GÜNTHER WENDEKAMM
Aktion Leuchtturm
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Nach Augenzeugenberichten g...
64 downloads
922 Views
862KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
GÜNTHER WENDEKAMM
Aktion Leuchtturm
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Nach Augenzeugenberichten gestallet Fotos: APN Für ihre Unterstützung dankt der Autor den Mitarbeitern von NOWOSTI (APN) und dem Genossen Ervin Martison von Television Tallinn
l.—70. Tausend Die Tatsuchenreihe erscheint monatlich Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik Berlin 1973 Chefleklorat Militärliteratur Lizenz-Nr. 5 ES-Nr. 14 D Lektor: Joachim Warnatzsch Umschlag: Karl Fischer Vorauskorrektor: Johanna Pulpit Korrektor: Hanne-Lore Marteus Hersteller: Ingeburg Zoschke Printed in ihe German Demokratic Republic Gesamthcrstellung: Druckerei ,,Neues Deutschland". Berlin
Rätsel um Andrej Dobrjanski „Ja. Das ist Dubrowski. So heißt er jedenfalls in Keila-Jua. Seinen wirklichen Namen kenne ich nicht." Der Gefangene reicht das Foto an Oberstleutnant Sosnichin zurück. „Er ist Ausbilder für Navigation und Bootstechnik." „Also doch Dobrjanski", ruft Hauptmann Makowejenko unbeherrscht aus. Tadelnd blickt ihn der Oberstleutnant an. Den Gefangenen fragt er: „Was wissen Sie noch über den Mann?" „Nichts weiter, wirklich nichts weiter." „Abführen!" befiehlt Oberstleutnant Sosnichin. „Also doch Dobrjanski, Kapitänleutnant Andrej Dobrjanski", wiederholt der Hauptmann, nachdem die beiden Posten mit dem Gefangenen den Raum wieder verlassen haben. Der Oberstleutnant blickt noch immer auf das Bild des breitschultrigen Mannes mit dem glatten dunklen Haar. Dann legt er das Foto in die Mappe zurück. „Trotzdem kann ich noch nicht glauben, daß der Mann ein Verräter sein soll!" „Was wissen wir schon von ihm?" Nur mühsam kann Hauptmann Makowejenko den Ärger über seinen Vorgesetzten verbergen. „Immerhin war er Kommunist", entgegnete ruhig der Oberstleutnant, „und Bergmann, bevor er zur Baltischen Rotbannerflotte kam. Ein verläßlicher Kommandeur. Geschätzt von seinen Vorgesetzten, beliebt bei seinen Matrosen." „Und wenn das alles nur Tarnung war?" Hauptmann Makowejenko weiß, daß er dem Oberstleutnant nichts über die Methoden des faschistischen Geheimdienstes des Admiral Canaris erzählen muß. Oberstleutnant Sosnichin, der Leiter der sowjetischen Spionageabwehrorgane der Leningrader Front, ist ein erfahrener
Tschekist. Wie oft schon hatte er recht behalten, wenn er noch Vertrauen in einen Menschen setzte. Und war ihm jemand verdächtig, so zeigte sich bald, daß der Verdacht begründet war. Im Falle dieses Kapitänleutnants Dobrjanski aber geht Hauptmann Makowejenko die Hartnäckigkeit seines Vorgesetzten zu weit. Wohl kennt er die Vorliebe Sosnichins, durch Widerspruch, durch immer neue Einwände seine Mitarbeiter zu zwingen, alle Möglichkeiten noch gründlicher zu erwägen. Das aber ist zeitraubend, unter den gegenwärtigen Umständen viel zu zeitraubend, findet Makowejenko. Der Hauptmann braucht nicht erst auf die Karte zu sehen. Er kennt den Frontverlauf genau. Seit Monaten blockiert die faschistische Armee Leningrad. Im Süden, bei Pulkowo, sind ihre Spitzen bis in die Vororte eingedrungen. Außerhalb der Stadt halten die tapfere Besatzung der Festung Kronstadt, mutige Matrosen der Baltischen Rotbannerflotte, und die Operative Gruppe Küste bei Oranienbaum ihre Stellungen und binden Kräfte des Gegners. Seit Monaten ist es diesem nicht gelungen, auch nur einen Fußbreit weiter vorzudringen. Darum versucht er immer mehr, Sabotagetrupps und Diversanten hinter die Frontlinie zu schleusen, um den Widerstand der Verteidiger von innen auszuhöhlen. Diversanten, die vielleicht dieser Dobrjanski mit ausgebildet hat... Oberstleutnant Sosnichin ist zu sehr mit eigenen Gedanken beschäftigt. Das Grübeln seines Mitarbeiters findet er selbstverständlich. Schon längst ist Sosnichin kein Geheimnis mehr, wer die Diversionsversuche einfädelt: Korvettenkapitän Alexander Cellarius, ein enger Vertrauter des Chefs des militärischen Geheimdienstes der Faschisten, Admiral Wilhelm Canaris. Schon 1938 schickte Canaris den Korvettenkapitän Cellarius nach
Stockholm und Helsinki. Er war stellvertretender Marineattache an den dortigen Botschaften. Beschäftigt hat er sich mit anderen Dingen als mit Diplomatie; immer wieder, wenn an der sowjetischen Ostseeküste faschistische Agenten oder Diversionsgruppen aufgegriffen wurden, führten die Spuren zu Cellarius: Er leitete das gesamte Netz der Canaris-Agenten in den nordwestlichen Nachbarstaaten der Sowjetunion. Der Korvettenkapitän Cellarius, ehrgeizig und auf seine Karriere bedacht, ist ein erfahrener Abwehrmann. Er scheut vor nichts zurück. Mit allem muß man bei ihm rechnen... „Fassen wir zusammen, was wir wissen", bricht schließlich Oberstleutnant Sosnichin das Schweigen. „Kapitänleutnant Dobrjanski war Kommandeur einer TS-Boot-Gruppe. Die Torpedoschnellboote dreiundachtzig und hundertdreiundzwanzig, mit denen er einen Sondereinsatz fuhr, kehrten am achten Juli neunzehnhundertzweiundvierzig aus ihrem Operationsgebiet südlich der Insel Someri nicht zurück. Besatzungen vermißt; Dobrjanski aber ist Ausbilder der faschistischen Abwehr in Keila-Jua. Uns liegen widerspruchsvolle Meldungen vor. Einmal: Dobrjanski, Deckname Dubrowski, genießt bei Cellarius größeres Vertrauen als ändere angeworbene Agenten. Zum anderen: Dobrjanski versucht Kontakt mit uns herzustellen. - Daraus ergeben sich drei Möglichkeiten. Erstens, Dobrjanski ist schon länger ein Canaris-Agent, systematisch vom faschistischen Geheimdienst aufgebaut und jetzt aus uns noch nicht bekannten Gründen zurückgerufen worden; oder er geriet in Gefangenschaft und ist dort zum Verräter geworden. In beiden Fällen handelt er im Auftrag von Cellarius bei seinen Versuchen, mit uns Kontakt zu bekommen. Würden wir darauf eingehen, liefen wir Cellarius direkt in die Falle. — Dritte Möglichkeit.
Andrej Dobrjanski
schließlich: .Dobrjanski hat sich nur zum Schein anwerben lassen, um nach einer Gelegenheit zu suchen, bei einem Diversionseinsatz zu uns zurückzukehren Aber er hat sie noch nicht gefunden. Er will uns helfen, will dem Feind schaden. Verzichten wir auf den Kontakt mit ihm, vergeben wir die Möglichkeit, einen Kundschafter oder gar eine ganze
Gruppe in einem wichtigen Zentrum des faschistischen Geheimdienstes zu haben. Für alle Entscheidungen ist die wichtigste Frage jedoch offen: Wer ist Andrej Dobrjanski wirklich?"
,,Boote von backbord!" Langsam kommt die Insel Someri näher. „Maschinen halbe Kraft!" befiehlt Kapitänleutnant Dobrjanski. „Maschinen halbe Kraft!" wird der Befehl wiederholt. Mit dem Glas kann Andrej Dobrjanski schon die hellen Streifen des flachen Strandes ausmachen, der sich deutlich von dem dahinter beginnenden Wald abhebt. „Ruder, zwei Strich steuerbord!" „Ruder, zwei Strich steuerbord!" Das Torpedoschnellboot 83 zieht eine sanfte Schleife. Seiner Gischtspur folgt das andere Boot. Aufmerksam tastet Kapitänleutnant Dobrjanski mit dem Glas das Ufer der Insel ab. „Ich sehe nichts Verdächtiges." „Ich auch nicht", antwortete Leutnant Klimow. Ruhig pflügen die Boote ihre Schaumfurchen. Am Ufer tritt der Wald weiter zurück.. Über dem schmalen Strand wird ein dunkler Streifen sichtbar. Eine Steilküste steigt allmählich höher an. „Wir halten besser mehr Kurs ins offene Gewässer", sagt Kapitänleutnant Dobrjanski und befiehlt: „Ruder weiter steuerbord!" Klimow schreit plötzlich: „Boote von backbord!" Dobrjanski fährt herum. Blickt nach links. Aus dem Sichtschatten der Insel tauchen drei Boote in schneller Fahrt auf. Mit drei Gegnern könnten wir es aufnehmen, denkt Dobrjanski noch. Er will schon befehlen, die Torpedos zum Abschuß fertig zu machen, da sieht er weitere Boote hinter
der Insel hervorkommen. Dreizehn kann er ausmachen, zehn Schnellboote und drei Torpedoboote. In schneller Fahrt versuchen sie den sowjetischen Torpedoschnellbooten den Weg abzuschneiden. „Alle Mann an die Gefechtsabschnitte! Maschinen volle Kraft voraus!" befiehlt der Kapitänleutnant. Laut heulen die Motoren auf. In ihren Lärm mischen sich die ersten Detonationen. Die See brodelt, kocht. ,,Backbordmotor ausgefallen!" wird Dobrjanski gemeldet. Das Boot fängt an zu schlingern, ist nicht mehr in der Richtung zu halten. Auch das Torpedoschnellboot 123 verliert an Fahrt. „Maschinen stopp! Alle Mann zur Brücke!" Das Dröhnen der Einschläge übertönt die Stimme Dobrjanskis. „Schlauchboote klar! Sprengung vorbe..." Da wird er zu Boden geschleudert. Aus dem Treibstofftank sieht er eine Flammensäule aufsteigen. Zu spät, denkt er noch, Volltreffer. Eine gewaltige Detonation. Die Druckwelle schleudert Andrej Dobrjanski über Bord. Als er Wasser um sich spürt, beginnt er zu schwimmen.
Sonderauftrag für Hauptmann Grandt Korvettenkapitän Cellarius nimmt den Hörer ab. „Oberstleutnant Hansen und Hauptmann Grandt sind zur Dienstbesprechung erschienen", meldet der Adjutant. Cellarius blickt auf seine Uhr. „Die Herren Offiziere sind für neun Uhr bestellt. Sie mögen sich noch drei Minuten gedulden", antwortet der Leiter der „Abwehrnebenstelle Reval" und legt den Hörer wieder auf. Noch einmal läßt sich Cellarius die kürzliche Unterredung mit Admiral Canaris in Berlin durch den Kopf gehen. Nach der Dienstbesprechung hatte ihn der Admiral noch zurückbehalten. „Wäre es nach mir gegangen", so sagte Canaris in dem Gespräch unter vier Augen, „dann hätten
wir den Hauptstoß gegen Leningrad geführt. Die Stadt ist ein Heiligtum für die Russen, psychologisch noch wichtiger als Moskau. Fällt die Stadt in unsere Hände, so hätte das eine große demoralisierende Wirkung, die unseren schnelleren Sieg herbeiführen würde." Cellarius weiß, daß das eine Lieblingsidee seines Chefs ist. Doch dann hat der Admiral eindringlich hinzugefügt: „Wo das Heer versagt und sogar die Marine, da muß eben die Abwehr das Heft in die Hand nehmen. Das ist Ihre Chance, Cellarius. Machen Sie etwas daraus." Cellarius wirft abermals einen Blick auf seine Armbanduhr, dann gibt er dem Adjutanten das Klingelzeichen. Nach der Meldung bleiben Hansen und Grandt wartend an der Tür stehen. Welche Gegensätze, muß Cellarius bei ihrem Anblick unwillkürlich denken. Den Oberstleutnant hätten sie wohl doch besser an der Fakultät behalten sollen, damit er unseren Hauptagenten weiter Psychologie und ähnliche Dinge beibringt. Schade nur, daß der Hauptmann davon zu wenig versteht. An Härte fehlt es ihm nicht. Nur, etwas besser müßte er sich schon den oft wechselnden Situationen anpassen können. Vor allem die feineren Tonarten müßte er besser beherrschen. In den nächsten Tagen vor allem. „Nehmen Sie Platz", sagt Cellarius schließlich. „Ich möchte gleich zum Kern der Sache kommen. Der Admiral ist unzufrieden über den Stand, sowjetische Kriegsgefangene in unsere Tätigkeit einzuschalten. Über Aktionen werden wir später sprechen. Wir müssen unsere Schulen erweitern und die Gefangenenlager nach geeigneten Leuten durchforsten." Hauptmann Grandt schaut seinen Chef schweigend an. Seine Blicke verraten aber, daß er das alles für Zeitverschwendung hält. Cellarius widerlegt den unausgesprochenen Gedanken des
Hauptmanns sofort. „Für größere Aktionen brauchen wir mehr Leute, gefügige und gutausgebildete Agenten." Dann wendet er sich dem Oberstleutnant zu. „Sie, Hansen, werden Kapitän Puurand mehr Dampf machen. Die Ausbildung der Funker in Letse geht zu langsam voran. Schauen Sie sich einmal in der Schule Kumna um — da können Sie noch lernen! Die wichtigste Aufgabe aber ist der Aufbau unserer neuen Schule in Keila-Jua. In zwei Tagen geben Sie mir Ihre Vorschläge für die Ausbilder. Die Leitung der Schule werden Sie, Hauptmann Grandt, übernehmen. Agenten werden Sie sich selber aussuchen. Morgen reisen Sie nach Südfinnland. In den dortigen Lagern soll brauchbares Material sein. Auch einige Seeleute. Konzentrieren Sie sich darauf. Sie haben eine Woche Zeit dafür." Nur eine Woche, möchte Hauptmann Grandt widersprechen. „Die meisten lehnen ab", wendet er zögernd ein. „Nicht einmal die Drohung mit dem Konzentrationslager schreckt sie ab." „Drohen Sie weniger. Lassen Sie sich bessere Mittel einfallen", antwortet Cellarius scharf. Etwas versöhnlicher fügt er hinzu: „Ich habe schon angewiesen, die knappen Tagesrationen weiter herunterzusetzen. Der Hunger wird die Leute schon weichklopfen. Meinetwegen kürzen Sie die Rationen weiter. Versuchen Sie es aber auch mit dem Zuckerbrot, nicht nur mit der Peitsche. Nehmen Sie Wolkow mit. Notfalls kann der sich ein paar Tage unter die Gefangenen mischen. Außerdem kennt er die Russen besser als Sie." „Meine Liste mit den vorgeschlagenen Ausbildern müßten Sie doch schon erhalten haben", meldet sich Oberstleutnant Hansen. „Die meisten Namen habe ich schon gestrichen", erwidert Cellarius. „Überall wollen Sie diese russischen Emigranten unterbringen. Bitte sehr, aber hier nützen sie uns gar nichts. Wir werden sie abschieben, mögen sie meinetwegen die
Verwaltungen bevölkern. Hier zerschlagen sie uns zu viel Porzellan. Einverstanden bin ich mit den beiden Überläufern Wolkow und Wesjolow. Die werden sich besser in die Atmosphäre einfügen, die wir künftig in den Schulen brauchen. Lassen wir den Agenten ruhig ihre sowjetischen Uniformen und auch ihre Dienstgrade. Meinetwegen sollen sie sich auch mit ,Genosse' anreden. Sie sollen den Eindruck haben, als wollten wir sie als Partner für lange Zeit gewinnen. Eines aber bleibt oberstes Gebot: eiserne Disziplin; strenge Ausführung aller Befehle; härteste Strafen für alle, die glauben, sie könnten uns über's Ohr hauen. Ein paar Erschießungen tun da Wunder, schrecken ab. Haben Sie mich verstanden?!" „Zu Befehl, Herr Korvettenkapitän!" antworten Oberstleutnant Hansen und Hauptmann Grandt wie aus einem Mund. „Ein Wort noch, Grandt", ergänzt Cellarius, betont gönnerhaft. „Ziehen Sie Wolkow mehr an sich heran. Der wird ihnen nützlich sein. Suchen Sie sich unter den Gefangenen möglichst Offiziere aus, die Sie später in KeilaJua als Ausbilder gebrauchen können."
Abschied für immer? Andrej Dobrjanski zieht die Decke fester um sich zusammen. Es nützt nichts. Ihn schüttelt es weiter vor Kälte. Leutnant Klimow neben ihm scheint noch zu schlafen, trotz des harten Betonbodens und der Kälte. Offensichtlich schläft er vor Erschöpfung, denkt Andrej. Die Strapazen der letzten Tage, der zermürbende Hunger. In Gedanken läßt er diese Tage noch einmal an sich vorüberziehen. Nachdem ihn die Druckwelle vom Boot geschleudert hatte, war er geschwommen. Willenlos zuerst, dann aber immer
mehr mit der Hoffnung, irgendwie doch bis zum Ufer der Insel durchzustehen. Weit kam er nicht, da zogen ihn fremde Matrosen aus dem Wasser. Klimow hatten sie schon vorher aufgefischt und auch Fomenko, Malinin, Witschik und den kleinen Pawel Kolesow. Auch auf einem anderen Boot der Faschisten waren noch ein paar Matrosen von seinen Booten. Seit fast zwei Wochen hausen sie nun bereits mit etwa hundert weiteren gefangenen Sowjetsoldaten in diesem Lager, das früher einmal eine Fabrik war. Täglich werden einige Gefangene abgeholt, nicht nur Kranke. Keiner von ihnen kam bisher zurück... Der schrille Ton einer Trillerpfeife schreckt ihn auf. Einer der Posten, ein älterer Unteroffizier, kommt in die Ecke des Saales, in der die Matrosen liegen. „Dobranski, Andräh", schreit der Aufseher. Andrej springt auf. In der Saaltür sieht er einen faschistischen Offizier und einen Soldaten warten. Jetzt bin ich an der Reihe, geht es Andrej durch den Kopf. Die Augen der Matrosen sind auf ihn gerichtet. Der Offizier und der Soldat sind an Dobrjanskis Seite getreten, fordern ihn auf, zu folgen. Mit Blicken verabschieden sich Andrej und die Matrosen. Nicht einmal die Hand kann ich ihnen noch drücken, denkt Andrej zornig. Der Weg führt über einen langen, engen Fabrikhof. Voran geht der Soldat. Der Leutnant folgt Dobrjanski mit kurzem Abstand. Schließlich steigen sie in einem mehrstöckigen Haus einige ausgetretene Stufen hinauf. Dann betreten sie einen schmalen Korridor. Mit dem Lauf seiner Maschinenpistole bedeutet der Soldat Dobrjanski, zur Seite zu treten. Der Soldat stellt sich hinter ihm auf, während der Leutnant in eines der Zimmer auf der anderen Korridorseite geht. Nach einer Weile kommt er zurück. Wieder geht es eine Treppe hinunter. Auf dem Hof muß Dobrjanski sich mit dem Gesicht zur Wand hinstellen. Nach etwa einer halben Stunde befehlen die Faschisten, er soll sich herum-
drehen. Er sieht, wie man am gegenüberliegenden Ende des Hofes einige gefesselte Rotarmisten vor einer Mauer an Pfähle gestellt hat. Dann tritt eine Gruppe Faschisten vor sie hin. Schüsse hallen laut von den Wänden wider. Andrej sieht die Genossen zusammenbrechen. Er will sich abwenden, doch da spürt er, wie der Leutnant jede seiner Reaktionen genau beobachtet. Andrej zwingt sich, weiter auf das Grauenvolle zu blicken und einen möglichst unbeteiligten Eindruck zu machen. Er sieht einen Offizier an die Erschossenen herantreten. Plötzlich hebt der Offizier die Pistole, die er schon die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, zielt auf einen der Zusammengesunkenen. Andrej beißt sich fest auf die Lippen, um nicht laut aufzuschreien.
Überraschendes Angebot Wenige Minuten später hört Dobrjanski, wie eine Tür geöffnet wird. Jemand wechselt mit dem Leutnant Worte in deutscher Sprache. Plötzlich wird Andrej in akzentfreiem Russisch aufgefordert, zu folgen. Er fährt herum und ist erstaunt, einen Zivilisten zu sehen. Der Unbekannte geht voran in eines der Zimmer. Der Leutnant schiebt Andrej durch die Tür, bleibt jedoch mit dem Soldaten zurück. Hinter einem riesigen Schreibtisch entdeckt Dobrjanski einen etwa gleichaltrigen faschistischen Hauptmann. Der Zivilist übersetzt Andrej Dobrjanski die Aufforderung des Offiziers, sich auf den Stuhl zu setzen, der einsam mitten in dem Raum steht. Der Zivilist nimmt neben dem Schreibtisch Platz. Schweigend mustert der Hauptmann Andrej Dobrjanski eine Weile. Dann beginnt das Verhör. Durch den Zivilisten läßt der Hauptmann dolmetschen. „Von Beruf sind Sie Ingenieur?" Andrej bejaht. „Und wie viele Jahre sind Sie bei der sowjetischen Flotte gewesen?" Andrej schweigt.
Der Hauptmann lächelt, etwas verkrampft zwar, doch seine Stimme klingt freundlich. „Beschäftigen wir uns eben erst mit anderen Fragen", übersetzt der Zivilist. Andrej wird nach verschiedenen Einzelheiten gefragt, nach seiner Familie, seiner beruflichen Entwicklung, wenig nur über seinen Dienst in der Flotte. Schweigt Andrej zu einer Frage, lächelt der Hauptmann nur, läßt aber durch den Zivilisten weiterfragen. Immer deutlicher hört Andrej aus den Fragen heraus, daß der Hauptmann recht gut über ihn Bescheid weiß. Das ganze bisherige Verhör ist nur eine Routineangelegenheit, das Vorspiel sozusagen, dem der Hauptakt noch folgt. Und als er sich darüber klar wird, spürt Andrej auch, daß er sich wieder völlig unter Kontrolle hat. Abermals wechseln der Hauptmann und der Zivilist leise einige deutsche Worte. Langsam und betont spricht ihn der Zivilist an: „Herr Kapitänleutnant Dobrjanski..." Achtung, sagt sich Andrej, jetzt doppelt aufmerksam sein. „Hauptmann Grandt möchte Ihnen ein Angebot machen", übersetzt, etwas stockend, der Zivilist. Dann sagt er eine Menge Dinge über eine verfahrene Lage, in der sich Dobrjanski befände. Für die Rote Armee wäre er ein Deserteur und müsse mit dem Kriegsgericht rechnen. Außerdem sei das Schicksal der Sowjetunion schon so gut wie besiegelt. Im Grunde läge jetzt ein deutscher Sieg sogar im natürlichen Interesse Dobrjanskis. Dann nämlich könne er in seine Heimat zurückkehren, ohne befürchten zu müssen, vor ein Gericht gestellt zu werden... Andrej zwingt sich, den Eindruck eines aufmerksamen, nachdenklichen Zuhörers abzugeben. „Vielleicht könnten wir Ihnen aber auch den weiteren Aufenthalt in einem Kriegsgefangenenlager ersparen." Nach diesen Worten ist sich Andrej nicht mehr im Zweifel, woher der Wind weht. Er erinnert sich. Kurz vor seiner
Gefangennahme war während einer Dienstbesprechung im Stab ein geheimes faschistisches Dokument ausgewertet worden. Es war — soviel war Andrej im Gedächtnis geblieben — eine Anweisung der faschistischen Wehrmacht, dem Geheimdienst verstärkt dabei behilflich, zu sein, unter den sowjetischen Kriegsgefangenen geeignete Elemente für eine Agententätigkeit zu finden. Ausgerechnet mich haben sie dafür ausgesucht? Andrej erregte sich derart, daß er fast überhört hätte, was man ihm anbot. „Wir schlagen Ihnen also vor, sich freiwillig auf einer unserer Spezialschulen ausbilden zu lassen, um dann unser Mitarbeiter zu werden." Warum geben sie mir so deutlich zu erkennen, daß sie vom faschistischen Geheimdienst sind? Für Sekunden möchte Andrej diesem Hauptmann ins Gesicht schreien: Nein! Niemals! Ich bin kein Verräter, ich werde auch niemals zum Verräter werden! Schlagartig ist es ihm aber klargeworden, warum er vor diesem Verhör gezwungen worden war, der Erschießung seiner Genossen beizuwohnen. Das gehörte bereits zur psychologischen Vorbereitung auf das Kommende. „Unser Angebot überrascht Sie wohl sehr?" fragt plötzlich der Hauptmann in einwandfreiem Russisch. Mit Mühe zwingt sich Andrej, ruhig zu überlegen. Wenn ich auf das Angebot eingehe, dann heißt das noch lange nicht, daß ich auch zum Verräter werden muß. Vielleicht ergeben sich gerade dabei bessere Möglichkeiten zu fliehen. Und wenn nicht? Leicht werden es mir die Faschisten bestimmt nicht machen. Und wenn ich ablehne? Lebend käme ich dann aus diesem Lager bestimmt nicht heraus. Wem aber nutzt mein Tod? Und wenn die merken, daß ich nur zum Schein auf das Angebot eingegangen bin? Die Chance bleibt, daß sie es nicht merken. Dann aber kann ich weiterkämpfen... Hauptmann Grandt hat Andrej Dobrjanski
ein paar Minuten zum Überlegen gewährt. Jetzt läßt er ihn fragen: „Und was ist Ihre Meinung zu unserem Angebot? Wie lautet Ihre Antwort?" „Ich weiß noch nicht so recht." Andrej bemüht sich, seinen Gewissenskonflikt echt wirken zu lassen. „Sie haben bestimmt recht. Doch auch Sie sind Soldat. Könnten Sie einen Deserteur schätzen, der aus Feigheit, aus Furcht vor dem Tod einfach seinen Eid bricht und die Fronten wechselt?" Hauptmann Grandt hebt mitfühlend die Hände. „Einsicht in eine veränderte Lage ist keine Feigheit. Der Tod darf nicht sinnlos sein", übersetzt der Zivilist, den der Hauptmann jetzt offen mit „Herr Wolkow" anspricht. Andrej spürt abermals, wie Zorn in ihm aufsteigt. Mühsam zwingt er sich, Bereitschaft zum gründlichen Nachdenken zur Schau zu stellen: „Woher weiß man, wann der Tod sinnlos wird? Was erwarten Sie von mir? Was soll ich für Sie tun?" „Warum über die zweite Frage sprechen, bevor die erste geklärt ist", antwortet plötzlich ungewöhnlich scharf Hauptmann Grandt. Versöhnlicher fügt er hinzu: „Geben wir das Versteckspiel auf! Mein Eindruck: Sie sind bereit, sich unser Angebot zu überlegen. Brauchen Sie Bedenkzeit?" Andrej bejaht. Er spürt, daß er sich richtig verhalten hat. Hätte er sofort zugestimmt, wäre das dem Hauptmann verdächtig vorgekommen. „Sie können sich meinen Vorschlag bis morgen überdenken", sagt kategorisch Hauptmann Grandt. Drohend fügt er hinzu: „Glauben Sie aber nicht, daß wir uns von Ihnen an der Nase herumführen lassen. Morgen wollen wir von Ihnen ein präzises Ja oder Nein!" Wolkow fordert Dobrjanski auf, ihm zu folgen. Vorder Tür werden sie bereits erwartet. Wieder öffnet einer der Posten
die Gittertür. Statt zurück in die Fabrikhalle geht es jedoch noch eine Etage höher. Dort wird abermals ein Gitter geöffnet. Nur Wolkow tritt mit ein. „Sie werden es nicht bereuen, wenn Sie zustimmen", bricht schließlich Wolkow das Schweigen. „Glauben Sie mir, Kapitänleutnant. Ich spreche aus eigener Erfahrung." Wolkow schiebt Andrej in einen kleinen, halbdunklen Raum. Andrej Dobrjanski blickt sich in dem kleinen Zimmer um. Das vergitterte Fenster ist zur Hälfte von außen mit Brettern abgedunkelt. In einer Ecke steht eine Holzpritsche, zwei Decken liegen darauf. Auf einem Hocker steht auch eine Blechschüssel mit Wasser. Andrej taucht das Gesicht in die Schüssel. Das Wasser ist eiskalt. Ein paar Schritte geht Andrej auf und ab, dann legt er sich auf die Pritsche. In Gedanken läßt er die Ereignisse des Tages noch einmal an sich vorüberziehen. In diesen Minuten konzentrierter Besinnung fällt ihm erst richtig auf, daß einmal die Worte dieses Hauptmann Grandt haargenau mit seinen eigenen Gedanken übereinstimmten: Der Tod darf nicht sinnlos sein! Nur, beide verstehen darunter etwas anderes. Andrej wägt ab: Alles, was ich mir aussuchen kann, ist abzulehnen — dann erschießen sie mich bald — oder anzunehmen und dann täglich mit dem Tod um die Wette zu laufen. Monate vielleicht, Jahre sogar werde ich illegal kämpfen müssen. Ohne Erfahrung in diesem Kampf werde ich gerissenen Geheimdienstleuten gegenüberstehen. Skrupellos in der Wahl ihrer Mittel, sind sie versiert in verschlagenen Intrigen. Oft werde ich den Verräter spielen müssen, um mich nicht zu verraten. Werde ich dazu fähig sein? Das schlimmste aber, niemand in der Heimat wird wissen, daß ich nur zum Schein auf das Angebot eingegangen bin. Die eigenen Genossen werden sehr schnell von meinen Diensten in den Reihen des Feindes erfahren.
Ist es da nicht doch ehrenvoller, vom Gegner ermordet zu werden? Doch da ist wieder die Frage: Wäre ein solcher Tod nicht sinnlos? Gibt mir dieses Angebot nicht die Chance, weiterzukämpfen? Bestehe ich aber die Prüfungen nicht, werde ich im Kampf fallen. Offensichtlich will der Hauptmann noch mehr Agenten anwerben, denkt Andrej weiter. Aus dem Gedanken wächst ein schwacher Hoffnungsschimmer. Warum haben sie gerade mit mir begonnen, nicht mit einigen meiner Matrosen? Andrej überlegt, wer von seinen Männern wohl am ehesten seine Absichten verstehen würde. Vielleicht gibt mir dieser Hauptmann Grandt ein wenig Gelegenheit, ihm bei der Auswahl zu helfen? Immerhin stünde ich dann nicht allein..
Wieder an Bord Es dunkelt bereits, als die Gefangenen auf den Hof gebracht werden. Ein LKW steht bereit. Während die Gefangenen auf die Ladefläche klettern, erkennt Andrej, der als letzter gebracht worden ist, Leutnant Klimow. Auch die anderen erkennt er; es sind Obermaat Fomenko, Maat Malinin und Matrose Kolesow. Es gelingt Andrej, sich bis vorn an das Führerhaus durchzudrängeln. Noch bevor die Wachsoldaten auf den LKW klettern, kann er sich mit den Genossen kurz verständigen. Wohin man sie auch bringen wird, sie werden weiter gegen die Faschisten kämpfen. Eine Plane wird über die Ladefläche gespannt. Die Fahrt geht ins Ungewisse. Nach etwa einer halben Stunde hält der LKW. Die hintere Klappe wird heruntergelassen, die Gefangenen werden aufgefordert, auszusteigen und sich in zwei Reihen aufzustellen. Im Halbdunkel liegt ein kleiner Fischereihafen. Am Kai zeichnen sich die Konturen eines Fischkutters ab; weiter draußen sieht Andrej die Schatten weiterer Schiffe.
Wolkow fordert Dobrjanski und Klimow auf, sich an die Spitze der beiden Reihen zu stellen. Zuerst befiehlt er Klimow, mit seiner Gruppe in Richtung des kleinen Hafens abzurücken. Aufmerksam mustert Dobrjanski die vorbeiziehenden Männer. Kolesow kann er unter ihnen erkennen und Semjonow. Wenige Minuten später befiehlt Wolkow auch Dobrjanski, mit seiner Gruppe loszumarschieren. Posten mit schußbereiten Waffen flankieren die beiden Gruppen auf dem Weg zu dem Fischkutter. Die Gefangenen betreten über eine schmale Planke das Mitteldeck des Schiffes und klettern eine Strickleiter in den Laderaum hinunter. Kaum ist der letzte unten angelangt, wird die Strickleiter hochgezogen, die Luke verschlossen. Der Motor beginnt zu tuckern. Langsam legt der Kutter ab. Andrej Dobrjanski hat es so einrichten können, daß er auf dem blanken Boden einen Platz neben Leutnant Klimow findet. „Wohin wird man uns bringen?" fragt er leise. „Ich weiß es auch nicht", antwortet Andrej. „Von Estland sprach der Hauptmann zu Wolkow." „Wer ist dieser Wolkow?" „Vermutlich ein Verräter, ein Deserteur", flüstert Andrej. „Aber rede nicht so viel. Bei denen muß man mit allem rechnen, auch damit, daß sie ihre Leute hier eingeschmuggelt haben. Noch wissen wir nicht, wer die anderen sind." „Ob sie uns auch zu Verrätern machen wollen?" Andrej schaut seinem Freund scharf ins Gesicht. ,,Nicht so laut! Wir dürfen nicht auffallen'', flüstert er. „Sie dürfen uns nicht verdächtigen! Das ist das Wichtigste. Zunächst alles mitmachen, die Befehle genau befolgen, klar? Beobachten müssen wir, feststellen, wie sich jeder einzelne Gefangene verhält. Später sehen wir weiter." Nach einer Pause setzt er hinzu: „Semjonow habe ich noch gesehen. Witschik müßte auch mitgekommen sein." „Ihn habe ich noch nicht bemerkt. Recht hast du, erst einmal alles mitzumachen. Ich weiß aber nicht, ob ich durchhalte. Ich hasse die Faschisten sehr!" „Meinst du, ich nicht? Eine Gelegenheit
zum Kampf wird sich finden, mein Freund. Besser ein lebender Kommunist als ein toter!" „Verurteile mich nicht, wenn ich nicht durchhalte." „Du mußt durchhalten! Also, paß auf, wenn die Gelegenheit günstig ist, werde ich versuchen, noch mit Semjonow zu sprechen, dann wären wir schon eine ziemlich starke Gruppe. Du solltest dich um Witschik kümmern, der bestimmt hier ist. Vor allem, sei auf der Hut und gib nicht auf!" „Habe verstanden."
Keila-Jua, die Schule für Agenten der faschistischen Abwehrnebenstelle Reval Keila-Jua Der Motor des Kutters schweigt bereits eine ganze Weile. Das Schiff liegt ruhig. Angespannt lauschen die Männer.
Von außen dringen nur gedämpfte Laute in den Laderaum, in dem die Luft fast zum Ersticken verbraucht ist. Schließlich wird die Luke geöffnet, und die Strickleiter wird wieder heruntergelassen. Wolkow ruft Dobrjanski als ersten nach oben. Andrej riskiert einen verstohlenen Blick in die Umgebung. Er kann keinen Anhaltspunkt entdecken, der ihm Auskunft gibt, wo sie sich befinden. Das kleine Bollwerk ist provisorisch hergerichtet. Am Ufer ist eine kleine Lichtung in den Wald geschlagen. Dort wartet bereits ein LKW. Außerdem sind noch zwei Kräder mit auf Seitenwagen montierten Maschinengewehren aufgefahren. Soldaten stehen schußbereit an dem flachen Abhang, den der Weg hinaufführt. „Nun, haben Sie sich satt gesehen? Sie werden noch früh genug erfahren, wo wir uns befinden", bemerkt ironisch Wolkow. „Sorgen Sie lieber mit dafür, daß keiner der Leute Dummheiten macht!" Kaum sind die Gefangenen und die Wachmannschaft auf den LKW geklettert, wird wieder die Plane heruntergelassen und festgezurrt. Der Wagen setzt sich in Bewegung. Fast eine Stunde geht die Fahrt über holprige Feld- oder Waldwege. Endlich fährt der Wagen ruhiger. Eine feste Straße scheint erreicht zu sein. Nach einer Weile biegt das Fahrzeug scharf ab. Wieder werden die Männer kräftig durchgeschüttelt. Ein kurzer Halt. Stimmen. Noch einmal ruckt der Wagen an, um nach kurzer Fahrt endgültig stehenzubleiben. Die Plane wird geöffnet. Wolkow befiehlt den Gefangenen, vom Wagen zu springen und anzutreten. Andrej sieht zunächst nur den hohen Stacheldrahtzaun und die zwei Wachtürme am Eingang. Dann erst bemerkt er das arg verwahrloste Gutshaus. Es macht ganz den Eindruck, als habe es einst einem dieser estnischen Kartoffelbarone gehört, denkt er. „Stillgestanden!" befiehlt Wolkow. „Ausrichten!" Andrej
Dobrjanski sieht, wie sich vom Gutshaus her Hauptmann Grandt zusammen mit zwei Leuten nähert. Wolkow befiehlt: „Die Augen links!" und meldet dem Hauptmann. „Sie befinden sich hier in einer Spezialschule der Abwehr", übersetzt Wolkow die Worte des Hauptmanns. „Von Ihrem Verhalten wird abhängen, wie wir uns Ihnen gegenüber verhalten. Merken Sie sich aber: Bei einem Fluchtversuch wird sofort geschossen." Dann stellt Grandt Wolkow als seinen Stellvertreter vor. Die beiden anderen bezeichnet er mit den Namen Wesjolow und Medwedjew und nennt sie künftige „Ausbildungsinstrukteure''. In den nächsten Tagen würden weitere Gruppen aus anderen Kriegsgefangenenlagern eintreffen. Dann werde mit der Ausbildung begonnen. Bis dahin seien Arbeitsdienste zu verrichten. Für die Zeit setze er Dobrjanski und Klimow als Gruppenführer ein. Dann befiehlt er den beiden, die Gruppen zu übernehmen und Wesjolow zu folgen, der sie in die Unterkünfte einweisen wird. „Als Gruppenführer steht Ihnen natürlich eine bessere Unterkunft zu", bemerkt schmeichlerisch Wesjolow, als er Dobrjanski und Klimow die Tür zu dem kleinen Zimmer öffnet. „Ich würde viel lieber mit den anderen zusammen hausen", entgegnet bissig Andrej. „Gewöhnen Sie sich gleich daran, nicht zu widersprechen. Das könnte Ihnen sehr schlecht bekommen, Herr Kapitänleutnant", antwortet drohend Wesjolow. „Denken Sie ruhig über meine Worte nach", fügt er noch mit höhnischem Unterton hinzu, als er das Zimmer verläßt. „Das ist genau so eine Kreatur wie dieser Wolkow", meint nach einer Weile Klimow. „Keine voreiligen Schlüsse. Ansonsten lerne schweigen!" warnt ihn Andrej. „Erzähle lieber Jugenderlebnisse oder spinne Seemannsgarn."
Nach dem Appell am nächsten Morgen müssen beide Gruppen im Gutspark Bäume fällen, Schützengräben ausheben und eine Hindernisbahn anlegen. Die Aufsicht hat Wesjolow. Dennoch kann es Andrej Dobrjanski so einrichten, daß er in angemessenem Abstand von ihm mit Klimow zusammentrifft. „Begreife, keine verfänglichen Gespräche im Zimmer! Wissen wir, ob die Wände nicht Ohren haben?" mahnt Andrej den Freund. „Hier sitzen wir schön in der Klemme", antwortet Klimow. „Die wollen uns zu Verrätern machen." „Ob wir zu Verrätern werden, hängt schließlich von uns ab", entgegnet Andrej. „Was soll man nur tun?" „Vor allem erst einmal vorsichtig sein. Keinen Verdacht erregen. So tun, als würden wir alles mitmachen. Vorerst Kontakt nur zu unseren Leuten. Jeder von uns muß alles genau beobachten. Mißtrauen gegen jeden und ganz besonders gegen die, die sich um unsere Zuneigung bemühen, wie dieser Wesjolow. Schärfe das auch Kolesow und Semjonow ein. Bevor wir mehr tun können, müssen wir wissen, was gespielt wird, was möglich ist und wen wir eventuell mit einbeziehen können. Habe mehr Geduld und vor allem, verliere nie die Nerven. So, und jetzt auseinander. Wesjolow scheint schon aufmerksam zu werden." Nachdem Andrej einige Männer bei der Arbeit inspiziert hat, tritt er zu -Fomenko und Malinin. Mühsam wühlen sie sich mit Hacke und Spaten in den harten Boden. Eine Weile schaut Andrej wortlos zu. Als beide auf einen großen Stein stoßen, springt er zu ihnen in den Graben und packt mit an. „Arbeitet weiter, als sei nichts", raunt er ihnen zu. „Nicht auffallen, das ist erst einmal wichtig. Zunächst nur beobachten. Nichts überstürzen. Alles, auch die scheinbaren Nebensächlichkeiten genau registrieren und merken. Jeder Fehler des einzelnen kann tödlich für uns alle
sein", schärft Andrej ihnen ein, während sie zu dritt den Stein aus dem Graben wälzen. Aufmerksam beobachtet er dabei Wesjolow, der langsam näher kommt. „Kapitänleutnant", ruft er ihm scharf zu, „als Offizier haben Sie es nicht nötig, sich selber schmutzig zu machen! Sie sind doch Gruppenführer. Teilen Sie Ihre Leute richtig ein!" Andrej steigt aus dem Graben, sieht, wie sich vom Gutshaus her Medwedjew nähert. Wollte Wesjolow ihn warnen? Einen Augenblick lang empfindet Andrej Dankbarkeit. Dann aber macht er sich selbst Vorwürfe. Den Männern predigt er Vorsicht, und er? Unmöglich ist nicht, daß Wesjolow den Auftrag hat, genauer zu beobachten, mit wem er Kontakt hält. Er war auch bei den anderen, hat mit ihnen gesprochen, ihnen Anweisungen gegeben, versucht sich Andrej zu beruhigen. Medwedjew, der inzwischen herangekommen ist, reißt Andrej aus.den Gedanken. „Dobrjanski, Hauptmann Grandt will Sie sprechen." Tadelnd fügt Medwedjew hinzu: „Aber nicht in diesem Aufzug. Gehen Sie in Ihr Zimmer und machen Sie Ihre Uniform sauber. Nehmen Sie Klimow mit. Auch ihn will der Hauptmann sehen."
Der Chef persönlich Hauptmann Grandt holt Dobrjanski und Klimow in ihrem Zimmer ab. „Der Chef, Korvettenkapitän Cellarius, möchte Sie kennenlernen. Ich hoffe, Sie wissen das zu schätzen." An der Tür zu Grandts Büro will Andrej als Dienstgradältester melden. Mühsam stottert er die ungewohnten deutschen Worte hervor. Grandt will schon einspringen, aber Cellarius winkt lässig ab. In fließendem Russisch fordert er Dobrjanski und Klimow auf, an dem kleinen Tisch Platz zu nehmen. „Ich habe Ihnen ein Angebot zu machen, das Sie vielleicht überraschen wird. Doch ich
hoffe, Sie sind sich über Ihre Situation im klaren. Ein Zurück gibt es für Sie nicht. Ihre Leute werden bald herausbekommen haben, daß Sie hier bei uns gelandet sind." Ein ironisches Lächeln überzieht sein Gesicht. „Wenn Sie schon durchkommen würden, was ich sehr bezweifle, dann würden Ihre früheren Genossen, ich darf doch so sagen, Ihre früheren Genossen mit Ihnen kurzen Prozeß machen. Und umgekehrt, wir fackeln auch nicht lange, sollten wir merken, daß Sie uns übers Ohr hauen wollen. Sie verstehen mich doch?" Dobrjanski nickt zustimmend. Klimow schaut zu Boden. Noch ein paar Sekunden läßt Cellarius seine Worte wirken. „Nun zu meinem Angebot." Er sagt es in einem Ton, als seien beide schon Jahre mit ihm bekannt. „Unsere künftigen Aufgaben verlangen einige tüchtige Seeleute, die auch mit schwierigen Dingen fertig werden. Die meisten Kursusteilnehmer sind nie zur See gefahren. Auch die Instrukteure haben keine seemännische Ausbildung. Deshalb will ich Sie als Ausbilder einsetzen. Sie, Dobrjanski, werden Navigation unterrichten und später vielleicht noch Bootstechnik. Und Sie", er zeigt auf Klimow, „übernehmen den anderen Kram, den ein Seemann so noch braucht. Zunächst beginnen wir mit Theorie. In ein paar Tagen werden auch die Boote da sein; dann auch praktisch." Cellanus muß lächeln, als er die verwunderten Gesichter der beiden sieht. „Ach so, Sie wissen ja noch gar nicht, daß wir das Wasser hier sozusagen vor der Haustür haben. Sie werden bald genug Gelegenheit bekommen, wieder Salzwasser zu schmecken. Einverstanden mit meinem Angebot?" Deutlich ist zu hören, daß Cellarius die Frage nur rethorisch stellt. „Vielleicht könnte ich Ihnen bei einer späteren Arbeit hinter den Frontlinien nützlicher sein", wendet zögernd Dobrjanski ein.
„Hier bestimme ich!" schneidet ihm Cellarius kategorisch das Wort ab. Grandt steht auf. Dobrjanski und Klimow verstehen das als Zeichen, daß damit die Unterredung beendet ist. „Noch eine Kleinigkeit", bemerkt Cellarius. „Ihren richtigen Namen braucht nicht jeder zu wissen. Nennen Sie sich von nun an Dubrowski", Cellarius zeigt dabei auf Dobrjanski und dann auf Klimow, „und Sie sich Klementow." „Zu Befehl!" antworten wie aus einem Mund Dobrjanski und Klimow. An der Tür stellen sie sich noch einmal auf, schlagen die Hacken knallend zusammen, so wie es ihnen Wolkow vor dem Morgenappell beigebracht hat, und treten ab. Wenige Tage später, eine weitere Gruppe Gefangener von etwa fünfzehn Mann war am Vortage in Keila-Jua angekommen, beginnt die Ausbildung. Lautloses Heranschleichen an Posten, Nahkampf, Überwinden von Hindernissen bestimmen das Ausbildungsprogramm. Die sogenannte Grundausbildung leitet Wolkow. Wesjolow unterrichtet in Topographie und Orientierung in unbekanntem Gelände. Zwölf Stunden Ausbildung täglich, an der Dobrjanski und Klimow ebenso teilnehmen müssen. So vergehen die ersten Tage. Abermals steht Nahkampfausbildung bei Wolkow auf dem Plan. Auf Klimow scheint er es besonders abgesehen zu haben. Stets hat Wolkow etwas an dem „Marinehengst", wie er Klimow nennt, auszusetzen, der sich angeblich auf dem Lande „nicht ordentlich fortbewegen kann". Als Klimow schließlich beim Herankriechen an den Posten, den Malinin imitiert, sich etwas ungeschickt vorwärtsbewegt, tritt Wolkow Klimow mit dem Stiefel in das Gesäß. Blitzartig springt Klimow auf, schlägt auf Wolkow ein und schreit: „Ein Schwein bist du! Ein Verräter! Niemals werde ich so ein Verräter wie du. Nie werde ich für die Faschisten
arbeiten. Ich habe gegen sie gekämpft und sie bleiben meine Feinde..." Hauptmann Grandt hat vom Gutshaus aus den Vorgang beobachtet. Mit einer Gruppe von Wachsoldaten kommt er angerannt. Mit vorgehaltener Waffe führen sie. Klimow ab. Wie gebannt stehen die Männer. Andrej spürt, wie er kreidebleich wird. Er sieht auch die fragenden Blicke der anderen Männer. Am liebsten würden sie sich auf Grandt, Wolkow und die Wachsoldaten stürzen. Vor allem Pawel Kolesow kann den Zorn und die Erschütterung kaum noch verbergen. Scharf schaut ihn Andrej an, fordert ihn mit den Augen auf, Ruhe zu bewahren. Hauptmann Grandt bricht die Ausbildung ab und verfügt Hausarrest für den gesamten Lehrgang. Beim Einrücken kann Andrej noch Fomenko beauftragen, daß die Genossen der nun schon seit Wochen bestehenden illegalen Widerstandsgruppe zunächst auf alle Verbindungen untereinander zu verzichten haben. Grandts Leute sollen bei weiteren Untersuchungen auf keinen Fall Verdacht schöpfen. Noch am selben Tag wird Klimow mit einem Fahrzeug fortgeschafft.
Bange Stunden Näher kommen die Schritte. Laut hallt es durch den leeren Korridor, wenn die Stiefel hart aufgesetzt werden. Wenige Schritte nur noch, dann werden sie vor seinem Zimmer sein. Angespannt lauscht Andrej Dobrjanski, blickt in die Richtung, wo sich in der Dunkelheit nur undeutlich die Umrisse der Tür abzeichnen. Werden sie dort stehenbleiben? Jeden Augenblick können sie die Tür aufreißen, ihn auffordern, sich anzukleiden und zum Verhör mitzukommen. Die Männer poltern an seiner Tür vorbei. Langsam entfernen sich die Schritte wieder. Vielleicht holen sie zuerst einen anderen, Malinin, Fomenko oder Kolesow? Andrej verfolgt jedes Geräusch. Am Ende des Korridors wird eine Tür geöffnet und wieder geschlossen. Bald
ist Ruhe. Es waren nur die Posten, beruhigt sich Andrej, die gerade abgelöst wurden. Die ganze Nacht kann Andrej kein Auge schließen. Wohin haben sie Klimow gebracht? Lebt er überhaupt noch? Wie geht es nun weiter? Wann werden sie ihn selbst zum Verhör holen? Jedes Geräusch läßt Andrej aufschrecken. Dutzendemal stellt er sich die Vernehmung vor, überlegt sich die Fragen, die Grandt oder Wolkow oder ein anderer stellen könnte, und wie er darauf antworten würde. Nichts dergleichen geschieht. Gegen Morgen schläft Andrej für kurze Zeit ein. Doch er ist bereits wieder wach, bevor zum Wecken gepfiffen wird. Auch der nächste Morgen beginnt in Keila-Jua wie jeder bisherige Tag. Wecken, Waschen, Frühstück — so als sei nichts geschehen. Nur beim Morgenappell sind die Ausbilder aufgeregter als sonst. Medwedjew rennt nervös und planlos umher. Selbst Wesjolow, sonst ausgeglichen, die Ruhe in Person, schreit die Leute unmotiviert an. Fomenko stößt er mit dem Stiefel gegen die Fußspitzen, weil er sich angeblich nicht genau ausgerichtet hat. Unmittelbar nach der Meldung an ihn, verliest Hauptmann Grandt einen Befehl von Cellarius. Wegen Ungehorsams, Auflehnung gegen Vorgesetzte und des Versuchs, die Organe der deutschen Wehrmacht zu hintergehen, sei Leutnant Klimow zum Tode durch Erschießen verurteilt worden. „Das Urteil wurde sofort vollstreckt", liest Grandt besonders langsam und betont laut vor. In Andrejs Erinnerung tauchen die Bilder jener Erschießung in Südfinnland wieder auf, kurz bevor er zu dem ersten Gespräch mit Grandt vorgeführt wurde. Nur im Unterbewußtsein nimmt er die Drohung des Hauptmanns auf, daß der Fall des Leutnant Klimow eine eindeutige Warnung sei. Sie möge allen anderen dazu dienen, endgültig zu begreifen, daß sich weder er noch Korvettenkapitän Cellarius scheuen, mit allen kurzen Prozeß zu machen, die glauben, Keila-Jua sei ein Sprungbrett zur Flucht.
Nach dem Appell wird die Ausbildung fortgesetzt. Dobrjanski hat in Navigation zu unterrichten. Für die Spezialausbildung ist nur ein Teil der Lehrgangsteilnehmer ausgewählt worden. Alle Matrosen, die zusammen mit Andrej nach Keila-Jua gekommen waren, sind darunter. Auch unter den später hinzugekommenen Gefangenen befinden sich ehemalige Matrosen der sowjetischen Flotte. Andrej, durch die schlaflose Nacht übermüdet, muß seine ganze Energie zusammennehmen. Jedesmal, wenn sein Blick sich mit dem eines der langjährigen Kampfgefährten kreuzt, wird es ihm noch schwerer. Wesjolow nimmt als einziger von den übrigen Ausbildern an dem Unterricht teil. Er macht jetzt einen völlig ungerührten Eindruck. Hin und wieder nickt er Dobrjanski aufmunternd zu, als wollte er ihm sagen: Mach weiter so, du bringst die Sache schon über die Runden. Als der Unterricht vorbei ist, kommt es Andrej vor, als sei ihm ein Mühlstein von der Brust genommen worden.
Erster Treff „Habe nichts Verdächtiges bemerkt. Grandt soll heute noch in Tallinn bleiben. Medwedjew kam vorhin vorbei, hat sich aber inzwischen auch zurückgezogen." Leise sagt es Pawel Kolesow. „Wie lange hast du Wache?" vergewissert sich Andrej Dobrjanski. „Wie üblich, bis zehn Uhr. Geht aber lieber etwas früher auseinander." „Wird gemacht", antwortet Andrej. „Zeichen wie vereinbart." „Alles klar." Andrej wird in dem kleinen Zimmer schon erwartet. Fomenko und Witschik kontrollieren die Verdunklung am Fenster. Malinin steht, als wage er sich nicht zu setzen. Es wurde endlich Zeit, daß wir einmal zusammenkamen,
denkt Andrej. Das lange, untätige Warten zehrt an den Nerven der Männer. Nach der Verhaftung von Klimow hat sich die Gruppe strikt an meine Weisung gehalten. Über Wochen wurden alle gegenseitigen Kontakte, sofern sie sich nicht zufällig bei der Ausbildung ergaben, vermieden. Vorsichtig knüpfte ich dann mit einzelnen Mitgliedern der Gruppe die Fäden wieder, gab Hinweise und Aufträge zur Beobachtung der Ausbilder und Mitgefangenen. Endlich kommt auch Semjonow. Zuerst berichtet Fomenko, was er über Wolkow herausgefunden hat: „Sein richtiger Name ist Chalapsin oder so ähnlich. Gleich zu Beginn des Krieges lief er zu den Faschisten über. Offensichtlich stand er schon vorher mit ihnen in Verbindung. Jedenfalls scheint er der engste Vertraute von Hauptmann Grandt zu sein!" Andrej kann das bestätigen. Während sich Grandt auch den anderen Ausbildern gegenüber sehr reserviert verhält, läßt er deutlich spüren, daß er in Wolkow einen Gleichgesinnten sieht. Über Medwedjew konnte niemand etwas erfahren. Übereinstimmend meinen sie, Medwedjew bemühe sich durch besondere Kriecherei um die Gunst von Grandt. „Auch Wesjolow versucht, sich bei jeder Gelegenheit vor Grandt hervorzutun", stellt Andrej fest. Die Meinungen über Wesjolow gehen auseinander. Mehrfach habe Wesjolow versucht, sehr vorsichtig und zurückhaltend, Kontakt mit einigen der Männer zu bekommen. „Sein eigentlicher Name sei Solomachin, und er wäre Leutnant bei der Infanterie gewesen, hat er einmal zu mir gesagt", berichtet Malinin. „Und wie hast du dich verhalten?", fragt erregt Dobrjanski. „Ich habe getan, als interessiere mich das nicht." „Ich habe fast das Gefühl, er ist einer von uns", bemerkt Fomenko. „Gefühle können oft täuschen, und in unserer Lage können wir uns auf Gefühle erst recht nicht verlassen", entgegnet scharf Dobrjanski. „Wenn es eine Falle ist? Er ist
geschickter als die anderen, kann sich jeder Situation gut anpassen. Vielleicht soll er uns zur Unvorsichtigkeit verleiten. Vielleicht täuschen wir uns auch. Mehr Vorsicht ist auf alle Fälle besser als zuwenig." Die Genossen pflichten ihm bei. „Beobachten wir den Mann besonders. Keinesfalls dürfen wir ihm aber Anhaltspunkte geben'', entscheidet Andrej. Schließlich unterrichtet Dobrjanski die Männer über Hauptmann Grandt. „Er ist langjähriger Mitarbeiter der faschistischen Abwehr. Gelegentlich rühmt er sich ein ,alter Brandenburger' zu sein, einer von jener Truppe des Admirals, aus der die Diversanten- und Terroristenbanden kommen, die die Faschisten in vielen Ländern hinter der Front einsetzen. Abenteurer aus allen Ländern der Welt gehören zu dieser Spezialeinheit. Sie sind äußerst brutal und verschlagen. Ausgebildet sind sie in allen Varianten des Terrorismus, sie beherrschen oft mehrere Fremdsprachen. Es ist besser, man kennt seinen Feind genau, dann ist man vorsichtiger." Die Genossen analysieren anschließend das Verhalten ihrer Mitgefangenen und das der Faschisten in den letzten Tagen. Haß und verstärktes Mißtrauen bestimmten das Verhalten vieler Gefangenen nach dem Appell, bei dem die Ermordung Leutnant Klimows mitgeteilt worden war. Einige zwangen sich, gleichgültig und unbeteiligt zu erscheinen. Ein paar der Männer scheinen zu ahnen, daß eine illegale Gruppe existiert, sind aber enttäuscht über das Mißtrauen ihnen gegenüber. Andrej schlägt vor, mit den Gefangenen Tschekalin, Grigorjew, Lawrenjuk und Atanow vorsichtig Kontakt aufzunehmen. Witschik und Semjonow werden damit beauftragt. „Zunächst nur persönliche Kontakte knüpfen", weist Dobrjanski an. „Jeder Neue darf vorerst nur einen Verbindungsmann der Gruppe kennen." Schließlich
unterrichtet Andrej die anderen Mitglieder der Leitung der illegalen Gruppe davon, daß er von Grandt die Anweisung erhalten hat, die Seeausbildung jetzt an kleinen Sturmbooten fortzusetzen. „Alles deutet darauf hin, daß bald die erste Aktion beginnen wird. Offensichtlich soll von uns ein Stützpunkt der Operativen Gruppe Küste unserer Armee überraschend überrumpelt werden." „Das ist doch eine Gelegenheit", bricht Fomenko das Schweigen, das Andrejs Mitteilung ausgelöst hatte. „Das Wichtigste ist, wir verteilen unsere Kräfte richtig auf die Boote. Kurz vor dem Anlanden nehmen wir die beteiligten Faschisten und ihre Helfer fest und stellen uns unseren Leuten." „Ganz so leicht wird es uns der Grandt nicht machen", wendet Malinin ein. „Der Plan ist mir zu unsicher. Außerdem wissen wir noch zu wenig, wer von den anderen mitmacht, und wir selbst sind dazu noch zu schwach." „Der Meinung bin ich auch", sagt Dobrjanski. „Es wird eine Schießerei geben. Woher sollen unsere Küstenwachen wissen, was da wirklich vorgeht. Sie werden einen Anschlag vermuten und ein Höllenfeuer loslassen, das keiner von uns überlebt." „Das ist eben unser Dilemma, daß wir keinerlei Verbindung zu unseren Genossen haben", klagt Witschik. „Wenn wir ihnen rechtzeitig ein Signal geben könnten, wären sie wenigstens gewarnt, und wir könnten einen Fluchtversuch eher riskieren." „Euer Wenn und Aber hilft uns nicht weiter", beendet Andrej die kurze Beratung. „Wir müssen einen Weg finden, die Sache so anzustellen, daß sie ein Mißerfolg wird und dennoch kein Verdacht auf uns fällt. Wie wir das machen können, weiß ich auch noch nicht. Jeder sollte gründlich darüber nachdenken. Festlegungen treffen wir bei unserer nächsten Zusammenkunft." Einzeln verlassen die Männer das
Zimmer. Fomenko geht als erster, um rechtzeitig warnen zu können. Ihm folgt bald Dobrjanski. „Noch alles in Ordnung", sagt Pawel Kolesow, als Andrej ihm mit einem herzlichen Händedruck für die Sicherung des Treffs dankt.
Unternehmen „Leuchtturm von Schepelewo" Anfang des Jahres 1943 wird Dobrjanski plötzlich nach Berlin gebracht. Das Reichssicherheitshauptamt interessiert sich für ihn. Andrej merkt bald, daß man ihm größere Aufgaben der Spionage übertragen will. Er richtet sich so darauf ein, den Anforderungen, die an ihn gestellt werden, nicht zu genügen. Er wird mehrmals verhört. Und ein paar Tage kann er sich in Berlin „völlig frei" bewegen. Das nutzt Andrej gründlich aus; er besucht Museen, wird im Ufa-Palast von einem Fliegeralarm überrascht, lernt das Leben im Luftschutzkeller kennen. Die Beamten Himmlers organisieren scheinbar zufällige Begegnungen mit weißgardistischen Wlassow-Offizieren. Da Andrej aber weiß, was man mit ihm vorhat, weicht er allen Anbiederungen geschickt und unauffällig aus. Das hat zur Folge, daß Dobrjanski wieder nach Keila-Jua gebracht wird. In der Zwischenzeit aber hat die illegale Organisation unter der Leitung Genossen Malinins die ersten Aktionen sabotieren können. Voller Stolz berichtet Malinin Dobrjanski. „Einige konnten fliehen. Wir hatten es geschickt angestellt. Es kam nichts heraus. Aber unsere Losung ,Die Rose blüht' wird bald die Tscheka wissen. Dann sind wir nicht mehr so isoliert. Alle Kriegsgefangenen wurden unter Hausarrest gestellt und mehrmals hart verhört. Doch bald begann wieder die Ausbildung. Die Faschisten fanden nichts." Nach einigen Tagen muß Dobrjanski wieder Navigation unterrichten. Einige Wochen später wird, da die See eisfrei ist, das Training in den kleinen, schnellen Sturmbooten fortgesetzt.
Kaum hatte der April begonnen die Schneemassen wegzutauen, erscheint Cellarius in Keila-Jua. Dobrjanski wird in Grandts Dienstzimmer befohlen. Als er eintritt, sieht er neben Cellarius Grandt, Wolkow und Wesjolow. Der Korvettenkapitän läßt sich von Dobrjanski berichten, wie er die seemännische Ausbildung der Agenten einschätze. Dobrjanski berichtet ziemlich optimistisch, daß der Stand seines Teils der seemännischen Ausbildung gut sei. Cellarius wendet sich darauf an die drei anderen. „Das heißt also, wir könnten ein größeres Unternehmen wagen?" Dabei blickt er besonders Hauptmann Grandt herausfordernd an. Die drei stimmen zu. „Sie, Wolkow, sind verantwortlich dafür, daß die Boote rechtzeitig an den vereinbarten Ort gebracht werden", befiehlt Cellarius, während er eine große Karte auf dem Arbeitstisch ausrollt. „Wir sind wieder mal die letzte Rettung", bemerkt der Korvettenkapitän sehr arrogant. Er zeigt auf die Markierung einer schmalen Landzunge, die sich weit in die See hinausschiebt. Der Leuchtturm von Schepelewo, schießt es Andrej durch den Kopf. Darauf also haben sie es abgesehen! „Die Halbinsel macht unseren Truppen sehr zu schaffen", erläutert Cellarius. „Von da aus ist die Zufahrt nach Kronstadt gut zu überwachen. Die dort stationierten sowjetischen Küstenbatterien haben bisher jeden Versuch unserer Marine verhindert, in die Petersburger Bucht vorzudringen. Mehrfach haben Stoßtrupps von Land aus versucht, zu der Halbinsel vorzustoßen. Vergeblich. Von Land aus sind die Küstenbatterien nicht zu knacken. Verwundbar sind sie nur von See aus, und zwar durch einen überraschenden Angriff." Cellarius macht eine kurze Pause. „Vor allem kommt es darauf an, schnell und unbemerkt die Landspitze am Leuchtturm abzuschneiden und im
Handstreich die Wachen und Bedienungen der Küstenbatterien zu überrumpeln. Sind wir erst einmal bis an ihre Stellungen heran, dann werden unsere sowjetischen Uniformen die Wachen unsicher machen. Ihre Verwirrung muß mit einkalkuliert und genutzt werden. Hauptaufgabe ist, die Geschütze zu sprengen. Danach können wir uns zurückziehen. Den Rest besorgen dann andere..." Es wird ernst, denkt Andrej, und wir haben noch immer keine Verbindung mit unseren Genossen! Cellarius stellt sich das alles so einfach vor, denkt Hauptmann Grandt. Zaghaft fragt er: „Welche Informationen gibt es über die Stärke und Bewaffnung der sowjetischen Sicherungskräfte?" „Widersprüchliche", antwortet Cellarius lächelnd. „Ich weiß, die Aufgabe ist nicht leicht. Es wird eine echte Bewährungsprobe. Machen Sie sich gründlich mit der Aufgabe vertraut. Bereiten Sie sich sorgfältig vor. Sie haben noch über zwei Tage Zeit." Andrej hat mit Befriedigung Grandts Unsicherheit bemerkt. Vielleicht kann er das nutzen. Immerhin sind unter den Mitgliedern seiner Gruppe die besten Bootsführer. Am darauffolgenden Abend fahren auf den Gutshof von Keila-Jua zwei LKW. Dreißig Männer steigen auf, unter ihnen Dobrjanski, Fomenko, Witschik, Malinin und Atanow. Pawel Kolesow konnte, so war es ausgemacht worden, eine Krankheit vortäuschen und nimmt deshalb nicht an der Aktion teil. „Für alle Fälle", hatte Andrej mit Nachdruck bei der kurzen Beratung der Leitung der Gruppe gesagt. „Geht etwas schief, dann muß jemand dasein, der den Rest der Gruppe weiterführen kann." Hauptmann Grandt und Wesjolow steigen zu den Fahrern in die Kabinen. Die See ist ruhig, fast Windstille, kaum Dünung. Die Aprilsonne wärmt schon ein wenig. „Das Wetter dürfte
heute abend günstig sein, obwohl es um diese Jahreszeit launisch ist," meint Andrej. Hauptmann Grandt nickt bestätigend. Ein Wort mehr könnte der auch sagen, denkt Dobrjanski. Überhaupt, warum läßt ihn Cellarius bei diesem Einsatz selbst mitfahren? Das Unternehmen ist doch recht riskant. Offensichtlich traut der Korvettenkapitän den anderen, Wesjolow, Wolkow und Medwedjew, auch noch nicht ganz über den Weg. Wahrscheinlich soll er uns noch genauer prüfen. Auf alle Fälle müssen wir vorsichtig sein! Inzwischen sind sie bei einem Boot angelangt. Der Bootsführer meldet. Hauptmann Grandt beobachtet, wie Dobrjanski den Motor überprüft, die Treibstoffbehälter öffnen läßt, die Steuerung probiert. Grandt will schon weitergehen. Dobrjanski ist aber noch nicht zufrieden, gibt dem Bootsführer noch ein paar Anweisungen. Mit den Booten kennt er sich aus, denkt der Hauptmann. Nun ist er doch froh, daß Cellarius befohlen hat, für den heiklen Auftrag Dobrjanski mit einzuspannen. Zuerst hat er sich gewundert, warum er solchen Wert auf diesen Dobrjanski legte. Vielleicht sollte er den Rat von Cellarius doch ernster nehmen und Dobrjanski etwas mehr an sich heranziehen. Natürlich, er ist Russe wie die meisten in den Booten. Doch er ist ein erfahrener Seemann. Er wird solch einen Mann künftig als Partner brauchen, er, die ewige Landratte, die sich lieber an das Infanteristenwort gehalten hätte: „Meide das Wasser, denn es hat keine Balken." Immer weniger beachtet Grandt die Vorgänge während der Bootskontrollen. Schließlich ist das Sache von Dobrjanski. An der Technik liegt es bestimmt nicht, wenn heute nacht nicht alles nach Plan läuft. Davon hat dieser Kontrollgang mit Dobrjanski den Hauptmann überzeugt. Grandt legt sich in Gedanken inzwischen die Worte zurecht,
mit denen er die Männer in ihre Aufgaben einweisen wird. Jeder hat dafür zu sorgen, daß wir unbemerkt an die Halbinsel herankommen. Das wird er besonders betonen. Vom Überraschungsmoment hängt schließlich alles ab. Grandt klingt die Mahnung des Korvettenkapitäns noch deutlich in den Ohren. .„Behalten Sie die Russen gut im Auge. Es ist ihr erster Einsatz. Keiner von uns kann in den Kerlen stecken. Wenn nötig, knallen Sie einfach einen nieder. Das schreckt ab." Auch die eingeteilte Gefechtsordnung der Boote sowie die einzelnen Besatzungen überdenkt Grandt noch einmal. Es bleibt am besten doch so, wie es ihm Cellarius empfohlen hat. Dobrjanski, neben Wesjolow offensichtlich der verläßlichste unter den an der Aktion beteiligten Kriegsgefangenen, soll das Sturmboot führen, das am dichtesten unter Land fährt. Er selbst wird mit dem Schnellboot weit draußen bleiben. Von da aus kann er am besten verhindern, daß nicht eines der Boote versucht, in Richtung offene See zu fliehen... Fast eine Stunde sind die zehn Sturmboote im Schlepp des Schnellbootes „Ostland" durch die Nacht gefahren. „Maschinen stopp", befiehlt Grandt. Langsam verringert die „Ostland" ihre Fahrt. Der festgelegte Punkt „Elba" ist erreicht. Die Männer bringen die Sturmboote an die „Ostland" heran. Bei der schwachen Dünung fällt es ihnen nicht schwer, die Boote aneinander festzumachen. Leichter Nebel ist aufgezogen. Das bewaldete Ufer ist nur zu vermuten. Um ganz sicher zu gehen, schickt Grandt ein Boot aus, das am Ufer die festgelegten Orientierungspunkte ausmachen soll; eine Steilküste, die plötzlich abbricht und in ein bewaldetes Dünenufer ausläuft. Wesjolow fährt mit dem Boot mit. Bis zur Rückkehr des Bootes gibt der Hauptmann noch ein paar Verhaltensregeln. Zwei, drei
Meilen nur, dann ist die Ausgangsposition erreicht. Grandt befiehlt, in Gefechtsordnung zu fahren. Für den weiteren Verlauf wird jede Besatzung selbständig handeln. In knapp vierzig Minuten wird der Punkt „Berta" erreicht sein, von dem aus der unmittelbare Angriff auf die Landzunge beginnen soll. Das Signal, grüne Blinkzeichen, wird er selbst geben. Es ist von Boot zu Boot weiterzusignalisieren. Jede Bootsbesatzung hat dafür zu sorgen, daß die nötige Verbindung zum rechten und zum linken Nachbarn gewahrt bleibt. Nach ein paar Minuten kehrt das zur Aufklärung ausgeschickte Boot zurück. Der festgelegte Ausgangspunkt sei lediglich um knapp 300 Meter verfehlt worden, meldet Wesjolow. Grandt befiehlt, sofort aufzubrechen. Etwa zwanzig Minuten sind die Boote gefahren, als plötzlich in Ufernähe eine weiße Leuchtkugel hochsteigt. Sekundenlang taucht sie die See in milchiges Licht. Selbst für die Besatzungen, die am Flügel zur offenen See fahren, ist ihr Widerschein noch zu sehen. Sofort drosseln sie die Motoren. Die Boote aber, die am dichtesten unter Land fahren, nehmen Kurs auf die offene See. Einige hundert Meter gewinnen sie immerhin, bevor der erste Lichtfinger eines Scheinwerfers die See abtastet. Weitere Scheinwerfer flammen auf. Ab und zu erhascht ihr Licht für Sekunden eines der Fahrzeuge. Die Bootsführer lassen die kleinen wendigen Boote Haken schlagen. Bald bellen die ersten Geschütze los. Die Boote sind inzwischen weit genug vom Ufer entfernt. Eine Weile noch tasten die Finger der Scheinwerfer die See ab. Der leichte Nebel schluckt ihr Licht. Bald stellen die Geschütze das Feuer ein. Weit sind die Boote hinausgefahren. Andrej läßt den Motor stoppen. Auch die
Fahrzeuge, die ihm gefolgt sind, treiben jetzt ruhig dahin. Mühsam versuchen sie, dichter zusammenzukommen. Der Wind ist stärker geworden. Vier Boote sind es insgesamt, genau wie vereinbart, stellt Andrej fest. Fomenko scheint es gelungen zu sein, die Kette zu den vier Fahrzeugen abreißen zu lassen und mit dem ihm benachbarten eine andere Fluchtrichtung einzuschlagen. Weiter draußen vernehmen die Männer Motorengeräusche. Auf Dobrjanskis Befehl lassen die Bootsführer wieder die Motoren an, um sie kurz darauf wieder zu drosseln. Im Dunkel tauchen die Umrisse der „Ostland" auf. Andrej gibt mit der Taschenlampe rote Blinkzeichen. Das Signal wird von dort erwidert. Langsam rudern die Männer an das Schnellboot heran. Zwei weitere Boote hat die „Ostland" bereits im Schlepp. Grandt befiehlt Dobrjanski, an Bord des Schnellbootes zu kommen. Andrej erwartet, daß der Hauptmann herumschreit und von ihm einen Bericht über das Geschehen erwartet, das in Ufernähe vor sich gegangen ist. Jedes Wort der Entgegnung hat sich Andrej bereits überlegt. Grandt aber interessieren vorerst nur die noch fehlenden vier Boote. Dobrjanski schlägt ihm vor, mehrmals in kurzer Folge und für Sekunden nur die Motoren anzulassen. Als sich nichts regt, wiederholen sie nach einer kurzen Pause das Manöver. Plötzlich stößt Dobrjanski Hauptmann Grandt heftig an. Sogleich entschuldigt er sich für sein ungehöriges Verhalten. Aufgeregt weist er nach vorn, wo er schwache Lichtzeichen ausgemacht hat. Grandt erwidert die Signale. Wenige Minuten sind weitere drei Boote gefunden. Das fehlende zehnte Boot sei während der Flucht gekentert. Zwei Mann der Besatzung konnten gerettet werden. „Der Matrose Akimow ist offensichtlich ertrunken. Jegliche Suche nach ihm war vergeblich", meldet Fomenko.
Ungerührt nimmt Grandt die Nachricht entgegen. Andrej krampft sich das Herz zusammen. Wieder hat er einen Mann seiner illegalen Gruppe verloren. Grandt, Wesjolow und Dobrjanski beraten, ob sie die Aktion fortsetzen oder abbrechen sollen. Wesjolow rät zum Abbruch. „Durch den Zwischenfall sind die Küstenwachen alarmiert. Bestimmt ist die Meldung an die gesamte Küstenverteidigung weitergegeben worden." „Wenn wir einige Meilen weiter ostwärts fahren, und dann von hinten angreifen, so als kämen wir von Kronstadt her, könnten wir vielleicht die Küstenwachen täuschen", schlägt Dobrjanski vor. Grandt gefällt der Plan. Das Schnellboot nimmt die kleinen Sturmboote wieder in Schlepp. Kaum hat sich die kleine Flottille in Bewegung gesetzt, als aus den Sturmbooten erregte Lichtsignale gegeben werden. Grandt läßt die „Ostland" stoppen. Aus den Booten kommt die Nachricht, daß ein weiteres Sturmboot gekentert sei. Mit Mühe und Not werden die drei Besatzungsmitglieder aufgefischt. Der Wind ist stärker geworden. Die leichten Boote werden von den Wellen heftig hin und her geschüttelt. „Unter den Bedingungen ist es sehr wahrscheinlich, daß nur ein kleiner Teil der Männer mit den Booten das Ufer erreicht. Ob wir dann noch die bereits alarmierten Küstenwachen überwältigen können, ist sehr fraglich", gibt Wesjolow zu bedenken. „Wird der Wind nachlassen?" fragt Grandt mürrisch Dobrjanski. „Eher wird er noch stärker. Solange wir genügend vom Ufer weg sind, mag es noch gehen. Durch die Brandung aber wird kaum ein Boot heil kommen." „Also Rückkehr?" „Das müssen Sie entscheiden." Resignierend gibt Hauptmann Grandt den Befehl zur Umkehr. Während der Rückfahrt überdenkt Andrej
nochmals die letzten Stunden. Als Malinin die Leuchtkugel abschoß, hatte er das Boot weit genug unter Land geführt. Beide Boote hatten zuvor rechtzeitig die Positionen vertauscht. Gemeinsam mit Semjonow, der das nächstgelegene Boot führte, hatten sie die anderen Boote etwas weiter nach draußen gedrängt. In den drei Booten waren nur Mitglieder seiner Gruppe. Der einzige Unsicherheitsfaktor war im vierten Boot, dem Boot von Witschik. Hier fuhr Schtapow mit. Er konnte vor der Aktion nicht genügend überprüft werden. Bei Fomenko im fünften Boot waren abermals nur verläßliche Leute. Die anderen dürften weit genug draußen auf See gewesen sein. Diese Besatzungen konnten bestimmt nicht mehr genau ausmachen, ob die Leuchtkugel von See oder der Küste hochstieg. Der Gefahrenpunkt bleibt also Schtapow, ein etwas undurchsichtiger Bursche. Gibt sich immer etwas leichtfertig, so als sei ihm das Leben gleichgültig. Ist es Maske? Ist er ein Abenteurertyp? Malinin und Witschik müssen ihn genau unter Kontrolle behalten. Notfalls muß ihn die Gruppe ausschalten. Schon der Gedanke daran erschreckt Andrej. Dennoch, bevor die ganze Gruppe auffliegt! Cellarius und Grandt würde es nichts ausmachen, alle umzubringen, die an der Aktion beteiligt waren. Der geringste Verdacht genügt ihnen. Wenn wir zurück sind, wird sowieso der Teufel los sein.
Wesjolow verschwindet Cellarius ist schon in Keila-Jua, als die total zermürbten Männer wieder im Lager ankommen. Sofort verfügt er Hausarrest für alle an der Aktion Beteiligten. Auch am nächsten Tag unterbleibt jegliche Ausbildung außerhalb des Objekts. Ansonsten spüren die Männer die Wut des Korvettenkapitäns über die mißglückte Aktion nur an dem
hysterischen Geschrei Hauptmann Grandts. Offensichtlich hat ihm Cellarius heftig die Meinung gesagt. Stündlich wartet Andrej darauf, zu einer Vernehmung geholt zu werden. Doch die einzigen, die mehrfach zum Verhör befohlen werden, sind Fomenko und die beiden anderen Männer seines Bootes. Andrej hatte schon vor Beginn der Aktion angeordnet, daß nach der Rückkehr zunächst nur die allernotwendigsten Verbindungen zwischen den Mitgliedern der Gruppe unterhalten werden sollten. Trotzdem kann ihm Fomenko übermitteln lassen, daß Cellarius und Grandt bei den Verhören vor allen eine Frage immer wieder interessiert: Ob es absolut sicher sei, daß der verschollene Matrose Akimow beim Kentern seines Bootes ertrunken ist oder ob er die Gelegenheit herbeiführen konnte, zum Ufer zu schwimmen. Witschik teilt Andrej mit, daß sie nichts Verdächtiges bei Schtapow festgestellt haben. Er wurde weder zum Verhör geholt, noch konnte er anderweitig mit einem der Ausbilder in Kontakt treten. Malinin möchte Schtapow etwas genauer auf den Zahn fühlen. Andrej gibt die Einwilligung dazu mit dem Vorbehalt, daß Schtapow zunächst als einzigen Kontaktmann Malinin kennen darf. Von Pawel Kolesow erfährt Dobrjanski, daß in Keila-Jua eine Funkstation eingerichtet werden soll, um sich in das sowjetische Funknetz einzuschalten, Gespräche mitzuhören und durch das Senden fingierter Anweisungen und anderer Falschinformationen Verwirrung zu stiften. Kolesow, der bereits auf dem Torpedoschnellboot von Dobrjanski als Bordfunker tätig war, soll dazu in den nächsten Tagen zu einem Speziallehrgang an einer anderen Agentenschule der Abwehrnebenstelle Reval, vermutlich nach Letse, abkommandiert werden.
Nach reichlich einer Woche wird die Ausgangssperre wieder aufgehoben. Die Seeausbildung auf den Booten wird wieder aufgenommen. „Jetzt erst recht keine Unvorsichtigkeit", befiehlt Andrej seinen Genossen. „Offensichtlich haben Cellarius und Grandt keine Spur gefunden." Vielleicht, so denkt er, verdächtigen sie ein paar von uns, wollen aber die ganze Gruppe aufspüren. Möglich, daß sie uns in Sicherheit wiegen wollen, damit wir Fehler machen. „Übermittle allen über die Kontaktmänner", sagt Andrej zu Semjonow, „daß wir zunächst das Wichtigste erreicht haben. Der Anschlag auf die Küstenbatterien ist vereitelt worden. Außerdem haben wir Zeit gewonnen. Nach dem Mißerfolg wagen sie nicht sofort wieder eine derartige Aktion. Die Tage werden länger. Bald beginnen die weißen Nächte, da werden sie sich hüten, weitere Anschläge zu starten. Vor August oder September ist also an eine ähnliche Aktion nicht zu denken." Wenige Tage später ist Andrej mit den für Seeaktionen ausgewählten Leuten wieder beim Bootstraining. Plötzlich taucht auf der Lichtung vor dem kleinen Hafen ein LKW auf. Aus der Fahrerkabine springt Wolkow. Er übermittelt Dobrjanski den Befehl Grandts, sofort die Ausbildung abzubrechen und mit den Leuten in das Lager zurückzukehren. „Was ist los?" fragt Dobrjanski. „Stellen Sie nicht immer überflüssige Fragen! Führen Sie den Befehl aus!" fährt ihn Wolkow barsch an. „Ausgangssperre", ruft ihm Medwedjew zu, als Dobrjanski mit den Männern auf dem Gutshof eintrifft. „Sorgen Sie dafür, daß die Leute hier nicht herumlaufen. Schicken Sie sie auf ihre Zimmer", schreit Grandt Dobrjanski an. „Weitere Befehle werden Sie noch erhalten!" Auf dem Weg zu seinem Zimmer kann Andrej feststellen,
daß sich einige unbekannte faschistische Offiziere im Zimmer von Wesjolow zu schaffen machen. Im Lager herrscht Panikstimmung. Was könnte geschehen sein? fragt sich Andrej, während er sich in sein Zimmer zurückzieht. Vor drei Tagen ist Wesjolow mit Pawel Kolesow und einem weiteren, ihm nicht näher bekannten Gefangenen losgefahren. Er sollte die beiden nach Letse zur Funkerausbildung bringen, rekonstruiert Andrej. Sollte Wesjolow nicht schon gestern zurück sein? Wo ist er? Wer ist er? Was ist mit Pawel Kolesow? Dutzende Fragen schwirren durch den Kopf, als heftig an die Tür geklopft wird. „Ja bitte!" ruft er laut. „Hauptmann Grandt erwartet Sie sofort in seinem Arbeitszimmer", meldet der Läufer vom Dienst. In Grandts Zimmer sind bis auf Medwedjew, der zusammen mit Andrej eintritt, bereits alle Ausbilder versammelt. Ohne Umschweife informiert Hauptmann Grandt darüber, daß Wesjolow seit mehr als vierundzwanzig Stunden überfällig sei. „Nachdem er die beiden Kursusteilnehmer in Letse abgeliefert hatte, verließ er das Lager sofort wieder. In Reval sollte Wesjolow in meinem Auftrag einige Dinge erledigen und dort übernachten. Er ist dort aber nicht eingetroffen." Mit Pawel ist wenigstens nichts geschehen, beruhigt sich Andrej. Er denkt auch an die Funkstation, die Pawel Kolesow nach seiner Rückkehr aus Letse übernehmen soll und auf die er für die Zukunft so große Hoffnungen setzt. „Noch laufen unsere Ermittlungen", sagt drohend Hauptmann Grandt. „Was mit dem Verräter und seinen Helfern geschieht, brauche ich Ihnen ja nicht zu sagen. Bestimmt werden wir ihn greifen. Eines ist aber schon sicher, die Flucht war vorbereitet. Er muß Verbindungsleute haben, sonst hätte er nicht so schnell untertauchen können."
Grandt hat sich so in Wut geredet, daß er alle Zurückhaltung aufgibt. „Kaum vorstellbar! Womöglich war er ein Roter!" Teils erfreut, teils ärgerlich auf sich selbst, vernimmt Andrej die Zornausbrüche Grandts. Wenn der so aus der Rolle fällt, muß etwas an der Sache sein. Ärgerlich mit sich ist Andrej vor allem, weil er Wesjolow für einen Lockspitzel Grandts gehalten hat. Die Möglichkeit, Verbindung zu den eigenen Genossen zu erhalten, lag wahrscheinlich näher, als er je vermutet hat. Doch gerade Wesjolow gegenüber hat er sich immer besonders diensteifrig, seinen vorsichtigen Kontaktversuchen gegenüber betont abweisend gegeben. ,,Jetzt ist mir auch klar, warum und wie die Aktion Leuchtturm scheiterte." Hauptmann Grandt schaut dabei Andrej an, als bitte er um Verständnis dafür, daß er zunächst jeden verdächtigen mußte, der an dem gescheiterten Unternehmen beteiligt war. „Wir müssen davon ausgehen, daß Wesjolow auch hier bei uns Kontaktleute hat", fügt Grandt drohend hinzu. „Ich verlange von Ihnen, daß Sie die Leute strenger im Auge behalten. Jedes verdächtige Anzeichen ist mir sofort zu melden! Wer das unterläßt, macht sich selbst verdächtig. Ich verlange von Ihnen, härtere Saiten aufzuziehen!"
Neuer Einsatzbefehl Die verschärften Überwachungsmaßnahmen nach der Flucht Wesjolows erschweren der Gruppe die illegale Arbeit. Andrej hat sofort nach der Besprechung bei Grandt angeordnet, daß keine Zusammenkünfte der Gruppe mehr stattfinden. Kontakt wird nur durch Verbindungsmänner gehalten, so daß der Kreis der Genossen eng gehalten wird, der über den ganzen Umfang der auf über dreißig Mann angewachsenen Organisation und deren Leitung informiert ist. Der September 1943 kommt heran. Die Tage werden
merklich kürzer, die Nächte länger. „Jetzt muß jeden Tag mit einem neuen Einsatzbefehl für eine Seeaktion gerechnet werden. Jeder muß darauf eingestellt sein, notfalls selbständig zu handeln, wenn die Aktion plötzlich steigen sollte", läßt Andrej den Männern ausrichten. Ende September aber kann er den Verbindungsleuten mitteilen, daß die Aktion für den 13. Oktober geplant ist. Sie soll abermals mit zehn Sturmbooten durchgeführt werden und sich gegen die Küstenbatterien von Ustje richten. Die Batterien, auf einem kleinen Küstenvorsprung stationiert, haben ähnliche Bedeutung für den Schutz der Zufahrt nach Kronstadt wie die am Leuchtturm von Schepelewo. Diesmal, so kann Andrej den Männern weiter sagen, sollen die Boote nicht erst von einem Schnellboot in das Einsatzgebiet geschleppt, sondern durch Fahrzeuge bis dicht an die Frontlinie heran, in den kleinen Fischerhafen von Sisto-Palkino gebracht werden. „Solch günstige Bedingungen für eine Flucht bekommen wir nicht wieder", bestürmt Dmitri Schtapow, der inzwischen als Verbindungsmann in die engere Leitung der Gruppe aufgenommen worden ist, Andrej. „Zweifellos, der Gedanke an eine Flucht ist verlockend", antwortet Dobrjanski. „Die Sache ist aber auch riskant. Bis zuletzt werden wir nicht wissen, wen Grandt einsetzt. Und sollte unsere Flucht schon gelingen, dann wird Cellarius furchtbare Rache an denen nehmen, die in Keila-Jua zurückgeblieben sind. Außerdem, unsere Gruppe hat jetzt hier soviel Positionen in der Hand, daß wir die Vorhaben der Faschisten verhindern oder zumindest stören können. Das zu erhalten ist jetzt unsere wichtigste Pflicht. Hier helfen wir jetzt unserer Heimat am besten!" Schtapow schweigt. Er weiß zu gut, daß Andrej damit recht hat. Doch
dann gibt er zu bedenken: „Und wenn nur eine Besatzung flieht? Vielleicht kommt sie durch. Wir könnten die Genossen über unsere Gruppe informieren." „Wie willst du das anstellen?" fragt Andrej. „Mit der Vorbereitung der Boote auf den Einsatz ist doch der Mechaniker Gridinski beauftragt, der in meinem Boot fährt." „Ja, von Grandt selbst dazu befohlen." „Er und Jemelin, mein dritter Mann, sind zuverlässige Leute. Sie können auch schweigen, wenn etwas schiefgeht. Wir werden uns etwas einfallen lassen." „Einverstanden. Informiert mich aber rechtzeitig, damit wir alles nochmals genau prüfen und abstimmen können. Es darf auf keinen anderen ein Verdacht fallen."
Zucker im Tank Langsam versinkt am Horizont die Sonne. Die Brandung schlägt leicht gegen die niedrige Mole des kleinen Fischerhafens. Schnell bricht die Dunkelheit herein. Hauptmann Grandt gibt mit der Taschenlampe das vereinbarte Lichtsignal. Schlagartig heulen die Motoren auf. Die Brandung schüttelt die leichten Boote ein paarmal kräftig durch, dann werden sie von den langgeschwungenen Wellen hochgehoben, um bald wieder in ein Wellental hinunterzurutschen. Kaum ist Andrej mit seinem Boot ein paar hundert Meter vom Ufer weggekommen, da beginnt der Motor zu stottern und zu spucken. Auch das Boot neben ihm bleibt stehen. Hauptmann Grandt, der in dem Boot mitfährt, brüllt auf Fomenko ein, der verzweifelt versucht, den Motor wieder in Gang zu bringen. Grandt ist so in Wut geraten, daß er zunächst überhaupt nicht begreift, was rings um ihn vorgeht. Erst die Feuerstöße, die Andrej Dobrjanski dem
fliehenden Boot hinterherschickt, lassen Grandt die Situation begreifen. Automatisch greift auch er zur Maschinenpistole und feuert in die Dunkelheit. Bald aber bricht er ab, schießt eine Leuchtkugel. Das Signal läßt auch die Männer in den anderen Booten das Feuer einstellen. Im Lichtkegel der niedergehenden Leuchtkugel sieht Grandt, daß die meisten Boote bereits kurz nach der Hafenausfahrt stehengeblieben sind. Das fliehende Boot aber ist bereits nicht mehr zu sehen. „Sabotage!" schreit Grandt Dobrjanski zu. „Erst einmal zum Hafen zurück!" Er schießt eine rote Leuchtkugel, das Zeichen zum Abbruch. Die Besatzungen müssen kräftig in die Riemen greifen. Nur mühsam kommen sie gegen die Wellen an. Die Boote von Grandt und Dobrjanski verfehlen sogar die Hafeneinfahrt; zu stark werden sie von den Wellen abgetrieben. Aufgeregt laufen Grandt und Dobrjanski am Ufer entlang zum Hafen. Beide schwenken die Taschenlampen, um den anderen den Sammelpunkt anzuzeigen. „Sofort feststellen, welche Boote fehlen!" ruft Hauptmann Grandt Dobrjanski zu. Es dauert eine Weile, bevor sich alle Besatzungen wieder zusammengefunden haben. „Ein Boot fehlt", stellt Andrej fest. „Die Besatzung von Schtapow." „Also auch Gridinski?" fragt Grandt zurück. „Ich glaube, ja." „Also doch Sabotage! Gridinski hat ja die Boote vorbereitet." „Mit dem Treibstoff muß etwas sein", sagt ruhig einer der Männer. „Am Motor kann es nicht liegen. Auch nicht an der Zündung. Ich habe alles überprüft." „Erschießen müßte man euch alle. Sabotage! Erschießen!" Grandt überschlägt sich vor Wut. Den Rest der kalten Oktobernacht verbringen die Besitzungen in einem Lagerschuppen. In den von Spritzwasser und Schweiß durchnäßten Uniformen frieren
sie. Ein Feuer anzuzünden, hat Grandt verboten. Sobald es hell wird, untersuchen Oobrjanski und Fomenko nochmals mehrere Boote. „Es kann nur am Treibstoff liegen. Alles andere ist in Ordnung. Offensichtlich ist etwas in die Benzintanks geworfen worden, vermutlich Zucker", sagt Dobrjanski zu Grandt. „Also Sabotage", wiederholt der nur. Ein paar Stunden darauf kommen zwei LKWs, um die völlig durchgefrorenen Männer abzuholen. Noch in der Nacht hat Grandt über den Kommandeur der im Hafen stationierten Sicherung Cellarius von dem erneuten Fehlschlag informiert. Im Lager verfügt Grandt abermals Hausarrest für alle. Die eingeleiteten Untersuchungen bestätigen Dobrjanskis Vermutung. In die Benzintanks war Zucker geschüttet worden.
Endlich Funkzeichen Pawel Kolesow tastet aufgeregt die Skale ab. Das wievielte Mal eigentlich in den letzten zwei Wochen schon? Jede Minute, die er allein in der Funkzentrale sein konnte, hat er genutzt. Vergebens. Er weicht schon seit Tagen Andrej aus. Zu sehr fühlt er die Enttäuschung des Freundes. Freilich, man muß Andrej schon so gut kennen wie Pawel, um das zu spüren. Andrej hat gelernt, mit sehr viel Selbstbeherrschung sein Innerstes zu verbergen. Pawel aber weiß, welche Hoffnungen die Genossen auf die täglich erwartete Nachricht setzen. Nach dem Fehlschlag der Aktion gegen die Batterien hat Cellarius die Seeausbildung völlig abbrechen lassen. Einige der Männer wurden in die anderen Diversantenlager der Abwehrnebenstelle Reval gebracht, nach Kumna und Letse. Die in Keila-Jua verbliebenen Männer sind zu neuen
Gruppen zusammengestellt worden und werden auf einen Einsatz hinter den sowjetischen Frontlinien vorbereitet. Jeden Tag kann der Einsatzbefehl kommen, und die Gruppe hat noch immer keine Verbindung zur Heimat. Behutsam dreht Pawel weiter. Auf einer bisher weniger beachteten Frequenz vernimmt er plötzlich einen ungewohnten schrillen Pfeifton. Mehr aus Neugier stellt Pawel genauer ein. Plötzlich bricht der Ton ab. Bis auf das übliche Rauschen bleibt das Gerät stumm. Pawel will schon umschalten, da beginnen Morsezeichen. Automatisch schreibt Pawel mit. Bald aber bricht er ärgerlich ab. Was da gesendet wird, hat mit dem Morsealphabet nichts zu tun. Nach einer Weile macht der Funker eine kurze Pause, dann hört Pawel in schneller Folge wieder kurze und lange Töne. Schnell erkennt er, daß er nunmehr mitschreiben muß. Die Sendung ist kurz und bricht schlagartig ab. Für Sekunden erklingt wieder der schrille Pfeifton. Pawel macht sich sofort daran, die Zeichen in Buchstaben umzusetzen. Enttäuscht blickt er auf das Blatt. Kein sinnvolles Wort. Da fällt ihm der einfache Code ein, den Andrej Dobrjanski für den Fall vorgeschlagen hatte, daß sich Mitglieder der Gruppe einmal mittels Kassiber verständigen müßten. An Stelle des richtigen Buchstabens sollte jener geschrieben werden, der im Alphabet eine Stelle früher steht. Das sei zwar ein sehr primitives System, meinte damals Andrej, doch häufig falle es am schwersten, gerade das Einfache zu entdecken. Er versucht es nach diesem Verfahren. Immer aufgeregter wird Pawel, als sich der Text zur Losung der illegalen Gruppe fügt: DIE ROSE BLÜHT. Aufgenommen hat er noch die Ziffern l und 4. Darauf das gleiche Verfahren angewendet, ergibt die Zahl 25. Pawel schaut auf die Uhr. In 25 Stunden wird der Absender empfangsbereit sein.
Abermals möchte Pawel am liebsten losjubeln, möchte hinüberlaufen in das Hauptgebäude zu Andrej. Doch er muß sich noch gedulden. Am Abend erst wird er den Freund treffen können. Zur angegebenen Zeit peilt Pawel am nächsten Tag die ermittelte Frequenz an. Wieder der Pfeifton, danach wieder die Pause, das unentwirrbare Morsekauderwelsch. In die darauf eintretende Pause sendet Pawel das Signal, daß er auf Empfang ist. Als Antwort werden eine Reihe von Zahlen gesendet: Terminvorschläge für den weiteren Funkverkehr. Kategorisch kommt dann die Aufforderung zum Abbruch. Wenige Tage später kommt Cellanus wieder nach KeilaJua. Er scheint sehr gedrängt zu werden, den verstärkten Einsatz von Diversanten im sowjetischen Hinterland in Gang zu bringen. Andrej versucht vorsichtig, sich selbst für den vorgesehenen Einsatz mit ins Spiel zu bringen. Drohend antwortet ihm Cellarius, daß sein Platz als Ausbilder in Keila-Jua sei. Andrej entnimmt daraus, daß Cellarius wohl seine Kenntnisse und Fähigkeiten schätzt, ihn aber offensichtlich auch verdächtigt, bei einem Einsatz wieder die Fronten zu wechseln. Er muß noch vorsichtiger sein. Immerhin ermöglicht Andrej die Funktion als Ausbilder, Einfluß auf die Zusammensetzung der Agentengruppen auszuüben. Er schlägt dafür sowohl Leute seiner Gruppe als auch einige von denen vor, die sich an den faschistischen Geheimdienst verkauft haben. Über Pawels Funkbrücke kann die Gruppe den sowjetischen Aufklärungsorganen entsprechende Nachrichten geben. Auf die Weise schaltet die Gruppe auch einige für sie gefährliche Spitzel aus. Die sowjetischen Aufklärungsorgane bemühen sich i sehr, das Wirken der Gruppe Dobrjanski vor Beobachtungen zu tarnen. Sie lassen über Nachrichtenwege, von denen sie genau wissen, daß sie von
den Canaris-Leuten angezapft sind, Alarmmeldungen über Aktivitäten vermutlicher faschistischer Agenten übermitteln. Mehrere derartige Meldungen stimmen milden Berichten überein, die von den aus Keila-Jua ausgeschickten Trupps an die Abwehrnebenstelle Reval gesendet werden. Aus nicht mehr einsetzbaren Flugzeugen und Attrappen baut die Rote Armee in einem abgelegenen versumpften Gelände einen Scheinflugplatz. Auf Hinweis eines der „Agenten" greift ein Verband der faschistischen Luftwaffe den „Flugplatz" an. Der „Erfolg" bringt Cellarius großes Lob ein. „Tod den Spionen", so nennt die Gruppe Dobrjanski ihren Kampf, um die Tätigkeit der in das sowjetische Hinterland geschleusten Agenten lahmzulegen und sie zugleich sehr aktiv erscheinen zu lassen.
In den Fängen der SS Frühjahr 1944: Langsam nähert sich die Rote Armee von Norden Tallinn. Seit Wochen überwacht der Sicherheitsdienst der SS die Abwehrnebenstelle Reval und ihre Schulen in Kumna, Letse und Keila-Jua. Andrej mahnt die Genossen, vorsichtig zu sein. Angesichts der nahenden Front glauben einige Mitglieder der Gruppe, der Zeitpunkt für die Flucht sei herangereift. Semjonow hat seit einiger Zeit versucht, Kontakt mit Salesow, der das Lebensmittellager verwaltet, aufzunehmen. Salesow hat ihm angeboten, „für alle Fälle" zusätzlich Konserven auszugeben. Semjonow berät mit Fomenko und einigen anderen Mitgliedern der Gruppe. Sie beschließen, einen Fluchtversuch zu wagen. Was sie nicht wissen ist, daß Salesow von der SS als Spitzel nach Keila-Jua gesandt worden ist. Er gibt die angebotenen Konserven aus, die
Semjonow an die Männer verteilt, die zusammen mit ihm fliehen wollen. Sofort danach beginnen Durchsuchungen. Alle, bei denen man die von Salesow gezeichneten Konserven findet, werden verhaftet und erschossen. Verstärkt sucht die SS nun nach dem Zentrum der Widerstandsgruppe. Kurz darauf werden Pawel Kolesow, Malinin, Tschekalin und auch Andrej Dobrjanski festgenommen. In einer Ecke der Zelle hat Andrej Dobrjanski einen Bleistiftrest gefunden. Jeden Tag malt er an den Türpfosten einen kleinen Strich. Nach diesem Kalender müßte es der l. Juli sein, als ihm der Aufseher höhnisch sagt: ,,Heute haben wir deine Leute erschossen. Du bist auch bald dran.'' Doch das Erschießungskommando lässt noch auf sich warten. Statt dessen wird er immer wieder verhört. Offensichtlich ist sich das SS-Kommando sicher, daß er der „Kopf" der illegalen Gruppe ist. Man glaubt, aus ihm noch wichtige Aussagen herauspressen zu können. Am 15. August treten zwei SS-Männer in seine Zelle. Mit Stricken fesseln sie ihm die Hände und binden sie ihm auf den Rücken. Andrej begreift, daß es dieses Mal nicht zum Verhör gehen wird. Auf dem Gefängnishof warten bereits Fahrzeuge; ihre Motoren laufen. Auf dem Lastkraftwagen stehen Kriegsgefangene dicht gedrängt. Zusammen mit zwei weiteren Männern seiner Gruppe wird Dobrjanski auf die Ladefläche gestoßen. Vor und hinter dem LKW postieren sich Kübelwagen. Langsam setzt sich die kleine Kolonne in Bewegung. Kaum haben die Fahrzeuge das Gefängnistor passiert, erhöhen die Fahrer das Tempo, jagen die Fahrzeuge durch die Stadt. Andrej merkt, wie jemand versucht, ihm die Stricke zu
lösen. Einem Gefangenen ist es gelungen, sich seiner Fesseln zu entledigen. Kaum hat Andrej seine Hände frei, hilft er, auch den anderen Gefangenen die Stricke abzunehmen. Das fällt etwas leichter, als kurz nach Verlassen der Stadt die Fahrzeuge in einen Waldweg einbiegen. Auf dem Waldweg müssen die Fahrer die Geschwindigkeit verringern. „Wohin wird man uns bringen?" fragt Andrej den Mann, der ihn von den Fesseln befreite. „Irgendwo raus in die Dünen", antwortet er halb russisch, halb estnisch. „Von dort werden wir schlecht wegkommen", raunt ihm Andrej zu. „Wir springen besser unterwegs ab."
Andrej Dobrjanski erklärt den Weg seiner Flucht Dann spielt sich alles in Sekundenschnelle ab. Eine Kurve und die ausgefahrenen Spuren zwingen den Fahrer, die Geschwindigkeit noch mehr herunterzunehmen. Andrej drängt sich zur Planke, schwingt sich seitlich aus dem
Wagen. Auf dem Sandboden kommt er besser auf, als erwartet. Dann springen die anderen. Zum Umsehen ist keine Zeit. Andrej hetzt in den Wald. Kaum ist er in den Büschen, hört er die Wagen anhalten. Schüsse und MGGarben peitschen in den Wald. Erst jetzt haben sich die Wachsoldaten von der Überraschung erholt. Noch hört Andrej das Geknatter der Gewehre. Er hastet immer weiter, spürt nicht die Zweige, die ihm das Gesicht zerkratzen. Vor ihm eine Lichtung. Er umläuft sie, stolpert über eine Wurzel, fällt in das Gebüsch und läßt sich in eine flache Bodenmulde rollen. Er zwingt sich, einen Moment ruhig zu sein, zu horchen. Von fern hört er Schüsse. Plötzlich knacken dicht hinter ihm Zweige. Erschrocken fährt Andrej herum. Einer der Flüchtlinge wäre fast auf ihn getreten. Noch zwei Männer tauchen auf. „Los! Weiter! Schneller! Möglichst in verschiedene Richtungen", ruft ihm einer zu. Andrej läuft um sein Leben. Erst nach einigen Kilometern läßt er sich abermals für kurze Zeit zu Boden fallen. Ob sie mit Hunden kommen, den Wald durchkämmen? — Ich muß weiter, sagt er sich. Keuchend richtet er sich auf, kämpft sich weiter durch den Wald. Als er an einen Bach kommt, trinkt er hastig ein paar Handvoll, dann watet er eine Weile im Bach, bis er auf einen Weg trifft und zu einer großen Lichtung gelangt. Er sieht ein Gehöft. Auf dem Hof rührt sich nichts, nur eine dünne Rauchsäule steigt aus dem Schornstein des Wohnhauses. Unmittelbar am Waldrand bemerkt er einen Heuhaufen, kriecht zu ihm hin und versteckt sich in ihm. Er möchte schlafen. Doch er bekommt kein Auge zu. Erst nach Stunden fällt er in einen leichten Schlummer. Der Schlaf war nur kurz, und er beobachtet wieder seine Umgebung. Verdächtiges kann er nicht ausmachen. Er schleicht sich wieder zurück zum Waldrand. Im Schütze der
Sträucher umgeht er die Lichtung, spähend, etwas Verdächtiges zu entdecken. Doch friedliche Ruhe herrscht auf der Lichtung. Schließlich geht er auf das Haus zu, klopft an die Tür. Der Bauer hält ihn versteckt und hilft Andrej schließlich, bei Freunden sicheren Unterschlupf zu finden, bis am 23. September 1944 die Rote Armee das Gebiet um
Karl Kilu, der Dobrjanski bis zur Befreiung durch die Sowjetarmee verborgen hielt, und sein Gehöft Tallinn befreit - So gewann Andrej Dobrjanski auch das letzte Duell mit der faschistischen Abwehr von Tallinn, er, der nie vorher Kundschafter gewesen war. Etwa zwei Jahre konnte die illegale Organisation unter der Führung von Andrej Dobrjanski viele gegen Leningrad gerichtete Diversions- und Spionageakte verhindern. Andrej Dobrjanski lebt in Taganrog und arbeitet dort als Bauingenieur.