Heinz & Lucy Körner
Alle Farben dieser Welt – Ein Märchenbuch – mit Beiträgen von Heiko Bierhoff Godfried Bomans • Man...
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Heinz & Lucy Körner
Alle Farben dieser Welt – Ein Märchenbuch – mit Beiträgen von Heiko Bierhoff Godfried Bomans • Manfred Eichhorn • Wolfram Eicke Clara Meyer • Inge Wuthe illustriert von Corinna Jeroma • Prem Joshua
1. Auflage Dezember 1995 © 1995 lucy körner verlag Postfach 11 06, 70701 Fellbach.
Alle Rechte vorbehalten. Titelillustration: Anthea Fritsch, Prem Joshua. Illustrationen: Corinna Jeroma, Prem Joshua. Layout: Heinz & Lucy Körner. Herstellung: J. F. Steinkopf Druck GmbH, Stuttgart ISBN 3-922028-25-X
Nach „Die Farben der Wirklichkeit“ und „Wieviele Farben hat die Sehnsucht“ neue Märchen für Erwachsene zum Verschenken, Vorlesen und Erzählen – für alle, die noch Mut zum Träumen haben. Denn wer wirklich lebt, will alle Farben dieser Welt: Die Maske des Narren Der reiche Brombeerpflücker Liebe ist ein Geschenk Das Gipfeltreffen Alle Macht den Träumen Das Märchen von der traurigen Traurigkeit Die Hand, die mehr geben kann als ein Gruß und andere…
Godfried Bomans
Der reiche Brombeerpflücker
Vor vielen Jahren lebte in einem großen Wald ein alter Brombeerpflücker. Sein Vater und seine Mutter lagen schon seit einem halben Jahrhundert im Schatten einer Buche begraben. Aber das hatte er längst vergessen. Er wußte nicht einmal, was das zerfallene Kreuz eigentlich bedeutete; er hielt es nur für ratsam, einen Umweg zu machen, wenn er nachts daran vorbeigehen mußte. Sonst wohnte niemand in dem Wald, und deshalb glaubte der Brombeerpflücker, er sei allein auf der Welt. Diese Vorstellung tat seiner Fröhlichkeit keinen Abbruch. Er sang immerzu lauthals die lustigsten Lieder – außer nachts, wenn er schlief. Aber sonst kann man sich keinen glücklicheren Menschen vorstellen. „Die vielen silbernen Perlen auf den Blumen“, pflegte er des Morgens zu sagen. „Nur für mich sind all die Diamanten über das Gras gestreut. Was bin ich reich!“ Und wenn er durch den Wald ging, staunte er: „Was für hohe Gewölbe, weite Tore und prachtvolle Säulen. Und all das nur für mich!“ Mittags lag er auf dem Rücken, um die Wolken zu betrachten, welche die wunderbarsten Figuren für ihn formten. „Da, ein Bär“, sagte er dann. „Und dort, eine Winterlandschaft. Was für eine Zimmerdecke! Es macht mich ganz verlegen.“ Doch die größte Freude hatte der Brombeerpflücker am Abend. Dann setzte er sich unter den Lorbeerbaum vor seiner Hütte und wartete gespannt. Und auf einmal, wenn die Sonne ihre letzten Purpurstrahlen über die Hügel warf, begann tief im Wald eine feine, hohe Stimme zu jubilieren, so zauberhaft schön und doch so unendlich wehmütig, daß ihm sogar die Tränen kamen. „Herrlich! Prachtvoll!“ rief er dann aus. „Danke! Danke, unbekannter Sänger! Was für eine Musik, welcher Klang! Wie schade, daß dich sonst niemand hört!“
Doch er war nicht allein. Ein Entdeckungsreisender zog durch den Wald, stieß eines Abends die wackelige Tür auf, stand lachend vor dem Brombeerpflücker und sagte: „Etwas zu essen und ein Bett, guter Mann, das ist alles, was ich will. Denn ich bin hungrig und müde. Versteht Ihr mich?“ Doch der Brombeerpflücker saß totenbleich auf seinem Stuhl und schwieg. „Na los“, fuhr der Reisende fort, „hier ist ein Goldstück. Das wird Euch die Zunge lösen.“ Nun raffte sich der Brombeerpflücker auf. „Fremdes Wesen“, sagte er mühsam, „ich brauche Euer Gold nicht. Deshalb habe ich nicht geschwiegen. Aber darf ich Euch einmal anfassen?“ „Nur zu“, sagte der Fremde, der ein fröhlicher Mann war. Der Brombeerpflücker betastete ihn. Er nahm seinen Kopf, drehte ihn nach allen Seiten, sah ihn aufmerksam an, kniff in seine Nase und rief zum Schluß: „Genau wie ich! Alles dasselbe!“ Und er umarmte ihn. „Was seid Ihr doch für ein Einfaltspinsel“, lachte der Reisende und machte sich los. „Habt Ihr noch nie einen Menschen gesehen?“ „Ich bin nicht allein!“ rief der Brombeerpflücker und klatschte in die Hände. „Ich bin nicht allein! Genau solche Beine!“ Und er tanzte um den Tisch. „Kommt“, sagte der Fremde, „ich habe Hunger. Beherrscht Euch doch etwas!“ Und er setzte sich an den Tisch, nahm einen Holzteller aus seinem Rucksack und stellte ihn laut und deutlich vor sich hin. „Also“, sagte er, „nun laßt mal etwas sehen.“ „Ja, ja!“ rief der Brombeerpflücker. „Genau wie ich! Ganz derselbe!“ Und er hüpfte zum Vorratsschrank, holte Brot, Käse und Honigkuchen und tanzte mit alledem wohl dreimal um den Tisch herum. Dann setzte er sich hin, holte tief Luft und sagte: „Bedient Euch.“ Bei jedem Bissen, den der Fremde zu sich nahm, rief der Brombeerpflücker entzückt: „Genau wie ich!“
Das war anfangs etwas lästig, aber der Reisende hatte Hunger und aß lächelnd zu Ende. Zum Schluß hob er den Kopf, und sein Blick fiel auf das Goldstück, das noch immer am Rande des Tisches lag. „Freund“, sagte er, „warum wollt Ihr das Goldstück nicht von mir annehmen?“ „Ich brauche es nicht“, antwortete der Brombeerpflücker einfach, „ich habe Diamanten.“ „Diamanten?“ wiederholte der Reisende, „Ihr habt Diamanten? Wie viele?“ „Genau weiß ich es nicht“, meinte der Brombeerpflücker sinnend, „ein paar Wiesen voll.“ „Sagt das noch einmal.“ „Ein paar Wiesen voll“, wiederholte er. Dieses Mal war es der Reisende, der totenbleich auf seinem Stuhl saß. „Mann!“ rief er schließlich. „Ihr seid steinreich!“ „Hab’ ich doch schon gesagt“, meinte der Brombeerpflücker, „aber das ist noch nicht alles. Ich habe auch noch andere Dinge.“ „Was denn noch, beispielsweise, Kamerad?“ „Ja“, sagte der Brombeerpflücker verlegen, „hier gibt es so viel. Da sind zum Beispiel die Spiegel.“ „Spiegel?“ fragte der Reisende hastig. „Ja“, fuhr der Brombeerpflücker ruhig fort, „ein paar Tausend. Ich hab’ sie nie gezählt. Manche sind so groß, daß man einen ganzen Tag braucht, wenn man um sie herumgehen will. Ach ja.“ „… einen ganzen Tag braucht, wenn… Freund, wo liegen all diese Schätze?“ „In meinem Haus.“ „Das muß ein Palast sein“, stammelte der Fremde. „Es ist auch ein Palast“, sagte der Brombeerpflücker lächelnd, „ich habe ihn noch nie ganz besichtigt, dafür ist er zu groß. Da sind Säulengänge, deren Ende man nicht sehen kann.
Tausende von schlanken Säulen tragen das Gewölbe. Es ist eine Lust, das zu sehen. Ab und zu trifft man auf weite, noch höhere Bögen. Dort ist das Gewölbe nicht grün, sondern hellblau mit weißen Flecken.“ „Mosaik also?“ fragte der Reisende atemlos. „Ich weiß nicht, was Ihr meint“, antwortete der Brombeerpflücker. Der Reisende erklärte ihm das schwierige Wort. „Oh nein“, entgegnete der Brombeerpflücker, „das ist nur Kinderkram! Mich würde es auf die Dauer langweilen, immer dasselbe anzusehen. Nein, hier bewegen sich die Figuren, sie ziehen langsam und würdevoll vorbei, ja, sie verformen sich zu den wunderbarsten Gestalten: Eisbären, Winterlandschaften und Kobolde mit Bärten. Selbst die Farben verändern sich: mal tiefblau, mal hellgrau, mal beides. Es ist herrlich anzusehen, ich werde es nie müde.“ „Das ist ja unglaublich!“ rief der Fremde. „Unglaublich! Und das alles für einen Menschen. Ihr müßt Euch doch sicher manchmal einsam fühlen zwischen all den Säulen, Gängen und Spiegeln.“ „Aber nein“, meinte der Brombeerpflücker, „es gibt genug Musik, von allen Seiten und den ganzen Tag.“ „Musik?“ rief der Reisende. „Musik? Na, Beerenpflücker, jetzt wollt Ihr mir aber etwas weismachen!“ „Nein, wirklich nicht“, versicherte der Brombeerpflücker, „den ganzen Tag über und immer wieder neue Lieder. Und abends wird besonders schön gesungen. Ihr müßt morgen abend mal lauschen. Ihr schlaft doch heute nacht hier?“ „Nein“, antwortete der Fremde und zog seine Jacke über, „ich muß sofort weiter. Ich bin Entdeckungsreisender. Dies ist meine größte Entdeckung. Ich gehe, um jedermann davon zu berichten.“
„Ja, das müßt Ihr tun“, sagte der Brombeerpflücker, „ich habe es schon lange als Unrecht empfunden, das alles allein zu genießen. Aber bleibt doch noch diese kurze Nacht! Dann werde ich Euch morgen alles zeigen, und Ihr könnt noch viel besser davon erzählen.“ „Nein“, sagte der Reisende. „Zeit ist Geld. Ich gehe sofort weiter. Besten Dank für den Honigkuchen. Adieu!“ Er zog die Tür hinter sich zu und verschwand in der Nacht. Der Brombeerpflücker eilte nach draußen, aber er sah nur noch, wie sich ein Schatten zwischen den Bäumen verlor. „Wie schade“, murmelte er. „Zeit ist Geld? Und er hätte so viele Diamanten haben können, wie ein Mensch nur tragen kann. Reisender! Reisender, kommt zurück!“ Doch der hörte ihn nicht mehr. Er sprang über Hecken und Zäune, schwamm durch zwei Flüsse, marschierte wieder durch einen dunklen Wald und war in der Stadt. „Bürgermeister, ich habe etwas Wichtiges mitzuteilen“, sagte er und erzählte von dem reichen Brombeerpflücker. „Gut“, sagte der Bürgermeister, „das hört man gern. Dann sprecht nur vom Rathaus aus.“ Und der Reisende sprach vom Rathaus aus: „Leute!“ rief er, „möchtet ihr gern Diamanten haben?“ „Aber sicher!“ riefen die Menschen. „Und hat jemand Lust auf Spiegel, so groß wie dieser Marktplatz?“ „Ja, sicher!“ riefen die Leute. „Gebt sie nur her!“ „Und ist hier vielleicht jemand, der gern in einem Palast mit grünen Säulengängen und Decken aus beweglichem Mosaik wohnen würde?“ „Klar wollen wir das!“ schrien die Menschen. „Wo steht er?“ „Kommt nur mit!“ rief der Entdeckungsreis ende. „Lauft nur immer hinter mir her! Wir haben keine Zeit zu verlieren!“
Und sie marschierten durch einen dunklen Wald, schwammen durch zwei Flüsse, sprangen über Hecken und Zäune und waren im Wald bei dem Brombeerpflücker. „Beerenpflücker!“ rief der Reisende. „Hier sind wir.“ „Wie schön“, sagte der Brombeerpflücker, „Ihr fackelt nicht lange, das muß ich schon sagen. Himmel, wie viele Leute habt Ihr denn da mitgebracht? Das müssen ja ein paar Tausend sein. Was wollt Ihr mit denen?“ „Wir kommen die Diamanten holen“, sprach der Bürgermeister und trat vor, „und wir wollen in dem Palast wohnen, der eine Decke aus beweglichem Mosaik und Säulen aus grünem Smaragd hat. Wir kommen, um der Musik zu lauschen, und auch die Spiegel müssen wir haben.“ „Das ist ja wunderbar!“ rief der Brombeerpflücker und umarmte ihn. „Ich bin froh, daß Ihr das auch zu schätzen wißt und daß Ihr begreift, wie schön das alles ist. Willkommen, willkommen! Honigkuchen hab’ ich nicht so viel, aber dafür gutes Brot und frisches Wasser.“ „Wir brauchen keinen Honigkuchen“, sagte der Bürgermeister langsam, „wir wollen Diamanten.“ „Die bekommt Ihr!“ rief der Brombeerpflücker. „So viele, wie Ihr wollt. Wartet bis morgen.“ „Geht das nicht noch heute abend?“ fragte der Bürgermeister besorgt. „Zeit ist Geld.“ „Nein“, erwiderte der Brombeerpflücker und schüttelte den Kopf, „jetzt ist es dunkel, und in der Dunkelheit sieht man die Diamanten nicht. Aber morgen früh sollt Ihr etwas zu sehen bekommen! Geht jetzt nur schlafen, wir haben alle Zeit.“ „Gut“, sagte der Bürgermeister. „Schlafen, Leute! Wir haben alle Zeit!“ Am folgenden Morgen lagen die Auen glitzernd und funkelnd unter einem roten Himmel. An jedem Grashalm, auch am kleinsten, hingen prachtvolle, silberne Diamanten, und als
die Sonne aufging, verwandelten sie sich in Topase, Smaragde und Saphire, strahlend vor Licht, blinkend vor Reinheit, leuchtender als irdische Juwelen. Und mittendrin standen die Menschen und redeten von Diamanten, die jetzt wohl gefunden werden sollten, ganze Wiesen voll. Wenn nur endlich der Beerenpflücker aufwachte! Sie sahen gespannt auf die kleine Tür. Endlich ging sie auf. Der Brombeerpflücker trat nach draußen und ließ still seinen Blick über die Auen schweifen. Tränen standen ihm in den Augen. „Habt Ihr ein Glück“, sagte er leise. „Wie bitte?“ murmelte der Bürgermeister. „Ich sagte, daß Ihr Glück habt“, antwortete der Brombeerpflücker. „So viele Diamanten liegen da sonst nie.“ „Ich sehe keine Diamanten“, sagte der Bürgermeister. „Ihr seht keine?“ fragte der Brombeerpflücker verblüfft. „Wir sehen nichts!“ riefen die Menschen. „Wir sehen überhaupt nichts.“ Der Brombeerpflücker schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Wo habt Ihr nur Eure Augen?“ rief er. „Schaut Euch doch um! Seht Ihr das nicht?“ „Das ist Tau“, sagte der Bürgermeister böse. „Das… das wußte ich nicht“, stammelte der Brombeerpflücker. „Ich dachte…“ „Wo sind die Säulengänge?“ fragte der Bürgermeister knapp. „Dort“, flüsterte der Brombeerpflücker. „Das sind Bäume“, erklärte der Bürgermeister. „Wo ist das Mosaik?“ „Da“, sagte der Brombeerpflücker. Der Bürgermeister hob die Augen zum purpurnen Himmel. „Das ist doch nur Luft“, sagte er, „das ist einfach nur der Himmel. Wo sind die Spiegel?“ Der Brombeerpflücker wies schweigend in die Ferne.
„Das sind Teiche“, sagte der Bürgermeister. „Wo ist die Musik?“ Der Brombeerpflücker hob den Zeigefinger, und der Bürgermeister horchte. Dann richtete er sich auf und sagte mit einem bitteren Lächeln: „Das ist eine Nachtigall, du Narr! Eine ganz gewöhnliche Nachtigall! Wir sind betrogen worden!“ „Wir sind betrogen worden!“ schrien die Menschen. „Man hat uns betrogen!“ „Aber ich habe doch genau geschildert, wie es ist“, verteidigte sich der Brombeerpflücker. „Ich habe doch genau…“ „Hängt ihn auf!“ riefen sie. „So hängt ihn doch auf!“ Und als am Abend die Nachtigall ihr trillerndes Lied begann, war niemand mehr da, der ihr lauschte. Denn einen Ast tiefer hing der Brombeerpflücker, tot.
Heinz Körner
Das Gipfeltreffen
Die Lage war bedrohlich. Politiker beider Länder hatten im Laufe der vergangenen Monate zu immer schärferen Formulierungen gegriffen, und zuletzt war es zu direkten Androhungen kriegerischer Gewalt gekommen. An der Grenze dieser Länder waren riesige vor Waffen strotzende Armeen aufmarschiert. Da es zwei große und mächtige Nationen waren, machte sich Angst in der Welt breit, Angst vor einem verheerenden Krieg, der alle in Mitleidenschaft ziehen könnte. Und weil die Präsidenten beider Länder immer öfter davon sprachen, das andere Land dem Erdboden gleichzumachen, übten Politiker aus der ganzen Welt Druck auf sie aus, sich noch einmal an einen Tisch zu setzen. Nun muß man wissen, daß die Präsidenten dieser Länder sich gegenseitig der Kriegstreiberei beschuldigten. Keiner wollte schuld am Ausbruch eines Krieges sein. Dadurch gelang es endlich ein paar besonders gewieften Politikern aus den Nachbarländern, sie bei ihrer Ehre zu packen und zu einem allerletzten Gipfeltreffen zu überreden. Die Welt atmete für einen Moment auf. Viel Hoffnung gab es nicht, doch immerhin war es eine Chance – vielleicht die einzige. So wurde dieses Treffen unter großem Propagandagetöse vorbereitet. Die Präsidenten tönten, daß nur die andere Seite immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen provoziere. Man sei zu jeglichem Entgegenkommen bereit, aber natürlich nur unter der Voraussetzung, daß die eigenen Standpunkte gewahrt blieben. Auf Druck der Weltöffentlichkeit traf man sich also an einem neutralen Ort, und zur Bekundung des jeweiligen guten Willens griff man zu äußerst ungewöhnlichen Maßnahmen. Unter anderem reisten beide Präsidenten mit ihren Familien an, damit alle Welt sehen könne, wie ernst man es meine. Zu
Beginn sollte ein gemeinsames Essen stattfinden, an welchem auch die Präsidentenfamilien teilnehmen würden. Es entstand eine völlig absurde Situation: In frostiger Atmosphäre traf man sich, um exzellente Speisen zu genießen. Die Präsidenten und ihre Familien saßen sich an einer langen Tafel genau gegenüber. Jeder hatte eine attraktive und medienerfahrene Frau, die sich mit besonderem Geschick auf den politischen Bühnen dieser Welt bewegte, und jeder war Vater eines Kindes. Der Sohn des einen Präsidenten war fünf Jahre alt, und er wurde den anwesenden Medienvertretern aus der ganzen Welt aufs trefflichste präsentiert: Wer solch einen süßen Jungen habe, der könne keinen Krieg wollen. Der Präsident des anderen Landes hatte eine kleine Tochter im Alter von sieben Jahren, von den Medien schon wegen ihres niedlichen Aussehens geliebt. Von Seiten dieses Landes hörte man, der Vater einer solch bezaubernden Tochter könne unmöglich der Mann sein, als den ihn die Gegenseite immer wieder in unfairster Weise darzustellen versuche. So frostig und distanziert trotz allen kameragerechten Lächelns und Händeschüttelns die Atmosphäre auch war – die beiden Kinder schienen sich gegenseitig keineswegs abscheulich zu finden. Immer wieder trafen sich ihre Blicke mit einem verschmitzten Lächeln, und wahrscheinlich hätten sie im Laufe des Abends noch so manches gemeinsam angestellt, um dann miteinander darüber zu lachen, wenn nicht die Eltern nach einer gewissen Zeit die Blickkontakte der beiden bemerkt und unterbunden hätten. Am nächsten Tag begannen die offiziellen Gespräche, und man war sich sehr schnell darüber einig, daß es ausgesprochen schwierig werden dürfte, zu einer Verständigung zu gelangen. Am Abend stellten sich die Präsidenten den Fragen der unzähligen Journalisten aus aller Welt. Beide zeigten die in derartigen Fällen üblichen sorgenvollen Mienen. Kein
Hoffnungsschimmer leuchtete auf, keiner fand zu einer positiven Äußerung. Wenn doch die andere Seite nur bereit wäre, so hieß es jeweils, wenigstens ein Stück weit anzuerkennen, daß man im Recht sei. Das einzig Schöne an diesem Tag war die alte Villa, in welcher die Gespräche stattfanden, mit dem wundervollen Park, in dem – wie zum Trotz gegen den düsteren Anlaß – die herrlichsten Sommerblumen um die Wette blühten.
Der nächste Tag brachte wiederum fast nur Enttäuschungen. Man könne sich in der einen oder anderen Frage durchaus einander annähern, es gebe hoffnungsvolle Ansätze, aber im großen und ganzen sei es noch immer so, daß die Gegenseite uneinsichtig auf ihren völlig unberechtigten Forderungen beharre. Und dann stellte man sich mit Frau und Kind den Fotografen, um aller Welt zu demonstrieren, daß man ein guter Familienvater und somit auch ein guter Mensch sei. Der dritte Tag war gemäß Planung und Protokoll der letzte dieses entscheidenden Gipfeltreffens. Es sah nicht so aus, als könne es noch eine Überraschung geben. Da zum Abschluß ein letzter großer Auftritt vor Presse, Rundfunk und Fernsehen vorgesehen war, mußten sich die Angehörigen der Präsidenten in der Nähe aufhalten. Gut bewacht von den jeweiligen Sicherheitskräften vertrieben sie sich die Zeit. Den Kindern war es natürlich langweilig. Die reizende Tochter des einen Präsidenten wollte unbedingt ein wenig in dem herrlichen Park spielen, was nach längerer Diskussion zwischen ihrer Mutter und den zuständigen Sicherheitsbeamten erlaubt wurde. Selbstverständlich mußte sie in Sichtweite bleiben, und zahlreiche wachsame und geschulte Männer behielten sie ständig im Auge: Man konnte ja nie wissen, zu welchen Schandtaten die andere Seite bereit war. Der kleine Junge lief unruhig auf und ab und sah immer wieder aus dem Fenster. Da entdeckte er auf einer großen Wiese vor dem Haus, mitten unter all den leuchtend bunten Blumen, das Mädchen aus dem anderen Land, ganz versunken in ein Spiel, das er nicht kannte. Es hüpfte zwischen den Blumen hin und her und drehte sich im Kreis, als höre es eine lustige Musik und tanze dazu. Irgendwie gelang es dem Kleinen, sich aus dem Haus zu stehlen, um dem Mädchen besser zuschauen zu können. Was
es machte, gefiel ihm sehr, und am liebsten hätte er mitgespielt. Doch er traute sich nicht. Plötzlich entdeckte das Mädchen den kleinen Jungen und lachte, weil er so schüchtern an der Hauswand stand. Es winkte ihm, er solle doch auch auf die Wiese kommen. Er freute sich, doch irgend etwas ließ ihn zögern. Wieder winkte das Mädchen fröhlich. Doch er traute sich noch immer nicht. Schließlich hatte er sich schon heimlich aus dem Haus geschlichen, und würde er jetzt mit dem Mädchen spielen, könnte man ihn entdecken – und er wußte, daß er etwas Verbotenes tat. Weil das Mädchen noch ein drittes Mal winkte und sogar in seine Richtung tanzte, wurden die Sicherheitsbeamten darauf aufmerksam, doch sie konnten nichts Bedrohliches entdecken und dachten, daß Kinder nun mal so sind und manchmal unsichtbaren Personen zuwinken. Den kleinen Jungen, der um die Ecke dicht an der Hauswand stand, hatten sie noch nicht bemerkt. Die Mutter des Mädchens stand auf der Veranda des Hauses und beobachtete ihre Tochter. Viele Fotografen und Journalisten warteten schon auf das vielleicht letzte gemeinsame Auftreten der beiden Präsidenten. Kaum einer beachtete das kleine Mädchen. Seine Mutter sah ihm wehmütig zu, und es fröstelte sie bei dem Gedanken, daß es vielleicht für lange Zeit das letzte Mal sein könnte, daß ihre Tochter zwischen leuchtenden Sommerblumen tanzt. Da faßte sich plötzlich der kleine Junge ein Herz und rannte, so schnell er konnte, zu dem Mädchen. Es lachte und freute sich und nahm ihn bei der Hand, um mit ihm gemeinsam nach einer unhörbaren Musik über die Wiese zu tanzen. Die Sicherheitskräfte beider Länder sprangen auf – in diesem Augenblick tat die Mutter des Mädchens etwas unter den gegebenen Umständen wahrhaft Außergewöhnliches: Sie
schrie, daß sie die Kinder in Ruhe lassen sollten, es seien schließlich nur Kinder. Als die Männer zögerten, rief sie noch einmal, noch energischer, noch lauter, sie sollten nicht einschreiten. Die Sicherheitsbeamten der anderen Seite bemerkten das und zögerten ebenfalls. Auch sie blieben stehen und beobachteten argwöhnisch das Geschehen. Doch als ihre Kollegen von der Gegenseite langsam wieder ihre Plätze einnahmen, ohne allerdings den Blick von den Kindern und ihnen zu lassen, beruhigten auch sie sich und warteten ab. Die Kinder hatten von alledem nichts bemerkt. Sie tanzten vergnügt und fröhlich lachend durch die Blumen und schienen sich prächtig zu verstehen, obwohl sie nicht einmal die Sprache des anderen kannten. Nun war auch die Mutter des kleinen Jungen aufmerksam geworden. Sie stürzte aus dem Haus, blieb aber abrupt auf der Veranda stehen, als sie ihren Sohn mit der Tochter des Feindes tanzen sah. Sie mußte lächeln, und wie jede Mutter in einer solchen Situation suchte sie den Blick der anderen Mutter, der es ebenso erging. Sie sahen sich an und konnten nicht anders als lächeln, zögernd, ein wenig ängstlich, aber auch voller Stolz auf ihre Kinder.
Etwas Ungewöhnliches lag in der Luft, das spürten alle. Zum ersten Mal während dieses Gipfeltreffens hatten die Frauen sich angelächelt, und es war ein anderes Lächeln gewesen als das berufsmäßige ihrer Männer. Wie alle Mütter, die ihren Kindern beim gemeinsamen, vergnügten Spielen zusehen, freuten sie sich. Und es verband sie auf einmal ein Gefühl, das sie sich gegenseitig gar nicht zugetraut hatten. Wie durch ein Wunder verhielten sich die Sicherheitskräfte beider Länder ruhig, waren aber höchst aufmerksam, als die Mütter zögernd ein paar Schritte aufeinander zu machten. Jeder der Anwesenden spürte, daß man diesen Augenblick nicht stören durfte. Noch immer hüpften, tanzten und lachten die Kinder so fröhlich, als hätte es nie eine Bedrohung des Weltfriedens gegeben. Und die Mütter standen fast nebeneinander und sahen ihnen zu, jede mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt und jede auf einmal voller Angst. Niemand hatte bemerkt, daß die Präsidenten von dem ungewöhnlichen Geschehen unterrichtet worden waren und jetzt an den Fenstern im ersten Stock standen. Zuerst erschrocken, dann erstaunt sahen sie dem Spiel ihrer Kinder zu. Beiden lag schon die Aufforderung auf der Zunge, daß man dieses Treiben unverzüglich unterbinden solle – doch sie zögerten. Und als sie die übersprudelnde Fröhlichkeit ihrer Kinder sahen, entschlüpfte jedem ein kleines Schmunzeln. Keiner hatte das Schmunzeln des anderen wahrgenommen. Doch beide sahen, daß auf einmal ihre Frauen aufeinander zugingen und sich die Hände reichten. Es war unglaublich, was daraufhin geschah: Die Journalisten begannen begeistert zu klatschen, als die Frauen sich die Hände reichten, während die Kameraleute und Fotografen arbeiteten wie noch nie. Mit vor Aufregung oder vielleicht
auch vor Freude klopfenden Herzen machten sie Bilder, welche die Welt niemals vergessen wird. Und dann, vielleicht angespornt durch den Beifall oder überwältigt von ihren Gefühlen, umarmten sich die beiden Frauen. Es war eine Umarmung, welche die Welt völlig verändern sollte. Die Präsidenten wußten, daß sie jetzt die einmalige Chance hatten, medienwirksam als Friedenshelden in die Geschichte einzugehen. Sie wandten sich um, setzten sich erneut an einen gemeinsamen Tisch und verhandelten nun auf einmal freundlicher und entgegenkommender, als man es jemals für möglich gehalten hatte. In diesem Augenblick blieben die Kinder erschrocken stehen. Sie hatten sich unbeobachtet geglaubt. Obwohl der Beifall gar nicht ihnen galt, hielten sie inne und schauten mit großen Augen um sich, Hand in Hand zwischen den zahllosen, leuchtenden Sommerblumen.
Godfried Bomans
Anita
Soeben ist Anita Dobbelmans auf die Welt gekommen, in einer großen, purpurroten Rose. Sie streicht ihre Flügelchen glatt und sagt: „Na bitte, da bin ich! Was habe ich hier für eine herrliche Aussicht! Herrlich, herrlich!“ „Du mußt nicht so schreien, Kind“, sagt Frau Dobbelmans, „und auch nicht so wibbeln!“ Natürlich sollten wir wissen, wer Frau Dobbelmans ist. Wir könnten sie sonst leicht für einen gewöhnlichen Maikäfer halten, aber gerade das wäre völlig verkehrt. Ihr Vater war Ratsherr, und ihr Mann ist Sekretär der Maikäfervereinigung „Eintracht macht stark“. Wenn der keinen Orden kriegt, hat der Bürgermeister einmal gesagt, dann sollen mich die Wespen holen. Aber er hat den Orden bekommen. Und er erhielt noch einen. Und noch einen. Und dann noch einen. Und nun hat er so viele Orden, daß er beim Fliegen schrecklich klimpert und es auch nur noch kurze Zeit durchhalten kann. „Jeder hat sein Kreuz zu tragen“, pflegt er zu sagen und schränkt seine Ausflüge seiner Tragkraft entsprechend ein. Ich erwähne das, damit ihr wißt, wer Frau Dobbelmans ist und warum sie Wibbeln und Schreien nicht leiden kann. Aber auch wenn wir es jetzt wissen: Ein junger Maikäfer, der soeben in einer großen, purpurroten Rose zur Welt gekommen ist, weiß es nicht. „Warum soll ich nicht schreien?“ fragt Anita Dobbelmans. „Und warum darf ich nicht wibbeln?“ „Eine Dobbelmans schreit nicht“, antwortet ihre Mutter. „Eine Dobbelmans wibbelt nicht. Das ist es nämlich, was uns von den anderen hier unterscheidet. Sieh, da kommt dein Vater.“ Tatsächlich, da kommt auch schon Herr Dobbelmans angeflogen. Er klingelt wie ein Pferdeschlitten und setzt sich keuchend auf den Blütenrand. „Oh je“, sagt er, „ist das ein
Fliegen. Jeder hat sein Kreuz zu tragen. Ja, was ist denn hier los?“ „Das ist dein Kind, Jan“, sagt Frau Dobbelmans und bricht in Tränen aus. „Ich dachte, daß du dich mehr dafür interessierst, was zu Hause passiert.“ „Nun ja“, sagt Herr Dobbelmans, wischt sich über die Stirn und sieht sich einigermaßen verlegen um, „ich hatte es vergessen, wir kriegen ja auch jeden Monat eins. Heul nicht, Johanna, das kann ich nicht sehen! Hm, es ist ein hübsches Mädchen. Wie heißt du?“ „Anita Dobbelmans“, sagt die kleine Anita stolz. „Na dann“, seufzt Herr Dobbelmans, „willkommen bei uns. Habt ihr Tee?“ Es gibt Tee. Wenn jemand vorbeikäme und sie in dem roten Blütenkelch sitzen sehen würde, jeden auf einem der drei Staubfäden, sich im Wind wiegend und aus ihrem schönen Service Tautröpfchen schlürfend, würde er wohl sagen: Das ist eine glückliche Familie! Aber so ist es nicht. Herr Dobbelmans denkt an die Rose, in der Familie Netelman wohnt. Sie hat vier Staubfäden. Vier, denkt Herr Dobbelmans bitter, während er seinen Tee hinunterschluckt. Vier! Und wir nur drei. Wäre ich nur nicht geboren. Auch Frau Dobbelmans ist unglücklich. Sie denkt an das kostbare Service, aus dem die Netelmans trinken. Einmal, an Frau Netelmans Geburtstag, hat Frau Dobbelmans eine Tasse gegen das Licht gehalten. Die war so dünn, daß die Sonne hindurchschien. „Die sind nirgends mehr zu bekommen“, hat Frau Netelman gesagt. Warum gerade die? fragt sich Frau Dobbelmans und stochert in ihrer Tasse nach einem Rest Zucker. Warum nicht wir? Wenn ich doch nur tot wäre!
So grübeln sie und bemerken nicht, daß die Sonne sogar durch die Wände ihres eigenen Häuschens scheint und daß das Kämmerchen, in dem sie unglücklich sind, feiner ist als Glas. Auch die kleine Anita ist unglücklich, aber sie weiß selbst nicht, warum. In ihrem Herzen schwillt eine große Sehnsucht, sie will wibbeln und schreien. Aber eine Dobbelmans wibbelt nicht, eine Dobbelmans schreit nicht. Der Abend fällt schnell über die rote Blume herein, und sie schließt sich. Die Lampe wird angezündet. Die kleine Anita sitzt bei ihrem Vater auf den Knien und spielt mit seinen Orden. „Was ist das, Vater?“ fragt sie. Der Vater lächelt. „Tja“, sagt er, „das haben die fünf vor dir auch alle gefragt. Das sind Orden, Mädchen. Schau, hier links, der mit dem kleinen Löwen – den gab es, weil Papa zwei Jahre im Eulenkomitee gewesen ist. Und der daneben, der ist für irgendwas. Und der nächste ist von der Heidegesellschaft. Und so hat alles seine Bedeutung.“ „Die klimpern so süß“, sagt die kleine Anita und schlägt mit ihrem Händchen dagegen. Herr Dobbelmans blickt lächelnd zu seiner Frau und sagt: „Das versteht sie nicht.“ Anita Dobbelmans ist noch so jung. Sie möchte gern alles wissen: „Wo ist die Sonne, Vater?“ „Weg.“ „Und wann kommt sie wieder?“ „Morgen.“ „Was tun wir morgen?“ „Besuche machen.“ „Und dann?“ „Essen.“ „Und dann?“ „Schlafen.“
„Und dann?“ „Dann bist du ein großes Mädchen geworden und heiratest.“ „Wen heirate ich?“ „Vater und Mutter haben Jan Rinkelaar für dich ausgesucht.“ „Aber ich will den Jan Rinkelaar nicht heiraten!“ ruft die kleine Anita empört. „Ich will einen netten, hübschen Jungen mit goldenen Flügeln und silbernem Panzer. Und rote Fühler muß er haben! Und wir werden in veilchenblauem Klatschmohn wohnen, und wir werden den ganzen Tag wibbeln und in der Sonne hüpfen, und schreien werden wir auch, und…“ „Anita Dobbelmans muß vernünftig sein“, sagt ihre Mutter und zieht die Brauen hoch, „und keinen Unsinn daherreden. Eine Dobbelmans muß ihren Stand wahren, und die Hüpferei in der Sonne ist zu nichts nütze. Glaubst du, daß dein Vater durch Sonnenhüpfen Ratsherr geworden ist? Und was Jan Rinkelaar angeht, den Papa und ich für dich ausgesucht haben, der hat wohl etwas Solideres als rote Fühler.“ „Was hat er denn?“ fragt Anita und hält das Näschen hoch. „Eine Position bei der Regierung“, sagt Frau Dobbelmans gedehnt. „Will keine Rekiehrung!“ schreit die kleine Anita und schlägt mit den Flügeln. „Ich will herumtollen und fliegen und…“ Doch sie wird hochgehoben und ins Bett gesteckt. Da schluchzt sie die ganze Nacht. Aber am nächsten Tag werden Besuche gemacht, und es wird geschlafen. Und am dritten Tag ist sie ein dicker, glänzender Maikäfer geworden und heiratet Jan Rinkelaar, der Beamter bei der Regierung ist. Sie mieten eine leerstehende Pusteblume mit Zentralheizung und Blick auf die Allee.
Und gerade heute morgen haben die Rinkelaars ein Baby bekommen, Anita Rinkelaar, das will wibbeln und schreien. Aber, nun ja, eine Rinkelaar wibbelt nicht, und eine Rinkelaar schreit nicht. Und da fängt die Geschichte wieder von vorne an.
Manfred Eichhorn
Die Hand, die mehr geben kann als einen Gruß
Als die Sonne ihr erstes Licht über den Hügel schickte, machten sich die beiden Söhne des alten Babu auf den Weg, um dem Meister Dschaganath zu dienen. Babu war ein einfacher und frommer Mann, rechtschaffen und fleißig sein Lebtag, doch nicht zum Sucher geboren. Nicht einen Tag hatte er das Dorf verlassen, nur den Acker bestellt, jahrein, jahraus. Und wenn er, müde nach getaner Arbeit, sein Haupt an den Baum der Erkenntnis lehnte, der in jedem Garten steht, so fiel er nicht in geistige Versenkung, sondern in einen erquickenden Schlaf, der ihm die Kraft zu neuem Wirken schenkte. Nun, da der Tod schon leise bei ihm anklopfte, wünschte er sich, daß seine Söhne Amal und Tschandra mehr Weisheit erfahren würden, als er selbst in seinem Leben erlangt hatte. Sie sollten mehr lernen, als er ihnen zu geben imstande war. Tschandra, sein Erstgeborener, schlug mehr ihm nach, dem Bodenständigen, und hatte mehr Freude an der Arbeit als an geistigen Übungen. Dennoch wünschte sich Babu, daß ein Funke von Amal auf ihn überspringen möge. Amal, der jüngere, war nach der Mutter geraten, die bald nach seiner Geburt aus einem Fiebertraum nicht mehr erwacht war. Amal konnte lange schweigend, fastend und sich ganz der Meditation hingebend sitzen, nur dem Atem folgend, seinem einzigen Führer zu allen Höhen und Tiefen seiner Existenz, durch zahllose Inkarnationen und auf verschlungenen Pfaden hin zu den facettenreichen Spiegeln seiner Seele. Er liebte es, in den Veden, den heiligen Büchern, zu lesen und den stillen Gesängen der Erhabenen zu lauschen, die ihm auf Schwingen zuflogen, sanft und leicht wie die der Vögel, welche er am Himmel beobachtete – ihr Flug und die Leichtigkeit ihres Daseins als ewige Lobpreisung der Schöpfung.
Trotz aller Geborgenheit aber, die ihn schützend umgab wie die Rosenranken den Garten, brannte in ihm dennoch das Feuer der Sehnsucht nach Vollkommenheit, dieses Verlangen nach Erleuchtung, das ihn oft quälte und nicht einmal des Nachts, wenn er zu den Sternen aufblickte, zur Ruhe kommen ließ. Da nun die Ernte eingebracht war und ruhigere Tage ins Haus standen, folgten sie dem Wunsch ihres Vaters und brachen also im Morgengrauen auf, nicht sorglos, doch ohne einen Blick zurück. Ihr Weg führte sie durch Täler und über Höhen, sie kamen durch Städte und Dörfer, und wenn sie gefragt wurden, wohin ihr Weg sie denn führe, so sagte Amal: „Wir wollen den Weg gehen, der zur Erleuchtung führt.“ Tschandra dagegen antwortete: „Zum Meister Dschaganath, wie wir es dem Vater versprochen haben.“ Als sie schon viele Tage unterwegs waren, kamen sie in ein Dorf, in dem wütete eine Krankheit so grausam und unbarmherzig, daß sogar die Ungläubigsten begannen, nach Gott zu rufen, und die Frömmsten ihren Gott verfluchten, ließ er es doch zu, daß der Tod unter ihnen wütete wie der Wolf unter den Schafen. „Geht weiter!“ riefen sie. „Unser Dorf ist verflucht! Der Tod haust bei uns wie die Made im Speck.“ „Kein Dorf ist verflucht“, antwortete Amal, „aber wenn ihr nicht wünscht, daß wir eure Gäste sind, so ziehen wir weiter, auch wenn die Nacht uns einholen wird, ehe wir das nächste Dorf erreichen.“ „Wenn ihr den Tod nicht scheut und ihm die Stirn bieten wollt, so heiße ich euch als meine Gäste willkommen“, sagte der Dorfälteste. „Wenn jedoch Vernunft und Vorsicht eure Wegbegleiter sind, so geht noch eine halbe Stunde nach Norden. Dort liegt das Kloster von Dschaganath, in dem ihr Unterkunft finden werdet.“
„Sagtest du Dschaganath?“ jauchzte Amal. „Der Meister aller Meister!“ Und vor Freude über die Nachricht, daß das noch so weit geglaubte Ziel schon so nahe war, vergaß er den Schmerz, der über dem Dorfe lag, und trieb den Bruder zur Eile an. Tschandra dankte dem Alten, gab ihm die Hand und sagte: „Gern hätte diese Hand dir mehr gegeben als nur einen Gruß.“ Dann folgte er seinem Bruder Amal, der mit eiligen Schritten dem Kloster zustrebte. „Vielleicht hätten sie unsere Hilfe gebraucht“, gab Tschandra zu bedenken, nachdem er seinen Bruder eingeholt hatte. Doch Amal hörte den Bruder nicht. Er war in so überschwenglicher Laune, daß er nur immer wieder rief: „Wir sind am Ziel, Tschandra!“ Und er schritt so schnell aus, daß sie schon bald vor dem Tor des Klosters standen. „Wir kommen von weit her, um dem Meister Dschaganath zu dienen und von ihm zu lernen“, sagte Amal zu dem Mönch, der sie an der Pforte empfing. Tschandra sagte nichts. Wortlos reichte er dem Pförtner die Hand. Der lächelte und sagte: „Du gibst mir die Hand und dein Bruder ein Wort. Seid also willkommen.“ Und er führte sie durch den Garten, der einem Park glich mit Teichen, auf denen Seerosen schwammen, und mit Bäumen, auf welchen buntgefiederte Vögel ihre Lieder sangen. Sie gingen auf Kieswegen, die waren wie verschlungene Pfade und führten überall und nirgends hin. Da sagte der Mönch: „Es ist bei uns Brauch, daß Dschaganaths neue Schüler die erste Nacht in Meditation vor der weißen Wand des Gartentempels verbringen.“ Dann wies er ihnen den Weg und verschwand. Amal faßte seinen Bruder bei der Hand und sagte: „Komm, das ist unsere erste Prüfung.“ Und er führte ihn zum Gartentempel und setzte sich vor die weiße Wand.
Tschandra setzte sich neben ihn und schwieg. Er lauschte dem Vogelgezwitscher, das von den Bäumen herüberklang, hörte das Springen der Fische im Teich und das Quaken der Frösche. Als aber die Nacht ihre Schwingen ausbreitete, verstummten die Vögel, und es wurde still, nur ein Frosch quakte noch hin und wieder. Während Amal unter dem Schilfdach des Gartentempels in tiefe Meditation versunken war, horchte Tschandra in die Nacht und hörte mit unruhigem Herzen, wie der Wind das Wehklagen aus dem Dorf herübertrug. Vor ihm erschienen mit einem Male gespenstische Bilder, wie von Feuerzungen an die Wand gespien. Da wurde das Klagen, Weinen und Schreien lauter. Tschandras Herz fand keine Ruhe, und außerdem begannen seine Beine zu schmerzen. Er schaute hinüber zu Amal, der saß wie eine Statue, wie ein lebender Buddha vor der Wand, und nichts schien seine Meditation zu stören. Ich werde bereits bei der ersten Prüfung versagen, dachte Tschandra und versuchte noch einmal, seinen Geist zu ordnen. Doch die Stimmen der Schmerzen aus dem Dorf berührten ihn wie ein Hilferuf und blieben nicht ungehört. Er verließ seinen Platz, eilte durch den Garten bis ans Tor des Klosters und rannte durch die Dunkelheit dem Licht eines gewaltigen Feuers entgegen, das ihm als Wegweiser leuchtete. Als hätte der Dorfälteste ihn erwartet, empfing er Tschandra mit einem milden Lächeln: „Will diese Hand nun mehr geben als einen Gruß?“ Tschandra nickte und fragte den Alten, was er tun könne. „Hilf, die Toten zu verbrennen“, antwortete der. Dann gingen sie gemeinsam in die Hütten, schleppten die Toten heraus und trugen sie ins Feuer. Als das getan war, fragte Tschandra wieder, wie er helfen könne, und der Alte antwortete: „Hilf, das Leid der Kranken zu
mildern.“ Und abermals gingen sie in die Hütten, wuschen die Kranken, betteten sie in frische Tücher, reichten ihnen frisches Wasser und sprachen ihnen Trost zu. Als auch das getan war und der Morgen schon anbrach, sagte Tschandra, daß er nun zurück ins Kloster müsse. Seine Beine waren schwer geworden nach den Anstrengungen dieser Nacht, und der Weg ins Kloster war mühsam. Als er dort angelangt war, sah er seinen Bruder noch immer vor der weißen Wand des Gartentempels sitzen. Er setzte sich neben ihn und schlief erschöpft ein. Kaum war es heller Tag, da schaute ein Schüler Dschaganaths nach ihnen und bat sie ins Haus. „Der Meister erwartet euch nun“, sagte er. „Verzeih mir, Amal, aber ich habe schon die erste Prüfung nicht bestanden“, raunte Tschandra seinem Bruder zu, „ich war die Nacht über im Dorf und habe dort geholfen, soviel ich nur konnte.“ „Du Narr“, zischte Amal, als sie die Bibliothek betraten. Dort wartete der Meister, der aber kein anderer war als der Pförtner, der sie gestern willkommen geheißen hatte. Amal fiel vor dem Meister auf die Knie. „Ich habe die ganze Nacht still gesessen, wie Ihr es gewünscht habt“, sagte er. Dschaganath hieß ihn aufstehen und sagte: „Wenn man durch ruhiges Sitzen allein erleuchtet würde, dann wäre der Frosch schon lange ein Buddha.“ „Aber verlangt Ihr nicht Gehorsam von Euren Schülern?“ fragte Amal. Da antwortete der Meister: „Im Schnee ist ein weißer Reiher nur schwer zu erkennen, aber schau, wie gut sich die schwarzen Raben davon abheben.“ Dann wandte er sich an Tschandra und sagte: „Gib mir die Hand, die mehr geben kann als einen Gruß!“
Tschandra erschrak, denn er erkannte in Dschaganath nun auch den Alten vom Dorf, mit dem er die Kranken gewaschen und die Toten dem Feuer übergeben hatte. Der Meister aber nahm Tschandras Hand und küßte sie. Tschandra errötete. Er wußte nicht, wie ihm geschah. Da fiel Amal wieder dem Meister zu Füßen und dankte ihm, denn er hatte soeben mehr an Weisheit gewonnen als in seinem ganzen bisherigen Leben. Und er sagte: „Aus dem weißen Reiher soll nun ein schwarzer Rabe werden, und aus dem Frosch eine Hand, die mehr geben kann als einen Gruß.“ Tschandra und Amal blieben noch eine Zeitlang im Kloster. Als sich der Winter dem Ende zuneigte, machten sie sich auf den Weg zu ihrem Vater, denn es nahte die Zeit der Saat.
Liebe ist ein Geschenk Clara Meyer
Ein Rabenmann traf auf einem abgeernteten Kornfeld eine Rabenfrau. Da sie ihm gut gefiel und er sich eine Gefährtin wünschte, sagte er zu ihr: „Schenk mir deine Liebe!“ Die Rabenfrau fühlte sich zunächst geschmeichelt, sie war nämlich nicht mehr ganz jung, doch dachte sie bei sich: Wenn ich ihm meine Liebe gebe, dann habe ich selbst keine mehr. Denn sie war es nicht gewohnt, für das, was sie gab, selbst auch etwas zu bekommen, und hatte daher das Geben eingestellt. Obwohl ihr der Rabenmann versprach, seine eigene Liebe gegen ihre zu tauschen, traute sie einem solchen Handel nicht und wies ihn ab. Als aber der Winter nahte, fühlte sie sich sehr einsam. Sie wußte genug über die langen Winternächte, in denen das Grübeln kein Ende nimmt. Da fiel ihr das Angebot des Rabenmannes ein, und sie beschloß, ihn zu suchen. Wochenlang flog sie vergeblich umher. Fast hätte sie schon aufgegeben, da fand sie ihn endlich vor einem alten Schuppen zwischen einigen Körben mit Fallobst. Sie machte ihm schöne Augen und erinnerte ihn an sein Angebot. Und da der Rabenmann immer noch Gefallen an ihr fand, willigte er ein und schenkte ihr einen Apfel. Die Rabenfrau pickte genüßlich hinein und dachte insgeheim: Sicher merkt er es nicht, wenn ich ihm nur einen kleinen Teil meiner Liebe abgebe, dann bleibt mir der größere Anteil. Sie blieben den Winter über zusammen und versorgten gemeinsam ihren Haushalt. Doch waren sie beide nicht so richtig glücklich. Sie waren zwar sehr freundlich zueinander und hilfsbereit, hatten auch niemals Streit, doch schien etwas Entscheidendes zu fehlen. Der Rabenmann spürte das besonders deutlich und drängte auf ein Gespräch. Doch die Rabenfrau ließ sich nicht darauf ein und tat seinen Eindruck als Hirngespinst ab. Geschickt vermied sie Gespräche dieser Art,
bis sie irgendwann nur noch über die Nahrungssuche miteinander redeten. Da sich jedoch alles in einer durchaus harmonischen Atmosphäre abspielte, fand sich der Rabenmann schließlich mit der Situation ab und stellte das Fragen ein. Er wurde mit der Zeit bequem und setzte sogar etwas Winterspeck an. Als das Frühjahr kam, flog er öfter allein aus, um Material für ein neues Nest herbeizuschaffen. Dabei war ihm nicht einmal klar, ob die Rabenfrau überhaupt an einer festen Partnerschaft und Kindern interessiert war. Auf einem seiner Ausflüge aber lernte er eines Tages ein hübsches Rabenmädchen kennen, und sie verliebten sich heftig ineinander. Er spürte plötzlich, wie es ist, wenn man die ganze Liebe von jemandem bekommt. Jetzt wußte er auch, was ihm eigentlich gefehlt hatte und daß er bisher um einen großen Teil der Liebe betrogen worden war. Er stellte die Rabenfrau zur Rede und verlangte von ihr seine Liebe wieder zurück, da er sie nun einer anderen geben wolle. Die Rabenfrau fiel aus allen Wolken und stritt zunächst alles ab, denn sie hatte sich an das Leben mit ihm gewöhnt und wollte ihn nicht verlieren. Als er aber nicht lockerließ, gab sie endlich zu, daß sie ihm nur einen kleinen Teil ihrer Liebe gegeben hatte. Sie bereue dies und sei nun bereit, ihm alles zu geben.
Während sie das sagte, merkte sie, daß es der Wahrheit entsprach. Jetzt, da er sie verlassen wollte, empfand sie plötzlich Liebe für ihn und wollte ihn behalten. Sie bot ihm ihren ganzen gehorteten Liebesvorrat an, doch er traute ihr nicht mehr und verschmähte das späte Geschenk. Er nahm seinen Teil zurück, von dem kaum etwas verbraucht war, und flog davon. Die Rabenfrau war nun sehr traurig. Sie hatte schmerzlich lernen müssen, daß man erst die eigene Liebe verschenken muß, um Platz für die eines anderen zu haben. Und ihr wurde klar: Wenn jeder seine Liebe verschenken würde, dann wäre wohl am Ende für alle genug da. Den Sommer über blieb sie allein und dachte über diese Dinge nach. Dann nahm sie sich vor, mit ihrer neuen Erkenntnis im Herbst wieder das abgeerntete Kornfeld aufzusuchen und ohne egoistische Hintergedanken offen für die Liebe eines Rabenmannes zu sein.
Inge Wuthe
Das Märchen von der traurigen Traurigkeit
Es war eine kleine Frau, die den staubigen Feldweg entlangkam. Sie war wohl schon recht alt, doch ihr Gang war leicht, und ihr Lächeln hatte den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens. Bei der zusammengekauerten Gestalt blieb sie stehen und sah hinunter. Sie konnte nicht viel erkennen. Das Wesen, das da im Staub des Weges saß, schien fast körperlos. Es erinnerte an eine graue Flanelldecke mit menschlichen Konturen. Die kleine Frau bückte sich ein wenig und fragte: „Wer bist du?“ Zwei fast leblose Augen blickten müde auf. „Ich? Ich bin die Traurigkeit“, flüsterte die Stimme stockend und so leise, daß sie kaum zu hören war. „Ach, die Traurigkeit!“ rief die kleine Frau erfreut aus, als würde sie eine alte Bekannte begrüßen. „Du kennst mich?“ fragte die Traurigkeit mißtrauisch. „Natürlich kenne ich dich! Immer wieder einmal hast du mich ein Stück des Weges begleitet.“ „Ja, aber…“, argwöhnte die Traurigkeit, „warum flüchtest du dann nicht vor mir? Hast du denn keine Angst?“ „Warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch selbst nur zu gut, daß du jeden Flüchtigen einholst. Aber, was ich dich fragen will: Warum siehst du so mutlos aus?“ „Ich… ich bin traurig“, antwortete die graue Gestalt mit brüchiger Stimme. Die kleine, alte Frau setzte sich zu ihr. „Traurig bist du also“, sagte sie und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. „Erzähl mir doch, was dich so bedrückt.“ Die Traurigkeit seufzte tief. Sollte ihr diesmal wirklich jemand zuhören wollen? Wie oft hatte sie sich das schon gewünscht. „Ach, weißt du“, begann sie zögernd und äußerst verwundert, „es ist so, daß mich einfach niemand mag. Es ist
nun mal meine Bestimmung, unter die Menschen zu gehen und für eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie fürchten sich vor mir und meiden mich wie die Pest.“
Die Traurigkeit schluckte schwer. „Sie haben Sätze erfunden, mit denen sie mich bannen wollen. Sie sagen: Papperlapapp, das Leben ist heiter. Und ihr falsches Lachen führt zu Magenkrämpfen und Atemnot. Sie sagen: Gelobt sei, was hart macht. Und dann bekommen sie Herzschmerzen. Sie sagen: Man muß sich nur zusammenreißen. Und sie spüren das Reißen in den Schultern und im Rücken. Sie sagen: Nur Schwächlinge weinen. Und die aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder aber sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen, damit sie mich nicht fühlen müssen.“ „Oh ja“, bestätigte die alte Frau, „solche Menschen sind mir schon oft begegnet.“ Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen. „Und dabei will ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich
ganz nah bei ihnen bin, können sie sich selbst begegnen. Ich helfe ihnen, ein Nest zu bauen, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist, hat eine besonders dünne Haut. Manches Leid bricht wieder auf wie eine schlecht verheilte Wunde, und das tut sehr weh. Aber nur, wer die Trauer zuläßt und all die ungeweinten Tränen weint, kann seine Wunden wirklich heilen. Doch die Menschen wollen gar nicht, daß ich ihnen dabei helfe. Statt dessen schminken sie sich ein grelles Lachen über ihre Narben. Oder sie legen sich einen dicken Panzer aus Bitterkeit zu.“ Die Traurigkeit schwieg. Ihr Weinen war erst schwach, dann stärker und schließlich ganz verzweifelt. Die kleine, alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in ihre Arme. Wie weich und sanft sie sich anfühlt, dachte sie und streichelte zärtlich das zitternde Bündel. „Weine nur, Traurigkeit“, flüsterte sie liebevoll, „ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln kannst. Du sollst von nun an nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr an Macht gewinnt.“ Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete erstaunt ihre neue Gefährtin: „Aber… aber – wer bist eigentlich du?“ „Ich?“ sagte die kleine, alte Frau schmunzelnd, und dann lächelte sie wieder so unbekümmert wie ein kleines Mädchen. „Ich bin die Hoffnung.“
Heinz Körner
Alle Macht den Träumen
Es gab einmal einen Mann namens Robert, der unbedingt sein Bewußtsein erweitern und seine Spiritualität entwickeln wollte, wie er es zu nennen pflegte. Ein gutes und erfülltes Leben im Einklang mit dem Universum sei sein Ziel, so erzählte er oft. Er träumte insgeheim davon, irgendwann sogar als großer Meister bewundert zu werden. Also las er zahllose kluge Bücher, besuchte Vorträge und Seminare und befragte alle weisen Frauen und Männer, von denen er erfuhr. Eines Tages wurde ihm zugetragen, daß in seiner Nähe eine geheimnisvolle Frau lebe, Wolfsfrau genannt und von vielen wohl auch deshalb als Hexe bezeichnet, weil sie Ratsuchende nicht nur durch besonders kluge Antworten verblüffe und erfreue, sondern sie hin und wieder auch einfach nur veralbere oder in unlösbaren Rätseln spreche. Näheres wisse man nicht über sie, außer daß sie blind sei und mit zwei Wölfen lebe. Robert machte sich unverzüglich auf, diese Frau zu besuchen. Sie wohnte in einer alten Mühle, direkt neben einem Wasserfall am Rande der Stadt. Die Mühle muß auf Besucher tatsächlich wie ein Hexenhaus wirken, dachte Robert. Und als er endlich dieser Hexe gegenübersaß, war er doch ziemlich verwirrt, zum einen wegen der beiden Wölfe, die friedlich, aber wachsam neben ihr saßen und ihn mißtrauisch beäugten, zum anderen, weil er ein weises, aber altes Weib erwartet hatte und keine geradezu unverschämt attraktive junge Frau. Die Wolfsfrau lachte ihn offen und in einer direkt aus ihrem Herzen kommenden Art an, und er bemerkte, daß sie wirklich blind zu sein schien. „Was führt dich zu mir, mein Freund?“ fragte sie mit einer Fröhlichkeit, die Robert in dieser Situation gänzlich unangemessen erschien. Er räusperte sich und bat darum, erst einmal eine persönliche Frage stellen zu dürfen: ob sie denn tatsächlich blind sei?
„Geht es dir etwa auch so wie all diesen Sehenden“, antwortete sie, „die trotz ihrer gesunden Augen blind sind oder aber ihren eigenen Augen nicht trauen?“ Robert schluckte und meinte, er habe sich nur vergewissern wollen. Sie nickte. „Also bist du dir deiner eigenen Wahrnehmung nicht sicher.“ Er widersprach, vielleicht eine Spur zu energisch, und wies darauf hin, daß er sowieso wegen ganz anderer Dinge gekommen sei und weder ihre noch seine Zeit mit solchen unsinnigen Plänkeleien vergeuden wolle. Sie schwieg. Und hätte er sie in diesem Augenblick angesehen, wäre ihm das leicht spöttische Lächeln nicht verborgen geblieben, das über ihr Gesicht huschte. Statt dessen drehte er sich bedächtig eine Zigarette, was aus seiner Sicht Intellekt, Nachdenklichkeit und eine gewisse Gelassenheit signalisieren sollte, aber wohl eher dazu diente, seine Aufregung und Unsicherheit zu verbergen. Als er die Zigarette fertig gedreht, angezündet und ein paar tiefe Züge getan hatte, begann er: „Ich habe schon so vieles gelesen, gehört und gesehen, daß ich eigentlich keine Fragen mehr haben dürfte. Trotzdem kann einem ja hin und wieder ein Rat nicht schaden.“ Er hüstelte etwas verlegen und fuhr fort: „Nun wurde mir zugetragen, daß du besonders weise bist und wichtige Ratschläge geben kannst. Vielleicht kannst du mir ja ein wenig bei meiner spirituellen Entwicklung helfen?“ Die Wolfsfrau lachte. „Wenn du schon so vieles gelesen hast, dann kennst du sicher die sieben Regeln für ein gutes, ein bewußtes und ein spirituelles Leben, nicht wahr?“ „Aber natürlich“, antwortete Robert nicht ohne Stolz und bemüht, möglichst lässig dabei zu wirken.
„Dann haben wir ja schon des Rätsels Lösung!“ sagte die junge Frau. „Für dich sind diese Regeln wohl eher ein Buch mit sieben Siegeln.“ Robert zog hastig an seiner Zigarette und konnte dabei nicht umhin, die Wolfsfrau mit verstohlenen Blicken zu bewundern – aber das hätte er gegebenenfalls entschieden abgestritten. Sie wedelte sich mit ihrer Hand den Rauch aus dem Gesicht und fuhr unbeirrt fort: „Du solltest diese Regeln nicht nur kennen, sondern vielleicht auch mal versuchen, danach zu leben.“ Das tue er doch, warf Robert ein, wenigstens im großen und ganzen und soweit er sich dessen bewußt sei. Was er denn noch tun solle? „Soll ich es dir an jeder einzelnen Regel erklären?“ fragte sie zurück. „Wenn du meinst, daß es mir hilft und meine Frage beantwortet.“ „Also gut, das wird aber viel Zeit brauchen“, sagte sie, während er noch immer heimlich ihre in der Tat bemerkenswerte Schönheit bewunderte und eigentlich ganz andere Dinge im Kopf hatte. „Fangen wir mit der ersten Regel an“, fuhr sie fort. „Sie lautet, wenn ich mich recht entsinne: Achte darauf, daß Nahrung, Umgebung, Freundeskreis, Handeln und Denken gut sind, wenn du Weisheit, inneren Frieden und Erleuchtung suchst. Habe ich recht?“ Er nickte begeistert, ohne zu beachten, daß die Wolfsfrau es ja gar nicht sehen konnte, doch auf irgendeine Weise nahm sie es trotzdem wahr. „Warum rauchst du dann?“ fragte sie. „Du weißt genau, daß du dir damit nichts Gutes tust. Und es ist auch noch völlig unnötig, denn vom Rauchen kann ja nun wirklich keiner behaupten, daß er dazu gezwungen ist. Sag mir: Was hat das absichtliche und bewußte Vergiften deines Körpers damit zu
tun, daß du ein gutes und auch noch spirituelles Leben führen willst?“ Verlegen drückte Robert seine Zigarette aus, meinte aber trotzig: „Du willst doch nicht etwa behaupten, daß die Erleuchtung nur für Nichtraucher reserviert ist?“ „Wer bin ich, daß ich das wissen könnte? Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß es ein guter Weg ist, sich selbst zu schaden. Wer nicht einmal die erste und einfachste Regel befolgt, der könnte eigentlich aufhören, nach Erleuchtung und dergleichen zu streben, meinst du nicht auch?“ Eine Antwort wartete sie gar nicht erst ab, sondern fragte, ob er die zweite Regel kenne. Er räusperte sich und sagte, durchaus ein wenig kleinlauter als bisher: „Entwickle Mitgefühl für alle anderen Lebewesen.“ „Und?“ fragte sie spöttisch, als wüßte sie seine Antwort bereits. „Wie steht’s damit bei dir? Hast du wirklich Mitgefühl mit anderen Lebewesen?“ Robert kraulte etwas verlegen seinen Bart. „Nun ja, vielleicht bin ich noch nicht perfekt, aber ich denke schon, daß ich…“ „Papperlapapp!“ unterbrach sie ihn einfach. „Tust du anderen Menschen niemals unnötig weh, zum Beispiel aus rein egoistischen Gründen? Wie oft redest du andere voller Zorn an die Wand und machst sie gnadenlos nieder? Tötest du niemals Tiere oder läßt sie töten? Ich vermute, daß du noch immer viel zu oft Fleisch ißt. Kannst du… ach, warum frage ich überhaupt? Du weißt es doch alles selbst. Oder etwa nicht?“ Er schluckte zwei-, dreimal, denn er wußte genau, daß sie recht hatte. Zu gerne hätte er gefragt, woher sie das eigentlich alles wisse, doch im Augenblick fehlte ihm dazu der Mut. Also griff er verlegen nach Tabak und Zigarettenpapier – und ließ es in letzter Sekunde doch sein. Sein heimlicher Blick auf die junge Frau, die ihn immer mehr aus der Fassung zu bringen drohte, erinnerte ihn schmerzlich daran, daß es wohl
erfreulicher gewesen wäre, sich auf ganz andere und viel angenehmere Weise mit ihr zu befassen. Er bereute es, sie nur wegen einer Frage aufgesucht zu haben, deren Beantwortung ihm jetzt eigentlich gar nicht mehr so dringlich erschien. Doch nun mußte er ja wohl den Schein wahren, wollte er sich nicht einer gewissen Lächerlichkeit preisgeben – obwohl er jetzt am liebsten aufgestanden und gegangen wäre, denn zu allem Übel machte ihn die Anwesenheit der beiden Wölfe immer nervöser. „Die dritte Regel kennst du sicher auch“, sprach sie nach einer kleinen Pause weiter. „Hier ist die Rede von einer gewissen Demut und Dankbarkeit. Anderen erzählst du zwar, sie sollten sich nicht so wichtig nehmen, wir alle wären nur Staubkörner im Universum und so weiter. Und du hast durchaus recht damit, mein Freund. Doch wehe, jemand tritt dir mal versehentlich oder absichtlich auf die Füße, kommt dir in deiner vermeintlichen persönlichen Freiheit in die Quere oder nimmt dich nicht so wichtig, wie du es erwartest – dann bist du von Demut so weit weg, daß du auch diesen Punkt getrost vergessen kannst.“ Er sah sie lange an, nun wirklich ein wenig betroffen, und begann, sich zu wundern. Auch die ein wenig unverfrorenen und doch so reizvollen Gedanken an das, was man mit dieser wunderschönen Hexe alles anstellen könnte, lösten sich langsam in Luft auf. „Die vierte Regel“, so fuhr die junge Frau ungerührt fort, „legt uns Toleranz und Gelassenheit ans Herz. Wenn mein Gefühl mich nicht trügt, dann verstehst du es ganz gut, dich tolerant zu geben und eine gewisse Gelassenheit an den Tag zu legen. Doch sobald du zornig bist, fehlt dir noch immer eine Prise Humor und die nötige Gelassenheit, nicht wahr? Und wenn du den Schwächen anderer gegenüber eigentlich tolerant sein solltest, machst du ihnen viel lieber Vorwürfe, hinter welchen du deine eigenen Unzulänglichkeiten zu verbergen
suchst.“ Sie hielt plötzlich inne, als lausche sie auf ein Geräusch. „Ja“, sagte sie dann, „du bist nur dir selbst gegenüber tolerant. Habe ich recht?“ Wieder nickte er stumm, ohne daran zu denken, daß sie ihn nicht sehen konnte. Doch auch dieses Mal schien sie es auf irgendeine geheimnisvolle Weise wahrzunehmen. Sah sie ihn, blind wie sie war, vielleicht sogar besser als alle, die ihn mit ihren eigenen Augen sehen konnten? „Der fünfte Punkt ist sehr schwierig. An ihm scheitern die meisten: Er handelt von Wahrheit und Aufrichtigkeit. Wie oft verschweigst du etwas, um Diskussionen oder Problemen aus dem Weg zu gehen? Wie oft bist du anderen gegenüber keineswegs geradlinig und aufrichtig, wenn du zwischen zwei Möglichkeiten hin und her taktierst, um dir beide offenzuhalten? Wie oft belügst du selbst dir nahestehende Menschen und gaukelst anderen etwas vor, um einen persönlichen Vorteil zu erlangen? Und da wunderst du dich, mein Freund, wenn man dir gegenüber mißtrauisch wird, dir einmal geschenktes Vertrauen entzieht und deine Worte anzweifelt? Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Lauterkeit, das sind Aspekte der großen Wahrheit, und ohne sie kannst du deine Erleuchtung an den Nagel hängen und dich anderen Dingen zuwenden, die nützlicher und erfolgversprechender für dich sein mögen.“ Robert schien ein wenig in sich zusammenzusinken. Oder wollte er sich am liebsten nur verstecken, weil sie für sein Empfinden trotz ihrer Blindheit zu viel sah? Doch er konnte es sich nicht verkneifen, nach seinem Tabak zu schielen, der ihm jetzt ausnahmsweise wirklich gutgetan hätte. Als habe sie seine Gedanken gelesen und wolle ihn necken, ärgern oder gar noch Schlimmeres, sagte sie gerade jetzt: „Und nun kommen wir wieder zum Rauchen. Es geht um geistige Klarheit und innere Freiheit, also um die sechste Regel. Große
Reden über deine persönliche Freiheit hältst du ja ständig, doch sie dienen allenfalls dazu, deine innere Unfreiheit zu überspielen – wo du doch, wie wir festgestellt haben, dich bereits bei den einfachsten Dingen wie ein Abhängiger verhältst und nicht einmal da frei entscheiden kannst.“ Sie lachte laut. Beide Wölfe blickten kurz auf. Doch sie schienen nicht allzu beunruhigt und begannen sofort wieder, Robert genau zu beobachten und ihn nicht mehr aus den Augen zu lassen. Die Wolfsfrau schonte ihn nicht: „Du bist nicht einmal hier und jetzt so frei, dieses unsägliche Rauchen aufzugeben. Und was andere Dinge betrifft: Hast du in dir die Freiheit, auf etwas verzichten oder treu sein zu können, dich wirklich zu binden und Verantwortung zu übernehmen? Bist du frei genug, auch einmal deine so geliebte äußere Scheinfreiheit zurückstellen und anderen ihre Freiheit lassen zu können? Bist du… ach was, ich frage und rede schon wieder viel zuviel – du weißt das alles doch viel besser als ich! Nur noch eine Anmerkung zum Thema Klarheit: Das bedeutet, sich über etwas erst einmal in Ruhe klarzuwerden, alle Vor- und Nachteile abzuwägen und es dann entweder bleibenzulassen oder aber mit ganzem Herzen zu tun! Es heißt auch, das Gestrüpp deiner verworrenen Gedanken und Gefühle zu ordnen. Ich fühle, daß du noch zu oft in deiner inneren Unordnung unterzugehen drohst, kein Wunder bei dem vielen Alkohol, den du jeden Abend trinkst.“ Robert war jetzt wirklich wütend und hätte ihr gerne so richtig die Meinung gesagt. Als habe er das gespürt, knurrte einer der Wölfe ihn an, während der andere die Ohren noch mehr spitzte. Robert erschrak und zupfte aufgeregt an seinem Bart herum. Doch bevor er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, fuhr die Wolfsfrau unerbittlich fort: „Und nun die siebte und letzte Regel für ein bewußtes, ein spirituelles, ein gutes und erfülltes Leben: glaube und vertraue! Aber was
machst du? Wenn du ehrlich bist, zweifelst du an allem und an jedem – vor allem an denen, die an dir zweifeln, weil sie ein Gespür für deine Unaufrichtigkeit haben. Seltsam: Du befragst Orakel, Hellseher oder solche undurchsichtigen Gestalten wie mich – doch nur, um anschließend alles wieder in Frage zu stellen. Warum vertraust du nicht einfach darauf, daß das göttliche Prinzip in allem und in jedem wohnt, auch in dir?“ Es wirkte auf ihn, als nähmen sie und ihre Wölfe ihn lange und sorgfältig in Augenschein, und er wurde das Gefühl nicht los, daß diese Frau ihm tief in Herz und Seele schauen konnte. „Es wird sich schon alles richtig fügen“, sprach sie weiter, „auch das, was dir unsinnig erscheint. Vertraue einfach, dann brauchst du nicht mehr zu kämpfen und zu zweifeln, und du sparst deine Kraft für wichtigere Dinge.“ Dann lehnte sie sich bequem zurück, und es hatte den Anschein, als sei damit das Gespräch für sie beendet. Robert schaute sie lange und nachdenklich an und sagte schließlich: „Vielleicht hast du in dem einen oder anderen Punkt ja wirklich recht, auch wenn es mir nicht leichtfällt, das zuzugeben. Und was soll ich jetzt tun?“ Sie stöhnte. „Denk an die sieben Regeln. Schaff die nötige Klarheit und innere Freiheit in dir, und entscheide in aller Ruhe, was du willst! Möchtest du nach den sieben Regeln leben, gut so – dann tue es aber auch! Wenn du sie nur im Kopf mit dir herumtragen und damit angeben willst, dann laß deine Suche sein, und es ist ebenfalls gut so.“ „Ich verstehe nicht recht“, sagte Robert. „Ich weiß doch, was ich will – ich mache nur hin und wieder noch den einen oder anderen Fehler.“ Einer der Wölfe leckte sich geruhsam die Pfoten, so als wäre ihm das Gespräch nun doch langweilig geworden. Jetzt lachte sie ihn wieder fröhlich und voller Lebensfreude an. „Kannst du dir vorstellen, daß du dich irrst? Vielleicht
willst du gar nicht wirklich nach spirituellem Bewußtsein, Erleuchtung und Weisheit suchen? Könnte es nicht sein, daß du dir das nur einredest, um dich damit vor dir selbst und vor anderen interessant zu machen? Vielleicht würdest du viel lieber so weitermachen wie bisher: dich jeden Abend betrinken, pausenlos Zigaretten rauchen, von morgens bis abends große Sprüche klopfen und dadurch andere beeindrucken wollen, damit sie dich für so eine Art Guru halten, ohne daß du jemals wirklich den Weg eines Meisters gegangen bist? Wer auf diesem Weg voranschreiten will, der kennt nicht nur die sieben Regeln, sondern lebt auch danach. Vielleicht macht er dabei Fehler, man wird bei ihm aber immer das Bemühen um ein gutes Leben spüren. Er wird gewiß nicht schon an den geringsten Kleinigkeiten scheitern. Doch wer es insgeheim gar nicht will, der wird es auch niemals schaffen.“ „Und was soll ich jetzt tun?“ fragte Robert leise. „Laß deine Träume endlich frei!“ sagte sie. „Gib deinen Träumen alle Macht! Träume nicht nur, tu es – denn es könnte ja genau das richtige für dich sein! Willst du wirklich Erleuchtung, dann träume nicht von ihr, sondern finde sie! Willst du lieber etwas anderes, dann mach das! Wie auch immer – es wird für dich gut und richtig sein, wenn du nicht nur träumst. Und du wirst deinen Zielen näher sein als jetzt, wo du glaubst, fast schon ein Heiliger zu sein, nur weil du ständig von Freiheit, Liebe und was weiß ich redest – obwohl du keine Ahnung davon hast.“ Sie grinste ihn frech und fast herausfordernd an: „Wollen wir wetten?“ Robert schien es, als würden ihn beide Wölfe ein wenig belustigt mustern, und es war, als würde er in ihren Augen das entdecken, was er gerade in den Gedanken ihrer Herrin vermutete. Verblüfft blickte er zu Boden und wußte vollends nicht mehr, was er von ihr halten sollte. „Ich glaube, ich muß über das alles eine Weile nachdenken“, murmelte er in seinen
Bart, woraufhin sie ihn schon wieder geradezu unverschämt angrinste. Auch wenn er ihr das nun wirklich übelnahm, blieb er noch eine Weile sitzen, druckste ein wenig herum und sagte schließlich: „Ich möchte dich noch etwas fragen: Woher weißt du so vieles über mich?“ Sie lachte. „Das meiste spüre ich an deiner Ausstrahlung und daran, wie meine Wölfe auf dich reagieren. Oder ich höre es an deiner Stimme und an der Art, wie du über etwas sprichst. Blinde sehen zwar nichts, aber sie fühlen dafür um so mehr. Der Rest ist einfach nur Erfahrung und Intuition. Weißt du: Leute, die zu mir kommen und mir solche Fragen stellen, sind im Grunde alle gleich. Sie tun fast immer dasselbe, sie leben meistens ähnlich, sie haben beinahe die gleichen Ansichten, Vorstellungen und so weiter. Es ist also kein Geheimnis dahinter, nichts Übersinnliches.“ Robert dachte einen Augenblick lang nach. „Demnach sind viele Menschen ähnlich wie ich?“ fragte er dann. „Ja, im Prinzip schon. Natürlich bist du wie jeder andere einmalig. Doch du hast dich immer für einen ganz besonderen Menschen gehalten, nicht wahr? Nein, wer wirklich anders ist, der hat Besseres zu tun, als mir derartige Fragen zu stellen.“ Das hätte ich eigentlich auch viel lieber getan, dachte Robert. Er saß noch lange da, und es wurde dabei immer stiller in ihm. Die Wölfe legten sich derweil entspannt zwischen ihm und ihrer Herrin auf den Boden und schienen jetzt zu dösen. Dann, auf einmal, hatte Robert offenbar verstanden, denn er stand lächelnd auf, bedankte sich höflich und ging nach Hause. Ich habe keine Ahnung, wie er dieses Gespräch verdaut hat oder wie er sich entschieden hat, aber das ist jetzt auch gar nicht so wichtig. Viel wichtiger ist, daß diese junge und wunderschöne blinde Frau nun auch allen begegnet ist, die diese Geschichte bis zum Ende gelesen haben – und wie ihr euch entscheiden werdet, nicht wahr?
Godfried Bomans
Das Kästchen
Es war einmal ein Student, der lebte auf seiner Bude und glaubte nicht an Spuk und Geister. „Unsinn“, sagte er, „mir ist noch nie einer begegnet, folglich gibt es das nicht.“ Nun, das war eine seltsame Überlegung, und wir werden sehen, daß er damit unrecht hatte. Der Student wohnte in einer sehr merkwürdigen Straße; sie hieß Pfingststraße. Auf ihrer einen Seite waren die Häuser sehr schön und stattlich, und auf der anderen sahen sie schmutzig und verkommen aus. Da wohnten die meisten Menschen, auch ein kleiner Junge, der den ganzen Tag im Bett lag und hustete. Manchmal winkte er dem Studenten zu, aber der winkte nie zurück. Der Student las immerzu. Nur des Abends trat er ans Fenster, um eine Pfeife zu rauchen, und dann sah er direkt in die engen, vollen Zimmer gegenüber. Dabei machte er sich dann so seine Gedanken. Meistens waren sie angenehm. Manchmal waren sie auch weniger erfreulich. Dann zündete er eine neue Pfeife an und jagte sie damit in den blauen Dunst. Eines Abends kam der Student nach Hause und fand auf dem Tisch ein längliches schwarzes Kästchen mit einem kleinen weißen Kreuz auf dem Deckel. „Eigentümlich“, sagte der Student. Er öffnete das Kästchen und fand einen Brief. Darin war folgendes zu lesen: Lieber Student, heute nacht um halb eins werde ich Sie besuchen. Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Wie finden Sie das Kästchen? Herzliche Grüße! Ein guter Gedanke. „Ein guter Gedanke“, wiederholte der Student, „komisch.“ Er rief den Rentner herauf, der unter ihm wohnte, und fragte: „Sagen Sie, ist jemand in meinem Zimmer gewesen?“ „Niemand“, sagte der Rentner. „Kennen Sie jemanden, der ,Ein guter Gedanke’ heißt?“
„Nicht daß ich wüßte“, sagte der Rentner, „ich bin noch nie einem begegnet.“ Und das war auch so. „Wie kommt dann das Kästchen auf meinen Tisch?“ fragte der Student. Der Rentner nahm das Kästchen in die Hand und besah es von innen und außen. Dann las er das Briefchen. „Ich werde unten die Fensterläden zumachen und die Haustür verriegeln. Ich bin froh, daß ich nicht in Ihrer Haut stecke.“ Der Student lachte. „Gehen Sie nur wieder nach unten, guter Mann“, sagte er, „es ist alles nur Unsinn und dummes Zeug.“ Er zog seine Pantoffeln an und setzte sich hin, um ein gelehrtes Buch zu lesen. Als es zwölf Uhr schlug, stand er auf und schob das Fenster hoch. Auf der Straße war niemand zu sehen. Der Mond schien auf das Haus gegenüber, und Tausende von Sternen standen am Himmel. „Eine schöne Nacht“, murmelte der Student, „aber wie wenige wissen davon? Wie kommt es nur, daß ich das sehen darf? Bin ich besser als die anderen? Nein, aber ich habe die Zeit dazu. Die anderen müssen den ganzen Tag schuften und sich abrackern, und am Abend sind sie zu müde, um nach oben zu sehen, auf Gottes weiten Himmel. Die Welt ist falsch eingerichtet.“ Da schlug es halb eins. Ein schwerer Schlag. Er hallte über die Dächer. Doch der Student achtete nicht darauf und fuhr fort: „Jeder macht Pläne, die Welt zu verbessern. Aber die Welt wird nicht besser. Ich würde am liebsten alles Geld, das ich übrig habe und doch nicht brauche, der Familie gegenüber geben. Vielleicht ginge es dem bleichen Kerlchen dann besser. Wenn es dann mein Nachbar genauso machte mit den Leuten, die ihm gegenüber wohnen, und so die ganze Straße, dann wäre die Pfingststraße glücklich. Und wenn das alle Straßen in der ganzen Welt so hielten, dann würde vielleicht die ganze Welt besser. Man muß eben an irgendeiner Stelle anfangen. Laß diese Stelle hier sein!“
„Sehr gut“, sagte eine Stimme hinter ihm. Der Student drehte sich um und sah jemanden in seinem Stuhl sitzen. Der Besucher war ganz durchsichtig, im übrigen aber wie ein älterer Mann gekleidet. Sein Haar war grau, aber sein Gesicht jugendlich und ohne jede Falte. Er trug ein kleines, rundes Hütchen. „Holla, wer sind Sie?“ fragte der Student. „Ich bin ein Gedanke, und zwar ein ziemlich guter“, sagte das Männchen. „Es gibt auch welche von anderer Art, aber die waren hier oft genug.“ „Sind Sie schon lange hier?“ fragte der Student. „Ein paar Minuten. Ich war eben noch in Ihrem Kopf. Und jetzt sitze ich hier.“ „Habe ich Sie etwa gerufen?“ fragte der Student böse. „Und wie kommen Sie hier herein?“ „Ich komme und gehe“, sagte das Männchen, „daran ist nichts zu ändern.“ „Dann würde ich an Ihrer Stelle gehen“, sagte der Student, „dies ist eine Privatwohnung, in der ich allein und in Ruhe wohnen will.“ „In solche Zimmer komme ich besonders gern“, sagte das Männchen. „Ich bleibe übrigens nur eine Viertelstunde. Gute Gedanken bleiben nie sehr lange. Sie wohnen hier sehr hübsch. Nur die Aussicht ist etwas – wie soll ich sagen…?“ „Hören Sie, ich habe dafür keinen Sinn. An Spuk und Geister glaube ich nicht.“ „An mich werden Sie wohl glauben müssen, denn ich sitze hier. Daran können Sie nicht zweifeln.“ „Ich zweifle aber doch. Es ist alles Unsinn und dummes Zeug“, beharrte der Student. „Ich will allein sein und in Ruhe gelassen werden.“
„Welchen Beweis muß ich für meine Anwesenheit liefern?“ fragte das Männchen und sah nachdenklich in seinen Hut, den es auf seine Knie gelegt hatte. „Hinter Ihnen steht ein alter Schrank, über den ich mich seit Jahren ärgere“, sagte der Student. „Ich kann ihn nicht gut fortgeben, denn er gehörte einer alten Tante von mir, die sich einbildete, daß ich ihn gern haben würde. Können Sie den in etwas anderes verwandeln?“ „Es ist schon geschehen“, sagte der Besucher, ohne aufzublicken. Der Student sah den Schrank an. Und jetzt geschah etwas ganz Merkwürdiges: Der Schrank veränderte sich nicht, er blieb derselbe wie vorher. Aber er begann, dem Studenten zu gefallen. Der begriff, daß die Risse und Dellen in den alten Brettern durch die Berührung mit Tausenden von Händen entstanden waren. Er sah seine Tante Anna davorstehen, so wie er sie früher gekannt hatte, mit einer geblümten Schürze. Und durch ihren Rücken sah er, wie sie die Hemden zählte, die im Fach auf der linken Seite lagen. Er sah auch sich selbst, wie er da als kleiner Junge stand und auf eine Maserung schaute, die wirkte wie ein Hund, der aufspringt und den Kopf hochhält. Das dauerte nur einen Augenblick. Dann war es vorbei. „Eigentlich hat sich nichts verändert“, sagte der Student, „es ist derselbe Schrank geblieben.“ Das Männchen schüttelte den Kopf und lächelte. „Sie waren selbst für einen Augenblick verändert, das ist das Geheimnis“, sagte es. „Soll ich nun gehen oder bleiben?“ „Gehen“, sagte der Student. „Sie stören meine Ruhe. Ich will allein sein und leben wie früher. Ich habe es gut und möchte, daß es so bleibt. Die alten Erinnerungen beunruhigen mich. Und was den Gedanken anbelangt, den ich vorhin am Fenster hatte: Das war ein Hirngespinst. Lassen Sie mich bitte allein.“
Aber das Männchen war schon weg. Der Student zog sich aus und ging ins Bett. Am nächsten Morgen besuchte er einen Freund und erzählte ihm, was geschehen war. „Gut gemacht!“ sagte der Freund. „Schreib es auf! Jeder muß das lesen.“ Und der Student schrieb es auf. Es wurde gedruckt, die Leute lasen es und sagten, daß er ein großer Gelehrter sei. Dann schrieb er noch mehr, und es wurde ein ganzes Buch daraus. Darin stand, daß jeder selbst für sich sorgen muß und daß die Welt nun mal so ist, wie sie ist. Die Menschen auf seiner Seite der Straße wurden richtig stolz auf ihn. Sie kamen zu ihm und bedankten sich für dieses Buch. „Es mußte einfach einmal gesagt werden“, meinten sie, „und jetzt ist es gesagt.“ Und eines Tages hatte der Student ausstudiert und gab ein Fest. Das Licht des kristallenen Kronleuchters fiel durch die Scheiben auf das Haus gegenüber und warf einen goldenen Schein auf dessen Fenster. Sie waren geschlossen und die Vorhänge zugezogen. Vor der Tür aber stand ein Wagen mit einer kleinen schwarzen Kiste. Darauf war ein weißes Kreuz gemalt. Eine Frau stand daneben, sie legte den Kopf auf den Deckel und weinte bitterlich. „Wonach schaust du?“ fragten ihn seine Freunde. „Ist was?“ Doch der Student wandte sich ab und schwieg.
Mondmärchen Manfred Eichhorn
In alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, wünschte sich ein Mädchen den Mond. Der Mond stieg alsbald vom Himmel, verwandelte sich in einen gutaussehenden jungen Mann und trat vor das Mädchen. „Hier bin ich“, sagte der Mond, „dein Wunsch ist erfüllt.“ Das Mädchen aber glaubte dem Mond nicht. Leuchtend und strahlend war er da oben am Himmel gewesen und nicht ein gewöhnlicher junger Mann. Und es jagte ihn vor die Tür. Da war der Mond traurig. Und er war müde. Schließlich war es sehr mühsam gewesen, vom Himmel herabzusteigen, und auch das Verwandeln hatte ihn angestrengt. Und als er wieder zum Himmel hochsteigen wollte, da merkte er, daß es nicht ging. So suchte er sich eine passende Schlafstelle und ruhte sich aus. Das Mädchen aber wartete am Abend vergeblich. Kein Mond war zu sehen, nicht ein Lichtstrahl fiel durch die pechschwarze Nacht. Kein Schimmer. Auch am nächsten Abend wartete das Mädchen. Es stand am Fenster und schaute so angestrengt zum Himmel, daß seine Augen schmerzten. Doch alles war wie am Abend zuvor. Da wurde es sehnsüchtig und weinte. Bald aber wurde es auch wütend und wünschte sich den Tag herbei. Auf ihn war zumindest Verlaß. Der Mond hatte sich mittlerweile etwas ausgeruht und stieg langsam zum Himmel empor. Doch durch die vielen Anstrengungen war er sehr dünn geworden, und er hatte einen krummen Rücken bekommen. Oben am Himmel aber erholte er sich wieder prächtig und nahm Nacht für Nacht zu, während er die Erde betrachtete. Als er wieder kugelrund und bei bester Laune war, hörte er abermals das Mädchen, wie es sich den Mond wünschte. Und auch dieses Mal stieg er hinab, langsam und ohne Hast. Auf
der Erde angekommen, überlegte er lange, in was er sich heute verwandeln könnte, um dem Mädchen zu gefallen. Gegen ein weißes Pferd wird sie wohl nichts einzuwenden haben, dachte er. Unter größter Anstrengung verwandelte er sich in einen Schimmel mit wilder Mähne. „Wenn ich mir ein Pferd gewünscht hätte, würde ich mich über dich freuen“, sagte das Mädchen, als das Pferd an seine Tür klopfte. Es tat ihm ein wenig leid, daß es den Schimmel mit der wilden Mähne wegschicken mußte. „Aber was fange ich denn mit einem Pferd an?“ seufzte es. Und der in einen Schimmel verwandelte Mond seufzte auch, traurig wollte er wieder zum Himmel hochsteigen. Wie schon beim letzten Mal mußte er sich aber vorher ein wenig ausruhen, abnehmen und einen krummen Rücken bekommen, bevor er die Rückreise antreten konnte. Als er das alles hinter sich gebracht hatte und wieder prächtig erholt vom Himmel lachte, erhielt die Nacht ihren strahlenden Glanz zurück. Da hörte er schon wieder das Mädchen, das am Fenster stand und sich den Mond wünschte. Also stieg er ein drittes Mal hinab und trat jetzt ohne jede Verkleidung vor das Mädchen, einfach so, wie er war. „Ich bin mal dick und mal dünn“, sagte der Mond etwas schüchtern, „mal bin ich da und mal nicht.“ „Und ich habe mir dich gewünscht“, antwortete das Mädchen, „gerade weil du so bist, wie du bist.“ Da war der Mond froh. Er seufzte tief und war erleichtert. Als sie sich umarmten, da mußte er lachen, weil er sich so unnötig angestrengt hatte. Und er dachte, wie recht doch das Mädchen hat: Denn alles und nichts ist von Dauer.
Heiko Bierhoff
Die Geschichte von den beiden Apfelbäumen
In einem verwilderten Garten standen nahe einer bereits verfallenen Steinmauer zwei alte Apfelbäume. Sie waren vor langer Zeit aus dem gleichen Kerngehäuse gewachsen und von einem alten Mann mühsam gehegt und gepflegt worden. Seitdem standen sie nebeneinander und streckten ihre mittlerweile krummen Äste sehnsüchtig nach der Ferne aus, die sich hinter der verwitterten Mauer erstreckte. Sie hatten schon unzählige Male im Frühling Blüten getrieben, sich von dem Umschwärmen der Bienen berauschen lassen, ihre Blätter den ersten warmen Sonnenstrahlen entgegengereckt und im Sommer Früchte getragen. Im Laufe vieler Jahre waren ihre großen Äste aufeinander zu gewachsen, so daß sie nun zusammen ein geschlossenes Blätterdach bildeten, in dessen Schatten der alte Mann oft seinen Mittagsschlaf gehalten hatte. Viele Generationen von Vögeln waren in ihren von den Apfelbäumen wohlbehüteten Nestern flügge geworden und jedes Jahr wieder zurückgekehrt, um dann selbst im Schutz der starken Äste zu brüten. Im Herbst endlich, wenn hinter der Mauer die Stoppelfelder leuchteten, waren auf den beiden Bäumen stets die schönsten Äpfel weit und breit gereift. Doch inzwischen waren die zwei Apfelbäume alt geworden, und auch der alte Mann war schon seit langem nicht mehr da. Sie trugen von Jahr zu Jahr weniger Früchte, und der Garten verwilderte mehr und mehr. In diesem Frühling sollte es das letzte Mal sein, daß sie Blüten trieben. Ihre Äste waren schwach geworden und seufzten manchmal wehmütig im Wind. Nur eine alte Dohle hatte noch ihr Nest dort oben, wo das Geäst der beiden Bäume ineinandergriff und noch ein wenig Halt bot Im Sommer waren die jungen Dohlen flügge geworden. Nachdem sie die stolzen Lieder der Jugend
geschmettert hatten, verließen sie ihre Mutter, die bereits zu schwach war, um ihnen folgen zu können. Die Dohle suchte in den Ritzen der Steinmauer nach Insekten und Würmern. Abends sang sie voller Erinnerungen an vergangene Frühlingstage ihr trauriges Gutenachtlied, wenn die rote Sonne hinter den Feldern versank. Die beiden Apfelbäume hatten die meisten ihrer Blüten verloren. Jedem waren lediglich drei Fruchtstände geblieben, die sie sorgsam hüteten. Die alte Dohle beschützte ihnen diesen Schatz, indem sie Raupen, Mücken und andere Insekten von den Blättern pickte, wußte sie doch, wie kostbar einem die letzte Brut ist. So wurden die jungen Äpfel voller und schwerer, und als die Felder abgeerntet waren, trug jeder Baum drei prächtige Äpfel, deren rote Backen frech aus dem grünen Blätterdach hervorlugten. Doch mit ihrem Stolz auf diese herrlichen Früchte wuchs in den alten Apfelbäumen auch die Angst davor, diesen besonderen Schatz verlieren zu können. Den auf ihrem Weg nach Süden vorbeiziehenden Vögeln, denen sie sonst immer Gastfreundschaft gewährt hatten, verweigerten sie in diesem Herbst den Aufenthalt in der Furcht, die hungrigen Gesellen könnten sich über ihre wohlgehüteten Früchte hermachen. Dann wurde es langsam kälter, die vom Herbst buntgefärbten Blätter lösten sich von den Ästen und schwebten sacht zu Boden. Morgens waren die Felder mit Rauhreif überzogen, und der Winter webte an dem großen weißen Tuch, mit welchem er das vergehende Jahr zudeckte. Für die alte Dohle wurde es immer schwerer, noch Nahrung zu finden. Eines Morgens wachte sie dick aufgeplustert in ihrem fast auseinandergefallenen Nest auf und weinte bitterlich vor Hunger und Kälte.
Den beiden Apfelbäumen tat der Vogel leid, denn sie hatten ihn sehr liebgewonnen. Sie streichelten ihn behutsam mit ihren feinsten Ästchen. „Komm, sing uns ein Lied!“ forderte ihn einer der beiden Bäume freundschaftlich auf. „Wir wiegen dich sanft dazu, und dann vergißt du deinen Schmerz.“ „Ich kann nicht mehr singen“, krächzte die alte Dohle, „dazu bin ich zu schwach.“ Und nach einem Seufzen setzte sie kraftlos hinzu: „Ach, könnte ich doch nur einen von euren süß duftenden Äpfeln essen, dann würde ich für euch die schönsten Lieder singen.“ Kaum hatte sie den Satz beendet, da schämte sich die alte Dohle, denn sie wußte, was sie von ihren Freunden forderte. Vor Schreck erbebte der eine Baum und schloß sofort seine kahl gewordenen Äste fest um seine drei Äpfel. „Nein, das kann ich nicht! Es sind schließlich die letzten Früchte, die ich tragen werde. So gerne ich auch deine Lieder höre – meine Äpfel werde ich nicht hergeben!“ Große Tränen rollten der alten Dohle über ihr Gefieder, das jeden Glanz verloren hatte. Da nahm der andere Baum sie behutsam mit seinen Zweigen aus dem Nest und hob sie zu den Ästen, an denen seine drei Äpfel verlockend leuchteten. „Iß nur einen von ihnen! Ich habe dann ja noch immer zwei, an denen ich mich erfreuen kann.“ Beinahe hätte die Dohle dieses Angebot ausgeschlagen, so sehr beschämte es sie, dieses Opfer annehmen zu müssen, um nicht zu verhungern. Doch dann schnappte sie zu und fraß den kleinsten Apfel bis auf die Kerne auf. Diese nahm sie vorsichtig in ihren Schnabel, kehrte frisch gestärkt in ihr Nest zurück und sang eines ihrer schönsten Lieder. Der Baum, der jetzt nur noch zwei Äpfel trug, erzitterte tief in seinem Holz und vergoß traurig einige Tropfen Harz. Am nächsten Tag wurde es noch kälter. Die Apfelbäume fühlten, daß es bald an der Zeit war, sich in ihre Stämme
zurückzuziehen und tief im Wurzelwerk den Winter über zu schlafen. Die Dohle wachte wieder vor Hunger auf, und nachdem sie den ganzen Tag vergeblich nach etwas Eßbarem gesucht hatte, flog sie wieder hinauf zu ihrem Nest und weinte bitterlich. Der eigensüchtige Baum mit den drei Äpfeln löste seine Zweige von dem Nest der Dohle, so daß es nur noch von den Ästen des anderen gestützt wurde. Er hatte nämlich Angst davor, schon wieder um einen seiner Äpfel gebeten zu werden. Dann tat er so, als sei er bereits im Winterschlaf. Dem anderen Baum tat der Vogel leid. Er gab dem Nest noch mehr Halt, damit es nicht herunterfallen konnte, und bot der Dohle einen seiner zwei verbliebenen Äpfel an. Tränenblind sah sie das Geschenk und konnte ihr Glück kaum fassen. Sie fühlte, daß es dem alten Baum fast das Herzholz brach, als er ihr auch den zweiten Apfel überließ. Still fraß sie ihn auf und verwahrte die Kerne wieder in ihrem Nest. Dann kletterte sie ganz dicht an den Stamm des guten Freundes und sang dankbar ein wunderschönes Sommerlied. Sternenklar brach die Nacht herein, und mit dem kalten Mondlicht schlich sich der Frost in den Garten. Als am nächsten Morgen die Sonne aufstieg, konnten ihre Strahlen die alte Dohle nicht mehr wärmen. So schwach waren sie geworden, daß selbst am Mittag ihr beinahe noch der Atem gefror. Sie war zu erschöpft, um noch auf Nahrungssuche gehen zu können. Den ganzen Tag über blieb sie im Nest und spürte, daß sie wohl bald ihr letztes Lied singen würde, sie hatte nicht einmal mehr die Kraft zu weinen. Der Baum mit den drei Äpfeln tastete vorsichtig nach seinen so sorgsam gehüteten prallen Früchten, die jetzt schon gefroren waren, so daß sie wohl immer so schön bleiben würden. Froh darüber sank er in den tiefen Schlaf des Winters.
Der andere Apfelbaum aber war sehr besorgt um die Dohle und versuchte, sie mit seinen Ästen vor dem schneidend kalten Wind zu schützen. Am Abend fürchtete er schon, sie sei
gestorben. Aber da bewegte sich der Vogel doch noch und erwachte für einen kurzen Augenblick aus seiner Starre. Lange zögerte der Baum, bis er schließlich doch den Zweig mit seinem letzten Apfel genau vor den Schnabel des Vogels hielt. Mühsam pickte die Dohle in das gefrorene Fruchtfleisch. Noch bevor sie den ersten Bissen schlucken konnte, hatte sich der Apfelbaum tief in sein Wurzelwerk zurückgezogen, damit er nicht miterleben mußte, wie auch seine allerletzte Frucht aufgefressen wurde. Mit leeren Ästen fiel er in den langen Schlaf, den alle Bäume im Winter halten, um im Frühjahr mit neuer Kraft erwachen zu können. Als die Dohle auch diesen Apfel verspeist hatte, flatterte sie mit allen Kernen der drei Äpfel im Schnabel zu Boden. Mühsam scharrte sie ein paar Löcher in das harte Erdreich unter dem guten Apfelbaum und vergrub so die Kerne der Äpfel, mit denen er sie gespeist hatte. Dann suchte sie sich zwischen den Wurzeln einen Unterschlupf, weil sie nicht mehr kräftig genug war, um noch einmal zu ihrem Nest hinauffliegen zu können. Dort sang sie ihr letztes Lied, aber niemand hörte es mehr, da der ganze Garten bereits unter der weißen und weichen Decke des Winters lag und alles um sie herum schlief. So blieb es dann, bis im Frühling sich die ersten Knospen zeigten und die Farbe des noch mit Schnee bedeckten Gartens annahmen. Nach den Schneeglöckchen wuchsen auch die Tulpen und die Narzissen den ersten warmen Sonnenstrahlen entgegen. Und als der letzte Schnee geschmolzen war und von fern das Läuten der Osterglocken über die verfallene Mauer herüberwehte, da erwachten auch die beiden alten Apfelbäume aus ihrem langen Schlaf. Vorsichtig sproß ihr erstes Grün, aber niemals mehr würden sie die Maisonne mit weiß strahlenden Blüten erfreuen können.
Verwundert entdeckte der Apfelbaum, der seine letzten Früchte der alten Dohle geschenkt hatte, daß rund um seinen Stamm drei junge Triebe wuchsen! Behutsam berührte er mit seinen feinsten Wurzeln die der jungen Bäume und fühlte voller Stolz, daß sie aus den Kernen seiner eigenen Äpfel gewachsen waren. Vor Freude schüttelte er sein frisches Laub so stark, daß einige auf seinen Ästen ruhende Tauben schimpfend davonflogen. Ganz neidisch sah der andere Baum zu ihm herüber und besann sich dann seiner eigenen wunderschönen Äpfel, die er den Winter über in seinen Zweigen festgehalten hatte. Doch als er sein junges Laub öffnete, waren ihm nur noch drei schimmelige und verfaulte Reste geblieben. Der selbstsüchtige Apfelbaum war darüber so entsetzt, daß er alle Blätter fallen ließ und sich für immer in seine Wurzeln zurückzog. Der von seinen Sprößlingen umringte Baum aber bewunderte das ganze Jahr hindurch die kleinen Pflänzchen, freute sich an deren Wachstum und erlebte ein paar Jahre später, wie die jungen Bäumchen selbst zum ersten Mal mit zarten weißen Blüten um die Wette prangten. Jahr für Jahr gewährte er in seinem knorrigen Geäst den Nachkommen der alten Dohle Unterschlupf und erzählte ihnen von den schönsten Gesängen ihrer Mutter. Als die jungen Bäume die ersten Früchte trugen, lehrte er sie, den Vögeln im Herbst stets Nahrung zu geben, damit sie stark genug sind für den weiten Flug in den Süden. An den selbstsüchtigen Apfelbaum erinnert heute nur noch ein verdorrter Stumpf mit verwitterter Borke, wo seltsamerweise noch niemals ein Vogel sein Nest gebaut hat.
Heinz Körner
Das Herz einer Wölfin
Es war einmal ein Mädchen, das ging eines Tages in den Wald und traf dort einen Wolf. Der Wolf sah groß, stark und wild aus, und er gefiel dem Mädchen über alle Maßen. Seine Art, sich zu bewegen, und seine wilde, animalische Ausstrahlung faszinierten das Mädchen ungemein, und deshalb lief es auch nicht weg. „Sag, mein Kind“, brummte der Wolf, „warum fürchtest du dich nicht vor mir?“ „Du bist das schönste Tier, das ich jemals gesehen habe“, sagte das Mädchen, „warum sollte ich vor dir Angst haben?“ Das gefiel dem Wolf, und deshalb begleitete er das Mädchen durch den Wald. Sie redeten lange miteinander. Als sie sich voneinander verabschiedet hatten, dachte der Wolf: Ich hätte nie geglaubt, daß ich einmal einen Menschen mögen könnte. Und das Mädchen dachte auf dem Heimweg: Dieser Wolf ist wunderbar, ich könnte mich glatt in ihn verlieben. Sie trafen sich noch oft, führten interessante Gespräche und erlebten gemeinsam wunderschöne und verzauberte Stunden. Der Wolf erklärte dem Mädchen die Welt, wie er sie mit seinen Augen sah, und es lauschte ihm begeistert. Er zeigte dem Kind traumhafte Plätze in den Wäldern, die noch nie zuvor ein anderer Mensch gesehen hatte, und weihte es ein in die Wildheit und Schönheit der Natur. Das Mädchen erzählte von den Menschen und versuchte, ihm die Ordnung und Klugheit der Welt näherzubringen, in welcher es selbst aufgewachsen war – ohne ihn allerdings dafür begeistern zu können. Irgendwann stellten sie fest, daß sie die Welt des anderen zwar niemals wirklich verstehen würden, sich aber gegenseitig sehr mochten. Sie verliebten sich und beschlossen, zusammen alle Farben dieser Welt kennenzulernen.
Das Mädchen war stolz auf seinen Freund. Es bewunderte seine Stärke, seinen Mut und seine Klugheit. Und manchmal fühlte es sich von seiner ursprünglichen Wildheit geradezu überwältigt und genoß seine ungestüme Art und tierische Ausstrahlung in vollen Zügen. Doch das Mädchen wurde zur Frau. Und dieser jungen Frau begann irgendwann das Wilde und Animalische an ihm doch ein wenig unheimlich zu werden. Manchmal sagte sie, er könne sich ruhig etwas gesitteter verhalten und sich ein wenig feiner und anständiger benehmen. Die Menschenfrauen seien modern und emanzipiert und hätten es nicht nötig, sich so rauh und ungestüm behandeln zu lassen. Dabei war er weder unanständig noch allzu rauh, sondern einfach nur ein Wolf. Als sie wieder einmal über dieses Thema gesprochen hatten, dachte der Wolf, daß er die Menschen wohl niemals verstehen würde. Wie sollte er auch begreifen können, daß eine junge Frau sich ausgerechnet wegen der Eigenschaften in ihn verliebt hatte, die ihr jetzt mit einem Male auf die Nerven gingen? Er mochte sie so, wie sie nun mal war. Wieso sollte er sie verändern wollen? Entweder habe ich jemanden gern, so wie er ist, dachte der Wolf, oder ich mag ihn nicht so, wie er ist, aber dann muß ich ja auch nicht mit ihm Zusammensein. Trotzdem liebte der Wolf die junge Frau noch immer und bemühte sich deshalb, ihr zuliebe nicht mehr ganz so wölfisch zu erscheinen, auch wenn es ihm oft sehr schwerfiel und sein Innerstes zu zerreißen drohte. Die junge Frau freute sich und lobte ihn. Nun konnte sie auch bei ihren Freundinnen mit ihm prahlen, und viele fanden ihn ganz toll. Manche sagten, er sei ihnen noch immer zu tierisch, obwohl sie ihn trotzdem umschwärmten und glänzende Augen bekamen, wenn sie ihn sahen – sehr zum Leidwesen ihrer gepflegten und gesitteten Menschenmänner. Wenn die junge Frau ihn daraufhin beobachtete, dachte sie manchmal auch:
Man merkt tatsächlich, daß er letzten Endes doch ein Wolf ist. Und sie bat ihn, sich in dieser Hinsicht noch mehr Mühe zu geben. Da er sie nach wie vor sehr liebte, zwang er sich weiterhin in eine Rolle, die ihm eigentlich gar nicht behagte. Doch ihre Freude über seine positive Entwicklung, ihr Stolz auf seine neugewonnene Weichheit und sein friedsames Auftreten spornten ihn an und schienen es ihm leichtzumachen. Nur nachts, besonders bei Vollmond, da stahl er sich immer öfter davon, um tief in den Wäldern einsam das alte Wolfslied zu heulen. Die junge Frau war jetzt stolz auf ihn und wurde auch von ihren Freundinnen bewundert, weil es ihr gelungen war, einen so schönen Wolf zu zähmen. Im Laufe der Jahre gewöhnte er sich mehr und mehr an das Leben, das die junge Frau mit ihm führte. Und es gab durchaus Situationen, in welchen er zu fühlen glaubte, daß es gut so war. Die Nächte, in denen er sich unglücklich fühlte und es ihn in den Wald zog, wurden immer seltener. Es blieb nur eine unbestimmte Traurigkeit in ihm zurück, so eine Ahnung, daß ihm etwas sehr Wichtiges verlorengegangen war, von dem er nicht einmal mehr wußte, was es eigentlich gewesen war. Seine Freundin wurde eine selbstbewußte und starke Frau. Manchmal blickte er sie bewundernd und staunend an und glaubte zu spüren, daß sie inzwischen – obwohl sie eine Menschenfrau war – das Herz einer Wölfin hatte. Die Frau schien glücklich zu sein. Alles lief gut, es gab nur selten Probleme, und die meisten ihrer Freundinnen fanden, daß der Wolf und sie ein schönes Paar waren. Nur manchmal, da spürte sie ein sonderbares Ziehen im Bauch und eine eigenartige Traurigkeit. Sie sah dann ihren geliebten Wolf an und merkte in diesen seltenen Augenblicken, daß er vieles von dem verloren hatte, was sie früher so sehr an ihm bewundert
hatte. Je gezähmter und braver er sich gab, um so weniger war von seiner wilden Ursprünglichkeit und seiner früher so beeindruckenden Stärke geblieben. Und es gab Situationen, da fehlte ihr seine animalische, wilde und ungestüme Kraft. Dann sehnte sie sich traurig zurück nach einer Zeit, die wohl nicht mehr zurückzuholen war. Eines Nachts, es war tiefer Winter, da machten die beiden bei Vollmond einen Spaziergang in dem Wald, in welchem sie sich vor langer Zeit kennengelernt hatten. Sie stapften durch unberührten Schnee und sprachen von früher und davon, wie schön damals alles gewesen sei und… Da stürmte ein graues Ungetüm aus der Dunkelheit auf sie zu, und bevor die junge Frau sich versah, stellte ihr Wolf sich schützend vor sie und war auf einmal in einen gnadenlosen Kampf verwickelt. Doch der Kampf war so plötzlich zu Ende, wie er begonnen hatte. Eine seltsame Stille lag über dem Wald, und es war auf einmal sehr leer in der Frau. „Sieh’ mal einer an“, brummte der riesige Wolf, der eben noch mit ihrem Freund gekämpft hatte, „eine Menschenfrau. Sag mal, wie kommt es, daß ein Wolf mit dir durch den Wald geht? Ich hätte ihn fast getötet…“ „Ist er nicht tot?“ fragte die Frau. „Ach was. Es geht ihm wohl ziemlich schlecht, aber das wird schon wieder werden.“ „Warum hast du das getan?“ fragte sie tonlos. „Warum hast du mich und meinen Freund angegriffen?“ „Deinen Freund? Was redest du da für einen Unsinn? Ein Wolf ist niemals der Freund eines Menschen!“ Sie beugte sich über ihren verletzten Wolf und strich ihm über den Kopf. „Von wegen! Ich habe viel von ihm gelernt. Durch ihn bin ich zu dem Menschen geworden, der ich heute bin. Warum hast du ihn beinahe getötet?“
„Weil es schon ziemlich lange her sein muß, daß dein Freund ein richtiger Wolf war“, brummte das riesige Tier. „Nicht einmal bei einem alten Wolf hätte ich so leichtes Spiel gehabt. Gute Frau, der riecht ja kaum noch nach Wolf. Ich habe ihn für einen alten Haushund gehalten.“ Trotz ihrer Tränen blitzte Zorn aus ihren Augen, und sie funkelte ihn böse an: „Er ist ein Wolf, du Idiot, und was für einer!“ Der riesige junge Wolf beschnupperte noch einmal seinen Artgenossen. Er knurrte leise und blickte die Frau lange an. „Seltsam“, sagte er dann. „Und jetzt hau ab und kümmere dich um deinen verletzten Freund! Er braucht deine Hilfe.“ Die Frau ließ nicht locker: „Warum hast du uns überhaupt angefallen?“ „Ich habe Hunger, verdammt noch mal! Doch so groß ist mein Hunger niemals, daß ich deshalb einen von meiner Art töte. Aber eine Menschenfrau würde ich nicht unbedingt verachten. Du hast Glück, daß irgend etwas an dir wie eine Wölfin wirkt. Also: Verschwinde endlich, bevor ich es mir anders überlege!“ „Was soll jetzt nur aus mir werden?“ jammerte die Frau. Sie schien keine Angst zu haben und bewegte sich nicht von der Stelle. „Jetzt mach mal halblang!“ knurrte der Wolf. „Vielleicht hast du von deinem Freund wirklich vieles gelernt. Aber sieh dir doch an, was aus ihm geworden ist. Mag sein, daß du inzwischen das Herz einer Wölfin hast – in ihm findest du nur noch den kläglichen Rest eines Wolfes! Halt also endlich das Maul, jammer hier nicht rum und hau ab, sonst werde ich ernstlich sauer und garantiere für nichts mehr!“ Da wandte sich die Frau ab, hob ihren Gefährten hoch und trug ihn mit Tränen in den Augen nach Hause. Dort legte sie ihn auf ihr Bett und versorgte ihn liebevoll. Dabei dachte sie:
Ist wirklich aus diesem wunderschönen, starken und wilden Wolf, aus diesem herrlich stolzen und freien Lebewesen ein Tier geworden, über das andere Wölfe nur lachen können und das auf sie wirkt wie ein alter Haushund? Nein, das hatte sie niemals gewollt! Sie liebte ihn doch so sehr. Auf einmal hatte sie begriffen: Lieben – das kann niemals heißen, dem anderen seine Einzigartigkeit zu nehmen! Sie würde ihn gesund pflegen und in Zukunft alles ganz anders machen. Doch in dieser Nacht heulte sie ihren Schmerz und ihre Wut über sich selbst dem vollen Mond entgegen, und es klang wie das Heulen einer Wölfin, die um ihren Gefährten weint.
Wolfram Eicke
Die Nähstunde
Ein Schuster klagte auf dem Sterbebett den Engel seines Schicksals an: „Du hast mir nie eine Chance gegeben! Wo alle Welt die Schuhe lieber wegwirft, als sie reparieren zu lassen, mußte ich ausgerechnet Schuster sein! Kampf ums Überleben, andauernd gehetzt, ratternde Maschinen…“ „Ich soll dir keine Chance gegeben haben?“ Das mochte der Schicksalsengel nicht auf sich sitzen lassen. „Sicher, ein Lottogewinn war nicht dabei. Aber fünfzig Jahre lang habe ich dir jeden Tag eine neue Chance gezeigt – du hast sie nur nicht gesehen.“ Im Todesfieber betrachtete der Schuster vor dem inneren Auge sein Leben wie einen Film in rasender Geschwindigkeit. Ihm fiel nichts auf. „Nehmen wir einen beliebigen Tag“, sagte der Schicksalsengel, „zum Beispiel diesen hier.“ Er stoppte an einem verschwommenen Einzelbild und stellte es schärfer. „Erinnerst du dich?“ Ein fremder Kunde war damals in den Laden gekommen und hatte eine uralte Aktentasche zum Nähen gebracht. Der Griff, bestehend aus fünf dicken Lederschichten, war nur noch von wenigen ausgefransten Fäden zusammengehalten worden. Das soll wohl ein Scherz sein! hatte der Schuster gedacht. Für so ein schäbiges Ding wird doch niemand mehr Geld ausgeben! Vor Jahrzehnten mag die Tasche einmal teuer gewesen sein, das dicke Leder ist zwar fleckig und abgenutzt, aber immer noch stabil. „Allein um den Griff zu nähen, würde ich eine volle Stunde brauchen!“ „Ich hänge an der Tasche“, hatte der Kunde gesagt. „Wann wird sie fertig sein?“ „Am Mittwoch.“ Obwohl er kaum daran geglaubt hatte, daß der Kunde zurückkommen würde, hatte der Schuster zwischen einigen
anderen Arbeiten den Griff geleimt und mit der Maschine klack, klack, klack drei dicke Nieten durchgejagt. Der Kunde hatte die Tasche abgeholt und dabei die Nieten befühlt. „Nähen wäre mir eigentlich lieber gewesen, aber dafür ist es wohl zu spät.“ „Wissen Sie, was das für eine Mühe gewesen wäre?“ hatte der Schuster gerufen. „Das macht mir keine Maschine, und es hätte mindestens siebzig Mark gekostet! Und woher weiß ich, ob jemand so eine alte Tasche überhaupt abholt?“ „Ich sagte Ihnen doch, daß ich an der Tasche hänge. Solide, alte Handarbeit – so etwas gibt es schon lange nicht mehr.“ Der Kunde hatte die geforderten zehn Mark aus einem Geldscheinbündel bezahlt, seine Tasche genommen und das Geschäft verlassen. Der Schuster hatte noch kurz über diesen schrulligen Kauz gelacht und ihn dann sofort vergessen. Jetzt schaute er aus fiebrigen Augen den Engel seines Schicksals an: „Und wo, bitte schön, soll dabei meine Chance gewesen sein?“ „Die Gedanken“, hörte er als Antwort, „du hättest die ratternden Maschinen abschalten können, Stich für Stich den Griff nähen… Und die Gedanken, die dir dabei gekommen wären, hätten dein Leben verändert.“ „Diese eine blöde Stunde?“ „Jeden Tag“, sagte der Engel des Schicksals, „jeden Tag die Gelegenheit für eine Stunde Ruhe und Freude.“ Mit geschlossenen Augen sah der Schuster das Bild: eine Stunde nähen – er sitzt, es ist still, er näht, und er träumt dabei. Der Schuster atmete tief aus und lächelte. „Jeden Tag…“, murmelte er. Im Zimmer wurde es still. Es war alles gesagt.
Heiko Bierhoff
Die Maske des Narren
„Erzähle mir ein Märchen!“ Die kleine Seiltänzerin sah ihn bittend an und versuchte, seinen müden Blick einzufangen. Sie waren allein. Das Lagerfeuer war heruntergebrannt. Sein Schein warf letzte Schatten auf das Gesicht des alten Mannes und spielte mit den Falten und Spuren eines harten Lebens. Die verblassenden Flammenzungen unterstrichen die hereinbrechende Dunkelheit. „Ein Märchen?“ Der alte Mann ließ sein kerbenreiches Schnitzmesser sinken und schaute gedankenverloren in die sterbende Glut, die sich mit rauhem Knistern der Kälte erwehrte. „Du kennst sie fast alle besser als ich“, sagte er nach einer Weile, „und bald ist es an dir, mir meine Märchen zu erzählen, denn ich werde sie allmählich vergessen.“ Die kleine Seiltänzerin wickelte sich tiefer in den zerschlissenen Mantel ein, den er ihr um die Schultern gelegt hatte, rückte näher an den alten Mann heran und versuchte, in seinen Augen zu lesen. „Es ist wahr: Ich kenne deine Drachen und Sprüche, Steine und Flüche, deine Helden und Zwerge, Welten und Berge. Ich kenne deine Prinzen und Feen, Burgen und Seen, aber eines kenne ich noch nicht.“ Sie streckte vorsichtig ihren zarten Arm aus und berührte leicht sein weißes Haar. „Bitte, erzähle mir das Märchen deines Lebens, denn ich fühle, daß mir dieses eine – dein Märchen – noch fehlt.“ Der alte Mann senkte seinen müden Blick auf den Rohling, an dem er gerade arbeitete, und versuchte, in der Maserung des Holzes die Gesichtszüge zu finden, die er in seinem Herzen trug. „Mein letztes Märchen“, sprach er leise und folgte mit zitternden Fingern den unfertigen Linien der werdenden Maske. „Nun gut. Es ist wohl das einzige, was ich dir noch geben kann, bevor das Feuer erlischt – ein Märchen… Es war einmal ein junger Narr, der zog zusammen mit einer Schar Gaukler von Ort zu Ort. Ein alter Ackergaul zog ihren
buntgeflickten Planwagen zu den Dörfern, in denen sie sich mit ihren Künsten ein karges Brot erwarben. Abends saß der junge Narr stets mit der alten Wahrsagerin, dem dicken Schwertschlucker, dem glatzköpfigen Schlangenmenschen und der kleinen Seiltänzerin – die er sehr liebhatte – am Feuer, besserte seine Maske aus, verfeinerte sie und hörte den Geschichten der Gaukler zu. Es war ein herrliches Leben im Sommer, wenn sie an goldenen Feldern vorbeizogen und die Leute in den Dörfern genug zu essen hatten, um es mit dem fahrenden Volk zu teilen. Unter dem strahlenden Sternennetz der Mittsommernacht fror man nicht, und die Grillen spielten einem zur Nacht auf. Es war ein hartes Leben im Winter, wenn der Schnee ihnen das Weiterziehen verbot, die Bauern von ihren wenigen Vorräten nichts entbehren konnten und die Kälte zu ihnen unter die Decken kroch. Doch es war nicht etwa der Winter, der den jungen Narren unzufrieden werden ließ. Er teilte gern sein weniges Brot mit den anderen und deckte selbst noch in der eisigsten Nacht die kleine Seiltänzerin mit seinem eigenen Mantel zu. Er war es, der in der Kälte von Hof zu Hof durch den Schnee stapfte, um Feuerholz zu erbetteln oder seine geschnitzten Spielzeuge gegen Brot zu tauschen. Aber er hielt sich für einen ganz besonderen Narren und glaubte, daß seine Späße besonders gut seien. Deshalb – und da er das ewige Umherziehen leid war – träumte er vom Theater bei Hofe, von einer großen Karriere als Schauspieler und von einem Publikum, das ihn liebte und nicht sofort wieder vergaß, wenn er am nächsten Morgen mit den Gauklern weiterzog. Diese Gedanken quälten den jungen Narren, als er eines Nachts als letzter am Lagerfeuer wachte und das Lachen seiner Maske nachzog. Die vertrauten Geräusche der schlafenden
Gaukler aus dem Planwagen vermischten sich mit den Stimmen der Nacht und hinterließen in ihm ein schmerzhaftes Gefühl der Einsamkeit. Da trat aus den fahlen Schatten des Mondlichts lautlos eine verhüllte Gestalt hervor und sprach zu ihm: „Fürchte dich nicht, junger Narr. Ich kenne deine Wünsche und Hoffnungen und kann dir helfen, sie zu erfüllen, ja, sie sogar noch zu übertreffen.“ Obwohl die Gestalt nahe am Feuer stand, war es dem jungen Narren unmöglich, die Umrisse dieser so unwirklich anmutenden Erscheinung in den schweren Falten des schwarzen Mantels auszumachen, geschweige denn ein Gesicht zu erkennen. „Wie kannst du von meinen Träumen wissen?“ fragte er. Die dunkle Gestalt trat einen Schritt näher an das flackernde Feuer, ohne jedoch deshalb besser erkennbar zu werden. „Sieh selbst, wie traurig das Lächeln deiner Maske geworden ist und wie unsauber ihre Augen nachgezogen sind! Es gab Tage, da hast du liebevoller daran gearbeitet, und deine Späße waren noch voller Leben.“ Nachdenklich besah sich der junge Narr seine Maske und erkannte, daß der Fremde die Wahrheit sagte. „Du hast recht“, stimmte er zu und suchte in den Schatten nach einem Augenpaar, „einst habe ich es geliebt, diese Narrenmaske zu tragen. Nun aber bin ich sie leid und will neue, große Rollen spielen.“ „So sei es! Ich biete dir tausend Masken und die Gabe, sie zu tragen, wenn du mir nur diese eine – deine Maske – überläßt!“ Der junge Narr starrte auf seine alte Maske, während er für einen kurzen Augenblick tausend wundervolle Masken und neue Rollen vor sich sah. „Wenn du mir wirklich all dies bieten kannst und nur diese eine Maske dafür willst, so willige ich gerne ein!“ Er erhob sich und reichte der verhüllten Gestalt
seine Narrenmaske über das niedergebrannte Feuer hinweg. In diesem Moment flammte eine rote Lohe aus der Glut empor, leckte an den Händen und an der Maske des jungen Narren und war im nächsten Augenblick schon wieder erloschen. Die unheimliche Gestalt war verschwunden, und in der Kälte einer sternklaren Nacht stand einsam ein junger Mann mit leeren Händen. Am nächsten Morgen zogen die Gaukler weiter. Der Schnee war geschmolzen, und der alte Gaul zog mühsam den schweren Wagen über schlammige Pfade der nächsten Stadt entgegen. Hinten auf dem Wagen saß ein junger Mann, der seine Beine herunterbaumeln ließ und auf die vorbeiziehende Öde einer braunen Januarlandschaft schaute. Mit seinen Gedanken war er noch immer bei dem düsteren Traum der vergangenen Nacht Und mit seinen flinken Händen schnitzte er geistesabwesend an einer neuen Maske, weil er seine alte an diesem Morgen nicht wiedergefunden hatte. Ohne sie fühlte sich der junge Mann nicht mehr als Narr, und es wunderte ihn, daß dieser Verlust ihm nichts auszumachen schien. Sein Herz war an diesem Morgen erfüllt von einem Sehnen nach Ruhm und Ehre, das er noch nie zuvor so stark gefühlt hatte. Als er so auf seine unablässig arbeitenden Hände sah, bemerkte er zu seinem Erstaunen, daß aus dem Holz nicht die altgewohnten Züge eines Narren hervortraten, sondern die harten Gesichtszüge und tiefen Falten eines mürrisch dreinblickenden Greises. Der junge Mann war nicht in der Lage, seinen Händen Einhalt zu gebieten. Gebannt verfolgte er, wie sein Schnitzmesser blinkend am Holz auf und ab fuhr und dabei eine eindrucksvolle Arbeit entstand, wie er sie nie zuvor gesehen hatte. Diese Greisenmaske übte auf den jungen Mann eine solche Anziehungskraft aus, daß er der Versuchung nicht widerstehen konnte, sie sofort aufzusetzen. Kaum hatte er das
aber getan, da krümmte sich sein Rücken, seine Haut alterte, und seine schlanken Finger wurden knotig. Die Maske schmiegte sich an sein Gesicht wie eine zweite Haut. Als er sein Spiegelbild in einer Pfütze sah, erschrak er beim Anblick seines schlohweißen Haares und stieß einen heiseren Schrei aus, der kaum noch an seine eigene Stimme erinnerte. Schnell riß er sich die Maske vom Gesicht und spürte erleichtert, wie seine Haut wieder straff wurde und sein Rücken sich wieder aufrichtete. Der junge Mann besah seine Hände, die ihre Kraft und Schönheit zurückgewonnen hatten, und riß eines seiner Haare aus, um sich ihrer Farbe zu vergewissern. Die Maske aber wirkte auf einmal leblos und starrte mit leeren Augenhöhlen in den fahlen Himmel. Ungläubig setzte sich der junge Mann die Greisenmaske ein zweites Mal auf und erlebte die befremdliche Verwandlung erneut. Und sooft er nun diese Maske trug, verwandelte er sich in einen altersschwachen Greis, und jedes Mal, wenn er sie abnahm, fühlte er sich wieder jung und stark. Da wußte der junge Mann, daß er letzte Nacht nicht geträumt hatte, und er spielte in Gedanken die Möglichkeiten durch, welche ihm diese wundersame Maske eröffnete. Rasch packte er seine wenigen Habseligkeiten zusammen und ließ sich lautlos vom Wagen gleiten. Die anderen Gaukler hatten nichts von alledem bemerkt. Der junge Mann sah dem schwankenden Gefährt noch hinterher, bis es hinter einer Wegbiegung entschwand. In Gedanken an die kleine Seiltänzerin – die er sehr liebhatte – flüsterte er ein Lebewohl in den grauen Tag, wandte sich um und ging seiner Wege. So wanderte der junge Mann der Hauptstadt des Fürstentums entgegen. Er hatte gehört, daß es dort ein wunderschönes und großes Theater geben soll, an dem die besten und berühmtesten Schauspieler sogar vor dem Fürsten selbst auftreten.
Unterwegs setzte er oft seine neue Maske auf, verwandelte sich dadurch in einen schwachen Greis und erbettelte auf diese Weise sein täglich Brot und ein Bett für die Nacht. Niemand erkannte in dem alten Bettelmann einen Maskenträger – er wirkte so mitleiderregend, daß keiner ihm eine milde Gabe versagen mochte. Schließlich erreichte der junge Mann das Hoftheater, dessen prunkvolle Säulen und mit Figuren geschmückte Giebel ihn in Erstaunen versetzten und dessen glänzende Marmortreppen er kaum zu betreten wagte. Der Theaterdirektor, der vornehm eine gepuderte Perücke trug, lachte nur über den jungen Mann, der es wagte, sich trotz seines so glatten und ausdruckslosen Gesichts bei ihm als Schauspieler zu bewerben. Doch immerhin erklärte er sich wenigstens damit einverstanden, daß der junge Mann einmal vorspielen dürfe. In seiner Überheblichkeit erwartete er allerdings, daß sich dieser Grünschnabel sowieso nur lächerlich machen würde. Der junge Mann zog sich in eine kleine Garderobe zurück, setzte seine Zaubermaske auf und betrat damit die Bühne. Der Direktor des Hoftheaters saß mit seinem Ensemble in der Loge und erwartete, sich über den jungen Mann lustig machen, ihn verhöhnen und davonjagen zu können. Doch als dieser in Gestalt des verbitterten Greises auf der Bühne stand und ihnen das Leid eines vertanen Lebens klagte, erkannten sie ihn nicht, bis er schließlich seine Maske absetzte. Alle Anwesenden applaudierten, und der verblüffte Direktor beglückwünschte ihn mit den Worten: „Du weißt deine Rolle vortrefflich zu spielen! Doch sage mir, welche Rollen du noch beherrschst.“ „Jede“, antwortete der junge Schauspieler, „jede Rolle, die Ihr Euch nur denken könnt!“
„Nun, dann will ich dich auf die Probe stellen: Heute abend führen wir für den Fürsten ein Lustspiel auf, und einer der Darsteller, er spielt einen Tölpel, ist plötzlich erkrankt. Spielst du seine Rolle heute gut, werde ich sehen, ob ich Verwendung für dich habe.“ Der junge Schauspieler willigte freudig ein und begab sich sogleich in die Garderobe, um eine neue Maske zu schnitzen. Und wie von Zauberhand schuf sein Messer die Gesichtszüge eines dümmlichen Bauern. Mit dieser Maske spielte er am Abend die ihm aufgetragene Rolle so meisterhaft und bewegte sich so grotesk, daß der ganze Saal seine Auftritte stürmisch beklatschte und über jede seiner Zoten so schallend lachte wie noch nie zuvor. Nach dem Schlußakt wurde der junge Schauspieler umjubelt und gefeiert. Der Fürst ließ ihn sogar in seine Loge bitten, um ihn persönlich zu beglückwünschen. Von diesem Tag an spielte der junge Künstler bei Hofe, und schon bald wurde kein Theaterstück mehr aufgeführt, in dem er nicht die Hauptrolle übernahm. Jeder seiner Auftritte wurde noch mehr gefeiert als die vorangegangenen. Abends zog sich der mittlerweile berühmte Schauspieler mit seinem alten Messer, das nun schon einige Kerben aufwies, stets in seine prachtvoll ausgestattete Garderobe zurück. Dort schnitzten seine eifrigen Hände – nicht mehr seinem Willen gehorchend, sobald sie ein Stück Holz und das Messer fühlten – die herrlichsten Masken. Und mit jeder neuen Maske übertraf er sich selbst, jede erwachte, von ihm getragen, zu einem wundersamen Eigenleben und verlieh ihm eine andere Gestalt. Viele Neider versuchten, das Geheimnis des großen Schauspielers zu lüften, aber keiner kam jemals dahinter, da die Masken leblos und starr waren, wurden sie nicht von ihm selbst getragen.
Schon bald war der gefeierte Schauspieler derartig beliebt, daß er sogar zur alleinigen Erbauung des Fürstenpaares gerufen wurde. Mittlerweile verkehrte er in den vornehmsten Kreisen und wurde schließlich ein intimer Vertrauter des Fürsten. Er genoß sein Leben, seinen Erfolg und seinen Ruhm in vollen Zügen. Dann aber geschah es, daß er sich in die jüngste Tochter des Fürsten verliebte, die ihn in ihrer Anmut an die kleine Seiltänzerin erinnerte. Er stand höher denn je in der Gunst des Fürsten und war sogar geadelt worden – eine Ehre, die bisher noch keinem Künstler zuteil geworden war. Deshalb nahm auch niemand daran Anstoß, daß dieser junge Edelmann, großartige Schauspieler und freundschaftliche Berater des Fürsten der Prinzessin den Hof machte. Auch der Fürst hätte dem stattlichen und tausendgesichtigen Mann gerne seine Tochter zur Frau gegeben, allein die schöne Prinzessin zeigte nicht das geringste Interesse an ihm. Sie lebte immer noch in ihrer behüteten Kinderwelt und ließ sich den ganzen Tag von Puppenspielern unterhalten. Auch wenn sich der junge Edelmann noch so sehr um die Gunst der Prinzessin bemühte, sie schenkte seinen Aufmerksamkeiten keinerlei Beachtung. „Im Grunde“, sagte sie eines Tages im Schloßgarten zu ihm, „trägst du immer nur Masken. Ich fühle, daß sie falsch sind, und ich habe Angst vor ihnen!“ Darüber war der junge Edelmann sehr betrübt, und er wandte sich hilfesuchend an den Fürsten. Dieser war über die Haltung seiner Tochter erzürnt, hatte er doch Angst, daß sein bester Berater den Hof verlassen könnte, wenn die Prinzessin ihn nicht erhörte. Also stellte er seine Tochter vor die Wahl, entweder den jungen Edelmann zu heiraten oder aber den Rest ihres Lebens in einem Kloster zu verbringen.
Die Prinzessin wollte weder das eine noch das andere, weinte bitterlich und flehte ihren Vater an, seine Meinung doch zu ändern. Und da der Fürst seine Tochter über alle Maßen liebte, aber auch seinen treuen Berater nicht verlieren wollte, erlaubte er ihr, den jungen Edelmann auf die Probe zu stellen: Gelänge es ihm nicht, ihren Anforderungen an sein schauspielerisches Können gerecht zu werden, so dürfe sie ihren Bräutigam frei wählen. Über diesen Vorschlag war der junge Edelmann sehr glücklich, vertraute er doch auf seine wundersame Fähigkeit, und er fühlte sich bereits als Sieger. Die Prinzessin dankte ihrem Vater und stellte den jungen Edelmann zuversichtlich schon am nächsten Tag vor dem gesamten Hofstaat auf die Probe. Ihre Naivität und Unerfahrenheit verliehen ihr aber eine besondere Weisheit, wie sie nur Kindern eigen ist, und so deutete sie auf den Narren in ihrem Puppenspiel und sprach: „Wenn du mir als Narr ebensoviel Freude bereiten kannst wie meine Lieblingspuppe, werde ich dich gerne heiraten. Da nur ein Narr sich selbst nicht ernst und wichtig nimmt und nur ein Narr in dieser Welt ungestraft die Wahrheit sagen darf, wirst du diese Rolle niemals spielen können! Denn du, du großer Schauspieler, sonnst dich in deinem Ruhm, aber du verbirgst deine ureigene Wahrheit hinter Masken. Wie soll ich dich lieben, wenn ich dich hinter deinen tausend Masken gar nicht finden, geschweige denn erkennen kann?“ „Was? Nur einen Narren?“ lachte der Fürst. „Mein Kind, diese Aufgabe ist für unseren großen Künstler nun doch zu leicht!“ Dem jungen Edelmann dagegen wurde schwindlig, und ein Raunen ging durch den Saal, als er sich haltsuchend auf einen Stuhl stützte. Er wunderte sich selbst über seine Bestürzung, war er doch der wohl beste Schauspieler aller Zeiten und früher selbst jahrelang als Narr durch die Lande gezogen. Also
bat er darum, sich auf die geforderte Rolle vorbereiten zu dürfen, und zog sich in seine Gemächer zurück. Dort nahm er einen Holzblock und sein altes Schnitzmesser zur Hand und begann, auf seine wundersame Fähigkeit vertrauend, an einer Narrenmaske zu arbeiten. Aber dieses Mal schuf sein Messer kein neues Wunderwerk, und auch aus eigenen Kräften wollten ihm die Gesichtszüge eines Narren nicht gelingen. Dann splitterte auch noch der Holzblock unter seinen vor Aufregung zitternden Händen, sein Messer glitt ab und schnitt ihm tief in die Hand. Doch der junge Edelmann wollte sich sein Mißgeschick nicht eingestehen. Er nahm einen neuen Rohling und versuchte es noch einmal. Sein Blut tränkte das Holz, und das Schnitzen bereitete ihm große Schmerzen. Wieder mißlang die Maske, erneut rutschte das Messer ab und fuhr ihm diesmal tief in den Arm. Zornig warf er sein Messer auf den Boden und griff zu den Schminktöpfen und Puderdosen, um sich eine Maske auf das Gesicht zu malen. Doch nicht einmal mehr die Farben wollten seinen Händen gehorchen und verliefen in seinem glatten Gesicht, das nicht um einen einzigen Tag gealtert zu sein schien, seitdem er am Hofe war. Da brach der junge Edelmann weinend vor dem goldgerahmten Spiegel zusammen, aus dem ihn sein eigenes Gesicht anstarrte, als sei es selbst nur eine ausdruckslose und ewig jugendliche Maske. Voller Entsetzen erkannte er die Wahrheit: Er hatte die Maske des Narren verloren und damit auch sich selbst. Was nützte ihm da die Bewunderung bei Hofe und die Wertschätzung des Fürsten? Die Liebe der Prinzessin würde er niemals erringen, sie hatte als einzige hinter seine Masken geschaut und nichts gefunden. Verzweifelt raffte er mit seinen blutenden Händen all die Masken, die seine verwunschenen Hände geschaffen hatten,
und warf sie in das Kaminfeuer. Mit jeder Maske, die von den Flammen erfaßt wurde, durchfuhr ihn ein brennender Schmerz, und sein Herz fühlte einen tiefen Stich. Als die letzte verbrannte, fühlte er sich auf einmal so leicht und voller Freude wie nie zuvor. Aber er war plötzlich um Jahre gealtert, und jede der Masken schien ihm die Züge ihres Charakters ins Gesicht geschnitten und Spuren am ganzen Körper hinterlassen zu haben. Ein alter Mann stahl sich unerkannt aus dem Schloß. Gebeugt und mit weißem Haar zog er bettelnd durch die Lande, bis ihn eines Tages eine vorbeiziehende Schar Gaukler auflas und auf ihrem von einem alten Ackergaul gezogenen buntgeflickten Planwagen mitfahren ließ. Geblieben war ihm nur sein altes, kerbenreiches Schnitzmesser, das jetzt nur noch die Bilder in das Holz eingrub, die er in seinem Herzen trug…“ Das Feuer war erloschen, und ein großer, voller Mond erhellte den Lagerplatz der Gaukler. Der alte Mann hatte sein Märchen beendet und war nach den letzten Worten leise in sich zusammengesunken. Das Messer war ihm aus der Hand gefallen, und in seinem Schoß lag eine fertige Maske. Die kleine Seiltänzerin – die er immer sehr liebgehabt hatte – deckte ihn mit
seinem zerschlissenen Mantel zu, wie er auch sie im Winter so oft zugedeckt hatte, und gab dem alten Mann einen letzten Gutenachtkuß. Dann nahm sie die Narrenmaske an sich und flüsterte mit Tränen in den Augen hinauf zu einem samtenen Sternenhimmel: „Danke, mein lieber Narr, und schlaf gut.“
Autoren- und Quellenverzeichnis
Heinz Körner (Herausgeber) Jahrgang 1947, lebt bei Stuttgart. Autor und Herausgeber zahlreicher Bestseller: JOHANNES (1978), EIFERSUCHT (1979), HEROIN (1980), DIE FARBEN DER WIRKLICHKEIT (1983), MÄNNERTRAUM/A (1984), WIEVIELE FARBEN HAT DIE SEHNSUCHT (1986) und SARAH (1994) sowie zweier kleiner illustrierter Sonderdrucke aus den Märchen-Anthologien: EIN MÄRCHEN (1981) und ALLE MACHT DEN TRÄUMEN (1994). Lucy Körner (Herausgeberin) Verlegerin, lebt bei Stuttgart. Sie ist als Autorin („Der dritte Kontinent“) bereits in DIE FARBEN DER WIRKLICHKEIT vertreten. Heiko Bierhoff Am 1. 12. 1970 in Kamen/Westfalen geboren, verbrachte dort auch Schulzeit und Zivildienst (Behindertenwerkstatt). Studium der Rechtswissenschaften in Münster und Heidelberg. 1991 Au pair in den USA. Er schreibt Märchen, „weil sie Perlen sind, die das Leben dem Menschen als Sandkörner der Erfahrungen mitgibt, in welchem sie dann, umgeben von Hoffnung, Sehnsucht und Liebe, heranreifen.“ (Der Autor widmet „Die Geschichte von den beiden Apfelbäumen“ seiner Mutter.)
Godfried Bomans 1913 in ‘s Gravenhage geboren, 1971 in Bloemendaal gestorben, war Mitte dieses Jahrhunderts der wohl beliebteste niederländische Schriftsteller. Nach Veröffentlichung seiner ersten Werke hat er sich auf kurze Arbeiten wie z. B. Erzählungen, Märchen usw. beschränkt. Trotz der auffallenden Leichtigkeit seines Auftretens und seiner funkelnden Improvisationen war er ein in sich gekehrter und einsamer Mensch. Am treffendsten hat er das selbst formuliert: „Ich wollte, ich wäre zwei Hündchen, dann könnte ich mit mir selbst spielen.“ Manfred Eichhorn geboren 1951 in Ulm. Buchhandelslehre, seit 1973 als selbständiger Buchhändler und Schriftsteller in Ulm tätig. Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, Märchen, Prosa, einen Roman und zahlreiche Kinderbücher. Seine Theaterstücke in schwäbischer Mundart werden landauf, landab gespielt. Er wurde mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet. Wolfram Eicke geboren 1955, arbeitete nach einer journalistischen Ausbildung drei Jahre lang bei der BBC in London, danach beim Funk in Berlin, Baden-Baden und Hamburg. Seit 1984 lebt er als freier Schriftsteller in Lübeck. Bislang 17 Bücher für Kinder und Erwachsene. Ausgezeichnet mit dem Friedrich Hebbel-Preis. Clara Meyer Jahrgang 1946, lebt in Baden-Baden. „Als gelernte Verlagsbuchhändlerin sind Bücher ein Großteil meiner Welt. Wie alles kann Sprache gebraucht und mißbraucht werden. Ich möchte versuchen, mit Sprache dem Frieden zu dienen, heute
überwiegend in meiner Beratungspraxis als therapeutische Seelsorgerin sowie in Seminaren, Vorträgen und Supervisionen.“ Inge Wuthe Jahrgang 1949, lebt in Köln. Sie arbeitet als Sozialpädagogin und Therapeutin in einer Drogenberatungsstelle. Bisher Veröffentlichungen von Lyrik und Prosa in verschiedenen Anthologien. Prem Joshua arbeitet als Grafiker und Musiker. Er hat bereits mehrere Bücher für den Lucy Körner Verlag illustriert. Er lebt in Deutschland, Italien und Indien. Corinna Jeroma 1963 in Bremen geboren. Kunststudium in Kiel. Lebt und arbeitet als freie Graphikerin in Worpswede. Die Märchen von Godfried Bomans wurden mit freundlicher Genehmigung des Verlages dem Band „De sprookjes van Godfried Bomans“ entnommen, © 1989 De Boekerij, Amsterdam. (Zuvor unter dem ursprünglichen Titel „Sprookjes“ 1946 bei Elsevier in Amsterdam erschienen.) Die Originaltitel der einzelnen hier abgedruckten Märchen lauten „De rijke Bramenplukker“, „Anita“ und „Het kistje en de Student“, übersetzt wurden sie von Charlotte Vlasman und Dr. Dirk Itel Rogge.