Zukunft unter Zeitdruck Au! den Spuren der «Apokalypse» herausgegeben von Daria Pezzoli-Olgiati
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Das Herannahen der Jahrtausendwende lãsst mit dem Vergehen der Zeit das Bild eines Endes der Zeit ins Bewusstséin treten. Zehn Autorinnen und Autoren aus verschiedf!nen Disziplinen verfolgen die Spuren iener spannungsreichen Einheit aus Furcht vor drohender Vernichtung und HoHnung auf das Offenbarwerden des Rettenden, die den Umgang mit der Vision des Endes in verschiedenen Bereichen unserer Kultur kennzeichnet. Daria Pezzoli-Olgiati untersucht die ZeitauHassungen in der «apokalyptischen» Literatur, Walter Lesch prüft die Rede vom «Ende der Geschichte» und fragt dabei nach der bleibenden Bedeutung der messianischen Hoffnung, Véronique Mauron und Claire de Ribaupierre Fur/an verfolgen «apokalyptische» Motive in Kunst und Literatur der Gegenwart, Char/es Martig und Matthias Loretan entwickeln eine Systematik der Bilder des Weltuntergangs im Film, Beat A. Follmi widmet sich der «apokalyptischen» Deutung der «Neuen Musik», Morfina Lesch nãhert sich den Endzeitãngsten als Psychologin, Béatrice Acklin Zimmermann schildert das Vorkommen von ãhnlichen Angsten im spãten und ausgehenden Mittelalter, Christof Jeckelmann schliesslich betrachtet Katastrophen mit dem nüchternen Blick des Naturwissenschaftlers.
ISBN 3-290-17187-6
Zukunft unter Zeitdruck
ZUKUNFT UNTER ZEITDRUCK Auf den Spuren der «Apokalypse»
Herausgegeben von Daria Pezzoli-Olgiati
TVZ THEOLOGISCHER VERLAG ZÜRICH
Illustration auf dem Umschlag Anne und Patrick Poirier: Domus aurea. Der Brand der grossen Bibliothek, 1976, Detail Staatliche Museen zu Ber1in - Preussischer Kulturbesitz, Nationa1galerie © VG Bild-Kunst, Bonn 1998
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Zukunft unter Zeitdruck : auf den Spuren der «Apokalypse» / hrsg. von Daria Pezzoli-Olgiati. - Zürich : Theol. Verl., 1998 ISBN 3-290-17187-6 © 1998 Theologischer Verlag Zürich
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photographischen und audiovisuellen Wiedergabe, der elektronischen Erfassung sowie der Übersetzung, bleiben vorbehalten.
INHALTSVERZEICHNIS
Daria Pezzoli-Olgiati: Einführung ..................................................................... 7 Daria Pezzoli-Olgiati: Im Spannungsfeld zwischen Weltende und Offenbarung «Apokalyptische» Zeitmodelle ......................................................................... 11 Walter Lesch: Verlorenes Paradies und befristete Zeit Variationen über Geschichtsphilosophie und Apokalyptik .............................. 33 Véronique Mauron und Claire de Ribaupierre Furlan: Weissagungen, Trümmer, Graber Fragen der Apokalypse im Roman und in der Kunst der Gegenwart.. ............. 66 Charles Martig und Matthias Loretan: Apokalyptische Visionen im Film Geschichtsbilder zwischen Weltuntergang und radikalem Neuanfang .......... 109 Beat A. Follmi: Tod oder Verklarung? Von der Neuen Musik und vom Ende der Musikgeschichte .......................... 135 Martina Lesch: Unter «apokalyptischer» Bedrohung Psychologische Erwagungen zum Umgang mit Angst, Zeit und Endlichkeit ............................................................................................... 153 Béatrice Acklin Zimmermann: VON WEGEN ins neue Jahrtausend! Endzeiterwartungen und -angste im spaten und ausgehenden Mittelalter ..... 191 Christof leckelmann: Die Katastrophe gibt es nicht Begegnungen mit der «Apokalypse» in Naturwissenschaft und Technologie .................................................................................................... 203 Autorinnen und Autoren ................................................................................ 220 Abbildungsverzeichnis .................................................................................. 222
Daria Pezzoli-Olgiati EINFÜHRUNG In zwei Jahren wird das zweite Millennium zu Ende sein. Eine Gelegenheit, um grandiose Inszenierungen des Vergehens der Zeit zu versuchen. Oder der Begrenztheit der Zeit, der Begrenztheit der Geschichte. Man stilisiert die Begegnung mit dem Ende der Zeit. Beispielsweise in Paris. Am Eiffel-Turm wurde eine verstellbare digitale Uhr installiert, welche die fehlenden Tage bis zum Ende des J ahrtausends anzeigt. Mit dem Fortschreiten der Tage steigt die Uhr automatisch nach oben. Alles ist so eingerichtet, dass sie am Ende die Spitze erreicht haben wird. U nd dann? Was wird geschehen? Es ist unwahrscheinlich, dass der Turm verlãngert wird. Ich stelle mir eher vor, wie am nãchsten Arbeitstag ein Fahrzeug einige schwindelfreie Arbeiter ausladen wird, die in einer akrobatischen Aktion die uhr entfernen werden, um sie in irgendein Lager abzutransportieren. Gerade in dieser Stimmung einer eigentlich fiktiven Erwartung ist die Idee des vorliegenden Buches entstanden. Ausgangspunkt dieses Projekts waren einige winterliche Diskussionen mit Véronique Mauron in den gemütlichen Rãumen des Schweizerischen Instituts in Rom. Es ging um den Sinn des inszenierten Endes, der heutigen «Apokalyptik», der Vorstellung einer Endzeitkatastrophe in der Kunst und in der Theologie. Was uns von Anfang an faszinierte, waren die Widersprüche, welche an der «Apokalypse» haften: zum Beispiel zwischen dem Ernst in den apokalyptischen Szenarien der endgültigen Vernichtung und der Leichtigkeit in der Verwendung des Begriffes in allen moglichen Kontexten. «Apokalypse» kann auf etwas ganz Schreckliches, auf das Ende schlechthin bezogen werden, oder als modische Wendung kann sie einer beliebigen Âusserung einen Hauch Esoterik verleihen. Ein anderer, zweideutiger Aspekt schien uns wichtig in der heutigen Vorstellung der «Apokalypse»: die starke Spannung zwischen ihrer Deutung als Begrenztheit der Geschichte, die dem Ende zusteuert, und jener einer transzendenten Offenbarung, in Anlehnung an den ursprünglichen Sinn des Wortes «Apokalypse». Auf diese Zweideutigkeit, so schien es uns, geht schliesslich der Widerspruch zwischen der Angst vor dem Schreckenszenario und der Hoffnung auf die Enthüllung jenseitiger Botschaften zurück. Vor der atemberaubenden Kulisse der ewigen Stadt, die vom Turm des Instituts in ihrer ganzen Pracht bewundert werden kann, war es leicht, sich mit dem Ende der Welt ohne Angst vor dem Untergang zu befassen, und aus einem informellen Austausch entstand die Initiative für eine interdisziplinãre Auseinandersetzung mit der «Apokalypse» in unserer Zeit. 7
Die Spannung zwischen Offenbarung und Endzeitkatastrophe ist zum Leitmotiv geworden, das durch die fachspezifischen Beitrage führt. Ist es moglich, die Ambivalenz im Begriff «Apokalypse» als Interpretationsschlüssel für den Umgang mit dem Ende in unserer Zeit zu benützen? Wie werden die Aspekte der Enthüllung und des Untergangs, wenn überhaupt, verbunden? An der Schwelle zum nachsten J ahrtausend fragen wir also nach dem Erneuerungspotential, das in dieser «apokalyptischen» Zweideutigkeit steckt. Das Gesamtprojekt ist als kulturgeschichtlicher Versuch konzipiert; die gemeinsame Fragestellung entsteht jedoch aus einer spezifisch theologischen Reflexion. Der Sammelband beginnt mit einem Überblick über die Entstehung und die Geschichte des Begriffes «Apokalypse» und mit einer Darstellung der Themen, Probleme und verschiedenen Auffassungen der sogenannten «apokalyptischen» Literatur. Besondere Aufmerksamkeit wird den typischen «apokalyptischen» Auffassungen von Geschichte und Zeit anhand von zwei Beispielen gewidmet. Die Zeitmodelle des 4. Buches Esra und der Johannesapokalypse, beide Schriftenaus dem Ende des ersten Jahrhunderts n. ehr., werden dargestellt und verglichen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den zwei Zeitmodellen leiten ein in die Diskussion über verschiedene Interpretationen der «Apokalypse». Im folgenden Beitrag wird die Fragestellung aus einer geschichtsphilosophischen Perspektive vertieft. Die Frage nach der Relevanz apokalyptischer Konzepte wird in einer Epoche gestellt, in welcher wir uns zwischen einem «verlorenen Paradies» und dem Bewusstsein der Begrenztheit der Zeit - der Moglichkeit des Endes aller Dinge - bewegen. Gerade in dieser verunsichernden Situation fallt das Schwanken zwischen dem moralisch motivierten Engagement unter hochstem Zeitdruck und der Suche nach Strategien der Entschleunigung auf. Die Analyse versucht, nach dem deklarierten Ende der gangigen Geschichtsphilosophie zu einem neuen Ansatz unter Einbezug von Kant, Derrida und Benjamin zu gelangen. Der letzte Teil des Artikels klart die Verbindung dieser Denkansatze mit einer ausdrucksstarken Bildersprache. Bilder und Texte in der zeitgenossischen Rezeption der Apokalypse sind das Thema des dritten Essays. Ausgewahlte Autoren aus Literatur und Kunst dieses Jahrhunderts werden unter die «apokalyptische» Lupe genommen. Als Orientierungspunkt in der Vielfalt der literarischen und künstlerischen Erfahrungen im Umfeld des «Apoka1yptischen» dient der explizite Bezug zum biblischen Text. Die auf diese Weise fokussierte Fragestellung wird wiederum in verschiedene Motive aufgesplittert. Es geht zuerst um die Weissagung, die Offnung gegenüber neuen Enthüllungen, dann um die Trümmer, welche die Katastrophe zurückgelassen hat, und schliesslich um das Grab, die Abwesenheit, die Leichen, die Erinnerungen, die Geister und die Schatten, alles Aspekte eines ambivalenten Todes, der sich oft als Übergang zu einem neuen Leben herausstellt.
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Kaum eine andere Kunst lebt so von der «Apokalypse» wie der Fi1m. Die meisten apokalyptischen Visionen erleben wir schliesslich in den Kinosalen. Ein fi1mwissenschaftlicher Versuch schien uns deswegen gerade in diesem Projekt unentbehrlich zu sein. Die Analyse des apokalyptischen Weltuntergangs in berühmten Kassenschlagern aus den letzten fünfzehn Jahren führt zu einer Systematisierung dieser Bi1der, die symptomatisch für die heutige Kino- und elektronische Produktion sind. Die Untersuchung apokalyptischer Aspekte in der Musikgeschichte führt uns zurück zu den Anfãngen dieses Jahrhunderts. Wiederum erweist sich die Spannung in der «Apokalypse» als Offnung zum Neuen und als Bild des Endes als anregende Fragestellung. Ausgangspunkt des Essays sin d die radikalen Veranderungen im musikalischen Schaffen im Kreis um A. Schõnberg. Zwei Perspektiven werden einander gegenübergestellt: das Auftreten dieser Kompositionskunst als «Neue Musik» und deren gleichzeitige Rezeption als das «Ende der Musik». Die explizite Verbindung zwischen dieser Erscheinung, die vielen Kritikern grosse Schwierigkeiten bereitete, und der «Apokalypse» wird von Adorno geleistet: Die «Neue Musik» wird als Abschied von einer Harmonie gedeutet, die nicht mehr zu einer auf die engültige Katastrophe zielenden Realitat passt. Aus dem musikgeschichtlichen Rückblick ergeben sich Erwagungen zu aktuellen Gestalten von Musik und deren gegensatzlichen Wahrnehmung. Die folgenden zwei Aufsatze beleuchten die gleiche Frage, jedoch in unterschiedlichen historischen Kontexten. Es geht um die Angst, die von der Endzeiterwartung ausgeht. Im ersten Artikel wird dieses Thema in der heutigen Zeit untersucht: Wie geht man in der Psychologie mit einem so schwer fassbaren Phanomen um? Dieser Ausgangsfrage folgen die Darstellungen der Erscheinungsformen so1cher Endzeitangste und ihrer Auslõser. Zuletzt werden mõgliche Strategien im Umgang mit Zeit vorgelegt, we1che Zukunftshoffnungen ermõglichen. Der geschichtswissenschaftliche Beitrag schildert das Vorkommen von ahnlichen Ãngsten im spaten und ausgehenden Mittelalter. Obwohl vergleichbare Muster die Endzeiterwartungen in jener Epoche kennzeichnen, wird stets auf die Eigentümlichkeiten der apokalyptischen Erwartungen im jeweiligen historischen Umfeld hingewiesen. Im letzten Essay wird versucht, den Umgang mit der «apokalyptischen» Katastrophe in Naturwissenschaft und Technologie zu erfassen. Dabei werden zwei Aspekte hervorgehoben und verglichen: die Wahrnehmung bestimmter Phanomene durch die Naturwissenschaften als Katastrophe und das Auftreten einer Endzeitstimmung innerhalb der Naturwissenschaften selbst. Auf den Spuren der «Apokalypse» in der heutigen Zeit haben wir nach ihrer Zweideutigkeit, nach ihrer schillernden Erscheinung als Bi1d der letzten Zerstõrung oder der Enthüllung einer transzendenten Botschaft gefragt. Trotz der Bemühung, dieses Motiv aus verschiedenen Perspektiven.zu beleuchten, bleiben 9
selbstversUindlieh viele Aspekte unbehandelt und viele Fragen offen. Die Ambivalenz zwisehen Erwartung der Katastrophe und Óffnung zum Neuen wird im Laufe der Aufsatze immer mehr zur Ambivalenz zwisehen der «Apokalypse» als Spraehwendung, Bild, Metapher und der «Apokalypse» als konkretem Zerstõrungsphanomen. In diesen Spannungsfeldern, eingeklemmt zwisehen einer We1t der Vorstellungen (der Traume, aber aueh der Alptraume) und einer Welt der physikalisehen Gesetzmassigkeiten und der dringenden Notwendigkeiten unserer Epoehe, ist es extrem sehwierig, die Orientierung nieht zu verlieren. Die «Apokalypse» wird plõtzlieh versehwommen, das Thema unklar, die Visionen unseharf. Im Bewusstsein der Komplexitat der «Apokalypse» hoffe ich, dass der vorliegende Sammelband mindestens zur Klarung der Hauptfragen beitragt. Türme spielen in diesem Projekt eine grosse Rolle: der Eiffel-Turm mit der digitalen Endzeituhr, die ungeaehtet der Sorgen der Metropolenbewohner ihren Countdown fortsetzt, der Turm des Sehweizerisehen Instituts als Inspirationsort ho eh über der ewigen Stadt, und sehliesslieh der Turm der Sternwarte in Zürieh, wo die erste Skizze für das vorliegende Bueh entstanden ist. Im Restaurant dort oben haben Véronique Mauron und ieh die ersten Sehritte zur Konkretisierung unseres Vorhabens zu Papier gebraeht. Der Abstieg von der Hõhe hat sieh diesmal nicht als Sprung ins Leere erwiesen, denn wir wurden bald von einer engagierten Arbeitsgruppe unterstützt. Insbesondere danke ich den Autorinnen und Autoren für die Mitarbeit und die Bereitsehaft, den Elfenbeinturm der eigenen Disziplin und Spraehe zu verlassen. Ein besonderer Dank geht an Werner Blum und Wolfgang Kasprzik vom TVZ und an meine Naehbarin Gerda Reiseh.
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Daria Pezzoli-Olgiati
IM SPANNUNGSFELD ZWISCHEN WELTENDE UND OFFENBARUNG «Apokalyptische» Zeitmodelle
«Wann ist das Ende der ersten und der Anfang der kommenden Welt?» (4. Buch Esra VI,7)
1. Die Ambivalenz der «Apokalypse»: Vom Ende der Welt zur Offenbarung des Neuen
Was ist die «Apokalypse»? Was meint dieses bekannte, in seiner Bedeutung jedoch nicht leicht fassbare Wort? Es geht scheinbar um den Ausgang der Welt, der Zeit, des Lebens: um das Ende schlechthin. «Apokalypse» als das Ende bezeichnet nicht nur das endgültige Ableben der Welt, sondern kennzeichnet zugleich die Art, wie dieser unwiderrufliche Untergang aller Dinge geschieht. Und hier kann sich jeder den Schrecken vorstellen, den ihm seine Phantasie eingibt. Als mogliche Mittel zur unabanderlichen ZerstOrung konkurrieren eine ganze Palette entsetzlicher Szenarien - und eine beliebige Zusammensetzung verschiedener unter ihnen. Das Ende kann durch Naturkatastrophen, durch von Menschen verursachte ZerstOrungen oder durch das Eingreifen von transzendenten K.raften herbeigeführt werden. Die Vorstellung der «Apokalypse» als endgültiger ZerstOrung der Welt ist weit verbreitet. Sie taucht in unterschiedlichen Milieus auf, kommt in religiosen und profanen Umfeldern vor. Zum Tei1 wird sie als Beschreibung des unmittelbar bevorstehenden, katastrophalen Endes in wirklichem Sinn aufgefasst, zum Tei1 wird sie auf eine domestizierte, sogar verniedlichte Weise als Bi1d für etwas Schreckliches benützt, das aber nicht end-gültig ist. Man begegnet dem Begriff «Apokalypse» sowohl in den Fachsprachen der Wissenschaften als auch in den verschiedensten Produkten der Unterhaltungsindustrie. Das Bi1d des Endes liegt in vielen Formen vor, von Computerspielen bis zu Werken der Literatur, mal in der Inszenierung einer gewaltigen Katastrophe im Film, mal als Metapher für die Schaden, die der Mensch in der Umwelt anrichtet. Die Gleichsetzung «Apokalypse = endgültige Zerstorung der Welt» ist im Sprachgebrauch tief verankert. Ein Blick in einige Worterbücher bestatigt diesen Eindruck. Unter dem Stichwort «Apokalypse» kann man nachlesen: 11
«Untergang, Grau en , Unheil»l, «Schreckliches Unheil, grauenvolles Ende, schrecklicher Untergang, gelegentlich in Wendungen wie Apokalypse des Krieges, atomare, õkologische Apokalypse»2, «eine prophetische Schrift über Lauf und Ende der Welt»3. Diese Bedeutung wird auch auf das Adjektiv «apokalyptisch» übertragen, wobei hier der Aspekt des Dunklen, Geheimnisvollen hinzukommt4 . Unter dem Stichwort «Apokalypse» wird auch auf den ursprünglichen Sinn hingewiesen: «Enthüllung, Offenbarung, Schrift in der Form einer Abschiedsrede, eines Testaments o.a., die sich mit dem kommenden Weltende befasst (z.B. die Offenbarung des Johannes im Neuen Testament)>>5, «Zunachst als religiõser Terminus zur Bezeichnung einer Schrift des Neuen Testaments (der sogenannten
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Duden. Das grosse Fremdworterbuch, Mannheim, 1994, S. 119.
2
Schulz, Hans; Basler, Otto: Deutsches Fremdworterbuch, Bd. 2, Ber1in - New York: Walter de Gruyter, 1996, S. 62.
3
Der neue Herder, Bd. I, Freiburg - Basel- Wien: Herder, 1965, S. 184.
4
Dazu vgl. z.B. Deutsches Fremdworterbuch, S. 62: «figürlich, dunkel, geheimnisvoU, di.tselhaft». S. auch Kortner, Ulrich: Weltangst und Weltende. Eine theologische In te rpre ta tion der Apokalyptik, Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1988, S.40ff.
5
Duden. Das grosse Fremdworterbuch, S. 120.
6
Deutsches Fremdworterbuch, S. 62.
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2. «Apokalypse, apokalyptisch»: Suche eines gemeinsamen Nenners Das Fremdwort «Apokalypse» stammt aus dem Griechischen. Das Verb cl1toK:aÂ:61t'tco, wie cl1tOK:
Dazu vgl. Liddell, Henry G.; Seott, Robert: A Greek-English Lexikon, Oxford: Clarendon, 1992, S. 201; Smith, Morton: On the Hystory of AIIOKAA YIITQ and AIIOKAA Y'I'Il:, in: Hellholm, David: Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near East, Tübingen: Mohr, 1989, S. 9-20; Karrer, Martin: Die Johannesoffenbarung als BrieJ Studien zu ihrem literarischen, historischen und theologischen Ort, (FRLANT 140), Gottingen: Vandenhoeek & Rupreeht, 1986, S. 97f.
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Für andere Beispiele s. Karrer: Die Johannesoffenbarung als Brief, S. 98ff.
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Vielhauer, Philipp; Streeker, Georg: Apokalypsen und Verwandtes. Einleitung, in: Schneeme1cher, Wilhelm: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, 11. Bd., Tübingen: Mohr, 1997, S. 492.
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Zweite vermehrte und verbesserte Auflage, Bonn, 1852.
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keinerlei allgemein akzeptierten Ergebnissen. Auch in der breiten Auseinandersetzung mit der Apokalyptik, die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat, konnte sich weder ein literarisch noch ein religionsgeschicht1ich orientierter Definitionsversuch durchsetzten. 11 Ein Überblick über die berühmtesten Zugange zur Apokalyptik bestatigt diesen Eindruck. Nach Vielhauer sind apokalyptische Schriften durch folgende feste Züge gekennzeichnet, die er als Stilelemente einer literarischen Gattung definiert: fiktive Zuschreibung der Autorschaft einer bekannten Personlichkeit aus der Geschichte (Pseudonymitat), Visionsberichte, Geschichtsüberblicke in futurischer Form, das Vorhandensein von Formenmischungen. Parallel dazu wird die Einheit der Apokalypse als selbstandige Erscheinung durch inhaltliche Konstanten bekraftigt: Das Hauptthema der Apokalyptik liegt nach ihm in den eschatologischen Konzepten, in denen einige feste Themen reflektiert werden: Eine Zwei-Âonen-Lehre; ein radikaler Pessimismus gegenüber 'der jetzigen Welt, we1chem eine «Steigerung der Jenseitssehnsucht und Spekulation» entspricht; die Spannung zwischen der individualistischen Vorstellung der Auswahl eines Volkes und dem kosmisch-universalen Zeithorizont; Determinismus und Naherwartung. 12 Klaus Koch halt ebenfalls am Bestehen einer genau umrissenen Gattung fest. Ihre Hauptmerkmale sind die grossen Redezyklen zwischen dem apokalyptischen Seher und seinem himmlischen Gegenüber, die seelische Erschütterung des Empfangers der Visionen und Auditionen, die paranetischen Reden, in we1chen der Seher eine Art eschatologische Ethik für die Gemeinde entfaltet, die Pseudonymitat, das Vorkommen von symbolreichen mythischen Bildern und der Kompositionscharakter der Schriften, an dem das langere literarische Wachstum erkennt1ich ist. Typische Vorstellungen für die Apokalyptik als historische Stromung sind die drangende Naherwartung, das Ende der Welt in Form einer kosmischen Katastrophe von ungeheurem Ausmass (worauf sich die apokalyptische Haltung des Pessimismus gründet), der Determinismus, der sich vor allem in der strengen Einteilung der Weltzeit in feste Abschnitte zeigt, das Vorkommen von Engeln und Damonen, die Vorstellung eines Heils 11
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Vgl. unter den wichtigsten Beitragen: den in Anm. 9 zitierten Aufsatz von Vielhauer (di e erste Auflage ist von 1964); Koch, Klaus: Ratlos vor der Apokalyptik. Eine Streitschrift über ein vernachliissigtes Gebiet der Bibelwissenschaft und die schiidlichen Auswirkungen aufTheologie und Philosophie, Gütersloh: Mohn, 1970; Collins, John J.: Apocalypse. The Morphology of a Genre, in: Semeia 14 (1979); Lambrecht, Jan: L'Apocalypse )ohannique et l'Apocalyptique dans le Nouveau Testament, Leuven: University Press, 1980; Hellholm, David: Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near East, Tübingen: Mohr, 1983; Yarbro Collins, Adela: Early Christian Apocalypticism. Genre and Social Setting, in: Semeia 36 (1986). Zur Forschungsgeschichte s. Corsani, Bruno: L'Apocalisse e l'apocalittica del Nuovo Testamento, Bologna: Dehoniane, 1997. AaO. (s. Anm. 11), S. 492-506.
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mit paradiesisehem Charakter, die endgültige Thronbesteigung Gottes, we1che den Übergang vom Unheilszustand zum Heil erõffnet, das Vorkommen von Vermittlern mit kõnigliehen Funktionen (z.B. der Messias, der Mensehensohn, ein Auserwahlter), der Gebraueh des Stiehwortes Herrliehkeit, um die endgültige Versehmelzung zwisehen irdisehem und himmlisehem Bereich zu besehreiben. 13 Einen etwas anderen Weg geht J.J. Collins. Er fasst den Kern der apokalyptisehen Literatur in folgender Definition zusammen: <<<Apokalypse> ist eine Gattung von Offenbarungsliteratur mit einem narrativen Rahmen, in we1cher eine Offenbarung von einem jenseitigen Wesen an einen Mensehen vermittelt wird, um eine transzendente Wirkliehkeit zu erõffnen, we1che zugleieh zeitlieh - indem sie auf ein esehatologisehes Heil hinzielt - und raumlieh ist - indem sie eine andere, übernatürliehe Welt miteinbezieht».14 Dieser Vorsehlag, der auf einem breiten Konsens beruht, wird im Laufe der Diskussion vervollstandigt. So sehlagt Hellholm 1986 folgende Erganzung vor: « ... geriehtet an eine Gruppe in Krise, mit der Absieht, dureh gõttliehe Autoritat zu ermahnen und/oder zu trõsten», die wiederum von A. Yarbro Collins umformuliert wird: « ... um gegenwartige, irdisehe Gegebenheiten unter Einbezug der übernatürliehen Welt und der Zukunft zu interpretieren, und um das Verstandnis und das Verhalten der Adressaten dureh gõttliehe Autoritat zu beeinflussen».15 Im religionsgesehiehtliehen Vergleieh erseheint naeh Lanezkowski eine allgemeinere Bestimmung der Apokalyptik als angemessen: Als Enthüllung zukünftiger Ereignisse, die sieh in der Sicht zykliseher Weltbilder jeweils am Ende einer weltgesehiehtliehen Periode wiederholen. 16 Diese Skizze untersehiedlieher Zugange verdeutlieht die dem Begriff «Apokalyptik» anhaftende Unsieherheit: Es wird versueht, dieses (rekonstruierte) Phanomen aus einer inhaltliehen, form-, gattungs- oder sozialgesehichtliehen Perspektive zu erfassen. Diese Vorsehlage haben alle ihre Evidenz, weisen aber aueh Sehwaehen auf: Je naeh dem, we1che Textmuster im Bliekfeld stehen, seheint sieh die eine oder andere Bestimmung besser zu eignen; je praziser die Definition au sfallt , desto kleiner wird die Menge an historisehem Material, das dadureh erfasst wird. Andererseits verlieren die allgemein gehaltene n Umsehreibungen besonders sehnell an Aussagekraft, so dass man si eh im Extremfall sogar fragen kõnnte, ob «die Apokalyptik» nieht eine retrospektive Erfindung der historisehen Forsehung sei.
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AaO. (s. Anm. 11), S. 11-31.
14 AaO. (s. Amn. 11), S. 9. 15 In: Semeia 36, S. 27 bzw. 7. 16
Apokalyptik/Apokalypsen l, TRE, Bd. 3, Berlin - New York: Walter de Gruyter, 1978, S. 189f.
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3. «Apokalypse» als Offenbarung des Weltendes? Trotz der vielen offenen Fragen und Bedenken mõchte ich mich auf einen grundlegenden Aspekt einlassen, der stets in der Diskussion um die Apokalyptik berücksichtigt wird: die Auffassung der Zeitstrukturen. Diese ist von der Vorstellung zweier grundsatzlich unterschiedlicher Zeitepochen dominiert: Der jetzige Aon - die Zeit des Unheils - und der zukünftige - die Zeit des Heils -, we1che chronologisch aufeinander folgen. Die Trennung und zugleich der Übergang der zwei Zeiten wird von den katastrophalen Endereignissen bestimmt. Von dieser eschatologischen Konzeption hangen weitere Themen wie die Auffassung der Gegenwart als Zeit des Unheils, die damit verbundene pessimistische Haltung bzw. die Sehnsucht nach der neuen Zeit und das Ausmass der Konsequenzen (individuelles Heil der Auserwahlten oder universale Erlõsung) ab. Geht man von dieser apokalyptischen Zeitstruktur aus, dann erweist sich die am Anfang dieses Aufsatzes hervorgehobene Ambivalenz zwischen dem bevorstehenden Untergang und der Sehnsucht nach dem künftigen Heil in einer neuen Zeit als vorprogrammiert. Oder, radikaler formuliert: Der Gegensatz zwischen endgü1tiger Weltkatastrophe und Offenbarung im Begriff «Apokalypse» ist nur scheinbar, denn die Endzeitkatastrophe ist der Inhalt der Offenbarung. Auf dieser Linie ware also die Apokalypse nichts anderes als die Enthüllung des Unterganges, die Offenbarung des gewaltigen Endes der jetzigen Welt. 17 Diese Rekonstruktion des Verhaltnisses der Aonen in der apokalyptischen Literatur gründet auf Versuchen, das Gemeinsame in der grossen Vielfalt an Themen und Strukturen übergreifend zu erfassen. In dieser stilisierten Form kommt jedoch die Zeitproblematik kaum in historischen Quellen vor. Innerhalb der verschiedenen Apokalypsen und den Texten, die dieser Gruppe zugeordnet werden, wird die Spannung zwischen den Weltepochen immer anders und auf jeweils eigentümliche Weise gestaltet. Nach diesem allgemeinen Einstieg in die apokalyptische Zeitproblematik werden zur Veranschaulichung nun zwei Texte mit ihren besonderen Einstellungen, Nuancen und Unterschieden untersucht. Ausgewahlte Stellen aus dem 4. Buch Esra und der Johannesapokalypse lassen trotz der vielen Berührungspunkte recht verschiedene Vorstellungen der Beziehung zwischen der jetzigen und der zukünftigen Zeit erkennen. Beide Texte stammen aus der Zeit nach der Zerstõrung des Jerusalemer Tempels; mit grõsster Wahrscheinlichkeit sind sie Ende des ersten Jahrhundert n.ehr entstanden. Die historischen Ereignisse, die im Text vorausgesetzt werden (darunter an erster Stelle der Konflikt mit der rõmischen Macht) sind sehr ahnlich, das religiOse Umfeld jedoch unterschiedlich: Das 4. Buch Esra ist eine jüdische, die Johannesapokalypse hingegen eine christliche Schrift.
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Dazu vgl. Kortner, Weltangst, S. 50ff.
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4. Nach dem Untergang der Meisten kommt das Hei/für Wenige: Das deterministische Zeitmodell des 4. Buches Esra Das 4. Bueh Esra vertritt eine deterministisehe Zeitauffassung: Die Reihenfolge: jetzige, verdorbene Welt - Endzeitkatastrophe und Gerieht - zukünftige Welt ist streng ehronologiseh gedaeht. Jede dieser Zeiten lOst die vorangehende ab. Dieser Gang der Gesehiehte ist im Plan Gottes bereits von der Sehõpfung an festgelegt und Hi.sst si eh auf keinen Fall beeinflussen. 4.1. Vergangenheit und Gegenwart
In den ersten drei Visionen des 4. Buehes Esra, das insgesamt sieben Visionen umfasst, spricht Esra mit dem Engel Uriel. Die Erzahlung wird fiktiv in die Zeit unmittelbar naeh der Zerstõrung Jerusalems 587 v. ehr. verlegt. Esra ist über die Situation des Volkes auf der Erde besorgt: Das Leiden und die Zerstõrung, die der Verlust der Stadt mit sieh bringt, finden in seinen Augen keine ErkHirung. Dies wird dazu von der sehmerzenden Feststellung bekraftigt, dass es den anderen Võlkern, den maehtigen Besatzern viel besser geht. «Im dreissigsten Jahr naeh dem Untergang der Stadt war ieh, Salathiel , der aueh Esra heisst, in Babylon. Als ieh auf meinem Bett lag, geriet ieh in Verwirrung und meine Gedanken gingen mir zu Herzen, weil ieh die Verwüstung Zions und den Überfluss der Bewohner Babylons sah»18 (III,lf). Unter dem Druek dieses Ungleiehgewichtes lasst Esra die Gesehichte des Volkes Revue passieren. Es ergibt sich ein düsteres Bild: Gott sehuf den Mensehen, sehloss mit seinem Volk einen ewigen Bund und verspraeh ihm Zuwendung auf alle Zeiten, aber die Mensehen hielten sieh nie an die Gebote Gottes, vielmehr begingen sie immer wieder Sünden. Esra fragt sieh, warum denn Gott dies zugelassen und warum er die Mensehen mit ihrem Hang zum Bõsen nieht verandert habe: «Aber du hast das bõse Herz nieht von ihnen weggenommen, damit dein Gesetz in ihnen Frueht braehte. Weil er nam1ieh ein bõses Herz in sieh trug, verging sieh der erste Adam und wurde besiegt, ebenso aber aueh alle, die von ihm abstammen. So entstand eine dauernde Krankheit: das Gesetz im Herzen des Volkes zusammen mit der Wurzel des Bõsen; das Gute sehwand, das Bõse b1ieb» (III,20-22). Esra maeht diesen in der Vergangenheit verankerten Meehanismus dafür verantwort1ieh, dass es auf der Welt so viel Bõses gibt. Seine Überlegungen münden in eine Kritik an Gott: Warum, wenn Gott den Mensehen bõse gesehaffen hat, sollte er erwarten, dass die Mensehen und sein Volk sich besser benehmen? Und was ist mit allen anderen Võlkern? «Nun also wiege unsere Sünden und die der Weltbewohner auf der Waage! Dann wird sieh zeigen, 18 Text aus: Schreiner, Joseph: Apokalypsen. Das 4. Buch Esra, (Jüdische Schriften aus hellenistisch-romischer Zeit V/4), Gütersloh: Mohn, 1981.
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wohin der Ausschlag des Waagebalkens sich neigt. Oder wann haben die Bewohner der Erde vor deinem Angesicht nicht gesündigt? Oder we1ches Volk hat so deine Gebote gehalten? Einzelne Menschen, mit Namen zu nennen, die deine Gebote gehalten haben, wirst du zwar finden, Võlker aber wirst du nicht finden» (Ill,34-36). Esras Kritik erscheint als verzweifelter Versuch, eine Logik im Plan Gottes zu erkennen. Obwohl ihm Uriel, sein Gesprachspartner, der als Vennittler zwischen ihm und Gott wirkt, wiederholt kIar gemacht hat, dass er als Mensch nie im Stande sein wird, den Gottesplan ganz zu erfassen, enthüllt er ihm einige wesentliche Ereignisse in der künftigen Entwicklung der Geschichte und der Schõpfung. Die Vorstellung zweier getrennter, nacheinander folgender Welten pragt die gesamte Schrift. In Vll,46ff wird die Begründung dieser Beschaffenheit der Welt an die angeborene Bosheit der Menschen geknüpft. Dies wird in der folgenden Dialogpassage besonders deutlich zum Ausdruck gebracht. Esra fragt: «Wer ist es von den Lebenden, der nicht gesündigt hatte? Oder wer von den Geborenen ist es, der deinen Bund nicht übertreten hatte? Jetzt aber sehe ich, dass die kommende Welt nur wenigen Wonne bringen wird, vielen aber Qualen. Denn in uns ist das bõse Herz gewachsen, das uns diesem entfremdete, uns dem Verderben entgegenführte, uns die Wege des Todes zeigte, die Pfade der Vernichtung (wies) und uns vom Leben entfernte, und zwar nicht wenige, sondern beinahe alle, die erschaffen wurden. Er antwortete mir und sagte: Hõr mich! Ich will dich belehren und aufs neue zurechtweisen. Deshalb hat der Hõchste nicht eine Welt geschaffen, sondern zwei» (Vll,46-50). Sowohl der Vergangenheits- als auch der Gegenwartsaspekt der Geschichte sind kontinuierlich durch das Bõse im Menschen gekennzeichnet. Es gibt gar keine Hoffnung auf eine Veranderung, die jetzige Zeit neigt unabwendbar zum Ende. Das Leben in einer so1chen Gegenwart wird zum unertraglichen Zustand. Esra ist lebensmüde, er bereut den Tag seiner Geburt: «Warum Herr? Weshalb nur wurde ich geboren? Warum wurde der Schoss meiner Mutter mir nicht zum Grab, so dass ich die Mühsal Jakobs und die Erschõpfung des Volkes Israel nicht sehen müsste?» (V,35). Er sehnt sich nach einer Wende: «Wie lange noch? Und wann wird das sein? Unsere Jahre sind ja so kurz und bõse» (lV,33). Den einzigen Ausweg aus der leidvollen Existenz des Menschen sieht Esra in einer Zukunft, die Gott für seine Auserwahlten vorbereitet: «Wenn ich Gnade vor deinen Augen gefunden habe, und wenn es mõglich ist, und wenn ich dazu fahig bin, zeig mir auch dies, ob noch mehr kommen so11, als vergangen ist, oder ob das meiste schon an uns vorübergegangen ist. Denn was vorübergegangen ist, weiss ich. Aber was die Zukunft bringt, kenne ich nicht» (IV,44).
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4.2. Die Endzeitkatastrophe und das Gericht Die Endzeitkatastrophe bezeichnet den Übergang von dieser zur anderen Welt. Die Welt zielt auf das Gericht hin, und dies ist von Anfang an in Gottes Schõpfung vorgesehen: «Al s der Hõchste die Welt erschuf, Adam und alle, die von ihm abstammten, bereitete er zuerst das Gericht vor und was zum Gericht gehõrt» (Vll,70). Die spannungsvolle Erwartung des Endes, das als Voraussetzung der neuen Welt gilt, spielt im 4. Buch Esra eine eminente Rolle. «Ich (Esra) antwortete und sagte: Wie wird die Trennung der Zeiten sein? Oder wann ist das Ende der ersten und der Anfang der kommenden Welt?» (VI,7). Esra fragt eindringlich nach den Zeichen, die das Eintreffen des Unterganges ankündigen. Der Engel Uriel Hi.sst ihn verstehen, dass es zu seinem Offenbarungsauftrag gehõrt, ihn mindestens teilweise über die bevorstehenden Geschehnisse zu unterweisen: «Die Zeichen aber sind: Siehe, Tage werden kommen, da werden die Erdbewohner von einem gewaltigen Entsetzen gepackt werden. Der Weg der Wahrheit wird verborgen sein, und das Land wird leer von Glauben sein. Die Ungerechtigkeit wird grõsser werden als jene, die du jetzt selbst siehst und über die du von früher gehõrt hast. Das Land, das du jetzt herrschen siehst, wird unwegsam sein, und man wird es verlassen sehen. Wenn aber der Hõchste dir das Leben gewahrt, dann wirst du es nach drei Zeiten in Verwirrung sehen. Die Sonne wird plõtzlich bei Nacht leuchten und der Mond tagsüber. Von Baumen wird Blut herabtropfen, Steine werden rufen. Die Võlker geraten in Aufruhr und die Sterne in Verwirrung. Herrschen wird der, den die Erdbewohner nicht erwarten. Die Võgel wandern aus. Das Meer von Sodom wirft Fische aus. Der, den viele nicht kennen, wird nachts rufen; viele werden seine Stimme hõren. Abgründe tun sich an vielen Orten au f, und oft wird Feuer herausgeschleudert. Die wilden Tiere verlassen ihr Gebiet. Frauen bringen Missgeburten zur Welt. Und im Süsswasser findet man Salziges. Freunde bekampfen einander plõtzlich; dann wird sich die Weisheit verbergen, und die Einsicht sich in ihre Kammer zurückziehen. Sie wird von vielen gesucht, aber nicht gefunden. Ungerechtigkeit und Zuchtlosigkeit werden sich auf der Erde vervielfachen. Dann fragt ein Land das nachste und sagt: Ist die Gerechtigkeit, oder einer, der das Rechte tut, bei dir vorbeigezogen? Es wird das verneinen. In jener Zeit wird es geschehen, dass die Menschen hoffen und nichts erlangen, sich abmühen, und ihre Wege nicht (zum Erfolg) gelenkt werden. Diese Zeichen dir zu sagen, ist mir gestattet worden» (V,I-13). Dem Ende gehen Ereignisse voraus, die allgemeinen Schrecken verbreiten. Al1e Erscheinungen des Lebens sind davon betroffen. Die Endzeiterschütterungen ~mfassen den Kosmos, die Erde, die Pflanzen- und Tierwelt und vor al1em die Menschen. Die Lebenszyklen werden unterbrochen, so wie die wesentlichen Aspekte des gemeinschaftlichen Lebens. Freundschaft, Weisheit, Einsicht und Gerechtigkeit verschwinden: Ungerechtigkeit ist die einzige verbliebene Umgangsart unter den Menschen. 19
Nach diesen Vorzeichen kommt der gewaltige Untergang: «Dann wirst du eine gewaltig drohnende Stimme horen. Und wenn der Platz, auf dem du stehst, erbebt und schwankt, wwend sie spricht, erschrick nicht; denn vom Ende ist die Rede» (VI,13-15). Eine erdbebenahnliche Kraft erschüttert die Fundamente der Erde und bringt sie ins Schwanken. Der Untergang zeigt sich auch im endgültigen Zusammenbrechen des Friedens unter den VOlkern. Die Endzeitkatastrophe betrifft die Erde sowohl als kosmische Grosse wie auch als organisierten Lebensraum der Menschen: «Wenn in der Welt erscheinen Erschütterungen an (verschiedenen) Orten, Verwirrung unter den VOlkern, AnschHige unter den Nationen, Unruhen unter den Führern, Verwirrung unter den Fürsten, dann wirst du erkennen, dass der Hochste darüber gesprochen hat seit den Tagen, die zuvor im Anfang gewesen sind. Denn wie alles, was in der Welt geworden ist - der Anfang offenkundig und das Ende geoffenbart -, so sind auch die Zeiten des Hochsten: Die Anfange sind offenkundig in Wundern und Kraften, das Ende in Tat und Zeichen» (IX,3-6). Dieses Zitat hebt einen für das gesamte Werk zentralen Punkt hervor: Alles was Esra als sterblicher Mensch über das Ende erfahren kann, wird ihm durch den Engel Uriel geoffenbart. Der Untergang, die Endzeitkatastrophe stellen einen der Inhalte der gottlichen Enthüllung dar. Zur Offenbarung gehort jedoch nicht nur die Vorhersage der ZerstOrung, sondern auch die von deren Bedeutungen und Folgen. Der endgültigen Beseitigung der Welt entspricht das Gericht: «Der Tag des Gerichtes aber ist das Ende dieser Welt und der Anfang der unsterblichen kommenden Welt, in der die Verganglichkeit vorüber ist, die Zuchtlosigkeit vertrieben, der Unglaube vertilgt, die Gerechtigkeit aber erwachsen und die Wahrheit entstanden ist. Daher kann sich dann niemand dessen erbarmen, der im Gericht unterlegen ist, noch den stürzen, der gewonnen hat» (VII,113-115). Der Tag des Gerichtes zeitigt Eigenschaften, die aus der gegenwiirtigen Welt verschwunden sind: So sind Gerechtigkeit und Wahrheit wieder verbindlich, wahrend Verganglichkeit, Zuchtlosigkeit und Unglaube nicht mehr herrschen. In dieser Hinsicht verkorpert das Gericht eine Zeit der Deutlichkeit, der Überwindung jeder Ambivalenz. Die Ordnung und die Verbindlichkeit des Gerichtes findet nicht zuletzt in einer sauberen Trennung zwischen Gutem und Bosem ihren Ausdruck. In den Beschreibungen dieser scharfen Trennungen kommen starke Kontraste ins Spiel: Wonne und Ruhe werden Feuer und Pein gegenübergestellt, alle bisherigen, verganglichen Erscheinungen der Schopfung dem tadellosen Glanz der Herrlichkeit Gottes. Ein weiterer wesentlicher Aspekt des Gerichtes besteht im Versuch, das Bose als endgültig besiegte Kraft zu denken. Die scharfe Unterscheidung zwischen Gutem und Bosem zielt namlich auf die Überwindung des ZerstOrerischen: «Denn das Bose wird zerstOrt, die Hinterlist ausgelOscht» (VI,27).
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4.3. Die zukünftige We1t Die Zukunft gehort den wenigsten. Das steht von Anfang an fest. «Di ese Welt hat der Hochste um der vielen wil1en erschaffen, die künftige aber nur wegen der wenigen». Esra ist besorgt um das Schicksal der Menschen und betrübt über das Ungleichgewicht zwischen den wenigen Gerechten und den vielen Gottlosen. Als Antwort auf diese Feststellung wird ihm folgendes mitgeteilt: «Wenn du nur sehr wenige und kostbare Steine hattest, würdest du ihrer Anzahl Blei und Ton hinzufügen? Blei und Ton gibt es im Überfluss» (VII,52). Die Zukunft wird zur Zeit der Rettung einer kleinen Auswahl von Gottestreuen. Der scharfen Trennung zwischen der jetzigen und der künftigen Welt entspricht die Unterscheidung zwischen den wenigen Geretteten und den vielen Verdammten. Das Thema der Erwahlung beherrscht die eschatologische Vorstel1ung des 4. Buches Esra und wird mehrmals aufgerol1t und mit unterschiedlichen Bildern illustriert. Ein weiteres Beispiel: «Noch ein anderes (Gleichnis): Eine Stadt ist erbaut und in einer Ebene gelegen; sie ist vol1 von allen Gütern. Der Eingang zu ihr aber ist eng und am Abgrund gelegen, wo zur Rechten Feuer und zur Linken tiefes Wasser ist. Nur ein einziger Pfad führt zwischen den beiden, zwischen Feuer und Wasser hindurch, so dass der Pfad nur die Fussspur eines Menschen fasst. Wenn aber nun jene Stadt jemand zum Erbteil gegeben wird, wie wird der Erbe, wenn er nicht die davorliegende gefahrliche Stelle durchschritten hat, sein Erbe in Besitz nehmen konnen? Ich sagte: So ist es, Herr. Er sagte zu mir: So verhalt es sich auch mit Israels Erbteil. Denn ihretwegen habe ich die Welt erschaffen. Als aber Adam mei ne Gebote übertrat, wurde das Geschaffene gerichtet: Da wurden die Zugange in dieser Welt eng, leidvoll und beschwerlich, wenig und bose, vol1 von Gefahren und mit grossen Noten behaftet. Die Wege der grosseren Welt aber sind breit und sicher und bringen die Frucht der Unsterblichkeit. Wenn also die Lebenden nicht in diese Engpasse und Note wirklich hineingegangen sind, kon nen sie nicht erhalten, was ihnen aufbewahrt ist» (VII,5-14). Wer den schmalen Weg am Rande des Abgrunds hinter sich bringen kann, ohne zu stürzen, erhalt den Zugang zu dieser Stadt, die Gott als Erbe seines Volkes bestimmt hat. Das Bild der Stadt wird im Laufe der Erzahlung zur eigentlichen Gestalt des Paradieses: «Denn für Euch ist das Paradies geoffnet, der Baum des Lebens gepflanzt, die kommende Welt bereitet, die Seligkeit vorbereitet, die Stadt erbaut, die Ruhe zugerüstet, die Güte vollkommen gemacht, die Weisheit vollendet. Die Wurzel (des Bosen) ist vor euch versiege1t, die Krankheit vor euch ausgetilgt, der Tod verborgen; die Unterwelt ist entflohen, die Verganglichkeit vergessen. Die Schmerzen sin d vergangen, und erschienen ist am Ende der Schatz der Unsterb1ichkeit» (VIII,52-54). Diese Schilderung lasst die zukünftige Welt als Gegenwe1t zur gegenwartigen erscheinen: die Krafte, we1che Leiden und Tod verursachen, sind verschwunden. Das Leben kann sich in der neuen Dimension in seiner reinsten 21
Form entfalten. Der Kontrast zwischen der jetzigen, von Schmerzen gezeichneten Gegenwart und dem bevorstehenden Heil wird in der vierten Vision (IX,26-X,59) mit der Gestalt der Frau-Stadt Zion wirkungsvoll inszeniert. Sie erscheint Esra zuerst als trauernde Magd, die sich über ihr missliches Schicksal beklagt Esra kritisiert die Frau mit scharfen Worten: Angesichts der ZerstOrung Zions sei ihr Leiden unbedeutend. Daraufhin verwandelt sich die klagende Frau in eine Stadt mit gewaltigen Grundmauern. Durch Uriels Deutung versteht Esra, dass die Frau das neue Zion, die Stadt der künftigen Welt ist. 4.4. Die Zeiten im 4. Buch Esra Die Vergangenheit, die Gegenwart, die Endzeitkatastrophe und das Gericht als Zasur zwischen den zwei Weltepochen sowie die zukünftige Welt des Heils werden in dieser apokalyptischen Schrift streng chronologisch gedacht. Ihre Reihenfolge ist im Plan Gottes seit den AnHingen der Schopfung verankert und ihr Eintreffen unabdingbar. Der Mensch ist prinzipiell vom Wissen über die kommenden Ereignisse ausgeschlossen. Nur Esra erhalt durch den Engel Uriel die Moglichkeit, einige Aspekte der Zukunft zu erfahren. Der Inhalt dieser gottlichen Enthüllung betrifft grundsatzlich das unausweichliche, bevorstehende Eintreffen der Endzeitkatastrophe und der Verheissung einer künftigen Welt der Gerechtigkeit, des Lebens, der Unsterblichkeit und der Herrlichkeit für die wenigen Auserwahlten. Charakteristisch für die Auffassung der verschiedenen Zeiten im 4. Buch Esra ist der Begriff der Trennung. Die verschiedenen Epochen sind voneinander streng getrennt. Die einzige Mischung der Zeitebenen findet innerhalb der Erzahlung durch die geheimen Offenbarungen des Engels statt: Obschon Esra als Mensch zur gegenwartigen Welt gehort, darf er zumindest in Bruchstücken von der künftigen Welt erfahren. Die Idee einer deutlichen, unüberwindbaren Unterscheidung kommt auf vielen Ebenen vor: Nicht nur die Gegenwart und die Zukunft sind streng getrennt, sondern auch der Himmel und die Erde, das Gottliche und das Menschliche, das Gute und das Bose sowie das Ungerechte und das Gerechte. Diese Tendenz zur klaren Unterscheidung von Kontrasten vermitte1t ein Gefühl strenger Ordnung. In diesem geordneten Gefüge wird die Endzeitkatastrophe relativiert: Der Untergang der jetzigen Welt stellt bloss einen obligatorischen Schritt dar, der als Voraussetzung für die neuen Welt notig ist. Die These, die «Apokalypse» sei die Offenbarung des Endes, trifft für das 4. Buch Esra teilweise zu: Im Plan Gottes wurde festgelegt, dass die Erde, sowohl als kosmisches als auch als soziales Gefüge verstanden, auf das Ende hinzielt. Andererseits lasst aber das Versprechen einer heilen Welt für wenige Auserwahlte eine Óffnung für das Neue durchscheinen: Der Untergang der Vielen dient als Voraussetzung für die Rettung der Wenigen und, mindestens für diese, besteht die Offenbarung aus der Enthüllung eines neuen, ewigen 22
Lebens. Dadurch erhalt die Spannung zwischen Untergang der Welt und ewigem Bestehen, zwischen der dramatischen Gegenwart, dem gewaltigen Ende und dem offenbarten Hei!, zwischen der Zerstõrung und dem Neuen vielfaltige Facetten.
5. In der Gegenwart Hei! und Leiden eifahren: Widersprüchliche Zeitmodelle in der Johannesapokalypse
Die Johannesapokalypse und das 4. Buch Esra weisen zahlreiche Ãhnlichkeiten auf: Sie wurden mit grosser Wahrscheinlichkeit zur gleichen Zeit verfasst, gehen aus der gleichen historischen Konste11ation hervor. Auch stilistisch sind diese zwei «apokalyptischen» Schriften in einigen Zügen ahnlich, z.B. in der Form der Vision und der Deutungen durch einen Engel. In beiden Texten bedienen sich die Verfasser einer besonderen, von Bildern gepragten Sprache. Auch inhalt1ich bestehen Berührungspunkte. Ist die Para11elitat zwischen den zwei Schriften evident, so kann man die grundlegenden U nterschiede auch nicht übersehen. Interessant sind dabei die Formulierungen gleicher theologischer Probleme, die in den zwei Texten ganz unterschiedliche Antworten bekommen. Die Zeitauffassungen sind gerade ein Beispiel dafür: Auch in der Johannesapokalypse wird die Frage nach dem Gang der Geschichte und nach der Relevanz der künftigen Welt geste11t. Die Interpretation von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheiden sich jedoch betrachtlich von den Zeitmode11en aus dem 4. Buch Esra. 5.1. V on der Bedrangnis zum Hei! Es ist mõglich, in der Johannesapokalypse eine chronologische Zeitstruktur zu rekonstruieren. Bereits im ersten Kapitel kommt das Thema einer Zukunft, die bald eintreffen sol1, gehauft vor. Diese Enthü11ung einer nahen Zukunft stellt den Inhalt der Offenbarung dar: «Offenbarung (à1tOKáÂ.'\.Hj1tÇ) Jesu Christi, die ihm Gott gegeben hat, seinen Knechten zu zeigen, was in Balde geschehen muss ... » (1,1). Der Auftrag an Johannes, a11es aufzuschreiben und seinen Mitchristen in den Stadten in Kleinasien mitzuteilen, was in einer nahen Zukunft eintreffen wird, wird mehrmals im Laufe der Erzahlung wiederholt. «Danach sah ich, und siehe, eine Tür war geõffnet im Himmel, und die erste Stimme, die ich gehõrt hatte wie von einer Posaune, die mit mir redete, sprach: Komm hier herauf und ich werde dir zeigen, was danach geschehen muss» (4,1). Beide Zitate lassen eine deterministische Auffassung erkennen: Die künftigen Ereignisse, die Johannes sehen und aufschreiben wird, müssen geschehen. Von dieser Formulierung kann man auf die Vorste11ung eines Planes zurückschliessen, den Gott für die Geschichte festgelegt hat. Johannes bekommt somit den Auftrag, den Lesern in Kleinasien a11e Einzelheiten dieser nahen 23
Zukunft mitzuteilen. Seine Reise durch den Himmel stellt für ihn und seine Adressaten die einzige Chance dar, von diesen Ereignissen bereits in der Gegenwart zu erfahren. Obwohl der Verlauf der .gesamten Schrift verwickelter erscheint als im 4. Buch Esra, Hisst sich eine chronologische Reihenfolge der Schlüsselereignisse erkennen: Von der von Beddingnis gekennzeichneten Gegenwart zum Gericht, zur Überwindung der ersten Schõpfung bis zur neuen Welt, die den Menschen von Gott geschenkt wird. So wie im 4. Buch Esra ist die Gegenwart eine Zeit, welche den Christen Zweifel, Bedrangnis, Leiden, Unterdrückung, Auslieferung an die zerstõrerischen Machte und sogar Tod bringt. Das Leben in dieser Situation erscheint als schwieriges Unterfangen, die Geduld der Leidenden gelangt an ihre Grenzen. Die Erwartung einer besseren Zeit, einer Zeit der Erlõsung, wird in dramatischen Tõnen in 6,9f formuliert: «Und als es (das Lamm) das fünfte Siegel õffnete, sah ich unter dem Altar die Seelen der Geschlachteten wegen des Wortes Gottes und des Zeugnisses, das sie hielten. Und sie schrien mit lauter Stimme und sagten: Wie lange, Herr, Heiliger und Wahrhaftiger, richtest und rachst du nicht unser Blut an den Bewohnern der Erde?». Die Erwartung des Gerichtes geht in der zweiten Halfte des Buches in Erfüllung. «Und ich sah einen anderen Engel hoch oben am Himmel fliegen, der eine ewige Verkündigung den Bewohnern der Erde und allen Nationen, Stammen, Sprachen und Võlkern zu verkündigen hatte. Er rief mit lauter Stimme: Fürchtet Gott und gebt ihm Ehre, denn gekommen ist die Stunde seines Gerichts! Und betet den an, der den Himmel und die Erde, das Meer und die Wasserquellen geschaffen hat!» (14,6f). Nach der Ankündigung des Gerichtes ereignen sich unheimliche, gewaltige Szenen, in denen weite Teile der Schõpfung zugrunde gehen. Dieser Untergang geschieht durch sieben Engel, die sieben Schalen ausgiessen. «Und ich hõrte eine laute Stimme aus dem Tempel Gottes, die den sieben Engeln sagte: Geht hin und giesst die sieben Schalen des Zorns Gottes auf die Erde aus!» (16,1). Mit der ersten Schale wird das Land getroffen, mit der zweiten das Meer, mit der dritten die Flüsse und die Wasserquellen, mit der vierten die Sonne, mit der fünften der Thron des Tieres, mit der sechsten der Euphrat, mit der letzten die Luft. Durch diese Eingriffe werden die genannten Bereiche in Orte von Krankheit, fliessendem Menschenblut, Glut, Feuer und Finsternis verwandelt. Der Kontrast zwischen den Preisworten für Gott, den Schõpfer , in 14,7 und der Vernichtung der Schõpfung und der Menschen durch seine eigenen Engel ist extrem. Dennoch stellt Gott als Schõpfer die einzige Macht dar, die über das Bestehende uneingeschrankt verfügen kann, sogar dessen Vernichtung. Nach den sieben Schalen wird die Zerstõrung auf die gesamte Erde ausgeweitet: «Es ist geschehen. Und es geschahen Blitze, Stimmen und Donner, und es geschah ein grosses Erdbeben, wie noch keines gewesen ist, seit ein Mensch auf der Erde war, ein derartiges, so grosses Erdbeben. Und die grosse Stadt zerfiel in drei Teile, und die Stadte 24
der VOlker stürzten ein, und Babylon, der grossen, wurde vor Gott gedacht, ihr den Becher mit dem Zornwein seines Grimms zu geben. Und alle Inseln flohen, und Berge waren nicht (mehr) zu finden. Und gewaltiger Hagel, zentnerschwer, fiel vom Himmel auf die Menschen nieder, und die Menschen Uisterten Gott wegen der Hagelplage, denn diese Plage ist gewaltig gross» (16,17-21). Die besondere Aufmerksamkeit für die grosse Stadt leitet zu den nachfolgenden Ereignissen über, in denen das Gericht und dessen vernichtende Folgen für Babylon geschi1dert werden. Der Untergang betrifft nicht nur die Gebaude der Stadt, sondern alles, was ihr reiches, vielfaltiges Leben ausmachte. «Und ein starker Engel hob einen Stein, wie einen grossen Mühlstein, auf und warf ihn ins Meer und sagte: Mit einem solchen Schwung wird Babylon, die grosse Stadt, geworfen werden, und sie wird nie mehr gefunden werden. Und ein Klang von Harfenspielern und Musikern und FlOtisten und Trompetern wird in dir nie mehr gehõrt werden, und kein Handwerker irgendeiner Kunst wird in dir nie mehr gefunden werden, und der Klang einer Mühle wird in dir nie mehr gehõrt werden, und das Licht einer Lampe wird in dir nie mehr leuchten, und die Stimme eines Brautigams und einer Braut wird in dir nie mehr gehõrt werden, denn deine Kaufleute waren die grõssten der Erde, denn mit deiner Zauberei wurden alle Võlker verführt, und in ihr wurde Blut von Propheten und von Hei1igen gefunden, und von allen Geschlachteten auf der Erde» (18,21-24). DieZerstõrung Babylons und auch der gesamten Schõpfung wird mit dem Zorn Gottes begründet: Der Untergang Babylons und al1er anderen Stadte ist als Strafe für das F1iessen des Blutes der Geschlachteten auf der Erde zu verstehen. So wie im 4. Buch Esra wird das Ende der Schõpfung als unvermeidliche Massnahme interpretiert, um eine deutliche Trennung zwischen guten und bõsen Taten und Menschen, zwischen der von Leiden und Tod gezeichneten Erde und der neuen Schõpfung zu vol1ziehen. «Und ich sah einen grossen weissen Thron und den, der darauf sass, und vor seinem Angesicht flohen die Erde und der Himmel, und für sie wurde kein Platz mehr gefunden. Und ich sah die Toten, die grossen und die kleinen, vor dem Throne stehen, und Bücher wurden geõffnet und ein anderes Buch wurde geõffnet, welches das Buch des Lebens ist, und die Toten wurden gerichtet aufgrund dessen, was in den Büchem geschrieben war, nach ihren Werken» (20, 11-12). In dieser letzten Gerichtsvision wird nicht nur die Trennung zwischen dem Gutem, zum Leben gehõrenden, und dem Bõsen vollzogen. Auch hier geht es um die endgültige Vernichtung von al1em, was mit Vernichtung zu tun hat. Der Tod selbst, in personifizierter Gestalt, wird gerichtet und für immer überwaltigt: «Und der Tod und das Totenreich wurden in den Feuersee geworfen. Dies ist der zweite Tod, der Feuersee» (20,14). Nach dem Gericht ist jede Vermischung zwischen Guten und Bõsen unmõglich: dies bi1det die Bedingung für das Eintreffen der neuen Schõpfung. «Und ich sah ei nen neuen Himmel und eine neue Erde. Der erste Himmel und die erste Erde sind namlich vergangen, und das Meer gibt es nicht mehr» (21,1). 25
Die neue WeIt, die von Gott für die Menschen geschaffen wird, enthiilt keine ambivaIenten Aspekte mehr: Das Meer, der Ort des Chaotischen und zugIeich ein Teil der alten Schõpfung, muss nach dieser Logik verschwinden. In dieser neuen, reinen Szenerie wird die neue Stadt, das JerusaIem, das aus dem HimmeI herabsteigt, eingeführt. Die Parallele mit der Frau-Zion-Gestalt aus dem 4. Buch Esra ist offensichtlich. Die neue Zukunft, die nach der Zerstõrung der jetzigen WeIt und dem Gericht eintrifft, wird in Form einer wunderbaren Stadt konkretisiert, in welcher die Menschen gõtt1iche Zuwendung und Heil erfahren. Die skizzierte Reihenfolge der Zeiten steht in der Johannesapokalypse nicht allein. Diese deterministische Auffassung der Geschichte, die zum Gericht und der neuen Schõpfung hinführt, wird in der Apokalypse, nicht ohne Widersprüche, mit einem ganz anderen Zeitmodell kombiniert, nach welchem das Er1õsungsgeschehen die Menschen bereits in der Vergangenheit erreicht hat. 5.2. Die Vergangenheit als Zeit der Offenbarung Im Gruss und in der Doxologie am Anfang der Apokalypse, die ihren Briefcharakter besonders zum Ausdruck bringen, wird die Er1õsung durch Christus als bereits geschehen dargestellt: «Gnade sei mit euch und Friede von dem, der ist und der war und der kommt, und von den sieben Geistern, die vor seinem Thron sind, und von Jesus Christus, dem treuen Zeugen, dem Erstgeborenen der Toten und dem Herrscher über die Kõnige der Erde. Dem, der uns Iiebt und uns durch sein BIut von unseren Sünden er1õst hat und uns zu einem Kõnigreich, zu Priestern für Gott, seinen Vater, gemacht hat, ihm sei die Ehre und die Kraft in alle Ewigkeit. Amen» (1,4-6). Die Erinnerung an Jesus Christus und sein vergangenes Auftreten taucht in den Visionen an verschiedenen Stellen auf. Beispielsweise in einem Hymnus, we1chen himmlische Wesen zur Ehre des Lammes anstimmen: «Würdig bist du, das Buch zu empfangen und seine Siegel zu õffnen, denn du wurdest geschlachtet und hast Menschen aus jedem Stamm, jeder Sprache, jedem Volk und jeder Nation für Gott mit deinem BIut erkauft, und du hast sie für unseren Gott zum Reich und zu Priestern gemacht, und sie werden herrschen auf der Erde» (5,9). Der Tod Jesu Christi und dessen er1õsende Wirkung für die Menschen liegt auch für die damaligen Adressaten der Johannesoffenbarung zurück in der Geschichte. Dennoch geht es nicht um eine punktuelle Erscheinung, die ihre ReIevanz ver10ren hat. Die durch das BIut des Retters erkauften Menschen bilden nach den zitierten Aussagen bereits ein Reich, stehen in einer besonderen, vertrauensvollen Beziehung zu Gott. Die Tatigkeit des Christus spannt einen Bogen von der Vergangenheit zur Gegenwart und Zukunft. Die Er1õsung ist im Kreuzesgeschehen verankert, besitzt eine starke Relevanz für die Gegenwart der Treuen Gottes und ist mit einem Versprechen verbunden: Die Erkauften werden auf der Erde herrschen.
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5.3. Die Gegenwart zwischen Hei! und Bedrangnis In der Apokalypse ist die Gegenwart durch einen starken Widerspruch gekennzeichnet. Die Menschen, die sich zu Gott und seinem Lamm bekennen, erfahren gottliche Zuwendung und sind zugleich den zerstOrerischen Machten ausgeliefert, welche ihre vernichtende Übermacht über die Erde ausüben. Johannes schildert das Leben in der Spannung zwischen dem gottlichen Heil und der Bedrangnis durch die irdischen Machte: «Ich, Johannes, euer Bruder und Genosse in der Bedrangnis, im Reich und im Ausharren in Jesus, fand mich auf der Insel Patmos wegen des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu» (1,9). So wie im 4. Buch Esra wird keineswegs geleugnet, dass die Gegenwart eine Zeit der Ungerechtigkeit und des Todes ist. Das Schicksal der GottesTreuen wird nicht relativiert: Der Verfasser schi!dert die Situation der Christen in den Gemeinden Kleinasiens mit ihren vielen Konflikten und Spaltungen, benennt den Tod einzelner Gemeindemitg1ieder und allgemeine Unterdrückung. Die Gegenwart ist eine Zeit des Zweifelns und der Auslieferung an die vernichtende Macht des Bosen. U nd zugleich ist die Botschaft des geschlachteten Lammes prasent. Die Verbindung zwischen diesen Polen in der Gegenwart wird vom Begriff Ú1t0Jlov1Í, Ausharren, gewahrleistet. Die Adressaten der Apokalypse sollen einsehen, dass ihre Gegenwart tatsachlich von beiden Machten, der tOdlichen Übermacht der Tiere aber auch der gottlichen Zuwendung, gekennzeichnet ist. In dieser zerreissenden Spannung sollen sie weder das eine verharmlosen, noch das an dere vergessen. 5.4. Die Zukunft als Dimension des Heils Obwohl die Vision der himmlischen Stadt, der Dimension der Lebendigkeit, erst am Schluss des Werkes steht, wird die Schilderung der kommenden Welt an vielen Stellen vorweggenommen. Das in 5,9 formulierte Versprechen einer künftigen Herrschaft der Erkauften wird immer wieder prazisiert: Der Baum des Lebens im Paradies, die Teilnahme an der gottlichen Macht, ei ne ewige Beziehung und Zuwendung, ein gottlicher Trost, die Quelle des Lebenswassers, und die Stadt aus dem Himmel gehoren zu diesem Repertoire des Versprechens. Alle diese Motive werden in der Schlussvision in Offb 21,222,5 schliesslich aufgenommen und in ein einziges, grossartiges Bild vereint. Die Antizipation der künftigen Welt scheint in der Johannesapokalypse nicht nur ein stilistisches Mittel zu sein, sondern wird auch theologisch begründet. Das Hei! Gottes ist in der Gegenwart bereits vorhanden und steht in enger Beziehung mit dem, was die treuen Menschen in der neuen Schopfung vorfinden werden. Auf dieser Ebene bildet die Zukunft eine neue Dimension, die eher eine Qualitat des Lebens und der Beziehung zum Gottlichen zum Ausdruck bringt, als eine streng chronologisch gedachte, bevorstehende Zeit. 27
Dadurch wird eine Differenzierung zwischen dem vorhandenen, gottlichen Heil und der durch Bedrangnis gekennzeichneten Dimension des Irdischen vorgenommen. Angesichts dieser qualitativen Auffassung der Zukunft konnen viele Zeitaussagen auf zwei verschiedene Weisen gedeutet werden. Die Aussagen, welche auf das bevorstehende Eintreffen der Zukunft hinweisen, kon nen als Betonung der Nahe dieser zwei Dimensionen aufgefasst werden: «Siehe, ich komme bald, und mein Lohn mit mir, um einem jeden zu vergelten, wie es seinem Werk entspricht. (... ) Ich Jesus, habe meinen Engel gesandt, um euch dies für die Gemeinden zu bezeugen. Ich bin der Spross und das Geschlecht Davids, der strahlende Morgenstern. Und der Geist und die Braut sprechen: Komm! Und wer es hort, der spreche: Komm! Wer dürstet, der komme, und wer wi1l, empfange Lebenswasser umsonst. (... ) Es spricht, der dies bezeugt: Ja, ich komme bald! Amen, komm Herr Jesus!» (22,12.l6f.20). Die, welche die Worte der Offenbarung, der Apokalypse, horen, die sich an die Gerechtigkeit halten und der Beziehung zu Gott und seinem Lamm treu sind, haben bereits in der von Gotzendienst, Lüge, Unrecht und Mord gepragten Gegenwart Anteil an der Stadt aus dem Himmel. 5.5. Zur Verbindung widersprüchlicher Zeitmodelle Die chronologisch, deterministisch strukturierte Abfolge der Zeiten von der Schopfung, durch das Gericht, zum Heillasst sich nicht ohne Brüche und Unstimmigkeiten mit einer Auffassung der Zeiten im Lichte einer vorhandenen Offenbarung verbinden. In der Johannesapokalypse erscheint die jetzige Schopfung als unvollkommen, für die Menschen auf der Erde bedeutet die Gegenwart Bedrangnis und Unterdrückung, Auslieferung an die Machte des Todes. Erst nach dem Gericht wird die ersehnte Trennung zwischen Gerechten und Ungerechten, zwischen Treuen und Lügnern, zwischen Bosem und Gutem vollzogen. Zugleich spielt die christozentrische Interpretation der Geschichte als der Dimension der Erlosung eine zentrale Rolle. Die Vergangenheit wird zum Anfang einer neuen Geschichte: Das Auftreten des Lammes verleiht allen Zeiten, wenn auch in verschiedenen Formen, die Qualitat des Heils. Die Widersprüche zwischen den zwei unterschiedlichen Zeitmodellen erscheinen am starksten in den Bildern des Gerichtes und der ZerstOrung. Der Moment der scharfen Trennung ist in einer chronologisch konzipierten Zukunft angesiedelt. Auch der Untergang der Schopfung als kosmologische Dimension und als Lebensumfeld der Menschen ist in eine ferne, von der Gegenwart deutlich abgesetzte Zeit projiziert. Diese Aspekte erscheinen unvereinbar mit der Erfahrung der gottlichen Zuwendung in der Gegenwart. Wie lasst sich der Untergang der zwar unvollkommenen Schopfung Gottes mit der bereits eingetroffen en Erlosung durch das geschlachtete Lamm verbinden? Und die gottliche Liebe in der jetzigen Welt mit dem Konzept der Gerechtigkeit des Weltenherr28
schers, der Gutes und Bõses ohne Barmherzigkeit trennt? Wie erscheint der Trost in der jetzigen Gemeinde angesichts der Erwartung einer letzten Vernichtung an jen em Tag? Die Johannesapokalypse liefert keine direkten Antworten auf diese von ihren widersprüchlichen Zeitmodellen aufgeworfenen Di1emmata. Man kann hõchstens versuchen, einige Ansatze zur Verbindung der Widersprüche hervorzuheben. In der Gegenwart nimmt die Gemeinde bereits an der befreienden Botschaft des Christus tei1: In der Sprache der Offenbarung wird dieser Aspekt des Jetzigen als Antei1nahme am Sieg des geschlachteten Lammes, das jetzt lebt, ausgedrückt. Die Verbindung zu dieser neuen, offenbarten Lebendigkeit ver1angt eine Distanzierung von allen Machten und Taten, die zum Bereich des Todes gehõren. In der Szene des Gerichtes kommen die selben Kategorien wieder vor: Es geht um die Trennung dener, die zu Gott und dem Leben stehen von denjenigen, die Tod und Vernichtung verbreiten. Das Gericht kann somit als Sti1isierung eines Konf1iktes verstanden werden, der bereits die Gegenwart pragt: Ist die Mischung zwischen Lebendigkeit und Tod, zwischen dem Versprechen des Baumes und des Wassers des Lebens und der Macht des Vernichters die Ursache von Konf1ikten und Zweifeln innerhalb der Gemeinde in der Gegenwart, so wird am Tag des Gerichtes deut1ich herausgestellt, wer zu der einen und wer zu der anderen Seite gehõrt. Die Gegenwart ist von Bedrangnis und Leiden gekennzeichnet, das Gericht von unwiderruf1icher Verbindlichkeit. Angesichts der Offenbarung steht die Tür zum Hei1 allen offen, die diese Botschaft annehmen wollen. Der universalistische Charakter wird in beiden Zeitmodellen konsequent vertreten. Das Gericht und der Untergang erscheinen als Übergang von der Gegenwart zur künftigen Welt und zielen auf die Überwindung alles Vernichtenden hin. Es findet keine Selektion in der Menge der Erkauften statt: In der Gegenwart sind bereits Menschen aus jedem Stamm, jeder Sprache, jedem Volk und jeder Nation durch das Blut des Lammes erkauft worden, in der künftigen Stadt werden die Võlker und die Kõnige der Erde wandeln. Ein Bindeglied unter den verschiedenen Modellen und Aspekten der Zeit liegt auch in den Bezeichnungen Gottes als Anfang und Ende der Geschichte: «Ich bin das Alpha und das Omega, spricht Gott der Herr, der ist und der war und der kommt, der Allmachtige» (1,8). In den Schlussversen wird ei ne vergleichbare Formulierung auf Jesus übertragen: «Ich bin das Alpha und das Omega, der erste und der letzte, der Anfang und das Ende» (22,13). Die gõttliche Zuwendung pragt die gesamte Geschichte, ihre Prasenz durchdringt alle Zeiten. Das Verhaltnis zwischen Offenbarung als Ankündigung des Endes und als Enthüllung des Neuen ist in der Johannesapokalypse anders konzipiert als im 4. Buch Esra. Die Apokalypse kann primar als Versuch verstanden werden, die Relevanz der in der Gegenwart bereits geschehenen Offenbarung Gottes den Adressaten der Schrift in Erinnerung zu rufen, und dies in einer Zeit, die den Christen 29
Auslieferung an die Mãehte der Zerstõrung und Ausharren in der Spannung zwisehen Heil und Tod bedeutet. Die Elemente des Geriehtes und des Untergangs, sowie das Verspreehen einer neuen Welt von Trost, Zuwendung, Lebendigkeit und Herrliehkeit erseheinen als Versueh, die erste grundlegende Offenbarung in ihrer Relevanz für die gesamte Gesehiehte (samt der Zukunft) zu denken. Weltende und Verspreehen einer neuen Dimension werden in di esem Werk sowohl unter einem ehronologisehen als aueh, und vor allem, unter einem qualitativen Gesichtspunkt betraehtet. Trotz der dureh diese Vermisehung verursaehten unlõsbaren Unstimmigkeiten, kann man die Johannesapokalypse primar als Reflexion über die Zerstõrung und das Heil in der Gegenwart, als Auseinandersetzung mit der irdisehen Gesehichte auffassen.
6. «Apokalypse» als Offenbarung in der Gegenwart Die eigentümliehe Zeitstruktur, die von einer (verdorbenen) Gegenwart dureh das Gerieht in die neue Welt hinüberführt, ist eines der Hauptmerkmale apokalyptiseher Literatur. Aus dem Verhãltnis der versehiedenen Zeitepoehen lasst si eh in den vorgeführten Textbeispielen ablesen, wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gekennzeiehnet sind. Die Ambivalenz zwisehen der Erwartung einer neuen Welt, der Sehnsueht, aber aueh der Angst vor dem Gerieht und dem Unbehagen in der Gegenwart tdigt im 4. Bueh Esra und in der Johannesapokalypse untersehiedliehe Akzente. Die Frage naeh dem Verhãltnis zwisehen Offenbarung und Endzeitkatastrophe findet deswegen in den zwei Texten je anders nuancierte Antworten. In beiden Zeitmodellen Hisst sich die endgültige Katastrophe als Teilinhalt der transzendenten Offenbarung deuten. In seinen Dialogen mit dem Engel Uriel erfãhrt Esra einiges über die Sehreeken des Weltendes, wahrend Johannes auf seiner Reise im Himmel die Zerstõrung weiter Bereiehe der Sehõpfung bereits erleben und diese weitererzãhlen darf. Beide Enthüllungen des esehatologisehen Zusammenbruehs der ersten Welt werden jedoeh als unvermeidbarer Übergang zur neuen Welt interpretiert. Die zentrale Offenbarung aus der besonderen Begegnung mit dem Transzendenten betrifft den Anbrueh einer Sehõpfung, die im Gegensatz zur jetzigen vollkommen ist. Die untersehiedliehen Interpretationen und Akzentuierungen maehen aus diesem gemeinsamen Zug in den vorgestellten Texten zwei untersehiedliehe Konzepte. Diese werden am besten in den kontraren Deutungen der Gegenwart fassbar. Im 4. Bueh Esra wird ein radikaler Pessimismus vertreten: Die Gegenwart ist eine Zeit der Ungereehtigkeit, des Ausliefertseins, des Leidens und der Sünde. Da diese Situation in der Besehaffenheit des Mensehen, in seinem bõsen Herzen, wurzelt, besteht keine Hoffnung auf Besserung. Auf diesem Hinter30
grund erscheint das Gericht - so schrecklich es auch sein wird - als Erlosung aus der gegenwãrtigen, hoffnungslosen Lage und als Schwelle zur neuen Welt. Die geringe Anzahl der Geretteten erscheint als logische Konsequenz des Modells: Nur wenige halten sich an die Gebote Gottes in der düsteren Gegenwart, denn die meisten tragen das bo se Herz in sich, und all dies steht im Plan Gottes fest. Die Trennung zwischen Gerechten und Ungerechten, zwischen Guten und Bosen, die im Gericht auf exemplarische Weise vollzogen wird, besteht im Grunde genommen bereits im Jetzt. Auf dieser Ebene erscheint das Gericht als eine Inszenierung, in welcher bereits vorhandene Unterschiede explizit betont und herausgeschalt werden. In der Johannesapokalypse ist hingegen die Gegenwart eine Zeit des Ausharrens und der Geduld: Die Adressaten werden aufgefordert, ihre Existenz in der Spannung zwischen der Bedrangnis und der Zuwendung Gottes wahrzunehmen. Angesichts der unheimlichen Mischung zwischen den vernichtenden Kraften des Bosen und der lebensspendenen Macht Gottes werden die Menschen in den Gemeinden eingeladen, in ihrer eigenen Geschichte die bereits vorhandene Offenbarung neu zu entdecken und für ihr Leben in der Bedrangnis fruchtbar zu machen. Auch in der unvollkommenen Schopfung, in welcher Vernichtung und Tod durchaus vorkommen, ist es moglich, die Zuwendung des Lammes und Gottes zu erfahren. Das Gericht zielt in diesem Konzept auf die Auflosung der Ambivalenz des irdischen Lebens: Die deutliche Trennung am Ende der Geschichte wird als Gegensatz zur gegenwãrtigen Konfusion, zur Gegenwart als Zeit der Orientierungslosigkeit, inszeniert. Auch in den heutigen apokalyptischen Gedanken steht schliesslich die Gegenwart im Zentrum der Diskussion. Man knüpft, mindestens in einigen Zügen, an ein deterministisches Modell an: Die Geschichte zielt auf ein Ende, weil sie schlecht ist. Die zahlreichen Ereignisse, die als «Apokalypse» interpretiert werden, sind alle punktuelle Beweise, Vorwegnahmen der endgültigen Katastrophe in der Gegenwart. Nur: die Verantwortung für das Bose wird nicht mehr an eine externe Macht delegiert, sondern der fehlenden Fahigkeit der Menschen angelastet, ihre Geschichte anders, besser zu gestalten. Eigentlich kommt es nicht so sehr darauf an, ob sich die Katastrophe in der N atur oder in der Politik, im internationalen oder im regionalen Bereich, im Inneren des Menschen oder in der Gemeinschaft ankündigt: Jedes einzelne Zeichen wird ins Gesamtbild eines drohenden, sich nahernden Endes eingefügt. Darüber hinaus unterscheidet sich das deterministische Modell in der heutigen Zeit grundsatzlich vom Konzept des 4. Esra Buches hinsichtlich der Ausrichtung, des Ziels der Geschichte. Die neue Welt, die Welt nach dem Gericht, wird in die ferne Vergangenheit gerückt. Die heutigen «apokalyptischen» Ereignisse werden als Beweise der allgemeinen Verschlechterung der Geschichte gedeutet: Die Beziehung des Menschen zur Welt hat sich verschlimmert, das Paradies ist für immer verloren, und: Es gibt keine zweite Schopfung. Unab31
hangig davon, ob man darauf wartet, wird die «Apokalypse» der endgültigen Katastrophe schlechthin gleichgesetzt. Oder ist es nicht eher eine Art Beschwõrung des wirklichen Endes? Die versteckte Sehnsucht nach einer besseren Welt? Nach einer Orientierung in der Müdigkeit angesichts einer komplexen Gegenwart? Nach den ver10renen Inhalten der «Apokalypse-Offenbarung»? Ist «Apokalypse» nicht eher eine Redewendung? Eine blosse Metapher? Ein Bi1d zum Spielen? Unsere Zeit scheint sich mehr nach einer Inszenierung des Endes als nach der wirklichen Katastrophe zu sehnen. Schliesslich bietet die Haltung nach dem Motto «apres moi le déluge» einen relativ gemüt1ichen Ausweg aus den zahlreichen Schwierigkeiten unserer Gegenwart.
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Paul Klee: Angelus novus, 1920, 32 Olfarbezeiehnung und Aquarel1 aut" Papier; 31,8 x 24,2 em Colleetion Israel Museum, Jerusalem, Photo eredit: Israel Museum © VG Bild-Kunst, Bonn 1998
Walter Lesch
VERLORENES PARADIES UND BEFRISTETE ZEIT Variationen über Geschichtsphilosophie und Apokalyptik
«... habt Ihr nicht eine einzige Antwort auf alle Fragen?» «Lieber Adson, wenn ich eine hatte, würde ich in Paris Theologie lehren.» «Und in Paris haben sie immer die richtige Antwort?» «Nie», sagte er frohlich, «aber sie glauben sehr fest an ihre Irrtümer.» Adson von MeIk im Gesprach mit William von Baskerville1
1964 verõffentlichte der bereits zwei Jahre zuvor dureh L'opera aperta bekannt gewordene Semiotiker Umberto Eeo seine Aufsatzsammlung Apocalittici e integrati 2 , deren Texte um Interpretationen der sogenannten PopuHirkultur kreisen, was damals im wissensehaftliehen Milieu noeh keine Selbstverstandliehkeit war. Eeo entsehlüsse1te beispielsweise Superman, Charlie Brown und James Bond als Figuren, die seiner Meinung naeh über ihre Epoehe mehr aussagen als so manehes Kunstprodukt der Hoehkultur. Auf Vorsehlag seines Verlegers Valentino Bompiani hat Eeo ei ne im ursprüngliehen Konzept gar nieht so stark betonte Typisierung herausgearbeitet, wonaeh zwei Grundhaltungen im Umgang mit den popularen Produkten der Massenmedien zu unterseheiden sind. Die «Apokalyptiker» sind die pessimistisehen Mahner und die Verteidiger der traditionellen kulturellen Werte; sie deuten die erfolgreiehe Unterhaltungsindustrie als Zeiehen des intellektuellen Niedergangs in einer kulturgesehichtliehen Endzeit. Dagegen steht die optimistisehe Haltung der «Integrierten», die in einem nun einmal stark dureh die Popularkultur gepragten Kontext keine distanzierte Beobaehterposition einnehmen wollen, sondern mitten im ku1turellen Gesehehen und insofern «integriert» die neuen Ausdrueksmõgliehkeiten ohne Berührungsangste nutzen und auf e1itare Vorverurteilungen verzichten. Die deutsehe Übersetzung von Eeos frühen kulturtheoretisehen Arbeiten liess zwanzig Jahre auf sich warten. 3 Inzwisehen war der Verfasser dureh den l
Eco, Umberto: Der Name der Rose, München - Wien: Hanser, 1982, S. 39lf.
2
Mailand: Fabbri-Bompiani, 1964.
3
Eco, Umberto: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1984. Die Textzusammenstellung, mit einem Vorwort zur deutschen Ausgabe versehen, ist nicht ganz identisch mit der italieni-
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Welterfolg seines Romans Il nome della rosa (1980) zu einem Starautor avanciert, dessen Schriften aus allen Arbeitsperioden nun mit einem lebhaften Publikumsinteresse rechnen durften. Der Roman, dessen Bekanntheitsgrad durch die Verfilmung von 1986 noch gesteigert wurde, ist für unser Thema von Bedeutung, weil er eine grosse Zahl von Leserinnen und Lesern mit einem Grundschema der Apokalyptik, diesmal im engeren religionsgeschichtlichen Sinn des Phanomens, vertraut gemacht hat. Die Kriminalgeschichte im Ambiente einer italienischen Abtei des 14. Jahrhunderts enthalt die falsche Spur einer Abfolge von Verbrechen, die angeblich nach der Struktur der neutestamentlichen Johannes-Apokalypse verübt worden seien. Am vierten Tag der insgesamt sieben Tage der Romanhandlung aussert der greise Alinardus von Grottaferrata die Vermutung, die drei bisherigen Morde seien in Analogie zur Offnung der sieben Siegel des kosmischen Buches zu sehen. Der blinde Jorge von Burgos, der in der geheimnisvollen Klosterbibliothek die Faden der Ereignisse in der Hand hat, greift Alinardos Deutungsvorschlag dankbar auf, um seine kriminalistischen Verfolger William von Baskerville und Adson von MeIk noch zwei weitere Tage lang in die Irre zu führen. Ihm geht es namlich nicht um die Inszenierung himmlischer Strafen nach biblischem Muster, sondern allein darum, das einzige Exemplar eines ihm gefahrlich erscheinenden Teils der Poetik des Aristoteles, Über das Komische, vor der Welt verborgen zu halten, da die subversive Kraft des Lachens den christlichen Glauben nur noch weiter untergraben werde. Um dies zu verhindern, geht der fanatische Jorge über Leichen und kommt schliesslich selbst in der brennenden Bibliothek ums Leben. In diesem Inferno werden wichtige Kulturzeugnisse für immer vernichtet. Ecos Roman, der mit guten Gründen als ein Paradewerk der literarischen «Postmoderne» gefeiert wurde, lasst sich auf mehreren Ebenen lesen: er ist zugleich populare und spannende Unterhaltung und ein anspruchsvolles Werk voller literatur- und philosophiegeschichtlicher Anspielungen. Die labyrinthartige Klosterbibliothek steht für eine komplexe Wissensordnung, die nur teilweise zu entziffern ist, da irrationale Kontrollinteressen den Weg zu einer friedlichen Verstandigung behindern. Gegen diese dunklen Machte setzt der englische Franziskaner William die Hoffnung auf Aufklarung und vernünftige Rekonstruktionen. Insofern ist der Kriminalroman, der der Offenlegung der Wahrheit verpflichtet ist, das aufklarerische Genre par excellence. Es kann daher nicht überraschen, dass es immer wieder philosophische Bemühungen schen Originalausgabe. In der Folge seines Weltruhms ist selbst Ecos Dissertation über die Àsthetik des Thomas von Aquin (1954) wieder zu Ehren gekommen. Die beiden theoretischen Hauptwerke aus den sechziger Jahren, L'opera aperta (deutsch: Das offene Kunstwerk, 1973) und La struttura assente (deutsch: Einführung in die Semiotik, 1972), fanden schon recht früh als Standardwerke der Kunsttheorie bzw. der Semiotik intemaüonale Anerkennung.
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um eine «Metaphysik des Kriminalromans»4 gegeben hat - eine weltliche Form von «Offenbarung» dessen, was eigentlich geschehen ist, aber im Verborgenen bleibt, bis es begabten Detektiven endlich gelingt, gegen alIe Widerstande die Wahrheit ans Licht zu bringen. In Ecos Texten, sowohl im Roman als auch in den früheren kulturtheoretischen Studien, ist «Apokalyptik» zum zitierbaren Versatzstück aus einem unerschopflichen Bildungsvorrat geworden. Das Flammenmeer der Bibliothek lãsst sich aus sicherer Distanz genüsslich betrachten. Es ist ein Resultat menschlicher Dummheit und fanatischer Verblendung. Apokalyptische Kategorien im tradierten christlichen Sinn sind bestenfalIs für fromme Insider wie Alinardus plausibel (<
Vgl. Eco, Umberto: Nachschrift zum «Namen der Rose», München - Wien: Hanser, 1984, S. 63ff.
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Vgl. hierzu die theologische Sorge um eine «Vergleichgültigung der Gottesfrage»: Kuschel, Karl-Josef: Lachen. Gottes und der Menschen Kunst, Freiburg i.Br. Basel- Wien: Herder, 1994, S. 208ff. Kuschel macht es sich m.E. zu leicht, wenn er den Roman an theologischen MasssUiben des rechten Gottesglaubens misst und dem Autor den üblichen Vorwurf des «postmodemen Ásthetizismus» macht.
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Zur Methode: Ich beziehe mich auf Theorien und Texte der philosophischen und der theologischen Tradition, weil eine radikale Trennung gerade bei Fragen des Geschichts- und Zeitverstandnisses keinen Sinn macht. Wer Theologie treibt, ohne die geschichtsphilosophischen Debatten zu kennen, versaumt aufschlussreiche Anregungen und Provokationen. Wer Philosophie so eng definiert, dass Theologisches prinzipiell ausgeschlossen wird, ist angesichts der faktischen Quellenlage und Theoriegeschichte ignorant.
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pretationen zu Texten von drei Autoren, die auf je ihre Art über das «Ende aller Dinge» nachgedacht haben und die heutigen Debatten stark beeinflussen: Immanuel Kant, Walter Benjamin und Jacques Derrida. In einem weiteren Schritt wird die Gegenwart einer bestimmten Art apokalyptischen Denkens in der neuen Politischen Theologie beleuchtet (4.), um zum Schluss (5.) zusammenfassend zu analysieren, warum in fast allen dargestellten Positionen das konzeptionelle Denken mit einer ausdrucksstarken Bi1dersprache gekoppelt ist.
l. Geschichtsphilosophische Verunsicherungen
Wer sich kurz vor der J ahrtausendwende mit Fragen der Apokalyptik beschãftigt, beugt sich damit nicht unbedingt dem Diktat des Zeitgeistes. Denn aus philosophischer Sicht sind viele der Themen, die jetzt aus gegebenem Anlass ein fast schon modisches Interesse hervorrufen, auch unabhãngig von inszenierten Zeitenwenden interessant: Fragen nach dem Beginn der Geschichte, nach der Deutung ihres Verlaufs, nach ihrem mõglichen Ende. Traditionell werden derartige Fragen in der Geschichtsphilosophie verhandelt, einer relativ jungen Disziplin, die als Kind der Aufklãrung im 19. Jahrhundert ihren Hõhepunkt erlebte und inzwischen in eine tiefe Krise geraten ist. Denn so sehr manche geschichtsphilosophischen Themen nach wie vor auf existentielles Interesse stossen mõgen, so sehr sind sie doch, gemessen an wissenschaftlichen Standards der Objektivitãt, problematisch geworden. Sie bewegen sich im Bereich phantasievo11er Spekulationen und eignen sich kaum für eine nüchterne und überprüfbare Hypothesenbildung. Deshalb ist nicht nur in der sprachanalytischen Philosophie demonstrativ der Abschied von der Geschichtsphilosophie deklariert worden. Wenn Geschichte noch Gegenstand philosophischer Reflexion sein so11, dann doch hõchstens in wissenschaftstheoretischer Hinsicht. Denn es herrscht ja keine Einigkeit darüber, wie über Vergangenes wissenschaftlich gesprochen werden sollte. Der unmittelbare, quasi-empirische Zugriff auf die Vergangenheit ist uns verwehrt. Wir verfügen bestenfalls über eine ausreichende Zahl von Quellen, die aber interpretationsbedürftig sind und mitten in den Streit der Deutungen hineinführen. Die aktuellen Auseinandersetzungen um die Schweizer Geschichte zur Zeit des Zweiten Weltkrieges liefern dafür genügend Anschauungsmaterial. 7 Doch bei aller Kompliziertheit der widersprüchlichen Rekonstruktionen von Vergangenheit und der Unmõglichkeit, Zukunft exakt zu antizipieren, ist das Grundmuster unseres Verhãltnisses zur Historie einfach: wenn wir über Vergangenes Auskunft geben wollen, tun wir dies normalerweise in narrativer
7
V gl. Lesch, Walter: Geschichte im Widerstreit. Zur Debatte über die Vergangenheit in der Schweiz, in: Orientierung 61 (1997), Nr. 17, S. 178-181.
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Form. 8 Wir erzahIen Geschichten über Geschichte und sind uns dabei im günstigsten FalI der Begrenztheit unseres Horizonts bewusst. Abgesehen von einigen avantgardistischen Experimenten, in denen genau die Schwierigkeit des ErzahIens zum Thema gemacht wird, ist das narrative Grundmuster in Geschichtsschreibung, alltagssprachlicher Verstandigung und Belletristik ungebrochen. Wenn wir uns und anderen über das eigene Leben Rechenschaft geben wollen, wahIen wir die Form der mehr oder weniger vollstandigen biographischen DarstelIung, die vom tabelIarischen LebensIauf bis zu mehrbandigen Memoiren reichen kann. Im Prozess des ErzahIens wird deut1ich, wie einzeIne Ereignisse Konturen bekommen, andere in die Vergessenheit gedrangt werden, wie Sinnzusammenhange entstehen, die eventuell im unmitteIbaren Erleben noch gar nicht zu erkennen waren. Mit anderen Worten: durch den Akt des ErzãhIens erhalten isolierte Fakten und Ereignisse eine Struktur, die sich der übergeordneten ErzahIperspektive verdankt. Von ihrem Ende her erhaIten HandIungssequenzen einen Binn, der zwar auch schon von Anfang an intendiert sein mochte, für den es jedoch keine Garantie gab. Es hatte eben alles auch ganz anders kommen kõnnen. Erst am Ende wird kIar, ob es ein «happy end» ist oder nicht. In der PhiIosophie wurden beim Nachdenken über Geschichte ebenfalls narrative Strukturen verwendet. Jean-François Lyotard hat sie nicht ohne kritische Absicht, auf die wir noch zu sprechen kommen werden, als die grossen «MetaerzahIungen» der Moderne bezeichnet: Geschichten von Ursprung, Entwicklung und Krisen der Menschheit, von Suchbewegungen und der Ausrichtung auf ein klares Ziel hin. Für den aufklãrererischen Optimismus war dieses Ziel nichts anderes als die VervolIkommnung des MenschengeschIechts durch dessen Aufstieg zu einer immer grõsseren moraIischen Reife und durch die immer bessere technische Beherrschung von Gefahren. Bei allem Wissen um mõgliche RückschIage war es eine Erfolgsgeschichte. Eine schõne Geschichte, an die wir heute nicht mehr so recht glauben wolIen. Wohl auch eine naive Geschichte angesichts der vielen Kontinuitatsbrüche und der barbarischen Tõtung von Menschen sowie der Zerstõrung von Zivilisation und Natur. Um eine komplizierte Theoriegeschichte in beinahe unstatthafter Vereinfachung auf den Punkt zu bringen, kõnnte man es so formulieren: aufklãrerische Geschichtsphilosophien sind sakuIarisierte Varianten eines theologischen Grundmusters von «Heilsgeschichte», die von Schõpfung, SündenfalI, rettender Nahe Gottes und definiti ver Erlõsung der WeIt erzahIt. Wahrend in der modernen GeschichtsphiIosophie der Mensch als Individuum und in KolIektiven zum Hauptakteur wird, rechnen theologische Konzepte auch mit dem HandeIn eines geschichtsmachtigen Gottes, was immer dies im Detail bedeuten mag. Die in unserem Kulturkreis dominierende christliche MetaerzahIung ist 8
Vgl. das dreibiindige Werk von Ricreur, Paul: Temps et récit, Paris: Seuil, 1983/ 1984/1985 (Dt. Ausg.: Zeit und Erziihlung, München: Fink, 1988/1989/1991).
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insofern eine entscheidende Variante der jüdischen Vorgabe, als das «Christusereignis» als die entscheidende Wende der Weltgeschichte interpretiert wird. ErlOsung ist in gewisser Weise «schon» geschehen. Doch die Wiederkunft des getOteten und auferweckten Herrn der Geschichte ist ausgeblieben, gleichsam auf das Ende aller Tage verschoben. Von diesem intellektuell nicht leicht nachvollziehbaren Spannungsbogen lebt die christliche Geschichtstheologie seit nunmehr fast 2000 Jahren, nicht ohne immer wieder gegen Plausibilitatsverlust anzukampfen. Denn die Christentumsgeschichte erhalt einen wesentlichen Teil ihrer Dramatik durch die am Anfang enttauschte «Naherwartung» des kommenden Gerichts. Vieles von dem, was in immer neuen theoretischen und praxisorientierten Anlaufen folgte, waren Versuche, die verlorene PlausibiliUit durch überzeugendere Konstruktionen auszugleichen und die Glaubwürdigkeit des ursprünglichen Anliegens zu retten. Ob dies in jeder Hinsicht gelungen ist, darf bezweifelt werden. Strittig ist namlich nicht nur das «Schon» der bereits erfolgten Er1osung, sondern auch das «Noch nicht» des alles entscheidenen Endes. Offensichtlich haben die christlichen Kirchen es den Sekten überlassen, aus dem Endzeitfieber Kapital zu schlagen. Denn die Kategorie «Zeit» spielt in Theologie und Verkündigung gegenwartig keine herausragende Rolle. Wir leben hinsichtlich der Zukunft eher in einer Zeit der Erwartungslosigkeit. Es gibt keinen Konsens über ein zu erwartendes gutes Ende oder eine ordnende Perspektive für die chaotischen Ablaufe, die wir nur am Rande mitgestalten, denen wir uns aber grosstenteils hilflos ausgeliefert fühlen. Nicht viel grosser ist das Vertrauen in die Ressourcen der Vergangenheit, in der doch immerhin ei ne definitive Heilszusage erfolgt sein sol1. Der nüchterne Rückblick auf eine Unheils- und Schuldgeschichte gibt jedoch eher zu Skepsis Anlass und führt zu der Einsicht, dass die Menschheit sich auf einem sehr dünnen Eis bewegt, auf dem sie leicht einbrechen kann. Im Vergleich zur christlichen Geschichtstheologie hat die altere jüdische Variante der «Heilsgeschichte» den entscheidenden Vorteil, das von Gott kommende Hei! noch zu erwarten und auf Rückzugsgefechte wegen einer en ttauschten Hoffnung auf bereits geschehene Erlosung verzichten zu konnen. Ich sehe in diesem Unterschied einen wesentlichen Grund für die inte11ektue11e Attraktivitat des Judentums heute. So sehr die messianische Erwartung Juden und Christen gemeinsam ist, so hat sie doch eine jeweils andere Akzentuierung, die für das Verstandnis von Geschichte und Erlosung entscheidend ist. Gemeinsam ist J uden und Christen übrigens auch das Bekenntnis zum Schopfergott, das für die Auffassungen vom Anfang von Zeit und Geschichte Konsequenzen hat. Prei!ich gibt es auch hier Plausibilitatsprobleme, die sich aus der Konfrontation mit naturwissenschaftlichen Deutungen ergeben. 9 Und innerhalb 9
Vgl. zu poetischen Reflexionen über die Schwierigkeit, den Anfang zu denken: Strauss, Botho: Beginnlosigkeit. Reflexionen über Linie und Fleck (1992), München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1997.
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der theologischen Systematik bleibt zumindest die Schwierigkeit der Zuordnung von Schopfung und Erlosung, die religionsgeschichtlich eine Reihe von Polemiken aufgeworfen hat, die primar um das Problem des Bosen und dessen Ursprung kreisen. 10 Aus den bisherigen Ausführungen geht bereits hervor, dass die Geschichtsphilosophie kein isoliertes Randthema der Philosophie ist, sondern ein Querschnittsthema, das niehrere Disziplinen eines ausdifferenzierten, arbeitsteiligen Faches betrifft: Erkenntnistheorie, Metaphysik, Religionsphilosophie, Ethik. Insbesondere die Nahe zu Fragen der Religion ist nicht von der Hand zu weisen, da selbst bei einer dezidiert philosophischen Absicht die theologische Grundstruktur geschichtsphilosophischer Konstrukte sichtbar wird. Karl Lowith (1897-1973) hat dies in seinem 1949 zunachst auf Englisch erschienenen Buch Meaning in History herausgearbeitet. 11 Bei Lowith führt diese Einsicht allerdings auch zur Diagnose des bis heute ebenso aktuellen wie umstrittenen Problems, inwieweit die heilsgeschichtliche Grundstruktur des modernen GeschichtsversUi.ndnisses für die negativen Folgen des Fortschritts verantwortlich gemacht werden kann. Lowith empfiehlt als Ausweg die Rückkehr zum antiken Modell der Einbettung des Menschen in den natürlichen Kosmos. 12 Nur so konne sich die Philosophie als «Weltweisheit» neu definieren und aus den Sackgassen der Weltbeherrschung befreien. Das Spannungsverha1tnis von Geschichte und Natur finden wir auch in der Ethik wieder, in der ansonsten kein spezielles Interesse am Nachdenken über «Zeit» zu bestehen scheint. Denn vormoderne Ethiken waren ja gerade daran interessiert, die überzeitliche Gültigkeit von Normen zu behaupten und deren geschichtliche Wandelbarkeit als Fehlform moralischen Denkens zurückzuweisen. Erst relativ spat wurde die Geschichtlichkeit in aufklarerischer Absicht zur Dynamisierung verkrusteter Strukturen in die Ethik eingeführt, die (zumal im dafür nicht sehr offenen theologischen Kontext des Naturrechts) verstarkt Interesse an der Vermittlung zwischen abstrakten Normen und gelebten Erfahrungen zeigte. 13 Wahrend sich die anthropologische und ethische
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Stellvertretend sei hier nur die scharfe Gegenüberstellung von Schopfungs- und Erlosungsordnung in der antiken Gnosis erwahnt.
11
Dt. Ausg.: Lowith, KarI: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie (1953), 7. Aufl., Stuttgart - Berlin KOln - Mainz: Kohlhammer, 1979. Auf der Suche nach einem neuen Verhaltnis von Mensch und Natur sind heute vergleichbare Absichten im Dialog mit aussereuropmschen (vor allem asiatischen) Kulturen zu beobachten.
12
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Diese Problemgeschichte ist exemplarisch nachzulesen bei Mieth, Dietmar: Die Relevanz der Geschichte für eine ethische Theorie der Praxis. Zur Vermittlung der historischen zur normativen Vemunft (1975), in: Ders.: Moral und Erfahrung. Beitriige zur theologisch-ethischen Hermeneutik, 3. Aufl., Freiburg i.Ue. - Frei-
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Aufmerksamkeit zunachst auf die in der individuellen Sterblichkeit konkret erfahrene Zeitstruktur menschlichen Lebens beschrankte, entstand mit der Sensibi1itat für die vor allem durch Naturzerstõrung und Ressourcenverbrauch gebremste Fortschrittsglaubigkeit ein neues Bewusstsein im Umgang mit der nun als befristet wahrgenommenen Zukunft. Wenn uns beim Blick in die Zukunft etwas elektrisiert, dann ist es weniger die Erwartung eines kommenden und befreienden Gottes als die Angst vor mõglichen Katastrophen. In den 70er und 80er Jahren gab es deshalb apokalyptische Stimmungslagen in Verbindung mit der Umweltzerstõrung und dem wachsenden Wissen um die Ausbeutung der uns zur Verfügung stehenden Ressourcen sowie im Kontext des atomaren Wettrüstens der Supermachte. Erstmals war das gewaltsame Ende der Menschheitsgeschichte nicht mehr eine religionsgeschichtliche Fiktion des von aussen kommenden Abbruchs der Geschichte, sondern eine reale geschichtliche Mõglichkeit durch die von Menschen selbst geschaffenen Vernichtungspotentiale, die sogar - unsere Vorstellungskraft übersteigend - für die mehrfache Zerstõrung des Planeten Erde ausreichen. Durch die Umwe1t- und Friedensbewegung der 70er und 80er Jahre hat apokalyptisches Denken im Sinne eines nicht auszuschliessenden Endes der Menschheitsgeschichte einen neuen Realitatsgehalt bekommen und vor allem eine starke Moralisierung erfahren. Das Wissen um die gefahrdete Zukunft zwingt uns zu der Einsicht, in einem gemeinsamen Boot zu sitzen. 14 Oder um es mit einem Bi1d von Willy Bierter sagen: die Erde ist nicht langer nur die Bühne für die Inszenierung von Geschichte. «In einem gewissen Sinn vertauschen Stück und Bühne ihre Rollen: Was bislang Schauplatz war, wird Thema des Geschehens. Was als Hintergrund diente, geht in den Vordergrund ein. Was Bühne war, wird zum Stück selbst. In Zukunft wird die Erde Inhalt menschlicher Sorge, wird die a1te Erdbühne zunehmend den Stoff der Stücke liefern, bedeutet das Hüten der Bühne das Spiel selbst. Es gilt, schonend auf der alten Erdbühne zu wohnen.»15 Trotz des Gefühls der unabweisbaren Dringlichkeit eines neuen Lebensstils will die Wende zum Besseren aber nicht so recht gelingen. Denn in die Erwartung der Katastrophen, die eintreten kõnnen, wenn keine tiefgreifenden Ãnderungen gelingen, mischt sich die leise Hoffnung, persõnlich noch einmal mit einem blauen Auge davonzukommen und in der eigenen Lebensspanne den apokalyptischen Schrecken des drohenden Endes zu entgehen. Was bleibt, ist dann
burg i.Br.: Universitatsverlag/Herder, 1982, S. 91-110. Dort sind weitere Hinweise zum Stand der Mitte der 70er Jahre recht intensiv geführten Diskussion zu finden.
14 V gl. zu diesem Motiv: Sloterdijk, Peter: Im selben Boot. Versuch über die Hyperpolitik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1995.
15 Bierter, Willy: Wege zum okologischen Wohlstand, Basel - Berlin - Boston: Birkhauser, 1995, S. 8.
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wiederum die Konfrontation mit dem individuellen Tod, der uns naher ist als das anonyme Schicksal der ganzen Menschheit. 16 Zusammenfassend ergibt sich für die Aktualitat apokalyptischen Denkens ein mehrdeutiges Bild. Die Beschaftigung mit der Mõglichkeit des Endes aller Dinge gibt einerseits der alltaglichen Routine einen neuen Ernst und den noch machbaren Korrekturen eine neue Dringlichkeit. Andererseits kann der plõtzliche Druck, sich für eine Kurskorrektur zu entscheiden und jetzt zu handeln, auch zu neuen Repressionen und unter Umstanden zu kopflosen Aktivitaten führen. 17 Die Bereitschaft zur ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Ende setzt einen nüchternen Blick auf Vergangenheit und Zukunft voraus. Hinter uns liegt nicht das Goldene Zeitalter, das um jeden Preis wiederherzustellen ware, sondern bestenfalls die Fiktion eines verlorenen Paradieses, von dem sich unsere durch zahlreiche Zwange gepragten Lebensbedingungen grundlegend unterscheiden. Und vor uns liegt weder das sichere Heil noch das sichere Verderben, sondern zunachst einmal das Wissen um die Befristung der Zeit, die uns nicht grenzenlos zur Verfügung steht, weder individuell noch auf die menschliche Gattung bezogen, die naturgeschichtlich ohnehin erst relativ spat in Erscheinung getreten ist. Insofern hat die Apokalyptik trotz mancher nicht mehr nachvollziehbaren Spekulationen einen richtigen Punkt getroffen: wir tauschen uns, wenn wir die vor uns liegende Zeit ins Unendliche dehnen. Vor dem Horizont der befristeten Zeit18 hat sich ein philosophisches und theologisches Nachdenken über Geschichte zu artikulieren. 19
Hier liegt übrigens auch der tiefere Grund für die unterschiedliche AttraktiviHit zweier wichtiger Teilbereiche der «angewandten Ethik»: der biomedizinischen und der okologischen Ethik. Wahrend die okologische Ethik mit dem Motivationsproblem eines Strukturwandels im Fernhorizont zu kampfen hat, ist für das Arbeitsfeld biomedizinischer Ethik viel leichter Interesse zu wecken, da die behandelten Fragen am eigenen Leib zu erfahren sind. 17 Vgl. zum Zusammenhang von Apokalyptik und Dezisionismus: Adam, Arrnin: Die Zeit der Entscheidung. Carl Schmitt und die Politische Apokalyptik, in: Tholen, Georg Christoph; Scholl, Michael O. (Hg.): Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim: VCH, Acta Humaniora, 1990, S. 97107. Auf die Nahe zwischen Dezisionismus und Politischer Theologie sowie dem Programm der neuen Politischen Theologie (Metz) werden wir im vierten Abschnitt dieses Beitrags noch zu sprechen kommen. 18 Um diesen Kerngedanken kreist das Werk des Religionsphilosophen Jacob Taubes (1923-1987), der schon in seiner Zürcher Dissertation bahnbrechende Thesen zur Geschichtsphilosophie vorgelegt hat. V gl. die Neuausgabe: Taubes, Jacob: Abendliindische Eschatologie (1947), München: Matthes & Seitz, 1991. Der in Wien geborene Taubes kam als Sohn eines Rabbiners 1936 in die Schweiz. Nach der Promotion lehrte er in New York und Jerusalem, ab 1966 in Berlin, mit intensiven Kontakten nach Paris. Taubes ist auf dem Israelitischen Friedhof in Zürich begraben. Einen guten Einblick in Taubes' Philosophie gibt ein Interview in: ROtzer, 16
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2. Nach dem Abschied von der Geschichtsphilosophie Es kann im Rahmen dieses Beitrags nicht darum gehen, die Tradition der Geschichtsphilosophie mõglichst umfassend darzustellen. 2o Daher son auch die Beantwortung der Streitfrage ausgeklammert werden, ob sich der Beginn geschichtsphilosophischen Denkens genau datieren Hisst. Der konstruierte Gegensatz zwischen dem geschichtsbewussten hebrãischen Denken und der angeblichen griechischen Geschichtsvergessenheit ist ebenso problematisch wie die Behauptung, im Mittelalter habe es wegen der Dominanz theologischer Vorgaben hinsichtlich der Geschichte gar kein adaquates Problembewusstsein gegeben. Sicherlich ist das heutige Geschichtsdenken sehr eng mit dem Beginn der europãischen Neuzeit verbunden und hat etwa im Werk des Giambattista Vico (1668 -1774) einen pragnanten Ausdruck gefunden. Der als «VicoAxiom» bekannte Grundsatz «Der Mensch macht die Geschichte» darf als Schlüssel zum Verstandnis geschichtlicher Ablaufe gelten, die nicht mehr einem gõttlichen Wi11en, sondern der Gesta1tungskraft, Verantwortung und Erkenntnisfahigkeit des Menschen zugeschrieben werden. 21 Dieser Gedanke
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Florian (Hg.): Denken, das an der Zeit ist, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1987, S.305-319. Im Rückblick stelle ich dankbar fest, dass ich durch einige glückliche Zufálle schon seit einiger Zeit immer wieder auf dieses Thema gestossen bin, dessen interdisziplinare Verzweigungen Gegenstand der folgenden Abschnitte sind. Mein personliches Interesse an diesen Fragen geht auf den Beginn der Studienzeit Ende der 70er Jahre in Münster zurück. (!eh erwahne diesen Hintergrund nicht zur Hervorhebung der eigenen Person, sondern a1s Spiegelbild einer Generation, die den Elan von 1968 nicht mehr direkt erlebt hat und die manchen BeIiebigkeitstendenzen der Jüngeren ebenso fremd gegenübersteht.) In einem neutestarnentlichen Proserninar wurden uns die Grundlagen der exegetischen Methoden am Beispiel apokalyptischer Texte vermittelt. 1977 war das einflussreiche Werk Glaube in Geschichte und Gesellschaft des Fundamenta1theologen Johann Baptist Metz erschienen, dessen darin enthaltene Thesen zur Apokalyptik lebhaft diskutiert wurden und in verschiedenen Disziplinen der Theologie ein Echo fanden. Die Einführung in die Geschichtsphilosophie verdanke ich dem didaktischen Geschick von Willi Oelmüller. 1981 hatte ich schliesslich das Glück, Jacob Taubes in Jerusalem ein erstes Mal zu begegnen. Auch ohne seine unkonventionellen Ansichten zu teilen, verdanke ich diesem provozierenden Querdenker wertvolle Anregungen. Und schliesslich waren die politischen Auseinandersetzungen der frühen 80er Jahre (OkologieDebatte, NATO-Nachrüstung) biographisch nicht ohne Bedeutung für den Weg in die Ethik. Einen guten Überblick über wichtige Texte vermittelt das Arbeitsbuch: Oelmüller, Willi; Dolle, Ruth; Piepmeier, Rainer: Diskurs. Geschichte, (philosophische Arbeitsbücher, Bd. 4), Paderborn - München - Wien - Zürich: Schoningh, 1980. Vgl. hierzu Fellmann, Ferdinand: Das Vico-Axiom. Der Mensch macht die Geschichte, Freiburg i.Br. - München: Alber, 1976.
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findet seine Fortsetzung und Zuspitzung im deutschen Idealismus, insbesondere in Hegels Philosophie der Geschichte. In der deutschsprachigen Gegenwartsphilosophie ist es vor al1em Odo Marquard, der mit seinen schon sprichwõrtlichen «Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie»22 seit den 60er Jahren den Blick für Aporien eines bestimmten philosophischen Programms geschãrft hat. Für ihn ist «Geschichtsphilosophie eine datierbare Formation: diejenige, die die eine We1tgeschichte proklamiert mit dem ei nen Ziel und Ende, der Freiheit al1er; diejenige also, die gegen das scheinbar Unvermeidliche antritt, dass Menschen vom Leiden anderer Menschen leben; diejenige, die Fortschritt sieht und will und Kritik der vorhandenen Wirklichkeit als Unterscheidung zwischen dem, was ihn fõrdert, und dem, was ihn nicht fõrdert, und die dabei mit einer letzten Krise rechnet und mit ihrer definitiven Lõsung; kurz: es ist diejenige, die aufruft zum Ausgang der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit dadurch, dass sie sich aus Heteronomien befreien und sich selber autonom zum Herrn ihrer Welt machen. Geschichtsphilosophie: das ist der Mythos der Autklarung.»23 Marquard hat seine These in zahlreichen Aufsatzen entfaltet und die eigene Position zu einer Grundhaltung philosophischer Skepsis stilisiert. Besonders eindrücklich hat er dies 1970 beim fünften Kolloquium der Forschungsgruppe «Poetik und Hermeneutik» getan. 24 Dort charakterisierte er die Geschichtsphilosophie als die im 18. Jahrhundert proklamierte Absicht des Menschen, «es gewesen zu sein»25: Verantwortung für die Übel der We1t zu übernehmen. Nicht mehr Gott sitzt auf der Anklagebank, sondern der Mensch ist der «Tater von U ntaten». Al1erdings ist diese extreme Belastung auf die Dauer kaum auszuha1ten. Deshalb sucht der moderne Mensch nach Schontechniken, in Marquards Diktion nach der «Kunst, es nicht gewesen zu sein», und endeckt dabei «als entscheidende Figur den Gegner»26 und an dere Ent1astungsmechanismen (Kompensationen). Für das Bild von der Geschichte als Tribunal ist der Gedanke der Theodizee von zentraler Bedeutung. Marquard hat den engen Zusammenhang von Theodizee und Geschichtsphilosophie immer wieder thematisiert, so z.B. in einem Aufsatz in der Jacob Taubes zum 60. Geburtstag gewidmeten Festschrift. Dort geht er von der Tatsache aus, dass Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte diese Verknüpfung 22 Marquard, Odo: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsiitze (1973), 3. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992. 23 AaO., S. 14.
24 Marquard, Odo: Beitrag zur Philosophie der Geschichte des Abschieds von der Philosophie der Geschichte, in: Koselleck, Reinhart; Stempel, Wolf-Dieter (Hg.): Geschichte - Ereignis und Erziihlung (Poetik und Hermeneutik, Bd. 5), München: Fink, 1973, S. 241-250. 25 AaO., S. 242.
26 AaO., S. 244. 43
vorgenommen hat. Zusatzlich verweist er auf einen Datierungsbefund, der einige Daten des 18. Jahrhunderts in eine Linie stelIt: das Erscheinen der Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l'homme et l'origine du mal von Leibniz im Jahr 1710, die Einführung des Terminus «philosophie de l' histoire» 1765 in der Einleitung zur zweiten Autlage von Voltaires Schrift Essai sur les mreurs et l' esprit des nations und das dazwischen liegende Ereignis, das zur Erschütterung alIer Theodizee-Versuche geführt hat: das Erdbeben von Lissabon 1755. 27 Die von Hegel beabsichtigte Theodizee liesse sich deshalb zugespitzt als geschichtsphilosophische Theodizee nach dem Ende Gottes begreifen. Der nun angeklagte Mensch entgeht dem Druck der Verantwortung, indem er einen Sündenbock findet: den anderen, bosen Menschen. Insofern .wird geschichtsphilosophisch und anthropologisch wiederholt, was als Struktur bereits aus der antiken Gnosis bekannt ist. Dort hatte man bekanntlich im Manichaismus die Übel der Welt dadurch zu erklaren versucht, dass man Gott in einen finsteren Demiurgen und einen freundlichen Erloser aufspaltete. Odo Marquard sah sich durch seine skeptischen Beobachtungen zu den grossen philosophischen Entwürfen immer mehr dazu veranlasst, im Streit um eine adaquate Theorie der Moderne Vorsicht walten zu lassen. Weitgehend unabhangig von der in Frankreich angestossenen Debatte um die sogenannte «Postmoderne» hat er sich deshalb seine eigenen Gedanken über Einheit und Vielheit sowie über die Grenzen der Universalgeschichte gemacht. 28 Spatestens die brillanten Überlegungen zu einem Lob des Polytheismus provozierten Jacob Taubes zu einem energischen Einspruch, an dem sich noch einmal das geschichtsphilosophische Anliegen dieses Denkers ablesen lasst. Für Taubes ist der Verzicht auf die eine Geschichte und deren Preisgabe zugunsten der vielen unverbindlichen Geschichten und Mythen eine Selbstautlosung der Philosophie. Taubes orientiert sich vielmehr am biblischen ModelI: «Geschichte ist die Erzahlung vom achten Schopfungstag, also die Erzahlung von Adams FalI, von der Welt, die alles begreift, was der FalI war und der FalI iSt.»29 Durch den Menschen kommt das Bose in die Welt, nicht durch mythologische Dualismen. Erst durch den eschatologisch-messianischen Gedanken gibt es die Hoffnung auf Erlosung, die im Lauf der Geschichte jedoch verborgen bleibe. «Offenbarung im strengen Sinne geschieht deshalb nur am Anfang und am Ende der 27 Marquard, Odo: Theodizee, Geschichtsphilosophie, Gnosis, in: BoIz, Norbert W.; Hübener, WoIfgang (Hg.): Spiegel und Gleichnis, (Festschrift für Jacob Taubes), Würzburg: Konigshausen & Neumann, 1983, S. 160-167, hier S. 160f. 28 Die wichtigsten Texte sind enthaIten in den beiden Banden Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart: Rec1am, 1981 und Apologie des Zufiilligen, Stuttgart: Rec1am, 1986. 29 Taubes, Jacob: Zur Konjunktur des PoIytheismus, in: Bohrer, KarI Heinz (Hg.): Mythos und Moderne. Begriffund Bi/d einer Rekonstruktion, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1983, S. 457 -470, hier 467.
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Geschichte, die in geheimer Verabredung stehen. Der Gang der Geschichte selbst ist Standrecht in Permanenz.»30 Meines Erachtens Hisst sich am Beispiel der Kontroverse zwischen Marquard und Taubes der Stand der philosophischen Debatten über die Geschichte sehr gut verdeutlichen. Taubes reprasentiert in seiner kompromisslosen Art den Anspruch auf ein stringentes Denken, das sich durch gesch1iffene Formu1ierungen und elegante Kompensationstheorien nicht beeindrucken lasst. Freilich um den Preis, dass die befristete Zeit zum beinahe unertraglichen Druck wird, da Entlastungsstrategien nicht in Frage kommen. Marquards heiterer Skeptizismus kann diesem Druck ausweichen, da er angesichts der End1ichkeit des Menschen auf überspannte Erwartungen und rigide Forderungen ohnehin verzichtet. Man mag eine skeptische Haltung gegenüber geschichtsphilosophischen Entwürfen als vernünftig und bescheiden betrachten. Man kõnnte darin allerdings auch so etwas wie Ermüdung und Resignation entdecken: einen müden Abschied vom «Projekt der Aufklarung», das zwar mit den besten Absichten in die Wege geleitet wurde, um dann aber doch an der Bosheit und Endlichkeit der Menschen zu scheitern. Horkheimer und Adorno haben dafür nach der Erfahrung des deutschen Faschismus 1947 die Formel «Dialektik der Aufklarung» gepragt und damit das Problem bezeichnet, dass Rationa1itat in mythische Bahnen umgeleitet werden kann und dort archaische, destruktive Krafte entfaltet. In anderen kulturellen Kontexten wurden ahnliche Diagnosen formu1iert, die ebenfalls darauf hinauslaufen, an der Mündigkeit und moralischen Kompetenz des autonomen Subjekts und an der Erreichbarkeit eines vernünftigen Ziels der Geschichte zu zweifeln. In den vergangenen J ahren kamen die entscheidenden Anregungen zu dieser Debatte zu einem grossen Teil von franzõsischen Autoren, die von ihren Kritikern etwas vorei1ig und ungenau unter Sammelbezeichnungen wie «Poststrukturalismus» und «Postmoderne» zusammengefasst wurden. Trotz aller gravierenden Unterschiede im Detail ist jedoch Autoren wie Foucault, Derrida und Lyotard in der Tat gemeinsam, dass sie das Pathos der europaischen Aufklarung und der damit verbundenen Geschichtsphilosophie kritisiert haben. Ein Beispiel dafür ist die schon in den 60er Jahren ausgetragene Kontroverse zwischen Jean-Paul Sartre und Michel Foucault, die als «AntihumanismusStreit» bekannt wurde. 31 Sartre nahm das von Foucault plakativ verkündete «Ende des Menschen» zum Anlass, einen Strukturalismus zu kritisieren, der den Menschen in den Strukturen anonymer Ablaufe verschwinden lasst und somit die Freiheit des Subjekts als obsolet betrachtet. Dass in dieser Polemik nur ein Teilaspekt von Foucaults Denken in den Blick kommt, ist einzuge30 AaO., S. 468. 31 Dabei gibt es durchaus Parallelen zu dem von Heidegger ausgelosten «Humanismus-Streit». 45
stehen, zumal er in seinem Spãtwerk ei ne ganz andere Richtung eingeschlagen hat. Aber Sartres Kritik trifft durchaus den entscheidenden Punkt, der für das intel1ektuelle Klima jener Jahre charakteristisch war und als eine franzõsische Variante des Abschieds von der Geschichtsphilosophie durch die distanzierte Beschreibung determinierter Strukturen bezeichnet werden kõnnte. Mit Sartres ebenfal1s extremer Idee des freien, sich permanent selbst entwerfenden Subjekts, an der er trotz des Flirts mit dem Marxismus festgehalten hatte, war dieser Reduktionismus nicht zu vereinbaren. 32 Prominente Theoretiker, die nicht die Aufbruchsstimmung der Achtundsechziger teilten, definierten ihre Positionen in Abgrenzung zu einem in die Krise geratenen Aufklarungsmodel1: als «Postismen», die sich «nach» etwas situieren. Das Reizwort für dieses Programm ist die sogenannte «Postmoderne», die heftige Aufeinandersetzungen in der Philosophie, aber in auch in Literatur, Architektur und anderen Bereichen ausgelõst hat. Jean-François Lyotard lieferte das (nicht vom ihm erfundene) Stichwort 197933 und sorgte für eine bis dahin selten gekannte Aufregung unter Intellektuel1en, die meinten, eine neue Epoche sei ausgerufen worden. Was aber kann nach der Moderne noch kommen, wenn sie als aufklarerisches Projekt doch noch lange nicht vollendet ist und insofern weiterhin grõsste Anstrengungen von uns verlangt? Selbstverstãndlich ging es Lyotard gerade nicht um die prophetische Proklamation einer neuen Epoche, sondem um die Aufdeckung von Problemen, die die herkõmmlichen «Metaerzahlungen» mit sich bringen: seien es nun die heilsgeschichtlichen Programme der jüdisch-christlichen Tradition, die marxistische Finalitat einer klassenlosen Gesellschaft oder andere emanzipatorische Entwürfe, die bei allem Versprechen von Befreiung immer auch neue Unfreiheiten mit sich gebracht haben. 34 Nach der Moderne kommt nicht das Ende der Geschichte, sondern eventuell sogar eine Wiederbelebung des Geschichtsdenkens, das ausgerechnet in der Krise neue Attraktivitat erlangt. Wer sich zumindest Teilaspekte des Postmoderne-Theorems zu eigen macht, wird daran interessiert sein, es vor Diffamierungen zu schützen. Eine auf den Hõhepunkten der Debatte in den 80er Jahren haufig anzutreffende und oft mit strategischer Absicht vorgenommene Verwechslung ist die Verwischung der Unterschiede zwischen «Postmoderne» und «Posthistoire». Wolfgang Welsch hat die Differenz zwischen diesen beiden Anliegen so for32
Vgl. dazu Schiwy, Günther: Der franzosische Strukturalismus. Mode - Methodeldeologie, Reinbek: Rowohlt, 1969, S. 93ff. und die Dokumentation eines Interviews mit Sartre von 1966: S. 208 -213.
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Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris: Minuit, 1979 (dt. Ausgabe: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz - Wien: Bohlau, 1986).
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Vgl. zur Interpretation der ethischen Metaerzahlungen der Moderne: Wendel, Saskia: Jean-François Lyotard. Aisthetisches Ethos, München: Fink, 1997, S. 76-94.
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mu1iert: «Die Posthistoire-Diagnose ist passiv, bitter oder zynisch und allemal grau. Die Postmoderne-Prognose hingegen ist aktiv, optimistisch bis euphorisch und jedenfalls bunt.»35 Die merkwürdige Rede vom «Posthistoire»36 ist alter als die Postmoderne-Debatte, hat aber, was nicht überrascht, erst in Verbindung mit der Postmoderne neue und grossere Beachtung gefunden. 37 Die Idee vom Ende der Geschichte hat in unserem Jahrhundert einige irritierende Texte hervorgebracht, die sich unterschied1ichen ideologischen Lagern zurechnen lassen. Sie begegnet ebenso in rechten wie in 1inken Kreisen und beinhaltet den zentralen Gedanken, dass wir in einer Situation leben, in der wesent1iche weltgeschicht1iche Entwicklungen bereits abgeschlossen sind, so dass wir nicht mehr mit gravierenden Systemveranderungen zu rechnen haben. 38 Die vormals so dynamischen Geschichtsprozesse sind gewissermassen «eingefroren». Vor einem solchen theoriegeschichtlichen Hintergrund war es publizistisch kein harmloses U nternehmen, wenn Fukuyma nach dem Zusammenbruch der sozialististischen Regime Osteuropas die Formel vom Ende des Menschen und der Geschichte erneut in Umlauf brachte. 39 Das klang wie die Siegesfanfare von Wirtschaftsliberalismus und Kapitalismus, deren Vertreter sich nach der «Wende» nichts anderes mehr vorstellen kon nen als das ewige und ungestorte Funktionieren von Gesetzmassigkeiten des Marktes in einer prinzipiell an ihr Ziel gelangten Weltgesellschaft. Ein solches Posthistoire ware aber nur die Wiederaufbereitung einer alten Metaerzahlung, die sich arrogant gegen alle offensichtlich ohnmachtig gewordenen Alternativen durchsetzt. Eine beunruhigende Aussicht! In der hier vorgestellten Bedeutung von «Posthistoire» muss mit der Apokalypse nicht mehr gerechnet werden. Das Ende hat ja schon stattgefunden und kann nun hochstens noch einmal medientechnisch simuliert werden. 40 35 Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim: VCH, Acta humaniora, 1987, S. 18.
36 Obwohl die «histoire» im Franzosischen wie im Deutschen von einem weiblichen Artikel begleitet wird, hat sich im Deutschen die merkwürdige Formulierung «das Posthistoire» eingebürgert. 37 Vgl. die Texte von Gehlen, Kamper und Sloterdijk in: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim: VCH, Acta humaniora, 1987. 38 Zur ErHiuterung des komplexen ideologischen Spektrums: Niethammer, Lutz: Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende? Reinbek: Rowohlt, 1989. 39 Fukuyma, Francis: The End oi History and the Last Man, New York: The Free Press, 1992. Vgl. dazu Weyenbergh, Maurice: Das Ende der Geschichte in heutiger Sicht, Teil I, in: Orientierung 60 (1996), Nr. 18, S. 197 -200; TeillI, ebd., Nr. 19, S.209-211. 40 Vgl. Baudrillard, Jean: Das Jahr 2000 findet nicht statt, Berlin: Merve, 1990. Baudrillards Theorie der Simulation entha1t vor al1em interessante Elemente zum Verstandnis der uns umgebenden Medienwelt.
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Wenn die Gegenwart insofern als «Posthistoire» erfahren wird, als wir nicht naiv aus dem Erfahrungsschatz der Vergangenheit Orientierungen für das Handeln in der Zukunft gewinnen konnen, so hat die irritierende Zeitdiagnose immerhin den Vorteil, nicht zum Abschied von der Geschichte aufzurufen, sondern zu einem neuen Problembewusstsein im Umgang mit der Geschichte zu sensibi1isieren. Hans Ulrich Gumbrecht hat es programmatisch so formuliert: «Wir müssen <einen geschichtlichen Begriff von Geschichte konstituieren>, d.h.: Wir müssen lernen, Geschichte anders zu denken, ohne aufzuhõren, überhaupt geschichtlich zu denken. Was waren Grundelemente eines neuen Begriffs von Geschichte? Vielleicht die Ersetzung des einen Telos durch viele Nahziele; vielleicht die Subsitution des Begriffes von der
durch einen Begriff von der Erhaltung des Menschen; vielleicht die AblOsung des (zur Vervollkommnung aufgerufenen) geistigen durch den (um seine Erhaltung besorgten) physischen Menschen.»41 Ein durch die Provokationen von «Posthistoire» und «Postmoderne» geHiuterter Blick auf die Geschichte kann eventuell dazu verhelfen, sich ohne Sentimentalitat von den grossen Entwürfen zu verabschieden, ohne in die düstere Stimmung der Stagnation zu verfallen. Es gibt Neues, es gibt Freiheitsspielraume und Gelingen, wie partiell und vorlaufig auch immer dies sein mag. Und es gibt die Mõglichkeit des Neuen, das noch kommen wird und das nicht in unserer Verfügungsgewalt liegt. 42 So bleibt am Ende dieses zweiten Abschnitts festzuhalten, dass auch nach dem Abschied von der Geschichtsphilosophie das Nachdenken über Geschichte nichts von seiner Aktualitat und Dringlichkeit verloren hat. Das beginnt bei der existentiell erfahrenen Endlichkeit der Lebenszeit, setzt sich fort in der Interpretation gesellschaftlicher und politischer Konstellationen und berührt auch immer wieder die grossen Zusammenhange einer Weltzeit, die uns zwar zunachst fremd sein mag, die aber wesentlich ist für die nüchterne Selbsteinschatzung des Menschen im Ganzen des Universums. 43 Deshalb sollte die Philosophie noch mehr als bisher üblich das Gesprach mit Zeittheorien suchen, die unabhangig von den uns vertrauten narrativen Deutungsmustern und lebensweltlichen Vorverstandnissen den Ablauf der Ereignisse zu begreifen versuchen. 44 41
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Gumbrecht, Hans Ulrich: Posthistoire now, in: Ders.; Link-Heer, Ursula (Hg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985, S. 34-50, hier S. 48. Das Zitat im Zitat ist Taubes, Zur Konjunktur des Polytheismus, aaO., S. 464 entnommen. Schlette, Heinz Robert: Das Neue und das Finale. Geschichtsphilosophische Überlegungen, Teil I., in: Orientierung 61 (1997), Nr. 4, S. 45-47. Teil 11, ebd., Nr. 5, S. 58-60. Vgl. auch den Stellenwert der Geschichte in: Schlette, Heinz Robert: Kleine Metaphysik, Frankfurt a.M.: Knecht, 1990, S. 98-100.
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Vgl. Blumenberg, Hans: Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986.
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Vgl. Zimmerli, Walther eh.; Sandbothe, Mike (Hg.): Klassiker der modernen Zeitphilosophie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1993.
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3. Das Ende denken: Philosophische Rekonstruktionen Um die bisherigen Hypothesen an konkreten Texten zu verifizieren, habe ich drei Beispiele ausgewahlt, die stel1vertretend für grõssere Theoriekontexte zur Sprache kommen sol1en. An erster Stel1e steht ein Dokument der Aufklarung und somit der Entstehungszeit der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie: Kants kleine Schrift Das Ende aller Dinge. Darauf folgt der Text eines Autors, der als ein herausragender Reprasentant der philosophischen Postmoderne bezeichnet wird: Jacques Derridas Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie. Und schliesslich mache ich in der Chronologie einen Schritt zurück zu Walter Benjamins berühmten Thesen Über den Begriff der Geschichte. Dabei werden sich, wie ich hoffe, einige Reibungsflachen, aber auch komplementare Gesichtspunkte ergeben, die zeigen, dass die üblichen Etikettierungen den entscheidenden Punkt nicht immer treffen. 3.1. Kant und das «Ende aller Dinge» Der in der Kant-Forschung vergleichsweise wenig beachtete Text45 ist Kants Spatwerk zuzurechnen und wurde im Juni 1794 in der Berlinischen Monatsschrift, der Zeitschrift der Berliner Akademie der Wissenschaften, verõffentlicht. Zu dieser Zeit begann der 70jahrige Kant sich von seiner Lehrtatigkeit an der Kõnigsberger Universitat, wo er seit 1770 eine Professur hatte, mehr und mehr zurückzuziehen (1796 hielt er die letzte V orlesung). Die Jahre waren von einem Konflikt mit der preussischen Zensurbehõrde überschattet, die Kants Religionsschrift Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vemunft (1793) beanstandete. Nach einer langeren Epoche der Toleranz in Fragen der Religion sorgte der reaktionare Kultusminister Wõllner unter Kõnig Friedrich Wilhelm n. auf der Basis eines Religionsedikts von 1788 für ein rauheres Klima, was sich beispielsweise durch Verweigerungen von Druckerlaubnissen manifestierte. In diesem Kontext steht die Publikation der kleinen Abhandlung Das Ende aller Dinge, die Otfried Hõffe sehr treffend als «ein Meisterstück philosophischer, mit Melancholie gefarbter Ironie»46 bezeichnet. 47 Besonders der Schlussteil (ED 187 -190) kann als Replik auf die Berliner Repressionen gelesen werden, da Kant die «moralische Liebenswürdigkeit» und «liberale Denkungsart» des Christentums dem autoritaren Zwang gegenüberstellt. Letz-
45 Kant, lmmanuel: Das Ende aller Dinge, in: Ders.: Werke in zehn Biinden, (hg. von Wilhelm Weisehedel), Bd. 9, Darmstadt: Wissensehaftliehe Buehgesellsehaft, 1981, S. 175 -190 (im folgenden mit der Abkürzung ED und Seitenzahl zitiert).
46 Hoffe, Otfried: lmmanuel Kant, Münehen: Beek, 1983, S. 39. 47 Die Auseinandersetzungen des Jahres 1794 hat Kant vier Jahre spater in der Vorrede zu Der Streit der Fakultiiten dokumentiert.
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teren bezeichnet er als Regiment des «Antichrist», dessen Herrschaft auf «Furcht und Eigennutz» (ED 190) gegründet sei. Doch Das Ende al/er Dinge ist weitaus mehr als nur eine kaum verhülIte Polemik gegen den preussischen Obrigkeitsstaat. Es ist eine wichtige Facette in Kants religions- und geschichtsphilosophischem Werk, das sich aus mehreren kleinen Schriften zusammensetzt, die sich im Vergleich zu den Hauptwerken der kritischen Transzendentalphilosophie durch eine leichtere Lesbarkeit auszeichnen, obwohl sie die Grundgedanken der moralphilosophischen Arbeiten voraussetzen. Die spaten Schriften eignen sich deshalb nicht zuletzt für einen unkonventionelIen Zugang zum Ansatz von Kants praktischer Philosophie. Auch die Reflexionen über Das Ende al/er Dinge sind vor allem aus dieser Sicht und nicht als esoterische Meditationen zu lesen. Kant beginnt seinen Text mit einigen Gedanken zu der Redensart, ein sterbender Mensch gehe «aus der Zeit in die Ewigkeit» (ED 175), eine auch heute noch gebrauchliche Fonnulierung. Dabei verstehen wir hier unter Ewigkeit nicht eine ins Unendliche verlangerte Zeit, sondern das, was nach der Zeit kommt. Die VorstelIung von Ewigkeit setzt demnach das Ende der Zeit voraus. Wahrend dieser Bruch in der kirchlichen Verkündigung meistens als glanzvoller Beginn des Neuen dargestellt wird, erlaubt sich Kant die naheliegende Bemerkung, dass der Gedanke an das Ende aller Zeit «etwas Grausendes in sich» habe (ED 175): Er führt an den dunklen Abgrund des Ungewissen und straubt sich gegen wissenschaftliche Analysen. Damit benennt Kant den wichtigen Aspekt, dass wir uns mit dem Sprechen über Zukünftiges und über das Ende auf ein extrem unsicheres Terrain begeben, das sich für mancherlei Spekulationen anbietet. Kant spricht von der «Dunkelheit, in der die Einbildungskraft machtiger als bei helI em Licht zu wirken pflegt». Aber auch für die nicht mehr unter Zeitbedingungen stehenden Wesen behauptet er die Fortdauer der moralischen Ordnung der Zwecke. Das moralische Gesetz endet nicht mit dem Ende alIer Dinge, sondern ist wie eine Brücke zwischen Zeit und Ewigkeit. Hinter dieser Auffassung steht eine ganz bestimmte Tradition biblischer Apokalyptik: die Erzahlung vom Weltgericht im Matthausevangelium. Demnach ist der «jüngste Tag»48 der letzte Tag der Zeit, an dem Gericht geha1ten wird. Es ist müssig, prazise Aussagen über den Moment des Umschlags von der Zeit in die Ewigkeit machen zu wollen. Das «Übersinnliche» wird «nur am Moralischen verstandlich», insofern die Gerichtsurteile des jüngsten Tages nur Sinn machen, wenn ihre moralischen Konsequenzen auch nach dem Ende der Zeit Gültigkeit haben. Einzig die Moral bietet einen Schlüssel zum Verstehen 48 Kant analysiert sehr schon die im Deutschen übliche Formulierung <<jüngster Tag» (im Franzosischen spricht man vom <<jugement dernier»). «Tage sind gleichsam Kinder der Zeit, weil der folgende Tag, rnit dem was er enthtilt, das Erzeugnis des vorigen ist» (ED 176).
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dessen, was wir sonst unüberprüfbaren Mutmassungen überlassen müssten. Dabei ist sich Kant durchaus des Problems bewusst, dass über das vorauszusetzende Moralsystem keine Einigkeit herrscht. Kant unterscheidet zwischen «Unitariern» und «Dualisten», wobei Unitarier an die Rettung aller Menschen glauben, Dualisten hingegen mit der Unterscheidung zwischen Auserwahlten und Verdammten rechnen. Mit Dualismus ist hier ausdrücklich nicht die Spaltung Gottes in ein gutes und ein bõses Prinzip gemeint (ED 178), sondern die Fahigkeit des Menschen zu guten und zu schlechten Taten. Aus praktischer Sicht sei das dualistische System plausibler, da es «weise ist, so zu handeln, a/s ob ein anderes Leben, und der moralische Zustand, mit dem wir das gegenwartige endigen, samt seinen Folgen, beim Eintritt in dasselbe unabanderlich sei» (ED 179). Von dort leitet Kant zu einer interessanten Doppelfrage über: «W arum aber erwarten die Menschen überhaupt ein Ende der Welt? und, wenn dieses ihnen auch eingeraumt wird, warum eben ein Ende mit Schrecken (für den· grõssten Teil des menschlichen Geschlechts)?» (ED 179) Die vom Autor bereitgestellten Elemente einer Antwort zeigen, dass er keineswegs ein naiver Optimist war. Vorzeichen von Krisen und Katastrophen seien unschwer wahrzunehmen. Allerdings ist Kant nicht bereit, überall nur Verderbnis und Hoffnungslosigkeit zu sehen. Wenn auch die Entwicklung der Moralitat den rasanten Fortschritten der Zivilisation hinterherhinke, so sei doch nicht kategorisch auszuschliessen, dass es eine Entwicklung zum Besseren geben kõnne. Wenn der Endzweck des Daseins das Handeln in Übereinstimmung mit dem Sittengesetz ist, dann ist es auch vernünftig, an die Mõglichkeit eines guten Endes zu glauben. Das sei jedenfalls sinnvoller als ein Schauspiel ohne jeglichen Ausgang. Im Anschluss an die Erõrterung der praktischen Dimension seines Themas widmet Kant sich der von ihm als «mystisch» bezeichneten Ebene, von der wir «nichts verstehen». Offensicht1ich gehõrt er nicht zu denen, die sich auf die Se1igkeit einer ewigen Ruhe freuen; denn dies sei «eigent1ich ein Begriff, mit dem (... ) zugleich der Verstand ausgeht und alles Denken selbst ein Ende hat» (ED 185): Dies sei vielleicht für Mystiker attraktiv, die mit geschlossenen Augen das Nichts meditieren. Augenzwinkernd bemerkt Kant, dass die «Bewohner der andern Welt» uns in den Texten der Tradition immer so dargestellt werden, als lebten sie ein ziemlich monotones Leben. 49 Kants Text endet mit einer ebenso heiteren wie skeptischen Note. Da wir jenseits der skizzierten moralischen Grundposition sehr leicht ins Schwarmen kommen, ware es am besten, die Ausrichtung des Menschen auf seinen Endzweck nicht erzwingen zu wollen, wie das bei apokalyptischen Eiferern üblich ist, sondern der Gewissensentscheidung jeder Person zu überlassen. Diese Art 49
Vgl. hierzu die im Anschluss an Kant entwickelten behutsamen theologischen Überlegungen von Bachl, Gottfried: Die Zukunft nach dem Tod, Freiburg i.Br. - Basel Wien: Herder, 1985, S. 98ff.
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von Liberalitãt mache das Christentum liebenswürdig und attraktiv, da angedrohte Strafen oder versprochene Belohnungen niemals zum Handeln aus frei em Willen einladen. Wer mit Sanktionen droht (wie die preussischen Zensurbehõrden), der gefãhrdet das Projekt eines wegen seiner sittlichen Vernünftigkeit überzeugenden Christentums und steure auf ein Ende zu, das in der Tat katastrophal werden kõnne. Der kleine Aufsatz über Das Ende aller Dinge enthãlt in komprimierter Form zentrale Thesen von Kants Geschichtsphilosophie, die als Teil der praktischen Philosophie konzipiert ist. Da der Mensch in der Geschichte als praktisches Vernunftwesen sinnvoll handelt, bietet es sich an, über die sinnhafte Struktur dieser Geschichte nachzudenken, also auch über ihren Anfang und ihr Ende. Aus diesem Grund widmet sich Kant in Mutmasslicher Anfang der Menschengeschichte (1786) in Auseinandersetzung mit dem biblischen Buch Genesis den Spekulationen über den Beginn und deutet den Sündenfall als Übergang von der Natur zur Kultur, als notwendigen Schritt in die Freiheit als sittliche Verantwortung. Der Fortschritt in der Freiheit50 ist eine regulative Idee der praktischen Vernunft, die schliesslich auch an die Grenze des Endes führt, über die Kant in Verbindung mit Texten aus dem letzten Buch der Bibel nachdenkt. Der Realitãtssinn dieser philosophischen Theorie von Geschichte51 zeigt sich nicht zuletzt in Kants kritischer Religionsphilosophie, die um die Gefãhrdung der Freiheit durch das Bõse weiss und traditionellen Versuchen, die harten Fakten zu einer harmonischen Theologie zurechtzubiegen, eine scharfe Absage erteilt. Der Text Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (1791) sei stellvertretend für die intellektuelle Redlichkeit erwãhnt, die auch für Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vemunft (1793) typisch ist. Das Ende aller Dinge ist ein weiterer Baustein für die Aufklarungsphilosophie, die sich gegenüber der Religion nicht feindlich verhãlt, sondern zum vernünftigen Disput in einer Weise herausfordert, dass die Theologie von einer solchen heilsamen Provokation nur profitieren kann. Als Beispiel sei nur noch einmal an die von Kant formulierten Fragen ~ngesichts der mystischen Dimension des Wechsel von der Zeit zur Ewigkeit erinnert.
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Dies ist das Thema u.a. in Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), Zum ewigen Frieden (1795), Der Streit der Fakultiiten (1798), bes. Zweiter Abschnitt: «Erneuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht im besUindigen Fortschreiten zum besseren sei?».
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Vgl. zur weiteren Interpretation und Rezeption: Renaut, Alain: Kant aujourd'hui, Paris: Aubier, 1997, Kap. VII (Penser l'histoire).
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3.2. Derrida und der «apokalyptische Ton in der Philosophie» Wir machen nun einen Sprung von fast 200 J ahren, der uns aber sehr bald wieder zu Kant zurückführen wird. 1985 erschienen in deutscher Übersetzung zwei Texte von Jacques Derrida zur Apokalyptik. 52 AlIein die Tatsache und die UmsUi.nde dieser Edition sind ein Beleg für die enorme Resonanz, die dieser Autor in den 80er Jahren im deutschsprachigen Raum gefunden hat, wobei die Begeisterung auch immer von extrem kritischen Stimmen, ja sogar vernichtenden Urteilen begleitet war. Der deutschsprachige Kontext ist einerseits durch die lebhaften Debatten über Moderne und Postmoderne, andererseits durch das politische Klima im Streit um atomare Massenvernichtungswaffen gepragt. Derrida hat den zweiten Text, No Apocalypse, not now, noch vor der Veroffent1ichung des franzosischen Originals für die deutsche Übersetzung zur Verfügung gestellt, was auf die erwartete Resonanz sch1iessen lasst. Hier geht es aus gegebenem Anlass um «pershings» und «cruise missiles», also um die Apokalypse des Atomzeitalters. Es handelt sich um einen ursprünglich 1984 an der CornelI University in den USA gehaltenen Vortrag. Der Haupttext in der deutschsprachigen Buchausgabe, Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie, ist unabhangig von den konkreten politischen Umstanden geschrieben worden , namlich anlasslich des 1980 dem Werk von Derrida gewidmeten KolIoquiums, das unter dem Titel Les fins de l'homme in Cerisy-Ia-SalIe stattfand. 53 Mit dem zweideutigen Titel ist sehr gut das intelIektuelle Klima jener Jahre getroffen. Das franzosische Substantiv «fin» kann namlich sowohl «Ende» als auch «Zweck» bedeuten. Mit «la fin de l'homme» kann also das Ende, der Tod des Menschen gemeint sein (das ware ganz auf der Linie der damals vehement vorgetragenen Kritik der Subjektphilosophie), oder aber das Ziel, der Zweck oder Endzweck des Menschen, also dessen teleologische Bestimmung. Beide Aspekte bringt Derrida in seinem Vortrag zusammen, um ausgehend vom Problem des apokalyptischen Endes über Aufklarungsphilosophie am Beispiel Kants zu sprechen. Er wahlt das für seine Schreibweise typische Verfahren, von einem Text aus dem philosophiegeschichtlichen Kanon auszugehen, in diesem FalI Kants Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796)54, um 52
Derrida, Jacques: Apokalypse, Graz - Wien: Bohlau, 1985. (Belege aus diesem Buch erfolgen im weiteren Text direkt mit dem Kürzel A und Seitenangabe.)
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Die Akten des Kolloquiums: Lacoue-Labarthe, Philippe; Nancy, Jean-Luc (Hg.): Les fins de l'homme. A partir du travail de Jacques Derrida, Paris: Galilée, 1981. 1992 wurde an diesem prestigetrachtigen Ort ei ne zweite «Dekade» organisiert, was die Bedeutung des Autors im Kreis der Intellektuellen allen Kritikern zum Trotz unterstreicht: Le passage des frontieres. Autour du travail de Jacques Derrida, Paris: Ga1ilée, 1994.
54 In: Ders.: Werke, Bd. 5, S. 377 -397.
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diesen Text zu entfalten, zu kommentieren, zu verfremden, zu kritisieren (kurz: zu «dekonstruieren»). Er begibt sich also mitten ins Zentrum der europaischen AufkHirung, um in der Textur des fremden Autors seinen eigenen Text zu weben. Die Wahl des Kant-Textes ist deshalb raffiniert, weil er sich für eine Spiegelung bzw. für einen fiktiven Disput besonders gut eignet. Kant richtet sich nãmlich in aufkHirerischer Manier gegen sogenannte «Mystagogen», die die Standards einer vernünftigen Philosophie verletzten und mit obskuren Theorien und unbewiesenen Behauptungen für Verunsicherung sorgten. So ãhnlich lautete ja der Vorwurf, der in unserem Jahrhundert seit den 70er Jahren gegen die zeitgenossische franzosische Philosophie erhoben wurde, die man pauschal unter den Verdacht des Irrationalismus stellte. Das KoUoquium von Cerisy-laSalle von 1980 war also nicht zuletzt eine Antwort auf diese Konstellation, deren Konfliktpotential sich in den folgenden J ahren noch verscharfen soUte. Laut Derrida sind «Apokalypse» und «Aufklarung» von ihrer Wortbedeutung und ihren Strategien her naher beieinander, als ihre jeweiligen Protagonisten zugeben woUen. «Apokalypse» ist nichts anderes als Enthüllung, Offenlegung, Entschleierung. Genau darum geht es aber auch der Aufklarungsphilosophie, die Derrida am Beispiel von Kants zwanzigseitigem «Pamphlet» (A 20) gegen den Strich bürstet, um ihre unreflektierten Voraussetzungen und Ansprüche zu ent1arven. Um es gleich zu betonen: Es kann überhaupt nicht darum gehen, hinter das Niveau der Aufklarung zurückzufaUen (A 59). Um so mehr ist aber Kant beim W ort zu nehmen, wenn mündiges Philosophieren dem hohen Ideal des vernünftigen Argumentierens treu bleiben wi1l. Kant wendet sich in seiner Schrift von 1796 gegen jene, die ausschliesslich an sinnlicher Anschauung interessiert sind und die Anstrengung des Begriffs scheuen, die eine gefa1lige Sprache pflegen und den trockenen Stil der Philosophie verachten. Wer sich in schwamerischen Visionen und mystischen Erleuchtungen gefaUe, der riskiere, so Kant mit ungewohnter Heftigkeit, den Tod der Phi1osophie. Hier droht also der Aufklarer mit dem bevorstehenden Ende, faUs Leute die Überhand gewinnen, die sich nicht an die rationalen und demokratischen Argumentationsregeln der Phi1osophie ha1ten. Dies dürfe «die Polizei im Reiche der Wissenschaften»55 nicht dulden. Die Stimme der Vernunft bedürfe keiner spektakularen EnthüUungen, sondern sei als moralisches Gesetz jedem Menschen zuganglich. AUerdings kommt auch diese aufklarerische Behauptung nicht ganz ohne die Aura des Geheimnisses aus, das mit dem Pathos des «Ich aber sage Euch» verkündet wird. Beide, Aufklarer und Mystagogen, erheben den Anspruch auf eine letztgültige Wahrheit und geraten dabei, wie Derrida zu zeigen versucht, in Begründungsnote, weil beide den letzten Ursprungsort ihrer vermeintlich so sicheren Wahrheit gar nicht angeben konnen. Die behauptete Wahrheit ereignet sich nicht ausserhalb des Sprechens, sondern 55 Kant: Tan, S. 394. 54
innerhalb des aufkHi.rerischen und des apokalyptischen Diskurses. Sprache und Schrift haben eine apokalyptische Struktur, weil im endlosen Spiel der Signifikanten immer neue Aspekte enthüllt werden, ohne dass es je die volle Prasenz der Wahrheit geben konnte. «Ist das Apokalyptische nicht eine transzendentale Bedingung eines jeden Diskurses, selbst jeder Erfahrung, jeder Markierung oder jeder Spur? Und die Gattung der im strengen Sinne genannten Schriften wãre also nur ein Beispiel, eine exemplarische Offenbarung dieser transzendentalen Struktur.» (A 72) Sind die Texte erst einmal mit solcher Gründlichkeit dekonstruiert, dan n bleibt von einem bevorstehenden Ende natürlich nichts mehr übrig. Die Apokalypse hat ja schon stattgefunden und wahrscheinlich in den Maschen der Textwelten ihren Schrecken verloren. In Texten und anderen Medien lasst sich das Ende hervorragend simulieren. Derridas Texttheorie von Zeit und Wahrheit ist zwar ein interessantes Modell für die geduldige Interpretationsarbeit, stOsst aber in der Realitat, über die der Autor doch immerhin auch etwas auszusagen vorgibt, an Grenzen. Im schlimmsten Fall erweckt sie sogar den Eindruck, unsinnig oder zynisch zu sein, jedenfalls ein elitãrer Diskurs desjenigen, der ohne Befristungen meint leben und schreiben zu konnen. 56 Insofern misslingt Derridas virtuoser Versuch, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen und den Vorwurf der Mystifizierung an seine Gegner zurückzugeben.
3.3. Benjamins «Engel der Geschichte» Im Vergleich zu Derridas endlosen Reflexionsschleifen sind Walter Benjamins vierzig Jahren altere Thesen Über den Begriff der Geschichte57 ein Dokument der Gefahr, als Summe einer zwanzigjahrigen Beschaftigung mit dem Thema 1940 niedergeschrieben im Pariser Exil und in dieser Form eigentlich nicht zur Veroffentlichung bestimmt. Ihnen folgte schon sehr bald das reale Ende des Autors, der sich 1940 auf der Flucht in Port Bou an der franzosisch-spanischen Grenze das Leben nahm. 58 Benjamins zum Teil fragmentarisch gebliebenes Werk hat seit den 60er Jahren ei ne beispiellose internationale und interdis56
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Vor allem der Text über die konkrete Atomkriegsgefahr, No Apocalypse, not now, ist ein seltsames Dokument der Weltfremdheit, da politische Ethik nun einmal nicht durch asthetische Simulationstheorien ersetzt werden kann. Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1/2, (hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhauser), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980, S. 691-704 (im folgenden jeweils mit der Nummer der These zitiert). Stellvertretend sei aus der uferlosen Literatur über Benjamin empfohlen: Moses, Stéphane: L'Ange de I'Histoire. Rosenzweig, Benjamin, Scholem, Paris: Seuil, 1992, Zweiter Teil, bes. S. 145ff.
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ziplinãre Rezeption erfahren, weil sich in seinem Denken Sympathien für den historischen Materialismus mit asthetischer Sensibi1itat und Offenheit für theologische Fragen verbinden. Hinzu kommen speziell bei den Thesen Über den Begriff der Geschichte die teils pragnanten, teils aber auch deutungsoffenen und ratselhaften Aussagen, die zu Spekulationen Anlass geben. Die grõsste Wirkungsgeschichte hatte die IX. These, die sich auf ein Bild bezieht (siehe die Abb. oben nach Seite 32), das seit 1921 in Benjamins Besitz war59 und das ihn wie ein Meditationsbild begleitete: «Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heisst. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wãre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sin d ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Ant1itz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablassig Trümmer auf Trümmer hauft und sie ihm vor die Füsse schleudert. Er mõchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schliessen kann. Dieser Sturm treibt ihn unauthaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, wahrend der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wachst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.» Benjamins Kritik richtet sich gegen einen nicht zu bremsenden Fortschrittsglauben, der zwar mit der Hoffnung auf bessere Zeiten verbunden ist, aber gerade deswegen nicht zur Ruhe kommt und dringende Interventionen in den unerbittlichen Gang der Ereignisse verhindert. Benjamin setzt sich vor allem mit dem Historismus und mit der Sozialdemokratie auseinander, die es nicht geschafft hatten, dem Faschismus etwas entgegenzusetzen. Nicht nur aus faulem Konformismus, sondern wegen eines Fortschrittsbegriffs, der von einer homogenen und leeren Zeit ausgeht, die unendlich in die Zukunft rast, konnten von dort keine Widerstandspotentiale kommen. Dennoch halt Benjamin an der Hoffnung fest, dass uns «eine schwache messianische Kraft mitgegeben» ist (II). «Der Messias kommt ja nicht nur als Erlõser; er kommt als der Überwinder des Antichrist. Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung zu entfachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehõrt» (VI). Dahinter steht der programmatische Ansatz einer Geschichtsschreibung, die darauf achtet, «die Geschichte gegen den Strich zu
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Heute befindet sieh das Bild im Israel Museum in Jerusalem. Ausserdem ist es dureh zahlreiche (leider meist sehr sehleehte) Reproduktionen bekannt, auf denen die farbige Kreide auf der Tusehfederzeichnung (31,8 x 24,2 em) gar nicht riehtig zur Geltung kommt.
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bürsten» (Vll), um der Opfer zu gedenken und der gegHitteten Version einer strahlenden Siegergeschichte entgegenzuwirken. Die Chance zur Durchbrechung der linearen Fortschrittsideologie sieht Benjamin in den revolutionaren Augenblicken, in denen ganz plõtzlich etwas von einer anderen Wirklichkeit aufblitzt, die sich unseren PlausibiliHiten und Wahrnehmungsgewohnheiten nicht fügt. Die Idee der Jetztzeit, die das Kontinuum der Geschichte schockartig aufzusprengen vermag und im Stillstand Neues erscheinen lasst, gehort zu den faszinierendsten Gedanken in Benjamins Werk und muss nicht ausschliess1ich aus theologischer Perspektive betrachtet werden. Sie ist auch als asthetisches Konzept lesbar, das Benjamin in seiner Auseinandersetzung mit dem franzosischen Surrealismus entwickelt hat 60 und das es ermoglicht, mitten in der profanen Welt Epiphanien des Vergessenen und des Unverfügbaren zu entdecken. In diesem Kontext ist übrigens auch Benjamins Passagenwerk zu verstehen, in dem sich das Paris des 19. Jahrhunderts nur auf den ersten Blick als ein kulturgeschichtliches Sammelsurium prasentiert. In Wirklichkeit sind die bedeutungslosesten Details gerettete Bruchstücke einer Erinnerung, die sich der Einordnung in eine tota1itare Gesamtschau widersetzt. Trotz aller Zurückhaltung gegenüber einer vereinnahmenden theologischen Interpretation der messianischen Sp1itter ist die Bezugnahme auf diese Tradition im Anhang B der Thesen explizit: «Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen. Die Thora und das Gebet unterweisen sie dagegen im Eingedenken. (... ) Den Juden wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias eintreten konnte.» Für ein messianisches Judentum und Christentum sind Benjamins Thesen eine bleibende Herausforderung, die es immer wieder aufzugreifen gilt. 61 Denn ihre entscheidende Leistung 1iegt darin, den B1ick von einer unbekannten Zukunft und einem drohenden Ende in eine andere Richtung zu lenken: in die Vergangenheit mit ihren Grausamkeiten und Glücksmomenten, ihren EntUiuschungen und Versprechen. Von der Behauptung, dass dies alles nicht vergeb1ich und unsinnig war, handelt in der Tat die theologische Überlieferung vom verlorenen Paradies und der befristeten Zeit aus einer Perspektive der messianischen Hoffnung und Erlosung.
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Der Sürrealismus. Die 1etzte Momentaufnahme der europaischen Intelligenz, in: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Bd. 11/1, S. 295-310.
61
Woh1muth, Josef: Zur Bedeutung der «Geschichtsthesen» Walter Benjamins für die christ1iche Eschato1ogie, in: Ders.: Im Geheimnis einander nahe. Theologische Aufsiitze zum Verhiiltnis von Judentum und Christentum, Paderbom - MünchenWien - Zürich: Schoningh, 1996, S. 192- 210.
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4. Der «apokalyptische Stachel» als bleibendes politisch-theologisches Erbe Die Benjamin-Interpreten streiten seit Jahrzehnten über das Theologische in Benjamins Denken. Mir scheint, dass gerade seine als Vennachtnis aufgefassten Thesen zeigen, wie eng theologische, asthetische und politische Interessen miteinander verwoben sind. Eine besondere Affinitat besteht zwischen den von Benjamin fonnulierten Thesen und der neuen Politischen Theologie, die sich von Anfang an gegen den Zeiteskapismus und die bei anderen Weltbildern en tliehenen Zeitverstandnisse der Theologie ausgesprochen hat. Die christliche Zukunftsgestaltung steht nach einer in den 20er Jahren von Erik Peterson gepragten Fonnulierung unter einem «eschatologischen Vorbehalt», mit dem das Warten auf die zweite Ankunft des Erlõsers am Ende der Zeiten gemeint ist. Metz schreibt in einem 1993 verõffentlichten Text: «Di e biblische Botschaft ist in ihrem Kern auch eine Zeit-Botschaft, eine Botschaft vom Ende der Zeit. Alle biblischen Aussagen tragen einen Zeitvennerk, einen Endzeitvermerk.»62 Dazu gehõrt auch ganz zentral die Abwehr jeder Art von Gnosis, die sich in der Gegenwart in der Aufspa1tung der Zeit in eine indifferente Weltzeit und eine auf individuelle Erlõsungsbedürfnisse zugeschnittene Lebenszeit manifestiere. 63 Im Angesicht einer «Landschaft aus Schreien» sei diese Individualisierung, die kein Gespür mehr aufbringe für den Tod des anderen ein Skandal. Auf die Dauer führe die Vergleichgültigung zur Schreckensvision einer «Digitalintel1igenz ohne Geschichte und ohne Passion». «Kein Finale kõnnte ja so schlimm sein wie gar kein Finale.»64 Metz hat seine Überlegungen zum apokalyptischen Zeitkern des Christentums 1977 pointiert in Thesenfonn vorgelegt. 65 Obwohl dieser Text dem Gedenken an Ernst Bloch gewidmet ist, kann nicht nur wegen der Fonn die Geistesverwandtschaft mit Benjamin nicht übersehen werden. Dem Autor liegt daran, Kasemanns These von der Apokalyptik als «Mutter der christ1ichen Theologie» in Erinnerung zu rufen und die müde gewordene Nachfolge unter Zeitdruck zu bringen. Gegen den Evolutionismus des Zeitgeistes setzt Metz seine kürzeste Definition von Religion: Unterbrechung! Metz hat diesen Aspekt auch am Beispiel der radikalen N achfolge in christlichen Ordensgemeinschaf62 Metz, Johann Baptist: Zeit ohne Finale? Zum Hintergrund der Debatte über «Resurrektion oder Reinkarnation», in: Concilium 29 (1993), Heft 5, S. 458- 462, hier 459.
63 Vgl. Brumlik, Micha: Die Gnostiker. Der Traum von der Selbsterlosung des Menschen, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1995.
64 Metz: Zeit ohne Finale?, S. 462. 65 Metz, Johann Baptist: Hoffnung als Naherwartung oder der Kampf um die verlorene Zeit: Unzeitgemasse Thesen zur Apokalyptik, in: Ders.: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz: Grünewa1d, 1977, S. 149-158.
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ten erlautert. Selbstverstandlich stelle das Ideal einer auf Armut, Gehorsam und Ehelosigkeit verpflichteten Lebensfonn eine unmõgliche Herausforderung dar, die nicht lebbar sei, «<wenn die Zeit nicht abgekürzt wird> oder, anders ausgedrückt: <wenn der Herr nicht bald kommt»>.66 Christentumsgeschichtlich ist diese Verbindung zwischen Naherwartung und Ordensexistenz nicht zu leugnen; al1erdings kann auch der ideologische Missbrauch dieser Tradition nicht bestritten werden, die sich bis heute auch ausserhalb der Orden in der autoritar verordneten Trennung zwischen (der letztlich apokalyptisch legitimierten Lebensweise von zolibataren) Priestern und (den in der Welt lebenden) Laien zeigt. 67 Mit anderen Worten: mit dem Bekenntnis zur Naherwartung ist ein Rest von Dezisionismus verbunden, der sich einer rationalen Rechenschaft über Handlungsmotive und Konsequenzen der radikalen Praxis versperrt, die sich als so1che immer schon für religiõs legitimiert halt. In der Entwicklung der «neuen Politischen Theologie», die nun auf immerhin drei Jahrzehnte praxisorientierter Theoriebildung zurückblicken kann, wurde der Impuls des «apokalyptischen Stachels» durchgehalten und nicht zuletzt in der Weggemeinschaft mit der lateinamerikanischen Befreiungstheologie konkretisiert. 68 Auch Peukert hat in seinem grossen fundamentaltheologischen Entwurf, freilich ohne apokalyptisches Pathos, die Bedeutung einer von Benjamins Thesen inspirierten Theorie der Geschichte herausgearbeitet, die sich der Erfahrung des Todes des anderen und der Vernichtung von Unschuldigen stellt. 69 Denn «nur eine unbedingte Solidaritat, die auch die Vernichteten einschliesst, wird aus der Vergangenheit das Potential für den Widerstand gegen den Totalitatsanspruch gesellschaftlicher Systeme gewinnen, die das Subjekt überspielen. Der Begriff von Geschichte wird in Zukunft noch grõssere Bedeutung für die Orientierung politischen Handelns gewinnen.»70 66 Metz, Johann Baptist: Zeit der Orden? Zur Mystik und Politik der Nachfolge, 67
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Freiburg i.Br. - Basel- Wien: Herder, 1977, S. 78. Die ideologischen Hintergründe der gegenwartigen Kirchenkrise sind ganz gewiss nicht einem Theologen wie Metz vorzuha1ten. Ich mõchte lediglich darauf hinweisen, dass man vom Postulat einer unter Zeitdruck zu bringenden radikalen Nachfolge zu recht unterschiedlichen praktischen Konzepten gelangen kann. An apokalyptischen Eiferern, denen jedes geduldige Bemühen um rationale Argumente als ein Verrat am dringlichen Auftrag der Kirche erscheint, feh1t es jedenfalls weder am «linken» noch am «rechten» Rand des innerkirchlichen Meinungsspektrums. V gl. zu wichtigen Stationen der Theorieentwicklung: Metz, Johann Baptist: Zum Begriff der neuen Politischen Theologie. 1967-1997, Mainz: Grünewald, 1997; Peters, Tiemo Rainer: Johann Baptist Metz. Theologie des vermissten Gottes, Mainz: Grünewald, 1998. Peukert, Helmut: Wissenschaftstheorie - Handlungstheorie - Fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1978, S. 353 - 355. AaO., S. 355.
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Die referierten Zusammenhange sin d deshalb von Bedeutung, weil die Theologie nur um den Preis eines vo1ligen Identitatsverlustes aufhoren dürfte, die zentralen Fragen zu steUen, mit denen das Christentum steht und faUt. Von welcher Hoffnung reden wir eigentlich? Von welcher Freiheit? Was ist Offenbarung?71 Was mei nen wir mit Auferstehung?72 AU diese theologischen Konzepte, die hier nicht weiter entfaltet werden konnen, sind in einem apokalyptisch und messianisch gepragten Kontext entstanden, der sich nicht einfach als historischer und mythologischer Balast entsorgen lasst. Das Gesprach mit dem jüdischen Messianismus ist aus einem theologischen und philosophischen Interesse und nicht nur aus religionsgeschichtlicher Neugierde immer wieder neu zu führen.7 3 Dies hat Metz mit seinen hartnackigen Pladoyers für das Temporalisierungsprogramm der Apokalyptik sehr genau gesehen: «Christentum ohne Apokalyptik wird zur Siegerideologie. Mussten das nicht gerade jene leidvoU genug erfahren, deren apokalyptische Traditionen das Christentum aUzu sieghaft verdrangte: die Juden?»74 Eine so verstandene Apokalyptik bleibt gerade auch in Kenntnis der heute unumganglichen Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie (und -theologie) ein nach wie vor dringliches Forschungsprogramm mit unmittelbaren praktischen Folgen, die sich immer dann ergeben, wenn man die Dinge so betrachtet, «wie sie vom Standpunkt der ErlOsung aus sich darsteUten» 75.
5. In Bildern das Ende denken: Das Ende der Philosophie?
Nachdem von den Verflechtungen zwischen genuin theologischen und philosophischen Traditionen schon mehrfach die Rede war, sol1 nun abschliessend noch ein weiterer Aspekt einbezogen werden, der das Gesprach mit der Literatur und anderen Künsten betrifft. Es gehort namlich zum besonderen Charme der Geschichtsphilosophie, dass sie sich noch mehr als andere Teilgebiete der 71 VgI. Weinrich, Michael: «Mache unsere Augen helI.» Systematisch-theologische Zuspitzungen zum Augenblick der Offenbarung, in: Thomsen, Christian W.; HolHinder, Hans (Hg.): Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaften, Darmstadt: Wissenschaft1iche Buchgesellschaft, 1984, S. 143-164. 72
V gl. Loning, KarI: Auferweckung und biblische ApokaIyptik, in: Concilium 29 (1993), Heft 5, S. 422-427.
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Scholem, Gershom: Zum Verstandnis der messianischen Idee im Judentum, in: Ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums, 3. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980, S. 121-170.
74 Metz: Hoffnung als Naherwartung, S. 155. 75 Adomo, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschiidigten Leben (1951), Frankfurt a.M.: Suhrkamp , 1980, S. 333.
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Philosophie in grosser Nahe zur Asthetik bewegt. Das beginnt schon mit der in der Regel narrativen Verfasstheit geschichtlicher Konstruktionen und zeigt sich nicht zuletzt im haufigen Gebrauch von ausdrucksstarken Bildern. 76 Wir haben dazu Kants kritische Haltung kennengelernt, wonach es eher ein Zeichen denkerischer Schwache ist, von der nüchternen Prosa auf verführerische Poesie umzuschalten. Bis heute ist die Mahnung zu horen, den Gattungsunterschied zwischen Philosophie und Literatur auf keinen FalI einzuebnen. 77 Den Hintergrund für derartige Warnungen und Polemiken bildet wiederum die philosophische «Postmoderne», die beispielsweise in den Texten Derridas permanent gegen die rationalen Standards philosophischer Argumentation verstosse. Damit verbunden ist das noch grundsatzlichere U nbehagen angesichts der grossen Resonanz, die die Âsthetik in unserer Zeit gefunden habe, so dass sie beinahe als Signatur der Postmoderne bezeichnet werden konne. Ist der unverkennbare Hang zur Metapher nun Zeichen der Stãrke oder der Krise? Guter Stil oder, wie Kant gesagt hatte, «vornehmer Ton»? Odo Marquard ist bei seinen Studien zur Geschichtsphilosophie, deren Entstehung er ungefãhr auf die Mitte des 18. Jahrhunderts datiert, auf den interessanten Umstand gestossen, dass offensichtlich nicht nur ein Zusammenhang zwischen dem Ende der Theodizee und dem Anfang der Geschichtsphilosophie besteht, sondern dass zu genau dieser Zeit, nãmlich 1750 mit Baumgartens Theorie der sinnlichen Erkenntnisarten, sich auch die Âsthetik als eigenstandige Disziplin zu formieren beginnt. Âsthetik, wie Marquard sie versteht, ist in den Krisenerfahrungen der Moderne ein Kompensationsphiinomen: «die ãsthetische Kunst kompensiert nicht nur die moderne Versachlichung der Lebenswelt, sondern sie kompensiert auch und vor allem den eschatologischen Weltverlust.» 78 Mit dem Ende der AlIeinherrschaft des heilsgeschichtlicheschatologischen Paradigmas entfiel der Zwang zum Dienst im Interesse der einen ErlOsungsbotschaft; der Weg war frei für die vielen Geschichten. Da die Kunst sich auch nicht auf das neue geschichtsphilosophische Paradigma fest1egen lãsst, kommt sie einem neu entstandenen Entlastungsbedarf entgegen: angesichts der Übertribunalisierung des nun für den Gang der Geschichte allein verantwortlichen, autonomen Menschen bietet sie die Moglichkeit zum
In der theologischen Hermeneutik eschatologischer Aussagen wird dies oft eher verlegen zur Kenntnis genommen, als sei es eine arge Zumutung, solche Bilder zu verwenden. Vgl. aber: Schwager, Raymund: Apokalyptik. Über die Verbindlichkeít der biblischen Bilder vom Ende der Geschichte, in: Salzburger Theologische Zeitschrift 1 (1997), Heft 1, S. 2-14. 77 Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwolf Vorlesungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1983, S. 219-247. 78 Marquard, Odo: Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen, Paderbom - München - Wien - Zürich: Schoningh, 1989, S. 116.
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«Ausbruch in die Unbelangbarkeit»79 an. Sie ist als autonome Kunst privilegierter Ort der freien Imagination. Auch in unserem Jahrhundert gehort das Nachdenken über das Ende der Geschichte ebenso in den Bereich der Dichtung wie in den Bereich der Philosophie, die sich wechselseitig inspirieren. 80 Man denke nur an Samuel Becketts Endspiel (Fin de partie, 1957) und an Adornos Versuch, dieses Bühnenstück zu verstehen. 81 Ein anderes Beispiel ist Thomas Manns grosser Endzeitroman Doktor Faustus (1947), der vor dem Hintergrund des deutschen Faschismus zu deuten ist und in dem Adrian Leverkühn, der mit dem Teufel einen Pakt geschlossen hat, sein Oratorium Apocalipsis cum figuris komponiert. Aus den vielen literarischen Versionen der Apokalypse greife ich aus Kafkas «Marchen für Dialektiker» - so nannte Wa1ter Benjamin Kafkas Erzmlungen - einen Text heraus: Das Stadtwappen 82. Kafka erzmlt dort von dem gut eingefade1ten Bauprojekt des babylonischen Turms, dessen Verantwortliche aber der überraschenden Meinung sind, «man konne gar nicht langsam genug bauen». Auf das gigantische Projekt als solches komme es schliesslich an. Die Ausführung sei zweitrangig, zumal mit den technischen Fortschritten der Zukunft immer bessere Mittel zur Verfügung stünden. Doch solche Erwagungen lahmten den Elan; man vernachlassigte den Turmbau und konzentrierte sich auf den Bau der Arbeiterstadt, in der die Landsmannschaften bald um die schonsten Quartiere rivalisierten und irgendwann auch vor Gewa1t nicht mehr zurückschrecken. Die Sinnlosigkeit des niemals vollendeten Himmelsturmes hatten alle Beteiligten langst eingesehen. Doch man hatte sich inzwischen zu sehr an das zwar konfliktreiche, manchmal sogar blutige, aber doch selbstverstandlich gewordene Leben in der Stadt gewohnt, als dass jemand freiwi1lig zum Abbruch des Gesamtprojekts bereit gewesen ware. «Alles was in dieser Stadt an Sagen und Liedern entstanden ist, ist erfüllt von der Sehnsucht nach einem prophezeiten Tag, an welchem die Stadt von einer Riesenfaust in fünf kurz aufeinanderfolgenden Schlagen zerschmettert werden wird. Deshalb hat auch die Stadt die Faust im Wappen.» Der Blick in eine perspek79 AaO., S. 120. 80
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Scherpe, Klaus R.: Dramatisierung und Entdramatisierung des Untergangs - zum asthetischen Bewusstsein von Moderne und Postmodeme, in: Huyssen, Andreas; Ders. (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek: Rohwohlt, 1986, S. 270-301. Adomo, Theodor W.: Versuch, das Endspiel zu verstehen (1961), in: Ders.: Noten zur Literatur, (hg. von Rolf Tiedemann), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1981, S. 281321. Kafka, Franz: Das Stadtwappen, in: Ders.: Siimtliche Erziihlungen, (hg. von Paul Raabe). Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1976, S. 352f. (Der Titel dieses Textes stammt von Max Brod. Die Erzahlung war in einem auf September 1920 datierten Konvolut enthalten.)
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tivenlose Zukunft weckt die Lust am Untergang, der als drohende Mõglichkeit noch einmal die alltagliche Routine aufbrechen kõnnte. 83 Eine ganz andere Dramatisierung des Endes der Zeit hat Jorge Luis Borges in seiner 1943 geschriebenen Erzahlung Das geheime Wunder beschrieben. 84 Hdladik wartet in einem Prager Gefangnis auf seine Hinrichung durch die nationalsozialistischen Besatzer. Seine Hauptsorge gilt einer Tragõdie, deren Text er nun nicht mehr fertigstellen kann. In der Nacht vor der Vo11streckung des Todesurteils bittet er Gott um ein zusatzliches Jahr. Als er am nachsten Morgen erschossen werden sol1, bleibt die Zeit plõtzlich stehen: die ganze Szene wird wie zu einem Gemalde eingefroren. Hdladik hat das Geschenk der Zeit zur Vo11endung seines Dramas erhalten; er schreibt seinen Text und wird exakt im Moment der Fertigste11ung erschossen, als die Todesmaschinerie auf dem Kasernenhof wieder zu leben beginnt. 85 Was Borges mit literarischen Mitteln macht, ist in der Filmkunst um zahlreiche technische Mõglichkeiten erweitert worden, die nicht ohne Einfluss auf unsere Wahrnehmungsgewohnheiten geblieben sind. Es kommt deshalb auch für ein geschichtsphilosophisches Erkenntnisinteresse sehr darauf an, die Fülle der Visualisierungen zu kennen, um den Blick nicht euphorisch oder melancholisch auf ein einziges Bild zu fixieren. Klees Angelus Novus ist eben nur eine Mõglichkeit, zumal in der sehr spezie11en Deutung, die Walter Benjamin diesem Emblem gegeben hat. «Die kann nicht nur nicht das Tote wieder lebendig machen, sie kann auch das Lebendige totkriegen; sich selbst überfordernd, verhindert namlich das Nicht-Vergessen-Kõnnen oder -Wo11en, wenngleich ohne bõse Absicht, dass das in der Gegenwart Mõgliche vor einem erneuten Scheitern bewahrt wird. Denn dazu müsste das Mõgliche, solange es mõglich ist (und nicht erst spater), wahrgenommen und also wahr gemacht werden. Die Rückblicksposition des Engels der Geschichte lãsst aber diese Wahrnehmung gar nicht zu. Sein auf die Ruine(n) der Geschichte, sein ausschliess1icher Blick zurück lasst ihn jeden kairologischen Mõg1ichkeitsmoment erst in dem Moment innewerden, wenn er in seinen auf das verlorene Paradies fixierten Gesichtskreis tritt.»86 Es gibt andere Bilder des Endes: positiv und negativ gefãrbte. Warum sollten wir uns beispielsweise nur ein himmlisches Jerusalem und nicht viele Stadte vorstellen? Warum müssen alle Võlker zu einem einzigen Berg pilgern ?87 83 Vgl. Moses: L'ange de l'histoire, S. 9-14. 84 EI miIagro secreto (1943), in: Borges, Jorge Luis: Ficciones, Madrid - Buenos Aires: Alianza/Emecé, 1982, S. 165-174. 85 Vg1. auch zu diesem Text: Moses: L'ange de l'histoire, S. 14ff.
86 Lambrecht, RoIand: Melancholie. Vom Leiden an der Welt und den Schmerzen der Rejlexion, Reinbek: Rowohlt, 1994, S. 217.
87 Vgl. zu dieser Abweichung von der Standardform der Volkerwallfahrt zum Berg Zion: WaIzer, MichaeI: Zwei Arten von Universalismus, in: Ders.: Lokale Kritik-
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Wer solche Fragen stellt, sollte sich vor einseitigen Empfehlungen hüten. Denn die Lôsung kann nicht darin bestehen, einem grenzenlosen Relativismus zu huldigen. Wer das Ende der Zeit thematisiert, darf unter dem Eindruck dieses beunruhigenden Gedankens nicht das Gleichgewicht verlieren. Die Rettung liegt weder im blinden Aktionismus noch im stoischen Rückzug. Beide Tendenzen geben mogliche Richtungen an, die zum Ausgleich die jeweils andere Tendenz brauchen. Es gibt unbestreitbar falsche Bescheidenheitstopoi, die nichts anderes sind als bequeme Ausreden. Es gibt den verhangnisvollen Rückzug ins Private, aber doch auch die legitime Orientierung auf das Nãchstliegende. «Es gibt das Recht der nachsten Dinge gegenüber den letzten.»88 Das gilt insbesondere für die Begegnung mit anderen Menschen, die wir nicht im Fernhorizont lieben konnen, sondern von Angesicht zu Angesicht. Gerade der Verweis auf diese Nahe ist kein spiessiges Pladoyer für das «kleine GlÜck». Emmanuel Lévinas hat gezeigt, dass gerade in der Begegnung mit dem anderen so etwas wie das «Zerspringen der Zeit» erfahrbar wird. 89 Es gibt also beides: das moralisch motivierte Engagement unter hochstem Zeitdruck und die Gelassenheit, die Suche nach Strategien der Entschleunigung 90: nach einer Lebenskunst, die darin besteht, jetzt ein Apfelbaumchen zu pflanzen, auch wenn das Ende schon morgen bevorsteht. Allerdings ist dieses Gleichgewicht nicht leicht zu erreichen. Erfahrungsgemass ist eine Grundhaltung des Humors auch angesichts des Endes aller Dinge jedoch empfehlenswerter als finsterer Endzeitwahn. Womit sich der Kreis zu den von Umberto Eco angeregten Überlegungen des Anfangs schliesst. 91 Es konnte allerdings globale Standards. Zwei Formen moralischer Auseinandersetzung, Hamburg: Rotbuch, 1996, S. 139-168, bes. 141f. 88 Marquard: Beitrag, S. 249.
89 Weber, Elisabeth: «Éc1atement du temps». «Zerspringen der Zeit». Über eine apokalyptische Wendung bei Emmanuel Lévinas, in: Tholen/Scholl: Zeit-Zeichen, S.85-96. 90 Sloterdijk, Peter: Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989. Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit Sloterdijk: Laermann, Klaus: Von der Apo zur Apokalypse. Resignation und Frohliche Wissenschaft am Beispiel von Peter Sloterdijk, in: Kemper, Peter (Hg.): oder Der Kampf um die Zukunft. Frankfurt a.M.: Fischer, 1988, S. 207-230; Bellmann, Johannes: Religion als Opfer oder Kritik der zynischen Vernunft? Eine politischtheologische Auseinandersetzung mit Peter Sloterdijk, in: Lesch, Walter; Schwind, Georg (Hg.): Das Ende der alten Gewissheiten. Theologische Auseinandersetzung mit der Postmoderne, Mainz: Grünewald, 1993, S. 73 -114. 91 Vgl. Zwart, Hub: Ethical Consensus and the Truth of Laughter. The Structure of Moral Transformations, Kampen: Kok Pharos 1996; Bühler, Pierre: Le renversement imprévu dans la narration. A partir du récit comique et tragi-comique, in: Bühler, Pierre; Habermacher, Jean-François (Hg.): La narration. Quand le récit devient communication, Genf: Labor et Fides, 1988, S. 267-284. 64
sein, dass wir die heitere Gelassenheit brauchen, um eine Sisyphos-Arbeit zu verrichten, bei der wir einen schweren Stein den Berg hinaufschaffen und zusehen müssen, wie der Stein immer wieder nach unten rollt. Bekanntlich hat sich Albert Camus Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorgestellt. 92
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Vgl. hierzu Kortner, Ulrich H. J.: Weltangst und Weltende. Eine theologische Interpretation der Apokalyptik, Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1988, S. 391: «Der Mythos von Sisyphos stellt eine Haltung des Mutes dar. Der Mut des absurden Geistes ist der Mut, sich aller Erfahrung des Absurden zum Trotz tapfer zu bejahen. Der Glaube kommt dieser Haltung recht nahe.»
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Véronique Mauron und Claire de Ribaupierre Furlan WEISSAGUNGEN, TRÜMMER, GRÀBER Fragen der Apokalypse im Roman und in der Kunst der Gegenwart Wer die Apokalypse heute im Rahmen einer Beschaftigung mit Text- und Bildanalyse aufs Neue liest, sieht sich herausgefordert, Fahrten zu folgen, Spuren zu suchen und vom biblischen Text abgeleitete Motive aufzuweisen. Zwischen Literatur und Kunst stellen sich vieler1ei Parallelen ein, und zwar sowohl hinsichtlich der Wiederkehr der Themen wie bei der asthetischen Konzeption. An die literarischen und künstlerischen Verfahren gehen wir mit ahnlicher Methode heran, wir arbeiten interdisziplinar, literaturwissenschaftlich und anthropologisch zugleich. Damit legt sich eine gemeinsame Autorschaft nahe, die sich als Dialog zwischen Disziplinen mit verwandten Problemfeldern versteht. Bei einlasslicher Betrachtung einiger zeitgenõssischer Werke treten apokalyptische Themen in den Blick. Wir untersuchen diese Indizien und diese Figuren, die Fragen stellen nach Ursprung und Ende der Zeiten, nach Verhangnissen, nach Katastrophen, nach Er1õsung, nach der Beziehung von Sichtbarem und Unsichtbarem, nach Erinnerung und Weiterleben. Uns geht es nicht darum, unter dem Vorwand der Beschaftigung mit zeitgenõssischer Literatur und Kunst die Apokalypse erneut zu interpretieren, sondern darum, in diesen Werken Motive freizulegen, die an den johanneischen Text erinnern. Die Gesamtheit unserer künstlerischen und literarischen Werke bezieht sich mehr oder minder explizit auf die Ursprungstexte, auf die grossen Texte der jüdisch-christlichen Kultur. In allen Epochen hat die Apokalypse Schriftsteller und Künstler fasziniert. Gleichwohl sind Darstellungen des biblischen Textes nach dem Mittelalter weniger zahlreich. In der Gegenwart taucht die Apokalypse wieder au f, wenngleich oft nur unterschwellig, so doch als Emblem. In Picassos Guernica kõnnte man die Wiedereinführung der Katastrophe in die Moderne sehen. Dies Werk pragt dem Projekt der Moderne das Siegel der Apokalypse auf. Dem Zeitalter der Avantgarden, wo die Destruktion - tabula rasa - sich in frõhlicher, verheissungsreicher Erfindung vollzieht, folgt mit Guernica eine von Entsetzen und Angst betroffene Moderne. Die Tragõdie des Zweiten Weltkriegs wirft auf einen Teil der literarischen und künstlerischen Schõpfungen des 20. Jahrhunderts einen Schatten aus Angst und Verzweif1ung. Soll dies zeitgenõssische Schaffen das Ende protokollieren, dann muss es unaufhõrlich an die mythischen Ursprünge einer fernen und verborgenen Tradition anknüpfen. Im Unterschied zur Apokalypse jedoch versprechen die Werke keiner1ei Erlõsung.
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l. Weissagungen
«Und der vierte Engel posaunte; da wurde der dritte Teil der Sonne und der dritte Teil des Mondes und der dritte Teil der Sterne getroffen, damit ihr dritter Teil verfinstert würde und der Tag nicht schiene seinen dritten Teil und die Nacht in gleicher Weise.» (Apk. 8, 12) «Darnach sah ich einen andern Engel aus dem Himmel herabkommen, der grosse Gewalt hatte, und die Erde wurde erleuchtet von seinem Lichtglanz.» (Apk. 18, l) «Und ich sah einen Engel aus dem Himmel herabkommen, der den Schlüssel der Unterwelt und eine grosse Kette in seiner Hand hatte. Und er ergriff den Drachen, die alte Schlange, die der Teufel und der Satan ist, und legte ihn auf tausend Jahre in Fesseln.» (Apk. 20, H.)
Die Engelsgestalt steht für die Weissagung. Die Engel, die wir in Erinnerung bringen wollen, sind die des Engelschores, der den verherrlichten Christus umgibt und auch den antiken Chor bildet. Claude Simon gestaltet die Schutzengel in Schwarze Engel um, die an vergangene Taten erinnern, Familientragodien wachrufen und das Gedachtnis der Überlebenden heimsuchen: Der vereinzelte Engel taucht bei Walter Benjamin und Anselm Kiefer auf. Er überfliegt die Geschichte als gemalte Landschaft - eine Allegorie des Malers und des Gemaldes. All diese Engel erscheinen im gegenwartigen Moment - derjenige des Erzahlers angesichts des leeren Blattes, der des Philosophen wahrend der halluzinatorischen Offenbarung und der des Malers, wenn er die Geschichte heraufbeschwort. Diese Engel kehren die prophetische Beziehung um: Um die Zukunft anzukündigen, wiederholen sie das Vergangene. Im Vorzimmer der Engelschaft, Pedantischer Engel, Engel des Alten Testaments, Vergesslicher Engel, Engel im Boot, Engel voller Hoffnung, Engel im Kindergarten, Angelus militans, Wachsamer Engel, Angelus dubiosus, Engel noch weiblich, Zweifelnder Engel, Unfertiger Engel, sie bilden eine Engelschar, die Paul Klee 1939 auf Papier gebannt hat. Die Engel haben menschliche Eigenschaften und Schw achen , gehoren aber dem geheimnisvollen Bereich zwischen Diesseits und Jenseits an. Sie ahneln Schutzengeln, vertrauten Gestalten, die man oft anruft und die einen ein Leben lang begleiten. Sie sind mit der Kindheit verknüpft und gehoren ebenso wie der gute Stern eines Menschen zum Volksglauben. Paul Klee hat in dieser Werkreihe seines letzten Lebensabschnitts Geschopfe gezeichnet, die so etwas wie Akteure in einem Theaterstück sind. Einem Engel nach dem anderen gibt der Künstler ei nen Namen und schafft so eine Vielzahl von Funktionen und Charakteren. Einige Engelstypen erkennt man wieder, andere sin d erfunden. Der Engel wird das
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«sujet» der Darstellung, das Zentrum des Bildes. Hierin weicht er ab von der Position, die er in der christlichen Ikonographie einnimmt, namlich von der des Begleiters, der in den Zwischenraumen der Darstellung (den Ecksteinen der romanischen Portale zum Beispiel) um die Hauptfiguren herum angesiedelt ist und so auf das Sichtbare, die zu betrachtende Szene hinweist. Nur der Erzengel Michael, der die Seelen wagt oder das Ungeheuer niederstreckt, und der Engel Gabriel in der Verkündigung Mariens besitzen eine gewisse Autonomie und verlieren etwas von ihrer hinweisenden Eigenschaft. Paul Klee verleiht dem Engel wirklichen Personenstatus, demzufolge der Engel in der Darstellung sich selbst ankündigt, ein unabhangiges «sujet» wird, das von seinen indizierenden Funktionen entbunden ist. Dieser Serie von Phantasiefiguren, die silhouettenartig, in beweglicher und doch klarer Linienführung gezeichnet sind, gehen im Werk Klees einige sporadisch auftauchende Engelsdarstellungen voraus. Ich gehe naher ein auf einen Engel, der besondere Berühmtheit erlangt hat: den Angelus novus, ein Aquarell, das Walter Benjamin gehõrte (siehe die Abb. oben nach Seite 32). Nachdem er es 1921 in Berlin erworben hatte, sollte Klees Bild im Bewusstsein Benjamins ei ne doppelte Rolle philosophischer Offenbarung spielen. Das Bild ist prophetisch, und Benjamin befragte es zu wiederholten Malen in seinem Leben wie einen Spiegel, verausserte es nie und betrachtete es als eines seiner kostbarsten Güter. 1940, als er aus Paris floh, vertraute er Georges Bataille zwei Koffer an, die seine Papiere und das Aquarell enthielten, welches dieser zeitweilig in der Bibliotheque nationale versteckte. Nach dem Krieg gelangte das Bild in Amerika zu Adorno, der es spater zurück nach Deutschland, nach Frankfurt brachte. 1 1922 hatte Benjamin sich mit dem Plan der Gründung einer Zeitschrift getragen, deren Titel, angekündigt auf dem Programm2 , das das einzige publizierte Dokument blieb, Angelus novus war. Bereits damals sprach das Bild Klees zu Benjamin. Nach Gershom Scholem unterhielt Benjamin eine eigenartige Beziehung zu der Engelsfigur. In Phantasie und Gedachtnis des Philosophen stellte. sich haufig wiederkehrend das talmudische Bild unzahliger Engelsscharen ein, die in jedem Augenblick neu erschaffen werden und deren Aufgabe es ist, das Lob Gottes zu verkünden, bevor sie schwinden. «Diese immer neuen Engel [... ] haben aber zugleich die Züge der Engel des Gerichts
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Scholem, Gershom: Walter Benjamin und sein Engel, in: Ders.: Walter Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsiitze und kleine Beitriige, (Hg. von Rolf Tiedemann), 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992, S.45. In dieser Ankündigung war Benjamins ErkHirung für die Wahl des Titels Angelus novus zu lesen: «Werden doch sogar nach einer talmudischen Legende die Engelneue jeden Augenblick in unzahligen Scharen - geschaffen, um, nachdem sie vor Gott ihren Hymnus gesungen, aufzuhoren und in Nichts zu vergehen. Dass der Zeitschrift solche Aktualitat zufalle, die allein wahr ist, moge ihr Name bedeuten.» Zitiert nach Scholem, Benjamin, (s. Anm. 1), S. 47.
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und der Zerstõrung. Ihre <schnel1 verfliegende Stimme> ist die der Vorwegnahme der Apokalypse im Geschichtlichen»3. In einem seltsamen Text mit dem Titel Agesilaus Santander, der zwei Versionen enthalt und 1933 in Ibiza redigiert wurde, beschwõrt Benjamin die plõtzliche Erscheinung dieser Engel, die ihm seinen wahren Namen bekanntgeben sol1en. 4 Der Erzahler scheint den Engel zu lange aufgehalten zu haben, und schon «weicht» dieser «stossweise und unaufhaltsam»5, seiner Bestimmung getreu, und zieht den, der ihn ansieht, mit sich. Der Benjaminsche Engel, ein Bote, spricht den Namen aus und geht weg. Sein Erscheinen bewirkt beim Erzahler eine Offenbarung, die mit einer Meditation über die Zeit einhergeht. Der Engel kehrt zurück «auf jenem Wege in die Zukunft, auf dem er kam»6. Das Verschwinden des Benjaminschen Engels ahnelt demjenigen, das von Claudio ParmiggianF in einem schlicht Angelo 8 genannten Werk dargestel1t wurde. Schuhe, die einmal dem Künstler gehõrten, mit getrockneter rissiger Erde bedeckt, stehen auf ein~m weissen Sockel, von einer mannshohen Plexiglasglocke geschützt. Der Engel wird durch seine Abwesenheit fassbar, in der Leere der Vitrine, die nur schmutzige Spuren seines Wandelns auf Erden zeigt. Der Bote ist verschwunden, oder aber sein Kõrper, ein Immaterielles, bleibt unsichtbar, viel1eicht gegenwartig «im Geiste» , in dem durchsichtigen Gehause. Das Mittlertum wird schwierig, der Engel ist schon vorüber, ist nur noch ein Titel, nicht einmal mehr ein Bild. Bleibt nur die Spur seines Vorübergehens, ein zur Reliquie verwandelter Rest, der vom Verhangnis einer Auslõschung spricht, deren Endgültigkeit man vorausahnt.
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AaO., S. 32
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Die jüdische Tradition gibt den Kindern «geheime Namen», d.h. so1che, die ihnen zum Zeitpunkt der Beschneidung bekanntgegeben werden. Diese Namen sind wesentlich religiosen Charakters.
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Benjamin, Wa1ter: Agesilaus Santander. Zitiert bei Scholem: Benjamin, (s. Anm. 1), S.41. AaO., S. 43.
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Italienischer Künstler, geboren 1943. Er arbeitet in den Bereichen Zeichnung, Gemalde, Skulptur und vor allem Installation. Sein Werk siedelt sich in der Bewegung der arte povera an und ist der Aufgabe einer Reinterpretation der Werke der Antike und der Renaissance gewidmet. Parmiggiani erachtet die Inszenierung, die dramatische und symbolische Wirkung von Werkzusammenstellung für wichtig. Als Abweichungen, Zitate, Umstellungen, appellieren seine Werke an Einbildungskraft und Erinnerung. 1996 zeigte das MAMCO (Musée d'art moderne et contemporain) in Genf eine Retrospektive seiner Werke.
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Angelo, 1995, Leder, Ton, bemaltes Holz, Plexiglas, 260x51,7x41,5 cm. Dies Werk wurde auf der Biennale in Venedig 1995 ausgestellt. Verwiesen sei auf die Beschreibung von Bernard, Christian: Claudio Parmiggiani. Monuments à un désastre obscur, in: Art Press 212 (1996), S. 35.
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Der Engel der Geschichte Im Jahre 1977 vollendet Anselm Kiefer 9 eine Serie von Gemalden mit dem Titel Engel (siehe die Abb. unten nach Seite 80). Ein dunkler Engel, schwarz mit weissem Umriss, nimmt in schrager Position den Raum der Komposition ein, fliegt in einer unbestimmten Landschaft, die Himmel und Erde zugleich ist. In seiner Hand halt er eine Malerpalette IO • Der Kiefersche Engel gehort dem Bereich der Malerei an, dem Raum des Künstlers, an welchen er sich insbesondere zu wenden scheint. Er besitzt gegensatzliche Eigenschaften: Bald erscheint er als schützender Bote der Malerei wie Der Maler Schutzengel (1975), bald, im Bild des gefallenen Engels, wie der Überbringer einer Unglücksbotschaft. Germano Celant zufolge ll trachtet der deutsche Künstler nicht danach, aus der Geschichte herauszutreten, Ausgange, Fluchtwege zu schaffen, sondern vielmehr danach, Geschichte durch künstlerische Aktivitat zu rekonstruieren. Die Kunst besitze eine vermittelnde Kraft, die imstande ist, der Geschichte, auch der dramatischsten, entgegenzutreten. Es handelt sich insofern nicht darum, in der Engelsfigur eine Metapher für die Er10sung der Welt durch die Malerei zu sehen. Kiefers Kunst entwickelt vielmehr ein Gefühl tragischer Ohnmacht und melancholischer Endlichkeit, die kaum an ein Heil gemahnt, dessen prophetisches Bild der Engel ware. Der deutsche Künstler stellt sich direkt der Vergangenheit Deutschlands, der Apokalypse des Zweiten Weltkriegs. Für ihn geht es darum, die Kunst nach der ZerstOrung fortbestehen zu lassen und, in einem damit, Rechenschaft über die Katastrophe abzulegen. Die deutsche Kunst heute ist mit einem Schandfleck behaftet, und es geht darum, ihn sichtbar zu machen, ihn zugleich gegenwartig und vergangen sein zu lassen. Kiefers Kunst siedelt sich an zwischen Trümmern und Wiederaufbau, in immer in Bewegung bleibender Dialektik, gemass einer nie aufgelosten 9
Deutscher Künstler, 1945 in Baden-Württemberg geboren. Studium der Rechtswissenschaften, der Romanistik und der Malerei in Karlsruhe. Reisen in Europa. Immatrikuliert sich an der Kunstakademie Düsseldorf, wo Joseph Beuys sein Lehrer ist. 1980 bestreitet er mit Georg Baselitz den deutschen Pavillon der Bienna1e Venedig. Seine Arbeit zieht anhaltend internationale Aufmerksamkeit auf sich. Er wird mit der deutschen neoexpressionistischen Bewegung in Verbindung gebracht, die sich von Geschichte inspirieren Hisst und durch das Schicksal Deutschlands gepragt ist. Eine Ausstellung seiner neueren Werke fand 1997 im Museum Correr in Venedig statt.
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In Fortführung und Abwandlung romischer Vorbilder werden Engel vom Mittela1ter bis zum Barock in Malerei und Plastik als Figuren dargestellt, die die Bildtafel, das Gemalde, tragen und sie dem Betrachter zeigen. Das von Kiefer verwendete Modell der Darbietung knüpft an eine ikonographische Tradition wieder an, welche zum Verweisungssystem der Prasentation des religiOsen Bildes gehort.
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Celant, Germano: 11 destino dell'Arte. Anselm Kiefer, in: Cacciari, Massimo; Celant, Germano (Hg.): Anselm Kiefer, Mailand: Charta, 1997, S. 14.
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Fonnel. Der Engel mit der Palette verheisst die Vermittlung. Zahlreiche Werke inszenieren eine gekippte Beziehung zwischen Erde und Himmel. Bei HimmelErde (1974) sind die Namen dieser unterschiedenen Bereiche in das Gemalde eingeschrieben. Zwischen beiden, auf einer Palette, sucht ein senkrechter Strich, eine Art Vektor, sie mittels des Verbs «Malen» zu verbinden. Die Malerei ist die mogliche Vennittlung zwischen dem Irdischen und dem Gottlichen. Der Engel bringt das dialektisch Vermittelnde, die Malerei. Die Gottheit, die einzig Gnade zu gewahren vennochte, erscheint in der luziferischen Welt Kiefers nicht. Die Palette des Engels prasentiert nicht neue Farben, die zum Mischen bereitstehen, sondern trüb vennengte, verschmutzt von dem bereits auf der Flache ausgebreiteten Gemalde, Farben der verwüsteten und chaotischen Landschaft. «Durchsichtig» reprasentiert sie das Bild, seine Farben und seine Materie; Der Engel wohnt nicht ausserhalb des Gemaldes, er ist eine Figur des Abgrunds und teilt mit dem Bild dessen Unordnung und Verhangnis. Der dialektische Engel halt sich in der Schwebe zwischen Wirrnis und Ordnung, Geschichte und Individualitat, Erde und Himmel, Fehltritt und Verzeihung. Auch sein Gegenbild hat der Engel, in der Schlange, der wiederkehrenden Gestalt des Fluches, die, stets ungeheuerlich und drohend, in der Mitte vieler anderer Kompositionen Kiefers eingero11t liegt. Das Gemalde besetzt einen Raum des Übergangs, wo es das Himmlische mit dem Irdischen verflicht, das Opake der Materie mit der Transparenz des Geistes l2 . Ist das vom Engel gebrachte Gemalde nicht der Aura ahnlich, wie Benjamin sie definierte: ein einzigartiges raumzeitliches Raster, eine «einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag»13? Wir finden in dieser Definition eine doppelte Artikulation: eine zeitliche, die der Vergangenheit und Gegenwart (oder Zukunft) , und eine raumliche, die des Nahen und Fernen. Den Engel erscheinen lassen, das heisst, die Transfonnation der Geschichte ersehnen durch die Malerei - in einer Epiphanie. Kiefer greift in Gemalden und Skizzen mehrfach die Siegfried-Figur auf. Siegfried, eine Gestalt der gennanischen Mythologie, irrt auf Wegen der Katastrophe umher l4 , an aufgelassenen Bahngleisen entlang, welche an die der Todeslager erinnern. Für Gennano Celant ist der Künstler ebensosehr mit der Mythologie der Nibelungen wie mit der Nazi-Katastrophe befasst. Die gegenwartige Malerei bildet sich über Gegensatzen heraus und eignet sich eine Identitat jenseits der Destruktion an. Es so11 nicht Finsternis vom Licht ge-
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AaO., S. 16.
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Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 3. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1969, S. 18.
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Mehrere Hefte und Gemalde tragen denselben Titel: Siegfried's Difficult Way to Brunhilde, 1977, 1988, 1991, Serien, deren Vorlaufer Siegfried vergisst Brunhilde, 1975 war.
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schieden werden, sondern das Finstere soU reassimi1iert werden 15. Die Kunst siedelt sich in Geschichte und Erinnerung an; das Gemalde «des Engels» restauriert dieses Erbteil. Der angelus dialecticus Kiefers tritt in verwandtschaftliche Beziehung zu Benjamins angelus novus. Seit seinem Verschwinden bewirkt Benjamins Engel, der Trager des «wahren Namens», einen seltsamen Übergang. Er bringt den Erzahler auf den Weg in die Zukunft, «auf dem er kam»16. Wir finden in dieser Formulierung, die Vergangenheit und Zukunft vermengt, eine Formulierung der Dialektik im Sinne Wa1ter Benjamins. Die gegenwmige Zeit kristallisiert sich nie, sie kommt-und-geht wie die Bewegung der Brandung. Obwohl er der Bote des Glücks des wahren Namens ist, ahnelt Benjamins Engel der Figur des Unvollendeten Engels von Paul Klee. Das UnvoUendetsein ist eines der Grundmotive des dialektischen Denkens Benjamins. Aus dieser Reflexion leitet sich eine besondere Auffassung des Glücks ab, das sich bestimmt als der «Widerstreit, in dem die Verzückung des Einmaligen, Neuen, noch Ungelebten mit jener Seligkeit des Nocheinmal, des Wiederhabens, des Gelebten liegt»17. Der Gegensatz des «einen einzigen MaIs» und des «Noch einmal» verkõrpert sich im dialektischen Bild des Engels. Das Neue schreibt sich der Zukunft und . der Vergangenheit ein, «auf keinem Wege [... ] als auf dem der Heimkehr»18. Die Palette des Kieferschen Engels - sie ist die der neuen Malerei - tragt die altertümlichen Farben einer früheren Welt. Der Engel ist «aus der Zukunft vorgestossen und geht in sie zurück.»19. Er roUt die Zukunft in die Vergangenheit auf und ein, schleppt rückwartsgehend das Individuum in die Geschichte hinein, gleichsam auf dem Weg in die vergangene Zukunft. Die neue und die schon gelebte Zeit fallen zusammen. Das Prinzip der Wiederholung, - ein anderes von Benjamin bestandig weiterentwickeltes «Moti v» - halt die Zeitlichkeit besetzt. Der angelus novus bewirkt nicht so sehr eine zyklische Wiederkehr wie eine Rückkehr zu einer neuen und gelebten Zukunft. «Dieser Sturm [des Engels] treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, wahrend der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wachst.»20. Der Schutzengel, der Engel der Geschichte und der Engel der Malerei (Kiefer) erfüUen eine dialektische Mission zwischen einem unbekannten Ursprung und einer Zukunft, die die Rückkehr zu diesem unbekannten Ursprung ist. Die vom apokalyptischen Text versprochene Erlõsung gerat zu einer Kippfigur, einer bewegten Figur, einer des Intervalls, des Übergangs, der Durchreise, ahnenhaft 15 16 17 18 19 20
Celant: Kiefer, (s. Anm. 11), S. 18. Benjamin: Agesilaus Santander, (s. Anm. 5), S. 43. Ebd. Ebd. Scholem: Benjamin, (s. Anm. 1), S. 59. Benjamin, Walter: Zum Begriff der Geschichte, zitiert aaO., S. 64f.
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und utopisch. Wegen des Stunnes , der ihn zurücktreibt, kann der Engel Benjamins die Vergangenheit nicht wieder erreichen; er überf1iegt bei Kiefer die Landschaft der Geschichte, indem er sie auf der Palette prasentiert. Das Bild krümmt sich, zerstõrt sich, ent1eert sich auf sich selbst.
Tragischer Umweg
Wenn wir nun die Beziehungen zwischen apokalyptischen Weissagungen und den zeitgenõssischen Berichten des franzõsischen Romanciers Claude Simon betrachten, so sei es erlaubt, zunachst die Entwicklung der griechischen Tragõdie heranzuziehen. Die Tragõdie sucht die Folgen eines Verhiingnisses unter Menschen zu beobachten und ihre Fluchtbewegungen zu studieren - wie in der von Simon beschriebenen Tuschezeichnung Nicolas Poussins, die «scene d'épouvante [Schreckensszene]» betitelt ist und in der die antik gekleideten Hauptpersonen in alle Richtungen fliehen, überrascht von einem Unglück, das wir nicht kennen 21 . Menschliches Verhalten in Katastrophensituationen zu fassen, das ist das Vorhaben vieler Mythen. Die Apokalypse lasst drohende Engel auftreten, die Sintfluten heraufbeschwõren, Strafen vollstrecken oder die Erlõsung ankündigen. Die Sprache der Tragõdie verleiht dem Schmerz und dem Schicksal Gewalt und Macht, majestatische GrÕsse. Es sind uns tatsachlich antike Dramen überliefert, unveranderbare Quellen und erste Berichte, die an den Greueln des Zweiten Weltkriegs ein nachhallendes Echo finden. Unter anderen ist es Claude Simon, der unaufhõrlich nach den traumatischen Erfahrungen des Krieges fragt. Die Tragõdie wahlt ihre Helden unter gefallenen Gõttern, Kõnigen, Kõniginnen, deren Geschicke mit dem Grab, der Fallgrube, mit Schuld und Verdammung, verknüpft sind. Aller Übertretungen gewahr, des Vatennords, des Inzests, des Gesetzesbruchs, des Brudennords, folgt die Tragõdie den Irrgangen ihrer Helden, übersetzt sie in eine Sprache und Komposition, die sich auf den Mythos rückbezieht. Diese Fonn verbindet die Lebenden mit Vorfahren und fernen Gottheiten. Die Grundfrage der menschlichen Endlichkeit und ihrer Darstellung kehrt in den Âsthetiken immer wieder, seien sie archaisch, antik, mittelalterlich oder modern. Die Tragõdie bringt einen tragischen Chor auf die Bühne, der aus Personen besteht, die die Handlung beobachten und die dem Zuschauer gewissennassen als Spiegel dienen. Zwischen diesem Chor und den Engeln des biblischen Textes bestehen enge Beziehungen. Diese Funktion des Zwischengliedes verschwindet in der Literatur alsbald, aber sie bleibt als Unterstrõmung oder ersteht vielmehr aufs Neue bei einigen zeitgenõssischen Autoren als ein Indiz, als Botschaft einer Stimme, die vom Überleben einer über Generationen 21
Simon, Claude: Histoire, París: Minuit, 1967, S. 209.
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weitergegebenen Erinnerung zeugt. Die Geschicke der Helden sind allen bekannt, sie zeugen von einer gemeinsamen ursprünglichen Erfahrung: Die Tragõdie wertet kollektives Material aus, sie erfindet nichts, sie wiederholt. Sie spie1t die Szenen nach, ordnet sie auf ihre Weise an, sie folgt dem Faden der Handlungen und Reaktionen der Personen nach der Logik des «Wahrscheinlichen oder des Notwendigen»22. Die Tragõdie zeigt imaginierte Handlungen, die einen unvermeidlichen Ablauf darstellen, welcher die Helden zur Katastrophe führt, und hierdurch trachtet sie, dem Zuschauer Preis und Gewicht der menschlichen Existenz bewusst zu machen.
Die Geisteifrauen
Der Chor der Tragõdie, der dem individuellen Schicksal des Helden gegenübersteht, verkõrpert die mittlere, kollektive Wahrheit und reprasentiert die Polis. Er verfolgt die Geschichte, er überlebt das Drama, er spricht das Schlusswort: Der Held stirbt, und der Chor wohnt seinem Tod bei. Die vom Chor verwendete Sprache ist viel komplexer als die der Akteure, sie ist rhythmisch, poetisch. Er setzt sich aus Frauen oder A1ten zusammen und steht somit für jene, die in der Polis keine Entscheidung treffen. Im Stück entscheidet er über nichts, er wohnt bei, er fühlt mit, er ruft die Gõtter und ihr Erbarmen an. Die Funktionen des tragischen Chors lassen sich in den Romanen Claude Simons wiederentdecken, aber in einer ganz eigentümlichen und persõnlichen Form: er verwendet eine Gruppe a1ter Frauen, Freundinnen seiner Grossmutter, schwarze Silhouetten, die mit weissem Puder maskiert sind, beunruhigende matte Gespenster, um einen zweideutigen Text vorzutragen, eine unterschwellige, zweite, gleichwohl im Textverlauf immer gegenwartige Sinnebene. Die gedãmpften Stimmen der weiblichen Geistererscheinungen kehren punktuell und regelmassig wieder, vermischen sich mit der Geschichte und ver1eihen dem Bericht eine tragische Ambiguitat. Familiengeheimnisse verbergend, schleichen Witwen, treue, geisterhafte Überlebende, in den Zimmern des Hauses umher und suchen Orte mit ihrer düsteren Prasenz heim. Der Erzahler von Histoire erinnert sich an lange Nachmittage und Abende, wo die alten Frauen in ihren Salonsesseln eine «tragische» und «erbãrmliche» Versammlung bi1deten. AIs «vage Phantasmen in vager Unglaubwürdigkeit» verhalten sie sich in ihrer Einsamkeit mit einer gewissen Würde, todesnah, geheimnisvoll, wie Fabelwesen, «zwischen Menschlichem, Animalischem und Übernatürlichem». Fett, rund und weich sind sie, voll Trübsal, und sie klagen in wirrem Gemurmel. Sie nahern sich dem Kind, das allein inmitten ihrer Versammlung ist. Verstohlen fragen die Frauen es aus, beobachten und umringen 22
Der Ausdruck stammt von Vemant, Jean-Pierre: Historicité et transhistoricité, in: Mythe et tragédie en Grece ancienne, Bd. 2, Paris: éd. La Découverte, 1986.
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es. Als Zeuginnen, Zuschauerinnen beim Leben Anderer verkõrpern sie das Überleben. Sie reprasentieren die Vergangenheit, die immer gegenwãrtig, immer am Hereinbrechen ist - die unauslõschliche und belastende Erinnerung. Die alten, geschwatzigen, plappernden Schattenwesen kommen von dem Baum, der Akazie, die sich vor dem Fenster des Schriftstellers befindet. Das Rascheln der leichten Blatter, die plõtzliche Bewegung eines Vogels, der Anblick schwarzen Gefieders, ein Eichelhãher oder eine Krãhenart, dies sind die Erscheinungsweisen dieser seltsamen Phantome, deren Stimme aus den entlegensten Finsternissen aufsteigt. Sie beten in eintõnigem J ammer litaneiartig die «langen Reihen der wirklichen oder imaginãren Verhangnisse» her, als monotone Klagen, die glückliche oder unglückliche Ereignisse aufzãhlen, Krankheiten, Missernten, Verlobungen, Reisen, Geburten, Todesfãlle, Fehlheiraten und Zusammenbrüche. Sie erzahlen die Fami1ienchronik, unablassig dieselbe Geschichte, sie spielen sie nach, erfinden sie viel1eicht manchmal, stellen Hypothesen auf, schmücken aus, fügen auf ihre Weise eine Episode hinzu: sie sind Hüterinnen der Erinnerung. Alt wie die Welt und immer neu anhebend weilen sie in dunklen Ecken eines Hauses, dessen Bewohner langst verschwunden sind. Sie zeugen von einer heruntergekommenen, zerbrõckelten, verlassenen Welt.
Palaver
In der byzantinischen und christlichen ikonographischen Tradition werden die Engel oft als Gruppe dargestel1t, die einen Chor um die gõttlichen Figuren der Heiligen Jungfrau oder Christi bildet. Als anonymes Kollektiv mit regenbogenfarbenen Flügeln beobachten die Engel - ebenso wie die tragischen Choreuten - die Handlung; sie singen oder spielen Instrumente. Im 14. Kapitel der Apokalypse umgeben die erlõsten Seelen das Lamm, und die Engel nehmen mit ihrem Gesang an der Szene teil und drücken so ihre Dankbarkeit aus. Wie die tragischen Chõre aussern sie ihre Empfindungen, indem sie auf die dargestellte Handlung hinblicken, und laden die Zuschauer ein, daran teilzunehmen. 23 Die Engel erscheinen als Zeremonienmeister; sie tragen zur Realisierung des gõttlichen Schauspiels bei und dienen so als Mittler zwischen Gott und Menschen. Der tragische Chor verleiht dem Stück Rhythmus, er baut es auf, setzt einen Rahmen - im allgemeinen interveniert er sehr schnell in der ersten oder zweiten Szene und schliesst den Text ab - indem er regelmassig in der dramatischen Handlung wiederkehrt. Sein Stil und seine Interventionen variieren nach Lange, Rhythmus, Intensitat. Die Intentionen wechseln: Fragen, Feststellungen, Ausrufe, Deklamationen, Klagen. 23
Vgl. die Bemerkung von Cothenet, Edouard: Le message de l'Apocalypse, Paris, Mame: Plon, 1995, S. 72
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In Konig Odipus stellen die Choreuten fieberhaft, gewaltsam, an ein dies irae gemahnend, ihre Fragen, um in Erfahrung zu bringen, wer der Mõrder ist, wer verantwortlich ist für das Unheil, das die Polis niederdrückt. Nachdem Odipus seine wahre Identitat entdeckt hat, bedauert der Chor das Los des Helden, er bemitleidet den Menschen, den Spielball der Gõtter, beklagt das menschliche Schicksal, aber ohne Auflehnung, ergeben, die gõttliche Grõsse lobpreisend. 24 Zu wiederholten Malen gestattet er dem Zuschauer, sich im Stück zu situieren, er evoziert die vergangenen Ereignisse; so erinnert er auch in Aischylos' Agamemnon an die Geschehnisse des trojanischen Krieges, den Aufbruch Menelaos' und Agamemnons zur Belagerung der Stadt des Priamos. Von derselben Art sind die Zusammenkünfte der Witwen mit Namen «a1ter Stadte , alter Festungen»25; diese schmuckbehangten, schwarz verschleierten, düsteren Generalinnen, Marquisen, Baronessen brechen in Ausrufe über Ereignisse aus, die der einen oder anderen Familie zugestossen sind. Der Ton der Konversation steigt, erhitzt sich und fãllt dann wieder ab. Sie versammeln sich bei der Grossmutter des Erzahlers in deren grossem Salon, der gewõhnlich verschlossen bleibt, doch nun plõtzlich erleuchtet, aus einem tiefen Schlummer gerissen ist, einer Art Heiligtum, wo die Sessel mit weissen Schonern wie mit feierlichen Leichentüchern bezogen sind. Sie klagen leise, sie sprechen von Feiertagen, Beerdigungen, Krankheiten. Sie bedauern das Schicksal einiger, dann traumen sie vom Glück junger Madchen. Die Unterhaltung geht vom Heiligen zum Harmlosen, vom Geplapper zur Stille, vom Lãrm zu leichtem Gemurmel über. Die Palaver der a1ten Frauen ziehen sich über den Text, tauchen plõtzlich wieder auf, gerade wenn man die schwarzen Si1houetten verschwunden glaubte: sie leben stumm weiter zwischen den Zei1en, immer bereit, den Faden des Diskurses wieder aufzunehmen. Auf der Projektionsflache der Erinnerung des Erzahlers treten die maskierten, gepuderten und geschminkten Gesichter hervor, und er sieht ihre starren Trauerblicke erscheinen. Sie verfolgen ihn, suchen ihn heim. Ihre leisen unaufhõrlichen Klagen erinnern an die monotonen rhythmischen Deklamationen antiker Klageweiber.
Veifluchungen In Kapitel 8 und 9 der Apokalypse stehen die sieben Engel vor Gott und empfangen eine Posaune. Spielen sie darauf, dann treffen auf Erden alsbald Plagen ein: Hagel, Feuer, Erdbeben, Stürme, Seuchen, Finsternis und schliesslich Heuschreckenschwarme. In Kapitel 14 kündigen sie das Jüngste Gericht an und rufen den Fall Babylons aus. Kassandra, die trojanische Prinzessin und Tochter des Pri amos , die
Sophokles: Konig Odipus, (Übers. von Emst Buschor), Stuttgart: Rec1am, 1967, S.56. 25 Simon: Histoire, (s. Anm. 21), S. 380f. 24
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von Apollon, den sie beleidigt hat, verflucht wurde, ist eine Gestalt, die dazu verdammt ist, Weissagungen zu machen, denen niemand Glauben schenkt. In Agamemnon kommt sie, nachdem sie von Agamemnon zur Sklavin und Konkubine gemacht worden war, in Mykene an und erinnert an die brudermorderische Bestimmung der Atridenherrscher, des von den Gottern gehassten Hauses, des Ortes der Enthauptungen. Sie prophezeit die Ermordung Agamemnons durch seine Frau, sie sieht das blutige Becken und verkündet auch das traurige Geheimnis ihres eigenen Endes, die von einer Axt zerspaltene Stirn. Sie weiss aber auch, was nach diesen Morden kommen wird, sie ist der Rache des Orestes gewahr, des Rachersohnes, der dem Blut des Vaters Genugtuung verschafft, indem er das der Mutter vergiesst. Kassandra, Gefangene ihrer grausamen Bestimmung, zum Sehen verdammt, allen Unheils gewahr, heimgesucht von der Vision der Verbrechen, bleibt tragisch ohnmachtig. Als visionare Zeugin tradiert sie eine Rede, die nutzlos ist, da niemand ihr glauben kann - ihre Worte bleiben wie tote Buchstaben. Von Claude Simon wird diese mythische Figur aufgegriffen. Sie ist verkorpert in der Person der Grossmutter, die den Chor der alten Witwen anführt. Die alte, immer schwarz gekleidete Dame tragt am Halssaum ihres Kleides eine ovale Kamee, auf der eine von leichtem fliessendem Gewand umhüllte pompejanische Tanzerin abgebildet ist. Diese Kamee ist ein Familienschmuckstück, das sie von Jugend auf treu wie ein Siegel tragt. Sie bewahrt an ihrem Hals die Familienfarben wie ein fernes Erbe. Es ist weder ein religiOses Schmuckstück, ein Kreuz, noch ein Zeichen aristokratischer Würde, sondern eine «profane [...] Reliquie»26, sie ist antik und schafft einen seltsamen Kontrast zwischen dem dargestellten sujet, einer entblOssten erotischen Tanzerin, und dem Gesicht der bejahrten Frau. Diese befestigt die Brosche immer an einem dunklen Kleid «mit strengem Offizierskragen». Die Witwe bewahrt alle Andenken und Insignien der Familie auf, Geschirr, bestickte Bettwasche, Bücher, Familienportrats und die Marmorbüste ihres Ahnherrn, eines Generals des Kaiserreichs. In ihrer Umgebung halt sie eine verfallene Welt aufrecht, sammelt Spuren vergangener Grosse, hauft Gegenstande an, die Sammlungsstücke irgendeines entfernten Vorfahren gewesen waren. Das weitraumige Stammhaus hat etwas von einem Heiligtum, von düster-pomposem Operndekor. Die Grossmutter in Les Georgiques ist entschlossen, die «Strafe für ein in einer Zeit der Wirren aufgebautes Vermogen» auf sich zu nehmen, und tragt die Bürde von vielen Verstorbenen, Eltern, Brüdern und Schwestern, Ehemann, Kindern, als ob sie den Preis für eine seltsame Verfluchung bezahlte, von der die Familie geschlagen sei, als ob alle von «irgendeiner Rache des Schicksals» getroffen worden waren. Dazu verdammt, unablassig über diese armseligen Schatze zu wachen wie eine Vestalin, welche die Kohlen eines vom 26 Simon, Claude: Georgica, (Übers. von Doris Butz-Striebel und Trésy Lejoly), Reinbek: Rowohlt, 1992, S. 139.
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Erloschen bedrohten Feuers überwacht, beklagt die ernste und einsame Witwe, die mit ihren Vorfahren nur durch irgendeinen «Ernahrungs- und Nabelstrang» verbunden ist, ihr trauriges Dasein als Verwaiste und beweint das finstre Los der Ihren. «Di e ektoplasmatische und welke Kassandra» kennt die Familiengeschichte, ist Zeugin der Schicksalsschlage und Todesfalle, ist sich, wie die trojanische Prinzessin, einer verbrechenbeladenen Vergangenheit bewusst, und ahnt, als einzige Überlebende, ihr eigenes Ende voraus. Wie eine Grabhüterin wandelt die alte Dame in den weiten Gangen umher, offnet Kasten mit ihrem Schlüsselbund, schliesst hinter sich geheime Wandschranke sorgfaltig wieder ab und schützt so ein ratselhaftes Phantom. In der Tat bewahrt sie ein Fami1iengeheimnis, das Vergehen, das von ihrem Ahn, dem General Seiner Majestat begangen wurde, der 1793 für den Tod des Konigs stimmte und so die nachfolgenden Generationen dazu verdammte, die Last dieses Konigsmords zu tragen. Aber die Grossmutter hütet noch eine tiefere und schwerwiegendere Tragodie, die der Familie ein noch entsetzlicheres Stigma anheftet. Derselbe Ahnherr stimmte dafür, jeden Emigrierten, der bewaffnet in Frankreich wieder aufgefunden würde, mit dem Tode zu bestrafen, und verurtei1te durch dies Dekret seinen eigenen Bruder zur Enthauptung. Die Grossmutter bewahrt das offizie11e Dokument in einer unter einem Stapel Unterwasche verborgenen Schmuckschatu11e auf und entzieht so diesen to dbringenden Brief den Blicken. In einem verborgenen Schrank, der hinter der Tapete des Treppenhauses liegt, entdeckt Onkel Charles die Archive des Ahnen sowie auch die Dokumente, die den Tod des Bruders betreffen. Der General des Kaiserreichs, dieser brudermorderische Koloss, herrscht noch immer in dem Heiligtum, das die alte Frau hütet, in Gestalt einer Marmorbüste: von seiner verbrecherische Hohe herab überwacht er a11e seine Nachfahren. Das Haus der Fami1ie wird zum Grab der alten Frau werden, wenn sie unter Prachtblumen ruhend, das Geheimnis mit sich nimmt, dessen Spuren zu vernichten sie nicht den Mut hatte, endlich im Frieden, befreit vom Gewicht einer zu dunklen Vergangenheit und einer Zukunft, die heimgesucht wurde von den unaufhorlich wiederkehrenden Geistern der Opfer des Generals. Die Unheilsvogel
In der Tragodie sind die Mütter die Hüterinnen der Erinnerung. 27 Sie beweinen die toten Kinder, die Kinder, die in den Krieg gezogen sind. Dunkel gekleidet, erscheinen sie in jedem Drama, sie sind die Que11e der Tranen, immer in Trauer, immer treu. Sie irritierenen die politische Macht, die nicht weiss, wie sie ihren Schmerz verwalten sol1, und die ihren Zorn und ihre Ausbrüche fürchtet. Als herzzerreissende Klage begleitet der Schrei der Mutter den Leich27
Vgl. dazu Loraux, Nicole: Les meres en deuil, Paris: Seuil, La Librairie du XXe siêcle, 1990.
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nam des Sohnes. An dem toten Leib wiederholt die Mutter die alten Gesten der Vertrautheit gegenüber dem kleinen Kinde. Ihr kommt eine ursprüngliche Pdisenz zu: Sie hat das Leben gegeben, sie wohnt dem Tod bei und schliesst die Augen dessen, den sie verliert. Der Kummer der Mutter ist schrecklich, stark, archaisch, gewaltsam. Aus dem Schmerz erwachst der Zorn, das Verlangen nach Rache. U nd Klytamnestra, verletzt in ihrer Mutterschaft, totet den Vater, der sein Kind geopfert hat. Das Emblem der Mutter, die ihr totes Kind beweint, ist die Nachtigall. Der Vogel ergiesst seine verzweifelte Klage über den Leichnam des Kindes, das er getOtet hat. 28 So ist die weibliche Trauer immer mit einem Gewissensbiss, mit einem schuldhaften Ursprung verknüpft. Ihre Trauer ist verdachtig, verzehrend, verwüstend. Sie ist für die Manner beunruhigend. Vogelfiguren - die trauernden Frauen. Dieses Bild wird von Claude Simon wieder aufgenommen: In den Zweigen der Akazie - des Stammbaums - halten sich düstere Vogel auf. Eichelhaher, Krahen rufen die alten trauerumflorten Silhouetten der Frauen an, flüstern im Dunkel. Mit schwarzen und leeren Augen, mit ihrem Federbarett, mit ihren scharfen Schnabeln gleichenden Hutnadeln spahen die Frauen gespannt. Worauf warten sie? Der Nachtigall verwandt, die ihr Junges umgebracht hat, schrecklicher noch, werden sie mit den Menschenfleisch fressenden mythischen Vogeln verglichen, die am Ufer des Sees von Stymphalos wohnen. Die Vogelschreie, verwoben mit den Erinnerungen der alten Frauen, mischen sich in die Morgentraume des noch schlafenden Erzahlers, als würde er zerfetzt von den Fangen der Vogel mit den verzweifelten Augen - der V ogel schlimmer Vorzeichen, die umherziehen auf der Suche nach einem Leichnam.
l/. Trümmer
«Und der Engel nahm das Rauch!ass und !üllte es aus dem Feuer des Altars und waif es au! die Erde, und es entstanden Donnerschliige und Stimmen und Blitze und ein Erdbeben.» (Apk 8, 5) «Deshalb werden an einem Tage ihre Plagen kommen, Pest und Trauer und Hunger, und sie wird mit Feuer verbrannt werden; denn stark ist der Herr, Gott, der über sie Gericht gehalten hat.» (Apk 18, 8) «Und sie waifen Staub au! ihre Hiiupter und rie!en weinend und trauernd: Wehe, wehe, du grosse Stadt, in der aus ihrem kostbaren Gut alle sich bereicherten, die ihre Schiffe au! dem Meere hatten, denn in einer Stunde ist sie verwüstet worden.» (Apk 18, 19) 28
AaO., S. 84.
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Wie in der Apokalypse sind die Engel bei Claude Simon und Anselm Kiefer Zuschauer bei SchicksalsschHi.gen: bei Naturkatastrophen, Zusammenbrüchen von Kulturen, Kriegen. Die Destruktion zertrümmert die Architektur, schandet die Erde, beschadigt den Leib. Was bleibt, sind einige Spuren, die die Geschichte überdauern: die Grundmauern von Monumenten, die einstige Bodenbearbeitung, das archaische Schlachtross. Eine Untersuchung der Trümmer wirft erneut die Frage nach der Gegenwart und nach der Konstruktion der Vergangenheit auf. Die Katastrophe fasziniert und ruft verschiedene Haltungen hervor: die der lockeren und zuwei1en ironischen Distanz bei Anne und Patrick Poirier, und die tragische Claude Simons, Anselm Kiefers und Georges Batailles. Die vorherrschende Empfindung angesichts der Überreste ist nicht die Nostalgie eines verlorenen Goldenen Zeitalters, sondern eine Art kritischer Melancholie. Die von Kiefer gemalten Landschaften sind oft in dem Zustand nach einer Feuersbrunst. Die Gleichsetzung, die einem Werk Malen = Verbrennen (1974) als Titel gegeben wurde, stellt das Gemalte als Folge einer Verbrennung dar. Die Landschaften erzahlen vom Durchziehen des Feuers, der Gewitterstürme und Blitze sowie vom Blinken der Waffen, die das Erdreich verwüstet haben. Schwere tiefe Graben durchfurchen eine schwarze, braune, schmutzige Erde, die undurchdringlich und unhei1voll ist wie Asche oder Staub. Wenn andere Farben hereinkommen, so ist es Rot, als blute die Erde. Sehr oft organisieren die Graben die F1uchtlinien der perspektivischen Komposition. Die Perspektivzeichnung ist nicht mehr der leichte Rahmen, der dem vorgestel1ten Raum seine Wahrscheinlichkeit und sein Ideal verleiht. Zentral oder dezentriert vereint der Fluchtpunkt die von Mühe und Arbeit der Vorfahren zeugenden Ackerfurchen. Diese Linien sind nicht so sehr graphisch gezogen, sie sind vielmehr ausgewaschene, ausgehõhlte, ausgezackte, zerspaltene, zerrissene Materie. Die Zerrissenheit ist insbesondere dem Universum Georges Batai11es eigentümlich, weniger thematisch oder ikonographisch denn als Technik oder System oder auch als Prozess des Zerreissens. Ein herzzerreissendes Bi1d. 29 Ebenso ist die Malerei Kiefers das Bild des Verhangnisses, der Gewalt und der Zerreissung als Akt der Trennung, des Zerbrechens, ein Akt von an der Natur durchgeführter Chirurgie. Gemarterte Erde. Das Gemalde ist ein herzzerreissendes Werk, «grausam und schreiend»30. Die Undurchdringlichkeit der Bildmaterie, die sich breitquetscht und zusammenklebt, klumpig wie Erdreich, zah wie ein Echsenpanzer, erzeugt den Anblick von schauderhaft blossliegendem Fleisch, verwesend, geschunden, unformig «informe» , wie Bataille sagen würde. Kiefer zieht das Bi1den hasslicher Formen der Abstraktion der Nicht-
Didi-Huberman, Georges: La ressemblance informe ou le gai savoir visuel selon Georges Bataille, Paris : Macula, 1995, S. 11. 30 AaO., S. 12. 29
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Anselm Kiefer: Engel, 1977
OI, Aeryl, Emulsion und Sehellaek auf Leinwand, 160 x 139 em Sammlung Peter Bonnier, Stockholm © Anselm Kiefer, Barjac
Formen vor. Die Erde Deutschlands ist zerfurcht von Zerrissenheit und vom Unformigen. Geburt und Todeskampf zumal im Übergang. Die Natur ist umgewühlt, Erde zu Erde, zu Boden geworfen. Der Himmel, ins Jenseits der Horizontlinie verwiesen, die in der Komposition sehr weit oben liegt, hebt sich kaum von der irdischen Masse ab. Von dort kein Heil. Das Terrain ist im groben Überblick gesehen, kein Detail, sondern eine gefrassige Form, die imstande ist, den Himmel zu absorbieren, über ihn hinauszureichen. Die Erde ist pathetisch und drohend, disfiguriert, sie verletzt ihre Grenzen, übersteigt sie. Der Himmel lost sich auf über der erhohten Erde. Kiefer provoziert die Rache der Materie: er deklassiert sie, indem er sie hasslich macht, und er überhoht sie, indem er sie als unabhangig von Form, oder auch als über das zu beackernde Feld Hinausreichendes zeigt. Die «schmutzige Bildmaterie» gera.t zum Versprechen einer fruchtbaren, durch die Furche erneuerten Erde. Aber bei Kiefer wachst das Korn nicht, denn Schnee, Eis oder Schlamm bedecken die FHichen, die Nacht scheint unendlich, der Winter ewig. Selten ist Natur dem Garten Eden so fern gewesen. Im zweiten Heft der von Georges Bataille herausgegebenen Zeitschrift Documents steht ein Text, dem Illustrationen beigefügt sind, die aus dem berühmten mittelalterlichen Manuskript Die Apokalypse des Heiligen Severin entnommen sind. Georges Didi-Huebermann bestimmt Batailles Interesse an der Apokalypse unter dem Gesichtspunkt der Schaffung einer «Heuristik des Verhangnisses»31, indem er die «Grosse» durch «grobe und direkte V orgehensweisen»32 und ei ne «provozierende Unbedarftheit» sichtbar macht. Bataille erhoht den paradoxen Reiz dieser Bilder, indem er eine «nahezu verblOdete Ruhe» feststellt, wo «absurde Gestalten mit seniler Albernheit vor sich hin blicken». Indem er sie nebeneinanderstellt, beschwort er die Koinzidenz der «Kinderei, absurd und charmant» und «der dunklen Grausamkeit der Erwachsenen, [... ] das Entsetzen, - das heisst das Blut, der abgeschlagene Kopf, der gewaltsame Tod und aU die Abscheu erregenden Spiele lebend herausgeschnittener Gebãrmütter». Das Verhangnis ist sublim, wenn es per Umkehrung fortschreitet, wenn es durch Inversion eine «endgültige Empfindung des Entsetzens» hervorruft. Wahrend das apokalyptische Verhangnis vom Gottlichen herbeigeführt und orchestriert wird, geht das Verhangnis in Kiefers Gemalden aus der Rache der N atur und zugleich aus den kriegerischen Handlungen von Menschen hervor. Die Landschaft ist verwüstet, die Natur verstümmelt. Das Gemalde selbst muss brennen, sich verzehren, muss Asche oder Blei oder Staub werden. Wo er manchmal Photographien benutzt, vor allem in den Werken in Heftform, verbrennt Kiefer gewisse Teile der Bilder. Zur ersten, schon zitierten Gleichsetzung Malen = Verbrennen geseUt sich nach Massimo 31 AaO., S. 149. 32 Bataille, Georges: Documents 2 (Mai 1929). 81
Cacciari eine zweite: «Darstellen =Transfonnieren, Auflosen»33. Der bildnerische Akt ist zu begreifen als Destruktion, als «Einbildungskraft»34.
Die Katastrophe Allgemeiner betrachtet, nimmt diese Destruktion in der zeitgenossischen Kunst verschiedene Formen an. Neben den Fonnen des «Verhãngnisses» finden sich Fonnen der «Katastrophe». Das griechische Verb katastrephein bedeutet umstürzen, beenden, zerstoren, vernichten, sterben. In der antiken Tragodie tritt die Katastrophe am Ende des Stückes ein, sie lãsst die Wahrheit zutage treten und lost das Rãtsel. Schrecklich und befreiend zugleich, führt die Katastrophe beim Zuschauer die Katharsis herbei, er kann jetzt die Identifikation mit den Helden ablegen. Die Bedeutung der Vorsilbe kata ist hier «bis zu Ende». Unter anderen Bedingungen kann dieser Wortstamm «nach unten, zur Erde» heissen. Es handelt sich um eine Bewegung der Destruktion, des Todes, der Vernichtung, des Sturzes. Von Katastrophen, seien sie natürlich oder menschlich, bleiben Spuren in Gestalt der Überreste. N ach der seit dem Ende des 15. J ahrhunderts gelãufigen Definition ist «vestige» jener Rest eines Denkmals, «der von einer zerstõrten Sache übrigbleibt, Trümmer»35. Dies «fast Nichts»36 verfolgt (vestigium kommt von vestigare, einer Spur folgen) und verlãngert die verschwundene Prãsenz. Der Überrest verharrt in Oszillation zwischen Zerstõrung und Dauer, zwischen dem In-alle-Winde-Zerstreutwerden und dem Überbleibsel. Er bestãtigt den Verlust und erlaubt doch, die Totalitãt zu rekonstruieren. Er ist ein Trümmerstück, das nach dem Ganzsein verlangt. Der Überrest partizipiert an einer «Âsthetik des zukünftigen Bildes»37, d.h., er stiftet dazu an, das Bild der Vergangenheit nãherungsweise in einer zukünftigen, zu komponierenden, zu schaffenden Form wiederzufinden. Er gehort dem Hier und Jetzt an und steht doch, gãnzlich der Vergangenheit und der Zukunft zugewandt, in retroprojektiver Virtualitãt. Der Überrest gehort dem Werk an, einem Werk in progress, wie die zeitgenossische Fonnellautet.
33 Cacciari, Massimo: Omaggio ad Anselm Kiefer. in: Anselm Kiefer, (s. Anm. 11), S. 11.
34 Dt. im Originaltext. AaO., S. 12. 35 Rey, Alain (Hg.): Dictionnaire historique de la langue française, Bd. 2, Paris: Le Robert, 1992, S. 2243.
36 Nancy, Jean-Luc: Les Muses, Paris: Galilée, 1994. 37
Didi-Huberman, Georges: Fra Angelico. Dissemblance et Figuration (1990), Paris: Flammarion, 1995, S. 81.
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Ostia antica, eines der ersten emblematischen Werke aus dem Schaffen von Anne und Patrick Poirier38 , vollendet 1971-1972 wahrend eines Aufenthalts in der Villa Medici in Rom, stellt sich als ein riesiges Viereck dar, das aus schachbrettartig aneinandergelegten Terrakottaplatten besteht. Es handelt sich um ein schematisches Modell des alten romischen Hafens, das man wie ein Trümmergelande wahrnimmt, wo Fahrwege, Grundmauern von Wohnhausern und Monumenten, Bruchstücke von Saulen fortbestehen, ein Raster einer Stadt. Die Künstler verbringen mehrere Monate am Ort, untersuchen Grabungsstatten und Trümmer, photographieren, sammeln Scherben, Steine und Pflanzen, machen Skizzen. Dann kehren sie ins Atelier zurück und erfinden das Gelande aufs Neue. Es handelt sich dabei um einen Umweg, der sehr viel mit Archaologie zu tun hat: durch Interpretation der Trümmer die Vergangenheit studieren und eine Welt rekonstruieren. Gibt sich das Werk auch wie ein Modell der Statte Ostia, so weiss man doch, dass es sich um eine Phantasie-Rekonstruktion handelt. Die Arbeit der Poiriers, verankert in Archaologie und Rekonstruktion, spielt mit der Ambiguitat des Wahren und Falschen. Dies Werk lasst sich durch die Dialektik des Überrestes verstehen. Es schreibt sich der Vergangenheit ein, indem es eine Abwesenheit, eine Zerstõrung im Lauf der Zeiten und der Ereignisse bezeugt. Aber Ostia antica, der Titel verrat diese Zugehorigkeit zu einer versunkenen Epoche, gehort in projektiver Weise einer anderen Zeit als der Vergangenheit an. Es lasst sich nicht mit den wirklichen Trümmern verwechseln, da es aus einer Konstruktion, einer Erfindung hervorgeht. Aussehend wie etwas Zerfallenes, ist es doch, und paradoxerweise, ein selbstandiges ganzes Monument. Der Überrest ist gleichsam die «ruinierte» Erscheinung einer vollstandigen, ganzen, in der Gegenwart geschaffenen Gestalt. Ostia antica schiebt die Zeiten übereinander, schichtet eine Epoche auf die andere, verweist in die Vergangenheit und gehort doch der Gegenwart an. Die Archaologie zeigt sich bei den Poiriers nicht nur in Modellen und Konstruktionen, sondern auch in Werken des Typs von !sola sacra (1973) oder von Memoria mundi (1989). In ersterem, das man als Vorform von Memoria mundi sehen konnte, sind an einer Halterung, einer Art von Mauer, Fragmente von Papiergussformen von Statuen und Reliefs befestigt. Memoria mundi ahmt die Inszenierung von Fundstückmaterialien in einer Museumsprasentation nach. Diese Installation, die 1989 in der St. Irenauskirche in Istambul realisiert wurde, besteht aus einer Montage von Papierhohlformen archaologischer Fragmente,
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Anne und Patrick Poirier sind ein franzosisches Künstlerpaar, geboren 1942. Ihr Aufenthalt in Rom 1967 bis 1971 wurde zur Epoche ihrer Inspiration und der Grundlegung ihres Werkes, das sich zwischen wissenschaftlicher Forschung und Erfindung bewegt, zwischen RealiUit und Fiktion. Die historische und archaologische Dimension ihrer Arbeiten hat Beziehung zu Mythos und Legende. Ihre Werke prasentieren sich, in theatralischem Modus, als monumentale Konstruktionen von Stadten, Palasten, Gelanden.
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die in Drahtgitterregalen gesamme1t sind und mit Baustellenseheinwerfern beleuehtet werden. Der Ausstellungsort, zufallig ei ne Kirehe, verwandelt si eh in ein Lager, in dem Fundstüeke von Grabungen sortiert werden. In beiden Werken erinnert diese Collage versehiedenartiger Trümmerbroeken, die eine Art von Relief bildet, an ein sehr verbreitetes rõmisehes Vorgehen: in einer Wand des Hauses arehaologisehe Überreste einzumauern, die sich im Boden befanden und wahrend der Grabungen für den Hausbau oder im Zuge von Strassenbauarbeiten gefunden wurden. In Rom ist bis in unsere Tage vieles erhalten, was diesem se1tsamen Typ von Ikonostase entsprieht, die eine dekorative Funktion hat, aber an Bestattungspraktiken erinnert. Die Poiriersehe Art von Stele ist eine Neuanordnung von Kopfmasken, Saulenfragmenten, Büsten, B as-Reliefs , Girlanden, Gesimsen Kranzleisten, usw., alles Material, das unmittelbar seine Uneehtheit bezeugt, da es sieh dabei um Gussformen handelt. Die Künstler sehaffen ein Werk, das von einer Teehnik inspiriert ist und erzeugen die Vorstellung von Imitation und Illusion. Falsehe Arehive, falsehe Lager, falsehe Trümmer. Die Poiriers tun so «als ob», sie erinnern sieh seheinbar, sie ahmen wiedererkennbare Praktiken naeh, maehen das «Naehaffen» zur Methode. Bei diesem umwegigen Verfahren modifiziert sich unsere Beziehung zur Vergangenheit, sie vermiseht sieh mit Imaginarem, existiert nieht an sich, nieht in einer undurehlassigen, sehützenden zeitliehen Aureole. Sie wird im Gegenteil einer intensiven Phantasietatigkeit unterzogen. Die Poiriers inszenieren den Konflikt des Gegenwartskünstlers, der aufgefordert ist, sein Werk in der Gesehiehte zu situieren, und gezwungen, neue Formen zu erfinden. Diese Werke bemaehtigen sieh eines historisehen und künstlerisehen Erbes, um es der Imagination zu unterwerfen. Es geht darum, Fragmente, Spuren, Überbleibsel der Vergangenheit zu ersehaffen. Die Trümmer der Poiriers betonen die Katastrophe. Sie belegen die Sympathie unserer Epoehe für das Überbleibsel, das Unfertige, kurz, für eine Âsthetik der Trümmer. Johann 1. Winekelmann 39 , der aus dem 18. Jahrhundert stammende Historiker der antiken Kunst, hatte begriffen, dass die grieehisehe Vergangenheit nieht mehr in sehõner Totalitat wiedererstehen würde, dass sie sieh vielmehr in Trümmern vorfande. Für ihn lag das Wiedererstehen der Antike in der Praxis der Historie und mithin in der Arehaologie. Der Erkenntnis, die Reehensehaft gibt vom «Vergehen der Zeit, von dem Untersehied der Epoehen, kõnnte es gelingen, ihr erneut Leben zu verleihen»40. Heute führt die Kunst der Bekanntermassen schrieb er «Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst» (1755) und «Geschichte der Kunst des Alterturns» (1764). 40 Pommier, Edouard: Winckelrnann. L' Antiquité entre l'imitation et l'histoire, in: Hoffmann, Philippe und Rinuy, Paul-Louis (Hg.): Antiquités imaginaires. La référence antique dans l'art moderne de la renaissance à nos jours, Paris: Presses de l'Ecole normale supérieure, 1996, S. 76. 39
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Anne und Patrick Poirier: Domus aurea. Der Brand der grossen Bibliothek, 1976. Staatliche Museen zu Berlin - Preussischer Kulturbesitz, Nationalgalerie © VG Bild-Kunst, Bonn 1998
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Poiriers dieses Erforschen der Überreste fort, das von dem deutschen Kunsthistoriker eingeleitet worden war, freilich nicht im nostalgischen Modus der Klage, sondern indem sie die Unmoglichkeit betonen, das Vergangene je zu erreichen, und indem sie vorschlagen, die Ruine jenseits von Geschichte und Archaologie zu eifinden. Das gegenwartige Zeitalter erlebt das effektive Verschwinden der Antike. Man restauriert die Ruinen, man versucht das Wenige, was bleibt, zu sichern. U nsere Epoche wird sich des unwiederbringlichen Verlustes der Antike bewusst. Sogar die Spuren verwischen sich, verschwinden nach und nach. Durch die Künstler wieder reinvestiert, wird die Antike eine scheinbar ertragreiche Epoche, die sogar zu einer erdachten und irrationalen aussergewohnlichen Investition anreizt. Die Utopie liegt nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit, die zu erfinden sich empfiehlt auf der Grundlage von Indizien, die man herstellt, von Ruinen, auf die sich ein Blick richtet, der nach rückwarts projiziert wird. «Es ist notig, weiter blind voranzuschreiten und aus einer verschütteten Erinnerung, deren Schichten durcheinandergebracht, in anarchische Falten geworfen sind, verflüchtigte Bilder auszugraben, die in den aufeinanderfolgenden Raumen des zerfallenen düsteren Unterirdischen Palastes, DOMUS AUREA, wirksam sind, wo sich weder eine Spur der alten, langsam abgeblatterten Goldfresken noch der von Marmorstatuen bevOlkerten Garten erhalten hat»41. Domus aurea, eine Installation der Poiriers von 1976-1977, bezieht sich auf das Goldene Haus Neros in Rom, dessen wenige heute noch erhaltene Überreste so schwer zu verstehen sind, dass sich a1sbald die Phantasie ihrer bemachtigt, um eine Rekonstruktion vorzuschlagen, die Geschichte, Ethnographie, Erzahlung und Archaologie mischt. Das herausragende Thema, das von den Künstlern auch in der Schrift entwickelt wurde, die die Installation begleitet, ist das der Feuersbrunst, der Zerstürung des Palastes. «[ ... ] aus einem unerklart gebliebenen Grund [... ] kündigte sich der Brand an. Das Feuer verbreitete sich schnell über die mit kostbaren Büchern und Kunstwerken gefüllten Sale, und alle Anstrengungen, es einzudammen, waren vergebens»42. Der Text der Poiriers über die Feuersbrunst nimmt den Bericht des Plinius, der die ZerstOrung Pompejis beschreibt, zum Vorbild. Es ist die Rede von einer Flu~ht in Booten, von einem Staub- und Ascheregen, vom Begrabenwerden der Stadt und ihrer Bewohner. Das Feuer entzündet die Gebaude, der Rauch erstickt die Menschen. Zur Naturkatastrophe tritt ein Krieg hinzu, eine Zerstürung von Menschen durch Menschen. Von der Antike gleitet man in unsere Zeit mit ihrer Assoziation der Atombombe. Die Zeiten des Unheils schieben sich übereinander und bilden eine Kette; eine Katastrophe lasst eine andere auftauchen. Die Stadt ist
41 Poirier, Anne und Patrick: Domus aurea, Paris: Les presses de la connaissance, 1977, S. 19.
42 AaO., S. 33.
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zertrümmert und ausgeglüht, «alles ist zerborsten und birst noch weiter»43. Die Kulturen sind alle zerbrechlich, auch die machtigsten, eine nach der anderen. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich der Sinn für diese Zerbrech1ichkeit noch vertieft. Freud hatte 1930 diese Empfindung in Das Unbehagen in der Kultur antizipiert. Dieses pessimistische Buch erlautert den Antagonismus des Lebens- und des Todestriebes. Freud betrachtet nicht nur das Individuum, er dehnt seine Theorie auf Gesellschaft und Kultur aus. Nachdem Freud festgestellt hat, dass die Manifestationen des Eros «auffallig und gerauschvoll genug» sind, entwickelt er die Idee, dass sich «ein Anteil des [Todes-]Triebes gegen die Aussenwelt wende und dann als Trieb zur Aggression und Destruktion zum Vorschein komme.»44 Domus aurea der Poiriers beschwort die Katastrophe und die Konstruktion. Dies Werk inszeniert fürchterliche Zerstõrungen, vergangene und gegenwartige, historische, imaginare oder mythische. Es führt schreckliche Naturkatastrophen, ungeheuerliche Handlungen vor. Die verglühten kohlschwarzen Ruinen gleichen lacherlichen Monumenten unserer Schuld. Die Reue ist da, überliefert von Generation zu Generation, immer vergangen, durch den Todestrieb aber immer wieder aktualisiert, denn der Todestrieb wirkt wie ein stets wiederkehrendes Gespenst. Domus aurea und Ostia antica sprechen nicht so sehr von einer romantischen Faszination für Ruinen, sondern vielmehr von der Heftigkeit der Zerstõrungen, seien sie von Menschen verursacht oder naturbedingt. Mogen diese Werke auch die Katastrophe asthetisieren, so führen sie immerhin das Bedrohliche an ihr in unsere Welt wieder ein. Die antiken Trümmer sin d für die Poiriers auch die Trümmer unserer Kultur. Wie Freud gezeigt hat, stellt die Katastrophe ein wiederkehrendes Element der menschlichen Geschichte dar. Indem sie Vergangenheit in Gegenwart und Zukunft umschlagen lassen, zeigen die Poiriers ein Trümmertheater, eine Metapher der Zerstõrung, die dem menschlichen Wesen tief und unauslOschlich eingepragt ist.
«Das akademische Pferd» Eine Gestalt, ein Motiv ist es, das einen Durchgang durch die Trümmer im Werk Claude Simons gestattet: das Pferd. Dies Tier tragt seinen Reiter durch die Zeiten, ausgehend von Virgils Texten, von den entschlüsselten und übersetzten Schlachten der lateinischen Texte - fernen Kindheitserinnerungen des Erzahlers - über mittelalterliche Bilder, Familiengeschichten, - der Vorfahre, der Vater sind Reiter und Krieger gewesen - bis zu dem Pferd, das den Erzahler-Soldaten auf den Seiten von La Route des Flandres, von Les Georgiques, 43 AaO., S. 72. 44 Freud, Sigmund : Das Unbehagen in der Kultur, in: Gesammelte Werke, (Hg. von Anna Freud), London: Imago, Bd. 14,1948, S. 419 -506, S. 478.
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von L'Acacia tragt. Das Pferd führt den Reiter auf die Schlachtfelder, geht wie ein Blinder auf das Unheil zu, durcheilt eine zerstõrte Landschaft. Und vor allem gestattet es das Pferd, den Text zu durchlaufen - als Analogie der Schrift und der Sprache selbst - als komplexes Wesen in vielerlei Gestalt, leichtes und flüchtiges Rennpferd oder mythisches Tier, Zentaur, oder auch verwundet, im Todeskampf, furchteinflõssend. Zu allen Zeiten steht das Pferd für akademische Vollkommenheit, für Ausgewogenheit der Formen, Harmonie der Rundungen, Kraft, Eleganz. Im Pantheon der tiergestaltigen Gottheiten, an oberster Stelle eines jeglichen Bestiariums, wird das Pferd bewundert, geachtet. Man begegnet ihm in den grossen Szenen der Ilias und der Odyssee als Gefahrten der Krieger: Es inspiriert Odysseus zur Einnahme Trojas, als er die List mit dem Holzpferd ersinnt. In der Ilias beweinen die Pferde Patroklos, ihren von Hektor getõteten Herrn, und verweigern Automadon den Gehorsam. Sie wollen nicht mehr kampfen, sie bleiben bewegungslos, gesenkten Kopfes, an ihren Wagen angeschirrt45: Es bedarf eines gõttlichen Eingreifens, um den Trabern Entschlossenheit zu verleihen, ihnen Feuer und Mut einzuhauchen, danach springen sie erneut in den Kampf. Als Achilles Automadons Wagen besteigt, der von zwei schõnen Pferden gezogen wird, erfahrt er von deren einem, Xanthos, das durch Hera inspiriert ist, die ihm ihre Stimme leiht, dass ein Gott ihm das Leben nehmen wird. 46 Die Pferde teilen das Geschick der Menschen, begleiten sie, schützen sie, nehmen teil an den hohen Handlungen der antiken Helden. Im ersten Heft der Zeitschrift Documents, in einem Text mit dem Titel «Das akademische Pferd», der dem Kommentar der Apokalypse des Heiligen Severus vorangeht, untersucht Georges Bataille den Kontrast zwischen dem hellenischen und dem gal1ischen Pferd. Der Ursprung des «akademischen Pferdes» weist nach Athen, und seine Vollkommenheit rückt es in die Nahe des Begriffs der platonischen Idee. Das Tier ist durch tiefreichende Bande der Verwandtschaft mit dem hellenischen Geist verknüpft, es teilt mit dem griechischen Bürger dieselbe Arroganz, dieselbe Harmonie. Das gallische Pferd hingegen ist barbarisch, steht prahistorischen Pferden, schweren Dickhautern naher. Wird das griechische Streitross in reinen, ausgewogenen Formen, in Mustern an Vollkommenheit dargestellt, so erscheint das ga1lische in dunklem Getümmel, barock und ungelenk. So kann das Pferd bald das eine, bald das andere sein, kann entweder seinen barbarischen und archaischen Ursprüngen nahe sein oder von Menschen domestiziert und zivi1isiert, als Vorbild verehrt. Das Album d/un amateur, ein von Simon 1988 geschaffenes Werk, in dem Photographien und Texte kombiniert sind, beginnt mit einem Bild, das der Autor in Indien aufgenommen hat: die Statue eines mongolischen Pferdes vor
45 Homer: Ilias, XVII. Gesang. 46 AaO., XIX. Gesang. 88
einem Tempel. AIs hybride Gottheit, als Tier ohne Ohren, ohne Reiter, mit glattgelegter Mahne, beherrscht es eine verwüstete Welt, ei nen zu Ruinen zerfallenen Tempel, eine verdorrende Landschaft, über die Aasvogel fliegen. Allein inmitten der Katastrophe scheint das seltsame Pferd mit dem «schwanengleichen Bug», einem Meeresgeschopf ahnlich, auf der Oberflache der Zeit zu wogen. Dieses Pferd ist ein Überlebender, Zeuge einer vergessenen Welt, verlassen auf einer verwüsteten Erde. Seine Prasenz auf der ersten Seite verleiht dem Text und den Bildern, die dann folgen, eine Zweideutigkeit zwischen Hei1igem und Trümmerfeld - in ungewissem Abstand, changierend. Die einzigartige, seltsame und ferne Gottheit des Pferdes gewinnt im Werk Simons vielgestaltige Erscheinungen und zeigt sich in verschiedensten und gegensatzlichen Formen: vom feurigen, schnellen, gepflegten Rennpferd, wie den jungen Stutfohlen, die in Erwartung des Beginns eines Rennens ihre zierlichen Hufe setzen, tanzelnd, fast nicht den Boden berührend, ungeduldig - bis hin zu den Pferden, die auf den Schlachtfeldern in Todesqualen liegen.
Pferdestatuen Der berühmte Heldentod des Colonel de Reixach, der 1940 in einem Hinterhalt gefallen war, kehrt in den Texten Claude Simons an mehreren Stellen wieder. Als stehendes Bild bietet die Szene der Explosion ein schreckenerregendes Schauspiel, wo das Entsetzen, das Verachtliche und das Lacher1iche durcheinandergehen. Der Oberst auf seinem Pferd, ein Bild wie die Statue des Komturs in Don luan, erscheint als makabres unwirk1iches Klischee: Mit erhobenem Arm, der ein Schwert schwingt, zeichnet sich die Silhouette im Gegen1icht ab, die Sonne glanzt auf der Klinge, und das Ganze stürzt mit einem Schlag zusammen wie eine bleierne Statue, die von einem Orkan umgestürzt oder von einem Brand erfasst wird. 47 In L 'Acacia nimmt man wie in einem Filmdokument vom Anfang des Jahrhunderts an einer miliHirischen Zeremonie in einer franzosischen Kleinstadt im Jahr 1914 teil: Die Manner in ihren tadellosen und glanzenden Uniformen prasentieren ihre Gewehre. Die sich aufbaumenden prachtigen Pferde kontrastieren mit den dichtgedrangten Korps der einfachen Soldaten, die in ihren Kostümen ertrinken. Hinter ihnen erhebt sich ein Friedhofsdenkmal, Zeugnis eines anderen Krieges: Ein Soldat aus Bronze erhebt sein Schwert zum HimmeI, verharrt unbeeindruckt im Regen, mit offenem Mund, begeistert und erstarrt48 , gleichsam ein düsterer Seher, der den Untergang der Menschen zu 47
Simon, Claude: Die Strasse in Flandern, (Übers. von Elmar Tophoven), München: Piper, 1961, S. 10.
48
Simon, Claude: Die Akazie, (Übers. von Eva Moldenhauer), 2. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991. S. 54.
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seinen Füssen voraussagt und eine immer wiederkehrende Geschichte weissagt. Dieses dem Heldentum errichtete patriotische Denkmal ist ganzlich gekünstelt und scheinhaft - eine lacher1iche Parade. Die Stabsoffiziere, sauberlich, stets gepflegt, auf ihren «kupferroten» Reittieren, «blank», «gUi.nzend», mit ihrer «b1inkenden» Kopfbedeckung, ihren frisch gebügelten ManteIn, den weithin sichtbaren Goldtressen, halten sich in einiger Entfernung. Wie festgeschweisst in ihren Satteln, tragen sie eine ruhige Selbstsicherheit zur Schau, wobei ihre Silhouette wie in Metall gegossen wirkt, die Knie fest; sie erheben sich kaum aus ihren Satteln und bilden einen einzigen Korper, eine unzertrenn1iche Einheit mit ihrem Tier. 49 Als platte Monstrositat ohne Relief sich abzeichnend, schrecklich gewohn1ich, verkorpern die Offiziere eine Art von Zwitterwesen, einen zivilisierten Zentaur. In La Bataille de Pharsale untersucht Simon mehrere Schlachtendarstellungen, die Reiter schildern, und darunter Die Schlacht von San Romano von Paolo Uccello und jene von Piero del1a Francesca Die Niederlage von Chosroes, die zum Freskenzyklus Die Legende des wahren Kreuzes in Arezzo gehort. AIs Gegenstück zum Fresko mit dem Sieg Konstantins, wo die Konstantinschen Heere Maxentius einschüchtern und in die Flucht schlagen, zeigt Die Niederlage von Chosroes eine viel gewalttatigere und furchteinflossendere Szene. Die Leichen von Mannern und Pferden vermischen sich in einem Gewimmel, einem Wirrwarr, wo Verwundete, Tote, Fusssoldaten und Reiter zusammengeworfen sind, indes die Embleme der Standarten sich wie ungeheure mythologische Figuren zum Himmel erheben - der Lowe, der Adler, das Kreuz, der Maure, die Gans. Man erb1ickt blosse Kopfe, bedeckte Kopfe, den seltsamen weissen Haarschopf des Trompeters, und überall Lanzen, erhobene Schwerter. Ein Pferd schlagt aus, ein anderes baumt sich auf, und die vier Pferde, die in der Mitte der Komposition dargestel1t sind, stehen einander bosartig, erschreckt gegenüber. Beine von Menschen und Pferden wiIilmeln durcheinander; das Blut fliesst über den Nacken eines hingekauerten Menschen, ein Schwert durchbohrt die Halsschlagader eines Soldaten; ein blutiger Sabel, ein Knüppel, eine Axt, Hel1ebarden erheben sich, senken sich, durchbohren, zerspa1ten Kopfe, streifen Wangen, bedrohen Korper. Ein Bild des Chaos, des Entsetzens. In der 1inken Ecke, ein toter junger Mann mit offenen Augen. Aber die ganze Szene behalt einen Eindruck der Unbeweg1ichkeit, des Statischen. Das Werk vermittelt einen seltsamen Eindruck unaufgelOster Spannung. Die Schlacht von San Romano, (1456-1460) von Paolo Uccel10 setzt sich aus drei Bildtafeln zusammen, die sich im Louvre, in der Uffizien und in der National Gal1ery London befinden. Das Gemalde, welches Claude Simon in La Bataille de Pharsale beschreibt, ist dasjenige aus Florenz. Die Pferde nehmen eine zentrale Stellung ein. Zwei Gruppen, die sich gegenüberstehen, baumen sich gegeneinander auf, am Boden ist ein Pferd umgestürzt, wo es alsba1d von 49
AaO., S. 31.
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den Hufen der anderen Schlachtrosse zertreten wird. Eine lange Lanze Ui.uft quer über das Bild und durchbohrt den Menschen, der rechts auf dem weissen Pferd sitzt und eine seltsame metallische Rüstung tragt, wie eine Art Insekt, unheimlich. Die zum Himmel gerichteten Armbrüste werden von einem weisslichen Licht erhellt, und die Lanzen, die Waffen, die Schwerter zerteilen den Raum gitterartig, zeichnen Strahlenbündel in alle Richtungen. Zerrissener Raum, von Waffen durchkreuzt. Auf dem Boden zerbrochene Lanzen, ein verlorener Schild, ei ne Lanze in dem gestürzten Reiter steckend, dessen eingesunkenen Kõrper auf dem Pferd man kaum unterscheiden kann. Vielleicht «sind Armbrustschützen, Fusssoldaten, Reiter, erdrückt von dem dunklen Himmel dort in Vergessenheit geraten, dazu verurteilt, einander bis zum letzten zu tõten, ohne Hoffnung auf ein Ende, auf eine Morgendammerung, auf ein Morgen, .,. die Dinge, die Formen mit einer Art Phosphoreszenz versehen zu sein scheinen, als ob das Licht gewissermassen aus ihnen selbst hervorginge, als ob, da seine Quelle verstopft ist, das Licht, das sich wahrend des Tages in ihnen angesammelt hat, jetzt aus ihnen hervordrange, vielleicht nur einen Augenblick lang, wahrenddessen sich in der dunkelbraunen Dammerung die Felle der Pferde (elfenbein, isabelle, ziegelrot, weiss, grau), die Gesichter, die in den Furchen entfliehenden Hasen, das Holz der Armbrüste und Hellebarden in hellen Flecken abheben wie Pergamentlaternen, auf dem Boden [... ] Stücke zerbrochener Lanzen [... ]»50. Auch auf diesem Bild, wie beim Fresco Piero della Francescas, die angehaltene Zeit, die stillgestellten Bewegungen. Erst Leonardo da Vinci gelingt der Ausdruck des Tumultes und der kriegerischen Bewegung mit Die Schlacht von Anghiari (1503-1506), einer Arbeit zur Ausschmückung des Saals des grossen Rates der Republik Florenz, dessen Wand eine Lange von siebzehn Metern und eine Hõhe von über sieben Metern erreicht. Der Kampf um die Standarte sollte die zentrale Partie ausmachen, und er ist auch das Einzige, was fertiggestellt wurde. Von den übrigen Teilen der Komposition sind nur vorbereitende Skizzen erhalten. In seinem Werk über Leonardo da Vinci 51 stellt Daniel Arasse dar, was bei dieser Schlacht zum Einsatz kam. Leonardo sucht in einem artikulierten Bildfeld die Konfusion und Ungewissheit spürbar zu machen, die mit allen militarischen Konfrontationen verbunden ist. Er dramatisiert die Darstellung des Kampfes, indem er ein wütendes Durcheinander von Reitern und Pferden prasentiert. Er setzt die historische Nachvollziehbarkeit der Szene hintan, man weiss nicht mehr, wer Milanese und wer Florentiner ist. Obwohl die Gesamtszene aus drei Teilen zusammengesetzt werden sollte - der Appell der florentinischen Verstarkungstruppen rechts, der Kampf um die Standarte im Zentrum und die Auffangstellung für die milanesischen Verwundeten links - , bleibt die Entschlüsselung 50 Simon, Claude: Die Schlacht bei Pharsalos. Roman, (Übers. von Helmut Scheffel), 51
Darmstadt, Neuwied: Luchterhand, 1972, S. 101. Arasse, Daniel: Leónard de Vinci, París: Hazan, 1997, S. 428-444.
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der historia zweideutig und unentschieden. In dieser Weise losgelõst von jeglichem historischen Bezug, bildet die Zentralgruppe der Schlacht von Anghiari ein Symbol des Kampfes. 52 Leonardo da Vinci staffiert seine Personen mit unrealistischer, an Theaterkostüme gemahnender Kleidung aus: Gewander mit den Farben der beiden italienischen Anneen sind nicht zu erkennen, und die Gesichter der Menschen sind keine Portrats - Identifikation mit historischen Personen ist nicht mõglich. Diese Ablehnung der Lokalisierung und der Einmaligkeit des Ereignisses verleiht dem Werk eine universelle Reichweite. Der Maler venneidet die traditionelle Kampfesbegegnung, wie sie der Reiterschlacht eigen ist, er stellt vielmehr ein Gewühl dar, ein wahrhaftes Bild der Raserei. Menschen und Pferde durcheilen den Raum wie ein Taifun, wie ein Wirbelstunn, inmitten von Staub, von Gewitter, die Lanzen wie Blitze erhoben, die Pferde sich baumend, die Menschen zur Erde geworfen, die Pferde umgestürzt: alles ist nur Bewegung, Wirbel, Sturz, lannende Schar, Flucht. Leonardo da Vinci gelingt eine monumentale Darstellung der Katastrophe. Von dieser Realisation des Chaos, dieser apokalyptischen Darstellung des Kampfes ist es nicht weit zu der Beschreibung eines Frieses mit galoppierenden Reitern, das wahrscheinlich als Rundrelief auf einem antiken Sarkophag ausgehauen ist, welches Claude Simon in La Bataille de Pharsale 53 schildert. Es ist eine wahrhafte Kavalkade, eine Verfolgungsjagd; Manner in kurzer Tunika klammern sich an ihre Pferde mit flatternder Mahne, mit geblahter Brust, gestreckten Laufen, blutunterlaufenen Nüstern. Den Nacken gerundet oder aufgerichtet, überholen die Tiere einander, ein Reiter wird aus dem Sattel gehoben, an dere stampfen über die zu Boden gefallenen Feinde. Dies unglaubliche und ferne Bild eines irren Rittes steht mit der Gegenwart des Erzahlers in Verbindung. Abgetragen, verfallen, zerbrõckelnd, behalt es doch seine Wucht: «Immer noch galoppierend kampfen die Tiere, um einander zu überholen, ihre steinernen Mahnen schüttelnd, ihre steinernen Reiter dahintragend. Ihre graue Farbe unterscheidet sie nicht von dem grau en , ebenfalls steinernen Raum, von dem ihre Profile sich abheben. Sonne, Regen, Frost, Nacht, Dammerungen, Tage gehen nacheinander über sie hinweg, ohne dass ihr Lauf sich ver1angsamt. Von Zeit zu Zeit brõckelt ein Placken ab, ein Stück Haut, eine Backe, ein hervorspringender Teil, eine Schulter, ein Ellenbogen, seltener ein ganzes Glied, zerbrõselt, zerfallt zu Staub.»54 Dieses Bild hat Widerhall, trifft die jetzige Zeit; als Weiterlebendes ist es eine Anfrage. J a mehr noch, es wiederholt und prafiguriert den Krieg, der immer derselbe ist und bis ins U nendliche wiederbegonnen wird: Pferde und Menschen halten nicht ein, Sisyphusse, die zur Wiederholung verdammt sind. Indessen nimmt 52 AaO., S. 437. 53
Simon: Die Schlacht bei Pharsalos, (s. Anm. 50), S. 251.
54 AaO., S. 256.
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das Trümmerstück das Motiv auf, der Stein und die maandrierende Struktur decken die Skulptur zu. Der Sarkophag lagert zwischen zerbrochenen Saulen und Architraven, auf einem sonnbeschienenen und verlassenen Feld Griechenlands, wo er das stumme Echo des Pferdegalopps verewigt und das plõtzliche Hervorbrechen eines Wiehems, das daran gemahnt, dass der Ritt noch andauert.
Zertrümmerte Korper
Der Krieg hat Bezug zu den Abgründen der Apokalypse: Werden die Reiter im johanneischen Text nicht auf die Erde gesandt, um die Heiden umzubringen? Die Massaker begleiten die anderen Plagen, die der zürnende Gott schickt. In seiner Zeitschrift Documents bemerkt Georges Bataille, dass die grobschlachtigen Massnahmen die Erhabenheit des Themas noch steigern, dass Leichen, Massaker, Blut, Dreck, abgeschlagene Kõpfe heraufbeschworen werden, um das Heilige auszudrücken. 55 Doch die Darstellung ist keineswegs absichtlich abstossend, sie ist vielmehr Ergebnis einer «provozierenden Unbedarftheit». Das Niedrige dient nur dazu, das Hohe auszudrücken, es wird nicht an sich, um seiner selbst willen, verwendet: es zeigt das Jenseits. Das Entsetzen birgt in gewisser Weise ein Versprechen der Erlõsung. Verheerende Heuschrecken, Untiere mit menschlichen Gesichtern, mit goldenen Kronen, oder auf Pferden sitzend, deren Mahnen langem Frauenhaar gleichen, deren Zahne spitz und raubgierig wie die eines Lõwen sind, fallen auf Erden ein. 56 Mit eisernen Rüstungen und mit fünfstacheligen Skorpionschwanzen bewehrt folgen sie ihrem Kõnig, dem Engel des Abgrunds. Die Vision dieser Heuschrecken, die auf hybriden Reittieren hocken, taucht auf den Seiten von La Route des Flandres wieder auf, wo Simon das Gerausch der Pferde auf der Strasse mit dem Gerausch des Knabberns von Tausenden von Insekten vergleicht und wo die Pferde selbst, oder vielmehr ihre mittelalterlichen Vorfahren, ganz mit Panzerplatten bedeckt, ausgestattet für den Krieg, wie Krustentiere aussehen: Ihre steifen Beine, ihre vorspringenden Knochen und ihre geringelten Flanken erinnern an die seltsamen Wappentiere der Apokalypse. 57 Die namenlose Lage, in der sich die Reitertruppe in Flandern befindet, verloren im Nirgendwo, umherirrend, erinnert an den apokalyptischen Text und seine irren Visionen. Ein Motiv kehrt in La Route des Flandres mehrmals wieder; es ist der Todeskampf des Pferdes, und darin verdichtet sich der ganze Schrecken des
55
Bataille, Georges: L'Apocalypse de Saint-Sever, in: Documents 2 (1929).
56
Apokalypse 9,6 -11. Diese Passage wird auch von Bataille in Documents 2 (1929) zitiert.
57
Simon: Die Strasse in Flandern, (s. Anm.47), S. 28.
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Verhangnisses. Das Pferd hat jegliche gottliche Macht verloren, hingeschlachtet stirbt es unter Qualen. Prevelnd haben Menschen ihm nach dem Leben getrachtet ebenso wie nach dem Leben von ihresgleichen. Nichts bleibt als der Anblick eines sich auf10senden Korpers, eines gespenstischen Leichnams, der vom Schlamm verschlungen wird, verschluckt von der Erde, mit seinen in der fOtalen knienden oder betenden Haltung der Gottesanbeterinnen oder Fangschrecken zurückgeknickten Vorderbeinen. 58 Beunruhigende Korperstellung eines Insekts, Stellung der religiOsen Verehrung, all das nimmt einzigartige Proportionen an und verwandelt sich in ein düsteres Zeichen. Die Pferde werden verletzt, misshandelt von ihren Reitern, sie qualen sich verlassen zu Tode oder sterben in den Stallen. Die Reiter erweisen dem Pferd im Stall die letzte Ehre, sie bestatten es, indem sie ihm eine grosse Grube graben am Rande eines Obstgartens unter Baumen. Erde bedeckt den knochigen Korper mit den angewinkelten Laufen, der schwere Kopf und die Zahne werfen den Soldaten ein «bitteres Grinsen» zu wie eine traurige und enttauschte Herausforderung 59 . Das gemarterte Pferd hinterlasst den Menschen keine Hoffnung. Die Reiter folgen den Pferden in Unheilsritten; zum Tode hingedrangt verschwinden sie, fehlen plOtzlich, als ob auch sie von der gefrassigen Erde verschlungen waren. Sie gehen unter im Gewühl, ohne Spuren zu hinterlassen.
Die Wiederholung des Unglücks
Die langen Reitermarsche, die Soldatenkolonne, die in Flandern gegen den Feind vorrückt, sie ahneln dem unendlichen Lauf der Pferde auf dem antiken Sarkophag, der in La Bataille de Pharsale beschrieben ist. Die ununterbrochene Truppenbewegung, fortgesetzt seit Urzeiten, dauert an, lebt weiter bis in jene Tage des Mai 1940 hinein. Als gespenstische Schar vereinen sich antike, mittelalterliche und moderne Pferde und ihre Reiter und marschieren gegen einen unsichtbaren Feind. Dieser Marsch ist so alt wie das Vorrücken der Gletscher und vermengt die Reiter und die Kürassiere von früher, alle sind vereint, alle sind anachronistisch. 60 Die Reiter wiederholen dieselben Gesten, dieselben Worte, mechanisch von der Gewohnheit getrieben, stumpfsinnig, tragen dieselben Standarten. Der Krieg bringt keine Veranderung, er ist dasselbe, das Identische. Die Phantomkolonne aus Soldaten , die wie Marionetten auf ihren Pferden hangen, simplen
58
AaO., S. 25.
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AaO., S. 260.
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AaO., S. 27.
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DarstelIern einer tragischen Prozession gleich, bewegt sich ruckartig voran und wird von der Nacht verschlungen. Ist aber Kriegführung zu Pferde 1940 nicht Ui.cherlich angesichts von Panzern, Flugzeugen und Granaten? Die Pferde schützen die Menschen nicht, sie exponieren sie eher, sie falI en auf den Schlachtfeldern nicht ins Gewicht. In der Tat sind die Pferde ganz und gar anachronistisch. Sie haben zu alIen Zeiten Reiter getragen, von den antiken, den mittela1terlichen, den Revolutionskriegen, an denen der Ahne der Georgiques teilnahm, bis hin zu dem Krieg des Vaters 1914, um schliesslich in dem des Sohnes 1940 zu scheitern. 1940 namlich dienen die Reiter nur noch als «Freiwild», als «lebende Zielscheiben»61, um den Feinden das Testen neuer MiliUi.rtechnologien zu gestatten. Schon immer sind Pferde mit ihren Reitern abgeschlachtet worden, aber im modernen Krieg existiert die Reiterei fort als Dekoration oder als Kõder. Die Agonie der von Bomben zerrissenen Pferde tritt an die StelIe der gõttlichen Figuren der apokalyptischen fliehenden Pferde, der von den Griechen bewunderten Reittiere und der mittelalterlichen Schlachtrosse.
lI/. Grabstiitten «Und ich sah die Toten, die grossen und die kleinen, vor dem Throne stehen, und es wurden Bücher geoffnet; und ein anderes Buch wurde geoffnet, das [das BuchJ des Lebens ist. Und die Toten wurden gerichtet au! Grund dessen, was in den Büchem geschrieben war, nach ihren Werken.» (Apk 20, 12) «Und ich nahm das Büchlein aus der Hand des Engels und verschlang es; und es war in meinem Munde süss wie Honig, und als ich es verschlungen hatte, wurde es mir bitter im Bauche.» (Apk 10, 10) Grabstatten erforschen, die Welt durchreisen, um Grabinschriften zu lesen, Photos aus Familienalben sammeln - solche Tatigkeiten gehen dem künstlerischen Schaffen voraus. Die hier untersuchten Werke weisen einen gewissen Bestattungscharakter auf. Sowohl Christian Boltanski wie Claude Simon geben den Blick auf die Toten frei, indem sie Graber õffnen, Leichen begutachten. Dabei zeichnen sich zwei Haltungen ab: die eine ist projektiv, die andere retrospektiv. Thomas Ruff und Christian Boltanski verwandeln durch den Prozess des Photographierens das Lebende in Totes. Der Text Claude Simons geht vom Gestorbenen und vom Geschriebenen aus und fordert es zu einer Auferstehung auf. In beiden FalIen ist das Bild des Todes ein ursprüngliches Bild.
61 Simon: Georgica, (s. Anm. 26), S. 442.
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Griiber, Friedhofe
Der Tod ist ein ikonographisches und literarisches Thema ersten Ranges, eine beunruhigende Frage, die seit der Antike bis heute die Schopfung heimsucht. Das Grab, der Friedhof, aber auch das Grabmal als eine Art des Weiterlebens, die literarische Form, die die Toten in der Erzahlung wieder auferweckt, kennzeichnen das Werk Claude Simons in der Nachfolge der grossen Autoren, die von Erinnerung und Endlichkeit fasziniert waren, wie etwa Rousseau, Chateaubriand, Proust. Die Frage des Todes drangt sich stets auf, und die Geschichte konstituiert sich, indem sie von den entschwundenen Wesen ausgeht. Der Bericht registriert die abwesenden Gesta1ten, danach rekonstituiert er, in einer Wendung zur Retrospektive, das Leben der Abgeschiedenen mit Hilfe der Erinnerungen und der Bilder, die sie darste11en. Der Tod ist also ein Erstes: Er tritt nicht als Schlusspunkt ein, sondern als Leerraum für Beschriftung. Er reichert den erzahlerischen Humus an. Befragt vom Überlebenden, als Untersuchungsobjekt, macht er sich zum Leitfaden des Textes: Er erhe11t das Leben, er gibt ihm Bedeutung im Nachhinein. Der Erzahler befragt diese stets von neuem begonnene Konfrontation mit Krankheit, Entsetzen, Gewalt. Die GrabmaIer, die die Toten beherbergen, kehren hartnackig wieder: Sie ermoglichen es, den Abgeschiedenen zu lokalisieren, sie weisen auf eine Leiche hin - wie Sockel für den künftigen Bericht, für das Grabmonument, das zum Gedachtnis des Entschwundenen errichtet werden sol1. Der Text baut sich auf wie ein Ritual um den Toten. Der Autor beobachtet und inszeniert die Protagonisten, die den Entschwundenen gewidmete, individue11e und einzigartige Zeremonien veranstalten, die Zeichen ansammeln, die Phantasiegebilde zusammensetzen, um den Toten die Korperlichkeit zurückzugeben: so etwa die Gebete der Mutter, die Schutzmedai11en, das Lesen von Postkarten, die wie Reliquien aufbewahrt werden, die wie ein Heiligenbild überm Bett aufgehangte Photographie des Ehegatten und die Reise, die man unternimmt, um sein Grab wiederzufinden. Die Grossmutter macht Rundgange in ihrem Grabes-Haus, erhalt und schützt die Erinnerung an ihre Ahnen; der General des Kaiserreichs kultiviert das Andenken seiner verstorbenen Ehefrau, und Onkel Charles schreibt vor dem Grab seiner Frau. Die Riten helfen, den Tod zu mildern, ihn annehmbar zu machen und den Austausch mit dem Toten aufrecht zu erhalten. Indem er a11 diese heimlichen, vertraulichen Zeremonien in die Komposition einbezieht, erfindet der Autor die Personen neu, kampft er gegen das Nichts, verleiht er dem Werk den Status des literarischen Grabmals. Wozu dient das Grab?62 Es ladt zur Erinnerung ein, es erzeugt den Sinn, der sich gegen das Nichts richtet, es verleiht demjenigen Korper, der keinen 62 Zum Thema FríedhOfe und Gdiber vgl. die Studie von Urbain, Jean-Didier: L'archipel des morts, París: Plon, 1989.
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Anselm Kiefer: Resumptio, 1974. OI , Emulsion und Sehel1aek auf Saekleinen , 115 x 180 em © Anselm Kiefer, Barjae
mehr hat, es mutet eine Prasenz an, es wird zum Ort eines Wirklichen, es schafft, dass da ein Etwas ist und nicht vielmehr nichts: ein Ort, ein Text. So wird das Grab zum Dokument, zum Archiv. Es zu betrachten, das Epitaph zu lesen, das ist mehr als sich den Toten nur zurückzurufen oder sich zu erinnern, das bedeutet, ihn erneut leben zu lassen, ihm Form zu geben. Mehr als die Überlebenden sind es schliesslich die Denkmaler, die Erinnerungen bewahren, indem sie dem Gedachtnis an einem Ort, dem Friedhof, Dauer verleihen. Als Darstellung und Transposition des Toten konserviert und überdauert das Monument. In Simons Romanen sind Graber zahlreich: das antikisierende Mausoleum, in dem die Gattin des Generals ruht, das rudimentare und anonyme Grab des Vaters auf einem flandrischen Soldatenfriedhof, das alte Familiendenkmal der Mutter, das mit Wildpflanzen überwachsene Grab von Charles' Frau. Das Grab verleiht dem Unsichtbaren Form, demjenigen, das nicht mehr zur Welt der Lebenden gehõrt. Es gibt dem Jenseits einen Ort, schafft ihm einen Raum, sucht die Abwesenheit in ein Gegenwartiges einzuschreiben, das Fremde in ein Vertrautes. Claude Simon vollbringt das Sakrileg, die Leiche anzuschauen, er õffnet Graber, leuchtet Tiefen aus, benennt den Zerfall, fangt das Unfõrmige ein. Doch das Spiel ist geschickt: bald lasst er uns verfaulte Leichen oder gebleichte Skelette sehen, bald zeigt er nur ihre Umhüllung. Wir gehen standig vom Inneren zum Ausseren über, vom Umkleideten zum Blossgelegten. Der Blick auf das verbotene Bild enthüllt eine heilige und furchteinflõssende Wirklichkeit. Er ist Offenbarung eines Unsichtbaren.
Abwesenheit In einem Buch mit dem Titel L 'Absence6 3 befasst sich Pierre Fédida mit der Beziehung zwischen dem Schreiben und dem abwesenden «sujet-Subjekt». Es ist der Abwesende, der das Schreiben auslõst: der Richtpunkt, das Faszinationsobjekt für den, der bleibt. Claude Simon richtet sein ganzes Projekt auf das Fehlende aus - der Abwesende wird zum Adressaten des Textes. Das Werk, das über den Abwesenden, vom Abwesenden ausgehend, geschrieben ist, gibt sich niemals als beruhigendes, nostalgisches, geschlossenes Werk: Im Gegenteil, das Fehlende partizipiert an der beunruhigenden Fremdheit, und das Geschriebene weist Spuren davon auf. Der Text lasst den Verstorbenen aus den Tiefen auftauchen, gibt ihm Existenz. In der Trauerarbeit vollzieht sich das Erstehen des Fremden im Vertrauten, das Andere nahert sich plõtzlich. Der Ver1ust beunruhigt und fasziniert, den Schriftsteller ebenso wie den Leser. Der Autor spielt mit Leichnamen, er belebt sie, er legt ihr Fleisch bloss, er stellt sie zur Schau. Im Akt der Prasentation des zerfal1enen Kõrpers richtet er ihn zum 63
Fédida, Pierre: L'Absence. Paris : Gallimard, 1978.
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zweiten Mal hin. Der Überlebende ist Kannibale, er nahrt sich vom Toten, er ver1eibt ihn sich ein, er füllt die Leere. Jegliche Schõpfung hat ihren Ursprung in der Trauer, kommt von einer Abwesenheit her. Das Subjekt empfindet die Notwendigkeit, das Andere zu wiederholen und dasjenige wieder zu er1eben, was es nicht er1ebt hat, das Vorher, die Vergangenheit, in der es nicht vorkommt. Der Tote erhebt sich, von der Einbildungskraft als Phantasiegebilde rekonstruiert, dank der Dinge, die er geliebt hat, dank der Bi1der, die ihn darstellen, der Archive, die von ihm Kunde geben, der Zeugnisse, die sich auf ihn beziehen. Die Vergangenheit kehrt unablãssig wieder, und der Überlebende befragt sie, schafft sie neu, zugleich unruhig und fasziniert, in Bann gezogen von dieser Welt des Anderen. Frei von Nostalgie und Illusion macht das Werk sich daran, die Ursprünge als fiktive wieder zu erschaffen, wobei es die Herstellungsverfahren, den ArtefaktCharakter unterstreicht. Es birgt ein stets erwachendes, niemals ans Ziel gelangendes, immer neu einsetzendes Verlangen. Claude Simon schreibt seine gespenstische Heerschar in einen geheiligten Rahmen ein, er schreibt ihren Alltag, ihre Gesten, in mythische, in epische Form um. Er vollzieht nicht eine Reflexion auf sich wie es autobiographische Werke im engen Sinne wohl tun. Die frühere Welt, die der Vorfahren oder der toten Eltern, seine eigene Vergangenheit, die kollektive Vergangenheit, sie tauchen auf und vermischen sich. Wie ein Sammler bringt der Schriftsteller alle Arten von Gegenstanden zusammen, die ihm den Zugang zu vergessenen, entschwundenen Orten ermõglichen - als Trager von Traumbildern. Das Freudsche Kind, das mit der Garnrolle spie1t, sie wegwirft und dann wieder zu sich herzieht, weist geheime Entsprechungen zu dem Prozess auf, den der Dichter des Verlustes stattfinden lasst. Die entschwundenen Gegenstande, die von ihm bearbeitet werden, sammelt der Autor, bald ein vertrautes, beruhigendes Bild zeichnend - das lachelnde Gesicht der Mutter auf einer Photographie, bald ein erschreckendes und beunruhigendes Schauspiel verfolgend - die Erinnerung an das leichenblasse Gesicht der Mutter im Todeskampf. In traumatischem Spiel, in dem Spiel des Sich-Angst-Einflõssens tragt das Schreiben die Furcht ins Innerste des Vergnügens ein und gebiert so eine Âsthetik der Grausamkeit. Vor dem stummen Stein der Grabstatte stehend, hebt der Schõpfer den Deckel der Grube und schaut ins Innere. Das negative Bild, das invertierte, kritische, drangt sich nun in Gestalt der Leiche auf.
Leichen
Der sieche Kõrper, der Kõrper des Verstorbenen, sie geistern durch die Schrift des Nachkommen, des Trauernden. Beunruhigende Fremdheit umgibt die Leichen und nimmt in Gespenstern Gestalt an. Vom Toten verfolgt, fürchtet der Überlebende dessen Vorwürfe und wird von der Vorstellung einer geister-
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haften Wiederkehr geangstigt. Die Leiche der toten Eltern erregt Faszination und Ekel zugleich. Sie erinnert an früher, aber sie hat das frühere Aussehen verloren: Die Mutter, ei ne junge, müssig lebende Frau, zeigt jetzt nur noch einen abgemagerten mumifizierten Korper, der Vater, ein heldenhafter Soldat, verwandelt sich in einen blutigen Kadaver. Der Text nahrt sich von verwestem Fleisch. Der Erzahler geht daran, sich die Hande schmutzig zu machen, er spürt die Alptraume wieder auf, die die Silhouetten der Entschwundenen bilden. Grausam und roh, gerat das Schreiben zum Leiden. Die Leiche beschauen, den Toten ausgraben ist eine tabuisierte Handlunggeheiligt und verboten, geheiligt weil verboten. 64 Von der Leiche zu sprechen erregt Skandal, doch es sakralisiert den Korper. In mehreren primitiven Gesellschaften darf man den Namen des Toten wahrend der Trauerzeit nicht aussprechen, ihn nicht anrufen, ihn nicht beleidigen, um nicht seine Wiederkehr unter den Lebenden heraufzubeschworen. 65 Von Gewissensbissen gequalt, voller Selbstvorwürfe in Bezug auf die Verstorbenen, verharren die Überlebenden in Furcht, Schweigen, Trübsal. Trauer erfordert Trennung zwischen Toten einerseits und Erinnerungen andererseits. Je mehr dann die Zeit vergeht, desto eher wird der Tote ein Vertrauter, ein Ahne, den man nun wieder anrufen kann, da Zeit vergangen ist, da die Gebeine gebleicht sind. Man hat sich von dem Zerfallsprozess, der die Leiche unrein, unformig, unbeschreibbar werden liess, abgewandt. Die Texte Simons widersetzen sich einem solchen Ritual: Anstatt zu schweigen, befragt der Schriftsteller die Leiche - Leichenschau, mit der er das Schweigen , die eine Seite, bricht und den Schleier, das Leichentuch hebt, das die Intimitat des verwesenden Korpers bedeckt. Ein Sakrileg gegenüber dem Skelett der Grossmutter mit den verkalkten krummen Beinen, das ins Grab ihres Vaters überführt wird, gegenüber den Lippen, dem Hals, den Brüsten der Frau des V orfahren, die nur mehr verwesende Hautlappen um ein paar Knochen herum sind, gegenüber dem von Kugeln durchbohrten Korper des soldatischen Vaters und gegenüber der Mutter mit der Mumienmaske. Aber dieser widersetzliche Akt macht die Leiche zu etwas Heiligem, verleiht ihr eine grossartige und furchterregende Macht, die ausserst gegenwiirtig ist. Das Tabu ist das, was zugleich heilig und unrein ist, es bezeichnet das Damonische, das, was nicht berührt werden darf, was gefahrlich ist, und dasjenige, was segensreich, erhaben ist. Wie René Girard in La violence et le sacré bemerkt, bedeutet das Heilige, sacer, heilig und verflucht zugleich: Das Spiel der Heiligkeit bildet zusammen mit der Gewalt nur eines. 66 Das Heilige verbindet Ordnung 64
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Freud, Sigmund: Totem und Tabu, in: Gesammelte Werke, (Hg. von Anna Freud), London: Imago, Bd. 9, 1940, S. 31. AaO., S. 73. Girard, René: Das Heilige und die Gewalt, (Übers. von Elisabeth Mainberger-Ruh), Zürich: Benziger, 1987, S. 408f. 99
und Unordnung, Schõpfung und Zerstõrung. Der gegen den Verstorbenen gerichtete Akt der Gewalt - dies Aufwecken des verwesenden Kõrpers, die Schrift des Negativbildes der Eltern, Hisst sich entziffern wie eine Gründungsurkunde. Der subversive Akt ist Ursprung der Schrift, er findet zurück zu den auf dem Ahnenkult basierenden grossen mythologischen Formen. Die Toten sind nicht mehr isoliert, auf Distanz gehalten: Sie sind herausgefordert und eingeführt ins Innere des Textes. Wie ein für rituelle Schlachtung vorgesehenes Tier wird die Leiche geopfert, und durch die Opferhandlung erlangt das Opfer Gõttlichkeit. Die Schrift des toten Kõrpers ist von unerhõrter Gewalt, sie zeigt die Auflõsung des Kadavers, das Verfaulen, das Verderben, die Gãrung. Sie ruft Ekel hervor. Der tote Kõrper gibt - Würmern das Leben. 67 Um dem Mutismus, der Abwesenheit, der Leere entgegenzutreten, wird die Leiche herausgefordert, befragt: Und sie antwortet. Dies ist das einzige Mittel, um sie Leben, leibliche Gestalt annehmen zu lassen. Das negative Wiedererinnern bringt die ruhige Ordnung der Welt durcheinander, kehrt die Zeitlichkeit um, so dass die Vergangenheit mit ihrer transgressiven Macht in die Gegenwart einbricht. Die Befragung erscheint zugleich als Akt der Ehrerbietung und Liebe gegenüber den Entschwundenen und als Verbrechen an ihrer Person, als Verneinung ihres Ruhens. Die negative Dialektik, die exzessive Dialektik der Leiche - die in die Wolken erhoben und mit Erdenschmutz bedeckt ist - mengt Verbrechen und Ekstase ineinander. Für Georges Bataille siedelt Literatur sich in der Nachfolge der Religionen an, ist deren Erbin. Die Opferung ist ein Roman, ei ne blutige Erzahlung, eine Theatervorstellung, wo das tierische oder menschliche Opfer seine Rolle bis zum Tode spielt. Der Ritus, der Text inszeniert den Tod eines Gottes wie die in der Messe begangene Opferung Christi. 68 In subversiver Weise bringt Claude Simon seine Personen zu Tode, aber in diesem Opfer transzendiert und besiegt er den Tod. Er schreibt den Verstorbenen in den Text ein, um das Vergessen zu verhindern, um ihm Dauer zu verleihen.
Denkmal
Das Grab schreibt sich als Denkmal ein. Als Monument des Überlebens stellt es eine einzigartige Beziehung zur Zeit her, es bedeckt die Schichten der Vergangenheit und bringt sie an ein und demselben Ort zusammen. Der Erbauer des Grabmals, der Künstler, der Schriftsteller begrabt die Zeit im Werk, in der Rede. Der Tod setzt die Erinnerung frei und erlaubt jedem, auf dem Wege der
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Bataille, Georges: L'érotisme (1957), Paris: Minuit, 1985, S. 63.
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Trauer, seinen Ort zu finden. Der Mythos birgt die Erinnerung an die Ahnen, er muss sich wiederholen, sieh umformen, um die Verwirrung der Erinnerungen zu vermeiden. Die Wiedererinnerung, die Konstruktion, die zur Wiederaneignung der Vergangenheit notig ist, ist wie ein tragisehes Reden auf der Suehe naeh einer uns entsehlüpfenden Ursaehe: Es gelingt ihr nieht, das Unbewusste, die entsehwundene Vergangenheit zu erreiehen. Der Diehter versueht, das Andere zu sagen, es in episeher Form beim Namen zu nennen, um das Entsehwundene wiederkehren zu lassen. Mallarmé hat viele literarisehe Grabmale gesehrieben, deren wiehtigstes - unvollendet geblieben - das Grabmal für seinen Sohn Anatole ist, der 1879 mit aeht Jahren an den Folgen einer Krankheit starb. 69 Naeh dessen Tod versueht er, von Trauer überwaltigt, ein Werk zu sehreiben, das den Sehmerz besanftigt. Es wird ihm nieht gelingen, obgleieh er zahlreiehe Skizzen hinterlasst. Das Werk ist ein sehnlieher Wunseh, der Wunseh, das Kind in Worten wieder leben zu lassen, es zu verewigen. Doeh es gelingt Mallarmé nieht, den Sohn zu sehreiben, ihn der Spraehe einzusehreiben. Er ist ei ne weitere Geistererseheinung, ein kleiner Junge im Matrosenanzug, der zu den anderen beiden geliebten Geistern hinzutritt, der Mutter und der Sehwester des Dichters. Wenn sie aueh nieht in einem abgesehlossenen Werk auftreten, so erhellen sie doeh das gesamte Projekt und umgreifen den Gang des Sehaffens des Diehters. Die Toten sind da, dem Werk eingesehrieben, zugleieh nah und fern, von ferne wiederkehrend. In ihnen kommt und geht der Verlust. Das Werk versprieht nicht die Erlosung. Wenn die Toten für wenige Augenblieke ins Leben zurüekkehren, dann ist das nur Fiktion, Illusion: Ihr Leib ist aus Papier. Und das Bueh hat, so wie das Bueh, das der Engel Johannes reieht, die Süsse von Honig, hinterlassst aber in den Eingeweiden einen bitteren Nachgesehmaek. 1974 malt Anselm Kiefer Grab des unbekannten Malers, ein einfaehes Grab, kenntlieh an dem Holzkreuz, das sieh inmitten einer versehneiten Liehtung erhebt. Der unbekannte Maler, der hier beerdigt ist, stellt im Tode eine befremdliehe Beseheidenheit zur Sehau. Seine Grabstatte ist isoliert, es handelt si eh nieht um ein Monument, sondern um das Grab eines gewohnliehen Sterbliehen. 1983 malt Anselm Kiefer eine andere Version von Grab des unbekannten Malers. In einer braun- und sehwarzfarbenen verlassenen Landsehaft unter einem bewegten Himmel erhebt sieh, leieht erhoht und mit vorgebautem Portikus von zwei Saulen, ein Malermausoleum, ein gestuftes agyptisehes Grab naeh Art einer Mastaba. Die Pyramidenform kehrt 1996 wieder in Homme couché so us une pyramide, wo man einen Mensehen, einen naekten Torso sieht, in vollkommener Horizontale am Fusse einer riesigen Pyramide ausgestreekt liegend, deren Spitze sieh in einen Himmel bohrt, der aus einer Myriade leuehtender Gestirne zusammengesetzt ist. Kiefer erklart, er verkorpere sieh selbst in diesen Arehitekturformen: «I bring myself, in the middle of the pyramid and at 69
Mal1armé, Stéphane: Pour un tombeau d'Anatole, (Eingel. von Jean-Pierre Richard), Paris: Seuil, 1961.
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the end of the processo I am the pyramid, physically, stone by stone. I want to be nothing else than a pyramid» 70. Angesichts dieser drei Gemalde denkt man an Caspar David Friedrich, an die Einsamkeit seiner Personen, die den Tod (oder das Jenseits) in der Natur, in einer Kirchenruine, bei einem Grab oder am Rand des Meeres betrachten. Bei Kiefer gibt es jedoch keinerlei Ideal oder rettendes Licht. In seinen Landschaften ist immer Nacht; Schnee oder Sand verwischen die Spuren der Lebenden. Das Gemalde bringt (sich) den Tod. Der Maler identifiziert sich mit dem unbekannten Soldaten, dem Anonymus der Kriege, der fürs Vaterland stirbt. Er gehõrt nicht einer Schicht von Auserwahlten oder Demiurgen an, sondern der allergewõhnlichsten Schicht, der elendesten. Seine Malerarbeit ist einem Kampf mit tõdlichem Ausgang ahnlich.
Die Gespenster Wenn Claudio Parmiggiani Selbstportrats verfertigt, dann erzeugt er nicht den Realismus eines Face-to-face mit dem Spiegel, sondern eine Photographie des Schattens. Das Selbstportrat von 1979 ist eine photographische Projektion auf Leinwand, wobei man den Schatten des Künstlers als Büste sieht - ein exaktes Portrat, aber ohne jede Information. Dies Bild macht eine Zweideutigkeit sichtbar: Man weiss nicht, ob der Künstler sich von vorn oder von hinten zeigt. Der Schattenumriss hat keine Richtung, er weist die Bestimmung von Vorder- oder Rückseite ab, lãsst sie in seiner planen Darstellung zusammenfallen. Der Kõrper scheint da vom Schatten verschlungen zu sein, als ob er die Grenzen zu seinem Double überschritten habe, in es eingedrungen und durch es hindurchgeschritten sei, um sich selbst zu entkommen. Parmiggianis Photographie scheint Jahrhunderte spater die Geburt des Bildes nachzuspielen, wie sie uns Plinius in der Legende von Dibutades erzah1t, eine Geburt aus dem Schatten und in den Schatten hinein, eine negative und gespenstische Geburt. Die Personen, die für die Photographien von Thomas Ruff 71 posieren, scheinen im Tode für die Ewigkeit zu posieren. Der deutsche Künstler hat sich in seinen Portriit-Serien ein Phantom-Werden des photographierten Wesens zunutze gemacht. Die Inszenierung ist immer dieselbe, eine Art von makabrem 70
Celant: Kiefer, (s. Anm. 11), S. 19.
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Deutscher Künstler, geboren 1954. Schüler von Bemd und Hilla Becher. Er gehort zur Bewegung der «objektiven Photographie», die die Wirklichkeit mit den Mitteln der Dokumentation untersucht. Er beginnt seine systematischen Studien mit Ansichten von «Intérieurs» (1979-1983) und entwickelt dann von 1981 an seine «Portrat»Serien. In Himmelsaufnahmen, die mit hochentwickelten Femrohren, wie sie von Astronomen verwendet werden, gemacht wurden, erschliesst der Künstler die poetische und imaginative Kraft der Photographie.
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Ritual: Von vorn, in Vergrõsserung, auf einfarbigem, meist weissem Hintergrund, fixieren die Gesichter den Zuschauer. Die Unnahbarkeit der Modelle, deren Züge fast nichts ausdrücken, erregt beim Betrachter ein Gefühl des Grauens, das verstãrkt wird durch die brutale Gegenüberstellung und das Fehlen jeglichen Schattens hinter den Kõpfen. Die Kõrper scheinen auf dem Hintergrund plattgepresst, zum Bild verdinglicht. Das Fehlen des Schattens macht diese Individuen zu Geistererscheinungen, zu immateriellen Wesen, zu Gespenstern, die man auf den ersten Blick mit Lebenden verwechseln kõnnte. Totenportriits. Die Installationen Christian Boltanskis72, vor allem die der achtziger und neunziger Jahre, entwickeln die Versteinerung photographierter Gesichter in anderer Weise. Für die meisten Serien 73 entnimmt Boltanski aus Zeitungen, Zeitschriften, Archiven, Albums eine Fülle ikonographischen Materials, das mit dem Portriit zu tun hat. Der Künst1er photographiert diese Presse- oder Amateurphotos noch einmal, rahmt sie neu, vergrõssert sie und fügt sie geriiumigen Vorrichtungen ein, die die Form des Altars, des Schreins, des Altarblattes, der Bilderwand, des Denkmals, des Vorratskastens erhalten. Das gespenstische Aussehen wird durch seine Manipulationen verstãrkt, welche Deformationen der Gesichter bewirken. Die Kõpfe scheinen eher zu Leichen als zu Lebenden zu gehõren. Auch ver1ieren die Gesichter ihre Individualitiit, verwandeln sich in Gespenster mit Augen, die in giihnende schwarze Hõhlen einsinken und sich darin verlieren. Liicheln wird zur Grimasse von Hingerichteten oder von Sterbenden. Die Vergrõsserung, die Rahmung und die verstãrkte Sichtbarkeit des Rasters desintegrieren die Gesichter. Die photographischen Manipulationen sind mit dem verwandt, was der Tod an Kõrpern bewirkt. Es gibt hier das Verwischen, das Verfliessen der Bilder, so wie es das Verfaulen der Kõrper gibt. Boltanski liisst nicht nur hinter den Lebenden die Toten aufscheinen, sondern benutzt die photographische Technik als Metapher für das Wirken des Todes. 72
Franzosischer Künstler, geboren 1944. Er wird Ende der 60er Jahre bekannt mit satirischen Kurzfilmen, die eine erfundene Kindheit zeigen. Sein Werk befasst sich mit der Biographie, wobei Wahr und Falsch sich vermengen. Er gibt Hefte heraus, schickt verzweifelte Briefe, baste1t einen Hampelmann und Marionetten. Er verwendet Portratphotos - Bilder, die aus Familienalben entnommen wurden, aus verschiedenen Zeitschriften, Zeitungen, die er durch Vergrosserung und Ausschnitt manipuliert - in Installationen, die gewissermassen zu Grabmalen werden. Sein Werk dekliniert das Wunderbare, das Tragische, das Lacherliche, das lronische, das Düstere, das Traurige.
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Les Enfants de Dijon (1985), Monuments (1985-1986), Leçons de ténebres (1986), Le Lycée Chases (1987-1988), Les Tiroirs (1988), Archives (1987-1988), EI Caso (1988-1992), Détective (1988), La fête de Pourim (1988-1989), Réliquaire (19891991), Monument Odessa (1989-1991), Les Suisses morts (1990-1991), Les Linges (1994), Les Pensionnaires de la Villa (1995), Les Véronique (1995-1997), Advento (1996), Les Regards (1996-1997).
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Die Wirkung des Lichts betont das Verwesen der Gesichter. Boltanski bedient sich in noch eIementarerer Weise des photographischen Verfahrens, um zu Tode zu bringen. UnvermeidIich transformiert die Photographie den Kõrper in Schatten. Die Gesichter werden anonym, nahern sich der WeIt der Verstorbenen, der Entschwundenen. Das stark und intensiv geworfene Licht bIendet die Gesichter. Es verletzt sowohl die Modelle wie die Bilder, verbrennt sie, aschert sie ein. Das Double, «eine Kopie, die man für den Kõrper seIbst halt, der dessen genaues Aussehen, die KIeidung, die Gesten und die Stimme hat» 74 besitzt eine Existenz ausserhaIb seiner Bezugsperson und steht doch in enger «Konformitat» mit ihr. GIeichwohl hat es keinen Korpus (wie man vom Korpus eines Buchstabens in der Typographie spricht), keine Konsistenz. Der Schatten und die Photographie, in ihrer Qualitat als double genommen, sind «ein Nichts, eine Leere, ein ungreifbares Flüchtiges»75. Das Erscheinen des Double in der Gegenwart enthüllt es als etwas, das einem Schon-Dagewesenen angehõrt. In dieser dualen Zeitlichkeit, in dem Zugleich von Vergangenheit und Gegenwart, liegt, wie seit Roland Barthes wohlbekannt, eine der irritierendsten Eigenschaften der Photographie. Boltanskis Photographien, verwickelt in diese Zeitbeziehung, rufen noch eine dritte Zeitdimension auf den PIan: die Zukunft. Die VerwandIung der Gesichter und der Kõrper in Schatten treibt das menschliche Wesen zum Jenseits, zeigt ihm den Tod in Direktansicht. Aufgrund dieses makabren Schattenspiels steht der Betrachter seinem Ietzten Bild gegenüber. Boltanski bricht eines der hartnackigsten Tabus der menschlichen Geschichte: den Anblick des Kõrpers nach dem Tod. Er Iasst uns das Verbotene sehen, den toten Leib, verwest, in Auflõsung. Die Véronique-Arbeiten, Bilder des toten Christus, deuten deformierte Gesichter an. Die Kõrper verschwinden in einem Heiligenschein. Die vera icona ist das phantomartige BiId des Kõrpers nach dem Tod, ein Bild, das vom Photographen geheiligt und profaniert wurde. Das Grab ist geõffnet, der Tod enthüllt und sichtbar gemacht worden. Schon die agyptische Archaologie hat uns ein wenig vertraut gemacht mit dem Anblick des toten Leibes, der als Mumie konserviert ist. FesseInder als die SkeIette, die bei normalen Untersuchungen von Grabern entdeckt werden, zeigt die Mumie - ebenso wie die Schatten Boltanskis von beunruhigender Fremdheit - das unertragliche Gesicht des Todes. Der Schatten ist makabrer als das Skelett. Das Skelett besitzt keine Identitat mehr, es ist die generische Form des Menschenwesens, sein Begriff. Der Schatten tragt noch Fleisch, Gesichtszüge, Grimassen, erstarrte Kõrperbewegungen. Man kan n Individuen an ihrem Schatten erkennen. Der Schatten gehõrt zum Lebenden wie zum Toten.
Vernant, Jean-Pierre: Psuché. Simulacre du corps ou image du divin? in: Nouvelle revue de psychoanalyse, Destins de l'image, 44 (1991), S. 226. 75 Ebd.
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Christian Boltanski: Reliquaire, 1990 © VG Bild-Kunst, Bonn 1998
Anstelle der «See1e» sehen wir die Leiche, anstelle des Geistes einen Korper. Die Installationen Boltanskis, die auf einer ersten Ebene religiOs sind, da sie von einer rituellen Szene mit christ1ichen AnkHingen Gebrauch machen, widerlegen den Mystizismus, den Glauben und das Vertrauen. Die Photographie verweist uns zurück auf ihren Referenten, we1cher die We1t des Korpers, des Physischen, des Fühlbaren ist. Diese Verdriingung des Geistigen zugunsten des verwesten Leibes erzeugt einen panischen76 Schock der Gefühle. Eines der grundlegenden Momente des Schattens ist die Abwesenheit. Im Schatten ist der Referent anwesend in der Abwesenheit, in der hinterlassenen Spur, die an eine wahrhafte Priisenz in einem bestimmten Augenblick erinnert. Das gesamte Werk Boltanskis ist von Abwesenheit durchwirkt. Seien es auf76
Ich greife einen Terminus von Clément Rosset auf: Rosset, Clément: Le Réel. Traité de ['idiotie, Paris: Minuit, 1977.
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gehaufte Kleider, in GestelIen aufgestapelt oder auf dem Boden angeordnet, schwarze Rahmen ohne Bilder, Keksdosen, Projektionen von Gesichtern, unsichtbare Bilder, Familienalben und Photographien, alIes bezeugt die Abwesenheit, alIes weist mit dem Finger, richtet unseren Blick auf eine fehlende Referenz. Die Kindheit ist entschwunden, zu den Kleidern gehõrt kein Kõrper, die Lebenden sind gestorben, die Vitrinen enthalten Relikte, das in der Biographie rekonstruierte Leben des Künstlers selbst entgeht ihm. Das Werk Boltanskis hat seinen Ort im Einflussbereich des Verschwindens. Es ist nach dem Paradigma des Schattens konstruiert, d.h. eines Zeichens, das auf ei nen niemals vorhandenen Referenten verweist. Der Schatten und die Photographie bejahen die Existenz eines Referenten, lõschen aber dessen Prasenz aus. Der Modus des Schattens verewigt diese verlorene Prasenz, mumifiziert sie. Das Zeichen, das so von der Photographie festgelegt wird, verweist zurück auf den Verlust. Und weiterhin: Der Schatten ist ein Anzeichen, das mit seinem Referenten eine Einheit bildet. Der Referent ist nicht ein Âusserliches. Er ist ganzlich einverleibt und verdaut vom gefrassigen Schatten. Aus diesem Grund kann Clément Rosset von einer représentation panique sprechen, da der Schatten mit dem Realen zusammenfalIt, sobald dieses entsteht. Dasjenige Beispiel für diesen beklemmenden Zug, das der Philosoph anführt, ist eben der Tod. Im Tode koexistieren in dem Augenblick, da er stattfindet, Zeichen und Referent. «Der Tod definiert sich als der Moment, in dem man eben keine Zeit mehr hat, an irgendetwas zu denken, nicht einmal an seinen Tod; der Moment, der durch das Verrinnen des Sandes in einer Sanduhr symbolisiert wird. [... ] Das und das sind ein- und dasselbe, und gerade dies tõdliche Zusammenfallen ist es, an dem man stirbt. (La mort se définit par le moment ou on n'a précisément plus le temps de penser à quoi que ce soit, pas même à sa mort; moment symbolisé par l'écoulement du sable dans un sablier. [... ] Le <je meurs> et le <je vois que je meurs> sont une seule et même chose, et c'est de cette identité funeste, précisément qu'on meurt).»77 Boltanski drückt diesen Moment der Identifikation des Zeichens mit seinem Referenten aus. In seiner ursprünglichen Erscheinung ist der Schatten zunachst ein reines Anzeichen im Sinne der physischen Verbundenheit mit dem Gegenstand. Boltanskis Werke reproduzieren diesen Modus des Auftretens eines Zeichens, das in Raum und Zeit seines Referenten funktioniert. Diese Unmittelbarkeit zur Gegenwart kann zum Vergessen der Vergangenheit führen. Die Verwechslung des Zeichens und seines Referenten führt das Vergessen, das Fehlen der Vergangenheit herbei. Hierin ist Bo1tanskis Werk zutiefst melancholisch. Der Betrachter findet sich in der Lage, etwas wiederzuerkennen, das noch nicht bekannt ist. Bo1tanskis Serie Ombres, von 1986 an geschaffen, simuliert die Anfange des Hervorbringens von Bildern. In lacherlicher Weise suggeriert die Szene ei nen BalI feiner und zarter MetalImarionetten, die beim leisesten Hauch in der 77
AaO., S. 141.
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Luft schaukeln. Grosse gespenstische Silhouetten bewegen sich in der Luft, schwanken auf und ab, flattern hin und her. Kopfe mit langer Nase, un artikulierte Drahtpuppengestelle, geflügelte Korper, schlottrig wirkende Umrisse, riesige Schadel und Hande vereinigen sich zu einem Zug, der karnevalesk und mitleiderregend ist, der sowohl einem Kasperletheater wie einem Trauerzug gleicht. Die Figuren, alle an Faden hangend, erfinden aufs Neue einen makabren Tanz. Die Ombres spielen die Geburt der Bilder noch einmal, das magische Erzeugen von Figuren an den Wanden prahistorischer Hohlen. Boltanski weist dem Betrachter ei ne Stelle in Distanz zur Szene an; dennoch sieht dieser alles. Er ist nicht, wie die gefesselten menschlichen Wesen bei Platon, mit dem Gesicht zu den Wanden der Hohle gekehrt, sondern befindet sich dahinter wie ein deus, er hat ei ne allwissende Position. Er sieht die Schatten und die Schauspielvorrichtung, das heisst die kleinen Marionetten, die sich zusammen in einem auf dem Boden aufgestellten Theater befinden, das durch starke Scheinwerfer erleuchtet ist. Die Ombres stellen gleichzeitig die Dinge der Welt dar und ihre geisterhafte Erscheinung an den Wanden, eine Erscheinung, die, durch die Projektion deformiert und vergrossert, monstros ist. Die altertümliche Hohle offenbart die Dinge und ihre Verdopplung verflacht und grotesk. Boltanski bringt den Betrachter in die Position des Demiurgen, der einzig imstande ist, alle Sichtweisen zu vereinen. Er sieht alles, aber er kann sich nicht einmischen, ein Gefangener des lacherlichen Spektakels, das sich unermüdlich und bis in unbestimmte Zeit abspielt. Er weiss um die Lockmittel, tragt aber ohnmachtig zu deren Produktion bei. Das Wissen, von Platon hoch bewertet, ist für den Gegenwartskünstler Quelle von Beklemmung und Melancholie, denn das vorgestellte Schauspiel ist das des Todes, das immer aufs Neue von elenden Hampelmannern gespielt wird. Die Schatten sind Trager des Todes, sie sprechen ihn ohne Umschweife aus, denn die vom Künstler gestalteten Marionetten sind «der Nullfall von Ãhnlichkeit, jene Ãhnlichkeit, die nur von der Kontur herrührt und die uns im Bilde sterben lasst (le degré zéro de la ressemblance, celle que seul le contour emporte et qui nous fait mourir dans l'image)>>78. Das Erscheinen des Schattens im Feld der Kunst verweist auf den Anfang der Kunst (Plinius, Felsmalerei) und stellt den Tod heraus (Thomas Ruff, Boltanski). Es ist ursprüngliches Bild und Bild des Endes zugleich. Diesen inneren Widerspruch machen die Gegenwartskünst1er sichtbar. Schatten malen oder photographieren, das Bild im Modus des Schattens konzipieren, das heisst, die Erfindung, die Geburt (der Kunst) und den Tod, das Ende, zu verkünden. In der Apokalypse werden die Toten zusammengerufen von Gott, der die ins Buch eingeschriebenen Namen der Erwahlten liest. Nach Les Suisses morts, einer Installation aus Keksdosen, die mit Photographien von Verstorbenen beklebt sind, die in katholischen Wal1iser Zeitungen veroffentlicht wurden, führte 78 Semin, Didier: Christian Boltanski, Paris: art press, 1988, S. 53. 107
Christian Boltanski ein Tonband mit der Aufzahlung der Namen der Toten bei sich. Zum Jahr 2000 konzipiert der Künstler das utopische Projekt eines Kunstwerks, das in der Verlesung der Namen aller Erdenbewohner bestünde. Das grosse Buch der Menschheit õffnet sich, und der Künstler liest darin die Namen der Verdammten und der Erwahlten. (Aus dem Franzosischen übersetzt von Brigitta Kasprzik)
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Charles Martig und Matthias Loretan
ApOKAL YPTISCHE VISIONEN IM FILM Geschichtsbilder zwischen Weltuntergang und radikalem N euanfang Die Angst vor dem Ende der Zeiten erlebt eine mediale Hochkonjunktur. Es gibt unzah1ige Werke der PopuHirkultur, in denen das Ende der Zeiten erahnt und beschworen wird. Sie treffen auf ein Lebensgefühl der Erschõpfung und der Weltfremdheit, das sich als Katalysator für die Imagination des Weltuntergangs vorzüg1ich eignet. 1 Apokalyptische Vorstellungen, Bilder, Symbole, Erwartungen und Ãngste pdigen die Bildkultur der neunziger Jahre. Der Weltuntergang als Vision und Simulation findet sowohl im Kino als auch in den elektronischen Medien statt. 2
1. Weltuntergang als Medienphiinomen
Die Renaissance des Katastrophenfilms im Kino ist ein erstes Anzeichen für das wiedererwachte Interesse am Weltuntergang. In «Volcano» und «Dante's Peak» erscheinen gewaltige Vulkanausbrüche als Auslõser von Furcht und Schrecken. Der Untergang der «Titanic» wurde von Regisseur James Cameron mit gewaltigem Aufwand neu verfilmt. Weitere neue Hol1ywood-Produktionen wie zum Beispiel «Deep Impact» oder «Armaggedon» greifen zur Inszenierung der Zerstõrung der Welt auf die apokalyptische Erzahldramaturgie zurück. Ein Trend zeichnet sich ab, der auch das Genre der Science-Fiction erfasst hat. 3 Den eigentlichen Startschuss für diese Renaissance des Genres gab 1996 der sensationel1e Publikumserfolg von «Independence Day». In einer
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Sloterdijk, Peter: Weltfremdheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1993. «Nicht die Menschen sind die Helden der Geschichte, sondern die Rhythmen und Gewa1ten des Weltaufgangs und -untergangs, in denen Menschen vorkommen.» S. 13. d'Eramo, Marco: Die alte, die ewige und die neue Erschopfung, in: Basler Zeitung, 2.9.97.
2
Thull, Martin: Taglich viele kleine Apokalypsen. Die Medien leben von den Endzeit-Katastrophen, in: Erwachsenenbildung - EB 2/ 1996, S. 66-68. Sharrett, Christopher (Hg.): Crisis Cinema. The Apocalyptic Idea in Postmodern Narrative Film, Washington D.C.: Maisonneuve Press, 1993. «Vo1cano», Mick Jackson, USA 1997. «Dante's Peak» , Roger Donaldson, USA 1997. «Titanic», James Cameron, USA 1997. «Independence Day», Roland Emmerich, USA 1996.
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raffinierten Mischung aus Katastrophenfilm und Science-Fiction inszeniert Roland Emmerich den apoka1yptischen Kampf zwischen Gut und Bose in einem Armaggedon von kosmischem Ausmass. Eine überlegene Armada mit ausserirdischen Raumschiffen greift die Erde an und stürzt die Welt ins Chaos. Unverkennbar ist der apokalyptische Trend auch in den elektronischen Medien. Auf diversen Fernsehkanalen wird in den Mystery-Serien ein düsterer Cocktail aus Okkultismus, Ufologie, Damonenaustreibung und Weltuntergangsangsten serviert. Seit der Lancierung von «Akte X» im Jahre 1993, die zur eigentlichen Kultserie avanciert ist, entstehen fortlaufend neue MysterySerien, die dem Erfolg von Chris Carters «Akte X» nacheifern. Eine Neuschopfung aus demselben TV-Produktionsstudio ist zum Beispiel die Serie «Mi1lennium» (Start 1997), die sich explizit mit der Ankunft des Bosen am Ende des Jahrtausends auseinandersetzt. Weitere Serien schiessen wie Pi1ze aus dem Boden: «Nowhere Man - Ohne Identititat», «Outer Limits - Die un bekannte Dimension», «PSI Faktor - Es geschieht jeden Tag», «Sliders - Das Tor in eine fremde Dimension» lauten die Titel dieser Produktionen. Die europrusche Alternative «Riget» (<
«Akte X», Chris Carter, USA seit 1993. «Millennium», Chris Carter, USA seit 1997. «Riget» (<
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Eine kommentierte Übersicht mit Internet Adressen zum Stichwort «Apokalypse» bietet Thomas Binotto unter: http://www.kath.ch/medienlapokalypse.
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Reflexion über die Gottesrede ist hier konkret herausgefordert. Die Scheidung der apokalyptischen Geister erweist sich gerade in der Medienwelt als wichtige ideologiekritische Aufgabe, zu der auch die Theologie einen Beitrag leisten kann. Der autoritãre Gestus des apokalyptischen Mediendiskurses bedient sich meistens einer manipulativen Àsthetik der Überwaltigung. Andererseits behauptet die apokalyptische Rede einen Impetus der Dringlichkeit, die auf eine nachhaltige Krise verweist. Die Apokalypsedarstellung kann manipulieren oder offenlegen. Im Dialog mit der Medienkritik müssen deshalb Kriterien der asthetischen Unterscheidung entwickelt werden. Inwiefern führen Filme, die sich apokalyptischer Stilmittel bedienen, zur Abstumpfung der Wahrnehmungsfahigkeit? Inwiefern tragen sie zur Sensibilisierung der Wahrnehmung bei? In der kritischen Auseinandersetzung mit fünf Filmen sollen die Kriterien der Unterscheidung erarbeitet werden: Der Kassenschlager «lndependence Day» (USA 1996) ist vollstandig vom autoritãren Gestus gepragt. Als eigentliche Dekonstruktion des Hollywood-Kinos erweist sich Kathryn Bigelows «Strange Days» (US A 1994), der als Überlebenskampf in der apokalyptischen Grossstadt inszeniert ist. Eine prophetisch warnende Vision einer õkologischen Katastrophe zeichnet «The Day Aften> von Nicholas Meyer (USA 1983). In David Lynchs «Lost Highway» (USA 1996) steht der Weltuntergang als Implosion einer Psyche im Mittelpunkt. Im fünften Durchgang wenden wir uns «Konna yume wo mita / Dreams» (US A / Japan 1990) von Akira Kurosawa zu. Die Àsthetik des Traumes verweist auf die heilenden Qualitaten der apokalyptischen Visionen.
2. Autoritiirer Zukunftsoptimismus: «lndependence Day» Roland Emmerichs Werk beginnt mit einem Blick auf den Mond. «Wir sind im Mare Tranquillitatis, wo die ersten menschlichen Besucher des Trabanten die Spuren ihrer Anwesenheit hinterlassen haben: Plastiktüten, Metallbehalter, Fussabdrücke und eine amerikanische Flagge. Still hangt sie in der reglosen Luft. Auf einer Tafel liest man die Namen der Apollo-l1-Astronauten Ann~ strong, Aldrin und Collins, darüber die Worte: <We came in peace>. Alles ist ruhig. Doch plõtzlich kommt von irgendwoher ein dumpfes Zittern, das immer stãrker wird. Die Fahne schwankt. Ein Schatten fallt auf die Inschrift. Staub wirbelt auf und deckt die Fussspuren des Menschen zu. Dann schiebt sich von oben eine gewaltige schwarze Masse über die Mondlandschaft: ein ausserirdisches Raumschiff. Am rechten Bildrand aber erscheint, klein und hellblau, die Erde: das Reiseziel.»6 Die Anfangssequenz dauert rund eine Minute und in ihr ist bereits alles angedeutet, was in den folgenden zwei Stunden über die 6
Kilb, Andreas: Lautstark im Weltraum, in: Die Zeit, 20.4.96.
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Leinwand lauft. Die Ausserirdischen werden die Erde angreifen, um die Menschheit au szurotten, und die überlebenden Menschen werden sich zu einem verzweifelten Überlebenskampf aufraffen, um unter amerikanischer Führung die Aliens zu vernichten. Doch das alles wissen wir nach einer Minute bereits, denn es ist in den ersten Bildern erzahlt: der Titel im Vorspann, der Schatten auf dem Wort «peace» , die panisch flatternde Flagge, die verwehte Fussspur. Schneller kann man eine Science-Fiction-Geschichte nicht erzahlen; perfekter auch nicht. Der handlungstreibende Konflikt des Films ist der Kampf ums Überleben bzw. um Ressourcen zwischen der Menschheit und den Ausserirdischen. Tod und Ausbeutung stehen gegen Unabhangigkeit und Freiheit. Dieser Kampf erreicht Dimensionen, die den Weltuntergang heraufbeschworen. AuslOser der Apokalypse sind die Aliens, glitschige Wesen mit Saugtentakeln und Quallengehirnen. Sie werden durch ihre ZerstOrungswut, Andersartigkeit und aggressi ve Ausbeutungsabsicht charakterisiert. Das Bose aus dem All bricht von Aussen über die Menschheit herein, die damit zum Opfer der Apokalypse wird. Die Erdlinge werden von einem mannlichen Triumvirat reprasentiert, das sich aus dem amerikanischen Pdi.sidenten (Bi11 Pullman), einem weissen Wissenschaftler (Jeff Goldblum) und einem schwarzen Jetpilot (Will Smith) zusammensetzt. Gemeinsam verkorpern sie ein mannliches Identitatsmodell, das auf Überlebenskampf, gewaltsamer Durchsetzung von Eigeninteressen und Rechtfertigung der Gewalt beruht. Durch das phantastische Element des Science-Fiction wird die Apokalypse zu einem zukünftigen Ereignis, das jedoch bald eintritt und dabei auf einem faszinierenden Mechanismus der Projektion beruht: Das Bose und Damonische wird auf einen ausserirdischen Aggressor projeziert. Die Aliens übernehmen die Funktion des apokalyptischen Tieres. Sie sind das identitatsbedrohende Andere, das Unbekannte, das strukturzerstOrende Chaos und gleichzeitig die Personifikation des Bosen. Das Tier zerstOrt die Statussymbole des US-amerikanischen Freiheits- und Demokratiemodells: das Weisse Haus, die Freiheitsstatue, samtliche amerikanischen Grossstadte. «Independence Day» bedient sich der Genrekonventionen des Katastrophenfilms und des Science-Fiction. Darüber hinaus - und das macht den Film für die Fragestellung des Artikels interessant - benutzt Emmerich die apokalyptische Spannungsdramaturgie. Die Grundopposition zwischen guten und bõsen, zwischen gõttlichen und gegengottlichen Kraften, die in unausweichlichem Streit liegen, bildet den Ausgangspunkt der apokalyptischen Tradition (Buch Daniel, Offenbarung des Johannes). Gottes Gegenwart und menschliches Heil gibt es nur noch durch den Abbruch der Geschichte. Weil die gegenwartige Zeit innerweltlich unwiderrufbar zerstOrt ist, ist ein radikaler Neuanfang der einzige Ausweg: Blutbader und Gerichtsfeuer kosmischen Ausmasses brechen über die Menschheit herein, bevor der heilige Rest - die Überlebenden - in einer gewaltlosen
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und freundlichen Welt leben wird. 7 Diese Grundkonstellation bildet das dramaturgische Prinzip von «Independence Day». Die Überwindung des Tieres bzw. der Aliens geschieht im Film jedoch nicht durch den Eingriff einer gõttlichen Macht, sondern durch Menschenhand. Das mannliche Triumvirat besiegt die Invasoren und wird im euphorischen Happy-End als heldenhafte Trias gefeiert. Der radikale Neuanfang ist im nachmetaphysichen Zeitalter nach dem Tode Gottes - zu einer Bewegung der gewaltsamen Selbsterlõsung mutiert. Wer auf der Ebene der Handlung und der Konfliktstruktur so deut1ich mit der Grundopposition Gut / Bõse operiert und Gewalt als Mittel der Konfliktlõsung durchgangig rechtfertigt, verschlüsselt seine Botschaft in der Regel nach einem einfachen asthetischen Muster. Emmerich benutzt alle Register einer Asthetik der Überwiiltigung und verfãllt dem autoritaren Gestus der apokalyptischen Darstellung. Im Zentrum stehen die Special Effects, die zum heimlichen Star des Films avancieren: die explodierenden Feuerwalzen, riesige Raumschiffe, Laserwaffen und die phanomenale Zerstõrung des Weissen Hauses. 8 Das Identifikationskino dramatisiert und emotionalisiert die Wahrnehmungen der Zuschauer. Der Regisseur setzt auf einen euphorischen Zukunftsoptimismus und verpflichtet sich einer rechtslastigen Ordnungsideologie. Dieser Erzãhlstil bietet dem Betrachter im Film (rezeptionsasthetischer Aspekt) keinen Platz zur Reflexion. Der Zuschauer bzw. die Zuschauerin wird durch die Special Effects überwaltigt. Die Strategie der Überwaltigung der Sinne durch starke Reize ist verbunden mit einer geschlossen Struktur des Films. Das HappyEnd erscheint als abschliessendes Ausrufezeichen. Die Helden bewahren sich als eindimensionale Vorbilder. Durch sie wird die N achahmung der Gewalt vorangetrieben und potenziert. 9 Natürlich sind Science-Fiction-Filme nicht bloss lasergetriebene Angstmaschinen, sondern enthalten Anspielungen auf irdische Verhaltnisse - vom Kalten Krieg (<<Star Trek») bis zur sexuellen Revolution (<
7
Vgl. Martin, Gerhard Marcel: Am Ende der Zeiten. Befreiung vom Hass, in: ZOOM 12/93, S. 8f.
8
Piotrowski, Christa: Paranoia und Sperma-Rauber aus dem Weltall. «Independence Day» bringt Amerikas Ufo-Rausch an den Tag, in: NZZ, 20.9.96. «Die Macher des 94er Kinohits «Stargate» haben mit Independence Day die Produktion der Hollywood-Effekt-Filme revolutioniert, indem sie mit Hilfe bahnbrechender SpecialEffect-Techniken Bilder kreierten, wie man sie nie zuvor im Kino gesehen hat.» Aus: Deutschsprachiges Presseheft, Twentieth Century Fox, 1996, S.7.
9
Koppel, Roger: All you nee d is love. Zum Multimillionendollartrash «Independence Day». Roland Emmerich zerstOrt Nordamerika, in: Tages-Anzeiger, 18.9.96.
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Wunschfantasien einer Frau unter lauter Mannern, Steven Spielbergs «E.T.» von einem Kind ohne Freunde. George Lucas' «Star Wars» handelt von einer Inzestliebe, die als õdipale Initiationsgeschichte erzahlt wird.lO Vor dem facettenreichen Hintergrund des Genres erscheint nun «Independence Day» als ei ne ausgeprochen eindimensionale Oberflachenapokalypse. Kein Subtext ist vorhanden. Der Film setzt auf die Botschaft «Gemeinsam sind wir stark!» Auf der thematischen Struktur insistiert Emmerich auf autoritare Ordnung und Zukunftsoptimismus. In der Ásthetik vertraut er vollkommen der Erzahlung durch Special Effects, der realistischen Darstellung der zerstõrerischen Ereignisse und damit der Überwaltigungsstrategie.
3. Am Ende des Millenniums: «Strange Days» Die letzten beiden Tage des Millenniums bilden das Szenario für Kathryn Bigelows pessimistischen Blick auf die mõgliche Zukunft der Mediengesellschaft. «Ort des Geschehens ist Los Angeles, die Stadt der sozialen Unruhen und Rassenkonflikte im Ausnahmezustand. Eine Art Endzeitstimmung liegt über der Stadt, die Menschen beginnen einen Tanz auf dem Vulkan, weil sie nicht wissen, was sie im nachsten Jahrtausend erwartet, ob sie überhaupt noch etwas erwartet. Die Welt steuert auf den Abgrund zu, aber niemand kümmert sich darum.»ll Strange Days, hysterische Tage sind angebrochen. Das Leben in der apokalyptischen Grossstadt treibt die Figuren durch eine schwindelerregende Achterbahn der Gefühle. Im Mittelpunkt der Geschichte steht Lenny Nero (Ralph Fiennes), Ex-Polizist und Lebenskünstler, der sich als schmieriger Produzent und Dealer von Cybersex-Disketten sein Geld verdient. Sein Geschaft basiert auf dem neuen Medium SQUID. Ein Haarnetz voller Elektroden, gekoppelt mit einem CD-Gerat, zeichnet die Hirnstrõme des Tragers auf und kann sie für andere Benutzer abspielen. Alle Wahrnehmungen und Empfindungen lassen sich so als 30-Minuten-Clips speichern und abrufen. «Das ist Leben, ein Stück von jemandes Leben, direkt aus der Hirnrinde», schwãrmt Lenny und preist sich selbst als «Weihnachtsmann des Unbewussten» bei seinen Kunden an. Lenny ist selbst süchtig nach seinen Clips und konsumiert am liebsten Erlebnisse mit seiner ehemaligen Geliebten Faith (Juliette Lewis); erotische 10
Zu ak:tuellen Entwicklungen im Science-Fiction-Genre: Horst, Sabine: ScienceFiction. Sie sind mitten unter uns, in: ZOOM 5/97, S. 7-11. Sobchack, Vivian: Science Fiction, in: Gehring, Wes D. (Hg.): Handbook of American Film Genres, New York - Westport, Connecticut - London: Greenwood Press, 1988, S. 229-248. Hahn, Ronald M.; Jansen, Volker (Hg.): Das Heyne Lexikon des Science Fiction Films, München: Heyne, 1993.
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Kohler, Margret: Strange Days, in: Filmecho/Filmwoche 42/95, S. 30.
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Hõhepunkte, die Hingst verflossen sind. Faith hat ihre Liebe jedoeh der Gesangskarriere geopfert und lebt mit dem zwiespaltigen Plattenproduzenten Philo Gant zusammen. Gants grõsster Star, der politisehe Anti-Establishment Rapper Jeriko One wird in der Naeht auf den 31. Dezember 1999 unter mysteriõsen Umstanden umgebraeht, was die angespannte Lage in der Stadt an den Rand der Explosion treibt. Nun wird der Realitatsflüehter Lenny immer mehr in gesellsehaftliehe Widersprüehe verstriekt. Ein anonymer Tater spielt ihm einen Snuff-Clip 12 zu, das die Vergewaltigung und Ermordung seiner Bekannten Iris zeigt; und ausserdem jagen zwei Polizisten einem ominõsen anderen Clip hinterher und bringen jeden um, der sich ihnen in den Weg stellt. Eigentlieh mõehte Lenny nur seine geliebte Faith zurüekgewinnen, doeh die Umstande treiben ihn in die Rolle des engagierten Detektivs und Helden. Dabei unterstützen ihn tatkraftig die sehwarze Chauffeuse und Bodyguard Maee (Angela Bassett) und sein Freund Max, den er aus der Zeit bei der Polizei kennt. Die Hauptfigur, Lenny, wie aueh die Nebenfiguren, sind getrieben von Kraften, die ausserhalb ihres Willens und Einflusses liegen. Sie sind Objekte, die naeh den Gesetzen des Überlebenskampfs agieren. Das Mensehenbild ist gepragt vom sozial-darwinistisehen «survival of the fittest». Dies fügt sieh nahtlos in das Bild der apokalyptisehen Grossstadt: Alltagliehe Gewa1t auf den Strassen, brennende Autos, ein permanenter Belagerungszustand sowie ethnisehe Konflikte und Rassenhass pragen die Gesellsehaftssituation. Es herrseht ein Zustand der Anomie. Aus diesem Zustand gibt es nur zwei seheinbare Auswege: die Flueht in das mediale Erlebnis oder den Lifestyle. Die apokalyptisehe Stadt produziert eine Vielzahl von fiktiven Simulationswelten, die nun dureh das neue Medium SQUID real erlebbar werden. Dureh diese Multiplizierung der Erlebniswelten versehwimmen die Grenzen: Es entsteht eine Form der (kollektiven) Paranoia, die der realen Fiktion ihr Vertrauen sehenkt. Wer nicht als Medien-Junkie enden will, unterseheidet sieh dureh seinen Lifestyle von der Masse im Grossstadtdsehungel; etwa dureh die Seidenkrawatte von Lenny oder den harten Bodyguard-Stil von Maee. «Strange Days» entwirft ein beangstigendes Bild der J ahrtausendwende. Die Gegenwart von 1999 ist unübersiehtlieh und verworren. Die Mensehen sehnen si eh naeh einer Art Untergang. Max philosophiert mit seinem Freund Lenny über die Ersehõpfung der Krafte: «Alles ist doeh sehon gemaeht worden, was bleibt uns für die naehsten tausend J ahre überhaupt noeh zu tun?» Entspreehend zeiehnet der Film die Jahrtausendwende als Riesenparty; sozusagen als Mutter aller Partys, an der die Endzeit naeh dem Prinzip der Versehwendung orgiastiseh abgefeiert wird und das J ahr 2000 als die Rüekkehr zum absoluten Nullpunkt gilt. Der Zukunftspessimismus explodiert in Bildern der Gewalt. Von den Protagonisten überleben nur Lenny, Maee und Faith. Aber das Happy-End 12
Als «Snuff Movie» werden Filme bezeichnet, die die reale Vergewaltigung und TOtung eines Opfers zeigen.
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bleibt erbarmungslos zweideutig. Maee und Lenny finden sieh zum Sehluss in einer Umarmung, der Irrsinn allerdings bleibt ungeheilt. Die Aetion-Film-Regisseurin Kathryn Bigelow sehafft in Zusammenarbeit mit James Cameron (Drehbueh) ein ehaotiseh anmutendes Konglomerat von Stilelementen. Die Strange finden nicht organiseh zusammen, sondern bleiben disparat: «ein Aetionspektakel mit Anleihen beim film noir, eine GrossstadtApokalypse im Stil von Mathieu Kassovitz' «La haine», die kIar auf den Fall von Rodney King Bezug nimmt, und drittens ein fragmentariseher Diskurs über Medien und ihre Folgen für die Benutzer», stellt Miehel Bodmer fest. 13 Die Frage naeh dem Genre lõst viele Fragezeiehen aus. «Strange Days» lãsst sich wohl am treffendsten als ein apokalyptischer Porno bezeiehnen. Der apokalyptisehe Alptraum bietet den Rahmen der Handlung. Das Pornographisehe bezieht sich auf die reflektierte Art, den We1tuntergang zu sehen. Der Film lãsst sieh lesen als eine Kritik am V oyeurismus der Figuren und indirekt an jenem des Publikums. Die Clips, die als minutenlange plans séquenees mit subjektiver Kamera in den Film eingegossen sind, verführen zur Siehtweise des Reality TV. «Aus der We1t selbst wird ein globales Snuff Movie, in elektroniseh stimulierten Gehirnen lõsen sieh die Begrenzungen der Fiktion auf, das Bewusstsein versorgt sieh mit tausehend eehten Kopien der Realitat ... » 14 Anhand der ironisehen Breehung des Films im Film führt Bigelow einen kritisehen Diskurs über negative Entwieklungen der Mediengesellsehaft: Voyeurismus und Medialitat sowie Suehtpotential und Vereinsamungsrisiko werden thematisiert. Konsequent wahlt die Regisseurin die Erzahlstrategie der Desorientierung und Fragmentierung. Die Zusehauenden werden auf eine Aehterbahn der Gefühle gesehickt, die den Fi1m zum irrsinnigen Alptraum maehen. 15 Die nahe Apokalypse ereignet sich in der alltagliehen Pornographie der voyeuristisehen Mediennutzung. Mit «Strange Days» wird die Welt zum globalen Snuff Movie; ein Zukunftspessimismus, der si eh kaum überbieten lasst. AIs einziger Trost bleibt das aufgesetzte Happy-End: Lenny und Maee küssen sich, die Kamera fãhrt naeh oben weg und gibt den Bliek frei auf die Euphorie der Endzeit-Sylvester-Party. Ein Sehluss, der hinter die Virtuositat der Inszenierung zurüekfallt und die Vermutung aufkommen lãsst, dass die Regisseurin auf den «final eut» verziehten musste und das Ende naeh dem Willen des Produzenten montierte. Doeh der kalkulierte Irrsinn bleibt in seiner Wirkung bestehen. Mit den Mitteln des Hollywood-Kinos dekonstruiert Bigelow die 13
Bodmer, Michel: Strange Days, in: ZOOM 2/96, S. 36.
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Schneider, Christoph: Auf ein frohes neues Jahrtausend! «Strange Days» - Sciencefiction aus der nahen Gegenwart, in: NZZ, 5.2.96.
15
Unter dem Titel «Urban nightmare colors beschreibt der Kritiker von Variety das Werk folgendermassen: «This daring and powerful film shrewdly anticipates a future in which visual entertainment is increasingly rooted in pure sensation.» Variety 35/95, S. 71.
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Erzãhlkonventionen, experimentiert mit dem Chaos der Mõglichkeiten und zeigt, was apokalyptische Bildhaftigkeit an Reflexion auslõsen kann. Damit wird «Strange Days» zum thematischen und asthetischen Gegenstück zu «Independence Day». Statt Ordnung und euphorischen Optimismus zu zelebrieren, zeichnet der Film ein pessimistisches Endzeitchaos. Die Vision vom Untergang Hisst durch das offene Ende und die reflektierte Ásthetik allerdings einen Ausweg offen.
4. Wenn die iiussere Wirklichkeit zerbricht: «The Day After»
«Die Medien leben von den Endzeit-Katastrophen.»16 Doch was geschieht, wenn ein Fernsehsender zur Steigerung seiner Einschaltquoten den endgültigen Nuklearschlag in dokumentarischem Stil auf den Bildschirm bringt? «The Day After» von Nicholas Meyer pragte 1983 die õffentliche Diskussion über die reale Mõglichkeit des Atomkriegs. Der Film - produziert von der amerikanischen Fernsehkette ABC - wurde zum Inbegriff des We1tuntergangsszenarios in den achtziger Jahre. Im ersten Teil schildert der Film Alltagsszenen der Bevõlkerung von Kansas City, die geographisch im Zentrum der Vereinigten Staaten lebt. Im Stil einer Familien-Serie werden die Figuren als Typen eingeführt, etwa der Farmer und seine Familie, der schwarze Soldat, das junge Paar, die schwangere Frau, der Chirurg. Die Stãrke des Fernsehfilms liegt im Drehbuch, das die Perspektive einfacher und netter Leute einnimmt, die der Krieg wie aus heiterem HimmeI trifft. Die Kriegsmeldungen aus Europa nehmen sie zuerst nicht ernst. Und als die Raketen aufsteigen, rennen sie wild durcheinander. «Wahrend rund fünf Minuten demonstriert der Film nun die Primãrwirkungen eines Atomschlags, wobei teilweise authentisches Material verwendet wird: der gewaltige Blitz, die Hitze, die Schockwelle, der Feuersturm und die Zerstõrung. Die Montage von echtem mit getricktem Material ist geschickt und wirkt glaubwürdig: So kõnnte es sein; nicht Science Fiction, sondern schreckliche Wirklichkeit.»17 Im zweiten Teil konfrontiert der Film den Zuschauer und die Zuschauerin mit den Bildern vom «Tag danach». «Das ganze Arsenal des Schreckens wird mobilisiert, um zu illustrieren, wie die Atombombe unter welchen Bedingungen wirkt: Alles ist da zu sehen, vom elenden Flüchtlingslager bis zum überquellenden Spital, von der verbrannten Erde bis zur zerstõrten Stadt, vom Chaos allenthalben bis zur heroischen Aufopferung, von den Strahlenopfern bis zu den vorlaufig Überlebenden.»18 Die Botschaft ist überdeutlich: Die 16 Thull, aaO., S. 66. 17
Mühlemann, Urs: The Day After, in: ZOOM 24/83, S. 9.
18 Ebd. 117
Überlebenden erleiden im Vergleieh zu den Toten das fatalere Sehicksal. Und dennoeh gibt es zum Sehluss ein versohnliehes Zeichen. Der vom Tode gezeichnete Dr. Oakes (Jason Robards) wankt dureh die Trümmer von Kansas City und sueht naeh seinem Haus. Er entdeekt im Sehutt die Uhr seiner Frau; ein paar Strahlenopfer sehauen der Szene zu. Ihnen wirft Oakes ins Gesicht: «Versehwindet aus meinem Hausl» (Genau so fangen Kriege an.) Der Arzt wendet sich ersehopft ab und sinkt auf die Knie. Einer der Todeskandidaten nahert si eh ihm und legt ihm trostend den Arm über die Sehulter. «In seinem beseheidenen stilistisehen Ehrgeiz ist eine typisehe amerikanisehe Fernsehproduktion. Drehbuehautor Edward Hume bedient sich der durch unzahlige Soap-Operas gefestigten Stereotypen und Klisehees; Regisseur Nicholas Meyer setzt seine Figuren gradaus ins Bild und versueht gar nieht, mit einer differenzierten Montage jene Zwisehenraume zu sehaffen, in die sich Bewusstsein und Kritik seiner Zusehauer einnisten konnen ... alle Bilder sind ziemlieh flaeh, aufs Wesentliehe besehrankt.»19 Trotz dieser . Mangel funktioniert «The Day After» in seiner Fernsehdramaturgie. Es handelt sieh um einen populiiren Blick au! den Weltuntergang, der mit den Mitteln des Betroffenheitskinos die Angst vor dem nuklearen Krieg sehürt. Dabei ist der Effekt und die Vereinfaehung wiehtiger als die differenzierte Umsetzung. «Unzweifelhaft und unausweichlieh hat der Film verharmlosenden Charakter. Absichtlieh lasst er den Hergang der Katastrophe offen, liefert keinen politisehen Zusammenhang, keine Begründung und bleibt folglieh ganz an der Oberf1aehe. Am Tag danaeh geht es den Mensehen in Kansas zwar ziemlieh sehleeht, aber immerhin geht es ihnen noeh. Die atomare Katastrophe sehrumpft in diesem Film aufs Fernsehformat. Und dennoeh maeht er den Zusehauer betroffen.»20 Die Dramaturgie von «The Day After» maeht die Grenzen der Darstellung des Weltuntergangs als reale Wirklichkeit deutlich. Es handelt sieh hier um Fernsehrealismus, nieht um Realitat. 21 Der Weltuntergang kann prinzipiell nur als moglieher gedaeht und inszeniert werden, sonst ware aueh niemand mehr da, um sich die Filmbilder anzusehen. Aus der Sieht der jüdiseh-ehristliehen Apokalyptik ware vielmehr eine doppelte Wirkliehkeitsansage einzufordern: We1tuntergang und radikaler Neuanfang. Zur katastrophisehen Weltsicht gehort in diesem Kontext aueh gleiehwertig die esehatologisehe Perspektive; d.h. dureh die Enthüllung letzter Dinge im Untergang wird die Hoffnung auf ein 19 Schaub, Martin: Ein volkstümlicher Blick auf den Weltuntergang, in: Tages-Anzeiger, 10.12.83.
20 Greiner, Ulrich: Apocalypse now. Über den amerikanischen Film «The Day After» und neuere apokalyptische Romane, in: Die Zeit, 2.12.83.
21 Der Kommentar in der NZZ (25.11.83) beharrt auf diesem Unterschied und widersetzt sich damit dem Betroffenheitsjargon, wie er beispielsweise in der Basler Zeitung zum Ausdruck kommt. Hochhuth, Rolf: Hingehen, sich diesem Film aussetzen, in: Basler Zeitung, 3.12.83.
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erfülltes Leben sichtbar. «The Day After» bricht aus dem Spannungbogen von Weltuntergang und Neuanfang aus und inszeniert einseitig den Untergang der realen Wirklichkeit als Nuklearbomben-Katastrophe. Was übrig bleibt sind ein dumpfes Ohnmachtsgefühl und eine angstbesetzte Kontrasterfahrung: So geht es nicht! Diese Filmbilder kõnnen trotz aller Drastik den Tod nur verharmlosen.
5. Wenn die psychische Eifahrungswelt implodiert: «Lost Highway» Die Inszenierung des' Weltuntergangs bezieht sich haufig auf eine explosive Bewegung in der ausseren - sozialen und õkologischen - Wirklichkeit. Sie kann sich allerdings auch auf seelische Erfahrungen beziehen. Die EndzeitKatastrophe wird dann zum archetypischen Bild, das einen psychischen Zusammenbruch andeutet. Der «edebte Weltuntergang»22 wird entweder als Explosion oder als Implosion dargestellt. Als ein Beispiel für die Metaphorik der Explosion beziehungsweise des reinigenden Feuers kann Andrej Tarkowskijs «Offret» gelten. 23 Die im Kino seltener verwendete Zeichenhaftigkeit der Implosion greift David Lynch in «Lost Highway» auf. Auf den ersten Blick geht es in «Los t Highway» um die Geschichte eines schizophrenen Mõrders, der nicht nur mental, sondern physisch in eine andere Person schlüpft. Der Saxofonspieler Fred Madison (Bill Pullman) und seine Frau Renee (Patricia Arquette) leben in einer luxuriõsen Villa. Ihre Beziehung leidet unter Misstrauen und schleichender Entfremdung. Eines morgens erhalt Fred über den Hausfunk eine seltsame Nachricht: «Dick Laurent is dead». Weder weiss er, wer Dick Laurent ist, noch wer ihm diese Nachricht zugespielt hat. In den folgenden Tagen liegen mysteriõse Videokassetten in der Post, die zeigen, dass jemand in das Haus der Madisons eingedrungen ist. Nachdem Fred auf einer Party einen geheimnisvollen Mann kennenlernt, der behauptet, er sei gleichzeitig auf der Party und auf «Einladung» von Fred auch in seinem Haus (und dies durch einen Telefonanruf beweisen kann), sind Fred und Renee dem Eindringling vollstandig ausgeliefert. Auf dem dritten Video sieht Fred die Ermordung seiner Frau und bricht zusammen. Ein Schlag ins Gesicht 22 Vgl. Martin, Gerhard Marcel: Weltuntergang. Gefahr und Sinn apokalyptischer Visionen, Stuttgart: Kreuz Verlag, 1984, S. 47-60.
23 «Offret», Andrej Tarkowskij, Schweden/Frankreich 1985/86. Green, Peter: Apocalypse & Sacrifice, in: Sight & Sound 56/2, spring 1987, S. 111-118. Ulrich, Franz: OffretlSacrificatio, in: ZOOM 2/87, S. 10-14. Seidel, Hans-Dieter: Untergang. Tarkowskis letzter Film, in: FAZ, 8.1.87. Larcher, Gerhard: Gewalt - Opfer Stel1vertretung. Ãsthetisch-theologische Spiegelungen im zeitgenossischen Film, in: Niewiadomski, Józef; Palaver, Wolfgang (Hg.): Vom Fluch und Segen der Sündenbocke, Thaur 1995, S. 179-197.
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weckt ihn beim Polizeiverhõr. Er wird angeklagt und für schuldig befunden. Zum Tode verurteilt sitzt Fred in seiner Zelle und leidet unter starken Kopfschmerzen und Wahnvorstellungen. Eines morgens schauen die Wachter mit grossem Erstaunen durch die Lucke der Gefangnistüre und sehen einen anderen Mann in der Zelle. Es handelt sich, wie Polizeirecherchen ergeben, um den jungen Pete Dayton, ein Automechaniker, der lediglich als Kleinkrimineller bekannt ist. Seine Eltern holen ihn aus dem Gefangnis und bringen ihn zurück nach Hause. Pete nimmt seine Arbeit in der Garage wieder auf. Sein bester Kunde ist der Mafiagangster und Pornoproduzent Mister Eddy, dessen teure Luxuswagen er pflegt. Als Alice Wakefield, die Freundin von Mister Eddy, auftaucht und sich an Pete heranmacht, wird es für die beiden gefahrlich. Der Gangster und Übervater Eddy kommt hinter die Sache und bedroht Pete. In diesem Moment taucht der geheimnisvolle Mann auf, den wir bereits (im ersten Teil) kennengelernt haben. Alice stiftet Pete zu einem Überfall mit tõdlichen Konsequenzen an. Gemeinsam flüchten sie in die Wüste und dort geschieht wiederum eine Transformation. Pete verwandelt sich zurück in Fred und wird erneut zum Mõrder, diesmal an seinem Übervater Mister Eddy alias Dick Laurent. Lynch erzahlt die Geschichte nichtlinear. Die Erzahlung bewegt sich wie in einer Endlosschlaufe. Verstõrend ist dabei, dass die Bilder keinen Inhalt mehr haben, denn sie sind ihr Inhalt; oder in einer Kurzformel: Die Form ist der Inhalt, der aus reiner Form besteht. Das asthetische System des Films basiert auf dem Prinzip der Selbstbezüglichkeit. Statt das Leben abzubi1den, bringt Lynch ein eigenes Leben hervor. Aber diese Welt - auch Lynchville genanntist nicht bewohnbar. Sie besteht aus Bildern, denen es vor sich selber graut. «Doch diese neuerliche Reise in die Schattenseiten der See1e und die dunklen Bereiche, die jenseits der integralen liegen, ist mehr als Lynchs frühere Filme zugleich auch eine Untersuchung über die eigenen Mittel, ein Film, der vielleicht am ehesten mit Douglas R. Hofstadters Buch über zu verstehen ist, als cineastischer Versuch über Selbstbezüglichkeit und das endlos geflochtene Band.»24 Die Versuchsanlage der stetigen Selbstreflexion und Spiegelung lasst sich auf mehreren Niveaus lesen. Auf einer ersten Ebene funktioniert der Film als eine Entfremdungsphantasie. Das Leben dieses jungen Paares enthalt alles, was zu einer schleichenden Entfremdung gehõrt: die Schwierigkeit, offen miteinander zu sprechen, sexuelle Probleme, die al1taglichen Spiele der Gemeinheiten auf einer Party, das Misstrauen und die Lüge. Wie in einem Psychothriller mündet die Entfremdung in eine Tõtungsphantasie. Die untreue Frau, ihr Liebhaber 24 Seesslen, Georg: Ein endlos geflochtenes Band: Lost Highway von David Lynch, in: Filmbulletin 2/97, S. 22. Zum filmischen Werk des Regisseurs: Seeslen, Georg: David Lynch und seine Filme, 3. erweiterte Aufl., Marburg: Schüren, 1997. Die folgenden Zitate sind der Zeitschrift Filmbulletin entnommen.
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Filmstill aus Lost Highway von David Lynch Copyright © CIBY 2000 - ASSYMETRICAL PRODUCTIONS und der sadistische «Vatef» werden umgebracht. «Aus der seelischen und partnerschaftlichen Krise ergibt sich eine Zeitschleife, die keinen wirklichen Weg mehr nach aussen sieht.»25 Auf einer zweiten Ebene lasst sich «Lost Highway» als ein «phantastischer Film» lesen, der jedoch die gewbhnliche Dramaturgie des Genres durchbricht. Es geht um den bekannten FIot, dass einer bürgerlichen Familie ihr eigenes Haus zur Falle und zur Obsession wird. «Es erweist sich stets als labyrinthischer, als es gedacht war, es entwickelt seine geheimen Raume, lOst die Perspektiven auf und lasst die Menschen eine gefahrliche Wandlung durchlaufen, an deren Ende sie sich gegenseitig zu Mbrdern werden. Das Haus wird zum Geburts- und Todesraum, es wird aber auch zu einer Festung, in die der Feind schon eingedrungen ist, bevor sie richtig fertiggestellt oder bewohnt wird. Eine beobachtende Instanz also ist in dieses Haus gedrungen, dringt immer wieder ein, das zugleich eine symbiotische Gemeinschaft mit dem Mann hat. <Es> nimmt wahr, was Fred nicht wahrnehmen kann.»26 Der sich aufspaltende Geist, verkarpert im Mystery Man, weist darauf hin, dass er auf eine bestimmte Weise «eingeladen» wurde, und dieser Geist ist wahrscheinlich niemand anderer als das marderische Base
25 AaO., S. 25. 26 AaO., S. 28. 121
in Fred, das zu der dreifachen Tõtungsphantasie führt. Der Mystery Man als Medium der Verwandlung deutet auf multiple Züge der Hauptfiguren Fred und Pete hin. Doch Lynch ist hier nicht primar an der Geschichte einer Pathologie interessiert. Er übernimmt vielmehr die multiple Struktur als Schlüssel für die Dramaturgie des Films. Darin verknüpft sich das Phantastische mit dem Alltãglichen auf paradoxe Weise. Es würde sich dabei um eine Paradoxie handeln die insinuiert, dass das Normale die Innenseite des Phantastischen ist. «Als drittes Erklarungsmodell ergibt sich die Genese einer Schizophrenie, deren jewei1ige Schübe stets ausgelõst werden durch das Verhalten der Partnerin. Man kõnnte diese Ebene der Erzãhlung ... die innere Schilderung einer Auflõsung von Person, Perspektive und Wahrnehmung» nennen. 27 Auf diesen Prozess der Entwicklung einer Schizophrenie 28 deuten die mehrfachen Spiegelungen der Personen hin, die Transformation von Fred in Pete und deren Rückverwandlung sowie die daraus resu1tierende Doppelprojektion der Frau, gespalten in Renee und Alice. Lynch geht es auf dieser Ebene um die schmerzhafte Erkenntnis, «dass der Mensch in Wahrheit nicht eins, sondern wahrlich zwei ist» - wenn er nicht sogar in ein «ganzes Gemeinwesen vielfãltiger, inkongruenter und unabhãngiger Existenzen» zerfãllt. 29 «Seit ihrer Entdeckung durch Robert Louis Stevenson - beziehungsweise dessen Romanfigur Dr. Jekyll - und durch Freud, kann die strukturelle Gespa1tenheit als zentrale Bestimmung des Subjekts gesehen werden, und Lynch ist sicher der derzeit aktuellste Inszenator dieser condition moderne.»30 Ihr entspricht die dramaturgische Implosion der Hauptfigur in «Lost Highway» Aber auch die Erzãhlperspektive ist von dieser Gespaltenheit infiziert. Genauso wie dies ein Film über einen schizophrenen Mõrder ist, liesse sich auch sagen, dass dies ein mõrderisch schizophrener Film über einen Saxofonspieler ist. Die Figuren ringen mit dem Autor um die weitere Entwicklung der Handlung und entgleiten seiner Kontrolle. In diesem Sinne bekennt sich Lynch zur condition moderne und lõst dadurch eine multiple Spaltung der Deutungsmõglichkeiten aus. 31 Am Ende kehrt Fred zurück an die Tür seines Hauses und spricht in die Funkanlage den mysteriõsen Satz: «Dick Laurent is dead.» Die endlose 27
AaO., S. 29.
28
Riemann, Fritz: Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie, 13. Aufl., München - Basel: Ernst Reinhardt, 1978.
29
Stevenson, Robert Louis: Dr. Jekyll und Mr. Hyde, (übersetzt von Hermann Wilhelm Draber), Stuttgart: Rec1am, 1984, S. 82.
30
Derendinger, Franz: Ku1tregisseur als Archaologe: David Lynchs «Lost Highway», in: ZOOM 6-7/97.
31
Franz Derendinger interpretiert die Beziehung zwischen Fred und Renee (bzw. deren Spiegelungen) als einen Konflikt zwischen Anspruch und Begehren des Mannes. Georg Seesslen deutet darauf hin, dass sich hier auch um ein asthetisch-philosophisches Gleichnis über Abbild und Erfahrung handelt.
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Schlaufe schliesst sich und die «psychogene Fuge» nimmt ihren Lauf. Das Leitmotiv des Highways - die rasante Beschleunigung über den Mittelstreifen, der nervos hin und her springt - erscheint jetzt als eine Form der Dezentrierung, als Verlust der Mitte. Die multiple Personlichkeitsspaltung erfasst nicht nur die Figuren und den Autor (seinen Erziililstil), sondern auch die ZuschauerInnen. Dadurch wird im Filmerlebnis «Lost Highway» deutlich, was eine chronische Nicht-Identitat bedeuten kann. Wenn die psychische Erfahrungswelt implodiert und sich auflost, kann dieses Erlebnis die Dimension des Weltuntergangs annehmen. Das Bild dieser Implosion ist jedoch nicht nur ein Krankheitssymptom, das sich relativ einfach auf den Autor Lynch als Psychopathen übertragen liesse. In der Imagination der Zerstõrung liegt gleichsam das Geheimnis, das zur Rettung der erlebten Welt vor der Zerstõrung beitragen kann. 32 «Lost Highway» wird zur heilenden Metapher ex negationis. Sie artikuliert eine kollektive Befindlichkeit als Kontrasterfahrung zur eigenen Ambivalenz und Gespaltenheit. Dadurch wird der psychotische Thriller in der Endlosschleife zum bewegenden Bild für die Deutung der eigenen Existenz. Lynchs Geschichtsphilosophie orientiert sich an der «Wiederkehr des Immergleichen» , auch wenn wir am Ende spiegelverkehrt in den Anfang zurückkehren. Mit der apokalyptischen Geschichtsdeutung zwischen Weltuntergang und radikaleni Neuanfang hat «Lost Highway» gar nichts gemeinsam. Der Film bildet vielmehr die eigent1iche Gegenbewegung zur apokalyptischen Dramatik. Damit wird deutlich: Das Weltende ist nicht gleichbedeutend mit der Apokalypse, sondern eine ihrer Metaphern. Wenn wir jedoch «Apokalyptik als Enthüllung der Wirklichkeit im Untergang» verstehen, zeigen sich doch Parallelen. Es handelt sich aber um Parallelen zwischen zwei Weltsichten. Diese sind in verschiedene geschichtsphilosophische Denkhorizonte einzuordnen. 33
32
Vgl. Martin: Weltuntergang, S. 57ff.
33
Stegemann, Wolfgang: Sehnsucht nach der Reinheit. Zum apokalyptischen Daseinsverstandnis, in: Sommer, Wolfgang (Hg.): Zeitenwende - Zeitenende. Beitriige zur Apokalyptik und Eschatologie, Stuttgart: Kohlhammer, 1997, S. 67ff.
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6. Schwebende Traumlogik zwischen Narration und Bildhaftigkeit: «Konna yume wo mita» / «Dreams» Akira Kurosawa realisierte mit «Konna yume wo mita / Dreams» einen sehr persõnlichen Film, der sich den archetypischen Erfahrungen des Traums widmet. 34 Der japanische Originaltitel bedeutet: «Ich habe solche Traume gesehen». Die Subjektivitat des Blicks ist damit bereits angedeutet. «Das traumt, doch danach spricht es als Augenzeuge. Es hat Traume gesehen und wohl auch, wie Novalis, vom Sehen getraumt. Es sagt: .»35 Dennoch ist die Abfolge der acht Episoden nicht beliebig, sondern gehorcht einer Logik des fragmentarischen Erzahlens. Kurosawa grenzt die acht Traumfragmente durch Schwarzblenden und Titel voneinander ab. «Sonne, die durch den Regen scheint» «Der Pfirsich-Garten» «Der Schneesturm» «Der Tunnel» «Kdi.hen» «Fujiyama in Rot» «Der weinende Menschenfresser» «Dorf der Wassermühlen» Auf den ersten Blick scheinen die beiden Alptraume «Fujiyama in Rot» und «Der weinende Menschenfresser» für die Auseinandersetzung mit den Fragen der Apokalyptik pradestiniert. In diesen Episoden schickt der Regisseur sein alter ego auf einen schreck1ichen Trip. «Fujiyama in Rot» erzahlt von einer Atomreaktor-Katastrophe. In der folgenden Geschichte geht es um die Folgen dieser Weltvernichtung: Menschen, die zu Monstern geworden sind, eine verwüstete Landschaft, mutierte Planzen. Doch gerade die explizite Auseinandersetzung mit dem Untergang der ausseren Wirklichkeit wirkt harmlos und aufgesetzt. Der Fujiyama schmilzt, die Atomkraftwerke explodieren, die Erde verbrennt, die Menschenmassen flüchten in Panik, aber man glaubt keinen Augenblick an die apokalyptische Brisanz. Die Damonen heulen am Blutsee und büssen für die Verseuchung mit unertraglichen Schmerzen, doch das Grauen wi1l nicht so richtig aufkommen. Die Bi1der des realen Weltuntergangs und seiner Folgen wirken eindimensiona1. Das Symbolische, Ratselhafte und Magische, das die übrigen Episoden auszeichnet, fehlt den beiden Sequenzen. Die handliche und kaum verschlüsselte Aussage, dass der Lebensraum der Mensch34 «Konna yume wo mita I Dreams», Akira Kurosawa, USA I Japan 1990. Im Text mit dem englischen Kürzel «Dreams» bezeichnet.
35 Belser, Lorenz: Konna yume wo mita, in: ZOOM 11190, S. 5. 124
heit durch nukleare Energiefonnen bedroht ist, liegt zu deutlich an der Oberflache des Bildtextes. Die Narration lõst sich zu stark von der Bildhaftigkeit des Traums. Akira Kurosawa ist - von seiner Filmographie her gesehen - kein Regisseur mit kindlichem Blick, der sich für Spiele und Verwandlungen interessiert. Die wichtigen Themen seines fi1mischen Werkes sind Schlachten , Kriege und Verbrechen. Seine Geschichten sind episch und monumental angelegt, die Helden wirken überlebensgross. Das «Erhabene» - «das, mit we1chem in Vergleichung alles andere klein ist», wie Kant es definiert - ist Kurosawas Element. Etwa der Schrecken und die reine Gewalt in «Sanjuro» (1962), das Ringen um die Wahrheit in «Rashomon» (1950) oder der Vernichtungskampf der Machtigen in «Ran» (1985). Kurosawas Konzentration auf das Erhabene scheint in «Dreams» in das Spiel der Verwandlungen überzugehen; in die Logik des Traums. «Al1es kehrt wieder, alles kommt noch einmal vor: der Augenblick des Schreckens, das Ringen mit dem Tod, die Geister der Verstorbenen, der Weltuntergang. Aber alles ist seltsam gebandigt, verzaubert, in ein himmlisches Licht getaucht. Die Alptraume ziehen vorüber, der Fi1m endet mit einer Vision des Friedens. ist die Versõhnung des Erhabenen mit dem Kindlichen, der Tragõdie mit dem Mysterium. Akira Kurosawa spielt ein Spiel mit dem Tod und gewinnt. Im Traum geht die Welt unter, im Traum ersteht sie wieder auf. Denn es gibt keine Zeit in diesem Fi1m und also kein Schicksal, keine Geschichte.»36 Die Logik des Traums erfordert eine Bewegung weg vom zeitlich gegliederten Erzahlen in den bi1dhaften Raum. Das Symbolische, Ratselhafte, Magische, Unheimliche und manchmal einfach Unverstandliche gehõren zu den Eigenschaften, die diesen Raum authentisch gestalten. Von den acht Episoden sind gerade vier in diesem Raum angesiedelt. Die beiden Geschichten am Anfang «Sonne, die durch den Regen scheint» und «Der Pfirsich-Garten» leben von der visionaren Kraft authentischer Ur- und Kindheitstraume an sich. Der kleine fünfjahrige Akira wandelt trotz des Verbots seiner Mutter im Wald unter Baumen von scheinbar unendlicher GrÕsse. Er beobachtet heimlich die Hochzeit der Füchse, wird entdeckt und flüchtet nach Hause. Zur Strafe erhalt er von seiner Mutter ein Messer, in dem sinnbildlich gesehen langlebige Mannlichkeit steckt, und wird von ihr weggeschickt. Im letzten Bild der Initiations-Episode sieht man den Jungen in ei ne blühende Landschaft mit Regenbogen hineinwandern, um sich bei den Füchsen zu entschuldigen. Hinter den Bergen liegen unerforschte Lander, die es zu erkunden gilt. - Im zweiten Kindheitstraum sind die Pfirsichbaume im Garten von frevelhafter Hand gefallt. Der Junge wird von einem mysteriõsen Madchen in den Hain gelockt, wo ihm die Hina-Puppen des Ahnenaltars als lebendige 36 Kilb, Andreas: Mono-no-aware. Trauer um den F1uss der Dinge. Akira Kurosawas Traume, in: Die Zeit, 1.6.1990.
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Menschen entgegentreten. Als der Junge das Abholzen der Baume bedauert, erblühen sie für ihn noch einmal. Ein Regen von Pfirsichblütenblattern ergiesst sich über ihn. Dann ist der Zauber verschwunden und der Knabe steht allein vor einem winzigen, blühenden Baum. Im J apanischen gibt es einen eigenen Ausdruck für dieses Gefühl: mono-no-aware, Trauer um den Fluss der Dinge. Für den Knaben geht es hier im übertragenen Sinn darum, nicht einfach die Baume aufs eigene Mass zurückzuschneiden, sondern selbst in die Hõhe hinaufzuwachsen und das Gefühl der Trauer zu verarbeiten. Die vierte und fünfte Episode beziehen sich auf Akiras frühes Mannesa1ter. In «Der Tunnel» meI de n sich aus dem Jenseits die Geister einer Kompanie von Gefallenen zurück. Ihr Kommandant sieht sich mit diesen Geistern in Reih und Glied konfrontiert, nachdem er einen Tunnel durchschritten hat, der den Beginn eines neuen Lebensabschnitts markiert. Der Chor der Gefallenen erinnert den Offizier, der als einziger über1ebt hat, an das schreckliche Er1ebnis des Krieges. Mit einem verzweifelten «Ihr seid tot!» schickt er die Geister zurück in den Tunnel und wendet sich ab. Doch das «beissende» Schuldgefühl folgt ihm in Fonn eines roten, knurrenden Wolfshundes. Das «Ich» wendet sich nun dem Individualismus des angehenden Künstlers zu. In einer G al eri e betrachtet es verschiedene Bilder Vincent van Goghs, des exzentrischen und besessenen Vorbildes des jungen Mannes. «Trifft es zu, dass der Traum dem Traumer die eigene Person unter wechselnder Gesta1t vorgaukelt, dann begegnet Akira in der Episode einer Auspragung seiner selbst, wenn er in ein ausgestelltes Bild van Goghs hineinsteigt und, unter praller Sonne, mitten in einer typischen südfranzõsischen Landschaft auf den Künstler persõnlich trifft.»37 Doch die Begegnung ist kurz und wenig aufschlussreich. Der Meister entschwindet durch die gelben Kornfelder. Das «Ich» irrt durch die Bilder und findet sich zum Schluss in der Galerie wieder. Der Weg des Pinsels, der Landschaften erschafft statt sie durch Eingriffe (oder Katastrophen) zu zerstõren, endet in einer Enttauschung. In der symbolischen Veschlüsselung entwirft Kurosawa eine Traumlandschaft, die von der Trauer um den Fluss der Dinge gepragt ist. Durch die magischen Bilder der Initiation (1,2), durch die erfahrenen und prophetisch erahnten Schrecken der Zerstõrung im mittleren Lebensalter (4, 6, 7) und die versõhnliche Perspektive im idyllischen Leben des a1ten Mannes zum Schluss (8) erõffnet sich die Mõglichkeit einer Heilung. Auch wenn das «Ich» auf dem Weg der Malkunst eine Desillusionierung er1ebt (5), ergibt sich in dieser filmischen Traumlandschaft eine sinnstiftende Grunderfahrung. «So stellt die Kunst in Bildern wieder her, was von der fortgeschrittenen Zivilisation - und in ganz besonderem Mass von ihren hochentwickelten Kriegen - zunichtegemacht wird. Selbst den Tod hebt die Kunst in effigie wieder auf. Und genau in diesem 37 Lachat, Pierre: Hochste und Urform der Kunst. DREAMS von Akira Kurosawa, in: Filmbulletin 3/90, S. 14.
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Der Pfirsichgarten AKIRA KUROSA WA'S DREAMS © 1990 Warner Bros. Inc.
Sinn einer Restauration stellt der Traum, dem eigentlich gar nichts wirklich unmbglich ist, die hbchste Urform aller Kunst dar, und ihr wiederum kommt der Film zweifellos von den Einzelkünsten am niichsten.»38 Kurosawa hat mit den Mitteln der Filmkunst eine heilende M etapher geschaffen. In der «Traumlandschaft» sin d sowohl die abgrundtiefen Schuldgefühle als auch die Angst vor einem nahenden Weltende aufgehoben. In dieser filmischen Landschaft ist das Geheimnis zwischen Sinn und Tod geborgen. Die Vision von «Dreams» ware demnach dort vergegenwartigt, wo die Bilder der Zerstbrung und des Weltuntergangs in einen Neuanfang münden. Enthüllung (apokalypsis) der letzten Dinge ist allerdings nur in Bildern erfahrbar, die das Geheimnis zwar andeuten, aber nicht vollsUindig preisgeben. Damit ist auch gesagt, dass die Sprache des Traumes wohl die angemessenste Form der apokalyptischen Vision darstellt. «Dreams» hat auf der iisthetischen Ebene eine offenbarende Wirkung, weil der Film die Wahrnehmungsfahigkeit vertieft und in der inneren Erfahrungswelt heilende Bilder verankert.
38 Ebd. 127
7. Systematik der apokalyptischen Vision im Film Die fünf Filminterpretationen bilden zusammen den Versuch, das Feld der apokalyptischen Vision aufzuspannen. 39 Die Regisseure wahlten verschiedene Wege der Dramatisierung und Inszenierung. Vor der systematischen Darstellung dieser Bewegungen ist es ratsam, einige Hinweise auf die Grenzen der hier vorgelegten Filminterpretation zu geben. Die Beschreibung und Deutung der Filme im geschriebenen Wort kann Dimensionen des Werks aufschliessen. Sie bleibt aber auch immer beschrankt, da die Bilder durch ihre Mehrdeutigkeit darauf angelegt sind, immer weitere Konnotationen und Assoziationen anzuregen. Diese lassen sich in der Interpretation nicht abschliessend einfangen und «festschreiben». So gibt es auch immer Filmbilder, Einstellungen, Handlungselemente, die sich bis zuletzt gegen die entwickelte Interpretation strauben und so Widerstand gegen die abschliessende Deutung anmelden. Bei der Auswahl der Filme konzentrierten wir uns auf Werke, die einerseits Geschichtsbilder zwischen Weltuntergang und radikalem Neuanfang zeigen (dramaturgisches Schema) und andererseits mit asthetischen Stilformen eine Befindlichkeit am Ende der Zeiten40 aufgreifen. Anhand von zwei Schemen so11 eine Übersicht geschaffen werden, die die systematischen Mõglichkeiten vergegenwartigt, für welche sich die Regisseure jeweils entschieden haben.
39
40
Die Interpretationen sind das Ergebnis eines Fi1mseminars unter dem Titel «Apokalyptische Visionen im Film» an der Theologischen Fakultat der Universitat Freiburg (Schweiz). Brunotte, Ulrike: Endzeiterwartung und Jahrtausendwende. Literatur zu einem alten Thema, in: NZZ, 6.1.98. Cohn, Norman: Die Erwartung der Endzeit - Vom Ursprung der Apokalypse, Frankfurt a.M.: Insel, 1997.
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Thematische Ebene Auf der thematischen Ebene stehen die Strukturen der Handlung und der Konflikte im Mittelpunkt. Hier geht es um die Darstellung der Hauptfiguren (Menschenbilder), den Aufbau der Handlung (Geschichtsbilder), die Darstellung von Gesellschaft, Natur und Kosmos (Weltbilder) und die Darstellung des Religiosen. 41 In jedem dieser vier Felder geht es nun darum, die Rolle der apokalyptischen Bilder zu analysieren und einzuordnen. Aus den fünf exemplarisch durchgeführten Filminterpretationen ergibt sich ein Fadenkreuz mit vier Polen. Von diesen sind je zwei dialektisch aufeinander bezogen. Die Filme und ihre Bewegung sind hier als «Bewegungsvektoren» eingezeichnet. 42
Zukunftsoptimismus Erlosung
DR
DA
Chaos Ordnung Moglichkeit ...... ............... . ... ~ . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . .. .. . . ... Struktur IdentiHit Differenz
LH
Zukunftspessimismus Verdammnis
Abkürzungen: ID - Independence Day; SD - Strange Days; DA - The Day After; LH - Lost Highway; DR - Dreams.
41
42
Für die Aufschlüsselung der Filme wurde von den Autoren ein spezifisches Frageraster entwickelt, das auf einer bewahrten methodischen Sequenz von Fragen beruht. Die Uinge der Vektoren zeigt das Ausmass der Bewegung. Die Richtung verweist auf die Verschiebung des Schwerpunkts in der Handlungsebene.
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Asthetische Ebene Auf der Ebene der symbolischen Verschlüsselung untersuchen wir die filmgestalterischen Mittel, die Erzãhlperspektive bzw. den Erzãhlstil, das Genre und damit verbunden den asthetischen Anspruch des Werkes und die Rezeptionsasthetik, d.h. die Art und Weise wie die Betrachter angesprochen werden. In diesen vier Feldern wird nach der Inszenierung der Apokalypse gefragt und die asthetische Bewegung des Films untersucht. Auch auf dieser Ebene gibt es vier Grundrichtungen, die dialektisch aufeinander einwirken.
Narration (Zeitdimension)
DR
DA Innere Erfahrung Ãussere Wirklichkeit Psyche / Archetypen .. . .................... j....... .............. õkologisch, sozial politische Diagnose > Analyse > Mystagogik
l/
SD LH~ .-----~------
Bildhaftigkeit (Raumdimension)
Abkürzungen: ID - Independence Day; SD - Strange Days; DA - The Day After; LH - Lost Highway; DR - Dreams. Das systematische Raster hilft, die Bewegungsmuster der Filme aufzuzeichnen. Dabei sol1 die Zuordnung nicht als statischer Vorgang gedacht werden. Die «moving pictures» sind bewegte und bewegende Bilder, die auch im FaHe der Apokalypse ihre visionare Kraft erst im Kopf der Zuschauer entfalten.
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8. Kriterienfür eine iisthetisch reflektierte Wahrnehmung
Ein Gesprach zwischen Film und Theologie nãhert sich seinem unweigerlichen Ende. Doch bevor der Abspann beginnt, sollten einige Gedanken zur Bildphilosophie die Ergebnisse bündeln. Wir haben gesehen, dass sich die apokalyptische Inszenierung in der inflationãren Bilderflut auf ihrem ureigensten Territorium befindet. Kriterien zur Deutung und Einschatzung des Phanomens sind notwendig. So1che Kriterien für eine ãsthetisch reflektierte Wahrnehmung der Apokalypse wurden im Lauf der fünf Filminterpretationen entwickelt. 8.1
Die aktuelle Inflation apokalyptischer Rede und Darstellung lôst Skepsis aus. Der Anspruch, abschliessend über das Ende der Geschichte(n) zu referieren, kann ein Anzeichen von Anmassung oder autoritãrer Überheblichkeit sein. Die gesteigerte Aufmerksamkeit der Medien für das Thema und die Âsthetik des Apokalyptischen kann in zwei Richtungen interpretiert werden: Entweder ist sie Ausdruck für eine gesteigerte Sensibilitat gegenüber mõglichen Krisen mit kosmischem Ausmass, die von Menschen mitverschuldet sind; oder sie steht für eine «Apokalypse-Geilheit», die inflationãr vom Weltuntergang spricht und damit die ApokalypseBlindheit (Günther Anders) eher fõrdert statt aufbebt.
8.2
Generationen der spaten Moderne nutzen Technologien mit apokalyptischen Risiken. Sie tragen deshalb Mitverantwortung für mõgliche Katastrophen. Das Gros der medialen Katastrophen-Inszenierungen lãsst jedoch die Rezipienten ihren Anteil an Verantwortung nicht erkennen. Sie stürzen die Zuschauer mit den Mitteln der asthetischen Überwaltigung in eine Opferrolle, in der sie quasi unschuldig auf die starken Reize von aussen reagieren kõnnen. Psychohygienisch funktionieren die kommerziellen Medienapokalypsen wie Entlastungsschlage, in denen sorglose Tater sich zu Opfern imaginieren.
8.3
Im Rückgriff auf die apokalyptischen Texte (Buch Daniel, Offenbarung des Johannes) und ihre Wirkungsgeschichte empfiehlt sich eine ideologiekritische Sichtung. Angesagt ist eine kritische Beschãftigung mit den geschichts-philosophischen Mustern apokalyptischer Texte. Fruchtbar erscheint uns in diesem Zusammenhang die Hermeneutik der Befreiungstheologie. Als prophetische Kritik bieten die apokalyptischen Texte der Bibel Kriterien der Unterscheidung. Ihr Sitz im Leben ist das Leiden an einer sozialen Situation, die in der Perspektive des realistischen Handelns kaum verandert werden kann. Die heilsgeschichtliche Kraft der apokalyptischen Rede besteht darin, dass sie Ausdruck und Überwindung einer Situation ist, die von psychischer Lahmung und / oder gesellschaftlicher Marginalisierung gepragt wird. Die Ideologiekritik mahnt Vorbehalte 131
gegen den aktuellen main-stream apokalyptischer Rede an. Wenn etwa das Hollywood-Kino - wie zum Beispiel in «Independence Day» - gesellschaftliche Differenzen dramatisiert und das Fremde vernichtet. Die Ausschliessung richtet sich hier gegen das Marginale. 8.4
Die apokalyptische Darstellung in der bildhaften Vision bezieht sich als Bewegung auf die Gegenwart. Es geht um ZusUinde im Jetzt, in der gegenwartigen gesellschaft1ichen Situation. Sie beinhaltet verschlüsselt eine Kritik an der herrschenden Entfremdung. 43 Im Zustand der Ohnmacht hiilt die Vorstellung vom Weltuntergang verbunden mit einem radikalen Neuanfang die Zukunftsbilder in Bewegung. Die Hoffnung auf ein erfülltes Leben bleibt wach. 44 Die apokalyptische Vision ist an ihrer gesellschaftlichen Wirkung zu beurteilen.
8.5
Die Apokalypse ist keine Reportage der Zukunft. Aus dem biblischen Bildverstandnis der Offenbarung Hisst sich schliessen, dass die Apokalypse keine realgeschichtliche Situation erzlihlt oder einen Fahrplan für Zukünftiges darstellt. 45 Eine solche Vorstellung würde das Bilderverbot tangieren. Die apokalyptischen Visionen haben einen besonderen iisthetischen Mehrwert, der sich gerade nicht aus den Inhalten ableiten lasst. Die narrativen und bildhaften Strukturen apokalyptischer Rede lassen sich nicht restlos als Allegorien entschlüsseln und in ihre thematischen Gehalte auflõsen. Die heilsgeschichtliche Kraft dieser Enthüllungen ist wesentlich mit der Art verknüpft, wie die Dinge und die Welt gesehen werden. Der Blick richtet sich vom Ende her zurück in die Gegenwart und veriindert die Sehweise. Diese Grundbewegung in der apokalyptischen Eschatologie (Lehre von den letzten Dingen) entspricht dem filmischen Blick im Genre des apokalyptischen Science-Fiction. Auch hier geht es um die Sichtweise vom zukünftigen Ende zurück in die Gegenwart.
8.6
Kriterien moderner Asthetik im Sinne Adornos dienen als Korrektiv zur autoritaren Rede vom Ende der Welt. Moderne Kunst bzw. Offenbarung zeichnen sich aus durch einen hohen Grad an Selbst-Reflexivitiit. Sie kõnnen ihre heilsgeschichtlichen Potenzen vor allem dann entfalten, wenn sie sinnlich konkret, fragmentarisch (selbst die Weltuntergange
43
Füssel, Kuno: Im Zeichen des Monstrums. Zur Staatskritik der Johannes-Apokalypse, Freiburg: Exodus, 1988.
44
Richard, Pablo: Apokalypse. Das Buch von Hoffnung und Widerstand, Luzern: Exodus, 1996.
45
Trummer, Peter: Offenbarung in Bildern - Die Bilder der Offenbarung, in: Larcher, Gerhard (Hg.): Gott-Bild. Gebrochen durch die Moderne? Graz - Wien - KOln: Styria, 1997, S. 384-393.
132
sind nicht total) und auf die aktive Rezeption der Betraehter hin offen sind. Die modernen apokalyptisehen Stilfiguren wollen nieht überwaltigen und riehten si eh damit gegen das Identifikationskino aus Hollywood. Sie wollen angesichts der Brisanz ihres Themas in die Entseheidung rufen und somit die Selbstbewegung anregen. Die apokalyptisehe Darstellung ist an ihrer asthetischen Wirkung zu messen, namlieh inwiefern sie die Wahrnehmungsfahigkeit seharft oder abstumpft. Dabei stehen die Formen des Übergangs zwisehen Analyse (okologisehe und soziale Wirkliehkeit) und Mystagogik (seelisehe Struktur, Arehetypen) im Mittelpunkt. 8.7
In bezug auf die Inszenierung der Endzeit-Katastrophe im Film gibt es drei Funktionen, die den Stellenwert der apokalyptisehen Rede festlegen. Mit der autoritaren Stilfigur, wie sie in «Independenee Day» und als Betroffenheitsdiskurs aueh in «The Day After» vorkommt, geht es vor allem um Aufmerksamkeitslenkung. Der autoritare Gestus zeiehnet sieh dureh ei ne Inflation der Zeichen aus und führt zu einer Einengung der Wahrnehmungsfahigkeit. Die apokalyptisehe Darstellung kann darüberhinaus als ein Symptom für eine Pathologie bzw. für eine herrsehende Entfremdung gelten. In diesem Zusammenhang bieten vor allem «Strange Days», «Lost Highway» und teilweise aueh «The Day After» eine asthetisehe Strategie an. Bilder vom Weltuntergang kon nen auf einer dritten Ebene aueh als hei/ende Metapher wirken. Diese Funktion kommt besonders in der Traumlandsehaft von «Dreams» zum Ausdruek, in dem das Geheimnis naeh dem Zusammenhang zwisehen Sinn und Tod angedeutet wird. Auf diesem Weg der vertiefenden Wahrnehmung ermoglieht der Film eine sinnstiftende Grunderfahrung.
8.8
Weltuntergang als aussere Wirkliehkeit besteht konsequent gedaeht nur als reale Mogliehkeit. Die realistisehe Darstellung des Weltendes ist ein Widersprueh in si eh selbst. Dies hat die Auseinandersetzung mit «The Day After» gezeigt. Filme leisten im Feld der apokalyptisehen Imagination die Überschreitung von der ausseren Wirklickeit in die innerpsychische Eifahrungswelt. Auf diesem Weg der Übersehreitung kann die Metapher des Weltuntergangs eine heilende Dimension entwiekeln. 46 Die apokalyptisehe Vision ist angewiesen auf diese Bewegung in der inneren Erfahrungswelt, damit sie produktiv werden kann.
8.9
Die Auseinandersetzung mit der Tiefenpsychologie bzw. Psychoanalyse lohnt sich sowohl aus einem thematisehen als aueh aus einem methodisehen Grund. Ein wiehtiges Thema der Apokalypse ist die Auseinander-
46
Martin: Weltuntergang, S. 57-59. 133
setzung mit der Endlichkeit und mit der Art ihrer Wahrnehmung. In ihr spiegeln sich Grundformen der Angst und umgekehrt auch Moglichkeiten menschlicher Freiheit. Der Zusammenhang zwischen der Apokalypse und dem schizoiden Feld (multiple Personlichkeitsspaltung) begegnet in Filmen wie «Strange Days», «Lost Highway» oder «Apocalypse Now». Menschen konnen die Angst vor der Endlichkeit verdrangen, von ihr überwa1tigt werden oder auf sie ethisch-existentiell antworten. 8.10 Methodisch kann die Theologie im Dialog mit der tiefenpsychologischen Hermeneutik ein tieferes Verstandnis für die spezifisch asthetische Wahrnehmung von Kontrast- und Sinnerfahrungen gewinnen. Für die Auseinandersetzung mit der Apokalypse bzw. der Offenbarung erõffnen sich dabei zwei Perspektiven, die einander wenigstens teilweise ausschliessen. In Anlehnung an die Tradition von e.G. Jung arbeitet Eugen Drewermann allgemein archetypische Strukturen religiOser Rede heraus. Demgegenüber berücksichtigt Hartmut Raguse in seiner Methode - in der Tradition von Sigmund Freud - das Unverwechselbare authentischer Lebensgestaltung. 47 Für den Dialog mit der modernen Filmkultur als einem Komplex von Texten, der auf die Rezeption der Betrachter hin offen ist, scheint uns vor allem der Ansatz von Raguse fruchtbar. Zudem bietet dieser methodisch ein Korrektiv zur autoritaren Struktur apokalyptischer Rede, indem sich ihre Wahrheit nicht absolut, sondern erst im Kontext der existentiellen oder politischen Wahrnehmung erschliesst.
47
Raguse, Hartmut: Psychoanalyse und biblische Interpretation. Eine Auseinandersetzung mit Eugen Drewermanns Auslegung der Johannes-Apokalypse, StuttgartBerlin - KOln: Kohlhammer, 1993.
134
Beat A. F611mi
TOD ODER VERKLÃRUNG? Von der Neuen Musik und vom Ende der Musikgeschichte AIn 15. September 1945 wurde in Mittersill, in der Nahe von Salzburg, der osterreichische Komponist Anton Webern durch die Kugel eines amerikanischen Soldaten getotet. Sein Tod war eine tragische Zunmigkeit, denn die Kugel traf ihn aus Versehen und ohne Absicht. Webern starb im Alter von 61 Jahren, er war kaum bekannt und seine Musik selten gespieIt. Er hinterliess ein schmaIes Werk mit nur 31 Nummern, dazu einige Frühwerke und Bearbeitungen. Die GesamteinspieIung seiner Kompositionen nimmt drei CD-Scheiben ein, mit einer Spieldauer von weniger als vier Stunden. 1 Die Musik schien bis zum volligen Verstummen geschrumpft. Was in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts verheissungsvoll und selbstbewusst als Neue Musik angetreten war, hatten zwei Weltkriege und eine barbarische IdeoIogie geschwacht, zerstOrt oder in alle Welt vertrieben. Der krankelnde AIban Berg war bereits 1935 verstorben, Béla Bartók erlag seiner Krankheit ein Jahr nach Weberns Tod, Arnold Schonberg starb 1951 im amerikanischen Exil, ohne - genauso wie Bartók - je wieder europilischen Boden betreten zu haben. Seit dem ersten offentlichen Auftreten der Neuen Musik (etwa im Dezember 1908 beim legendaren Skandalkonzert mit Schonbergs zweitem Streichquartett op. 10) war ihr nahes Ende immer wieder vorausgesagt worden. Voraussetzung so1cher apokalyptischen Prophezeiungen war die allgemeine Überzeugung, dass die europilische Kunstmusik, spatestens seit der Renaissance, in einem ungebrochenen Traditionszusammenhang stehe. Im 19. Jahrhundert verband sich diese Vorstellung mit dem Glauben an den Fortschritt in der Kunst. In diesem Zusammenhang zitierte man gerne den bekannten, zum Schlagwort gewordenen Ausspruch von Richard Wagner: «Kinder! macht Neues! Neues! und abermals Neues! - hangt Ihr Euch an's Alte, so hat euch der TeufeI der Inproduktivitat, und ihr seid die traurigsten Künst1er!»2 l
Anton Webern - Complete Works, Opp 1-31, Dirigent: Pierre Boulez, Sony Classical, 1991.
2
Brief an Franz Liszt, Zürich, 8. September 1852; abgedruckt in: Richard Wagner: Siimtliche Briefe, (hg. im Auftrage der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth von Gertrud Strobel und Werner Wolf), Bd. IV, Briefe der Jahre 1851-1852, Leipzig, 1979, S.460.
135
Doch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde - wer hatte das voraussehen konnen - ausgerechnet das Werk Weberns, dieses stillen Einzelgangers, zum künstlerischen Ausgangspunkt der jungen Generation in Deutschland, Frankreich oder Italien. Diese Komponisten haben Weberns Musik nicht bloss wiederentdeckt, sondern sie in kreativer und eigenwilliger Weise zum sogenannten Serialismus weiterentwickelt und damit zum Ausgangspunkt der Neuen Musik nach dem Krieg gemacht. Der verhaltnismassig kleine, aber im Musikleben tonangebende Kreis der Serialisten nahm in den fünfziger und frühen sechziger Jahren für sich in Anspruch, die «Neue Musik» zu reprasentieren. Die serielle Musik entwickelte sich zu einer hermetisch abgeschlossenen Kunst von Eingeweihten; Komponisten mit anderen sti1istischen oder asthetischen Konzepten wurden nicht zur Kenntnis genommen. Ihren theoretischen Überbau erhielt die Neue Musik von Theodor W. Adorno, der mit seiner 1949 erschienenen Philosophie der neuen Musik ein «apokalyptisches» Offenbarungsbuch schrieb. Die Werke der Neuen Musik blieben bei Publikum und Kritik weiterhin umstritten. Glaubte man vor dem Krieg in Weberns Werk das stille Verloschen der Neuen Musik mit ansehen zu konnen, sagten nun ihre Gegner das Versinken in larmendem Chaos voraus und hofften auf die Ankunft (oder besser Wiedergeburt) der tonalen Musik, die ihrer Meinung nach auf der Tradition von Bach bis Reger oder Richard Strauss beruhen müsse. Als Mitte der sechziger Jahre die pratendierte Alleinherrschaft der seriellen Musik zu Ende ging, schien für manchen tatsachlich eine musikhistorische Zasur, das Ende einer viele Jahrhunderte umspannenden Epoche erreicht, ohne dass man allerdings schon erkennen konnte, wohin die Entwicklung führen sollte.
Das Neue und die Neue Musik Wenn man heute, am Ende des 20. Jahrhunderts, von Neuer Musik spricht, meint man langst nicht in erster Linie nur die Musik der Jetztzeit (dazu behilft man sich mit zuwei1en phantasievollen Neuschopfungen), sondern die avantgardistische Musik der vergangenen knapp hundert Jahre überhaupt. Ein Grosstei1 der «Neuen» Musik ist deshalb gar nicht mehr eigentlich neu und wird dazu immer alter, so dass man - mit Adornos Worten - konstatieren muss: Die Neue Musik kann anscheinend nicht altern. 3 Diese Situation hat etwas Irritierendes. Denn die Geschichte der Kunst, und der Musik im speziellen, wurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert als eine stetige Folge von Neuerungen verstanden. Seit der Entwicklung der Mehrstim3
Adorno, Theodor W.: «Das Altern der Neuen Musik» (1954), in: Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt, Gottingen, 1956, S. 120-143, (= Gesammelte Schriften, Bd. 14, S. 143-167).
136
migkeit im 11. Jahrhundert erhob jede Musikergeneration den Anspruch, «neue Musik» zu machen, weil sie ihre eigene Musik im Vergleich zu der ihrer Vorganger als «neu» empfunden hat. So nannten die Musiker um 1320 ihre Kunst «Ars nova», Adrian Willaert veroffentlichte 1559 seine Musica nova, Vincenzo Galilei (der Vater des berühmten Naturwissenschaftlers) verfasste 1581 einen programmatischen Dialogo [ ... ] della musica antica, et della moderna, Giulio Caccini überschrieb seine 1601 erschienenen Monodien mit dem Titel Nuove musiche, und Beethoven sprach 1802 hinsichtlich seiner Eroica-Variationen op. 35 von einem «neuen Weg».4 Die Anforderung, Neues hervorbringen zu müssen, wurde in der europaischen Musikgeschichte seit dem spaten Mittelalter zu einem Motor der Entwicklung, wobei das Neue nur dann Legitimitat beanspruchen konnte, wenn es «natürlich» aus dem A1ten herausgewachsen war, wenn es auf dem Vorangegangenen aufbaute. Was unterscheidet die Neue Musik des 20. Jahrhunderts von der neuen Musik, die jede vergangene Zeit immer wieder hervorgebracht hat? Es lohnt sich, hierzu die Geschichte des Begriffs «Neue Musik» naher zu betrachten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lautete der übliche Terminus zur Bezeichnung der damals aktuellen Musik «moderne Musik» und zur Bezeichnung der Epoche «die Moderne». Den Begriff «neue Musik» brachte 1919 als erster der Musikkritiker Paul Bekker auf, der darunter ganz einfach die Musik der vergangenen zehn J ahre verstand. In diesem primar zeitlichen Sinn verwendeten ihn in den zwanziger Jahren verschiedene Musikschriftsteller, wobei manchmal eine polemische Komponente mitschwingen konnte. Retrospektiven Charakter tragt auch das Jahrbuch der Wiener Universal Edition, das 1926 unter dem Titel 25 Jahre Neue Musik5 erschien. Etwa gleichzeitig kamen in anderen Gebieten der Kunst ahnliche Begriffe wie «Neue S achlichkeit» , «Neues Bauen» oder «Neue Âsthetik» auf. Eine profiliertere Bedeutung gewann die Bezeichnung erst in einem 1920 veroffentlichten Artikel von Béla Bartók über «ProbIeme der Neuen Musik»6. Darin meint «N eue Musik» einen kIar umrissenen Ausschnitt der musikalischen Produktion der letzten J ahre: die Musik der in den achtziger J ahren geborenen franzosischen und deutschen Komponisten, aIso etwa die musikalischen «Expressionisten». Der Musikwissenschaftler Hans Mersmann unterschied 1927 verschiedene Richtungen der Neuen Musik: eine blutleer konstru4
Vgl. dazu Piersig, Johannes: Das Fortschrittsprobiem in der Musik um die Jahrhundertwende. Von Richard Wagner bis Arnoid Schonberg, (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, 53), Regensburg, 1977, und Follmi, Beat: Tradition ais hermeneutische Kategorie bei Arnoid Schonberg, Bem - Stuttgart -Wien, 1996, S.35-37.
5
25 Jahre Neue Musik, Jahrbuch 1926 der Universal Edition, Wien 1926.
6
Bartók, Béla: «Probleme der Neuen Musik», in: Meios l (1920), S. 109; neu abgedruckt in Meios 25 (1958), S. 8-9.
137
ierte (mit Arnold Sehõnberg und seinen Sehülern), eine brutal exotisehe (mit Strawinsky, Hindemith und Bartók) und eine nicht naher bestimmte «neue Saehliehkeit».1 Diesen Einteilungen war eines gemeinsam: Unter «Neuer Musik» verstand man nun in Deutsehland nur noeh die Werke der fortsehrittliehen Komponisten wie Sehõnberg, Strawinsky oder Bartók, nicht aber von Komponisten wie Riehard Strauss oder Hans Pfitzner, obwohl alle zur selben Zeit künstleriseh tatig waren. Die «Neue Musik» wurde zum Sehlagwort und zur Kampfparole; die Gross- beziehungsweise Kleinsehreibung oder die Hervorhebung dureh Anführungsstriche signalisierten aueh ausserlieh, dass der verhandelte Gegenstand ernstlieh umstritten war. Dies gilt in besonderem Mass für die Musik von Arnold Sehõnberg und seiner Sehüler. Das Neue Musiklexikon, 1926 von Alfred Einstein herausgegeben, nannte denn aueh Sehõnberg den eharakteristisehen Reprasentanten und Exponenten der Neuen Musik. Sehõnbergs Kompromisslosigkeit in künstlerisehen Fragen maehte ihn zum Hauptangriffsziel der Gegner der Neuen Musik. Die Tatsaehe, dass er Jude war, kam der polemisehen Diskussion noeh entgegen, konnte do eh so die Entartung der Neuen Musik mit der These von der Minderwertigkeit der jüdisehen Rasse untermauert werden. Trotz des zunehmend polemisehen Untertons wurde der Ausdruek «Neue Musik» bald zur Selbstbezeiehnung des Sehõnbergkreises. Für Anton Webern war der Ausdruek sogar eine so hohe Auszeiehnung, dass er ihn aussehliesslieh für die Musik seines Lehrers und dessen Sehülersehaft verstanden haben wollte. In einem 1933 gehaltenen Vortrag spraeh er deutlieh aus, was er unter «Neuer Musik» verstand: «Es ist die dureh Sehõnberg heraufgekommene Musik und die von ihm erfundene Kompositionsteehnik, die seit etwa zwOlf Jahren besteht und die er selbst bezeiehnet als
Mersmann, Hans: «Neue Musik», in: Meios 6 (1927), S. 48.
8
Beide Zitate in: Anton Webern: Wege zur neuen Musik, (hg. von Willi Reich), Wien, 1960, S. 34.
138
Grenzen immer weiter hinaus. Besonders in der Romantik wurde das Spiel mit der Chromatik, der «Farbe», zu einem wichtigen Bestandteil der Musik. Doch das Grundprinzip blieb erhalten: auf ei ne Spannung folgt eine Auflõsung, auf eine Dissonanz eine Konsonanz. Erst Richard Wagner begann das System prinzipiell aufzuweichen, indem er auf eine starke Dissonanz bloss noch eine schwachere Dissonanz folgen liess. So war es eine Frage der Zeit, bis auf einen Akkord jeder beliebige Klang folgen konnte und Konsonanz und Dissonanz einander gleichgestellt waren. Diesen Schritt bewusst vollzogen und spater auch theoretisch reflektiert zu haben, dies war das Verdienst von Arnold Schõnberg. Mit der Preisgabe jeder tonalen Bindung, wie er dies zum ersten Mal im Schlusssatz des 1908 komponierten zweiten Streichquartetts op. 10 angewendet hatte, handelte sich Schõnberg aber ein schwerwiegendes Problem ein. Denn das tonale System garantierte nicht nur den Zusammenhalt der einzelnen Akkordfortschreitungen, sondern war auch für den formalen Aufbau einer Komposition, von der achttaktigen Phrase bis hin zu einem ganzen Opernakt, verantwortlich. Wie sollte es ohne Tonalitat je wieder mõglich sein, ganze Sinfonien zu schreiben? War die atonale (oder freitonale) Musik nicht einem unausweichlichen Schrumpfungsprozess unterworfen, an dessen Endpunkt Kompositionen wie Weberns sechstaktiges Orchesterstück op. 10 Nr. 4 mit nur noch knapp 50 Einzeltõnen standen? Die mehr oder weniger weitgehende Lockerung der tonalen Bindungen findet sich in den Werken der meisten Komponisten in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts. Selbst die Musiker der alteren Generation, wie der 1864 geborene und der spatromantischen Tradition angehõrende Richard Strauss in den Opern Salome (1905) und Elektra (1909), sind auf diesem Weg vorwarts geschritten. Wer von einer geradlinigen Entwicklung der Musikgeschichte ausging, und dies war die allgemeine Überzeugung seit dem ausgehenden 19. J ahrhundert, musste sich ernsthaft Gedanken darüber machen, worauf die Musikentwicklung zusteuerte. Einige Komponisten suchten das Heil in der Vergangenheit, indem sie, etwa von den spaten zehner Jahren an, Werke mit retrospekti vem Charakter schufen, die auf Melodien oder formalen Mustern vergangener Epochen aufgebaut sind. Dazu gehõren beispielsweise Strawinskys Pulcinella-Ballett (1920), das auf musikalischem Material von Giambattista Pergolesi (1710-1736) basiert, oder Hindemiths Marienleben (1922/23), in dem «Kirchentonarten» verwendet wurden. Der Komponist Ernst Krenek ging 1951 mit der neoklassizistischen Bewegung hart ins Gericht: «In den besten Exempeln des Neoklassizismus werden die Elemente der Klassizitat gehandhabt wie Trümmer, die man auf einen Ruinenfeld aufgelesen hat.»9 Der 9
Emst Krenek im Programmheft des Frankfurter Festes der Intemationalen Gesellschaft für Neue Musik von 1951; zitiert nach: Prieberg, Fred K.: Lexikon der Neuen Musik, Freiburg - München, 1958, S. 316.
139
Neoklassizismus mit seinem Hang zum Einfachen und Sparsamen war in gewisser Weise eine Antwort auf die spatromantische Klangfülle, auf die Verwendung von Riesenbesetzungen und auf die zunehmende zeitliche Ausdehnung der Werke. Doch anstelle einer Auseinandersetzung mit der Gegenwart sprangen diese Neo-Bewegungen zwei Schritte zurück, wenn sie Anleihen bei den Wiener Klassikern, im Barock, in der Renaissance oder im Mittelalter machten. Hinter dieser Haltung steht die Vorstellung, dass in vergangenen Zeiten die We1t noch in Ordnung gewesen war. Verband sich diese künstlerische Haltung mit politischen Zielen, konnte sich eine bedenkliche Verbindung ergeben, wie im Falle des Italieners Ottorino Respighi, dessen neoklassizistische Werke in den zwanziger Jahren immer starker die glorreiche Vergangenheit des romischen Volkes verherrlichten und so in bedenkliche Nahe zur Kulturpolitik der italienischen Faschisten gerieten.
Verstummen als Ende der Musik Der eingangs geschilderte tragisch-banale Tod von Anton Webern wurde nicht ohne Grund erwahnt, da er in gewisser Weise zeichenhaft für die Stille von Weberns musikalischem Schaffen steht: Die Musik wird immer leiser, kürzer, stiller, bis sie im totalen Verstummen endet. So sah es 1929 der Berliner Professor Hans Mersmann, ein profunder Kenner der aktuellen Musikszene seiner Zeit. Für ihn war die Musik Weberns das Ende einer musikgeschichtlichen Entwicklung. Webern gehorte einem Kreis von Komponisten an, die man in Anlehnung an die drei Komponisten der Wiener Klassik des 18. Jahrhunderts, mit dem Begriff der «Wiener SchuIe» beziehungsweise «zweiten Wiener SchuIe» bezeichnete. Ihr Haupt war eine der herausragendsten und zugIeich umstrittensten Personlichkeiten des deutschsprachigen Raums Ende der zwanziger Jahre: der Komponist Arnold Schonberg, der 1874 in Wien geboren und weitgehend als Autodidakt zum Musikerberuf gekommen war. Seine Kompositionen waren beim Wiener Konzertpublikum vor allem wegen ihrer Skandaltrachtigkeit bekannt. Unter Musikerkollegen war er durchaus als begabter Komponist geschatzt, wenn auch seine Werke mehrheitlich umstritten blieben. Schonberg scharte aus der jüngeren Generation eine Gruppe von Privatschülern um sich, von denen ihm einige ergeben anhingen. Anton Webern war, zusammen mit dem fast gleicha1trigen AIban Berg, Schonbergs begabtester Schüler. Im Handbuch der Musikwissenschajt, das Ende der zwanziger bis anfangs der dreissiger Jahre von einem Berliner Verlag in zehn Banden herausgegeben wurde und das damalige Wissen über Musik in allgemein verstandlicher Form darstellte, Iegte Mersmann 1929 den Band Moderne Musik seit der Romantik vor. Er stellte darin die musikgeschichtlichen Entwicklungen bis unmittelbar zum Erscheinungsdatum des Bandes dar. Arnold Schonberg schatzte er als 140
genialen Kopf ein, seine Musik aber hie1t er für ambivalent. Ihre negative beziehungsweise positive Konsequenz kam seiner Meinung nach in der gegensatzlichen Musik von Anton Webern und von Alban Berg zum Ausdruck. Wahrend er in der Musik von Berg eine vitale Expressivitat erkannte, die alle Mangel und Probleme, wie sie in der Musik Schõnbergs vorhanden waren, wettmachte, sah er in der Musik von Webern das pure Gegenteil: Diese Musik führe die bei Schõnberg angelegte Problematik konsequent zu Ende und steuere auf den Abgrund, auf das võllige Verstummen zu. lO Die Musik von Anton Webern stellte für ihn nicht nur bloss die negative, dunkle Seite der Neuen Musik dar, sondern den Endpunkt der Musikgeschichte überhaupt: «Wir stehen dem Ende der Musik gegenüber, dem absoluten Endpunkt, we1chen die anderen Künste gleichzeitig erreichten; an dem der Maler nur noch ein paar Striche zieht oder zwei reine Farben gegeneinanderstellt, an dem die Plastik zur stereometrischen Figur erstarrt, das Drama nur noch aus abgerissenen Einzelworten besteht. [... ] Wieder winkt das Gespenst des Dadaismus herüber. Wir sind am Ende.»ll Illustriert wird dieses Verstummen mit dem vierten Orchesterstück aus Weberns Opus 10. Die Komposition besteht aus sechs Takten und dauert kaum eine halbe Minute. Sie stammt aus dem Beginn der zehner Jahre, aus Weberns atonaler, noch nicht zwõlftõniger Periode. Es ist ei ne etwas tendenziõse Wahl Mersmanns, gerade dieses Stück aus Weberns <Euvre anzuführen. Ist es doch das kürzeste der fünf Stücke aus op. 10, das leiseste (die Skala reicht von piano bis zu dreifachem piano) und dasjenige mit der geringsten Anzahl Tõne. Doch für Mersmann, wie für viele seiner Zeitgenossen, war hier alles auseinandergebrochen, was in der Musik «Sinn» schaffte. Seiner Meinung nach hangelte sich hier die Musik gewissermassen nur noch von Ton zu Ton. Weder Melodik, Harmonik noch Rhythmik schafften irgendeinen erkennbaren Zusammenhang. Gleichsam zufallig erklangen die Tõne in einem weit verstreuten musikalischen Raum. «Wenn man dieser Musik begegnete, ohne zu wissen, aus we1cher Haltung und we1chem Kreis sie herauswuchs, so würde man sie für das Werk eines Spassvogels ha1ten, irgendeines kleinen Kompositionsschülers, der sich über die neue Musik lustig machen wollte. Es gibt nichts, was sie davon objektiv unterschiede, wenn nicht der Name des Komponisten, der über ihr steht.»12 Trotz der klaren Worte spürt man in Mersmanns Aussage doch die noble Zurückhaltung des Gelehrten, der gerne verstehen mõchte, es aber nicht vermag. Andere Zeitgenossen haben ihre Ablehnung unmissverstandlich ausgedrückt und Webern zum Miniaturisten und Pianissimo-Komponisten gestempelt. 10
11
Mersmann, Hans: Die moderne Musik seit der Romantik, in: Bücken, Emst (Hg.): Handbuch der Musikwissenschaft, Wildpark - Potsdam, 1929, S. 147. AaO., S. 144.
12 AaO., S. 144. 141
Es war das Fehlen einer einheitlichen, übergreifenden Musiksprache, wie es sie im 18. oder 19. Jahrhundert gab, das Musiker und Publikum verunsicherte. Überall glaubte man Auflosung und Zerfall zu erkennen: Auflosung des Tonsystems, Aufgabe traditioneller Formprinzipien, Zerfall rhythmisch-motivischer Strukturen. Mersmann war zwar der Meinung, dass sich die Komponisten der Wiener Schule prinzipiell auf dem richtigen Weg, namlich dem Weg vorwarts, befanden. Nur endete dieser Weg - im Falle Weberns - in der Sackgasse des volligen Verstummens. Doch we1che Alternative sollte es sonst geben, da die Werke der zahlreichen «Neo»-Bewegungen, wie Neobarock oder Neoklassizismus, keine wirkliche Losung darstellten, weil sie doch nur die Vergangenheit kopierten und keine wirklichen Neuschopfungen hervorbrachten?
Harmonie und Chaos Im Jahre 1962 veroffentlichte der deutsche Musikkritiker Hans Schnoor eine Bestandsaufnahme der Gegenwartsmusik unter dem Titel Harmonie und Chaos. Das Umschlagbild des Buches, das die Totenmaske von Ludwig van Beethoven und den Schauspieler Anthony Perkins in Hitchcocks Psycho zeigt, deutet die Zielrichtung an: Das Alte ist tot (oder zumindest totgesagt), das Neue pathologisch. Gleich auf der ersten Textseite stellt der Autor fest, was er von der Neuen Musik halt: «Wenn von Musik in der Welt die Rede ist, so ist das heute vergleichsweise nicht anders, a1s wenn man ein Dutzend Lautsprecher nebeneinander stellt, einige Fernsehapparate dazu, vielleicht noch etliche Tonbandgerate: Das Ganze, blindlings in Gang gebracht, ergabe den Vorgeschmack jener Magie des Absurden, der unsere Zivilisation zuzusteuern scheint. [... ] Diese Entwicklung, fortgepflanzt in die Vorstellungsspharen von Weltraumeroberung, Lichtgeschwindigkeit und interplanetarischer Begegnung, muss theoretisch mit dem fortschrittlichen Menschheitsdenken unseres Jahrhunderts als gleichgerichtet und unwiderruflich betrachtet werden.»13 Im Titel seines Buches spielte Schnoor mit Doppeldeutigkeiten. Bereits der Begriff «Harmonie» ist schi1lernd, er meint im Griechischen zunachst das fugenlose Zusammenpassen zweier Dinge, dann im übertragenen Sinne das Zusammenpassen überhaupt. So verwenden wir noch heute den Ausdruck, wenn wir beispielsweise von einer harmonischen Beziehung oder von einer harmonischen Familie sprechen. In der Musik bezeichnet die Harmonie das geregelte Zusammenklingen der Tone, also die vertikale Dimension (im Gegensatz zur horizontalen, dem melodischen Ver1auf). In eingeschranktem Sinn meint Harmonie in der Musik die Zusammenklangsregeln der Dur-Moll13
Schnoor, Hans: Harmonie und Chaos. Musik der Gegenwart, München: Lehmanns, 1962, S. 9.
142
Tonalitat: Die Harmonielehre lehrt die richtige Zusammensetzung der Klange und ihre regelkonfonne Abfolge. AIs Gegenbegriff von «Harmonie», im Sinne des Alltagsgebrauchs, steht das Wort «Chaos», der zweite Begriff im Titel von Schnoors Buch. Das Chaos ist nach griechischer Vorstellung der unendlich weite, gahnende Weltraum. Vielleicht nicht zufãllig steht bei Schnoor in der oben zitierten Textstelle die Weltraumfahrt oder die Begegnung mit Extraterrestrischen: Auch die Neue Musik, schon vollstandig entmenschlicht, sei daran, die Erde zu verlassen und fliege gleich einem Meteoriten durch die Weiten des Alls. Nach allgemeinem Verstandnis heisst Chaos nichts anderes als Unordnung; auf die Musik bezogen hiesse das etwa: Lãnn ohne erkennbare Struktur. Harmonie und Chaos - Ordnung und Unordnung. Hinter diesem an sich unspektakularen Gegensatzpaar versteckt sich die musikgeschichtliche Konzeption von Schnoor, eine Konzeption mit apokalyptischem Charakter. Auf der einen Seite steht die «Neue Musik», die er spater gerne als «unsinniges Gelarme der sogenannten A vantgarde» 14 bezeichnet. Sie ist chaotisch und steuert unwiderruflich auf die absolute Sinnlosigkeit zu. Es ist die chaotische Musik der Atonalen, der Zwõlftõner, der Seriellen. Doch obschon der Verfasser keine Gelegenheit auslãsst, die Widernatürlichkeit, das Krankhafte und Wahnhafte dieser Musik aufzuzeigen, scheut er es offensichtlich, die Namen der angeklagten Musiker zu nennen. Unter den wenigen angeführten Komponisten sind Arnold Schõnberg und seine beiden Schüler Alban Berg und Anton Webern, die allerdings noch glimpflich davonkommen, da sie Schnoors Meinung nach zumindest in gutem Glauben gehandelt haben. Keine Gnade in seinen Augen finden jedoch Strawinsky und vor allem die jüngere Komponistengeneration der Avantgarde nach dem Krieg, namentlich: Wolfgang Fortner, Luigi Nono, Giselher Klebe, Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen. Bei ihnen handle es sich um blosse Nachahmer, hohle und untalentierte Schwatzer, die Schnoor als «Impotente und Nichtskõnner» denunziert. Von der zeitgenõssischen Unterhaltungsmusik ist im Buch nicht viel die Rede, der Autor scheint sie auch kaum zu kennen. Einzig der Jazz wird, solange er sich nicht mit der europãischen Kunstmusik vennischt, als eigenstandiger Ausdruck einer anderen kulturellen Gruppe gewürdigt. Schnoors Rundumschlag gegen die zeitgenõssische Musikszene endet mit der polemischen Feststellung, «dass nicht-existent ist»15, nicht weil sie nicht neu, sondern weil sie keine Musik sei. Was allerdings für ihn Wirklichkeit ist, das ist die Verschwõrung des Musikbetriebes, der Radiostationen, der Musikschriftsteller und Musikologen. So besteht ein nicht unbetrachtlicher Teil des Buches aus der Aufzahlung aller gegen ihn unternommenen Prozesse, aller ihm gelegten Fallstricke, aller
14
AaO., S. 260.
15 AaO., S. 163. 143
Angriffe und Verleumdungen, die er hatte erleiden müssen. Schnoor ist davon überzeugt, dass alle zusammen, die Komponisten und ihre Sympathisanten, willentlich oder unwi11entlich dazu beitragen, die «Neue Musik» auf ihrem Kurs in den Abgrund zu halten, und verstand deshalb sein Buch als Enthüllung geheimgehaltener Wahrheiten. Wo aber ist denn die Harmonie zu finden? Schnoor verlegt sich dabei auf eine doppelte Strategie, gleichzeitig vorwarts und rückwarts. Die goldene Ãra, das gelobte Land liegt zwar in der Vergangenheit, und der Autor wird nicht müde, darauf ein Loblied zu singen. Denn er hat sie alle noch personlich gekannt: die Dirigenten Ernst von Schuch, Arthur Nikisch, KarI Straube, Fritz Busch, KarI Bohm, Hans Knappertsbusch, Clemens Krauss, Wilhelm Furtwangler, und natürlich die Komponisten Richard Strauss und Hans Pfitzner, we1che seiner Meinung nach nichts weniger als «die Gesamtleistung der Tonkunst des 20. Jahrhunderts»16 verkorpern, ihre Zeit war das «lichte Reich». Nun war es Schnoor aber selbstverstandlich kIar, dass es ein wirkliches Zurück zu jenen goldenen Zeiten nicht geben kann. Trotzdem hoffte er, es konne, wie bei der grossen Sintflut, der Zustand vor der Verirrung wiederhergestellt werden. Das werde geschehen, sobald das «Zwangssystem» der Neuen Musik zusammenbreche. Dann müsse das «wirkliche Neuland der Zukunft» gesucht werden, indem das Alte in sein Recht gesetzt und wiederhergestellt werde. 17 Viele der in Hans Schnoors Buch vertretenen asthetischen Positionen sind ganz aus dem Geist des 19. J ahrhunderts heraus geboren. Die darin geführte Debatte mag uns heute überholt und uninteressant erscheinen, so dass sich die Lektüre des dicken Buches nicht lohnt. Die apokalyptische Beurteilung der Gegenwartsmusik, die der Autor prasentiert, führt jedoch über den Einzelfall des Buches hinaus. Denn dass die Musik auf den Abgrund zusteuert, sei nicht nur auf den Einfluss eines kleinen, aber um so machtigeren Haufleins zurückzuführen, sondern sei vor allem das Werk einer einflussreichen Gruppe von Verschworern im Kulturbetrieb, in deren Hand Radiostationen, Opernhauser und Festivals sind. Erst wenn di ese finsteren Machte besiegt sind, kann sich das «lichte Reich» wieder durchsetzen, kann die Musik wieder an die gute, alte Zeit anknüpfen.
Neue Musik als Geheimnis und Offenbarung Als einen eigentlichen «Apokalyptiker» in der Beurteilung des Musikbetriebes nach dem Zweiten Weltkrieg kann man Theodor W. Adorno bezeichnen. Dies mag angesichts der Hochschatzung, die Adorno verschiedentlich entgegen-
16 AaO., S. 96. 17
AaO., S. 262.
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gebracht wurde, polemisch klingen. Die Einschãtzung stammt indessen von Umberto Eco aus dem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Apokalyptiker und Integrierte (1984).18 Eco stellte im Zeitalter der Massenkultur zwei grundsãtzlich verschiedene Perspektiven der Wahrnehmung des Kulturbetriebs fest. Auf der einen Seite stünden jene, welche die Welt der Massenkultur analysieren, ohne einen ideologischen Standpunkt einzunehmen oder einen ethischen Massstab anzulegen: Die Welt ist so, wie sie eben ist. Das sind die «Integrierten», die beispielsweise unter den amerikanischen Soziologen zu finden sind. Auf der anderen Seite stehen die «Apokalyptiker», jene Inte11ektuellen, die auf die Vulgaritãt der zeitgenossischen Massenkultur angewidert und mit Verachtung reagieren. Zu letzteren zãhlte Eco die Frankfurter Schule mit Adorno. In welcher Weise so11 man nun Adorno als Apokalyptiker verstehen? Tatsãchlich war er weit mehr als ein blosser Kulturpessimist, der eine scharfe Trennlinie zwischen U- und E-Musik gezogen hat, zwischen verdummender Massenware einerseits und einer die Gesellschaft reflektierenden Kunst andererseits. Denn die von ihm gezogene Trennlinie zwischen guter und schlechter Musik verlãuft mitten durch die sogenannte «Ernste Musik». In der historischen Konkretisierung heissen die beiden Antipoden für Adorno: Schonberg, der Fortschritt, und Strawinsky, die Restauration. Diese Gegenüberstellung ist, wie wir gleich zeigen werden, sowohl konzeptionell als auch in der argumentativen Entfaltung vollig unhaltbar. Doch die eigentliche Problematik von Adornos Musikphilosophie liegt nicht in der polemisch verzerrten Darstellung der Musikgeschichte, sondern in den erhobenen Forderungen an deren weiteren Verlauf. Denn Adorno hat nicht nur kommentiert, sondern ein Stück weit auch mitgestaltet. Der kritische Beobachter war selbst ein aktiver Mitspieler. Der apokalyptische Denker sagte den Untergang nicht nur voraus, er stand selber am Steuer und hielt den Kurs. An seinen apodiktischen Ansprüchen, was gute Musik sei und was nicht, massen in der Folge die jungen Komponisten nach dem Krieg sich selbst und ihre Kollegen, und wer den aufgestellten Kriterien nicht entsprach, durfte nicht damit rechnen, ernstgenommen zu werden. Theodor W. Adorno (1903 -1969) hatte Philosophie und Musikwissenschaft studierte und kam durch seinen Kompositionslehrer Alban Berg in Kontakt mit dem Schonberg-Kreis, dessen künstlerisches und musiktheoretisches Denken für ihn fortan prãgend wurde. Sein Buch Philosophie der neuen Musik erschien 1949 als Exkurs zu der zusammen mit Horkheimer kurz zuvor veroffentlichten Dialektik der Aufklarung. In den fünfziger und sechziger Jahren prãzisierte und modifizierte Adorno seine musikphilosophischen Positionen in zahlreichen weiteren Veroffentlichungen. Er knüpfte an einen Gedanken an, den er innerhalb der Wiener Schule kennengelernt hatte: Die Musik Schonbergs und seiner 18 Eco, Umberto: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, (aus dem Italienischen von Max Looser), Frankfurt a.M., 1984, S. 12.
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Schüler reprasentiere die fortschrittlichste Musik, weil sich ihre Logik aus den Forderungen ergibt, die der geschichtliche Stand des musikalischen Materials vorgibt. Unter Material verstand Adorno nicht nur KHinge und deren Verbindung, sondern auch die musikalischen Techniken im allgemeinen, also beispielsweise Kontrapunkt, Motivbildung, Durchführung, Formgebung. Dieses Material sei nicht naturgegeben, sondern «sedimentierter Geist», d.h. ein durch den gesellschaftlichen Prozess, durch das Bewusstsein von Menschen Vorgeformtes. 19 Das Material habe, genauso wie gesellschaftliche Prozesse, mit denen es verbunden ist, seine eigenen Bewegungsgesetze. Deshalb war es Adorno kIar, dass die Auseinandersetzung eines Komponisten mit dem musikalischen Material auch eine Auseinandersetzung mit der Gesellschaft sei. Der Komponist muss sich den Forderungen stellen, die ihm das Material entgegenstellt. Entscheidet er dagegen oder weicht er diesen Forderungen aus, wird er zum Reaktiona.r, sein Werk zum ohnmachtigen Cliché - in einem Satz: seine Musik wird unwahr. AIs Beispiel für abgenutzte, «unwahre» Musik führte Adorno die Salonmusik des 19. Jahrhunderts an, die den verminderten Septakkord oder chromatische Durchgangsnoten in einer Weise verwende, dass deren «Schabigkeit und Vernutztheit [... ] selbst das stumpfere Qhr» noch wahrnehme. 20 Adornos Interesse galt also der jeweils aktuellsten, «fortschrittlichsten» Musik, denn diese vermochte seiner Meinung nach nichts Geringeres auszudrücken als die «Wahrheit», namlich die aktuellen gesellschaftlichen Zustande. Dass die Neue Musik in der Meinung vieler nicht mehr «schon» sei, war für die Komponisten der Wiener Schule eine schwer verdauliche Tatsache. Arnold Schonberg hatte sehr darunter gelitten, dass das breite Publikum seinem CEuvre verstandnislos bis feindselig gegenüberstand. Da einige Konzerte mit seinen Werken in Wien zu eigentlichen Skandalgrossereignissen wurden, entwickelte er ein ambivalentes Verhaltnis zum Erfolg bei der breiten Masse. Er war einerseits davon überzeugt, dass seine «Entdeckung» der Zwolftontechnik der deutschen Musik die Vorherrschaft für die nachsten hundert Jahre sichere, andererseits betrachtete er die ungeteilte Zustimmung des grossen Konzertpublikums als suspekt. Adorno hingegen sah in der Ablehnung der Neuen Musik durch die Masse kein Problem, im Gegenteil: Für ihn hing die Ablehnung untrennbar mit ihrer kritischen Funktion zusammen. Deshalb musste die Neue Musik seiner Meinung nach (von ihrem innersten Wesen her) die Schonheit aufgeben: Die neue Musik werde dazu gezwungen, «dass sie den Trug der Harmonie aufgibt, die angesichts der zur Katastrophe treibenden Realitat unhaltbar geworden ist.»21 Dass die Gesellschaft auf eine Katastrophe zu-
19 Adomo, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik, (Gesammelte Schriften, Bd. 12), Frankfurt a.M., 1975, S. 39.
20 AaO., S. 40. 21 AaO., S. 124. 146
steuert, konne man der Gegenwartsmusik (allerdings nur der wirklieh fortsehrittliehsten) ablesen. Daher erklãrt sich, weshalb Adorno alle Musik verwarf, die der aktuellen Situation nieht ins Auge sehen will, und er so1che Komponisten der Regression beziehtigte, da sie sich wie Kinder in Verhaltensweisen flüehteten, die lãngst nicht mehr adãquat sind. Den Dualismus zwisehen der «wahren» und «unwahren» Kunst reduzierte er, bezogen auf die musikgesehichtliehe Situation der ersten Hãlfte des 20. Jahrhunderts, auf die erwãhnte Konstellation «Sehõnberg versus Strawinsky». Ersterer habe si eh nieht einfaeh dem Massengesehmaek sehmeichelnder Mittel bedient, sondern habe sieh den Forderungen des Materials in optimaler Weise gestellt, so dass sieh seine Musik dorthin bewege, «wohin die Klãnge von sich aus wollen».22 Strawinsky hingegen warf er vor, aus Geltungsdrang und vom Wunseh beseelt, ein Klassiker zu werden, die Forderungen des Materials negiert zu haben. Er deekte ihn und seine Musik mit einer Unzahl von Besehimpfungen ein: konservativ, reaktionãr, regressiv, infantil, halbwüehsig und ãhnliehes. Dabei leuehtet nicht ein, weshalb derselbe Saehverhalt, dem im Falle von Sehonberg Hoehaehtung gezollt wird, bei Strawinsky nur bosen Spott erntet. Adornos brillante Spraehe (die selbst Thomas Mann Respekt abnotigte23 ) kann leicht den Bliek dafür verstellen, dass der Autor in seiner masslosen Polemik - bei allem Respekt vor seinem philosophisehen Werk - in musikgesehiehtlieher Hinsicht meist eben doeh nur dilettierte. Am Sehluss des ersten, Sehonberg gewidmeten Teils der Philosophie der neuen Musik fasst Adorno das Wesen der Neuen Musik no eh einmal in prãgnanten Sãtzen zusammen, die wie kaum eine an dere Stelle des Buehes den apokalyptisehen Charakter seines Denkens über Musik enthüllen. Hier ist Adorno nicht mehr Philosoph, hier wird er zum Apostel und Propheten. Die Neue Musik vergleicht er mit dem «Leidenden Gotteskneeht» in Jesaja 53, unter dessen abstossender Gestalt sieh die Herrliehkeit Gottes verbirgt: «Alle Dunkelheit und Sehuld der Welt hat sie auf sich genommen. All ihr Glüek hat sie daran, das Unglüek zu erkennen; all ihre Sehonheit, dem Sehein des Sehõnen sich zu versagen. Keiner will mit ihr etwas zu tun haben, die Individuellen so wenig wie die Kollektiven. Sie verhallt ungehort, ohne Eeho. Sehiesst um die gehorte Musik die Zeit zum strahlenden Kristall zusammen, so fãllt die ungehorte in die leere Zeit gleieh einer verderbliehen Kugel. Auf diese letzte Erfahrung hin, die meehanisehe Musik stündlieh durehmaeht, ist die neue Musik spontan angelegt, auf das absolute Vergessensein.»24
22 Adomo, Theodor W.: «Neue Musik heute» (1955), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 18, Frankfurt a.M., 1984, S. 126.
23 Vgl, den Brief von Thomas Mann an den Verlag lC.B. Mohr in Tübingen (Paul Siebeck), Pacific Palisades (Kalifomien), 29. Mai 1948.
24 Adomo, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik, (s. Anm. 19), S. 126. 147
Die Faszination, die Adornos «apokalyptischer» Text ausübte, hinterliess ihre Spuren in der Musikgeschichte der zweiten JahrhunderthaIfte: Viele Komponisten der fünfziger Jahre verstanden Adornos Begriff des «geschichtlichen Materialstandes» nicht nur als Kriterium zur Beschreibung ihrer Musik, sie sahen darin vielmehr eine Forderung, der sie in ihren Kompositionen nachkommen wollten. Die Auswirkungen von Adornos Musikphi1osophie blieben indes auf einen kleinen (wenn auch zeitweilig tonangebenden) Kreis beschrankt. Denn sein Musikdenken ist in mehrfacher Hinsicht «elitar»: einerseits durch die Sprache und das hohe Reflexionsni veau, andererseits aber vor allem durch den notwendigen Gegensatz der Neuen Musik zor Massenkultur, da die grosse Zahl der «minderwertigen» Massenprodukte nor die Brüchigkeit der Waren- und Konsumgesellschaft zur Darstellung bringt. So brauchte sich die kleine Gruppe der avantgardistischen Komponisten nicht darum zu sorgen, wenn ihre elitaren Werke bei der breiten Masse keine Beachtung finden wollten. Die Gleichgültigkeit oder Ablehnung des grossen Publikums war ja, wie oben gezeigt, geradezu die Voraussetzung, dass ihre Kunst «W ahrheit» benennen konnte, da wahre Kunst in Opposition zur Masse stehen muss. Die Radikalitãt der kleinen Gruppe war so unerbittlich, dass selbst Schonberg in Ungnade fieI. In dessen Todesjahr 1951 veroffentlichte Pierre Boulez einen Aufsatz mit dem mehrdeutigen Titel «Schoenberg est mort», worin er Adornos Über-Vater dafür tadelte, dass er nicht einzulOsen vermoge, was seine Musik sich zum Anspruch gesetzt habe. Aber der Vorwurf war ungerechtfertigt, denn Schonbergs Vorstellungen über die Geschichtlichkeit des Materials, und insbesondere über den Begriff des «musikalischen Materials» selbst, stimmen mit Adornos Philosophie keineswegs überein. Warum sol1te Schonberg auch zu einem Ideal stilisiert werden, zu dessen Verkorperung er wider Wi1len ernannt worden war, zumal er Adornos Philosophie der neuen Musik, in der er als «Messias» der Neuen Musik erscheint, ablehnend gegenüberstand. «Die Neue Musik hat also eine Philosophie - es würde genügen, wenn sie einen Philosophen hatte ... »,25 meinte Schonberg spottisch bei Erscheinen des Buches.
Das Ende der Neuen Musik als Anfang der Beliebigkeit Die bisher vorgestel1ten Autoren beschaftigten sich hauptsachlich mit der ersten Hãlfte des 20. Jahrhunderts und zogen daraus ihre Schlussfolgerungen. Mersmann sah den durch Anton Webern reprasentierten Teil der fortschrittlichen A vantgarde auf das totale Verstummen zusteuern, wahrend Hans Schnoor 25 Brief Schonbergs an Hans Heinz Stuckenschmidt vom 5. Dezember 1949, zitiert nach: Stuckenschmidt, Hans Heinz: Schonberg - Leben, Umwelt, Werk, Zürich Freiburg i. Br.: Atlantis, 1974, S. 462. 148
glaubte, dass die Neue Musik im Chaos des Pathologischen versinke. Für Adorno schliesslich war die Musik der Gegenwart entweder die Offenlegung der antagonistischen Spannungen in einer mehr und mehr verlogenen, «vernutzten» Gesellschaft oder die Musik selbst war verlogen, weil sie sich in regressiver Manier gegen die Forderungen stellte, die das Material erhob. Wie stellt sich aber die Situation fünfzig Jahre spater dar? Nicht nur fallt unsere Beurteilung der Neuen Musik der zehner und zwanziger Jahren am Ende des Jahrhunderts anders aus als in der Jahrhundertmitte, es sind inzwischen auch neue Jahrzehnte hinzugekommen, welche der Beurteilung harren. Neuere Darstellungen zeitgenõssischer, vor allem der aktuellsten Musik sind naturgemass seltener zu finden als solche weiter zurückliegender Epochen. Eine Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts, die am Ende des Jahrhunderts Bilanz zieht und Ausblicke wagt, ist noch nicht geschrieben worden. Eine der wenigen Gegenwartsdarstellungen, die sich den allerjüngsten Zeitabschnitt vorgenommen haben, ist der zweite Band aus Ulrich Dibelius' Reihe Moderne Musik, der 1988 erschienen ist und den Zeitraum von 1965 bis 1985 umspannt. Dibelius tut sich schwer, die dargestellten zwanzig Jahre unter einen einheitlichen Gesichtspunkt zu stellen. Er glaubte jedoch zu erkennen, dass es für die Komponisten der Gegenwart keine asthetischen Enklaven mehr gebe, dass also das gesellschaft1iche und politische Umfeld die Bedingungen für das Komponieren massgeblich beeinflusse, wenn solches auch nicht direkt in den komponierten Werken ablesbar sei. Er bezeichnete die Mitte der sechziger Jahre als «intermediare Übergangsphase», allerdings ohne besondere Charakteristik und Bedeutung. Daran habe sich ei ne Periode angeschlossen, die in Richtung auf etwas Neues zusteuere. 26 Was aber ging um 1965, an dieser «historischen Umschaltstelle», zu Ende? Und auf welches Neue steuerte die Musik zu? Dibelius stellte den musikgeschicht1ichen Einschnitt der sechziger Jahre in Parallele zu den etwa gleichzeitig eingetretenen allgemeinen Mentalitatsveranderungen in der Gesellschaft, die sich durch den wachsenden Unmut über den Charakter und die Ziele der Konsumgesellschaft und über die Ausweglosigkeit des Krieges (Korea und Vietnam) ergeben haben. Die Gemeinsamkeit der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung sah er in der zunehmenden Ablehnung aller bestehenden Dogmen wie: Fortschritt, Glaube an Technik und Machbarkeit, Wachstum oder Autoritat. Er zog ei ne zusammenhangende Linie, die in weitem Bogen von der frühen Mehrstimmigkeit im Mittelalter über die Vokalpolyphonie der Renaissance und des Generalbasszeitalters, über Barock und Klassik zur Alterationsharmonik der Romantik und schliesslich zur Totalchromatik der Zwõlftonmethode führte. Es habe also eine Jahrhunderte umspannende Entwicklung gegeben, in der das Neue immer wieder aus dem Alten heraus, gewissermassen organisch, hervorgegangen sei. Mit dem Serialismus 26
Dibelius, Ulrich: Moderne Musik 11. 1965-1985, (Serie Musik, Piper-Schott, 8248), München - Mainz, 1988, S. 14.
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der fünfziger und frühen sechziger Jahre, der vollsHindigen Determinierung aller musikalischen Parameter, sei der Endpunkt dieser Entwicklung gekommen: «Die Moglichkeiten der Progression in einer Richtung hatten offenbar ihren maximalen Sattigungsgrad erreicht.»27 Dibelius gibt sich in der Wortwahl vorsichtig: von Progression ist die Rede, von Fortschreiten also und nicht von Fortschritt (im Sinne der FortschrittsgUiubigkeit des 19. Jahrhunderts). Jeder Ank1ang an Teleologie, an eine zielgerichtete Entwick1ung, wird vermieden. Trotzdem bleibt die Einschatzung von enormer Tragweite: Ist das Jahr 1965 tatsachlich «das Ende einer historisch vorgegebenen Entwicklung», die mindestens achthundert Jahre Musikgeschichte umfasst, mitunter beinahe die ganze quellenmassig überblickbare Musikgeschichte? Sollte das wirklich zutreffen, waren die damaligen Zeitgenossen Zeugen eines einmaligen Paradigmenwechsels gewesen. Davon war und ist aber doch wenig zu spüren. Kann sich ein so epochaler Umbruch heimlich vollziehen? Dann ware Dibelius allerdings einer der einzigen gewesen, die die Zeichen zu lesen verstanden. Die Bedeutung dieser Zasur nimmt noch zu, wenn man nach ihren Ursachen und einer eventuel1en Vernetzung mit anderen Phanomenen, gesellschaftlicher oder politischer Natur, fragt. Einerseits handelt es sich für Dibelius um den Endpunkt einer ausschliesslich innermusikalischen Entwick1ung, die von der ersten mehrstimmigen Musik bis zum Serialismus, von etwa 1000 bis 1965 reicht. Ihr ideologischer Leitgedanke ist die Vorstellung, dass Neues sich stets aus dem Alten entwickle und dass die Musik in eine (unumkehrbare) Richtung fortschreitet; ihre inhaltliche Konstante ist die zunehmende Ausgestaltung und Differenzierung der Harmonik, der vertikalen Dimension: die Zweistimmigkeit entwickelte sich zur Vielstimmigkeit, die Parallelbewegung zum kontrapunktischen Geflecht, die Dreiklange zu den vielschichtigen Mehrklangen, die DurMoll-Tonalitat zur «Totalharmonik» der Zw01ftonmethode. Auf der anderen Seite hangt der besagte Endpunkt um 1965 nach Dibelius' Ansicht mit allen anderen Entwicklungen zusammen, we1che die westliche Gesellschaft in den Nachkriegsjahren und der darauffolgenden Zeit erlebt hat, wei1 sich in der musikalischen Produktion das allgemeine Weltgeschehen widerspiegelt. Dibelius hat hier zwei Denkmodelle nebeneinandergestellt, die wir in den «apokalyptischen» Darstellungen aus der ersten Jahrhunderthalfte bereits kennengelernt haben: Nach der ersten Vorstel1ung kommt die Musikgeschichte in der Neuen Musik durch ihre Eigengesetzmassigkeit zum Sti1lstand bzw. gelangt sie zum Endpunkt (durch Verstummen - so bei Mersmann, oder durch Versinken im Chaos - so bei Schnoor). Nach der zweiten Vorstellung bi1det die Musik, die eng an die gesel1schaftlichen Bedingungen gebunden ist, ab, wie die Gesellschaft auf die Katastrophe zusteuert (so bei Adorno).
27 AaO., S. 29. 150
Die entscheidende Frage, auf die wir von Dibelius eine Antwort erwarten, heisst natürlich: Was folgt auf diese historische Zasur? Auf eine Zasur wohlgemerkt, die sich nicht durch ei nen Neueinsatz ergeben hat, sondern durch das Auslaufen, das Verlaufen oder vielleicht sogar Totlaufen einer mehrhundertjãhrigen Entwicklung. Dibelius kann nur dahingehend antworten, dass er beschreibt, was nicht auf die Zasur folgt. Er beeilt sich, den Eindruck zu vermeiden, er wolle eine apokalyptische Untergangsstimmung heraufbeschworen, denn keinesfalls sei der Punkt schon erreicht, wo alles musikalisch Sagbare schon gesagt sei. Aber auch Dibelius gelangt nicht über die Fortschrittsideologie des 19. Jahrhunderts hinaus. Denn Komponieren hat seiner Meinung nach nur dann Sinn, wenn damit etwas Neues gesagt werden kann. Erst wenn jeder musikalische Einfall eine blosse Rekapitulation des schon Dagewesenen darstellt, kommt die Musikgeschichte zum Stillstand. Die Chance unserer Zeit zu einer «Neuorientierung» sah Dibelius in der Verfügbarkeit aller Stile aller Zeiten und aller Lander. Diese universelle Gleichzeitigkeit birgt allerdings zunehmend eine Gefahr in sich: nam1ich zur totalen Beliebigkeit zu verkommen.
Rückblick am Ende des Jahrtausends
Die Neue Musik ist totgesagt, seit sie ins Leben gekommen ist. Sie behauptet selbst, Vollendung der Tradition zu sein, da sie das Postulat der standigen Erneuerung in idealer Weise erfülle, sie gilt aber für viele als End- und Schlusspunkt der Musikgeschichte. Das eine wie das andere Verstandnis konnte nur auf der Grundlage der Überzeugung entstehen, dass die Geschichte der Musik (verstanden als die Entwicklung der Kompostionstechnik) als ein sinnvoller und geradliniger Prozess des stetigen Fortschreitens angesehen wurde. Davon war Mersmann überzeugt, wenn er das Verstummen konstatierte, daran glaubte Schnoor, wenn er die Musik im Chaos versinken sah, das war die Überzeugung, die hinter Adornos Theorie vom geschichtlichen Stand des Materials steht, und daran glaubte auch Dibelius, der das Jahr 1965 als den markantesten Einschnitt der abendlandischen Musikgeschichte bezeichnete. Ob eine solche Geradlinigkeit der Musikentwicklung wirklich existiert hat, bleibt fraglich. Trotz aller Befürchtungen, dass die Musikentwicklung am Ende sei, wird heute weiterhin Musik produziert. Unter der unüberschaubaren Flut der jahrlich erscheinenden Tontrager findet sich nicht nur ein Grossteil des musikalischen Erbes, der Kompositionen vergangener Jahrhunderte, es sind auch zahlreiche Einspielungen der zeitgenossischen Avantgarde darunter. Jede Stadt mit kulturellen Ambitionen veranstaltet heutzutage ein Festival für Neue Musik. Die Menge der produzierten Neuen Musik gibt wohl kaum Anlass zur Beunruhigung, vielmehr die Tatsache, dass sich die A vantgardekünstler in asthetischer und gesellschaftlicher Isolation befinden. Denn langst hat sich neben 151
der Neuen Musik der A vantgarde (di e sich in zahlreiche hochspezialisierte Subku1turen aufgesplittert hat) eine riesige Musikku1tur herausgebildet, die recht summarisch unter dem Begriff U-Musik (<
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Danuser, Hermann: Die Musik des 20. Jahrhunderts, (Dahlhaus, Carl (Hg.): Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 7), Laaber: Laaber-Verlag, 1984.
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Martina Lesch
UNTER «APOKAL YPTISCHER» BEDROHUNG Psychologische Erwagungen zum Umgang mit Angst, Zeit und Endlichkeit Meiner Tochter Hannah, geboren 1996, und meinem Vater, Walter Schlatterer, gestorben 1997.
«Um der fortsehreitenden Plünderung sowohl des Mensehen als aueh unseres Planeten gezielt entgegenzuwirken, ist es unverziehtbar, dass die Voraussetzungen für die Befriedigung seeliseh-geistiger Bedürfnisse gesehaffen werden. Das bedeutet, dass die mitmensehliehen Verha1tensweisen wie Zuwendung und Geduld, Einfühlungsbereitsehaft und Rüeksieht, Mitgefühl und Nãehstenliebe nieht weiterhin diskriminiert, sondern bewusst in unserem Verha1tensrepertoire gefõrdert werden. Kurz: Liebe darf nieht lãnger als Zeit-Ballast betraehtet werden. Sie ist die fundamentale Voraussetzung für die Überlebensehaneen der Mensehheit.» (Ruth Martin)l Vielleieht gibt es sie ja: die umfassenden psyehologisehen Forsehungen zu Zukunftsãngsten und Endzeiterwartungen, zum Phãnomen der Apokalyptik. Vielleieht sind sie nur noeh nieht publiziert oder die Publikationen haben no eh nieht alle einsehHigigen Faehbibliotheken erreieht. Gemeint sind Forsehungen, Publikationen, die den Standards heutiger wissensehaftlieher Psyehologie in Fragestellungen, Methoden und Ergebnissen entsprãehen. Indessen drãngt sieh der Verdaeht auf, dass ernsthafte Vertreter wissensehaftlieher Psyehologie sich für Zukunftsãngste in Verbindung mit Endzeiterwartungen oder gar apokalyptisehen Vorstellungen nieht zustãndig fühlen. Themen dieser Art haftet der Rueh des Esoterisehen an, und für solche ist an Universitãten allenfalls Raum denkbar, wo noeh - trotz Knappheit der Mittel - zu «Psyehologie und ihren Grenzgebieten» geforseht werden darf, dort, wo man sieh z.B. aueh Sektenphãnomenen mit wissensehaftliehem Ernst annimmt. Phãnomene wie z.B. «Angst», aueh Zukunftsangst, und «Krise» sind natürlieh vertraute und seriõse Gegenstãnde der Psyehologie, sowohl der Grundlagenforsehung als aueh der versehiedenen Anwendungsfelder in der Klinisehen Psyehologie, der Psyehiatrie und der Psyehotherapie. Aber Endzeiterwartungen und apokalyptisehe Vorstellungen? Bekanntlieh hat ja bereits Augustinus im 1
Martin, Ruth: Zeitraffer. Der geplünderte Mensch, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1996, S. 228.
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4. und 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung in einem seiner Hauptwerke, «Über den Gottesstaat» (De civitate Dei), dessen politischer Hintergrund der Zusammenbruch des bis dahin für unverganglich gehaltenen rõmischen Reiches, Roma aeterna, war 2, Endzeiterwartungen und apokalyptische Vorstel1ungen im Sinne des christlichen Chiliasmus, zugespitzt formuliert, «aus der Theologie verbannt und zu einer sektiererischen Angelegenheit gemacht» 3 , und so nachha1tig diskreditiert. Schon bei ihm tritt an die Stel1e des gõttlichen Reichsanbruchs, der den ganzen Kosmos verandert, ein individuelles Geschehen: der letzte Tag des menschlichen Lebens. 4 Und aus dem tausendjahrigen irdischen Friedensreich Christi, von dem sich die Begriffe des Chi1iasmus bzw. Millenarismus ableiten, wird bei Augustinus die «Zeit der wahren Kirche». Augustinus hat die Theologie- und Kirchengeschichte des abendlandischen Christentums und damit die geistesgeschichtlichen Wurzeln unserer Kultur wie kaum ein anderer gepragt. Es ist auch nicht übertrieben, in seinem berühmtesten Werk, den Confessiones, Anfange eines modernen psychologischen Denkens zu erblicken, nicht zu vergessen die darin ebenfalls enthaltenen, bis heute nicht überholten Reflexionen über das Phanomen der Zeit. Psychologinnen und Psychologen befinden sich also, wie es scheint, in bester Gesellschaft, wenn sie sich angesichts der anwachsenden Publikationsflut zu «Endzeit», «Chi1iasmus/Millenarismus» und «Jahrtausendwende» in Zurückhaltung üben. Aktuel1e journalistische Beitrage zum Thema lassen keinen Zweifel daran, dass - anders als die erste J ahrtausendwende post Christum natum, die für die mittelalterlichen millenaristischen Bewegungen praktisch bedeutungslos war5, - das nun mit Count-down-Uhren erwartete Jahr 2000 rein kalendarisch und somit zufallig zum Kristallisationspunkt und Sammelbecken für alle mõglichen apokalyptischen Vorstel1ungen, Ângste und Hoffnungen
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Bereits im Jahre 330 hat Kaiser Konstantin, der 312 das Christentum zur Staatsreligion erhoben hatte, das Zentrum der Macht von der Stadt Rom weg nach Konstantinopel verlegt. Der Zusammenbruch des romischen Grossreiches geschah dann unter dem Ansturm der als Barbaren bezeichneten Volker des Nordens und Ostens. Die mit diesem Zusammenbruch verbundenen endzeitlichen Ãngste vieler damals Lebender sind kaum zu überschatzen! De civitate Dei ist zwischen 413 - 426 entstanden; Augustinus starb 430, knapp 76jahrig, wahrend der Belagerung seiner Stadt Hippo durch die Vandalen. Eger, H.: Die Eschatologie Augustins, Greifswald, 1933, S. 47, zitiert nach Ebertz, Michael N.: Anfallig für apokalyptische Rufer? Soziologische Aspekte, in: Gasper, Hans; Valentin, Friederike (Hg.): Endzeitfieber. Apokalyptiker, Untergangspropheten, Endzeitsekten, Freiburg LBr.: Herder Spektrum, 1997, S. 215. Dazu ausführlicher: Ebertz, Michael N.: Anfiillig für apokalyptische Rufer? S. 215. Siehe dazu den Beitrag von Acklin-Zimmermann, Béatrice: VON WEGEN ins neue Jahrtausend! in diesem Band S. 191-202.
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geworden ist. Und, wie konnte es in unserer Zeit anders sein, es wird versucht, daraus ein eintragliches «Weltunternehmen Jahrtausendwende» zu machen. 6 Zugegeben, es ist verwirrend, als Zeitgenossin mit theologischer und psychologisch-psychotherapeutischer Ausbildung diesem vielschichtigen Treiben zuzusehen, zu versuchen, es zu analysieren und zu wissen, dass dies nicht moglich ist, ohne für sich selbst Stellung zu beziehen. Bedenkt man, dass es, wie der Religionswissenschaftler Norman Cohn herausgefunden hat, von ihrem Ursprung her Anliegen der Apokalyptik war, das Problem der stets bedrohten Ordnung im Kosmos auf eine neue und befriedigendere Weise zu losen als das mythische Denken des alten Orients und dass damit ein Geschichtsdenken erst moglich wurde7 , so erscheint es gerade angesichts der heutigen Bedrohung des Lebens durch das Chaos auf nahezu allen Ebenen lohnend und geboten, sich zu fragen, ob nicht die Sozialwissenschaften und naherhin die Psychologie einen Beitrag zum Thema zu leisten hatten. Und wenn gar ein modernes philosophisches VersUi.ndnis von Apokalyptik darauf aufmerksam macht, dass «Apokalypse» und «Aufklarung» von ihrer Wortbedeutung und ihren Strategien her naher beieinander liegen, als ihre jeweiligen Protagonisten zugeben wollen, weil es beiden um Enthüllung, Offenlegung und Entschleierung gehe 8, so mag das zunachst überraschen; es darf dann aber als weiterer Hinweis erachtet werden, dass das Thema keiner anerkannten Wissenschaft, der es um Aufklarung geht, gleichgültig sein kann. In einer neueren, sehr lesenswerten Publikation zum Thema «Endzeitfieber»9 kommen als Sozialwissenschaftler eine Padagogin lO und ein Soziologe l1 zu Wort; einen psychologischen Beitrag sucht man vergeblich!
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Dieser Tatbestand ist jüngst kenntnisreich und satirisch dokumentiert und kritisiert worden von Ankowitsch, Christian: Das Ende ist nahI Im Jahr 2000 wird alles grossartig. Portrait eines lustvollen Selbstbetruges, in: Die Zeit, Nr. 2, 2. Januar 1998, S. 34.
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Cohn, Norman: Die Erwartung der Endzeit. Vom Ursprung der Apokalypse, Frankfurt a.M.: Insel, 1997. Cohn hat herausgearbeitet, dass das apokalyptische Denken, indem es die altorientalischen Mythen vom Weltkampf ablOste, zur Demokratisierung, Ethisierung und Individualisierung der Losung des Ordnungsproblems beigetragen habe. Derrida, Jacques: Apokalypse, Graz - Wien: Bohlau, 1985. Ich beziehe mich hier auf Lesch, Walter: Verlorenes Paradies und befristete Zeit. Variationen über Geschichtsphilosophie und Apokalyptik, Abschnitt 3.2., in diesem Band S. 53ff. Gasper, Hans; Valentin, Friederike (Hg.): Endzeitfieber. Apokalyptiker, Untergangspropheten, Endzeitsekten, Freiburg i.Br.: Herder Spektrum, 1997. Beul-Ring, Susanne: Stunde der «Seher». Weissagungen - Mittel zum Transport von Weltbi1dern und zur Angstbewaltigung? in: GasperNalentin: Endzeitfieber, S. 168 -191. Ebertz, Michael N.: A nfali ig für apokalyptische Rufer? S. 192 -217.
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Es ist der Intuition und dem Ddi.ngen der Herausgeberin dieses vorliegenden Bandes zu verdanken, die auf einen Beitrag aus der Psychologie nicht verzichten wollte, dass hier der Versuch unternommen wird, Ansatze zu einem solchen Beitrag zu leisten und Denkanstõsse zu geben. Denn: Mag die Jahrtausendwende auch der nur zufallige AuslOser sein, dass viele Zeitgenossen in . extreme Ãngste und Aufregungen geraten und dass Versatzstücke apokalyptischen, vom Ursprung her also religiõsen, Gedankenguts wieder Hochkonjunktur haben; mag sein, dass da nun vieles in esoterischem Gewand erscheint. Was da jedoch an geangstigtem oder auch euphorischem Denken und Fühlen geballt zutage tritt, sollte meiner Meinung nach gerade die Psychologie nicht einfach anderen Disziplinen zur Beschreibung, Erforschung und allenfalls Behandlung überlassen. Dabei liegt es auf der Hand, dass ein so1cher Versuch nicht auf den Dialog mit anderen Wissenschaften, insbesondere mit Theologie bzw. Religionswissenschaften und Philosophie verzichten kann, aus denen die Psychologie letztlich hervorgegangen ist. Aber auch die Geschichtswissenschaft, Soziologie und Padagogik sind unverzichtbare Referenzen. Der Soziologe Michael N. Ebertz weist in seinem bereits zitierten Beitrag darauf hin, dass eschatologisch-apokalyptisches Wissen wie jedes Wissen auf «Plausibilitatsstrukturen» angewiesen sei, um Relevanz und Geltung zu erhalten l2 . Ehe ich zum Kernpunkt meiner Ausführungen, den «psychologischen Erwagungen zum Umgang mit Angst, Zeit und Endlichkeit» komme, werde ich in einem ersten Schritt in ein paar Strichen versuchen darzustellen, was an eschatologisch-apokalyptischem Wissen heute vorhanden und für unsere Überlegungen relevant ist (1), um dann in einem zweiten Schritt, auch wiederum nur skizzenhaft, zusammenzutragen, wie diese gesellschaftlichen Plausibilitatsstrukturen denn aussehen, die zu «apokalyptischer Analogiebildung» 13 einladen oder herausfordern (2). Nach Überlegungen zur Bedeutung des apokalyptischen Denkens in unserer Zeit gilt es, das Phanomen der Apokalypse-Blindheit als Form der Angstabwehr zu untersuchen (3). Schliesslich wird zu zeigen sein, we1chen Beitrag Psychologie und Psychotherapie zu Theorien der Angst und zum Umgang mit Angst angesichts der drohenden globalen õkologischen Katastrophe als der wahrscheinlichsten mõglichen Konkretisierung einer universalen Apokalypse zu leisten haben (4). Dabei kommt Überlegungen zu den Ãngsten unserer Kinder eine besondere Bedeutung zu, da dort der Ansatzpunkt liegt, um praventiv zu handeln und zu veranschaulichen, was im Umgang mit Ãngsten und ihrer Verarbeitung zu tun ware, damit Angst, die zu unserem Leben gehõrt, nicht apokalyptische Ausmasse annehmen muss. (5). Zum Schluss werde ich herausarbeiten, inwiefern wir unseren Umgang mit Zeit grundsatzlich überdenken und andern müssen, wenn wir uns dieser Aufgabe
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stellen, wozu es keine Alternative gibt, jedenfalls keine, die eine Zukunftshoffnung rechtfertigen kannte (6).
1. Eschatologisch-apokalyptische Traditionen
Sind Forschungen zum Ursprung und zur Geschichte des apoka1yptischen Denkens Gegenstand spezialisierter religionsgeschichtlicher Rekonstruktionen und Hypothesen l4 , und ist die Eschato10gie, die «Lehre von den 1etzten Dingen», eine Disziplin der christ1ichen Dogmatik, die seit der Aufklarung und unter dem Einf1uss der Re1igionskritik vor allem des 19. Jahrhunderts se1bst innertheo10gisch an Bedeutung eingebüsst hatte l 5, so ist es interessant und erhellend, der Frage nachzugehen, was an eschato10gisch-apoka1yptischen Vorstellungen auch ausserha1b wissenschaftlicher Forschung heute vorhanden ist und aus welchen Quellen diese Vorstellungen sich speisen. Versucht man, sich in dieser verwirrenden Vie1fa1t zu orientieren, so ergibt sich doch ein gemeinsamer Nenner aller eschato10gisch-apoka1yptischen Vorstellungen, in we1cher Zeit und in we1chem Kontext auch immer sie entstanden sein magen: Es geht um Angst und Hoffnung, Angst vor Chaos und Untergang und Hoffnung auf Ordnung und Rettung; es geht um Gut und Base und um die Ambiva1enz beider. Da diese Ambiva1enz jedoch so sehr zu unserem Leben und unserer We1t gehart, kan nen Gut und Base endgültig nur am Ende der Zeit getrennt werden. Im Endzeitgericht wird entschieden, was gut, was base war und ist; das Base muss untergehen, und das Gute wird für eine neue We1t, ei ne neue Schapfung bewahrt und es wird ein neuer Kosmos, eine neue Ordnung ohne Chaos, d.h. ohne Angst, Leid und Tod, ohne Endlichkeit entstehen. Meist ist es eine Schar Auserwãh1ter, we1cher der Übergang von der a1ten We1t des Chaos, die untergeht, in die neue We1t der Ordnung und G1ückseligkeit gewahrt wird. Bei den soeben beschriebenen Vorstellungen scheint es sich um anthropo10gische Konstanten zu hande1n, die den verschiedenen religiasen Phanomenen in der Geschichte der Apoka1yptik zugrunde1iegen: Bedenkt man, wie fragil alles Leben, vor allem aber unsere menschliche Existenz ist, so wird deut1ich, dass Chaos und Untergang a1s Mõglichkeit im Grunde unser ganzes Dasein
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Zum Ursprung siehe Cohn, Norman: Die Erwartung der Endzeit. Vom Ursprung der Apokalypse; zur Geschichte des apokalyptischen Denkens sei als Einführung und Überblick verwiesen auf: Selge, Kurt-Victor: Vom frühchristlichen Chiliasmus zur sakularen Weltemeuerung. Endzeiterwartungen in Europa bis zur Neuzeit, in: GasperNalentin: Endzeitfieber, S. 10 -29. Ausserdem die verschiedenen Artikel zum Stichwort «ApokalyptiklApokalypsen» in der Theologischen Realenzyklopadie (TRE), Bd. 3, Berlin - New York: WaI te r de Gruyter, 1978, S. 189 -288.
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Eine umfassende, dennoch kurze und leicht lesbare Darstellung bietet Nocke, FranzJosef: Eschatologie, Düsseldorf: Patmos, 1982, hier S. l1f.
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begleiten und die Angst davor uns jederzeit packen kann. Dieser Angst entspricht die komplementãre Hoffnung auf Rettung und das Streben nach Ordnung. Kein Lebewesen ist nach der Geburt so lange wie wir Menschen auf Zuwendung und Pflege angewiesen, um Vernichtung und Tod zu entgehen. Die Urangste unserer Kinder vor Vernichtung und Ver1assenheit zeigen uns das unmissverstandlich; ebenso lassen die Ãngste vieler psychisch Kranker erkennen, wie Chaos und Untergangser1eben die Oberhand über Ordnung und Hoffnung auf Rettung gewinnen konnen. Die Apokalyptik als religiOs-philosophische Tradition befasst sich nun allerdings nicht allein mit dem Menschen als Individuum, sondern sie denkt und imaginiert das Ende aller Dinge, das Ende der Weltzeit. Dieser Bezug auf ein Ende der We1tzeit, nach dem ei ne Schar Auserwãh1ter durch ein Gericht hindurch gerettet wird, charakterisiert die Apokalyptik als universalgeschichtliche Ausfonnung der Eschatologie l6 ; hinzu kommt, dass Apokalyptiker zu jeder Zeit ihre jewei1ige Gegenwart als Zeit extremer Angst, extremen Chaos er1eben und Untergang, Gericht und Anbruch des neuen Ãon in nachster Zukunft erwarten. Da uns am Ende des 20. Jahrhunderts durch die globale mediale Vernetzung mehr als allen Generationen vor uns simultane Einblicke in Krisen, Kriege, okologische Katastrophen, Elend, Vernichtung und Tod überall auf der Welt ennoglicht werden, ist es nicht verwunder1ich, dass manche Zeitgenossen im Sinne der apokalyptischen Traditionen gerade heute an ein baldiges We1tende denken. Es lohnt sich daher, uns einen knappen Überblick über diese Traditionen zu verschaffen, die immer wieder als Deutekategorien für gegenwãrtige Entwicklungen herangezogen werden. Die jüdisch-christliche Apokalyptik mit ihren Anfangen in Tei1en der prophetischen biblischen Tradition bis hin zu den apokalyptischen Schriften des ersten nachchristlichen Jahrhunderts - die Johannesapokalypse als Schrift des Neuen Testaments und christliche Hauptquelle der Apokalyptik eingeschlossen - ist in unserer abendlandischen Ku1tur der Prototyp religiOser apokalyptischer Vorstellungen. In beiden Traditionen, der jüdischen und der christlichen, hat die frühe Enttauschung der Naherwartung von Ende und Neubeginn, die durch Gott herbeigeführt werden sollten, den Ausschlag dafür gegeben, dass die apokalyptischen Vorstellungen sich modifizierten. Im Judentum 17 war und blieb es der Messianismus, in den alle Hoffnungen auf die Rettung mündeten, was nicht ausschloss, dass in den für das jüdische Volk so zahlreichen Verfolgungen bis in unsere Zeit a1tes apokalyptisches Gedankengut reaktualisiert wurde. Im Christentum kann bereits die Johannesapokalypse als ein Versuch gewertet werden, auf die ausstehende, noch ausbleibende Wie16 Der Begriff findet sich bei Lanczkowski, Günter: Art.
Apokalyptik/Apokalypsen, l.
Religionsgeschichtlich, in: TRE, Bd. 3, S. 189. 17
Siehe den Art. von K. Müller: Diejüdische Apokalyptik, in: TRE, Bd. 3, S. 202-251.
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derkunft Christi als Beginn des Reiches Gottes, das die endgültige Erlõsung bringt, eine Antwort zu geben: Es gilt auszuharren im Bewusstsein, dass das Entscheidende der Erlõsung mit dem ersten Kommen Christi bereits geschehen ist. Er wird wiederkommen und ein tausendjahriges Reich des Friedens errichten, bevor die Welt zu Ende geht. 18 Apokalyptisches Denken im engeren Sinn fand im Judentum Eingang in Strõmungen der jüdischen Mystik und Philosophie l9 , wo apokalyptische 'Traditionen gleichermassen bewahrt und transformiert wurden und auch aus serhalb des Judentums Einfluss auf geistesgeschichtlich interessierte Intellektuelle nahmen und nehmen. Für unser Jahrhundert seien hier als Bewahrer und Transformatoren apokalyptischer Traditionen Martin Buber20, Walter Benjamin21 , Gerschom Scholem, Ernst Bloch und Jacob Taubes genannt, letzterer mit seiner 1947 verõffent1ichten Dissertation «Abendlandische Eschatologie». 22 Nach Taubes erhalt apokalyptisches Wissen seine Nahrung generell aus der Erfahrung des «Fremd-seins», also «im Hier nicht daheim zu sein '" Aus dem Urwort der Fremde und dem darin enthaltenen Thema der Selbstentfremdung folgen alle weiteren Worte und Motive der Apokalyptik.»23 Im Christentum hat sich neben der uni versalen oder allgemeinen Eschatologie eine individuelle Eschatologie entwickelt, die wirkungsgeschicht1ich vielleicht noch pragender, weil dem einzelnen naher, war als die universale Eschatologie. Die Themen sind Tod, besonderes Gericht, Fegefeuer, Himmel und Hõlle. Die Art, wie diese Themen im Verlauf der Kirchengeschichte behandelt wurden, di ente nicht selten eher der Angsterzeugung als der Angstbewaltigung. 18
Siehe dazu Pezzoli-Olgiati, Daria: Im Spannungsfeld zwischen Weltende und Offenbarung. «Apokalyptische» Zeitmodelle, in diesem Band. Die Verfasserin arbeitet Unterschiede und Gemeinsamkeiten jüdischer und christlicher apokalyptischer (Zeit-) Vorstellungen des 1. Jahrhunderts n. Chr. heraus. Zur Geschichte der Vorstellung vom Tausendjahrigen Friedensreich, dem Ausgangspunkt aller chiliastischmillenaristischen Hoffnungen und Bewegungen, siehe Bau ckh am , Richard: Art. Chiliasmus, in: TRE, Bd. 7, S. 723 -745.
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Der Traditionsweg ging über die Niederschlage des apokalyptischen Denkens in Talmud und Midrasch, und von dort in die Kabbalah und die chassidische Bewegung. Siehe Art. Apocalypse, in: Encyclopedia Judaica, Bd. 1, S. 179-180. Mit seiner Interpretation des Chassidismus, deren Bedeutung für sein Gesamtwerk kaum zu überschatzen ist, hat Buber meiner Meinung nach jüdisches apokalyptisches Wissen bewahrt und in seinem dialogischen Denken transformiert. Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1/2, (hg. von Rolf Thiedemann und Hermann Schweppenhauser), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 691 -704. Zur naheren Information siehe Lesch, Walter: Verlorenes Paradies und befristete Zeit, Punkt 1. Zusammenfassung zu Jacob Taubes und Punkt 3.3 zu Walter Benjamin in diesem Band S. 36ff und S. 55ff. Taubes, Jacob: Abendlandische Eschatologie, München, 1991, S. 69.
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Es ist die uns bedrangende Frage nach der Zukunft der Menschheit einerseits und ein neu erwachtes Interesse am Tod an dererseits, die zu einem neuen Bedenken eschatologischer Inhalte und zu Versuchen ihrer Neuinterpretation geführt haben. Eine wesentliche Modifikation apokalyptischer Vorstellungen hat die Aufklarung gebracht. Zentral dafür ist deren Kritik der Theodizee, die mit dem Erleben der Katastrophe des Erdbebens von Lissabon und dem Versuch seiner Verarbeitung ihren Anfang nahm. Diese «Kritik traf ... Gott als Form von Geschichte und die Apokalypse als das Zeichen ihres Endes. Gottliche Vorsehun g und Erlosung» und, man konnte erganzen: mit ihr chiliastische Zukunftshoffnungen, «wurden beerbt von der Philosophie des Fortschritts, Gericht und Apokalypse von der Katastrophe.»24 Der Begriff der Katastrophe stammt eigentlich aus der griechischen Tragodie und ist in ihr der Augenblick, «in dem das gottliche Verhangnis über die unschuldig Schuldigen kommt. Gottliches bleibt, wie die Schuld, der Katastrophe zwei Jahrtausende zu eigen.»25 Als der Glaube zerbrach, dass Gott die Geschichte als ganze, auch in ihren schlimmsten Ereignissen lenkt, als das aufklarerische Zeitalter die Idee der Theodizee darum au fgab, «verlor die Katastrophe ihren transzendenten Sinn, und die Menschen wurden aus der Verantwortung und aus zwanghafter Schuld entlassen. Katastrophen wurden solche der Natur, der (noch) nicht beherrschten, nicht gezãhmten. Gesellschaftliches jedoch emanzipierte sich prinzipiell von der Katastrophe, hier ga1t fortan bedingungslos Verantwortung, und soziale und politische Verheerungen konnten nicht Hi.nger als Verhangnis gedeutet werden, sondern waren Resultat menschlicher Feigheit, Dummheit oder Bosheit.»26 Dennoch gehort zur Katastrophe, nun Inbegriff der Apoka1ypse, auch weiterhin die Erlosungshoffnung als «tief eschatologisches Moment der Katastrophe, dem die Aufklarung nichts anhaben konnte.»27 Der eigentliche Tiefpunkt des apokalyptischen Denkens in Europa war in den hundert Jahren erreicht, die dem Wiener Kongress folgten. Es war eine Epoche politischer Beruhigung und Stillstands, aber auch des Friedens. «In der Kunst, der Literatur, auch der Philosophie (der nichtakademischen) ist es das Zeitalter der Katastrophenfaszination.»28 Von Katastrophendarstellungen in der bildenden Kunst und im Film geht ein gewaltiger Sog aus. Am Ende jener
24 Thiessen, Rudi: Katastrophenindifferenz. Warum die Meadows-Berichte uns keinen Eindruck machen, oder: Wie wir verdrlingen, was uns bedrangt, in: Du. Die Zeitschrift der Kultur, Heft 2, Pebruar 1994, mit dem Titel: Trotzdem. Kultur und Katastrophe, S. 28. 25 Ebd.
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Epoehe, am Vorabend des ersten Weltkrieges, fasziniert der Untergang der Titanie im Jahre 1912 - in unserer Zeit wieder neu verfilmt! - als «K1age über mensehliehe Hybris, der die Katastrophe das Gerieht war, aber das Gerieht kommt über die Massen derer, die man nieht kennt. Natürlieh fordert die Dramatik aueh den Tod des einen oder anderen Helden, do eh der Betraehter ist nicht dieser Held und gehõrt nieht zu den Massen: er ist entkommen, er ist gerettet.»29 Neben Religion und Philosophie sind - im 19. Jahrhundert mit dem genannten Akzent der Katastrophenfaszination - Literatur und Kunst als Gefasse zu nennen, in denen apokalyptiseh-esehatologisehes Denken lebendig ist. 30 Im Christentum als so1chem, vor allem im rõmiseh-katholisehen Christentum Europas, blieben apokalyptisehe Vorstellungen an den Rand gedrangt31 ; sie tauehen im Credo versehiedener Sekten wieder auf. Sie wurden von den Katholiseh-Apostolisehen, den Neuapostolisehen und besonders von den amerikanisehen Sekten der Adventisten, Mormonen und Zeugen Jehovas in die breiten Massen getragen. 32 Und, nicht zu vergessen: Aueh die Mythologie der Reehten a1ter und neuer Provenienz bediente und bedient si eh kraftig bei Versatzstüeken voraufklarerisehen apokalyptisehen Gedankenguts. 33
29 AaO., S. 29. Thiessen weist darauf hin, dass diese Katastrophenfaszination bereits in literarischen und künstlerischen Werken der Romantik, etwa bei Heinrich von Kleist, Caspar David Friedrich und E.A. Poe, von letzterem bereits als so1che erkannt und analysiert, greitbar wird. Mit Biedermeier und Restauration als Epoche relativer Sicherheit wird die Katastrophenfaszination zum «Allgemeingut».
30 Siehe den Beitrag von Mauron, Véronique und de Ribaupierre Furlan, Claire: Weissagungen, Trümmer, Griiber. Fragen der Apokalypse im Roman und in der Kunst der Gegenwart in diesem Band. Ausserdem: Bleicher, Joan Kristin: Zwischen Erlosung und Apokalypse. Das Ende der Welt in der Gegenwartsliteratur, in: Thiede, C. P.: Zu hoffen wider die Hoffnung. Endzeiterwartungen und menschliches Leid in der neueren Literatur, (Reihe Christlicher Glaube und Literatur 617), Paderbom: Bonifatius, S. 47 - 64. 31 In seinem zwischen Mãrz 1995 und Januar 1996 in der italienischen Zeitschrift Liberal verOffentlichten Briefwechsel mit dem Bischof von Mailand, Carlo Maria Martini, weist Umberto Eco darauf hin, dass der Gedanke an ein Ende der Zeit für UngHiubige oder Nichtchristen typischer sei als für Christen und das s entsprechend die millenaristischen Bewegungen des 2. J ahrtausends politische und soziale Bewegungen unter der Führung von Laien oder sogar Atheisten waren. Der Briefwechsel ist in franzosischer Übersetzung erschienen: Eco, Umberto; Martini, Carlo Maria: Croire en quoi? Paris: Payot & Rivages, 1998. 32 Algermissen, K.: Art. «Apokalyptiker», in: LThK, Bd. I, Sp. 706.
33 Siehe dazu Sünner, Rüdiger: «Thule» gegen «Juda». Von Urparadiesen und Zukunftskriegen in der Mythologie der Rechten, in: Gasper/Valentin: Endzeitfieber, S.100-130. .
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Auf diesem traditionsgeschichtlichen Hintergrund bewegen wir uns, wenn wir uns im Jahr 1998 und in den kommenden Jahren theologisch, philosophisch, künstlerisch, soziologisch und eben auch psychologisch mit den als «apokalyptisch» apostrophierten Entwicklungen, Bedrohungen und Ãngsten unserer Zeit befassen.
2. «Endzeiteifahrungen» und apokalyptische Analogiebildungen und die Relevanz des apokalyptischen Denkens heute Zweifellos hatte jede geschichtliche Epoche ihre eigenen «Plausibilitatsstrukturen» , aufgrund derer die verschiedenen Ausformungen eschatologisch-apokalyptischen Wissens ihre Relevanz und Geltung erhielten. Drei geschichtliche Erfahrungen unseres Jahrhunderts müssen als katastrophale Angelpunkte gelten, die in Art und Ausmass singular sind: die Realitat von Auschwitz, die Atombombe und, auf den verschiedensten Ebenen des gesellschaftlichen Lebens, besonders aber im Umgang mit den nicht erneuerbaren Ressourcen der Natur, das Überschreiten der Grenzen, innerhalb deren das Überleben unserer Gattung noch wahrscheinlich ware. 34 Aufgrund ihrer Singularitat und ihrer Grõsse zeigt sich immer wieder, dass diese Erfahrungen Intellekt und Phantasie überfordern und es uns dementsprechend nicht einmal mõglich ist, angemessen darüber zu reden, geschweige denn, Konsequenzen für unser gesellschaftliches und politisches Handeln daraus zu ziehen. Wir versuchen sie zu verdrangen, aber selbst, wenn das zeitweise partiell gelingt, sind sie als verdrangte Angst allgegenwartig; sie bilden den Hintergrund, vor dem weniger singulare, dafür aber im Alltagsbewusstsein prasentere politische, gesellschaftliche, kulturelle und õkonomische Entwicklungen benennbar sind und erlebt werden, «welche derzeit jene Abschiedsdiskurse mobilisieren und wenigstens zur gesellschaftlichen Stützung der Vorstellung beitragen, dass wir in einer <Endzeit> leben (kõnnten).»35 Ebertz beschreibt in seiner soziologischen Analyse einige Bereiche aktueller Fremdheits- und Krisenerfahrungen, die sich als «Untergangs-» oder «Enderfahrungen» pointieren lassen 36 , wie z.B. der Zusammenbruch des zentralistischen Sozialismus mit den gewaltigen Umwalzungen, die er mit sich brachte, die Krise des Kapitalismus (Stichworte wie «Grenzen des Sozialstaats», «drohendes Ende der Arbeitsgesellschaft», «Wertewandel oder Werteverfall» Gewalt, Kriminalitat und Suchtphanomene als «Dãmonen der Erlebnisgesellschaft»); Generalisierung von Fremdheit, Relativierung der Wissenschaft sowie Erosionen und Traditionsbrüche im Christentum.
34 Dazu die Analyse von Thiessen, Rudi: Katastrophenindifferenz, S. 28. 35 Ebertz, Michael N.: Anfallig für apokalyptische Rufer? S. 193. 36 AaO., S. 195 -210. 162
Seit dem ersten Weltkrieg ist der Fortschrittsglaube der AufkHi.rung zunehmend in die Krise geraten. Die grossen Katastrophen unseres J ahrhunderts haben den Hoffnungsteil des apokalyptischen Denkens im Sinne positiver chiliastischer Zukunftserwartungen nicht einfach nur transformiert, wie das in der AufkHi.rung geschehen ist, sondern sie haben ihn verschlungen. 37 Geblieben sind die Endzeitangste. Die noch herrschenden Vertreter des alten Fortschrittsglaubens in (Natur-) Wissenschaft und Technik, Politik und Wirtschaft und damit Inhaber von Entscheidungs- und Handlungsmacht sind jedoch diejenigen, die EndzeiHi.ngste am vehementesten als irrational abtun. Ein Paradigmenwechsel ist nicht in Sicht; es geht weiter: schneller, mehr und grosser. Und Katastrophen sind in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts zwar immer deutlicher Katastrophen der Natur, aber gerade der illusionãr, vermeintlich bezãhmbaren. Es wachst das Bewusstsein, dass es keine Verheerungen mehr gibt, die nicht in unsere Verantwortung fielen. Um Natur und gegen die Natur werden Kriege geführt, etwa beim Kampf um Ressourcen, wie wir es 1992 beim Golfkrieg mitansehen mussten und dort vielleicht noch einmal mitansehen müssen. Und wir beginnen zu begreifen, dass wir selbst ein Teil der Natur sind und mit der Natur uns selbst zerstOren. War es in den 80er Jahren unseres Jahrhunderts die Atomgefahr, die namentlich durch die Stationierung von Atomwaffen in Europa und nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl 1986 Endzeitangste in weiten Teilen der europaischen Bevolkerung auslOste, so ist es in den zu Ende gehenden 90er Jahren die sich immer deutlicher abzeichnende okologische Katastrophe (ohne dass es für die Atomgefahr Losungen gabe, im Gegenteil l), die - gerade auch bei Kindern 38 - Endzeitangste mobilisiert: im Artensterben, in der Erwãrmung der Atmosphãre durch den Treibhauseffekt, in Überschwemmungen, in der Zunahme von umweltbedingten Krankheiten mit dem allgemeinen Kennzeichen der Schwachung des Immunsystems bei Tier und Mensch, nicht nur durch BSE oder AIDS, und nicht zu vergessen, die wachsenden Risiken, die mit neuen Technologien wie z.B. der Gentechnik verbunden sein konnen, die aber von ihren Verfechtern als Losung gravierender Probleme propagiert werden. Die hier skizzierten historischen Katastrophen und aktuellen Risiken sowie die gesellschaftlichen Belastungen und Spannungen, Krisen und Enderfah-
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Damit war natürlich nicht jegliche Hoffnung zu Ende, nicht einma1 eine innerweltliche: Inmitten des zweiten Weltkrieges entwarf Ernst Bloch in marxistischem, aber auch religiõs-messianischem und mystischem Geist sein philosophisches Hauptwerk «Das Prinzip Hoffnung», das in den 50er Jahren erschien. Bloch knüpfte damit explizit an der chiliastischen Tradition des apokalyptischen Denkens an. Bloch verpflichtet ist dann auch die «Theologie der Hoffnung» von Jürgen Moltmann, München, 1964.
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Meinerzhagen, Margitta (Hg.): «Baume und Vogel gibt es auch nicht mehr». Kinder schreiben über ihre Zukunft, Hamburg: Rasch und Rõhring, 1988.
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rungen haben am Vorabend des Jahres 2000 in jedem Fall eine stimulierende Funktion für das Wiederaufleben biblisch-apokalyptischer Wissenstraditonen: Ein Blick in die Feui11etons renommierter Zeitschriften, in denen sich einschlagige Beitrage hau fen , lãsst daran keinen Zweifel. Die Bereitschaft jedoch, solche Analogiebi1dungen auch wirklich vorzunehmen, nicht nur als Gedankenexperiment, sondern als Deutehorizont für die personliche Existenz- und Welterfahrung, und entsprechende Konsequenzen daraus zu ziehen, ist in unserer Gesellschaft eigentümlich vertei1t: Auf der einen Seite stehen die Mitglieder und Sympathisanten von explizit apokalyptischen Gemeinschaften 39 , die in Deutschland und auch anderswo eine relativ k1eine Minderheit bi1den, auf der anderen Seite sind einige wenige Intellektuelle benennbar: Philosophen, Schriftsteller, Theologen, auch Naturwissenschaftler wie der Physiker earl Friedrich von Weizsacker, die wie prophetische Rufer ein Umdenken und ein anderes Handeln in Politik und Wirtschaft anmahnen. Dazwischen scheint es die von apokalyptischen Ãngsten Unberührten zu geben, aus Unwissenheit und/oder aus Überzeugung und vermeintlicher Aufgeklãrtheit und beide vermutlich aus Interesse am personlichen Wohlergehen, und daneben diejenigen, welche mit Endzeiterwartungen und -Ãngsten spielen, die sich - wie bereits viele Zeitgenossen im 19. Jahrhundert - nach der Inszenierung des Endes in einer müde gewordenen Kultur zu sehnen scheinen, sich aber dem Ernst gegebener Bedrohungen weder im Denken noch im Handeln stellen wollen. Apokalyptisches Denken war immer schon ein Stõrfaktor innerhalb von Gesellschaften, haufig als fanatische Übertreibung, die selbst wieder Verheerungen mit sich brachte. «Apokalyptik und Sekten» wãre eine eigene psychologische Untersuchung wert: Wir verfügen heute über genügend psychologisches Wissen, um die Mechanismen der Beeinflussung einzelner in sektiererischen Gruppen darzustellen und zu erklãren. 4o Die fanatisierten apokalyptischen Sekten, die im schlimmsten FalI den Massenselbstmord wahlen oder als V ollstrecker des apokalyptischen U ntergangs auch nicht vor der Vernichtung ahnungsloser Aussenstehender zurückschrecken, sind ein relativ 39
Ebertz, Michael N.: Anfallig für apokalyptische Rufer, S. 215-217 nennt Zahlen, wonach diese Gemeinschaften z.B. in Deutschland ca. 1 Mio. Mitglieder stellen und zusammen mit ihren Sympathisanten maximal 3 -5% der Bevolkerung ausmachen, wlihrend die Zahlen in den USA allerdings weit hoher liegen, da dort auch die Geschichte chiliastischer Vorstellungen anders verlaufen ist (B auckham , R.: Art. Chiliasmus, in TRE, Bd. 7, S. 741-743). Dort glauben beispielsweise 65% der Bevolkerung an den Teufel (in Deutschland ca. 15%), was als «Testfall» für die Bedeutung eschatologischer Glaubensinhalte in der amerikanischen Gesellschaft gewertet werden kann. Kennzeichnend für diese Gruppen ist u.a die wortliche, biblizistische Interpretation apokalyptischer Bibeltexte.
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Z.B. Hassan, Steven: Combatting Cult Mind Control, Rochester - Vermont: Park Street Press, 1988.
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neues Phanomen, das dringend der Aufklarung bedarf. Andererseits haben Apokalyptiker, meist als einsame Rufer, Gefahren immer benannt und nicht verdrangt. 1993 beispielsweise veroffent1iehte der 1948 in Chieago geborene und seit 1957 in Deutsehland lebende Philosoph und Kunstwissensehaftler Gregory Fuller einen Essay über «Das Ende. Von der heiteren Hoffnungslosigkeit im Angesicht der okologisehen Katastrophe.»41 Fullers Text ist eine Herausforderung, der aueh eine ernstgemeinte ehristliehe Glaubenshoffnung nieht zu raseh mit der «Hoffnung wider die Hoffnung» begegnen sollte, denn diese bewegt sieh dann auf einer anderen Ebene als die von Fuller besehriebenen Fakten, namlieh: «die todbringenden Prozesse, die vom Mensehen eingeleitet wurden, und deren Folgen er weder rüekgangig maehen noeh beherrsehen kann. Die Fakten liegen auf dem Tiseh, und sie führen zur Einsieht: <Es ist zu spat.> Wir müssen lernen, sagt Fuller, das Unabanderliehe zu akzeptieren. Leben heisst sterben lernen. Diese ursprünglieh dem Individuum zugedaehte Maxime gibt Fuller der Gattung Menseh auf den no eh verbleibenden Weg mit.»42 Wie aber erwirbt man die von Fuller propagierte «heitere Hoffnungslosigkeit im Angesieht der okologisehen Katastrophe»? Dieser stoisehe Umgang mit der Endzeitangst ist sicher nieht der einzige Weg. Eine neuere theologisehe Interpretation der Apokalyptik, die mir für eine angemessene Einsehatzung der Bedeutung des apokalyptisehen Denkens gerade in unserer Zeit hoehst relevant erseheint und daher aueh neue psyehologisehe Zugange zu Endzeiterwartungen und -Ãngsten ersehliesst, hat Ulrich H.J. Kortner in seinem Bueh «We1tangst und Weltende» vorgelegt. Er sehreibt: «Apokalyptisehes Denken hat seine Mitte in der Erwartung des Weltendes. Als , von der G. Seholem gesproehen hat, ist Apokalyptik Ausdruek eines Krisenbewusstseins. Die in apokalyptisehen Vorstellungen symbolisierte Krise spie1t sieh keineswegs nur im Innenleben des Apokalyptikers ab. Sie ist durehaus aueh eine Krise der Aussenwelt, genauer gesagt eine so1che, in die der Apokalyptiker dureh Vorgange hineingerat, die sich zwisehen ihm und der Aussenwelt abspielen. Insofern ist Apokalyptik nieht eine Fonn blosser Aussenwe1tbesehreibung, sondern vielmehr Ausdruek des Existenzverstandnisses derer, die apokalyptisehe Vorstellungen teilen. Das Daseinsverstandnis von Apokalyptik wurzelt in einer saekgassenartigen Welterfahrung. Der Ort so1cher Erfahrung ist Angst. Von der Angst her vennag sieh uns die Apokalyptik abseits teleologisehen Gesehiehtsdenkens neu zu ersehliessen. Um diese Angst zu verstehen, bedarf es der Zusammenarbeit von Religionsgesehiehte, Psyehologie und Soziologie, aber aueh
41 Fuller, Gregory: Das Ende, Zürich: Amman, 1993. 42 Klappentext des B uches von Fuller. 165
der Philosophie. Gerade die letztere kan n uns Verstehenshilfen für das Daseinsverstandnis der Apokalyptik bieten, sofern solch philosophische Daseinsanalyse nicht von den übrigen Interpretationsversuchen isoliert wird.»43 Apokalyptik als Ausdruck eines umfassenden Krisenbewusstseins und einer sackgassenartigen We1terfahrung: So definiert teilen viel mehr Menschen als nur die Anhanger apokalyptischer Sekten oder die wenigen prophetischen Mahner das Lebensgefühl der Apokalyptik: die Endzeitangst. Da diese lãhmend und überwaltigend ist und sich mit vieler1ei Ãngsten überlagert, verdrangen wir sie, so gut wir konnen. Viele von uns versuchen das umso mehr, als sie sich angesichts der Apokalypse-Blindheit der meisten Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft hilf10s fühlen. Zweifellos sind die fanatisierten modernen apokalyptischen Sekten gefãhrlich, aber die im allgemeinen herrschende ApokalypseBlindheit birgt Gefahren viel gewaltigeren Ausmasses, und vielleicht ist gerade sie eine wesentliche Bedingung für die Exzesse der «Hyperbewussten» in den modernen Sekten? Vielleicht ist das Mass der Verdrangung das beste Mass für die Bedrohung, unter der gerade wir Heutigen leben, und die Symbole der Apokalyptik und deren Magie der Zahlen wãren eine Chance, uns der Bedrohung im Ernst zu stellen.
3. Apokalypse-Blindheit als Angstabwehr Inwiefern ist es berechtigt, von «Apokalypse-Blindheit» zu sprechen, was ist damit gemeint und wie ist dieses Phanomen zu erklãren? Kein Mensch kann langfristig im Bewusstsein extremer Bedrohung leben, ohne die Gefahr zu verdrangen, wenn er sie nicht abwenden kann und sie ihn andererseits doch noch nicht unmittelbar betrifft44. Nicht zu leugnende Daten, die beispielsweise eine õkologische Katastrophe erwarten lassen, erreichen nicht oder noch nicht direkt Betroffene als abstrakte Nachrichten, die in der Informationsf1ut der Medien Schlagzeilen machen, aber bald durch andere Sensationen abgelOst werden. Solche Ereignisse sin d zu gross für Intellekt und Phantasie: «Es ist ja kein Ereignis, sondern eine Information über gegenwãrtige Ereignisse, welche dereinst ein Ereignis generieren werden, dessen Qualitat und Ausmass den Ereignissen nicht anzusehen iSt.»45 Gerade die Zukünftigkeit wahrscheinlicher õkologischer Katastrophen entha1t auch eine Ambivalenz, die 43 Kortner, Ulrich H.J.: Weltangst und Weltende. Eine theologische Interpretation der Apokalyptik, Gottingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1988, S. 8lf.
44 Dasselbe gi1t auf der Ebene des Individuums für den Umgang mit der Gewissheit des eigenen Todes.
45 Thiessen, Rudi: Katastrophenindifferenz, S. 29. 166
zur Apokalypse-Blindheit einUidt: Vielleicht kommt ja doch alles anders, vielleicht ist beispielsweise die Gentechnologie weniger schadlich als hilfreich? Es gibt genügend Mõglichkeiten, von Gefahren abzulenken und eine mõgliche «Rettung» zu ideologisieren, so etwa mit dem Dichterwort Friedrich Hõlderlins: «Nah ist, und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wachst das Rettende auch.» Dies hat kritische Theologinnen und Theologen schon veranlasst, das Wort abzuandern: «Gefahr ist. Wachst das Rettende auch?»46 Der Umgang mit Katastropen ist verschieden, je nach dem, ob man in relativer Sicherheit lebt oder inmitten einer Schreckenszeit wie z.B. im Krieg, oder ob man aus der Erfahrung einer über1ebten Katastrophe heraus Utopien für die Zukunft entwirft: Thiessen benennt das Problem auf der gesellschaft1ichpolitischen Ebene: «Politisch stillgestellte Zeiten kõnnen zugleich die Abwesenheit wie die Faszination von Katastrophen garantieren. Doch bewirkt dies einen Sog, der den Intellekt zu bannen vermag - und das ist katastropha1. Die Gegenwartigkeit von Katastrophen dagegen treibt zur intellektuellen Flucht aus Angst und Schrecken, bewirkt intellektuelle Askese gegenüber Welt, Politik und Gesellschaft. Und aufklarerische Zeiten (sie tendieren zu gnadenlosem Optimismus) nehmen die Zukunft von ihrem Aufbruch her in den Blick - als eben in diesem garantiert katastrophenfreie. Weder unter Bann noch unter Schock wird vernünftig gedacht. Nur jenseits von Bann und diesseits von Schock ist das Klima der Aufklarung günstig. Das kompliziert schon die intellektuell angemessene Reaktion auf grosse Bedrohungen fatal.»47 Wen wundert es, dass die von Hannah Arendt befreiend kIar als «Banalitat des Bõsen» bezeichneten apokalyptischen Verbrechen des Nazi-Regimes wo und wem immer es mõglich oder unter der Bedrohung nicht anders mõglich war, Apokalypse-Blindheit hervorriefen? Davon ist gerade auch die Psychologie nicht ausgenommen: Sie vermochte sich in Deutschland inmitten der Katastrophe zu professionalisieren, was nur im Dienst des verbrecherischen Regimes denkbar war. Die Dokumente darüber sind erschütternd48 ; vielleicht am erschütterndsten daran ist die Einsicht, dass sich hierin eine abgründige Ambivalenz zeigt: Dass die Psychologie sich professionalisiert hat, ist zweifellos
46 Dirks, Walter (Hg.): Gefahr ist. Wiichst das Rettende auch? Befreiende Theologie for Europa, Salzburg: Pustet, 1991.
47 Thiessen, Rudi: Katastrophenindifferenz, S. 29. 48 Geuter, Ulfried: Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Stw, 1988.
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zu begrüssen, dass diese Professionalisierung jedoeh im militarisehen und noeh dazu in jenem militarisehen Kontext gesehah, ist nur sehwer ertraglieh. 49 Sicher ist für unsere Zeit, dass das Rettende angesichts der vielfaehen Gefahren und Risiken nicht waehst, wenn wir als Gattung und als einzelne in Apokalypse-Blindheit verharren: Es gilt, Angst und Ambivalenz auszuhalten, mit ihnen umzugehen. Es gilt Zeit zu gestalten und Endliehkeit zu akzeptieren. Diese Aufgaben sind der Psyehologie und der Psychotherapie auf der Ebene des mensehliehen Individuums eigentlieh vertraut. Ein gemeinsamer Nenner fast aller anerkannten und bewãhrten psyehotherapeutisehen Riehtungen ist darüber hinaus die Maxime, Verzweifelten oder Unzufriedenen, die Therapie suehen, Hoffnung zu vermitteln, die allererst wieder Krafte und eigene ProblemlOsungskompetenz freisetzt. Kõnnen Psyehotherapeutinnen und Psyehotherapeuten das aueh noeh angesichts so1cher Endzeiterwactungen, die Endzeitangste auslõsen müssen, wo sie doeh, anders als Seelsorger, keine im eigentlichen Sinn religiõse Lõsung anzubieten haben? Hat die Psyehologie mit ihrem Wissen über die Angst und über verantwortungsbewusste und befreiende Wege zum Umgang mit Angst, neben der Theologie, Philosophie und Padagogik, aber aueh der Politik, etwas beizusteuern, was, im Vokabular der Apokalyptik fonnuliert, etwas wie eine kI ei ne ehiliastisehe Hoffnung edaubte, die nicht illusionar ware, oder wie Walter Benjamin es fonnuliert hat: die Hoffnung, dass uns (no eh immer) «eine sehwaehe messianisehe Kraft mitgegeben» ist?50 Aueh wenn die Verantwortung uns fast erdrüekt: Wir sind unseren Kindern jede nur denkbare Anstrengung sehuldig. Versehiedene Forsehungsergebnisse und Erfahrungen aus Psyehologie, Psyehiatrie und Psyehotherapie kõnnten Bausteine liefern, die es uns ennõgliehten, Endzeiterwartungen und -Ãngste ernst zu nehmen und neue Wege zu finden, mit ihnen umzugehen bzw. sie für kreative Lõsungen zu nutzen.
Überall, nicht nur in Deutschland, genoss und geniesst die Psychologie im Militar hochstes Ansehen, wo sie ihr Know How über Eignungsdiagnostik und Strategien der psychologischen Beeinflussung im Interesse der Steigerung der Wehrfahigkeit zur Verfügung stellt. Dass in diesem Rahmen gewonnene Erkenntnisse dann auch der Diagnostik und Therapie im zivilen Bereich zugute kommen, ist zwar erfreulich, aber meist sekundar. So verdanken wir z.B. grosse Fortschritte in der Pravention und Behandlung des posttraumatischen Stress-Syndroms ausgezeichneten Psychologen, die hohe Rlinge in der israelischen Armee bekleiden, so etwa Eli Somer, der auch in der Schweiz und in Deutschland durch seine Kurse und Seminare bekannt ist. Sie haben ihre Erkenntnisse meist in der Behandlung von traumatisierten Soldaten und verwundeten Zivilisten gewonnen. 50 Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. S. zu Walter Benjamin ausführlicher Lesch, Wa1ter: Verlorenes Paradies, in diesem Band, Abschnitt 3.3, S. 55ff. 49
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4. Von der «Psychologie der Apokalyptik» zu psychologischen Theorien der Angst und Angstbewiiltigung.
Anfange einer «Psychologie der Apokalyptik»51 verdanken sich der religionsgeschichtlichen Schule innerhalb der historisch-kritischen Bibelexegese um das Ende des 19. Jahrhunderts. Da die Bilder der apokalyptischen Texte nicht zum Lebensgefühl wachsender Naturbeherrschung, kulturellen Fortschritts und bürgerlichen Wohlstands jener Zeit zu passen schienen 52 , verstand selbst die exegetische Forschung Apokalyptik als «epigonenhafte Auflosungserscheinung der Prophetie»53. U nter diesem Vorzeichen stand daher auch die seriOs gestellte Frage eines Exegeten wie Herrmann Gunkel nach der «psychischen Konstitution» und dem «Erlebnis» der unbekannten Verfasser von jüdischen Apokalypsen. 54 Es war nicht viel spater, als Sigmund Freud als Beitrag zur Psychose-Forschung den Fall Daniel Paul Schreber beschrieb 55 und damit das klassische psychoanalytische Erklarungsmodell des in der Psychiatrie lange als psychopathologisches Symptom bekannten Phanomens des «Weltuntergangserlebnisses» schuf. Psychotische Weltuntergangserlebnisse werden in der Schule Freuds allein als Reflex eines innerpsychischen, als Katastrophe erlebten Prozesses gedeutet: Der regressive Rückzug des Kranken auf sich selbst führt zum Zusammenbruch samtlicher Aussenweltbeziehungen, was als Weltuntergang (Weltverlust) erlebt wird. Dem Zusammenbruch folgt die Wahnbildung als Restitutionsversuch (Weltaufbau). Eine Paralle1itat solcher psychotischen Phanomene zum apokalyptischen Dualismus der zwei Ãonen ist nicht von der Hand zu weisen. Der entscheidende Abschnitt der Schizophrenie vor Eintritt der Katatonie als volligem Erstarren wird denn auch in der Psychopathologie explizit als «apokalyptische Phase» bezeichnet. 56 e.G. Jung bringt Deutungsmodelle 51 Für Einzelheiten siehe das gleichnamige Kapitel bei Kortner, Ulrich H.J.: Weltangst und Weltende, S. 74 - 81.
52 Auf das 19. Jahrhundert als «Tiefpunkt des apokalyptischen Denkens» habe ich im Zusammenhang mit dem Phanomen der Katastrophenfaszination in der Kunst jener Epoche bereits hingewiesen.
53 Seebass, Gottfried: Art. Apokalyptik/Apokalypsen VII, in: TRE, Bd. 3, Berlin - New York 1978, S. 284. Diese Meinung teilten lange Zeit selbst jüdische Forscher: Müller: Art. Apokalyptik/Apokalypsen III, Jüdische Apokalyptik, in: TRE, Bd. 3, S.202f.
54 Gunkel in Kautzsch, E. (Hg.): Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, Bd. II, Tübingen, 1900.
55 Freud, S.: Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia Paranoides), 1910, in: Sigmund Freud: Studienausgabe, Bd. VII, Zwang, Paranoia und Perversion, Frankfurt a.M: S. Fischer, 1982, S. 133 -203.
56 Kortner, Ulrich H.J.: Weltangst und Weltende, 1988, S. 76. 169
ins Spiel, die einen moglichen Schlüssel zum Verstandnis gewisser apokalyptischer Bilder liefern, die teilweise eine Bedrohung der instabil gewordenen IchInstanzen durch verdrangte Inha1te des kollektiv Unbewussten symbolisieren konnten. Gegen die Vorstellung vom psychotisch-apokalyptischen Weltuntergangserlebnis als rein innerpsychischem Prozess hat sich der marxistisch gepragte Philosoph und Psychiater Joseph Gabel gewandt. 57 Er deutet im Gefolge von G. Lukács «die in der Schizophrenie zum Ausdruck kommende Katastrophe als Zusammenstoss der sich geschicht1ich verandernden Wirklichkeit mit einem Bewusstsein, das unfahig ist, sich auf diese im dialektischen Prozess befindliche Wirklichkeit einzulassen. Weltuntergangsvorstellungen sind nach Gabels Auffassung Manifestationen eines falschen, namlich verdinglichten und somit unhistorischen, unbeweglichen Bewusstseins.»58 Falsches Bewusstsein aber ist das sel be wie Ideologie; Ideologie und Schizophrenie, bzw. Apokalyptik und Psychose waren demnach von gleicher Struktur. Gemeinsam ist dieser psychoanalytisch gepragten Psychologie der Apokalyptik, dass sie eine Psychopathologie ist, die apokalyptisches Denken entweder als Ausdruck einer schweren inneren Krise oder eines falschen Bewusstseins deutet. Erst die daseinsanalytische Psychologie mit einem erweiterten WahnBegriff lasst erkennen, dass die katastrophenhaften Vorstellungen der Apokalyptik durchaus ein richtiges Bewusstsein von einer gewissermassen falschen Situation sein konnen. Demnach konnen Weltuntergangsvorstellungen als sachgemasser, keineswegs nur phantastischer Ausdruck einer abnormen Krise, einer aussergewohnlichen Bedrohung des Ich gedeutet werden. In solchem Verstandnis ist die Wahnbildung immer auch ein Heilungs- und Losungsversuch. Die apokalyptischen Bilderwe1ten werden als Symbolisierungsangebote zur Realitatswahrnehmung und als kritische Rekonstruktion durch die Katastrophe hindurch aufgefasst. 59 Die Psychoanalyse ist mit ihren Verzweigungen und Weiterentwicklungen bis in unsere Zeit die einzige psychologische Referenz der Apokalyptikdeutung und daher auch der Auseinandersetzung mit Endzeitangsten und Endzeiterwartungen geblieben, sei es auf der Ebene der psychoanalytischen Interpretation der apokalyptischen QuellentextéO oder auf der Ebene der Deutung 57 Gabel, Joseph: ldeologie und Schizophrenie. Formen der Entfremdung, Frankfurt a.M.: Fischer, 1967.
58 Kõrtner, Weltangst, S. 76f. 59 AaO. S. 79f. 60
Die psychoanalytische Interpretation der Quellentexte der Apokalyptik erfordert viel Erfahrung sowohl mit der Psychoanalyse als auch mit der Interpretation literarischer Texte a11gemein. Obwohl die psychoanalytische Textinterpretation einen wichtigen Beitrag zur Psychologie der Apokalyptik darstel1t, kann ich hier nicht niiher darauf eingehen, verweise aber auf Eugen Drewermanns Bemerkungen zur
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komplexer gesellschaftlich-politischer Entwicklungen. Die verschiedenen psychoanalytischen und tiefenpsychologischen Schulen liefern darüber hinaus naturgemliss auch immer noch die umfassendsten und erhellendsten Theorien der Angst, da hier aus historischen Gründen die Interziplininaritat mit Philosophie und Padagogik, aber auch mit der Medizin bzw. der Psychiatrie immer schon gegeben ist. Genuin akademisch-psychologische Theorien der Angst hingegen beziehen die (meist klassische) Psychoanalyse als grundlegendes Modell zwar mit ein, erganzen es aber durch Reiz-Reaktionstheorien und vor allem kognitions- und handlungstheoretische Ansatze. Letzteres hat zu einer Verfeinerung der diagnostischen und der therapeutischen Moglichkeiten im Hinblick auf Ãngste und Hilfestellungen bei der Angstbewaltigung geführt, die ihrerseits unverzichtbar und der Psychoanalyse in vielerlei Hinsicht (Zeitaufwand für eine Therapie, Kosten, Effizienz der Angstkontrolle auf der Verhaltensebene) überlegen sind. 61 Die psychologische Grundlagenforschung unterscheidet zwei Komponenten der Angst, zum einen die «somatische Angst» mit den beobachtbaren Anzeichen Schwitzen, Erroten, flaches Atmen und den subjektiven Indikatoren korperliches Unbehagen und Schmerzen, sowie zweitens die «psychische Angst», die sich aus Muskelspannung, Ruhelosigkeit und Besorgniskognitionen zusammensetzt. 62 Erkenntnisse über die «somatische Angst» kann die Psychologie nicht ohne die Medizin gewinnen, und über die «Besorgniskognitionen» ist prinzipiell ei ne Offenheit für alle moglichen Inhalte dieser Kognitionen, also auch Endzeitangste gegeben und damit auch die Notwendigkeit, fall- und situationsbezogen Angsttheorien anderer Disziplinen einzubeziehen, wenn sie hilfreich sind.
Auslegung der Johannesapokalypse in seinem Buch Tiefenpsychologie und Exegese lI, Olten: Walter, 1985 und auf die kritische Auseinandersetzung des Theologen und Psychoana1ytikers Hartmut Raguse mit Drewermann in seiner Dissertation Psychoanalyse und biblische Interpretation, Stuttgart: Kohlhammer, 1993. . 61
Den umfassendsten und aktuellsten Überblick über psychologische Theorien der Angst und Angstbewaltigung bietet: Krohne, Heinz W.: Angst und Angstbewiiltigung, Stuttgart: Kohlhammer, 1996. Ein sehr schones Beispiel für ei nen sozialpsychologisch-verha1tensorientierten Ansatz der Erklarung und Therapie von Ãngsten ist der Beitrag von: Adam, Ingrid: Angst und Macht und Aggression. in: Gomik, Herbert A. (Hg.): Wege aus der Angst. Wahrnehmen - Standhalten - Überwinden, Freiburg i.Br.: Christophorus, 1987, S. 21-29.
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Krohne, Heinz W.: Angst und Angstbewiiltigung, S. 14f.
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Das Phanomen Angst Kann man Angst ganz allgemein beschreiben als einen «auf die Zukunft bezogenen Gefühlszustand des Bedrohtseins»63, der als solcher ein seelisches, leibliches und gesellschaftliches Phanomen darstellt, das in allen Kulturen au ftri tt , so zeigt sich daran einerseits, wie sehr die Angst zu unserem Leben gehõrt, andererseits wird auch gleich deutlich, dass die Wahrnehmung und Einschatzung der Bedrohung der entscheidende Punkt sowohl für die Entstehung als auch für den Umgang mit der Angst ist. Und von der Art der Bedrohung wiederum hangt es ab, ob es Wege aus der Angst durch Beseitigung der Bedrohung oder zumindest des Gefühls der Bedrohung gibt und ob der einzelne den Weg aus der Angst allein finden kann oder ob er dazu die anderen braucht. Um politischen Ãngsten - und Endzeitangste sind ja politische Ãngste - etwa vor Bomben, Strahlen und der õkologischen Katastrophe wirksam entgegentreten zu kõnnen, brauchte es einen weitreichenden Konsens über das Ausmass der Bedrohung und über Wege, die Bedrohung abzuwenden sowie die Bereitschaft, gemeinsam zu handeln. Dass es darum schlecht bestellt ist, wissen wir alle. Die Umweltgipel von Rio 1992 und Tokyo 1997, die offiziell Losungen erarbeiten sollten, demonstrierten eher Staatsegoismen und die fehlende Bereitschaft, die okologischen Bedrohungen ernst zu nehmen. Psychologie und Endzeitangste Der Beitrag der Psychologie und Psychotherapie zum Verstandnis von Angst und zum Umgang mit Angst angesichts der drohenden okologischen Katastrophe besteht aus meiner Sicht in einer Klarung des komplexen Phanomens Angst und seiner Entstehungsbedingungen einerseits, und der Klarung des Verhaltnisses der Ãngste einzelner und der Ãngste von Gruppen andererseits. Denn was uns als Gattung bedroht, hatte selbst einmal den Zweck der Angstminderung oder Angstbindung, man denke nur an das «Gleichgewicht des Schreckens» im Rüstungswettlauf zum Ziel der Friedenssicherung. Bestes Argument in der aktuellen Debatte um die Gentechnologie etwa ist das immer wieder propagierte Ziel, genetisch bedingte Krankheiten zu behandeln. Die Befürworter der Gentechnologie leiten daraus gar die ethische Pflicht ab, Gentechnologie um jeden Preis zu fOrdern. Die Risiken werden verdrangt. Angst spiegelt immer, bewusst oder unbewusst, unsere Abhangigkeit und das Wissen um unsere Sterblichkeit. 64 Die Psychologie, namentlich die Ent63 So die Definition von Walter Brautigam und Stefan Zettl: Wie Angst entsteht, in: Schu1tz, Hans Jürgen (Hg.): Angst. Facetten eines Urgefühls, München: DTV, 1995, S. 21-33, hier S. 21.
64 Siehe dazu Riemann, Fritz: Grundformen der Angst, München - Basel: Reinhardt, 1997, S. 7.
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wicklungspsychologie, hat einiges zu sagen über Bedingungen menschlicher Reife, die erst befãhigt, dieses Wissen um Abhangigkeit und Sterblichkeit so zu integrieren, dass wir die damit verbundene Angst annehmen konnen. Dann erst müssten wir ihr nicht mehr gleichsam hysterisch ausweichen, indem wir ScheinlOsungen suchen, die am Ende unsere Angst nur grosser machen, sondem konnten Gegenkrafte entwickeln wie «Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Demut, Glaube und Liebe»65. Psychologischem Wissen kommt hierbei nun grosste Bedeutung zu auf dem Gebiet der Pravention gestOrter Entwicklungen, die Menschen unreif bleiben lassen einerseits und auf dem Gebiet der Therapie psychischer StOrungen andererseits, deren Ziel es ist, ein Nachreifen zu ermoglichen. Tiefenpsychologische Konzepte der Angst Freud verdanken wir die Unterscheidung von Realangst und neurotischer Angst und wissen seither, wie diese Ãngste sich überlagern konnen. Realangst ist eine Reaktion auf die Wahrnehmung einer ausseren Gefahr, d.h. einer erwarteten Schadigung und damit ein seelisches Signal, das dem Menschen Bedrohungen anzeigt und ihn zu Schutzmassnahmen anstachelt. N eurotische Angst hingegen phantasiert unbewusst aussere Gefahrdung als Strafe aufgrund von Gewissensangsten, Tabus verletzt zu haben. Von Vorgangen und Gestalten der Aussenwelt wird eine Rache erwartet, die im Grunde ein an machtige Tabus gebundenes Über-Ich durch Schuldgefühle, Selbstvorwürfe oder selbstzerstOrerische Akte dem Subjekt zufügt. Durch diese Vergeltung erweist der Mensch den übertretenen inneren Geboten und Verboten einen nachtraglichen Gehorsam. Der Frankfurter Psychoanalytiker Jorg Bopp, einer der wenigen, die sich direkt mit dem Thema Endzeitangst befasst haben, baut seinen 1987 erstmals publizierten Essay66 ganz auf dieser Freudschen Unterscheidung auf. Er kritisiert sowohl die Endzeiterwartungen, die in den 80er Jahren durch die atomare Bedrohung ausgelOst worden waren wie auch die sie bekampfenden interessegeleiteten Optimismuskampagnen von Politikern und Atomlobbyisten als nebelhaft. Bopp kommt zu dem Ergebnis, dass die Endzeitangst zwar eigentlich real sei, dass die sie begleitende Nebelhaftigkeit jedoch auf neurotische, irrationale Anteile hinweise, die aus unaufgeklarten Tiefenschichten des kollektiven Gewissens der westlichen Gesellschaften stammen. Die uralte Verflechtung von Fortschritt, Schuldgefühl und Strafãngsten habe zu einem Angstsyndrom geführt, in dem sich rational begründete und irrationale Ãngste überlagerten. Die Dynamik der Modeme werde mit Vorstellungen von Ohnmacht und Allmacht, 65 Ebd. 66 Bopp, Jorg: Endzeitangst, in: Schultz, Hans Jürgen (Hg.): Angst. Facetten eines Urgefühls, München: DTV, 1995, S. 272-284.
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Schuld und Strafe, Hochmut und Untergang verarbeitet. Das aber hindere die Subjekte daran, die soziale Entwicklung mit Klarsicht zu steuern und un bewusste selbstzerstorerische Neigungen unter Kontrolle zu halten. Sowohl bei den Gegnern als auch bei den blinden Verfechtern des sogenannten wissenschaftlich-technologischen Fortschritts zeigen sich Bindungen an archaische Weltanschauungen. Damonisierung und Idealisierung der wissenschaftlichen Moderne legen die Vermutung nahe, dass Sachwissen und Sachwelt für viele Menschen keinen nüchternen Werkzeugcharakter haben, sondern mit heftigen altertümlichen Phantasien und Affekten besetzt und von archaischer Frommigkeit überlagert seien. Die mythischen Deutungen angstauslOsender Entwicklungen seien irrationale Bewaltigungsversuche, die sich einer angemessenen Erlebnisverarbeitung entgegenstellen. Die moderne Gesellschaft stehe ihren Errungenschaften mit einer extremen Zwiespaltigkeit gegenüber. Einerseits hatten sich Stolz und Selbstbewusstsein entwickelt, andererseits wühlten in den seelischen Tiefenschichten Schuldgefühle, die Menschheit habe sich mit ihrem Fortschritt gegen jene gottliche Weltordnung vergangen, an die sie Jahrtausende geglaubt habe. Zugleich hatten die Industriegesellschaften nicht die Zerstorungen und Grausamkeiten seelisch bewaltigt, die ihre Mitglieder sich und ihresgleichen antun. Neben der Faszination durch die Technik bohre der Schrecken über die menschliche Vemichtungsfáhigkeit. Auch deshalb werde das kollektive Unbewusste der Moderne von Selbstvorwürfen und Wünschen nach Bestrafung bewegt. Bopp folgert daraus, dass sich hinter der Katastrophenstimmung Strafangste verbergen vor der verdienten und daher selbst herbeigeführten atomaren oder okologischen Apokalypse. Nur die Authellung der personlichen und kollektiven Seelenlandschaft, aus der die Katastrophenstimmungen entstehen, fordere solche zerstOrerischen Stratbedürfnisse zu Tage und ermogliche dann deren Kontrolle durch die Vernunft. Bopps Interpretation ist erhellend und sehr bedenkenswert. Sie lasst sich unschwer in Verbindung bringen mit der oben skizzierten Deutung von Schizophrenie und Ideologie durch den Psychiater Joseph Gabel: Eine geschichtlich veranderte Wirklichkeit trifft auf ein falsches, unbewegliches, ihr nicht angemessenes Bewusstsein, und dieser Zusammenstoss wird als Katastrophe, als Weltuntergang erlebt. Bopps Hypothesen geben aber auch Anlass zu vielen Fragen, z.B. nach dem Verhaltnis von «personlicher und kollektiver Seelenlandschaft» und deren Zusammenwirken, worüber auch die Sozialpsychologie nur anfanghafte Erkenntnisse hat. Ausserdem verrat der Text den Elan des Glaubens an Vernunft und Aufklarung der 68er Generation, in dem der Autor sich auch leicht vergaloppiert etwa in der Aussage, die Industrienationen hatten die ZerstOrungen und Grausamkeiten seelisch nicht bewaltigt, die ihre Mitglieder sich und ihresgleichen antun. Hier ist zu fragen, ob diese Zerstorungen und Grausamkeiten überhaupt bewaItigbar sind in einer Weise, dass wir uns dem «Fortschritt» ungestOrter zuwenden konnten und ob das wünschbar ware. Natürlich ist Bopp zuzustimmen, dass die Verdrangung solcher Schuld mit 174
Sicherheit noch mehr Unheil anrichtet. Ausserdem ist die Beobachtung festzuhalten, dass wir als einzelne und als Gesellschaft dazu neigen, der Angst auszuweichen durch Flucht in mythische Bilder, die wir verdinglichen und die uns so gerade an einer fruchtbaren Auseinandersetzung mit der Angst hindem. Dass mythische Bilder auch eine aufkHi.rende und helfende Funktion haben konnen, dafür steht die Tiefenpsychologie nach C.G. Jung. Aus dieser Schule stammt ein weiterer wichtiger Beitrag zum Thema Endzeitangst unter dem Titel «Angst vor dem Bosen» von Hans Dieckmann67 . Dieckmann geht es in diesem Aufsatz um die Gewalt unbewusster, abgespaltener AggressiviHi.t, wie sie in der Borderline-Erkrankung zu Tage tritt. Borderline ist ei ne schwere psychische Storung im Übergang von schweren Neurosen zu latenten oder passageren Psychosen. Ihr Leitsymptom sind frei flottierende Ãngste, die sich auch beliebig an aussere Objekte heften konnen. Das ganze Lebensgefühl ist angstgetont, die Welt voller unsichtbarer, unbekannter, lebensgefahrlicher Bedrohungen. Diese Angst ist mit schwerer, teils unbewusster Aggressivitat verbunden, die nicht zielgerichtet ist und von der Ich-schwachen Person nicht gesteuert werden kann. Dieckmann sieht darin eine ParalIele zum Grundgefühl der Angst in unserer Gesellschaft seit den Reaktorkatastrophen von Harrisburg und Tschernobyl, wie auch die bekannteste Borderline-Forscherin, Christa Rohde-Dachser eine Verbindung zwischen Borderline-Patienten und unserer GeselIschaft herstellt durch die Annahme, dass diese Patienten einfach für die kollektiven Probleme unserer Zeit sensibilisiert seien und wie prophetische Vorlaufer zeigen, wohin unsere Zivilisation zwangslaufig führt. Dies ist auf jeden FalI eine sympathische Hypothese, wenn sie auch nicht bewiesen ist, und sie entspricht der Annahme, dass alles, was im Erleben psychisch Kranker geschieht, nur mit quantitativen Unterschieden und besseren Steuerungsmechanismen, auch im Erleben der sog. gesunden Personen wiederzufinden sei. Dieckmann verweist auf gesicherte Ergebnisse aus der Sozialpsychologie, wonach Gruppen in bestimmten Angstsituationen dazu neigen, auf frühkindliche Abwehrmechanismen zu regredieren, die grundsatzlich in alIen Menschen vorhanden sind68 . Ein solcher ganz früher Abwehrmechanismus ist das Splitting, in dem Gut und Bose nur getrennt von einander, gewissermassen ohne Ambivalenz, erlebt werden konnen. Dieser Abwehrmechanismus verschwindet nicht einfach, wenn er im Lauf der Personlichkeitsentwicklung auch von «reiferen» Abwehrformen abgelOst wird; das Splitting ist je nach Gefahr und vorhandener Ich-Stãrke oder -Schwache jederzeit aktivierbar. Auf der Ebene
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Dieckmann, Hans: Angst vor dem Bosen, in: Schultz, Hans Jürgen (Hg.): Angst. Facetten eines Urgefühls, S. 257 - 271.
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Gemeint sind die Versuche von Sherif zu Gruppenprozessen in Jugendlagem in den USA (1949 - 54).
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von Kollektiven 69 ist Splitting in Verbindung mit der Projektion sehr haufig anzutreffen in den Feindbildern. Wie Paranoiker es auch tun, schreibt Dieckmann, so suchen wir immer nach etwas anderem, was an den Destruktionen in unserer Kultur schuld sein soll. Der Borderline-Mechanismus wolle den Tod leugnen. Der Wissenschaft attestiert er dasselbe Splitting: Sie «will nur das Gute» und werde hinteITÜcks von damonisch destruktiver Inhumanitat überfallen. Urbilder für dieses Splitting erblickt die Jungsche Psychologie in den frühen Mythen, die um die «grosse Mutter» kreisen, die in gute und bose Anteile aufgeteilt wird: Fortan herrscht Krieg zwischen der guten Magna Mater und der bosen, destruktiven Mutter-Imago, so etwa bei den Sumerern zwischen der guten Gottin Inana und der Herrscherin des Totenreiches, Ereschkigal. In Mythen des Patriarchats wird die «bose Mutter» jeweils von einem Helden getOtet. Mythen des Mittelmeerraumes zeigen, dass dort die Phantasie schon in frühester Zeit um die Überwindung und Totung der negativen MuUer Natur kreiste, um einseitige Herrschaft über sie auszuüben, sie zu plündern und zu berauben. Das aber wiederum weckt Schuldgefühle und grosse Ângste. In orientalischen Mythen wurde die negative Mutter zwar auch bekampft, aber doch niemals getOtet. Zum Umgang mit der Angst rat Dieckmann, sie ernst zu nehmen, warnt aber vor Panik. Zugleich halt er es für moglich, dass die Angst bewa1tigbar ist und es gelingen kann, die richtigen Konsequenzen aus ihr zu ziehen. Wie das gelingen soll, sagt er jedoch nicht mehr. Die umfassendste tiefenpsychologische Studie, nun zwar nicht zu Endzeitangsten, aber zum Phanomen der Angst überhaupt und zum Umgang mit ihr hat Fritz Riemann in seinem Buch «Grundformen der Angst» vorgelegt, das seit 1961 immer wieder neu aufgelegt wurde70 . Riemann bezieht sich in seiner Beschreibung der vier Grundformen der Angst streng auf das Individuum, betrachtet es aber sehr umfassend in seiner Interaktion mit der sozialen und okologischen Umwe1t. Vor allem tragt Riemann der Entwicklung der Angst voU Rechnung. Riemann fand die vier Grundformen der Angst in Analogie zu den planetarischen Gesetzen, denen wir unterstehen: der Umwalzung (Revolution) der Erde um die Sonne, der Eigendrehung (Rotation) der Erde um die eigene Achse, sowie der Schwerkraft und Fliehkraft. Nur die Ausgewogenheit
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Hier ist anzumerken, das s ich Dieckmanns Konzept der Kollektiv-Psyche sehr skeptisch gegenüberstehe. Zwar sagt er selbst, dass die «Massenpsychologie» nicht einfach aus der Parallele zum kranken Individuum erfasst werden konne. Dennoch geht er davon aus, dass ein Kollektiv mit wachsender Grosse nur immer einfachere, archaischere, primitivere Vorstellungen als gemeinsamen Nenner haben konne, in denen die individuellen Vorstellungen zu einer gewissen Konkordanz kommen.
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Riemann, Fritz: Grundformen der Angst, München - Basel: Reinhardt, 1997. Die hier vorgenommene Skizze ersetzt in keinem FalI die sehr empfehlenswerte LekWre des vorzüglich geschriebenen Buches.
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der vier planetarischen Impulse garantiert die gesetzmassige, lebendige Ordnung des Kosmos bzw. der Welt, in der wir leben. Die Analogie zur Revolution der Erde um die Sonne sieht Riemann in der Notwendigkeit des Individuums, sich in ein grõsseres Ganzes einzuordnen, das persõnliche Wollen zu begrenzen zugunsten überpersõnlicher Zusammenhange; die Analogie zur Rotation der Erde um die eigene Achse ist die Forderung nach Individuation des Menschen. Bereits in diesen beiden gegensatzlichen Strebungen sind Konflikte und entsprechende Àngste angelegt. Àhnlich verhalt es sich mit der Schwerkraft, der die Forderung nach Dauer und Bestandigkeit entspricht, und ihrem Gegenpol, der Fliehkraft, die ihre Analogie in der Forderung zur Veranderung und Wandlung findet. Den genannten vier Forderungen oder auch menschlichen Impulsen stehen entsprechende Àngste gegenüber, noch vor den Àngsten, die aus den Antinomien der genannten Forderungen entstehen: Erstens: Der Impuls zur Individuation verlangt die Überwindung der Angst des sich Unterscheidens, vor Geborgenheitsverlust, vor Einsamkeit und Isolierung. Zweitens: Der Impuls, sich dem Leben, der Welt und den Mitmenschen vertrauend zu õffnen geht einher mit der Angst vor Abhangigkeit, der Angst, sein Ich zu verlieren. Drittens: Der zentripetale Impuls, Dauer anzustreben, führt zur Angst vor dem Wagnis des Neuen, vor Wandlung. Ohne den Impuls zur Dauer kõnnten wir nichts schaffen und verwirklichen. Ihm stehen alle Àngste entgegen, die mit dem Wissen um Verganglichkeit, um unsere Abhangigkeiten und um die irrationale Unberechenbarkeit unseres Daseins zusammenhangen. So planen wir am liebsten, als lebten wir unbegrenzt, als ware die Welt stabil und die Zukunft voraussehbar. Es liegt auf der Hand, wie sehr Endzeitangste mit der Frustration dieses Strebens nach Dauer zu tun haben, bzw. wie das überwertige Streben nach Dauer in Wissenschaft und Technik uns Endzeitangste beschert. Viertens: Dem zentrifugalen Impuls, alles nur als Durchgang zu erleben, immer zur Wandlung bereit zu sein, entspricht die Angst, durch Ordnungen, Regeln, Gesetze und den Sog der Vergangenheit und Gewohnheit festgelegt zu werden. Akzentuierungen der vier Grundformen der Angst entstehen nach Riemann lebensgeschichtlich durch persõnliche Anlagen und vorgefundene Umwelt und die Wechselwirkungen beider. Dabei gilt immer, dass nicht alters- und entwicklungsadaquate Angsterlebnisse sowie zu grosse Angstquantitaten nicht verarbeitet werden kõnnen und es so zur Symptom- und Neurosenbildung kommt. Entsprechende Persõnlichkeitsstrukturen sind demnach einseitige Akzentuierungen der vier Grundangste. Ihnen entsprechen die vier grossen Neuroseformen der Schizoidie, der Depression, der Zwangsneurose und der Hysterie. Als Wege zum Umgang mit diesen Àngsten und Fehlentwicklungen nennt Riemann ausser der Pravention im Umgang mit Kindern, für die er vie1faltige Anhaltspunkte gibt, die Psychotherapie als den Ort zum Nachreifen, wo es 177
moglich wird, entweder seine Grenzen zu erweitern in Richtung auf eine grossere Ausgewogenheit der Lebensimpulse zu Selbstwerdung, Hingabe, Dauer und Wandlung, oder die Grenzen und die entsprechenden Ãngste anzunehmen und beide so ertraglicher und ungefãhrlicher zu machen.
5. Kinderiingste In den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit dem Phanomen der Angst befassen, besteht Einigkeit darüber, dass Angst nonnalerweise immer auftritt, wo ein Mensch vertrautes Gebiet verlasst und sich dem Unbekannten aussetzt oder, anders gesagt, wo wir uns in einer Situation befinden, der wir nicht oder noch nicht gewachsen sind. Wenn alles neu zu Tuende immer auch Angst enthalt, wenn ein Entwicklungsschritt erst vollzogen ist, wenn die mit ihm verbundene Angst überwunden ist, dann wird nachvollziehbar, dass Kinder sehr viel Angst erleben müssen, die sie nur in der zuverlassigen Begleitung durch erwachsene Bezugspersonen bewaltigen konnen. Der Verletzlichkeit, Hilflosigkeit und Abhangigkeit von Kindern entsprechen die Urangste vor Vernichtung, vor Trennung und vor Liebesverlust, wobei die beiden letzten Urangste Varianten der Angst vor dem Verlassenwerden darstellen. Wenn schon Erwachsene ihre existentiellen Ãngste nur selten kIar als solche wahrnehmen, so kon nen Kinder das noch viel weniger. Was sie erleben, ist eine innere Spannung oder Schmerz und das Gefühl, selbst nicht liebenswert zu sein; je nach Alter und kognitiver Reife kommen Sorgen hinzu, oft auch Schuldgefühle, weil sie in ihrem bis zum 7. Lebensjahr mehr oder weniger egozentristischen Weltbild Trennung und Liebesverlust nur auf sich bezogen als Folge eines Fehlverhaltens ihrerseits deuten kõnnen. Die Art, wie die Angst und der Schmerz sich aussern, ist ebenfalls altersspezifisch; geschlechtsspezifische Aspekte kommen hinzu. So ist bekannt, dass Madchen beispielsweise bei Trennung von Vater oder Mutter durch Scheidung der Eltern ihre Angst und die mit ihr verbundene Aggression eher gegen sich selbst richten und überangepasst und depressiv werden konnen, wãhrend Jungen die der Angst entsprechende Trauer und Aggression nach aussen wenden. Das geschieht immer dann, wenn Kinder durch ein solches Trennungserlebnis nicht einfühlsam begleitet werden. Dann wird auch in jedem FalI das Selbstwertgefühl der Kinder geschadigt. Kinder erleben viele Ãngste, die entwicklungsphasenabhangig und weniger fundamental sind als die drei genannten Urangste, wenngleich auch sie mit den Urangsten zu tun haben, so etwa die in einer Phase verstãrkt auftretende Angst vor Dunkelheit, vor dem Alleinsein oder vor Insekten etc. Meist sind das Ãngste, welche die Kinder selbst deutlich als solche zu erkennen geben oder sogar benennen. Ãngste dieser Art haben sich im Lauf der historisch-gesel1schaftlichen Entwicklung auch gewandelt. «Neu», so sind sich Kinder- und 178
Jugendtherapeuten einig, «ist die endzeitliche Dimension einer Angst vor dem Unsichtbaren mitten im Wohlstand. Sie hat mit der Atombombe begonnen. Sie versUirkt sich von Jahr zu Jahr und rückt mit den okologischen Problemen immer naher an den eigenen Korper der Eltern und Kinder heran.»71 Dass so1che Ãngste und apokalyptischen Perspektiven keineswegs ein blosses Nachplappern dessen sind, was Mami und Papi sagen, zeigen viele Untersuchungen. Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter z.B. stellte fest, dass Kinder und Jugendliche im Durchschnitt die Zukunft pessimistischer beurteilen und die Umweltzerstõrungen wesentlich ernster nehmen als der Durchschnitt der Erwachsenen.1 2 «Dabei spüren schon kleine Kinder, und mit zunehmendem Alter immer starker, dass ihr Leben durch globale Gefahren bedroht ist. Die daraus entstehenden Zukunftsangste und Gefühle von Hoffnungslosigkeit berühren wieder die Urangst, von einer Erwachsenengeneration beim Aufbau einer eigenen Identitat und Zukunftsperspektive allein gelassen, und das bedeutet, verlassen zu werden. Eltern wissen oft sehr wenig darüber, wei1 in den Fami1ien in der Regel kaum über Gefühle und über Ãngste gesprochen wird.» 73 Manche Kinder versuchen, speziell die apokalyptischen Ãngste dadurch zu verarbeiten, dass sie sich nach ihren Moglichkeiten selbst umweltbewusst verhalten und Umweltbewusstheit bei ihren Eltern streng einfordern74 . Ãngste aber, die nicht verarbeitet werden konnen und verdrangt werden müssen, wei1 71 Grefe, Christiane: Sehlauer als die Erwaehsenen? Kinderangst als Zukunftssicherheit, in: Altner, Günter; Mettler-Meibom, Barbara; Simonis, Udo E.; von Weizsaeker, Emst U.(Hg.): lahrbuch Okologie 1994, (Beeksehe Reihe), Münehen: Beek 1993, S. 21-30, hier S. 26. 72
In: Grefe, Christiane: Kinderangst als Zukunftssicherheit?, S. 27. Ausserdem: Meinerzhagen, Margitta (Hg.): «Biiume und Vogel gibt es auch nicht mehr». Kinder schreiben über ihre Zukunft, Hamburg: Raseh und Rohring, 1988.
73 Petri, Horst: Kinderangste, in: Sehultz, Hans Jürgen (Hg.): Angst. Facetten eines Urgefühls, Münehen: DTV, 1995, S. 48 - 60, hier S. 52 -53. 74 Christiane Grefe bringt dafür Belege in ihrem Beitrag, zeigt aber aueh auf, dass Kinder trotz ihres meist waehen Umweltbewusstseins und Wissens über okologisehe Fakten, trotz des Negativ-Image, das die Industrie aus deren Sieht hat und trotz ihrer Ãngste und engagierten Aktivitaten, ein ausserst selbstverstandliehes Verhaltnis zum Konsum haben. Beispielsweise konnen sich einer Befragung des osterreichisehen Ministeriums für Umwelt, Jugend und Familie zufolge 60% der Jugendliehen ein Leben ohne Auto nicht vorstellen - obwohl sie gleiehzeitig einen Zusammenhang zwisehen dem zunehmenden Verkehr und dem Wa1dsterben anerkennen. Grefe: Sehlauer als die Erwaehsenen? Kinderangst als Zukunftssieherheit. In: lahrbuch Okologie 1994, S. 28f. Vermutlieh ware es eine Überforderung der Kinder und in diesem Sinn sogar ein Missbraueh, wenn wir von ihnen erwarteten oder aueh nur erhofften, sie mogen «sehlauer» und vemünftiger sein und weniger bequem als wir. Kinderangst kann nur dann eine Hoffnung auf Zukunftssieherheit in sich bergen, wenn wir sie als so1che emst und als Motivation nehmen, unser eigenes Verhalten zu andem.
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niemand sie wahrnimmt und einfühlsam begleitet, kõnnen alle mõglichen psychischen und psychosomatischen Symptome, Krankheiten und Verha1tensauffalligkeiten zur Folge haben, die für das Kindes- und Jugendalter bekannt sind, mit den mõglichen Folgen psychischer Stõrungen auch im Erwachsenenalter, die Fritz Riemann in seinen Grundformen der Angst beschrieben hat. Wer Kindern bei der Bewaltigung ihrer Ãngste heI fen will, muss sich zunachst mit seinen eigenen Ãngsten auseinandersetzen, da er sonst Mühe haben wird, die Ãngste der Kinder überhaupt wahrzunehmen. Kinder sprechen selten über ihre existentiellen Ãngste, wenn sie nicht danach gefragt werden. Im Umgang mit Kindern ist allgemein ein lebendiger Zugang zu den eigenen Gefühlen der beste Weg, um ihnen einen Zugang zu ihren Gefühlen durch deren Spiegelung zu ermõglichen bzw. Kindern zu helfen, den Zugang zu ihren Gefühlen als der Quelle ihrer Identitat und ihres Selbstvertrauens nicht zu verlieren, ihn vielmehr immer sicherer zu gewinnen. Unter den bewahrten psychotherapeutischen Verfahren ist es vor allem die von earl Rogers begründete personzentrierte Psychotherapie, besser bekannt als Gesprachstherapie, die persõnliches Wachstum und Reifung von Klienten, Erwachsenen und Kindern, durch wertschatzende Einfühlung des Therapeuten in deren verdrangte Gefühle und ihre Spiegelung zum Ziel hat. Dieses Ziel ist dann erreicht, wenn der Klient, die Klientin, sich selbst und seinenlihren Gefühlen mit eben jener wertschatzenden Empathie begegnen kann, die er beim Therapeuten oder der Therapeutin erfahren hat. Horst Petri bezeichnet den wechselseitigen Austausch von Gefühlen sogar als den einzigen Weg, Kindern bei der Bewaltigung ihrer Ãngste zu helfen. Die konkreten Formen dieses für Kinder so lebenswichtigen Austauschs von Gefühlen sind vielfaltig und andern sich auch mit den Bedürfnissen und dem Entwicklungsstand der Kinder. Was aber in jedem Fall dazu gehõrt, ist Zeit zu haben für die Kinder, bzw. sich für sie Zeit zu nehmen und sie so wenig wie mõglich allein zu lassen. Die Urangste vor Vernichtung und Verlassenheit pragen unser Leben bis zum Tod, sie sind jedoch in der Kindheit so extrem traumatisierend, weil das Kind sie allein nicht verarbeiten kann und diese Ãngste daher zu Entwicklungsrückstanden und schweren psychischen Stõrungen führen. Wir haben bereits gesehen, wie die psychotischen Stõrungen und die Borderline-Krankheit Menschen in Ãngste von apokalyptischen Ausmassen stürzen. Dieses Erleben ist das Erleben des ganz kleinen Kindes, das sich durch mangelnde Geborgenheit und Bedürfnisbefriedigung von Vernichtung und Verlassenheit bedroht fühlt. Als Versuch der Selbstheilung spaltet es sein Erleben in phantasiertes Gutes und erlittenes Bõses auf, und beides hat nichts mit einander zu tun. Wir kennen diesen Mechanismus beispielsweise auch von Kindern, die von vertrauten Bezugspersonen, im schlimmsten Fall von Vater oder Mutter, missbraucht werden, und die dennoch võllig verzweifeln, wenn man sie vom missbrauchenden Elternteil trennt, der doch auch als gut phantasiert wird. 180
Dem Psychoanalytiker Erik H. Erikson verdanken wir ein Modell der psycho-sexuellen Entwicklung, das von der frühesten Kindheit bis ins reife Erwachsenenalter reicht und das zeigt, wie die Befriedigung bestimmter Grundbedürfnisse in den verschiedenen Entwicklungsphasen des Lebens über ein Gelingen oder Scheitern von Entwicklungsschritten entscheidet.15 Im Zentrum von Eriksons Ansatz steht die Entwick1ung der Identitat des Individuums, die in der Pubertat und Adoleszenz als umfassende Entwick1ungsaufgabe ganz im Vordergrund steht, latent aber auf allen Stufen des menschlichen Lebens unter verschiedenen Gesichtspunkten eine Rolle spielt. Erikson unterscheidet acht Phasen der psycho-sexue11en Entwick1ung, die auf einander aufbauen. Vier davon fallen in die Kindheit und Jugend. Jede Phase enthalt eine für sie spezifische Entwick1ungsaufgabe, geht daher mit spezifischen Ãngsten und Ver1etzlichkeiten einher. Konnte die Entwick1ungsaufgabe einer frühen Phase nicht gelost werden, so ist die Losung a11er weiteren Entwicklungsaufgaben entweder gar nicht moglich oder sehr erschwert. Im ersten Lebensjahr, der ersten Entwick1ungsphase nach Erikson, geht es darum, dass ein Kind durch die Erfahrung der zuverlassigen Befriedigung seiner Grundbedürfnisse nach Nahrung, Pflege, Schlaf und liebevoller Zuwendung ein Urvertrauen in sich und die Welt entwickeln kann. Border1ine-Patienten begegnen sich und der Welt mit einem Urmisstrauen. Im zweiten bis dritten Lebensjahr, der zweiten Eriksonschen Phase, muss das Kind seine Autonomie entwickeln. Das Gegentei1 waren Gefühle von Scham und Zweifel, die dann entstehen, wenn Eltern ihr Kind klein halten wo11en und ihm nichts zutrauen. Zwischen dem 4. und ca. 6. Lebensjahr, der dritten Entwicklungsphase, steht im V ordergrund , dass ein Kind lemt, initiativ zu werden, statt sich von Schuldgefühlen in seinem Entdeckerdrang und seinen Ideen bremsen zu lassen. Das Schulkind vor der Pubertat - die vierte Phase - sol1 zu einer ihm gemassen Leistung fahig sein, das Gegentei1 ware eine Leistungshemmung durch Minderwertigkeitsgefühle. Auf allen genannten kindlichen Entwicklungsstufen ist es unsere Aufgabe, Kinder zu begleiten und sie mit ihren individuellen Besonderheiten und Schwierigkeiten zu stützen. Wo immer das gelingt, heI fen wir, ein Fundament von Seelenstarke zu legen, das Menschen befahigt, den im Leben unausweichlichen realen Ãngsten standzuhalten und mutig nach Wegen zu suchen, Bedrohungspotentiale abzubauen.
75
Erikson, Erik H.: Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart: Klett-Cotta, 1987, S. 241272.
181
6. E1Wiigungen zum Umgang mit Zeit und Endlichkeit.
Psychologen und Psychologinnen sind heutzutage vielerorts gefragte Ratgeber zum Umgang mit Zeit, vor allem dort, wo die sich beschleunigenden AbHiufe unserer Industriegesellschaft noch reibungsloser werden sollen. Die Kunst des «Zeitmanagement» soll erlernt werden. Und darüber hinaus sollen die gestressten Zeitnutzer (<<Time is money!») dann angeleitet werden, wie sie sich in ihrer «Freizeit» am effizientesten wieder erholen und fit machen. Dieser typische fachliche Rat zum Umgang mit Zeit ist nicht geringzuschatzen, insofern er dem Einzelnen, nicht nur Managern, auch helfen kann, die personliche Lebenszeit bewusster einzuteilen und entschiedener zu gestalten. An dieser Stelle mochte ich jedoch grundsatzlicher, qualitativer, über den Umgang mit Zeit nachdenken, in einer Weise, die es erlaubt, uns der Tatsache der Endlichkeit unseres personlichen Lebens zu stellen. Wie so oft hilft auch hier ein Blick auf die Kinder. Bei Tiefenpsychologinnen und Philosophinnen bin ich mit meinem Anliegen eines qualitativen Umgangs mit Zeit, der sowohl unsere Endlichkeit als auch die Bedürfnisse von Kindern einbezieht, fündig geworden, die ich in diesem Kapitel daher ausgiebiger zitieren werde. Dass Kinder Zeit brauchen, die man ihnen widmet, weiss jeder. Die Moderne ist, das zeigen viele Untersuchungen und das entspricht unserer Erfahrung, charakterisiert durch die «Beschleunigung des Lebenstempos» 76. Zeit ist uns immer knapp. Wir leiden darunter und werden nicht selten krank davon, aber für Kinder ist dieser Umstand fatal und bedeutet ein weiteres Entwicklungsrisiko, u.a. in Gestalt unserer dünnen Nerven, mit denen wir ihnen und ihren Bedürfnissen bisweilen begegnen, wei1 wir doch so viel anderes zu tun und zu erledigen hatten. Schon in diesem scheinbar banalen Konflikt kan n ein sensibles Kind (und eigentlich sind alle Kinder sensibel!) in der Erfahrung, lastig zu sein, Momente von Verlassenheit erleben. Natürlich mussten schon immer, wo Erwachsene und Kinder zusammenlebten, die Bedürfnisse der einen mit den Bedürfnissen der anderen in Einklang gebracht werden, was auch von Kindern immer schon Verzicht verlangte. Und wer sagt, dass gerade unsere Zeit und Kultur bewusster mit den Bedürfnissen von Kindern umgehe als jede frühere Epoche, der hat zum Teil recht. Doch diesem gewachsenen Bewusstsein und dem Versuch, ihm im Handeln gerecht zu werden, stehen gesellschaftliche Entwicklungen gegenüber, eben jene Beschleunigung des Lebenstempos, die uns immer weniger Zeit «haben» und darum das grossere und verbreitetere Wissen um die Bedürfnisse von Kindern haufig in einem um so schlechteren Gewissen verenden lasst, weil wir doch nicht nach unserem Wissen handeln. Die Beschleunigung des Lebenstempos ist vielerorts begleitet von einer suchtartigen Zeitverschwendung an Tatigkeiten, die einen mit einem Gefühl 76
Paul Virilio nannte diese Beschleunigung gar «rasenden Stillstand», Rasender Stillstand. Essay, (Aus dem Franz. von Bernd Wi1czek), München: Hanser, 1992.
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der Leere zurücklassen. Die Publizistin und Tiefenpsychologin Ruth Martin hat dafür den Begriff der «Zeitraffer» im Sinne des Zeitraubs eingeführt und veranschaulicht ihn am Massenmedium Fernsehen, «das rund um den Globus die meiste menschliche Freizeit vereinnahmt. ... Sein dominierender Einfluss auf samt1iche Lebensbereiche ist offenkundig; es ist Spiegelbild und Leitbild der Gesellschaft. ". Das Fernsehen hat nicht nur die Lebensgewohnheiten, sondern auch die Zeit seiner Konsumenten fest im Griff; denn die rituelle BeUi.tigung des Einschaltknopfes scheint ein võllig anderes Zeitempfinden hervorzuzaubern. Selbst wer kurz zuvor im Strassenverkehr wegen weniger Minuten Wartezeit vor Ungeduld drohte, aus der Haut zu fahren, ist nun bereit, sich vor der Flimmerkiste klaglos stundenlang von Trivialitaten berieseln zu lassen, ohne auf die Uhr zu sehen.»77 Die Hingabe an solche «Zeitraffer» ist keineswegs nur ein schichtgebundenes Phanomen, sie «widerfahrt» keineswegs nur sog. «Ungebildeten» oder einfacher strukturierten Personen, wenn es sicher1ich auch graduelle Unterschiede geben wird. Sie ist eine Folge der Hektik, der wir uns tagtaglich aussetzen, und der ihr entsprechenden Erschõpfung, sie entspringt aber auch oft der Sucht nach Zeitvertreib durch Ablenkung, um sich selbst und den eigenen Problemen und Ângsten davonzulaufen. Die Triebkraft hinter der inneren und ausseren Rastlosigkeit aber, die viele Menschen heute kennzeichnet und sie zu bereitwilligen Opfern von «Zeitraffern» macht, ist, das zeigt Ruth Martin in ihrem Buch, die Angst, etwas zu verpassen. Ein Merkmal der Tiefenpsychologie nach e.G. Jung ist es, auch in Analysen gesellschaftlicher Entwicklungen und Zusammenhange eher das Individuum im B1ick zu haben und von ihm her zu argumentieren 78 • Das gilt auch für Ruth Martins anregendes Buch, das den Leser daher sehr direkt anzusprechen vermag. Für die Frage des Umgangs mit Zeit und Endlichkeit vor dem Hintergrund der zahlreichen sackgassenartigen, im Sinne Kõrtners also apokalyptischen gesellschaftlichen Entwicklungen, scheint mir der philosophische Essay von Marianne Gronemeyer, «Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit» 79 mit seiner historischen Perspektive noch weiter zu führen. Auch Marianne Gronemeyer beschreibt die Angst, etwas zu versaumen, als Motor der Beschleunigung des Lebenstempos. Sie nennt die Versaumnisangst sogar einen «noch ãrgeren Widersacher des Lebens als der 77
Martin, Ruth: Zeitraffer. Der geplünderte Mensch, Frankfurt a.M.: Fischer, 1996, S.18f.
78
Das war bereits in Dieckmanns Analyse der «Angst vor dem Bosen», auf die ich im Punkt 4 über die Angst eingegangen bin, ein methodisches Element.
79
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1993.
183
Tod»80. Sie leitet diese Angst vom Gedanken an die «fatale Kürze des Lebens» ab, die ebenso auf dem Menschen lastet wie die Gewissheit, «dass das Leben weitergeht und das eigene Ende nichts ausser der eigenen Existenz zum Sti1lstand bringt».81 Der welt- und erlebnishungrige Mensch der abendHindischen Zivilisation, der schon nicht alles kosten kann, was seine Zeit enthalt, und erst recht ausgeschlossen ist von dem, was nach ihm sein wird, versucht, durch Beschleunigung die Zukunft in die Gegenwart hereinzuzerren: «Mit wachsender Geschwindigkeit wird das Erdenkliche realisiert. Wenn jeder Überhang an zukünftiger Mõglichkeit durch Verwirklichung getilgt ware, dann fande die Versaumnisangst, die misstrauisch und missgünstig in die Zukunft spat, keine Nahrung. Daraus erklart sich die für unser Zeitalter so charakteristische Besessenheit, das technisch Mõgliche auf keinen Fall ungetan zu lassen, koste es, was es wolle.... Wahrend man in alter Zeit lebenssatt sterben konnte, wenn man auf ein erfülltes Leben zurückblickte, scheint heute das Leben als gesattigt, wenn man auf eine blankgefegte Zukunft vorausschauen kann ... »82 Dabei wird die Zeit jedoch misshandelt. Die Misshandlung besteht in der «radikalen Vergegenwartigung» der Zeit: «Wahrend die Zukunft als ungewisses Noch-Nicht eliminiert und der gegenwartigen Verfügung zugeschlagen wird, wird die Vergangenheit als langst überholtes und überbotenes Nicht-Mehr in der Gegenwart vernachlassigt oder aktiv aus ihr vertrieben .... Durch seine Abtrennung von Vergangenheit und Zukunft bleibt das Gegenwartige schwer geschadigt übrig. Seines Herkommens beraubt und seiner Tendenz, etwas von sich aus zu werden, bietet es sich in seiner schieren Prasenz dar. Die Gegenwart zerfallt in zusammenhanglose Bruchstücke ... Aus der Sorge, dass die Gegenwart armselig, dürftig, karg und ungenügend ist, entsteht der Anspruch, zu guter Letzt die ganze We1t mit all ihren Mõglichkeiten jederzeit und überall verfügbar zu haben, um mit ihr das unzulangliche Hier und Jetzt aufzubessern . ... Aber wenn unendlich viel vorstellbar und verfügbar ist, dann ist jede Entscheidung für eine der Mõglichkeiten damit, dass man zugleich eine unendliche Zahl anderer Wahlmõglichkeiten ausschlagt, zu teuer bezahlt. ... Das wirkliche Leben sprudelt immer gerade anderswo .... Unter der Versaumnisangst wird so das Verschwinden der Wirklichkeit total: Mit der
80 Gronemeyer, Marianne: Das Leben als letzte Gelegenheit, Klappentext. 81 Gronemeyer: Das Leben als letzte Gelegenheit, Punkt 11 des Kapitels 111: Die Zukunft hat schon begonnen, S. 139 -146, hier S. 139.
82 AaO., S. 139f. 184
Vergangenheit hat man niehts im Sinn, weil man Hi.ngst über sie hinaus ist, mit der Zukunft nicht, weil man nieht geneigt ist, sie andern zu überlassen, mit der Gegenwart nieht, weil das Prasente immer das Falsehe ist.»83 Marianne Gronemeyer zeigt, wie das dramatisehe Versehwinden der Wirkliehkeit in all seinen Varianten aufzuha1ten ware: In einer ganz anderen Form radikaler Vergegenwartigung: «Die Haltung, derer es dazu bedürfte, ware nieht die unablassige Sorge, zu kurz zu kommen, nieht die Sammelleidensehaft fürs Demonstrative, Exquisite und Spektakul are , sondern das hõehst riskante Vertrauen, dass in Alltagliehkeiten unseheinbarster Art genügend Erfahrbares steekt, um den Welthunger zu stillen. Es ware das Gespür fürs leieht übersehbare Detail, für die kleinste soziale Geste, die unauffalligste Begegnung zu entwickeln; es ware die Erinnerung zu beleben, dass kein Anlass zu niehtig ist, um bedeutsames Naehdenken zu entzünden und keine Begebenheit zu geringfügig, um sieh in Staunen versetzen zu lassen. Dies setzt voraus, dass nieht die ganze Welt in der eigenen Gegenwart Platz nimmt, sondern man selbst, und zwar mit der Bereitsehaft zu voller Anwesenheit. An die Stelle der Logik der Besehleunigung, die die Plausibilitat für sieh zu haben sehien, trate das Wagnis der Verlangsamung. Man müsste sich wieder mit Mensehen, Dingen, Lebewesen, Ereignissen aufhalten, ohne si eh aufgeha1ten zu fühlen.»84 An die Stelle der Versaumnisangst trate dann ein erfülltes Leben, auf das man aueh wieder «lebenssatt» zurüekblieken und von ihm Absehied nehmen kõnnte, selbst wenn man bei Eintritt des Todes noeh gar nieht so alt ware. Zur Frage des bewussten Umgangs mit Endliehkeit und Tod, aueh dem Gedanken an den eigenen Tod, fand ieh die bish~r wertvollsten Hinweise in einem kleinen Essay der Philosophin Jeanne Herseh, «Die Angst und der Tod»: «Um die Todesangst zu besiegen, bleibt nur eine Mõgliehkeit: sich der Gegenwart des Todes zu stellen .... Uns den Tod so gegenwartig zu maehen, wie er es zulasst. Obgleieh wir weder den Tag noeh die Stunde kennen, uns der Gewissheit des Todes bewusst zu werden. Ihn frei zu lassen, damit er alle seine Wirkungen über die Zeit breiten kann, in der wir jetzt leben - in erster Linie über den jetzigen Augenbliek, der es ihm verdankt, einzigartig zu sein, Vergangenheit und Zukunft entgegensetzend und trennend.»85 83 AaO., S. 144f. 84 AaO., S. 146. 85 Hersch, Jeanne: Die Angst und der Tod, in: Schultz, Hans Jürgen (Hg.): Angst. Facetten eines Urgefühls, München: DTV, 1995, S. 294 -302, hier S. 298.
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Zwar heisst gestorben sein: vergangen, gewesen sein. Aber auch nur in der Vergangenheit gibt es «endgü1tiges Sein», «Sein, das endgültig so ist, wie es gewesen ist. ... Die Vergangenheit ist der einzige Reichtum und die einzige Holle, die uns für immer gegeben ist, ei ne unwiderrufliche Gabe, weil sie nicht mehr in der Zeit ist. Jenseits der Erinnerung. Ausserhalb unserer Reichweite. In der Wahrheit des Seins.»86 Der jetzige Augenblick aber, «durch etwas Vergangenheit verdichtet und gleichzeitig mit einem Stück moglicher Zukunft erweitert, er allein ermoglicht es uns, etwas zu verwirklichen, eine Melodie zu singen, eine Tat zu vollbringen, in der Welt gegenwãrtig zu sein. Er allein er1aubt uns zu glauben, dass wir >> ... Es ist, als würden wir unser Jetzt «mit uns nehmen, als würde es Vergangenheit und Zukunft in sich aufnehmen und autheben, als wãre es, ohne Zeit zu sein, die ewige Quelle der Zeit, in der es uns moglich ist, ohne zu verstehen, die Dauer unseres Lebens zu er1eben im Wissen um unseren Tod.»87 Sich der Gegenwart des Todes zu stellen kann manchmal auch heissen, vorhandenes medizinisches Wissen über den Sterbeprozess zu nutzen, auch um nahe Menschen, die vor mir sterben müssen, gegebenenfalls beim Sterben besser begleiten zu konnen. Hatte ich zur rechten Zeit mehr darüber gewusst «Wie wir sterben»88, so hatte ich mei nen sterbenden Vater wahrscheinlich noch ofter besucht, weil ich dann den Beginn des Sterbeprozesses klarer realisiert hatte. Die Gedanken der zitierten beiden Philosophinnen und der Tiefenpsychologin - vermutlich ist es kein Zufall, dass es sich hier um drei Frauen handelt - zum Umgang mit Zeit und Endlichkeit sprechen für sich. Sie stellen selbst die Verbindung her zu den uns bedrohenden apokalyptischen Entwicklungen, geben uns aber auch Mittel an die Hand, uns zu prüfen, inwiefern wir personlich zu solchen Entwicklungen beitragen und was wir andern müssen, damit «sich etwas andert». «Zukunft unter Zeitdruck» kann dann nur heissen, dass die Zeit drangt, an die Stelle der Ausbeutung der Zukunft die von Marianne Gronemeyer beschriebene andere Art der «radikalen Vergegenwãrtigung» zu setzen, die Jeanne Hersch auf ihre Weise die «ewige Quelle der Zeit, ohne selbst Zeit zu sein» nennt.
86 AaO., S. 300f. 87 AaO., S. 302. 88 Nuland, Sherwin B.: Wie wir sterben. Ein Ende in Würde? München: Knaur, 1994. 186
Die notwendigen gesellschaftlichen Veranderungen setzen Menschen voraus, die nicht schon mit dem Gefühl, zu kurz zu kommen, aufgewachsen sind. Die Psychologie der Angst und die Entwicklungspsychologie stellen viel Wissen bereit, worauf es im Umgang mit Kindern ankommt, damit sie zu reifen Menschen heranwachsen kõnnen. Die Versuchung scheint gross zu sein, aus Verzweiflung über die apokalyptischen Entwicklungen der Gegenwart von den Kindern in der Zukunft die Wende zu erhoffen, wo sie überhaupt noch erhofft wird. Ich denke, es ist hier gelungen zu zeigen, dass die IntegriHit unserer Kinder Voraussetzungen hat, zu welchen wir in der Gegenwart Wesentliches beitragen müssen - es aber auch kõnnen: Dies ist vielleicht in psychologischer Sprache die Konkretisierung unserer «schwachen messianischen Kraft» , die Wa1ter Benjamin gemeint hat. Das Kind als Heilbringer ist ein altes Motiv; seine Bedeutung im christlichen Glauben ist bekannt: Der Messias wird als Kind geboren, und auch fromme Juden begrüssen jeden neugeborenen Knaben mit der Hoffnung, dieser kõnnte der Messias sein. In unserer Zeit hat Michael Ende mit seinem preisgekrõnten Marchen von dem Madchen Mom0 89 ei ne Geschichte geschaffen, in der dieses Kind, das eigentlich ein verlassenes Kind war, durch seine reife Menschlichkeit, in der etwas Gõttliches aufscheint, die Welt vor den grauen Mannern, den Zeitdieben, rettet und die von ihnen gestohlenen Zeitblumen durch sein mutiges und vertrauensvolles Handeln ihren Besitzern zurückbringt. Momo kõnnte ein Bild sein für den gelingenden Umgang mit Angst und Zeit unter apokalyptischer Bedrohung. Kõrtner verstand Apokalyptik als eine Botschaft der Hoffnung und als «Seelsorge an den Geangstigten»90, aus der Überzeugung heraus, dass nur Menschen, die den Tatsachen ins Auge sehen, der mit diesen Tatsachen verbundenen Angst standhalten und dennoch hoffen kõnnen, in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen und entsprechend zu handeln. Es ist kein Zufall, dass der hier dargeste11te Beitrag der Psychologie zur Bewaltigung eines Lebens unter «apokalyptischer» Bedrohung und zu wirkungsvollem Handeln, das die Bedrohung abmildern oder gar beseitigen kõnnte, sich mit religiõsen Vorstellungen berührt, die sowohl die hoffenden und leidenden Menschen als auch die We1t, den Kosmos, religiõs gesprochefi, die Schõpfung, die wir zerstõren, im Blick haben. Geht man jedoch als wacher Zeitgenosse durch die Welt, so drangt sich die Furcht auf, dass vielleicht beide nicht - weder das Wissen der Psychologie noch die Botschaft der Religionen hinreichen, um die verderblichen komplexen Entwicklungen zu stoppen, die 89 Ende, Michael: Momo - oder die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Ein MiirchenRoman, Stuttgart: Thienemann, 1993. 90 Kortner, Ulrich H.J.: Weltangst und Weltende, Gottingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1988, S. 307-316.
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sieh auf eine globale õkologisehe Katastrophe zuzubewegen seheinen. Um nur ein Beispiel sozusagen vor unserer Haustüre zu nennen: Wenn das viele Mensehen qualende Problem der Arbeitslosigkeit dadureh vorübergehend entseharft wird, dass aufs neue überall auf der Welt die Autoindustrien boomen, und wenn auf derselben Linie die Partei der Grünen bei einer Landtagswahl in Deutsehland abgewahlt wird, weil sie eine merkliehe Erhõhung der Benzinpreise vorsehlagt, dann bereitet mir das angesichts unseres Wissens um den Treibhauseffekt und der Uiglieh spürbaren Gefahren für Gesundheit und Leben, die vom maneherorts kollabierenden Autoverkehr ausgehen, Beklemmungen. Ganz zu sehweigen von den aberwitzigen Brandrodungen in Südostasien oder der Vernichtung des tropisehen Regenwaldes rund um den Globus - dies alles aktuelle Ereignisse des Jahres 1998! Wie die Ethiken von Judentum und Christentum, setzt aueh die Psyehologie, selbst noeh, wo sie systemiseh denkt und therapeutiseh aueh systemiseh vorgeht, beim Individuum und seinen Mõgliehkeiten der Verhaltensanderung an. Das war sehon immer ein Dilemma, denn so sehr der Einzelne «Tater» und Gestalter ist, ist er immer aueh Opfer oder Abhangiger von systemisehen Gegebenheiten. Das dürfte einer der tiefen Gründe sein für die Erlõsungssehnsueht und die Erlõsungshoffnung in den Religionen und in den apokalyptisehen Bewegungen der Religionsgesehichte, dass Gott die Rettung bringen wird, weil er nieht das Chaos über seinen Kosmos siegen lassen will. Die Anthropologien aller drei biblisehen Religionen, Judentum, Christentum und Islam, gehen davon aus, dass der sündige Menseh letztlieh weder seine eigene Rettung no eh die Rettung der Welt vollbringen kann. Apokalyptik als ei ne Botsehaft der Hoffnung und als «Seelsorge an den Geangstigten» zu verstehen ist zweifellos ein ehristlieh-glaubiger Umgang mit den Bedrohungen, unter denen wir leben. Wer als Psyehologe oder Therapeutin im Judentum, Christentum oder im Islam beheimatet ist, wird die Hoffnung dieser Religionen teilen und sie mit seinem gediegenen Saeh- und Handlungswissen verbinden. Wer sich als Psyehologin oder Therapeut nicht im religiõsen Sinn als glaubig versteht, sein Handwerk aber ernst nimmt und es in den ihm oder ihr auferlegten Grenzen gegen die Zerstõrung von Welt und Mensehen einsetzt, wird dem Einzelnen, der zu ihm kommt, alle ihm mõgliehe Hilfe und allen Beistand angedeihen lassen. Er oder sie wird das im Bliek auf die globale Entwicklung tun wie Sisyphos, der den Stein hinaufwalzt, von dem er weiss, dass er immer wieder herabfallt. Sowohl das Verstandnis der «Seelsorge an den Geangstigten» im Sinne Kõrtners als aueh die psyehologisehe, nicht explizit religiõs gebundene Art der «Seelsorge» im Wissen um die apokalyptisehen Bedrohungen unserer Zeit muss der Fullersehen «heiteren Hoffnungslosigkeit im Angesieht der õkologisehen Katastrophe» trotz des aufgezeigten Dilemmas der Verwobenheit von System und Einzelnem widerspreehen. Zwar geht es sieher aueh darum, gerade die Einzelnen eine ars moriendi neu zu lehren in einer Zeit, wo der Tod soweit 188
wie moglich verdrangt wird. Aber wie Fuller zu postulieren, dass wir als Gattung ei ne «Kunst des Sterbens» lernen müssten, weil es bereits definitiv «zu spat» sei, die finale Katastrophe abzuwenden, ware apodiktisch und zynisch. Fullers suggestiv geschriebener bereits zitierter Essay über «Das Ende»91 verführt angesichts rund um den Globus nahezu taglich geschehender wahnsinniger Entscheidungen und Katastrophen zunachst zur Zustimmung. Fuller stellt evolutionstheoretische und geschichtsphilosophische Überlegungen an und fragt, ob die biologisch-psychische Ausstattung des Menschen nicht von vorneherein überfordert ist mit der Last globaler Verantwortung, die ihm nun aufgeladen ist. Hier zu pessimistischen Antworten zu kommen, liegt nahe. Bruno Kern, der sich in einer Rezension mit Fuller kritisch auseinandersetzt, zeigt, dass eine «heitere Hoffnungslosigkeit» als Inbegriff der von Fuller propagierten ars moriendi nur so lange Plausibilitat hat, als es um das eigene Ende geht. «Sobald das - katastrophische - Ende der Anderen in den Blick kommt und wirklich angemessen gedacht wird, schlagt die ars moriendi in Zynismus um.»92 Kern illustriert das mit den Ergebnissen einer vom Münchner Fraunhofer Institut für die EG-Kommission erarbeiteten Studie zum derzeitigen Trend der Erderwarmung, der, «sofern er nicht durch entschiedene politische Massnahmen eingedammt wird, bis zum Jahr 2030 unter anderem 900 Mi1lionen bis 1,8 Mi1liarden (!) zusatzlicher Hungertoter zur Folge haben wird.» Kern prazisiert: «Dm ihren Tod geht es also, dies sind konkret die Menschen (zum Grossteil im armen Süden der Erde) , denen Fuller die ars moriendi empfiehlt.»93 Kern kann zeigen, dass einige Hauptthesen von Fuller auf schwachen Beinen stehen, und er fragt daher ideologiekritisch, wer moglicherweise ein Interesse daran haben konnte, dass es bereits zu spat ware. «Die berufsmassigen Verharmloser und die Fatalisten dienen - wenigstens objektiv - demselben Ziel, namlich wirkungsvolle, durchaus mogliche Massnahmen zu verhindern.»94 Fuller weist auch jede Frage nach Schuld und Verantwortlichkeit an okologischen Katastrophen als i1legitim zurück, womit er die Geschichte renaturalisiert und eine der wichtigsten Errungenschaften der Aufklarung, eben das Bewusstsein von Verantwortlichkeit und Selbstverantwortung des Menschen, preisgibt. Wenn unsere Zivilisation einfach «passiert», ohne Schuld 91 Siehe oben Anm. 41, S. 120, am Schluss des zweiten Kapitels: «Endzeiterfahrungen» und apokalyptische Analogiebildungen und die Relevanz des apokalyptischen Denkens heute.
92 Kern, Bruno: Endzeitstimmung. (Eine Rezension zu Gregory Fuller, Das Ende. Von der heiteren Hoffnungslosigkeit im Angesicht der okologischen Katastrophe. Zürich: Amman, 1993 und zu Anton-Andreas Guha, Der Planet schHigt zurück. Ein Tagebuch aus der Zukunft, Gottingen: Steidl, 3. Auf1. 1996) In: Concilium. Internationale Zeitschriftfür Theologie, 33. Jahrgang, Heft 5, November 1997, S. 680 - 684.
93 Kern, Bruno: Endzeitstimmung, in: Concilium 33, Heft 5, November 1997, S. 682. 94 AaO., S. 681. 189
und Verantwortung, dann, so sagt Kern zu recht, wãre auch Auschwitz «einfach passiert». Moglicherweise ist es für vieles zu spat, moglicherweise sind zahlreiche apokalyptischen Entwicklungen nicht mehr aufzuhalten. Doch kein Mensch kann apodiktisch sagen, dass es für alles zu spat sei. Dass es keine Schuld und Verantwortung geben sollte, widerspricht der Alltagserfahrung genauso wie philosophischer, anthropologischer und psychologischer Reflexion. Wir leben unter «apokalyptischer» Bedrohung in einem gewaltigen Dilemma. Und doch ist zu warnen vor allen Propheten, die vorgeben, dieses Dilemma auflosen zu konnen, sei es durch einen militanten Messianismus oder durch Fatalismus: Die Arbeit mit und für den Einzelnen, in der Hoffnung, durch viele Einzelne die gesamte Menschheit zu verandern, ist der legitime und gebotene Weg, mit dem Dilemma zu leben. Im Talmud findet sich ein Satz, den die von Os kar Schindler vor den Nazis geretteten Juden in einen goldenen Ring eingraviert haben, den sie ihm am Ende des Krieges als Dank zum Geschenk machten. Er lautet: «Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt.» Ein weiser Umgang mit diesem Satz führt zu politischem Handeln, das gegen Vernichtung Widerstand leistet.
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Béatrice Acklin Zimmennann
VON WEGEN ins neue Jahrtausend! Endzeiterwartungen und -angste im spaten und ausgehenden Mittelalter Glaubt man der õffentlichen Meinung zur Zukunft, so gestaltet sich diese als ein reines Horrorszenario: Zukunft wird gleichgesetzt mit geklonten Menschen, õkologischem und wirtschaftlichem Kollaps, drastischem Sozialabbau, eklatanter Arbeitslosigkeit, wachsender JugendkriminaliHit und zunehmendem Fremdenhass. U ngleich eindringlicher als jede Kapuzinerpredigt zwingt die tãgliche Zeitungslektüre und Nachrichtensendung zur Gewissenserforschung: «Was tust du gegen das Ozonloch, gegen die Kostenexplosion im Gesundheitswesen? Wie hãltst du's mit den Fremden?» Da ist kein Reden über die Natur, das nicht - wenn es «zukunftsethisch» Bestand haben will - zumindest die Sorge um das Baumsterben ãussert. Offentlich von der Jugend reden darf nur, wer die zunehmende Gewalt auf dem Schulhof problematisiert. Dass solche düsteren Aussichten auf die Dauer nicht auszuhalten sind, liegt auf der Hand. Von der õffentlichen Zukunft, die einem kaum eine Chance lasst, zweigt man sich eine private Zukunft ab, mit der man hoffnungsvoll die Realisierung einer Reise, den Bau eines Hauses oder das Heranwachsen der eigenen Kinder verbindet. Die Zukunft zerfãIIt heutzutage in eine õffentliche und eine private, gleichzeitig driften die Reichweite des vermeintlichen Wissens um die õffentliche Zukunft und die Reichweite mõglichen Handelns drastisch auseinander. 1 Wãhrend dieses Ungleichgewicht die gegenwãrtige Gesellschaft des 20. Jahrhunderts kennzeichnet, waren menschliche Handlungsmõglichkeiten in früheren Zeiten gewissermassen durch Nichtwissen geschützt. Das Handeln blieb mit dem Nahbereich verknüpft, die Zukunft wurde nicht in eine private und eine õffentliche aufgespalten. Die Mehrzahl der in materieller Armut lebenden mittelalterlichen Menschen verband mit der Zukunft die unmittelbar bevorstehende Zeit, oftmals den nãchsten Tag und damit das Bangen um das tãgliche Brot und die Angst vor Naturkatastrophen und Hungersnõten. In einer Welt, in der die Naturgewalten als Ausdruck des Zornes Gottes über die sündigen Menschen betrachtet wurden, drãngte sich das Thema der Okologie gar nicht auf. Stattdessen versetzten die im Mittelalter grassierenden Krankheiten wie das sogenannte Antoniusfeuer, die Schwarze Pest oder die Lepra die l
Vgl. Safranski , Rüdiger: Warum die Vergangenheit meinen Bedarf an Zukunft deckt, in: Sloterdijk, Peter: Vor der Jahrtausendwende. Berichte zur Lage der Zukun!t, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990, S. 197f.
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Menschen in Angst und Schrecken. Mit der standigen Furcht vor den Seuchen, welche als Widerspiegelung der verschmutzten Seele galten, verband sich die Angst, als von der Krankheit gezeichneter Mensch sozial ausgegrenzt zu werden. 2 In einer Zeit, in der niemand an der jenseitigen Welt und dem dortigen Weiterleben der Verstorbenen zweifelte, konzentrierten sich die Ãngste nicht so sehr auf den durch die hohe Kindersterblichkeit und die zahlreichen Epidemien a11gegenwartig scheinenden Tod, als vielmehr auf das nachfolgende Gericht Gottes und die Qualen der Hõ11e. Die eigentliche Bedrohung sahen diese Menschen in ihren eigenen Sünden, denn für diese würden sie letztendlich zur Rechenschaft gezogen werden. 3 Die grosse Angst der mittelalterlichen christlichen Bevõlkerung vor der drohenden Invasion fremdlandischer Horden wie der Mongolen oder Türken barg deshalb auch immer die Befürchtung in sich, dass diese «Unglaubigen» eine unmittelbare Bedrohung für den eigenen Glauben darste11ten und deshalb entweder vernichtet oder bekehrt werden müssten. Angesichts dieser vielfaltigen Nõte, Gefahren und Bedrohungen blickten die mittelalterlichen Menschen dem im Evangelium angekündigten Weltende nicht nur mit Angst, sondern zugleich auch mit Hoffnung entgegen. Wie man in der Geheimen Offenbarung las, würde wohl mit der Ankunft des Antichristen Zerstõrung und Verderben über die Welt kommen, doch nach diesen schrecklichen Wirren würde eine dem Jüngsten Gericht vorausgehende friedliche Zeit eintreten, in der die leidgeprüften Menschen endlich glücklich und in Frieden leben kõnnten. 4
I.
Begegnen in der Geschichte des Christentums 5 von a11em Anfang an und immer wieder vereinzelte apokalyptische Vorste11ungen, die zumindest untergründig stets vorhanden waren und besonders in Krisenzeiten an die Oberflache kamen, so lasst sich ein ausgepragtes endzeitliches Bewusstsein erst ab dem 12. Jahrhundert und bis weit ins 16. Jahrhundert hinein beobachten. Dagegen hat sich die Ko11ektivangst, die im Hinblick auf das Jahr 1000 unter den Menschen ausgebrochen sein so11, im nachhinein als ein Konstrukt a11zu eifriger Geschichtsschreiber erwiesen. Wohl traten sporadisch Gruppierungen auf, 2
Vgl. Duby, Georges: Unseren Angsten au! der Spur. Vom Mittelalter zum Jahr 2000, (aus dem Franzosischen übersetzt von Martina Meister), KOln: DuMont
Buchverlag, 1996, S. 77ff. 3
Vgl. aaO., S. 128f.
4
Vgl. aaO., S. 20f.
5
Innerhalb des hier gebotenen Rahmens beschranken sich die folgenden Beobachtungen zu endzeitlichen Vorstellungen in der Geschichte auf jene des Christentums, wl:ihrend etwa die jüdische Apokalyptik ausgeklammert bleibt.
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die von einem nahen Weltende wissen wollten, doch überwaltigend scheint die mit dem Jahr 1000 gesteigerte Endzeiterwartung nicht gewesen zu sein. 6 Entsprechend bescheiden ist denn auch das apokalyptisch eingefarbte Schrifttum jener Zeit, von dem einzig der Antichrist-Traktat des Abtes Adso von Montieren-Der aus der Mitte des 10. Jahrhunderts eine gewisse Popularitat erreichte. 7 Gleich den viel spater entstandenen apokalyptischeri Schriften entwirft auch dieser Traktat eine ganz bestimmte Abfolge des Endzeitdramas: Nach dem Tode Christi bleibt den Menschen bis zum Weltuntergang nur noch eine begrenzte Zeitspanne gewahrt. Der Weltuntergang ist nicht datierbar, jedoch gehen ihm deutliche Vorzeichen in Form von Kriegen, Seuchen, Hungersnoten und eines generell moralischen Zerfalls voraus. Wahrend einige Autoren apokalyptischer Schriften dann ein tausendjahriges Friedensreich erwarten, erscheint für andere sogleich der Antichrist, der in allem Jesus Christus nachahmt und sich als Messias ausgibt. Nachdem Christus selbst eingegriffen und den Antichristen vernichtet hat, gewahrt er den Auserwahlten noch eine bestimmte Frist zur Umkehr und Busse, bevor das Jüngste Gericht beginnt.
/l.
Wahrend solche Gedanken vom Weltende um das Jahr 1000 die Ausnahme zu sein schienen, prasentierte sich das Bild in den nachfolgenden Jahrhunderten, die durch einschneidende soziale und religiose Umwalzungen gekennzeichnet waren, ganz anders: Waren es im 14. Jahrhundert Ereignisse wie die Pest und das grosse abendlandische Schisma, wahrend dessen sich der Papst zu Rom und jener in A vignon gegenseitig verfluchten und mit Bann und Interdikt dem Gegner den Teufel heraufbeschworen, die einer apokalyptischen Grundstimmung reichlich Nahrung verliehen,8 so entstanden endzeitlich ausgerichtete Bewegungen vor allem ein Jahrhundert zuvor: Und zwar im Zusammenhang mit den in Umberto Ecos «Name der Rose» unlangst zu einer zweifelhaften Berühmtheit gelangten Irrungen und Wirrungen des Franziskanerordens, wo sich der Kampf um das Armutsideal mit klaren Endzeitvorstellungen verband. Dass Papst Johannes XXII. (1244 -1334) die strenge Auslegung des in der ersten Monchsregel und im Testament des Franz von Assisi festgelegten Armutsideals zurückwies und schliesslich verbot, deutete der radikale Flügel des Franziskanerordens als untrügliches Zeichen dafür, dass das Papsttum unmittelbar 6
V gl. Lot, Ferdinand: Le mythe des terreurs de ['an mille, in: Recueil des travaux historiques de Ferdinand Lot 1, Geneve: Droz, 1968, S. 398 - 414.
7
V gl. Konrad, Robert: De ortu et tempore Antichristi. Antichristvorstellungen und Geschichtsbild des Abtes Adso von Montier-en-Der, (Münchener Historische Studien, Abt. Mittelalterliche Geschichte, Bd. 1), Diss., Kallmünz: Lassleben, 1964.
8
Vgl. Delumeau, Jean: La peur en Occident: XIVe - VlIIe siecles, Paris: Fayard, 1978.
193
vor seiner Ablõsung durch das in Kürze anbrechende Tausendjahrige Friedensreich stand und der Kampf von Johannes XXU. gegen die getreuen Anhanger des Franziskus ein letztes Aufbaumen gegen das nahe Ende der Papstherrschaft bedeutete. 9 Seine Wurzeln hatte dieses apokalyptische Endzeitbewusstsein im geschichtstheologischen Konzept des calabresischen Zisterzienserabtes Joachim von Fiore (1135-1202). Aufgrund der Bibel glaubte Joachim zu wissen, dass die Geschichte nach einem trinitarischen Schema verlaufen würde: Auf die Epoche des Vaters, des Alten' Testaments, des Gesetzes und der Laien folgte das Zeitalter des Sohnes, des Neuen Testamentes, der Gnade und der Kleriker. Nachdem der Antichrist, dessen Kommen unmittelbar bevorstünde, überwunden sei, würde die Epoche des Hl. Geistes, des Ewigen Evangeliums und der Freiheit anbrechen. Die Trager dieses dritten Zeitalters, das als Millennium alle Freuden des Himmlischen Jerusalem bieten und bis zum Jüngsten Gericht andauern würde, waren nunmehr die Mõnche. 1O Die Vorstellung Joachims, dass der Stand der Mõnche die künftige Geistkirche regieren und diese als die bedeutenden Akteure auf der Bühne der Letzten Tage auftreten würden, um sich dem Antichristen entgegenzustellen und das neue Zeitalter vorzubereiten, fand bei den Franziskanern grossen Anklang und rief bei vielen eine so starke Identifikation hervor, dass sie als Vorlaufer der Geistkirche, als «Spiritualen», auftraten, um aus endzeitlicher Erwartung heraus harsche Kritik an Kirche und Papsttum zu üben und lautstark die Forderung nach Umkehr und Busse zu erheben. Mit der Propagierung der joachimitischen Weissagung von der bevorstehenden neuen Ara, in der der Papstherrschaft ein Ende gesetzt und das Regiment der Kirche von den Mõnchen geführt werden sollte, begab sich der radikale Flügel der Franziskaner unweigerlich in Frontstellung zur Kurie. Diese sah sich allein durch die Tatsache, dass die augustinische Dreizeitenlehre bei Joachim von Fiore umgestaltet und das bislang nach dem Weltuntergang angesetzte dritte Zeitalter ins Diesseits vorverlegt worden war, auf ungewohnte Weise herausgefordert. Exemplarisch tritt das kirchenpolitische Sprengpotential, das die joachimitischen Ideen in sich bargen, im Apokalypsenkommentar des Franziskaner-Spiritualen Petrus Olivi (1247/48-1298) zutage: Seine kirchenpolitische Ausbeutung der Lehre Joachims gipfelt darin, dass er in Franziskus den wahren N achfolger Christi, der das Geistzeitalter einleitete, erkennt und im Papst das apokalyptische Tier, den Antichristen, erblickt. ll Wenn auch die kirchliche Verurteilung dieser Schrift 9
Vgl. Oberman, Heiko: Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin: Severin und Siedler, 1982, S. 65.
10
Vgl. Grundmann, Herbert: Studien über Joachim von Fiore, (Beitrage zur Ku1turgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, 32), Leipzig - Berlin: Anton Hiersemann, 1927, (unveranderter Nachdruck: Darmstadt 1966).
II
Vgl. Manselli, Raoul: La «Lectura super Apocalypsim» di Pietro di Giovanni Olivi, Roma: Istituto Storico Italiano per íl Medio Evo, 1955.
194
erst nach dem Tode Olivis erfolgte, so verfestigte sich die ablehnende Haltung der Papstkirche gegen endzeitlich orientierte Bewegungen und erlebte ihren (vorlaufigen) Hõhepunkt darin, dass sie die «revolutionare» Anhangerschaft des Fra Dolcino, die sogenannten Apostelbrüder, welche in der Lombardei jahrelang gegen die Klerikerkirche kampfte und die letzte Weltzeit mit Gewa1t herbeizuführen versuchte, als Haretiker verdammte und verfolgte. 12 Der Argwohn und die grundsatzlich ablehnende Ha1tung der Kirche gegenüber Endzeitbewegungen jeglicher Art konnte nicht verhindern, dass solche bei den Menschen des 13. Jahrhunderts regen Zulauf fanden. Die joachimitischen Ideen begünstigten die apokalyptische Grundstimmung jener Zeit, die sich angesichts der drohenden Invasion der Mongolen, der Ohnmacht gegenüber der Natur, der wütenden Seuchen, der materiellen Not, der Gewalttatigkeit der Ritter und des militarisch-politischen Kraftemessens zwischen Kaisertum und Papsttum ausbreitete. Entsprechend stiessen die endzeitlich aufgeladenen Busspredigten der Franziskaner, die vorgaben, durch Busse das bald hereinbrechende gõttliche Strafgericht abwenden zu kõnnen, beim Volk auf offene Ohren. 13 Endzeitlich orientierten Strõmungen wie etwa den Geisslern, die im Epochenjahr Joachims 1260 in Mittel- und Oberitalien auftraten und halbnackt, mit Geisseln in den Handen, Bussgesange anstimmten, um Gottes Erbarmen zu erwirken, schlossen sich Menschen aus allen Teilen der Bevõlkerung an. Dass auch Frauen an endzeitlichem Gedankengut nicht nur lebhaftes Interesse bekundeten, sondern zuweilen in apokalyptische Vorstellungen einbezogen wurden, beweist das Beispiel zweier Nonnen im 13. Jahrhundert, die umherzogen und das künftige Reich des Geistes verkündeten: Wahrend Vilemina, die Tochter des bõhmischen Kõnigs, bald nach ihrem Tod von ihrer Anhangerschaft als Inkarnation des Hl. Geistes verehrt wurde, trat Schwester Mayfreda aus dem Orden der Humiliaten noch zu Lebzeiten als Papstin auf, welche die Juden bekehrt, die Kirche reformiert und ein neues Zeitalter in Begleitung weiblicher Kardinale einleitet. 14 Auch wenn nur wenige der Endzeitvorstellungen und -erwartungen der Menschen im 13. Jahrhundert so kühn ausfielen, so wirkten sie hinsichtlich der sichtbaren kirchlichen Ordnung allesamt destabilisierend: Angesichts des unmittelbar bevorstehenden Weltendes und der Hoffnung, die sich mit dem danach anbrechenden, besseren Zeita1ter verband, drohte die Klerikerkirche 12
13
14
Vgl. Reeves, Marjoril: The lnfluence of Prophecy in the Later Middle Ages. A Study in Joachimism, Oxford: Clarendon Press, 1969. Vgl. Kirn, Hans-Martin: Antijudaismus und spatmittelalterliche Bussfrommigkeit: Die Predigten des Franziskaners Bernhardin von Busti (um 1450-1513), in: Zeitschriftfür Kirchengeschichte 108 (1997), H. 2, S. 147-175. Muraro, Luisa: Vilemina und Mayfreda. Die Geschichte einer feministischen Haresie, (aus dem Italienischen übersetzt von Martina Kempter), Freiburg i.Br.: Kore, Verlag Traute Hensch, 1987.
195
mit ihren Dogmen und ihrer Heilsvermittlung durch die Sakramente an Bedeutung zu verlieren. Und weil sich das Papsttum, das sich jegliche Spekulation über den Eintritt der Endzeit versagte, von zahlreichen Endzeit-Gruppierungen in seinen Grundfesten angetastet sah, blieb ihm gar nichts anderes übrig, als in einigen Fallen das Urteil der Hãresie zu verhangen. Umgekehrt gingen im ausgehenden 13. Jahrhundert manche Spiritualen in ihrem Kampf gegen die sichtbare Kirche so weit, im Papsttum die Inkarnation des Bosen zu erblicken. Dass viele in den Juden, deren soziale Ausgrenzung in dieser Zeit merklich voranschritt, die Gefolgsleute des Antichristen erkannten,15 führte dazu, dass der Antijudaismus zum integralen Bestandteil der endzeitlich motivierten Busspredigten wurde und die Idee von der «Unheilskette» von Papst und Juden aufkam.
IIl.
Gewann die Vorstellung vom Antichristen, der damit verbundenen Endzeit und dem darauf folgenden Friedensreich mit unterschied1icher Intensitat und in unterschiedlichen Intervallen Einfluss auf die Geschichte der Kirche, so war die Erwartung einer Zeitenwende im 16. Jahrhundert von besonderer Heftigkeit und Reichweite. Dies widerspiegelt sich nicht zuletzt in der Bildkunst, den zahlreichen Flugschriften wie auch den geistlichen Spielen dieses Jahrhunderts. Viel mehr a1s lange Zeit angenommen, wirkte sich das endzeitliche Bewusstsein dieser Zeit auch auf Martin Luther (1483 - 1546) und seine theologische Arbeit aus. 16 Obwohl Luther wiederho1t seine Bedenken bezüglich apokalyptischer Traditionen ausserte, fand die Vorstellung vom Antichristen als untrüglichem Zeichen der Endzeit schon in der frühen Phase seines Schaffens Eingang in seine Schriften. Zwar deutete der Refonnator, nachdem er im Herbst 1517 seine aufsehenerregenden Thesen über den Ablass veroffentlicht hatte, diese Zeit noch als eine Periode der trügerischen Ruhe vor dem Stunn des Antichristen, in der die wahren Christen wachsam sein und sich vor Selbstgerechtigkeit hüten sollten. Doch bereits im darauffolgenden Jahr ausserte Luther im Streit um das Busssakrament und in der anschliessenden Auseinandersetzung um die dreifache kirchliche Gewa1t des Papstes den Verdacht, dass sich in der romischen Kurie der Antichrist verberge. Als der Papst 1520/21 sein endgültiges Verdammungsurteil ausgesprochen hatte, identifizierte Luther ihn eindeutig mit dem in 2 Thess 2,3ff. genannten Widersacher Christi. 17 Im 15 Vgl. Gow, Andrew Colin: The red Jews. Antisemitism in an apokalyptic Age. 12001600, Leiden - New York - KüIn: E. J. Brill, 1995, S. 103ff.
16 V gl. Hofmann, Hans-Ulrich: Luther und die Johannes-Apokalypse, Diss. Erlangen, 1977, Tübingen: Mohr, 1982. 17
Vgl. Hofmann, aaO. (Anm. 16), S. 624ff.
196
Zusammenhang mit seiner Vorstellung von dem in die Kirche eingedrungenen Antichristen, die aufgrund der mittelalterlichen apokalyptischen Traditionen versHindlich war und beim Volk und vielen Theologen auf offene Ohren stiess, gelangte Luther zu der sich im Laufe seines Lebens steigernden Überzeugung, in der letzten Periode der Geschichte zu leben. Entsprechend sprach er in seinen spateren Schriften anstatt vom «Antichrist» nunmehr von «Endechrist». Anders als seine diesbezüglichen mittelalterlichen Vorlaufer bemass der Reformator diesen «Endechrist» nicht nur nach seinem (antichristlichen) Leben, sondern auch nach seiner Lehre: Hatte Luther schon viel früher eine an Paulus orientierte Einteilung der Geschichte in eine Zeit vor, unter und nach dem Gesetz vorgenommen, so sah er in der Endzeit das Gesetz an die Stelle des Evangeliums und den Antichristen auf den Thron Christi gerückt. 18 Diese Usurpation begann nach Luther damit, dass der Antichrist sich das alleinige Recht der Schriftauslegung anmasste und in der Folge die Schulen und Universitaten nichts über Christus, sondern alles über den Papst und Aristoteles lehrten. An diesen «Synagogen des Satans» erkannte man nach Luther, dass die Zeit des Antichrists gekommen war. Für den Reformator vertraten der Papst und der ihm untergebene, selbstgerechte Klerus nicht die evangelische, sondern vielmehr eine teuf1ische Lehre, in welcher das Wort Gottes verleugnet und die Gebote Gottes durch menschliche Gesetze abgelõst wurden und die totale Umkehrung von Gnade und Sünde, von Glaube und Gesetz geschah. Als unausweichliche Folge davon sahen sich nach Meinung Luthers die Christen in der Endzeit gezwungen, Christus zu verleugnen und den Antichristen anzubeten, der sich durch Erlass oder Auf1õsung von Geboten gleichsam als Gott auf Erden ausgab, so wie es der Papst in teuf1ischer Weise tat. 19 Entsprechend glaubte Luther, dass sich am Ende der Tage, unter dem Regiment des Antichristen, alle Haresie verdichte und alle ketzerischen Meinungen zusammen in ei ne «Grundsuppe» f1õssen, mit welcher die Welt sintf1utartig überstrõmt und ersauft würde. 20 Obwohl Luther aufgrund von 2 Thess 2,3f. den Antichristen im Zentrum der Kirche, «im Tempel Gottes» und nicht «im Kuhstall» sitzen sah und ihn mit dem Papst identifizierte, der sich als Gott auf Erden feiern liess,21 hielt ihn das nicht davon ab, zeitweise auch die Türken mit diesem Verdikt zu belegen. Gehõrte die «Türkenfrage» im allgemeinen Bewusstsein des 16. Jahrhunderts zu den seit langem gestellten zentralen politischen und religiõsen Fragen, so wurde sie seit dem Sieg der Türken über den Ungarnkõnig 1526 bedrangend 18 Vgl. Barth, Hans-Martin: Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers, Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1967, S. 107ff.
19 Vgl. Barth, aaO. (Anm. 18), S. 109ff. 20 Vgl. Barth, aaO. (Anm. 18), S. 108. 21 Vgl. Hofmann, aaO. (Anm. 16), S. 629. 197
akut. Anders als 1518, wo Luther den von vielen K.irchenmannern propagierten Kriegszug gegen die Türken nicht bi1ligte und die Ansicht vertrat, dass die Christen in einer Erfahrung wie der Türkennot den Ruf Gottes zur Busse vernehmen sollten, rückte die Türkengefahr für ihn seit dem Herbst 1529, a1s die Türken bis vor Wien vorgestossen waren, eindeutig in einen endzeitlichen Horizont. Angesichts der konkreten politischen Konstellation sah sich Luther veranlasst, nach einer biblischen Erklarung für die beangstigenden politischen Vorgange zu suchen, um diese in sein Geschichtsbi1d integrieren zu konnen. Zusammen mit seinen Theologenkollegen in Wittenberg las er die biblischapokalyptischen Schriften mit neuen Augen und gelangte aufgrund einzelner Stellen aus dem Buch Daniel und aus der Apokalypse des Johannes zu dem in dieser angstumwogten Zeit trostenden Ergebnis, dass die Türken das Deutsche Reich nicht mehr würden vernichten konnen, sondern ihnen der nahe Jüngste Tag zuvorkommen und ihre Macht zerbrechen würde. 22 Auch wenn sich für Luther angesichts seiner apokalyptischen Beurteilung der Türkengefahr in zugespitzter Weise die Frage nach der antichristlichen Macht stellte, und er den Papst und «den Türken» oftmals nebeneinander nannte, so stufte er die beiden Machte im endzeitlichen Horizont dennoch unterschiedlich ein: Im «Türken», der vorwiegend gegen den Leib vorzugehen versuchte, erfuhr die Christenheit nach Meinung Luthers die endzeitliche Bedrohung von aussen. Die eigentliche, ungleich schlimmere Gefahr erwuchs ihr jedoch aus der Mitte der K.irche, in der Person des Papstes, der die Seelen der Glaubigen verführte. Die Hauptrolle im Endzeitdrama Luthers bleibt denn auch eindeutig dem Papst vorbeha1ten. 23 Luthers Eindruck, dass das teuflische Treiben an der Kurie nicht mehr schlimmer werden konnte und die Zeit des Antichristen gekommen war, weckte bei ihm die sehnsüchtige Erwartung des Jüngsten Tages mit der Wiederkunft Christi, die allein der schrecklichen Verderbnis der Kirche und Welt abhelfen würde. Entsprechend seiner neu entwickelten Theologie von der in der Rechtfertigung erfahrenen Heilsgewissheit wurde das Weltende mit der Wiederkehr Christi von Luther nicht als Schreckensvorstellung, sondern vielmehr als «lieber jüngster Tag» erfahren. 24 Dass er aber diesen so sehnlichst erwarteten «liebsten jüngsten Tag» mit Gewalt herbeizuführen versucht hatte, kam für Luther zu keiner Zeit in Betracht: Entschieden lehnte er jegliche Gewaltanwendung gegen das Papsttum ab und vertrat die Meinung, dass die Christen sich gegenüber der papistischen Macht nicht mit dem Schwert, sondern vielmehr mit dem Gebet und dem Wort zur Wehr zu setzen hatten. Dass kein Schwert und auch keine Utopie, sondern Gott selbst den Jüngsten Tag herbeiführen 22
Vgl. Hofmann, aaO. (Anm. 16), S. 635f; S. 643f.
23
Vgl. Barth, aaO. (Anm. 18), S. 107f.
24
Vgl. Meyer, Almut Agnes: Heilsgewissheit und Endzeiterwartung im dt. Drama des 16. Jh., (Heidelberger Forschungen, 18), Heidelberg: UniversiUitsverlag, 1976, S. 241. Vgl. auch Hofmann, aaO. (Anm. 16), S. 633f.
198
würde, liess Luther in klare Opposition zum «linken Flügel» der Refonnation, zu Thomas Müntzer und den sogenannten Sehwarmern treten. 25
IV. Entgegen dem Grundsatz Luthers, dass den Christen in Glaubensangelegenheiten allein das Wort als Kampfmittel dienen dürfte und sie ansonsten die baldige Wiederkunft Christi erwarten sollten, führte Thomas Müntzer (ea. 1490 -1525) die Forderung ins Feld, dass angesiehts des desolaten Zustandes der zeitgenõssisehen Christenheit die Spreu vom Weizen getrennt und jetzt, am Ende der Tage, die Frommen von den Gott1osen und Verdammten gesondert werden sollten. 26 Seine Überzeugung, dass diese Seheidung hier und heute, in der Zeit des Antiehristen, mit Waffengewalt durehgeführt werden müsste, begründete Müntzer vor allem mit der Landnahme der Israeliten, denen Gott wohl den Sieg ennõglieht, sieh dazu aber der Sehwerter seines Volkes bedient hatte. Zwar lebten beide im Bewusstsein der vom Antichristen dominierten «letzten Zeit» , die dem Kommen Christi vorangehen werde; do eh wahrend sieh Luther gegen jede Anstrengung wandte, ein Gottesreieh auf Erden aufzuriehten, sah es Müntzer geradezu als Pflicht der Christen an, der Hand Gottes aktiv mit dem Sehwert in der eigenen Hand naehzuhelfen, damit dem Regiment der Gottlosen ein Ende gesetzt und die Gottesherrsehaft auf Erden erriehtet werden kõnne. 27 Mit seiner Auffassung, dass die Christen sich zu einer ausserlieh siehtbaren Gruppe fonnieren und im Hier und Heute den Kampf gegen die Gottlosen aufnehmen sollten, sah sich Müntzer von der Mehrheit der zeitgenõssisehen Theologen und Prediger alleingelassen: Diese, allen voran Martin Luther, verwarfen die von Müntzer geforderte Trennung in Auserwahlte und Verworfene als unzulassig, da allein Gott vorbehalten, und widersetzten sieh dem glühenden Eifer Müntzers, den Jüngsten Tag eigenmaehtig herbeiführen zu wollen, anstatt dies allein Gott zu überlassen. 28 Entspreehend hart ging Müntzer mit den Geistliehen seiner Zeit ins Gericht und erklarte sie als die Hauptsehuldigen am Verfall der Kirehe,' welehe seiner Ansieht naeh bereits mit dem Beginn der Kindertaufe und der damit verbundenen Vennisehung von Glaubenden und 25 V gl. Hinrichs, Carl: Luther und Müntzer. Ihre Auseinandersetzung über Obrigkeit
und Widerstandsrecht, 2. Aufl., Berlin: Wa1ter de Gruyter, 1962. Vgl. ferner: Mühlpfordt, Günter: Luther und die «Linken». Eine Untersuchung der Schwarmerideologie, in: Vogler, Günter: Martin Luther. Leben, Werk, Wirkung, Berlin (DDR), 1983.
27
Vgl. Schwarz, Reinhard: Die apokalyptische Theologie Thomas Müntzers und der Taboriten, Tübingen: J. C. B. Mohr, 1977. V gl. Schwarz, aaO. (Anm. 26), S. 67ff.
28
Vgl. Hofmann, aaO. (Anm. 16), S. 651.
26
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UngHiubigen eingesetzt hatte. Neben den bisherigen Formen kirchlicher Heilsvermittlung kritisierte Müntzer mit aller Scharfe die reformatorische Lehre von der unabdingbaren Glaubensvermittlung durch das Bibelwort und die Predigt des Evangeliums, die dem aus seren Wort der Schrift zuviel zutrauen würde. Dagegen hielt Müntzer seine «Geistlehre», derzufolge man erst dann zu den auserwahlten Christen zahle, wenn man zu einer unvermittelten Gottes- und Geisterfahrung gelangt war. Nach der Vorstellung Müntzers waren die Auserwahlten, die mit der unvermittelten Geistbelehrung gewürdigt worden waren, nun auch berufen, diesbezügliche Behinderungen zu beseitigen und Bedingungen dafür zu schaffen, damit diese exklusive Gotteserfahrung allen zukommen konnte. In Müntzers Lehre kam folglich denjenigen, die bereits gegenwartig zu einem unvermittelten Glauben hindurchgestossen waren, der apokalyptische Auftrag zu, die Grundlagen für diesen «Geistglauben» als Voraussetzung für den Anbruch der geschichtlich unvergleichbaren Heilszeit zu schaffen. 29 Zur Umsetzung seiner Zielvorstellung von einer irdischen Heilsvollendung war Müntzer entschlossen, offentliche politische Gewalt einzusetzen. Entweder sollte diese «Reformation» der Christenheit im Sinne einer Ausrottung aller Gottlosigkeit durch die Gewalt christlicher Fürsten oder aber durch die Gewalt des Volkes Gottes, als Gemeinde der Auserwahlten, durchgesetzt werden. 30 Dass die reformatorisch gesinnten sachsischen Fürsten sich diesem Ansinnen versagten und gegen Müntzer vorgingen, bewirkte bei diesem, der bislang auf sie gesetzt und in ihnen die Werkzeuge Gottes zur Reinigung der ganzen Christenheit gesehen hatte, eine tiefgreifende Wende in doppelter Hinsicht: Zum einen wandte er die herbe Kritik, die er an den Geistlichen geübt hatte, nunmehr auch gegen die Fürsten, denen er vorwarf, sie wol1ten mehr als Gott gefürchtet sein und würden als Tyrannen wie Augustus und Herodes das Volk nach Strich und Faden ausbeuten. Zum andern fand sich Müntzer darin bestatigt, dass die Predigt al1ein hinsichtlich der Reformation der gesamten Christenheit zu wenig auszurichten vermochte: Gefangen in diesem ausbeuterischen Gesamtsystem werde es dem einzelnen schlechthin verunmoglicht, zum wahren (Geist-) Glauben zu gelangen. Damit eine Wende in der Christenheit herbeigeführt werden konne, bedurfte es deshalb nach Müntzer einer klaren Überwindung von Herrschaft und Ausbeutung und somit der Erhebung des Volkes gegen die Obrigkeit. 31 Auch wenn Müntzer den gewaltsamen Aufstand vorerst nicht vorantrieb, wertete er den um 1525 sich ausbreitenden Bauernkrieg als Erfüllung von Dan 7,26 und sah in den aufrührerischen Bauern aufgrund ihrer Zielvorstel1ung von einer verchristlichten Gesellschaft Gottes militante Kampfer, die das Reich
29
Vgl. Schwarz, aaO. (Anm. 26), S. 17ff.
30
Vgl. Schwarz, aaO. (Anm. 26), S. 70ff.
31
Vgl. Schwarz, aaO. (Anm. 26), S. 78ff.
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Christi heraufführen sollten. Müntzers flammende Aufrufe zum gnadenlosen Kampf gegen die gottlosen Fürsten geschahen denn auch mit dem sUindigen Verweis auf biblisch-apokalyptische Traditionen, vor allem auf das Buch Daniel und die Offenbarung des Johannes. 32 Eine weitaus positivere Aufnahme als bei den Reformatoren, die ihn aufgrund seiner apokalyptischen Interpretation des Bauernkrieges als «Mordpropheten» und als Verfechter einer Reformation «mit der Faust» brandmarkteten, fand Müntzer bei der Tauferbewegung. Wie nachha1tig deren Theologie von Müntzers Apokalyptik beeinflusst ist, zeigt in vorzüglicher literarischer Verarbeitung Gottfried Kellers «Ursula». Der Versuch, in Vertretern der spatmittelalterlichen apokalyptischen Bewegungen, die in glühender Endzeiterwartung das Reich Gottes auf Erden herbeiführen wollten, die Vorlaufer von modernen Sozialrevolutionãren zu sehen, deren Bestrebungen der Schaffung einer herrschaftsfreien und gerechten Gesellschaft galten,33 muss misslingen. Wohl fanden sich mit Thomas Müntzer und den «Schwarmern» Trager endzeitlicher Ideen, die eine an dere , bessere Zeit aktiv herbeiführen und die bestehende Ordnung zumindest teilweise aufsprengen wollten. Diese aber auf eine Stufe mit neuzeitlichen Sozialrevolutionãren zu stellen, wie es etwa Ernst Bloch34 und die marxistische Historiographie mit Thomas Müntzer tun, erscheint unzulassig: So sehr sich Müntzer und andere Vertreter endzeitlicher Stromungen des ausgehenden Mittelalters als aktiv Handelnde verstanden, so taten sie dies doch ausschliesslich im Bewusstsein, blosse Werkzeuge im Heilsplan Gottes zu sein. Müntzers «revolutionãre» Gedanken und seine Beteiligung am Bauernkrieg erwuchsen aus theologischen Überlegungen. Vom «militanten Gotteskampfer» und Reformator «mit der Faust» sind wir um historische Welten entfernt.
V. Kennzeichnend für die in der Geschichte des Christentums in unterschiedlichen Intervallen an die Oberflache getretenen Endzeitbewegungen sind die stetig wiederkehrenden Bilder und Motive vom nahenden Antichrist, von der mit ihm einhergehenden Drangsal in Kirche und Welt und von den Verheissungen eines paradiesischen Friedensreiches auf Erden. Ob die Endzeitbewegungen als Indikatoren temporãrer Krisen betrachtet werden dürfen oder ob die Apokalyptik 32 Vgl. Schwarz, aaO. (Anm. 26), S. 87ff. 33 Vgl. Dutschke, Rudi: Mein langer Marsch: Reden, Schriften und Tagebücher aus zwanzig Jahren, (hg. von: Dutschke-Glotz, Gretchen; Gollwitzer, Helmut; Miesmeister, Jürgen), Reinbek: Rowohlt, 1980.
34 V gl. Bloch, Emst: Thomas Müntzer als Theologe der Revolution, (Gesamtausgabe, Bd. 2), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1969.
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nicht mindestens ebenso als rhetorisches Mittel in der polemischen Auseinandersetzung mit dem Gegner gedient hatte, wie man anhand so mancher Werke der Franziskaner-Spiritualen oder Martin Luthers vermuten kõnnte, ist hier nicht zu entscheiden. Indessen ist davon auszugehen, dass apokalyptische Strõmungen vorwiegend im Gefolge von Hungersnõten, Kriegen, Seuchen, politischen und kirchlichen Umbrüchen emporschnellten. In einer Zeit des Experimentierens, wie sie das 13. Jahrhundert mit den neuen Lebensformen der Bettelbrüder verkõrperte, oder in einer Phase der Verunsicherung oder gar Desorientierung, wie sie im 14. Jahrhundert durch das papstliche Schisma oder im 16. Jahrhundert durch den Ablassstreit ausgelõst worden war, richtete man das Augenmerk mit Vorliebe auf das biblisch-apokalyptische Schrifttum. Dieses wurde für die je eigene Zeit und deren kirchlich-politische Konstellationen fruchtbar gemacht, so dass beispielsweise Luther im kleinen Horn des apokalyptischen Tieres im Buch Daniel exakt «den Türken» erkannte und Thomas Müntzer aus Dan 7,27 die Absetzung ungehorsamer Obrigkeiten und die Übergabe des Reiches an das einfache Volk herauslas. Wie sehr neue theologische Gedanken Einfluss auf die jeweiligen Endzeitvorstellungen gewannen und dere n Ausrichtung bestimmten, zeigt sich auf eindrückliche Weise in den geistlichen Spielen des 16. Jahrhunderts: Infolge von Luthers Auftreten und seiner Predigt von der Rechtfertigung des Sünders veranderte sich der Charakter der Endzeitvorstellungen in sofern, als das Weltende als Anbruch des Reiches Gottes erhofft und Christus nicht mehr als Richter, sondern vielmehr als Retter vorgestellt wurde. 35 Luthers zentraler theologischer Gedanke von der Heilsgewissheit vermochte also das Endzeitbewusstsein des Volkes in der Weise zu verandern, dass die mit Hoffnung verknüpften Endzeiterwartungen für geraume Zeit über die Endzeitangste dominierten. Den kaleidoskopartig und in immer neuen Varianten zutage tretenden Endzeitbewegungen gemeinsam war ihr destabilisierender Effekt, sowohl hinsichtlich der politischen a1s auch der kirchlichen Ordnung. Anlaufe zur Umgesta1tung der Welt lassen sich von der Friedensreicherwartung eines Joachim von Fiore bis hin zu den Kampfen der Bauern für ihr Gottesrecht verfolgen. Das kirchliche und politische Sprengpotential, das Endzeitbewegungen in sich bargen, konnte den beiden herrschenden Ordnungsmachten der Zeit, dem Kaiser und dem Papst, nicht verborgen bleiben und rief diese entsprechend auf den Plano Für die Amtskirche war denn auch die Apokalyptik stets ein zumindest verdachtiges Symptom haretischer Tendenz, dem sie mit Misstrauen und Abwehr begegnete.
35
Vgl. Meyer, aaO. (Anm. 24), S. 241.
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Christof Jeckelmann DIE KATASTROPHE GIBT ES NICHT Begegnungen mit der «Apokalypse» in Naturwissenschaft und Technologie 1. Einleitung Was kommt einer Naturwissenschaftlerin oder einem Naturwissenschaftler in den Sinn beim Stichwort «Apokalypse»? Zua11ererst werden da wohl Begriffe wie Untergang, Endzeit oder ganz einfach Katastrophe genannt. Sehr schne11 kommen dann Assoziationen im Zusammenhang mit Unglücks- und Katastrophenszenarien aus der Unterhaltungsindustrie hoch und nicht wenige denken sicherlich auch an den biblischen Ursprung des Wortes. Die Palette ist sehr breit, sie reicht vom verh~i1tnismassig harmlosen Felssturz bis zum vernichtenden Meteoriteneinschlag, von der BSE-Seuche (Bovine Spongiforme Encephalopathie - Rinderwahnsinn) bis zum atomaren Winter. Wir konnen unterscheiden zwischen dem zerstOrenden Naturereignis und dem anthropogenen Desaster. Und betroffen sind wir Menschen nicht mehr und nicht weniger als Tiere, Pflanzen, Erde oder Wasser. In der Folge sol1 nicht eine Systematik der Katastrophen aufgeste11t werden, so1che gibt es in der Literatur bereits zur Genüge. 1 Angesichts der ziemlich voyeuristischen Weise, in der das Thema oft ausgeschlachtet wird, besteht für derartige Wiederholungen kein Bedarf. Interessanter erscheint es, einmal nach den Hintergründen zu fragen, die eine Katastrophe zu dem machen, was sie ist. Eine Katastrophe ist nicht etwas absolutes, sondern wird erst durch unsere Wahrnehmung, beziehungsweise Betroffenheit zu dem, was sie ist. Ein Wirbelsturm kann so lange auf dem Meer herumwüten, wie er will, ein Vulkan mag über Jahrhunderte hinweg Feuer speien, es wird sich niemand daran stOren. Erst wenn Wind und Wetter Siedlungen und Felder verwüsten und die Vulkanexplosion weite Landstriche mitsamt Tieren und Pflanzen zerstOrt, werden die Ereignisse zur Katastrophe, und diese wird um so schlimmer, je nãher sie an uns herantritt, sei es auf physischer oder auch nur auf emotionaler Ebene. Aber nicht nur in Bezug auf ihre Intensitãt werden Katastrophen unterschiedlich wahrgenommen, sondern auch wegen der Orientierung ihrer Wirkung. Ein Unglück ist immer zielgerichtet und betrifft nur, was sich in seinem
l
Zum Beispiel: Hõvelmann, Kai: «Das Buch der 1000 Katastrophen», Bindach: Loewe, 1997.
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Wirkungsbereich befindet, oder pointierter formuliert: Was für den einen den Untergang bedeutet, kann des andern Glück sein. Die folgenden Ausführungen werden in Anlehnung an diese «Gerichtetheit» strukturiert sein und die Katastrophe aus zwei entgegengesetzten Blickrichtungen betrachten. Der erste Teil fragt, wie die Naturwissenschaften im Gegensatz zur Gese11schaft mit Katastrophen umgehen und wie sie deren Bedeutung einschatzen. Ferner wird nach den Mõglichkeiten der endgültigen, «apokalyptischen» Vernichtung gefragt und danach, wie sich Forschung und Gese11schaft dieser gegebenenfa11s ste11en. Im zweiten Teil wird der Spiess umgedreht, indem nach der «Katastrophe» in der Naturwissenschaft selber gefragt wird. Lassen sich, angesichts des a11enthalben verkündeten Millenarismus, auch auf diesem Gebiet Spuren von Endzeitstimmung entdecken? Kommt die N aturwissenschaft an ein Ende steht uns das Ende der Erkenntnis bevor? Eine Analyse der wissenschaftlichen Entwicklung und des Forschungsfortschritts sol1 gewissermassen einen Blick auf das Stimmungsbarometer erõffnen.
2. Der naturwissenschaftliche Blick au! die Katastrophe
2.1. Der Mensch und die Katastrophen im Verlauf der Geschichte Vermutlich seit sich der Homo sapiens aufgerichtet hat, ist er darum bemüht, Bedrohungen und Gefahren von seinem Schicksal fernzuhalten. Die Art und Weise, wie das geschah, war stets vielseitig und immer abhangig vom Kenntnisstand über die jeweiligen Ursachen. Solange die Menschen das Zittern der Erde oder vom Himmel herabstürzendes Feuer als Ãusserungen des Zorns von Gõttinnen und Gõttern betrachteten, war es naheliegend zu versuchen, diese mit Hilfe von Opferzeremonien zu besanftigen. Auch wenn bereits sehr früh aufgeschlossene Denker und Beobachter von Herodot bis Plinius erkannten, dass manche Katastrophen ihre Ursache nicht in der Rachelust gõttlicher Wesenheiten hatten, so war es für das gemeine Volk einfacher, ein Rauchopfer gegen den Himmel steigen zu lassen, um sich die Gunst der Gõtter zu erkaufen und damit zumindest die Angst vor den unberechenbaren Naturgefahren zu dampfen. Aus der Sicht des rationalen Naturwissenschaftlers wurde der Glaube an die Wirksamkeit dieses Tuns so oft gestarkt, wie man bezüglich der statistischen Eintretenswahrscheinlichkeit eines Unglücks auf der günstigeren Seite lag. Das Christentum anderte an diesem Verhalten verhaltnismassig wenig. A11erdings sah man in der Katastrophe verstarkt die Bestrafun~ des Bõsen und Schlechten in der Welt und nicht selten war man gar der Ansicht, im Unglück widerspiegle sich die Macht des Bõsen selbst. Religiõse Praktiken hatten somit 204
zum Ziel, vor aus seren Gefahren zu sehützen und U nglüek zurüekzuhalten, indem man versuehte, das Sehleehte aus der Welt zu sehaffen. Wenn in der Folge die abgehaltenen Bittgange sehon nieht die Vernichtung der Ernte oder anderes Unheil zu verhindern vermoehten, so dienten sie wenigstens der Aussohnung oder der Verstãrkung des sozialen Zusammenhalts in der Gemeinsehaft. In der naiven Glaubensvorstellung der meisten Mensehen herrsehte aber naeh wie vor ein mythisehes Gottesbild vor, mit einem unmittelbar handelnden Gott, der die Gesehieke der Welt und somit aueh der N atur lenkt, weshalb Gebete und Fürbitten zunaehst den wiehtigsten Beitrag zum Sehutz vor natürliehen Sehaden darstellten. «Besehütze und segne die Früehte der Felder. Sende uns zur reehten Zeit gedeihliehen Regen und Sonnensehein. ( ... ) Vor Blitz, Hagel und Ungewitter bewahre uns, Herr lesus Christus.» heisst es etwa im sogenannten Wettersegen2 und selbst in unserer hoehteehnologisierten Zeit werden in gewissen Gegenden bei sehr sehlimmen Gewitterstürmen noeh die Kirehengloeken gelautet. Dabei sol1 der Gloekenklang einerseits das Unwetter vertreiben, andererseits, im Sinne eines Gebets, zu Busse und Waehsamkeit rufen. Eigentliehe, aktive Bemühungen zur Verhinderung von Katastrophen oder zumindest zur Einsehrankung des Sehadensausmasses waren aber bis ins 18. lahrhundert hinein praktiseh unbekannt. Nur in seltenen Fallen versuehten si eh die Mensehen in beseheidenem Mass an widrige Umstande anzupassen, indem man beispielsweise in Erdbebengebieten bauliehe Vorkehrungen traf. In 1apan entstanden so einstüekige Hauser in Leiehtbauweise, welche weitgehend aus Holz und Papier bestehen, so dass die Auswirkungen eines Bebens in jedem FalI sehr gering ausfallen und vor allem keine Toten fordern. Ansonsten begnügte man sich damit, den Gefahren aus dem Weg zu gehen, indem sichtlieh gefãhrdete Gebiete ganz einfaeh nieht besiedelt und Verkehrswege so angelegt wurden, dass die Reisenden mogliehst ohne Risiko von einem Ort zum andern gelangen konnten. Als mit der Aufklarung die mensehliehe Vernunft und das rationale Denken zum allgemein gültigen Prinzip erklãrt wurde und an die Stelle der religiOsen Verbindliehkeit die Allgemeingültigkeit des «Natürlichen» trat, anderte sieh das Verhalten gegenüber den Naturgewalten grundlegend. Seit sieh die- Erde um die Sonne dreht, beziehungsweise seit der Annahme des Kopernikanisehen Weltbildes, eroffnete sieh den Mensehen und in besonderer Weise den Wissensehaftlern ein wesentlieh differenzierteres Bild von den Ablaufen in der Natur und den natürliehen Kreislaufen. Statt auf die Gütigkeit himmliseher Maehte hoffen zu konnen, galt es nun, Eigeninitiative zu entwiekeln. Statt mit Opfergaben und Gebeten Bedrohungen und vermeintlieh apokalyptisehe Strafen abzuwenden, begann sieh der Menseh bewusst und mit Kalkül gegen Katastrophen 2
Kirchengesangbuch. Katholisches Gesang und Gebetbuch der Schweiz, Einsiedeln: Benziger, 1966.
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zur Wehr zu setzen. Die antropozentrisch orientierten Wissenschaften bildeten gewissennassen einen Gegenpol zur zerstõrerischen, wilden Macht der Natur. Der Gedanke, die Natur um ihrer selbst willen zu schützen, ware damals noch vollig absurd gewesen. Katastrophen und andere menschheitsbedrohende Naturereignisse galt es demnach zu erkennen und in der Folge nach Moglichkeit zu verhindern oder mindestens einzudammen. Durch das Erkennen von Zusammenhangen und Gesetzmassigkeiten konnte das menschliche Handeln immer mehr Einfluss auf die Natur nehmen. Es kam nun zwar niemand mehr auf die Idee, einen Vulkanausbruch verhindern zu wollen, aber man begann ganz gezielt, und nicht selten mit einem verblüffenden Selbstvertrauen in das menschliche Tun, Gefahren systematisch einzudammen und so die Risiken zu vennindern. Sehr anschaulich illustrieren lasst sich dieser Wandel an der Entwicklung der Korrektionen an Fliessgewassern und Seen in der Schweiz. Der grosste Teil der Bache und Flüsse ist seit dem 18. J ahrhundert korrigiert worden. Mit dem Ziel, die umgebenden Siedlungen und Kulturen und damit die Bewohner und Bewohnerinnen vor Überflutungen zu schützen, aber auch in der Absicht Sumpfgebiete trockenzulegen, um Seuchen und Epidemien einzudammen, wurden die WasserHiufe begradigt und ihre Ufer befestigt. Ferner wurden zahlreiche grosserer Flüsse in Seen umgeleitet und deren Abflüsse zusatzlich reguliert. So entstand beispielsweise zwischen 1807 und 1827 der Linthkanal, der die Linth, statt in die regelmassig überschwemmte Ebene hinaus, direkt in den Walensee leitete. Was diese «Korrektur» für die Leute von damals bedeutete, schildert ein Zitat von Roemer3 zu Beginn unseres Jahrhunderts: «Die Linthlandschaft zeigt uns das Werk der grossten Wasserkorrektion der Schweiz. Hier zog der Fluss seine unsteten Serpentinen, heute steckt er in den Zwangsjacken fester Kanale. Die gerade Richtungslinie der letztern wird vom alten, zum Teil schon aufgefüllten Flussbette 15 mal geschnitten. Die Wasserwillkür der freien Linth ist aufgehoben und ersetzt durch den Wassergehorsam. Noch in keinem Teile unseres Vaterlandes wurde der Kampf des Menschen gegen die Natur so gründlich geführt wie in unsenn Gebiete. Die Technik hat hier die gewaltigste Macht der Natur, das Wasser, bezwungen.» Mit der fortschreitenden industriellen Entwicklung haben jedoch die Zielobjekte für katastrophenartige Ereignisse enonn zugenommen, die Verletzlichkeit des Systems ist immer grosser und das Freihalten von gefãhrdeten Raumen immer schwieriger geworden. In der Schweiz haben Raumplaner in theoretischen Modellen das Land bereits aufgeteilt in eine Stadt «Mittelland» und einen Freizeitpark «Alpen». lndem zur Befriedigung von Platzansprüchen der Siedlungsraum nicht nur verdichtet, sondern auch sehr stark ausgeweitet
3
Roemer, A.: Durch Natur und Kultur bedingte landschaftliche Veriinderungen im unteren Linthgebiete, Diss. der Universitat Zürich: St. Ga11en, 1918. 206
wird, hat der Mensch das Gefahrenpotential für natürliche Katastrophen deutlich erhõht. 2.2. Die «gottgegebene» und die selbstgemachte Katastrophe Zu den Naturgefahren sind die zivilisationsbedingten Katastrophen dazugekommen. Bereits in der Antike wurden in unsinniger Weise weite Küstenregionen des Mittelmeerraums abgeholzt, so dass sich vielerorts die Walder nie mehr regenerieren konnten. Offenbar haben es bis heute die wenigsten Kulturen verstanden, ab einem gewissen Entwicklungsgrad sich einen nachhaltigen Umgang mit den eigenen Ressourcen anzueignen. Durch den enormen technischen Fortschritt sind wir aber heute, im Gegensatz zu früher, mit einer ganz anderen Situation konfrontiert. Wenn man bis in die Mitte unseres Jahrhunderts, abgesehen von kriegsbedingten Katastrophen, nahezu ausschliesslich natürlichen Bedrohungen, wie Erdbeben, Überschwemmungen, Bergstürzen usw. ausgesetzt war, so hat uns nun der eigene Fortschritt mit einer Vielzahl selbstgemachter Gefahren eingeholt. Es liesse sich an dieser Stelle eine beinahe endlose Liste von lebensbedrohlichen Szenarien aufstellen, welche auf Unwissenheit oder Fehler und Nachlassigkeit im menschlichen Handeln zurückzuführen sind. Das Spektrum reicht vom Verkehrsunfall über Grossbrande und Giftgasaustritte bis hin zum grõssten anzunehmenden atomaren Unfall (GAU). Der grõsste Unfall dieser Art in der Geschichte der Menschheit war die Explosion des Blocks 4 im Kernkraftwerk von Tschernobyl in der Nacht vom 26. April 1986, in dessen Folge ein Gebiet von hunderten von Quadratkilometern rund um den Reaktor verseucht wurde und sich die austretende Radioaktivitat innerhalb weniger Tage über ganz Nord- und Mitteleuropa ausbreitete. Wesentlich weniger dramatisch, aber doch ein treffendes Beispiel dafür, wie sich der Fortschritt auch schon mal in den eigenen Schwanz beisst, ist der sogenannte «Millennium Bug», der grosse Computer-Crash zum Jahrtausendwechsel. So wie die Computerlandschaft heute aussieht, werden weltweit ungezahlte Rechner den Datumswechsel auf den 1. Januar 2000 nicht richtig vollziehen, sondern auf den 1. 1. 1990 oder noch ein absurderes Datum springen. Es ist ein leichtes sich vorzustellen, was für ein Debakel ein derartiger Fehler etwa bei Banken oder Versicherungen zur Folge haben wird. Im Zahlungsverkehr, bei Versicherungspolicen, oder anderen computergesteuerten Systemen, die auf genaue Zeit- und Datumsangaben angewiesen sind, wird die Welt ziemlich in Schraglage, wenn nicht sogar ganz aus den Fugen geraten, wenn bis dahin nicht alle notwendigen Massnahmen zur Behebung des Problems getroffen werden kõnnen. Weniger spektakular, dafür mit einem betrachtlich grõsseren Risikopotential behaftet, sind langsame, schleichende Veranderungen in der Umwelt, welche auf das menschliche Handeln zurückzuführen sind. Verheerend daran ist, dass sie vom einzelnen nicht spürbar wahrgenommen werden kõnnen und 207
uns nur über die Medien vermittelt werden. Wenn in den achtziger Jahren das Waldsterben von einem geübten Beobachter noch als solches erkannt werden konnte, so sind heute klimatische Veranderungen oder die unmittelbaren Auswirkungen einer Bevõlkerungsexplosion allein mit unserem Sinnesapparat nicht mehr wahrnehmbar. Hier kommt somit die Forschung zum Zug, indem Veranderungen in der Umwelt mit zum Tei1 hochtechnisierten Methoden erfasst werden. Womit allerdings die Probleme erst beginnen, denn angesichts der enorm komplexen Zusammenhange und dynamischen Wechselwirkungen herrschen in der Wissenschaftswelt und erst recht in Politik und Gesellschaft bedenkliche Meinungsverschiedenheiten darüber, wie sich gewisse Parameter in Zukunft entwickeln und we1che Auswirkungen bestimmte Veranderungen mit sich bringen werden. So sehr die apokalyptische Okokatastrophe prophezeit wird, so fleissig werden diese Prognosen von profitierenden Interessengruppen bagatellisiert. Die grosse U neinigkeit allein unter Forschern und Forscherinnen erõffnet nicht zuletzt auch den Medien einen weiten Spielraum zur Interpretation und Meinungsbi1dung, was ebenfalls zur Unsicherheit in der Bevõlkerung beitragt. 2.3. Betroffenheit und Akzeptanz Wahrend die Wissenschaft nach Ursachen und Zusammenhangen sucht, bemühen sich vor allem die Techniker und Ingenieure darum, errungene Erkenntnisse umzusetzen, um unter anderem gegen Bedrohungen aller Art anzugehen und sie nach Mõglichkeit aus der Welt zu schaffen oder wenigstens einzudammen. Was sie dann allerdings tatsachlich bekampfen, wird zu einem grossen Tei1 von aussen, das heisst von Politik und Gesellschaft bestimmt. Dabei ist einer der wichtigsten, bestimmenden Faktoren die Akzeptanz in Bezug auf bestimmte Bedrohungen. Weil sich unser subjektives Empfinden nicht immer mit dem tatsachlichen Potential bestimmter Gefahren deckt, werden zum Beispiel bei weitem nicht die grõssten Gefahren für unseren Planeten mit dem grõssten Aufwand bekampft. Da ist zunachst die physische Betroffenheit zu nennen: Ein Erdbeben, das eine Gegend heimsucht, wird von den betroffenen Menschen als schlimmere Katastrophe wahrgenommen, als ein unsichtbarer, radioaktiver Niederschlag in der Folge eines Reaktorunglücks, obwohl dessen Langzeitschaden mindestens genauso verheerend sind. Ebenso ist es ein grosser U nterschied, ob man ein Unglück lediglich in den Medien verfolgt, oder als Opfer unmittelbar dabei ist. Aber auch zeitliche Aspekte spielen eine wichtige Rol1e, wenn es darum geht, eine Bedrohung zu akzeptieren oder Massnahmen dagegen zu ergreifen. So lasst sich ein für eine unbestimmte Zukunft prognostiziertes Unglück leichter aus dem Bewusstsein verdrangen, als ein unmittelbar bevorstehender Bergsturz. Aber auch in Bezug auf die Vergangenheit funktioniert unser Bewusstsein sehr selektiv. Positive Erinnerungen werden viel grosszügiger 208
gespeichert als negative und die Schwãrmerei von der «Guten alten Zeit» ist im Gegensatz zur Auseinandersetzung mit dunkleren Seiten unserer Vergangenheit um einiges bequemer. Das Vergessen erfolgt im Zusammenhang mit Unglücken und Katastrophen - vor allem bei selber verschuldeten - entsprechend schnell, im Schnitt reichen 25 Jahre aus, um Erinnerungen zu lõschen und alte Fehler zu wiederholen. Bei der Schadensbekampfung wird unter anderem auch diesem Umstand Rechnung getragen. So sind es beispielsweise beim Hochwasserschutz nicht nur technische oder wirtschaftliche Faktoren, die das Ausmass an Vorkehrungen bestimmen, sondern eben auch die geistige Halbwertszeit. Die Dimensionierung von Schutzbauten gegen Überschwemmungen ist entsprechend abhangig von der Eintrittswahrscheinlichkeit von Hochwasserereignissen, welche je nach Schutzwürdigkeit der betroffenen Objekte (Siedlungsraum, Verkehrswege etc.) im aussersten Fall hundert, meist aber auch nur fünfzig oder noch weniger Jahre betragt4 . Weiter stehen unsere A..ngste und Emotionen selten im Verhaltnis zu den mõglichen Auswirkungen eines befürchteten Unglücks, womit auch unser Handeln stark von unserem psychischen Befinden gesteuert wird. Besonders auffallend ist dies bei Krankheiten oder anderen Veranderungen, die unseren Kõrper betreffen, wie zum Beispiel dem Alterungsprozess. Wenn dann zusatzlich noch Intimspharen, wie etwa die Sexualitat mit ins Spiel kommen, werden wir besonders sensibel. Dies ist sicher mit ein Grund, warum einerseits kein Aufwand gescheut wird, um die Ausbreitung der Immunkrankheit AIDS zu bremsen, andererseits aber die Zunahme von Hautkrebserkrankungen in Australien vergleichsweise wenig in Bewegung zu setzen vermag. Dabei gibt es keinen Grund, eine der beiden Krankheiten als gravierender einzuschatzen, es ist lediglich so, dass bei letzterer der Kausalzusammenhang mit dem Ozonloch und der daraus resultierenden hõheren Sonneneinstrahlung weniger offensichtlich ist. Damit erõffnet sich ein weiterer Problembereich: Je schwerer verstandlich die Zusammenhange und je komplexer die Ursachen einer Bedrohung - man denke entsprechend an Klimaveranderung und Ozonloch - um so mehr haufen sich die Fragen und U nsicherheiten in der Forschung und erst recht in der Gesellschaft, welche dadurch beide nahe an die Grenzen ihres Handlungsspielraums zu geraten drohen. Welche Gefahren in welchem Umfang bekampft werden, ist daher auch ei ne Frage der Machbarkeit, die von den technischen Mõglichkeiten, dem Wissensstand, dem politischen Spielraum und wirtschaftlichen Faktoren abhangt. Man lotet den Aktionsraum aus, der offen ist, um Bedrohungen abzuwenden. Ist dieser zu klein, so ist der Mensch ein ausgesprochener Meister im 4
Jaggi, Martin: Sicherheitsüberlegungen im Flussbau, in: Wasser, Energie, Luft 80/9 (1988), S. 193 - 197.
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Verdrangen und Ignorieren. Ein ideales Beispiel dafür ist die Gefahr einer Kollision unseres Planeten mit einem Meteoriten. Seit jeher befindet sich die Erde unter unabHissigem Beschuss aus dem All und seit Beginn der menschlichen Ku1tur gibt es Szenarien über Zusammenstõsse mit Meteoriten oder vergleichbaren Himmelskõrpern. Aber so faszinierend das Thema ist, so konsequent wird es aus unserem Bedrohungskatalog verdrangt. Wer würde es schon ausha1ten, taglich daran denken zu müssen, dass bereits morgen ein Brocken aus dem All das Ende bedeuten kõnnte? Wenn in der Endzeitvision der Apokalypse die Sterne noch auf gõttlichen Befehl hin vom Himmel gefallen sind5 , so beschaftigen sich heute die Astronomen auf wissenschaftlicher Ebene und im Auftrag von Regierungen mit der Impakt-Wahrscheinlichkeit sogenannter NEO~s (Ne ar Earth Objects). Immerhin ereignen sich alle paar hundert Jahre Zwischenfalle, wie jener von 1908, als die Explosion eines Himmelskõrpers über Sibirien 2000 km 2 Wald verwüstete, oder im Marz 1989, als ein grõsserer Asteroid in 700~000 Kilometer Entfernung an der Erde vorbei raste und uns nur um wenige Stunden verpasste. Ein Meteoriteneinschlag, der eine Katastrophe im Stil eines nuklearen Winters bewirken würde, ist allerdings nur zwei bis drei Mal in einer Million Jahren zu erwarten. 6 Zwar werden sowohl in Russland, wie in den USA auf hõchster Regierungsebene Plane geschmiedet, wie man mit Hilfe von Raumfahrttechnologie und nuklearen Sprengsatzen die Erde vor unerwünschtem Besuch schützen kõnnte. Angesichts der teilweise noch ziemlich futuristisch anmutenden Ideen und der Erkenntnis, dass wir uns nie vor allen Gefahren werden absichern kõnnen, ist es vorderhand aber sicher naheliegender und einfacher, die Bedrohung als so1che zu akzeptieren, indem wir lernen, mit ihr zu leben. 2.4. Phantasie und naturwissenschaftliche Objektivitat Apokalyptisches Denken bleibt uns somit trotz aller Katastrophen, die sich immer wieder um uns herum ereignen, grundsatzlich fremd. Und doch kõnnen wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass zu unserer menschlichen Situation auch apokalyptische, millenaristische Erwartungen gehõren. Auch wenn die Kollision mit Meteoriten kein alltagliches Thema ist, sind wir doch immer wieder offen für den Kitzel, den solche Geschehnisse hervorzurufen vermõgen. Etwa wie 1997, als der Komet Hale-Bopp unser Sonnensystem durchquerte und am 24. Marz mit 200 Mi1lionen Kilometern Abstand die Erde passierte. Bis in unsere an sich doch recht aufgeklarte Zeit hinein sind spektakulare Katastrophenszenarien stets ein beliebtes Thema geblieben. Schõne Beispiele 5
Offenbarung des Johannes 8, 10: «Dann blies der dritte Engel seine Posaune. Ein grosser Stem, der wie eine Fackel brannte, stürzte vom Himmel.»
6
Grieve, R.A.F.: Impact cratering on the Earth, in: Scientific American 262 (1990), S. 66 -73.
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liefern unter anderen der Pastor Louis Vortisch7 von Satow in Mecklenburg und der Psychoanalytiker Immanuel Velikovsky8, dessen 1950 erschienenes Buch «Welten im Zusammenstoss» bis heute Neuauflage um Neuauflage erlebt. Im Abstand von hundert Jahren postulierten beide, dass ein Himmelskõrper, in nicht a11zu ferner Vergangenheit unseren Planeten mit kleinstmõglichem Abstand gekreuzt oder gar gestreift und diesen in der Folge ordentlich aus dem Gleichgewicht gebracht haben sol1. Mit dramatischem Unterton und grossem wissenschaft1ichen Ernst schildert der naturwissenschaftlich versierte Pastor Vortisch, wie die gravitativen Krãfte eines unbekannten, kosmischen Projektils von gewaltiger Masse der Erde grosse Teile der Atmosphare entrissen, die Ozeane durcheinander gebracht, ja sogar ganze Gebirge versinken und neu entstehen lassen haben sol1en. Darüber hinaus vermag das Mode11 sogar die Ursachen für Artensterben, Eiszeiten und andere erdgeschichtliche Katastrophen zu liefern. Nicht weniger abstrus geht es aus heutiger, naturwissenschaftlicher Sicht bei Velikovsky zu und her. Die Bibel beim Wort nehmend, kommentiert er die wundersamen Ereignisse im Kampf von Josua gegen den Kanaaniterkõnig in einem neuen Licht. Wie ein kosmischer Rãcher habe in der Mitte des zweiten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung ein Komet die Erde gestreift und für kurze Zeit zum Stillstand gebracht. Das abrupte Bremsmanõver habe dann ãhnlich wie nach Vortisch das Meer zum Kochen gebracht, Gebirge versinken lassen und Wãlder in Brand gesteckt. Den Feinden Israels schliesslich habe der Steinhagel aus dem Kometenschweif den vernichtenden Schlag versetzt. Angesichts aU dieser menschlichen UnzuHi.nglichkeiten im Umgang mit der Katastrophe bemüht sich die N aturwissenschaft wenigstens im Rahmen ihrer methodologischen Mõglichkeiten um Objektivitãt. Zumindest vermag sie einigermassen zu unterscheiden zwischen objektiven Bedrohungen, den selbstgemachten Katastrophen und menschlichen Phantastereien. Wer direkt von einem Unglück betroffen ist hat noÍmalerweise eine andere Sicht der Dinge als ein Aussenstehender. Gerade Forscher und Forscherinnen befinden sich hãufig in dieser - teilweise voyeuristischen - Situation des externen Beobachters , was a11erdings notwendig ist für die Erlangung objektiver Erkenntnisse. Nur mõglichst emotionslose Sachlichkeit vermag eine neutrale Einschãtzung von Katastrophen zu gewãhrleisten. Wie weit die Wissenschaft dieser Forderung angesichts ihrer eigenen Befangenheit tatsãchlich nachkommen kann, ist eine andere Frage. In jedem FalI gelingt es ihr nicht selten, auf diese Weise verschiedene Katastrophenereignisse in einen grõsseren Zusammenhang zu stelIen und
7
Vortisch, Louis: Die Jüngste Katastrophe des Erdballs. Ein geologischer Versuch, Braunschweig, 1852.
8
Velikovsky, Immanuel: Welten im Zusammenstoss, Frankfurt am Main: Umschau, 1978.
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verhaltnismassig komplizierte Weehselbeziehungen zu entsehlüsseln, wodureh die Bedeutung eines einzelnen Unglüeks oft stark relativiert wird. 2.5. Die Sache mit dem Massstab Für uns Mensehen sind Zeitbegriffe wie Gestern, Heute, Morgen begreifbar, aueh mit einzelnen Jahren bis zu Jahrhunderten kõnnen wir reeht gut umgehen, wobei allerdings das Erinnerungsvermõgen bereits bei wenigen J ahrzehnten ersehõpft ist. In den Naturwissensehaften dagegen wird oft mit Zeitraumen gehandelt, für die es in unserem Alltag keinen Bezug gibt. Eine Atomuhr, der Resonanz der hoehfrequenten Sehwingungen des Casiums (oder anderer Atome) gehorehend, lauft mit einem Fehler von weniger als einer MillionstelSekunde pro Jahr, wahrend sich die Erdwissensehaftler und Astrophysiker auf ihren geistigen Reisen dureh die Erdgesehichte mit Tausenden von Jahrmillionen befassen. Beide Zeitangaben sind, gemessen an mensehliehen Massstaben, nicht mehr naehvollziehbar und do eh sin d sie unabdingbar, um unsere eigene Existenz als Teil eines grõsseren Zusammenhangs zu verstehen und einmal aus einem etwas anderen Bliekwinkel zu betraehten. Die folgende Auflistung sol1 diesen Umstand ein wenig erlautem: Die Erde existiert seit ea. 4'500 Millionen Jahren. Das Universum, beziehungsweise der Beginn des Urknall s, wird knapp auf das doppelte Alter gesehatzt. Die Dinosaurier sind vor 60 bis 65 Millionen Jahren ausgestorben. Der Menseh hat auf der Erde Gastreeht seit 1.5 Millionen Jahren (hama erectus), was gemessen am Alter der Erde lediglieh 0.03% ausmaeht. Für hama sapiens verbleiben nur noeh 100'000 Jahre und seit Christi Geburt sind wir gerade einmal die hundertste Generation. So gesehen werden Katastrophen, die uns in unserem Umfeld mehr oder weniger existentiell bedrohen, zu eher vernaehlassigbaren Episoden deklassiert. All die Erdbeben und Vulkane, we1che unseren Planeten ins Sehwanken bringen und die Hitze des Erdinnem an die Oberflaehe ergiessen, vermõgen niemals das irdisehe Leben emsthaft zu gefahrden; wohl kõnnte dureh aussere Einflüsse oder das mensehliehe Handeln das Leben im aussersten FalI in radikaler Weise ausgerottet werden, aber aueh herunterstürzende Meteorite und selbst das Risiko «Menseh» werden die Erde kaum aus den Angeln heben. Führt man diesen Gedankengang konsequent weiter, selbst auf das Risiko hin, statt in philosophisehe Hõhen zu gelangen, lediglieh in den Niederungen des Zynismus zu landen, lasst sieh sogar die Frage stellen, ob es denn überhaupt eine Katastrophe gibt? Die Katastrophe für die Mensehheit ware ja demnaeh gerade noeh ein unumgangliehes Artensterben im Lauf der Erdgesehiehte. Mit der Vemiehtung des Lebens hingegen würde die Erde zu einem Mars-ahnliehen Planeten und dureh die grosse kosmisehe Kollision entstünde nur ein weiterer, vernaehlassigbarer Asteroidenhaufen in unserem Sonnensystem. Und
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wenn mit dem Urknall auch die Zeit entstanden sein sollte, dann ware die endgültig letzte Katastrophe für das Universum wohl das Stillstehen der Uhren 9 .
3. Die Endzeitstimmung in den Naturwissenschaften
3.1. Der Wandel in den N aturwissenschaften Die Methodik und Ziele der naturwissenschaft1ichen Forschung haben sich im Verlauf der Zeit, von den Naturphilosophen bis heute mehrfach gewandelt. Wãhrend Jahrhunderten hat die naturwissenschaftliche Forschung ihre Aufgabe im Ordnen einer N atur gesehen, we1che in einer hõheren, für den Menschen noch nicht erkennbaren Ordnung gründete. Die Biologen entdeckten die Systematik in Tier- und Pflanzenwelt, die Geologen ordneten die erdgeschichtlichen Epochen, die Geographen haben die weissen Flecken auf den Landkarten getilgt und die Chemiker waren eifrig auf der Suche nach den Elementen. Erst in jüngerer Zeit begannen die Forscher, abgesehen von den Physikern, we1che ihre Untersuchungen schon immer auf der Grundlage von Modellen durchführten, vermehrt prozessorientiert zu arbeiten und Prognosen zu stellen. Vor allem der Computer erõffnete neue Betãtigungsfelder, indem Dinge und Vorgãnge, we1che bisher über die empirischen Methoden nicht zugãnglich waren, mittels Simulationen begreifbar wurden. Je tiefer man in den verschiedenen Fachbereichen in die Details eintauchte, je genauer man in die Materie eindrang, um so deutlicher wurde, dass in der Natur vieles nicht dem menschlichen Wunsch nach Ordnung entsprach und die Zusammenhãnge um ein Vielfaches komplexer waren als erwartet. Einen wesentlichen Beitrag zum Umdenken lieferte dabei die Chaostheorie, we1che nicht-linear ablaufende Prozesse untersucht. Am oft zitierten Beispiel vom Flügelschlag des Schmetterlings über dem Indischen Ozean, der den Wettersturz in Mitteleuropa verursacht, wird deutlich, wie einschneidend diese Wende war und was für ein Umdenkprozess für die Forscher und Forscherinnen notwendig wurde. Seit den We1tkriegen ist zudem eine weitere Neuerung in den Naturwissenschaften auszumachen: Die Erkenntnis des Universums ist nicht mehr einziges, hehres Ziel, das die Gemeinschaft der Forschenden unisono verfolgt, es geht nun plõtzlich auch um das Schaffen von Neuem - ein Wandel vom Beschreiben zu vermehrtem Prognostizieren und sogar Kreieren hat stattgefunden. Was früher eher den A1chimisten vorbehalten war, ist seit einigen Jahrzehnten auch Sache der naturwissenschaftlichen Forschung geworden. Neue Wissenschaftszweige wie zum Beispiel die Halbleiter- oder Gentechnolgie erõffnen mit einer ungeheuerlichen Rasanz immer neue Perspektiven für Forschung und Umwelt. 9
Weinberg, Steven: Die ersten Drei Minuten. Der Ursprung des Universums, München, Zürich: Pieper, 1977.
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Dass wir dabei mit unserem Auffassungsvermõgen an Grenzen stossen, sol1 das folgende Beispiel verdeutlichen. Eine Veranderung der erblichen Eigenschaften, welche ei ne Umwandlung der Gestalt, Funktion oder Lebensweise eines Organismus bewirkt, erfolgt weitgehend aufgrund von Mutationen. Diese treten in der N atur spontan auf, wobei sich ihre Haufigkeit nur schlecht abschatzen lasst. Man geht davon aus, dass bei hõheren Lebewesen die Mutationsrate 10-5 (1 : 100"000) pro Gen und Generation betragt. Bei ein paar tausend Genen und der Tatsache, dass Homo sapiens seit hõchstens 7500 Generationen auf diesem Planeten weilt, ist das nicht übermassig haufig. Ferner bringt eine Mutation in einer gegebenen Umweltsituation nur selten einen Selektionsvorteil mit sich. Die Natur beansprucht daher selbst für kleine Evolutionsschritte Jahrtausende bis Jahrmillionen. In der Biotechnologie hingegen kõnnen heutzutage gleichartige Ãnderungen mittels direkter Eingriffe in die Keimbahn von Organismen in der Grõssenordnung von Stunden vorgenommen werden. Die Forscher haben sich damit in gewisser Weise selber zu Schõpfern gemacht. Durch das Kreieren sind Wissenschaft und Technik verschmolzen und aus der Biologie wurde folgerichtig die Biotechnologie. Die zeitliche und auch raumliche Distanz zwischen der Arbeit der Grundlagenforschung und der praktischen Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse ist damit heute weitgehend entfallen, womit aber nun der Raum fehlt, welcher bisher dazu notwendig war, um gewisse Gedanken, Ideen und Visionen reifen zu lassen und auf ihren Nutzen für das Gemeinwohl hin zu prüfen. Die Mõglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung und die globale Vernetzung schliesslich haben die Entwicklung zusatzlich beschleunigt, womit es für den Einzelnen (selbst wenn sich dieser zu den Spezialisten zahlen darf) schwierig geworden ist, den Anschluss nicht zu verlieren. Es ist einleuchtend, dass diese Veranderung sowohl das Potential für neue Chancen wie auch für neue Risiken in sich birgt. Entsprechend ausgepragt ist die Polarisierung der Meinungen bezüglich Gefahr und Nutzen neuer Technologien in Politik und Gese11schaft. Befürworter sehen darin einen wichtigen Beitrag zum Schutz, Wohl und Fortschritt der Menschheit, wahrend die Gegner bevorzugt ein Bild des blindwütig, in materialistischer Manier drauflos forschenden Wissenschaftlers malen, der einzig quantitative Ziele verfolgt, ohne Skrupel vor den mõglichen Folgen seines Tuns und ohne ethische Reflexionen darüber anzuste11en. 3.2. Die Müdigkeit der Gesellschaft gegenüber der Forschung Zwar laufen auch zahlreiche Bestrebungen, welche nicht nur im wirtschaftsliberalistischen Sinn das Wachstum fõrdern, sondern unmittelbar zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen. Die Suche nach erneuerbaren Energiequellen ware in diesem Zusammenhang zu nennen. Doch führen solche Forschungszweige eher ein Schattendasein gegenüber «trendigen» und gewinn214
trãchtigeren Technologien. Tatsache ist, dass breite Kreise der BevOlkerung angesichts der Komplexitãt von õkologischen und õkonomischen Zusammenhãngen endgültig den Überblick über das Geschehen in der Forschung verloren haben und daher auch nicht mehr wertend darüber urteilen kõnnen. Die naturwissenschaftliche Forschung wird deshalb heute in weiten Kreisen eher als Bedrohung denn als Segen gesehen. Was eine Minderheit unablãssig an neuen Rea1itãten schafft, überfordert die Mehrheit der Menschen, welche den Wandel in einer derartigen Schnelligkeit in ihrem Alltag nicht mehr bewãltigen kõnnen. Die Begriffe «Atom» und «Gen» verbreiten mehr Unsicherheit und Angst, als die dahinterstehenden Technologien je zu einem nachhaltigen Fortschritt werden beitragen kõnnen. Der Glaube an die Wissenschaft ist der Müdigkeit, dem Überdruss ihr gegenüber gewichen. Es scheint ein Zustand der Langeweile und der Gleichgültigkeit als Folge der Sinnentleerung zu herrschen, da uns die eigene, explosive Entwicklung überholt und in unserer Unbeholfenheit s~ehen gelassen hat. Was die Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft betrifft, so sind die kleinen Entdeckungen für den Grossteil der Menschen nicht interessant, wogegen die grossen um so mehr Verunsicherung und Angst verbreiten. Mancher und manche fühlt sich von den Fortschritten der Forschung abgehãngt, man kann nicht mehr mitreden, denn es fehlt an den jeweils notwendigen Argumenten. Die Sache ist weitgehend über die Kõpfe hinausgewachsen. Wen wundert es, dass zum Jahrtausendwechsel nicht wenige ihr Verlangen nach Esoterik und Mystik ausleben. Religiõse Gemeinschaften aller Prãgungen haben Zulauf wie schon lange nicht mehr. Deren Grundlagen sind zwar oft nicht rational erfassbar, dafür sind ihre Glaubensbekenntnisse um so unverrückbarer. Offenbar ist es einfacher, sich in einem Umfeld mit fest umrissenen Wertvorstellungen zu bewegen, als sich mit einer Gesellschaft auseinanderzusetzen, die in beinahe allen Bereichen von den Auswirkungen einer kaum mehr kontrollierbaren Wissenschaft und der mit ihr verbündeten Technologie geprãgt ist. . 3.3. Wie müde ist die Wissenschaft? Ganz im Gegensatz zum oben Gesagten, gibt es in den Naturwissenschaften gelegentlich aber auch Spuren von Müdigkeit oder gar Langeweile zu erkennen. Da ist zunãchst die unglückliche Konstellation zwischen Forschungsgeld und Forschungsaufwand. So fliessen in Zeiten der knappen Kassen die Gelder nur sehr widerwillig, wãhrend gleichzeitig in bestimmten B ereichen , wie etwa der Teilchenphysik, der Kostenaufwand unverhãltnismãssig steigt, um noch irgendwelche Fortschritte erzielen zu kõnnen. Die Geldgeber ihrerseits schüren die Skepsis in der Gesellschaft gegenüber wissenschaftlichen Grossprojekten. Der Anspruch, allein um der Erkenntnis willen forschen zu kõnnen, ist nicht mehr unbestritten und insbesondere die Grundlagenforschung muss - wenn man für einmal die Biotechnologie ausklammert - dementsprechend mit grossem 215
Einsatz um ihre Berechtigung kampfen. Damit dreht man sich in einem Teufelskreis, was für die Motivation in der Wissenschaft gewiss nicht torderlich ist. Schliesslich gibt es sogar Leute wie den Wissenschaftsjournalisten John Horgan 10, der prophetenhaft das Ende der Wissenschaft heraufbeschwort. Gemass seiner Analyse verlangsamt sich die Entwicklung stetig, da kaum mehr Fortschritte erzielt würden und wenn, dann nur sehr geringfügige. Die Wissenschaften würden auf diese Weise lediglich noch die Grenzen ihres Forschungsgegenstandes ausloten, nicht aber weiter hinausdrangen und befanden sich damit sozusagen am Anfang vom Ende. Zum Beweis führt er verschiedene Beispiele an: Die Heisenbergsche Unschãrferelation ll sei nichts anderes als ein Eingestandnis der Begrenztheit der Erkenntnis des Mikrokosmos, ebenso wie unser Gehirn nicht im Stande sei, die Komplexitat unseres eigenen neuronalen Erkenntnisapparates zu erfassen. Die Chaos- und Komplexionsforschung führe uns schliesslich die Grenzen unserer Prognosefahigkeit vor Augen. Für die Physik mogen solche Vermutungen. zumindest teilweise angebracht sein, denn hier scheint sich die Forschung am Ende des 20. Jahrhunderts tatsachlich an einer Schwelle zu befinden. Besonders in der Teilchenphysik besteht eine Kluft zwischen Theorie und Experiment. Dank immer grosserer Rechenkapazitaten gelingt es den Theoretikern zwar, die bestehenden Modelle immer mehr zu verfeinern, doch scheint es in Ermangelung neuer experimenteller Erkenntnisse nicht moglich zu sein, diese zu erweitern. Die Situation ist vergleichbar mit derjenigen zu Beginn unseres Jahrhunderts. Auch damals glaubte man an einem Endpunkt der Erkenntnis angelangt zu sein, bis unter anderem der dãnische Physiker Bohr 1913 mit seinem neuen Atommodell eine Wende einleitete und damit den Weg für die moderne Quantenmechanik bereitete. Dies zeigt, dass der Fortschritt in der Wissenschaft im Verlauf der Geschichte nicht monoton, sondern unstetig und sprunghaft verlãuft. Es ist somit ein Kurzschluss, von einer gegenwãrtig herrschenden Erkenntnis-Flaute direkt auf eine Endzeitstimmung schliessen zu wollen. Horgen führt dagegen noch ein weiteres Argument für die These vom Ende in den Wissenschaften auf: Der wissenschaftliche Fortschritt sei verhindert, wei1 die heutigen Forscher an einer notorischen Einflussangst vor grossen Vorbildern wie Einstein, Newton und zahlreichen anderen herausragenden Kopfen der Wissenschaftsgeschichte leiden würden.
10
Horgan, John: An den Grenzen des Wissens. Siegeszug und Dilemma der Naturwissenschaften, München: Luchterhand, 1997.
11
Die Heisenbergsche Unscharferelation beschreibt die Tatsache, dass Ort und Geschwindigkeit eines Elementarteilchens (z.B. Elektron) prinzipiell nicht gleichzeitig mit beliebiger Genauigkeit angegeben werden konnen. Gemass diesem physikalischen Modell besitzt ein Teilchen daher neben seiner korpuskularen Natur auch einen Wel1encharakter.
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Offensichtlich nicht bedacht bei seinen Ausführungen hat Horgan, dass am Ende des 20. Jahrhunderts der wissenschaftliche Fortschritt nicht mehr wie vor 200 Jahren von einzelnen Universaldenkern bestritten wird, sondern nahezu ausschliesslich das Werk von Forschungsgruppen ist. Entsprechend wird es heutzutage bereits als kleiner Skandal empfunden, wenn etwa ein Nobelpreis für Medizin nur an ei nen einzelnen Forscher verliehen wird. Der Fortschritt wird vom Kollektiv bestritten und die einzelnen Errungenschaften sind nicht selten zu komplex, als dass ihre Bedeutung in den Wissenschaftsbeilagen der Presse als solche erkannt werden. Und vermutlich ist unsere Zeit auch zu ungeduldig und von den Medien verdorben, um auf spektakulare Neuerungen zu warten, was zum Teil auch eine Folge der Entwicklung in der ComputerTechnologie sein mag: Gestern gekauft - heute schon veraltet. Schliesslich liegen zwischen Newton und Einstein auch nahezu dreihundert Jahre, so dass man angesichts der Langsamkeit der menschlichen Synapsen gut noch ein paar Jahre bis zur nachsten wissenschaftlichen Sensation warten kann. Wie es nun tatsachlich um die Motivation in den Naturwissenschaften steht, ist nicht einfach mit zwei, drei Klischees darzulegen. Es ist vor allem nicht oportun, sãmtliche Fachbereiche zusammengefasst zu beurteilen, denn wahrend beispielsweise die Physik am Ort zu treten scheint, oder die Erdwissenschaften im Schatten der Plattentektonik auf grosse Neuerungen warten, erlebt die Forschung im Umfeld der Biotechnologie einen nie gekannten Aufschwung. Eine Endzeitstimmung in der Wissenschaft kann daher nur ein untergeordnetes, ein vorübergehendes Phanomen sein, das bestenfalls zum Zeitgeist der Jahrtausendwende passt und daher gerne postuliert wird. Dabei wird oft ausser Acht gelassen, dass die Festlegung auf die Jahreszahl 2000, nüchtern betrachtet, rein willkürlich ist. Ihre Bedeutung beschrankt sich auf die christliche Welt, etwa so wie die Hõhenangabe von 8000 Meter nur bei europaischen Alpinisten Emotionen zu wecken vermag, wãhrend es für einen angelsachsischen Kletterer kaum einen besonderen Ansporn geben kann, einen Gipfel mit einer Hõhe von über 26'246 Fuss zu besteigen. In den Naturwissenschaften kann eine Jahreszahl daher für die Motivation nicht von Bedeutung sein. Eine betrübte Stimmung mag auch ganz einfach Ausdruck des Pessimismus vereinzelter, ausgebrannter Intellektueller sein, denen die Zukunftsperspektive abhanden gekommen ist, ahnlich dem Mathematiker Joseph-Louis de Lagrange, der im ausgehenden 18. Jahrhundert das Ende seines Faches gekommen sah, obwohl sich gerade das folgende 19. Jahrhundert für die Mathematik zu einer blühenden Epoche entwickelte 12 . Es entspricht nicht unbedingt dem Wesen des Menschen, einen kontinuierlichen Lauf der Dinge anzustreben. Der Anfang von etwas võllig Neuem und das endgültige Ende treiben uns allemal mehr an als die Aussicht auf eine 12
Wussing, Hans; Amold, Wolfgang (Hg.): Biographien bedeutender Mathematiker. Eine Sammlung von Biographien, Berlin: Volk und Wissen, 1989.
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gemachliche Entwicklung. Oder anders formuliert: Die Angst vor der Langeweile ist ein hochst zuverlassiger Motor. In der Hoffnung auf den grossen Coup arbeiten die Heerscharen von Wissensdurstigen nach wie vor am Fortschritt und es gibt eigentlich kein Argument, warum sie dies nicht mit dem selben Eifer wie ihre Kollegen (Kolleginnen gab es damals noch nicht) vor hundert Jahren tun sollten. Denn an und für sich ist es erstaunlich, wie man in einer Epoche unvergleichlicher Umwalzungen und atemberaubender Beschleunigung des Wandels, überhaupt auf den Gedanken kommen kann, Müdigkeit mache sich breit kurz vor dem Ende. Zumindest solange unsere geistigen Kategorien dem technischen Fortschritt hinterher hinken, sollte es eigentlich keinen Anlass geben, um vom Ende reden zu müssen. Unter dem Dogma der Forschungsfreiheit wird nahezu uneingeschrankt und hemmungslos geforscht. Kritische Stimmen und Bewegungen, die der Forschung skeptisch bis ablehnend gegenüber stehen - im Zusammenhang mit der Gentechnologie etwa -, werden mit dem Vorwurf abgewehrt, man würde vielversprechende Wissenschaftszweige wegen politischer Ansichten oder spekulativer Ãngste blockieren. Aber angesichts der Tatsache, dass das Forschen nicht mehr allein um der Erkenntnis Wil1en geschieht, sondern stark nach wirtschaftlichen Vorstellungen funktioniert und immer mehr dem Druck zu produzieren ausgesetzt ist, kann die wissenschaftliche Forschung nicht mehr wertfrei handeln und geht ihrer notwendigen Unabhangigkeit verlustig 13 . Forschung und Technik geraten dadurch in eine zwiespaltige Situation, indem es die Gratwanderung zwischen Forschungsfreiheit und Unabhangigkeit zu bestehen gilt. Einerseits muss in der Wissenschaft frei von ausseren Einflüssen und Zwangen gearbeitet werden konnen, damit keine falschen Zielsetzungen aufgedrangt und die Ergebnisse für einseitige Interessen missbraucht werden konnen. Andererseits sind aber auch Kontrollinstanzen notwendig, die nicht nur über die Finanzmittel laufen und ein Entgleisen der Forschung selber zu verhindern vermogen. Bis heute wurde diese Rolle hauptsachlich von der Technikfolgeforschung, aber auch von Naturschutzorganisationen übernommen, deren Aktivisten und Aktivistinnen oft als fortschrittsbremsend verschrien werden. Die Geschichte kennt zumindest bereits einen Fall, in dem Naturwissenschaft und Technologie angeha1ten (um nicht zu sagen missbraucht) wurden, für staatliche Interessen zu produzieren. AIs in den Vierzigerjahren, im sehr schwierigen Umfeld des 11. Weltkriegs, Forscher in den Vereinigten Staaten die Atombombe entwickelten, wurde zum ersten Mal in der Geschichte das Potential für die Vernichtung der Menschheit geschaffen.
13
V gl.: Kochlin, Floriane: Abschied von der unsterblichen Seele. Der bedrohliche Freiheitsdrang der wissenschaft1ichen Gemeinschaft, in: Die Wochenzeitung 44, (1997).
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Das Beispiel zeigt, wie wichtig die Unabhangigkeit der Forschung ist, es führt aber auch vor Augen, wie nahe Nutzen und Schaden heute zusammengerückt sind und wie schnell Errungenschaften, die lange als gewinnbringende Neuerungen gepriesen wurden, zu existentiellen Bedrohungen für die Erde werden konnen.
4. Die Katastrophe darf es nicht geben Ob man nun nach der Endzeitstimmung, sprich der Katastrophe in den Naturwissenschaften sucht, oder ob man nach dem Umgang der Naturwissenschaften mit der Katastrophe fragt, in jedem Fall wird Folgendes kIar: Weder Ursachen noch Wirkungen von Katastrophen konnen in jedem Fall mit Bestimmtheit definiert werden, aber die Forschung schafft es doch immerhin, bis zu einem gewissen Grad, die Probleme zu erkennen und aufzuzeigen, womit sie - unterstützt vom technologischen Fortschritt - einen gewichtigen Beitrag zum Schutz von Mensch und Umwelt gegen Bedrohungen aller Art leistet. Diese Feststellung darf aber nicht darüber hinwegtauschen, dass dieselbe Institution gleichzeitig auch die Grundlagen zur globalen ZerstOrung liefert und nach wie vor dabei ist, (Risiko-) Technologien weiterzuentwickeln. «Freiheit für die Forschung!» heisst demnach die eine Parole, «Schutz vor dem wissenschaftlichen Fortschritt» die andere. Nachdem man sich über Jahrhunderte hinweg von der Natur zu emanzipieren versucht hat, mit der Vorstellung, sie beherrschen und den Menschen vor ihr schützen zu müssen, ist man durch den eigenen Fortschritt in eine Situation geraten, in we1cher man sowohl den Menschen wie auch die Natur vor der Forschung und der Technik schützen muss. Es gibt nur wenige denkbare Katastrophen, we1che eine globale ZerstOrung zur Folge haben konnten, die Tatsache jedoch, dass es in erster Linie von den Menschen selber provozierte Szenarien sind, sollte Grund genug sein, um die uneingeschrankte Forschungsglaubigkeit und Freiheit der Forschung gelegent1ich hinterfragen zu dürfen. Denn die «apokalyptische» Katastrophe für unseren Planeten ist weniger ein grosser, endgültiger Knall, als vielmehr das ganz perfide, schleichende Umkippen von Gleichgewichten in kleinen Schritten. Zwar kann aus naturwissenschaft1icher Sicht, angesichts des gewaltigen Potentials der lebendigen Natur zur Rekreation, die Katastrophe als so1che nicht kIar umschrieben werden und mit etwas Sinn für grossere Zusammenhange in Raum und Zeit, erscheinen die meisten Zerstorungen nur noch als kleine Kratzero Aber gerade gegenüber diesen gewaltigen Raum- und Zeitverhaltnissen sollte es für die naturwissenschaft1iche Forschung um so selbstverstandlicher sein, mit grosstmoglicher Nachhaltigkeit zu handeln und standig das eigene Tun zu hinterfragen, damit der Planet Erde nicht durch kopfloses menschliches Gebaren zur belanglosen Episode im Kosmos wird. 219
AUTORINNEN UND AUTOREN
Béatrice Acklin Zimmermann, Dr. theol., Lehrbeauftragte für Kirchen- und Theologiegeschichte an der Universitaren Hochschule Luzern und Doktorassistentin am Lehrstuhl für Dogmatik an der UniversiHit Freiburg i.Ue. Zahlreiche Verõffentlichungen im Bereich mittelalterlicher Kirchen- und Theologiegeschichte, feministischer Theologie und im Bereich des Antisemitismus und Rassismus. Beat A. Fal/mi, Dr. phil., Studium der Musikwissenschaft und Theologie an der Universitat Zürich und Promotion mit einer Arbeit über «Tradition als henneneutische Kategorie bei Arnold Schõnberg». Seit 1988 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Gesamtausgabe der Werke des Schweizer Komponisten Othmar Schoeck. Forschungsschwerpunkte: Berührungspunkte zwischen Musik, Theologie und Philosophie sowie Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Zur Zeit forscht er in Strassburg als Stipendiat des Kantons Zürich über das Musikleben im ausgehenden Mittelalter und in der Refonnationszeit. Christof Jeckelmann, Dr. sc. nat., als beratender Geologe in der Privatwirtschaft tatig. Studium der Geologie, Mineralogie und Hydrogeologie an der Universitat Freiburg i.Ue., Promotion in Hydrogeologie und Hydrochemie am Lehrstuhl für Ingenieurgeologie der Eidgenõssischen Technischen Hochschule Zürich. Nebenamtlich ist er für die Wissenschaftsredaktion der Neuen Zürcher Zeitung tatig. Martina Lesch, Dipl.-Psych., Studium der Kath. Theologie, Gennanistik und Judaistik in Freiburg i.Br. und Jerusalem. Danach Studium der Psychologie, Psychopathologie und Erziehungswissenschaften in Freiburg i.Br. und Freiburg i.Ue.; Aufbaustudium in Erziehungsberatung und Schulpsychologie (e.G. Jung), Personzentrierter Psychotherapie (Rogers), Klinischer Hypnose und Scheidungsmediation in Zürich, Basel und Bern. Praktische Tatigkeit als Erziehungsberaterin/Schulpsychologin und Kindertherapeutin. Übersetzerin psychologischer Fachliteratur aus dem Amerikanischen. Z. Zt. Ausbildung in verhaltensorientierter Kindertherapie an der Universitat Freiburg i.Ue. und Mitarbeit in einem Projekt Scheidungsmediation am Office Familial der Stadt und des Kantons Freiburg. Walter Lesch, Dr. phil., Dipl.-Theol., Studium der Philosophie, Theologie und Romanistik in Münster, Freiburg i. Ue, Jerusalem und Tübingen. In den vergangenen Jahren auch Lehrauftrage in Tübingen, KasseI, Zürich und Luzern. Arbeitsgebiete: Grundlagen der Ethik und Religionsphilosophie, Politische Ethik, Bioethik, Kommunikation und Medien.
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Matthias Loretan, lie. theol. et phil., Leiter des Katholisehen Mediendienstes (Faehstelle für Film, Radio, Fernsehen, Medien und Kommunikation) in Zürich, Lehrauftrag für Ethik der Medienkommunikation am Institut für Journalistik und Kommunikationswissensehaft der UniversiUi.t Freiburg i.Ue. Charles Martig, lie. theol. und Diplom in Journalistik und Kommunikationswissensehaft, Filmbeauftragter des Katholisehen Mediendienstes, zusammen mit Matthias Loretan Mitglied der Gesehaftsleitung ZOOM (õkumenisehe Publikationen und Dienstleistungen im Medienbereich), Lehrauftrage zu den Themen: Film, Medien und Theologie an der Theologisehen Fakultat Freiburg i.Ue. Véronique Mauron, lie. des lettres. In den vergangenen Jahren war sie wissensehaftliehe Mitarbeiterin der Fondation Oskar Kokosehka beim Museum J eniseh in Vevey, organisierte versehiedene Ausstellungen des Künstlers und gab einige Kataloge, unter anderem mit den Werken der Fondation, heraus. AIs Kunstkritikerin Mitglied der Redaktion der Zeitsehrift «Pagine d' Arte» in Lugano. Assistentin an der kunsthistorisehen Sektion der Universitat in Lausanne. Z. Zt. vollendet sie mit Unterstützung des sehweizerisehen Nationalfonds unter Leitung von Prof. Michel Thévoz eine Dissertation zur zeitgenõssisehen Kunst. Mit Claire de Ribaupierre Furlan hat sie im Auftrag des CRLR zwei Ausstellungen realisiert und die entspreehenden Kataloge herausgegeben: «Mareel Brion, Les Chambres de 1'imaginaire», Musée historique de Lausanne (1995); «Alexandre Vinet, L' éloquenee, la morale, la passion», Espaee Arlaud in Lausanne (1997). Daria Pezzoli-Olgiati, Dr. theol., Studium der Theologie in Freiburg i.Ue. und Zürieh. Assistentin am Lehrstuhl für allgemeine Religionsgesehiehte und Religionswissensehaft an der Universitat in Zürieh. Forsehungsinteressen: religiõse Wahrnehmungen und Konzepte von Stadt in der Antike, Religionsgeographie, Neues Testament und Apokalyptik. Claire de Ribaupierre Furlan, lie. des lettres. Forsehungsassistentin am Centre de reeherehe sur les lettres romandes (CRLR) an der Universitat in Lausanne. Kritisehe Ausgabe der zwei Korrespondenzbande von Gustave Roud mit Mauriee Chappaz und René Auberjonois, versehiedene Studien über Kinderliteratur. Zur Zeit vollendet sie unter der Leitung von Prof. Doris Jakubee eine Dissertation zur zeitgenõssisehen Literatur (<
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Abbildungsverzeichnis naeh Seite 32 Pau1 K1ee: Angelus novus, 1920, 32; 01farbezeiehnung und Aquarell auf Papier; 31,8 x 24,2 em Colleetion Israe1 Museum, Jerusa1em, Photo eredit: Israe1 Museum © va Bild-Kunst, Bonn 1998 naeh Seite 80 Anse1m Kiefer: Engel, 1977 OI, Aery1, Emu1sion und Sehellaek auf Leinwand, 160 x 139 em. Samm1ung Peter Bonnier, Stoekho1m © Anse1m Kiefer, Barjae Seite 85: Anne und Patriek Poirier: Domus aurea. Der Brand der grossen Bibliothek, 1976 Staatliehe Museen zu Berlin - Preussiseher Kulturbesitz, Nationalga1erie © va Hild-Kunst, Bonn 1998 naeh Seite 96 Anse1m Kiefer: Resumptio, 1974 OI, Emu1sion und Sehellaek auf Saek1einen, 115 x 180 em © Anse1m Kiefer, Barjae Seite 105 Christian Boltanski: Reliquaire, 1990 :t:'hotographien, Keksdosen, Lampen, 276 x 158 x 92 em Samm1ung !FAMA, Madrid © va Bild-Kunst, Bonn 1998 Seite 121 Filmstill aus: Lost Highway von David Lyneh Copyright © CIBY 2000 - ASSYMETRICAL PRODUCTIONS Seite 127
Der Pfirsichgarten Filmstill aus: AKIRA KUROSAWA'S DREAMS © 1990 Warner Bros. Ine.
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Paul Klee: Angelus novus, 1920, 32 Olfarbezeiehnung und Aquarel1 aut" Papier; 31,8 x 24,2 em Colleetion Israel Museum, Jerusalem, Photo eredit: Israel Museum © VG Bild-Kunst, Bonn 1998
Anselm Kiefer: Engel, 1977
OI, Aeryl, Emulsion und Sehellaek auf Leinwand, 160 x 139 em Sammlung Peter Bonnier, Stockholm © Anselm Kiefer, Barjac
Anselm Kiefer: Resumptio, 1974. OI , Emulsion und Sehel1aek auf Saekleinen , 115 x 180 em © Anselm Kiefer, Barjae