Beschreibung: Rick traut seinen Augen nicht, als eines Morgens etwas Rosiges, Durchsichtiges auf seinem Bett sitzt und ...
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Beschreibung: Rick traut seinen Augen nicht, als eines Morgens etwas Rosiges, Durchsichtiges auf seinem Bett sitzt und behauptet, Humphrey der Schreckliche zu sein. Als die übrige Familie sichtbar wird, könnte man durchaus einen Schreck bekommen . Aber die Gespenster suchen bloß ein neues Zuhause, und täglich werden es mehr! Mit seiner Freundin Barbara startet Rick eine Aktion zur Rettung aller Geister, deren jahrhundertealte Spukstätten dem Fortschritt zum Opfer fallen. Die Autorin Eva Ibbotson wurde in Wien geboren und emigrierte 1933 als Kind mit ihren Eltern nach England. Sie studierte Physiologie an der Universität von London und ging danach als Wissenschaftlerin nach Cambridge. Dort lernte sie ihren Mann, einen Berufskollegen, kennen. Nach einigen Jahren in Bristol zog sie mit ihrer Familie nach Newcastle-upon-Type, wo sie heute noch lebt. »Irgendwann zwischen der Geburt ihres dritten und vierten Kindes« begann Eva Ibbotson zu schreiben, zuerst Kurzgeschichten und Beiträge für Frauenzeitschriften. Als die Kinder größer wurden, machte sie das Schreiben zum Beruf. Seitdem hat sie viele Bücher für Kinder und Erwachsene veröffentlicht, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. »Aktion Geisterrettung« ist nach »Hecky Hexe« und »Ein Spukschloß wandert aus« ihr drittes Buch im Erika Klopp Verlag.
Eva Ibbotson
Aktion Geisterrettung Deutsch von Regine Adolphsen
Scan, Korrektur und Layout by Orkslayer E-Book Version 1.0 ( Oktober 2002 )
Erika Klopp Verlag
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ibbotson, Eva: Aktion Geisterrettung / Eva Ibbotson. Aus dem Engl. von Regine Adolphsen. - 1. Aufl. - München : Klopp, 1996 ISBN 3-7817-0861-6
Deutsche Ausgabe © 1996 Erika Klopp Verlag GmbH, München Alle Rechte vorbehalten Titel der Originalausgabe »The Great Ghost Rescue« Macmillan Children's Books, London 1975 © Text Eva Ibbotson 1975 Aus dem Englischen von Regine Adolphsen Einbandillustration und Vignette: Margit Pawle Satz: IBV Satz- und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung: Ebner Ulm Printed in Germany Auflagenkennzeichnung (letzte Ziffern maßgebend): Auflage: 4 3 2 1 Jahr: 1999 98 97 96
1. Kapitel Humphrey der Schreckliche war ein Gespenst. Eigentlich hieß er nur Humphrey. Er nannte sich jedoch »der Schreckliche« in der Hoffnung, dann auch schrecklich zu werden. Bis jetzt war er das nämlich nicht. Keiner wußte, was bei Humphrey schiefgelaufen war. Vielleicht lag es an seinem Geisterplasma. Geisterplasma ist der Stoff, aus dem Geister oder Gespenster bestehen. Normalerweise ist es ein geisterhaft blasses, spinnwebartiges Nichts, ein bißchen wie die Schleimspuren von Schnecken in feuchtem Gras oder wie Nebel, der aus Sumpflöchern aufsteigt. Aber Humphreys Plasma war rosig wie ein Pfirsich und erinnerte an Schafwolle oder Sommerwolken. Und seine Augenhöhlen schielten und starrten nicht, sie zwinkerten eher, und wenn seine Fingerknochen aneinanderschlugen, war das, als ob kleine Glöckchen läuteten. Seine Eltern, die natürlich wollten, daß er schrecklich und abstoßend und grauenhaft wie alle guten Geister war, machten sich große Sorgen um ihn. »Ich weiß wirklich nicht, warum er so geworden ist«, pflegte seine Mutter zu sagen.
Humphreys Mutter war eine Hexe mit krummer Nase, Buckel und gezackten schwarzen Flügeln. Wenn sie sich bewegten, sonderten sie gräßliche Gerüche ab. Humphreys Mutter konnte an einem einzigen Nachmittag nach verwesenden Eingeweiden, ungewaschenen Achselhöhlen und gehackten Maden riechen. Humphreys Vater versuchte dann immer, sie zu trösten. »Mach dir keine Sorgen, Mabel«, sagte er. »Der Junge ist wahrscheinlich ein Spätentwickler.« Humphreys Vater war ein schottischer Geist. Er war 1388 in der Schlacht von Otterburn umgekommen. Es war eine sehr blutige Schlacht gewesen, bei der sich die Engländer und die Schotten auf alle erdenkliche Art gegenseitig umbrachten. Ein englischer Baron hatte zu Beginn der Schlacht Humphreys Vater beide Beine abgehauen. Er hatte jedoch auf den Stümpfen weitergekämpft, bis ein anderer Engländer ihm ein Schwert in die Brust gestoßen hatte. Jetzt nannte man ihn den Schwebenden Kilt, denn man sah nur den unteren Rand vom Kilt und dann die Stelle, wo seine Beine nicht mehr waren. Er war ein eindrucksvolles Gespenst und ein guter Vater. Aber die Hexe machte sich wie alle Mütter viele Gedanken und ließ sich nicht trösten. »Er ist ganz anders als George oder Winifred«, klagte sie. George, der ältere Bruder von Humphrey, war ein Schreiender Schädel. Das sind Schädel mit nichts dran. Versucht man, einen Schreienden Schädel zu begraben, schreit er und schreit, bis man ihn wieder ausgräbt. Sie schreien auch, wenn man versucht, sie zu bewegen, oder wenn jemand kommt, den sie nicht mögen. Eigentlich schreien sie fast immer, und die Laute, die sie von sich geben, klingen so schrecklich, als würden sieben oder acht Leuten die Eingeweide herausgerissen. Jemand, der einmal einen Schreienden Schädel gehört hat, ist danach nicht mehr ganz er
selbst. Natürlich waren die Eltern von George sehr stolz auf ihren Sohn. Winifred, Humphreys Schwester, schwebte in einem langen grauen Leichentuch einher und versuchte, ein kleines Gefäß mit Wasser zu erreichen, das vor ihr herschwebte. Mit dem Wasser wollte sie ihre Blutflekken auswaschen. Keiner konnte sich daran erinnern, woher diese Blutflecken stammten, aber sie mußte etwas ganz Schlimmes getan haben, bevor sie starb, denn sie war von oben bis unten mit Blut bespritzt. So schnell Winifred schwebte, die Wasserschale war immer schneller als sie. Das regte sie natürlich auf, und sie jammerte viel. Deshalb nannte man sie Wehklagende Winifred. Sie waren eine glückliche Familie. Es gab wohl kaum ein Paar auf der Welt, das sich mehr liebte als die Hexe und der Schwebende Kilt. Ihre besten Gerüche waren nur für ihn bestimmt. Er fand ihre schielenden Augen und den langen schwarzen Schnurrbart schön. Beide liebten sie George und Winifred. Und sie liebten Humphrey, sehr sogar, obwohl er nicht schrecklich war. Vielleicht, weil er der Jüngste war, wurde Humphrey ein bißchen verwöhnt. Sie waren nicht nur eine glückliche Familie, sie hatten auch Glück, denn sie lebten an einem Ort, den Gespenster am meisten mögen. Es war ein Schloß in Nordengland mit einem feuchten, dunklen Verlies, wo es von großen grauen Ratten wimmelte. Es gab einen Schloßgraben mit grünem schleimigem Wasser und eine Zugbrücke, an der noch die Haare eines ermordeten Räubers mit getrocknetem Blut an einer verrosteten Eisenstange klebten. Das Schloß hieß Craggyford Castle. Deshalb wurden Humphrey und seine Familie die Craggyfordgeister genannt. Sie lebten sehr einfach. Humphrey schlief in einem kleinen Sarg unter einer Eibe in der Ecke des Friedhofs. Abends kam die Hexe und erzählte ihm Einschlafflüche. Wenn sie sich über ihn beugte, um ihm gute Nacht zu sagen, drang ihm der Geruch
nach Schweißfüßen oder verfaultem Hammelfleisch in die Nase, und er konnte wunderbar dabei einschlafen. Am Tag mußten die Kinder natürlich ihre Schularbeiten machen. Sie lernten, wie man schielt, wie man mit den Ketten rasselt oder wie man Leuten mit eiskalten Knochenfingern das Bettuch wegzieht. George, der ja nur ein Schädel war und keine Finger hatte, machte statt dessen Schreiübungen. Was alle drei am meisten üben mußten war, unsichtbar zu werden. Humphrey schnitt dabei besonders schlecht ab. Er verschwand so unordentlich und unvollständig, wie man es sich nur vorstellen konnte. Manchmal vergaß er einen Fuß, manchmal eine Schulter, und einmal verschwand alles bis auf seinen Bauch, der in der Luft hängenblieb wie ein holländischer Kugelkäse. Am schlimmsten war sein Ellbogen. Humphreys linker Ellbogen wollte einfach nicht verschwinden. »Du strengst dich nicht genug an, Humphrey«, pflegte die Hexe zu schreien. »Doch, Mutter, ehrlich«, versicherte Humphrey dann immer. »Ich bleibe einfach irgendwie ... stecken.« Winifred, die ein sehr nettes und freundliches Mädchen war, auch wenn sie soviel jammerte, versuchte, ihre Mutter zu trösten. »Man sieht wirklich nicht viel, Mutter. Es sieht wie eine ... Spinnwebe oder ein bißchen Staub aus.« »Quatsch, Winifred. Es sieht überhaupt nicht wie eine Spinnwebe oder Staub aus. Es sieht aus wie ein Ellbogen. Also los, Humphrey, versuch's noch mal. Gib dir etwas mehr Mühe.« So schwierig der Unterricht auch war, hinterher hatten sie viel Zeit, in der sie tun konnten, was sie wollten. Im Wald, wo Eulen mit gelben Augen wohnten, spielten sie Verstecken. Oder sie schwebten um die Wette rund um die Burgmauern. Natürlich hatten sie auch viele Freunde. Der Baumgeist Fred wohnte in einer hohlen Eiche auf dem Galgenberg. Er stöhnte
und quasselte und wartete auf vorbeikommende Leute, deren Haar er über Nacht weiß werden lassen konnte. Dann gab es die Phantomsau, die im Craggyfordmoor lebte. Schweine werden nur selten zu Gespenstern, aber diese Wildsau war von keinem Geringeren als dem Vetter zweiten Grades von Robin Hood gejagt und geschossen worden. Das war aber kein Grund für sie, eingebildet zu sein. Sie war eine ganz friedliche Sau, die sich gerne von Humphrey den Rücken kraulen ließ, und sie wühlte zwischen den Buchen auf der Suche nach Bucheckern den Boden auf wie ein ganz gewöhnliches Hausschwein. Dann war da noch die Graue Lady, die auf dem Friedhof spukte, wo Humphrey schlief. Gespensterdamen, egal, welche Farbe sie haben, suchen meistens nach etwas: nach vergrabenen Schätzen oder nach jemandem, den sie getötet haben, was ihnen inzwischen leid tut. Die Graue Lady suchte nach ihren Zähnen. Als sie starb, war ihr Gebiß vollständig gewesen. Jedenfalls behauptete sie das. Aber dann hatten Grabräuber ärgerlicherweise ihre Zähne geraubt. Wenn sie einmal nicht an ihre Zähne dachte, was nicht oft der Fall war, dachte die Graue Lady sich wunderbare Spiele aus, zum Beispiel Mikado mit alten Fußknochen oder Spiele mit lebenden Schlangen. Wenn man mit seiner Familie glücklich und zufrieden lebt, möchte man, daß sich das nie ändert. Humphrey glaubte, sie würden weitere fünfhundert oder tausend oder dreitausend Jahre auf Craggyford leben. Aber die Welt draußen veränderte sich. Für Gespenster wurde das Leben schwierig und gefährlich. Wie schwierig und gefährlich, ahnten sie nicht. Bis zu einem dunklen und stürmischen Abend kurz nach Halloween ... Sie saßen beim Abendessen. Es war ein einfaches, aber sehr schmackhaftes Essen: Gehackte Rattenschwänze im eigenen Fett gebraten und mit kaltem Krötenblut abgelöscht. Wer
glaubt, daß Geister nicht essen und trinken oder auf die Toilette gehen, irrt sich. Sie müssen es zwar nicht, aber sie mögen es. Es ist ein Zeitvertreib. George war ungezogen gewesen und hatte zu laut geschrien. Die Hexe hatte Kopfschmerzen und stülpte einen Kaffeewärmer über ihn, damit er ruhig war. Wenn man nicht sehen kann, hört man manchmal besser. Wahrscheinlich hörte George deshalb als erster mit Kauen auf und sagte: »Was ist das für ein Krach?« Einen Augenblick später hörten sie es alle: das Geräusch von Pferdehufen in der Luft über ihnen. Es kam näher. Viele Hufe, Zaumzeug klirrte, Leder knirschte. Dann folgten ein Schlag und ein Windstoß, der die Rattenschwänze auf den Tellern durcheinanderwirbelte, und eine riesige Geisterkutsche, von vier schwarzen Pferden gezogen, raste durch das Fenster herein und hielt in der Luft über ihren Köpfen. »Das darf doch nicht wahr sein!« rief der Schwebende Kilt. »Aber es ist wahr. Tante Hortensia!« Die Hexe schlug aufgeregt mit den Flügeln. Die Tür der Kutsche öffnete sich. Heraus stieg eine Dame in einem weiten, weißen mit Malven bestickten Flanellnachthemd. Über dem ziemlich schmuddeligen Kragen leuchtete rosa der Halsstumpf, eingekerbt von der Axt, mit der man die Dame enthauptet hatte. »Was ist los, Tantchen? Was ist passiert?« fragte Winifred. Einen Augenblick lang bewegte sich nur Hortensias Hals in alle Richtungen, als suche er etwas. Dann verschwand sie noch einmal in der Kutsche und nahm etwas heraus. Es war ihr Kopf.
»Man hat mich aus meinem Haus geworfen«, sagte der Kopf der kopflosen Tante. Er sah verärgert und traurig aus, und die grauen Haare waren ganz durcheinander. »O nein!« »Doch.« Der Kopf nickte, und eine Träne tropfte aus dem linken Auge. »So kann es einem gehen«, fuhr er fort. »Ihr wißt, wie wohl ich mich in der alten Abtei gefühlt habe!« Alle nickten. Als sie noch lebte, war Tante Hortensia Haushälterin bei Heinrich VIII. in Schloß Hampton Court gewesen. Sie war sehr schlecht im Rechnen, und eines Tages kam sie bei der Abrechnung von fünf fetten Kapaunen, einem Krug Met und zwei Talglichten auf elfdreiviertel Pence. In Wirklichkeit kostete es aber nur elfeinhalb Pence. Henry, der seit einer vollen Woche niemanden hatte köpfen lassen, ließ sie beim Zubettgehen in ihrem Nachthemd und den langen wollenen Unterhosen festnehmen und enthaupten. Eine Zeitlang spukte Tante Hortensia im Schloß. Da gab es allerdings ein Überangebot an Gespenstern. Allein drei Gemahlinnen von Henry weinten und jammerten auf den Korridoren. Sie fühlte sich außerdem in ihrem Nachthemd und den langen wollenen Unterhosen im Vergleich zu den großartig gekleideten Hofdamen sehr armselig. Deshalb nahm sie sich eines Nachts im Jahr 1543 eine Geisterkutsche aus den königlichen Stallungen und fuhr davon, um sich eine passende Unterkunft zu suchen. Sie fand die alte Abtei, ein halb zerfallenes Gebäude an der Ostküste, wo die Türen nur noch in den Angeln hingen und Fledermäuse in Klumpen von den Balken baumelten. Ringsum gab es einsame Salzwiesen, auf denen ihre kopflosen Pferde weiden konnten. »Vierhundertzweiunddreißig glückliche Jahre habe ich in dem Haus verbracht«, sagte Tante Hortensias Kopf. »Und dann, vor drei Monaten...«
Vor drei Monaten war plötzlich ein Mr. Hurst erschienen. Er kaufte die Abtei und beschloß, sie zu modernisieren. »Was heißt denn das genau?« wollte Humphrey wissen. »Das ist eine gute Frage«, jammerte Tante Hortensias Kopf. »Es heißt Waschmaschinen im Keller, wo meine Frösche lebten, es heißt Neonlampen, die unsere Vibrationen durcheinanderbringen. Es heißt Zentralheizung!« »Ih!« Der Hexe und dem Schwebenden Kilt lief eine Gänsehaut über den Rücken. »Ihr könnt leicht >ih< sagen«, erwiderte Tante Hortensia. Sie hob einen Arm, schob das Nachthemd zurück und zeigte ihr trockenes, verschrumpeltes, ungesund gelbes Plasma. »Man kann dort nicht mehr leben«, stellte sie abschließend fest. »Also, du bleibst natürlich hier bei uns«, sagte die Hexe. »Es geht ja nicht nur mir so«, meinte Tante Hortensia mit düsterer Stimme. »Es ist überall das gleiche. Alte Gebäude werden abgerissen, angenehme trübe Tümpel werden trockengelegt, ehrwürdige Ruinen werden zu Hotels oder Spielhallen. Ich habe gehört, daß Leofric der Zerstückelte in einer Wurstfabrik spuken muß!« »Na ja, uns hier in Craggyford wird nichts passieren«, tröstete die Hexe und häufte Rattenschwänze auf den Teller ihrer kopflosen Tante. Aber sie irrte sich.
2. Kapitel Tante Hortensia meinte es gut, aber sie war keine einfache Hausgenossin. Erstens war sie sehr vergeßlich. Sie vergaß nicht nur ihren Kopf im Schlafzimmer, wenn sie zum Frühstück runterkam. Sie ließ ihn auch im Schuhschrank liegen, wenn sie in den Garten ging, um Sumpfgarben oder Tollkirschen zu pflücken. Einmal warf sie ihn aus einer spielerischen Anwandlung heraus Humphrey zu. Er ließ ihn fallen, und der Kopf sagte in ziemlich gemeinem Ton »Tollpatsch« zu Humphrey. Sie brachte auch alles durcheinander, wenn sie der Familie etwas sagen wollte. Tante Hortensias Halsstumpf konnte einfache Dinge sagen wie zum Beispiel »mehr bitte«, »nein« oder »pah!«. Wenn sie aber etwas Kompliziertes ausdrücken wollte, wozu viele Worte gehörten, dann brauchte sie ihren Kopf. Da sie alles vergaß, sagte sie manchmal etwas mit ihrem Halsstumpf und dann etwas ganz anderes mit ihrem Kopf. Wenn die Hexe sie zum Beispiel fragte: »Möchtest du noch ein Krötenhautsandwich, Tante Hortensia?«, da konnte es passieren, daß der Stumpf »ja« sagte, während der Kopf, der sich am anderen Ende des Zimmers befand, zur Antwort gab: »Du weiß doch, Mabel, daß ich von Krötenhaut immer Blähungen bekomme.«
Solche Dinge können im täglichen Zusammenleben sehr lästig sein. Was aber am meisten störte, war die Tatsache, daß Tante Hortensia eklig zu Humphrey war. Alle wußten, daß Humphrey nicht so schrecklich war wie er hätte sein sollen, aber sie wollten nicht, daß jemand anderes darauf hinwies. Wenn man bei jemandem zu Gast ist, sollte man keine abfälligen Bemerkungen über die Kinder machen. Aber genau das tat Tante Hortensia. »Also wirklich, Mabel«, sagte sie zum Beispiel und störte die Hexe, wenn sie in der Küche saß und Flüche in ein Rezeptbuch schrieb oder die Dochte der Leichenkerzen trimmte, »dein Junge riecht nach frisch gemähtem Gras.« Das ärgerte die Hexe sehr. »Das ist nicht wahr. Ich gebe ja zu, daß Humphrey nicht meine Gerüche geerbt hat, aber ... « »Bist du sicher, daß er ein Gespenst ist?« unterbrach sie Tante Hortensia. »Ist er nicht vielleicht ein Feenkind oder ein Troll oder so etwas? Ich würde mich nicht wundern, wenn er nachts abhaut und Leuten Gutes tut.« Diesmal war die Hexe so wütend, daß sie zum Dach hinausfuhr. »Du darfst so etwas nicht sagen, Tante Hortensia«, schimpfte sie, als sie wieder herunterkam. »Erst gestern habe ich gesehen, wie ein Küken aus Angst vor Humphrey davonrannte.« »Ein Küken!« Tante Hortensia schnaubte verächtlich. Wenn die Hexe sich über etwas aufgeregt hatte, mußte sie immer mit ihrem Mann darüber sprechen. »Sie hat Humphrey mit dem Messer gestochen«, sagte sie abends zum Schwebenden Kilt, als sie gerade zu Bett gehen wollte. »Nur, weil er ihren scheußlichen Kopf fallen lassen hat.« »Wir müssen Geduld haben.« Der Schwebende Kilt nahm das Schwert aus seiner Brust und legte es ordentlich auf sein Kissen. »Schließlich hat sie Schlimmes durchgemacht. Hast du gesehen, wie ihr Hals aussieht? Außerdem, Mabel, du weißt
doch genau, daß das Küken nicht vor Humphrey davongelaufen ist. Es wollte zu seiner Mutter. « Die Hexe errötete, und der Duft von verwesenden Mistkäfern verbreitete sich im Raum. »Na gut.« Sie legte sich neben ihren Gatten ins Bett und schmiegte ihr Haupt liebevoll an seine Wunde. »Vielleicht können wir ihn mit etwas einsprayen, damit er schlecht riecht«, murmelte sie schlaftrunken. »Mit Eiter aus offenen Beulen ... oder mit saurer Milch ... « Am nächsten Morgen gab es jedoch Wichtigeres als Humphreys Geruch. An diesem Vormittag kamen nämlich die Männer. Zuerst fuhren vier Männer mit Mützen und Regenmänteln in einem blauen Lieferwagen vor und liefen mit Zollstöcken, Senkbleien und langen gestreiften Pfählen herum. Dann kam ein großer grauer Wagen, und zwei weitere Männer mit Aktenordnern unter dem Arm stiegen aus. Sie blieben den ganzen Vormittag, schritten das Gelände ab, kratzten mit Federmessern an den Balken herum, riefen einander ihre Mitteilungen zu, und dann fuhren sie wieder weg. Am nächsten und übernächsten Tag kamen noch mehr Männer. Für die Geister war das ungeheuer anstrengend. Sie wußten nicht, was vor sich ging. Bei einem solchen Volksauflauf mußten sie natürlich unsichtbar bleiben. Geister können tagelang unsichtbar bleiben, aber sie mögen es nicht. Sie fühlen sich in solchen Situationen unerwünscht. Dann hörte der Rummel für ein paar Wochen auf, und es herrschte wieder Ruhe. Die Geister konnten den Frieden auf Craggyford jedoch nicht lange genießen, denn als nächstes kamen die Bulldozer. »Mutter, die graben den Westanger auf«, sagte Humphrey mit sorgenvoller Stimme. »Was wird aus den lieben Maulwürfen?«
Die Männer kümmerten sich jedoch nicht um die Maulwürfe. Sie kümmerten sich auch nicht um die jungen Bäume im Haselwäldchen oder um die Amseln und Drosseln, die in den Hecken nisteten. Sie walzten einfach alles nieder, und als alles flach und tot war, fingen sie an zu bauen. Sie bauten kleine Holzbungalows, endlose Reihen, die alle auf das Schloß zuliefen. »Vielleicht kommt die Armee wieder«, sagte der Schwebende Kilt hoffnungsvoll. Er war ein guter und tapferer Krieger gewesen. Es war aber nicht die Armee. Die Männer bauten eine Feriensiedlung, und in den kleinen Häusern würden die Urlauber schlafen, sich aber zum Essen und zu den Veranstaltungen ins Schloß begeben. Und das setzte umfangreiche Bauarbeiten voraus. »Daß mir das noch mal passieren muß!« jammerte Tante Hortensia, als die Wagen mit den Arbeitern über die Zugbrücke donnerten. »Zweimal im Leben! Das ist einfach zuviel. Mein Plasma! Was wird aus meinem Geisterplasma?« »Ich denke an das Plasma der Kinder«, gab die Hexe unfreundlich zurück. Tante Hortensia ging ihr immer mehr auf die Nerven. Von den Geisterpferden im Stall gar nicht zu reden, die unaufhörlich fraßen, obwohl sie keine Köpfe mehr hatten ... Die folgenden Monate versetzten die Gespenster in Angst und Schrecken. Sie stellten bald fest, daß nicht nur Zentralheizungen, elektrisches Licht und Badezimmer auf Craggyford Einzug hielten. Nein, das ganze Schloß wurde total umgebaut. Die gemütliche modrige Waffenkammer voller Eulenmist und Spinnweben wurde zu einem Restaurant mit Spiegelwänden und Kunststoffußboden. Die Banketthalle, in der die Geister ihre Mahlzeiten einzunehmen pflegten, wurde eine Diskothek mit schrecklichen Lichteffekten. Wenn die
Arbeiter sie testeten, wurde sogar die Hexe für Augenblicke sichtbar. Der dunkle und feuchte Kerker wurde gekachelt und verwandelte sich in eine blinkende weiße Küche. Hunderte unschuldige Asseln, freundliche Spinnen und harmlose Mäuse wurden lebendig eingemauert oder in die Kälte verbannt. Aber erst, als George schreiend den Korridor entlanggerast kam, um seinen Eltern zu berichten, was sich im Ostflügel des Schlosses zutrug, begriffen die Geister, wie ernst die Lage war. »Ein Kino«, schrie die Hexe. »Bist du sicher?« »Oh, mir würde ein Kino gefallen«, meinte Humphrey und wedelte mit den Armen. »Cowboys und Indianer. Gangster. Peng, peng!« »Still«, sagte die Hexe und schlug mit den Flügeln nach ihm. »Du weißt nicht, was du sagst. Solche Filme gibt es nicht mehr.« »Was gibt es dann?« wollte Winifred wissen. »Rohe Filme. Rohe und schockierende Filme.« »Und dann noch der ganze Abfall«, fügte Tante Hortensias Kopf hinzu. »Eislollys in Winifreds Wasserschale, Bonbonpapiere, die an meinem Halsstumpf kleben, Kaugummi in unseren Ohren - das alles bringt ein Kino mit sich.« Die Hexe wandte sich ihrem Gatten zu. »Hamish«, sagte sie und blickte ihn mit ihren schielenden Augen verzweifelt an, »was sollen wir nur machen?« Schweigen herrschte einen Augenblick lang. Der Schwebende Kilt drehte das Schwert in seiner Brust. Das war immer ein Zeichen, daß er angestrengt nachdachte. Dann sagte er: »Mabel, wir müssen jetzt tapfer sein. Es gibt keinen Ausweg. Wir müssen Craggyford verlassen und uns einen anderen Platz zum Leben suchen.« »Craggyford verlassen«, stammelte die Hexe. »Das Heim unserer Vorfahren verlassen?« Der Schwebende Kilt legte tröstend eine Hand auf ihren krummen Rücken. »Denk doch an die Kinder«, sagte er.
Das gab natürlich den Ausschlag. »Du hast recht, Lieber«, sagte sie. »Recht wie immer. Wir brechen sofort auf.
3. Kapitel Noch in der selben Nacht brachen sie auf. Es tat sehr weh, Craggyford zu verlassen, wo sie fast fünfhundert Jahre verbracht hatten. Aber alle versuchten, tapfer zu sein. Fred kam aus seiner hohlen Eiche, um ihnen nachzuwinken, und die Graue Lady weinte. Sie fragten, ob sie nicht mitkommen wolle, aber sie meinte, sicher würden ihre Zähne bald auftauchen. Außerdem würde es niemand wagen, den Friedhof umzugraben. Also blieb sie. Humphrey hatte gehofft, hinter seinem Vater auf einem der kopflosen Pferde sitzen zu dürfen, aber der Schwebende Kilt entschied sich für George. Humphrey mußte in der Kutsche mit seiner Mutter und Winifred reisen. Tante Hortensia kutschierte natürlich, es war schließlich ihre Kutsche. Den Kopf ließ sie wegen der Zugluft drinnen. Humphrey hatte Kutschfahrten noch nie besonders gut vertragen. Der alte, weißhaarige Kopf, der auf dem Sitz hin und her rollte, wenn sie um eine Ecke bogen, gab ihm den Rest. »Du wirst Winifreds Schale nehmen müssen«, meinte die Hexe. »Wir können nicht mitten in der Luft anhalten.«
Winifred jammerte, ihre Schale sei da, um etwas auszuwaschen, und nicht dafür, daß Humphrey sie benutzte, wenn ihm schlecht wurde. Es wurde keine sehr schöne Reise. Obwohl der Mond schien, waren Wolken am Himmel, und man konnte nur schwer erkennen, was unten lag. Einmal senkte sich die Kutsche auf ein Gebäude hinunter, das ganz vielversprechend aussah, aber es entpuppte sich als Wäscherei, die nachts arbeitete. Einmal rief George: »Sieh mal, Dad, da unten ist ein tolles Schloß!« Als sie runterkamen, sahen sie aber, daß es eine Riesenfabrik war, in der Badezimmerartikel hergestellt wurden. »Widerlich«, sagte Tante Hortensia, als sie die blinkenden weißen Badewannen, die Marmorwaschbecken und die vergoldeten Hähne in den Ausstellungsräumen sah. »All das viele Waschen. Kein Wunder, daß man mit den Menschen nichts anfangen kann.« Sie fuhren eine weitere Stunde, dann mußten sie runtergehen, weil die Pferde müde wurden. »Seht euch nur mal diese komischen schwarzen Berge an«, sagte Humphrey. Sie waren auf einem großen, schlammigen Stück Land zwischen einem riesigen Greifbagger und einem Löffelbagger gelandet. »Das sind keine richtigen Berge«, stellte der Schwebende Kilt fest. »Das sind große Kohlehaufen. Wir sind auf einem Tagebau gelandet, wo Kohle gefördert wird. « »Meine Güte«, sagte die Hexe, die sich etwas Romantischeres gewünscht hätte. »Aber ich kann wenigstens mal die Beine ausstrecken.« »Ich will keinen Kohlenstaub auf meinem Stumpf haben«, grummelte Tante Hortensia. Aber auch sie stieg ab, hielt ihr
Nachthemd hoch und platschte mit ihren riesigen gelben Füßen durch die Pfützen. Humphrey war es noch schlecht von der Reise, und die Kette mit der Kugel, die ihn die Hexe auf langen Fahrten immer tragen ließ, damit sein Knöchel kräftiger wurde, hatte ihn wundgerieben. Um auf andere Gedanken zu kommen, kletterte er in die Kabine des Baggers und machte Geräusche, die er für Geräusche eines Baggers hielt. Nach einer Weile stellte er fest, daß die Baggergeräusche sich verändert hatten. Ein leises Winseln war zu hören. Es klang, als ob es von einem Tier stammte. Nachdem Humphrey sich vergewissert hatte, daß nicht er es war, der diese Laute von sich gab, glitt er vom Fahrersitz und fing an, zwischen den Kohlehaufen zu suchen. Er kam den Lauten näher, und dann verlor er sie wieder. Nachdem er um ein Baugerüst gebogen war, erblickte er plötzlich etwas, das ihm den Atem nahm. Es war ein Schack. Schacks sind Gespensterhunde und heutzutage sehr selten. Humphrey hatte oft von ihnen gehört, aber noch nie einen gesehen. »Komm doch her, lieber Schack. Komm! Du bist ein guter Hund. Guter Hund«, sagte Humphrey und schnippte mit den Fingern. Zuerst rührte sich der Schack nicht. Ein Auge glühte düster, und aus seinem Hals kam ein tiefes Knurren. Er klang, als ob Steine über einen Abhang rollten. »Hab keine Angst. Ich bin Humphrey. Humphrey der Schreckliche. Komm her, Schackie!« Das Knurren hörte auf. Der Schack kam näher. »Ach, du Armer! Dir geht es aber gar nicht gut.« Humphrey hatte recht. Der Schack war in einem er bärmlichen Zustand. Seine Schwänze waren so schlapp wie zu weich gekochte Spaghetti. Sein Riesenauge war fest geschlossen, und sein Fell war stumpf und schmutzverklebt.
Als ob er begriffen hätte, daß Humphrey der Schreckliche ihm helfen wollte, kam der Schack jetzt näher. Beim Gehen machte er merkwürdig platschende Geräusche. Zwei seiner Schwänze wedelten, der dritte war noch etwas schüchtern. »Was hast du denn da, Humphrey«, schrie die Hexe, die herumflog und mit ihren schielenden Augen die Kohlehaufen absuchte. »Stell dir vor, Mutter, es ist ein Schack. Ein echter Plattfuß, weißt du? Und es geht ihm gar nicht gut. Ich glaube, das war mal wildes, schönes Land, und er hat hier gespukt. Wenn die Leute ihn sahen, haben sie bestimmt schreckliche Angst gehabt. Jetzt muß er hier auf dieser ätzenden Kohlegrube spuken, und er bekommt Kohlenstaub in die Lunge und den Gestank von den Baggern und all dem Zeug. Können wir ihn nicht mitnehmen?« »Ja, bitte, Mutter«, riefen George und Winifred, die inzwischen auch herangeschwebt waren. »Ihr seid wohl verrückt, meine Lieben. Wir haben nicht einmal selbst eine Unterkunft. Was sollen wir mit streunenden Hunden anfangen?« »Bestimmt können wir ihn gut brauchen«, meinte Humphrey mit flehender Stimme. »Brauchen!« Die Hexe entließ eine Wolke Schweinebohnengestank. »Was kann er denn? Sei nicht albern, Humphrey. Kommt Kinder, zurück in die Kutsche!« Als Humphrey den Schack ansah, der vertrauensvoll zu ihm aufblickte, wurde sein Plasma schwer wie Blei. Traurig stieg er in die Kutsche, als plötzlich ein Schrei von Tante Hortensias Halsstumpf ertönte. »Kopf«, jammerte der Stumpf. »Weg! Weg!« Alle stiegen unlustig wieder aus. Der Schwebende Kilt murmelte etwas Schottisches. Keinem war danach, im Dunkeln nach einem alten Kopf zu suchen.
Und dann hatte Humphrey den Einfall. »Schack«, rief er. »Komm her, Schackie!« Das schwarze Ungeheuer kam herangesprungen und sah Humphrey hoffnungsvoll an. »Hast du ein Taschentuch, Tante Hortensia?« Tante Hortensia nickte mit ihrem Hals und zog etwas aus der Tasche ihrer langen Unterhosen. »Hier.« Humphrey nahm es und hielt es dem Hund vor die Nase. »Such, Schackie. Na los, such!« Es entstand eine Pause. Der Gespensterhund schnüffelte an dem Stück Leinwand. Dann senkte er den Kopf, die drei Schwänze standen in die Luft, und mit einem Geräusch wie von einer unterirdischen Pumpstation verschwand er. Humphrey wartete ungeduldig, bis das rote Blinken des Schackauges die Dunkelheit durchbrach. Sie hörten den Schack zufrieden knurren und scharren. Einen Augenblick später war er zur Kutsche zurückgetrabt. In seiner Schnauze trug er das mit Schmutz bedeckte, aber glücklich lächelnde Haupt von Tante Hortensia. »Das ist ein sehr kluges und nützliches Tier«, sagte der Kopf. »Ich war in einen Tümpel gerollt, und wahrscheinlich hätte mich keiner gefunden.« »Siehst du, Mutter«, sagte Humphrey. »Siehst du!« Wie alle guten Mütter wußte die Hexe, wann sie sich geschlagen geben mußte. »Also gut«, sagte sie seufzend. »Aber paß auf, daß er seine widerlichen Pfoten unten läßt.« Sie fuhren endlose Meilen, und immer noch kam kein leeres Schloß oder eine Klosterruine oder ein bröckeliger Turm in Sicht, wo eine müde Gespensterfamilie hätte Rast machen können. Erst kurz vor Tagesanbruch, als der Himmel allmählich grau wurde, senkte der Schwebende Kilt den Kopf und sagte: »Da unten, was ist da unten?«
Sie krochen an die Fenster und sahen hinaus. Tief unter sich erblickten sie in einem großen Park die Umrisse eines riesigen Gebäudes. Es hatte vier Türme, einen Burghof in der Mitte, Zinnen ... »Ein Schloß!« rief Humphrey. »Können wir da wohnen?« »Wir werden mal runtergehen und nachsehen«, gab der Schwebende Kilt zur Antwort. Die Pferde waren müde und freuten sich, daß sie Höhe verlieren konnten. Als sie das Gebäude umrundeten, wurden alle etwas fröhlicher. Efeu wuchs auf den Mauern, einige Fenster waren vergittert, eine schwarze Krähe erhob sich mit wütendem Krächzen, als sie näher kamen. »Das sieht wirklich nicht schlecht aus«, meinte die Hexe. »Seht mal, da hängen zwei stinkende Schlangen zum Fenster raus.« Glücklich lächelnd sog sie den Duft ein. »Laßt uns da mal reinfahren.« Tante Hortensia hatte ihre Fehler, aber mit Pferden konnte sie umgehen. Geschickt wendete sie, und die Kutsche fuhr an den stinkenden, gestreiften Schlangen vorbei, die über das Fensterbrett hingen, und in das Fenster hinein. Allerdings handelte es sich nicht um stinkende Schlangen, sondern um die Fußballsocken von einem Jungen namens Maurice Crawler. Die Gespenster waren direkt in den Jungenschlafsaal der Internatsschule Schloß Norton gefahren.
4. Kapitel Rick wachte meistens als erster im Schlafsaal auf. An diesem Morgen war er besonders früh wach geworden, denn er hatte am Abend vorher sehr lange nachgedacht, und die Gedanken hatten ihn bis in den Schlaf verfolgt. Rick war ein ernster Junge mit einem schmalen Gesicht, großen, dunklen Augen und abstehenden Ohren. Die Ohren standen ab, weil seine Mutter es nicht über sich gebracht hatte, sie Rick als Baby mit Heftpflaster anzukleben, wie der Arzt es ihr gesagt hatte. Rick dachte über den Zustand der Welt nach. Die Welt, so kam es ihm vor, befand sich auf keinem guten Weg. In der Antarktis waren die Pinguine mit Öl verklebt und konnten nicht einmal watscheln. Die Blauwale hatte man beinahe ausgerottet. Seit Jahren hatte man eine bestimmte Rhinozerosart nicht mehr gesehen, und ein Kannibalenstamm im Amazonasgebiet, den Rick als Erwachsener aufsuchen wollte, war nach Rio de Janeiro in eine Wohnsiedlung verfrachtet worden. Rick fürchtete, alle interessanten Tiere und Pflanzen und Menschen würden verschwunden sein, bis er erwachsen war. Dann gab es vermutlich nur noch riesige Wohnblocks, langweilige Läden und Autobahnen. Der Gedanke erschreckte ihn.
Er sah sich im Schlafsaal um. Schloß Norton war vor hundert Jahren von einem reichen Bonbonfabrikanten namens Albert Borringer errichtet worden. Mr. Borringer war einer jener Typen, die kein Tier sehen können, ohne es zu erschießen, auszustopfen und an die Wand zu hängen. Als er starb und das Schloß eine Schule wurde, blieben die ausgestopften Tiere. In dem Bett gegenüber von Rick schnarchte unter einem riesigen Weißschwanzgnu mit sanftblickenden Glasaugen Maurice Crawler. Mit seinem vielen Speck, den Schweißfüßen und den kleinen Äuglein in der Farbe gebackener Bohnen war Maurice kein erfreulicher Anblick. Ohne ihn gäbe es allerdings auch die Schule nicht. Seine Eltern hatten die Schule gegründet, weil Maurice in keiner anderen Schule lange geblieben war. Aus fünf Schulen war er rausgeflogen, und das war kein Wunder. Maurice war ein Schlägertyp, er log und betrog. Rick seufzte. Im Bett neben ihm schlief Peter Thorne. Er stöhnte im Schlaf. Peter hatte noch immer fürchterliches Heimweh. Rick tat er leid, aber er hätte lieber einen Verbündeten gehabt. Jemanden, der ihm half, etwas zu tun. Plötzlich beugte Rick sich vor. Was war das seltsame rosafarbene, spinnwebartige Ding, das da am Ende seines Bettes hing? Er streckte die Hand aus. Zu seinem Erstaunen gab es keinen Widerstand, seine Hand berührte das Bettende. »Nein!« flüsterte Rick. »Ich glaub's nicht. Ich glaub's einfach nicht.« Die Hexe hatte Humphrey vor dem Schlafengehen sehr eindringlich befohlen, nicht sichtbar zu werden, bevor sie es ihm erlaubte. Aber wenn einen jemand am Ellbogen kitzelt, während man fest schläft, denkt man natürlich nicht an mütterliche Ermahnungen. Schon im nächsten Augenblick, während er sich noch die Augen rieb und gähnte, war Humphrey klar und deutlich zu erkennen.
»Was glaubst du nicht?« fragte Humphrey mit verschlafener Stimme. »Du kannst doch nicht da sein. Es ist unmöglich. Du kannst kein Gespenst sein.« Humphrey war nicht besonders empfindlich, aber das ärgerte ihn. »Was meinst du damit, ich kann kein Gespenst sein? Ich bin ein Gespenst. Ich bin Humphrey. Humphrey der Schreckliche.« Rick traute seinen Augen nicht. Aber da saß es, auf seinem Bett, durchsichtig wie Luft, mit einer Kette und einer Kugel an seinem Fußgelenk. Es rieb sich die Augenhöhlen mit seinen knöchernen Fingern. »Wer bist du?« wollte Humphrey wissen. »Ich nehme an, du bist ein Mensch. Ein Junge?« »Klar, ich bin Rick.« »Nur Rick? Nicht Rick der Revoltierer oder Rick der Abstoßende oder sonst etwas?« »Nein. Nur Rick Henderson. Rick ist die Abkürzung von Richard. Übrigens bist du gar nicht so schrecklich, oder? Ich meine das nicht persönlich.« »Ich werde das noch«, meinte Humphrey zuversichtlich. »Ich wachse ja noch. Meine Mutter und mein Vater sind schrecklich«, fügte er voller Stolz hinzu. »Mein Bruder und meine Schwester auch. Und meine Tante Hortensia ist ganz entsetzlich.« »Oh«, gab Rick zur Antwort. Er konnte noch nicht fassen, daß ein lebendiger, das heißt, ein toter Geist auf seinem Bett saß. »Sind die anderen auch hier?« »Ja, alle. Wir sind in der vergangenen Nacht angekommen.« Und er erzählte Rick seine abenteuerliche Geschichte, angefangen von der alten Abtei, wo man eine Zentralheizung eingebaut hatte, bis zum Schloß Craggyford, das eine
Feriensiedlung werden sollte. Und er erzählte schließlich von dem armen Schack, der in einem Kohlebergwerk spukte. Rick wurde beim Zuhören immer wütender. Nicht nur Pinguine und Wale und Kannibalen wurden vertrieben und ausgerottet, sondern auch Geister. »Es ist gemein«, sagte er, als Humphrey seine Erzählung beendet hatte. »Gespenster haben doch dasselbe Recht, da zu sein wie alle anderen. Es muß etwas geschehen.« »Aber was?« Humphrey sah Rick voller Bewunderung an. Er fand ihn unglaublich klug. »Ich werde darüber nachdenken. Glaubst du, ich könnte deine Familie kennenlernen?« »Natürlich. « Humphrey schwebte zu Maurice Crawlers Bett hinüber. »Meine Güte!« entfuhr es Rick. Von Maurice, der seinen dicken Bauch nach oben reckte, erhoben sich zwei riesige, schwarze gezackte Flügel. Einen Augenblick lang bewegten sie sich auf und ab, denn die Hexe machte ihre Morgengymnastik. Dann teilten sie sich, und man sah eine große krumme Nase, schielende Augen und haufenweise schwarzes verfilztes Haar. Gleichzeitig drang der Geruch nach verwesenden Eingeweiden in Ricks Nase. »Das ist meine Mutter«, flüsterte Humphrey voller Stolz. »Mummy, das ist Rick.« »Ich freue mich, Sie zu sehen«, erwiderte Rick höflich. Trotzdem war er froh, daß er Humphreys Mutter nicht zuerst begegnet war. Sobald die Hexe richtig wach war, flog sie an die Decke, um ihren Gemahl zu wecken. Der Schwebende Kilt war auf dem Gehörn eines ausgestopften Gnus eingeschlafen. Er sah äußerst merkwürdig aus, als er anfing, sichtbar zu werden. Sein Kilt hatte sich an einem Horn verhakt, und sein Schwert, das er
nicht herausgenommen hatte, weil er zu müde gewesen war, baumelte von seiner Brust herab. »Wo sind seine Beine?« flüsterte Rick Humphrey zu. »Er hat keine«, gab Humphrey stolz zur Antwort und erzählte die Geschichte von der Schlacht von Otternburn. George aufzuwecken stellte ein Problem dar. Die Familie hatte nämlich Angst, daß er sofort schreien würde, und damit hätte er die anderen Jungen im Schlafsaal geweckt. Sie nahmen Ricks Kissen und legten es George, der unter das Bett eines Jungen namens Terence Tinn gerollt war, sofort über den Mund. Winifred, ein sehr vernünftiges Mädchen, wachte von allein auf und kam zwischen den Betten herangeschwebt. Dabei jammerte sie kein bißchen, obwohl ihr sehr nach Waschen zumute war und ihr Wassergefäß sie wieder einmal sehr ärgerte. Die meisten Gespenster konnten sich auf Ricks Bett versammeln. Nur der getreue Schack mußte mit Tante Hortensias Kopf auf dem Boden bleiben, denn die Hexe mochte keine Hunde auf Bettdecken. Obwohl Rick die Gespenster allmählich lieb gewann, ließ ihn der Kopf doch zusammenzucken. Vor dem Frühstück sah er nie besonders gut aus, und heute war ein Auge verklebt, und ein halbes Dutzend Küchenschaben spielten in seinem linken Ohr Versteck. Es war wirklich kein sehr appetitlicher Anblick. »Wo ist denn der Rest vom Tantchen?« erkundigte sich die Hexe. »Hier ist ein lieber Junge, der uns helfen will. « In diesem Augenblick erschienen Hortensias große gelbe Füße in der Luft. Tante Hortensia hatte die Nacht in ihrer Geisterkutsche auf einem riesigen Schrank verbracht. Jetzt senkte sie sich herab und grollte, daß sie einen Krampf in ihrem Halsstumpf hätte. »Sind das alle?« wollte Rick wissen. Die Geister nickten.
»Humphrey hat mir erzählt, daß man euch aus eurem Zuhause vertrieben hat«, fuhr Rick fort. »Das stimmt.« Sie hatten vergessen zu flüstern. Plötzlich hob Maurice Crawler den Kopf und stieß einen Schreckensschrei aus. »Dinger«, stammelte er. »Widerliche, gräßliche Dinger!« Rick sprang aus dem Bett und ging zu ihm rüber. »Sei ruhig, Maurice, du weckst die anderen.« »Stumpfige Stümpfe.« Die Stimme von Maurice überschlug sich. »Eklige Köpfe, schwarze Fledermäuse ... « »Du spinnst ja«, erwiderte Rick mit fester Stimme. »Du hast geträumt. Sei jetzt ruhig. Mach die Augen zu und schlaf weiter.« »Ein böser Junge«, stellte Tante Hortensias Kopf fest, nachdem Maurice wieder angefangen hatte zu schnarchen. »Wir hatten gehofft, hierbleiben zu können«, sagte der Schwebende Kilt. »Aber ich sehe, das geht nicht. Zu viele Kinder verursachen mir Magenbeschwerden. Du natürlich nicht«, fügte er höflich hinzu. »Ich habe darüber nachgedacht«, gab Rick zur Antwort. »Nicht nur ihr seid vertrieben worden.« Und er erzählte von den Walen und den Kannibalen und all den anderen Lebewesen, die ihn beschäftigten. »Ich meine, ihr solltet einen Ort finden, wo alle Geister in Frieden leben können.« »Einen Ort, wo es dunkel ist«, meinte die Hexe flüsternd. »Einen Ort, wo es feucht ist«, fügte Tante Hortensia hinzu und entfernte die eingetrocknete Haut von ihrem Stumpf. »Eulen, Fledermäuse und Ratten müßte es dort geben«, forderte Winifred, die Tiere liebte. »Und ganz viele Gewitter«, wünschte sich George. »Und Geister, mit denen ich spielen kann.« Das war Humphreys Beitrag.
»Was ihr braucht, ist ein Geisterasyl«, erwiderte Rick. »Was ist ein Asyl?« wollte Humphrey wissen. »Das ist ein Ort, wo man sicher ist, wo keiner einem etwas tun kann. Wenn früher jemand von Soldaten oder von irgend jemandem verfolgt wurde, ging er in eine Kirche, das war dann sein Asyl, und niemand durfte ihm dort etwas tun.« »Eine Kirche würde ich nicht mögen.« Winifreds Stimme klang nervös. »Geister sind so gut wie nie in Kirchen.« »Ich weiß. Ich will nur etwas erklären. Es gibt Vogelschutzgebiete für Papageientaucher und Kormorane. Da können sie Nester bauen und brüten, und niemand darf auf sie schießen oder ihre Eier sammeln. Und dasselbe gibt es für Indianer in Amerika.« »Aber Indianer legen keine Eier«, wandte Humphrey ein. Rick seufzte. »Was ich sagen wollte, ist, daß sie Schutzgebiete haben, Asyle. Bei den Indianern nennt man es Reservationen. Dort können sie so leben, wie sie immer gelebt haben, und niemand stört sie. So etwas braucht ihr. Ein Asyl für Geister.« »Ein Asyl für Geister«, wiederholten sie einstimmig und nickten dazu. Was Rick sagte, klang vernünftig. Es war eine tolle Idee. Besonders schön war die Vorstellung, daß sie nach einem Ort suchten, wo alle Geister glücklich sein würden, nicht nur sie. »Ich wollte, es könnte hier sein«, meinte Humphrey. Ihm gefiel die Vorstellung überhaupt nicht, Rick wieder verlassen zu müssen. Plötzlich ertönte ein Schrei aus dem nächsten Bett. Er kam von Peter, dem Neuen. Er war aufgewacht und sah direkt in das große Untertassenauge vom Schack. »Schlaf weiter«, sagte Rick. »Du träumst.«
Allerdings war ihm klar, daß es nicht leicht sein würde, allen Jungen im Schlafsaal zu erzählen, daß sie denselben Traum gehabt hätten. Und bald würde es hell sein, und dann kam die Hausmutter. Natürlich konnte er den Geistern sagen, daß sie verschwinden sollten. Aber Freunden zu sagen, daß sie sich verziehen sollten - so etwas tut man einfach nicht. »Heute ist Sonntag«, sagte er schließlich. »Ich nehme euch mit rüber in die Turnhalle, die wird heute nicht gebraucht. Und dann rede ich mit einer Freundin, die sehr klug ist, und wir machen einen Plan.« »Einverstanden, lieber Junge«, erwiderte der Schwebende Kilt. »Gibt es in eurer Turnhalle einen Barren? Und ein Pferd?« »Ja, all so was.« »Gut.« Der Schwebende Kilt folgte Rick in die Turnhalle. Er wollte nicht prahlen, aber in seinem Leben war er ein sehr guter Sportler gewesen. Beim Baumstammwerfen, beim Hurling und anderen schottischen Sportarten hatte der Schwebende Kilt immer hervorragend abgeschnitten.
5. Kapitel Die Freundin, mit der Rick über die Gespenster sprechen wollte, war die Tochter der Schulköchin. Barbara war rundlich und hatte dickes, langes, kastanienbraunes Haar, freundliche braune Augen, wie gut gefütterte Milchkühe sie haben, und rosig-braune Haut. Außerdem hatte sie Grübchen. Alles, was sie tat, tat sie langsam. Sie regte sich nie auf,und wenn sie nicht interessierte, was andere sagten, schlief sie einfach ein. Obwohl Schloß Norton eine Schule für Jungen war, ließen die Crawlers Barbara mit den Internatsschülern den Unterricht besuchen. Das lag nicht etwa dran, daß die Crawlers nette Leute wären, sie waren sogar außerordentlich unangenehm. Es lag daran, daß Barbaras Mutter sehr gut kochte, und sie wollten sie nicht verlieren. Barbara schien nie für den Unterricht zu arbeiten. Sie schien auch nie zuzuhören, wenn die Lehrer etwas sagten. Aber wenn man sie etwas fragte, wußte sie die Antwort sofort. Wenn eine Arbeit geschrieben wurde, war sie nicht nur die Beste, sie war auch immer als erste fertig. Bei Mathearbeiten gab sie ihre Arbeit eine halbe Stunde früher als die anderen ab und hatte alle Aufgaben richtig gelöst. Rick fand Barbara in der Küche, wo sie ihrer Mutter beim Puddingkochen half. Als sie sah, daß Rick etwas bedrückte,
ließ sie den Pudding jedoch sein, und sie gingen zu einem alten Weidenbaum, der in der Nähe der hinteren Internatspforte stand. Rick brauchte nicht lange, um ihr seine Geschichte zu erzählen. Barbara verzog weder das Gesicht, noch sagte sie, er habe nur geträumt. Sie sah überrascht aus. »Geister«, sagte sie. »Wer hätte das gedacht!« »Du verstehst also, wir müssen einen Ort finden, wo sie hingehen können«, sagte Rick. »Aber wo finden wir den?« Barbara pflückte sich einen langen Grashalm und kaute daran. »Westminster.« »Was?« »Fahr nach London. Zum Parlamentsgebäude in Westminster. Dort sitzt die Regierung. Bei so einer Sache muß man ganz an die Spitze gehen. Zum Premierminister.« »Du meinst, ich soll einen Brief schreiben?« »Nein. Fahr hin. Mit ihnen zusammen. Laß sie unsichtbar bleiben, bis ihr dort seid. Dann verlangst du, den Abgeordneten aus deinem Wahlkreis zu sehen. Alle dürfen das. Das ist ein Gesetz. Er soll dich zum Premierminister bringen. Dann zeigst du ihnen die Geister. Sonst wird dir niemand glauben.« »Meine Güte!« Rick war überwältigt. »Du kannst natürlich versuchen, die Leute hier dazu zu kriegen, daß sie etwas in der Sache tun, aber keiner hat das Geld dafür. So ein Gespensterasyl würde Tausende kosten. Nur die Regierung kann sich das leisten.« »Von hier bis London sind es über zweihundert Meilen. Den Geistern macht das nichts aus. Sie haben ihre Gespensterkutsche, außerdem können sie schweben. Aber was ist mit mir? Ich kann nicht so weit laufen.« Barbara legte ihre Stirn in freundliche Falten. »Du mußt den Weg in mehreren Abschnitten zurücklegen. Von hier bis
Grange-on-Trant kannst du mit Onkel Teds Milchwagen fahren. Das sind dreißig Meilen. Dann nimmst du den Bus nach Lonsdale. Landbusse sind billig. Durch das Saughbeckmoor kannst du wandern oder vielleicht per Anhalter fahren, und das letzte Stück fährst du dann mit dem Zug. Ich habe ein bißchen Geld gespart.« »Ich auch. Das würde ich schaffen.« »Soll ich mitkommen? Kein Problem, wenn du willst.« Barbara pflückte zwei weitere Halme und fing wieder an zu kauen. Rick nahm den Halm, den sie ihm gab, und überlegte. Es wäre schön, Barbara dabei zu haben. Irgendwie beruhigend. Doch dann schüttelte er den Kopf. »Ich glaube, es ist besser, du bleibst hier und hältst mir den Rücken frei. Du könntest versuchen, den Schlüssel vom Schulbüro zu kriegen und zwischen sieben und acht am Abend da zu sein. Dann kann ich dich anrufen, wenn etwas schiefgeht oder ich nicht weiter weiß. « »Recht hast du. Meinst du, ich könnte sie sehen, bevor ihr euch auf den Weg macht? Würde ich sehr gerne.« »Klar«, sagte Rick und ging vor ihr her zur Turnhalle. Die Geister amüsierten sich großartig. Der Schwebende Kilt hing am Barren und vollführte eine sehr schwierige Übung. Tante Hortensia hatte das Trampolin entdeckt und sprang auf und nieder, wobei ihr Nachthemd sich über ihrem Halsstumpf bauschte. Ihre Füße mit der dicken Hornhaut zuckten vor Vergnügen. George stand auf seinem Schädel. »Sieh mich an, Rick!« rief Humphrey der Schreckliche und fiel prompt vom Seil. »Meine Güte«, sagte Barbara mit weit aufgerissenen Augen. »Das finde ich wirklich toll. Wonach riecht es hier so widerlich?« Der Hexe gefiel, was Barbara gesagt hatte. Sie hörte mit ihren Liegestützen auf und kam näher, um mit ihr zu reden.
»Es ist nasse Walleber«, sagte sie. »Ein Lieblingsduft meines Mannes. Ich benutzte ihn, als wir uns kennenlernten.« Rick stellte Barbara vor, und alle Geister schwebten heran, um zu erfahren, was beschlossen worden war. »Ein guter Plan«, meinte der Schwebende Kilt, wobei er zustimmend das Schwert in seiner Brust um drehte. »Man muß es ganz oben versuchen, wenn man etwas erreichen will. Wann brechen wir auf?« »Wir dachten, morgen bei Tagesanbruch. Dann fährt nämlich der Milchwagen in die Stadt.« »Bei Tages- Tages- Tagesanbruch«, schrie Humphrey und sprang wie ein Jojo auf und nieder. Keiner von ihnen nahm Notiz von einer kleinen schwarzen Fledermaus, die im Dachgebälk geschlafen hatte. Sie verließ jetzt mit ihnen die Turnhalle und entschwand. Und selbst wenn sie sie gesehen hätten-niemand hätte gewußt, daß diese Fledermaus der Enkel von Susi der Saugerin war. Susi war eine der berühmtesten Vampirfledermäuse von ganz England. Sie wußten nicht, daß sich, bevor es Nacht wurde, die Nachricht von Ricks Reise wie ein Lauffeuer verbreitet haben würde; durch die Wälder von Saughbeck und weiter und weiter bis zu den fernsten Küsten. Rick genoß die Fahrt auf Onkel Teds Milchwagen nicht gerade. Die Geister auf die Reise vorzubereiten war anstrengend gewesen. Die Gespensterpferde waren nach der Ruhepause gut ausgeruht und wollten sich kein Zaumzeug anlegen lassen. Tante Hortensia taten ihre entzündeten Fußballen weh, und sie zog dem Schack eins über, weil er auf ihren Kopf gepinkelt hatte. Humphrey war darüber so wütend, daß er sich weigerte, in der Kutsche mitzufahren, und statt dessen neben Rick im Milchwagen reisen wollte.
»Ich verspreche, daß ich unsichtbar bleibe«, sagte er. »Ich verspreche es.« »Und dein Ellbogen?« »Auch mein Ellbogen.« Und dann stellte sich heraus, daß Onkel Ted dichtete. »Schmetterling und Bienensummen lieb ich wirklich sehr. Aber Wurst und braune Bohnen mag ich noch viel mehr!« Mit seiner Stimme übertönte er sogar den Motor seines Wagens. »Gefällt es dir?« wollte er wissen. »Sehr«, erwiderte Rick höflich und sah beunruhigt zum Himmel auf. Später lernte er, herauszufinden, wo die Geister sich aufhielten, auch wenn sie nicht zu sehen waren. Es ist eine besondere Begabung, Gespenster sehen zu können. Aber jetzt konnte er nur hoffen, daß die Geisterkutsche mit dem Milchwagen mitkam und daß es allen dort gutging. »Wie findest du das?« fragte Onkel Ted, der offensichtlich sehr stolz auf seine Dichtkunst war: »Wasser dunkel, Wasser tief, ein Fischlein dort am Grunde schlief. « »Fische schlafen nicht«, flüsterte Humphrey Rick ins Ohr. »Nicht richtig jedenfalls. Weil sie keine Augenlider haben. Oder Wimpern. Ich weiß das, weil Onkel Leonard der Widerwärtige uns mit runtergenommen hat...« »Pssst!« sagte Rick. Er wandte sich wieder Onkel Ted zu. »Hast du viele Gedichte gemacht?« »Na, so zwei- bis dreihundert. He, was ist das für ein Geräusch?« »George schreit ... Ich meine, deine Reifen quietschen. Was ist passiert?«
»Merkwürdig. Wir sind doch gar nicht um eine Kurve gefahren«, meinte Onkel Ted. Rick war ziemlich erleichtert, als Onkel Ted den Wagen anhielt und ihn vor einer der großen Brücken über den Trant River absetzte. »Der Bus fährt hier vorbei, du kannst ihn nicht verpassen. Und grüß deine Großmutter. Hoffentlich geht es ihr bald besser.« Rick kam sich einen Augenblick lang richtig gemein vor. Leute zu belügen, die nett zu einem sind, ist nicht gerade angenehm. In Schloß Norton klopfte Barbara gerade an die Tür des Arbeitszimmers von Mr. und Mrs. Crawler. Mr. Crawler, der Schulleiter, war klein, blaß und klapprig. Von Tag zu Tag schien er noch kleiner, blasser und klappriger zu werden. Mrs. Crawler dagegen wurde immer fetter, lauter und rosiger. Die Jungen fragten sich, ob sie ihren Mann anknabberte, wenn er schlief, so daß er immer weniger wurde. »Herein«, rief sie. Barbara überquerte den pflaumenfarbenen Teppich und näherte sich dem großen Doppelschreibtisch, hinter dem die Crawlers saßen. Über Mrs. Crawler hing ein Alligator mit freundlichem Lächeln. Mr. Crawler saß unter einem Büffel mit traurigem Blick. Barbara konnte einfach nicht begreifen, warum man Tiere einfach schießen und ausstopfen durfte, während sich bei Menschen, selbst wenn sie nur halb so nett wären, alle fürchterlich aufregen würden. »Ja?« Mrs. Crawlers Stimme klang scharf, als sie Barbara sah. Sie hatte wenig Lust, ihre Zeit mit der Tochter ihrer Köchin zu vergeuden. Barbara stand vor einer schwierigen Aufgabe. Sie mußte sich einen Grund ausdenken, warum Rick verschwunden war. Gleichzeitig mußte sie verhindern, daß die Crawlers Ricks Mutter anriefen. Ricks Mutter war kein bißchen härter
geworden, seit sie es nicht geschafft hatte, Ricks Ohren mit Heftpflaster festzukleben. Rick machte sich oft Sorgen um sie. Also sagte Barbara, daß überraschend Ricks Patentante zu Besuch gekommen sei. » In einem großen silbergrauen Wagen mit den Buchstaben RR auf der Motorhaube. « Barbara wußte, was für Snobs die Crawlers waren. »Ein Rolls-Royce«, stellte Mrs. Crawler beeindruckt fest. Ricks Patentante sei Amerikanerin, fuhr Barbara fort, und nur für ein paar Tage in England. Sie wolle Rick mit nach London nehmen, um ihn kennenzulernen. »Steht alles in dem Brief da«, fügte Barbara hinzu und hielt den Crawlers einen Bogen Papier hin. »Gut, das scheint in Ordnung zu sein«, sagte Mrs. Crawler, nachdem sie den Brief gelesen hatte. »Sie möchte, daß wir ein Geschenk für die Schule aussuchen. Alles, was wir wollen.« »Einen Kricketpavillon«, sagte Mr. Crawler, der nicht gerade bescheiden war. »Unsinn, mein Lieber. Einen neuen Eßraum brauchen wir viel nötiger.« Sie stritten weiter, ihr Tonfall wurde immer wütender, und Barbara verließ auf Zehenspitzen den Raum. Sie fälschte nicht gerne Briefe, es verursachte ihr Magenschmerzen. Aber bei Leuten wie den Crawlers mußte man nicht zu viele Bedenken haben. Und ein Geisterasyl war ja wirklich etwas ungeheuer Wichtiges.
6. Kapitel Währenddessen standen Rick und die Geister auf einer großen Eisenbrücke. Unter ihnen floß der Fluß Trant breit, grau und gemächlich. Fabriken mit rauchenden Schornsteinen und Lagerschuppen standen am Ufer. Auf dem schaumigen, übelriechenden Wasser sah man Schlepper, die Kohle geladen hatten. »Ah, riecht es hier gut.« Die Hexe zog die Luft mit ihrer langen gekrümmten Nase ein. Rick fand, der Fluß roch einfach widerwärtig - schmutzig, verpestet, wie eine große Kloake. Er seufzte und wandte sich der Stelle zu, wo sich, wie er hoffte, die Geister befinden mußten. »Also, wir planen jetzt den nächsten Schritt«, begann er und hielt verwundert inne. Im Fluß passierte etwas. Genau unter der Brücke wurde die ruhige Oberfläche von Strudeln durchbrochen. Es sah aus, als wäre ein Whirlpool aus dem Nichts entstanden. Er erhob sich aus dem Fluß und wurde höher und höher... Die Geisterpferde scharrten mit den Hufen und wieherten. Der Schack winselte erschrocken.
Immer noch stieg der Whirlpool an. Dann ergossen sich mehrere Tonnen Wasser mit lautem Platschen durch die Eisengitter des Brückengeländers auf die Straße. Als Rick wieder etwas sehen konnte, erblickte er einen merkwürdig aussehenden Mann. Er trug einen langen grauen Bart, in dem ein paar tote Fische hingen. Schleimige grüne Tangfetzen waren in seinem hüftlangen grauen Haar verflochten. In seiner Hand hielt er etwas, das wie eine riesige verrostete Gabel aussah. Vorsichtig streckte Rick eine Hand aus. Wie erwartet, durchdrang seine Hand das merkwürdige Etwas und berührte das Brückengeländer. »Du bist also auch ein Gespenst?« Der alte Mann nickte. »Ja, ich bin der Flußgeist. Sehr alte Familie. Walter heiße ich. Walter der Nasse.« Er nahm einen toten Fisch aus seinem Bart, verzog das Gesicht und warf ihn auf die Erde. »Wie das stinkt!« grummelte er. »Suchst du jemanden?« fragte Rick vorsichtig. »Ich hab gehört, hier sollen ein paar Leute vorbeikommen.« Er sah Rick unter seinen buschigen Brauen hervor durchdringend an. »Eine Hexe oder vielleicht zwei, und so etwas wie ein Schwebender Kilt. Unterwegs wegen einem Geisterasyl.« »Ja, sie sind hier«, gab Rick zu. Jetzt konnten die Geister es nicht länger aushalten. Einer nach dem anderen erschienen sie und versammelten sich um Walter den Nassen, der unter Niesen einen Wasserfloh aus seiner Nase beförderte. »Seht euch das an«, sagte er und hob ihn auf. »Tot, vergiftet, genau wie der Fisch. Schaut euch bloß mein Geisterplasma an.« Er streckte einen nackten Arm aus und spannte die Muskeln, die weiß und weich wie Grieß aussahen.
»Schlimm«, ließ sich Tante Hortensia vernehmen. Sie reckte ihren Halsstumpf vor, damit alle erkennen konnten, daß der auch in schlechtem Zustand war. »Seit dreitausend Jahren lebe ich in diesem Fluß«, sagte Walter der Nasse. »Ich erinnere mich, wie die Römer den Hadrianswall gebaut haben. Hunderte von ihnen habe ich im Fluß ersäuft, wie es sich für einen Flußgeist gehört. Pikten und Schotten habe ich ertränkt. Grenzreiter habe ich in den Wahnsinn getrieben, wenn ich mich in dunklen Nächten mit wild flatternden Haaren zeigte. Schrecklich konnte ich sein und dann wieder weich wie Butter. Es gab nichts Sanfteres als mich nördlich der Themse. Aber jetzt, sage ich euch, ist dieser Fluß am Ende.« »Was stimmt denn nicht mit ihm, Mr. Walter der Nasse?« wollte Humphrey wissen. »Was nicht mit ihm stimmt? Nichts stimmt mehr. Abwässer. Abfallschlamm von der Zementfabrik. Öl von den Schiffen. Chemikalien aus den Düngemittelwerken. Da, seht euch meine Mandeln an.« Er öffnete den Mund, ließ einen Schwall schmutzigbraunen Wassers heraus, und alle sahen ihm nacheinander in den Hals. »Stark geschwollen«, stellte die Hexe fest und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, in der linken steckt ein Glassplitter«, meinte Winifred besorgt. »Glas. Rostige Nägel, Stiefel. Ich sage euch, der Grund des Flusses ist wie ein großer Abfallhaufen. Und tote Fische. Neulich bin ich abends im Flußbett eingeschlafen, und am nächsten Morgen lag eine Tonne toter Fische auf mir, so schnell sind sie eingegangen. Es ist abscheulich. Wißt ihr, was ich jetzt mache, wenn ein Matrose von einem der Tanker über Bord fällt? Ich bleibe liegen und schlafe weiter. Ich brauche ihn nicht in die Irre zu locken, damit er ertrinkt. Er braucht nur
einen Schluck von dem Flußwasser zu trinken, und er ist vergiftet. Oder er zerschneidet sich den Hals an einem alten Ölkanister. Ich kann sicher sein, am Morgen ist er da, wo die Fische sind. Zwischen all dem alten Gerümpel und mausetot.« Rick fand das alles schrecklich. Es war wie bei den Walen und Pinguinen. »Die armen Fische«, sagte er. »Und was ist mit mir?« rief der Flußgeist. »Ich denke an mich. Ich kann nicht mehr in diesem Fluß leben. Jetzt bauen sie einen Tunnel, um eine Straße unten durchzuführen. Die ganze Nacht hört man Baumaschinen kreischen. Nein, es hat keinen Zweck, ihr müßt mich in euer Asyl mitnehmen.« Alle tauschten Blicke. »Würdest du auf der Reise denn nicht austrocknen?« gab Rick zu bedenken. »Wenn ich kann, werde ich untertauchen.« Dabei warf Walter einen schnellen Blick auf Winifreds Wasserschale. Erschrocken trat Winifred einen Schritt zurück. Sie war das netteste Mädchen, das man sich denken konnte, aber ihre Schale war nur dafür da, um ihre Blutflecken auszuwaschen. Rick runzelte die Stirn. Wenn Walter der Nasse mitkam, mußte man einen Ort finden, wo es einen Fluß oder See gab. Es sah aus, als müßte das Asyl ziemlich groß sein. Rick konnte nur hoffen, daß der Premierminister nett und verständnisvoll war. Andererseits konnte man nicht von einem Asyl sprechen, wenn Asylsuchende ausgeschlossen wurden. »Ich fürchte, wir haben keinen Platz in der Kutsche«, wandte Tante Hortensia ein. »Selbst wenn mein Stumpf die Feuchtigkeit vertragen würde. Was ich allerdings bezweifle.« Walter schüttelte Wassertropfen von seinem Rükken und sagte: »Ihr wollt doch nach London, also nach Süden, oder? Der Fluß fließt nach Süden. Nehmt ein Schiff. Vielleicht einen Kohleschlepper.« »Ein Schiff«, schrie Humphrey der Schreckliche. »Ach, ein Schiff wäre wunderbar!«
»Willst du damit sagen, daß man mit der Kutsche auf ein Schiff fahren müßte?« erkundigte sich Tante Hortensia. »Ja, das könnte sein. Ein großer Schlepper legt hier gegen zwölf Uhr ab und bringt Kohle nach Porchester. Die Männer legen an der Landungsbrücke dort drüben an und gehen im Pub auf dem Hügel ein Bier trinken. Der Junge kann dann an Bord gehen und sich verstecken, und für uns ist es ja sowieso kein Problem.« Walter der Nasse hatte recht. Kurz nach zwölf kam ein langer, flacher Kohleschlepper den Fluß heraufgetuckert und legte am Kai unter der Brücke an. Die Besatzung bestand aus zwei Männern, einem kleinen Dünnen mit Bart und einem großen Breitschultrigen, der George in Aufregung versetzte, weil er ein Bild mit einem Schädel und gekreuzten Knochen auf seinen Oberarm tätowiert hatte. »Das bin ich!« schrie George immer wieder. »Ich bin es, es ist ein Bild von mir!« Als der Schlepper sicher am Kai lag und die Männer sich auf den Weg zur Schifferkneipe oben auf dem Hügel gemacht hatten, sprang Rick an Bord. Er fand einen alten Sack, grub eine Höhle in den Kohlehaufen und schlüpfte hinein. Als er sich gerade die Haare mit Kohlenstaub schwarz machte, hörte er eine Stimme neben sich. »Bitte, darf ich auch mit in die Kohlen kommen?« Mit einem glücklichen Seufzer schmiegte sich Humphrey der Schreckliche an Rick. Die Flußfahrt fanden alle wunderschön. Es hatte aufgehört zu regnen, ein leichter Wind blies über das Wasser, und die Stadt lag bald hinter ihnen. Auf einem Schiff zu reisen ist etwas sehr Friedliches. Kühe stehen am Ufer und sehen einen an, kleine Jungen winken von den Brücken, alte Damen radeln am Ufer entlang. Allmählich hörte Rick auf, sich Gedanken darüber zu machen, was er dem Premierminister sagen sollte, wenn er ihn je zu Gesicht bekam. Es war nicht allzu gemütlich
in dem Kohlehaufen, aus dem nur seine Augen heraussahen. Er schaute auf die Weidenbäume und die Enten und konnte nicht begreifen, daß man so einen idyllischen Fluß mit Abwässern und Chemikalien und anderem Schmutz vergiften konnte. Abends legte der Schlepper in Lonsdale an, und sobald die Männer das Schiff vertäut und sich in ihre Kabine begeben hatten, um sich ein Bier zu genehmigen, krabbelte Rick aus seinem Versteck. Es hatte keinen Sinn, noch länger an Bord zu bleiben, denn der Fluß floß von jetzt an in westlicher Richtung weiter, während sie nach Süden durch das Saughbeckmoor wollten. Es war zu spät, um auf Autos oder Busse zu warten, sie mußten zu Fuß weitergehen. Sie gingen eine Stunde, dann wurden es zwei ... Es war eine mondlose Nacht mit kaltem Wind. Rick, der nur ein paar Sandwiches gegessen hatte, wurde sehr müde und hungrig. Neben ihm ging stetig tropfend Walter der Nasse und erzählte von all den vielen Seeleuten, die er ins nasse Grab befördert hatte. Als er bei Nummer dreiundzwanzig, einem Wikingerpiraten namens Knut mit der Knute, angelangt war, sank Rick der Kopf auf die Brust. Er ging fast wie im Schlaf. Die freundliche Hexe hatte gerade die Kutschentür über Rick geöffnet und sah, wie müde er war. Sie ordnete deshalb eine Pause an. Sie fanden ein Wäldchen in einer Senke, wo der Wind nicht so stark blies. Ein Bach floß hier, Farnkräuter und Moos wuchsen an seinem Ufer und ein sehr glitschiger Pilz, eine Stinkmorchel, der die Hexe direkt neidisch machte, weil er noch schlimmer roch als sie. Viele Zweige lagen herum, und Rick machte ein Feuer, wobei er darauf achtete, daß er die Bäume nicht ankokelte. Dann halfen ihm die Geister, aus Blättern ein Bett zu machen. Obendrauf legte er seinen Anorak. Sobald er sich hingelegt
hatte, kam natürlich Humphrey der Schreckliche und rollte sich neben ihm ein. Danach legte sich der Schack auf ihre Füße. Tante Hortensia streckte sich auf dem Rücksitz der Kutsche aus. Die Hexe und der Schwebende Kilt fanden eine moosbewachsene Kuhle und nahmen George und Winifred in ihre Mitte. Walter der Nasse ging im Bach schlafen. Weil dieser so flach war, wurde er nur zur Hälfte naß, aber er sagte, das sei besser als nichts. Rick wußte nicht genau, wovon er wach geworden war. Das erste, was er wahrnahm, war ein merkwürdiger Geruch. Es war nicht die Stinkmorchel und auch nicht der Geruch nach angebrannten Backpflaumen, den die Hexe im Schlaf absonderte. Nein, dies war ein seltsam modriger Geruch. Waren es vielleicht Ratten ... oder Mäuse ... Und dann sah er die Augen. Unheimliche rote, gierige Augen. Ein Paar links von ihm neben einer großen Buche, ein Paar direkt vor ihm, einen halben Meter von ihm entfernt... Im ganzen waren es fünf Augenpaare, die ihn umgaben. Rick, den es eiskalt durchfuhr, starrte in die Dunkelheit. Waren das Klauen? Schwingen? Unbeschreiblich grausige Hautfalten? Und dann wußte er plötzlich, was es war. Vampirfledermäuse. Sie waren von blutsaugenden Vampirfledermäusen umringt!
7. Kapitel Es war ein entsetzlicher Augenblick. Alles, was er jemals über Vampire gelesen hatte, zuckte durch sein Bewußtsein. Daß sie Menschen Blut aus den Adern saugten, während die schliefen. Daß sie Grabräuber waren, daß sie an dunklen, schaurigen Plätzen hausten, daß sie jeden, der sie sah, verfolgten. Ohne es zu merken, mußte er geschrien haben, denn die roten Augen kamen näher. Sie betrachteten ihn voller Schadenfreude. Und sie schienen zu warten. Jetzt bewegte sich Humphrey und setzte sich auf. Er rieb sich den Knöchel, wo sich die Kette und die Kugel befanden. Dann, bevor Rick ihn zurückhalten konnte, sprang er auf und direkt auf das größte und schrecklichste Augenpaar zu. »Cousine Susi!« rief er. »Ich bin es, Humphrey! Humphrey der Schreckliche.« Die roten Augen schlossen sich, öffneten sich wieder. Und dann kam die größte der Vampirfledermäuse nach vorne in den Schein des verlöschenden Feuers. »Himmel! Wenn das nicht Mabels Sohn ist«, ließ die Saugende Susi sich vernehmen. Sie betrachtete Humphrey und ritzte sein Plasma mit ihren Klauen. »Du wirst nicht schrecklicher, mein armes Kind.«
»Das kommt noch«, seufzte Humphrey. Wenn doch nicht jeder immerzu dasselbe sagen würde. »Das hier ist Rick, Cousine Susi. Er ist ein Mensch und wird für uns alle einen Platz zum Leben finden.« »Soso, ein Mensch. Erfreut, dich kennenzulernen.« Susi kam näher. »Sehr erfreut.« Rick versuchte, ebenfalls erfreut auszusehen, aber es gelang ihm nicht. Jagen war eine Sache, blutsaugen eine andere, und als Susi jetzt auf ihn zukam, mußte er sich sehr zusammenreißen, um nicht wegzulaufen. »Also, ich bin wegen dieses Asyls hier«, fuhr Susi fort. »Ich habe so etwas von einer kleinen Fledermaus gehört, die gestern bei uns vorbeikam.« »Susi!« Aus der Mooskuhle ertönte ein Schrei, und die Hexe kam herübergeschossen. In ihrer Aufregung roch sie gleichzeitig nach verrottetem Schafshirn, verfaulten Eiern und toten Ohrwürmern. Sie und die Vampirfledermaus umarmten sich und bildeten ein einziges Knäuel aus schwarzen Flügeln, Nase, Warzen und Klauen. »Wahnsinn«, sagte die Hexe immer und immer wieder. »Was für eine Freude, was für eine Freude! Wie geht es den Jungen?« Der Vampir drehte sich um. »Sozzler! Gulper! Syphoner! Fred! Kommt her!« Vier Paar Augen funkelten und kamen nach vorne ins Licht. »Feine Jungen«, sagte die Hexe. »Aber dünn.« »Dünn, Mabel? Nicht nur dünn. Sie sind nur Haut und Knochen. Sie sind am Verhungern.« Sie zeigte auf den, der ihm am nächsten stand. »Sieh ihn dir an. Seit seiner Geburt hat dieses Kind kein frisches, warmes Blut getrunken. « »Ich habe gehört, daß die Dinge nicht gut für euch stehen«, ließ sich der Schwebene Kilt vernehmen. Er konnte nie weiterschlafen, wenn die Hexe nicht mehr an seiner Seite war.
»Nicht gut! Schrecklich ist alles, unglaublich schlecht. Ihr kennt unser Tal - schönes Farmland war es. Rundliche Farmfrauen lebten dort, gesunde junge Mägde, saubere Hirten. Es gab Dörfer mit Schlachtern und Bäckern, die bei offenem Fenster schliefen. Es gab so viel zu trinken. Ein Schluck oder zwei jede Nacht, und wir Vampire waren überglücklich.« »Soll das heißen, daß ihr ins Fenster geflogen seid und nachts Menschenblut getrunken habt? Das habt ihr getan?« Rick trat einen Schritt zurück. »Sicher haben wir das getan«, erwiderte Susi und sah Rick unfreundlich an. »Was glaubst du denn sollen blutsaugende Vampire tun, außer Blut saugen? Die Leute haben es nie gemerkt. Ein Vampir, der sein Geschäft versteht, hinterläßt eine Stelle, die nicht größer als ein Mückenstich ist. « »Also, ich finde das trotzdem widerlich.« »Ah ja, das findest du. Und was trägst du an deinen Füßen?« Susis rote Augen funkelten. »Schuhe.« Rick war überrascht. »Genau. Zweifellos aus Leder. Leder von einer Kuh, nehme ich an. Und vermutlich bist du zu der Kuh gegangen und hast sie gefragt, ob sie etwas dagegen hat, umgebracht zu werden, damit du dir Schuhe machen lassen kannst.« Rick bekam einen roten Kopf. So hatte er das noch nie gesehen. »Und was ißt du zum Frühstück? Schinken, glaube ich. Schinken von einem Schwein.« Rick nickte. »Na also«, sagte Susi. »Aber du gehst nicht zu dem Schwein und nimmst nur einen kleinen Bissen, damit es weiterleben kann. O nein. Du tötest das Tier und schneidest es in Scheiben. Also wirklich, ich habe Menschen so satt.«
»Rick ist mein Freund.« Humphrey der Schreckliche legte seine Knochenfinger liebevoll auf Ricks Arm. Rick beachtete ihn nicht. Susis Worte hatten ihn aus der Fassung gebracht. Aber konnte man keine Schuhe tragen und kein Fleisch essen? Manche Menschen waren Vegetarier, das wußte Rick. Er konnte sich vorstellen, nur Turnschuhe zu tragen. Aber keine Brathähnchen, keine Hot-dogs, keine Schweineschnitzel... »Also, was ist im Tal passiert? Was ist schiefgelaufen?« wollte die Hexe wissen. »Zuerst zogen die Menschen weg. Sie wollten Jobs in den Städten. Bessere Bezahlung. Spielhallen. Kinos. Mehr Abwechslung. Jeden Tag packte eine Familie ihre Sachen und zog weg. Hübsche, rundliche Mahlzeiten stiegen in Autos, und weg waren sie.« Susi seufzte. »Aber das ist noch nicht alles. Wollt ihr wissen, was jetzt passiert ist?« Alle schüttelte den Kopf. »Sie haben das Tal überflutet. An beiden Enden haben sie einen Riesenbetondamm gebaut. Ein Stausee, um Wasser für die Fabriken im Süden zu haben.« »Meine Güte«, entfuhr es der Hexe. »Meine Güte, meine Güte, meine Güte!« »Das kannst du laut sagen. Es gibt dort keine Warmblüter mehr. Nur Wasser und ein paar Fische.« »Könnt ihr euch nicht von Fischen ernähren?« »Das haben wir versucht, Mabel, wir haben es versucht. Aber Fische sind Kaltblüter. Wir haben uns furchtbar den Magen verkühlt. Mein armer alter Onkel Slurper, erinnerst du dich an ihn? Er starb, nachdem er im vergangenen Januar Blut aus einer elenden kalten Forelle gesaugt hatte. Er bekam Lungenentzündung. Wirklich, Mabel, es kann einfach nicht so weitergehen.« »Aber wovon wollt ihr leben, wenn ihr mit uns mitkommt? In dem Asyl wird es keine Menschen geben.« »Kühe würden
es auch tun. Ihr werdet doch sicher ein oder zwei Kühle halten?« »Aber ihr könnt doch nicht das Blut von...« fing Rick an. »Ach, das können wir nicht«, sagte Susi und fuhr auf ihn los. »Wenn du eine Kuh wärst, was hättest du denn lieber? Ein oder zwei Stiche nachts, während du schläfst, oder Menschen, die dein Euter ausquetschen und dir die Milch wegnehmen, die du für dein Kalb haben willst?« Rick seufzte. Es war schwer, mit der Saugenden Susi zu argumentieren. »Es geht nicht nur um mich. « Ihre Stimme schlug um und wurde sanft und mütterlich. »Die Jungen und ich, wir kommen schon irgendwie klar. Es ist nur... seht her!« Sie nestelte an der losen Haut über ihrem Bauch, und aus einer schwarzen Hauttasche holte sie etwas hervor und hielt es ihnen hin. »Oh!« Die Haare auf der langen Nase der Hexe zitterten vor Mitgefühl. Es war ein winziges Vampirfledermausbaby. Das kleine Gesicht war kaum größer als Ricks Daumennagel. Die Flügel waren so zart und dünn, daß man das Feuer hindurchscheinen sah. Als das kleine Wesen die kalte Nachtluft spürte, öffnete es den Mund und gab einen kläglichen, mitleiderregenden Laut von sich. »Das ist meine Kleine. Mein Baby Rose. Und ich glaube nicht«, Susi brach in Tränen aus, »daß sie überleben wird. « Eine Stunde später war Ruhe in dem Wäldchen eingekehrt. Die Geister schliefen wieder. Sozzler, Gulper, Syphoner und Fred hingen in den Zweigen einer großen Buche. Ihre Mutter lag leise schnarchend zwischen den Baumwurzeln. Nur Rick konnte nicht einschlafen. Er hatte die Arme um die Knie
geschlungen, sah in die Glut und dachte über all das nach, was Susi gesagt hatte. Nach einer Weile nickte er und stand auf. Was er tun wollte war schwer, sehr schwer, aber er mußte es tun. Er hatte von einem Mann mit einem Flohzirkus gelesen, der seine Tiere aus seinen Venen trinken ließ. Und von einem Naturforscher, der nach Afrika gegangen war, um Blutegel zu erforschen. Er stellte sich in den Fluß und ließ sie sein Blut trinken. Trotzdem zitterte Rick, als er zu dem Haufen Buchenblätter hinüberging, auf dem Susi eingeschlafen war. Er hatte so viele gruselige Geschichten gehört ... Susi lag auf dem Rücken. Ihre Fänge hatte sie nach oben zu den Sternen gereckt. Sehr vorsichtig tastete Rick nach ihrer Bauchtasche. Ja, da war Rose, ein weiches, schrecklich dünnes Bündel, das nur aus Haut und Klauen zu bestehen schien ... Er zog sie heraus, wobei er jedesmal zu Tode erschrak, wenn Susi sich rührte. Es dauerte lange, aber schließlich hielt Rick das Fledermausbaby in seiner Hand. Er fühlte, wie schnell das Herz pochte. »Hab keine Angst, Rose«, flüsterte er. Rick setzte sich wieder ans Feuer, rollte einen Ärmel seines Pullovers auf und legte die winzigen Klauen an die blauen Venen seines Handgelenks. »Komm, Rose«, sagte er. »Komm schon!« Es war ein furchtbarer Augenblick. So, als ob man einem kranken Küken eine Brotkrume hinhielt und sich fragte, ob es stark genug sein würde zu fressen. Einen Augenblick lang lag Rose regungslos, zusammengekrümmt, zitternd. Dann drehte sie den Kopf, der Mund tastete am Arm entlang, und Rick schloß die Augen, als sie plötzlich zubiß. Und alles in allem war es nicht schlimm. Susi hatte recht. Es war weniger als ein Nadelstich. Rick sah beglückt zu, wie das
kleine Wesen saugte, und er fühlte das warme Leben in seiner Hand. Am nächsten Morgen machten sie sich auf den Weg durch das Moor. Es war nicht mehr die Rede davon, daß die Vampirfledermäuse nicht mitkommen könnten. Als Susi aufgewacht war und feststellte, daß Rick dem Baby zu trinken gegeben hatte, brach sie in Tränen aus. Sie flog immer wieder um Ricks Kopf und stieß entzückte Schreie aus. »Du lieber Junge! Es tut mir so leid, daß ich soviel Unsinn geredet habe. Mein Baby - seht nur, wie rosig seine Wangen sind! Was für gutes Blut du hast. Mein lieber, lieber Junge!« Rick hatte gefürchtet, Susi würde nun verlangen, daß er auch Sozzler, Gulper, Syphoner und Fred trinken ließ. Das wäre ihm doch ein bißchen zuviel gewesen. Aber sie äußerte diesen Wunsch nicht. Obwohl die Jungen dünn waren, schienen sie stark genug zu sein. Unablässig flogen sie um die Geisterkutsche herum und schlugen Purzelbäume. Es war ein endloser Weg an dem neuen Stausee entlang. Er sah kalt und nackt aus, überhaupt nicht wie ein natürlicher See. Walter der Nasse sprang natürlich hinein. Sie sahen den kleinen Strudel, den sein Kopf machte, während er neben ihnen herschwamm. Keiner sagte etwas, aber es lag so etwas wie Hoffnung in der Luft, daß Walter hierbleiben würde. Sie mochten ihn, aber seine ständige Nässe machte ihnen zu schaffen. Als er aus dem Wasser kam, sagte er jedoch, daß es ihm überhaupt nicht gefallen habe. »Sehr sauber, alles was recht ist. Aber dieser Beton! Das macht mich verrückt. Nein, ein hübsches, natürliches Gewässer, das wünsche ich mir.« Rick versuchte, sich beim Weitergehen nicht zu viele Sorgen zu machen, aber er hatte das Gefühl, daß die Dinge ihm aus der Hand glitten. Ein Wassergeist brauchte Wasser. Die Vampirfledermäuse brauchten ein Gelände, wo Kühe oder
andere Warmblüter gehalten werden konnten. »Und überhaupt«, wollte er von Humphrey dem Schrecklichen wissen, der wie üblich neben ihm herschwebte, »sind Vampire eigentlich Geister?« Humphrey runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht. Ich glaube, sie sind nicht aus Plasma. Man kann durch sie nicht durchsehen wie durch uns, oder?« »Ein Asyl ist natürlich ein Asyl«, sagte Rick. »Man soll sich dort sicher fühlen, und niemand soll ausgeschlossen sein. Trotzdem ... « Den ganzen Tag wanderten sie durch das düstere Tal, und die Vampirfledermäuse erzählten, was den Geistern, den Werwölfen und den Gespenstern in ganz England alles zustieß. Der Sumpfhexe, einer berühmten Waliser Hexe, so eine Art Cousine zweiten Grades von Humphreys Mutter, war es zum Beispiel passiert, daß man ihren Sumpf trockenlegte. »Was ist ein Sumpf, Mutter?« wollte Humphrey wissen. »Ein Sumpf? Nun, es ist... eben ein Sumpf. So etwas wie eine Marsch. Oder vielleicht ein Morast. Ich weiß nur, daß man einen Sumpf nie trockenlegen darf.« Es gab noch viele traurige Geschichten. Von Werwölfen, die an vergiftetem Fressen starben, von Waldgeistern, deren Bäume gefällt worden waren. Dabei handelte es sich um alte, berühmte Geister, die jetzt in Fish-und-Chips-Restaurants oder in Diskos und Spielhallen spuken mußten. »Und habt ihr die Geschichte von dem alten Wolfram gehört? Ich meine natürlich Wolfram den Verdorrten und nicht seinen langweiligen Onkel.« »Er soll in einem Schwimmbad spuken«, ließ Tante Hortensia sich vernehmen, die halb aus dem Kutschenfenster hing, um ja alles mitzubekommen.
Die Vampire nickten. »Er war ein Stadtgeist, und dann rissen sie sein Haus ab und bauten ein öffentliches Schwimmbad an der Stelle. Er sagte, es sei nicht auszuhalten. All die rosa Hüften und Schultern und übrigen Körperteile, die den ganzen Tag über durch ihn hindurchplatschen. Und das Chlor im Wasser ist natürlich tödlich für das Geisterplasma. « »Armer Wolfram. Wir müssen ihn in das Asyl einladen, sobald wir uns dort niedergelassen haben.« Der Schwebende Kilt nickte mit ernstem Gesicht. Rick sagte nichts. Er mochte nicht darauf hinweisen, daß es bis jetzt noch kein Geisterasyl gab und daß es vielleicht nie eins geben würde. Man durfte die Hoffnung nicht aufgeben.
8. Kapitel Als sie das Saughbeckmoor durchquert hatten, war es Abend geworden, und die kleine Straße, die sie entlanggewandert waren, stieß auf die Hauptstraße nach London. An dieser Kreuzung gab es eine große Raststätte mit einer Tankstelle und einem Restaurant, aus dem einer der verlockendsten Gerüche der Welt kam: der Duft nach Bratkartoffeln. »Geh rein und iß etwas«, sagte die Hexe zu Rick. »Du mußt ja halb verhungert sein. Wir warten draußen auf dich.« Rick öffnete die Tür zum Restaurant und ging hinein. Er war zuerst ein bißchen geblendet von den hellen Lampen und den Menschen. Es war ein Selbstbedienungsrestaurant, wo man sich ein Tablett nahm und es dann an einer langen Reihe von Glaskästen entlangschob, bis man am Ende Tee oder Kaffee bekam. Er hatte von dem mitgenommenen Geld noch nichts ausgegeben, und das Essen sah verlockend aus. Zuerst nahm er einen großen Teller mit Würstchen, Erbsen und gebackenen Bohnen. Die Würstchen waren heiß und knusprig gegrillt. Dann fielen ihm Susis Worte ein. Er seufzte, legte die Würstchen zurück und nahm statt dessen Ei und Bratkartoffeln.
Es war nicht ganz dasselbe, aber als er dann noch einen Teller Tomatensuppe, zwei Doughnuts und ein Stück Apfelkuchen mit Vanillesauce gewählt hatte, meinte er, auch ohne die Würstchen nicht verhungern zu müssen. Als Rick nach dem Essen die Geister wiedergefunden hatte, stieg er in einen parkenden Lastwagen mit der Aufschrift: Alfred Barchester, London Road, Bigglesford. Dort versteckte er sich unter einem Haufen Säcke, obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre. Der Fahrer, ein freundlicher dicker Mann namens Albert, der eine Frau und vier Kinder hatte, hätte ihn sowieso mitgenommen, aber Rick war zu müde, um klar zu denken. Tante Hortensia fuhr die Kutsche auf das Dach, und all die anderen Geister drängten sich hinein. Dann kam Albert, der ziemlich müde aussah und Stoppeln auf dem Kinn hatte, zum Lastwagen zurück und kletterte in die Fahrerkabine. Sie waren kaum auf der Straße, die in südlicher Richtung nach London führte, als Rick auch schon fest eingeschlafen war. Als er aufwachte, war es Morgen. Albert hatte den Lastwagen an einer Raststätte geparkt und war ausgestiegen, um sich die Beine zu vertreten. Sie mußten schon ganz in der Nähe von London sein, denn sie befanden sich auf einer sechsspurigen Autobahn, und ein paar hundert Meter weiter gab es ein kleeblattförmiges Straßenkreuz. Sogar zu dieser frühen Stunde strömte der Verkehr unaufhörlich: blaue Autos, beige Autos, grüne Autos, rote Autos, Last- und Lieferwagen, Wohnwagen und Zugmaschinen, große Rolls-Royce und kleine Fiats, und, und, und ... Rick suchte in seiner Tasche nach dem Stück Brot, das er sich am Abend vom Essen aufgehoben hatte. Als er es in den Mund schob, sah er an seinem Handgelenk eine winzige rote Stelle. Baby Rose schien selbständig gefrühstückt zu haben,
während er schlief. Rick war stolz auf Rose. Bestimmt würde sie später einmal ein sehr intelligenter Vampir werden. Nachdem Rick das Brot gegessen hatte, hielt er nach Humphreys Ellbogen Ausschau. Auf dem Lastwagen schien er nirgends zu sein. Dann entdeckte er eine leerstehende Scheune, die etwas abseits von der Straße auf einem unbebauten Stück Land stand. Und da waren sie alle: Die Hexe legte Humphrey gerade wieder an die Kette. Walter der Nasse murrte, weil Winifred ihn nicht in ihrer Wasserschale planschen ließ. Sozzler, Gulper, Syphoner und Fred sahen sehnsüchtig zu einer Kuh hinüber, die auf einer fernen Weide graste ... Aber es war etwas anderes, was Ricks Blicke auf sich zog: eine wankende Gestalt in einer Mönchskutte. Doch nicht noch einer? »Ich sage euch, ich ertrage es nicht mehr«, stöhnte die Gestalt. »Seht mich an!« Sie streckte zitternde, daumenlose Hände aus. Tante Hortensia, die sich in Plasmafragen am besten auskannte, bestätigte, daß dieses Wesen in einem besonders schlimmen Zustand war. »Es sind die Benzingerüche und die Auspuffgase und die Idioten, die die ganze Zeit vorbeirasen«, stöhnte das Gespenst. »Ihr ahnt nicht, wie es heutzutage zugeht. Ich war Mönch, müßt ihr wissen. Sie nannten mich den Verrückten Mönch von Abbotsfield. Man hat mich lebendig eingemauert. Deshalb bin ich natürlich verrückt geworden. Oh ...« Er hielt nervös inne. »Wer in aller Welt ist das?« Die Hexe stellte Rick vor, der die daumenlose und ziemlich abstoßende Hand des alten Gespenstes höflich schüttelte. »All das«, fuhr der Verrückte Mönch fort und deutete auf die Autostraße und das Straßenkreuz in Kleeblattform, wo Auto an Auto rollte, »all das war das Gebiet der alten Abtei. Ich spukte da, wo früher die Mönche schliefen. Es war so schön und
friedlich. Ich wanderte umher, stöhnte und murmelte und sah zu, wie die alten Holzdielen, auf denen ich wandelte, langsam verfielen. Und dann hat Heinrich VIII., der gemeine Kerl, das Ding einfach niedergebrannt.« Tante Hortensias Stumpf bezeugte Sympathie. »Klack«, sagte er, und der Kopf von Tante Hortensia erklärte, Heinrich VIII. habe auch ihr übel mitgespielt. Nachdem die Abtei niedergebrannt war, spukte der Verrückte Mönch weiter. Die Mauern verfielen immer mehr, bis schließlich nur noch ein grünes Feld übrig war. »Es machte mir nichts aus, auf dem Feld zu spuken. Ich konnte die Kühe erschrecken.« Der Mönch bog sich vor Lachen, als er daran dachte, wie die Rindviecher gesprungen waren, wenn er auftauchte. »Aber dann wurde die Autostraße gebaut, und seitdem ist es einfach fürchterlich.. . Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es ist, wenn die ganze Nacht über Zehntonner durch euch hindurchdonnern. Und dann noch diese Überbevölkerung!« »Es gibt wirklich furchtbar viele Autos«, bestätigte Winifred. »Ich meine nicht die Autos. Ich meine die Geister. Auf diesem Straßenabschnitt kommen jede Woche ein Dutzend Leute ums Leben. Hirnlose Idioten, die im Nebel überholen oder mit hundert Meilen in der Stunde dahinrasen und dann aufeinanderdonnern. Und sobald sie tot sind, glauben sie, die Stelle hier gehört ihnen, und sie wollen auch hier auf der Straße spuken. Total lächerlich sehen sie aus. Ich habe schon Geister in Bermudas mit Golfschlägern herumschweben sehen. Wie findet ihr das?« »Armer Verrückter Mönch!« In Humphreys Augenhöhlen traten Tränen. Rick seufzte nur. Er wußte genau, was kommen würde. Und er behielt recht.
»Bitte, könnt ihr mich mitnehmen? Ich bin sehr alt und sehr verrückt, und ich brauche dringend einen Ort, wo ich zur Ruhe kommen kann.« »Na gut«, erwiderte Rick. »Ich denke, einer mehr oder weniger, darauf kommt es auch nicht mehr an.« Also kam der Verrückte Mönch mit, um den Premierminister zu besuchen und ihn um die Rettung der britischen Geister zu bitten. Rick kannte London, und er hatte entschieden, daß sich für die Geister der Hyde Park am besten zum Übernachten eignen würde. Den letzten Rest der Reise hatten sie in einem Zug zurückgelegt, der in der Innenstadt unterirdisch weiterfuhr. Die Geister waren bester Laune, als sie sich in einem dunklen Tunnel mit schmierigen, geschwärzten Wänden befanden. Und im Hyde Park waren sich alle einig, daß Rick genau die richtige Stelle ausgewählt hatte. »Nette große Bäume, um sich niederzulassen«, meinte Susi, die um eine Gruppe Ulmen herumflog und die Krähen zu Tode erschreckte. Sozzler, Gulper, Syphoner und Fred sagten nichts, aber sie stießen sich mit ihren Schwingen an, und Rick sah, wie sie hungrige Blicke auf eine Gruppe Obdachloser warfen, die sich unter einem Gebüsch zum Schlafen hingelegt hatten. »Nehmt aber nicht zuviel«, bat er die Fledermäuse. »Obdachlose sind meist dünn und nicht sehr gesund. Sie können nicht viel Blut entbehren.« Die Jungen versprachen es. Die Hexe und der Schwebende Kilt hatten sich in einem Ruderboot am Ufer des Sees niedergelassen. Die Hexe duftete nach nasser Walleber. Sie hielt Boote für etwas Romantisches und wollte den Schwebenden Kilt an die Zeit ihrer ersten Liebe erinnern. George, Winifred und Humphrey wurden zum Schlafen in einen kleinen Musikpavillon in der Nähe geschickt. Der
Verrückte Mönch ließ sich in einem gemütlichen dunklen Gesträuch hinter der Herrentoilette nieder. Walter der Nasse tauchte natürlich sofort im See unter. Von Zeit zu Zeit erschien er, um mitzuteilen, was er gefunden hatte. Zum Beispiel einen alten Sessel, eine Aalfamilie und fünf Kunststoffpokale vom 1966er World Cup. Rick wollte gerade gehen, als eine kleine weiße Gestalt heranschwebte. »Bitte, kann ich mitkommen? Bitte, bitte!« »Nein, Humphrey«, ließ sich die Hexe aus dem Boot vernehmen. »Rick wird die Nacht bei einem Menschen verbringen. Er braucht Ruhe.« Humphreys Augenhöhlen schienen vor Verzweiflung bodenlos zu werden. Seine Kinnknochen bebten. »Er nimmt Rose mit«, sagte er. »Ich muß Rose füttern.« Rick fühlte nach dem kleinen Bündel in seiner Tasche. »Sie ist zu jung für die Männer da draußen. Sie würde gar nicht durch ihre Haut kommen.« »Du gehst jetzt ausnahmsweise mal mit deinem Bruder und deiner Schwester mit«, schimpfte die Hexe. »Hör mal, die arme Winifred schreit schon nach dir.« Auf seinem Weg durch den Park kam Rick an Tante Hortensia vorbei. Sie hing von einem Kastanienbaum herab, die gelben Füße sahen aus wie ein Bündel alter Bananen. »Du denkst doch dran, daß du unsichtbar werden mußt?« rief Rick ihr zu. Von unter dem Baum ertönte die Stimme des Kopfes, der es sich zwischen den Pfoten vom Schack gemütlich gemacht hatte. »Mach dir keine Sorgen, liebes Kind, mach dir nur keine Sorgen.« Der Freund, bei dem Rick die Nacht verbringen wollte, hieß Daniel. Er war mit Rick im Internat Schloß Norton gewesen. Die Crawlers waren ihm so auf die Nerven gegangen, daß er
seine Eltern gebeten hatte, ihn nach Hause zu holen und eine Tagesschule besuchen zu lassen. Daniels Vater war Maler und seine Mutter Schriftstellerin. Sie waren nette Leute und wohnten in einem rosa gestrichenen Haus am Fluß. Jeder kam und ging, ohne daß man sich groß Gedanken machte. Rick wußte, daß er dort auftauchen konnte, ohne gefragt zu werden, was er mitten im Schuljahr alleine in London machte. Daniel freute sich über Ricks Besuch. Daniels Mutter tischte ihm Risotto auf, und nach dem Essen rief er Barbara an, die, wie versprochen, im leeren Schulbüro auf seinen Anruf wartete. Drei Tage waren seit Ricks Abreise vergangen, und Barbara war sehr, sehr froh, als sie seine Stimme hörte. »Alles in Ordnung?« fragte sie. »Hm. Wir sind in London. Aber ich habe mehr Geister aufgesammelt, als ich bei der Abfahrt hatte.« Er erzählte Barbara von Walter dem Nassen, von dem Verrückten Mönch und von den Vampirfledermäusen. »Meine Güte! Das ist ja wie beim Rattenfänger von Hameln. Du brauchst bestimmt ein riesengroßes Asyl.« Und dann erzählte Barbara, was sie während Ricks Abwesenheit herausgefunden hatte. »Also, nun hör mir gut zu. Unser Parlamentsabgeordneter heißt Clarence Wilks. Clarence Ephraim Wilks. « »Wow!« »Also gehst du zum Parlamentsgebäude und sagst, daß du ihn sprechen willst.« »Aber man wird mich nicht reinlassen.« »Rick, du mußt hartnäckig sein. Jeder hat das Recht, seinen Abgeordneten zu sehen, das habe ich dir doch gesagt. Das gehört zur Demokratie. Wenn er nicht in Westminster ist, mußt du ihn zu Hause besuchen. Er wohnt in der Cadbury Avenue
Nr. 397, in Golder's Vale. Das ist irgendwo im Norden von London.« »Gut. Und dann erzähle ich Mr. Wilks von den Geistern und sage ihm, daß er mich zum Premierminister bringen soll.« »Richtig.« »Ich habe noch nie von einem Jungen gehört, der einfach zum Premierminister gegangen ist«, sagte Rick. Jetzt, wo er wirklich in London war, schien alles viel schwieriger zu sein als vorher in Norton. »Immer gibt es ein erstes Mal«, versuchte Barbara ihn aufzumuntern. Rick seufzte. »Okay. Und wie geht's in der Schule?« »Alles in Ordnung. Die Crawlers sind ganz froh, daß du weg bist, weil deine reiche Patentante ihnen ein tolles Geschenk für die Schule versprochen hat.« »Meine reiche was?« »Ach, nichts. Das erzähle ich dir, wenn du wieder zurück bist. Sonst ist wirklich nichts passiert. Die Füße von Maurice stinken mehr denn je, und Masterson hat Arrest bekommen, weil er die Unterhosen von der Direktorin am Fahnenmast gehißt hat. Das Übliche.« »Na, ich leg jetzt auf. Ich muß noch die Vampirfledermaus füttern.« »Hast du's gut«, meinte Barbara, die eine sehr mütterliche Natur hatte. »Welche Verschwendung. Ich würde mich viel besser eignen. Mehr Blut.« Und damit beendete Barbara das Gespräch.
9. Kapitel Am nächsten Nachmittag nahm Rick den Bus zum Parlament in Westminster. Er hatte ein Gefühl im Magen, als wirbelte dort ein Schwarm riesiger Schmetterlinge herum. Die Parlamentsgebäude mit dem Glockenturm und Big Ben sahen vor dem klaren blauen Himmel schön und sehr eindrucksvoll aus. Tauben saßen im gemeißelten Mauerwerk, und vor den Gebäuden zogen Ausflugsboote auf der Themse vorbei. Es schien wirklich lächerlich zu sein, daß ein Junge, von dem noch nie jemand etwas gehört hatte, diese Gebäude einfach so betreten sollte. Aber natürlich hatte Barbara recht. Sie hatte immer recht. Der erste Polizist, den Rick ansprach, schickte ihn zur St. Stephen's Pforte, der Polizist dort zeigte ihm den Besuchereingang, und dann stand er in einem großen, hallenden Raum, der Central Lobby hieß und wie die Kreuzung aus einem Bahnhof und einer Kirche aussah. Hier füllte er eine grüne Karte aus, die ein weiterer Polizist ihm gegeben hatte. Als er seinen eigenen Namen und den Namen der Person, die er zu sehen wünschte, eingesetzt hatte, nahm ein beeindruckender Mann im Frack und mit goldener Kette die Karte und schritt von dannen, um Mr. Wilks zu suchen.
Rick sah sich um, und was er sah, ermutigte ihn. Da standen lange Schlangen von Leuten, die ihren Parlamentsabgeordneten sehen wollten. Eine ganze Klasse Schulkinder wollte sehen, wie regiert wurde. Zwei Studenten und eine ganze Busladung grauhaariger Damen warteten ebenso wie Rick. Und dann erschien immer wieder ein Abgeordneter und nahm Besucher mit nach drinnen. Rick stellte fest, daß die Abgeordneten freundliche und kluge Gesichter hatten. Er hörte sogar, wie einer von ihnen etwas von gemeinsamem Teetrinken sagte. Als Mr. Clarence Wilks erschien, verließ Rick jedoch für einen Augenblick der Mut. Sicher sollte man einen Menschen nicht nach dem ersten Blick beurteilen, aber es sah so aus, als hätte Schloß Norton und der dazugehörende Bezirk die einzige Niete ins Parlament gewählt. Mr. Wilks Gesicht war dunkelrot angelaufen und sah aus, als würde es gleich platzen, weil zuviel Fett unter die Haut gequetscht war. Er hatte blasse, gläsern wirkende Augen und den arroganten Blick von Leuten, die glauben, daß jeder, der noch nicht erwachsen ist, nicht richtig denken kann. »Was kann ich für dich tun, junger Mann?« Rick sah sich in der überfüllten Halle um. »Könnte ich mit Ihnen unter vier Augen sprechen?« »Niemand wird uns hier zuhören«, sagte Mr. Wilks und zog Rick zu einem etwas weniger bevölkerten Platz. »Leider habe ich nicht viel Zeit, faß dich deshalb möglichst kurz. Auf deiner Karte stand nicht, was du für ein Anliegen hast.« Rick schluckte. »Also, was ich möchte ...ich möchte, daß Sie mich zum Premierminister bringen.« »Zum Premierminister!« Mr. Wilks war äußerst belustigt. »Den Premierminister willst du sprechen. Du bist ein Spaßvogel. Nicht einmal ich kann ihn so ohne weiteres sprechen, geschweige denn ein Kind!« »Es ist wichtig. Wirklich.« Rick nahm seinen ganzen Mut zusammen, und ohne auf die Leute zu achten, die in dem
überfüllten Raum vorwärts und rückwärts drängten, erzählte er Mr. Wilks die Geschichte von den Geistern. »Also, jetzt wissen Sie«, sagte er, als er fertig war, »warum ich den Premierminister sprechen möchte. Nur er wird in der Lage sein, uns zu einem Geisterasyl zu verhelfen.« Während Rick gesprochen hatte, war Mr. Wilks immer wieder in Gelächter ausgebrochen. »Geister!« schnaufte er, als Rick mit seiner Rede fertig war. »Geister! Ein Geisterasyl. Ich freue mich schon auf das Gesicht des Premierministers, wenn ich ihm das erzähle.« »Sie glauben also nicht an Geister?« »Nein, ganz bestimmt nicht.« »Mr. Wilks, wenn ich Ihnen beweise, daß es Geister gibt, bringen Sie mich dann zum Premierminister?« »Aber sicher, sicher. Dann würde ich dich sogar bis zum Mond bringen. Das wäre wahrscheinlich sogar einfacher zu arrangieren. Und jetzt entschuldige mich bitte - ich bin ein sehr beschäftigter Mann. « Noch immer lachend drehte Mr. Wilks sich um und ging. »Du meinst also, es hat keinen Zweck?« Die Stimme der Hexe klang verzweifelt. »Er wird uns nicht helfen?« Rick war am späten Nachmittag in den Hyde Park zurückgekehrt. Im Park hielten sich noch Leute auf, deshalb waren die Geister unsichtbar geblieben. Aber ein rosa Schimmer von Humphreys Ellbogen und der Duft nach zerquetschten Kopfläusen führten Rick zu dem dunklen Gesträuch hinter der Herrentoilette. Da hatten sie sich alle versammelt und warteten auf ihn. »Er hat nur gelacht. Er sagt, es gebe keine Geister.« Humphrey war wütend. »So ein Idiot! Der hat doch keine Ahnung!« »Sei ruhig, Humphrey«, sagte die Hexe.
Die Geister waren ziemlich niedergeschlagen. Sie waren so sicher gewesen, daß Rick mit guten Nachrichten zurückkehren würde. Humphrey legte vertrauensvoll die Hand auf Ricks Arm. »Du hast dir doch etwas überlegt, oder?« fragte er. »Ist das so, lieber Junge? Gibt es irgend etwas, das wir tun können?« wollte der Schwebende Kilt wissen. »Ja«, sagte Rick. »Ihr könnt sofort etwas tun.« »Was?« fragten alle Geister gleichzeitig. »Spuken«, sagte Rick. »Spuken, wie ihr noch nie gespukt habt. Bevor die Nacht um ist, wird es Mr. Wilks sehr leid tun, daß er gesagt hat, es gebe keine Geister. « Das Haus, in dem Mr. Wilks wohnte, war groß. Mit den kleinen weißen Steinchen in der rosa Ziegelmauer sah es aus wie ein Haus, das die Masern hatte. Eine lange Auffahrt führte zum Eingang. Sie war mit Lorbeersträuchern und Rhododendren gesäumt. Hinter dem Gebäude gab es eine Wiese und ein Gartenhaus, das wie ein Schweizer Chalet aussehen sollte und geschnitzte Kuckucke auf dem Dach trug. Außerdem gab es eine Hundehütte mit der Aufschrift »Buster«. Buster schien jedoch nicht da zu sein. Die Nacht war wie geschaffen zum Spuken. Die Wilks gaben eine Dinnerparty. Während Rick durch die Lorbeersträucher kroch, um hinter das Haus zu gelangen, fuhr der Lieferwagen eines Lebensmittellieferanten und der eines Weinhändlers vor. Rick hörte, wie Mrs. Wilks im Haus mit ihrem Mädchen schimpfte. »Und jetzt denkt daran«, sagte er, als er zu den Geistern stieß, die im Gartenhaus warteten, »fangt langsam an. Zuerst nur ein oder zwei Schreie von George, vielleicht etwas Wehklagen von Winifred. Dann, wenn sie zum Essen gehen,
dreht ihr ein bißchen auf. Wenn ich das Zeichen gebe, schaltet ihr auf Volldampf. Okay?« »Okay«, erwiderten die Geister einstimmig. Sie freuten sich auf den Abend. Es ist befriedigend, etwas Nützliches zu tun. Es war sieben Uhr dreißig. Im Wohnzimmer der Familie Wilks, das mit einem graugrünen Teppich, goldenen Brokatvorhängen und sehr ungemütlichen gestreiften Satinstühlen ausstaffiert war, tranken die Gäste Sherry und aßen Nüsse. Alle Gäste waren wichtige Leute. Die Wilks hätten sich nicht mit ihnen abgegeben, wenn sie es nicht gewesen wären. Harry Holtzmann zum Beispiel, ein Millionär, war durch die Herstellung von Waffen reich geworden, die er ins Ausland verkaufte, damit die Leute sich dort besser gegenseitig umbringen konnten. Professor Pringle hatte ein Buch geschrieben, das den Titel trug: »Was stimmt nicht mit unserer Jugend?« (Und da schien fast nichts zu stimmen.) Dann gab es da noch die Ehrenwerte Lucy Lamworth, deren Vater ein Graf war, und einen jungen Mann, namens Crispin Craig, der Leute im Fernsehen interviewte und dabei immer lächelte. Und natürlich waren da Mr. Wilks, der erhitzt aussah, und Mrs. Wilks mit schriller Stimme und dem Kopf voller gelber Löckchen. Es fällt schwer, etwas Interessantes zu sagen, wenn man auf das Essen wartet und sich von zu vielen Nüssen innerlich salzig fühlt. Und so sagten sie uninteressante Sätze wie: »Heute war es sehr warm für diese Jahreszeit, nicht wahr?« oder »Der Film gestern abend im Fernsehen war doch scheußlich, oder?« Und dann hörte man plötzlich einen Schrei. Für George war dieser Schrei ganz harmlos. Es hörte sich an, als würden zwanzig oder dreißig Leute zu Tode gequält, aber für George war das nichts. Er fing ganz sanft an, so wie Rick es verlangt hatte.
Die Ehrenwerte Lucy fuhr so heftig hoch, daß die Smaragde gegen ihre nackte, knochige Brust schlugen und blaue Flecken hinterließen. »Was war das?« stieß sie hervor. Die Wilks' sahen sich an. Dann stand Mr. Wilks auf und ging in die Diele. Dort sah er einen Kinderschädel friedlich auf dem Schirmständer sitzen. Die Kieferknochen öffneten sich, und er setzte gerade zu einem neuen kräftigen Schrei an. Mr. Wilks wischte sich die Stirn ab und ging schwankend zurück ins Wohnzimmer. »Es ist nichts«, sagte er. »Das ... eh... das Mädchen hat etwas fallen lassen. Ich denke, wir sollten jetzt zum Essen gehen.« Alle begaben sich ins Eßzimmer, und das Mädchen brachte die Vorspeise. So eine Vorspeise ist immer schwierig zu essen: ein Stückchen Olive, ein Scheibchen Anchovis und ähnlich glitschiges Zeug. Alle versuchten eine Zeitlang, mit Gabeln den Vorspeisen zu Leibe zu rücken. Dann wandte sich Mr. Holtzmann der Ehrenwerten Lucy zu und fragte: »Ist mit Ihren Füßen alles in Ordnung?« Die Ehrenwerte Lucy, der die Sardelle Blähungen verursachte, rülpste dezent und erwiderte, sie habe in der Tat kalte Füße. Und nasse Füße. Wenn sie nicht wüßte, daß das Unsinn sei, würde sie sagen, ihre Füße befänden sich in einer Wasserpfütze. Crispin Craig, der Lucy gegenüber saß, meinte, seine Füße fühlten sich genauso an. Nach den Vorspeisen kam die Suppe. Die Gäste griffen zu den Löffeln und legten sie sofort wieder hin. »Schmeckt Ihre Suppe auch nach verfaulten Eiern?« flüsterte Crispin Craig. Mr. Holtzmann sagte, nein, sie schmecke nach toten Mäusen. »Meine schmeckt nach ungewaschener Unterwäsche«, meinte Professor Pringle und verzog das Gesicht. Die Hexe, die unsichtbar, aber schwer arbeitend über die Teller flatterte, nickte glücklich. Es ist immer schön, wenn die eigene Arbeit anerkannt wird.
Aber erst beim Hauptgericht (Fasan in Sahne mit Kroketten, Broccoli und Johannisbeergelee) gab Rick, der sich im Gartenhaus versteckt hielt, den Geistern das Signal für ihren vollen Einsatz. Und dann passierte alles auf einmal. Durch das geöffnete Fenster schwebte Tante Hortensia, die auf einem ihrer Pferde ritt. Sie hatte einige von Winifreds Blutflecken benutzt, um ihren Stumpf damit zu garnieren. Ihr Nachthemd blähte sich wie ein vergilbter Fallschirm, und während sie auf dem Eßtisch hin und her galoppierte, schlugen ihre Zehennägel gegen die Weingläser, was wie Pistolenschüsse klang. »Ooooh«, schrie die Ehrenwerte Lucy und fiel zu Boden. »Das Haus Wilks sei verflucht!« rief Tante Hortensias Kopf, der hinter ihr auf dem Pferd saß. »Es lebe Schottland!« rief der Schwebende Kilt, der plötzlich mit dem Kopf nach unten auf dem Kronleuchter erschien. »Ich ertrinke, ich ertrinke!« schrie Lucy. Es ist nicht einfach, jemanden unter dem Eßzimmertisch in ein nasses Grab zu ziehen, aber Walter der Nasse tat auch hier sein Bestes. »Ribicus, Maerticus, Furissimus.« Der Verrückte Mönch sprang von der Anrichte und verabreichte Mrs. Wilks eine Tracht Prügel mit seinem Rosenkranz. George erschien auf einer Schüssel Mousse au Chocolat und fing an, richtig zu schreien. Rick war der Ansicht, daß jetzt seine Zeit gekommen war. Er stieß die Terrassentür auf und betrat das Eßzimmer. »Und glauben Sie jetzt an Geister?« Mr. Wilks war in seinem Stuhl zusammengesunken. Er stöhnte und bebte und versuchte, sich die Suppe aus dem Gesicht zu wischen. »Ja«, ächzte er. »Ja ... ja.«
»Und werden Sie mich zum Premierminister bringen?« »Ich kann dich nicht einfach zum Premierminister bringen, das ist sehr schwer zu arrangieren. « »Also gut«, sagte Rick und schnippte mit den Fingern. Im nächsten Augenblick kamen fünf riesige Vampirfledermäuse mit rotglühenden Augen ins Zimmer geflogen. »Ich nehm die da«, sagte Guzzler und blickte hungrig auf Mrs. Wilks entblößte rosige Schultern. »Nein, ich will sie!« sagte Syphoner. Die beiden stritten um Mrs. Wilks, die auf einen Stuhl sprang, mit einem Tafelmesser nach den Vampiren schlug und schließlich laut schreiend vornüber in eine Terrine mit Johannisbeergelee fiel. Susi landete inzwischen auf dem glänzenden, kahlen Kopf von Mr. Wilks. »Aufhören!« schrie Mr. Wilks. »Um Himmels willen aufhören. Man bringt mich um!« Rick gab Susi ein Zeichen, und sie machte gehorsam ihr furchterregendes Maul zu. »Ich habe Sie schon einmal gefragt, und ich frage Sie jetzt wieder. Bringen Sie mich zum Premierminister?« »Alles«, stotterte Mr. Wilks. »Ich tue alles.« »Zum Premierminister«, sagte Rick. »Morgen.« »Ja! Morgen! Alles! Aber halte sie auf. Halte sie auf!« Rick schnippte mit den Fingern. »Gut«, sagte er. »Kommt jetzt. Es reicht. Es ist vorbei.« Die Geister wollten eigentlich nicht aufhören. Es hatte ihnen soviel Spaß gemacht. Aber sie hörten auf Rick. In Sekundenschnelle waren sie verschwunden. Das Wasser unter dem Tisch trocknete, der Geruch verschwand. Schweigen breitete sich über den verstreuten Resten der Wilksschen Dinnerparty aus.
Rick und die Geister hatten sich im Gartenhaus versammelt und gratulierten einander zu ihrem Erfolg, als ein piepsiges Stimmchen aus einem der oberen Fenster rief: »Ich will aber nicht, daß du gehst. Du bist ein lieber Geist. Ich mag dich. Ich möchte, daß du immer, immer bei mir bleibst.« Die Geister sahen einander an. »Ach, du meine Güte!« sagte die Hexe. Sie hatten Humphrey nach oben geschickt. Er sollte in den Schlafzimmern spuken für den Fall, daß Gäste sich oben gerade die Nase puderten. Offenbar war davon die kleine Tochter der Wilks aufgewacht. »Ich habe >Buh!< gesagt.« Humphrey schwebte mit scheuem Lächeln zu ihnen herunter. »Ich habe ganz oft >Buh!< gesagt.« Aber seine Eltern freuten sich so sehr darüber, wie gut alles gelaufen war, daß sie nicht daran dachten, Humphrey auszuschimpfen, weil er nicht schrecklich gewesen war. »Morgen bist du also beim Premierminister«, sagte der Schwebende Kilt. Rick nickte. »Es sieht so aus, als hätte das Geisterasyl endlich eine wirkliche Chance.«
10. Kapitel Zwei Tage danach betrat Rick das Haus in der Downing Street Nummer 10. Es ist wahrscheinlich die berühmteste Adresse in England, denn dort wohnt der Premierminister. Neben Rick ging Mr. Wilks, und über ihnen schwebten, obwohl Mr. Wilks das nicht wußte, die Craggyfordgeister: die Hexe und der Schwebende Kilt, Winifred, George und natürlich Humphrey der Schreckliche. Rick wußte inzwischen, daß es zwecklos war zu versuchen, ohne Humphrey irgendwohin zu gehen. Der Premierminister war in seinem Arbeitszimmer. Er hatte graue Haare, trug eine Brille und sah müde aus. Vor ihm auf seinem Schreibtisch lag ein Haufen Papiere. »Ah, Mr. Wilks«, sagte er mit traurigem Gesichtsausdruck. Rick hatte den Eindruck, daß der Premierminister Mr. Wilks auch nicht besonders mochte. »Darf ich Ihnen meinen Sekretär vorstellen? Und das ist Lord Bullhaven der mich in einer... persönlichen Angelegenheit aufgesucht hat.« Der Sekretär schien ein ganz gewöhnlicher junger Mann zu sein, aber Lord Bullhaven sah schrecklich aus. Er hatte eine scharfgeschnittene, weiße Nase, kleine, schlammfarbene
Augen und Haare, die wie Lakritzstangen an seinen Kopf angeklatscht waren. »Also, das ist der Junge mit der ungewöhnlichen Geschichte«, sagte der Premierminister und wandte sich Rick zu. »Ja, Sir.« »Es handelt sich um ein Geisterasyl?« »Ja, Sir. Die Geister von England, die Geister der ganzen Welt befinden sich in einem sehr schlimmen Zustand. Überall werden sie vertrieben, und keinen scheint das zu kümmern. Die Menschen bauen Autostraßen über und unter ihnen, und ihre Flüsse werden vergiftet.« Rick erzählte dem Premierminister, wie er die Geister kennengelernt und welche Abenteuer er mit ihnen erlebt hatte. Der Premierminister hörte schweigend und aufmerksam zu, obwohl man sah, daß er überrascht war. Lord Bullhaven war nervös und unruhig und rümpfte die Nase. »Es stimmt«, sagte Mr. Wilks, als Rick geendet hatte. »Ich habe sie selbst gesehen.« »Möchten Sie vielleicht mit einer Geisterfamilie Bekanntschaft machen?« fragte Rick den Premierminister. »Ich möchte schon, aber ... « Rick klatschte in die Hände. Im nächsten Augenblick waren die Craggyfordgeister sichtbar geworden und standen in respektvoller Haltung vor dem Schreibtisch des Premierministers. »Verflucht sei dein Name«, sagte der Schwebende Kilt höflich. »Unheil und Krankheit sollen dich dein Leben lang verfolgen«, sagte die Hexe und machte einen Knicks. Sie benutzte einen ihrer besten Gerüche, zerriebene Schweineblase, gemischt mit dem Geruch ungeputzter Zähne. Die
Kieferknochen von George hielt sie fest zusammengepreßt in ihrer Hand, weil sie es nicht für angebracht hielt, daß er in Downing Street schrie. Winifred jammerte nur leise, aber Humphrey ging natürlich direkt auf den Premierminister zu, legte ihm seine knöchernen Finger aufs Knie und sagte: »Nicht wahr, Sie werden einen Platz für uns finden?« »Tja«, sagte der Premierminister. Er sah etwas mitgenommen aus, machte aber kein Theater wie die Dinnergäste von Mr. Wilks. Gegen die fürchterlichen Dinge, die man beim Regieren eines Landes erlebt, sind ein paar Geister ja auch nichts. »Tja, ich muß sehen, was ich tun kann. Aber ich weiß wirklich nicht, wo ... « »Dürfte ich vielleicht einen Vorschlag machen?« Lord Bullhaven kniff die Augen zusammen, und ein Muskel in seiner Wange zuckte. »Ich habe ... ein altes Landgut an der Nordwestküste von Schottland. Es heißt Insleyfarne. Die Armee hat dort während des Krieges ihre Raketen erprobt, und seitdem ist das Gebiet verlassen.« »Insleyfarne?« wiederholte der Premierminister. »Ja, ich habe davon gehört. Ich glaube, die Armee hat dort ein bißchen zuviel rumgeballert. Das Schloß soll nur noch eine Ruine sein.« »Das stimmt«, gab Lord Bullhaven grimmig zur Antwort. »Total zertrümmert. Die Bäume sind alle zerschossen, und auf allen Gebäuden fehlen die Dächer. Es ist sowieso eine sehr düstere Ecke, eine felsige Halbinsel, die ins Meer hinausragt. Immer ist es windig, und das Land ist zu sumpfig, um bebaut zu werden. Meinetwegen können Sie es für die Geister haben.« Die Nasenhaare der Hexe zuckten vor Vergnügen. »Klingt das nicht wunderbar, meine Lieben?« Rick bedankte sich überschwenglich bei Lord Bullhaven und schämte sich. Abstoßend und kriegerisch war ihm dieser Mann
vorgekommen. Jetzt war ausgerechnet er es, der ihre Suche zu einem glücklichen und erfolgreichen Ende brachte. »Also, das wäre dann beschlossen«, sagte der Premierminister und wandte sich wieder seinen Papieren zu. »Mein Sekretär wird euch bei der Übersiedlung helfen.« Als sie sich zum Gehen wandten, schüttelte Rick immer wieder Lord Bullhavens Hand, und die Hexe, die sonst nur ihren Mann küßte, gab ihm ein Küßchen auf seine kalkweiße Wange. Rick konnte nicht Gedanken lesen. Wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, hätte er das Haus des Premierministers nicht laut pfeifend und mit einem so frohen Gesicht verlassen, daß die Leute auf der Straße ihm nachsahen und lächelten. Sie fuhren mit dem Zug nach Insleyfarne. Wenn der Premierminister sich zu etwas entschlossen hatte, handelte er schnell. Rick hatte ein Erster-Klasse-Ticket und einen Schlafwagenplatz. Er konnte also irgendwo in der Gegend von Peterborough ins Bett gehen und schlafen, bis sie die Grenze nach Schottland überquert hatten. Vorher ging er ganz allein in den Speisewagen und bestellte sich ein wunderbares Essen: Suppe, ein Steak mit Zwiebeln und Chips und gegrillten Tomaten, Obstsalat mit Sahne. Und das aß er, während Felder und Wiesen mit Kühen am Fenster vorbeiflitzten. Er hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen, weil er Fleisch aß, denn Susi hatte gesagt, er brauche Fleisch, um gutes Blut für Rose bilden zu können. Beim Essen dachte er darüber nach, was der Premierminister kurz bevor er ging zu ihm gesagt hatte. »Ich möchte, daß das geheim bleibt«, hatte er gesagt. »Wenn herauskommt, daß ich mich für ein Asyl für Gespenster eingesetzt habe, hält man mich für verrückt. Und dann werde ich nicht wiedergewählt.« »Werden nicht alle Leute finden, daß Sie und Lord Bullhaven den Geistern gegenüber sehr freundlich gehandelt haben? Würde man Sie nicht gerade deshalb wiederwählen?« hatte Rick eingewandt.
»Ich kann dir versichern, Rick, wenn herauskommt, daß ich an Geister glaube ... « »Aber Sie haben sie gesehen. « »Das würde niemanden interessieren. Man würde mich einfach für verrückt erklären. Wenn das die Zeitungen erfahren...« Er schauderte. Also hatte Rick versprochen, die Geister nach Insleyfarne zu bringen, ohne daß es jemand merkte. Die Geister hatten geschworen, still und unsichtbar im Gepäckwagen zu bleiben. Sogar Humphrey. Die Hexe und der Schwebende Kilt hatten die Hoffnung aufgegeben, daß Humphreys linker Ellbogen jemals richtig verschwinden würde. Es war wie bei einem Kind mit abstehenden Ohren oder einem Kind, das stotterte. Man mußte eben das Beste daraus machen. Andererseits wollten sie nicht, daß ein Mitreisender plötzlich etwas Rosiges, Spinnwebartiges im Gepäcknetz entdeckte, jetzt, wo sie ihrer neuen Heimat so nahe waren. In Inverness stiegen sie um. Das Land wurde wilder und schöner. Dann stiegen sie an einem ganz kleinen Bahnhof aus. Da wartete schon ein Lastwagen, um sie nach Insleyfarne zu bringen. Der Fahrer wunderte sich, daß für den Transport eines einzigen Jungen ein ganzer Lastwagen nötig sein sollte, aber er hatte Instruktionen, nichts zu sagen, und so schwieg er. Auch dann, als es im Wagen zu stinken begann und als plötzlich aus dem Nichts eine große Pfütze im Anhänger erschien ... Sie fuhren immer weiter nach Norden. Es wurde kälter. Regenwolken zogen vom Meer heran. Auf beiden Seiten sah Rick braunes Sumpfland mit Nebelschwaden, Granitblöcke, die feucht glänzten, und knorrige Bäume, die sich dem Wind entgegenstemmten. Die Straße wurde schmal. Sie lief jetzt an einem tiefen, dunklen See entlang. Dann wurde sie zu einem zerfurchten
Weg und führte über eine sandige Landenge, die Insleyfarne mit dem Festland verband. Sie waren am Ziel. Die Geister konnten es kaum glauben. Sobald der Fahrer weggefahren war - er hatte versprochen, Rick in ein paar Stunden wieder abzuholen -, erschienen sie einer nach dem anderen, klatschten in die Hände und lachten vor Glück. »Und das Schönste ist, wir können jetzt immer sichtbar bleiben«, rief Humphrey. »Oder nicht?« Rick sagte, ja, das könnten sie, und dann fingen sie an, ihre neue Heimat zu besichtigen. Da gab es alles, was das Herz begehrte: ein Schloß mit Verliesen, eine zerfallene Kapelle, ein Dorf mit verlassenen Häusern... Oben auf dem Hügel war ein Friedhof und der alte Raketenschießplatz mit ein paar verrosteten Baracken. Jeder Baum, jeder Grashalm war vom Wind gebeugt und zerrupft. Und auf drei Seiten heulte und donnerte und seufzte der kalte graue Atlantik, wie es sich besser kein Geist wünschen konnte. Nachdem sie alles angesehen hatten, überlegten die Geister, wo sie in Zukunft wohnen wollten. Die Hexe und der Schwebende Kilt entschieden sich für das Schloß. »Ach, meine Lieben, was für ein wunderschönes Haus!« jubelte die Hexe und kroch glückselig zwischen dem Eulendung und den schimmeligen Federn umher, die im früheren Wachraum herumlagen. Rick freute sich über ihre Begeisterung. Insleyfarne war eine riesige, schwarze Ruine. Die Fenster waren nur Schlitze, aus denen man früher siedendes Öl auf Angreifer gegossen hatte. Diese Schlitze waren verklebt von den Exkrementen Tausender Seevögel. Merkwürdige Pilze wuchsen an den feuchten Wänden. Stufen führten hinunter in dunkle Verliese oder aufwärts ins Nichts. »Wirklich eine hübsche kleine Bleibe«, meinte der Schwebende Kilt und jagte zwei große Ratten aus der alten
Waffenkammer. »Dies hier eignet sich sehr gut als Arbeitszimmer.« »Kann ich dieses Zimmer haben, Mutter?« Winifred zeigte auf eine runde Grube, in die man einst Gefangene geworfen hatte, um sie darin verhungern zu lassen. »Es ist so hübsch.« »Ich schlafe hier!« schrie George vom Ostturm herab. Rick machte sich auf den Weg, um Humphrey zu suchen. Er half Tante Hortensia gerade, die Pferde in den Stall zu bringen. »Es ist sehr schön hier, und die Luft ist so gut«, stellte Tante Hortensia fest und führte ihre Pferde in den nach oben offenen Stall, in den es jetzt heftig hereinregnete. »Ich habe eine Wohnung für mich gefunden ... ein hübsches kleines Grab unter den zerzausten Eichen da drüben. Nichts macht Erde so weich und bequem wie tote Schotten. Hierher, gib her! Guter Hund!« Der Schack ließ Tante Hortensias Kopf fallen. Sie steckte ihn unter den Arm und begab sich durch den strömenden Regen zu ihrem Schlafplatz. »Ich wollte das Grab«, sagte Humphrey, und seine Kieferknochen fingen an zu zittern. »In Craggyford habe ich immer in einem Grab geschlafen.« »Ach, Gräber sind so krümelig«, sagte Rick. »Wir finden bestimmt was Besseres.« Und so war es auch. Sie entdeckten ein ausgetrocknetes Bachbett mit einem schönen weichen Untergrund aus Blättern und Erde. Keiner konnte Humphrey sehen, wenn er sich da zusammenrollte. »Ich bin Humphrey der Schreckliche, der Quellengeist«, schrie er glücklich, schwebte auf und nieder und ließ seine Stimme noch einmal als Echo wiederkommen. Die anderen Geister waren genauso glücklich. Die Vampirfledermäuse hatten eine großartige Höhle in einer Klippenwand entdeckt. Sie war voller Möwenkot, zerbrochener
Eierschalen und Knochen von Tieren, die hier verendet waren. Der Blick aufs Meer war atemberaubend. »Und das Versorgungsproblem, meine Lieben, habe ich gelöst«, sagte Susi aufgeregt zu Rick. »Und wie?« »Robben. Siehst du sie? Robben! Es gibt hier unheimlich viele. Sie sind Warmblüter. Säugetiere. Nicht kalt und ungesund für den Magen wie Fische.« Mit ihren furchterregenden Fängen deutete Susi aufs Meer hinaus, und da sah man über zwanzig Köpfe im Wasser. »Haben sie denn nichts dagegen...« »Also, Rick!« Susis Stimme klang vorwurfsvoll. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, daß wir Vampire unser Handwerk verstehen. Die Robben werden sogar froh sein, wenn wir hier sind.« »Warum?« »Einen Ort, wo es Vampirfledermäuse gibt, meiden die Menschen. Und du weißt, was die Menschen Robben antun.« Rick ließ den Kopf hängen. Er dachte an all die Mäntel aus Seehundfell. Sogar seine Großmutter, die sonst eine ganz liebe Frau war, besaß einen solchen Mantel. »Wird Rose das denn schaffen? Haben Robben nicht ein sehr dickes Fell?« »Dank deiner Hilfe wird sie es.« Susis Vampirgesicht wurde sanft vor Dankbarkeit. »Rose ist viel kräftiger geworden. Dafür werde ich dir nie genug danken können. Solltest du irgendwann Hilfe brauchen, werden wir ganz schnell bei dir sein. Für gewöhnlich sind wir sehr vorsichtig beim Saugen, aber wenn du willst, daß wir jemandem wirklich schaden, brauchst du es nur zu sagen.« »Danke.« Rick war gerührt. Einen Augenblick dachte er daran, seine Freunde eines Nachts zu Mrs. Crawler zu
schicken, aber dann gab er diesen Gedanken auf und streichelte nur den flaumigen Kopf von Rose, die aus der Bauchtasche ihrer Mutter hervorsah. Er wußte, daß er sie vermissen würde. Der Verrückte Mönch hatte eine kleine zerfallene Kapelle gefunden. Sie bestand aus vier Wänden mit dem offenen Himmel darüber. Da, wo der Altar gewesen war, befand sich ein kleiner Steinhügel. »Ach, die Ruhe, der Frieden!« murmelte er. »Hier kann ich wieder zu mir finden. Seht euch mein Plasma an. Es sieht schon wieder ganz gesund aus, findet ihr nicht?« Nur Walter der Nasse war noch nicht ganz überzeugt. »Es ist Seewasser, wißt ihr. Ziemlich salzig. An Salzwasser bin ich nicht gewöhnt. Was ist, wenn mein Blut gerinnt?« Alle zusammen gingen sie mit ihm an den Strand. Sehr vorsichtig tauchte Walter der Nasse seinen linken großen Zeh ins Wasser. Sie standen alle um ihn herum, befühlten den Zeh, hielten ihn gegen das Licht, und der Zeh sah ganz normal aus. Walter tauchte den ganzen Fuß ins Wasser. Dann nahm er Anlauf und sprang ins Meer. »Fabelhaft«, sagte er, als er wieder auftauchte. »Es beißt ein bißchen. Aber es ist sehr erfrischend. Ich fühle mich um Jahre jünger. Alles in allem bleibt Wasser eben doch Wasser.« Und er verschwand wieder in den Wellen. Nachdem nun jeder seinen Platz gefunden hatte, feierten sie eine Party, um ihr Asyl einzuweihen. Gleichzeitig war es eine Abschiedsparty für Rick, der in ein paar Stunden zurück in die Schule mußte. Freude und Trauer waren also gemischt. Viel Zeit hatte die Hexe nicht für ihre Vorbereitungen gehabt, aber sie hatte Wunder gewirkt. Der alte Festsaal war mit Spinnweben dekoriert. Die gekreuzten Hüftknochen toter Ratten bildeten ein wunderschönes Muster an den lehmbedeckten Wänden. Für jeden gab es eine gebratene Kröte in Bilsenkrautblätter gewickelt. Dazu hatte die Hexe ein
vorzügliches Getränk aus dem Inhalt eines alten Wasserfasses und gehacktem Beifuß gemixt. Rick mußte mit Sardinensandwiches und Schokoladenkeksen vorliebnehmen, die der Lastwagenfahrer ihm dagelassen hatte, aber dagegen hatte er nichts. Dann hielt der Schwebende Kilt eine wunderschöne Rede auf Rick. Er nannte ihn »tapfer« und »einfallsreich« und »klug«, und er schlug vor, das Schloß ihm zu Ehren Hendersonasyl zu nennen. Geister in der ganzen Welt würden Ricks Namen auf diese Weise kennenlernen, sagte der Kilt, und sie würden ihm bis in alle Ewigkeit dankbar sein. »Auf Richard Henderson«, schloß er und hob sein Glas. Alle Geister standen auf und sagten: »Auf Richard Henderson. « Danach befanden sich alle in der richtigen Stimmung, um zusammen Spiele zu spielen. Sie hielten Verschwindewettbewerbe ab, um zu sehen, wer am schnellsten unsichtbar werden konnte. Tante Hortensia schaffte es am schnellsten und war daher äußerst gut gelaunt. Danach spielten sie ein Spiel, in dem es darum ging, wer am besten fluchen konnte. Dabei gewann der Schwebende Kilt. Rick gewann jedoch den zweiten Preis, indem er einen besonders gelungenen Fluch auf die Crawlers und ihren Sohn erfand. Danach spielten sie Fang den Hut. Statt eines Hutes mußten sie Tante Hortensias Kopf fangen. Das machte einen Riesenspaß. Nach einer Weile wurde der Kopf so albern, daß man ihn kichern hören konnte, auch wenn er unsichtbar war. Dann wurde es Zeit, Rick auf Wiedersehen zu sagen. Es war schlimm für alle, aber für Humphrey war es am schlimmsten.« »Humphrey«, sagte die Hexe in strengem Ton zu ihrem Sohn, als sie sich alle zum Abschied um Rick versammelt hatten. »Geister stöhnen, Geister jammern. Geister ächzen, schreien und wimmern. Aber niemals, niemals weinen sie.«
Das war eine der dummen Bemerkungen, die selbst die nettesten Erwachsenen manchmal von sich gaben. Humphrey weinte nicht nur, er war in Tränen aufgelöst. »Ich komme ganz oft«, versprach Rick, dessen Augen auch nicht trocken geblieben waren. Nachdem der Lastwagenfahrer unten an der Straße gehupt hatte, gab es ein allgemeines Händeschütteln, Umarmen, Fluchen und Wedeln der drei Schwänze vom Schack. Rick streichelte noch einmal Baby Rose, es roch noch einmal betäubend nach Schafsinnereien, einem Duft, den die Hexe speziell für diesen Augenblick erfunden hatte, Rick drückte Humphreys kleine Knochenfinger, und dann war er fort. Während der ersten paar Meilen waren Ricks Augen zu sehr getrübt, um irgend etwas zu sehen. Dann fuhren sie über eine alte Steinbrücke, und an einem kleinen Haselnußwäldchen sah Rick etwas. »Würden Sie bitte einen Augenblick halten?« Er stieg aus und ging zu dem Wäldchen hinüber. Ein flackerndes Etwas wurde, als Rick es ansprach, voll sichtbar... »Verflucht sei dein Name«, sagte Rick höflich. »Kann ich etwas für dich tun?« »Verflucht sei der deine«, gab der Geist zur Antwort, offensichtlich froh, korrekt angesprochen zu werden. Es war ein Ritter in voller Rüstung, und er schien zu Tode erschöpft zu sein. »Hast du vielleicht etwas von einem Geisterasyl hier in der Gegend gehört?« erkundigte er sich. »Ich habe schlimme Zeiten hinter mir. Mein Zuhause ist ein Hotel geworden...« »Du bist auf dem richtigen Weg«, gab Rick zur Antwort. »Du mußt nur noch diesen Berg hinunterschweben, dann kommst du auf einen Strandweg, und dann bist du da. « »Danke. Ich bin dir sehr dankbar. Wie ist es da?«
»Nicht schlecht.« Rick drehte sich um und ging zu dem wartenden Lastwagenfahrer zurück. Er war jedoch kaum ein paar Schritte gegangen, als der Ritter ihn einholte und mit seiner verdorrten Hand an der Schulter berührte. »Gerade erst habe ich gemerkt, wer du bist«, sagte er und hob sein Visier. »Vergib mir. Was für eine Freude! Welche Ehre!« »Wer bin ich denn?« »Du bist der Junge, der die Geister Britanniens gerettet hat. Sag mir nicht, daß ich mich irre. Du mußt Rick der Retter sein.« »Meine Güte«, sagte Rick. »Rick der Retter!« Er bekam einen roten Kopf, und seine düstere Stimmung schwand. »Wahrscheinlich bin ich es.«
11. Kapitel Seit fast drei Wochen war Rick nun wieder in der Schule. Zuerst hatten die Crawlers sich ihm gegenüber sehr einschmeichelnd verhalten. Aber als die Zeit verging und kein Geschenk von Ricks reicher Patentante eintraf, wurden die Crawlers wieder so, wie sie immer gewesen waren: einfach gräßlich. Nichts schien sich in der Zeit seiner Abwesenheit geändert zu haben. Die Jungen dachten sich immer noch Streiche aus. Sie setzten der Hausmutter den Schulhamster in den Handarbeitsbeutel oder gossen ihr Schaumbad in den Tee, und alle machten die ewig alten Witze über die Füße von Maurice Crawler. Wenn sie die Füße der Hexe gerochen hätten, dachte Rick, dann hätten sie wirklich ein Gesprächsthema gehabt. Wenn Peter Thorne abends in sein Kissen weinte, war Rick jetzt viel netter zu ihm. Er wußte, was es hieß, jemanden so sehr zu vermissen, daß es richtig weh tat. Peter hatte Heimweh, und Rick sehnte sich nach seinen Geistern. »Dir fehlen die Geister sehr«, sagte Barbara, als sie ihn mit traurigem Gesicht unter einer Buche sitzen sah. Er hatte die Arme um die Knie geschlungen, und sein Blick ging ins Leere. »Ach, sie waren einfach so interessant. Ich meine, verglichen mit denen hier.« Rick machte eine wegwerfende Handbewegung und deutete auf ein paar Jungen, die Fußball spielten und sich darum zankten, ob Smith im Abseits gewesen war oder nicht. »Außerdem mache ich mir Sorgen. Wenn Robben für Baby Rose nun doch zu zäh sind? Und ich glaube auch nicht, daß Humphrey wirklich schrecklicher wird. Wenn ihn nun die Geister ärgern, die neu ins Asyl kommen?« »Ach, Rick, alles wird gutgehen. Es ist doch toll, was du für sie erreicht hast.«
»Ja, schon. Aber ich hasse es, wenn etwas vorbei ist. Du erlebst ein Abenteuer, und danach ist alles so öde wie vorher.« »Woher willst du wissen, daß alles vorbei ist? Ich habe so ein Gefühl, als ob alles erst anfängt.« Rick sah Barbara an und schüttelte den Kopf. Er hatte vergessen daß sie ein außergewöhnlich kluges Mädchen war. Inzwischen führten die Geister auf Insleyfarne ein sehr glückliches Leben. Die Hexe hatte das Schloß gemütlich eingerichtet. Krüge mit eingemachtem Rattenblut, faulen Euleneiern und Grillenmarmelade standen sauber aufgereiht auf den Speisekammerregalen. Sie ließ Efeu über die Fensterhöhlen wachsen, und es gab ein wunderbar unheimliches Geräusch, wenn die Zweige gegen die Mauern wehten. Sie hatte auch die alten Folterinstrumente aus den Verliesen geholt und damit die schimmelgrünen Wände dekoriert. Während die Hexe das Schloß einrichtete, legte der Schwebende Kilt einen Küchengarten an. Bilsenkraut wuchs da neben Tollkirschen, es gab stinkenden Nieswurz und wundervolle Kürbisse, aus denen man an Halloween furchterregende Laternen basteln konnte. Wenn man ruhig und in Frieden lebt, hat man aber auch Zeit, sich mit den kleinen, bohrenden Sorgen zu beschäftigen, die im Augenblick der Gefahr bedeutungslos sind. Wie Rick befürchtet hatte, ging es zum Beispiel wieder um Humphreys Schrecklichkeit. Obwohl er jeden Morgen, wenn er in seinem Bachbett aufwachte, wiederholte: »Ich werde jeden Tag schrecklicher und schrecklicher«, konnte jedes Kind sehen, daß Humphrey in Wirklichkeit kein bißchen schrecklicher wurde. Seine Augenhöhlen zwinkerten, sein Geisterplasma sah aus wie wolligweiche Sommerwolken, und seine Kette mit der Kugel daran funkelte wie Weihnachtsschmuck.
Natürlich machten die Geister, die neu im Asyl eintrafen, die Sache nicht besser. Sie wollten nicht unfreundlich sein, aber sie sagten: »Na ja« oder »Man weiß ja nie, wie Kinder sich heutzutage entwickeln«, und jeder weiß, daß solche Worte einfach weh tun. Aber im großen und ganzen war die erste Zeit im Asyl voller Glück und Tatendrang. Baby Rose hatte sich sehr gut an das Robbenblut gewöhnt, und als sie größer wurde, schloß sie sich immer mehr Humphrey an, so daß er sich nicht mehr ganz so einsam fühlte. Walter den Nassen sah man nur sehr selten. Er verbrachte seine Tage unter gefährlichen Felsen an der Küste, um Seeleute in ihr nasses, salziges Verderben zu locken. Was allerdings schwierig war, weil überhaupt keine Schiffe vorbeikamen. Abends kam Walter dann manchmal ins Schloß geplatscht und prahlte mit seinen Heldentaten. Dem Verrückten Mönch ging es so viel besser, daß er richtig albern wurde. Er sagte seine lateinischen Gebete rückwärts, und wenn er in der Kapelle umherschwebte, bekam er häufig einen Schluckauf. Tante Hortensia wandte sich der Kunst zu. Sie fertigte eine Collage aus Treibholz und Seegras an, die sie Zwei Werwölfe, die sich gegenseitig auffressen nannte. Und natürlich gab es die neuen Geister, die untergebracht werden mußten. Fast jeden Tag trafen armselige, müde Gespenster ein, die um Aufnahme baten. Da waren zum Beispiel die beiden Soldaten Ughtred und Grimbald, die vor mehr als tausend Jahren unter König Alfred gekämpft hatten. Lange Zeit hatten sie in einem alten, verfallenen Kuhstall gespukt, bis man den Kuhstall aufgebaut und in eine Eierfabrik umgewandelt hatte. Sie hielten es einfach nicht aus, zwischen dreihundert gackernden Batteriehennen, die unentwegt Eier legten, herumzuschweben und ihre Kriegsschreie auszustoßen. Die beiden waren rauhe, ungehobelte Burschen. Jedermann mochte sie. Wenn man Soldaten näher kennenlernt, stellt man
manchmal fest, daß sich hinter ihrer rauhen Schale ein freundliches und gutmütiges Wesen verbirgt. Ein besonderes Kapitel waren die Ladys. Ständig trafen neue Damen ein. Es gab die Grüne Lady, die den Schlüssel zu ihrer Schatztruhe suchte, und die Blaue Lady, die auf der Suche nach ihrem Gatten war. Sie hatte ihn mit einem Kissen erstickt und wußte nicht mehr, wo sie ihn hingelegt hatte. Als die beiden zwei Wochen im Asyl waren, traf die Graue Lady ein, ihre alte Freundin. Die Craggyfordgeister kannten sie, denn sie hatte dort auf dem Friedhof gespukt und ihre Zähne gesucht, die sie immer noch vermißte. Die Kunde von dem Asyl verbreitete sich so weit, daß sogar Geister aus anderen Ländern kamen. Die meisten paßten sich sehr gut an, aber es gab einen weiblichen Geist aus Finnland, der alle anderen ziemlich nervte. Daß sie im Mondschein auf den Klippen Harfe spielte, hätten sie noch ertragen. Aber sie war zutiefst beleidigt, wenn nicht alle kamen und zuhörten. »Das ist nicht geisterhaft, sondern unerträglich«, stellte Tante Hortensia mißgelaunt fest. Sie war nicht musikalisch, und wenn sie bei Mondschein auf einer Klippe sitzen sollte, taten ihr die Fußballen weh. Alles in allem waren die Geister jedoch sehr, sehr glücklich. Am schönsten fanden sie die Abende, wenn sie alle in der Hexenküche saßen, sich ihre Abenteuer erzählten und über Rick sprachen. »Wie ist er denn, euer Rick der Retter?« wollten die neu hinzugekommenen Geister wissen. »Also, er hat große Augen, ein schmales Gesicht und abstehende Ohren«, fing Humphrey an, und dann gab ihm die Hexe einen Klaps mit der Schwinge. »Was redest du da, Humphrey, Ricks Ohren stehen kein bißchen ab.« Rick war in der Vorstellung der Geister zum Helden geworden, und Helden haben nun einmal keine abstehenden
Ohren. Wieder und wieder erzählten sie, wie Rick die kleine Vampirfledermaus mit seinem eigenen Blut ernährt hatte und wie er mit ihnen beim Premierminister gewesen war. Sogar Poldi, ein Poltergeist, der immer Unfug im Kopf hatte, hörte mit seinem Unsinn auf und lauschte. »Und jetzt sind wir dank seiner Hilfe hier, und wir sind für immer und ewig in Sicherheit«, pflegte die Hexe am Ende zu sagen, wobei ihre Barthaare vor Erregung zitterten. Aber sie irrte sich.
12. Kapitel Am nächsten Morgen wachte die Hexe mit Kopfschmerzen auf. Wie die meisten Mütter hatte sie oft Kopfschmerzen. Wenn George zuviel schrie, lag sie am Nachmittag platt auf dem Rücken mit einer feuchten Froschhaut auf der Stirn. Diesmal waren die Kopfschmerzen viel schlimmer als sonst. Es pochte und dröhnte und stach in ihrem Kopf, bis sie keinen Schritt mehr tun konnte. Dann fingen die Rückenschmerzen an, die auf der einen Seite herauf- und auf der anderen herunterliefen, als würde jemand ein Fleischmesser an ihrer Wirbelsäule entlangziehen. »Ich glaube, ich lege mich mal ein bißchen hin«, sagte sie zu ihrem Mann. Der Schwebende Kilt, der sonst so mitfühlend war, starrte sie nur an. »Ich glaube, ich lege mich hin, mein Lieber«, wiederholte sie und verstummte, weil sie den ängstlichen Ausdruck auf dem Gesicht ihres Mannes sah. »Ich höre nicht, was du sagst, Mabel. In meinen Ohren dröhnt es ganz fürchterlich, und mir ist so schwindelig.« Sein
Kilt bauschte sich auf wie in einer steifen Brise, und das Schwert in seiner Brust sah blind und rostig aus. Aber bevor die Hexe ihren Mann genauer ansehen konnte, drang ein entsetzlicher Schrei vom Ostturm in ihre Ohren. Natürlich war es George, der da schrie, aber es war nicht der laute und lustvolle Schrei, an den sie gewöhnt waren. Es war ein heiseres, jammervolles Schreien, der Schrei von jemandem, der Schmerzen hat. »Was ist denn nur mit uns los?« jammerte die Hexe. Sie schwebte zum Turm hinauf und barg George in ihren Armen. Die Umrisse seines Schädels waren erschreckend verwischt, und die Knochen fühlten sich weich wie Butter an. »Was hast du denn, mein Liebling, was hast du?« »Es tut weh«, schrie George, »weh, weh, weh!« Die Hexe hielt ihn liebevoll in ihren Klauen, vergaß ihre Rückenschmerzen und flog hinunter, um nach den anderen Kindern zu sehen. Winifred lag auf den Stufen, die in das Verlies hinunterführten. Sie war wie gelähmt. »Meine Schale ist weg, Mummy. Meine Schale ist kaputt. Meine Schale ... « »Etwas Schreckliches geht hier vor.« Die Hexe war verzweifelt. »Wir müssen zusammenbleiben. Wo ist Humphrey?« Bevor sie nach Humphrey suchen konnte, kam Tante Hortensia angeflogen. Ihre knotigen Knie ragten wie Ladestöcke hervor, ihr Halsstumpf war steif wie ein Brett. »Ich bin erstarrt, Mabel«, sagte sie und flog im Raum herum wie ein großes Eisenkreuz. »Ich kann mich überhaupt nicht mehr bewegen. Und mein Kopf ist wie aus Stein.« Überall im Asyl geschahen furchtbare Dinge. Dinge, die keiner erklären oder verstehen konnte. Der Verrückte Mönch hatte große rote Beulen bekommen, die aus seinem Plasma hervorbrachen. Walter der Nasse wurde aufs Land
geschleudert, er war knochentrocken. Das eine Auge vom Schack wurde weiß und schloß sich ganz, so daß er Tante Hortensias eisenharten Kopf mit lautem Poltern fallenließ und sich heulend unter einem Baum verkroch. Ughtred und Grimbald lagen stöhnend am Boden und hielten sich den Bauch. Die Ladys verloren allmählich ihre Farbe. Das Blau der Blauen Lady verblaßte, die Grüne Lady verlor ihr Grün, und die Graue Lady wurde völlig farblos. »Der Teufel und all seine dunklen Schatten mögen uns beistehen«, schrie die Hexe. »Was kann das nur sein? Und wo ist mein Kleiner? Wo ist Humphrey?« »Es ist eine Seuche«, schrie Susi, die mit einem gebrochenen Flügel mühsam angeflogen kam. »Meine Jungen können nicht mehr fliegen. Sie sind zu schwach, um die Höhle zu verlassen. Seht euch mein Baby an, meine kleine Rose!« Susi öffnete ihre Bauchtasche, und die Geister betrachteten voller Schrecken das schwächliche graue Wesen, das sich darin befand. Roses Augen waren trübe, ihre Fänge hingen blutig herab, ab und an stieß sie einen herzbewegenden Schmerzensschrei aus. »Ich will euch nicht beunruhigen«, meinte der Schwebende Kilt, »aber seht euch mal meinen rechten Arm an.« Seine Stimme klang so besorgt, daß sie sich alle gleichzeitig nach ihm umdrehten. Unterhalb des Ellbogens löste sich sein starker schottischer Plasmararm in Nichts auf. »Das mache ich nicht selbst«, stieß der Schwebende Kilt mühsam hervor. »Es geschieht mit mir. Ich kann es nicht aufhalten. Ich werde aufgelöst, ausgelöscht, umgebracht.« Diese schrecklichen Worte trafen die Geister wie ein Pfeil, der ihre Herzen durchdrang.
»Hamish!« jammerte die Hexe und warf sich gegen den von Unheil gezeichneten Körper ihre Gemahls. Winifred wimmerte: »Daddy, Daddy!« Ein schwacher Schrei war von dem sich auflösenden George zu hören. Schließlich war es Humphrey, der eine Erklärung für all die schrecklichen Dinge fand, die ihnen zustießen. Es war ein Humphrey, den keiner wiedererkannt hätte. Sein Geisterplasma sah wie ein altes Geschirrtuch aus, das man wochenlang in schmutzigem Abwaschwasser liegengelassen hatte. Seine Augenhöhlen glichen schmierigen Kohlenstückchen. Kette und Kugel, die er hinter sich herschleifte, schienen zu schwer für ihn zu sein. »Mummy, Daddy ... ihr alle ... schreckliche Männer... sie umzingeln das Asyl. Männer in schwarzen Mänteln mit weißen Kragen. Sie sagen furchtbare Dinge ... Sie wedeln mit Vogelbeerzweigen ... « Tante Hortensia stieß einen so markerschütternden Schrei aus, daß alle erstarrten. »Exorzismus! Das ist es. Exorzismus!« »Was ist... Exorzismus ... Tantchen?« wollte Winifred wissen, die noch immer die Luft nach ihrer Wasserschale absuchte. »Es ist die einzige Möglichkeit, Geister umzubringen, sie an ihren Ursprungsort zurückzuschicken. Zaubersprüche, Gebete, Ebereschenzweige, ein Ding, das man Drudenfuß nennt... das alles wird angewendet. Ach, meine Lieben«, Tante Hortensia wurde gefühlvoll im Angesicht des Todes. »Mit uns geht es zu Ende. Wir sind erledigt.« »Aber wer, wer sollte uns denn ... exorzieren wollen?« Walter der Nasse hatte sich ins Schloß geschleppt. Er knisterte vor Trockenheit und hatte kaum noch die Kraft, etwas zu sagen.
»Ich habe drei Geistliche gesehen«, flüsterte Humphrey. »Und einen blassen Mann mit schwarzen Haaren, der sie antrieb. Ich glaube, das ist der Mann, den wir beim Premierminister gesehen haben. Der gesagt hat, wir könnten hier leben.« »Lord Bullhaven!« schrie der Schwebende Kilt. Verzweifelt blickten die Geister einander an, als sie begriffen, was passiert war. »Eine Falle«, sagte die Hexe, die ihren schwindenden Gatten im Arm hielt. »Wir sind in eine Falle gegangen.«
13. Kapitel Und so war es. Die Geister waren in eine Falle gegangen, in eine schreckliche und gefährliche Falle. Lord Bullhaven war ganz und gar nicht das, was er zu sein vorgab. Keineswegs war er der freundliche reiche Mann, der den armen heimatlosen Geistern einen Platz anbot, an dem sie in Frieden leben konnten. In Wirklichkeit hatte er beschlossen, so viele Geister wie möglich an einen Ort zu locken und sie zu beseitigen. Das mag einem nicht nur grausam, sondern auch dumm vorkommen. Denn auch wenn man Geister nicht besonders mag, muß man doch zugeben, daß sie niemandem Schaden zufügen. Aber Lord Bullhaven konnte nichts ertragen, was auch nur im geringsten vom Üblichen oder Normalen abwich. Er wohnte in einem großen Haus auf dem Land, das Bullhaven Hall hieß. Es war ein sehr ordentliches, langweiliges Haus mit vielen quadratischen Räumen und geraden Korridoren. Auch der Garten war quadratisch und gerade. Wenn ein strahlendblauer Ehrenpreis oder ein goldäugiges Gänseblümchen oder eine purpurrote Mohnblume wild auf einem seiner Kieswege zu wachsen wagte, schrie Lord Bullhaven nach dem Gärtner, und der mußte sie mit einem Unkrautvernichtungsmittel umbringen.
Sein Gartenteich sah aus wie ein Rechteck, das man im Mathematikunterricht zeichnet, und er tat so viel Chlor hinein, daß Wasserpflanzen keine Chance hatten. Die Eibenhecken waren exakt geschnitten, und die Statuen wurden mit Seifenwasser sorgfältig geschrubbt, so daß sich kein Moos und keine Schlingpflanzen an ihnen festsetzen konnten. Im Haus sorgte Lord Bullhaven für die gleiche Ordnung. Die arme Lady Bullhaven durfte nichts anziehen, was nicht genauso war wie das, was alle anderen trugen. Wenn sie versuchte, ihm etwas Ausländisches vorzusetzen, zum Beispiel eine Pizza oder Risotto oder Apfelstrudel, spuckte er es aus und sagte, er dulde kein Schweinefutter in seinem Haus. Seine Kinder, Wystan und Emily, durften keine Märchen lesen, weil in ihnen ungewöhnliche Dinge vorkamen. Sie wurden nicht in die Dorfschule geschickt, denn dort wären sie mit schmutzigen und gewöhnlichen Kindern zusammen gewesen. Lord Bullhaven mochte weder Iren noch Waliser, weder Juden noch Katholiken, und er haßte Chinesen, Afrikaner und Griechen. Er war für Auspeitschen und Aufhängen, und sein Lieblingsspruch lautete: Spare die Rute, und du verdirbst das Kind. Er war also wirklich kein liebenswerter Mensch. Der Grund, warum Lord Bullhaven den Premierminister am selben Tag wie Rick und die Geister aufgesucht hatte, war folgender: Ein Land mit einer verbrecherischen Regierung hatte beschlossen, einen Teil seiner Einwohner zu vertreiben, weil sie einer anderen Rasse angehörten. Der Premierminister hatte angekündigt, diesen Menschen in England Asyl zu gewähren, weil sie nicht wußten, wo sie sonst hinsollten. Das ärgerte Lord Bullhaven so, daß er nach London fuhr, um sich zu beschweren. Der einzige Grund, warum er diese Menschen nicht in England haben wollte, war der, daß sie anders waren. Als er jedoch Ricks Geister sah, vergaß er, weshalb er gekommen war. Chinesen, Iren, Waliser oder Juden mochten noch so anders sein - sie waren nichts im Vergleich zum
Schwebenden Kilt, der Hexe, der Wehklagenden Winifred oder sogar zu Humphrey. Das waren widerliche, gruselige, ungewöhnliche Wesen. Sie konnte man nicht mit einem Pflanzenschutzmittel vernichten, man konnte sie nicht in Insektenfallen fangen oder einfach erschießen. Deshalb hatte Lord Bullhaven beschlossen, sie nach Insleyfarne zu locken und dann mittels Exorzismus zu beseitigen. Exorzismus gibt es schon sehr, sehr lange. Man kann ihn anwenden, um Geister aus einem Spukhaus zu vertreiben oder einen bösen Geist, der in einem Menschen gefahren ist, auszutreiben. Es ist ein höchst mühsamer und folgenreicher Zauber, den man nur anwenden sollte, wenn man genau weiß, was man tut. Denn Geister, die ausgetrieben worden sind, erscheinen nie wieder. Sie sind keine Geister mehr - sie sind überhaupt nichts mehr. Man hat sie umgebracht. Um Geister auszutreiben, gibt es alle möglichen Mittel und Methoden. Sehr wirksam ist es, wenn Geistliche im Kreis sitzen und immer wieder besondere Beschwörungsformeln wiederholen. Vogelbeerzweige werden auch verwendet, denn sie sind schlecht für Geister. Oder man legt Stöcke oder Steine in Form eines Fünfecks zusammen. Das nennt man Pentagramm oder Drudenfuß, und es bannt die Geister. Manche Leute schwören auf Eisenspäne und Essig, andere glauben an Salz. Aber entscheidend sind die Geistlichen, und sie müssen bereit sein, tagelang mitzumachen, denn Geisteraustreiben kann lange dauern. Sobald Lord Bullhaven die Geister in die Falle gelockt hatte, suchte er Geistliche, die bereit waren, mit ihm nach Nordschottland zu fahren, um die Geister zu beseitigen. Aber das erwies sich als ziemlich schwierig. Nicht so schwierig, wie es hätte sein sollen, aber schwierig war es.
Denn Geistliche sind meistens gute, freundliche Menschen. Sie kümmern sich um Alte und Kranke in den Gemeinden. Sie üben mit dem Kirchenchor, halten Weihnachtsfeiern ab und predigen. Kurz und gut, sie sind meistens viel zu beschäftigt, um auf einer kalten, windigen Insel in Nordschottland Zauberworte runterzuleiern. Als ersten fragte Lord Bullhaven den Pfarrer seiner eigenen Gemeinde. Der lehnte rundweg ab, weil er Lord Bullhaven gut genug kannte, um mit ihm nirgendwohin zu wollen. Der zweite Pfarrer, den er fragte, lebte in einem großen, verschachtelten Haus in der nächsten Stadt. Er sagte, er möge Geister gern und ziehe es vor, nicht bei ihrer Vertreibung zu helfen. »Aber das sind doch abstoßende, unreine Spukgestalten!« schrie Lord Bullhaven. Der Pfarrer lächelte nur und sagte, es täte ihm leid, aber er würde nicht mitkommen. So ging es tagelang weiter. Lord Bullhaven fuhr in seinem großen schwarzen Auto in ganz Südengland herum und versuchte, Pfarrer zu finden, die mitkommen wollten. Alle waren zu beschäftigt oder zu vernünftig oder zu freundlich. Einige hielten es auch für empörend, jemanden aus einem Asyl zu vertreiben. Schließlich fand er doch jemanden. Mr. Wallace war sehr arm. Er hatte neun Kinder, das Dach des Pfarrhauses leckte, die Kirche war baufällig, und seine Frau, die mit einem kümmerlichen Einkommen wirtschaften mußte, war so erschöpft, daß sie abends, wenn die Kinder im Bett waren, nur noch weinte. »Wenn Sie mich begleiten«, versprach Lord Bullhaven, »gebe ich Ihnen einhundert Pfund.« Also entschloß sich Mr. Wallace mitzufahren, weil er an Kleidung und Essen für seine Familie denken mußte.
Anschließend fand Lord Bullhaven noch einen weiteren Pfarrer. Mr. Hoare-Croakington war nicht nur alt und schwerhörig, sondern auch schon etwas durcheinander. Er war der Meinung, nach Schottland zur Moorhuhnjagd eingeladen worden zu sein, was später zu einem ziemlichen Durcheinander führte. Der letzte, den Lord Bullhaven gewinnen konnte, Mr. Heap, war von höchst unangenehmer Wesensart. Er war Priester gewesen, bis man ihn aus der Kirche ausschloß, weil er Geld aus dem Opferstock gestohlen und Whisky davon gekauft hatte. Aber er trug immer noch seinen Priesterrock, und Lord Bullhaven glaubte, er sei ein richtiger Geistlicher. Weitere Geistliche konnte Lord Bullhaven nicht auftreiben. Es fand sich nur noch ein ziemlich verdrehter Professor von der Londoner Universität, der Bücher über die Geisterjagd schrieb. Er hatte eine Menge Theorien, die er ausprobieren wollte, zum Beispiel auf Messingbecken schlagen, Backpulver ausstreuen oder Schwefelkristalle verbrennen. All diese Methoden waren nach Ansicht von Professor Brassnose einsetzbar bei der Geisteraustreibung, auch wenn ihre Wirkung noch nicht erwiesen war. An einem schönen Tag Ende Oktober packte Lord Bullhaven Bücher mit Zaubersprüchen, Klappstühle und Thermosflaschen in den Kofferraum seines großen schwarzen Rolls-Royce. Die Geistlichen und Professor Brassnose stiegen ein, und ab ging die Fahrt nach Insleyfarne.
14. Kapitel »Ich ... glaube nicht ... daß es noch lange dauert«, sagte die Hexe. Sie lag auf einem Bett vermodernder Blätter im Festsaal des Schlosses. Im Arm hielt sie das, was von ihrem geliebten Gemahl, dem Schwebenden Kilt, übriggeblieben war. Sehr viel war das nicht. Seine Beinstümpfe waren verschwunden. Brust und Arme waren nur noch ein schwacher Schimmer in der Luft. Nur das edle Schottenmuster seines Kilts war geblieben - das und seine klugen, tröstenden Worte: »Wir waren... so glücklich zusammen. Sei nicht traurig.« Aber die Hexe war traurig. Unsagbar traurig. Tränen rollten über die bärtigen Wangen, und ein verschwenderisches Gemisch von Düften entwich ihrem kranken Körper, als sie sich an die schönen Zeiten erinnerte, die sie mit ihrem Gemahl verbracht hatte. »Und meine Kleinen«, stöhnte sie. »Am besten gehen wir alle ... zusammen«, gab der Schwebende Kilt zur Antwort, dessen Gesicht auf einer Seite schon zu bröckeln anfing. Mit schwachen, schmerzenden Armen griff die Hexe nach George, der zu ihren Füßen lag. Sein Schädel war fast völlig geschmolzen, und seine Schreie hörten sich an wie das
unterdrückte Quieken einer Maus. »Winifred?« flüsterte die Hexe. Hoffnungsloses Schluchzen antwortet ihr. Ohne ihre Wasserschale war Winifred ein Nichts. »Humphrey?« Keine Antwort. »Humphrey!« rief die Hexe noch einmal. Immer noch keine Antwort. Gerade noch hatte er neben ihr gelegen. Humphrey mußte tot sein. Ein Opfer des Exorzismus. Zurückgeschickt dahin, woher Geister kommen. Verzweifelt schloß die Hexe die Augen und bereitete sich auf den Tod vor. Humphrey war jedoch nicht tot, nur fürchterlich schwach. Während er zwischen George und Winifred lag, den bohrenden Schmerz in seinem armseligen Plasma fühlte und zusah, wie die hellrote Farbe aus seinen gequälten Gliedern wich, wollte er nur noch, daß das Ende schnell kam. Und dann passierte etwas. Ein kleiner, sich windender Denkwurm in seinem Gehirn sagte: »Nein, du darfst dich nicht einfach hinlegen und sterben. Dazu bist du zu jung, Humphrey der Schreckliche. Du wirst etwas tun. Du wirst Hilfe holen.« Und als der kleine zappelnde Wurm in Humphreys Gehirn das Wort Hilfe ausgesprochen hatte, wurde er auf einmal ganz groß, richtete sich auf und sagte nur noch: »Rick. « »Aber ich kann nicht«, sagte Humphrey mit schwacher Stimme. »Wie soll ich denn zu Rick hinkommen? Ich kann mich doch kaum bewegen.« »Versuch's. Bewege ein Bein. Weiter, jetzt das andere.« »Es tut weh.« »Das macht nichts. Auf jetzt. Schwebe. Weiter, mach weiter.« Und dann befand Humphrey sich wirklich in der Luft und schwebte. Schwach noch und langsam, aber er schwebte ...
Vorbei an Tante Hortensia, die wie eine Eisenstange auf ihrem Grab lag, vorbei an dem armen Schack, der in Todesangst jaulte und dem von seinen drei Schwänzen nur noch einer geblieben war, vorbei an den jammernden, sich verfärbenden Ladys ... Als er zu dem Deichweg gelangte, der Insleyfarne vom Festland trennte, fühlte er einen so lähmenden Schmerz, daß er fast abgestürzt wäre. Er war voll in den Strahl von Mr. Wallaces Exorzismus geraten. Obwohl er diesen Job eigentlich verabscheute, hielt Mr. Wallace es für seine Pflicht, ihn richtig zu tun. Er saß auf Lord Bullhavens Klappstuhl, schwenkte mit einer Hand einen Ebereschenzweig und sprach Zauberspruch 293 aus dem Geisterbannbuch. »Scheußlich schlimme Geisterwesen Geht dahin, wo ihr gewesen. Geht hinfort von diesem Ort, Geht ins Grab und bleibt auch dort... « Der Spruch ging noch endlos weiter, und wenn Mr. Wallace in der Lage gewesen wäre, ihn bis zum Ende aufzusagen, hätte wahrscheinlich Humphreys letztes Stündchen geschlagen. Der arme Mr. Wallace hatte aber nur einen sehr dünnen, abgetragenen Mantel an, und es war bitter kalt. Er saß am Strand, der Wind heulte, und ganz plötzlich mußte Mr. Wallace heftig niesen. Das dauerte nur ein paar Augenblicke. Es war aber ein Spalt im Exorzismus, und der genügte. Humphrey konnte über den Kopf von Mr. Wallace hinweggleiten und seinen langen, beschwerlichen Weg zu Rick dem Retter fortsetzen. Es war eine Reise, die Humphrey nie vergessen sollte. Obwohl er mit zunehmender Entfernung vom Exorzismus stärker wurde, war er doch immer noch sehr schwach. Kugel und Kette waren schwer wie Blei, und manchmal war er so schwindlig, daß er nicht mehr wußte, wo oben und unten war.
Das Schlimmste war aber, daß er sich nicht mehr genau an den Weg erinnern konnte. Er mußte nach Südosten fliegen, aber wie weit genau? Wenn er nun an Ricks Schule vorbeiflog? Er durfte sie einfach nicht verfehlen. Seine Eltern starben, mit ihnen George und Winifred und all die anderen Geister, die man hinterhältig in die Falle gelockt hatte ... Er mußte Rick finden. Was Rick tun konnte, um eine Insel mit toten und sterbenden Geistern zu retten, wußte Humphrey nicht. Er war nicht besonders klug. Er hatte nur Vertrauen. Es war ein klarer, windiger Morgen gewesen, als er von Insleyfarne gestartet war. Jetzt zogen sich Wolken zusammen. Es fing an zu regnen, und der Wind blies ihm entgegen. Ohne den Schutz der Geisterkutsche fror er bitterlich, und er zitterte so sehr, daß er an Höhe verlor. »Ich schaffe es nicht«, schluchzte er. »Den ganzen Weg schaffe ich nicht.« Dann fiel ihm ein, was der Schwebende Kilt einmal gesagt hatte. »Wenn du etwas Schweres vorhast, denk nicht an alles, was noch vor dir liegt. Denk nur an den nächsten Schritt. Du kannst immer nur einen Schritt tun.« Also schwebte Humphrey nur einen Schritt, dann noch einen und noch einen. Schließlich veränderte sich das Land unter ihm und wurde freundlicher: Felder, Wiesen und Hecken traten an die Stelle der wilden Moorlandschaft. Er wußte, daß er sich der Grenze von England näherte. Nach Osten ... über den Fluß ... Einen Moment lang hatte er schreckliche Angst, als ein Schwarm Stare sich plötzlich in die Luft erhob und ihm fast die Sicht nahm. Aber da - war da nicht ein vertrauter Tannenwald? Und da auf der Lichtung ... Oh, das mußte es sein ... Ja, er war da! Wie immer hingen die gestreiften Fußballsocken von Maurice Crawler aus dem Schlafsaalfenster.
Erschöpft verlor Humphrey Höhe, glitt durch das Fenster und ließ sich müde wie noch nie auf Ricks Bett fallen. Rick hatte gerade Geschichtsunterricht. Es ging um Heinrich VIII., den Rick noch nie besonders gemocht hatte. Jetzt haßte er ihn, weil er Tante Hortensia geköpft und das Kloster vom Verrückten Mönch abgebrannt hatte. Barbara saß neben Rick. Sie sah aus, als ob sie eingeschlafen wäre, aber Rick wußte, wenn Mr. Horner ihr eine seiner sinnlosen Fragen stellte, würde sie sofort die Antwort wissen. »Bitte, Sir, darf ich hinausgehen?« fragte Maurice Crawler. Rick wechselte einen Blick mit Peter Thorne, der an seiner anderen Seite saß. Alle Kinder wußten, daß Maurice nur in den Schlafsaal gehen, eine Tüte Bonbons unter seinem Kissen hervorholen und sie in sich hineinstopfen wollte. Wahrscheinlich wußte Mr. Horner das auch. Aber was konnte er tun? Mrs. Crawler verteidigte ihren Liebling ja immer. »Geh schon«, sagte Mr. Horner und begann, von Anne Boleyn zu sprechen, der zweiten Gemahlin Heinrichs VIII. Doch er kam nicht weit. Die Klassentür wurde aufgerissen, und Maurice stürzte herein. Er zitterte wie eine Qualle. »Ein Ding!« Maurice zeigte auf Rick. »Wie schon mal. Auf Hendersons Bett. Ein w...widerlicher, gräßlicher G...geist!« »Also wirklich, Crawler«, begann Mr. Horner und fuhr entrüstet fort: »Henderson! Wie kannst du es wagen, das Klassenzimmer ohne...« Aber Rick, gefolgt von Barbara, war schon außer Hörweite. »Humphrey, Humphrey!« Rick schluckte den Klumpen hinunter, der ihm im Hals saß. »Was ist passiert? Was haben sie dir angetan?« »Mir fehlt nichts.« Humphreys Stimme klang schwach. Er winkte mit einem Knochenfinger. »Es sind die anderen... Rick,
es war eine Falle. Alle sterben sie. Vielleicht sind sie schon tot. Meine Mutter, mein Vater, George, Winifred, alle!« Unter Schluchzen erzählte Humphrey vom Exorzismus auf Insleyfarne. »Du mußt uns helfen, Rick. Und schnell, bevor...« Die Tür des Schlafsaals flog auf, und Peter Thorne stürzte herein. »Sie kommen, Rick, Mr. Horner und die Crawlers und Maurice, um zu sehen...« Er blieb wie angewurzelt stehen. »Meine Güte! Es ist wahr. Es ist wirklich ein Geist.« »Ja, es ist ein Geist. Er ist mein Freund, und er braucht Hilfe. Versuch, sie aufzuhalten.« Ohne zu zögern stürzte Peter zur Tür und schob eine Kommode davor. Für jemanden, der so zart aussah, war er erstaunlich stark. » Humphrey, kannst du verschwinden, oder bist du zu schwach dazu?« Humphrey wandte Rick sein graues, erschöpftes Gesicht zu. »Ich ... versuche ... es ... « Es war ganz offensichtlich eine Riesenanstrengung, aber nach wenigen Augenblicken begann dieses arme, löcherige Stück Plasma zu verschwinden, und nur sein Ellbogen blieb wie ein Fetzen alter Schafwolle in der Luft hängen. Draußen hämmerten sie gegen die Tür. Rick kümmerte sich nicht darum. Sein Gesicht war hart wie Stein geworden. Als Humphrey das Wort Exorzismus ausgesprochen hatte, wußte er, wie groß die Gefahr war. »Wie viele Geistliche sind dort?« »Drei«, sagte Humphrey leise. »Und noch ein Mann mit einem Bart. Und natürlich Lord Bullhaven.« Rick war nicht dumm, und er war kein Tagträumer. Er brauchte Hilfe, um mit fünf Männern fertig zu werden.
»Macht die Tür auf!« kreischte Mrs. Crawler draußen. »Macht auf, ihr ungezogenen Kinder!« »Ich kann sie nicht mehr halten«, keuchte Peter, der sich gegen die Kommode lehnte. Plötzlich fiel Rick etwas ein. Peter war klein und dünn und blaß, er hatte blonde Locken und veilchenblaue Augen. Er war in den ersten Wochen krank vor Heimweh gewesen und hatte fast immer geweint. Trotzdem ärgerte ihn keiner. Maurice Crawler hatte versucht, ihn gegen die Wand zu drücken, und hatte auf dem Boden gelegen. - »War das Judo?« hatte Rick Peter gefragt, denn Maurice war doppelt so groß wie Peter. Peter hatte den Kopf geschüttelt. Er wende Judo zwar oft an, aber dies sei Aikido. Es komme auch aus Japan. Sein Vater habe es ihm beigebracht. Als er das Wort »Vater« aussprach, fing er wieder an zu schniefen. Rick hatte damals nicht weiter darüber nachgedacht, aber jetzt faßte er einen Entschluß. »Du kommst mit«, sagte er zu Peter und schob ihn zum offenen Schlafsaalfenster. »Kannst du am Efeu runterklettern, Barbara?« Barbara nickte. Sie war so wütend über das, was man Humphrey angetan hatte, daß sie nicht sprechen konnte. »Also, dann los«, sagte Rick. Sie kletterten am Efeu hinunter und liefen den Kiesweg entlang, der von der Schule wegführte. »Es wird alles wieder gut«, sagte Rick zu Humphrey. »Ich verspreche es, alles wird wieder gut. « Rick war bei weitem nicht so sicher und hoffnungsvoll, wie er sich anhörte. Insleyfarne lag über dreihundert Meilen im Nordwesten. Geister können so schnell schweben, daß man ihnen über größere Entfernungen kaum folgen kann. Selbst mit dem Zug oder im Auto würden sie höchstwahrscheinlich zu spät kommen. »Die Frage ist, wie wir schnell genug hinkommen«, sagte Rick aus seinen Gedanken heraus.
Er hatte nicht mit Barbara gerechnet. »Ich weiß, wie wir's schaffen.« Sie keuchte vom Laufen. »Miss Thistlethwaite ... die brauchen wir.« Rick war so überrascht, daß er stehenblieb. »Miss Thistlethwaite? Bist du verrückt?« Miss Thistlethwaite kam dienstags und donnerstags auf dem Fahrrad in die Schule, um Geige und Klavier zu unterrichten. Sie war eine recht auffallende Dame in ihrem langen schwarzen Kleid, das von einer Bademantelkordel zusammengehalten wurde. Und zuweilen, wenn Maurice Crawler E-dur nicht traf oder Smith wie ein Panzerwagen durch Schuberts Wiegenlied donnerte, hö rte man sie gequält aufschreien. »Warte mal, morgen ist doch Vollmond, nicht?« sagte Barbara. »Dann müssen wir jetzt ins Gemeindehaus.« Wenn es nicht Barbara gewesen wäre, hätte sich Rick an die Stirn gefaßt. So aber zuckte er nur mit den Schultern, lief weiter und sah sich nur hin und wieder um, ob die Crawlers ihnen auf den Fersen waren. Das Gemeindehaus war ein niedriges Gebäude aus Holz und stand auf einer Wiese neben der Kirche. Die Tür war verschlossen, die Vorhänge waren zugezogen. Auf einem Zettel an der Tür stand in roter Schrift Frauen-Teeklub. Nur für Mitglieder. Hintereingang benutzen. An der Rückseite des Gebäudes war eine kleine Tür, die in eine Garderobe führte. Schnell schlüpften die Kinder hinein, und das ausgefranste graue Etwas, das Humphreys Ellbogen war, folgte. Sie öffneten die Tür, die in den Gemeinderaum führte, einen Spaltbreit und sahen hinein. Der Raum war dunkel und wurde nur von großen Kerzen erhellt. Eine seltsame blaue Flamme flackerte in einem Holzkohlebecken auf dem Klavier. An drei Seiten des Raumes standen Tische
voller Dinge, wie man sie auf Dorfbasaren kauft oder verkauft: Gläser mit Marmelade, Kuchen, Häkeldeckchen... Aber die dreizehn Damen, offenbar der FrauenTeeklub, kauften oder verkauften nichts. Sie tanzten. Sie bewegten sich im Kreis und aus dem Kreis heraus, sie hoben die Füße und stampften ... »Sieh dir ihre Hüte an«, flüsterte Barbara. Miss Thistlethwaite trug einen Hut, der mit Tollkirschen, Mistelzweigen und Klatschmohn geschmückt war. Mrs. BellLowington, die im Herrenhaus wohnte, trug eine ausgestopfte Eule auf dem Kopf. Miss Ponsonby, die Leiterin des Postamts, trug einen rosafarbenen, mit schwarzen Dreiecken bestickten Glockenhut. Jetzt gaben sie sich die Hände und sangen. Die Melodie war angenehm, aber die Worte klangen unverständlich. »Eko, Eko Azarak! Eko, Eko Zomelak!-Eko, Eko Cernunnos! Eko, Eko, Arada!« »Fertig?« flüsterte Barbara und öffnete die Tür. Der Kreis der Tänzerinnen erstarrte. Ihre Münder schlossen sich nach dem letzten Wort des Liedes, und dreizehn Augenpaare richteten sich eher unfreundlich auf die drei Kinder. »Miss Thistlethwaite«, sagte Barbara. »Bitte, Miss Thistlethwaite.« Miss Thistlethwaite tat einen unsicheren Schritt vorwärts. »Fredegonda«, sagte Mrs. Bell-Lowington, die den Tanz geleitet hatte, mit Donnerstimme, »was tun diese Kinder hier?« Miss Thistlethwaite schüttelte nervös den Kopf. »Ich weiß es nicht, Nocticula.« »Bitte, seien Sie nicht böse«, sagte Barbara. »Wir wissen, daß Sie Hexen sind. Wir werden es keiner Seele sagen. Aber bitte, bitte, helfen Sie uns. Wir sind in Not!«
Unruhe breitete sich unter den Hexen aus. Der Kreis löste sich auf, und Fredegonda (das war Miss Thistlethwaites Hexenname, denn es ist schwer, Hexe zu sein, wenn man auf den Namen Ethel getauft ist) kam auf die Kinder zu. Ihr folgte die Hexenmeisterin Nocticula (sie hieß mit Taufnamen Daisy, was sich noch schlimmer anhörte). »Was wollt ihr von uns?« Zur Antwort schnippte Rick mit den Fingern, und der vor Erschöpfung zitternde Humphrey erschien vor den Hexen. Schweigend blickten sie auf seinen sich zersetzenden Plasmakörper, die geschwollenen Gelenke, den Ausschlag auf seinem übel zugerichteten Gesicht... »Exorzismus!« rief Nocticula mit Donnerstimme. »Ein abscheulicher Brauch.« »Der arme kleine Kerl«, sagte Fredegonda. »Das ist der Eisenspanzauber. « Melusina, eigentlich Miss Ponsonby von der Post, hob Humphreys linke Hand. »Ein sehr grausamer und unzivilisierter Brauch. Seht euch nur die aufgeweichten Knöchel an.« »Wer ist dafür verantwortlich?« Nocticulas Augen funkelten. Hexen und Geister mögen einander, und der Anblick von Humphrey machte sie wütend. Rick erzählte die ganze Geschichte. Vom Geisterasyl, das sich als Falle erwiesen hatte. Von dem Zustand der Geister auf Insleyfarne und daß sie sofort dorthin müßten. »Vielleicht auf einem Besenstiel?« fragte Peter. »Ein Besenstiel«, stieß Nocticula wütend hervor. »Oder was wird heutzutage benutzt? Vielleicht ein Staubsauger?« hakte Peter nach. »Du bist noch jung«, erwiderte Nocticula. »Das ist aber kein Grund, dumm zu sein. Vermutlich sind Hexen nie auf
Besenstielen geritten. Heutzutage tun sie es jedenfalls mit Sicherheit nicht.« »Aber gibt es denn keine Möglichkeit, wie wir dort hinkommen können?« »Hexenkraft besteht nicht aus idiotischen Tricks«, sagte Nocticula. »Sie ist Power. Willenskraft. Die Kraft, etwas in Bewegung zu setzen. Weiße Hexen lassen gute Dinge geschehen. Schwarze Hexen lassen böse Dinge geschehen. Auf Besen reiten, Leute in Kröten verwandeln, das ist alles bloß fauler Zauber.« »Könnt ihr uns dann nicht helfen?« Ricks Stimme klang traurig. »Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Nocticula leicht gereizt. Sie wandte sich den Hexen zu. »Los, Mädchen, schnell jetzt.« Rick, Peter und Barbara folgten den Hexen zu den Tischen an der Wand. Aus der Nähe erkannten sie, daß dort nicht das gewöhnliche Angebot eines Dorfbasars aufgebaut war. Da standen Töpfe mit bitterer Wermutmarmelade, Flaschen mit pulverisierter Galle und Töpfchen, auf denen Korianderzauber, Immergrünzauber oder Liebestrank stand. Auf einem Tisch mit Handarbeiten lagen mit Mondkraut, Fünffingerkraut und Eppichblatt gefüllte Säckchen. In der Keramikabteilung standen Töpfe und Tassen mit zwei Henkeln, die mit seltsamen Zeichen bemalt waren. Der Tisch, an dem Nocticula jetzt stehenblieb, war der interessanteste. Auf ihm befanden sich handgemachte, lebensnahe Puppen in moderner Kleidung. »Seht mal, da ist Mrs. Crawler.« Rick deutete auf eine dicke Puppe in blauem Kleid. »Und da ist der Pfarrer«, sagte Peter. »Und Ted, der Milchwagenfahrer.«
Die Kinder merkten, daß jede Puppe wie jemand aussah, der im Dorf oder in der Nähe lebte. »Dieser hier, nehme ich an.« Nocticula griff nach einer Puppe in einem blauen Overall und mit Kopfhörern. Die Kinder erkannten ihn sofort. Es war ein junger Mann namens Peregrine Rowbotham. Sein Vater war reich. Peregrine tat nichts als sich auf zahlreichen Partys zu vergnügen oder in seinem Privatflugzeug herumzufliegen. »Stimmt.« Nocticula hob ihren Rock, zog ein Stück Kreide aus der Tasche ihrer grünen Unterhose und zeichnete ein Dreieck auf den Boden. Fredegonda schüttete Weihrauch in das Gefäß mit glühender Holzkohle, und Melusina ging zu dem Tisch mit den Kochzutaten und zerrieb verschiedene Kräuter auf einem Holzbrett. Es war, als ob Krankenschwestern sich auf eine Operation vorbereiteten. »Wir haben keinen Friedhofsstaub mehr«, stellte Melusina fest. »Macht nichts«, gab Nocticula ungeduldig zur Antwort. »Nimm Drachenblut.« Als die Vorbereitungen abgeschlossen waren, wurde die Puppe in die Mitte des Dreiecks gesetzt. Die Hexen standen drum herum. Man sah, daß sie sich alle sehr konzentrierten. »Im Namen von Cernunnos dem Gehörnten, wir wecken dich vom Schlaf auf, Peregrine Rowbotham«, sagte Nocticula. »Möge Reiselust dich erfüllen und vom Bett aufstehen lassen«, sang eine zweite Hexe. »Möge deine Seele sich nach dem fernen Insleyfarne sehnen«, sagte eine dritte. »Wach auf. O Peregrine, wach auf, wach auf und komm!« riefen jetzt alle im Chor.
Nocticula zog eine Nadel aus ihrem Hut und steckte sie vorsichtig in den Fuß der Puppe. Die Hexen hoben die Arme, und eine blaue Flamme schoß aus dem Schmelztiegel. »Hör mein Wort und folge ihm, Wo ich es will, da geh du hin!« Dann befahl Nocticula, die Tür zu öffnen. Zwei Minuten vergingen, fünf, zehn ... Und dann hörten sie die Bremsen eines Wagens vor dem Haus quietschen. Auf der Schwelle stand blinzelnd und völlig verwirrt Peregrine Rowbotham. »Wie isses, will jemand in meiner Mühle mit nach Insleyfarne kommen? Mir kam auf einmal die Idee, dorthin zu fliegen.« Rick und Barbara rissen den Mund auf. Langsam gingen sie auf den Mann zu und sagten: »Ja, wir würden gerne mitfliegen. Bitte!«
15. Kapitel Der arme Peregrine Rowbotham hatte in seinem Himmelbett in Rowbotham Hall gelegen und leise geschnarcht. Es war mitten am Nachmittag und eine komische Zeit zum Schlafen, aber Peregrine war die ganze Nacht bis morgens früh um acht auf einer Party gewesen. Zuerst hatte Peregrine dasselbe wie immer geträumt: Von schönen Mädchen, schnellen Autos und von den Pferden, auf die er gesetzt hatte. Dann änderten sich die Träume allmählich. Er sah purpurrote Heide, reißende Bäche und Moor. Dann sah er ein Felsenriff, das in den wilden Atlantik hinausragte. Es war eine finstere, windzerzauste Gegend mit verkrüppelten Bäumen und einem dunklen, verfallenen Schloß. Peregrine zog es in seinem Traume gerade zu dieser Stelle; mehr als alles andere in der Welt wünschte er sich, dort zu sein. »Insleyfarne«, sagte er im Schlaf. »Ich möchte nach Insleyfarne!« Ein plötzlich auftretender Krampf in seinem rechten Bein ließ ihn wach werden. Ohne zu wissen, was er tat, begann er, sich anzuziehen ... »Insleyfarne«, wiederholte er, noch in Unterhosen. »Insleyfarne.«
Als er angezogen und in seinen Jaguar gestiegen war, merkte er, daß er nicht direkt zum Flugplatz fahren wollte, wo seine Maschine stand. Irgend etwas ließ ihn nach links statt nach rechts abbiegen, in Richtung Dorf. »Einsam«, sagte Peregrine mit noch schlaftrunkener Stimme. »Der arme Peregrine braucht Freunde, um nach Insleyfarne zu fliegen.« Und er fuhr direkt zum Gemeindehaus. Und jetzt flog er mit drei ihm unbekannten Kindern und einem merkwürdigen, spinnwebartigen grauen Gebilde, auf das er immer wieder sehen mußte, wenn er sich umdrehte, nach Norden. »Es war Hypnose, oder?« sagte Barbara. Rick zuckte die Achseln. »Hypnose, Willenskraft, Hexerei es ist alles dasselbe, nehme ich an. Wenn wir nur nicht zu spät kommen.« Sie flogen über dunkle Seen, Felseninseln, über Fichtenwälder und weite Moorflächen. Das Land wurde wilder, düsterer. »Insleyfarne!« rief Rick endlich. »Da unten, seht!« Peregrine flog eine Kurve und landete auf einem langen leeren Strand mit festem Sand im Norden des Felsenkaps. Es ist nicht einfach, mit nur vier Leuten eine Insel, noch dazu eine so große, einzukreisen, aber Lord Bullhaven hatte es geschafft. Er hatte Mr. Heap auf einen Felsvorsprung unterhalb des Schlosses gesetzt. Mr. Wallace, der nette Geistliche mit den neun Kindern, saß auf dem Kiesstrand neben der Straße, die auf das Festland führte. Mr. Hoare-Croakington saß auf dem Hügel neben dem Raketenschießplatz, und Professor Brassnose befand sich unten bei der zerfallenen Kapelle und der Quelle. Alle hatten sie Klappstühle und Sandwichpakete und Thermosflaschen mit heißem Kaffee, damit sie ohne Unterbrechung exorzieren konnten. Natürlich hatten sie auch
Bücher mit Bannsprüchen und Ebereschenzweige. Professor Brassnose hatte zusätzlich Essig und Eisenspäne und Gongs und eine Sammlung von Salben und Puder aus seinem Laboratorium mitgebracht. Lord Bullhaven war viel zu aufgeregt, um still auf seinem Stuhl sitzenzubleiben. Er lief auf der Insel herum, rief: »Gräßliche Gruselgestalten!« - »Dreckiger Abschaum!« und »Britannien den Briten.« Dabei machte er schiefe Fünfecke aus allem, was ihm in die Hände fiel. Wenn einer der Geisterbeschwörer mal eine Pause machte, um sich die Beine zu vertreten, erschien sofort Lord Bullhaven und brüllte: »Zurück auf den Posten! Zurück, verdammt noch mal!« Mr. Heap nahm keine Notiz von dem Flugzeug, das über ihm dahinzog und dann zwei oder drei Meilen weiter nördlich landete. Er saß mit dem Rücken zur See, und sein Gesicht war dem Schloß zugewandt. Zigarettenschachteln und Butterbrotpapier lagen um ihn herum, denn er war nicht nur ein gemeiner Kerl, sondern auch ein Umweltverschmutzer. Er rasselte den Geisterbannspruch Nr. 976 mit so viel Haß herunter, daß Spucke auf die Buchseiten tropfte. »Spinnen, Skorpion, Krötentier, Fahrt zur Hölle jetzt und hier. Blasen, Gallengift und Pest, Böse Krankheit und der Rest. Fort mit Hexe und Vampir, Erde sauber jetzt und hier!« Und dann saß Mr. Heap plötzlich nicht mehr auf seinem Stuhl, sondern auf einem rutschigen Felsen, und ein kleiner blonder Junge, der aus dem Meer gekommen zu sein schien, beugte sich über ihn. »Bitte hören Sie jetzt auf damit«, sagte Peter Thorne höflich. »Was ... du ... du ... « Mr. Heap rappelte sich auf und streckte eine große, behaarte Hand aus, um Peter am Hals zu packen.
Aber da war kein Hals mehr, sondern nur noch dünne Luft, und Peter schien sich in eine Kugel aus Blei zu verwandeln, die auf Mr. Heaps fetten, ungeschützten Bauch zuflog. »Aaaau!« schrie Mr. Heap und fiel auf den Felsen zurück. Bevor er sich wieder hochgerappelt hatte, lief Peter mit dem Buch die Treppen zum Schloß hinauf. »Gib mir das Buch zurück, du kleiner Mistkerl«, schrie Mr. Heap. Peter drehte sich auf der obersten Stufe nach ihm um. »Wenn Sie es haben wollen, holen Sie es sich!« rief er und rannte den steilen Klippenweg entlang bis zur Zugbrücke, die den Schloßgraben aus Lehm und Matsch überspannte. Dort blieb er stehen und wartete auf Mr. Heap, der in Schweiß gebadet und vor Wut kochend hinter ihm hergerannt war. »Hier ist Ihr Buch«, sagte Peter mit honigsüßer Stimme. Mr. Heap griff danach. Peter kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich. Der Uki-Otoshi war schwierig, man mußte ihn sehr genau ansetzen. Peter fiel auf ein Knie, machte das andere Bein ganz steif, und als der fette, keuchende Mann gegen ihn fiel, stieß er mit aller Kraft zu. Mr. Heap segelte mit all seinen vielen Pfunden durch die Luft und landete mit einem Platscher, der einen Schwarm Möwen in die Flucht schlug, im grünen schlammigen Wasser des Grabens. In der Zwischenzeit wurde der arme Mr. Hoare-Croakington, der auf dem kahlen Felsen neben dem Raketenschießplatz saß, immer verwirrter. Er war so sicher gewesen, daß man ihn nach Insleyfarne zur Moorhuhnjagd eingeladen hatte. Mr. HoareCroakington war noch nie auf Moorhuhnjagd gewesen, er war überhaupt noch nie auf Jagd gewesen, und er hatte sich so darauf gefreut. Aber niemand hatte ihm ein Gewehr und Patronen gegeben. Statt dessen hatte man ihn auf einen Klappstuhl auf einem sehr kalten Hügel gesetzt und ihm befohlen, Gedichte aus einem Buch aufzusagen. Mr. Hoare-
Croakington mochte keine Gedichte. Er war enttäuscht und traurig. Nach einer Weile wurde seine Laune besser, und das hatte folgenden Grund: Im Hotel, wo sie übernachtet hatten, war auf Anordnung von Lord Bullhaven jedem eine Thermosflasche mit Kaffee ausgehändigt worden, damit sie wach blieben. Das überforderte Küchenmädchen hatte die Thermosflasche von Mr. Hoare-Croakington mit der Flasche von General Arkwheeler verwechselt. Und der ließ seine Thermosflasche immer mit purem Whisky füllen. Mit jedem Schluck wurde Mr. Hoare-Croakington fröhlicher, und seine Gedanken gerieten immer mehr durcheinander. »Spuk (hick) und Pest und Zauberbuch. Treib hinweg (hick, hick) den Geisterfluch«, sang er. Dann machte er: »Bummbumm.« »Nein«, sagte Barbara, die plötzlich aus dem hüfthohen Heidekraut aufgetaucht war. »Nein?« Mr. Hoare-Croakington war sehr überrascht, sie zu sehen. »Kein Bumm-bumm?« Barbara schüttelte den Kopf. »Hier gibt es doch nichts zum Bumm-bumm-Machen, oder?« Sie wies in die Runde und nahm behutsam das Buch mit den Beschwörungsformeln von den Knien des alten Mannes. »Moorhühner?« Hoffnung schwang in Mr. HoareCroakingtons Stimme. »Keine Moorhühner hier.« Barbara zerstörte das ziemlich unvollkommene Pentagramm von Mr. Hoare-Croakington mit dem Fuß. »Aber ich weiß, wo es ganz wunderbare Moorhühner gibt. Wenn Sie mir folgen wollen. Große, fette Moorhühner...« Das gefiel Mr. Hoare-Croakington. »Große, fette Moorhühner...«, wiederholte er verzückt. Ruhig und ohne Widerstand ließ er sich von Barbara an den Enden seines Wollschals zum Wagen von Lord Bullhaven führen, der an der Straße parkte. Normalerweise kämpfte Rick
nicht gerne. Er zog es vor, Dinge mittels Denken auszutragen. Auf dem Weg zu Professor Brassnose kam er jedoch an der Kapellenruine vorbei. Und als er sah, wie sich drinnen der Verrückte Mönch in Todesangst wand, wollte Rick nicht mehr länger nur denken. Professor Brassnose saß auf seinem Stuhl neben der Quelle. Er schlug den Gong und sagte einen Spruch aus dem Buch auf seinen Knien auf. Ein Behälter mit Eisenspänen und Essig stand neben seinem Stuhl, und die übrigen Zauberzutaten quollen aus einer Stofftasche neben ihm. Im nächsten Augenblick war der Tascheninhalt in alle vier Winde zerstreut, das Zauberbuch wurde ihm aus der Hand und in tausend Fetzen gerissen, und die Flasche mit Essig lag zerschmettert zwischen den Eisenspänen. »Aufhören!« kreischte Professor Brassnose und wedelte mit den Armen. »Sofort aufhören.« »Halt den Mund, du mieses Mörderschwein!« Rick stieß den Stuhl des Professors um und kickte gleichzeitig den steinernen Drudenfuß weg. »Hilfe!« schrie der Professor, dem Kämpfen ganz offensichtlich nicht lag. »Lord Bullhaven! Hilfe! Hier ist ein Verrückter. Hilfe! Hilfe!« Lord Bullhaven war in gereizter Stimmung. Gerade war er einem fluchenden, schlammbedeckten Etwas begegnet, das, wie sich herausstellte, Mr. Heap war, der zum Auto taumelte und sich weigerte, seinen Posten wieder einzunehmen. Am Raketenschießplatz war Mr. Hoare-Croakingtons Stuhl leer gewesen. Und jetzt schrie dieser Idiot um Hilfe. »Ich komme«, rief Lord Bullhaven und machte sich auf den Weg bergab zur Kapelle, wobei er mit seinem Ebereschenzweig um sich schlug. Als er Rick sah, wurden seine schlammbraunen Augen groß wie Mülleimerdeckel. »Du!« rief er mit Donnerstimme.
Rick blieb stehen und sah ihn an. »Ja«, sagte er. »Ich bin es. Der Junge, dem Sie ein Asyl für Geister versprochen haben.« Lord Bullhavens Gesicht wurde purpurrot. »Verschwinde von meinem Land«, schrie er. »Verschwinde, und zwar für immer!« Zur Antwort gab Rick Professor Brassnoses Stuhl einen weiteren Stoß und warf den Gong in die Quelle. Lord Bullhaven verlor jetzt den letzten Rest Beherrschung. Er rannte auf Rick zu und schlug mit seinem Zweig auf ihn ein. »Du bist schuld, du Mistkerl, du hast alles verdorben. Ich bring dich um, ich...« »Nein«, sagte eine ruhige Stimme. »Das glaube ich nicht.« Mr. Wallace, der Pfarrer mit den neun Kindern, hatte das Geschrei gehört und wollte nachsehen, was los war. »Sie tun dem Jungen weh«, sagte er. »Lassen Sie ihn los.« Lord Bullhaven schlug Rick noch einmal auf die Schulter, dann wandte er sich Mr. Wallace zu. »Sie sind auf ihrer Seite«, schrie er. »Sie stecken mit den Geistern unter einer Decke. Sie sind ein Spion, Sie sind ein Hexenmeister. Ich lasse Sie auspeitschen, wenn Sie nicht zurückgehen, ich lasse Sie hängen...« Lord Bullhaven senkte den Kopf und ging zum Angriff über. Mr. Wallace war früher einmal Boxchampion in seinem theologischen Seminar gewesen. Er nahm sich gerade noch Zeit, Gott um Vergebung zu bitten. Dann hob er die Fäuste, und das war's auch schon. Sie zogen den ohnmächtigen Lord Bullhaven in Richtung Auto, als ein schrecklicher, erbarmungswürdiger Schrei vom Schloß zu hören war. Rick wurde blaß und zitterte. »Das ist die Hexe«, sagte er. »Ich kenne ihre Stimme.«
»Dann geh nachsehen«, sagte Mr. Wallace, dem Rick die ganze Geschichte erzählt hatte. »Ich fahre dieses Pack ins Hotel zurück.« Rick drehte sich um und lief, gefolgt von Barbara und Peter, in Richtung Schloß.
16. Kapitel »Hexe!« schrie Rick. Er konnte kaum die Tränen zurückhalten. Noch war sie da. Ihre behaarte Nase war jedoch verschwunden, ebenso ihr gekrümmter Rükken. Die gezackten Flügel waren welk und schwach wie Herbstblätter. Am meisten angst machte Rick aber, daß sie absolut nicht roch. »Rick«, flüsterte die Hexe und sah mit einem schmerzlichen Blick zu ihm auf. »Es wird alles gut. Wir haben die Geisteraustreiber gefaßt. Es ist vorbei.« Rick beugte sich über sie. Die Hexe versuchte, den Kopf zu schütteln. »Zu spät«, flüsterte sie. »Sieh nur!« Sie hob mit schwacher Bewegung eine Klaue und deutete auf ein Stück Schottenstoff, das neben ihr auf dem Boden lag. Es war alles, was vom Schwebenden Kilt übrig war. Auf der anderen Seite der verzweifelten Hexe lag ein kleiner Haufen gelblicher Blasen - das war der geschmolzene Schädel von George. Winifred, eingehüllt in ihr Leichentuch, war ohnmächtig geworden. »Und mein Kleiner... Ich habe ihn für immer verloren. Mein Humphrey, man hat ihn umgebracht.« »Nein, Mutter, ich lebe noch, sieh mich an!« Sobald der Exorzismus aufgehört hatte,
fühlte Humphrey, wie seine Kraft zurückkehrte, und er verließ das Flugzeug. Als er jetzt zu seiner Mutter schwebte, um sie zu umarmen, war er schon fast wieder er selbst. »Ich habe Rick geholt, und er hat die Leute erledigt, die uns umbringen wollten.« Humphrey wedelte wild mit den Armen. »Mit Peter und Barbara. Ich wußte, daß Rick uns retten würde.« »Humphrey«, sagte die Hexe. Sie konnte es nicht glauben, daß es wirklich er war. Immer wieder fuhr sie mit den Klauen über sein Plasma, um sicher zu sein, daß sie nicht träumte. Plötzlich machte die Hexe eine schwache, flatternde Bewegung mit den Flügeln, und sie merkten, daß sie sich aufrichten wollte. »Wir müssen... den anderen helfen«, sagte sie. »Wenn der Exorzismus vorbei ist, gibt es vielleicht noch Hoffnung.« »Ein Krankenhaus?« schlug Barbara vor. Die Hexe nickte. »Bringt ... alle ... hier herein.« Rick, Barbara und Peter gingen, um nach den anderen Geistern zu suchen. Sie brachten den Verrückten Mönch herein und legten ihn auf den Refektoriumstisch. Sie gingen zum Friedhof, um Tante Hortensia zu suchen. Weil Geisterplasma aus dem Nichts gemacht ist und man das Nichts nicht loswerden kann, macht Exorzismus Geister oft widerstandsfähig, bevor er sie zerstört. Tante Hortensia war wie Granit geworden. Ihr Halsstumpf war fest wie Eisen, und als die Kinder sie durch die Schloßgänge schleiften, gaben ihre Fußballen einen metallischen Klang von sich. Peter und Barbara entdeckten die farblosen Ladys auf einem Haufen in der Nähe des Schloßgrabens. Rick war über etwas gestolpert, das wie ein großes, graues, ausgetrocknetes Geschirrtuch aussah. Dann hatte er gemerkt, daß er auf Walter den Nassen getreten war.
Aber am schlimmsten sah der Schack aus. Er lag auf dem Rücken, hatte die Beine in die Luft gereckt, und aus seinem Maul kam Blut, weil er versucht hatte, Tante Hortensias steinharten Kopf zu tragen. Seine Schwänze waren alle abgefallen, sein Auge war geschlossen, und als Rick ihn hochhob, winselte er vor Schmerzen. Tante Hortensias Kopf konnte Barbara nicht hochheben, sie mußte ihn wie einen Fußball ins Schloß dribbeln. Noch nie hatten die Kinder so schwer gearbeitet wie an diesem Abend. Auf dem Raketenstützpunkt fanden sie eine alte Zinkbadewanne. Darin weichten sie Walter ein. Barbara verband die Beulen des Verrückten Mönchs, und Peter schrie und schrie neben der butterähnlichen Masse, die George gewesen war, um zu versuchen, ihn wieder zum Schreien zu bringen. Sie massierten Tante Hortensias Halsstumpf, bis ihnen die Finger weh taten, sie rieben die Ladys mit verschiedenen farbigen Erden und Flechten ein, um ihnen ihre Farben zurückzugeben. Und Ughtred und Grimbald, die sich in Magenkrämpfen wanden, machten sie Breiumschläge. Die Hexe war, obwohl sie noch schwach war, einfach wunderbar. »Sag lateinische Flüche rückwärts«, wies sie Barbara an, als der Verrückte Mönch vor Schmerz stöhnte. Oder: » In der Speisekammer ist noch getrockneter Wermut, tu das auf den Schwanz vom Schack.« Obwohl sie keine Minute innehielten, obwohl Humphrey alles tat, um sich nützlich zu machen, schien es, als wären die meisten Geister zu krank, um sich noch zu erholen. Aber plötzlich schrie die Hexe auf. »Kinder!« rief sie, und die Tränen strömten ihr die Nase herab. »Seht doch! Hamish, mein Mann! Mein Schwebender Kilt!« Sie sahen, wie ein rostiges Schwert sehr langsam und schwankend Form annahm. Eine Zeitlang hing das Schwert in der Luft, es schien zu warten. Dann zeigte sich langsam eine
Wunde, ein zerrissenes Hemd und etwas Haut, und schließlich, mit einem erlösenden Ruck, senkte sich das Schwert in die Brust. Das Gesicht des Schwebenden Kilts erschien, dann seine Arme, und endlich auch die Beinstümpfe. »Hamish, mein Hamish«, sagte die Hexe, und als sie ihn in die Arme nahm, breitete sich in dem Raum plötzlich und wunderbar der Geruch nach faulenden Eingeweiden aus. Eine magische Zeitgrenze schien erreicht zu sein. Die Wirkung des Exorzismus begann nachzulassen. Peter sprang hoch, als der Schädel, den er im Arm hielt, leise zu schreien begann. Auf dem Hinterteil des Schack erschien ein Schwanz, dann noch einer... ein weiterer ... »Seht!« sagte Humphrey. »Winifreds Wasserschale ist wieder da. Winnie! Winnie, deine Schale!« Eine farblose Lady wurde blau, auf einer anderen erschienen grüne Flecken. Die Graue Lady fing bereits wieder an, nach ihren Zähnen zu suchen. »Kopf?« fragte Tante Hortensias Stumpf, und als die anderen ihr den Kopf brachten, sah man, daß er beinahe wieder sein altes, abstoßendes, weißhaariges Nichtsein angenommen hatte. Diese glückliche Szene wurde plötzlich und schrecklich unterbrochen, als mit einem furchtbaren Schrei Susi erschien, gefolgt von ihren vier Vampirjungen. Susi war außer sich. »Mein Baby, meine Rose«, heulte sie. »Sie ist tot, sie ist tot, sie ist tot!« Schweigen breitete sich im Schloßsaal aus. »Nein«, keuchte die Hexe mit schwacher Stimme. Rick war totenblaß geworden. »Nein«, wiederholte er. »Nein!« Er trat vor und nahm Susi den kleinen grauen Körper aus den Klauen. Kein Zweifel schien möglich zu sein. Rose war fast zu nichts zusammengeschrumpft. Sie bedeckte kaum Ricks Handfläche.
Ihr Körper war kalt und völlig regungslos. Kein Herzschlag war zu vernehmen. »Nein«, sagte Rick noch einmal. Er zitterte am ganzen Leib, aber mit ungeheurer Anstrengung gelang es ihm, ruhig zu werden. Er beugte sich vor, und sehr sanft öffnete er mit den Fingern Roses winzigen Mund. »Mund-zu-Mund-Beatmung?« flüsterte Barbara. Rick gab keine Antwort. In seinen Handflächen hob er Rose an seinen Mund und fing an zu atmen: ein-aus, ein-aus, einaus... Nichts. Keine Bewegung. Keiner in der Halle rührte sich. Nur ein leises, unterdrücktes Schluchzen von Humphrey dem Schrecklichen unterbrach die Stille. Immer noch atmete Rick weiter, sanft, beständig, ohne Unterbrechung. Mit den Fingerspitzen hielt er Roses Mund auf. »Es hat keinen Zweck«, jammerte Susi und schlug verzweifelt mit den Schwingen. »Sie ist tot, ich sag's dir, sie ist tot.« Rick hob nicht einmal den Kopf. Ruhig, beständig atmete er weiter. Ein und aus, ein und aus... Und dann plötzlich ging ein schwacher Ruck durch den kraftlosen, kalten Körper in seiner Hand. Und noch einer, so schwach, daß er glaubte, er habe sich das nur eingebildet. Ein Ruck, ein Zucken und ... ja, es war ihr Herz. Es schlug. Rose lebte. »Mann«, sagte Rick der Retter und schüttelte sich. Aus seinen Augen, woher auch sonst, war eine dicke Träne auf den kleinen Körper getropft.
17. Kapitel Nach all den überstandenen Gefahren gab es nur noch eins zu tun. »Ein Fest«, sagte die Hexe. Zwar ging es ihr immer noch nicht gut, und der linke Daumen vom Schwebenden Kilt fehlte nach wie vor, aber die Hexe liebte Feste. Sie konnte der Verlockung einfach nicht widerstehen, eine Party zu veranstalten. Rick wollte Peregrine dazu einladen, aber der war im Cockpit seiner Maschine eingeschlafen. Nichts kann einem ein so starkes Gefühl von Freude vermitteln wie eine Gefahr, die vorbei ist. Draußen schrien die Eulen, und ein bleicher Mond sah durch die treibenden Wolken. Drinnen aßen die Geister Froschpasteten, gekochten Spukfisch und gehackte Gallenblasen, und sie zeigten einander ihre Exorzismusnarben. »Soll ich euch nicht doch ein paar Grillensandwiches machen?« fragte die Hexe die Kinder. »Das macht keine Arbeit.« Aber Rick, Barbara und Peter sagten, sie seien rundum zufrieden mit den Äpfeln und der Schokolade, die sie sich aus dem Flugzeug mitgebracht hatten. Mit fortschreitender Nacht wurden alle immer fröhlicher. Rick wunderte sich, daß unter
den Gästen ein dicker Seehundbulle war. Zuerst wollte er durch ihn hindurchgehen, um der Hexe beim Servieren der Drinks zu helfen, aber dabei fiel er über den durch und durch festen Körper der Robbe. »Das ist Henry«, erklärte Susi. »Roses Dinner. Er mag sie so sehr, daß er niemand anders an sich saugen läßt. « Der Daumen vom Schwebenden Kilt erschien kurz nach Mitternacht. Und dann passierte noch etwas Erfreuliches: Die Graue Lady fand ihr Gebiß. Jedenfalls sagte sie, es seien ihre Zähne, und sie würden gut sitzen. Sie war etwas Luft schnappen gewesen und hatte dabei gedankenlos die Erde von Tante Hortensias Grabstelle durchwühlt, und auf einmal waren sie dagewesen. Alle freuten sich sehr, und keiner sagte, es sei ein bißchen unwahrscheinlich, daß die Zähne in Nordschottland auftauchten. Das war dreihundert Meilen von der Isle of Man entfernt, wo sie sie verloren hatte. Aber Tante Hortensias Kopf sagte: »Ganz egal, Zähne sind Zähne!« Nachdem sie gegessen und getrunken und Spiele gespielt hatten und es ihnen gelungen war, den finnischen Harfenspielergeist davon abzuhalten, oben auf der Klippe ein Konzert zu geben, standen alle auf und stießen auf das an, was seitdem alle Geister sagen, wenn sie zusammen sind: »Auf Rick den Retter!« Rick war natürlich geehrt von diesem Toast, aber er wollte auch selber eine Rede halten. »Ladys und Gentlemen, Geister und Seehunde«, sagte er, nachdem er auf den Tisch gesprungen war. »Ich möchte jetzt etwas über meinen Freund Humphrey sagen.« Alle sahen Humphrey an, der gerade mit Baby Rose spielte. Sein Plasma wurde dunkelrot vor Freude und Verlegenheit. »Wenn Humphrey uns nicht geholt hätte, gäbe es kein Geisterasyl mehr. Und auch keine Geister.« Tante Hortensias Kopf nickte so heftig, daß der Schack ihn fallen ließ.
»Humphrey war schwach und krank, aber er ist viele Meilen weit geschwebt, um Hilfe zu holen. Ladys und Gentlemen, Seehunde und Geister«, sagte Rick und bewegte aufgeregt die Arme. »Humphrey ist vielleicht nicht schrecklich. Und wenn ihr meine Meinung hören wollt: Er wird nie schrecklich sein. Aber Humphrey ist etwas viel Besseres. Humphrey ist heldenhaft.« Die Geister schwiegen und ließen Ricks Worte auf sich wirken. Dann glitt ein Ausdruck mächtigen Stolzes über das Gesicht der Hexe und des Schwebenden Kilts. Alle Geister standen auf, hoben die Gläser mit Rattenblut und riefen im Chor: »Auf Humphrey den Heldenhaften!« Danach ließ sich der Abschied nicht länger aufschieben. Es war nur eine Stunde bis zum Morgen, und die Kinder hatten einen weiten Rückweg vor sich. Gerade hatten die Umarmungen und Abschiedsküsse angefangen, als etwas sehr Merkwürdiges passierte. Zuerst zog ein kühler Windhauch durch den Saal. Eine Eule schrie. Und dann erschien in einem der hohen Bogenfenster ein Geist, den keiner von ihnen bisher gesehen hatte. Er sah nicht sehr anziehend aus. Selbst wenn er noch am Leben gewesen wäre, hätte sein Anblick abgeschreckt. »Darf ich ... darf ich hereinkommen?« stammelte Lord Bullhaven. Er war im Hotel mit einer geschwollenen Backe aufgewacht und in einer so miesen Laune gewesen, daß er die Geistlichen und Professor Brassnose zurückließ und mit seinem Wagen losraste direkt gegen eine Steinmauer. Zuerst herrschte betretenes Schweigen. Dann schrie die Hexe: »Du!« und ging in die Luft. »Geistermörder!« rief mit gellender Stimme der Verrückte Mönch. »Exorzist!« brüllte der Schwebende Kilt.
»Hat den Nerv, herzukommen!« schimpfte Tante Hortensias Kopf. Lord Bullhavens Geist stand schwankend in der Fensteröffnung. Dann schien er in sich selbst zusammenzuschrumpfen und zu schwinden. Noch einmal sprang Rick auf den Tisch. »Geister von Britannien, ich schäme mich«, sagte er. »Habe ich euch nicht gesagt, was ein Asyl ist?« Die Geister sahen ihn an, schweigend und voller Scham. »Ein Asyl ist eine Zuflucht, ein Platz der Sicherheit. Für jeden. Ich gebe zu, daß Lord Bullhaven ein Lump war, als er noch lebte.« Lord Bullhavens Geist, noch immer in der Fensteröffnung, nickte traurig. »Aber seid ihr denn so wunderbar gewesen, als ihr noch gelebt habt? Wie war das mit dem Haushaltsgeld von Heinrich VIII.? War das wirklich ein Irrtum?« Rick sah Tante Hortensias Kopf an, der purpurrot wurde.»Und warum wurde der Verrückte Mönch in Wirklichkeit eingemauert, habt ihr ihn das gefragt? Und was ist mit all den Leuten, die der Schwebende Kilt in der Schlacht von Otterburn getötet hat?« »Das war eine Schlacht. « »Trotzdem war es Töten«, gab Rick mit fester Stimme zurück. »Geister von Britannien, ich bitte euch: Vergeßt Lord Bullhavens Vergangenheit und öffnet dieses Asyl für jeden Geist und jedes Gespenst, das einen Platz sucht, wo es sein Haupt hinlegen kann.« Schweigen herrschte. Dann schwebten die Geister, tief bewegt von Ricks Worten, auf das Fenster zu. »Willkommen auf Insleyfarne, Lord Bullhaven«, sagte der Schwebende Kilt. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ sich das Gespenst auf den Boden herab und streckte grüßend die Hände aus.
Als die Kinder zum Flugzeug zurückkehrten, stand Peregrine traurig neben seiner Maschine und sah aufs Meer hinaus. Er war aufgewacht, ohne sich an etwas zu erinnern. Er konnte sich nicht erklären, warum er an dieser kalten, grauen Küste gelandet war. Die Kinder ließen es dabei. Sie forderten ihn auf, mit ihnen zurückzufliegen, was er nur zu gerne tat. Im Flugzeug war Rick sehr still. Der Abschied von den Geistern hatte in ihm ein Gefühl der totalen Leere hinterlassen. Die Hexe hatte ihm zwar versprochen, daß Humphrey im Frühling zum Spuken nach Schloß Norton kommen würde, trotzdem fühlte er sich müde und lustlos. Barbara sah ihn einen Augenblick lang schweigend an. Dann lehnte sie sich nach vorn. »Bevor wir herkamen, habe ich etwas über die Eisbären gelesen«, schrie sie ihm ins Ohr. »Über die in Alaska.« Rick nickte. »Was ist los mit ihnen?« »Sie werden selten, vielleicht sterben sie aus. Reiche Leute jagen sie vom Flugzeug aus oder mit dem Schneemobil. Es ist einfach schrecklich.« Rick sagte noch immer nichts, aber sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Er dachte nach. Wann könnte er nach Alaska fahren? Was würde das kosten? Würde er Barbara und Peter mitnehmen oder alleine reisen? Was genau fraßen Eisbären? Barbara beobachtete ihn eine Zeitlang. Dann lehnte sie sich zurück. Sie war zufrieden, Rick ging es wieder gut. Für jemanden wie ihn würde sich immer eine Aufgabe finden.