Otto Bonhoff
20000 für Francasal Verlag Neues Leben 1954
Dort wo die Straße nach der südenglischen Stadt Cardiff ein...
12 downloads
213 Views
342KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Otto Bonhoff
20000 für Francasal Verlag Neues Leben 1954
Dort wo die Straße nach der südenglischen Stadt Cardiff einen Bogen beschreibt, ehe sie im stark gelichteten Wald verschwindet, hielt Jane an und stieg vom Fahrrad, schüttelte das lange dunkle Haar aus dem Gesicht und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Es war auch am Abend noch ungewöhnlich heiß, und der Wind, der von der Küste herüberstrich, brachte keine Kühlung. Die Luft flimmerte, und vereinzelte Wolken zogen gleich zerpflückten Wattebäuschen am tiefblauen Himmel. Die Felder wogten unter ihrer goldenen Last. Jana hatte das Fahrrad an einen Baum gelehnt und sich am Rande der Straße niedergesetzt. Verspielt zog sie einen Grashalm zwischen den Zähnen hindurch. Hin und wieder ging ihr Blick unruhig zur Stadt zurück, Es war kurz nach sechs Uhr. Ralph konnte in zwanzig Minuten hier sein, wenn er sich beeilte. Wie qualvoll langsam der Minutenzeiger über das Zifferblatt kroch! Jane lehnte sich zurück und zog die Bluse glatt, um etwas gegen ihre Unruhe zu tun. Ralphs Stimme hatte am Telephon sehr verärgert, ja, wütend geklungen; jedenfalls ganz anders als sonst. Er wollte sie unbedingt heute noch sprechen. Was hatte sie in ihrer möblierten Bude schon zu verlieren? Nichts. Also war sie sofort, nachdem sie das Büro verlassen hatte, hierher gefahren, wo sie sich immer trafen, wenn das Wetter es zuließ. Beinahe jeden Abend, seit Ralph wieder da war. Das Mädchen stützte sich auf den Ellenbogen und kaute wieder an dem Grashalm herum. Sie hatte keine Strümpfe an, ihre Beine waren von der Sonne getönt. Es sah hübsch aus, wie sie dalag. Jane kniff die Augen ein bißchen zusammen. Ralph war gut einen Kopf größer als sie, ein kräftiger Kerl, der zu-
zupacken verstand und den so schnell nichts aus der Ruhe bringen konnte. Hatte sie gedacht. Aber heute. -. -. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn jemals ähnlich verärgert sprechen gehört zu haben. Oder war das nur ein Trick, sie neugierig zu machen und hierher zu locken? Wohl kaum. Die Sonne blendete, und Jane schloß die Augen. Jetzt sah sie wieder deutlich den Hafen von Liverpool vor sich. Sie hatte Ralph Hopkins dort abgeholt, als er aus der Gefangenschaft zurückgekommen war. Damals brodelte der Nebel feucht und feindlich über den Kaianlagen, die Flakrohre des Truppentransporters ragten wie spitze Nadeln in den Himmel, und die wartenden Menschen schienen ihre Gesichter verloren zu haben und sich selbst fremd zu sein. Dann erklangen Rufe, als die Heimkehrer von Bord gingen. Mancher von ihnen trug den Arm in der Binde, hatte einen Verband um den Kopf oder ging an Stöcken. Dennoch sahen die Soldaten Ihrer Majestät gesund und gepflegt aus. Die neuen Uniformen, die man ihnen gegeben hatte, stachen eigentümlich von den sonnenverbrannten Gesichtern ab, in denen die Zeichen des Krieges standen. Es war der erste Transport repatriierter Koreakämpfer. Die Soldaten wurden mit Fragen bestürmt, Scheinwerfer der Wochenschau zerrissen den Nebel und die kurzen grellen Blitze der Bildreporter sprangen von einem zum anderen. Die Blechmusik dröhnte, hier und da stieg schnaubend der Gaul eines Polizisten, und der eben noch tote Kai war erfüllt von Frage und Antwort, von sinnlos gestammelten Worten der Wiedersehensfreude und dem Schluchzen derer, die Mann oder Sohn, Bruder oder Freund vergeblich erwartet hatten. Jane fand Ralph erst spät. Er war unter den letzten, die
von Bord gingen. Er hatte sich aus Verlegenheit eine Zigarette angesteckt und kam sich überflüssig vor, denn auf ihn wartete niemand. Als Jane vor ihm stand, rötete sich sein Gesicht. Jane hatte ihm einfach um den Hals fallen und etwas Liebes sagen wollen, aber nun brachte sie das nicht fertig. „Du bist da?“ fragte Ralph, und seine Stimme war ganz leise, aber auch sehr froh gewesen. „Ja, Korporal, ich bin da“, brachte sie nur heraus. „Dann können wir ja gehen“, murmelte er und zog sie aus dem Gewimmel. Sie gingen durch dunkle Straßen und erzählten von daheim. Ralphs Vater war in der Dreherei mit den Fingern in eine Maschine geraten. Drei Finger wurden abgequetscht. Kaum genesen, hatte man ihn entlassen. „Es ist nicht leicht für ihn“, schloß Jane. Ralph schlug nachdenklich mit einer Gerte, die er irgendwo aufgelesen hatte, gegen seine Gamaschen. „Es wird überhaupt nicht leicht sein, sich wieder an das Leben hier zu gewöhnen, auch für mich nicht. Ich habe nichts gelernt, wovon ich mich jetzt ernähren könnte, und für das ,Danke schön, Korporal’ kann ich mir nichts kaufen. Es ist alles so fremd geworden. Im Lager habe ich angefangen zu lernen, Buchhaltung und so. Es ist uns nicht schlecht gegangen bei den Koreanern. Wir haben über die englischen Zeitungen gelacht, in denen jene als Menschenfresser hingestellt wurden. Na, vielleicht finde ich Arbeit.“ Und dann, ganz unvermittelt, legte er den Arm um sie und zog sie fest an sich. „Es ist schön, daß du gekommen bist, Jane. Ich habe nicht daran geglaubt. Ich war doch so lange fort, und du bist jung, und es gibt doch noch andere, die mehr haben.“ Jane schüttelte den Kopf. Da küßte
er sie, und sie wehrte sich nicht. Das wäre Heuchelei gewesen, Spiegelfechterei; denn sie konnte sich nur darüber freuen, daß er wieder da und gesund war. Das Mädchen richtete sich auf und sah wieder zur Stadt hinüber. Sie mußte die Augen mit der Hand schirmen, um den Radler zu erkennen, der dort hinten auftauchte und rasch näher kam. Jane nahm den Grashalm aus dem Mund. Ja, es war Ralph. Er hielt an, stellte das Rad ab und setzte sich ohne Gruß zu ihr. Jane spürte, daß er sehr wütend war. Achtlos zog er ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, steckte eine an und rauchte hastig. „Was ist denn?“ Jane rückte näher an den Freund heran. „Ist im Geschäft etwas passiert?“ „Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls ist Charles verrückt“, brauste Ralph auf. Corner Charles war Inhaber des Buchmacherbüros, in dem Ralph arbeitete. Es gab, das wußte Ralph bereits nach wenigen Tagen, kaum einen gerisseneren Rennverdiener als Charles. Gerüchte gingen um, daß er es mit der Wahrheit nicht allzu genau nehme. Niemand wußte, von wem er die Tips erhielt, die er geschickt in klingende Münze umzuwandeln pflegte. Er fand stets Liebhaber dafür. Ralph war der Mann weder sympathisch noch unsympathisch. Er hatte ein breites, volles Gesicht, das seine Neigung zu irdischen Genüssen verriet, und zeichnete sich vor anderen Zeitgenossen durch unerschütterlichen Gleichmut aus. Wenn er in seinen unvermeidlichen, schottisch karierten Knickerbokkers am Rande der Rennbahn stand, die Schirmmütze ein wenig in den Nacken geschoben, dann gab es Leute, die ihn als „Fels in der Brandung“ bezeichneten. Ralph zuckte die Achseln und bemühte sich, gleichgül-
tig zu erscheinen. „Charles ist verrückt. Der Laden steht nicht so gut da, wie man vielleicht annimmt. Es reicht gerade so. Und nun hat der Boß sich in den Kopf gesetzt, ausgerechnet auf Francasal durch Mittelsmänner 9000 Schilling zu setzen. Auf Sieg noch dazu! Dabei ist Francasal der übelste Außenseiter, den du dir denken kannst. Er ist erst vor kurzem aus Frankreich importiert worden. Warum, ist mir bis heute noch nicht klargeworden. Er sieht ganz gut aus, alles was recht ist, aber sonst… Ein ganz müder Renner, der nie auch nur einen günstigen Platz belegt hat. Gewöhnlich kam er angezockelt, wenn alles schon im Ziel war. Beim nächsten Rennen in Balh hat er überhaupt keime Chance. Da sind Klassepferde am Start. – Ich habe Charles auf die Gefahr aufmerksam gemacht. 9000 Schilling! Das verdienen manche Leute in sechs Monaten nicht. Der dicke Charles hat nur gegrinst und besteht darauf. ,Sie sind bei mir angestellt, damit Sie arbeiten und nicht, damit Sie sich in meine Privatangelegenheiten mischen’, hat er mir geantwortet. Das war alles.“ Ralph brütete vor sich hin. Das war die Art, in der Charles mit seinen Leuten verkehrte. Als Ralph eingestellt wurde, hatte der Buchmacher ihm gesagt: „Es gibt Leute, die behaupten, jeder, der im Lager war, käme als Kommunist wieder. Mir ist das gleichgültig. Wir haben zum Glück keinen MacCarthy, der uns die Hölle heiß macht. Und von mir aus können Sie an Gott glauben oder an das Kommunistische Manifest, solange Sie arbeiten, wie ich das verlange. Das heißt: manchmal den Mund halten. Wenn Sie wollen, kann für Sie am Fünfzehnten der Erste sein. Ich bin ein verträglicher Mensch und reize keinen, der mich nicht reizt. Also?“ Ralph hatte einge-
schlagen. Etwas anderes war ihm nicht übriggeblieben, Jane verstand nicht viel von Rennen, Sie selbst spielte leidlich Tennis und schwamm einigermaßen. Sie liebte es, an Sonn- und Feiertagen mit Ralph durch den Wald oder zur Küste zu radeln, irgendwo in der Sonne zu liegen und abends, wenn schon die Sterne aufgegangen waren, zurückzukommen, müde und mit schmerzenden Waden, aber braungebrannt und hungrig. Sie liebte es auch, einmal mit ihm in eine nette Gaststätte zu gehen. Aber, wie gesagt, von Pferden und Pferderennen verstand sie nichts. Das überließ sie Ralph, der ein Tiernarr war, wie seine Freunde sagten. Ralph legte mit einem Seufzer seinen Kopf in Janes Schoß. „Ich habe ein dummes Gefühl bei der ganzen Sache, Ein sehr dummes.“ Er wandte den Kopf so, daß er ihre Augen sehen konnte. „Was hältst du davon, wenn wir zum nächsten Rennen nach Bath fahren? Macht es dir Spaß? Zuschauen ist interessant. Schöne Pferde und viele Menschen. Wir brauchen ja nicht zu wetten.“ Sie hatte eine Haarsträhne von ihm um den Finger gedreht und ließ sie jetzt los. Wie ein kleiner drolliger Spieß sah diese aus. „Gut“, sagte Jane lächelnd. „Fahren wir also.“ Er drehte sich herum und nahm sie in die Arme. „Hier kann uns jeder sehen“, wehrte sie sich schwach, Er lachte. „Es kommt ja niemand.“ Da gab das Mädchen nach. Ihre Haut war kühl und glatt. Hinter ihren Ohren kräuselten sich kleine dunkle Locken, auf denen die Sonne flimmerte. Endlich machte sie sich los und strich das Haar hinter die Ohren. „Nun fahren wir aber. Ich muß noch einkaufen. Hintenherum. Die Geschäfte haben schon geschlos-
sen.“ Gleichmäßig drehten sich die Pedale. Und plötzlich brannte der Horizont purpurn auf und überzog den Himmel mit flammendem Rot; „Meinst du, daß Charles euch ruiniert?“ wollte Jane wissen. Es ging ihr gar nicht um Mr. Gomer und seine Knickerbocker, sie bangte um Ralphs Stellung. Schwer war es in England, eine vernünftige Stellung zu finden. Acht Jahre nach Kriegsende haben die USA dem britischen Vetter viel Wasser abgegraben, und das macht sich bemerkbar im Geldbeutel jedes einzelnen ebenso wie in den hitzigen Debatten der beiden Häuser des Parlaments. Jane dachte an Ralph und erschrak bei dem Gedanken, er könne alles, was er sich in den vergangenen Wochen mühsam erarbeitet hatte, wieder verlieren. Sie griff nach seinem Arm und zwang ihn so, die Fahrt zu unterbrechen. Verwundert sah er sie an. „Versprich mir, daß du dich aus allem heraushalten wirst, was vielleicht noch kommt. Versprich mir das.“ Um seine Mundwinkel spielte ein Lächeln der Überlegenheit. Er war erstaunt. „Was soll denn geschehen? Und wo soll ich mich heraushalten?“ Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte das Gefühl, daß sich hinter den Worten Ralphs von der geplanten Wette etwas Dunkles, Unsauberes verbarg, etwas, das Gefahr bringen und in das Ralph verwickelt werden würde. Ein bißchen verlegen sah sie ihn an. „Vielleicht hängt es einmal von dir ab, ob Charles seinen Laden dicht machen muß oder nicht. Was wirst du dann sagen?“ „Die Wahrheit, Jane, das versteht sich. Ich habe mit Charles nicht Brüderschaft geschlossen und sehe keinen
Grund, besondere Rücksicht auf ihn zu nehmen.“ Er grinste schon wieder. „Aber es wird niemand auf die Idee kommen, ausgerechnet mich über ihn auszufragen. Die Leute von Scotland Yard kommen Charles auch ohne mich auf die Sprünge, wenn sie das wollen. Vielleicht bald, vielleicht später, vielleicht auch gar nicht, wenn er sich nichts zuschulden kommen läßt.“ „Wenn er nun aber doch .; -.?“ Ralph wischte den Einwurf mit einer Handbewegung weg. „Du siehst Gespenster, Jane, oder liest zuviel Kriminalromane. Nur, weil der Boß eine verrückte Wette eingehen will, denkst du an die unwahrscheinlichsten Sachen. Er dreht so ein Ding sicher nicht das erste Mal. Und wenn er Pleite macht – schön, dann habe ich Pech gehabt. Aber es ist doch anzunehmen, daß er sich wieder aus der Affäre zieht. Bin nur neugierig, wie. Deshalb möchte ich in Bath dabei sein.“ Aber Jane gab nicht nach. Halb widerwillig, und nur, um sie zu beruhigen, versprach Ralph schließlich, was sie von ihm verlangte. Er dachte sich nichts dabei, höchstens, daß es nicht schön wäre, wenn eines Tages Ralph Hopkins vor dem geschlossenen Geschäft des Buchmachers Gomer Charles stünde und wieder umkehren müßte, weil der Laden indessen aus dem Register gestrichen worden war. Sie fuhren weiter. Und Ralph war ehrlich genug, einzugestehen, daß die seltsame Erregung des Mädchens auf ihn übergriff und ihn neugierig machte. Vor dem Haus, in dem Jane zur Untermiete wohnte, trennten sie sich. Ralph fuhr langsam wieder an. Er hatte wenig Lust, schon nach Hause zu fahren, in die mehr als dürftige Hinterhauswohnung, der alle Fürsorge der Mut-
ter kein freundliches Aussehen zu geben vermochte. Planlos fuhr er durch die Straßen. Die Laternen flammten eben auf und malten bizarre Flecke auf die Hauswände. Behäbig standen erleuchtete Fenster in der Dunkelheit. Ralph bog gedankenverloren in die Querstraße ein, in der das Büro lag. Vor ihm tanzte der flimmernde Strahl der Dynamolampe. Plötzlich stoppte er ab. Vielleicht war es Charles peinlich, von seinen Angestellten in solcher Gesellschaft gesehen zu werden? Der Buchmacher stand, breit und in den unvermeidlichen Knickerbockers, die Schirmmütze etwas im Nakken, genau im Licht einer Laterne und sprach auf drei junge Männer ein, die Ralph nicht kannte. Das Gesicht des einen, hageren, wurde voll vom Licht getroffen. Er hatte die Jungen noch nie gesehen. Ihre grellbunten Texashemden, mit Brotbäumen und spielenden Affen bedruckt, ihre schlauchigen Sechsachtelhosen und ihre amerikanischen Schuhe, deren Sohlen so dick waren, als wollten sie damit schnurstracks um die ganze Erde marschieren, wären ihm gewiß aufgefallen. Er mochte solche Typen nicht. Ralph war abgestiegen und drehte um. Eben zog Charles einen Briefumschlag aus der Tasche und gab ihn dem Hageren. Der griff zu. An Ralphs Rad begann der Dynamo wieder zu surren. In Charles’ Büro kamen häufig Gestalten, mit denen Ralph sonst nichts zu tun haben mochte. Sollte der Himmel wissen, was für Geschäfte der Buchmacher mit ihnen hatte. Was ging es ihn, Ralph, an? Er trat schärfer in die Pedale. „Du bist hysterisch geworden wie ein altes Weib“, knurrte er sich selbst an und ärgerte sich nur noch mehr.
Vor allem über sich selbst. Zuerst hatte ihn nur verstimmt, mit welcher schnoddrigen Selbstverständlichkeit Charles eine Summe hinauswarf, die für viele andere Menschen die Rettung und ein paar Wochen ohne Tränen bedeutet hätte. Ralph empfand das als ungerecht. Weil er aber nicht wußte, was er dagegen hätte tun sollen), versuchte er, das alles wie lästigen Ballast zur Seite zu schieben. Aber das frohe Gefühl, das er gehabt hatte, als er Jane am Straßenrand in seine Arme zog, war weg. Er versuchte vergeblich, sich an Einzelheiten zu erinnern. „Versprich mir, dich aus allem herauszuhalten!“ Als wenn ihm eine Haupt- und Staatsaktion bevorstünde! Ralph war unzufrieden, unzufrieden mit sich selbst, mit Gomer Charles und auch mit Jane. Brummig und mißgelaunt kam er endlich zu Hause an, kramte den Schlüssel aus der Hosentasche und betrat die Wohnung im zweiten Stock. Das Haus schmiegte sich bescheiden und schmalbrüstig in eine Ecke der engen, lichtarmen Straße. Hardy MacCogan, Sportreporter der oppositionellen „Bath Daily News“, blinzelte zufrieden in die Sonne und klopfte der Bildreporterin vergnügt auf die Schulter. „Na, Mädchen, was denkst du?“ Margret Howland schraubte am Teleobjektiv herum. Sie sah kurz auf, und der Anflug eines Lächelns glitt über ihr hübsches Gesicht. „Gut. Für Photographen wenigstens. Lämmerwölkchen und so.“ MacCogan stopfte sich die Pfeife. „Mach dann ein paar Aufnahmen vom Publikum. Die Pfeffersäcke werden wieder schimpfen wie die Rohrspatzen, wenn sie eich im Blättchen sehen, aber es kann nicht schaden, daß die
Rennspekulanten im Bilde sind. Während des Rennens sitzen sie im Grünen und trinken. Gut, was interessieren sie Pferde, Reiter und sportlicher Kampf? Nicht einen Sixpence. Aber dann, wenn die Quoten herauskommen, dann sind sie da. Da geht’s schließlich um Geld. Ich habe nichts gegen Wetten, ich wette selbst manchmal, wenn die Honorare nicht zu mäßig ausfallen, aber daß man zum Rennen geht, um… Pfui Teufel!“ Es war nicht ganz klar, ob er damit die Pfeffersäcke oder seine Pfeife meinte, in deren Rohr es zu brodeln begann wie in einem Topf, wenn das Wasser kocht. Margret lächelte. Sie kannte die moralischen Ergüsse des Kollegen, dem jedes Geschäft mit dem Sport ein Greuel war. Ihr Blick ging abschätzend über das weite Rund der Galopprennbahn. Der Himmel leuchtete in sommerlicher Pracht. Bewegungslos standen weiße Tupfen im satten Blau. Graubraun lag die Bahn, hell leuchtete das Gras der weit hingestreckten Rasenflächen. Fröhliche Sommerkleider klecksten bunte Flecke hinein. Der schöne Tag hatte viele Mädchen angelockt, die weniger aus Rennsportbegeisterung gekommen sein mochten als darum, ihre neuen Kleider zu zeigen. Bei den Männern herrschten Golfanzüge und Schirmmützen vor, nur hier und da trug jemand zum dunklen Anzug die steife Melone, Zuweilen klang ein helles Lachen auf und übertönte das dumpfe Gemurmel, das wie ein Vorbote kommender Sensationen über dem Platz lag. Noch waren die Tribünen beinahe leer. Die Inhaber der teuren Plätze erschienen gewöhnlich erst kurz vor dem Hauptlauf, der erfahrungsgemäß die spannendsten Rennen und sichersten Gewinnquoten bringt. Aber vor den
überdachten Plätzen, am Rande der Bahn, wimmelte es schon von begeisterten Sportfreunden; da wurden die Programme entfaltet und das Für und Wider in hitzigen Debatten erwogen. Es war schön heute, sehr schön, und das Rennen versprach so interessant zu werden, wie Rennen in kleinen Städten eben sein können. Hardy MacCogan hatte indessen seine Pfeife mit einem Strohhalm gereinigt und paffte nun genießerisch. „Das habe ich mir beinahe gedacht!“ kommentierte er. „Der dicke Gomer Charles ist auch da und grinst, als hätte er das Rennen bereits in der Tasche. Gefällt mir nicht, der Junge. Ich meine, wenn man ihn anfaßt, hat man nichts als Schleim in der Hand wie bei einer Qualle. Wahrscheinlich verbrennt man sich an ihm ebenso die Finger. Aber es gibt kein Rennen, bei dem er mir seinen Anblick erspart. Guck ihn dir an, den feisten…“ Er verschluckte die Fortsetzung. „Natürlich“, fing er wieder an, „kaum ist er anwesend, hängt er sich an die Strippe. Geschäft! Business first! Wird heute wieder blendende Resultate haben, der Bruder.“ Er bohrte die Hände in die Hosentaschen und starrte auf seine Fußspitzen, „Ich muß herausbekommen, woher er seine Tips bezieht! Das wäre doch einmal etwas! Stell dir vor, Margret“, er faßte sie an den Schultern und drehte sie zu sich herum, „wir hätten eine Schlagzeile: ,Der Siegermacher von Bath! Dunkle Geschäfte mit Turf!’ Als Unterzeile: ,Sensationelle Enthüllungen unseres Reporters MacCogan!’ Das wäre mein Traum, Margret. Ich möchte einmal eine Geschichte bringen, die unsere Auflage verdreifacht. Nur leider möchte das jeder Journalist, und kaum einem gelingt es…“ Margret schüttelte den Kopf. Manchmal fand sie, daß es
genug wäre, wenn Hardy halb soviel reden würde. Er orakelte: „Es liegt etwas in der Luft!“ „Ja, Staub.“ MacCogan sah sie mißbilligend an. „Ich habe einen Riecher dafür. Bestimmt. Obwohl eigentlich gar nichts passieren kann. ,Observer’ wird das Rennen machen, das steht so fest wie der Montblanc. Aber immerhin… Ich sehe mal an den Schaltern nach, ob sich etwas tut.“ Die Stimmung schien gut, und die Buchmacher waren zufrieden. Auch Gomer Charles, der mit seinem Cardiffer Büro in telephonischer Verbindung stand, strahlte. Er hatte sich im Laufe der Jahre einige Leute herangezogen, die selbständig zu arbeiten wußten. Von den Schaltern kam ein Brodeln herüber, so, als sei etwas Besonderes geschehen. Margret blickte auf. Man hat es schließlich im Gefühl, wann während des Rennens ein krasser Außenseiter aufholen kann. Jetzt hatte sie plötzlich das gleiche hellwache Gefühl, das sich in solchen Augenblicken einstellt. Da kam auch MacCogan zurück; „Es ist kaum zu glauben!“ brachte er hervor. „Irgendein Vernieteter hat auf Francasal getippt. 450 Pfund, 450! Das machte sofort die Runde, klar. Ein paar ganz vorsichtige Brüder haben sofort nachgezogen. Man weiß ja nie, was kommt, obwohl… Francasal halte ich für undiskutabel. Da ist einer einem üblen Schwindler aufgesessen.“ Er klopfte die Pfeife auf dem Absatz aus. „Noch dazu auf Sieg! Stell dir das vor!“ „Gleich wird es losgehen“, stellte das Mädchen sachlich fest. Aus den Lautsprechern dröhnte Musik, belanglose Schlager, für die sich im Augenblick kein Mensch begeistern konnte. Dennoch wurde es ein wenig stiller auf dem
Platz. Langsam füllten sich auch die Tribünen. Nur die besten Plätze waren noch immer frei. Wieder flog an den Schaltern Erregung auf, Stimmengewirr schwoll an und schien nicht verebben zu wollen. „Ich habe den Eindruck, heute passiert wirklich etwas!“ Hardy MacCogan schien nun selbst erstaunt zu sein und lief wieder zu den Schaltern. Margret folgte. Geschickt boxte 6ich der Reporter durch die Menge nach vorn. Er sah verstörte, erregte Gesichter. Einer klopfte unermüdlich auf die Gabel des Telephons, durch das die Liverpooler, Londoner, Glasgower Abschlüsse kommen sollten. Er klopfte und schrie in die Sprechmuschel: „Hallo! – Hallo! – Warum sprechen Sie nicht? – Hallo! – Hallo!“ An den anderen Schaltern das gleiche Bild – verstörte, neugierige, wütende, ängstliche Gesichter, stumme Telephone, nervöse Bachmacher. Niemand achtete darauf, daß Margret kurz entschlossen einen Schalter erklommen hatte und mit ihrer Kamera die Erregung einfing. Einer, der es sah, während er mit der heiteren Ruhe des Unschuldigen das tumultartische Treiben beobachtete, wandte sich ab und ging, die Hände in den Hosentaschen der schottisch karierten Knickerbocker, pfeifend von dannen. Sämtliche Fernkabel waren gestört, tot, stumm. Die sofort benachrichtigte Entstörungsstelle versprach, alles zu unternehmen, um den Schaden zu beheben und die Verbindung wiederherzustellen. Das war ein schwacher Trost, denn das konnte Minuten, konnte aber ebensogut Stunden dauern. Hardy war in seinem Element. Befriedigt nickte er Margret zu, als er sie bei der Arbeit sah, und rief dann über
eine Ortsleitung seine Redaktion an, die er bat, auf eventuelle Radionachrichten zu achten. Die Luft über dem Rennplatz schien zu knistern, als jetzt die Lautsprechermusik abbrach. Eine sonore Männerstimme verkündete: „Achtung! Die Pferde begeben sich jetzt zur Parade!“ Und dann – an einen Zirkusauftritt erinnernd – blecherne Marschmusik. Die Teilnehmer des Rennens erschienen auf der Bahn. Die Pferde tänzelten und bissen auf die Trense. Hell leuchteten die vielfarbigen Jerseys der Rennreiter, die Sonne spiegelte sich in blitzenden Stiefelschäften, auf bunten Mützen und in schimmernder Seide. Ein schönes, ein festliches Bild. Beifall flackerte auf und erstarb wieder. Ein helles, widerwilliges Wiehern klang über den Platz. Dann Stille – quirlende Bewegung am Start. „Achtung!“ Wieder die Männerstimme. „Achtung, Starter! Eins – zwei – drei – ab!“ Sand wirbelte unter den schmetternden Hufen, weit vornübergebeugt hockten die Jockeis. Das erste Rennen hatte begonnen. Während auf der Bahn Mensch und Tier aus sich herausholten, was nur herauszuholen war, näherten sich der Stadt in schneller Fahrt zwei Radler – Jane und Ralph. Sie hatten sich für die lange Fahrt viel Zeit genommen. Sie schienen die Rennbahn auch gerade noch rechtzeitig zu erreichen, da hatte Ralph kurz vor der Stadt eine Reifenpanne. In fieberhafter Eile wurde geflickt. Nun versuchten beide, wenigstens zum Hauptlauf noch zurechtzukommen. Es war, wie schon gesagt, sommerlich heiß und beinahe
windstill, eine Seltenheit in diesem feuchten, nebligen Landstrich. Der Schweiß lief den beiden in Strömen über die Gesichter. Jane hätte etwas darum gegeben, sich einen Augenblick – einen Augenblick nur – ganz still in den Schatten eines Baumes setzen zu dürfen. Während sie kräftig in die Pedale trat, malte ihre Phantasie das Bild ganz deutlich aus: Die Lichtflecke, die durch die Blätter brachen und auf dem Gras spielten, das monotone Konzert der Grillen und die verworrenen Laute, die von der Stadt wie aus weiter Ferne herüberklangen. „Sieh mal“, keuchte Ralph und wies mit einer Kopfbewegung nach vorn. Verstohlen streckte sich Jane etwas im Sattel. Der Rücken begann ihr zu schmerzen. Was sie sah, erweckte ihre Aufmerksamkeit. Das Überlandkabel hing zur Erde, gerissen. Dicht neben einem Mast parkte ein dreirädriger roter Lieferwagen, von dem man annehmen konnte, daß er zu einer Reparaturkolonne des Elektrizitätswerkes gehöre. Drei Männer in Monteuranzügen, die eben noch rauchend neben dem Wagen gestanden hatten, begaben sich beim Nahen der beiden Radler etwas überstürzt in den Baumschatten, als wollten sie im Straßengraben Mittagsruhe halten. „Die sollten lieber erst ihre Arbeit machen“, schimpfte Ralph. Er wandte sich noch einmal um. Jane sah, wie ein erstauntes Lächeln über sein Gesicht glitt. Danach runzelte er nachdenklich die Stirn, schüttelte den Kopf und trat schärfer an. Als Jane sich später noch einmal umwandte, fuhr das rote Auto in entgegengesetzter Richtung davon. Jane wunderte sich, daß das Überlandkabel noch immer zerrissen am Mast hing. Vielleicht haben sie nicht die nötigen Werkzeuge, dachte das Mädchen. Dann fuhren sie schon zwischen den Häusern der Stadt, bogen
wenig später auf den freien Platz vor der Rennbahn ein und stiegen ab. Jane freute sich, daß sie unterwegs nichts gesagt und durchgehalten hatte. Vergnügt schob sie ihren Arm unter den Ralphs, und gemeinsam betraten sie die Bahn. Gerade wurde das zweite Rennen gelaufen. Die Tribünen hatten sich bereits etwas mehr gefüllt. Davor stand die Menge Kopf an Kopf. Wieder wirbelte Staub unter den Hufen schöner Pferde, wieder gaben die Menschen, als die ersten Pferde das Ziel passierten, ihrer Freude oder ihrem Ärger lauten Ausdruck. Der Lautsprecher meldete die Quoten. Langsam, ganz langsam kam die erregende Stimmung auf, die für alle Sportplätze der Welt kennzeichnend ist. Hardy MacCogan gab es auf, seine Pfeife zu reinigen, und kaufte sich ein paar Zigaretten. Alle paar Mi-nuten verschwand er, um die Stimmung der Buchmacher zu ergründen. Diese hatten sich indessen wieder beruhigt und sich achselzuckend darein gefügt, daß die auswärtigen Notierungen nun erst nach Schluß des Rennens bekanntwerden würden. „Glaubst du immer noch an deine Sensation?“ spottete Margret. Er grinste. „Bange machen gilt nicht, Mädchen. Es ist noch nicht aller Tage Abend. Es gibt noch ein Nachspiel, verlaß dich darauf.“ Sie gingen in das Rennbahnrestaurant, um schnell einen kühlen Schluck zu nehmen. Auf der Bahn fuhren Sprengwagen und Walzen. Jane hatte noch nie ein Pferderennen miterlebt, das bunte Durcheinander und das prickelnde Spiel gefielen ihr.
Vor Ralph her drängte sie durch die Menge und machte ihn auf dieses oder jenes aufmerksam, für das sie keine Erklärung wußte oder das ihr besonders gut gefiel. Ralph war nur mit halbem Ohr bei der Sache. Seine Gedanken kreisten um die Begegnung auf der Landstraße. Dann wieder dachte er an Jane. Er ärgerte sich über seine eigene Zerfahrenheit und fand, daß er wie ein ausgemachter Trottel hinter einem Mädchen herlief, das hübsch und anziehend war und wahrhaftig mehr Aufmerksamkeit verdiente, als er im Augenblick aufbringen konnte. Während der nächsten Rennen warf er verstohlene Blikke auf ihr dunkles, blauschwarz schimmerndes Haar und kam zu dem Schluß, daß er eigentlich ein ausgemachter Glückspilz sei. Dann lag ihm wieder die Begegnung auf der Straße im Sinn, und er ärgerte sich, daß er nicht sagen konnte, was ihm an den Männern der Reparaturkolonne bekannt erschienen war. Nun waren die Tribünen bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Welle des Rennfiebers schlug hoch empor und packte Junge und Alte. Letzte erregte Diskussionen wurden geführt, der Name des vermeintlichen Siegers war in aller Munde „Observer macht’s! Observer muß es heute wissen!“ Das war die allgemeine Meinung, unerschütterlich und wie auf Granit gebaut. Der Jockei wurde noch einmal zur Waage gerufen. Dann löste wieder der Einzugsmarsch die blecherne Tanzmusik ab. „Achtung! Die Pferde begeben sich jetzt zur Parade!“ Totenstille über dem Platz, das Knistern von Zeitungspapier und die tänzelnden Schritte der Pferde. „Das ist Francasal!“ erläuterte MacCogan, ungerührt von den strafenden Blicken seiner Umgebung, „der
Schokoladenbraune da. Wenn er halb so gut läuft, wie er aussieht, ist alles in bester Ordnung. Aber…, Na, wir werden ja sehen.“ Und mit dieser orakelhaften Wendung beschloß er seine Rede. Als letzter erschien der Favorit des Rennens, Observer, im Felde. Er wurde von denen, die auf ihn schwuren, mit lautem, demonstrativen Beifall begrüßt. Es war ein schlanker Schimmel mit dem langen Hals und dem schmalen Kopf des Arabers. Die Nüstern vibrierten leise, und die starken Zähne knirschten auf der Trense. Der Jockei machte ein sehr überlegenes Gesicht. Observer hatte bisher ohne Anstrengung jedes Rennen gewonnen. „Achtung! Starter! Achtung! Eins – zwei – drei – ab!“ Ein Aufbrodeln wie in einem jäh aufgescheuchten Bienenschwarm. Wieder die ruhige Stimme im Lautsprecher: „Fehlstart! Achtung! Fehlstart! – Achtung, Starter! Eins – zwei – drei – ab!“ Ein Radioreporter, der sich mit seinem Mikrophon neben Hardy aufgebaut hatte, erfreute die, die weiter hinten standen, durch eine lebendige Schilderung des Rennverlaufs: „Das Feld geht ab wie die Post. Wie erwartet, hat sich Observer sofort an die Spitze gesetzt. Seine Hufe trommeln gleichmäßig wie ein mit wunderbarer Präzision arbeitendes Uhrwerk. Leicht und elegant reitet Bob Graisen, so, als hätte er den Sieg bereits in der Tasche. Aber noch wird er ihm streitig gemacht. Dicht aufgeschlossen folgt das Feld. Geschickt hat Randolph Collins die Honeymoon an die Innenbahn gebracht. Eine ernste Gefahr für Observer, wenn Honeymoon dieses mörderische Tempo durchhält. Aber sie verausgabt sich jetzt schon stark, beginnt schon zu glänzen, während Observer läuft, als sei das Ganze ein behagliches Haferfressen im war-
men Stall. Die Aufmerksamkeit wendet sich noch einmal dem Start zu. Dort hielt eben noch ein einzelner Reiter. Sein schokoladenbrauner Renner bockte, der Jockei benutzte die Peitsche, widerwillig, wie mir schien. Es sah so aus, als wolle er ausscheren. Aber nun… nun hat sich das Tier – es ist Francasal – beruhigt, beginnt zu laufen, läuft! Es ist wie ein Wunder! Kein Mensch hätte das diesem müden Renner zugetraut, kein Mensch hat ihn je so laufen sehen. Man wird in diesem Fall künftig sehr vorsichtig mit abfälligen Worten sein müssen; denn was Francasal da zeigt, das ist – man möchte es die Hohe Schule der Rennbahn nennen. Jim Pearcy, der Jockei, ist selbst ganz erstaunt. Man merkt ihm an, wie er sich dem Lauf des Pferdes anpaßt, wie er ihm den Galopp, einen wunderbar raumgreifenden, ausgewogenen Galopp, erleichtert! Jim Pearcy sieht seine Chance gekommen. Francasal holt rapide auf, hat die letzten des Feldes schon beinahe spielend überholt. Er kommt nicht an das dicht besetzte Innenrund, gewinnt aber dennoch Raum, schiebt sich langsam zur Spitze vor. Nun liegt er bereits Brust an Brust mit Honeymoon, der der Schaum in dichten Wolken flockt. Die Stute fällt ab...“ Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Margret kam das schleifende Geräusch, mit dem sich das Teleobjektiv verschob, laut und störend vor. Dann zeigte ihr der Spiegelreflexsucher Gomer Charles. Er war sehr blaß. Dicke Schweißperlen liefen ihm von der Stirn her über die Nasenwurzel und in die Mundwinkel. Der Buchmacher hatte die Zigarre aus dem Mund genommen und zerdrückte sie nervös zwischen den Fingern. Der Verschluß der Kamera schnarrte, „Jetzt hat Observer die Gefahr erkannt!“ schrie der
Funkreporter heiser. „Er holt das Äußerste aus sich heraus. Jetzt muß er einmal zeigen, daß er nicht nur galoppieren, sondern auch kämpfen kann. Bob Graisen tut, was ein Reiter nur immer tun kann, er gibt jede erdenkliche Hilfe. Es ist ein atemberaubender, aber ein schöner und fairer Kampf, den sich zwei Favoriten bieten, von denen der eine noch vor einer knappen halben Stunde überhaupt nicht in die engere Wahl gezogen wurde. Jim Pearcy auf Francasal hat die Chance seines Lebens, und er weiß sie – so scheint es mir – zu nutzen. Er reitet wie zehntausend erwachende Teufel, und Francasal, dieser wunderbare, immer verkannte Francasal, bei dem auf einmal der berühmte Knoten geplatzt zu sein scheint, läuft das Rennen seines Lebens. Noch eine halbe Länge ist er hinter Observer. Das ist Zauberei, aber schon liegen die beiden Kopf an Kopf. Waagerecht fliegen die Mähnen, waagerecht liegen die langen Schweife. Bob Graisen verliert die Nerven, er arbeitet mit Sporen und Peitsche. Vergeblich – Observer bleibt zurück, bleibt tatsächlich zurück, und nun passiert Francasal, ungefähr mit einer Kopflänge Vorsprung, das Ziel. Was niemand geglaubt hätte, ist im Großen Preis von Bath Wirklichkeit geworden: Der krasse Außenseiter hat sich als ein Klassepferd von hohen Graden erwiesen, und Observer, der unbestrittene Favorit, ist nicht zu tadeln, denn er ist wunderbar gelaufen, ohne sich allerdings gegen den überlegenen Gegner behaupten zu können.“ „Was sagst du nun?“ wandte sich Hardy an seine Nachbarin. – Sie schwieg. Der Beifall der Zuschauer kam nur schwach. Die allgemeine Enttäuschung war auch durch die Leistung Francasals nicht aufzuheben. Jeder zweite
hatte auf Observer gesetzt und verloren. Die wenigen, die sich den Wetten auf Francasal angeschlossen hatten, waren berauscht vor Glück. Die Quote stand, wie zu erwarten, außerordentlich hoch. Ralph wischte sich den Schweiß von der Stirn und setzte sich da nieder, wo er eben gestanden hatte. Ihm zitterten die Knie. „Da hat also Gomer Charles durch die Einsätze seiner Mittelsmänner 4500 Pfund aus seinen 450 eingesetzten Pfund gemacht?“ fragte Jana erstaunt Ralph nickte. „Er verdient überall, am Sport am meisten. Die Begeisterung der Menschen läßt sich eben leicht ausnutzen.“ Er fuhr hoch: „Aber sag, was du willst, mit rechten Dingen ist das nicht zugegangen, Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.“ „Du hast mir versprochen, dich aus allem herauszuhalten“, bemerkte Jane sofort. Er nickte: „Keine Sorge. Was geht’s mich an!“ „Mit rechten Dingen ist das nicht zugegangen!“ sagte in demselben Augenblick Hardy MacCogan zu Margret und schob sich vor ihr her dem Ausgang zu. „Das wird eine tolle Geschichte, oder ich will die längste Zeit bei der Zeitung gewesen sein.“ Er besaß ein altersschwaches Motorrad, Margret schwang sich hinten auf; Hardy ließ die Maschine giftig aufheulen, und sie fuhren zur Zeitungsredaktion. Das unansehnliche Gebäude, in dem ein altersschwacher Paternoster langsam durch die Stockwerke wackelte, schien zu schlafen. Aber das schien nur so. In der Setzerei knackten die Greifarme der Linotypesetzmaschinen; Handsetzer waren dabei, die fetten Schlagzeilen zusammenzustellen. Die Fernschreiber ratterten, die Hellschrei-
ber spien schmale bedruckte Streifen mit klebrigen schwarzen Rücken aus. In der Sportredaktion hämmerten die Schreibmaschinen und nahmen gewandte Stenotypistinnen die Telephondiktate der Reporter auf, die von den Sportstätten der Umgebung berichteten. Hinter seinem mit Manuskripten bedeckten Schreibtisch thronte, unnahbar wie ein Buddha, hemdsärmelig, der Sportredakteur und brachte in die Fülle der eingegangenen Meldungen Ordnung, schied aus und ließ die Umrisse der Sportseiten entstehen. Margret war sofort ins Labor geeilt, Hardy ließ sich schwer in einen Sessel fallen und öffnete den Hemdkragen. „Wir nehmen den Fall nach oben, erste Aufmachung“, ließ ihn der Redakteur nicht zu Wort kommen. „Hier ist das, was der Rundfunk indessen durchgegeben hat.“ MacCogan überflog den mit der Schreibmaschine getippten Bogen. „Warnung!“ las er. „Kurz vor Beginn des Rennens ,Großer Preis von Bath’ wurden bei allen Buchmacherbüros der Inseln des Vereinigten Königreichs, in London und in Bath selbst ungewöhnlich hohe Wetten auf den Außenseiter Francasal abgeschlossen. Zur gleichen Zeit wurde jede Telephonverbindung mit Bath unterbrochen. Die Störungsstelle konnte bis jetzt nicht ermittelt werden. Es ist anzunehmen, daß die Leitung absichtlich gestört wurde. Es ist ebenfalls anzunehmen, daß in Bath hohe Gewinne erzielt werden. Um keinem Betrugsmanöver aufzusitzen, hat der Königliche Rennsportverein sofort nach Bekanntwerden der Tatsachen die Affäre der Polizei Ihrer Majestät übergeben. Bis nach Bekanntgabe des Untersuchungsergebnisses durch Scotland Yard sind sämtliche
Gewinne gesperrt und dürfen nicht ausgezahlt werden. Die Polizei Ihrer Majestät hat umfangreiche Ermittlungen begonnen. Wir bitten alle Freunde des Turfs, für diese Maßnahme Verständnis zu zeigen. Ich wiederhole…“ Hardy MacCogan pfiff leise durch die Zähne, „So. Ich habe Francasal laufen sehen. Es war ein Genuß.“ „Du glaubst doch selbst nicht, daß ein Pferd, das am vergangenen Sonntag noch völlig versagte, innerhalb einer Woche eine solche Kondition erreicht. Nonsens! Wir werden die Sache groß herausbringen. Wenn mich nicht alles täuscht, dann zeigt sich hier wieder einmal ganz eindeutig das Geschäft mit dem Sport, die skrupellose Ausnutzung einer Höchstleistung zu dunklen Manipulationen. Vielleicht steckt noch mehr dahinter. Auf alle Fälle wirst du die Sache im Auge behalten müssen. Es ist wahrhaftig an der Zeit, denen, die im Sport nur ein Mittel zu leichtem Geldverdienen sehen, die Maske abzureißen. Wenn du das tust, kannst du dir einiges Verdienst erwerben. Die amerikanische Losung – Sport gleich Moneymachen – die bei uns leider immer mehr Boden gewinnt, muß in ihrer ganzen Gemeinheit gezeigt werden.“ Hardy nickte eifrig. In Gedanken formte er bereits Worte zu Sätzen und Sätze zu einer Reportage, die sich Mr. Charles aus Cardiff nicht hinter den Spiegel stecken würde. Hardy hatte in letzter Zeit häufig gesagt, daß es ihn anekle, über Veranstaltungen zu berichten, die nur den Zweck verfolgten, Geld in die Taschen geschäftstüchtiger Manager zu scheffeln. Menschen, die Höchstleistungen erzielten, bedeutende Sportler, wurden ausgepreßt und dann weggeworfen wie leere Zitronen, dem Elend, der Not, dem Hunger preisgegeben. Neue traten an ihre Stelle, wurden ausgepumpt und dann weggeworfen wie sie.
Hardy MacCogan sah seine Stunde gekommen, die Stunde, in der er im Namen all der Mißbrauchten die Karten offen auf den Tisch legen konnte. „Na; dann, Rita! Los geht’s!“ wandte er sich an die blonde Stenotypistin. MacCogan begann zu diktieren. Dabei beherrschte ihn ein Gedanke: Wer ist der Hintermann des dunklen Spieles und was kann ich tun, um ihn zu entlarven? Auf der Rennbahn und in der Gaststätte war es leer geworden. Ein gelangweilter Kellner lehnte am Büfett, Fliegen summten an den Fenstern, und aus einer Nische drang das Klatschen von Bridgekarten auf einen Tisch. Jane hatte sich zurückgelehnt und ließ die Beine baumeln. Sie spürte eine leise Müdigkeit. Eben hatten sie gegessen, tranken nun ein Glas Bier und schwiegen. Ralph empfand die Stille nicht, die ihn umgab. Er rauchte eine Zigarette an der anderen an und brütete vor sich hin. So saß er da, seit er die Warnung im Lautsprecher gehört hatte. „Charles muß vom Teufel geritten worden sein“, meinte er endlich. „Ich kann ihm nichts beweisen. Seine Karten – so scheint es – gewinnen immer. Keine Menschenseele hätte den Sieg von Francasal für möglich gehalten – Charles sieht ihn voraus und wettet durch Mittelsmänner eine empfindlich hohe Summe. Er gewinnt. Zur gleichen Zeit aber sind in London und Glasgow ebenfalls Leute auf die Idee gekommen, daß doch der unscheinbare Francasal ganz gut daran täte, einmal zu gewinnen. Sie setzen auf ihn, und er gewinnt. Eine hohe Summe ist eingesetzt, naturgemäß müßten die Quoten niedrig sein. Aber – zum Glück für Charles – fällt es ein paar Banditen ein, just im
richtigen Augenblick die Telephonkabel lahmzulegen. Da werden alle Auszahlungen gesperrt, und die anderen, die ebenso schlau waren, haben das Nachsehen, weil Scotland Yard in diesem Augenblick einzugreifen geruht. Es profitiert niemand, keiner zieht Nutzen aus der Geschichte – das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen.“ Ralph machte eine Pause und drehte einen Bierdeckel zwischen den Fingern. Dann zerbrach er ihn. „Ralph!“ bat das Mädchen und legte ihm die Hand auf den Arm. Er hörte nicht. „Pfui Teufel! Übel wird einem, wenn man sich das alles überlegt. Aber da bestehen Zusammenhänge. Ich weiß nur nicht, welche. Ob Charles etwa auch die Einsätze in den anderen Städten gesteuert hat? Sicher nicht. Vielleicht rechnete er dort mit geringen Einsätzen und wollte einen falschen Verdacht erwecken? Wenn er als einziger profitieren kann, wird er doch nicht die Sperrung aller Auszahlungen herbeiführen, sollte man denken. Ich glaube, daß er das Kabel zerstören ließ. Ja, das muß er getan haben. Aber warum nur? Wollte er, daß es aussieht, als habe irgendein großer Unbekannter das Kabel zerstört, um ihn, den ach so ehrlichen Geschäftsmann, zu schädigen? Die Sache wird immer verworrener!“ „Wie kommst du denn darauf, daß ausgerechnet Charles…? Ralph, du siehst Gespenster.“ „Der Kerl baut sein Netz wie eine Spinne. – Vielleicht gehen die Einsätze außerhalb wirklich auf sein Konto? Er riskiert ja nichts. Das gesperrte Geld wird sicher zurückgezahlt. Und er deckt sich, wenn er den Anschein erweckt, daß andere Leute ebenso schlau waren wie er und auch auf Francasal gesetzt haben. Mit der einstweiligen
Sperrung mußte er rechnen.“ „Du redest wie der tüchtige Detektiv im Kriminalroman“, spottete Jane und strich unmutig das Haar hinter die Ohren. „Eigentlich hatte ich gedacht, es würde ein schöner Tag werden. Nun brütest du vor dich hin und machst dir die Sorgen der Polizei.“ Ralph knurrte. Dann pochte er mit dem Knöchel auf den Tisch. „Gut, natürlich hast du recht. Aber morgen gehe ich hin und erzähle, was ich mir da zusammengereimt habe. Das muß richtig sein.“ „Das wirst du nicht tun!“ Jane war im Augenblick hellwach. „Was muß denn wahr sein? Du redest dir etwas ein, du hast keinen Beweis, gar nichts. Und wenn du etwas sagst, dann stellen sie dich deinem Chef gegenüber. Dann weißt du, was dir blüht. Dann sitzt du übermorgen auf der Straße.“ „Und Charles hinter schwedischen Gardinen.“ „Denkst du! Warum denn? Was kann man ihm beweisen? Bestenfalls einen Verstoß gegen die Bestimmung, nach der Buchmacher nicht wetten dürfen. Dafür bekommt er eine Ordnungsstrafe. Vielleicht machen sie ihm den Laden wirklich zu. Dann sitzt du auch draußen.“ „Wenn schon.“ „Das scheint dir alles gleichgültig zu sein.“ Jane rückte näher an den Freund heran und sprach beschwörend auf ihn ein. „Ich bitte dich, Ralph, denk doch einmal an uns. Was soll denn werden? Wir wollen doch heiraten, es uns etwas gemütlich machen. Ich will nicht immer in der möblierten Bude hocken, nicht immer bei fremden Menschen sein. Wir hatten uns das so schön ausgemalt.; Und nun setzt du alles aufs Spiel! Wenn du arbeitslos wirst,
dann – dann ist alles aus, Ralph. Ich bitte dich!“ Sie legte ihm wieder die Hand auf den Arm und rückte noch dichter an ihn heran. Flüchtig dachte er, daß sie schöne Hände habe, die kräftig zupacken können. Dann fühlte er deutlich, daß sie Angst hatte, Angst vor dem, was er morgen heraufbeschwören wollte, „Ralph“, bat sie. „Bei denen, die uns im Lager bewachten“, fing er ungelenk an und suchte sichtlich nach Worten, „war einer, der den Banditen Ly Sing Mans in die Hände gefallen war. Sie hatten ihn gefoltert, ihm ihre Fahne, die er haßte, auf die Brust tätowiert und ihn zwingen wollen, militärische Geheimnisse preiszugeben. Er tat es nicht, sagte ihnen nur, daß er sie verachte, daß er sie hasse und nie sagen würde, was sie hören wollten. Er blieb bei der Wahrheit. Und das war etwas ernster als das hier, Jane, wo es um ein paar Pfund Sterling geht.“ Jane sagte nichts. Sie richtete sich auf und sah zum Fenster hinaus. Unmerklich rückte sie von ihm ab. Das einfallende Licht war sehr stark, und er sah ihr Profil wie einen schwarzen Scherenschnitt. Ihre Schultern, die schönen starken Schultern einer Sportlerin, sanken mutlos nach vorn. Er tastete nach ihrer Hand. Sie schwieg. Da lenkte er ein. „Ich habe das nicht böse gemeint“, sagte er leise. „Du hast sicher recht. Wir sind ja nun wieder in England, und da gelten andere Gesetze als draußen.“ Er versuchte zu lachen, aber es klang nicht echt. Er war nicht überzeugt von dem, was er sagte; es war sicher nicht richtig, nachzugeben. Das Mädchen lächelte wieder, gab ihm einen schnellen scheuen Kuß und ging mit ihm hinaus. Die Sonne brann-
te immer noch, von keiner Wolke verdeckt, über den Wiesen. Inspektor Higgins lehnte sich im Rücksitz des Funkwagens zurück und besah beschaulich die fast weiße Asche seiner Zigarre. Hätte man ihn nach seinen Gedanken gefragt, so hätte er unzweifelhaft kundgetan, daß er es für eine Gemeinheit erachte, ihn zwanzig Minuten vor Ende seines Dienstes von London in dieses weltabgeschiedene Nest zu jagen. In der Vorstellung des Inspektors zählten sämtliche Städte Großbritanniens, wenn sie nicht London oder Edinburgh hießen, als öde Dörfer. Higgins trauerte dem Dauerskat nach, den er an diesem Abend mit zwei Kollegen hatte spielen wollen und der nun – das sah der Kriminalist voraus – ungespielt bleiben würde. Higgins war ein Mann, der mit den scharfsinnigen Helden der Hollywoodfilme äußerlich nicht das geringste gemein hatte. Der dicke, etwas asthmatische Herr im dunklen Sonntagsanzug, die Melone auf dem schon gelichteten Schädel, glich weit mehr dem hauptamtlichen Vorsitzenden eines Kaninchenzüchtervereins als einem fähigen Spezialisten für Turfschwindeleien. Das war er aber, und einige Gauner, die heute noch in Dartmoor hinter vergitterten Fenstern saßen, wußten ein Lied davon zu singen. Der Sergeant neben dem Fahrer gähnte. Eintönig plätscherte aus dem Lautsprecher die Stimme des Polizeifunksprechers, der einen Steckbrief durchgab. Dann beugte sich Higgins etwas vor. „Achtung, SY 84, Achtung, Funkwagen 84. Scotland Yard ruft Inspektor Higgins. – Erste Ermittlungen im Fall ,Großer Preis von Bath’ haben ergeben, daß die außer-
halb Bath abgeschlossenen Wetten auf Francasal nach der erzielten Quote einen Gewinn von 200 000 Pfund Sterling erbracht hätten. Wetten wurden über einige kleinere Büros und in der Hauptsache über das ,Zentrale Wettbüro Jonathan Craig, London’, abgeschlossen. Wir rufen wieder.“ „Eine runde Summe“, stellte Higgins behaglich fest. „Danach zu urteilen, dürften wir es mit dem größten Wettskandal dieses erhebenden Jahrhunderts zu tun haben. Aber der Schein trügt manchmal. Sind wir denn noch nicht bald in diesem armseligen Nest? Ich will das Wunderpferdchen sehen, das alle Leute mit Pferdeverstand an der Nase herumgeführt haben soll. Ich glaube, das liebe Tierchen wird bösartig verleumdet. Sind wir noch nicht bald da?“ Der Fahrer zuckte die Achseln. „Ich fahre schon, was der Kasten hergibt, Inspektor“, sagte er über die Schulter. „Glauben Sie, daß wir heute noch nach London zurückkommen?“ „Ich sehe schwarz.“ Dann schwiegen sie wieder, und der Motor brummte einschläfernd. Higgins schreckte aus seinem Vorbereitungsnickerchen auf, als der Fahrer am Ortseingang die Polizeisirene einschaltete. Der Sergeant grinste. Er hatte noch immer eine kindliche Freude daran, wenn bei diesem Klang die Autos an den Kreuzungen stehenblieben und die Menschen sich neugierig umsahen. Mühselig und ein bißchen steif kletterte Higgins am Rennplatz aus dem Wagen. Zwei von der Ortsbehörde abkommandierte Motorradfahrer in Uniform salutierten und meldeten sieh. Ein erregter Mann mit dunkler Hornbrille trat an den In-
spektor heran. „Wilkins, Direktor Wilkins. Ich muß betonen, daß mir die Sache außerordentlich peinlich ist. So etwas ist hier noch nie passiert. Der Ruf von Bath war makellos. Und nun… ich bin untröstlich. Was ich tun kann, Sie zu unterstützen, wird geschehen.“ „Dann zeigen Sie mir bitte das Wundertier, auf das dieser Glückspilz von Buchmacher so hohe Wetten hatte. Eine ganz schöne Einnahme konnte das für ihn werden, meine ich. Wie hieß er eigentlich?“ Der Inspektor trat liebevoll den Stummel seiner Zigarre aus. Menschen, die ununterbrochen schwatzen, waren ihm ein Greuel. „Charles, Gomer Charles. Alle hiesigen Abschlüsse gingen über sein Büro. Es wird ihm sehr unangenehm sein. Sein Büro erfreut sich des besten Rufs; ja, man möchte sagen, des allerbesten Rufs. Aber was kann er dafür, wenn die Verbrecher durch ihren Schwindel ausgerechnet ihn hereinlegen? Was kann er dafür?“ „Er kann nichts dafür“, begütigte Higgins den redseligen Direktor und zog ihn am Arm nach den Ställen. Der Inspektor liebte schöne Pferde. Er hatte zwar nie auf einem Gaul gesessen, fühlte sich aber als ihr stiller Anwalt, wenn wieder einmal auf ihre Kosten geschwindelt worden war. Francasal war nicht mehr da. Sein Trainer, Nathanael Scratch, hatte ihn nach dem Rennen sofort im Spezialwagen abgeholt. „Das ist ja jammerschade!“ bedauerte Higgins ehrlich, „Nun fehlt nur noch, daß auch der Jockei fort ist.“ Der Direktor hob beschwörend die Hände. „Nein, er ist noch hier. Ich habe ihn gebeten, sich zu Ihrer Verfügung zu halten. Er erwartet Sie in meinem Büro.“
Jim Pearcy warf seine Zigarette in den Ascher und machte eine kleine Verbeugung. Neben dem fülligen Higgins sah er in seinem Reitanzug dünn und unscheinbar aus. Man hätte ihm ein Schinkenbrötchen anbieten mögen. Pearcy verhielt sich zunächst sehr zugeknöpft. Offensichtlich hatte er Angst, sein Ritt würde angezweifelt und er um den seltenen Ruhm des Sieges gebracht werden. „Ich habe gehört, daß Sie ausgezeichnet geritten sind“, schmunzelte der dicke Higgins gönnerhaft. „Na, Sie müssen doch selber ganz verblüfft gewesen sein, als Sie merkten, was Sie für ein Klassepferd unter den Händen halten.“ Pearcy nickte. „Halb und halb. Ich kannte das Tier nicht und habe es heute überhaupt zum erstenmal in meinem Leben geritten.“ Sehr verlegen fügte er hinzu: „Ich bekomme immer nur die Hoffnungslosen, bei denen es nicht darauf ankommt. Hauptsache, es sitzt einer darauf. So war ich auch diesmal eingestellt. Ich hatte noch nie eine Chance.“ Wilkins räusperte sich mißbilligend. Der Jockei beachtete das nicht. „Ich habe mein Bestes getan. Francasal ist ein müder Renner, sagte jeder, der ihn kannte. Da habe ich ihn gleich hart angefaßt. Ihm paßte das nicht, und gleich am Start bockte er. Schließlich zog er ab, und wie! So plötzlich, daß ich Mühe hatte, nicht die Bügel zu verlieren. Ich war ja darauf aus, das Tier erst einmal wieder aus dem Stand auf der Hinterhand herauszubringen. Dann merkte ich natürlich, daß ich d i e Chance hatte. Man merkt das schließlich. So kam es. Bis zum letzten Augenblick habe ich nicht an den Sieg geglaubt, obwohl Francasal einen wunderbaren Handgalopp lief.“ Er nahm fahrig eine neue Zigarette. „Und nun wird
wohl alles vergeblich gewesen sein.“ „Nicht den Kopf hängen lassen! Mr. Wilkins kennt nun Ihre Fähigkeiten und wird Sie nächstens besser einsetzen. Nicht wahr, lieber Mr. Wilkins?“ Der „liebe“ Mr. Wilkins beeilte sich, festzustellen, der Inspektor habe ihm aus der Seele gesprochen. Higgins dachte nach. „Wo könnte Francasal denn jetzt sein? Das heißt, wo hat dieser Mister Scratch seinen Stall?“ Wilkins gab Auskunft. Der Inspektor bestand darauf, das Tier zu sehen. Gemeinsam mit Pearcy kletterte er wieder in den Funkwagen. Die beiden Motorradfahrer folgten mit knatternden Maschinen. Sie fanden Mister Scratch inmitten seiner Familie an einem gedeckten Kaffeetisch. Er wurde nicht einen Augenblick verlegen und führte seinen Besuch sofort zu den Stallungen. Higgins und Pearcy traten zu Francasal. Er ließ den Kopf ein wenig hängen, wandte ihn kaum um und malmte Hafer. Pearcy klopfte ihm zärtlich den Hals und streichelte das schöne schokoladenbraune Fell. Francasal nahm keine Notiz und malmte weiter. Scratch lehnte an der Tür und sah zu. „Schön, nicht wahr? Obwohl ich zuerst verteufelte Mühe hatte, ihn von seinem Bruder zu unterscheiden. Santa Amaro ist heute nicht gelaufen. Ich habe die beiden vor einem halben Jahr gemeinsam in Pflege bekommen. Santa Amaro ist erfolgreich gewesen in dieser kurzen Zeit, aber Francasal. Ich kann es mir noch gar nicht vorstellen. Oder Mister Pearcy hat ein Wunder vollbracht.“ „Auf jeden Fall ist er gut geritten. – Santa Amaro lief heute nicht, sagten Sie? Kann man ihn sehen?“
„Gleich nebenan.“ Santa Amaro warf den Kopf hoch und keilte. Scratch kraulte ihn zwischen den Ohren. „Wenn ich nicht Santa Amaro vor mir hätte, würde ich glauben, Francasal zu sehen!“ brachte der Inspektor verblüfft heraus. „Führen Sie doch bitte beide Tiere einmal hinaus in den Hof.“ Higgins nahm Pearcy beiseite und sprach angelegentlich auf ihn ein, so daß der Jockei das Hinausbringen der Pferde nicht beobachten konnte. Die Männer folgten. Higgins kramte Zuckerstückchen aus der Tasche. „Wie ist’s, Pearcy, wollen Sie Ihrem Sieger nicht das Zeug von mir geben? Sie können besser mit ihm umgehen, denke ich.“ Pearcy sah ihn verlegen an. „Es wirft ein sehr schlechtes Licht auf mich als Berufsreiter, Sir, aber… ich kann die Tiere nicht unterscheiden.“ „Ich auch nicht“, gab der Inspektor zu. Francasal schien das Spiegelbild Santa Amaros zu sein und umgekehrt Santa Amaro das Spiegelbild Francasals. „Aber, Mister Pearcy, es muß doch eine Möglichkeit für Sie geben, das Pferd wiederzuerkennen, auf dem Sie gesiegt haben.“ Pearcy kratzte sich hinter den Ohren. „Tja“, meinte er gedehnt, „man müßte aufsitzen und ein paar Runden reiten. Dann würde ich an der Reaktion das richtige Pferd wiedererkennen.“ Scratch trat neugierig heran. „Darf man erfahren…?“ „Unser Freund hier“ – Higgins legte dem Trainer den Arm freundschaftlich um die Schulter – „möchte einmal auf beiden gesessen haben. Erheben sich dagegen Einwände?“
„Wenn Sie Spaß daran haben! Man soll sich mit der Polizei immer gut stellen.“ Er lachte, als hätte er den besten Witz seines Lebens erzählt. „Bitte, Mister Pearcy!“ Blitzschnell saß der Jockei auf dem Rücken eines der ungesattelten Pferde. Das Tier begann ruhig zu traben. Pearcy stieg ab und zuckte die Achseln. Scratch führte das andere Pferd heran. Kaum hatte sich Pearcy mit der Geschicklichkeit eines Zirkusreiters aufgeschwungen, stellte sich das Tier auf die Hinterbeine und begann zu bocken. Aber so leicht war der gewandte Reiter nicht abzuschütteln. Higgins sah gespannt zu, wie der Jockei das Pferd beruhigte. Dann fiel es beinahe aus dem Stand in Galopp, Sand stiebte und prasselte in feinen Körnern gegen die Mauer. „Das ist’s! Das ist einwandfrei Francasal!“ rief Pearcy dem Inspektor zu. Scratch biß sich auf die Lippen. Plötzlich standen kleine Schweißtropfen auf seiner Stirn. „Das ist Santa Amaro!“ preßte er heraus, „Woran sehen Sie das?“ Schweigend hob Scratch die Mähne. Da zeigte sich ein daumennagelgroßer weißer Fleck. Higgins pfiff leise durch die Zähne, hob die Mähne Francasals und trat zurück. Das Fell war makellos schokoladenbraun. „Na also!“ knurrte Higgins. „Und wegen so einer Lappalie mußte ich aus London hierherkommen.“ Er dachte an den Dauerskat. „Sie haben die Pferde heute früh ausgewechselt, wenn man so sagen darf? Ich bin immer ein Freund von Leuten gewesen, die ihre Schandtaten ehrlich zugeben.“ Scratch bohrte verbissen die Hände in die Hosentaschen. „Ich wollte es nicht. Ich wollte es wahrhaftig
nicht. Aber er hat mich überredet. Ich brauche auch Geld, Sie verstehen. - Die Zeiten sind schlecht. Ja, Santa Amaro ist heute für Francasal gelaufen. Er versprach mir eine Beteiligung am Gewinn. Darauf ging ich ein. Santa Amaro ist sicher, unter jedem Reiter.“ „Und wer ist ,er’, von dem Sie da sprechen?“ „Mr. Reginald O’Brien. Ich kenne ihn weiter nicht. Er war nur zweimal hier, einmal als die Pferde ankamen, und dann gestern. Aber er hat sofort gezahlt und machte einen zuverlässigen Eindruck.“ „Kennen Sie seine Anschrift?“ „Nein, ich weiß nur, daß er aus London kam.“ „Kennen Sie den Buchmacher Gomer Charles?“ „Oberflächlich.“ „Schön, oder vielmehr gar nicht schön. Können Sie diesen Mr. O’Brien beschreiben?“ Der Sergeant stenographierte und legte sorgenvoll die Stirn in Falten. Die Beschreibung paßte auf Zehntausende. Higgins stellte noch ein paar Fragen, aber Scratch war schweigsam geworden und sagte nichts mehr. Der Inspektor hatte sich auf einer Bank neben der Stalltür niedergelassen und streckte behaglich die Beine aus. „Wer hat davon gewußt, daß die Pferde vertauscht werden sollten? Zunächst einmal Mister O’Brien. Dann Sie selbst, versteht sich. Haben Sie gewettet?“ „Nein. Ich wollte mich möglichst weit heraushalten. Dachte mir ja, daß der Schwindel platzt.“ „Das ist lobenswert und ehrt Sie“, meinte Higgins mit leisem Spott. „Aber sicher haben Sie den guten Tip weitergegeben? Man ist gefällig und hilft seinen Freunden, nicht wahr? Verstehe ich gut. Wenn ich aus sicherer Quelle etwas erfahre, was einträglich ist und mir keinen
Schaden bringt…“ Er blinzelte entwaffnend. „Ich habe niemandem etwas davon gesagt“, beharrte Scratch. „Am liebsten hätte ich die ganze Geschichte nicht mitgemacht. – Das widerstrebt mir.“ „Aber Sie werden doch wenigstens Ihren Kindern – Sie haben doch erwachsene Kinder? – einen Hinweis gegeben haben? Oder… Sagen Sie es ruhig. Ich bekomme es doch heraus.“ „Gladys hat es gewußt“, gestand Scratch übellaunig. „Sie stand dabei, als ich mit O’Brien, den der Teufel holen soll, verhandelte. Sie hat ihre vorwitzige Nase überhaupt immer in allem, was sie nichts angeht. Ob sie den Tip verwertet hat, das weiß ich nicht. Ich weiß überhaupt weiter nichts, – Was haben Sie denn nun mit mir vor?“ Higgins stand auf. „Zunächst werden Sie diesen beiden netten jungen Männern“ – er wies auf die Motorradfahrer, die die Verhandlung gespannt beobachtet hatten – „Gesellschaft leisten. Ich sehe mich leider gezwungen, Sie im Namen Ihrer Majestät zu verhaften.“ Einer der jungen Polizisten legte dem Trainer die Hand auf die Schulter. Scratch ließ den Kopf hängen. „Da sind Sie in eine schöne Geschichte hineingeraten“, bedauerte Higgins väterlich. „Aber es wird für Sie nicht so schlimm werden.“ Er ließ den Trainer in der Obhut der Polizisten und ging mit dem Sergeanten zum Wohnhaus hinüber. Der Sergeant forschte nach, inwieweit die Familienmitglieder über den Pferdetausch informiert waren. Higgins selbst stieg ächzend auf den Dachgarten, wo er Gladys, die älteste Tochter des Trainers, vermutete. Gladys lag im Liegestuhl und hob den Kopf nur ein wenig, als der Inspektor kam. Sie trug einen knappen zweiteiligen Luftanzug, und ihre Haut hatte unter der
Einwirkung der Sonne eine goldbraune Tönung angenommen. Das große schlanke Mädchen sah gut aus und machte keinen Hehl daraus, daß sie das wußte. Als sie dem Beamten die Hand gab, bemerkte dieser ihre roten Fingernägel. Higgins räusperte sich und nahm die Melone ab. Die Situation war ihm unbehaglich. Ehe er sich dessen versah, saß er, mit dem Hut in der Hand, auf einem Hocker neben dem Liegestuhl und kam sich wie ein dummer Junge vor, der gezwungen ist, hinter einer großen Sonnenbrille die Augen seines Mädchens zu erraten. Higgins wußte nicht, wo er hinsehen sollte. Daß Mädchen lächelte, und seine Zähne blitzten weiß zwischen schön geschwungenen Lippen. Higgins fluchte innerlich. In Soctland Yard, dachte er, würde seine ganze Abteilung mit Vergnügen eine Woche umsonst arbeiten, um ihn in dieser Lage sehen zu können. Das Grinsen wäre endlos gewesen, „Schönes Wetter heute“, fing er an und fand, daß das ein sehr „geistreicher“ Anfang sei. Gladys streckte sich behaglich aus. Ihre Beine waren lang und schlank. „Das richtige Rennwetter. Das meinten Sie doch sicher mit Ihrer Feststellung, Herr Inspektor? Oder muß man Oberinspektor sagen?“ Man müßte dir ein paar hinter die Ohren geben, tobte Higgins innerlich, Laut sagte er: „Ich bin ein bescheidener Mensch. Inspektor genügt mir. Übrigens haben Sie recht, schönes Wetter ist heute, und außerdem hat Ihnen Ihr Vater einen guten Tip gegeben.“ „Er hätte ihn mir nie gegeben, wenn ich nicht zufällig dabeigewesen wäre. Er mag nicht, daß ich wette. Dabei tue ich nichts lieber. – Um Ihnen die Mühe zu ersparen,
mich in ein kompliziertes Kreuzverhör zu nehmen: Ich bin, als ich wußte, was gespielt wurde, sofort mit meinem Geld zu Mr. Charles nach Cardiff gefahren – ich hatte ohnehin dort zu tun – und habe gesetzt, auf Sieg für Francasal. Das Geld werde ich abholen, sobald die Sperre aufgehoben ist. Genügt Ihnen das?“ Es genügte. Higgins verabschiedete sich. Als er die Melone wieder aufsetzte, hatte er das Gefühl, keine sehr vorteilhafte Figur abgegeben zu haben. Der Sergeant hatte indessen nur ermittelt, daß Scratch die Wahrheit gesagt hatte. Higgins nahm im Wagen den Hörer des Sprechfunkgeräts. „Zentrale Scotland Yard“, meldete sich über trennende Kilometer hinweg eine Frauenstimme. – „Hier Funkwagen SY 84, Inspektor Higgins. Bitte, verbinden Sie mich mit Detektiv-Chefinspektor Wilson.“ Es knackte in der Leitung, Higgins erstattete Bericht und bat um weitere Befehle. „Wir werden zunächst“, meinte Wilson, „nach diesem Mann O’Brien fahnden. Craig Ltd. wird laufend überwacht. Die Kunden, die auf Francasal gesetzt haben, sind bereits festgestellt. Alle verfügbaren Leute sind hinter ihnen her. Ich lasse außerdem Craigs Geschäftsbücher genau überprüfen. Sie, Inspektor, werden jetzt festzustellen haben, wer die Fernleitung zerstört hat und welcher Zusammenhang zwischen den Londoner und den Abschlüssen in Bath besteht. Irgendwo sitzt der Mann, der den Stein ins Rollen brachte, den Stein, der uns gerade vor die Füße kollerte. Wir haben die nötigen Anweisungen an die Ortsbehörden gegeben. Leute stehen Ihnen überall zur Verfügung. Quartieren Sie sich dort ein und
bleiben Sie mit uns in Verbindung, damit wir auf dem laufenden sind. Was kann ich sonst für Sie tun?“ „Bitte, teilen Sie Oberinspektor Collins und Sergeant Weatherbury mit, daß aus dem heutigen Skatabend nichts wird. Ich bedaure das.“ „Kann ich mir vorstellen“, lachte Wilson. „Wird gemacht! Viel Erfolg, Inspektor! Wiedersehen!“ „Auf Wiedersehen.“ Seufzend legte Higgins den Hörer auf. „Nach Cardiff!“ Gomer Charles lehnte sich behaglich im Sessel zurück und musterte mit zusammengekniffenen, spöttischen Augen seine Frau, die in einem Heft Comics blätterte. Es war wenig Gemeinsames zwischen ihnen – von jeher. Sie wußte, daß er sie betrog und schickte sich darein als in etwas Unvermeidliches, das es zu ertragen galt wie die höhnischen Worte, die täglichen Beleidigungen und die Erklärung, daß er sie nur aus Mitleid zu sich genommen und ein Mann von seinen Gaben tausend andere Frauen hätte wählen können. Es regnete. Der Himmel war schwarz und ohne Sterne, auf den Straßen bildeten sich kleine Lachen, und der Asphalt schimmerte von der Feuchtigkeit. Ein Radio dudelte. Plötzlich schlug das Telephon an. Charles stand auf und ging hinaus. Er hatte die Tür hinter sich verschlossen, und die Frau hörte nicht, was er sagte. Es wurde ein langes Gespräch. Draußen rauschte der Regen. Die Frau sah auf und versuchte ein Lächeln, als Gomer wiederkam. Das Lächeln erfror. Der Buchmacher zog fahrig das Jackett über und begann, eilig etwas Wäsche in seinen Koffer zu packen. Dann ging er wieder hinaus
in das Geschäft, und seine Frau hörte die schwere Stahltür des Geldschranks schlagen. „Willst du fort?“ wagte sie zu fragen. Er lachte gezwungen. „Ich glaube, das sieht man. Ich muß verschwinden, fahre nach Portland zu Jack. Wenn jemand fragt, ich bin in Liverpool oder sonstwo. Bestell einen Wagen. Ich weiß noch nicht, wann ich wiederkomme.“ Sie wollte noch etwas sagen, als aber Charles dem Schreibtisch einen Revolver entnahm und das gefüllte Magazin in den Griff einführte, versagte ihr die Stimme. Der bestellte Wagen, den der Buchmacher selbst fahren wollte, kam. Gomer Charles stand mit verkniffenen Lippen im Büro und sah sich um. Vielleicht sehe ich den ganzen Kram zum letzten Male, dachte er. Nur nicht sentimental werden! Dann setzte er sich ans Steuer. Seine Frau stand mit hängenden Armen vor der Tür und blickte dem Wagen nach. Bläulich zuckte die Nadel des Tachometers über matt erleuchtete Ziffern. Gomer Charles lachte verbissen in sich hinein. Die Firma hatte ihm einen guten Wagen geschickt. Eigentlich schade, daß sie ihn eines Tages in einer schmutzigen Hafenstraße wiederfinden würde. Der Buchmacher schob die Mütze weiter in den Nacken. Dann tastete er wieder nach dem Revolver. Der Lauf fühlte sich kühl und metallisch an. Sechs Schüsse – und Scotland Yard hätte drei Mann weniger. Für jeden zwei Kugeln, wenn sie ihn stellen würden. Wenn! Aber dazu gehörte immer jemand, der sich stellen ließ. Er wollte das anderen überlassen, er liebte die Gerichtsatmosphäre nicht – die Lockenpracht der hölzernen Richter und das Getue der Beisitzer. Plötzlich war sein Hals ganz trocken.
Er dachte daran, daß sie am nächsten Tag vielleicht bei ihm erschienen wären, Polizisten mit Sturmriemen unterrn Kinn und dieser feiste Kapaun, der Gladys verhört hatte. Gomer Charles unterdrückte einen Fluch. Wie konnte sie auch so ungeschickt sein und diesem Mops sagen, daß sie mit dem Tip zu ihm gekommen war! Wenn die Detektive jetzt nicht auf seiner Spur saßen, dann war ihnen nicht zu helfen. Gut nur, daß Gladys ihm Bescheid gesagt hatte. Früh neun Uhr, das wußte er, stach in Portland das Postschiff nach Cherbourg in See. Morgen mittag konnte er im Flugzeug sitzen und dahin fliegen, wo kein „Bobby“ ihm mehr gefährlich werden konnte. Daß alles so kommen mußte! Er hatte doch alles getan, was man tun konnte – hatte sogar das Kabel zerstören lassen, um die Polizei an der Nase herumzuführen. Welcher vernünftige Mensch konnte auf den Gedanken kommen, ein Buchmacher ließe eine Leitung unterbrechen, wenn er damit die Sperrung seiner eigenen Gewinne bewirkte? Charles hatte gedacht, ganz sicher zu gehen – „ich werde mich doch nicht selbst schädigen!“ – , aber er hatte nicht damit gerechnet, daß der Vertrauensmann von Scratch so hoch wetten würde, daß der Verdacht entstehen mußte, er, Charles, habe durch das Zerschneiden des Kabels die Bekanntgabe auswärtiger Abschlüsse hintertreiben wollen, damit in Bath hohe Quoten zur Auszahlung gelangten. Auch Inspektor Higgins mußte sich das denken, obwohl er annehmen konnte, ein so geriebener Renngewinner müßte mit dem Radio und dem Telegraphen rechnen. Die Höhe der Londoner Einsätze zerriß das so schön gesponnene Netz. Jetzt half nur noch eins – türmen. Vielleicht würde sich Higgins bei der Suche nach den Kabel-
fritzen aufhalten. Vielleicht auch nicht. Gleichgültig. Charles war entschlossen, seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Vollgas! Die Bäume rechts und links verdichteten sich zu einem Zaun. Und Gomer Charles tastete wieder nach dem Revolver. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er Gladys mitnehmen sollte. Er hatte einen Spaß an ihr gehabt, gewiß, und sie konnte leidenschaftlich und wild sein, aber – sie würde ihm im Wege stehen. Weiter! Ralph schob die Bettdecke zurück und starrte zur Decke hinauf. Sie verlor sich über ihm im Dunkel. Er konnte keinen Schlaf finden. „Denk doch einmal an uns!“ hatte Jane gesagt. Er sah ihre ängstlichen Augen und fühlte ihre warme, lebendige Nähe. Vielleicht hatte er sich ihre Gunst für immer verscherzt, vielleicht konnte sie ihm nicht verzeihen, daß er getan hatte, was seine Pflicht war. Ralph hatte – kaum aus Bath zurückgekehrt – die Polizei angerufen und ihr berichtet, was er über Charles’ Beteiligung an den Francasal-Wetten wußte. Ralph starrte ins Dunkel. Da hatten Menschen – einfache Menschen – , für die ein Einsatz ein Wagnis war, gewettet, und nun wurden sie geprellt, damit ein Gomer Charles ihr Geld verprassen konnte. Jane mußte einsehen, daß er, Ralph, sich schuldig an jenen machte, wenn er schwieg; Würde sie das verstehen, oder...? Der Morgen kroch grau und verregnet über die Dächer. Margret und MacCogan schritten mit hochgeschlagenen Mantelkragen fröstelnd durch regennasse Straßen. Margret war schlecht gelaunt.
„Kein Photographierwetter!“ kommentierte sie ihre Stimmung. „Alles grau in grau, Nur gut, daß ich Blitzlicht mitgenommen habe.“ Sie standen vor dem Buchmacherbüro von Gomer Charles, sahen, wie sich die Rolläden vor dem großen Fenster in die Höhe schoben, wie die Angestellten kamen und dann die ersten Kunden. Schließlich betraten sie selbst das Büro. Hardy MacCosan spitzte die Lippen, als er Ralph sah. Beide hatten während des Rennens dicht beieinander gestanden. Hardy hatte ein ausgezeichnetes Personengedächtnis, im Gegensatz zu Ralph, der dem Besucher höflich Auskunft über den Verlauf des gestrigen Rennens gab. Der Reporter dankte freundlich. „Ist es erlaubt, hier einen Augenblick Platz zu nehmen? Es regnet immer stärker“, bat er. Er setzte sich mit Margret an einen kleinen Tisch und war bald – so schien es – ausschließlich mit der Lektüre der „Bath Daily News“ beschäftigt. Wieder schlug die Ladentür. Drei Jungen mit kurzgeschorenen Haaren, in durchregneten Texashemden, die mit Brotbäumen und spielenden Affen bedruckt waren, traten ein. Ralph sah die drei erstaunt an und wurde blaß. „Möchte den Chef sprechen!“ schnarrte einer. Ralph ging nach hinten und kam Minuten später erregt zurück. „Mister Charles ist nicht da“, erklärte er. Im Laden hoben sie erstaunt die Köpfe – Margret, Hardy, die drei Halbstarken und der Detektivsergeant aus London, der ebenfalls als „Kunde“ anwesend war. „Verreist? Bei dem verdammten Wetter?“ spottete Hardy. „Der Feiertagsregen lockt doch keinen Hund auf die
Straße.“ Es war auf einmal totenstill. Ein gefährliches Knistern lag in der Luft. Der Sergeant riß nervös an seinem Ohrläppchen. Er wußte nicht, wie er reagieren sollte. „Machen Sie mal keinen faulen Zauber!“ brach der Hagere die Stille. „Wir sind bestellt, es ist wichtig, zum Teufel. Ich lasse mich nicht an der Nase herumführen.“ Ralph wurde blaß und starrte den Hageren gebannt an. Plötzlich erinnerte er sich der Reparaturkolonne auf der Landstraße. „Haben Sie noch keinen Menschen gesehen?“ knurrte der Hagere unbehaglich. „Los, melden Sie mich!“ Auf Ralphs Stirn trat Schweiß. Charles war also weg, irgendwohin, wo ihn niemand kannte. Auf einmal wußte Ralph, daß er diesen Mann haßte, der mit der Sportbegeisterung der Menschen skrupellos sein Spiel trieb. Da kam Jane – mitten in der Bürozeit; blaß und übernächtigt sah sie aus. Merkwürdigerweise empfand sie die Spannung im Geschäft nicht. Ralph wandte sich brüsk um und trat zu ihr. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und den Kopf an seine Brust. „Es geht nicht, Ralph, es geht nicht“, murmelte sie. „Ich komme mir so schlecht vor, so schlecht. Ich bin schuld daran, wenn du niemanden mehr ansehen kannst. Ich konnte nicht schlafen. Ralph, ich glaube, wir müssen die Wahrheit sagen und ehrlich sein, es wird uns nicht gut gehen dabei, aber kommt es darauf an?“ Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. „Eines Tages wird es so sein, daß wir stolz darauf sind. Sag die Wahrheit, Ralph!“ „Hollywoodsuppe und Glyzerintränen“, grinste der Hagere. „Da soll man nicht stören, Kommt, Boys!“ Die drei wandten sich zur Tür. Ralph schnellte vor und
stand mit ausgebreiteten Armen vor dem Eingang. „Halt! Erst erzählt ihr, was am Sonntag in dem Graben los war, in dem ihr Mittagsruhe gehalten habt. War ein schönes Kabel, das euch unter die Finger kam, ja?“ Der Hagere wurde blaß und kaute an seiner Unterlippe. Dann griff er nach einem Stuhl, hob ihn mit jähem Ruck, um ihn auf Ralphs Schädel niedersausen zu lassen. Aber da knallte die Faust des ehemaligen Korporals in die Magengrube des Jungen. „So schnell nicht!“ brüllte Ralph und schleuderte den zweiten, der ihn anfiel, zu Boden. Ein paar Frauen schrien auf, der Sergeant hatte plötzlich den Dienstrevolver in der Faust und schlug mit dem Griff den dritten Angreifer nieder. Der Reporter wälzte sich mit dem Hageren, der wieder zu sich kam, am Boden. Margret stand auf dem Tisch und photographierte geistesgegenwärtig. Stühle wurden umgerissen, eine Kundin fiel in Ohnmacht, Blut lief über Ralphs Gesicht, Margret schrie aufgeregt ins Telephon. Und dann plötzlich Stille, tiefe Stille. Das Überfallkommando war da – Kerle von Schrankbreite, Sturmriemen unterm Kinn, Gummiknüppel in den Fäusten. Der Sergeant wies sich aus, Handschellen klirrten. Schweratmend gab Ralph zu Protokoll, wie er die drei wiedererkannt hatte. Der Sergeant verlor keine Zeit. Begleitet von Hardy, der seine große Stunde gekommen sah, suchte er Mrs. Charles auf, und als der Detektiv sie energisch aufforderte, ihm das Versteck ihres Mannes zu nennen, sank sie zusammen, als habe man ihr eine unsichtbare Stütze weggenommen. „Er sprach von Liverpool“, sagte sie müde. „Glauben Sie, daß er außer Landes geht?“
Der Sergeant lachte grimmig. „Er will außer Landes! Will!“ Dann machte er auf dem Absatz kehrt. Die Frau sah ihm lange nach. In dem verwüsteten Laden standen nur noch Jane und Ralph. Sie wischte ihm das Blut von der Stirn, und er ließ sie nicht aus seinen Armen. „Ich danke dir“, sagte er leise. „Ich danke dir sehr. Ich wußte. daß auch du die Wahrheit sagen müßtest. Wir haben nur diese Waffe, und wir werden es schaffen, ohne zu lügen. Wir werden glücklich sein, weil wir das Richtige getan haben. Oder…?“ Sie lächelte und schmiegte sich wieder an ihn. Ralph hob plötzlich den Kopf. Die Tür zum Nebenzimmer stand offen, und soeben hatte Mrs. Charles den Telephonhörer abgenommen und das Fernamt verlangt. „Geben Sie mir Portland 5344“, sagte sie leise und schnell, „Portland 5344.“ In diesem Augenblick wußte Ralph, daß Charles nie und nimmer nach Liverpool gefahren war, wußte er, daß die Frau, die trotz allem an Charles hing, ihn warnen wollte. Ralph riß sie zurück und drückte die Gabel nieder. „Portland 5344“, wiederholte er. Der Besitzer dieses Anschlusses würde leicht zu ermitteln sein. Und dann war Charles in seiner Hand. „Ruf die Polizei an!“ rief er Jane zu. „Ich fahre nach Portland!“ Der Funkwagen gab her, was er hergeben konnte. Der Fahrer sah starr auf die Straße, die wie ein silberner Blitz unter die Motorhaube schoß. Inspektor Higgins raste nach Liverpool und hatte eben dem Sergeanten erklärt, daß er dazu verdammt zu sein scheine, sämtliche langweiligen Nester des Vereinigten Königreichs kennenzu-
lernen. In regelmäßigen Intervallen gab der Polizeifunk das Signalement des flüchtigen Gomer Charles. Der jüngste Polizist des entlegensten Reviers kannte den Steckbrief des Buchmachers. In Liverpool hatten die Beamten festgestellt, daß Charles sich bisher nirgends eingeschifft hatte. Der Inspektor sah geruhsam auf seinen Bauch und auf die Asche seiner Zigarre und wirkte mehr denn je wie der hauptamtliche Vorsitzende eines Kaninchenzüchtervereins, der eben einen guten Zuchtback erworben hat. „Achtung! Inspektor Higgins! Achtung! Inspektor Higgins!“ Im Funkwagen horchten sie auf. „Es wurde festgestellt, daß Mr. Reginald O’Brien seit acht Monaten Inhaber des Buchmacherbüros Craig Ltd. London, ist. Alle abgeschlossenen Wetten, bis auf die in Cardiff und Bath, waren von ihm inszeniert. O’Brien hat ein umfassendes Geständnis abgelegt. Die Fahndung nach Gomer Charles ist verstärkt fortzusetzen. Laut Befehl von Colonel Hampson wurde Inspektor Higgins Vollmacht zur umfassenden Verfolgung erteilt. – Ich wiederhole: Scotland Yard ruft SY 84. Achtung! Inspektor Higgins! Achtung! Inspektor Higgins!...“ Gomer Charles stand am Fenster. Er rauchte ununterbrochen und fand keine Ruhe. Das Schiff hatte er nicht erreicht – unterwegs war ihm das Benzin ausgegangen, und er hatte mit einem Kanister zum nächsten Ort laufen müssen, um den Tank aufzufüllen. Gefährlich und widerlich, dieser Zeitverlust. Gomer Charles dachte an seine Frau. Sie würde keinem Verhör standhalten. Er biß die Zähne aufeinander. Keiner würde sich die Mühe machen, für ihn eine Gefahr auf sich zu nehmen. Er hatte keinen
Freund, niemanden. Ob Gladys…? Für sie war er nur interessant, solange er zahlen konnte. Was ging er sie noch an? Nichts! Und dieser Gauner, bei dem er sich verborgen hatte? Er würde sich sein Schweigen bezahlen lassen und im übrigen die Achseln zucken. Dem Buchmacher trat der Schweiß auf die Stirn. Er kam sich sehr allein und sehr bedauernswert vor. Charles legte den Revolver auf den Tisch. Die Geste beruhigte ihn. Auf einmal schien es ihm besser, bis zum nächsten Morgen planlos durch die Straßen zu gehen, als In dieser Falle sitzenzubleiben. Er fühlte sich beengt und hatte Angst vor den Wänden, die ihn anzuglotzen schienen. Aber er wagte doch nicht, das Zimmer zu verlassen. Monoton trommelte der Regen auf das Verdeck des Funkwagens. Gleichmäßig arbeiteten die Scheibenwischer und schafften ausreichende Sicht, Grau und verregnet war die Straße. Endlos schien sie sich hinzuziehen. Wieder die Stimme im Lautsprecher: „Achtung, Inspektor Higgins! Achtung, Inspektor Higgins! Es Ist anzunehmen, daß der flüchtige Gomer Charles sich nach Portland gewandt hat und sich bei Mr. Jack Burns, 163 FleetStreet, aufhält. Ein Angestellter des Buchmachers war Zeuge eines Telephongesprächs, das…“ Der dicke Higgins wurde munter. „Anhalten!“ stieß er hervor, „Sofort zurück! Tempo, ehe der Kerl uns entwischt.“ Der Wagen bremste, schleuderte und stand, wendete langsam und fuhr wieder an. Dem Inspektor schmeckte die Zigarre nicht mehr. Higgins hatte Angst, zu spät zu kommen. Sehr gute Freunde mußten die beiden Matrosen sein, die
sich in der lichtarmen, verbauten Straße nahe dem Hafen getroffen hatten. Obwohl der Regen schon seit Stunden als dichter Schleier auf das holprige Pflaster klatschte, standen sie in einem Hauseingang, erzählten einander Witze, rauchten Zigaretten und blinzelten einem dicken Mann im Regenmantel zu, der hin und wieder vorüberkam und sie um Feuer für seine Pfeife bat. Der Mann rauchte gar nicht, aber die Matrosen waren sicher, daß man das von dem Fenster aus, dem ihre Aufmerksamkeit galt, nicht erkennen konnte. Dieses Fenster lag im ersten Stock über einem Laden, an dem zu lesen war, daß hier preiswert ausgediente Seesäcke, Wetterzeug und Andenken aus aller Welt zu haben seien. Die beiden Matrosen hatten dafür ebensowenig Interesse wie der dicke Mann im Wettermantel. Alle drei waren Angehörige der örtlichen Polizei. Sie waren übrigens nicht die einzigen, die dem Haus ihre Aufmerksamkeit widmeten. In der hinteren Toreinfahrt hatten zwei Männer, die man für Hafenarbeiter halten konnte, Schutz vor dem Regen gesucht und flirteten mit einem Mädchen, zu dessen dienstlichen Obliegenheiten dieser „Flirt“ gehörte. Die Detektive wechselten einen raschen Blick, als Ralph den Laden betrat. Der Befehl ging jedoch nur dahin, Charles beim Verlassen des Hauses festzunehmen und im übrigen auf Higgins zu warten. Also ließen sie Ralph passieren. Aus dem Halbdunkel des Ladens trat ein untersetzter Mann auf den Besucher zu, „Was sollte sein?“ Ralph beugte eich vertraulich über den Tisch. „Ich muß Gomer dringend sprechen. Ich weiß, daß er hier ist. Es
handelt sich um ein Geschäft.“ Der Mann sah ihn mißtrauisch an. Aber das Wort „Geschäft“ besiegte seine Bedenken. „Eine Treppe, gleich rechts.“ Die schmale Stiege war dunkel und knarrte bei jedem Schritt. Ralph hielt den Atem an. Unbehagen stieg in ihm auf. Aber es gab kein Zurück mehr, konnte es nicht mehr geben. Und dann überwog auch die Freude, im Namen all tier Geprellten und Betrogenen vor Charles hintreten zu können und Ihm zu sagen, daß sein Spiel nun aus sei, daß man nicht ungestraft mit ehrlicher Begeisterung spielen und sie ausnutzen kann. Der Buchmacher starrte hinaus. Die Wohnungstür wurde geöffnet. Sicher war sein Wirt aus dem Laden heraufgekommen. Sonst hatte niemand den Schlüssel. Charles fühlte eine dumpfe Wut. Wollte der Kerl zu ihm – ihm wieder Geld abnehmen? Gomer Charles wußte nicht, was er denken sollte, als Ralph eintrat und sich mit verblüffender Schnelligkeit zwischen den Tisch mit dem Revolver und den Buchmacher schob. „Guten Tag“, sagte Ralph. „Was wollen Sie?“ brachte Charles heiser hervor. Er hatte auf einmal Angst, namenlose, jammernde Angst. „Geben Sie zu“, sagte Ralph hart, „daß Sie den Schwindel um Francasal für sich ausnutzen wollten und die Telephonverbindung nach Bath zerstören ließen, um den Verdacht auf irgendwelche Leute zu lenken, die Ihnen kein Geschäft gönnen? Geben Sie es ruhig zu, die Polizei weiß es ohnehin. Sie hat auch die drei Jungen festgenommen, die das Kabel zerschnitten. Sie, Mr. Charles, vergaßen nämlich, daß ich zum Rennen fuhr und dabei
am Ort der ,technischen Störung’ vorüberkam. Und ich kenne Ihre Kundschaft.“ Charles dachte an seinen Revolver. Aber vor dem stand Ralph. Aus. Ganz aus also. Oder doch nicht? Der da stand, war arm. Vielleicht, daß er mit Geld…? Und der Buchmacher versuchte es. Er bat und beschwor, bettelte und flehte, er fluchte und weinte in einem Atemzug. Ralph sah ihn schweigend an. Ihn ekelte vor diesem Mann, der betrogen hatte und nun, wo der Schlußstrich gezogen wurde, seine ganze Hohlheit und Erbärmlichkeit offenbarte. „Lassen Sie mich doch gehen. Lassen Sie mich hier raus“, versuchte es Charles noch einmal. „Ich werde Ihnen das nie vergessen. Noch ist ja Zeit, noch ...“ Er verstummte. Und für solche hat man im Dreck gelegen, dachte Ralph, Für solche haben wir die Köpfe hingehalten! „Halten Sie den Mund!“ fuhr er auf. „Sie werden hier herauskommen – aber nicht allein, das verspreche ich Ihnen! Solange ich hier stehe.“ Jäh wurde die Tür aufgerissen. Waffen blitzten. Die beiden Matrosen, der Mann im Regenmantel, die Hafenarbeiter traten ein, an ihrer Spitze schwitzend Inspektor Higgins und der Sergeant. Gomer Charles hob die Hände. Higgins sprach die Verhaftungsformel. Dann drückte er Ralph die Hand. Verwundert sahen die Detektive zu.
Begegnungen mit massigen Sauriern, fliegenden Raubechsen, mit Menschen der Vorzeit. Atemraubende Kämpfe mit menschengroßen Ameisen und urzeitlichen Meeresungeheuern. Wer Mut hat, ist willkommen. Hasenfüße bleiben besser zu Hause. Von W. A. Obrutschew Aus dem Russischen Illustriert etwa 352 Seiten Halbleinen 5,40 DM