Jan J.Moreno
Zwischen den Fronten Drückende Mittagshitze lastete auf dem Land. Atkinson Grey wischte sich mit dem Ärme...
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Jan J.Moreno
Zwischen den Fronten Drückende Mittagshitze lastete auf dem Land. Atkinson Grey wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und fluchte leise. Die Muskete hielt er mit glimmender Lunte schußbereit, obwohl sich seit Stunden keine Rothaut mehr hatte blicken lassen. „Es ist verrückt, in der Hitze zu marschieren", maulte Randolf Gordon. „Was haben wir bloß davon?" „Gold", erwiderte Grey grinsend. „Über kurz oder lang werden wir Reichtümer besitzen, um die uns alle Welt ..." Er brach ab. Hinter einer Gruppe von Büschen, keine zwanzig Yards entfernt, war ein deutliches Rascheln erklungen. Grey feuerte, als er eine schemenhafte Bewegung sab. Ein schwerer Körper fiel. Trotz seiner Fülle war Frank Rosebery als erster bei den Büschen. Er ließ den zum Schlag erhobenen Cutlass sinken und begann heiser zu lachen. „Ein Indianer ist das nicht", stieß er hervor. Mit einem blitzsauberen Blattschuß hatte Atkinson Grey ein Reh erlegt . . .
Die Hauptpersonen des Romans: Goldene Wolke - die junge Squaw steht zwischen den Fronten, denn sie ist eine Weiße. Springender Hirsch - der Häuptling hält die Puppe von Goldene Wolke für böse Medizin und will die Stoffgestalt zerstören. Atkinson Grey- auf seinem letzten Gang zum Galgen ist er betrunken. Jameson Kidd - stirbt an einem indianischen Steinbeil, das ihm den Tod am Galgen erspart. Batuti - der Gambiamann muß sich von seinen Gefährten allerlei anhören, weil er sich für eine Indianerin interessiert. Philip Hasard Killigrew - beruft ein Bordgericht ein, das sechs Todesurteile ausspricht.
1. Die Schebecke der Seewölfe lief trotz des auffrischenden Seewinds dicht unter. Land. Um in Sichtweite der ebenfalls auf Nordkurs liegenden schwerfälligen Galeone zu bleiben, hatte Hasard das Großsegel verkürzen lassen. „Davenport und seine Spießgesellen werden nicht so verrückt sein, ausgerechnet an der Küste entlangzumarschieren", sagte Old Donegal Daniel O'Flynn. „Die Galgenvögel sind längst über alle Berge." Hasard ließ das Spektiv sinken und wandte sich seinem Schwiegervater zu, der mit seiner Beinprothese beschwörend dreimal auf die Decksplanken klopfte. „Ich habe das Gefühl, daß wir mit den Marodeuren noch einigen Ärger kriegen", sagte der Seewolf. „Die Halunken bringen kaum den Mut auf, sich noch mal im Albemarlesund blicken zu lassen. Sie wissen, was sie erwartet." „Trotzdem." Hasard tippte Old O'Flynn mit dem Spektiv an die Brust. „Wenn sie Virginia jemals wieder verlassen wollen, brauchen sie ein Schiff." „Und die liegen eben nicht in jeder
Bucht vor Anker", ergänzte der Profos, der den letzten Teil der Unterhaltung mitgehört hatte. Herausfordernd grinste er den alten Zausel an. Prompt brauste Old Donegal auf. „Du Großmaul brauchst mich nicht über Logik aufzuklären. Ich konnte nämlich schon denken, als ein gewisser Edwin Carberry noch die Windeln näßte." Der Profos war keineswegs sprachlos. Die Daumen hinter dem breiten Ledergürtel eingehakt, schob er den Bauch und das gewaltige Rammkinn vor und begann dröhnend zu lachen. Einige Arwenacks, die vor dem Backbordniedergang Taue spleißten, blickten überrascht auf. Old Donegal wirkte verwirrt. Einen derartigen Heiterkeitsausbruch hatte er nicht erwartet, eher einige der „liebevollen" Ausdrücke, die der Profos für gewöhnlich benutzte. „Dann kann das mit deinem Denken noch nicht sehr lange her sein", prustete der Profos. Um sein Grinsen zu verbergen, wandte sich Hasard erneut dem Land zu und setzte den Kieker ans Auge. Die Gegend war leicht hügelig, überwiegend von Sträuchern und hohem Gras bestanden. Nur vereinzelt ragten Bäume auf, und erst in einigen
5 Meilen Entfernung zeigten sich kleinere Waldstrecken. Nirgendwo kräuselte Rauch auf, der ein Lagerfeuer oder eine Indianersiedlung verraten hätte. Mit halbem Ohr verfolgte Hasard das anhaltende Streitgespräch zwischen Old O'Flynn und dem Profos. Die beiden Dickschädel titulierten sich gegenseitig mit Ausdrücken, die einem unbedarften Zuhörer die Röte ins Gesicht getrieben hätte. Aber das war nicht ernstzunehmen. „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich", murmelte der Seewolf gerade so laut, daß Old Donegal und Carberry ihn hören konnten. „Was liegt an, Sir?" fragte der Profos. Old O'Flynn bohrte demonstrativ mit dem kleinen Finger im Ohr. „Alle Klüsen und Schotten dicht", erklärte er. Philip Hasard Killigrew deutete nach Backbord voraus. Rund eine Kabellänge vom Ufer entfernt zeichnete sich leichte Gischt ab. Unter der Wasseroberfläche ragten Klippen auf. Vermutlich handelte es sich um Ausläufer der weiter nördlich vorspringenden felsigen Landzunge. „Ruder zwei Strich Steuerbord!" befahl Hasard. „Aye, aye, Sir!" bestätigte Pete Ballie an der Pinne. Die Schebecke, bisher unter raumen Wind über Backbordbug segelnd, richtete sich etwas auf. Augenblicke später waren die Segel neu getrimmt. Der achterlich an Steuerbord folgenden Galeone konnte die Untiefe nicht gefährlich werden. Old Donegal und Edwin Carberry hatten sich immer noch in der Wolle. „Deine Windeln müssen die Ausmaße einer Fock gehabt haben", sagte Old O'Flynn gerade, als der Schuß fiel. „Ruhe!" sagte Hasard scharf. Obwohl so gut wie keine Brandung
auflief, war das dumpfe Krachen kaum wahrzunehmen gewesen. Außer dem Seewolf hatte niemand etwas gehört, und auch er lauschte vergeblich, ob vielleicht ein zweiter Schuß fiel. „Das sind die Nerven", erklärte Old Donegal. „Manchmal hört man Dinge, die gar nicht zu hören sind." „Du kennst dich da aus", spottete Carberry. An Hasard gewandt, fuhr er fort: „Wenn in dieser gottverlassenen Gegend jemand mit einer Feuerwaffe rumtörnt, dann wohl nur Davenport und seine Kumpane. Von den Siedlern ist es bestimmt keiner." Aufmerksam spähte der Seewolf durchs Spektiv, doch war herzlich wenig zu sehen. Landeinwärts flatterten lediglich einige Vögel aufgeschreckt durcheinander. „Kaufen wir uns die Burschen?" fragte Carberry. Eine bessere Gelegenheit würde sich kaum bieten. Niemand konnte sagen, zu welchen Schandtaten die Schnapphähne noch fähig waren, solange sie frei herumliefen. Es hatte schon genug Tote gegeben. Hasard gab Befehl, in den Wind zu gehen. Carberry signalisierte inzwischen der Galeone, beizudrehen. Kurz darauf fiel auf der Schebecke der Anker und die Segel wurden geborgen. Die Mannschaft versammelte sich an Deck. Auch die Mannen der Freiwache enterten zur Kuhl auf. „Ich brauche fünf Kerls", erklärte der Seewolf. „Geht es endlich gegen die Rabauken?" fragte Big Old Shane. Keiner der Crew wollte zurückstekken. Hasard wählte die Mannen aus, die mit ihm an Land pullen sollten. Das waren die Zwillinge, Ferris Tukker, Shane und Batuti, der Gambiamann.
6 „Anna..." Goldene Wolke lauschte dem Klang des gemurmelten Namens, der stets eine seltsame Erregung hervorrief. Mit zitternden Händen wickelte sie das gerade zwei Handspannen messende Fellbündel auf. Ein seltsames Totem erschien - das Abbild eines Menschen. Der Kopf, gerade halb so groß wie eine Faust, von grobem Stoff überzogen, hatte längst seine Form verloren. Die aufgenähten Augen standen schief im Gesicht, die Nase wirkte breitgedrückt, und der Mund war von einer Traurigkeit, die einen selbst traurig stimmte. Goldene Wolke wartete auf den stechenden Schmerz in ihrer Brust, der sich immer dann einstellte, wenn sie das Totem an sich drückte. Sie wußte, daß sie sich selbst damit quälte, doch Anna war das einzige in ihrem Leben, was ihr wirklich etwas bedeutete. „Pup-pe", flüsterte sie stockend. „Du bist meine Puppe Anna. Ich mag dich." Kein Algonkindialekt kannte diese Worte. Manchmal erschrak Goldene Wolke über sich selbst - auch über die Träume, die ihr oft schlaflose Nächte bereiteten. Springender Hirsch hatte vor wenigen Monden behauptet, sie sei von einem unseligen Geist besessen. Er hatte sie gezwungen, Anna dem reinigenden Feuer zu übergeben, aber die Flammen hatten lediglich eine plumpe Nachbildung aus Maiskolben und Bastfasern verzehrt. Goldene Wolke wollte lieber sterben, als ihre Puppe zu opfern. Sanft fuhr sie mit der Rechten durch Annas Haar. Vor vielen Wintern war es noch hell gewesen, inzwischen wirkte es dreckig und begann auszufallen. Auch an dem Kleid der Puppe war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Die Nähte platzten auf, und der Stoff wurde brüchig. Die Falten des unteren Saumes hingen längst lose
herab. Goldene Wolke hatte selbst einmal ein solches Kleid getragen. Das wußte sie aus ihren Träumen. Jäh drückte sie Anna, die nach dem Fell und nach Erde roch, an ihr Gesicht. Das Innere des Langhauses verschwamm vor ihren Augen. Sie sah die Vision eines Hauses aus rotem Stein, mit vielen Fenstern darin, und einer langen Treppe, die hinaufführte. Ihre Schritte knirschten auf dem Kiesweg. Sie begann zu laufen, vorbei an blühenden Obstbäumen, duftenden Blumen und steinernen Figuren, die den Weg säumten. Sie hörte Kinderstimmen, aber sie achtete nicht darauf. Denn da war die Furcht, das Haus nie zu erreichen. Die Stimmen wurden lauter. „Mary!" riefen sie. Doch dann drang ein anderer Klang an ihr Ohr, herrisch, wütend und verächtlich: „Goldene Wolke! Was tust du da?" Für die Squaw brach eine Welt zusammen. Springender Hirsch hatte zusammen mit anderen Kriegern das Langhaus betreten. Fordernd streckte er seine Hand aus. Stumm schüttelte Goldene Wolke den Kopf und verbarg die Puppe unter ihrem Hemd. Ihre Miene wurde trotzig, als sie den Mann anblickte, mit dem sie seit drei Wintern das Lager teilte. „Der böse Geist ist noch immer in dir", sagte Springender Hirsch. „Gib mir das Totem!" „Nein! Anna gehört mir, sie . . . " Die Squaw verstummte, weil der Krieger auf sie zutrat. Seine grimmige Entschlossenheit versetzte sie in Panik. Blitzschnell bückte sie sich nach einer Streitaxt und wirbelte die Waffe mit der geschliffenen Steinklinge hoch. „Rühr mich nicht an!" schrie sie. Im nächsten Moment warf sie sich herum und hetzte blindlings davon,
7 ohne sich nur einmal umzuwenden. Kein Pfeil traf sie in den Rücken, niemand verfolgte sie. Trotzdem wurde Goldene Wolke erst langsamer, als sie schon weit vom Dorf entfernt war. In der Linken hielt sie das Steinbeil, mit der Rechten umklammerte sie die Puppe. „Du hilfst mir, Anna", stieß sie hoffnungsvoll hervor. „Du führst mich zu dem Steinhaus, in dem ich aufgewachsen bin. Viel zu lange habe ich darauf gewartet." Noch war alles einfach. Aber bald würden die Krieger ihre Spur aufnehmen. Goldene Wolke wußte, daß Springender Hirsch sie nur deshalb nicht zurückgehalten hatte, weil er sie für besessen hielt. Inzwischen war das Tamtam des Schamamen wohl schon im Gange. Springender Hirsch würde den göttlichen Zwillingen Teharonhiawagon und Tawiskaron ein Opfer bringen und von ihnen seine Squaw zurückfordern. Goldene Wolke lief nach Süden. Wo immer es möglich war, bemühte sie sich, ihre Fährte zu verwischen. Als sie einen kleinen Fluß erreichte, ließ sie sich von der Strömung treiben. Die Krieger würden zunächst vergeblich beide Ufer absuchen und dabei weitere Zeit verlieren. Am Rand eines Wäldchens und bevor die klamme Kälte ihre Glieder lähmte, verließ die Squaw das Wasser wieder. Sie fühlte sich schwach und hungrig, doch sie mußte in Bewegung bleiben. Die mittlerweile im Zenit stehende Sonne half, die Nässe schnell zu vertreiben. Wenig später sah Goldene Wolke die Fremden. Sie waren keine Algonkin. Ihre Kleidung wirkte fremdartig, zugleich aber auch seltsam vertraut. Die acht Männer bewegten sich so vorsichtig, wie es in unbekanntem Gelände angebracht war. Einer von ihnen hatte den Schädel kahlgeschoren, einige andere trugen die Haare
sogar im Gesicht. Die Squaw konnte sich nicht entsinnen, jemals einen Tuscarora so gesehen zu haben. Lediglich aus ihren Träumen kannte sie diesen Anblick. Während sie noch zögerte, wurde sie von den Männern entdeckt. Flüchtig spielte Goldene Wolke mit dem Gedanken, erneut davonzulaufen, aber dann siegte ihre Neugier. Vielleicht waren die Fremden erschienen, um sie heimzuholen. Einige von ihnen hatten eine hellere Haut als die Algonkin. Sie selbst übrigens auch. Das war ihr in der Vergangenheit mehrfach schmerzhaft klargeworden. Goldene Wolke reagierte keineswegs überrascht, als sie feststellte, daß sie die Sprache der Männer verstand. „He!" rief ein hochgewachsener, muskulöser Kerl, der einen glänzenden Stock auf sie richtete. „Bist du allein?" Sein Blick tastete sie ab. Die anderen starrten sie ebenfalls unverhohlen an. Goldene Wolke glaubte, mühsam verhaltene Gier in ihren Augen zu erkennen. Sie antwortete im Dialekt der Tuscarora. „Sieht so aus, als wäre tatsächlich keine andere Rothaut hier." Der Mann begann erwartungsvoll zu grinsen. „Hast du Gold?" „Ich - bin - allein", sagte die Squaw schwerfällig. Sie mußte sich über die Bedeutung der Worte erst klarwerden. Danach war der Bann jedoch gebrochen. „Du sprichst Englisch? Das erleichtert uns die Sache." Sie spürte, daß diese Männer mehr über ihre Herkunft sagen konnten als irgend jemand sonst. Deshalb ließ sie es geschehen, daß der muskulöse Kerl mit dem braunen Haar auf der Oberlippe sie anfaßte. Seine Hand strich über ihre Wange, umfaßte ihr Kinn, glitt zögernd tiefer.
8 „Wie heißt du?" „Goldene Wolke." Ein zufriedenes Nicken folgte ihrer Antwort. „Das ist ein bedeutungsvoller Name, findest du nicht?" Die Männer lachten. Goldene Wolke verstand allerdings nicht, warum. „Du darfst mich Atkinson nennen. Wir beide werden viel Spaß miteinander haben." „Spaß?" „Sag bloß, du weißt nicht, was das ist?" Atkinson Grey prustete lauthals heraus. Ebenso abrupt verstummte er wieder, reichte den glänzenden Stock einem seiner Gefährten und packte mit beiden Händen zu. Das Oberhemd der Squaw, aus weichem Hirschleder genäht, riß auf. Anna fiel zu Boden, doch der Mann beachtete die Puppe überhaupt nicht. Aus weit aufgerissenen Augen stierte er auf den nackten Hals der Frau. „Wo ist dein Schmuck?" herrschte er sie an. Goldene Wolke verstand nicht. „Schmuck?" wiederholte sie zögernd. „Gold", stieß Grey hervor. „Oder auch Edelsteine. Rück das Zeug endlich raus!" „Vielleicht ist es in der Puppe", sagte Jamesin Kidd. „Was für eine Puppe?" Kidd deutete vor die Füße der Squaw. Schlagartig hellte sich Greys Miene auf, als er die kleine Stoffgestalt entdeckte. „Auf was wartest du, Jameson? Heb sie auf!" „Nicht!" schrie Goldene Wolke, die instinktiv begriff. „Lassen Sie meine Anna in Ruhe!" „Quatsch nicht!" Jameson Kidd, der alles tun würde, was Grey verlangte, versetzte der Squaw einen heftigen Stoß. Sie taumelte zwar, warf sich aber im nächsten Moment mit einem gellenden Kampfgeschrei nach vorn. Das Steinbeil zuckte hoch. Kidd
wurde von dem Angriff völlig überrascht, er konnte gerade noch die Arme hochreißen und den sonst wohl tödlichen Hieb ablenken. Ein stechender Schmerz raste durch seine linke Seite. Sekundenlang wurde ihm schwarz vor Augen. Er stürzte auf den Rücken und versuchte vergeblich, sich zur Seite zu wälzen. Die Squaw kniete plötzlich auf seinem Brustkorb und holte erneut mit dem Beil aus. In dem Moment packten Rosebery und Taffe zu, zerrten Goldene Wolke rücklings zu Boden und entwanden ihr die Waffe. Obwohl sie sich mit der Zähigkeit einer Wildkatze zur Wehr setzte, hatte sie gegen die beiden Männer keine Chance. Frank Rosebery fiel über die Frau her, als hätte er seit Monaten kein weibliches Wesen gesehen. Angespornt vom Gelächter seiner Kumpane versuchte er, die Squaw zu küssen. Erst wich sie ihm mit ruckartigen Bewegungen aus, dann biß sie ihn in die Lippe. Rosebery brüllte auf wie ein weidwunder Stier. Bevor er sich besann, rammte ihm Goldene Wolke ein Knie in den Unterleib. Frank ließ nur mehr ein ersticktes Gurgeln vernehmen, seine gesunde Gesichtsfarbe wich einer wächsernen Blässe. „Schnappt euch die Hure!" schrie Grey. „Na los, auf sie!"
Die Schebecke ankerte drei Kabellängen vor der Küste. Felsiger Boden und glattgeschliffene Steine bestimmten den Strandabschnitt, auf dem die Jolle landete. Unmengen von Seeigeln waren in dem glasklaren Wasser zu erkennen. Hasard junior belegte die Jolle an einem größeren Findling. Selbst bei Flut würde das Boot nicht abtreiben. „Haltet die Augen offen!" mahnte der Seewolf. „Möglicherweise haben
9 auch Indianer den Schuß gehört. Sie werden kaum einen Unterschied zwischen uns und den Marodeuren sehen." „Hoffentlich nehmen wir den Rothäuten nicht die Arbeit ab", sagte Ferris Tucker, der Schiffszimmermann. „Ich meine, sie hätten dann allen Grund, auf uns sauer zu sein." Vom Strand aus stieg das Gelände sanft an. Die anfangs spärliche Vegetation wurde rasch üppiger, Buschwerk und windzerzaustes hohes Gras waren bezeichnend für diesen Küstenabschnitt. Als sich Hasard nach einer Weile umwandte, konnte er nur noch die Masttoppen der beiden vor Anker liegenden Schiffe erkennen. Ungefähr eine Landmeile hatten die Männer zurückgelegt, als sie vor sich Stimmen vernahmen. Hasard nickte seinen Mannen zu. Lautlos, ihre Musketen im Anschlag, huschten sie weiter. Eine flache Senke öffnete sich vor ihnen. Dann sahen sie die Galgenvögel. Die Kerle hatten tatsächlich nichts anderes zu tun, als sich zu prügeln. Aber das war zu erwarten gewesen. „Da ist ja eine Frau!" sagte Big Old Shane verblüfft. „Eine Indianerin", fügte Philip junior ebenso leise hinzu. Die Squaw verteidigte sich verbissen und mit erstaunlicher Zähigkeit. Höchstens fünfzig Schritte trennten die Arwenacks von den Rabauken. Unter den gegebenen Umständen gehörte wenig dazu, sich unbemerkt anzuschleichen. Batuti grinste und vollführte die Geste des Halsabschneidens. Natürlich meinte er es nicht ernst. Seinen Langbogen hielt er wie eine Keule mit beiden Händen. Auch die anderen würden nicht ihre Waffen einsetzen, sondern die Fäuste. Solange die Marodeure ahnungslos waren, bereitete eine richtige Prügelei bedeutend mehr Spaß.
Bis auf zehn Schritte näherten sich die Arwenacks, dann waren sie gezwungen einzugreifen, weil der Widerstand der Squaw erlahmte. Für Grey und seine Kumpane war der Angriff wie ein Blitz aus heiterem Himmel, dem der Donner auf dem Fuß folgte. Mit seinen mächtigen Pranken packte Big Old Shane einen der Fallensteller, und ehe der Bursche richtig begriff, wie ihm geschah, lernte er fliegen. Allerdings sauste er ohne Bodenberührung gerade drei oder vier Schritte weit. Er krachte nämlich mit dem Kopf voran gegen den nicht minder überraschten Randolf Gordon, der vergeblich nach einem Halt suchte. Flüchtig sah es so aus, als würden beide gemeinsam und eng umschlungen zu Boden gehen, doch dann holte Gordon aus und setzte seinem Kumpan die Faust ins Gesicht. Das verschaffte ihm zwar Luft und einen weiterhin sicheren Stand, brachte ihm aber auch Shanes spöttisches Gelächter ein. Gordon sah rot. Mit gesenktem Schädel stürmte er auf den Schiffsschmied zu. Big Old Shane ließ ihn ins Leere laufen und verpaßte ihm einen Tritt in den Achtersteven, der es in sich hatte. Gordon wurde davonkatapultiert und überschlug sich, weil seine Beine mit der zunehmenden Geschwindigkeit nicht mithalten konnten. Erstaunlich schnell warf er sich jedoch wieder herum. Erst jetzt gelang es ihm, den Cutlass aus dem Gürtel zu ziehen. „Dich hack' ich in Stücke!" grollte er. Aber der Riese mit dem mächtigen grauen Bartgestrüpp sah nicht so aus, als wolle er klein beigeben. Big Old Shane grinste sogar herausfordernd. Und dieses überlegne Grinsen verunsicherte Gordon, zumal er nicht auf
10 den Beistand seiner Kumpane hoffen durfte. Sein erster, unüberlegt geführter Hieb mit dem Entermesser verfehlte den Gegner um mindestens eine Armlänge. „Das Ding ist gefährlich", warnte Shane. „Du solltest damit vorsichtiger sein." Gordon hatte wenig dazugelernt. Erneut stürmte er blindlings vor. Diesmal war er jedoch darauf vorbereitet, daß Shane ihm auszuweichen versuchte. Seine Blankwaffe beschrieb einen entsprechenden Halbkreis. Der Schmied dachte nicht daran, nach dem Willen seines Gegners in die offene Klinge zu laufen. Ganz im Gegenteil. Die Finte hatte ihn in die bessere Position gebracht. Mit der Linken umklammerte er Gordons Waffenhand und mit der Rechten, zur Faust geballt, trieb er ihm die Luft aus den Lungen. Der Bursche verdrehte die Augen und sackte in sich zusammen wie ein kaputter Blasebalg. Mit einer blitzschnellen Drehung wirbelte Big Old Shane den halb Ohnmächtigen herum - ausgerechnet in dem Moment, in dem der vom Fliegen nicht sonderlich begeisterte Fallensteller angriff. Ein dumpfes Krachen war zu vernehmen, als beider Köpfe zusammenstießen. Big Old Shanes Opfer nippelten ab, ohne ihm das Vergnügen zu gönnen, seine Fäuste richtig einzusetzen. Kein einziger Schuß fiel. Den Arwenacks war es auf Anhieb gelungen, den Schnapphähnen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Suchend blickte sich der Schmied um. Die Indianerin war verschwunden. Eine Verwünschung auf den Lippen, versuchte Shane, sie einzuholen. Irgendwie fühlte er, daß die Squaw etwas Besonderes war. Die Mannen kämpften noch. Batuti hatte sich mit Atkinson Grey angelegt. Der selbsternannte Anführer
der Rabauken hielt den Gambiamann mit einem Cutlass in Atem. Er war ein Meister im Fintieren und wechselte die Blankwaffe immer wieder von einer Hand in die andere. Batuti setzte den Langbogen dagegen, nur war offensichtlich, daß er seine kostbare Waffe nicht gefährden wollte. Philip Hasard Killigrew focht gegen Spencer Taffe, der ebenfalls ein Entermesser benutzte. Auch bei ihnen zeichnete sich die Entscheidung ab. Nicht einmal zwei Minuten waren vergangen, seit die Seewölfe überraschend zugeschlagen hatten. Der Erfolg gab ihnen recht. Ferris Tucker war schon dabei, den inzwischen im Traumland weilenden Frank Davenport mit Riemen zu fesseln. Urplötzlich versteifte sich Tucker. Er wollte nach seiner Muskete greifen, aber ein scharfer Befehl ließ ihn innehalten. „Keine Unbesonnenheit! Sonst haben die beiden ihren letzten Schnaufer getan." Irgendwie war es Jameson Kidd und Mel Broley, dem zweiten Fallensteller, gelungen, die Zwillinge zu überwältigen. Jedenfalls bohrte Kidd den Lauf einer Muskete zwischen Philips Schulterblätter, und Broley hatte Davenports Pistole an sich gebracht und hielt sie von der Seite her an Hasards Kinn. Kidd war an der linken Hüfte verletzt. Er blutete. Aber er gab sich alle Mühe, die Arwenacks seine Schmerzen nicht merken zu lassen. „Wir verlangen ungehinderten Abzug!" sagte er verbissen. „Sonst nichts?" Die Überlegungen des Seewolfs überschlugen sich. Im Augenblick konnte er nichts unternehmen, ohne die Zwillinge zu gefährden. Auch Spencer Taffe zog sich langsam aus der Reichweite der Arwenacks zurück. „Das Leben der beiden ist ein angemessener Preis", betonte Broley. „Wie wollt ihr zu dritt gegen die In-
11 dianer bestehen?" rief Ferris Tucker. „Ich bin überzeugt, daß die Rothäute bald aufkreuzen werden. Die Squaw holt sie." „Das lassen Sie unsere Sorge sein, Mister", erklang es gereizt. „Beeilt euch, die Waffen runter!" Der Seewolf nickte seinen Mannen zu. Es hatte wenig Sinn, ausgerechnet jetzt etwas beweisen zu wollen. In der Verfassung, in der sich die Halunken befanden, waren sie zu allem fähig. „Na also!" Kidd lachte. „Es geht doch. Der große Killigrew streicht die Segel. Das hätte mir vor wenigen Wochen einer sagen sollen." Er deutete auf die bewußtlosen oder schon gefesselten Rabauken. „Die können Sie haben. Ist doch kein schlechter Tausch, oder? Aber eins noch, Killigrew, dann sehen Sie uns nie wieder - Ihren Radschloßdrehling!" „Sie sind verrückt." Jameson Kidd stieß mit der Muskete zu, daß Philip junior gequält aufschrie. „Sagen Sie das nicht!" zischte er gefährlich leise. „Werfen Sie die Pistole her!" Der Seewolf hätte alles getan, um die Zwillinge zu retten. Doch das durfte Kidd nicht einmal ahnen. Mit zwei Fingern faßte er den sechsschüssigen Radschloßdrehling am Lauf und warf ihn so, daß er zwei Schritte vor Jameson zu Boden fiel. „Heb die Pistole auf, Spencer!" zischte Kidd durch seine Zahnlücken. „Und behalt das Ding. Du kennst dich doch mit Schießprügeln aller Art aus?" „Klar." Bewundernd strich Taffe über den Radschloßdrehling. „Ist voll geladen", stellte er fest und sagte, an den Seewolf gewandt: „Wer uns zu nahe kommt, kriegt Blei zwischen die Rippen."
2. Im Laufschritt legte Big Old Shane gut eine halbe Meile landeinwärts zurück, bis er einsah, daß er die Indianerin nicht mehr einholen würde. Suchend blickte er um sich. Die wellige Landschaft erstreckte sich ringsum. Zu erkennen, was hinter den nächsten Hügeln lag, war unmöglich. Auf See war das anders - kein Schiff blieb in einem Wellental unentdeckt. Vielleicht wartete die Squaw hinter einem der hohen Büsche nur darauf, daß der Mann sich zurückzog. Shane drehte sich einmal um sich selbst, aber er entdeckte nicht den leisesten Hinweis, wohin die Frau verschwunden war. Dabei hatten sich ihre Spuren anfangs noch deutlich abgezeichnet. Es war, als hätte der Erdboden sie verschluckt. Der Schmied von Arwenack wechselte mehrmals die Richtung, aber nach jeweils wenigen Dutzend Schritten sah er ein, daß er auf diese Weise ebensowenig Erfolg haben würde. Die Indianerin war und blieb verschwunden. Big Old Shane raufte sich sein mächtiges graues Bartgestrüpp. Trotz ihrer Kleidung, ihrer leichten Gesichtsbemalung und des typischen Haarschnitts hatte die Squaw nicht wirklich indianisch ausgesehen. Er wußte jetzt auch, warum: ihr Haar war hell gewesen, fast blond. Nach einem nochmaligen, bedauernden Rundblick begab sich Shane auf den Rückmarsch. Fünf Männer kreuzten seinen Weg. Er erkannte die Zwillinge und wollte sie anrufen, da sah er die Gesichter der anderen und ihre Waffen. Im nächsten Augenblick kauerte er in halbwegs sicherer Deckung. Die Halunken zogen mit ihren Gefangenen keine vierzig Yards entfernt vorbei. Shane fragte sich, warum Hasard die Kerle gewähren ließ. Bei dem Gedanken verspürte der
12 Schmied Erbitterung. Bedächtig nahm er den Langbogen aus guter englischer Eibe von der Schulter und legte einen Pfeil auf die Sehne. Kidd, der als einziger eine Muskete trug, mußte er zuerst ausschalten. Hoffentlich reagierten die Zwillinge schnell genug, um den anderen die Waffen abzunehmen. Shane richtete sich aus seiner Dekkung auf. Sechzig bis siebzig Yards betrug die Entfernung mittlerweile, keineswegs zuviel für einen gutgezielten Schuß. Ausgerechnet jetzt wandte sich Taffe um. Er stieß einen heiseren Warnruf aus, riß die Pistole hoch und feuerte. Big Old Shane spürte den sengenden Hauch der Kugel, die höchstens eine Handbreite an seinem Kopf vorbeiflog. Der Pfeil, den er gleichzeitig abschoß, bohrte sich vor Kidd in den Boden. Der Schmied von Arwenack entging dem zweiten tödlichen Bleigeschoß, weil er sich bäuchlings ins Gras warf. Hastig legte er einen neuen Pfeil auf. Die Pattsituation war unverkennbar. Er konnte nicht weiter, und die Rabauken würden sich hüten, ihm zu nahe zu geraten. „Shane", vernahm er Kidds Stimme. „Wenn du nicht willst, daß die beiden Killigrews über die Planke gehen, laß uns in Ruhe verschwinden!" „Und wer garantiert mir, daß ich nicht mit einer Kugel im Rücken ende?" „Niemand!" Kidd lachte schrill. Vergeblich versuchte Big Old Shane, aus seiner Perspektive heraus mehr als nur Gras und Himmel zu erkennen. Es war unmöglich. Vorsichtshalber spannte er den Bogen. Diese Bastarde sollten ihn nicht unvorbereitet antreffen. „Kidd!" rief er. „Taffe! Ihr verbessert eure Lage dadurch nicht!" Niemand antwortete. Bedeutete dies, daß sich die Burschen anschli-
chen? Shane lauschte vergeblich. Nur das leise Raunen des Windes war zu vernehmen. Mit einer Geschmeidigkeit, die für den Graubärtigen erstaunlich war und trotz des dabei hinderlichen Langbogens, robbte der Schmied vorwärts. Im Schatten mehrerer Büsche richtete er sich auf den Knien auf und spähte vorsichtig zwischen den dornenbewehrten Ästen hindurch. Niemand war zu sehen. Die drei Kerle hatten es vorgezogen, das unübersichtliche Gelände auszunutzen und sich abzusetzen. Shane erhob sich vollends. Als noch immer kein Schuß fiel, nahm er den Pfeil wieder von der Sehne. Gegen den Wind lief er zurück zu den Gefährten. „Haben die Kerle auf dich geschossen?" wollte Hasard wissen, der ihm allein entgegenging. Shane nickte. Die Erleichterung des Seewolfs konnte er sogar verstehen. Hasard hatte wohl befürchtet, daß es den Zwillingen ans Leder gegangen war. „Taffe hat verdammt schlecht gezielt", sagte Shane. „Es schien mir allerdings so, als hätte er deinen Radschloßdrehling." Hasard winkte ab. „Wenn es das nur wäre. Die drei Burschen sind so gefährlich wie gereizte Vipern. Wir müssen befürchten, daß sie die Zwillinge umbringen, sobald sie sich in ihnen keinen Vorteil mehr versprechen." „Anders ausgedrückt, wenn sie feststellen, daß sie nicht verfolgt werden." Big Old Shane fuhr sich mit den Fingern durch den Bart. „Du kannst auf jeden von uns zählen. Wir holen Verstärkung von der Schebecke, und dann gibt es eine volle Breitseite." „Darauf warten sie womöglich", sagte Hasard. „Wir müssen die Burschen zermürben. Immerhin sind sie nur zu dritt. Irgendwann werden sie
13 so müde sein, daß ihnen die Klüsen im Stehen zufallen." „Bis dahin haben wir die Indianer am Hals", widersprach Shane. Während ihres kurzen Disputs waren sie den restlichen Weg zurückgegangen. Ferris Tucker und Batuti hatten inzwischen alle Rabauken gefesselt. „Ist nicht weit her mit dem Traum vom Reichtum." Hasard musterte die Kerle der Reihe nach. An Davenport blieb sein Blick hängen. „Sie hätten ein neues Leben anfangen können. Auf ehrliche Weise. Statt dessen ziehen Sie es vor, sich mit Mördern zusammenzutun." „Das werden Sie nie begreifen, Killigrew." Der aus adligen Kreisen stammende Bursche spie aus. „Was haben Sie mit uns vor? Wollen Sie uns über Bord werfen?" „Das wäre nicht die schlechteste Lösung." Der Seewolf wandte sich abrupt um und bedeutete Tucker, Shane und Batuti, ihm zu folgen. „He!" rief Frank Davenport hinter ihm her. „Das dürfen Sie nicht tun, Killigrew. Ich verlange, vor ein Gericht gestellt zu werden, schließlich habe ich mir nichts vorzuwerfen." Hasard schwieg dazu. Er hatte nicht die Absicht, selbst über die Kerle zu urteilen. Wenn Davenport ein wenig nachdachte, mußte er das von allein begreifen. Aber er war viel zu erregt. Außerdem schadete es niemanden, am allerwenigsten ihm selbst, daß er für eine Weile Blut und Wasser schwitzte. „Ferris und Shane, ihr setzt die Burschen zur Schebecke über", sagte der Seewolf. „Du, Shane, gibst mir aber zuvor deinen Bogen." „Wozu, Sir?" Der Schmied blickte in dem Moment nicht besonders geistreich drein. „Eine Muskete . . . " „... verursacht mehr Krach." „Da ist was dran", sagte Shane. „Ich nehme an, Batuti begleitet dich." Mehr zufällig streifte sein Blick den
Köcher des Gambiamannes. Ein schmuddeliges, zerknautschtes Stoff gesicht schien ihn anzugrinsen. „Was ist das?" fragte er. Ein Aufleuchten huschte über Batutis Gesicht. Blitzschnell griff er hinter sich und zog das Ding aus dem Köcher. „Scheint eine Puppe zu sein", sagte er. „Ich habe sie vorhin im Gras gefunden." Hasard nahm sie ihm aus der Hand und unterzog sie einer genaueren Betrachtung. „Sieht nicht so aus, als wäre sie indianischen Ursprungs", erklärte er. Ferris Tucker zeigte ein breites Grinsen. „Frag Davenport", schlug er vor, „womöglich spielt er noch mit Puppen." „Das Ding stammt von der Squaw", sagte Big Old Shane bestimmt. „Oder ist jemand anderer Meinung?" „An Bord jeder Galeone waren Kinder", erwiderte Tucker. „Ich garantiere dir, daß einige Dutzend solcher oder ähnlicher Stoffpuppen in die Neue Welt mitgenommen wurden." Shane zuckte mit den Schultern. „Niemand streitet das ab. Aber falls diese Puppe von den Rothäuten bei einem Überfall erbeutet wurde, will ich ab sofort Old Donegal heißen. Habt ihr euch die Squaw angesehen?" „Ferris entgeht kein weibliches Wesen", behauptete Batuti. „Unsinn." Der rothaarige Schiffszimmermann winkte gelassen ab. „Ich nehme an, Shane meint das Alter der Indianerin. Ich schätze sie auf vierzehn oder fünfzehn Sommer." „Das ist nicht das, was ich meine." Big Old Shane seufzte ergeben. „Die Squaw war blond", warf Hasard ein. „Es ist Tatsache, daß schon vor Jahren Siedler entführt wurden. Angenommen, die Indianer haben ein kleines Mädchen in ihren Stamm aufgenommen, dann ist vielleicht das
14 einzige, was sie noch an ihre Herkunft erinnert, diese Puppe." „Das Mädchen könnte damals ungefähr sechs Jahre alt gewesen sein. Ich glaube nicht, daß es besonders viel mit uns Engländern oder gar mit der Zivilisation anzufangen weiß." „Darüber reden wir später, wenn Zeit dazu ist", sagte Hasard. Big Old Shane nahm seinen Langbogen und den Köcher von der Schulter. „Ich akzeptiere deinen Entschluß, nur mit Batuti zu gehen, aber ich fühle mich dabei wie ein Schiff, das zum Kielholen gekrängt wurde." „Du kriegst bald wieder Gelegenheit, irgendwelchen Halunken aufzumischen", betonte der Gambiamann. „Zu zweit haben wir diesmal jedoch bessere Chancen als eine Horde wildentschlossener Korsaren." Hasard nahm den Bogen und die Pfeile an sich und verschwand mit Batuti im Laufschritt. Big Old Shane und Ferris Tucker wandten sich den Halunken zu. „Auf die Füße, ihr Pack!" herrschte der Schmied die Gefangenen an, nachdem er ihnen die Beinfesseln durchtrennt hatte. „Bewegt euch gefälligst. Ihr seid kräftig genug, um selbst zur Schebecke zu laufen."
Der Seewolf und der Gambiamann folgten der anfangs sehr deutlichen Spur, die Kidd, Broley, Taffe und die Zwillinge hinterlassen hatten. Die Fährte verlor sich zwar in dem Waldgebiet, trotzdem zweifelte Hasard keinen Augenblick daran, daß die Kerle die einmal eingeschlagene Richtung beibehielten. „Kidd ist gar nicht so dumm", sagte der Seewolf. „Er flieht in südliche Richtung und glaubt wohl, uns den Rothäuten in die Arme treiben zu können. Wahrscheinlich haben die Burschen schon einiges Unheil angerichtet."
Vorübergehend wurde der Boden sumpfiger. Im Morast entdeckte Batuti Abdrücke, die einwandfrei von genagelten Ledersohlen stammten. Die Halunken hatten zwar versucht, ihre Spuren zu verwischen, doch längst nicht gut genug. Als der Seewolf sich umblickte, sah er weit im Norden aufsteigende Rauchwolken. Er wies den Gambiamann auf sie hin. „Rauchzeichen sind schneller und zuverlässiger als Brieftauben oder andere Arten der Nachrichtenübermittlung. Hoffentlich bedeutet das keinen neuen Ärger." Sie brauchten nicht lange zu warten, bis sehr viel näher ebenfalls Rauch aufstieg. Wahrscheinlich lag nur wenige Meilen entfernt ein Indianerdorf. „Selbst wenn die Zeichen nichts mit unserer Anwesenheit zu tun haben, müssen wir mit den Rothäuten rechnen", sagte der Seewolf. Batuti warf einen prüfenden Blick zur westlichen Kimm. Die Sonne stand zwar noch gut eine Handbreite hoch, aber der Himmel nahm bereits eine rötliche Färbung an. „In spätestens zwei Stunden bricht die Nacht herein", sagte der Gambiamann. „Hast du vor, die Zwillinge dann zu befreien?" „Ehrlich gesagt, ich weiß es noch nicht", erwiderte Hasard. „Das hängt von den Umständen ab." Während die Schatten länger wurden und der Himmel sich dicht über der Kimm scheinbar in ein flammendes Feuermeer verwandelte, näherten sich Hasard und Batuti den Verfolgten bis auf Sichtweite. Es war anzunehmen, daß die Marodeure sie ebenfalls bemerkten. Kidd war also gewarnt. Dementsprechend schlaflos würde die Nacht für Broley, Taffe und ihn werden. Ein dichter Baumbestand und felsige Erhebungen bestimmten jetzt das Gelände. Die kurze Zeit vorherr-
15 schenden Sumpfgewächse verschwanden wieder. Im Schutz einer hufeisenförmigen Felsgruppe ließen sich die Kerle nieder. Die Zwillinge wurden aufrecht an zwei verkrüppelte Kiefern gefesselt und sollten den Seewolf vor einer weiteren Annäherung warnen. Mit der beginnenden Abenddämmerung hatte der Wind auf ablandig gedreht. Er brachte einen dumpfen, rhythmischen Trommelklang mit sich, blieb aber keineswegs konstant, sondern sprang häufiger um. „Die Rothäute werden morgen angreifen", behauptete Batuti. „Uns bleibt wenig Zeit." Das Tamtam wirkte zermürbend. Mit Genugtuung registrierte Hasard, daß keiner der drei Schnapphähne an Schlaf dachte. Unruhig bewegten sie sich zwischen den Felsen. Taffe kletterte sogar in die Höhe und hielt Ausschau. Aber dann verschluckte die Dunkelheit seine Silhouette. Etwa hundert Yards voraus verlief eine leichte Senke. Die Böschung war von üppigem Pflanzenwuchs bestanden, und nur der kiesübersäte Boden verriet, daß es sich um ein ausgetrocknetes Bachbett handelte. Hasard und Batuti nahmen das Knirschen der Steine unter ihren Füßen bewußt in Kauf. Tatsächlich zuckte zwischen den Felsen plötzlich ein winziges Flämmchen auf. Als es erlosch, blieb nur das fahle Glimmen einer Lunte. Außerdem waren gedämpfte Stimmen zu vernehmen. Die Kerle begannen wohl allmählich ihren eigenen Mut zu fürchten. „Sie sollen ruhig in ihrem Saft schmoren", sagte Hasard. „Verdient hätten sie es ohnehin, daß wir sie den Indianern überlassen." Die Nacht war sternenklar, aber als der Mond als riesiger Feuerball aufging, zogen die ersten Wolken heran. Innerhalb einer halben Stunde ballten sie sich düster drohend zusam-
men. In der Ferne wetterleuchtete es bereits. Schwefelgeruch lag plötzlich in der Luft, und ein steifer Wind wehte aus Südosten. „Da braut sich was zusammen", sagte Hasard. „Hoffentlich kriegen die Schiffe keine Schwierigkeiten und treiben auf Legerwall." „Du hast erfahrene Seeleute", erwiderte Batuti. „Sie werden eher ankerauf gehen, als Gefahr zu laufen, die ,Explorer' oder gar die Schebecke zwischen die Klippen zu setzen." Der erste vielfach verästelte Blitz spaltete das Firmament, der folgende Donnerschlag klang trotz der großen Entfernung, als sei ein Dutzend schwerer Schiffsgeschütze in allernächster Nähe abgefeuert worden. Das Dröhnen der Indianertrommeln war verstummt. Der aufkommende Sturm trieb die regenschweren Gewitterwolken schnell näher. Innerhalb von Minuten breitete sich nahezu völlige Finsternis aus. Es begann zu regnen. Dicke, schwere Tropfen klatschten nieder und wurden zu einem wahren Wolkenbruch. „Land unter", sagte Batuti grinsend. „Die Halunken dürfen sich anstrengen, um Pulver und Lunten trokken zu halten." Der stete Donner und das zunehmende Plätschern des Regens übertönten alle anderen Geräusche. Im zuckenden Widerschein eines Blitzes zeichnete sich keine zehn Schritte entfernt ein Schatten ab. Aber noch während Batuti hinsah, verschwand die schemenhafte Gestalt. „Indianer!" rief er Hasard zu. Der nächste Blitz ließ nur mehr windzerzaustes Buschwerk erkennen. Falls da wirklich jemand gewesen war, hatte er sich rechtzeitig zurückgezogen. „Bist du sicher, daß du dich nicht getäuscht hast?" fragte der Seewolf. Batuti zeigte eine unschlüssige Ge-
16 ste. Im nahezu ununterbrochenen Aufleuchten der Blitze suchte er nach Spuren. Das Gewitter stand mittlerweile im Zenit, die beiden Arwenacks waren bis auf die Haut durchnäßt, aber darauf achteten sie kaum. Ein schmales Rinnsal bildete sich auf dem Boden der Senke und plätscherte, allmählich breiter werdend, über die Steine dahin. Der Gambiamann entdeckte zwei geknickte Äste. „Die Bruchstelle ist frisch", sagte er. „Das Harz klebt noch. Alle anderen Spuren hat der Regen verwischt." „Möglicherweise war es ein Späher der Indianer", meinte Hasard. „Ich glaube kaum, daß sich einer der Rabauken so weit vorgewagt hat." Er deutete zu den Felsen hinüber, die sich als düstere Silhouette abzeichneten. „Wir warten nicht länger", entschied er. Das Gewitter erreichte seinen Höhepunkt, ein nicht mehr enden wollender Donner rollte übers Land. Die unsteten Schatten der Bäume, Sträucher und Felsen erwachten zu gespenstischem Leben, selbst Batuti ließ sich mehrmals täuschen und glaubte, menschliche Gestalten zu erkennen. Doch sobald er näher hinblickte, war da nichts anderes als starres, dorniges Gestrüpp. Ein Wachposten der Kerle hatte unter einem überhängenden Vorsprung Schutz vor dem Unwetter gesucht. Der Statur nach, er wirkte groß und hager, mußte es Spencer Taffe sein. Um seine Pistole vor dem strömenden Regen zu schützen, hielt er sie halb unter der Kleidung verborgen. Batuti legte Langbogen und Köcher ab und huschte lautlos und eng am Felsen weiter. Die schwarze Hautfarbe ließ ihn schon nach wenigen Schritten mit seiner Umgebung verschmelzen. Hasard wartete und zählte in Gedanken bis zehn, dann mußte der Gambiamann Taffe beinahe erreicht
haben. Fühlte der Bursche die Nähe der Arwenacks? Ausgerechnet jetzt entschloß er sich, seinen halbwegs trockenen Standort zu verlassen. Hasard ahnte es mehr, als er es wirklich erkennen konnte, daß Taffe aufmerksam in die Runde blickte. Batuti hatte plötzlich drei oder vier Schritte mehr zurückzulegen, bis er den Kerl zwischen die Fäuste kriegte. Unter Umständen würde Taffe dadurch Zeit genug bleiben, die Pistole abzufeuern. Ohne länger zu überlegen, richtete sich Hasard in geduckter Haltung auf und lief einige Schritte weit in Richtung einer Gruppe von Büschen, von denen aus ein nahezu ungehinderter Einblick in das hufeisenförmige Rund der Felsen möglich war. Natürlich wurde Taffe auf ihn aufmerksam, doch als er die Pistole hochriß, war Batuti hinter ihm. Der Kerl wirbelte noch herum, konnte dem Fausthieb aber nicht mehr entgehen, in den der Gambiamann alle Kraft hineinlegte. Taffe wurde von den Beinen gefegt und verlor das Bewußtsein, bevor er koppheister zwischen rauhen Dornen landete. Gleich darauf war Hasard bei Batuti. Gemeinsam fesselten sie den Bewußtlosen und schleppten ihn unter den Felsvorsprung zurück. Die Pistole hatte der Bursche verloren, sie lag in einer Pfütze und war zumindest vorerst unbrauchbar geworden. Hasard schob sie dennoch hinter seinen Gürtel. Der Gambiamann holte seinen Langbogen und die Pfeile wieder. Dann huschten sie weiter. Es donnerte kaum mehr, auch der Regen ließ nach. Im Süden riß sogar der Himmel auf und ließ den Mond durchschimmern. Genau zwölf Schritte waren es, bis der Felsen zurücksprang. Im Hintergrund, gerade einen halben Steinwurf weit entfernt, ragten die verkrüppelten Kiefern auf. Die Zwil-
17 linge rührten sich nicht. Jameson Kidd stand dicht bei ihnen. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt. Im fahlen Wetterleuchten, das die verwehenden Wolken durchdrang, zeichnete sich der metallische Schimmer eines Pistolenlaufs ab. Batuti stieß den Seewolf an und warf ihm einen fragenden Blick zu. Mel Broley, der dritte der Halunken, war verschwunden. Möglicherweise stand er auf der anderen Seite Wache. Ehe sich die beiden Arwenacks darüber klarwerden konnten, peitschte ein Schuß auf. Die Kugel klatschte mehrere Handbreiten neben Hasard auf den Felsen und jaulte als Querschläger davon. Jameson Kidd reagierte prompt. Während sich der Seewolf instinktiv nach vorn warf und abrollte, riß Kidd den Radschloßdrehling hoch und feuerte ebenfalls. Zwei Kugeln verfehlten Hasard, dann schien Kidd sich darüber klarzuwerden, daß er im Begriff stand, seinen einzigen Trumpf aus der Hand zu geben. Ihm würde nicht die Zeit bleiben, die Waffe nachzuladen. „Verschwinden Sie, Killigrew!" rief er heiser. „Oder Ihre Söhne sterben!" Daß er Philip junior die Waffe an die Schläfe hielt, war zu erkennen. „Wenn Sie schießen, Kidd, werden Sie keine Gelegenheit mehr finden, über Ihr verpfuschtes Leben nachzudenken!" rief der Seewolf scharf zurück. Jameson lachte schrill. Allerdings schwang eine spürbare Unsicherheit darin mit. Mel Broley, der in gut acht Yards Höhe zwischen den Felsen kauerte, hatte inzwischen Zeit gehabt, seine Muskete neu zu laden. Der erste Schuß war zu überraschend erfolgt, als daß Batuti seinen genauen Standort hätte erkennen können, aber als jetzt erneut der Mündungsblitz aufzuckte, riß der Gambianeger seinen
Langbogen hoch und ließ den Pfeil von der Sehne schwirren. Hasard schrie auf und verstummte gurgelnd. Batuti konnte nicht sehen, ob der Seewolf wirklich von der Kugel des Mordschützen niedergestreckt worden war. Sein Pfeil traf jedoch genau. Erst polterte die Muskete nach unten, dann folgte in erschrekkender Lautlosigkeit der Körper des Fallenstellers. „Wirf den Bogen weg!" brüllte Kidd mit sich überschlagender Stimme. „Ich habe nichts mehr zu verlieren!" Er hatte sich selbst in eine Lage manövriert, in der er wohl keinen anderen Ausweg mehr sah, als einen seiner Gefangenen zu erschießen. Batuti blieb demzufolge keine Wahl, er mußte dem Befehl folgen. „Und jetzt komm näher!" rief Kidd triumphierend. Der Gambiamann wußte, daß der Bursche ihn über den Haufen schießen würde, sobald er weit genug von dem Felsvorsprung entfernt war und sich nicht mehr mit einem blitzschnellen Sprung in Sicherheit bringen konnte. Trotzdem ging er das Wagnis ein, weil er aus den Augenwinkeln heraus bemerkte, daß Hasard sich bewegte. Im Liegen spannte der Seewolf seinen Bogen. Im Umgang mit der Waffe wenig geübt, mußte er verdammtes Glück haben, wenn er aus seiner ungünstigen Position heraus so gut treffen wollte, daß Jameson Kidd nicht mehr in der Lage war, den Radschloßdrehling abzufeuern. Aber er würde ihn zumindest ablenken können. „Schlaf nicht ein, Nigger!" herrschte Kidd den Gambiamann an. Batuti tat einen Schritt, dann noch einen. Er breitete die Arme aus zum Zeichen, daß er unbewaffnet war und schielte zugleich zu Hasard hinüber, der Schwierigkeiten mit dem Langbogen hatte. Spätestens jetzt hätte der Seewolf sein Gewicht auf den linken
18 Arm verlagern und die Sehne straffer spannen müssen. „Näher, Nigger!" Der Gambiamann begann zu fürchten, daß Hasard nicht schnell genug sein würde. Blitzschnell brachte Jameson Kidd den Radschloßdrehling in Anschlag. Vier Kugeln befanden sich noch in den Kammern. Batuti beging nicht den Fehler, sich sofort zur Seite zu werfen. Deshalb bemerkte er den Schatten, der sich hinter Kidd aus der Wand schwang und federnd aufsetzte. Alles geschah dann sehr schnell. Jameson Kidds triumphierendes Lachen wurde zum Gurgeln, das abrupt abbrach. Er taumelte und versuchte noch, sich zu dem plötzlich erschienenen Gegner umzudrehen, sackte aber vorher in die Knie. Die Pistole entglitt seinen kraftlos werdenden Fingern. Flüchtig starrte der Schatten zu Batuti, bevor er mit katzenhaft geschmeidigen Bewegungen zwischen den Felsen verschwand. „Bleibt!" rief der Gambiamann, ohne jedoch eine Reaktion zu erzielen. Hasard kam wieder auf die Beine. Sein rechter Oberarm war blutig. „Nur eine Fleischwunde", erklärte er, als er den besorgten Blick des Gefährten bemerkte. „Broley hat verdammt gut gezielt." Der Fallensteller war tot. Jameson Kidd hatte ebenfalls mit dem Leben bezahlt. Zwischen seinen Schulterblättern steckte ein indianisches Steinbeil. „Kein Indianer dürfte Grund haben, uns beizustehen", sagte Hasard, während er die Zwillinge endlich aus ihrer mißlichen Lage befreite. „Du sagst es", erwiderte Batuti nachdenklich. „Kein Indianer . . . " „Aber . . . " „Die Puppe ist weg."
„Ich verstehe nicht ganz. Wieso die Puppe?" „Sie steckte in meinem Köcher. Die Squaw muß sie sich geholt haben, als ich meine Waffen abgelegt hatte. Wahrscheinlich ist sie uns ständig gefolgt." „Hat vielleicht einer der Gentlemen die Güte, uns aufzuklären?" fragte Hasard junior. Sein Vater holte das Versäumnis mit wenigen Worten nach. „Warum ist das Mädchen dann davongelaufen?" wollte Philip junior wissen. „Selbst wenn sie wirklich eine Weiße ist, sind wir Fremde für sie", erklärte Batuti. „Außerdem dürfte meine schwarze Hautfarbe sie erschreckt haben." „Meinst du, sie kommt wieder?" „Was weiß ich!" Sie bestatteten die Toten, indem sie Steine zusammentrugen und über ihnen aufschichteten. Obwohl die vier Arwenacks ständig ihre Umgebung im Auge behielten, konnten sie die Squaw nirgendwo entdecken. Batuti rang sich allmählich zu der Einsicht durch, daß das Interesse der hellhaarigen Indianerin einzig und allein der Stoffpuppe gegolten hatte. 3. Die Nacht ging dem Morgen entgegen, als die Arwenacks endlich seewärts aufbrachen. Spencer Taffe hielt willig Schritt, das Schicksal seiner Kumpane schien ihm unter die Haut gegangen zu sein. Der Wind wehte noch immer aus östlichen Richtungen, wenn auch nicht mehr mit solch heftigen Böen wie während des Gewitters. Trotzdem schlugen die Wellen schwer auf den Strand. Seegras und Tang waren in Unmengen angespült worden. Im Schein der aufgehenden Sonne entdeckten die Arwenacks einen
20 Tampen und zersplitterte Kistenbretter zwischen den Steinen. „Das ist gutes englisches Holz", sagten die Zwillinge, nachdem sie das Strandgut aufgefischt hatten. Eingebrannte Schriftzeichen bewiesen sogar, daß die Kiste auf der „Explorer" über Bord gegangen war. „Was ist los, Killigrew?" fragte Taffe und brach damit erstmals sein Schweigen. „Sind Ihre Schiffe abgesoffen?" „Freu dich nicht zu früh!" Batuti grinste den Halunken vielsagend an. „Falls die Indianer aufkreuzen, bevor die Schebecke hier ist, geht es dir ebenfalls an den Kragen." Kein Mast war über der bewegten See zu sehen, kein Segel leuchtete vor dem aschgrauen Hintergrund. Wahrscheinlich waren die Schebecke und die Dreimastgaleone während des Unwetters Gefahr gelaufen, daß der Anker nicht hielt und hatten unter Vollzeug gegen den Wind aufkreuzen müssen. „Sie werden nördlich der Landzunge Schutz gesucht haben", sagte Hasard junior. „Wenn wir uns am Rand der Klippen halten, dürften wir in einer knappen Stunde die Bucht erreichen." Der Seewolf winkte ab. „So lange dauert es nicht mehr, bis wir die Schebecke sichten", erklärte er. Das Warten wurde zur Qual, zumal jenseits des Waldes Rauchzeichen in den Morgenhimmel stiegen. Hasard wäre bereit gewesen, ein kleines Vermögen zu verwetten, daß die Indianer hinter den weißen Eindringlingen her waren. Auch Spencer Taffe hegte solche Befürchtungen. „Sie sollten auf Ihren Sohn hören, Kapitän Killigrew", sagte er. „Wenn wir hierbleiben, sind wir nicht mehr lange unseres Lebens sicher." „Angst?" fragte der Seewolf spöttisch. „Sie und Ihresgleichen haben
doch alles versucht, die Rothäute gegen uns aufzubringen." Von da an schwieg der Galgenvogel wieder. Langsam stieg die Sonne höher und färbte das Meer golden. Ihre Strahlen zogen den Dunst aus der feuchten Erde. Die Sicht wurde zunehmend schlechter, weil der Nebel auch auf die See hinaustrieb. Bald war alles, was weiter als eine Meile entfernt lag, hinter dichten grauen Schleiern verborgen. „Das ist kein gutes Zeichen", sagte Hasard. „Wir müssen mit einer Flaute rechnen oder zumindest mit sehr schwachem Wind. Unter diesen Umständen dürfte ein weiterer Tag vergehen, bis wir wieder in den Albemarlesund einlaufen." Endlich zeichnete sich inmitten des Nebels ein helleres Dreieck ab. Ein Lateinersegel. Die Schebecke näherte sich tatsächlich auf Südkurs, passierte die Klippen in respektvollem Abstand und hielt ziemlich genau auf den Strandabschnitt zu, auf dem die Arwenacks warteten. Vier Kabellängen weit draußen ging das Schiff vor Anker. Dunstschwaden behinderten immer wieder die Sicht. Dennoch war zu erkennen, daß das Beiboot abgefiert wurde. Wenig später landete die Jolle unter den kräftigen Riemenschlägen von Edwin Carberry und Big Old Shane. Der Schmied sprang in das gerade knietiefe Wasser. „Alles in Ordnung bei euch?" fragte er, „Soweit schon", erwiderte Hasard. „Lediglich unser Freund hier hat sich gesorgt, daß der Schebecke etwas zugestoßen sein könnte." „Das wäre wirklich bedauerlich", sagte Shane. „In der Vorpiek ist gerade noch ein Platz frei." Er blickte den Seewolf aus zusammengekniffenen Augen an. „Die anderen Halunken sind entwischt?"
21 „Tot", erklärte Batuti. Die Arwenacks waren gerade im Begriff, die Jolle zu besetzen, als Carberry die anrückenden Indianer entdeckte. „Jetzt aber rasch!" stieß er hervor. „Legt euch ins Zeug und pullt, was die Riemen halten." Gemeinsam schoben Hasard und Big Old Shane das Beiboot frei. Erst als eine Welle ihnen den Boden unter den Füßen wegzog, schwangen sie sich übers Dollbord. Nur zögernd stampfte die Jolle gegen die Flut an. Sie wurde von den gischtenden Wogen immer wieder hochgerissen und zurückversetzt. Etwa hundert Yards trennten die Arwenacks vom Ufer, als die ersten Pfeile hinter und dicht neben der Jolle ins Wasser klatschten. Hasard schoß mit seinem Drehling in die Luft. Die Indianer stockten zwar kurz, doch dann warfen sich die ersten ins Wasser, um schwimmend die Weißen einzuholen. Hasards Pistolenschüsse waren kaum verklungen, als der Donner eines Schiffsgeschützes heranrollte. Ziemlich genau voraus riß der Pulverblitz den Nebel auf. Ein Geschoß orgelte heran, klatschte aber noch weit vor der Jolle in die See. Trotz der hoch aufspritzenden Fontäne zeigten sich die Rothäute unbeeindruckt. Gleichmäßig tauchten die Riemen ein. Nachdem die schwere Brandung überwunden war, glitt das Beiboot schneller dahin. Enttäuschte Schreie der Indianer, die einsahen, daß sie die Fliehenden nicht mehr einholen würden, folgten der Jolle. Vorübergehend war die Schebecke deutlich zu sehen, doch wurde sie schnell wieder von Dunstschleiern eingehüllt. Die Sonne stand als fahle Scheibe etwas höher als eine Handbreite über der Kimm. „Riemen ein!" befahl Philip junior, der die Pinne übernommen hatte. Sanft schrammte das Boot an der
Schebecke entlang. Hasard junior warf die Vorleine hoch, und nacheinander enterten die Mannen auf. Der Seewolf erteilte seine Befehle, ließ den Anker einholen und die Segel setzen, während eine Gruppe die Jolle an Bord hievte. Ächzend schwang die Schebecke herum und lag bald darauf mit raumem Wind auf Nordkurs. Hasard hatte inzwischen erfahren, daß die „Explorer" jenseits der Landzunge wartete. Selbst unter Vollzeug ging es nur langsam voran. An Backbord blieb die Küste ein dunkler Streifen im wehenden Dunst, der Geländeformationen lediglich erahnen ließ. Im Verlauf des späten Vormittags besserten sich die Wetterbedingungen. Im Osten riß allmählich der Himmel auf, die Strahlenfinger der Sonne gaukelten über die See. Lediglich eine steife Brise fehlte, um das schlaff an den Rahruten hängende Tuch zu füllen. Die „Explorer" dümpelte vor Anker. Als die Schebecke gesichtet wurde, ließ Ben Brighton sämtliche Segel einschließlich der Blinde setzen. Trotzdem konnte die Galeone ihren Vorsprung nicht halten. Innerhalb einer halben Stunde fiel sie bis auf die Höhe der Schebecke zurück. Die beiden Schiffe näherten sich auf Rufweite. „Alles klar?" rief Ben Brighton. „Kann gar nicht besser sein", erwiderte Hasard. „Hoffen wir, daß der Ärger endlich vorbei ist." „Dein Wort in Gottes Ohr." Der Seewolf winkte ab. „Dichter unter Land!" befahl er dem Rudergänger. Batuti stand am Schanzkleid und spähte durchs Spektiv. Er setzte den Kieker nicht einmal ab, als Hasard neben ihn trat. Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander. Tief sog Hasard die würzige, frische Seeluft in seine Lungen. Er hatte schon viele fremde und
22 ferne Länder gesehen, aber die Neue Welt hatte einen besonderen Reiz. Die Küste Virginias ließ die ungeheure Weite erahnen, die sich dahinter verbarg. Irgendwie fühlte sich Hasard versucht, dieses Land mit dem endlosen Ozean zu vergleichen, der seinen Arwenacks und ihm längst zur Heimat geworden war. Es lag in der Natur des Menschen, daß die Siedler immer weiter ins Unbekannte vorstießen. Eines Tages würden sie wohl einen neuen, bis dahin unbekannten Ozean erreichen. Dann sollten Männer zur Stelle sein, die mit ihren Schiffen verwachsen und mit den Gefahren der See vertraut waren. Hasard mußte sich zwingen, aus seinem Wachtraum in die Wirklichkeit zurückzukehren. Mit Daumen und Mittelfinger massierte er seine Nasenwurzel. Nach den Ereignissen der vergangenen Nacht hatte er nur eine Mütze voll Schlaf erwischt. Die Müdigkeit hielt ihn nach wie vor in ihrem Griff und setzte ihm zu. „Du hältst Ausschau nach deiner Squaw?" wandte er sich endlich an Batuti. Der Gambiamann zögerte mit der Antwort. „Ich weiß es selbst nicht", erwiderte er schließlich. „Mag sein, daß ihr Schicksal mich interessiert." „Selbst wenn sie wirklich eine Weiße ist, wird sie heute eher wie eine Indianerin denken und fühlen. Ich muß dich wohl nicht erinnern, auf welche Weise sie Kidd getötet hat." „Das besagt noch gar nichts." Batuti wollte den Kieker wieder vors Auge nehmen, aber Hasard hielt ihn jäh am Arm zurück. „Du glaubst, die Squaw könnte zwischen Siedlern und Rothäuten vermitteln und unnötiges Blutvergießen verhindern helfen?" Ein Lächeln umspielte die Mundwinkel des Gambiamannes, als er sich umwandte und den Seewolf ansah.
„So abwegig scheinen meine Überlegungen nicht zu sein, wenn du dich mit ähnlichen Gedanken befaßt." „Ich muß zugeben, die Idee ist reizvoll." Hasards weite Geste umfaßte den gesamten Küstenstreifen. „Aber es wäre wohl ein Zufall, wenn uns die Squaw nochmals begegnete." „Sie wollte nicht nur ihre Puppe zurückhaben'', sagte Batuti. „Sie wird uns folgen. Glaube mir, ich weiß, was es heißt, die Heimat zu verlieren. Ist die innere Unruhe erst einmal auf gebrochen, läßt sie dich nicht mehr los."
Die Tuscarora behaupteten, alle Weißen, die mit ihren schwimmenden Häusern über das große Wasser fuhren, wären böse. Goldene Wolke hatte ihre eigenen Erfahrungen sammeln wollen und war enttäuscht worden, aber dann hatte sie die beiden Weißen getroffen und irgendwie gespürt, daß der breitschultrige Riese mit den eisblauen Augen und der schwarzhäutige Mann anders waren. Nur wenig von dem, was die beiden gesprochen hatten, hatte sie verstanden, doch ihre Neugierde war geweckt worden. Mehrmals hatte nur ein winziges Zögern sie davon getrennt, sich zu erkennen zu geben. Aber die Zeit dafür war eben noch nicht reif gewesen. Dann hatte sie den kleinen dürren Mann getötet, der wirklich böse war. Aber wieder hatte sie den Mut nicht aufgebracht, den Fremden offen gegenüberzutreten. Inzwischen bereute sie es, so gehandelt zu haben. Vielleicht hätten die Männer sie mit hinausgenommen zu ihrem schwimmenden Haus, das ebenso Blitz und Donner speien konnte wie die Feuerrohre, die manche Weiße bei sich trugen und einen schnellen Tod brachten. Erst vor wenigen Monden hatte Springender Hirsch davon gespro-
23 chen, ein solches Feuerrohr zu erbeuten und mit dieser Waffe die Tuscarora zur Herrschaft über viele andere Stämme zu führen. Daran mußte die Squaw denken, während sie aus sicherer Entfernung beobachtete. Springender Hirsch und seine Krieger waren um Augenblicke zu spät erschienen und hatten die Weißen nicht mehr überwältigen können. Die Tuscarora folgten dem schwimmenden Haus. Goldene Wolke war gezwungen, sich vor ihnen zu verbergen, wollte sie dem Zorn von Springender Hirsch entgehen. Er würde gewiß kein Verständnis dafür aufbringen, sie ausgerechnet hier vorzufinden. Anna war ihr einziger Trost. Sie verharrte lange in Deckung, bevor sie ihren inneren Drängen nachgab. Eine beachtliche Strecke weit waren die Krieger dem Verlauf der Küste gefolgt, ehe sie die Sinnlosigkeit ihrer Verfolgung endlich eingesehen hatten. Goldene Wolke atmete erleichtert auf, als die Spuren sich landeinwärts verloren. Sie lief nach Norden, in einem gleichmäßigen, kräftesparenden Trab, bei dem sie jeweils nur eine Körperhälfte belastete. Die niedere Vegetation wich einem zusammenhängenden Waldgebiet, das mitunter bis dicht ans Wasser reichte. Endlich sah die Squaw die schwimmenden Häuser wieder. Sie bewegte sich nahe an der Küste und es hatte den Anschein, als treibe der schwache Wind sie voran. Die dreiekkigen Tücher verliehen dem einen aus der Ferne das Aussehen mehrerer dicht beieinander stehender Tipis. Goldene Wolke beobachtete geraume Zeit. Längst verschüttete Erinnerungen brachen in ihr auf, sie fühlte sich auf eins dieser seltsamen Häuser versetzt, hörte rauhe Stimmen Befehle brüllen, die sie nicht verstand, vernahm das Tosen der See
und spürte, wie sehr der Boden unter ihr schwankte. Instinktiv drückte sie Anna fester an sich. Nur die weiche, anheimelnde Nähe der Puppe verhinderte, daß sie Hals über Kopf vor den seltsamen Bildern floh, die ohne ihr Zutun entstanden. Hatte Springender Hirsch doch recht? War sie wirklich von einem bösen Geist besessen? Die Squaw begann wieder zu laufen, folgte den schwimmenden Häusern, die sich unaufhaltsam entfernten, und ließ sich, als sie beide Schiffe eingeholt hatte, auf einem umgestürzten Baum niedersinken. „Schiffe" - das war der Begriff, den die Weißen benutzten. Goldene Wolke sah, daß ein Boot zu Wasser gelassen wurde. Seltsamerweise verspürte sie keine Furcht, eher eine nie gekannte Erregung. „Anna", murmelte sie. „Bald erfahren wir, woher wir kommen." Sie sprach indianischen Dialekt.
Abgesehen von einer zweistündigen Unterbrechung, während der auch er von der Müdigkeit übermannt worden war, hatte Batuti den ganzen Vormittag über die Küste im Auge behalten. Dichter Wald beherrschte inzwischen das Bild. Mit seinem Wildreichtum war er sicherlich ein Paradies für Jäger und Fallensteller. Plötzlich stutzte der Gambiamann. Dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Die Squaw war wieder da. Sie setzte der Schebecke in schnellem Laufschritt nach. Ihr Gesicht konnte er zwar selbst durchs Spektiv nicht erkennen, aber ihr helles Haar verriet ihm genug. Sie war ihnen tatsächlich gefolgt. Philip Hasard Killigrew lag noch in seiner Koje und schlief. Batuti blickte sich suchend um, sah Philip junior vor dem Großmast hantieren
24 und schickte ihn, seinen Vater zu purren. Minuten später trat der Seewolf ans Schanzkleid. „Warum hast du mich wecken lassen?" Stumm reichte Batuti den Kieker weiter. Hasard warf nur einen kurzen Blick hindurch. „Du hattest also recht", sagte er. „Ich nehme an, du willst mich jetzt bitten, die Segel aufgeien zu lassen und das Indianermädchen an Bord zu holen." „Nicht ganz", erwiderte der Gambiamann. „Es genügt wohl, wenn wir an Land pullen und mit der Squaw reden. Daß sie den Mut aufbringt, uns auf die Schebecke zu begleiten, glaube ich nicht. Jedenfalls jetzt noch nicht. Außerdem sollten wir beide . . . " „Ist schon klar." Hasards Befehle hallten über Deck. Die Segel wurden ins Gei gehängt, bis das Schiff kaum mehr Fahrt lief. Durchs Spektiv beobachtete Batuti, daß die Squaw Unruhe zeigte. „Es könnte eine Falle sein", sagte Edwin Carberry mißtrauisch. „Wir dürfen nicht vergessen daß die Rothäute aufgeschreckt sind. Was in ihren Köpfen vorgeht, wissen wir schon gar nicht." „Laß die Jolle aussetzen, Ed", sagte Hasard freundlich. „Aye, aye, Sir. Ich nehme doch an, daß ich mit an Land pullen soll." Batuti kniff die Brauen zusammen. „Willst du die Squaw vergraulen?" fragte er. „Sie ist fast noch ein halbes Kind." Der Profos murmelte etwas vor sich hin, was entfernt wie „mißgünstiger Hammel" klang und polterte davon. Augenblicke später scheuchte er die Mannen herum, daß es auf der Kuhl wie in einem Ameisenhaufen wimmelte, und das, obwohl die halbe Mannschaft auf der „Explorer" Dienst tat.
„Vorwärts, ihr Hirsche!" dröhnte seine Stimme. „Was ist mit der Jolle? Abfieren, habe ich gesagt, nicht in der Luft hängen lassen! Soll Batuti zu seiner neuen Liebschaft an Land schwimmen? Ich habe mir sagen lassen, daß die Indianerschnuckelchen kitzliger sind als die Londoner Jungfrauen . . . " Der Rest ging im dröhnenden Gelächter der Arwenacks unter. Eine Talje kreischte plötzlich auf, weil jemand ein Tauende vorschnell ausgelassen hatte. Mit dem Heck voraus klatschte die Jolle ins Wasser. „Wohl verrückt geworden?" brüllte der Profos. „Mit solchen Manövern haben wir den Spaniern absolut nichts mehr voraus. Das ist stümperhaft." „Wo siehst du eigentlich Spanier?" erkundigte sich Batuti, als er vor Hasard abenterte. „Eine Galeone voll von Juanitas, Dolores' und Carmens wäre genau das, was dir abgeht." Der Gambiamann sprachs und verschwand schleunigst abwärts. Er sah nicht mehr, daß Carberry nach Luft schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen und die Pranken in die Hüfte stemmte. Er hörte nur noch das spöttische Lachen der Mannen, die seine Erwiderung mitgekriegt hatten. Die anderen auf dem Achterdeck und der Back würden sehr schnell ebenfalls Bescheid wissen. Batuti setzte sich auf die mittlere Ducht. Hasard erschien neben ihm. Während sie kraftvoll zu pullen begannen, beugte sich Carberry über die Verschanzung und drohte dem Gambiamann mit der Faust. „Wie ist das?" rief er. „Sollen wir dich befreien, falls du den Rothäuten in die Hände fällst, oder würdest du dich nur ungern von ihren Frauen trennen?" Batuti antwortete ebenso schnippisch: „Sorg dich mal nicht um mich, bei manchen Stämmen soll sogar die Vielweiberei üblich sein."
25 Mit stolz erhobenem Haupt blickte die Squaw den beiden Männern entgegen, als sie landeten und die Jolle verließen. Hasard blieb nach der Hälfte der vierzig Schritte stehen, die vom Wasser bis zu dem umgestürzten Baum zurückzulegen waren. „Wir glauben, daß du auf uns wartest", sagte er. Die Augen der Indianerin hingen an seinen Lippen. „Ich warte", erwiderte sie in holperigem Englisch und fügte merklich schwerfälliger hinzu: „Ich weiß nicht, ob warten ist richtig." „Zu welchem Stamm gehörst du?" wollte Batuti wissen. „Ich bin eine Tuscarora", sagte die Squaw stolz. „Bist du das wirklich? Wie heißt du?" „Goldene Wolke." „Ein schöner Name", sagte Hasard. „Wirst du deines hellen Haares wegen so genannt?" Die Squaw nickte. Ihr Blick huschte von den beiden Männern auf die See hinaus zu den Schiffen. „Möchtest du mit an Bord kommen?" fragte Batuti. „Ich weiß, daß du mir das Leben gerettet hast." „Der Mann, ich getötet, war böse." „Das war er." Batuti nickte. „Du sprichst ein gutes Englisch. Wann hast du es gelernt?" „Ich weiß nicht." „Kann es sein, daß du nicht immer bei den Tuscarora gelebt hast?" Die Squaw zögerte. „Hat deine Puppe auch einen Namen?" wollte Hasard wissen. „Das ist Anna. Ich habe sie lieb." „Anna ist ein englischer Name bist du in England aufgewachsen? Kannst du dich erinnern? An irgend etwas, und wenn es dir noch so unbedeutend erscheint." Auf gewisse Weise mutete das Geschehen unwirklich kräftige an. Da standen zwei sturmerprobte, Männer
einem jungen Mädchen gegenüber, das nicht nur wie eine Indianerin aussah, sondern vermutlich längst auch so dachte, und wollte von ihr wissen, ob sie sich an England erinnerte. „Ein Haus aus Stein", sagte die Squaw plötzlich. „Figuren aus Stein und viele Bäume . . . " „Klingt nach einem Herrschaftssitz", murmelte Batuti. Hasard nickte zustimmend. „Kennst du noch einen Namen?" wandte er sich wieder an das Mäd-, chen. „Wie haben deine Eltern oder andere Kinder zu dir gesagt?" „Mary", erwiderte das Mädchen zögernd. „Und wie noch?" „Ich weiß nicht." Hasard legte Batuti die Hand auf die Schulter und unterbrach ihn, als er weiter fragen wollte. „Laß es gut sein", sagte er. „Wir nehmen sie mit auf die Schebecke. Sie braucht Ruhe, um zu sich selbst zu finden." Goldene Wolke blickte ihn aus großen Augen aufmerksam an. „Schiff schaukelt", brachte sie stokkend hervor. „Sturm und hohes Wasser. Angstvoll zittern." Batuti stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Da hast du es", sagte er. „Sie muß mit einem der ersten Schiffe über den Atlantik gesegelt sein. Solche Erinnerungen verfolgen dich mitunter dein Leben lang." „Es wird keinen Sturm geben", erklärte Hasard. „Glaube mir, Mary, ich bin der Kapitän des Schiffes, Sir Philip Hasard Killigrew. Und der mit der dunklen Haut", er zeigte auf den Gambiamann, „heißt Batuti." „Sir", wiederholte das Mädchen gedankenverloren und versuchte vergeblich, einen Namen auszusprechen. Ein rollendes „R" und ein nasales „A" oder „O" waren alles, was sie hervorbrachte. „Raleigh", sagte Hasard, einer
26 plötzlichen Eingebung folgend. „Ist dir der Name Sir Walter Raleigh bekannt?" Er dachte an John White, einen von Sir Raleighs früheren Begleitern. Als White 1589 von England aus in die Neue Welt zurückkehrte und auf Roanoke an Land ging, waren sämtliche Kolonisten, unter ihnen seine Tochter und Enkelin, spurlos verschwunden. Goldene Wolke schreckte auf, als Batuti rief: „Indianer!" Von vornherein ließen die Krieger den Weißen keine Chance, zu ihrem Boot zurückzukehren. Bis die Jolle auch nur so weit draußen war, daß sie mit kräftigen Riemenschlägen gepullt werden konnte, hätten die Pfeile der Angreifer längst ihr Ziel gefunden. Entschlossen sprang Hasard zu der Squaw und zerrte sie hinter sich her. Dann hatte auch sie ihren Schreck überwunden und jagte mit weit aufgreifenden Sätzen zwischen Batuti und dem Seewolf über den Strand nach Norden. Von der Schebecke hallte das Echo von Schüssen herüber. Natürlich waren die Deckswachen aufmerksam geworden. Der Feuerzauber, den sie veranstalteten, war allerdings nicht mehr als der gutgemeinte Versuch, die Angreifer vorübergehend abzulenken und zu verunsichern. Selbst mit den Culverinen hätte der Stückmeister Al Conroy kaum Wirkung erzielt. Mehrere Pfeile schwirrten an den Fliehenden vorbei und bohrten sich vor ihnen in den Boden, doch keiner traf. „Sie wollen uns lebend." Damit sprach Batuti aus, was Hasard ebenfalls dachte. „Wahrscheinlich wegen des Mädchens." „Weißt du, was uns erwartet?" „Nichts Angenehmes, fürchte ich. Aber kriegen müssen sie uns erst." Die Distanz zu dem Dutzend Rothäuten, die ihnen heulend hinter-
dreinhetzten, verringerte sich merklich. Hasard blieb keine andere Wahl, als seinen Radschloßdrehling gezielt abzufeuern. Einer der Verfolger überschlug sich und riß zwei weitere mit sich zu Boden. Hasard hatte ihn in den Oberschenkel getroffen, aber die Wirkung war umwerfender, als hätte er ihn getötet. Der Bursche stimmte ein derart durchdringendes Geschrei an, daß die andern unwillkürlich ihre Schritte verlangsamten. Hasard, Batuti und die Squaw schlugen sich seitwärts ins Unterholz. Keiner achtete auf die Äste, die ihnen Hände und Gesicht zerkratzten. Hinter ihnen wurde das Heulen leiser und verstummte schließlich ganz. Doch der Seewolf gab sich nicht der Illusion hin, die Indianer könnten die Verfolgung tatsächlich aufgegeben haben. Gerade die Stille erschwerte es, die eigenen Chancen abzuwägen. Ein wenig außer Atem begann er, seinen Drehling nachzuladen. Mary warf dem kleinen Feuerrohr scheue Blicke zu, hütete sich aber, Hasard zu bedrängen. Erst als er die Waffe wieder hinter seinen Gürtel schob, griff sie nach seiner Hand und deutete tiefer in den Wald. „Springender Hirsch folgt unserer Fährte", sagte sie. „Dorthin ist besser." „Wir müssen zu unserem Schiff zurück", widersprach Batuti. „Hier!" beharrte die Squaw. „Dann Schiff. Später." „Meinst du wirklich?" „Ich nicht lüge. Selbst Angst vor Springender Hirsch." Hasard zuckte mit den Schultern. „Wir sind wohl am besten beraten, wenn wir ihr vertrauen. Sie kennt das Land." „Habe ich etwas anderes behauptet?" erwiderte der Gambiamann grollend. „Mich wurmt nur, daß Ed jetzt vermutlich allen verklart, daß
27 ich - daß die Squaw . . . Ach, Quatsch." Das Dickicht war in einen Hochwald übergegangen, in dem sie gut vorangelangten. Der Boden war fest, zum Teil steinig, und kaum von Moos bewachsen. Die Indianer würden Mühe haben, Spuren zu finden. Mehr als eine Meile weit hatten sie sich von der Küste entfernt, als sie ein verhaltenes Rauschen hörten. Ein Bach stürzte schäumend eine kleine Anhöhe hinunter, bildete einen tiefen Tümpel und floß in vielfachen Windungen, einer Senke folgend, weiter. „Wasser geht zum Meer", erklärte Goldene Wolke. „Du meinst, wir sollen im Bachbett laufen . . . " Batuti legte der Squaw flüchtig einen Arm um die Schulter und erhielt dafür einen halb verwirrten, halb hoffnungsvollen Augenaufschlag. Das Wasser, kalt und kristallklar, reichte den Männern bis zu den Knien. Nur die glitschigen Kiesel erschwerten ein rasches Vorwärtsbewegen. Mehrmals hielt Hasard inne und lauschte den vielfältigen Stimmen des Waldes. Von den Verfolgern war nichts zu hören, der Seewind trug lediglich das Geräusch vereinzelter Schüsse heran. Endlich sahen sie zwischen den Bäumen hindurch das Meer im Schein der Nachmittagssonne glitzern. „Ich hätte nicht geglaubt, daß wir es tatsächlich schaffen würden", sagte Batuti erleichtert. Der Satz blieb ihm beinahe im Hals stecken. Alles was er noch hervorbrachte, war ein tonloses: „Sir!" Jeder Widerstand wäre sinnlos gewesen. Die Rothäute standen an beiden Ufern, ihre Speere und Pfeile unmißverständlich auf die Arwenacks gerichtet. Hasard hätte bestenfalls zwei oder drei von ihnen mit in den Tod nehmen können. Langsam hob er
die Arme und drehte die Handflächen nach außen. Batuti tat es ihm nach. Der Häuptling herrschte die beiden an. Sein Gesicht und sein Tonfall verhießen wenig Gutes. Anschließend spie er aus. „Tut mir leid", sagte Hasard. „Ich habe kein einziges Wort verstanden." In höchster Erregung schleuderte der Häuptling seinen Speer, der sich nur eine Handbreite vor Hasards Füßen zwischen die Kiesel bohrte. Der Seewolf packte kurz entschlossen zu, riß den Speer wieder heraus und warf ihn achtlos zur Seite. Seine Reaktion rief verhaltenes Murmeln hervor. „Weißer Mann wird qualvoll sterben", flüsterte Goldene Wolke. „Wer sagt das?" „Springender Hirsch." Wieder schimpfte der Häuptling. Auf seinen Wink hin sprangen mehrere Krieger in den Bach und zerrten die Squaw heraus. Sie gingen nicht gerade sanft mit ihr um. Der Häuptling trat auf sie zu, griff nach ihrem zerrissenen Lederhemd und begann erneut zu zetern. Als Goldene Wolke zu einer Erwiderung ansetzte, schlug er sie mit dem Handrücken ins Gesicht. „Der glaubt doch hoffentlich nicht, wir hätten mit ihr . . . " Batuti ließ den Satz offen. Hasard und er wurden nun ebenfalls von Kriegern gepackt und ans Ufer gezerrt. Einer der Burschen bemächtigte sich des Radschloßdrehlings und reichte die Waffe dem Häuptling weiter, auf dessen Gesicht erstmals ein Ausdruck von Zufriedenheit erschien. Unbeholfen drehte er die Pistole, stocherte mit den Fingern in der Laufmündung herum, roch daran und hob sie schließlich vor die Augen. „Wenn der so weiter hantiert, bringt er sich selber um", sagte Batuti besorgt. Springender Hirsch sagte etwas zu
28 Hasard, was der Seewolf natürlich nicht verstand. Gleich darauf wiederholte der Indianer seine Worte, langsamer als zuvor, aber überaus eindringlich. Er hielt die Pistole mit beiden Händen und streckte sie seinen Gefangenen hin. Hasard zuckte mit den Schultern. Darauf wandte sich der Indianer Goldene Wolke zu und fuhr sie in etwas gemäßigterem Tonfall an. Dabei fuchtelte er mit dem Radschloßdrehling in der Luft herum und deutete auf die Gefangenen. „Ich reden", sagte die Squaw schließlich. „Springender Hirsch wissen will, wieso Feuerrohr stumm bleibt." „Sag ihm, die Waffe wirkt nur in meinen Händen", erwiderte Hasard. Goldene Wolke übersetzte. Das Gesicht des Häuptlings verdüsterte sich zusehends. „Ein mächtiger Zauber wohnt in dem Feuerrohr", fügte der Seewolf schnell hinzu. „Ich bin bereit, Springender Hirsch in das Geheimnis einzuweihen, doch sind zu viele Augen auf uns gerichtet." „Häuptling verlangt, daß großer weißer Mann Zauber zeigt", sagte die Squaw nach einem heftigen Disput. „Nicht hier, sondern in Dorf. Wenn nicht, du stirbst Tod vieler Martern. Häuptling meint, das Ehre für Blauauge." „Darauf kann ich verzichten", entgegnete Hasard. „Nein, sag ihm das nicht, sag ihm lieber, nur gerechte Krieger können das Feuerrohr benutzen." „Häuptling ist gerecht", betonte Goldene Wolke gleich darauf. „Du ihm heute zeigen Zauber, der tötet." 4. Die Indianer zogen nach Nordwesten und entfernten sich damit weiter
von den beiden Schiffen. Mittlerweile würden zwar Suchtrupps an Land sein, doch rechtzeitig konnten die Arwenacks bestimmt nicht eingreifen. „Du wirst dem Burschen hoffentlich nicht wirklich das Schießen beibringen", raunte Batuti dem Seewolf bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu. „Was hast du vor?" „Das weiß ich selbst noch nicht", erwiderte Hasard. Wald und Steppe wechselten miteinander ab. Meile für Meile ging es tiefer ins Landesinnere. Aus Ästen hatten die Rothäute eine Rutsche geflochten, auf der sie den von Hasards Kugel Verwundeten über den Boden schleiften. Der Krieger wirkte blaß, hin und wieder stöhnte er. Das Blei steckte in seinem rechten Oberschenkel. Er hatte viel Blut verloren, doch inzwischen war die Wunde wenigstens verkrustet. Am Spätnachmittag erreichte der Trupp die Indianersiedlung, die sich schon vorher durch Maisfelder angekündigt hatte. Massive Langhäuser und leichte Tipis bildeten ein scheinbar wahlloses Durcheinander. Totempfähle hielten ringsum Wacht. Am Rand des Dorfes war ein halbes Dutzend der kunstvollsten Stämme zu einem Kreis angeordnet. Die beiden Gefangenen wurden von Frauen und Kindern ausgiebig begafft. Ruhe trat ein, als Springender Hirsch sich vor sie stellte, die Pistole hob und laute Rufe ausstieß, die von der Menge schließlich mit Jubel erwidert wurden. „Jetzt prahlt er, was er für ein Kerl sei", sagte Batuti. „Und daß er die Tuscarora zu einem der mächtigsten Stämme machen wird." Es bedurfte nur einer einzigen befehlenden Armbewegung, um alle Stimmen zum Schweigen zu bringen. Ein Feuer wurde angesteckt, die ersten Rothäute begannen mit teilweise grotesken Verrenkungen zu tanzen. Andere sangen eine mono-
29 tone, aber aufpeitschende Melodie. Der Text bestand nur aus wenigen, sich stetig wiederholenden Worten. Es war klar, daß das bis in die Nacht so weitergehen würde. Die Indianer feierten ihren Sieg. Ein Maskentänzer bewegte sich plötzlich in der Menge, ohne daß er vorher bemerkbar gewesen war. Aller Augen richteten sich auf ihn. Trotzdem erhielten Hasard und Batuti keine Gelegenheit zur Flucht. Die Krieger hinter ihnen hätten kaum gezögert, ihre Speere einzusetzen. Und Hasard zweifelte nicht daran, daß sie selbst leichtfüßiges Wild zu treffen verstanden. Die geschnitzte Vogelmaske wog offenbar schwer. Ihre weiße Farbe leuchtete in der beginnenden Dämmerung, die handflächengroßen roten Augen schienen jeden Betrachter anzustarren. Adlerfedern zierten die Unterarme des Tänzers. Sie symbolisierten die Schwingen, mit denen er sich in die Lüfte zu erheben versuchte, untermalt vom steten Klang der Glöckchen an seinen Fesseln. Goldene Wolke schrie erschrocken auf, als der Vogelgott sie ansprang und ihr die Puppe zu entreißen versuchte, die sie unter dem Hemd verborgen hielt. Vergeblich wehrte sie sich gegen den bedeutend kräftigeren Schamanen, der sie mit sich zog und die Puppe in seinen starren Schnabel stopfte. Unmittelbar vor dem lodernden Feuer schleuderte er die schluchzende Squaw zu Boden. Die Menge wiegte sich wie in Trance. Der Schamane hielt jetzt eine Pfeilspitze in der Hand, hob die Puppe hoch über seinen Kopf und stach zu. Goldene Wolke schrie gequält auf, als Anna von dem geschliffenen Stein durchbohrt wurde. Verzweifelt wollte sie sich auf den Maskenträger stürzen, doch zwei grell bemalte Krieger hielten sie zurück. „Aufhören!" rief Hasard und trat
kurz entschlossen vor. „Wenn das eine Dämonenaustreibung sein soll, ist sie lächerlich genug." Niemand verstand ihn, dennoch verstummten die Indianer. Die Reaktion ermutigte den Seewolf, dem Schamanen die Puppe aus der Hand zu reißen. Der Maskierte stieß wütende Laute aus. Hasard verdankte es dem Häuptling, daß er Augenblicke später noch lebte, denn Springender Hirsch vertrat den Kriegern den Weg, die ihre Speere in eindeutiger Absicht erhoben hatten. „Na also", sagte der Seewolf. „Warum nicht gleich so vernünftig?" Der Häuptling streckte ihm den Radschloßdrehling entgegen. Hasard nickte, eine Geste, die sein Gegenüber offensichtlich verstand, und wandte sich der Squaw zu. „Sag ihm, daß ich bereit bin, den Zauber des Feuerrohrs zu erklären. Aber nur, wenn er dich in Ruhe läßt." Erstaunt riß Goldene Wolke die Augen auf. Wahrscheinlich hatte sie nicht alles verstanden, aber doch den Sinn begriffen. Zögernd drangen die indianischen Worte über ihre Lippen. Hasard zerrte inzwischen die Pfeilspitze aus Annas weichem Innenleben heraus und warf die abgebrochene Waffe ins Feuer. Die sichtlich mitgenommene Puppe reichte er der Squaw. Ihr stummer Blick war ihm sehr viel wert, hatte er doch eine Verbündete gefunden, die alles für ihn tun würde. „Springender Hirsch soll fünf Kürbisflaschen aufstellen lassen", verlangte er. Goldene Wolke wußte offenbar nicht, was ein Kürbis war. Nach einigem Hin und Her war allerdings auch dieses Hindernis ausgeräumt und fünf gerade kopfgroße, ausgehöhlte Kürbisse standen nebeneinander auf dem Boden. „Kein Versuch, Springender Hirsch zu töten", sagte die Squaw. „Bitte."
30 Hasard schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. „Ich habe nicht vor, wie eine Landratte zu sterben", erwiderte er. Selbst mit der Waffe in der Hand und wenn er den Häuptling als Geisel nahm, würde er nicht weit fliehen können. Zu viele Krieger verfolgten jeden seiner Handgriffe. Abschätzend wog er den Radschloßdrehling in der Hand, den er seinerzeit von den Diebesinseln mitgebracht hatte. Es war eine schöne Waffe mit fast 16 inches langem, blankem Lauf, einem Hartholzschaft und gravierten Beineinlagen. Nur noch fünf Kugeln befanden sich in der Trommel. Sorgfältig überprüfte Hasard, ob das gerändelte und mit einem Federkettchen verbundene Rad aufgezogen war. Ebenso bedächtig legte er den Hahn mit dem Schwefelkies über den Zündpfannendeckel. Dabei hielt er die Waffe so, daß Springender Hirsch den Vorgang genau beobachten konnte. Er war ohnehin überzeugt davon, daß der Indianer das mitunter ziemlich zeitraubende Füllen des Zündkanals und die erforderliche sorgfältige Instandhaltung der Pistole selbst nach Tagen nicht beherrschen würde. Der Druck auf den Abzug ließ den Pfannendeckel beiseite gleiten. Zugleich drehte sich das Rad, dessen Rinnen dem Schwefelkies die nötigen Funken entrissen. Der Kies erzeugte allerdings viel Abrieb, der den empfindlichen Mechanismus oft genug unbrauchbar werden ließ. Hasard hielt den Radschloßdrehling mit beiden Händen und zielte sorgfältig. Die Entfernung zu den Kürbisflaschen betrug immerhin zwanzig Schritte. Springender Hirsch zuckte kurz zusammen, als der Schuß krachte. Pulverdampf wölkte auf. Die Wirkung war für die Demonstration gerade richtig, die Kugel hatte den Kürbis
glatt durchschlagen und ihn in zwei Hälften auseinandergebrochen. Ein verhaltenes Raunen hob an. Der Häuptling sagte etwas zu Goldene Wolke, das sie mit „Weiter!" übersetzte. Hasards zweiter Schuß brachte das gleiche Ergebnis und ein besitzergreifendes Funkeln in den Augen von Springender Hirsch. Womöglich malte er sich bereits in farbenprächtigen Bildern aus, wie er seine Gegner mit dem Feuerrohr besiegen würde. Hasard beschloß, die Vorstellungen des Indianers ein wenig zu dämpfen. Der Häuptling brauchte nur noch zu zielen und abzudrücken, als er ihm die Waffe reichte. Viel zu schnell verkrampfte sich jedoch sein Finger um den Abzug, der Schuß wirbelte dicht vor seinen Füßen winzige Erdbrokken auf. Entgeistert starrte Springender Hirsch auf den unversehrten Kürbis. Die Krieger schnitten betretene Gesichter. „Na ja", sagte Hasard keineswegs überrascht. „Es ist eben noch kein Meister vom Himmel gefallen." Er brauchte nicht lange zu suchen, um das aufgeplattete Stück Blei zu finden. Mit zwei Fingern hielt er es dem Häuptling hin. Der nächste Versuch fiel ein wenig besser aus. Die Kugel kratzte die Kürbisflasche immerhin an und ließ sie umfallen. Der Häuptling strahlte wie ein Kind, das soeben ein lange gewünschtes Geschenk erhalten hat. Der dritte Schuß ging weit über das Ziel hinaus. „Der Zauber wirkt noch nicht", sagte Hasard. Goldene Wolke übersetzte. Anschließend zeigte er den Reinigungs- und Ladevorgang. Springender Hirsch konnte noch so genau zusehen, ihm kam nicht einmal entfernt der Verdacht, daß jede der Kugeln, die der Seewolf aus dem an seinem Gürtel hängenden Beutel hervor-
31 holte, immer nur ein und dieselbe war. Am Schluß war die Trommel so leer wie zuvor. „Der Zauber ist der", erklärte Hasard, „daß kein Engländer von Kugeln aus dieser Waffe verletzt werden kann." Die Squaw hatte diesmal ernsthafte Probleme, verstand schließlich aber doch, was sie dem Häuptling erklären sollte. Springender Hirsch riß Augen und Ohren auf und verlangte den Beweis für die Behauptung. Hasard drückte ihm den Drehling in die Hand. Auf fünf Schritte Distanz konnte ihn der Indianer keinesfalls verfehlen. „Sir nicht tot kriegen", sagte Goldene Wolke weinerlich. „So bestimmt nicht." Daß der Seewolf lachte, stimmte sie ein wenig zuversichtlicher. Trotzdem zuckte sie heftig zusammen, als der Schuß krachte. Hasard taumelte rückwärts, fing sich aber schnell. Mit der Rechten faßte er an seine Brust, und als er die Hand öffnete, lag eine Bleikugel darin. „Feuerrohr ist keine Waffe gegen weißen Mann", sagte er. Das schien endlich auch Springender Hirsch einzusehen, der seine Ratlosigkeit dadurch überspielte, daß er die beiden Arwenacks fesseln und in ein Tipi werfen ließ. In dieser Nacht gab es weder Trommelklang noch Gesänge.
„Deine Schummelei hat der Häuptling zwar nicht bemerkt, aber in die falsche Kehle gekriegt", motzte Batuti mit gedämpfter Stimme. „Ich säße jetzt lieber draußen bei ihm am Feuer. Langsam sterben mir nämlich Arme und Beine ab." Ihre Lage war in der Tat mehr als unbequem. Die Indianer hatten ihnen
die Hände auf den Rücken gebunden, die Beine waren nach hinten gebogen, daß die Fersen fast die Oberschenkel berührten, und mit einem kurzen Strick mit den Handfesseln verknüpft. Auf diese Weise hatten beide so gut wie keine Chance, sich selbst zu befreien, sie schafften es nicht einmal, sich weit herumzuwälzen. Bäuchlings lagen sie auf dem festgestampften Boden. „Versuche, einige Stunden zu schlafen", riet der Seewolf. „Am Morgen sieht alles meist ganz anders aus." „Deine Zuversicht möchte ich haben", murmelte Batuti. „Bis morgen früh bin ich steif wie ein Kielschwein." Hasard erwiderte nichts. Was hätte er auch sagen sollen? Natürlich hatten die Arwenacks längst einen Suchtrupp aufgestellt. Es war wohl nur noch eine Frage weniger Stunden, bis die Mannen mit Brandsätzen und Höllenflaschen angriffen und den Rothäuten nach bewährter Methode gehörig einheizten. Hasard lauschte den vielfältigen Lauten, die gedämpft durch die Fellund Mattenbedeckung des Tipis hereindrangen. Er glaubte erkennen zu können, daß der Häuptling keine Wache aufgestellt hatte. War er sich seiner Gefangenen so sicher? Vorübergehend verstärkte der Seewolf seine Bemühungen, die Handfesseln wenigstens zu lockern, doch es blieb ein sinnloses Unterfangen. Die aus Pflanzenfasern gedrehten Stricke erwiesen sich als mindestens so haltbar wie Brooktaue. Batuti begann erneut zu schimpfen. „Das beißt und zwickt schlimmer als ein Sack voller Flöhe. Nicht einmal kratzen kann man sich." „Hast du Probleme?" „Wie kommst du darauf?" erwiderte der Gambiamann schroff. „Diese Hütte hat offenbar noch eine ganze Menge anderer Bewohner." „Ameisen?"
32 „Die auch. Und wahrscheinlich alle Arten von Spinnen, Wanzen, Läusen und Schaben." „Du mußt verdammt gute Augen haben." „Ich sehe das Viehzeug nicht, ich spüre es." Batuti stöhnte unterdrückt. „An Bord gibt es wenigstens nur Kakerlaken." Philip Hasard Killigrew lachte leise. Dann schwiegen sie wieder und hingen beide ihren eigenen Gedanken nach, die sich mit dem Aufbau der englischen Kolonie in Virginia befaßten. Daß es nicht leicht sein würde, hatte jeder gewußt, das war heute kaum anders als vor zehn Jahren. Die vermeintliche Freiheit war ein Pakt mit dem Tod - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Mit der Zeit verstummten die Stimmen außerhalb des Tipis. Der flakkernde Feuerschein fiel in sich zusammen und drang nicht mehr durch die Felle hindurch. Irgendwann forderte die Müdigkeit ihr Recht. Hasards Schlaf blieb jedoch unruhig. Ein hartnäckiges Rascheln schreckte ihn auf. Er lauschte, bis ihm klar wurde, daß Batuti sich bäuchlings auf dem Boden wand und so das Geräusch erzeugte. „Ich habe von Ameisen gehört, die ihren Opfern das Fleisch von den Knochen fressen", flüsterte Hasard. Das Rascheln verstummte prompt. Batuti stieß eine ganze Litanei von Verwünschungen aus. Wenn den Seewolf sein Zeitgefühl nicht trog, war Mitternacht längst vorüber. Es dauerte nicht lange, bis gleichmäßige Atemzüge verrieten, daß Batuti endlich seine mühsam erkämpfte Ruhe gefunden hatte. Während Hasard noch darüber nachdachte, warum die winzigen Plagegeister ausgerechnet ihn verschonten, fielen ihm erneut die Augen zu. Er träumte von der See, von einem halben Dutzend spanischer Silberga-
leonen, so schwer beladen, daß sie tief im Wasser lagen. „Sir . . . " Er hatte in seiner Kammer geschlafen, als die Flotte gesichtet worden war. Jetzt stand Ben Brighton, sein Erster Offizier, neben ihm und rüttelte ihn an der Schulter. „Sir . . . " Hasard schreckte hoch. Finsternis war um ihn her, auch vermißte er das stete Stampfen und Rollen des Schiffes. Das besorgte Gesicht eines jungen Mädchens tauchte vor ihm aus der Dunkelheit auf. Eine Steinklinge blitzte, gleich darauf konnte Hasard seine Arme wieder bewegen. Das schlagartig einsetzende Prickeln von den Händen bis zu den Ellenbogen brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Auch die Fußfesseln fielen. „Komm!" flüsterte Goldene Wolke. Sie hatte eins der unteren Felle von den anderen gelöst und zurückgeschlagen. Die entstandene Öffnung war gerade groß genug, daß man ungehindert hindurchkriechen konnte. Hasard und Batuti folgten der Squaw, wenn auch nicht mit derselben lautlosen Geschmeidigkeit. Fragen stellen konnten sie später immer noch. Ihnen war klar, daß Goldene Wolke sehr viel riskierte. Das Mädchen deutete zum Zenit hoch, wo sich der Vollmond fahl hinter einer Wolkenbank abzeichnete. Hasard verstand. Ihnen blieb nur wenig Zeit, bis der Mond wieder hervortrat. Er nickte stumm. Goldene Wolke führte die Männer zwischen den Totempfählen hindurch. Nach weniger als zweihundert Yards begann ein Birkengehölz. Erst als sie es erreichten, fiel ein Teil der Anspannung von Hasard ab. Ihre Flucht war unbemerkt geblieben und würde von den Indianern wohl erst im Morgengrauen entdeckt werden. Bis dahin hatten sie einen genügend großen Vorsprung.
Den folgenden Brief erhielten wir von K G , Straße , 4600 Dortmund 18: Sehr geehrte Seewölfe Redaktion! Als ich vor ein paar Tagen in unserer Tageszeitung las, wurde ich angenehm überrascht. Zwischen den Berichten über Katastrophen, Anschlägen, Morden und politischen Krisenfand ich den Ihnen nun auch vorliegenden Fotobericht über die ,,Prins Willem", den Nachbau eines niederländischen Seglers um 1650. Vielleicht können Sie die Fotos in der Seemannskiste verwenden. Ich persönlich fände es interessant, wenn Sie über die ,Prins Willem" berichten würden (evtl. sogar ausführlicher als im Zeitungstext). Ich würde mich sehr darüber freuen und verbleibe mit freundlichen Grüßen - K G . PS:: Vielen Dank für die Beantwortung meiner Frage in SW-Nr. 401. Herzlichen Dank für Ihre Anregung, lieber Herr G . Wir mußten lange „buddeln", um etwas über „Prins Willem" zu erfahren aus dem knappen Begleittext zu den fünf Fotos der „Prins Willem" ging ja wenig hervor. Und zumindest die knackige Überschrift „Ostindienfahrer segelt noch einmal auf alter Route" war so falsch wie ein Porzellanzahn, ebenso die Bemerkung, die „Prins Willem" sei „ein Nachbau des berühmten Originals aus dem Jahre 1650". So berühmt war sie nun auch wieder nicht. Die Fotos sind leiderzu unscharf, um sie in der Seemannskiste zu bringen. Aber was wir über dieses Schiff - einen Galeonentyp herausbrachten, ist doch recht originell. Wir fanden darüber einen Bericht in der „Yacht", Nr.1 vom 2. Januar 1986. Zunächst einmal: Die „Prins Willem" segelt nicht noch einmal „auf alter Route", sondern sie wurde als Nachbau 1985 in Amsterdam von dem Dockschiff „Mammoet" huckepack genommen und über den Sues-Kanal nach Nagasaki gebracht. Sie wurde nämlich nicht gebaut, um mit ihr noch einmal „auf alter Route" zu fahren, sondern sie sollte im Auftrag der tra-
ditionsbewußten Japaner bei Nagasaki ausgestellt werden, und zwar als Zeuge für die holländisch-japanischen Handelsbeziehungen seit Anfang des 17. Jahrhunderts. Die Japaner waren auch die Auftraggeber für den Nachbau der ersten „Prins Willem", und sie ließen sich diesen Bau sieben Millionen (!) Mark kosten. Die originale „Prins Willem" war vermutlich das größte als Frachter gebaute sogenannte Spiegelschiff der Vereinigten Ostindischen Kompanie. Sie wurde 1650 in Middelburg gebaut und segelte 1651 in sechs Monaten nach Batavia - dem heutigen Djakarta in Indonesien. Zurück in Holland wurde sie zum Kriegsschiff umgebaut, denn der erste Krieg mit England war ausgebrochen. Sie wurde mit 40 Kanonen bestückt und scheint für eine gewisse Zeit das Flaggschiff des niederländischen Admirals Witte de With gewesen zu sein. Nach dem Kriegstheater verwandelte man sie wieder in den „Ostindienfahrer", und als solcher pendelte sie auf Gewürzfahrten zwischen Holland und Indonesien hin und her, bis sie am 10./11. Februar 1662 vor der kleinen indonesischen Insel Brandon bei Sumatra im Sturm mit Mann und Maus sank. Der Nachbau ist zwar originalgetreu, aber einiges ist „gemogelt". So sind die Kanonen nicht aus Gußeisen, sondern aus Gasbeton und Glasfiberkunststoff. Der Rumpf bestehtaus 15 mm dickem Stahl, der mit Kambalaholz beplankt wurde. Das stehende Gut ist aus Niro, das laufende aus Stahldraht. Eine Besegelung ist nicht vorgesehen! Eben weil die „Prins Willem" nur ein Ausstellungsstück sein soll. Sie hat eine Länge von 68m und eine Breite von 14,32m. Der Tiefgang beträgt 3,8m, der Achtersteven liegt 20,5m über Kiel, der Masttopp (Großmast) 54m über dem Kiel. Immerhin an den Holzschnitzereien, also den Ornamenten und Skulpturen, wurde zehn Monate lang gearbeitet, und zwar von Meisterhand. Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren
Das abgetakelte Schiff auf den beiden vorigen Seiten wurde von dem englischen Kupferstecher Edward William Cook (1811-1881) gezeichnet, der sich mit besonderer Vorliebe Objekten widmete, die mit der Seefahrt zu tun hatten. 1829, als Cook erst 18 Jahre alt war, erschien unter dem Titel „65 Stiche von Seefahrt und Handwerk" eine Sammlung seiner Zeichnungen, zu denen auch das umseitige Bild gehörte. Cook stellte eine sogenannte „Hulk" dar. Dies ist die Bezeichnung für ein außer Dienst gestelltes Schiff, das vor dem endgültigen Abwracken noch einen bestimmten Zweck erfüllt. Man kann es nach dem „Hulken" (Ausrangieren) noch als Wohnschiff, Kohlenbunker, Lagerplatz oder Gefangenen-Hulk benutzen. Insbesondere im England der Nelson-Ära dienten Hulken als Wohnschiffe, aber auch als Gefängnisse für Sträflinge, die dort auf ihren Transport nach Australien warteten. Eine solche Szene hat Cook mit der umseitigen Zeichnung eingefangen: Verurteilte werden von einer Militäreskorte per Jolle zu der Hulk gebracht, die an einer Pier in Portsmouth vertäut und außerdem mit zwei Ankern verankert ist. Eine trostlose Szenerie! Der achtere Mast steht nicht mehr, Großmast und Fockmast sind bis zum Untermars abgetakelt, zwischen den Wanten baumeln Wäscheleinen mit Plünnen. Aus dem Vorschiff, das bis zur Kuhl überdacht ist, ragt ein qualmendes Ofenrohr, die früheren Stückpforten sind mit Gittern versehen. Vermutlich handelt es sich bei dieser Hulk um einen ehemaligen Zwei- oder Dreidecker der Royal Navy. Hier sei nebenbei bemerkt, daß die Admiralität 1789 ernsthaft erwogen hatte, die berühmte „Victory" in eine Gefangenenhulk umzuwandeln - ein Los, das ihr nur erspart blieb, weil sie bereits unter verschiedenen Admiralen als Flaggschiff gedient hatte - bis Admiral Nelson 1803 auf ihr seine Flagge setzte. Davor verwandte man sie als Hospitalschiff. In SEEWÖLFE Nr. 10 beschreibt Adam Hardy in dem Roman „Der Brander", wie Commander Fox von einer als Wohnschiff dienenden Hulk Männer für einen BranderEinsatz „requiriert". Da heißt es: „Wie üblich tummelten sich zahllose Boote um das Wohnschiff - einen festgebauten, plumpen, häßlichen Kasten. Die Zustände an Bord würden gräßlich sein. Fox wußte, wie schrecklich es oft auf Wohnschiffen zuging, wo die Männer hinter Schloß und Riegel saßen, bevor sie wieder zur See fuhren. Ein Seemann konnte von einem Preßkommando geschnappt werden und sein Heimatland jahrelang nicht wiedersehen. Jedesmal, wenn sein Schiff einen englischen Hafen anlief, wurde er in einen solchen Kasten gesperrt, von Seeleuten bewacht, gepeitscht und an Bord eines neuen Schiffes verfrachtet wie ein Faß Pökelfleisch. Kein Wunder, daß die Männer jede Gelegenheit zur Flucht ergriffen. In einiger Entfernung wurde ein 74-Kanonen-Schiff, bereits entmastet, ins Trockendock geschleppt. Die Besatzung war wahrscheinlich auf das Wohnschiff verfrachtet worden, um zu warten, bis das 74-Kanonen-Schiff wieder seetüchtig war - oder dem ersten Capitain übergeben zu werden, der seine Mannschaft auffüllen wollte . . . " Ob Wohnschiff oder Wartestation für Sträflinge, die nach Australien deportiert werden sollten, diese Hulks glichen Totenschiffen, und man wird sich vorstellen können, wie entwürdigend ein Verbleib auf ihnen war - in stinkenden Laderäumen, die bar jeder Hygiene waren, bei Wassersuppe, steinhartem Brot oder madigem Pökelfleisch und bewacht von brutalen Seesoldaten, bei denen die Neunschwänzige locker saß. Etwas von all dem vermittelt die Zeichnung E. W. Cooks.
37 „Danke", raunte er der Squaw zu. „Hoffentlich wird der Häuptling dich dafür nicht bestrafen." „Ich gehe mit euch", erwiderte Goldene Wolke in geradezu entwaffnender Offenheit. „Das wußte ich", sagte Batuti. „Wer einmal unter der englischen Krone gelebt hat, kehrte immer wieder zurück." „Gott schütze unsere Lissy, der wir unser Hiersein verdanken." Hasard entblößte die Zähne zu einem strahlenden Lächeln, von dem der Gambiamann überhaupt nicht wußte, wie es gemeint war. Goldene Wolke hatte dem kurzen Disput verständnislos gelauscht. Ihre Ungeduld war unverkennbar. „Hast du Waffen?" fragte Hasard. „Oder weißt du, wo mein Feuerrohr ist?" Erschrocken wehrte sie ab. „Nur Messer", stieß sie hervor und reichte Hasard die Steinklinge. „Zum Schiff. Schnell." „Und deine Anna?" Die Squaw klopfte sich auf die Brust, die sich fester als zuvor unter dem neuen Hemd aus Hirschleder wölbte. Sie wählte einen anderen Weg als jenen, den Hasard und Batuti in Erinnerung hatten. Vorbei an mannshohem Mais, an Bohnenpflanzen und Sonnenblumen, deren Anblick so gar nicht zu den blutigen Auseinandersetzungen zwischen Weißen und Indianern passen wollte, ging es anfangs fast genau nach Norden. Hasard orientierte sich an den bekannten Sternbildern, die auf See zur Navigation herangezogen wurden. Kurz nachdem das Mädchen dann nach Osten abschwenkte, wurde der Boden morastiger. Viele kleine Wasserläufe durchzogen die spärlich bewaldete Gegend. Ginster und verschiedene Gräser bildeten die hauptsächliche Vegetation. Sicher lebten in diesem Sumpfgelände Schlangen und
vielleicht sogar große Echsen, aber während der Nacht blieben sie behäbig und träge. Im Dickicht lag ein Kanu verborgen. Die Augen der Squaw glänzten, als sie das leichte, flache Boot unter den Ästen hervorzog. Es wirkte überaus zerbrechlich, war aber auch nicht unbedingt für ein Mädchen und zwei Kerls wie die Seewölfe geschaffen worden. Trotzdem fanden alle drei darin Platz, sie mußten sich lediglich hinknien, denn die schmalen Querverstrebungen unmittelbar unterhalb des Dollbords hielten einer Belastung kaum stand. Goldene Wolke reichte Hasard eins der kurzen Paddel und zeigte, wie er es handhaben mußte. Mit zunehmender Geschwindigkeit glitten sie über brackiges, von Pflanzen überwuchertes Wasser. „Dein Kanu?" fragte Hasard. Das Mädchen nickte. „Selbst gebaut. Will oft allein sein. Land ist hier schön. Schöner als England?" „Na ja." Batuti druckste ein wenig herum. „Nicht gerade schöner. Anders eben. Und gefährlicher." „Warum dann so viele Engländer erscheinen und nehmen Algonkin Land und Tiere weg?" Goldene Wolke lernte zunehmend besser, ihre Muttersprache zu verstehen und auch zu sprechen. Über die Jahre hinweg hatte sie zwar vieles vergessen, aber keineswegs verlernt. In einigen Tagen würde wohl nicht mehr auffallen, daß sie lange Zeit nur den Dialekt der Küsten-Algonkin gesprochen hatte. „Das Land ist groß", antwortete Hasard und hätte sich für diese Floskel selbst in den Hintern treten können. „Platz ist für alle." „Aber immer mehr Engländer kommen. Sie töten Tuscarora und Catawba und Powhatan, und Indianer töten Weiße. Warum?"
38 „Weil die Menschen eben so sind", sagte Batuti. Goldene Wolke wandte sich flüchtig zu ihm um, ihre Augen verrieten, daß sie mit dem Gehörten nicht zufrieden war. So seltsam es schien, das Mädchen schaffte es tatsächlich, den Gambiamann zu verunsichern. Ausgiebig widmete sich Batuti dem Kanu, das aus aneinandergenähten und auf einen hölzernen Rahmen gespannten Birkenrindenstücken bestand. Die Nähte waren mit Baumharz abgedichtet, sie ließen kaum Wasser durchdringen. Nicht länger als eine halbe Stunde dauerte die Fahrt über verschlungene Wasserwege, bis der Sumpf mehr und mehr felsigem Untergrund wich. „Von hier bald am Meer", erklärte Goldene Wolke. „Dreimal so lang wie mit Kanu." Die Sternbilder begannen zu verblassen. Im Osten ließ sich bereits ein fahler Hauch der Morgendämmerung erahnen. Unvermittelt hielt die Squaw inne und legte die Hand vor den Mund. Die Männer sollten sich still verhalten. Sie selbst huschte weiter und v e r schwand zwischen knorrigen, vom Wind gebeugten Bäumen. Sie wirkte bestürzt, als sie zurückkehrte. „Krieger", raunte sie. „Etwa zweimal zehn. Wir kommen an ihnen nicht vorbei." „Soll das heißen, wir müssen umkehren?" Goldene Wolke nickte zustimmend. „Es sind keine Männer deines Stammes?" fragte Batuti. „Krieger sind noch jung", bestätigte das Mädchen. „Sehen aus wie Uferwaldleute, aber sind auf Kriegspfad." „Wenn wir umkehren, laufen wir Springender Hirsch in die Arme. Gibt es keine Möglichkeit, zur Küste zu gelangen?" „Vögel können fliegen", erlärte
Goldene Wolke philosophisch, „wir nicht. Rechts Krieger, links Todesschlucht. Viele schon zerschmettert. Wir müssen zurück." In dem Moment gewahrte Hasard die Bewegung, keine zehn Schritte hinter dem Mädchen. Er reagierte sofort, stieß Batuti zur Seite und rannte los. Ein Pfeil schwirrte um Haaresbreite an ihm vorbei, verfehlte auch den Gambiamann, dem er zugedacht gewesen war, und bohrte sich häßlich knirschend in einen Stamm. Der Indianer hatte den nächsten Pfeil gerade, auf der Bogensehne, als Hasard ihn erreichte und ansprang. Gemeinsam stürzten sie zu Boden, dem Seewolf gelang es allerdings, sich über den Krieger zu wälzen. Mit beiden Händen packte er die Enden des Bogens und drückte dem Indianer mit der Waffe die Luft ab. Vergeblich versuchte sein Gegner zu schreien und sich gegen den weißen Mann zur Wehr zu setzen. Seine Bewegungen erlahmten rasch. Hasard schickte ihn mit einem Fausthieb ins Land der Träume. Gedämpfte Stimmen erklangen, jemand rief einen Namen, dann näherten sich mehrere nur schemenhaft erkennbare Gestalten. „Weg hier!" raunte Goldene Wolke bestürzt. Sie wollte zurück zum Sumpf und zu ihrem Kanu, aber der Seewolf zog sie einfach mit sich. „Die Schlucht ist unsere einzige Chance. Dorthin werden sie uns hoffentlich nicht folgen." „Wer auf einer Rah freistehend balanciert, dem tut eine lausige Felswand nichts", behauptete Batuti im Brustton der Überzeugung. „Und runter gelangen wir allemal." Der Gambiamann, Hasard und das Mädchen hetzten davon, als sei der Leibhaftige hinter ihnen her. Ungefähr so war es auch. Durchdringende Kampf schreie ausstoßend, folgten ihnen die jungen Krieger. Der Wald war plötzlich zu Ende.
39 Wenige Schritte weiter gähnte ein düsterer Abgrund. „Die Tiefe hat mehr als Großmastlänge", sagte Hasard. „Wir werden sterben." Je länger die beiden Männer zögerten, desto unschlüssiger wurde Goldene Wolke. Obwohl sie unmittelbar am Rand des Felssturzes stand, vermied sie es, in die Tiefe zu schauen. Ihre Blicke suchten nach den anrückenden Kriegern, die mit den langen Schatten der Morgendämmerung verschmolzen. „Sind die Uferwaldleute und dein Stamm verfeindet?" fragte Hasard. „Sind auch Tuscarora", antwortete das Mädchen. „Warum sagst du das nicht gleich?" Batuti schnaufte ergeben. „Sprich mit ihnen!" „Wenig Sinn." Goldene Wolke blickte nun doch flüchtig hinter sich. Ihr Atem ging schneller beim Anblick des gut sechzig Yards tiefen, nahezu lotrecht abfallenden Felsens. Ein erster Pfeil bohrte sich unmittelbar vor den Männern in den Boden. Die Krieger würden ihren Triumph auskosten, wußten sie doch, daß die verhaßten Weißen ihnen nicht mehr entwischen konnten. Die Stimme der Squaw vibrierte, als sie den Angreifern etwas zurief. Sie mußte das Gesagte wiederholen, bevor irgendwo zwischen den Bäumen eine Antwort erklang. Ein kurzer, heftiger Wortwechsel entstand. „Krieger sagen, ich soll gehen", übersetzte Goldene Wolke. „Nur Weißgesichter müssen sterben." „Dann geh!" forderte Hasard sie auf. „Bring dich in Sicherheit." Die Augen der Squaw schimmerten feucht. Trotzig preßte sie die Lippen aufeinander. Im nächsten Moment warf sie sich Hasard an die Brust, ihre Hände umklammerten seine Schultern. Ein ungeduldiger Ruf erklang aus dem Wald.
„Du sollst dich entscheiden?" vermutete der Seewolf. „Ich bleibe bei euch", sagte Goldene Wolke so bestimmt, daß gar kein Widerspruch aufkommen konnte. Das ließ sie auch die Uferwaldleute wissen, von denen sich einige langsam näherten. „Krieger sagen, ich verrückt", übersetzte sie. „Sagen, acht Weißgesichter haben Heiligtum geschändet und Weiße Schildkröte getötet. War guter alter Mann, der mit Göttern redete. Uferwaldleute wollen Rache, werden jedem Weißen Haut in Streifen schneiden und ihn langsam töten." „Acht?" Hasard stutzte. „Wenn das nicht Grey, Davenport und die anderen Halunken waren, will ich in Zukunft nur noch die Maden aus dem Zwieback essen. Sag den Kriegern", forderte er das Mädchen auf, „daß die Weißgesichter, die den Frevel begangen haben, Verbrecher sind. Und daß wir zwei von ihnen getötet und die anderen gefangen haben." Der Seewolf war keineswegs überrascht, als die Uferwaldleute die Auslieferung der Weißgesichter verlangten. „Die Männer haben sehr viel Böses getan", sagte er. „Aber sie sind Engländer, und deshalb werden wir über sie zu Gericht sitzen und sie entsprechend ihrer Taten bestrafen." „Keine Krähe hackt einer anderen ein Auge aus", behaupteten die Indianer. Das Geräusch sirrender Bogensehnen erfüllte plötzlich die Luft. Doch die Pfeile sollten nicht töten, sondern nur die Furcht der Weißgesichter steigern. Wie um Hasard zu schützen, sprang Goldene Wolke mit einem schnellen Schritt auf ihn zu. Sie strauchelte dabei, rang für die Dauer eines erschreckten Herzschlags um ihr Gleichgewicht und kippte dann weg. Ihr gellender Aufschrei erklang erst, als sie schon in die Tiefe stürzte.
40 Der Schrei schien nicht enden zu wollen. Hasard und Batuti reagierten gleichermaßen bestürzt. Ohne länger auf die Indianer zu achten, die ebenfalls zögerten, blickten sie suchend in die Tiefe. Die aufgehende Sonne ließ eine erschreckende Kulisse blutrot geäderter Gesteinsschichten erkennen. Nur wenige Vorsprünge oder Unebenheiten waren so beschaffen, daß ein geübter Kletterer Halt finden konnte. Im übrigen wurzelten Pflanzen in der Steilwand. Im unteren Drittel waren es noch verkümmerte, kaum mannshohe Birken, weiter oben wuchsen spärlich belaubte oder teilweise abgestorbene, nur aus zwei oder drei Ästen bestehende Sträucher aus Felsspalten. Ihre Widerstandskraft schien jedoch enorm zu sein, denn einer dieser kahlen Büsche hatte den Sturz der Squaw aufgefangen. Knapp wanzig Yards unterhalb der Abbruchkante hing sie zwischen Himmel und Erde und wagte nicht, sich zu bewegen. 5. „Wir holen dich!" rief Hasard in die Tiefe. Mit Zeichensprache versuchte er den Indianern zu erklären, was er vorhatte. Sie starrten Batuti und ihn nur grimmig an und dachten nicht daran, ihnen beizustehen. Andererseits setzten sie ihre Waffen nicht ein, und das war eigentlich schon mehr, als Hasard unter den gegebenen Umständen überhaupt erwarten durfte. „Was du vorhast, ist Wahnsinn", sagte der Gambiamann. „Allein könnten wir es vielleicht schaffen, aber nicht mit dem Mädchen als Ballast. Wir brauchen Taue, um sie hochzuhieven." „Was denn noch alles!" entgegnete
Hasard spitz. „Was glaubst du, wie lange sie sich da unten halten kann?" „Schon gut", murmelte Batuti betreten. „Entern wir also ab. Möge der Himmel uns beistehen." Die ersten Schritte waren einfach, doch dann wurde der Fels so glatt, daß selbst mit den Fingerspitzen schwer ein Halt zu ertasten war. Hasard stieg nicht senkrecht ab, sondern folgte dem Verlauf einer deutlich erkennbaren Verwerfung. Wo zwei Gesteinsschichten zusammenstießen, hatte die Erosion wenigstens ein klein wenig angreifen können. Batuti hielt sich dicht hinter dem Seewolf. Allerdings hätte er kaum zupacken können, falls Hasard abrutschte. Schon nach wenigen Yards waren beide schweißüberströmt. Die Gefahr eines Absturzes wuchs, sobald die Finger feucht wurden. Als Hasard kurz nach oben blickte, sah er die ausdruckslosen Gesichter der Indianer über sich. Sie schienen nur darauf zu warten, daß die weißen Männer den Halt verloren. Nie war den beiden Männern die Zeit so lang geworden. Jede Minute dehnte sich zu einer kleinen Ewigkeit. Winzige Schatten wanderten über den Felsen und wuchsen, je höher die Sonne stieg. Sie ließen Unebenheiten deutlicher erkennen. Fast eine Stunde verging, bis sich Hasard und Batuti auf gleicher Höhe mit der Squaw befanden. Der Seewolf bewunderte Goldene Wolke, die die ganze Zeit über keinen Klagelaut von sich gegeben hatte. Er schob sich so nahe heran, daß er sie ohne Anstrengung mit der Linken fassen konnte. Unendlich vorsichtig verbesserte er seinen Halt und kratzte winzige Splitter brüchigen Gesteins aus der Wand. Die Fingerspitzen waren ohnehin längst aufgeschürft und blutig. „Wir schaffen es", raunte er auf-
41 munternd. Goldene Wolke lächelte dankbar. Die Äste, auf denen sie lag, waren angebrochen und rissen weiter ein, als sie sich nach Hasards Kommandos zu bewegen begann. „Langsam", warnte er. „Du hast viel Zeit." Vorsichtig griff er nach ihrem Hemd. Das weiche, geschmeidige Hirschleder hatte sicher einige Widerstandskraft. Hasards Muskeln waren zum Zerreißen gespannt, als er das Mädchen Fingerbreite um Fingerbreite zu sich heranzog. Der gefährlichste Moment war der, als Goldene Wolke ihr Gewicht von den Ästen auf die in Mokassins steckenden eigenen Füße verlagerte. Sie rutschte, fing sich aber sofort ab. „Ich fühle mich wie ein backgebraßtes Segel vor dem Wind", stöhnte Batuti. „Zu was brauchst du mich eigentlich?" „Falls ich abgestürzt wäre, hättest du Goldene Wolke beistehen müssen", sagte der Seewolf kühl. „Außerdem werden wir die Gelegenheit nutzen und unter vollem Preß davonlaufen." „Du solltest nach oben schauen", riet Batuti. „Dann denkst du vielleicht anders darüber." Die meisten Rothäute hatten sich von der Abbruchkante zurückgezogen. Aber jene, die noch dort standen, hielten ihre Speere und Bogen unmißverständlich auf die beiden Männer gerichtet. „Der Profos würde jetzt behaupten, daß das ausgekochte Rübenschweine seien", erklärte Batuti. „Und was sagst du?" „Mist", schimpfte der Gambiamann inbrünstig. „Aber wir haben es wenigstens versucht." Der Weg nach oben nahm nicht mehr ganz soviel Zeit in Anspruch. Trotzdem erwies er sich als ziemlich schweißtreibend. Zur Überraschung Hasards und Batutis stiegen zwei
Rothäute in die Wand ein. Wahrscheinlich wollten sie beweisen, daß sie den weißen Männern ebenbürtig waren. Allerdings kletterten sie fast senkrecht in die Tiefe. Das ging nicht einmal zehn Yards weit gut, dann rutschte der am weitesten vorgedrungene Krieger urplötzlich ab. Mit zerschmetterten Gliedern blieb er am Fuß des Steilhangs liegen. Der andere konnte daraufhin weder vor noch zurück. Für das, was die oben gebliebenen Indianer riefen, brauchte der Seewolf keine Übersetzung. Die Uferwaldleute gaben viele gute Ratschläge, die aber herzlich wenig fruchteten. „Sag ihnen, daß ich dem Burschen zu helfen versuche", forderte Hasard die Squaw auf. „Du bist verrückt!" entfuhr es dem Gambiamann. „Oder lebensmüde." „Oder beides zusammen", entgegnete der Seewolf. „Sieh ihn dir doch an. Der Kerl ist nicht viel älter als Goldene Wolke." „Er ist alt genug, um dich mit in den Tod zu reißen." „Bring du das Mädchen nach oben. Das ist ein Befehl!" Batuti wußte, daß es keine Möglichkeit gab, Philip Hasard Killigrew umzustimmen. Ein Teufelskerl war er auf jeden Fall, das hatte er oft genug unter Beweis gestellt. „Sir . . . " „Ja?" „Du bist trotzdem verrückt." „Danke für die Aufmunterung. Ich sollte dich dafür kielholen lassen. Der Profos wird sich freuen." Hasard richtete seine Aufmerksamkeit jetzt ganz auf den Indianer, der langsam abzurutschen drohte. Mit einem Bein baumelte er bereits in der Luft. Hasard kletterte schneller. Er riskierte nicht nur des jungen Kriegers wegen Kopf und Kragen. Wenn seine Rechnung aufging, dürften die Ufer-
42 waldleute ihn nicht mehr als Feind ansehen. Schräg unterhalb des Indianers fand er einen überraschend guten Halt. Er konnte sich sogar erlauben, die Steinklinge aus dem Gürtel zu ziehen. Bedächtig begann er, sie gegen den Fels zu schlagen. Tatsächlich brachen Splitter aus der Wand. Die entstehende Vertiefung maß schließlich gut zwei Fingerbreiten. „Wenn du schlau bist, versuchst du ranzukommen." Der Indianer verstand zwar nicht, was Hasard sagte, aber er tastete mit dem Fuß nach dem halbwegs sicheren Halt. Augenblicke später konnte er sein Gewicht verlagern und mit den Fingern besser zupacken. Das grell bemalte Gesicht des jungen Kriegers blieb ausdruckslos. Lediglich seine Augen schienen zu fragen, warum der weiße Mann ihm geholfen hatte. „Mary!" rief Hasard. „Was heißt Freund?" Über ihm erklang der Begriff im Algonkin-Dialekt. Doch selbst jetzt reagierte der Krieger nicht. „Du bist stur, was?" fragte der Seewolf und seufzte. Zu seiner Überraschung streckten sich ihm hilfreich Hände entgegen, als er wieder oben angelangte. Inzwischen waren mehr als dreißig Indianer am Waldrand versammelt. Hasard erkannte Springender Hirsch und andere Tuscarora, deren Namen er nicht wußte. Sie hatten Zeit genug gehabt, um ihre Gefangenen einzuholen.
Hatten sie nun etwas mit ihrer Flucht erreicht? Hasard konnte sich lebhaft ausmalen, was Batuti und ihn erwartete. Das Schicksal von Poul Miller, dem Decksmann auf der „Explorer", stand ihm deutlich vor Au-
gen. Die Rothäute im Norden Virginias hatten ihn übel zugerichtet. Seltsamerweise lächelte Goldene Wolke. Auch Batuti war noch unbehelligt geblieben. Bevor der Seewolf sich darüber klarwerden konnte, trat Springender Hirsch auf ihn zu. Der Häuptling des Tuscarora-Stammes hielt die Hände vor der Brust verschränkt und blickte ihn starr an. Er sagte Worte, die weit freundlicher klangen als alles, was Hasard bisher von ihm gehört hatte. Anschließend forderte er die Squaw mit einem Kopfnicken auf, zu übersetzen. „Springender Hirsch dankt dem weißhäutigen Sir für mutige Tat. Uferwaldleute haben ihm berichtet, und er weiß, daß Goldene Wolke sonst tot. Hat auch mit eigenen Augen gesehen, daß Sir anderen Indianer gerettet. Springender Hirsch sehr verwundert, aber glaubt nun, weißer Sir und schwarzhäutiger Mann Freunde der Indianer." Hasard nickte dem Häuptling zu. „Dann sind wir frei und können zu unserem Schiff zurückkehren?" Das entstehende Palaver zwischen Goldener Wolke und dem Häuptling ließ die eben gewonnene Zuversicht schnell wieder zerrinnen. „Nicht zu Schiff zurück", erklärte das Mädchen. „Häuptling will Friedenspfeife rauchen." „Aber - unsere Gefährten suchen bestimmt nach uns. Sie werden glauben, die Indianer hätten uns getötet." „Kein Zeit für Häuptling, kein Freund." „Dagegen kann man nichts einwenden", meinte Batuti. „Vielleicht sollten wir mit dem Erreichten zufrieden sein." Springender Hirsch, seine Krieger und die Uferwaldleute, die die beiden Weißgesichter immer wieder mit durchdringenden Blicken musterten, zogen auf verschlungenen Pfaden
43 nach Westen. Die Sonne brannte für diese Jahreszeit ungewöhnlich heiß vom Himmel herab. Einmal glaubte Hasard, ferne Stimmen zu vernehmen, die der Wind herantrug, doch als er sich darauf konzentrierte, war nichts mehr zu hören. Sie erreichten die Siedlung der Tuscarora gegen Mittag. In einer überraschenden Geste des Vertrauens gab Springender Hirsch den Radschloßdrehling zurück. Vielleicht hatte er aber nur eingesehen, daß er mit einer Waffe wie dieser wenig anfangen konnte. Pulverflasche und Kugelbeutel, die er am vergangenen Abend an sich genommen hatte, wechselten ebenfalls wieder den Besitzer. Springender Hirsch, Goldene Wolke, Hasard, Batuti und der Anführer der Uferwaldleute, für dessen Namen es keine Übersetzung zu geben schien, ließen sich in dem Rund zwischen Langhäusern und Wigwams nieder. Belanglose Floskeln wurden ausgetauscht, bevor Hasard erzählen mußte, daß die Engländer von Sonnenaufgang her über das Große Wasser gefahren waren. Immer wieder nickte der Häuptling und bedachte Goldene Wolke mit nachdenklichen Blicken, trotzdem blieb der Eindruck, daß er längst nicht alles verstand. Dann gab es zu essen - Hominy, ein durchaus wohlschmeckendes Gericht. Die beiden Arwenacks fanden heraus, daß Mais das Hauptnahrungsmittel der Indianer war. Die Körner wurden mit Stößeln in einem Holzmörser zerstampft, zu Brei bekocht und mit Fleisch- oder Fischstückchen verarbeitet. Anschließend kreiste die Pfeife, die den Frieden zwischen Springender Hirsch und den Arwenacks besiegeln sollte. Am Ende eines blau und grün bemalten, federgeschmückten und ausgehöhlten Stabes saß der reich ornamentierte Pfeifenkopf. Er bestand
aus einem rötlichen, feinkörnigen Gestein, das, wie Hasard feststellte, sich leicht schneiden ließ. „Kinnikinnik", nannte Goldene Wolke die getrockneten Blätter, die der Häuptling mit einem glimmenden Holz in Brand setzte. „Ist heilige Pflanze", sagte sie. „Zeremonie sehr wichtig." Springender Hirsch hob die Pfeife erst zur Sonne hoch, senkte sie dann zur Erde, sog den aromatischen Rauch durch das dünne Rohr in den Mund und stieß ihn in alle vier Himmelsrichtungen wieder aus. Anschließend reichte er Hasard das Kalumet. „Tue alles genauso", raunte Goldene Wolke ihm zu. Der Seewolf gab die Pfeife auf ein Zeichen des Häuptlings an Batuti weiter. Der Anführer der Uferwaldleute, der als letzter an der Reihe gewesen wäre, wehrte jedoch ab. Springender Hirsch nahm das Kalumet wieder an sich. „Warum schließt der Krieger sich aus?" fragte Hasard überrascht. „Uferwaldleute sind bestürzt über Haß und Mord von acht Weißgesichter", erklärte Goldene Wolke. „Sie haben Kriegsbeil begraben für Sir Hasard und Batuti, aber nicht Frieden geschlossen mit allen weißen Männern. Anführer respektiert Entscheidung von Springender Hirsch, Kalumet zu rauchen, will aber abwarten, was mit böse Weißgesichter geschieht." „Sie werden für ihre Tat büßen", versicherte Hasard noch einmal. „Sollen sterben!" „Der Krieger muß sich in Geduld üben." „Hat nicht lange Geduld. Dann sprechen Waffen. Algonkin so zahlreich wie Steine im Meer, Engländer nur wenige." Die beiden Arwenacks faßten das als unverblümte Drohung auf. Sie erfuhren allerdings auch, wie Weiße
44 Schildkröte gestorben war und was das Heiligtum den Uferwaldleuten bedeutete. Die jungen Krieger hatten die Spur der Kerle sehr bald verloren, wußten aber, daß sie irgendwann ihre Rache üben würden, weil weit im Norden viele Weißgesichter lebten. Eine schon ältere Squaw erschien und flüsterte dem Häuptling etwas zu. Springender Hirsch erhob sich daraufhin und forderte Hasard auf, ihn zu begleiten. „Der Zauber deiner Waffe zieht einem meiner Krieger die Lebenskraft aus den Adern", sagte er. „Hilf ihm, und deine Kinder werden die Freunde meiner Kinder sein." Natürlich konnte er nur den Mann meinen, den Hasard tags zuvor angeschossen hatte. Der Seewolf erschrak, als sie eine Hütte betraten und er den Krieger liegen sah. Eine wächserne Blässe überzog das Gesicht des Indianers, dicke Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn. Zwischen seinen Zähnen steckte ein Stück Tierfell. Er biß sie so fest zusammen, daß die Wangenknochen deutlich hervortraten. „Wie lange hat er die Schmerzen schon?" Hasard fühlte nach der Stirn des Kriegers. Sie war fiebrig heiß. Goldene Wolke, die ihnen dichtauf gefolgt war, redete mit der anderen Squaw. „Seit wenigen Stunden", antwortete sie. Das verwundete Bein war mit Blättern und Pflanzenstrünken bandagiert. Hasard nahm den Steindolch, den er noch bei sich trug und löste vorsichtig die Umwicklung. Darunter war ein übelriechende Salbe beinahe fingerdick über den ganzen Oberschenkel verteilt. „Ich brauche Kalebassen mit heißem Wasser und trockene Felle", verlangte der Seewolf. Obwohl ihn die Rothäute mit verwunderten Blikken bedachten, ließen sie ihn gewähren.
Mittlerweile war Batuti hinzugetreten. „Sieht nicht gut aus", meinte er. „Was geschieht, wenn der Bursche stirbt?" „Frage lieber, aus was die Salbe besteht", erwiderte Hasard. „Ich fürchte, die Wunde hat sich entzündet." Von Goldene Wolke erfuhr er, daß der Schamane die breiige Masse in der vergangenen Nacht zubereitet hatte. Zwei Kröten gehörten ebenso zu der Mixtur wie Tabakwurzeln, Birkenasche und Fischlaich. „Kein Wunder, wenn der Kerl den Brand kriegt und auch noch daran stirbt", erklärte Hasard wütend. „Sag das nicht", erwiderte Batuti abwehrend. „Solche Tinkturen, die oft genug von einem Schamanen an den nächsten weitergegeben werden, beruhen auf langen Erfahrungen." „Möglicherweise taugt das Zeug, um einen Furunkel vom Hintern wegzuätzen, zu mehr aber kaum." Hasard begann, die Salbe mit dem heißen Wasser abzuwaschen. Von starken Schmerzen gepeinigt, wurde der Verwundete zunehmend unruhiger. „Der braucht ein halbes Faß Rum", sagte Batuti unumwunden. „Dann spürt er so gut wie nichts mehr." Hasard zeigte auf die schon schwarz verfärbte Schußwunde. Rundherum war das Bein geschwollen und stark entzündet. „Die Kugel sitzt unmittelbar am Knochen. Wenn ich mit den primitiven Klingen anfange, sie herauszuschneiden, stirbt mir der Kerl unter den Fingern weg. Dein Vorschlag mit dem Rum war gar nicht so schlecht wir müssen zur Schebecke zurück." Zu Hasards Überraschung zögerte der Häuptling nicht lange, seine Zustimmung zu erteilen. Der Verwundete wurde auf ein Astgeflecht gelegt, das diesmal nicht gezogen, sondern von zwei Rothäuten getragen wurde. Außer dem Häuptling, dem Ver-
45 wundeten und Goldener Wolke begaben sich vier weitere Stammesangehörige auf den Marsch zum Meer. Auch die Uferwaldleute brachen auf und verließen die Siedlung, doch ihr Ziel blieb unbekannt. Hasard gewann nicht den Eindruck, daß sie bald nach Süden zurückkehren würden. Höchstens eine halbe Stunde waren sie durch waldreiches Gebiet marschiert, als die an der Spitze gehenden Indianer in die Höhe deuteten, wo Vögel wirr durcheinanderflatterten. „Tiere wurden aufgeschreckt", erklärte die Squaw. „Wahrscheinlich von Menschen." Hasard griff vorsichtshalber nach seiner Pistole. Aber nichts geschah. Ungehindert passierte der Trupp ungefähr die Stelle, von der aus die Vögel aufgestiegen waren. „Spuren!" rief der Häuptling plötzlich. „Weiße Männer sind hier gegangen." Soviel von den Gesten der Tuscarora verstand Hasard inzwischen, daß er nicht erst das Mädchen bemühen mußte. Es war wohl nicht anzunehmen, daß in dieser Gegend Spanier herumspazierten. Wenn Springender Hirsch von Weißen redete, dann konnten das nur die Mannen von der Schebecke und der „Explorer" sein. „Alle Arwenacks an Deck!" rief Hasard deshalb. „Da soll mich doch dieser oder jener", erklang Edwin Carberrys Stimme voraus aus luftiger Höhe. „Philip Hasard Killigrew in Begleitung von Indianern und als freier Mann." Im Geäst einiger Bäume begann es zu rascheln, gleich darauf kletterten die Kerls an den Stämmen nach unten. „Wie du gesagt hast, Ed!" rief Luke Morgan. „Batuti hat sich bestimmt mit den Squaws eingelassen. Und jetzt bringen die Roten ihn zurück, um ihn loszuwerden." „Wahrscheinlich hat er schlappge-
macht", meinte Ferris Tucker. „Ist ja auch kein Wunder, wenn er sich zuviel zumutet. Wir haben schon lange keinen vernünftigen Hafen mehr angelaufen, in dem . . . " „Hört auf!" befahl der Gambiamann drohend. „Unsere neuen Freunde ziehen euch sonst die Haut in Streifen vom Affenarsch." „Tatsächlich?" spottete Jack Finnegan. „Laß sehen!" Prustendes Gelächter brandete auf und verebbte ebenso schnell wieder. Die Erleichterung der vier Arwenacks, daß sie den Seewolf und Batuti wohlbehalten vorgefunden hatten, drückte sich darin aus. Die Indianer ließen ihre Waffen sinken, als sie erkannten, daß von den fremden Weißgesichtern keine Gefahr drohte. „Ihr seid nur vier?" fragte Hasard. Carberry nickte. „Welchen Wert hat es, wenn einer im Kielwasser des anderen sucht? Deshalb haben wir uns getrennt. Das Zeichen, daß eine Gruppe Erfolg hatte, sind zwei Kanonenschüsse." Weiter ging es Richtung Küste. Der Himmel färbte sich bereits rot, als endlich die Masten der Schiffe auftauchten. Hasard hatte inzwischen Gelegenheit für einen ausführlichen Bericht gehabt. Auf der Schebecke zündete Al Conroy zwei offensichtlich schon lange gesetzte Ladungen. Das Dröhnen der Culverinen mußte weithin zu hören sein. Entweder fürchtete Springender Hirsch die schwimmenden Häuser der Weißen, oder er wollte nicht, daß Goldene Wolke an Bord gelangte. Jedenfalls weigerte er sich, den kaum noch ansprechbaren Verwundeten weiter als bis zum Beginn des felsigen Strandabschnitts tragen zu lassen. Hasard blieb keine andere Wahl, als den Kutscher und seine vielfältigen Marterwerkzeuge an Land holen
46 zu lassen. Er schickte Jacob Finnegan und Luke Morgan in die Jolle. Der Profos und Ferris Tucker blieben zurück und halfen, genügend Feuerholz zusammenzutragen. Bald erhellten die ersten auflodernden Flammen die beginnende Dämmerung. In dieser Nacht brauchte das Feuer nicht aus Furcht vor den Rothäuten kleingehalten zu werden. Der Kutscher hatte an alles gedacht. Nicht nur ein Faß voll Süßwasser und zwei Töpfe zum Erhitzen des Wassers brachte er von der Schebecke herüber, sondern auch eine recht ansehnliche Portion Rum. „Wenn der Indianer die Hälfte glukkert und du die andere", sagte Ferris Tucker sachlich, „dann seid ihr beide in Kürze stockbesoffen." Der Kutscher, Feldscher und Koch in einer Person, winkte ärgerlich ab. „Was versteht ein Schiffszimmermann schon von den Erfordernissen des Heilberufs?" erwiderte er. Herausfordernd begann Tucker in dem ganzen Kram zu wühlen. Daß der Kutscher mißbilligend die Stirn in Falten legte, störte ihn nicht. „Was soll der Unfug? Nach was suchst du?" „Ich brauche eine Muck", antwortete Tucker. „Oder irgendwas in der Größe." „Zu was? Glaubst du etwa, ich schleppe ein ganzes Kombüsenschapp mit mir herum?" Triumphierend hob der Schiffszimmermann eine Schöpfkelle hoch. „Ich verstehe genug von deinen Praktiken, um zu wissen, daß eine Muck voll Rum für mich abfällt", sagte er. „Erst der Verwundete, dann der Feldscher, dann das Fußvolk", bestimmte der Kutscher. „Wenn du dich nicht an die Reihenfolge halten willst, verdurste von mir aus." Er nahm Tucker die Kelle kurzerhand wieder ab. Der Indianer wollte erst überhaupt nicht trinken, doch dann fand er Ge-
schmack an dem Rum. Zitternd schlürfte er die Schöpfkelle leer, die der Kutscher ihm an die Lippen hielt. Die Wirkung trat überraschend schnell ein, er wurde noch lethargischer, als er zuvor schon gewesen war und verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße in ihnen schimmerte. „Ich denke, der spürt nichts mehr", sagte der Kutscher. „Das wird er aber auch bitter nötig haben." Die zweite Schöpfkelle voll Rum diente zur Säuberung des Bereichs rund um die Schußwunde. Der Indianer ließ lediglich noch ein dumpfes Stöhnen vernehmen, dann zog er sich endgültig ins Traumland zurück. Der Kutscher wusch sich die Hände in dem einen Topf mit mittlerweile erhitztem Wasser. Den Schnitt mit dem Messer führte er so sicher aus, wie die Arwenacks das von ihm gewohnt waren. Sofort setzte er ein Krummskalpell an und dehnte die Wunde weiter auf. Er brauchte nicht lange nach der Kugel aus Hasards Waffe zu suchen. Sie hatte tatsächlich den Knochen angekratzt und war steckengeblieben. Trotz der heftigen Blutung gelang es ihm, mit der Krummpinzette das verformte Stück Blei herauszuholen. „Wie sieht's aus?" wollte Hasard wissen. „Bringst du ihn durch?" „Die Indianer sind robust", erwiderte der Kutscher und suchte gleichzeitig in seiner Ledertasche nach Nadel und Faden. Beides warf er kurz in die Schöpfkelle, die er erneut mit Rum füllte. Bevor er die klaffende Wunde zu nähen begann, wandte er sich flüchtig an Ferris Tucker: „Wenn du eine Muck willst, solltest du auch etwas dafür tun. Halte schon mal das Brenneisen ins Feuer. Ich muß das abgestorbene Fleisch wegbrennen." Mit mehreren Stichen zog er die Wundränder zusammen. Anschließend ließ er sich von Ferris das
48 Brenneisen reichen. Es zischte, als er das erhitzte Eisen aufdrückte. Noch einmal säuberte der Kutscher die Umgebung der Wunde vom geronnenen Blut. Anschließend tränkte er ein Stück Leinen mit Rum, legte es über den Oberschenkel und band es mit zwei Kardeelen fest. „Ich habe getan, was ich tun konnte", sagte er. „Alles andere bleibt abzuwarten." Mit einer raschen Bewegung kippte er den Rest des Rums aus der Kelle ins Feuer und füllte sie noch einmal bis zum Rand. „Jetzt ist der Feldscher dran", sagte er, an Ferris Tucker gewandt. Ohne abzusetzen, ließ er den Alkohol durch seine Kehle laufen. „Das Blut der Burschen ist genauso rot wie unseres", bemerkte er, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und warf die Kelle auf seine Ledertasche. Da blieb sie allerdings nicht lange. Daß es um die Mundwinkel des Kutschers verdächtig zu zucken begann, sah Ferris nicht. Lediglich einige Tropfen Rum rannen noch aus dem Spundloch hervor, und als er das Fäßchen heftig schüttelte, mußte er feststellen, daß es tatsächlich leer war. Er warf dem Feldscher einen grimmigen Blick zu. „Was kann ich dafür?" sagte der. „Als ich den Rum aus der Proviantlast holte, war er schon verdächtig leicht. Wasser ist allerdings noch genug da." Der Kutscher hatte die Lacher eindeutig auf seiner Seite. Nur die Indianer verstanden nicht, um was es ging.
Hasard verzichtete darauf, neuen Rum von Bord holen zu lassen. Daß das bißchen Alkohol die Rothaut im wahrsten Sinne des Wortes umgehauen hatte, gab ihm zu denken. Ihm war wenig daran gelegen, sich mit besoffenen Indianern abzuplagen.
Der Kutscher entschädigte für die fehlenden starken Getränke, indem er ein hervorragend mundendes Wildbret zubereitete. Da inzwischen die Suchtrupps zurückkehrten, ging es am Strand hoch her. Es gab zwar keine allgemeine Verbrüderung, dafür zeigten beide Seiten sich zu distanziert, aber mit vorgerückter Stunde versuchte einer dem anderen die Grundbegriffe seiner Sprache beizubringen. Goldene Wolke, noch dazu die einzige Frau, wußte nicht, wie ihr geschah. Nachdem auch der letzte Bissen Fleisch verzehrt war, leckten die Indianer sich förmlich alle Finger ab. Der Kutscher hatte mit Gewürzen weiß Gott nicht gespart. Mehrmals pullten Mannen zur Schebecke hinüber, und plötzlich kreiste doch ein Fäßchen Rum. „Paßt auf, daß die Rothäute nicht zuviel erwischen", warnte der Seewolf. Was blieb ihm noch anderes, als die Tatsachen zu akzeptieren? Springender Hirsch war der erste, der nach dem Faß grapschte. „Bedenken sind überflüssig, Sir", sagte Smoky grinsend. „Wenn wir nicht wollen, bleibt für die Roten gar nichts übrig." Der verwundete Indianer war inzwischen in einen gleichmäßigen, ruhigen Schlaf verfallen. Der Kutscher sah darin ein gutes Zeichen, daß er die Behandlung verkraftete. Das Leintuch hatte sich zwar noch mit Blut vollgesogen, war dann aber verkrustet und schützte die Wunde vor einem erneuten Aufbrechen. Springender Hirsch rülpste ungeniert. „Weißer Mann hat gutes Wasser", lallte er mit schwerer Zunge. „Hat Feuerrohr, das tötet, und Feuerwasser, das Mann schweben läßt." Bislang hatte er mit untergeschlagenen Beinen und steif aufgerichtetem Oberkörper dagesessen, die Hände auf den Knien abgestützt, und
49 den Blick nur selten von den vor Anker liegenden Schiffen abgewandt. Jetzt richtete er sich schwankend auf und breitete die Arme aus. „Feuerwasser läßt Häuptling fliegen wie Adler", übersetzte Goldene Wolke seine undeutlicher werdenden Worte. „Häuptling will in Zukunft heißen Fliegender Adler." „Oder Platte Nase", sagte Dan O'Flynn trocken. Auch ihm war aufgefallen, daß das keinesfalls gutgehen konnte. Springender Hirsch stolperte über seine eigenen Füße, weil er, wie es sich für sein namensgebendes Tier gehörte, plötzlich vier Beine hatte und nicht bloß zwei. Daß er heftig mit den Armen zu rudern begann, half ihm wenig. Er schlug der Länge nach hin. Nur einer seiner Begleiter schien darin einen heimtückischen Angriff der Weißgesichter zu vermuten. Einen heiseren Kampfschrei ausstoßend, sprang er auf und warf sich auf den nächstbesten Arwenack. Bevor Paddy Rogers überhaupt begriff, wie ihm geschah, fiel die Rothaut ihm im wahrsten Sinne des Wortes in die Arme. „He!" rief Paddy ungläubig. „Der Bursche schläft ja!" „Die Rübenschweine vertragen nichts." Verständnislos schüttelte der Profos den Kopf. „Dabei haben die kaum was getrunken." Die anderen Indianer waren zwar noch wach, hatten aber sichtlich Mühe, die Augen offenzuhalten. „Was mit ihnen gezaubert?" wollte Goldene Wolke wissen. „Böser Zauber?" „Die sind nur nichts Gutes gewöhnt", sagte Batuti. „Bei Morgengrauen stehen sie wieder auf den Beinen und können sich wahrscheinlich an nichts mehr erinnern." Hasard ließ das Feuer niederbrennen und teilte Wachen ein. Keiner der Arwenacks verspürte Lust, auf die
Schebecke oder die „Explorer" überzusetzen. Ihre Unterhaltung mit dem Mädchen zog sich bis nach Mitternacht hin. Die Arwenacks erfuhren viel über das Leben der Indianer im Küstengebiet, die nicht nur einen primitiven Bodenbau betrieben, sondern auch den Fischfang und vor allem die Jagd in den wildreichen Laub- und Mischwäldern. Die Felder waren oft schon nach wenigen Jahren erschöpft, dann wurden die Dörfer verlassen und in einiger Entfernung neu aufgebaut. Allerdings erfolgten diese Wanderungen ausschließlich innerhalb der Stammesgrenzen. Die Arwenacks ihrerseits berichteten von der Siedlung im Albemarlesund und, in den schillerndsten Farben, von England. Hartnäckig versuchten sie auf diese Weise, der Erinnerung des Mädchens nachzuhelfen, doch fielen Goldene Wolke nur Bruchstücke ein. Sie ergaben noch lange keinen Hinweis darauf, wer Mary wirklich war. Es stand nur fest, daß ihre Eltern zu den frühen Siedlern auf Roanoke gehört haben mußten. Irgendwann verstummten die Mannen. Das Mädchen lag zusammengerollt neben den glimmenden Resten des erloschenen Feuers und hielt Anna im Arm. Ihr Gesichtsausdruck wirkte gelöst, beinahe glücklich. Das leise Rauschen der schwachen Brandung, das Schnarchen der Arwenacks und das gelegentliche Knistern in der Asche blieben die einzigen Laute, die die Nacht mit Leben erfüllten. Springender Hirsch war als einer der ersten wieder auf den Beinen, als der Widerschein der aus dem Meer aufsteigender Sonne gerade die Wellenkämme glitzern ließ. Er mußte einen gehörigen Brummschädel haben, denn er kippte den Rest des noch vorhandenen Trinkwassers kurzerhand über seinen Kopf.
50 „Weißgesichter ziehen nach Nor„Daß ich eine Tuscarora bleiben den?" ließ er die Squaw fragen. werde. Springender Hirsch läßt mich „Der Wind steht gut", erwiderte nicht gehen. Die Welt der WeißgeHasard. „Wir werden bald Segel set- sichter ist nicht für mich geschaffen, zen." Nur für Mary bestimmt, fügte ich soll sie vergessen." er hinzu: „Es steht dir frei, uns zu be„Die Entscheidung mußt du selbst gleiten. Die Siedler werden dich mit treffen", sagte Hasard. Freuden aufnehmen." Goldene Wolke nickte schwer. Das Mädchen antwortete nicht. Dann wandte sie sich abrupt um und Trotz ihrer Träume, von denen sie brach mit den Indianern landeinmehrfach gesprochen hatte, fiel es ihr wärts auf. Der Seewolf blickte ihr schwer, den Tuscarora-Stamm zu ver- nach, bis sie hinter den ersten Hügeln lassen. Hasard verstand nur zu gut, verschwand. was es für sie bedeutete, zum zweitenDer Kutscher hatte inzwischen sein mal eine ihr vertraute Umgebung zu vielfältiges Instrumentarium in der verlassen. Jolle verstaut. „Gehen wir nun ankerauf oder „Es ist ein Abenteuer", sagte er. „Aber vergiß nicht, du kehrst nur nicht?" dorthin zurück, wohin du immer ge„Wir segeln." Hasard nickte. „Bis hört hast." zum Abend laufen wir in den AlbeDer verwundete Indianer hatte die marlesund ein." Besinnung zurückerlangt und war Zuerst ließ Hasard die zur Crew wieder ansprechbar. Er verspürte von Ben Brighton gehörenden Mankaum noch Schmerzen im Bein, das nen zur weiter draußen liegenden Fieber war völlig zurückgegangen. „Explorer" pullen, dann kehrten er Der Kutscher erklärte den Rothäu- und der Rest zur Schebecke zurück. ten, daß sie den verkrusteten und eng Auf der Galeone wurden bereits die anliegenden Verband in zwei Tagen Segel gesetzt. Mit knarrenden Rahen mit warmem Wasser aufweichen und und killendem Tuch schwang sie vorsichtig ablösen sollten; Daß die langsam herum, wobei das beginverwendeten Fäden ins Fleisch ein- nende Niedrigwasser die Bewegung wachsen würden, erschien ihm nicht seewärts unterstützte. Dann war die erwähnenswert. Drehung so weit vollendet, daß der Wind schlagartig die Segel blähte. Der Abschied fiel kurz aus. ,,Wir werden uns wohl nicht wie- Mit nahezu vierkantgebraßten Rahen dersehen", sagte Springender Hirsch nahm das Schiff über Backbordbug zu Hasard. „Aber andere Weißgesich- Fahrt auf. ter werden kommen. Nur die Götter „Kein sauberes Manöver", bewissen, ob sie als Freunde oder als merkte Carberry, „aber auf engem Feinde unser Land betreten." Raum durchaus wirkungsvoll. Sieht „Ich wünsche den Tuscarora, daß so aus, als hätte Ben vor, uns davonalle Weißen Freunde sein werden", zulaufen." Er lachte herausfordernd. erwiderte der Seewolf. „So wie Gol- „Dabei sollte gerade er die Schebecke dene Wolke, die eine von uns ist." kennen. Drei Meilen Vorsprung von Deutlicher konnte er es nicht zum mir aus, aber wir holen seine lahme Ente trotzdem ein." Ausdruck bringen. Das Mädchen zögerte, die Antwort „Hievt Anker!" hallte seine Stimme des Häuptlings zu übersetzen. Ha- über Deck. sards forschendem Blick wich sie aus. Die Männer am Gangspill stemm„Was hat er gesagt?" wollte Batuti ten sich gegen die Spaken. In demselwissen. ben Takt, in dem ihre Füße über die
51 Planken glitten, stimmten sie ein Lied an. Langsam löste sich der Anker aus dem Schlickboden. Die scharf gehöhlte Wasserlinie am Vorsteven erzeugte ein lauter werdendes Glucksen und Plätschern. „Aufhören!" brüllte Batuti plötzlich. Er stand auf dem achteren Grätingsdeck und deutete aufgeregt zum Strand hinüber. Etliche Blicke wandten sich der Küste zu, doch niemand konnte erkennen, was eigentlich los war, bis auch Hasard den hellen Schopf im Wasser entdeckte, schon weitaus näher bei der Schebecke als an Land. „Die Jakobsleiter außenbords!" Das Mädchen näherte sich mit kräftigen, gleichmäßigen Schwimmstößen und enterte schon Minuten später auf. Hasard half ihr übers Schanzkleid. „Willkommen an Bord, Mary", sagte er, mehr nicht. Aber er forderte Batuti auf, das Mädchen unter Deck zu bringen und ihr trockene Sachen zu beschaffen. Carberrys anzügliches Grinsen und das Feixen der übrigen Mannschaft bemerkte er zu spät. Da hatte Batuti bereits sein Fett weg. Er würde Mühe haben, zu beweisen, daß er keineswegs jeder Squaw schöne Augen zuwarf. 6. Bei ruhiger See und wolkenlosem Himmel segelten die Schiffe aufs offene Meer hinaus. Es gab keinen vernünftigen Grund mehr, der Hasard gezwungen hätte, länger unter Land zu bleiben. Der Wind frischte weiter auf und verhalf sogar der „Explorer" zu ansehnlicher Fahrt. Die Behauptung des Seewolfs, bis zum Abend würden die Arwenacks im Albemarlesund an
Land gehen, schien sich zu bewahrheiten. Als Goldene Wolke endlich wieder auf der Kuhl erschien, hatte sie sich auch äußerlich in Mary verwandelt. Die Kerls, die immerhin einiges gewohnt waren, rissen Augen und Münder auf, und manch einer begann, Batuti ob seiner näheren Bekanntschaft zu dem Mädchen zu beneiden. Dabei hatte der Gambiamann Mühe gehabt, ein passendes Kleid aus dem Besitz der Fletchers aufzutreiben. Es zwickte Mary an den Schultern und fiel zu weit über ihre Hüften, aber es bildete einen wunderbaren Kontrast zu ihrer gebräunten Haut und verwandelte sie in eines der schönen Mädchen, in die selbst hartgesottene Seeleute sich sehr schnell verguckten. Das Haar trug sie nicht mehr glatt nach hinten gestrichen, sondern leicht lockig, wie es ihrer Natur entsprach. Kein Arwenack, der nicht einen anerkennenden Pfiff ausgestoßen hätte. Das trug jedoch wenig dazu bei, Marys Unbehagen zu bessern. Sie fühlte sich in dem ungewohnten Kleid nicht wohl, zupfte hier und kratzte sich da. Aber sie blieb eisern. Hasard und Batuti zeigten ihr das Schiff und erklärten alles, was sie wissen wollte. Das Mädchen war überaus begierig, Neues zu lernen. Hie und da nickte sie und sagte, daß sie sich erinnern könne. Das Stampfen des Schiffes, überkommende Gischt oder auch nur das vorübergehende Schlagen der Segel beim Kurswechsel waren ihr vertraut. „Du wirst noch vieles lernen", sagte Batuti. „Aber du wirst sehen, daß es dir immer leichter fällt, dich zurechtzufinden." Die erste Mahlzeit an Bord nahm Mary in der Kapitänskammer ein. Hasard erklärte ihr den Gebrauch von Löffel und Gabel, letztlich hob sie doch die Schüssel an den Mund und trank die Suppe. Und das Fleisch
52 zerlegte sie nur mit einem Messer und den Fingern weitaus geschickter, als mancher Höfling es selbst mit Messer und Gabel zustande brachte. Ihre Puppe trug sie die ganze Zeit über bei sich. Allerdings hatte Anna durch das Seewasser weiter gelitten und begann sich aufzulösen. Batuti hatte den Einfall, die Puppe der Obhut von Will Thorne zu übergeben. Tatsächlich brachte der Segelmacher das Kunststück fertig, Anna in einen ansehnlichen Zustand zurückzuverwandeln. Mit einer Handvoll Werg gab er ihr ein etwas üppigeres Aussehen und rückte damit auch ihren Kopf zurecht. Am späten Nachmittag wurde die Flußinsel Roanoke gesichtet. Unter vollen Segeln liefen die „Explorer" und die Schebecke in den Albemarlesund ein. Mary stand nur noch an der Verschanzung und starrte fasziniert auf das vorbeiziehende sumpfige Küstengebiet. Einmal tauchte an Backbord kurz ein mit Kriegern besetztes Kanu auf, doch es gelangte nicht bis auf Rufweite heran und fiel schnell zurück. Mary staunte nicht schlecht, als sie die vielen Menschen sah, die zur Begrüßung der beiden Schiffe am Strand zusammenliefen. Sie bat Hasard, sofort mit an Land gehen zu dürfen. Allerdings blieb sie unbeachtet, während der Seewolf und seine Arwenacks von vielen Leuten bedrängt wurden. Die Siedler wollten wissen, ob es denn einige Dutzend Meilen weiter südlich tatsächlich einen besseren und vor allem ruhigeren Landstrich gäbe, oder ob die Rothäute ihnen überall das Leben erschweren würden. Die wenigsten von ihnen hatten vor der Ankunft in diesem Teil der Neuen Welt geahnt, was ihnen wirklich bevorstand. Andere, vor allem die Seeleute, zeigten sich glücklich über die unerwartete Rückkehr der „Explorer".
Schließlich hatte nur noch die „Pilgrim" unter Kapitän James Drinkwater in der Bucht gelegen. Bei einem Angriff der Indianer wäre die Galeone zu klein gewesen, um auch nur annähernd alle Siedler an Bord zu nehmen. Kapitän Amos Toolan, ein dicklicher, frömmelnder Gemütsmensch, bahnte sich seinen Weg durch die Menge. Daß er ausnahmsweise auch einmal die Ellenbogen einsetzte, störte niemanden. „Sir Hasard, wo haben Sie die ,Explorer' aufgebracht?" wollte er von Hasard wissen. „Diesen verdammten Halunken, die uns einfach über Bord geworfen haben, sollte man die Pest wün . . . " Er unterbrach sich abrupt und zog ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter, weil ihm klarwurde, daß er mit seinem wenig frommen Wunsch über die Stränge geschlagen hatte. „Ich habe gebetet, daß Sie die ,Explorer' finden würden", sagte er. „Der Herr hat mich also erhört und sich nicht von den Siedlern abgewandt, von denen mancher sich schon in Fluchen und Lästern ergeht." Er hob seine Stimme: „Hört her, ihr Verblendeten, die ihr glaubt, euren eigenen Weg gehen zu müssen. Sir Hasard hat bewiesen, daß der Herr unser aller Schicksal in Händen hält und sich noch nicht von uns abgewandt hat. Noch ist es Zeit, ihm für die wundersame Fügung zu danken, und ich glaube, wir werden ein Stück Land finden, das wir in Frieden mit unseren rothäutigen Brüdern und Schwestern bebauen können." Er wandte sich wieder an Hasard und ließ die beschwörend erhobenen Arme sinken. „Natürlich hoffe ich, daß keiner Ihrer Crew im Kampf mit den Mordgesellen einen Schaden davongetragen hat." „Weder am Leib noch an der Seele", erwiderte der Seewolf. Amos Toolan bemerkte die gegen ihn und
53 sein Gebaren gerichtete Spitze gar nicht. „Dann sind die Halunken tot", sagte er, ohne allerdings den zufriedenen Klang ganz aus seiner Stimme verbannen zu können. „Nicht alle", bemerkte Hasard. „Sechs von ihnen sitzen in der Vorpiek der Schebecke und warten begierig darauf, endlich wieder frei atmen zu können und die Sonne zu sehen." „Laßt sie verrecken!" rief jemand. Erstaunlich schnell wirbelte Amos Toolan herum, konnte aber schon nicht mehr erkennen, wer den Ausruf getan hatte. „Richtet nicht vorschnell, damit ihr nicht gerichtet werdet", sagte er. „Und du, dessen Seele der Versucher in seinen Klauen hält, bete, daß der Herr dich zu seinen Schafen aufnimmt." „Genug jetzt", sagte Hasard. „Nicht sehr weit im Süden haben wir einen vielversprechenden Landstrich entdeckt. Ich denke, das ist Grund, um heute abend zu feiern." Seine wenigen Worte wurden begeisterter aufgenommen als die lange Rede von Amos Toolan. Die Vorbereitungen nahmen nur kurze Zeit in Anspruch. Von der Schebecke und der „Pilgrim" wurden jeweils zwei Fässer Rum an Land gebracht, auf der „Explorer" gab es schon seit Tagen keinen einzigen Tropfen mehr, denn von Toolans letzten Vorräten hatten sich die Halunken sinnlos betrunken. Mary stand dem regen, lautstarken Treiben anfangs hilflos gegenüber. Die fragenden Blicke, die mancher Pilger ihr zuwarf, bemerkte sie wohl. Sie fühlte sich verunsichert und zog sich schließlich aus Hasards Nähe zurück. Ohne es selbst zu bemerken, suchte sie die Stille und Einsamkeit, die jahrelang ihre besten Freunde gewesen waren. Sie lenkte ihre Schritte fort von den bedrückend wirkenden
Blockhütten und den bunt gekleideten, lärmenden Menschen, die so anders zu sein schienen als die Arwenacks. Erst blieb sie am Strand, warf Steine ins Wasser und blickte sehnsüchtig zu den Schiffen hinaus, deren Spieren auf sie wie dürre, abgestorbene Bäume wirkten, dann wandte sie sich dem nahen Wald zu. In stumme Zwiesprache mit ihrer Puppe versunken, entging ihr, daß sie von weitem beobachtet wurde. Zwei junge Burschen, keiner von ihnen älter als siebzehn, hatten Gefallen an dem blonden Mädchen gefunden, das sie in all den trostlosen Tagen ihres Hierseins zum erstenmal sahen. Asche wirbelte unter Marys Füßen auf. Das dichte Unterholz am Waldrand war einem Feuer zum Opfer gefallen. Gut eine Pfeilschußweite reichte der Streifen der Vernichtung. Auch die äußeren Bäume waren angekohlt, ihre untersten Äste zum Teil verbrannt. Der Verdacht, daß das Feuer absichtlich gelegt worden sein könnte, stieg in Mary erst auf, als sie die gefällten Laubbäume entdeckte. Aber warum zündeten die Siedler das Dikkicht an? Um das so gewonnene Land mit Bodenfrüchten zu bestellen? Sie mußten doch wissen, daß die Fruchtbarkeit nur von sehr kurzer Dauer war. Die Weißgesichter waren ein seltsames, widersprüchliches Volk. Mary verstand nicht, warum sie den Indianern das Land wegnahmen, nur um es zu verwüsten. Sie setzte sich auf einen Baumstumpf und blickte zu der Siedlung hinüber, in der mehrere große Feuer loderten. Schrille Musik erfüllte die Bucht. Einige Männer hatten seltsame Kästen unter ihr Kinn geklemmt und rieben mit kleinen Bogen auf und ab. Paarweise, in langen Reihen und sich an den Händen haltend, tanzten Männer und Frauen dazu.
54 Die Musik war laut, aber wiederum nicht laut genug, um das Knacken eines zerbrechenden Astes zu übertönen. Mary fuhr herum. Keine fünf Schritte entfernt lauerte ein Indianer, ein Steinbeil wurfbereit in der Hand. Seine Kriegsbemalung wies ihn als Powhatan aus, die weiter nördlich lebten. „Seit wann schleichen sich tapfere Powhatan-Krieger hinterrücks an eine Tuscarora-Squaw an, um sie zu töten?" fauchte ihn Mary verächtlich an. Der Indianer starrte die vermeintliche weiße Frau an, als wäre ihm unvermittelt ein Waldgeist begegnet. „Laß das Steinbeil sinken", sagte Mary. „Oder fürchtest du dich?" „Wer bist du?" brachte der Krieger endlich hervor. Selbst als sie ihren indianischen Namen nannte, konnte sie die Zweifel des Powhatan nicht ausräumen. Das Funkeln in seinen Augen verriet, daß er sie töten würde, und sie hatte bestimmt nicht die Kraft, sich ihm zu widersetzen. Deshalb bückte sie sich blitzschnell, ihre Finger fuhren durch die Asche, und dann begann sie, Zeichen auf ihr Gesicht zu malen, die nur ein Indianer kannte. Mit einer unwilligen Bewegung streifte sie ihr Kleid von den Schultern und fuhr fort, die bedeutungsvollen Symbole auch auf den nackten Oberkörper zu übertragen. „Aber du bist eine Weiße . . . " „Wenn du der Meinung bist, dann töte mich. Bist du deshalb den weiten Weg nach Süden gegangen?" „Ich glaube dir", sagte der Krieger, „doch ich verstehe nicht, was ich mit eigenen Augen sehe." So schnell wie er erschienen war, verschwand er wieder zwischen den Bäumen. Mary starrte lange gedankenverloren hinter ihm her, bis sie endlich daran dachte, das Kleid über ihren Schultern zu schließen. Wie sie jetzt
aussah, konnte sie unmöglich zu den Siedlern zurückkehren. Deshalb ging sie nicht direkt zu den Blockhütten, sondern folgte ihrer eigenen Spur, die zum Wasser führte. Sie gelangte nicht weit. Unvermittelt wurde sie von zwei jungen Burschen angesprungen, die sich am Rand der verbrannten Fläche versteckt hatten. Der eine zerrte ihr die Arme auf den Rücken und hielt ihr mit eiserner Hand den Mund zu, der andere spuckte auf seine Finger und verwischte den Ruß in ihrem Gesicht. „Na, Indianerflittchen", höhnte er. „Was hältst du von uns beiden?" Daß sie nicht antworten konnte, störte ihn wenig. „Versuche gar nicht erst zu lügen. Wir haben dich am Wald gesehen, zusammen mit dem verlausten Wilden, für den du dein Kleid ausgezogen hast. Was kann der Kerl, was wir beide nicht auch könnten?" Lachend zerrte er Marys Ärmel nach unten und betrachtete kopfschüttelnd den Ruß auf ihrer weichen Haut. „Du bist noch weniger als eine Hure", fauchte er. „Was hat die Rothaut dir versprochen? Daß du am Leben bleibst, wenn wir alle massakriert werden? Los doch, sag schon!" Ein dumpfer, klatschender Laut war zu vernehmen. Der junge Bursche taumelte nach vorn. Es sah so aus, als wolle er das Mädchen mit sich zu Boden reißen, aber dann erschien ein Ausdruck ungläubigen Erstaunens auf seinem Gesicht. Gurgelnd brach er in die Knie. Sein Kumpan reagierte erst, als er das Blut bemerkte. Entsetzt stieß er Mary von sich und hetzte blindlings davon. Noch übertönte Musik seine Schreie, aber dann wurde einer der Posten aufmerksam, und ein Musketenschuß beendete das ausgelassene Treiben. Dem jungen Burschen konnte niemand mehr helfen. Das kraftvoll geschleuderte Steinbeil war tief in seinen Rücken eingedrungen.
55 „Wo bist du?" rief Mary in die Dunkelheit. Der Powhatan-Krieger gab keine Antwort. Möglich, daß er aus einiger Entfernung beobachtete. Genausogut konnte er sich endgültig zurückgezogen haben. Mary ließ sich neben dem toten Jungen auf die Knie sinken und vergrub ihr Gesicht in den Handflächen. Was geschehen war, hatte sie bestimmt nicht gewollt.
Zum erstenmal seit dem Tod ihrer Mutter und ihres kleinen Bruders während der schrecklichen Überfahrt an Bord der „Pilgrim" glaubte Ireen Henford, daß vielleicht doch alles gut werden konnte. Sie hatte Philip Hasard Killigrew reden hören, und obwohl er mit vielem hinter dem Berg hielt, war sie überzeugt davon, daß der von den Arwenacks entdeckte Landstrich das versprochene Paradies war. Ireen bewunderte den Seewolf. Ohne ihn und seine Crew wäre kaum einer der Siedler lebend in die Neue Welt gelangt. Als dann die Musik begann, bat sie Hasard um einen Tanz. Wie eine Feder wirbelte er sie herum, und schon nach wenigen Takten bildeten die meisten anderen Tänzer einen Kreis und klatschten. In der vordersten Reihe entdeckte Ireen das Gesicht ihres Verlobten. James Bucknan war eifersüchtig. Er starrte Sir Hasard und sie an, als könne er nicht glauben, was er sah. Die Geiger hatten ihre Instrumente kaum abgesetzt, da war er schon da und zerrte sie mit sich. Ireen konnte sich gerade noch bei dem Seewolf für den Tanz bedanken. Amüsiert blickte Hasard den beiden hinterher. Niemand wußte besser als er, welche Szenen sich auf den Schiffen abgespielt hatten. Die Leute hatten wahrlich ihre Ruhe verdient
„Sir", wurde er angesprochen. „Haben Sie einen Moment Zeit für mich?" Hasard kannte den Mann, obwohl er nicht sofort wußte, wo er ihn unterbringen sollte. „Mister Henford, wenn ich nicht irre", sagte er. „Für Sie Jeremiah, Sir." „Was liegt an?" In unmittelbarer Nähe der Musik konnte man sich schlecht unterhalten. Henford deutete zur Bucht hinunter, wo der wacklige Landungssteg inzwischen weiter ins Wasser hinausgebaut worden war. Im Schein ihrer Hecklaternen lagen die drei Schiffe ruhig vor Anker. Hasard sah sogar die Deckswachen, die aufmerksam in die Dunkelheit spähten. „Ich bin zwar nur ein einfacher Mann, Sir", begann Henford, „aber ich bilde mir ein, gute Augen zu haben und über einen brauchbaren Verstand zu verfügen. Tagelang herrschte hier Ruhe, aber seit heute morgen mehren sich die Anzeichen dafür, daß sich die Rothäute zusammenrotten. Die anderen wollen es wahrscheinlich noch nicht wahrhaben." „Sie haben die Rothäute gesehen, Jeremiah?" Henford nickte schwer. „Zwei Kanus draußen auf der Bucht. Kurz nach Anbruch der Morgendämmerung, als die meisten Siedler noch schliefen. Außerdem stieg Rauch auf, im Süden und auch im Westen, weniger als fünf Meilen entfernt." „Hat es Kämpfe zwischen unseren Leuten und den Indianern gegeben?" „Nicht daß ich wüßte, Sir. Seit die Halunken mit der ,Explorer' davongesegelt sind, bestimmt nicht mehr." „Kommen Sie, Jeremiah", sagte Hasard. „Während der Nacht haben wir nichts zu befürchten, und morgen werde ich mich darum kümmern." „Danke Sir. Es geht mir in erster
56 Linie um die Frauen und Kinder an Land." „Wollen immer noch einige nach England zurück?" „Das hat sich gelegt, seit wir wieder genug zu essen und jede Menge Frischwasser haben." Ein Musketenschuß peitschte durch die Nacht, er übertönte sogar die Musik, die mit schrillen Dissonanzen abbrach. Schreie erklangen, Männer rannten, um ihre Waffen zu holen. Obwohl niemand wußte, was eigentlich geschehen war, entstand innerhalb weniger Augenblicke ein heilloses Durcheinander. Hasard begann zu laufen. Henford folgte ihm dichtauf. Sie langten gerade rechtzeitig an, um einen Jüngling berichten zu hören. Der Bursche stotterte vor Aufregung. Von einem Mädchen war die Rede, das sich im Wald mit einem Indianer getroffen hatte. Der Junge und ein Freund hatten sich angeschlichen, um herauszufinden, was vor sich ging. Aber sie waren entdeckt und angegriffen worden. Mehr wußte der Bursche nicht. Er hatte die Beine in die Hand genommen und war davongelaufen, um die Siedler zu warnen. Siedendheiß durchfuhr es den Seewolf. Er hatte Mary geraume Zeit nicht mehr gesehen. Die Annahme, daß sie Verrat üben könnte, hielt er trotzdem für verrückt. Etwa zwanzig Kerle, mit Pistolen und Musketen bewaffnet, folgten dem Jungen. Schon der Lärm, den sie verursachten, mußte jede Rothaut vertreiben. Hasard war überzeugt davon, daß sie nicht einmal mehr Spuren finden würden, weil sie alles zertrampelten. Batuti und Carberry folgten der aufgebrachten Meute, die anderen an Land weilenden Arwenacks sahen es als ihre Pflicht an, die Wachen im Nordwesten der Siedlung zu verstärken. Immerhin bestand die Gefahr,
daß die Rothäute ein geschicktes Ablenkungsmanöver geplant hatten. Von einer stärker werdenden Sorge um Mary getrieben, versuchte Hasard, die Bewaffneten einzuholen. Im Laufen zog er seinen Radschloßdrehling. „Das ist sie! Das ist die verdammte Hure!" hörte er den Jungen schreien. „Bringt sie um!" „Nicht schießen!" brüllte ein anderer. „Sie soll brennen, die Verräterin." „Laßt das Mädchen in Ruhe!" befahl Batuti. „Sie kann bestimmt nichts dafür." „Halte dich da raus, Nigger! Das geht nur uns etwas an." „Irrtum", sagte Carberry. Augenblicke später mußte er erkennen, daß einige Siedler es tatsächlich wagten, die Musketen auf Batuti und ihn zu richten. Es sah so aus, als hätten sie keinerlei Hemmungen, die Angelegenheit auf ihre Weise zu regeln. „Wenn einer abdrückt, ist er ein toter Mann", warnte Hasard. „Ich spaße verdammt nicht. Die Waffen runter! Und du läßt das Mädchen in Ruhe", wandte er sich an den Jungen. „Sie ist eine Indianerhure! Seht sie euch doch an. Sie hat meinen Freund umgebracht." Mary stand nur da und schüttelte stumm den Kopf. Kein Wort der Verteidigung drang über ihre Lippen. „Wer ist sie überhaupt? Kennt sie jemand?" „Sie war nicht auf den Schiffen." „Der Seewolf hat sie mitgebracht. Aus dem Süden." „Sie hat mit dem Indianer geredet", behauptete der Junge. „Ich habe es selbst gehört." „Batuti!" Mit einer flüchtigen Kopfbewegung forderte Hasard den Gambiamann auf, das Mädchen unter seinen Schutz zu nehmen. Noch hatten nicht alle Siedler ihre Waffen gesenkt. Trotzdem wagte kei-
57 ner, dem Unmut allzu freien Lauf zu lassen. Zu deutlich war ihnen in Erinnerung, daß Philip Hasard Killigrew durchzugreifen verstand, wo immer es nötig war. Das Fest war vorbei. Bedrückte Gesichter lösten die frohe Stimmung ab. Plötzlich fürchtete jeder wieder, daß die Rothäute überraschend angreifen und die Hütten niederbrennen könnten. Die Zahl der Wachen wurde verdreifacht. Dennoch fanden viele Siedler für den Rest der Nacht keine Ruhe. Hasard schickte Batuti mit dem Mädchen zur Schebecke zurück. Er selbst und ein knappes Dutzend Arwenacks blieben an Land, um im Ernstfall sofort eingreifen zu können. Immer wieder ertappte sich der Seewolf bei dem Gedanken, daß Mary vielleicht doch nicht so unschuldig war, wie er glaubte. Sie hatte schon einen der Halunken mit dem Steinbeil auf ähnliche Weise getötet. Aber die Frage blieb, woher die Waffe stammte. 7. Der Morgen brach an, ohne daß ein Indianerüberfall erfolgt war. Selbst durch das Spektiv konnte Hasard nicht den Schatten einer Rothaut entdecken. Eifrige Siedler bahrten den toten Jungen in der Mitte des Dorfes auf. Obwohl der Seewolf wenig von solchen Zurschaustellungen hielt, schritt er nicht dagegen ein. Im Verlauf einer knappen Stunde versammelten sich an die hundert Männer und Frauen, die ihrem Unwillen zunehmend Luft verschafften. Sie verstiegen sich sogar dahin, von Hasard die Auslieferung des Mädchens zu verlangen, und als er sich weigerte, wurde behauptet, sie paktiere nicht nur mit den Rothäuten, sondern sei sogar eine von ihnen. Da
jeder Widerspruch die ohnehin aufgebrachten Siedler nur noch weiter gereizt hätte, verzichtete Hasard auf eine entsprechende Klarstellung. Sollten die Leute denken, was sie wollten, an Bord der Schebecke blieb Mary für sie unerreichbar. Ohnehin war anderes bald wichtiger als der Tod, der seit dem Auslaufen aus dem Londoner Hafen zum täglichen Begleiter gehörte. Indianer näherten sich der Siedlung. Sie griffen nicht an, sie waren einfach nur da, als warteten sie auf ein Ereignis, das in Kürze eintreten mußte. Auch weit draußen auf der Bucht wurden sie gesichtet. Von den Schiffen erfolgte die Nachricht, daß die Spektive Dutzende großer Kanus erkennen ließen, jedes mit mindestens zehn Rothäuten besetzt. Im Verlauf des Vormittags stieg die Zahl der Indianer auf dreihundert an. Und das war wohl keineswegs zu hoch angesetzt. Panikstimmung griff um sich. Die meisten Siedler rafften ihre spärlichen Habseligkeiten zusammen und drängten sich darum, zu den Schiffen übergesetzt zu werden. Einige wenige verschanzten sich in ihren Blockhütten und richteten sich ein, als hätten sie eine wochenlange Belagerung zu erwarten. Der Seewolf hatte für die beiden Gruppen nur Ablehnung übrig. Er ahnte, was die Rothäute bewogen hatte, sich im Gebiet rund um den Albemarlesund zusammenzufinden. In einem kurzfristig anberaumten Treffen mit den Kapitänen James Drinkwater und Amos Toolan auf der Schebecke legte er seine Ansichten dar, die von beiden Männern zwar überrascht aufgenommen, schließlich aber doch akzeptiert wurden. Zu glauben, daß die Indianer nur wegen der Schnapphähne erschienen waren, fiel ihnen schwer. „Jeder der sechs ist ein Halsabschneider und Galgenstrick der übel-
58 sten Sorte", sagte Amos Toolan. „Liefern wir sie doch aus, damit die Siedler ihre Ruhe haben." „Wollen Sie es wirklich den blutgierigen Heiden da draußen überlassen, über Tod und Leben zu entscheiden?" fragte James Drinkwater. „Ausgerechnet Sie, der seine Leute ständig zum Beten ermahnt?" „Ich wüßte nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hat." Toolan brauste prompt auf. Hasard ließ Mary holen und wollte von ihr wissen, wie lange die Rothäute wohl zu warten gedachten. Einen oder zwei Tage, sagte sie, danach würde die Entscheidung im Kampf fallen. „Wenn es sein muß, werden wir uns zu verteidigen wissen", erklärte James Drinkwater. „Die Wilden haben unseren Kanonen nichts entgegenzusetzen." „Das gäbe ein Blutbad", wies ihn Hasard zurecht. „Ganz abgesehen davon, daß eine neue Siedlung dann niemals lange existieren würde. Die Indianer warten auf ein Zeichen unseres Friedenswillens. Wir müssen ihnen zeigen, daß wir bereit sind, unsere Verbrechen abzuurteilen und nicht nur leere Worte sprechen. Aber ich warne Sie, Gentlemen, das soll keiner Vorverurteilung der Angeklagten gleichkommen." „Sie berufen ein Bordgericht ein, Sir Hasard?" „Eine faire Verhandlung, mit Ihnen, mir und zwei Vertretern der Pilger als Richter." Vom Strand her brandete lauter werdendes Gebrüll auf. Sogar Schüsse fielen. Hasard enterte zum Achterdeck auf, um zu sehen, was sich abspielte. Im Falle eines Angriffs der Rothäute hätten seine Mannen ihn allerdings längst informiert. „Die Siedler müssen verrückt sein", meldete Matt Davies. „In dem Zustand bringen die jede Jolle zum Kentern. Ein paar Hitzköpfe sind
unter ihnen, die alle in Aufruhr versetzen." „Einen solchen Zustand hatten wir schon. Aber niemand lernt dazu. „Hasard ließ seinen Blick suchend über Deck schweifen. Al Conroy, der Stückmeister, hantierte auf der Kuhl. „Al!" rief er. „Setze denen eine Ladung vor den Bug, daß sie ihre Vernunft wiederfinden." Al Conroy strahlte übers ganze Gesicht. Er war viel zu lange untätig gewesen. Ein Präzisionsschuß wie der, den Hasard jetzt von ihm verlangte, war genau das Richtige für seine Fähigkeiten. Er klarierte eine Backbordculverine auf Höhe des Großmastes. Die Pulverladung, war für einen Weitschuß über rund 400 Yards ausreichend. Als Geschoß wählte er eine Kettenkugel aus, die eine beachtliche Fontäne erzeugen würde. Lange und genau visierte er über den Rand des Geschützes hinweg. Mehrmals veränderte er die Lage der Richtkeile nur um Winzigkeiten. Die Dünung war so gering, daß sie das Schiff kaum beeinflußte. Der Zustand an Land war inzwischen noch schlimmer geworden. Lautstark provozierten einige Rädelsführer den Haß der verängstigten Siedler auf die Seeleute, die angeblich ihre Haut in Sicherheit gebracht hatten. Den glimmenden Luntenstock in Händen, wartete Al Conroy den günstigsten Augenblick ab. Dann feuerte er. Den aufgebrachten Siedlern blieb keine Zeit zur Reaktion, als der Geschützdonner über die Bucht hallte. Das Geschoß schlug nicht einmal drei Yards vor dem hölzernen Steg ins Wasser, der von wütenden Männern und Frauen ohnehin bis zur Grenze seiner wackligen Tragfähigkeit belastet war. Eine mehrfach mannshohe Fontäne spritzte auf und überschüttete die
59 entsetzte Menge mit einem Wasserschwall, der nicht wenige von den Füßen riß. Das Chaos war perfekt. Diejenigen, die den Halt verloren hatten und ihre Habe davontreiben sahen, versuchten, in seichteres Wasser zu gelangen oder sich zumindest an den Verstrebungen des Steges festzuhalten. Die anderen fürchteten plötzlich, daß sie koppheister absaufen würden. Auf jeden Fall ließ der Steg ein durchdringendes Ächzen und Knirschen vernehmen, dann knickte er an mehreren Stellen zugleich ein. Einige Kerle, die vergeblich versuchten, ihre Musketen trockenzuhalten, verschwanden jäh unter der Wasseroberfläche. Die Wuhling war so groß, daß kaum einer es schaffte, sich schwimmend in Sicherheit zu bringen. Erst nach und nach gewann der gesunde Menschenverstand die Oberhand, dann löste sich das Knäuel aus Siedlern, zersplitterten Planken und Gepäckstücken rasch auf. Auf der Kuhl und dem Achterdeck der Schebecke feixten die Arwenacks. Gefahr, daß einer der unfreiwillig im Wasser Gelandeten ertrinken würde, hatte wohl nicht bestanden. Auf jeden Fall hatte die kalte Dusche ihren Mut gehörig abgekühlt. Der Lärm wurde leiser und verstummte schließlich ganz. „Kanus an Steuerbord!" meldete Nils Larsen. Hasard beobachtete durchs Spektiv. Die Rothäute paddelten von der anderen Seite der Bucht heran. Sie hatten den Geschützdonner gehört und erschienen wohl, um herauszufinden, was geschehen war. Zum Glück konnten die Siedler nicht weit genug aufs Wasser hinaussehen, weil die Schiffe ihnen den Blick versperrten. „Al", befahl Hasard, „zwei weitere Geschütze klarieren und ausrichten! Ich gehe an Land."
Der Stückmeister blickte nur kurz von seiner Arbeit mit Pütz und Wischer auf, bevor er mit doppeltem Eifer weiterhantierte. Die Zwillinge gingen ihm dabei nicht minder freudig zur Hand. Der Seewolf bestimmte Edwin Carberry, Batuti, Big Old Shane, Bob Grey und Stenmark dazu, ihn zu begleiten. Jeder von ihnen bewaffnete sich mit Pistole und Muskete, bevor er in die Jolle abenterte. Hasard glaubte zwar nicht daran, daß sich ihnen wirklicher Widerstand entgegenstellen würde, aber eine Demonstration der Stärke schien dennoch angebracht zu sein. Wenn die wenigen Rabauken erst erkannten, daß sie von der Mehrzahl der Siedler kaum Unterstützung zu erwarten hatten, würden sie rasch zurückstecken. Nur vereinzelt wurden noch Rufe laut, die verlangten, die Siedler endlich einzuschiffen. Fünf Bootslängen vom Ufer entfernt, ließ Hasard die Riemen einziehen und richtete sich auf. „Die Indianer sind nicht hier, um uns zu überfallen!" rief er, „Wenn sie das wollten, hätten wir sie noch nicht gesehen. Sie sind hier, weil sie wissen wollen, ob der Weiße Mann Gerechtigkeit übt." „Wie sollen wir das verstehen?" „Die Männer, von denen die ,Explorer' gekapert wurde, haben auch Indianerdörfer überfallen und wahllos Krieger, Frauen und Kinder ermordet. Sechs dieser Desperados sind auf der Schebecke eingesperrt und warten auf ihren Prozeß." „Dann sind die Wilden nur dieser Mörder wegen hier?" erklang es vom Strand her. Hasard nickte. „Liefert die Kerle den Rothäuten aus!" forderte jemand. „Je eher, desto besser. Damit wir alle wieder ruhig schlafen können." Vielfache Zustimmung erklang aus
60 der Menge. Hasard hob die Arme und heischte um Ruhe. „Ich bin hier, um zwei Siedler an Bord zu holen, die mit uns Gericht halten sollen." „Weshalb Gericht? Überlaßt die Burschen einfach den Indianern!" „Das hieße nichts anderes, als uns mit ihnen auf die gleiche Stufe zu stellen . . . " Hasard hatte noch mehr sagen wollen, doch ein Schuß krachte und die Kugel schlug dicht neben der Jolle ins Wasser. Sofort rissen die Arwenacks ihre Musketen hoch, aber da hatten beherzte Siedler den heimtükkischen Schützen schon überwältigt und ihn niedergeschlagen. Eine Frau machte sich zur Sprecherin aller an Land Versammelten. Hasard kannte sie. Anna Keybridge war eine resolute Person, die sich durchzusetzen verstand. Außerdem lebte sie seit mehreren Jahren in der Neuen Welt und konnte dementsprechend auf einige Erfahrung zurückblicken. „Wir sind einverstanden, Kapitän Killigrew!" rief sie. „Ich glaube auch, daß die Rothäute vorerst nur beobachten. Wann werden Sie das Bordgericht abhalten?" Hasard warf einen flüchtigen Blick zur Sonne hinauf, die nahezu im Zenit stand. In zwei Stunden", sagte er.
Die sechs Kerle waren merklich kleinlaut geworden, die Zeit in der Vorpiek hatte sie mürbe werden lassen. Verwirrt und fast ein wenig ängstlich blinzelten sie ins grelle Sonnenlicht, als sie über den Niedergang vor der Back an Deck geholt wurden. Lediglich Frank Davenport ließ überheblichen Trotz erkennen, und Atkinson Grey erstickte schier vor mühsam verhaltenem Zorn. Wären seine Hände nicht auf den Rücken gefesselt worden, er hätte sich mit Si-
cherheit auf den Seewolf gestürzt. So blickte er nur wild um sich und spie aus, als er Hasard vor dem Großmast entdeckte. „Bastard!" fauchte er. „Maul halten!" röhrte der Profos. „Oder wäre dir lieber, wir spielen ein bißchen Kielholen, bevor dir die Rothäute das verlauste Fell über die Ohren ziehen?" „Das wagst du nicht." „Wirklich nicht?" Carberry stieß den Anführer der Marodeure weiter vorwärts. Nur Spencer Taffe, wohl der Gebildetste von allen, zeigte sich zerknirscht. Er hielt die Augen niedergeschlagen, und seine Lippen bewegten sich in lautlosem Murmeln. Es sah so aus, als bete er. Alle sechs mußten achterlich des Gangspills stehenbleiben. Hasard fixierte sie der Reihe nach. Einsicht oder gar Reue konnte er nur bei Taffe erkennen. „Was soll diese Farce?" schimpfte Atkinson Grey. „Maßen Sie sich tatsächlich das Recht an, über uns zu Gericht zu sitzen?" Hasard hatte es übernommen, die Anklage vorzutragen. Sie begann mit dem Angriff der Rabauken auf die „Pilgrim" auf hoher See, wobei er keineswegs zu erwähnen vergaß, daß sich die Burschen gegenseitig umgebracht hatten, als ihre Karavelle sank. Der Überfall auf die „Explorer" war ein weiterer Punkt, aber am schwerwiegendsten zählte wohl die Gefährdung des Besitzes der englischen Krone in der Neuen Welt und sämtlicher Siedler dadurch, daß sie in ihrer Gier nach Gold Indianer niedergemetzelt hatten. „Warum regen Sie sich auf?" stieß Frank Rosebery abfällig hervor. „Das waren doch alles nur Wilde." Der Seewolf mußte an sich halten, um ihn nicht auf der Stelle niederzuschlagen. Ein flüchtiger Rundblick überzeugte ihn davon, daß mehrere
61 Arwenacks liebend gern ebenfalls zugepackt hätten. „Ist das alles, was Sie zu Ihrer Verteidigung vorzubringen haben?" fragte er mit mühsam verhaltener Stimme. „Das Urteil steht ohnehin schon fest", erklärte Frank Davenport. „Sie waren immer gegen uns, Killigrew, dabei wollten gerade wir mithelfen, die Kolonie aufzubauen." „Natürlich auf Ihre Weise", sagte James Drinkwater. „Natürlich." Davenport nickte eifrig. „Oder glauben Sie, daß Gold nicht dazu beiträgt, eine Siedlung rasch wachsen zu lassen?" „Das hängt ganz davon ab, wie man dieses Gold gewinnt", sagte Anna Keybridge, die zusammen mit Jeremiah Henford die Siedler vertrat. Hasard erhielt ein Zeichen von Dan O'Flynn, der auf der Back Ausschau hielt. Dan deutete auf die Bucht hinaus, hob die linke Hand und spreizte die Finger. Das bedeutete, daß sich fünf Kanus näherten. Hasard nickte kaum merklich. Die Verhandlung zog sich in die Länge. Spencer Taffe begann, seine Unschuld zu beteuern. Er sei von den anderen zum Mitmachen gezwungen worden, behauptete er. Er habe sogar versucht, sie von dem sinnlosen Morden abzuhalten und selbst nie einen Indianer umgebracht. Er sei bereit, das beim Leben seiner Mutter auf die Bibel zu schwören. „Deine Mutter war eine Hafendirne." Atkinson Grey lachte spöttisch. „Niemand weiß besser als du, daß sie schon vor Jahren in der Themse ersoffen ist." „Lügner!" schrie Taffe. „Grey hat recht", sagte Randolf Gordon. „Sehen Sie sich außerdem die Siedler an, die Angst vor den Rothäuten haben. Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer. Und was treiben denn die Spanier in ihren Besitzungen?"
„Glücklicherweise sind wir keine Spanier." Hasard wandte sich ab und ging zum Schanzkleid. Er brauchte nicht lange nach den Indianern zu suchen, die Kanus dümpelten keine fünfzig Yards entfernt auf den Wellen. Hasard erkannte, daß einige der Rothäute zu den Uferwaldleuten gehörten. Gebannt blickten sie zur Schebecke. Zweifellos hatten sie bemerkt, daß die Halunken gefesselt an Deck standen. Hasards Blick wanderte zu den einige Schiffslängen entfernt liegenden Galeonen hinüber. Die Mannschaften standen bewaffnet an der Verschanzung, die Geschütze waren ausgerannt worden. Trotzdem schien man erst mal abwarten zu wollen. „Alle sechs Angeklagten sind der Verbrechen schuldig, die ihnen zur Last gelegt werden", sagte Anna Keybridge in diesem Moment. „Sie haben sich nicht nur gegen die Interessen der englischen Krone vergangen, sondern auch das Leben der Siedler rücksichtslos aufs Spiel gesetzt. Sie haben den Tod durch den Strang verdient." Frank Davenport wurde blaß. Atkinson Grey schnappte lediglich nach Luft, schwieg aber. Frank Rosebery und Randolf Gordon hüllten sich in einen Mantel geistiger Abwesenheit, während der Fallensteller O'Hara ungläubig die Frau anstarrte, die gewagt hatte, das Todesurteil auszusprechen. Spencer Taffe begann zu jammern. „Schuldig", sagte auch Jeremiah Henford. „Allerdings bin ich der Meinung, daß für Taffe eine lebenslange Kerkerhaft angemessen wäre." „Tod durch den Strang", bekräftigte James Drinkwater. „Ohne Ausnahme. Der Schaden, den die Kerle zu verantworten haben, ist noch gar nicht in seiner vollen Tragweite abzusehen." Amos Toolan hatte die Hände gefaltet.
62 „Der Himmel möge diesen Halsabschneidern und Schnapphähnen gnädig sein", sagte er. „Ich habe meine Entscheidung gewiß nicht leichtfertig getroffen, aber schließlich steht geschrieben: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Die Marodeure sind durch Aufhängen am Hals vom Leben zum Tod zu bringen. So wahr der Herr uns helfe." Damit war das Urteil einhellig gefällt, noch ehe sich der Seewolf geäußert hatte. „Tod durch den Strang", bestimmte auch er. „Abgesehen davon, daß jeder dieser sechs Männer sein Leben mehrfach verwirkt hat, sind wir gezwungen, ein abschreckendes Zeichen zu setzen." Irgendwie hatte Spencer Taffe es geschafft, von allen unbemerkt seine Handfesseln zu lösen. Vielleicht hatte auch ein Knoten nicht ganz so fest gehalten, wie dies sein sollte. Jedenfalls warf er sich plötzlich nach vorn, sprang mit einem Satz über das Luk hinweg und schwang sich auf die Steuerbordverschanzung, bevor irgend jemand in der Lage war, ihn an der Flucht zu hindern. Er sprang außenbords. Dann erst hatte ein halbes Dutzend Arwenacks die Musketen schußbereit. „Laßt ihn!" befahl Hasard. „Er gelangt nicht weit." Spencer Taffe legte unter Wasser eine beachtliche Strecke zurück und tauchte erst mehr als zwanzig Yards von der Schebecke entfernt wieder auf. Weil er wohl fürchtete, beschossen zu werden, ließ er sich sofort wieder absinken. Er konnte die Indianer nicht sehen und schwamm genau auf ihre Kanus zu. Erst unmittelbar vor den Rindenbooten begriff er. Doch die Rothäute ließen ihm keine Gelegenheit zur abermaligen Flucht. Ihre Pfeile waren schnell und tödlich.
Die fünf Verurteilten, die erst allmählich zu begreifen schienen, daß sie ihr Leben verwirkt hatten, wurden wieder in die Vorpiek gebracht. Von den Siedlern hatte keiner ein anderes Urteil erwartet, sie zeigten sich zufrieden. Sofort begannen sie mit dem Errichten der Galgen. Rund zwei Meilen vor der Siedlung ragte die Spitze einer Landzunge in die Bucht hinaus. Dort fällten die Männer Bäume, sägten, hämmerten und nagelten wie die Besessenen und verankerten schließlich noch am Abend die ersten drei Galgen im Boden. Daß sich Indianer näherten und ihr Tun aufmerksam verfolgten, spornte sie zu größten Anstrengungen an. Während dieser Nacht loderten viele Feuer rund um die Bucht. Dumpfer Trommelklang schwebte fast bis Mitternacht über dem Wasser und wich dann einer erschreckenden Stille. Für die meisten Siedler war diese Nacht zugleich ihre letzte im Albemarlesund. Die Kapitäne der beiden Galeonen und der Seewolf hatten verkündet, daß sie am Mittag des folgenden Tages nach Süden aufbrechen würden. Bei den ersten Strahlen der Morgensonne gingen die Arbeiten weiter. Bald ragten fünf Galgen nebeneinander auf - ein eindringliches Mahnmal, unübersehbar für jeden, der auf dem Seeweg die Siedlung ansteuerte. Lediglich von den Blockhütten aus war die Sicht durch Geländeerhebungen beeinträchtigt. Die fünf Todeskandidaten erhielten ihre letzte Mahlzeit. Keiner von ihnen hatte während der Nacht geschlafen. Schwere, dunkle Ringe unter den tief in den Höhlen liegenden Augen ließen ihre Blicke wirr erscheinen. „Sie können mich nicht aburteilen, Killigrew", protestierte Frank Davenport. „Ich wurde bei Hofe als
63 künftiger Statthalter für die Ländereien Virginias auserwählt und verlange eine entsprechende Behandlung." „Dein Gejammer geht mir auf die Nerven", schimpfte Frank Rosebery. „Halt's Maul, oder ich drücke dir die Kehle zu, bevor sie dir den Hals langziehen." Atkinson Grey hatte nur einen einzigen Wunsch. „Rum!" brüllte er, als er seinen Becher zum dritten Mal geleert hatte. „Ist das eine Art, einen Verurteilten verdursten zu lassen?" Bis sie an Land gepullt wurden, war er ziemlich betrunken. Er lachte, grölte und bedachte die Frauen mit zotigen Bemerkungen. Zwei Puritaner traten auf ihn zu. „Bruder im Herrn, wenn du deine Seele erleichtern willst . . . " „Ich?" ächzte Grey. „Soll das ein Scherz sein? Schert euch zum Teufel!" Bei den anderen Kerlen stießen die Puritaner auf ebensowenig Gegenliebe. Sie murmelten ein Gebet, als der Trupp an Land schon weitergezogen war, und folgten dann mit einigem Abstand. Der Seewolf und seine Mannen achteten weniger auf diese Vorgänge als auf die Indianer. Tatsächlich waren mehr als dreihundert Rothäute auf der anderen Uferseite erschienen oder paddelten in Kanus bis nahe an die Landzunge heran. „Wenn die angreifen, haben wir so gut wie keine Chance", sagte Ben Brighton. „Sie werden uns in Ruhe lassen", erwiderte Hasard und fügte hinzu: „Hoffentlich." Das Schauspiel der Hinrichtung war schnell vorbei. Galgen und Stricke hatten gehalten, und die Indianer zogen sich zurück. Nur wenige Kanus verharrten noch in der Bucht. Durchs Spektiv konnte Hasard die
jungen Krieger der Uferwaldleute erkennen. Die Toten waren schnell vergessen. Zweihundertundzwanzig Pilger wollten nach Süden, um ihr Glück noch einmal zu versuchen. Die Vorzeichen standen diesmal besser. Bis in die frühen Nachmittagsstunden dauerte das Einschiffen, das ohne Zwischenfälle verlief. Nur wenige Familien, fast ausschließlich schon länger hier lebende Siedler, blieben zurück. Ein steter Wind und die herrschende Strömung trieben die Schiffe schnell auf Roanoke zu. Die erste Überraschung erlebte Hasard, als sie die Landzunge passierten. Die Galgen waren leer. Jemand hatte die Stricke gekappt und die Toten weggeschafft. „Die Indianer haben sich davon überzeugt, daß wir die richtigen Kerle verurteilt haben", meinte Batuti. Und so war es wohl auch. Kurz vor Passieren der Flußinsel mit dem verlassenen Fort Raleigh erschienen wieder Kanus. Die Indianer folgten den Schiffen eine Zeitlang und zogen sich dann in das sumpfige Küstengelände zurück. Hasard stand auf dem Achterdeck, als Mary zur Kuhl aufenterte. Kaum jemand beachtete das Mädchen, und niemandem fiel auf, daß sie das Kleid wieder ausgezogen und in ihre Sachen aus Hirschleder geschlüpft war. Der Seewolf reagierte zu spät. „Mary!" schrie er. Sie drehte sich flüchtig um, winkte ihm zu, und noch während er zum Niedergang lief, sprang sie. Der Ruf „Mann über Bord!" ertönte. Der Erste Offizier wollte beidrehen lassen, aber Hasard winkte ab. Er ahnte, welche Beweggründe Mary veranlaßt hatten, zu den Indianern zurückzukehren. „Vielleicht ist sie bei den Tuscarora glücklicher", murmelte er. Er stand lange an der Verschanzung und starrte ins Wasser, das in
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sanften Wellen dem Ufer zustrebte, bis Batuti neben ihm erschien und ihm eine Stoffpuppe hinhielt. „Das habe ich neben dem Kleid gefunden", sagte er tonlos. „Mary war nie ohne ihre Puppe. Warum diesmal?" „Goldene Wolke braucht sie nicht mehr", erwiderte Hasard. „Sie hat
sich entschieden. Gib die Puppe einem anderen kleinen Mädchen und sag, daß es gut auf Anna aufpassen soll." Am nächsten Tag erreichten die drei Schiffe mit den Siedlern eine friedliche Bucht im Süden. Das Land war schön, es verhieß die Erfüllung eines Traumes . . .
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 638
Das Grab des Jaguars von Frank Moorfield Pistolen- und säbelschwingend stürmten die Schnapphähne auf die Stellungen der Arwenacks zu. Das Krachen der Schüsse, sowie das Gebrüll der Angreifer verwandelte die einsame Felsenlandschaft in einen Hexenkessel. Aber keiner der Piraten schaffte es, die Bastion der Arwenacks zu stürmen. Auch Alfonso de Castilho nicht, der versucht hatte, sich im allgemeinen Durcheinander von der Seite her anzuschleichen. Eine Kugel aus dem Radschloßdrehling des Seewolfs riß ihn von den Füßen. Der Portugiese starb, ohne den goldenen Jaguar jemals gesehen zu haben. Die vier Piraten, die zu diesem Zeitpunkt noch am Leben waren, gaben auf und rannten davon, als sei der Teufel hinter ihnen her ...
ex libris
KAPTAIN STELZBEIN 2011
Printed in Germany. Juni 1988