte der Sozialversicherung). Abgesehen vom Flachs, der einzigen einheimischen Faser, werden alle Rohstoffe eingeführt. Die Ausfuhr von Baumwolle aus dem Kongo nach dem Mutterland genügt um die fieberhafte Tätigkeit zu erklären, die an der Baumwollbörse in Gent herrscht; Abschlüsse in Wolle finden eher in Antwerpen und in Verviers statt. Während die Webstühle für Wolle in Verviers und in seiner Umgebung und im Grenzgebiet bei Mouscron (unweit des berühmten Dreiecks Lille-Roubaix-Tourcoing)
zusammen gezogen sind, hat die Baumwollindustrie ihren Sitz in den Provinzen Ostflandern, Westflandern und Brabant. Flachs wird in der Umgebung von Gent gesponnen. Die beiden allgemein bekannten Zentren der Wollindustrie sind Verviers und der nördliche Teil von Ostflandern. Der Flachs wird hauptsächlich in der Gegend von Courtrai angebaut, wo die Röste im Wasser der Lys stattfindet; während in dem gerade entgegengesetzten Teile des Landes die aus Australien, Argentinien und Südafrika stammende Wolle im Wasser der Vesdre gewaschen wird, das für diesen Vorgang als unvergleichlich angesehen wird. Auch auf diesem Gebiete muss Belgien exportieren um zu leben. Trotz der überhöhten Zollsätze und anderer Schranken des Handelsverkehrs betrug die Ausfuhr von Textilerzeugnissen im Jahre 1954 22.522 Millionen Francs. Was die Konfektion anlangt, so gehören die Bemühungen der Regierung,
diese auf der Höhe zu erhalten und dem Geschmack des Publikums zu entsprechen, zu den verdienstvollsten Verwirklichungen einer sehr liberalen Wirtschaftspolitik. So werden grosse Mengen von Waren der Bekleidungsbranche aus dem Ausland eingeführt.
Glasindustrie Unter diesem Namen versteht man in Belgien die Herstellung von Spiegeln, von Fensterglas, Spiegelglas, Flaschen, Tafelglas, Kristall und Geräten aus Glas für den Gebrauch in der Industrie und in den wissenschaftlichen Forschungsstätten. Wir haben in unserem Lande dank der Beschaffenheit des Bodens und dank einer sehr vervollkommneten chemischen Industrie alle notwendigen Rohstoffe. Die berufliche Geschicklichkeit unserer Glasbläser war seit dem XV. Jahrhundert anerkannt; es ist durchaus nicht verwunderlich, wenn die Erzeugnisse dieser Industrie, die örtlich zwischen Charleroi und ValSaint-Lambert gebunden ist, Gegenstand einer so lebhaften Nachfrage sind. Nach den ersten sechs Monaten des Jahres 1947 hatte die Erzeugung bereits die Statistik von 1939 übertroffen. Im Jahre 1954 haben wir an Glaserzeugnissen für 211 Millionen Francs exportiert. Der Name ValSaint-Lambert lässt vor uns das Bild einer dieser Vasen aus Kristall in ihrer eleganten Form erstehen, wo tausende von Glasschliffen das Licht zurückwerfen und jeden Lichtstrahl in ebensoviel funkelnde Edelsteine vervielfältigen. Was das bescheidene Fensterglas anlangt, so genüge es darauf hinzuweisen, dass dank dem Fourcault-
verfahren wir in der Lage sind mit dem sogenannten Pittsburghverfahren und dem Libbey-Owensverfahren zu konkurrieren. Unser Fensterglas hat Weltruf und wird bis zu einem Satz von 60 % ausgeführt.
Steinbrüche Erwähnen wir noch kurz unsere Steinbrüche, die hauptsächlich im Tale der Maas und der Ourthe ausgebeutet werden. Kalköfen staffeln sich in ziemlich grosser Zahl zwischen Namur und Flemalle-Haute.
Chemische Industrie Wir wohnen den Fortschritten der chemischen Industrie bei, deren Entwickelung so vielversprechend ist. Belgien entfaltet eine lebhafte Tätigkeit in der Erzeugung von Schwefelsäure, von photographischen Erzeugnissen, von Leim, von Gelatine, von Farben, Firnis und Lack, sowie von Streichhölzern. Die Erzeugung von Gummi und Sprengstoffen ist gleichfalls bedeutend.
Diamantenschleiferei Hier handelt es sich um die Industrie Belgiens, die am meisten in die Augen springt. Bis in die jüngste Zeit tätigten die Vereinigten Staaten von Amerika den Hauptteil ihrer Käufe auf der Börse von Antwerpen. Belgien beschäftigte im Jahre 1954 9640 Diamantenschleifer, was es zum bedeutendsten Zentrum dieser Luxusindustrie macht.
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Blick auf die Wissenschaften Es sind die grossen Entdeckungen, die den Rahmen des Mittelalters gesprengt haben : nicht nur den Rahmen des Lebens, sondern auch den Rahmen des Denkens. Die Buchdruckerkunst wurde sehr schnell in unseren Provinzen heimisch und entwickelte sich hauptsächlich unter dem Einfluss der „Brüder vom Gemeinsamen Leben“. Erzieher und Buchdrucker, eröffnen sie Werkstätten seit dem Ende des XV. Jahrhunderts in Aalst, Brügge, Brüssel, Löwen und Antwerpen. Die Werkstatt von Thiery Martens in Aalst und später die von Plantin in Antwerpen wurden mit Recht berühmt. Man geht an die Naturwissenschaften mit einem ganz anderen Geist heran. Jeder weiss, dass wir Francis Bacon, Lord-Kanzler von England die Offenbarung der Wichtigkeit experimenteller Methoden verdanken, wenn nicht die Anwendung des Experimentes selbst; das Novum Organum ist aus dem Jahre 1620. Aber bereits vor Bacon stützen sich bei uns ein Dodonaeus und vor allem, ein Vesalius auf die Erfahrung. Drei Vierteljahrhunderte vor Bacon sezierte Vesalius Leichen. Ebenfalls im XVI. Jahrhundert machte Rembert Dodonaeus aus der Botanik eine Wissenschaft. Keine Rede mehr davon sich die Erde als Mittelpunkt des Weltalls vorzustellen : sie ist es, die sich dreht; das System des Copernicus hat endgültig das System des Ptolemäus zerstört. Der flämische Geograph Gerhard De Cremer, bekannter unter dem Namen Mercator (er stirbt 1594 im 44
selben Jahre wie Dodonaeus), stellt auf diesen neuen Grundlagen die mathematische Geographie wieder her. Die Druckpressen des Christoph Plantin, der sie später seinem Schwiegersohn Moretus überlassen wird, verlassen nicht nur Meisterwerke der Druckkunst : die neuen Wissenschaften machen sich dies mechanische Mittel zu Nutze, um eine schnellere Verbreitung der Gedanken zu gewährleisten. Das XVI. Jahrhundert, so arm an literarischen Berühmtheiten, bietet auf dem Gebiete der Gelehrsamkeit und der angewandten Wissenschaften reiche Ernte. Der Einfluss des Erasmus und die in Löwen erfolgte Gründung der Hohen Schule der Drei Sprachen (Vorläufer des College de France) geben den theologischen Studien eine Richtung mehr nach der Philologie hin. Auch die juristischen Studien werden eifrig betrieben. Ein gewisser Philipp Wielant (gestorben 1519) veröffentlicht die erste Abhandlung in flämischer Sprache über das Recht. Simon Stevin aus Brügge ist Mathematiker; er schrieb in westflämischer Sprache. Später wird Jan-Baptist Van Helmont, dessen Muttersprache das Flämische ist, dieser Arzt und „Philosoph durch das Feuer,“ die Physiologie bemerkenswerte Fortschritte machen lassen. Kurzum, die Wiedergeburt oder Renaissance war in unseren Provinzen kein leeres Wort, wenn es sich um ein Wiedererwachen der Neugier an geistigen Dingen in allen ihren Formen handelt. Und da diese Neugier
in religiöse Unruhe münden kann, ist es nicht unnötig hier den Namen Jansenius, Bischofs von Ypern, zu erwähnen. Der Jansenismus stammt von uns und dies ist eine grundlegende Tatsache. Das ganze religiöse Empfinden mehrerer Generationen, die ganze Farbigkeit des Gefühles der französischen Literatur sind vom Augustinus beeinflusst worden. Wir müssen nun ein Wort über das meisterhafte Werk der Bollandisten sagen, das die Acta sanctorum Belgii darstellen. Die Veröffentlichung war unterbrochen worden anlässlich der Unterdrückung des Jesuitenordens. Unter der österreichischen Herrschaft nimmt der Jesuit Josef Ghesquiere die unterbrochene Arbeit in der Überlieferung des antwerpener Jesuiten Bollandus wieder auf, der 1665 gestorben war. Die Acta Sanctorum stellen durch die Menge der Urkunden, die hier gesammelt und gesichtet sind, ein wahrhaftes Monument dar. Mit dem XIX. Jahrhundert und der Gegenwart wird es so gut wie unmöglich, dem Verlauf des Fortschritts der Wissenschaften zu folgen. Dass sich die Belgier hierbei nicht haben überholen lassen, würde eine selbst kurz gefasste Aufzählung erweisen. Ohne den Ehrgeiz zu haben, eine vollständige Liste aufzustellen, möchten wir doch einige Namen und einige Werke erwähnen. Auf dem Gebiete der Astrologie und der Meteorologie sollte ein jeder den Namen Adolph Quetelet kennen; auf dem Gebiete der Physik den Namen Joseph Plateau. Zenobius Gramme hat die Maschine geschaffen, die seinen Namen trägt, und die Kraft und Licht erzeugt. Ein Chemiker wie Walther Spring vervielfältigt seine genialen Erfindungen. Die Geologen Jean-Baptiste d'Omalius und André Dumont ent-
reissen den verschiedenen Schichten unseres Bodens ihre Geheimnisse. Die Van Beneden, Vater und Sohn, gründen in Gent, später in Löwen und Lüttich, ein Geschlecht von Fürsten der Medizin. In unserer Zeit arbeiten mit der Unterstützung der grossen wissenschaftlichen Stiftungen, deren unschätzbare Bedeutung wir noch behandeln werden, Scharen von jungen Forschern in ihren weissen Kitteln in den Laboratorien. Die Ergebnisse sind mehr als vielversprechend : die ganze Welt beneidet uns um Gelehrte wie den Domherrn Lemaître oder Polydore Swings, um nur diese beiden zu erwähnen. Übrigens hatten ihre unmittelbaren Vorgänger ihnen am besten den Weg zu ihrem Beruf gewiesen. Jules Bordet, Nobelpreisträger, stammt von uns. Wenden wir uns von den angewandten zu den moralischen und politischen Wissenschaften, so ist unser Ehrenplatz ebenso eindrucksvoll. Wir haben da Juristen (Paul Hymans, Edmond Picard), Soziologen (Emile de Laveleye, Auguste Beernaert), Philologen (Pierre Willems, Wilmotte, Bidez) und den unvergleichlichen Religionshistoriker Franz Cumont. Nun vor allem die Geschichtslehrer : Godefroid Kurth, Paul Fredericq.Henri Pirenne, Alfred Cauchie und, uns ganz nahe, alle, die in den vier Universitäten des Landes den Ruf der historischen Schule Belgiens so weit verbreitet haben. Unter dem Einfluss von Pirenne, der in Wallonien geboren ist, aber an der Universität Gent lehrte, hat es sich die Geschichtswissenschaft in Belgien, mehr als irgendwo anders zur Aufgabe gemacht, die Verflechtung der Erscheinungen wirtschaftlicher Art zu entwirren. 45
Kunstgeschichtliche Uebersicht
Sowohl das flämische wie das wallonische Belgien ist ausgesprochen ein Land der Kunst. Beinahe möchte man das hoffnungslose Unternehmen aufgeben, auf einigen matten Seiten den ganzen Reichtum aufleben zu lassen, von dem unsere Museen, unsere Reliquienschreine, die Aussenseiten unserer guten Städte und die Sammlungen unserer Kunstliebhaber überquellen.
Die Baukunst von Cluny hatte den romanischen Stil zur Verbreitung gebracht. Es ist im Rheinland, wo die romanische Kunst besonders vollendete Formen hervorbringt. Man denke nur an Sankt Aposteln in Köln und an den rautenförmigen Kirchturm von Maria-Laach. Der Kreuzgang von Tongres, das Schloss der Grafen von Gent aus dem XII. Jahrhundert, die romanischen Teile der Kathedrale von Tournai lassen bei uns unleugbar diese rheinischen Einflüsse erkennen. Ursprünglicher ist die Kirchenarchitektur im Gebiete der Mosel. Die alte romanische Kathedrale von Saint-Lambert ist bei dem Brande im Jahre 1185 zugrunde gegangen. Dagegen besteht noch als ein Wunder der Harmonie das romanische Kleinod von Saint-Severin in Condroz; desgleichen die alte Abteikirche von Hastiere-par-delà. Wenn die Lütticher ihre schönen gotischen Kirchen
bauen (Saint-Paul, Sainte-Croix, SaintMartin), wenn die Bewohner von Dinant Notre-Dame de Dinant und die Bewohner von Huy Notre-Dame de Huy errichten, erinnern sie sich des länglichen Grundrisses der romanischen Kirchen. Aber die Kunst des Mosellandes ist vor allem die Kunst der Giesser, der Schmiede, der Ziseleure, und der Goldschmiede. Die Taufbecken von Saint-Barthelemy in Lüttich stammen aus dem Anfang des XII. Jahrhunderts und schon handelt es sich hier um ein Werk der Schönheit und der Vollendung. Im folgenden Jahrhundert treibt der Bruder Hugues aus Oignies an der Sambre einen reichen Evangelieneinband in Silber. Wir kommen zur Steinplastik. Hier begegnen wir gegen das Ende des XIV. Jahrhunderts Claus Sluter. Er schuf für die Umwelt Philipps des Beherzten in Dijon. Die Kartause
von Champmol lässt schon an den Barock denken. Die dreiteiligen Altarblätter erscheinen vor allem im XV. Jahrhundert. Sie werden mehr und mehr in Holz gearbeitet. In Auderghem, in SaintMartin in Tongres, in Léau kann man Altare bewundern, wo die Künstler sich daran gemacht haben, das Holz in seiner Tiefe zu bearbeiten. In abgeteilten Feldern haben sie zahllose Scenen geschaffen, wobei ihr Meissel allen Anregungen gefolgt ist, die der Pinsel geben konnte. Die gotische Baukunst hat bei uns in den kirchlichen wie in den bürgerlichen Bauten Gebäude geschaffen, deren Merkmal offenbar die Ordnung der Baumassen ist (Chor in Tournai, Gewölbe und Hängebogen des grossen Saales im Rathaus von Brügge, Sainte-Gudule in Brüssel, Notre-Dame in Antwerpen). Mehr und mehr neigt sie zur Krümmung und zum geflammten (flamboyanten) Stil. Vergleicht man das Rathaus von Brüssel mit dem Rathaus von Löwen, das etwas späteren Datums ist, so kann man von Jacques Van Thienen bis Mathias Einzelheiten vom Rathaus in Löwen. Die Turmspitze des Rathauses von Brüssel.
Layens die rasche Entwickelung eines Baustiles verfolgen, der von der Logik zur Phantasie fortschreitet. Die Rippen und Grate zucken nun auf wie Flammen. Übrigens drückt sich die geflammte und bildhafte Gotik eher in Bürgerbauten aus, in städtischen Gebäuden oder den Wohnsitzen der Grossen. Wir haben noch nicht von den Malern gesprochen. Vor ihnen gab es schon die Miniaturmaler : die Brüder Limburg, Jacques Coene, Jacquemart de Hesdin, den Meister der Blume der Geschichten, den Meister der silbrigen Himmel, die Van Eyck selber. In der herzoglichen ,,Kapelle“ sind die mit Bildern geschmückten Pergamenthandschriften in prachtvolle Einbände aus marmoriertem Kalbsleder, Ganzmaroquin, rotem und blauem Samt oder Seide gebunden. Von den Deckenseiten des sehr reichen Gebetbuches funkeln mit tausend Lichtern Perlen und Saphire, Smaragden und Rubinen; die Schliessen und die Nägel sind aus reinem Gold oder Silber. Man hat die Farbe Van Eycks dem Kristall verglichen. Es handelt sich nicht nur um den Ersatz der Temperafarbe durch die Ölfarbe. Der Künstler stellt sich in einem buchstäblich unbegrenzten All, in einem kristallischen (man muss den Ausdruck wiederholen) Raum eine Frage von poetischer Unwirklichkeit. Und doch bewahrt ein Bild von Van Eyck trotz seiner grundlegenden Unwirklichkeit immer die Achtung vor dem mit Augen Gesehenen. Campin aus der wallonischen Stadt Tournai wäre wohl der Anführer einer glänzenden Schule von Malern und von Künstlern, die Entwürfe für Wandteppiche herstellen. Als Rogier de la Pasture seinen Wohnsitz in Brüssel nahm, wurde er nicht nur Van der Weyden : er beschloss die
grosse Epoche von Tournai. Dieric Bouts, Hugo van der Goes, Memlinc leiten sich von der flämischen Schule, d. h. von den Van Eyck ab. Bouts ist vor allem Künstler der Farbe; van der Goes entwickelt einen bis ins Kleinste gehenden, bisweilen humoristischen Realismus; muss man bei Hans Memlinc daran erinnern, dass er mit Vorliebe mit seinen Madonnen mit der gewölbten Stirn, mit seinen Heiligen in ihrer erhabenen Zartheit, die träumerische, mystische, liebliche Seite betont? Wir haben noch nicht von den figürlichen hoch- oder tiefschäftigen Wandteppichen gesprochen, die unter den Herzögen von Burgund und in deren Auftrag die Werkstätten von Tournai, später Brüssel, herstellen. Umfangreiche Wandbehänge werden mit Goldfäden durchwirkt und im Rahmen anachronistischer Bauwerke samt ihren Schiesscharten, Türmchen und Zinnen mit sehr schönen Damen in glänzenden oder durchbrochenen Gewändern erfüllt und mit Kriegern in Rüstungen von gedämpften Tönen. Man muss hier auch noch den Tonkünstlern ihren Platz einräumen : Guillaume Dufay, Gilles de Bins, genannt „Binchois“, Jean Ockeghem, Jacques Obrecht, Josquin des Pres, die sowohl aus den flämischen wie aus den wallonischen Provinzen stammen und den Sieg der neuen musikalischen Formen sicher stellen. Ockeghem und Obrecht erweisen sich als Meister der Fuge, und niemand hat besser als Josquin das Erhabene gewisser Kirchenmusik wiederzugeben gewusst. Zur Zeit der Renaissance bestehen naturgemäss alle diese Strömungen weiter, die sich unter den Herzögen von Burgund und namentlich unter Philipp dem Guten gebildet und ihren Lauf genommen hatten. Es gibt 49
Das Haus des Rubens in Antwerpen.
keinen Bruch; aber der Einfluss Italiens beginnt sich bemerkbar zu machen. Italien macht seinen Einfluss in der Bildhauerkunst (Jean de Bologne) und in der Malerei geltend. Wenn hier Bernard Van Orley, Maler und Zeichner von Entwürfen für Wandteppiche, tüchtig italienisiert, so ist Quentin Metsijs doch der flämischen Schule treu geblieben. Bleibt der Fall Breughel. Breughel der Ältere kommt offensichtlich von Hieronymus Bosch her. Aber der Maler in Breughel ist dem Geschichtenerzähler ausserordentlich überlegen. Man darf aus Breughel durchaus keinen Spassmacher machen : seine Bilder sind Zusammenklänge von
Farben. Und welche Meisterschaft in der Zeichnung! Die Maler von Miniaturen haben endgültig ihren Pinsel weggesteckt. Die Teppichwirker lassen sich weiter von den Entwürfen der Zeichner anregen, Stücke von einer selten erreichten Vollkommenheit herzustellen. Unsere Tonkünstler wie Philipp de Monte und Orlando de Lassus verbreiten im Auslande das Lob unserer Kapellen. Unter den spanischen Gouverneuren und kaum dass die Flammen des Brandes erloschen sind, nehmen die Künste — und vor allem die Malerei — einen prachtvollen Aufschwung. Der Höhepunkt dieses Glanzes fällt übrigens, zusammen mit der ruhigen und beruhigenden Regierung des Erzherzogpaares Albrecht und Isabella. Die kirchliche Baukunst entwikkelt sich bei uns in der Richtung nach dem Jesuitenstil. Die Bildhauerei ist vertreten durch die Familiendynastie der Duquesnoy. Die Kunst des Kupferstiches wird in Antwerpen gehandhabt. Kunstwirker trifft man in Audenarde. Aber alles verblasst vor dem Glänze der Malerei. Welch wundervolles Geschlecht, das Schlag auf Schlag Maler vom Range eines Breughel des Jüngeren, eines PeterPaul Rubens, eines Franz Snijders, eines Gaspard de Crayer, der beiden David Teniers, eines Jacob Jordaens, eines Antonius Van Dyck hervorbringt. Rubens allein genügte, um sein Jahrhundert auszufüllen. Sein Genius ist die Überfülle. Er ist der Maler der Lebensfreude.
BRÜSS EL. Der grosse Konzertsaal des Palastes der Schönen Künste (2 200 Sitzplätze). Die Akustik ist vollkommen; nicht weniger als 250 Konzerte im Jahr finden hier statt; alle Kapellmeister von Weltruf haben hier dirigiert.
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Und die Schule des Rubens lässt sich von ihrem Meister nicht erdrücken. Snijders ist der Maler üppiger Lebensmittel; De Crayer ist ganz Begeisterung; die Teniers zeichnen sich in der Darstellung von Genrescenen aus; Jordaens geht in seinen Ausbrüchen bis zur Gewöhnlichkeit, die er durch die Macht seines Kolorits wieder aufhebt; Van Dyck zeigt die ganze verführerische Kunst des Bildnismalers der Aristokratie. Wir halten uns nicht bei der österreichischen Periode auf. Tiefer Ernst regelt alle Schritte des „Aufgeklärten Despoten“, der sich einbildet mit blossen Verordnungen sein Volk glücklich zu machen. Aber AndréModeste Grétry lässt sich nicht einschüchtern. Dieser bezaubernde Lütticher hat einen verteufelten Schwung. Sein Richard Löwenherz lässt alle Herzen höher schlagen.
Wenn wir die Entwicklung der Künste in den letzten 150 Jahren schildern wollen, müssen wir uns beeilen. Die Baukunst hat ihren Weg gesucht unter Schwanken zwischen einem Pseudoklassizismus und dem modernen Stil. Der klassisch-assyrische Justizpalast von Poelaert, der eine Fläche von 26 000 Quadratmetern bedeckt, bleibt in Brüssel das erdrückendste Beispiel dieses Schwankens, das in einer gewissen Buntscheckigkeit endete. Die grossen Baudenkmäler, die man, wie den Triumphbogen des Cinquantenaire, der Anregung Leopolds II, des Königlichen Bauherrn, verdankt, leiden fast alle unter der Kleinlichkeit der Baumeister am Ende des XIX. Jahrhunderts. Dagegen ist der Palast der Schönen Künste ein meisterhaftes Beispiel für die Anpassung eines Gebäudes an seine Bestimmung. In diesem Ab-
schnitt, der dem Leben der Kunst gewidmet ist, können wir nicht umhin, diesem „Tempel des guten Geschmacks“ die Stelle einzuräumen, die ihm gebührt. Brüssel wird hierdurch mehr und mehr zum Treffpunkt der Kapellmeister und Virtuosen von Ruf. Silbergrau ausgeschlagene Ausstellungsräume bringen Stiche und Gemälde zur Geltung. Brüssel verdankt den Palast der Schönen Künste der Freigebigkeit eines Mäcens : Henri Lebœuf. Für Wohnhäuser hat sich die Baukunst Einfachheit und Komfort zur Richtschnur gemacht. Constantin Meunier ist der grosse Name der Bildhauerkunst des XIX. Jahrhunderts. Nach ihm muss man Georges Minne erwähnen, Victor Rousseau, Jef Lambeau, Thomas Vincotte, Rik Wouters. Unter den Kupferstechern ist Felicien Rops ein genialer Künstler. Wir haben unsere Medaillenstecher. Und wir haben unsere geduldigen Spitzenklöpplerinnen, die nicht zulassen, dass die Spezialitäten der Spitzenklöppelkunst, wie die Herzogin von Brügge, der Stich von Mecheln, oder der „torchon belge“ in Vergessenheit geraten. Wir würden uns gern mit der zeitgenössischen Malerei beschäftigen. Louis David, nach Brüssel verbannt, hatte Schule gemacht, wie Navez beweist. Wappers und Gallait, Romantiker und Patrioten, suchen ihre Vorlagen in der Geschichte des Landes. Man muss die naturalistische Epoche abwarten, um ursprüngliche Begabungen hervortreten zu sehen. Alfred Stevens, Charles De Groux, Henri de Braekeleer haben eine persönliche Auffassung der Welt. Aber ihre unmittelbaren Nachfolger werden ihnen vorwerfen, dem Geiste des Akademis52
mus immer noch zu viel Zugeständnisse zu machen. Der Einfluss der französischen Maler macht sich seit Courbet geltend. Wir haben unsere Landschaftsmaler wie Hippolyte Boulanger und Théodore Baron; unsere Tiermaler wie Verwée; unsere Impressionisten : Emile Claus, van Rysselberghe, Stobbaerts, de Saedeleer, Evenepoel, Rik Wouters, Jacob Smits. Der Impressionismus verführt unsere Maler (vor allem die flämischen) in dem Masse, als die Farbe unter dem beweglichsten Himmel, den man sich denken kann, den abertausend Schwingungen des Lichtes gehorcht. Aber flämische Maler wie G. De Smet, Fr. Van den Berghe oder C. Permeke haben mit dem Impressionismus gebrochen und suchen unter dem Einfluss von James Ensor in ihre Gemälde die Probleme des Expressionismus einzuführen. Maler wie James Ensor oder Constant Permeke haben ruhmreich eine Überlieferung aufrecht erhalten, die auf die Brüder Van Eyck zurückgeht. Paul Delvaux und René Magritte sind die Vertreter der surrealistischen Bewegung. Zum Schluss einige kurze Bemerkungen über die Musik. Wir haben einen hervorragenden Theoretiker der Musik gehabt : Fetis (1784-1871). Gevaert und Peter Benoît haben hauptsächlich als Lehrer gewirkt. Wenn er nicht in Paris gelebt hätte, wie glücklich wäre man, Cäsar Franck, dem „Vater Franck“, dem Komponisten der himmlischen Seligkeit und der Engelchöre, den Platz einzuräumen, der ihm gebührt — den ersten. Andere Namen wären zu nennen : Sylvain und Albert Dupuis, die beiden Jongen, Guillaume Lekeu, Georges Antoine, Marcel Poot.
Unsere Kunstmuseen Es handelt sich hier nicht darum, eine lückenlose Aufstellung zu geben. Wir machen aufmerksam in Brüssel auf die Königlichen Museen der Schönen Künste, die eine Abteilung alter Kunst (3, rue de la Régence) und gleich daneben (1, rue du Musée) eine Abteilung moderner Kunst enthalten. Rue de la Régence wird hauptsächlich die flämische Schule zur Schau gestellt; ein ganzer Saal ist Rubens vorbehalten. Die ausländischen Maler sind weitgehend vertreten, hauptsächlich die holländischen Meister. In der Rue du Musée kann man neben den Meisterwerken unserer zeitgenössischen Kunst eine bemerkenswerte Sammlung von französischen Gemälden bewundern, von Delacroix bis Dufy und von Ingres bis Matisse. Im Park des Cinquantenaire bieten die Königlichen Museen für Kunst und Geschichte unter anderen Schätzen eine reiche Abteilung ägyptischer Kunst. Die Wandteppiche und Porzellane bilden eine sehr sehenswerte Zusammenstellung. Unsere Archeologen haben die berühmte Säulenhalle von Apamea hergestellt. In den Sälen des Kolonialmuseums von Tervüren kann man merkwürdige Proben der Kunst der Neger bewundern : Fetische, Töpfereien, Masken und Skulpturen aus Holz. Das Königliche Museum der Schönen Künste in Antwerpen (Platz Leopold de Wael), kann beinahe den Vergleich mit den beiden brüsseler Galerien aushalten. Rubens und Van Dyck einerseits, de Braekeleer und Jacob Smits andererseits, feiern dort eine strahlende Auferstehung. In Brügge beherbergt das Städtische Museum eine ausserordentlich reiche Sammlung der flämischen Primitiven. Aber in dem ehemaligen Kapitelsaal des in ein Museum umgewandelten Hospitals Saint-Jean wird der Besucher die Memlincs bewundern können, darunter den Schrein der Heiligen Ursula.
Nimmt man in Gent auch nur kurzen Aufenthalt, so muss man doch die Kathedrale Saint-Bavon besuchen, um sich an den Farben und der Symbolik der Anbetung des mystischen Lammes der Brüder Van Eyck zu entzücken. Tournai besitzt ein Museum der Schönen Künste (cour de l’Hôtel de Ville), das der erstaunlichen Erscheinung dieser Stadt würdig ist, die, wenn auch grausam vom Kriege heimgesucht, in unserem Lande, vom Gesichtspunkt der Baukunst aus, doch noch immer die geschichtlich reichste bleibt. Das Museum der Schönen Künste in Lüttich ist stolz auf das berühmte Gemälde von Ingres, Napoleon darstellend, und auf eine wertvolle Sammlung moderner, sowohl wallonischer wie französischer, Meister. 53
Kurzer Ueberblick über Ein Bild der belgischen Literatur muss angesichts der Sprachgrenze doppelseitig sein. Übrigens würde es eine schwierige und über unsere Absicht weit hinausgehende Aufgabe sein, die Entwicklung der belgischen Literatur zu beschreiben, und zwar sowohl in ihrer französischen wie in ihrer flämischen Form. Ehe wir einige Bemerkungen über die zeitgenössische Literatur machen, möchten wir kurz an die alten Autoren und ihre hauptsächlichsten Werke erinnern. Heynric van Veldeke, ein Limburger, schrieb in der Mitte des XII. Jahrhunderts Liebesgedichte. „Van den Vos Reynaerde“ ist ein blendendes Meisterwerk der Satire in der Art des Tierepos. Die ergreifende „Legende von Beatrijs“ ist ein Musterbeispiel des mittelalterlichen religiösen Schrifttums. Hadewych, Dichterin des XIII. Jahrhunderts, durchbohrt von der göttlichen Liebe, hat Seiten von erschütternder Kraft hinterlassen. Ruusbroec, genannt der „Wunderbare“, ist der allgemein bekannte Mystiker, Jacob van Maerlant, sozialer Schriftsteller des XIII. Jahrhunderts hat Werke dauerhafter und lehrhafter Art verfasst. Jean d’Outremeuse und Jacques de Hemricourt sind Geschichtschreiber, deren Sprache „Lütticher Romanisch“ ist. Im XV. Jahrhundert finden wir am Hofe von Burgund die begabten Chronisten Georges Chastellain und Philippe de Commines. Im XVI. Jahrhundert beteiligt sich ein merkwürdiger Edelmann, der Philippe de Marnix de Sainte-Aldegonde hiess, und beide Sprachen beherrschte, am Streite der Religionen und übt auf die flämische Sprache einen bedeutenden Einfluss aus. Charles-Joseph de Ligne, der Prince Charmant, der Fürst „in gold und rosa“, versinnbildlicht in Schloss Belceil das Ende des Ancien Régime. Im XIX. Jahrhundert war Charles de Coster der Vorläufer der literarischen Erneuerung; seine „Legende von Tijl Uilenspiegel“ hat sich den Namen der „Nationalen Bibel“ verdient. Hendrik Conscience ist der berühmteste flämische Romandichter; sein Roman „De Leeuw van Viaanderen“ bezeichnet den Anteil der flämischen Literatur Belgiens an der europäischen Strömung der Romantik. ZEITGENÖSSISCHE LITERATUR Man datiert gewöhnlich von 1880 die bekannte Wiedergeburt, die, was die französischsprachige Literatur angeht, unter dem Namen „Junges Belgien“ bekannt ist. Dreizehn Jahre später, im Jahre 1893, gründen die Flamen eine Revue — „Van Nu en Straks“ — deren Wirkung nicht weniger revolutionär sein sollte. Diese jungen Leute sind entschlossen, nur sich selbst sich als Vorbilder dienen zu lassen. Ein kühnes Unternehmen. In Wirklichkeit bringt der französische Parnasse auf belgischem Boden nur eine Karikatur des Parnasses hervor. Es naht der Symbolismus... Vorher hatte aber Flandern die Dichtung Guido Gezelles zu schätzen gewusst, dieses einfachen und reinen Sängers der Schönheiten der Schöpfung. 54
die belgische Literatur DIE DICHTER. Wenn es wahr ist, dass der Symbolismus in sich eine gewisse Neigung zum Mysterium, wie sie den Leuten des Nordens eigen ist, vereinigt mit dem Geiste des Strebens, der einer Bevölkerung eigen ist, deren gallo-romanische Überlieferung so starke germanische Beeinflussung erfahren hat, so ist es nicht verwunderlich, dass sich der belgische Schriftsteller dieser letzten siebzig Jahre am urwüchsigsten zeigt, wenn er seinen Weg in der Richtung des Symbolismus nimmt. Wird dies nicht am besten offenbar in der bemerkenswerten Fülle der Dichter französischer Zunge? Das flämische, aber französisch schreibende Belgien hatte mit Georges Rodenbach, Emile Verhaeren, Charles Van Lerberghe, Max Eiskamp, Maurice Maeterlinck der französischen Literatur eine wahrhaft königliche „Quinte“ gegeben; nur Albert Mockel, der Begründer der symbolistischen Zeitschrift ,,Wallonien“ vertrat die Lütticher Empfindsamkeit. Odilon-Jean Périer, Eric de Haulleville und Jean de Bosschere halten die Flamme wach. In der gegenwärtigen Generation darf man sagen, dass die guten Poeten, von Marcel Thiry bis Edmond Vandercammen und Armand Bernier über Robert Vivier, Roger Bodart und Henri Michaux, diesen Dichter in Prosa, sich den Supervielle, den Cendrars, den Eluard oder Prévert an die Seite stellen. Sie haben sich abgewendet von den Mythologien, von den Gedankenspielereien, ja selbst von der ,,inneren Landschaft“, die einer ganz bestimmten Art von ruhigem Egoismus nur allzu sehr entgegen kommt. Ihre ernsthafte Suche nach Glück
offenbart ohne Zweifel ein sittliches Bewusstsein, das sich weniger in den Dienst des Individuums, als in den der Allgemeinheit stellt. Diesen Taumel des „sternhaften Aufblühens“, wie es Claudel einmal nennt, haben unsere Dichter französischer Zunge empfunden; sie haben ihn überwunden. Ihre Eingebung hat dabei an Wert, an Klarheit, an Herzhaftigkeit gewonnen; zudem, wie Paul Valéry sagt : „Man muss versuchen zu leben...“ Ein Name, den man sich merken muss, ist Marcel Thiry, dessen fehlerlose Technik sich eint mit einer Beschränkung von beinahe übertriebener Sparsamkeit. Bemüht, in den ausgeklügeltsten Wortgebilden Töne mit Zahlen zu verschmelzen, ist Thiry wohl das vollendeste Beispiel dessen, für den Dichtung das Ungeordnete ist, aus dem er Ordnung schafft. Karel van de Woestijne ist unter den Flamen ein sehr grosser Dichter; seine Lauterkeit flösst Achtung ein und der Reichtum seiner Sprache erzwingt unsere Bewunderung. Für all seine so stark abgestuften, vielfältigen Erlebnismöglichkeiten hat er seine Form gefunden : Leidenschaft und Wehmut, Freude und Schmerz, Müdigkeit und Verzweiflung sprechen aus seiner Dichtung. Hingebung an die Sinne wechselt bei ihm mit einer scharfen gedanklichen Abstraktion. Seine Seele ist gross in ihrer Gebro-; chenheit und in der Form, in der sie sie zu tragen weiss. Im Grunde : Lyriker hat er sich ausserdem — und mit Erfolg — dem Essay und der Novelle zugewandt. Die junge flämische Generation nach dem ersten Weltkrieg war 55
„gemeinschaftsgebunden“. Die reine Gemütsbewegung war bei ihr nicht massgebend. Der dichterischen Lizenz hat man zu freien Lauf gelassen. Paul van Ostayens Dichtung unterscheidet sich durch ihre revolutionäre Note. In einer prophetisch-beschwörenden Sprache mit barocken Bildern und in freien Rhythmen hat er zuerst seine Gemeinschaftsauffassung zum Ausdruck gebracht. Nachher schlug er eine andre Richtung ein, eine Art von „organischem Expressionismus“. Einige seiner Gedichte aber — unter den letzten — deuten auf eine weitere Evolution, über das Experiment hin. Neben ihm aber wirkten Dichter die die „entfesselten Kräfte der Zeit“ ablehnten und nach einer stillen und konservativen Dichtung suchten wie die van ,,'t Fonteintje“, der ,,Fantaisiste“ Richard Minne, Raymond Herreman, Maurice Roelants, auch Urbain van de Voorde. Aus dieser Reihe und im Schatten van de Woestijnes, obwohl mit eigner Originalität, wirkte Jan van Nijlen, der Träumer, der mit Ironie und Gelassenheit in klassischen Formen Trost für seine Vereinsamung sucht. Unter den jüngeren Herwig Hensen, der Intellektuelle, Bert Decorte, der Visionäre und Karel Jonckheere sind schon mehr als ein Versprechen. Alle sind zurückgekehrt zu grösserer Zurückhaltung in der Technik“ und zu mehr Vornehmheit im Ausdruck. DIE ROMANSCHRIFTSTELLER. Der belgische Roman in französischer Sprache ist weniger reich. Lange hat eine naturnotwendig beengte Heimatdichtung auf unseren Romanschriftstellern und Erzählern gelastet, wie der Farbkasten auf ihnen gelastet hätte, wenn sie ihn auf die Schultern geladen hätten, um ihre Staffelei dem Kirchturm der „Kleinen 56
Stadt“ gegenüber aufzustellen. Gewiss hatte Camille Lemonnier, der „Marschall der Literatur“ versucht, in seinem „schillernden“ Stil ganz Belgien zu beschreiben. Aber Georges Eekhoud ist nie über seinen Winkel von Antwerpen hinaus gekommen, und Georges Virrés nie über den von Lummen, Louis Delattre nie über den Landstrich zwischen Landelies und Fontaine-l’Evêque, Hubert Krains nicht über seine Ebene von Hesbaye und Edmond Glesener nicht über seine Lütticher Landschaft... Heutzutage begnügt sich der Romanschriftsteller nicht mehr mit der Darstellung gegebener Zustände, selbst nicht mehr mit der naturgetreuen Nachzeichnung von Menschen. Heute ist sein Bestreben, die Wirklichkeit auf eine höhere Stufe zu stellen, auf die Gefahr hin, alles einzureissen ohne die Kraft zum Wiederaufbau zu haben. Viele unserer besten Romanschriftsteller sind zugleich Dichter, wie Franz Hellens, Charles Plisnier, Vivier, Thiry, Marie Gevers, Constant Burniaux, Pierre Nothomb. Die begabtesten lebten oder leben noch im Ausland, wie André Baillon, Plisnier, Georges Simenon, Hellens. André Baillon erscheint als der bedeutsamste, mit der unermüdlichen Arbeit an seinem expressionistischen Stil und seinem Bedürfnis, sein eigenes Innere schrankenlos mitzuteilen, wobei seine Aufrichtigkeit ihn vor dem Vorwurf der Absichtlichkeit schützt. Franz Hellens befindet sich mit den ,,Phantastischen Realitäten“ im vollsten Strom des Symbolismus; von den unfassbarsten Regungen des Innenlebens geht ein Experiment aus, das sich fast immer als unlösbar erweist. Ueberzeugter Anhänger der Auflösung legt Charles Plisnier ganz wie Camus Zeugnis ab für den „Menschen im Zustand des Aufruhrs“ der
nicht an die Erlösung glaubt und wenn er sich hinkniet, nicht an das Knieen. Während wir bei Georges Simenon nie vergessen dürfen, dass, obgleich er so viel Glaubwürdigkeit voraussetzt, der Pfeife Maigrets doch nie ein Hauch von magischem Wirklichkeitssinn fehlt. Die Flamen sind Erzähler, und haben in den letzten fünfzig Jahren bedeutendes geleistet. Cyriel Buysse, der flämische Maupassant, stellt in anspruchsloser Sprache die flämischen Bauern und Kleinbürger dar. Aber er weiss mit wenigen Strichen Menschen und Geschehen lebendig zu machen. Stijn Streuvels, der die Beziehung von Mensch und Land im Mittelpunkt seines Werkes stellt, weiss Klang, Bewegung und Wort so zu brauchen, dass Menschen und Dinge, die unter demselben Naturgesetz wirken, lebendig werden. August Vermeylen, der Wortführer der „Straksers“, der bekannte Essayist, wird zu den symbolischen Dichtern gezählt um seine Ideendichtung, seinen Roman „Der ewige Jude“. Herman Teirlinck ist nicht nur ein Erzähler, er weiss auch wie mit den Möglichkeiten, Nuancen und Lösungen des Lebens zu spielen. Sehr gut ist er in der Charakteristik. Sehr gewandt auch in der Sprache. Ein Beispiel unter verschiedenen, sein letztes Buch „Das Gefecht mit dem Engel“. Sarkastische Kühle, Humor und Liebe kennzeichnen die Romane von Willem Eisschot. Er bahnte den Weg einer neuen flämischen Erzählkunst. Gerard Walschap betont in seinen dynamischen Romanen die Frage nach dem Leben und seinem Sinn. Seine Charakteristik ist knapp, unmittelbar. Hart, aber auch humorvoll ist sie. Die Instinktiven weiss er am besten zu schildern. Maurice Roelants schreibt psychologische Romane, deckt
mit milder Hand innere Konflikte auf. Er ist sehr nuanziert. Marnix Gijsen gibt in seinen Romanen eine Autobiografie mit Humor, Ironie und viel Intelligenz. Unter den jüngeren sind zu vermelden Johan Daisne, Louis P. Boon, Piet van Aken, Hubert Lampo. Unter den jüngsten Hugo Claus. Romanschriftsteller wie Timmermans und Ernest Claes, die grosse Erfolge hatten, befruchteten ihre Kunst mit Vorliebe aus den Quellen ihrer engsten Heimat. DIE DRAMATIKER. Wir sind keine Theatermenschen. Gewiss haben wir Maeterlinck gehabt, der nach Mirbeau ,,jemand stärkerer als Shakespeare“ war. Van Lerberghe hat ein symbolistisches Drama aufführen lassen : „Die Spürhunde“. Verhaeren selbst hat Theaterstücke verfasst. Da sichern einmal Fernand Crommelynck, sodann Michel de Ghelderode dem belgischen Theater französischer Sprache einen beneidenswerten Platz. Henry Soumagne hinterlässt ein wertvolles Werk ; Herman Closson hat bereits das Alter der frühen Hoffnungen überschritten. Die Schar junger Theaterdichter französischer Zunge, Suzanne Lilar, Georges Sion, Charles Bertin, Jean Mogin, trägt in sich viele Versprechen. Auf Seiten der Flamen verdient Herman Teirlinck den ersten Platz. Er ist zugleich Theaterdichter und Regisseur. Er hat die Romantik völlig von der Bühne verbannt. Und auch die sogenannte Gemütlichkeit. Unter den jüngeren wäre zu vermelden Herwig Hensen, der Folklore und Experiment von seiner Bühne verbannt hat, historische Dramen gegeben hat, ein auf raffinierter Sprachkunst beruhendes Repertoire. 57
Wirbel von weissen Straussenfedern, Farben und Musik: wir haben einen Gille aus Binche.
Volkskunde Belgien, das Land starker Färbung und eifersüchtig gewahrter Volksüberlieferung, ist überreich an Volksfesten. Seine Prozessionen sind noch prunkvoller als berühmt. Da gibt es den Ommegang in Brüssel; den Triumph des Heiligen Blutes in Brügge (am Montag nach dem 2. Mai), alle fünf Jahre (im August) gesteigert durch das Spiel vom Heiligen Blute; Prozession der Büsser in Veurne, wo sie sich von der Glut der Sonne und dem Gewicht des Kreuzes erdrücken lassen; Zurschaustellung des Schreines des Heiligen Eleutherius in Tournai (Sonntag nach Maria Geburt); oder 58
aber die Marienprozession der Virga Jesse, die in Hasselt nur alle sieben Jahre am Sonntag vor Himmelfahrt stattfindet. Es gibt die Umzüge der Riesen — Mieke, Janneke, das Bayardspferd, — deren Namen Eingang in eine Art Wappenbuch des Volkes gefunden haben. Man sieht diese gutmütigen Riesen in Geraardsbergen, in Dendermonde, in Tienen, in Wetteren, sich zum Klange der Blechmusik in Gang setzen; und wallonische Städte wie Ath wollen ihrerseits dabei sein. Militärische Paraden findet man hauptsächlich in Wallonien. Die am Magdalenentag in Jumet (sie setzt sich am Sonntag nach dem 21. Juli in Bewegung) und die, die Walcourt am Tage der Dreieinigkeit veranstaltet, bleiben die buntesten. Da sieht man Tschakos, Lederzeug und die Schürzen der Pioniere, und hört das Abfeuern der Musketen; ist man aber auf dem Tanzplatz angelangt, so macht die Geistlichkeit selber nach alter Sitte im Ornat ihre Tanzschritte. Es gibt den Karneval mit seinem Schellengeläut und seinen Narrheiten. Ganz Binche ist zur Fastnacht ein einziger Busch von Straussenfedern. Die ,,Gilles“ mit ausgestopftem Buckel und in Holzschuhen drehen und verrenken sich, wobei sie ihren „ramon“ schwingen; Apfelsinen werden gegen die Gitterfenster geworfen, wo sie sich unter Wohlgeruch zerquetschen. Malmedy und Eupen erwachen täglich vom Sonntag vor Fastnacht bis zur Fastnacht unter ausschweifenden Schreien, artigen Verkleidungen und Mummenschanz. Aber andere Kundgebungen des Volkstums sind gleichfalls voll Fröhlichkeit. Am Sonntag vor Fastnacht werden in Geraardsbergen fromme Feuer entzündet und ,,Craquelins“,
schmackhafte Süssigkeiten, verteilt. Ostermontag werden in Hakendover, anlässlich einer bäuerlichen Wallfahrt, die Brabanter Pferde, von den Ohren bis zum Schwanz mit Bändern geschmückt, im Galopp über die Felder gejagt. Jeden ersten Mai werden in Rütten nah dem altrömischen Tongern die Gefährten des heiligen Evermar — es sind ihrer acht und sie tragen den Stab und die Muscheln des Pilgers — bis auf einen am Brunnen unter den Linden von den Reitern des Hacco erschlagen. Am Pfingstmontag vereinigt die Ehevesper von Ecaussinnes die Junggesellen, deren Erkennungszeichen eine am Knopfloch befestigte Tasse ist. Am Sonntag des Dreieinigkeitsfestes bezwingt auf dem Grossen Platz von Mons der Heilige Georg unter den Augen des „Affen“ mit dem kahlen Kopf und zur grössten Genugtuung der Menge den „Lumecon“
oder Drachen, dessen harte Haare die den Schwanzbüschel bilden, man sich streitig macht. Am Sonntag nach Peter und Paul segnet der Dekan von Ostende in seinem gestickten Amtskleid feierlich die Fischerbarken, das Meer und die Möven. Sonntag nach Allerheiligen pflanzen tausende von Pilgern zehntausende von Kerzen zu ebener Erde vor der Kirche von Scherpenheuvel auf. Die Lütticher Marionetten nehmen kein Blatt vor den Mund, namentlich wenn es sich um „Tschantches“ handelt, der dem Kaiser der Sarrazenen sein Teil zu hören gibt. Ein Marionettentheater spielt in Verviers entzückende Szenen aus Bethlehem. In Brüssel lässt „Toone“, der Vorführer, die köstlichen Gassenjungen und die alten Weiber mit ihrem unverwüstlichen Mundwerk ihre Wechselreden in der Mundart der Volksviertel, dem „Marollien“ führen.
ERZIEHUNGSWESEN Die belgische Verfassung gewährleistet die Freiheit des Unterrichts. Nach dem Aufstand, der zur Unabhängigkeit führte, stellte der Staat die beiden offiziellen Universitäten von Lüttich und Gent wieder her, die im Jahre 1816 unter der holländischen Herrschaft gegründet worden waren. Die Katholiken eröffneten im Jahre 1834 die Universität von Löwen wieder, die auf eine Bulle von Martin V. vom 9. Dezember 1425 zurückgeht. Im gleichen Jahre 1834 gründeten die Liberalen auf den Rat von Theodor Verhaegen eine Hochschule, aus der die Freie Universität von Brüssel (U. L. B.), geworden ist. Andere Hochschulstätten nehmen die Studenten und oft auch Studentinnen auf. Katholische Universitätsfakultäten sind in Brüssel (Institut Saint-Louis, Philosophie und Literatur) und in Namur (Collège NotreDame de la Paix, Philosophie, Literatur und Naturwissenschaften) gegründet worden. Die Königliche Militärschule hat ihren Sitz in Brüssel; die Universität für die überseeischen Gebiete hat den ihren (mit einer Fakultät für Nationalökonomie und Verwaltungswissenschaft) in Antwerpen. Gembloux ist berühmt durch seine Landwirtschaftliche Hochschule, deren flämisches Gegenstück, die Reichslandbauhochschule, sich in Gent befindet, und Verviers, Mittelpunkt der Tuchindustrie durch seine Textilhochschule. Die technische Hochschule von Mons, im Grubenrevier, und die Tierärztliche Hochschule von Cureghem bei Brüssel ziehen zahlreiche Hörer an. Aber der Belgier, 60
erpicht auf Handel, und darauf bedacht, sich in das Getriebe des Grosshandels und der Geschäfte einweihen zu lassen, sucht auch seine kaufmännische Vorbildung zu vervollkommnen. Antwerpen zählt nicht weniger als drei Handelshochschulen, worunter eine Staatsschule, eine für Mädchen und eine, (Saint-Ignace), die von privaten Stellen abhängt. Mons hat eine höhere Handelsschule und ein höheres Handels- und Konsularinstitut. Eine Handels- und Konsularhochschule besteht in Lüttich; eine höhere Handelsschule für Mädchen in Etterbeek, einem Vorort von Brüssel. Unter der Oberleitung der Fondation Universitaire arbeitet in Belgien ein statistisches Universitätsamt, dessen Tabellen und Aufstellungen unendlich wertvoll sind. Alle Zahlen, die wir hier geben, nehmen Bezug auf die Angaben des Berichtes für 1955. Für das Universitätsjahr 1954-1955 haben sich 22.769 Studenten beiderlei Geschlechtes, darunter 4.058 Frauen, 25.192 mal immatrikulieren lassen. Wenn darunter nur wenige, nämlich 1.190 Ausländer sind, so kommt das daher, dass die Folgeerscheinungen des Krieges sich noch immer bemerkbar machen. Siebzehn Jahre früher, im Universitätsjahr 1937-1938 zählte man nur 11.314 Immatrikulationen. An der Universität Gent haben sich 3.246 Hörer immatrikulieren lassen, an der Universität Lüttich 3.497, an der Universität Brüssel 3.467, an der Universität Löwen 9.323, an der Gesamtheit der Hochschulen 3.236.
Die mittleren, staatlichen wie privaten Unterrichtsanstalten (höhere Klassen) beherbergen eine Gesamtzahl von 38.498 Schülern, wovon 16.199 die Realklassen besuchen. Die Zunahme in den letzten zehn Jahren, übersteigt 50 %, während die Bevölkerungszunahme Belgiens im gleichen Zeitraum nur gering war. Die mittleren Schulen, ebenso wie die Universitäten, liefern zu viele Anwärter für die freien Berufe. Unsere Werkstätten benötigen Techniker. In Belgien verdient der Zeitungssetzer mehr als der Journalist, und es ist Zeit, dass der Lehrkörper sich die Lebensnotwendigkeiten der Stunde zu Gemüte führt. Man hat übrigens die technischen Schulen vervielfacht. Eine Hochschule der Arbeit hat ihre Pforten in Charleroi geöffnet. Man hat an der Universität Lüttich ein interfakultäres Zentrum der Arbeit eröffnet. Es besteht Schulpflicht; Kindergärten, Fröbelklassen, Elementarschulen sind reichlich vorhanden. Die bedeutendsten Kunsthochschulen sind in Antwerpen und Brüssel. Die Hochschule für angewandte Kunst von La Cambre bei Brüssel bietet in ihren Kursen von der Baukunst bis zum Kunstgewerbe ein umfassendes Programm. Die Schulen von Saint-Luc sind katholische Einrichtungen, die sich hauptsächlich mit dem Unterricht in der Baukunst beschäftigen. Die Konservatorien von Antwerpen, Brüssel und Lüttich sind zu bekannt, als dass es sich verlohnte näher darauf einzugehen. Hier wäre vielleicht der Ort, die Tätigkeit unserer grossen wissenschaftlichen Gesellschaften, und sei es auch nur flüchtig, zu erwähnen, deren Mitarbeit sich als so nützlich
für das Werk der Volkserziehung herausgestellt war. Die ägyptologische Stiftung Königin Elisabeth steht in engster Fühlung mit den königlichen Museen für Kunst und Geschichte des Cinquantenaire. Erwähnen wir noch die Medizinische Stiftung Königin Elisabeth und die berühmte Musikkapelle der Königin, deren Orchester immer mit dem grössten Erfolg aufgetreten ist. Die Königliche Belgische Gesellschaft für Geographie, die Belgische Gesellschaft für Mathematik, die Königlich Belgische Gesellschaft für Botanik, der Nationale Ausschuss für die Geschichte der Wissenschaften, die Südniederländische Gesellschaft für Sprachkunde, Literatur und Geschichte, ,die Flämische Wissenschaftliche Stiftung sind nur einige wenige der hundert und drei wissenschaftlichen Gesellschaften, die im Laufe des Universitätsjahres 19541955 aus der Gastlichkeit der Fondation Universitaire Vorteil gezogen und in der rue d’Egmont mehr als 700 Studiensitzungen abgehalten haben. Die Königliche Sternwarte befindet sich in Uccle. Die Hauptstadt besitzt noch ein Naturhistorisches Museum und sein Pasteur-Institut. Radio-Belgien verbreitet seit 1926 ein tägliches Programm. Am 18. Juni 1930 übernimmt das Landesamt für den Rundfunk die französischen Sendungen (I. N. R.), während ein entsprechendes Amt sich mit den Sendungen in flämischer Sprache befasst. Die Theater tragen dazu bei, die Massen zu erziehen. Man hat keine Mühe gescheut, um den Anschluss an die modernste Technik zu wahren. Der „Rideau de Bruxelles“ wird von Claude Etienne geschickt geleitet. Die Regierung hat die Schauspieler auf Wanderschaft damit beauftragt, ein 61
„Volkstheater“ auf die Beine zu bringen, um zur Volkserziehung beizutragen. Mit der Hilfe des Kunstseminars werden im Palaste der Schönen Künste interessante szenische Neuerungen, sei es der Bühne, sei es des Orchesters zu Tage gebracht. Die Provinzstädte wachen darüber, das ihnen eigentümliche Gesicht zu bewahren. Eine „Flämische Oper“ gibt Vorstellungen in Antwerpen; Lüttich ist stolz auf sein „Königliches Theater“ (Oper) und auf sein t„Gymnase“ (Schauspiel). Namur bietet den Besuchern, die in der schönen Jahreszeit dort Halt machen, die
Freude seines „Theaters im Grünen“, das in freier Luft im Park der Stadtfestung eingerichtet ist. In Belgien ist ohne Zweifel der Kappellmeister der am meisten bevorzugte Künstler. Er findet gewissenhafte Musiker, die im Stande sind, dem leisesten Wink seines Taktstockes zu folgen. Die Gesangvereine zeigen nicht nur grosses Können, sondern auch Begeisterung, und das Publikum folgt ihren Darbietungen und beurteilt sie mit unendlich viel gutem Geschmack. Glänzende Konzerte werden in Brüssel von der Philharmonischen
Luftbild der Brüsseler Universität
Gesellschaft (Palast der Schönen Künste) und im Konservatorium gegeben; in Antwerpen vom Gesangverein „Caecilia“; in Mecheln von der Singschule „Saint-Rombaud“, die der Domherr van Nuffel leitet; endlich im Konservatorium von Lüttich. Die Provinz Lüttich ist die Heimat der Geigenvirtuosen; sie ist ebenfalls berühmt durch ihre Männergesangsvereine, die „Schüler von Grétry“ und die „Legia“. Im Hennegau ist der Gemeinschaftsgesang besonders im Volke verbreitet. Zum Schluss möchten wir noch ein Wort über die Bibliotheken sagen. Die Königliche Bibliothek in Brüssel ist durch königlichen Erlass vom 19. Juni 1837 gegründet worden. Sie beherbergt eine prachtvolle Sammlung von burgundischen Handschriften, deren Miniaturen und Ausmalungen dem Auge ein Fest sind. Ausser der Abteilung der Handschriften umfasst sie einen Arbeitssaal, die Abteilung der Druckwerke mit ihrem Lesesaal, eine sehr bedeutende Abteilung von Zeitschriften, eine Abteilung von Kupferstichen und Graphik, eine Sammlung von geo-
graphischen Karten und ein Münzkabinett. Nennen wir noch in Brüssel die Universitätsbibliothek und in den Königlichen Museen für Kunst und Geschichte (Cinquantenaire) eine bewundernswerte Sammlung, wo tausende von seltenen und kostbaren Büchern versammelt sind. Die Universitätsbibliothek von Löwen ist, man möchte sagen verfolgt von einem unheilvollen Geschick, zweimal vernichtet worden. Im Jahre 1914, und zum zweiten Male im Jahre 1940. Zum zweiten Male innerhalb von weniger als 40 Jahren sucht sie voll Mut die Lücken zu füllen, die sie erlitten hat. Die Universitätsbibliotheken von Lüttich und Gent bilden einen Bestandteil des Besitzes dieser staatlichen Einrichtungen. In Namur hat der ehrwürdige Vater Moretus von der Societas Jesu in der Fakultät Notre-Dame de la Paix, der Überlieferung seiner Vorfahren der berühmten Moretus-Plantin, entsprechend, eine Bibliothek geschaffen, die hauptsächlich Werke der Geschichte und der Kunstgeschichte umfasst.
Unsere wissenschaftlichen Stiftungen Sie haben ihren Sitz Nr. 11 rue d’Egmont in Brüssel. In diesem Hause erwartet einen jeden die freundlichste Aufnahme. Hier werden Begegnungen herbeigeführt, hier werden Freundschaften geschlossen. Die Fondation Universitaire ist die ehrwürdigste von allen. Am 8. April 1916 legte Félicien Cattier vor Emile Francqui und einigen Universitätsprofessoren seine Richtlinien dar; das Gesetz, das der Fondation den Rechtsstand einer juristischen Person verleiht, ist vom 6. Juli 1920. Der Zweck der Fondation Universitaire ist, jungen, mittellosen Belgiern den Zutritt zum Hochschulstudium zu erleichtern. Die Fondation Universitaire und ihre Schwester-Stiftungen stehen unter der bewährten Leitung von Herrn Jean Willems. In ihrem Bemühen, die Wissenschaften zu befördern, haben sie glänzende Erfolge erzielt. Frei von jeder Bindung und ohne vorgefasste Meinung haben sie keinen anderen Ehrgeiz, als in uneigennützigster Weise den Professoren, Forschern und Studenten, die dessen würdig sind, zu Hilfe zu kommen. Eine der wichtigsten Aufgaben der Fondation Universitaire ist die Gewährung von Studiendarlehen, die den Anwärtern, wenn sie zur Zufriedenheit der Prüfungskommission ihre „Reifeprüfung“ bestanden haben, in der Reihenfolge ihres guten Abschneidens verliehen werden. Ein Wohlfahrtsfonds ist von der F.U. gegründet 64
worden, um Empfängern von Studiendarlehen zu Hilfe zu kommen, deren Gesundheitszustand besondere Pflege erfordert. Die Fondation Universitaire gewährt vielen wissenschaftlichen Gesellschaften und Einrichtungen freigebige Unterstützung. Sie unterstützt geldlich die Veröffentlichung neuer Werke, die dem Fortschritt der Wissenschaften dienen. Unter ihrer Leitung bemüht sich ein ständiger Ausschuss der wissenschaftlichen Bibliotheken wenigstens ein Exemplar aller in der ganzen Welt erscheinenden wissenschaftlichen Zeitschriften sich zu besorgen. Der Club, der unter dem Schutze der F. U. steht, verfügt über eine Anzahl von Lesesälen, sowie über etwa zwanzig Privatgemächer, wo die belgischen und ausländischen Mitglieder anlässlich eines Aufenthaltes in Brüssel wohnen können; das Restaurant steht zu den täglichen Mahlzeiten zur Verfügung. Im Erdgeschoss befindet sich eine literarische Bibliothek zur Verfügung der Mitglieder; Nachschlagewerke können im ersten Stock eingesehen werden. Am 1. Oktober 1927 lenkte der König Albert anlässlich des 110. Geburtstages der Eisenwerke John Cockerill die Aufmerksamkeit seiner Untertanen auf die Krise der wissenschaftlichen Einrichtungen und der Laboratorien. Am 26. November des folgenden Jahres wiederholte er anlässlich der öffentlichen Sitzung der
Akademie seine Mahnung. „Es ist“, sagte er nachdrücklich, „unerlässlich, dass die Männer der Wissenschaft in der Lage sind, frei von allen materiellen Sorgen die ganze Kraft ihres Denkens der Forschung zu widmen“. Kurz darauf brachte Emile Francqui einen Propagandaausschuss zusammen. In weniger als dreissig Monaten hatte man dank der Beiträge der Bankiers, der Industriellen, der Geschäftsleute und einfacher Privatleute ioo Millionen (Francs von 1928) gesammelt. Der Nationalfonds für wissenschaftliche Forschung (F. N. R. S.), unsere zweite grosse Stiftung, hat es sich, wie ihr Name besagt, zur Aufgabe gemacht, die wissenschaftliche Forschung in allen ihren Formen zu fördern. Seit 1922 hat der F. N. R. S. die Patenschaft eines Ausschusses für Radium übernommen, der im Jahre 1934 zur Nationalen Krebsstiftung geworden ist. Zwei Jahre vorher war die Stiftung Francqui begründet worden. Die Preise der Stiftung Francqui können belgischen Gelehrten verliehen werden, die einen besonderen Beitrag zur Förderung der Wissenschaften geleistet haben. Die Lehrstühle Francqui gewähren ausländischen oder belgischen Persönlichkeiten Aufnahme, unter der Voraussetzung, dass die Vorlesungen nur der Darstellung eigener Forschungen dienen dürfen. Diese vier Stiftungen bilden eine festgefügte Einheit. Noch ein Wort über einige Einrichtungen, deren Leben besonders eng mit dem Leben der genannten Stiftungen verbunden ist. Die Belgisch-Amerikanische Stiftung für Erziehung, A. G. (sie nannte sich bis zum 12. Mai 1938 die C. R. B. Stiftung für Erziehung, A. G.), wurde im Jahre 1920 gegründet, zur Erinne-
rung an das während des Krieges von 1914-1918 geleistete Hilfswerk der „Commission for Relief in Belgium“, und um auf kulturellem Gebiet ein dauerndes Freundschaftsband zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Belgien zu schaffen. Die Belgisch-Amerikanische Stiftung für Erziehung hat sich den Beifall aller derer verdient, die glauben, dass die Schaffung einer geistigen Verbindung der erste Schritt auf dem Wege des Friedens ist, auf dem alle Völker der Welt zusammentreffen sollen. Seit 1943 übt die Intellektuelle Jugend ihre Tätigkeit unter der Aufsicht der Fondation Universitaire aus. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die geistige, körperliche und technische Ausbildung der Jugend zu befördern. Die Belgische Jugend im Ausland setzt die Tätigkeit des „Belgischen Bureaus für den Studentenaustausch“ fort, das im Jahre 1930 von seinem derzeitigen Direktor, Professor Fr. Closset von der Universität Lüttich gegründet worden ist. Seit 1945 nimmt die Fondation Universitaire Anteil an seinen Bemühungen, die hauptsächlich bezwecken, bei den jungen Belgiern die Kenntnis der lebenden Sprachen und der Völker, die sie sprechen, zu entwickeln. Während des Universitätsjahres 1954-1955 hat die Belgische Jugend im Ausland ungefähr 18.000 junge Männer und Mädchen unseres Landes in Briefwechsel mit Angehörigen von 30 Nationen gebracht. Sie hat etwa 850 Studenten die Möglichkeit gegeben, acht fremde Länder zu besuchen (sei es als Austauschschüler, sei es als zahlende Gäste, sei es als Freiwillige in Lagern usw). Ebenso hat sie die Aufnahme von hunderten von jungen Ausländern in belgischen Familien vermittelt. 65
Der Turismus, von dem hier die Rede ist, beschäftigt sich vor allem mit den Verkehrsmitteln, dem Komfort der Hotels und der Beschaffenheit der Nahrung. Bemerken wir gleich, dass eine besondere Abteilung des Verkehrsministeriums, das von Herrn A. Haulot geleitete Zentralamt für den Turismus, laufend damit beschäftigt ist, das Reisen in unserem Lande zu erleichtern. Ein rascher Blick auf die Verkehrsmittel zeigt, dass Belgien durch den geringen Umfang seines Gebietes bevorzugt ist. Man braucht kaum fünf Stunden mit der Eisenbahn, um das ganze Land von Ostende bis Arlon zu durchqueren. In dieser kurzen Zeit ziehen die verschiedenartigsten Landschaften am Auge des Reisenden vorüber : vom goldenen Strand bis zum Hochwald über die Hopfenfelder, 66
die Schlösser Brabants, die Hochebene von Gembloux, den unvergesslichen Blick der Maas bei Namur, die Hochebene von Haversin und die Aussicht auf die Wildnis in der Umgebung von Longlier. Das Schienennetz ist dichter, als in irgend einem anderen Teile der Welt. Unglücksfälle sind sozusagen unbekannt. Wo es nötig ist, werden die Züge durch hochmoderne Autobusse oder Triebwagen ersetzt. In den Monaten lebhaften Turistenverkehrs von Mai bis September 1954 haben die belgischen Eisenbahnen 93.263.000 Passagiere befördert. Die Schiffslinie Ostende-Dover versieht tägliche und sehr regelmässige Verbindungen mit Gross-Britannien. Personendampfer vom Typ Baudouinville befördern die Reisenden zwischen dem Mutterland und dem Kongo.
Aber das Flugzeug ist im Begriff, die übrigen Verkehrsmittel auf den internationalen Strecken zu verdrängen. Die Sabena (Belgische Luftlinie) hat immer an der Spitze des Fortschritts gestanden. Im Jahre 1954 haben ihre grossen silbernen Vögel 391.756 Reisende befördert, die zusammen 28.090.355 Kilometer zurückgelegt haben. Es ist vielleicht angebracht, einen Augenblick auf den Hafen von Antwerpen, zurückzukommen. Mehr als 240 ausländische Schiffahrtsgesellschaften haben in Antwerpen ihren Sitz oder eine Niederlassung. Der Hafen verfügt über 52 Kilometer Kais, wovon fünf einhalb Kilometer am Flusse selbst entlang laufen. Achthundert Kilometer Schienen setzen Antwerpen in Stand sich jeder Anforderung des Verkehrs gewachsen zu zeigen. Gent, Brüssel und Zeebrügge be-
sitzen Einrichtungen, die mit denen von Ostende wetteifern. Die belgische Werftindustrie erzeugt Schlepper, Tankschiffe, Küstenfahrzeuge, verschwenderisch ausgestattete Personendampfer wie die „Baudouinville“, Frachtschiffe wie den „Gouverneur Galopin“, und Motorschiffe wie den „Prinz Albert“. Vom Kiel bis zu den Masten sind alle diese Arten von Schiffen von belgischen Ingenieuren gezeichnet und von belgischen Arbeitern zusammengesetzt worden. Unsere Schnellschiffe Ostende-Dover haben drei Mal einen Schnelligkeitsweltrekord aufgestellt. Das belgische Hotelgewerbe hat in diesen Jahren unter der Weltkrise und dem verhältnismässig hohen Stand der belgischen, „harten“ Währung gelitten. Wenn man den Statistiken Glauben schenkt, so stellen 2.199 Hotels den Turisten 40.102 Zimmer zur Verfügung. Hierzu müsste man noch 20 000 Zimmer rechnen, die man
Jugendherberge in Lüstin.
in ungefähr 2 300 Pensionen finden kann. Jugendherbergen und Ferienheime bieten weitere 9 650 Betten. Freiflächen, die dem Camping vorbehalten sind, können 20 000 Zeltbewohner aufnehmen. Man muss betonen, dass diese Statistiken nicht genügend die Güte 68
der Leistungen berücksichtigen, die der Reisende vom belgischen Hotelgewerbe erwarten kann. Der Belgier ist von Natur gastfreundlich. Während unser Ruf als Feinschmecker seit unerdenklichen Zeiten fest begründet ist. Die geräucherten Schinken von Bastogne sind zum Beispiel
schon seit der Zeit der römischen Eroberung berühmt. Fast unmittelbar nach der Befreiung des Landes trug die Fülle von Lebensmitteln, über die wir, wie durch ein Wunder verfügten, unserem Lande den Beinamen der „Oasis von Europa“ ein. Aber schon lange vor dieser Zeit haben Feinschmecker wie Léon Daudet und Colette das Lob unserer reichhaltigen Küche gesungen. Einen ganz besonderen Reichtum weist die Speisekarte Walloniens auf. Jedes Ereignis, gleich ob froher oder trauriger Art, gibt Anlass, die feierlichen Gebräuche des Essens und Trinkens in Bewegung zu setzen. Dort, in diesen geruhsamen Provinznestern, reifen unter dem Staube der Keller des Notars oder des Apothekers die Weine zu ihrer köstlichsten Blume. Wir haben mehr als hundert tausend Restaurants, Cafes und TeaRooms. Jegliche Art von Bier, vom leichtesten Hellbier bis zur sehr schweren „Gueuze“ findet hier ihre Liebhaber. Belgien besitzt mindestens drei bedeutende Badeorte : Spa, Chaudfontaine und Ostende. Die Wässer von Spa sind berühmt. Die Umgebung ist voller Reize. Der Golfplatz, dessen ,,links“ tief in den Wald eindringen, gilt als einer der schönsten der Welt. Andere Mittelpunkte des Fremdenverkehrs bieten ebenfalls ausgezeichnete Anlagen für die Verehrer des
Schlägers, der die kleine weisse Kugel treibt : Brüssel, Antwerpen, Le Zoute, Ostende, Laethem-SaintMartin, Mons und Lüttich. Die Rennplätze befinden sich hauptsächlich in der Nähe von Brüssel : Groenendaal (mitten im Bois), Boitsfort (am Rande des Waldes), Stokkel (auf einer Hochebene), Zellik (mit seiner gemütlichen Stimmung) und Sterrebeek (wo sich die Trabrennen abspielen). In der Sommerzeit bildet der Rennplatz von Wellington, am Saume des Meeres, einen Anziehungspunkt für die Wettlustigen von Ostende. Für die, die die Aufregungen des Roulette oder des Baccara vorziehen, gibt es die Kasinos von Spa, Chaudfontaine, Namur, Dinant, Blankenberge, Middelkerke und Knokke. Der grösste Anziehungspunkt für unsere Besucher dürften wohl die Grotten sein. Die von Han, von Rochefort und von Remouchamps geniessen Weltruf. In Han und in Rochefort fliesst die Lesse durch die unterirdischen Säle, deren erstaunliche Architekturen sie aus den vollen Felsen gemeisselt hat. Das ganze Tal der Maas von Hastière bis Namur, die Täler der Semois, der Lesse, der Ambleve und der Ourthe halten mehr malerische Überraschungen bereit, als der Reisende zu hoffen wagt.
Der Belgische Kongo
Maske der Baluba.
Es wäre unverzeihlich, die kurze Übersicht zu beschliessen, ohne ein Wort vom Kongo gesagt zu haben. Die Kolonie ist das Werk Leopolds II., dieses „Riesen“. Er, und er allein, nimmt, nachdem er Brialmont und Banning zu seinen Ansichten bekehrt hat, das riesenhafte Unternehmen auf sich. Gegen Europa; gegen sein Volk. Er gründet die Internationale Afrikanische Gesellschaft; dann den Studienausschuss für den Oberen Kongo; er gewinnt. Stanley den Entdecker für sich; er bringt, mit Hilfe von Sanford die Vereinigten Staaten von Amerika auf seine Seite; er schliesst mit Ferry einen Vertrag, bei dem er Ferry selbst übervorteilt; auf dem Berliner Kongress verdutzt er Bismarck, den Eisernen Kanzler : mit dem Erfolg, dass bereits 1884 vierzehn Mächte die Afrikanische 72
Gesellschaft als Souveränen Staat anerkennen. Was folgt ist ein Epos. Epos der Soldaten : der Jacques, der Joubert, der Dhanis, der Chaltin, der Lothaire, die den arabischen Sklavenhändlern dicht auf den Fersen bleiben. Epos der Brückenbauer, derer die mit der Arbeit beginnen, derer, die die Eisenbahnschienen verbolzen. Epos der Ärzte auf verlorenem. Posten im Busch. Epos der Missionare. Seit dem 15. November 1908 ist der Kongo endgültig dem Mutterland einverleibt. Indessen bewahrt er eine von diesem unterschiedene Rechtsstellung, da ihn der erste Abschnitt der Kolonialverfassung mit eigenen Gesetzen ausstattet. Der Erlass vom ersten Juli 1947 hat die Verwaltung der Kolonie neu geordnet. Der Generalgouverneur verfügt
über die höchste Gewalt; es ist ihm beigegeben ein Vice-Generalgouverneur und Beirat. Die Hauptstadt ist Leopoldville, das eine Bevölkerung von 17 000 Weissen und von mehr als dreihunderttausend Eingeborenen hat. Die sechs Provinzen sind die fol-
genden : Leopoldville, Equator, Ostprovinz, Kivu, Katanga, und Kasai. Als Folge des Krieges von 19141918 erhielt Belgien ein Mandat für die beiden Provinzen Ruanda und Urundi, die den nordwestlichen Teil von Deutsch-Ost-Afrika ausgemacht hatten. Im Jahre 1922 hat der Völker-
Das Museum von Tervüren befindet sich mitten im Walde, am Ende einer Anfahrtstrasse, die auf Leopold II. zurückgeht. Die Gebäude sind klassisch im Stil, würdig, sogar streng und mit Terrassengärten in der besten Überlieferung van Chantilly. Man findet dort freundliche Teiche mit Enten und auf den Rasenflächen Hirsche aus Bronze und Antiken. In den Sälen sind Muster der Kunst der Neger aufgestellt: Fetische, Töpfereien, Masken und Skulpturen aus Holz. Man kann hier eine vollständige Sammlung der Tierwelt des Kongo sehen, von den kleinen Insekten mit ihren leuchtenden Farben bis zu den Elefanten, den Giraffen und Okapis. Es gibt Pfeile, Lanzen und Schilde aus Büffelleder. Alles wird mit Hilfe von Wandkarten, Plänen, Lichtbildern und stereoskopischen Aufnahmen erläutert.
bund die Bestimmungen dieses Mandates bestätigt. Im Jahre 1946 haben die Vereinigten Nationen RuandaUrundi unter die Verwaltung des Trusteeship gestellt. Die Oberfläche des Kongo beträgt 2.343.930 Quadratkilometer, ungefähr das achtzigfache der Oberfläche Belgiens. Die Eingeborenenbevölkerung betrug am ersten Januar 1953 11.788.711 Einwohner, was dem ausserordentlich schwachen Verhältnis von 5,03 Einwohnern auf den Quadratkilometer entspricht. Aber man muss dem Umstand Rechnung tragen, wie schwierig es ist, mit einiger Genauigkeit die Schwarzen zu zählen, deren Wohnsitze zum Teil unerreichbar sind und die zum Teil noch als Nomaden leben. Man kann die Söhne Chams, die auf dem Gebiete der Kolonie wohnen, auf aller Wahrscheinlichkeit nach mindestens zwölf Millionen schätzen. Die Bantous bilden den grösseren Teil dieser Bevölkerung. Die Distrikte des Nordens sind hauptsächlich von Sudanesen bewohnt. Längs der östlichen Grenze findet man Nilstämme. Ungefähr 80 000 Pygmäen oder Pygmoiden leben verstreut vom Sammeln wilder Früchte und von der Jagd. Dieses Sammeln wilder Früchte ist im Kongo dank der gemeinsamen Anstrengungen der Landwirtschaftlichen Verwaltung der Kolonie und der Landesanstalt für landwirtschaftliches Studium des Kongos vom System der Plantagen abgelöst worden. Die für Export eingerichteten Eingeborenenkulturen bedecken bereits annähernd 600 000 Hektar. In den gesündesten Gegenden ziehen zahlreiche europäische Ansiedler Kaffee, Pflanzen zur Herstellung von Parfüm und Arzneipflanzen. Die Baumwolle, deren Anbau hauptsächlich in den 74
Händen der Eingeborenen liegt, erfordert mehr als 700 000 Arbeitskräfte. Der Sisal, eine aus Mexico stammende, zähe Pflanze, dient zur Herstellung von Bindfaden und Packleinen. Eingeborene Pflanzer beuten etwa 25.000 Hektar Gummiplantagen aus; Europäer 60 000 Hektar, wovon die Hälfte bereits Ertrag abwerfen. Von Erzeugnissen, die für die Nahrung bestimmt sind, nennen wir ausser dem Manioc, der Hauptnahrung der Waldbewohner, Banane, Zuckerrohr, Kaffee, Kakao und Citrusfrüchte. Palmöl, Baumwollöl, Ricinus, Sesam und Erdnuss sind alles ölhaltige Erzeugnisse, die auf dem Markt für Pflanzenfette sehr gefragt sind. Der Wald des Kongos bietet tausend Möglichkeiten, aus den verschiedenen Holzarten Nutzen zu ziehen. Man exportiert hauptsächlich den Stamm des Limbabaumes, dessen leichtes, glattes und astfreies Holz die Tischler gern verwenden. Der Eingeborene ist seit jeher Jäger und Fischer. Um die Tierwelt namentlich die Elefanten zu schützen hat man Tierschutzparke einrichten müssen. Das Elfenbein stammt auch von den Hauern der Rhinozerosse und Flusspferde. Im Jahre 1950 hat der Kongo hundert Tonnen Elfenbein im Werte von mehr als 22 Millionen Francs exportiert. Die Viehzucht ist Sache von Hirtenstämmen, deren Gebiet sich teils im Nordosten des Landes, in den feuchten Grasebenen des Kibali-Ituri befindet, teils auf den Hochebenen, die sich im Süden vom Katanga über den Lomami zum Kasai erstrecken. Der Zehnjahresplan sieht das ständige Bemühen vor, die Erzeugung von Fleisch und Fisch, ebenso wie die von Milch zu entwickeln. Die Eingeborenen von Ruanda-Urundi, deren grösster Reichtum ihr Viehbestand ist, ziehen eine hoch-
gezüchtete Rasse mit hohen Beinen und langen halbmondförmigen Hörnern; annähernd eine Million Stück Hornvieh und noch mehr Ziegen und Schafe bilden ihren unvergleichlichen Viehbestand. Aber der Kongo, königliches Geschenk Leopolds II. ist vor allem eine „Grube“ in des Wortes vollster Bedeutung. Der Reichtum an Mineralien stellt zwei Drittel der Ausfuhr dar. Da ist zunächst das Kupfer des Katanga. Die Union Minière des Oberen Katanga ist eine Macht; sie hat Städte aus dem Nichts gezaubert wie Elisabethville und Jadotville, sie hat zahllose Eisenbahnlinien geschaffen und eine industrielle Maschine auf die Beine gestellt, die die Bewunderung der Welt erregt. Dank der Entdeckung des Vorkommens von Shinkolobwe ist der Kongo der grösste Erzeuger von Uranium geworden, dessen Rolle bei der Zertrümmerung der Atome allgemein bekannt ist. Das Radium wird hauptsächlich für die Behandlung des Krebses verwandt. Die Vereinigten Staaten sind die Grossabnehmer für das Uranium des Kongo. Gold (Gesellschaft der Goldminen von Kilo-Moto), Diamanten, Zinn, Kobalt, und Mangan werden gleichfalls ausgebeutet. Würdigen wir die Diamanten einer besonderen Erwähnung, weil ihre Erzeugung — seien es Diamanten zu Schmuckoder zu industriellen Zwecken — geeignet ist, die in Antwerpen konzentrierten Schleifereien zu begünstigen. Dank des Flugzeuges ist die Hauptstadt Leopoldville nur noch zwei Flügelschläge von Brüssel entfernt. Eisenbahnen ziehen ihre Furchen durch den tropischen Wald; Dampfschiffe wie der „General Olsen“ und Transportkähne, die 800 Tonnen fassen, haben auf dem Fluss
und auf den schläfrigen Seen die aus einem Baumstamm gehöhlten Pirogen ersetzt. Obgleich der Kongo angesichts seiner Breitenlage nicht als eine zur Besiedelung geeignete Kolonie angesehen werden kann, so wächst doch jährlich die Zahl der Belgier, die dort ihren Wohnsitz nehmen. Die Politik gegenüber den Eingeborenen wird von den verantwortlichen Behörden mit der grössten Sorgfalt geführt. Die grossherzige Art und Weise, mit der der schwarze Arbeiter aus seiner gedrückten Lage herausgeführt wird ist für Belgien ein Pfand für die Zukunft. Wir wollen hier auf den ständigen Ausschuss für den Schutz der Eingeborenen aufmerksam machen, dessen Vorsitzender der Generalprokurator des Obersten Gerichtes in Leopoldville ist, und der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die materiellen und moralischen Lebensbedingungen auf der Gesamtheit des Gebietes zu verbessern. Unterricht erhalten die Schwarzen in Staatsschulen, in Privatschulen, die Beihilfen erhalten und in Privatschulen, die keine Beihilfe erhalten. Der Zehnjahresplan sieht die Gründung vor von 900 Kindergärten, 3 600 Volksschulen ersten Grades, 540 Volksschulen zweiten Grades, 280 Vorschulen für Knaben, 450 Handwerksschulen, 263 Vorschulen für Mädchen, 121 Mittelschulen, einer neuen höheren Schule (die erste ist unter dem Namen „Lovanium“ in Kisantu im unteren Kongo errichtet) und 7 750 Kursen für Erwachsene. Der Sanitätsdienst, der sich nach den Leitsätzen des Obersten Rates für Kolonialhygiene richtet, hat Wunder bei der Vorbeugung und Behandlung der Schlafkrankheit und des Malariafiebers vollbracht. Lepra und Tuberkulose werden nachhaltig bekämpft. Verschiedene 75
Stiftungen, wie die FOREAMI, die FORMULAC, und die CEMUBAC vervielfältigen ihre Anstrengungen, deren Ergebnis sich unter anderem in der Zunahme der eingeborenen Bevölkerung zeigt. Was die wohltätigen Stiftungen für Erziehung, Unterstützung, Vorsorge und Freizeitgestaltung anlangt, so nehmen diese dauernd zu; mit dem Erlass vom 1. Juli 1947 ist die Stiftung für die
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Eingeborenenwohlfahrt gegründet worden, deren jährliche Einkünfte 250 Millionen betragen. Gewiss, das Problem der „Fortgeschrittenen“ besteht im Kongo, wie überall im schwarzen Afrika. Aber dadurch, dass die Belgier der menschlichen Seite der kolonialen Gegebenheiten die grösste Beachtung geschenkt haben, haben sie sich in der Gegend des Equators eine friedliche und ruhevolle Zukunft vorbereitet.
Wir haben unsere rasche und erregende Reise durch die Jahrhunderte beendet; wir haben das Antlitz der Männer dargestellt, die unsere Väter waren. Wir haben nicht versucht, das Bild zu verschönern; aber wir haben uns wohl gehütet, es zu entstellen. So wie es ist, vor allem mit seiner erstaunlich reichen geistigen Vergangenheit ist es ausserordentlich vielversprechend. Belgien, dieser „Kreuzweg Europas,“ bietet seinen Freunden seine glanzvollen Kunstschätze; es entbietet ihnen sein herzlichstes Willkommen.
INHALT Belgien ist eine konstitutionelle Monarchie ....... Stätten der Kunst und der Geschichte .... ........... Flamen und Wallonen ........................................... Kurzer Geschichtsüberblick................................... Wirtschaft, Industrie und Handel ....................... Blick auf die Wissenschaften ............................... Kunstgeschichtliche Übersicht .............................. Unsere Kunstmuseen.............................................. Kurzer Überblick über die belgische Literatur. Volkskunde............................................................... Erziehungswesen ..................................................... Unsere wissenschaftlichen Stiftungen .................. Turismus .................................................................. Der belgische Kongo..............................................
5 22 31 32 39 44 46 53 54 58 60 64 66 72
Belgien in einer Nusschale
ist im Jahre 1956 im Auftrage des Lumiere Verlages Brüssel, auf den Pressen der Drukkerei Erasmus A. G. in Ledeberg-Gent fertig gestellt. Deutsche Uebersetzung von Klaus Pinkus. Der Umschlag und die beiden Karten sind von Charles Rohonyi gezeichnet. Die Photographien stammen zum Teil aus den Archiven des Amtes für den Fremdenverkehr in Belgien; sie sind von verschiedenen Photographen aufgenommen, von denen wir folgende nennen möchten : Belga, Burton, Dédé, Degroote, Goffin, Hoelen, Lander, Lumiere, Malevez, Sabepa, Schindeler, Sergysels und Stork.