TERRA
Sonderband 53 / 54
UTOPISCHE ROMANE
Science Fiction
HENRY KUTTNER
Alle Zeit der Welt
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TERRA
Sonderband 53 / 54
UTOPISCHE ROMANE
Science Fiction
HENRY KUTTNER
Alle Zeit der Welt
VERLAG
MOEWIG - VERLAG ⋅ MÜNCHEN
Originaltitel: FURY Aus dem Amerikanischen übersetzt von Robert W. Eiben
Ein deutscher Erstdruck Copyright 1947 by Street & Smith Publications, Inc. Mit freundlicher Genehmigung von Literary Features Limited, London.
gescannt von Brrazo 05/2004
TERRA-Sonderbände erscheinen monatlich im Moewig-Verlag, München 2, Türkenstraße 24 Postscheckkonto München 139 68. Erhältlich bei allen Zeitschriftenhandlungen - Preis Je Band DM 1.-. Gesamtherstellung: Buchdruckerei Hieronymus Mühlberger, Augsburg. - Printed in Germany. Zur Zeit ist Anzeigenpreisliste Nr 4 gültig - Für die Herausgabe und Auslieferung in Österreich verantwortlich: Farago & Co., Baden bei Wien Dieser Band darf nicht in Leihbüchereien und Leszirkeln geführt und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden.
1. Über die Erde hatte sich die Lohe weißer Nacht gesenkt, und auf der Venus breitete sich das Zwielicht der Dämmerung aus. Alle wußten von der lodernden Finsternis, die die Erde in einen Stern am wolkenbedeckten Himmel verwandelt hatte. Nur wenige begriffen aber, daß auf der Venus die Morgendämmerung unmerklich in die Düsternis des Abends übergegangen war. Die Lichter in den Tiefen der Meere flammten heller und heller und schufen verzauberte Paläste aus den großen Kuppeln unter der Wasserfläche. Vor siebenhundert Jahren glühten jene Lichter am hellsten. Die Zerstörung der Erde lag sechs Jahrhunderte zurück. Man schrieb das siebenundzwanzigste Jahrhundert. Die Zeit verstrich langsam. Anfangs war sie schneller vergangen, weil viele Hindernisse ihrer Bewältigung harrten. Die Venus erwies sich als unbewohnbar, aber der Mensch mußte auf ihr leben. Die Juraperiode war auf der Erde vorüber, ehe der Mensch sich zu einem denkenden Geschöpf entwickelte, zu einem zähen, aber auch schwachen Geschlecht. Wie schwach, enthüllte ein Vulkan-5-
ausbruch. Wie zäh, bewies die Tatsache, daß zwei Monate lang Kolonien auf den Kontinenten der Venus bestanden. Auf der Erde hatte der Mensch nie die wilde Wut des Jurazeitalters erlebt. Was er auf der Venus vorfand, war schlimmer. Der Mensch besaß keine Waffen, um sich die wuchernden Dschungel der Venus zu unterwerfen. Seine Waffen waren entweder zu schwach oder zu mächtig, Er konnte damit leicht verwunden oder restlos zerstören. Aber leben auf der Oberfläche der Venus konnte er nicht. Er sah sich einem Feind gegenüber, wie kein Mensch ihn je gekannt hatte. Er stand vor entfesselter Wildheit – und er floh. Die Tiefen des Meeres boten Sicherheit. Die Wissenschaft hatte die Raumfahrt verwirklicht und die Erde vernichtet; sie war auch in der Lage, künstliche Umweltbedingungen auf dem Grunde der See zu schaffen. Die Imperviumkuppeln entstanden. Unter ihnen wuchsen die Städte. Sie wuchsen und nahmen Gestalt an. Als sie vollendet waren, wandelte sich die Morgenröte auf der Venus zum dämmrigen Zwielicht. Der Mensch war ins Meer zurückgekehrt, dem er entstiegen war…
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Sam Harkers Geburt bildete in zweifacher Hinsicht ein Vorzeichen. Sie beleuchtete, was sich in den großen Kuppeln abspielte, in denen immer noch die Lichter der Zivilisation brannten. Und sie ließ Sams Leben in und außerhalb dieser Unterwasserfestungen bereits ahnen. Seine Mutter Bessi war ein hübsches, aber zerbrechliches Geschöpf. Sie hätte besser daran getan, wenn sie darauf verzichtet hätte, einem Kind das Leben zu schenken. Weil sie schmal und zierlich war, starb sie bei dem Kaiserschnitt, der Sam in die Welt setzte – in eine Welt, die er vernichten mußte, bevor sie ihn unter die Füße treten konnte. Darum empfand Blaze Harker einen solch blinden, grausamen Haß gegen seinen Sohn. Wenn er an den Jungen dachte, fielen ihm die Vorgänge in jener Nacht wieder ein. Und wenn er Sams Stimme hörte, hallten Bessis dünne, angstvolle Schreie in seinen Ohren wider. Die Betäubung hatte ihre Schmerzen kaum gelindert. Bessi eignete sich weder seelisch noch körperlich zur Mutter. Bis zu Sams Geburt waren Blaze und Bessi ein glückliches Liebespaar, das nur dem ziellosen Vergnügen lebte. Sie hatten die Entscheidung getroffen, vor die in den Kuppeln jeder gestellt wurde. Wer Anreiz im Schaffen fand, schloß sich -7-
den Künstlern oder Technikern an. Die übrigen ließen sich treiben. Die technischen Wissenschaften bildeten ein breites Gebiet, das von der Unterweisung in unterseeischer Politik bis zur rigoros beschnittenen Atomphysik alle Lehren umfaßte. Unbekümmert dahinzuleben, war bequemer für den, der die nötigen Mittel besaß. Und selbst wer nicht darüber verfügte, konnte in den Kuppeln an billige Genüsse gelangen. Die kostspieligen Vergnügen, wie die olympischen Gemächer oder den Besuch der Arenen, verkniff er sich eben. Blaze und Bessi schwelgten im auserlesensten Sinnenkitzel, den die Kuppeln boten. Ihr Idyll hätte den Inbegriff eines Lebens abgegeben, das der Lust geweiht war. Und alles sprach dafür, daß es glücklich enden würde, denn in den Kuppeln zählte nicht der einzelne, sondern die Rasse als Ganzes. Nach Bessis Tod blieb Blaze nichts übrig als sein Haß. Dies war das Geschlecht der Harkers: Geoffrey zeugte Raoul; Raoul zeugte Zacharias; Zacharias zeugte Blaze; und Blaze zeugte Sam. Blaze streckte auf den Kissen die Beine aus und warf seinem Ur-urgroßvater einen Blick zu. -8-
„Von mir aus könnt ihr euch alle zum Teufel scheren", knurrte er. Geoffrey, der eigenartig große Ohren und Füße hatte, war hochgewachsen, blond und von kräftigem Bau. Er gab zur Antwort: „Du redest, wie man in deinem Alter redet. Du bist ja kaum zwanzig." „Das ist meine eigene Sache", erwiderte Blaze. „Ich werde in zwanzig Jahren zweihundert", fuhr Geoffrey fort. „Und ich hatte Verstand genug, zu warten, bis ich fünfzig war, ehe ich mir einen Sohn anschaffte. Weshalb gibst du dem Kind die Schuld?" Blaze betrachtete unbeeindruckt seine Finger. Sein Vater Zacharias, der ihn bisher schweigend angestarrt hatte, sprang auf. „Der Kerl ist verrückt", fauchte er. „Er gehört in die Irrenanstalt. Dort würde man schon die Wahrheit aus ihm herausholen." Blaze lächelte. „Ich habe mich gesichert, Vater"; erklärte er sanft. „Ehe ich mich bei euch sehen ließ, habe ich Prüfungen und Untersuchungen in rauhen Mengen über mich ergehen lassen. Man hat mir meine Intelligenz bescheinigt. Ich bin vor dem Gesetz zurechnungsfähig, und ihr könnt nicht das geringste gegen mich unternehmen." -9-
„Auch ein Kind von zwei Wochen besitzt seine Bürgerrechte", warf Raoul ein. Er war schmal und dunkelhaarig und trug weiches, elegantes Celoflex. Der Auftritt, der sich um ihn abspielte, schien ihn insgeheim zu belustigen. „Aber du hast wohl einige Sorgfalt darauf verwandt, keine Spuren zu hinterlassen, wie?" „Eine Menge Sorgfalt", bestätigte Blaze. Geoffrey beugte sich vor. Sein kühler Blick bohrte sich in die Augen seines Ururenkels. „Wo steckt der Junge?" fragte er. „Keine Ahnung." „Wir werden ihn schon finden", stieß Zacharias wütend hervor. „Freue dich nur nicht zu früh. Wir werden ihn finden, und wenn wir nicht bloß die Delawarekuppel, sondern die ganze Venus nach ihm absuchen müssen." „Richtig", stimmte Raoul zu. „Du solltest wissen, daß die Harkers über beträchtliche Macht verfügen, Blaze. Darum hast du auch dein ganzes Leben lang tun und lassen können, wonach dir der Kopf stand. Aber das hat jetzt ein Ende." „Ich glaube, du irrst dich", entgegnete Blaze. „Ich verfüge selber über eine ganze Menge Geld. Und was das Aufstöbern des Jungen angeht, dürft ihr - 10 -
euch mit dem Gedanken vertraut machen, daß es einigermaßen schwierig sein wird." „Wir sind eine mächtige Familie", versetzte Geoffrey gelassen. „Sicher", bestätigte Blaze. „Wenn ihr den Jungen nun aber findet und trotzdem nicht erkennt?" Er lächelte dünn. Als erstes wurde der Kopf des Babys mit einer ätzenden Lösung bestrichen. Blaze dachte nicht daran, das Risiko einzugehen, daß gefärbtes Haar rot nachwuchs. Der rötliche Haarflaum des Kindes wurde entfernt. Er würde niemals wieder sprießen. Jede Kultur, die sich der Sinnenfreude ergeben hat, besitzt unter ihren Wissenschaftlern gescheiterte Existenzen. Mehr als einen Techniker hatte seine unerschöpfliche Genußsucht zugrunde gerichtet. In nüchternem Zustand befanden sich Männer von beträchtlichem Können darunter; und Blaze war in der Lage, reichlich zu zahlen. Am Ende aber stieß Blaze auf eine Frau, die ihre Fähigkeiten nur dann einsetzen konnte, wenn sie lebte. Leben schenkte ihr der Glückseligkeitsumhang, den sie trug. Es würde nicht lange währen; bei Umhangsüchtigen kam das Ende nach spätestens zwei Jahren. - 11 -
Der Glückseligkeitsumhang war auf dem Wege biologischer Anpassung aus einem Geschöpf geschaffen worden, das in den venusischen Meeren lebte. Sobald man seine Möglichkeiten erkannte, hatte die illegale Entwicklung eingesetzt. Im natürlichen Zustand bemächtigte sich der Organismus durch einfache Berührung seiner Beute. Nach Herstellung der nervlichen Verbindung war es das Opfer ganz zufrieden, verschlungen zu werden. Ein wunderschönes Gewand von dem schillernden Weiß einer Perle, überlaufen von schimmernden Lichtwellen, bewegte sich der Umhang in einer schrecklichen, verzückten Regung, während die tödliche Symbiose sich vollendete. Und wunderschön war er, während die Technikerin ihn trug, während sie sich wie in Trance durch das helle, stille Gemach bewegte, nur von dem Gedanken an die Aufgabe erfüllt, die ihr genug einbringen sollte, um ihren Tod binnen zwei Jahren zu sichern. Sie war eine Könnerin in ihrem Fach und wußte die innere Sekretion zu beeinflussen. Als die Operation beendet war, hatte Sam Harker ein Großteil seiner Erbanlagen verloren. Die formativen Lebenskräfte, die Körperbau, Konstitution, Verhalten und Typus bedingten, waren unwiderruflich verändert. - 12 -
Schilddrüse, Hypophyse, Zirbeldrüse – winzige Gewebelappen, von denen einige ihre Arbeit schon aufgenommen hatten, während andere erst mit zunehmender Reife ihre Produkte in die Blutbahn ausschütten würden. Knochen und Schädeldecke bestanden noch aus weichem Knorpel, und das Kind wurde bewußt mißgestaltet. „Ich will kein Ungeheuer", hatte Blaze angeordnet, der unaufhörlich an Bessi dachte. „Klein und massig soll er wirken – mit einem Wort, dick." Der bandagierte Gewebeklumpen lag reglos auf dem Operationstisch. Keimtötende Lampen bestrahlten den betäubten Körper. Die Frau, die in der Vorahnung kommender Ekstase schwamm, schaffte es noch, auf einen Klingelknopf zu drücken. Dann legte sie sich auf den Boden nieder. Das schimmernde, perlweiße Gewand liebkoste sie. Verzückt und leer starrten ihre Augen zur Decke. Der Mann, der hereinkam, machte einen weiten Bogen um den Glückseligkeitsumhang. Er führte die notwendigen Handgriffe durch, die sich an die Operation anschlossen. Die Harkers beobachteten Blaze, in der Hoffnung, das Kind über seinen Vater zu finden.
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Aber Blaze hatte seinen Plan zu sorgfältig ersonnen, um solche Schlupflöcher nicht zu verstopfen. Sams Fingerabdrücke und Netzhautmuster lagen in einem sicheren Versteck. Blaze wußte, daß er mit ihrer Hilfe jederzeit seinen Sohn ausfindig machen konnte. Er hatte es damit nicht eilig. Was geschehen würde, würde eben geschehen. Unter den geschaffenen Voraussetzungen bestand keine Hoffnung für Sam Harker.
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2. Die frühen Jahre verschmolzen mit der grauen Vergangenheit. Die Zeit verstrich langsam für Sam. Stunden und Tage schleppten sich dahin. Der Mann und die Frau, die er als Vater und Mutter kannte, hatten nichts mit ihm gemein. Denn die Operation hatte sein Gehirn nicht verstümmelt; den Verstand und den erfinderischen Scharfsinn hatte er von seinen mutierten Vorfahren geerbt. Die Mutation hatte die Harkers nur insoweit verändert, als sie ihre Langlebigkeit herbeiführte. Aber diese Eigenschaft hatte ihnen ermöglicht, auf der Venus zur herrschenden Sippe aufzusteigen. Sie waren nicht die einzigen, die ein langes Leben vor sich hatten; außer ihnen sahen noch einige hundert andere Männer und Frauen einem Alter entgegen, das zwischen zwei- und siebenhundert Jahren schwankte. Doch das Geschlecht der Harkers bewahrte sein Blut. Seine Nachkommen waren leicht zu erkennen. Sam erinnerte sich an ein Maskentreiben, das er erlebt hatte. Seine Pflegeeltern putzten sich linkisch heraus und mischten sich unter die übrigen. Er war zu dieser Zeit alt genug, um wie ein vernunftbegabtes Tier zu denken. Flüchtig hatte er bereits - 15 -
hier und da sinnenverwirrende Schönheit gewahrt, aber sie noch nie aus nächster Nähe empfunden. Die Karnevalszeit zählte zu den eifersüchtig gehüteten Bräuchen. Die Delawarekuppel glitzerte von einem Ende bis zum anderen. Der Dunst farbigen Parfüms trieb über den Gleitbändern und haftete an den durcheinanderwimmelnden Menschen. Solange der Karneval dauerte, gab es keine Klassenunterschiede. Theoretisch waren Wirklichkeit jedoch –
alle
Stände
gleich.
In
Sam sah eine Frau von solchem Liebreiz, wie er sie noch nie erblickt hatte. Ihr Gewand war blau, doch wurde dieser Ausdruck seiner Farbe nicht im mindesten gerecht. Es war ein reiches, tiefes Blau, so samten und fließend, daß der Junge kaum den Drang unterdrücken konnte, es zu berühren. Er war noch zu jung, um den vollendeten Schnitt des Kleides und die Art zu erfassen, wie es die Züge der Frau und ihr weizenblondes Haar betonte. Er erblickte sie aus einiger Entfernung und verspürte ein brennendes Verlangen, mehr über sie zu erfahren. Seine Pflegemutter konnte ihm keine Auskunft geben.
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„Die Frau heißt Kedre Walton. Sie muß bald zwei- oder dreihundert Jahre alt sein." „Ja." Jahre bedeuteten ihm nichts. „Aber wer ist sie?" „Ach, sie bekleidet eine Menge Posten." „Wir feiern unser Abschiedsfest, mein Lieber", sagte sie. „Nach so kurzer Zeit schon?" „Nach sechzig Jahren – oder waren es noch mehr?" „Kedre, Kedre – manchmal wünschte ich, unser Leben wäre kürzer." Sie lächelte ihn an. „Dann hätten wir uns nie kennengelernt. Wir Unsterblichen begegnen uns nur, weil wir alle der gleichen Stufe entgegenstreben." Zacharias Harker griff nach ihrer Hand. Unter der Terrasse glitzerte die Kuppel im Karnevalsschmuck. „Das Fastnachtstreiben hat immer wieder seinen Reiz", bemerkte er. „Wären wir damals zusammengeblieben, dann hätten wir es längst über. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sein muß, wenn man für Jahrhunderte unauflöslich aneinander gebunden ist." - 17 -
Zacharias warf ihr einen forschenden Blick zu. „Das dürfte eine Sache der Ellbogenfreiheit sein, denke ich", versetzte er. „Unsterbliche sollten eben nicht in den Kuppeln mit ihren Beschränkungen leben. Je älter man wird, desto mehr Raum braucht man für sich." „Ich brauche jetzt Raum, Zacharias." „Die Kuppeln engen uns ein. Die jungen und die kurzlebigen Leute werden sich der Mauern rundum nicht bewußt. Uns geht es anders. Ich fürchte, Kedre, wir erreichen in Kürze unseren toten Punkt." „Im Ernst?" „Zumindest kommen wir ihm immer näher. Mir graut vor dem geistigen Absterben. Was nützt alle Langlebigkeit, wenn die erworbenen Fähigkeiten nicht eingesetzt werden können? Mit der Zeit verlieren wir jedwedes Interesse an den Vorgängen um uns." „Und welchen Ausweg interplanetare Raumfahrt?"
siehst
du?
Die
„Vielleicht zum Errichten von Vorposten. Aber auf dem Mars und den meisten anderen Planeten können wir ohne Kuppeln ebenso wenig leben. Ich denke eher an interstellare Reisen." „Sie sind unmöglich." - 18 -
„Sie waren unmöglich, als der Mensch die Venus erreichte. Theoretisch lassen sie sich heute durchführen, Kedre, aber nicht in der Praxis. Was fehlt, ist der symbolische Starttisch. Rein vom Sinnbildlichen her gesprochen, kann kein interstellares Raumschiff in einer unterseeischen Kuppel gebaut und gestartet werden." „Wir haben unendlich viel Zeit, mein Lieber", erwiderte Kedre. „In fünfzig Jahren können wir uns wieder darüber unterhalten." „Und inzwischen wiedersehen?"
werden
wir
uns
nicht
„Wir werden uns dann und wann begegnen, Zacharias, aber das wird auch alles sein. Es ist an der Zeit für uns beide, Urlaub voneinander zu nehmen. Wenn wir uns dann wiederfinden …" Sie standen auf und küßten sich. Auch das war eine symbolische Geste. Beide spürten, wie ihre Glut in graue Asche zerfiel; und weil sie sich liebten, waren sie klug und geduldig genug, um zu warten, bis sich das Feuer wieder entfachen ließ. In fünfzig Jahren würden sie von neuem ein Liebespaar sein. Sam Harker aber starrte einem hageren Mann mit grauem Gesicht nach, der sich zielbewußt durch das - 19 -
Gedränge schob. Die farbenprächtige Celoflexkleidung, die er trug, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß er aus keiner Kuppel stammte. Die Sonne hatte einst sein Gesicht verbrannt, und Jahrhunderte unter dem Meer hatten nicht vermocht, diese tiefe Sonnenbräune auszutilgen. Ein ständiges hartes Grinsen verzerrte seine Mundwinkel. „Wer ist das?" fragte Sam. „Was? Wo? Keine Ahnung. Laß mich in Frieden", gab seine Pflegemutter zur Antwort. Er verachtete sich, weil er Celoflex angelegt hatte. Aber seine alte Uniform hätte Aufsehen erregt. Während er unter seiner eigenen Schwäche litt, blickten seine Augen kalt, und sein Mund wirkte grausam. Das Gleitband trug ihn an der riesigen, mit schwarzem Samt verhüllten Erdkugel vorüber, die in jeder Kuppel mahnend an die größte Leistung der Menschheit erinnerte. Er betrat einen mauerumschlossenen Garten und gab seine Erkennungsmarke an einem vergitterten Fenster ab. Alsbald wurde er eingelassen. Er stand im Tempel der Wahrheit.
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Seine Umgebung verfehlte ihren Eindruck auf den Besucher nicht. Für Logiker, für Techniker überhaupt, empfand er Hochachtung. Ein Priester führte ihn in ein Gemach und wies auf einen Sitz. „Sie heißen Robin Hale?" „Stimmt." „Sie haben uns alle Unterlagen zusammengestellt und geliefert, die wir brauchen. Trotzdem müssen Sie noch einige klärende Fragen beantworten. Der Logiker wird sie Ihnen selbst stellen." Er entfernte sich. Unten in den hydroponischen Gärten stieß er auf einen langen, schmächtigen Mann mit knochigem Gesicht, der gutgelaunt über die Wege bummelte. „Robin Hale wartet auf den Logiker." „Ach, Unsinn", sagte der lange, schmächtige Mann. Er stellte seine Gießkanne hin und kratzte sich am Kinn. „Ich kann dem armen Kerl auch nicht helfen. Hale ist im Eimer." „Aber, Sir!" „Kein Grund zur Aufregung. Sind die Unterlagen vorbereitet?" „Jawohl."
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„Na, schön, ich komme. Immer langsam mit den jungen Pferden." Vor sich hinmurmelnd, strebte der Logiker einem Aufzug zu. Im Kontrollraum beobachtete er über einen Bildschirm den hageren, sonnverbrannten Mann, der mit unbehaglicher Miene auf seinem Stuhl saß. „Robin Hale", sagte er mit tiefer, fremder Stimme. Hale erstarrte automatisch. „Ja." „Sie gehören zu den Unsterblichen. Das bedeutet, daß Sie mit einer Lebensspanne von annähernd siebenhundert Jahren rechnen können. Sie haben aber keinen Beruf. Trifft das zu?" „Es stimmt." „Was ist aus Ihrem Beruf geworden?"' „Dasselbe wie aus den Freien Trupps." Die Freien Trupps waren zugrundegegangen. Ihre Zeit war vorüber, als die Kuppeln sich unter einer einzigen Regierung zusammenschlossen und die ständigen Kämpfe ein Ende fanden. Diese Auseinandersetzungen hatten die Freien Trupps ausgetragen, Söldner, die für die Kuppeln stritten. Die Kuppeln selber wagten nicht zu kämpfen, aus Furcht, sie könnten dabei zugrundegehen. - 22 -
„Unter den Freien Trupps befanden sich kaum Unsterbliche", stellte der Logiker fest. „Die Freien Trupps sind verschwunden. Sie haben Ihren Beruf überlebt, Hale." „Das weiß ich selbst." „Ich soll also einen neuen Beruf für Sie finden?" „Dazu sind Sie nicht in der Lage", antwortete Hale bitter. „Es gibt keinen Beruf für mich, und ich kann die Aussicht nicht ertragen, jahrhundertelang müßig dahinzuleben und nur dem Vergnügen zu frönen." „Dann will ich Ihnen sagen, was Sie tun können", versetzte der Logiker. „Sie können sterben." Nach diesem Satz herrschte Schweigen. „Ihnen einen Rat zu geben, wie Sie am besten den Tod suchen, fällt mir schwerer", fuhr der Logiker fort. „Sie sind ein Kämpfer, und Sie werden kämpfend sterben wollen. Möglichst natürlich im Kampf für eine Sache, an die Sie glauben." Er brach ab. Als er weitersprach, klang seine Stimme verändert. „Warten Sie eine Sekunde", sagte er. „Ich komme runter. Bleiben Sie sitzen."
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Einen Augenblick später kam seine lange, schmächtige Gestalt hinter einem Wandvorhang zum Vorschein. Hale sprang auf und starrte die Vogelscheuche an, die da vor ihm auftauchte. Mit einer Handbewegung bedeutete ihm der Logiker, wieder Platz zu nehmen. „Ein Glück, daß ich hier den Ton angebe", sagte er. „Die Bonzen würden sonst Zeter und Mordio schreien. Aber ohne mich wären sie aufgeschmissen. Schließlich bin ich der Logiker. Setzen Sie sich doch endlich hin." Er zog sich einen zweiten Stuhl heran, kramte einen sonderbar geformten Gegenstand aus der Tasche – eine Pfeife – und stopfte sie mit Tabak. „Ich baue das Zeug selber an", erklärte er dabei. „Jetzt hören Sie mal zu, Hale. Für die Kuppeln ist dieser ganze Zirkus recht und gut, aber ich habe keine Lust, Ihnen einen Bären aufzubinden." Hale riß die Augen auf. „Aber … der Tempel … die Wahrheit … soll das heißen, daß man hier …" „Beschummelt wird? Aber woher denn. Der Tempel hält, was er verspricht. Die Wahrheit tritt bloß nicht immer sehr würdig zutage. Früher wurde sie nackt abgebildet. Na ja, sie hatte auch die Figur - 24 -
dafür. Aber nehmen Sie mich dagegen. Die Leute würden in Ohnmacht fallen. Am Anfang haben wir noch mit offenen Karten gespielt. Aber da war der Wurm drin. Die Kundschaft dachte, ich gäbe eben meine Meinung zum besten. Verständlich; ich sehe ja auch aus wie ein ganz normaler Mensch. Doch der Schein trügt. Ich bin ein Mutant, einer von der seltenen Sorte. Mit mir fängt die Geschichte wieder von vorne an. Plato, Aristoteles, Bacon, Korzybski, die Elektronengehirne – aber die beste Methode, menschliche Probleme mit Logik anzugehen, ist immer noch die alte. Ich kenne alle Antworten, und sie stimmen außerdem." Hale schnappte nach Luft. „Aber Sie können doch nicht unfehlbar sein! Halten Sie sich denn an kein System?" „Alles schon ausprobiert", erwiderte der Logiker. „Läuft immer auf ein und dasselbe hinaus. Pferdeverstand." Er entzündete seine Pfeife. „Ich bin über tausend Jahre alt", sagte er. „Schwer zu glauben, ich weiß. Aber ich habe Ihnen ja gleich gesagt, daß ich ein Mutant von der seltenen Sorte bin. - 25 -
Ich bin auf der Erde zur Welt gekommen. An die Atomkriege kann ich mich noch gut erinnern. Nicht an die ersten – die waren an meinen Eigenschaften schuld, weil meine Eltern einigen Sekundärstrahlungen in die Quere kamen. Ich bin fast ein echter Unsterblicher; langlebiger wird niemand geboren. Aber meine eigentlichen Talente liegen auf einem anderen Gebiet. Haben Sie schon mal vom Propheten Ben gelesen? Nein? Na, er war auch bloß einer unter vielen. Eine Menge Leute haben damals spitzgekriegt, was ihnen bevorstand. Viel Grips gehörte ja nicht dazu. Jedenfalls war ich dieser Prophet Ben. Zum Glück überzeugte ich die rechten Leute am rechten Ort, die darauf die Besiedlung der Venus in Angriff nahmen. Ich schloß mich einem der Transporte an. Als die Erde hochging, wurde ich gerade hier auf Herz und Nieren geprüft. Dabei stellte sich heraus, daß mein Gehirn ein bißchen wunderlich beschaffen war. Es enthielt eine Art sechsten Sinn, oder wie man es nennen will – eine einwandfreie Erklärung dafür ist nie gefunden worden. Jedenfalls stecken in mir dieselben Eigenschaften, wie in einem Elektronengehirn, das gerade mal mit einer richtigen Auskunft aufwartet. - 26 -
Mit dem kleinen Unterschied, daß ich gar nicht anders kann. Ich muß immer die richtigen Antworten geben." „Tausend Jahre sind Sie alt?" fragte Hale, der sich an die nächstliegende Behauptung klammerte. „Gut und gerne. Ich habe erlebt, wie die Generationen kamen und gingen. Wenn ich wollte, könnte ich mich zum Herrn über die ganze Sippschaft aufschwingen. Aber das hätte mir gerade noch gefehlt. Ich weiß nämlich auch, was dann passieren würde, und ich kann mich bremsen. Lieber sitze ich weiter hier im Tempel der Wahrheit und beantworte Fragen." „Und wir dachten immer, wir hätten es mit einer Maschine zu tun", murmelte Hale. „Ich weiß, ich weiß. Komisch, daß die Leute einer Maschine eher glauben als ihresgleichen. Aber vielleicht sind sie zu oft an der Nase herumgeführt worden. Jedenfalls gibt es für mich keine unlösbaren Fragen. Ich wälze die Auskünfte, die man mir gibt, in meinem Schädel, und es dauert nicht lange, bis ich merke, worauf sie zwangsläufig hinsteuern. Eine reine Angelegenheit des gesunden Menschenverstandes. Ich müßte nur noch mehr über Sie und Ihre Schwierigkeiten wissen." „Sie können also die Zukunft lesen?" - 27 -
„Zu viele veränderliche Größen", schüttelte der Logiker den Kopf. „Ich will übrigens hoffen, daß Sie meine Eröffnungen für sich behalten. Die Priester würden sauer reagieren. Ich brauche nur von meinem hohen Roß herunterzusteigen, und schon schlagen sie Krach." Er grinste gutgelaunt. „Ob Sie schweigen oder nicht, spielt allerdings weiter keine Rolle. Von der Überzeugung, daß das unfehlbare Orakel eine Maschine ist, bringen Sie niemanden ab. Und was Sie angeht, ist mir ein Gedanke gekommen. Gewöhnlich zähle ich, wie gesagt, zwei und zwei zusammen und nenne Ihnen die Antwort. Manchmal ergibt sich dabei mehr als eine Lösung. Warum kehren Sie nicht an Land zurück?" „Was?" „Warum nicht?" wiederholte der Logiker. „Sie sind doch ein zäher Bursche. Natürlich können Sie dabei draufgehen. Ich würde sogar sagen, daß Sie mit einiger Wahrscheinlichkeit den Tod finden werden. Aber zumindest sterben Sie kämpfend. In den Kuppeln können Sie für nichts kämpfen, woran Sie glauben. Außerdem haben Sie Gesinnungsgenossen; Söldner von den Freien Trupps – Unsterbliche wie - 28 -
Sie. Treiben Sie sie auf und kehren Sie mit ihnen an Land zurück." „Unmöglich", widersprach Hale. „Die Trupps hatten doch auch ihre festen Stützpunkte." „Scharen von Technikern mußten ständig den Dschungel zurückdrängen. Und die Tiere ließen uns keine Ruhe. Wir führten einen dauernden Krieg gegen alles Leben auf der Venus. Heute sind die Forts längst zerfallen." „Suchen Sie sich eins aus und bauen Sie es wieder auf." „Und dann?" „Vielleicht können Sie sich dadurch in die herrschenden Gruppen vordrängen", versetzte der Logiker ruhig. „Vielleicht werden Sie eines Tages die Venus beherrschen." Das Schweigen zog sich in die Länge. Der Ausdruck in Hales Zügen wechselte. „Sehen Sie zu, was Sie ausrichten können", sagte der Logiker. Er stand auf und streckte die Hand aus. „Ich heiße übrigens Ben Crowell. Wenn Sie Schwierigkeiten haben, suchen Sie mich auf. Vielleicht komme ich auch gelegentlich bei Ihnen
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vorbei. Lassen Sie sich dann nicht merken, welcher Schlaumeier Sie besucht." Er zwinkerte Hale zu. Paffend verschwand er hinter dem Vorhang.
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3. Die Unsterblichen verfügten über mehr Wissen als die übrigen Bewohner der Kuppeln. Sie wurden nicht als Götter verehrt, aber in psychologischer Hinsicht zeichnete sich eine eigenartige Verschiebung ab. Eltern haben ein Plus, das ihre Kinder nicht besitzen können: Reife. Jene Reife, wie sie lange Erfahrung – und hohes Alter schaffen. Daher rührte die unbewußte Verschiebung. Mehr und mehr begannen sich die kurzlebigen Bewohner der Kuppeln von den Unsterblichen abhängig zu fühlen. Sie wußten mehr, und sie waren älter. Sollten sie sich doch um das Wohl und Wehe der Unterwasserstädte kümmern. Die Unsterblichen, die wußten, daß lange, leere Jahrhunderte vor ihnen lagen, trafen Vorsorge, um zu verhindern, daß diese Jahrhunderte sich ins Endlose dehnten. Sie lasen und lernten. Sie hatten viel Zeit. Und mit wachsendem Wissen und zunehmender Erfahrung übernahmen sie nach und nach die Verantwortung, die die Massen ihnen bereitwillig abtraten. - 31 -
Die Menschheit lebte in einer gefestigten Ordnung, aber sie lag im Sterben. *
Immer wieder geriet er in Unannehmlichkeiten. Was er an Neuem kennenlernte, fesselte ihn. Dafür sorgte schon das Erbe der Harkers, wenn er auch Sam Reed hieß. Er kämpfte gegen die unsichtbaren Kerkermauern an, die ihn umschlossen. Sie zählten nach Dutzenden. Ein angeborener, durch nichts zu begründender Trotz zwang ihn, sich beständig dagegen aufzulehnen. Was konnte man in einer Lebensspanne von neunzig Jahren schon anfangen? Bei einer Gelegenheit versuchte er, eine Stellung in den großen hydroponischen Gärten zu erhalten. Seine groben Gesichtszüge, sein kahler Kopf und sein frühreifes Gebaren halfen ihm, überzeugend zu lügen, als er sein Alter nannte. Er behielt die Stelle eine Zeitlang, bis seine Neugier ihm wieder zum Verhängnis wurde. Er begann mit Züchtungen herumzuexperimentieren, und weil er keine Ahnung von Botanik hatte, verdarb er die ganze Kultur. - 32 -
Vorher hatte er jedoch in einem der Tanks eine blaue Blüte entdeckt. Sie erinnerte ihn an die Frau, die ihm beim Karneval aufgefallen war. Ihr Gewand hatte die gleiche Farbe besessen. Er erkundigte sich bei einem der Aufseher nach dem Gewächs. „Verdammtes Unkraut", schimpfte der Mann. „Das Zeug ist nicht auszurotten. Nach Jahrhunderten taucht es immer noch in den Tanks auf. Wenigstens haben wir nicht viel Arbeit damit. Das Krebskraut macht uns mehr zu schaffen." Er warf die Pflanze achtlos weg. Sam hob sie wieder auf und stellte später weitere Fragen. Er erfuhr, daß es sich um ein Veilchen handelte. Das niedliche, unauffällige Pflänzchen verblaßte neben den prächtigen Blumen, die in den hydroponischen Gärten wuchsen. Aber er bewahrte es auf, bis es zu Staub zerfiel, und behielt es auch später noch in Erinnerung, zusammen mit der Frau in dem blauen Gewand. Eines Tages lief er zur Kanadakuppel davon, die am anderen Ende der Schattensee lag. Er hatte seine Kuppel vorher noch nie verlassen und starrte mit großen Augen aus der durchsichtigen Kugel, die durch schäumende Fluten schoß. Sam begleitete einen Mann, den er bestochen hatte, sich für seinen Vater auszugeben. Nachdem er - 33 -
die Kanadakuppel erreicht hatte, sah er ihn nie wieder. Mit zwölf Jahren dachte er sich bereits verschiedene Methoden aus, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Aber alle waren ihm zu stumpfsinnig. Keine konnte ihn befriedigen. Blaze Harker hatte gewußt, was er tat, als er den hellen Verstand des Jungen in seinem verunstalteten Körper zurückließ. Verunstaltet war dieser Körper nur nach den gerade herrschenden Geschmacksbegriffen. Die schlanken, hochgewachsenen Unsterblichen dienten als Maßstab für Schönheit, und kleiner Wuchs, plumpe Züge und grobknochiger Körperbau in Verbindung mit Kurzlebigkeit galten als häßlich. Ein heftiges, unerfülltes Verlangen tobte in Sam und folterte ihn. Es entsprang einem Keim, der nicht reifen konnte, weil er für einen Unsterblichen bestimmt war und Sam offensichtlich nicht zu den Unsterblichen gehörte. Er eignete sich nicht zur Erfüllung von Aufgaben, für die er hundert oder mehr Jahre ausgebildet werden mußte. Daß er die rauhe Straße einschlug, war unvermeidlich. Er begegnete dem Presser und hatte seinen Lehrer gefunden.
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Der Presser war ein alter Mann ohne Namen, von feister Gestalt und durchtriebenem Charakter. Er hatte buschiges weißes Haar, eine verschwollene rote Nase und seine eigene Auffassung vom Leben. Er bot nie seinen Rat an, aber er gab ihn, wenn er danach gefragt wurde. „Die Leute legen Wert auf Unterhaltung", setzte er dem Jungen auseinander. „Wenigstens die meisten. Man darf ihre zarten Gefühle nicht verletzen. Diebereien fallen von vornherein flach. Strenge deinen Grips an und mach dich bei Leuten nützlich, die Einfluß haben. Nimm dir ein Beispiel an Jim Sheffield. Stell keine Fragen; tu, was man dir sagt, aber verschaff dir vorher die richtigen Beziehungen." Er blinzelte Sam aus seinen tränenden Augen an. „Ich habe mit Sheffield geredet. Melde dich bei ihm, Hier, ist die Adresse." Er drückte dem Jungen eine gelochte Scheibe in die Hand. „Ich würde dich nicht aus der Klemme holen, wenn ich dich für eine Niete hielte." An der Tür hielt er Sam zurück. „Du wirst dich schon durchbeißen. Hoffentlich vergißt du den alten Presser nicht. Manche haben ein kurzes Gedächtnis. Ich kann ebensogut Verdruß bereiten wie Gefallen erweisen." - 35 -
Der feiste, boshafte Alte kicherte hinter Sam her. Er suchte Jim Sheffield auf. Zu dieser Zeit war er vierzehn, verbissen, klein und stark. In Sheffield fand er einen größeren und stärkeren Burschen. Sheffield war siebzehn. Er war durch die Schule des Pressers gegangen und hatte sich zu einem gerissenen Geschäftsmann entwickelt. Die Bande, die er führte, erfreute sich bereits eines gewissen Rufes. Die Moral dieser Ära war so schillernd und vieldeutig, wie das politische Leben im Italien Macchiavells. Ein hinterhältiger Dolchstoß galt nicht nur als gesetzwidrig, sondern auch als geschmacklos. Wem es gelang, seinen Gegner in das Netz der eigenen Intrigen zu verwickeln, die er gesponnen hatte, und ihn darin zugrunde zu richten, der genoß höchstes Ansehen. Sheffields Bande arbeitete ohne Bindung an einen bestimmten Auftraggeber. Sam Reeds erste Verrichtung – der Name Harker bedeutete ihm nichts, wenn man davon absah, daß ihn eine der großen Familien seiner Heimatkuppel trug – bestand darin, mit einem erfahreneren Gefährten eine bläuliche Algensorte auf dem Meeresgrund zu sammeln. - 36 -
Das Gesetz verbot die Züchtung dieser Algen im Innern der Kuppeln. Als er durch die Geheimschleuse zurückkehrte, wartete zu seiner Überraschung der Presser mit einem tragbaren Strahlgerät in der abgedichteten Schleusenkammer. Er trug einen Taucheranzug. Seine Stimme drang durch ein Diaphragma. „Bleibt, wo ihr seid." Er warf Sam eine Spritzpistole zu. „Sprüh die Kugelschale damit ab. Sie ist doch hoffentlich verschlossen? Schön, und jetzt dreht euch beide langsam um." „Moment mal…", begann der andere Bursche. Der Presser schnüffelte. „Tu, was ich dir sage, oder ich breche dir dein Genick", sagte er im Plauderton. „Nehmt die Arme hoch und dreht euch langsam um, damit ich euch mit dem Strahl bestreichen kann." Jim Sheffield, den sie hinterher trafen, wirkte gereizt, wenn auch unterwürfig. Als er anfing, sich mit dem Presser herumzustreiten, schnüffelte dieser und fuhr sich durch sein weißes Haar. „Halt den Rand", sagte er kurz. „Du fällst mir sowieso zu häufig aus der Rolle. Wenn du daran denken würdest, mich zu fragen, ehe du dich auf
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eine neue Sache einläßt, würdest du dir manche Unannehmlichkeit ersparen." Er klopfte gegen die schwarzgestrichene Kugel, die Sam auf den Tisch gestellt hatte. „Weißt du überhaupt, wieso die Aufzucht dieser Algen in den Kuppeln verboten ist? Hat dein Auftraggeber dir eingeschärft, so lange vorsichtig damit umzugehen, bis du sie ihm ausgehändigt hast?" Sheffield verzog den breiten Mund. „Ich war achtsam genug." „Diese Pflanze läßt sich nur unter Laborbedingungen halten", knurrte der Presser. „Sie greift Metalle an und zerfrißt sie. Erst die Behandlung mit chemischen Lösungen macht sie unschädlich. Im Rohzustand dagegen kann sie sich befreien und eine Menge Unheil anrichten. Außerdem würde man ihren Weg zurückverfolgen und dich in die Gehirnwäsche stecken. Begreifst du das? Wärst du vorher zu mir gekommen, dann hätte ich dir gleich gesagt, daß du eine Ultraviolettlampe aufstellen und die Tauchanzüge damit bestrahlen mußt. Die kurzwellige Lichtstrahlung tötet alle Algen ab, die
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sich unter Umständen auf den Anzügen festgesetzt haben. Glaube nicht, daß du beim nächstenmal so leichten Kaufes davonkommst. Ich habe keine Lust, in der Gehirnwäsche zu landen." Sheffield wollte aufbegehren, aber als sein Blick den Augen des Pressers begegnete, erlosch seine Widersetzlichkeit. Mit einer gemurmelten Zustimmung stand er auf, griff nach der Kugel und verließ den Raum. Sam drehte sich noch einmal um, ehe er ihm folgte. Der Presser zwinkerte ihm zu. „Laß dir lieber raten, Kleiner, Fehler sind schnell gemacht."
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4. Diese Episode war nur eine von vielen, die sein äußeres Leben mit sich brachte. Innerlich wurde er von Trotz und Auflehnung zerfressen. Er empörte sich gegen seine kurze Lebensspanne, die allem Lernen seinen Wert raubte, wenn er sich dagegen die Lebenserwartung der Unsterblichen vor Augen hielt. Er empörte sich gegen seinen eigenen Körper, der ihn ungefüge und erniedrigend dünkte. Letztlich und ohne es zu wissen, empörte er sich gegen die Entstellungen, die ihm in der ersten Woche seines Lebens zugefügt worden waren. Der hilflose Zorn, der in Sam Reed wütete, zerschellte an Zeit und Schicksal. Weil Sam kein äußeres Ziel dafür fand, konnte er ihn nur an sich selbst auslassen. Ein solcher Zorn war ebenso wenig normal, wie Sam Reed selbst. Sein eigener Vater konnte nicht normal sein, sonst hätte er keine Rache an seinem Sohn genommen, die in einem derartigen Mißverhältnis zu den tatsächlichen Ereignissen stand. Beide, Vater und Sohn, durchlebten ihre Tage in unablässigem Kampf gegen die bittere Wirklichkeit.
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Sam durchlief eine Vielzahl von inneren Entwicklungsstufen, die den Presser und Jim Sheffield und alle übrigen, mit denen er sich zusammentat, erstaunt hätten. Weil er von anderer Geistesverfassung war als sie, konnte er ein Leben auf mehreren Ebenen führen, das er vor seinen Genossen verbarg. Nachdem er einmal die riesigen Bibliotheken der Kuppeln entdeckt hatte, wurde er zum leidenschaftlichen Leser. Er war kein Verstandesmensch, und seine innere Unrast verhinderte, daß er auch nur ein Wissensgebiet völlig meisterte, und damit über seine Stellung hinauswuchs. Aber er verschlang Bücher, wie das Feuer Brennstoff verschlingt und wie seine eigene Unzufriedenheit ihn selber verschlang. Er überflog ganze Lehrgänge über jeden Stoff, der ihn gefangennahm, und verstaute die gewonnenen Kenntnisse nutzlos in irgendeiner Kammer seines aufnahmefähigen Gehirns. Daß er nicht wußte, was ihm fehlte, trug noch zu seiner Rastlosigkeit bei. In langen Gewissenskämpfen versuchte er, die unbewußte Bürde seines verlorenen Erbes abzuschütteln. Eine Zeitlang hoffte er, eine Antwort in den Büchern zu finden, auf die er sich stürzte. - 41 -
In seinen Jugendtagen suchte und fand er die Zuflucht in ihnen, die er sich später auf andere Weise zu verschaffen suchte. Mit Rauschgift, Frauen und Wanderungen von Kuppel zu Kuppel betäubte er sich, bis er zuletzt der einen großen und unmöglichen Aufgabe gegenüberstand, in der sein Schicksal sich erfüllen sollte und die er mit äußerstem Widerstreben anging. Während der nächsten anderthalb Jahrzehnte las er sich durch die Bibliotheken der Kuppeln, in denen er sich aufhielt, wenn er nicht gerade in irgendwelche gesetzwidrigen Geschäfte verwickelt war. Die tiefe Verachtung, die er für die Geprellten empfand, dehnte er auf seine Kumpane aus. Sam Reed war gerade kein angenehmer Zeitgenosse. Er handelte unberechenbar, denn er war das Opfer seines eigenen schwelenden Selbsthasses. Wenn dieser Haß aufloderte, nahm Sam Reeds Zügellosigkeit krasse Formen an. Bald war er berüchtigt. Niemand traute ihm über den Weg, aber er galt als so geschickt, daß seine Dienste immer gefragt waren – freilich nur bei denen, die das Risiko in Kauf nahmen, daß ihre schlau ersonnenen Ränke in Gewalttaten umschlugen, wenn Sam Reeds Jähzorn mit ihm durchging.
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Viele fanden sich damit ab. Manche bewunderten ihn deswegen. Denn das Leben in den Kuppeln verlief in eintönigen Bahnen, wie sie die Menschheit nicht von alters her gewohnt war. In vielen flackerte ein Funke der Auflehnung, die Sam Reed verzehrte. Auf Umwegen brach er durch und nahm Formen an, wie die Begeisterung für die romantischen Zeitläufte der Freien Trupps und ihre wehmütigen Balladen. Mit brennender Sehnsucht las Sam von den Tagen der ersten Pioniere, die ihren Nachfolgern den Weg ins Innere der Venus gebahnt hatten. Nur ganze Kerle konnten einem Gegner wie diesem gefräßigen Planeten die Stirn bieten. Er las von der Erde und träumte von ihren weiten Ebenen. Er summte die alten Lieder vor sich hin und versuchte sich auszumalen, wie er unter einem endlosen schwarzen Himmel stand, in dem die fernen Welten des Raumes flimmerten. In seiner eigenen einfachen Welt waren alle Hindernisse künstlich geschaffen worden. Wer sich kraftvoll gegen die bestehenden Schranken warf, mußte gewärtig sein, daß sie vor ihm zusammenbrachen. Er konnte sie nur mit einer Faust stützen und mit der anderen dagegenhämmern. - 43 -
Die Zeit, die langen Jahrhunderte, die er nie erleben würde, waren die einzige Macht, die Sam einen würdigen Gegner geboten hätte. Darum haßte er Männer und Frauen, alle Welt und sich selber dazu. Er führte einen unterschiedslosen und zerstörerischen Kampf gegen sie, weil ihm ein Widersacher fehlte, der ihm die Möglichkeit eines schöpferischen Wettstreits bot. Vierzig Jahre lang verbiß er sich in diesen Kampf. Nur eine Regel bestimmte in diesen Jahren sein Verhalten, und wenn er sie erkannte, reichte sie nicht aus, um sein Interesse auf die Dauer zu wecken. Blau wirkte auf ihn wie keine andere Farbe. Er schrieb diesen Einfluß der Erinnerung an die Berichte über die Erde zu, die von einem Himmel sprachen, der in unermeßlichem Blau leuchtete. Auf der Venus schlossen einen die Wasser überall ein. Die Luft war schwer vor Feuchtigkeit, in den tiefhängenden Wolken ballte sich der Regen, und die graue Decke der Meere über den Kuppeln schien kaum nasser als Luft und Wolken. In Sam Reeds Gedanken verschmolz das Blau des versunkenen irdischen Himmels mit der Vorstellung schrankenloser Freiheit.
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Das erste Mädchen, das er heiratete, war eine kleine Tänzerin, die in einem der vielen Cafehäuser an den Gleitbändern auftrat. Als er sie zum erstenmal erblickte, trug sie ein knappes Kostüm aus blauen Federn. Außerdem hatte sie blaue Augen, nicht von dem Blau der Federn oder dem unvergessenen Himmel der Erde, aber immerhin blau. Sam mietete eine winzige Wohnung in einer Seitenstraße der Montanakuppel, und ein halbes Jahr lang zankten sie sich nicht öfter als die meisten jung verheirateten Paare. Eines Morgens kam er von einem nächtlichen Auftrag nach Hause, den er mit Sheffields Rotte zusammen durchgeführt hatte. Als er die Tür aufstieß, trieb ihm ein eigenartiger Geruch entgegen. Ein schwerer, süßlicher Duft hing in der Luft, gemischt mit einer scharfen, beißenden Ausdünstung. Die kleine Tänzerin war in einer Zimmerecke zusammengebrochen. Ihr verkrümmtet Körper begann bereits zu erstarren. Eine große, blaßfarbene Blüte verdeckte ihr Gesicht. Ihre Blätter preßten den Kelch wie eine vielfingrige Hand gegen die Stirn des Mädchens. Die Blume leuchtete in fahlem Gelb, aber die Äderung der Blütenblätter hatte sich hellrot gefärbt. - 45 -
Blutfäden rannen unter dem Kelch hervor und tropften auf das blaue Kleid der Tänzerin. Die aufgerissene Schachtel, in der die Blume eingetroffen war, lag neben ihr. Grünes Seidenpapier ragte daraus hervor. Sam erfuhr nie, aus welchen Gründen der Mord geschehen war und wer ihn begangen hatte. Einer seiner Gegner mochte sich auf diese Weise an ihm gerächt haben, einer seiner Freunde – eine Zeitlang verdächtigte er den Presser – mochte aus der Furcht heraus gehandelt haben, das Mädchen könnte zu starken Einfluß auf ihn gewinnen und ihn von seinen zweifelhaften Geschäften ablenken. Oder aber eine andere Tänzerin gedachte ihre Rivalin auszuschalten, denn um die wenigen Stellen in der Montanakuppel wurde ein bitterer Konkurrenzkampf ausgetragen. Sam stellte Nachforschungen an, ermittelte, was er wissen wollte, und übte leidenschaftslose Vergeltung an Leuten, die schuldig oder unschuldig sein mochten. Ihn kümmerte diese Frage wenig. Das Mädchen war von keinem besseren Schlag als er selber. Sie besaß blaue Augen, und sie war ihm nicht im Wege gewesen. Daß er ihren Tod nicht ungestraft hinnahm, war er seinem eigenen Ruf schuldig.
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Andere Mädchen kamen und gingen. Sam vertauschte die enge Hinterhofwohnung mit besseren Räumen in ruhigerer Umgebung. Im Anschluß an ein besonders einträgliches Geschäft gab er sie wieder auf und bezog eine elegante Unterkunft in einem Turm, der Ausblick auf die Gleitbänder des Stadtzentrums gewährte. Eine reizvolle blauäugige Sängerin teilte seine Gemächer mit ihm. Es dauerte nicht lange, und er verfügte über drei Wohnungen in drei Kuppeln. Eine davon war kostspielig eingerichtet, die zweite durchschnittlich, und die dritte hatte er bewußt so gewählt, daß sie in den Hafengassen des düstersten Viertels lag, das die Virginiakuppel aufzuweisen hatte. Die jeweiligen Bewohnerinnen entsprachen den Unterkünften. Das teuerste Appartement hatte er mit zwei Räumen ausgestattet, die niemand außer ihm betrat. Sie enthielten neben einer Auswahl an alkoholischen Getränken und Genußgiften eine gut ausgestattete Bibliothek, zu der auch eine Sammlung von Musikstücken gehörte. Er hatte diese Wohnung, von der seine Genossen nichts ahnten, unter falschem Namen gemietet und galt allgemein in der Nachbarschaft als Handelsvertreter, der aus einer entfernten Kuppel stammte. - 47 -
Näher konnte Sam Reed dem Leben nicht kommen, das Sam Harker von Rechts wegen geführt hätte.
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5. Am ersten Tag des alljährlichen Karnevals, der das letzte Jahr im Leben Sam Reeds einleitete, saß er an einem kleinen Drehtisch und sprach mit einem Mädchen, das in korallenroten Samt gehüllt war. Es war fast Mittag. Das trübe Licht, das durch die Fluten der Schattensee und durch die Kuppel drang, fiel mit seiner größten Helligkeit auf die Stadt. Aber für die Dauer des Karnevals, der drei Tage währte, kümmerte niemanden die verstreichende Zeit, denn alle Uhren standen still. Wer nicht von Kindesbeinen auf mit Attraktionen vom Schlage des Karussellcafes groß geworden wäre, den hätte bei der Drehung der Stadt um Sam ein Schwindel ergriffen. Unter leiser Musik bewegte sich der ganze Raum langsam im Innern seiner durchsichtigen, kreisrunden Wände. Jeder Tisch, umgeben von mehreren Stühlen, drehte sich um seine eigene Achse. Hinter dem weichen Haar des Mädchens konnte Sam. die Kuppel erkennen, die sich unter ihm ausbreitete und gemächlich vorüberglitt. Eine Wolke farbigen Parfüms trieb wie ein langes Band vorbei und wogte in der Luftströmung träge - 49 -
auf und ab. Winzige Spritzer der wohlriechenden Flüssigkeit stäubten auf Sams Gesicht. Mit einer ungeduldigen Handbewegung wischte er sie fort und blickte das Mädchen aus zusammengekniffenen Augen an. „Nun?" fragte er. Das Mädchen lächelte und neigte seinen Kopf über die schmale, doppelt geschweifte Leier, die es im Arm hielt. Bunte Bänder flatterten daran. Die langen Wimpern des Mädchens senkten sich über seine tiefblauen Augen, so daß sie fast schwarz wirkten, als es zu ihm aufblickte. „Ich bin gleich mit meinem nächsten Auftritt an der Reihe", sagte Rosathe. „Später werde ich dir antworten." „Du wirst mir jetzt antworten", versetzte Sam. Er sprach nicht schroff, wie er den meisten Frauen begegnet wäre, aber bestimmt. Ein unruhiges Gefühl regte sich in ihm, wenn er Rosathe. ansah. Ihn störte, daß eine Frau ihn so stark beschäftigen konnte. Rosathe lächelte ihn an. Ihr Mund war klein und sanft. Ihr weiches, kurzgeschnittenes Haar fiel wie ein dunkler Schleier über ihren Kopf. In ihren blauen Augen, die schalkhaft funkeln konnten, stand überraschende Klugheit. - 50 -
Sam fürchtete sich vor der Zuneigung, die ihn für Rosathe erfaßt hatte. Aber er blieb Sam Reed, der mit einer Gefahr dadurch fertig wurde, daß er ihr entgegentrat. Wenn er sich das Mädchen überhaupt noch aus dem Kopf schlagen konnte, dann führte der Weg dahin über den Überdruß und nicht über den Versuch, es einfach zu vergessen. Er wollte schon zusehen, daß er das Mädchen baldmöglichst satt bekam. Rosathe zupfte mit dem Zeigefinger nachdenklich eine Saite der Leier. „Um drei Ecken herum habe ich heute morgen eine interessante Neuigkeit gehört", bemerkte sie. „Du sollst dich mit Jim Sheffield überworfen haben. Stimmt das, Sam?" „Ich habe dich etwas gefragt", entgegnete Sam ohne Erregung. „Ich dich auch." „Also gut, es stimmt. Für den Fall, daß Jim sich als der Schnellere erweist, werde ich dir in meinem Testament ein Jahreseinkommen hinterlassen. Bist du darauf aus?" Rosathe errötete und ließ die Saite heftig zurückschnellen.
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„Ich könnte dich ohrfeigen, Sam Reed. Du weißt, daß ich mir mein Geld selber verdienen kann." Sam seufzte. Er wußte ganz gut, daß sie recht hatte, und das erschwerte jede Auseinandersetzung mit ihr. Rosathe zählte zu den beliebten Sängerinnen. Wenn sie zu ihm zog, dann nicht deswegen, weil sie es auf sein Geld abgesehen hatte. Dieses Wissen trug noch dazu bei, seinen Seelenfrieden zu zerrütten. Die träge Musik, die zu den langsamen Bewegungen des Raumes paßte, brach ab. Dann setzte ein schnellerer Takt ein und wirbelte die Parfümwolken durcheinander. Rosathe stand auf und stützte die lange, schmale Leier gegen die Hüfte. „Das gilt mir", sagte sie. „Ich werde es mir überlegen, Sam. Laß mir ein paar Tage Zeit. Vielleicht wärst du mit mir sowieso schlecht dran." „Daran habe ich nie gezweifelt. Sing jetzt dein Lied. Ich komme wieder, wenn der Karneval vorbei ist, aber nicht, um mir deine Antwort zu holen. Die kenne ich schon. Du wirst meinen Antrag annehmen." Rosathe lachte und tänzelte davon, während sie die Saiten schlug und ihr Lied summte. Sam blieb zurück und verfolgte, wie die Köpfe sich nach ihr
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umwandten und die Augen der Gäste erwartungsvoll aufleuchteten. Ehe ihr Auftritt zu Ende war, stand er auf und verließ den kreisenden Raum. Hinter ihm verklang die einschmeichelnde Stimme, die das Schicksal der unglücklichen Genoveva besang. Mühelos glitt sie, über die Terzen, die der alten Weise ihre klagende Melodie liehen. „O Genoveva, holde Genoveva, die Tage kommen und sie gehen", sang Rosathe und blickte Sams breitem Rücken nach, bis er außer Sicht geriet. Die letzten Takte ihres Liedes waren kaum verstummt, als sie eilig in ihre Garderobe huschte, den Kommunikator einschaltete und Sheffields Rufzeichen drückte. „Hör zu, Jim", sagte sie hastig, sobald sein dunkles, finsteres Gesicht auf dem Schirm erschien. „Ich habe gerade mit Sam gesprochen, und er will…"
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6. Hätte Sam Reed dieses Gespräch gehört, würde er Rosathe umgebracht haben. Aber während Sheffields Züge auf dem Schirm auftauchten, ging er einem Wendepunkt seines Lebens entgegen. Der Wendepunkt begegnete ihm wiederum in Gestalt einer blau gekleideten Frau. Während sie das Gleitband hinunterschlenderte, hob sie einen Arm und warf den Saum ihres leichten, blauen Gewandes wie einen Schleier über ihr Haar. Die Bewegung und die Farbe erregten Sams Aufmerksamkeit. Er blieb so übergangslos stehen, daß auf beiden Seiten Männer gegen ihn prallten. Einer drehte sich knurrend um und wollte einen Streit vom Zaun brechen. Dann sah er sich das harte Gesicht mit dem kantigen Kinn näher an und gab sein Vorhaben wieder auf. Weil das Bild Rosathes noch lebendig vor ihm stand, betrachtete Sam die Frau mit weniger Bewunderung, als er sonst an den Tag gelegt hätte. Dann regten sich alte Erinnerungen, und er starrte sie an, während seine Gedanken arbeiteten. Der Luftzug des Gleitbandes kräuselte den Schleier über ihrem Gesicht. Das blaue Gewebe warf blaue
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Schatten, die in dem tiefen Blau ihrer Augen tanzten. Die Frau war ungewöhnlich schön. Sam wischte eine Wolke aus rosarotem Karnevalsparfüm zur Seite. Er zauderte, was er selten tat, und zog dann seinen goldbeschlagenen Gürtel mit einer entschlossenen Bewegung hoch. Mit langen, aber gewohnheitsmäßig leisen Schritten ging er das Gleitband hoch. Er wußte nicht, weshalb die Züge der Frau und ihr veilchenblaues Gewand ihn verwirrten. Seit den weit zurückliegenden Karnevalstagen, als er sie zum erstenmal erblickte, hatte er vieles vergessen. Der Fastnachtstrubel löschte alle Standesunterschiede aus. Sam hätte sich durch dieses Hindernis ohnehin nicht aufhalten lassen. Unterhalb der Frau näherte er sich auf dem Gleitband und blickte in ihr Gesicht, ohne zu lächeln. Sie war schlank und elegant und zeigte einen Ausdruck anmutiger Langeweile, wie ihn in den Kuppeln viele Frauen zur Schau trugen. Sam konnte nicht wissen, daß sie den Anstoß dazu gegeben hatte, oder daß bei ihr Anmut und gelangweilter Überdruß echt und nicht gespielt waren. Das blaue Gewand schmiegte sich über eine enganliegende Hülle aus biegsamem Gold, die durch das zarte Blau hindurchschimmerte. Ihr blau- 55 -
schwarzes Haar, von dem schmalen, reizenden Gesicht zurückgekämmt und durch einen breiten Goldring gezogen, fiel in verschwenderischer Fülle bis zu ihrer Taille herunter. In beiden Ohrläppchen trug sie beringte Goldglocken. Sie entsprachen der gerade herrschenden Mode, die strotzende Lebenskraft barbarisch wilder Zeiten nachzuäffen. Wenn die nächste Saison einen Goldring durch die Nase vorschrieb, würde ihn diese Frau mit der gleichen Miene vornehmer Geringschätzung tragen, mit der sie Sam jetzt begutachtete. Sam übersah ihre Musterung. In befehlendem Tonfall sagte er: „Du kannst gleich mitkommen" und hielt ihr seinen angewinkelten Arm hin. Vielleicht lächelte sie. Es ließ sich unmöglich sagen, denn sie besaß den gleichen vollen, fein geschwungenen Mund, den so viele ägyptische Büsten einst zeigten und in dessen Lippenwölbung bereits ein Lächeln lag. Wenn sie aber lächelte, dann geschah es voller Verachtung. Die Minuten dehnten sich, in denen sie auf Sam heruntersah und dabei so reglos verharrte, daß die Glöckchen in ihren durchbohrten Ohren nicht einmal klimperten. - 56 -
Denn Sam, der auf den ersten Blick die vierschrötige Plumpheit der niederen Klassen verkörperte, ließ auf den zweiten Blick für das forschende Auge viele Unterschiede erkennen. Er hatte nahezu vierzig Jahre voller Selbsthaß durchlebt, und wenn er sich auch damit abgefunden hatte, so hatte ihn dieser Haß doch gezeichnet. Er hatte seine Runen in seine Züge gegraben und ihnen eine kraftvolle Entschlossenheit aufgedrückt, die ihnen viel von ihrer Schwerfälligkeit nahm. Seine fehlenden Haare kennzeichneten ihn in ähnlich ungewöhnlicher Weise. Glatzen begegnete man häufig, aber dieser Mann war so ganz und gar kahl, daß er nicht im geringsten kahlköpfig wirkte. Sein blanker Schädel wies klassisches Ebenmaß auf. Auf der wohlgeformten Wölbung seines Kopfes wäre jedes Haar fehl am Platze erschienen. Vierzig Jahre zuvor war das Kind mißgestaltet worden. Aber die Hast, in der die Operation durchgeführt wurde, und der Glückseligkeitsumhang der Technikerin hatten bewirkt, daß nicht alle Ähnlichkeit verschwand. Die eng anliegenden Ohren, der wohlgeformte Kopf und die sauberen Linien von Kiefer und Nacken entstammten noch, wenn auch nicht mehr als solche erkenntlich, dem Blut der Harkersippe. - 57 -
Der dicke Hals, der in einem grellroten Hemd steckte, gehörte keinem Harker. Selbst im Karneval hätte kein Harker von Kopf bis Fuß karmesinroten Samt angelegt, geschweige denn einen vergoldeten Gurt um die Hüften geschlungen, an dem ein goldbeschlagenes Halfter hing. Und doch, der Harker, der dieses Kostüm gewählt hätte – in unbestimmbarer Weise hätte er so darin gewirkt wie Sam Reed. Trotz seiner Massigkeit und Ungeschliffenheit floß das Blut der Harkers in Sam. Ungeachtet seiner kurzen und breiten Statur, die die oberen Klassen so verachteten, trug er sich mit einer Selbstsicherheit, die fast schon Eleganz gleichkam. Der samtene Ärmel fiel von seinem ausgestreckten Arm zurück. Er blieb stehen, ohne seine Haltung zu verändern, und blickte über den Arm hinweg mit zusammengekniffenen, stahlgrauen Augen zu der Frau hoch. Nach einem Augenblick, von einem Impuls getrieben, den sie nicht zu nennen wußte, verzog die Frau die Lippen zu einem herablassenden Lächeln. Mit einer leichten Bewegung der Schulter schüttelte sie ihr Gewand zurück und streckte einen schlanken
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Arm mit einer zartgliedrigen Hand aus, an deren Fingern massive Goldreifen saßen. Sie legte die Hand leicht auf Sam Reeds Arm und trat zu ihm herunter. Auf seinem muskulösen, dicht behaarten Unterarm wirkte ihre Hand wächsern und unwirklich. Sie spürte, wie die Muskeln sich unter ihrer Berührung zusammenzogen, und ihr hochmütiges Lächeln verstärkte sich. „Als ich dich zum erstenmal sah, hattest du kein schwarzes Haar", stellte Sam fest. Die Frau betrachtete ihn von oben herab und machte sich nicht die Mühe, zu antworten. Sam schaute sie an, ohne eine Miene zu verziehen, und musterte jeden ihrer Züge, als hätte er ein Gemälde vor sich und kein lebendiges, selbstbewußtes Geschöpf, das nur aus einer Laune heraus vor ihm stand. „Dein Haar war blond", entschied er schließlich bestimmt. Er erinnerte sich wieder deutlich an das Bild, das die Frau seinem Blick geboten hatte, und er begriff, wie tief sie ihn damals beeindruckt haben mußte. „Das war vor dreißig Jahren", fuhr er fort. „Damals trugst du auch Blau."
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„Das dürfte wohl meine Enkelin gewesen sein", versetzte die Frau uninteressiert und mit abgewandtem Kopf, als redete sie mit jemand anderem. Ihre Antwort gab Sam einen Schlag. Er war noch nie mit einer Unsterblichen zusammengekommen, und die plötzliche Begegnung mit einem Leben, das Jahrhunderte unbeschadet überbrückte, mußte einen Mann, der sein eigenes Leben und das seiner Bekannten nach Jahrzehnten zählte, hart treffen. Er lachte kurz auf. Die Frau wandte den Kopf und musterte ihn mit erwachendem Interesse. Sie hatte noch nie erlebt, daß ein Kerl, der zu den niederen Klassen gehörte, einen solchen Laut ausstieß, das gleichgültige Gelächter eines selbstbewußten Mannes, den keine Sitten kümmern. Viele hatten schon vor Kedre Walton Sam auf unerklärliche Weise anziehend gefunden. Kaum einer davon besaß Kedres Empfindungsvermögen, das ihr half, die Ursache zu durchschauen. Sam Reed strahlte aus, was die Mode nachäffte, wenn sie vorschrieb, das Fleisch der Ohrläppchen zu durchbohren, barbarischen Schmuck daran zu befestigen und die blutrünstigen Weisen der Freien Trupps zu singen. Sein Auftreten verriet die Stärke und die Entschlossenheit, die in ihm wohnte; die - 60 -
Entschlossenheit, die die Menschheit verloren hatte, die Stärke, nach der sie insgeheim hungerte und vor der sie doch zurückscheute. Kedre blickte ihn verächtlich an. Die schwarze Haarflut umschmeichelte ihre Schultern, als sie halb den Kopf wandte und kalt fragte: „Dein Name?" Er zog die roten Brauen zusammen. „Den brauchst du nicht zu wissen", antwortete er grob. Einen Augenblick lang erstarrte sie. Dann durchströmte eine fast unmerkliche Wärme ihre Glieder, löste ihre Starre und schmolz ihre Kälte. Sie holte tief und schweigend Atem. Ihre Finger, die den Arm des Mannes bis jetzt nur berührt hatten, preßten sich dagegen. Langsam strich ihre Handfläche über den harten Unterarm, bis sie das Gelenk erreichte. Ohne ihn anzusehen, sagte sie: „Du kannst mir von dir erzählen, bis du mich langweilst." „Langweilst du dich schnell?" „Sehr schnell." Sein Blick glitt an ihr herunter, und was er sah, gefiel ihm. Er glaubte zu verstehen, warum sie sich mit ihm einließ. In vierzig Jahren hatte Sam einen ungeheuren Wissensvorrat über die Kuppeln angesammelt; und nicht nur über das alltägliche - 61 -
Leben, wie es sich vor aller Augen abspielte, sondern auch über die raffinierten Methoden, mit denen eine Rasse sich aufputscht, wenn ihr Leben länger dauert, als sie ohne Reizmittel verkraften kann. Er überlegte, daß er Kedres Interesse recht wohl fesseln konnte. „Komm mit", sagte er.
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7. Am dritten und letzten Tag des Karnevals entnahm Sam zum erstenmal einer Andeutung Kedres, daß diese flüchtige Liebelei vielleicht nicht mit dem Maskentreiben zusammen ihr Ende finden würde. Die Möglichkeit überraschte ihn, und sie gefiel ihm nicht. Er hatte Rosathe nicht vergessen. Kedre und er trieben schwerelos in leerer Dunkelheit und verfolgten eine dreidimensionale Direktübertragung. Das Vergnügen, das sie sich leisteten, war teuer, weil es einen geschickten Aufnahmestab erforderte und wenigstens ein Roboflugzeug, das mit Teleobjektiven und Fernsehkameras ausgerüstet war. Weit über einem der venusischen Kontinente hing die Maschine am Himmel und filmte das Schauspiel, das sie aufgespürt hatte. Eine Echse kämpfte mit einer Pflanze. Es war eine riesige Bestie mit mörderischen Klauen und Zähnen.. Aber über ihren großen nassen Körper rann das Blut aus den klaffenden Wunden, die die Säbeldornen der Ranken gerissen hatten. Mit berechnender Zielsicherheit peitschten sie herab und sprühten Gifttropfen durch die feuchte graue Luft. - 63 -
Improvisierte Musik umschmetterte die beiden Gegner und folgte mit Fanfaren stoßen dem Auf und Ab des unbarmherzigen Kampfes. Kedre berührte eine Taste. Die Musik verklang zu einem Raunen. Irgendwo, weit droben, kreiste die Maschine unbeachtet über der Schlacht. Kedre wandte in der Dunkelheit den Kopf. Ihr unsichtbares Haar knisterte leise. „Ich habe einen Fehler begangen", sagte sie. Sam war ungeduldig. Er hatte das Ende des Kampfes miterleben wollen. „Welchen?" fragte er. „Dich." Ein Finger strich im Dunkeln mit einer besitzergreifenden Bewegung über seine Wange. „Ich habe dich unterschätzt, Sam. Oder überschätzt. Oder beides." Sam drehte den Kopf zur Seite, um dem Finger zu entgehen. Er streckte die Hand aus und spürte, wie sie über eine weiche Wange glitt und in das zurückgekämmte Haar faßte. Er ertastete den Ring, durch den die üppige Haarfülle gezogen war, ergriff eine Handvoll Locken und schüttelte Kedres Kopf grob hin und her. Das Haar umschmeichelte dabei seinen Unterarm. - 64 -
„Das reicht", knurrte er. „Ich bin nicht dein Schoßhündchen. Was willst du damit sagen?" Kedre lachte. „Wenn du nur nicht so jung wärst", spottete sie dann. Sam ließ sie so unerwartet los, daß sie fast auf den Diwan gefallen wäre. Sie legte eine Hand auf seine Schulter, um sich wieder zu fangen. Er schwieg. Dann fragte er mit leiser Stimme: „Wie alt bist du eigentlich?" „Zweihundertzwanzig Jahre." „Und ich langweile dich. Ich bin ein Kind gegen dich." Kedres leises Gelächter strafte seine Worte Lügen. „Kein Kind, Sam – kein Kind. Nur unsere Standpunkte sind so entsetzlich verschieden. Du langweilst mich auch nicht. Das ist es ja gerade. Sonst könnte ich dich jetzt verlassen und unser Zusammensein vergessen. Du verströmst eine Wirkung, Sam – ich weiß nicht, wie ich sie beschreiben soll." Ihre Stimme klang nachdenklich. Hinter ihnen schwoll in der Dunkelheit die gedämpfte Musik zu einem schrillen Crescendo an, als in den - 65 -
weitentfernten Sümpfen ein Gegner über den anderen triumphierte. „Wenn du nur der Mann wärst, den dein Aussehen erwarten läßt", fuhr Kedre Walton fort. „Du hast einen scharfen Verstand, Sam; schade, daß du zu schnell sterben mußt, um wirklich Gebrauch davon zu machen. Ich wünschte, wir wären vom gleichen Schlag; dann würde ich dich heiraten." „Wie kommt man sich eigentlich als Göttin vor?" fragte Sam. „Verzeih. Das klang gönnerhaft, und du verdienst nicht, daß ich so mit dir spreche. Wie man sich vorkommt? Nun, wir sind gewissermaßen unsterblich, und dafür können wir nichts. Unsere Unsterblichkeit gibt uns ein befriedigendes und gleichzeitig erschreckendes Gefühl. Sie erlegt uns Verantwortung auf. Wir tändeln nicht nur, Sam. Ich habe meine ersten hundert Jahre damit verbracht, daß ich reiste und mich unterrichtete, Menschen und Verhältnisse kennenlernte. Dann kniete ich mich ein Jahrhundert lang in die Kunst des Ränkespiels und übte mich darin, an den Drähten zu ziehen, die die Marionetten im Rat tanzen lassen. Ich trainierte meine geistige Gelenkigkeit und lernte, die Eitelkeit der Menschen auszunutzen und sie so zu lenken, wie es mir gefällt. - 66 -
Diese Kunstgriffe beherrschst du selbst; nur lebst du eben nicht lange genug, um alle Listen so zu meistern wie ich. Trotzdem strahlst du eine Wirkung aus, die mich – aber lassen wir das." „Sage nur nicht zum zweitenmal, daß du mich heiraten würdest. Du hättest damit bei mir kein Glück." „O doch. Vielleicht versuche ich es sogar tatsächlich mit einem Burschen von deiner Sorte. Vielleicht…" Sam beugte sich vor und tastete nach dem Lichtschalter. Als er ihn drehte, wurde es hell in dem kleinen Gemach. Kedre hielt die Hand vor ihre schönen, zeitlosen Augen und lachte halb protestierend, halb überrascht. „Sam! Laß das. Das Licht blendet mich." Sie griff nach dem Schalter. Sam fing ihre Hand ab und umschloß die schweren Goldreifen. „Nein. Hör zu. Ich gehe jetzt und will dich nie wiedersehen. Verstanden? Mir liegt nichts an dir." Übergangslos stand er auf. Mit einer raschen, schlangenhaft geschmeidigen Bewegung schnellte Kedre in die Höhe. Der goldene Anzug, der sie umhüllte, funkelte im Licht. - 67 -
„Warte. Nein, warte! Vergiß, was ich gesagt habe, Sam. Das war alles Geschwätz. Ich wollte dir auf den Zahn fühlen. Komm mit zur Freistatt. Wir müssen etwas besprechen." Sam blickte sie kalt an. Unter den dichten roten Brauen glitzerten seine Augen wie Stahlsplitter. Er nannte die Summe, die seine Begleitung sie kosten würde. Kedre kräuselte die Lippe und sagte, sie würde sie bezahlen. Das feine ägyptische Lächeln lag in ihren Mundwinkeln. Hinter ihr verließ Sam das Gemach.
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8. Die Freistatt ähnelte der halbvergessenen Ursprungswelt der Menschheit. Sie lieferte ein Abbild der Erde, aber ein ungenau wiedergegebenes und verschöntes Abbild. Sie bestand aus einer gewaltigen Halbkuppel, die wie eine Bienenwabe in Zellen unterteilt war. Die Zellen wölbten sich muschelförmig über einen weitgespannten Saal. Jede einzelne Zelle konnte abgeschirmt werden. Durch eine Umschaltung der Strahlvorhänge ließ sich das Trugbild erzielen, daß die Insassen mitten in einem unermeßlichen, überfüllten Raum saßen. Man konnte aber auch die Illusion eines terrestrischen Hintergrundes genießen, die der Erbauer eigentlich beabsichtigt hatte. Palmen und Pinien schienen aus dem natürlich anmutenden Grasboden zu wachsen; Weinstöcke, Rosensträucher und blühende Obstbäume machten sich gegenseitig den Platz streitig. Doch sie blieben bloße Nachahmungen der Wirklichkeit, wenn auch nur Gelehrte den Unterschied erkannten. Denn Jahreszeiten gehörten längst der Geschichte an. Die Vorstellung mußte fremd und reizvoll bleiben – der Gedanke an die Tag- und Nachtgleichen, an - 69 -
das Antlitz der Erde, dessen Farbe sich von Braun und Grün in glitzerndes Weißblau verwandelte, an den Zauber zarter grüner Blätter und grüner Knospen, die den Bäumen entsprossen, an den Kreislauf der Natur, der sich nach eigenem Willen abspielte und nichts mit dem geregelten Wachstum der hydroponischen Gärten gemein hatte. Kedre Walton und Sam Reed betraten die Freistatt. Von der Bühne, über die sie schritten, konnten sie zu der ungeheuren, leuchtenden Halbkugel hochblicken, in der sich funkelnde Zellen wie Splitter aus einem grellen, explodierten Traum drängten und in einem Wirbel aus Lichtbahnen schwebten und wendeten, stiegen und fielen. Weit, weit unten drängten sich Männer und Frauen und verwandelten die gewundene Bar in eine schwarze, hundertfüßige Schlange. Kedre sprach in ein Mikrophon. Eine der kreisenden Zellen verließ ihre Bahn und stieß sacht gegen die Landebühne. Sie traten hinein, und der leise schwankende Boden verriet Sam, daß die Zelle sich wieder von der Bühne gelöst hatte. Ein Mann und eine Frau lehnten in den Kissen neben dem niedrigen Tisch. Den Mann kannte Sam vom Sehen. Er hieß Zacharias Harker und war der
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Sippenälteste Familien.
einer
der
großen
unsterblichen
Er war groß, schlank und gutgebaut. Auf seinem Gesicht stritten sich Erfahrung und Reife mit der zeitlosen Jugend, die seine Züge ungealtert und ohne Runzeln erhalten hatte. Die Frau – „Sari, meine Liebe", sagte Kedre, „ich habe dir einen Gast mitgebracht. Sari ist meine Enkelin. Zacharias, dieser Mann heißt – ach ja, ich weiß nicht einmal seinen Namen. Er wollte ihn mir nicht sagen." Sari Walton besaß das feingezeichnete, hochmütige Gesicht, das anscheinend ein Familienmerkmal darstellte. Ihr Haar, von unwahrscheinlichem Goldgrün und mit großer Sorgfalt in unordentliche Strähnen gekämmt, fiel locker auf ihre bloßen Schultern. Sie trug ein enganliegendes Gewand aus dem kostbaren Pelz eines Landtieres, durchzogen von verschwommenen Streifen, die ihm das Aussehen eines Tigerfells gaben. Dünn und biegsam wie Tuch, schmiegte sich das Pelzkleid bis zu den Knien eng an ihre Haut und fiel in weiten Falten über ihre Knöchel.
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Die beiden Unsterblichen blickten auf. Flüchtige Überraschung zeigte sich auf ihren Gesichtern. Groll darüber, daß sein Anblick die beiden verwunderte, durchflutete Sam wie eine heiße Woge. Plötzliche Befangenheit ergriff ihn wegen seines untersetzten Körpers, der gegen diese aristokratischen Gestalten abstach. Und zugleich empfand er seine Unreife. Wie ein Kind sich vor Erwachsenen verschließt, so nahm Sam den Harkers das überlegene Wissen übel, das aus ihren ruhigen, ausgeglichenen Zügen sprach. „Setz dich." Kedre wies auf die Kissen. Steif ließ Sam sich nieder, nahm ein gefülltes Glas entgegen und musterte die abgewandten Gesichter seiner Gastgeber mit einer Abneigung, die zu verbergen er sich nicht die Mühe machte. „Ich dachte an Hale, als ich ihn mitbrachte", erklärte Kedre. „Er – wie heißt du nun eigentlich? Oder soll ich dich nach meinem Belieben nennen?" Mürrisch knurrte Sam seinen Namen. Kedre streckte sich auf den Kissen aus. Die Goldreifen an ihrer Hand schimmerten hell, als sie ihr Glas hob. Sie bot ein Bild anmutiger Gelöstheit, aber Sam spürte, daß sich ihrer Bewegung eine kaum
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merkliche Spannung mitteilte. Er überlegte, ob die anderen dieselbe Empfindung haben mochten. „Du mußt als erstes wissen, Sam", sagte sie, „daß ich die letzten zwanzig Jahre in Beschaulichkeit verbracht habe." Sam wußte, daß dieser Begriff einen Zustand der Andacht bezeichnete, ein sinnendes Nachdenken, während dessen Dauer der Meditierende sich von der Welt zurückzog, um in geistiger Einkehr Frieden und innere Ruhe zu finden. Sein Wissen um die Unsterblichen war größer, als die Harkers wahrscheinlich ahnten. Soweit ein Sterblicher dazu in der Lage war, erkannte er, wie ausgefüllt ein Leben sein mußte, das fast tausend Jahre umfaßte, wie stabil Verstand und Charakter zu sein hatten, um aus dieser Lebensspanne ein riesiges, eng aneinandergereihtes Mosaik zu formen; ein Mosaik, dessen Steinchen trotz allem die gleiche Größe hatten wie die Kiesel, die ein gewöhnliches Leben ausmachten. Denn ein Menschenalter mochte tausend Jahre währen, aber eine Sekunde blieb doch eine Sekunde für den, der sie durchlebte. Zeiten der Beschaulichkeit waren nötig, um das seelische Gleichgewicht zu erhalten.
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„Was ist los mit Hale?" forschte Sam kurz angebunden. Robin Hale war zu einer volkstümlichen Gestalt geworden, weil er die Ungebundenheit der Freien Trupps verkörperte. Die tiefe Unzufriedenheit, die die Massen zur Primitivität hinneigen ließ, hatte sich Hales bemächtigt, ihn mit künstlicher Romantik umkleidet und begeisterte sich an seinem Vorhaben, die Kontinente zu erschließen. „Seine Pläne werden fehlschlagen", versetzte Zacharias Harker. „Oder sind Sie der Meinung, er könnte Erfolg damit haben?" Sam verzog verächtlich den Mund. Er schnaubte und schüttelte den Kopf. Bewußt unterließ er es, Harker eine Antwort zu geben. Der Wunsch, unter diesen glattzüngigen Unsterblichen Zwietracht zu säen, wurde übermächtig in ihm. „Als ich mich wieder um weltliche Vorgänge kümmerte", sagte Kedre, „merkte ich, daß in Hales Absicht die mitreißendste und zugleich gefährlichste Entwicklung lag, die während meiner Beschaulichkeit eingetreten war. Aus mannigfachen Gründen sind wir überzeugt, daß jeder Versuch einer Landbesiedlung sich im Augenblick verhängnisvoll auswirken müßte." „Wieso?" grunzte Sam. - 74 -
Zacharias Harker beugte sich vor und stellte sein Glas auf den Tisch. „Weil wir noch nicht soweit sind", sagte er. „Das Unternehmen muß technisch und propagandistisch vorbereitet werden. Es darf nicht mißlingen, denn unser Volk ist im Abstieg begriffen. Aber Hales Vorhaben wird mißlingen. Darum darf er keine Gelegenheit erhalten, es überhaupt in Angriff zu nehmen." Zacharias Harker hob die Brauen, während er dies sagte, und betrachtete Sam nachdenklich. Sam Reed schaute zur Seite. Das unbehagliche Gefühl erfaßte ihn, daß dieser dunkle, ruhige Blick mehr aus seinen Zügen herauslas, als ihm recht war. Leuten vom Schlage der Harkers mußte man mit Vorsicht begegnen. Sie hatten schon zu lange gelebt. Vielleicht wußten sie zuviel. „Ich soll ihn also töten?" fragte er knapp. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen in der Zelle. Sam erhielt den Eindruck, daß die Harkers ihren Schlag gegen Hale noch nicht so weit durchdacht hatten, bis er unumwunden die Schlußfolgerung aussprach. Er spürte, wie rund um ihn neue Pläne Gestalt annahmen, als stünden die Unsterblichen in stummer - 75 -
Verbindung miteinander. Menschen, die sich gegenseitig seit Jahrhunderten kannten, würden in begrenztem Umfang sicherlich die Fähigkeit des Gedankenlesens entwickelt haben, und sei es auch nur, daß sie die Überlegungen des anderen den Veränderungen seines Gesichtsausdrucks entnahmen. Über Sams Kopf hinweg schienen die drei Unsterblichen ihre Ansichten auszutauschen. „Ja", sagte Kedre dann. „Wenn du kannst, töte ihn." „Das wäre die beste Lösung", ergänzte Zacharias langsam. „Und zwar jetzt und heute. Auf keinen Fall später als binnen achtundvierzig Stunden. Seine Pläne nehmen zu schnell Gestalt an. Wenn wir ihnen jetzt ein Ende bereiten, kann kein Strohmann ihn ersetzen. Was morgen sein würde, wissen wir nicht. Können Sie das in die Hand nehmen, Sam Reed?" Sam musterte die Runde mit einem finsteren Blick, der zuletzt auf Zacharias Harker haften blieb. „Halten Sie mich zum Besten?" fragte er. „Oder sind Sie eingehender über mich orientiert, als ich annehme?" Kedre lachte belustigt. „Und ob wir orientiert sind. Vergiß nicht, daß wir drei Tage zusammen waren, mein Lieber. Glaubst du
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im Ernst, ich würde diese Zeit verstreichen lassen, ohne überhaupt zu wissen, mit wem ich mich eingelassen habe? Ich erfuhr deinen Namen, ehe noch der erste Tag vergangen war, und kannte am nächsten Morgen auch deinen Ruf. Wir können dich ohne weiteres mit einer solchen Aufgabe betrauen. Du bist in der Lage, sie zu lösen, und gegen entsprechende Bezahlung wirst du Schweigen darüber bewahren." Sam stieg das Blut ins Gesicht. Zum erstenmal regte sich Haß auf Kedre in ihm. Kein Mann hört gerne, daß er geäfft worden ist. „Das kostet dich den doppelten Preis, den ich sonst berechnen würde", sagte er. Und er nannte einen hohen Betrag. „Nein", lehnte Zacharias Harker ab. „Wir können auch jemand anders…" „Bitte, Zacharias." Kedre hob ihre Hand. „Ich zahle den Preis. Ich habe meine Gründe." Zacharias Harker sah sie scharf an. Ihr Gesichtsaüsdruck verriet ihre Gründe, und Zacharias zuckte einen Augenblick lang zusammen. Er hatte gehofft, die Ehe bald wieder eingehen zu können, die ihr Ende gefunden hatte, als Kedre in Beschaulichkeit versank. Jetzt fing er den Blick auf, - 77 -
den sie auf Sam heftete, und verstand, daß er seine Hoffnungen vorerst begraben mußte. Sari beugte sich vor und legte, ihre blasse, schmale Hand auf seinen Arm. „Laß ihr ihren Willen, Zacharias", sagte sie. Ihre Worte hatten einen warnenden, besitzergreifenden Unterton. „Wir haben Zeit genug." Großmutter und Enkelin, die sich fast bis aufs Haar glichen, tauschten einen Blick. Sam, dem nichts entging, meinte Nebenbuhlerschaft, aber auch stummes Einvernehmen darin zu lesen. Zacharias Harker bewegte die Hand. Die Wand der Zelle zerfloß und wurde durchsichtig. „Da drüben", sagte er. In einiger Entfernung kurvte eine Zelle durch das Gewimmel, in der ein einzelner Mann hockte. „Er sitzt seit zwei Stunden dort", erklärte Zacharias. Die Zelle trieb näher. Ihr Insasse wirkte hager, mürrisch und finster. Er trug ein dunkelbraunes Kostüm. „Ich kenne ihn vom Sehen", knurrte Sam und stand auf. Der Boden schwankte unter seinen Füßen. „Setzen Sie mich auf der Landebühne ab. Ich werde mich um ihn kümmern." - 78 -
9. An der langen Bartheke ließ er sich auf einem leeren Hocker nieder und bestellte ein Getränk. Der Mixer sah ihn scharf an. In der Freistatt vergnügten sich die Unsterblichen und die vornehmen Familien. Ein ungeschlachter Bursche vom Schlage Sam Reeds fand nur selten seinen Weg hierher. Sams harter Blick und der herrische Klang seiner Stimme veranlaßten den Mixer trotzdem, mürrisch „Gleich, der Herr", zu murmeln und ihm nach einer Weile ein gefülltes Glas hinzustellen. Sam blieb lange sitzen. Während über ihm die Muschel wirbelte und die Menschenmenge die Halbkuppel mit Musik und einem unaufhörlichen Stimmengewirr erfüllte, bestellte er noch zwei Gläser und schlürfte langsam die scharfe Flüssigkeit. Er verfolgte, wie die Zelle mit der braungekleideten Gestalt ziellos durch das weite Rund trieb. Er wartete darauf, daß der Unsterbliche ausstieg, und überlegte inzwischen mit gehetzter Eile. Sein Auftrag machte ihm zu schaffen. Es war gefährlich, sich auch nur politisch in die - 79 -
Angelegenheiten der Unsterblichen zu mischen. Sich gefühlsmäßig darin verwickeln zu lassen, kam glattem Selbstmord gleich. Über seine Aussichten, am Leben zu bleiben, sobald er für unnütz erachtet wurde, gab Sam sich keinen Täuschungen hin. Er hatte den abwägenden Blick wohl bemerkt, den Zacharias Harker ihm nachgeschickt hatte. Als Hales Zelle endlich auf die Landebühne zuschwebte, empfing Sam Reed den hageren Mann. Er verschwendete keine unnützen Worte. „Ich bin gerade gekauft worden, Hale, um Sie zu ermorden", sagte er. Als sie eine Stunde später gemeinsam die Freistatt verließen, führte Sheffields Rotte ihr Vorhaben aus. Sam Reed wäre lange zuvor in seiner Laufbahn gescheitert, wenn er nicht im Notfall das Talent eines glatten und überzeugenden Schwätzers besessen hätte. Seit dem Beginn seiner Besiedlungskampagne hatte Robin Hale oft genug redegewandte Besserwisser abwimmeln müssen. Aber wieder brach sein unbewußtes Erbe in Sam durch, und wenn er auch den Erfolg seiner Worte seiner eigenen Glattzüngigkeit zuschrieb, so war es
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letztlich doch seine ruhige Sicherheit, die Hale überzeugte. Sam sprach schnell, aber ohne Erregung. Er wußte, daß Hales Leben und sein eigenes Dasein an einem dünnen Faden hingen, der in spätestens achtundvierzig Stunden zerreißen mußte. Beide würden nach Ablauf dieser Frist sterben, wenn ihnen kein Ausweg einfiel. Sams Stimme klang aufrichtig, während er Hale diese Tatsachen auseinandersetzte. Diesen Augenblick wählte Sheffields Bande für ihren Überfall. Hale und Reed schritten durch den Eingang der Freistatt und traten auf ein Gleitband. Im selben Moment drängten sich mehrere Gestalten zwischen ihnen durch. Sam fuhr herum, wollte sich den Rückweg erkämpfen, sah zu spät die schwarze Kugel, die eine Hand unter sein Gesicht hielt, und roch zu spät den widerlichen Duft eines unsichtbaren Staubes, um noch den Atem anzuhalten. Seine Umgebung glitt im Zeitlupentempo an seinen Augen vorüber und blieb stehen. Eine Hand packte seinen Arm und riß ihn auf ein schnellaufendes Gleitband. Lampions und Wegleuchten tauchten als Farbflecke in der Luft auf, bis der Weg um eine Krümmung bog; danach verschmolzen sie zu einem unbestimmbaren Kreis - 81 -
von hypnotischer Farbe. Das Band glitt ohne Stocken vorwärts. Darüber ballten sich leuchtende, parfümierte Dämpfe zu Nebelbänken. Aber diese Bewegungen spielten sich mit einer gräßlichen Langsamkeit ab, als würden sie Jahrhunderte zu ihrer Vollendung brauchen. Dumpf begriff Sam, daß die Schuld bei ihm lag. Er hatte sich von Kedre ablenken lassen. Ehe er eine Aufgabe erledigt hatte, die seine ganze Aufmerksamkeit erforderte, hatte er einen neuen Auftrag übernommen. Jetzt büßte er dafür. Die trägen, verschwommenen Bewegungen um ihn nahmen an Zahl zu. Sam spürte, wie er hin- und hergestoßen wurde. Er hörte Rufe erschallen und das dumpfe Klatschen von Fäusten. Irgendwelche Gesichtszüge konnte er nicht erkennen, wenn er auch Hale manchmal vor sich auf- und abschweben sah und andere Gesichter durch ihn hindurchzuleuchten schienen, die schrien und keuchten. Dann blieben die Gesichter mit traumhafter Langsamkeit zurück, Lichtflecken zogen vorbei, und Robin Hales Hand umklammerte seinen Arm. Er ließ sich von dieser Hand leiten. Er bewegte sich, aber er empfand diese Bewegung nicht. Sein Gehirn hatte die Arbeit fast völlig eingestellt. Er - 82 -
erfaßte nicht, daß sie die hydroponischen Gärten betraten, daß Hale Münzen in die Hand eines Aufsehers gleiten ließ, daß sie vor einem Tank stehenblieben, aus dem schwere, graugrüne Triebe quollen. In weiter Ferne murmelte Hales Stimme: „Gewöhnlich wächst das Zeug hier. Wenn die Kerle die Tanks nur nicht zu sorgfältig gespritzt haben. Das hätte gerade noch – aha!" Fingernägel schabten auf den Trieben. Hale zerrieb eine blaue Flechte in der Hand und blies Sam den Staub ins Gesicht. Seine Umwelt steigerte ihr Tempo plötzlich zu rasender Schnelle. Sam krümmte sich unter heftigen Niesanfällen. Ein stechender Schmerz bohrte sich in seine Stirnhöhle, breitete sich im Gehirn aus und explodierte in greller Pein, ehe er langsam abklang. Schwitzend und zitternd formte er sinnlose Laute mit den Lippen. Dann konnte er wieder sprechen. Zeit und Bewegung kehrten in ihre normalen Bahnen zurück. Aus tränenden Augen blinzelte er Hale an. „Wieder beisammen?" erkundigte sich sein Begleiter.
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„Sie - sieht so aus." Sam trocknete sich die Augen. „Warum der Überfall?" wollte Hale wissen. „Kleine private Auseinandersetzung", knurrte Sam. „Ich werde die Rechnung später begleichen, falls ich dann noch leben sollte." Hale lachte. „Gehen wir zu mir. Ich möchte mit Ihnen reden."
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10. „Keiner sieht ein, was ihm bevorsteht", erläuterte Hale grimmig. „Ich kann den Leuten um alles in der Welt nicht begreiflich machen, daß ihre Vorstellungen von einem romantischen Abenteuer gänzlich verfehlt sind. Von tausend hat kaum einer den Fuß jemals auf trockenes Land gesetzt." „Dann überzeugen entgegnete Sam.
Sie
wenigstens
mich",
„Die Idee der Besiedlungskampagne stammt ursprünglich vom Logiker", versetzte Fiale. „Ich brauchte ein Betätigungsfeld, aber langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun. Die Zügel entgleiten mir. Die Leute flehen mich kniefällig an, ihnen die Teilnahme am großen Abenteuer zu gestatten. Dabei kann ich ihnen nichts bieten als Mühsal und Anstrengungen, die ihre wildesten Träume übersteigen, ohne die geringste Hoffnung, daß uns in diesem oder dem nächsten Menschenalter ein dauernder Erfolg beschieden sein wird. Dieser Kampfgeist scheint die Menschheit verlassen zu haben, seit wir in den Kuppeln leben. Der allgemeine Horizont ist eben zu eng. Die Leute bringen es nicht fertig, über ihren eigenen Schatten zu springen." - 85 -
„Ich bin noch nie oben gewesen", warf Sam ein. „Wie sieht es an Land aus?" „Sie werden die Fernsehfilme gesehen haben. Diese Übertragungen erfolgen von Flugzeugen aus, die über den Dschungeln fliegen. Der Eindruck, den sie vermitteln, muß zwangsläufig zu Trugschlüssen führen. Von oben bieten die Dschungel ein lockendes Bild. Aber stellen Sie eine Kamera in den Sümpfen auf, filmen Sie die Lavaausbrüche, die hervorschießenden Schlammwölfe oder die peitschenden Giftranken. Ich garantiere Ihnen, ich könnte meinen ganzen Feldzug abblasen, wenn die Leute solche Aufnahmen zu sehen bekämen." Hale zuckte die Achseln. „In dem alten Fort, das Doones Söldner früher besetzt hielten, habe ich den Anfang gemacht", fuhr er fort. „Der Dschungel hat die Feste längst überwuchert. Die automatischen Sperranlagen sind ausgefallen. Die Bauten wimmeln von Ungeziefer, Schlangen und Giftpflanzen. Wir haben kräftig damit aufgeräumt, aber das Fort vom Dschungel frei zu halten, geht über die Kräfte meiner Trupps. Die Flechten allein sind imstande, Holz und Glas, Stahl und Fleisch zu zerfressen. - 86 -
Wir wissen nicht genug über den Dschungel. Die Bedingungen, die auf der Venus herrschen, hatten auf der Erde nicht ihresgleichen. Und es genügt nicht, wenn wir das Fort einfach gegen den nachdrängenden Pflanzenwuchs halten. Es muß sich unabhängig von den Kuppeln versorgen können." „Dazu bedarf es einer Menge Geldes und beträchtlicher Anfangshilfe", erinnerte ihn Sam. „Die Familien zumindest sind entschieden gegen das Vorhaben." „Ich weiß. In meinen Augen haben sie unrecht. Der Logiker denkt wie ich." „Haben Sie Ihr Unternehmen ganz allein in Angriff genommen?" Hale nickte. „Bis jetzt, ja." „Warum? Ein tüchtiger Werbefachmann könnte Ihnen jede Unterstützung verschaffen." „Er würde mein Vorhaben höchstens in ein Schwindelunternehmen verwandeln. Ich glaube an meine Pläne, Reed. Solange ich sie selber lenke, kann ich sicher sein, daß ich wirklich einen Feldzug durchführe. Ich würde niemandem trauen, der sich bereitfindet, die Sache in die Hand zu nehmen, obwohl er die Wahrheit kennt." - 87 -
Ein großartiger Einfall begann in Sam zu reifen. „Würden Sie mir denn trauen?" fragte er. „Warum sollte ich?" Sam überdachte rasch, wieviel von dem, was er Hale bisher erzählt hatte, der Wahrheit entsprach. Viel war es nicht; er konnte sich unbesorgt weiter vorwagen. „Weil ich schon Kopf und Kragen riskiert habe, um Sie zu warnen", sagte er. „Wenn ich Harkers Auftrag ausgeführt hätte, könnte ich inzwischen ein kleines Vermögen kassieren. Noch habe ich Ihnen meine Gründe nicht genannt. Ich glaube, das ist auch unnötig. Ich denke genau wie Sie über die Landbesiedlung. Daß mir die Übernahme der Werbung Geld einbringen würde, will ich nicht leugnen. Dieses Geld steht aber in keinem Verhältnis zu dem Betrag, den ich mir damit verdienen könnte, daß ich Sie töte." „Ich habe Ihnen doch gerade erklärt, daß meine Pläne zwangsläufig scheitern müssen", versetzte Hale. Aber seine Stimme klang lebhafter. ,Angebissen!' dachte Sam. Laut sagte er: „Nicht unbedingt. Was Sie brauchen, ist Unterstützung in großem Umfang. Die könnte ich Ihnen verschaffen. Außerdem wollen die Leute noch - 88 -
zu Lebzeiten greifbare Ergebnisse sehen. Wir müssen ihnen zusätzlich zu dem eigentlichen Ziel einen Anreiz liefern, ohne sie direkt zu betrügen. Soll ich mein Glück versuchen?" Hale strich sich nachdenklich das Kinn. „Kommen Sie mit zum Logiker", sagte er schließlich. Sam verlegte sich auf Ausflüchte. Er scheute das nüchterne Urteil des Logikers, weil er fürchtete, seine vorgetäuschten Beweggründe würden zerpflückt werden. Hales scheinbare Einfalt gründete sich aber auf einige Jahrhunderte Erfahrung. Die Auseinandersetzung mit Reed dauerte eine geschlagene Stunde. Dann begleitete Sam ihn zu dem Logiker. Eine leuchtende weiße Kugel, die auf einer eisernen Säule lag, sprach zu den beiden Männern. „Ich habe Ihnen doch erklärt, daß ich Ihnen nicht die Zukunft weissagen kann, Hale." „Sie kennen aber in jedem Fall die Lösung." „Die Antwort, die Ihnen die Lösung bietet, braucht nicht für Sam Reed zuzutreffen." Sam rutschte unruhig hin und her. „Dann nennen Sie uns zwei Lösungen", sagte er. - 89 -
Weil er glaubte, mit einer Maschine zu reden, hatte er seine Wachsamkeit gelockert. Automaten waren keine Menschen. Wohl oder übel hatte er die geforderten Auskünfte gegeben. Jetzt harrte er ungeduldig der Antwort. Die Stunden der Frist verstrichen. Kedre und Harker warteten auf die Nachricht von Hales Tod. In der silbernen Kugel schwammen Schatten. Sie spiegelten verzerrt die hageren, ironischen Züge des Logikers wider. Robin Hale sah die Ähnlichkeit. Wer das Geheimnis nicht kannte, dem mußten die Schatten bedeutungslos erscheinen. „Die Bewohner der Kuppeln eignen sich nicht für bahnbrechende Unternehmen", stellte der Logiker unnötigerweise fest. „Vor allem brauchen Sie tüchtige Experten: Biologen, Geologen . .." „Wir müßten Unsummen aufwenden, um auch nur zweitklassige Leute zu bekommen", wandte Sam ein. „Im Gegenteil. Natürlich müssen Sie den Leuten Geld bieten. Aber Sie werden überrascht sein, wie viele Mißvergnügte Sie gerade unter den klügsten Köpfen finden. Die Kuppeln bieten ihnen zu begrenzte Möglichkeiten. Kein Wissenschaftler arbeitet gern mit halber Kraft; und wer hat schon seit - 90 -
der Eroberung der Meere seine Fähigkeiten zu mehr als einem Bruchteil genutzt?" „Sie glauben also, wir könnten ans Werk gehen?" forschte Hale ohne Umschweife. „Fragen Sie mich von neuem, wenn Sie mit Reed die augenblickliche Gefahr überwunden haben." „Hale erwähnte, daß Sie anders über die Landbesiedlung denken als die Familien", warf Sam ein. „Warum helfen Sie uns dann nicht gegen Harker?" Die Schatten in der Kugel bewegten sich. Der Logiker schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht allmächtig. Von ihrem Standpunkt aus meinen es die Familien gut. Sie planen auf lange Sicht. Sie bestimmen die Politik und beeinflussen mit ihren Ränken die Entscheidungen des Rates. Dem Namen nach regieren der Rat und die Gouverneure die Kuppeln. In Wahrheit dagegen herrschen die Unsterblichen. An Sozialbewußtsein mangelt es ihnen nicht, aber sie sind rücksichtslos in ihrem Handeln. Die Gesetze, die sie durchdrücken, erscheinen dem Kurzlebigen vielleicht hart; doch seine Enkel werden den Familien für ihre Härte dankbar sein. Für einen Unsterblichen nimmt das Gemeinwohl einen längeren Zeitraum ein.
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In diesem Fall bin ich der Ansicht, daß die Familien unrecht haben. Sie behaupten, wir könnten nur einen Siedlungsversuch finanziell unterstützen. Ein Fehlschlag würde uns zugrunde richten. Wir würden niemals einen zweiten Versuch unternehmen, weil wir weder die Energie noch die Mittel hätten. Wir müßten warten, bis sie von der Unmöglichkeit eines Fehlschlags überzeugt wären und uns erlaubten, das Vorhaben in Angriff zu nehmen. Die Familien irren sich. Es geht schneller abwärts mit uns, als sie glauben. Wenn ihre Entscheidung kommt, kommt sie zu spät. Aber sie regieren die Kuppeln und nicht der Logiker. Ich habe mich ihnen in der Vergangenheit zu oft entgegengestellt, als daß sie mir noch glauben würden. Sie sind überzeugt, daß ich voreingenommen bin." Robin Hale brachten diese Erklärungen nichts Neues. Als die Stimme geendet hatte, fragte er ungeduldig: „Können Sie uns wenigstens sagen, ob Aussichten bestehen, daß unser Vorhaben glückt?" Eine Weile schwieg der Logiker. Dann drang ein sonderbares Geräusch aus der Kugel; ein Kichern, das sich in Gelächter verwandelte. - 92 -
Hale erschrak. Sam Reed starrte die Kugel in maßloser Verblüffung an. Daß eine Maschine lachen konnte, war unvorstellbar. „Auf dem Kontinent werden Siedlungen entstehen", kicherte der Logiker endlich. „Ihre Aussichten sind nicht schlecht, mein Freund. Sie lassen sich sogar noch besser an, wenn Reed auf Ihrer Seite steht. Das dürfte genügen. Mehr brauche ich wohl nicht zu sagen." Sam verharrte wie erstarrt, ohne den Blick von den Schatten zu wenden, die in der Kugel schwammen. Seine Gedanken arbeiteten hastig. War der Automat am Ende Blendwerk? Speiste er sie mit bloßen Mutmaßungen ab? Und wenn er sich zu einem falschen Urteil über Sam verstieg, konnte man dann seinen übrigen Aussagen den geringsten Wert beimessen? „Danke, Logiker", sagte Hale, und Sams Verwunderung übertrug sich auf seinen Begleiter. Warum bedankte er sich bei einer Maschine, noch dazu bei einer, die auf der ganzen Linie versagt hatte? Ein unüberhörbares Kichern drang aus der Kugel, während die beiden Männer sich zum Gehen wandten. Es stieg zu schallendem Gelächter an,
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verfolgte sie durch den Saal und klang nach Spott und halbem Mitgefühl. Der Logiker lachte aus vollem Halse über die Zukunft Sam Reeds.
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11. „,Wenn wir die augenblickliche Gefahr überwunden haben …'", zitierte Sam den Logiker. Er saß Hale an einem durchsichtigen, verstaubten Kunststofftisch gegenüber, der in einem geheimen Gemach des Pressers stand. Sam hatte eine ungefähre Ahnung, wie viele Dienstleute der Familien jeden seiner Schritte überwachten und weitermeldeten. Hale war in keiner besseren Lage. Solange sie sich in der Kammer des Pressers verbargen, befanden sie sich in Sicherheit; aber ewig konnten sie dort nicht bleiben. „Haben Sie Vorschläge?" erkundigte sich Hale. „Sie scheinen sich keine überwältigenden Sorgen zu machen", bemerkte Sam. „Schenken Sie meiner Warnung keinen Glauben?" „O doch. Ich gebe zu, daß ich nicht jedem auf Anhieb glauben würde, der zu mir käme und erklärte, er wäre gekauft worden, um mich zu ermorden. Das läßt sich leicht behaupten, wenn man sich bei jemand einschmeicheln will. Aber ich habe damit gerechnet, daß die Familien früher oder später zur Tat schreiten, und ich verlasse mich auf den
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Logiker. Wie sollen wir also Ihrer Meinung nach vorgehen?" Sam blickte ihn unter zusammengezogenen Brauen hervor an. Er begann Hale zu hassen, weil dieser ohne weiteres in seine Vorschläge eingewilligt hatte. Er beglückwünschte sich dazu, aber Hales Beweggründe gefielen ihm nicht. Hale würde kaum auf gut Glück den Erfolg oder Mißerfolg seiner Kampagne in die Hände einer zweifelhaften Existenz vom Schlage Sam Reeds legen. Wenn das Urteil des Logikers auch günstig ausgefallen war und Hale seinerseits dem Logiker blind vertraute, so hatte letztlich doch ein anderer Grund den Ausschlag gegeben. Robin Hale war unsterblich. Die Eigenschaft, die Sam in Harker und den beiden Waltons gespürt und gehaßt hatte, spürte und haßte er auch in Hale. Ein unerschütterliches Selbstvertrauen erfüllte den Mann. Er war kein Sklave der Zeit; die Zeit diente ihm. Ein Mann, hinter dem jahrhundertelange Erfahrungen lagen, mußte alles erlebt haben, was ein Mensch überhaupt erleben konnte. Er konnte die Zeit reifen lassen, konnte Versuche anstellen und mittlerweile überlegen, bis ihm von selbst der beste
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Weg einfiel, um einer Anforderung zu begegnen, die an ihn gestellt wurde. Das war einfach nicht gerecht, dachte Sam in unbegründetem Zorn. Schwierigkeiten, mit denen ein normaler Mensch sein ganzes Leben lang nicht fertig wurde, mußte ein Unsterblicher im Schlaf entwirren können. Problemen, die sich in einem rasch verrinnenden Dasein nur auf dem Wege einschneidender Taten lösen ließen, konnte Hale einfach dadurch begegnen, daß er wartete. Jedem Unsterblichen blieb als letzter Ausweg die simple Weisheit: ,Auch das wird vorübergehen!' Sam holte tief Atem und antwortete auf Hales letzte Frage. „Die Familien – und damit meine ich besonders die Harkers und die Waltons – werden sich hüten, einen offenkundigen Mord an Ihnen zu verüben. Sie wollen nicht mit Ihrem Tod in Verbindung gebracht werden. Sie haben keine Angst vor dem Volk, weil das Volk sich noch nie zusammengefunden hat. Eine Erhebung kam niemals in Frage, weil keine Gründe dafür vorlagen. Die Familien handeln zumeist gerecht.
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Das Scheitern des Siedlungsprojektes an dem Widerstand der Harkers kann aber die allgemeine Empörung wecken und damit den Familien gefährlich werden. Zum erstenmal verbindet ein gemeinsames Gefühl die Massen: ihre Begeisterung für das Siedlungsvorhaben." Er sah Hale abwesend an. „Ich glaube, ich weiß, wie wir uns diesen Umstand zunutze machen können." Sam bedachte den staubigen Fernsehschirm an der Wand mit einem Seitenblick. „Ich kann Ihnen den Plan, den ich im Auge habe, aber noch nicht auseinandersetzen." „Na, schön." Hales Stimme ließ jede Aufregung vermissen. Zum erstenmal ging Sam die Erkenntnis auf, daß Kämpfe und Kriege für diesen Mann nichts Neues waren. Zur Zeit der Freien Trupps hatte er selbst Blut vergossen. In tödlicher Bedrohung zu leben, mußte ein so vertrautes Gefühl für ihn sein, daß er es mit Gelassenheit hinnahm. Sam haßte ihn dafür von neuem. Er zwang sich, ruhig weiterzusprechen. „Bis dahin muß ich Ihnen noch meine Dienste in Ihrem Feldzug aufreden. Kann ich anfangen?"
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Hale nickte grinsend. „Wir sind in einer Lage, in der wir die Leute eher abwimmeln als anwerben müssen. Wir brauchen Experten und Arbeitskräfte. Arbeitskräfte lassen sich ersetzen. Können Sie die wichtigsten Leute schützen?" „Gegen einen Teil der Gefahren, die ihnen erwachsen, aber weder gegen Langeweile noch beispielsweise gegen Flechten, die in einen Lichtschacht eindringen und ihre Opfer bei lebendigem Leibe auffressen. Unser Unternehmen ist alles andere als ein Spaziergang." „Dann müssen wir eine scharfe Auswahl treffen. Wir müssen uns auf Könner beschränken, die in ihrem Privatleben gescheitert sind." „Bis zu einem gewissen Punkt schon. Was schlagen Sie dazu vor?" Die lakonische Stimme Hales erfüllte Sam mit unvernünftiger Erbitterung. Er argwöhnte, sein Gegenüber wäre sich über die meisten Lösungen bereits im klaren und ließe ihn nur reden, um seine eigenen Erkenntnisse einer Probe zu unterwerfen und die Einfälle, die Sam noch haben mochte, zu seinem Nutzen zu verwenden.
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Andererseits legte Hale trotz seiner Selbstsicherheit und der Findigkeit, die seine Erfahrungen bewirkt hatten, eine unstillbare Einfalt, die Sam Hoffnung schöpfen ließ. Im Grunde war Hale ein versponnener Träumer, der selbstlos handelte. Auch zehntausendjährige Erfahrungen würde nicht den Instinkt in ihm wecken, mit dem Sam zur Welt gekommen war. Der Versuch war die Mühe wert. „Natürlich können wir uns nicht ausschließlich mit gescheiterten Existenzen belasten", fuhr er fort. „Wir müssen hinter die Gründe kommen, die ihre Unzufriedenheit geweckt haben. Gab es zur Zeit der Kriege Techniker?" Hale nickte. „Ja. Aber hinter ihnen stand die überlieferte Tradition der Freien Trupps." „Dann bricht mit uns eben eine neue Tradition an. ,Per aspera ad astra' könnten wir sie nennen." Sam überlegte. „Wären Sie in der Lage, Zutritt zu den Beurteilungen der früheren Techniker zu erhalten?" „Ich denke schon, wenn sie die Wirren überstanden haben. Was sollte uns das nützen?" „Vielleicht liefern die Beurteilungen uns die gesuchte Antwort. Die Rechenmaschinen können die
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Faktoren herauspicken, die zum Erfolg der Leute geführt haben. Damit haben wir eine Ausgangsgleichung. Anschließend stellen wir fest, wie sich die Schar der heutigen Techniker zusammensetzt, wobei wir den Mißvergnügten unsere besondere Aufmerksamkeit widmen. Ein gefragter Experte der Freien Trupps plus vergangene Tradition ergibt X. Die Leute, die dieses X heute noch besitzen, werden mit der neuen Tradition geimpft. Wir müssen unsere Propaganda sorgfältig dosieren und die öffentliche Meinung in die uns genehmen Bahnen lenken. Die irdischen Kreuzzüge wurden von einer Woge der Begeisterung getragen. Wir lassen diese Begeisterung wiederaufleben. Für Ihre Experten habe ich Ihnen jetzt einen beschreitbaren Weg genannt. Wir kommen damit zu den Arbeitskräften und zum finanziellen Teil." Sam warf einen Blick auf das unbewegte Gesicht des Unsterblichen und schaute wieder zur Seite. Aber er redete weiter. „Die Freiwilligen, die sich zu den Arbeiten melden, müssen gleichfalls gesiebt werden. Tüchtige Leute gibt es immer noch in Hülle und Fülle, und nicht alle geben beim ersten Anzeichen einer nahenden Gefahr Fersengeld. Wir arbeiten strenge - 101 -
Prüfungen aus, denen sich jeder Siedler unterziehen muß. Die Öffentlichkeit erfährt nur die Ergebnisse, die sie erfahren soll. Wir können einen Mann nicht wegen Feigheit ablehnen und dieses Urteil verkünden, ohne die übrigen kopfscheu zu machen. Wir selber müssen natürlich Bescheid wissen." „So weit, so gut", nickte Hale. „Und woher nehmen wir das Geld?" „Wieviel können Sie flüssig machen?" Hale zuckte die Achseln. „Pfennige. In Doones Fort habe ich mir einen Ausgangspunkt geschaffen. Um ihn voranzutreiben, müssen Millionen in das Unternehmen hineingepumpt werden." „Dann gründen Sie eine Gesellschaft und geben Sie Aktien aus. Die Leute sind zu allen Zeiten spekulationswütig. Besonders dann, wenn die Dividenden, die sie erhalten, nicht nur aus Geld bestehen, sondern aus Abenteuer, Aufregung und Romantik – aus Gefühlen, nach denen sie hungern." „Abgelehnte Freiwillige werden keine Aktien kaufen." Sam lachte. „Ich hab's. Auf jede Aktie wird eine Dividende aus Sensationen gezahlt. Das erregende Abenteuer - 102 -
der Besiedlung, aber ohne die Gefahren der Dschungel. Die Ausbreitung der Kolonie wird vom Fernsehen übertragen – und zwar ausschließlich auf den Empfängerkanälen der Aktionäre!"
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12. Hale warf ihm einen Blick zu, in dem sich Ärger mit Bewunderung mischte. Sam spürte eine kurze innere Befriedigung darüber, seinem Gegenüber so etwas wie stillschweigende Anerkennung abgerungen zu haben. Als Hale sprach, verschwand dieses Gefühl. „Nein. Das wäre zu billig und im Grunde doch Betrug. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß die Landbesiedlung keine Abenteuer bietet, sondern höchstens harte Plackerei." „Der breiten Masse erscheint sie trotzdem abenteuerlich", hielt Sam ihm entgegen. „Sie müssen mit den Wölfen heulen. Die Leute lassen sich ihren Nervenkitzel etwas kosten. Und für Nervenkitzel kann doch wohl an Land zur Genüge gesorgt werden." Hale rieb sich unbehaglich das Genick. „Mir gefällt der Vorschlag trotzdem nicht." „Aber er ließe sich verwirklichen. Haben sich an Land bis jetzt überhaupt Vorkommnisse ereignet, die sich ausschlachten ließen?" „Seit längerem macht uns eine wandernde Schlingpflanze zu schaffen, die von der menschlichen Körperwärme angelockt wird", erwi- 104 -
derte Hale nach einiger Überlegung. „Wir haben zur Abwehr Kühlanlagen in unsere Dschungelanzüge eingebaut. Außerdem streuen wir während der Arbeit in unserer unmittelbaren Umgebung Thermit. Das lenkt die Wanderliane von uns ab und verbrennt sie zu Asche, wenn sie damit in Berührung kommt." „Wie sieht diese Liane aus?" fragte Sam. Hale beschrieb ihm die Pflanze ausführlich. Sam lehnte sich mit zufriedenem Gesicht zurück. „Das ist die Masche. Die Geschichte wirkt beeindruckend und ist trotzdem völlig ungefährlich. Damit können wir die ungeeigneten Kandidaten von Anfang an abschrecken. Ihre Leute brauchen nur die Kühlanlagen abzuschalten und eine Schlacht mit den Lianen zu inszenieren. Ein anderer Teil Ihrer Männer steht im Hintergrund mit Thermit bereit und greift ein, wenn die Aufnahmen im Kasten sind. Wir verbreiten die Nachricht, die Wanderlianen brächen durch, übertragen diesen angeblichen Durchbruch im Fernsehen und haben unser Ziel erreicht." „Kommt nicht in Frage", widersetzte sich Hale. „Die Kreuzzüge wurden auch durch eine Propagandaaktion ausgelöst", bemerkte Sam. Aber er verkniff sich weiteres Drängen. Stattdessen erwähnte er die unumstößliche Tatsache, daß ihnen beiden binnen sechsunddreißig Stunden der sichere - 105 -
Tod drohte, wenn sie sich auf keinen Ausweg einigten. Sam hatte ein Flimmern auf dem Bildschirm in der Ecke gesehen. Es war an der Zeit, das nächste Thema anzuschneiden. „Die Familien können uns beseitigen, ohne daß auch nur der Schatten eines Verdachts auf sie fällt. Einige Bakterien genügen schon. Wir sind erledigt, wenn wir unsere Zuflucht nicht zu drastischen Mitteln nehmen. Mir ist ein Weg eingefallen, um die Familien so wirksam zu überrumpeln, daß jede Gegenmaßnahme zu spät kommen muß." „Nämlich?" „Die Familien stützten ihre Macht auf das Ansehen, das sie genießen. Ihre Langlebigkeit hat ihnen den Ruf der Unfehlbarkeit verschafft. An diesem Punkt müssen wir den Hebel ansetzen und die Familien in eine Lage hineinmanövrieren, die sie zwingt, unser Vorhaben förmlich zu verteidigen." „Aber wie?" „Sie, Hale, genießen in der Öffentlichkeit große Beliebtheit. Harker hat mir deshalb eine Frist von achtundvierzig Stunden gesetzt, weil er fürchtete, sie könnten jeden Augenblick einen Parteigänger gewinnen, der in Ihre Spuren treten und Ihr
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Vorhaben auch dann weiterführen würde, wenn Harker Sie selbst beseitigen ließe." Sam tippte auf seine Brust. „Ich bin dieser Parteigänger. Um meine eigene Haut zu retten, bleibt mir keine andere Wahl. Durch die Halbierung der Gefahr schaffen wir auch für Sie einen Ausweg. Es hätte wenig Sinn, einen von uns zu töten, wenn der andere ihn ersetzen kann." „Aber wie, zum Teufel, wollen Sie erreichen, daß Sie in den wenigen Stunden, die uns noch bleiben, neben mir in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses rücken?" erkundigte sich Hale. Jetzt war ihm echte Teilnahme anzumerken. Sam grinste ihn zuversichtlich an. Dann trat er gegen sein Stuhlbein. Die Wand glitt auseinander. Durch die entstandene Öffnung kam schnüffelnd der Presser herein. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sam machte keine langen Umschweife. „Erstens ist Sheffields Bande hinter mir her", sagte er. „Ich kann mir im Augenblick keinen Kampf mit dem Burschen leisten, weil ich eine große Sache vorhabe. Können Sie Sheffield zurückpfeifen?"
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„Vielleicht bringe ich's fertig", gab der Presser zur Antwort. Das war so gut wie eine feste Zusicherung. Der alte Giftmischer bildete in der Unterwelt der Kuppeln immer noch eine Hauptgefahr. „Danke." Sam drehte sich mit seinem Stuhl herum und blickte den Presser an. „Und jetzt das Wichtigste. Ich brauche möglichst schnell ein besprochenes Tonband mit gefälschtem Text." „Das ist nicht die Welt", erwiderte der Presser und schnüffelte verächtlich. „Samt den entsprechen."
Gesichtern,
die
den
Stimmen
„Das ist schon schwieriger. Wessen Gesichter?" „Mir kommt es hauptsächlich auf Zacharias Harker an. Wenn wir noch weitere Angehörige der Harker- und Waltonsippen mit hineinnehmen könnten, wäre mir das recht lieb. Aber Zacharias Harker ist unbedingt erforderlich." Der Presser starrte ihn an und vergaß dabei sogar, wie gewöhnlich zu schnüffeln. „Zacharias Harker?" fragte er. Dann stieß er ein unerwartetes Kichern aus.
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„Na schön, ich denke, ich kann das Ding schaukeln, aber es wird dich einiges kosten. Wann brauchst du die Nachahmung?" Sam nannte den Zeitpunkt.
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13. Gefälschte Tonbandaufnahmen waren fast so alt wie die Erfindung des Tonbandgeräts. Einmal gesprochene Worte herauszuschneiden und zu neuen Sätzen zusammenzufügen, erforderte keine nennenswerte Geschicklichkeit. Die Technik, eine Stimme in ihre Zisch- und Kehllaute zu zerlegen und eine völlig neue Rede daraus aufzubauen, konnte dagegen erst auf eine kurze Vergangenheit zurückblicken. Die Durchführung dieser Methode erforderte äußerst geschickte Spezialisten. Eine Übertragung aus einer Sprache in eine andere erwies sich infolge der wechselnden Ausspracheeigentümlichkeiten gewöhnlich als undurchführbar. Dagegen konnte aus jeder Rede, von der eine Bandaufnahme existierte, gemeinhin eine genügende Anzahl von Grundlauten ausgeschieden werden, um damit eine völlig andersgeartete Rede zu schaffen. Von dort war es nur noch ein Schritt bis zur Schaffung der technischen Voraussetzungen, die die optische Einschaltung des Sprechers in die abgeänderte Rede ermöglichten. Die gefilmten Lippenbewegungen wurden mitten in der Silbe
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unterbrochen und Bilder eingeblendet, die dem neu unterlegten Ton entsprachen. Das erzielte Ergebnis peinigte zunächst noch Auge und Ohr. Die Bilder flimmerten, und die Töne kratzten. Daraufhin hatte man den Versuch unternommen, zweidimensionale Profil- und Halbprofil-Ansichten auf einen dreidimensionalen Körper zu projizieren, bis sie die gewünschte Vorderansicht eines Gesichtes ergaben. Diese Ansicht wurde fotografiert und die Aufnahmen mit wechselnden Mundbewegungen wiederholt, bis ein überzeugender Filmstreifen zustandekam. Der Presser stand in Verbindung mit einem Techniker, der das schwierige Verfahren im Schlaf beherrschte. Ton- und Bildaufnahmen der Harkerund Waltonsippen waren in Mengen vorhanden. In welches gefährliche Spiel er sich einließ, wußte Sam nur zu gut. Um Robin Hale den Betrug aufzuschwatzen, brauchte er geschlagene fünf Stunden. Als erstes mußte er den Mann von der Drohung überzeugen, die über ihm schwebte. Das fiel ihm nicht allzu schwer, denn inzwischen umschlichen die ersten gedungenen Mörder das Haus, das Hale und ihm als Schlupfwinkel diente.
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Die letzten Zweifel Hales an seiner Verläßlichkeit beseitigte Sam dadurch, daß er sich der Prüfung mit einem Lügendetektor unterzog. Darin geübt, seine wahren Motive zu verbergen, schaffte er es, um den heißen Brei herumzureden. „Wir sind praktisch schon erledigt", erklärte er Hale zum Schluß. Was er sagte, stimmte, und die Nadeln des Geräts schlugen nicht aus. „Natürlich ist der Kniff glatter Selbstmord", fuhr er fort. „Darüber bin ich mir völlig im klaren. Wenn wir aber sowieso sterben müssen, können wir ebenso gut dieses letzte Spiel wagen. Uns bleibt keine andere Wahl, sofern Ihnen nichts Besseres einfällt." Das sah Hale ein. Die Ansagerin, die vor Beginn des Abendprogramms auf den Bildschirmen erschien, lächelte freundlich in die Kameras. Dann kündigte sie an, die planmäßige Werbesendung würde durch eine wichtige Bekanntmachung Robin Hales zur Besiedlung der Landstriche unterbrochen werden. Alle Fernsehgeräte in den Kuppeln blieben eingeschaltet. Der Presser wartete, bis ihn über seine privaten Informationskanäle die Nachricht erreichte, daß alle Angehörigen der beiden Sippen sich an
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diesem Abend vergnügten und ihr überraschendes Eingreifen nicht zu befürchten stand. Dann verschwanden die Farbreklamen von den öffentlichen und von zahllosen privaten Bildschirmen, und das Gesicht Robin Hales tauchte auf. Er trug einen Dschungelanzug und sprach mit einer besorgten Hast, die seinen Worten unerwartete Überzeugungskraft verlieh. Er hätte gehofft, so sagte er, seinem Publikum im einzelnen den wunderbaren Plan zu schildern, den sein Freund Sam Reed ausgearbeitet hätte, um ohne Verzögerung eine Landbesiedlung in großem Maßstab zu ermöglichen. Aber an Land hätten sich Schwierigkeiten ergeben, und er wäre hinaufgerufen worden, um seine Erfahrungen als Kämpfer der Freien Trupps den Männern zur Verfügung zu stellen, die sich weit droben auf dem Dschungelufer einer neuen, tödlichen Drohung gegenübersähen. Am Schluß seiner Ansprache grüßte Hale steif und eilig und verschwand vom Bildschirm. An seine Stelle trat Zacharias Harker. Nur ein äußerst geschickter Experte hätte das schwache Flimmern entdecken können, das die Fälschung verriet. Rechtlich war selbst Harker nicht imstande zu leugnen, daß er die Worte gesprochen hatte, die
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ihm in den Mund gelegt wurden, denn jeder Laut und jede Bewegung seiner Lippen war echt. Bei der Ausarbeitung der Rede hatte Sam darauf geachtet, daß sie nicht nur Hale und ihn selber rechtfertigte, sondern auch seinen Siedlungsplänen diente. Bescheiden und nur widerwillig erschien er neben Zacharias Harker auf dem Bildschirm und wurde von dem Unsterblichen als der großherzige, weltoffene Menschenfreund vorgestellt, der das Siedlungsprojekt verwirklichen wollte. Sam Reed, der Sterbliche mit dem großen Weitblick und Mann aus dem Volke, war bereit, mit Robin Hale zusammen erfolgreich den Kreuzzug zur Besiedlung der Kontinente anzuführen. An Land lag die Zukunft der Menschheit. Selbst die Harkers, so versicherte Zacharias, hätten sich endlich von Sam und Hale überzeugen lassen. Ein großes Abenteuer stünde allen bevor. Schon in Kürze würden die ersten Freiwilligen ausgesucht werden. ,Per aspera ad astra!' hieße der Schlachtruf. Dann sprach Zacharias Harker von dem Damoklesschwert, das über den unterseeischen Kuppeln schwebte. Jedes Wort war darauf abgestellt, Unzufriedenheit in den Hörern zu wecken. Harker erwähnte den kulturellen und technischen Stillstand der Menschheit; er verwies - 114 -
auf die allgemeine Trägheit, die eingesetzt hatte, und auf die zunehmende Anfälligkeit gegenüber Krankheiten. Die ewige Beschränkung auf die Kuppeln lag nicht in der Bestimmung des Menschen. Die ruhmvollen Zivilisationen der Erde durften nicht unter den Meeren der Venus verkümmern. Ein neuer Aufbruch stand bevor :– ad astra! Harkers Gesicht verschwand vom Bildschirm, und Sam trat vor, um mit seinen Worten den endgültigen Ausschlag zu geben. Die künstliche Gelassenheit, die er zur Schau trug, verbarg seine Unruhe. Jetzt, als sich nichts mehr rückgängig machen ließ, überkamen ihn Zweifel. Wie würden die Familien sich verhalten, wenn sie entdeckten, daß sie gänzlich unerwartet überlistet worden waren? Wie würden sie reagieren, sobald sie erfuhren, daß ihre innersten Überzeugungen scheinbar mit ihren eigenen Worten ins genaue Gegenteil verkehrt worden waren? Die unsterblichen Geschlechter müßten ihre ersten Gegenmaßnahmen bereits eingeleitet haben; sie waren darauf vorbereitet, im Notfall rasch zu handeln. Was sie aber unternehmen würden, ließ sich nicht vorausberechnen.
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Mit ruhiger Sicherheit schilderte Sam seine Vorstellungen von der finanziellen, wenn schon nicht persönlichen Teilnahme eines jeden an dem Feldzug. Geschickt wies er auf die Mühen und Gefahren hin, die das Leben an Land mit sich brachte. Mit Ausnahme der Tatkräfigsten wollte er die Bewohner der Kuppeln entmutigen, sich als Siedler zu melden. Um den Eindruck seiner Worte noch zu verstärken und seine Rede zu einem wirkungsvollen Abschluß zu bringen, rückte er danach mit seiner großen Ankündigung heraus. Alle, die sich mit ihrem Geld an dem großartigen Wagnis beteiligten, das der Menschheit bevorstand, würden dafür in den Genuß der Vorteile kommen, die sonst den reichen Familien vorbehalten blieben. Jeder Aktionär konnte verfolgen, wie sein Geld zur Eroberung der Kontinente beitrug, und aus erster Hand die Aufregungen und Gefahren des Lebens an Land miterleben. Gefahren wie diese: Ein schwindelerregendes Dschungelpanorama leuchtete auf dem Bildschirm auf und huschte mit atemberaubender Schnelligkeit auf den Betrachter zu. Über samtschwarzen Morast erhoben sich wie ein Blütenteppich die Baumwipfel. Die Kamera fing
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eine sumpfige Lichtung ein. Über den schwarzen Boden glitt der schillernde Körper einer Schlange. Dann explodierte der Moorpfuhl, und der Rachen eines Schlammwolfs schloß sich über dem Reptil. Blut sprudelte auf den hochspritzenden Morast. Kreischend und sich windend versanken die Gegner. Der Pfuhl beruhigte sich wieder. Nur von Zeit zu Zeit liefen große Ringe über den Schlamm, wenn rote Blasen zur Oberfläche stiegen und mit dumpfen Geräuschen platzten, die aus jedem eingeschalteten Fernsehgerät in den Kuppeln drangen. Sam dankte seinen Zuhörern und bat für die nächsten Tage um ihre Geduld, bis die ersten Freiwilligen untersucht werden konnten. Mit gespielter Demut bemerkte er, daß er hoffe, sich ihr Vertrauen mit den Diensten zu verdienen, die er ihnen und Hale leiste. Dieser habe ihm die Erledigung aller Aufgaben übertragen, die in den Kuppeln anfielen, während er selbst droben an Land in den Dschungeln kämpfe. „Bald werden wir alle Zeuge solcher Kämpfe werden", schloß Sam. „Statt bei wilden Bestien wird unser Mitgefühl dann bei den tapferen Männern weilen, die die Venus erobern, so, wie unsere Vorfahren sich einst die Erde Untertan machten."
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Die Familien unternahmen nichts. Ihre Tatenlosigkeit bereitete Sam mehr Kopfzerbrechen als jede noch so einschneidende Maßregel. Er mißtraute dem eingetretenen Waffenstillstand. Die Familien boten ihm keinen Angriffspunkt. Alle Versuche, einen Unsterblichen im Fernsehen nach seiner Meinung über das gewaltige Unternehmen zu fragen, das über Nacht in aller Munde war, scheiterten. Die Befragten lächelten, nickten und lehnten es ab, Stellung zu beziehen. Sonst aber schritten Sams halsbrecherischem Tempo voran.
Pläne
in
Und was konnten die Harkers letzten Endes auch unternehmen? Der Öffentlichkeit ihr reizvolles neues Spielzeug zu verweigern, mußte katastrophale Folgen zeitigen. Einem kleinen Kind konnte man keine Schokolade schenken und dann wieder wegnehmen, ohne Protestgeschrei auszulösen. In diesem Punkt war das Volk der Kuppeln weitaus gefährlicher als kleine Kinder. Sam wußte, daß er den Gegner zwar in die Enge gedrängt, aber noch nicht geschlagen hatte. Doch er hatte zuviel zu tun, um sich über die Zukunft Sorgen zu machen. Etwas anderes, als Hales Projekt in ein Schwindelunternehmen zu verwandeln, hatte er nie - 118 -
vorgehabt; und dieses Vorhaben setzte er jetzt in die Tat um. Dabei verließ er sich ausgerechnet auf das Urteil der Harkers. Sie glaubten, der Siedlungsversuch würde fehlschlagen. In Sams Augen hatten sie recht. Der Logiker war zwar der Meinung, die Kontinente würden besiedelt werden, und normalerweise galt sein Urteil. Eine Maschine konnte sich nicht irren. Der Logiker hatte sich aber geirrt, als er Sam selbst einer Prüfung unterwarf. Was Wunder, daß Sam seinen Schlußfolgerungen in Bausch und Bogen keinen Wert mehr beimaß. Seine eigenen Pläne konnten nur dann Erfolg haben, wenn das Unternehmen von vornherein den Keim des Scheiterns in sich trug. Sam machte das Geschäft seines Lebens. Die Öffentlichkeit schrie nach Aktien, und er verkaufte und verkaufte. Dreihundert Prozent des Aktienkapitals setzte er ab. Damit war das Vorhaben zum Mißlingen verurteilt. Wenn er das eingenommene Geld in den Aufbau der Kolonien steckte, blieb für ihn nichts mehr übrig. Und die Inhaber, die den dreifachen Gegenwert des gezeichneten Kapitals besaßen, konnte er ohnehin niemals auszahlen.
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Auf dem Papier aber nahm sich alles wunderbar aus. Neue Versorgungsquellen, die erschlossen wurden, eine blühende Kultur, die sich aus den Meeren erhob, das Wasser von ihren Schultern schüttelte und ans Ufer strebte. Dahinter standen als lockendes Fernziel interplanetare und interstellare Raumreisen. ,Ad Astra!' war ein lohnender Traum. Zumindest lohnte er sich für Sam. Zwei Monate vergingen. Rosathe fiel ihm wie alle anderen reifen Früchte seines Erfolges in den Schoß. Sam gab seine drei Wohnungen auf und ließ sich mit ihr in neuen, reich ausgestatteten Gemächern nieder. Die Fenster gewährten Ausblick auf die hydroponischen Gärten, die ebenso üppig, wenn auch nicht so gefährlich, gediehen wie die Dschungel der Kontinente. Dahinter erstreckten sich die Lichter der weiten Kuppel, die nach seiner Pfeife tanzte. Es war unerhört, ein nie geträumter Traum, wie er der ungezügelten Einbildungskraft eines Wahnwitzigen entspringen mochte, und doch faßbare, fühlbare Wirklichkeit. Sam Reed begriff nicht, daß er schneller und schneller in einen unwiderstehlichen Strudel von - 120 -
Ereignissen hineingerissen wurde, die sich seiner Lenkung in wachsendem Maße entzogen. Wäre ihm Zeit genug geblieben, um Rückschau zu halten, dann hätte er gewahrt, wie die Geschehnisse an ihm vorübereilten und verschwammen, je mehr sich ihr Tempo steigerte. Diese Zeit aber blieb ihm nicht.
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14. Rosathe saß auf einem flachen Kniekissen zu seinen Füßen, hielt ihre Harfe im Arm und summte ihm ein Lied vor, als der Augenblick kam. Ihre weiten, blauvioletten Röcke bauschten sich auf dem Boden, ihr dichtes Haar fiel über die Leier, und ihre Stimme klang leise und zärtlich. „Zum Ohr hin neigt den Mund sie ihm, den reifen, vollen, herben …" Die süße Stimme Rosathes klang niemals entzückender, als in den Augenblicken, wenn sie die alten, wehmütigen Balladen sang. „Doch alles, was sie flüstert, war . ..", fuhr das Mädchen fort – und wurde vom Summen des Kommunikators unterbrochen. Sam wußte, daß es sich um ein wichtiges Gespräch handeln mußte; sonst wäre der Anrufer um diese Zeit nicht durchverbunden worden. Widerwillig schwang er die Beine auf den Boden und stand auf. Rosathe hob nicht einmal den Kopf. Einen Augenblick lang verharrte sie reglos, als hätte der Summton sie an ihren Platz gebannt. Ohne daß sie
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hochblickte, glitten ihre Finger über die Saiten. Sie sang die letzte Zeile ihres Liedes: „Mein Freund, nun mußt du sterben …" Streifen zuckten über den Schirm, als Sam den Kommunikator einschaltete. Dann schälte sich ein Gesicht heraus, bei dessen Anblick er unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Kedre Waltons zornsprühende Augen blickten ihn an. Ihre schwarzen Haare ringelten sich wie die Locken der Medusa um ihren Kopf. Offenbar hatte sie sich mit jemand im Hintergrund unterhalten, während sie darauf wartete, daß Sam sich meldete. Ihr Zorn schien ihm nicht allein zu gelten, aber ihre Worte straften diesen Eindruck Lügen. „Du bist ein übergangslos an.
Narr,
Sam!"
fuhr
sie
ihn
Die Gelassenheit war aus ihrem feingezeichneten, hochmütigen Gesicht verschwunden. Selbst der Hochmut hatte sich verloren. „Hast du wirklich geglaubt, ungestraft den Erfolg einheimsen?"
du
könntest
„Das glaube ich immer noch", antwortete Sam. Er beurteilte die Aussichten seiner Pläne sehr zuversichtlich.
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„Du Hanswurst, du hast noch nie einem Unsterblichen die Stirn geboten. Unsere Mühlen mahlen langsam, aber um so sicherer. Du konntest doch nicht im Ernst annehmen, Zacharias Harker würde sich mit deinem Vorgehen tatenlos abfinden. Er wird dich …" „Laß mich reden, Kedre", warf eine Stimme hinter ihr ein. Dann tauchte das kalte, jugendliche Gesicht Zacharias Harkers auf dem Schirm auf. Mit einem abschätzenden Blick musterte er Sam. „Ich schulde Ihnen in gewissem Sinne Dank, Reed", sagte er. „Sie waren gerissen und legten mehr Fälligkeiten an den Tag, als ich erwartet hätte. Die Kraftprobe mit Ihnen hat mir unvorhergesehenes Vergnügen bereitet. Zudem haben Sie mir ermöglicht, Hales ehrgeizigem Vorhaben ein für allemal einen Riegel vorzuschieben. Dafür möchte ich Ihnen gleichfalls danken, denn ich bin gern gerecht, sofern ich mir das leisten kann." In den Augen Harkers lag ein derart unpersönlicher Ausdruck, daß Sam fröstelte. Diese Augen sahen ihn so gleichgültig an, als wäre er überhaupt nicht vorhanden – als wäre alles Leben aus ihm gewichen und Harker spräche zu einem Leichnam.
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In diesem Augenblick überfiel Sam Reed die Erkenntnis, daß Harker womöglich von Anfang an in dem Wissen gehandelt hatte, daß Sam ihn hintergehen, sich auf Hales Seite schlagen und dann auch Hale betrügen würde. Sam bildete das einzige schwache Glied in Hales Plänen. An ihm konnte das Siedlungsprojekt scheitern, wenn irgend jemand Argwohn schöpfte. Bis zu dieser Sekunde hatte Sam in der Überzeugung gelebt, sich nach allen Seiten gedeckt zu haben. Zacharias Harker aber hatte ihn durchschaut. „Leben Sie wohl, Reed", sagte die Stimme des Unsterblichen. „Kedre, falls du …" Kedres Züge zeichneten sich von neuem auf dem Schirm ab. Immer noch verrieten ihre Züge ihre Erbitterung. Aber diese Erbitterung erlosch, als ihr halbverschleierter Blick den Augen Sams begegnete. Tränen rollten über ihre Wimpern. „Leb wohl, Sam", murmelte sie. „Leb wohl." Ihr Blick glitt an ihm vorbei. Sam konnte sich gerade noch umdrehen. Seine Augen weiteten sich, aber seine abwehrende Bewegung kam zu spät. Rosathe stand unmittelbar hinter ihm. Ihre scharfen Fingernägel, die eben noch
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die Saiten der Harfe gezupft hatten, schlitzten die winzige Kapsel auf, die das Vergessen barg. Der furchtbare, süßliche Duft des Staubes drang beizend in Sams Nase. Hilflos taumelte er vorwärts. Seine Hände griffen nach Rosathe, um sie zu erwürgen. Aber sie schwebte von ihm weg. Der Raum begann um ihn zu kreisen, und Rosathe blickte aus unermeßlicher Höhe auf ihn herunter. Auch in ihren Augen standen Tränen. Der Wohlgeruch des Traumstaubs löschte alles andere aus. Traumstaub – das einschläfernde Betäubungsmittel, dessen sich die Selbstmörder bedienten. Als letztes gewahrte er die tränennassen Augen der beiden Frauen, die weinten, weil sie ihn liebten, und die gemeinsam sein Verhängnis heraufbeschworen hatten.
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15. Sam Reed erwachte. Der Duft parfümierten Staubes wich aus seiner Nase. Dunkelheit umgab ihn. Er spürte eine Mauer neben sich, raffte sich auf und stützte sich dagegen. In einiger Entfernung schimmerten verschwommene Lichter. Eine Gasse, dachte er. Ab und zu kamen auf der Straße Leute vorbei. Seine Füße schmerzten, und seine Schuhe schlappten. Sam blickte an sich herunter und sah, daß er Lumpen trug. Seine bloßen Füße ragten durch die zerrissenen Sohlen. Die Luft um ihn roch immer noch nach Traumstaub. Auf Traumstaub folgte ein langer, langer Schlaf. Wie lange hatte seine Betäubung gedauert? Er stolperte zur Einmündung der Gasse. Ein Passant warf ihm einen neugierigen, verächtlichen Blick zu. Sam packte den Mann am Kragen. „Die Siedlung", stieß er hervor. „Besteht die Siedlung schon?" Der Mann schlug seine Hand beiseite. „Welche Siedlung?" fragte er ungeduldig. „Die Niederlassung an Land."
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„Ach, die." Der Mann lachte. „Sie hinken den Ereignissen hinterher, mein Lieber." Offenbar hielt er Sam für betrunken. „Die Niederlassung besteht schon lange." „Seit wann?" „Seit vierzig Jahren." Sam klammerte sich an einen Warenautomaten, der in der Einmündung der Gasse stand. Seine Knie gaben nach. Er blickte in einen staubbedeckten Spiegel und in seine eigenen Augen. Das unveränderte, nicht im geringsten gealterte Gesicht Sam Reeds starrte ihm ohne Runzeln und Falten entgegen. „Vierzig Jahre!" murmelte er. In einer trägen, absinkenden Spirale drehte sich die Stadt an ihm vorüber. Sam Reed schaute ihr mit leeren Augen zu. Sein Gehirn weigerte sich, das Unerhörte zu begreifen. Seine Gedanken liefen im Kreis. Wieviel Zeit seit dem Augenblick vergangen war, in dem er sein jung gebliebenes Gesicht angestarrt hatte, wußte er nicht. Er erinnerte sich nicht, die Gasse verlassen zu haben. Doch unter seinen zerrissenen Sohlen vibrierte das Gleitband, und Straße um Straße tauchte auf, während das Band abwärtsglitt. Aber kein vertrautes Gesicht half ihm, - 128 -
seine wirbelnden Gedanken zu ordnen und wieder zu sich selbst zu finden. „Ich brauche eine Spritze", dachte er, und selbst diese Überlegung formte sich mühsam, als wäre sein Gehirn in den vierzig Jahren eingerostet, die er ohne Bewußtsein durchlebt hatte. Sam wühlte in seinen zerfetzten Taschen. Sie waren leer. Er besaß nichts. Kein Geld, keine Erinnerungen, keine Vergangenheit. „Nichts", wiederholte er laut. „Nichts?" Erst jetzt dämmerte ihm die Bedeutung des Anblicks, den ihm der Spiegel gezeigt hatte. „Was heißt nichts? Ich bin unsterblich!" Doch das war unmöglich. Der Traumstaub gaukelte ihm ein Trugbild vor. Er kniff sich in die Wange. Dann fuhr er mit der Hand über Gesicht und Nacken. Seine Haut fühlte sich glatt und faltenlos an. Er träumte nicht. Der Mann, dem er begegnet war, mußte ihn belogen haben. Nie und nimmer waren vierzig Jahre bis zu seinem Erwachen vergangen. Sam versuchte, sich das Zusammentreffen ins Gedächtnis zurückzurufen. Ihm schien jetzt, als hätte der Mann ihn eingehend und mit mehr als flüchtigem Interesse gemustert. Er hatte ihn für einen Passanten gehalten,
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aber nachträglich kam es ihm vor, als hätte der Mann dort gestanden und ihn beobachtet, um sich ihm zu nähern oder sich zu entfernen, falls Sams Argwohn erwachte. Vergeblich strengte er sich an, um sich das Gesicht des Mannes zu vergegenwärtigen. Nur ein verschwommener Schatten tauchte vor seinem inneren Auge auf, der ihn angesehen und mit ihm gesprochen hatte. Irgendein Grund, der im Zusammenhang mit Sam stand, mußte den Mann in die Gasse geführt haben. „Vierzig Jahre", murmelte Sam Reed. „Das läßt sich nachprüfen." Das Bild der Stadt hatte sich nicht gewandelt. Aber das wollte wenig heißen. Die Kuppeln veränderten ihr Aussehen niemals. In weiter Ferne erhob sich die riesige Kugel der toten Erde über die Gebäude. Daran konnte er sich orientieren. Er wußte wieder, durch welche Viertel er glitt, wo seine bevorzugten Schlupfwinkel lagen; und wo der Turm mit der verschwenderischen Wohnung stand, in deren Räumen ein blauäugiges Mädchen ihm Giftstaub ins Gesicht geblasen hatte. Er sah wieder Kedres Gesicht auf dem Bildschirm, gewahrte die Tränen in ihren Augen und die gebieterische Bewegung, die ihn ins Verderben - 130 -
gestürzt hatte. Kedre und Rosathe – mit beiden mußte er abrechnen, wenn sie auch nicht die eigentlich Schuldigen waren. Hinter ihnen stand Zacharias Harker, von dem der Befehl stammte, ihn auszuschalten. Mit Kedre zusammen würde er dafür büßen; und Rosathe – Sams Finger krümmten sich bei dem Gedanken an sie. Ihr hatte er vertraut, und sie hatte ihn hintergangen. Sie mußte sterben. Wenn aber vierzig Jahre vergangen waren, dann mochte die Zeit ihm die Arbeit abgenommen haben. Zuerst mußte er feststellen, wann er erwacht war. Das Gleitband rollte auf einen der großen öffentlichen Fernsehschirme zu. Wenn er in Sicht kam, konnte Sam sich vergewissern, welches Datum man inzwischen schrieb. Doch schon jetzt zweifelte er nicht mehr an dem Ergebnis. Die verrinnende Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen. Die Stadt mochte sich nicht verändert haben, aber die Menschen hatten sich gewandelt. Mehrere Männer, denen er begegnete, trugen Bärte. Ihre Kleidung wies einen lockeren Zuschnitt auf, den er nicht gewohnt war. Die Einzelheiten, die sein Auge wahrnahm, verrieten ihm, daß der Lauf vieler Jahre das Gesamtbild beeinflußt haben mußte.
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Langsam schlug das Gleitband einen Bogen, und eine Ecke des Fernsehschirms tauchte auf. Kaum irgend jemand schenkte der flimmernden Nachrichtensendung einen Blick. Sams Erinnerungen stammten aus einer Zeit, in der die Leute drängelten und sich die Hälse verrenkten, um möglichst viele Neuigkeiten zu erkennen, ehe das Band sie an dem Schirm vorübergetragen hatte. Mit den grellfarbigen Moden war die Gleichgültigkeit eingezogen. Als einziger wandte Sam Reed den Kopf nach der großen Fernsehanlage. Und er sah, daß vierzig Jahre verstrichen waren, seit der Traumstaub ihm das Bewußtsein geraubt hatte.
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16. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag und ließ ihn taumeln. Er war unsterblich! Mit blendender Klarheit sah er alle Möglichkeiten, alle Gefahren, alle Herrlichkeiten, die in Reichweite vor ihm lagen. Dann wich das Hochgefühl und machte der Furcht vor der Verantwortung Platz, die seine Langlebigkeit ihm auflud. Einen Augenblick lang befielen ihn von neuem Zweifel an der Wirklichkeit der unvorstellbaren Gabe, die ihm nach seinem Erwachen in den Schoß gefallen war. Hastig ließ er in Gedanken alle Gifte an sich vorüberziehen, die er kannte. Doch keines davon konnte eine jahrzehntelange Lähmung aller Körperfunktionen hervorrufen. So unmöglich die Vorstellung der Unsterblichkeit sich ausnahm, sie bildete die einzige Erklärung. Mit der Frage, wie er zu dieser Unsterblichkeit gelangt war, konnte er sich später befassen. Jetzt gab es Wichtigeres zu erledigen. Immer noch glaubte er den süßlichen Duft des Traumstaubs zu riechen. Seine Kehle fühlte sich wie ausgedörrt an. Ein unheilverkündender Durst begann ihn zu peinigen, der sich mit keiner Flüssigkeit stillen ließ.
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Traumstaub machte süchtig. Eine Möglichkeit, den Befallenen zu entwöhnen, gab es nicht, weil die Wirkung des Giftes nie wieder nachließ. Auf die Betäubung folgte kein Erwachen, das zu einer Entwöhnungskur benutzt werden konnte. Der Körper brauchte ein halbes Leben, um Abwehrstoffe zu entwickeln. Oft mutierte das Virus danach so schnell, daß der Kranke nicht lange bei Bewußtsein blieb. Er versank in neue Träume und starb zuletzt. Vorübergehende Panik bemächtigte sich Sams. Wie lange würde der Zustand der Vernunft noch bei ihm anhalten? Wie lange hatte er schon gedauert? Mußte er jeden Augenblick damit rechnen, daß der Traumstaub wieder die Oberhand gewann und ihn nicht mehr aus seinen Krallen ließ? Seine Unsterblichkeit nutzte ihm nichts, wenn ihn der Staub zu jahrhundertelangem Dahindämmern verdammte. Er mußte sich in Behandlung begeben. Die Gier, die ihn peinigte, nahm noch zu. Sie mischte sich mit einem Hunger, wie ihn der Durchschnittsmensch niemals verspürte. Die Behandlung kostete Geld, allerwenigstem einige tausend Koriumkredite. Über dieses Geld verfügte er nicht. Wenn seiner Unsterblichkeit die Bedeutung innewohnte, die er ihr beimaß, war er steinreich. - 134 -
Doch der Reichtum dieser endlosen Jahre konnte zu einem Nichts zusammenschrumpfen, weil die materiellen Voraussetzungen dafür fehlten. Einige wenige fehlende Stunden drohten ihn um alle Jahrhunderte der Zukunft zu bringen, die ihm gehörten. Er durfte der Angst nicht nachgeben, die ihn beschleichen wollte. Er verdrängte sie aus seinen Gedanken und zwang sich in ruhigem Überlegen. Als erstes mußte er seiner Staubsucht entgegentreten. Er brauchte Geld. Aber er besaß nichts. Außer seiner Unsterblichkeit. Noch wußte er nicht, wie er am besten Gebrauch davon machen konnte. Er entschied sich, sie vorerst geheimzuhalten. Aber wie? Indem er sich verkleidete. Als wer? Natürlich als er selbst. Als Sam Reed, aber nicht als Unsterblicher, sondern als Achtzigjähriger. Um zu Geld zu kommen, mußte er in seine alten Schlupfwinkel zurückkehren und zu seinen ältesten Fertigkeiten Zuflucht nehmen. Wenn er sein
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Geheimnis dort verriet, warf er es weg. Später konnte es ihm noch von Nutzen sein. Vorher aber brauchte er Geld und Wissen. Dieses Wissen ließ sich schneller und sicherer verschaffen. Er mußte in Erfahrung bringen, was sich in den zurückliegenden vier Jahrzehnten ereignet hatte, wann und unter welchen Umständen das Interesse der Öffentlichkeit an ihm erlahmt war. Zudem erhob sich die Frage, wo und wie er die vierzig Jahre seiner Betäubung verbracht hatte. Er wechselte auf ein anderes Gleitband über und ließ sich zur nächsten Bibliothek tragen. Unterwegs dachte er über seine finanzielle Lage nach. Als Rosathe ihm den Traumstaub ins Gesicht blies, war er reich. Den größten Teil seines Vermögens hatte er an vier verschiedenen Orten verborgen. Es stand zu erwarten, daß wenigstens ein Versteck den Nachforschungen entgangen war, die nach seiner Vergiftung mit Sicherheit eingesetzt hatten. Ob er sich die Gelder unter einem falschen Namen aneignen konnte, blieb abzuwarten. Nachdem er sich vierzig Jahre lang nicht darum gekümmert hatte, kam es auf einige Stunden mehr oder weniger auch nicht an. Er hatte nicht einmal die paar Pfennige in der Tasche, um sich in der Bibliothek ein Lesezimmer - 136 -
zu mieten. Er setzte sich an einen der langen Tische, beugte sich vor und verbarg sein Gesicht zwischen den beiden Scheiben, die als Schalldämpfer dienten. Dann schaltete er das Tonbildgerät ein und wartete.
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17. Eine vierzig Jahre alte Nachrichtensendung flimmerte über den Tischschirm. Sie berichtete über die letzten sieben Tage, an die er sich erinnern konnte. Die Sendung lieferte ihm den einzigen Anhaltspunkt in einer Welt, die Sam Reed ansonsten fremd war. Außerhalb der Bibliothek lief er mit jedem Schritt Gefahr, sich zu verraten. Die Kleinigkeiten des Alltags – Mode, Umgangssprache, gesellschaftliche Formen – wandelten sich am schnellsten. Der geringste Schnitzer, den er sich darin leistete, mußte unweigerlich auffallen. Die Vergangenheit, die sich auf dem Filmstreifen entrollte, stand Sam noch so lebendig vor Augen, daß er fast den Traumstaub zu riechen glaubte, der ihm ins Gesicht wehte. Sein quälender Durst meldete sich bei der Erinnerung, und siedendheiß fiel ihm ein, daß er keine Zeit verlieren durfte. Er drückte die Kontrolltaste eine Stufe tiefer und ließ den Film schneller ablaufen. SAM REED NIMMT TRAUMSTAUB! Die dünne Stimme aus der Vergangenheit schrillte geisterhaft an sein Ohr, während die plastischen Bilder rasch vorüberhuschten:
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„Sam Reed, der Förderer des Haleschen Siedlungsprojektes, schied heute durch Traumstaubvergiftung aus seiner Stellung. Seine Bekannten sagten übereinstimmend aus, daß nichts in seinem Verhalten auf diesen Entschluß hingedeutet hätte. Reed wurde nach seiner Selbstvergiftung dabei beobachtet, wie er ziellos durch die Stadt irrte…" Ein Dutzend verläßlicher Zeugen hatte Sam in seinem Dämmerzustand gesehen. Dann verschwand er. Nachforschungen wurden eingeleitet, und ein Betrug von Riesenausmaßen begann sich abzuzeichnen. Vier Tage nach Sams scheinbarem Selbstmord platzte die Bombe. Robin Hale wußte wenig zu seiner Rechtfertigung anzuführen. Was sollte er auch sagen? Die Tatsache, daß das Stammkapital zu dreihundert Prozent in Aktien umgesetzt worden war, redete ihre eigene Sprache. Deutlicher als alle Worte erhellte sie, daß die Gründer der Gesellschaft niemals an den Erfolg ihres Unternehmens geglaubt hatten. Hale tat das einzige, was ihm übrigblieb. Er versuchte, dem Sturm zu trotzen, wie er in seinem langen Leben so vielen Orkanen getrotzt hatte, die über die Menschheit und über die Dschungel hinweggebraust waren. Aber diesmal schlugen die
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Wogen der Erregung zu hoch. Zu viele Leute hatten an die Besiedlung der Venus geglaubt. Von Hales Vorhaben blieb nicht viel übrig. Sam Reeds Name wurde mit Schimpf und Schande überhäuft. Er war nicht nur ein Betrüger, sondern er hatte sich auch der Gerechtigkeit entzogen und sich in die selbstmörderische Vergiftung mit Traumstaub geflüchtet. Niemand schien sich die Frage vorzulegen, warum er diesen Schritt unternommen hatte, der doch jeder Vernunft Hohn sprach. Wenn das Unternehmen von vornherein zum Scheitern verurteilt war, brauchte Sam Reed nur im Verborgenen zu warten, bis er seine dreihundert Prozent kassieren konnte. Eher ging aus seinem Selbstmord schon hervor, daß er fürchtete, die Eroberung der Dschungel könnte wider Erwarten doch gelingen. Aber daran dachte niemand. Die öffentliche Meinung stimmte darin überein, daß er aus Angst vor seiner Entlarvung den kürzesten Ausweg gewählt hatte. Die Nachforschungen deckten seine Vergangenheit auf. Man fand das Geld, das er nicht sorgfältig genug verborgen hatte, um es vor den vervollkommneten Methoden der Kuppeln zu
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schützen. Sämtliche aufgespürt.
vier
Verstecke
wurden
Sam lehnte sich zurück und rieb sich die Augen. Demnach war er gänzlich mittellos. Hinter den längst vergangenen Ereignissen konnte er die berechnenden Schachzüge der Familien erkennen. Als hätte er erst vor einer Stunde in die Augen Zacharias Harkers geblickt, so deutlich sah er das Gesicht des Mannes vor sich, wie es ihn mit der kalten Unbeteiligtheit eines Gottes anlächelte, der dem Treiben vergänglicher Sterblicher zusah. Zacharias Harker hatte von Anfang an gewußt, was er tat. Er hatte ihn als Bauern auf seinem Schachbrett eingesetzt und sich nach den ersten Zügen seiner entledigt. Sam schaltete das Bildgerät wieder ein, um zu erfahren, wie das Spiel weitergegangen war. Zu seiner Überraschung erfuhr er aus den Nachrichten, daß Robin Hale trotz fehlender Unterstützung und ungeachtet der Feindseligkeit, die ihm entgegenschlug, die geplante Niederlassung an Land gegründet hatte. Er verfügte nur über eine Waffe. Das verbriefte Recht auf Grund und Boden, das er besaß, konnte ihm nicht entzogen werden, weil die - 141 -
von Sam Reed unterschlagenen Gelder gefunden worden waren. Stück um Stück mußte Hale sich hartnäckig vorangearbeitet und seine Pläne auf lange Sicht zugeschnitten haben, in der Erkenntnis, daß der Skandal mit den Jahren in Vergessenheit geraten mußte. Eine Zeit würde kommen, in der er den Familien wieder die Stirn bieten und eine neue Generation für sein Vorhaben gewinnen konnte – so, wie er die letzte gewonnen hatte, ehe die Ereignisse ihm das Heft aus der Hand nahmen. Die Eroberung der Dschungel war in Gang gekommen, aber nur wenig wurde darüber mitgeteilt. In der Delawarekuppel ereignete sich ein aufsehenerregender Mord. Dann wurde ein neues Musical auf die Spielpläne gesetzt und bildete für Wochen das Gesprächsthema in allen Kuppeln. Monat um Monat verging danach, ohne daß die Nachrichten der Niederlassung mehr als eine gelegentliche Meldung widmeten. Natürlich geschah das mit voller Überlegung. Die Harkers wußten, was sie taten. Sam drückte auf die Stopptaste und dachte nach. Er mußte seine Pläne ändern, wenn auch nur geringfügig. Immer noch durfte er keine Zeit versäumen, um zu Geld zu kommen. Mit der Zunge - 142 -
fuhr er über seine trockenen Lippen. Sein verstecktes Vermögen war dahin. Und was blieb übrig? Nur seine Erfahrungen, sein unschätzbares Geheimnis, das er noch nicht verwerten durfte, und wahrscheinlich auch der Besitztitel, der vor vierzig Jahren auf seinen Namen eingetragen worden war. Nach den gültigen Bestimmungen durfte er nicht angetastet werden. Aber damit konnte er sich später befassen. Jetzt mußte er sich Geld verschaffen. Sams Züge verhärteten sich. Er stand auf und verließ die Bibliothek auf der Suche nach einer Waffe und einem Opfer. Zwei- oder dreitausend Kredite konnte er nicht rauben, ohne daß er Gefahr lief, gefaßt zu werden. Wenn er aber Glück hatte, gelang ihm in irgendeiner dunklen Gasse ein Überfall, der ihm zwanzig oder dreißig Kredite einbrachte.
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18. Er hatte Glück. Der Mann, den er niederschlug, konnte im übrigen nicht minder von Glück reden, daß der Hieb mit einem kieselgefüllten Strumpf ihm nicht den Schädel zertrümmerte. Zu seiner Überraschung stellte Sam dabei fest, daß er körperlich weit besser in Form war, als er erwartet hatte. Bis Traumstaubopfer starben, bestanden sie gewöhnlich nur noch aus Haut und Knochen. Damit erhob sich die Frage, welches Leben er überhaupt während der zurückliegenden vierzig Jahre geführt hatte. Der Mann, der ihm nach seinem Erwachen begegnet war, fiel Sam wieder ein. Wäre er genug bei Verstand gewesen, um den Kragen des Verfolgers nicht loszulassen, dann hätte er sämtliche Auskünfte aus ihm herausrütteln können. Nun, auch das würde noch kommen. Mit dreiundvierzig Krediten in der Tasche schlug er den Weg zu einem Atelier ein, von dem er wußte, daß die Angestellten dort vor vierzig Jahren gut gearbeitet hatten, ohne lange Fragen zu stellen. Er nahm an, daß es nach wie vor bestand, weil in den Kuppeln immer Bedarf für solche Einrichtungen vorhanden war. - 144 -
Unterwegs kam er an mehreren Friseurgeschäften vorüber, in denen sich Männer und Frauen mit Ausdauer schmücken und verschönern ließen. Die Nachfrage nach modischem Tand war offenbar gestiegen. Männer mit gelocktem Haar und gewellten Bärten bevölkerten die Straßen. Sam verzichtete darauf, einen der Salons zu betreten. Auf die Verschwiegenheit ihrer Besitzer konnte er sich nicht verlassen. Er blieb auf dem Gleitband stehen, bis er das gesuchte Atelier erreichte, und war nicht überrascht, daß der Eigentümer immer noch seinem Gewerbe nachging. Sein Puls schlug schneller, als er auf der Schwelle zögerte. Aber auf dem Herweg hatte ihn augenscheinlich niemand erkannt. Vierzig Jahre früher war sein Gesicht ein Begriff in den Kuppeln; aber jetzt – Schlimmstenfalls würde jeder, der ihn genauer betrachtete, entscheiden, daß eine erstaunliche Ähnlichkeit zwischen ihm und Sam Reed bestand. Unbewußte Erfahrungen veranlaßten den menschlichen Verstand immer noch, die einleuchtendste Erklärung vorzuziehen. Auffallende Ähnlichkeiten kamen hin und wieder vor und waren nur natürlich. Daß Sam Reed auf einem Gleitband stand und den
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Eindruck eines Vierzigjährigen erweckte, sprach dagegen dem gesunden Menschenverstand Hohn. Viele Leute, an denen er vorüberglitt, waren erst zur Welt gekommen, als kaum jemand mehr von dem Skandal um Hales Besiedlungsunternehmen sprach. Die, die sich noch daran erinnerten, waren inzwischen gealtert und hatten längst andere Sorgen. Wenn der Zufall ihm keinen Streich spielte, konnte er sich sicherfühlen. Zuversichtlich schritt Sam durch die Glastür und erteilte dem Angestellten, der zu seiner Bedienung herbeieilte, seine Anweisungen. „Ständig oder nur zeitweilig?" „Zeitweilig", Überlegung.
erwiderte
Sam
nach
kurzer
„Blitzveränderung?" Blitzveränderungen standen bei den Kunden des Ateliers hoch im Kurs. „Genau." Der Verwandlungskünstler ging an die Arbeit. Er war Maskenbildner, Psychologe und Chirurg in einer Person. Sams kahlen Kopf rührte er nicht an. Dafür färbte und bleichte er Wimpern und Brauen, bis sie eine Pfeffer- und Salz-Tönung annahmen. Mit dem Bart zusammen erweckten sie einen schmutzigweißen Eindruck. - 146 -
Anschließend verlieh er Sams Nase und Ohren ein Aussehen, als wäre das Alter hart mit ihm umgesprungen. Künstliche Falten wurden mit Ersatzgewebe aufgesprüht. Als der Maskenbildner fertig war, verdeckte der Bart die Mund- und Kinnpartie. Die Züge, die darüber sichtbar wurden, erzählten von acht Jahrzehnten rauhen Lebens. „Wenn Sie sich schnell ein anderes Aussehen zulegen wollen, nehmen Sie den Bart ab und verändern Sie Ihre Miene", erklärte der Verwandlungskünstler. „Das Ersatzgewebe läßt sich nur schwer entfernen, aber durch den entsprechenden Gesichtsausdruck können Sie die Falten ausgleichen. Bitte versuchen Sie sich darin." Er rollte Sams Stuhl vor den Spiegel und übte mit ihm, bis die Veränderung zur Zufriedenheit beider Männer gelang. „Schön", bemerkte Sam zuletzt. „Jetzt brauche ich noch ein Kostüm." Er beschränkte sich auf Hut, Schuhe und Mantel. Einfachheit und Schnelligkeit gaben den Ausschlag bei der Wahl, die er traf. Eine kurze Drehung genügte, um den Hut in eine andere Form zu drücken. Der Mantel war von dunkler Farbe, aber aus so dünnem Gewebe, daß er sich zusammenknüllen und in die Tasche stopfen ließ. Er - 147 -
war mit Gewichten beschwert, damit er beim Tragen nach unten hing und nicht verriet, daß der Körper darunter keinem Greis gehörte. Gangart und Haltung mußte Sam üben. Die Schuhe wiesen wie der Hut eine unbestimmbare Farbe auf. Ihre breiten Schnallen konnten aufgezogen werden und gaben blaue Schnabelspitzen frei. Sam verließ das Atelier durch einen Hinterausgang. Steif und mit krummem Rücken stakte er zu der Bibliothek zurück. Für einen Achtzigjährigen wirkte er verhältnismäßig rüstig, aber immerhin alt genug. Das Bild, das er abgab, würde langen. Als nächstes gedachte er seine Kenntnisse über die Unterwelt der Kuppeln aufzufrischen.
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19. Verbrecher wiesen in gewisser Hinsicht einen ländlichen Einschlag auf. Sie grasten eine Weide ab, wanderten zur nächsten weiter und ließen die kahle Grasnarbe hinter sich zurück. Aus den Nachrichten entnahm Sam, daß die Gauner inzwischen andere Gegenden bevorzugten. Die begangenen Untaten dagegen hatten sich kaum gewandelt. Tugenden kamen eher außer Mode als Laster. Sam erstand eine Flasche wasserlöslicher roter Farbe und eine wirksame Rauchbombe. Die Gebrauchsanweisung unterrichtete den Käufer über die Verwendung der Bombe in hydroponischen Gärten zur Abtötung von Schädlingen. Sam verzichtete auf die Lektüre. Er bediente sich dieser Bomben nicht zum erstenmal. Um seinen Köder auszulegen, brauchte er zwei benachbarte Gassen, die auf ein selten benutztes Gleitband mündeten. In einem der Seitenwege, die er wählte, lag ein verlassenes Kellerloch. Neben dem Eingang verbarg er mehrere faustgroße Metallbrocken und kratzte im Keller ein Versteck für die Rauchbombe aus. Dann ging er an die Überwindung der nächsten Stufe.
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Er hütete sich, daran zu denken, aus wie vielen Stufen die Treppe bestand, die zum Erfolg führte. Unweigerlich fiel ihm dabei ein, daß er sich jetzt Zeit lassen konnte, soviel er wollte. Der Gedanke versetzte ihn in einen Rauschzustand, der nicht dazu angetan war, ihn bei seinen nüchternen Plänen zu unterstützen. Dann hielt er sich vor Augen, daß er nach wie vor süchtig war und Geld brauchte, um sich einer Entwöhnungskur zu unterziehen. Er strich durch die berüchtigten Stadtviertel und trank billigen, gepanschten Schnaps. Keinen Augenblick vergaß er, daß er ein alter Mann war. Er lernte, seine Lungen niemals mit Luft zu füllen, ehe er sprach. Greise waren kurzatmig und redeten mit brüchiger Stimme. Er bewegte sich tastend und schwerfällig und machte keinen unbedachten Schritt. Sam keuchte und humpelte nicht. Aber von Zeit zu Zeit versagte scheinbar sein Atem, und jedesmal zauderte er, ehe er einen Fuß vor den anderen setzte. Der alte Mann, der ins „Venusparadies" tappte und sich mit Fusel vollaufen ließ, erregte keinen Argwohn. Das „Venusparadies" war eine farbenprächtige Spelunke. Strandgut aus den wohlhabenden Sippen mischte sich mit dem Gesindel der Vergnügungsviertel. Hier und dort funkelte ein vergoldeter - 150 -
Gürtel, leuchtete die blutrote Scharlachfarbe einer Federkappe, schimmerte ein flatternder Regenbogenüberwurf. Hauptsächlich aber blühten Glücksspiele und üblere Laster im „Venusparadies". In den oberen Etagen setzten Männer ihr Geld beim Strahlroulette, einer Weiterentwicklung, die Geigerzähler und eine radioaktive Kugel verwendete. Oder sie verspielten eingebildete Milchstraßenreiche, wenn die Trickkarten sie beim Empire im Stich ließen. Würfel und Karten bildeten immer noch das Handwerkszeug der meisten Spieler. Die Gesichter kannte Sam nicht, aber die Typen waren ihm vertraut. Einen Teil der Gäste kümmerte der Platz nicht, auf dem sie saßen; andere behielten ohne Unterlaß die Tür im Auge. Sam teilte seine Aufmerksamkeit zwischen ihnen und einem Tisch mit völlig betrunkenen Spielern. Er kiebitzte eine Weile und mischte sich schließlich unter die Runde. Als die Karten neu ausgeteilt wurden, stellte er zu seiner Überraschung fest, daß er ein Tarockblatt in der Hand hielt. Auf den Karten waren die Zeichen alter Geheimlehren abgebildet. Die Kartenspiele aus den vergangenen Tagen der Erde hatten sich schon früher einer steigenden Beliebtheit erfreut.
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Inzwischen war den ältesten Glücksspielen offenbar eine Wiedergeburt beschieden gewesen. Der Rausch der Spieler hatte einen Grad erreicht, der Sam in den Stand setzte, zu gewinnen, ohne daß seine Glückssträhne auffiel. Es erwies sich ohnehin als schwierig für ihn, den Überblick zu behalten, weil die ungewohnten Karten ihn verwirrten. Er war gewohnt, mit Kreuzen und Herzen zu spielen, statt mit Pentagrammen und Kelchen. Die Einsätze waren niedrig, aber Sam hatte von vornherein nicht damit gerechnet, hier hohe Gewinne einzustreichen. Er brauchte nur genug Geld, um damit Eindruck bei den zahlreichen Kiebitzen zu machen, und es gelang ihm, den Anschein zu erwecken, als trüge er noch wesentlich mehr bei sich. Aus einem schäbigen Aufzug zog in dieser Umgebung niemand Rückschlüsse auf die Wohlhabenheit eines Mannes. Nach kurzer Zeit ließ er unter greisenhaften, weinerlichen Einwänden geschehen, daß die Spielerrunde sich auflöste. Mit schlurfenden Schritten tappte er ins Freie. Überlegend und leicht schwankend blieb er draußen stehen. Der Schlepper, der ihm folgte, mußte glauben, auf ein willfähriges Opfer gestoßen zu sein. „Na, Opa, wie wär's mit einem neuen Spielchen?" - 152 -
„Muß ich mich einkaufen?" wollte Sam wissen. „Aber woher denn", beteuerte der Schlepper. Sam nickte und ließ sich beschwatzen. Er folgte dem Schlepper und blieb wachsam, bis er sah, daß keine dunkle Gasse das Ziel bildete, sondern eine drittklassige Spielhölle. Vor vierzig Jahren hatte sie der damalige Wirt noch als Gaststätte betrieben. Sam nahm die Einladung an, sich an einer Pokerrunde zu beteiligen. Diesmal hielt er vertraute Karten in der Hand. Als er merkte, daß er gegen nüchterne Männer spielte, verzichtete er auf jeden Versuch einer Betrügerei, mit dem Ergebnis, daß er sein Geld bis auf den letzten Heller verlor. Er ließ sich neue Spielmarken geben, die er am Schluß nicht mehr einlösen konnte. Wie gewöhnlich hatte Sam Reed sein Kapital mit zweihundert Prozent überbewertet. Die Kartenhaie schleiften ihn zu einem gewissen Mallard, einem untersetzten, stiernackigen Kerl mit pomadisiertem Haar und braungetöntem Gesicht, das nach einem süßlichen Hautöl roch. Mallard sah ihn kalt an. „Was soll das heißen? Ich nehme keine Schuldscheine."
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Übergangslos ergriff der Gedanke von Sam Besitz, daß die Kniffe, die er damals schon längst im Schlaf beherrschte, vor vierzig Jahren für diesen Mann noch ein Buch mit sieben Siegeln bildeten. Einen Augenblick lang erfüllte ihn ein fast erschreckendes Gefühl, als blickte er von der Höhe seiner Jahre auf Mallard herunter. Er war unsterblich – Aber verwundbar. Als er sprach, klang seine Stimme nicht mehr lallend, aber immer noch greisenhaft. „Ich möchte allein mit Ihnen reden", sagte er. Mallard betrachtete ihn mit einem verschlagenen Ausdruck, der Sam ein Lächeln abnötigte. Als die Kartenhaie das Zimmer verlassen hatten, fragte er: „Kennen Sie den Namen Sam Reed?" „Reed? Reed? Ach ja, der Bursche, dessentwegen das Siedlungsprojekt aufflog. Klar, der hat sich doch mit Traumstaub ins Jenseits befördert." „Nicht ganz. Ich bin Sam Reed." Einen Augenblick lang starrte Mallard ihn verständnislos an. Offenbar versuchte er krampfhaft, sich die Einzelheiten des weit zurückliegenden Skandals ins Gedächtnis zu rufen. Weil aber die Begebenheiten, die sich damals ereignet hatten, - 154 -
einzig in der Geschichte der Kuppeln dastanden, erinnerte er sich augenscheinlich nach einer Weile an die Vorgänge. „Reed ist tot", knurrte er. „Jeder weiß …" „Ich bin Sam Reed und höchst lebendig. Sicher, ich habe Traumstaub genommen. Aber dafür gibt es Heilmittel. Ich war bis jetzt oben an Land und bin erst heute zurückgekommen." „Was hat das mit mir zu tun?" „Für Sie springt nichts dabei heraus, Mallard. Ich habe mich vom Geschäft zurückgezogen. Meinen Namen habe ich überhaupt nur erwähnt, um Ihnen zu beweisen, daß ich meine Schuldscheine einlösen kann." „Gar nichts haben Sie bewiesen", höhnte Mallard. „Aus den Dschungeln ist noch keiner reich zurückgekehrt." „Mein Geld habe ich hier unten verdient und nicht in den Dschungeln", versetzte Sam mit schlauem Blinzeln. „Ich weiß Bescheid. Der Rat hat Ihre sämtlichen Verstecke aufgespürt. Dort werden Sie keinen Heller mehr finden", wehrte Mallard scheinbar verächtlich ab. Sams Stimme schnappte über. - 155 -
„Siebzigtausend Kredite nennen Sie keinen Heller?" kreischte er in greisenhaftem Zorn. Mallard grinste über die Leichtigkeit, mit der er den alten Dummkopf ins Garn gelockt hatte. „Woher soll ich wissen, ob Sie überhaupt Sam Reed sind? Können Sie das beweisen?" „Meine Fingerabdrücke …" „Können gefälscht sein. Allerdings, die Netzhautmuster …" Mallard zögerte. Er wirkte unentschlossen. Dann drehte er sich um und sprach in ein Mikrophon. Die Tür ging auf, und ein Kerl kam mit einer mächtigen Kamera herein. Sam wurde aufgefordert, ins Objektiv zu blicken. Der aufzuckende Blitz blendete ihn. Beide warteten lange und schweigend. Dann schnarrte das Tischmikrophon. Eine blecherne Stimme meldete: „Hallo, Chef. Die Muster stimmen mit den Archivunterlagen überein. Es ist Reed." Mallard drückte auf die Sprechtaste und befahl: „Kommt rein, Jungens!" Die Tür öffnete sich, und vier Männer traten ein. Über die Schulter sagte Mallard:
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„Da habt ihr Sam Reed, Jungens. Er will uns siebzigtausend Kredite schenken. Ihr braucht ihn nur noch zu überreden." Mit unheilverkündender Langsamkeit kamen die vier auf Sam zu.
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20. An den Methoden des dritten Grades hatte sich nicht viel geändert. In den Verbrechervierteln wurden die Opfer nach wie vor mit körperlicher Pein gefügig gemacht. Sam hielt die Schmerzen solange aus, wie ein alter Mann sie eben noch ertragen konnte. Dann brach er zusammen und verriet alles, was Mallard wissen wollte. Eine böse Sekunde lang hatte er gefürchtet, sein Bart könnte abreißen. Aber der Verwandlungskünstler verstand sein Handwerk. Das Ersatzgewebe würde sich erst abschälen, wenn er den Bart mit dem Inhalt einer kleinen Flasche einrieb, die in seiner Tasche steckte und wie ein Schreibstift geformt war. Keuchend gab er auf Mallards Fragen Auskunft. „Mit einem Koriumschlüssel – anders läßt sich das Versteck nicht öffnen." „Wieviel Korium ist dazu nötig?" „Eins komma – eins komma drei vier." „Warum haben Sie die siebzigtausend noch nicht aus dem Versteck geholt?" „Ich bin gerade erst in die Kuppel zurückgekommen. Alle… alle anderen Verstecke hat man gefunden – nur das eine nicht – und ich kann es - 158 -
ohne Koriumschlüssel nicht öffnen. Wie soll ich mir soviel Korium beschaffen? Ich bin völlig abgebrannt. Siebzigtausend Kredite – und kein Geld, um den Schlüssel zu kaufen!" Sams Stimme brach. Mallard kratzte sich am Kinn. „Das wäre eine ganze Menge Korium", überlegte er laut. „Immerhin, an Sicherheit kann es kein anderes Schloß damit aufnehmen." Sam nickte eifrig. Er spielte weiter den alten Mann, der das Lob begierig aufgriff. „Früher war ich eben noch gerissen. Das Schloß springt nur auf, – wenn die genaue Strahlungsdosis – darauf eingestellt wird. Ein Versuch auf gut Glück nutzt gar nichts – gar nichts. Die genaue Dosis – darauf kommt es –" „Eins komma drei vier, was?" unterbrach ihn Mallard. Er wandte sich an einen seiner Leute. „Stell fest, was das kosten würde", befahl er. Sam sank auf einen Stuhl. Der Bart verbarg sein kaltes Lächeln. Mallard und die Mittel, die er anwandte, gefielen ihm nicht. Der alte Haß, der ihn vierzig Jahre lang erfüllt hatte, meldete sich wieder – die alte Ungeduld, das unbezähmbare Verlangen, alles zu zerschmettern, was seinen Plänen im Wege stand, wie in diesem Augenblick Mallard. Er - 159 -
krümmte die Finger unter dem Mantel und malte sich aus, was er Mallard antun würde. Dann verdrängte ein anderer Gedanke diese Überlegung. Konnte eine solche Rache einen Unsterblichen überhaupt befriedigen? Ihm standen jetzt andere Mittel und Wege offen. Er konnte zusehen, wie seine Feinde alterten, wie sie langsam dahinsiechten und starben. Er spielte mit dem Gedanken, während er wartete. Er mußte Stein auf Stein setzen und seine Zeit abwarten. Erst später durfte er sich seiner Unsterblichkeit bedienen. Vorläufig tappte er inmitten der Bande zu dem Versteck. In dem Kellerloch wies er Mallard zögernd den Ort, wo er den Koriumschlüssel zu enthüllen hatte. Mit Korium war nicht zu spaßen. Es bestand aus strahlendem Thorium – reinem U 233. Die geringe Menge lag in einem isolierten Behälter von der dreifachen Größe einer Männerfaust. Mallard hatte einen zusammenklappbaren Schutzschirm mitgenommen, der für diesen Zweck genügte. Er richtete ihn an der Stelle auf, die Sam ihm zeigte. Außer Mallard und Sam hielten sich noch drei Männer in dem Keller auf. Im Gegensatz zu Sam - 160 -
waren sie ausnahmslos bewaffnet. Ein vierter hatte draußen Posten bezogen. Sam hatte einen günstigen Augenblick benutzt, um sich die Flüssigkeit ins Gesicht zu reiben, die die Flasche enthielt. Beim leisesten Ruck mußte sich sein Bart lösen. Nur die Atemzüge der Männer unterbrachen die eingetretene Stille. Mallard justierte sorgfältig den Koriumbehälter, der im Aussehen einer altertümlichen Kamera glich und auch einen Verschluß und einen Zeitauslöser aufwies. „Hier?" fragte er und deutete auf die Wand. Sam nickte. Mallard drückte auf den Auslöser und trat hinter den Schutzschirm. Klick – klick! „Das Versteck liegt da drüben, nicht hinter dem Schloß", schnaufte Sam hastig. Er stolperte zur Wand, aber einer der Kerle riß ihn zurück. „Zeig uns die Stelle", knurrte er. „Am Ende liegt noch eine Kanone griffbereit auf dem Zaster." Sam fügte sich. Mallard befingerte den gelockerten Ziegel und stieß einen zufriedenen Pfiff aus.
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„Damit hätten wir wohl…", begann er und zerrte an dem Ziegel. Sam holte tief Atem und sah gerade noch, wie eine dichte Rauchwolke aus dem Versteck quoll. Dann huschte er mit geschlossenen Augen vorwärts. Er hörte lautes Gebrüll und das bösartige Zischen einer Nadelwaffe. Der Strahl verfehlte ihn. Seine Finger schlossen sich um den Koriumbehälter. Mit der freien Hand riß er einen zweiten lockeren Ziegel aus der Wand, schob das Korium in die Höhlung und stieß den Ziegel wieder an seinen Platz. „Hört mit der Knallerei auf!" schrie Mallard. „An die Tür! Pollard, bleib draußen. Halte Reed auf!" Sam hatte den Eingang bereits erreicht. In dem schwarzen Rauch, der über die Schwelle trieb, konnte er die eigene Hand nicht vor Augen sehen. Pollard brüllte irgendeine Frage. Sam duckte sich und tastete nach dem Metallbrocken, den er neben die Tür gelegt hatte. Er war verschwunden. Nein – seine Finger berührten ihn, umklammerten den kalten, harten Klumpen. Er fuhr hoch, als sich die Rauchschwaden zu lichten begannen. Vor ihm tauchte Pollard mit dem Strahler in der Hand auf. „Wo ist Reed?" keuchte Sam.
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Pollards Finger zögerte einen Sekundenbruchteil zu lange auf dem Abzug. Er bemühte sich noch, die verschwommene Gestalt zu erkennen, als Sam ihm den Metallklumpen ins Gesicht schmetterte. Mit einem würgenden Aufschrei brach er zusammen. Sam sprang über ihn weg, rannte fünf Meter und bog um die Ecke. Im Laufen riß er Bart und Mantel ab und stopfte sie in die Tasche. Ein Griff, ein Ruck, und ein Hut von anderer Form und Farbe saß auf seinem Kopf. Er drehte sich um, warf sich aufs Pflaster und blieb liegen, das Gesicht der Richtung zugekehrt, aus der er gekommen war. Zwei hastige Bewegungen öffneten die Schnallen an seinen Schuhen. Die hellen Schnabelspitzen schnellten heraus. Auf die rote Farbe konnte er verzichten. Das Blut Pollards bedeckte noch seine Hand. Er schmierte es über Lippen und Kinn. Dann hob er den Kopf und horchte, bis er eilige Schritte vernahm. Mallard und einer seiner Kumpane hasteten heran. Sie blieben stehen, hielten Ausschau und stürzten auf Sam zu, als sie ihn sahen. Ein dritter Kerl rannte hinter ihnen her. Er hielt seinen Nadelstrahler in der Faust.
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Sam betupfte sein Kinn, blickte verständnislos auf seine feuchten Finger und machte eine schwache Bewegung. „Wa – was. ..", stotterte er. Seine Stimme klang nicht mehr greisenhaft. Der vierte Kerl tauchte in der Gasse auf. „Pollard ist tot", rief er. „Halt's Maul!" zischte Mallard. Er stierte Sam an. „Haben Sie gesehen, wohin der alte Mann gerannt ist?" „In den Durchgang dahinten", stammelte Sam. „Er hat mich umgerissen. Meine – meine Nase blutet ja." Er schluckte und fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht. „Doch, in den Durchgang ist er gelaufen…" Mallard hielt sich nicht länger auf. Er trieb seine Leute weiter und bog in den Weg ein, den Sam ihm gewiesen hatte. Sam blickte sich flüchtig um. Auf dem Gleitband herrschte kaum Verkehr. Nur ein einzelner Mann näherte sich ihm in hilfreicher Absicht. Er stand auf und wischte sich das Blut ab. „Schon gut", rief er abwehrend. „Ich bin nicht verletzt." Er entfernte sich und bog in die Gasse ein, aus der er gekommen war. Besonders eilig hatte er es nicht. - 164 -
Mallard glaubte, einen Greis zu jagen. Er würde ihm eine Weile nachsetzen, ehe er aufgab und in den Keller zurückkehrte. Rauch quoll immer noch aus dem Kellerloch. Sam stolperte über Pollards Leiche und fand dadurch die Tür. Er tastete sich an der Wand entlang und brach den lockeren Ziegel heraus. Den Koriumbehälter nahm er an sich und schob den Ziegel wieder an seinen Platz. Mit dem schweren Behälter verließ er den Keller. Eine halbe Minute später stand er auf einem schnellaufenden Gleitband und ließ Mallard und Konsorten hinter sich zurück.
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21. Korium war heiße Ware. Der schwarze Markt bot die einzige Absatzmöglichkeit. Aber Mallard würde seine Spitzel auf alle Hehler ansetzen und dafür sorgen, daß ihm jeder Koriumverkauf sofort gemeldet wurde. Keiner der Zwischenhändler, mit denen Sam zusammengearbeitet hatte, spielte mehr eine Rolle. Auf die Verschwiegenheit von Leuten, die er nicht kannte, konnte er nicht zählen. Die unsterblichen Familien, an ihrer Spitze die Harkers, saßen als einzige nach vierzig Jahren noch in ihren Machtstellungen. Sam leckte sich über die Lippen und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, als er daran dachte. Sein brennender Durst plagte ihn wieder. An wen sollte er sich wenden? Drei Stunden lang fuhr er auf den Gleitbändern kreuz und quer durch die Stadt, von hilfloser Wut darüber erfüllt, daß er an dieser lächerlichen Schwierigkeit zu scheitern drohte. Er hatte Mallard um mehrere tausend Kredite betrogen. Das Korium trug er jetzt bei sich. Aber seine sämtlichen Beziehungen hatte er verloren. - 166 -
Hunger und Durst wuchsen. Sein letztes Geld war am Spieltisch draufgegangen. Er hätte toben können, weil er auf keine Lösung verfiel. Alle Unsterblichkeit nutzte ihm nichts. Der Körper verlangte gebieterisch sein Recht. Dabei harrten soviel Möglichkeiten seiner. Eine endlose Straße erstreckte sich vor ihm; aber sie blieb ihm verschlossen, solange ihn die Staubsucht peinigte. Zuletzt erinnerte er sich an den Mann, der ihm seine Schliche vor Jahrzehnten beigebracht hatte. Daß der Presser immer noch in seiner schmutzigen Wohnung am Rande der Kuppel lebte, erstaunte Sam nicht. Ihn überraschte vielmehr, daß der Presser überhaupt noch am Leben war. Unbewußt hatte er so wenig damit gerechnet, daß er seine Verkleidung nicht wieder angelegt hatte. Das Bett ächzte unter dem Gewicht der aufgeschwemmten Fleischmassen des Pressers. In seinen geschwollenen Gliedern hatte sich das Wasser gesammelt. Sein gedunsenes Gesicht war bläulich verfärbt. Er schnüffelte mühsam. Mit seinen glitzernden Äuglein betrachtete er Sam.
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„Na, schön", krächzte er dann. „Komm rein, Kleiner." Das Zimmer starrte vor Schmutz. In seinem Bett schnaufte und zwinkerte der Presser und versuchte, sich aufzurichten. Er gab schließlich das aussichtslose Bemühen auf und ließ sich zurücksinken. Dabei starrte er Sam an. „Gib mir etwas zu trinken", keuchte er. Sam entdeckte auf dem Tisch eine Flasche und schraubte den Verschluß ab. Der Presser trank gierig. In seine Hängebacken trat wieder Farbe. „Der alten Schlampe muß ich alles dreimal predigen, bis sie's tut", murmelte er. „Was willst du?" Sams Blick haftete in sprachloser Verblüffung auf ihm. Der Presser schien gegen den Tod fast so gefeit zu sein wie die Unsterblichen. Das scheußliche Bild, das er bot, verriet aber, welchen Tribut er dafür gezahlt hatte. Inzwischen mußte er fast hundert Jahre alt sein, wie Sam sich staunend ausrechnete. Er trat ans Bett und nahm dem Presser die Flasche aus der Hand. „Laß das. Gib das Zeug wieder her. Ich brauche…" - 168 -
„Erst beantworten Sie mir ein paar Fragen." „Gib die Flasche her." „Wenn Sie mir gesagt haben, was ich wissen muß, bekommen Sie sie zurück." Der Presser wühlte unter seinen schmutzigen Decken herum. Als seine Hand wieder zum Vorschein kam, lag ein Nadelstrahler darin, der in seiner Faust fast verschwand. Die dünne Mündung zielte auf Sam. „Her mit der Flasche", sagte der Presser leise. Sam zuckte die Achseln und fügte sich. Daß der Presser seine Tatkraft noch nicht verloren hatte, beruhigte ihn. Am Ende lohnte sich sein Besuch doch. „Wissen Sie, wann ich zum letztenmal hier war?" fragte er. Der Presser verzog die feisten Lippen. „Vor einer Ewigkeit, Kleiner. Muß mindestens dreißig oder vierzig Jahre her sein, was?" „Aber Sie erinnern sich noch an mich. Ich habe mich nicht verändert. Ich bin nicht gealtert. Und Sie waren nicht im geringsten überrascht. Presser, Sie müssen Bescheid wissen. Wo habe ich diese vierzig Jahre verbracht?"
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Die unförmige Gestalt bebte vor lautlosem Gelächter. Das Bett knarrte. „Willst du mir weismachen, du wärst Wirklichkeit?" kicherte der Presser. „Glaubst du, ich wüßte nicht, daß ich bloß träume?" Er klopfte auf eine buntschillernde Kugel von der Größe einer Männerfaust, die neben ihm stand. „Das nimmt die Schmerzen, Kleiner. Du weißt nicht, wie dir geschieht, wenn du Teufelspfeffer schluckst." Sam bückte sich und sah das gelbe Pulver in der Kugel. „Ach so", sagte er. Der Presser musterte ihn aus seinen verschlagenen Äuglein, die zwischen breiten Fettwülsten lagen. Langsam klärte sich sein Blick. „Ich träume wohl doch nicht", murmelte er. „Du hast recht. Jetzt bin ich wirklich platt." Sam betrachtete die gelbe Substanz. Teufelspfeffer schwächte das Unterscheidungsvermögen zwischen Einbildung und Phantasie. Der Süchtige glaubte die Trugbilder greifbar vor sich zu sehen, die seine Einbildungskraft ihm vorgaukelte. Sams Hoffnung sank. Von dem Presser würde er wohl kaum erfahren, wo er die Jahre zugebracht hatte, die als Lücke in seiner Erinnerung klafften. - 170 -
„Wie hast du das geschafft?" krächzte der Presser. „Du müßtest längst tot sein." „Ich weiß nur, daß mir vor vierzig Jahren Traumstaub ins Gesicht geblasen wurde. Seitdem bin ich nicht gealtert." „Traumstaub erhält niemanden jung." ,.Was sonst? Welcher Behandlung habe ich meinen Zustand zu verdanken?" Wieder erzitterte das Bett unter dem Kichern des Pressers. „Manche Leute suchen sich die richtigen Eltern aus und leben tausend Jahre lang", bemerkte er, als er sich wieder beruhigt hatte. „Was?" Sam starrte ihn an. Bis jetzt hatte er noch keine Zeit gefunden, um in Ruhe die Schlußfolgerungen zu überdenken, die sich aus den Ereignissen ergaben. Das Alter hatte ihn verschont. Demnach war er unsterblich. Die Frage nach den Ursachen hatte er sich bisher nicht gestellt. „Warst du von Jugend auf kahlköpfig?" wollte der Presser wissen. Er wartete Sams verständnisloses Nicken ab und fuhr dann fort: „Eine Kinderkrankheit könnte dir natürlich die Haare geraubt haben. Aber als du zum erstenmal bei mir auftauchtest, waren noch hier und da kleine Narben auf deiner Stirn zu - 171 -
erkennen. Inzwischen sind sie verschwunden. Vor langer Zeit habe ich ein paar Gerüchte gehört, aber bis jetzt nicht mit dir in Verbindung gebracht. Eine Technikerin wurde damals zu einem kleinen Kind geholt und verdiente sich mit ihrer Arbeit einen Glückseligkeitsumhang." „Worin bestand diese Arbeit?" preßte Sam hervor. „In einer Drüsenoperation. Sagt dir das etwas?" „Und ob", knirschte Sam. Er konnte kaum sprechen. In seinen Schläfen hämmerte das Blut. Mit zwei Schritten erreichte er einen Plastikstuhl, packte ihn und zerbrach ihn über dem Knie. Er zerschnitt sich die Hände an dem splitternden Kunststoff, aber das Krachen des Stuhles dämpfte seine blinde Wut, die ihn zu ersticken drohte. Während er die Trümmer zu Boden warf und den Presser anblickte, unterdrückte er mit einer gewaltsamen Anstrengung seinen Zorn. „Das bedeutet, daß ich als Unsterblicher geboren bin", sagte er. „Ich wäre aufgewachsen wie die Familien, wenn mir nicht jemand einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Wer hat die Ärztin gedungen?" Der Presser hob die Schultern.
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„Das habe ich niemals erfahren." Der Presser wälzte sich auf die andere Seite. „Gib mir noch einen Schluck zu trinken." „Die Flasche steht neben Ihnen", erwiderte Sam. „Lassen wir meine Unsterblichkeit zunächst beiseite. Um alles, was damit zusammenhängt, kümmere ich mich selber. Ich bin aus einem anderen Grund hergekommen. Haben Sie noch Ihre Beziehungen?" „Die sind mir nicht verlorengegangen", versetzte der Presser, während er nach der Flasche griff. Sam wies den Behälter vor, den er Mallards Leuten abgenommen hatte. „Das ist reines Korium. Ich brauche zweitausend Kredite. Behalten Sie, was Sie darüber hinaus erzielen; aber achten Sie darauf, daß der Verkauf sich nicht zurückverfolgen läßt." „Geraubt?" fragte der Presser. „Nenn mir zur Sicherheit den Namen, damit ich Bescheid weiß." „Mallard." Der Presser kicherte. „Die Sache geht klar. Ich erledige den Verkauf für dich. Schieb mir den Bildsprecher rüber." „Ich bin ziemlich in Eile." „Dann komm in einer Stunde wieder."
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„Gut. Noch eins. Sie sind der einzige, der mich so gesehen hat." Sam holte den zerzausten Bart aus der Tasche und zeigte ihn dem Presser. „Ich verstehe. Verlaß dich auf mich. Bis nachher." Sam ging hinaus.
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22. In der Klinik würde er nicht umhin können, einen Namen anzugeben. Bestand die Möglichkeit, daß man ihn erkannte? Wenn seine Netzhautmuster aufbewahrt wurden, mußten auch andere Angaben über ihn vorhanden sein. Wem sein Gesicht auf der Straße bekannt vorkam, der würde die Ähnlichkeit als zufällig abtun. In der Klinik dagegen würde man sich eingehender mit ihm beschäftigen. Die Erwägung, seine Maske wieder anzulegen, schied daher aus. Übergangslos fiel Sam ein, daß ein Mann ihm ähnlich sehen und doch erst das Alter erreicht haben konnte, das seinem Aussehen entsprach – nämlich sein eigener Sohn. Er besaß keine Nachkommen, aber niemand war imstande, das Gegenteil mit Sicherheit zu verneinen. Dieser Ausweg versetzte ihn in die Lage, sich auf eine geringfügige Verkleidung zu beschränken, ohne sein wertvolles Geheimnis preiszugeben. Wie sollte er sich nennen? Aus dem vielfältigen Lesestoff jener Jahre, die immer noch kaum eine Stunde zurückzuliegen schienen, erinnerte er sich an
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die Gestalt des Propheten Samuel, der seinem erstgeborenen Sohn den Namen Joel gegeben hatte. Ein Name war so gut wie der andere. Von diesem Augenblick an hieß er Joel Reed. Eine halbe Stunde später stand er vor der Empfangsloge der Klinik, klammerte sich an der Kante fest und stierte den Pförtner an, während er vergeblich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Alles, was er herausbrachte, war: „Wie? Was sagen Sie da?" Der Angestellte geduldig:
in
der
Loge
wiederholte
„Wir haben Sie heute morgen als geheilt entlassen." Sam öffnete den Mund und schloß ihn wieder, ohne daß ein Ton über seine Lippen drang. Der Angestellte schaute ihn nachdenklich an. „Gedächtnisschwund?" vermutete er. „Das kommt allerdings nur selten vor. Möchten Sie vielleicht einen der Ärzte sprechen?" Sam nickte wortlos. „Vor sechs Wochen wurden Sie zur Entziehungskur hier eingeliefert", setzte ihm der Chefarzt in seinem hell gehaltenen Bürozimmer auseinander. „Der - 176 -
Mann, der Sie herbrachte, gab seinen Namen mit Evans an. Er hinterließ keine ständige Anschrift, sondern beschränkte sich auf die Erwähnung, er wäre auf der Durchreise in einem der hiesigen Hotels abgestiegen. Die Rechnung wurde bereits vor Ihrer Ankunft auf dem Überweisungswege beglichen. Wir erheben für jede Kur einen feststehenden Kostensatz." Der Arzt blickte auf die Karteikarte, die vor ihm lag. „Sie trafen in guter körperlicher Verfassung ein. Offenbar war für Sie gesorgt worden, während Sie unter dem Einfluß des Traumstaubs standen. Heute morgen wurden Sie entlassen. Ein Mann, der sich gleichfalls Evans nannte, aber nicht mit Ihrem ersten Begleiter identisch war, holte Sie ab. Mehr kann ich Ihnen leider auch nicht sagen." „Aber weshalb habe ich alles vergessen?" Sam rieb sich die Stirn. „Was hat das zu bedeuten?" „Unter der Hand wird traurigerweise ein schwunghafter Handel mit Präparaten betrieben, die Gedächtnisschwund verursachen", versetzte der Arzt. „Sie verließen die Klinik gut gekleidet und mit hundert Krediten in der Tasche. Sind Sie damit auch erwacht?" „Nein, im Gegenteil. Ich …" - 177 -
„Dann hat man Sie wahrscheinlich beraubt." „Ja, ich – natürlich, anders kann es sich nicht abgespielt haben." Sam stützte den Kopf in die Hand und dachte daran, daß man ihn auf vielerlei Weise betäubt haben konnte. In irgendeiner Gasse brauchte ihm nur jemand Giftstaub ins Gesicht geschleudert oder ihn hinterrücks niedergeschlagen zu haben. Straßenräuber machten sich zwar selten die Mühe, ihre Opfer in die eigenen Lumpen zu hüllen, nachdem sie ihm die Kleider ausgezogen hatten, aber sonst nahm sich die Erklärung glaubwürdig aus. Wenn man von dem Mann absah, der bei seinem Erwachen nicht weit von ihm gewartet hatte. Geistesabwesend stand er auf. „Wenn ich vielleicht die Hoteladresse haben könnte, die dieser Evans Ihnen hinterlassen hat…" Sam wußte von vornherein, daß die Anschrift ihn nicht weiterbringen würde, während er auf den Zettel blickte und das Gleitband ihn von der Klinik wegtrug. Derjenige, der für die unerklärlichen Vorgänge verantwortlich war, die ihn hierhergeführt hatten, würde sämtliche Spuren verwischt haben. Vor vierzig Jahren war sein Bewußtsein im Nebel des Traumstaubs versunken. Hatten Zacharias Harker oder Kedre Walton sich danach um sein - 178 -
Wohlergehen gekümmert? Irgend jemand hatte dafür gesorgt, daß er schließlich geheilt und entlassen wurde – und entblößt und ausgeraubt, so daß er bei seinem Erwachen kaum mehr besaß als zu der Stunde, da er das Licht der Welt erblickt hatte. Im Grunde sogar noch weniger, denn damals verfügte er über sein Geburtsrecht. Wenigstens darum hatte man ihn nicht geprellt. Mit einem Anflug plötzlichen Stolzes dachte Sam, daß der Joel Reed, der eines Tages vielleicht tatsächlich zur Welt kam, seinen Vater um Kopfesgröße überragen und an schlanker, stattlicher Gestalt Zacharias Harker nicht nachstehen würde. Schon jetzt eilte sein Geist den Gegebenheiten um Jahrzehnte voraus, stellte Überlegungen an und schmiedete Pläne. Wenn er dabei an den Presser dachte, sah er ihn unter einem zeitlichen Blickwinkel, der ihn fast erschreckte. Mit solchen oder ähnlichen Gefühlen hätte er auch eine Katze oder einen Hund betrachtet. Die einmal gewonnene Erkenntnis, daß die Lebensspanne des normalen Menschen zu kurz war, ließ sich nicht wieder auslöschen. Jetzt nahm es ihn nicht mehr wunder, daß die Familien sich eng zusammengeschlossen hatten. Echte. Freundschaft konnte man ebenso wie Liebe, - 179 -
die kein Mitleid trübte, nur Ebenbürtigen entgegenbringen. Von altersher klaffte eine tiefe Kluft zwischen Göttern und Menschen. Ihm selbst halfen solche Erwägungen wenig. Er führte ein geduldetes Leben. Jemand hatte Nachsicht für ihn an den Tag gelegt. Wer? Hätte er nur den Beobachter in der Gasse festgehalten, bis seine Besinnung gänzlich zurückgekehrt war! Jemand hatte ihn absichtlich aus dem Vergessen erlöst und ihn mittellos und in Lumpen in Freiheit gesetzt. Weshalb? Um zu verfolgen, was er, allein auf sich selbst gestellt, erreichte? Hoffnungslos ließ er seinen Blick über die gleichgültige Menge schweifen, die rund um ihn die Gleitbänder bevölkerte. Verbarg sich hinter einem dieser Gesichter ein tiefes Interesse an seinem Verhalten? Oder war sein unbekannter Wächter müde geworden? Hatte er ihn wieder sich selbst überlassen, damit er seinen eigenen Weg beschritt? Mit der Zeit würde er es merken. Vielleicht würde er es auch niemals erfahren. Ein erfreuliches Ergebnis der vergangenen Stunden bildeten zumindest die zweitausend Kredite, die in seiner Tasche steckten. Er hatte die nächste Hürde genommen, ohne ihrer recht gewahr zu werden. Jetzt hatte er noch einige Rechnungen zu - 180 -
begleichen und die eine oder andere Einzelheit zu regeln. Dann wartete seine Unsterblichkeit auf ihn. Sein Verstand weigerte sich, daran zu denken. Er scheute vor den unüberschaubaren Schwierigkeiten, vor den kaum erfaßbaren Möglichkeiten zurück, die sein neues, langes Leben barg. Statt dessen konzentrierte er sich auf die beiden Männer, die ihn in die Klinik gebracht und wieder hinausgeleitet hatten. Der Presser konnte Nachforschungen nach ihnen anstellen. Auch bei der Aufspürung Rosathes würde er von Nutzen sein. Andere Aufgaben, die sich stellten, mußte er selbst erledigen. Er verspürte Durst und lachte auf. Dieser Durst hatte nichts mit der Sucht nach Traumstaub gemein. Seine Einbildung hatte ihm einen Streich gespielt. Wäre er nicht seinen unbegründeten Befürchtungen erlegen, dann hätte der erste Schluck Wasser seinen Durst gestillt. Beim nächsten öffentlichen Waschraum trat er von dem Gleitband herunter, ging hinein und schlürfte kühles, erfrischendes Wasser, bis er nichts mehr trinken konnte. Er blickte zu den schimmernden Gleitbändern hoch, die sich aufwärts wanden, zu den ragenden, lichterflimmernden Gebäuden, und etwas in seinem Innern weitete und dehnte sich und wuchs, bis es - 181 -
schien, als müßte dieses ungekannte, machtvolle Empfinden die Kuppel sprengen. Er starrte zu dem Imperviumrund hoch, und vor seinen Augen taten sich die flachen Meere auf; die Wolkendecke zerriß und enthüllte ihm die sternenfunkelnde Leere, die er noch nie erblickt hatte. Es gab soviel zu erreichen. Und nichts trieb ihn zur Eile. Er hatte Zeit. Alle Zeit der Welt gehörte ihm.
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23. Sam wandte sich von dem Bild ab, das die Stadt bot, und sah sich zwei Uniformierten gegenüber, die sich in seinem Rücken genähert hatten. Ihre Uniformen waren über vierzig Jahre hinweg die gleichen geblieben. Die beiden Männer gehörten der geheimen Regierungspolizei an. Noch ehe das erste Wort gefallen war, wußte Sam, daß es keinen Sinn hatte, sich mit ihnen auf eine Auseinandersetzung einzulassen. In gewisser Hinsicht empfand er eher Freude als Besorgnis, als der ältere der beiden Beamten seine Marke zückte und befahl: „Kommen Sie mit." Endlich hatte jemand einen greifbaren Schritt unternommen. Vielleicht würde er nun die Antworten auf einige der Fragen erfahren, die ihn erfüllten. Auf einem schnellaufenden Gleitband brachten ihn die Beamten zur Kuppelmitte. Neugierige Blicke wurden den dreien zuteil, während die Stadt an ihnen vorüberwirbelte. Der Luftzug wehte Sam das rote Haar seiner Perücke ins Gesicht. Er zweifelte keinen Augenblick daran, welchem Ziel sie zustrebten.
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Die Unsterblichen jeder Kuppel bewohnten in der Stadtmitte eine Gruppe hoher, buntfarbiger Türme, umschlossen von mauerbewehrten Gärten. Die Beamten führten Sam ohne Umwege zum Wohnsitz der Harkers. Diese Entwicklung traf Sam nicht unvorbereitet. Zacharias Harker würde kaum vor vierzig Jahren seine Ausschaltung befohlen haben, ohne ihn auch während der nächsten vierzig Jahre überwachen zu lassen. Andererseits schien es unwahrscheinlich, daß Harker ihn überhaupt am Leben gelassen hätte. Sam zuckte die Achseln. Er würde die Wahrheit bald erfahren. Durch eine Hintertür wurde er in den höchsten Turm gebracht und eine durchsichtige Kunststofftreppe hinuntergeführt, unter der ein Strom grauen Wassers zu den Gärten floß. Rote und goldene Fische schwammen vorüber, und blühender Seetang trieb träge in der Strömung. Ein kleiner, verzierter Fahrstuhl wartete am Fuß der Stufen. Die Beamten schoben Sam hinein und schlossen wortlos die Tür. Durch die Glasscheiben sah er, wie ihre teilnahmslosen Gesichter draußen zurückblieben. Dann trug ihn der brummende Lift den Zinnen des Harkerturms entgegen.
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Die Fahrstuhlwände spiegelten sein Bild wider. Sam musterte sich in seiner Maske als Joel Reed und überlegte, ob derjenige, der ihn an seinem Ziel erwartete, ihn bereits als Sam Reed kennen mochte. Seine Ähnlichkeit mit seinem vorgeblichen Vater wirkte täuschend natürlich. Die buschigen roten Brauen hatte er stutzen lassen und sich für eine dazu passende rote Perücke entschieden. Zahnkappen veränderten die Linien seiner Mundpartie. Haftschalen mit hellblauer statt grauer Iris saßen auf seinen Augen. Der Fahrstuhl verlangsamte sein Tempo und blieb stehen. Die Tür glitt auf, und Sam trat in einen langen Wandelgang, den raschelnde grüne Blätter zu beiden Seiten säumten und mit einer gewölbten Decke überzogen. Aus verborgenen Leuchtwänden fiel weiches, künstliches Licht hindurch. Die Ranken wurzelten in hydroponischen Tanks unter dem Fußboden. Zwischen den Blättern schaukelten Blumen und Früchte in dem duftenden, angenehmen Luftzug, der durch die Laube strich. Mißtrauisch durchschritt Sam den stillen Gang und wich dabei unwillkürlich vor den Blättern zurück, die sein Gesicht streiften. Wie alle Bewohner der Venus fürchtete er instinktiv die gefährliche Pflanzenwelt der Dschungel. - 185 -
Vom anderen Ende des Ganges drang das Rauschen und Plätschern eines kleinen Wasserfalls herüber. Sam blieb auf der Schwelle des Raumes stehen, in den das Rankenspalier mündete, und betrachtete sprachlos das Bild, das sich seinen Augen darbot. Auch dieses Gemach bildete eine Laube. Die Rebstöcke waren mit Blüten übersät, die die Luft mit ihrem betäubenden Duft erfüllten. Über den Boden floß Wasser. Ein seichter, kaum einen viertel Meter tiefer Teich reichte von Wand zu Wand. Blumen spiegelten sich in seiner Oberfläche, und Blütenkelche trieben im Wasser. Eine Brücke aus Filigranglas, unwirklich anzusehen, als bestünde sie aus Reifkristallen, überspannte den Teich. Sie nahm zu Sams Füßen ihren Anfang und endete auf einer flachen, kissenbedeckten Terrasse am anderen Ende des Gemachs. Eine Frau lag ausgestreckt inmitten der Kissen. Sie hatte einen Arm bis zum Ellbogen ins Wasser getaucht und bespritzte die Blätterwand der Laube. Ihr herabfallendes Haar verbarg ihr Gesicht und sank wie ein goldgrüner Schleier auf ihre Schultern. Kedre Waltons Körper mit seinen schlanken, anmutigen Gliedern, dem zierlichen Kopf und den - 186 -
trägen Bewegungen war nicht zu verkennen, wenn auch die Haarflut den Blick in ihr Gesicht verwehrte. „Kedre?" fragte er. Die Frau blickte auf. Sam kniff die Augen zusammen. Das war Kedre und doch nicht Kedre. Dasselbe schmale, feingezeichnete, hochmütige Antlitz, die gleichen verschleierten Augen, der lockende Mund – aber nicht dasselbe Geschöpf. „Nein, ich bin Sari Walton", gab die Frau zur Antwort. Sie lächelte boshaft. „Kedre ist meine Großmutter. Erinnerst du dich jetzt?" Bei ihrer Frage tauchte das Bild Sari Waltons wieder vor Sam auf, wie sie sich besitzergreifend an Zacharias Harker lehnte, während dieser mit ihm über die Ermordung Robin Hales verhandelte. Er hatte Sari damals kaum beachtet. Die schwelende Feindschaft zwischen ihr und Kedre fiel ihm wieder ein, die in den Augen der beiden Frauen zutage trat, als ihre Blicke sich begegneten. „Und was bedeutet das?" knurrte er. In Wahrheit zweifelte er nicht an dem Sinn ihrer Frage. Von Joel Reed konnte niemand erwarten, daß er sich an einen Auftritt erinnerte, in dem Sam Reed eine Rolle gespielt hatte. Sari hatte ihn demnach erkannt und wußte auch, daß er gleichfalls unsterblich war.
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„Komm her", befahl Sari und winkte ihn mit ihrem tropfenden weißen Arm heran. Sie zog die Füße an und richtete sich in sitzende Stellung auf. Sam sah die Glasbrücke zweifelnd an. „Sie trägt dein Gewicht. Komm schon." Saris Stimme klang spöttisch. Die Brücke hielt tatsächlich, wenn auch bei jedem Schritt ein leises Klingen durch das Glas lief. Sari forderte ihn mit einer Bewegung auf, sich neben sie zu setzen, und er ließ sich zögernd auf den Kissen nieder. Seine Haltung verriet, daß er sich in dieser ungewohnten Umgebung alles andere als wohl fühlte. „Wie hast du mich gefunden?" fragte er kurz. Sie lachte ihn an und legte den Kopf schief, so daß ihr goldgrünes Haar wie ein Schleier zwischen beide fiel. Weder ihr Blick noch ihr Lachen gefielen ihm. „Kedre läßt dich seit vierzig Jahren suchen", sagte sie. „Eine Erkundigung nach deinen Netzhautmustern hat ihre Leute auf deine Spur gebracht, glaube ich. Aber die Hauptsache ist doch wohl, daß sie dich überhaupt entdeckt haben." „Weshalb ist Kedre nicht hier?" Wieder stieß Sari ihr boshaftes Kichern aus. - 188 -
„Weil sie keine Ahnung hat. Außer mir weiß bis jetzt niemand von deinem Auftauchen." Sam betrachtete sie überlegend. Weder über ihr kapriziöses Benehmen noch über die Bedeutung der Herausforderung, die in ihren Augen stand, war er sich völlig im klaren. Früher hatte er solche Rätsel auf höchst einfache Weise gelöst. Mit einer raschen Bewegung ergriff er Saris Handgelenk und zog sie zu sich herüber. Sie fiel quer über seine Knie, wand sich geschmeidig in seinem Griff und lachte spöttisch zu ihm hoch. Voll aufreizender Sicherheit umschloß sie seine Wange mit ihrer Hand und näherte seinen Mund dem ihren. Er ließ sie gewähren, aber er küßte sie mit rücksichtsloser Wildheit. Dann stieß er sie von seinen Knien und starrte sie ärgerlich an. Sari lachte von neuem. „Kedre ist doch keine Törin", meinte sie und strich dabei mit dem Zeigefinger über ihre Lippen. Sam stand auf und stieß ein Kissen mit einem Fußtritt aus dem Weg. Ohne ein Wort betrat er die gläserne Brücke und machte sich auf den Rückweg. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Sari mit einer schlangenhaften Bewegung auf die Füße glitt. „Komm zurück", forderte sie. - 189 -
Sam drehte sich nicht einmal um. Einen Augenblick später hörte er ein Zischen an seinem Ohr und spürte die sengende Hitze eines Nadelstrahls. Er erstarrte und wagte kein Glied zu rühren, weil er fürchtete, ein zweiter Strahl könnte bereits unterwegs sein. Dann bissen Zischen und Hitze in sein anderes Ohr. Ohne den Kopf zu bewegen, sagte Sam: „Ich komme. Laß die Waffe fallen." Ein leiser Aufprall ertönte von den Kissen her. Saris Gelächter klang kaum lauter. Sam wandte sich um und kehrte zurück. Als er vor ihr stand, mußte er den Kopf in den Nacken legen, um ihr in die Augen zu sehen. Das mißfiel ihm ebenso wie ihre herausfordernde Selbstsicherheit, die seit undenklichen Zeiten der Mann für sich allein beansprucht hatte. Sari wirkte so zerbrechlich wie jene Brücke, so zart und anmutig wie eine gehegte Blume. Doch sie war unsterblich, und ihr und ihresgleichen gehörte die Welt. Ihre Bosheit und ihr Selbstbewußtsein waren durch Generationen erstarkt. Oder täuschte er sich? Er musterte Sari aufmerksam, während ein plötzlicher Einfall Gestalt in ihm anzunehmen begann. Verglichen mit Kedre wirkte dieses schöne, zerbrechliche Geschöpf - 190 -
überraschend unreif. Diese Unreife war es, auf die ihre Bosheit und Launenhaftigkeit sich gründeten. Bis ein Unsterblicher zu charakterlicher Ausgeglichenheit fand, vergingen Jahrhunderte. Er selbst war vermutlich noch weit davon entfernt; aber dafür hatte das unerbittliche Dasein, das er geführt hatte, ihm seinen Stempel aufgedrückt. Bei Sari dagegen, die verwöhnt und verhätschelt wurde, war es kein Wunder, daß die Reife noch ihre mildernden Einflüsse vermissen ließ. Gänzlich würde sie diese Reife niemals erlangen; dazu fehlten ihr die Voraussetzungen. Sie würde sich nie zu einer Frau entwickeln, die man gern haben oder der man trauen konnte. Im Augenblick aber war sie verwundbarer, als sie wußte. Und schon arbeitete Sam an einem seiner ausgeklügelten Pläne, um sich der Schwäche eines Gegners zum eigenen Vorteil zu bedienen. „Setz dich", sagte er. Sari hob beide Hände über ihr goldgrünes Haar, um eine Traube blaßfarbener Früchte von einer Ranke zu pflücken. Die Beeren waren fast durchsichtig, und die blauen Samenkörner traten schattenhaft im Innern der Trauben hervor. Sari lächelte ihn an und glitt geschmeidig auf ihre Knie herunter. - 191 -
„Weshalb hast du mich holen lassen?" fragte Sam. „Warum ist Kedre nicht an deiner Statt hier, wenn sie den Suchbefehl erteilt hat?" Sari steckte eine gläserne Beere in den Mund und spuckte die blauen Körner aus. „Ich habe dir doch schon gesagt, daß Kedre keine Ahnung von deiner Auffindung hat." Unter schweren Wimpern hervor sah sie ihn an. Ihre Augen waren von verwaschenerem Blau als die Kedres. „Der Suchbefehl gilt schon seit vierzig Jahren. Kedre ist diese Woche in die Nevadakuppel gefahren." „Hat man sie benachrichtigt?" Sari schüttelte den Kopf. Ihr schimmerndes Haar flog um ihre Schultern. „Außer mir weiß niemand Bescheid. Ich wollte dich wiedersehen. Zacharias würde toben, wenn er davon erführe. Er hat. .." „Er hat meine Vergiftung befohlen", unterbrach Sam sie ungeduldig. „Hat Kedre ihn dazu veranlaßt?" „Zacharias befahl, dich zu töten", verbesserte Sari lächelnd. „Du solltest sterben. Aber Kedre wehrte sich dagegen. Sie zerstritt sich fast mit Zacharias
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darüber." Sari lächelte stärker; die Erinnerung schien ihr Vergnügen zu bereiten. „Kedre setzte durch, daß du mit Traumstaub vergiftet wurdest", fuhr sie fort. „Niemand verstand ihren Grund. Ob du alt oder jung, lebendig oder tot warst, sie hatte nichts mehr von dir." Sari brach ab und blieb reglos sitzen. Eine endlose Minute lang hielt sie die durchsichtige Frucht, die sie zum Mund führen wollte, in die Luft, ehe sie die Bewegung vollendete. Eine plötzliche Vermutung überkam Sam. Er kniete nieder, legte einen Finger unter ihr Kinn und drehte ihren Kopf zu sich herüber. Eine triumphierende Woge durchflutete ihn, als er in ihre Augen blickte. „Narkostaub!" flüsterte er. „Jetzt will ich doch verdammt sein."
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24. Sari lachte glucksend und rieb ihre Stirn an seiner Schulter. Der fiebrige Glanz ihrer Augen redete Bände von ihrem Rauschzustand. Ihre Sucht erklärte vieles: ihre Unausgeglichenheit, ihre zeitweise Gleichgültigkeit, die Tatsache, daß ihr Sams vergleichsweise jugendliches Aussehen noch nicht aufgefallen war. Eigenartig und bezeichnend zugleich, dachte Sam, daß die beiden Menschen, die sich noch an ihn erinnerten, einer wie der andere unter dem Einfluß von Rauschgift standen. Sari stieß ihn zur Seite. Sie steckte die Beere in den Mund, spuckte die Samenkörner aus und sah ihn mit ihrem unentwegten, boshaften Lächeln an. Daß seine unerklärliche Jugend ihr nicht aufgefallen war, nahm ihn nicht wunder. Sie war den Anblick von Gesichtern gewohnt, die sich über Jahrzehnte hinweg kaum eine Spur wandelten. Narkostaub bewirkte zudem eine bedingungslose, heitere Hinnahme aller äußeren Eindrücke. Trotzdem konnte Saris Rausch jeden Augenblick für kurze Zeit verfliegen. Und Sam hatte noch viele Fragen.
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„Kedre hat das Gift also durch Traumstaub ersetzt", stellte er fest. „Hat sie mich hinterher bewachen lassen?" Die goldgrünen Haare fielen auseinander, als Sari den Kopf schüttelte. „Das lag in ihrer Absicht, aber Zacharias hat ihr wahrscheinlich einen Strich durch die Rechnung gemacht. Zumindest war Kedre dieser Meinung. Als ihre Leute dich suchten, warst du bereits verschwunden und bist bis heute nicht wieder aufgetaucht. Wo hast du gesteckt, Sam? Du könntest mir gefallen. Langsam wird mir klar, warum Kedre dich finden und heilen lassen wollte. Ich könnte…" „Was tust du in Harkers Räumen?" „Ich wohne hier." Sari lachte böse. Mit ihren schlanken Fingern zerquetschte sie die Trauben. Farbloser Saft lief über ihre Hand. „Ich glaube, ich werde Zacharias eines Tages töten", murmelte sie. Das Lächeln, das sie dabei aufsetzte, wirkte fast liebreizend. Sam überlegte, ob Zacharias Harker wissen mochte, welche Gefühle sie ihm entgegenbrachte und daß sie süchtig war. In Gedanken verneinte er die Frage. Jeder Tatbestand für sich genommen bedeutete schon eine Gefahr. Zusammen ergaben sie Dynamit.
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Sam machte sich klar, daß ihm hier ein Werkzeug wie eine reife Frucht in den Schoß gefallen war. Zugleich aber meldeten sich die vertrauten Zweifel. War diese Frucht für ihn vom Baum geschüttelt worden? Wieviel Absicht verbarg sich hinter dem Geschick, das ihm seit seinem Erwachen widerfahren war? Immer noch hatte er den Beobachter aus der Gasse nicht aufgespürt. Und dieser Mann hatte gewußt, was er tat. Er hatte nicht im schlafwandlerischen Zustand des Rauschgiftsüchtigen gehandelt. „Warum hast du mich holen lassen?" forschte er. Sari wusch den klebrigen Saft von ihren Fingern und schien ihn nicht zu hören. Er mußte die Frage wiederholen, ehe sie aufblickte und ihm ihr leeres Lächeln schenkte. „Ich war neugierig. Kedres Bildsprecher habe ich seit langem angezapft, ohne daß sie davon weiß. Als die Meldung einlief, du wärst gefunden worden, dachte ich mir, ich könnte dich vielleicht brauchen, um dich gegen Kedre oder gegen Zacharias zu verwenden. Ich werde mich später damit befassen. Im Augenblick denke ich an die Harkers. Ich hasse diese Familie, Sam. Ich hasse alle Harkers, und ich hasse sogar mich selbst, weil ich
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inzwischen fast schon zu ihnen gehöre. Ich werde dich wohl doch gegen Zacharias benutzen." Sari beugte sich vor und streifte Sams Schulter mit einer Strähne goldgrünen Haares. Ihre hellen Augen unter den schweren Wimpern funkelten. „Du haßt Zacharias doch auch, Sam, nicht wahr? Du solltest ihn hassen. Vergiß nicht, daß er dich töten wollte. Was, glaubst du wohl, würde ihm am meisten wehtun? Kedre müßte erfahren, daß du am Leben bist und jung dazu. Jung?" Sari zog verwundert die schmalen Brauen zusammen. Aber das Thema erforderte Nachdenken, und sie war in keiner Verfassung, um sich mit schwierigen Problemen zu beschäftigen. In ihrem Rauschzustand arbeitete der Verstand auf der untersten Ebene, die keine klaren Gedankengänge erlaubte. Plötzlich warf sie den Kopf in den Nacken und lachte, bis ihr die Tränen über die Wangen rannen und sie sich zuletzt verschluckte. „Wie herrlich!" rief sie. „Jetzt kann ich mich an beiden rächen. Weil du lebst, muß Zacharias warten, bis Kedre deiner müde geworden ist. Und Kedre hat nichts von dir, solange sie nicht weiß, wo du steckst. Kannst du dich nicht verbergen, Sam? An irgendeinem Ort, wo Kedres Leute dich nicht - 197 -
finden? Bitte, Sam, geh und versteck dich für Sari. Du würdest Sari damit so glücklich machen." Sam stand auf. Die Brücke widerhallte unter seinen Schritten, als er sie überquerte, und untermalte Saris Gelächter mit leisen, wohlklingenden Tönen. Während er durch den Laubengang eilte, wehte ihm der aromatische Luftzug ins Gesicht. Der Lift wartete noch dort, wo er ihn verlassen hatte. Niemand ließ sich blicken, als er aus dem Fahrstuhl trat und über die gläserne Treppe die Straße erreichte. Wie betäubt stellte er sich auf das nächste Gleitband und ließ sich ziellos durch die Stadt tragen. Er mußte sich in den Arm kneifen, um sich zu überzeugen, daß er nicht geträumt hatte. Was er erfahren hatte, barg weitreichende Möglichkeiten in sich, vorausgesetzt, es gelang ihm, sich auf die entscheidenden Tatsachen zu besinnen. Die Harkers besaßen in Sari eine Achillesferse, von der sie nichts ahnten. Ihre eigentliche Schwäche lag aber noch tiefer. Narkostaub und charakterliche Unreife erklärten nur teilweise Saris Labilität. Sie mußte sich auf ererbte Mängel gründen, die auch bei den Unsterblichen hin und wieder zutage traten. - 198 -
Auf zwei Wegen konnte er Zacharias Harker jetzt beikommen. Beide mußte er noch überdenken und sich verborgen halten, bis der Gang der Ereignisse ihn von diesem Zwang befreite. Je länger Sam die verschiedensten Verstecke erwog, desto stärker wurde seine Neigung, die Niederlassung aufzusuchen, in der Robin Hale seine Herrschaft ausübte. Hale würde ihn wahrscheinlich niederschießen, wenn er ihm unter die Augen geriet, es sei denn, er gab sich wieder als Joel Reed aus. Außer Sari Walton wußte niemand von seinem Auftauchen. Er mußte rasch handeln, ehe Sari ihn aus einer Laune heraus bloßstellte. Das tat er dann auch.
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25. Die Kolonie hätte genauso gut unter Meeresoberfläche liegen können wie darüber.
der
Auch nach Verlassen der Stadt wölbte sich kein freier Himmel über Sam. Auf die Imperviumkuppel folgte eine Meile Wasser, dann der stählerne Leib der Transportmaschine und schließlich die gewaltigen Schleusen der Kolonie mit ihren UVLampen und Desinfektionsduschen. Als er endlich auf dem Dschungelboden der Venus stand, brach die Sonne durch die Wolkendecke und zauberte bunte Regenbogen auf das schützende Rund einer neuen Kuppel. Die Luft drang frisch und rein in Sam Reeds Lungen und verriet ihm, daß sie künstlich erzeugt worden war. Die Atmosphäre der Venus enthielt wenig Sauerstoff und eine überreichliche Menge an Kohlendioxyd. Sie war atembar, aber der Aufenthalt in ihr bildete keine Erholung. Auf dem Weg in die Kuppel wurde sie gereinigt und mit Zusätzen versehen; ein Verfahren, das sich als ebenso notwendig erwiesen hatte wie der Bau der Kuppel als Bollwerk gegen die üppige Tier- und Pflanzenwelt der venusischen Dschungel.
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Am Ufer stand die alte Feste, in der sich einst Doones Freie Trupps eingenistet hatten. Mit einem Durchmesser von einer Viertelmeile schloß das Imperviumrund sie ein. Häuser in allen Größen, Formen und Farben lagen verstreut an den Wegen. Die Architekten hatten freie Hand, denn Regen und Wind fehlten. Einzig und allein die Schwerkraft zog der Baukunst die Grenzen, wiewohl Paraschwerefelder auch schiefe Türme stützten. Trotzdem waren die Entwürfe einfach gehalten. Kunststoff überzog den gesamten Kuppelboden, vermutlich zum Schutz gegen Keime und Flechten. Die Gärten bestanden aus großen hydroponischen Tanks. Einige Männer arbeiteten gemächlich; die übrigen schienen ihren Mittagsschlaf zu halten. Sam schlug einen der Pfade ein und folgte dem Schild, das zur Verwaltung wies. Seine Umgebung flößte ihm leises Unbehagen ein. Bisher war er das Leben unter einer Kuppel gewohnt, auf der die Wassermassen der venusischen Meere lasteten. Hier fiel Sonnenlicht durch das Impervium, und jenseits ihrer Schranke herrschte die ungezügelte Freiheit der Außenwelt. Sam Reeds Verstand arbeitete unausgesetzt. Er sammelte Eindrücke, wog sie ab und ordnete - 201 -
Tatsachen und Überlegungen für den Augenblick, in dem sein angeborener sechster Sinn eine günstige Gelegenheit erkannte. Sari Walton und die Harkers hatte er vorläufig aus seinen Gedanken verbannt. Die Erwägungen, die er jetzt anstellte, galten der Frage, welchen Empfang Robin Hale dem angeblichen Sohn Sam Reeds bereiten mochte. Daran, daß er in Hales Schuld stand, verschwendete er keinen Gedanken. Er dachte nur an seinen eigenen Vorteil, und von diesem Standpunkt aus erachtete er die Kolonie immer noch als vielversprechend. Ein Mädchen in korallenrotem Kleid beugte sich über einen Gewächstank und blickte auf, als er vorüberkam. Selbst das schwache Sonnenlicht hatte die Gesichter der Kolonisten gebräunt. Die Haut des Mädchens wirkte fast dunkel. Ihr weiches braunes Haar unterstrich diesen Eindruck noch. Der Ausdruck ihrer Augen unterschied sich fast unmerklich von dem der Kuppelbewohner. Rund um sie erhob sich die gleiche Mauer aus Impervium wie unter dem Meer; aber das Sonnenlicht fiel hindurch und gefräßig gegen die Pforten. Ihre Augen verrieten, daß sie sich der Drohung bewußt war. Sam verlangsamte seinen Schritt. „Zur Verwaltung?" fragte er unnötigerweise. - 202 -
„Dort entlang." Ihre Stimme klang freundlich. „Gefällt es Ihnen hier?" Das Mädchen zuckte die Achseln. „Ich bin auf dem Land geboren und war noch nie in einer Kuppel. Es muß herrlich dort sein." „Sie würden keinen Unterschied feststellen", erwiderte Sam mit einem Kopfschütteln. Er lächelte dem Mädchen zu, ehe er weiterging. Wenn sie auch nicht zur Gänze seinem Geschmack entsprach, so war sie doch hübsch. Die Töchter, die sie eines Tages zur Welt brachte, würden vielleicht noch weitere Vorzüge aufweisen. Er konnte warten.
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26. Sam hatte angenommen, in dem Gouverneur der Kolonie einen vielbeschäftigten Mann zu treffen. Das Gegenteil war der Fall. Eine knappe Minute, nachdem er seinen falschen Namen genannt hatte, öffnete sich die Tür mit einem automatischen Klicken, und er betrat Robin Hales Büro. „Joel Reed?" fragte Hale langsam. Sein durchdringender Blick ruhte auf Sam, der seine ganze Dreistigkeit zusammennehmen mußte, um ihm zu begegnen. „Ja", entgegnete er knapp. „Sam Reed war mein Vater." „Nehmen Sie Platz", forderte Hale ihn auf. Durch die gefärbten Haftschalen, die er trug, blickte Sam ihn an. Ihre letzte Begegnung schien kaum einen Tag zurückzuliegen, so wenig hatte Hale sich verändert. Wenn sein Wesen sich gewandelt hatte, dann in kaum merklicher Weise. Er wirkte immer noch hager und ruhig. Die Jahre, die bereits hinter und die Jahrhunderte, die noch vor ihm lagen, hatten seine Geduld genährt. Er konnte jede Niederlage als vorläufig und jeden Sieg als zeitweilig hinnehmen. - 204 -
Auch die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, würde sich wieder verlieren. Seine Stimme und sein Auftreten verrieten nicht mehr die unerschütterliche Begeisterung, an die Sam sich erinnerte. Die Verwirklichung des Zieles, für das er gearbeitet hatte, war in den Ansätzen steckengeblieben. Innerhalb seiner Lebensspanne aber nahmen diese Geschehnisse einen so kleinen Raum ein, daß sie nicht im geringsten ins Gewicht fielen. „Wollen Sie sich als Siedler melden?" forschte Hale. Sam erwachte mit einem Ruck aus seinen Gedanken. „Nein", erwiderte er. „Ich wußte nicht, daß Sam Reed einen Sohn hatte." Hale betrachtete ihn immer noch mit einem ruhigen, forschenden Blick, dem Sam nur mühsam standhielt. Erkannte ein Unsterblicher jeden Gleichgearteten trotz aller Verstellung? Sam hielt die Möglichkeit nicht für ausgeschlossen. Auf ihn selbst traf sie noch nicht zu, denn bislang war er nicht unsterblich in dem Sinne wie Hale oder Harker. Der weitläufige Gesichtswinkel, unter dem sie das Leben meisterten, fehlte ihm.
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„Ich habe selbst erst kürzlich davon erfahren", versetzte er sachlich. „Nach dem Siedlungsskandal änderte meine Mutter meinen Namen." „Ich verstehe", nickte Hale zurückhaltend. „Wissen Sie, was aus meinem Vater geworden ist?" ging Sam aufs Ganze. Wenn Hale jetzt antwortete: ,Er sitzt vor mir. Sie sind Sam Reed', dann war diese Ungewißheit zumindest beseitigt. Fiel Hales Erwiderung anders aus, dann enthob sie ihn der Befürchtung, durchschaut worden zu sein. Der Gouverneur schüttelte den Kopf. „Er vergiftete sich damals mit Traumstaub. Inzwischen dürfte er tot sein. Als die Bombe platzte, schuf er sich eine Anzahl von Gegnern." „Ich weiß. Sie müssen dazugehört haben." Hale schüttelte wiederum mit leisem Lächeln den Kopf. Sam wußte, was dieses Lächeln hieß. Einen vergänglichen Sterblichen haßte man ebenso wenig, wie man ihn liebte. Er konnte einem höchstens zeitweise lästig fallen. Trotzdem gab Sam sich nicht zu erkennen. Götter genossen das Vorrecht, unberechenbar zu handeln. „Sam Reed traf keine Schuld", sagte Hale. „Andere zu betrügen, war bei ihm zur zweiten Natur geworden. Er mußte so handeln. Reed bildete - 206 -
ohnehin nur ein Werkzeug Dritter. Wäre er nicht aufgetaucht, dann hätten diese Dritten jemand anders eingesetzt. Ich habe ihn niemals deswegen gehaßt." Sam schluckte. Aber er hatte dieses Urteil herausgefordert. Rasch kam er auf sein nächstes Anliegen zu sprechen. „Ich möchte Sie um Ihren Rat bitten, Gouverneur. Ich habe erst jetzt erfahren, wer ich wirklich bin, und habe mich über meinen Vater unterrichtet. Er war ein Betrüger, aber seine Verstecke sind gefunden und die Summen, die er unterschlagen hatte, zurückerstattet worden. Stimmt das?" „Stimmt." „Er hat mir, seinen Namen eingeschlossen, nichts hinterlassen. Meine Nachforschungen haben aber ergeben, daß er über einen Kaufbrief verfügte. Dieser Grund und Boden ist nicht enteignet worden. Die Regierung hat ihm vor vierzig Jahren die Besitzrechte bestimmter Landgebiete übertragen. Diese verbrieften Ansprüche sind nach wie vor rechtskräftig. Können Sie mir sagen, ob die Gebiete, um die es sich handelt, einen Wert besitzen?" Hale trommelte mit den Fingern auf seinen Schreibtisch.
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„Weshalb aufgesucht?"
haben
Sie
ausgerechnet
mich
„Mein Vater tat sich mit Ihnen zusammen, als die Kolonisierung ihren Anfang nahm. Ich sagte mir, daß Sie sich am ehesten an die Einzelheiten erinnern würden, Weil Sie unsterblich sind." „Ich wußte natürlich von diesen Ansprüchen", antwortete Hale. „Ich habe versucht, sie an mich zu bringen, aber sie waren auf den Namen Ihres Vaters eingetragen, und die Regierung weigerte sich, sie freizugeben. Verbriefte Rechte dieser Art können nicht zurückgezogen werden. Der Grund liegt in der Tatsache, daß die Kolonien ohnehin von der Zufuhr aus den Kuppeln abhängen. Im Notfall können sämtliche Lieferungen ohne Mühe gestoppt werden. Sie haben die Ansprüche Ihres Vaters also geerbt?" „Besitzen sie einen Wert?" wollte Sam erneut wissen. „Ja. Die Harkers würden Ihnen hohe Summen bieten, damit Sie nicht von diesen Rechten Gebrauch machen." „Die Harkers? Wieso?" „Um zu verhindern, daß ich eine zweite Kolonie aufbaue", entgegnete Hale. Langsam öffnete er die
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Finger seiner geballten Faust, die auf dem Schreibtisch lag. „Ich habe diese Kolonie aus dem Nichts geschaffen. Die anfängliche allgemeine Begeisterung war in ihr Gegenteil umgeschlagen. Mir blieben nur wenige Männer und Frauen, die ebenso an ein Gelingen glaubten wie ich. Die wenigsten davon leben noch. Wir hatten einen schweren Stand." „Heute merkt man nicht mehr viel davon", warf Sam ein. „Man hat unsere Möglichkeiten beschnitten. Anfangs versuchten die Harkers überhaupt zu verhindern, daß ich mein Vorhaben in die Tat umsetzte. Das mißlang ihnen. Nachdem ich mit meinen Leuten einmal an die Arbeit gegangen war, wagten sie nicht, mein Werk fehlschlagen zu lassen. Eines Tages wollen sie gleichfalls die Venus besiedeln, und ein Scheitern meines Unternehmens hätte tiefgreifende Folgen zeitigen müssen. Die Eroberung der Dschungel durfte nicht völlig mißlingen, aber auch keinen Erfolg auf der ganzen Linie erringen. An diese Möglichkeit glaubte man ohnehin nicht. Daher …" „Daher was?"
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„Die Harkers sorgten dafür, daß unsere Kräfte sich verbrauchten. Während des ersten Jahres schufteten wir unausgesetzt. Wir drängten den Dschungel buchstäblich mit unseren Fingernägeln zurück. Wir säuberten ein Stück Land und bauten die Niederlassung. Jeden Schritt mußten wir uns erkämpfen, weil der Dschungel immer wieder versuchte, von neuem Fuß zu fassen. Aber wir drangen vorwärts. Als wir uns anschickten, einen neuen Brückenkopf zu errichten, griffen die Harkers ein. Sie schnitten uns den Nachschub ab. Und sie verhinderten weitere Freiwilligenmeldungen. Unsere Ausrüstung und unsere Energieversorgung schrumpfte zusammen. Das Abkommen, das wir mit der Regierung geschlossen hatten, verpflichtete uns, einen jährlichen Gewinn nachzuweisen. Andernfalls war die Regierung berechtigt, einzugreifen und selbst die Verwaltung zu übernehmen. Meinen Landbesitz konnte man mir nicht abnehmen; aber der unerläßliche Siedlerzustrom ließ sich abschnüren, so daß wir nicht imstande waren, einen Gewinn zu erzielen. Zu diesem Mittel griff man vor nunmehr vierunddreißig Jahren. Seitdem
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obliegt die Verwaltung der Regierung, und an den Zuständen von damals hat sich nichts geändert. Der Nachschub, den wir erhalten, reicht gerade aus, um das Weiterbestehen der Kolonie zu verbürgen. Ein weiteres Vordringen erlaubt man uns nicht. Man fürchtet, wir könnten scheitern, und will einen günstigeren Zeitpunkt abwarten. Aber dieser Zeitpunkt wird niemals kommen." Mit zusammengezogenen Brauen blickte er Sam an. Seine Worte hatten ein schwelendes Feuer in der Tiefe seiner Augen entfacht. Richtete er seine Worte an Joel oder an Sam Reed? Es ließ sich schwer sagen. Unbedingt erwähnte er Dinge, die er einem gewöhnlichen Besucher verschwiegen hätte. „Mir sind die Hände gebunden", fuhr Hale fort. „Dem Namen nach bin ich der Gouverneur der Kolonie. Aber auch nur dem Namen nach. In jeder Hinsicht ist ein Stillstand eingetreten. Verfügte ich über mehr Grund und Boden, könnte ich eine weitere Kolonie aufbauen und dann …" Er hielt inne und betrachtete Sam scharf. „Ich kann aber nicht damit rechnen, einen zweiten Besitztitel zu erhalten. Jetzt werden Sie verstehen, wie bedeutsam der Ihre ist. Die Harkers
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würden sich die Gewißheit, daß Sie über Ihre Rechte nicht verfügen, einiges kosten lassen." Darum also hatte er offen gesprochen. Er schwieg, aber er blickte Sam nicht mehr an. Reglos saß er hinter seinem Schreibtisch und wartete. Aber er bat nicht und versuchte nicht, sein Gegenüber mit langatmigen Ausführungen zu überzeugen. Denn was konnte er Sam Reed bieten? Längst nicht soviel Geld wie die Harkers. Und ehe ein Anteil an der neuen Kolonie sich auszuzahlen begann, war ein normaler Mensch längst gestorben. Impulsiv fragte Sam: „Was könnten Sie mit dem Besitztitel anfangen, Gouverneur?" „Neu beginnen, weiter nichts. Ihnen viel zu zahlen, dazu wäre ich nicht in der Lage. Sie könnten mir das Land verpachten, aber die Gewinne, die es abwürfe, würden jahrelang von den Kosten aufgezehrt werden. Eine Kolonie muß sich ausdehnen. Ich weiß jetzt, daß es keinen anderen Weg gibt." „Angenommen aber, das Unternehmen schlüge fehl. Würde die Regierung sich nicht wieder einschalten und die Verwaltung an sich reißen? Würde sie nicht von vornherein dafür sorgen, daß Sie scheiterten?" Hale schwieg. - 212 -
„Zum Aufbau einer neuen Kolonie würden Sie umfangreiche Mittel benötigen", hämmerte Sam auf ihn ein. „Sie könnten nicht damit rechnen…" „Ich habe nicht versucht, Sie zu überreden", versetzte Hale. „Ich habe Ihnen gesagt, daß die Harkers Ihnen höhere Summen bieten würden."
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27. Jetzt war es Sam Reed, der schwieg. Vor seinem inneren Auge begannen die ersten Pläne bereits Gestalt anzunehmen. Er erwog Möglichkeiten, um die Einschaltung der Harkers zu umgehen, finanzielle Mittel aufzubringen, die neue Kolonie zu propagieren und sie allen Widerständen zum Trotz dem Dschungel abzuringen. Er zweifelte nicht daran, daß es ihm diesmal möglich sein würde, das gesteckte Ziel zu erreichen. Alle Zeit der Welt stand zu seiner Verfügung. Sie einer erfolgreichen Kolonie zu widmen, war der Mühe wert. Hale beobachtete ihn, und der erste Hoffnungsschimmer begann die Teilnahmslosigkeit zu verdrängen, die seine Worte bisher verraten hatten. Der Mann gab Sam Rätsel auf. Ungeachtet des langen Lebens, das hinter ihm lag, trotz der undenkbaren Reife, die seine vielen Erfahrungen gezeitigt haben mußten, hatte er damals Sam Reeds Unterstützung in Anspruch genommen und war nun bereit, dasselbe zum zweitenmal zu tun. Er handelte in dieser Weise, obwohl Reed einem Unsterblichen unreif und lächerlich kurzlebig erscheinen mußte.
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Warum? Eine ungefähre Parallele aus der fernen Geschichte der Erde fiel Sam ein. In einem der ungezählten Bücher, die er gelesen hatte, war er auf eine Theorie gestoßen, wonach die Mongolenstürme die Kulturen, über die sie hinweggebraust waren, in einer Weise bis auf die Wurzeln zerstört hatten, daß sich diese Länder niemals wieder auf ihre Initiative besonnen hatten. Die Fähigkeit, sich durch bedeutende Leistungen im Wettbewerb mit anderen Völkern zu messen, war ihnen verlorengegangen. Dasselbe mochte auf Robin Hale zutreffen. Vielleicht war während der wilden Jahre, in denen er zusammen mit den Freien Trupps gekämpft hatte, seine Lebenskraft allmählich erloschen. Alles Wissen, alle Reife und alle Erfahrungen nutzten ihm nichts, weil ihm die anspornende Energie fehlte, sie zu verwerten. Diese Tatkraft zeichnete Sam in überreichem Maße aus. Und plötzlich dachte er daran, daß unter allen lebenden Menschen er sie vielleicht allein besaß. Hale mangelte der Wille, seinem Dasein einen Inhalt zu geben. Und die Energie der übrigen Unsterblichen richtete sich auf die Bewahrung des Erreichten.
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„Wenn wir warten, bis die Familien handeln, werden wir niemals zu greifbaren Ergebnissen gelangen", bemerkte er überlegend. „Natürlich nicht", erwiderte „Vielleicht ist es bereits zu spät."
Hale
ruhig.
Sam beachtete seine Antwort überhaupt nicht. „Die Harkers glauben, sie wären im Recht", kleidete er die Erkenntnis in Worte, die ihm mit plötzlicher Klarheit dämmerte. „Aber sie stemmen sich gegen jeden Wandel. Sie werden weiter warten, bis selbst ihnen aufgeht, daß sie zu lange gewartet haben. Vielleicht sind sie dann insgeheim froh, daß es zu spät zu wirksamem Handeln ist. Die Führungsschicht denkt immer konservativ. In ihren Augen wirkt sich jede Veränderung nachteilig aus." „Das trifft für die breite Masse ebenso zu", entgegnete Hale. „Was können wir ihnen als Ausgleich für das bieten, was sie bereits besitzen? Behagen, Sicherheit, Vergnügen, ein Leben, das in geordneten Bahnen verläuft. Hier oben wartet außer Gefahren und Mühen nur die Aussicht auf sie, daß ihre Nachfahren vielleicht in einigen hundert Jahren eine Zivilisation an Land aufbauen können, wie sie unter Wasser bereits besteht. Selbst wenn sie einsähen, daß ein Wandel eintreten muß, würden sie selbst niemals die Früchte ihrer Arbeit ernten." - 216 -
„Sie haben Ihrem Vorhaben aber schon einmal zugejubelt", warf Sam ein, „damals, als mein Vater für die Eroberung der Dschungel warb." „Sicher, weil auch in den Kuppeln Unzufriedenheit herrscht. Sie spüren, daß sie etwas verlieren. Aber von Abenteuern zu schwärmen und selber Gefahren zu bestehen, sind zwei völlig verschiedene Dinge. Diesen Leuten fehlt der Schwung. Pioniere werden zu Pionieren, weil bei ihnen zu Hause unerträgliche Zustände herrschen oder weil anderswo vielversprechendere Aussichten locken. Das Fortbestehen der Menschheit, um das es sich hier dreht, geht über ihren Horizont." Sam runzelte die Stirn. „Das Fortbestehen der Menschheit?" wiederholte er. „Ich habe mich so oft darüber ausgelassen, daß ich bald schon davon rede, wenn ich nur den Mund öffne", antwortete Hale. „Wenn die Kolonisierung der Venus jetzt nicht einsetzt, wird sie niemals ihren Anfang nehmen. Die Energiequellen und der Lebenswille werden langsam schwinden, und binnen einigen Jahrhunderten endet der Weg der Menschheit in den Kuppeln. Trotzdem widersetzen sich die Familien jedem meiner Vorschläge und beharren starrsinnig auf ihrem Standpunkt, bis es am - 217 -
Ende zu spät ist." Hale zuckte die Achseln. „Man hat mir erklärt, das Denken in solchen Begriffen wäre überholt." Sams Blick wich nicht von ihm, während er sprach. Seine Worte klangen überzeugend. Er glaubte Hale. Sich über die Bestimmung der Menschheit den Kopf zu zerbrechen, dazu war er noch nicht imstande, aber seine eigene Unsterblichkeit verlieh den kommenden Jahrhunderten ihre Bedeutung für ihn. Zudem hatte er noch eine Rechnung mit den Harkers zu begleichen. Und schließlich bot Hales Vorhaben nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, wenn ein Mann vom Schlage Sam Reeds die Durchführung in die Hand nahm. „Mein Besitztitel gehört Ihnen", sagte er kurz. „Und nun hören Sie zu…"
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28. Robin Hale schloß die Terrassentür des Verwaltungsgebäudes hinter sich und ging allein den Weg hinunter, der vor ihm lag. Über ihm brach die Sonne durch das Gewölk, erhellte den trüben venusischen Himmel und schickte fahles Licht in die Kuppel, ehe sie wieder im Dunst verschwand. Hale blickte hoch und verzog das Gesicht, als er sich an die weit zurückliegenden Streifzüge unter freiem Himmel erinnerte. In einiger Entfernung jätete ein Mann im braunen Arbeitsanzug Unkraut in einem hydroponischen Tank. Er schwang seine Hacke mit den ruhigen, abgezirkelten Bewegungen eines Gärtners, der seine Arbeit kennt und mit Vergnügen verrichtet. Als Hale neben ihm stehenblieb, hob er den Kopf. Der Gouverneur blickte in ein hageres Gesicht. „Haben Sie einen Augenblick Zeit?" fragte er. Der Mann grinste. „Ich habe mehr Zeit als die meisten Leute", versetzte er. „Was gibt's?" Hale stellte einen Fuß auf den Tankrand und schlang die Arme um sein Knie. Sein Gegenüber stützte sich auf seine Hacke. Eine Weile blickten - 219 -
sich die beiden Männer schweigend an, und das leise Lächeln auf ihren Gesichtern verriet, wieviel sie miteinander gemein hatten. Der Logiker erinnerte sich als einziger an die Aufeinanderfolge von Tag und Nacht, Sonne und Mond, Ebbe und Flut. Er allein kannte eine Welt, deren Boden nicht der unbarmherzige Gegner des Menschen war, der ihn nicht mit Schwämmen, Bakterien, Insekten und winzigen Geschöpfen bedrohte, die nur darauf warteten, vom eindringenden Spaten ans Tageslicht befördert zu werden und ihr mörderisches Werk zu verrichten. Der Logiker war denn auch der einzige, der den Boden des Dschungels ins Herz geschlossen hatte und seine Hacke mit gemächlicher Freude an der Arbeit schwang. Als Hale vor einigen Wochen denselben Pfad entlanggewandert war und die Gestalt zu erkennen glaubte, die an einem der Tanks mit gereinigter Dschungelerde arbeitete, hatte ihn der Anblick kaum überrascht. Als er den Tank erreichte, hatte der Mann sich aufgerichtet und ihn mit einem spöttischen Blick gemustert. „Sind Sie nicht. ..", hatte Hale zögernd angesetzt. „Aber sicher." Der Logiker grinste. „Ich wäre schon wesentlich früher hier aufgetaucht, aber ich - 220 -
hatte bis jetzt zu tun. Na, Hale, wie schreitet Ihr Werk voran?" Hale hatte geantwortet.
mit
einem
unfeinen
Ausdruck
Der Logiker lachte. „Ich habe schon auf der Erde als Farmer den Boden umgewühlt, und jetzt hat's mich gejuckt, bis ich mich wieder darin versucht hatte", erklärte er. „Das war einer der Gründe, deretwegen ich hierherkam. Ich habe mich sogar unter meinem eigenen Namen freiwillig gemeldet. Hat Ihnen der nicht ins Auge gestochen?" Hale mußte verneinen. Seit er im Tempel der Wahrheit gestanden und der Stimme dieses Mannes gelauscht hatte, war vieles geschehen. Der Name Ben Crowell war ihm nicht aufgefallen, obwohl die Zahl der Freiwilligen so gering war, daß er eigentlich hätte imstande sein müssen, sie aus dem Gedächtnis herzusagen. „Daß Sie der Kuppel den Rücken gekehrt haben, überrascht mich eigentlich nicht", bemerkte er. „Sie brauchen sich auch nicht zu wundern, Hale. Wir beide sind die einzigen, die sich noch an ein Leben unter freiem Himmel erinnern." Er schnüffelte die Luft ein und grinste dann zu der
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Imperviumkuppel hoch. „Und wir wissen auch als einzige, daß das hier kein freier Himmel ist. Haben Sie eigentlich noch andere Überlebende der Freien Trupps aufgetrieben?" Hale schüttelte den Kopf. „Ich bin der letzte." „Na, ich werde jedenfalls noch eine Weile hierbleiben." Crowell köpfte einen Ausläufer mit der Hacke. „Allerdings inoffiziell. Irgendwelche Fragen kann ich Ihnen nicht beantworten." „Das haben Sie im Tempel auch nicht getan", versetzte Hale. „In den letzten vierzig Jahren habe ich Sie mindestens ein dutzendmal aufgesucht, und immer haben Sie sich geweigert, mich anzuhören." Eine unbegründete Hoffnung überfiel ihn, und er fragte hastig: „Warum sind Sie jetzt hergekommen? Wird sich etwas ereignen?" „Vielleicht." Crowell betrachtete seine Hacke. „Irgend etwas ereignet sich gewöhnlich immer früher oder später. Man braucht nur lange genug zu warten." Mehr hatte Hale nicht aus ihm herausbekommen. An diese Unterhaltung dachte er jetzt zurück, als er dem Logiker berichtete, was sich eben abgespielt hatte. - 222 -
„Sind Sie deshalb hergekommen?" forschte er zuletzt. „Haben Sie das vorausgesehen?" „Hale, ich kann dazu nichts sagen." „Wußten Sie es denn nicht?" „Das hat nichts damit zu tun. Vergessen Sie nicht, daß jede Fähigkeit unvollkommen ausgeprägt ist. Ich bin weniger vorherwissend als unfehlbar, und Unfehlbarkeit trügt." Crowell wirkte leicht gereizt. „Ich bin nicht der liebe Gott. Fangen Sie bloß nicht an, jede Verantwortung von sich abzuschieben, wie die Leute in den Kuppeln das so gern tun. Auch der liebe Gott höchstpersönlich kann die Zukunft nicht ändern und trotzdem noch wissen, was eintreffen wird. Sobald er sich in den Gang der Geschehnisse einschaltet, erweitert er die Gleichung um einen neuen Faktor, der dem Zufall unterliegt." „Aber…" „Ein- oder zweimal habe ich trotzdem selber eingegriffen", fuhr der Logiker fort. „Bei einer Gelegenheit habe ich sogar einen Mann umgebracht, weil ich der Meinung war, daß der Menschheit gar nichts Schlimmeres zustoßen konnte, als daß dieser Kerl am Leben blieb. Wie sich später erwies, hatte ich recht.
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Aber ich schalte mich nur dann ein, wenn es sich nicht vermeiden läßt. Meine Einmischung bildet dann den Zufallsfaktor, und wenn ich subjektiv an der Gleichung beteiligt bin, kann ich sie nicht gleichzeitig objektiv betrachten. Ich bin nicht in der Lage, die Tragweite meines eigenen Handelns vorauszusagen. Begreifen Sie das?" „Halb und halb", entgegnete Hale. „Immerhin haben Sie eingegriffen, wenn es nicht anders ging." „Aber nur dann. Hinterher habe ich regelmäßig versucht, wieder einen Ausgleich zu schaffen. Wenn ich mich einmische, senkt sich die Waagschale nach einer Seite. Ich versuche dann, der anderen Schale einen leichten Stoß zu geben, damit sie wieder ins Gleichgewicht gelangt. Ich weiß, das klingt für Sie nicht allzu einleuchtend. Aber, wie gesagt, ich bin nicht der liebe Gott. Schon ganz und gar nicht der Gott, den man sich in den Kuppeln wünscht. Wenn es nach diesen Leutchen ginge, müßte der liebe Gott herniedersteigen und sie im Rollstuhl durch die Gegend kutschieren." Er seufzte und lehnte seine Hacke an den Tank. „Was wollte Reed?" fragte er. „Vermutlich hat er sich etliche Einfälle ausgedacht. Worin bestehen sie?"
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„Wozu soll ich Ihnen das erzählen?" knurrte Hale ärgerlich. „Wahrscheinlich wissen Sie ohnehin mehr als ich darüber." Der Logiker versetzte dem Hackenstiel einen leichten Schlag mit der Faust. „Nicht direkt. Es gibt einen sehr triftigen Grund, der mich daran hindert, Ihnen meine Kenntnisse mitzuteilen. Vielleicht werde ich Ihnen die Umstände eines Tages erklären. Im Augenblick wäre mir sehr daran gelegen, zu erfahren, was der junge Reed vorhat." „Wir haben uns die Karten angesehen. Sein Besitz erstreckt sich über dreihundert Meilen, die zu einem Drittel aus Meeresküste bestehen. Eine Feste der Freien Trupps stand früher dort am Ufer. Nach Westen ist eine Inselkette der Küste vorgelagert." Gegen seinen Willen redete Hale schneller weiter. „Über der neuen Kolonie werden wir keine Kuppel errichten. Die Siedler müssen sich anpassen. Trotzdem brauchen wir Schutz vor dem Tierleben der Dschungel. Diesen Schutz liefert uns das Meer. Jede Insel gibt ein natürliches Sprungbrett ab. Wir säubern eine nach der anderen und nehmen uns dann jeweils die nächste vor."
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„Hm, hm!" Der Logiker kratzte sich nachdenklich die Nase. „Und was hindert die Familien, die nächste Kolonie mit den gleichen Mitteln abzuwürgen wie diese?" Hale hustete. „Das bleibt abzuwarten", versetzte er. – ENDE DES ERSTEN TEILS –
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1. Der Anbruch der Nacht bedeutete ein Erlebnis von fremdartigem, exotischem Reiz für einen Mann, der in den Kuppeln unter der See aufgewachsen war. Während Sam Reed die Lehnen seines Sitzes in der rüttelnden Maschine umklammerte, die ihn zur Delawarekuppel zurücktrug, blickte er gebannt hinaus in die tiefe Schwärze. Die heimtückischen Böen der Venus überfielen jedes Flugzeug, das sich in die Luft wagte. Nur wenige Maschinen stiegen überhaupt zu kurzen Flügen auf. Die Oberfläche des Planeten bot sich Sams Auge in verwischten, abgerissenen Ausschnitten dar. Doch fern in der zunehmenden Dunkelheit funkelte der schimmernde Fleck, den die Lichter der Kuppel aus der Tiefe auf die Wasseroberfläche warfen. Wider seinen Willen spürte er, wie es ihn mit allen Fasern dorthin zog. Jener helle, ausgedehnte Fleck verkörperte seine Heimat. Er barg Behagen und Sicherheit, Musik und Gelächter. Verglichen damit wirkte die Kolonie in seinem Rücken öde und leer. Gefahr und Mühsal wohnten in ihren Mauern.
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Sie allein genügten nicht. Um dem tiefverwurzelten Gefühl entgegenzuwirken, das ihn selber und die Abertausende in der Delawarekuppel beherrschte, mußte er sich einen wirksamen Anreiz einfallen lassen. Nur die verheißungsvolle Lockung eines Gralshortes jenseits der Wildnis und Mißstände in seiner Heimat trieben den Pionier vorwärts. Weiterstoßen und voranzerren mußte man ihn. Hier aber beschwerten die Unbilden die falsche Seite der Waagschale. Sie mußten erst ausgeglichen werden. Korium war zum Erfolg nötig, begeisterte Siedler und die stillschweigende Duldung, wenn nicht gar die Unterstützung der Harkers. Bis jetzt konnte er sich auf keines dieser drei Erfordernisse stützen. Zudem mußte er rasch handeln. Jeden Augenblick konnten wieder, wie schon einmal, uniformierte Angehörige der Privatpolizei neben ihm auftauchen. Dann würde Sam Reed für immer von der Bildfläche verschwinden. Er verfügte kaum über Geld; er konnte nicht den geringsten Einfluß geltend machen und niemanden seinen Freund nennen, ausgenommen das dahinsiechende Wrack eines alten, rauschgiftsüch-
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tigen Verbrechers. Und selbst diese Freundschaft mußte er sich erkaufen. Sam Reed lachte leise. Er fühlte sich prächtig. Die Zuversicht, die er empfand, stimmte ihn fast übermütig. „Als erstes muß ich an die Öffentlichkeit treten", setzte Sam dem Presser auseinander. „Und zwar schnellstens. Wie, spielt keine Rolle, aber ich muß öffentlich und so überraschend die Familien herausfordern, daß ihnen keine Zeit mehr bleibt, mich auszuschalten. Hinterher werde ich dann schon selbst dem Dümmsten einbläuen, daß die Harkers schuld sind, wenn ich verschwinde." Der Presser schnüffelte und wälzte sich in seinem Bett auf die andere Seite. Die Luft in der kleinen Kammer war zum Schneiden, aber Sam konnte sich hier verhältnismäßig sicher fühlen. Solange er in den Verstecken der berüchtigten Stadtviertel Unterschlupf suchte, stand nicht zu erwarten, daß den Harkers seine Beseitigung gelang. Seine Aussichten sanken in dem Augenblick, in dem er sich hinauswagte. „Gib mir noch etwas zu trinken", murmelte der Presser als einzige Antwort. „Ich habe zweitausend Kredite", erklärte Sam, wahrend er ihm die Flasche hinschob. „Hale kann - 229 -
weitere zweitausend aufbringen. Sie müssen mir die Leute nennen, bei denen ich damit für den Anfang am weitesten komme. Ich brauche Sendezeit im Fernsehen und einen guten Werbetexter, der mir die ersten Reden schreibt. Wenn das Eis erst gebrochen ist, werden die Interessenten uns genügend Geld zur Verfügung stellen, mit dem wir weiterarbeiten können. Und diesmal werden die Gelder nicht im Uferlosen versickern, sondern dahin wandern, wo sie am meisten nutzen." „Nämlich?" erkundigte sich der Presser. „In eine Flotte", erwiderte Sam. „Die neue Kolonie besteht aus einer Inselkette. Wir entreißen den Echsen jedes einzelne Eiland, befestigen es und siedeln darauf. Dazu brauchen wir schnelle, gut bewaffnete und gepanzerte Schiffe. Und genau darin legen wir unser Geld an." Der Presser beschäftigte sich mit der Flasche und sagte nichts. Sam wartete nicht, bis sich die ersten Erfolge abzeichneten. Unverzüglich ging er daran, Bestellungen für die Ausstattung der Schnellboote aufzugeben. Er sparte an allen Ecken und Enden. Mit dem weitaus größten Teil der viertausend Kredite aber bestellte er heimlich und unter mehreren falschen Namen die Ausrüstungsgegen- 230 -
stände, die Hale für unumgänglich notwendig erachtet hatte. In der Zwischenzeit kam der Werbefeldzug ins Rollen. Für unauffällige Propaganda, wie Sam sie vorgezogen hätte, fehlte es an Zeit und Geld. Eine Aufeinanderfolge geschickt lancierter Schlager, die den Zauber des Lebens unter freiem Himmel priesen, hätte seine Kampagne unterstützt. Ein erfolgreiches Theaterstück, ein begehrter Roman, die in die gleiche Kerbe hieben, hätten ihm die Arbeit erleichtert. Doch die Zeit drängte. Bezahlte Werbesendungen flimmerten über die Bildschirme. Robin Hale gab die Schaffung einer neuen Kolonie bekannt. Unumwunden erwähnte er Joel Reeds Verknüpfung mit seinem Vorhaben, weil sie sich ohnehin nicht verheimlichen ließ. Vor den Fernsehkameras sprach Joel offen über den schimpflichen Betrug seines Vaters. Er leugnete jegliche Verbindung mit Sam Reed. „Ich habe meinen Vater niemals gekannt", behauptete er und verstand es dabei, seinen Worten einen überzeugenden Klang zu verleihen. „Für manchen von Ihnen wird mein Name Anlaß genug sein, dem, was ich sage, keinen Glauben zu schenken. Obwohl ich mir darüber im klaren bin, habe ich nicht versucht, ihn zu verbergen. - 231 -
Ich glaube an diese Kolonie, und ich könnte mir nicht leisten, sie scheitern zu lassen. Das, denke ich, werden die meisten unter Ihnen verstehen. Vielleicht trägt es dazu bei, Sie von der Aufrichtigkeit meiner Worte zu überzeugen. Ich würde nicht wagen, unter meinem wahren Namen, an dem soviel Schande haftet, vor Sie hinzutreten, wenn ich nicht zweifelsfrei wüßte, daß der Aufbau der neuen Kolonie unter allen Umständen gelingen muß. Kein Mann, der den Namen Reed trägt, würde so dreist sein, zum zweitenmal einen derartigen Betrug zu versuchen. Wenn die Schaffung der Kolonie fehlschlägt, bedeutet das meinen Ruin. Darüber gebe ich mich keinen Täuschungen hin. Aber unser Vorhaben kann und wird nicht mißlingen." Die ruhige Überzeugung, die aus Sams Stimme klang, teilte sich seinen Hörern mit. Diesmal sprach er die Wahrheit, und einige glaubten ihm. Dieselben Empfindungen, die dem ersten Siedlungsunternehmen zum Erfolg verholfen hatten, waren nach wie vor lebendig. Leise regte sich in den Menschen die Erkenntnis der Einbußen, die sie durch das Leben in den Kuppeln erlitten. Unklar sehnten sich manche nach dem verlorenen Erbe. Die Zahl derer, die dieses Verlangen spürten, reichte aus, um Sam und Hale die Beträge zur - 232 -
Verfügung zu stellen, die sie am dringendsten benötigten. Viel war es nicht, aber es genügte fürs erste. Die übrigen blieben noch zu überzeugen. Sie verharrten abwartend. Sam machte sich daran, sie für sein Vorhaben zu gewinnen.
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2. Die Harkers blieben selbstredend nicht müßig. Als ihre erste Überraschung verflogen war, handelten sie gleichfalls und kaum minder rasch. Aber sie befanden sich dabei in einem leichten Nachteil, denn sie konnten dem Siedlungsvorhaben nicht in aller Öffentlichkeit entgegentreten. Angeblich befürworteten sie die Kolonisierung unverändert. Nur insgeheim waren sie in der Lage, dem Unternehmen entgegenzuarbeiten. Das Gerücht entstand, eine Seuche wäre an Land ausgebrochen. Die Bildschirme zeigten den Absturz einer Robotmaschine, die von heftigen Böen wie ein welkes Blatt zerfetzt wurde. Es sei gefährlich an Land, behaupteten immer zahlreichere Stimmen. Da führte Sam den nächsten Schlag. Er griff die Harkers nahezu offen an und beschuldigte sie beinahe persönlich der Verantwortung für den Mißerfolg der bestehenden Kolonie. „Mächtige Kräfte sind am Werk, um die Besiedlung der Kontinente zu verhindern", erklärte er. „Die Ursachen sind leicht einzusehen. Versetzen Sie sich an die Stelle einer der herrschenden Machtgruppen. Wären Sie nicht auch völlig zufrieden mit - 234 -
der Lage der Dinge, wenn Sie in einer Kuppel regierten? Kämen Ihnen irgendwelche Veränderungen gelegen? Würden Sie nicht alles tun, um den Ruf derer zu schmälern, die auf die Möglichkeiten der Landgebiete hinweisen?" Sam beugte sich vor und schaute seine Zuhörer bedeutsam an. „Würden Sie nicht versuchen, jeden zum Schweigen zu bringen, der für den gemeinen Mann eintritt?" fragte er und hielt den Atem in der Erwartung an, die Sendung würde sofort unterbrochen werden. Nichts dergleichen geschah. Vielleicht waren die Techniker zu verdutzt. Möglich auch, daß nicht einmal die Harkers wagten, die öffentliche Meinung derart herauszufordern. Sam setzte seine Ansprache fort, solange er dazu noch imstande war. „Ich hoffe, daß es mir möglich sein wird, weiter auf die Schaffung der neuen Kolonie hinzuarbeiten", sagte er. „Natürlich arbeite ich dabei für mich selbst, zugleich aber auch für Sie alle, die Sie nicht zu den herrschenden Schichten der Kuppeln gehören. Solange ich lebe, werde ich mein Ziel verfolgen. Und wenn ich morgen nicht mehr zu Ihnen sprechen kann, um Ihnen weiter von unseren Plänen zu berichten, dann wissen Sie, warum." - 235 -
Ein leises, anschwellendes Murmeln erhob sich in den Straßen der Delawarekuppel. Die Sendung war zu Ende, aber die Schlußworte hingen noch in der Luft. Zum erstenmal seit Jahrzehnten hatten sich wieder Menschenmengen unter den riesigen öffentlichen Fernsehschirmen versammelt, und zum erstenmal im Verlauf menschlicher Geschichte auf der Venus erhob sich die Stimme des Volkes über die Gleitbänder der Kuppeln. Das leise Murmeln klang eher überrascht als drohend, aber es ließ sich nicht ignorieren. Die Harkers hörten es und warteten ihre Zeit ab. Sie hatten viel Zeit. Sie konnten es sich leisten, zu warten. Damit war Sam vorübergehend vor dem Zugriff der Privatpolizei sicher. Unverzüglich arbeitete er darauf hin, seine Stellung zu festigen. Er brauchte eine Waffe, die ihm stärkere Macht über die Harkers verlieh als die Lenkung der unberechenbaren Massen. Die Schlüsselstellung in seinen Nachforschungen nahm Sari Walton ein. Ihrer Abstammung nach zählte sie halb und halb zum Geschlecht der Harkers. Worauf gründete sich ihre Charakterschwäche? - 236 -
Sam unternahm alle Anstrengungen, um diese Frage zu lösen. Was er an Unterlagen über die Unsterblichen aufstöberte, war mager und bestand nur aus den wichtigsten Angaben über Herkunft und Werdegang. Zugegeben, bereits die Langlebigkeit der Unsterblichen ersparte ihnen manche Beanspruchung, die einem normalen Menschen die Nerven raubte. Aber gerade diese Langlebigkeit mußte ihnen dafür andere Lasten aufbürden, die der Außenstehende nicht ohne weiteres nachempfinden konnte. Sam forschte und grübelte, grübelte und forschte. Alle Einfälle, denen er nachging, führten ihn in Sackgassen. Am Ende blieb nur ein winziger Umstand übrig, dessen Verfolgung aussichtsreich erschien. Er lieferte bestenfalls einen Hinweis; endgültig konnte er nicht genannt werden. Aber er wies einen vielversprechenden Weg. Die Unsterblichen pflanzten sich in großen Abständen fort. Ihre fruchtbaren Tage dauerten nur kurze Zeit und lagen jeweils fünfzig bis fünfundsiebzig Jahre auseinander. Die Nachkommen zweier Unsterblicher wiesen alle Züge langen Lebens auf, aber gesund und kräftig waren sie nicht. Obwohl sie mit Samthandschuhen aufgezogen wurden, lag ihre Sterblichkeitsziffer hoch. - 237 -
Sam stellte fest, daß zu der Zeit, als Sari Walton auf die Welt kam, den Harkers ein Sohn geboren worden war, der den Namen Blaze erhalten hatte. Diese beiden Kinder hatten zu jener Zeit als einzige in der Delawarekuppel das Licht der Welt erblickt. Und Blaze Harker war verschwunden. Mit wachsendem Interesse durchforschte Sam die Unterlagen auf der Suche nach einer Erklärung für das Verschwinden des Mannes. An keiner Stelle stand ein Todestag verzeichnet. Die üblichen Angaben über Erziehung, übernommene Pflichten und der Stadt geleistete Dienste reichten bis zu einem Zeitpunkt, der siebzig Jahre zurücklag. Danach brachen sie ab. Voller Erregung legte Sam die Unterlagen an ihren Platz zurück.
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3. „Das sollte unseren Zwecken entsprechen", urteilte Robin Hale und trat von dem Periskop zurück. „Schauen Sie selbst." Sam überquerte taumelnd das stampfende Deck und bückte sich zu dem Okular. Der nasse Wind blies ihm ins Gesicht, das Boot schlingerte, und er fühlte sich wie trunken. An alles, selbst an die Brise, die über das Schiff wehte, mußte er sich erst gewöhnen. Ein unverhoffter Windhauch, der durch die Kuppeln strich, bedeutete etwas gänzlich anderes als die natürlichen Luftströmungen der Meere und Kontinente. Unter einem fahlen Himmel wogte milchiges Wasser rund um die Männer. Die gewaltigen Trümmermassen eines Uferforts verdämmerten ihr Dasein unter der Last schmarotzender Lianen, die jeden Zoll überwucherten. Unausgesetztes Raunen drang aus dem Dschungel herüber, untermischt mit dem Kreischen, Fauchen und Brüllen unsichtbaren Getiers. Die See leckte geräuschvoll an den Flanken des Bootes. Der Wind stöhnte in den Aufbauten. Zahllose Laute verschmolzen zu einer verwirrenden Geräuschkulisse. - 239 -
Sam preßte die Stirn, gegen das Periskop und starrte in die Tiefe. Eine unbekannte Welt tat sich vor seinem Blick auf, eine Welt voll flimmernden Lichts und treibender Algen. Fische mit schillernden Flossen schossen durch die Fluten, Quallen pulsierten in trägem Takt, Anemonen schlossen mit traumhaft langsamen Bewegungen ihre getigerten Kelche, und die breiten Fächer grellfarbiger Schwämme neigten sich in die Strömung. Begraben in dieser schimmernden, flirrenden Welt lag der Rumpf eines gesunkenen Schiffes. Es war das dritte Wrack, das sie entdeckten und von dem Hale glaubte, daß eine Bergung sich lohnte. „Die meisten sind in besserer Verfassung, als man meinen sollte", versicherte er Sam. „Sie bestehen aus haltbaren Legierungen, und ich habe früher erlebt, wie aus völlig zerstörten Wracks wieder seetüchtige Schiffe entstanden." Seine Stimme verklang. Er blickte hinaus auf die leere Wasserfläche und dachte an längst vergangene Zeiten zurück. Vor Hales Augen erstanden die Flotten der Freien Trupps, die vor Generationen die Meere bevölkert hatten. Damals wie später galten die Kuppeln als - 240 -
unantastbar, denn nur unter ihrer Imperviumhülle konnte die Zivilisation überleben. Auf der Oberfläche der schiefergrauen Meere aber tobten die Kämpfe zwischen den Flotten der Söldnerscharen, die die Kuppeln gedungen hatten. Die Stadt, deren Trupps unterlagen, bequemte sich häufig erst zur Zahlung ihrer Kriegsschuld, wenn Wasserbomben gefallen waren und sie an ihre Verwundbarkeit erinnert hatten. Doch diese Epoche verging. Der Dschungel verschlang die mächtigen Festen, und die waffenstarrenden Schiffe sanken an ihren Ankerplätzen. Aber sie moderten und verfaulten nicht. Schlick deckte sie zu, und Algen siedelten sich darauf an, doch ihr Metall trotzte aller Unbilden. Hale und Sam hatten die Küsten der Venus abgesucht, an dener die alten Forts standen. Hale hatte die Festungen zu einer Zeit erlebt, da sie noch von Leben erfüllt waren. Er kannte die Häfen und konnte aus dem Gedächtnis die Gefechtsstärken der Freien Trupps nennen. Die beiden ersten Wracks, die sie geborgen hatten, waren mittlerweile fast wieder seetüchtig. Hales Stimme und der Ausdruck seiner Augen sprachen von seiner neu erwachten Zuversicht.
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„Diesmal zwängt uns keiner in Imperviumkuppeln", rief er, während er sich an der Reling festhielt und Gischt in sein Gesicht sprühte. „Wir müssen beweglich bleiben, koste es, was es wolle." „Das verschlingt mehr Geld, als wir haben", erinnerte ihn Sam. „Und mehr, als wir jemals auftreiben können, wenn wir nicht zu den äußersten Mitteln greifen." „Wie stellen Sie sich das vor?" Sam blickte ihn überlegend an und fragte sich, ob der Augenblick gekommen sein mochte, Hale ins Vertrauen zu ziehen. Seit Wochen arbeitete er auf diese letzte Konsequenz hin und bereitete Hale auf eine Maßnahme vor, die dieser bei der ersten Unterredung noch glattweg abgelehnt hätte. Zur Überwindung der Schwierigkeiten, vor die ihn die Lage gegenwärtig stellte, hatte Sam die gleichen Wege angewandt, die er instinktiv beschritten hatte, als er in einer dunklen Gasse erwacht war und den süßlichen Duft des Traumstaubs noch zu riechen glaubte. In den zurückliegenden Wochen hatte er raschen Schrittes eine Laufbahn eingeschlagen, die der seines früheren Lebens aufs Haar glich. Damals hatte er vierzig Jahre gebraucht, um das zu erreichen, was ihm jetzt in kürzester Zeit gelungen war. - 242 -
Zweimal hatte er die Welt hilflos, mittellos und von Feinden umgeben betreten. Diesmal ruhte sein Fuß auf der untersten Sprosse einer Leiter, die keinem geringeren Ziel als den Sternen entgegenführte. Er konnte sich nicht vorstellen, daß es irgend jemandem gelingen sollte, ihn von dieser Leiter wieder herabzustoßen. Mit List und Tücke hatte er Mallard als Werkzeug benutzt, um sich das Korium anzueignen, das er zum Beginn seines Aufstiegs brauchte. Jetzt fehlte es ihm wieder an Korium, aber als Gegner hatte er in diesem Fall mit den Harkers zu rechnen. Eingedenk der Art, in der er mit Mallard umgesprungen war, hatte er nach einem Köder gesucht, der ihm ermöglichte, den Harkers beizukommen. Seine Suche blieb vergeblich. Die Harkers besaßen alles, wonach es sie gelüsten konnte. Ihre Stellung war so gut wie unangreifbar. Sari Walton bildete zweifellos einen schwachen Punkt im Gefüge ihrer Macht. Von Narkostaub aufgepeitscht und durch irgend eineh äußeren Umstand genügend erregt, würde sie Zacharias Harker umbringen und sich selbst wahrscheinlich dazu. Sie lieferte Sam seine erste, aber erschreckend unsichere und dazu vernichtende Waffe.
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Er gedachte Zacharias Harker eines Tages zu töten. Im Augenblick aber konnte ihm sein Tod nichts nützen. Darin glichen sich die Waffen, über die Sam verfügte, und die Mittel, die der Menschheit zum Angriff gegen den venusischen Dschungel zur Verfügung standen. In beiden Fällen waren die vorhandenen Waffen entweder zu durchschlagend oder zu schwach. Restlose Zerstörung bildete keine Antwort; die einzige Ausweichmöglichkeit aber fügte dem Gegner keinen wesentlichen Schaden zu. Sam wußte, daß, wollte er sich nicht geschlagen geben, er zu einer so einschneidenden Maßnahme greifen mußte, daß nur noch gänzliches Scheitern oder voller Erfolg in Frage kam. „Hale", sagte er übergangslos, „wenn wir genügend Korium erhalten wollen, um die Dschungel zu erobern, müssen wir zu einem Mittel greifen, das noch nie angewandt worden ist. Wir müssen die Kuppeln mit Bomben belegen." Hale warf ihm einen schiefen Blick zu. Dann lachte er. „Sie machen Witze."
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„Vielleicht." Sam zog die Schultern zusammen und spähte über die See. „Fällt Ihnen ein besserer Weg ein?" „Zumindest kein schlimmerer", versetzte Hale scharf. „Ich bin kein Mörder, Reed." „Sie haben in den Freien Trupps gedient." „Das war etwas völlig anderes. Damals…" „Sie haben von den Kuppeln Befehle entgegengenommen und für sie gekämpft. Unter den gegebenen Umständen war das notwendig. Sie kaperten, plünderten und töteten, weil es nicht anders ging. Die Kuppel, die unterlag, zahlte in Korium oder setzte sich Bombenwürfen aus. Vermutlich war das reiner Bluff. Keine Kuppel ist jemals ernsthaft mit Bomben belegt worden. Ich schlage nichts weiter vor als den gleichen Bluff. Wir wissen, daß es sich dabei um einen bloßen Einschüchterungsversuch handelt, und die Harkers wissen das ebenso. Trotzdem müssen wir die Öffentlichkeit überzeugen, daß wir es ernst meinen." „Wie stellen Sie sich das vor?" „Was haben wir denn zu verlieren? Die Harkers sind im Nachteil. Sie können nur verlieren. Wir dagegen können nur gewinnen."
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„Aber jeder weiß, daß wir unsere Ankündigung niemals wahrmachen werden. Niemand wird die Drohung auch nur ernst nehmen. Sie kennen doch die Trägheit der Massen in den Kuppeln. Die Leute sind nie einer Drohung ausgesetzt gewesen und werden sich überhaupt nicht vorstellen können, daß wir imstande wären, Bomben auf die Städte zu werfen. Sie werden uns auslachen. Die Menschheit hat die Furcht vor Gefahren längst überlebt. Wir müßten eine Kuppel bombardieren und Tausende von Menschenleben auslöschen, um die übrigen zu überzeugen, daß wir nicht scherzen. Ich werde aber …" Sams Auflachen schnitt ihm das Wort ab. „Ich bin mir nicht so sicher. Menschen bleiben immer Menschen. Immer noch aber wachen Leute mit dem Alptraum auf, ins Abgrundlose zu stürzen, nicht anders als der erste Urmensch, nachdem er einmal seinen Halt an einem Baumast verloren hatte. Die Leute knirschen nach wie vor mit den Zähnen, wenn sie in Wut geraten, weil ihre Vorfahren in ihrem sinnlosen Zorn nur diesen Laut hervorbrachten. Ich glaube nicht, daß wir unsere geheimen Ängste so leicht abgeschüttelt haben, wie Sie meinen."
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„Jedenfalls mache ich dabei nicht mit", erwiderte Hale entschieden. „Das geht zu weit. Ein solches Vorgehen kommt nicht in Frage."
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4. Die Drohung, über die öffentlichen Fernsehschirme verkündet, schlug wie eine Bombe ein. Noch Minuten, nachdem die Worte verklungen waren, herrschte in sämtlichen Kuppeln Totenstille. Dann setzte ein Tumult ein, der sich am Ende in Gelächter verwandelte. Hale hatte vorerst recht behalten. Niemand glaubte an die Drohung der wiedererstandenen Flotte. Der Bestand der Kolonien hing von der Unterstützung der Kuppeln ab. Sie würden nicht wagen, ihre eigenen Nachschubquellen zu bombardieren. Außerdem sagte sich jeder im geheimen, daß die Wasserbomben auf jede andere Kuppel fallen würden, nur nicht gerade auf die eigene. Da sprach Sam wieder im Fernsehen und bezeichnete die Delawarekuppel als sein Ziel. Er nannte den Zeitpunkt – sofort – und den Preis für seinen Verzicht – Korium. Von diesem Augenblick an rang Willenskraft mit Willenskraft. Ehe Sam seinen Einschüchterungsversuch unternahm, war ihm eine Waffe in die Hand - 248 -
gefallen, die seine Zuversicht stärkte. Die Waffe besaß nur bedingte Wirksamkeit, aber das bedeutete einzig und allein, daß er sich ihr mit um so größerem Geschick bedienen mußte. An dem Punkt, an dem er angelangt war, gab es kein Zurück mehr. Wie die meisten wirksamen Waffen, die ein Mensch gegen seine Mitmenschen einsetzen konnte, war Sams Waffe persönlicher Natur. Er hatte Blaze Harker gefunden. Der Kampf, der entbrannt war, stellte im Grunde eine persönliche Auseinandersetzung zwischen zwei Männern – Sam Reed und Zacharias Harker – dar. Die Geschlechter der Unsterblichen lenkten die Geschicke der Kuppeln, die Harkers nahmen die führende Stellung innerhalb der Familien ein, und Zacharias Harker war ihr Haupt. Er mochte erkannt oder nicht erkannt haben, wo seine Achillesferse lag. Sam zumindest war sich darüber im klaren. Er setzte alles auf eine Karte, in der Hoffnung, daß es ihm gelingen würde, Zacharias Harker mit einem sorgfältig durchdachten Plan zu überrumpeln. Dabei zweifelte er keinen Augenblick daran, daß die Familien ihre eigenen Pläne schmiedeten. Vierzig Jahre zuvor hatten sie ihre Fallstricke ausgelegt, bis der Zeitpunkt zum Handeln gekommen war. Als sie dann zur Tat schritten, blieb - 249 -
von Sam und seinen ganzen Absichten nichts mehr übrig. Diesmal aber würden die Ereignisse einen anderen Verlauf nehmen. Dem Presser war es gelungen, Blaze Harker aufzustöbern. Als die Nachricht Sam erreichte, eilte er, so schnell die Gleitbänder ihn trugen, zu der winzigen, übelriechenden Kammer in den Elendsvierteln der Delawarekuppel. Der Presser phantasierte in Rauschgiftträumen, als Sam hereinkam. Er hielt Sam für einen seiner Kumpane, redete ihn mit Klano an und schwatzte von Verbrechen, die so weit zurücklagen, daß nicht einmal Sam sich an sie erinnerte. Er flößte dem Presser Alkohol ein, bis der Rauschzustand wich und der aufgeschwemmte Giftmischer sich schnüffelnd in seinem Bett aufrichtete. „Du wolltest doch wissen, wo du diesen Harker finden kannst", grunzte er und nannte eine Adresse. Sam fuhr herum und stürzte zur Tür. „He, langsam! Wo willst du denn hin?" „Mir Blaze Harker holen." „Das schaffst du nie. Das Haus ist bewacht." „Ich werde mir schon einen Weg bahnen."
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„Allein für die Vorbereitungen brauchst du mindestens sechs Wochen. Du mußt feststellen, wer von den Leuten sich bestechen läßt, sonst kommst du keine fünfhundert Meter an das Haus heran. Du brauchst jemanden, der dir ähnlich sieht, und du kannst nicht eindringen, ohne deine Flucht vorzubereiten. Ganz zu schweigen von …" „Schon gut, schon gut. Dann fangen wir sofort damit an. Sind Sie in der Lage, das Ding zu schaukeln?" „Möglich. Ich kann es immerhin versuchen." „Worauf warten Sie dann noch? So setzen Sie sich doch schon in Bewegung. Wie lange wird es dauern? Ich kann nicht sechs Wochen warten. Schaffen Sie es in drei?" Der Presser begann zu kichern und krümmte sich zuletzt in einem Lachanfall, der die Bettstelle erzittern ließ. „Als du hier aufgetaucht bist, hatte ich längst alles erledigt, Kleiner", prustete er. Sam verschlug es die Sprache. Er starrte den Presser an, der sich an seinem eigenen Gelächter verschluckte. „Die alten Finger haben ihr Geschick eben noch nicht verloren", stieß er krächzend hervor. „Glaube - 251 -
nur nicht, es wäre ein leichtes Stück Arbeit gewesen; aber geschafft ist es. Laß die Rolläden runter und dreh das Licht aus. Und jetzt sperr' die Augen auf." Ein helles Rechteck erschien auf der gegenüberliegenden Wand. Verschwommene Schatten huschten über die Bildfläche. Eine winzige Kamera, in Hüfthöhe von jemandem getragen, der sich mit wechselnder Schnelligkeit voranbewegte, hatte den Film aufgenommen. Manchmal schritt der Träger gleichmäßig aus, und die Bilder schaukelten rhythmisch auf und ab. Dann wieder lief er, und der Film folgte seinen ruckweisen Bewegungen. Wenn er stehenblieb, verharrte die Kamera mit ihm. Das Ergebnis war eine unregelmäßige, aber überzeugende Bildfolge. Während der ersten Sekunden schien die kleine Kamera auf ein nahes Eisengitter zu starren. Weißbehoste Beine tauchten auf, das Gitter öffnete sich, ein Panorama von Gartenwegen und Springbrunnen erschien im Blickfeld. Offenbar eine der Anlagen, wie sie die Unsterblichen bewohnten. Die verstohlenen, wachsamen Bewegungen des Trägers teilten sich dem Beschauer mit, als der Film nach rechts und links schwenkte, während der Mann seine Umgebung überflog. Zweimal duckte er sich hinter Türen oder Vorhänge, und die Bildfläche - 252 -
wurde dunkel. Flur am Flur, die er rasch und heimlich durcheilte, gab der Film in schwindelerregender Abfoige wieder. Dann vergrößerte sich plötzlich die Geschwindigkeit des Trägers. Der Mann rannte. Wände ruckten auf und ab und drehten sich, wenn er um eine Ecke hastete. Die Bildfläche wurde fast schwarz. Wände glitten abwärts und blieben zurück. Ein gläserner Fahrstuhl stieg in die Höhe, endete in einem gewundenen Korridor. Der Mann huschte um eine Biegung. Eine neue Gittertür versperrte den Weg. Verzierungen schmückten die massiven Stäbe. Sie kamen näher und näher, dehnten sich ins Riesenhafte, verschwammen und schienen zu schmelzen. Das Objektiv der Kamera spähte hindurch und erfaßte den Raum dahinter. Mit rasender Schnelle spielten sich die nächsten Geschehnisse ab. Das prunkvoll ausgestattete Gemach erschien flüchtig im Bild. Zwei Männer beugten sich über einen dritten, der sich gegen seine Bezwinger zu wehren schien. Ubergangslos traf ein Stoß die Kamera. Das Bild flimmerte, die Flurwände schienen herniederzustürzen, die Decke tauchte auf, ein hartes,
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finsteres Gesicht fuhr auf das Objektiv zu, eine Hand riß einen blitzenden Gegenstand hoch. Das Rechteck auf der Kammerwand wurde weiß. Der Film brach ab. Dann setzte er von neuem ein. Das Geschehen wiederholte sich. Im Zeitlupentempo näherte sich das Objektiv den verschwimmenden Stäben. Das Gemach schälte sich heraus und nahm scharfe Umrisse an. Mit alptraumhaft langsamen Bewegungen, die den Zuschauern Gelegenheit gaben, jede Einzelheit zu verfolgen, rangen die drei Männer auf der Projektionsfläche. Da» Gemach war ringsum mit Kissen ausgelegt. Die Füße der Kämpfenden versanken in dem tiefen, weichen Teppich. Bis in Kopfhöhe waren die Wände mit herrlichen Samtstickereien bespannt. Keine Kanten unterbrachen die geschwungenen Linien der Möbelstücke. Der Mann, der sich gegen seine Bezwinger wehrte, war von hohem, schlankem Wuchs. Seine Kopfform verkörperte klassisches Ebenmaß, und selbst die krampfhaften Anstrengungen, die er unternahm, konnten seinen Bewegungen ihre Geschmeidigkeit nicht rauben. Seine entstellten, verzerrten Gesichtszüge ließen sich unmöglich erkennen. Blut tropfte von seiner - 254 -
zerbissenen Unterlippe. Unter seinen Brauen war nur mehr das Weiße seiner verdrehten Augäpfel zu sehen. Die beiden Wärter bemühten sich, Zwangsjacke über seine Arme zu streifen.
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Nach und nach gewannen sie die Oberhand. Das Zeitlupentempo verlieh dem Schauspiel die Wirkung einer Ballettgruppe und beraubte den Kampf durch seine verzerrte Wiedergabe jeder Unmittelbarkeit. Der schlanke Mann hämmerte mit den gefesselten Armen gegen seinen Körper, warf den Kopf zurück und lachte wild und lautlos, während Blutfäden über sein Kinn rannen. Übergangslos machte das irre Gelächter einem neuen Tobsuchtsanfall Platz. Der Rasende warf sich zur Seite und riß einen seiner Peiniger mit zu Boden. Der andere bückte sich; dann schwankte das Bild, tanzte nach oben, und der Film brach ab. „Das war Blaze Harker", unterbrach der Presser das eingetretene Schweigen. „Gib mir etwas zu trinken und gieß dir auch ein Glas voll. Du siehst aus, als hättest du's nötig."
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5. „… und deshalb fordern wir unser Recht", rief Sam von den Bildschirmen aller Kuppeln herab den versammelten Tausenden zu. „Gebt uns das Korium oder tragt die Folgen eurer Weigerung. Die Zeit des Feilschens und der leeren Versprechungen ist vorbei. Der Augenblick der Entscheidung ist gekommen. Harker. Wie lautet Ihre Antwort?" Unter dem ganzen Ozean herrschte atemloses Schweigen, während die Massen verfolgten, wie Sam den riesenhaft vergrößerten Kopf, auf einer Vielzahl von Fernsehschirmen vielfach wiedergegeben, umwandte und auf die Erwiderung wartete. In neunzehn der Kuppeln setzte ein vielstimmiges Murmeln ein, während die Sekunden verrannen. Für die Delawarekuppel aber ging es um Sein oder Nichtsein. Kein Laut zerriß die Stille in den Straßen, und vielleicht zum erstenmal seit der Errichtung der Kuppeln vernahmen aller Ohren das tiefe, gedämpfte Brummen der Bänder, die in ihren endlosen Spiralen dahinglitten. Zacharias Harker ließ sich ausreichend Zeit. Erst als die Spannung unerträglich zu werden drohte, gab er in seinem fernen Aufnahmeraum das Zeichen. - 256 -
Sams Gesicht verschwamm; schattengleich trat es in den Hintergrund. Die ruhigen, stattlichen Züge Zacharias Harkers verdichteten sich davor. „Sie begehen eine Torheit, Reed." Seine Stimme klang beherrscht und gelassen. „Wir wissen, daß Sie uns mit einem Bluff einzuschüchtern versuchen." Sams Kopf trat wieder scharf hervor, und Zacharias Harkers Züge wurden durchsichtig, als Sam erwiderte: „Mit dieser Behauptung hatte ich gerechnet. Ich nehme an, Sie sind von der Wahrheit Ihrer Worte überzeugt, und es liegt an mir, Sie eines Besseren zu belehren. Vielleicht besinnen Sie sich dann anders." Die Gesichter Sam Reeds und Zacharias Harkers lösten sich auf und verschwanden von den Fernsehschirmen. Eine flirrende Meereslandschaft trat an ihre Stelle. Sonnenlicht brach sich Bahn durch die Wolken und warf blaue, sprühende Lichtreflexe über die grauen Wasser. Schaumfetzen gischten über die Bugschnäbel der fünf Schiffe, die die Wellenkämme durchpflügten. Sie waren niedrig gebaut, wendig und schnell, vom Bug bis zum Heck mit Impervium verkleidet. Ihre rasche Annäherung wirkte unheilverkündend. In ihrer mechanischen Unmenschlichkeit mußten sie jedem Betrachter Furcht einjagen. Nirgends zeigte - 257 -
sich die Gestalt eines Menschen. Nur unbestimmte, beunruhigende Schatten bewegten sich zielbewußt hinter der Rumpfverkleidung. Maschinen der Zerstörung waren diese Schiffe, die sich anschickten, den Zweck zu erfüllen, zu dem ihre Erbauer sie geschaffen hatten. „Jetzt!" scholl Sam Reeds Stimme aus den Fernsehempfängern, und Sekunden später schäumte und kochte das Meer hinter dem letzten Schiff. Eine Fontäne sprang in die Luft und regnete in funkelnden Schauern auf die Wasseroberfläche. Dann verblaßten die Schiffe. Das Bild auf den Schirmen erlosch, und der Schauplatz wechselte. Grünliches Seewasser, gesprenkelt mit flimmernden Lichtflecken, füllte das Schirmrechteck aus. Durch die gekräuselte Meeresoberfläche, die den Abschluß nach oben bildete, schoben sich die scharfen Kiele der Schiffe – eins, zwei, drei, vier und fünf –, gepanzert und dunkel schimmernd. Die Helligkeit nahm ab, die Kiele stiegen hoch und verschwanden, während die Fernsehkamera einem schwarzen, zylindrischen Gegenstand folgte, der das letzte Schiff verlassen hatte. Lautlos glitt die Bombe abwärts, und den Tausenden in den Kuppeln rannen kalte Schauer über den Rücken, als sie sich fragten: Mit welchem Ziel? - 258 -
Das Meer war an dieser Stelle alles andere als seicht. Die Wasserbombe fiel und fiel. Die wenigsten achteten noch auf das Geschoß; alle Blicke hafteten auf dem unteren Rand der Bildschirme, warteten auf das erste Anzeichen des Meeresgrundes – oder einer Kuppel. Schlamm und Sand tauchten auf. Fast gleichzeitig detonierte die Bombe, und sofort wechselte die Kameraeinstellung, so daß die Auswirkungen der Explosion sichtbar wurden. Viel war nicht zu erkennen. Gerade das wirkte vielleicht am erschreckendsten – das blendende, verwischte Chaos, die strudelnden, tosenden Wassermassen und das tiefe, donnernde Rollen der Detonation. Es brüllte auf und hielt an. Nicht nur aus den Fernsehempfängern drang das Dröhnen. Es eilte durch die See und brach sich an der Delawarekuppel. Schwankte etwa die stahlharte Hülle? Bebte die Kuppel, während titanische Gewalten auf den Meeresgrund eintrommelten? Das Donnern erstarb. Stille trat ein. Weit droben im Flaggschiff schloß Sam die schalldichten Türen seiner Kabine hinter sich und schaltete den Zusatzempfänger ein. - 259 -
Der gebündelte Richtstrahl übertrug kein Gesicht. Keine Stimme drang aus dem Gerät. Aber Sam übersetzte mechanisch die Nachricht, die der Wortraffer ausspuckte. „Kedre Walton hat die Montanakuppel vor einer Stunde verlassen. Sie ist soeben in Delaware eingetroffen." Instinktiv schaltete Wortraffer ein.
Sam
seinen
eigenen
„Weiß sie Bescheid?" „Nicht unbedingt. Durch die öffentlichen Fernsehschirme in Delaware wird sie erfahren, was vorgeht." „Ist Sari versorgt worden?" „Sowie wir von Kedres Abreise aus Montana erfuhren. Nach menschlichem Ermessen hat sie den Staub inzwischen geschnupft." Ein zweiter Empfänger summte. Robin Hales Stimme erscholl. „Reed! Verhandeln Sie weiter?" „Sofort", erwiderte Sam. Er schaltete das Gerät aus und kehrte zu dem Empfänger zurück, der ihn mit der Kuppel verband. Während er Zacharias Harker einen Augenblick lang schweigend anblickte, ordnete er seine Gedanken. - 260 -
Angesichts der unbeeinträchtigten, aber täuschenden Gelassenheit des Unsterblichen gelang es ihm nicht, ein verzerrtes, triumphierendes Lächeln gänzlich zu unterdrücken. Seine mit äußerster Sorgfalt getroffenen Vorbereitungen erwiesen jetzt ihren Wert. In dem Augenblick, in dem Kedre Walton in die Delawarekuppel zurückkehrte, war der Zeitpunkt zum Handeln gekommen. Psychologische Schläge, gegen die Unsterblichen geführt, hatten mehr Aussicht auf Erfolg als alle Bomben. Sari Walton war mittlerweile in den Besitz des Narkostaubs gelangt, den er ihr über seine Verbindungen zur Unterwelt beschafft hatte. Es stand zu erwarten, daß Sari das Gift bei der ersten Gelegenheit, die sich ihr bot, eingeatmet hatte. Und dieses Rauschgift war mit einer zweiten Droge versetzt. Sobald seine aufpeitschende Wirkung eintrat, mußte der Kitt der Vernunft zerbröckeln, der Saris Verstand bisher noch mühsam zusammengehalten hatte. Beim leisesten Anstoß würden ihre Nerven mit ihr durchgehen. Ihre aufgestauten Haßgefühle bestimmten die Bahnen, die ihr Ausbruch einschlagen mußte.
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Zudem war Sari Walton unter dem gleichen Sturm zur Welt gekommen wie Blaze Harker. Nicht der Mars bestimmte ihre Geburtsstunde, sondern die Erde, die wie ein kaltes, unheilvolles Auge auf die Wolken der Venus herabstarrte und den Keim zu Saris gefährlicher Charakterschwäche gelegt hatte. „Wir lassen uns von Ihnen nicht bluffen, Reed", erklärte Zacharias Harker ruhig. „Sie werden die Delawarekuppel nicht vernichten." „Die Auslösung der ersten Bombe haben Sie miterlebt", gab Sam zur Antwort. „In Abständen von fünf Minuten werfen wir weitere Bomben, bis wir über der Kuppel ankern. Und auch danach werden wir unsere Bombenwürfe nicht einstellen, wenn bis dahin keine Übereinkunft erzielt ist." „Haben Sie die Folgen bedacht?" „Allerdings", erwiderte Sam. „Wir verfügen über Radargeräte, ferngelenkte Geschosse und Flugzeugabwehrwaffen. Im Gegensatz zu uns ist keine einzige Kuppel gerüstet. Und schließlich und endlich liegen die Städte unter Wasser. Sie sind dort sicher, solange sie nicht angegriffen werden. Dann aber sind sie nicht imstande, zurückzuschlagen. Sie können nur warten – und zugrunde gehen." Während seine Stimme aus den öffentlichen Fernsehgeräten drang, schaltete Sam einen - 262 -
Zusatzempfänger ein, der ihm den Bildschirm an einer Gleitbandkreuzung zeigte. Eine riesige Menschenmenge hatte sich davor versammelt. Fortwährend trugen die Bänder Neuankömmlinge aus allen Richtungen herbei, wie Adern, die ihre Blutkörperchen zum Herzen schwemmten. Rote Blutkörperchen, keine weißen – Erbauer, keine Kämpfer. Im Augenblick aber kämpfte er gegen die Kuppeln. Der Gedanke an Hale bereitete ihm Sorge, weil er sich über das Verhalten des Mannes nicht schlüssig war. Würde Hale die Delawarekuppel mit Bomben belegen, wenn Harker eine Kraftprobe herausforderte? Würde er überhaupt im Notfall selber so handeln, wie er das von Hale erwartete? Er durfte die Auseinandersetzung nicht auf die Spitze treiben.
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6. Inzwischen mußte Kedre Walton sich auf dem Weg zu Harkers Räumen befinden. Sie würde erfahren haben, was sich abspielte; alle Fernsehempfänger in den Kuppeln berichteten davon. Die Nachricht würde sie veranlassen, nur noch schneller zu Zacharias Harker zu eilen, den sie seit Jahrhunderten liebte. Ihre Liebe glich nicht dem stetigen Glühen einer Radiumlampe, wohl aber der Bahn eines Planeten, der sich auf seinem langen Weg anderen Himmelskörpern näherte und doch immer wieder zur Sonne zurückkehrte. Auch in diesem kritischen Augenblick würde der Wunsch, Zacharias Harker mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, Kedres Handeln bestimmen. „Die nächste Bombe", ordnete Sam an. Wieder wechselte das Bild auf den Fernsehschirmen, und wieder fiel eine Tiefenbombe. Diesmal detonierte sie auf felsigem Meeresgrund. Mit langanhaltendem Donnergrollen setzte sich die Explosion durch das Gestein fort und drang aus den Fernsehempfängern. Wie Seetang im Wasser, so schwankten die Menschenmassen. - 264 -
Und diesmal zweifelte niemand mehr. Die Delawarekuppel bebte leicht, aber merklich in ihren Grundfesten. Stille trat ein, nur unterbrochen vom Brummen der Gleitbänder. Die Bewohner der Kuppeln warteten in größeren Mengen, als sie sich jemals seit Erreichung der Venus durch den Menschen versammelt hatten. Bisher war das Volk stets von den unsterblichen Geschlechtern gelenkt worden. Jetzt verfolgte es den Zweikampf zwischen Zacharias Harker und Sam Reed. „Angenommen, Sie geben nach", schlug Sam vor. „Die Familien büßen vielleicht einen Teil ihrer Vorrechte ein, aber die breite Masse kann nur gewinnen. Oder fürchten Sie, die Kurzlebigen könnten sich an Land der Bevormundung durch Ihresgleichen entziehen?" „Wir legen niemandem Hindernisse in den Weg, der sich freiwillig zur Besiedlung meldet", erwiderte Zacharias Harker. „Jeder in den Kuppeln kann tun und lassen, wonach ihm der Sinn steht. Sie aber wollen Ihr Vorhaben mit Sklaven durchführen. Die Zeit ist noch nicht reif und die Menschheit nicht bereit, sich an Land zu begeben. Die Gefahren sind nach wie vor zu groß. Sie bekommen keine Freiwilligen für Ihre Siedlungspläne. Sie behaupten, - 265 -
Ihnen ginge es um Korium. Erfüllen wir jetzt Ihr Verlangen, dann fordern Sie als nächstes Frondienste zum Aufbau Ihrer Kolonie." „Die Zeit zum Aufstellen unsinniger Behauptungen ist vorbei", gab Sam zur Antwort, in dem Wissen, daß seine Entgegnung in allen Kuppeln auf der Venus widerhallte. ,.Entweder Sie stellen uns das Korium zur Verfügung, das wir brauchen, oder wir vernichten die Delawarekuppel." „Das werden Sie nicht tun. Eine halbe Million Menschen würde den Tod finden." „Ein geringer Preis, wenn sich damit die Entstehung der Kolonie verhindern läßt – das wollten Sie doch sagen? Sie sind vielleicht bereit, für Ihre Überzeugung zu sterben. Wie stellt es aber mit den übrigen Familien, die in der Delawarekuppel ansässig sind? Wie man hört, haben alle Harkers außer Ihnen bereits die Kuppel verlassen, und auf Sie wartet ein schnelles Schiff. Von wo aus sprechen Sie eigentlich?" Diese Herausforderung zu übergehen, durfte Zacharias Harker nicht wagen. Auch neben ihm stand ein Bildschirm, der die Menschenmengen in den Kuppeln wiedergab. Alles Prestige der Harkers hing davon ab, daß sie sich das Vertrauen der breiten
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Masse erhielten. Das Volk würde keinem Herrscher folgen, der nicht in jeder Lage sein Anführer blieb. Zacharias Harker wandte den Kopf und erteilte eine kurze Anweisung. Zu Sam und seiner Zuhörerschaft gewandt, versetzte er: „Kein Unsterblicher hat die Delawarekuppel verlassen. Wie Sie sehen, befinde ich mich im Ratssaal." Das Bild wechselte und zeigte den geräumigen Saal, in dem Zacharias Harker am Kopfende eines langen Tisches saß. Die Tür öffnete sich, und mehrere Frauen und Männer kamen herein. Sam, der Ausschau nach einem anderen bekannten Gesicht hielt, erkannte Raoul Harker unter ihnen. Würde seine erweisen?
Berechnung
sich
als
richtig
„Und nun zu den übrigen Familien", fuhr Zacharias Harker fort. „Wir wollen uns rasch von ihrer Vollzähligkeit überzeugen." Andere Gemächer tauchten auf dem Schirm auf und füllten sich mit den Angehörigen der Randolphs und Woods, der Mawsons und Davidsons, der einflußreichen Geschlechter, unter denen die Harkers die führende Stellung einnahmen.
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Dann erschien Zacharias Harker wieder im Bild. Geoffrey, Raoul und mehrere andere, die sich inzwischen am Tisch niedergelassen hatten, wurden mit ihm zusammen sichtbar. Sam entdeckte Sari Walton und wünschte sich, er könnte sie deutlicher erkennen. Hatte sie den verfälschten Narkostaub eingeatmet? Sari Walton saß reglos an ihrem Platz. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, und Sam wußte genug. . „Die Unwahrheit Ihrer Behauptung ist erwiesen", erklärte Zacharias Harker. „Kein Unsterblicher hat die Kuppel verlassen." „Ihr seid also allesamt bereit, lieber zu sterben als euch von eurem Korium zu trennen", höhnte Sam. „Meinetwegen, das ist eure eigene Sache. Das Korium aber gehört allen in der Kuppel. Sie haben es erarbeitet, und ihr Eigentum ist es. Sie haben kein Recht, über ihr Leben und ihren Tod zu entscheiden." „Wir sind das Volk", antwortete Zacharias Harker. „Das ist nicht wahr", rief Sam. „Was wißt ihr denn schon von uns? Ihr habt keine Ahnung von dem, was uns bewegt, die wir blindlings um eines Lohnes willen arbeiten, den keiner von uns je zu Gesicht bekommen wird. Ihr aber werdet die Früchte - 268 -
unserer Arbeit einheimsen. Ihr braucht nur die Hände in den Schoß zu legen und zu warten, während normale Menschen ihr Leben lang schuften und Kinder in die Welt setzen und sterben. Ihr habt es nicht eilig mit der Landbesiedlung, weil ihr lange genug lebt, um einst wieder im Licht der Sonne zu stehen, wie unsere Vorfahren auf der Erde. Ihr werdet zu den Planeten fliegen. Ihr werdet die Verwirklichung unserer Träume erleben. Wie aber steht es mit uns? Wir werden sterben, und unsere Kinder und Kindeskinder desgleichen. Im Schweiße unseres Angesichts bauen wir an einer Pyramide, aber keiner von uns wird Zeuge ihrer Vollendung sein. Ihr seid nicht das Volk!" Sams Stimme hatte sich mehr und mehr gehoben, bis er schließlich schrie. „Ihr seid nicht einmal menschlich! Ihr seid unsterblich!" „Wir regieren im Auftrag des Volkes, weil wir dazu am ehesten befähigt sind", versetzte Zacharias Harker. „Befähigt?" spottete Sam. „Und wo steckt Blaze Harker?" „Er befindet sich im Augenblick nicht in der Delawarekuppel." - 269 -
„Bündelstrahl", forderte Sam knapp. „Schalten Sie um." Zacharias Harker zauderte. Dann machte er eine gebieterische Handbewegung. In allen Kuppeln wurde es dunkel auf den Fernsehschirmen. Nur zwei Empfänger, Sams Gerät und das der Harkers, übertrugen die Unterhaltung noch. „Ich kenne den Aufenthaltsort Blaze Harkers", erklärte Sam, nachdem er seinen Empfänger gleichfalls neu justiert hatte. „Ich besitze Filmaufnahmen von ihm, die ich im Fernsehen vorführen kann. Sie wissen am besten, welchen Stoß Ihr Ansehen erleiden würde, wenn die Leute erführen, daß ein Unsterblicher den Verstand verlieren kann." Hinter Sam begannen verschlüsselte Zeichen zu ticken. Automatisch übersetzte er den Wortlaut: „Kedre Walton betritt eben das Gebäude der Harkers." Gleich war es soweit – Aber das Ticken begann von neuem. Verblüfft hörte Sam die eindringliche Aufforderung: „Schalten Sie auf die Kuppeln um! Hören Sie sich das an!" Die Ablenkung kam ihm ungelegen. Damit hatte er nicht gerechnet. Alles hing jetzt davon ab, daß er - 270 -
seine Handlungen auf die Sekunde genau berechnete. Ging das Geringste schief, dann war alles verloren. Der Druck, den er mit seinen Worten auf die Harkers ausübte, durfte keinen Augenblick lang nachlassen. Trotzdem griff er zur Seite, schaltete mit einem Griff den Zusatzempfänger ein und lauschte angespannt. Die Bildschirme in den Kuppeln waren leer. In dem Moment, in dem die erregende Auseinandersetzung ihrem Höhepunkt zustrebte, war den Zuhörern ihre weitere Verfolgung verwehrt worden. Unaufhaltsam begann sich ihr Unmut Luft zu machen. Ein Knurren des Zorns stieg von den gedrängten Tausenden auf. Erregt und unruhig wogte die Menge durcheinander, brandete gegen die Schirme vor, als könnte sie aus der Nähe mehr erkennen. Von Sekunde zu Sekunde verstärkte sich das ärgerliche Murren. Gereizte Rufe wurden vereinzelt hörbar. Die lärmende Menge verlangte Antwort – und zwar schnellstens. Sam fuhr zu dem Empfänger herum, der auf Bündelstrahl eingestellt war. Auch im Ratssaal der Harkers beobachtete man die Volksmassen. In den Gesichtern spiegelten sich der Eindruck, den das - 271 -
anschwellende, zornige Murren erweckte, und die Erkenntnis, daß die Zeit zu rasch verrann. Sam verzog das Gesicht zu einem Grinsen. Die Lage konnte sich überhaupt nicht besser entwickeln. Die Ereignisse waren den Harkers entglitten, ob sie es nun erkannten oder nicht. Noch kein Unsterblicher hatte jemals unter solchem Druck gestanden. Dementsprechend war auch keiner gewohnt, damit fertig zu werden. Sam dagegen hatte unausgesetzt unter Druck gelebt. Schnelles Denken war ihm zur zweiten Natur geworden. Wenn er es jetzt noch schaffte, rasch genug zu reden – „Ihr habt allen Kontakt mit der Menschheit verloren!" stieß er hervor. „Was wißt ihr Unsterblichen schon von menschlichen Regungen? Ändern einige hundert Jahre soviel an Glaube und Treue? Ich bin wahrhaftig froh, daß ich ein normaler Mensch bin!"
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7. Zacharias Harker blickte ihn verständnislos an, als Sam innehielt, um Atem zu schöpfen. Die Worte, die eben gefallen waren, hörten sich unecht an, und dieser unwahre Klang entging Harker nicht. Solange die Menge Zeuge der Unterhaltung war, mochten derartige Gefühlsduseleien noch hingehen. Im privaten Gespräch dagegen waren sie gänzlich fehl am Platze. Überschwenglichkeiten imponierten höchstens der wetterwendischen Masse. Oder aber einem Menschen mit engem Horizont, den Charakterschwäche und Verwirrung hin und her rissen – Zu spät dämmerte Harker, wem Reeds Worte galten. Während Sam dazu ansetzte, seine letzte Beschuldigung hervorzustoßen, öffnete sich die Tür hinter Harker, und Sam sah, daß er um Haaresbreite den rechten Augenblick erwischt hatte. „Leute Ihres Schlages glauben, Sie könnten es sich leisten, die Leichtgläubigkeit einer Frau auszunutzen", schrie er. „Und wenn Sie dieser Frau dann überdrüssig sind, werfen Sie sie weg wie ein Spielzeug und hängen sich wieder an Ihre …"
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Kedre Walton kam durch die Tür in den Ratssaal. Aus dem Augenwinkel bemerkte Sam das Schimmern der goldgrünen Haarpracht Saris, als deren Kopf hochfuhr, sah, wie sie sich duckte, wie ihr Umschlagtuch herunterglitt und von ihren Schultern fiel. Sein Blick aber ruhte auf Kedre. Sie schien seine Worte nicht vernommen zu haben. Schlank und gazellengleich lief sie durch den Saal, den Kopf zurückgeworfen, als wäre die Flut ihres Haares zu schwer für den zarten Hals. Im Laufen löste sie die Schnallen ihres weiten Mantels, ließ ihn zu Boden gleiten und eilte mit ausgestreckten Armen auf Harker zu. Mit diesem Auftritt hatte Sam gerechnet. Die gegenseitige Zuneigung hatte ein gemeinsames Band um Kedre Walton und Zacharias Harker geschlungen, bis sie ein Leib und ein Geist waren. Keiner hatte bisher in entscheidenden Augenblicken ohne den anderen gehandelt, und Kedre war auch diesmal herbeigeeilt, so schnell es in ihren Kräften stand. Jeder im Saal erkannte, daß dieser Mann und diese Frau zusammengehörten und so sehr eins geworden waren, wie zwei Menschen das nur vermochten.
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Reeds und Harkers Blicke kehrten gleichzeitig zu Sari Walton zurück. Einen Sekundenbruchteil, ehe das Verhängnis eintrat, begriffen beide, was sich vorbereitete. Aber es war schon zu spät, um das Unvermeidliche noch zu verhindern. Sams Berechnungen stimmten bis ins kleinste. Schlag um Schlag hatten die Geschehnisse Sari versetzt, während die aufpeitschende Wirkung des Narkostaubs ihre letzten Hemmungen beseitigte. Jetzt gingen ihre Nerven mit ihr durch. Ihr Ausbruch konnte nur eine Richtung nehmen. Sie haßte Kedre Walton und Zacharias Harker. Nun überschritt dieser Haß seinen kritischen Punkt und riß alle Schranken der Beherrschung nieder. Unter dem Stern der zerplatzten Erde hatte Sare das Licht der Welt erblickt. Jetzt explodierte sie selbst zu rasender Weißglut. Sekunden später bildete die Versammlung der Unsterblichen ein wirres Getümmel, als die Männer versuchten, Saris mörderischen Griff zu lösen, mit dem sie Kedres Kehle umklammerte. Sam drückte eine Taste nieder und sah, wie sein Gesicht weit unter ihm auf den öffentlichen Bildschirmen erschien. Das gereizte Murren der Menge, das sich allmählich, aber stetig gesteigert hatte, brach übergangslos ab, als Sam rief: - 275 -
„Harker! Harker, unsere unterbrochen! Melden Sie sich!"
Verbindung
ist
Er erhielt keine Antwort. „Harker! verlassen?"
Harker!
Haben
Sie
die
Kuppel
Wieder fiel eine Tiefenbombe. Durch das Donnergrollen der Detonation, durch das unheilverkündende Beben der Imperviumhülle drang Sams Stimme: „Wo stecken Sie, Harker? Wenn die Harkers geflüchtet sind, wer vertritt sie dann? Antworten Sie!" Jäh füllten Zacharias Harkers Züge das Schirmrechteck aus. Er atmete schwer. Aus einer langen Kratzwunde sickerte Blut über seine Wange. Sein Gesicht war eiskalt und ruhig. „Wir sind nicht geflüchtet", sagte er. „Wir …" Er konnte nicht weitersprechen. Im Gebrüll der Menge gingen seine Worte unter. Die Delawarekuppel heulte und tobte. Zum erstenmal in der Geschichte der Venus erhob der Pöbel seine Stimme unter einer Stadtkuppel. Zum erstenmal, seitdem die unsterblichen Geschlechter die Geschicke der Menschheit lenkten, wagte das Volk, ihnen die Herrschaft streitig zu machen. - 276 -
Jetzt lehnte es sich auf, jetzt rebellierte es. Zacharias Harker bewegte die Lippen auf dem Fernsehschirm, doch kein Laut drang durch den entfesselten Tumult. Denn den Massen mußte es scheinen, als stürzten die Wasserfluten bereits in die Stadt. Der Anblick, den der keuchende, blutende Harker bot, entsetzte sie. Immer noch zitterte die Kuppel unter dem Aufprall der Bomben, und nun schien die Panik auch den bisher unerschütterlichen Unsterblichen erfaßt zu haben. Die Menge tobte vor Angst. Kapitulieren sollte Harker. Die Menschen brüllten ihm ihre Aufforderung zu. In diesem Moment beging Sam seinen ersten Fehler. Er hätte sich aus den Vorgängen heraushalten, hätte die Ereignisse ihren Lauf nehmen lassen sollen. Aber beim Anblick der eiskalten Beherrschung, die Harker selbst angesichts dieses rasenden Tumults wahrte, trieb es ihn mit unwiderstehlicher Gewalt, in dieses zeitlose, makellose Gesicht hineinzuschlagen, den unnachgiebigen Unsterblichen unter die Füße zu treten, ihn mit allen Mitteln zum Eingestandnis seiner Niederlage zu
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zwingen. Für die Gelassenheit Harkers empfand Sam keine Bewunderung, nur unbeherrschten Haß. Und weil er den Mann nicht mit den Fäusten erreichen konnte, schrie er ihm die Gefühle ins Gesicht, die ihn durchtobten. Die ersten Worte, die er Harker zubrüllte, hörte niemand. Als aber sein kantiges, rotes Gesicht auf den Fernsehschirmen auftauchte, ließ das Toben der Menge allmählich nach, bis endlich zusammenhängende Sätze zu verstehen waren. „Geben Sie Ihren Widerstand auf!" schrie Sam. „Kein Harker hat das Recht, uns zu unterdrücken! Liefern Sie uns das Korium oder zeigen Sie uns, was sich eben in Ihrem Ratssaal abgespielt hat. Los doch! Beweisen Sie uns, welche Gelassenheit die Harkers an den Tag legen, wenn die Lage kritisch wird! Nein – ich selbst werde es jedem einzelnen vor Augen führen! Wartet, Leute, wartet, bis ihr Blaze Harker gesehen habt und das, was aus ihm .. ." Harkers schemenhafte Gestalt machte eine gebieterische Handbewegung. Während Sam schrie und gestikulierte, verschwammen seine Züge auf dem Fernsehschirm, und seine Stimme verklang. Klar und deutlich zeichnete sich Zacharias Harker wieder auf den Schirmen der Fernsehempfänger ab.
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Er beugte sich vor und blickte aus erhabener Höhe auf die angsterfüllten Volksmassen herab. „Hört auf mich, ihr Männer und Frauen der Kuppeln", sagte er. „Ihr seid nach wie vor in Sicherheit. Keine Bombe ist auf die Delawarekuppel gefallen, und keine Bombe wird sie treffen. Denn dieser Mann ist nicht das, was er zu sein vorgibt. Bis zu diesem Augenblick habe ich sein Geheimnis gewahrt; nun aber ist die Zeit gekommen, seinen Betrug zu enthüllen. Joel Reed hat behauptet, er hätte seinen Vater niemals zu Gesicht bekommen. Er hat geschworen, die Schande zu tilgen, die seinem Namen anhaftet. Und er hat versprochen, die Kolonie zu gründen, die Sam Reed zugrundegerichtet hat, ehe sie noch entstanden war." Harker hielt inne. „In Wahrheit aber ist dieser Mann kein anderer als Sam Reed", schloß er dann. Verblüfftes Stimmengewirr setzte ein, als Harker seine Ansprache beendete. Er hörte sich das Gemurmel einen Augenblick lang an, ehe er die Hand hob. „Die Netzhautmuster und Fingerabdrücke liefern schlüssige Beweise für das, was ich eben behauptet - 279 -
habe", sagte er. „Unsere Nachforschungen stimmen. Vor euch steht Sam Reed, der Betrüger, der sich mit Traumstaub der gerechten Vergeltung entzogen hat. Glaubt ihr seinen Versprechungen jetzt immer noch? Reden Sie, Sam Reed! Malen Sie noch mehr Luftschlösser für die Leute, die Sie hintergangen haben! Oder wollen Sie etwa leugnen? Sollen wir Ihnen auf der Stelle unsere Beweise vorführen? Was haben Sie zu sagen, Sam Reed?" Sams Züge traten wieder klar auf den Fernsehschirmen hervor. Wie ein Schatten wartete Harker mit halbgeöffneten Lippen hinter ihm. Er atmete immer noch schwer, und Blut rann über seine Wange. Zacharias Harker hatte den Kopf verloren. Einen Moment lang begriff niemand, wie es um ihn stand, am wenigsten sein Gegner. Sam wußte nur, daß er so schnell schalten mußte wie noch nie in seinem Leben. Höchstens eine Viertelminute, die den Eindruck einer bewußten Pause erwecken würde, blieb ihm zum Überlegen. Dann mußte er antworten. Dabei zeichnete sich die Entgegnung fast schon vor seinem inneren Auge ab. Sie lag ihm buchstäblich auf der Zunge, aber zehn Sekunden lang rang er vergeblich darum. - 280 -
Dann fiel der Groschen. Harker hatte einen einzigen, aber dafür um so entscheidenderen Fehler begangen. Kein Unsterblicher war rasche Gedankensprünge gewohnt. Jahrhundertelang war die Anforderung, mit einem Blick alle Seiten einer drohenden Gefahr zu erfassen, sämtliche Möglichkeiten abzuwägen und sich instinktiv für den sichersten Ausweg, zu entscheiden, nicht an sie herangetreten. Und Harker war unsterblich. Er dachte nicht in dem Sinne, wie normale Menschen denken. Seine Überlegungen gründeten sich auf Jahre und Jahrzehnte, nicht auf Tage und Wochen. Sam lachte. „Nein", rief er. „Ich leugne nichts. Ich wollte mich unter anderem Namen bewähren, weil ich euch das schuldig war und weil ich meine Vergehen wieder gutzumachen hatte. Aber Harker hat recht. Ich bin unsterblich!" Er unterbrach sich, um jedem die volle Bedeutung dieser Worte zu Bewußtsein zu bringen. „Ich war vierzig Jahre alt, als ich mit Traumstaub aus dem Weg geräumt wurde", fuhr er fort. „Und weitere vierzig Jahre lang habe ich die Kuppeln nicht aufgesucht. Sehe ich aus wie ein Achtzigjähriger? Überzeugt euch selbst! Bin ich ein Greis?"
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Sam lockerte die gefärbten Haftschalen und entfernte sie mit zwei Griffen aus seinen Augen. Er spie die Kappen aus, die über seinen Zähnen saßen und riß sich die rote Perücke herunter. Grenzenloses Selbstvertrauen lag in dem Grinsen, mit dem er seine Zuschauer anblickte. Auch dem letzten unter ihnen teilte sich die herrische Schönheit mit, die von ihm ausging. Die Menge sah ein kantiges, kraftvolles Gesicht mit harten Zügen, in die wohl ein gewalttätiges Leben seine Furchen gegraben hatte, nicht aber das hohe Alter. Selbst der haarlose Schädel war zu ebenmäßig geformt, um von der Kahlköpfigkeit eines Greises herzurühren. Das Gesicht, das die Massen erblickten, strotzte vor Lebenskraft, doch es glich in nichts den wohlgestalteten Zügen, wie sie die Unsterblichen aufwiesen. „Schaut mich an", wiederholte Sam. „Ihr seht, daß ich kein Unsterblicher bin. Niemand, der unsterblich war, ist jemals mit meinem Aussehen geboren worden. Ich unterscheide mich in nichts von euch. Aber ich habe achtzig Jahre lang gelebt." Er trat einen Schritt zurück, hielt inne und heftete seinen durchdringenden, fordernden Blick auf die Menge.
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„Ich war ein Mensch wie ihr alle", sagte er. „Aber während ich Jahrzehnte an Land verbrachte, habe ich eine gewaltige Entdeckung gemacht. Ich weiß jetzt, warum die Unsterblichen nicht wagen, die Erschließung der Kontinente voranzutreiben. Ihr wißt selbst, daß sie alles unternommen haben, um die Besiedlung der Landstriche zu verhindern. Weshalb? Ich will euch den Grund nennen. Ihr alle könnt die Unsterblichkeit erlangen!" Der ausbrechende Tumult klang erst nach fünf Minuten ab. Und selbst dann hörten die wenigsten, wie Zacharias Harker müde sagte: „Schön, Reed. Sie bekommen Ihr Korium. Soll das vielleicht ein neuer Betrug sein? Wenn nicht, dann nur zu. Machen Sie die Leute allesamt unsterblich!"
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8. Über die ganze Länge der Wand lief ein farbenprächtiges Gemälde. Es zeigte grüne Meere mit weißen und purpurnen Schaumkronen, die den Fuß braunsamtener Hügel benetzten. Vor langer, langer Zeit kannte man solche Ufer auf einer Welt, die nun in Weißglut stand. Der Künstler, der das Wandgemälde schuf, hatte niemals eine brandende See oder schroffe Hügelkuppen erblickt. Seiner Wiedergabe einer Landschaft, die nur in seiner Einbildung bestand, haftete ein Anflug von Unwirklichkeit an, der um so stärker hervortrat, als ein hellerleuchtetes Rechteck in der Mitte des Gemäldes eine wirkliche Meeresfläche mit dschungelbestandenem Ufer zeigte, über die ein Boot auf V-förmigen Wasserschwingen dahinschoß. Zwei Menschen saßen in dem Gemach und verfolgten die Vorgänge, die sich über ihnen an Land abspielten. Kedre Walton hatte sich mit gekreuzten Beinen auf einem Kissen niedergelassen und legte eine Patience auf dem niedrigen Glastisch, der vor ihr stand. Nur dann und wann schaute sie auf den flimmernden Fernsehschirm.
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Zacharias Harker dagegen, der seinen tiefen Sessel dem Schirm zugedreht hatte, wandte keinen Blick von dem dahinrasenden Boot. „Da stürmen sie nun über die See, die Toren", murmelte er halblaut vor sich hin. Er hielt ein Fäßchen mit glimmendem Rankenstaub in einer Hand, das er gelegentlich an die Nase führte. Die saftstrotzende Liane, die den Staub lieferte, hatte einst Gift auf jedes Tier gesprüht, das sich in seiner Unbesonnenheit in ihre Nähe wagte. Getrocknet und zerrieben entströmte ihr beim Abbrennen ein betäubender Duft, der erregte Nerven besänftigte. Harker atmete den Rauch tief ein und blies ihn gegen den Fernsehschirm. „An dem, was Reed sich diesmal eingebrockt hat, wird er noch schwer zu kauen haben", bemerkte er. „Wie gewöhnlich du dich ausdrückst", tadelte Kedre. Das Lächeln, das sie ihm zuwarf, konnte den Beschauer blenden, denn Kedre hatte sich nach der neuesten Mode geschmückt. Ihre schweren schwarzen Locken waren mit Gold überzogen. Eine dünne, schimmernde Goldschicht hüllte jede Flechte ein. Das aufgetürmte Haar vereinigte sich zu einer geflochtenen Krone, die sich wie ein Helm über dem schmalen Agypterinnenkopf Kedres erhob. Selbst
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ihre Brauen bildeten goldene Bogen, und ein Goldtropfen funkelte an der Spitze jeder Wimper. „Lachhaft schaust du aus", versicherte Harker ihr mit einem Zwinkern. „Habe ich etwas anderes behauptet? Ich erprobe nur, wie weit zu gehen ich mir leisten kann. Außerdem wirst du morgen erleben, daß sämtliche Frauen in …" „Sieh dir das an!" Harker setzte sich plötzlich auf, den Blick auf den Fernsehschirm gerichtet. Kedre drehte sich mit einer Karte in der Hand um, und dann verharrten beide reglos und beobachteten die unwirklich erscheinenden Vorgänge auf dem flimmernden Rechtedv an der Wand. Das Boot kreuzte auf den Landeplatz im Innern einer kreisrunden, langgestreckten Kette von Wellenbrechern zu. Eine weiße Mole sprang in die graue See vor. Zehn junge Männer und Frauen fuhren mit dem Boot der Unsterblichkeit entgegen, deren Erlangung ihnen in Aussicht gestellt worden war. Unruhig drehten sie ihre Köpfe hierhin und dorthin und starrten auf die fremdartige Welt, die in den Kuppeln in einem Atemzug mit Gefahren und Abenteuern genannt wurde. Gleich den Jünglingen und Mägden, die Jahrtausende zuvor auf Kreta den Opfergang - 286 -
zum Minotaurus angetreten hatten, beobachteten sie angstvoll die mächtige Wand des Dschungels, die näher und näher heranrückte, und die niedrigen, geglätteten Mauern der Niederlassung, die den Namen Plymouth erhalten hatte. Die Mauern umgaben das erste Eiland, das erobert werden sollte. Kein Minotaurus erhob sich aus der See und versperrte dem Boot den Weg; aber auf Opfer war das auftauchende Geschöpf aus. Eine Vielzahl von Sauriern bevölkerte die Meere, von denen die wenigsten bereits mit Bezeichnungen belegt worden waren. Keiner der Zuschauer hatte schon früher einen Saurier von der Art dessen erblickt, der aus den milchigen Fluten in die Höhe schoß. Während das Wasser zu beiden Seiten seines dunkelschimmernden Halses herabfloß, erhob er den Kopf meterhoch über die See, riß einen Rachen auf, in dem der Kopf eines Mannes Platz hatte, und zischte. Mehrere Reihen langer, gebogener Fangzähne saßen in dem weitgeöffneten Schlund. Ein einziger entsetzter Schrei stieg von dem heftig schwankenden Boot auf, an dessen Deck die Menschen verzweifelt versuchten, sich nach der entgegengesetzten Schiffshälfte zu flüchten. Der Kopf des Sauriers tauchte auf sie herunter. Unbestreitbare Anmut lag in der gleitenden, - 287 -
mühelosen Bewegung. Die Bestie schien sich ein Mädchen am Bug als Opfer erwählt zu haben, dessen blondes Haar und korallenrotes Gewand hell gegen das fahlgraue Seewasser abstachen. Einen Augenblick lang herrschte entfesselter Tumult an Bord des kleinen Schiffes. Dann beugte sich der Lotse mit einer fast verächtlich zu nennenden Bewegung vor und legte einen Hebel um. Auf beiden Seiten des Bootes glitt durchscheinendes Impervium in die Höhe und schloß sich zu einem unüberwindlichen Schutzdach. Der herabtauchende Kopf des Sauriers prallte heftig gegen die Kuppel. Das Boot krängte und tauchte mit seiner Imperviumhülle tief in die Fluten. Männer und Frauen fielen durcheinander. Der scharfe Bootskiel blitzte auf und grub sich in den langen, dunklen Hals des Sauriers. Ein ohrenbetäubendes Brüllen erscholl. Der zähnestarrende Rachen des Sauriers klaffte zu den Wolken hoch. Sein gebogener Hals fuhr steil nach oben, während ein Blutstrahl aus der aufgerissenen Kehle schoß. Zum zweitenmal erklang das donnernde Gebrüll, aber diesmal hatte es einen schrilleren Klang angenommen. Blut ergoß sich durch die Kehle des
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Sauriers und sprudelte aus dem aufgerissenen Rachen. Zweimal peitschte der dunkle Hals das Wasser, ehe er in den aufgewühlten Wogen versank. Ein roter Fleck breitete sich kreisförmig auf den Fluten aus. Das Boot richtete sich wieder auf und steuerte die Mole an.
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9. Kedre lachte und legte ihre Spielkarte auf den Tisch. „Wie gelangweilt dieser Lotse während des ganzen Schauspiels gewirkt hat", sagte sie. „Es würde mich nicht wundern, wenn Sam Reed den Saurier vorher draußen vor dem Hafen festgebunden hätte, um seinen Siedlern einen würdigen Empfang zu bereiten. Jetzt haben sie doch wenigstens etwas, wovon sie ihr Leben lang erzählen können." „Unterschätze Reed nicht", erwiderte Harker ernst und führte wieder das Räucherfäßchen an die Nase. „Er würde selbst das oder etwas noch Gefährlicheres tun, wenn er einen Nutzen darin sähe. Er ist gefährlich, Kedre – nicht wegen seiner Findigkeit, sondern wegen seiner Unverantwortlichkeit." Kedre bewegte zustimmend ihren Kopf mit der glitzernden hochgetürmten Haarpracht. „Du hast natürlich recht, und zum Lachen ist die Angelegenheit ganz und gar nicht. Wer hätte sich auch träumen lassen, daß Reed seine Zuflucht zu den Methoden der Freien Trupps nehmen würde! Meiner Ansicht nach müssen wir mit neuen Gewalttaten rechnen, wenn irgendein Umstand wiederum seine - 290 -
Pläne durchkreuzen und er auf keinen raschen Ausweg verfallen sollte. Über diesen Punkt zerbrechen wir uns besser rechtzeitig den Kopf." „Demnach hat sich deine Schwäche für den Mann gelegt?" Der zweifelnde Unterton in Harkers Stimme entging Kedre nicht, aber sie blickte nicht auf. Statt dessen schob sie die Karten, die auf dem Tisch lagen, auseinander, bis sie auf den Hängebuben stieß. Wie alle übrigen Spielkarten war auch diese ein Meisterstück kunstvoller Ausführung. Der Hängebube war mit dem rechten Knöchel an einem Tförmigen Baum aufgeknüpft. Gemustertes Getäfel bildete den Hintergrund. Ein goldener Schein lag um das schmunzelnde Gesicht des Buben und sein herabhängendes rotes Haar. Kedre drehte die Karte um und betrachtete nachdenklich die Abbildung auf der Vorderseite. „Frag' mich nicht danach, Zacharias", entgegnete sie. „Früher oder später mußt du dir darüber klar werden, Kedre. Eine flüchtige Tändelei scheidet jetzt aus. Der Mann ist unsterblich." „Ich weiß." - 291 -
„Weißt du auch, wer er in Wahrheit ist?" Kedre blickte rasch auf. „Weißt du es denn?" Harker nickte und blies eine Rauchwolke aus. „Er entstammt meiner eigenen Familie", sagte er. „Bist du über Blaze unterrichtet?" „Mittlerweile so gut wie jeder andere. Sam hat es nicht gerade mit Andeutungen bewenden lassen, nachdem er sich einmal entschieden hatte, das Ansehen der Harkers zu zerstören. Kennt er selber seine Herkunft?" Der Unsterbliche lachte leise. „Die Ironie liegt gerade darin, daß er nichts davon ahnt. Er hat beträchtliche Anstrengungen darauf verwandt, uns so in Mißkredit zu bringen, daß kein Mensch einem Harker auch nur noch ein Wort glaubt. Ich würde zu gerne sein Gesicht sehen, wenn er erfährt, daß er den Ruf seines eigenen Namens vernichtet hat." „Vernichtet dürfte doch wohl kaum das rechte Wort sein." „Im Grunde nein, denn was geschehen ist, läßt sich wiedergutmachen. Wir mögen Fehler begangen haben – beispielsweise beginne ich zu glauben, daß wir im Unrecht waren, als wir uns der Landbe- 292 -
siedlung entgegenstellten –, aber auf lange Sicht betrachtet, waren unsere Beweggründe immer vernünftig, und darüber ist sich meines Erachtens auch jedermann im klaren. Wenn wir wollen, können wir die öffentliche Meinung immer in unserem Sinne beeinflussen. Im Augenblick aber möchte ich abwarten und beobachten. Laß ihm Zeit. Die Besiedlung darf jetzt nicht mehr scheitern. So sehr mir die Vorstellung mißfällt, werden wir in diesem Punkt mit Reed zusammenarbeiten müssen." Kedre drehte eine Spielkarte um, schickte sich an, sie auf den Tisch zu legen, hielt dann inne und musterte sie mit leisem Lächeln. Während sie die Karte immer noch betrachtete, bemerkte sie: „Vorübergehend vielleicht. Seiner Veranlagung nach ist er schlecht. Trotzdem bin ich mir darüber im klaren, daß ich einiges für ihn empfinde. Er hat noch eine Strecke Weges vor sich, ehe er endgültig an die Spitze gelangt. Bis dahin wird er mehr zustandebringen, als irgendeiner von uns erreichen würde. Aus den selbstsüchtigsten Beweggründen heraus wird er heroische Taten verrichten, um seine Machtstellung zu begründen. Er wird das Fundament zu einer brauchbaren Gesellschaftsstruktur legen, aber auch nur das Fundament und nicht mehr, weil - 293 -
er keinen Begriff von einem konstruktiven Staatswesen besitzt. An diesem Punkt werden wir ihn beseitigen müssen." „Hast du bereits eine Vorstellung davon, wie sich das anstellen ließe?" „Indem wir ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen, fürchte ich. Wir müssen seine Schwächen ergründen und seine eigene Stärke gegen ihn kehren. Ihn mit einem unwiderstehlichen Köder locken und dann …" Kedre lächelte und schnippte die Spielkarte mit dem Finger auf die andere Seite. Harker wartete schweigend. „Noch habe ich keinen Plan", fuhr Kedre fort, „aber ich glaube, ich sehe bereits einen Weg. Ich muß noch einige Zeit darüber nachdenken. Wenn er sich als gangbar erweist, dann würde er uns die einzige Waffe in die Hand geben, gegen die er hilflos ist." „Eine Waffe?" Die goldgetuschten Brauen hoben sich. Unter ihrer schwergoldenen Haube hervor blickte Kedre zu Harker auf. Die goldenen Augenbrauen verliehen ihren Zügen einen maskenhaften Ausdruck. Wieder schnippte - 294 -
Kedre die Spielkarte auf die andere Seite. So gut Harker sie auch kannte, vermochte er doch nicht zu ergründen, was hinter ihrer Stirn vorging. Er hatte diesen Ausdruck noch nie an Kedre gewahrt. Wortlos beugte er sich vor und warf einen Blick auf die Spielkarte. Es war die Treff-Zehn. Das Bild auf der Karte zeigte eine graue, gestaltlose Meereslandschaft unter einem düsteren Abendhimmel. Die Griffe von zehn Schwertern stachen scharf dagegen ab. Ihre zehn Klingen staken aufrecht in dem Leichnam eines ausgestreckten Mannes.
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10. Der Tag kam, an dem der erste große Siedlertrupp in Plymouth eintraf. Sam hatte ihm voller Erwartung und mit leisem Unbehagen entgegengeblickt; aber die Erwartung überwog. Er hatte es stets vorgezogen, den Stier bei den Hörnern zu packen, vielleicht deshalb, weil manch einer seiner Gegner sich als schwer zu fassen erwiesen hatte. Die Hürde, die auf ihn wartete, war ganz und gar psychologischer Natur. Er mußte eine Ansprache halten und genau das darin zum Ausdruck bringen, was die Tausende von Freiwilligen erwarteten, die die Aussicht auf Unsterblichkeit verlockt hatte, sich zur Landbesiedlung zu melden. Er holte tief Atem und musterte seine Zuhörerschaft, während er vor die Batterie aufgebauter Fernsehempfänger hintrat. Dann begann er: „Ihr seid eine ausgesuchte Schar. Man hat euch sorgfältig gesiebt, und ihr habt alle Prüfungen bestanden. Ihr seid harten Proben unterzogen worden, weil wir Wert darauf legen, daß der Voraustrupp, dem die Unsterblichkeit als erstem zufällt, sich nur aus den Gesündesten, Zähesten und Geschicktesten zusammensetzt." - 296 -
„Nicht jedermann kann die Unsterblichkeit erlangen", fuhr er fort. „Nach Ablauf einer gewissen Zeit altert der Mensch unweigerlich. Die Schnelligkeit, mit der diese Entwicklung eintritt, ist verschieden, und die ersten Anzeichen brauchen nicht unbedingt sofort zutage zu treten. Wir wissen zwar, wie wir dem Alterungsprozeß Einhalt gebieten können, aber seine Ursachen kennen wir nicht. Eines Tages werden wir sie entdecken. Ein Virus mag der Alterserreger sein. Im Augenblick wissen wir nur, daß es eine Behandlung gibt, die den Prozeß hemmt. Nach Überschreiten des vierzigsten Lebensjahres bleibt sie jedoch in den meisten Fällen wirkungslos – vielleicht, weil die Waagschale sich schon zu weit auf die Seite des Alters gesenkt hat." Wieder ließ er seinen Blick über die Schirme schweifen. Die harrenden Massen verkörperten Gefahr. Er hielt eine lebendige Bombe in der Hand, die er erst im letzten Augenblick loslassen durfte. „Ihr seid körperlich und geistig geprüft und gesiebt worden", nahm er den Faden wieder auf. „Ihr seid die Elite der Kuppeln. Als erste werdet ihr Unsterblichkeit erlangen. Andere werden folgen, aber ihr bildet die Vorhut. Ihr schafft die Voraussetzungen für die übrigen, und sie werden - 297 -
euer Werk fortführen, während ihr die Früchte eurer Mühen genießt. Ihr werdet arbeiten müssen und es nicht leicht haben. Um unsterblich zu werden, müßt ihr jahrelang an Land leben." Fünf Jahre, dachte er. Vielleicht noch länger – aber fünf Jahre waren die obere Grenze, die er sich gesetzt hatte. Mit dieser Frist vor Augen hatte er die Prüfungen festgelegt und überwacht. Tausende und später Millionen zu sieben, hätte sich als langwierige und schwierige Aufgabe erwiesen, wenn die Voraussetzungen nicht bereits bestanden hätten. In den Statistischen Ämtern waren Unterlagen über den Großteil der Bevölkerung vorhanden, die Angaben über Geistesverfassung, Erbanlagen, pathologische Neigungen und mutmaßliche Langlebigkeit enthielten. Sam legte zwar Wert auf gesunde, zähe und lebenstüchtige Frauen und Männer, aber ein anderer Punkt war von noch wesentlicherer Bedeutung, weil davon der Erfolg seiner Planung abhing. Er braucnte Leute, die in ihren Jugendjahren standen und binnen fünf Jahren nicht sichtbar altern würden. Unsterblichkeit ließ sich nur durch den äußeren Anschein beweisen oder widerlegen, es sei denn, daß – - 298 -
Auch diese Möglichkeit hatte er berücksichtigt. „Ihr müßt an Land leben", wiederholte er. „Bedenkt, daß ich fast vierzig Jahre hier oben verbracht habe. Die Behandlung dauert durchschnittlich sechs bis sieben Jahre. Auch das spricht für die Möglichkeit, daß ein Virus als Alterserreger in Frage kommt, dem bis zum Absterben um so länger zugesetzt werden muß, je älter jemand ist. Wird ein Kind von Geburt an der Strahlung ausgesetzt, wie das bei den Nachkommen der Unsterblichen der Fall war, dann sind nur einige wenige Behandlungen erforderlich. Wiederum könnte die Ursache darin zu suchen sein, daß das Virus die Neugeborenen noch nicht befallen hat. In einem solchen Fall wächst das Kind heran, bis es erwachsen ist, und lebt dann Jahrhunderte, ohne zu altern. Den Kindern, die zukünftig in den Kuppeln das Licht der Welt erblicken, wird diese Möglichkeit geboten werden. Anders ist es bei Erwachsenen. Auch euch steht der Weg in die Unsterblichkeit offen, aber ihr müßt ihn euch erarbeiten und erkämpfen. Sechs oder sieben Jahre lang müßt ihr der Strahlung ständig ausgesetzt sein, und das läßt sich in den Kuppeln nicht durchführen.
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Noch wissen wir nicht allzuviel über die Strahlung. Der Boden und die Atmosphäre der Venus enthalten das strahlende Element, aber nur in winzigen Mengen. Aus Gründen, die wir noch nicht aufgedeckt haben, muß der Mensch gleichzeitig der kosmischen Strahlung und den Sonnenlicht ausgesetzt werden. Unsere Forschungen werden später auch darüber Klarheit schaffen. Im Augenblick wissen wir nur eines: Wir können euch die Behandlung verabfolgen, aber sie dauert Jahre, und diese Jahre müßt ihr an Land verbringen, damit alle Voraussetzungen erfüllt werden. Dis Verfahren selbst ist zu verwickelt, um es hier bis ins einzelne zu erläutern. Es wirkt nur bei Menschen und ähnelt darin dem ausgerotteten Leprabazillus, der ebenfalls keine Tiere befiel. Meerschweinchen konnten nicht mit Aussatz infiziert werden. Darin lag auch der Grund, weshalb die Entwicklung eines Heilmittels so lange dauerte. Die Unsterblichkeit ist der Menschheit, ist euch vorbehalten. Sie steht jedem offen, der noch nicht zu alt ist. um sich der Behandlung zu unterziehen. Aber bis ihr sie besitzt, müßt ihr an Land leben, und Plymouth ist zu klein für eure Zahl. Ihr müßt neue Niederlassungen gründen.
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Darin liegt die einzige Losung. Wir hatten ursprünglich daran gedacht, die Bevölkerung in Abständen von sieben Jahren auszutauschen, aber aus Gründen der Gerechtigkeit hätten wir mit denen beginnen müssen, die gerade noch jung genug sind, um Nutzen aus der Strahlung zu ziehen. Bei ihnen wäre dann ein Stillstand eingetreten, während die übrigen weiter gealtert wären. Wir halten es deshalb für das beste, die Leute so auszuwählen, daß sie geistig und körperlich auf der Höhe ihrer Lebenskraft stehen und dabei anschließend jahrhundertelang verharren. Auf diese Weise brauchen auch die übrigen nicht sieben oder vierzehn oder gar einundzwanzig Jahre zu warten. Sobald die Kolonie genügend ausgedehnt ist, trifft der nächste Trupp aus den Kuppeln ein und setzt die Erweiterung fort. Dieser Weg wird allen in gleichem Maße gerecht." Sam warf einen Blick auf die Fernsehschirme. Die Leute schluckten seine Ansprache. In fünf Jahren würden die Dinge vielleicht anders aussehen; aber bis dahin stand zu erwarten, daß keine Alterserscheinungen auftraten, die nicht mit dem Hinweis auf Umwelteinflüsse abgetan werden konnten. Das Leben auf den Kontinenten der Venus mußte einen Menschen natürlich verändern. - 301 -
„Ihr müßt euch eure Unsterblichkeit verdienen", setzte er seine Rede fort. „Wir wissen, daß euch die Umstellung zu Anfang nicht leichtfällt, und nehmen darauf Rücksicht. Bedenkt aber, daß ihr sechs Jahre oder länger an Land aushalten müßt und daß euch das nur gelingen kann, wenn ihr euch den Erfordernissen des Kolonielebens anpaßt. Diejenigen, die hier die führenden Stellungen einnehmen, haben gelernt, mit den Fährnissen der Dschungel fertig zu werden. Bei ihnen liegt die Befehlsgewalt, und ihr müßt ihnen gehorchen. Wir haben unsere eigenen Gesetze, die mit denen der Kuppeln nichts gemein haben. Wir sind hier an Land, und der Dschungel versucht Tag und Nacht, uns zu töten. Ihr seid nun Siedler und damit den Vorschriften der Kolonie unterworfen. Den Verträgen gemäß, die ihr unterzeichnet habt, werdet ihr erst wieder zu Kuppelbewohnern, wenn die Kolonie euch formell entläßt. Diese Entlassung findet an dem Tage statt, an dem ihr unsterblich geworden seid. Keinem unter euch wird die Umstellung grundsätzliche Schwierigkeiten bereiten, solange er seine Stellung ausfüllt und imstande ist, jederzeit den Posten seines Vorgesetzten zu übernehmen.
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Beförderungen werden an Land rasch stattfinden. Stellt euch darauf ein. Wie gesagt, ihr müßt euch eure Unsterblichkeit erwerben. Die kommenden sechs oder sieben Jahre werden für uns alle nicht einfach sein. Ihr opfert aber nicht ein Zehntel eures Lebens, sondern weniger als ein Hundertstel. Wenn ihr unsterblich seid, entsprechen sieben Jahre an Land kaum einem einzigen Monat. Vergeßt das niemals! Denkt stets daran, wenn euch der Mut sinken will. Ihr werdet unsterblich sein! Und keine Arbeit ist so schwer, daß ein kräftiger Mann sie nicht einen einzigen Monat lang ertragen könnte." Sam schaltete den Fernsehsender ab. Er war allein in dem Zimmer. Minutenlang blieb er schweigend sitzen und beobachtete die Menge, die ihn nicht mehr sehen und hören konnte. „Bittere Arznei mit süßem Überzug", murmelte er dann leise. „Das System funktioniert immer wieder." Die künftigen Siedler nahmen inzwischen über ihre Fernsehempfänger Befehle von den jeweiligen Leitern ihrer Einheiten entgegen. Den zähen, ausgebildeten Männern, die schon unter Hale und Sam gearbeitet hatten, waren die führenden Stellungen zugewiesen worden. - 303 -
Wie Weinberge sich an Rebstöcken emporrankten, so würden die Niederlassungen ausgedehnt werden. Nicht in fünf Jahren; die Eroberung der Landstriche würde wesentlich länger dauern. Neue Siedlungen würden an den Küsten entstehen, von Plymouth getragen und unterstützt, bis sie auf sich selbst gestellt existieren konnten. Plymouth mußte unabhängig und mächtig bleiben. Die anderen Niederlassungen dagegen – Sie stellten ihn vor eine Schwierigkeit. Verwundbar durften sie nicht sein, sonst waren sie nicht imstande, sich gegen die unbezähmbare Wildheit der Dschungel zu behaupten. Er dagegen mußte ihnen jederzeit beikommen können. An ihm lag es, Plymouth gänzlich unverwundbar zu machen. Fünf Jahre blieben ihm, ehe er damit rechnen mußte, daß die Meute sich gegen ihn wandte, um ihn zu zerreißen.
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11. Glied um Glied schmiedeten die Männer die Inselkette aneinander. Zur Erholung blieb keine Zeit. Jede Minute zählte. Trotzdem gewann Sam den Eindruck, daß Hale ihm auswich. Als er das Büro des Mannes beim Betreten leer vorfand, knurrte er ärgerlich und schaltete den Fernsehempfänger auf dem Schreibtisch ein. „Wo hält sich der Gouverneur auf?" wollte er wissen. „Er leitet die Rodungsarbeiten auf Eiland Sechs." ,,Verbinden Sie mich." Der Fernschschirm erlosch – offenbar verfügte Hale auf der Insel bisher nur über einen Sprechanschluß –, und die Stimme des Gouverneurs meldete sich: „Hier Hale." „Sam Reed. Mir scheint, wir waren verabredet." „Oh", erwiderte Hale, und sein Tonfall veränderte sich. „Tut mir leid. Die Arbeit schreitet zu schnell voran. Ein neuer Materialtransport ist eingetroffen, und wir haben Nummer Sechs gleich in Angriff genommen. Wir können später miteinander reden." - 305 -
Mit einem Grunzen schaltete Sam den Apparat aus. Er verließ das Zimmer und ließ sich ein Flatterboot kommen. Diesmal war er sicher, daß Hale ihm aus dem Weg gegangen war. Der Steuermann gehörte zu den Pionieren, die sich vor Jahren in Plymouth angesiedelt hatten. Er salutierte gemächlich und lenkte das kleine Boot auf die offene See hinaus. In einem raschen, weiten Halbkreis näherten sie sich Eiland Sechs. Auf den Inseln, die hinter ihnen zurückblieben, waren die riesigen Wälder bereits verschwunden und die ersten Anpflanzungen im Entstehen begriffen. Hier und dort erhoben sich Flutten. Molen stießen in die See vor, bewacht von kleinen Bunkern. Eine sonderbare Mischung aus Ackerbau und Kampfbereitschaft hatte den Inseln ihren Stempel aufgedrückt. Nur fünf Inseln dienten als Brückenköpfe gegen die riesigen Kontinente der Venus, die von raubgierigem Leben wimmelten. Dennoch bildeten sie einen Anfang. Schritt um Schritt würde die Entwicklung ihren Fortgang nehmen. Sam musterte den Steuermann. Aus seinen Zügen konnte er nichts herauslesen. Wahrscheinlich würden nicht die alten Kolonisten eines Tages aufbegehren, sondern die neuen Siedler ihrer Unzufriedenheit Luft machen. Dieser Augenblick - 306 -
würde hoffentlich noch Jahre auf sich warten lassen. Bis dahin mußte es ihm gelingen, die Zügel so straff anzuziehen, wie ihm das vorschwebte. Und Hale? Welche Haltung nahm er ein? Wie würde er sich in fünf Jahren zu seinen Absichten stellen? Die Frage bereitete Sam nicht wenig Kopfzerbrechen. Mit den Familien in den Kuppeln konnte er sich messen, weil sie seine Gegner waren. Robin Hale verfügte dagegen über sämtliche Möglichkeiten, die ihm seine Unsterblichkeit bot, und dazu noch über eine günstige Stellung, die Sam außerordentlich gefährlich werden konnte. Nach außen hin kämpften beide Rücken an Rücken, doch wollte es Sam nicht gelingen, sich ein klares Bild von Hale zu verschaffen. Was wußte oder erriet der Mann? Hatte er von vornherein Sam Reeds Versteckspiel unter dem Namen Joel Reed durchschaut? Und wieweit ahnte Hale, daß die Unsterblichkeitsbehandlung nur Schein darstellte? Theoretisch lag es durchaus im Bereich des Möglichen, daß Sam die Wahrheit sprach. Wenn, wie er argumentierte, die Unsterblichen tatsächlich kurz nach ihrer Geburt der Strahlung ausgesetzt
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wurden, konnte sich natürlich keiner von ihnen daran erinnern. Immerhin war Hale alles andere als leichtgläubig. Selbst die Bereitwilligkeit, mit der er sich Sams Führung unterwarf, weckte dessen Argwohn. Die passive Rolle, in die sich Hale gefunden hatte, mochte der Erschöpfung zuzuschreiben sein, die auf Jahre voller Mühsal folgte. Aber selbst diese Erwägung ließ ein ungutes Gefühl in Sam zurück. Auch Metall konnte nachgeben, nur um sich später wieder zu verhärten. Der Gedanke daran brachte eine neue Erkenntnis. Die Siedler waren gleichfalls aus hartem Holz geschnitzt. Bis jetzt ließen sie sich nach seinem Willen lenken, doch die Kämpfe und Entbehrungen die sie an Land durchmachten, würden sie stählen. ,Ich muß auch für meine Rückendeckung sorgen, dachte Sam. Das Flatterboot raste auf Eiland Sechs zu. Die Dschungel verbargen den größten Teil der Insel mit Ausnahme einer schroffen Erhebung an einem Ende. Ein Helikopter stand dort, und die Gestalt eines Mannes hob sich von dem perlgrauen Himmel ab. Prahme und winzige Boote schossen am Ufer durcheinander. Der Steuermann nickte zu Sams - 308 -
Handbewegung. Er wendete das Flatterboot und schlängelte sich zwischen dem Gewimmel durch. Gischt sprühte wie Regen gegen den durchsichtigen Bugschutz. Sam stand auf, als der Bootsrand gegen die Mole knirschte. Mit einem Satz sprang er an Land und geriet augenblicklich in einen Wirrwarr gebrüllter Befehle. Eine Zerkleinerungsmaschine rollte auf ihren Raupenketten von einem Prahm herunter und wälzte sich schwerfällig über das Ufer. Leichtere, bewegliche Fahrzeuge mit hohen Rädern und aufmontierten Waffen zur Dschungelbekämpfung folgten. Die Männer trugen leichte Schutzanzüge und Atemgeräte. Schwere Schutzpanzer hätten sie nur behindert. Eine Gestalt mit Gasmaske berührte Sam am Arm und hielt ihm ein Bündel hin. „Legen Sie das Zeug lieber an, Sir. Vielleicht treibt sich doch noch irgendwelches Geschmeiß in der Gegend herum, und mit den Giftpflanzen ist hier auch nicht zu spaßen." „Schön", erwiderte Sam, schlüpfte in den Anzug und streifte das Atemgerät über. „Ich will zum Gouverneur hoch. Steht er drüben auf dem Hügel?"
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„Ja, Sir. Es führt aber noch kein Weg hoch. Er hat sich mit dem Hubschrauber hinfliegen lassen." „Dann besorgen Sie mir einen zweiten." Der Mann überlegte einen Augenblick, drehte sich dann um und brüllte eine Frage. Nach einer Weile kam ein Helikopter herbeigeschwirrt und nahm Sam an Bord. Vier Minuten später sprang er auf dem Hügel zu Boden und winkte dem Piloten zu, weiterzufliegen. Weil Hale weder Schutzanzug noch Atemgerät trug, legte Sam seine Ausrüstung ebenfalls ab. Hier oben verringerte sich die Gefahr einer Vergiftung. Außerdem hatten Sam und Hale in den vorausgegangenen Monaten eine beträchtliche Unempfänglichkeit für Ansteckungen und Gifte aller Art entwickelt. Hale nickte Sam zu. Er hatte einen Feldstecher umgehängt und hielt ein Mikrophon in der Hand. Die Leitung lief zu seinem Hubschrauber, der in der Nähe aufgesetzt hatte. Vor ihm stand ein Klapptisch, auf dem eine Landkarte befestigt war. „Wie kommen Sie voran?" erkundigte sich Sam. „Es hält sich in Grenzen", entgegnete Hale. „Die Sprühduschen haben die meisten Insekten abgetötet,
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aber in einem Aufwischen geht selten das ganze Geschmeiß zugrunde." Alles, was kleiner als dreißig Zentimeter war, galt als Insekt. Danach blieben noch Fauna – genügend Biester – und Flora – Grünzeug in rauhen Mengen – übrig. Sie ließen sich erst recht nicht in einem Aufwischen vertilgen. Die Fauna war groß und die Flora gefährlich und unberechenbar. Die Sprühduschen richteten eine Menge aus. Im Verlauf der Säuberung der ersten fünf Inseln hatten die Männer vieles gelernt. Als erstes wurde jedes Eiland seitdem in Chemikalien gebadet, die sich mit dem kleinen Geschmeiß nicht vertrugen und es besonders auf die Flechten abgesehen hatten. Der Flora spielten sie gleichfalls übel mit. Den Biestern bereiteten die Sprühduschen höchstens Unbehagen, aber sie griffen immerhin offen an und konnten bei einiger Schnelligkeit abgeschossen werden. Wenigstens besaßen sie nicht die unangenehme Angewohnheit, in die Lungen einzudringen und zu einer schwammigen Masse aufzuquellen, die die Atemwege lähmte. Eiland Sechs machte weder den Eindruck einer unberührten noch einer bezwungenen Insel. Der Dschungel hatte seine leuchtendgrüne Färbung verloren und ließ schlaff die Ranken hängen. - 311 -
Gelegentlich wurden stumpfe, erschöpfte Regungen darin sichtbar.
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12. „Im Helikopter liegt ein zweiter Feldstecher", bemerkte Hale. Sam holte sich das Fernglas und betrachtete die Männer, die unter ihm über die Insel schritten. Ihre Bewegungen fesselten ihn. Eine Lebhaftigkeit haftete ihnen an, wie man sie in den Kuppeln nicht kannte. Für den Dschungel interessierte sich Sam nur oberflächlich. Das einzige, was ihn reizte, war die Beschäftigung mit dem Verhalten seiner Mitmenschen. Er verbrachte lange Stunden damit, über die Beweggründe nachzugrübeln, die dieser oder jener Tat, die aus dem Rahmen fiel, zugrundelagen, und zu überlegen, ob er daraus Gewinn schlagen konnte. Den Männern, die er sah, bereitete ihre Arbeit Freude. Dieser Zustand war neu für die Venus. Den Leuten mußten alle Knochen von der ungewohnten Plackerei schmerzen und der Schweiß unter den Schutzanzügen über den Körper rinnen. In jedem Atemzug undjeder Bewegung lauerte Gefahr auf sie. Trotzdem gingen sie in ihrer Arbeit auf. Ein Blick nach hinten genügte, um ihnen die Fortschritte zu zeigen, die sie machten. Seit einer Ewigkeit hatte - 313 -
den Menschen die körperliche Arbeit gefehlt. Jetzt genossen sie das Gefühl, im Schweiße ihres Angesichts Ordnung in den Wirrwarr zu bringen, der an Land herrschte. Ohne den Feldstecher von den Augen zu nehmen, warf er Hale einen Seitenblick zu, in dem Bemühen, den Mann nicht merken zu lassen, daß er ihn musterte. Übergangslos fragte er: „Hale, was unternehmen wir wegen der Harkers?" Hale erteilte durchs Mikrophon eine knappe Anweisung, wobei er der unsichtbaren Zerkleinerungsmaschine mit völlig nutzlosen Armbewegungen die Richtung wies, die sie einschlagen sollte, und drehte sich dann zu Sam um. „Was sollen wir Ihrer Meinung unternehmen?" forschte er leichthin.
nach
„Die Harkers sind mir zu ruhig. Sie machen uns den Sieg zu leicht. Vor vierzig Jahren haben sie uns schon einmal in Sicherheit gewiegt und dann erst zugeschlagen. Ich weiß – das war meine Schuld. Damals war ich noch jünger und unvernünftiger. Heute bleibt mir gar nichts anderes übrig, als auf Draht zu sein. Trotzdem traue ich den Harkers nicht."
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Hale betrachtete ihn mit einem ruhigen Blick, der nichts über seine Gedanken verriet. „Mag sein", versetzte er dunkel. „Wie weit erstrecken sich Ihre Pläne in die Zukunft, Reed?" Jetzt war es Sam, der auswich. „Wie meinen Sie das?" „Ich wollte damit sagen, daß es in einiger Zeit, vielleicht in fünf oder zehn Jahren, Ärger geben wird. Sind Sie nicht auch der Meinung? Oder haben Sie sich mit der Frage noch nicht beschäftigt?" Sam stieß einen erleichterten Seufzer aus. Soviel zumindest war nun also geklärt. Seit der entscheidenden Fernsehsendung, in der er die unsterblichen Geschlechter zum Nachgeben gezwungen und durch sein Versprechen, das er nicht halten konnte, seine drohende Niederlage in einen Sieg verwandelt hatte, war es ihm nicht gelungen, mit Hale unter vier Augen zu reden. Daran war Hale schuld. Er hatte dafür gesorgt, daß immer Dritte zugegen waren. Inzwischen war es für Sam unmöglich geworden, ihm offen die Frage vorzulegen, ob er Joel Reed von Anfang an erkannt hatte oder nicht. Im Zuge dieser Entwicklung war Sam auf eine Weise ins Hintertreffen geraten, die ihm nicht gefiel. Er gab sich keinen Täuschungen
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darüber hin, daß Hale mehr Standfestigkeit besaß, als er ihm zugetraut hatte. Immerhin war nun klar, daß Hale, was die Unsterblichkeit anging, die Wahrheit kannte. Dennoch hatte er den Betrug stillschweigend hingenommen. Er setzte Siedler ein, die er auf keine andere Weise für die Zurückdrängung der Dschungel gewonnen hätte, und gab seinen Namen zu einem Schwindel her, neben dem Sams ursprüngliche Täuschung verblaßte. Sam, der diesen Tatbestand zum erstenmal klar erfaßte, gewann ein gut Teil seiner Selbstsicherheit zurück. „Doch, ich habe mich damit befaßt", entgegnete er. „Ich wünschte, es wäre nicht nötig. Aber vielleicht heiligt der Zweck die Mittel. Wir wären auf keinem anderen Weg zum Ziel gelangt, oder?" Hale hob kaum merklich die Brauen bei der Erwähnung des „wir". Doch die Frage selber konnte er nicht verneinen. Er hatte die Vorteile angenommen und konnte jetzt nicht seinen Anteil an der Verantwortung ablehnen. „Nein, wohl kaum", räumte er ein. „Was geschehen ist, läßt sich ohnehin nicht mehr rückgängig machen. Die Art, wie wir uns des Erreichten bedienen, wird darüber entscheiden, ob unser Vorgehen gerechtfertigt war. Darauf müssen - 316 -
wir achten, Reed." Seine Stimme klang warnend. „Haben Sie sich schon definitive Gedanken darüber gemacht, wie Sie der Krise begegnen wollen, wenn sie eintritt?" Natürlich hatte Sam das getan, aber ihm war auch Hales Mahnung nicht entgangen. Bis hierher und nicht weiter wollte Hale also die Siedler nur ausnutzen, wie? Dann mußte er mit den Plänen, die er geschmiedet hatte, eben hinter dem Berge halten, bis der Tag herannahte, um sie in die Tat umzusetzen. „Ich habe mehrere Auswege erwogen", bemerkte er vorsichtig. „Wir werden uns darüber unterhalten, sobald wir mehr Zeit haben." Ihm schwebte nur ein einziger sicherer Ausweg vor Augen, und er dachte, daß Hale ein Trottel war, wenn ihm nicht dasselbe einleuchtete. Sobald die versprochene Unsterblichkeit sich als Betrug erwies, mußte sich eine Woge von Groll gegen die beiden Männer richten, die das Versprechen abgegeben hatten. Es würde zu Gewalttaten kommen, und Gewalt konnte man nur mit Gewalt begegnen. Dafür gedachte Sam gerüstet zu sein. Wenn Hale diese Lösung mißbilligte, mochte er mit einer besseren aufwarten oder die Folgen tragen. Sam jedenfalls wollte schon für sich selber sorgen. Und falls Hale - 317 -
versuchte, sich darein zu mischen, würde es zum Kampf kommen. Allerdings hatte Sam das unbehagliche Gefühl, daß Hale ein gefährlicherer Gegner sein würde, als er anfangs angenommen hatte. Es schien ihm geraten, das Thema zu wechseln. Was er wissen wollte, hatte er zum größten Teil erfahren. Der Punkt dagegen, den er als Vorwand für sein Herkommen benutzt hatte, harrte noch der Klärung, und er war gleichfalls nicht zu unterschätzen. „Um nochmals auf die Harkers zurückzukommen, bin ich der Meinung, daß wir diesmal in Verbindung mit ihnen bleiben sollten", sagte er. „Wenn wir mit ihnen zusammenarbeiten, haben wir mehr Gelegenheit, ihnen auf die Finger zu sehen. Außerdem sehe ich keine Möglichkeit für sie, sich im Augenblick noch weiter unseren Plänen zu widersetzen. Selbst sie dürften wissen, daß, wenn die Landbesiedlung jemals gelingen soll, der Anfang hier in Plymouth gemacht werden muß. Wenn wir hier einen Fehlschlag erleiden, wird nie wieder ein neuer Versuch unternommen werden." „Ich bin sicher, daß man das inzwischen auch bei den Familien eingesehen hat."
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„Dann müssen sie mit uns auf das gleiche Ziel hinarbeiten, wenn ihre Beweggründe so vernünftig sind, wie man mir versichert, hat. Wir sind die Sieger. Ich meine, es sollte an uns liegen, den ersten Schritt zu einer Verständigung zu unternehmen." „Und weiter?" Sam zögerte. „Ich traue mir die Durchführung nicht zu", platzte er dann mit ungewohnter Offenheit heraus. „Zacharias Harker und ich – wir können uns einfach nicht riechen. Wenn ich den Kerl auch nur sehe, könnte ich ihm die Faust ins Gesicht setzen. Sie sind erstens unsterblich und zweitens ein besserer Diplomat als ich. Sie kennen Harker seit langem. Wollen Sie das übernehmen, Hale?" Hale zauderte seinerseits. Dann bemerkte er: „Sie sind genauso unsterblich, Reed." „Vielleicht. Ich glaube schon, wenn auch nicht im gleichen Sinne. Wenn ich Zeit habe, muß ich mich gelegentlich mit dieser Frage befassen. Im Augenblick ist das unwichtig. Suchen Sie Harker nun auf?" Hale zögerte immer noch mit seiner Antwort. Während er offenbar nach Worten suchte, begann das Sprechfunkgerät in seiner Hand zu summen. - 319 -
Erleichtert über die Unterbrechung hielt er es ans Ohr. Einen Moment lang lauschte er und schaute zum fernen Dschungel hinüber, wo dann und wann ein Baumwipfel schwankte und von den mahlenden Raupenketten der unsichtbaren Zerkleinerungsmaschine zermalmt wurde. „Nehmen Sie Ihr Fernglas und stellen Sie sich dort drüben hin", forderte er Sam auf. „Die Männer sind auf ein Sirenennetz gestoßen. Das Schauspiel sollten Sie sich nicht entgehen lassen." Neugierig gehorchte Sam.
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13. Als er den Feldstecher ansetzte, schien der Dschungel mit einem einzigen gewaltigen Satz auf ihn zuzuschnellen. Die Zerkleinerungsmaschine hatte breite Wege durch das Gestrüpp gewalzt und das Eiland gevierteilt. Keilförmige Dschungelzonen ragten dazwischen auf. Von ihren verfärbten Blättern und Ranken tropfte noch der giftige Sprühregen der Chemikalien. Die vorderste Zone war bereits gerodet, und Sam konnte zu dem fernen Baumkeil hinüberblicken, den die Zerkleinerungsmaschine durchpflügte. Die riesige, stählerne Ramme wälzte sich auf ihren Raupenketten mit einem schwerfälligen Schlingern voran, das in den Dschungel paßte, dem sie zu Leibe rückte. Die urweltlichen Saurier der Venus trampelten in derselben schaukelnden, weitausgreifenden Gangart durch die Wälder und schoben ihre gepanzerten Flanken nicht weniger majestätisch zwischen den Stämmen entlang als das metallene Ungetüm, das ihnen ihre Heimat streitig machte. Lianen wanden sich um die Ramme und hingen in langen, verfilzten Büscheln an den Seiten - 321 -
herunter. Teilweise zuckten und krümmten sie sich noch schwach und versuchten, ihre scharfen Dornen in das unempfindliche Metall zu schlagen. Schwach drang das Poltern und Dröhnen der voranstampfenden Zerkleinerungsmaschine zu dem Hügel herauf. Baumstämme splitterten mit scharfem Knall, und jetzt trug die Luft auch die Rufe der Männer dünn und verweht herüber. Dann erglühten schillernde Farben unmittelbar vor der Ramme und lenkten Sams Blick auf sich. Einen Augenblick lang schien es ihm, als stünde die Welt still. Er hörte den Lärm nicht mehr, der an seine Ohren wehte, und spürte weder den Druck des Feldstechers vor seinen Augen, noch roch er den lastenden Dunst der Luft, an die er sich immer noch nicht gewöhnt hatte. Nur das Farbenspiel loderte im Dschungel, verblaßte im nächsten Augenblick und wechselte zu einer neuen, noch prachtvolleren Farbtönung über. Sam verharrte wie angewurzelt, während die beiden Töne miteinander verschmolzen und einen dritten Farbenschleier gebaren, in den sich blassere Streifen mischten. Übergangslos setzte Sam den Feldstecher ab und sah Hale fragend an. Der Gouverneur lächelte leicht. Sein Gesicht verriet Bewunderung. „Sie besitzen - 322 -
eine Menge Widerstandskraft", ließ er sich zögernd vernehmen. „Ich habe noch nie erlebt, daß jemand so schnell seine Blicke von einem Sirenennetz losgerissen hat. Einem Hypnotiseur würden Sie damit Kummer bereiten." „Weiß ich", erwiderte Sam. „Ich habe schon die Probe aufs Exempel gemacht. Was stellt dieses Netz da unten dar?" „Einen entfernten Verwandten des Glückseligkeitsumhangs, nehme ich an. Sie werden wohl wissen, daß solche Umhänge aus einem Meeresschmarotzer hergestellt werden, der seine Beute bei lebendigem Leibe verschlingt. Sobald er sie einmal berührt hat, läßt sich das Opfer mit Freuden auffressen. Das Sirenennetz bedient sich einer ähnlichen Waffe. Sie werden es gleich erleben." Sam hob das Fernglas wieder vor die Augen und stellte die Schärfe so ein, daß er das Netz mit derselben Deutlichkeit erkennen konnte, als stünde er ihm gegenüber. Einen Augenblick lang war es ihm unmöglich, sich über seine wahre Natur klarzuwerden. Wieder versagten seine Sinne den Dienst, und er konnte nur mit schmerzlicher Verzückung auf die zerfließenden Farben starren. - 323 -
Dann riß er sich aus dem Bann los, der ihn befallen hatte, und musterte das Netz mit nüchternem Blick. Seine Größe verriet, daß es ein für die gefräßigen Dschungel beträchtliches Alter erreicht haben mußte. Er verglich es mit den Männern, die in der Deckung der Ramme darauf zuliefen, und sah, daß es im Durchmesser wenigstens drei Meter maß. Wie ein Spinnennetz hing es auf einer kleinen Lichtung zwischen zwei Bäumen. Kräftige, miteinander verwobene Taue verankerten es an Ästen und Ranken. Der Mittelpunkt dagegen schien einen festen Körper zu bilden, ähnlich einer dünnen, straff gespannten Membran, die leise vibrierte und von Farbton auf Farbton durchrennen wurde, von denen jeder weitere den Betrachter mehr verzauberte als der vorangegangene. Rascher und rascher loderten sie über das bebende Netz. Ein leises Klingen, erzeugt von den schwirrenden Tauen und der Membran, drang an Sams Ohren. Der Laut glich keiner irdischen Musik, aber er war erfüllt von rhythmischer Musikalität und einem schrillen, singenden Klang, unter dem die Nerven ekstatisch erzitterten. Das Geschöpf wandte alle Künste seiner Sirenennatur an, um die Ramme ins Verderben zu - 324 -
locken. Vor der stumpf voranwalzenden Maschine schillerte es in hypnotisierenden Farben, schrillte seine unwiderstehlichen Gesänge, um die Schaltungen der Ramme zu zerstören und ihre Raupenketten zu lähmen. Einen Augenblick lang schien es unmöglich, daß selbst dieses stählerne Ungetüm dem Zauberbann des Sirenennetzes zu trotzen vermochte. Wäre es der Lockung erlegen, dann hätte das für die Männer, die in der Deckung der Ramme vorwärtsliefen, den Tod bedeutet. Sams Ohren erhaschten nur das ferne Echo der klingenden Töne, doch allein ihr Widerhall bewirkte, daß ihn wirre, abgehackte Gedanken durchzuckten und sein Verstand sich zu drehen begann, während die lähmenden Farben des Netzes vor seinen Augen wirbelten. Wäre er dort unten hinter der Ramme hergelaufen und hätte das Netz erblickt, er hätte nicht anders gehandelt als andere Männer vor ihm und sich blindlings in die Umarmung der Sirene gestürzt. „Alles schon einmal dagewesen", murmelte er benommen vor sich hin. „Odysseus ist den Sirenen auf seiner Irrfahrt begegnet, und Homer hat geschildert, wie er seinen Mannen die Ohren mit Wachs verstopfte und sich selber an den Mastbaum fesselte." - 325 -
Binnen Augenblicken war alles vorbei. Bis zum letzten Moment flammte und schrillte die Sirene, versprach ihr ausgebreitetes Netz dem Opfer die Verzückung des Todes. Dann stampfte die Ramme vorwärts und berührte den Mittelpunkt des Netzwerks. Mit dem Lodern eines Blitzes sprang die Membram vorwärts und schloß sich um den Rumpf der Maschine. Die Taue strafften sich und kreischten zum letztenmal triumphierend. Ein schwacher elektrischer Schlag mußte ihr Opfer lähmen, denn selbst die Ramme schien einen Augenblick zu zögern, als die glühenden Fäden sich über sie legten. Es erweckte den Anschein, als erzitterte jede Niete ihres Rumpfes unter der Ekstase, in die die Berührung der Sirene ihre Beute versetzte. Dann wälzte der stählerne Koloß sich vorwärts. Die Taue spannten sich, dehnten sich straffer und straffer, während ihr grelles Farbenspiel zu durchscheinendem Weiß überwechselte. Dünner und dünner wurden sie und sangen dabei so schrill, daß das Ohr die Töne nicht mehr erfaßte, die Nerven aber bis in die letzte Faser das qualvolle Vibrieren spürten, das sich bis in den Ultraschallbereich steigerte.
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Die Taue rissen. In einer letzten krampfhaften Zuckung klammerte sich das Sirenennetz an seinen Gegner, überhaucht von flammenden Farbdisharmonien. Dann fiel es schlaff in sich zusammen und rutschte an der Maschine herunter. Die mahlenden Raupenketten erfaßten sein Gewebe, zermalmten es gnadenlos und stampften es in den Boden. Das Geschöpf, das sich von der Ramme löste, war ein betörendes Zaubernetz, ein Nessushemd von brennender Farbe. Das Wesen aber, das die Raupenketten in den Pflanzenbrei drückten, war nur noch eine häßliche Masse aus klebrigem Grau, die sich noch konvulsivisch wand, als die Klampen sie erfaßten. Mit einem langen Seufzer stieß Sam den angehaltenen Atem aus. Er ließ den Feldstecher sinken und schwieg einen Moment lang. Dann ging er zu dem Klapptisch, legte das Fernglas auf die ausgebreitete Karte und bewies erneut, daß keine Hypnose ihn lange in ihren Bann schlagen konnte. „Um auf unser Thema zurückzukommen", sagte er, „wann können Sie sich Zeit für eine Unterredung mit den Harkers nehmen?" Hale seufzte gleichfalls. „Überhaupt nicht", versetzte er. - 327 -
Sam runzelte die Stirn. „Die Sache ist wichtig. Niemand eignet sich so gut dafür wie Sie. Ich wünschte wirklich, Sie könnten es einrichten, Hale." „Ich bin hier unabkömmlich, Reed", antwortete Hale. „Keiner kennt die Dschungel so wie ich. Ich bin kein Diplomat. Die Angelegenheit fällt in Ihr Ressort. Tut mir leid." Sam war sicher, daß mehr hinter der Weigerung steckte, als sein Gegenüber zugab. Hale hielt sich konsequent aus allem heraus, was mit dem Betrug im Zusammenhang stand. Nur den Gewinn heimste er ein. Alles übrige lag bei Sam. Und Sam konnte nicht das Geringste dagegen unternehmen. Zum erstenmal fuhr ihm ein unangenehmer Gedanke durch den Kopf. Bis zu diesem Augenblick hatte er sich für den Urheber der Besiedlung gehalten. Er hatte die Drähte gezogen, an denen Robin Hale wie eine Marionette baumelte. Nun fragte er sich plötzlich, wer sich eigentlich letzten Endes als das Werkzeug wessen erweisen würde. Er zuckte die Achseln. „Na schön. Wenn es sein muß, erledige ich die Geschichte. Aber machen Sie mir hinterher keine Vorwürfe, wenn ich alles verderbe." - 328 -
„Keine Sorge." Sam schob das Kinn vor. In dieser Sache war das letzte Wort noch nicht gesprochen. Er wußte jetzt, wo er seinen eigentlichen Gegner zu suchen hatte, und er wußte auch, daß die Auseinandersetzung erst ihre Schatten vorauswarf.
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14. Das Licht war kühl und hell wie der Schimmer eines Kristalls. Der Raum, den es ausleuchtete, diente zum Schaffen, zum Denken und Planen. Von Unsterblichen war er für Unsterbliche entworfen worden. Seine Linienführung war zweckbestimmt, ohne aufdringlich zu wirken. Die Linien flossen ineinander, und die Blumenmuster der kristallenen Parfümzerstäuber vertieften ebenso wie die wechselnden Muster auf dem Wandfries noch die ruhige, entspannende Atmosphäre des Zimmers. Kein Farbfleck fesselte das Auge länger als einen flüchtigen Moment. Wo der Blick aber auf ein zerfließendes Muster oder eine knospende Kristallilie fiel, deren Blüte langsam aufbrach, da bot sich dem Betrachter ein Angelpunkt für seine Überlegungen, aus dem er neue Gedanken entwickeln konnte. In diesem stillen, kühlen Gemach, in das aus unsichtbaren Quellen gleichmäßiges Licht fiel, saß Zacharias Harker neben Kedre an einem langen Schreibtisch. Ihre schmalen Finger mit den goldgelackten Nägeln glitten durch die Akten, die vor ihr lagen.
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„Du solltest Reed besser aufsuchen", bemerkte Harker. Kedre hob mit einer anmutigen Bewegung die Schultern. „Etwa an Land?" forschte sie. „Das kannst du doch nicht im Ernst meinen. „Keiner eignet sich besser als du dafür, zu diesem Zeitpunkt an ihn heranzutreten." „Ist das überhaupt erforderlich?" Harker nickte in Richtung auf den Schreibtisch. „Du hast einen Plan. Aber Reed ist kein Dummkopf. Wir sollten ihn in die Irre führen, indem wir seine Aufmerksamkeit mit einem offenkundigen Plan ablenken und insgeheim an der Durchführung eines zweiten arbeiten." „Du weißt nicht, was ich vorhabe." „Ich kann mir aber denken, worauf du abzielst. Du mußt von der Voraussetzung ausgegangen sein, daß Reed im Augenblick unersetzlich ist, sich später jedoch zu einer Gefahr auswachsen wird." Harker nahm eine ihrer Hände und fuhr mit den Fingerspitzen leicht über die lackierten Nägel. „Aber wann? Wir kennen den Zeitpunkt nicht. Bis dahin wird Reed seine Stellung mehr und mehr festigen. Heute ist er noch zu verwunden; später - 331 -
könnte er sich als unangreiflich erweisen; Trotzdem können wir jetzt nicht zuschlagen, wenn die Landbesiedlung nicht scheitern soll." „Hale hatte übrigens recht", bemerkte Kedre nachdenklich. „Wir haben wirklich zu lange gewartet." „Nicht unbedingt, aber wir hätten zu lange gezögert. Ganz gleich! Ein Fehler bedeutet noch keine Niederlage. Die Frage ist nur, wer die Figuren über das Schachbrett zieht und wer als Bauer geschoben wird. Reed glaubt, alle Fäden in der Hand zu halten. Wir müssen es dabei lassen, bis …" „Bis?" Harker betrachtete eine Kristallilie und schwieg, bis ihrer Knospe eine glitzernde Blüte entsprossen war. „Bis er seinen Zweck erfüllt hat und der Bestand der Niederlassungen an Land gesichert ist", sagte er dann. „Wir können ihm dazu keine bestimmte Frist setzen. Also brauchen wir eine Bombe, die in dem Moment detoniert, in dem wir sie zünden." „Und genau darauf läuft mein Plan hinaus", versetzte Kedre. „Auf die einzig mögliche Zeitbombe, die ein Unsterblicher gegen einen
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anderen Unsterblichen einsetzen kann, solange wir nicht imstande sind, die Zukunft vorherzusehen." „Und das wäre?" „Was können wir in Sams Nähe postieren, das stets bei ihm bleibt, jederzeit explodieren kann und mindestens zwanzig Jahre lang seine Wirkung behält? Diese Zeit muß reichen. Als Voraussetzung ist erforderlich, daß Sam geradezu nach der Nähe der Bombe verlangt. Sie muß eine Form besitzen, die er braucht und wünscht. Sie muß seinen Anforderungen bis ins kleinste entsprechen und trotzdem so beschaffen sein, daß er keinerlei Argwohn schöpft. Kurz, eine Bombe, die so harmlos erscheint, daß Sam sie auf Herz und Nieren prüfen kann, ohne ihre todbringende Wirkung bloßzulegen, selbst wenn er sie bis zu ihrem Bau zurückverfolgt." „Bau?" wiederholte Harker auflachend. „Bis zu ihrer Geburt, wenn du so willst." „Eben. Eine menschliche Zeitbombe. Bist du dir über die Schwierigkeiten im klaren?" „Ich brauche deine Hilfe. Wir müssen schon vor der Geburt ansetzen. Unsere Zeitbombe hat so zu entstehen, wie wir sie uns vorstellen. Außerdem fällt uns noch die Aufgabe zu, die Spuren unseres - 333 -
Eingreifens zu verwischen. Ich denke, daß ich für beides einen gangbaren Weg gefunden habe. Hier wären als erstes die brauchbaren Unterlagen aus Sams Akten." „Doch nicht aus den öffentlichen …" „Ich habe auch unser Privatarchiv benutzt. Wir wissen mehr über Sam, als er ahnt. Von seinem Charakter haben wir ein ziemlich genaues Bild." „Er wird sich in zwanzig Jahren ändern." „Diese Änderungen können wir im voraus berechnen. Seine typischen Eigenschaften wird er ohnehin behalten, wie beispielsweise eine Schwäche für die Farbe Blau. Unsere Zeitbombe wird blaue Augen haben." Harker begann zu lachen. Kedre zuckte gereizt die Achseln und griff nach einem Bild. Harker fand seinen Ernst wieder und sah sie an. „Ich wünschte, mir wären deine Beweggründe klar", sagte er. „Ich zweifle sogar daran, ob sie dir selber einleuchten." Kedre überhörte seine Bemerkung. „Aus den Unterlagen über Sam habe ich ein Bild zusammengestellt, wie der Mann beschaffen sein müßte, auf den er bereit wäre, sich in achtzehn oder zwanzig Jahren zu stützen", führte sie gelassen aus. - 334 -
„Natürlich hängen meine Berechnungen vom Erfolg des Siedlungsplanes ab. In dieser Hinsicht müssen wir, wie gesagt, mit Sam zusammenarbeiten. Unser Mann muß sich einer besonderen Ausbildung unterziehen, damit er über die Eigenschaften verfügt, deren Sam bedarf. Daneben ist seine äußere Erscheinung wichtig. Bestimmten Gesichtern und Stimmen mißtraut Sam von vornherein, anderen gegenüber zeigt er sich aufgeschlossen. Jedenfalls habe ich eine klare Vorstellung von dem Mann, den wir brauchen würden." Kedre suchte ein zweites Bild aus den Akten heraus. „Aus den Fragebogen der Statistischen Ämter habe ich einen Mann und eine Frau herausgesucht. Von beiden liegen sämtliche erforderlichen Angaben vor, und ich kann daraus fast mit Sicherheit schließen, was für ein Kind sie in die Welt setzen werden. Außerdem wird dieses Kind unter bestimmten Voraussetzungen gezeugt und geboren werden, für die wir unauffällig zu sorgen haben." Harker griff nach den Aufnahmen, von denen eine einen jungen Mann, die andere ein Mädchen zeigte. „Kennen die beiden sich schon?"
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„Noch nicht. Weil er sich für die Landbesiedlung gemeldet hatte, mußte ich dafür sorgen, daß er erkrankte. Wir werden ihn hierbehalten und es so einrichten, daß er dem Mädchen begegnet. Aber wir dürfen uns niemals eine Blöße geben."
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15. Von plötzlichem Interesse erfaßt, beugte sich Harker vor und überflog die Tabellen auf dem Schreibtisch. „Welchen Posten bekleidet er? Hm-m, ich sehe schon. Wir müssen dafür sorgen, daß er eine Arbeit erhält, die ihn mehr ausfüllt. Zu erreichen, daß beide in Delaware bleiben, wird knifflig sein. Ich denke aber schon, daß ich die entsprechenden Hebel in Bewegung setzen kann. Doch, das dürfte sich machen lassen. Daß beide sich kennenlernen und heiraten, kann auch arrangiert werden. Was aber, wenn sie statt eines Knaben ein Mädchen bekommen?" „Dann dürfte die Wirkung auf Reed unter Umständen noch stärker sein", erwiderte Kedre und schwieg eine Weile. Übergangslos stieß sie die Aufnahme des Mädchens zu Seite. „Alle übrigen Schwierigkeiten können wir mit Psychonamik aus dem Wege räumen", sagte sie kurz. „Das Kind, ganz gleich, ob Junge oder Mädchen, wird von Anfang an psychonamisch behandelt, ohne daß seine Eltern davon erfahren. Nach jeder Behandlung werden seine Erinnerungen an den Vorgang gelöscht. Das Ganze läuft auf eine - 337 -
posthypnotische Beeinflussung hinaus. Bis der Bursche achtzehn ist, haben wir seinem Unterbewußtsein einen Befehl eingehämmert, dem er gehorchen muß, ob er will oder nicht." „Den Befehl, Reed zu töten?" Kedre hob die Schultern. „Sagen wir lieber, ihn unschädlich zu machen. Noch wissen wir nicht, wie wir in zwanzig Jahren am wirksamsten vorgehen können. Natürlich läßt sich niemandem der hypnotische Auftrag erteilen, eine Tat zu begehen, die er im Wachzustand unter keinen Umständen ausführen würde. Der Knabe muß von vornherein so unterwiesen werden, daß er Sam Reed gegenüber keine Skrupel empfindet. Auf ein Stichwort hin muß er handeln. Auch das werden wir ihm unter Hypnose einprägen. Erst wenn wir dieses Stichwort geben, darf er handeln, ganz gleich, was sich vorher ereignet." Harker nickte versonnen. Der Plan ist gut durchdacht. Bist du auch sicher, daß wir unseren Gegner nicht überschätzen?" „Ich kenne Sam Reed. Vergiß seine Vergangenheit nicht. Während er heranwuchs, hielt er sich für kurzlebig. Das Leben, das er in den Kuppeln führte, hat seinen Selbsterhaltungstrieb ungeheuer stark ausgeprägt. Er gleicht darin einem - 338 -
wilden Tier, das immer auf der Hut ist. Wahrscheinlich könnten wir ihn jetzt töten, aber daran liegt uns nichts. Wir brauchen ihn noch. Erst später, wenn er sich zu einer Gefahr auswächst, wollen wir ihn beiseiteräumen. Und dann – nun, du wirst es erleben." „Jeder Selbstherrscher weiß, auf was für unsichtbaren Stützen sein Thron ruht", nickte Harker, während seine Blicke auf einer kristallenen Blüte ruhten, die sich langsam entfaltete. „Wenn wir rechtzeitig daran gedacht hätten, würde unser Regiment anders ausgesehen haben. Und Reed wird sich zum Selbstherrscher aufschwingen müssen, wenn er nicht zugrundegehen will." „Selbst jetzt würde es sich wahrscheinlich als äußerst schwierig erweisen, einen persönlichen Schlag gegen ihn zu führen", versetzte Kedre. „Und in zwanzig, dreißig Jahren kann er sich eine unangreifbare Stellung geschaffen haben. Bis dahin wird er jede Minute und jede Stunde gegen seine Umgebung kämpfen müssen. Die Dschungel, wir, seine eigenen Leute, jeder wird ihm zusetzen. Er wird dann nicht mehr in dem Plymouth leben, das wir jetzt auf unseren Fernsehschirmen sehen. Hier in den Kuppeln wandelt sich nichts, und wir werden - 339 -
uns nur mühsam an die Veränderungen gewöhnen, die sich an Land abspielen werden. Unsere eigene Technik mit ihren Schutzvorrichtungen und psychologischen Beeinflussungsmöglichkeiten wird zu Sams Unangreifbarkeit beitragen. Um dann noch an ihn heranzukommen, müssen wir uns eines Mittels bedienen, wie wir es besprochen haben." „Der Plan ist zwar ausgefeilt, aber auf seine Art höchst einfach", warf Harker ein. „Um das einzusehen, braucht man sich nur die Notwendigkeit zu vergegenwärtigen, daß wir einen Umweg einschlagen. Reed rechnet damit, daß wir ihm auf eine besonders ausgeklügelte Art und Weise zu Leibe rücken werden. Er wird nicht im Schlaf darauf kommen, daß eine Pistole in den Händen eines Knaben unsere einzige Waffe bildet." „Die Durchführung kann fünfzig Jahre in Anspruch nehmen", warnte Kedre. „Sie kann beim erstenmal fehlschlagen und beim zweiten ebenso. Vielleicht muß der Plan sogar abgeändert werden. Aber wir müssen unverzüglich ans Werk gehen." „Und du wirst Reed an Land aufsuchen?" Kedre schüttelte den goldgeschmückten Kopf. „Ich will nicht an Land gehen. Weshalb beharrst du darauf?'
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„Reed wird sich fragen, was wir im Schilde führen. Wir sollten ihm eine Antwort darauf geben, wenn auch nicht die wahre. Reed ist kein Dummkopf. Wenn wir aber seinen Argwohn auf geringfügige Umstände lenken können, wird er sich damit beschäftigen und uns nicht allzu scharf auf die Finger sehen, während wir unser eigentliches Vorhaben in die Tat umsetzen." „Dann such du ihn auf." Harker lächelte. „Ich habe auch noch einen persönlichen Grund, meine Liebe. Ich möchte, daß du Reed gegenübertrittst. Er ist nicht länger der Unterlegene. Er wird sich verändert haben. Ich möchte sehen, wie du auf Sam Reed in seiner Unsterblichkeit reagierst." Kedre warf ihm einen schnellen Blick zu, der sich nur schwer deuten ließ. „Hoffentlich bedauerst du nicht noch, daß du mich zu ihm geschickt hast", murmelte sie. „Ich bin einverstanden."
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16. Hale überblickte die Flächen, die auf Eiland Sechs gerodet worden waren. Bald würden sich dort die Verwaltungsgebäude erheben. Die Arbeit schritt voran. Aus den fernen Küstendschungeln drang noch das Dröhnen der Zerkleinerungsmaschinen, aber in diesem Teil der Insel war der Aufbau inzwischen an die Stelle der Zerstörung getreten. Die Siedler hatten anderthalb Hektar von Baumstämmen gesäubert und unter den Pflug genommen. Feldmesser waren ihnen auf dem Fuße gefolgt. Nicht weit entfernt bückte sich ein alter Mann zu Boden, und Hale schlenderte auf ihn zu, als er den Logiker erkannte. Ben Crowell richtete sich auf. Sein schlaues, verschmitztes Gesicht wirkte nachdenklich. Zwischen den schwieligen Fingern zerkrümelte er einen Lehmbrocken. „Tag, Gouverneur", sagte er. „Scheint kein übler Boden zu sein." „Sie sollten lieber wegbleiben, bis wir hier aufgeräumt haben", meinte Hale. „Aber es hätte wohl keinen Sinn, wenn ich versuchen wollte, Ihnen Befehle zu erteilen." - 342 -
Crowell grinste. „Stimmt. Ich weiß nämlich immer, was sich ereignen wird und wie weit ich mich vorwagen kann." Er klopfte sich den Lehm von den Händen. „Brauchbares Land. Wenn der Boden die Ätzstoffe erst verarbeitet hat." „Vorher tränken wir ihn zum zweitenmal mit Chemikalien", warf Hale ein. Die Feldmesser waren ein Stück entfernt und konnten das Gespräch nicht hören. „Eine Dusche wirkt, aber sie genügt nicht. Zur viel Geschmeiß hat sich in den Boden gewühlt. „Trotzdem ist er gut, fast zu fruchtbar. Auf der anderen Inselhälfte braucht die Erde Kalkdünger. Aber insgesamt dürften die Ernten reichlich ausfallen." Ein Mann, der einen Behälter auf den Rücken geschnallt trug, ging vorbei. Die riesige Spritze, die er in der Hand hielt, war durch einen Schlauch mit dem Behälter verbunden. Vor einem beschrifteten Pfahl blieb der Mann stehen und begann die Teleskopnadel in den Boden zu treiben. „Hartnäckiges Grünzeug, was?" erkundigte sich Crowell. „Von der schlimmsten Sorte. Es wächst als gewöhnliche Kletterpflanze, aber der Wurzelstock
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ist sechs Meter lang und reicht drei Meter tief in den Boden. Man muß ihn voll Gift pumpen, sonst läßt er sich nicht abtöten." „Versuchen Sie's mit Salzkraut", schlug Crowell vor. „Das wächst wie wild und läßt kein Unkraut aufkommen. Pflanzen Sie's auf den Äckern, die sonst für den Anfang brachliegen würden. Die Wurzeln lockern den Boden, und Sie sparen die Sprühduschen." „Ich werde mir's merken", antwortete Hale. „Danke. Sonst noch Vorschläge? Oder verstößt das gegen Ihre Grundsätze?" Der Logiker lachte. „Ach was, Blech! Ratschläge kann ich immer geben. Damit ändere ich nichts an der Zukunft. Früher oder später hätte hier doch jemand Versuche mit Salzkraut angestellt. Nur in die entscheidenden Vorgänge mische ich mich nicht ein, wenn sich's vermeiden läßt. Manchmal sehen sie zu Anfang gar nicht so entscheidend aus, aber ich weiß Bescheid." Er blickte zur Küste hinüber. Fern über der Kimm ragte das Festland auf, wo sich der schroffe Umriß der alten Doonefeste erhob. Auf den dschungelüberwucherten Mauern herrschte reges Leben. Rote Blitze zuckten auf und erloschen wieder. Boote
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schossen unaufhörlich zwischen Eiland Eins und dem Festland hin und her. „Was ist da los?" fragte Crowell. „Säubern Sie schon das Fort?" „Das war Sams Einfall", erwiderte Hale. „Er fürchtet wohl, ich finge an, die Initiative zu ergreifen. Mit der Arbeit auf dieser Insel habe ich begonnen, ohne erst mit ihm darüber zu reden. Jetzt revanchiert er sich dafür." „Und worauf will er hinaus?" forschte Crowell. „Er ist darangegangen, den Dschungel aus der Feste zu vertreiben. Ein schweres Stück Arbeit, und wir sind noch nicht so weit, um das Festland in Angriff zu nehmen. Trotzdem glaube ich, daß er es schaffen wird. Ich würde anders darüber denken, wenn das Fort nicht schon dort stünde. Doone hat es günstig angelegt. Ich weiß noch, wie …" Er schaute gleichfalls zum Ufer hinüber, und sein Gesicht veränderte sich bei der Erinnerung. „Tag und Nacht stand ein Wartungstrupp auf Posten. Der Dschungel lauerte nur darauf, uns wieder zu verschlingen. Damals lieferten uns die Kuppeln noch Hitzestrahler und Säurewerfer. Die Freien Trupps kämpften dauernd gegen zwei Gegner. Sie schlugen sich in unregelmäßigen Abständen mit anderen Trupps
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herum und führten einen ununterbrochenen Krieg gegen den Dschungel." „Vielleicht hat Reed da einen größeren Brocken geschluckt, als er verdauen kann", bemerkte der Logiker. „Nein. Er verfügt über genügend Leute und ausreichend Werkzeuge. Sobald er das Fort gesäubert und für die Wartung gesorgt hat, läuft der Betrieb. Ins Landinnere kann er noch nicht vordringen, aber daran denkt er auch nicht. Er will die Feste als zusätzlichen Stützpunkt benutzen und sich entlang der Inselgruppe voranarbeiten, bis wir aufeinanderstoßen. Auf diese Weise sparen wir Zeit. Der Gedanke ist nicht schlecht." „Wieviel Leute haben Sie insgesamt?" „Fünftausend", antwortete Hale. „Es reicht, wenn wir auch keine großen Sprünge damit machen können. Wir brauchen aber Reserven, auf die wir im Notfall zurückgreifen können. Der Augenblick, in dem wir dem Dschungel Stoßtrupps entgegenwerfen müssen, kann immer eintreten. Mit jeder Meile, die wir roden, verlieren wir außerdem einen Trupp, der zurückbleibt und sich festsetzt. Über fünftausend verfügen wir jetzt, und sobald wir mehr Leute unterbringen und einsetzen können, rückt Nachschub hinterher." - 346 -
„Noch keinen Krawall bis jetzt?" erkundigte sich Crowell. Hale warf ihm einen scharfen Blick zu. „Erwarten Sie Schwierigkeiten?" „Dazu braucht man kein Hellseher zu sein. Fünftausend Männer, die schwer arbeiten, und weitere im Anrücken – die lassen sich auf die Dauer nicht mit der versprochenen Unsterblichkeit abspeisen. Ein richtiger Kerl spürt am Samstagabend einfach das Bedürfnis, in die Stadt zu ziehen und auf die Pauke zu hauen." „Was wissen Sie von dieser Sache mit der Unsterblichkeit?" fragte Hale, wobei er einen Blick in die Runde warf. Der Logiker grinste nur.
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17. Hale sah zu dem fernen Fort hinüber, in dem die roten Zungen der Flammenwerfer über die Mauern leckten. „Sie wissen Bescheid, und ich auch", sagte er. „Niemand sonst kann ein sicheres Urteil fällen, Sam ausgenommen. Er behauptet, die Unsterblichkeit rührte von einer Strahlung auf der Venus her. Sie sind aber auf der Erde zur Welt gekommen." „Oh, was das angeht, so flog auch auf der Erde einiges an Radioaktivität herum, ehe sie in die Luft ging", versetzte Crowell. „Trotzdem wird es Ärger geben. Eine Gefahr haben Sie miterlebt. Damals verließ der Mensch die Erde und floh zur Venus. Wenn dasselbe sich wiederholen sollte …" „Kommt mir vor wie bei einem Einsiedlerkrebs. Wenn der seinem Schneckenhaus entwächst, kriecht er heraus und sucht sich ein neues. In einem Haus zu bleiben, das zu eng wird, ist immer verkehrt. Eine Menge Umstände können es einengen. Auf der Erde vermehrte sich die Menschheit zu schnell. Vielleicht entwachsen die Leute dort" – Crowell deutete auf einen Trupp Arbeiter in der Nähe – „den Kuppeln - 348 -
und merken es nur nicht. Alles in allem braucht der Mensch eine ganze Menge zum Leben." „Bleiben Sie eigentlich an Land?" forschte Hale übergangslos. „Eine Weile schon, denke ich. Im Grunde meines Wesens bin ich Farmer geblieben. Weshalb?" „Oh, meine Frage hat nichts damit zu tun, daß Sie der Logiker sind. Sie und ich, wir sind beide unsterblich. Abgesehen von Sam und den Familien in den Kuppeln sind Sie der einzige meines Schlages auf der Venus." „Wir haben eben beide den besten Teil unseres Lebens unter freiem Himmel und mit beiden Beinen auf dem Erdboden verbracht", nickte Crowell. „Nicht den längsten, aber den besten Teil. Ich auf der Erde und Sie auf der Venus, aber im Endeffekt läuft es auf dasselbe hinaus. Ich verstehe Sie schon. In Ihrer Gesellschaft kann ich mich heimisch fühlen, wenn Sie sich auch manchmal wahrhaftig wie ein Dummkopf benehmen." Beide sahen eine Zeitlang den Arbeitern zu. Dann sagte Hale: „Wir müssen militärische Formen einführen. Der Vorschlag stammt von Sam, aber ich habe mir den
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Gedanken schon lange durch den Kopf gehen lassen." „Einen zackigen Eindruck machen die Brüder nicht gerade", bemerkte Crowell und musterte dabei die Arbeiter. „Es geht nicht nur darum. Im Grunde sind wir schon militärisch organisiert und ähneln in mancher Hinsicht den Freien Trupps. Aber wir brauchen auch Uniformen und das übrige Drumherum." „Meinen Sie?" „Wenn Sie einen Mann seiner Freiheit berauben, müssen Sie ihm einen Ersatz dafür liefern. Um sein Selbstbewußtsein zu heben, braucht er wenigstens eine schmucke Uniform, wenn er schon nicht so herumlaufen kann, wie er will. Wir werden auch Erholungsräume schaffen, die wir unter Aufsicht halten können. Das alles genügt noch nicht, ebenso wenig wie der Anreiz der Unsterblichkeit, aber beides zusammen schiebt die Explosion vielleicht ein Stück hinaus." Verstohlen beobachtete Hale den Logiker, während er sprach. „Ich frage mich nur, wieso Sam den Einfall aufs Tapet brachte. Außerdem wünschte ich, ich wüßte über die Pläne Bescheid, mit denen er sich trägt." Crowell lachte auf.
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„Das dachte ich mir, mein Sohn. Das dachte ich mir fast." Hale versetzte dem Panzer eines fußlangen Käfers einen Tritt und sah zu, wie er auf einen Haufen toter Insekten flog, die zusammengekehrt worden waren und darauf warteten, weggeschafft zu werden. Auf jeder Insel, die mit Insektenvertilgungsmitteln besprüht wurde, regnete als erstes ein Hagel von Käfern aus dem Laubwerk. Gelegentlich waren sie groß genug, um einen Mann zu betäuben, den sie trafen. „Sie könnten mich aufklären, wenn Sie nur wollten", versetzte er hartnäckig. „Sie würden mir damit eine Menge … „Eben darin irren Sie sich, mein Lieber." Crowells Stimme klang plötzlich scharf. „Ich dachte, ich hätte Ihnen schon einmal auseinandergesetzt, daß in der Zukunft lesen nicht gleichbedeutend damit ist, sie auch zu verändern. Wenn Sie die Ereignisse kennen, können Sie ihnen noch lange nicht aus dem Wege gehen. Ich glaube, ich muß Ihnen wieder mal eine kleine Vorlesung halten." Crowell zog sich den Gürtel hoch, bohrte eine Zehe in den Boden und scharrte die Erde auseinander, während er sprach.
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„Die oberflächlichen Geschehnisse, die wir wahrnehmen, bedeuten im Grunde überhaupt nichts. Wichtig sind die entscheidenden Strömungen, aber wenn sie uns auffallen, sind sie schon zu mächtig, um noch in andere Bahnen gelenkt zu werden. Denn hinter den Strömungen stehen die Menschen, dif mit ihren Gedanken darauf einwirken. Viele Leute hatten früher begriffen, welches Ende die Erde nehmen würde. Sie genossen Ansehen in der breiten Öffentlichkeit, und sie verkündeten ihre Ansichten laut und deutlich. Manch einer glaubte ihnen vielleicht, aber die Zahl derer, die gleichgültig blieben, war zu groß. Die Menschen dachten nach wie vor in den gleichen Bahnen, und die Erde ging verloren. Wer die Zukunft lesen kann, der muß unbeteiligter Zuschauer bleiben. Kennen Sie die Sage von Kassandra? Die Zukunft lag wie ein offenes Buch vor ihr, aber für ihr Wissen zahlte sie den Preis, daß niemand ihr glauben wollte. Vorherwissen schließt eine Beteiligung an den Geschehnissen automatisch aus. Bestimmte, gegebene Faktoren addieren sich zu einer Gleichung. Fügen Sie einen neuen Faktor – Ihre eigene Einmischung – ein, und die Gleichung ändert sich ebenfalls. Ihre Einmischung aber ist die - 352 -
Imponderabihe, deren abschätzen können.
Auswirkung
Sie
nicht
Begreifen Sie jetzt, weshalb Orakel in Rätseln sprechen müssen? Im Lauf der Gesdiichte vermochten viele Leute die Zukunft zu lesen, aber sie mußten sich in unbestimmten Formulierungen darüber auslassen, oder ihre Voraussagen wären nicht eingetroffen. Angenommen, Sie haben zwei Möglichkeiten. Entweder Sie reisen morgen zur Nevadakuppel und schließen ein Geschäft ab, das Ihnen eine Million Kredite einbringt, oder Sie bleiben zu Hause und kommen um. Jetzt kreuzen Sie bei mir auf und wollen von mir wissen, ob Sie fahren oder bleiben sollen. Ich weiß, welche beiden Möglichkeiten auf Sie warten. Aber mir sind die Hände gebunden, weil beide Ergebnisse gänzlich von Ihren Beweggründen und Reaktionen abhängen. Im ersten Fall wären Sie mit bestimmten gedanklichen Voraussetzungen in der Nevadakuppel eingetroffen, ohne mich zu befragen. Nur unter dieser Bedingung, die dazu führt, daß Sie auf die vorgegebenen Umstände in einer bestimmten Weise reagieren, verdienen Sie eine Million Kredite. Nun aber wenden Sie sich an mich, und ich rate Ihnen, zu reisen. Sie befolgen diesen Rat auch, aber - 353 -
Ihr psychologischer Quotient hat sich geändert. Ich habe Ihnen die Reise empfohlen. Also kommen Sie zu der Ansicht, daß an Ihrem Ziel etwas Angenehmes auf Sie wartet, und Ihr Verhalten wird passiv. Sie warten darauf, über einen Sack voll Gold zu stolpern, während Sie doch nur Aussicht haben, die Million Kredite zu verdienen, wenn Sie wachsam wie ein Luchs sind. Ich stehe also vor der Aufgabe, die gegebenen Umstände nicht dadurch zu verändern, daß ich meinen eigenen Orakelspruch hineinmenge. Ich muß behutsam vorgehen und Ihre Entscheidung unmerklich beeinflussen. Das wiederum ist knifflig, weil ich nur über begrenzte Kenntnisse verfüge. Auch Vorherwissen gehorcht den Gesetzen der Logik und hat nichts mit Zauberei zu tun. Ich muß meine Antwort also so formulieren, daß ich Ihren Entschluß bestimme, ohne Ihre ursprüngliche gefühlsmäßige Einstellung zu verändern. Das bedeutet, daß ich nicht einfach sagen kann: ,Reisen Sie zur Nevadakuppel.' Damit würde ich nur erreichen, daß Sie innerlich unbeteiligt fahren. Ich muß meine Antwort in ein rätselhaftes Gewand kleiden, das sich aus meinen Kenntnissen über Sie ergibt. Ich könnte beispielsweise sagen: ,Am Kheftbaum wachsen drei blaue Blätter' und Sie - 354 -
damit scheinbar unwillkürlich an einen Vorgang erinnern, der den Wunsch in Ihnen weckt, Ihr Heim vorübergehend zu verlassen. Wenn ich geschickt genug bin, vermeide ich dadurch die Einfügung eines neuen Umstandes. Sie reisen zur Nevadakuppel, aber Sie reagieren wie erwartet und schließen Ihr Millionengeschäft ab. Die Zukunft hängt von unwägbaren Faktoren ab, die ein einziges Wort in ihr Gegenteil verkehren kann. Ein Orakel, das sich in den Lauf der Ereignisse einmischt, verliert im selben Moment sein Vorherwissen." Der Logiker trat die Erde fest, die er zerscharrt hatte, blickte auf und verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. „Außerdem setzt das voraus, daß es, auf lange Sicht gesehen, ratsam für Sie wäre, die Million einzuheimsen", sagte er. „Es könnte sich aber auch als besser erweisen, daß Sie gleich zu Hause bleiben und umkommen." Hale schwieg eine Weile und starrte in die Flammen, die die Mauern des Forts reinwuschen. „Ich glaube, ich verstehe, worauf Sie hinauswollen", sagte er schließlich. „Nur ist es nicht einfach, zum Greifen nahe vor allen Antworten zu stehen und sie doch nicht zu erfahren." - 355 -
„Ich könnte Ihnen sämtliche Antworten auf alle Fragen, vor denen Sie je stehen werden, fein säuberlich aufgezeichnet übergeben, und Sie wären doch nicht in der Lage, auch nur das Geringste damit anzufangen", versetzte der Logiker. „Außerdem unterliegt auch meine Fähigkeit ihren Beschränkungen. Ich kann nur die Fragen beantworten, über die ich umfassendes Wissen besitze. Tritt ein unbekannter Faktor hinzu, dann löst sich mein Vorherwissen in Wohlgefallen auf. Und dieser unbekannte Faktor existiert. Ich weiß nichts über ihn und werde ihn auch nie ergründen. Sonst wäre ich der liebe Gott, und wir lebten in einem Wunschland. Ich erkenne den unbekannten Faktor nur an seinem Einfluß auf andere Umstände. Er geht mich nichts an, und ich kehre mich auch nicht daran. Meine Aufgabe besteht darin, die Zukunft zu beobachten und mich nicht einzumischen. Diese Zukunft gründet sich auf die Einstellung der Menschen. Nicht die Wasserstoffbombe hat die Erde vernichtet, sondern die Denkweise ihrer Bewohner. Es ist leichter, eine Welt zu regieren als ein Staubkorn zu lenken, das von Winden getrieben wird, die wir nicht einmal spüren, von dem Luftzug, - 356 -
den unsere Bewegung verursacht, wenn wir nach dem Staubkorn greifen, um seinen Weg zu beeinflussen. Dieses Staubkorn ist ein Gedanke und zugleich die Zukunft der Menschheit."
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18. Biegung um Biegung hoben sich die Mauern der Doonefeste in perlendem Weiß gegen den Dschungel ab. Auf Sam, der am Fuß der Zinnen stand und zu ihnen hochblickte, wirkten sie unermeßlich hoch und machtvoll. Quader an Quader drängte die Umfriedung den Urwald zurück und hütete mit ihrer eifersüchtigen Umarmung das Leben, das in ihrem Innern Fuß gefaßt hatte. Die Forts waren unter ähnlichen Voraussetzungen erbaut worden wie die mittelalterlichen Burgen. Ihre Mauern sollten dem Ansturm von Menschen und Tieren standhalten, und wenn im Mittelalter Feuerpfeile die Burg aus der Luft bedroht hatten, so drohte jetzt ein Überfall durch Flugsaurier oder riesige Insekten. Flugzeugangriffe ereigneten sich zu Beginn kaum auf der Venus. Die Freien Trupps respektierten gegenseitig ihre Festen, und die launischen Böen machten Flüge ohnehin zu einem gefährlichen Wagnis. Die Unterkünfte und Krämerläden innerhalb der Umfriedung wimmelten von Menschen. Das Krankenhaus, die Versuchslabors und die Offizierswohnungen beanspruchten die höhergelegenen Gebäude auf der Seite, die dem Festland zugekehrt - 358 -
lag. Die Außenmauern zogen sich bis zum Ufer hinunter und umschlossen einen kleinen Hafen. Auf der Mole hatte sich eine Unruhe ausgebreitet, die Sam bisher entgangen war. Frauen und Männer, die das schwache Sonnenlicht bereits gebräunt hatte, unterbrachen ihre Tätigkeit und wichen mit einem Gefühl der Ehrerbietung, das sich durch Generationen vererbt hatte, vor der Unsterblichen zurück. Kedre schritt heiter die Straße hoch, lächelte die Zuschauer an und begrüßte dann und wann jemand mit seinem Namen. Ihr Gedächtnis war außerordentlich: jeder Unsterbliche bildete diese Gabe aus. Dasselbe galt von ihrer Anpassungsfähigkeit. In dem Schmuck, den sie in den Kuppeln bevorzugte, hätte sie bei Tageslicht wahrscheinlich grell herausgeputzt gewirkt. Doch Kedre war zu klug, um sich diesem Risiko auszusetzen. Ihr langes Gewand schimmerte im strahlenden Weiß der Festungsmauern. Urn die Haare hatte sie einen weißen Turban gewunden, der ihre Schönheit noch betonte. Im gedämpften Schein des diesigen Tages zogen Kedre und das Fort alles Licht auf sich. „Hallo, Sam", begrüßte sie ihn ruhig. Sam faltete die Hände und verneigte sich leicht zu dem halborientalischen Gruß, der seit langem den - 359 -
Händedruck verdrängt hatte. Zum erstenmal ging er mit einer formellen Bewegung, wie sie unter Gleichgestellten üblich war, auf ihre Anwesenheit ein. Jetzt konnte er sich diese Geste leisten. Kedre lachte und legte ihre schmale Hand auf seinen Arm. „Ich stehe hier zugleich für alle übrigen Familien", sagte sie. „Wir hoffen, daß von nun an eine friedliche gegenseitige Zusammenarbeit möglich sein wird. Ich – lieber Himmel, Sam, wie kannst du nur ständig diese Luft atmen?" Jetzt lachte Sam. Er pfiff, und ein junger Mann, der ihm mit Notizblock und Schreibstift gefolgt war, eilte aus der ehrerbietigen Entfernung herbei, in die er sich zurückgezogen hatte. „Hol einen Zerstäuber", befahl ihm Sam. Der Sekretär kam rasch zurückgelaufen, und Sam legte Kedre die schmiegsame, durchlöcherte Kugel in die Hände. Sie war mit frischen Blütenblättern gefüllt. Bei der Berührung der Finger entströmte ihr eine schwere Parfümwolke, in der sich die Luft leichter atmen ließ. „Du wirst dich daran gewöhnen", versicherte Sam mit einem Lächeln. „Uns ist es nicht anders ergangen. Übrigens hatte ich nicht so bald mit dieser - 360 -
Ehre gerechnet. Ich wollte dir eigentlich zuvorkommen und dich meinerseits aufsuchen." „Du hast mehr zu tun als wir", wehrte Kedre anmutig ab und zog dann ein wenig an dem Arm, den sie festhielt. „Jetzt zeig mir aber das Fort. Ich habe noch nie eins von innen gesehen und bin schrecklich neugierig. Wie herrlich es hier oben ist! Wenn du nur etwas gegen diese unerträgliche Luft unternehmen könntest…" „Warte noch eine Weile. Warte zwanzig Jahre. Jetzt sind die Dschungel zu dicht und geben zuviel Kohlendioxyd ab. Aber das wird sich ändern." Kedre schritt neben ihm her. Der fleckenlose Saum ihres Gewandes streifte das weiße Pflaster. „Ich glaube dir, Sam", sagte sie. „Wir neigen jetzt zu der Ansicht, daß du recht hattest. Die Landstriche müssen heute besiedelt werden und nicht erst in einer Generation. Deine Mittel waren abscheulich, aber vielleicht wird das Ziel sie rechtfertigen. Ich bin sicher, daß es so kommen wird, wenn du bereit bist, dich von uns unterstützen zu lassen. Du bist ein Dickkopf, Sam. Das warst du schon immer." „Vor vierzig Jahren hattest du nichts dagegen einzuwenden. Ich habe dir auch noch nicht dafür gedankt, Kedre, daß du mich vor einer tödlichen Vergiftung bewahrt und dich anschließend um mich - 361 -
gekümmert hast, während ich ohne Bewußtsein war." Er warf Kedre keinen Blick zu, während er das sagte, aber als ihre Finger sich in seinen Arm gruben und sie stehenblieb, wußte er, daß er falsch geraten hatte. „Aber, Sam, das konnte ich überhaupt nicht. Ich habe versucht, dich zu finden, aber du warst wie vom Erdboden verschwunden! Willst du damit sagen, daß du nicht weißt, wo du dich die ganze Zeit über aufgehalten hast? Ich werde meine Leute darauf ansetzen. Vielleicht bekommen sie etwas heraus." „Von mir aus. Ich bezweifle nur, daß sie dort etwas entdecken werden, wo meine eigenen Leute versagt haben." „Das erschreckt mich fast, Sam, weil wir wissen, daß sich jemand um dich gekümmert hat. Du konntest nicht vierzig Jahre lang spurlos verschwinden, ohne … Sam, wer könnte dich bei sich aufgenommen haben?" „Eines Tages werde ich auch das klären. Denk jetzt nicht mehr daran. Hier – das ist der Dschungel. Die echte Wildnis und nicht nur eine Wiedergabe auf dem Fernsehschirm. Was hältst du davon?"
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Beide hatten die weiße Außentreppe erstiegen, die zu den Zinnen hochführte. Sam war stehengeblieben. Er lehnte sich gegen die Brustwehr, blickte auf den kahlen Streifen herunter, der die Feste umgab, und auf den grünen Dschungel, der wie eine undurchdringliche Wand dahinter aufragte. Rätselhafte und furchteinflößende Laute drangen aus dem Unterholz. Der Mensch hatte den venusianischen Dschungel noch nicht einmal oberflächlich erkundet. Seine fremdartige Welt bildete nach wie vor ein Geheimnis. Kedre bedachte ihn mit einem flüchtigen Blick und drehte ihm dann den Rücken zu. „Über den Dschungel mache ich mir keine Gedanken. Er ist nicht wichtig. Entscheidend ist das dort." Sie wies nach unten auf den wimmelnden Platz. „Vor dir liegt eine unerhörte Aufgabe, Sam, und du willst sie nahezu allein angehen. Ich weiß, daß Robin Hale die eigentlichen Arbeiten leitet, aber das ist nur der geringste Teil. Willst du uns an deinem Werk teilhaben lassen? Du hast hoffentlich nicht vergessen, daß wir über mannigfaltige Erfahrungen im Umgane mit Menschen verfügen." Sam lachte. „Glaubst du, ich würde auch nur einem von euch trauen?" - 363 -
„Natürlich nicht. Wir sind dir gegenüber in keiner anderen Lage. Wenn wir aber zusammenarbeiten, können wir uns gegenseitig im Auge behalten. Du brauchst eine Kontrolle, und wir brauchen deinen Ansporn. Wie steht es damit, Sam?" Er sah Kedre schweigend an und dachte an den Moment zurück, in dem der Traumstaub alle Wahrnehmungen ausgelöscht hatte. Ihre Augen hatten ihn aus dem Fernsehschirm angeblickt, und ihre Hand hatte den Befehl erteilt, ihn aus dem Weg zu räumen. Er wußte, daß ihrem Herkommen eine tiefere Ursache zugrundeliegen mußte als die, die sie vorgab. Das Mißtrauen, das ihn gegen alle anderen Menschen und insbesondere gegen die Unsterblichen erfüllte, war tief. War er bisher halb und halb zu einer Zusammenarbeit bereit gewesen, so begann er sich jetzt zurückzuziehen. Seine frühen Eindrücke hatten ihn zu entscheidend beeinflußt. Er brachte es nicht fertig, über seinen eigenen Schatten zu springen. „Es wäre zwecklos", lehnte er ab. „Unsere Beweggründe sind zu unterschiedlich." „Wir würden auf das gleiche Ziel hinarbeiten." „Ich könnte es nicht. Ich bin meinen Weg immer allein gegangen, und daran wird sich nichts ändern. Ich traue dir nicht, Kedre." - 364 -
„Das hatte ich auch nicht erwartet. Aber wie du willst. Vergiß trotzdem nicht, daß wir beide dasselbe im Auge haben, nämlich die erfolgreiche Besiedlung der Landstriche. Wir werden dieses Ziel für unseren Teil in den Kuppeln anstreben, ob dir das nun gefällt oder nicht. Und wenn einige Jahre vergangen sind und wir wieder zusammenstoßen sollten, denke daran, daß du vom Weg abgewichen bist – nicht wir." Kedres Stimme klang warnend. „Wenn es dazu kommt, Sam – und dieser Fall wird eintreten –, dann entsteht Verdruß." Sam zuckte die Achseln. Ohne es zu wissen, hatte er den ersten Schritt in die Isolierung getan, die schließlich zu seinem Sturz führen sollte.
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19. „Fünf Jahre hat es also doch gedauert", bemerkte Ben Crowell. „Ungefähr so lange, wie ich mir dachte." „Sie meinen, bis wir uns zum Handeln entschlossen haben?" fragte Zugführer French, der neben ihm den Weg entlangging. Crowell hob die Schultern und machte eine vieldeutige Handbewegung. Wer wollte, konnte annehmen, daß er in die Dunkelheit hinter dem Wall hineinwies, über den sie schritten. Die Finsternis verdeckte die gerodeten, mit betonierten Geschützständen übersäten Landstriche, die ein Mann zu Fuß drei Tage lang sicher in gerader Richtung durchqueren konnte. Fünf Jahre hatte es gedauert, dem Dschungel fünfundsiebzig Meilen abzuringen, in deren Brennpunkt die Feste lag. Jetzt war nichts davon zu erkennen. Grelle Scheinwerfer, durch elektrisch geladenen Maschendraht gegen phototropische Insekten geschützt, rissen ein Stück des Bodens aus der Nacht heraus, aber in der Dunkelheit dahinter erstreckte sich die Sicherheitszone weit ins Landinnere. Mit ihr hatte sich das Fort ausgedehnt, bis es wie ein riesiges - 366 -
gepanzertes Ungeheuer am Meeresufer lag. Wäre es auch zum Leben erwacht, es hätte niemals über die Erde der Venus stampfen können. Erde der Venus – ein Begriff, der paradox klang. Aber der Mensch würde seine terrestrische Prägung niemals abstreifen können, selbst wenn er seine Kolonien bis zu den Sternbildern von Schwan und Schlangenträger vorschob. Er redete eine überkommene Sprache, dachte in überkommenen Begriffen – und handelte nach überkommenen Beweggründen. French berührte Crowell am Arm, und die beiden Männer bogen in einen Wehrgang ein, der zum Hof der Feste hinunterführte. French deutete auf die getarnte Mündung eines Geschützes von sonderbarer Form. „Sehen Sie sich das an." „Was hat es damit auf sich?" „Sie werden es noch erfahren. Kommen Sie." Der hell beschienene Platz wimmelte noch von Leben. Crowell und French durchquerten zielbewußt das Getümmel. Nur verstohlenes Benehmen erweckte Argwohn; Unbekümmertheit war der beste Schutz. Sie betraten ein Nebengebäude. French übernahm die Führung. - 367 -
Ein Labyrinth von Hallen und Gängen durchzog das Fort. Der Raum, in den die beiden Männer eintraten, diente als Vorratskammer, aber im Augenblick erfüllte er einen anderen Zweck. Fast fünfzig Männer aus allen Lebensbereichen der Kolonie hatten sich darin versammelt. Crowell und French wurden leise angerufen. „Ich bin's, French", antwortete der Zugführer. „Für meinen Begleiter verbürge ich mich. Setzen Sie sich da drüben hin, Crowell, und sperren Sie die Ohren auf." „Beeilen Sie sich, French", warf ein Mann ein. „Ein Teil von uns muß schleunigst wieder auf seine Posten zurückkehren." „Es wind nicht lange dauern. Wenn ich mich recht entsinne, sind ungefähr ein Dutzend neue Leute erschienen. Würden die Betreffenden den rechten Arm heben?" Crowell und mehrere andere meldeten sich. „Gut", sagte French. „Wir halten die Versammlung hauptsächlich um Ihretwillen ab. Sie sind bereits überzeugt, sonst wären Sie nicht hier. Und das, was Sie jetzt hören, werden Sie nicht am falschen Ort erzählen, weil wir Sie sorgfältig ausgesucht haben." - 368 -
Er hielt inne und warf einen Blick in die Runde. „Befindet sich zunächst jemand hier, der immer noch an Reeds Schwindel glaubt, an seine vielgepriesene Unsterblichkeit, mit der er uns hinhält?" „Beweisen läßt sich doch weder Reeds Behauptung noch das Gegenteil, oder?" wollte eine Stimme wissen. „Ich bin vor fünf Jahren hierhergekommen", erwiderte French. „Damals war ich zwanzig. Eiland Fünf war gerade gerodet worden, und alle Welt spuckte große Töne und überschlug sich vor Unsterblichkeitsversprechungen. Sechs bis sieben Jahre sollte die Behandlung dauern." „Sie haben doch aber erst fünf Jahre hinter sich." „Man braucht nicht hundert Jahre lang zu warten, um mit Sicherheit Bescheid zu wissen. Mehrere von uns haben Ärzte in den Kuppeln aufgesucht. Wir sind ausnahmslos gealtert. Das läßt sich nachprüfen, beispielsweise an Hand des Kalziums, das sich in den Blutgefäßen absetzt. Reeds Behandlungen sind glatter Schwindel. Ich weiß, daß ich fünf Jahre älter bin als bei meinem Eintreffen in Plymouth, und dasselbe gilt für euch. Reed hat uns betrogen. Man braucht bloß einen Blick auf seine Vergangenheit zu
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werfen, um zu wissen, daß man ihm nicht über den Weg trauen darf. Fünf Jahre lang habe ich hier geschuftet. Dabei hätte ich genauso gut in meiner Kuppel bleiben und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen „Ich fühle mich an Land ganz wohl", mischte sich Crowell ein, während er seine Pfeife mit Tabak stopfte. „Es könnte nicht übel sein, wenn andere Zustände herrschten", gab French zu. „Tag und Nacht arbeiten wir – und für wen? Für Sam Reed und Robin Hale! Bauen, bauen, nichts als bauen! Hale ist unsterblich, und vielleicht wird Reed auch seine siebenhundert Jahre leben. Ich habe keine Ahnung. Er scheint nicht zu altern. Wenn er aber einen Jungbrunnen entdeckt hat, dann hat er sein Geheimnis für sich behalten. Wißt ihr, was das bedeutet? Wir schuften, bis wir sterben! Nach uns werden unsere Kinder ebenso arbeiten wie wir, und Reed brauchte nur einige hundert Jahre zu warten, bis wir ihm alles nach seinen Wünschen eingerichtet haben. Wo bleibt da der Nutzen für uns?" „Sie haben recht", rief eine andere Stimme. „Ich bin derselben Meinung. Trotzdem mußte Reed aus - 370 -
dem Fort ein Bollwerk schaffen. Sie haben selbst erlebt, wie es vor fünf Jahren hier aussah." „Er hat es mit allem zu eilig. Ohne Unterlaß müssen wir parieren. Er verfolgt seine eigenen Pläne, und wir erfahren nicht, worin sie bestehen. Reed hat es nicht nur auf die Besiedlung des Landes abgesehen. Vor fünf Jahren, da brauchten wir ein starkes Fort. Weshalb baut er jetzt in aller Heimlichkeit immer stärkere Waffen ein? Keiner darf etwas von den neuen Geschützstellungen mit Elektrostrahlern und Giftgasrohren wissen. Trotzdem werden sie errichtet." „Vielleicht zur Abwehr des Dschungels." „Der Dschungel ist fünfundsiebzig Meilen entfernt", höhnte French. „Und die neuen Waffen sind nicht zum Einsatz gegen die Wildnis bestimmt. Kalendar, Sie haben mit dem Nachschub zu tun. Äußern Sie sich dazu." Kalendar, ein untersetzter, dunkelhäutiger Mann in blauer Uniform, stand auf. „Gegen menschliche Gegner wären die Waffen von Nutzen. Sie könnten beispielsweise einen Panzerangriff zerschlagen. Aber selbst eine Herde Saurier ließe sich mit dem Einsatz leichterer Waffen abwehren. Außerdem sind Ferngeschütze mit - 371 -
Radarlenkung und allen sonstigen Schikanen aufgestellt worden, die eine Granate fünfhundert Meilen weit haargenau ins Ziel feuern. Gegen wen sollen sie eingesetzt werden? Ganz zu schweigen von den Flugzeugen, die mittlerweile gebaut werden. Aus der Luft läßt sich keine Landbesiedlung durchführen." „Eben", nickte French. „Was erwartet Reed? Rechnet er mit einem Angriff der Kuppeln? In denen verspürt keiner Lust zum Kämpfen. Die Burschen führen dort unten ein beschauliches Leben, während wir uns zu Tode schuften." Grollendes Murren erhob sich. Diese Männer hatten nichts für die Bewohner der Kuppeln übrig, die sie im Grunde beneideten. Sie hatten sich zu einem neuen Menschenschlag entwickelt, den keine Bande mehr mit seinen Angehörigen auf dem Grund des Meeres verknüpften. Ben Crowell paffte seine Pfeife und schaute interessiert zu. Ein heftiger Streit brach los. Die Verschwörer nutzten die Gelegenheit, um ihren Gefühlen Luft zu machen. Noch beschränkten sie sich auf Worte. Wenn sie erst zu Taten übergingen, mußte die Bombe platzen.
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Crowell lehnte sich gegen eine Kiste und streckte bequem die Beine aus. „… ganz gleich, was Reed vorhat …" „… die Kerle in den Kuppeln sollen gefälligst auch arbeiten …" „… wie lange wollen wir noch zusehen …" French hieb auf eine Kiste, bis Schweigen eintrat. „Wir haben die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten, aber wir müssen unsere Schritte genau überlegen. Angenommen, wir bringen Reed um …" „Das dürfte nicht leicht sein. Reed läßt es auf nichts ankommen." „Wenn sich halb Plymouth gegen ihn erhebt, muß er unterliegen. Es liegt an uns, dafür zu sorgen, daß die meisten Siedler sich auf unsere Seite schlagen. Wenn wir uns Reeds und Hales erst entledigt und das Fort in die Hand bekommen haben, sind wir am Drücker. Mit den Waffen der Festung können wir jeden Widerstand im Keim ersticken." „Hale ist kein Dummkopf, und Reed ebensowenig. Wenn die beiden Wind von unseren Plänen bekommen . .." „Jeder, der an unseren Versammlungen teilnimmt, hat sich vor dem Gehen einer Prüfung mit - 373 -
dem Lügendetektor zu unterziehen", erklärte French. „Kein Verräter kommt hier lebendig wieder heraus."
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20. „Ich habe nicht tausend Jahre lang gelebt, ohne zu lernen, wie man einen Lügendetektor betrügt", schmunzelte der Logiker. Hale wandte sich von dem vergitterten Fenster ab, durch das er hinausgestarrt hatte, und sagte kalt: „Mir wurde sowieso gemeldet, daß Sie an der Versammlung teilgenommen haben. Ich habe auch meine Spione." „Hat Ihr Spitzel mich erkannt?" „Er hat niemanden erkannt, weil er zu spät in die Vorratskammer kam. Aber er hat Pfeifenrauch gerochen und sich an das starke Zeug erinnert, das Sie qualmen. Sei dem wie es sei, einiges von dem, was sich abspielt, ist mir bekannt." „Und das wäre?" ,,Ich merke, daß die Disziplin nachläßt, daß die Leute nachlässig grüßen und ihre Uniformen nicht mehr reinigen. Bei den Freien Trupps habe ich gelernt, was Manneszucht ist. Ehe Mendez von seinen Leuten niedergeschossen wurde, begann sich seine Kompanie auch aufzulösen. Ich habe mit der Überwachung schon vor Monaten begonnen, als sich die ersten Anfänge abzeichneten. Und ich hatte recht - 375 -
mit meiner Vermutung. Eine Meuterei bahnt sich an. Einige Rädelsführer kenne ich inzwischen." „Weiß Reed Bescheid?" „Ich habe mit ihm darüber gesprochen. Aber ich glaube, er unterschätzt die Gefahr. Er hat sich derart geschützt, daß er seine eigene Sicherheit mit der der Kolonie verwechselt. Sie könnten mir sagen, was vorgeht. Ich kann mir die Angaben auch auf andere Weise beschaffen, aber wenn Sie einverstanden sind, möchte ich das Thema mit Ihnen erörtern." „Daß Sie Ihre eigenen Informationsquellen besitzen, weiß ich", erwiderte Crowell. „Wir können gern darüber reden. Ich habe schon in der Hoffnung gewartet, daß Sie mich fragen würden, weil ich nicht von selbst die Geschichte anschneiden konnte, ohne den Gang der Ereignisse zu beeinflussen. Ich bin ohne eigenes Zutun darin verwickelt worden. Meine einzige Erklärung ist die, daß ich einen mißvergnügten Eindruck gemacht habe. Der Himmel weiß, wieso. Halt, jetzt dämmert mir der Grund. Ihnen auch?" Über seine Pfeife hinweg blinzelte er Hale an, der den Kopf schüttelte. „Nein, ich … Warten Sie. Vielleicht doch." Hale kehrte zum Fenster zurück und sprach weiter, während er in den Hof hinunterblickte. - 376 -
„Sam hat seine Gründe dafür, daß er eine eiserne Disziplin aufrechterhält. Ich kenne sie nicht, aber ich kann sie mir denken. Die Leute verlieren langsam den Glauben an ihre Unsterblichkeit. Sam ist sich im klaren darüber, daß die Waage sich in die andere Richtung zu senken beginnt. Nur ist ihm meiner Meinung nach noch nicht aufgegangen, daß die zweite Waagschale nicht mehr mit Kuppelbewohnern beschwert ist, sondern mit Männern, die am eigenen Leibe das Gefühl der Freiheit verspürt haben. Männer von meinem und Ihrem Schlag. Kein Wunder, daß die Meuterer an Sie herantraten. Wir haben beide in einer Welt gelebt, in der jeder auf sich selbst angewiesen war, wenn er nicht zugrundegehen wollte. Diese Zeit hat uns ihren Stempel aufgedrückt." „Richtig." Crowell grinste. „In den Kuppeln überlassen die Leute das Denken den hohen Tieren. Wer an Land geht, trägt seine eigene Haut zu Markte und muß auch selber darauf aufpassen. Der alte Pioniergeist ist zurückgekehrt, und mir gefällt er, wenn er auch Schwierigkeiten bringt." „Sogar ernsthafte Schwierigkeiten, falls wir nicht im rechten Augenblick handeln." „Jetzt?" forschte Crowell Gouverneur aufmerksam an. - 377 -
und
sah
den
„Noch nicht", versetzte Hale kopfschüttelnd, ohne das leise, befriedigte Lächeln des Logikers zu bemerken. „Ich will vorerst abwarten, wie sich die Geschichte weiterentwickelt. Außerdem geht es mir wie Ihnen. Ich will den neuerwachten Pioniergeist nicht mit Stumpf und Stiel ausrotten." „Dann wollen Sie die Meuterer gewähren lassen?" „Nein, soweit darf ich auch nicht gehen. Vorerst brauchen sie Sam und mich noch, wenn sie auch vom Gegenteil überzeugt sind. Wenn sie die Oberhand behalten, würden sie am Ende in die alte Apathie zurücksinken, und unsere Anstrengungen wären vergeblich gewesen. Wir werden jetzt vor die entscheidende Belastungsprobe gestellt. Sam hat einen Plan, den ich noch nicht begreife, aber ich möchte wetten, daß er als Sieger aus der Auseinandersetzung hervorgeht. Wenn er die Meuterei ernst nähme, würde er sie rücksichtslos niederschlagen, und das könnte bedeuten, daß auch die Flamme des Pioniergeistes wieder erlöschen würde. Ich werde mich noch im einzelnen damit befassen, Crowell. Sie um Rat zu fragen, dürfte ja wohl wenig Sinn haben." Crowell kratzte mit dem schwieligen Zeigefinger in seiner Pfeife herum, die ausgegangen war. - 378 -
„Ich glaube, Sie brauchen keine großen Ratschläge", entgegnete er langsam. „Sie sind durchaus auf dem richtigen Weg. Greifen Sie nicht einschneidender ein, als es unbedingt erforderlich ist. Hier sind natürliche Kräfte am Werk, und je länger sie ihren ungehinderten Lauf nehmen, desto besser. Die Wogen glätten sich von selber wieder. An Ihrer Stelle würde ich mich vorerst mit der Rolle des Zuschauers begnügen. Reed ist kein kleines Kind. Er kann durchaus auf sich selbst achtgeben." „Darin sind wir einer Meinung", erwiderte Hale. „Behalten Sie die Versammlungen weiter im Auge? Ich weiß, daß dort Pläne in Mengen geschmiedet werden, aber vor der Verwirklichung dürfte noch keiner stehen." „Vorerst macht jeder noch seinen Gefühlen Luft. Zur Tat werden sie erst später schreiten," „Dann spionieren Sie ein bißchen. Ich schreite erst ein, wenn es sich nicht mehr vermeiden läßt, falls Sam mir nicht zuvorkommt."
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21. Sam kam ihm zuvor. Wie gewöhnlich plante er sein Vorgehen bis ins kleinste und handelte, als er erfuhr, daß die geheimen Vorkehrungen getroffen waren, die er angeordnet hatte. In dem großen Turm, den er seiner eigenen Benutzung vorbehalten hatte, saß er in einem seiner privaten Büroräume. Zu einem Teil des Turms hatte niemand außer ihm Zugang. Anders stand es um das Bürozimmer, das Ausblick auf die Küste und die vorgelagerte Inselgruppe gewährte. Sam wich Hales Blick aus und beschäftigte sich mit einem flachen Würfel, der vor ihm auf dem Schreibtisch stand. Er glich einem massiven Bildrahmen, doch er umspannte ein Sirenennetz, dessen rosige Tönung langsam in tiefes Scharlachrot überging. Sam öffnete ein silbernes Kästchen auf seinem Schreibtisch, nahm ein Insekt heraus und fütterte das Netz durch eine winzige Falltür. Ein schwacher Parfümhauch entwich gleichzeitig durch die Öffnung, begleitet von einem leisen, rhythmischen Summen.
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„Stell das Zeug weg", knurrte Hale. „Dieser Geruch ist mir oft genug begegnet. Was ist nun mit Crowell?" Sam legte den Rahmen zur Seite. „Ich wußte nicht, daß er für dich gearbeitet hat. Er gehörte zu den Meuterern, und ich ließ ihn mit den übrigen zusammen festnehmen." „Weshalb hast du zugeschlagen, ohne mir Bescheid zu geben? Wieso hast du gewartet, bis ich eine Inspektionsreise unternahm und vierzig Meilen entfernt war?" „Binnen einer halben Stunde warst du hier", erinnerte ihn Sam. „Außerdem war ich gezwungen, rasch zu handeln. Ich habe festgestellt, daß hinter dieser Meuterei mehr steckt, als du jemals geahnt und mir erzählt hast. Crowell mag sich in deinem Auftrag in die Verschwörerkreise eingeschlichen haben, aber als Spion hat er versagt." „Du wirst ihn sofort freilassen." Sam zuckte die Achseln. „Natürlich. Trotzdem ist er nun nutzlos für dich." „Nicht unbedingt." „Du hättest mich nur anzurufen brauchen, statt gleich selber auf der Bildfläche zu erscheinen."
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„Ich wollte kein Risiko eingehen", erwiderte Hale. „Crowell muß die Freiheit wiedererlangen. Ich habe schon die dümmsten Zufälle erlebt. Ein unklarer Befehl, der von einem Posten falsch ausgelegt wird …" „Ich habe noch nie erlebt, daß du dir soviel Kopfzerbrechen über jemanden gemacht hast. Was liegt dir an Crowell?" Hale zögerte. „Ich traue ihm", sagte er endlich. Jetzt schwieg Sam. „Du traust ihm?" fragte er zuletzt leise. „Du würdest ihm auch dann noch trauen, wenn er mit einer Pistole in der Hand hinter deinem Rücken stünde?" Hale nickte. „Vielleicht ist es mir auch noch beschieden, eines Tages einen solchen Mann kennenzulernen", bemerkte Sam trocken. „Bisher ist mir noch keiner von seiner Sorte über den Weg gelaufen. Na schön, lassen wir Crowell frei. Ich muß ohnehin gleich zur Verhandlung." „Du hältst sie schon heute ab?" „Ja. Ich habe unerwartet erfahren, daß die Gefahren größer und unsere Gegner besser - 382 -
gewappnet sind, als wir geahnt haben. Vielleicht sind sie von den Kuppeln aus unterstützt worden. Ich weiß es nicht. Aber ich habe jetzt auch keine Zeit, dir die Einzelheiten zu berichten. Die Verhandlung wird als Ringsendung vom Fernsehen übertragen, und der Beginn ist in einigen Minuten angesetzt. Komm mit, dann hörst du gleich, worum es geht." Trotzdem hielt er sich noch lange genug auf, um das Sirenennetz mit einem zweiten Insekt zu füttern. „Wo hast du das Vieh her?" erkundigte sich Hale voller Abscheu. „Vor einiger Zeit erbeutet." „Noch ist es jung. Willst du es behalten? Wenn es heranwächst, wird es gefährlich. Es ist ein Sirenennetz, Sam." „Trotzdem", meinte Sam. „Stell dir vor, es hinge sechs Meter breit da drüben an der Wand …" „Und du würdest ihm in den Rachen spazieren." „Vergiß nicht, daß Hypnotiseure ihren Kummer mit mir haben. Ich werde mich schon vorsehen. Vielleicht lasse ich polarisierte Glasscheiben in den Rahmen einbauen, den Lockgeruch auf irgendeine Weise abschwächen und außerdem noch den Sirenengesang mit Tonfiltern dämpfen. Gehen wir." Sie verließen zusammen das Zimmer. - 383 -
„Wie viele Meuterer hast du festgenommen?" erkundigte sich Hale unterwegs. „Ungefähr siebzig. Die meisten können sich an geeigneten Stellen nützlich machen. Einige sind dagegen zu gefährlich, um am Leben zu bleiben…" Übergangslos brach Sam ab. Er hatte fast schon zuviel verraten. Die beiden Männer veranlaßten Crowells Freilassung und begaben sich dann in den Saal, in dem die Verhandlung stattfinden sollte. Eine Reihe von Fernsehschirmen zog sich an den Wänden entlang. Überall standen Wachtposten herum. Die siebzig Gefangenen hatte man ungefesselt in einem vergitterten Käfig untergebracht. Sam begann übergangslos mit seiner Anklagerede, wobei er sich ebenso an die Kolonie und die Kuppeln wie an die Gefangenen wandte. Er beschrieb die ersten Zusammenkünfte der Unzufriedenen, seinen wachsenden Argwohn, daß eine Untergrundbewegung in der Kolonie im Entstehen begriffen war – „in derselben Kolonie, die sich stündlich ausdehnt und sich zum Ziel gesetzt hat, die Dschungel zu erobern, bis zu dem Tag, an dem jedermann unter freiem Himmel auf der Venus leben kann."
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Er hatte die Verschwörer festnehmen lassen. Aber die Verästelungen des Anschlages verloren sich in einem Dickicht ungeklärter Fragen. Diebstähle in großem Ausmaß waren begangen worden und hätten zum Verschwinden von Maschinen, Werkzeugen und sogar von Rohstoffen geführt, die zur Waffenfabrikation dienten. Was wurde damit bezweckt? Die Fernsehkameras Gefangenen.
schwenkten
zu
den
„Ihr seid von einem Dritten in seine Pläne eingespannt worden", rief Sam. „Ursprünglich ging der Plan zum Aufstand von euch aus, aber dann hat sich jemand der Lenkung bemächtigt, der es verstanden hat, seine Identität zu verbergen. Entweder ihr kennt diesen Mann selbst nicht, oder ihr seid nicht willens, seinen Namen zu nennen. Ihr seid bereits verhört worden. Wer ist euer Anführer?" Schweigen. „Gehört er zu den Siedlern? Worauf zielen seine Pläne ab?" Schweigen. „Wir haben Beweise. Die Ausrüstungsgegenstände sind irgendwohin verschwunden. Auch weitere Anzeichen deuteten darauf hin, daß der - 385 -
unbekannte Dritte sich unseren Nachforschungen entzogen hat. Wir werden ihn trotzdem mitsamt seinen verbliebenen Helfershelfern aufspüren. Er bedroht nicht nur die Kolonie, sondern auch die Kuppeln. Wenn es diesem Mann gelingen sollte, die Macht an sich zu reißen …" Unausgesprochen lag die Drohung über der Venus. „Wir werden ihn finden und fordern die Kuppeln dabei zur Mitwirkung auf. Ihr aber habt euch des Verrats schuldig gemacht. Ihr habt eine Verschwörung angezettelt mit dem Ziel, die Regierung der Kolonie zu stürzen, euch der Gewalt an Land zu bemächtigen und schließlich auch die Kuppeln eurem Regiment zu unterwerfen." In dem Gefangenenkäfig drängte sich ein Mann nach vorn. Die Fernsehempfänger übermittelten die Worte, die er schrie. „Ich bin älter! Wir alle sind gealtert! Wo bleibt die Unsterblichkeit, die Sie uns versprochen haben?" „Halten Sie mich für einen Dummkopf, Zugführer French?" fragte Sam verächtlich. „Ich wußte längst von dem Anschlag, den Sie planten, und ich kannte auch die meisten Leute, die daran beteiligt waren. Mit welcher Veranlassung sollte ich - 386 -
Ihnen die Unsterblichkeit zuteil werden lassen? Nur, damit Sie weiter Ihre Ränke schmieden konnten? Seit Monaten ist keiner von euch bestrahlt worden. Um euren Argwohn zu dämpfen, haben wir euch scheinbar behandelt. Doch Verräter erhalten die Unsterblichkeit nicht!" Sein Gesicht verhärtete sich. „Gouverneur Hale und ich haben in der Hoffnung gezögert, euren Anführer mit euch zu fassen. Bestimmte Ereignisse haben uns jetzt zum Handeln gezwungen. Wir stehen damit vor der Frage, was wir mit Verrätern beginnen sollen." Sam machte eine Pause. Dann sagte er: „Ich verurteile euch zum Tode." Schweigen trat ein und zog sich in die Länge. Wie Ewigkeiten tickten die Sekunden dahin. „Ihr werdet unter Bedeckung in die Kuppeln geschafft werden, die ihr euch zum Aufenthalt erwählt", fuhr Sam fort. „Wir verbieten euch die Rückkehr. Die Kolonie und die Unsterblichkeit bleiben euch hinfort verschlossen. Ihr konntet tausend Jahre leben, aber ihr habt lieber die Straße des Verrats eingeschlagen. Innerhalb der Kuppeln seid ihr bis zu eurem Tode frei. Ihr werdet nicht in tausend Jahren sterben, - 387 -
sondern in dreißig, vierzig oder fünfzig. Ich entziehe euch die Unsterblichkeit und verurteile euch damit zum natürlichen Tode. Kehrt in die Kuppeln zurück. Wir wollen nichts mehr mit euch zu schaffen haben." Er legte die Handflächen in der herkömmlichen Weise aneinander. „Die Verhandlung ist geschlossen."
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22. „Aufforderung an alle Kuppeln: Die Koriumzahlungen sind hinfort nicht mehr an die Kolonie Plymouth, sondern an die vorläufige Venusregierung zu entrichten. Hiermit übernehmen wir den Befehl über den Planeten. Wir verfügen über Mittel und Wege, um unser Verlangen durchzusetzen. Aufforderung an Plymouth: Erteilen Sie Ihren sämtlichen Flugzeugen den Landebefehl. Andernfalls laufen sie Gefahr, vernichtet zu werden." Mit den herkömmlichen Triangulationsmethoden ließ sich die Quelle der Botschaft nicht feststellen. Sie lag auf dem Meer und wechselte ständig ihren Standort. Augenscheinlich wurde Sender auf Sender in den Funkspruch eingeschaltet. Die Radarschirme konnten kein Flugzeug am Himmel aufspüren, dessen Daten den Bodenstationen nicht vorlagen. Sam antwortete mit einem einzigen Satz auf die Herausforderung: „Wir haben Mittel und Wege, um unsere Forderungen durchzusetzen …" In der Kolonie und in den Kuppeln erschienen Sams Gesichtszüge auf allen Fernsehschirmen. - 389 -
„Wir haben eine umfassende Offensive von Plymouth aus eingeleitet. Zum erstenmal haben sich die Meuterer aus ihrem Versteck hervorgewagt, und jetzt können und werden wir sie finden und vernichten. Wir werden Sie laufend über die Ergebnisse unserer Suche unterrichten. Schiffe und Flugzeuge bewachen die See über jeder Kuppel. Alle denkbaren Vorsichtsmaßregeln sind getroffen worden. Ein nicht identifiziertes Flugzeug, das sich Fort Plymouth näherte, ist unter Feuer genommen worden und hat sich nach Süden zurückgezogen. Ich muß nun die Einsatzleitung übernehmen; einer unserer Stabsoffiziere wird Sie auf dem laufenden halten." Allein stand Sam vor den Instrumenten in seinem Turm. Monatelang hatte er den Einbau der Apparaturen beaufsichtigt. Einige Aufgaben konnte er seinen Leuten übertragen, aber die Hauptarbeit lag bei ihm. Sie würde sich nicht einfach gestalten. Vom Meer drang der Funkspruch herüber. „Fort Plymouth, rufen Sie Ihre Flugzeuge zurück! Einem Atomangriff können sie nicht standhalten!" Vor allen Augen stand plötzlich das Mahnmal in jeder Kuppel, das die schwarzverhüllte, untergegangene Erde zeigte. Nukleare Waffen, die so - 390 -
leicht außer Kontrolle gerieten, sollten auf der Venus eingesetzt werden? Infrarot- und Radaraufnahmen huschten über die Fernsehschirme, während Sams Flugzeuge Land und Wasser überflogen, mit ihren Instrumenten die teuflischen Dschungel der Venus abtasteten und nach den Meuterern suchten, die sich als vorläufige Venusregierung bezeichneten. „Ultimatum an alle: Erfüllen Sie unsere Forderungen binnen achtundvierzig Stunden. Nach Ablauf dieser Frist wird eine Kuppel vernichtet." Die alte schreckliche Furcht griff nach der Menschheit, das Entsetzen der Kernwaffenkriege, die sie siebenhundert Jahre lang nicht vergessen hatte. Tage und Monate hatten in den Kuppeln nichts bedeutet. Jetzt lernten sie den unerbittlichen Ablauf der Zeit wieder fürchten. Achtundvierzig Stunden! Zwei Flugzeuge, die sich dem Fort näherten, wurden abgeschossen und mit Traktorstrahlen zu Boden geholt. Keine Detonation erfolgte, aber die atomare Drohung war ein Stück nähergerückt. Sam gab bekannt: „Im Rahmen des totalen Einsatzes unserer Mittel haben wir alle Abteilungen zurückbeordert, die zur Inangriffnahme unseres eben
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eingeleiteten Wagnisses, der Ausdehnung unserer Kolonie, abgestellt worden waren." Sein erschöpftes, überanstrengtes Gesicht machte dem Bild einer Meeresküste Platz, an der ein Dschungelstreifen gerodet worden war. Einige Hütten standen bereits am Ufer; bei anderen ragten die Plastikwände noch halbfertig auf. Stapel mit Ausrüstungsmaterial lagen sauber ausgerichtet davor. Lange Reihen von Männern bewegten sich den Motorbooten entgegen, die darauf warteten, sie aufzunehmen. „Wir haben die Meuterer noch nicht entdeckt. Unsere Flugzeuge setzen ihre Suche fort…" Die Radarbilder wichen Infrarotaufnahmen, die den Dschungel aus großer Höhe zeigten und durch neue Radargramme ersetzt wurden, als die Maschine weiterflog. „Sie haben noch siebenundvierzig Stunden Zeit. Fort Plymouth, rufen Sie Ihre Flugzeuge zurück. Wir besitzen Kernwaffen und werden nicht zögern, sie anzuwenden." Die Zeit verstrich. „Noch sechsundvierzig Stunden." Und Panik ergriff die Kuppeln. Die Straßen kochten vor Menschen. An den Kreuzungen, über
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denen die großen Fernsehschirme aufragten, ballten sich die Massen. „Zacharias …", murmelte Kedre. Er griff nach ihrer Hand. „Ich weiß nicht, was ich unternehmen soll, Kedre. Ich versuche, mit mir ins reine zu kommen. Wir haben immer noch fünfundvierzig Stunden Zeit." „Noch vierundvierzig Stunden." „Eine dritte Maschine ist beim Angriff auf Fort Plymouth abgeschossen und dreißig Meilen südwestlich des Forts mit Traktorstrahlen heruntergeholt worden. Eine Kernexplosion blieb aus. Die Maschine war ferngesteuert. Die Lenksignale wurden von wechselnden Standorten auf See durchgegeben." Hale sah den Logiker an. „Die Wellen glätten sich", bemerkte Crowell und stopfte seine Pfeife. „Sie haben gut reden. Ich wünschte, ich könnte auch in die Zukunft blicken." „Verdruß steht meist nur zu erwarten, wenn nichts darauf hindeutet", erklärte Crowell. „Sie finden eine harmlos aussehende Pflanze und ahnen nicht, daß unter der Erde eine sechs Meter lange Pfahlwurzel lauert. Im Augenblick …" - 393 -
Er warf dem Ansager auf dem nächsten Fernsehschirm einen Blick zu. „Nun, wie Sie sehen, greife ich ja wohl nicht ein, oder?" „Nein. Sie könnten aber zumindest mehr Aufregung an den Tag legen, nachdem uns ein Kernwaffenbombardement angekündigt worden ist. Sogar die Freien Trupps haben auf den Einsatz nuklearer Waffen verzichtet." „Sie haben noch dreiundvierzig Stunden Zeit", klang es aus dem Fernsehempfänger. „Noch Vierundzwanzig." „Zwanzig." „Sechzehn." „Hier spricht Reed. Wir haben die Schufte entdeckt."
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23. Die Fernsehschirme zeigten nichts als grünen, strotzenden Dschungel, von oben gefilmt. Dann setzte das Bombardement ein. Säure, Flammen und Hitze ergossen sich über die Wildnis, und die Wut menschlicher Waffen raste gegen die Gewalten der Venus. Der grüne Dschungel färbte sich schwarz und wand sich in Qualen. Kreischende Lianen schleuderten ihre Peitschenranken in die Höhe. Erde, Blätter und Fleischfetzen wurden von der entsetzlichen Vernichtung in die Lüfte geschleudert. Der ragende Säulenhals des Dyrannosauriers reckte sich, der rote Schlund klaffte weit. Das zischende Brüllen des Sauriers durchdrang grell und klagend das unablässige Dröhnen des Trommelfeuers. „Ergebt Euch! Wir vernichten die Kuppeln – wir zögern nicht – brecht den Angriff ab .. ." Nur aufgewühlter, geschwärzter, dampfender Boden erstreckte sich noch dort, wo der Dschungel gewuchert hatte. Der Boden schmolz und zerbröckelte. Wie Lava floß er davon, bildete einen weißglühenden See. Hochdruckdüsen setzten ein und sprühten das - 395 -
geschmolzene Gestein als lodernden Regen aus seinem Bett. Und aus den wallenden Tiefen schien sich ein Umriß zu erheben. Im selben Maße, wie der Schmelzspiegel sank, tauchte eine graue, gewölbte Oberfläche auf. Sams Gesichtszüge Fernsehschirme.
flimmerten
über
die
„Was Sie erblicken, ist die geheime Zentrale der Meuterer", sagte er. „Sie werden nun ihre Zerstörung miterleben." Eine Stimme schrie: „Wir vernichten die Kuppeln! Brechen Sie den Angriff ab …" Trotzig stand die graue Kuppel inmitten des weißglühenden Pfuhls. Der schwarze Metallkörper einer Bombe fiel. Die graue Kuppel war zäh. Dann aber detonierte eine zweite Bombe. Und eine dritte. Die erste Explosion war noch nicht verhallt, als schon die nächste Bombe einschlug. Ohne Pause fielen die Punktwürfe. Hammerschlag auf Hammerschlag trommelte gegen die Hülle der Kuppel. Vier – fünf – sechs –
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Sam warf achtundvierzig Bomben, eine für jede Stunde des Ultimatums, das die vorläufige Venusregierung ihm gestellt hatte. Rauchwolken bedeckten die Fernsehschirme. Als der Rauchschleier sich endlich hob, fiel das fahle Licht auf eine Stätte der Vernichtung, wie sie selbst die teuflischen Dschungel nicht kannten. Die Meuterer waren mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden. Aber zwanzig U-Boote setzten sich in Marsch und feuerten ihre Torpedos gegen die Imperviumhüllen ab. Sechs Stunden später sprach Zacharias Harker im Fernsehen. „Die Meuterer sind von Sam Reed vernichtet worden. Doch sie besaßen eine Selbstmordflotte. Noch im Untergang haben sie Rache genommen. Die Imperviumkuppeln über Delaware und allen anderen Städten sind radioaktiv verseucht worden. Einen Augenblick …" Harker verschwand vom Fernsehschirm und kehrte gleich darauf zurück. „Ich erfahre gerade von neuen Meldungen, wonach sich allem Anschein nach einige Meuterer
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retten konnten. Im Moment sind sie nicht in der Lage, Schaden anzurichten, aber bis zu ihrer völligen Ausrottung bilden sie eine ständige Gefahr. Ihre Rache trifft uns bereits jetzt. Binnen einer Woche wird die Radioaktivität derart zugenommen haben, daß die Kuppeln unbewohnbar sind. Zur Panik besteht noch kein Grund. Das Ansteigen der Radioaktivität läßt sich jedoch nicht aufhalten, und nach Ablauf einer Woche werden sich die Kuppeln in Todesfallen verwandeln. In dieser Lage bietet sich nur ein Ausweg an. Zum Bau neuer Kuppeln unter Wasser ist keine Zeit mehr. An Land dagegen sieht es anders aus. Sam Reed hat einen Plan entworfen, den er Ihnen jetzt unterbreiten wird." Sams Gesichtszüge Bildschirm.
erschienen
auf
dem
„Wir haben getan, was wir konnten, aber die Schufte haben eben das letzte Wort behalten", erklärte er fast wegwerfend. „Nun, wie Sie gehört haben, müssen Sie entweder die Kuppeln verlassen oder darin sterben. Ich glaube, ich habe schon früher erwähnt, daß wir eine Ausweitung der Kolonie in Angriff genommen hatten. Wir haben bereits ein beträchtliches Stück Land gerodet und Material dort gelagert. Es steht Ihnen zur Verfügung. In dieser - 398 -
Stunde des Unheils zusammentun.
müssen
wir
uns
alle
In einer Woche können Sie das Lebensnotwendigste an Land schaffen. Sie werden kein leichtes Dasein haben, aber Sie bleiben wenigstens am Leben. Wir sind bereit, Sie in jeder Hinsicht zu unterstützen. Viel Glück!" Jemand anders nahm seinen Platz vor der Fernsehkamera ein. Sam und Harker setzten ihr Gespräch über einen privaten Empfänger fort. „Können Sie die Kuppeln binnen einer Woche evakuieren?" „Ohne Schwierigkeiten, da uns keine andere Wahl bleibt." „Schön. Zumindest in den kommenden Monaten werden wir zusammenarbeiten müssen. Kedre hat mir diese Zusammenarbeit schon einmal angetragen, und ich habe sie abgelehnt. Jetzt schlage ich sie meinerseits vor. Wir werden unsere Stabsoffiziere zu Ihrer Unterstützung abstellen. Das erste Problem, das sich in den gerodeten Gebieten stellt, wird gesundheitlicher Natur sein. Wir schicken Ihnen dazu Beamte unserer Sanitätsbehörde. Sie müssen bei Kräften bleiben, und Sie sind das Klima an Land nicht gewohnt. Verlassen Sie sich nicht zu sehr auf - 399 -
Schutzkuppeln. Wir haben die Meuterer nicht restlos vernichtet, und was sie einmal unternommen haben, können sie wiederholen. Unter Kuppeln sind Sie derartigen Angriffen schützlos ausgesetzt. Wenn die Meuterer sich wieder zusammmenfinden sollten…" „Die Alten und Schwachen werden es schwer an Land haben." „Die Männer, die bei Kräften sind, haben alle Hände voll zu tun. Selbst wenn sie restlos eingesetzt werden, bleiben genügend Arbeiten übrig, die keine körperliche Leistungsfähigkeit erfordern. Teilen Sie diese Aufgaben den Alten und Schwachen zu, dann können um so mehr Leute die Wildnis roden und Unterkünfte bauen." „Unsere Techniker schätzen die Halbwertszeit bei Thorium auf zwölf Jahre. Nach Ablauf dieser Zeit können wir in die Kuppeln zurückkehren." „Trotzdem müssen Sie bis dahin leben. Vergessen Sie außerdem die entkommenen Meuterer nicht. Wenn wir sie nicht erwischen, können sie die Kuppeln von neuem verseuchen. Zwölf Jahre sind eine lange Zeit." „Ja", erwiderte Harker und blickte in die unbewegten Züge seines Enkels. „Ich denke auch, daß es eine lange, lange Zeit werden wird."
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24. Siebenhundert Jahre zuvor hatte der letzte Auszug der Menschheit stattgefunden. Jetzt brach der Tag einer neuen Auswanderung an. Ein einzelner konnte die Massenflucht unmöglich überschauen, und die Leute, die später daran zurückdachten, erinnerten sich nur an Wirrwarr, hysterische Ausbrüche, panische Angst und sinnlose Auflehnung gegen das Walten des Schicksals. Trotzdem verließen die Menschen ergeben ihre Städte. Sie hatten Fügsamkeit gelernt, und sie taten, was ihnen befohlen wurde. Unwillig zwar, murrend und furchtsam, aber dennoch widerstandslos befolgten sie jede Anordnung, die mit genügendem Nachdruck erteilt wurde. Niemand hätte vorher geglaubt, daß eine solche Massenevakuierung in so begrenzter Zeit durchzuführen wäre. Niemand, der hinterher zurückdachte, begriff, wie sie überhaupt gelungen war. Aber sie gelang. Jeden, der einmal von den dahingleitenden Bändern aufgeschaut und die schwarzverhüllte Kugel der versunkenen Erde erblickt hatte, erfüllte ein Grauen vor Kernwaffen. Und als das Atom, dieses vergleichsweise winzige
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Elementarteilchen, in die Waagschale geworfen wurde, da floh die Menschheit. In ihrem ruhigen Gemach warf Kedre einen letzten, langen Blick auf Kissen und Möbel. „Wir werden niemals zurückkehren", murmelte sie. „Weshalb?" forschte Harker, der an der Tür auf sie wartete, geduldig. „Du weißt selbst, daß wir unsere Städte für immer verlassen. Und das ist auch gut so. Ich hasse Sam. Aus reiner Eigensucht zwingt er mich dauernd, die unangenehmen Dinge so zu sehen, wie sie tatsächlich liegen. Und nichts bewegt ihn weniger dazu als das Gefühl, daß es um der Menschheit willen höchste Zeit ist. Er handelt ganz einfach so, weil er sich mit seinen Lügen festgefahren hat und keinen anderen Ausweg mehr sah." „Ob wir jemals imstande sein werden, das zu beweisen?" Kedre zuckte die Achseln. „Es würde auch keine Rolle mehr spielen. Wenn Sam in die Enge getrieben wird, nimmt er seine Zuflucht zu Verzweiflungstaten. Letzten Endes haben wir damit gerechnet. Trotzdem hätte ich ihm - 402 -
soviel Geschick nicht zugetraut. Nein, ich glaube nicht, daß wir ihm jemals auch nur das Geringste beweisen können." „Bist du fertig, Liebes? Der Fahrstuhl wartet." „Gut." Kedre seufzte und drehte sich um. „Ich sollte mich wohl nicht so gehen lassen, aber ich komme mir vor, als verließe ich dieses Zimmer, um zu sterben. Dabei habe ich mir vorgenommen, mich auf die Hinterbeine zu stellen und jetzt erst richtig das Leben auszukosten. Es wird trostloser und vermutlich gefährlicher sein, wenn mich auch die Gefahren weniger kümmern. Das Ganze war längst fällig, aber dazu gezwungen zu werden, ist einfach gemein." Harker lachte. „Mir geht es nicht anders. Die ersten Tiere, die vor Urzeiten aus dem Wasser an Land krochen, waren wahrscheinlich auch alles andere als begeistert dabei. Es ist hohe Zeit, daß die Menschheit aus dem Meer krabbelt und den Fuß wieder auf trockenes Land setzt, aber uns diese Prozedur schmackhaft zu machen, schafft selbst Reed nicht." „Es wird ihm noch leid tun." Kedre knöpfte ihren Mantel zu und ging langsam durch das Zimmer, das - 403 -
sie wahrscheinlich höchstens aus Neugierde in hundert Jahren wieder betreten würde. „Dann wird mir dieses Gemach fremd vorkommen", dachte sie. „Dunkel und muffig nach so langer Zeit an frischer Luft. Wahrscheinlich werde ich mich dann wundern, daß ich es überhaupt hier ausgehalten habe. Himmel, ich wünschte, Sam Reed wäre nie geboren worden." Harker hielt ihr die Tür auf. „Wir werden unsere Pläne auch an Land weiterverfolgen", sagte er. „Ich habe mich um deine Zeitbombe gekümmert. Eltern und Kind sind in Sicherheit." „Einen Jungen hätte ich lieber gesehen", versetzte Kedre. „Immerhin, vielleicht gibt das Mädchen eine noch bessere Waffe ab. Zudem ist sie nicht das einzige Werkzeug, auf das wir zurückgreifen können. Dem Treiben Sams muß unter allen Umständen ein Ende bereitet werden. Und wenn wir mit denselben Mitteln arbeiten müssen wie er, aber wir werden ihn beseitigen." Harker sah sie von der Seite her an und sagte nichts. „Ich wußte gleich, daß du die Meuterer nicht umsonst laufen ließest", bemerkte Hale. „Es sähe dir - 404 -
auch nicht ähnlich, auf jemanden zu verzichten, den du benutzen kannst." Mit zusammengezogenen Brauen blickte Sam ihn an. „Du wolltest das Land besiedeln", erwiderte er hart. „Jetzt hast du deine Siedler." „U-Boote mit Automatikschaltung, ferngesteuerte Flugzeuge und ein langfristiger Plan", murmelte Hale kopfschüttelnd. „Du hast es wieder mal geschafft, Sam. Jeder andere wäre gescheitert, aber du hast dein Ziel erreicht." „In zwölf Jahren werden sie sich an ihre Umgebung gewöhnt haben", meinte Sam ruhig. „Gib ihnen noch zwölf Jahre, und sie fühlen sich hier so wohl, daß kein Mensch sie wieder zurückprügeln könnte. Weißt du noch, wie du mir früher auseinandergesetzt hast, mit welcher Methode man Pioniere züchtet? Weiterstoßen und voranzerren! Der Gralshort in der Wildnis oder Mißstände in der Heimat. Und da der Gralshort nicht langte …" Er hob die Schultern. Hale schwieg fast eine Minute lang und betrachtete Sam eingehend. „Weißt du eigentlich noch, was aus Moses geworden ist, Sam?" fragte er schließlich leise. Ohne
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eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und verließ das Zimmer.
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25. Die Menschheit faßte Fuß und wuchs. Langsam und zögernd an Anfang, dann mit zunehmender Energie. Einige Zeit regte sich noch Leben in den verlassenen Kuppeln, aus denen die Hunderttausend geflüchtet waren, und Geräusche durchbrachen die Stille in den ster benden Städten. Nicht alle hatten sich zur Flucht entschlossen. Manche alte Leute hatten hier gelebt, solange sie zurückdenken konnten, und waren nicht mehr in der Lage, sich noch ein Dasein über Wasser vorzustellen. Mancher Kranke zog das allmähliche, friedliche Hinscheiden der neuen Ungewißheit vor. Und mancher Rauschgiftsüchtige taumelte schweigend durch die Totenstille. Noch nie seit der Kolonisierung der Venus durch die Menschen hatte solche Stille in den Kuppeln geherrscht. Das Seufzen der Gleitbänder ließ sich vernehmen, die sich langsam ihre Spiralen emporwanden. Die unaufhörlichen Laute widerhallten in den Städten. Und manchmal ertönte der schlurfende Schritt eines Wanderers in den Straßen.
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Doch nach einer Weile verklangen alle Schritte, erstarben alle Laute, und nur das Glucksen des Meeres blieb übrig. Die dicken Mauern bebten unter den Einschlägen fallender Bomben. Der Schreibstift tanzte in Sams Hand auf dem Papier hin und her. Der Schreibtisch wackelte, der Stuhl wurde hin und her gerüttelt, und selbst der Fußboden erzitterte. Sam verzog unbewußt das Gesicht. Das Bombardement dauerte schon drei Tage, und er hatte sich mit der Zeit an die unangenehmen Begleiterscheinungen gewöhnt. Ein Mädchen in braunem, strengem Gewand neigte sich über seine Schulter und verfolgte, was er schrieb. Ihr schwarzes Haar fiel kurzgeschnitten in ihre Stirn. Sam hatte die Seite kaum vollgekritzelt, als das Mädchen sie schon vom Block abriß und damit zu ihrem eigenen Schreibtisch eilte. Sie schaltete den Fernsehsender ein und gab mit leiser, klarer Stimme rasche Befehle durch. An einem Dutzend Stellen in dem belagerten Fort bildete ihr gebräuntes Gesicht den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, als Sams Offiziere ihre Anweisungen entgegennahmen. Aus einem Dutzend Fernsehschirmen blickten ihre zusammengekniffenen
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veilchenblauen Augen, während ihre samtweiche Stimme strenge Anordnungen erteilte. „Gut", nickte Sam erschöpft, als sie die Befehlsausgabe beendet hatte. „Gut, Signa. Schick jetzt Harker herein." Das Mädchen erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung und durchquerte das Zimmer. Die Tür, die sie öffnete, führte nicht unmittelbar in den Vorraum, sondern in einen kurzen Gang, der mit Suchstrahlen durchleuchtet werden konnte, die jede verborgene Waffe anzeigten. Sam ließ sich auf keine Risiken ein. Große Bedeutung kam dem Gang nicht mehr zu. Vielleicht hatte Sam tatsächlich seine eigene Sicherheit zu lange mit der seiner Herrschaft verwechselt. Das Donnern der Beschießung setzte wieder ein, und zum erstenmal platzte an einer Wand der Verputz auf. Ein langer, feiner Riß bildete sich. Wenn die Mauern einstürzten, hatte auch der Gang seinen Sinn verloren. Bis dahin wurde er noch gebraucht. Zwei Wachtposten kamen herein, verhielten in dem Gang mechanisch ihren Schritt und blieben dann neben der Tür stehen, während ihr Gefangener durchleuchtet wurde. Zwei weitere Posten bildeten den Schluß. - 409 -
Unter Harkers rechtem Wangenknochen saß eine blaue, unterlaufene Stelle. Seine Unterlippe war geschwollen. Trotz seiner Handschellen trug er eine bemerkenswerte Selbstsicherheit zur Schau. Bis auf seine gebräunte Gesichtsfarbe hatte er sich kaum verändert. Er war immer noch das Haupt der Harkers, und sein Geschlecht verkörperte nach wie vor die einflußreichste Familie auf der Venus. Wenn dem Handstreich Sams, mit dem er den führenden Kopf der Angreifer in seine Gewalt gebracht hatte, irgendwelche Bedeutung zukam, dann verrieten Harkers Züge nichts davon. Die zurückliegenden zwanzig Jahre waren schnell verstrichen. An der Unbewohnbarkeit der Kuppeln hatte sich nichts geändert. Die Umstellung auf das Leben an Land war langsam erfolgt, aber mittlerweile abgeschlossen. An dem Tag, an dem die Instrumente anzeigten, daß die Atmosphäre der Venus irdischen Verhältnissen entsprach, hatte der erste Abschnitt sein Ende gefunden. Salzkraut und Gewächse mit hoher Sauerstoffproduktion hatten die Wandlung herbeigeführt. Sie vernichteten zugleich den Dschungel, der nur in der dichten KohlendioxydAtmosphäre gedieh. Sauerstoff bedeutete Gift für die Wildnis der Venus. - 410 -
Auf diesen Wandel hatten die Kolonien gewartet. „Zacharias", begann Sam mit müder Stimme, „ich verlange von Ihnen, daß Sie Ihre Leute abziehen." Harker sah ihn scharf und nicht ohne Mitgefühl an. Wie schon oft, versuchte er auch jetzt wieder vergeblich, ein Anzeichen der Harkers, deren Blut in ihrer beider Adern floß, an Sam zu entdecken. „Weshalb soll ich das tun?" fragte er. „Sie können Ihre Lage nicht durch Feilschen verbessern. Entweder der Angriff hört bis Mittag auf, oder ich lasse Sie erschießen. Gehen Sie an den Schreibtisch da drüben. Sie können meinen Fernsehsender benutzen." „Nein, Sam. Ihre Zeit ist um. Diesmal können Sie nicht siegen." „Ich habe bisher immer gesiegt, und ich werde wieder siegen." „Sie irren sich", entgegnete Harker und schwieg einen Augenblick lang, als er dachte, wie oft Sam sich mühelos durchgesetzt hatte, weil er seine Verteidigung in den Jahren des Friedens ausgebaut hatte. Als die Wahrheit über die Unsterblichkeit ans Licht kam, hatten sich unbesonnene, zornige, zu tragischem Scheitern verurteilte Angriffe auf die ragende weiße Festung ereignet, die mit ihren - 411 -
Mauern den mächtigsten Mann auf der Venus beschirmte. „Wir sind keine Heckenschützen", fuhr Harker ruhig fort. „Wir haben diesen Angriff seit dem Tage vorbereitet, an dem Sie mit der Drohung, Bomben auf die Kuppeln zu werfen, Ihr Korium von uns erpreßten. Wissen Sie das noch, Sam? In Ihrer Strategie haben Sie kaum Fehler begangen, aber Sie hätten sich das Material ansehen sollen, das wir mit an Land nahmen. Vieles davon setzen wir jetzt gegen Sie ein." Er warf dem Riß in der Wand einen Blick zu, der sich mit der Fortdauer der Beschießung verlängerte. „Diesmal wenden Sie die Lage nicht mehr, Sam. Sie haben lange an Ihrer Verteidigung gearbeitet, aber nicht so lange wie wir an unserem Angriff." „Sie vergessen eines." Sams Kopf schmerzte von den unausgesetzten Erschütterungen. Das Sprechen fiel ihm schwer. „Nämlich sich selbst. Wollen Sie sich lieber erschießen lassen, als Ihren Angriff abzublasen?" „Das würden Sie nicht verstehen, nicht wahr?" Sam schüttelte ungeduldig den Kopf. „Wenn Sie so stark wären, wie Sie vorgeben, hätten Sie nicht zwanzig Jahre lang gewartet. Mich
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halten Sie nicht zum Narren, Harker. Ich bin noch nie geschlagen worden." „Bisher brauchten wir Sie auch. Sie haben mit unserer Duldung Ihr Regiment ausgeübt, Sam. Damit ist es jetzt vorbei. Was sich gegen Sie entlädt, sind nicht nur Geschütze, sondern der Haß der Menschen, die Sie zu lange unterdrückt haben. Sie können dem Fortschritt nicht nach Ihrem Ermessen Einhalt gebieten, wie Sie das versucht haben. Zwanzig Jahre lang hat sich der allgemeine Groll gegen Sie aufgestaut. Nun ist es vorbei mit Ihnen!' Sam schlug ärgerlich auf den Schreibtisch. „Halten Sie den Mund!" befahl er. „Ich habe dieses Geschwätz satt. Ich gebe Ihnen sechzig Sekunden Zeit, Harker. Wenn Sie sich dann nicht entschlossen haben, sind Sie derjenige, mit dem es vorbei ist."
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26. Innerlich jedoch zehrte eine Unruhe an ihm, für die er keine Erklärung hatte. Nur sein Unterbewußtsein kannte den Grund. Ein eigenartiges Gefühl nagte an ihm, weil Harkers Gefangennahme zu leicht vonstatten gegangen war. Bewußt war er sich noch nicht klar darüber geworden; seine Eitelkeit mochte ihn daran hindern. Aber er wußte, daß irgend etwas nicht stimmte. Nervös schaute er durch das Zimmer. Seine Augen blieben an dem Mädchen haften, das die Vorgänge schweigend und wachsam verfolgte. Erschöpfende psychologische Untersuchungen und Prüfverfahren hatten sie aus den Bewerberinnen um ihren Posten ausgeschieden. Sam wußte, daß er sich auf sie verlassen konnte. Als Signa ins Fort kam, war sie achtzehn Jahre alt, in einer Kuppel geboren und an Land aufgewachsen. Wie alle Neuankömmlinge wurde sie eingehend getestet und den Richtlinien entsprechend behandelt, die Sams Psychologen ausgeklügelt hatten. Signa arbeitete sich schneller hoch als die meisten ihrer Altersgenossinnen. Nach, einem Jahr war sie Hilfssekretärin in dem scharf bewachten Bau, der die Verwaltung beherbergte. Sechs Monate - 414 -
später saß sie als Sekretärin in ihrem eigenen Büro. Als Sam eines Tages die Personallisten durchging, entdeckte er zu seiner Überraschung unter den Angestellten mit den besten Prüfungsleistungen den Namen einer Frau. Eine persönliche Unterredung gab den Ausschlag für ihre Berufung in Sams Stab. Inzwischen war sie fünfundzwanzig. In regelmäßigen Abständen wurde sie weiteren Prüfungen unterworfen, um zu gewährleisten, daß ihre gefühlsmäßige Einstellung sich nicht geändert hatte. Ihre Zuverlässigkeit stand fest, und Sam wußte, daß er ohne sie nur die Hälfte seiner Arbeit bewältigt hätte. Irgend etwas beunruhigte sie jetzt. Sam kannte ihr Mienenspiel so gut, daß er die leiseste Veränderung in ihrem Gesichtsausdruck zu deuten wußte. Eine Falte stand zwischen ihren Brauen, während sie Harker anblickte, und in ihren Augen flackerte ein Ausdruck leiser, verwirrter Unsicherheit. Sam warf einen Blick auf sein Handgelenk. „Noch vierzig Sekunden", sagte er und stieß seinen Stuhl zurück. Aller Augen folgten ihm, als er zur Rückwand ging, über die der Riß lief, und unter einem quadratischen Rahmen von zwei Metern Länge auf eine Taste drückte. Die Drahtgaze in dem Rahmen rollte langsam hoch. Dahinter schwoll ein leises, süßes, unendlich verführerisches Summen an. - 415 -
Sam griff in ein Kästchen, das neben dem Rahmen in die Wand eingelassen war, als der Fernseher auf Signas Schreibtisch rasselte. „Für Sie, Sam", sagte sie gleich darauf. „Hale will Sie sprechen." Sam schloß die Drahtgaze wieder und ging mit schnellen Schritten durch das Zimmer. Das gebräunte Gesicht Hales blickte ihn aus der Fernsehschirm an. „Bist du allein, Sam?" „Nein, warte. Ich schalte auf die Kopfhörer um." Hale verzog ungeduldig das Gesicht. Dann verschwanden seine Züge vom Bildschirm, und seine Stimme drang in Sams Ohren. „Harkers Leute sind durchgebrochen", sagte Hale kurz. „Schlimm?" „Es reicht. Die Erschütterungen haben dafür gesorgt. Ich habe dir von Anfang an gesagt, daß Kunststoff zu spröde ist. Sie haben mehrere Geschütze im Hof erobert und umgedreht. In spätestens fünf Minuten bekommt der obere Mauerring Zunder. Sam, ich fürchte, daß wir verraten worden sind. Die Burschen dürften überhaupt nicht wissen, wie die Nadelstrahler zu - 416 -
bedienen sind. Trotzdem gehen sie damit um, als hätten sie ihr Leben lang nichts anderes getan!" Sam schwieg. Rasch überprüften seine Gedanken die Möglichkeiten, die sich zur Auswahl anboten. Hale war ebenso verdächtig wie jeder andere. Die Zeiten, in denen Sam ihm getraut hatte, waren längst vorbei. Aber er hatte sich seiner Loyalität versichert, indem er dafür gesorgt hatte, daß beide Männer von der Öffentlichkeit in einen Topf geworfen wurden. Angaben über Hales Anteil an verhaßten Maßnahmen wurden fleißig unter das Volk gestreut. Es war stark anzunehmen, daß er Sam bis zum letzten Augenblick unterstützen würde, und sei es auch nur, um seine eigene Haut zu retten. „Ich befasse mich gerade mit Harker", sagte er. „Am besten kommst du hoch." Er setzte die Kopfhörer ab und wandte sich seinem Gefangenen zu. „Die Minute ist um", sagte er. Harker schien zu zaudern. Dann versetzte er: „Wir können uns unter einer Bedingung unterhalten, Sam – daß ich Sie unter vier Augen sprechen kann." Sam öffnete die Schreibtischschublade, nahm eine flache Pistole heraus, legte sie auf den
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schwankenden Schreibtisch und deckte sie mit einer Hand zu. „Entweder Sie reden sofort, Harker", sagte er, „oder ich schieße Sie nieder." Er hob die Pistole und visierte den Lauf entlang. Der brünierte Stahl verdeckte die untere Gesichtshälfte Harkers. Schweigen trat ein. Dann zerriß, gedämpft durch die Mauern, das unverkennbare Kreischen eines Nadelstrahlers die Luft. Auf das dumpfe Dröhnen des Einschlags folgte langanhaltendes Bersten. Die Wände erzitterten, und hinter Sam weitete sich der Riß. „Es wäre wohl besser, wenn Sie einwilligen würden, Sam", meinte Harker. „Wenn Sie aber lieber schießen wollen, tun Sie sich keinen Zwang an. Ich sage kein Wort, ehe wir allein sind." Sam zögerte kurz. Er wußte jetzt, daß die Beschießung ihn ärger mitnahm, als er sich bisher eingestanden hatte, sonst hätte er sich niemals auf Harkers Bluff eingelassen. Trotzdem ließ er die Pistole sinken und nickte. Signa stand auf. „Posten, verlassen Sie das Zimmer", befahl sie. Die Wachen drehten sich um und gingen. Signa warf Sam einen fragenden Blick zu. - 418 -
„Soll ich auch gehen?" fragte sie. „Nein", versetzte Sam entschieden. „Sie bleiben hier." „Sam, ich – ich würde lieber gehen." Signas Stimme klang seltsam verwirrt und geängstigt. Harker kam Sam zuvor. „Bleiben Sie bitte", sagte er. Signa warf ihm von neuem einen ihrer eigenartigen, unsicheren Blicke zu. Sam legte die Hände flach auf die Schreibtischplatte und spürte die unaufhörlichen Erschütterungen, die die Beschießung hervorrief. In kurzen Abständen zerrissen kreischende Nadelstrahlen die Luft. Sam durfte nicht daran denken, welchen Schaden sie an seinen Verschanzungen anrichteten. „Los", sagte er. „Reden Sie, Harker. Ich habe nicht viel Zeit." Harker, dem die Hände immer noch auf den Rücken gefesselt waren, durchquerte das Zimmer und blickte aus dem langen Fenster auf die ferne See hinunter. „Ich will Ihnen zeigen, was ich meine", sagte er. „Kommen Sie her." Ungeduldig folgte Sam der Aufforderung. - 419 -
„Worum geht es?" fragte er. In sicherer Entfernung blieb er neben Harker stehen und schaute in die Tiefe. „Ich sehe nichts. Wovon reden Sie?" Harker pfiff die Eröffnungstakte aus ,Lilibulero' –
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27. Donnerndes Krachen widerhallte in dem Zimmer. Sam taumelte, würgte und rang nach Atem, ohne zu begreifen, was geschehen war. Der wilde Gedanke an einen Nadelstrahl schoß ihm durch den Kopf. Aber ein derartiger Volltreffer hätte das Zimmer in einen Trümmerhaufen verwandelt, und nur er selbst lehnte mit einer Schulter an der Wand, schüttelte benommen den Kopf und atmete schwer. Als er den Blick hob, stand Harker immer noch am Fenster und beobachtete ihn mit zurückhaltendem Mitleid. Das Zimmer war unversehrt, doch Sams Schulter pochte. Jetzt fiel ihm wieder ein, daß der Schlag ihn dort getroffen hatte. Unsicher tastete er über seine Kleidung und blickte ungläubig auf seine geröteten Finger. Irgend etwas rann über seine Brust. Er schaute darauf und sah, daß es Blut war. Die Kugel mußte unmittelbar unterhalb des Schlüsselbeins ausgetreten sein. „Sam – Sam!" flüsterte Signa. „Schon gut – halb so schlimm." Er beruhigte sie, ehe er noch den Kopf hob. Dann sah er, daß sie hinter seinem Schreibtisch stand und die flache - 421 -
Pistole in den zitternden Händen hielt. Mit geweiteten, entsetzten Augen starrte sie ihn an. Ihr Blick wanderte zu Harker und wieder zurück, und der Unglaube, der darin lag, grenzte fast an Irrsinn. „Ich mußte es einfach tun, Sam", flüsterte sie mühsam. „Wieso, weiß ich nicht – aber es muß doch einen Grund geben! Ich begreife nicht …" Harker unterbrach sie mit sanfter Stimme. „Es genügt noch nicht, Signa", sagte er. „Du mußt noch einmal schießen. Schnell, ehe er dich hindern kann." „Ich weiß – ich weiß!" keuchte das Mädchen. Normalerweise war sie eine gute Schützin, aber jetzt hob sie mit beiden Händen die Pistole hoch, streckte sie von sich wie eine Anfängerin und kniff beide Augen zu. Sam sah, wie ihr Finger sich auf den Abzug legte. Er wehrte sich dagegen. Fast hätte er lieber den Schuß riskiert. Aber er ließ die rechte Hand sinken, spürte durch den Stoff die Umrisse der winzigen Nadelwaffe in seiner Tasche und schoß von der Hüfte aus, ohne zu zielen. Er fehlte nicht. Die aufgerissenen Augen des Mädchens starrten ihn einen endlosen Moment blicklos an. Die Pistole - 422 -
entfiel ihrer Hand, aber Sam hörte kaum den Aufprall. Er dachte an ein anderes Mädchen mit blauen Augen, das ihm vor langer, langer Zeit so gegenübergestanden und Traumstaub ins Gesicht geblasen hatte. „Rosathe!" murmelte er, als wäre ihm der Name in diesem Augenblick wieder eingefallen. Dann fuhr er herum. Dasselbe Dreieck, dachte er. Zacharias Harker, Rosathe, Sam Reed. Jetzt und vor sechzig Jahren. Kein Unterschied. Doch, einer. Seine Finger schlossen sich um die Nadelwaffe. Der zweite Blitz zuckte durch das Zimmer. Harker wich nicht aus. Zwölf Zentimeter vor seiner Brust schien der Strahl mitten in der Luft zu explodieren. Verzehrte Energie kreischte auf, ein blendendes Aufleuchten wie von einer Kleinstnova, und Harker lächelte Sam unverletzt an. Ohne den Blick von ihm abzuwenden, hob er die Stimme und rief: „Jetzt liegt die Wahl bei Ihnen, Hale." Seine Worte klangen herausfordernd. Sam kümmerte sich nicht darum. Er biß die Zähne zusammen und riß den Nadelstrahler aus der versengten Tasche, um sie gegen Harkers Gesicht zu heben. Dort zumindest konnte der Unsterbliche keinen Schutzpanzer tragen. - 423 -
Er kam nicht mehr zum Abdrücken. Hinter ihm sagte eine wohlbekannte Stimme müde: „Harker, Sie haben gewonnen." Ein sengender Blitz lohte auf und blendete Sam. Er wußte, welche Waffe gegen ihn angewendet worden war. Er und Hale trugen die kleinen Flammbirnen bei sich, um im Notfall Gehorsam erzwingen zu können. Die Blindheit, die sie bei dem Betroffenen hervorriefen, dauerte gewöhnlich mehrere Stunden. Aus der plötzlichen Finsternis, die das Zimmer erfüllte, drang Harkers Stimme an seine Ohren. „Vielen Dank, Hale. Ganz sicher war ich mir nicht, wie Sie sich entscheiden würden. Das war knapp." „Tut mir leid, Sam", sagte Hale. Seine Worte waren das letzte, was Sam in Fort Plymouth vernahm.
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28. Er taumelte durch Dunkelheit, und Windstöße umheulten ihn. Verschwommene Lichtflecke vereinigten sich zu einem Gesicht, zum Kopf eines schlauen, runzligen alten Mannes, den Sam kannte. Er lehnte an einer glatten Metallwand. Mattes Licht fiel von irgendwoher auf ihn. Sam versuchte, sich aufzurichten, schaffte es nicht, unternahm eine zweite Anstrengung. Er konnte kein Glied regen. Panischer Schrecken sprang ihn an wie ein wildes Tier. Der alte Mann lächelte. „Nur ruhig, mein Junge. So ist es nun einmal. Ändern können Sie doch nichts daran." Er stopfte eine Pfeife mit Tabak, während er sprach. Jetzt hielt er Feuer daran, sog die Flamme tief in den Pfeifenkopf und blies Rauch in die Luft. Sein milder Blick richtete sich auf Sam. „Einiges wollte ich Ihnen für alle Fälle noch sagen", bemerkte er. „Sie sind übrigens wieder gesund und bei Kräften. In den Wochen, die Sie schon hier liegen, habe ich sie auskuriert. Außer mir hat niemand eine Ahnung davon."
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Wo war er? Sam versuchte, den Kopf zu drehen, um die Lichtquelle zu erkennen. Es gelang ihm nicht. „Dieses Versteck habe ich schon lange eingerichtet", redete Crowell paffend weiter. „Dachte mir gleich, daß ich es eines Tages brauchen würde. Die Kammer liegt unter meinem Kartoffelbeet. Eine gute Weile werde ich wohl noch Erdäpfel darauf pflanzen. Vielleicht hundert Jahre, vielleicht auch fünfhundert. Stimmt, ich bin unsterblich. Den entsprechenden Eindruck mache ich wohl nicht gerade. Aber ich bin auf der Erde geboren." Er stieß eine blaue Rauchwolke aus. „Ein sauberes Fleckchen, die alte Erde. Aber ich wußte schon damals, was kommen würde. Und ich konnte Sie sogar voraussehen. Nicht dem Namen oder dem Aussehen nach, aber ich war mir klar, daß Sie auf der Bildfläche erscheinen würden. Ein Bursche wie Sie taucht immer zum rechten Zeitpunkt auf. Ich kann die Zukunft erkennen, Sam. Gehört zu meinen Begabungen. Nur kann ich mich nicht einmischen oder gar den Lauf der Dinge ändern. Greife ich einmal ein, dann versagen hinterher meine Künste für eine Weile."
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Sam versuchte verzweifelt, sich aufzubäumen. Vor seinen Augen tanzten Funken. Er hörte kaum, wie der alte Mann weiterschwatzte. „Ruhig, ruhig", besäaftigte Crowell gelassen. „Versuchen Sie mal, mir ein Weilchen zuzuhören. Ich bin der Logiker, Sam. Erinnern Sie sich noch an den Tempel der Wahrheit? Dem Orakelspruch haben Sie wohl nicht so recht geglaubt, was? Na, ich hatte doch recht. Ich war die Maschine, und ich leiste mir keine Fehler, zumindest nicht von dieser Sorte. Sie haben vierzig Jahre in dem Tempel zugebracht, Sam. Davon wissen Sie allerdings nichts. Sie standen damals unter Traumstaub." Traumstaub? Sam war plötzlich hellwach. War das die Antwort, die er so lange gesucht hatte und nun, da sie ihm nichts mehr bedeutete, ganz beiläufig erfuhr? Hatte Crowell ihn gepflegt? Aber warum – wieso – „Ich war mir klar darüber, daß Harker Sie töten wollte. Ich sah auch, daß ihm das gelingen würde, wenn ich nicht eingriff. Also schaltete ich mich ein, und mein Talent war vorerst zum Teufel. Ich mußte vierzig Jahre warten, bis die Dinge wieder ins rechte Geleis gerieten. Deshalb habe ich auch dafür gesorgt, daß Sie zerlumpt und restlos abgebrannt in einer Gasse erwachten. Ein gutes Geschenk muß mit - 427 -
ein oder zwei üblen wieder ausgeglichen werden, sonst stimmt der Laden nicht mehr. Sie mußten sich erst wieder hocharbeiten und brachten auf diese Weise den Lauf der Dinge ins Lot." Sam hörte längst nicht mehr hin. Wenn es ihm nur gelänge, seine Lähmung abzuschütteln! Es mußte klappen – es mußte. Bis jetzt hatte er noch stets von einer Kraftreserve gezehrt, die kein anderer besaß. Sie durfte ihn in diesem Augenblick nicht im Stich lassen. Doch auch diese Kraftreserve versagte. „Sie sind nicht Sam Reed", fuhr der Logiker fort. „Erinnern Sie sich noch an Blaze Harker? Er hatte einen Sohn. Schon damals war er am Überschnappen, sonst hätte er das Kind nicht derart gehaßt. Sie wissen, was er dem Knaben angetan hat, nicht wahr? Sie sehen aus wie ein normaler Mensch, aber Sie heißen nicht Reed." Blaze Harker, der sich mit verzerrtem Gesicht gegen die Zwangsjacke wehrte – Und er hatte ihn laufen lassen! Dabei hätte er ihn töten können – Blaze Harker! Harker! Sam – Harker! - 428 -
„Eher konnte ich Ihnen die Geschichte nicht auf die Nase binden", sagte Crowell. „Die Zukunft wäre dadurch verändert worden, und das wollte ich vermeiden. Bis jetzt konnten wir nicht auf Sie verzichten, Sam. Von Zeit zu Zeit taucht ein Bursche wie Sie auf, der imstande ist, Berge zu versetzen. Auch andere Leute, wie etwa Robin Hale, besaßen manche Befähigung. Aber zu einigen Taten hätte Hale sich niemals aufraffen können. Sie dagegen würden vor nichts zurückschrecken, um das zu erreichen, was Sie sich in den Kopf gesetzt haben. Wären Sie nicht auf die Welt gekommen und hätte Blaze Sie nicht verstümmelt, die Menschheit würde immer noch in den Kuppeln dahindämmern, um zuletzt in einigen hundert oder tausend Jahren auszusterben. Jetzt aber sind wir an Land gegangen. Wir werden die Venus restlos besiedeln und dann mit der Eroberung neuer Welten beginnen. Das alles haben wir Ihnen zu verdanken, Sam. Auf Ihre Art waren Sie ein großer Mann. Doch jetzt ist Ihre Zeit abgelaufen. Sie haben sich der Macht mit Gewalt bemächtigt, und Sie gleichen den meisten Diktatoren, die auf diese Weise an die Spitze gelangen. Sie waren von keinem anderen Gedanken beseelt, als sich immer wieder aufs neue - 429 -
mit Gewalt durchzusetzen. Deswegen konnten Sie nur noch stürzen, nachdem Sie einmal auf der Höhe Ihrer Macht angelangt waren. Dieselbe Verbissenheit, die die ersten Lebewesen aus dem Wasser an Land trieb, peitschte auch Sie vorwärts. Aber fürs erste können wir Leute Ihres Schlages jetzt nicht mehr gebrauchen." Verbissenheit? Nein, Raserei war es, die mit so lodernder Flamme in ihm brannte, daß es ihn nicht wundergenommen hätte, wenn sie die Bande seiner Lähmung verzehrt, wenn sie ihn hochgerissen und gegen Crowell geschleudert hätte, um ihn zu. zerschmettern, ihn, Hale und die Harkers – Ja, die Harkers. Aber auch er gehörte zu ihnen. „Leute Ihrer Art sind sehr selten, Sam", fuhr Crowell fort. „Wenn sie zum geeigneten Zeitpunkt in die richtige Stellung gelangen, können sie zum Segen für die Menschheit werden. Aber ihr Auftauchen muß in eine Zeit der Katastrophen fallen, denn sie geben nicht nach, bis sie sich durchgesetzt haben. Lieber sterben sie. Und wenn ihnen kein Gegner die Stirn bietet, wenden sie sich gegen ihre eigenen Freunde. Bis jetzt war der Dschungel der Venus Ihr Gegner, und Sie haben ihn besiegt. Danach können
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Sie nur noch gegen die Menschen kämpfen und sie knechten. Der Menschheit steht eine lange Friedenszeit bevor. Die Unsterblichen haben wieder ihre Lenkung übernommen, und sie werden ihr Regiment mit Vernunft ausüben. Sie, Sam, haben ihnen eine Grundlage hinterlassen, auf die sie bauen können. Aber es war an der Zeit, daß Sie von der Bildfläche verschwanden." Unerwartet lachte Crowell auf. „Sie dachten, Sie hätten gelogen, Sam, als Sie der Menschheit versprachen, daß sie an Land Unsterblichkeit erlangen würde, stimmt's? Sie haben die Wahrheit gesagt. Die menschliche Rasse wird unsterblich werden. Haben Sie das schon jemals bedacht? In den Kuppeln wäre sie zugrundegegangen. Hier wird sie weiterleben, wenn auch nicht für immer, so doch lange genug. Den Menschen ist die Unsterblichkeit zugefallen, und Sie, Sam, haben sie ihnen verschafft." Er sog wieder an seiner Pfeife und blickte Sam nachdenklich an. „Ich mische mich kaum jemals in den Lauf der Dinge", sagte er. „Nur einmal blieb mir keine andere Wahl, als einen Mann zu töten. Das veränderte die - 431 -
Zukunft derart, daß ich lange Zeit nichts mehr erkennen konnte. Aber ich hatte bereits genug gesehen, um zu wissen, was sich ereignet hätte, wenn der Mann am Leben geblieben wäre. Schlimmer konnte es nicht kommen, und darum brachte ich ihn um. Nun habe ich wiederum eingegriffen, weil ich weiß, wie eine Zukunft mit Ihnen aussehen würde. Das bedeutet, daß ich eine lange Zeit nichts mehr von dem voraussehen kann, was eintreten wird. Danach werden sich die Wellen wieder glätten, und ich kann aufs neue Ausschau halten. Diesmal verzichte ich darauf, Ihnen das Lebenslicht auszublasen. Man lernt mit den Jahren dazu. Außerdem sind Sie unsterblich. Sie können jahrhundertelang schlafen, ohne das geringste dabei einzubüßen. Und das werden Sie auch tun. Ich hoffe, daß ich Sie niemals wieder zu wecken brauche und Sie im Laufe Ihres Schlafes sterben. Denn wenn ich Sie erwecken muß, dann bedeutet das, daß es schlecht um die Menschheit steht. Wir beide werden noch lange da sein, um Unheil abzuwenden. Und manches Verhängnis kann eintreten. Dann und wann erhasche ich einen flüchtigen Blick. Noch zeichnet sich nichts Bestimmtes ab. - 432 -
Aber Möglichkeiten sind genug vorhanden. Der Dschungel könnte zurückkehren und neue Lebensformen sich entwickeln. Bei den Biestern hier weiß man nie, woran man ist. Wir werden auch nicht ewig auf der Venus bleiben. Sie ist nichts weiter als die erste in einer langen Reihe von Kolonien. Wir werden zu den Planeten und den Sternen fliegen. Dabei könnte es schneller Ärger geben, als wir uns träumen lassen. Vielleicht versucht irgend etwas, unsere Welten zu erobern, so wie wir die seinen. Auf Frieden folgt Krieg. So war es schon immer, und daran wird sich auch nichts ändern. Vielleicht brauchen wir Sie eines Tages wieder, Sam. Ich werde Sie dann wecken." Das schlaue, gebräunte Gesicht betrachtete Sam durch die Rauchwolken hindurch. Die wohlwollenden, abschätzenden Augen schauten ihn an. „Schlafen Sie gut, mein Junge", sagte Crowell. „Sie haben Ihre Aufgabe erfüllt. Gute Nacht." Sam blieb reglos liegen. Die Beleuchtung wurde schwächer. Vielleicht war es auch seine eigene Sicht, die sich trübte. So viele Gedanken warteten darauf, zu Ende gedacht zu werden, und so wenig Zeit blieb ihm nur - 433 -
noch. Er war unsterblich. Er mußte doch weiterleben – Er, Sam Harker. Harker. Harker. Er hörte, wie Karnevalsmusik durch die Delawarekuppel scholl, sah die schimmernden Bänder der gleitenden Straßen, roch treibender Parfüm, lächelte in Kedres Augen. In verzweifelter Not klammerte er sich an seine Gefühle wie an die Kante einer abbröckelnden Klippe, während Leben und Bewußtsein unter seinen Händen in Stücke zerbrachen. Dunkelheit und Schweigen herrschten in der Kammer. Sam Reed schlief seinem Erwachen entgegen. – Ende –
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Henry Kuttners Roman ist kein bequemes Buch, sondern eine harte und gewalttätige Erzählung. Sie berichtet von dem mühseligen Kampf, mit dem die Menschheit in den Tiefen der Meere des Planeten Venus danach trachtet, von neuern die Sterne zu erreichen. Dieser Kampf konzentriert sich um Sam Reed, einen Unsterblichen, den sein geisteskranker Vater nach seiner Geburt verstümmeln ließ. Erst im Alter von achtzig Jahren erkennt er, daß er zu den Unsterblichen zählt. Unbewußt aber betrachtet er von Anfang an alle Geschehnisse unter dem weitläufigen Gesichtswinkel, wie er typisch für die Unsterblichen ist. Der innere Widerstreit, den Sam Reed auszufechten hat, spielt sich zwischen dem angeborenen Empfinden für diese Betrachtungsweise und seinem eigenen Glauben an seine Kurzlebigkeit ab. Er bildet den Kern seines Lebens und. führt zum schließlichen Aufbruch der Menschheit in neue, unbekannte Fernen. Rücksichtslosigkeit, Selbstsucht und Gewalttat bestimmen die Entwicklung Sam Reeds – und letztlich auch eine verzerrte Vision von der leuchtenden Zukunft des Menschen, die wie ein Fanal vor seinen Augen aufragt. Sie führt am Ende die Menschen aus der Sicherheit in den Meerestiefen - 435 -
der Venus hinauf auf die schreckenerregenden, von wildem Leben erfüllten Kontinente des Planeten. Hier ringt sich die Menschheit in der Auseinandersetzung mit den Naturgewalten zu ihrer hohen Bestimmung empor. Trägheit und Überheblichkeit kennzeichnen die unsterbliche Herrscherschicht, die seinem Vorhaben entgegenwirkt. In dem Versuch, sie zu überwinden, muß Sam Reed erleben, wie er vom gefeierten Helden zum gehaßten Bösewicht erniedrigt wird. Kuttners Roman birgt eine Aussage, die auch in unserer Zeit Gültigkeit besitzt; denn weder heute noch jemals darf die Menschheit in stumpfem Dahindämmern verharren. Entweder sie erhebt sich zu neuen Großtaten, oder sie vergreist und stirbt ab. Der vorliegende Roman zeigt, wie die Menschheit aufs neue den langen Weg antritt, der aus dem Verfall zu den Sternen führt…
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