BERTE BRATT
Zwei Briefe für Britta
Ein unvorhergesehenes Ereignis soll Brittas Leben entscheidend verändern: Sie zieht...
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BERTE BRATT
Zwei Briefe für Britta
Ein unvorhergesehenes Ereignis soll Brittas Leben entscheidend verändern: Sie zieht mit ihrem Vater nach Paris. Als sie dort allein den Haushalt führen muß, wird ihr klar, wie wenig sie kann und wie sorglos sie bisher in den Tag gelebt hat. Doch als sie den sympathischen Pierre kennenlernt und sich ernsthaft in ihn verliebt, sieht sie ihre Zukunft klar vor sich…
Deckelbild: Nikolaus Moras © 1982 Franz Schneider Verlag GmbH & Co. KG München – Wien – Hollywood/Florida USA ISBN 3 505 07.336 9 Bestellnummer: 336 Alle Rechte der weiteren Verwertung liegen beim Verlag, der sie gern vermittelt.
Zwei Briefe Zwei Briefe waren es, die damals, vor zwei Jahren, meine ganze Zukunft und mein ganzes Glück bestimmten. Dabei waren sie nicht einmal für mich! Sie waren an Vati gerichtet, und trotzdem denke ich an sie als meine Briefe. Der erste kam an einem Abend an, als ein richtiger Herbststurm über unsere Nordsee-Insel brauste. Unsere Insel heißt übrigens Seehundsrücken, und so sieht sie auch aus. Vati und ich wohnen dort zusammen mit Omi und Tante Birgit. Tante Birgit ist Vatis Schwester und Lehrerin in unserer Schule. Omi führt uns den Haushalt, nachdem Mutti starb, als ich zehn war. Vati ähnelte selbst einem Seehund, als er zur Tür reinkam. In seinem Regenmantel war er so glatt und durchnäßt wie ein Seehund. Er hatte die Post geholt. „Etwas für mich, Paps?“ Er gab mir eine Postkarte. Sie war von meiner Kusine Ellen. Ellen ist zehn Jahre älter als ich und Dänin, wie meine Mutter es gewesen war. Ellen hatte dreimal Sommerurlaub bei uns gemacht, und wir verstehen uns glänzend. Sie ist weitgereist, sprachkundig und ein feiner Kerl. „War mehr da?“ „Ein Brief für mich. Mal sehen…“ Vati schälte sich aus seinem Regenzeug und setzte die Brille auf. Der Brief wurde aufgerissen, und er las. Dann kam ein Japsen. „Du liebe Zeit!“ „Was ist es, Paps? Was Schlimmes?“ „Schlimmes? Britta, Menschenskind – denk dir – ich habe ein Stipendium gekriegt!!“ „Stipendium?“ kam es dreistimmig von Omi, Tante Birgit und mir. „Stipendium! Reisestipendium! Studienstipendium! Haufenweise Geld! Ich bin verpflichtet, ins Ausland zu reisen. Ich darf nicht das Geld für ein neues Reetdach ausgeben – nein, auch nicht für eine Waschmaschine, Omi! Es ist ein ‚Reisestipendium’!“ Wir waren in Aufruhr. Vati sollte reisen, er sollte ins Ausland, sollte fremde Menschen kennenlernen, fremde Luft atmen. Vor allem: Er sollte neue Anregungen kriegen und großartige Bilder malen!
Wir redeten alle durcheinander. Nie hatte ich Vati so ganz aus dem Häuschen gesehen. „Du bist ein Glückspilz, Paps!“ sagte ich. Daß ich selber der zweite Glückspilz werden sollte, ahnte ich in dem Augenblick nicht. Vati war voller Pläne und Omi voll Bekümmernis. „Du liebe Zeit, Benno“, sagte sie mit einem Blick, als wäre ihr einziger Sohn vierzehn und nicht vierundvierzig. „Wie willst du allein fertig werden, du, der keinen Knopf annähen und keine Kartoffeln kochen kann?“ Leider hatte Omi recht. Vati hält sozusagen den Rekord in Ungeschicklichkeit. Aber Vati warf alle Bedenken über den Haufen. Sein Lächeln war reinster Sonnenschein, und er begrub sich unter Reiseprospekten. Wo soll nun die Reise hingehen? Tagtäglich hatte er neue Pläne. Er wollte nach Paris; Montmartre und den Louvre erleben und „dieses merkwürdige, herrliche Licht in Paris“. Dann wollte er nach London; am nächsten Tag war Rom das Ziel seiner Wünsche. Aber als er anfing, von Indien zu fabeln, baten wir ihn, in die Wirklichkeit zurückzukehren und eine Berechnung aufzustellen. Das Stipendium war wohl ziemlich imponierend, aber für eine Indienreise würde es bestimmt nicht ausreichen. Vati begann zu rechnen und kehrte damit zur Wirklichkeit zurück. „Wenn das Leben nur nicht so teuer wäre“, seufzte er. „In Frankreich soll es verdammt teuer sein – und ich würde ja am liebsten – “ Er brach ab, blieb sitzen und starrte in die Luft… Dann kam der nächste Brief. Er war auch nicht für mich. Und trotzdem denke ich immer noch an ihn als „meinen“ Brief. Wieder kam Vati von der Post. Diesmal regnete es nicht, und er hatte unterwegs den Brief aufgemacht und gelesen. Er packte mich an beiden Schultern und drehte mich wie einen Kreisel rum. „Britta! Erinnerst du dich noch an Redakteur Ahlsen?“ Und ob ich mich erinnerte! Die Art und Weise, wie wir den dänischen Redakteur Ahlsen kennengelernt hatten, ließ sich nicht so leicht vergessen. Es war in dem Sommer, als ich zwölf war. Ich unterhielt mich am Strande mit ein paar Kindern von Sommergästen und erzählte ihnen
von unserer gefährlichen Küste, von den heimtückischen Wirbeln und von den Sommergästen, die durch ihre Gedankenlosigkeit ständig unsere Badewärter in Alarmbereitschaft halten. Ich trug dick auf und schilderte die Lebensgefahr in grellen Farben. Da ich die logische Tochter meines logischen Vaters bin, war es eigentlich nicht erstaunlich, daß ich selbst fünf Minuten später direkt hinaus in einen Wirbel schwamm. Es kam, wie es kommen mußte… Der gute Thedje, mein besonderer Freund unter den Badewärtern, mußte mich rausholen und übergab mich mit einer verbissenen Miene Vati, der zu meinem Pech ausgerechnet gerade da auf dem Strand erschienen war. Als ich Vatis Gesicht sah, wußte ich, was mir blühte. So kam es auch. Vati war außer sich vor Angst und Wut, und er gehört nicht gerade zu den Menschen, die sich beherrschen können. An Ort und Stelle versohlte er mir meinen Allerwertesten, daß ich die Engel singen hörte. Die Badegäste ringsherum protestierten. Dies sei Brutalität und Kindesmißhandlung und Vati solle sich schämen. Die Situation wurde ungemütlich, und Vati schleppte mich mit nach Hause. Dort heulte ich mich aus; Vatis Raserei legte sich, wir blieben sitzen und guckten uns gegenseitig an. „Hm“, sagte Vati. „Das kannst du sagen!“ sagte ich. „Aber Britta“, sagte Vati kleinlaut. „Du hast die Schläge verdient! Und ich war außer mir vor Angst!“ „Ach nein! Was du nicht sagst! Aber die Sommergäste sagen, daß du mich mißhandelt hast. Übrigens hättest du auch warten können, bis wir zu Hause waren. Es war mir scheußlich peinlich, vor so vielen Menschen Haue zu kriegen!“ Vati dachte nach. Lange. „Bist du mir denn jetzt böse, Britta?“ Da mußte ich lachen. „Ach nein, ich kenne dich doch. Du bist genauso großartig in deiner Güte wie in deiner Wut. Aber Paps, weißt du, was wir tun müssen? Wir müssen ab sofort allen Menschen zeigen, wie gut wir uns verstehen, und wie lieb wir einander haben und was für ein Engel du bist. Sonst verkaufst du diesen Sommer kein einziges Bild!“ „Du liebe Zeit!“ „Du furchtbare Zeit, meinst du wohl. Denn dann sitzen wir hier
und verhungern langsam, aber sicher.“ „Du Ruppsack, warum mußtest du geradewegs in einen Stromwirbel rausschwimmen?“ „Und warum mußtest du vor den Augen aller Menschen meinen Po versohlen?“ „Weil ich wütend war!“ „Nicht möglich! So was schwante mir auch. Sehe ich furchtbar verheult aus?“ Vati betrachtete mich eingehend. „Deine Guckerchen sind noch etwas rot.“ Ich wußte Rat. „Dann setze ich eben die Sonnenbrille auf. Und jetzt nehme ich die Einkaufstasche und mache Besorgungen und plaudere mit so viel Menschen wie möglich und bin furchtbar fröhlich und lächelnd und vergnügt und spreche liebevoll von meinem guten und jähzornigen Paps, der so viel Angst um das Leben seiner Tochter hatte.“ „Und morgen gehen wir wieder zum Strand…“ „Liebevoll eingehakt, Paps! Und du mußt mir einen Haufen Schokolade kaufen.“ „Oh, du ausgekochte Range! Mach, daß du wegkommst, ein bißchen hoppla bitte! Und was die Schokolade betrifft – hier hast du eine Mark als Schmerzensgeld!“ Ich schlang schnell die Arme um seinen Hals, und dann zog ich los, mit Sonnenbrille, Einkaufstasche und schmerzendem Hinterteil, um meinen armen Vater zu rehabilitieren und unsere Existenz zu sichern. So ist Paps. Er ist der netteste und der heftigste Mensch, den der liebe Gott geschaffen hat. Er ist voll guter Laune und so unpraktisch, daß es zum Heulen ist – wenn es nicht eben zum Lachen wäre. – Übrigens ist er Kunstmaler und verkauft Bilder an die Sommergäste, und zwischendurch sitzt er mit der Nase in seinen dicken Büchern über Fresken und mittelalterlicher Kirchenkunst. Einer der Sommergäste aus diesem denkwürdigen Sommer war Redakteur Ahlsen. Er war es, der als erster Vati in den Arm gefallen war. Er war es, der von allen Gästen Vati am meisten beschimpft hatte. Und gerade ihn hatte ich getroffen, als ich am selben Nachmittag ausging. Er hatte sich über mein vergnügtes Lächeln gewundert und mit dem Kopf geschüttelt, als ich über die ganze Geschichte lachte. Ich erzählte ihm, daß Vati nur deshalb außer sich geraten war,
weil seine einzige Tochter sich selbst in Lebensgefahr begab. Kurz gesagt, es war mir wirklich geglückt, Redakteur Ahlsen umzustimmen. Am nächsten Tag kam er an den Strand und ließ sich mit uns in ein Gespräch ein. Danach war er zu uns ins Haus gekommen und hatte Vati ein Bild abgekauft. Später hatte Vati ihn in Kopenhagen getroffen, und sie waren gute Freunde geworden. „Schau her.“ Vati legte einen zerknüllten Brief vor mich hin. Vatis Briefe neigen alle zum Zerknülltwerden, wenn er sie auf dem Wege von der Post liest. Der Brief kam aus Paris. „Lieber Herr Dieters, soeben lese ich in der Zeitung, daß Sie ein Stipendium bekommen haben. Ich freue mich sehr für Sie und gratuliere Ihnen aus vollstem Herzen. Meiner Meinung nach ist es wohlverdient. Wie Sie aus dem Poststempel sehen, bin ich zur Zeit in Paris. Hätten Sie nicht auch Lust, herzukommen? In diesem Fall könnte ich Ihnen einen Vorschlag machen, der sich zufällig gestern abend bei einem Gespräch mit einem französischen Kollegen ergab! Hätten Sie wohl Interesse daran, umsonst ein altmodisches, putziges kleines Haus zu übernehmen? Es liegt in der Vorstadt Colombes und ist vom Bahnhof St-Lazare zu erreichen. Das Haus ist vollständig möbliert mit Kücheneinrichtung und Bettwäsche. Es ist nur eine einzige Bedingung bei der Sache. Die Eigentümer, mein Kollege und seine Frau, hinterlassen zwei hochprämiierte siamesische Katzen. Derjenige, der das Haus übernimmt, muß sich verpflichten, diese Lieblinge voll zu verpflegen und zu betreuen. Er muß auch im Haus bleiben, kann also niemals übers Wochenende wegfahren. Selbstverständlich könnten Sie von früh bis abends weg sein, aber auch nicht länger. Erstens sind es die Tiere, um die meine Freunde bangen; in zweiter Linie ist es das Haus. Sie wären sehr froh, wenn sie während der drei Monate, die sie nach Amerika reisen, zuverlässige Menschen in ihrem Hause wüßten. Wenn sie darin und in der Tierpflege sicher sind, stellen sie mehr als gern ihr Haus zur Verfügung. Ich lege eine kleine Karte des Hauseigentümers M. Aubel bei. Schreiben Sie direkt an ihn! Seine Frau ist Dänin, er selbst versteht auch Dänisch. Ich bleibe noch eine Zeitlang in Paris und hoffe, daß wir uns hier treffen werden, ehe die Pflicht mich wieder nach Kopenhagen zurückruft. Es würde mich freuen, wenn aus dem Plan etwas würde. Die Mieten in Paris sind schwindelnd hoch. Ob Sie allein für sich sorgen können, weiß ich
nicht. Hauptsache ist, daß Sie zwei siamesische Katzen versorgen können. Grüßen Sie Ihre kleine mißhandelte Tochter. Inzwischen ist sie wohl eine junge Dame geworden. Vielleicht kann sie Sie begleiten und sowohl Sie als auch die Katzen betreuen? Ich hoffe, bald von Ihnen zu hören. Mit den besten Grüßen Ihr Torvald Ahlsen.“ Ich schaute auf. Vatis und meine Augen begegneten sich. Und dann sprach Vati die schönsten Worte, die ich in meinem Leben gehört hatte. Oh, wie segnete ich die Prügel von damals! Ohne die hätten wir Redakteur Ahlsen nicht kennengelernt, ohne die hätte Vati dieses Angebot nicht gekriegt, ohne die hätte er jetzt nicht die märchenhaft schönen Worte gesagt: „Ja, was meinst du, Britta? Du traust dir doch zu, zwei Siamkatzen zu betreuen?“ Hier muß ich eine Pause in meinem Bericht machen, denn ich habe keine Ahnung von dem, was in den nächsten Minuten gesprochen wurde. Es muß ziemlich laut zugegangen sein; denn zwei Türen flogen krachend auf und zu, und Omi und Tante Birgit erschienen… jede aus einer anderen Tür. „Gott, was ist denn los, Britta?! Was ist geschehen? Ist jemand gestorben, Benno? Benno, du hast sie doch nicht geschlagen?“ Also hatte ich geschrien. Jetzt hing ich an Vatis Hals, strampelte mit den Beinen, lachte und weinte durcheinander, ich glaube beinahe, daß ich vor Freude heulte. „Die Kleine ist in Ordnung“, lachte Vati. „Sie hat nur einen akuten Wahnsinnsanfall.“ Dann ließ ich Vatis Hals los und lachte Omi und Tante Birgit an. „Ich fahre nach Paris! Ich fahre mit Vati nach Paris!“ Omi sank ermattet auf einen Stuhl. „Benno, du bist verrückt! Britta nach Paris…“ „Natürlich, sie soll mir das Haus führen!“ Nun mußte auch Tante Birgit sich setzen. „Britta das Haus führen! Soll sie etwa auch kochen?“ „Natürlich soll sie das, ein sechzehnjähriges Mädel müßte das ja können!“ „Müßte es können!“ sagte Omi. „Und sie versteht kein Wort Französisch“, stöhnte Tante Birgit. „Ist mir ganz schnuppe“, sagte Vati, „ich verstehe es.“
„Du? Kannst du Französisch?“ „Klar, ich hab doch Abitur gemacht.“ „Ja, vor fünfundzwanzig Jahren.“ Vati legte den Arm um mich. „Hast du schon mal solche Pessimisten gehört, Britta? Glaubst du nicht, daß wir es großartig in Paris haben werden? Du und ich und die Katzen?“ „O Vati, für die Möglichkeit, nach Paris zu kommen, würde ich sogar zwei Krokodile betreuen.“ Omi schrie auf. „Wie? Was? Britta, was sagst du da? Du sollst Krokodile pflegen? Was hast du schon wieder ausgeheckt, Benno? Werdet ihr bei einem Zoodirektor wohnen?“ Dann lachten wir so laut, daß man uns bestimmt von der Straße aus hören konnte!
Hinaus in die weite Welt Es gibt etwas, wovon ich jedem jungen Mädchen auf das bestimmteste abraten möchte. Nämlich den Versuch zu machen, innerhalb von drei Wochen die Kochkunst und eine Fremdsprache zu lernen. Ich muß viel von Vatis Optimismus geerbt haben, daß ich überhaupt so ein Wahnsinnsunternehmen anpacken konnte. Natürlich mußte ich beides dringend lernen. Omi hatte nämlich vollkommen recht. Ich und kochen – – -! Ich und wirtschaften! Was war ich eigentlich? Ich, Britta Dieters – eine fröhliche Sechzehnjährige, die ihr Leben auf der kleinen Insel verbracht hatte. Außer ein paar kurzen Ausflügen zum Festland in Deutschland oder Dänemark war ich nie draußen in der Welt gewesen. Hier auf der kleinen rauhen Nordsee-Insel hatte ich all meine Sorgen und Freuden erlebt. Ja, unsere Insel ist klein. Hier sind gerade soviel Kinder, daß sie das kleine Schulhaus füllen, und grade soviel Menschen, daß sie die kleine Kirche füllen. Wir haben ein Pensionat im Ort, und fast alle Menschen vermieten im Sommer ein oder zwei Zimmer an die Sommerfrischler. Geschäfte haben wir auch. Ja, wir haben sie das ganze Jahr, aber während der Sommersaison blühen sie auf. Der Gemischtwarenladen wird plötzlich ein modernes Geschäft mit allerlei Delikatessen in der Tiefkühltruhe, die Regale beim Metzger füllen sich mit feinen Konserven, das kleine Papiergeschäft hat plötzlich eine große Auswahl an Filmen und Fotosachen. Es gibt Badeanzüge, Sonnenöl, Liegestühle und riesige Badebälle in den Schaufenstern. Und zwei Sachen haben alle Geschäfte gemeinsam: Reiseandenken und Eis am Stiel. An einem Junitag bringt der Dampfer fünf Pferde zu unserem Nachbarn Jan Gregers. Es sind Reitpferde, die während des Winters auf dem Festland waren. Die Frau von Jan gibt Reitunterricht, und sowohl sie als auch ihre Hottehüchen haben bis Mitte September genug zu tun. Wir sind also beinahe mondän, wir auf der Insel. Jedenfalls in den Sommermonaten. Im Winter toben die Stürme über den Seehundsrücken, und das Meer frißt sich tiefer ein in die Küste und peitscht gegen die Deiche. So ist meine Heimat. Dort hatte ich die Schule besucht und die
Reifeprüfung abgelegt. Sonst wäre das Wort „reif“ wohl nicht so sehr angebracht, wenn es um meine Wenigkeit ging. Es hieß, ich sollte Omi im Haushalt helfen und dann vielleicht später nach Hamburg oder Bremen in die Handelsschule kommen. Omi helfen – ja das war nun so eine Sache… „Britta, hast du die Plättwäsche schon…?“ „Ach, Omi, ich mach’s schon – aber grade jetzt muß ich auf einen Sprung rüber zu Inken!“ „Britta, du wolltest mir doch die Marmelade aus dem Keller holen?“ „Ach, Omi, ich habe es vergessen, weißt du, mein Buch war so spannend!“ „Britta, du könntest wirklich deine eigenen Strümpfe waschen! “ „Ja, Omi, aber es hat Zeit bis morgen, ich habe noch ein sauberes Paar…“ So ging es den ganzen Tag. Aber jetzt – jetzt mußte ich kochen und wirtschaften lernen, und gleichzeitig mußte ich Französisch studieren! Wie gesagt: Wahnsinn! Vati und ich kramten in seinen alten Schulbüchern, bis wir ein französisches Lexikon fanden. Dann schrieb ich an meine Kusine Ellen, die ein Jahr in Paris gelebt hatte. Von ihr bekam ich ein Eilpaket, einen französischen Schallplattenkurs. Unter den Platten lag ein kleines Päckchen, und als ich es öffnete, rollten französische Münzen über den Tisch. Ob der Zoll diese Münzen nicht entdeckt hatte? Oder war es gar nicht verboten, Kleingeld zu schicken? „Dies habe ich meinen mangelnden Sprachkenntnissen zu verdanken“, schrieb Ellen. „In der ersten Zeit in Paris verstand ich keinen Piep, wenn die Verkäufer einen Preis nannten; deshalb bezahlte ich immer mit einem Schein. Alles Kleingeld hob ich auf. Als ich endlich anfing zu verstehen und mit dem Kleingeld bezahlen konnte, war es zu spät. Ich konnte nicht mehr alles aufbrauchen, bitte sehr, du kannst es haben. Ich glaube, es sind ungefähr dreiundfünfzig Francs.“ Ellen war wirklich großartig. Ich steckte das Kleingeld in einen Lederbeutel, es sollte mein Reservekapital sein. Dann legte ich eine Platte auf den Plattenspieler und ließ mir auf französisch sagen, was Stuhl, Tisch, Vater, Mutter, Bruder und Schwester heißt. Es klang mir wie Chinesisch, aber täglich übte ich brav und unentwegt mehrere Stunden.
Wenn ich nicht neben dem Plattenspieler saß, war ich bei Omi in der Küche. Ich lernte „Großen Hans“ kochen; er ist Vatis Lieblingsessen und besteht aus Mehl, Fett und verschiedenen anderen Zutaten. Wir tragen ihn immer zum Bäcker, der ihn in dem großen Backofen bäckt. Ich lernte süße Suppe kochen, Kartoffelklöße machen, Flundern braten und Krapfen backen. Zu mehr reichte die Zeit bis zur Abreise nicht aus. Denn ich mußte ja auch an meine Kleider denken. Meine Garderobe war nicht gerade für die Champs-Elysées oder die Oper geeignet. Allerhöchstens hätte ich mich am Montmartre zeigen können. Dort kann man herumlaufen, wie man will, das weiß ich jetzt. Wieder war Kusine Ellen der rettende Engel. „Du brauchst längst nicht so viele Kleider, wie Du Dir einbildest“, schrieb sie. „Wenn Du ein schlichtes Kostüm hast und ein paar hübsche Blusen, so reicht das vollkommen. Aber nimm auf alle Fälle etwas Warmes mit. Eine ordentliche Strickjacke und warme Wäsche. Ihr reist ja im Februar, da kann es bitterkalt sein, freilich genausogut auch warm wie im Sommer. – Man weiß es nie. Wenn Du meinst, Du brauchst ein Abendkleid, so irrst Du Dich. Höre auf mich, nimm Deine Inseltracht mit, dann bist Du immer korrekt angezogen, zu allen Tageszeiten. Sie ist unabhängig von Mode, Zeit und Sitte. Die Leute werden sich nach Dir umdrehen, das stimmt. Aber sie tun es, weil sie Dich bewundern, genauso wie sie eine Inderin in ihrem Sari bewundern. Im übrigen ist ja die friesische Tracht ganz reizend. Und dann bequeme Schuhe! Du wirst stundenlang durch Straßen und Museen traben. In Versailles, im Luxembourg-Garten, im Zoo und weiß der Himmel wo noch! Du glaubst nicht, wie scheußlich es ist, in leichten Schuhen mit hohen Absätzen zu laufen. Ich lege mein kleines Taschenlexikon und einen Metroplan bei. Sich mit der Metro in Paris zurechtzufinden, ist kinderleicht.“ Und dann folgte eine Beschreibung des Metrosystems. Ich steckte den Brief zusammen mit dem Metroplan in meine Paßmappe. Später segnete ich Ellen jeden Tag für ihre Vorsorge. An einem kühlen Februartag starteten wir. Im Koffer hatte ich bequeme Schuhe, Tante Birgits geändertes Kostüm und meine frisch gewaschene und gebügelte Tracht. Ich konnte Krapfen und Suppe mit Vanillenockerln machen und drei Sätze fließend französisch sagen.
Le père, la mère, le fils, et la fille sont une famille. La grand’mère est dans la cuisine. Je ne comprends pas français. Den letzten Satz brauchte ich in der folgenden Zeit am häufigsten. Schon die Reise hinüber zum Festland war aufregend. In mir kribbelte es vor Reisefieber und Reiselust. Dann kam die Fahrt mit dem Zug nach Hamburg. Diese Strecke kannte ich schon; trotzdem war es spannend, denn jetzt reisten wir ja weiter, viel weiter. Zuerst über eine Grenze und dann über noch eine. Und morgen früh, ganz früh, würden wir die Seine sehen, den Eiffelturm und ganz bestimmt die beiden gesegneten Katzen, denen ich die Reise zu verdanken hatte. Ich würde sie betreuen, als wären sie königliche Babys aus einem regierenden Fürstenhaus. Wir hatten anderthalb Stunden Aufenthalt in Hamburg. Wir gaben die Koffer in der Gepäckaufbewahrung ab und gingen in die Mönckebergstraße, um uns ein wenig die Beine zu vertreten, wie Vati sagte. Das Schicksal wollte, daß wir sie in Richtung eines großen Kaufhauses vertraten, wo gerade Ausverkauf war. Dort blieb Vati stehen und blickte in ein Schaufenster und dann zurück auf mich. Sein Gesicht nahm einen Ausdruck an, den ich gut bei ihm kannte und der mit Sicherheit irgendeine leichtsinnige Unternehmung ankündigte. In solchen Augenblicken legte Omi immer die Hand auf seinen Arm und sagte: „Überleg es dir noch einmal, Benno.“ Aber für ein 16-jähriges Mädchen gehört viel dazu, „überleg es dir“ zu sagen, wenn der Blick des Vaters auf einem todschicken Mantel ruht, und sie steht da in einem alten, geänderten Tantenmantel! Ich bekam den Mantel. Und ich beruhigte mein Gewissen damit, daß ich ihn wirklich brauchte, denn wenn es in Paris so kalt sein würde wie in Hamburg, dann müßte ich schon im Wintermantel durch die Gegend laufen. „Wir sind aber zwei Leichtfüße, Vati“, sagte ich glücklich und schuldbewußt, als wir das Geschäft verließen… ich in meiner neuerworbenen Eleganz, mit dem alten Mantel unter dem Arm. „Kaum sind wir von zu Hause weg, beginnt schon der Leichtsinn!“ „Ja, aber du brauchtest den Mantel doch, Britta“, sagte Vati.
„Ja“, antwortete ich, und plötzlich erinnerte ich mich an etwas, was Ellen geschrieben hatte: „Warte mit allen Einkäufen, bis Du in Paris bist, dort kann man in den großen Geschäften mit Reiseschecks bezahlen und bekommt zwanzig Prozent Rabatt.“ Ja, wie gesagt, wir waren schon zwei Leichtfüße! Ich gelobte mir hoch und heilig, daß wir von diesem Augenblick an vernünftig sein wollten; auf jeden Fall wollte ich das sein. Vati hatte anscheinend nicht dasselbe Gelübde abgelegt. Kurz nachher kamen wir an einer kleinen mageren Frau vorbei, die auf dem Gehsteig stand und Hampelmänner verkaufte. Sie hatte einen Schal um den Kopf, trug eine abgeschabte Jacke und sah ziemlich durchfroren aus. Vati ergriff das große Paket unter meinem Arm. „Bitte schön“, sagte er und legte es auf den Tisch zwischen die Hampelmänner. Dann zog er mich mit sich fort in das Menschengewühl. Wir sahen uns nicht mehr nach der Frau um, und als ich endlich die Sprache wiederfand, waren wir wieder auf dem Bahnhof. „So“, sagte Vater, „nun brauchen wir nicht mehr auf das Paket aufzupassen. War das nicht schlau von mir?“ Ja, ja, so ist er, mein unmöglicher Paps! Wie gesagt: ich hatte mir vorgenommen, vernünftig zu sein, und ich sah voraus, daß es Schwierigkeiten geben würde. So war es auch. Der erste Kampf begann drei Minuten, nachdem der Pariser Zug Hamburg verlassen hatte. „Jetzt freue ich mich aufs Essen. Komm, wir müssen uns beeilen, Britta, denn im Speisewagen wird es voll werden.“ „Halt“, sagte ich, „wir haben doch das ganze Freßpaket von Omi: Wir brauchen gar nicht in den Speisewagen zu gehen.“ Vati hatte ausgezeichnete Gegengründe! Wir seien doch das erste Mal zusammen auf einer Reise! Im Speisewagen sei es viel bequemer; wir wollten ein wenig feiern, und Omis Butterbrote konnten wir ja morgen zum Frühstück verzehren… Nun, ich war sechzehn Jahre und voller Unternehmungslust. Wir gingen also in den Speisewagen. Hinterher saßen wir im Abteil einander gegenüber. Vati las ein Buch über romanische Kirchenkunst, ich selbst versuchte auch zu lesen. Doch alles um mich herum war so aufregend und neu, daß ich meine Gedanken nicht sammeln konnte.
Draußen dunkelte es. Nur auf den Stationen konnte man etwas von der Außenwelt sehen: eilige Menschen mit Koffern und Taschen, Schilder, die auf- und heruntergedreht wurden, Zugbeamte und Schaffner, überall Stimmen, die aus den Lautsprechern kamen, immer wieder hörte ich: „Bitte einsteigen“, „Zug nach Paris geht ab“, „Bitte Türen schließen“, „Trittbretter verlassen“… Jedesmal kribbelte es mir vor Spannung im Magen. Es kribbelte mir auch auf der Brust, aber da kribbelte etwas anderes: nämlich ein kleiner Lederbeutel, den Tante Birgit mir heimlich zugesteckt hatte. „Das bleibt unter uns, Britta“, hatte Tante Birgit gesagt. „Schau her, ich habe hundert Mark eingewechselt, es sind ungefähr einhundertzwanzig Francs. Die Tasche hängst du dir um den Hals, unter die Kleider, und vergißt, daß du das Geld hast. Verstehe mich recht: Es soll dein Reservegeld für den Notfall sein. Du weißt nicht, was passieren kann, und du sollst nicht ohne Geld sein. Rühre das Geld nicht an, um etwas zu kaufen, was dir gerade Spaß macht, oder um irgendwo Eintrittsgeld zu zahlen oder um Schokolade zu kaufen; verbrauche es nur, wenn du aus einer Schwierigkeit keinen Ausweg siehst. Versprich mir das, Britta!“ Ich versprach es und umarmte Tante Birgit. Am nächsten Tag mußte ich beinahe lachen, denn da erschien Omi und steckte mir drei Zwanzigmarkscheine zu. „Britta“, flüsterte sie feierlich, „die kannst du in Paris einwechseln, wenn du in Schwierigkeiten kommst.“ Und dann folgten die gleichen Ermahnungen ein zweites Mal. Es war klar, daß keine von der Gabe der anderen wußte. Ich erriet auch, warum. Beide waren sie besorgt, weil sie meinen vergnügten, unpraktischen und impulsiven Vater kannten. Beide fürchteten, daß seine Unüberlegtheit uns in Schwierigkeiten bringen könnte. Beide hatten aber Vati so lieb, daß sie sich ihre Angst nicht eingestehen wollten. Nun, jedenfalls besaß ich einhundertzwanzig Francs und sechzig Mark, außerdem einen Beutel mit französischem Kleingeld in meiner Handtasche. So lieb ich Vati auch hatte, hielt ich es doch für ratsam, ihm nichts von meinem Geheimkapital zu verraten. Man konnte nicht wissen… Wir hatten keinen Schlafwagen. In diesem Fall zeigte Vati eine verblüffende Logik.
„Die meisten Leute, die nachts reisen, nehmen Schlafoder Liegewagen; wir werden also in einem gewöhnlichen Abteil reichlich Platz haben.“ Das stimmte. Wir konnten die Beine ausstrecken; ich schlief sogar ein paar Stunden fest, mit einer zusammengerollten Strickjacke unter dem Kopf und zugedeckt mit dem neuen Mantel. Einmal wachte ich auf und blinzelte hinüber zu Vater. Ich begegnete seinen Augen. Er saß hellwach, den Blick auf mich gerichtet, einen Blick voll unendlicher Güte, Liebe und Besorgtheit. Ich reichte ihm die Hand. „Es ist so gemütlich, mit dir zu reisen, Paps.“ „Gleichfalls, Putzi. Versuche nun weiter zu schlafen.“ Ich schloß die Augen und fühlte, daß der Mantel um mich gelegt wurde. Eine leichte, behutsame Hand strich mir über das Haar. Das also war der Gare du Nord! Der Bahnhof war nicht imponierender als der Hauptbahnhof in Hamburg, aber das Bewußtsein, daß wir im Ausland, in Frankreich, in Paris waren, machte mich ganz schwindelig. Natürlich konnte Vati Französisch. Selbstverständlich! Aber als er nach dem Weg zur nächsten Metrostation fragen wollte, fiel es ihm schon ein bißchen schwer, die richtigen Wörter aus seinem Schulwissen herauszufinden. Wer weiß, wie es gegangen wäre, wenn nicht ein bekanntes Gesicht neben uns aufgetaucht wäre. „Na, sieh mal an, da sind Sie ja, Herr Dieters, willkommen in der Seinestadt. Was, das ist die kleine Britta? Du bist ja eine richtige Dame geworden – Verzeihung, Sie sind ja-“ Oh, wie himmlisch war es, Dänisch zu hören! „Bitte schön, bleiben Sie doch beim Du, Herr Ahlsen, ich bin ja erst sechzehn Jahre. Sind Sie gekommen, um uns abzuholen?“ „Ja, was denkst du, warum ich sonst so früh am Morgen auf dem Bahnhof stehe? Ich fühle mich doch mitverantwortlich, daß ihr hier seid. Ich dachte, wir könnten jetzt erst einmal zusammen frühstücken gehen. Es ist noch ein bißchen zu früh, um nach Colombes zu fahren. Haben Sie nicht mehr Gepäck, Herr Dieters? Dann brauchen wir keinen Gepäckträger. Komm, Britta, ich nehme dir deinen Koffer ab. Wollen wir im Bahnhofsrestaurant essen oder anderswohin gehen? Nein, halt, hier wird gerade ein Tisch frei, hier bleiben wir.“ Kleine runde Tische standen draußen vor dem Restaurant in der Bahnhofshalle. Es war warm und gemütlich, obwohl es erst Februar war.
Wir bekamen frische Brioches und Croissants aus Blätterteig, die herrlich schmeckten. Vati und Ahlsen tranken Kaffee, und ich durfte wählen zwischen Café au lait, einer abscheulichen Mischung von viel Milch und wenig Kaffee, und Schokolade. Glücklicherweise war ich schlau genug, Schokolade zu nehmen. Redakteur Ahlsen plauderte und erzählte. In wenigen Tagen mußte er nach Kopenhagen zurück. Solange er noch in Paris war, wollte er Vati gern mit einem französischen Kirchenarchitekten und außerdem mit ein paar Kunstmalern bekannt machen. „Wenn ich für heute bestimmen darf“, lächelte Ahlsen, „so schlage ich vor, daß wir zuerst mit Sack und Pack nach Colombes fahren und Britta und das Gepäck dort absetzen. Britta soll ja, soweit ich verstanden habe, Hausfrau sein. Sie kann sich während der Zeit mit Frau Aubel unterhalten, erfährt, wo die Handtücher liegen, wo der Mülleimer geleert wird, und alles, was mit diesen gesegneten Katzenviechern zusammenhängt. Ich entführe inzwischen deinen Vater für ein paar Stunden, Britta, was meinst du?“ Jawohl, das schien mir ganz vernünftig; ich hatte nichts einzuwenden. So fuhren wir mit der Metro und dem Vorortzug. Mir wurde ganz schwindelig von dem Verkehr, der Eile und der Menschenmenge überall, und nicht zuletzt von der Sprache. Ich wagte gar nicht daran zu denken, daß ich ab morgen Einkäufe in Französisch machen sollte. Gut, daß ich Zeigefinger hatte! Ich würde nie etwas anderes kaufen als das, was in der Auslage war und worauf ich mit den Fingern zeigen konnte. Glücklicherweise konnte ich fließend sagen: „Je ne comprends pas français.“ Zwischen einem Fabrikgebäude und einem modernen hohen Mietshaus stand ein kleines altmodisches Haus. Am Eingang rankte sich Geißblatt hoch, wenigstens hielt ich es dafür. Die knorrigen Zweige hatten ja weder Blätter noch Blüten. Das Haus war aus roten Ziegeln, und die Fensterrahmen waren grün gestrichen. Soviel konnte ich gerade noch sehen, während Ahlsen klingelte und eine dicke kleine Dame uns öffnete. „Sieh da, unsere Gäste! Herzlich willkommen, ja, Sie verstehen ja Dänisch, hat Herr Ahlsen gesagt, willkommen, Herr Dieters, setzen Sie doch den Koffer ab, hier herrscht, milde gesagt, eine fürchterliche Unordnung. Wir wollen heute reisen, also das ist die junge Dame, die sich unserer Mietzekatzen annehmen will. Kommen
Sie und begrüßen Sie die Katzen, ach, liebes Kind, was Sie auch späterhin tun oder nicht tun, bitte vergessen Sie meine Goldschätzchen nicht, schauen Sie her, ich habe Ihnen alles auf eine Liste geschrieben, im Kühlschrank steht Dosenfutter, vergessen Sie nicht, daß die Katzen keine Milch trinken, sie bekommen nur frisches Wasser und dreimal wöchentlich etwas Sahne, aber hier kriegen wir keine gute Sahne, ich kaufe Büchsensahne, die gibt es im Geschäft an der Ecke, und sehen Sie, hier steht die Lebertranflasche, einen Mokkalöffel jeden Morgen, und dann, ach, da seid ihr ja, dies hier ist Rajah, der Kater, ist er nicht schön – all die Silberschalen auf dem Schrank sind Preise für ihn, ach richtig, ich habe sie ja weggepackt, aber sehen Sie die Diplome an der Wand, da ist Bajadere, sie erhielt im Winter eine Goldmedaille, ach ja, richtig, vergessen Sie nicht, jeden Tag ihre Kissen zurechtzuschütteln…“ Mir drehte sich alles im Kreis. Frau Aubel redete und redete. Ich merkte, wie schrecklich müde ich war. Den beiden Männern wurde das Katzengeschwätz zuviel. Sie zogen davon und überließen mich Frau Aubel. Da stand ich in meinem neuen Wintermantel, mit der Tasche in der Hand. Es fiel Frau Aubel nicht ein, mich zu bitten, Platz zu nehmen oder den Mantel abzulegen. Sie öffnete Schranktüren und Kommoden, zeigte mir, wo Bettwäsche und Katzenbürsten, Staublappen und Katzendecken, Aufwaschschüsseln und Katzenfutterdosen, Kellerschlüssel und Katzenmedizin sich befanden. Ich liebe Tiere wirklich sehr, aber diese siamesischen Viecher begannen mir allmählich auf die Nerven zu gehen. Wer weiß, wie lange ich noch in Mantel und Hut und mit der Tasche in der Hand herumgewandert wäre, wenn sich Frau Aubel nicht plötzlich an ihre Besorgungen erinnert hätte. In fliegender Eile raffte sie ihr Geld zusammen, nahm das Einkaufsnetz und lief davon; mit einem Tuch auf den Lockenwicklern und in Pantoffeln. Im Türrahmen wandte sie sich um und rief: „Machen Sie es sich nur bequem, Fräulein Dieters, Sie sind sicherlich müde von der Reise – ich bleibe nicht lange fort.“ Die Tür schlug zu, und mir entschlüpfte ein tiefer Seufzer. Ich legte meinen Mantel ab und wagte mich in die Stube. Die Katzen folgten mir auf dem Fuß. Vom Wohnzimmer aus ging eine Tür in einen Raum, der mir das Schlafzimmer zu sein schien. Eine andere Tür stand offen, ich schaute hinein, es war ein kleines Zimmer mit Bücherregalen, einem
Schreibtisch und einer Couch. Die Couch wirkte magnetisch auf mich. Du liebe Zeit, wie müde war ich! Alles drehte sich in meinem Kopf, ich hatte zu nichts anderem auf der Welt Lust, als die Augen für ein paar Minuten zuzumachen. Im nächsten Augenblick lag ich auf der Couch. Ich kroch unter eine gehäkelte Schlafdecke und merkte noch, wie sich etwas Weiches und Lebendiges zu meinen Füßen hinlegte, dann verschwanden Colombes, Paris und die ganze Welt um mich herum. Ich glaube, daß es nicht länger als eine halbe Minute dauerte, bis ich tief und fest schlummerte.
Hausfrauensorgen in Paris Als ich erwachte, wußte ich nicht, wo ich war; etwas Schweres lag auf meinen Beinen, ich blinzelte und entdeckte eine Katze. Ich drehte den Kopf und berührte mit der Nase etwas Warmes, Haariges… Noch eine Katze. Nun öffnete ich die Augen. Mitten im Zimmer stand ein Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte. Er hatte den Blick auf mich gerichtet und lachte von einem Ohr zum anderen. „Bonjour, petite Mademoiselle“, sagte er. Plötzlich ging mir ein Licht auf, und ich wußte, wo ich war. Und nun kam der historische Augenblick, in dem ich zum erstenmal in meinem Leben französisch redete, nicht um mich zu üben, sondern um mich verständlich zu machen. „Je ne comprends pas français“, sagte ich und erhob mich von der Couch. Das Lächeln des Mannes wurde breiter. Er reichte mir die Hand und sprach Dänisch, ein ungewandtes, komisches Dänisch, aber ich konnte mich doch einigermaßen mit ihm verständigen. „Willkommen, Fräulein Dieters. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen?“ „Ja, ich – ich – war so müde – “ „Ja, wir sind mehrmals bei Ihnen gewesen und haben Sie angeguckt, aber wir brachten es nicht übers Herz, Sie aufzuwecken. Doch nun müssen wir Sie stören. Wir müssen schnell etwas essen, ehe wir wegfahren, und Sie sind bestimmt auch hungrig.“ Monsieur Aubel war gemütlich und ruhig, nicht eine Spur so aufgeregt wie seine Frau. An sich war sie auch nett, aber ihr Mundwerk lief ständig wie eine Mühle. „Kommen Sie nur jetzt und essen Sie mit uns…“, sagte Monsieur. „Wir müssen frühzeitig essen; wenn wir noch abwaschen wollen, bevor wir fahren“ – das war Madame. „Aber bitte, das wäre ja noch schöner!“ sagte ich. „Das bißchen Abwasch kann ich doch leicht machen, wenn Sie abgereist sind.“ „Wollen Sie das wirklich? Das wäre reizend von Ihnen. Sie haben einen guten Schlaf. Es war wirklich zu nett, Sie dort liegen zu sehen, zusammen mit meinen beiden Schätzchen. (Ja, sie sagte Schätzchen, ich kann nichts dafür!) – Sie haben ja gleich ihre Herzen gewonnen, was machen Sie bloß, um die Tiere so zutraulich zu
machen?“ „Nichts“, sagte ich. Und das stimmte. Bei uns zu Hause ist es selbstverständlich, daß man gut zu den Tieren ist, daß sie regelmäßig Fressen bekommen und gut gepflegt werden, aber wir machen nie viele Umstände mit ihnen. Wir selber haben immer eine oder zwei Katzen gehabt. Zeitweise hatten wir auch einen Hund, und daß die Tiere da waren, war genauso selbstverständlich wie die Tatsache, daß wir selbst da waren. Wenn Pussi auf den Schoß sprang, wurde sie ein bißchen gestreichelt – „Na, Pussi, bist du da?“ Wenn der Hund kam und seinen Kopf an unsere Knie legte, wurde er hinter den Ohren gekrault; er bekam ein paar freundliche Worte, aber es wurde nie viel Theater mit ihm gemacht. Späterhin verstand ich, daß es gerade dies war, was diese überfeinerten und verwöhnten Katzen hier brauchten. Sie hatten ganz einfach ein bißchen Ruhe und Nichtbeachtetwerden nötig. Frau Aubel betrachtete mich mit ungeheurem Respekt und Vertrauen, weil ihre beiden „Schätzchen“ mich gelten ließen. Nun machte ich Bekanntschaft mit französischem Essen, und mir gingen die Augen über. Wenn dieses hier ein gewöhnlicher Lunch sein sollte… wie mochte dann eine Festmahlzeit aussehen? Zuerst fünf oder sechs kleine Schüsselchen mit kalten Delikatessen. Monsieur Aubel verspeiste eine Sardine. Seine Frau nahm den Teller weg und gab ihm einen neuen. Dann aß er ein Stück Zunge und bekam danach wieder einen neuen Teller. Das würde einen Berg Abwasch geben! So war es auch. Neun Teller allein für die Hors d’oeuvres. Dann drei Teller für gebratene Hühnchen und drei Salatteller. Ein Glück, daß es dazu keine Kartoffeln gab, sonst hätten wir wohl noch extra Teller gebraucht. Dann kamen drei Teller für den Käse und drei Teller für das Obst. Eigentlich hätte man noch weitere Teller gebraucht, nämlich für das Brot; doch dieser Meinung war man nicht. Das Brot war einen Meter lang und dünn wie eine Knackwurst. Es lag auf dem Tischtuch, und wir brachen davon Stücke ab, überall blieben kleine Brösel und halbverspeiste Stückchen liegen. Ich begann zu ahnen, daß meine süße Suppe und mein Mehlpudding nicht besonders gut nach Frankreich paßten. In Gedanken verfaßte ich den ersten Brief an Omi. Sie würde große Augen machen, wenn ich ihr erzählte, daß wir Brathühner ohne Kartoffeln und Soße aßen, und Käse mitten in der Mahlzeit, und Clementinen und Weintrauben als Dessert, und das alles an einem gewöhnlichen Werktag.
Als wir beim Kaffee saßen, kam Vati – aufgekratzt und hingerissen, voller Mitteilungsbedürfnis. Aber er beherrschte sich, denn die Aubels mußten aufbrechen, und wir bekamen die letzten Anweisungen, ehe sie davonfuhren. Endlich schlug die Tür hinter ihnen zu. Ich war allein mit Vati. Allein in unserem neuen Heim, das uns für drei Monate beherbergen sollte. Uns zwei kleine, unerfahrene Inselbewohner, in einer großen, unruhigen und schrecklich spannenden Stadt. Ich schlang die Arme um Vatis Hals… „Ist dies nicht ein Märchen, Paps?“ „Nanu!“ rief Vati und drehte sich jäh um. Bajadere war ihm auf die Schultern gesprungen und unterbrach jede weitere Unterhaltung. Und dann stand ich und wusch ab. Abwasch, Abwasch und nochmals Abwasch. Künftig würde es nur einen Teller pro Nase geben, selbst wenn Vati sieben Gerichte zu Mittag verlangen würde. Den Entschluß faßte ich an diesem ersten Abend. Vati packte die Koffer aus und richtete die Zimmer. Ich sollte das kleine Zimmer behalten, in dem ich mittags geschlafen hatte. Es war eigentlich das Arbeitszimmer von Monsieur Aubel, aber die Couch war gut und das Zimmer gemütlich. Ich stellte den Katzenkorb neben meine Couch. Wenn die Tiere durchaus in meiner Nähe schlafen wollten, so meinetwegen; als Bettkameraden wollte ich sie aber nicht haben. Eine angenehme Überraschung hatte ich übrigens bei dieser Katzenpflege. Ich traute meinen Augen und Ohren nicht, als Madame Aubel mir erklärt hatte, daß die Tür zum Badezimmer immer einen Spalt offenbleiben müsse, damit die Tiere aus und ein gehen konnten, denn sie besorgten ihre Geschäftchen sehr reinlich auf dem Wasserklosett. Ich bekam es mit eigenen Augen zu sehen. Rajah hatte sich andächtig zurechtgesetzt, ließ sich in keiner Weise stören, wenn er einen Zuschauer hatte. Später habe ich erfahren, daß das gar nicht so selten ist bei Stubenkatzen, die nicht im Freien herumstreunen dürfen, wie wir es von unseren Putzis auf dem Seehundsrücken gewohnt sind. Es war schon spät, als wir mit Auspacken und Einrichten fertig waren. Und da wir nun in Frankreich waren, hätte ich natürlich ein feines „Diner“ kochen müssen. Aber unsere erste Abendmahlzeit in Frankreich bestand leider aus Tee und 36 Stunden alten Butterbroten, von Omi persönlich gestrichen. Vati warf neidische Blicke auf die Katzen, die laut Befehl von
Frau Aubel gebratene Kalbsleber bekamen. Aber jetzt war ich die Hausfrau, und ein Punkt hatte sich in meinem Gedächtnis festgesetzt, nämlich das erste Gebot in Omis Küche: Essen darf nicht weggeworfen werden! Also aßen wir altes Butterbrot beim Duft von französischem Katzendiner. Inzwischen erzählte Vati. Er hatte einen wunderbaren Tag gehabt. Ahlsen hatte sich mit einem französischen Architekten in einem Café am Montmartre verabredet, und zum Glück konnte dieser Architekt etwas Deutsch. Er und Vati hatten sich in ihrem gemeinsamen Interesse für mittelalterliche Fresken gefunden. Sie hatten sich sehr gern gemocht und ein weiteres Treffen vereinbart. Dann waren sie herumgezogen in Montmartre. Sie waren in Sacré Coeur gewesen und auf La Butte. Natürlich auf La Butte, wo ich später oft stand und den Malern zusah, die sich mit ihren Staffeleien, Pinseln und Farben dort aufstellten, in rasender Eile drauflosmalten und die noch feuchten Bilder an den Mann zu bringen suchten. Dort hatte Vati Landsleute getroffen, junge Künstler, die herumstanden und vor den Augen der Touristen malten und ganz gut verkauften. „Aber das Schönste von allem“, sagte Vati, „war das Nachmittagslicht auf den Champs-Elysées und an der Seine. Nein, dieses Licht, Britta! Jetzt verstehe ich, was man mit ,Pariserblau’ meint. Es ist weder ein Blau noch ein Grau, nein, es ist, es ist, ach, du mußt es selbst sehen! Morgen gehen wir zusammen in die Stadt, Britta, dann zeige ich dir die Champs-Elysées und den Triumphbogen, und dann essen wir – “ „Im Park“, sagte ich streng. „Ich nehme Butterbrote mit, damit du es gleich weißt.“ „Aber, liebes Kindchen – “ „Ich bin kein liebes Kindchen, Paps, ich bin eine strenge Hausfrau. Und jetzt muß ich Omi und Tante Birgit vertreten. Sonst sind es immer die beiden, die auf dich aufpassen! Wir wollen drei Monate hierbleiben, nun teile bitte dein Geld in drei Teile, und jeden in vier, damit wir sehen, wieviel wir pro Woche ausgeben dürfen. Davon muß ich ein gutes Teil zum Haushalt haben. Wir brauchen Metro-Geld, ab und zu muß mein Haar geschnitten werden, und du mußt sicher neue Farben und Leinwand kaufen. Du gibst immer mit deinem Abitur an, dann hast du wohl auch ein bißchen Mathematik gelernt? Also setze dich hin und fange an zu rechnen.“ Vati stöhnte.
„So eine Göre! Ich möchte dich…“ „Ja, du hast recht, du möchtest mich loben und mir danken; das wolltest du doch sagen, du alter Tyrann!“ Ich gab ihm einen schnellen Kuß. „Du bist der reizendste, unmöglichste, der wunderbarste und leichtsinnigste Vater auf der Welt, und ich bin froh, daß ich es bin, die auf dich aufpassen darf. Hier ist Bleistift und Papier, bittschön, altes Walroß!“ Ich bekam einen halb ärgerlichen, halb humorvollen Klaps, und dann setzte sich Vati tatsächlich hin und begann zu rechnen. Er rechnete und rechnete, während ich den Tisch abräumte, das Teegeschirr und die Teller abwusch. Er rechnete weiter, während ich ins Bad ging und mich zurechtmachte. Er rechnete noch, als ich im Pyjama hereinkam, um ihm gute Nacht zu sagen. „Du, Britta“, sagte er schließlich, und seine Stimme war merkwürdig zahm, „glaubst du, daß du den Haushalt mit fünfzig Francs in der Woche schaffst?“ „Ich weiß nicht“, sagte ich. „Ich habe keine Ahnung, wieviel Fleisch und Brot und Butter kosten. Aber gib mir einmal fünfzig Francs, ich sage es dir schon, wenn es nicht reicht. Gute Nacht, Paps. Vergiß nicht, daß die Badetür einen Spalt offenbleiben muß, sonst machen die Katzen in die Hosen. Schlaf gut.“ Und nun lag ich auf der Couch und schrieb in ein kleines Notizbuch, das ich für diese Gelegenheit angeschafft hatte. Ich hatte mir vorgenommen, in Frankreich ein Tagebuch zu führen. Ich schrieb: Ankunft in Paris neun Uhr. Treffen mit Redakteur Ahlsen. Frühstück am Gare du Nord. Zug nach Colombes, dort installiert, mit den Katzen geschlafen, Aubels abgereist, großer Abwasch, Vati den ganzen Tag weg, am Nachmittag heim, Abend zusammen mit ihm. Ich legte das Buch weg und löschte das Licht. Plumps, da sprang etwas auf meine Füße. Plumps, da war etwas hinter meinem Rücken. All right, meinetwegen. Ich war zu müde, um jetzt Katzen zu erziehen, außerdem war ich gerührt, weil sie so viel Zutrauen zu mir hatten, daß sie unbedingt in meinem Bett schlafen wollten. Sie waren ja auch blitzsauber und appetitlich. Wir schliefen gleich ein. Bajadere, Rajah und ich.
Großstadtluft Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wäre nicht ein Selbstbedienungsladen in der Nähe gewesen. Ich entdeckte ihn am nächsten Morgen, als ich ausging, um Brot zu kaufen. Im Kühlschrank stand noch ein Rest Butter und Marmelade von Aubels, Kaffee war auch noch etwas da, und zum Frühstück brauchte ich nur etwas Brot. In der Bäckerei zeigte ich auf ein langes Brot und hielt einen Finger in die Höhe, und die Verkäuferin nickte und sagte: „Un baguette, s’il vous plaît, Mademoiselle.“ Und ich sagte: „Merci, Mademoiselle“, und legte einen FünfFranc-Schein auf den Tisch. Als ich aus dem Geschäft kam, zählte ich das Wechselgeld. Jetzt wußte ich also, daß Brot baguette hieß und was es kostete. Dann entdeckte ich den Selbstbedienungsladen. Mir fiel ein Stein vom Herzen, denn jetzt konnte ich gleich zum Mittagessen einkaufen, für die Katzen, und auch Aufschnitt für unsere Butterbrote. Als ich mit vollem Korb zur Kasse kam, hatte ich für mehr als zweiunddreißig Francs eingekauft. Ich schnappte nach Luft. Ach nein, Paps mußte schon mehr Geld herausrücken! Tags zuvor hatte ich große Augen gemacht, als Frau Aubel mit Pantoffeln und Lockenwicklern auf die Straße gegangen war. Aber jetzt sah ich, daß das hier anscheinend üblich war. Niemand schien es als etwas Besonderes zu empfinden. Und ich fühlte mich fast unanständig gut angezogen in meinem Wintermantel und Handschuhen und Baskenmütze. Den Mantel brauchte ich wirklich, denn es war kalt draußen, obgleich die Sonne so intensiv schien, wie es nur die Februarsonne kann. Vati war in glänzender Stimmung und voller Unternehmungslust. Beim Morgenkaffee in der Küche machte er Pläne. „Wollen wir heute Notre-Dame anschauen, oder wollen wir in den Louvre gehen, oder wollen wir mit dem Fahrstuhl in den Eiffelturm hinauffahren?“ „Wie du willst“, sagte ich. „Alles ist ja neu für uns, und alles ist interessant. Solltest du heute übrigens nicht Ahlsen treffen?“ „Nein“, sagte Vati, „aber den Architekten Latour, er pflegt Kaffee zu trinken im – was zum Teufel war es nur für ein Café? Ich
habe es aufgeschrieben, ja richtig, hier ist es. Aber nicht vor vier Uhr. Wir haben massenhaft Zeit, Britta. Stopfe nur irgend was Freßbares in die beiden Raubtiere, dann ziehen wir los.“ „Aber der Abwasch, Paps!“ „Pfeif auf den Abwasch! Glaubst du, daß der Herrgott uns einen solch schönen Sonnentag beschert, damit wir ihn zum Abwaschen benützen?“ Vatis Logik ist hier und da unwiderstehlich. Ich machte das „Raubtieressen“. Schon am ersten Tag begann ich darüber nachzudenken, ob ich ihren Kostplan nicht vereinfachen könnte. Vati hatte gesagt: „Selbstverständlich, Madame, klar, daß wir die Katzen versorgen. Das ist ja das Geringste, was wir tun können, wenn wir umsonst hier wohnen.“ Aber wenn die Viecher Kalbskoteletten, Eigelb und Sahne haben sollten, würde das bald dazu führen, daß wir uns mit Wasser und Brot begnügen mußten! Und sparten wir die Miete wirklich? Eine hübsche kleine Summe würde monatlich in die siamesischen Bäuche wandern. Naja, heute sollten sie noch das haben, was Madame verlangt hatte. Rohes Kaninchenfleisch, fein gewiegt, und ein zehntel Liter Sahne durch zwei geteilt. Die Badezimmertür blieb offen, die Küchentür wurde geschlossen. Dann wagten sich der Kunstmaler Benno Dieters und Tochter in die Gefahren und die Versuchungen der Großstadt, und in das pariserblaue Licht. Die Gefahr begann gleich vor dem Bahnhof St-Lazare, als wir die Straße überqueren wollten. Hätte ich Vati nicht am Ärmel ergriffen und zurückgehalten, wäre er geradewegs in ein Auto gelaufen, als er die Straße überqueren wollte, direkt gegen rotes Licht mit dem Wort „Attendez“. „Ach, zum Teufel“, sagte Vati, „‚attendez’ bedeutet ja warten!“ „Und rot bedeutet Gefahr“, sagte ich. „Eines sage ich dir, Vati, wenn du dir nicht um deinetwillen Mühe gibst, vorsichtig zu sein, dann tu es bitte für mich. In welche Lage bringst du mich, wenn du entweder im Krankenhaus oder auf dem Friedhof landest!“ „Du bist eine fürchterliche kleine Moraltante geworden“, sagte Vati, als das rote Licht in grünes gewechselt hatte und das Wort „Attendez“ in „Passez“ wechselte. Wir standen auf dem gegenüberliegenden Gehsteig und atmeten auf.
„Einer von uns muß vernünftig sein“, sagte ich. Plötzlich schaute mich Vati mit einem kleinen Lächeln an, einem zärtlichen, ein bißchen wehmütigen Lächeln. Er drückte meine Hand. „Du gleichst deiner Mutter, Kleine“, sagte er. Dann trabten wir los: Wir waren uns einig, daß wir die Metro vermeiden wollten, wir wollten etwas von Paris sehen. Es wurde aber eine nette Strecke zu laufen! Glücklicherweise hatte ich den Stadtplan bei mir. An jeder Straßenecke blieben wir stehen und schauten nach. Und so gelang es uns, die Place de l’Opéra zu finden, von da kamen wir auf den langen Boulevard Hausmann und weiter zu einem großen, strahlenden Platz. Gerade vor uns erhob sich ein monumentaler Bau. „Oh, Vati, dies sind ja die Champs-Elysées und der Triumphbogen. “ „Ganz genau. Wollen wir mal sehen, ob wir dort rauffahren können?“ „O ja, Paps, machen wir das!“ Das war leichter gesagt als getan. Durch den Autoverkehr auf der Place de l’Etoile durchzukommen, ist eine äußerst problematische Sache. Wir blieben Hand in Hand stehen und starrten verloren hinüber zum Triumphbogen. Die Minuten vergingen, aber wir wagten uns nicht in das Gewühl. (Ich war es, die entdeckte, daß ein Tunnel unter der Straße zum Triumphbogen führte, aber leider entdeckte ich das erst eine Woche später.) „Wir können auch ein anderes Mal hingehen“, sagte Vati. „Wir können auf dieser Seite der Straße bleiben und geradeaus gehen, dann kommen wir zur Place de la Concorde.“ Ich hatte nichts gegen die Place de la Concorde. Wir trabten weiter, aber du liebe Zeit, wie weit war das! Später haben wir erfahren, daß es eine Kleinigkeit von zwei Kilometern ist, dieses lange, gerade Stück, das unter anderem am Palais der ChampsElysées vorbeiführte. „Jetzt bin ich müde, Vati!“ sagte ich, als wir zur Place de la Concorde gekommen waren. Ich war tatsächlich so müde, daß ich die Schönheit um mich herum nicht so richtig genießen konnte, und die Place de la Concorde ist wahrhaftig das reinste Schönheitserlebnis. Nun war Vati wieder im Bilde, denn hier war er tags zuvor gewesen. „Nur noch geradeaus über den Platz, Britta“, sagte er,
„dann kommen wir zum Tuilerien-Garten. Dort gibt es eine Menge Bänke, und wir können ausruhen.“ Gesagt, getan. Zehn Minuten später saßen wir im strahlenden Sonnenschein auf einer Bank, und meine Augen wurden immer größer. Da waren spielende Kinder, die französisch mit ihren Kindermädchen plauderten, waren herrliche Skulpturen und reizende Gartenanlagen. Wie wunderbar mußte es hier im Frühling sein, wenn die Blumen zu blühen begannen! Und dort drüben standen fünf oder sechs kleine Esel. Ja, jetzt begriff ich… da wurde ein kleines Mädchen zum Reiten auf einen Esel gehoben. Viele Kinder saßen in einem kleinen Wagen, der von einem Esel gezogen wurde. „Ach, wäre ich bloß zehn Jahre jünger!“ sagte ich. Ich wäre auch so gern geritten. Reiten kann ich, das habe ich bei Inken Gregers gelernt, die zu Hause auf dem Seehundsrücken meine beste Freundin ist, die Tochter von Jan Gregers mit den Reitpferden. Aber wie lustig müßte es sein, auf einem Esel zu reiten! „Was ist mit deinen Butterbroten, Britta?“ fragte Vati. Butterbrote? Na klar! Ich selbst war auch hungrig. Ich kramte das Eßpaket aus der Tasche. Aber im gleichen Augenblick, als ich mit dem Frühstückspapier raschelte, erhob sich ein lautes Sausen in der Luft, und da saßen fünf Tauben auf meinem Schoß, fünfzig um uns auf der Bank, und der Himmel weiß, wie viele auf meinen Schultern. Vati hatte das Skizzenbuch und den Bleistift vor sich, ehe ich bis drei zählen konnte. Er zeichnete, daß es nur so zischte, und die Tauben ließen sich das Essen gut schmecken. Ich stopfte den Aufschnitt in meinen eigenen Mund, aber alles Brot wanderte in dieses Heer von aufdringlichen Viechern! Es war mit das Schönste, das ich jemals erlebt hatte. Nie hatte ich so zahme Tauben gesehen. Da kam eine und steckte den Kopf in meine Handtasche, eine hatte den Fuß zwischen meinem Hals und dem Mantelkragen, es kitzelte im Nacken – eine schlug mit den Flügeln gerade vor meiner Nase, so daß ich niesen mußte. Vati zeichnete und zeichnete, und ein Bissen bâtard nach dem andern verschwand. Nach ein paar Minuten saß ich mit leerem Frühstückspapier und hungrigem Magen da. Künftig werde ich mindestens zwei Pfund Erbsen mitnehmen, wenn ich in den Tuilerien-Garten ging. War Vati dann beschäftigt, konnte ich mich mit meinen Tauben und Erbsen großartig unterhalten.
Vati war unermüdlich. Er hatte Kräfte wie ein Europameister im Tausend-Meter-Lauf. Jetzt wollte er, daß wir zu Fuß nach NotreDame gingen. Ich weiß, daß wir eine Brücke überquerten und daß Vati sagte: „Dies ist ein historischer Augenblick, Britta! Jetzt überquerst du die Seine.“ Aber ich war so müde und von dem Lärm so angestrengt, daß ich mich tatsächlich nicht genau an die Eindrücke der nächsten Stunden erinnern kann. Ich weiß schon, daß Notre-Dame einen gewaltigen Eindruck machte, aber ich konnte keine Einzelheiten erfassen. Ich war nur müde, und meine Füße schmerzten. „Du bist blaß“, sagte Vati, als wir wieder in den Sonnenschein herauskamen. „Hungrig bist du sicher auch; komm, wir gehen irgendwo essen!“ „Keine Rede“, sagte ich. „Ich habe heute für zweiunddreißig Francs eingekauft. Wir haben Essen zu Hause. Höchstens eine Tasse Kaffee gibt es und einen Kuchen.“ Wir plumpsten in ein spaßiges und eigenartiges Café ganz in der Nähe von Notre-Dame. In der einen Ecke brannte ein offenes Feuer, und an kleinen Tischen saßen bärtige junge Männer und junge Mädchen mit schwarzen Ponies, weiten Pullis und engen Hosen. Das Café hieß irgend was mit „des Arts“. Etwas mit Kunst war es also. Wir bestellten – das heißt: Vati stotterte etwas zusammen, was seinen alten Lehrer bestimmt zur Verzweiflung gebracht hätte. Aber jedenfalls wurde er soweit verstanden, daß wir Kaffee und zwei Stück Torte bekamen, die übrigens ausgesprochen schlecht waren. Aber der Kaffee stärkte meine Lebensgeister. Ich zog meine Schuhe unter dem Tisch aus und fand allmählich meine gute Laune wieder. Leider hielt sie nur solange an, bis die Rechnung kam. Die verursachte Vati einen Schock. „Um Himmels willen“, stammelte er. „Vier Francs das Stück von dieser lausigen Torte. Und drei Francs für das Fingerhütchen Kaffee!“ Es wurde ein teurer Kaffee für uns, aber trotzdem lohnte es sich, denn diese unverschämte Rechnung öffnete meinem leichtsinnigen Vater die Augen dafür, daß es in Paris teuer war, auswärts zu essen. Ich glaube tatsächlich, daß es ihn zum Nachdenken anregte, und das war nötig. Ich geriet fast in Panik, wenn ich an unser Geld dachte und daran, wie lange es reichen sollte, und daß ich am selben Tag noch Vati um mehr Haushaltsgeld bitten mußte. In diesem exklusiven Café vor dem Kamin fanden wir es nicht
länger gemütlich. Vati zahlte. Nach der Miene der Kellnerin zu beurteilen, hatte er anscheinend die obligatorischen zehn Prozent Trinkgeld nach unten abgerundet. „Kannst du noch, Britta?“ fragte Vati, als wir wieder draußen auf der Straße standen. „Du etwa?“ „Ich? Stundenlang! Übrigens soll ich ja Latour treffen, in-“ Vati sah auf die Uhr. „Britta, ich muß ja sausen, das heißt, ich muß mit der Metro fahren, kommst du mit?“ „Nein, ich glaube, ich trolle mich nach Hause.“ „Schaffst du das allein?“ „Na klar, ich verstehe doch das ganze Metrosystem, und ich bleibe ja bis St-Lazare die ganze Zeit unter der Erde. Wann kommst du heim?“ „Ich ahne es nicht. Aber sei um mich nicht besorgt, mein Herz, ich verspreche dir, nie mehr über die Straße zu gehen, wenn das Licht rot ist und ,attendez’ steht.“ „O. K. also brauchen wir nur noch eine Metro-Station zu finden.“ Metro-Stationen gibt es überall in Paris. Auf der nächsten trennten sich unsere Wege. Vati ging durch einen langen, gekachelten Korridor, ich durch einen anderen. Ich paßte wie ein Luchs auf die blauen Schilder auf, legte zehn Centimes in den Hut eines blinden Bettlers, ging durch die grüne Sperre und fand den richtigen Bahnsteig. An der Place de la Concorde mußte ich umsteigen, und dann ging es weiter nach St-Lazare, wo ich den Zug nach Colombes nahm. Ich schaute auf die Uhr. Es waren sieben Stunden vergangen, seit wir von zu Hause weggegangen waren. Wie kann man doch in sieben Stunden müde werden! Später habe ich verstanden, woher das kam. Ein Mensch, der Großstädte und Großstadtverkehr gewöhnt ist, ist auch gewöhnt, sich zwischen Autos, Menschen und Straßenlärm zu bewegen. Er wird sicher auch nicht so schnell müde. Aber ich armes, kleines Dummchen vom Lande! Es war nicht nur die fremde Sprache und das Bewußtsein, daß ich jetzt Paris erlebte, was mich so anstrengte. Es war einfach die große, unruhige Stadt, mit Automobilen, Tauben, Kirchen, Museen, Geschäften und Cafés, wo man vier Francs für ein Stück schlechte Torte bezahlte. Mir wurde klar, daß man Paris in kleinen Dosen genießen mußte, sonst würde es mir gehen wie heute. Ich war in Notre-Dame
gewesen, hatte das weltberühmte, herrliche Bauwerk gesehen, und was für ein Eindruck war in mir geblieben? Ein kühles Halbdunkel, hohe Spitzbogen über meinem Kopf und müde Füße. Nein, ich mußte mich hier auf eine andere Weise einrichten. Die Kunstwerke, die Museen und die Parks, die ich sehen wollte, wollte ich verteilen, auf viele, viele Tage verteilen. Denn man braucht ein ausgeruhtes Hirn und einen ausgeruhten Körper, um Kunstgenüsse auswerten zu können. Soviel wußte ich. Ich wußte es, weil ich meines Vaters Tochter war. Und weil meine Beine in Notre-Dame so maßlos geschmerzt hatten.
Ein unverhofftes Telegramm Ich lernte viel in den nächsten Tagen: Erstens, daß eine Hausfrau sich selber den schlechtesten Dienst erweist, wenn sie den Abwasch stehen läßt und beim Heimkommen dann, müde von neuen Eindrücken und reif für einen ausgiebigen Mittagsschlaf, eine unaufgeräumte Küche vorfindet. Zweitens lernte ich, mir meine Einkäufe für den Haushalt lange und gründlich zu überlegen. Ich durfte nicht auf Kalbskotelette zeigen und sagen: „Ein halbes Kilo“, wenn das Kilo dreizehn Francs kostete und daneben Hammelzungen zu vier Francs lagen. Ich lernte, auf dem Markt einzukaufen, statt im Laden. Zweimal wöchentlich war Markt in Colombes. Das eine Mal merkwürdigerweise am Sonntag! Auf dem Markt konnte man alles kaufen, von Schuhen bis zu Austern, von Unterkleidern bis zu Hackbraten, von Milchkannen bis zu Haarklammern, Nagellack und Tomaten. Außerdem lernte ich täglich neue französische Wörter. Aber was ich lernte, war nichts im Vergleich zu dem, was Rajah und Bajadere lernten. Sie machten nämlich die Erfahrung, daß Katzen großartig gedeihen können, auch wenn sie ein einfacheres Essen als Eigelb und Kalbsleber kriegen. Sie bekamen reichliches und frisches Essen, aber es war Schluß mit Kalbsleber zu zwölf Francs das Kilogramm und rohem Eidotter. Wenn ich für uns einkaufte, sagte ich immer: „Quelque chose pour les chats, s’il vous plaît!“ und der Metzger und der Fischhändler fanden immer etwas Brauchbares für die Katzen. Außerdem hatte ich für alle Fälle ein paar Dosen Katzenfutter gekauft, so daß ich nie ratlos war. Und meine Pflegekinder fraßen mit Begeisterung Fischhaut und Schinkenschwarten, ja es kam sogar vor, daß sie Brot fraßen, wenn ich es in einem Suppenrest von Mittag eingeweicht hatte. Ich glaube fast, daß sie die Veränderung in der Kost direkt mochten, und daß sie sich – in siamesischer Katzensprache – sagten, daß das neue Kindermädchen wirklich etwas von Katzenmenüs verstand! Im Anfang war es ein bißchen schwierig, mit diesen verwöhnten kleinen Tieren neue Sachen auszuprobieren, die ich ihnen vorsetzte; aber ein Zufall zeigte mir, wie ich es am besten tun könnte. Es hatte mittags gute deutsche Kartoffelklöße mit Schinkenspeck gegeben.
Ich war ja darauf bedacht, möglichst billig zu kochen! Ich hatte alle Reste in die Küche rausgeschafft und saß und plauderte mit Vati und graute mich vor dem Abwasch. Da hörte ich draußen Lärm und sprang auf wie ein Blitz. Auf dem Küchentisch stand Rajah und schleckte die Fettreste von den Tellern, und am Boden saß Bajadere und verzehrte genießerisch einen Kartoffelkloß. Nie im Leben hätten diese beiden Aristokraten Kartoffelklöße mit Schinkenspeck gefressen, wenn ich sie auf ihre Teller gelegt hätte. Aber wenn sie auf Entdeckungsreise ausgehen und etwas stibitzen konnten, dann war es spannend, dann schmeckte es! Also brauchte ich das neue Katzenessen nur auf einen unzugänglichen Platz zu stellen und die Tiere schnüffeln und suchen lassen. Wenn sie dachten, dies sei gar nicht für sie bestimmt, dann rutschte das Essen glatt runter. So brachte ich ihnen bei, Suppe mit eingeweichtem Brot zu fressen. Sobald sie erst einmal Geschmack daran gefunden hatten, ging alles glatt. O ja, mit der Zeit würden meine Pflegekinder richtige Prachtexemplare werden! Nach und nach gelang es uns, eine Art Tagesordnung einzuführen. Vati war sehr lieb. Morgens holte er schon den Koks aus dem Keller; nachdem er sich drei Finger verbrannt hatte und Ausdrücke gebrauchte, die ganz und gar nicht für meine Ohren gedacht waren, hatte er endlich herausgefunden, wie man in einem Ofen Feuer macht. Es waren nämlich wahrhaftig richtig altmodische Öfen im Haus… nichts von Zentralheizung oder ölfeuerung. Während er das Feuer anmachte, ging ich Brot holen. Vati setzte das Kaffeewasser auf, und dann tranken wir unseren frühen Morgenkaffee. Vati hatte es immer sehr eilig, aus dem Haus zu kommen. Er fuhr mit der Staffelei unter dem Arm in die Stadt. Ich trug das Freßpaket und den Malkasten, und so fuhren wir mit Zug und Metro zu dem Ort, den Vati sich ausgesucht hatte. Er hatte in der Nähe einer Seinebrücke „das herrlichste Motiv seines Lebens“ gefunden und ließ sich dort mit seinem Malzeug nieder. Ich hinterließ das Eßpaket bei ihm und zog auf eigene Faust los. War ich hungrig, lief ich zurück zu Vati. Wir aßen unsere Brote und tranken Kaffee aus der Thermosflasche und schwatzten. Ich erzählte, was ich gesehen hatte und wo ich gewesen war und welche französischen Vokabeln ich neu gelernt hatte. Manchmal kam auch der Architekt Latour, plauderte mit mir in seinem unmöglichen Deutsch und hörte meine französischen Wörter
ab. Dann stopfte er Vati und dessen Malsachen ins Auto und entführte ihn für den Rest des Tages. Ich trollte mich nach Hause zu meinen Katzen, meinem Haushalt und meinen französischen Studien. Jeden Abend lernte ich aus meinem französischen Lehrbuch und schrieb die Redewendungen auf, die ich im Laufe des Tages gelernt hatte. Es dauerte nicht so sehr lange, bis ich meine Einkäufe einigermaßen gut erledigen konnte. Zum Glück hatte ich selbst keine Ahnung, was für schreckliche Schnitzer ich machte. Die Hauptsache war, daß man mich verstand. Ich mochte Latour furchtbar gern: ein großer breiter Mann mit dunklem Bart und Brille und einem lustigen Bäuchlein. Er war Junggeselle und wohnte in einer todschicken Wohnung am Montmartre. Vati und ich waren an einem Nachmittag dort. Es machte viel Spaß, die Wohnung mit all den wunderschönen Bildern anzusehen, doch ich kam mir etwas überflüssig vor. Die beiden Männer hatten so viel zu reden, daß sie mich glattweg vergaßen. Und keiner widersprach mir, als ich sagte, ich müsse nach Hause zu den Katzen und dem Haushalt. Ja, dies war der Wermutstropfen in meinem Pariser Freudenbecher. Ich war sehr einsam. Vati war lieb und reizend, doch er war auf einer Stipendienreise und mußte studieren, und das Zusammensein mit Latour hatte in hohem Grade mit seinem Studium zu tun, das wußte ich. Vati konnte nicht Kunst studieren und sich gleichzeitig um mich kümmern. So kam es, daß ich in der ersten Zeit hauptsächlich nur die nähere Umgebung von dem Platz zu sehen bekam, wo Vati malte. Um den Louvre und die Tuilerien herum kannte ich bald jede Straße wie meine eigene Tasche. Ich kannte die Place de la Concorde und die Champs-Elysees… aber wann würde ich den Jardin des Plantes und den Jardin du Luxembourg, Versailles, Montparnasse und den Zoo in Vincennes kennenlernen? Wann würden wir in die großen Geschäfte gehen, wann würde ich all das sehen, wovon Vati mir zu Hause schon erzählt hatte? Und was meine Kusine Ellen mit glühender Begeisterung empfohlen hatte! Es ließ sich nicht leugnen, ich war eine kleine ungeschickte Hausfrau in Colombes geworden und keine strahlende Reisende in Paris. Ja, ungeschickt war ich! Und eins weiß ich: Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich ein Gesetz einführen, das für alle jungen Mädchen Hauswirtschafts-Unterricht verordnete! Ich bereute bitterlich, daß ich Omi nicht mehr geholfen hatte. Meine Rettung war ein Kochbuch, das sie in meinen Koffer
gesteckt hatte. Ohne dieses Buch hätten wir ausschließlich von Kartoffelklößen und süßer Suppe gelebt. Jetzt wagte ich doch wenigstens, die herrlich billigen Zungen zu kaufen. Ich kaufte auf dem Sonntagsmarkt fertiges Hackfleisch und briet es mit Zwiebeln als Sonntagsessen. Außer den paar Worten, die ich für das Einkaufen brauchte, konnte ich ja nichts. Wenn ich so allein in Colombes rumpusselte und auf den Straßen und in die Geschäfte ging, war ich geradezu neidisch auf alle anderen, die mit den Verkäuferinnen schwatzten, die zusammen lachten und ihre Babys im Kinderwagen gegenseitig bewunderten. Ich war so schrecklich allein, wenn ich mit dem Einkaufsnetz herumlief. Aber dann kamen einige Regentage, und das war einfach herrlich! Denn dann konnte Vati nicht draußen sitzen und malen. Dann gingen wir in den Louvre, und ich sah die Venus von Milo im Original. Ich bekam die wunderbare Nike von Samothrake zu sehen, ich sah Tizian und Rembrandt und selbstverständlich die Mona Lisa. Als wir gerade mit den Modernen anfangen wollten, wurde das Wetter schön, und Vati hatte wieder ein neues Bild im Kopf. Wäre ich nicht von meiner eigenen teuren Person und von den geliebten Katzenviechern, die ehrlich gesagt mein Trost und mein Lichtblick waren, in Anspruch genommen worden, so hätte ich gemerkt, daß Vati mehr und mehr nachdenklich wurde. Erst später wurde mir klar, wie er oft in Gedanken versunken dasaß und hie und da mit einem nachdenklichen und bekümmerten Ausdruck von seinen geliebten Büchern über romanische Kirchenkunst aufblickte. Von zu Hause kam Post. Omi fragte, ob ich daran dächte, mich in der scharfen Winterluft warm anzuziehen. Und ob ich nur bestimmt alle Hähne und Gasleitungen zudrehte, ehe ich aus dem Haus ging. Tante Birgit erinnerte mich daran, daß ich immer einen Zettel mit meinem Namen und meiner Adresse in Colombes in meine Tasche stecken sollte. Von meiner Freundin Inken bekam ich einen langen Brief und ein Buch. Ja natürlich, von ihrer Lieblingsverfasserin Edda Callies! Inken besaß deren sämtliche Bücher, die übrigens reizend waren, sehr unterhaltende Jungmädchenbücher, lustig und spannend geschrieben. „Dieses mußt Du wirklich lesen“, schrieb Inken, „ich war so toll begeistert von dem Buch, daß ich an Edda Callies schrieb. Erinnerst Du Dich, daß wir sie letztes Jahr im Radio hörten, als sie erzählte, daß sie so viele Leserbriefe bekommt? Ich dachte, daß ich es auch
wagen könnte, ihr zu schreiben. Und was meinst Du: ich bekam Antwort! Pfundig! Sie ist sicherlich genauso reizend wie ihre Bücher. Ich weiß nicht, wie alt sie ist, aber ich möchte wetten, daß sie höchstens fünfundzwanzig ist. Und toll schick. Dieses Buch kannst Du gerne für eine Zeit haben. Aber denke daran, mir es zurückzuschicken. Ich kann mir vorstellen, daß es für Dich ganz abwechslungsreich ist, zwischen den französischen Lehrbüchern etwas Deutsches zu lesen.“ Darin hatte Inken wahrhaftig recht! Ich legte das Buch auf den Nachttisch, um es als Abendlektüre zu benutzen. Aber abends war ich immer so müde, daß ich nicht richtig zum Lesen kam. Nun, es eilte ja nicht. Die Tage vergingen, Vati und ich pendelten zwischen Colombes und Paris hin und her. Und wir waren soweit gekommen, daß wir unseren nächsten Nachbarn zunickten. Aber zu mehr als „Bonjour, Madame“ kam es nicht, denn mein Wortschatz reichte nicht einmal aus, um zu sagen: „Was für ein herrlicher Tag heute!“ Aber eines Tages geschah etwas. Es kam ein Brief von Kusine Ellen. Eigentümlich genug: an Vati. Sonst schrieb sie ja an mich. Ich war zum Platzen neugierig. Als Vati nachmittags nach Hause kam, mußte er den Brief sofort lesen, und ich trippelte vor Ungeduld. Während Vati las, verschwanden die Falten von seiner Stirn, seine Augen wurden fröhlich, er strahlte. Und dann reichte er mir den Brief. „Lieber Onkel Benno! Etwas muß ich Dir zu allererst sagen: Du darfst gern mit Nein antworten, auf das, worum ich Dich jetzt bitten will. Es ist nämlich schrecklich frech von mir, aber ich kann der Versuchung nicht widerstehen, Dich wenigstens zu fragen. Ich bin in der seltsamen Lage, jetzt meinen Sommerurlaub zu bekommen. Du weißt vielleicht, daß in unserer Firma im Sommer Hochbetrieb ist, und dann kann der Chef mich nicht entbehren. Aber jetzt haben wir die tote Zeit, und wenn ich mich bereit erkläre, jetzt Urlaub zu nehmen, kann ich einige Tage zusätzlich bekommen. Außerdem habe ich im Winter Überstunden gemacht – und habe so einige Tage zusammengespart. Dazu kommen die Osterferien; das bedeutet, daß ich beinahe zwei Monate frei habe. Und jetzt kommt meine unverschämte Frage: Du weißt doch, daß ich in Paris verliebt
bin seit dem Jahr, das ich dort zubrachte. Ich möchte schrecklich gern zurück, ja ich bin ganz verrückt bei dem Gedanken, nach Paris zu kommen. Aber es ist furchtbar teuer, dort zu wohnen. Und nun dachte ich, nachdem Ihr ein ganzes Haus kostenlos zur Verfügung habt, gäbe es wohl eine schwache Möglichkeit, daß ich bei Euch wohnen könnte. Natürlich bezahle ich für mein Essen. Ich bezahle meinen Anteil an Gas, Licht, Heizung und Wäsche. Es würde trotzdem viel billiger kommen, as wenn ich irgendwo in einer Pension wohnen müßte. Ich werde Euch nicht stören, werde mich nicht an Euch hängen, ich brauche bloß einen Platz zum Schlafen. Sollte Britta Lust haben, ein wenig in weiblicher Gesellschaft zu sein, würde ich es schrecklich nett finden, mit ihr in die Stadt zu gehen. Wir waren ja immer dicke Freundinnen. Aber wie gesagt, sonst werde ich Euch in keiner Weise belästigen. Im übrigen will ich Britta gern beim Abwasch und beim Reinemachen helfen. Wenn ich nur nach Paris kommen kann, bin ich zu allem möglichen willig. Lieber Onkel Benno, bist Du so lieb und antwortest mir? Oder vielleicht tut es Britta, und zwar so bald wie möglich? Ich bin ja so gespannt, daß ich es kaum erwarten kann. Ich hoffe, daß Du viel Freude an Deiner Stipendienreise hast, und daß Britta diese Zeit genießt. Wie steht es mit der Sprache? (Ich bin tüchtig in Französisch – dies in Klammern gesagt. Ich erwähne es bloß!) Die herzlichsten Grüße, Deine Ellen.“ Vati und ich sahen uns an. Vatis Augen leuchteten. Und meine – ja die wurden plötzlich ganz feucht! „Aber Herzenskind“, sagte Vati. „Ach, ich bin so dumm“, stammelte ich, und jetzt mußte ich tatsächlich mein Taschentuch zu Hilfe nehmen. „Weißt du, Paps, ich bin so oft allein, und, und – ich bin so schrecklich froh – du weißt ja, wie gern ich Ellen habe, und – o Paps, du läßt sie doch kommen?“ Vati umarmte mich zärtlich. „Kindchen, habe ich dich denn so fürchterlich vernachlässigt?“ „Nein, Paps, du bist der liebste Vater auf der Welt, aber – “ „Trockne nur mal deine Augen, Britta, natürlich soll Ellen kommen, je eher, desto besser. Und nun muß ich dir etwas erzählen.“ Meine Tränen hörten aus lauter Neugier auf zu fließen. „Hör gut zu, Putzi. Natürlich ist Ellen unter allen Umständen herzlich willkommen, aber gerade jetzt kommt sie wie vom Himmel
gesandt.“ „Ja, das finde ich auch -.“ „Ja, aber sie kommt noch mehr vom Himmel, als du ahnen kannst. Direktor Latour will absolut, daß ich – “ „Ja, ich dachte mir schon, daß es mit Latour zusammenhängt – “ „Unterbrich mich nicht, du Range! Latour hat einen großen und außerordentlich interessanten Auftrag bekommen. Er soll eine alte, romanische Kirche in Südfrankreich restaurieren ------“ „Paps, jetzt geht mir ein elektrisches Licht auf! Deshalb vergräbst du dich in Bücher über alte Freskomalereien. Latour will sicherlich, daß du die Wände wieder auffrischst, stimmt das, oder habe ich recht? Und du hast nein gesagt? Weil du nicht wußtest, was du mit mir machen solltest?“ „Du hast es genau erfaßt…“ „Ach, Paps, warum hast du das nicht früher gesagt?…“ „Weil ich nicht konnte! Das mußt du doch verstehen. Ich kann doch nicht meine sechzehnjährige Tochter allein mit zwei Katzen in Colombes sitzenlassen und selbst nach Südfrankreich reisen, um Fresken zu restaurieren. Ich kann auch nicht die besagte Tochter mitnehmen, da ich ja auf Ehre und Gewissen gelobt habe, das Haus und die Katzen zu betreuen.“ „Aber jetzt kannst du fahren! Reise also zu deinen Wandpinseleien! Aua, reiß mir die Haare nicht aus!“ „Natürlich reiße ich, du unverschämte Göre! Meine mittelalterlichen Fresken ,Pinseleien’ zu nennen! Verstehst du, Britta – nein, du kannst es nicht verstehen, aber ich will versuchen, es dir zu erklären: Dieser mittelalterlichen Kirchenkunst gehört ja mein glühendstes Interesse. Es gibt nichts, das ich mir mehr wünschen würde, als eine solche Arbeit auszuführen. Daß sie mir angeboten wurde, ist ein solcher Vertrauensbeweis, daß mir schwindelig wurde. Latour glaubt an mich, ihm, und nur ihm allein verdanke ich dieses Anerbieten. Es wäre also hart gewesen, abzulehnen…“ „Du hast doch wohl nicht abgelehnt?…“ „Ich sollte übermorgen endgültig Bescheid geben…“ „Hurra… Mach, daß du fort kommst, wir schreiben an Ellen…“ „…telegrafieren an Ellen“, verbesserte Vati. „Wir telegrafieren Ellen und engagieren sie als ‚Kindermädchen’ für mich. O Paps, ich bin ja so froh, so froh.“ „Weil du den alten Brummbär los bist, was?“ „Weil der alte Brummbär Gelegenheit bekommt, zu zeigen, was
er kann, und weil der alte Brummbär das Angebot seines Lebens nicht ausschlagen muß.“ „Und weil der alte Brummbär auch Geld verdienen wird – du, Britta, hier riecht es so komisch, hast du etwas auf dem Feuer?“ „Hilfe“, schrie ich, „die Hammelzungen!“ Die Zungen lagen wie verbrannte schwarze Klumpen in Frau Aubels feinstem Emaillekessel, und die Küche war voller Rauch. „Vati“, sagte ich, „wenn du jetzt einen deiner bekannten RasereiAnfälle bekommst und mich durchhaust, dann erzähle ich es Ellen, und dann kommt sie nicht.“ „Raserei? Durchhauen?“ Vati lachte über das ganze Gesicht. „Wirf die Zungen in den Abfalleimer, zieh dein bestes Kleid an! Wir gehen auswärts essen; das wird unser feinstes Abendessen im Leben!“ „Und unterwegs gehen wir auf das Telegrafenamt!“ „Das kann ich dir sagen! Schnell, spring in die Schale!“ Und ob ich sprang! Ich war so überglücklich, daß ich nicht ein einziges böses Wort zu Rajah sagte, der auf einem Stoß reiner Unterwäsche lag (die ich natürlich in die Schublade hätte legen sollen), und keines zu Bajadere, die ein zusammengerolltes Paar Strümpfe als Spielzeug benutzt hatte. Sie sahen danach aus – „Pfeif drauf“, sagte Vati. „Wir kaufen neue Strümpfe. Sechs Paar sollst du haben.“ „Sei froh, daß ich ein anständiger Mensch bin“, lachte ich, „in der Stimmung, in der du jetzt bist, könnte ich dich bestimmt dazu kriegen, mir eine Nerzstola zu kaufen!“ „Ich werde dich benerzen, du Teufelskind! Bist du fertig, hast du ein sauberes Taschentuch?“ „Ja. Und Kleingeld für ,Damen’ und einen Taschenkamm in der Tasche, und einen Hunger, der dich mindestens einen Tag Wandschmieren kosten wird!“ Dann bekam ich einen Klaps hintendrauf, daß ich in die Höhe hüpfte. Und Vati und ich zogen los nach Paris. Auf dem Telegrafenamt verfaßte mein genialer und sparsamer Vater folgendes Telegramm: „Liebe kleine Ellen, Du bist willkommener als Du ahnst. Kannst Du Dich beeilen und schon am zwanzigsten März hier sein? Wir schreiben morgen. Tausend Grüße Onkel Benno und Britta.“
Als Vati mit seinem Produkt zum Schalter gehen wollte, riß ich es ihm aus der Hand, ergriff ein neues Formular und schrieb: „Herzlich willkommen, möglichst schon am zwanzigsten März, Brief unterwegs, Benno.“ „So“, sagte ich, „nun haben wir neunzehn Worte eingespart. Das reicht sicher für zwei Paar Strümpfe. Wie würde es dir wohl ergehen, leichtsinniger Paps, wenn du mich nicht hättest?“ Es wurde ein herrlicher Abend. Wir gingen in ein Restaurant, das Vati aus einem Führer von Paris herausgesucht hatte. Er hatte es deshalb gewählt, weil dort stand: „Pittoresque“ – malerisch! „Pittoresk“, ja es war „pittoresk“. Es befand sich in einem Keller, der Eingang war mit feuerroten Vorhängen behangen, die vom Boden bis zur Decke reichten. Die Kellnerinnen hatten festliche Landestrachten an, und die Tische und Stühle, die aus dunklem, blankgescheuertem Holz waren, standen an der Wand, da, wo diese in Deckenwölbungen überging. Das Essen war gut, so gut, daß es nicht mehr wahr war. Es war meine erste Begegnung mit der wirklich raffinierten französischen Küche. Ich aß Froschschenkel und nachher ein himmlisches Gericht, das „Cordon bleu“ hieß. Dieses wunderbare Gericht bestand aus Kalbsfilet, das halb durchgeschnitten und mit Schinken und Käse gefüllt war. Dann aß ich flambierte Pfirsiche. Es war furchtbar aufregend, daß ein weißgekleideter Koch an unseren Tisch kam, eine Spiritusflamme anzündete und das Gericht vor unseren Nasen bereitete. Das Lokal war voller Touristen. Überall wurde englisch gesprochen. Hinter mir saßen einige dunkelhaarige und schwarzäugige Leute, die spanisch sprachen, oder vielleicht war es griechisch, was weiß ich? Etwas Unbegreifliches auf jeden Fall. Dann kamen neue Gäste und setzten sich an den Tisch hinter uns. Sie begannen sich zu unterhalten. Vati und ich lächelten einander zu. Sie sprachen dänisch, und sie sprachen so laut und ungeniert, als gäbe es in ganz Paris niemanden, der Dänisch verstünde. Ich trank zum erstenmal in meinem Leben Wein; Vati hatte mir versichert, daß es der leichteste und ungefährlichste Wein auf der ganzen Weinkarte sei. Es war ein herrlicher Abend, und es war unsagbar schön, erwachsen zu sein, und abends mit meinem charmanten und flotten Paps als Kavalier auszugehen. Am folgenden Tag gingen wir auf den Flohmarkt. Es war märchenhaft!
Das einzige, was wir dort nicht sahen, waren Flöhe! Sonst gab es alles Denkbare, und ganz besonders Undenkbare. Ich hatte meine liebe Not, um meinen leichtsinnigen Vater im Zaume zu halten. Ich habe es ihm ausgeredet, als er einen antiken Wandspiegel, eine handgemalte Teekanne (Kostenpunkt 120 Francs!) und einen mexikanischen Ledergürtel kaufen wollte. Aber als es um eine uralte Spieldose und einen verbeulten Kupferkessel ging, ließ er nicht locker. Ja, was gab es dort alles zu kaufen! Selbst wühlte ich in Kisten voll Einzelknöpfe und schrie laut vor Freude, als ich grade den Knopf fand, den ich so dringend für meine neue Jacke brauchte. Omi hatte mir einen Satz alter Zinnknöpfe geschenkt, und ich hatte einen verloren. Ich hätte kaum gewagt, Omi ohne das kostbare Stück unter die Augen zu treten – aber siehe da, der Flohmarkt war die Rettung! Wir aßen in einem winzig kleinen, halbdunklen Lokal auf dem Flohmarkt. Für die Sauberkeit hinter den Kulissen garantiere ich nicht, aber da war eine dicke, gemütliche Wirtin, die anscheinend alle Sprachen verstand und die zu unserem Tisch kam und sich mit uns unterhielt. Und das Essen war herrlich, wie immer in Frankreich. Dann fuhren wir mit dem Bus nach St-Lazare, und mein unternehmungslustiger Vater faßte meine Hand und führte mich zielbewußt Richtung „Au Printemps“ – in das wunderbare, riesengroße Kaufhaus. „Ich brauchte Rasiercreme“, war seine fadenscheinige Begründung. Also mußten wir die Parfümerie-Abteilung aufsuchen. Dort gingen mir die Augen über! Das ganze Erdgeschoß war in kleine Abteilungen aufgeteilt, und jede Abteilung trug einen anderen Namen: Elizabeth Arden – Houbigant – Helen Curtis – Desmoineaux – Rubinstein – all die Namen, die durch weibliche Eitelkeit bekannt geworden sind. Und dieser Duft! Er war einfach berauschend! Vatis Rasiercreme war nur der Anfang. „Wir kriegen doch 20 Prozent Rabatt, wir müssen die Gelegenheit wahrnehmen“, sagte mein unmöglicher Vater. Er holte sich einen Reisescheckkupon, und dann ging es los. Vati kaufte sich einen Koffer für die Reise, und schenkte mir ein paar hochelegante Handschuhe und ein Paar Schuhe, über deren Pfennigabsätze er allerdings den Kopf schüttelte. „Denkst du vielleicht, daß es dein alleiniges Vorrecht ist, leichtsinnig zu sein?“ fragte ich.
„Es ist mein Vorrecht, meine Tochter übers Knie zu legen, merk dir das“, sagte Vati, und gab seinen Kupon ab, damit die Schuhe unter den Einkäufen eingetragen wurden. Oh, was hatten wir für einen schönen Tag! Wenn ich geahnt hätte, wie lange ich von den Erinnerungen an diesen Tag zehren sollte!
Die vernünftige Hälfte „Onkel Benno, Du bist ein Engel“, begann der nächste Brief von Ellen. „Zu denken, daß Ihr mich wirklich braucht! Und ob ich mich Brittas annehmen will, ob ich ihr Paris zeigen will! Ich freue mich so sehr, daß ich nachts kaum schlafen kann. Meine Ferien sollten eigentlich erst am ersten April beginnen, aber ich habe mit Fleiß und List und Genialität meinen Chef dazu gebracht, mich schon am 27. März verduften zu lassen. Also kann ich am achtundzwanzigsten März morgens in Paris sein. Ich werde es wohl eben noch schaffen, Dir rasch Grüß Gott zu sagen, ehe Du zu Deiner südfranzösischen Kirchenkunst abdampfst. Aber ich irre mich wohl nicht, wenn ich annehme, daß Britta auf dem Bahnhof sein wird?“ Nein, darin irrte sich Ellen nicht. Nun war die Reihe an mir, mich zu freuen, daß ich nachts kaum schlafen konnte. Tagsüber hatte ich keine Zeit mehr, mit Vati nach Paris zu fahren, denn jetzt sollte das Haus vor Sauberkeit blitzen. Ein ganzes Haus, auch wenn es noch so klein ist, zum Blitzen zu bringen, ist keine leichte Arbeit, wenn man es fast drei Wochen vernachlässigt hat. Ich erröte noch, wenn ich daran denke, wie wenig ich in der Zeit Staub gewischt und den Boden gesäubert hatte. Ich erinnere mich deutlich, wie steif und trocken das Scheuertuch war, als ich es aus dem Besenschrank hervorholte, und es ist mir eine peinliche Erinnerung, daß ich nicht wußte, wo das Staubtuch war. Aber nun plantschte es in Eimern und sauste in den Wasserröhren, es wurde gefegt und geschrubbt und geputzt, daß es eine wahre Freude war. Ich sang und trällerte den ganzen Tag, ich bemühte mich sogar, andere Speisen zu erfinden als Kartoffelklöße und Kraftsuppe und die ewigen Hammelzungen. Ich hatte Omis Kochbuch als Bettlektüre. Inkens Jungmädchenbuch lag versteckt und vergessen unter dem Kochbuch und den beiden Briefen von Ellen. Die Tage flogen dahin, und ehe wir es uns versahen, stand Vati und packte seine Sachen und sein Malzeug ein. „Es gefällt mir nicht so recht“, sagte Vati. Was ihm nicht so recht gefiel, war, daß sein eigener Zug vom Gare de l’Est eine Stunde früher abging, als Ellens Zug am Gare du Nord ankommen sollte. Er hätte am liebsten mit eigenen Augen gesehen, daß sie gut ankam, ehe er mich verließ. Aber das ließ sich nun nicht ändern. Die Zugverbindung nach der kleinen
südfranzösischen Stadt war nicht so häufig, und am achtundzwanzigsten März mußten er und Latour zu einer wichtigen Besprechung dort sein. „Du bist ein drolliger Pinsel, Paps“, sagte ich, „wenn ich allein mit der Metro von Notre-Dame nach St-Lazare fahre, bist du nicht im geringsten ängstlich. Und mit der Metro von einem Bahnhof zum anderen zu fahren ist doch wirklich nicht schwieriger.“ Vati seufzte. „Es hätte mir besser gefallen, wenn ich Ellen mit eigenen Augen gesehen hätte, ehe ich abreise“, sagte Vater. „Aber eines sage ich dir, Britta, bei der geringsten Schwierigkeit irgendeiner Art telegrafierst du mir, verstehst du?“ „Ich verstehe.“ „Und jetzt hast du Geld für die ersten vierzehn Tage. Ich schicke dir rechtzeitig mehr, damit du nicht verhungerst.“ „Du weißt, zur Not kann ich Katzenkonserven essen“, sagte ich. „Hallo, Rajah, geh weg, willst du vielleicht mit Vati reisen?“ Ich hob Rajah vom Koffer, wo er sich Vatis frisch gebügelte Hemden als Lager ausgesucht hatte. Am nächsten Morgen klingelte der Wecker um fünf Uhr. Ich sprang auf und traf die letzten Vorbereitungen, holte das feine Service von Frau Aubel hervor und schmückte den Tisch mit Blumen, die ich am Abend gekauft hatte. Es sah wirklich hübsch und einladend aus. Während Vati ins Bad ging, zog ich schnell sein Bettzeug ab und legte neues für Ellen auf. Dann zogen Vati und ich mit seinem ganzen Gepäck den bekannten Weg zum Bahnhof. Von St-Lazare nahmen wir ein Taxi zum Gare de l’Est. Ich bemerkte, wieviel tüchtiger Vati mit seinem Französisch geworden war. Natürlich mußte er hie und da nach Worten suchen, aber im großen und ganzen ging es ausgezeichnet, und er schien wirklich zu verstehen, was der Taxifahrer sagte. Ach, wenn ich nur ein Zehntel so tüchtig gewesen wäre! Für mich hörte sich Französisch nach wie vor wie Mesopotamisch an, und ich verstand nie, was die Verkäuferinnen sagten, wenn ich mit Hilfe von fünf oder sechs Wörtern und eifriger Fingersprache Brot oder Obst oder Hammelzungen kaufte. Ich weiß nur, daß ich jedem Satz „Mademoiselle“ anhängte, und ich hatte auch gelernt, daß man niemals „Madame“ oder „Monsieur“ vergessen durfte, selbst wenn man nur guten Tag sagte.
Architekt Latour erwartete uns schon am Eingang des Bahnhofs. Obwohl ich Vati diese Reise und diesen großartigen Auftrag von Herzen gönnte, und obwohl ich wußte, daß Ellen in einer Stunde hier sein würde, kam ich mir doch ein bißchen klein und häßlich vor, als der Zug aus dem Bahnhof rollte und Vatis winkendes Taschentuch kleiner und kleiner wurde. „Kopf hoch, Britta!“ sagte ich zu mir selbst. „Kopf hoch und jetzt zum Gare du Nord!“ Aber ich fühlte mich einsam, wirklich einsam. Ich wußte: wenn mir während der nächsten Stunde etwas zustieß, gab es in ganz Paris keinen Menschen, an den ich mich hätte wenden können. Wie freute ich mich auf Ellen, auf die reizende, liebe Ellen. Praktisch, energisch und rasch ist sie, jemand, dem man sich ganz überlassen kann, jemand, der einen aufmuntert und alles in Ordnung bringt – genau der Mensch, den ich brauchte. Ich saß in der Metro und schaute auf die Uhr. Jetzt waren es nur noch vierzig Minuten, bis sie ankommen sollte. Ein bißchen später waren es nur noch zwanzig Minuten, dann war ich am Gare du Nord und erinnerte mich so deutlich des Tages, an dem wir ankamen. So ganz anders sah er aus, als ich ihn wiedersah… Wie ganz anders war jetzt alles, jetzt, da ich anfing, Paris zu kennen und wo ich mich daran gewöhnt hatte, im Ausland zu leben. Ich löste eine Bahnsteigkarte und ging den Bahnsteig auf und ab, sah auf die Uhr, sah mir die Menschen an, die sich allmählich einfanden. In einem der langen Gänge auf der Metrostation hatte ich einen Veilchenstrauß bei einer Blumenverkäuferin gekauft. Den hielt ich ganz fest, während ich auf und ab ging, auf und ab. Eine Stimme im Lautsprecher. Natürlich verstand ich die Worte nicht. Selbst zu Hause fiel es mir schwer, etwas von Lautsprechern an den Bahnhöfen zu verstehen, aber ich hörte den Namen Cologne – Aix-la-Chapelle, also Köln-Aachen und wußte dadurch, daß es Ellens Zug war, der angemeldet wurde. Und dann kam der Zug. Gibt es etwas Schöneres auf der Welt, als mit Blumen in der Hand auf einem Bahnhof zu stehen, während ein Zug hereinrollt, und zu wissen, daß in diesem Zug ein guter Freund sitzt? Ich durfte nicht zu weit hinausgehen, nur an der Lokomotive und an dem Gepäckwagen vorbei. Ich blieb in der Höhe des ersten Personenwagens stehen, um alle Fahrgäste, die vorbeikamen, im Auge zu haben.
Wie mochte sie angezogen sein? Sicher in Blau. Ellen geht meistens in Blau, das steht ihr am besten zu ihrem blonden Haar. Da! Nein, ich irrte mich, es war eine andere blonde Dame in Blau. Aber da!… nein, es war ein graues Kostüm. Außerdem hatte die Dame ein kleines Kind bei sich. Die Menschen strömten aus dem Zug an mir vorbei. Wie lange es dauerte! Sie würde es doch wohl nicht verschlafen haben, das böse Mädel, und jetzt gerade im Abteil ihr Kleid über den Kopf ziehen? Der Menschenstrom wurde dünner, immer dünner… nun kamen die letzten Nachzügler. Ich preßte das Veilchenbukett in meiner Hand so fest, daß die armen Blumen zerdrückt wurden. War Ellen vielleicht doch an mir vorbeigegangen, ohne daß ich sie gesehen hatte, oder hatte sie sich wirklich verschlafen? Ich ging langsam weiter, an dem leeren Zug entlang, ich schaute in alle Fenster… überall leer. Der Schaffner ging durch den Wagen. Er wollte wohl sehen, ob alle ausgestiegen und ob Sachen liegengeblieben waren. Ein leerer, trauriger Zug mit benutzten Abteilen, mit Apfelsinenschalen auf den Tischen, mit zerknüllten Zeitungen, die auf den Sitzen herumlagen,… ein verbrauchter Zug. Ich sah wohl, gelinde gesagt, ratlos aus, so wie ich da stand mit einem dicken Kloß im Hals. Ein Bahnbeamter sprach mich an. „Je ne comprends pas français, Monsieur“, sagte ich. Er verstand ein wenig Deutsch. Ob er mir irgendwie behilflich sein könnte? „Nein“, sagte ich, „nein. Tausend Dank. Es ist nur… es ist nur meine Cousine, die nicht gekommen ist.“ Er lächelte. „Bestimmt kommt sie mit dem nächsten Zug; von wo sollte sie denn kommen? Aus Dänemark? Vielleicht hatte ihr Zug Verspätung, so daß sie den Anschluß verpaßt hat. Gehen Sie nach Hause, Fräulein, und frühstücken Sie, der nächste Zug über Köln und Aachen kommt zwölf Uhr siebenundvierzig.“ Natürlich, wie dumm war ich! Ellen kam ja von Esbjerg. Sie mußte sowohl in Fredericia als auch in Hamburg umsteigen, klar wie dicke Tinte! Einer der Züge hatte natürlich Verspätung. Ja, ja, so würde sie natürlich mit dem nächsten kommen. Kein Grund zum Heulen, Britta, sagte ich mir. Geh heim zu deinen Katzen und sieh zu, daß du den Frühstückstisch in einen Mittagstisch verwandelst; schlimmer ist das Ganze nicht. Ich fühlte mich aber gar nicht wohl in meiner Haut. Ich hatte ein
abscheuliches Angstgefühl, als ich unter der Erde nach St-Lazare fuhr und mit dem Zug heim nach Colombes. Der Kloß in meinem Hals saß noch da. Ich hatte mich für erwachsen gehalten; doch stand nicht hier ein kleines verängstigtes Schulmädchen mit bebenden Lippen? Mit zitternden Fingern öffnete ich die Tür. Da lag etwas auf dem Boden unter dem Postschlitz. Ein Telegramm! Ach, lieber Gott, laß Ellen mit dem nächsten Zug kommen, lieber Gott, laß es nichts Schlimmes sein! Meine Hände zitterten derart, daß ich kaum das Telegramm öffnen konnte, und es dauerte bestimmt eine Minute, ehe ich lesen konnte, und mehrere Minuten, ehe mir der Inhalt richtig klar wurde. „Ellen Blich hier mit Diphtherie eingewiesen, bittet um baldigste Nachricht, sendet herzliche Grüße, ist verzweifelt über die Situation. Oberschwester, Städtisches Krankenhaus, Esbjerg“ War das wirklich ich, war dies ich? Britta Dieters, die hier saß… mutterseelenallein in einem fremden Land? War es Wirklichkeit? Träumte ich? Nein, ich war sicher krank und phantasierte. Ja, natürlich, ich hatte ja auch phantasiert, als ich Scharlach hatte. Ich hatte damals geträumt, daß ich im Zimmer des Leuchtturmwärters lag und daß ich mich beeilen mußte, in den Leuchtturm hinaufzugehen, weil ich ihn allein zu bewachen hatte. Sicher war es jetzt genauso. Ich lag wohl zu Hause krank in meinem Bett, und gleich würde Omi mit einer Haferschleimsuppe kommen und meinen verrückten Traum verjagen. Allein in einem Haus in Paris… was für ein Unsinn! Uff, wenn nur Omi bald käme! Da plumpste etwas Weiches und Warmes in meinen Schoß. Ein rundes, molliges Katzenköpfchen kuschelte sich in meinen Arm. „Rajah“, flüsterte ich. Rajah begann zu schnurren. „Rajah“, sagte ich wieder etwas lauter. Rajah schnurrte und schnurrte und trippelte mit gespreizten Krallen gegen meinen Mantel. Rajah war Wirklichkeit. Aber wenn Rajah Wirklichkeit war, so war ja alles andere auch Wirklichkeit. Ich war allein, allein im Haus, allein in einer fremden Stadt, allein in einem fremden Land, allein, allein auf unbestimmte Zeit.
Nein. Nicht allein. Ich konnte an Vati telegrafieren. Selbstverständlich. Gleich mußte ich telegrafieren. Das Telegramm würde auf ihn warten, wenn er in Südfrankreich ankam. Und Vati würde mit dem nächsten Zug zurückkommen. Vati würde mich nicht in Colombes allein lassen. Nicht eine Minute länger als nötig. Er würde seine Arbeit aufgeben,… diese Arbeit, über die er so glücklich war, die ihm so unendlich viel bedeutete. Ich hatte ihm ja versprochen zu telegrafieren, wenn irgend etwas fehlginge. Stopp – hatte ich es wirklich versprochen? Ich erinnerte mich genau daran, was Vater gesagt und was ich geantwortet hatte: „Dann telegrafierst du sofort, verstehst du?“ hatte Vati gesagt. Und ich… hatte ich etwa geantwortet: – „Ja, ja, mein Ehrenwort“ oder „Das verspreche ich dir“? Nein, ich hatte lediglich gesagt: „Ich verstehe!“ Ich saß immer noch da… im Mantel und mit Rajah auf dem Schoß. Das Telegramm hielt ich in der Hand. Dann glitten meine Augen zu dem Frühstückstisch, dem schön gedeckten Tisch mit Blumen, Pampelmusen, Butter, Marmelade in kleinen reizenden Schalen, dem hübschesten Tisch, den ich in meinem Leben gedeckt hatte. Diphtherie, wie lange dauert eine Diphtherie? Konnte Ellen vielleicht in einer Woche kommen? Oder mußte sie vielleicht einen Monat lang liegen? Dann fiel ich zusammen wie ein Häufchen Unglück. Der Kloß in meinem Hals wuchs und wuchs, jetzt löste er sich in Tränen auf, die über den Mantel und den weichen Pelz von Rajah herunterkullerten. Natürlich mußte ich telegrafieren. Vati würde mir nie verzeihen, wenn ich es nicht tat. Er würde außer sich vor Wut werden, falls er erfuhr, daß ich ganz mutterseelenallein in einem Lande war, dessen Sprache ich nicht einmal beherrschte, mutterseelenallein in einem Haus, allein, wenn mir etwas zustieße. Er würde den ganzen wunderbaren Auftrag bedenkenlos opfern – Vati war Künstler, jawohl. Aber vor allen Dingen war er Vater. Ja, ich mußte ihm telegrafieren. Ich trocknete die Augen und wusch das Gesicht, stellte den Katzen Essen hin und ging schnell weg. Ich machte alles schnell. Ich wollte weg, ich konnte das leere Haus nicht ertragen, ich wollte hinaus auf die Straße, in die Stadt, ich wollte Menschen sehen, wollte Stimmen hören, wollte nicht so schrecklich allein sein. Und vor allen Dingen wollte ich telegrafieren.
Mindestens dreimal sah ich nach, ob ich die Schlüssel in der Tasche hatte. Nicht auszudenken, wenn ich sie vergaß, die Tür mit einem Schlag zumachte und ausgeschlossen wäre. Schlüssel, Geld, Fahrkarte… alles in Ordnung. Bis zum Telegrafenamt waren es ungefähr zehn Minuten. Erst ging ich flott und zielbewußt, dann langsamer. Ich mußte das Telegramm in meinem Kopf aufsetzen. „Absage von Ellen wegen Diphtherie, was soll ich tun?“ Nein, lieber: „Ellen im Krankenhaus, kann vorläufig nicht kommen…“ Ich war dabei, eine dritte Version aufzusetzen, als ich am Telegrafenamt war. Und dann entdeckte ich, daß drinnen in mir etwas war – – es muß das sein, was man Unterbewußtsein nennt, etwas, das nicht zum fertigen Gedanken geworden war, das nicht durchs Gehirn ging… es war so sonderbar, daß ich es nicht beschreiben kann. Ich stand vor dem Schreibpult, füllte eine Telegrammformular aus und hatte das seltsame Gefühl, in zwei Teile gespalten zu sein. Der eine Teil sehnte sich nach Vati, sehnte sich unbeschreiblich, war einsam und hilflos, der andere Teil führte mir die Hand und ließ mich folgendes schreiben: „Ellen Blich, Stadtkrankenhaus Esbjerg, Du Arme. Gute Besserung, ich schreibe heute, erzähle niemand von Deiner Krankheit, nähere Erklärung im Brief. Mir geht es gut. Herzlichst Britta.“ Ich stand da und malte jedes Wort in Druckbuchstaben; die schreibende Hälfte von mir war so unendlich vernünftig. Denke daran, daß es eine fremde Sprache ist, sagte sie, denk an den französischen Beamten, der dies Telegramm wegschicken soll, schreibe deutlich, Britta. Ich gab das Telegramm ab, sammelte meine beiden Hälften und ging. Kauf Essen ein, sagte die vernünftige Hälfte. Du hast kein frisches Brot. Geh in das kleine Geschäft bei der Station, da haben sie Schwarzbrot, und du kannst ordentliche Scheiben schneiden, dann brauchst du kein Mittagessen zu kochen. Ich tat alles, was die Vernunft sagte. Schreibe gleichzeitig an Ellen, sagte die Vernunft weiter. Wartest du, so änderst du nur deinen Entschluß. Also rasch in den Kiosk, der
Postkarten hatte. Was hieß das nur? Was stand immer auf den Karten – ach ja, jetzt wußte ich es. Carte Postale. Ich bekam die Karte, setzte mich auf eine Bank bei der Station und schrieb. „Liebste Ellen, es tut mir schrecklich leid, ich hoffe innigst, daß Du bald gesund bist und kommen kannst. Ich werde schon mit allem fertig werden. Ehrenwort, daß ich sehr vorsichtig bin und keine Dummheiten mache. Vati muß Ruhe für seine Arbeit haben, er darf nicht erfahren, daß ich allein bin. Und Du darfst um alles in der Welt kein Wort an Omi schreiben oder an Tante Birgit. Sie müssen glauben, daß Du bei mir bist. Schreib, sobald Du kannst. Wirklich, Ellen, Du brauchst Dich nicht um mich zu sorgen. Ich bin sehr vorsichtig, ich schreibe jetzt gleich einen Zettel, den ich in meine Tasche lege, einen Zettel mit Vatis Namen und seiner neuen Adresse, im Fall, daß irgend was mit mir passieren sollte. Gute Besserung, liebe Ellen. Es ist wirklich wahr, daß ich fertig werde. Sei nicht in Sorge um Deine Britta.“ Als die Karte in den Postkasten fiel, empfand ich etwas wie eine Befreiung. Die Würfel waren gefallen. Ich war sechzehn Jahre alt und kannte vielleicht hundert Worte von der Sprache des Landes, in dem ich jetzt für unbestimmte Zeit allein war. Beinahe wäre der Kloß im Hals wiedergekommen, jetzt war ich tatsächlich über mich selbst gerührt. Ich war doch unbeschreiblich lieb, daß ich dies alles für Vatis Kunst tat! Einmalig lieb war ich! Noch stand ich vor dem Postkasten. Die Vernunft verschwand immer mehr, und der Kloß wuchs und wuchs. Als ich mich auf den Heimweg machte, hatte ich eine waschechte Märtyrerstimmung aufgearbeitet. Allerdings vergaß ich sie einen Augenblick, als ich zum Fischgeschäft kam. Ich mußte ja für die Katzen einkaufen. Ja, und dann war es Brot – und als alles erledigt war, konnte ich mich wieder auf mein Martyrium und meinen eigenen einzigartigen Opferwillen konzentrieren. Oh, war ich doch ein guter Mensch! Der Gedanke an meine eigene Prächtigkeit war so rührend, daß ich beinahe weinen mußte, aber gleichzeitig so erhebend, daß er die Tränen wegwischte, bevor sie richtig ins Rollen kamen.
In dieser wehmütigerhobenen Stimmung kam ich nach Hause und setzte den Katzenfisch auf das Gas.
In den Tuilerien Hinterher kann man leicht über alles lachen, aber als ich damals so mutterseelenallein im Haus saß, war das wirklich schrecklich. Ich war vorher niemals allein gewesen. Immer hatte ich jemanden, den ich um Rat oder Hilfe fragen konnte, immer jemanden, der mich betreute, jemanden, mit dem ich meine Sorgen und Freuden teilen konnte. Ich saß in der Stube und blickte stumpfsinnig auf den gedeckten Tisch. Auf dem einen Platz lagen Brotkrumen, die Reste einer hastigen Brot- und Buttermahlzeit. Die eine Kaffeetasse war gebraucht, auf dem Tischtuch war Kaffee verschüttet. In der Küche stand unaufgewaschen der Topf mit dem Katzenessen; ich hatte nicht das geringste an Hausarbeit getan. Weshalb auch? Ich hatte ja niemanden, für den ich es tun mußte. Es war also völlig gleichgültig, ob aufgeräumt wurde. Die Katzen bekamen regelmäßig zu essen und zu trinken, ihre Näpfchen wurden ausgewaschen… An diesem ersten Tag und den folgenden Tagen. Das war aber auch alles. Die Katzen – ja, jetzt segnete ich sie. Ohne sie wäre ich vor Einsamkeit umgekommen. Ich hatte lange gesessen und nur vor mich hingestarrt, allein und unglücklich. Allmählich trafen meine Augen die von Bajadere. Sie saß auf dem Sofa in erhabener Ruhe, wie nur eine Katze sitzen kann. Ihre Augen waren auf mich gerichtet. Diese einmalig schönen, dunkelblauen Siamesenaugen, mit dem fernen, unergründlichen Blick. Diese unsagbare Ruhe, dieses merkwürdige Gleichgewicht eines solchen Katzenblickes. „Bajadere“, flüsterte ich. Sie blinzelte, dann kam ein freundliches, kleines Miauen, das merkwürdige, heisere Miauen der Siamesen; elegant und lautlos glitt sie auf ihren Samtpfötchen das Sofa entlang und kam mit einem federleichten Sprung auf meinen Schoß. Wie schön ist so ein Tier! Darüber hatte ich früher nie nachgedacht. Jetzt aber sah ich es: das Spiel der Muskeln unter dem dünnen feinen Fell, die sicheren und leichten und eleganten Bewegungen. Plötzlich erinnerte ich mich an ein Zitat in einem Tierschutzkalender, den Inken mir einmal zu Weihnachten geschenkt
hatte. Unter dem Bild einer Katze stand ein Zitat von dem Dichter Johannes V. Jensen: „In den echten Katzen hat die Natur eine so vollendete Form geschaffen, daß sie nicht weiter damit hat machen können, außer dem Vergrößern; von der Hauskatze über die Wildkatze und den Leoparden führt der Weg unverändert bis zum Königstiger.“ Ja – so saß ich an meinem ersten einsamen Abend und philosophierte über die Schönheit der Katzen, und war mir durchaus nicht bewußt, daß ich zum allerersten Mal in meinem Leben einen Abend damit verbrachte, überhaupt über etwas nachzudenken. Am nächsten Tag fuhr ich ohne Ziel und ohne Zweck nach Paris. Ich lief in der Sonne die Straßen entlang, sah in die Schaufenster und ließ mich treiben. An der Ecke duftete es herrlich nach Schmalzgebackenem. Ich blieb stehen. Hinter einem kleinen Tisch wirtschaftete eine dicke Frau auf zwei Kochplatten mit Teig, Zucker und Marmelade. Sie buk auf Bestellung hauchdünne Eierkuchen und echte Berliner Pfannkuchen. Ja, da war etwas anderes als die Stände mit Austern und anderem seltenen Seegetier. Vater konnte stehenden Fußes fünf bis sechs Austern schlürfen. Mir jedoch gefielen Eierkuchen und Berliner besser. Ich stand auf dem Gehsteig und verspeiste einen warmen Eierkuchen mit Marmelade. Er kostete sechzig Centimes, das schien mir ein billiger Lunch. Ich kaufte einen Beutel voll Berliner; damit war das Essenproblem für diesen Tag gelöst. Außerdem hatte ich beim Einkauf mit einem Menschen gesprochen, ich hatte meine eigene Stimme gehört, allerdings stotternd und sicherlich sehr unkorrekt, aber ich hatte doch Worte mit jemandem gewechselt und ein Lächeln von einem Menschen bekommen. Es war früh am Tage. Was sollte ich bloß mit der Zeit anfangen? Gewiß, in Paris gab es eine Menge zu sehen, und ich fand mich schon ganz gut zurecht. Aber so allein? War es nicht witzlos, in eine Kirche zu gehen oder ein Museum zu besuchen, wenn man nicht einen anderen Menschen hatte, mit dem man sich darüber freuen konnte? So schlenderte ich weiter, die Straßen entlang, bis ich müde wurde. Ich setzte mich einen Augenblick auf eine Bank; dann nahm ich mir vor, zur nächsten Metrostation zu gehen, mich in den ersten besten Zug zu setzen und zu schauen, wo er mich hinführte. Ich zwang mich selber, nicht nach den Stationsnamen zu
schauen. Jetzt bleibe ich sitzen, bis eine rothaarige Dame zusteigt, dachte ich. Das bedeutet, daß ich an der nächsten Haltestelle aussteigen soll, dann werden wir mal sehen, wo ich bin! Ich schaute auf alle Damen, die hereinkamm. Da war ein rothaariges Kind… nein, das galt nicht, es sollte eine rothaarige Dame sein. Da kam eine! Mit einer haushoch toupierten leuchtend roten Frisur. So stieg ich an der nächsten Haltestelle aus, ging mit gebeugtem Kopf, damit ich den Stationsnamen nicht lesen konnte. Ich ging mit dem Menschenstrom nach oben. Als ich durch die Sperre war, hob ich voller Spannung den Blick. Ich befand mich auf der Eisenbahnstation St-Lazare! Zehn Minuten später saß ich in dem mir wohlbekannten Zug nach Colombes. Die Blumen waren verwelkt, die Blumen auf dem gedeckten Tisch. Ich legte die Berliner auf den Teller, der vor Ellens Platz stand, ich wärmte Büchsenmilch und machte mir einen Kakao. Nun lagen Krümel auf beiden Seiten des Tisches und beide Tassen waren benutzt. Ich gebrauchte nicht viel Geschirr, aber wenn man nie abwäscht, türmt es sich am Ende doch in der Küche. Wenn man nie Staub wischt, kriegt die ganze Wohnung bald einen Hauch von Grauheit und Schmuddeligkeit. Außerdem war es kalt. Ich hatte keine Lust zu heizen. Am Vormittag wärmte die Sonne, und am Nachmittag schaltete ich den elektrischen Ofen ein. Im Wohnzimmer wurde es dann einigermaßen warm, aber die anderen Räume waren kalt und ungemütlich. Jetzt, später, schäme ich mich. Wozu hätte ich all diese Tage verwenden können! Ich hätte putzen und waschen und das Haus in einen tadellosen Zustand bringen können. Ich hätte viele Stunden am Tag Französisch lernen können, hätte Sacré Cœur und La Madeleine besuchen und in eine Menge Museen gehen können, Zoologische Gärten besuchen, die schönen Parks ansehen, auf den Eiffelturm oder nach Versailles fahren. Nein, nicht nach Versailles, dahin wollte ich nur mit Vati oder Ellen gehen. Aber ich tat gar nichts. Ich bummelte die Straßen entlang. Ich fuhr Metro, kaufte ein bißchen Essen und hatte Mitleid mit mir selbst.
Da kam ein Brief von Vati. Ihm ging es wunderbar, er war schon tüchtig an seiner Arbeit, die herrlich und interessant war. „Und wie geht es Euch, wie gefällt es Ellen in Colombes? Was hat sie Dir nun von Paris gezeigt?“ O weh, diese Frage war schlimm. Nun mußte ich ja Vati antworten, und ich wollte so furchtbar ungern lügen. Unter allen Umständen würde er rasen vor Wut, wenn er die Wahrheit erführe. Und wenn ich dann obendrein gelogen hätte – ja dann wagte ich kaum, mir auszumalen, was passieren würde! So schrieb ich nur eine Karte, aus Angst, daß ich mich in einem Brief verraten oder lügen würde. Zwischen jedem Satz kaute ich an dem Kugelschreiber. „Mein allerliebster Paps, tausend Dank für Deinen Brief. Wie fein, daß Du so viel Freude an Deiner Arbeit hast. Hier geht alles ausgezeichnet, das Wetter ist so strahlend, wie man es sich nur wünschen kann. Und Paris schöner denn je. Denk nur, die Krokusse gucken schon in all den Parks hervor, und an manchen Stellen gibt es sogar kleine Veilchen. Ich kann Dich von den Tauben grüßen, die ganz begeistert von allen Brotresten sind. Du, Paps, warum hast Du mir nie erzählt, daß man Pfannkuchen in kleinen Buden auf dem Gehsteig kaufen kann? Du weißt doch, wie gern ich sie esse. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie gut sie schmecken, und außerdem sind sie billig. Schreib bald wieder und erzähl mir von Deiner Arbeit. – Tausend Millionen Grüße von uns aus Colombes.“ Daß ich mit „uns“ die Katzen und mich meinte, war vorläufig mein privates Geheimnis. Wenn Vati glaubte, daß ich damit Ellen und mich meinte, so war das seine Sache. Am nächsten Tag kaufte ich ein Kilo Erbsen und fuhr damit zu den Tuilerien. Tauben füttern machte Spaß, und auf diese Weise konnte ich sicher ein oder zwei Stunden totschlagen. Die Sonne strahlte auch heute. Sicherlich würde der Mantel zu warm werden. Ich zog deshalb mein Kostüm mit der hübschen weißen Bluse an. Es war allerdings kühler, als ich gedacht hatte. Aber wenn ich eine Bank im Sonnenschein fand, würde es schon warm genug sein. So war ich jetzt wieder in den Tuilerien, aber dieses Mal war alles viel schöner als das erste Mal, weil schon Blumen hervorlugten
und weil die Bäume einen kleinen Ansatz von Grün zeigten. Daß es in Frankreich so viel Tauben gab! Sie saßen aufeinander, saßen in Reihen, schwirrten um mich herum, mopsten die Erbsen gleich aus der Tüte und zerrissen das Papier, diese gierigen Geschöpfe! Oh, wie war das schön! Morgen wollte ich mindestens drei Tüten kaufen, zum Glück waren die Erbsen billig. Nein, solche Vielfraße! Alles war im Nu aufgefuttert, ich saß mit leeren Händen und zerknittertem Papier da. Aber ich konnte mehr holen. Es war ja gar nicht weit zu dem Magasin Louvre. Dort gab es bestimmt eine Lebensmittelabteilung. Aber es kam anders! Am Ausgang kutschierten wieder Kinder in einem Eselswagen herum, und nicht weit davon standen angebunden vier oder fünf kleine Esel. Ich liebe Pferde sehr, und Esel gehören ja zur gleichen Familie. Ein kleiner Esel rieb seinen Kopf an meiner Schulter. Das rührte mich, und ich klopfte ihm das weiche Fell. Ich hatte nicht gesehen, daß der Eselsführer mit einem Wagen voll kleinen Passagieren zurückgekommen war. Ich hörte nur jemand rufen. Erschrocken blickte ich auf. Kein Zweifel, ich war gemeint! „Excusez, Monsieur, je ne comprends pas français“, sagte ich. Dieser Satz kam mir unglaublich fließend von den Lippen. Er sah mich an und sah schon nicht mehr so böse aus. „Anglaise?“, fragte er. „Non, Allemande“, antwortete ich. „Sie dürfen den Eseln keinen Zucker geben“, sagte der Eselstreiber in einwandfreiem Deutsch. Da lächelte ich überglücklich, erstens weil ich ein gutes Gewissen hatte und zweitens weil ich meine Muttersprache hörte. „Ich habe ihnen keinen Zucker gegeben“, sagte ich. „Ich habe sie nur gestreichelt. Besonders den kleinen hellgrauen hier, dem ich anscheinend gefalle. Ich habe Esel und Pferde so furchtbar gern!“ Der Eselstreiber lächelte. „Entschuldigen Sie, daß ich so grob war“, sagte er. „Ich muß nämlich wie ein Schießhund aufpassen, daß die armen Tiere nicht mit Zucker vollgestopft werden. Sie könnten davon krank werden.“ „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen“, lachte ich. „Ich verstand nämlich kein Wort. Sind es Ihre Esel?“ „Nein, eigentlich nicht, aber ich bin verantwortlich für sie. Es ist
mein Ferienjob.“ „Ach, jetzt verstehe ich!“ „Was verstehen Sie?“ „Sie sprechen so ausgezeichnet gut Deutsch. Sicher sind Sie Student, haben in Deutschland studiert und haben diesen Job während der Sommerferien.“ „Ziemlich gut geraten“, lächelte der Eselstreiber. „Und jetzt will ich auch raten: Deutsches junges Mädchen, das gern nach Paris wollte, hat in einer französischen Familie einen Job als Kindermädchen angenommen und heute seinen freien Tag. Stimmt das?“ „Ja“, lachte ich. „Eines stimmt. Ich bin ein deutsches junges Mädchen, alles andere ist vollkommen verkehrt.“ „Tatsächlich? Verzeihung, mich geht es natürlich nichts an. Es war nur, weil Sie…“ „Nun bitten Sie schon wieder ohne den geringsten Grund um Entschuldigung. Viel eher muß ich mich entschuldigen, weil ich hier stehe und Sie aufhalte.“ „Das tun Sie gar nicht. Es ist gerade Geschäftspause, Lunchzeit. Da sind die reitlustigen Kinder etwas seltener. Es macht Spaß, wieder deutsch zu sprechen.“ „Wem sagen Sie das? Ich war ja auf dem besten Wege, meine Muttersprache zu vergessen!“ „Nun sagen Sie, wenn Sie nicht Französisch verstehen und Deutsch nicht sprechen, was sprechen Sie dann eigentlich so für täglich?“ „Fingersprache“, lachte ich. Im selben Augenblick wurde mir klar, daß ich seit vier Tagen nicht gelacht hatte… in den vier Tagen, seit Vati abgereist war. „Fingersprache in den Läden, und sonst rede ich überhaupt nichts.“ „Ein ziemlich stilles Dasein“, meinte der Student. „Das stimmt, ich bin völlig allein, in einem ganzen Haus, ganz allein in Frankreich.“ „Entschuldigen Sie, aber falls Ihre Eltern das erlaubt haben – “ „Ssss, Vati hat keine Ahnung, und eine Mutter habe ich nicht.“ „Ja, aber ich begreife nicht – “ Er stotterte und errötete. „Was begreifen Sie nicht?“ „Nun, das geht mich wirklich nichts an. Entschuldigen Sie vielmals. So, nun bitte ich schon das dritte Mal um Entschuldigung.“ „Was wollten Sie mich denn fragen?“
„Ich wollte gar nichts fragen. Ich meinte nur, ob es Ihnen recht ist, wenn ich hier mein Butterbrot esse. Ich muß die Zeit ausnützen, solange keine Kunden kommen.“ „Guten Appetit, essen Sie nur.“ Er öffnete ein großes Butterbrotpapier. Es war richtiges Butterbrot, Scheiben mit Aufschnitt nach deutscher Art. Ordentliches Schwarzbrot war es. Er sah vielleicht meinen Blick, denn er lachte und hielt mir das Paket hin. „Möchten Sie ein Stück? Mit echter deutscher Wurst?“ „Ja, aber ich will Sie nicht berauben.“ „Oh, ich habe massenhaft. Mutter macht mir immer viel zuviel zurecht. Langen Sie ruhig zu. Ich habe übrigens zu Hause die Butterbrote eingeführt. Hier kennt man das nicht.“ Ich nahm also ein Stück. Es schmeckte großartig. Vor allen Dingen war es gemütlich, beim Essen wieder einmal Gesellschaft zu haben. „Sie wollen aber doch nicht sagen, daß Sie hier ganz allein sind?“ fragte er ungläubig. „Doch“, sagte ich, „Sie sind der erste Mensch, mit dem ich seit vier Tagen rede, und ich glaube beinahe, daß Sie mir meinen Verstand gerettet haben.“ „Na, jetzt bin ich aber wirklich neugierig. Im übrigen, wenn wir schon zusammen auf einer Bank sitzen und Butterbrote essen, könnten wir uns eigentlich verraten, wie wir heißen. Ich heiße Pierre Henriques.“ „Und ich heiße Britta Dieters.“ „Britta, dann sind Sie bestimmt aus Norddeutschland.“ „Ja, und zwar vom allernördlichsten Ende“, sagte ich, „ich bin von einer Insel und bin so norddeutsch, daß ich um ein Haar Dänin bin.“ „Und so ein kleiner Insulaner läuft allein durch Paris… ohne Französisch zu können und ohne daß der Vater es weiß! Wo ist denn Ihr Vater?“ „In Südfrankreich, er restauriert mittelalterliche Fresken - “ Und dann erzählte ich ihm den ganzen Zusammenhang. Er hörte mit offenem Mund zu. „Hat man je so etwas gehört! Aber Sie armes kleines Tierchen, werden Sie denn allein fertig?“ „Ach… jawohl“, sagte ich, und meine Stimme klang sehr munter. „Es geht ganz gut.“
„So, so“, sagte Pierre und war mit einemmal sehr nachdenklich. „Im Grunde genommen muß es ja schön sein, den ganzen Tag zur Verfügung zu haben! Was können Sie alles anschauen und tun! Wenn ich nur einmal so viel Zeit für mich hätte. – So, jetzt kriege ich Kundschaft – wie schade.“ Plötzlich standen fünf Kinder da. Vier, die fahren wollten, und ein größeres, das reiten wollte. „Du mußt ein bißchen warten“, sagte Pierre zu dem Reitlustigen. Das heißt, ich vermutete, daß er so etwas sagte. Jedenfalls hörte ich das Wort „attendez“. „Geben Sie ihm doch den kleinen Hellgrauen, dann führe ich ihn“, sagte ich. „Wir gehen direkt hinter Ihnen und dem Wagen.“ „Ja, aber – “ „Im Ernst, mir macht es Spaß, und es ist gleichzeitig ein Dank für das schöne Butterbrot.“ „Okay. Wenn Sie wirklich wollen!“ Der Junge wurde in den Sattel gehoben und bekam einen Riemen um den Leib, dann gingen wir langsam und vorsichtig durch die Allee, direkt hinter dem Wagen, den Pierre führte. Als wir zurückkamen, legte die Mutter des jungen Reiters einen Franc in meine Hand. Ich suchte nach Kleingeld, das Reiten kostete ja nur sechzig Centimes. Aber die Dame winkte ab. Ich lächelte, und hatte das schwache Gefühl, daß sie die Worte „pour vous“ gesagt hatte, „für Sie“. Sie ging mit ihrem Jungen davon, und ich stand da mit meinem Franc. Ich gab ihn Pierre weiter. „Da können Sie sehen, wie sehr es sich für einen weiblichen Assistenten lohnt – vierzig Centimes Trinkgeld.“ „Die gehören Ihnen, es ist ja Ihr Job, nicht meiner. Ich hatte nur mein Vergnügen dabei!“ Plötzlich mußte ich niesen. „Da! Jetzt haben Sie sich auf der Bank erkältet! Sie sind sicherlich dünn angezogen.“ Pierre hatte recht. Die Sonne verschwand hinter einer Wolke, ich fror und nieste dreimal hintereinander. „Schauen Sie, daß Sie nach Hause kommen. Ich will nicht schuld sein, daß Sie eine Lungenentzündung bekommen. Wo wohnen Sie denn?“ „In Colombes“, sagte ich. „Hatschi!“ „Kommen Sie wieder?“
„Wenn ich darf.“ „Klar, daß Sie es dürfen! Es ist lange her, daß ich eine so nette Gesellschaft hatte. Um diese Tageszeit habe ich fast immer eine kleine Pause. Warten Sie einen Moment! Holen Sie in der Apotheke ein paar Grippetabletten. Ein Momentchen!“ Er zog einen Bleistift hervor und kritzelte etwas auf ein kleines Blatt Papier. „Diese hier sind sehr gut. Und trinken Sie zu Hause sofort etwas Warmes!“ Wenn mich nicht so gefröstelt hätte, wäre ich strahlender Laune gewesen. Heute war das Schicksal lieb zu mir gewesen. Sehr lieb! Es hatte mir Pierre gesandt und die süßen, kleinen, grauen Esel. Pierre, der meine Sprache sprach und der richtige deutsche Butterbrote aß. Morgen wollte ich wieder zu ihm gehen. Ich war artig und gehorsam und ging unterwegs in eine Apotheke. Zu Hause nahm ich zwei Tabletten, fühlte mich aber trotzdem nicht recht wohl. Ich wollte fix mit einer Tasse warmen Tee ins Bett gehen, sobald ich die Katzen versorgt hatte. Eine Stunde später lag ich im Bett mit Wollschal um den Hals, Strickjacke und Tee, mit einer wärmenden Katze auf den Beinen und einer anderen auf dem Bauch – und hatte ganz vergessen, daß ich zu Mittag nichts gegessen hatte. Dann besann ich mich auf Inkes Jungmädchenbuch, holte es hervor und las ein paar Seiten. Die Geschichte eines neunzehnjährigen Mädchens, das durchaus in die Welt hinaus wollte und das eine Stellung in London suchte… Aber bevor es die Stellung bekommen hatte, fiel mir das Buch aus der Hand, und ich schlief ein.
Ein Freund, ein Buch und eine Erkältung Am nächsten Morgen fühlte ich mich ein bißchen besser. Der Kopf war noch etwas schwer, und ich putzte elfmal die Nase, aber ich fror nicht so schrecklich wie gestern, und ich hatte nicht länger den unangenehmen, trockenen Geschmack im Mund. Ich war mordshungrig und holte mir schnell im Geschäft an der Ecke ein Brot. Auf dem Tisch lagen immer noch die Reste vom Frühstück neulich. Jetzt fing ich an, mich umzuschauen. Pfui Teufel, wie sah es aus! Überall Schmutz und Staub. Verbrauchte Luft, schmutziges Geschirr in der Küche. Nein, jetzt mußte ich mich wirklich zusammennehmen und aufräumen! Da plumpste etwas durch den Postschlitz. Eine Karte von Vati und ein dicker, mit Bleistift geschriebener Brief von Ellen. Vati schrieb mir nur einen herzlichen Gruß und erzählte, daß er den ganzen Tag gearbeitet hatte. Es war noch viel interessanter, als er geglaubt hatte… beim Bürgermeister war er zum Mittagessen eingeladen gewesen. Und wie mochte es uns gehen? In einer Woche wollte er Geld schicken, so lange würden wir wohl durchkommen. „Ach ja, nicht wahr“, sagte ich zu den Katzen, „nicht wahr, Geld haben wir noch genug?“ Die Katzen blinzelten mit den blauen Augen und setzten ihre Morgenwäsche fort. Dann las ich Ellens Brief. „Liebste Britta! Endlich hat der Arzt mir erlaubt, Dir einen Brief zu schreiben, und die Schwester hat versprochen, den Brief zu desinfizieren, damit Dir beim Lesen keine Diphtheriebazillen ins Gesicht hopsen. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie verzweifelt ich war, als ich einen Tag vor der Abreise den Arzt rufen mußte! Gräßliche Halsschmerzen hatte ich schon ein paar Tage lang gehabt. Aber ich wollte unbedingt reisen, selbst auf die Gefahr hin, daß ich zwei oder drei Tage bei Dir hätte krank liegen müssen. Die Hauptsache war, daß Du nicht allein warst. So stand ich und packte den Koffer, die Schmerzen wurden immer schlimmer. Und dann entdeckte ich im Spiegel, daß mein Hals an beiden Seiten dick geschwollen war, und als ich hineinguckte, entdeckte ich die weißen Beläge im Rachen. Atembeschwerden hatte ich auch. Dann mußte ich wohl oder übel den Arzt rufen. Der schickte mich sofort ins Krankenhaus. Da konnte
ich kaum sprechen, ich brachte es grade noch fertig, der Schwester einen Zettel mit Deiner Adresse in die Hand zu drücken, damit sie Dir telegrafierte. Und dann kamen ein paar scheußliche Tage. Jetzt ist die Schwellung zurückgegangen und die Schmerzen auch, aber ich bin ganz schachmatt; die bösen Tierchen tummeln sich in meinem Hals. Ein Abstrich, der gestern gemacht wurde, ist blühend positiv. In zwei Tagen soll ein neuer gemacht werden. Wenn drei Proben negativ sind, darf ich wieder unter Menschen, und ich brauche Dir wohl nicht zu sagen, daß ich dann sofort in den Zug springe. Ich danke Dir herzlich für Deine Karte. Es war lieb von Dir, mir sofort zu schreiben. Dank auch für das Telegramm. Nein, ich werde Deiner Omi kein Wort schreiben, das verspreche ich. Aber, Britta, ich sorge mich sehr um Dich. Mir bricht der Schweiß aus, wenn ich daran denke, daß Du da unten ganz allein bist. Britta, bitte versprich mir ehrenwörtlich, daß Du am Abend nicht allein ausgehst. Und nimm Dich bitte vor Taschendieben in acht. Nimm niemals zu viel Geld mit, wenn Du ausgehst. Sprich nie mit fremden Menschen. Wie geht es denn mit der Sprache? Wie lange bist Du jetzt in Frankreich? Sehr viel kannst Du in der Zeit ja nicht gelernt haben, obwohl es erstaunlich ist, wie leicht man zurecht kommt, wenn man dazu gezwungen ist. Wäre es nicht doch richtiger, Du schriebest Deinem Vater? Ich kann es ja nicht tun; ich weiß nicht einmal seine Adresse, und außerdem würde ich es nicht hinter Deinem Rücken tun. Kannst Du mir nicht täglich ein paar Worte schreiben? Nur kurz auf einer Karte, damit ich weiß, wie es Dir geht. Eine einzige erfreuliche Sache habe ich zu berichten: Mein Chef hat mir geschrieben, daß er die Geschichte als Krankheit und nicht als Urlaub betrachtet. Mein Urlaub fängt an dem Tag an, wo ich hier entlassen werde. Jetzt hat die Schwester schon zweimal den Kopf durch die Tür gesteckt und mir verboten, weiterzuschreiben. Ich muß schließen. Tausend Grüße, hoffentlich kann ich bald kommen. Deine unglückliche alte Ellen.“ Staub und Abwasch hatten Zeit. Ich mußte sofort an Ellen schreiben. Ich schob die Tasse zur Seite; es war noch etwas Kaffee darin, und der schwappte über das feine Tischtuch. Ich setzte mich hin und schrieb. Ich tat sehr optimistisch und beruhigte Ellen in bester Weise. Ich erzählte von den Eseln und Pierre, und merkwürdigerweise war
über die paar kurzen Vormittagsstunden soviel zu erzählen, daß der Brief vier volle Seiten lang wurde. Dann verfaßte ich eine der schwierigen Karten an Vati, auf denen ich es vermied, ich oder wir zu sagen, und die meisten Sätze mit „es ist“ begannen. Schrieb ich doch mal „wir“, so machte ich es so, daß ich es verantworten konnte, daß es die Katzen und ich bedeuten könnte. Inzwischen war es elf Uhr geworden. Keine Rede von Abwaschen und Aufräumen… ich mußte mich rasch anziehen und in die Tuilerien fahren. Diesmal zog ich lange Hosen an, eine warme langärmelige Bluse und einen dicken, hochgeschlossenen Wollpullover, und tat ein Wolltuch um den Hals. Jetzt konnte niemand behaupten, daß ich nicht warm genug angezogen sei. Außerdem: wenn ich hoffentlich wieder die Esel mit den kleinen Kindern führen durfte, waren lange Hosen und Pullover am praktischsten. Ich folgte Ellens Rat und steckte nur ein paar Francs in die Tasche. Im Brustbeutel hatte ich ja mehr, und diesen Beutel trug ich immer bei mir. Darin lagen auch die Reserveschlüssel zur Haustür. Denn ich hatte eine panische Angst, mich einmal selbst auszuschließen. Den Kuchen, den ich für Ellens Ankunft gebacken hatte, packte ich ein. Zum Glück war es ein Sandkuchen nach Omis wohlerprobtem Rezept, ein Kuchen, der nur besser wird, wenn er ein paar Tage liegt. Sicherheitshalber zwei Taschentücher – nachsehen, ob das Gas abgedreht und die elektrischen Stecker ausgezogen waren – kein Zweifel, daß ich ungeheuer vernünftig war, obwohl ich Vatis Tochter bin. Vielleicht lag es daran, daß ich auch Muttis Tochter bin. Gar nicht davon zu reden, daß ich Omis Enkelin bin! Bei Pierre stand eine Schlange von kleinen Kunden. Er kam gerade mit einem vollen Wagen zurück. „Guten Morgen, Pierre, brauchst du Hilfe?“ „Morgen, Britta, ja ich brauchte sie schon, aber – “ „Kein Aber. Ich habe mich so gefreut, dir zu helfen.“ „Dann bin ich natürlich sehr dankbar, du siehst ja, wie es heute zugeht.“ Zwei kleine Mädchen wollten reiten. Eine wurde auf meinen Freund, die kleine hellgraue Eselin Bijou, gesetzt.
Wir gingen Seite an Seite, ich mit Bijou, und Pierre mit einem großen dunkelgrauen Esel. „Was macht deine Erkältung?“ fragte Pierre. „Ach, besser! Es waren feine Tabletten, die du mir aufgeschrieben hast.“ Plötzlich wurde ich rot. „Ach, entschuldige, ich hatte nicht vor, dir du zu sagen. Nur zu Hause, bei uns auf der Insel – “ Pierre lacht. „Ich finde das riesig gemütlich, Britta. In Deutschland haben wir Studenten uns auch schnell geduzt. Wie alt bist du übrigens?“ „Sechzehn, bald siebzehn“, sagte ich mit einer sehr großzügigen Behandlung der Wahrheit. „Und ich bin zwanzig. Da können wir uns doch gut duzen.“ „Warst du lange in Deutschland?“ fragte ich. „Ein Jahr. Es kam durch einen Zufall. Ich lernte voriges Jahr hier einen jungen Deutschen kennen. Er wollte so gern in Frankreich studieren, und ich hatte Lust, nach Deutschland zu gehen. Er wohnte dann bei meiner Mutter und ich bei seinen Eltern.“ „Wo war das?“ „In Darmstadt. – Aber jetzt weiß ich nicht, was wird, denn jetzt ist er wieder in Deutschland, und ich gehe hier und führe Esel.“ „Ja, du wirst doch wohl weiter studieren. Bist du Mediziner?“ „Nein, weit entfernt. Wie kommst du darauf?“ „Ich dachte bloß, weil du mir gestern die Tabletten aufgeschrieben hast.“ Pierre lachte. „Ach, so! Das waren ganz gewöhnliche Erkältungstabletten, die man ohne Rezept bekommt. Ich schrieb dir lediglich den Namen auf, damit du ihn nicht vergaßest. Nein, ich habe auf der Technischen Hochschule studiert. Ich wollte eigentlich Ingenieur werden.“ „Und willst du das nicht mehr?“ „Nein, am allerliebsten würde ich Pilot werden, wenn ich dazu genügend Geld zusammenkratzen kann, und wenn ich in der Verkehrsfliegerschule in Bremen aufgenommen werde.“ Da tat mein Herz einen Sprung. „Bremen? Bremen? Willst du nach Bremen?“ „Ja, wenn es sich auf irgendeine Weise machen läßt. So, da sind wir! Die Kinder haben im voraus bezahlt, Britta. Denk übrigens daran: Kinder, die ohne Eltern oder Kindermädchen kommen,
müssen vorausbezahlen, sonst riskieren wir, daß sie plötzlich wie vom Erdboden verschwunden sind.“ Die beiden neuen Reiter warteten schon! Wir machten dieselbe Tour und plauderten weiter. Ich fragte, warum er durchaus nach Deutschland wollte, um Pilot zu werden; das müßte doch in Frankreich auch möglich sein. „Selbstverständlich“, antwortete Pierre. „Aber ich habe verschiedene Gründe. Erstens fühle ich mich in Deutschland wohl, zweitens hat die Schule in Bremen einen außerordentlich guten Ruf, drittens lerne ich gleichzeitig Deutsch. Viertens ist die Ausbildung gratis, so daß ich nur für Essen und Wohnen Geld brauche.“ „Aber Deutsch kannst du doch schon ausgezeichnet.“ „Ach, ich stolpere oft in der-die-das; das mußt du doch gemerkt haben.“ Das hatte ich allerdings, aber was spielte es für eine Rolle, ob er „das“ Esel oder „der“ Butterbrot sagte, ich verstand ihn ja ausgezeichnet. „Schön wäre es, wenn du nach Bremen kämst. Dann könntest du übers Wochenende und Weihnachten zu uns kommen. Bremen ist von uns aus die nächste Stadt.“ Pierre lächelte. „Ja, schau, das wäre der fünfte Grund, warum ich absolut nach Bremen möchte.“ Die Frühstückszeit kam heran, die Kinder verschwanden. Pierre und ich saßen wieder auf der Bank und verzehrten seine Butterbrote und meinen Sandkuchen. „Erzähl nun ein bißchen von dir, Britta. Wofür interessierst du dich nun auf dieser Welt?“ Ich schwieg lange. Dies war eine schreckliche Frage. Ich hatte keine Ahnung, wofür ich mich interessierte. Interessierte ich mich überhaupt für etwas auf der Welt? „Malerei“, sagte ich schließlich. „Ich bin ja die Tochter eines Kunstmalers. Und Pferde und Reiten.“ „Aber was willst du werden? Malerin oder Reiterin?“ Da mußte ich lachen. „Weder noch! Am liebsten möchte ich Stewardeß werden. Also Luftfahrt-Stewardeß.“ „Was? Stewardeß? Ist das dein Ernst?“ Und ob das mein Ernst war! Vor etwa einer dreiviertel Minute war es mein Ernst geworden.
„Aber du bist noch zu jung, um aufgenommen zu werden, Britta. Und du mußt sehr gute Sprachkenntnisse haben, um Stewardeß zu werden. Deutsch ist ja deine Muttersprache, Französisch lernst du jetzt, aber Englisch mußt du fließend können!“ „Ja“, sagte ich kleinlaut. „Aber glaubst du nicht, daß ich das lernen kann, wenn ich mich gewaltig darauf konzentriere? Ich meine, wenn ich wieder zu Hause bin. Wenn ich dann anfange, aus Leibeskräften Englisch zu lernen? Meine Tante gibt Englischunterricht…“ „Klar, daß du es lernen kannst. Man kann alles lernen, wenn man alles daran setzt. Und wer Stewardeß werden will, muß beinahe alles lernen! Wenn du in der Zwischenzeit Kinderpflege lernen kannst, ist es großartig, von Krankenpflege mußt du auch etwas verstehen, und vor allem mußt du mit Menschen umgehen können. Du mußt höflich und freundlich sein – und unsagbar geduldig!“ „Kinderpflege kann ich daheim auf dem Seehundsrücken lernen!“ sagte ich. „Dort ist ein großes Kinderheim für Bronchitiskinder, und da brauchen sie immer Hilfe!“ „Glückspilz!“ sagte Pierre. „Ich meine, du bist ein Glückspilz, weil du so viel von deiner Ausbildung umsonst bekommen kannst. Für mich ist es schlimmer, seit Papa starb. Nun, wir werden sehen… Du kannst dir kaum vorstellen, wie fleißig ich Geld spare! In Deutschland habe ich neben meinen Studien ganz gut verdient. Ich gab unbegabten Kindern Nachhilfestunden in Französisch und Mathematik.“ „In Bremen gibt es bestimmt auch unbegabte Gören!“ lachte ich. Keiner von uns hatte gemerkt, daß der Himmel sich bewölkt hatte. Plötzlich fiel ein Regentropfen auf meine Nase. Pierre sah in die Höhe. „Verflixt noch mal, es fängt an zu regnen! Ja, dann können wir für heute Schluß machen. Falls es morgen in Strömen regnet, komme ich nicht. An allen Regentagen habe ich frei.“ „Frei?“ sagte ich hoffnungsvoll. Wie schön, wenn Pierre und ich…. schoß es durch meinen Kopf. „Ja, das heißt: frei von den Eseln. An Regentagen helfe ich dem Kaufmann im Nachbarhaus mit seiner Buchführung. Da verdiene ich auch etwas.“ „Jetzt fehlt nur, daß du sagst, du wärst auch Portier in einem Nachtklub“, sagte ich. Pierre warf einen nachdenklichen Blick auf mich.
„Da bringst du mich auf einen Gedanken! Wenn ich das könnte! Ein tüchtiger Portier verdient sicherlich eine Menge Trinkgeld.“ „Wer weiß, vielleicht genug für ein halbes Jahr Bremen“, sagte ich. – „Ach, jetzt wird es aber Ernst mit dem Regen!“ „Lauf fix zur Metro, Britta. Du hast ja keinen Regenmantel mit. Und sei vorsichtig. Was ist eigentlich mit deiner Cousine?“ „Ich bekam heute einen Brief, sie kommt bald“, rief ich, während ich davonsauste. Es regnete in Strömen, als ich aus dem Zug in Colombes stieg. Bis auf die Haut naß, kam ich nach Hause. Wäre es nun wenigstens im Haus warm und gemütlich gewesen, sauber und aufgeräumt! Doch es war kälter und unerfreulicher als je. Die Katzen hatten in dem ungemachten Bett Zuflucht gesucht. Ich schaltete den elektrischen Ofen an und stellte den Katzenkorb davor. Dann zog ich mich um, von Kopf bis Fuß. Die nassen Kleider warf ich auf einen Haufen. Ich war müde und hungrig. Ich mußte irgend etwas essen, bevor ich anfing aufzuräumen. Uff, jetzt ging das Niesen wieder los; meine Augen fingen zu tränen an. Es war wohl das, was die Leute im allgemeinen unter einer richtigen Erkältung verstehen. So etwas kannte ich noch nicht. Das Klima auf dem Seehundsrücken schützt einen davor. Am besten war es wohl, einzukaufen, ehe es noch schlimmer würde. Ich ging in die Garderobe, nahm meinen Regenmantel und entdeckte einen Zettel auf dem Fußboden. Sieh da, eine Stromrechnung. Aber um Himmels willen, hatten wir denn so viel Strom verbraucht? Uff, zu dumm, daß ich nicht alles lesen konnte, was auf der Rechnung stand. Vielleicht war es eine Vierteljahresrechnung? Vielleicht hatten Aubels so viel Strom gebraucht? Oder war es leichtsinnig, daß Vati und ich jeden Tag ein warmes Brausebad genommen hatten? Vielleicht brauchte der Ofen mehr Strom, als ich wußte? Ich ging ins Zimmer zurück und guckte den Ofen von allen Seiten an. Richtig, da stand es: Zweitausend Watt! Zweitausend! Und ich hatte den Ofen jeden Tag stundenlang eingeschaltet gehabt; Vati und ich hatten in der ersten Zeit dasselbe getan. Ofen oder nicht Ofen, Bad oder kein Bad – hier lag die Rechnung, und die mußte bezahlt werden. Etwas war rot gedruckt. Vielleicht bedeutete es einen Termin, einen letzten Termin vor der Sperrung? Aber wenn ich die Rechnung bezahlen mußte, blieb sehr wenig
übrig zum Leben. Da mußte ich Vati sofort schreiben und ihn um Geld bitten. Zum Glück hatte ich ja das Geld im Brustbeutel, das mich retten sollte, wenn ich wirklich in Verlegenheit kam. Ich wußte so ungefähr, wo die Zahlstelle der Stadtwerke lag. Also nur schnell in den Regenmantel und die verflixte Rechnung in die Tasche gesteckt. Meine Augen tränten wieder; ein Frösteln lief mir über den Rücken. Und dann war es wieder der vernünftige Teil von mir, der die Führung übernahm. Beeile dich, Britta! – sagte er. Besorge alles, was besorgt werden muß. Vielleicht liegst du morgen ganz krank im Bett; kauf für die Katzen und für dich selbst ein. Schreib an Vati, vielleicht kannst du es morgen nicht mehr. Ich schluckte zwei Tabletten und ging davon; bezahlte die schreckliche Rechnung und kaufte für die Katzen Essen. Besser, ein paar Büchsen Dosenfutter mitzunehmen. Vielleicht war es gut, wenigstens einen kleinen Vorrat im Haus zu haben. In einem Schaufenster stand eine Schüssel Krabbensalat, er sah lecker aus. Ich könnte mittags Krabbensalat und Brot essen, dann brauchte ich nicht zu kochen. Ich kaufte ein Paket Biskuits. Falls ich morgen nicht ausgehen konnte, war es besser, Biskuits im Haus zu haben als harte Brotkanten. Was hatte doch Latour von den Clochards erzählt, den Herumtreibern, die oft in der Nähe der Seine oder in den Metrostationen auf den Bänken saßen und schliefen? Abends gingen sie zu den Hintertüren der Restaurants und bettelten um Brot. Sie bekamen ganze Beutel voll Brotreste von allen Tischen. Hätte ich bloß einen Clochard in der Nähe gehabt! Es war Sünde, all diese Brotreste wegzuwerfen, aber sie waren wirklich unbrauchbar. Ich verstand, warum die Franzosen zweimal am Tag Brot kauften. So, nun hatte ich alles… ein Glück! denn es regnete immer schlimmer, und es gluckste in meinen Schuhen. Zu Hause war es nach wie vor unsagbar ungemütlich. Keine Fee war gekommen, hatte Staub gewischt, aufgewaschen und den Ofen versorgt. Ich mußte zugreifen. Aber ich fror so entsetzlich. Ich mußte mich zuerst aufwärmen.
Jetzt war das schreckliche Einsamkeitsgefühl wieder da. Es regnete Bindfäden und würde bestimmt auch morgen weiter regnen. Es gab also keinen Pierre in den Tuileren, und ich hatte keinen Menschen, mit dem ich sprechen konnte. Ich war rotnasig und erkältet, müde und elend. Ich kroch tief in mein Bett hinein und nahm das Buch von Inken. Ein wenig später hatte ich alles um mich vergessen. Es war nicht zu fassen, wie gut diese Edda Callies schreiben konnte! Die neunzehnjährige Heldin ihres Buches hatte eine Anstellung in London bekommen, wo sie keinen Menschen kannte. Sie wohnte in einem möblierten Zimmer und war völlig allein. Die Einsamkeit war so unglaublich, so phantastisch gut geschildert, daß es mir fast den Atem verschlug. Das mußte Edda Callies selbst erlebt haben! Es war so richtig, so lebenswahr, als ob ich selbst all das niedergeschrieben hätte, was ich in den letzten Tagen empfunden hatte. So konnte niemand schreiben, der es nicht erlebt hatte. Bestimmt war auch Edda Callies in einem fremden Land mutterseelenallein gewesen. Was hatte Inken geschrieben? Ich kroch aus dem Bett und wühlte in der Kommodenschublade, wo sich alle meine Briefe befanden. Liebe Zeit, war es da unordentlich! Aber da… Inkens Schrift. „Ich war so toll begeistert, daß ich an Edda Callies schrieb, und was sagst Du, ich bekam Antwort. Ich wette, daß sie höchstens fünfundzwanzig Jahre alt ist – “ Wenn Inken an Edda Callies schreiben konnte, dann konnte ich es auch, und ich mußte es einfach! Ein Mensch, der meine Gedanken, meine Gefühle und meine Verzweiflung so zu Papier bringen konnte, diesem Menschen mußte ich einfach schreiben. Ich vergaß den Haushalt, die Kälte, die Erkältung, ich vergaß, daß ich eigentlich etwas essen wollte, ich schob das unaufgeräumte Geschirr zur Seite, legte das Briefpapier zurecht und begann zu schreiben. Hätte ich mich nicht so fürchterlich einsam gefühlt, hätte ich vielleicht nicht so ausführlich geschrieben, wie ich es tat. Aber es war eine herrliche Erleichterung, alles zu Papier zu bringen und sich einem Menschen anzuvertrauen, von dem man wußte, er würde verstehen. Es war nicht die vernünftige Hälfte von mir, die schrieb, es war die einsame, rotnasige und hilflose kleine Britta Dieters, es war der dumme Teenager, der nicht ein einziges brennendes Interesse auf der Welt hatte, das von Vater und Großmutter
verwöhnte kleine Mädchen, das zu nichts in der Welt taugte, als auf ein paar siamesische Katzen aufzupassen. Es wurde ein ganz langer Brief, und ich mußte zum Schluß eine Entschuldigung schreiben. „Aber ich glaube, daß Sie mich verstehen“, schrieb ich zum Schluß, „denn ich sitze hier wie eine lebendige Ausgabe der Heldin in Ihrem Buch, und ich habe genau das durchgemacht, was sie durchgemacht hat. Tausend Dank, daß Sie dieses Buch geschrieben haben. Es gab mir plötzlich das Gefühl, daß es einen Menschen auf der Welt gibt, der mich versteht und dem ich sogar zu schreiben wage.“ Und dann schrieb ich den Namen und meine Adresse, schlüpfte in meinen Regenmantel und lief mit meinem Brief zum Briefkasten… Die frische Luft hatte mir gutgetan. Nun wollte ich aufräumen. Inzwischen war es draußen dunkel geworden. Ach, ich mußte ja den Abfalleimer herausbringen; er war übervoll, und morgen kam die Müllabfuhr. Ich drückte den Deckel auf und trug den Eimer hinaus. Da huschte ein Schatten an mir vorbei durch die Tür und verschwand in großen Sprüngen in der Dunkelheit. O Gott, Rajah! Rajah war entwischt! Ich lief hinter ihm her. Ich lief und lockte – dann sah ich ihn im Licht einer Straßenlaterne. Schlank und elegant sprang er auf den Zaun um die große Fabrik und verschwand nach der anderen Seite. O Schreck! Was sollte ich bloß tun? Sollte Rajah etwas zustoßen, konnte ich Frau Aubel nie mehr unter die Augen treten. Ich hatte ihr doch hoch und heilig versprochen, wie ein Schießhund aufzupassen. Ich lief zur Pforte und rüttelte daran. Natürlich war sie verschlossen. Ich lockte mit der Stimme, auf die Rajah immer antwortete. „Rajah, Rajah, komm, komm, mein Putzilein – .“ Aber er kam nicht. Ich stand im Regen in meiner dünnen Bluse. Es war eiskalt und regnete unaufhörlich. Doch das spielte keine Rolle, wenn ich nur Rajah zurückbekam! Ob ich über die Pforte klettern könnte? Im Klettern bin ich groß; lange Hosen hatte ich auch an. Ich versuchte es, zog mich in die Höhe und stieg hinauf. Da wurde ein Lichtkegel auf mich gerichtet, eine barsche Stimme rief aus der Dunkelheit: „Was machen Sie da, Mademoiselle?“ Es
war der Nachtwächter. Ich hatte ihn ab und zu in der Frühe gesehen, wir hatten einander sogar zugenickt, wenn er von seiner Arbeit wegging und ich nach dem Frühstücksbrot lief. „Oh, Monsieur, je – j’ai perdu mon chat – voulez-vous m’aider – il est dans la fabrique – “ Der Nachtwächter lächelte, er erkannte mich. Er öffnete die Tür. „Haben Sie gesehen, ob er hier hineinsprang?“ „Ja, ganz sicher, er muß hier sein, ach, Monsieur, ich muß ihn wiederhaben. Er gehört mir nicht, ich habe nur auf ihn aufzupassen – – – Da, ach schauen Sie, da… glaube ich… da! Monsieur, voyez à gauche!“ Ich legte mich platt auf die nasse Erde und erwischte Rajah am Schwanz in dem Augenblick, in dem er in einer Kellerluke verschwinden wollte. Der Nachtwächter schmunzelte, und ich sagte „mille merci“, drückte Rajah an mich und beschimpfte ihn auf deutsch und französisch. Aber zu Hause blieb ich im Flur stehen und sperrte Augen und Mund auf. Der Nachtwächter hatte mich verstanden! Und ich hatte ihn verstanden! Ich hatte französisch gesprochen, ich hatte gewußt, was „Katze“ hieß und was „links“ und was „helfen“! Ich hatte eifrig und verzweifelt gesprochen, ich hatte seine Antwort verstanden – du liebe Zeit, ich begann ja Französisch zu können! Ob wohl kleine Kinder ihre Muttersprache auch so lernen? Sie hören eine ganze Menge und es klingt für sie nur als Geräusch – und dann, eines Tages, werden sie schrecklich bange oder furchtbar froh oder brennend eifrig –, und plötzlich stürzen ihnen die Worte über die Lippen. Mit einemmal war ich so glücklich. Nun würde ich schon zurechtkommen. Jetzt traute ich mich zu reden. Von heute ab wußte ich, daß ich mich traute. Pfeif darauf, wenn ich Fehler machte! Ich verstand ja, und die Leute verstanden mich! Von diesem Augenblick an ging es bei mir mit dem Französischen in Riesenschritten vorwärts. Aber was nicht vorwärtsging, war die Säuberung des Hauses, denn ich war wieder naß geworden und fror entsetzlich. Ich hatte wohl noch die Erkältung im Körper, trotz Pierres Tabletten! Der Regenschauer am Mittag und das kalte Haus und diese Expedition nach dem Katzenvieh, das alles hatte gewiß das Seine getan.
Morgen muß ich aufräumen, sagte ich zu mir selbst. Und damit zog ich die langen Hosen und den Pullover aus und fiel ins Bett. Nein, aus dem Saubermachen „morgen“ wurde nichts. Denn ich erwachte nachts in Schweiß gebadet. Ich hatte die Daunendecke im Schlaf abgeworfen, und die Nachtluft legte sich wohltuend kühl über meinen verschwitzten Körper. Ein bißchen später fror ich so, daß mir die Zähne klapperten. Ich fror mehr und mehr, schwitzte aber gleichzeitig wie ein galoppierendes Pferd an einem heißen Sommertag. Ich wischte mit einem Zipfel des Daunenüberzuges den Schweiß ab. Oh, wie war ich durstig! Ich mußte mir etwas zu trinken holen. Als ich die Beine auf den Fußboden setzte, schwindelte mir; ich mußte mich an Tür und Tischkante festhalten. Ich kroch bis in die Küche und holte Wasser. Dann taumelte ich zurück. So etwas hatte ich noch nie erlebt. War das nur eine gewöhnliche Erkältung, oder hatte ich vielleicht eine Grippe? Es war schön, wieder waagerecht zu liegen, aber ich konnte nicht schlafen. Es kamen so viele merkwürdige Gedanken, die sich ineinander verflochten, und die ich nicht auseinanderhalten konnte. Pierre und Freskomalereien und Jungmädchenbücher und Esel und Siamkatzen und das Städtische Krankenhaus in Esbjerg, alles vermischte sich miteinander. Ich schwitzte und schwitzte, fror gleich darauf, dann wurde mir brennend heiß, und ich mußte mehr Wasser trinken. Am nächsten Morgen versuchte ich aufzustehen. Es gelang mir, eine Büchse mit Katzenfutter und eine Milchbüchse zu öffnen. Dann schwankte ich zurück ins Bett. Es war verknautscht und wenig einladend, aber ich hatte wirklich keine Kraft, es mir zu richten. Ich trank noch mehr Wasser, dann blieb ich still liegen und schaute aus dem Fenster. Es regnete und regnete. Inmitten allen Elends war ich erleichtert, weil es regnete. So wartete doch Pierre mit seinen Eseln nicht vergeblich auf mich. Er half gewiß dem Kaufmann mit der Buchführung. Jetzt war ich ganz klar im Kopf, aber wahnsinnig müde, heiß und wunderlich. Ich schlief ein bißchen, wachte wieder auf, lag da und starrte in die Luft. Die Einsamkeit übermannte mich schlimmer denn je. Die ersten Tage waren böse gewesen, aber nichts gegen die Stunden, die ich jetzt erlebte. Solange ich gesund war, konnte ich jedenfalls ausgehen, ich konnte Stimmen um mich hören, Stimmen, die
plauderten, wenn auch nicht mit mir. Ich konnte in den Geschäften ein paar Worte wechseln, ich konnte auf einer Bank sitzen und Tauben füttern. Und dann kam der herrliche Tag, gestern, an dem ich Pierre kennenlernte. Gestern? Unsinn, das war ja vorgestern! Gestern hatte es zu regnen begonnen. Gestern abend entwischte Rajah, ich holte ihn zurück und sprach mit dem Nachtwächter französisch. Meine Gedanken purzelten wieder durcheinander, und ich glaube, ich schlief ein. Jetzt konnte ich nicht mehr die Tageszeiten auseinanderhalten. Als ich wieder erwachte, wußte ich nicht, ob es Morgen oder Abend war. Ich war verschwitzt und durstig und hatte einen nagenden Schmerz im Magen. Ich war hungrig, ja natürlich war ich hungrig, ich hatte ja lange Zeit nichts gegessen. Ich schaffte es, in das Bad zu kriechen, und dann steuerte ich die Küche an. Die Katzen schlichen um meine Füße und miauten. Ich mußte mich auf den Küchentisch stützen, meine Hände zitterten, es dauerte eine Ewigkeit, ehe es mir gelang, die Büchse mit dem Katzenfutter zu öffnen und saubere Katzenteller rauszuholen. Da lagen die Biskuits, die ich gekauft hatte, und was war in dem Paket? Ach, das war der Krabbensalat; den hatte ich ganz vergessen. Nun aß ich ein paar Löffel davon. Er schmeckte gar nicht gut, er hatte einen ekelhaften, süßlichen Geschmack, aber ich war so hungrig, daß ich ihn hinunterschluckte. Dann nahm ich die Biskuits mit und fiel ins Bett zurück. Ich wußte nicht, ob es draußen regnete oder nur wolkig war, ich wußte überhaupt nichts um mich herum, außer, daß ich allein war und mich elend fühlte. Wenn nur irgendein Mensch aufgetaucht wäre, hatte ich ihn willkommen geheißen, wenn es auch ein Einbrecher wäre! Wollte diese Krankheit denn gar nicht aufhören? Heute war ich noch elender. Ja, es wurde mir übel. Es fehlte nur noch, daß ich mich übergeben mußte. Ich kroch hinaus und versuchte, ins Bad zu gelangen. Und dann passierte es: Ich übergab mich mitten auf dem Teppich im Wohnzimmer. Ich glaube nicht, daß ich ohnmächtig wurde, aber mir war schwindelig, als ich wieder zu mir kam. Halb saß ich, halb lag ich auf einem Lehnstuhl. Ich muß die Bescherung aufwischen. Aber als ich mich mühsam ins Bad geschleppt hatte, um einen Eimer zu holen, kam der
Brechreiz wieder. Was war nur mit mir los? – War ich gefährlich krank – mußte ich sterben?… Was hatte ich bloß gegessen? War ich vergiftet? Ich hatte Keks und Brot und Krabbensalat gegessen… In der Sekunde, als ich an Krabbensalat dachte, mußte ich wieder spucken. Das Erbrechen hörte erst am Nachmittag auf. Da war mir nicht mehr übel, aber ich war so schlapp und elend, daß ich kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Und so allein, so verzweifelt, so hilflos allein! So, jetzt kamen die Tränen. Ich war zu müde, um sie aufzuhalten. Sie liefen und liefen… mein Mund wurde trocken… mein Hals war trocken… ich mußte mir Wasser holen. Ich stand im Vorraum, im Pyjama, und stützte mich gegen die Wand. Die Tränen liefen, ich war elend, so elend, daß ich dachte, ich müßte sterben. Da klingelte es an der Tür.
Es gibt großartige Menschen Ich hatte Vati versprochen, niemals die Tür aufzumachen, ohne die Sicherheitskette vorzulegen und durch den Spalt zu schauen. In diesem Augenblick wurde mir nur klar, daß jemand draußen läutete, jemand, der irgend etwas von mir wollte; da kam ein Mensch, mit dem ich reden konnte; wenn es vielleicht auch nur der Postbote war oder jemand, der nach Aubels fragte. Ich hielt mich fest und stützte mich gegen die Wand, um zur Eingangstür zu kommen. Ich war verweint, verschwitzt und grün im Gesicht, mein Haar klebte wie eine Klette in meinem Nacken nach der langen Zeit, die ich im Bett gelegen hatte. Mit zitternden Händen öffnete ich die Tür, ich schwankte und mußte mich festhalten. Draußen stand eine Dame. Eine kleine rundliche Dame mit kleinen Fältchen um ein Paar gute, leuchtende blaue Augen. Eine Dame, die mich anlächelte und mir die Hand reichte: „Du bist Britta Dieters, nicht wahr?“ „Ja“, flüsterte ich. „Ich bin krank.“ Die Dame hatte deutsch gesprochen, und ich antwortete auf deutsch. Sie kam herein und machte die Tür hinter sich zu. „Komm, Kleines, ich helfe dir ins Bett, dann können wir miteinander schwatzen.“ Ein guter starker Arm legte sich um mich, es war so schön, sich an eine sichere Schulter zu lehnen. Zwei breite, gute Hände schüttelten die Kissen auf, glätteten das Leinen, hoben die Decke vom Boden auf, hoben meine Beine an und deckten mich zu. „Ja, aber – aber – wer sind Sie?“ sagte ich. Sie lächelte. „Ich bin ganz wirklich“, sagte sie. „Du siehst aus, als wüßtest du nicht, ob es Traum oder Wirklichkeit ist. Vielen Dank für deinen Brief. Ich bin Edda Callies.“ Erst als ich mich ein bißchen erholt hatte, begriff ich den Zusammenhang. Ich hatte den Brief an den Verlag nach Aachen geschickt mit dem Vermerk „Bitte nachsenden“, ohne zu ahnen, daß Edda Callies in Paris war. Sie hatte ihn mit der Mittagspost bekommen. Ich hatte ja
geschrieben, daß ich mich krank und elend fühlte, so hielt sie es für das Beste, zu mir herauszufahren, um nach diesem einsamen und erkälteten Mädchen zu schauen. Ich bin nicht sicher, daß Edda Callies mir das Leben gerettet hat, ich kann es nicht bestimmt sagen; daß sie einen guten Teil meines Verstandes rettete, glaube ich bestimmt. „Hast du Durst?“ fragte sie. „Ja, ich wollte Wasser holen“, sagte ich. „Ich mache dir eine Tasse Tee.“ Durch meinen Kopf zuckte der Gedanke an den schrecklichen Zustand der Küche, aber ich war zu elend, um mich ernstlich zu schämen. Weit überwältigender war mir die Gewißheit, daß ein Mensch bei mir war, ein ruhiger und lieber Mensch mit zwei leuchtenden Augen, ein Mensch, der mich verstand, ein Mensch, der mir half. Gleich darauf kam sie wieder herein. „Du kriegst nur ein wenig dünnen Tee, mehr verträgst du wohl nicht, nachdem du dich so übergeben hast. Aber vielleicht erlaubt dir der Arzt, ein bißchen zu essen.“ „Der Arzt?“ „Ja, der Arzt, ich werde ihn anrufen, sobald ich hier ein wenig Ordnung geschaffen habe. Kannst du es schaffen, ins Schlafzimmer zu gehen, wenn du dich auf mich stützt? Da drinnen ist es ja hübsch und auf geräumt, mit einem zurechtgemachten Bett – ja, ja, ich habe mich umgeschaut, während das Teewasser kochte. So, nun brauchen wir einen reinen Pyjama oder ein Nachthemd. Hast du deine Sachen in der Kommode dort?“ „Ja“, flüsterte ich, „aber…“ „Aber es ist schrecklich unordentlich, wolltest du sagen. Reg dich deswegen nicht auf. Jetzt schauen wir mal nach. Ja, guck mal, den hübschen blauen ziehen wir dir an.“ Eine Weile später lag ich in dem Bett, das ich für Ellen gerichtet hatte. Edda Callies kam mit warmem Waschwasser, Waschlappen und Handtüchern. Ich hörte, wie sie die Tür des Badezimmers hinter sich zumachte. „Die Badezimmertür muß einen Spalt aufbleiben“, sagte ich, „die Katzen gehen auf das Wasserklosett.“ „Was für feine Katzen!“ lächelte Edda Callies. Dann ging sie hinaus und öffnete die Tür, kam wieder zurück und wusch mich. Gesicht, Hände, Achseln, ja sie wusch mich ganz und gar, und es
war einfach herrlich, wieder sauber zu sein. Dann kämmte sie mein Haar mit leichter, vorsichtiger Hand, und dann lag ich da, gefüllt von einem unsagbaren Wohlbefinden und einer großen wunderbaren Ruhe. Im Wohnzimmer wurde geputzt und aufgeräumt. Ich hörte leichte Schritte und das Geklapper von Tellern und Tassen, die auf ein Tablett gesammelt wurden. Dann brummte der Staubsauger. Ich ließ alles geschehen. Ich schämte mich meiner Unordnung, aber jetzt konnte ich nichts dagegen tun, und ich hatte es so gut. Edda Callies lugte durch die Tür. „Bist du wach, Britta? Wie geht es dir?“ „Ach, ich habe es so schön!“ „Darf ich die Katzen zu dir hereinlassen? Ich möchte gern lüften, aber ich will nicht riskieren, daß diese Kobolde aus den Fenstern springen.“ „Hier sind Netze vor allen Fenstern“, sagte ich. „Aber sie können trotzdem gern hereinkommen.“ „Wo ist der Hausschlüssel? Ich muß Besorgungen machen. Es ist ein Segen, daß die Geschäfte hier im Lande bis 21 Uhr geöffnet sind.“ Nun war ich wieder allein. Aber ich genoß die wunderbare Sicherheit und die Gewißheit, daß in einigen Minuten dieser einmalig liebevolle Mensch zurück sein würde. Da kam sie! Nicht lange dauerte es, bis es an der Tür klingelte. Edda Callies sprach französisch, und eine Männerstimme antwortete; dann kam der Arzt herein. Ich wurde abgehorcht, meine Temperatur gemessen, und ich bekam eine Spritze. Ich mußte genau über mein Erbrechen berichten, und ich fügte hinzu, daß mir jetzt nicht im geringsten mehr übel war, daß ich nur schrecklich hungrig sei. Der Doktor verstand ein bißchen Deutsch, und ich selber verstand zu meiner größten Freude auch etwas Französisch. So begriff ich, was er sagte: Etwas dünne Reissuppe heute, und schwachen Tee, soviel ich nur wollte. Im Fall ich die Reissuppe nicht bei mir behielt, müßte ich vorläufig hungern, und morgen würde er wieder nach mir schauen. „Aber“, sagte ich… „Das ist wirklich nett von Ihnen, Doktor“, sagte Edda Callies. „Ich mache meine Einkäufe ganz früh am Morgen, und dann kann ich den Rest des Tages hier verbringen und Ihren Besuch jederzeit
empfangen.“ Sie ging mit dem Doktor hinaus und kam dann herein. „Na, Kleines? Wollen wir jetzt ein bißchen Reissuppe essen?“ „Ach ja, viel Reissuppe“, bat ich. Ich verschüttete die Suppe, als ich zu essen versuchte. Edda Callies nahm mir den Löffel aus der Hand und fütterte mich. „Weißt du was“, sagte sie, „du siehst tatsächlich viel besser aus als vor zwei Stunden. Du hast rosige Wangen, und das steht dir gut.“ „Das war gewiß nötig“, murmelte ich. „Kannst du jetzt schlafen, glaubst du?“ „Ach nein“, rief ich, „das kann ich bestimmt nicht. Ich habe ja dauernd geschlafen – seit zwei, nein drei Tagen, nein ich weiß es selbst nicht, was für einen Tag wir heute haben!“ „Heute ist Dienstag.“ „Ach, Dienstag, ach, da komme ich gar nicht mit. Vati reiste am Montag, Freitag war ich bei den Eseln, und am Abend riß Rajah aus, und – “ „Und du schriebst an mich einen Brief“, fuhr Edda Callies fort. „Er war Samstag in Aachen gestempelt, und ich bekam ihn heute. Ich hätte ihn auch schon gestern haben können, wenn sie ihn nicht im Verlag hätten liegen lassen, aber er kam ja Samstag.“ „Da bin ich ja vier Tage krank gewesen, und ich dachte, es wären drei.“ „Ist es eigentlich richtig, daß du so viel redest, Britta? Ein Patient soll still liegen und schweigen.“ „Ja, andere Patienten, aber nicht ich“, rief ich eifrig, „das müssen Sie doch verstehen, für mich ist es schon Medizin, wenn ich mit jemand reden kann. Für mich ist es Medizin, daß jemand sich in der Wohnung bewegt und daß ich Stimmen höre. Ich glaube, ich wäre verrückt geworden, wenn…“ Die breiten guten Hände von Edda Callies streichelten mich. „Armes Kleines“, sagte sie. „Wenn man jung ist, ist es nicht schön allein zu sein, später ist es ein Segen!“ „Allein zu sein?“ „Gerade das. Es ist herrlich, allein zu sein. Aber trotzdem rede ruhig, wenn du nicht zu müde bist und nicht schlafen kannst. Nur komm bitte nicht mit der Frage, die du gerade stellen wolltest.“ „Wissen Sie denn, was ich fragen wollte?“ „Ja. Wörtlich. Du wolltest grade sagen: Warum sind Sie so lieb zu mir?“
Da lachte ich; ich lachte laut und herzlich, lachte, wie ich seit Vatis Abreise nicht mehr gelacht hatte. „Sie können also Gedanken lesen.“ „Nein, aber ganz blöde bin ich auch nicht. Neunundneunzig Prozent aller Menschen würden in einer ähnlichen Lage diese Frage stellen.“ Ich bat: „Wollen Sie aber antworten, wenn ich auch nicht gefragt habe?“ „Ja, wenn du so schwer von Begriff bist, daß du wirklich eine Antwort brauchst! Höre zu, Britta. Stell dir vor, du wärest selbst im Ausland, nehmen wir an, daß du hier mit deinem Vater zusammen wohnst und alles schön in Ordnung ist. Dann erfährst du, daß ein junges Mädchen, eine Landsmännin von dir, mutterseelenallein eine halbe Stunde von dir entfernt wohnt. Du bekommst zu wissen, daß sie krank ist. Was tust du?“ Ich antwortete, ohne eine Sekunde zu überlegen: „Natürlich gehe ich im Eilschritt zu ihr.“ „Genau! Genau das war es, was ich tat. Und dann kommst du also zu diesem jungen Mädchen und entdeckst, daß sie wirklich elend ist und im höchsten Grad der Pflege bedarf, daß sie das Haus nicht in Ordnung bringen konnte und daß sie dabei war, in Staub und Schmutz umzukommen. Was würdest du dann tun?“ „Hoffentlich würde ich aufräumen und den Doktor holen und Reissuppe kochen“, lächelte ich. „Kann ich übrigens noch ein bißchen Suppe haben?“ „Ja, ja, ein paar Löffel. Wehe dir, wenn du spuckst!“ Ich spuckte nicht, ich war wohl den Krabbensalat losgeworden. Jetzt war mein Körper ganz ausgetrocknet und schrie nach Essen, vor allem nach Flüssigkeit. Ich trank eine Tasse Tee nach der anderen. „Nun“, sagte Edda Callies, „um auf das erwähnte junge kranke Mädchen zurückzukommen… Du würdest also aufräumen, neue Wäsche heraussuchen und alles in Ordnung bringen; du würdest froh sein, daß du in deine Tasche eine Zahnbürste gesteckt hast, ehe du von zu Hause weggingst. Und dann würdest du bei dem Mädchen bleiben, bis es endlich wieder auf seinen eigenen Beinen stehen könnte.“ Nun hatte ich das Gefühl, daß meine Augen sich weiteten. „Aber meinen Sie, daß Sie das tun wollen?“ „Klar! Es wäre noch schöner!“
„Wollen Sie denn die Katzen auch füttern?“ „Ich kann doch die armen Tiere nicht hungern lassen, wenn auch du es mußt. Ich besorgte etwas Fisch, als ich einkaufen war. Essen sie ihn roh oder gekocht?“ „Gekocht, mit etwas Salz im Wasser.“ So lag ich wieder eine Stunde allein, bis Edda Callies hereinkam, um gute Nacht zu sagen. „Es ist zehn Uhr, junge Dame. Jetzt mußt du schlafen, und wenn du morgen früh aufwachst, wirst du gewaschen und gepflegt und bist nicht allein.“ Ich reichte ihr die Hand. „Ich werde nie…“ „… vergessen, was Sie für mich getan haben“, vollendete Edda Callies mit einem neckenden Lächeln den Satz, „ja natürlich, das mußte kommen. Sag mal, kannst du dir nicht vorstellen, daß es mir selber Spaß macht, dies hier zu tun?“ „Macht es Spaß, Erbrochenes aufzuwischen und wochenaltes schmutziges Geschirr abzuwaschen?“ „Es macht Spaß zu helfen, dort wo die Hilfe gebraucht wird, kleine Dumme! Schlaf gut, gute Besserung!“
Wie schön, Patientin zu sein! Die folgenden Tage gehören zu den schönsten und gemütlichsten Erinnerungen, die ich habe. Edda Callies hatte sich in meinem Zimmer installiert, nachdem sie dort zwei Stunden reingemacht hatte. Und ich lag in dem einen Bett des Ehepaares Aubel. In dem anderen lagen die Katzen. Edda Callies nahm mit strenger Miene die überflüssige Daunendecke weg und breitete eine passende Katzendecke aus. „Niemals in meinem Leben habe ich einen ähnlichen Patienten gesehen“, sagte Edda Callies. „Das ist gegen alle Regeln der Krankheit und der Rekonvaleszenz.“ Dasselbe sagte der Doktor. Als er das zweite Mal kam, blieb er stehen, blinzelte und starrte auf das Thermometer. „So ein Mädchen!“ sagte er. „Gestern neununddreißig, heute fieberfrei. Was für ein Wunder ist hier geschehen?“ „Die Spritze, Herr Doktor“, sagte ich. „Spritze hin und Spritze her, natürlich hilft sie, aber eine so schnelle Wirkung war wirklich unerwartet. Wie fühlen Sie sich?“ „Frisch wie ein Fisch. Ich will aufstehen.“ „So, das wollen Sie? Madame“, drehte er sich zu Edda Callies um, „selbst wenn man die junge Dame im Bett festbinden müßte, verbiete ich ein Aufstehen vor übermorgen – allerfrühestens.“ „Und die Diät, Herr Doktor?“ fragte Edda Callies. „Ja, wie war es denn? Bekam ihr die Reissuppe?“ „Ja“, rief ich. „Und ich bin ja so hungrig, so hungrig.“ „Und die Verdauung?“ „Ganz in Ordnung.“ „Gut, dann riskieren wir heute ein paar Zwiebäcke, trocken vorläufig. Geht das gut, so bewillige ich ein wenig Butter zu den Abendzwiebäcken, aber gekratzt!“ „Ach, Herr Doktor, ich habe so Lust auf – “ „Vielleicht auf Krabbensalat?“ „Ach, nur keinen Krabbensalat! Nie mehr in meinem Leben werde ich Krabbensalat essen! Nein, ich habe so Lust auf Berliner Pfannkuchen!“ Da lachte der Doktor hellauf. „Jawohl, ja, die werde ich auf meiner Diätliste für Magenkatarrh einführen. Berliner Pfannkuchen! Denken Sie! Wenn Sie in einer
Woche einen Pfannkuchen essen können, können Sie sich glücklich preisen. So, kleine Mademoiselle, das wäre dann in Ordnung. Ich glaube nicht, daß Sie mich morgen noch brauchen. Und ich glaube, ich sage Ihnen und Ihren Katzen adieu. Reizende Tiere übrigens. Ja, ja, ich habe viel bei Ihnen gelernt. Siamesische Katzen als Wärmflasche und Pfannkuchen als Diät. Verordnen etwa meine deutschen Kollegen so etwas?“ „Das glaube ich kaum. Aber, Herr Doktor, darf ich Sie vielleicht gleich bezahlen?“ „Hat das denn solche Eile? Sind Sie nicht in einer Krankenkasse?“ „Ja, zu Hause, aber nicht hier.“ „Allright, so bezahlen Sie, wenn Sie es durchaus wollen, ich gebe Ihnen eine Quittung. Hoffentlich bekommen Sie das Geld von Ihrer Kasse zurück. Rechnen wir mal: ein Nachtbesuch, ein Tagbesuch, ja, und ich gab Ihnen auch eine Injektion – und dann das Medikament. Das wäre alles…“ Ich glaube, daß ich fast einen kurzen Fieberanfall hatte, als ich die Summe hörte. Zum erstenmal griff ich in meine Brusttasche. Ja, nun mußte Vati sich beeilen, mir Geld zu schicken. Aber ich war schuldenfrei und beinahe gesund, die Katzen schnurrten satt und zufrieden, und jetzt kam Edda Callies mit Tee und Zwiebäcken auf einem appetitlichen Tablett. Sie war so ruhig, so ausgewogen und so stillvergnügt, immer bereit zu lächeln, immer zu einem Scherz aufgelegt. Ihre Augen leuchteten und strahlten vor Güte. Aber sie war lieb und gut in einer so wohltuend nüchternen Art. „Ich muß nach Paris hinein“, sagte sie, als sie das Haus in Ordnung gebracht hatte. „Kannst du es aushalten, für ein paar Stunden allein zu sein?“ „Nein, bestimmt nicht“, sagte ich, „bekanntlich bin ich ja nie in meinem Leben auch nur eine Stunde allein gewesen – “ „Kennen wir einander schon so gut, daß du anfängst, frech zu werden, du böses Mädel? Jedenfalls ist es ein Zeichen, daß du dich auf dem Wege der Besserung befindest. Kann ich irgend etwas für dich besorgen?“ „Ja, danke schön, Briefmarken. Und vielleicht – ich weiß ja nicht, in welche Richtung Sie wollen – “ „Neuilly“, sagte sie. „Aber wenn du irgend etwas brauchst – “ Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Es regnete.
„Ach nein, es regnet“, sagte ich. „Nein, danke schön, es ist nichts.“ „Jetzt redest du in Rätseln.“ „Nein, es ist wirklich nichts. Niemand reitet auf Eseln, wenn es regnet.“ Edda Callies sah mich mit großen Augen an, dann fühlte sie meinen Puls, und dabei fiel mir ein, wie verrückt es klingen mußte, was ich sagte. „Ich habe keine Fieberphantasien“, lachte ich. „Es hatte wirklich etwas mit Eseln zu tun, woran ich dachte. Ich werde es Ihnen erzählen, wenn Sie heimkommen.“ „Ja, ich glaube, das mußt du tun“, sagte Edda Callies und schüttelte den Kopf. Dann lächelte sie, winkte von der Tür aus; dann hörte ich die Haustür zuschlagen. Zwei Minuten später war ich draußen auf dem Fußboden. Der Doktor hatte bestimmt recht, wenn er meinte, daß ich noch nicht ganz in Ordnung sei; denn jetzt begann der Boden sich so aufzuführen, wie die Nordsee zu Hause. Es bewegte sich in Wellen und Dünungen unter mir. Ich setzte mich auf die Bettkante und erholte mich etwas, dann versuchte ich es wieder, hielt mich vorsichtig am Tisch und an den Stühlen fest und stapfte in das Wohnzimmer. Dort war es frisch, rein und staubfrei. Nein, wie gemütlich es hier aussah! Ich ging weiter. Die Küche war aufgeräumt, aller Abwasch weg. Im Bad war der Boden aufgewischt, frische Handtücher waren aufgehängt. Dann in mein früheres Zimmer: Das Bett war gemacht, das Fenster hinter dem Katzennetz war weit geöffnet, alles in Ordnung. Edda Callies mußte mindestens bis zwölf Uhr nachts gearbeitet haben, dachte ich. Ich holte den Schreibblock und den Kugelschreiber und wollte gerade ins Bett gehen, als ich ein Geräusch im Postschlitz vernahm. Karte von Vati. Vergnügt und gemütlich. „Es ist so lange her, daß ich von Dir gehört habe, Kind. Ihr seid wohl den ganzen Tag unterwegs, und ich kann mir schon denken, daß Du dann zu keinem längeren Brief kommst. Aber eine Karte könntest Du mir jedenfalls täglich schreiben!“ Ich wollte die Karte mitnehmen; da fiel mir aber etwas ein, und ich legte sie wieder auf den Boden. Nun war es schön, wieder ins Bett zu kommen. Du liebe Zeit, ich
war wohl richtig krank gewesen, wenn ich nach drei Minuten Aufsein wie ein Espenblatt zitterte! Ich mußte ein paar Minuten liegen, ehe ich mich im Bett aufsetzen und schreiben konnte. Heute sollte Vati einen Brief bekommen. Ich hatte eine großartige Idee. Jetzt konnte ich sowohl „wir“ als „uns“ schreiben, ohne zu lügen. Ja, ich konnte sogar mehr als dies schreiben. Und so schrieb ich: „Mein allerliebster Paps, tausend Dank für Deine Karte. Ja, es stimmt, daß ich Dich ein paar Tage vernachlässigt habe, aber denk Dir nur, daß ich mich zum erstenmal in meinem Leben erkältet habe, und da wurde nichts aus dem Schreiben. Jetzt bin ich fast wieder in Ordnung, aber ich bleibe noch zu Hause. E. ist ohne mich in die Stadt gefahren.“ War es vielleicht nicht die reine Wahrheit? Ich hatte kein Wort darüber gesagt, ob E. Edda oder Ellen bedeutete. Ich schrieb weiter: „Sie ist übrigens schrecklich streng mit mir, ich darf mich nicht aus dem Hause rühren, ehe sie sagt, daß ich darf. Aber sie ist ja so lieb und so reizend, daß es nicht zu glauben ist, und achtet wie ein Schießhund auf mich. Wir haben es urgemütlich zusammen. Übrigens, Paps, könntest Du mir etwas Geld schicken? Hier kam eine scheußliche Elektrizitätsrechnung, die mußte ich bezahlen, und so ist meine Haushaltskasse etwas mager. Heute regnet es, da macht es nichts, daß ich zu Hause bleiben muß. Außerdem habe ich die Katzen zur Gesellschaft, und dann will ich ein bißchen Französisch lernen – ja, richtig, ich vergaß ganz zu erzählen, daß ich jetzt wirklich anfange, Französisch zu verstehen, und daß ich mich auch einigermaßen ausdrücken kann. Es kam plötzlich eines Tages, als ich so eifrig wurde. Jedenfalls habe ich Mut, zu sprechen, und das ist schon etwas. E. weiß nicht, daß ich schreibe, so daß ich nicht von ihr grüßen kann. Wäre sie hier, hätte sie das sicher getan. Wie viele Fresken hast Du schon fertig? Schriftlich kann ich ja ,Deine Wandpinseleien’ sagen. Du kannst mich ja jetzt nicht beim Haarschopf nehmen, ätsche, bätsch! Innige Umarmung, und viele herzliche Grüße von Deiner Britta.“
Ich las den Brief durch, und dann fiel mir noch etwas ein: Das große E. mit Punkt war ganz am Ende einer Zeile. Da konnte ich noch ein paar Buchstaben hinzufügen. Das tat ich. Und nun stand da: „Ellen weiß nicht, daß ich schreibe…“ usw. „wäre sie hier, hätte sie das sicher…“ Stimmte das vielleicht nicht? Konnte ich nicht mein Ehrenwort geben, daß Ellen nichts von diesem Brief wußte und daß sie sicher gegrüßt hätte, wenn sie hier gewesen wäre? Mein Gewissen war also rein wie neugewaschene Wäsche, als ich den Briefumschlag schloß und den Brief versiegelte… „Na, Britta, liebes Mädchen, wie geht es dir denn?“ „Großartig.“ „Schau her, hier ist Post für dich.“ „Nein, wie nett, das ist von Paps!“ „Ich geh’ nur rasch um die Ecke, um Brot zu kaufen, ehe ich den Mantel ablege.“ „Sind Sie so lieb, diesen Brief in den Kasten zu werfen? Vati wartet sicher auf Post.“ „Hast du einen Brief geschrieben, Teufelsmädel? Willst du nicht erst die Karte deines Vaters lesen, vielleicht mußt du irgend etwas beantworten?“ Ach, wie dumm, ich merkte, wie die Röte mir ins Gesicht stieg, und ich konnte nicht antworten. „Aha, du bist mir eine Feine, du hast die Karte gelesen und beantwortet und zurückgelegt, damit ich nicht wissen sollte, daß du aus dem Bett warst.“ „Ja“, flüsterte ich. „Du solltest Haue haben, du ungehorsames Ding. Dein Glück, daß du deinen Ungehorsam wenigstens eingestehst. Eine Lüge wäre schlimmer gewesen. Komm her und gib mir den Brief. Hör mal, mögen deine Raubtiere Kalbfleisch?“ „Jawohl, und Berliner Pfannkuchen!“ „Und ich dachte, du lügst nicht! Aber Pfannkuchen bekommst du nicht. Dafür bekommen die Katzen Kalbfleisch. Der Metzger wußte sofort Bescheid, als ich ihm erzählte, daß ich Essen für zwei siamesische Katzen brauche. Er sagte etwas über die blonde Mademoiselle d’Allemagne, und dann wußte er, was ich haben wollte. Und jetzt verspricht mir die blonde Mademoiselle mit Ehrenwort, daß sie nicht auf den Fußboden hinausgeht, während ich weg bin.“
„Ehrenwort“, sagte ich, und das hielt ich. Ich mußte noch einen Tag im Bett bleiben, und das war ein außergewöhnlich gemütlicher Tag. Ich war ein völlig neuer Mensch. Zufrieden und glücklich über alles, weil ich beinahe wieder gesund war, weil alles um mich herum hübsch und sauber war, und vor allen Dingen, weil ich die Bekanntschaft von Edda Callies gemacht hatte. Nicht etwa, weil sie eine bekannte Schriftstellerin war, sondern ein entzückender Mensch. Ich fragte sie, als sie mit einem Strickzeug neben mir saß, ob sie selbst Kinder hätte. „Nein, leider nicht“, sagte sie. „Ich wurde sehr früh Witwe, und meine Ehe war kinderlos.“ „Und trotzdem verstehen Sie die Jugend so gut“, sagte ich. „Man braucht selbst keine Kinder zu haben, um die Jugend zu verstehen“, sagte sie. „Es genügt vollkommen, wenn man sich an seine eigene Jugend erinnert und an die Probleme, mit denen man sich herumschlug.“ „Hatten Sie auch Einsamkeitsprobleme?“ „Das kannst du mir glauben! Ich war ein bißchen älter, als du es bist, ich war dreiundzwanzig, und mein Mann war gerade gestorben. Die Einsamkeit der ersten Zeit werde ich nie vergessen. Es war natürlich schrecklich, über die Trauer hinwegzukommen, aber das Gefühl, ganz allein zu sein, war beinahe genauso schlimm. Es ging mir wie dir: Ich kam gar nicht dazu, irgend etwas zu tun. Mein Heim hatte sich in eine staubige Rumpelkammer verwandelt, meine Küche sah aus – “ „Wie meine?“ „Ja, so ungefähr. Wenn ich versuchte, irgendeine Arbeit anzufangen, gab ich sie gleich wieder auf. Zum Schluß war es mir eine Anstrengung, ein Paar Strümpfe zu waschen oder einen Fleck aus einem Kleid zu entfernen. Aber dann geschah etwas, was mir half.“ „Kam da plötzlich eine nette Dame und räumte für Sie auf? Genauso wie Sie für mich aufgeräumt haben?“ „Nein, im Gegenteil. Da kam jemand, der meiner Hilfe bedurfte. Eine alte Schulfreundin tauchte auf. Zum Glück hatte sie vorher geschrieben, so daß ich den schlimmsten Staub wegwischen und ein bißchen Ordnung machen konnte, bevor sie kam. Sie mußte ins Krankenhaus und hatte niemanden, der ihrer alten Mutter helfen konnte. Für eine gelernte Pflegerin hatte sie kein Geld. Für eine
Hausgehilfin auch nicht. Im übrigen war es schon damals schwer, jemanden für den Haushalt zu bekommen. So war sie auf mich gekommen. Sie wußte, daß ich allein war. Nun, um es kurz zu machen: Ich zog zu ihrer Mutter, und da geschah das Merkwürdige: Ich, der größte Schussel auf der Welt, wurde plötzlich arbeitsam und vernünftig und ordentlich. Von dem Augenblick an, in dem ein Mensch mich brauchte, entwickelte sich das Gute in mir. Und damit war mein ganzes Problem gelöst. Ich mußte nur dafür sorgen, daß mich immer jemand brauchte!“ „Ist es seither immer so gewesen?“ „Immer. Du fragst, ob ich eigene Kinder hätte. Weißt du, es ist natürlich traurig für eine Frau, keine Kinder zu haben, aber wenn auch keine Kinder da sind, hat man doch Mutterinstinkte, und die werden immer gebraucht. Ich begann meine Jugendbücher zu schreiben. Sie schlugen ein, sie wurden verkauft, ich verdiente gut, und immer war jemand da, den ich mit meinen Krötchen helfen konnte. Nun bin ich achtundvierzig Jahre und bin kein bißchen einsam, obschon ich keine Verwandten habe. Ich habe Freunde und die Kinder meiner Freunde, ich bin Patin bei einer Menge Kinder, ich stricke Kinderjacken und Babykleider während des ganzen Jahres – ja, stell dir nur vor, jetzt bin ich so alt, daß es immer die Kinder meiner Freunde sind, die Babys bekommen. Und dann schreiben sie: ,Liebe Tante Edda, hast du vielleicht Zeit zum Stricken? Der Kleine braucht unbedingt – ’ ja, und dann kommen sie zu mir, um sich die vielen Rezepte zu holen, die ich auf meinen Reisen gesammelt habe, oder sie bitten mich, am Abend auf das Baby aufzupassen, und weißt du, was am allerschönsten ist? Daß sie Vertrauen zu mir haben und sich mit mir aussprechen. Oft ist es für ein junges Mädchen schwierig, mit der eigenen Mutter zu reden, sie vertraut sich viel leichter einer mütterlichen Freundin an. Oder vielleicht liegt es an meiner Arbeit. Die Mädchen wollen irgendwie nicht wahrhaben, daß ich eine ältere Dame bin, weil ich immer für junge Menschen und über junge Menschen schreibe. Warum lächelst du, Britta?“ „über etwas, das Inken mir geschrieben hat“, sagte ich. Dann erzählte ich, daß sie mir das Buch geschickt und einen Brief von Edda Callies bekommen hatte und sicher war, daß Edda Callies nicht älter als fünfundzwanzig Jahre sein könnte. „Ja, ja, deine Freundin Inken ist nicht die einzige. Ich erinnere mich übrigens daran. Es war ein junges Mädchen von irgendeiner Nordsee-Insel, die an mich schrieb – jawohl, Inken hieß sie. Diesen
Namen kannte ich nur von Gerhart Hauptmann.“ „Bekommen Sie viele solcher Briefe?“ „Haufenweise. Und ich beantworte sie immer. Ich muß es zwar immer kurz machen, sonst käme ich ja nicht mehr zu meiner Arbeit, doch ich beantworte sie.“ „Aber wann schreiben Sie eigentlich Ihre Bücher?“ „Während ich stricke und koche und auf Kinder aufpasse.“ „Was?“ „Ja, wirklich! Dann schreibe ich die Kladde im Kopf. Manchmal plumpst mir eine Idee sozusagen direkt in den Suppentopf. Ab und zu kommen die Konflikte, während ich bei einem komplizierten Strickmuster bin. Hast du zufällig mein Buch ,Sie kann einem leid tun’ gelesen?“ „Ja, ich habe es von Inken geborgt. Es war großartig.“ „Nett, daß du das findest; es ist nämlich ein Buch, das mir selbst Spaß gemacht hat. Die Idee dazu kam mir, als ich einen großen Fußboden scheuerte. Ich stand gerade über dem Eimer gebückt und wrang den Lappen aus, da kam die Idee plötzlich über mich.“ „Und dann ließen Sie den Eimer stehen und begannen zu schreiben?“ „Durchaus nicht! Ich putzte den Boden weiter, ich glaube sogar, ich wusch ihn zweimal, so vertieft war ich in meinen Einfall. Die Idee ist ja nur der Anfang. Später muß sie ausgearbeitet werden, man muß den richtigen Hintergrund finden, die Personen müssen lebendig sein und die Handlung wirklichkeitsnahe, und dann muß es obendrein spannend sein!“ „Ja“, nickte ich. „Sonst liest es ja niemand.“ „Ja, darüber bin ich mir völlig klar, aber die Spannung muß in die Handlung so eingebaut werden, daß das Ganze nicht unwahrscheinlich wird, und das ist eigentlich das schwerste dabei. Und dann der moderne Jargon! Du glaubst nicht, wie oft meine jungen Freundinnen lachen, wenn ich sie anrufe und sie um die eine oder andere Redensart befrage. Zum Beispiel, was bedeutet ,eine Wucht’? Oder kann ich den Ausdruck ,lächerliche Kröte’ für einen unsympathischen Menschen verwenden?“ Ich mußte lachen. Edda Callies war so ulkig, wie sie dasaß und über ihre Schriftstellerei mit mir sprach, während die Stricknadeln munter klapperten. „Und nehmen Sie die Menschen aus dem Leben heraus?“ „Niemals. Ich habe niemals lebende Modelle benutzt und werde
es auch niemals tun. Natürlich kommt es vor, daß ich den einen oder anderen Charakterzug eines Menschen, dem ich begegnet bin, benutze oder irgendeinen treffenden Satz. Zum Beispiel hast du mir eine Kapitelüberschrift gegeben, die ich bestimmt benutzen werde.“ „Ich?“ fragte ich. „Gestern. Weißt du, was es war?“ „Ich ahne es nicht.“ „Niemand reitet auf Eseln, wenn es regnet.“ Da brach ich in Lachen aus. „Wollen Sie diesen Satz wirklich verwenden?“ „Ganz gewiß. Früher oder später einmal, denn er ist viel zu schön, um vergessen zu werden. Übrigens wolltest du mir ja den Zusammenhang erklären.“ „Ja, gern. Sie sind an Vertrauen von Teenagern gewöhnt. Es waren also nicht die Esel, die mich interessierten… übrigens sind sie reizend… es war der Eselstreiber.“ „Schau mal her, wo bist du denn herumgestreunt in deiner Einsamkeit?“ „Ich bin überhaupt nicht herumgestreunt“, sagte ich. Und dann erzählte ich die Geschichte von Pierre und den Eseln, daß er Pilot werden wollte, daß er versuchen wollte auf die Fliegerschule in Bremen zu kommen, und daß ich ihn sehr gern hatte. „Ja, ja“, sagte Edda Callies, „ich habe schlimmere Dinge als das gehört. Du brauchst also nur die Metro nach den Tuilerien zu nehmen, wenn du wieder auf Draht bist, und kannst mit deinem Pierre über Esel und Fliegerei weiter schwatzen.“ „Ich freue mich schrecklich darauf“, sagte ich, „kommen Sie vielleicht mit, um ihn zu begrüßen?“ „Ja, gern, doch es kommt darauf an, wann du wieder ausgehen kannst. Ich werde bei dir bleiben, bis du wieder ganz gesund bist, dann muß ich schleunigst nach Hause.“ „Haben Sie – mußten Sie etwa meinetwegen Ihre Pläne ändern?“ „Ja, ein wenig. Nicht so viel, daß es mir etwas ausgemacht hätte. Ich mußte mein Zimmer in der Pension in Neuilly aufgeben, ich brauchte ja schließlich nicht zu bezahlen, wenn ich hier im Haus herumschwirre und Krankenpflegerin spiele – es ist dir natürlich klar, daß ich es nur getan habe, um gratis zu wohnen?“ Ich lachte. „Ja, den Eindruck habe ich unbedingt! Wann müssen Sie denn reisen?“ „Vielleicht in fünf oder sechs Tagen, wenn du wieder fest auf den
Beinen bist.“ „So lange? Das ist ja phantastisch“, sagte ich. „Keine Spur phantastisch, sondern vernünftig. Jetzt bekommst du gleich Mittagessen. Was meinst du zu einer Bouillon und einem Stück gekochten Fisch hinterher?“ „Ich sage zu allem ja, ausgenommen Krabbensalat.“ „Und Pfannkuchen“, sagte Edda Callies, legte das Strickzeug weg und ging in die Küche.
Wilde Tiere und enge Schuhe Es war Frühling in Paris. Ich war frisch wie ein Fisch und ging auf den Champs-Elysées in meinem Kostüm und einer frisch gewaschenen Bluse und mit meinen feinen Schuhen von Printemps. An meiner Seite ging Tante Edda. Jetzt durfte ich auch „Tante Edda“ sagen. „Alle meine jungen Freundinnen tun das, so sehe ich nicht ein, warum du eine Ausnahme sein sollst“, hatte sie lächelnd gesagt. Wir gingen auf den Tuileriengarten zu. Heute strahlte die Sonne, heute mußte Pierre mit den Eseln da sein. Aber heute konnte ich ihm nicht helfen, dazu war ich viel zu fein angezogen. Mein Kostüm sah wirklich schick aus, und die Schuhe… „Willst du damit in Paris herumlaufen?“ fragte Tante Edda und sah mißbilligend auf meine Füße. Aber ich versicherte, daß ich meilenweit darin laufen könnte. „Das glaube ich erst, wenn ich es gesehen habe“, sagte Tante Edda. Sie hatte selbst bequeme Schuhe mit niedrigen Absätzen an und eine praktische Einholtasche, in die man viel hineinpacken konnte. In strahlender Sonne durch Paris wandern, sich frisch, stark und glücklich fühlen und die beste Tante an seiner Seite haben – himmlisch gut ging es mir! Diesen Tag wollte ich genießen, genießen bis zum letzten Zug, denn morgen wollte Tante Edda abreisen. „Ich gehe gar nicht gern von dir weg, Britta“, hatte sie am Tag zuvor gesagt, „ich kenne die Verantwortung, die ich für dich habe, und das, was du mir anvertraut hast, ist mir eine schwere Last. Ich weiß, daß ich deinem Vater schreiben sollte, damit er zurückkommt. Aber auf der anderen Seite verstehe ich dich so gut, und das Opfer, das du deinem Vater gebracht hast, darf ich dir nicht zerstören. Auf eines mußt du mir dein Ehrenwort geben, Britta: daß du mir telegrafierst, wenn dir auch nur das Allerkleinste zustößt; meine Adresse hast du ja. Und wenn du mir jeden Tag eine Karte schriebst, wäre ich sehr erleichtert. Du brauchst nur zu schreiben ,alles in Ordnung’, dann bin ich beruhigt. Bekomme ich an einem Tag einmal keine Karte, fange ich an, mich zu sorgen.“ „Du sollst jeden Tag eine Karte bekommen“, sagte ich. „Nun habe ich zwei ganz feste Aufgaben als Tagesprogramm, Karte für
dich und Karte für Ellen, und jeden zweiten Tag Karte für Vati! Alles für die französische Staatspost!“ Tante Edda kaufte zwanzig Postkarten und legte sie auf meinen Nachttisch. Nun waren wir also in Paris; gleich würde ich Pierre wiedersehen und ihn Tante Edda vorstellen! Meine Schuhe waren nicht mehr ganz so bequem; aber das gab sich sicher, wenn sie sich etwas ausgeweitet hatten. Je mehr wir uns dem Eingang zu den Tuilerien näherten, desto mehr vergaß ich, daß meine Füße wehtaten. Da waren meine Esel! Dort fuhr der Wagen, aber was in aller Welt war das? Was bedeutete es? Der Mann, der den mir so wohlbekannten kleinen Wagen führte, sah ganz anders aus als Pierre. Alt, dick, mit einem Bart. „Ach, Tante Edda, er ist nicht da!“ Wir blieben stehen und schauten von weitem zu. Da kamen sie schon zurück. Die Kinder wurden aus dem Wagen gehoben, eine neue Besatzung stieg ein. Dann trabten sie wieder davon. Kein Pierre! Aber Bijou stand angebunden da. Ich mußte schnell zu ihr hin, um sie zu streicheln. Jetzt wendete der Wagen dort unten bei dem üblichen Baum. Vielleicht war es besser zu verschwinden; ich wollte nicht noch einmal in den Verdacht kommen, ich hätte den Eseln Zucker gegeben! „Ach, wie schade, Britta“, sagte Tante Edda, „ich hätte so gern deinen Studenten getroffen, schade, daß er nicht deine Adresse hat.“ „Und ich habe auch nicht seine.“ „Was wollen wir jetzt machen? Vielleicht die Tauben füttern?“ „Ich weiß nicht, es ist vielleicht ein bißchen schade um mein Kostüm. Sonst ist es das lustigste, das ich mir vorstellen kann.“ „Na, hör mal, Britta, wir tun etwas, wozu man zu zweit sein muß. Kirchen kannst du allein anschauen, Museen auch, ausgehen und allein essen macht keinen Spaß, das wollen wir heute zusammen tun. Ich lade dich ein. Aber was muß man sonst zu zweit machen? Oh, ich weiß! Wollen wir in den Zoologischen Garten in Vincennes fahren? Ich lade dich auch dorthin ein.“ „Großartig, Tante Edda, es ist bloß…“ „Nanu, was steht dem denn im Wege? Bist du noch müde und schlapp?“ „Nein, ich bin so frisch wie ein Fisch. Nein, es fehlt gar nichts, Tante Edda, ich will wirklich schrecklich gern nach Vincennes.“
„Ein bißchen miesepiepig, weil du Pierre nicht getroffen hast?“ „Ja, enttäuscht bin ich schon, aber weißt du, wenn du morgen abgereist bist, gehe ich wieder in die Tuilerien und frage den alten Mann nach Pierre.“ „Traust du dich das auf französisch?“ „O ja. Ich habe jetzt irgendwie Mut, es wird schon gehen.“ „Dann hast du es schon halb geschafft. Herzlichen Glückwunsch.“ Wir gingen die Metrotreppe hinunter, und ich hätte laut schreien können. Oh, die verflixten Schuhe! Hätte ich sie bloß nie gekauft oder hätte ich wenigstens auf Tante Edda gehört! Wenn ich nur meine geliebten ausgetretenen alten Sandalen angezogen hätte, die ich im Hause immer trug! Als ob sich in dem Menschengewimmel von Paris jemand darum kümmerte, ob Britta Dieters vom Seehundsrücken Sandalen anhatte oder Schuhe mit Pfennigabsätzen! Und in diesen scheußlichen Folterapparaten sollte ich einen halben Tag im Zoo herumlaufen! Die Metrofahrt war lang. Ich schlüpfte heimlich halb aus den Schuhen heraus und bewegte meine armen Zehen. Das erleichterte etwas. Wir sprachen nicht viel in der Metro, dort ist es ja so laut, daß man einander schwer versteht. Ich saß und hing meinen Gedanken nach. Das Geld von Vati war nicht gekommen. Unbegreiflich! Vati würde mich doch niemals im Stich lassen. Tante Edda hatte bestimmt den Brief in den Kasten geworfen, darauf könnte ich die Hand ins Feuer legen. Warum also kam kein Geld? Oder hatte Vati einen anderen gebeten, zur Post zu gehen? Das würde ihm ähnlich sehen, ihm, der von allen Menschen nur das Gute dachte! Vielleicht hatte dieser andere das Geld unterschlagen? Ich war sehr knapp dran. In der Haushaltskasse lagen nur noch ein paar Francs, und in das Geld in meinem Brustbeutel hatte die Arztrechnung ein häßliches Loch gerissen. Tante Edda wollte nichts davon wissen, daß ich ihre Ausgaben ersetzte, die sie während meiner Krankheit hatte. „Die Zwiebäcke und das Katzenfutter sind die Hausmiete“, sagte sie, „ich wohne ja gratis bei dir, Britta. – “ Ich hätte natürlich einiges darauf antworten können, aber es war viel zu verlockend, ihren Vorschlag anzunehmen… „So, Britta, wir sind da.“ Es war nur eine kleine Strecke von der Metro zum Zoo, aber ach, wie litt ich! Sehnsüchtig dachte ich an meine alten ausgetretenen
Sandalen… Dort lag der Zoo vor uns – mit Umzäunungen und künstlichen Klippen, mit vielen Tieren und mit langen, langen Wegen, die in engen Schuhen mit Pfennigabsätzen zurückgelegt werden mußten. „Komm, wir setzen uns erst mal und studieren das Programm.“ Nichts hätte ich in diesem Augenblick lieber gehört… und getan. Wir setzten uns auf eine Bank. Tante Edda sah mich an. Ihre blauen Augen leuchteten verschmitzt. „So, Britta, nun denke ich, hast du genug gelitten. Bitte schön!“ Und aus ihrer großen Tasche kamen – meine alten Sandalen! Ich hätte sie umarmen können, wenn es also möglich gewesen wäre, Schuhe zu umarmen. Im nächsten Augenblick war ich ein neuer und glücklicher Mensch, ich sprang von der Bank auf und konnte es gar nicht erwarten, möglichst viel vom Zoo zu sehen. Die Folterschuhe verschwanden in Tante Eddas Tasche. „Wirf sie in den Seehundsteich, Tante Edda, oder der Elefant soll sie fressen.“ „Das Füttern der Tiere ist verboten“, sagte Tante Edda trocken. „Dies Verbot ist für Menschen wie dich gemacht, Menschen, die die Tiere mit Zucker oder Schokolade oder Schuhen mit Bleistiftabsätzen füttern – “ Wir verbrachten mehrere Stunden in Vincennes. Natürlich ging ich gleich zu den Eseln. Für die hatte ich eine ganz besondere Vorliebe. „Ja, ich mag auch die Tiere von der Pferdefamilie“, sagte Tante Edda. „Die reizenden Shetlandponies, zum Beispiel – “ „Ja, und weißt du, diese Tiere sind es ja seit Jahrhunderten gewohnt, in Gefangenschaft gehalten zu werden. Es tut nicht so weh, sie hinter Gittern zu sehen.“ „Tut es dir denn weh, die anderen zu sehen?“ „Dir nicht?“ fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht. Siehst du, ein moderner, gut geleiteter und großzügig angelegter Zoo ist wie ein gutes Heim für die Tiere. Sie werden genährt und gepflegt und können sich bewegen – nein, sieh doch, wie der Bock da springt! – und sie sind geborgen, geschützt gegen Jäger auf vier und auf zwei Beinen. Hast du eine Ahnung, wieviel herrliche Tiere durch sinnlose Jagd ausgerottet sind? Weißt du, daß weder du noch ich noch irgendein Mensch auf der Welt jemals ein Quagga zu sehen bekommen wird? Schon im vorigen
Jahrhundert starb diese Art aus. Die Zoos hüten die Tiere, die uns übriggeblieben sind, und pflegen sie so gut, daß sie gedeihen und sich vermehren und uns erhalten bleiben.“ „Schöner wäre es aber, wenn sie draußen in der freien Natur erhalten bleiben könnten“, meinte ich. „Ja, klar. Und es wird auch sehr viel getan, damit das gelingt. Setze dich mal hin mit einer Afrikakarte und zähle, wieviel Nationalparks es da gibt. Oder in Amerika! Oh, wenn alle Menschen doch einsehen würden, wie wichtig es ist, jedes Geschöpf Gottes zu erhalten!“ „Aber Tante Edda! Was ist mit dem Kalbsbraten, den wir gestern aßen?“ „Hätte ich auch nicht gegessen, falls die Kälber große Seltenheiten wären und in Gefahr stünden, ausgerottet zu werden.“ Ich lachte, und wir gingen weiter. Etwas später waren wir bei den Menschenaffen. Ich blieb lange vor einem Käfig mit einem prachtvollen Gorilla stehen. „Tante Edda“, sagte ich. „Sieh dir die Augen an! Und den Ausdruck!“ „Geht es dir jetzt so wie mir, Britta! Daß du dich beinahe schämst, weil ein so herrliches Tier mit einem so hochintelligenten Aussehen hinter Gittern sitzt und für Geld gezeigt wird?“ „Ja, so ungefähr empfinde ich es.“ „Hoffentlich fühlt es der Gorilla nicht. Übrigens, hat er es vielleicht auch nur der Gefangenschaft zu verdanken, daß er am Leben ist. Die Gorillas gehören nämlich auch zu den Tieren, die kurz vor der Ausrottung standen. Jetzt aber bemüht man sich redlich, diese prachtvollen Tiere zu erhalten!“ „Beinahe glaube ich, du hast die Tiere genauso lieb wie die Menschen, Tante Edda!“ Sie lächelte. „Ja, es fehlt nicht viel daran“, gab sie zu. „Wäre ich noch jung, so wüßte ich, was ich täte. Ich studierte Zoologie. Ich möchte alles tun, um den Tieren zu helfen.“ „Aber du kannst ja darüber schreiben, Tante Edda“, sagte ich. „Das tue ich auch“, sagte Tante Edda. „Ich schreibe ab und zu Artikel in den Wochenzeitschriften. Doch bin ich nun einmal kein Zoologe, ich bin nur ein gewöhnlicher Naturfreund.“ „Nicht ganz so gewöhnlich“, sagte ich. „Es ist besonders schön, mit dir zu gehen, Tante Edda. Es ist, als ob du über alles gründlich nachgedacht hättest. Du bist so sicher, du hast immer so klare
Ansichten.“ Sie lächelte ein wenig. „Es ist vielleicht etwas dran, Britta. Weißt du, woher das kommt?“ „Weil du ein kluger Mensch bist“, sagte ich. „Weit entfernt, ich bin keine Spur klüger als der Durchschnitt. Nein, es kommt von der Einsamkeit. Ich bin nicht einsam in einer bitteren Weise, gar nicht. Ich habe so viele gute Freunde, daß ich es nie nötig habe, einsam zu sein. Aber ich kann einsam sein, wenn ich es will. Und ich will es oft. Siehst du, Britta, die Einsamkeit ist zuerst eine Art Qual, dann gewöhnt man sich daran; dann entdeckt man, wieviel Gutes sie einem gibt; und wenn einige Zeit vergangen ist, kann man sie einfach nicht mehr entbehren. Nur wenn man allein ist, lernt man sich selber kennen, und wenn man sich selbst kennt, kann man sich auch selbst erziehen. Und das ist etwas, was wir alle nötig haben.“ Ich horchte. Ich horchte mit weit offenen Ohren. So logisch und klar hatte mir nie zuvor jemand etwas erklärt. „Am liebsten würde ich dich auf der Stelle umarmen, Tante Edda“, sagte ich. „Eines ist mir klargeworden: wenn es einen Menschen in der Welt gibt, den ich nicht kenne, so ist es Britta Dieters – weißt du, Tante Edda, das begriff ich, als Pierre mich fragte, wofür ich mich interessiere. Es war ganz schrecklich, denn ich wußte es nicht. Ich habe keine bestimmten Zukunftspläne. Ist das nicht schrecklich, wenn man über sechzehn Jahre alt ist? Aber wenn du jetzt fährst – wovor mir ja graust – werde ich mich hinsetzen und versuchen, Britta Dieters kennenzulernen.“ „Und davor braucht dir nicht zu grausen“, sagte Tante Edda. Wieder leuchteten ihre schönen blauen Augen: „Ich glaube nämlich, daß es sich lohnt, Britta Dieters kennenzulernen.“ Wir waren so in unser Gespräch vertieft, daß wir tatsächlich vergaßen, Lunch zu essen. So tranken wir nur Kaffee und aßen Kuchen in dem Zoorestaurant. Und dann fuhren wir mit der Metro in das Studentenviertel und aßen Mittag in einem Selbstbedienungsrestaurant, wo es von Studenten wimmelte. „Das wollte ich dir nämlich zeigen“, sagte Tante Edda. „Wenn du allein in der Stadt bist, kannst du gut in ein solches Restaurant gehen. Es gibt Tausende von jungen Mädchen, die das tun. Hier wirst du nicht übers Ohr gehauen, hier gibt es kein Trinkgeldproblem, und wie du siehst, sind die Preise überall angeschrieben, so daß du dich nach deinem Geldbeutel einrichten kannst.“
Ja, das war wirklich sehr praktisch. Als erstes holten wir uns ein Tablett, dann gingen wir an einem Glastisch entlang, wo alles der Reihenfolge nach aufgestellt war: Vorspeisen, kleine Salate, Leberpastete, Eier in verschiedener Form und dann warme Gerichte auf kleinen Metallplatten angerichtet. Dann kamen Käse, Früchte und ganz kleine Flaschen mit Saft oder Rotwein. Zum Schluß ein großer Korb, aus dem man sich Brot holen konnte; dann zu einer Kontrolldame, die uns das Besteck aushändigte und eine Rechnung für das, was wir auf dem Tablett hatten. Dann hieß es einen Platz an einem Tisch zu suchen, uns das Essen schmecken zu lassen und schließlich am Ausgang zu bezahlen. „Aber denk daran, man muß beizeiten hier sein“, sagte Tante Edda. „Kommst du erst um halb eins, so riskierst du, in eine Schlange zu geraten, die sich über den ganzen Bürgersteig bis zur Fahrbahn erstreckt.“ „Wie gut du in allem Bescheid weißt, Tante Edda“, sagte ich. „Bist du oft in Paris?“ „Ja, ab und zu. Von Aachen aus ist es ja nicht weit. Ich schenke mir selber jedes Jahr eine Reise; das ist einfach nötig für mich, um neue Eindrücke zu sammeln, sonst wiederhole ich nur mich selbst in meinen Büchern.“ „Fährst du auch manchmal nach dem Norden?“ „Ja, zuweilen. Ich bin in Dänemark und Südschweden gewesen. Sag mal, du kannst doch Dänisch?“ „Jawohl, Mutti sprach oft dänisch mit mir. Aber du brauchst ja nicht gar soweit zu reisen, Tante Edda. Der Seehundsrücken liegt auf der deutschen Seite der Grenze, und du glaubst gar nicht, was für ein gesundes Klima wir haben. Im Sommer vermieten wir Zimmer an Sommergäste. Bei besonders lieben Gästen ist der Mietpreis gleich Null, möchte ich bemerken.“ „Ja, das wäre ja etwas für mich“, sagte Tante Edda trocken. „In der letzten Woche war meine Hausmiete auch gleich Null. Es ist übrigens das erste Mal in meinem Leben, daß ich in eine Wohnung hineingewandert bin und mich dort niedergelassen habe, ohne dazu aufgefordert worden zu sein.“ „Tja, was hätte ich denn machen sollen! Aber im Ernst! Es ist herrlich bei uns im Sommer.“ „Ich zweifle keinen Augenblick. Wir werden sehen, Britta, wir werden sehen.“
Es war unser letzter Abend. Tante Edda packte, und trotz allem hatte ich einen Kloß im Hals. Allerdings sah für mich alles anders aus als vorher. Alles war leichter und heller, aber trotzdem… Einen Trost hatte ich: Eine Karte von Ellen. Sie schrieb, daß der letzte Abstrich bazillenfrei war. Noch zwei Abstriche mit einem Zwischenraum von einer Woche; wenn die auch in Ordnung waren, würde sie aus dem Krankenhaus entlassen. Aber noch standen mir vierzehn einsame Tage bevor – mindestens. Von Vati wieder keine Post. Unbegreiflich! Ich fragte Tante Edda, ob sie den Brief bestimmt in den Kasten gesteckt habe. „Das kann ich beschwören“, versicherte sie. Naja, dann mußte ich morgen telegrafieren. Ich kam aus der Küche. Tante Edda stand da und starrte auf ein Bild. Es hatte an der Wand im Schlafzimmer gestanden, mit der Rückseite zum Zimmer. Sie hatte es umgedreht aufgestellt, daß das letzte Tageslicht darauf fiel. „Ach, das hat Vati in der ersten Woche hier gemalt“, sagte ich. „Gefällt es dir?“ Sie drehte sich um und lächelte. „Es ist fabelhaft, Britta“, sagte sie. „Wenn ich nur begreifen könnte, wie es deinem Vater geglückt ist, dieses merkwürdige Licht einzufangen. Dieses wunderbare, halbwegs blaue Licht, das alle anderen Farben in sich vereint. Diese merkwürdige blaue Farbe, die irgendwie Gold enthält. Es ist so typisch Paris, so absolut Paris, daß man den Straßenlärm hört und die Seine und die Metro riecht.“ „Das ist aber kein guter Geruch“, lachte ich. „Vielleicht nicht, aber er ist typisch. Der Metrogeruch gehört zur Pariser Stimmung und ist unlöslich mit ihr verknüpft. Ja, Britta, ich bin – wie sagt ihr jungen Leute doch? – toll begeistert. Es ist recht und schlecht…“ „Eine Wucht!“ schlug ich vor. „Meinetwegen! Wenn du einmal deinem Vater die Wahrheit erzählst und auch von mir sprichst, so grüße ihn herzlich und sage ihm, daß ich ihm zu dem kleinen Meisterwerk hier gratuliere.“ „Er soll es wörtlich kriegen!“ gelobte ich. Das bekam er auch – später. Viel später. Es war Schlafenszeit, und ich legte mich mit schwerem Herzen ins Bett. Morgen um diese Zeit würde ich allein sein. Aber dann raffte ich mich auf. Jetzt sollte mein Selbstmitleid ein Ende haben!
Jetzt wollte ich vernünftig sein! Das war ich Tante Edda schuldig.
Der alte Philosoph Der Zug war abgefahren. Ich blieb zurück auf dem Bahnsteig mit dem Taschentuch in der Hand. Nun hatte es keinen Sinn mehr zu winken. Ich biß mich auf die Unterlippe. Nicht heulen, Britta, sagte ich zu mir. Du bist voll guter Vorsätze, es wäre noch schöner, wenn du den Anfang mit Plärren machtest. Ich biß die Zähne zusammen, hob den Kopf und ging durch die Sperre. Was hatte ich mir denn für heute vorgenommen? Zuerst an Vati schreiben! Ich hatte noch zwei von Omis Zwanzigmarkscheinen. Wenn ich sie wechselte, würde ich schon durchkommen und die Katzen und mich einige Tage füttern können. Ich hatte noch einige Briefmarken. Es war also besser, das teure Telegramm zu sparen. Und was wollte ich sonst unternehmen? Nichts, was Geld kostete. Der Louvre kam nicht in Frage, der mußte bis zum Sonntag warten, dann war der Eintritt frei. Aber sollte ich jetzt nach Colombes zurückfahren? Oder lieber einen Spaziergang ins Zentrum machen, da ich ja sowieso in Paris war? Metro-Billette hatte ich haufenweise. Tante Edda hatte mir ihr ganzes Heft gegeben. Was ich unter anderem noch nicht gesehen hatte, war die Vendome-Säule und das Hotel Ritz. Beides kannte ich aus einem Audrey-Hepburn-Film, nun konnte ich es ja in Wirklichkeit ansehen. Die Vendome-Säule, auf deren Spitze Maurice Chevalier gestanden hatte und durch die Hotelfenster spioniert hatte – er spielte einen Privatdetektiv. Also zur Metro! Als ich durch die Sperre ging, kam mir ein Gedanke! So lange ich unter der Erde blieb, konnte ich den ganzen Tag fahren und fahren. Es gab keine Billettkontrolle. Nur in der ersten Klasse wurde hie und da kontrolliert, damit die Leute nicht mit einem ZweiterKlasse-Billett fuhren. Wenn ich nun mit der Metro hin und zurück führe und unzählige Male umstiege? Nicht um die Zeit totzuschlagen – nein, um die Augen aufzusperren, verschiedene Sprachen zu hören, neue Typen
zu sehen, kurz gesagt, einen großen Teil jenes Pariser Lebens zu studieren, das unter der Erde vor sich ging. Gesagt, getan. Ich fuhr stundenlang, und das machte Spaß. Etwas, was bei uns immer ein Lächeln hervorlockte, waren die meterlangen Brote, die alle Menschen mit sich schleppten. Nicht nur Hausfrauen, sondern Männer und Kinder fuchtelten mit diesen dünnen und langen Dingern herum, immer uneingepackt, schrecklich unhygienisch. Aber wie Tante Edda eines Tages gesagt hatte: Im Anfang dachte ich an die schönen, sauberen, in Cellophan verpackten Brote zu Hause. Dann habe ich kapituliert. Diese langen, unhygienischen Brote gehören auch zur Atmosphäre von Paris. Ich entschloß mich erst wieder, ans Tageslicht hinaufzugehen, als ich einen Mordshunger hatte. Hoffentlich fand ich einen Maronenmann auf der Straße! Die Maronen waren billig und schmeckten großartig. Nach zwanzig Minuten verließ ich die Metro. Auf dem Bahnsteig wimmelte es vor Menschen. Auf einer Bank saß der herrlichste Clochard, den ich je gesehen hatte. Groß und dick, mit einem dichten Bart und unwahrscheinlich dreckig. Sein zerlumpter Mantel wurde durch eine Riesen-Sicherheitsnadel zusammengehalten. Aus den zehenfreien Sandalen schauten ein Paar unglaubliche Strumpffüße heraus. Aus dem einen Strumpf suchte eine noch unglaublichere, große Zehe die Freiheit. Oh, wenn Vati ihn gesehen hätte! Er hätte den Stift und sein Skizzenheft gegriffen und den halben Tag unter der Erde verbracht. Ich weiß nicht, ob der Clochard gemerkt hatte, daß ich ihn anstarrte. Er hob die Hand mit einer vollendet ritterlichen Bewegung und sagte: „O là là – un rayon de soleil dans les ténèbres souterraines.“ Ich verstand es! Ich verstand es wirklich. Ein Sonnenstrahl im unterirdischen Dunkel. Der Sonnenstrahl war ich, ja ja. Es kommt nicht jeden Tag vor, daß man ein solches Kompliment von einem Kavalier zu hören bekommt! Der Kavalier saß mit seiner zerknüllten Tüte in der Hand da. Jetzt sah ich, was es war. Es waren Maronen – warme Kastanien. Ich mußte einfach ein paar Worte mit ihm wechseln. Er war zu herrlich in seinen Lumpen und seinem Schmutz und mit seiner blühenden Kavalierssprache. Ich versuchte, einen Satz auf französisch zusammenzustoppeln. Ob es richtig war, weiß ich nicht, aber mein Freund verstand ihn:
„Entschuldigen Sie, Monsieur, ich wollte gerade Kastanien kaufen; bekommt man die hier in der Nähe?“ „Mademoiselle will Kastanien kaufen? Mademoiselle, Kastanien sind für mich und meinesgleichen. Mademoiselle sollten Nachtigallenzungen essen und Champagner dazu trinken.“ „Mais pas pour le déjeuner“, sagte ich. „Aber nicht zum Frühstück.“ Diese Antwort fand der alte Lazzarone großartig, er schlug sich auf die Schenkel und lachte so sehr, daß es ihn schüttelte. „Mademoiselle ist Ausländerin.“ Er betrachtete mich mit seinen erfahrenen beduselten alten Augen. „Zehn Centimes, wenn ich richtig rate?“ „Oui, Monsieur!“ „Deutsch“, sagte er, „Norddeutsch.“ Ich gab ihm zwanzig, da hielt er mir die Kastanientüte hin. „Nehmen Sie Platz, Mademoiselle, darf ich Ihnen eine Kastanie anbieten?“ Ach was, dachte ich, die Kastanien haben Schalen, und innen sind sie immer rein. Dann saßen wir zusammen und teilten brüderlich den Inhalt der Tüte. Mein neuer Freund schwatzte bereitwillig. „Ich bin Philosoph, Mademoiselle. Ich habe auf die Güter dieser Welt verzichtet, um das einzige große Gut genießen zu können: die Freiheit!“ „Wo wohnen Sie?“ fragte ich. Er machte eine allumfassende Bewegung. „Überall, Mademoiselle! Wo eine Bank steht, da ist mein Heim. Wo eine Blume wächst, ist mein Garten. Mir gehören die Bäume im Park, mir gehören die Skulpturen und Museen, mir gehört jeder Diamant, der in der Rue de la Paix ausgestellt ist. Mir gehört alles, weil die Welt mir gehört. Es gehört mir, weil ich zwei Augen habe und es sehen kann. Wenn ich einen Diamant für zehntausend Francs kaufen könnte, welche Freude hätte ich an ihm, außer der einen, daß ich ihn sehen könnte? Das kann ich jedoch, ohne daß ich ihn kaufe.“ „Aber Essen und Trinken?“ fragte ich. „Es genügt doch nicht, Kastanientüten anzuschauen, um satt zu werden.“ „Nein“, seufzte er tief. „Das ist die einzige Lücke in meinem philosophischen Glück. Wenn meine Kleider zu schäbig werden, setze ich mich hin und schaue auf die anderen Menschen in neuen Kleidern und denke dabei, daß sie auch keine andere Freude an der
Pracht haben, als die, daß sie schön anzusehen ist. Ich habe ja dieselbe Freude, ich sehe sie sogar umsonst! Solange meine eigenen Lumpen mich wärmen, ist alles in Ordnung.“ Die Kastanientüte war leer. Ich legte fünfzig Centimes in seine Hand. „Mademoiselle, Sie beleidigen mich. Habe ich Sie nicht eingeladen, meine bescheidene Mahlzeit mit mir zu teilen?“ Er meinte es! Es war sein voller Ernst. Ich mußte die Münze zurücknehmen; denn ich verstand ihn. „Sind Sie oft hier?“ fragte ich. Er legte die Hand aufs Herz. „Jeden Tag, Mademoiselle, jeden Tag, bis das Glück Sie mir wieder über den Weg führt.“ Ich reichte ihm die Hand zum Abschied. Ich konnte ja meine Hände waschen, in Paris gibt es viele Brunnen. Ich will nicht behaupten, daß unsere Unterhaltung so fließend ging, wie ich sie wiedergebe. Ich verstand auch nicht jedes Wort, aber den Sinn begriff ich. Außerdem hatte mein lieber Clochard mir beigebracht, was „zerlumpt“ und „Lücke“ hieß. Kein Zweifel, man lernt eine neue Sprache am besten, wenn man mit den Einheimischen redet. Ein bißchen später stand ich vor der Vendome-Säule. Dann ging ich durch die Rue de la Paix, und ich blieb mit offenem Mund und großen Augen vor den Juwelierläden stehen. Da gab es Diamanten, die meiner Meinung nach nur für Königinnen und Kaiserinnen passen könnten, Ohrringe in so phantastischen Formen, wie ich sie nur in Filmen gesehen hatte. Dort war ein Fenster nur voll Brillanten, ein anderes mit Saphiren, ein drittes mit blutroten Rubinen, und in einem vierten gab es Diademe, Halsketten, Broschen, Ringe und goldene Armreifen mit Smaragden, umgeben von Brillanten. Ich dachte an meinen philosophischen Clochard. „Mir gehören alle Diamanten in der Rue de la Paix“, hatte er gesagt. Eine wunderbare Philosophie, die er sich zurechtgelegt hatte! „Wenn man sie besitzt, hat man auch keine andere Freude daran, als sie anzuschauen.“ Und wir, mein Clochard und ich, hatten genau dieselbe Freude. Ich stand und besah diese funkelnden Steine und fand es himmlisch. Ein Geschäft nach dem anderen. Alle mit Prachtstücken, die wunderbar anzusehen waren – ich meine zu besitzen!
Die Leute bezahlen große Eintrittsgelder, um in Museen zu gehen und Kronjuwelen zu sehen. Ich aber konnte hier für ganz umsonst schauen, so lange es mir Spaß machte. Kein Touristenführer stand daneben und drängte weiter. Da kam ein Geschäft ganz anderer Art. Plötzlich stand ich vor einem Fenster mit kleinen Schmuckgegenständen. Ich traute meinen Augen kaum: kleine Schmuckgegenstände mit Preiszetteln! Preiszettel in der Rue de la Paix! Nun ja, wenn die großen Geschäfte das haben sollten, hätten sie wohl Klorollen nehmen müssen, damit all die Nullen Platz hätten! Hier lag eine reizende kleine Diamantbrosche für fünfzehn Francs – und tatsächlich, es gab sogar eine für dreizehn! Ich schaute auf den Namen des Geschäftes. „Burmaschmuck“ hieß es. Das mußte ich bei Gelegenheit untersuchen. Daß es sich um Imitationen handelte, war klar, aber was für reizende Imitationen! Nein, jetzt mußte ich weitergehen. Ich zog den Stadtplan aus der Tasche und versuchte, mich zu orientieren. Alle Erklärungen waren dreisprachig geschrieben. Ich faltete den Plan so, daß ich den deutschen Teil lesen konnte, ohne andere Menschen anzustoßen. Denn überall um mich waren Menschen. Jetzt war ich es gewohnt. Von zu Hause war ich es auch gewohnt, daß die Touristen mich auf der Straße ansprachen. Deswegen erschrak ich nicht, als eine fremde Stimme mir in gebrochenem Deutsch direkt ins Ohr sagte: „Hübsche Juwelen hier in Paris, Fräulein, was wollen Sie für ein Halsband wie dieses hier geben?“ Ich drehte den Kopf. Das Gesicht, das zu der Stimme gehörte, war ausgesprochen unsympathisch. Was hatten Tante Birgit und Vati gesagt? Was hatte Ellen geschrieben? Und was hatte Tante Edda viele Male betont? „Laß dich niemals mit Fremden ein! Wirst du auf der Straße angesprochen, so antworte kurz, scharf und abweisend. Kannst du nicht antworten, so drehe dich auf dem Absatz um und verschwinde. Gehe niemals allein am Abend auf die Straße!“ Auf französisch hätte ich sicher nicht kurz und abweisend antworten können, aber auf deutsch konnte ich! „Ich trage nur echte Diamanten. Das letzte Dutzend warf ich heute in den Abfalleimer, weil sie staubig waren.“ Damit machte ich eine halbe Drehung und trabte schnell an den Prachtgeschäften vorbei, quer über den Vendôme-Platz und weiter, nur schnell, ohne mich umzusehen.
Als ich eine breite Straße gekreuzt hatte, blieb ich stehen, um mich zu orientieren. Nein so was! Ich stand direkt vor dem Eingang zu den Tuilerien. Schon wieder! Ich konnte nicht anders, ich mußte hineingehen. Da war Bijou; der große Graue war nicht da, er war wohl unterwegs. Ja richtig, da unten auf dem Weg führte der Alte den Grauen. Ich mußte schnell hin zu Bijou, um ihr das Maul zu streicheln. „Kleine Bijou“, flüsterte ich auf deutsch, „wenn du nur reden könntest! Wenn du mir nur sagen könntest, wo Pierre ist.“ Ich glaube, Bijou erkannte mich. Sie rieb wieder ihren Kopf an meiner Schulter, und ich blieb stehen und streichelte ihr den weichen, warmen Hals. Sollte ich es wagen, den alten Mann anzusprechen, sollte ich ihn fragen, ob er wisse… Aber ich kam gar nicht dazu… Ich war so vertieft in das Wiedersehen mit Bijou, daß ich überhaupt nicht gemerkt hatte, wie der Graue zurückkam. Und dann sagte jemand: „Entschuldigen Sie, Mademoiselle, Sie sind doch nicht etwa Britta Dieters?“ Ich fühlte, wie mein Gesicht flammend rot wurde. Ich war so unsagbar froh! „Ja, Monsieur, die bin ich!“ Er kramte in seiner Tasche und holte einen zerknüllten Brief hervor. „Er hat so lange in meiner Tasche gelegen, Sie müssen entschuldigen.“ Ich sah den Brief an. Er trug die komischste Adresse, die ich je gesehen habe. „Britta Dieters, blond, schlank, 16 Jahre, kommt zur Frühstückszeit und streichelt Bijou, entweder blauer Pullover und lange Hose oder ein hellbraunes Kostüm, wahrscheinlich mit weißer Bluse, deutsch, versteht ein bißchen Französisch.“ „Ah, Monsieur, merci – mille merci – je suis si heureuse – “ „Ich fürchtete beinahe, daß Sie nie mehr kommen würden“, sagte der Alte. „Ich trage diesen Brief seit vierzehn Tagen in meiner Tasche. Au revoir, Mademoiselle, nehmen Sie Platz und lesen Sie den Brief, entschuldigen Sie mich, ich habe Kundschaft!“ Er blinzelte verschmitzt und hob eine Dreijährige mit wippendem Röckchen und Kniestrümpfen auf Bijou. Mit klopfendem Herzen saß ich auf unserer Bank und war taub und blind für alles um mich herum. „Liebe Britta!
Drei Tage sind vergangen, seit Du hier warst. Ich fange an zu befürchten, daß Dir etwas zugestoßen ist. Ich könnte mich selber ohrfeigen, weil ich nicht nach Deiner Adresse gefragt habe. Jetzt geht der Eseljob für mich zu Ende. Ich habe Glück gehabt und einen Posten als Führer in dem Reisebüro ,International’ bekommen. Ich soll Deutsche und Engländer führen. Es strömen im Augenblick solche Mengen nach Paris, daß die Büros mehr Leute einstellen müssen. Zum Glück ließ mich der alte Mann, dem das Eselsgeschäft gehört, gehen und übernahm selbst den Job. Jetzt hoffe ich nur inständig, daß Du wieder in den Park kommst und Bijou streichelst, damit Monsieur Coreille Dich sieht und Dir diesen Brief übergeben kann. Sei so gut und laß von Dir hören. Ich fand, daß wir uns so gut verstanden und daß wir gerade auf dem Weg waren, gute Freunde zu werden. Wollen wir die Freundschaft nicht fortsetzen? Du findest mich, wenn Du Wert darauf legst, mich zu finden, erstens einmal unter meiner Adresse, siehe unten, und zweitens, leichter und näher im Büro ,International’, täglich zwischen neun und halb zehn Uhr und zwischen zwölf und zwölf Uhr dreißig. Da stehe ich nämlich und zähle die Kunden für die ,sightseeing tour’ von einhalb zehn und zwölf Uhr dreißig. Stehe ich nicht draußen, so bin ich im Büro, aber in der Regel warte ich draußen auf die Busse, auf denen ,Deutscher Führer’ oder ,Deutsch-englischer Führer’ steht. Kriege ich Dich wieder zu sehen, Britta? Herzlichen Gruß von Pierre.“ Was war ich froh! Die Sonne schien, nett gekleidete Kinder liefen herum, die Tauben gurrten, die Esel zogen oder trugen kleine Kinder, der ganze Großstadtverkehr sang in der Luft um mich, in der pariserblauen Luft. Hatte ich mich wirklich einsam gefühlt? Ich, der die ganze Welt gehörte! Die mitten in dieser wunderbaren Stadt saß, in der Märchenstadt, in der Traumstadt für so viele Menschen. Pfeif drauf, daß ich wenig Geld hatte! Das würde schon in Ordnung kommen. Ich war gesund, ich war in Paris… … und Pierre war auch in Paris! Zu Hause kamen mir die Katzen entgegen, sprangen an mir herauf und miauten. Ich sang und trällerte und pfiff durcheinander, ich kochte Katzenessen, ich räumte auf, wischte Staub, legte Tante Eddas Bettwäsche in den Waschkorb, brachte ihr Zimmer in den Zustand, wie es vor unserem Einzug einmal war: ein netter kleiner
Arbeitsraum. Warum hatte ich nicht gleich daran gedacht, mich ins Schlafzimmer zu legen? Ich hatte die ersten Tage überhaupt nichts gedacht. Jetzt wollte ich aber alles nachholen. Was hatte Tante Edda gesagt: „Erst wenn man allein ist, lernt man sich selbst kennen, und wenn man sich selber kennt, kann man sich selbst auch erziehen“ und: „Ich kann die Einsamkeit nicht entbehren. Sie schenkt einem Zeit.“ Ja, ich hatte Zeit, und die sollte jetzt ausgenutzt werden! Ich machte es mir gemütlich und freundlich. Niemals mehr wollte ich in Schmutz, Unordnung und Ungemütlichkeit versinken. Als die Zimmer frisch und sauber waren, bereitete ich das Essen für mich. Ein wenig sonderbar wurde das Essen ja, denn ich wollte keinen einzigen Centime ausgeben, um einzukaufen. Ich aß ein Ei, einen Rest Pudding und ein Stück Brot. Dann schrieb ich an Vati ein paar Worte, daß ich sehr auf Geld warte und fragte ihn, ob er meinen Brief nicht erhalten habe. Dann schrieb ich an Tante Edda die erste von den täglichen Karten, die ich ihr versprochen hatte. Die ganze Zeit während ich saubermachte, während ich aß und die Karten schrieb, zitterte ein blankes, goldenes kleines Glück in mir. Morgen, Punkt neun Uhr wollte ich vor dem Reisebüro „International“ stehen. Keine zehn wilden Pferde würden es schaffen, mich um neun Uhr woanders hinzuzerren. Ich ging aus dem Haus und steckte die Karten in den Briefkasten. Auf dem Heimweg traf ich den Nachtwächter aus der Fabrik. Er grüßte mich wie eine alte Bekannte, lachte und erkundigte sich nach den Katzen. Ich fing tatsächlich an, Freunde hier zu kriegen! Ich hatte den Nachtwächter, hatte meinen wunderbaren alten Clochard von der Metro, und ich hatte… ja, ich hatte Pierre! An diesem Abend tat es nicht weh, allein zu sein. Ich setzte mich mit dem französischen Lesebuch hin, doch bald merkte ich, daß ich gar nicht verstand, was ich las. Meine Gedanken liefen immer wieder andere Wege. Aber es waren helle und gute und frohe Gedanken. Und Stunden, die man mit guten Gedanken verbringt, sind bestimmt nicht vergeudet. Im Gegenteil!
Ein unerwarteter Job Am nächsten Morgen kam eine Karte von Ellen, aber überhaupt nichts von Vati. Ganz unbegreiflich! Ellen schrieb: „Britta, drück mir die Daumen, der zweite Abstrich war negativ; wenn der dritte es auch ist, darf ich aus dem Krankenhaus. Ich muß aber eine ganze Woche warten, bis sie den dritten Abstrich machen, es ist einfach nicht auszuhalten! Und wenn von diesen ekligen Diphtherieviechern noch einige versteckt in meiner Schleimhaut sitzen, so schreie ich so laut, daß Du es bis Paris hörst.“ Eine Woche… dachte ich. Eine Woche wird also das mindeste sein, was ich noch allein aushalten muß. Im allerallergünstigsten Fall kommt Ellen in einer Woche. Aber ich würde es schon scharfen! Ich würde die Woche schrecklich vernünftig verwenden, das versprach ich mir selbst. Mit diesem Versprechen schloß ich die Haustür ab und ging in die Stadt. Vor dem Reisebüro standen drei große rote Busse mit Lautsprechern und Plakaten auf französisch, deutsch und englisch. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ein Mann in Uniform ging über den Gehsteig und durch die offene Tür in das Büro. Da stand ein anderer, auf dem Trittbrett zum Bus. Ein dritter kam gerade aus dem hintersten Bus… Dem flog ich entgegen, ohne auf die Leute Rücksicht zu nehmen, an die ich stieß. „Pierre!“ „Britta! Brittachen!“ Ich weiß nicht, wie es geschah, aber wir standen plötzlich da, mit den Armen umeinander, mitten im Verkehr, im hellen Sonnenschein, mitten in Paris. Freilich küssen sich in diesem Lande alle bei jeder Gelegenheit auf die Wangen. Pierre und ich küßten uns wirklich nur auf die Backen – vorläufig. „Britta, ich hatte dich schon aufgegeben. Ich dachte, du wärest nach Hause gefahren. Wie geht es dir? Wo warst du?“ „Im Bett, mit einer Grippe und einer Krabbensalatvergiftung“, lachte ich. „Ach, du mein armes Kleines! Und ganz allein!“ „Nein, ich hatte die reizendste Krankenschwester der Welt. Ich
werde dir das alles erzählen, wenn wir Zeit und Ruhe haben.“ „Zeit und Ruhe habe ich am allerwenigsten“, seufzte Pierre. „Am Vormittag erzähle ich deutschen und englischen Touristen alles, was es über La Madeleine, über Montmartre, über Mont Parnasse und Sacré Coeur zu erzählen gibt, und am Abend verdiene ich große Trinkgelder in einem Nachtklub, wo hauptsächlich Amerikaner hinkommen, um Striptease anzusehen. Du glaubst nicht, wie großzügig sie oft mit den Dollars sind. Wenn ich ein paar Monate so weitermache, habe ich bald genug Geld, um ein Jahr nach Bremen zu gehen.“ „Aber Pierre, wann schläfst du denn?“ „Von halb vier bis acht Uhr“, lachte Pierre. „Und dann mache ich manchmal ein Nickerchen im Bus, wenn nicht gerade kleine deutsche Mädchen früh am Morgen angesaust kommen und mir um den Hals fallen.“ Pierre lachte, und ich lachte. Es war ganz unfaßbar, daß wir beide uns erst zweimal gesehen hatten. Eines begriff ich: Pierre hatte in dieser Zeit genausoviel an mich gedacht, wie ich an ihn, und wir hatten wohl beide das Gefühl, daß unsere Freundschaft gewachsen war während der Zeit, als wir herumgingen und aneinander dachten. Jedenfalls hatte ich das wunderbare Gefühl, einen alten und getreuen Freund wiedergefunden zu haben. „Zum Kuckuck noch mal!“ sagte Pierre. Wir wurden unterbrochen, einer der Uniformierten rief nach Pierre. „Warte hier, ich komme gleich“, sagte er und verschwand im Büro. Natürlich wartete ich. Außerdem ist es in Paris nie langweilig, da zu stehen und auf jemanden zu warten. Es gibt immer viel zu sehen. So zum Beispiel wie jetzt, als eine kleine, alte, faltige Chinesin, in ihrem Kimono und mit schwarzem Haar in Gesellschaft eines jungen Chinesen vorbeitrippelte. Mutter und Sohn – dachte ich. Vielleicht sogar Großmutter und Enkel. Sie stapfte so merkwürdig hilflos daher. Ich warf einen Blick auf ihre Füße. Wahrhaftig! Unter dem Saum des Kimonos sah ich ein Paar kleine, verkrüppelte, verdorbene Füße in ein Paar seltsam mißgestalteten Schuhen. Sie hatte geschnürte Füße, wie ich es in der Schule gehört und gelesen hatte. Vielleicht gehörte sie zu den letzten in China, die diese Qual durchgemacht hatten? Ich wurde durch eine dänische Stimme neben mir aus meinen ostasiatischen Grübeleien gerissen. Da standen zwei ältere Damen
und berieten etwas. „Uff, wenn man nur jemanden fragen könnte“, sagte die eine. „Ich habe dir ja gesagt: selbst wenn man jahrelang Grammatik gepaukt hat, ist Französisch einfach unmöglich zu verstehen!“ „Ja, aber sie haben doch Führer, die skandinavische Sprachen kennen. Ich habe bestimmt irgendwo solche Plakate gesehen, aber vielleicht war das in einem anderen Reisebüro.“ „Ob das junge Mädchen wohl zum Reisebüro gehört? Sie wartet schon so lange hier, vielleicht versteht sie Englisch.“ Da mußte ich lachen und sagte auf dänisch: „Nein, das versteht das junge Mädchen nicht, aber sie wird Ihnen herzlich gern helfen, falls…“ „Ach, meine Liebe, sind Sie Dänin?“ „Nur halb. - Suchen Sie einen dänischen Führer, oder…“ „Wir wollen so sehr gern eine solche Rundfahrt mitmachen, und nun sagt meine Freundin, daß sie ganz bestimmt in einem Reisebüro gesehen hätte…“ „Ja, ich hörte es. Wenn Sie einen Augenblick warten, werde ich fragen…“ Ich raste in das Büro und entdeckte glücklicherweise Pierre im Gespräch mit einem älteren Herrn mit einem chefartigen Aussehen. Das paßte mir sehr gut, denn ich hatte plötzlich eine tolle Idee. Ich versuchte es mit Französisch. „Entschuldigen Sie, draußen stehen zwei Kunden und warten auf Sie. Sie wollen in ein anderes Reisebüro gehen, weil – “ „Ein anderes, warum das?“ fragte der Chef ähnliche. „Es sind dänische Damen, die einen skandinavischen Führer wünschen, oder einen Dolmetscher.“ Pierre war sofort im Bilde; er wußte ja, daß ich Dänisch konnte. Es kostete nur eine Kleinigkeit an Diplomatie und mein allersüßestes Lächeln, und der Chef dankte gerührt, daß ich zwei Stunden meiner kostbaren Zeit opfern wollte, um unterwegs für die dänischen Damen den Dolmetscher zu spielen. Ich fragte Pierre hinterher, was sein Chef gesagt hätte. Er hatte gefragt, wer ich eigentlich sei. Pierre hatte erzählt, er kenne mich zwar nur flüchtig, aber er glaube, man könne es wagen, mich zu fragen. Ich wurde natürlich nicht bezahlt, dafür machte ich aber die Rundfahrt mit, die ich mir brennend gewünscht hatte. Sie kostete zwanzig Francs, die ich ja nie hätte bezahlen können. Ich sah eine
Menge von Paris, was ich bisher noch nicht gesehen hatte. Und außerdem saß ich zwei Stunden lang an Pierres Seite. Aber daß es so schwierig war zu übersetzen, hatte ich nie gedacht, obwohl ich Dänisch beinahe so gut wie meine Muttersprache beherrsche. Doch Pierre sprach langsam und mit Pausen, und ich horchte mit weit offenen Ohren. Im Bus waren lauter deutsche Touristen. Französisch wurde glücklicherweise nicht gesprochen. Ab und zu flüsterte Pierre: „Britta, heißt es die oder das? heißt es Dom oder Kathedrale?“ Ich flüsterte ihm das richtige Wort ins Ohr. Er erzählte und zeigte, und ich übersetzte. Nach der Tour war ich todmüde, aber das war der Spaß schon wert gewesen. Das allerbeste war, daß die beiden Damen beim Aussteigen mir jede einen Franc in die Hand drückten. Zwei Franc, das bedeutete eine Tüte warmer Kastanien und Brot für einen ganzen Tag. Pierre und ich schwatzten in der Pause vor der nächsten Tour. Da er wieder fahren mußte, setzte ich mich auf eine Bank in den Schatten der Bäume und aß Kastanien. Ich hatte einen Bärenhunger. Ich glaube, ich schlief auch ein Weilchen, denn ich dachte, es sei nur eine knappe Stunde vergangen, und dabei war es drei Uhr geworden. Da kam der Bus zurück, und mit ihm Pierre. „So, jetzt muß ich etwas zu essen haben“, sagte Pierre. „Komm, ich habe die gemütlichste kleine Eßecke, nur ein paar Minuten von hier entfernt. Gewöhnlich esse ich zwischen den beiden Touren, heut haben wir aber die ganze Pause verplaudert.“ Die Eßecke bestand aus einer Bank in einem kleinen Park, einer verschwiegenen kleinen Bank, die mit dem Rücken gegen einen Schuppen oder etwas Ähnliches stand. Jedenfalls war es friedlich und schattig. Hier aßen wir Pierres Wurstbrote. Er versicherte, daß er mehr als genug für uns beide hätte, und wir plauderten weiter. Wir hatten uns so schrecklich viel zu erzählen. Die Zeit war allzu kurz, aber jetzt war es ja nicht schlimm. Jetzt wußten wir, wo wir einander wiederfinden konnten. Wir wußten, daß ich jeden Tag Punkt neun auf dem Gehsteig vor dem Reisebüro „International“ aufkreuzen würde, und wenn das Schicksal freundlich sein wollte, uns ab und zu einige skandinavische Touristen zu schicken, dann konnten wir uns vorläufig nichts Besseres wünschen. Von nun an fragte ich mich jeden Tag gespannt: Werde ich heute mitfahren können?
Ein paarmal klappte es, und jedesmal bekam ich Trinkgelder. Oh, wie war ich glücklich, wenn ich eine Touristenhand sich nach der Tasche bewegen sah. Wie glücklich, als eines Tages ein dicker, gemütlicher Kopenhagener mir ein Fünf-Franc-Stück in die Hand drückte. Allerdings hatte ich den Verdacht, daß er das französische Geld verwechselt hatte, er war ja die großen dänischen Zweikronenstücke gewöhnt. Jedenfalls verschafften die fünf Franc mir und den Katzen Essen für zwei Tage. Aber jetzt mußte doch endlich Post von Vati kommen! Sie kam auch. Eines Tages lagen zwei Briefe auf dem Fußboden, als ich nach Hause kam. Der eine war ganz kurz. „Meine liebe Britta, hast Du den Brief nicht bekommen, den ich Dir vor meiner Abreise schrieb? Ich komme heute nach Hause und finde Deine Karte. Hast Du demnach auch das Geld nicht abgeholt? Auf jeden Fall wiederhole ich: Du kannst von dem Büro von Latour fünfhundert Francs holen; die Sekretärin weiß Bescheid. Falls Du Schwierigkeiten mit der Sprache hast, muß Ellen für Dich reden. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß Du sie hast. Grüße sie aufs wärmste und danke ihr tausendmal für alles, was sie für mein Mädel tut. Schreib gleich ein paar Worte, wenn Du das Geld geholt hast. Mir geht es gut, ich habe sehr viel zu tun. Ich muß ja schauen, daß ich mit dem Gröbsten fertig werde, ehe Ellen nach Hause fährt. Ich kann ja nicht mein Mädelchen mutterseelenallein in Colombes sitzen lassen. Einen lieben Kuß von Deinem alten Paps.“ Dann nahm ich den anderen Brief. Er war zerknittert, zerdrückt und schmuddelig… so, als hätte er tagelang in einer Tasche, in einer unordentlichen Damenhandtasche gelegen. Ich öffnete ihn und schaute auf das Datum. Er lag über eine Woche zurück… Er war geschrieben zwei Tage, nachdem Tante Edda meinen Brief zur Post gebracht hatte! „Meine liebe kleine Britta, es tut mir schrecklich leid, daß Du erkältet warst. Hätte ich nicht gewußt, daß die gute, prächtige Ellen Dich pflegt, hätte ich meine Pinsel in die Ecke geworfen und wäre nach Colombes geeilt. Das mit den Pinselnwegwerfen wäre übrigens eine Katastrophe geworden, denn zur Zeit liege ich auf dem Rücken
und frische die Malereien in der Kuppel auf. Dein alter Vater ist so etwas Ähnliches wie ein Akrobat geworden. Natürlich sollst Du Geld bekommen, Putzi. Ich habe Geld bei Latour gut. Wir machen es der Einfachheit halber so, daß Du es dort holst. Dann vermeiden wir das Überweisen. Es handelt sich um fünfhundert Francs, damit reichst Du wohl längere Zeit. Ich schreibe diesen Brief in fliegender Eile, denn in einer halben Stunde fährt Latour nach Toulouse, um seinen neuen Wagen zu holen. Du weißt ja, daß er die liebe alte Sardinenbüchse verkauft hat, ehe er abreiste. Ich soll mit ihm fahren, vielleicht bleiben wir ein paar Tage unterwegs. Es ist dort sehr viel an Kunst zu sehen, und es ist auch möglich, daß wir noch einen Abstecher nach Lourdes machen. Ich übergebe diesen Brief einem reizenden Stubenmädchen. Sie besorgt mir immer die Briefmarken, und wenn ich ein bißchen mit ihr flirte, wird sie bestimmt auch den Brief für mich besorgen. Laß es Dir gut gehen, mein Mädel. Herzliche Grüße von Vati.“ So, das war die Lösung des Rätsels. Vati hatte anscheinend nicht genug mit dem Stubenmädchen geflirtet! Ich schnupperte ein bißchen an dem Kuvert. Kein Zweifel, es roch süß nach Puder und Parfüm, richtig nach einer Damenhandtasche. Eine Woche war das Biest mit dem Brief in der Tasche herumgelaufen. Und Vati, der Glückspilz, war inzwischen in Toulouse gewesen und in Lourdes. Aber wie ich ihm das gönnte! Ich holte am nächsten Morgen das Geld, dann ging ich direkt in ein Selbstbedienungsrestaurant und aß ein tolles Frühstück. Ich aß mich so satt, wie seit langem nicht. Erst um halb zwölf war ich vor dem Reisebüro. „Du bist mir ein schönes kleines Biest“, sagte Pierre. „Vier skandinavische Touristen mußten mit Gesichtern so lang wie Bananen abziehen, weil die ausgezeichnete Dolmetscherin fehlte. Was denkst du dir, deine Pflichten so zu vernachlässigen! “ „Sei still, Pierre, nicht schimpfen! Sind sie zur Konkurrenz gegangen?“ „Nein, mit Hilfe meines unüberwindlichen Charmes brachte ich es fertig, sie zur ersten Tour morgen zu überreden. Also wehe dir, wenn du um neun nicht hier bist.“ „Natürlich werde ich hier sein. Im übrigen weiß ich gar nicht,
was ich von euch Männern halten soll. Mein Vater flirtet mit Stubenmädchen, und du betörst weibliche Touristen – ich setze doch voraus, daß es weibliche waren.“ „Selbstverständlich, jung und hübsch waren sie auch, auf jeden Fall zwei von ihnen. Aber auf dieser Tour haben wir bestimmt nur Deutsche und ein paar Engländer. Was tust du in der Zwischenzeit?“ „Heute gehe ich in das Pantheon.“ „Fein, aber um halb drei bist du hier, nicht wahr?“ „Ja, wenn mir nicht ein Ziegelstein auf den Kopf fällt, oder wenn ich entführt werde.“ „Danke, das Entführen kann ich selbst besorgen. Wie spät ist es? Ach, wir haben noch eine Viertelstunde für uns selbst. Komm einen Augenblick ins Auto, dann werde ich dir etwas erzählen.“ Pierre war fröhlich und voller Neuigkeiten. Ich hörte gespannt zu. „Brief aus Bremen, Britta! Ich bin aufgenommen worden. Eine tolle Konkurrenz war dort, und es war sehr schwer, aufgenommen zu werden, aber es ging, weil ich Abitur habe und ein technisches Studium, und getestet worden bin…“ „Ein Intelligenztest oder wie?“ „Ih wo, ich wurde in einen Apparat hineingesteckt, der einer großen Waschmaschine ähnelte, der herumschwirrte, und dann mußte ich in Überdruck und Unterdruck und in künstlichem Sauerstoff atmen. Ach, was sage ich da, es ist ja alles Unsinn… ist ja auch egal! Ich meine nur, ich wurde vor einem halben Jahr in Deutschland als Fliegeraspirant getestet, verstehst du, denn es hat ja überhaupt keinen Sinn, sich als Pilot ausbilden zu lassen, wenn man an Höhenkrankheit leidet, oder keinen Sauerstoff aus dem Sauerstoffbehälter einatmen kann, oder wenn einem schwindlig wird. All diese Teste gingen gut aus, und nun soll ich nach Bremen und dort alle meine Trinkgelder aufbrauchen.“ „Und auf Weihnachtsbesuch auf den Seehundsrücken kommen“, rief ich. „Ach, Pierre, wenn du wüßtest, wie glücklich ich bin.“ „Das weiß ich ganz genau, denn ich bin es auch. Britta, wir müssen nachher weiterplaudern. Ich muß das Trinkgeldlächeln anlegen. Vergiß nicht, daß ich jetzt das Geld für die Fahrkarte von Bremen nach dem Seehundsrücken verdienen muß. Und du wirst dich nicht im Pantheon vergraben. Punkt drei bist du hier bei mir!“ Etwas später wanderte ich in der Kühle und Stille des Pantheons umher. Auf diese Idee hatte mich Pierre gebracht. Nachdem ich drei oder
vier Rundfahrten mitgemacht und alles über Paris’ Sehenswürdigkeiten hatte übersetzen müssen, hatte ich selbst ja auch viel gelernt. Es ging nur alles viel zu schnell. Ich wäre gern länger an jeder Stelle geblieben, wäre so gern in die Museen, in die Kirchen gegangen, an denen wir vorbeifuhren. „Tue es doch“, hatte Pierre gesagt. „Während ich mit der Herde unterwegs bin, kannst du ja in aller Ruhe herumlaufen und dir alles ansehen, wozu du Lust hast; du kommst zurück, wenn ich Pause habe. So hast du wirklich deine Tage vernünftig ausgenutzt.“ Ja, jetzt lernte ich Paris kennen! Nur einen Punkt jeden Tag, aber diesen einen gründlich. Ich entdeckte, wie gut es war, allein zu gehen, eine halbe Stunde mucksmäuschenstill dazustehen vor einem Kunstwerk, das mich interessierte, ohne daß jemand mich weiterzerrte. Oder an etwas vorbeigehen zu können, was mich nicht interessierte. Tags zuvor war ich im Invalidendom. Als Pierre mich fragte, wie er mir gefallen hätte, antwortete ich ehrlich, daß Napoleons Sarg wie eine überdimensionale rote Saucière aussah. Pierre schnappte nach Luft vor Schreck. „Wenn du es wagsu, beim Übersetzen so etwas zu sagen…“ „Bist du verrückt? Denk an das Trinkgeld!“ lachte ich. „Saucière!“ wiederholte er. „Saucière! Und du willst die Tochter eines Künstlers sein?“ „Gerade darum“, sagte ich. Dann mußte Pierre zu seinen Kunden, so vermied ich es, an den Haaren geziept zu werden. Hätte ich nicht die gesegneten Trinkgelder gehabt, so wäre ich weder in den Invalidendom noch anderswohin gekommen, wo es Geld kostete. Ich war in der Hauptsache in den Parks gewesen, hatte die Seinebrücken betrachtet, war bei dem Eiffelturm gewesen, ohne hinaufzufahren. Aber ab und zu hatte ich einen Trinkgeldfranc springen lassen. Nun war das anders. Ich hatte über vierhundert Francs in dem Brustbeutel und beinahe einhundert in der Geldbörse. Und Pierre würde nach Bremen fahren, Pierre sollte ganz in meine Nähe kommen, nur ein paar Stunden von mir entfernt. Er konnte übers Wochenende zu uns kommen, und ich war sicher, daß Vati und er einander sehr gut verstehen würden. Als ich aus dem Pantheon hinauskam, entdeckte ich zu meinem Entsetzen, daß ich kein Tüpfelchen mehr wußte, als vor einer Stunde beim Hineingehen.
Dafür wußte ich etwas anderes. Etwas, das mir da drinnen, in der stillen, lautlosen Kühle, klargeworden war. Nämlich, daß Fräulein Britta Dieters sich brennend und unheilbar in den ehemaligen Eselsführer, derzeitigen Reiseführer und Nachtportier, künftigen Piloten Pierre Henriques verliebt hatte. Ich schrieb Karten an Vati, Ellen und Tante Edda. Sie sollten sich meinetwegen nicht ängstigen. Die drei Menschen, die ich so liebhatte, sollten sich um mich keine Sorgen machen. Dann kam ich eines Morgens wie gewöhnlich zum Reisebüro. Ein großer, leerer Raum war dort, wo „unser“ Bus immer stand. Neben dem leeren Raum wartete Pierre und lächelte von einem Ohr zum anderen. „Nanu?“ sagte ich. „Kaputt!“ strahlte Pierre. „Der gesegnete Motor bekam gestern Keuchhusten, heute ist er beim Arzt und kriegt eine Spritze; bestenfalls ist er heute abend erst spät wieder in Ordnung. Wir sind frei, Britta! Wir haben einen ganzen freien Tag! Nun mach schnell, wir haben es eilig, denk daran, daß ich um zwanzig Uhr zu meinem Job muß, wenn auch die Trinkgelder erst gegen Mitternacht zu rollen anfangen. Um halb zehn fährt ein Zug, den müssen wir unbedingt schaffen.“ „Zug? Wohin?“ „Nach Versailles selbstverständlich!“
Petit Trianon Wir saßen in der Ecke eines Abteils. Pierre hatte den Arm um meinen Nacken gelegt. Eine große Ruhe war über uns gekommen. Zum erstenmal waren wir zusammen, ohne daß uns etwas stören konnte. Zum erstenmal konnten wir lange miteinander sprechen, ohne unterbrochen zu werden. Jetzt erst bekam ich all das zu hören, was ich schon immer gern über Pierre gewußt hätte. Er war der einzige Sohn eines tüchtigen Handwerkers; der Vater war Feinmechaniker gewesen und vor fünf Jahren gestorben. Die Mutter hatte eine kleine Rente und machte Strickarbeiten, um ihr Einkommen etwas zu verbessern. Sie hatte sich eine Strickmaschine angeschafft. Pierre hatte sein Abitur gemacht und war danach ein Jahr in Darmstadt gewesen. Als der deutsche Student zurückkam, brachte Pierre es fertig, ein weiteres Semester auf seinem Zimmerchen zu bleiben, indem er sehr sparsam lebte und französischen Unterricht gab. Dann ging es nicht mehr, es wurde ihm zu teuer; er mußte zurück nach Paris. Er schaute sich nach irgendeiner Beschäftigung um, nahm die erste, die sich bot, und das war der gesegnete Job bei den Eseln. Mit allen Kräften sparte er, versagte sich jede unnötigen Einkauf; jeder Centime wurde für das Studium zurückgelegt. Als er den Job als Fremdenführer bekam, war er glücklich, und auf die Idee, sich einen Job als Nachtportier zu suchen, hatte ausgerechnet ich ihn gebracht. Natürlich war es ein einmaliger Glücksfall, daß er sofort etwas fand. Seine Sprachkenntnisse kamen ihm dabei zu Hilfe. Deutsch sprach er fließend, Englisch auch recht gut. Jetzt verdiente er tatsächlich tüchtig. So konnte er es wagen, nach Bremen zu gehen und seine Studien zu beginnen. „Kennst du zufällig jemanden in Bremen, der eine Hundehütte oder ein Kellerloch vermietet, so verrate es mir“, sagte Pierre. „Denn ich muß mich bemühen, die billigste Unterkunft ausfindig zu machen, die man in Bremen auftreiben kann, und am liebsten würde ich mit Französischunterricht bezahlen.“ „Jawohl“, sagte ich. „An die Hundehütte werde ich denken, im Falle, daß ich von einem Hund höre, der Französisch lernen will.“ „Du freches Mädel“, sagte Pierre. „Erzähl mir jetzt von dir,
Britta, ich weiß von dir so gut wie nichts.“ Ich erzählte vom Seehundsrücken, von Mutters Tod, von Omi und Tante Birgit, von den Winterstürmen und den Sommergästen und von unserem stillen ereignislosen Leben auf der Insel. Pierre lauschte mit lebendigen, interessierten Augen. „Ist es nicht merkwürdig!“ sagte er. „Du hast dein ganzes Leben in dieser Einsamkeit weit draußen in der Nordsee verbracht; und ich bin auf dem Pariser Asphalt groß geworden, und gerade uns führt das Schicksal zusammen.“ Dann schwiegen wir beide. Pierre sah auf die Uhr und schaute auf die Namen der Stationen. „Wir haben noch ungefähr zwanzig Minuten“, sagte er, „du, Britta, erzähl mir doch von deinen Zukunftsplänen! Wie lange bleibst du noch in Colombes? Und nachher? Willst du ernstlich Stewardeß werden?“ Vor dieser Frage hatte ich mich gefürchtet. Nun waren Pierre und ich uns so nahegekommen. Jetzt mußte ich ehrlich zu ihm sein. „Pierre“, sagte ich nach einer Weile, „ich muß jetzt beichten. Das mit der Stewardeß war nur ein Augenblickseinfall. Ich habe bisher keinen wirklichen Zukunftsplan gehabt, noch nicht einmal ein besonderes Interesse für irgend etwas. Ich sagte einfach Stewardeß, weil es so gut zu deinen Plänen paßte.“ Ich machte eine Pause und beobachtete Pierre. Er horchte aufmerksam, dann drückte er meine Hand. „Siehst du, Pierre“, fuhr ich fort. „Ich möchte ganz aufrichtig zu dir sein, denn das verdienst du. Hoffentlich bist du nicht zu erschrocken über meine Oberflächlichkeit und Gedankenlosigkeit. “ „Erschrocken? Nein“, sagte Pierre. „Ich bewundere dich.“ „Was tust du?“ „Dich bewundern. Aus zwei Gründen. Erstens, weil du es fertig gebracht hast, diese ganze Zeit allein zu sein, ohne deinem Vater zu telegrafieren, daß du dich allein durchgeschlagen hast, sogar ohne in der Sprache sicher zu sein, ja, beinahe ohne sie überhaupt zu können. Dein Vater dürfte dir für den Rest seines Lebens dankbar sein.“ „Du kennst Vati nicht“, seufzte ich. „Wenn er das erfährt, wird er hochgehen vor Wut, und mich höchstwahrscheinlich übers Knie legen. Vielleicht schließe ich mich in mein Zimmer ein und erzähle ihm alles durch das Schlüsselloch, damit er Zeit hat, sich zu beruhigen.“ Pierre lachte. „Ja, ja, ich kann es schon verstehen, wenn er im
ersten Augebnlick wütend wird. Aber dann den zweiten Grund: Ich bewundere dich, weil du den Mut hast, mir dies alles zu sagen und frei zuzugeben, daß du oberflächlich und gedankenlos warst. Dazu gehört nämlich Mut, mehr Mut, als ein Verbrechen zu gestehen.“ „Aber Pierre, das mußte ich doch sagen. Ich kann doch nicht weiter mit dir Komödie spielen. Nein, weißt du, was ich wirklich bei erster Gelegenheit lernen will, ist der Haushalt. Von Grund auf und ordentlich. Wie schön wäre es gewesen, wenn ich ein bißchen mehr gekonnt hätte, als ich anfing, für Vati und mich zu sorgen… ach, du ahnst nicht, wie ungeschickt ich bin und wie nachlässig und wie unsystematisch. Oh, Pierre, ich hatte so viel Zeit über dies alles nachzudenken, seit Vati abgereist ist. Du ahnst gar nicht, über was ich alles nachgedacht habe, einfach deshalb, weil ich Ruhe hatte und keiner mich störte. Und nun werde ich den Haushalt erlernen und Kinderpflege dazu. Wer weiß, vielleicht bilde ich mich zur Kinderpflegerin aus, denn ich liebe Kinder.“ „Das trifft sich großartig“, sagte Pierre, „das tu’ ich nämlich auch! Und wenn es an mir liegt, wirst du in der Zukunft sowohl Hauswirtschaft als Kinderpflege praktizieren müssen. Hallo, Britta, wir müssen uns beeilen, gleich sind wir in Versailles!“ Wir wanderten durch die Straßen von Versailles, und wie immer, machte ich große Augen. Es war Markttag, und auf dem Markt wimmelte es von Menschen und bunten Waren. Es gab Tische, auf denen die Blumen sich türmten, Blumen in atemberaubenden Mengen. Und daneben all die mannigfaltigen Dinge, die ich von den Markttagen in Colombes kannte. Natürlich gab es auch einen Stand mit Pfannkuchen. „Wart ein bißchen, Pierre“, sagte ich. „In kurzer Zeit werden wir einen Bärenhunger haben. Magst du Pfannkuchen?“ „O ja, die lernte ich in Deutschland kennen.“ „Komm, wir kaufen ein Riesenpaket. Eine Bank, auf die wir uns zum Essen setzen können, finden wir sicherlich.“ „Ja, Britta, aber heute wollen wir doch auswärts essen.“ „Kommt nicht in Frage! Ich weiß zu gut, wie schrecklich teuer es in Restaurants ist. Denk an die Hundehütte in Bremen und an all deine Lehrbücher. Komm nur, wir kaufen Pfannkuchen.“ „Also gut“, sagte Pierre. Ich durfte alles kaufen, was ich wollte, und er kaufte eine große Tüte voll Obst. Nun waren wir für einen Tag in Versailles gut
ausgerüstet. „Zwick mich mal am Arm, Pierre“, sagte ich. „Am liebsten nicht, aber wenn du es absolut verlangst, so-“ „Ja, Pierre, es kann doch einfach nicht wahr sein… weißt du, vor zwei Jahren sah ich einen wunderschönen Film über Versailles, und nun stehe ich selber hier, stehe mit meinen beiden Beinen hier – “ „Mitten in der Weltgeschichte“, sagte Pierre. „Ja, genau! Ich spaziere auf demselben Boden wie Ludwig XIV. Ich gehe durch dieselben Räume, durch die Königinnen und Prinzessinnen mit Krinolinen und weißen Perücken geschritten sind – ich kann gar nicht begreifen, daß es wahr ist.“ „Wenn alle Touristen es so genießen und verstehen würden wie du!“ sagte Pierre. „Manchmal ist es traurig, wie die Touristen durch Schlösser und Museen jagen und auf die Uhr sehen, damit sie ja das Frühstück nicht verpassen.“ „Ja, die haben eben keinen Vati, der sich auf Kunst versteht“, sagte ich. Ich erzählte Pierre, wie Vati sich hinsetzte und erzählte, ehe wir in ein Museum gingen. Wie er mir das alles einflößte, was diesen Ort berühmt gemacht hatte, wann und für welchen Zweck es gebaut worden war. Er schilderte mir die Hintergründe von allem. Manchmal steckte er mir ein Buch in die Hand und sagte, daß ich diese oder jene Seite durchlesen sollte, bevor wir weggingen. Zuerst fand ich das langweilig, aber mit der Zeit begriff ich den Nutzen und war Vati herzlich dankbar. Obwohl ich wußte, daß ich in Versailles unglaublich viel Schönes zu sehen bekommen würde, verschlug es mir einfach die Sprache! Die phantastischen Malereien, die ganze Wände füllten und die wichtige Begebenheiten aus Frankreichs Geschichte darstellten, die Skulpturen, die herrlichen Räume, die Spiegelgalerie, die Gobelins – es war für einmal fast zuviel. „Ja“, nickte Pierre, „der erste Besuch in Versailles ist eigentlich nur eine Orientierung. Erst beim nächsten Mal fängt man mit den Einzelheiten an. Man braucht viele, viele Tage für Versailles.“ Wir verließen das Schloß und kamen in den märchenhaften Park, ich blieb einen Augenblick auf der Treppe stehen. An diese Treppe erinnerte ich mich vom Film her. Diese Treppe, über die Könige und Königinnen und weltberühmte Staatsmänner geschritten waren! Namen aus der Weltgeschichte, Menschen, die im Glanz gelebt hatten und auf dem Schafott gestorben waren, Menschen, deren Namen man nie vergessen wird.
Auf ihrer Treppe durfte ich jetzt stehen. Ich, die kleine Britta vom Seehundsrücken. In einem billigen Sommerkleid vom Geschäft daheim, in ausgetretenen Sandalen und mit einer großen Tüte voller Pfannkuchen im Arm. „Bist du imstande, zwei bis drei Kilometer zu gehen?“ fragte Pierre. „Zwei bis drei? Ich kann zwanzig gehen, wenn du willst.“ „Nein, ganz so weit ist es nicht, aber ich dachte, daß wir zu den beiden kleinen Trianonschlössern oder Pavillons gehen könnten.“ „Einer der beiden wurde doch für die königlichen – äh – Freundinnen gebaut“, sagte ich. „Ja, genau, die äh – Freundinnen“, lachte Pierre. „Kannst du dir etwas Unpraktischeres vorstellen, als sie so weit entfernt vom Schloß unterzubringen? Und das in einer Zeit, wo es keine Autos gab! Es war ja ein reiner Tagesausflug für den König, wenn er ein Schäferstündchen mit seiner äh – Freundin haben wollte.“ „In der Gegenwart ist es leichter“, sagte ich. „Zum Beispiel für einen Flieger! Wenn er auch in Bremen wohnt, kann er leicht eine Freundin in München haben und fix zu ihr fliegen, um Tee zu trinken. – “ „Näher ist es nach dem Seehundsrücken“, sagte Pierre. – Ich hatte so viel Schönes in Paris gesehen und sah noch viel mehr. Aber wenn ich zurückdenke, glaube ich fast, daß der Park von Versailles das Allerschönste war. Ich genoß jeden Schritt, den wir gingen, freute mich über jede Skulptur und jede Blume. Ich mußte an meinen alten Clochard von der Metrostation denken und erzählte Pierre von ihm und von seiner Lebensphilosophie. „Er scheint klug zu sein, dieser Freund von dir“, sagte Pierre. „Ich hätte Lust, ihn kennenzulernen.“ „Wir könnten ja mal nach ihm schauen“, sagte ich. „Ich will ihn unter allen Umständen treffen, weil ich ihm ein Geschenk geben will.“ „Was denn? Eine Tüte Kastanien?“ „Nein, eine Flasche Champagner.“ „Eine Flasche – bei dir piept’s wohl?“ „Gar nicht, aber weißt du, was er zu mir sagte? Ernannte mich einen Sonnenstrahl, der in der Unterwelt scheint, und ich sollte nicht Kastanien essen, sondern Nachtigallenzungen, und Champagner trinken. Denk mal, wenn mein Clochard wirklich Champagner
trinken könnte! Nachtigallenzungen werde ich ihm schwer verschaffen können. Im übrigen sehe ich rot, wenn ich höre, daß Leute Singvögel fangen und essen – aber ich habe allergrößte Lust, ihm eine ganze Flasche Champagner in den Arm zu drücken!“ „Britta, du bist ein herrliches Menschenkind! Wie ich dich verstehe! Wenn du diese Expedition während meiner knapp zugemessenen zwei freien Stunden am Nachmittag machen könntest, würde ich gern mitkommen.“ „Und wenn wir ihn nicht treffen?“ „Dann trinken wir den Champagner selber. Ach, Britta, du bist doch deines Vaters echte Tochter. Nach allem, was du von ihm erzählt hast, könnte er genauso etwas tun, etwas so Verrücktes und Bezauberndes. Ich drücke den Daumen, daß wir den Clochard treffen.“ „Aber zurück zu seiner Philosophie“, sagte ich. „Können wir mit dieser Einstellung durch den Park gehen, dann sind wir es, denen jede Blume, jeder Baum und jede Skulptur gehört. Gleich werden wir den großen und den kleinen Trianon besitzen. Und vorhin ging ich da und besaß die Spiegelgalerie. Warum starrst du mich so an, habe ich Ruß auf der Nase?“ „Nein“, sagte Pierre, „ich sehe dich an und denke an deinen Clochard. Ich stehe hier, und besitze dich!“ Die Röte schoß mir wie eine Welle ins Gesicht. Ich senkte den Kopf und schwieg. In mir strahlte und leuchtete das Glück. Nie hatte ich so etwas Schönes wie diesen Augenblick erlebt! Durch Grand Trianon wurden wir mit einer Reihe amerikanischer Touristen geführt, wir gingen hinterher, ließen sie in den Petit Trianon gehen und gingen erst hinein, als sie wieder draußen waren. „Jetzt ist keine Führung“, sagte der Kontrolleur. „Aber wenn Sie allein durch die Säle gehen wollen, so dürfen Sie.“ „Ich kenne Petit Trianon schon von früher her“, sagte Pierre. „Na, dann ist es ja nicht schlimm, dann können Sie ja Mademoiselle führen“, lächelte der Kontrolleur. Er lächelte, als ob er uns das Glück und die Freude dieses Tages ansehen konnte. Vielleicht konnte er es auch, wer weiß. So ein Billettkontrolleur wird vielleicht mit der Zeit ein guter Menschenkenner. Petit Trianon war wirklich „petit“. Ein kleiner Pavillon, ein kleiner Käfig für einen kostbaren Zimmervogel, den man sich in einer plötzlichen Laune angeschafft hatte. Wir standen allein in einem kleinen Raum mit zarten kleinen
Stühlen und Kristall-Lampetten. Es war ganz still um uns, wir waren auf einmal so wunderbar allein. „Kannst du dir vorstellen, daß man solch winziges Haus baut, wenn man selbst ein riesengroßes Schloß besitzt?“ fragte ich. „So winzig klein ist es ja auch nicht“, sagte Pierre. „Es würde groß genug sein für zwei Menschen.“ „Die müßten sich aber schrecklich liebhaben!“ sagte ich. „Ja“, sagte Pierre, „schrecklich liebhaben“, wiederholte er. Dann begegneten sich unsere Blicke. In diesem Raum im Petit Trianon sind wahrscheinlich schon viele Küsse gewechselt worden. Aber ich bin ganz sicher, daß kein einziger Kuß mit einem so jubelnden Glück verbunden war, wie unserer. Und ich bin noch sicherer, daß es das allererste Mal war, daß ein Mädchen seinen allerersten Kuß im Petit Trianon bekam.
Es Klingelt an der Tür Ganz besonders lieb in der Erinnerung an diese Zeit sind seltsamerweise meine einsamen Abende. Hatte ich nach Tisch abgewaschen – ich aß jetzt wie ein normaler Mensch –, und die Katzen gefüttert und wurde alles um mich ruhig und gemütlich, dann setzte ich mich in den Lehnstuhl in der Stube und „hörte“ förmlich die Stille um mich. Rajah sprang auf meine Schultern. Er hatte sich angewöhnt, mein Pelzkragen zu sein. Bajadere sprang auf meinen Schoß, und so saßen wir drei zusammen. Dann schloß ich meine Augen und dachte an alles, was der Tag mir gebracht hatte, dachte an jedes Wort und an jedes Lächeln von Pierre, dachte an alles, was wir geplant und gesprochen hatten, und worüber wir uns gemeinsam gefreut hatten. Wenn ich eine halbe Stunde so gesessen hatte und der Tag gleichsam an mir vorübergezogen war, drehte ich das Radio an… irgend etwas… wenn es nur französisch war. Ich holte die Grammatik und das Lexikon, ich lernte konzentriert, wie ich es niemals in der Schule bei meinen Aufgaben getan hatte. Jetzt machte es mir einen Heidenspaß, Französisch zu lernen. Es war nicht mehr ein unverständliches Schulfach, sondern eine lebendige Sprache, die ich jeden Tag brauchte, um verstanden zu werden. Ich schrieb und bildete Sätze, die ich selbst übersetzte, und nachher kontrollierte ich sie und verbesserte meine eigenen Fehler. Es war ja Pierres Sprache! Wenn alles nach meinem persönlichen, heimlichen Wunsch ginge, würde es eines Tages auch meine Sprache sein. Ich verstand bald, daß man eine Sprache nicht nur durch das Ohr lernt, man muß auch die Grammatik können. Allmählich wurde es mir klar, was für schreckliche Fehler ich oft gemacht hatte. Am Anfang war ich nur froh gewesen, wenn die Leute mich verstanden, aber nun stellte ich mir selber die Aufgabe, mit richtiger Aussprache und richtiger Grammatik zu reden. Es ist unglaublich, wozu die Liebe ein junges Mädchen bringen kann. Mich brachte sie dazu, täglich jeden Abend mindestens zwei Stunden Französisch zu lernen. Herrlich friedliche Abende, wo nichts störte und wo nichts mich unterbrach. Wie recht hatte Tante Edda doch mit der Einsamkeit, die Gold wert sei. Meine täglichen Karten an Tante Edda schrieb ich. Aber zu viel
anderem reichte es nicht. Ich war so von Glück erfüllt, von Pierre, von Touristenautobussen und Versailles-Erinnerungen, daß beinahe nichts anderes in meinem Herzen und in meinem Gehirn mehr Platz hatte. Es war eine gute Zeit, eine gute, reiche Zeit, an die ich immer gern zurückdenke. „Britta“, sagte Pierre eines Tages, „meine Mutter möchte dich gern kennenlernen. Willst du morgen bei uns Tee trinken?“ „Und ob ich will! Aber kannst du denn?“ „Du weißt ja, daß ich am Nachmittag kurze Zeit frei habe. So können wir diese Zeit benutzen, ehe ich in meinen sündigen Nachtklub muß.“ „Wenn du nur selbst nicht sündigst, so ist alles in bester Ordnung.“ „Nein, dazu habe ich weder Zeit noch Lust noch Gelegenheit. Also morgen kommst du mit mir nach Hause, direkt nach der zweiten Busfahrt. Du mußt eine Kleinigkeit in der Stadt essen, denn du wirst es ja nicht schaffen, in der Zwischenzeit nach Hause zu fahren.“ „In Ordnung“, sagte ich. Am Abend wusch ich mein Haar und bügelte die Bluse von der Friesentracht, denn bei Pierres Mutter wollte ich so hübsch wie möglich sein. So saß ich mit meinem nassen Haar und suchte mir eine Menge Sätze heraus, Sätze, von denen ich wußte, daß ich sie am nächsten Nachmittag brauchen würde. Mein Herz schlug wie niemals zuvor in meinem Leben. Pierres Mutter war eine kleine, schlanke, dunkelhaarige Dame mit einem strahlenden, reizenden Lächeln. Aber sie sah viel älter aus, als sie war. Pierre hatte mir verraten, daß sie vierundvierzig Jahre alt sei, genau wie Vati. Aber wieviel jünger wirkte er! Vielleicht lag das am Menschenschlag. Es ist ja möglich, daß die kleinen, dunkelhaarigen Rassen früher altern als wir Nordländer. Und vielleicht hatte sie im Leben schwer arbeiten und viel durchmachen müssen. Sie dankte erfreut für die Blumen, die ich gebracht hatte, und ein wenig später saßen wir drei in einem gemütlichen, etwas altmodisch eingerichteten Wohnzimmer. Die Möbel sahen aus, als ob sie von den Großeltern geerbt seien, die Tischdecke auf dem Tisch war handgestickt.
„Sprich ruhig deutsch, Britta“, sagte Pierre, „ich kann es übersetzen.“ „Ach, ich werde mal sehen, ob ich es auf französisch schaffe“, erwiderte ich. Und das tat ich! Ich konnte mich wirklich ausdrücken. Einige Male mußte ich sagen: „Pardon, Madame“, oder „Je n’ai pas compris, Madame“, aber es ging im großen und ganzen recht gut. Pierre machte große Augen. „Nein, wie gescheit du bist“, rief er. „Es ist das erste Mal, daß ich dich französisch sprechen höre; aber du kannst es ja! Und mich hast du dauernd gezwungen, in deiner Muttersprache zu radebrechen.“ „Wenn ich nur halb so gut im Französischen wäre, wie du im Deutschen, wäre ich überglücklich. Aber du weißt ja, daß ich jetzt wirklich Französisch lerne, und gewiß werde ich es einmal richtig können.“ „Das wirst du auch nötig haben“, sagte er. Was er wohl damit meinte? Ich konnte ihn nicht mehr fragen, denn Madame Henriques kam mit dem Tee, und wir hatten einen gemütlichen Schwatz. Über Vati und mein Heim, über meine Katzenpflegekinder in Colombes und wie ich Pierre damals in den Tuileren getroffen hatte. Damit kamen wir auf ihn zu sprechen, und Madame Henriques erzählte kleine Geschichten aus seiner Kindheit, denen ich natürlich gespannt lauschte. Wenn es auf der Welt etwas gab, was mich lockte zu hören, so war es gerade über Pierre und über die Zeit, da ich ihn noch nicht gekannt hatte. Pierre mußte seinen Pflichten nachgehen; seine Mutter bat mich, noch ein Weilchen zu bleiben. So saßen wir, waren höflich zueinander und lernten uns kennen – wir zwei Frauen, die etwas ganz Großes gemeinsam hatten: die Liebe zu dem Mann, der jetzt gerade mit der Metro unterwegs zu seinem Job war. Während wir plauderten und uns gegenseitig sozusagen auf den Zahn fühlten, dachten wir dasselbe, und beide wußten, was die andere dachte: Wird das wohl meine Schwiegertochter? Sie also wird meine Schwiegermutter sein! „Pierre hat mir so viel von Ihnen erzählt“, sagte Madame Henriques mit ihrem schönen Lächeln. „Ich bewundere das Opfer, das Sie für Ihren Vater gebracht haben.“
„Opfer? Ich? Was meinen Sie, Madame?“ „Ja, war es etwa kein Opfer, ihm zu verschweigen, daß Sie ganz allein in Colombes saßen, und ihm dadurch die Möglichkeit gaben, seine Arbeit zu vollenden? Und daß Sie sich die ganze Zeit allein durchgekämpft haben?“ Da mußte ich lachen. „Ach, Madame, ich empfinde das gar nicht als ein Opfer. Es ist die schönste Zeit meines Lebens gewesen! Und bedenken Sie: Hätte ich anders gehandelt, hätte ich Pierre nicht kennengelernt!“ Nun sah sie mich mit guten und liebevollen Augen an. „Kleines Mädchen“, sagte sie, „ich glaube beinahe, daß Sie meinen Jungen ein klein bißchen liebhaben!“ Mir schoß die Röte ins Gesicht! „Nein, Madame“, sagte ich, „nicht ein bißchen, ich habe ihn sehr lieb!“ „Und er Sie. Aber Kinder, ihr seid ja noch so jung.“ „Ja, das wissen wir selbst, deshalb sind wir ja auch noch nicht verlobt.“ „Aber wenn ihr euch verlobt, so werde ich Sie mit viel Liebe aufnehmen“, sagte Pierres Mutter. „Doch glauben Sie, daß Ihr Vater Pierre auch so gern aufnehmen wird?“ „Das wird er“, sagte ich mit Überzeugung. „Sie wissen, Pierre ist alles, was ich habe.“ Dies kam still von Madame Henriques. „Mein größter Wunsch im Leben ist, daß er glücklich wird.“ Ich nickte. „Vati sagt genau dasselbe von mir. Er hat oft gesagt, daß ich sein ein und alles auf der Welt wäre.“ „Dann ist es ja möglich, daß Ihr Vater und ich einander verstehen werden“, sagte sie mit einem kleinen Lächeln. Ehe ich wegging fragte ich, ob sie und Pierre uns besuchen würden, wenn Vati zurück war. „Ganz gewiß, kleine Britta“, sagte sie. Sie sprach meinen Namen so ulkig aus, daß ich lächeln mußte. Als ich ihr die Hand zum Abschied reichte, legte sie den Arm um mich und küßte mich auf beide Wangen. So war es hier Sitte… trotzdem: ich freute mich, daß sie es tat. Auf dem Heimweg in der Metro überlegte ich, wie herrlich es sein müßte, wieder eine Mutter zu haben. Ohne eine Mutter zu sein, ist nicht leicht für ein sechzehnjähriges Mädchen, selbst wenn es den
allerreizendsten Vater und die rührendste Großmutter hat. In Gedanken versunken trabte ich in Colombes den Weg von der Station nach Hause. Erst dicht vor unserem Haus bemerkte ich, daß jemand auf der Treppe saß, sich erhob und mir entgegenkam. „Nun sag bloß, was führst du für ein ausschweifendes Leben!“ sprach dieser Jemand in waschechtem Dänisch. „Jetzt habe ich schon zwei Stunden auf der Treppe gesessen und auf dich gewartet.“ Ich flog ihr entgegen und breitete meine Arme aus. „Liebe Ellen, liebe, allerliebste Ellen!…“ „Ich wurde heute morgen aus dem Krankenhaus entlassen“, erzählte sie, nachdem ich sie ins Haus gezogen, ihr das Gepäck abgenommen hatte und den Mantel aufhängte. „Dann sprang ich in ein Taxi, fuhr nach Hause, holte den Koffer und nahm rasch den Zug nach Hamburg, dort in ein Flugzeug, und jetzt bin ich hier.“ „Ellen, du bist ein Engel!“ „Nein, noch nicht“, lachte Ellen. „Fast begann ich zu glauben, ich würde einer, als mein Hals wie ein Fußball geschwollen war. Doch ich habe mich anders besonnen, ich will noch ein bißchen warten. Zuallererst will ich mit dir Paris anschauen und vorher möchte ich etwas zu essen haben, falls du gegen jegliche Vermutung etwas im Haus hast.“ „Gegen jegliche Vermutung, du Affe! Natürlich habe ich etwas im Haus.“ Ellen ging mit mir in die Küche. Es war ein wunderbares Gefühl, Schränke und Schubladen öffnen zu können, ohne sich zu schämen. Alles war sauber und ordentlich. „Jetzt bin ich platt“, sagte Ellen, „du bist eine perfekte Hausfrau geworden!“ „Ich bin dabei, es zu werden. Die Hausarbeit macht einen Mordsspaß!“ „Und das ist Britta Dieters!“ „Ja, sie ist es.“ „Wenn ich an dein Zimmer zu Hause denke, wie es aussah, ehe Omi es aufgeräumt hatte!“ „Aber jetzt habe ich keine Omi, die aufräumt, siehst du! Was möchtest du essen, Ellen? Ich habe leider kein frisches Brot im Haus, aber hier ist ein Paket deutsches Vollkornbrot von gestern. Willst du Spiegeleier haben? Käse und Obst habe ich auch. Tee oder Kaffee?“ Ellen sah mich an und schüttelte den Kopf. „Ich glaubte, daß ich als rettender Engel käme… in ein
vernachlässigtes Haus, zu einem unglücklichen Mädchen. Statt dessen finde ich eine strahlende kleine Hausfrau in einem tadellosen Haushalt vor. Wenn das nicht die größte Überraschung meines Lebens ist! Ich kann ja sofort zurückfahren, denn hier werde ich nicht gebraucht!“ „Und ob du gebraucht wirst! Ich bin so überfroh, daß ich es dir gar nicht sagen kann. Du, ich richte jetzt dein Bett. Willst du ein eigenes Zimmer haben oder zu mir hereinkommen?“ „Leg mich ruhig zu dir. Wenn dein Vater kommt, muß er das andere Zimmer haben. Wann kommt er übrigens?“ „Wenn ich das bloß wüßte! Er glaubt ja, daß du am 20. Mai wieder zurückmußt, vor dieser Zeit wird er also bestimmt kommen.“ „Heute ist der zehnte!“ „Vielen Dank, ich weiß! Du kannst dir vielleicht denken, wie froh ich bin, daß du endlich gekommen bist!“ Ellen sah mich forschend an. Sie hatte scharfe Augen und einen sehr guten Instinkt. „Wie heißt er?“ fragte sie plötzlich. „Wer?“ „Er. Der, in den du dich verliebt hast. Der, der deinen Augen diesen Glanz gegeben hat, der, dem du zu verdanken hast, daß du erwachsen bist. Oder weißt du vielleicht nicht, daß du erwachsen geworden bist, seit ich dich das letzte Mal sah? Du bist erwachsen, und du bist glücklich, Britta. Also, wie heißt er?“ Ich holte tief Luft, und dann erzählte ich. Von den Eseln, von den Tuilerien, von den Touristenbussen und von Versailles – aber vor Petit Trianon machte ich Halt. „Du bist ein prima Mädel, Britta“, sagte Ellen. „Aber wie dem auch sei, jetzt bin ich hundemüde, ich komme schließlich direkt aus dem Krankenbett.“ Sie stand im Morgenrock und legte Reinigungscreme aufs Gesicht, ich steckte grade die Füße in die Pantoffeln. Die Uhr schlug elf. Und dann ging die Türklingel.
Die große Aussprache Ich habe zurückgeblättert in dem, was ich geschrieben habe, und entdeckt, daß ich zum zweitenmal ein Kapitel durch ein dramatisches Geklingel an der Haustür beschließe. Aber ich kann ja nichts dafür, daß es beide Male in dieser dramatischen Art geschah. Das erste Mal, als ich schwankend, mehr tot als lebendig im Flur stand, und das andere Mal, spät am Abend, und das nach diesem ereignisreichen Tag! „Nanu“, sagte Ellen, „kommt Pierre zu dieser Tageszeit zu Besuch?“ „Unsinn“, sagte ich. „Pierre war noch niemals hier.“ Jetzt brauchte ich keine Angst zu haben, aufzumachen. Jetzt waren wir ja zu zweit im Haus, außerdem pflegen Einbrecher nicht zu klingeln, und wer Schnürsenkel oder Nähsachen verkaufen will, kommt kaum um elf Uhr abends. Vielleicht ist es ein Telegramm! durchfuhr es mich. Ich öffnete, und im nächsten Augenblick hatte ich die Arme weit geöffnet. „Vati, Paps!“ „Du Range, öffnest die Tür ohne die Sicherheitskette vorzulegen!“ „Ja, aber Vati, wir sind noch zwei im Haus. Ellen würde mich schon beschützen. Übrigens… warum klingelst du? Du hast doch die Schlüssel?“ „Die stecken im anderen Anzug“, sagte Vati. „Wie geht es euch denn, Kinder? Alles wohlauf?“ „Großartig, Paps, könnte gar nicht besser sein.“ Wir gingen in die Stube, und Vati zündete die Lampe an. „Laß dich ansehen, mein Kind. Du siehst geradezu strahlend aus. Es scheint, daß Ellen dich gut behandelt hat.“ Ellen kam im Morgenrock aus dem Schlafzimmer. „Nein, was für eine Überraschung, Onkel Benno! Kommst du, um mich abzulösen?“ „Ach, weit entfernt, ich hoffe, daß du bis zum zwanzigsten bleiben kannst, ich brauche dich – das heißt: Britta braucht dich so lange wie möglich.“ „Ich kann auch länger bleiben, Onkel Benno.“ „Du bist ein Goldschatz, Ellen! Nein, wißt ihr, Latour mußte auf
eine Spritztour nach Paris, da sprang ich in das Auto und fuhr mit. Ich muß übermorgen zurück. Ich wollte nur die Gelegenheit ausnützen, euch zu überraschen und zu sehen, was für Verrücktheiten ihr anstellt, wenn ihr allein seid.“ Vati strahlte wie eine Sonne. Er sah müde aus, aber so froh und vergnügt, wie ich ihn selten erlebt hatte. „Ihr müßt verstehen: ich muß wie ein Kuli arbeiten, damit ich fertig werde, bis Ellen abreist. Außerdem habe ich einige Pläne, über die ich mit dir sprechen muß, Britta. Ist es möglich, in dieser Katzenpension ein Nachtquartier zu bekommen, und hast du etwas Eßbares für einen müden und überanstrengten Künstler?“ „Ja. Katzenessen aus der Büchse“, lachte ich. „Setz dich nur, Paps, du kannst richtige deutsche Butterbrote bekommen. Ich habe auch eine Schinkendose!“ „Gib her, mein Kind, so schnell wie möglich.“ Als ich mit dem Essen hereinkam, stand Ellen auf. „Ich denke, ihr könnt ohne mich auskommen“, lächelte sie, „ich bin müde, und du hast sicher eine Menge Dinge, die du mit Britta besprechen willst, Onkel Benno.“ „Das stimmt! Gute Nacht, liebe Ellen. Dank für alles, was du für mein kleines Mädel getan hast.“ „Es gibt wirklich gar nichts in der Welt, wofür du weniger zu danken hast, Onkel Benno“, sagte Ellen, und mit dieser sonnenklaren und einleuchtenden Wahrheit als Schlußwort ging sie in das Schlafzimmer und schloß die Tür hinter sich. Vati und ich waren allein, und ich wußte, daß ich jetzt mit ihm sprechen mußte, wenn wir auch die halbe Nacht aufbleiben sollten. Ich würde keine Minute schlafen können, mit dieser Geschichte auf dem Gewissen. Komme, was kommen mochte… ich war Temperamentsausbrüche gewohnt, und wenn bloß das erste Gewitter vorbei war, würde ich meinen Brummbär schon beruhigen können. „Du mußt wissen“, sagte Vati, als er sein erstes Butterbrot intus hatte, „daß diese Kirchenrestauration vielleicht auch andere Dinge nach sich zieht. Du weißt, daß wir in Toulouse waren, da kennt Latour einen Mann – na ja, um es kurz zu machen: Es sind verschiedene Kirchen in Frankreich, die restauriert werden sollen, Britta. Kirchen, die nach dem Krieg nur notdürftig ausgebessert wurden, Kirchen, an denen der Zahn der Zeit genagt hat, und nun wurde ich gefragt, ob ich nicht zumindest noch eine Arbeit übernehmen könnte, ehe ich heimführe.“
„Hast du zugesagt, Paps?“ „Ich habe gesagt, ich hoffe, daß es geht. Wann kommen Aubels heim – war es nicht – “ „Mit dem Schiff am zwölften Juni.“ „Also in fünf Wochen, und wie lange kann Ellen bleiben?“ „Bis Mitte Juni.“ „So lange! Das ist ja großartig, mein Mädel! Nun höre zu, dann bleiben wir dabei, daß ihr weiterhin auf Haus und Katzen aufpaßt. Ich eile übermorgen zu meinen Pflichten und arbeite wie ein Wilder, und sofort, wenn Aubels wieder hier sind, kommst du zu mir nach Südfrankreich. Dort ist es herrlich, kann ich dir sagen! Dann kann ich in Ruhe mit dem anderen Auftrag fertig werden, und Ende Juli fahren wir gen Norden. Was meinst du dazu?“ „Phantastisch, Paps!“ Vati blieb sitzen und schaute mich an. „Weißt du, daß du dich sehr verändert hast, Britta? Na, das mag wohl in deinem Alter so sein. Du warst ein aufgeschossenes Schulmädchen, als ich dich verließ, und jetzt bist du eine junge Dame.“ „Was du nicht sagst, Paps!“ „Ja, es ist wahr! Ich kann mir nur nicht recht klarwerden, worauf wirklich die Veränderung beruht, aber sie ist da. Habt ihr es denn nett gehabt, Britta? Ist alles glatt gegangen?“ „Na klar, warum sollte nicht alles glatt gegangen sein?“ „Ja, warum eigentlich auch nicht? Aber weißt du, die ersten zwei, drei Tage war ich unruhig. Ich machte mir schreckliche Vorwürfe, daß ich dich an dem Morgen allein gelassen hatte. Daß ich Ellen nicht mit eigenen Augen kommen sah. Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich über deine erste Karte war.“ „Du, Paps“… wie mein Herz schlug! Was würde Vati in einer Minute mit mir anfangen? Würde er daran denken, daß ich eine junge Dame war und kein ungezogenes Kind mehr? „Du, Paps, wenn sie nun wirklich nicht gekommen wäre?“ „Wirklich nicht gekommen?“ „Es hätte doch irgend etwas dazwischen kommen können… und wenn ich dann ganz allein in Paris und Colombes gewesen wäre und…“ „Gott bewahre mich vor einem solchen Gedanken! Ja, da wäre ich natürlich auf dem Absatz umgekehrt, hätte alle Freskomalereien links liegen lassen, und – “
„… hättest die schönste Arbeit, die du je hattest, fahren lassen!“ „Ich pfeif auf alle Freskomalereien der Welt! Was bedeutet das im Vergleich, wenn meine eigene Tochter…“ „Aber Paps, wenn wirklich so etwas geschehen wäre, wenn Ellen ein Dachziegel auf den Kopf gefallen wäre oder etwas Ähnliches, so hättest du das doch gar nicht wissen können. Du saßest ja mit Latour im Zug. Und nehmen wir an, daß ich nicht telegrafiert hätte, sondern allein im Haus geblieben wäre – “ „Gibt es noch mehr wenn, du Range, wenn oder wenn, jawohl, wenn… dann hätte ich dir bei der ersten Gelegenheit den Hals umgedreht.“ Ich ging hin zu Vati und hockte mich nieder vor seinen Stuhl. Er lächelte und strich mir über das Haar. Ich nahm seine Hand und legte sie auf meine Kehle. „So, Paps, dann drehe also!“ „Was soll ich tun?“ „Drehen! Du wolltest mir doch den Hals umdrehen.“ Vatis Augen weiteten sich; er nahm meinen Kopf zwischen seine Hände und sah mir in die Augen. „Britta, was ist es, das du jetzt versuchst, mir zu erzählen?“ „Daß es mir sehr gut geht, daß ich gesund und glücklich bin, und daß ich während dieser Zeit eine Menge gelernt habe. Daß ich verstand, wie wichtig diese Arbeit für dich war und deshalb tun wollte, was ich konnte, damit du Ruhe hattest, sie auszuführen.“ „Nun sei mal so gut, und drücke dich klar und deutlich aus. Soll das heißen, daß Ellen an dem Tag, an dem ich reiste, nicht kam?“ „Paps, dabei bin ich ja gerade – mich klar und deutlich auszudrücken. Ich habe keine Ruhe, ehe ich das nicht getan habe. Aber ich schaffe es nicht, wenn du nicht versprichst, ruhig zu bleiben und nicht hochzugehen. Dies ist so schwierig für mich, daß du mir helfen mußt.“ „Hochgehen? Hast du mich jemals hochgehen sehen?“ Da mußte ich laut lachen. Ich schlang meine Arme um Vatis Hals. „Ach, Paps, du bist herrlich. Ja, denk dir, ich habe dich hochgehen sehen, ein- oder zwei- oder zweihundertmal. Aber jetzt, jetzt wirst du es nicht tun?“ „Nein, ich tue es nicht, Ehrenwort, du Schlingel. Und nun erzählst du endlich alles!“ Das tat ich. Ich erzählte in allen Einzelheiten, was an dem schrecklichen Morgen, als ich Ellens Telegramm fand, durch meinen
Kopf gegangen war. Wie ich zum Telegrafenamt gegangen war und mir im Kopf das Telegramm an ihn aufgesetzt hatte, wie ich dann am Schreibpult entdeckte, daß meine Hand etwas ganz anderes schrieb. Daß mich die ganze Zeit nur der Gedanke aufrecht hielt, daß Vati seine Arbeitsruhe haben sollte, er sollte die Gelegenheit haben, diese Arbeit auszuführen und nicht geängstigt werden. Hier drückte mir Vati die Hand. „Britta, du mein Kleines – “ Ich machte keinen Hehl daraus, wie dumm und schusselig und egoistisch und niedergedrückt ich in der ersten Zeit gewesen sei. „Aber Britta, du hast mir doch geschrieben…“ „Halt, Vati! Hast du zufällig noch die Briefe und Karten?“ „Natürlich habe ich sie.“ „Dann lies sie noch einmal durch; du wirst sehen, daß ich kein einziges Mal gelogen habe.“ „Doch! Ich erinnere mich gut, daß du einmal geschrieben hast »herzliche Grüße von uns in Colombes’. Wer waren denn diese ,uns’?“ „Natürlich die Katzen und ich!“ Gott sei Dank, Vati lächelte. „Aber dann noch etwas, Britta. Du schriebst, daß Ellen dich pflegte, oder war sie dann vielleicht gekommen?“ „Nein, Paps, ich schrieb nicht Ellen, ich schrieb E… E. bedeutete nicht Ellen, sondern Edda. Und nun möchte ich dir auch dies erzählen.“ Ich redete mich warm über Tante Edda. Vati lauschte, und seine Augen leuchteten. „Gott segne diese Frau Callies für alles, was sie für dich getan hat. Britta, wenn ich nur irgend etwas für sie tun könnte. Außer, daß ich ihr einen langen und dankbaren Brief schreibe.“ „Du kannst etwas für sie tun. Darauf komme ich noch zurück, aber jetzt habe ich dir beinahe alles erzählt, außer dem Allerwichtigsten, ich meine, dem Allerwichtigsten für mich.“ „Na, schau mal, bist du nicht der Meinung, daß du mich schon genug erschreckt hast? Also erzähle mir das Ganze. Was ist das Wichtigste?“ „Pierre“, sagte ich. „Hatte ich mir doch gedacht, daß da ein Mannsbild im Spiele ist! Irgendein verflixter Franzose.“ „Der deiner einsamen Tochter großartig geholfen hat. Er ist ein
durch und durch feiner Kerl.“ „Sieh mal an, und hier hast du also Besuch gehabt von…“ „Nein, Paps, er ist niemals hier gewesen; aber nun, da du zu Hause bist, wird er gleich kommen. Doch ich bin bei ihm zu Hause gewesen, heute. Er selber mußte weggehen, aber ich habe mit seiner Mutter Tee getrunken.“ „Äh – “ sagte Vati. „Eben“, sagte ich, „grade äh. Er ist ein großartiger Mensch. Du glaubst nicht, welch eine Menge Vernunft er in meinen armen Kopf gebracht hat. Und das war nötig.“ Vater blieb ruhig sitzen, seine Augen waren ernst auf mich gerichtet. „Britta“, sagte er zum Schluß, „weißt du, wozu ich Lust hätte?“ „Man kann nie wissen. Du bist so unberechenbar.“ „Dir so deinen Po zu versohlen, daß du vierzehn Tage nicht mehr darauf sitzen könntest… Aber sei ruhig. Ich tu es nicht. Doch zu etwas anderem habe ich noch mehr Lust. Und das tue ich.“ „Herrje – aber bringst du mich zum Schreien, wird Ellen kommen…“ Vati erhob sich, stand vor mir, groß und breit und kräftig. Er nahm mich bei den Schultern, zog mich an sich und legte meinen Kopf an seine Brust. „Meine liebe, kleine Britta. Dies werde ich dir nie vergessen. Verstehst du, ich versuche, dir zu danken, Britta. Was du getan hast, ist so wahnsinnig, so vollkommen verkehrt, daß du mir versprechen mußt, nie mehr im Leben so was zu tun. Aber du bist… bist… du bist… die Tochter deiner Mutter… mein liebes Mädel. So etwas hätte Mutter auch tun können. Das ist das Schönste, was ich dir sagen kann, mein Kind.“ Vatis Stimme war so merkwürdig heiser. „Mein Paps, mein lieber Paps.“ „Und jetzt haben wir uns hoffentlich ausgesprochen, Britta? Keine weiteren Geheimnisse?“ „Keine, lieber, alter Brummbär. Du glaubst gar nicht, wie erleichtert ich mich fühle.“ „Dann glaube ich, daß wir allmählich ins Heiabettchen kriechen sollten; wir haben für morgen viel vor.“ „So, haben wir das?“ „Und ob wir das haben! Vor allen Dingen müssen wir losziehen, um deinen Pierre zu treffen. Ich will den Burschen sehen, ehe ich
abreise.“ „Ach, Vati, wie freue ich mich!“ „Und dann will ich an Edda Callies schreiben – wir wollen ausgehen und ihr etwas kaufen, und auch etwas für dich! Aber jetzt gehen wir endlich ins Bett; weißt du, wie spät es ist?“ „Gleich zwei Uhr. Gehst du zuerst ins Bad oder ich?“ „Geh du zuerst, ich rauche so lange.“ Als ich vom Bad im Pyjama zurückkam, saß Vati noch im Lehnstuhl. Er saß und schaute mit einem kleinen Lächeln nachdenklich vor sich hin. Er war so hübsch, wie er dasaß, ja, und wie soll ich es beschreiben, es war nichts übrig von dem aufbrausenden, vergnügten, munteren unberechenbaren Paps. Er war so ruhig und so harmonisch – beinahe hätte ich „erwachsen“ gesagt. Ich ging zu ihm und strich ihm über das Haar. „Gute Nacht, Paps, ich hab’ dich so lieb!“ „Das hast du bewiesen, mein Kind. Lieber Gott, sich denken, daß man so reich ist, die Liebe der Tochter so unbedingt zu besitzen, wie ich es tue – weißt du, Britta, wenn ich es mir überlege, bin ich seit vielen Jahren nicht so glücklich gewesen. Genau gesagt, nicht, seit Mutti starb.“ „Paps, habe ich dich so glücklich gemacht?“ „Ja, genau du, kleiner Strolch. Gute Nacht, Putzi.“ Ich ging zur Schlafzimmertür und hatte schon die Hand auf der Türklinke, als Vati fragte: „Du, sag mal, wann kam Ellen eigentlich? Ist sie schon lange hier?“ Ich öffnete einen Spalt der Tür, drehte mich um und legte den Finger auf den Mund. „Sechs und eine halbe Stunde, Paps! Gute Nacht!“ Ich huschte wie ein Geist durch den Türspalt und schloß die Tür lautlos hinter mir.
Was nachher kam. Wenn ich alle Einzelheiten erzählen wollte, von dem, was sich in den kommenden acht Wochen ereignet hat – so würde ich in einem Jahr nicht fertig werden. Was ich erzählen wollte, habe ich erzählt. Ich wollte von meiner einsamen Zeit erzählen, von Tante Edda und Pierre und wie die beiden Menschen mich auf den richtigen Weg gebracht haben, seelisch und körperlich. Was sich danach ereignete, war vielleicht nicht aufregend, aber unsagbar beglückend. Ich sitze und denke zurück, und ich erinnere mich an verschiedene Episoden. Vor allem an den Nachmittag, als Pierre und seine Mutter uns besuchten. Ellen war mir behilflich gewesen, einen reizenden Teetisch zu decken. Vati hatte Blumen gekauft, und ich selbst hatte Kuchen gebacken. Vati unterhielt sich mit Pierre auf deutsch, auf der anderen Seite plauderte ich mit seiner Mutter französisch. Ab und zu schwieg Vati und lauschte dem, was ich sagte. „Nein, so was! Als ich abreiste, konnte das Mädel zehn Wörter, und jetzt findet sie sich großartig zurecht.“ „Ja, warum sprechen wir eigentlich nicht alle französisch“, sagte ich, „warum sitzt ihr beide da und murmelt auf deutsch?“ Jetzt fing Vati auch an, französisch zu sprechen, und auch er hatte viel dazugelernt; er hatte ja die ganze Zeit über französisch sprechen müssen. Ellen hatte natürlich gar keine Sprachschwierigkeiten. Es war so schön, Vati und Pierre anzusehen. Sie gefielen sich, und der eine wollte so gern, daß der andere ihn mögen sollte! Vati fragte Pierre nach seinen Zukunftsplänen, und Pierre erzählte. „Reizend für uns, daß Sie nach Bremen wollen“, sagte Vati, „das ist nur eine Ecke weg von unserer Insel.“ „Ja, ich hoffe nur, daß ich es schaffe“, sagte Pierre nachdenklich. „Finanziell, meinen Sie?“ „Ja, die Mieten sollen in Deutschland sehr hoch sein, wie ich höre – “ „Einen Augenblick, lassen Sie mich nachdenken.“
Pierre schwieg, und Vati dachte nach. „Ich kenne doch so viele Leute in Bremen“, brummte Vati, „es wäre doch merkwürdig, wenn ich nicht – stopp, jetzt weiß ich etwas… das heißt, ich glaube etwas zu wissen. Ich werde bei einem alten Freund von mir nachfragen. Ich werde also versuchen… doch versprechen kann ich Ihnen noch nichts… und wenn Ihre Speisekammer Ende des Monats leer sein sollte, so machen Sie einen kleinen Ausflug zu uns hinüber und essen sich so gründlich satt, daß es für eine ganze Zeit vorhält.“ „Das ist wirklich reizend von Ihnen, Herr Dieters. Ich danke Ihnen sehr.“ „Unsinn, wenn man überhaupt von reizend reden will, so sind Sie es wohl gewesen, der reizend war und meinem eigensinnigen Mädel geholfen hat.“ Ja, sie gefielen sich gegenseitig. Hinterher vertrauten sie sich mir beide unter vier Augen an. „Ein feiner Kerl, dein Freund“, sagte Vati. „Ich mag junge Menschen, die zielbewußt sind. Der Bursche scheut keine Arbeit, um seine Zukunftspläne durchzuführen. Wenn ich ihm helfen kann, so will ich das gern tun.“ „Dein Vater ist einfach großartig“, sagte Pierre, „weißt du, daß du ihm ähnlich siehst? Du hast den gleichen Schimmer in deinen Augen und das gleiche fröhliche Lächeln. Ich mag ihn furchtbar gern.“ Dann erinnere ich mich eines Nachmittags im Juni. Vati war nach Colombes zurückgekommen, um seine Sachen zu packen und zu ordnen. Anschließend wollten wir zusammen nach Südfrankreich. Wir fuhren mit der Metro zu einer bestimmten Haltestelle. Ich hatte eine große Tasche bei mir und flehte alle guten Geister an, daß wir den fänden, nach dem ich suchte. Die guten Geister erhörten mich. Er war da. Ein bißchen schmutziger noch als das letzte Mal, ein bißchen aufgeschwollener im Gesicht, die Kleider noch etwas zerlumpter. Er lag auf einer der harten, schmalen Bänke und schlief, eine Rolle Zeitungen unter dem Kopf. Ich schüttelte ihn vorsichtig. Er öffnete einen Spalt seine Augen, sah mich an, schüttelte den Kopf und wollte die Augen wieder schließen, aber ich schüttelte ihn kräftiger, bis er die Augen ganz öffnete. „Schau her“, murmelte er, „jetzt ist es also geschehen.“
„Was ist geschehen?“ fragte ich. „Jetzt hat er mich eingeholt. Der mit der Sense. Aber ich hätte mir nicht gedacht, daß ich im Himmel aufwachen würde.“ „Sie sind doch nicht im Himmel, Monsieur.“ „Doch“, sagte er, und als er sprach, stieg ein Duft von altem Alkohol auf zu mir. Er hatte offensichtlich einen Riesenkater. „Wenn ein goldhaariger Engel sich über mich beugt und mir zulächelt, dann ist das mit dem Himmel die einzige Erklärung.“ „Monsieur, kennen Sie mich nicht wieder? Haben Sie die Kastanien vergessen, die Sie mit mir teilten?“ Nun erhob er sich auf seinen Ellbogen, schaute mich näher an, und allmählich arbeitete er sich mit Gestöhn und lautem Pusten in eine sitzende Stellung empor. „Mademoiselle! Mademoiselle Sonnenstrahl! Haben Sie sich wirklich an mich erinnert, Goldköpfchen?“ „Das habe ich! Ich erinnere mich an Ihre Lebensphilosophie, Sie erklärten mir, daß die ganze Welt Ihnen gehöre, erinnern Sie sich? Jetzt gehört auch mir die ganze Welt, und etwas aus dieser Welt habe ich Ihnen mitgebracht, bitte schön.“ Ich nahm die Champagnerflasche aus meiner Tasche. Er blieb mit halboffenem zahnlosem Mund mit der Flasche in seinen Händen sitzen, hob sie auf und sah sie an. „Mademoiselle,------vraiment? pour moi?“ „Ja“, sagte ich, „als Dank.“ Er war sprachlos. Er sah mich aus seinen rotumrandeten Augen an, wollte mir die Hand reichen, hielt aber auf halbem Wege inne, betrachtete seine schmutzigen Pfoten und schüttelte den Kopf. Dann beugte er sich über mich, ergriff meinen Rocksaum und küßte ihn. Ich bin nie in meinem Leben so verlegen gewesen! Vati hatte ein paar Meter entfernt von uns gestanden. Jetzt kam er näher. Kurz danach saß mein Clochard auf einer Bank im Park. Er hatte ruckzuck die Flasche entkorkt, und nun trank er, konzentriert und selig. Vati zeichnete, daß es rauchte… eine schnelle Skizze nach der anderen. Die eine hat er inzwischen in Öl ausgeführt, sie hängt an der Wand in meinem Zimmer, und ich liebe sie. Aber es gibt ein zweites Bild, das ich noch mehr liebe: Als Vati in seiner überströmenden Dankbarkeit mir etwas kaufen wollte, erzählte ich ihm, daß ich nur einen Wunsch hätte: Ob er nach
Versailles fahren wollte und ein paar Skizzen von Petit Trianon machen? Vati sah mich an. „Bist du in Versailles gewesen?“ „Ja“, sagte ich. „Mit Pierre?“ „Ja.“ „Ihr wart im Petit Trianon?“ „Ja“, flüsterte ich, und fühlte, daß meine Gesichtsfarbe sich bedeutend in Richtung Hummerfarbe veränderte. „Aha“, sagte Vati. Es sah aus, als ob er noch mehr sagen wollte, aber er besann sich eines anderen. Ich bekam mein Bild von Petit Trianon; es ist eines der besten, die er gemalt hat. Finde ich. Der Abschied von Rajah und Bajadere tat beinahe weh. Wir hatten gute und böse Tage miteinander erlebt, und zwei Tage vor Aubels Heimkehr machte ein Ereignis die Trennung noch schwerer. Eines Morgens lag nämlich Bajadere schnurrend und glücklich in ihrem Korb mit zwei kleinen, blinden schneeweißen Jungen. Und ich hatte keine Ahnung gehabt, daß sie Familienzuwachs erwartete! Rajah stand neben ihr und leckte eines der Jungen; es war das reinste Familienidyll! Ich taufte die Jungen Pierrot und Columbine. Frau Aubel strahlte, wie fein das Haus in Ordnung gehalten war und wie hübsch und gesund die Katzen waren. Die Jungen waren noch eine besondere Freude. Ja, es stimme, versicherte sie mir, daß die Jungen weiß seien. Erst im Laufe einer Woche würde eine schwache Andeutung einer Farbänderung in Form von dunklen Schwänzchen und Pfotchen sich bemerkbar machen. Wir schieden voneinander; Vati und ich fuhren nach Südfrankreich, Ellen wieder nach Dänemark; fünf herrliche Wochen hatten wir miteinander verbracht. Wir waren jeden Tag unterwegs gewesen; es war nun auch schön, jemanden zu haben, den man in den Arm zwicken konnte, sobald man begeistert war oder etwas schrecklich komisch fand. In der kleinen südfranzösischen Stadt war alles ganz anders: Sonne über kleinen Gassen. Weinberge, Obstgärten, glühende Hitze. Bei der Witwe eines Lehrers hatten wir zwei Zimmer mit Küchenbenutzung gemietet. Madame und ich standen jede in einer Ecke der Küche und wechselten Rezepte und Erfahrungen
miteinander aus; es war ganz urgemütlich. An einem Augusttag ging es wieder nordwärts. Wir wollten auf dem Heimweg in Paris Station machen; ich selbst hatte dafür gute Gründe, aber auch Vati bestand darauf, weil er mit Latour reden wollte. Außerdem mußte er noch einige Sachen holen, die er bei Aubels im Keller gelassen hatte; darunter auch ein Bild, das er verschenken wollte. Ich saß neben Pierre auf einer Bank in den Tuileren. Auf derselben Bank wie das erste Mal, als er Eselstreiber war und ich einsam und verlassen. Wir redeten nicht viel, wir hielten Händchen und waren glücklich. Ist das vielleicht nicht die schönste Beschäftigung, die es gibt? Erst am Abend traf ich mit Vati in unserer Pension zusammen. „Bitte schön“, sagte Vati und legte etwas in meine Hand. „Das sollte ich dir von Frau Aubel geben, mit Dank für die Katzenpflege.“ Oh, wie niedlich! Was mir Vati in die Arme legte, war ein weiches kleines Siamesenputzi. Ich schaute es mir näher an: Es war Columbine. „Wie wir sie über die Grenze bringen, davon habe ich keine Ahnung“, sagte Vati, „ich will mich nicht einmal danach erkundigen, ob es verboten ist. Solange ich nichts weiß, handle ich in gutem Glauben.“ Columbine kam über die Grenze. Sogar schlafend. Ich hatte sie mit Essen und Milch vollgestopft, während wir durch Belgien reisten, und als wir uns der deutschen Grenze näherten, war sie so übersatt und schläfrig, daß sie in meiner Handtasche einschlief. Sie wachte erst wieder auf, als der Zug in Aachen hielt. Dort stiegen wir aus. Ich mit Koffer und Katzentasche, Vati mit Koffer und Bild. Tante Edda war auf dem Bahnhof. Von mir bekam sie einen dicken Kuß, und ich glaube, beinahe hätte sie auch einen von Vati gekriegt. Wir fuhren dann im Taxi zu ihr nach Hause und kamen in eine gemütliche Zweizimmerwohnung in einem modernen Neubau. Nur zwei Stunden konnten wir bleiben. Wir mußten mit dem nächsten Zug fahren, um früh am Morgen das Schiff zu erreichen. „Es gibt so vieles, was ich Ihnen sagen möchte, gnädige Frau“,
sagte Vati, „ich möchte eine ganze Lobesrede auf Sie halten.“ „Ach, bitte, bitte, verschonen Sie mich!“ lachte Tante Edda. „Ja, ich werde Sie verschonen, denn es gibt eigentlich keine Worte, die ausdrücken können, was ich fühle. Es heißt ,Laßt Blumen sprechen’ – darf ich vielleicht ein Bild sprechen lassen?“ Tante Edda packte aus. „Aber Herr Dieters, das ist ja das Bild! Das mit…“ „Der Pariser Atmosphäre und dem Blau, das Gold in sich verbirgt“, lachte Vati. „Sie sehen, daß Britta Ihre Grüße korrekt überbracht hat. Ich freue mich immer sehr, wenn meine Bilder gefallen.“ „Gefallen“, rief Tante Edda, „ich bin einfach verliebt in das Bild.“ „Dann ist es für mich eine doppelte Freude, es Ihnen schenken zu dürfen. Tatsächlich wüßte ich niemanden, dem ich es lieber gäbe. Wie wäre es meinem Mädel ergangen, wenn Sie nicht…“ „Ach, Tante Edda!“ rief ich verzweifelt. „Columbine hat auf den Teppich einen See gemacht!“ Ehe wir gingen, fragte ich: „Schreibst du etwas Neues, Tante Edda? Ich möchte dir nur sagen, daß du gern meine Pariser Geschichte verwenden kannst, wenn du willst. Mit mir, dem Krabbensalat, der Krankheit, der Einsamkeit und so weiter.“ Tante Edda schüttelte den Kopf. „Nein, danke schön, du weißt ja, daß ich niemals lebende Modelle benutze.“ „Ja, aber wäre es nicht ein netter Stoff für ein Jungmädchenbuch?“ „Schon möglich. Schreibe du doch selbst.“ „Ich, ein Buch schreiben?“ „Warum nicht?“ „Glaubst du denn, daß ich das könnte, Tante Edda?“ „Ich weiß es nicht, mein Freundchen. Du schreibst gute und lustige Briefe, aber ob es wirklich dazu reicht, Bücher zu schreiben, kann ich nicht sagen. Du kannst ja auf jeden Fall einmal deine Erlebnisse in Frankreich niederschreiben.“ „Ich – ein Buch über Paris und…“ „Nicht über Paris. Darüber sind Bücher genug geschrieben. Über dein eigenes Schicksal in Paris! Denn so wie du Paris erlebt hast, erlebt es nicht jeder!“ „Und meinst du, daß ein Buch daraus werden könnte?“
„Möglich! Wird es ein Buch, ist es gut; wenn nicht, wird es ein Tagebuch, das du in fünfzig Jahren deinen Enkelkindern vorlesen kannst.“ „Vorlesen als Unterhaltung in der Passagierkabine einer Mondrakete“, lachte ich. „Ich bin sicher, daß meine Enkelkinder in den Sommerferien auf den Mond fliegen werden.“ „Ach, die Armen“, sagte Tante Edda. „Wo es auf der guten alten Erde so herrlich ist.“ Seit diesem Gespräch sind ein Jahr und vier Monate vergangen. Ich sitze in meinem Zimmer zu Hause auf dem Seehundsrücken. An der Wand hängen mein Clochard und Petit Trianon, auf dem Schreibtisch liegt Pierres letzter Brief, der mit den anderen zusammengeheftet werden soll, und vor mir ein großer Stoß beschriebener Papierbögen. Bald ist Weihnachten. Auf dem Seehundsrücken ist es jetzt kalt; es ist für uns die härteste Jahreszeit. Aber hier drinnen im Haus ist es warm und gemütlich, Omi bäckt ihre Friesenkekse, und ich selber habe eine Unmenge Pfannkuchen gebacken. Morgen kommt Pierre aus Bremen. Er ist oft bei uns gewesen, fühlt sich ganz wie zu Hause, ist Freund mit allen, von Omi bis zu Columbine. Columbine hat übrigens inzwischen Schande über ihre aritokratische Familie gebracht. Sie hat ihre Augen auf den scheckigen Kater beim Bäcker geworfen, und jetzt haben wir den Skandal. Sie liegt in ihrem Korb, voller Mutterstolz, obwohl ihre beiden Jungen gefleckt und scheckig sind und ganz und gar nicht siamesisch. Aber zurück zu Pierre und uns. Damals bei der Heimkehr aus Paris sagte Vati zu mir: „Ich glaube, dir ist es ganz ernst mit Pierre, Britta.“ „Ja“, sagte ich. „Aber liebes Herz, du bist so jung und Pierre auch; es kann von Verlobung noch keine Rede sein!“ „Natürlich“, sagte ich. „Wie lange meinst du, daß wir warten müssen?“ „Aber Kind, du mußt doch erst erwachsen sein!“ „Wie alt war Mutti, als du dich mit ihr verlobtest?“ „Äh – achtzehn“, sagte Vati. „Achtzehn würde also angehen?“ „Na ja, zur Not, aber du bist erst sechzehn dreiviertel!“
„Ich werde warten“, sagte ich… Und ich habe gewartet, und die Zeit gut ausgenutzt, meine ich selbst. Omi kann sich nicht mehr über mich beklagen. Ich habe nicht nur Kochen gelernt. Ich kann auch ein Oberhemd bügeln, feine Wollsachen waschen, ich kann Gardinen aufstecken und Spitzen stärken. Außerdem habe ich einen Kursus in Kinderpflege gemacht – und wie gern gemacht! Oft dachte ich, wenn ich so ein kleines Bündelchen in der Badewanne hatte: Ob ich selbst in wenigen Jahren solch ein kleines Wesen haben werde – mit Pierres braunen Augen, mit Vatis strahlender Laune, mit Muttis Herzensgüte und mit – nun ja, vielleicht gibt es auch von mir irgend etwas, was ich meinem Kinde vererben könnte… Ich weiß, daß ich mit meinen Kindern französisch sprechen werde. Ich kann es. Denn das habe ich vor allem in diesem Jahr gelernt… Unten in der Küche klirrt es. Ein guter Duft von Bäckereien und Tannen erfüllt das Haus, aus der Stube erklingt leise Radiomusik. Columbine schnurrt friedlich und zufrieden in ihrem Körbchen. Ich sitze und denke an meinen lieben alten Clochard. Ob er wohl noch lebt? Wie schade, daß ich ihn weder nach Namen noch Adresse gefragt habe; ach, Unsinn, eine Adresse hat er nicht. Seine Adresse ist Paris, das Seineufer, die eine oder die andere Metrostation, ein Park, in dem er sitzt und Blumen, Statuen und die Juwelen der Touristen besitzt. Aber jetzt in der Winterkälte? Was besitzt er jetzt? Friert er sich durch den Winter, oder hat er ein warmes Schlupfloch gefunden? Die Metro natürlich. Er lebt und wohnt auf einer Bank, er hört die Züge kommen und davonfahren, jede anderthalb Minuten, er lebt zwischen dahintrabenden Füßen und weggeworfenen Billetten, Zügen, die kommen, Zügen, die gehen. Zuweilen geht er hinauf, um sich etwas Eßbares zu organisieren. Er erbettelt sich ein Metrobillett, damit er wieder auf den Bahnsteig zurück kann. Dann sitzt er und kaut seine Kastanien oder seine Brotreste von den Restaurants, sieht die Menschen und die Metro kommen und gehen und ist glücklich mit seiner Philosophie. Alles gehört ihm. Und er ahnt nicht, daß mitten in der Nordsee auf einer kleinen Insel ein junges Mädchen sitzt und voll Dankbarkeit seiner gedenkt. Ein junges Mädchen, das von ihm gelernt hat, daß auch ihr alles gehört.
Morgen kommt Pierre. Morgen habe ich Geburtstag. Morgen werde ich achtzehn Jahre.