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Buch Althea, die junge Tochter des Vestrit-Clans, erhält ihr heiß begehrtes Schiffszeugnis: Jetzt kann sie sich daranmachen, die Viviace, das fühlende Zauberschiff ihrer Familie, zurückzugewinnen. Doch Viviace befindet sich in der Hand des Piraten Kennit und ist vorerst außer Reichweite. Als Althea in ihre Heimatstadt Bingtown zurückkehrt, erfährt sie, dass der Regenwildmann Rheyn um Malta Vestrit anhält. Da dessen Clan der Hüter des Hexenholz-Geheimnisses ist, könnte eine Vermählung die Probleme der Familie lösen. Doch Unheil zieht über Bingtown auf: Satrap Cosgo nähert sich mit einer Söldnerflotte der Stadt, um seinen alten Rivalen endgültig zu beseitigen.
Autorin Von Robin Hobb hörte man zum ersten Mal 1995, als ihr Buch »Der Adept des Assassinen« erschien. Bald stellte sich heraus, dass es sich um ein Pseudonym der bekannten Autorin Megan Lindholm handelt, die bereits rund zehn Fantasy- und ScienceFiction-Romane veröffentlicht hatte. Zu ihren bekanntesten Werken gehört der Windsänger-Zyklus (bei Goldmann erschienen). Als sie vor einigen Jahren eine neue Richtung in der Fantasy einschlug, tat sie dies unter dem neuen Namen Robin Hobb – und wurde prompt von Kritikern und Lesern als die Neuentdeckung des Jahres gefeiert. Robin Hobb, geboren 1952, lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Tacoma.
Bereits erschienen: DIE ZAUBERSCHIFFE. 1. Der Ring der Händler. Roman (24920) 2. Viviaces Erwachen. Roman (24921) 3. Der blinde Krieger. Roman (24922) In Kürze erscheint: DIE ZAUBERSCHIFFE. 4. Die Stunde des Piraten (24933)
Robin Hobb Der blinde Krieger Die Zauberschiffe 3 Ins Deutsche übertragen von Wolfgang Thon
BLANVALET
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel »The Liveship Traders 2 – Mad Ship« (Chapters 1-23) bei Bantam Books, New York
Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Das Papier enthält Recycling-Anteile. Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann. Deutsche Erstveröffentlichung 6/2000 Copyright © der Originalausgabe 1999 by Robin Hobb Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2000 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Schlück/Hescox Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: Eisnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 24922 Redaktion: Alexander Groß V B. – Herstellung: Peter Papenbrok Printed in Germany ISBN 3-442-24922-8 13579 10 8642
Frühling
Prolog
Eine Erinnerung an Flügel Unter den Seeschlangen wogten die Beete aus Seegras sacht in der Strömung der Gezeiten. Das Wasser hier war warm, so warm wie damals im Süden, bevor sie emigriert waren. Trotz Maulkins Erklärung, dass sie der Versorgerin mit dem silbrigen Rumpf nicht länger folgen würden, hing ihr lockender Duft dennoch weiter im Salzwasser. Und sie war auch nicht weit entfernt. Sie folgten ihr immer noch, wenn auch in einigem Abstand. Shreeva überlegte, ob sie ihn deswegen zur Rede stellen sollte, entschied sich aber dagegen. Besorgt betrachtete sie ihren Anführer. Die Verwundungen, die Maulkin bei seinem kurzen Kampf mit der weißen Seeschlange davongetragen hatte, heilten nur langsam. Die Wunden beeinträchtigten das Muster seiner Schuppen. Die goldenen, falschen Augen, die über seinen ganzen Körper liefen und ihn als Propheten auswiesen, waren verblasst und schimmerten nur trüb. Genauso fühlte sich Shreeva, blass und trüb. Sie waren auf ihrer Suche nach Der, die sich erinnert, weit gekommen. Maulkin war am Anfang ihrer Odyssee so zuversichtlich gewesen. Jetzt jedoch wirkte er ebenso verwirrt wie Shreeva und Sessurea. Die drei waren die Letzten, die von dem großen Knäuel Seeschlangen geblieben waren, das diese Wanderung einmal begonnen hatte. Die anderen aus ihrem Knäuel hatten das Vertrauen in ihr Unterfangen verloren und sich von Maulkin abgewendet. Als sie sie das letzte Mal gesehen hatten, waren sie einem großen, dunklen Versorger gefolgt und hatten sich ohne Sinn und Verstand an dem widerstandslosen Fleisch satt gefressen, das er ihnen lieferte. Doch das war schon vor vielen Gezeiten gewesen. »Manchmal«, vertraute Maulkin Shreeva an, als sie ruhten,
»manchmal verliere ich meinen festen Punkt in der Zeit. Mir scheint es dann so, als wären wir hier schon einmal entlanggekommen, als hätten wir diese Dinge schon einmal getan, vielleicht sogar diese Worte schon einmal gesprochen. Manchmal ist meine Überzeugung so stark, dass ich glaube, das Heute wäre einfach nur eine Erinnerung oder ein Traum. Dann glaube ich, dass wir eigentlich nichts tun müssen, weil alles, was uns widerfahren ist, erneut geschehen wird. Oder vielleicht sogar längst passiert ist.« Seine Stimme klang schwach und war ohne rechte Überzeugung. Sie glitt neben ihn. Sie schwammen nebeneinander, wobei sie ihre Körper wellenförmig bewegten, und wedelten dabei nur so viel mit ihren Flossen, wie nötig war, um ihre Position zu halten. Unter ihnen schüttelte Sessurea plötzlich seine Mähne und stieß eine schwache Giftwolke aus, um sie zu warnen. »Seht! Nahrung!«, bellte er. Eine Schule von Fischen kam silbrig schimmernd wie ein Segel auf sie zugeschwommen. Hinter den Fischen folgte ein anderes Knäuel von Seeschlangen. Sie hingen wie Schatten über der Schule der Fische und fraßen von ihrem Rand. Es waren drei rote, eine grüne und zwei blaue. Das Knäuel der Jäger war zwar nicht groß, aber sie wirkten lebhaft und gesund. Ihre glänzenden Häute und ihre prallen Körper bildeten einen auffälligen Kontrast zu den matten Schuppen und eingesunkenen Flanken von Maulkins Knäuel. »Kommt«, forderte Maulkin sie auf und führte sie zu den anderen, um gemeinsam mit ihnen zu fressen. Shreeva gab ein erleichtertes Trompeten von sich. Endlich konnten sie wieder ihre Bäuche füllen. Vielleicht gesellten sich die anderen ja sogar Maulkins Knäuel zu, sobald sie merkten, dass er ein Prophet war. Ihre Beute waren keine einzelnen Fische, sondern eine ganze Schule, die silbrig glitzerte und das Auge verwirrte. Sie bewegten sich wie eine einzige Kreatur, und doch war es ein Ge-
schöpf, das sich plötzlich aufteilen und um einen ungeschickten Jäger herumfließen konnte. Die Schlangen aus Maulkins Knäuel waren jedoch alles andere als ungeschickte Jäger, und alle drei folgten elegant den Fischen. Das andere Knäuel trompetete ihnen Warnungen zu, aber Shreeva konnte keine Gefahr entdecken. Mit einem kurzen Schlag ihres Schwanzes glitt sie in die Schule und packte mit ihrem aufgerissenen Maul mindestens drei Fische. Sie weitete ihren Hals, um sie zu schlucken. Zwei rote Seeschlangen wandten sich plötzlich zur Seite und griffen Maulkin an. Sie schlugen mit ihren Schnauzen nach ihm, als wäre er ein Hai oder ein anderer gemeinsamer Feind. Die Blauen stürzten sich mit weit aufgerissenen Mäulern auf Shreeva. Mit einer kurzen Drehung wich sie ihnen aus und schoss in die andere Richtung davon. Sie sah, wie der andere Rote versuchte, Sessurea zu umschlingen. Seine Mähne war aufgerichtet, und er spie Gift, stieß Obszönitäten und Drohungen aus. Seine Beschimpfungen entbehrten jedes Sinnes, ja sogar jeder Syntax. Sie spiegelten nur nackte Wut. Shreeva floh und schrie ihre Angst und Verwirrung heraus. Maulkin folgte ihr jedoch nicht. Er schüttelte seine gewaltige Mähne und stieß eine Giftwolke aus, die die Roten beinahe gelähmt hätte. Die Angreifer wichen zurück, schüttelten ihre offenen Mäuler und pumpten mit ihren Kiemen, um die Gifte wegzuspülen. »Was ist los mit euch?«, fuhr Maulkin das merkwürdige Knäuel an. Er drehte sich durch einen Knoten und richtete seine Mähne drohend auf, während er sie schalt. Seine falschen Augen schimmerten schwach. »Warum greift ihr uns wie seelenlose Biester an, die sich um Nahrung streiten? Das ist nicht unsere Art! Selbst wenn es nur wenige wären, Fisch gehört immer dem, der ihn fängt, nicht dem, der ihn zuerst gesehen hat! Habt ihr vollkommen vergessen, wer ihr seid und was ihr seid? Hat man euch denn vollkommen den Verstand gestoh-
len?« Einen Augenblick schwebte das andere Knäuel bewegungslos im Wasser, bis auf das leichte Zucken ihrer Schwänze, mit denen sie ihre Position korrigierten. Die Schule aus Fischen floh unbeachtet. Doch als ob die Vernunft in Maulkins Worten sie noch mehr angestachelt hätte, stürzten sie sich plötzlich auf ihn. Alle sechs schossen auf ihn zu, rissen ihre Mäuler weit auf, zeigten ihre Zähne, hatten ihre Mähnen aufgestellt und verströmten ihr Gift, während sie mit den Schwänzen schlugen. Shreeva sah entsetzt mit an, wie sie ihn umhüllten und in den Schlamm hinunterzogen. »Hilf mir!«, trompetete Sessurea. »Sie werden ihn sonst ersticken!« Seine Worte brachen ihre Lähmung. Seite an Seite schossen sie hinunter und stürzten sich, stoßend und mit den Schwänzen schlagend, auf das Knäuel, das Maulkin gefangen hielt. Die anderen Seeschlangen bearbeiteten Maulkin mit ihren Zähnen, als wäre er Beute. Sein Blut vermischte sich mit seinen Giften in einer erstickenden Wolke, während er sich heftig wehrte. Seine falschen Augen glommen in dem aufsteigenden Schlamm. Shreeva schrie auf, entsetzt über die sinnlose Brutalität dieser Attacke. Dennoch schnappte sie mit den Zähnen nach ihnen, während Sessurea seine größere Körperlänge nutzte und mit seinem Schwanz nach ihnen schlug. Im richtigen Moment umschlang er Maulkins übel zugerichteten Körper mit seinem und riss ihn mitten aus dem wütenden Knäuel heraus. Er floh mit Maulkin in seinem Griff. Shreeva war froh, dass sie den Angriff abbrechen und ihm folgen konnte. Die anderen verfolgten sie nicht. In ihrem vergifteten Wahn stürzten sich die Mitglieder des anderen Knäuels aufeinander, schrieen Beleidigungen und Drohungen. Ihre Schreie waren bloße Klänge, die sie ohne jeden Sinn und Verstand ausstießen, während sie aneinander rissen und sich schlugen. Shreeva sah nicht zurück.
Als sie einige Zeit später den heilenden Schleim aus ihrem Körper auf Maulkins Wunden rieb, sagte er: »Sie haben es vergessen. Sie haben vollkommen vergessen, wer und was sie waren. Es ist einfach zu lange her, Shreeva. Sie haben jeden Fetzen Erinnerung und Sinn verloren.« Er zuckte zusammen, als sie einen abgerissenen Hautfetzen wieder an seine Stelle schob und mit etwas Schleim versiegelte. »Sie sind das, was aus uns werden wird.« »Schh«, erwiderte Shreeva zärtlich. »Schh. Ruh dich aus.« Sie umschlang ihn noch enger mit ihrem langen Körper und verankerte ihren Schwanz um einen Felsen, damit sie nicht von der Strömung weggerissen wurden. Sessurea hatte sich ebenfalls mit ihnen verwoben und schlief bereits. Vielleicht war er aber auch einfach nur schweigsam und passiv, Opfer derselben Entmutigung, die auch an Shreeva nagte. Hoffentlich war das nicht so. Ihr war kaum genug Mut geblieben, um ihre eigene Entschlossenheit aufrechtzuerhalten. Aber am meisten sorgte sie sich um Maulkin. Ihre Begegnung mit der silbernen Versorgerin hatte ihn verändert. Die anderen Versorger, die durch die Leere und die Fülle glitten, waren bloße Nahrungsquellen. Aber die silberne war anders gewesen. Ihr Duft hatte in allen Erinnerungen geweckt. Sie waren ihr gefolgt, weil sie davon überzeugt waren, dass ihr Duft sie zu Der, die sich erinnert, führen würde. Stattdessen jedoch war sie nicht einmal von ihrer Art gewesen. Voller Hoffnung hatten sie sie trotzdem angerufen, aber sie hatte nicht geantwortet. Doch der weißen Seeschlange, die an ihrer Seite gebettelt hatte, hatte sie Fleisch gegeben. Maulkin hatte sich von ihr abgewandt, verkündet, sie könne nicht Die, die sich erinnert, sein, und gesagt, er wolle ihr nicht länger folgen. Doch seitdem war in allen Gezeiten ihr Duft präsent gewesen. Sie mochte außer Sicht sein, aber Shreeva wusste, dass sie nicht weit entfernt war. Maulkin folgte ihr immer noch, und sie folgten noch immer ihm.
Maulkin stöhnte und rührte sich in ihrer Umklammerung. »Ich fürchte, es ist das letzte Mal, dass einer von uns diese Reise als etwas anderes als ein bloßes Vieh unternimmt.« »Was meinst du damit?«, wollte Sessurea wissen. Er drehte sich umständlich herum, bis sich ihre Augen gegenüberlagen. Er hatte selbst viele Verletzungen davongetragen, aber keine war wirklich gefährlich. Eine tiefe Wunde an einer seiner Giftdrüsen unmittelbar hinter seinem Kiefergelenk war die schlimmste. Wäre der Biss tiefer gegangen, hätten seine eigenen Gifte ihn getötet. Das Knäuel hatte Glück gehabt, dass es noch existierte. »Sucht eure Erinnerungen ab«, befahl Maulkin tonlos. »Durchforstet nicht nur die Gezeiten und die Tage, sondern die Jahreszeiten und die Jahre, Jahrzehnte auf Jahrzehnte. Wir waren schon einmal hier, Sessurea. Alle Knäuel sind ausgeschwärmt und in diese Gewässer gewandert, und zwar nicht nur einmal, sondern unzählige Male. Wir sind hergekommen, um die zu suchen, die sich erinnern, die wenigen, denen die gesamten Erinnerungen unserer Art anvertraut worden sind. Das Versprechen war eindeutig. Wir sollten uns versammeln. Wir würden unsere Geschichte zurückbekommen, und wir würden an einen sicheren Ort gelangen, an dem wir unsere Transformation vollziehen könnten. Dort würden wir wiedergeboren werden. Trotzdem wurden wir immer und immer wieder enttäuscht. Zyklus auf Zyklus sind wir ausgeschwärmt und haben gewartet. Ebenso oft haben wir unsere Hoffnungen begraben, unseren Zweck vergessen und sind schließlich wieder in die südlichen Gewässer zurückgeschwommen. Und jedes Mal haben die von uns, die noch über eine Hand voll Erinnerungen verfügten, gesagt: ›Vielleicht haben wir uns geirrt. Vielleicht war das nicht die Zeit, nicht die richtige Jahreszeit, und die Erneuerung kommt erst nächstes Jahr.‹ Aber so war es nicht. Wir haben uns nicht geirrt. Diejenigen, die uns treffen sollten, haben versagt. Sie sind nicht gekommen. Damals nicht,
und vielleicht kommen sie auch diesmal nicht.« Maulkin verstummte. Shreeva sicherte ihn immer noch gegen den Strom des Wassers. Es gab keinen wohltuenden Schlamm, in den man sich hätte verkriechen können, nur grobes Seegras, Steine und Felsbrocken. Sie hätten sich einen besseren Platz zum Rasten aussuchen sollen. Doch bis Maulkin wieder geheilt war, wollte sie nicht reisen. Außerdem, wohin sollten sie sich wenden? Sie waren in dieser Strömung voller merkwürdiger Salze auf und ab geschwommen, und sie hatte den Glauben daran verloren, dass Maulkin wusste, wohin er sie führte. Und wenn sie sich selbst überlassen waren, wohin sollten sie gehen? Die Frage schien sie plötzlich niederzudrücken, und sie wollte einfach nicht darüber nachdenken. Sie reinigte die Linse ihrer Augen und sah dann an ihrem Körper entlang, der mit denen der anderen verschlungen war. Das Rot ihrer Schuppen war hell und strahlend, aber vielleicht wirkte das auch nur im Vergleich zu Maulkins trüber Haut so. Seine falschen, goldenen Augen schimmerten blassbraun. Die eiternden Bisswunden entstellten sie. Er brauchte Futter, Wachstum und eine neue Haut. Dann würde er sich wieder besser fühlen. Sie alle würden sich dann besser fühlen. Shreeva äußerte diesen Gedanken laut. »Wir müssen fressen. Wir sind alle ganz schwach vor Hunger. Meine Giftsäcke sind beinahe leer. Vielleicht sollten wir nach Süden gehen, wo es mehr Nahrung gibt und das Wasser warm ist.« Maulkin drehte sich in ihrer Umschlingung herum und sah sie an. Seine großen Augen verfärbten sich kupfern vor Sorge. »Du verschwendest zu viel von deiner Kraft an mich, Shreeva«, tadelte er sie. Sie spürte, wie viel Mühe es ihn kostete, seine Mähne freizuschütteln und sie aufzurichten. Ein zweiter Ruck löste eine schwache Wolke seines Giftes aus. Es reizte und weckte sie, erneuerte ihre Bewusstheit. Sessurea beugte sich dichter zu ihnen heran und umwickelte sie mit seinem längeren Körper. Er nahm Maulkins Gifte in sich auf, sog sie mit
pumpenden Kiemen ein. »Alles wird gut«, versuchte Sessurea sie zu beruhigen. »Du bist nur müde. Und hungrig. Wie wir alle.« »Todmüde«, bestätigte Maulkin erschöpft. »Und fast wahnsinnig vor Hunger. Die Entbehrungen des Körpers beeinträchtigen das Funktionieren des Geistes. Aber hört mir zu, ihr beiden. Hört mir zu und merkt es euch und haltet euch daran. Wenn alles andere vergessen ist, hegt und pflegt diesen Gedanken: Wir können nicht wieder nach Süden gehen. Wenn wir diese Gewässer verlassen, dann ist es endgültig. Solange wir denken können, müssen wir hier bleiben und nach ihr suchen, nach Einer, die sich erinnert. Ich weiß es instinktiv. Wenn wir diesmal nicht wiedergeboren werden, dann werden wir uns niemals erneuern. Wir und alle von unserer Art werden untergehen und von da an für immer unbekannt sein im Meer, in der Luft oder auf dem Land.« Er sprach die merkwürdigen Worte langsam aus, und einen Moment glaubte Shreeva, sie könnte sich an das erinnern, was sie bedeuteten. Nicht die Fülle oder die Leere. Die Erde, der Himmel und das Meer, die drei Teile ihres Hoheitsgebietes und früher einmal die drei Sphären von… von irgendwas. Maulkin schüttelte erneut seine Mähne. Diesmal öffneten Shreeva und Sessurea ihre Kiemen weit, um seine Gifte und die darin enthaltenen Erinnerungen tief in sich einzusaugen. Shreeva sah auf die behauenen Felsbrocken hinunter, die sich auf dem Meeresboden türmten, auf die Schichten von Muscheln und das Seegras, das wie ein verhüllender Vorhang über dem Bogen des Eroberers hing. Der schwarze Stein, den silbrige Adern durchzogen, schien nur an wenigen Stellen hindurch. Die Erde hatte ihn in einem gewaltigen Beben heruntergeworfen, und das Meer hatte ihn geschluckt. Früher einmal, vor Äonen, war sie auf diesem Bogen gelandet, hatte ihre gewaltigen Schwingen ausgebreitet und dann hinter ihren Schultern zusammengefaltet. Sie hatte dem Gefährten ihre Freude in dem
frischen Morgenregen zutrompetet, und ein strahlender blauer Drache hatte ihr seine Antwort entgegengeschmettert. Früher einmal hatten die Altvorderen ihre Ankunft mit Blumen und Willkommensrufen begrüßt. Früher einmal, in dieser Stadt unter einem strahlendblauen Himmel… Es verblasste. Und es ergab keinen Sinn. Die Bilder verblassten wie Träume nach dem Erwachen. »Seid stark!«, forderte Maulkin. »Wenn es uns nicht bestimmt sein sollte zu überleben, dann wollen wir wenigstens bis zum Ende kämpfen. Soll uns doch das Schicksal auslöschen, nicht unsere eigene Verzagtheit. Um des Schicksals unserer ganzen Art willen sollten wir dem treu sein, was wir sind.« Sein Kamm stand aufgerichtet und giftig von seinem Hals ab. Wieder einmal sah er aus wie der visionäre Führer, der vor so langer Zeit Shreevas Loyalität gewonnen hatte. Ihr Herz schwoll an mit ihrer Liebe zu ihm. Plötzlich verdunkelte sich die Welt, und sie hob den Blick zu dem großen Schatten, der über ihnen entlangschwebte. »Nein, Maulkin«, trompetete sie leise. »Wir sind nicht dem Untergang geweiht und auch nicht dem Vergessen. Sieh nur!« Ein dunkler Versorger glitt träge über ihnen dahin. Als er sich direkt über ihren Köpfen befand, warf er ihnen Futter zu. Das Fleisch sank langsam zu ihnen herab und bewegte sich sacht in der Strömung hin und her. Es waren tote Zweibeiner. An einem hing noch eine Kette. Sie würden nicht um ihre Nahrung kämpfen müssen. Sie brauchten sie nur zu akzeptieren. »Kommt«, drängte sie Maulkin, als Sessurea sich von ihnen löste und eilig dem Futter entgegenschwamm. Sanft zog sie Maulkin mit sich, als sie sich erhob, um die Spende des Versorgers in Empfang zu nehmen.
1
Das verrückte Schiff Die Brise wehte kalt und frisch über sein Gesicht und seine Brust, aber etwas in ihr versprach die baldige Ankunft des Frühlings. Die Luft schmeckte nach Jod, und es herrschte Ebbe. Der Saum aus Seetang direkt an der Wasserlinie war deutlich zu sehen. Der grobe Sand unter seinem Rumpf war noch feucht von den starken Regenfällen der letzten Tage. Und der Rauch von Ambers Feuer kitzelte ihn in der Nase. Die Galionsfigur drehte den Kopf zur Seite und kratzte sich. »Es ist ein schöner Abend, findest du nicht?«, fragte Amber im Plauderton. »Der Himmel ist ganz klar. Da sind zwar noch ein paar Wolken, aber ich kann den Mond und sogar ein paar Sterne sehen. Ich habe Muscheln gesammelt und sie in Algen eingewickelt. Sobald das Feuer stärker brennt, nehme ich ein bisschen Holz weg und koche sie auf den glühenden Steinen.« Sie machte eine erwartungsvolle Pause. Paragon antwortete nicht. »Möchtest du welche probieren, wenn sie gar sind? Ich weiß, dass du nicht essen musst, aber vielleicht findest du die Erfahrung interessant.« Er gähnte, reckte sich und verschränkte dann die Arme vor der Brust. Er war viel besser in diesem Spiel als sie. Dreißig Jahre Zwangspause am Strand hatten ihn wahre Geduld gelehrt. Wie sie wohl heute Abend reagieren würde? Wütend oder traurig? »Was nützt es uns beiden, wenn du dich weigerst, mit mir zu sprechen?«, fragte sie. Er spürte, dass ihre Geduld allmählich schwächer wurde. Aber er machte sich nicht einmal die Mühe, mit den Schultern zu zucken. »Paragon, du bist ein hoffnungsloser Idiot! Warum sprichst
du nicht mit mir? Begreifst du denn nicht, dass ich die Einzige bin, die dich retten kann?« Wovor retten? hätte er gefragt. Wenn er mit ihr geredet hätte. Paragon hörte, wie sie aufstand und um ihn herum zu seinem Bug ging. Gelassen drehte er den Kopf von ihr weg. »Na gut, dann tu so, als ob du mich ignorierst. Mir ist es gleich, ob du mir antwortest oder nicht, aber du musst zumindest zuhören, was ich dir zu sagen habe. Du schwebst in Gefahr, und zwar in einer sehr konkreten Gefahr. Ich weiß, du willst nicht, dass ich dich von deiner Familie loskaufe, aber ich habe ihnen trotzdem ein Angebot gemacht. Sie haben es abgelehnt.« Paragon ließ sich zu einem kurzen, verächtlichen Schnauben herab. Natürlich hatten sie das getan. Er war das Lebensschiff der Ludluck-Familie. Sie würden ihn niemals verkaufen, ganz gleich, wie sehr er in Ungnade gefallen war! Zwar hatten sie ihn dreißig Jahre lang auf diesem Strand vertäut liegen lassen, aber sie hatten ihn niemals verkauft! Weder an Amber noch an die Neuen Händler. Das würden sie auch nicht tun. Das hatte er die ganze Zeit über gewusst. Amber ließ nicht locker. »Ich habe direkt mit Amis Ludluck gesprochen. Es war nicht gerade leicht, zu ihr vorzudringen. Als wir uns unterhielten, tat sie, als wäre sie schon von meinem bloßen Angebot schockiert. Sie behauptete, dass du nicht zu verkaufen wärst, zu keinem Preis. Und sie hat dasselbe wiederholt, was du gesagt hast, nämlich, dass keine Händlersippe aus Bingtown ihr Lebensschiff verkaufen würde. Dass man so etwas einfach nicht täte.« Paragon konnte sich das Lächeln nicht verkneifen, das ihn unwillkürlich überkam. Er war ihnen also noch nicht gleichgültig. Wie hatte er das jemals bezweifeln können? In gewisser Weise war er geradezu froh, dass Amber dieses lächerliche Kaufangebot gemacht hatte. Jetzt, da Amis Ludluck einer Fremden gegenüber zugegeben hatte, dass er immer noch zu ihrer Fami-
lie gehörte, würde sie sich vielleicht auch bewegt fühlen, ihm einen Besuch abzustatten. Und wenn Amis ihn erst einmal besucht hatte, konnte das möglicherweise noch ganz andere Dinge nach sich ziehen. Vielleicht würde er sogar bald wieder die Meere befahren, mit einer wohlwollenden Hand am Ruder. Seine Phantasie trug ihn davon. Doch Ambers Stimme riss ihn abrupt wieder in die Realität zurück. »Sie tat, als wäre sie sogar darüber entsetzt, dass Gerüchte verlauten ließen, sie würde dich verkaufen wollen. Ihren Worten nach beleidige das die Familienehre. Und dann sagte sie…« Ambers Stimme wurde plötzlich ganz tief, und ein Unterton von Angst schwang darin mit. »Sie sagte, dass sie einige Männer engagiert hätte, die dich von Bingtown wegschleppen würden. Dass es vielleicht besser wäre, wenn du außer Sicht kämst und niemand mehr an dich dächte.« Amber machte eine bedeutungsvolle Pause. Paragon fühlte, wie sich etwas in seiner Brust aus Hexenholz zusammenzog. »Deshalb habe ich sie gefragt, wen sie denn engagiert hätte.« Er hob beide Hände und stopfte sich die Finger in die Ohren. Er wollte nicht zuhören. Sie wollte ihm nur Angst machen. Seine Familie wollte ihn also wegschleppen. Das musste noch gar nichts bedeuten. Es war vielleicht ganz nett, einmal woanders zu sein. Vielleicht würden sie ihn diesmal ja sogar aufdocken, wenn sie ihn an Land zogen. Er hatte es satt, immer Schlagseite zu haben. »Sie erwiderte, das würde mich nichts angehen.« Ambers Stimme wurde lauter. »Dann habe ich sie gefragt, ob es Bingtown-Händler wären. Sie hat mich nur angesehen. Also habe ich sie ganz direkt gefragt, ob Mingsley dich irgendwo hinbringen würde, um dich anschließend auseinander nehmen zu lassen.« Paragon begann verzweifelt zu summen. Laut. Amber redete weiter, aber er konnte sie nicht hören. Er wollte sie nicht hören.
Er schob die Finger weiter in die Ohren und sang aus Leibeskräften: »Ein Pfennig für ein süßes Brötchen, ein Pfennig für eine Pflaume, ein Pfennig für die Rennen, um die Pferdchen laufen zu sehen…« »Sie hat mich rausgeworfen!«, schrie Amber. »Als ich draußen war und ihr zugerufen habe, dass ich diese Sache vor das Konzil bringen würde, hat sie ihre Hunde auf mich gehetzt. Sie hätten mich fast erwischt!« »Schwing mich tief, schwing mich hoch, schwing mich bis in den Himmel hinauf.« Paragon sang verzweifelt seinen Kinderreim. Sie irrte sich, sie musste sich irren. Seine Familie würde ihn irgendwohin in Sicherheit bringen. Das war alles. Es spielte nicht die geringste Rolle, wen sie dafür engagiert hatten. Sobald sie ihn zu Wasser gelassen hatten, würde er bereitwillig segeln. Er würde ihnen zeigen, wie einfach es sein konnte, ihn zu segeln. Ja. Das war eine Chance, sich ihnen zu beweisen. Er konnte ihnen zeigen, dass ihm all das Leid tat, wozu sie ihn gebracht hatten. Sie redete nicht mehr weiter. Er sang langsamer und summte schließlich nur noch. Bis auf seine eigene Stimme herrschte Ruhe. Vorsichtig nahm er die Finger aus den Ohren. Nichts war mehr zu hören bis auf das Klatschen der Wellen, den Sand, den der Wind über den Strand trieb, und das Knacken von Ambers Feuer. Plötzlich schoss ihm eine Frage durch den Kopf, und er sprach sie laut aus, bevor ihm einfiel, dass er gar nicht mit ihr hatte sprechen wollen. »Wirst du mich auch an meinem neuen Platz besuchen?« »Paragon, du kannst das nicht einfach verdrängen. Wenn sie dich hier wegholen, dann werden sie dich wegen deines Hexenholzes auseinander nehmen.« Die Galionsfigur erwiderte: »Das ist mir egal. Es wäre ganz schön, tot zu sein.« Amber klang leise und verzagt. »Ich weiß nicht, ob du dann wirklich tot bist. Ich fürchte, sie werden dich von dem Rest des
Schiffes trennen. Wenn dich das nicht, umbringen sollte, werden sie dich nach Jamaillia bringen und dort als Monstrosität verkaufen. Oder dich dem Satrapen zum Geschenk machen, im Austausch für Ländereien und andere Gefälligkeiten. Ich weiß nicht, wie du dort behandelt wirst.« »Wird es weh tun?«, fragte Paragon. »Das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß zu wenig über das, was du bist. Hat es… Als sie dein Gesicht zerhackt haben, hat das weh getan?« Er wandte sein entstelltes Gesicht von ihr ab, hob die Hände und fuhr mit den Fingern über das zersplitterte Holz, wo einmal seine Augen gewesen waren. »Ja.« Er runzelte die Stirn. Doch im nächsten Atemzug fügte er hinzu: »Ich erinnere mich nicht mehr. Es gibt eine Menge, woran ich mich nicht mehr erinnern kann. Meine Logbücher sind verschwunden.« »Manchmal ist es das Bequemste, wenn man sich nicht erinnert.« »Also glaubst du, dass ich lüge, ja? Du glaubst, ich könnte mich erinnern, wenn ich nur wollte, hm?« Er sagte das, weil er hoffte, damit einen Streit vom Zaun brechen zu können. »Paragon, wir können das Gestern nicht ändern. Wir sprechen vom Morgen.« »Sie kommen schon morgen?« »Das weiß ich nicht! Es war nur ein Bild, eine Metapher.« Sie trat näher heran und legte ihre Hände flach gegen seine Hülle. Wegen der Kälte trug sie Handschuhe, aber er fühlte die Umrisse ihrer Hände als zwei warme Flecken an seiner Beplankung. »Ich kann die Vorstellung nicht ertragen, dass sie dich einfach in Stücke hacken. Selbst wenn es nicht weh tun sollte und auch wenn es dich nicht umbringt. Ich ertrage diesen Gedanken nicht.« »Du kannst nichts dagegen tun«, erklärte er. Plötzlich hielt er es für angebracht, diesen Gedanken zu äußern. »Wir können beide nichts dagegen tun.«
»Das ist fatalistisches Gerede«, erklärte Amber wütend. »Wir können eine ganze Menge dagegen tun. Und ich schwöre dir, dass ich mich hier hinstelle und gegen sie kämpfe.« »Du könntest nicht gewinnen«, erwiderte Paragon. »Es wäre dumm zu kämpfen, wenn du von vornherein weißt, dass du nicht gewinnen kannst.« »Das mag sein«, antwortete Amber. »Und hoffentlich kommt es erst gar nicht dazu. Ich habe nicht vor zu warten, bis die Lage so verzweifelt wird. Ich will handeln, bevor sie es tun. Paragon, wir brauchen Hilfe. Wir brauchen jemanden, der sich auf dem Konzil der Händler für uns einsetzt.« »Kannst du das nicht tun?« »Das weißt du genau. Nur ein Alter Händler kann an diesen Versammlungen teilnehmen. Wir brauchen jemanden, der zu ihnen geht und sie überredet, den Ludlucks das zu verbieten.« »Aber wen?« »Ich hatte gehofft, du wüsstest jemanden, der für uns spricht«, antwortete Amber kläglich. Paragon dachte eine Weile schweigend nach. Dann lachte er barsch auf. »Für mich wird sich niemand einsetzen. Das ist vergebliche Liebesmüh, Amber. Denk nach. Nicht mal meine eigene Familie kümmert sich um mich. Ich weiß, was man über mich sagt. Ich wäre ein Mörder. Und das Schlimme daran ist, es stimmt, oder etwa nicht? Ich habe ganze Besatzungen verloren. Ich bin gekentert und habe sie alle ertränkt, und das nicht nur einmal. Die Ludlucks haben Recht, Amber. Sie sollten mich verkaufen und in Stücke hauen lassen.« Verzweiflung überkam ihn, eisiger und stärker als jede Sturmwelle. »Ich wäre gern tot«, erklärte er. »Ich würde gern enden.« »Das meinst du nicht wirklich«, widersprach Amber leise. Doch er erkannte an ihrem Tonfall, dass sie es wusste. Er meinte es ernst. »Würdest du mir einen Gefallen tun?«, fragte er schließlich. »Was für einen?«
»Töte mich, bevor sie es können.« Er hörte, wie sie nach Luft schnappte. »Ich… Nein, das könnte ich nicht.« »Wenn du wüsstest, dass sie kommen, um mich in Stücke zu hacken, könntest du es. Ich werde dir die einzige sichere Methode verraten. Du musst auf mir Feuer legen. Und zwar nicht nur an einer Stelle, sondern an vielen gleichzeitig, damit niemand es löschen und mich retten kann. Wenn du trockenes Holz sammelst, jeden Tag ein bisschen, und es in meinen Laderäumen aufschichtest, dann…« »Sprich nicht einmal von solchen Dingen«, erwiderte Amber schwach. Zerstreut fügte sie hinzu: »Ich koche jetzt die Muscheln.« Er hörte, wie sie im Feuer stocherte, und dann zischte das feuchte Seegras auf den heißen Kohlen. Sie kochte die Muscheln bei lebendigem Leib. Sollte er sie darauf hinweisen? Das würde sie nur aufregen, sie jedoch nicht unbedingt für seine Sache einnehmen. Er wartete, bis sie wieder zu ihm kam. Sie setzte sich in den Sand und lehnte sich an seinen Rumpf. Ihr Haar war sehr fein. Als es an seinen Planken vorbeistrich, verfing es sich in den Fasern und blieb am Holz hängen. »Das ergibt wenig Sinn«, meinte er freundlich. »Du hast geschworen, du würdest hier bleiben und für mich kämpfen, obwohl du weißt, dass du verlieren musst. Aber diese einfache, sichere Gnade verweigerst du mir.« »Tod durch Verbrennen ist alles andere als eine Gnade.« »Sicher. Wenn man in Stücke gehackt wird, ist das vermutlich weit angenehmer«, konterte Paragon sarkastisch. »Du wechselst so schnell von kindlicher Wut zu eiskalter Logik«, erklärte Amber nachdenklich. »Bist du ein Kind oder ein Mann? Was bist du wirklich?« »Vielleicht beides. Aber du wechselst das Thema. Komm schon, versprich es mir.« »Nein«, erwiderte sie flehentlich. Paragon seufzte. Sie würde es tun. Er hörte es in ihrer Stim-
me. Wenn es keinen anderen Weg gab, ihn zu retten, dann würde sie es tun. Ein merkwürdiger Schauer überlief ihn. Es war ein seltsamer Sieg, den er da errungen hatte. »Und Ölfässer«, sagte er. »Wenn sie kommen, bleibt dir vielleicht nicht mehr viel Zeit. Öl lässt das Holz schneller brennen. Und heißer.« Ein langes Schweigen folgte seinen Worten. Als sie wieder sprach, hatte sich ihre Stimme verändert. »Sie werden versuchen, dich heimlich zu verlegen. Sag mir, wie sie es machen werden.« »Vermutlich auf dieselbe Weise, wie sie mich an Land gezogen haben. Wahrscheinlich nutzen sie die höchste Flut des Monats, in der Nacht. Sie kommen mit Walzen, Eseln, Männern und kleinen Booten. Natürlich ist das kein leichtes Unterfangen, aber erfahrene Männer sollten es schnell bewerkstelligen können.« Amber dachte nach. »Ich muss meine Sachen in deinen Laderaum bringen. Wenn ich dich bewachen soll, muss ich an Bord schlafen. Ach, Paragon«, rief sie plötzlich. »Hast du wirklich niemanden, der sich beim Händlerkonzil für dich einsetzen würde?« »Nur dich.« »Ich werde es versuchen. Aber ich bezweifle, dass sie mir eine Chance geben werden. In Bingtown bin ich eine Außenseiterin. Sie hören gewöhnlich nur auf ihresgleichen.« »Du hast mir einmal gesagt, dass du in Bingtown respektiert wirst.« »Das stimmt. Sie respektieren mich als Künstlerin und Geschäftsfrau. Aber ich bin keine Alte Händlerin. Sie hätten nicht viel Nachsehen mit mir, wenn ich mich in ihre Angelegenheiten einmischen würde. Vermutlich säße ich dann bald ohne Kunden da. Oder es würde etwas noch Schlimmeres passieren. Durch die ganze Stadt zieht sich eine Kluft zwischen Alten Händlern und Neuen Sippen. Es kursiert sogar das Gerücht,
dass das Konzil von Bingtown eine Delegation mit der Original-Charta zum Satrapen geschickt hat. Sie verlangen, dass er sich an das Wort hält, das ihnen einst der Satrap Esclepius gegeben hat. Und angeblich fordern sie weiterhin, dass der Satrap alle Neuen Händler zurückruft und die Landschenkungen an sie zurücknimmt. Sie wollen den Satrapen Cosgo auffordern, sich in Zukunft an die Original-Charta zu halten und von weiteren Landschenkungen ohne die Einwilligung der BingtownHändler Abstand zu nehmen.« »Ein sehr genaues Gerücht«, bemerkte Paragon. »Ich habe ein sehr scharfes Ohr für Gerüchte und Klatsch. Und das hat mir mehr als einmal das Leben gerettet.« Sie schwiegen. »Ich wünschte, ich wüsste, wann Althea zurückkommt«, sagte Amber plötzlich sehnsüchtig. »Ich könnte sie bitten, für uns zu sprechen.« Paragon spielte mit dem Gedanken, Brashen Trell zu erwähnen. Brashen war sein Freund. Brashen würde für ihn sprechen. Brashen war ein Alter Händler. Aber noch während er das dachte, fiel ihm wieder ein, dass Brashen enterbt worden war. Für die Trell-Familie war Brashen genauso eine Schande wie Paragon für die Ludlucks. Es wäre nicht gut, wenn Brashen sich für ihn einsetzte, selbst wenn er das Konzil dazu bringen könnte, ihn anzuhören. Es war, als würde ein schwarzes Schaf zugunsten eines anderen sprechen. Niemand würde wirklich zuhören. Er legte die Hand über die Narbe auf seiner Brust und verdeckte kurz den primitiven siebenzackigen Stern, der ihn brandmarkte. Nachdenklich strich er mit den Fingern darüber, seufzte und holte dann tief Luft. »Die Muscheln sind gar. Ich kann sie riechen.« »Möchtest du eine kosten?« »Warum nicht?« Er sollte alles Neue ausprobieren, solange er es noch konnte. Vielleicht dauerte es nicht mehr lange, bis er nie mehr die Möglichkeit hatte, Neues zu erfahren.
2
Das Bein des Piraten »Damals im Kloster hat Berandol immer gesagt, dass der beste Weg, Angst zu vertreiben und zu einer Entscheidung zu kommen, der wäre, sich die schlimmsten Konsequenzen seiner Handlungen auszumalen.« Nach einem Moment fügte Wintrow hinzu: »Berandol sagte, dass man entscheidungsfähig sei, wenn es soweit wäre und man sich vorher die schlimmste Konsequenz ausgemalt habe und auch den Weg, wie man reagieren wollte.« Viviace sah Wintrow über die Schulter hinweg an. Der Junge lehnte schon den halben Morgen an der Bugreling und starrte auf das bewegte Wasser des Kanals. Der Wind hatte schwarze Haarsträhnen aus seinem Zopf gelöst. In den zerlumpten Resten seiner braunen Kutte sah er eher wie ein Bettler denn wie ein Priester aus. Die Galionsfigur hatte ihn zwar bemerkt, sich aber seinem Schweigen und seiner nachdenklichen Stimmung angepasst. Außerdem gab es nur wenig zu sagen, was sie nicht bereits gewusst hätten. Und selbst jetzt sprach der Junge nur, um seine Gedanken zu sortieren, nicht, weil er wirklich ihren Rat wollte. Obwohl sie das wusste, drängte sie ihn weiterzusprechen. »Und was ist unsere größte Angst?« Wintrow seufzte. »Der Pirat leidet an ständig wiederkehrenden Fieberattacken. Jedes Mal, wenn Kennit ein Fieber überfällt, ist er danach schwächer. Und die Quelle ist offensichtlich die Infektion in seinem Beinstumpf. Jeder Tierbiss hinterlässt eine infektiöse Wunde, aber der Biss der Seeschlange scheint unverhältnismäßig giftig zu sein. Der entzündete Teil muss amputiert werden – je früher, desto besser. Er ist zwar eigentlich für eine solche Operation zu schwach, aber ich sehe nicht, dass er stärker wird.
Also rede ich mir ein, dass ich schnell handeln muss. Außerdem weiß ich, wie schlecht die Chancen stehen, dass er diese Amputation überlebt. Und wenn er stirbt, müssen auch mein Vater und ich sterben. Das ist der Handel, den ich mit ihm geschlossen habe.« Er hielt kurz inne und fuhr dann fort: »Ich werde sterben. Aber das ist in Wahrheit nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, dass du allein weitermachen musst, als Sklavin dieser Piraten.« Er sah sie nicht an, sondern blickte unverwandt über die ständig wogenden Wellen, als er hinzufügte: »Jetzt verstehst du vielleicht, warum ich zu dir gekommen bin. Du hast ein größeres Recht als ich, in dieser Sache eine Entscheidung zu fällen. Ich habe die ganze Sache nicht bis zu Ende gedacht, als ich den Handel mit Kennit abschloss. Für mich standen nur der Tod meines Vaters und mein Tod auf dem Spiel. Doch dadurch habe ich unabsichtlich auch dein Leben aufs Spiel gesetzt. Dazu hatte ich kein Recht. Denn du hast eine Menge mehr zu verlieren als ich, glaube ich.« Viviace nickte, antwortete aber nicht auf Wintrows Gedanken, sondern sprach aus, woran sie vorher gedacht hatte. »Er ist ganz anders, als ich mir einen Piraten vorgestellt habe. Kapitän Kennit, meine ich.« Nachdenklich fügte sie hinzu: »Ich wäre eine Sklavin, hast du eben gesagt. Ich glaube nicht, dass er mich als seine Sklavin ansieht.« »Kennit entspricht auch nicht meinem Bild von einem Piraten. Doch trotz seines Charmes und seiner Intelligenz dürfen wir nicht vergessen, dass er einer ist. Mehr noch, wir müssen uns ins Gedächtnis rufen, dass er im Falle meines Versagens nicht derjenige sein wird, der dich befehligt. Er ist dann tot. Niemand kann sagen, wer dich dann führen wird. Vielleicht Sorcor, sein Erster Maat. Oder Etta, seine Frau. Möglicherweise wird sogar Sa'Adar noch einmal versuchen, dich für sich selbst und seine befreiten Sklaven zu beanspruchen.« Wintrow schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht gewinnen. Wenn die Ope-
ration Erfolg hat, muss ich zusehen, wie Kennit dich mir wegnimmt. Er schmeichelt dir ja schon mit seinen Worten, und seine Mannschaft arbeitet auf deinen Decks. Ich habe kaum noch etwas dazu zu sagen, was auf dir vorgeht. Und ob Kennit nun lebt oder stirbt, ich werde bald nicht mehr die Macht haben, dich zu beschützen.« Viviace zuckte mit ihrer Hexenholzschulter. »Hattest du das denn vorher?« Ihre Frage klang ein wenig kühl. »Wohl kaum«, räumte Wintrow beinahe entschuldigend ein. »Aber wenigstens wusste ich, was ich zu erwarten hatte. Es ist zu viel zu schnell geschehen, für uns beide. Es gab zu viele Tote und zu große Veränderungen. Ich habe keine Zeit zum Trauern gehabt und auch nicht zum Meditieren. Ich weiß kaum noch, wer oder was ich eigentlich bin.« Sie schwiegen beide nachdenklich. Wintrow fühlte sich, als treibe er zeitlos dahin. Sein Leben, sein wirkliches Leben, war weit weg, in einem friedlichen Kloster in einem warmen Tal mit fruchtbaren Obstgärten und Feldern. Wenn er Entfernung und Zeit überschreiten könnte, wenn er auf seiner schmalen Pritsche in seiner kühlen Zelle aufwachen könnte, würde er die verwirrten Fäden seines Lebens wieder aufnehmen können, davon war er überzeugt. So sehr hatte er sich nicht verändert, jedenfalls redete er sich das ein. Nicht wirklich. Gut, ihm fehlte ein Finger. Er hatte gelernt, damit zurechtzukommen. Und die Sklaventätowierung auf seinem Gesicht blieb an der Oberfläche auf seiner Haut. Er war niemals wirklich ein Sklave gewesen; die Tätowierung entsprang nur der grausamen Rache seines Vaters für seinen Fluchtversuch. Er war immer noch Wintrow. Nach ein paar ruhigen Tagen würde er wieder den friedlichen Priester in sich entdecken. Aber hier an Bord bestand diese Chance nicht. Die schnellen Veränderungen der letzten Zeit hatten so viele merkwürdige Gefühle in ihm erzeugt, dass er im Augenblick gar nichts empfinden konnte. Die Gefühle von Viviace waren genauso ver-
wirrt wie seine eigenen, denn die Erfahrungen, die sie hatte machen müssen, waren genauso brutal gewesen. Kyle Haven hatte das gerade erwachte Lebensschiff in den Dienst seines Sklavenhandels gezwungen und sie all den finsteren Gefühlen ihrer elenden Fracht ausgeliefert. Nicht einmal Wintrow hatte sie trösten können, obwohl er ein Blutsverwandter ihrer Gründerfamilie war. Sein eigener unfreiwilliger Dienst auf dem Schiff hatte das eigentlich natürliche Band zwischen ihnen nachhaltig geschwächt. Und die Entfremdung von ihr hatte das Elend von Viviace noch verschärft. Trotzdem waren sie mehr recht als schlecht miteinander ausgekommen, wie zwei Sklaven, die aneinander gefesselt waren. In einer stürmischen Nacht hatte ein Sklavenaufstand sie von der Herrschaft Kyle Havens befreit – und auch von ihrer Funktion als Sklavenschiff. Von der ursprünglichen Mannschaft lebten nur noch Wintrow und sein Vater. In der Morgendämmerung war das Schiff von Piraten gekapert worden. Kapitän Kennit und seine Mannschaft hatten die Viviace ohne einen einzigen Schwertstreich erbeutet. Und dann war Wintrow einen Handel mit Kennit eingegangen: Er würde das Leben des Piraten zu retten versuchen, wenn Kennit ihm und seinem Vater das Leben schenkte. Sa'Adar allerdings, ein Priester und ehemaliger Sklave, der Anführer des Aufstands, hatte entschieden andere Pläne. Er wollte nicht nur über Kyles Leben bestimmen, sondern verlangte von Kennit auch, dass er die Viviace den Sklaven als ihre rechtmäßige Beute überließ. Ganz gleich, wer sich durchsetzen würde, sowohl Wintrow als auch das Schiff erwartete eine ungewisse Zukunft. Dennoch schien das Schiff bereits den Piraten zu bevorzugen. Vor ihnen durchpflügte die Marietta die schäumende See. Die Viviace folgte in ihrem Kielwasser. Sie waren zu irgendeinem Stützpunkt der Piraten unterwegs, mehr wusste Wintrow nicht. Im Westen wurde der Horizont von den nebligen Gestaden der Verwunschenen Ufer verhüllt. Die rauschenden, dampfenden
Ströme dieser Region ergossen ihre warmen, schlammigen Fluten in den Kanal. Das führte dazu, dass fast ständig Nebel und Dunst vorherrschten, die eine sich ständig verändernde Küstenlinie mit Sandbänken und Untiefen verbargen. In den Wintermonaten waren überraschende, heftige Stürme an der Tagesordnung, die aber auch an freundlicheren Sommertagen auftreten konnten. Die Piraten-Inseln waren nicht kartographiert. Welchen Sinn hätte es schon gehabt, eine Küste aufzuzeichnen, die sich ständig veränderte? Allgemein war man sich einig, einen möglichst großen Bogen darum zu schlagen und schnellstens daran vorbeizusegeln. Dennoch schoss die Marietta zuversichtlich weiter, und die Viviace folgte ihr. Offenbar waren den Piraten diese Gewässer sehr vertraut. Wintrow wandte den Kopf und sah die Viviace an. In der Takelage reagierte die Piratenmannschaft schnell und gewandt auf Brigs knappe, gebellte Befehle. Wintrow musste zugeben, dass er noch nie geschicktere Männer auf der Viviace gesehen hatte. Sie mochten Piraten sein, aber sie waren auch hervorragende Seeleute, die sich diszipliniert und koordiniert bewegten, und das so schnell, als wären sie lebendige Teile des erwachten Schiffes. Nur die anderen Gestalten an Deck verdarben das Bild. Die meisten Sklaven hatten die Rebellion überlebt. Und auch wenn sie von ihren Ketten befreit waren, mussten sie sich doch erst langsam an ihre wiederhergestellte Menschlichkeit gewöhnen. Die Spuren der Handschellen waren noch auf ihrer Haut zu sehen, genauso wie die Sklaventätowierungen auf ihren Gesichtern. Ihre Kleidung war zerrissen, und die Körper unter den Lumpen waren blass und knochig. Außerdem waren es für ein Schiff dieser Größe viel zu viele. Obwohl sie sich jetzt auf die Decks und die Laderäume verteilten, wirkten sie immer noch wie Schlachtvieh, das zusammengepfercht verschifft wurde. Sie standen in kleinen Gruppen auf den geschäftigen Decks herum und bewegten sich nur, wenn die Mannschaft sie an-
wies, aus dem Weg zu gehen. Einige der Kräftigeren arbeiteten teilnahmslos mit Lappen und Eimern und säuberten die Decks und Laderäume der Viviace. Viele wirkten unzufrieden. Und Wintrow fragte sich unbehaglich, ob sie irgendwann auch entsprechend reagieren würden. Er überlegte, was er ihnen gegenüber empfand. Vor ihrem Aufstand hatte er sich unter Deck um sie gekümmert. Damals war er vor Mitleid mit ihnen beinahe zerflossen. Trotzdem konnte er ihnen nur wenig Trost bieten. Die Linderung durch Salzwasser und den feuchten Lappen kam ihm mittlerweile wie eine falsche Gnade vor. Er hatte versucht, ihnen die Dienste eines Priesters angedeihen zu lassen, aber es waren einfach zu viele gewesen. Wann immer er sie jetzt ansah, erinnerte er sich nicht an sein Mitgefühl für sie, sondern nur an die Schreie und das Blut, als sie seine Schiffskameraden abgeschlachtet hatten. Es fiel ihm schwer, die Gefühle zu benennen, die ihn nun beim Anblick der ehemaligen Sklaven durchströmten. Es war eine Mischung aus Furcht und Wut, aus Ekel und Mitleid, und gleichzeitig schämte er sich bitterlich dafür. Diese Gefühle waren eines Priesters von Sa nicht würdig. Also flüchtete er sich in eine andere Möglichkeit: Er empfand gar nichts. Einige der Seeleute hatten vielleicht tatsächlich ihren gewaltsamen Tod selbst herbeigeführt. Aber galt das auch für Mild, Wintrows Freund, und den Geiger Findus oder den Spaßvogel Comfrey und die anderen guten Männer? Sicher hatten sie ein gnädigeres Ende verdient. Die Viviace war kein Sklavenschiff gewesen, als sie angeheuert hatten. Doch sie waren an Bord geblieben, als Kyle sie dieser Bestimmung zugeführt hatte. Sa'Adar, der Sklavenpriester, der die Rebellion angeführt hatte, glaubte, dass sie schon dadurch den Tod verdient hätten. Er predigte, dass sie die Feinde aller gerechten Menschen geworden waren, weil sie sich entschieden hatten, auf einem Sklavenschiff zu arbeiten. Wintrow befand sich diesbezüglich in einem großen Zwiespalt. Er klammerte sich an die tröstende
Vorstellung, dass Sa jedes Urteil sich selbst vorbehielt, weil nur der Schöpfer die nötige Weisheit besaß, urteilen zu können. Die Sklaven an Bord des Schiffes allerdings teilten Wintrows Ansicht nicht. Einige sahen ihn an und erinnerten sich an die leise Stimme in der Dunkelheit und an die Hände mit dem kühlen, feuchten Lappen. Andere betrachteten ihn als Scharlatan, als Sohn des Kapitäns, der nur ein bisschen Wohltäter gespielt, sonst aber wenig für ihre Freiheit getan hatte, bis sie die Angelegenheit in ihre eigenen Hände nahmen. In einem verhielten sie sich jedoch alle gleich: Sie mieden ihn. Und er konnte es ihnen nicht verdenken. Er mied sie ebenfalls. Die meiste Zeit verbrachte er auf dem Vordeck in der Nähe von Viviace. Die Piratenmannschaft kam nur dorthin, wenn der Betrieb des Schiffes es erforderte. Ansonsten schlugen sie einen großen Bogen darum; sie waren genauso abergläubisch wie die Sklaven. Die lebende, sprechende Galionsfigur flößte ihnen Angst ein. Viviace ließ sich nicht anmerken, ob diese Scheu sie kränkte. Wintrow dagegen war sogar froh, dass es noch einen Fleck auf dem Schiff gab, wo er relativ ungestört war. Er lehnte den Kopf gegen die Reling und versuchte an etwas weniger Schmerzliches zu denken. Zu Hause war jetzt fast Frühling. Die Knospen in den Obstgärten des Klosters würden bereits schwellen. Wie es wohl Berandol mit seinen Studien ging? Ob sein ehemaliger Tutor ihn überhaupt vermisste? Mit tiefem Bedauern malte er sich aus, was er mittlerweile studieren würde, wenn er dort wäre. Wintrow sah auf seine Hände hinunter. Früher einmal hatte er damit Manuskripte übertragen und bunte Glasfenster geformt. Es waren die Hände eines Jungen gewesen, beweglich und dennoch zart. Jetzt bedeckten Schwielen seine Handflächen, und an einer Hand fehlte ihm sogar ein Finger. Es waren die rauen Hände eines Seemanns. Und sein Finger würde niemals einen Priesterring tragen. Hier war der Frühling anders. Das Segeltuch flatterte knat-
ternd im kühlen Wind. Über ihre Köpfe flogen Schwärme von Zugvögeln hinweg und stießen ihre unheimlichen Schreie aus. Die Inseln zu beiden Seiten des Kanals schimmerten in einem noch üppigeren Grün, und an ihren Stränden stritten sich kreischend Landvögel um Nistplätze. Jemand rief ihn im Geiste in die Gegenwart zurück. »Dein Vater ruft dich«, sagte Viviace leise. Sicher. Er hatte es durch sie gespürt. Die Fahrt durch den Sturm hatte das Band aus Verstand und Geist zwischen ihm und dem Schiff verstärkt und gefestigt. Er wies es nicht mehr so heftig zurück wie einst und spürte, dass Viviace es auch nicht mehr so stark hegte wie früher. Vielleicht trafen sich wenigstens diesbezüglich ihre Gefühle in der Mitte. Seit dem Sturm war sie freundlich zu ihm, aber nicht mehr. Wie ein abgelenktes Elternteil mit einem quengeligen Kind umgeht, dachte Wintrow. »In gewisser Weise haben wir seit dem Anfang unserer Reise die Rollen getauscht«, erklärte sie laut. Er nickte. Ihm fehlte die Lust und auch die Kraft, um die Wahrheit zu leugnen. Dann straffte er sich, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und schob das Kinn vor. Sein Vater sollte nicht sehen, wie unsicher er war. Mit hoch erhobenem Kopf suchte er sich den Weg über das Deck. Er mied die Trauben von Sklaven und die Piraten. Niemand sah ihn an, und es hielt ihn auch keiner auf. Du bist verrückt, wenn du glaubst, dass dich alle beobachten, schalt er sich. Sie hatten gewonnen. Warum sollten sie sich um das Verhalten des letzten überlebenden Mitglieds der alten Mannschaft kümmern? Wenigstens hatte er es körperlich unversehrt überstanden. Die Viviace jedoch hatte Spuren des Sklavenaufstands davongetragen. Immer noch schimmerten Blutflecken auf ihren Planken. Diese Male würden nicht vergehen, ganz gleich, wie intensiv die Männer sie mit Sand schrubbten. Und das Schiff
stank auch immer noch wie ein Sklavenschiff, trotz der ständigen Reinigung, die Brig angeordnet hatte. Der Sturm hatte ebenfalls seinen Tribut an ihren Segeln gefordert. Man sah das hastige Flickwerk der Piraten nur zu offensichtlich. Auf dem Achterdeck waren Türen gewaltsam geöffnet worden, als die Sklaven die Offiziere gejagt hatten. Das glänzende Holz war zersplittert und hing schief in den Angeln. Es war nicht mehr das ordentliche, feine Schiff, das von Bingtown aus in See gestochen war. Plötzlich beschämte es Wintrow, sein Familienschiff so zu sehen. Es war fast, als hätte er seine Schwester bei der Hurerei in einer Taverne ertappt. Ein zärtliches Gefühl für die Viviace wallte plötzlich in ihm hoch, und er fragte sich, wie es wohl gewesen wäre, wenn er aus freien Stücken an Bord des Schiffes gekommen wäre, vielleicht als Schiffsjunge, um unter dem Befehl seines Großvaters zu dienen. Energisch schob er diese Gedanken beiseite. Er gelangte an eine leicht demolierte Tür, vor der zwei mürrische Kartenvisagen Wache hielten. Er trat an den ehemaligen Sklaven vorbei, als sähe er sie nicht, und klopfte an die Tür der Kabine, die einmal Gantry gehört hatte. Als er noch lebte. Jetzt war der geplünderte, kahle Raum die Gefängniszelle seines Vaters. Wintrow wartete nicht auf eine Antwort, sondern trat ein. Sein Vater saß auf dem Rand der Koje und starrte Wintrow entgegen. Ein Auge war blutunterlaufen, und sein Gesicht war geschwollen und blass. Kyle Havens Haltung verriet, dass er Schmerzen empfinden musste, aber seine Begrüßung war nur sarkastisch. »Nett, dass du dich noch an mich erinnerst. Vermutlich warst du zu beschäftigt, deinen neuen Herren in den Hintern zu kriechen.« Wintrow unterdrückte einen Seufzer. »Ich wollte schon früher zu Euch, aber Ihr habt geschlafen. Und ich wusste, dass Schlaf Euch besser heilen würde als alles, was ich zu bieten hätte. Wie geht es Euren Rippen?« »Sie brennen. Und mein Kopf schmerzt bei jedem Herz-
schlag. Außerdem bin ich hungrig und durstig.« Er deutete mit dem Kinn zur Tür. »Sie wollen mich nicht einmal hinauslassen, damit ich frische Luft schnappen kann.« »Ich habe Essen und Wasser für Euch hier gelassen. Habt Ihr es nicht…?« »Doch, ich habe es gefunden. Eine Pfütze Wasser und zwei Stücke trockenes Brot.« Die Stimme seines Vaters vibrierte vor unterdrückter Wut. »Mehr konnte ich nicht für Euch bekommen. Brot und Wasser sind im Moment knapp an Bord. Während des Sturms ist viel Nahrung vom Salzwasser verdorben worden…« »Du meinst wohl, die Sklaven haben sie verschlungen.« Kyle schüttelte angewidert den Kopf und zuckte anschließend zusammen. »Sie besitzen nicht einmal genug Verstand, um zu begreifen, dass Nahrung eingeteilt werden muss. Sie töten mitten in einem Orkan die einzigen Männer, die das Schiff segeln können, und fressen oder vernichten die Hälfte der Lebensmittelrationen an Bord. Sie können für sich genauso wenig Verantwortung übernehmen wie eine Schar Küken. Ich hoffe, dass wenigstens du dich über die Freiheit freust, die du ihnen geschenkt hast. Sie wird wahrscheinlich sowohl ihr Tod als auch ihre Erlösung sein.« »Sie haben sich selbst befreit, Vater«, erwiderte Wintrow hartnäckig. »Aber du hast sie nicht aufgehalten.« »Genauso wenig, wie ich dich aufgehalten habe, als du sie in Ketten an Bord gebracht hast.« Wintrow holte Luft, weil er weitersprechen wollte, hielt dann aber inne. Ganz gleich, wie sehr er versuchte, sein Tun zu rechtfertigen, sein Vater würde seine Gründe niemals akzeptieren. Stattdessen verstärkten Kyles Worte noch Wintrows schlechtes Gewissen. War er schuld an dem Tod der Mannschaft, weil er nichts unternommen hatte? Und wenn ja, lud er damit nicht auch die toten Sklaven auf sein Gewissen, die vor dem Aufstand verreckt waren? Dieser
Gedanke war so peinigend, dass er nicht darüber nachdenken wollte. »Wollt Ihr, dass ich nach Euren Wunden sehe, oder soll ich versuchen, Nahrung für Euch aufzutreiben?« »Hast du die Medizinkiste gefunden?« Wintrow schüttelte den Kopf. »Sie ist verschwunden. Niemand gibt zu, dass er sie genommen hätte. Vielleicht ist sie beim Sturm über Bord gegangen.« »Nun, ohne diese Kiste kannst du wenig für mich tun«, meinte sein Vater zynisch. »Aber etwas zu essen wäre trotzdem ganz nett.« Wintrow wollte sich nicht provozieren lassen. »Ich werde sehen, was ich tun kann«, erwiderte er leise. »Das kann ich mir denken«, erwiderte sein Vater in schneidendem Ton. Er senkte unvermittelt die Stimme, als er weitersprach. »Und was wirst du mit dem Piraten tun?« »Das weiß ich nicht«, gab Wintrow aufrichtig zu und erwiderte unerschrocken den Blick seines Vaters. »Leider. Ich weiß, dass ich versuchen muss, ihn zu heilen. Aber ich weiß nicht, was schlimmer ist: die Aussicht, dass er überlebt und wir weiterhin Gefangene bleiben oder dass er stirbt und wir mit ihm und die Viviace allein zurückbleibt.« Sein Vater spie auf den Boden. Das war so untypisch für ihn, dass es Wintrow wie ein Schlag traf. Kyles Augen glitzerten wie zwei kalte Kiesel. »Ich verachte dich«, knurrte er. »Deine Mutter muss sich mit einer Seeschlange eingelassen haben, wenn sie so etwas wie dich ausgebrütet hat. Es beschämt mich, dass die Menschen dich meinen Sohn nennen. Sieh dich an! Piraten haben unser Familienschiff gekapert, den Lebensunterhalt für deine Mutter, deine Schwester und deinen kleinen Bruder. Ihr Überleben hängt davon ab, dass du das Schiff zurückeroberst! Aber du denkst nicht einmal daran! Nein. Du denkst nur darüber nach, ob du den Piraten töten oder heilen sollst, dessen Stiefel dir im Nacken sitzt und dich zu Boden drückt.
Du hast mit keinem Gedanken überlegt, Waffen für uns zu besorgen oder das Schiff zu überreden, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen, wie es sich gegen mich gewehrt hat. All die Zeit, die du verschwendet hast, dich um die Sklaven zu kümmern, als sie noch in Ketten lagen! Hast du versucht, bei ihnen Hilfe zu bekommen? Nein. Du kuschst und hilfst dem verdammten Piraten, das Schiff zu behalten, das er uns gestohlen hat.« Wintrow schüttelte den Kopf. Er war verwundert und gleichzeitig traurig. »Ihr denkt nicht logisch. Was erwartet Ihr von mir, Vater? Soll ich im Alleingang Kennit und seiner Mannschaft das Schiff entreißen, die Sklaven wieder in die Frachträume werfen und dann nach Chalced segeln?« »Du und dieses teuflische Schiff waren in der Lage, mich und meine Mannschaft zu übertölpeln! Warum bringst du das Schiff nicht gegen ihn auf, wie du es bei mir geschafft hast? Warum kannst du nicht wenigstens einmal im Interesse deiner Familie handeln?« Sein Vater stand auf und ballte die Fäuste, als wolle er Wintrow schlagen. Dann flogen seine Hände zu seiner Brust, und er schnappte vor Schmerz scharf nach Luft. Sein Gesicht verlor alle Zornesröte und wurde bleich. Kyle schwankte. Wintrow wollte ihn stützen. »Fass mich nicht an!«, knurrte Kyle drohend, stolperte zum Rand der Koje und ließ sich langsam darauf niedersinken. Dort saß er und starrte seinen Sohn finster an. Was sieht er wohl in mir? dachte Wintrow. Vermutlich war er für den großen, blonden Mann eine einzige Enttäuschung. Er war klein, dunkelhaarig und zierlich wie seine Mutter und würde niemals über die körperliche Kraft seines Vaters verfügen. Mit seinen vierzehn Jahren ähnelte er körperlich immer noch mehr einem Jungen als einem Mann. Aber er verfehlte die Erwartungen seines Vaters nicht nur in körperlicher Hinsicht. Auch sein Mut würde niemals dem seines Erzeugers nahe kommen. »Ich habe das Schiff nicht gegen Euch aufgewiegelt, Sir.«
Wintrows Stimme klang leise. »Das habt Ihr selbst getan, durch Eure Behandlung von Viviace. Ich kann diesmal nicht mehr in voller Gänze Anspruch auf sie erheben. Das Beste, was ich hoffen kann, ist, uns am Leben zu erhalten.« Kyle Haven richtete seinen Blick gegen die Wand und starrte sie unbewegt an. »Geh und hol mir etwas zu essen!« Er bellte den Befehl, als habe er immer noch das Kommando über das Schiff. »Ich werde es versuchen«, erwiderte Wintrow unbeeindruckt. Er drehte sich um und verließ den Raum. Als er die beschädigte Tür hinter sich zuzog, sprach ihn eine der Kartenvisagen vor der Tür an. Die Spuren der Tätowierungen, die seine vielen Besitzer auf seinem Gesicht hinterlassen hatten, schienen zu tanzen, als er fragte: »Warum lässt du dir das von ihm gefallen?« »Was?«, erwiderte Wintrow überrascht. »Er behandelt dich wie einen Hund.« »Er ist mein Vater.« Wintrow versuchte seinen Unwillen darüber zu verbergen, dass sie das Gespräch belauscht hatten. Wie viel hatten sie gehört? »Er ist ein Pferdearsch«, bemerkte der andere Posten kalt und sah Wintrow herausfordernd an. »Und du bist folglich der Sohn eines Pferdearschs.« »Halt die Klappe!«, knurrte der erste Posten. »Der Junge ist nicht schlecht. Wenn du dich nicht mehr daran erinnern kannst, wer freundlich zu dir war, als du angekettet warst, ich kann es noch!« Er sah wieder Wintrow an und deutete mit dem Kopf auf die Tür. »Ein Wort von dir genügt, Junge. Ich sorge dafür, dass er vor dir kriecht.« »Nein«, sagte Wintrow. »Das will ich nicht. Ich will nicht, dass jemand vor mir kriecht.« Es schien ihm geraten, dem Mann sein Anliegen unmissverständlich klarzumachen. »Bitte. Tut meinem Vater nichts.« Die Kartenvisage zuckte mit den Schultern. »Wie du willst.
Aber ich spreche aus Erfahrung, Junge. Es ist der einzige Weg, wie man mit solchen Kerlen umgehen kann. Er kriecht vor dir, oder du kriechst vor ihm. Etwas anderes gibt es für ihn nicht.« »Vielleicht«, räumte Wintrow zögernd ein. Er wollte schon weggehen, blieb dann aber stehen. »Ich kenne Eure Namen nicht.« »Villia. Du bist Wintrow, richtig?« »Ja. Ich bin Wintrow. Es freut mich, dass ich Euren Namen weiß, Villia.« Wintrow sah den anderen Posten erwartungsvoll an. Der runzelte die Stirn und wirkte beklommen. »Deccan«, antwortete er schließlich. »Deccan«, wiederholte Wintrow und beschloss, sich die Namen zu merken. Er erwiderte den Blick des Mannes und nickte ihm zu, bevor er sich umdrehte. Er spürte die Belustigung, aber auch den Respekt bei Villia. Als er auf Deck trat, blinzelte er im Sonnenlicht. Sa'Adar versperrte ihm den Weg. Der hoch gewachsene Priester wirkte von seinem Sklavendasein immer noch mitgenommen. Die Hand- und Fußfesseln hatten die Haut an seinen Gelenken aufgeschabt. »Ich habe nach dir gesucht«, verkündete er. Zwei Kartenvisagen flankierten den Priester wie angeleinte Bluthunde. »Habt Ihr das?« Wintrow beschloss weiterzumachen, wie er angefangen hatte. Er straffte die Schultern und sah dem älteren Mann offen in die Augen. »Habt Ihr diese Männer vor der Kajüte meines Vaters postiert?«, wollte er wissen. Der Wanderprediger ließ sich nicht einschüchtern. »Allerdings. Dieser Mann muss eingesperrt bleiben, bis man über ihn zu Gericht gesessen und ihn verurteilt hat.« Der Priester sah Wintrow hochmütig an. Er war so viel größer und älter als er. »Willst du das in Frage stellen?« »Ich?« Wintrow tat, als denke er ernsthaft über die Frage nach. »Warum sollte es Euch kümmern, wenn ich es täte? Wenn ich Ihr wäre, würde es mich nicht interessieren, was
Wintrow Vestrit denkt. Ich würde mir darüber Sorgen machen, was Kapitän Kennit darüber denkt, wenn ich mir eine solche Autorität anmaße.« »Kennit ist ein sterbender Mann«, erwiderte Sa'Adar unerschrocken. »Brig hat hier das Kommando. Und er scheint meine Autorität über die Sklaven zu begrüßen. Er lässt ihnen durch mich seine Befehle übermitteln. Und er hat auch nichts dagegen gehabt, dass ich Kapitän Haven unter Bewachung gestellt habe.« »Sklaven? Es sind doch jetzt sicher alles freie Menschen, oder?« Wintrow lächelte bei diesen Worten und tat so, als merke er nicht, wie gespannt die Kartenvisagen der Unterhaltung folgten. Die anderen ehemaligen Sklaven an Deck lauschten ebenfalls. Und einige rückten näher. »Du weißt, was ich meine!«, rief Sa'Adar verärgert. »Normalerweise sagt man, was man meint…« Wintrow ließ diese Feststellung eine Weile wirken und fügte dann hinzu: »Ihr sagtet, Ihr hättet mich gesucht?« »Allerdings. Hast du Kennit heute gesehen?« »Warum wollt Ihr das wissen?«, konterte Wintrow gelassen. »Weil ich einfach wissen will, welche Absichten er hat.« Der Priester hatte eine gut ausgebildete Stimme und setzte sie jetzt geschickt ein. Mehr als ein tätowiertes Gesicht wandte sich ihm zu, als er weitersprach. »Die Gerüchte in Jamaillia-Stadt besagen, dass Kapitän Kennit die Mannschaft tötet, wenn er ein Sklavenschiff kapert, und das Schiff den Sklaven gibt, die darauf gefangen waren, damit sie ebenfalls Piraten werden und seinen Feldzug gegen die Sklaverei fortsetzen können. Das haben wir jedenfalls gehofft, als wir seine Hilfe akzeptierten, dieses Schiff zu bemannen, das wir genommen hatten. Wir haben erwartet, dass wir es behalten könnten. Und wir hofften es als Werkzeug für den neuen Anfang einsetzen zu können, den wir machen müssen. Jetzt jedoch spricht Kapitän Kennit so, als wollte er es selbst behalten. Nach allem, was wir über
ihn gehört haben, können wir nicht glauben, dass er ein Mann ist, der uns das einzige Wertvolle nimmt, was wir haben. Aus diesem Grund möchten wir ihn fragen, schlicht und ehrlich: Wem, glaubt er, gehört das Schiff?« Wintrow betrachtete ihn gleichmütig. »Wenn Ihr Kapitän Kennit diese Frage stellen wollt, dann lasst Euch nicht davon abhalten. Denn nur er kann Euch eine Antwort darauf geben. Wenn Ihr aber mich fragt, dann hört Ihr nicht meine Antwort, sondern die Wahrheit.« Er sprach absichtlich leiser, damit diejenigen, die zuhören wollten, näher treten mussten. Und viele hatten das getan, einschließlich einiger Piraten. Letztere wirkten ziemlich bedrohlich. Sa'Adar lächelte überheblich. »Deine Wahrheit ist vermutlich, dass das Schiff dir gehört.« Wintrow schüttelte den Kopf, erwiderte aber das Lächeln. »Das Schiff gehört nur sich selbst. Viviace ist ein freies Geschöpf, mit dem Recht, ihr eigenes Leben zu führen. Oder würdet Ihr, der Ihr selbst in Ketten gelegen habt, Euch anmaßen, einem anderen eben diese Grausamkeit zuzufügen?« Scheinbar sprach er zu Sa'Adar. Wintrow sah sich nicht danach um, wie seine Worte auf die anderen wirkten. Stattdessen schwieg er, als erwarte er eine Antwort. Nach einem Moment lachte Sa'Adar verächtlich. »Das kann er nicht ernst meinen«, versicherte er den Leuten. »Die Galionsfigur kann durch irgendeinen Zauber sprechen. Das ist ein interessanter Trick aus Bingtown. Aber ein Schiff ist ein Schiff, ein Ding und keine Person. Und rechtmäßig gehört das Schiff uns!« Doch nur wenige Sklaven stimmten ihm murmelnd zu, denn kaum hatte er die letzten Worte geäußert, als ein Pirat ihn zur Rede stellte. »Willst du hier zur Meuterei aufrufen?«, verlangte der ergraute Seebär zu wissen. »Wenn ja, dann springst du unverzüglich über die Klinge.« Der Mann lächelte ihn eindeutig unfreundlich an und entblößte dabei große Lücken in seinen Zahnreihen. Der große Pirat links neben ihm lachte kehlig und
rollte mit den Schultern. Diese subtile Zurschaustellung seiner Kraft war eindeutig an Sa'Adars Kartenvisagen gerichtet. Die beiden tätowierten Männer standen hoch aufgerichtet da und sahen den Priester mit zusammengekniffenen Augen an. Sa'Adar schien schockiert. Offenbar hatte er damit nicht gerechnet. Aber er gab nicht nach und antwortete empört: »Warum sollte Euch das interessieren?« Der untersetzte Pirat stieß dem großen Priester den Zeigefinger gegen die Brust. Und er ließ ihn da, während er erwiderte: »Kennit ist unser Kapitän. Was er sagt, gilt. Klar?« Als der Priester nicht antwortete, grinste der Mann. Sa'Adar musste vor dem Druck des Zeigefingers zurückweichen. Dann drehte sich der Pirat um und bemerkte über die Schulter: »Du solltest lieber nichts in Frage stellen, was Kennit tut. Wenn es dir nicht passt, sag es ihm ins Gesicht. Er ist hart, aber gerecht. Wenn du hinter seinem Rücken tuschelst und Unruhe auf dem Schiff verbreitest, wird das nur auf dich selbst zurückfallen.« Ohne sich noch einmal umzusehen, gingen die Piraten wieder an ihre Arbeit. Die Leute konzentrierten sich auf Sa'Adar. Er unterdrückte das wütende Glühen in seinen Augen nicht, aber seine Stimme klang dünn und kindlich, als er sagte: »Verlasst euch darauf, dass ich mit Kennit darüber reden werde. Darauf könnt ihr euch verlassen!« Wintrow senkte den Blick. Vielleicht hatte sein Vater Recht. Vielleicht gab es tatsächlich einen Weg, das Familienschiff sowohl von den Piraten als auch von den Sklaven zurückzugewinnen. Jeder Konflikt bietet auch jemandem eine Chance. Sein Herz schlug heftiger, als er davonschritt, und er fragte sich, wo solche Gedanken in ihm entstanden sein könnten. Viviace war beschäftigt. Obwohl sie über das Wasser auf das Heck der Marietta starrte, war ihre eigentliche Aufmerksamkeit nach innen gerichtet. Der Mann am Ruder war kompetent, und die Leute, die in ihrer Takelage herumsprangen, waren ohne Ausnahme echte Seeleute. Die Matrosen reinigten ihre
Decks und die Laderäume, reparierten Holz und polierten das Metall. Zum ersten Mal seit vielen Monaten hatte sie keine Klagen über die Fähigkeiten ihres Kapitäns. Sie konnte sich vollkommen auf ihre eigenen Probleme konzentrieren und darauf vertrauen, dass die, die sie führten, ihr Handwerk verstanden. Ein erwachtes Zauberschiff spürte durch sein Hexenholzgerippe alles, was in seinem Inneren vor sich ging. Vieles davon war sicher alltäglich und nicht weiter wichtig. Die Reparatur eines Taus oder das Schälen einer Zwiebel in der Kombüse interessierte sie natürlich nicht. Diese Dinge konnten ihren Lebensweg nicht beeinflussen. Kennit dagegen schon. Der rätselhafte Mann schlief rastlos im Kapitänsquartier. Viviace konnte ihn zwar nicht sehen, aber sie nahm ihn auf eine Weise wahr, für die Menschen keine Worte kannten. Sein Fieber stieg wieder. Die Frau, die sich um ihn kümmerte, war besorgt. Sie machte etwas mit kaltem Wasser und einem Lappen. Viviace suchte in ihr nach Einzelheiten, aber sie fand keine Verbindung zu ihr. Noch kannte sie sie nicht gut genug. Kennit war für sie viel zugänglicher als Etta. Seine Fieberträume sprudelten achtlos aus ihm heraus und drangen in Viviace ein wie das Blut, das auf ihren Decks vergossen worden war. Sie absorbierte sie, wurde aber nicht schlau aus ihnen. Ein kleiner Junge wurde gequält, hin und her gerissen zwischen der Loyalität zu einem Vater, der ihn liebte, aber nicht wusste, wie er ihn schützen sollte, und einem Mann, der ihn vor anderen schützte, der aber kein bisschen Liebe in seinem Herzen spürte. Und immer wieder stieg eine Schlange aus den Tiefen seines Traumes auf und trennte sein Bein ab. Der Biss ihrer Kiefer war scharf und eisig. Aus seiner tiefsten Seele griff er nach Viviace, hin zu einer tiefen Anteilnahme, die er nur aus einer diffusen Erinnerung einer verlorenen Kindheit kannte. »Hallo, hallo, was ist das denn? Oder vielleicht sollte ich fragen, wer ist das?«
Die Stimme, eindeutig Kennits Stimme, ertönte als ein leises Wispern in ihrem Verstand. Sie schüttelte den Kopf, dass ihre schwarzen Locken im Wind nur so flogen. Der Pirat sprach nicht mit ihr. Selbst in ihren eindringlichsten Gesprächen mit Althea und Wintrow hatte sie deren Gedanken nicht so klar wahrgenommen. »Da spricht auch nicht Kennit«, murmelte sie leise. Dessen war sie sicher. Trotzdem war es seine Stimme. Der Kapitän lag in seinem Salon und atmete angestrengt und keuchend, wobei er heftige Verwünschungen murmelte. Plötzlich stöhnte er. »Nein, ich bin nicht Kennit«, bestätigte die piepsige Stimme amüsiert. »Genauso wenig, wie du die Vestrit bist, für die du dich hältst. Also, wer bist du?« Es war beunruhigend, einen anderen Verstand in sich zu spüren, der nach ihrer Reaktion forschte. Instinktiv zuckte sie vor dem Kontakt zurück. Sie war stärker als er. Als sie sich von ihm zurückzog, konnte er ihr nicht folgen. Aber dadurch unterbrach sie auch den zerbrechlichen Kontakt zu Kennit. Frustration und Ärger wallten in ihr hoch. Sie ballte die Fäuste und stürzte sich in die nächste Welle, statt sie sauber zu durchschneiden. Der Steuermann fluchte und nahm eine kleine Korrektur am Ruder vor. Viviace leckte sich die salzige Gischt von den Lippen und schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht. Wer und was war er? Sie hielt ihre Gedanken verschlossen und versuchte herauszufinden, was überwog, ihre Angst oder ihre Faszination. Gleichzeitig spürte sie eine merkwürdige Verwandtschaft zu dem Wesen, das mit ihr gesprochen hatte. Sie hatte seine aggressive Neugier zwar mit Leichtigkeit zurückgeschmettert, aber es gefiel ihr nicht, dass überhaupt jemand versucht hatte, ihren Verstand zu erforschen. Das würde sie nicht tolerieren. Wer auch immer der Eindringling war, sie würde ihn demaskieren und stellen. Sorgfältig errichtete sie ihre eigene Abwehr, während sie ihre Fühler vorsichtig nach der Kabine ausstreckte, in der Kennit sich im
Schlaf wälzte. Den Piraten fand sie sofort. Er kämpfte sich immer noch durch seine Fieberträume, versteckte sich in einem Schrank, während ein Traumjäger seinen Namen mit einer falschen Freundlichkeit rief. Die Frau legte ihm ein kühles Tuch auf die Stirn und ein anderes über seinen geschwollenen Beinstumpf. Viviace spürte augenblicklich die Linderung, die ihm das bereitete. Das Schiff tastete sich erneut vor, kühner diesmal, aber sie fand sonst niemanden. »Wo bist du?«, verlangte sie verärgert zu wissen. Kennit zuckte mit einem Schrei zusammen, als der Jäger in seinem Traum die Worte wiederholte. Etta beugte sich über ihn und versuchte ihn zu beruhigen. Viviaces Frage blieb unbeantwortet. Kennit tauchte auf und erlangte keuchend das Bewusstsein. Er brauchte einen Augenblick, bis er wusste, wo er war. Dann verzog er erfreut seine vom Fieber ausgetrockneten Lippen zu einem Lächeln. Sein Zauberschiff. Er war an Bord seines Zauberschiffs, in der gut ausgestatteten Kapitänskajüte. Ein feines Leinenlaken bedeckte seinen verschwitzten Körper. Poliertes Messing und Holz verbreiteten eine sowohl gemütliche als auch edle Atmosphäre. Er hörte, wie das Wasser schäumte, während die Viviace den Kanal durchquerte. Beinahe konnte er das Bewusstsein des Schiffes um sich herum fühlen und spüren, wie es ihn beschützte. Sie war wie eine zweite Haut und schirmte ihn vor der Welt ab. Er seufzte zufrieden und hustete sofort wegen des trockenen Schleims in seinem Hals. »Etta«, krächzte er. »Wasser.« »Hier, ich habe es hier«, erwiderte sie beruhigend. Tatsächlich. Kennit stellte überrascht fest, dass sie bereits mit einem Becher Wasser neben ihm stand. Mit ihren langen, kühlen Fingern stützte sie seinen Hals, damit er den Kopf zum Trinken heben konnte. Danach drehte sie geschickt sein Kissen herum, bevor sie ihn langsam wieder zurücksinken ließ. Mit einem kühlen Lappen tupfte sie ihm den Schweiß aus dem Ge-
sicht und wischte auch seine Hände ab. Er blieb regungslos und still liegen, kraftlos und dankbar für ihre Wohltaten. Einen Augenblick erfüllte ihn tiefer Friede. Doch das hielt nicht lange an. Die Schmerzen in seinem geschwollenen Bein machten sich unmissverständlich bemerkbar. Er versuchte, sie zu ignorieren. Aber die Schmerzen steigerten sich mit jedem Atemzug. Die Hure saß neben seinem Bett und nähte etwas. Teilnahmslos betrachtete er sie. Sie sah älter aus, als er sie im Gedächtnis gehabt hatte. Die Linien um ihren Mund und auf ihrer Stirn waren tiefer. Ihr Gesicht unter dem kurzen schwarzen Haarschopf war ausgemergelt. Dadurch wirkten ihre dunklen Augen noch eindringlicher. »Du siehst schrecklich aus«, bemerkte er tadelnd. Sie legte die Näharbeit weg und lächelte ihn an, als habe er ihr ein Kompliment gemacht. »Es fällt mir schwer, Euch so zu sehen. Wenn Ihr krank seid… dann kann ich nicht schlafen und nichts essen…« Was für eine egoistische Frau. Sie hatte sein Bein an eine Seeschlange verfüttert und versuchte jetzt, so zu tun, als wäre das ihr Problem. Sollte er jetzt etwa noch Mitleid für sie empfinden? Er schob den Gedanken beiseite. »Wo ist der Junge? Wintrow?« Sie stand sofort auf. »Wollt Ihr ihn?« Dumme Frage. »Natürlich will ich ihn. Er soll mein Bein heilen. Warum hat er das noch nicht gemacht?« Sie beugte sich über das Bett und lächelte ihn zärtlich an. Er wollte sie wegdrücken, verfügte aber nicht über genügend Kraft. »Ich glaube, er will warten, bis wir in Bullenbach eingelaufen sind. Er möchte einige Dinge parat haben, bevor er… Euch heilt.« Sie wandte sich unvermittelt von seinem Krankenbett ab, aber er hatte noch die Tränen in ihren Augen glitzern sehen. Ihre breiten Schultern waren gebeugt, und sie stand nicht mehr stark und aufrecht da. Anscheinend erwartete sie nicht, dass er überlebte. Als ihm das so plötzlich klar wurde,
ärgerte und erschreckte es ihn gleichzeitig. Es kam ihm vor, als wünschte sie ihm den Tod. »Geh und hol den Jungen!«, befahl er barsch. Er wollte sie nicht mehr sehen. »Erinnere ihn daran. Erinnere ihn daran, dass er und sein Vater sterben, wenn ich sterben muss. Sag ihm das!« »Ich schicke jemanden, der ihn sucht«, erwiderte sie mit bebender Stimme und ging zur Tür. »Nein. Du gehst selbst, und zwar sofort, und holst ihn. Jetzt.« Sie drehte sich um und strich ihm zu seinem Ärger sanft über das Gesicht. »Wenn Ihr das wollt«, sagte sie beruhigend, »gehe ich sofort.« Er sah ihr nicht nach, sondern lauschte auf ihre Schritte auf dem Deckboden. Sie beeilte sich, und als sie hinausging, schloss sie die Tür leise hinter sich. Er hörte, wie sie jemanden ärgerlich anfuhr. »Nein. Geh weg. Ich will nicht, dass er jetzt mit solchen Dingen belästigt wird.« Und dann fügte sie mit leiserer, drohender Stimme hinzu: »Berühr diese Tür, und ich bringe dich auf der Stelle um.« Wer auch immer es war, er hörte auf sie, denn niemand klopfte. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Schmerz. Das Fieber ließ die Welt schärfer und ihre Farben deutlicher erscheinen. Die gemütliche Kabine schien auf ihn einzudrängen, drohte, auf ihn herabzustürzen. Er schob das Laken weg und hoffte, kühlere Luft zu finden. »Also, Kennit, was hast du mit deinem ›Gassenjungen‹ vor, wenn er kommt?« Der Pirat presste die Augen fest zu und versuchte, die Stimme zu ignorieren. »Wie amüsant. Glaubst du wirklich, dass ich dich nicht sehe, wenn du die Augen zumachst?« Das Amulett war gnadenlos. »Halt den Mund, und lass mich in Ruhe. Ich wünschte, ich hätte dich niemals schnitzen lassen.« »Oh, jetzt hast du aber meine Gefühle verletzt! Was für böse
Worte, nach allem, was wir gemeinsam durchgestanden haben.« Kennit öffnete die Augen, hob den linken Arm und starrte auf das Armband. Das winzige Hexenholzamulett, das seinem eigenen verschlossenen Gesicht nachgebildet worden war, lächelte ihn freundlich an. Es war mit Lederbändern über seinem Puls befestigt. Durch sein Fieber schien es, als würde das Gesicht ihm näher kommen, und er schloss die Augen. »Glaubst du wirklich, dass der Junge dich heilen kann? Nein. So dumm kannst du nicht sein. Natürlich bist du so verzweifelt, darauf zu bestehen, dass er es versucht. Weißt du, was mich verblüfft? Dass der Tod dir genug Angst einjagt, dich mutig dem Messer des Feldschers zu stellen. Denk nur an das geschwollene Fleisch, das so empfindlich ist, dass du kaum den Druck eines Lakens darauf ertragen kannst. Du wirst zulassen, dass er ein Messer daran ansetzt, ein glänzendes, scharfes Messer, das silbrig schimmert, bevor das Blut es rötet…« »Amulett!« Kennit öffnete leicht die Augen. »Warum quälst du mich?« Das Amulett spitzte die Lippen. »Weil ich es kann. Vermutlich bin ich der Einzige auf der Welt, der den großen Kapitän Kennit quälen kann. Den Befreier. Den Möchtegern-König der Piraten-Inseln.« Das kleine Gesicht kicherte und fügte schneidend hinzu: »Der unerschrockene Seeschlangenköder der Inneren Passage. Sag mir eins: Was willst du von diesem JungenPriester? Begehrst du ihn? Er rührt in deinen Fieberträumen an das, was du einmal gewesen bist. Würdest du selbst tun, was man mit dir gemacht hat?« »Nein. Ich war niemals…« »Was denn, ›niemals‹?« Das Hexenholzamulett kicherte grausam. »Glaubst du wirklich, dass du mich belügen könntest, so eng, wie wir miteinander verbunden sind? Ich weiß alles über dich. Alles!« »Ich habe dich gemacht, damit du mir hilfst, nicht damit du
mich quälst! Warum wendest du dich gegen mich?« »Weil ich hasse, was du bist!«, erwiderte das Amulett hitzig. »Ich hasse es, ein Teil von dir zu werden und dir bei dem zu helfen, was du tust.« Kennit schnappte nach Luft. »Was willst du von mir?« Es war ein Schrei der Unterwerfung, ein Flehen nach Gnade oder Mitleid. »Sieh an. Auf diese Frage bist du bis jetzt noch nie gekommen. Was will ich von dir?« Das Amulett kostete die Frage aus. »Vielleicht will ich, dass du leidest. Vielleicht genieße ich es, dich zu quälen. Und vielleicht…« Vor der Türe ertönten Schritte. Sie stammten von Ettas Stiefeln und dem Klatschen nackter Füße. »Sei nett zu Etta«, verlangte das Amulett hastig. »Vielleicht werde ich dann…« Als sich die Tür öffnete, verstummte das Hexenholzgesicht. Es war nur mehr ein unbewegliches, schweigendes Stück Holz an einem Armband am Handgelenk eines kranken Mannes. Wintrow trat ein, unmittelbar gefolgt von der Hure. »Kennit, hier ist er«, verkündete Etta, als sie die Tür hinter sich schloss. »Gut. Lass uns allein.« Wenn das verdammte Amulett glaubte, es könnte ihn zu etwas zwingen, dann irrte es sich. Etta schien bestürzt. »Kennit… Glaubt Ihr, dass das klug ist?« »Nein. Ich glaube, es ist dumm. Deshalb habe ich es dir ja auch befohlen, weil ich mich so gern in Dummheit aale.« Er warf ihr diese Worte mit heiserer, gesenkter Stimme zu und beobachtete derweil, ob sein Amulett reagierte. Es blieb regungslos, aber seine kleinen Augen funkelten. Vermutlich sann es auf Rache. Das kümmerte ihn nicht. Solange er noch atmete, würde er nicht vor einem Stück Holz kuschen. »Hinaus!«, wiederholte er. »Lass den Jungen hier.« Sie marschierte hoch aufgerichtet hinaus und schloss die Tür fest hinter sich. Fest, aber ohne sie zuzuknallen. Sobald sie draußen war, richtete sich Kennit in eine halb sitzende Position
auf. »Komm her!«, befahl er Wintrow. Als der Junge sich dem Bett näherte, packte Kennit die Ecke des Lakens und schlug es beiseite. Sein verletztes Bein kam in seiner ganzen eiternden Glorie zum Vorschein. »Da ist es«, erklärte Kennit angewidert. »Was kannst du für mich tun?« Bei dem Anblick erbleichte der Junge. Kennit wusste, dass er sich zusammenreißen musste, um neben das Bett treten zu können und das Bein genauer zu betrachten. Bei dem Gestank rümpfte er die Nase. Dann hob er den Blick und sah Kennit an. »Ich weiß es nicht«, antwortete er aufrichtig. »Es sieht ziemlich schlimm aus.« Sein Blick schoss zwischen dem Bein und dem Piraten hin und her. »Wir können es folgendermaßen sehen: Wenn ich nicht versuche, Euer Bein abzunehmen, müsst Ihr sterben. Was haben wir zu verlieren, wenn wir es versuchen?« Der Pirat grinste gequält. »Ich? Nicht viel, wie es scheint. Aber du hast immer noch dein Leben und das deines Vaters in der Waagschale.« Wintrow lachte freudlos. »Ich weiß sehr wohl, dass mein Leben verwirkt ist, wenn Ihr sterbt, mit oder ohne mein Zutun.« Er deutete mit dem Kopf zur Tür. »Sie würde niemals dulden, dass ich Euch überlebe.« »Du fürchtest die Frau, hab ich Recht?« Kennits Grinsen verstärkte sich. »Dazu hast du auch allen Grund. Also. Was schlägst du vor?« Er versuchte, mit seinen gelassenen Worten den Anschein von Kühnheit zu erwecken. Der Junge musterte wieder das Bein. Er runzelte die Stirn und dachte nach. Seine Konzentration betonte seine Jugend noch. Kennit sah auf seinen verwesenden Stumpf. Doch dann zog er es rasch vor, Wintrow ins Gesicht zu blicken. Als der Junge seine Hände ausstreckte, zuckte der Pirat unwillkürlich zusammen. »Ich werde es nicht berühren«, versprach Wintrow. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Aber ich muss herausfinden, wo das gesunde Fleisch aufhört und die Fäulnis
beginnt.« Er wölbte die Hände nebeneinander, als wollte er etwas unter ihnen fangen. Beginnend bei der Verletzung, glitt er allmählich mit den Händen in Richtung von Kennits Oberschenkel. Wintrows Augen waren zu Schlitzen zusammengezogen, und sein Kopf war geneigt, als ob er aufmerksam lauschen würde. Kennit beobachtete die Hände des Jungen. Was spürte er? Wärme oder vielleicht auch etwas Subtileres, zum Beispiel das langsame Wirken des Giftes? Die Hände des Jungen waren von der schweren Arbeit gezeichnet, aber sie besaßen noch immer die träge Grazie eines Künstlers. »Du hast nur neun Finger«, bemerkte Kennit plötzlich. »Was ist mit dem zehnten passiert?« »Ein Unfall«, antwortete Wintrow abgelenkt und bat ihn dann zu schweigen. »Sschh!« Kennit runzelte die Stirn, tat aber, wie ihm geheißen. Er bemerkte, wie sich die gewölbten Hände des Jungen über seine Haut bewegten. Ihr geisterhafter Druck machte ihm die pochenden Schmerzen wieder deutlicher. Kennit biss die Zähne zusammen, schluckte und schaffte es, sie erneut aus seinem Bewusstsein zu verdrängen. Wintrow hielt inne und ließ seine Hände mitten über Kennits Oberschenkel schweben. Die Furchen auf seiner Stirn wurden tiefer. Der Atemrhythmus des Jungen wurde gleichmäßiger, und er schloss die Augen ganz. Es sah aus, als schlafe er im Stehen. Kennit betrachtete sein Gesicht. Die langen, dunklen Wimpern reichten bis zu den Wangen. Diese Wangen und das Kinn strahlten noch viel von der Rundheit der Jugend aus, und sie zeigten nicht einmal den Ansatz eines Flaums. Neben der Nase verkündete das kleine grüne Siegel, dass er einmal dem Satrapen gehört hatte. Daneben befand sich eine größere Tätowierung, eine grobe Arbeit, in der Kennit die Galionsfigur der Viviace erkannte. Seine erste Reaktion war Zorn, weil jemand die Schönheit des Jungen so verdorben hatte. Doch dann sah er, wie die Derbheit der Tätowierung mit seiner Unschuld kontras-
tierte. Etta war so gewesen, als er sie zuerst entdeckt hatte, ein schlaksiges Mädchen in einem Hurenhaus… »Kapitän Kennit? Sir?« Er öffnete die Augen. Wann hatte er sie geschlossen? Wintrow nickte zufrieden. »Hier«, sagte er, als der Pirat ihn ansah. »Wenn wir hier amputieren, dann dürften wir in gesundem Fleisch sein.« Der Junge deutete mit dem Finger auf eine Stelle, die sich erschreckend hoch auf seinem Schenkel befand. Kennit holte tief Luft. »In gesundem Fleisch, sagst du? Sollten wir nicht das schonen, was gesund ist?« »Nein. Wir müssen in das Gesunde hineinschneiden, denn gesundes Fleisch heilt schneller als vergiftetes.« Wintrow hielt inne und strich sich mit beiden Händen das Haar aus dem Gesicht. »Ich kann nicht sagen, ob irgendein Teil des Beines unvergiftet ist. Aber wenn wir hier schneiden, dann haben wir die besten Chancen.« Der Junge wirkte nachdenklich. »Zuerst möchte ich Egel an das Unterbein ansetzen, um die Schwellung und die Fäulnis zu lindern. Einige der Heiler im Kloster halten es mit Aderlässen, andere mit Egeln. Natürlich gibt es für beide den richtigen Ort und die gemäße Zeit, aber ich glaube, dass das dickere Blut einer Infektion am besten von Egeln abgesaugt wird.« Kennit kämpfte um seine Fassung. Der Blick des Jungen war eindringlich. Er erinnerte Kennit an Sorcor, wenn er versuchte, einen Plan zu verstehen. »Dann werden wir einen Knebel anlegen, hier etwa, und zwar einen breiten, damit er den Blutfluss stoppt. Er muss das Fleisch zusammenschnüren, ohne das Bein zu zerquetschen. Darunter werde ich amputieren. Ich brauche ein scharfes Messer und eine Säge mit feinen Zähnen für den Knochen. Die Schneide des Messers muss so lang sein, dass sie sauber schneidet, ohne dass ich sägen muss.« Der Junge zeigte mit den Fingern die Länge des Messers an. »Und für die Näharbeit be-
nutzen die meisten feine Fischgrätfäden. Aber in meinem Kloster galt, dass die besten Nähte vom Haupthaar des jeweiligen Menschen gemacht wurden, weil der Körper sein Eigen kennt. Ihr habt sehr gutes Haar, Sir, fein und lang. Eure Locken sind locker genug, dass man das Haar lang ziehen kann. Es wird seinen Zweck hervorragend erfüllen.« Kennit fragte sich, ob der Junge ihn absichtlich ärgern wollte oder ob er vergessen hatte, dass er von Kennits Körper sprach. »Und was ist mit den Schmerzen?«, fragte er mit gespielter Unbesorgtheit. »Euer eigener Mut, Sir, wird Euch am besten dienen.« Der Junge erwiderte mit seinen dunklen Augen unerschrocken den Blick des Piraten. »Ich werde nicht schnell arbeiten, aber sehr sorgfältig. Ihr könnt Brandy oder Rum trinken, bevor wir anfangen. Wäre sie nicht so selten und teuer, würde ich Euch auch die Essenz aus der Rinde der Kwazi-Frucht verabreichen. Sie betäubt eine Wunde ganz hervorragend. Natürlich nur, wenn sie frisch blutet. Das heißt, sie wirkt erst nach der Amputation.« Wintrow schüttelte nachdenklich den Kopf. »Vielleicht solltet Ihr Euch schon überlegen, von welchen Matrosen Ihr Euch festhalten lassen wollt. Es sollten große, starke, Männer sein, die in der Lage sind, Eure Befehle zu missachten, wenn Ihr verlangt, dass sie Euch loslassen, oder sie bedroht.« Kennit spürte eine Aufwallung von Widerwillen. Er weigerte sich, über die Erniedrigung nachzudenken, der er sich stellen musste. Und er weigerte sich auch, die Unausweichlichkeit all dessen zu akzeptieren. Es musste eine andere Möglichkeit geben, eine Alternative zu Schmerz und Hilflosigkeit. Wie konnte er sie in dem Wissen auswählen, dass er vielleicht trotz allem, was er erduldete, starb? Wie albern er dann aussehen würde! »… und jeder muss ein bisschen herausgezogen und mit einem oder zwei Stichen geschlossen werden.« Wintrow hielt inne, als warte er auf Kennits Zustimmung. »Ich habe das noch
nie selbst getan«, gab er unvermittelt zu. »Das solltet Ihr wissen. Ich habe allerdings zweimal einer Amputation beigewohnt. Einmal wurde ein infiziertes Bein entfernt und das andere Mal ein hoffnungslos zerschmetterter Fuß samt Knöchel. Beide Male habe ich dem Heiler geholfen, ihm Werkzeug gereicht und den Eimer gehalten…« Seine Stimme versiegte. Er leckte sich die Lippen und starrte Kennit mit immer größerem Erstaunen an. »Was?«, begehrte Kennit zu wissen. »Ich halte Euer Leben in meinen Händen«, meinte er leise. »Und ich deins in meinen«, erwiderte der Pirat nachdrücklich. »Und das deines Vaters ebenfalls.« »So meine ich das nicht«, erwiderte Wintrow. Er sprach wie ein Träumender. »Ihr seid zweifellos an solche Macht gewöhnt. Ich dagegen habe nicht einmal danach verlangt.«
3
Der gekrönte Hahn Jani Khuprus' Schritte hallten laut in dem höhlenartigen Korridor. Während sie ihn entlangeilte, fuhr sie mit den Fingern an dem Streifen aus Jidzin entlang, der in die Wand eingelassen war. Ihre Berührung erzeugte ein schwaches Licht, das sie durch den dunklen Flur begleitete, der sie immer tiefer in den labyrinthischen Palast der Altvorderen führte. Zweimal musste sie dunkle Wasserpfützen auf dem steinernen Fußboden umgehen. Und jedes Mal merkte sie sich automatisch deren Lage. Jedes Mal, wenn die Frühlingsregen kamen, hatten sie dasselbe Problem. Die dicke Schicht Boden auf dem Dach und die suchenden Wurzeln der Pflanzen gewannen allmählich den langen Kampf gegen das uralte, von der Erde verschlungene Bauwerk. Das gleichmäßige Tröpfeln des Wassers kontrastierte wie ein Gegenrhythmus mit ihren hastenden Schritten. Gestern Abend hatte es ein Beben gegeben, kein sonderlich großes nach den Maßstäben der Regenwildnis, aber es war stärker gewesen und hatte länger gedauert als das sonst übliche Schütteln der Erde. Sie wollte nicht daran denken, während sie durch die Dunkelheit lief. Dieses Gebäude hatte der gewaltigen Katastrophe widerstanden, die beinahe die gesamte uralte Stadt eingeebnet hatte. Sicher konnte sie darauf vertrauen, dass es auch noch ein wenig länger standhielt. Schließlich gelangte sie zu einem gebogenen Portal, das von einer massiven Metalltür verschlossen war. Sie fuhr leicht mit den Fingern darüber, und der gekrönte Hahn, der auf der Oberfläche eingelassen war, schimmerte auf. Wie immer beeindruckte er sie sehr. Sie konnte gut verstehen, dass ihre Vorfahren diesen gekrönten Hahn zu ihrem Wappen auserkoren hatten, als sie ihn entdeckten. Der Hahn auf der Tür hob drohend einen Fuß mit mächtigen Kral-
len, und seine Flügel waren einschüchternd halb ausgebreitet. Jede Feder an seinem ausgestreckten Hals glänzte, und der Diamant an der Stelle, an der sein Auge war, schimmerte dunkel. Sie drückte mit der Hand fest gegen seine Brust und öffnete die Tür. Dahinter war es stockfinster. Nur ihre Vertrautheit mit den Örtlichkeiten führte sie sicher die Stufen in den gewaltigen Raum hinunter. Als sie weiter in die riesige Schwärze der Kammer des Gekrönten Hahns vordrang, schalt sie sich. Reyn war doch nicht hier. Sie hatte auf der Suche nach ihrem Sohn den ganzen Weg umsonst zurückgelegt. An der Wand neben dem Fuß der Treppe blieb sie stehen und sah sich um, ohne etwas erkennen zu können. Als er sie aus der Dunkelheit ansprach, zuckte sie zusammen. »Hast du jemals versucht, dir auszumalen, wie diese Kammer gewirkt haben muss, als sie noch neu war? Stell sie dir vor, Mutter. An einem Tag wie heute hätte die Frühlingssonne ihr Licht durch die Kristallkuppel ergossen und die Farben der uralten Wandgemälde erweckt. Was haben sie hier gemacht? Nach den tiefen Aushöhlungen auf dem Boden und der zufälligen Anordnung der Tische zu urteilen, sind die Hexenholzblöcke nicht ständig hier gelagert worden. Nein, ich vermute, dass sie sie in aller Hast hergebracht haben, um sie vor der Katastrophe zu schützen, die die Stadt unter sich begrub. Was war also vorher der Zweck dieses riesigen Raums mit seiner Kristallkuppel und seinen geschmückten Gemäuern? Die uralten Tontöpfe lassen den Schluss zu, dass sie als Pflanzenkübel dienten. War es nur ein geschützter Garten, wo man selbst bei stürmischem Wetter gemütlich spazieren konnte? Oder war es…?« »Reyn, das reicht!«, rief seine Mutter verärgert. Sie tastete mit den Fingern nach dem Jidzin-Band in der Wand. Sie drückte fest darauf, und einige Schmuckpaneele in den Wänden reagierten mit einem schwachen Leuchten. Sie runzelte die Stirn. In ihrer Jugend waren sie noch viel heller gewesen, und jede
Blume und Blüte hatte geleuchtet. Jetzt wurden sie mit jedem Tag, der verstrich, schwächer. Sie wollte sich nicht von dem Gedanken niederdrücken lassen, dass sie starben. Aber sie klang etwas verärgert, als sie ihrem Sohn eine Frage stellte. »Was machst du hier im Dunkeln? Warum bist du nicht im Westflügel und beaufsichtigst die Arbeiter? Sie haben ein neues Portal gefunden, das in einer Wand der siebten Kammer verborgen war. Sie brauchen deine Intuition, damit du errätst, wie es geöffnet werden kann.« »Du meinst, wie es zerstört werden kann«, verbesserte sie Reyn. »Ach, Reyn«, tadelte sie ihn müde. Sie war dieser Diskussionen mit ihrem jüngsten Sohn überdrüssig. Manchmal kam es ihr so vor, als ob ausgerechnet er, der die größten Talente hatte, den Plätzen der Altvorderen ihre Geheimnisse abzutrotzen, von seinen Fähigkeiten am wenigsten Gebrauch machte. »Was sollen wir deiner Meinung nach tun? Sollen wir alles begraben und so lassen, wie wir es gefunden haben? Sollen wir die Regenwildnis aufgeben und zurück nach Bingtown gehen und mit unseren Verwandten dort leben? Das wäre nur für sehr kurze Zeit ein geeigneter Zufluchtsort.« Sie hörte das leichte Schlurfen seiner Füße, als er den letzten großen Klotz aus Hexenholz umrundete, der in der Kammer des Gekrönten Hahns zurückgeblieben war. Reyn bewegte sich wie ein Schlafwandler. Ihr sank der Mut, als sie bemerkte, wie er ging und dabei mit den Fingern über den gewaltigen Baumstamm strich. Er trug einen Mantel und hatte die Kapuze übergezogen. Es war feucht und kalt in der Kammer. »Nein«, erwiderte er ruhig. »Ich liebe die Regenwildnis genau wie du. Es verlangt mich nicht danach, woanders zu leben. Genauso wenig glaube ich, dass mein Volk sich weiterhin verstecken und im Geheimen leben sollte. Und wir sollten auch nicht weiter die uralten Besitztümer der Altvorderen plündern und zerstören, einfach nur, um für unsere Sicherheit zu bezahlen. Ich glaube
stattdessen, dass wir alles wiederherstellen und verehren sollten, was wir hier entdeckt haben. Wir sollten die Erde und die Asche abtragen, die diese Stadt bedeckt, und sie wieder dem Licht der Sonne und des Mondes aussetzen. Wir sollten den Satrapen von Jamaillia als Oberhaupt absetzen, seine Steuern und Einschränkungen verweigern und frei überall dort Handel treiben, wo es uns gefällt.« Seine Stimme wurde leiser, als seine Mutter ihn finster anblickte, aber sie hatte ihn damit nicht zum Schweigen gebracht. »Lass uns ohne Scham zeigen, wer wir sind, und dazu stehen, wo und wie wir leben und dass wir das freiwillig tun. Das sollten wir meiner Meinung nach tun.« Jani Khuprus seufzte. »Du bist noch sehr jung, Reyn«, sagte sie nur. »Wenn du dumm meinst, dann sag auch dumm«, schlug er ohne Boshaftigkeit vor. »Ich meine nicht dumm«, antwortete sie freundlich. »Ich habe jung gesagt und auch genau das gemeint. Die Bürde der Verwunschenen Ufer lastet längst nicht so schwer auf deinen und meinen Schultern wie auf denen der anderen RegenwildHändler. In gewisser Weise macht das unser Schicksal schwerer, nicht leichter. Wir besuchen Bingtown, blicken hinter unseren Schleiern hervor und sagen: ›Aber ich bin doch gar nicht so viel anders wie die Leute, die hier leben. Nach einer Weile werden sie mich akzeptieren, und ich könnte mich frei unter ihnen bewegen.‹ Vielleicht vergisst du dann, wie schwer es für Kys oder Tillamon wäre, unverschleiert vor unwissenden Augen zu stehen.« Als sie die Namen seiner Schwestern erwähnte, schlug Reyn die Augen nieder. Niemand konnte sagen, warum die Missbildungen, die für die Kinder der Regenwildnis ein so gewohntes Schicksal waren, seine Schwestern so hart getroffen und ihn nur leicht gestreift hatten. Hier, unter ihresgleichen, war es keine so ungeheure Bürde. Warum sollte man beim Anblick des Gesichts eines Nachbarn erbleichen, dessen Haut genauso
viele Warzen und Geschwüre hatte wie das eigene? Dagegen war allein die Vorstellung, dass seine kleine Halbschwester Kys unverschleiert über eine Straße von Bingtown ging, verwegen. Jani las diese Gedanken auf Reyns Gesicht so klar wie in einem Buch. Er runzelte die Stirn, als ihm das Ausmaß dieser Ungerechtigkeit deutlich wurde. Um seinen Mund lag ein bitterer Zug, als er weiterredete. »Wir sind ein wohlhabendes Volk. Ich bin weder zu jung noch so dumm, nicht zu wissen, dass wir uns Akzeptanz erkaufen könnten. Normalerweise würden wir zu den reichsten Menschen auf der Welt gehören, wenn nicht der Satrap seinen Fuß auf unseren Hals gesetzt hätte und mit seiner Hand ständig in unsere Tasche griffe. Merk dir meine Worte, Mutter. Könnten wir die Fron seiner Steuer abwerfen und die Einschränkungen des freien Handels überwinden, dann brauchten wir die Funde nicht zu zerstören, die uns reich machen. Wir könnten die Stadt in alter Pracht wiederherstellen, statt sie ihrer Schätze zu berauben und sie woanders zu verkaufen. Die Menschen könnten herkommen, würden unsere Schiffe bezahlen, damit sie sie den Fluss hinaufbrächten, und sie würden es gern tun. Sie würden uns ansehen und ihre Blicke nicht abwenden, weil die Menschen schnell alle die lieben, die reich sind. Dann hätten wir Muße genug, den wahren Schlüssel für die Geheimnisse zu finden, die wir jetzt mit Hämmern und Meißeln herausschlagen. Wenn wir wahrhaftig ein freies Volk wären, könnten wir all die Wunder dieser Stadt ans Tageslicht bringen. Die Sonne würde durch diese Kammer fluten, wie sie es einst getan hat, und die Königin, die hier gefangen gehalten wird…« »Reyn«, unterbrach seine Mutter ihn leise. »Nimm deine Hand von diesem Hexenholzstamm.« »Es ist kein Stamm«, erwiderte er genauso leise. »Es ist kein Stamm, und wir beide wissen das ganz genau.« »So wie wir beide wissen, dass die Worte, die aus deinem Mund dringen, nicht nur die deinen sind, Reyn. Es spielt keine
Rolle, wie wir es nennen. Was wir beide wissen, ist, dass du viel zu viel Kontakt damit gehabt hast, während du die Wandgemälde betrachtet und die Glyphen auf den Säulen studiert hast. Es gewinnt Herrschaft über deine Gedanken und macht dich zu seinem Eigen.« »Nein!« Seine Ablehnung klang vehement. »Das ist nicht die ganze Wahrheit, Mutter. Sicher, ich habe viel Zeit in dieser Kammer verbracht und die Schriftzeichen der Altvorderen studiert. Und ich habe auch das untersucht, was wir aus dem Inneren der anderen ›Stämme‹ geworfen haben, die einst in der Kammer gewesen sind.« Er schüttelte den Kopf, und sein kupferrotes Haar schimmerte in dem diffusen Licht. »Särge. Es seien Särge, hast du mir erzählt, als ich noch jung war. ,Aber das stimmt nicht. ›Wiegen‹ wäre der passendere Ausdruck dafür. Und mehr noch: Mit dem Wissen, über das ich verfüge, sehne ich mich noch mehr danach, die letzte zu erwecken und zu befreien, die übrig ist. Das heißt keineswegs, dass ich unter ihre Herrschaft geraten bin. Es bedeutet nur, dass ich endlich begriffen habe, was richtig ist.« »Richtig ist, loyal den deinen gegenüber zu bleiben«, fuhr seine Mutter ihn verärgert an. »Reyn, das eine sage ich dir: Du hast so viel Zeit in der Gegenwart dieses Hexenholzstammes verbracht, dass du nicht mehr unterscheiden kannst, wo deine eigenen Gedanken aufhören und ihr raffiniertes Drängen beginnt. In deinem Wunsch steckt mindestens genauso viel kindliche Neugier wie Aufrichtigkeit. Betrachte nur dein Verhalten heute. Du weißt, wo du gebraucht wirst. Und wo steckst du?« »Hier. Bei der, die mich am dringendsten braucht, weil sie keinen anderen Fürsprecher hat.« »Sie ist höchstwahrscheinlich längst tot«, sagte seine Mutter unverblümt. »Reyn. Du fütterst deine Phantasie mit Ammenmärchen. Wie lange hat dieser Stamm hier gelegen, und zwar schon bevor wir seine Lage entdeckten? Was auch immer sich darin befunden haben mag, ist schon vor langer Zeit zugrunde
gegangen und hat nur noch einen schwachen Widerhall seiner Sehnsucht nach Licht und Luft hinterlassen. Du kennst die Eigenschaften von Hexenholz. Wenn ein Stamm von seinem Inhalt befreit ist, nimmt er die Erinnerungen und Gedanken derjenigen an, die in täglichem Kontakt mit ihm stehen. Das bedeutet keineswegs, dass das Holz lebendig ist. Leg deine Hände darauf, und du nimmst die gefangenen Erinnerungen einer toten Kreatur aus einer anderen Zeit wahr. Das ist alles.« »Wenn du dir dessen so sicher bist, warum testen wir unsere Theorie dann nicht? Lass uns diesen Stamm dem Licht und der Luft aussetzen. Wenn keine Drachenkönigin seinem Inneren entsteigt, dann gestehe ich meinen Irrtum ein. Ich werde keine Einwände mehr äußern, dass er in Scheite geschnitten und zu einem großen Schiff für die Khuprus-Familie verarbeitet wird.« Jani Khuprus seufzte schwer. Dann antwortete sie leise: »Es macht keinen Unterschied, Reyn, ob du dagegen bist oder nicht. Du bist mein jüngster Sohn, nicht mein Ältester. Wenn die Zeit reif ist, bist nicht du derjenige, der entscheidet, was mit dem letzten Hexenholzstamm geschieht.« Beim Anblick des gesenkten Gesichts ihres Sohnes beschlich sie der Verdacht, dass ihre Worte vielleicht zu harsch gewesen waren. So dickköpfig er auch sein mochte, er war gleichzeitig auch außerordentlich sensibel. Das hat er von seinem Vater, dachte sie, nein, fürchtete sie. Sie versuchte, ihm ihre Vernunftgründe einsichtig zu machen. »Wenn wir täten, was du vorschlägst, müssten wir Arbeiter von den Aufgaben abziehen, die erledigt werden müssen, da weiterhin Geld in unsere Kassen fließen soll. Der Stamm ist einfach zu groß. Der Eingang, den sie vor langer Zeit benutzt haben, um ihn hierherzubringen, ist schon längst eingestürzt. Und er ist auch zu lang, um ihn durch die Korridore nach draußen zu schleppen. Die einzige Möglichkeit für die Arbeiter wäre, den Wald über uns zu fällen und dann die Erde abzutragen. Wir müssten die Kristallkuppel zerstören und den Block mit Flaschenzügen und Seilen herausheben. Es wäre
eine gewaltige Aufgabe.« »Wenn ich Recht behalten sollte, wäre es den Aufwand wert.« »Tatsächlich? Nehmen wir einmal an, du hättest Recht und wir hätten diesen Stamm Licht und Luft ausgesetzt und es wäre etwas daraus entstiegen. Was dann? Welche Sicherheiten hätten wir, dass diese Kreatur uns freundlich gesinnt wäre oder uns überhaupt Beachtung schenkt? Du hast mehr von den Schrifttafeln und -rollen der Altvorderen gelesen als die meisten anderen unter uns. Du sagst selbst, dass die Drachen, die in ihren Städten hausten, arrogante und aggressive Geschöpfe waren, dazu geneigt, sich zu nehmen, was immer sie wollten. Würdest du ein solches Wesen befreien wollen, damit es sich unter uns bewegen kann? Schlimmer noch, was ist, wenn es uns ablehnt oder sogar für das hasst, was wir unwissentlich ihrem Volk in den anderen Stämmen angetan haben? Sieh dir die Größe dieses Stammes an, Reyn! Es wäre ein gewaltiger Feind, den du auf dein Volk loslassen würdest, und das einfach nur, um deine Neugier zu befriedigen.« »Neugier!«, stieß Reyn hervor. »Es ist nicht allein Neugier, Mutter. Ich empfinde Mitleid für die gefangene Kreatur. Ja, und ich hege auch Schuldgefühle wegen dieser anderen, die wir in all den Jahren so achtlos vernichtet haben. Bedauern und Reue können jemanden genauso stark antreiben wie Neugier.« Jani ballte die Fäuste. »Reyn. Ich werde das nicht weiter mit dir diskutieren. Wenn du über dieses Thema noch einmal mit mir sprechen willst, dann tu das bitte in meinem Salon, nicht hier, in dieser feuchten Höhle mit diesem… diesem Ding, das all deine Gedanken beeinflusst. Und das ist endgültig.« Reyn richtete sich langsam auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, aber das war auch gar nicht nötig. Sie wusste, dass seine Lippen zusammengepresst waren. Dickköpfiger Kerl. Warum musste er nur immer so eigensinnig sein?
Sie sah ihn nicht an, als sie ihm jetzt ihr Friedensangebot unterbreitete. »Sohn, nachdem du den Arbeitern im Westkorridor geholfen hast, dachte ich, könnten wir uns zusammensetzen und unsere Reise nach Bingtown planen. Auch wenn ich den Vestrits versprochen habe, Malta nicht mit Geschenken den Kopf zu verdrehen, ist es dennoch angemessen, dass du ihrer Mutter und ihrer Großmutter Geschenke bringst. Sie müssen ausgewählt werden, ebenso unsere Gewänder für die Reise. Wir haben noch nicht darüber gesprochen, wie du dich präsentierst. Du kleidest dich immer so sachlich. Aber ein Mann, der auf Brautschau geht, sollte sein Gefieder putzen wie ein Pfau. Natürlich musst du weiterhin verschleiert bleiben. Aber wie stark, das überlasse ich dir.« Ihr Schachzug hatte Erfolg. Seine Erstarrung löste sich, und sie spürte, dass er lächelte. »Ich werde einen undurchdringlichen Schleier anlegen, aber nicht aus dem Grund, den du annimmst. Ich glaube, Malta ist eine Frau, die von Geheimnissen und Rätseln fasziniert ist. Vermutlich hat sie das sogar am Anfang zu mir hingezogen.« Jani ging langsam zum Eingang der Kammer. Wie sie gehofft hatte, folgte Reyn ihr. »Ihre Mutter und Großmutter scheinen sie noch für ein Kind zu halten, aber du redest von ihr wie von einer Frau.« »Sie ist ganz bestimmt eine Frau.« Reyns Ton ließ keinen Zweifel zu. Und seine Erklärung klang stolz. Jani bewunderte die Veränderung in ihrem Sohn. Noch nie zuvor hatte er ein solches Interesse an einer Frau gezeigt, obwohl es keinen Mangel an solchen gegeben hatte, die um seine Aufmerksamkeit buhlten. Bei den Regenwild-Familien waren alle Söhne oder Töchter des Khuprus-Clans eine ausgezeichnete Partie. Aber sie hatte erst einmal versucht, eine Ehe für ihn zu arrangieren. Seine unnachgiebige Weigerung war gesellschaftlich sehr peinlich gewesen. Es hatte auch von einigen Bingtown-Familien Angebote gegeben, aber Reyn hatte sie verachtet. Nein, ›ver-
achtet‹ war ein zu starkes Wort für die Vorspiele, die er kaum zur Kenntnis genommen hatte. Vielleicht konnte Malta Vestrit ihren Sohn ja von seiner Besessenheit heilen. Sie lächelte Reyn über die Schulter hinweg an, als sie ihn aus dem Raum führte. »Ich gebe zu, dass mich diese Kind-Frau Malta fasziniert. Ihre Familie spricht auf eine bestimmte Art von ihr – und du auf eine ganz andere. Ich freue mich schon darauf, sie kennen zu lernen.« »Ich hoffe, dass das bald passiert. Ich habe nämlich vor, sie und ihre Verwandten auf einen Besuch einzuladen, Mutter. Falls du damit einverstanden bist, natürlich.« »Du weißt, dass ich keine Einwände habe. Die VestritFamilie ist unter den Regenwild-Händlern sehr angesehen, trotz ihrer Entscheidung, von einem Handel mit uns abzusehen. Wenn unsere Familien durch eine Ehe eine Allianz eingehen, dann wird das sicher anders. Sie haben das Zauberschiff, das sie benötigen, um Handel auf dem Regenwild-Fluss zu treiben, und sie werden es schuldenfrei besitzen, sobald die Ehe geschlossen wird. Du und Malta, ihr habt beste Aussichten auf eine wohlhabende Zukunft.« »Wohlstand.« Reyn verlieh dem Wort einen amüsierten Unterton. »Malta und ich haben weit bessere Aussichten als bloßen Wohlstand. Soviel kann ich dir versichern, Mutter.« Sie kamen an eine Abzweigung im Korridor, und Jani blieb stehen. »Du gehst zum Westkorridor und öffnest die neu entdeckte Türe.« Es schwang eine kaum hörbare Frage darin. »Ja«, erwiderte Reyn leicht abgelenkt. »Gut. Wenn du dort fertig bist, dann komm in mein Arbeitszimmer. Ich habe bis dahin einige angemessene Geschenke zusammengesucht, aus denen du eine Auswahl treffen kannst. Soll ich die Schneider bestellen? Sie könnten die neuesten Gewänder mitbringen.« »Ja, sicher.« Er runzelte die Stirn, offenbar mit seinen Gedanken ganz woanders. »Mutter, du hast versprochen, dass ich
Malta nicht mit kostspieligen Geschenken den Kopf verdrehen würde. Darf ich denn einfache Gaben mitbringen, die jeder junge Mann einem Mädchen überbringen kann? Früchte, Blumen und Süßigkeiten?« »Ich wüsste nicht, was sie gegen solche Geschenke einwenden könnten.« »Gut.« Er nickte. »Lässt du mir Körbe zubereiten, die ich an jedem Tag meines Besuchs überreichen kann?« Er lächelte. »Diese Körbe sollten mit Bändern und weichen Tüchern in hellen Farben geschmückt sein. Und in jedem sollten ein oder zwei Fläschchen auserlesenen Weins liegen… Ich denke nicht, dass das zu weit geht.« Seine Mutter lächelte. »Du solltest besser vorsichtig vorgehen, mein Sohn. Ronica Vestrit wird dir sehr deutlich zu verstehen geben, wenn du die Grenzen überschreitest, die sie gesetzt hat. Ich denke nicht, dass du zu schnell mit ihr aneinander geraten solltest.« Reyn ging bereits in die andere Richtung. Er sah zurück, ein kurzer Blick aus seinen kupferfarbenen Augen. »Ich werde mich nicht zu schnell mit ihr anlegen, Mutter. Aber ich werde mich auch nicht bemühen, es zu vermeiden.« Er ging weiter, während er sprach. »Ich werde Malta heiraten. Und je schneller sie sich an mich gewöhnen, desto einfacher wird es für uns alle werden.« Hinter ihm in der Dunkelheit verschränkte Jani die Arme. Offensichtlich hatte er Ronica Vestrit noch nicht kennen gelernt. Ihre Augen funkelten amüsiert, als sie sich fragte, ob die Halsstarrigkeit ihres Sohnes endlich ihr gleichwertiges Pendant in der Sturheit der Bingtown-Händlerin finden würde. Reyn blieb stehen. »Hast du einen Vogel losgeschickt, um Sterb von meiner Brautwerbung zu berichten?« Jani nickte. Es freute sie, dass er fragte. Reyn kam nicht immer gut mit seinem Stiefvater zurecht. »Er wünscht dir Glück. Und die kleine Kys sagt, dass du nicht vor dem nächsten Win-
ter heiraten darfst, wenn sie nach Trehaug zurückkehren. Und Mando lässt dir ausrichten, dass du ihm eine Flasche DurjanBrandy schuldest. Es geht um irgendeine Wette, die ihr vor langer Zeit abgeschlossen hättet und die besagte, dass dein Bruder vor dir heiraten würde.« Reyn war bereits weitergegangen. »Diese Wette verliere ich nur zu gern«, rief er über die Schulter zurück. Jani sah ihm lächelnd hinterher.
4
Bindungen Brigs Hände ruhten mit lässiger Kompetenz auf den Speichen von Viviaces Steuerrad. Das Gesicht des Matrosen zeigte den entspannten Ausdruck eines Mannes, der sich des Schiffes als einer Verlängerung seines eigenen Körpers bewusst war. Wintrow blieb einen Augenblick stehen, um ihn genauer zu betrachten, bevor er sich ihm näherte. Brig war noch jung, kaum fünfundzwanzig Jahre. Sein kastanienbraunes Haar steckte unter einem gelben Kopftuch, auf dem das Rabensymbol prangte. Er hatte graue Augen, und über seine alte Sklaventätowierung hatte er einen dunkelblauen Raben nadeln lassen, der die alte Markierung beinahe völlig verdeckte. Trotz seiner Jugend strahlte Brig eine Autorität aus, die auch ältere Seeleute dazu brachte, seine Befehle augenblicklich zu befolgen. Kennit hatte eine gute Wahl getroffen, ihm bis zu seiner Genesung das Kommando über die Viviace anzuvertrauen. Wintrow holte tief Luft. Er näherte sich dem älteren Mann respektvoll, aber mit Würde. Brig musste ihn als Mann akzeptieren. Wintrow wartete, bis der Matrose seinen Blick erwiderte. Er schwieg. »Ich muss Euch eine Frage stellen«, sagte Wintrow leise, aber deutlich. »Musst du?«, erwiderte Brig amüsiert und sah dann zu seinem Ausguck im Krähennest hinauf. »Ja«, meinte Wintrow entschlossen. »Das Bein Eures Kapitäns bessert sich nicht. Wie lange brauchen wir noch bis Bullenbach?« »Anderthalb Tage«, teilte ihm Brig nach kurzem Nachdenken mit. »Vielleicht auch zwei.« Seine Miene blieb unbewegt. Wintrow nickte. »Ich denke, so lange können wir noch warten. Außerdem gibt es eine Medizin, die ich gern hätte, bevor
ich amputiere. Ich hoffe, dass wir sie dort bekommen können. Bis dahin könnte ich ihn kräftigen, wenn ich mehr Arzneien hätte. Als die Sklaven sich gegen die Mannschaft erhoben haben, sind eine Menge Dinge geplündert worden. Seitdem fehlt der Medizinkasten. Der wäre jetzt sehr nützlich für mich.« »Es hat bis jetzt niemand zugegeben, dass er ihn hat?« Wintrow zuckte mit den Schultern. »Ich habe gefragt, aber niemand antwortete mir. Viele der befreiten Sklaven reden nur sehr ungern mit mir. Ich glaube, Sa'Adar wiegelt sie gegen mich auf.« Er zögerte, als er merkte, wie armselig das klang. Durch Jammern würde er sich bei Brig keinen Respekt verschaffen. Er redete überlegter weiter. »Vielleicht wissen sie auch gar nicht, dass sie ihn haben. Oder jemand hat ihn in der allgemeinen Verwirrung gepackt und achtlos weggeworfen. Anschließend könnte er vom Sturm über Bord gespült worden sein.« Wintrow atmete tief durch und kam wieder auf seine ursprüngliche Absicht zu sprechen. »Darin befanden sich Arzneien, die das Leiden Eures Kapitäns lindern könnten.« Brig bedachte ihn mit einem kurzen Seitenblick. Seine Miene verriet keine Regung. »Caj!«, bellte er unvermittelt. Wintrow stellte sich innerlich darauf ein, ergriffen und davongeschleppt zu werden. »Stell das ganze Schiff auf den Kopf!«, befahl Brig stattdessen, als der Matrose auftauchte. »Die Medizinkiste ist verschwunden. Ich will, dass sie gefunden wird, falls jemand sie hat. Zumindest will ich erfahren, wer sie zuletzt in der Hand gehabt hat. Beweg dich.« »Aye«, erwiderte Caj und stürmte davon. Als Wintrow keine Anstalten machte, sich zu entfernen, stieß Brig ein gereiztes Schnauben aus. »Noch was?« »Mein Vater ist…« »SCHIFF IN SICHT!«, rief der Ausguck plötzlich. Und einen Moment später präzisierte er seine Angaben. »Eine chalcedanische Galeone, aber unter der Flagge eines Patrouillenschiffes des Satrapen. Sie holen rasch auf. Sie haben Ruderer und alle
Segel gesetzt. Anscheinend haben sie in dem Meeresarm auf der Lauer gelegen.« »Verdammt!« Brig spie aus. »Er hat es wirklich getan! Dieser Hurensohn hat die chalcedanischen Söldner gerufen! Klar Schiff!«, brüllte er. »Nur die Mannschaft! Alle anderen unter Deck und aus dem Weg. Setzt Segel!« Wintrow war bereits unterwegs zur Galionsfigur, wobei er automatisch den Männern auswich. Auf Deck wimmelte es plötzlich wie auf einem Ameisenhaufen.«Vor ihnen scherte die Marietta in die eine Richtung aus, während die Viviace die andere einschlug. Wintrow stürmte auf das Vordeck und klammerte sich an der Reling fest. Hinter sich hörte er schwache Rufe, als das chalcedanische Schiff sie anrief. Brig würdigte sie nicht einmal einer Antwort. »Das verstehe ich nicht!«, rief Viviace. »Warum führen chalcedanische Kriegsschiffe die Flagge des Satrapen?« »Ich habe schon in Jamaillia Gerüchte gehört. Satrap Cosgo hat angeblich Chalcedaner angeheuert, damit sie in der Inneren Passage patrouillieren. Eigentlich sollen sie die Piraten vertreiben, aber das erklärt nicht, warum sie uns verfolgen. Einen Augenblick!« Er kletterte rasch in die Wanten, von wo aus er einen besseren Überblick über die Geschehnisse hatte. Das chalcedanische Schiff war für die Kriegsführung gebaut, nicht für den Handel. Zusätzlich zu den Segeln wurde es noch von zwei Ruderreihen angetrieben, die mit Sklaven besetzt waren. Es war ein langes, schlankes Schiff, und auf seinen Decks wimmelte es von Bewaffneten. Helme und Schwerter funkelten in der Frühlingssonne. Die Flagge des Satrapen mit den weißen Türmen Jamaillia-Stadts auf blauem Grund passte irgendwie nicht zu den blutroten Segeln der Galeone. »Er hat tatsächlich ihre Kriegsschiffe in unsere Gewässer geholt?« Viviace konnte es nicht glauben. »Ist er denn verrückt geworden? Die Chalcedaner besitzen keine Ehre. Genauso gut könnte man einen Dieb als Wächter für ein Lagerhaus bestel-
len.« Sie warf einen furchtsamen Blick über die Schulter. »Verfolgen sie uns?« »Ja«, sagte Wintrow nachdrücklich. Sein Herz hämmerte in seiner Brust. Was sollte er hoffen? Dass dieses Patrouillenboot der Chalcedaner sie einholte? Die Piraten würden die Viviace nicht kampflos aufgeben. Das bedeutete noch mehr Blutvergießen. Und wenn die Chalcedaner gewannen, würden sie die Viviace dann ihren rechtmäßigen Besitzern zurückgeben? Vielleicht. Vermutlich jedoch würden sie das Schiff nach JamailliaStadt schleppen, damit der Satrap darüber befinden konnte. Die Sklaven, die sich auf Deck zusammendrängten, würden erneut versklavt werden, und das wussten sie. Sie würden kämpfen. Die Sklaven überwogen die Besatzung, die das chalcedanische Schiff tragen konnte, bei weitem. Aber sie waren unbewaffnet und unerfahren im Kampf. Es werden Ströme von Blut fließen, dachte Wintrow Also, sollte er Viviace zur Flucht drängen oder sie bestürmen zu zaudern? Doch er kam nicht einmal dazu, seinen inneren Widerstreit zu äußern. Das kleinere Patrouillenboot, das sowohl vom Wind als auch von Rudern angetrieben wurde, holte rasch auf. Zum ersten Mal bemerkte Wintrow den Rammsporn am Bug der Galeone. Vom Deck des Chalcedaners zischte plötzlich ein ganzer Schwarm Pfeile auf sie zu. Wintrow rief Viviace eine unartikulierte Warnung zu, denn einige davon waren Brandpfeile. Die erste Salve verfehlte ihr Ziel, aber die Söldner hatten ihre Absichten klargestellt. Plötzlich machte die Marietta in einem gewagten und seemännisch exzellenten Manöver kehrt und änderte ihren Kurs. Ihre Kurve würde sie hinter die Viviace und vor den Bug des Chalcedaners bringen. Wintrow glaubte Sorcor am Ruder des Piratenschiffes zu erkennen. Anscheinend trieb er seine Leute zu noch größeren Bemühungen an. Urplötzlich flatterte die Rabenflagge von ihrem Mast und schien den Chalcedaner zu
verspotten. Wintrow hielt unwillkürlich inne und dachte nach. Was für ein Kapitän war dieser Kennit, dass er eine solche Loyalität in seinen Leuten hervorrufen konnte? Sorcors Absichten waren unmissverständlich. Er wollte die Verfolger von seinem Kapitän ablenken und deren Aufmerksamkeit auf sich selbst ziehen. Von seiner erhöhten Position aus sah Wintrow, wie das Deck der Marietta plötzlich bebte, als die Katapulte einen Schauer von Steinen auf das Patrouillenboot schleuderten. Einige fielen ins Wasser und ließen die Gischt hoch aufspritzen, doch eine genügend große Menge prasselte auf die Decks der Galeone herab und stiftete eine heillose Verwirrung unter den Rudersklaven. Das vorher so regelmäßige Schlagen der Ruder wirkte plötzlich wie das verzweifelte Krabbeln eines Tausendfüßlers. Der Abstand zwischen der Galeone und der Viviace vergrößerte sich ständig. Die Marietta schien allerdings auch nicht vorzuhaben, sich einem offenen Kampf zu stellen. Nachdem sie ihren Überraschungsangriff ausgeführt hatte, setzte sie jeden Fetzen Segel und floh. Als die Ruder des Chalcedaners wieder regelmäßig schlugen, nahm das Patrouillenboot die Verfolgung auf. Wintrow verrenkte sich beinahe den Hals, aber der Steuermann brachte die Viviace hinter der Küste einer Insel außer Sicht, was Wintrow den Blick versperrte. Plötzlich verstand er den Sinn dieses Manövers. Die Viviace sollte schnell außer Sicht gebracht werden, während die Marietta die Verfolger weit weglockte. Er kletterte hinunter und sprang behände auf Deck. »Na, das war wirklich interessant«, meinte er, aber Viviace war abgelenkt. »Kennit«, erwiderte sie. »Was ist mit ihm?« »Junge!« Die scharfe Stimme der Frau ertönte hinter ihm. Er drehte sich um und sah Etta. »Der Kapitän will dich sehen. Sofort.« Sie sprach gebieterisch, aber sie sah ihn dabei nicht an.
Ihr Blick war starr auf die Galionsfigur gerichtet. Viviaces Miene wurde plötzlich teilnahmslos. »Wintrow; Rühr dich nicht«, befahl sie sanft. Mit erhobener Stimme wandte sie sich an die Piratin. »Er heißt Wintrow Vestrit«, erklärte sie mit hoheitsvoller Herablassung. »Du wirst ihn nicht mehr ›Junge‹ nennen.« Viviace richtete ihren Blick auf Wintrow, lächelte ihm zu und erklärte höflich: »Ich höre, dass Kapitän Kennit nach dir verlangt. Würdest du bitte zu ihm gehen, Wintrow?« »Sofort«, versprach er und gehorchte. Als er die beiden Frauen allein ließ, dachte er darüber nach, was Viviace hier wohl hatte demonstrieren wollen. Er war nicht so dumm anzunehmen, dass sie ihn vor Etta hatte verteidigen wollen. O nein. Bei diesem kleinen Scharmützel zwischen den beiden Frauen war es um Vorherrschaft gegangen. Und auf ihre Art hatte Viviace deutlich gemacht, dass Wintrow ihr gehörte und sie erwartete, dass Etta das respektierte. Gleichzeitig hatte es ihr Spaß gemacht, der anderen Frau zu enthüllen, dass das Schiff sehr wohl alles mitbekam, was im Salon des Kapitäns vor sich ging. Ettas ärgerlicher Miene nach zu urteilen, schien sie nicht sehr erfreut darüber zu sein. Er sah über die Schulter zu ihnen zurück. Etta hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Er hörte keine Stimmen, aber vielleicht sprachen sie ja einfach nur leise. Erneut faszinierte ihn die außergewöhnliche Erscheinung der Piratin. Etta war sehr groß und hatte dabei kein Gramm Fett zu viel auf den Rippen oder an ihren langen Gliedmaßen. Sie trug ihre Seidenbluse und die Brokatweste und -hose so beiläufig, als bestünde die Kleidung aus gewöhnlicher Baumwolle. Ihr glattes schwarzes Haar hatte sie kurz geschnitten. Es reichte nicht einmal bis zu ihren Schultern. Ihre Formen suggerierten weder durch Rundheit noch Weichheit etwas Feminines, und ihre dunklen Augen glühten gefährlich und wild. Nach dem, wie Wintrow sie erlebt hatte, schien sie sehr jähzornig und so erbarmungslos wie eine Katze
zu sein. So etwas wie Zärtlichkeit hatte er an dieser Frau bisher noch nicht wahrgenommen. Trotzdem verbanden sich alle diese Widersprüche und verliehen ihr eine überwältigende Weiblichkeit. Noch nie zuvor hatte Wintrow so viel Macht bei einer Frau gespürt, und ihm kam unwillkürlich die Frage in den Sinn, ob Viviace wohl dieses Kräftemessen gegen Etta gewinnen konnte. Kennit rief tatsächlich seinen Namen, wenn auch nicht laut, sondern eher keuchend und eindringlich. Wintrow klopfte nicht erst an, sondern betrat die Kajüte des Kapitäns ohne Umschweife. Der große, schlanke Pirat lag ausgestreckt auf der breiten Koje, aber seine Haltung war alles andere als friedlich. Er hielt das Linnen so fest umklammert, dass die Knöchel weiß hervortraten, als wäre er eine Frau, die in den Wehen liegt. Sein Kopf ruhte auf den zerwühlten Kissen und auf seinem nackten Oberkörper traten deutlich die angespannten Muskeln hervor. Er schnappte mit offenem Mund nach Luft, und seine Brust hob und senkte sich angestrengt. Sein dunkles Haar und sein offenes Hemd waren schweißnass. Die ganze Kajüte stank danach. »Wintrow!«, stieß Kennit hervor, als der Junge neben die Koje trat. »Ich bin hier.« Instinktiv umfasste er die schwielige Hand des Kapitäns mit der seinen. Kennits Griff war jedoch so fest, dass der Junge beinahe aufgeschrieen hätte. Stattdessen erwiderte er den Griff und drückte fest zwischen den Daumen und die Finger des Piraten. Mit der anderen Hand umfasste er Kennits Handgelenk und versuchte, seinen Puls zu ertasten. Aber das Armband des Mannes störte dabei. Wintrow begnügte sich damit, mit der Hand über den Unterarm des Kapitäns zu streichen. Rhythmisch verstärkte und lockerte er den Griff dabei in einem langsamen, beruhigenden Muster, während er gleichzeitig den Druck zwischen Kennits Fingern verstärkte. Das sollte die Schmerzen lindern. Er wagte es sogar, sich auf den Rand
des Bettes zu setzen, und beugte sich über Kennit, damit er den Blick des Gepeinigten erwidern konnte. »Beobachtet mich«, forderte er ihn auf. »Atmet mit mir zusammen. Etwa so.« Wintrow holte tief Atem, hielt ihn einen Moment an und ließ ihn dann langsam wieder entweichen. Kennit unternahm einen schwachen Versuch, es ihm nachzumachen. Sein Atem war zwar immer noch zu flach und zu schnell, aber Wintrow nickte ihm aufmunternd zu. »So ist es richtig. Beherrscht Euren Körper. Schmerz ist nur ein Werkzeug Eures Körpers. Ihr könnt ihn beherrschen.« Er blickte den Piraten unverwandt an, während er mit jedem Atemzug versuchte, beruhigende Zuversicht und Glauben auszustrahlen. Wintrow suchte den Mittelpunkt seines Körpers und fand eine Stelle, an der er sowohl das Herz als auch beide Lungen berührte. Er verlagerte den Brennpunkt seines Blickes und zog Kennits Blick immer tiefer in sich hinein, um so seine Ruhe auf den Mann zu übertragen. Er versuchte, mit seinem Blick die Schmerzen aus Kennits Körper zu ziehen und sie in der Luft zwischen ihnen beiden sich verflüchtigen zu lassen. Diese einfachen Übungen erinnerten ihn wieder an das Kloster. Er versuchte, Frieden aus diesen Erinnerungen zu schöpfen, um die Kraft daraus dem hinzuzufügen, was er zu erreichen suchte. Stattdessen kam er sich plötzlich wie ein Scharlatan vor. Was tat er hier? Ahmte er nach, was er den alten SaParte mit seinen Patienten hatte tun sehen, die unter Schmerzen litten? Versuchte er, Kennit weiszumachen, dass er wirklich ein Priester-Heiler war? Er verfügte nicht einmal über die vollständige Ausbildung, die selbst eine solch simple Schmerzlinderung erforderte, ganz zu schweigen von dem Wissen, ein krankes Bein zu amputieren. Wintrow redete sich ein, er täte einfach nur alles, was er konnte, um Kennit zu helfen. Aber stimmte das denn? Vielleicht versuchte er ja nur, seine eigene Haut zu retten. Kennits Griff lockerte sich allmählich, und auch die Anspan-
nung seines Halses ließ nach. Sein Kopf rollte auf den feuchten Kissen hin und her, und sein Atem wurde langsamer. Jetzt glich er den angestrengten Atemzügen eines Mannes, der gegen seine Erschöpfung kämpft. Wintrow versuchte, die Hand des Piraten in seiner zu behalten. Sa'Parte hatte oft von einer Technik gesprochen, wie man den Kranken und Leidenden Kraft spenden konnte. Aber Wintrows Ausbildung war nicht so weit gediehen. Er hatte erwartet, ein Künstler Sas zu werden, nicht ein Heiler. Trotzdem öffnete er Sa sein Herz, während er Kennits schwitzende Hand hielt, und betete darum, dass der All-Vater einschreiten würde. Er hoffte, dass seine Gnade das ergänzen möge, was ihm an Kenntnis mangelte. »Ich kann das so nicht länger ertragen.« Aus dem Munde eines anderen Mannes hätten diese Worte vielleicht jämmerlich geklungen. Kennit dagegen stellte einfach nur die Tatsache fest. Der Schmerz ebbte ab, oder vielleicht konnte er auch nur einfach nicht mehr darauf reagieren. Er schloss seine dunklen Augen, und Wintrow fühlte sich plötzlich allein gelassen. Kennit sprach leise, aber nicht weniger deutlich. »Nimm das Bein ab. Heute. Sobald wie möglich. Sofort.« Wintrow schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Ich habe nicht einmal die Hälfte von dem hier, was wir brauchen. Brig hat gesagt, dass wir in ein oder zwei Tagen Bullenbach erreichen werden. So lange sollten wir warten.« Kennit riss die Augen auf. »Ich weiß, dass ich nicht warten kann«, erklärte er unverblümt. »Wenn es nur der Schmerz ist, dann hilft vielleicht etwas Rum…«, setzte Wintrow an, aber Kennit schnitt ihm einfach das Wort ab. »Die Schmerzen sind schlimm, sicher. Aber es ist mein Schiff und mein Kommando darüber, was am meisten leidet. Sie haben den Schiffsjungen zu mir geschickt, damit er mir von dem Patrouillenboot berichtet. Ich habe nur versucht aufzustehen…
Ich bin gestürzt. Direkt vor ihm bin ich zusammengebrochen. Ich hätte an Deck sein sollen, nachdem der Ausguck das Segel erspäht hatte. Wir hätten umdrehen und sämtlichen chalcedanischen Schweinen an Bord dieser Galeone die Kehle durchschneiden sollen. Stattdessen sind wir geflohen. Ich habe Brig das Kommando übergeben, und wir sind geflohen. Sorcor musste meinen Kampf ausfechten. Und darüber hinaus wurden alle an Bord Zeugen dieses Vorfalls. Jeder Sklave an Bord dieses Schiffes hat eine Zunge. Ganz gleich, wo ich sie von Bord lasse, sie werden alle die Neuigkeiten herumerzählen, dass Kapitän Kennit vor einem Patrouillenschiff geflüchtet ist. Das kann ich nicht zulassen.« Nachdenklicher fuhr er fort: »Ich sollte sie vielleicht alle ersäufen.« Wintrow hörte schweigend zu. Das war nicht der gebildete Pirat, der seinem Schiff mit gewählten Worten den Hof gemacht hatte, und auch nicht der beherrschte Kapitän. Hier sprach der Mann hinter der Fassade, entblößt durch Schmerz und Erschöpfung. Wintrow wurde seine eigene Verletzlichkeit deutlich. Kennit würde die Existenz von niemandem tolerieren, der ihn so gesehen hatte, wie er wirklich war. Im Augenblick schien Kennit gar nicht zu bemerken, wie viel von seinem Selbst er tatsächlich enthüllte. Wintrow kam sich vor wie das Kaninchen, das vor dem Blick der Schlange erstarrt. Solange er still hielt, hatte er die Chance, unentdeckt zu bleiben. Die Hand des Piraten lag schlaff in der seinen. Kennit drehte den Kopf auf dem Kissen, und ihm fielen die Augen zu. Gerade als Wintrow Hoffnung schöpfte, dass er entkommen könnte, wurde die Tür zur Kajüte geöffnet. Etta trat ein. Mit einem Blick erfasste sie den Raum. »Was hast du ihm angetan?«, wollte sie wissen, während sie an Kennits Bett trat. »Warum ist er so ruhig?« Wintrow hob einen Finger an die Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen. Ihre Miene verfinsterte sich zwar, aber sie nickte. Mit einem Rucken ihres Kopfes befahl sie ihn in die
andere Ecke des Raumes und runzelte die Stirn, weil er nur langsam reagierte. Trotzdem ließ sich Wintrow Zeit. Sanft legte er die Hand des Piraten auf die gesteppte Decke und glitt vorsichtig von der Bettkante, damit er Kennit mit keiner Bewegung störte. Doch seine Mühe war vergebens. Wintrow hatte kaum einen Schritt getan, als Kennit sagte: »Du wirst mir noch heute das Bein abnehmen.« Etta schnappte entsetzt nach Luft. Wintrow drehte sich langsam zu dem Piraten um. Kennit hatte die Augen nicht geöffnet, aber er hob seine feingliedrige Hand und deutete auf den Jungen. »Hol dir das Werkzeug und die Utensilien, die du brauchst, und erledige deine Aufgabe. Wir müssen eben auf das verzichten, was wir nicht haben. Ich will es endlich hinter mich bringen. So oder so.« »Sir«, meinte Wintrow zustimmend. Er änderte die Richtung und ging schnell zur Tür. Aber genauso schnell trat Etta ihm in den Weg. Er sah in ihre dunklen Augen, die ebenso erbarmungslos waren wie die eines Falken. Wintrow wappnete sich für die unausweichlich scheinende Konfrontation. Doch stattdessen erkannte er etwas wie Erleichterung in ihren Augen. »Sag mir, wie ich dir helfen kann«, bat sie ihn schlicht. Er nickte nur als Antwort auf ihr Ansinnen, weil er zu schockiert war, um etwas zu sagen. Auf halbem Weg den Niedergang hinab blieb er stehen. Gegen die Wand gelehnt, überließ er sich dem Zittern, das seinen ganzen Körper schüttelte. Die Tollkühnheit seines früheren Handelns überwältigte ihn. Was mutige Worte gewesen waren, würde sehr bald eine blutige Aufgabe werden. Er hatte verkündet, dass er ein Messer an Kennits Bein ansetzen würde, dass er sein Fleisch durchschneiden, den Knochen durchtrennen und ihm das Bein abnehmen würde. Wintrow schüttelte den Kopf, bevor die Ungeheuerlichkeit der Situation ihn einschüchtern konnte. »Es gibt nur einen Weg: vorwärts«, sagte er laut und beeilte sich, Brig
zu finden. Unterwegs schickte er ein Stoßgebet zum Himmel. Hoffentlich war der Medizinkasten gefunden worden! Kapitän Finney setzte den Krug ab, leckte sich die Lippen und grinste Brashen an. »Du bist gut. Weißt du das?« »Ich denke schon.« Brashen nahm das Kompliment zögernd an. Der Schmuggler lachte kehlig. »Aber du willst gar nicht gut sein, hab ich Recht?« Brashen zuckte mit den Schultern. Kapitän Finney äffte ihn nach und lachte dann wiehernd. Finney war ein kräftiger Mann mit einem mächtigen Backenbart. Seine Augen über seiner rotgeäderten Nase funkelten wie die eines Frettchens. Er schob seinen Krug auf dem klebrigen Tisch hin und her und schien dann zu dem Schluss zu kommen, dass er für den Nachmittag genug Bier getrunken hatte. Er schob den Krug zur Seite und griff stattdessen nach dem Cindin-Behälter. Mit einer kurzen Drehung zog er den Stopfen aus dem dunklen Holz. Er drehte ihn zur Seite und schüttelte ihn. Einige dicke Stücke der Droge tauchten auf. Er brach sich ein großzügig bemessenes Stück ab und reichte dann den Behälter an Brashen weiter. Der schüttelte den Kopf und tippte sich bedeutungsvoll an die Unterlippe. Ein kleines Stück von dem Zeug brannte dort immer noch. Das Cindin war ausgezeichnet, schwarz und teerig, und löste wohlige Gefühle in ihm aus. Brashen war jedoch klug genug, um zu erkennen, dass niemand bestochen und umschmeichelt wurde, wenn man nichts von ihm wollte. Ob er noch genug Willenskraft besaß, um Finney zu widerstehen, wenn es nötig werden sollte? »Sicher, dass du kein frisches Stück willst?« »Nein, danke.« »Nein, du willst wirklich nicht gut in diesem Beruf werden«, fuhr Finney fort. Er lehnte sich schwer auf seinem Stuhl zurück und atmete durch den Mund ein, um die Wirkung des Cindins zu beschleunigen. Mit einem Seufzer stieß er die Luft wieder
aus. Einen Moment war alles still, bis auf das leise Plätschern der Wellen gegen den Rumpf der Springeve. Die Mannschaft war an Land und füllte die Wasserfässer an der kleinen Quelle, die Finney ihnen gezeigt hatte. Brashen wusste, dass es eigentlich die Pflicht des Ersten Maats war, diese Arbeit zu beaufsichtigen, aber der Kapitän hatte ihn stattdessen in seine Kabine eingeladen. Brashen hatte schon befürchtet, dass der Kapitän unzufrieden mit ihm sein könnte. Stattdessen gab es Bier und Cindin am Mittag, und das auch noch während seiner Wache. Schäm dich, Brashen Trell, dachte er und lächelte bitter. Was würde Kapitän Vestrit von dir denken? Er hob seinen Krug. »Du willst zurück nach Bingtown, hm?« Finney neigte den Kopf zur Seite und deutete mit seinem dicken Finger auf Brashen. »Wenn es nach dir ginge, würdest du genau das tun. Du würdest weitermachen, wo du aufgehört hast. Du warst dort ein Adliger. Versuch nur, es abzustreiten, es steht dir ins Gesicht geschrieben. Du bist nicht im Hafenviertel geboren.« »Ich glaube nicht, dass es eine Rolle spielt, wo ich geboren worden bin. Jetzt bin ich jedenfalls hier«, meinte Brashen und lachte. Das Cindin durchdrang sein ganzes Inneres. Er grinste, genauso wie Finney. Eigentlich sollte er sich Sorgen darüber machen, wie der Kapitän es herausgefunden hatte, dass er aus Bingtown stammte, aber er glaubte, damit schon fertig werden zu können. »Genau das wollte ich dir gerade sagen. Verstehst du das? Verstehst du? Du bist clever. Viele Männer können einfach nicht akzeptieren, wo sie enden. Sie trauern immer der Vergangenheit hinterher oder jammern wegen der Zukunft. Aber Männer wie wir…» Er schlug auf den Tisch, dass es knallte. »Männer wie wir nehmen sich, was ihnen geboten wird, und machen was daraus.« »Also, Ihr wollt mir etwas anbieten?«, fragte Brashen. »Nicht direkt. Es geht vielmehr um das, was wir beide uns ge-
genseitig bieten können. Sieh uns an. Betrachte, was wir tun. Ich führe die Springeve die Küste hoch und runter, in eine Menge Häfen kleinerer Städte. Ich kaufe Zeugs, verkauf es wieder und stelle nicht zu viele Fragen. Ich habe eine Menge guter Handelsgüter an Bord, und die Sache läuft. Ich habe gute Qualität. Du weißt selbst, dass es stimmt.« »Das ist wahr«, pflichtete Brashen ihm schleunigst bei. Jetzt war nicht der richtige Moment, zu erwähnen, woher die Güter stammten, mit denen sie handelten. Die Springeve und Finney trieben Handel mit den Piraten-Inseln, kauften die besten Güter auf, die die Piraten erbeutet hatten, und verkauften sie an einen Hehler in Candletown. Von dort aus wurden sie als rechtmäßige Güter in andere Häfen verschifft. Viel mehr wusste Brashen nicht, und es kümmerte ihn auch nicht wirklich. Er war der Erste Maat auf der Springeve. Dafür und für gelegentliche Dienste als Leibwächter bekam er seine Kajüte, Verpflegung, ein paar Münzen und wirklich gutes Cindin. Viel mehr brauchte ein Mann nicht. »Das Beste«, betonte Finney. »Verdammt gutes Zeug. Und wir nehmen das ganze Risiko auf uns, es zu bekommen. Wir. Du und ich. Dann bringen wir das Zeug zurück nach Candletown, und was bekommen wir da?« »Geld?« »Einen Klacks. Wir bringen eine fette Sau an, und sie werfen uns die Knochen vor. Aber wenn wir zusammenarbeiten, Brashen, dann könnten du und ich viel besser abschneiden.« »Was stellt Ihr Euch vor?« Allmählich machte Brashen das Gespräch nervös. Finney hatte zwar eine Beteiligung an der Springeve, aber sie gehörte ihm nicht. Brashen wollte sich auf keinen Fall an richtiger Piraterie beteiligen. Davon hatte er bereits früher sein gerüttelt Maß gehabt. Und schon damals hatte es ihm gereicht. Nein. Allein mit diesem Handel mit gestohlenen Gütern ging er bis an seine Grenze. Er war vielleicht nicht mehr der respektierte Erste Maat auf dem Zauberschiff
Viviace, und er war nicht mal mehr der hart arbeitende Zweite Maat auf einem Schlachterschiff wie der Reaper, aber er war noch nicht zum Piratendasein hinabgesunken. »Du hast diesen Geruch an dir, wie ich schon sagte. Du stammst aus einer Händlersippe, stimmt's? Vermutlich der jüngste Sohn oder so, aber du hast sicher die richtigen Verbindungen nach Bingtown, wenn du sie benutzen würdest. Wir könnten da einen guten Fischzug landen, wenn du uns dort ins Geschäft bringen würdest. Dann könnten wir einige unserer besten Waren gegen dieses magische Zeug eintauschen, das die Händler haben. Diese singenden Glocken und Parfümklunker und was weiß ich noch.« »Nein!«, entfuhr es Brashen, bevor er merkte, wie barsch das klang. Er milderte es schnell ab. »Sicher, das ist eine gute Idee, sogar eine brillante Idee – sie hat nur einen Haken. Ich habe keine Beziehungen mehr.« Vermutlich lag es an dem Cindin, dass er Finney jetzt die Wahrheit sagte. »Ihr habt Recht. Ich stamme aus einer Händlerfamilie. Aber ich habe mich vor langer Zeit in diesen Stricken verheddert, und meine Familie hat mich losgebunden. Ich könnte nicht mal mehr meinen Vater dazu bringen, mir ein Glas Wasser vor seiner Tür zu geben, geschweige denn, Euch einen Handel zu verschaffen. So wie mein Vater für mich empfindet, würde er nicht mal auf mich pissen, wenn ich brenne.« Finney lachte gröhlend, und Brashen lächelte ironisch. Warum sprach er überhaupt von diesen Dingen, und warum vor allem machte er sich darüber lustig? Vermutlich war das besser, als betrunken herumzujammern. Er sah zu, wie Finney sich wieder fasste, noch einmal lachte und dann einen weiteren Schluck Bier trank. Ob der Kapitän noch irgendwo einen Vater hatte? Vielleicht hatte er ja sogar Frau und Kinder. Brashen wusste so gut wie nichts über ihn. Das war auch besser so. Hätte er einen Funken Verstand gehabt, wäre er jetzt aufgestanden, hätte gesagt, dass er nach der Mannschaft sehen wollte, und
wäre gegangen, bevor Finney ihm mehr von sich erzählte. Stattdessen spie er die feuchten Reste des Cindins in den Eimer unter dem Tisch und griff nach dem Behälter. Finney grinste, als Brashen sich ein Stück abbrach. »Es muss ja nicht dein Vater sein. Ein Mann wie du hat doch Kumpel, alte Freunde, hm? Oder du kennst jemanden mit einer Neigung zu unserer Profession, hast Gerüchte von jemandem gehört. In jeder Stadt gibt es welche, denen es nichts ausmacht, insgeheim ein paar Münzen mehr einzusacken. Wir könnten uns an diese Leute wenden, ein-, zweimal im Jahr, mit einer Ladung unseres besten Zeugs, das wir unseren üblichen Käufern vorenthalten. Nicht viel, aber nur das Beste. Und genau das wollen wir auch im Tausch dafür. Alles natürlich höchst vertraulich. Nur du und ich würden davon erfahren.« Brashen nickte. Es galt mehr sich selbst als Finney. Ja. Der Mann hatte vor, seinen Partner übers Ohr zu hauen, wollte selbst ein bisschen mehr Geld machen. So war es also mit Ehre unter Dieben bestellt. Er bot Brashen an, mit in den Handel einzusteigen, wenn Brashen für ihn eine Quelle ausfindig machte. Es war ein mieser Trick. Wie konnte Finney ernsthaft glauben, dass er so eine Sorte Mann war? Aber wie lange konnte er noch so tun, als wäre er es nicht? Und warum sollte er es überhaupt? »Ich denke darüber nach«, meinte Brashen. »Ja, mach das.« Finney grinste. Es war später Nachmittag, als Wintrow sich neben Kennit auf das Vorderdeck hockte. »Holt ihn vorsichtig von der Decke«, wies er die Männer an, die ihn hierhergetragen hatten. »Ich möchte, dass er auf den Deckplanken liegt und sich so wenig wie möglich zwischen ihm und dem Hexenholz befindet.« Ein paar Schritte entfernt stand Etta mit vor der Brust verschränkten Armen, scheinbar passiv. Sie weigerte sich, Viviace anzusehen. Wintrow versuchte, die Piratin nicht anzustarren. Ob jemand anders bemerkte, wie sie dastand, mit zusammen-
gepressten Lippen und geballten Fäusten? Sie hatte gegen seine Entscheidung angekämpft, die Amputation hier durchzuführen. Sie wollte Privatheit und vier Wände um diese blutige, schmerzhafte Angelegenheit. Wintrow hatte sie hergeführt und ihr seinen eigenen, blutigen Handabdruck auf dem Deck gezeigt. Er hatte ihr versichert, dass die Viviace Kennit gegen den Schmerz helfen konnte, so wie sie auch ihm geholfen hatte, als sein Finger abgeschnitten worden war. Schließlich hatte Etta nachgegeben. Doch weder Wintrow noch Viviace wussten genau, wie viel Hilfe das Schiff gewähren konnte. Da sie jedoch den Medizinkasten immer noch nicht gefunden hatten, war alles an Hilfe nützlich, was sie Kennit geben konnte. Das Schiff ankerte in einer namenlosen Bucht einer auf den Karten nicht verzeichneten Insel. Wintrow war zu Brig gegangen und hatte ihn gefragt, wo der Medizinkasten sei und wann sie nach Bullenbach kämen. Die Antworten auf beide Fragen waren enttäuschend. Man hatte die Medizinvorräte immer noch nicht gefunden, und ohne die Führung der Marietta wusste Brig nicht, wie er nach Bullenbach zurückkommen sollte. Die Antwort hatte Wintrow zwar entmutigt, aber nicht wirklich schockiert. Brigs kurzfristiges Kommando über die Viviace war für ihn ein gewaltiger Schritt nach vorn. Noch vor ein paar Tagen war Brig ein einfacher Seemann gewesen. Er wusste weder, wie man navigierte, noch konnte er Karten lesen. Seine Absicht war, einen sicheren Ankerplatz zu finden und dort zu warten, bis ihnen entweder die Marietta zu Hilfe kam oder sich Kennit so weit erholt hatte, dass er das Schiff führen konnte. Als Wintrow ihn ungläubig fragte, ob sie sich vollkommen verirrt hätten, antwortete Brig, dass man sehr wohl wissen konnte, wo man war, ohne jedoch einen sicheren Kurs irgendwo anders hin finden zu können. Die unüberhörbare Gereiztheit in der Stimme des jungen Seemanns ließ es Wintrow geraten erscheinen, seine Zunge im Zaun zu halten. Es wäre unsinnig gewesen, die
ehemaligen Sklaven über ihre Lage aufzuklären. Sa'Adar hätte sich über eine solche Gelegenheit nur gefreut. Selbst jetzt lungerte der Wanderprediger am Rand der Gruppe herum. Er hatte seine Hilfe nicht angeboten, und Wintrow hatte ihn nicht darum gebeten. Meistens waren diese Wanderprediger auch eher Richter und Unterhändler als Heiler und Gelehrte. Zwar hatte Wintrow immer das Wissen und sogar die Weisheit dieses Ordens respektiert, aber das Recht eines Mannes, über einen anderen zu richten, war ihm immer schon suspekt vorgekommen. Und es war auch nicht sonderlich hilfreich, jetzt selbst Objekt dieser kritischen Blicke zu sein. Wann immer er Sa'Adars Blick auf sich spürte, durchlief ihn eiskalt das Wissen, dass dieser Mann ihn für unwürdig hielt. Der ältere Priester stand da, die Arme vor der Brust verschränkt. Zwei Kartenvisagen flankierten ihn, und er sprach leise mit ihnen. Wintrow verbannte sie einfach aus seinem Bewusstsein. Wenn Sa'Adar schon nicht helfen wollte, dann wollte sich Wintrow wenigstens nicht von ihm ablenken lassen. Er stand auf und schritt zum Bug des Schiffes. Viviace sah ihm besorgt entgegen. »Ich tue mein Bestes«, sagte sie, noch bevor Wintrow seine Frage hatte stellen können. »Aber denk daran, dass wir kein Blutband mit ihm haben; er ist nicht mit uns verwandt. Und er ist auch noch nicht lange genug an Bord, um ihn wirklich zu kennen.« Sie senkte den Blick. »Ich werde dir nicht viel helfen können.« Wintrow beugte sich weit hinunter, um mit seinen Händen ihre Handflächen berühren zu können. »Dann verleih mir deine Kraft, das wird schon einiges bewirken«, meinte er tröstend. Ihre Hände berührten sich, bestätigten und verstärkten das merkwürdige Band, das zwischen ihnen bestand. Wintrow sog tatsächlich Kraft aus ihr. Während ihm das bewusst wurde, sah er, wie Viviace lächelte. Auch sie nahm es wahr. Es war ein Ausdruck des Glücks, nicht nur eine Andeutung, dass jetzt
wieder alles zwischen ihnen in Ordnung war, sondern ein Zeichen ihrer gemeinsamen Entschlossenheit. Welche Zweifel dem anderen gegenüber sie auch noch hegen mochten, diese Herausforderung würden sie gemeinsam durchstehen. Wintrow hob sein Gesicht in den Wind und betete zu Sa, dass er ihnen helfen möge. Dann drehte er sich wieder herum und holte tief Luft. Er fühlte, dass Viviace bei ihm war. Kennit lag schlaff auf dem Deck. Selbst aus dieser Entfernung konnte Wintrow den Brandy riechen. Etta saß neben Kennit und ermunterte ihn immer wieder zu trinken, weit mehr, als er wollte. Der Mann vertrug wirklich eine Menge Schnaps. Er war zwar betrunken, aber noch nicht besinnungslos. Etta hatte auch die Männer ausgewählt, die ihn niederhalten sollten. Zu Wintrows Überraschung waren drei der Leute ehemalige Sklaven. Einer war sogar eine ältere Kartenvisage. Trotz der Entschlossenheit, mit der sie zwischen den Zuschauern standen, war ihnen sichtlich unbehaglich zumute. Mit ihnen würde Wintrow beginnen. Er sprach ruhig und deutlich. »Diejenigen, die gerufen worden sind, können hier bleiben. Der Rest von euch entfernt sich, damit ich Platz habe.« Er wartete nicht ab, ob sie ihm gehorchten. Mit anzusehen, wie sie seinen Befehl missachteten, wäre eine zusätzliche Demütigung gewesen. Außerdem war er sicher, dass Etta einschreiten würde, wenn sie es taten. Er kniete sich neben Kennit hin. Es würde schwierig werden, ihn zu behandeln, während er flach auf dem Deck lag, aber Wintrow war sicher, dass die Kraft, die Viviace ihm spenden konnte, diese Unbequemlichkeit wert war. Er warf einen Blick auf die spärlichen Werkzeuge, die er zur Verfügung hatte. Sie lagen ordentlich auf einem sauberen Stück Segeltuch neben seinem Patienten. Es war ein Sammelsurium: Die frisch geschärften Messer kamen vom Koch. Die beiden Sägen stammten aus der Kiste des Schiffszimmerers. Lange, grobe Segeltuchnadeln lagen neben einigen kleineren,
die aus Ettas Nähzeug stammten. Etta hatte auch für die Bandagen gesorgt, sauber in Streifen gerissen, aus Leinen und Seide. Es war lächerlich, dass er nicht in der Lage gewesen war, eine bessere Ausrüstung zusammenzustellen. Fast jeder Seemann an Bord hatte seine eigenen Nadeln und sein Werkzeug. Doch alle Habseligkeiten der ermordeten Matrosen waren verschwunden. Wintrow war davon überzeugt, dass die Sklaven sie erbeutet hatten, als sie das Schiff übernahmen. Dass sie keiner von ihnen trotz des Ernstes der Lage herausgab, zeigte, wie sehr sie, es Kennit verübelten, dass er ihnen das Schiff nicht übergab. Wintrow konnte ihre Gefühle verstehen, aber das half ihm in seiner Situation nicht besonders. Als sein Blick erneut zu den groben Werkzeugen glitt, wusste er, dass er scheitern würde. Genauso gut könnte er dem Mann das Bein mit der Axt abhacken. Er sah hoch und suchte Etta. »Ich brauche bessere Werkzeuge als die hier«, erklärte er ruhig. »Ich wage es nicht, ohne sie anzufangen.« Sie schien in Gedanken versunken zu sein. »Ich wünschte, wir hätten den Medizinkasten von der Marietta«, antwortete sie sehnsüchtig. Für einen Augenblick wirkte sie beinahe jung. Sie strich mit den Fingern über Kennits Haar und spielte mit einer schwarzen Locke. Die plötzliche Zärtlichkeit, mit der sie den dösenden Mann betrachtete, war erschütternd. »Ich wünschte, wir hätten den Medizinkasten der Viviace«, erwiderte Wintrow ernst. »Er wurde in der Kabine des Ersten Maats aufbewahrt, bevor das alles anfing. Darin befanden sich viele nützliche Dinge, sowohl Medizin als auch Instrumente. Sie hätten Kennits Situation erheblich erleichtern können. Aber niemand scheint zu wissen, was daraus geworden ist.« Ettas Blick verfinsterte sich, und ihre Miene wurde hart. »Niemand?«, fragte sie kalt. »Irgendjemand weiß immer irgendetwas. Man muss nur auf die richtige Art fragen.« Sie stand unvermittelt auf. Als sie das Deck überquerte, zog
sie ihr Messer aus der Scheide. Wintrow erkannte sofort ihr Ziel. Sa'Adar und seine beiden Leibwächter hatten sich zwar zurückgezogen, waren aber nicht verschwunden. Der Priester drehte sich um, als Etta sich näherte, aber viel zu spät. Sein herablassender Blick verwandelte sich schlagartig in einen Ausdruck des Entsetzens, als Etta beiläufig die scharfe Schneide ihres Messers über seine Brust zucken ließ. Er stolperte mit einem Schrei zurück und sah an sich herunter. Sein zerlumptes Hemd hing offen vor seiner behaarten Brust, auf der eine blutrote Linie immer deutlicher hervortrat. Seine beiden untersetzten Leibwächter ließen Ettas Messer nicht aus den Augen. Sie hielt es tief und war bereit zuzustoßen. Brig und ein anderer Pirat hatten sich bereits neben Etta aufgebaut. Einen Augenblick sprach und bewegte sich niemand. Wintrow konnte beinahe hören, wie Sa'Adar seine Möglichkeiten durchspielte. Die Wunde war nicht tief; zwar schmerzhaft, aber keineswegs lebensbedrohend. Sie hätte ihn auf der Stelle ausweiden können. Also. Was wollte sie? Er entschied sich für heuchlerische Offenheit. »Warum?«, fragte er theatralisch und breitete die Arme aus, sodass man die Wunde auf seiner Brust sehen konnte. Er drehte sich halb herum, um außer Etta auch die Sklaven anzusprechen, die sich immer noch mittschiffs zusammendrängten. »Warum greift Ihr mich an? Was habe ich getan, außer dass ich meine Hilfe angeboten habe?« »Ich will den Medizinkasten«, antwortete Etta. »Und zwar sofort!« »Ich habe ihn nicht!«, rief Sa'Adar ärgerlich. Die Frau bewegte sich schneller als eine Katze. Ihr Messer blitzte auf, und eine zweite blutige Linie kreuzte die erste. Sa'Adar biss die Zähne zusammen und schrie weder auf, noch trat er zurück. Wintrow sah, wie viel Mühe ihn das kostete. »Such ihn!«, befahl Etta. »Du hast damit geprahlt, den Aufstand organisiert zu haben, der den Kapitän stürzte. Du gehst
zwischen den Sklaven herum und verkündest ihnen, du wärst der echte Führer, dem sie folgen sollten. Wenn das stimmt, dann solltest du auch wissen, wer von deinen Leuten die Kabine des Maats geplündert hat. Sie haben die Kiste. Ich will sie. Sofort.« Einen Atemzug lang schien die merkwürdige Szenerie wie eingefroren. Flackerte da ein Verstehen, ein Blick zwischen Sa'Adar und seinen Männern hin und her? Wintrow konnte es nicht genau sagen. Sa'Adar redete, aber auf Wintrow wirkten seine Worte merkwürdig gekünstelt. »Ihr hättet mich einfach fragen können, wisst Ihr? Ich bin ein demütiger Mann, ein Priester des Sa. Ich will nichts für mich, nur für das größere Gut der Menschlichkeit. Diese Kiste, die Ihr sucht… wie sieht sie aus?« Er sah Wintrow fragend an und lächelte aufgesetzt. Wintrow zwang sich zu einem neutralen Gesichtsausdruck, als er antwortete. »Eine Holzkiste, etwa so groß.« Er deutete ihre Ausmaße mit den Händen an. »Verschlossen. Das Siegel der Viviace ist in ihrem Deckel eingebrannt. In der Kiste befanden sich Medizin, Arztinstrumente, Nadeln und Bandagen. Jeder, der sie geöffnet hat, musste sofort wissen, was er vor sich hatte.« Sa'Adar drehte sich zu den Leuten um, die sich mittschiffs versammelt hatten. »Habt ihr gehört, meine Leute? Weiß jemand von euch von einer solchen Kiste? Wenn ja, dann bringt sie bitte her. Nicht meinetwegen, natürlich, sondern für das Wohl unseres Kapitäns. Zeigen wir ihm, dass wir gut zu denen sind, die gut zu uns sind.« Es war so durchschaubar. Wintrow dachte schon, dass Etta ihn auf der Stelle niederstechen würde. Stattdessen überzog ein merkwürdig geduldiger Ausdruck ihre Miene. An Wintrows Knie auf dem Deck meldete sich Kennit zu Wort. »Sie weiß, dass sie warten kann«, sagte er sehr leise. »Sie lässt sich gern Zeit beim Töten und macht es am liebsten ohne Zuschauer.« Wintrows Blick zuckte zu dem Piraten, doch der schien bei-
nahe bewusstlos zu sein. Seine langen Wimpern ruhten auf seinen Wangen, und sein Gesicht war entspannt. Die Spur eines Lächelns lag um seinen Mund. Wintrow legte zwei Finger leicht an Kennits Hals. Sein Puls schlug immer noch regelmäßig und kräftig, aber die Haut des Mannes war heiß. »Kapitän Kennit?«, fragte Wintrow leise. »Ist es der hier?«, rief eine Frau. Die ehemaligen Sklaven machten den Weg frei, und sie trat vor. Wintrow stand auf. Die Frau hatte tatsächlich die Medizinkiste in der Hand. Der Deckel war zersplittert, aber Wintrow erkannte das abgeschabte Holz. Er ging ihr jedoch nicht entgegen, sondern ließ die Frau die Kiste zu Etta bringen. Sollte sie diesen Kampf mit Sa'Adar zu Ende führen. Zwischen ihm und dem Priester gab es schon genug böses Blut. Etta senkte den Blick und betrachtete die offene Kiste, als die andere Frau sie ihr vor die Füße stellte. Etta bückte sich nicht einmal, um den zerwühlten Inhalt zu untersuchen. Als sie Sa'Adar anblickte, schnaubte sie verächtlich. »Ich mag keine Spielchen«, sagte sie leise. »Aber wenn ich gezwungen werde, sie zu spielen, sorge ich immer dafür, dass ich gewinne.« Ihr Blick bohrte sich in seinen, und keiner von beiden sah zur Seite. Ihre Wangen strafften sich, als sie die Zähne zu einem bösen Grinsen fletschte. »Und jetzt bring dieses Pack hier weg. Geht unter Deck, und schließt die Luken. Ich will keinen von euch sehen, hören oder riechen, solange das hier dauert. Und wenn du klug bist, dann erregst du nie wieder meine Aufmerksamkeit. Hast du verstanden?« Wintrow sah zu, wie Sa'Adar jetzt einen schwer wiegenden Fehler machte. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, die allerdings nicht ganz an Ettas Körperlänge heranreichte. Seine Stimme klang kühl und amüsiert. »Soll ich das so verstehen, dass Ihr und nicht Brig hier das Kommando habt?« Es wäre ein geschickter Schachzug gewesen, hätte er tatsächlich eine Rivalität zwischen den beiden ausnutzen können.
Doch so lachte Brig einfach nur schallend, als Ettas Messer einen dritten blutigen Streifen auf Sa'Adars Brust hinterließ. Diesmal schrie der Priester laut auf und stolperte zurück. Sie hatte das Messer etwas tiefer in die Haut dringen lassen. Der Wanderpriester umklammerte seine blutige Brust, und Etta lächelte drohend. »Ich denke, wir haben alle verstanden, dass ich hier das Kommando über dich habe!« Eine der Kartenvisagen stürzte mit wutverzerrtem Gesicht vor. Ettas Messer fuhr fast spielerisch in ihn hinein und wieder aus ihm heraus. Er stürzte zu Boden und hielt sich den Bauch. Viviace schrie bei diesem neuerlichen Blutvergießen auf ihrem Deck erstickt auf und erntete den Widerhall der Schreie der befreiten Sklaven, die zugesehen hatten. Wintrow war ebenfalls bis ins Mark entsetzt über diese neuerliche Gewalttat auf dem Schiff, aber er konnte nicht wegsehen. Sa'Adar wollte sich hinter seinem anderen Leibwächter verstecken, doch der bullige Mann kuschte ebenfalls vor der Frau mit dem Messer. Keiner der anderen Sklaven kam dem Priester zu Hilfe. Stattdessen bemerkte Wintrow, wie sich die Sklaven unmerklich von ihm zurückzogen. »Seid euch einer Sache gewiss!« Ettas Stimme klang wie ein Hammer, der auf einen Amboss schlägt. Sie hob das blutige Messer und beschrieb damit einen Bogen, der das gesamte Schiff und jedes Gesicht, tätowiert oder nicht, mit einbezog. »Ich werde niemanden dulden, der das Wohlergehen von Kapitän Kennit bedroht. Wenn ihr meinem Zorn entgehen wollt, dann werdet ihr nichts tun, was ihm missfallen könnte.« Sie senkte ein wenig die Stimme. »Es ist wirklich ganz einfach. Und jetzt klar Schiff.« Diesmal verschwanden die Leute auf dem Deck wie Wasser in einem Abfluss. Nach einigen Augenblicken waren die einzigen Leute auf Deck die Piraten und die paar Sklaven, die Etta ausgewählt hatte, um Kennit niederzuhalten. Ihre Erwählten betrachteten sie mit einer merkwürdigen Mischung aus Respekt
und Entsetzen. Wintrow vermutete, dass sie mittlerweile vollständig die Seiten gewechselt hatten und ihr überallhin folgen würden. Blieb abzuwarten, einen wie gefährlichen Feind sie sich in Sa'Adar geschaffen hatte. Als Etta neben Wintrow trat, sahen die beiden sich an. Diese Demonstration mit Sa'Adar hatte auch ihm gegolten. Falls Kennit unter seinen Händen starb, würde Ettas Rache zwar unaussprechlich, aber sicher nicht schnell sein. Er holte tief Luft, als sie sich ihm mit dem Medizinkasten näherte. Wortlos nahm er ihn in Empfang, stellte ihn auf die Planken und kontrollierte rasch seinen Inhalt. Einiges war zwar gestohlen worden, aber das Meiste war noch da. Mit einem Seufzer der Erleichterung fand er Kwazi-Fruchtrinde in Brandy konserviert. Die Flasche war winzig. Bitter dachte er daran, dass sein Vater es anscheinend für unnötig gehalten hatte, sie zu benutzen, als man Wintrow den Finger amputiert hatte. Andererseits wurde ihm klar, dass er dann auch nichts mehr für Kennit gehabt hätte. Er zuckte mit den Schultern, als er über die Launen des Schicksals nachdachte, und breitete schön säuberlich das Werkzeug aus. Er schob die Küchenmesser beiseite und ersetzte sie durch die feiner geschliffenen Messer aus dem Kasten. Dann entschied er sich für eine Knochensäge mit einem geschnitzten, bogenförmigen Griff. In drei Nadeln fädelte er Haare von Kennits Kopf ein. Als er sie auf das Segeltuch legte, lockten sie sich. Als Letztes nahm er ein Lederband mit zwei Ringen am Ende heraus, das man um die Gliedmaßen schlingen konnte, bevor man amputierte. Das war alles. Er betrachtete die Werkzeuge der Reihe nach. Dann sah er Etta an. »Ich würde gern beten. Ein paar Momente der Meditation bereiten uns alle vielleicht besser vor.« »Bring es einfach hinter dich«, befahl sie barsch. Ihre Lippen waren zusammengepresst, und sie hatte die Wangenmuskeln angespannt.
»Haltet ihn nieder«, antwortete Wintrow. Seine Stimme klang rau. Ob er wohl so blass war wie Etta? Ihre Herablassung ärgerte ihn, und er versuchte, den Ärger in Entschlossenheit umzuwandeln. Etta kniete sich neben Kennits Kopf, berührte ihn jedoch nicht. Zwei Männer packten sein gutes Bein und drückten es auf den Boden. Jeweils ein Mann hielt seine Arme. Brig versuchte, seinen Kopf zu halten, aber Kennit befreite sich mit einem kurzen Schütteln aus dem zögernden Griff des Piraten. Er hob den Kopf und starrte Wintrow aus glasigen Augen an. »Passiert es jetzt?«, wollte er wissen. Er klang sowohl klagend als auch ärgerlich. »Ist es soweit?« »Es ist soweit«, antwortete Wintrow. »Wappnet Euch!« Er wandte sich an Brig. »Haltet seinen Kopf fest. Legt Eure Handflächen auf seine Stirn, und drückt ihn mit Eurem ganzen Gewicht auf das Deck. Je weniger er sich bewegt, desto besser.« Kennit legte freiwillig den Kopf zurück und schloss die Augen. Wintrow hob die Decke hoch, die den Stumpen bedeckte. In den paar Stunden, seit er das Bein das letzte Mal gesehen hatte, hatte sich der Zustand der Wunde verschlimmert. Die Schwellung dehnte die Haut, bis sie fast durchscheinend war, und sie hatte eine blaugraue Färbung angenommen. Er musste anfangen, solange er noch den Mut besaß. Er versuchte, nicht daran zu denken, dass sein eigenes Leben vom Erfolg der Operation abhing. Als er vorsichtig den Lederriemen unter den Stumpen schob, weigerte er sich, an Kennits Schmerzen zu denken. Er musste sich darauf konzentrieren, schnell zu arbeiten und sauber zu schneiden. Sein Schmerz war unwichtig. Als Wintrow das letzte Mal bei einer Amputation zugesehen hatte, war das Zimmer warm und gemütlich gewesen. Kerzen und Weihrauch hatten gebrannt, als Sa'Parte sich mit Gebeten und Gesängen auf seine Aufgabe vorbereitet hatte. Das einzige Gebet, das Wintrow herausbrachte, war lautlos. Sa, gewähre
mir deine Gnade, betete er. Verleihe mir deine Stärke. Gnade dachte er beim Einatmen. Stärke beim Ausatmen. Es beruhigte sein heftig pochendes Herz. Sein Verstand war plötzlich klarer, seine Wahrnehmung schärfer. Er brauchte einen Moment, bis er begriff, dass Viviace mit ihm war, intimer als jemals zuvor. Schwach konnte er sogar Kennit durch sie fühlen. Wintrow erforschte das schwache Band. Es kam ihm so vor, als würde sie aus großer Entfernung mit Kennit sprechen, ihm Mut und Stärke eingeben und ihm versprechen, dass sie ihm helfen würde. Wintrow war einen Augenblick eifersüchtig und verlor seine Konzentration. Gnade, Stärke, ermahnte ihn das Schiff. Gnade, Stärke, erwiderte er wortlos. Er zog den Lederriemen durch die Ringe und zog ihn fest um Kennits Schenkel. Kennit bäumte sich vor Qual auf. Trotz der Männer, die ihn niederhielten, bog er den Rücken vom Deck hoch. Durch den verkrusteten Schorf seines Stumpfs drang Eiter und spritzte auf das Deck. Der faulige Gestank verpestete die Luft. Etta warf sich mit einem Schrei über Kennits Brust und versuchte, ihn niederzuhalten. Einen Moment lang herrschte schreckliches Schweigen, als ihm die Luft ausging. »Schneid endlich, verdammt!«, schrie Etta Wintrow an. »Bring es hinter dich! Tu es endlich!« Wintrow kniete, wie betäubt von Kennits Qualen, neben ihm. Sie überschwemmten ihn wie eine Welle Eiswasser, schockierten ihn und schienen ihn mit ihrer Intensität zu ertränken. Die Erfahrung des anderen Mannes strömte durch seine dünne Verbindung mit dem Schiff und in Wintrow hinein. Kennit holte rasselnd Luft und schrie laut auf. Wintrow zersplitterte wie ein kaltes Glas, das man mit kochendem Wasser füllt. Er war niemand, nichts, und dann war er Viviace und plötzlich wieder Wintrow. Er fiel nach vorn, mit den Handflächen auf das Deck, und sog seine Identität aus dem Holz. Ein Vestrit, er war ein Vestrit, mehr noch, er war Wintrow Vestrit,
der Junge, der eigentlich Priester hätte werden sollen… Kennit schüttelte sich heftig und lag plötzlich bewusstlos da. In der folgenden Stille klammerte sich Wintrow an sein Gefühl von sich selbst, hüllte sich darin ein. Irgendwo ging das Gebet weiter: Gnade, Stärke. Gnade, Stärke. Es war Viviace, die damit seinen Atemrhythmus steuerte. Dann übernahm er wieder die Kontrolle über sich. Etta weinte und fluchte gleichzeitig. Sie hatte sich über Kennits Brust geworfen, ihn gleichzeitig umarmend und niederdrückend. Wintrow ignorierte sie. »Haltet ihn fest!«, befahl er gepresst. Er griff nach einem beliebigen Messer und verstand plötzlich, was er tun musste. Geschwindigkeit. Geschwindigkeit war die Essenz. Ein solch ungeheurer Schmerz konnte einen Menschen töten. Wenn er Glück hatte, konnte er die Amputation beenden, bevor Kennit das Bewusstsein wiedererlangte. Er setzte das glänzende Messer an das geschwollene Fleisch und zog es darüber, während er es gleichzeitig niederdrückte. Niemand hatte ihn auf das Gefühl vorbereitet. Er hatte dem Fleischer im Kloster beim Schlachten geholfen. Es war keine besonders erfreuliche Aufgabe gewesen, aber sie hatte erledigt werden müssen. Damals hatte er jedoch durch kaltes Fleisch geschnitten, das sich nicht bewegte und schon fest war. Kennits Fleisch dagegen lebte. Seine fiebernde Weichheit gab der scharfen Schneide des Messers leicht nach und schloss sich sofort dahinter wieder. Das Blut strömte in die Wunde und erschwerte ihm die Arbeit. Er musste Kennits Bein unter dem Punkt halten, in den er schnitt. Die Haut war heiß, und seine Finger sanken viel zu leicht ein. Er versuchte, rasch zu schneiden. Das Fleisch unter dem Messer bewegte sich, die Muskeln zuckten und schnappten zurück, als Wintrow sie durchtrennte. Das Blut strömte in einer unablässigen roten Flut aus der Wunde. Nach einem Moment war der Griff seines Messers klebrig und glitschig. Das Blut rann auf das Deck unter Kennits Bein, breitete sich aus und wurde von Wintrows Robe aufgesaugt. Er
sah Sehnen, glänzende weiße Bänder, die verschwanden, sobald sein Messer sie teilte. Es schien ewig zu dauern, bis das Messer auf den Knochen traf. Und von ihm abglitt. Wintrow warf das Messer zur Seite und wischte sich die Hände an seinem Hemd ab. »Säge!«, rief er. Jemand schob sie ihm hin, und er griff danach. Es machte ihn beinahe krank, sie in die Wunde hineinschieben zu müssen, aber er schaffte es. Er zog sie über den Knochen. Das Geräusch war schrecklich, ein nasses Knirschen. Kennit kam wieder zu sich und heulte wie ein Hund. Er hämmerte seinen Kopf gegen das Deck, und trotz der Männer, die ihn niederhielten, gelang es ihm, sich hin und her zu winden. Wintrow rechnete damit, von dem Schmerz des Piraten überwältigt zu werden, aber Viviace hielt ihn zurück. Er kam nicht dazu zu überlegen, was diese Anstrengung sie kostete, ja er hatte nicht einmal die Zeit, dankbar zu sein. Er drückte auf die Säge und arbeitete schnell und rücksichtslos. Blut spritzte über das Deck, seine Hände und hinauf bis zu seiner Brust. Er schmeckte es sogar. Dann gab der Knochen plötzlich nach, und bevor Wintrow aufhören konnte, zerfetzte er mit der Säge das Fleisch. Er riss die Säge aus der Wunde, warf sie beiseite und tastete nach einem neuen Messer. Gedämpft hörte er, wie Kennit Schreie ausstieß, die kaum noch Ähnlichkeit mit menschlichen Lauten hatten. Ein platschendes Geräusch folgte. Wintrow nahm den sauren Geruch von Erbrochenem wahr. »Passt auf, dass er nicht erstickt!«, rief er. Aber nicht Kennit hatte sich übergeben, sondern einer der Männer, die ihn festhielten. Dafür war keine Zeit. »Halt ihn fest, verdammt noch mal!«, schrie Wintrow den Mann an. Er durchtrennte mit dem Messer das Fleisch und hörte erst auf, als er das Bein fast vollständig abgetrennt hatte. Er hielt das Messer ein wenig schräg und schnitt so ein größeres Stück Haut von dem Stumpen, bevor er den letzten Schnitt tat und die verrotteten Reste des Beins beiseite schob.
Dann betrachtete er angeekelt sein Werk. Das war kein fein säuberlich geschnittenes Stück Fleisch eines Sonntagsbratens. Dies hier war lebendiges Fleisch. Die Muskeln lagen frei und zogen sich ungleichmäßig zusammen. Der Knochen sah zu ihm hinauf wie ein Auge, das ihn anklagend musterte. Überall war Blut. Wintrow war fest davon überzeugt, dass er den Mann umgebracht hatte. Denk das nicht, warnte ihn Viviace. Ihr nächster Gedanke war beinahe flehentlich. Zwing ihn nicht dazu, das zu glauben. Im Moment muss er alles glauben, was wir denken, so wie wir miteinander verbunden sind. Er hat keine andere Wahl. Wintrow tastete mit blutverschmierten Händen nach der kleinen Flasche mit der Kwazi-Fruchtrinde. Er hatte von ihrer Macht gehört, aber um einen solchen Schmerz zu lindern, kam ihm die Menge viel zu kläglich vor. Er öffnete den Verschluss und versuchte, die Flüssigkeit zu dosieren, damit er auch noch ein Schmerzmittel für den nächsten Tag hatte. Die Rindenstücke verstopften den Ausfluss. Wintrow schüttelte die Flasche, und die Tropfen spritzten unkontrolliert heraus. Wo sie auf Kennits Haut trafen, linderten sie sofort den Schmerz. Er wusste es, weil er es durch Viviace spürte. Als er die Flasche wieder verschloss, befand sich kaum noch die Hälfte der Flüssigkeit darin. Er biss die Zähne zusammen und berührte das Fleisch, das er eben durchtrennt hatte, um die zähe grüne Flüssigkeit gleichmäßig zu verteilen. Das Nachlassen des Schmerzes war, als würde man von einer Welle an Land gespült. Ihm war nicht bewusst geworden, wie viel von Viviaces Schild abgehalten wurde, bis es aufhörte. Und er spürte Viviaces Erleichterung. Anschließend versuchte er, sich alles ins Gedächtnis zu rufen, was er Sa'Parte hatte tun sehen, als dieser ein Bein amputiert hatte. Er hatte die Enden einiger blutender Arterien zugebunden, sie gefaltet und dadurch verschlossen. Wintrow versuchte es. Er war plötzlich müde und verwirrt und konnte sich nicht erinnern, wie viel der Heilpriester genäht hatte. Wintrow wollte
nur noch weg von der glorreichen Schlachtplatte, die er hier angerichtet hatte. Er sehnte sich danach zu flüchten, sich irgendwo zu einem Ball zusammenzurollen und das alles von sich abzustreifen. Aber er zwang sich weiterzumachen. Den Hautlappen faltete er über das rohe Ende von Kennits Stumpen. Er musste Etta bitten, mehr Haar von dem Kopf des Piraten zu zupfen und die feinen Nadeln für ihn einzufädeln. Kennit lag vollkommen ruhig da und atmete vernehmlich. Als die Männer ihren Griff lockerten, tadelte Wintrow sie sofort. »Haltet ihn weiter fest. Wenn er sich rührt, während ich nähe, reißt er vielleicht alles auseinander.« Der Hautlappen passte nicht ganz. Wintrow bemühte sich, ihn zu dehnen, wo es nötig war. Er bandagierte den Stumpen mit Leinen und verband ihn mit Seide. Doch genauso schnell, wie er ihn umwickelte, sickerte auch das Blut hindurch und färbte den Stoff rot. Wintrow wusste nicht mehr, wie oft er die Bandage herumgewickelt hatte. Als er schließlich fertig war, wischte er sich die Hände an seiner Robe ab und löste den Knebel. Sofort färbte sich der frische Verband rot. Wintrow hätte am liebsten vor Wut und Verzweiflung aufgeschrien. Wie konnte ein einzelner Mensch so viel Blut in sich haben? Und wie konnte es sein, dass so viel aus ihm herausströmte und er immer noch lebte? Wintrows Herz hämmerte vor Furcht, als er eine weitere Stoffschicht um den Verband wickelte. Er stützte den Stumpen mit der Hand und sagte müde: »Ich bin fertig. Wir können ihn jetzt bewegen.« Etta hob den Kopf von Kennits Brust. Ihr Gesicht war weiß, und ihr Blick fiel auf das abgeschnittene Stück Bein. Vor Leid verzerrte sie einen Moment den Mund, und es kostete sie sichtlich Mühe, ihre Miene wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ihre Augen schimmerten immer noch feucht, als sie sich an die Männer wandte. »Holt die Trage!«, befahl sie heiser. Es war eine sehr umständliche Prozession. Kennit musste über die kurze Leiter auf das Hauptdeck getragen werden. Und
kaum hatten sie es überquert, mussten sie die Trage durch die schmalen Flure der Offiziersquartiere manövrieren. Jedes Mal, wenn die hölzernen Griffe der Trage gegen eine Wand stießen und Kennit schüttelten, knurrte Etta. Als die Männer ihn von der Trage auf das Bett legten, öffnete er kurz die Augen. »Bitte, bitte, ich will brav sein, das verspreche ich. Ich werde zuhören, und ich werde gehorchen, ganz bestimmt.« Ettas Miene wurde so düster, dass alle Männer sofort die Augen niederschlugen. Wintrow war sicher, dass man den Kapitän niemals auf diese Worte ansprechen würde. Kaum lag Kennit auf dem Bett, schloss er die Augen und lag so ruhig da wie vorher. Die Männer verließen die Kabine, so schnell sie konnten. Wintrow blieb noch einen Moment. Etta starrte ihn böse an, als er Kennits Handgelenk und dann seine Kehle berührte. Sein Puls war leicht und unregelmäßig. Wintrow beugte sich dicht zu ihm hinunter und versuchte, ihm mit seinem Atem Zuversicht einzuflößen. Er hielt seine klebrigen Hände über Kennits Gesicht und berührte mit den Fingerspitzen die Schläfen des Piraten, während er laut zu Sa betete, dem Mann Kraft und Gesundheit zu geben. Etta ignorierte ihn. Sie faltete stattdessen ein sauberes Tuch und schob es geschickt unter Kennits bandagierten Stumpen. »Und jetzt?«, fragte sie düster, als Wintrow fertig war. »Jetzt warten wir und beten«, erwiderte Wintrow. »Mehr können wir nicht tun.« Sie stieß einen verächtlichen Laut aus und deutete auf die Tür. Wintrow ging hinaus. Auf ihrem Deck herrschte eine heillose Unordnung. Das Blut, das in sie einsickerte, hinterließ eine deutlich sichtbare Spur. Viviace hatte die Augen halb geschlossen, weil die Sonne im Westen sie blendete. Sie fühlte, wie Kennit in der Kajüte des Kapitäns lag und atmete, und sie merkte auch, wie das Blut aus ihm heraussickerte. Die Medizin hatte seine Schmerzen gelindert, aber sie nahm sie trotzdem wahr, wie eine ferne pochende
Drohung. Jeder Schlag brachte sie einen winzigen Schritt näher. Und obwohl sie seine Qualen noch nicht spüren konnte, kannte sie ihre Ungeheuerlichkeit und fürchtete den Moment, wenn sie ausbrachen. Wintrow ging über ihr Vordeck und beseitigte die Unordnung. Er weichte ein übrig gebliebenes Stück Bandage in seinem Wassereimer ein, wischte jedes Messer ab, bevor er es wegsteckte, und säuberte ebenso sorgfältig die Nadeln und die Säge. Er verstaute alles im Medizinkasten, räumte ihn methodisch wieder auf. Hände und Unterarme hatte er sich gewaschen und auch das Blut aus seinem Gesicht gewischt, aber seine Robe und sein Hemd waren immer noch blutdurchtränkt. Er wischte die Flasche mit der Kwazi-Fruchtessenz ab und betrachtete den kümmerlichen Rest. »Das ist nicht mehr viel«, meinte er. »Na ja, es spielt keine große Rolle. Ich bezweifle, dass Kennit lange genug lebt, um mehr zu verlangen. Sieh nur, wie viel Blut er verloren hat.« Er legte die Flasche in die Kiste zurück und betrachtete dann das Stück Bein. Wintrow biss die Zähne zusammen und hob es auf. Er hielt es am Knie, zu dessen beiden Seiten zerfetztes Fleisch hing. Es war merkwürdig leicht in seiner Hand, und er trug es zur Seite des Schiffes. »Irgendwie fühlt sich das nicht richtig an«, sagte er laut zu Viviace, aber er warf es trotzdem über die Seite. Mit einem Schrei wich er zurück, als der Kopf der weißen Seeschlange aus dem Wasser schoss und das Bein noch in der Luft packte. Genauso schnell, wie sie aufgetaucht war, verschwand die Bestie wieder und das Bein mit ihr. Wintrow trat hastig zurück an die Reling. Er umklammerte sie und starrte in die grünliche Tiefe, suchte nach dem blassen Schimmern der Kreatur. »Woher wusste es das Vieh?«, fragte er heiser. »Es hat gewartet und das Bein erwischt, bevor es ins Wasser fallen konnte. Woher konnte es das wissen?« Bevor Viviace antworten konnte, fuhr er fort: »Ich dachte, die Seeschlange wäre fort. Was will sie noch? Warum folgt sie uns?«
»Sie kann uns hören, uns zwei.« Viviace sprach leise, damit nur Wintrow sie hören konnte. Sie schämte sich. Die Leute strömten wieder aus den Luken ans Tageslicht, aber keiner näherte sich dem Vordeck. Die Seeschlange war so schnell und lautlos aufgetaucht und verschwunden, dass niemand sonst sie gesehen zu haben schien. »Ich weiß nicht, wie sie es macht, und ich glaube auch nicht, dass sie vollkommen begreift, was wir denken, aber was sie versteht, genügt. Und was sie will, ist klar: Genau das, was du ihr gegeben hast. Sie will gefüttert werden, mehr nicht.« »Vielleicht sollte ich mich ihr vorwerfen. Das würde Etta die Mühe ersparen, es später selbst tun zu müssen.« Er spottete, aber sie hörte die Verzweiflung in seinem Tonfall. »Du sprichst ihre Gedanken aus, nicht deine eigenen. Sie beeinflusst dich, weil sie Nahrung will. Sie glaubt, wir schulden ihr Nahrung. Und sie hat keine Skrupel, dir einzureden, dass dein Körper sie befriedigen könnte. Hör ihr nicht zu.« »Woher weißt du, was sie denkt und will?« Wintrow hatte aufgehört aufzuräumen, trat an die Reling und beugte sich zu der Galionsfigur hinunter. Sie sah ihn über die Schulter hinweg an. Sein müdes Gesicht ließ ihn älter wirken. Einen Augenblick überlegte sie, wie viel sie ihm verraten sollte, dann befand sie, dass es sinnlos war, ihn zu verschonen. Irgendwann musste er es erfahren. »Sie gehört zur Familie«, erklärte sie. Als Wintrow sie erstaunt ansah, zuckte sie mit den Schultern. »So fühlt es sich für mich an. Ich habe zu ihr dieselbe Art von Verbindung. Nicht so stark wie die, die du und ich jetzt teilen, aber sie ist unbestreitbar da.« »Das ergibt keinen Sinn.« Sie zuckte erneut mit den Schultern und wechselte dann unvermittelt das Thema. »Du musst aufhören zu glauben, dass Kennit sicher sterben wird.« »Warum? Willst du mir sagen, dass er auch zur Familie ge-
hört und meine Gedanken wahrnimmt?« Seine Stimme klang eine Spur verbittert. War er eifersüchtig? Sie versuchte, sich ihre Freude darüber zu verkneifen, aber sie konnte nicht widerstehen, ihn ein bisschen zu ärgern. »Deine Gedanken? Nein, deine Gedanken kann er nicht spüren. Ich bin es, die er wahrnimmt. Er erreicht mich und ich ihn. Wir sind einander gewahr. Natürlich noch sehr dürftig. Ich kenne ihn nicht lange genug, um eine stärkere Verbindung aufzunehmen. Sein Blut, das in meine Planken geronnen ist, besiegelt dieses Band auf eine Art und Weise, die ich nicht erklären kann. Blut ist Erinnerung. So wie deine Gedanken die meinen berühren, so beeinflussen sie auch die von Kennit. Ich versuche zu verhindern, dass deine Ängste in ihn einströmen, aber es kostet mich sehr viel Mühe.« »Du bist mit ihm verbunden?«, fragte Wintrow. »Du hast mich gebeten, ihm zu helfen. Du hast mich gebeten, ihm Kraft zu geben. Glaubst du, dass das geht, ohne eine Verbindung mit ihm zu haben?« Viviace war über seine Missbilligung empört. »Ich nehme an, dass ich über diesen Aspekt nicht nachgedacht habe«, gab Wintrow zögernd zu. »Spürst du ihn jetzt auch?« Viviace dachte darüber nach und lächelte plötzlich schwach. »Ja, das tue ich. Und zwar deutlicher als vorher.« Ihr Lächeln erlosch. »Vielleicht liegt das daran, dass er schwächer wird. Ich glaube, er hat nicht mehr die Kraft, sich von mir abzugrenzen.« Sie konzentrierte sich rasch wieder auf Wintrow. »Deine Überzeugung, dass er sterben wird, liegt wie ein Fluch auf ihm. Du musst irgendwie deine Einstellung ändern und ihn dir nur als Lebenden vorstellen. Sein Körper hört auf seinen Verstand. Gib ihm deine Stärke.« »Ich werd's versuchen«, erwiderte er mürrisch. »Aber ich kann mich kaum aufrichtig von etwas überzeugen, von dem ich weiß, dass es gelogen ist.«
»Wintrow.« Es war ein unüberhörbarer Tadel. »Na gut.« Er legte beide Hände auf die Bugreling, sah hoch und richtete den Blick fest auf den Horizont. Der schöne Frühlingstag versank allmählich im Zwielicht. Der blaue Himmel wurde dunkler, und seine Farbe vermischte sich immer mehr mit der des Meeres. Bald würde man nicht mehr sagen können, wo das Meer aufhörte und der Himmel begann. Langsam versenkte sich Wintrow in sich selbst und löste seine Wahrnehmung auf, bis seine Augen sich automatisch schlossen. Er atmete tief und gleichmäßig, beinahe friedlich. Neugierig tastete sie nach dem Band, das sie vereinte, versuchte, seine Gedanken und Gefühle zu lesen, ohne dabei aufdringlich zu sein. Es funktionierte nicht. Wintrow war sich ihrer sofort bewusst. Doch statt sie auszugrenzen, verband er sich bereitwillig mit ihr. Einmal in ihm, nahm sie den ständigen Fluss seiner Gedanken wahr. »Sa ist in allem Leben, und alles Leben ist in Sa.« Es war eine einfache Bestätigung, und sie erkannte sofort, dass er Worte gewählt hatte, an die er fest glaubte. Er konzentrierte sich nicht mehr auf Kennits Zustand. Stattdessen versicherte er, dass, solange Kennit lebte, sein Leben von Sa war und Sas Ewigkeit teilte. Kein Ende, versprachen ihr seine Worte. Das Leben endet nicht. Nach kurzem Nachdenken konnte sich Viviace seiner Überzeugung anschließen. Es gab keine letztendliche Schwärze, die man zu fürchten hatte, kein plötzliches Ende des Seins. Wechsel und Mutationen, ja, aber diese Dinge kamen mit jedem Atemzug vor. Veränderungen waren die Essenz des Lebens, man sollte keine Angst davor haben. Sie öffnete sich für Kennit und teilte diese Einsicht mit ihm. Das Leben ging weiter. Der Verlust eines Beines war kein Ende, sondern nur eine Kurskorrektur. Solange noch Leben im Herzen eines Mannes pulsierte, solange existierten alle Möglichkeiten. Kennit musste sich nicht fürchten. Er konnte sich entspannen. Es würde alles gut werden. Er sollte jetzt ruhen. Einfach nur ruhen. Sie fühlte, wie sich seine Dankbarkeit warm
ausbreitete. Die gespannten Muskeln seines Gesichts und seines Rückens wurden schlaff. Kennit holte tief Luft und ließ den Atem langsam heraus. Er atmete nicht mehr ein.
5
Das Zauberschiff Ophelia Altheas Wache war zu Ende. Jetzt hatte sie Zeit für sich. Sie war zwar müde, aber es war ein angenehmes Gefühl. Es war ein beinahe lauer Frühlingsnachmittag gewesen, eine Seltenheit für diese Jahreszeit, und Althea hatte ihn genossen. Die Ophelia war den ganzen Tag in einer geradezu überschwänglichen Stimmung gewesen. Das Lebensschiff hatte den Seeleuten ihre Arbeit leicht gemacht und war entschlossen nordwärts gesegelt. Sie war eine schwerfällige alte Kogge, die zudem auch noch, schwer beladen mit den Waren einer erfolgreichen Handelsreise, tief im Wasser lag. Der frühe Abendwind war kaum mehr als eine Brise, aber die Segel der Ophelia erwischten jedes noch so kleine Lüftchen. Sie glitt mühelos durch die Wellen. Althea lehnte sich an die Bugreling und betrachtete den Sonnenuntergang an der Backbordseite. In wenigen Tagen würden sie zu Hause sein. »Gemischte Gefühle?«, fragte Ophelia sie mit einem kehligen Kichern. Die dralle Galionsfigur warf Althea einen wissenden Blick über ihre entblößte Schulter zu. »Du weißt selbst, wie Recht du hast«, gab Althea zu. »Und zwar bei allem. Nichts in meinem Leben macht mehr Sinn.« Sie zählte die Gründe an den Fingern ab. »Hier bin ich also und diene als Erster Maat auf einem Zauberhandelsschiff. Das ist so ziemlich die höchste Position, die ein Seemann hoffen kann zu erreichen. Kapitän Tenira hat mir ein Schiffszeugnis versprochen. Es ist das, was ich brauche, um zu beweisen, dass ich ein fähiger Seemann bin. Mit diesem Zeugnis kann ich nach Hause gehen und Kyle zwingen, sein Wort zu halten und mir mein Schiff zurückzugeben. Und trotzdem komme ich mir irgendwie schuldig vor. Du hast es mir so leicht gemacht. Ich habe als
›Schiffsjunge‹ auf der Reaper dreimal so hart gearbeitet. Es kommt mir einfach nicht richtig vor.« »Ich kann dir deine Arbeit gern schwerer machen, wenn du das möchtest«, antwortete Ophelia spöttisch. »Ich könnte Schlagseite bekommen oder undicht werden oder…« »Nein, das würdest du nicht tun«, erwiderte Althea überzeugt. »Dafür bist du viel zu stolz darauf, wie gut du segelst. Nein. Außerdem möchte ich meine Aufgaben auch gar nicht härter haben. Und ich bereue auch meine Zeit auf der Reaper nicht. Zumindest habe ich mir dort bewiesen, dass ich zäh bin. Durch den Dienst an Bord dieses Kahns bin ich ein besserer Seemann geworden und habe eine Seite der Seefahrt kennen gelernt, von der ich bis dahin noch nie etwas gesehen hatte. Es war keine Zeitverschwendung. Aber es war Zeit, die ich von der Viviace getrennt war. Zeit, die für immer verloren ist…« Altheas Stimme brach. »Ach, Schätzchen, das ist ja so tragisch!« Ophelias Stimme klang äußerst besorgt. Einen Moment später jedoch fuhr sie sarkastisch fort: »Es könnte nur dann noch schlimmer werden, wenn du noch mehr Zeit daran verschwendest, deswegen zu trauern, Althea. Das sieht dir nicht ähnlich. Schau nach vorn, nicht zurück. Korrigiere deinen Kurs, und mach weiter. Du kannst die Reise von gestern nicht ungeschehen machen.« »Das weiß ich«, erwiderte Althea und lachte bedauernd. »Ich weiß, dass das, was ich jetzt tue, nicht das Richtige ist. Es kommt mir nur so merkwürdig vor, dass es so einfach und angenehm ist. Ein schönes Schiff, eine schnelle Mannschaft, ein guter Kapitän…« »Ein sehr gut aussehender Erster Maat«, warf Ophelia ein. »Das ist er«, gab Althea bereitwillig zu. »Und ich weiß auch zu schätzen, was Grag alles für mich getan hat. Er sagt zwar, dass er das Lesen und die Entspannung zu schätzen weiß, aber es muss sehr langweilig sein, so zu tun, als wäre er krank. Und nur damit ich die Chance bekomme, seine Position einzuneh-
men. Ich habe viele Gründe, ihm dankbar zu sein.« »Merkwürdig. Du hast ihm diese Dankbarkeit aber noch nicht gezeigt.« Zum ersten Mal schwang ein kühler Unterton in der Stimme des Schiffes mit. »Ophelia!« Althea stöhnte. »Bitte, fang nicht schon wieder damit an. Du willst doch nicht, dass ich Gefühle für Grag heuchle, die ich nicht empfinde, oder?« »Ich kann einfach nicht verstehen, warum du diese Gefühle nicht hast, das ist alles. Bist du sicher, dass du dich nicht selbst betrügst? Sieh dir Grag doch an. Er sieht gut aus, hat Charme, Intelligenz, ist freundlich und ein Gentleman. Ganz zu schweigen davon, dass er aus einer Bingtowner Händlerfamilie stammt und ein respektables Vermögen erben wird. Ein Vermögen, das ein großartiges Lebensschiff beinhaltet, darf ich vielleicht noch hinzufügen. Was kannst du mehr von einem Mann erwarten?« »Er ist all das und noch mehr. Das habe ich dir schon vor einigen Tagen gesagt. Ich habe weder an Grag Tenira noch an seinem großartigen Lebensschiff etwas auszusetzen.« Althea lächelte die Galionsfigur an. »Dann musst du ein Problem haben«, verkündete Ophelia unerbittlich. »Warum fühlst du dich nicht zu ihm hingezogen?« Althea biss sich auf die Zunge. Als sie antwortete, klang ihre Stimme sehr vernünftig. »Auf eine bestimmte Art und Weise fühle ich mich zu ihm hingezogen. Trotzdem, im Moment passiert so viel in meinem Leben, dass ich es mir nicht leisten kann… Ich habe einfach nicht die Zeit, um mir über solche Dinge den Kopf zu zerbrechen. Du weißt genau, was mich erwartet, wenn wir nach Bingtown zurückkommen. Ich muss mich mit meiner Mutter versöhnen, falls das möglich ist. Und da gibt es auch noch ein anderes großartiges Lebensschiff, das mir im Kopf herumgeht. Ich muss meine Mutter dazu bringen, mich zu unterstützen, wenn ich versuche, mir die Viviace von Kyle zurückzuholen. Sie hat gehört, wie er bei Sa geschworen
hat, mir das Schiff zurückzugeben, wenn ich mich als Seemann beweisen würde. Ganz gleich, wie aufgebracht er war, als er das sagte, ich habe vor, ihn dazu zu bringen, diesen Schwur einzuhalten. Ich weiß, dass es einen hässlichen Kampf geben wird, wenn ich ihn zwingen will, mir die Viviace zu übergeben. Darauf muss ich mich konzentrieren.« »Glaubst du nicht, dass Grag in einem solchen Kampf ein mächtiger Verbündeter sein könnte?« »Würdest du es für ehrenvoll halten, wenn ich seine Avancen nur deshalb ermutige, um ihn als Werkzeug zu benutzen, mein Schiff zurückzugewinnen?« Jetzt war Altheas Stimme kühl. Ophelia lachte. »Aha. Also hat er bereits Annäherungsversuche unternommen. Ich habe mir schon Sorgen um den Jungen gemacht. Erzähl mir alles davon.« Sie sah Althea forschend an. »Schiff!«, warnte Althea, aber nach einem Moment musste sie unwillkürlich in das Lachen des Schiffes einstimmen. »Willst du tatsächlich so tun, als wüsstest du nicht genau, was hier an Bord vorgeht?« »Hm«, meinte Ophelia. »Vielleicht weiß ich das Meiste, was in den Kajüten und unter Deck passiert. Aber nicht alles.« Sie hielt inne und fuhr dann fort: »Gestern herrschte in seinem Quartier ein langes Schweigen. Hat er da versucht, dich zu küssen?« Althea seufzte. »Nein, natürlich nicht. Grag ist dafür viel zu gut erzogen.« »Ich weiß. Umso schlimmer.« Ophelia schüttelte den Kopf. Sie schien vergessen zu haben, mit wem sie sprach, als sie weiterredete. »Der Junge braucht etwas mehr Feuer. Nett ist ja ganz schön, aber es gibt auch Momente, in denen ein Mann ein bisschen rücksichtsloser sein sollte, damit er bekommt, was er will.« Sie neigte den Kopf und sah Althea an. »Wie Brashen Trell zum Beispiel.« Althea stöhnte. Das Schiff hatte ihr seinen Namen vor einer Woche aus der Nase gezogen, und seitdem gab sie keine Ruhe.
Wenn sie nicht wissen wollte, was mit Grag nicht stimmte und warum Althea nicht verrückt nach ihm war, dann piesackte sie sie mit Fragen nach allen schmutzigen Einzelheiten ihrer kurzen Affäre mit Brashen. Althea wollte nicht über den Mann nachdenken. Ihre Gefühle zu diesem Thema waren zu verworren. Je mehr sie zu dem Schluss kam, dass sie mit ihm fertig war, desto stärker drängte er sich in ihre Gedanken. Sie malte sich all die schlauen Sachen aus, die sie ihm bei ihrer letzten Begegnung hätte sagen sollen. Er war so grob gewesen, weil sie das Rendezvous nicht eingehalten hatte, von dem sie genau wusste, wie unklug es war. Der Mann hatte einfach zu viel erwartet, und das viel zu schnell. Er verdiente es nicht, dass sie einen Gedanken an ihn verschwendete, ganz zu schweigen davon, dass sie über ihn nachgrübelte. Aber trotz der Verachtung, die sie im Wachzustand für ihn empfand, schlich er sich in ihre Träume. Dort war seine sanfte Stärke so rührend, dass sie wie ein sicherer Hafen schien, den anzulaufen sich lohnte. Aber nur in deinen Träumen, ermahnte sich Althea und biss die Zähne zusammen. Wenn sie wach war, wusste sie, dass es kein sicherer Hafen war, sondern ein Strudel närrischer Impulse, die sie in den Untergang gezogen hätten. Sie hatte zu lange geschwiegen. Ophelia betrachtete ihr Gesicht mit einem wissenden Blick. Unvermittelt stand Althea auf und lächelte. »Ich werde wohl Grag noch einen Besuch abstatten, bevor ich zu Bett gehe. Er muss mir noch einige Fragen beantworten.« »Hm.« Ophelia schnurrte erfreut. »Lass dir Zeit für die Fragen, Schätzchen. Die Tenira-Männer denken scharf nach, bis sie reagieren, aber wenn sie dann reagieren…« Sie sah Althea anzüglich an. »Du wirst dich hinterher nicht mal mehr an Trells Namen erinnern«, sagte sie. »Glaub mir, dass ich bereits mein Bestes tue, um ihn zu vergessen.« Althea hatte es eilig, von ihr wegzukommen. Manchmal war
es wunderbar, abends bei der Galionsfigur zu sitzen und mit ihr zu plaudern. Die Hexenholzfigur verkörperte viele Generationen von Seeleuten der Tenira-Familie, aber ihre ersten und tiefsten Eindrücke waren von Frauen geformt worden. Ophelia hatte eine sehr feminine Sicht auf das Leben behalten. Und zwar nicht diese zerbrechliche Hilflosigkeit, die im Moment in Bingtown für Weiblichkeit gehalten wurde, sondern die unabhängige Entschlossenheit, die die ersten Händlerfrauen ausgezeichnet hatte. Die Ratschläge, die sie Althea gab, schockierten sie oft, aber viel häufiger bestätigten sie nur die Ansichten, die Althea schon seit Jahren in ihrem Inneren hegte. Althea hatte nicht viele Freundinnen. Und die Geschichten, die Ophelia ihr erzählte, ließen sie erkennen, dass ihr Dilemma keineswegs so einzigartig war, wie sie immer geglaubt hatte. Und die unverblümte Art, mit der das Zauberschiff über ihre intimsten Probleme sprach, entzückte und entsetzte sie gleichermaßen. Das Schiff jedenfalls schien Altheas Unabhängigkeit zu akzeptieren. Sie ermutigte Althea, ihrem Herzen zu folgen, erinnerte sie aber auch daran, dass sie für ihre Entscheidungen verantwortlich war. Eine solche Freundin zu haben konnte einem schon zu Kopf steigen. Vor der Tür von Grags Kabine zögerte sie und strich sich Haare und Kleidung glatt. Dass sie die Jungenverkleidung ablegen konnte, die sie auf der Reaper hatte tragen müssen, erleichterte sie. Auf diesem Schiff kannte die Besatzung ihren richtigen Namen. Und jetzt musste Althea Vestrit die Ehre ihrer Familie aufrechterhalten. Obwohl sie praktisch angezogen war und ihre Kleidung aus einem schweren Baumwollstoff bestand, ähnelte die Hose, die sie trug, eher einem Hosenrock. Sie hatte ihr Haar zurückgebunden, es aber nicht zu einem Zopf gedreht. Die geschnürte Bluse, die sie sorgfältig in ihre Hose steckte, zierte sogar ein Hauch von Stickerei. Sie freute sich darauf, Grag zu sehen, denn sie genoss es, mit ihm zusammenzusitzen und zu plaudern. Und außerdem
herrschte eine angenehme Spannung zwischen ihnen. Grag fand sie attraktiv und ließ sich auch von ihrer Kompetenz nicht abschrecken. Sie schien ihn sogar zu beeindrucken. Das war für Althea eine neue, schmeichelhafte Erfahrung. Sie wünschte nur, sie könnte sich sicher sein, dass dies alles war, was sie empfand. Trotz ihres kleinen Abenteuers mit Brashen und ungeachtet der Tatsache, dass sie schon jahrelang mit Männern an Bord eines Schiffes lebte, war sie in einigen Gebieten sehr unerfahren. Sie wusste zum Beispiel nicht, ob sie sich zu Grag um seinetwillen hingezogen fühlte oder nur einfach deshalb, weil er von ihr fasziniert war. Sicher war es nur ein harmloser Flirt zwischen ihnen. Was konnte es auch mehr sein? Schließlich waren sie zwei Fremde, die durch puren Zufall aufeinander getroffen waren. Sie holte tief Luft und klopfte. »Herein.« Grags Stimme klang gedämpft. Er saß auf dem Bett, als sie eintrat. Sein Gesicht war von einer dicken Bandage umgeben, und in der Luft hing der starke Geruch von Gewürznelken. Als er sie erkannte, leuchteten seine blauen Augen erfreut auf. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, da riss er sich den Verband vom Kopf und ließ ihn sichtlich erleichtert fallen. Sein Haar war von den Bandagen zerzaust wie das eines Jungen. Sie grinste ihn an. »Aha. Wie sind die Zahnschmerzen? « »Sehr bequem.« Er reckte sich, rollte seine breiten Schultern und ließ sich umständlich auf die Koje zurücksinken. »Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal so viel Zeit für mich hatte.« Er schwang die Beine auf die Koje und legte die Füße übereinander. »Ist Euch nicht langweilig?« »Nein. Für einen Seemann ist müßige Zeit zu selten. Wir finden immer eine Möglichkeit, wie wir sie uns vertreiben.« Grag wühlte in einer Ecke seiner Koje und zog dann ein Stück Tauwerk hervor. Er rollte es auf dem Schoß auf. Es war eine wun-
derschön geknüpfte Matte. Das komplizierte Muster hatte durch das dunkle Seil einen beinahe glänzenden Effekt. Es war kaum zu glauben, dass er mit seinen schwieligen Fingern etwas derart Kompliziertes hatte herstellen können. Althea strich mit dem Finger darüber. »Wunderschön.« Sie fuhr über das geknotete Muster. »Mein Vater konnte mit einer Kordel über eine leere Weinflasche ein wunderschönes Netz knüpfen. Es sah aus wie Blumen oder vielleicht Schneeflocken… Er hat immer versprochen, dass er es mir zeigen würde, aber wir haben nie die Zeit gefunden.« Das schmerzliche Gefühl des Verlustes überwältigte sie erneut, obwohl sie geglaubt hatte, es längst überwunden zu haben. Sie drehte sich von Grag weg und starrte die Wand an. Er schwieg einen Moment. »Ich könnte es Euch beibringen, wenn Ihr wollt«, schlug er dann vor. »Danke, aber das wäre nicht dasselbe.« Die Barschheit in ihrer Stimme überraschte sie selbst. Sie schüttelte den Kopf, weil sie sich der Tränen schämte, die ihr in die Augen getreten waren. Hoffentlich hatte er sie nicht gesehen. Es würde sie verletzlich machen. Grag und sein Vater hatten bereits so viel für sie getan. Sie wollte nicht, dass sie sie für schwach und bedürftig hielten. Sie sollten sie als eine starke Person sehen, die das Beste aus den Gelegenheiten machen konnte, die sich ihr boten. Sie holte tief Luft und straffte die Schultern. »Es geht schon wieder«, beantwortete sie seine unausgesprochene Frage. »Manchmal vermisse ich ihn einfach nur so schrecklich. Irgendetwas in mir kann immer noch nicht akzeptieren, dass er tot ist und ich ihn niemals wiedersehen werde.« »Althea… Ich weiß, dass die Frage vielleicht grausam ist, aber ich habe viel darüber nachgedacht. Warum?« »Ihr meint, warum er mir das Schiff weggenommen hat, auf dem ich so lange Jahre gearbeitet habe, und es stattdessen meiner Schwester vererbte?« Sie warf Grag einen kurzen Seitenblick zu und sah, wie er nickte. Sie zuckte mit den Schultern.
»Das hat er mir niemals erzählt. Einem Grund am nächsten kam seine Erklärung, dass er meine Schwester und ihre Kinder versorgt wissen wollte. An guten Tagen habe ich mir eingeredet, das bedeutete, er wusste, dass ich für mich selbst sorgen konnte. Also musste er keine Angst um mich haben. An schlechten Tagen fragte ich mich, ob er mich für egoistisch hielt und Angst hatte, ich würde die Viviace einfach nehmen und mich nicht um ihr Wohlergehen kümmern.« Sie zuckte erneut mit den Schultern. Sie sah ihr Spiegelbild in Grags Rasierspiegel. Einen unheimlichen Moment lang schien ihr Vater ihr aus dem Glas entgegenzusehen. Sie hatte dasselbe widerspenstige schwarze Haar und die dunklen Augen, nur nicht seine Statur. Sie war klein, wie ihre Mutter. Trotzdem, die Ähnlichkeit mit ihrem Vater war immer noch deutlich zu erkennen in ihrem prägnanten Kinn und der Art, wie sie ihre Augenbrauen zusammenzog, wenn sie besorgt war. »Meine Mutter behauptete, es wäre ihre Idee gewesen und sie hätte ihn überredet. Sie war der Meinung, der Besitz müsse intakt bleiben und das Lebensschiff sollte mit dem Landbesitz vererbt werden, damit das Einkommen aus dem einen das andere unterstützen könnte, bis alle Schulden abbezahlt waren.« Sie rieb sich die Stirn. »Ich vermute, das klingt sinnvoll. Als Vater die Entscheidung gefällt hat, nicht länger auf dem Regenwild-Fluss Handel zu treiben, hat er automatisch unser Einkommen gesenkt. Die Güter, die er aus den südlichen Gefilden zurückbrachte, waren zwar exotisch, aber mit den magischen Waren aus der Regenwildnis konnten sie nicht konkurrieren. Unser Landbesitz entwickelte sich gut, aber wir konnten nicht mit Chalceds Sklavenarbeitern auf den Getreidefeldern und Obstplantagen mithalten. Folglich haben wir immer noch beträchtliche Schulden. Außerdem dient unser Landbesitz als Bürgschaft. Wenn wir unsere Raten nicht abzahlen können, verlieren wir möglicherweise sowohl das Schiff als auch unser
Kernland.« »Und ihr seid ebenfalls Geiseln für diese Schulden«, meinte Grag ruhig. Als Mitglied einer Händlersippe aus Bingtown, die selbst ein Zauberschiff besaß, kannte er die Bedingungen für diesen Handel natürlich sehr genau. Zauberschiffe waren selten und kostspielig. Ebenso wie ein Lebensschiff erst nach drei Generationen erwachte und Bewusstsein entwickelte, brauchte es auch mehrere Generationen, um eines abzubezahlen. Nur die Regenwildnis-Händler kannten die Quelle für diese Hexenholzstämme, aus denen der Rumpf und die Galionsfiguren der Schiffe bestanden. Und nur in einem Schiff aus Hexenholz konnte man sicher auf dem Regenwild-Fluss segeln und Handel mit den magischen Waren treiben. Deren Wert war so hoch, dass die Familien gern ihr Vermögen dafür verpfändeten. »In Blut oder Gold, die Schuld ist geschuldet«, fügte Grag ruhig hinzu. Falls die Vestrit-Familie nicht in barer Münze für das Schiff zahlen konnte, würde stattdessen eine Tochter oder ein Sohn der Familie als Zahlung genommen werden. Althea nickte langsam. Merkwürdig. Sie hatte natürlich gewusst, dass die Bedingungen dieses Vertrags auch für sie galten, seit sie als eine Frau betrachtet wurde, aber irgendwie hatte sie es nie auf sich bezogen. Ihr Vater war ein großartiger Kaufmann gewesen. Er hatte immer dafür gesorgt, dass genug Geld in der Haushaltskasse war, damit die gerechten Schulden bezahlt werden konnten. Wer wollte sagen, wie es weitergehen würde, jetzt, da ihr Schwager Kyle für das Familienschiff und die Finanzen der Vestrits verantwortlich war? Der Ehemann ihrer Schwester hatte sie nie gemocht. Als sie das letzte Mal in einem Zimmer gewesen waren, bei diesem letzten fürchterlichen Familienstreit, hatte er gesagt, dass es ihre Pflicht wäre, gut zu heiraten und aufzuhören, der Familie zur Last zu fallen. Vielleicht war es genau das, was er im Sinn gehabt hatte. Wenn sie freiwillig einen Regenwild-Mann heiratete, konnte die Familie sich über eine Linderung ihrer Schulden freuen.
Seit sie ein kleines Kind gewesen war, hatte man ihr die Pflichten der Familienehre eingehämmert. Ein BingtownHändler bezahlte seine Schulden und hielt sein Wort. Ganz gleich, wie ihre persönlichen Streitigkeiten aussahen, sobald ein Außenstehender sie bedrohte, standen die Händler Schulter an Schulter zusammen. Diese Bande der Verwandtschaft und der Pflicht schlossen auch die Händler mit ein, die in der Regenwildnis geblieben waren und sich dort niedergelassen hatten. Die Entfernung und die Zeit mochten sie vielleicht trennen, aber die Regenwild-Händler waren immer noch die Verwandten der Bingtown-Händler. Die Verträge mit ihnen wurden eingehalten, und die Familienpflichten wurden respektiert. Sie fühlte, wie etwas in ihr hart und kalt wurde. Falls es Kyle nicht gelang, die Verpflichtungen der Familie zu erfüllen, war es ihre Pflicht, sich selbst anzubieten. Fruchtbarkeit war etwas, woran es dem Regenwild-Volk mangelte. Sie würde zu den Regenwild-Händlern gehen, sich dort einen Ehemann suchen und ihm Kinder gebären müssen. Das hatten ihre Vorfahren gelobt, vor langer, langer Zeit. Es nicht zu tun war einfach undenkbar. Aber es war auch unerträglich, sich von Kyles Bösartigkeit oder Unfähigkeit hineintreiben zu lassen. »Althea? Geht es Euch gut?« Grags Stimme riss sie aus ihren Gedanken und holte sie zurück in die Gegenwart. Sie stand da und starrte auf ein Schott. Althea schüttelte sich und drehte sich zu Grag um. »Ich bin eigentlich gekommen, um Euch um Euren Rat zu bitten. Ich habe Probleme mit einem der Matrosen. Und ich kann nicht entscheiden, ob ich es persönlich nehmen soll oder nicht.« Der besorgte Ausdruck auf Grags Miene verstärkte sich. »Um wen handelt es sich?« »Feff.« Althea schüttelte den Kopf. »Eben noch hört er zu und reagiert sofort, wenn ich einen Befehl gebe, und im nächsten Augenblick sieht er mich an und grinst blöd. Ich weiß nicht, ob er mich verhöhnt oder…«
»Ach so.« Grag grinste. »Feff ist auf dem linken Ohr taub. Oh, sicher, das wird er niemals zugeben. Es ist passiert, als er vor zwei Jahren vom Mast gefallen ist. Er ist auf das Deck geprallt, und wir haben fast einen Tag lang nicht gewusst, ob er es schafft. Schließlich hat er es überstanden. Er ist jetzt etwas langsamer als gewöhnlich bei einigen Dingen, und ich schicke ihn nur in die Wanten, wenn es nicht anders geht. Er scheint nicht mehr dasselbe Gleichgewichtsgefühl zu haben wie früher. Er hört nicht immer, was Ihr sagt, vor allem nicht, wenn er rechts von Euch steht. Wenn der Wind besonders stark bläst, hört er manchmal gar nichts mehr. Er will nicht ungehorsam sein… deshalb lächelt er auch immer so blöd. Ansonsten ist er ein guter Mann, und er ist schon lange auf dem Schiff. Es wäre nicht fair, ihm daraus einen Strick zu drehen.« »Ach so.« Althea nickte. »Ich wünschte, das hätte mir jemand schon früher gesagt«, meinte sie dann knapp. »An solche Dinge denken Vater und ich nicht mehr. So ist das Schiff nun mal. Niemand wollte dir damit deine Arbeit erschweren.« »Nein, das meinte ich nicht«, erwiderte Althea hastig. »Alle haben sich förmlich überschlagen, um meine Aufgaben leichter zu machen. Das weiß ich. Es ist wundervoll, wieder an Bord eines Zauberschiffes zu sein, und noch schöner herauszufinden, dass ich diese Arbeit wirklich bewältigen kann. Durch das Testament meines Vaters und meinen Ärger mit Kyle und Brashens Bedenken habe ich mich allmählich gefragt, ob ich wirklich fähig war.« »Brashens Bedenken?«, fragte Grag aufmunternd. Warum hatte sie das gesagt? Wieso hatte sie nicht aufgepasst? »Brashen Trell war der Erste Maat meines Vaters auf der Viviace. Nachdem ich auf der Reaper angeheuert hatte, stellte ich fest, dass auch er der Mannschaft angehörte. Als er entdeckte, dass ich als Schiffsjunge an Bord war… Na ja, er hatte mir bereits in Bingtown deutlich zu verstehen gegeben, dass er
nicht glaubte, dass ich es schaffen würde.« »Ach so? Und was hat er getan? Es dem Kapitän erzählt?«, fragte Grag, als das Schweigen anhielt. »Nein, nichts dergleichen. Er war einfach… wachsam. Das ist wohl das passende Wort. Ich hatte eine schwere Zeit auf dem Schiff. Und es demütigte mich zu wissen, dass er beobachtete, wie ich mich abmühte.« »Er hatte kein Recht, Euch das anzutun«, bemerkte Grag mit gesenkter Stimme. Seine Augen glühten vor Ärger. »Euer Vater hat ihn aufgenommen, als kein anderer ihn mehr wollte. Er steht in der Schuld Eurer Familie. Das mindeste, was er hätte tun können, war, Euch zu beschützen, statt Eure Bemühungen zu verspotten.« »Nein, so war das nicht, überhaupt nicht.« Althea stellte fest, dass sie Brashen plötzlich verteidigte. »Er hat mich nicht verspottet. Meistens hat er mich einfach ignoriert.« Als Grags Miene sich noch mehr verfinsterte, fuhr sie hastig fort: »So wollte ich es. Ich wollte keine Sonderbehandlung. Ich wollte es allein schaffen. Und das habe ich schließlich auch. Was mir Sorgen gemacht hat, war, dass er Zeuge war, wie schwer ich kämpfen musste… Ich weiß gar nicht, warum wir darüber reden.« Grag zuckte mit den Schultern. »Ihr habt das Thema aufgebracht, nicht ich. Es haben sich viele Leute gefragt, warum Euer Vater Brashen Trell aufgenommen hat, nachdem seine eigene Familie ihn aufgegeben hatte. Er hat in all den Jahren so viele Schwierigkeiten gehabt, dass niemand wirklich überrascht war, als sein Vater ihn hinauswarf.« »Was für Schwierigkeiten?« Althea hörte, wie begierig ihre Stimme klang, und sie versuchte, es zu unterdrücken. »Ich war noch ein kleines Mädchen, als das passiert ist, und hatte wenig Interesse an den Klatschgeschichten von Bingtown. Und als er Jahre später auf der Viviace anheuerte, sprach mein Vater nicht darüber. Er meinte, ein Mann müsste danach beurteilt werden,
was er ist, nicht danach, was er war.« Grag nickte. »Es war kein öffentlicher Skandal. Ich weiß hauptsächlich etwas darüber, weil wir zusammen in der Schule waren. Es hat ganz unauffällig angefangen. Streiche und Albernheiten. Als wir älter wurden, war er immer der Junge, der entwischt ist, wenn der Lehrer uns den Rücken zukehrte. Zuerst hat er nur Stunden geschwänzt und ist auf den Markt gegangen und hat Süßigkeiten gekauft. Später war er der Junge, der mehr als wir anderen von Mädchen, Cindin und Würfelspiel zu wissen schien. Mein Vater sagt immer, dass es Trells eigene Schuld war, dass sein Sohn so schlecht geraten sei. Brashen hatte immer zu viel Geld und zu viel Zeit, um sich zu amüsieren. Niemand zeigte ihm seine Grenzen. Er kam auf die schiefe Bahn, verspielte mehr Geld, als er hatte, oder war am helllichten Tag betrunken. Dann zerrte sein Vater ihn nach Hause und drohte ihm.« Grag schüttelte den Kopf. »Aber er hat seine Drohungen niemals wahr gemacht. Einen Tag später war Brashen wieder unterwegs und machte dasselbe. Trell drohte ihm immer damit, seinen Kredit zu sperren, ihn zu verprügeln oder ihn seine Schulden abarbeiten zu lassen, aber er tat es nicht. Soweit ich gehört habe, hat seine Mutter immer geweint und ist ohnmächtig geworden, wenn sein Vater ihn bestrafen wollte. Er ist mit allem davongekommen, ganz gleich, was er tat. Bis Brashen eines Tages nach Hause kam und vor verschlossener Tür stand. Alle, einschließlich Brashen, hielten es zunächst für einen Bluff. Wir erwarteten alle, dass sich der Sturm nach einem Tag legen würde. Doch es kam anders. Ein paar Tage später hat der alte Trell offiziell seinen jüngeren Sohn als Erben eingesetzt und Brashen enterbt. Das einzig Überraschende an der ganzen Affäre war, dass Trell schließlich doch einen Schlussstrich gezogen hat und auch dabei geblieben ist. Eine Weile hat sich Brashen in der Stadt herumgetrieben und sich überall durchgeschlagen, wo man ihn aufnahm. Aber bald
war er nirgendwo mehr willkommen, und außerdem war er pleite. Er hatte schnell den Ruf, Jungs in Schwierigkeiten zu bringen.« Grag grinste wissend. »Meinem jüngeren Bruder und mir hat man verboten, uns mit ihm abzugeben. Und schon bald wollte niemand mehr etwas mit ihm zu tun haben. Dann ist er verschwunden. Niemand wusste, was aus ihm geworden ist.« Grag schnitt ein Gesicht. »Nicht, dass es jemanden sonderlich interessierte. Er hat viele Schulden hinterlassen. Und mittlerweile war den Leuten auch klar, dass er nicht vorhatte, sie zurückzuzahlen. Also ist er verschwunden. Die meisten Leute fanden, dass Bingtown ohne ihn schöner war.« Grag wandte den Blick von ihr ab. »Nachdem er verschwunden war, gingen Gerüchte um, dass ein Mädchen von den Drei-SchiffeImmigranten ein Kind von ihm bekäme. Das Baby war eine Totgeburt; ich vermute, dass es eine Gnade war. Das Mädchen war auch so ruiniert.« Althea war übel. Sie hasste es, wie Grag Brashen herabsetzte. Sie wollte abstreiten, was er über den Mann gesagt hatte, aber er hatte offenkundig das Wissen eines Eingeweihten und sagte wohl die Wahrheit. Brashen war kein missbrauchter, ungerecht behandelter Jugendlicher gewesen. Er war der verwöhnte älteste Sohn ohne Disziplin und ohne Moral. Ihr Vater hatte ihn Jahre später aufgenommen, und unter dem Einfluss ihres Vaters war er ein anständiger Mann geworden. Ohne ihren Vater jedoch hatte er sich wieder verändert. Sie musste sich eingestehen, dass es stimmte. Das Trinken, das Cindin. Das Rumgehure, dachte sie bitter. Sie stellte sich rücksichtslos der Wahrheit. Sie hatte immer so getan, als ob er von ihr fasziniert gewesen wäre, als er mit ihr ins Bett gegangen war. In Wahrheit hatte sie sich wie eine Schlampe benommen und den Partner bekommen, den sie verdient hatte. Um sich das zu beweisen, brauchte sie sich nur daran zu erinnern, wie sie sich getrennt hatten. Als ihm klar geworden war, dass sie zur Vernunft gekommen war und ihm
nicht mehr ihren Körper gewähren würde, hatte er sich gegen sie gestellt. Althea schämte sich. Wie hatte sie so dumm und närrisch sein können? Wenn er jemals nach Bingtown zurückkehren und erzählen würde, was sie getan hatten, dann war auch sie ruiniert, genau wie das Mädchen von den DreiSchiffe-Immigranten, das er zurückgelassen hatte. Grag bemerkte nichts von ihrem Unbehagen. Er kniete vor einer Kiste und wühlte darin herum. »Ich habe einen Bärenhunger. Seit ich diese angeblichen Zahnschmerzen habe, macht mir die Köchin immer nur Suppe mit eingebrocktem Brot. Möchtet Ihr ein paar Trockenfrüchte? Datteln oder Aprikosen aus Jamaillia?« »Ich habe keinen Appetit. Danke.« Grag hörte auf herumzuwühlen, drehte sich um und grinste. »Na, das ist das erste Mal, dass Ihr wie eine ordentliche Händlertochter aus Bingtown klingt, seit Ihr an Bord gekommen seid. Ich weiß nicht, ob ich erleichtert oder enttäuscht sein soll.« Althea dagegen wusste nicht genau, ob sie sich geschmeichelt oder beleidigt fühlen sollte. »Wie meint Ihr das?« »Na ja.« Er kramte das Paket mit Früchten hervor und setzte sich damit auf seine Koje. Dann klopfte er mit der Hand auf den Platz neben sich, und Althea setzte sich gehorsam. »Da, seht Ihr!«, rief er triumphierend. »Wir sind nicht nur allein und ohne Anstandsdame, hinter einer geschlossenen Tür, sondern Ihr setzt Euch auch noch unerschrocken neben mich auf das Bett. Als ich Euch erzählt habe, dass Brashen eine junge Frau geschwängert hat, seid Ihr weder blass geworden, noch habt Ihr mich gescholten, weil ich von solchen Dingen spreche. Ihr habt nur nachdenklich ausgesehen.« Er schüttelte verwirrt den Kopf. »Ihr tragt Euer Haar an Deck in einer praktischen Frisur. Ich habe gesehen, wie Ihr Euch an Eurem Hemd die Hände abwischt, und Ihr seid die ganze Zeit barfuß und mit einer Hose herumgelaufen, als Ihr Euch noch
als Schiffsjunge ausgegeben habt. Dennoch kann ich mich an eine sehr feminine Frau in meinem Arm erinnern, die nach Veilchen duftete und ebenso graziös tanzte, wie… Nun, genauso graziös, wie Ihr die Wanten hinaufklettert. Wie macht Ihr das, Althea?« Er lehnte sich gegen das Schott, aber die Art, wie er Althea anblickte, schien ihn ihr näher zu bringen. »Wie könnt Ihr Euch so geschickt in beiden Welten bewegen? Wohin gehört Ihr wirklich?« »Warum muss ich mich denn für eine der beiden entscheiden?«, konterte sie. »Ihr seid doch auch beides, ein fähiger Seemann und der Sohn eines Bingtown-Händlers. Warum sollte ich nicht auch beide Fähigkeiten besitzen?« Er legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Seht Ihr. Das ist auch nicht gerade eine Antwort, die man von einer Händlerstochter erwarten würde. Wenigstens nicht von einer aus Eurer Generation. Ein anständiges Mädchen würde geziert über mein Kompliment lächeln, dass sie gut tanzen kann, und mir nicht versichern, dass sie ein guter Seemann ist. Ihr erinnert mich an die Geschichten, die mir Ophelia immer erzählt. Ihr zufolge gab es einmal eine Zeit, als die Frauen neben den Männern gearbeitet haben, und zwar in jedem Geschäft, und sie manchmal sogar übertrafen.« »Jeder, der die Geschichte von Bingtown kennt, weiß, dass unsere Vorfahren ums Überleben kämpfen mussten, als sie an die Verwunschenen Ufer kamen. Das wisst Ihr genauso gut wie ich.« Sie war ein bisschen verärgert. Glaubte er, dass sie nicht anständig war? »Das weiß ich«, gab er ruhig zu. »Aber es gibt viele Frauen in Bingtown, die das nicht mehr zugeben wollen.« »Die meisten tun das, weil es nicht mehr modern ist. Und zwar hauptsächlich, weil ihre Väter oder Brüder sich schämen würden, wenn sie es doch täten.« »Das stimmt. Aber seit ich Euch beobachte, habe ich begriffen, dass sie sich irren und weder der Geschichte noch dem
Leben gerecht werden. Althea. Seit einiger Zeit drängen mich meine Eltern, eine Frau zu suchen. Sie haben mich erst sehr spät bekommen, und sie würden gern ihre Enkel sehen, bevor sie zu alt sind, um noch Freude an ihnen zu haben.« Althea hörte bestürzt zu. Seine Worte schockierten sie. Er wollte doch wohl nicht wirklich dieses Thema zur Sprache bringen, oder doch? »Wenn ich in Bingtown bin, lädt meine Mutter Händlertöchter und ihre Mütter zu endlosen Nachmittagstees ein. Ich habe gehorsam an den Gesellschaften und Bällen teilgenommen. Ich habe auch mit einigen Frauen getanzt.« Er lächelte sie herzlich an. »Einige schienen sich sogar für mich zu interessieren. Aber trotzdem, alle Werbungen, die ich angefangen habe, endeten in einer Enttäuschung. Es war immer dasselbe. Mein Vater hat sich die Frau angesehen, mit der ich mich getroffen habe, und mich gefragt: ›Kann sie sich um sich selbst, den Haushalt und die Kinder kümmern, während du auf See bist?‹ Daraufhin habe ich sie näher betrachtet, und ganz gleich, wie entzückend, geistreich oder charmant sie waren, sie wirkten niemals stark genug.« »Vielleicht habt Ihr den Frauen nie die Chance gegeben, sich Euch zu beweisen«, meinte Althea. Grag schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein. Zwei von ihnen habe ich sogar direkt gefragt. Ich habe sie daran erinnert, dass ich eines Tages der Kapitän des Zauberschiffs Ophelia sein würde. Wie wäre es, habe ich sie gefragt, wenn Ihr mich mit einem Schiff teilen müsstet? Ein forderndes und manchmal auch sehr besitzergreifendes Schiff, habe ich ehrlicherweise noch hinzugefügt. Ich habe ihnen gesagt, dass ich manchmal monatelang auf See wäre, dass ich vielleicht nicht zu Hause wäre, wenn meine Kinder geboren würden oder wenn das Dach ein Loch bekäme oder die Erntezeit käme.« Er zuckte vielsagend mit den Schultern. »Sie haben mir alle gesagt, dass ich sicher dafür sorgen könnte, mehr zu Hause zu sein, wenn wir
erst verheiratet wären. Als ich das verneinte, haben sie alle meinen Antrag abgelehnt. Genver immerhin ist so weit gegangen, dass sie an Bord der Ophelia gekommen ist und mir vorgeschlagen hat, mit mir zu segeln, nachdem wir verheiratet wären. Vorausgesetzt allerdings, ich würde die Größe der Kapitänskajüte verdreifachen. Und das auch nur, bis wir Kinder bekämen. Dann müsste ich mein Leben irgendwie so arrangieren, dass ich häufiger nach Hause kommen würde.« »Habt Ihr denn nicht um eine Frau geworben, die aus einer Lebensschiff-Familie stammt? Um ein Mädchen, das versteht, was Euer Schiff Euch bedeutet?« »Ich habe einmal mit einer getanzt«, erwiderte er ruhig. Sie schwiegen. Althea hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte, und wusste auch nicht, ob er erwartete, dass sie etwas sagte. Grag bewegte sich sehr langsam, als hätte er Angst, sie zu verschrecken. Mit einem Finger berührte er ihre Hand, mit der sie sich auf dem Bett abstützte. Es war nur eine winzige Berührung, aber Althea bekam eine Gänsehaut, während sie gleichzeitig Widerwillen empfand. Sie mochte Grag, und sie fand ihn auch attraktiv, aber jetzt war nicht der richtige Moment, darauf zu reagieren, weder für ihn noch für sie. Hatte sie ihn dazu ermuntert? Wie sollte sie jetzt damit umgehen? Würde er versuchen, sie zu küssen? Und wenn, würde sie es zulassen? Vermutlich schon. Grag kam jedoch nicht näher. Seine Stimme wurde dunkler und leiser, als er weiterredete, und der Blick seiner blauen Augen war sanft und vertraulich. »Euch halte ich für eine starke Frau. Eine, die mit mir segeln würde oder die Dinge an Land regeln könnte, solange ich unterwegs bin. Ich sehe eine Frau, die nicht auf Ophelia eifersüchtig ist.« Er hielt inne und lächelte ein wenig bedauernd. »Wenn überhaupt, bin ich ein wenig eifersüchtig darauf, wie schnell sie Euch lieb gewonnen hat. Althea, ich kann mir keine bessere Ehefrau vorstellen als
Euch.« Obwohl sie mit diesen Worten gerechnet hatte, bestürzten sie sie dennoch. »Aber…«, begann sie, doch er hob warnend einen Finger. »Hört mich bis zu Ende an. Ich habe viel darüber nachgedacht, und ich sehe auch die Vorteile für Euch. Es ist kein Geheimnis, dass das Vermögen der Vestrits sich in letzter Zeit nicht sonderlich vermehrt hat. Die Viviace ist noch nicht abbezahlt. Das heißt, Ihr seid ein Pfand für die Familienschulden. Außerdem ist es allgemein bekannt, dass die RegenwildHändler keine Frau als Zahlung nehmen, die bereits verheiratet ist oder die die Ehe versprochen hat. Schon dadurch, dass Ihr meinen Antrag ernsthaft in Erwägung zieht, könntet Ihr Euch vor ihrem Zugriff schützen.« Er beobachtete aufmerksam ihr Gesicht. »Wir sind eine sehr wohlhabende Familie. Mein Hochzeitsgeschenk an Eure Mutter wäre so bedeutend, dass es ihr einen sorgenfreien Lebensabend gewährleisten würde. Ihr habt bereits klargemacht, dass Ihr nicht darauf vertraut, dass Kyle für sie sorgen wird.« Althea konnte kaum sprechen. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wir reden wie Freunde, und ja, wir haben ein bisschen miteinander geflirtet, aber ich hatte keine Ahnung, dass Eure Gefühle stark genug sein könnten, dass Ihr um meine Hand anhalten könntet.« Grag zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Ich bin ein vorsichtiger Mann, Althea. Ich sehe keinen Sinn darin, meine Gefühle hinauszuposaunen. In diesem Stadium unserer Beziehung halte ich Planung für wichtiger als Leidenschaft. Wir sollten ehrlich miteinander reden, um herauszufinden, ob wir dieselben Ziele und Absichten haben.« Er musterte sie. Und als wollte er seine Worte beweisen, berührte er erneut ihre Hand mit einer Fingerspitze. »Glaubt nicht, dass ich mich nicht zu Euch hingezogen fühle. Ihr müsst wissen, dass ich das tue. Dessen ungeachtet bin ich nicht der Mann, der sein Herz dorthin wirft,
wo nicht vorher sein Kopf gewesen ist.« Es war ihm tatsächlich Ernst. Althea versuchte zu lächeln. »Und ich fürchtete schon, Ihr wolltet versuchen, mich zu küssen.« Er erwiderte das Lächeln und schüttelte den Kopf. »Ich bin kein impulsiver Junge und auch kein rauer Seemann. Ich würde keine Frau küssen, die mir nicht vorher die Erlaubnis dazu gegeben hätte. Außerdem ist es überflüssig, mich mit etwas zu quälen, das ich noch nicht beanspruchen darf.« Er wandte den Blick ab, als er ihre bestürzte Miene bemerkte. »Ich hoffe, dass meine Worte nicht zu unverblümt waren. Trotz des rauen Lebens an Bord der Schiffe, auf denen Ihr wart, seid Ihr ja immer noch eine Lady und die Tochter eines Händlers.« Sie konnte ihm unmöglich sagen, was ihr gerade durch den Kopf schoss. Sie wusste, und zwar mit absoluter Gewissheit, dass sie sich niemals von einem Mann küssen lassen wollte, der sie vorher um Erlaubnis gefragt hatte. »Erbitte Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen«, flüsterte es schelmisch in ihrem Hinterkopf, und sie musste sich zusammenreißen, um nicht zu grinsen. Vielleicht, dachte sie plötzlich, hat Brashen mich ja schon ruiniert. Aber nicht im gesellschaftlichen Sinn. Nach seiner sachlichen und direkten Erklärung, dass er sie begehrte, wirkte Grags zurückhaltende Werbung beinahe albern. Sie mochte den Mann, sie mochte ihn wirklich. Aber seine umständlichen Verhandlungen ließen sie völlig unberührt. Die Situation war plötzlich unerträglich. Und als hätte Sa gewusst, dass Althea sich nicht mit Anstand selbst aus dieser Lage retten konnte, ließ er das Schicksal eingreifen. »Alle Mann an Deck!«, brüllte jemand mit einer Stimme, die sowohl Empörung als auch Angst verriet. Althea zögerte keine Sekunde und stürzte zur Tür. Grag ließ sich nicht einmal Zeit, seinen Verband wieder anzulegen. ›Alle Mann an Deck‹ hieß alle Mann. Die Mannschaft der Ophelia stand an der Reling und blickte
hinunter. Als Althea sich dazwischendrängte, mochte sie kaum glauben, was sich ihren Augen darbot. Eine chalcedanische Kriegsgaleone unter der Flagge des Satrapen verweigerte der Ophelia die Weiterfahrt. Der Größenunterschied zwischen den beiden Schiffen wäre gewaltig gewesen, wenn die Galeone nicht förmlich mit Soldaten und Waffen gespickt gewesen wäre. Das kleinere, leichtere Schiff, das sich ihnen entgegenstellte, war weit einfacher zu manövrieren als die Kogge. Und ein solches Schiff konnte auch häufig schneller segeln. In der leichten Abendbrise konnte die Ophelia ein solches Schiff weder umgehen noch abhängen. Die Galeone hatte sich luvwärts manövriert und spielte so den Vorteil des lauen Windes aus, der die beiden Schiffe zusammendrängte. Sie hatten keine Wahl. Sie mussten mit der Galeone verhandeln. Die Galionsfigur des Zauberschiffs starrte auf den Bug des Kriegsschiffes, der mit einem Pferdekopf verziert war. Ophelia war ruhig und immer noch bestürzt und hatte die Arme halsstarrig vor der Brust verschränkt. Althea ließ den Blick über den Horizont gleiten. Die Chalcedaner schienen allein zu operieren. »Was fällt Euch ein, uns den Weg zu versperren?«, schrie Kapitän Tenira hinunter. »Werft eine Strickleiter herab. Im Namen des Satrapen, wir kommen an Bord!«, erklärte ein bärtiger Mann, der im Bug der Galeone stand. Sein blondes Haar hing in einem langen Zopf seinen Rücken herunter, und Schlachttrophäen – Fingerknochen, mit Haarsträhnen aneinandergebunden – schmückten die Vorderseite seines Lederwamses. Als er drohend grinste, sah man schwarze Zahnlücken. »O nein, das werdet Ihr nicht. Ihr habt keine Befehlsgewalt über uns. Macht den Weg frei.« Der Händler gab nicht nach und sah auf die Galeone hinunter. Seine Stimme war ruhig und zuversichtlich. »Im Namen des Satrapen, werft die Leine, und lasst uns an Bord.« Der chalcedanische Kapitän lächelte. Aber es war mehr
ein Zähnefletschen als eine liebenswürdige Geste. »Zwingt uns nicht dazu, Euch mit Gewalt zu entern.« »Versucht es nur!«, erwiderte Kapitän Tenira unnachgiebig. Der Kapitän der Galeone ließ sich von seinem Maat eine Hand voll Dokumente aushändigen. Er winkte mit dem Bündel zu Tenira hinauf. Ein rotes Band umschlang die Papiere, an dessen Ende ein schweres Siegel aus Metall hing. »Wir haben die Befugnis. Hier drin steht es. Wir bringen unsere Befehle an Bord, um es Euch zu beweisen. Wenn Ihr ein ehrlicher Mann seid, habt Ihr nichts zu befürchten. Der Satrap hat sich mit Chalced zusammengetan, um die Piraterie in der Inneren Passage zu unterbinden. Wir sind von ihm bevollmächtigt, jedes verdächtige Schiff anzuhalten und nach gestohlenen Gütern oder anderen Anzeichen von Piraterie zu durchsuchen.« Während der Kapitän sprach, waren einige seiner Leute mit Seilen und Enterhaken vorgetreten. »Ich bin ein ehrlicher Bingtown-Händler. Ihr habt weder das Recht, mich aufzuhalten, noch werde ich zustimmen, das Schiff von Euch durchsuchen zu lassen. Gebt den Weg frei!« Die Enterhaken wurden bereits geschwungen, und als Kapitän Tenira aufhörte zu sprechen, flogen drei auf die Ophelia zu. Einer war zu kurz gezielt und fiel platschend ins Wasser, als das Zauberschiff sich zur anderen Seite neigte. Ein anderer landete zwar auf Deck, wurde aber sofort gepackt und von der Mannschaft der Ophelia zurückgeworfen, bevor er sich in ihr Holz bohren konnte. Den dritten fing Ophelia selbst. Mit einer schnellen Bewegung schnappte sie ihn, als er an ihr vorbeizischte. Mit einem wütenden Schrei packte sie die Leine unterhalb des Hakens und zog kräftig daran. Der Mann, der ihn geworfen hatte, segelte hinterher, fluchte und trat vor Überraschung wild um sich. Ophelia warf verächtlich Haken, Seil und Mann ins Wasser. Sie stützte die Hände auf den Bug, dorthin, wo bei einer Frau die Hüften gewesen wären. »Versucht das nicht noch
mal!«, warnte sie die Chalcedaner ärgerlich. »Und jetzt macht den Weg frei, oder ich segle Euch über den Haufen!« Auf der Galeone schrien die Männer entsetzt und überrascht. Zwar hatten viele zweifellos von den Zauberschiffen aus Bingtown gehört, aber nur wenige chalcedanische Seeleute hatten schon eines zu Gesicht bekommen, geschweige denn eines gesehen, das wütend war. Zauberschiffe liefen nur selten die Häfen von Chalced an. Ihre Handelsrouten verliefen weiter südlich. Jemand auf der Galeone warf dem Seemann im Wasser ein Seil zu. An Bord der Ophelia bellte Kapitän Tenira: »Ophelia, das hier erledige ich!« Und gleichzeitig ertönten auf dem Deck der Galeone Befehle, die Feuertöpfe fertig zu machen. Ophelia achtete nicht auf ihren Kapitän. Als von Feuertöpfen die Rede war, hatte sie erst entsetzt nach Luft geschnappt. Dann sah sie, wie die qualmenden Teertöpfe an Deck gebracht wurden, und schrie wütend auf. Dass sie so schnell fertig waren, bedeutete, dass der Kapitän von Anfang an vorgehabt hatte, sie einzusetzen. »Nein, in Sas Namen!«, schrie Althea, als sie sah, dass die Töpfe zum Abschuss vorbereitet wurden. In die kleinen, fettigen Töpfe wurden Pfeile hineingetaucht; Leinenzipfel hingen daran herunter. Sie würden zuerst entzündet werden, bevor man die Pfeile abschoss. Dann würde man warten, bis sich auch der Inhalt der Töpfe entzündet hatte. Wenn die brennenden Töpfe aus Fett und Teer die Ophelia trafen, würden sie zerspringen, und flüssiges Feuer würde über die Planken gleiten. Die Ophelia konnte nicht allen Töpfen ausweichen, und jedes Zauberschiff war durch Feuer verwundbar. Althea fürchtete nicht um ihre Takelage und ihre Decks, sondern um Ophelia selbst. Das einzige Zauberschiff, das jemals gestorben war, war durch einen Brand umgekommen. Die Ophelia war eine Handelskogge und nicht für einen Kampf ausgerüstet. Piraten bedrohten Zauberschiffe nur selten. Es war wohl bekannt, dass ein Lebensschiff jedes normale
Schiff ihrer Art ausmanövrieren und abhängen konnte. Althea bezweifelte, dass bisher jemals jemand der Ophelia den Weg verstellt oder gar gedroht hatte, sie zu entern. Sie hatte keine Waffen an Bord, und ihre Matrosen hatten keine Erfahrung darin, eine solche Bedrohung zu bewältigen. Als Tenira den Befehl schrie, die Ophelia abzudrehen, reagierte die Mannschaft prompt. »Das wird nicht genügen«, sagte Althea leise zu Grag, der neben ihr stand. »Sie werden uns in Brand stecken.« »Holt Öl vom Unterdeck. Wir werfen selbst mit Feuertöpfen!«, befahl Grag wütend. »Und zieht Löschwasser hoch!«, schrie Althea. »Grag. Ein Rundholz oder ein Ruder oder irgendwas. Gib Ophelia etwas, womit sie sie bekämpfen kann! Sieh doch: Sie will nicht zurückweichen!« Während die Matrosen auf ihrem Deck geschäftig hin und her eilten, nahm Ophelia die Angelegenheit erneut selbst in die Hand. Gegen den Kurs des Steuermanns segelte sie auf die Galeone zu. Sie streckte ihre Arme aus, und als die chalcedanischen Feuertöpfe entzündet und die Bögen gespannt wurden, schlug sie wie ein wütendes Mädchen auf die Galeone ein, während sie unablässig Beschimpfungen ausstieß. »Ihr chalcedanischen Schweine! Glaubt ihr wirklich, dass ihr uns in unseren eigenen Gewässern aufhalten könnt? Ihr verlogenen Hurensöhne! Ihr seid die wahren Piraten, ihr sklavenhändlerisches Gewürm!« Plötzlich streifte sie mit einer Hand das bemalte Pferd am Bug der Galeone. Sofort packte sie es und drückte es wütend herunter. Es war eine heftige Bewegung, durch die sich die Decks beider Schiffe neigten und Seeleute hüben wie drüben aufschrieen, als sie den Boden unter den Füßen verloren. Doch die kleinere Galeone erlitt mehr Schaden. Ophelia ließ den Bug so unvermittelt los, dass sich das Schiff hoch aufbäumte, wie ein verrückt gewordenes Schaukelpferd. Die Bögen wurden abgefeuert, und die Teertöpfe flogen durch die Luft. Einer zerbarst auf dem Deck der Galeone, zwei segelten
über die Decks der Ophelia und tauchten zischend und qualmend auf der anderen Seite ins Meer. Einer streifte ihren Bug an Steuerbord. Ohne zu zögern, schlug die Galionsfigur auf den brennenden Schmierfilm. Sie zog die Hand zurück, und die Flammen am Bug loderten sofort wieder auf. Als sich ihre Finger ebenfalls entzündeten, schrie sie laut auf. »Erstickt die Flammen!«, schrie Althea ihr zu, während Matrosen Wasser über ihre Hülle gossen, um das Feuer an ihrem Bug zu löschen. Ophelia hatte jedoch zu viel Angst, um Altheas Rat zu befolgen. Sie stürzte sich plötzlich auf die Galeone, ignorierte mit bloßer Willenskraft das Ruder und packte mit ihren brennenden Fingern das andere Schiff. Sie schüttelte es wie ein Spielzeug und schleuderte es dann achtlos zur Seite. Dabei blieb der größte Teil der brennenden Masse an der Galeone kleben. Nachdem sie losgelassen hatte, presste sie die Hände zusammen, biss sich auf die Lippen und presste die Flammen aus, die sie versengt hatten. Anschließend reagierte sie plötzlich gehorsam auf Ruder und Segel und wandte sich wie eine empörte Gouvernante, die mit gerafften Röcken aus einem Zimmer rauscht, von dem Chalcedaner ab. Der steckte in ernsten Schwierigkeiten. Mit hoch erhobenem Kopf rauschte sie wie eine Fregatte an der Galeone vorbei. Die Flammen loderten hoch auf, und schwarzer Rauch stieg von dem Kriegsschiff hoch, auf dem die gefangenen Seeleute um Hilfe riefen. Nur einige hatten noch genug Luft und den Willen, der Ophelia Drohungen hinterherzuschreien. Doch das Prasseln des Feuers erstickte ihre Rufe. Die Ophelia segelte unbeeindruckt weiter.
6
Satrap Cosgo »Ich langweile mich, und mein Kopf tut weh. Lenk mich von meinem Schmerz ab. Unterhalte mich.« Die Stimme kam von dem Diwan hinter ihr. Serilla legte nicht einmal ihren Schreibstift aus der Hand. »Magnadon Satrap, das ist nicht meine Aufgabe«, erwiderte sie gelassen. »Ihr habt mich rufen lassen, damit ich Euch in der Angelegenheit Bingtown beraten soll.« Sie deutete auf die Schriftrollen und Bücher auf dem Tisch. »Wie Ihr seht, bin ich darauf vorbereitet.« »Nun, du kannst kaum von mir erwarten, dass ich auf deinen Rat achte, während mein Kopf so schmerzt. Ich kann vor Schmerzen kaum sehen.« Serilla legte die Texte, in denen sie gelesen hatte, beiseite und widmete ihre Aufmerksamkeit dem jungen Mann, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Diwan lag. Der Satrap war beinahe vollkommen unter seidenen Kissen begraben. Sie bemühte sich, jeden Ärger aus ihrer Stimme fern zu halten. »Ich kann nicht versprechen, dass mein Ratschlag Euch amüsieren wird. Aber wenn Ihr Euch die Mühe machen wollt, Euch zu mir an den Tisch zu setzen, könnte ich Euch über die Tatsachen aufklären, die den Streit mit den Bingtown-Händlern betreffen.« Der Satrap stöhnte. »Serilla, es gefällt dir offensichtlich, mir Kopfschmerzen zu bereiten. Wenn du nicht mehr Mitgefühl entwickeln kannst, dann geh weg und schick mir Veri. Oder diese neue Gefährtin von der Jade-Insel. Wie heißt sie noch gleich? Ihr Name erinnert mich an ein Gewürz. Meggi. Schick mir Meggi.« »Ich gehorche Euch nur zu gern, Magnadon Cosgo.« Sie gab sich nicht die Mühe, ihre Gereiztheit zu verbergen, schob die
Texte beiseite und stieß sich auf dem Stuhl vom Tisch ab. Er rollte sich auf den Kissen herum und streckte eine blasse Hand nach ihr aus. »Nein, ich habe meine Meinung geändert. Ich weiß, dass ich mir deine Weisheiten über Bingtown anhören muss. Alle meine Ratgeber haben mir gesagt, dass die Lage kritisch ist. Aber wie kann ich denken, wenn ich solche Schmerzen habe? Bitte, massiere mir den Kopf, Serilla. Nur ein bisschen.« Serilla stand auf und setzte eine entschlossene Miene auf. Sie ermahnte sich, dass diese Bingtown-Angelegenheit gelöst werden musste. Sie konnte vielleicht sogar zu ihrem persönlichen Vorteil gelöst werden. »Magnadon Cosgo, ich wollte Euch nicht zur Last fallen. Habt Ihr Kopfschmerzen? Lasst mich sie Euch wegmassieren. Dann sprechen wir über Bingtown. Wie Ihr schon sagtet, dieses Thema ist kritisch. Und meiner Meinung nach ist die gegenwärtige Position des Satrapen diesbezüglich unhaltbar.« Sie durchquerte die Kammer, legte einige Kissen auf den Boden und setzte sich ans Ende des Diwans. Cosgo kroch sofort zu ihr und legte ihr den Kopf in den Schoß. Er schloss die Augen und rieb seine Wange an ihrem Schenkel, wie ein Lamm, das nach Milch bettelt. Serilla biss die Zähne zusammen. »Es ist ein Fluch. Die Kopfschmerzen, meine Verdauung, die Blähungen. Irgendeine Hexe hat einen Fluch auf mich gelegt. Warum sonst sollte ich so viel Schmerzen erleiden müssen?« Er stöhnte leise und legte eine Hand auf ihren Schenkel. Sie legte ihre Finger an die Stelle seines Hinterkopfs direkt über der Wirbelsäule und begann, die Spannungspunkte mit sanften Bewegungen zu massieren. Vielleicht hatte er ja tatsächlich Schmerzen. »Wahrscheinlich würde Euch etwas frische Luft gut tun. Bewegung ist das Beste bei Verdauungsproblemen. An der Südseite des Tempels ist es wunderbar. Wenn wir in den Thymiangarten gehen, könnte der Duft Eure Pein lindern.«
»Es wäre einfacher, wenn mir ein Diener einige Blüten herbrächte. Ich mag solche hellen Tage wie den heutigen nicht. Das Licht tut meinen Augen weh. Wie kannst du überhaupt vorschlagen spazieren zu gehen, wenn ich solche Schmerzen habe.« Beinahe beiläufig hob er den Saum ihrer Robe an und strich mit den Fingern über die weiche Haut darunter. »Als ich das letzte Mal auf dem Tempelgelände war, bin ich über einen unebenen Stein gestolpert. Ich lag auf den Knien, wie ein Sklave. Und meine Hände haben den Dreck berührt. Du weißt, wie sehr ich Dreck verabscheue.« Er jammerte. Sie legte die Hände auf die Muskeln zwischen Hals und Schultern und knetete sie fest. Er zuckte zusammen. »Ihr wart berauscht, Magnadon«, erinnerte sie ihn. »Deshalb seid Ihr hingefallen. Und der Schmutz an Euren Händen war Euer eigenes Erbrochenes.« Er riss den Kopf herum und sah sie an. »Das heißt wohl, es war meine eigene Schuld, hm?«, fragte er sarkastisch. »Ich dachte, der Zweck dieser Pflasterung wäre es, den Boden ebener und sicherer zu machen. Mein armer Magen ist von dem Sturz erschüttert worden. Es war kein Wunder, dass ich meine Nahrung nicht bei mir behalten konnte. Drei Heiler haben mir darin zugestimmt. Aber ich bin sicher, dass meine so gebildete Gefährtin es weit besser weiß als der Magnadon Satrap Cosgo und seine Heiler.« Sie stand plötzlich auf, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass es für ihn unbequem war. Gleichzeitig packte sie seine forschende Hand am Gelenk und schleuderte sie verächtlich in seinen Schoß. »Ich gehe. Ich bin die Gefährtin Eures Herzens. Nichts bindet mich daran, Unzüchtigkeiten von Euch ertragen zu müssen.« Cosgo richtete sich auf und ballte seine Hände auf den Knien. »Du vergisst dich! Niemand lässt den Magnadon Satrap Cosgo einfach stehen. Komm zurück. Ich sage dir, wann du gehen kannst!«
Serilla richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Sie war leicht einen Kopf größer als dieser blasse, selbstverliebte junge Mann. Mit blitzenden grünen Augen musterte sie ihn von oben bis unten. »Nein. Ihr vergesst Euch, Satrap Cosgo. Ihr seid nicht ein sogenannter Adliger aus Chalced mit einem Harem voller Huren, die sich bei jeder Eurer Launen nur so überschlagen, Euch liebkosen und nach dem Mund reden. Ihr seid der Satrap von Jamaillia. Und ich bin eine Gefährtin des Herzens, kein eingeöltes und parfümiertes Spielzeug. Ihr könnt befehlen, wann ich gehen soll, das stimmt. Aber das bedeutet nicht, ich könnte nicht gehen, wenn ich Euch ekelhaft finde.« Sie warf ihm diese Worte über die Schulter hinweg zu, während sie zur Tür ging. »Lasst es mich wissen, wenn Ihr erfahren wollt, wie viel Schwierigkeiten Ihr von Bingtown zu erwarten habt. Das ist mein Fachgebiet. Für Euren Hosenschlitz sucht Euch jemand anderen.« »Serilla!«, protestierte er wütend. »Du kannst mich nicht mit solchen Schmerzen zurücklassen! Du weißt, es liegt nur an den Schmerzen, dass ich mich vergesse. Mir kannst du dafür nicht die Schuld geben!« Sie blieb an der Tür stehen und sah ihn kritisch an. »Und ob ich das kann. Und ich mache es auch. Euer Vater hatte ungeheure Gelenkschmerzen, als er gealtert ist, und er hat mich trotzdem niemals so unhöflich behandelt. Genauso wie er mich niemals ungebetenerweise angefasst hat.« »Mein Vater, mein Vater«, jammerte Cosgo. »Das sagst du immer zu mir. Dass ich nicht so gut bin, wie er es war. Es macht mich krank, wenn ich daran denke, dass dieser runzlige alte Mann dich berührt hat. Wie konnten deine Eltern ein so junges Mädchen einem so alten Mann geben? Es ist einfach ekelhaft!« Sie machte einige Schritte auf ihn zu und presste die Hände zu Fäusten geballt an ihre Seiten. »Ihr seid ekelhaft, schon weil Ihr Euch so etwas vorstellt! Meine Eltern haben mich Eurem
Vater nicht ›gegeben‹! Ich bin allein nach Jamaillia-Stadt gekommen und war entschlossen, meine Studien weiterzuführen. Er war von meinem Wissen beeindruckt, als er mir in der Bibliothek der Nordländer heimlich zugehört hat, wie ich von meinem Lehrer geprüft wurde. Er hat mich eingeladen, Gefährtin seines Herzens zu werden, um ihn bei den Belangen dieser Länder zu beraten. Ich habe sehr genau darüber nachgedacht, drei Tage lang, bevor ich einwilligte und seinen Ring akzeptierte. Ich habe den Schwur geleistet, an der Seite des Satrapen zu bleiben und ihn zu beraten. Es hatte nichts mit seinem Diwan zu tun. Er war ein sehr vornehmer Mann. Und er hat es mir ermöglicht zu studieren. Außerdem hat er immer zugehört, wenn ich ihn beraten habe. Und wenn wir nicht einer Meinung waren, hat er es nicht seinen Kopfschmerzen zugeschrieben.« Sie senkte die Stimme. »Ich trauere noch immer um ihn.« Sie öffnete die Tür und verließ den Raum. Draußen standen zwei Wachen mit versteinerten Gesichtern. Sie taten, als hätten sie von dem Streit nichts mitbekommen. Serilla schritt zwischen ihnen hindurch. Aber sie war kaum ein Dutzend Schritte weit gekommen, als sie hörte, wie die Türen aufgerissen wurden. »Serilla! Komm zurück!« Sie ignorierte den gebieterischen Befehl. »Bitte!« Die Stimme des Satrapen knirschte. Sie ging weiter, und ihre Sandalen verursachten kaum ein Geräusch auf dem Marmorboden. »Der Magnadon Satrap Cosgo bittet höflichst darum, dass seine Gefährtin Serilla in seine Gemächer zurückkehrt und ihn bezüglich der Bingtown-Angelegenheit berät.« Er bellte ihr diese Worte durch den Korridor hinterher. Sie blieb stehen und drehte sich um. Ihre Miene war ausgesucht höflich. Das betraf ihren Schwur. Sie konnte ihm ihre Gesellschaft nicht verweigern, wenn er sie in ihrem Fachgebiet um Rat fragte. Aber ihr wohlüberlegter Rat war alles, was sie ihm zu geben geschworen hatte.
»Es ist mir eine Ehre, Magnadon!« Sie ging langsam zurück. Er lehnte in der Tür, und seine normalerweise blassen Wangen waren gerötet. Sein dunkles Haar verdeckte seine blutunterlaufenen Augen. Serilla bewunderte unwillkürlich die ausdruckslosen Mienen der Wachen. Sie betrat erneut die Kammer und zuckte nicht einmal zusammen, als er die Tür hinter ihr zuwarf. Stattdessen durchquerte sie das Gemach und zog die schweren Vorhänge zurück. Die Nachmittagssonne schien herein. Sie ging zum Tisch, setzte sich und beugte sich vor, um die Lampe auszupusten, die sie benutzt hatte. Das Sonnenlicht genügte, wenn die Vorhänge zurückgezogen waren. Cosgo setzte sich mürrisch an ihre Seite. Sie hatte absichtlich ihre Ellbogen weit gespreizt, um ihn auf Abstand zu halten. Er setzte sich so dicht neben sie, wie es ging, ohne sie zu berühren, und sah sie mit seinen dunklen Augen vorwurfsvoll an. Sie deutete auf die Texte, die sie auf dem Tisch, ausgebreitet hatte. »Hier haben wir eine Kopie der ursprünglichen Bingtown-Charta. Das hier ist eine Liste der Beschwerden, die sie vorgebracht haben. Dieser Stapel besteht aus Kopien von Landschenkungen, die Ihr in der Bingtown-Gegend gemacht habt.« Sie drehte sich zu ihm hin. »Was ihren ersten Punkt angeht: Wir haben eindeutig die Originalverträge verletzt. Alle neuen Schenkungen sind direkte Verletzungen der alten Vereinbarungen. Ihr hattet nicht das Recht, Ländereien auf Bingtown-Land zu vergeben, ohne Euch vorher mit den Händlern zu beraten. Das ist in der Originalcharta eindeutig festgehalten.« Er runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Sie fuhr mit der Fingerspitze über die Schriftrolle. »Sie protestieren auch gegen die neuen Zollgebühren, die erlassen worden sind, ebenso wie gegen die Erhöhung der alten Gebühren. Dies jedoch können wir, denke ich, rechtfertigen, obwohl wir in der Prozentzahl etwas bescheidener sein müssen.« Sie überflog die Beschwerdeliste der Händler. »Sie beschweren sich ebenfalls darüber, dass die
Neuen Händler Sklavenhandel betreiben und Sklaven auf ihren Besitzungen einsetzen. Und es gibt noch eine letzte Beschwerde gegen die Finanzierung chalcedanischer Patrouillenboote und die Stationierung dieser Patrouillenboote im Hafen von Bingtown. Das sind beides Bereiche, in denen wir Kompromisse aushandeln können.« »Kompromisse«, knurrte Cosgo angewidert. »Bin ich nicht der Satrap? Warum muss ich überhaupt Kompromisse eingehen?« Sie stützte das Kinn in die Hand und blickte nachdenklich in den Garten hinaus. »Weil Ihr das Versprechen Eurer Vorfahren gebrochen habt. Die Bingtown-Händler sind in vielerlei Hinsicht provinziell. Und konservativ. Sie befolgen noch viele der alten Traditionen. Sie halten ihre Verträge ein, so wie sie verfasst worden sind, und das Wort eines Mannes stirbt nicht mit ihm, sondern es obliegt der Verpflichtung seiner Nachkommen, es zu ehren. Sie erwarten von anderen dasselbe. Die Delegation war sehr ärgerlich, als sie angekommen ist. Sie hatten eine lange Reise hinter sich, auf der sie sich gegenseitig bedauern konnten. Sie haben sich gegenseitig in ihrer Meinung bestärkt, bis sie glaubten, ihre Haltung wäre unangreifbar. Und natürlich würden nur diejenigen eine so weite Reise auf sich nehmen, um uns zur Rede zu stellen, die wirklich verärgert sind. Sie waren eindeutig unsere Gegner. Trotzdem hättet Ihr die Verärgerung vielleicht mildern können, wenn Ihr Euch bereit erklärt hättet, sie persönlich zu empfangen.« Sie drehte sich zu dem Satrapen um. Er sah sie grimmig und mürrisch an. »Ich war in dieser Woche krank. Ich konnte gerade noch die Handelsdelegation aus Chalced empfangen. Du wirst dich vielleicht auch daran erinnern, dass da eine Priesterweihe war, an der ich teilnehmen musste.« »Ihr habt fast die ganze Woche im Rausch verbracht und die neuen Lustkräuter ausprobiert, die Euch die Chalcedaner mit-
gebracht haben. Zweimal habt Ihr mir versprochen, die Delegation aus Bingtown zu empfangen. Und zweimal habt Ihr sie Stunden warten lassen, bevor Ihr sie benachrichtigt habt, dass Ihr indisponiert wärt. Mich habt Ihr dadurch in eine sehr ungemütliche Lage gebracht. Sie sind abgereist und fühlten sich schroff behandelt und ignoriert. Und sie waren mehr denn je von ihrer eigenen Rechtschaffenheit überzeugt.« Sie unterließ es hinzuzufügen, dass sie mit ihnen übereinstimmte. Es war ihre Aufgabe, ihm die Fakten zu präsentieren, nicht ihre Gefühle. Wenigstens war das im Moment ihre Aufgabe. Sie hoffte, dass sie bald mehr Vollmachten bekam, wenn ihre Pläne aufgingen. »Es sind ordinäre Söhne von Ausgestoßenen und Gesetzlosen«, erwiderte er verächtlich. »Ich hätte dem Rat meines Freundes, des Herzogs Yadfin, folgen sollen und ihn als meinen Gouverneur in Bingtown einsetzen sollen. Ich sollte ihr albernes, streitsüchtiges Konzil auflösen. Alte Händler, Neue Händler… Wer kann dem noch folgen? Ein bisschen chalcedanische Disziplin würde diesem Pack gut tun.« Serilla konnte nicht verhindern, dass sie ihn sprachlos anstarrte. Er kratzte sich gedankenverloren die Nase. »Das könnt Ihr nicht ernst meinen«, sagte sie schließlich. Sie war sogar bereit, Belustigung über seinen geschmacklosen Vorschlag vorzutäuschen. Einen chalcedanischen Adligen als Gouverneur von Bingtown einsetzen? »Warum nicht? Chalced ist ein guter Verbündeter. Bingtowns niederträchtige Verleumdungen haben sich als völlig haltlos erwiesen. Bingtown liegt näher an Chalced als an Jamaillia. Ein Gouverneur aus Chalced könnte das Volk dort besser im Zaum halten, und wem schadet es schon, solange ich noch meine Prozente und Abgaben bekomme…?« »Ganz Bingtown würde gegen Euch rebellieren. Es hat bereits Gerüchte von einem Aufstand gegeben. Sie würden mit Jamaillia brechen und sich selbst regieren, bevor sie einen Chalceda-
ner als Gouverneur akzeptieren.« »Mit Jamaillia brechen? Sie sind nichts ohne Jamaillia. Bingtown ist eine hinterwäldlerische Handelsstadt, ein Grenzposten ohne jede Zukunft außer der, mit meiner Stadt Handel treiben zu können. Sie würden es nicht wagen, mit Jamaillia zu brechen.« »Ich fürchte, Ihr schätzt das Temperament dieser Menschen dort falsch ein. Ihr habt sie schon viel zu lange sich selbst überlassen. Und jetzt fragen sie sich, warum sie für Schutz und Verbesserungen bezahlen sollen, die sie seit mehr als fünf Jahren nicht bekommen haben.« »Ah, ich verstehe. Du meinst, seit dem Tod meines Vaters. Du gibst mir die Schuld an der Unzufriedenheit dieses Packs, nicht wahr?« »Nein. Jedenfalls nicht ganz.« Ihre Stimme klang tonlos. »Vor seinem Tod ging der Verstand Eures Vaters in die Irre. Er war nicht mehr in der Lage, alle Einzelheiten zu erfassen, wie er es als junger Mann gekonnt hatte. Und auch er hat angefangen, Bingtown zu vernachlässigen. Ihr habt einfach nur die Dinge laufen lassen.« »Um so mehr Grund, dort einen Gouverneur einzusetzen. Siehst du? Selbst nach deiner Logik ist meine Idee gut.« Er lehnte sich zurück und fächelte sich zufrieden Luft zu. Sie wartete, bis sie sicher war, reden zu können, ohne ihn dabei anzuschreien. »Es ist nicht Eure Idee, Magnadon. Es ist Herzog Yadfins Plan, Euch zu schröpfen, während Ihr lächelt und seine Lustkräuter raucht. Rechtlich gesehen könnt Ihr keinen Gouverneur in Bingtown einsetzen, schon gar keinen aus Chalced. Das widerspricht den Festschreibungen in ihrer Gründungscharta.« »Dann vergiss diese blöde Charta doch endlich!«, schrie er. »Warum schulde ich ihnen etwas? Sie sind an die Verwunschenen Ufer geflohen, Exilanten, Kriminelle und rebellische junge Adlige. Jahrelang haben sie dort gelebt, wie sie wollten,
und alle Annehmlichkeiten der Bürgerschaft Jamaillias genossen, ohne dafür auch die Lasten zu tragen…« »Sie geben Euch fünfzig Prozent ihres Gewinns, Magnadon. Das ist erheblich mehr, als alle anderen zahlen. Sie wenden ein, und das wohl begründet, dass sie wenig Wohltaten dafür erhalten, dass sie für die Verbesserungen in ihrem Hafen selbst gezahlt haben und dass die Piraterie in der Inneren Passage schlimmer ist als…« »Und trotzdem widersetzen sie sich meinen Bemühungen, die Piraten zu kontrollieren. Wie soll ich sie schützen, wenn sie meinen Patrouillenbooten keinen Schutz in ihrem Hafen gewähren wollen?« Serilla blätterte rasch in den Seiten. »Hier. Sie schlagen vor, dass Ihr ihnen erlaubt, statt der chalcedanischen Söldner ihre eigenen Leute mit Patrouillenbooten auszurüsten. Ihr Argument ist, dass sie sich mit den Gezeiten und den Kanälen dort gut auskennen und dass sie wesentlich effektiver patrouillieren könnten. Und ihre Berechnungen ergeben auch, dass sie es erheblich billiger tun könnten.« »Aber würden sie auch gute Arbeit leisten?«, wollte Cosgo wissen. Serilla seufzte. »Es ist in ihrem eigenen Interesse, gute Arbeit zu leisten.« Sie blätterte mehrere Seiten durch. »Ich glaube, diesen Vorschlag könntet Ihr leicht akzeptieren und damit auch von ihnen viel Unterstützung gewinnen.« »Ach, na gut.« Er schob ihre Unterlagen angewidert beiseite. »Ich werde sie empfangen und dem zustimmen. Aber sie müssen dafür…« »Magnadon Cosgo, dafür ist es viel zu spät«, unterbrach sie ihn ungeduldig. »Die Delegation ist schon vor Wochen abgereist. Sie sind zurück nach Bingtown gesegelt.« »Warum machen wir uns dann noch darüber Sorgen?«, wollte er wissen. Er stand auf. »Komm. Begleite mich zu den Dampfbädern. Sie vertreiben ganz bestimmt meine Kopfschmerzen.«
Serilla rührte sich nicht. »Ihr habt mir versprochen, ihre Beschwerden zu überdenken und auf jede einzelne zu antworten. Ihr habt versprochen, Ihr würdet ihnen Eure Entscheidungen bald übermitteln.« Sie wog ihre Chancen ab und beschloss dann, alles zu riskieren. »Ich würde gern Eure Entscheidungen aufschreiben und sie mit einem Schiff nach Bingtown bringen. Je eher ich ihnen Eure Entscheidungen überbringe, desto eher wird diese Krise beendet.« Sie schob die Papiere auf dem Tisch herum und ordnete sie mit fast schon zwanghafter Pedanterie. »Ich habe eine Urkunde aufgesetzt, die mich bevollmächtigt, in Eurem Namen zu verhandeln. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr sie einfach unterzeichnen. Bereits morgen könnte ich in See stechen, und Ihr würdet nicht länger mit diesem Streit belästigt werden.« Sie bemühte sich, die Hoffnung aus ihrer Miene und ihrer Stimme fern zu halten. Er beugte sich über den Tisch und betrachtete das Dokument, das sie in ihrer gleichmäßigen Handschrift aufgesetzt hatte. Ihr Herz schlug schneller. Am liebsten hätte sie ihm Stift und Tinte hingeschoben, aber sie widerstand dem Impuls. Es wäre zu offensichtlich gewesen. »Hier steht, dass ich meine Einwilligung dazu gebe, dass du alle Entscheidungen in meinem Namen triffst, die die Bingtown-Kontroverse angehen.« Er klang wütend. »So viel Macht gewähre ich niemandem!« Ihre Hoffnung schwand. Es würde nicht so einfach gehen, wie sie gehofft hatte, aber noch wollte sie sich nicht geschlagen geben. »Es stimmt, dass Ihr noch niemandem diese Art Macht verliehen habt. Trotzdem habt Ihr vor einem Augenblick noch davon gesprochen, einen chalcedanischen Gouverneur zu ernennen. Dadurch würdet Ihr erheblich mehr Macht aus Eurer Hand geben als mit dieser Urkunde. Dabei handelt es sich schließlich nur um eine vorübergehende Vollmacht.« Sie holte tief Luft und versuchte, ihrer Stimme einen besorgten Unterton zu verleihen. »Eure Gesundheit war früher erheblich robuster.
Ich weiß, wie sehr Euch diese Verhandlungen belasten. Und ich kann nicht einsehen, warum die ganze Satrapie dieses Risiko für Eure Gesundheit in Kauf nehmen müsste. Bingtown ist mein Fachgebiet. Ich wäre sehr glücklich, Euch in dieser Hinsicht dienen zu können. Ich empfinde es als meine Pflicht.« »Deine Pflicht? Tatsächlich? Siehst du das nicht eher als deine Chance?« Er war schon immer weit gerissener gewesen, als er aussah. Sie musste sich nicht viel Mühe geben, so zu wirken, als hätten seine Worte sie verblüfft. »Magnadon, ich habe immer meinen Dienst an der Satrapie als die große Chance in meinem Leben betrachtet. Und wie Ihr seht, habe ich eine Menge Platz am unteren Ende des Dokuments gelassen, wo wir einige Einschränkungen notieren können. Zum Beispiel eine zeitliche Begrenzung.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe das einfach nur als den schnellsten und einfachsten Weg betrachtet, die Krise zu beheben.« »Du würdest nach Bingtown segeln? Allein? Eine Gefährtin des Herzens verlässt niemals das Palastgelände. Niemals.« Die Freiheit schwand dahin. Aber Serilla ließ sich nichts anmerken. »Wie ich schon sagte, es wäre der schnellste und einfachste Weg, dies zu lösen, ohne Eure Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Ich bin über die Geschichte dieser Situation vollkommen informiert. Und ich hatte mir vorgestellt, dass Ihr mir Eure Wünsche anvertraut und dass ich sie den Bingtown-Händlern überbringen würde. Indem Ihr sie mit einem Besuch von einer Eurer Gefährtinnen des Herzens ehrt, würdet Ihr sie sowohl Eurer Aufrichtigkeit als auch Eurer Achtung für sie versichern. Zudem würde es mir Gelegenheit geben, eine Stadt zu besichtigen, die seit Jahren das Herzstück meiner Studien ist.« Das fabelhafte Bingtown. Die Grenzstadt der Magie und der Möglichkeiten. Die einzige Siedlung, die jemals die Verwunschenen Ufer überlebt hatte, ja, dort sogar gediehen war. Wie sehr sie sich danach sehnte, sie mit eigenen Augen zu sehen. Sie
sagte nichts von den Regenwild-Händlern und ihren angeblichen Städten weit oben am Regenwild-Fluss. Sie waren nur eine schwer fassbare Legende. Wenn sie andeutete, dass sich dort Schätze verbargen, von denen nicht einmal der Satrap sich eine Vorstellung machen konnte, würde das seine Gier nur noch weiter anstacheln. Sie versuchte, sich wieder auf ihr Ziel zu konzentrieren. »Bevor Euer Vater starb, hat er mir versprochen, dass ich eines Tages diese Stadt selbst sehen würde. Das ist auch eine Gelegenheit für Euch, dieses Versprechen zu halten.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. »Er hat gesagt, er würde dich nach Bingtown lassen? Absurd! Warum hätte er dir so etwas versprechen sollen?« Er sah sie misstrauisch an. »Oder hast du das als Gegenleistung für deine Gunstbezeugungen verlangt? Hat mein Vater dir jemals beigeschlafen?« Als er zum ersten Mal vor einem Jahr diese Frage zu stellen wagte, hatte sie schockiert geschwiegen. Seitdem hatte er sie so oft gestellt, dass ihr Schweigen schon beinahe ein Reflex war. Es war die einzige wirkliche Macht, die sie über ihn besaß. Er wusste es nicht. Er wusste nicht, ob sein Vater gehabt hatte, was sie ihm verweigerte, und das nagte an ihm. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie Cosgo gesehen hatte. Er war fünfzehn gewesen und sie neunzehn. Sie war noch sehr jung für eine Gefährtin des Herzens. Dabei war es schon überraschend genug, dass ein so alter Satrap überhaupt noch eine neue Gefährtin auserkor. Als sie Cosgo als neue Ratgeberin seines Vaters präsentiert wurde, sah der junge Mann von ihr zu seinem Vater und wieder zurück. Sein Blick sprach Bände. Sie war errötet, und der Satrap hatte seinem Sohn für diesen unverschämten Blick eine Ohrfeige gegeben. Der junge Cosgo hatte das jedoch nur als Bestätigung genommen, dass sein niederträchtiger Verdacht stimmte. Als sein Vater gestorben war, hatte Cosgo alle Gefährtinnen
des Herzens des alten Satrapen weggeschickt. Entgegen aller Tradition hatte er sie ohne die Gnade des Unterschlupfs oder des Lebensunterhalts für ihre restlichen Jahre entlassen. Die meisten waren schon ältere Frauen. Allein Serilla hatte er behalten. Sie wäre damals gern gegangen, wenn sie gekonnt hätte. Doch solange sie den Ring des Satrapen trug, war sie an ihn gebunden. Und jetzt war Cosgo der Satrap. Ihr Treueschwur verlangte, dass sie blieb und ihn so lange beriet, wie er es wollte. Mehr als ihren Rat konnte er allerdings nicht von ihr verlangen. Von Anfang an hatte er deutlich gemacht, dass er mehr wollte. Als andere Gefährtinnen des Herzens hatte er Frauen auserwählt, die mehr in körperlichen Fertigkeiten als in Diplomatie ausgebildet waren. Und keine von ihnen verweigerte sich ihm. Nach der Tradition waren die Gefährtinnen des Herzens kein Harem. Sie sollten Frauen sein, die nur der Satrapie treu ergeben waren. Und sie sollten so sein, wie Serilla war: kühn, kein Blatt vor den Mund nehmen und sittlich über jeden Zweifel erhaben. Sie waren das Gewissen des Satrapen. Sie sollten fordernd sein, nicht tröstend. Manchmal fragte sich Serilla, ob sie die einzige Gefährtin war, die sich noch daran erinnerte. Sie vermutete, dass sie alle Macht über Cosgo verlor, wenn sie ihn erst einmal in ihr Bett ließ. Solange sie einen Besitz seines Vaters repräsentierte, den er nicht für sich beanspruchen konnte, würde er sie begehren. Er würde so tun, als hörte er ihr zu, und gelegentlich würde er sogar einen ihrer Ratschläge befolgen, um ihr eine Freude zu machen. Es war der letzte Rest Macht, der ihr noch geblieben war. Sie hoffte, dass sie ihn als Hebel nutzen konnte, um ihre Freiheit zu erlangen. Deshalb betrachtete sie ihn jetzt kühl und schweigend. Und wartete. »Ach, na gut!«, rief er plötzlich angewidert. »Ich bringe dich nach Bingtown, wenn es dir so viel bedeutet.« Sie schwankte zwischen Erleichterung und Bestürzung. »Ihr
lasst mich also gehen?«, fragte sie atemlos. Er runzelte ein wenig die Stirn. Dann lächelte er sie an. Er hatte einen hauchdünnen Schnurrbart, der sich jetzt bog wie die Barthaare einer Katze. »Nein. Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, ich bringe dich dorthin. Du kannst mich begleiten, wenn ich gehe.« »Aber Ihr… seid… der Satrap!«, rief sie stockend. »Seit zwei Generationen hat kein regierender Satrap Jamaillia-Stadt verlassen!« »Es ist so, wie du gesagt hast. Dies wird sie von meiner Ernsthaftigkeit überzeugen, wenn wir verhandeln. Außerdem… liegt es auf meinem Weg nach Chalced. Ich bin zahllose Male dorthin eingeladen worden. Ich hatte mich schon entschieden, diesen Besuch zu machen. Du wirst mich dorthin begleiten, wenn wir den rebellischen Pöbel in Bingtown besänftigt haben.« Er lächelte noch stärker. »In Chalced kannst du eine Menge lernen. Ich glaube, das wird gut für uns beide sein.«
7
Die Tochter eines Bingtown-Händlers »Sitz ruhig.« »Es tut weh!«, protestierte Malta. Sie hob eine Hand zu ihrem Haar, das ihre Mutter gerade in glänzende Zöpfe flocht. Keffria schob die Hand zur Seite. »Das Meiste daran, eine Frau zu sein, schmerzt«, erwiderte sie nüchtern. »Du wolltest es so. Also gewöhne dich daran.« Sie zog an dem Strang von glänzendem schwarzem Haar in ihrer Hand und schob geschickt einige Strähnen zurecht. »Bitte setz ihr nicht einen solchen Unsinn in den Kopf«, sagte Ronica gereizt. »Es hat uns gerade noch gefehlt, dass sie wie eine Märtyrerin im Haus herumläuft, nur weil sie eine Frau ist.« Maltas Großmutter legte die Bänder zur Seite, die sie sortiert hatte, und ging ruhelos im Zimmer umher. »Es gefällt mir nicht«, sagte sie plötzlich. »Was? Malta für ihren ersten Verehrer schön zu machen?« In Keffrias Stimme schwang mütterliche Wärme mit. Malta runzelte die Stirn. Ihre Mutter hatte sich zuerst geweigert, Malta wie eine Frau zu behandeln. Noch vor einigen Wochen hatte sie gesagt, ihre Tochter sei viel zu jung, als dass ein Mann ihr den Hof machen dürfe. Akzeptierte sie jetzt etwa diese Vorstellung? Malta versuchte, das Gesicht ihrer Mutter im Spiegel zu erkennen, aber Keffria beugte sich gerade über Maltas Kopf. In der Kammer war es hell und luftig, und sie war erfüllt vom Duft der Hyazinthen in kleinen Glasvasen. Durch die hohen Fenster flutete das Sonnenlicht in den Raum. Es war ein wunderschöner Frühlingsnachmittag, ein Tag, der vielversprechend sein sollte. Stattdessen fühlte sich Malta von der Teilnahmslosigkeit der beiden Frauen niedergedrückt. Es gab kein fröhli-
ches Geplauder, als sie jetzt vorbereitet wurde, ihren ersten Galan zu treffen. Das Haus schien in Trauer erstarrt zu sein, als habe der Tod ihres Großvaters im letzten Frühjahr sie für immer in die Verzweiflung gestürzt. Auf dem Tisch vor Malta standen kleine Töpfchen mit Schminke, Cremes und Parfüm. Nichts davon war neu. Es waren Reste aus dem Zimmer ihrer Mutter. Es ärgerte Malta, dass sie glaubten, sie verdiene nichts Besseres. Die meisten Sachen stammten nicht einmal aus dem Basar. Sie waren zu Hause gemacht worden, in der Küche, hergestellt wie eine Suppe aus Beeren, Blumen und Talg. Ihre Mutter und ihre Großmutter waren so enttäuschend altmodisch, was diese Dinge betraf. Wie konnten sie erwarten, dass die Gesellschaft von Bingtown sie respektierte, wenn sie so sparsam wie die Armen lebten? Und sie unterhielten sich über ihren Kopf hinweg, als wäre sie nicht in der Lage, sie zu verstehen. »Nein, darein habe ich mich gefügt.« Ihre Großmutter klang eher wütend als resigniert. »Es gefällt mir nicht, dass wir nichts von Kyle und der Viviace gehört haben. Das macht mir Sorgen.« Keffria bemühte sich, ihre Stimme unbeteiligt klingen zu lassen, wenn sie über ihren Ehemann und das Familienschiff sprach. »Die Frühlingswinde können tückisch sein. Er wird in einigen Tagen wieder zu Hause sein… Wenn er überhaupt in Bingtown anlegt. Er könnte auch direkt nach Chalced segeln und seine Fracht dort verkaufen, solange sie noch in guter Verfassung ist.« »Du meinst wohl, solange die Sklaven noch am Leben und verkäuflich sind«, bemerkte Ronica unerbittlich. Sie hatte sich immer dagegen ausgesprochen, das Zauberschiff der Familie als Sklaventransporter zu benutzen. Sie behauptete zwar, dass sie prinzipiell etwas gegen Sklaverei habe, was sie aber nicht daran hinderte, eine Sklavin im Haus zu haben. Ronica behauptete, es wäre schlecht für das Schiff, wenn es als Sklavenschiff
benutzt würde, weil ein Lebensschiff nicht mit den finsteren Gefühlen einer solchen Ladung zurechtkommen würde. Die Viviace war erst kurz vor dieser Reise erwacht. Alle sagten, dass Lebensschiffe sehr empfindsam auf die Gefühle der Menschen reagierten, die an Bord lebten. Und das war bei jungen Schiffen noch stärker der Fall. Malta hatte da so ihre Zweifel. Sie hielt die ganze Geschichte mit den Zauberschiffen für albernes Gewäsch. Soweit sie das beurteilen konnte, hatte ihrer Familie der Besitz dieses Zauberschiffs nur Schulden und Ärger eingebracht. Man brauchte sich ja nur ihre Lage anzusehen! Nachdem sie monatelang darum gebettelt hatte, dass man ihr endlich erlaubte, sich wie eine junge Frau kleiden und benehmen zu dürfen, gab ihre Familie schließlich nach. Und warum? Natürlich nicht, weil sie eingesehen hatten, wie vernünftig ihre Bitte war. Nein. Sondern wegen eines albernen Vertrages, der besagte, dass eines der Kinder der Familie dem Regenwild-Volk statt Gold angeboten werden musste, wenn Großmutter ihre Ratenzahlung für das Schiff nicht leisten konnte. Die Ungerechtigkeit dieser ganzen Angelegenheit stieg bitter in ihr hoch und erstickte sie fast. Hier saß sie, jung, hinreißend und frisch. Und wer würde ihr erster Freier sein? Ein gut aussehender junger Händler wie Cerwin Trell, ein melancholischer Poet wie Krion Trentor? Nein. Nicht für Malta Vestrit. Nein, sie bekam einen verwarzten alten Regenwild-Händler, einen Mann, der so schrecklich entstellt war, dass er sein Gesicht hinter einem Schleier verbergen musste, wenn er nach Bingtown kommen wollte. Hatten ihre Mutter und ihre Großmutter sich je darum gekümmert? Hatten sie sich jemals Gedanken darüber gemacht, was es für sie bedeutete, wenn man ihr einen solchen Mann aufbürdete? Aber nein, die doch nicht. Sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich über das Schiff Sorgen zu machen oder darum, was ihrem kostbaren Bruder Wintrow zugestoßen war oder wo ihre Tante Althea war. Malta zählte
nicht. Hier saßen sie, halfen ihr in das Kleid, richteten ihr Haar und achteten doch überhaupt nicht auf sie. »… tut das Beste für die Familie«, sagte ihre Mutter leise. »Das musst du zugeben. Kyle achtet vielleicht nicht auf Gefühle, das muss ich einräumen. Er hat meine mehr als einmal verletzt. Dennoch ist er weder ein böser Mensch noch egoistisch. Ich habe nie erlebt, dass er etwas getan hat, das seiner Meinung nach nicht das Beste für uns alle war.« Malta war ein bisschen überrascht, dass ihre Mutter ihren Vater verteidigte. Bevor ihr Vater in See gestochen war, waren sie hart aneinander geraten, und ihre Mutter hatte seitdem wenig von ihm gesprochen. Vielleicht lag ihr auf ihre eigene unbeholfene Art doch etwas an ihrem Ehemann. Malta hatte ihren Vater immer bedauert. Es war eine entsetzliche Verschwendung, dass ein so gut aussehender und abenteuerlicher Seekapitän mit einer grauen Maus verheiratet war, die keinerlei Interesse an der Gesellschaft oder an Mode hatte. Er verdiente eine Frau, die sich gut kleidete, die Gesellschaften in ihrem Heim abhielt und die angemessene Freier für ihre Tochter auswählte. Malta fand, dass auch sie so eine Mutter verdient gehabt hätte. Dann kam ihr ein anderer Gedanke, und sie war plötzlich beunruhigt. »Was willst du heute anziehen?«, fragte sie ihre Mutter. »Was ich anhabe«, erwiderte diese gereizt. Und fügte hinzu: »Ich will nichts mehr davon hören. Reyn besucht dich, nicht mich.« Leiser, beinahe zögernd, fuhr sie fort: »Dein Haar glänzt fast wie die Nacht selbst. Ich bezweifle, dass er auch nur einen Blick für jemand anderen hat als dich.« Malta wollte sich von dem seltenen Kompliment nicht ablenken lassen. Das schlichte blaue Wollkleid, das ihre Mutter trug, war mindestens drei Jahre alt. Es war sehr gut gepflegt worden und sah nicht verschlissen aus, nur gesetzt und langweilig. »Wirst du dir wenigstens das Haar machen und deinen Schmuck anlegen?«, bat sie und fügte fast verzweifelt hinzu: »Du forderst mich immer auf, mich gut und angemessen anzu-
ziehen, wenn ich geschäftlich mit dir unterwegs bin. Wollt ihr, du und Großmutter, nicht dasselbe für mich tun?« Sie drehte sich vom Spiegel weg und sah sie an. Beide wirkten überrascht. »Reyn Khuprus mag der jüngere Sohn sein, aber er ist immer noch das Mitglied einer der vermögendsten und einflussreichsten Regenwild-Familien. Das habt ihr mir selbst gesagt. Sollten wir uns nicht so kleiden, als erwarteten wir einen geehrten Gast, selbst wenn ihr heimlich hofft, dass er mich unattraktiv findet und einfach weggeht?« Leiser fügte sie hinzu: »Sicher schulden wir uns so viel Selbstrespekt.« »Ach, Malta«, meinte ihre Mutter seufzend. »Das Kind hat Recht«, sagte ihre Großmutter. Die kleine, dunkelhäutige Frau in ihrer Witwentracht richtete sich plötzlich auf. »Ja. Sie hat Recht. Wir waren beide kurzsichtig. Ob wir Reyns Werbung um Malta begrüßen oder nicht, steht hier nicht zur Debatte. Wir haben es erlaubt. Die Khuprus-Familie besitzt jetzt den Wechsel über die Viviace. Unser Vertrag liegt jetzt bei ihnen. Wir sollten sie nicht nur mit derselben Höflichkeit behandeln wie die Festrews, sondern wir sollten ihnen auch dieselbe Fassade zeigen.« Ronica zählte ihre Überlegungen an den Fingern ab. »Wir haben eine schöne Tafel vorbereitet, und die Zimmer haben den Frühjahrsputz hinter sich. Rache kann uns bedienen. Sie macht ihre Sache gut. Ich wünschte, Nana wäre noch bei uns, aber das Angebot war einfach zu günstig, dass sie es hätte ausschlagen können. Glaubst du, ich sollte Rache an Davad Restate zurückgeben und dafür andere Diener ausleihen?« »Das könnten wir tun«, begann Keffria zögernd. »O nein«, widersprach Malta. »Davads Diener sind schrecklich, haben keine Manieren und sind unverschämt. Ohne sie sind wir besser dran. Ich finde, wir sollten unseren Haushalt so präsentieren, wie er ist, statt einen bestimmten Eindruck mit schlecht ausgebildeten Dienern vorzutäuschen. Was würdet ihr vornehmer finden? Einen Haushalt mit begrenzten Mitteln, der
sein Bestes daraus macht, oder einen, der sich schlechte Hilfe ausleiht?« Es freute Malta, dass sie ihre Mutter und ihre Großmutter erneut überrascht hatte. Keffria lächelte stolz. »Das Mädchen hat Verstand. Malta, ich bin sicher, dass du den Punkt getroffen hast. Es freut mich, dich so sprechen zu hören.« Die Anerkennung ihrer Großmutter war zurückhaltender. Sie spitzte die Lippen, sah Malta an und nickte kurz. Malta betrachtete sich im Spiegel und drehte den Kopf, um zu sehen, wie ihre Mutter ihr Haar gelegt hatte. Es würde genügen. Sie blickte erneut auf das Spiegelbild ihrer Großmutter. Ronica betrachtete sie immer noch. Malta glaubte, dass es Ronica Vestrit einfach schwer fiel zu akzeptieren, dass auch jemand anders klug sein konnte. Das war der Grund. Ihre Großmutter war einfach eifersüchtig, dass Malta die Dinge genauso durchschauen konnte wie sie. Sogar noch deutlicher. Ihre Mutter dagegen war stolz auf sie gewesen. Sie konnte ihre Mutter mit Klugheit für sich gewinnen. Daran hatte Malta noch nie zuvor gedacht. Plötzlich hatte sie eine gute Idee. »Danke, Mutter. Du hast mein Haar wunderbar gemacht. Und jetzt mache ich deins. Komm und setz dich.« Sie stand graziös auf und zog ihre verblüffte Mutter vor den Spiegel. Dann zog sie die langen Nadeln aus dem dunklen Haar ihrer Mutter. Es fiel auf ihre Schultern herunter. »Du trägst dein Haar wie eine langweilige alte Frau«, verkündete sie. Es war überflüssig, darauf hinzuweisen, dass ihre Großmutter das ihre genauso trug. Sie beugte sich herunter, legte ihre Wange an Keffrias und begegnete ihrem Blick im Spiegel. »Lass es mich mit ein paar Blumen schmücken, die mit deinen Perlnadeln festgesteckt sind. Es ist Frühling, und es wird Zeit, das Erblühen des Lebens zu feiern.« Malta hob die Bürste mit dem silbernen Handgriff und fuhr ihrer Mutter damit durchs Haar. Sie neigte den Kopf und lächelte ihrer Mutter im Spiegel zu. »Wenn wir es uns nicht leisten können, neue Kleider und Gewänder zu kau-
fen, bevor Vater zurückkommt, dann sollten wir vielleicht einige ältere mit neuer Stickerei verzieren. Ich bin sicher, dass ihm das gefällt. Außerdem wird es Zeit, dass ich deine Rosenknospenstickerei lerne. Vielleicht kannst du sie mir ja nach Reyns Besuch zeigen.« Ronica Vestrit betrachtete die plötzliche Freundlichkeit ihrer Enkelin mit Skepsis. Ihr Pessimismus setzte sie zwar sogar in ihren eigenen Augen herab, aber sie wagte nicht, von ihm abzulassen. Sie verwünschte die Umstände, die den Ruf und die Finanzen der Familie in die ungeschickten Hände dieses unberechenbaren Mädchens gelegt hatten. Und noch erschreckender war, dass diese Hände fordernd und habgierig waren und dass Maltas Narrheiten von Hinterlist geprägt waren. Wenn das Mädchen seinen scharfen Verstand nur darauf konzentriert hätte zu tun, was wirklich das Beste für sie selbst und die Familie war, hätte sie die Vestrits mit Stolz erfüllt. So wie es jetzt aussah, war sie eine gefährliche Belastung. Ronica entfernte sich schweigend aus dem Raum, in dem Malta jetzt das Haar ihrer Mutter in Locken legte. Verbittert dachte sie, dass Reyn Khuprus sie vielleicht von Malta befreien würde, wenn sie Glück hatten. Es war sicherlich sehr erholsam, diese hinterlistige kleine Hexe aus dem Haus zu haben. Doch dann stellte sie sich Malta als Schwiegertochter von Jani Khuprus vor und zuckte zusammen. Nein, Malta war ein Problem der Vestrits. Es war das Beste, sie zu Hause zu halten, bis man ihr beigebracht hatte, sich so zu benehmen, dass es der Familie zum Wohl gereichte. Manchmal glaubte Ronica, dass der einzige Weg, Malta das beizubringen, der Riemen war. Sie suchte den Frieden ihrer eigenen Gemächer auf. Da der Frühling vor der Tür stand, hatte Ronica ihre Räume gesäubert und aufgefrischt, wie sie es jedes Jahr tat. Es hatte nicht geholfen. Die Erinnerung an den Geruch der Krankheit hing noch immer in der Luft. Das Sonnenlicht, das sich durch die hohen Fenster in den Raum ergoss, wirkte gekünstelt. Das saubere
Linnen auf dem Bett wirkte eisig weiß und kalt, nicht frisch und einladend. Sie ging zu ihrem Frisiertisch, setzte sich und betrachtete sich im Spiegel. Malta hatte Recht. Sie wurde eine langweilige alte Frau. Zwar hatte sie sich niemals für besonders hübsch gehalten, aber solange Ephron noch lebte, hatte sie auf ihr Äußeres geachtet. Nachdem er gestorben war, hatte sie es vergessen. Sie hatte aufgehört, eine Frau zu sein. Die Linien in ihrem Gesicht waren tiefer geworden, und die Haut am Hals war eingefallen. Die wenigen Kosmetiktöpfe auf ihrem Tisch hatten Staub angesetzt. Als sie ihren Schmuckkasten öffnete, kam ihr der Inhalt sowohl vertraut als auch fremd vor. Wann hatte sie sich zum letzten Mal geschminkt? Wann hatte sie sich zum letzten Mal überhaupt darum gekümmert, wie sie aussah? Sie holte tief Luft. »Ephron.« Mehr sagte sie nicht. Sie sprach einfach nur seinen Namen laut aus. Es war teilweise ein Flehen, teilweise eine Entschuldigung, teilweise ein Abschied. Dann griff sie hoch und löste ihr Haar. Sie schüttelte es, bis es auf ihre Schultern fiel. Ronica sah stirnrunzelnd, wie dünn es geworden war. Sie hob die Hände vor das Gesicht, tastete ihre dünne, trockene Haut ab und versuchte, die Linien um ihren Mund zu glätten. Sie schüttelte den Kopf über sich selbst und senkte ihn dann, um den Staub von den Kosmetiktöpfen zu pusten. Sie öffnete den ersten. Als sie gerade ihre Toilette beendet und Parfüm aufgelegt hatte, klopfte Rache zögernd an der Tür. »Komm herein«, rief Ronica beiläufig. Seit Nanas Abschied war Rache die einzige Dienerin in dem ehemals geschäftigen Haushalt. Als die Sklavin eintrat, sah Ronica sofort, warum sie gekommen war. Nur ein Besuch von Davad Restate konnte einen derartig hasserfüllten Ausdruck im Blick der Sklavin hervorrufen. Rache gab ihm immer noch die Schuld an dem Tod ihres Kindes auf Davads Sklavenschiff. Jede Erwähnung des Händlers erweckte diesen Blick in ihren Augen. Nur bei diesen Gelegenheiten wirkte die junge Sklavin wirklich lebendig. Obwohl Ronica seufzte und
flehte: »Bitte nicht«, wusste sie, dass der Mann bereits im Wohnzimmer wartete. »Es tut mir Leid, Madam«, sagte Rache beinahe tonlos. »Es ist der Händler Restate. Er hat darauf bestanden, Euch zu sehen.« »Schon gut«, erwiderte Ronica mit einem noch tieferen Seufzer. Sie stand auf. »Ich komme herunter, sobald ich angezogen bin. Nein. Du brauchst nicht zu ihm zu gehen und es ihm sagen. Wenn er sich nicht die Mühe macht, uns mit einem Läufer von seinem Besuch zu unterrichten, dann kann er auch warten, bis ich fertig bin. Hilf mir bitte beim Anziehen.« Sie versuchte, einen Witz über Davad zu machen, den sie beide teilen konnten, aber Rache verzog keine Miene. Er hatte Rache im Haushalt der Vestrits untergebracht, als Ephron im Sterben lag; angeblich, um zu helfen. Ronica jedoch vermutete, dass er es getan hatte, um sich endlich Raches mörderische Blicke vom Hals zu schaffen. Rechtlich gesehen gehört sie wohl immer noch ihm, dachte Ronica. Sie ist eine Sklavin und untersteht jamaillianischem Recht. Bingtown akzeptierte keine Sklaverei. Hier wurden die Sklaven geziert »Vertragsdiener« genannt. Es gab in letzter Zeit viele »Vertragsdiener« in Bingtown. Ronica behandelte sie so, wie sie jede angestellte Dienerin auch behandelt hätte. Ronica ließ sich Zeit bei der Auswahl ihrer Garderobe und entschied sich schließlich für ein blassgrünes Leinenkleid. Es war schon so lange her, dass sie etwas anderes als ein weites Hauskleid getragen hatte. Sie kam sich merkwürdig nackt darin vor, obwohl die Röcke um ihre Hüfte eine Schärpe hatten und die Bluse mit Spitze besetzt war. Sie blieb stehen und betrachtete sich im Spiegel. Nun, sie sah nicht gerade schön aus. Und auch nicht jung. Aber sie wirkte wieder so, wie sich die Matriarchin einer Bingtown-Händlersippe präsentieren sollte. Sie wirkte sowohl gepflegt als auch würdevoll. Sie blieb vor ihrem Schmuckkasten stehen, legte sich eine Perlenkette um und
hängte sich auch Perlen an die Ohren. So. Sollte dieses kleine Biest doch noch einmal andeuten, dass sie eine langweilige alte Frau war. Sie drehte sich um und sah, wie Rache sie mit großen Augen anstarrte. Ronica fühlte sich von der Verblüffung der Dienstbotin beinahe geschmeichelt. »Ich werde Davad jetzt empfangen. Bringst du bitte Kaffee und einfache Kekse aus der Küche? Nichts Besonderes. Ich möchte ihn nicht auch noch ermutigen.« »Ja, Madam.« Rache deutete einen Knicks an und verschwand. Ronicas Röcke raschelten, als sie den langen Flur zum Wohnzimmer entlangging. Die Perlen fühlten sich kühl auf ihrer Haut an. Es war merkwürdig, wie ein Wechsel der Garderobe und ein bisschen Achtsamkeit auf ihre Erscheinung ihr Selbstgefühl veränderten. Sie empfand immer noch tiefe Trauer um Ephron, genauso, wie ihre Wut über all das, was ihnen seit seinem Tod widerfahren war, noch spürbar war. Sie hatten den ganzen Winter über versucht, alle Schläge zu meistern, wie sie kamen. Und es hatte sie erschüttert, feststellen zu müssen, dass ihr Vertrauen in ihren Schwiegersohn ein Irrtum gewesen war. Kyles Gier hatte Althea vertrieben, und sein rücksichtsloses Streben nach Kontrolle hatte Keffria geradezu paralysiert. Die Entdeckung, dass seine Tochter Malta anscheinend vorhatte, in seine Fußstapfen zu treten, war ebenfalls entnervend gewesen. Noch vor ein paar Monaten hatte Keffria versprochen, Malta in den Griff zu bekommen und sie zu ändern. Ronica stieß missbilligend die Luft durch die Nase. Bis jetzt war die einzige Veränderung die, dass Malta noch hinterlistiger wurde. Vor der Tür zum Salon blieb sie stehen und schob diese Gedanken energisch beiseite. Sie riss sich zusammen, glättete ihre Stirn und setzte einen erfreuten Gesichtsausdruck auf. Dann straffte sie Rücken und Schultern, öffnete die Tür und betrat den Raum. »Guten Morgen, Davad. Was für eine Überra-
schung, dass Ihr einfach so vorbeischaut.« Er hatte ihr den Rücken zugewandt und blätterte in einem Buch, das er aus dem Regal genommen hatte. Mit seinem breiten Hintern, der das blaue Jackett spannte, erinnerte er Ronica an einen Käfer. Er klappte das Buch zu und antwortete, während er sich umdrehte: »Es ist keineswegs überraschend, Ronica, sondern höchst ungehobelt. Selbst als Stümper, was gesellschaftliche Formen angeht, weiß ich, dass ich vorher hätte fragen sollen, ob Ihr mich empfangen wollt. Aber da ich wusste, dass Ihr nein sagen würdet, musste ich… Ronica! Ihr seht großartig aus!« Er musterte sie ziemlich ungeniert, und sie errötete unerwarteterweise. Ein Lächeln erschien auf seinem runden, groben Gesicht. »Ich habe mich so sehr daran gewöhnt, Euch in langweiligen Kleidern zu sehen, dass ich fast vergessen habe, wie Ihr wirklich ausseht. An dieses Kleid kann ich mich noch erinnern. Es ist ziemlich alt, stimmt's? Habt Ihr das nicht bei der Feier getragen, bei der Ihr die Vermählung von Keffria mit Kyle bekanntgegeben habt? Es macht Euch um Jahre jünger. Ihr müsst sehr stolz darauf sein, dass Ihr Euch noch hineinzwängen könnt.« Ronica schüttelte den Kopf über ihren alten Freund. »Davad Restate. Nur Ihr seid imstande, so viele Komplimente in einer so kurzen Rede so gründlich zu ruinieren.« Er starrte sie völlig entgeistert an. Wie so oft war ihm auch jetzt vollkommen entgangen, wie taktlos er gewesen war. Sie ging zu einem Diwan und setzte sich. »Kommt her zu mir«, lud sie ihn ein. »Ich habe Rache gebeten, Kaffee und Kekse zu bringen, aber ich muss Euch warnen. Ich habe nur wenig Zeit. Wir empfangen heute Nachmittag Reyn Khuprus. Er kommt zum ersten Mal, um Malta seine Aufwartung zu machen, und ich muss noch eine Menge vorbereiten.« »Ich weiß«, gab er unbekümmert zu. »Ganz Bingtown
klatscht darüber. Es ist ein bisschen unüblich, einem Mann zu erlauben, ihr den Hof zu machen, bevor sie als Frau in die Gesellschaft eingeführt worden ist, oder? Nicht, dass ich nicht glauben würde, sie sei soweit. Ich bin sicher, dass sie es, nach ihren Eskapaden im letzten Winter bei dem Ball… na ja. Ich kann Euch keinen Vorwurf machen, dass Ihr versucht, sie schnell zu verheiraten. Je eher das Mädchen einen Mann bekommt, der sie beruhigt, desto sicherer wird es in Bingtown sein.« Er hielt inne und räusperte sich. Zum ersten Mal wirkte er etwas unsicher. »Eigentlich bin ich auch genau deswegen hier. Um Euch um einen Gefallen zu bitten, und zwar um einen sehr großen, wie ich fürchte.« »Ihr wollt mich um einen Gefallen bitten, und der hat etwas mit Reyns Besuch zu tun?« Ronica war sowohl verwirrt als auch misstrauisch. »Ja. Es ist ganz einfach. Ladet mich auch ein.« Es gelang ihr, ihn nicht verblüfft anzustarren. Glücklicherweise musste sie nicht sofort antworten, weil Rache eintrat und das Kaffeetablett hereinbrachte. Ronica schickte sie beinahe sofort wieder weg. Es war unnötig, die Dienerin dazu zu zwingen, einem Mann Kaffee einzuschenken, den sie hasste. Die kleine Zeremonie des Kaffeeeinschenkens gewährte Ronica Zeit, um nachzudenken. Davad jedoch unterbrach ihre Überlegungen, noch bevor sie ihre höfliche Ablehnung beginnen konnte. »Ich weiß, dass es sich nicht gehört, aber ich habe mir überlegt, wie man es umgehen könnte.« Ronica beschloss, offen zu sein. »Davad, ich will aber keinen Weg um eine Ungehörigkeit finden. Der Khuprus-Clan ist gesellschaftlich höchst einflussreich. Und ich kann es mir im Augenblick nicht leisten, jemanden in Bingtown zu beleidigen, geschweige denn ausgerechnet den Sohn einer solchen Familie. Ihr habt nicht gesagt, warum Ihr hier sein wollt, wenn wir ihn empfangen. Traditionsgemäß ist nur die Familie des Mädchens anwesend, wenn ein junger Mann seinen ersten Anstandsbe-
such macht. Das macht ihm die Sache etwas leichter, wisst Ihr.« »Ich weiß, ich weiß. Aber da Ephron nun tot ist und Kyle auf See, dachte ich, Ihr könntet mich als einen alten Freund vorstellen, der sozusagen… als eine Art Beschützer auftritt, solange die Männer Eurer Familie abwesend sind…« Davad verstummte, als er den Ausdruck auf Ronicas Gesicht sah. Sie antwortete leise und beherrscht. »Davad, Ihr wisst sehr genau, dass ich niemals einen Mann als Beschützer gebraucht habe. Als die Mädchen noch klein waren und Ephron auf See, habe ich niemals seine Freunde bitten müssen, für ihn Geschäfte zu tätigen oder mit unerfreulichen Realitäten fertig zu werden, solange er unterwegs war. Ich habe es selbst geschafft. Ganz Bingtown weiß das. Das bin ich. Und da ich jetzt wirklich allein bin, soll ich plötzlich bibbern und in Ohnmacht fallen und mich hinter Euch verstecken? Niemals. Reyn Khuprus kommt heute, um die Familie des Mädchens kennen zu lernen, das er heiraten will. Er wird uns so kennen lernen, wie wir wirklich sind.« Als Ronica innehielt, um nach diesem Angriff Luft zu schöpfen, ergriff Davad hastig seine Chance. »Es geht um mich. Ich meine, um meinen Vorteil. Ich will ehrlich zu Euch sein. Für Euch springt dabei nichts heraus, das gebe ich offen zu. Im Gegenteil, es könnte Euch sogar in eine peinliche Situation bringen, wenn ich hier bin. Nicht nur Sa allein weiß, dass mich viele Familien in Bingtown nicht mehr empfangen. Und mir ist sehr wohl bewusst, dass ich gesellschaftlich geächtet bin. Zuerst nur deshalb, weil ich unfähig war. Ich war niemals gut in solchen Sachen, sondern nur Dorill. Sie hat sich immer darum gekümmert. Nach ihrem Tod haben mich viele Menschen in Bingtown trotzdem noch freundlich behandelt, vermutlich im Andenken an sie. Aber Jahr für Jahr ist die Zahl der Händler, die mich als Freund begrüßten, geschmolzen. Wahrscheinlich habe ich sie unbeabsichtigt beleidigt. Und mittlerweile seid Ihr
die einzige Bingtown-Händlerin, die ich noch ›Freundin‹ zu nennen wage.« Er hielt inne und seufzte schwer. »Ich bin isoliert und kann mich an niemanden sonst wenden. Ich weiß, dass ich meine Allianzen neu aufbauen muss. Wenn ich jetzt irgendeinen Handel mit den Regenwild-Händlern bewerkstelligen könnte, dann würde mir das vielleicht gelingen. Ich weiß, dass viele Menschen in Bingtown mein Verhalten nicht schätzen. Sie sagen, ich würde vor den Neuen Händlern kriechen, und erklären, dass meine Versuche im Sklavenhandel ehrlos wären und dass ich die Bingtown-Händler hintergangen hätte, weil ich für die Neuen Händler verhandelte. Aber Ihr wisst, dass ich das nur mache, um zu überleben. Was bleibt mir denn sonst noch? Seht mich doch an! Ich habe nichts, nur meinen eigenen Verstand, auf den ich mich stützen muss. Ich habe keine Frau, die mich tröstet, keine Kinder, die meinen Besitz erben. Ich versuche nur, genug Besitz und Einkommen zu erhalten, dass ich einigermaßen anständig durch mein Alter komme. Danach ist sowieso alles zu Ende.« Er machte eine dramatische Pause. »Meine Blutlinie endet mit mir.« Ronica hatte während seines Lamentos die Augen halb geschlossen. Als Davad seufzte, öffnete sie sie wieder. »Davad«, sagte sie warnend. »Ihr solltet Euch schämen, solche Tricks bei mir zu versuchen. Ich werde Euch nicht bemitleiden, genauso wenig wie ich mich selbst bemitleidet habe. Die Gruben, in denen wir stecken, haben wir uns selbst gegraben. Ihr kennt die Wurzeln für Eure Probleme, Ihr habt sie sozusagen selbst aufgezählt. Wenn Ihr den Respekt der Bingtown-Händler wiedergewinnen wollt, dann hört auf, Euch für die Neuen Händler einzusetzen. Hört auf damit, mit Menschen zu handeln. Werdet wieder der, der Ihr wart, und Eure alten Freunde werden Euch wieder aufnehmen. Zwar nicht sofort, denn Ihr seid zu vielen zu fest auf die Zehen getreten. Aber nach und nach. Ihr seid ein Alter Händler. Sobald Euch das wieder einfällt, werden sich
Eure Landsleute ebenfalls daran erinnern.« »Und in der Zwischenzeit soll ich vornehm verhungern?«, begehrte Davad auf. Und als wollte er diesem Schicksal vorbeugen, biss er ein großes Stück von dem Gewürzkeks in seiner Hand ab. »Ihr werdet schon nicht verhungern«, meinte Ronica unerbittlich. »Wie Ihr schon sagtet, müsst Ihr nur für Euch selbst sorgen. Ihr könntet von Euren Besitzungen leben, wenn Ihr Euch ein wenig zur Sparsamkeit entschließt, ohne noch einmal im Leben ein weiteres Geschäft zu tätigen. Ich würde sagen, wenn Ihr Eure Diener reduziert, könntet Ihr das Meiste, was Ihr braucht, aus Eurem Gemüsegarten holen, von ein paar Hühnern und einigen Kühen. Ihr könntet wieder zur Einfachheit zurückfinden, wie Keffria und ich das gezwungenermaßen tun mussten. Und was Eure Einsamkeit angeht… soweit ich weiß, habt Ihr eine Großnichte. Sprecht mit ihr, wenn Ihr einen Erben wollt. Dieser Zweig Eurer Familie könnte eine Menge besser machen.« »Ach, sie hasst mich.« Davad wischte diesen Vorschlag mit den Kekskrümeln auf seinem Schoß beiseite. »Es war eine beiläufige Bemerkung, die ich ihrem Ehemann gegenüber geäußert habe, als er ihr den Hof machte. Sie behandelt mich, als ob ich die Pest hätte. Das ist nicht mehr zu reparieren.« Er trank seinen Kaffee. »Außerdem, wieso kritisiert Ihr mich wegen meiner Versuche im Sklavenhandel? Sind nicht Kyle und die Viviace genauso dabei? Bei einer Runde Sklavenhandel?« Als er Ronicas finstere Miene sah, änderte er sofort seine Taktik. »Bitte, Ronica, ich werde nicht bleiben. Erlaubt mir einfach nur, hier zu sein, wenn er ankommt, und stellt mich als einen Freund der Familie vor. Um mehr bitte ich Euch nicht. Helft mir nur, eine flüchtige Begegnung zu erreichen. Den Rest erledige ich selbst.« Er sah sie flehentlich an. Das parfümierte Öl auf seinem Haar hatte einen glänzenden Rand auf seiner Stirn hinterlassen. Er
sah einfach jämmerlich aus. Er war ein alter Freund der Familie und handelte mit Sklaven. Dorill und er hatten, eine Woche nachdem sie mit Ephron vor den Altar getreten war, geheiratet. Sie hatten auf den Hochzeiten der anderen getanzt. Und er würde mit absoluter Sicherheit irgendetwas höchst Peinliches zu Reyn sagen. Ronica war offensichtlich seine letzte Hoffnung. Wo er auftauchte, drohte eine Katastrophe. Sie sah ihn immer noch stumm an, als Keffria ins Zimmer trat. »Davad!«, rief sie und lächelte steif. Aber ihr Blick verriet ihr Entsetzen. »Was für eine Überraschung! Ich wusste gar nicht, dass Ihr hier seid.« Davad stand hastig auf und hätte beinahe seine Kaffeetasse umgeworfen. Er stürmte auf Keffria zu, ergriff ihre Hand und lächelte strahlend. »Ich weiß, dass es nicht ganz korrekt ist, aber ich konnte einfach nicht widerstehen. Da Kyle nicht da ist, dachte ich, es wäre nur angebracht, wenn ein Mann in Eurem Haus ist, der sich diesen Jungen ansieht, der Eurer Malta den Hof machen will!« »Tatsächlich«, erwiderte Keffria schwach und warf ihrer Mutter einen anklagenden Blick zu. »Ich habe Davad gesagt, dass es vollkommen unangebracht ist«, meinte Ronica ruhig. »Wir können später, wenn die beiden jungen Leute an ihrem Werben festhalten wollen, eine Teegesellschaft geben, zu der wir auch Freunde der Familie einladen. Das wäre ein angemessener Zeitpunkt, Reyn und seine Familie kennen zu lernen.« »Ich denke auch«, erwiderte Davad schwergewichtig. »Wenn das das Beste ist, was Ihr Eurem ältesten und treuesten Freund anbieten könnt, Ronica Vestrit, dann komme ich wieder, wenn ich eingeladen werde.« »Dafür ist es zu spät«, meinte Keffria tonlos. »Deshalb habe ich dich gesucht, Mutter. Reyn und seine Familie sind bereits hier.«
Ronica stand hastig auf. »Seine Familie! Hier?« »Im Frühstückssalon. Ich weiß, ich habe sie auch nicht erwartet. Ich erwartete Reyn erst am späten Nachmittag. Offenbar hatten sie günstigen Wind. Trotzdem, Jani Khuprus ist bei ihm und ein älterer Bruder… Bendir. Und draußen warten eine ganze Reihe von Dienern mit Geschenkkörben und… Mutter, ich brauche deine Hilfe. Wie sollen wir mit so wenig Dienern…?« »Ganz einfach«, mischte sich Davad ein. Plötzlich veränderte sich sein Verhalten: Vom Bittsteller wurde er zum Kommandeur. »Ihr habt immer noch einen Burschen, der sich um den Garten und die Stallungen kümmert. Schickt ihn zu mir. Ich schreibe kurz eine Nachricht, die er zu meinem Haus bringt, und im Nu werden meine Dienstboten hier sein. Natürlich ganz diskret. Ich werde ihnen genauestens einschärfen, sich so zu benehmen, als wären sie Eure Diener und als wäre das hier ihr gewohnter…« »Und wenn dann die Gerüchte durch Bingtown kursieren, was nicht ausbleibt, wenn Diener beteiligt sind, dann werden wir zum Gespött der Leute. Nein, Davad.« Jetzt seufzte Ronica. »Wir werden Euer Angebot annehmen, weil wir es müssen. Aber wenn wir uns schon Dienstboten ausborgen müssen, dann werde ich das auch ohne zu zögern zugeben. Und Eure Freundlichkeit in dieser Angelegenheit sollte nicht wegen unseres Stolzes verborgen bleiben.« Dann fiel ihr ein, dass ihre Tochter vielleicht anderer Meinung sein könnte. Ronica drehte sich zu Keffria um. »Stimmst du mir da zu?«, fragte sie. Keffria schüttelte hilflos den Kopf. »Mir bleibt wohl nichts anderes übrig. Malta wird das überhaupt nicht gefallen«, murmelte sie. »Dann sollte sie einfach ihren hübschen kleinen Kopf damit nicht belasten.« Davad strahlte. Ronica hätte ihm am liebsten einen Prügel über den Schädel gezogen. »Ich bin sicher«, fuhr er fort, »dass sie viel zu sehr an ihrem Verehrer interessiert ist, um einen alten Freund der Familie zu beachten. Also, wo ist
das Papier, Ronica? Ich schreibe eine kurze Notiz, damit Ihr Euren Burschen damit losschicken könnt.« Trotz Ronicas Bedenken wurde alles schnell und zügig erledigt. Keffria ging zu den Gästen zurück und versicherte ihnen, dass ihre Mutter bald erscheinen würde. Die Nachricht wurde losgeschickt. Davad bestand darauf, noch einen letzten Blick in den Spiegel zu werfen. Ronica wusste nicht, ob sie aus Mitleid für ihn oder sich selbst handelte, aber sie überzeugte ihn, das Öl aus Haar und Stirn zu wischen und es etwas würdevoller zu kämmen. Dass seine Hose sich an den Knien ausbeulte, war nicht mehr zu ändern. Davad gestand ihr, dass das bei allen seinen Hosen der Fall war. Sein Gehrock dagegen wäre neu und sein Schnitt ausgesprochen modern. Ronica verkniff sich die Bemerkung, dass es einen Unterschied zwischen modern und kleidsam gab. Mit einem unguten Gefühl betrat sie schließlich an Davads Arm das Frühstückszimmer. Sie hatte schon gehört, dass die Werbung eines RegenwildMannes längst nicht so zurückhaltend war wie die eines jungen Mannes aus Bingtown. Bevor Keffria zugestimmt hatte, dass Reyn um ihre Tochter warb, hatte sie sich versprechen lassen, dass der junge Mann ihr keine teuren Geschenke machen würde, die dem jungen Mädchen den Kopf verdrehen könnten. Ronica war darauf vorbereitet gewesen, dass er Malta einen Blumenstrauß und vielleicht einige Süßigkeiten schenken würde. Sie hatte erwartet, einem schüchternen jungen Mann zu begegnen, der vielleicht von seinem Onkel oder einem Lehrer begleitet wurde. Das Frühstückszimmer war nicht mehr wiederzuerkennen. Die einfachen Frühlingsblumen, die sie und Keffria aus dem Garten geholt hatten, waren schlicht nicht mehr zu sehen. Körbe, Schüsseln und Vasen mit exotischen Regenwild-Blumen standen überall im Zimmer herum. Der schwere Blumenduft stieg einem sofort zu Kopf. Platten und Schüsseln mit Früchten und Weinflaschen und Tabletts mit Naschwerk waren auf dem
Tisch aufgebaut. Bunte Singvögel zwitscherten in einem Messingkäfig, der in einem künstlichen Baum aus Bronze und Holz hing. Eine kleine gefleckte Jagdkatze, die kaum größer war als ein Kätzchen, hockte erwartungsvoll vor dem Käfig. Diener, verschleiert und unverschleiert, bewegten sich lautlos und geschäftig in dem Zimmer umher und vervollständigten dessen Metamorphose. Als Ronica eintrat spielte ein junger Mann, dessen verschleiertes Gesicht ihn als Regenwild-Händler auswies, eine einfache Melodie auf einer Schoßharfe. Wie von der Musik getragen, stand Jani Khuprus auf und begrüßte sie. Ihr Gesichtsschleier aus weißer Spitze war mit Perlen besetzt. Und die weite Kapuze, die ihr Haar bedeckte, war mit geflochtenen Seidenquasten in allen Blautönen verziert. Sie trug eine Bluse, die mit außergewöhnlich vielen Bändern geschmückt war, und eine weite Hose, die an den Knöcheln von noch mehr Bändern gehalten wurde. Kunstvolle Stickerei verdeckte beinahe den Futterstoff aus weißem Leinen. Ronica hatte noch nie eine Frau in einer solchen Kleidung gesehen, aber sie wusste sofort, dass es bald der neue Stil in Bingtown werden würde. Als Jani sie in dem verwandelten Raum begrüßte, hatte Ronica das Gefühl, sie wäre wie mit Zauberei in die Regenwildnis transportiert worden und zu Gast in Janis Heim. Jani lächelte sie herzlich an, und nur ein kurzer, stutzender Blick verriet ihre Neugier über Davads Erscheinen. »Ich bin so froh, dass Ihr gekommen seid und uns Gesellschaft leistet«, begrüßte Jani sie. Mit einer beunruhigenden Vertrautheit nahm sie Ronicas Hände in ihre und beugte sich vertraulich näher. »Ihr müsst sehr stolz auf Eure Tochter Keffria sein. Sie hat uns so herzlich und vornehm willkommen geheißen! Sie macht ihren Erziehern alle Ehre. Und erst Malta! Ach, ich kann verstehen, warum sich mein Sohn so schnell und heftig in sie verliebt hat. Sie ist noch jung, wie Ihr mich ja schon gewarnt habt, aber sie ist bereits wie eine offene Blüte. Jeder junge Mann würde solchen Augen verfallen. Kein Wunder, dass er sich so
viel Mühe gemacht hat, die richtigen Geschenke für sie zu suchen. Ich muss zugeben, dass die Blumen ein bisschen überwältigend wirken, wenn es so viele sind, aber Ihr vergebt doch sicher dem Ungestüm eines jungen Mannes?« »Vor allem, wenn es zu spät ist, etwas anderes zu tun!«, erwiderte Davad, während Ronica noch nach einer angemessenen Antwort suchte. Er trat vor und legte seine Hand auf die von Jani und Ronica. »Willkommen im Haus der Vestrits. Ich bin Davad Restate, ein langjähriger Freund der Familie. Wir sind so entzückt, Euch hier zu haben, und höchst geehrt von Reyns Werbung um unsere Malta. Sehen sie nicht wirklich reizend zusammen aus?« Seine Worte unterschieden sich so vollkommen von dem, was Ronica hatte sagen wollen, dass sie beinahe die Beherrschung verlor. Janis Blick glitt von Davads Gesicht zu dem von Ronica, bevor sie vorsichtig, aber unmissverständlich ihre Hand aus seinem Griff befreite. »Ich erinnere mich sehr gut an Euch, Händler Restate.« Der Ton ihrer Stimme war kühl. Offenbar war ihre Erinnerung nicht die beste. Aber diese Subtilität ging an Davad vorüber. »Ich bin so erfreut und geehrt, dass Ihr das tut«, rief er freundlich aus. Er strahlte Jani Khuprus an und glaubte ganz offensichtlich, dass alles gut lief. Ronica wusste, dass sie etwas sagen musste, aber sie konnte um alles in der Welt keine bedeutungsvollen Worte finden. Schließlich nahm sie Zuflucht zu Banalitäten. »Was für entzückende Blumen. Nur die Regenwildnis bringt solch außergewöhnliche Farben und Düfte hervor.« Jani bewegte sich, nur ein kleines bisschen, aber es genügte, um sich Ronica gegenüberzustellen und Davad die Schulter zu zeigen und ihn auszuschließen. »Ich bin froh, dass sie Euch gefallen. Ich hatte schon befürchtet, Ihr würdet mich tadeln, weil ich es zuließ, dass Reyn sich gehen ließ und so viele mitbrachte. Immerhin hatten wir verabredet, die Geschenke ein-
fach zu halten.« Tatsächlich hatte Ronica das Gefühl, dass Jani die Grenzen ihrer Vereinbarung überschritten hatte. Doch bevor sie eine taktvolle Antwort formulieren konnte, um sie wissen zu lassen, dass Reyn dies nicht mehr tun sollte, mischte sich Davad erneut ein. »Einfach? Welchen Platz hat schon Einfachheit in der Leidenschaft eines jungen Mannes? Wäre ich ein Junge und würde um ein Mädchen wie Malta werben, würde ich ebenfalls versuchen, sie mit Geschenken zu überhäufen.« Ronica fand schließlich ihre Sprache wieder. »Aber ich bin sicher, dass ein junger Mann wie Reyn um seiner selbst willen geschätzt werden will, nicht wegen seiner Geschenke. Solch ein Prunk ist vielleicht bei einer ersten Präsentation angebracht, aber ich bin sicher, dass seine weitere Werbung etwas zurückhaltender sein wird.« Sie adressierte diese Worte eher an Davad als an Jani und hoffte, dass sie vermied, die RegenwildHändlerin vor den Kopf zu stoßen, während sie gleichzeitig ihre Position klarmachte. »Unsinn!« Davad ließ nicht locker. »Seht sie doch an! Sieht sie aus, als wünschte sie, dass er sich zurückhält?« Malta thronte praktisch in einem Blumenmeer. Sie saß auf einem Armstuhl und hatte einen großen Strauß auf dem Schoß. Töpfe, Vasen und Pflanzen waren um sie herum aufgebaut. Eine einzelne rote Rose war an der Schulter ihres sittsamen weißen Kleides befestigt und eine andere in ihrem aufgesteckten Haar. Sie ergänzten ihren warmen Teint und ließen ihr schwarzes Haar noch strahlender glänzen. Sie hatte den Blick niedergeschlagen, während sie leise mit dem jungen Mann redete, der so aufmerksam neben ihr stand. Doch ab und zu warf sie ihm einen Blick unter ihren gesenkten Wimpern zu. Und dabei lächelte sie kaum merklich, wie eine Katze. Reyn Khuprus war ganz in Blau gekleidet, und ein azurblauer Mantel lag achtlos auf einem Stuhl neben ihm. Sein traditionelles Regenwildnis-Gewand, eine weite Hose und ein langärme-
liges Hemd, verbarg für einen zufälligen Blick sehr geschickt alle möglichen Deformationen. Er hatte eine sehr schlanke Taille, die er stolz mit einer Seidenschärpe betonte, die einen anderen Farbton hatte als seine restliche Kleidung. Und aus den weiten Säumen seiner Hose lugten schwarze Stiefel hervor. Seine Handschuhe waren mit blauen Flammenjuwelen gespickt, eine atemberaubend beiläufige Zurschaustellung von Reichtum. Er trug eine einfache Kapuze aus derselben Seide, aus der auch seine Schärpe bestand. Sein Schleier war schwarz und verbarg so höchst wirkungsvoll seine Gesichtszüge. Doch obwohl sein Gesicht nicht zu sehen war, konnte man aus der Neigung seines Kopfes schließen, dass er gebannt zuhörte. »Malta ist noch sehr jung«, sagte Ronica und sprach rasch weiter, bevor jemand noch mehr zu der Situation sagen konnte. »Sie verfügt noch nicht über die Weisheit zu wissen, wann man langsam vorgehen muss. Es obliegt ihrer Mutter und mir, ihr diese Klugheit beizubringen. Jani und ich sind übereingekommen, dass wir diesen jungen Menschen zu ihrem eigenen Besten nicht erlauben werden, zu impulsiv vorzugehen.« »Ich verstehe nicht, warum«, widersprach Davad ihr jovial. »Was könnte aus dem hier anderes entspringen als etwas Gutes? Malta muss schließlich irgendwann heiraten. Warum sollte man dieser zarten Romanze Steine in den Weg legen? Denkt nur, was hieraus alles entstehen kann: Enkelkinder für Jani, Urenkelkinder für Euch, Ronica. Und zweifellos gegenseitige, höchst vorteilhafte Geschäftsbeziehungen.« Es peinigte Ronica geradezu, mit anhören zu müssen, wie schwerfällig Davad das Gespräch in die Richtung drängte, in der er es haben wollte. Im Laufe der Zeit hatte sie den Mann viel zu gut kennen gelernt. Deswegen war er eigentlich hier. Er war ein alter Freund der Familie; und Malta – und was aus ihr wurde – lag ihm wirklich am Herzen. Aber den Bärenanteil seines Herzens hatte er schon vor langer Zeit dem Handel und den daraus resultierenden Gewinnen verschrieben. Ob gut oder
schlecht, so arbeitete Davads Gehirn. Er zögerte niemals, seine Freundschaften zum Nutzen seiner Geschäftsverbindungen einzusetzen. All das schoss Ronica in einem einzigen Augenblick durch den Kopf. Sie sah Davad, wie er war und wie sie ihn immer gekannt hatte. Sie hatte niemals den Wert berechnet, einen solchen Mann zum Freund zu haben. Auch ihre unterschiedlichen Auffassungen von Politik hatten sie nicht bewegen können, ihre Freundschaft zu lösen, nicht einmal, als immer mehr Händler aufhörten, mit ihm Geschäfte zu machen. Er war kein wirklich böser Mensch. Er dachte einfach nur nicht genug darüber nach, was er tat. Wenn Gewinne winkten, dann hechelte er hinterher, ob es nun um den Sklavenhandel ging oder um die fragwürdigen Praktiken der Neuen Händler – oder selbst darum, aus Maltas unerwünschtem Verehrer einen Profit herauszuschlagen. Er wollte niemandem schaden, aber er dachte dabei auch niemals in den Kategorien von richtig oder falsch. Er konnte gefährlich sein. Jedenfalls dann, wenn er Jani Khuprus jetzt beleidigte. Der Khuprus-Clan hielt den Wechsel auf das Zauberschiff Viviace in seinen Händen. Ronica hatte Reyns Werbung um Malta nur in der Gewissheit akzeptiert, dass er schon bald bemerken würde, wie jung und unpassend sie war. Wenn Reyn eine solche Werbung begann und dann abbrach, würde ihr das einen merkwürdigen gesellschaftlichen Vorteil gewähren. Die Vestrit-Familie würde als die beleidigte Partei angesehen werden, und vom Khuprus-Clan wurde erwartet, dass er mehr als zurückhaltend in seinem Geschäftsgebaren sein würde. Aber wenn die Khuprus-Familie diese Brautwerbung abbrach, weil die Vestrit-Familie unerwünschte gesellschaftliche Verbindungen hatte, würde sich das Verhalten der anderen Händlerfamilien ihnen gegenüber ebenfalls grundlegend ändern. Ronica hatte schon genügend sozialen Druck wegen ihrer Beziehung zu Davad Restate erfahren. Sie würden in einen finanziellen Sumpf geraten, wenn sich dieser Druck auf
die Handelsbeziehungen ausdehnte. Das Klügste wäre, Davad Restate einfach fallen zu lassen. Aber das verbot die Loyalität. Und der Stolz. Wenn die Vestrit-Familie sich von dem leiten ließ, was andere für korrekt hielten, dann würden sie sämtliche Kontrolle über ihr Schicksal verlieren. Nicht, dass sie noch viel Kontrolle hatten. Das Schweigen wurde allmählich unbehaglich. Ronica fühlte Resignation, gepaart mit Entsetzen. Was würde Davad als nächstes Schreckliches sagen? Er merkte einfach nicht, wie tölpelhaft er sich benahm. Mit einem strahlenden Lächeln begann er: »Wo wir gerade von Handelsbeziehungen sprechen…« Die Rettung kam aus einer gänzlich unerwarteten Ecke. Keffria trat zu ihnen. Das leichte Schimmern von Schweiß auf der Stirn war das einzige Anzeichen dafür, wie sehr es sie aufregte, mit ansehen zu müssen, wie Davad Restate so lange so dicht bei Jani Khuprus stand. Sie berührte ihn sacht am Arm und bat ihn ruhig, ihr einen Moment in der Küche zu helfen. Die Dienerschaft hätte Schwierigkeiten, einige Flaschen alten Weines zu öffnen, den sie ausgesucht hatte. Vielleicht könnte er ja diese Aufgabe überwachen. Keffria hatte das sehr gut überlegt. Wein und wie man ihn richtig servierte, war eine von Davads Lieblingsbesessenheiten. Er stürzte davon, während Keffria ihm folgte. Sie nickte, als er ihr einen gelehrten Vortrag darüber hielt, wie man eine Flasche richtig öffnete, um sie so wenig wie möglich aufzurütteln. Ronica seufzte erleichtert. »Ich wundere mich darüber, warum Ihr ihm überhaupt gestattet, hier zu sein«, bemerkte Jani leise. Nachdem Davad gegangen war, hatte sie sich neben Ronica gestellt. Sie unterhielt sich vertraulich mit ihr, über die Musik und die anderen Gespräche im Zimmer hinweg. »Neulich habe ich gehört, wie jemand ihn als den Heuchler-Händler bezeichnet hat. Er streitet es zwar ab, aber alle wissen, dass er als Vermittler für viele geschmacklose
Geschäfte der Neuen Händler arbeitet. Man munkelt sogar, dass er hinter den Neuen Händlern steht, die ein solch lächerliches Angebot für den Kauf des Paragon gemacht haben.« »Es sind wirklich erschreckend lächerliche Angebote«, stimmte Ronica leise zu. »Ich halte es schon für skandalös, dass die Ludluck-Sippe überhaupt zulässt, dass man sie ihnen präsentiert.« Sie lächelte, als sie Jani das sagte. Und um sicherzugehen, dass man ihre Andeutung auch richtig verstand, fügte sie eine alte Händlerweisheit hinzu: »Immerhin gehören zu einem Handel stets zwei.« »Allerdings«, meinte Jani kühl. »Aber ist es nicht grausam, dass Restate die Ludlucks mit solchen Angeboten in Versuchung führt? Er weiß genau, wie angespannt ihre finanzielle Situation ist.« »Die meisten Bingtown-Händler sind im Moment etwas unter Druck. Einschließlich der Vestrits. Also bilden wir Allianzen miteinander, die anderen vielleicht seltsam erscheinen mögen. Davad ist zum Beispiel heute hergekommen, um mir seine Diener anzubieten, weil er sehr genau weiß, dass wir unsere Dienerschaft bis auf das Nötigste reduziert haben.« So, endlich war es offen ausgesprochen. Wenn Reyns Werbung irrtümlicherweise auf dem angeblichen Reichtum beruhte, über den die Vestrit-Familie nicht länger verfügte, dann würde sie bald beendet sein. Doch als Jani Khuprus antwortete, musste Ronica feststellen, dass sie die Güte der anderen Frau falsch eingeschätzt hatte. »Mir sind Eure finanziellen Sorgen ebenfalls bekannt. Es freut mich, dass Reyn einer jungen Frau den Hof macht, die die Notwendigkeit begreift, mit den Mitteln auszukommen, über die man verfügt. Sparsamkeit und Disziplin sind immer Tugenden, ganz gleich, wie wohlhabend man ist. Die Diener, die wir mitgebracht haben, sollten Euch nicht beschämen, sondern nur dabei helfen, diese Zeit für alle sorgenfrei zu gestalten.« Ihre Stimme klang aufrichtig.
Wie die von Ronica, als sie jetzt antwortete: »Davad kann ein sehr schwieriger Freund sein. Ich könnte ihn auch im Stich lassen. Aber ich kann darin nichts Tugendhaftes sehen. Ich habe niemals Leute respektiert, die Sprösslinge oder Verwandte aussetzen, wenn sie unliebsam geworden sind. Ich war vielmehr immer der Meinung, dass es die Pflicht der Familie ist, immer weiter zu versuchen, zu korrigieren, ganz gleich wie schmerzhaft das auch sein mag. Warum sollte es bei alten Freunden der Familie anders sein? Vor allem, wenn wir in vielerlei Hinsicht Davads Familie geworden sind. Er hat seine Frau und seine Söhne an die Blutpest verloren, wie Ihr vielleicht wisst.« Janis Antwort brachte Ronica einen Moment aus der Fassung. »Dann habt Ihr also Althea nicht wegen ungehörigen Benehmens aus dem Haus geworfen?« Es erstaunte Ronica, dass diese Frage sie so schockierte. Munkelte man dies etwa hinter vorgehaltener Hand in Bingtown? Und war das Gerücht bis in die Regenwildnis gedrungen? Sie war froh, dass gerade in dem Augenblick ein Diener ihnen ein Tablett mit köstlichen Kuchen darbot. Hatten Keffria und sie sie wirklich erst gestern Abend gebacken? Sie nahm einen, und sofort tauchte ein anderer Diener vor ihr auf, der ihr ein Kelchglas mit Regenwild-Likör anbot. Sie nahm es dankend an und trank einen Schluck. »Das schmeckt wundervoll«, sagte sie mit aufrichtigem Genuss zu Jani. »Genauso wie der Kuchen«, erwiderte Jani. Sie sah zur Seite und betrachtete einen Moment Reyn und Malta. Was sie gerade sagte, brachte ihn offensichtlich zum Lachen. Und die Neigung von Janis Kopf deutete an, dass sie ebenfalls lächelte. Ronica überlegte, ob sie das Thema fallen lassen sollte, aber dann straffte sie sich. Gerüchte vertrieb man am besten sofort, sobald man sie hörte. Sa allein wusste, wie lange dieses schon zirkulierte. Vermutlich seit letztem Sommer. »Ich habe Althea nicht aufgefordert, das Haus zu verlassen. Sie ist sogar gegen meinen Willen gegangen. Die Aufteilung
der Erbschaft meines Mannes hatte sie bestürzt. Sie hatte erwartet, die Viviace zu erben, und war gekränkt, als dem nicht so war. Außerdem gefiel es ihr nicht, wie Kyle das Schiff führte. Sie hatten Streit, und sie ging.« Es fiel Ronica schwer, aber sie sah offen in Janis Schleier und fuhr fort: »Ich weiß weder, wo sie ist, noch, was sie tut. Und wenn sie jetzt zur Tür hereinkäme, würde ich sie aus ganzem Herzen willkommen heißen.« Jani schien ihren Blick zu erwidern. »Es war vielleicht eine etwas peinliche Frage. Aber ich drücke mich immer direkt aus. Ich will damit niemanden beleidigen. Ich habe es immer so erlebt, dass ein ehrliches Wort stets den geringsten Raum für Missverständnisse lässt.« »Das sehe ich genauso.« Ronicas Blick folgte Janis, als sie sich wieder zu Reyn und Malta umdrehte. Malta hatte ihren Kopf gesenkt und blickte zur Seite. Ihre Wangen waren gerötet, aber ihr Blick war fröhlich. Reyn hatte den Kopf geneigt und teilte ihre Belustigung, als er versuchte, in ihr abgewandtes Gesicht zu blicken. »In einer Familie gibt es keinen Raum für Geheimnisse«, fügte Jani hinzu. Es war wundervoll, viel schöner, als Malta sich jemals hätte träumen lassen. So war es also, wenn man angemessen behandelt wurde. Ihre Seele hatte sich ihr ganzes Leben danach verzehrt, und jetzt war sie endlich in der Lage, sich an diesen wunderschönen Gefühlen zu laben. Überall um sie herum dufteten Blumen, es gab alles Mögliche zu essen und die schönsten Getränke, die sie sich vorstellen konnte, und Reyn selbst hätte nicht aufmerksamer sein können. Nichts hätte den Tag noch verschönern können, außer vielleicht, wenn einige ihrer Freundinnen hier gewesen wären, die sicher vor Neid beinahe geplatzt wären. Malta malte sich diese Szene aus. Delo und Kitten, Carissa und Polia würden hier drüben sitzen, und wenn man Malta ein Tablett mit Essen oder Getränken anbot, würde sie etwas davon nehmen und den Rest zu ihren Freundinnen
schicken. Später würde sie sich herzlich dafür entschuldigen, dass sie so wenig Zeit für sie gehabt hätte. Was für eine Schande, dass Reyn darauf bestanden hatte, ihre Zeit vollkommen in Beschlag zu nehmen! Aber, tja, sie wussten ja, wie die Männer waren. Sie würde sie wissend anlächeln. Und dann würde sie die Komplimente wiederholen, die auf sie herabgeregnet waren, oder einige seiner geistreichen Bemerkungen zum Besten geben… »Darf ich fragen, womit ich Euch so zum Lachen gebracht habe?«, fragte Reyn zärtlich. Er stand in respektvollem und dennoch aufmerksamem Abstand neben ihrem Stuhl. Und er hatte sich nicht gesetzt, obwohl sie ihn aufgefordert hatte. Sie sah zu seinem verschleierten Gesicht hinauf. Ihr hübscher Tagtraum bekam einen Wermutstropfen. Wer wusste schon, was für ein Gesicht hinter diesem Schleier lächelte? In ihrem Bauch kribbelte es. Sie ließ sich jedoch von ihrem Unbehagen nichts anmerken. Stattdessen antwortete sie freundlich: »Ich habe daran gedacht, wie lustig es sein müsste, wenn einige meiner Freundinnen hier wären, um das mitzuerleben.« Sie deutete auf den festlich geschmückten Raum. »Und ich dachte gerade das Gegenteil«, antwortete er. Er hatte eine sehr angenehme Stimme. Sie war kultiviert und klang sehr männlich. Sein Schleier bewegte sich leicht mit seinen Atemzügen. »Das Gegenteil?«, fragte sie laut und sah ihn fragend an. Er rührte sich nicht, senkte jedoch die Stimme und erzeugte damit etwas mehr Intimität. »Ich dachte gerade, wie angenehm es wäre, wenn Ihr mir genug vertrautet, dass wir uns in privaterem Rahmen treffen könnten.« Sie konnte sich nur nach seiner Haltung und seiner Stimme richten. Weder an einer hochgezogenen Braue noch an einem schüchternen Lächeln konnte sie sich orientieren. Sie hatte schon oft mit Männern gesprochen, ja sogar geflirtet, wenn ihre Mutter und ihre Großmutter nicht dabei gewesen waren, aber
noch kein Mann hatte so offen mit ihr gesprochen. Es war sowohl berauschend als auch gefährlich. Wenn sie zögerte, wusste sie, dass er ihr Gesicht betrachtete. Sie konnte trotz großer Bemühungen nicht alle Gefühle daraus verbannen. Wie sollte sie flirten und lächeln, wenn sie nicht einmal wusste, ob ein Mann oder eine entstellte Missgeburt auf ihr Lächeln antwortete? Dieser Gedanke unterlegte ihre Worte mit einem etwas kühleren Unterton. »Wir müssen sicher erst entscheiden, ob diese Werbung überhaupt beginnt. Geht es nicht darum bei dem ersten Treffen? Ob wir überhaupt zueinander passen?« Er lachte amüsiert auf. »Mistress Malta, diesen Sport sollten wir unseren Müttern überlassen. Es ist ihr Spiel. Seht doch, wie sie sich selbst jetzt wie Ringer umkreisen, eine Eröffnung abwarten, ein Anzeichen für ein winziges Ungleichgewicht im anderen abschätzen! Sie werden den Handel tätigen, der uns verbindet, und ich zweifle nicht daran, dass beide Familien in jeder Hinsicht davon profitieren.« Er deutete unmerklich mit dem Kopf auf Jani Khuprus und Ronica Vestrit. Ihre Mienen waren zurückhaltend und freundlich, aber ihre Haltung verriet, dass sie einen verbalen Kampf ausfochten. »Das ist meine Großmutter, nicht meine Mutter«, meinte Malta. »Und ich verstehe auch nicht, wieso Ihr von diesem Treffen als einem Spiel sprecht. Das ist doch sicher ein ernsthafter Moment. Jedenfalls für mich. Findet Ihr das trivial?« »Ich würde niemals einen Augenblick trivial finden, den ich in Eurer Gegenwart verbringe. Das kann ich Euch versichern.« Er hielt inne und ließ dann seine Worte nur so hervorsprudeln. »Von dem Moment an, als Ihr die Traumdose geöffnet habt und wir gemeinsam durch Eure Phantasien gewandelt sind, wusste ich, dass mich nichts davon abhalten würde, um Euch zu werben. Eure Familie versuchte, meine Hoffnungen mit der Bemerkung zu ersticken, dass Ihr mehr ein Kind als eine Frau wärt. Das fand ich lächerlich. Das ist das Spiel, von dem ich
gesprochen habe, ein Spiel, das alle Familien spielen, wenn ihre Sprösslinge heiraten wollen. Hindernisse werden aufgebaut, nur um sie wieder verschwinden zu lassen, wenn die Balance mit ausreichend Geschenken und Handelsvorteilen wiederhergestellt ist… Aber diese Gespräche sind zu unverblümt für uns. Darin geht es um Geldbörsen, nicht um Herzen. Und sie verschweigen vor allem meinen Hunger nach Euch.« Seine Worte sprudelten offen heraus. »Malta, ich sehne mich nach Euch. Ich möchte Euch besitzen, alle Geheimnisse meines Herzens mit Euch teilen. Je eher meine Mutter allen Forderungen Eurer Familie nachkommt, desto besser. Sagt Eurer Großmutter, dass sie alles verlangen kann, was sie will, und dass ich dafür sorgen werde, dass die Vestrits es bekommen, solange ich Euch nur bald in meinen Armen halte.« Malta wich zurück und schnappte nach Luft. Ihr Schock war nicht vorgetäuscht, aber Reyn missdeutete die Ursache. Er trat von ihr zurück und senkte ernst den Kopf. »Vergebt mir, ich bitte Euch.« Seine Stimme klang heiser. »Ich bin mit einer Zunge geschlagen, die meine Herzenswünsche äußert, bevor mein Kopf sich einschalten kann. Wie grob ich Euch vorkommen muss, wie ein Tier, das nach Euch hechelt! Ich schwöre Euch, dem ist nicht so. Seit ich Euch an diesem Abend vor der Halle der Händler gesehen habe, weiß ich, dass ich nicht nur einen Verstand, sondern auch eine Seele habe. Davor war ich kaum mehr als ein intelligentes Werkzeug, das meiner Familie so gut diente, wie es konnte, um ihren Wohlstand zu mehren. Wenn meine Brüder und Schwestern von Leidenschaft und Anziehung sprachen, wusste ich nicht, was sie meinten.« Er holte Luft und lachte. »Wenn Ihr auch nur etwas vom Regenwild-Volk wisst, dann ist Euch sicher klar, dass wir normalerweise unsere Herzliebsten finden, wenn wir jung sind, und kurz danach heiraten. Nach den Maßstäben meines Volkes war ich immer schon ein merkwürdiger Kerl. Einige sagten, ich wäre von meiner Arbeit verzaubert worden und würde niemals wah-
re Liebe zu einem Menschen empfinden können.« Erneut schnaubte er verächtlich. Reyn schüttelte den Kopf und fuhr dann fort: »Einige munkelten, ich wäre ein Eunuch, unfähig, männliche Leidenschaften zu empfinden. Ihre Worte störten mich nicht weiter. Ich wusste, dass ich ein Herz besaß, aber es schlief tief in mir, und ich sah keine Notwendigkeit, es zu wecken. In den Runen, die ich aufspürte und entzifferte, in den merkwürdigen Mechanismen, die ich enttarnte, dachte ich, fände ich genug, um meine Gedanken zu beschäftigen. Ich war verärgert, als meine Mutter mich bat, sie nach Bingtown zu dieser Versammlung zu begleiten. Verärgert! Doch all das war wie weggeblasen, als ich es wagte, mit Euch zu sprechen. Wie Jidzin, das durch eine Berührung aufleuchtet, hat Eure Stimme die Sehnsucht in meinem Herzen erweckt. Wilde, jungenhafte Hoffnung hat mich dazu gebracht, Euch diese Traumdose zu senden. Ich war sicher, dass Ihr sie nicht öffnen würdet, sicher, dass jemand wie Ihr meinen Traum beenden würde, bevor ich ihn Euch überhaupt unterbreiten konnte. Aber das habt Ihr nicht getan. Ihr habt meine Seele geöffnet und mit mir eine Vision von einer solchen Verzauberung geteilt… Ihr seid durch meine Stadt gewandert, und Eure Gegenwart hat sie zum Leben erweckt! Ich habe immer geglaubt, dass diese kalte und stille Stadt mein Herz wäre. Vielleicht könnt Ihr jetzt erraten, was Ihr mir bedeutet.« Malta hörte seinen leidenschaftlichen Worten nur unaufmerksam zu. Ihre Gedanken und ihr Herz waren voll von dem, was er vorher gesagt hatte. Alles, was sie wollte, und er würde dafür sorgen, dass seine Familie einwilligte. Alles! Ihre Gedanken kreisten ausschließlich darum. Sie durfte nicht so viel verlangen, dass sie gierig wirkte. Das würde ihn vielleicht dazu bringen, seine Leidenschaft für sie zu überdenken. Hm. Aber sie durfte auch nicht so wenig verlangen, dass sie närrisch wirkte oder von seiner Familie unterbewertet wurde. Nein. Sie
musste ein bestimmtes Niveau einhalten, über das sie genauestens nachdenken musste. Instinktiv sehnte sie sich nach dem, der ihr der Klügste im Handeln schien. Ach, wenn ihr Vater doch da wäre! Er würde schon dafür sorgen, dass sie Reyns Leidenschaft zu ihrem größten Vorteil nutzte. Im selben Moment begriff sie, was sie zu tun hatte: Sie musste die Verhandlungen hinauszögern, bis ihr Vater zurückkehrte. »Ihr schweigt«, bemerkte Reyn ernüchtert. »Ich habe Euch beleidigt.« Sie musste ihren Vorteil nutzen. Er musste glauben, dass seine Lage zwar unsicher war, aber nicht hoffnungslos. Sie gab sich Mühe, verzagt zu lächeln. »Ich bin nicht daran gewöhnt… Das heißt, niemand hat jemals von solchen Dingen zu mir gesprochen…« Sie ließ ihre Stimme zweifelnd verstummen und holte Luft, als müsse sie sich fassen. »Mein Herz hämmert so… Manchmal, wenn ich Angst habe, werde ich ziemlich… Könntet Ihr mir vielleicht ein Glas Wein bringen?« Sie hob die Hände und klopfte sich leicht auf die Wangen, als wollte sie sich wieder fassen. Konnte sie ihm nach ihrem gemeinsamen Traum noch weismachen, dass ihr Gemüt so zerbrechlich war, dass seine offenen Worte sie bestürzt hatten? Es klappte. Seine Haltung verriet unterdrückte Panik, als er sich hastig von ihr wegdrehte. Er ergriff ein Weinglas von der Anrichte und schenkte so schnell ein, dass der Wein über den Rand zu schwappen drohte. Als er es ihr brachte, fuhr sie leicht zurück, als fürchte sie sich, es ihm aus der Hand zu nehmen. Er gab einen entsetzten Laut von sich, und sie zwang sich zu einem bebenden Lächeln. Sie tat, als müsse sie sich wappnen, bevor sie ihm das Glas aus der Hand nahm. Dann hob sie es an die Lippen und trank. Es war ein ausgezeichneter Jahrgang. Sie senkte das Glas und seufzte leise. »Das ist besser. Vielen Dank.« »Wie könnt Ihr mir danken, wo ich es doch bin, der Euch in diese Lage gebracht hat?«
Erstaunt sah sie ihn an. »Ach, ich bin sicher, dass es mein Fehler ist«, sagte sie verschlagen. »Ich muss Euch ziemlich närrisch vorkommen, wenn ich schon bei bloßen Worten zu zittern anfange. Meine Mutter hat mich davor gewarnt, dass das Frausein viele Seiten hat, von denen ich nichts weiß. Ich vermute, dass dies ein Teil davon ist.« Sie deutete unbestimmt durch das Zimmer. »Wie Ihr seht, führen wir hier ein ruhiges Leben. Ich vermute, ich habe behüteter gelebt, als ich gedacht habe. Natürlich verstehe ich sehr gut das Bedürfnis meiner Familie nach einfachem Leben gemäß unseren finanziellen Möglichkeiten. Trotzdem hat mich das von vielen Erfahrungen fern gehalten.« Sie zuckte unmerklich mit den Schultern und gab zu: »Ich weiß so wenig über junge Männer.« Sie faltete die Hände in ihrem Schoß und sah auf sie hinunter, als sie sanft hinzufügte: »Ich muss Euch leider bitten, Geduld mit mir zu haben, während ich es lerne.« Dann warf sie ihm einen letzten Blick unter ihren gesenkten Wimpern zu. »Hoffentlich haltet Ihr mich nicht für dumm oder langweilig oder lasst Euch davon entmutigen, mir diese Dinge beizubringen. Hoffentlich schreibt Ihr mich nicht als vollkommen einfältig ab. Ich wünschte fast, dass ich schon andere Verehrer gehabt hätte, so dass ich etwas darüber wüsste, was Frauen und Männer angeht.« Sie seufzte und hob erneut kurz die Schultern, als sie wieder nach unten blickte. Dann hielt sie den Atem an und hoffte, dass dadurch ihre Wangen rot wurden, als wäre sie verlegen. Atemlos flüsterte sie: »Ich muss zugeben, dass ich nicht einmal meinen eigenen Traum verstanden habe, in der Nacht, als ich die Traumdose öffnete.« Sie blickte nicht auf, als sie sittsam fragte: »Könntet Ihr mich lehren, was diese Dinge bedeuten?« Sie brauchte sein Gesicht nicht zu sehen und musste nicht einmal seine Haltung betrachten, um zu wissen, dass sie auf der ganzen Linie gesiegt hatte. Es lag alles in seiner Stimme. »Ich
könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als in diesen Dingen Euer Lehrer sein zu dürfen.«
8
Versenkungen »Er hat aufgehört!« Viviace war erstaunt. »Nein!«, schrie Wintrow mit sich überschlagender Stimme. Er wirbelte von der Reling herum, stürmte vom Vordeck, überquerte das Hauptdeck und raste den Gang hinunter. Die Furcht vor dem Tod war alles gewesen, was den Piraten am Leben erhalten hatte. Als Wintrow und Viviace den Mann ermutigt hatten, ihn nicht mehr zu fürchten, hatte Kennit einfach losgelassen. Wintrow machte an der Tür des Kapitänsquartiers weder halt, noch klopfte er an. Etta sah erstaunt und wütend hoch, als er hereinstürzte. Sie war gerade dabei, Leinenbandagen zusammenzufalten. Als Wintrow zum Bett stürzte, wollte sie ihn aufhalten. »Weck ihn ja nicht auf!«, ermahnte sie ihn. »Er schläft endlich.« »Er versucht zu sterben!«, fuhr Wintrow sie an, während er sich an ihr vorbeidrängte. An Kennits Bett packte er die Hand des Piraten und rief seinen Namen. Der Mann reagierte nicht. Er stieß Kennit gegen die Wange und ohrfeigte ihn. Er kniff den Piraten in die Wange, erst sanft und dann fester, und versuchte, eine Reaktion hervorzurufen. Es gab keine. Kennit atmete nicht mehr. Er war tot. Kennit ließ sich in das Dunkel fallen und sank sanft hinunter wie ein Blatt, das auf den Waldboden segelt. Er fühlte sich wohl. Nur ein dünner, silberner Faden aus Schmerz verankerte ihn noch mit dem Leben; er wurde dünner, während er fiel. Schon bald würde er ins Nichts verblassen, und dann war er endlich von seinem Körper befreit. Es schien nicht mehr wichtig, dass er darauf achtete. Nichts war seiner Aufmerksamkeit
wert. Er ließ sich gehen und fühlte, wie sein Bewusstsein sich ausdehnte. Nie zuvor hatte er begriffen, wie eng die Gedanken eines Menschen in seinem Körper zusammengepfercht waren. All seine Sorgen und Ideen waren zusammengewürfelt wie die Besitztümer eines Seemanns in seinem Seesack. Jetzt jedoch hatten sie Platz und konnten sich voneinander lösen. Jeder Gedanke bekam seine eigene Bedeutung. Plötzlich fühlte er ein Ziehen. Es war so hartnäckig, dass er ihm nicht widerstehen konnte. Zögernd gab er ihm nach, aber in dem Augenblick schien es nicht zu wissen, was es mit ihm anfangen sollte. Es vermischte sich mit seiner Verwirrtheit. Es war, als wäre er in einen Kessel mit siedendem Fischeintopf geworfen worden. Zuerst blubberte die eine Identität, dann kam die andere an die Oberfläche, aber nur, um einen Augenblick später wieder zu verschwinden. Er war eine Frau, die ihr langes Haar auskämmte, während sie auf das Wasser hinausstarrte. Er war auch Ephron Vestrit und, bei Sa, er würde seine Fracht sicher nach Hause bringen, Sturm oder nicht Sturm. Er war ein Schiff, unter dessen Bug kaltes Wasser vorbeirauschte. Glänzende Fische schwammen unter ihm vorbei, und über ihm leuchteten die Sterne. Tiefer, höher und weiter lauerte noch ein anderes Bewusstsein, das sie alle umfasste, aber es war hauchdünn wie eine Schellackschicht. Eines, das mit weit gespreizten Schwingen einen Sommerhimmel durchquerte. Dieses Bewusstsein zog ihn stärker an als alle anderen, und als es sich von ihm entfernte, versuchte er, ihm zu folgen. Nein, bat ihn jemand. Liebevoll, aber entschlossen. Nein, ich gehe nirgendwo hin und du auch nicht. Etwas zog ihn zurück und hielt ihn fest. Er fühlte sich wie ein Kind, das in den Armen seiner Mutter liegt, geschützt und geliebt. Sie liebte ihn. Er kuschelte sich in ihre Umarmung. Sie war das Schiff, das wunderbare, intelligente Schiff, das er erobert hatte. Diese Erinnerung wirkte wie ein Atemhauch auf die glühenden Kohlen seines Seins. Sie glühten heller, und er wurde sich fast dessen
bewusst, was er gewesen war. Das hatte er nicht gewollt. Er rollte sich herüber und grub sich in sie, floss mit ihr zusammen, wurde sie. Das entzückende, hinreißende Schiff, eine Hülle im umhüllenden Wasser, Segel, in einem liebkosenden Wind. Ich bin du, und du bist ich. Wenn ich du bin, bin ich wundersam und weise. Er spürte ihre Belustigung über seine Schmeichelei, dabei meinte er das gar nicht als Kompliment. In dir könnte ich perfekt sein, sagte er ihr. Er versuchte, sich aufzulösen, aber sie hielt ihn intakt. Sie sprach wieder, aber ihre Worte schienen für jemand anderen bestimmt zu sein. Ich habe ihn, hier. Du musst ihn nehmen und zurückbringen. Ich weiß nicht, wie das geht. Die Stimme eines Jungen antwortete. Sie war unsicher und so dünn wie Rauch und kam aus großer Entfernung. Die Furcht ließ ihn plappern. Ich weiß nicht, was du meinst. Wie kannst du ihn haben, wie soll ich ihn nehmen? Wie soll ich ihn zurückholen? Wohin soll ich ihn bringen? Die flehentliche Verzweiflung in der Stimme des Jungen ließ eine Saite in Kennit erklingen. Sie erweckte die Echos einer anderen Jungenstimme, die genauso verzweifelt klang, genauso flehte. Bitte. Das kann ich nicht tun. Ich weiß nicht, wie, ich will nicht. Bitte, Sir. Bitte. Es war eine versteckte Stimme, eine geheime Stimme, die Stimme, die niemals wahrgenommen werden durfte. Niemand durfte sie hören, niemand. Er stürzte sich auf sie, umhüllte sie und brachte sie zum Verstummen. Er sog sie in sich auf, um sie zu verbergen. Die kleine Abweichung, der Schlüssel zu ihm, war wieder aufgehoben. Er schüttelte sich vor Angst, Angst davor, dass sie ihn wieder gezwungen hatten, er selbst zu sein. Genauso, sagte sie plötzlich. Genauso. Suche seine Stücke, und setze sie zu einem zusammen. Leiser fügte sie hinzu: Es gibt dort Orte, die dir sehr ähnlich sind. Beginn mit diesen. Was meinst du damit, dass sie mir ähnlich sind? Wie kann er mir ähnlich sein? Ich habe nur gemeint, dass ihr da zueinander passt. Euch ver-
bindet mehr, als ihr ahnt. Fürchte ihn nicht. Nimm ihn. Setz ihn zusammen. Er klammerte sich mehr als vorher an das Wesen des Schiffes. Niemals würde er zulassen, von ihr getrennt zu werden. Krampfhaft versuchte er, sich in sie zu weben, sein Bewusstsein mit ihrem zu verflechten, wie ein Tau, das aus verschiedenen Strängen geflochten ist. Sie stieß ihn nicht zurück, aber sie hieß ihn auch nicht willkommen. Stattdessen fühlte er, wie er wieder zusammengesetzt wurde und ihm eine Einheit angeboten wurde, die beides war, Einheit und Trennung. Hier, nimm ihn, bring ihn zurück. Die Verbindung zwischen den beiden war verblüffend komplex. Sie liebten sich und versuchten doch angestrengt, nicht so zu sein wie der andere. Der Groll aufeinander brannte wie ein einsames Feuer in ihrer Beziehungslandschaft. Er konnte nicht erkennen, wo der eine aufhörte und der andere begann, und dennoch machte jeder seine Besitzansprüche auf eine Seele geltend, die niemals von einem einzigen Wesen erfasst werden konnte. Die ausgestreckten Schwingen einer uralten Kreatur schützten und überschatteten sie gleichzeitig, aber sie merkten es nicht. Sie waren blinde, komische kleine Geschöpfe, die in einer Liebe miteinander rangen, die sie aus Furcht nicht zugeben mochten. Um zu gewinnen, mussten sie sich nur ergeben, aber das merkten sie nicht. Die Schönheit, was sie zusammen hätten sein können, schmerzte beinahe. Es war eine Liebe, die er sein ganzes Leben lang gesucht hatte, eine Liebe, die ihn wiederhergestellt und vollendet hätte. Das, was er am meisten begehrte, fürchteten und mieden sie. Kommt zurück, bitte. Es war die flehentliche Stimme des Jungen. Kennit, bitte entscheidet Euch für das Leben. Der Name war Magie. Er band ihn und verlieh ihm Identität. Der Junge spürte es. Kennit. Er wiederholte den Namen aufmunternd. Kennit, bitte. Kennit. Lebt. Bei jeder Berührung durch das Wort wurde er fester. Erinnerungen rankten sich um
den Namen, bildeten Schorf über den alten Wunden seines Lebens und versiegelten ihn darin. Bitte, flehte er. Er suchte nach dem Namen seines Folterers. Wintrow. Bitte, lass mich gehen. Wintrow! Er suchte, den Jungen so zu binden, wie er gebunden worden war, indem er seinen Namen aussprach. Doch statt Wintrow seinem Willen zu unterwerfen, machte er den Jungen nur noch selbstsicherer. Kennit, sagte der Junge eifrig. Kennit. Helft mir. Kommt wieder zu Euch, werdet wieder Ihr selbst. Lebt wieder Euer Leben. Da passierte etwas Merkwürdiges. Sie vermischten sich, als Wintrow das Bewusstsein Kennits begrüßte und Kennit den Jungen spürte. Erinnerungen brannten und lösten sich von ihren Besitzern. Ein Junge weinte lautlose Tränen in der Nacht, bevor er von seiner Familie in ein Kloster geschickt wurde. Ein Junge sah machtlos zu, wie sein Vater bewusstlos geschlagen wurde, während ein Mann ihn festhielt und lachte. Ein Junge kämpfte und schrie vor Schmerz, als ein siebenzackiger Stern in seine Hüfte tätowiert wurde. Ein Junge meditierte und sah Umrisse von Drachen in den Wolken und Bilder von Seeschlangen in schäumenden Gewässern. Ein Junge kämpfte gegen seinen Folterer, der ihn würgte, bis er gehorchte. Ein Junge saß lange und unbeweglich da, von einem Buch fasziniert. Ein Junge hustete und schnappte nach Luft und versuchte, sich gegen die Tätowierung seines Gesichts zu wehren. Ein Junge verbrachte Stunden damit, sorgfältig Buchstaben nachzuzeichnen. Ein Junge presste seine Hand auf ein Deck und weigerte sich zu schreien, als sein infizierter Finger abgeschnitten wurde. Ein Junge grinste und schwitzte vor Freude, als eine Tätowierung aus seiner Hüfte gebrannt wurde. Das Schiff hatte Recht gehabt. Es gab viele Verbindungen, vieles, in dem sie sich ähnelten. Diese Übereinstimmung konnte man nicht abstreiten. Sie überlappten sich, verschmolzen miteinander und wurden dann wieder getrennt. Kennit wusste wieder, wer er war. Wintrow zuckte vor der
Härte von Kennits Kindheit zurück. Im nächsten Moment wurde Kennit von einer Woge des Bedauerns und Mitgefühls überwältigt. Sie kam von dem Jungen. Wintrow griff nach ihm. Unwissend versuchte er, Teile zu reparieren, die Kennit absichtlich von sich losgelöst hatte. Das alles wart Ihr. Ihr solltet es behalten, meinte Wintrow hartnäckig. Ihr könnt nicht einfach Teile von Euch wegwerfen, nur weil sie schmerzhaft sind. Akzeptiert sie und macht weiter. Der Junge hatte keine Ahnung, was er da vorschlug. Dieses jammernde, verkrüppelte Ding konnte niemals ein Teil von Kennit, dem Piraten sein. Kennit verteidigte sich dagegen, wie er es immer getan hatte. Wütend und verächtlich stieß er Wintrow zurück und verletzte die dünne Verbindung von Mitgefühl. Unmittelbar bevor sie sich trennten, bemerkte er, wie sehr den Jungen das verletzte. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte er so etwas wie Bedauern in sich. Doch noch bevor er darüber richtig nachdenken konnte, hörte er wie aus weiter Ferne die Stimme einer Frau, die seinen Namen rief. »Kennit, o Kennit. Bitte, bitte, bitte, geht nicht von uns. Kennit!« Unerträgliche Schmerzen machten ihm bewusst, wo sein Körper war. Auf seiner Brust lag ein Gewicht, und er hatte das Gefühl, als höre sein Bein irgendwie nicht richtig auf. Er holte tief Luft. Sein Rachen war wund von Schnaps und Magensäure. Er öffnete mit einiger Kraftanstrengung die Augen. In seinem Gehirn brannte ein helles Licht. Die Hure umklammerte seine linke Hand und benetzte sie mit ihren Tränen. Ihr feuchtes Gesicht, das zerwühlte Haar, ihre schrillen Schreie… Es war wirklich unerträglich. Er versuchte, seine Hand aus ihrem Griff zu befreien, aber er war zu schwach. »Etta. Hör damit auf. Bitte.« Seine Worte waren kaum mehr als ein heiseres Krächzen. »O Kennit!«, schrie sie voller Freude. »Ihr seid nicht tot. Oh, meine Liebe!«
»Wasser«, sagte er. Damit wurde er sie los, und er konnte seinen Durst stillen. Sie hastete davon, zu der Karaffe auf der Anrichte. Er schluckte mühsam und stieß dann gegen das Gewicht auf seiner Brust. Es war haarig. Das Haar unter seinen Fingern war dicht, und das Gesicht war verschwitzt. Es gelang ihm, den Kopf ein wenig zu heben, und sah auf seine Brust hinunter. Es war Wintrow. Von dem Stuhl neben seinem Bett war der Junge auf Kennit gesunken. Er hatte die Augen geschlossen, und sein Gesicht hatte eine schrecklich weißliche Farbe angenommen. Seine Wangen waren tränenverschmiert. Der Kopf des Jungen lag auf seiner Brust und machte ihm das Atmen noch schwerer. Er wollte ihn wegstoßen, aber die Wärme seines Haares und der Haut unter seiner Hand erweckte auch eine unbekannte Sehnsucht. Es war, als wäre er selbst in dem Jungen neu geboren. Er konnte den Jungen schützen, wie er selbst nie beschützt worden war. Jetzt hatte er die Macht, die destruktiven Kräfte abzuwehren, die einmal sein eigenes Leben zerrissen hatten. Immerhin waren sie nicht so verschieden. Das Schiff hatte es ja gesagt. Wenn er den Jungen beschützte, war es gleichsam, als rette er damit sich selbst. Diese Macht erzeugte ein merkwürdiges Gefühl in ihm. Sie versprach einen tiefen Hunger zu stillen, der seit seiner Kindheit namenlos in ihm genagt hatte. Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, schlug Wintrow die Augen auf. Ihr Blick war dunkel und offen. Er sah direkt in Kennits Gesicht, und seine Miene zeigte einen Ausdruck von bodenlosem Kummer, der sich plötzlich in Staunen verwandelte. Der Junge hob die Hand und berührte Kennits Wange. »Ihr lebt«, flüsterte er. Seine Stimme schwankte, als litte er unter Fieber, aber seine Augen leuchteten voller Freude. »Ihr wart in viele Stücke zersprungen. Wie ein bemaltes Fenster, in viele Stücke. So viele Teile machen einen Menschen aus. Ich war verblüfft. Ihr seid trotzdem zurückgekommen.« Er schloss mit einem Seufzer die Augen. »Danke. Ich danke Euch. Ich wollte noch nicht ster-
ben.« Der Junge blinzelte und schien plötzlich zu sich zu kommen. Er hob den Kopf von Kennits Brust und sah sich erschöpft um. »Ich muss ohnmächtig geworden sein«, sagte er wie zu sich selbst. Seine Stimme klang dünn. »Ich bin so tief in Trance gefallen… Das ist mir noch nie zuvor passiert, aber Berandol hat mich gewarnt… Ich habe wohl Glück gehabt, dass ich überhaupt zurückgefunden habe.« Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück, auf dem er kauerte. »Ich nehme an, wir hatten beide Glück«, sagte er benommen. »Mit meinem Bein stimmt etwas nicht«, meinte Kennit. Jetzt, da der Junge nicht mehr auf seiner Brust lag, konnte er leichter atmen und sprechen. Und er konnte sich jetzt einfacher auf das merkwürdige Gefühl in seinem verkrüppelten Körper konzentrieren. »Es ist taub. Ich habe es mit Kwazi-Fruchtrinde behandelt, um die Schmerzen eine Weile zu betäuben. Ihr solltet schlafen, solange Ihr könnt. Der Schmerz wird zurückkehren. Wir haben nicht genug Rinde, um ihn für immer fern zu halten.« »Du stehst mir im Weg«, sagte Etta gereizt. Wintrow zuckte zusammen. Sie stand neben ihm und hielt einen Becher mit Wasser in der Hand. Der Junge behinderte sie nicht wirklich. Sie hätte das Wasser einfach an die andere Seite des Bettes bringen können. Aber Wintrow verstand die wahre Bedeutung ihrer Worte. »Entschuldigt«, sagte er hastig und stand auf. Er stolperte zwei Schritte auf die Tür zu, brach dann zusammen und blieb auf dem Boden liegen. Etta stieß einen verärgerten Schrei aus. »Ich werde einen Matrosen holen, der ihn wegschafft«, sagte sie. Der Anblick des bewusstlosen Jungen bestürzte den Piraten. Doch er wurde abgelenkt, als Etta ihm den Becher hinhielt, von dem noch das Wasser tropfte. Sie stützte seinen Kopf mit ihrer Hand, und ihre langen Finger fühlten sich kühl auf seinem Nacken an. Sein Durst drohte
ihn plötzlich zu verzehren. Es war Schiffswasser, weder kalt noch frisch, und es schmeckte nach dem Fass, in dem es verwahrt worden war. Für ihn war es wie Nektar. Er trank den Becher in einem Zug aus. »Mehr«, krächzte er, als sie den Becher wegzog. »Sofort«, versprach sie. Er folgte ihr mit dem Blick, als sie zu dem Wasserkrug ging. Dabei bemerkte er den schlaffen Körper des Jungen auf dem Boden. Vor einem Augenblick noch hatte er etwas Wichtiges mit ihm vorgehabt, etwas, das Etta für ihn tun sollte. Es war wichtig gewesen, aber jetzt konnte er sich nicht mehr daran erinnern. Stattdessen schien er zu schweben, aus dem Bett aufzusteigen. Diese Erfahrung war sowohl beunruhigend als auch angenehm. Der Becher mit Wasser kam zurück. Er trank ihn aus. »Ich kann fliegen«, teilte er der Frau mit. »Jetzt, da die Schmerzen weg sind, kann ich fliegen. Der Schmerz hat mich unten gehalten.« Sie lächelte ihn liebevoll an. »Euch ist schwindlig. Und vielleicht seid Ihr noch ein bisschen betrunken.« Er nickte. Er konnte das alberne Lächeln nicht unterdrücken. Eine Welle von Dankbarkeit stieg in ihm auf. Er hatte so lange mit den Schmerzen leben müssen, und jetzt waren sie weg. Es war wundervoll. Seine Dankbarkeit schwappte über und umhüllte seine ganze Welt. Der Junge hatte das bewerkstelligt. Er sah zu Wintrow hinüber, der immer noch auf dem Boden lag. »Er ist so ein guter Junge«, sagte er liebevoll. »Uns liegt so viel an ihm, dem Schiff und mir.« Er wurde schläfrig, aber er schaffte es, die Frau anzusehen. Mit der Hand streichelte sie seine Wange. Er griff hoch, und es gelang ihm, sie zu packen. »Du kümmerst dich doch für mich um ihn, nicht wahr?« Sein Blick glitt über ihr Gesicht, von ihrem Mund zu ihren Augen. »Ich kann mich doch auf dich verlassen, stimmt's?« »Wollt Ihr das wirklich?«, fragte sie zögernd.
»Mehr als alles andere«, erklärte er leidenschaftlich. »Sei nett zu ihm.« »Wenn Ihr das wollt, werde ich es sein«, antwortete sie beinahe widerwillig. »Gut. Sehr gut.« Er drückte sanft ihre Finger. »Ich wusste, dass du das tun würdest, wenn ich dich darum bitte. Jetzt kann ich schlafen.« Er schloss die Augen. Als Wintrow die Augen aufschlug, lag sein Kopf auf einem Kissen, und er selbst steckte unter einer Decke. Er befand sich immer noch auf den Planken der Kapitänskajüte und versuchte, sich zu orientieren. Er erinnerte sich noch an Traumfetzen von einem bemalten Glasfenster. Ein verängstigter Junge hatte sich dahinter versteckt. Das Fenster war zerbrochen. Irgendwie hatte Wintrow es wieder zusammengesetzt. Der Junge war dankbar gewesen. Nein. Nein, in dem Traum war er der Junge gewesen: Nein, er hatte den Mann wieder zusammengesetzt, während Berandol und Viviace ihn hinter einem Vorhang aus Wasser beraten hatten. Außerdem waren da auch noch eine Seeschlange und ein Drache gewesen. Ein siebenzackiger Stern, der entsetzlich schmerzte. Dann war er erwacht, Etta war ärgerlich auf ihn gewesen, und dann… Es war nicht gut. Er konnte es einfach nicht zusammenfügen. Der lange Tag war in verschiedene Stücke zersprungen, die er nicht wieder in Einklang bringen konnte. Einige Teile stammten aus seinem Traum, so viel wusste er. Andere kamen ihm unerbittlich real vor. Hatte er tatsächlich heute Nachmittag einem Mann das Bein amputiert? Das schien ihm die unrealistischste Vorstellung von allen. Wintrow schloss die Augen und tastete nach Viviace. Er war sich ihrer bewusst, wie immer, wenn er nach ihr tastete. Zwischen ihnen gab es eine ständige, wortlose Kommunikation. Das spürte er, aber er merkte auch, dass sie abgelenkt schien. Es war kein Desinteresse ihm gegenüber, sondern sie wirkte fasziniert von etwas anderem. Vielleicht war sie so desorientiert wie er. Nun, jedenfalls nützte es
überhaupt nichts, hier einfach liegen zu bleiben. Er drehte den Kopf zur Seite und sah zu Kennits Koje hinüber. Die Brust des Piraten hob und senkte sich beruhigend unter seinem Bettzeug. Seine Gesichtsfarbe war zwar entsetzlich, aber er lebte. Wenigstens soviel an Wintrows Träumen hatte gestimmt. Er holte tief Luft und stützte sich mit den Armen ab. Vorsichtig stemmte er sich von den Planken hoch und kämpfte gegen einen Schwindelanfall. Noch nie hatte eine Arbeitstrance ihn so geschwächt. Er wusste immer noch nicht genau, was er eigentlich getan hatte oder ob er überhaupt etwas geschafft hatte. In seinen Arbeitstrancen im Kloster hatte er gelernt, sich vollkommen mit seiner Kunst zu verbinden. Wenn er in ihr versunken war, verschmolzen die verschiedenen Aufgaben des Schaffens zu einem einzigen Akt. Anscheinend hatte er das irgendwie auch bei Kennits Heilung angewendet, aber er konnte nicht sagen, wie. Und er erinnerte sich auch nicht daran, sich auf diese Arbeitstrance vorbereitet zu haben. Sobald er stand, ging er vorsichtig zum Bett. Fühlt es sich so an, wenn man betrunken ist, dachte er. Er schwankte, und ihm war schwindlig, und die Farben sah er viel zu hell, die Ränder der Gegenstände waren scharf abgegrenzt. Das konnte nicht richtig sein. Es war nicht angenehm. Niemand setzte sich freiwillig solchen Empfindungen aus. An Kennits Bettrand blieb er stehen. Irgendwie fürchtete er sich davor, den Verband am Bein des Piraten zu kontrollieren, aber er wusste, dass er es tun sollte. Vielleicht blutete er noch. Wintrow wusste nicht, was er in diesem Fall tun sollte. Verzweifeln, dachte er und griff vorsichtig nach der Decke. »Weck ihn bitte nicht auf.« Ettas Stimme klang so freundlich, dass er sie beinahe nicht erkannt hätte. Er drehte sich um, damit er sie ansehen konnte. Sie saß auf einem Stuhl in der Ecke des Zimmers. Unter ihren Augen schimmerten tiefe Ränder, was ihm vorher gar nicht aufge-
fallen war. Sie nähte an einem dunkelblauen Stoff, der auf ihrem Schoß lag. Etta sah ihn kurz an, biss ein Stück Faden ab, wendete ihre Arbeit und begann mit einem neuen Saum. »Ich muss nachsehen, ob er noch blutet.« Seine Stimme klang belegt und unartikuliert. »Es sieht nicht so aus. Aber wenn du die Bandagen abmachst, um nach der Wunde zu sehen, fängt es vielleicht wieder an. Am besten lassen wir ihn in Ruhe.« »Ist er überhaupt schon aufgewacht?« Er konnte allmählich wieder klar denken. »Kurz. Unmittelbar nachdem du… nachdem du ihn zurückgeholt hast. Ich habe ihm Wasser gegeben, eine ganze Menge Wasser, und dann ist er wieder eingeschlafen. Seitdem schläft er.« Wintrow rieb sich die Augen. »Wie lange schläft er schon?« »Fast die ganze Nacht«, antwortete sie ruhig. »Es wird bald Morgen.« Wintrow wurde aus ihrem freundlichen Verhalten ihm gegenüber nicht schlau. Sie sah ihn weder herzlich an, noch lächelte sie ihm zu. Es war eher etwas aus ihrer Stimme verschwunden, ein Unterton von Eifersucht oder Misstrauen, der bis jetzt immer mitgeschwungen hatte. Wintrow war froh, dass sie ihn anscheinend nicht mehr hasste, aber ihm war nicht ganz klar, wie er damit umgehen sollte. »Na gut«, sagte er schließlich unbeholfen. »Ich nehme an, ich sollte dann auch eine Weile schlafen.« »Du kannst da schlafen, wo du warst«, bot sie ihm an. »Hier ist es warm und sauber. Und du bist in der Nähe, wenn Kennit dich braucht.« »Danke«, erwiderte er verlegen. Er war nicht sicher, ob er hier auf dem Deck schlafen wollte. Der Gedanke, dass eine Fremde ihn im Schlaf beobachtete, gefiel ihm nicht. Was dann passierte, war noch merkwürdiger. Etta schüttelte den Stoff auf ihrem Schoß aus und hielt ihn hoch. Dabei glitt ihr Blick von
ihrer Näharbeit zu ihm und wieder zurück. Es war eine Hose, und sie betrachtete Wintrow, offenbar um herauszufinden, ob sie passte. Er hatte das Gefühl, als müsste er etwas sagen, aber er wusste nicht, was. Sie faltete die Hose ohne einen weiteren Kommentar wieder zusammen, legte sie auf den Schoß, fädelte Garn ein und nähte weiter. Wintrow ging wieder zu seiner Decke auf dem Boden. Er schlich fast wie ein Hund, der an seinen zugewiesenen Platz trottet. Er setzte sich hin, brachte es jedoch nicht fertig, sich hinzulegen. Stattdessen schlang er sich die Decke wie einen Schal um die Schultern. Er sah Etta an, die seinen Blick erwiderte. »Wie seid Ihr eine Piratin geworden?«, fragte er sie unvermittelt. Ihm war nicht klar gewesen, dass er das sagen wollte, bis die Worte aus seinem Mund drangen. Sie holte tief Luft, und in ihrer Stimme schwang kein bisschen Bedauern mit, als sie antwortete: »Ich habe als Hure in einem Bordell in Divvytown gearbeitet. Kennit fand Gefallen an mir. Eines Tages habe ich ihm geholfen, ein paar Männer zu töten, die ihn dort angriffen. Danach hat er mich aus diesem Hurenhaus geholt und hierhergebracht. Zuerst wusste ich nicht, warum er mich auf das Schiff brachte und was er von mir erwartete. Doch nach einer Weile wurde mir klar, was er wollte. Ich kann viel mehr sein als eine Hure, wenn ich will. Und er gab mir diese Chance.« Wintrow starrte sie an. Ihre Worte hatten ihn schockiert. Nicht ihr Eingeständnis, Männer für Kennit getötet zu haben, das hatte er von einer Piratin erwartet. Sondern dass sie sich selbst eine Hure nannte. Es war ein Männerwort, ein Schimpfwort, das einer Frau an den Kopf geschleudert wurde. Aber sie schien nicht beschämt zu sein. Sie schwang das Wort wie ein Schwert und zerschmetterte damit all seine Spekulationen darüber, wer sie war. Sie hatte ihren Lebensunterhalt mit ihrem Geschlecht verdient, und anscheinend bereute sie es nicht. Das
erweckte ein bebendes Interesse in Wintrow. Sie wirkte plötzlich noch mächtiger als vorher. »Was wart Ihr, bevor Ihr eine Hure wart?« Er betonte das Wort zu deutlich, weil er nicht gewohnt war, es auszusprechen. Es hatte nicht so bedeutsam klingen sollen, und eigentlich hatte er auch diese Frage gar nicht stellen wollen. Hatte Viviace ihn dazu getrieben? Sie sah ihn finster an, wohl weil sie vermutete, dass er sie tadeln wollte. Ihr Blick war unbewegt und undurchdringlich. »Ich war die Tochter einer Hure.« Ihre Stimme hatte einen herausfordernden Unterton. »Und was warst du, bevor dein Vater dich zum Sklaven dieses Schiffes gemacht hat?« »Ich war ein Priester des Sa. Das heißt, ich war dabei, zu einem ausgebildet zu werden.« Sie hob eine Braue. »Tatsächlich? Nun, da bin ich lieber eine Hure!« Ihre Worte beendeten das Gespräch unwiderruflich. Aber er war nicht beleidigt. Sie hatte nur auf die gewaltige Kluft hingewiesen, die zwischen ihnen bestand, und verneint, dass sie kommunizieren, geschweige denn sich beleidigen konnten. Etta widmete sich wieder ihrer Näharbeit und beugte den Kopf über den Stoff. Ihre Miene war vollkommen ausdruckslos. Wintrow hatte das Gefühl, als habe er eine Gelegenheit verpasst. Noch vor einigen Augenblicken schien ihm, als habe sie ihm eine Tür geöffnet. Jetzt war die Barriere wieder da, so undurchdringlich wie zuvor. Warum sollte mich das kümmern, fragte er sich. Aber die Tiefe seiner Enttäuschung überraschte ihn. Weil sie eine Hintertür bietet, Kennit zu beeinflussen, weil du vielleicht eines Tages ihren guten Willen brauchst, suggerierte der listige Teil in ihm. Wintrow schob den Gedanken beiseite. Weil sie auch ein Geschöpf von Sa ist, sagte er sich entschieden. Ich könnte mich mit ihr um ihretwillen anfreunden, nicht wegen des Einflusses, den sie auf Kennit hat. Und auch nicht, weil sie anders ist als alle Frauen, die ich bis jetzt gesehen habe, und ich dem Rätsel nicht widerstehen kann, das sie bietet.
Er schloss die Augen und versuchte, alle Vorbehalte beiseite zu schieben. Als er sprach, klang er aufrichtig. »Bitte. Können wir es noch einmal versuchen? Ich würde mich gern mit Euch anfreunden.« Etta blickte überrascht hoch. Dann lächelte sie humorlos. »Damit ich später dein Leben retten soll? Indem ich mich bei Kennit für dich einsetze?« »Nein!«, protestierte er. »Das ist gut. Denn ich habe auf Kennit auch keinen solchen Einfluss.« Sie senkte leicht die Stimme. »Was zwischen Kennit und mir ist, würde ich niemals für so etwas missbrauchen.« Wintrow nahm die Chance wahr. »Ich wollte Euch auch nicht darum bitten. Es ist nur… Es wäre einfach nett, mit jemandem sprechen zu können. Einfach nur reden. Mir ist in letzter Zeit so viel widerfahren. Meine Freunde sind alle tot, mein Vater verachtet mich, die Sklaven, denen ich geholfen habe, scheinen sich nicht mehr daran zu erinnern, und ich vermute, dass Sa'Adar mich am liebsten verschwinden ließe…« Er verstummte, als er merkte, wie wehleidig er klang. Er holte tief Luft, denn was er als Nächstes sagen würde, klang noch kläglicher. »Ich bin einsamer als je zuvor. Und ich habe keine Ahnung, was jetzt aus mir wird.« »Wer weiß das schon?«, erwiderte Etta erbarmungslos. »Ich wusste es«, erklärte Wintrow ruhig. Er dachte nach, während er sprach. »Im Kloster schien sich mein Leben wie ein leuchtender Pfad vor mir auszubreiten. Ich wusste, dass ich meine Studien fortsetzen konnte. Ich wusste auch, dass ich in der Arbeit, die ich gewählt hatte, gut war. Ich habe mein Leben wirklich geliebt und hatte kein Verlangen, es zu ändern. Dann wurde ich nach Hause zurückgerufen, mein Großvater starb, und mein Vater zwang mich, auf diesem Schiff zu dienen. Seitdem habe ich mein Leben nicht mehr selbst bestimmen können. Jedes Mal, wenn ich versucht habe, es wieder in die Hand zu nehmen, hat es sich nur in eine noch merkwürdigere
Richtung entwickelt.« Sie biss den Faden ab. »Das klingt ganz normal, finde ich.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Das kann ich nicht beurteilen. Vielleicht ist es das auch, für andere Menschen. Ich weiß nur, dass ich nicht an so etwas gewöhnt war und dass ich es auch nicht erwartet habe. Ich habe versucht, mir einen Weg auszudenken, wie ich wieder zurückkommen und mein Leben wieder zu dem machen könnte, was es war, aber…« »Du kannst nicht mehr zurück«, erklärte sie unverblümt und mit neutraler Stimme. »Dieser Teil deines Lebens ist vorbei. Leg ihn beiseite wie etwas, womit du fertig bist. Vollendet oder nicht, dieser Teil ist jedenfalls mit dir fertig. Kein Wesen kann entscheiden, ›wie sein Leben sein soll‹.« Sie sah ihn durchdringend an. »Sei ein Mann. Finde heraus, wer du jetzt bist, und mach von da an weiter. Mach das Beste aus dem, was du hast. Akzeptiere dein Leben, dann überstehst du es möglicherweise. Wenn du dich von ihm fern hältst, darauf bestehst, dass es nicht dein Leben ist und du nicht derjenige bist, der du sein sollst, dann wird das Leben einfach an dir vorbeilaufen. Du stirbst vielleicht nicht an dieser Dummheit, aber du bist trotzdem für all das tot, was das Leben dir und allen anderen Menschen an Gutem zu bieten hätte.« Wintrow war sprachlos. Ihre Worte mochten herzlos klingen, dennoch verbarg sich viel Weisheit in ihnen. Beinahe automatisch begann er mit der meditativen Atmung, als stammten diese Worte direkt aus den Schriftrollen Sas. Er dachte über ihre Idee nach und folgte ihr bis zu ihren logischen Schlussfolgerungen. Ja, diese Gedanken stammten von Sa, und sie waren wertvoll. Akzeptiere. Beginne neu. Finde wieder zu deiner Demut zurück. Er hatte Vorurteile gehegt, was sein Leben anging, das hatte er getan. Schon Berandol hatte ihn davor gewarnt. Es wäre sein größter Fehler. Hier gab es die Gelegenheit für Gutes, er musste nur die Hand danach ausstrecken. Warum hatte
er nur so sehr versucht, in sein Kloster zurückzukehren, als ob er Sa nur dort finden könnte? Was hatte er gerade zu Etta gesagt? Dass ihm sein Leben immer mehr aus der Hand glitt, je stärker er versuchte, es zu kontrollieren. Das war kein Wunder. Er hatte sich gegen Sas Willen gestellt. Plötzlich begriff er, wie die Sklaven sich gefühlt haben mussten, als man ihnen die Fesseln von Händen und Füßen gelöst hatte. Ihn hatten ihre Worte befreit. Er konnte seine selbst auferlegten Ziele endlich fahren lassen, konnte hochblicken, sich umsehen und deutlicher herausfinden, wo Sas Weg ihn hinführte. »Hör auf, mich so anzustarren!« Ettas Worte klangen befehlend, aber es schwang auch ein unbehaglicher Unterton darin mit. Wintrow senkte sofort den Blick. »Ich habe nicht… ich meine, ich wollte Euch nicht anstarren. Eure Worte haben nur einfach Gedanken in mir geweckt… Etta. Wo hat man Euch diese Dinge gelehrt?« »Welche Dinge?« Jetzt klang ihre Stimme nur noch misstrauisch. »Solche Dinge, wie das Leben zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen…« Wenn man es laut aussprach, schien das ein so einfaches Konzept zu sein. Vor wenigen Augenblicken noch hatten diese Worte für ihn wie gewaltige Glocken die Wahrheit verkündet. Es war richtig, was sie besagten: Erleuchtung war nichts weiter, als die Wahrheit im richtigen Moment zu begreifen. »In einem Bordell.« Selbst diese Enthüllung erhellte seinen Verstand. »Dann ist Sa wirklich auch dort, in all seiner Weisheit und Güte.« Sie lächelte, ein Lächeln, das beinahe auch ihre Augen erwärmt hätte. »Angesichts der Vielzahl der Männer, die seinen Namen grunzen, wenn es ihnen kommt, muss Sa mit absoluter Sicherheit da sein.« Wintrow wandte den Blick ab. Das Bild war beunruhigend
lebhaft. »Es muss hart gewesen sein, so seinen Lebensunterhalt zu verdienen«, entfuhr es ihm. »Findest du?« Sie lachte laut und freudlos. »Es überrascht mich, das von dir zu hören. Aber du bist ja auch noch ein Junge. Die meisten Männer sagen uns, dass sie auch gern ihr Brot damit verdienen würden, den ganzen Tag auf dem Rücken zu liegen. Sie glauben, wir haben es leicht, weil wir den ganzen Tag mit ›Vergnügen‹ handeln.« Wintrow dachte darüber nach. »Ich halte es für sehr hart, so intim mit einem Mann sein zu müssen, für den man keine echten Gefühle empfindet. Einen Moment verdunkelte sich ihr Blick, und sie wirkte nachdenklich. »Nach einer Weile verschwinden alle Gefühle.« Ihre Stimme klang fast mädchenhaft. »Und das ist eine Erleichterung. Alles wird dann so viel einfacher. Dann ist es nicht schlimmer als jede andere schmutzige Arbeit. Es sei denn, man erwischt einen Kerl, der einen verletzt. Aber man kann sich auch woanders verletzen. Bauern können von ihren Ochsen aufgespießt werden, Plantagenarbeiter fallen von den Bäumen, Fischer verlieren ihre Finger oder ertrinken…« Sie verstummte und widmete sich wieder ihrer Näherei. Wintrow schwieg ebenfalls. Nach einer Weile lächelte sie zögernd. »Kennit hat mir meine Gefühle zurückgegeben. Dafür habe ich ihn gehasst. Das war das Erste, was er mich lehrte: hassen. Ich wusste, dass es gefährlich war. Für eine Hure ist es sehr gefährlich, überhaupt Gefühle zu haben. Und weil ich wusste, dass er mich dazu brachte, wieder zu empfinden, habe ich ihn nur um so mehr gehasst.« Warum? dachte Wintrow, aber er sprach es nicht laut aus. Es war auch nicht nötig. »Er ist eines Tages in das Bordell gekommen und hat sich umgesehen.« Sie sprach langsam, wie in ihren Erinnerungen versunken. »Er war sehr gut gekleidet und auch sehr sauber. Er trug eine dunkelgrüne Brokatjacke mit elfenbeinernen Knöp-
fen, und das Hemd hatte auf der Brust und an den Manschetten Rüschen. Er war noch nie zuvor in Bettels Bordell gekommen, aber ich wusste, wer er war. Selbst damals kannte schon ganz Divvytown Kennit. Er kam nicht wie die anderen Männer ins Bordell, mit seinen Freunden oder sogar mit seiner ganzen Mannschaft. Und er war auch nicht betrunken oder hat herumgeprahlt. Er kam allein, nüchtern und zielstrebig. Er sah uns an, er hat uns richtig betrachtet, und dann hat er mich ausgesucht. ›Sie wird genügen‹, hat er Bettel gesagt. Dann hat er den Raum gemietet, den er wollte, und ein Essen bestellt. Er hat Bettel sofort bezahlt, vor allen anderen. Dann trat er auf mich zu, als wären wir bereits allein, und beugte sich zu mir herüber. Ich dachte, er wollte mich küssen. Manche Männer taten das. Stattdessen hat er geschnüffelt und mir befohlen, mich zu baden. Du glaubst vielleicht, dass man eine Hure nicht demütigen kann, aber man kann. Trotzdem bin ich nach oben gegangen und habe getan, was er befohlen hat, aber nicht mehr. Ich war wütend und so kalt wie Eis zu ihm. Eigentlich erwartete ich, dass er mich schlagen, zurückschicken oder sich hinterher bei Bettel über mich beschweren würde. Doch es schien seinen Wünschen entgegenzukommen.« Sie hielt inne. Wintrow war das Schweigen unangenehm. Er wollte nicht mehr davon hören, und gleichzeitig hoffte er inständig, dass sie weiterredete. Es war Voyeurismus, reiner Voyeurismus, eine beißende Neugier, in allen Einzelheiten zu erfahren, was zwischen einem Mann und einer Frau vorging. Er kannte die körperliche Mechanik; dieses Wissen war ihm niemals vorenthalten worden. Aber auch wenn man die technischen Zusammenhänge kannte, wusste man noch lange nicht wirklich, wie es passierte. Er wartete und sah auf die Planken zu ihren Füßen, weil er es nicht wagte, ihr ins Gesicht zu blicken. »Danach lief es jedes Mal auf die gleiche Weise ab. Er kam, wählte mich aus, befahl mir zu baden und benutzte mich. Er
machte es völlig kühl. Die anderen Männer, die in das Bordell kamen, spielten ein bisschen herum. Sie flirteten, lachten mit den Mädchen, erzählten Geschichten und beobachteten, wer am besten zuhörte. Sie taten so, als hätten wir etwas zu sagen. Sie brachten uns dazu, für sie miteinander zu konkurrieren. Einige tanzten sogar mit den Huren oder brachten kleine Geschenke mit. Süßliche Parfüms für die, die sie am liebsten hatten. Kennit tat das nicht. Selbst als er mit meinem Namen nach mir fragte, war es immer noch ein reines Geschäft.« Sie schüttelte die Hose aus, wendete sie und nähte weiter. Einmal holte sie Luft, als wollte sie weitererzählen. Dann schüttelte sie jedoch unmerklich den Kopf und widmete sich weiter ihrer Näharbeit. Wintrow wusste nicht, was er sagen sollte. Obwohl er von ihrer Geschichte fasziniert war, wurde er plötzlich ungeheuer müde. Am liebsten wäre er wieder schlafen gegangen, aber er wusste, dass er niemals einschlafen könnte, selbst wenn er sich auf den Boden legte. Draußen wurde es allmählich heller. Bald schon würde der Morgen dämmern. Einen Augenblick lang empfand er so etwas wie Triumph. Er hatte Kennit gestern das Bein amputiert, und der Pirat lebte immer noch. Er hatte es geschafft. Er hatte dem Mann das Leben gerettet. Dann tadelte er sich. Wenn der Pirat noch lebte, dann nur, weil sein Wille dem von Sa entsprach. Jede andere Annahme wäre Hochmut gewesen. Wintrow warf seinem Patienten einen kurzen Blick zu. Kennits Brust hob und senkte sich noch immer. Aber er hatte gewusst, dass Kennit noch lebte, bevor er hingesehen hatte. Viviace wusste es, und er wusste es durch sie. Wintrow wollte über diese Verbindung nicht nachdenken und sich auch nicht darüber wundern, wie stark sie war. Es war schon schlimm genug, dass er mit dem Schiff auf diese Weise verbunden war. Mit dem Piraten wollte er nicht auch noch ein solches Band knüpfen. Etta gab ein leises Geräusch von sich, als ringe sie nach Luft.
Wintrow konzentrierte sich wieder auf sie. Die Piratin sah ihn nicht an, sondern hielt den Blick auf ihre Näharbeit gerichtet. Dabei strahlte sie einen ruhigen Stolz aus. Offenbar hatte sie über etwas nachgedacht und sich entschlossen, es ihm mitzuteilen. Als sie redete, hörte er schweigend zu. »Ich habe aufgehört, Kennit zu hassen, als mir klar wurde, was er mir gab, wenn er kam. Ehrlichkeit. Er bevorzugte mich, und er fürchtete sich nicht davor, das zu zeigen. Vor den anderen entschied er sich für mich, jedes Mal. Er drängte mich nicht dazu, zu lächeln und zu flirten. Er wollte mich, und ich war zu verkaufen, also kaufte er mich. Er zeigte mir, dass das alles war, was wir jemals miteinander teilen konnten, solange ich eine Hure war: ein ehrliches Geschäft.« Sie lächelte merkwürdig. »Manchmal bot Bettel ihm andere Frauen an. Sie hatte viele in ihrem Bordell. Einige waren viel vornehmer und hübscher als ich, einige waren Frauen, die exotische Techniken beherrschten, wie man Männer erfreuen konnte. Bettel versuchte, so seine Gunst zu gewinnen. Sie machte das immer bei den Stammgästen des Hauses, damit sie loyal zu ihr hielten. Sie bot ihnen Abwechslung und verführte sie… neue Vorlieben zu entwickeln. Ich wusste, dass es ihr nicht gefiel, dass Kennit immer zu mir kam. Sie fühlte sich dadurch vermutlich weniger wichtig. Einmal hat sie ihn vor allen Leuten gefragt: ›Warum Etta? Sie ist so schlaksig und so unansehnlich. So gewöhnlich. Ich habe Kurtisanen, die in den vornehmsten Häusern von Chalced ausgebildet wurden. Oder wenn Ihr Unschuld vorzieht, dann kann ich Euch süße jungfräuliche Dinger vom Land anbieten. Ihr könntet Euch die Besten in meinem Haus leisten. Warum bevorzugt ihr immer meine billigste Hure?‹« Ettas Augen leuchteten, als sie lächelte. »Ich glaube, sie wollte ihn vor den anderen Stammgästen beschämen. Als wenn es ihn interessiert hätte, was sie dachten. Er antwortete nur: ›Ich verwechsle niemals die Kosten einer Sache mit ihrem Wert. Etta, geh und bade. Ich warte oben.‹ Danach
nannten mich alle anderen Huren Kennits Nutte. Es sollte eine Beleidigung sein, aber das hat mich nie gekümmert.« Offenbar war Kennit ein weit tiefgründigerer Mann, als Wintrow angenommen hatte. Die meisten Seeleute entschieden sich nur aufgrund des Gesichts und des Körpers für eine Hure. Kennit jedoch hatte dahinter geschaut. Andererseits bestand auch die Möglichkeit, dass sich Etta selbst betrog. Wintrow sah ihr kurz ins Gesicht und wandte dann den Blick ab. Ihm war unbehaglich zumute. Woher war dieser Gedanke gekommen? Einen Moment spürte er sogar etwas wie Eifersucht. Kam er von dem Schiff? Es drängte ihn plötzlich, mit Viviace zu sprechen. Er stand auf, und seine Gelenke knackten. Sein Rücken war steif, und seine Schultern schmerzten. Wann hatte er das letzte Mal in einem richtigen Bett geschlafen, und zwar so lange, bis er einfach aufgewacht war? Irgendwann musste er den Bedürfnissen seines Körpers nachkommen, oder er würde seine Wünsche nach Ruhe und Nahrung erzwingen. Bald, versprach er sich. Sobald er sich sicher fühlte, würde er für sich sorgen. »Es wird hell«, sagte er verlegen. »Ich sollte nach dem Schiff und nach meinem Vater sehen. Und ich brauche auch etwas Schlaf. Werdet Ihr mich benachrichtigen, wenn Kennit wach wird?« »Falls er dich braucht«, erwiderte Etta kühl. Vielleicht war das ja der einzige Grund für ihr Gespräch gewesen: Wintrow klarzumachen, dass sie ältere Rechte an Kennit besaß. Betrachtete sie ihn irgendwie als Bedrohung? Wintrow wusste einfach nicht genug über Frauen. Sie hob die Hose hoch und biss einen Faden ab. Dann stand sie ebenfalls auf und schüttelte die Hose aus. Sie war fertig. »Für dich«, sagte sie abrupt und hielt sie hoch. Er ging zu ihr, um ihr das Geschenk aus der Hand zu nehmen, aber sie warf es ihm zu. Er konnte es nur ungeschickt auffangen. Ein Hosenbein traf ihn leicht im Gesicht. »Danke«, sagte er unsicher. Sie sah ihn nicht an und antwortete auch nicht. Stattdessen
ging sie zu einer Truhe und wühlte darin herum. Schließlich zog sie ein Hemd hervor. »Hier. Das wird genügen. Es ist eins seiner alten Hemden.« Sie betastete einen Moment den Stoff. »Es ist gut gewebt. Er versteht wirklich etwas von Qualität.« »Da bin ich sicher«, erwiderte Wintrow. »Er hat immerhin Euch gewählt, wie Ihr mir sagtet.« Es war sein erster Versuch, galant zu sein. Aber irgendwie brachte er es nicht richtig heraus. Die Bemerkung stand schief zwischen ihnen. Etta starrte ihn an und schien zu überlegen, ob seine Worte eine Beleidigung beinhalteten. Er errötete. Was war in ihn gefahren, das zu sagen? Dann warf sie ihm das Hemd zu. Es faltete sich weit auseinander wie eine Vogelschwinge, und landete in seinem Händen. Es war ein schwerer Stoff, stark und doch fein. Es war ein sehr gutes Hemd, viel zu edel, um es so einfach wegzugeben. Verbarg sich da eine Botschaft, dachte Wintrow, eine, von der Etta selbst nicht wusste, dass sie sie übermittelte? Er legte die Gewänder über seinen Arm. »Danke für die Kleidung«, wiederholte er. Er wollte höflich sein. Etta blickte ihn an. »Kennit will bestimmt, dass du sie bekommst.« Mit ihrer nächsten Bemerkung dämpfte sie seine Dankbarkeit. »Du wirst dich um ihn kümmern. Er verlangt Sauberkeit von denen, die ihn umgeben. Du solltest dir heute die Zeit nehmen, dich zu waschen, und zwar auch dein Haar.« »Ich bin nicht…« Wintrow hielt inne. Er war schmutzig. Nach einem Moment bemerkte er sogar, dass er stank. Er hatte zwar seine Hände gesäubert, nachdem er Kennits Bein amputiert hatte, sich aber ansonsten seit Tagen nicht gewaschen. »Das mache ich«, sagte er demütig, nahm seine Kleidung und verließ die Kajüte des Kapitäns. Die Unordnung und das Gedränge auf dem gekaperten Schiff kamen ihm mittlerweile beinahe normal vor. Er hielt sich nicht mehr bei jedem zersplitterten Türrahmen auf und konnte auch die Blutflecken auf dem Deck und an den Wänden übersehen. Als er auf Deck trat, presste er sich mit dem Rücken an die
Wand, um einem Paar auszuweichen. Es waren beides Kartenvisagen. Der Mann war ziemlich einfältig. Wintrow erinnerte sich an ihn. Er hieß Dedge. Er war eine der beiden Kartenvisagen, die Etta ausgesucht hatte, um Kennit festzuhalten. Er schien immer mit der jüngeren und geistig regeren Saylah zusammen zu sein. Sie bemerkten Wintrow kaum, als sie an ihm vorübergingen, so sehr waren sie miteinander beschäftigt. Das fing also auch wieder an. Es war zu erwarten gewesen. Nach jeder Katastrophe war das immer das erste Anzeichen für neue Hoffnung. Frauen und Männer, die sich fanden und paarten. Er sah ihnen neugierig nach und überlegte, wo sie wohl ein ruhiges Plätzchen finden mochten. Ob ihre Privatsphäre ihnen noch wichtig war, wenn sie lange Sklaven gewesen waren? Dann bemerkte er, dass er ihnen hinterherstarrte. Verärgert ermahnte er sich, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Mit Viviace reden. Nach seinem Vater sehen. Essen. Baden. Schlafen. Nach Kennit sehen. Sein Leben nahm plötzlich eine gewisse Form an, hatte einen Plan, der seine Zeit und seine Handlungen strukturierte. Wintrow ging weiter. Die Viviace dümpelte immer noch an ihrem Anker in der kleinen Bucht. Waren sie wirklich erst letzte Nacht hier vor Anker gegangen? Die Morgensonne löste den Frühnebel allmählich auf. Schon bald war sie stark genug, um zu wärmen. Die Galionsfigur starrte auf den breiten Kanal hinaus, als halte sie Wache. Vielleicht tat sie das ja auch. »Ich mache mir Sorgen, dass das andere Schiff uns niemals findet«, beantwortete sie laut seine stumme Frage. »Woher wollen sie wissen, wo sie suchen müssen?« »Ich habe das Gefühl, Kennit und Sorcor segeln schon lange miteinander. Solche Männer haben bestimmte Eigenheiten, Gewohnheiten, die sie auf ihre Mannschaften übertragen. Außerdem lebt Kennit noch. Früher oder später wird er sich gesund genug fühlen, um uns selbst nach Bullenbach zu bringen«, erklärte Wintrow beruhigend, um das Schiff zu trösten.
»Vielleicht«, stimmte Viviace widerwillig zu. »Aber ich würde mich besser fühlen, wenn wir schon unterwegs wären. Er hat die Nacht überlebt, das stimmt. Trotzdem ist er alles andere als stark, und geheilt ist er auch nicht. Gestern ist er beinahe gestorben, als er aufgehört hat zu kämpfen. Heute dagegen kämpft er um sein Leben. Ich mag es nicht, wie stark und schwer er träumt. Mir wäre es lieber, wenn sich ein richtiger Heiler um ihn kümmerte.« Ihre Worte trafen ihn ein bisschen. Wintrow wusste, dass er kein ausgebildeter Heiler war, aber sie hätte ihm ruhig ein Kompliment machen können, wie gut er seine Sache gemacht hatte. Er blickte auf das Deck hinab, wo er die unbeholfene Amputation durchgeführt hatte. Kennits Blut war an den Umrissen seines ausgestreckten Körpers entlanggeflossen. Der dunkle Fleck war eine unheimliche Silhouette seines verletzten Beines und seiner Hüfte. Und sie lag nicht weit von Wintrows Fingerabdruck entfernt. Dieses Zeichen war niemals aus dem Deck herausgewaschen worden. Würde Kennits Schatten ebenfalls bleiben? Wintrow scharrte unbehaglich mit seinem nackten Fuß darüber. Es war, als würde er mit den Fingern über ein Saiteninstrument streichen, nur dass der Akkord nicht laut anschlug. Kennits Leben sang plötzlich mit seinem eigenen zusammen. Wintrow zuckte vor der Macht dieser Verbindung zurück und setzte sich auf das Deck. Einen Augenblick später versuchte er, es sich zu beschreiben. Es waren nicht Kennits Erinnerungen gewesen und auch nicht seine Träume oder Gedanken. Stattdessen war es eine intensive Wahrnehmung des Piraten als Ganzes gewesen. Am ehesten konnte er es mit einem Parfüm oder einem Duft vergleichen, der plötzlich deutlichste Erinnerungen wach rief, nur hundertmal stärker. Er spürte, dass Kennit ihn beinahe aus sich selbst hinausgetrieben hätte. »Jetzt ahnst du vielleicht, wie es für mich ist«, bemerkte das Schiff ruhig. Und fügte einen Moment später hinzu: »Ich hätte
nicht gedacht, dass es dich so treffen könnte.« »Was war das?« »Das war die Macht des Blutes. Blut erinnert sich. Blut speichert keine Tage, Nächte und Vorfälle. Blut speichert Identität.« Wintrow schwieg und versuchte, die Bedeutung dessen zu begreifen, was sie sagte. Er streckte die Hand zu Kennits Schatten aus. Dann zog er die Finger rasch wieder zurück. Keine noch so starke Neugier konnte ihn dazu bringen, das noch einmal zu erleben. Die Gewalt dieser Erfahrung hatte seine Seele benommen gemacht und ihn beinahe aus seinem Selbst vertrieben. »Und das ist nur das, was du fühlst«, meinte das Schiff. »Du, der du selbst Blut in deinen Adern hast. Wenigstens besitzt du deinen eigenen Körper, deine eigenen Erinnerungen und deine eigene Identität. Du kannst Kennit einfach beiseite schieben und behaupten: ›Er existiert nicht.‹ Ich habe nichts dergleichen. Ich bin nicht mehr als Holz, in das die Erinnerungen deiner Familie eingebettet sind. Die Identität der, die du Viviace nennst, habe ich mir selbst zusammengestückelt. Als Kennits Blut in mich hineingesickert ist, konnte ich mich nicht dagegen wehren. Wie in der Nacht des Sklavenaufstands, als ein Mann nach dem anderen in mir aufgegangen ist und ich nicht die Macht besaß, sie abzuwehren. In dieser Nacht, in der das viele Blut vergossen wurde… Stell dir vor, du würdest in Identitäten ertrinken, nicht nur einmal oder zweimal, sondern Dutzende Male. Sie sind auf meinen Decks zusammengebrochen und gestorben, und sie haben das, was sie einmal waren, in mich hineingegossen wie in ein großes Becken. Ganz gleich, ob Sklave oder Mannschaftsmitglied. Sie sind zu mir gekommen. Alles, was sie waren, haben sie in mich hineingefüllt. Manchmal ist es einfach zu viel, Wintrow. Ich bin die verschlungenen Pfade ihres Blutes entlanggegangen, und ich weiß bis in die kleinste Einzelheit, wer sie waren.
Von diesen Geistern kann ich mich nicht befreien. Mächtiger beeinflussen mich nur die, die mich doppelt besitzen, wie ihr: mit eurem Blut, das in meine Planken gesickert ist, und mit eurem Verstand, der sich mit meinem verbindet.« »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, antwortete Wintrow lahm. »Glaubst du, das wüsste ich nicht?«, erwiderte Viviace verbittert. Sie schwiegen. Wintrow kam es so vor, als strahlten Viviaces Planken plötzlich Kälte aus. Er schlich davon, sein Kleiderbündel unter den Arm geklemmt, aber ihm war klar, dass er sich nirgendwo auf dem Schiff vor ihrem Bewusstsein verstecken konnte. Akzeptiere das Leben, wie es kommt. Das hatte Etta gerade erst zu ihm gesagt. In dem Moment war es ihm brillant vorgekommen. Er versuchte sich vorzustellen, dass ihr Schicksal sie für alle Zeiten aneinander fesselte, und schüttelte den Kopf. »Wenn es dein Wille ist, o Sa, dann weiß ich nicht, wie ich es froh ertragen soll«, sagte er ruhig. Und es schmerzte ihn zu fühlen, dass Viviace in diesem Moment das Gleiche dachte. Die Marietta fand sie Stunden später, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Sie hatte eine lange Brandspur an ihrer Steuerbordseite; Matrosen waren bereits dabei, den Schaden zu reparieren. Und ein noch deutlicheres Zeichen ihrer Begegnung und ihres Triumphs waren die Köpfe, die an einem Seil von ihrem Bugspriet herunterbaumelten. Der Ruf des Ausgucks lockte Wintrow an Deck. Jetzt sah er fasziniert und angeekelt zu, wie das Schiff näher kam. Er hatte das Gemetzel miterlebt, als die Sklaven sich erhoben und die Viviace übernommen hatten. Doch diese Trophäen entstammten mehr als nur einem bloßen Gemetzel. Es war eine geplante Brutalität, die er nicht begreifen konnte. Die Frauen und Männer, die neben ihm an der Reling standen, brachen in laute Jubelrufe aus, als sie die blutige Beute
sahen. Für sie repräsentierten die Köpfe nicht nur den Satrapen, der ihre Sklaverei geduldet hatte, sondern auch Chalced, den lebhaftesten Markt für versklavte Menschen. Als die Marietta näher kam, konnte Wintrow noch andere Spuren von der Schlacht mit der Galeone erkennen. Einige der Piraten trugen primitive Verbände, die sie allerdings nicht daran hinderten, zu grinsen und ihren Kameraden auf der Viviace zuzuwinken. Jemand zog an Wintrows Ärmel. »Die Frau sagt, du sollst kommen und dich um den Kapitän kümmern«, meinte Dedge verdrießlich. Wintrow betrachtete ihn aufmerksam und prägte sich das Gesicht und den Namen des Mannes ein. Er versuchte, hinter die Spuren der Sklaverei zu blicken und den Menschen unter den Tätowierungen zu erkennen. Dedges Augen waren meergrau, und er hatte nur noch einen spärlichen Haarkranz über den Ohren. Trotz seines fortgeschrittenen Alters sah man die Muskeln unter seinen Lumpen. Etta hatte ihn bereits als einen der ihren markiert. Er trug eine seidene Schärpe um die Taille. »Die Frau« hatte er sie genannt, als wäre das ein Titel und sie die einzige Frau an Bord. Vermutlich ist sie das in gewissem Sinne auch, dachte Wintrow. »Ich komme sofort«, antwortete er dem Mann. Die Marietta warf den Anker. Schon bald würde man eine Gig zu Wasser lassen, damit Sorcor herüberrudern und Kennit Meldung machen konnte. Wintrow hatte keine Ahnung, warum Kennit ihn bei sich haben wollte, aber vielleicht durfte er im Raum bleiben, während Sorcor Bericht erstattete. Wintrow hatte kurz vorher Kyle untersucht, und sein Vater hatte ihn bedrängt, so viel Informationen über den Piraten zu sammeln, wie er konnte. Wintrow versuchte, die Erinnerung an diese schmerzliche Stunde aus seinem Gedächtnis zu vertreiben. Die Gefangenschaft und die Schmerzen hatten Kyle noch tyrannischer gemacht, und er schien zu glauben, dass Wintrow sein letzter verbliebener Untergebener war. In Wahrheit empfand der Junge ihm gegenüber keine Loyalität mehr, außer viel-
leicht einen Rest von Pflichtgefühl. Wintrow fand es lächerlich, als sein Vater hartnäckig darauf bestand, dass Wintrow herumspionierte und sich einen Weg ausdachte, das Schiff wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Aber er hatte nicht gelacht. Stattdessen hatte er den Mann einfach schwadronieren lassen, während er seine Verletzungen untersuchte und ihn drängte, das trockene Brot zu essen und das abgestandene Wasser zu trinken, das man ihm als Ration zugedacht hatte. Es war einfacher, die Worte nur an sich vorbeiströmen zu lassen. Wintrow hatte stets genickt, aber nur wenig darauf geantwortet. Hätte er Kyle die wahre Situation an Bord der Viviace erklärt, hätte das seinen Vater nur verärgert. Wintrow ließ ihn seinen phantastischen Traum weiterspinnen, dass sie das Schiff irgendwann wieder unter Kontrolle bekommen könnten. Es war das Einfachste. Schon bald würden sie Bullenbach erreichen, und dann mussten sie sich dem stellen, was ihnen widerfahren war. Wintrow wollte seinen Vater nicht bekämpfen, damit dieser die Realität erkannte; das würde die Realität selbst früh genug tun. Er klopfte an die Tür und trat ein, als Etta leise antwortete. Kennit lag wach auf dem Bett. Er drehte Wintrow den Kopf zu und begrüßte ihn mit den Worten: »Sie will mir nicht beim Aufstehen helfen.« »Sie hat Recht«, erwiderte Wintrow. »Ihr solltet Euch nicht aufrichten, noch nicht. Ihr solltet still liegen bleiben und Euch ausruhen. Wie fühlt Ihr Euch?« Er legte dem Piraten die Hand auf die Stirn. Kennit drehte den Kopf weg. »Armselig. Frag mich nicht, wie ich mich fühle. Ich lebe, was spielt es also für eine Rolle, wie ich mich fühle? Sorcor kommt mit einem neuerlichen Triumph, und ich liege hier, siech und stinkend wie ein Leichnam. Ich will mich nicht so sehen lassen. Hilf mir wenigstens, mich aufzusetzen.« »Das dürft Ihr nicht«, warnte ihn Wintrow. »Euer Blut ist im Moment noch ruhig. Bleibt liegen und lasst es so. Wenn Ihr
Euch aufsetzt, verändert das die Gefäße Eurer Organe, und Ihr bringt Euer Blut in Bewegung, das sich dann vielleicht durch Eure Wunde ergießt. Das habe ich im Kloster gelernt.« »Und das habe ich an Deck gelernt: Ein Piratenkapitän, der seine Mannschaft nicht mehr aktiv führen kann, ist bald Fischfutter. Ich will sitzen, wenn Sorcor hereinkommt.« »Selbst wenn Euch das umbringen könnte?«, fragte Wintrow ruhig. »Willst du meinen Willen anfechten?«, entgegnete Kennit. »Nein. Nicht Euren Willen. Aber Euren gesunden Menschenverstand. Warum wollt Ihr hier in Eurem Bett sterben, nur um einen Mann zu beeindrucken, der mich allein durch seine Loyalität zu Euch beeindruckt hat? Ich glaube, Ihr schätzt Eure Mannschaft falsch ein. Sie werden sich nicht gegen Euch wenden, weil Ihr ruhen müsst.« »Du bist ein Weichling«, erklärte Kennit verächtlich. Er drehte den Kopf von dem Jungen weg und sah die Wand an. »Was weißt du schon von Loyalität oder davon, wie ein Schiff geführt wird? Ich sage dir eins: So will ich nicht gesehen werden.« Seine Stimme hatte einen Unterton, den Wintrow plötzlich erkannte. »Warum habt Ihr nicht gesagt, dass Ihr wieder Schmerzen habt? Die Kwazi-Fruchtrinde kann sie wieder eindämmen. Ihr könnt klarer denken, wenn Ihr nicht von Qualen abgelenkt werdet. Und dann könnt Ihr auch besser ruhen.« »Du meinst, ich bin besser lenkbar, wenn ich unter Drogen stehe«, knurrte Kennit. »Du versuchst nur, mir deinen Willen aufzuzwingen.« Er hob die zitternde Hand zu seinen Brauen. »Mein Kopf hämmert vor Schmerzen; wie kann daran mein Bein schuld sein? Ist es nicht eher ein Ergebnis von einem Gift, das du mir verabreicht hast?« Trotz seiner Erschöpfung gelang es dem Piraten, einen Ausdruck von gerissener Belustigung aufzusetzen. Offenbar vermutete er, Wintrow bei einer List ertappt zu haben.
Seine Worte ließen Wintrow erschrocken verstummen. Wie sollte er mit so viel Skepsis und Misstrauen umgehen? Als er antwortete, klang ihm seine Stimme kalt und förmlich in den Ohren. »Ich zwinge Euch keine Medizin auf, Sir. Wenn Euer Schmerz so groß wird, dass Ihr nach Linderung verlangt, dann ruft mich. Ich behandle Euch dann mit der Kwazi-Rinde. Bis dahin werde ich Euch nicht weiter belästigen.« Die letzten Worte sprach er über die Schulter, als er ging. »Wenn Ihr Euch aufsetzt, um Sorcor zu empfangen, wird Euer Blut strömen und unser beider Leben beenden. Aber Argumente können gegen Eure Sturheit nichts ausrichten.« »Hört damit auf«, zischte Etta die beiden an. »Es gibt eine einfache Lösung für das Problem, die uns allen gefällt. Erlaubt Ihr, sie vorzuschlagen?« Kennit drehte den Kopf und sah sie mit glanzlosen Augen an. »Ach ja?«, meinte er. »Empfangt Sorcor nicht. Gebt ihm einfach nur den Befehl, nach Bullenbach zu segeln, dann folgen wir ihm. Er muss nicht erfahren, wie schwach Ihr seid. Wenn wir in Bullenbach ankommen, seid Ihr vielleicht kräftiger.« Kennits Augen funkelten verschlagen. »Bullenbach ist zu nah«, erklärte er. »Er soll uns nach Divvytown zurückführen. Dann habe ich mehr Zeit, mich zu erholen.« Er machte eine Pause. »Aber Sorcor wird sich bestimmt wundern, weil ich seinen Bericht nicht hören will. Er wird etwas vermuten.« Etta verschränkte die Arme vor der Brust. »Sagt ihm, dass Ihr beschäftigt seid. Mit mir.« Sie lächelte. »Schickt den Jungen mit dem Befehl zu Brig. Der kann es Sorcor ausrichten. Er wird es akzeptieren.« »Es könnte funktionieren«, lenkte Kennit langsam ein. Er scheuchte Wintrow mit der Hand hinaus. »Geh jetzt, sofort. Sag Brig, dass ich Etta bei mir habe und nicht gestört werden will. Und überbringe ihm den Befehl, dass wir nach Divvytown segeln.« Kennit kniff die Augen zusammen. Wintrow wusste
nicht, ob es Belustigung war oder Müdigkeit. »Und deute an, dass ich Brigs Können danach bemesse, wie geschickt er das Schiff auf dieser Strecke bewegt. Lass anklingen, dass es ein Test seiner Fähigkeiten ist, kein Unvermögen meinerseits.« Seine Lider sanken weiter herunter. »Warte eine Weile, bis wir unterwegs sind. Dann komm wieder her. Ich werde dich danach beurteilen, wie gut du diese Aufgabe erfüllst. Überzeuge Brig und Sorcor, und vielleicht betraue ich dich dann damit, mein Bein zu betäuben.« Kennit hatte die Augen ganz geschlossen. Leiser fügte er hinzu: »Vielleicht lasse ich dich dann leben.«
9
Bingtown Tief im Inneren des Paragon warf sich Amber von einer Seite auf die andere, wie ein halbverdauter Schiffszwieback im Magen eines Matrosen. Ein Traum, der sie nicht aus dem Schlaf wecken konnte, verwandelte ihre Ruhe in einen Kampf unter der Bettdecke, einen Kampf mit sich selbst. Manchmal war Paragon versucht, nach ihren Gedanken zu tasten und an ihrer Not teilzuhaben, aber in den meisten Nächten war er einfach nur dankbar, dass ihre Qualen nicht die seinen waren. Sie lebte mittlerweile an Bord, schlief nachts in seinem Inneren und bewachte ihn vor denen, die vielleicht kommen, ihn wegschleppen und zerstören wollten. Auf ihre eigene Art war sie seinem Wunsch ebenfalls nachgekommen. Sie hatte einige seiner Lagerräume belegt, allerdings nicht mit Treibholz und billigem Lampenöl, sondern mit dem Hartholz, den Ölen und Polituren ihres Handwerks. Und sie taten, als hätte sie sie nur deshalb dort gelagert, damit sie am Abend unter seinem Bug sitzen und schnitzen konnte. Sie wussten beide, dass es nur einen Augenblick dauern würde, das Holz mit dem Öl zu tränken und anzuzünden. Sie würde nicht zulassen, dass man ihn lebendig bekam. Manchmal tat sie ihm beinahe Leid. Es war nicht leicht für sie, in der schiefen Kapitänskajüte zu leben. Mit viel Geächze hatte sie Brashens zurückgelassene Habseligkeiten aus der Kajüte geräumt. Paragon war aufgefallen, wie sorgsam sie sie behandelt hatte, bevor sie die Sachen unter Deck gebracht hatte. Jetzt hatte sie das Quartier übernommen und schlief des Nachts in seiner Hängematte. Sie kochte draußen am Strand, wenn das Wetter gut war, und aß kalt an den anderen Tagen. Wenn sie morgens zu ihrem Laden ging, nahm sie einen Was-
sereimer mit. Wenn sie abends zurückkam, war er randvoll, und sie hatte die Taschen mit Lebensmitteln gefüllt, die sie auf dem Markt gekauft hatte. Dann machte sie sich in seinem Inneren zu schaffen und sang kleine, unsinnige Lieder. Wenn es schön war, zündete sie abends ein Kochfeuer an und plauderte mit ihm, während sie eine einfache Mahlzeit zubereitete. In gewisser Weise war es, sehr angenehm, tägliche Gesellschaft zu haben. Andererseits verärgerte es ihn. Er hatte sich an seine Einsamkeit gewöhnt. Selbst mitten in einem vertraulichen Gespräch fiel ihm ein, dass ihr Arrangement zeitlich begrenzt war. Alles, was Menschen taten, war zeitlich begrenzt. Wie sollte es auch anders sein bei Kreaturen, die sterben mussten? Selbst wenn sie den Rest ihres Lebens bei ihm blieb, war sie trotzdem irgendwann verschwunden. Kaum hatte er diesen Gedanken einmal gedacht, konnte er ihn nicht mehr loswerden. Er fing an zu warten, nachdem ihm klar wurde, dass die Tage mit Amber irgendwann zu Ende gehen mussten. Es war besser, es sofort hinter sich zu bringen und sie loszuwerden, als die ganze Zeit auf den Tag zu warten, an dem sie ihn verlassen würde. Daher war er ihr gegenüber manchmal barsch und kurz angebunden. Nicht jedoch an diesem Abend. Heute hatten sie einen fröhlichen Abend miteinander. Sie hatte ihm unbedingt ein albernes Lied beibringen wollen, und dann hatten sie es zusammen gesungen. Erst als Duett und dann als Kanon. Paragon entdeckte, dass Singen ihm gefiel. Sie hatte ihn auch noch andere Dinge gelehrt. Nicht, wie man eine Hängematte flocht. Das hatte er von Brashen gelernt. Von solch seemännischen Dingen verstand sie nicht viel. Aber sie hatte ihm ein weiches Stück Holz und ein besonders großes Messer gegeben, womit er ausprobieren konnte, ob er Talent für ihren Beruf besaß. Manchmal spielte sie auch noch ein anderes Spiel mit ihm, eines, das ein bisschen unheimlich war. Mit einer langen Stange versuchte sie, ihn leicht zu berühren. Das Spiel funktionierte so, dass er diese Stange wegstoßen musste. Sie lobte ihn am meisten,
wenn er die Stange wegstieß, bevor sie ihn damit berührte. Er wurde immer besser in diesem Spiel. Wenn er sich konzentrierte, konnte er die Stange beinahe fühlen, und zwar durch die leichten Bewegungen in der Luft. Es gab eine unausgesprochene Übereinkunft zwischen ihnen, dass dies nur ein Spiel wäre. Er erkannte sehr genau, was es eigentlich war: eine Übung von Fähigkeiten, die ihm vielleicht helfen konnten, sich zu schützen, falls es zu einem direkten Angriff kam. Wie lange konnte er sich verteidigen? Er lächelte finster. Lange genug, damit Amber in ihm die Feuer entzünden konnte. Er fragte sich, ob das wohl ihre Alpträume verursachte. Vielleicht träumte sie, dass sie ihn in Brand gesetzt hatte und nicht mehr rechtzeitig fliehen konnte. Vielleicht träumte sie auch, als sie so schrie, dass sie in seinem Rumpf brannte, dass das Fleisch von ihren Knochen fiel. Nein. Es war eher ein Wimmern und Jammern im Schlaf, kein Schreien, das sie hätte wecken können. Wenn sie unter diesen Alpträumen litt, brauchte sie lange, um wieder wach zu werden. Dann kam sie hinaus aufs Deck, roch nach Angstschweiß und atmete tief die frische Nachtluft ein. Und wenn sie sich auf sein schiefes Deck setzte, dann konnte er fühlen, wie ihr schlanker Körper zitterte. Bei diesem Gedanken hob er die Stimme. »Amber? Amber, wach auf! Es ist nur ein Traum!« Er fühlte, wie sie sich rastlos bewegte, und hörte eine undeutliche Antwort. Sie klang so, als würde sie ihn aus einer ungeheuren Entfernung rufen. »Amber!«, schrie er. Sie zuckte heftig, eher wie ein Fisch, der in einem Netz gefangen war, als wie eine Frau, die in einer Hängematte schlief. Drei Atemzüge später fühlte er ihre nackten Füße auf den Planken. Sie tappte zu den Haken, wo sie ihre Gewänder aufgehängt hatte. Einen Moment später ging sie über das schiefe Deck. So leicht wie ein Vogel sprang sie über die Seite und landete im Sand. Kurz darauf lehnte sie sich gegen seine Hülle.
Ihre Stimme klang heiser. »Danke, dass du mich geweckt hast. Es war gut, glaube ich.« »Wärst du lieber in deinem Alptraum geblieben?« Er war verwirrt. »Ich dachte, dass solche Erfahrungen sehr unangenehm sind, fast so unangenehm, als wenn man sie in der Realität erlebt.« »Das sind sie auch. Außerordentlich unangenehm. Aber wenn ein solcher Traum immer wiederkehrt, geschieht das manchmal, damit man ihn beachtet. Nach einer Weile können solche Träume sogar Sinn bekommen. Manchmal jedenfalls.« »Was hast du geträumt?«, fragte Paragon beinahe unwillig. Sie lachte zitternd. »Denselben Traum. Schlangen und Drachen. Der neunfingrige Sklavenjunge. Außerdem habe ich deine Stimme gehört, die Warnungen und Drohungen ausstieß. Aber du warst nicht da. Du warst… etwas anderes. Und es gibt noch etwas… Ich weiß nicht. Es schwankt die ganze Zeit wie Spinnweben im Wind. Je mehr ich danach greife, desto weiter zerreiße ich es.« »Schlangen und Drachen.« Paragon sprach die Worte nur widerwillig aus. Er lachte gezwungen. »Ich habe in meiner Zeit genug Schlangen erlebt. Ich halte nicht viel von ihnen. Aber so etwas wie Drachen gibt es nicht. Ich glaube, du hattest nur einen schlimmen Traum, Amber. Denk nicht mehr daran, und erzähl mir eine Geschichte, damit wir auf andere Gedanken kommen.« »Ich glaube nicht«, erwiderte Amber bebend. Ihr Traum hatte sie stärker erschüttert, als Paragon angenommen hatte. »Denn wenn ich dir heute Abend Geschichten erzählen würde, dann von den Drachen, die ich gesehen habe, die unter einem blauen Himmel über meinem Kopf dahinfliegen. Es ist noch nicht so lange her und auch nicht so weit nördlich von hier. Ich sage dir das eine, Paragon: Wenn du in einem Hafen der Sechs Herzogtümer anlegen würdest und den Leuten da erklärst, dass du nicht an Drachen glaubst, würden sie dich wegen deiner alber-
nen Überzeugungen verspotten.« Sie lehnte ihren Kopf an seine Planken und redete weiter. »Erst allerdings müsstest du sie an die Vorstellung gewöhnen, dass es tatsächlich Zauberschiffe gibt. Bis ich leibhaftig eins gesehen habe und hörte, wie es sprach, habe ich geglaubt, Zauberschiffe wären eine wilde Geschichte, die erfunden worden war, um den Ruf der BingtownHändler zu festigen.« »Findest du uns wirklich so merkwürdig?«, wollte Paragon wissen. Er fühlte, wie sie den Kopf hob und ihn ansah. »Eine der merkwürdigsten Eigenschaften an dir, mein Lieber, ist, dass du keine Ahnung hast, wie wundersam du bist.« »Wirklich?« Er wartete begierig auf weitere Komplimente. »Du bist wunderbar wie die Drachen, die ich gesehen habe.« Sie hatte erwartet, dass ihn der Vergleich freute. Er spürte es, aber stattdessen war ihm unwohl dabei. Sie schien jedoch von seinem Unbehagen nichts zu bemerken und redete weiter. »Ich glaube, im Herzen eines jeden Menschen gibt es einen Platz für Wunder. Er schlummert da und wartet auf Erfüllung. Ihr ganzes Leben sammeln die Menschen Schätze, um diesen Platz zu füllen. Manchmal sind es winzige, glitzernde Juwelen: eine Blume, die im Schutz eines umgestürzten Baumes blüht, die Braue eines kleinen Kindes zusammen mit der Kurve seiner Wange. Manchmal jedoch fällt dir ein gewaltiger Fund in die Hände, als wenn die Kiste eines gierigen Piraten vor einem unverdächtigen Betrachter ausgeschüttet wird. Das waren die fliegenden Drachen. Es gab sie in allen Farben, die ich kenne, und in sämtlichen Formen, die du dir vorstellen kannst. Einige ähnelten den Drachen, die ich aus meiner Kindheit kenne, andere jedoch waren vollkommen ungewöhnlich geformt, und wieder andere waren in ihrer Fremdartigkeit furchteinflößend. Es waren richtige Drachen, einige mit langen, schlangenartigen Schwänzen, einige mit vier, andere mit zwei Beinen, einige rot, andere grün oder golden. Zwi-
schen ihnen flogen geflügelte Hirsche umher, ein gewaltiger Bär, der während des Fluges mit seinen Reißzähnen um sich biss, und einer sah aus wie eine geflügelte Schlange, und es gab sogar eine große gestreifte Katze mit gestreiften Flügeln…« Sie verstummte, von Ehrfurcht überwältigt. »Es waren also keine echten Drachen«, bemerkte Paragon schneidend. »Ich sage dir doch, dass ich sie gesehen habe«, erwiderte sie hartnäckig. »Du hast irgendetwas gesehen. Oder irgendwelche Dinge, die sich die Gestalt von Drachen angeeignet hatten. Trotzdem waren es keine echten Drachen. Genauso gut könntest du behaupten, dass du grüne, blaue und rote Pferde gesehen hast, von denen einige sechs Beine hatten und andere wie Katzen aussahen. Solche Dinge sind keine Pferde. Was es auch gewesen sein mag, das du gesehen hast, es waren keine Drachen.« »Nun… aber…« Es freute ihn, dass sie um Worte rang, sie, die normalerweise so geschmeidig und schnell war. Er half ihr nicht. »Einige waren Drachen«, verteidigte sie sich schließlich. »Einige waren wie die Drachen geformt, die ich auf alten Schriftrollen und Wandteppichen gesehen habe.« »Einige deiner fliegenden Dinge waren geformt wie Drachen und andere wie Katzen. Genauso gut kannst du sagen, dass fliegende Katzen echt sind und nur manchmal wie Drachen aussehen.« Sie schwieg lange. Als sie schließlich antwortete, wusste er, dass sie nachgedacht hatte und dass ihre Gedanken sie zu seiner persönlichen Geschichte zurückgebracht hatten. Ihre Stimme klang gefährlich herzlich. »Warum ist es so wichtig für dein Seelenleben, dass es keine Drachen gibt? Warum bestehst du so sehr darauf, das Staunen zu vernichten, das ich beim Anblick dieser geflügelten Kreaturen empfunden habe?« »Das ist es nicht, und das tue ich auch nicht. Ich glaube ein-
fach nur, dass man sagen sollte, was man meint. Es ist mir egal, ob du über sie gestaunt hast. Ich glaube nur, dass du solche Dinge nicht Drachen nennen solltest.« »Warum nicht? Wenn es keine Drachen gibt, warum ist es dann so wichtig, wie ich diese Kreaturen nenne, die ich sah? Warum sollte ich sie nicht Drachen nennen, wenn dieser Name mir gefällt?« »Weil…« Er fühlte sich plötzlich wie in einem Netz gefangen. »Wenn es doch so etwas wie Drachen gibt, würdest du sie mit solch grotesken Gestalten entwürdigen.« Plötzlich setzte sie sich gerade hin. Er fühlte, wie sie von ihm abrückte, und konnte beinahe ihren durchdringenden Blick spüren, mit dem sie das musterte, was das Beil von seinem Gesicht übrig gelassen hatte. »Du weißt etwas«, beschuldigte sie ihn. »Du weißt etwas über Drachen und von meinem Traum und was er bedeutet. Stimmt's?« »Ich weiß nicht einmal, was du geträumt hast«, erklärte er. Er versuchte, seine Stimme vernünftig klingen zu lassen, aber sie wurde höher und brach. Dass ihm das aber auch immer im ungeeignetsten Moment passieren musste! »Und ich habe nie irgendwelche Drachen gesehen.« »Nicht einmal in deinen Träumen?« Ihre leise Frage war so heimtückisch wie treibender Nebel. »Berühr mich nicht!«, warnte er sie. »Das hatte ich gar nicht vor«, erwiderte sie, aber er glaubte ihr nicht. Wenn sie ihn berührte, Haut an Holz, und sich genug bemühte, dann würde sie wissen, ob er log. Das war nicht fair. Er durfte ihr das nicht antun. »Hast du jemals von Drachen geträumt?«, fragte sie ihn. Es war eine direkte Frage, beiläufig gestellt. Aber er fiel nicht darauf herein. »Nein«, antwortete er nachdrücklich. »Bist du sicher? Ich dachte, du hättest mir schon von solchen Träumen erzählt, einmal…«
Er zuckte mit den Schultern. Es war eine einstudierte Geste. »Nun, vielleicht hab ich es. Ich kann mich nicht daran erinnern. Vielleicht habe ich einen solchen Traum geträumt, aber er war nicht wichtig für mich. Nicht alle Träume sind wichtig, weißt du. Genau genommen frage ich mich sowieso, ob Träume überhaupt wichtig oder bedeutsam sind.« »Meine sind es«, entgegnete Amber entschieden. »Ich weiß, dass sie es sind. Deshalb ist es so beunruhigend, wenn ich ihre Bedeutung nicht erfassen kann. Ach, Paragon, ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht. Ich hoffe, es war kein ernsthafter Fehler.« Er lächelte im Dunkeln. »Nun, wie schwer kann ein Fehler sein, den eine Holzperlenmacherin begehen kann? Ich bin sicher, dass du dir wegen nichts Sorgen zu machen brauchst. Drachen und Seeschlangen, also wirklich. Was haben solch fantastische Kreaturen mit dir und mir zu tun?« »Seeschlangen!«, rief Amber aus. »Aha!« Sie schwieg lange, und dann fühlte er beinahe, wie sie ihn herzlich anlächelte. »Seeschlangen«, meinte sie bestätigend, als spräche sie mit sich selbst. »Danke, Paragon. Dafür danke ich dir sehr.« »Es ist nicht deine Wache«, stellte Ophelia leise fest. »Das weiß ich genauso gut wie du. Ich konnte nicht schlafen«, antwortete Althea. Sie sah an der Galionsfigur vorbei. Die Wellen waren sanfte Hügel, und der leichte Frühlingswind schmiegte ihren leichten Umhang an ihren Körper. »Das weiß ich genauso gut wie du«, konterte Ophelia. »Du hast dich seit beinahe zwei Stunden in deiner Koje herumgewälzt. Warum? Bist du aufgeregt, weil wir morgen in Bingtown anlegen?« »Ja. Aber ich bin nicht froh. Ich fürchte mich vor dem, dem ich mich morgen stellen muss. Meine Schwester, meine Mutter. Kyle, falls die Viviace da ist. Ach, Ophelia, ich fürchte mich sogar, meinem Schiff gegenüberzutreten, wenn die Zeit gekommen ist. Wie kann ich sie ansehen und ihr erklären, wie
und warum ich sie habe gehen lassen?« »Du weißt, dass du das nicht musst. Leg einfach deine Hand auf ihre Planken, und sie wird alles fühlen, genauso sicher wie ich das tue.« Althea strich zärtlich mit den Händen über die polierte Reling. »Es ist ein großes Wunder für mich, dieses Verstehen, das sich zwischen uns entwickelt hat. Es ist ebenfalls ein Grund, warum ich mich davor fürchte, morgen in Bingtown anzulegen. Auf dir habe ich mich so sicher gefühlt. Es gefällt mir gar nicht, dich verlassen zu müssen.« Als sie Schritte hinter sich auf Deck hörte, wandte sie den Kopf. Es war Grag. Er ging über das mondbeschienene Deck, und seine nackten Füße klatschten leise bei jedem Schritt. Er trug nur eine Hose. Sein Haar war zerzaust wie bei einem Jungen. Offensichtlich war er gerade erst aufgewacht, und trotzdem hatte er die Geschmeidigkeit eines Tigers, als er über das Deck kam. Althea lächelte. Und Ophelia beantwortete ihre Gedanken sehr, sehr leise. »Männer haben keine Ahnung von ihrer eigenen Schönheit.« Grag grinste, als er näher kam. »Ich habe an Eure Tür geklopft. Als ich Euch nicht gefunden habe, wusste ich sofort, wo ich Euch suchen muss.« »Ach, ja?« Ophelia hob eine Braue. »Ist es deine Gewohnheit, um diese Zeit an Altheas Tür zu klopfen? Ohne Hemd am Leib?« »Nur wenn mein Vater mich weckt und mich darum bittet«, erwiderte Grag unerschrocken. »Er sagt, dass er sich gern ungestört mit uns unterhalten möchte.« »Ich bin in dieses ›ungestörte‹ Gespräch nicht mit einbezogen?« Ophelia war unüberhörbar beleidigt. »Ich vermute, doch, weil er mich gebeten hat, Althea zu wecken und sie zu bitten, hierher zu kommen. Ich dachte sogar, dass du es vielleicht vorgeschlagen hättest.« »Nein. Es ist meine Idee.« Kapitän Tenira trat leise in ihren
Kreis. Seine kurze, gebogene Pfeife glühte auf, und eine Wolke aromatischen Dufts wehte zu ihnen herüber. »Nennt mich einen furchtsamen alten Mann, wenn ihr wollt, aber es gibt einige Vorsichtsmaßnahmen, die ich gern ergreifen würde, bevor wir in Bingtown anlegen. Und sie betreffen Althea.« Sein ernsthafter Ton beendete ihre Frotzelei schlagartig. »Was habt Ihr vor?«, wollte Althea wissen. »Ich denke an unsere Begegnung mit dieser chalcedanischen Galeone. Sie segelte unter der Flagge des Satrapen. In Bingtown haben sich die Dinge in den letzten Jahren geändert. Ich weiß nicht, wie viel Gunst oder Einfluss dieser Kapitän hier haben mag oder ob er eine Beschwerde über unsere Reaktion einlegt.« Kapitän Tenira schnaubte verächtlich. »Vielleicht ist er sogar hierher geflohen, als er wieder weitersegeln konnte. Also. Je nachdem, wie viel Einfluss er hier hat… und wie sehr der Satrap mittlerweile vor Chalced kriecht… könnte uns ein höchst ungemütliches Willkommen erwarten.« Alle schwiegen. Althea war klar, dass Grag offenbar genauso wenig darüber nachgedacht hatte wie sie. Nicht, dass sie diesen Vorfall als unbedeutend abgetan hätte, im Gegenteil! Ophelias wunderschöne, schlanke Finger waren versengt! Althea zuckte jedes Mal beim Anblick der geschwärzten Hände zusammen, ganz gleich, wie oft die Galionsfigur ihr auch versichert hatte, dass sie keine Schmerzen empfand, jedenfalls nicht so wie Menschen. Sie hatte sich darauf gefreut, nach Bingtown zu kommen, und erwartet, dass die anderen Alten Händler ihren tiefen Zorn über den Angriff teilen würden. Niemals wäre sie auf die Idee gekommen, man könnte annehmen, der chalcedanischen Galeone und ihrer Mannschaft wäre Unrecht geschehen. Kapitän Tenira gab ihnen Zeit, über seine Worte nachzudenken, bevor er weitersprach. »Wie gesagt, ich bin vielleicht einfach nur ein furchtsamer alter Mann. Ich habe mich gefragt, was das Schlimmste wäre, das sie mir antun könnten. Nun,
habe ich mir gesagt, sie könnten mein Schiff beschlagnahmen, wenn ich am Zollhafen anlege. Ja, sie könnten sogar meinen Ersten Maat und mich in Gewahrsam nehmen. Und wer würde dann zu meiner Familie gehen und ihnen sagen, was uns zugestoßen ist? Wer würde es vor dem Bingtown-Händlerkonzil bezeugen und sie um Hilfe ersuchen? Ich habe viele gute Matrosen, allesamt fähige Seeleute und verlässliche Männer, aber…«, er schüttelte den Kopf, »… keiner von ihnen ist ein guter Redner, geschweige denn ein Bingtown-Händler.« Althea begriff sofort, worauf er hinauswollte. »Ihr wollt, dass ich gehe?« »Wenn Ihr das tun würdet?« »Selbstverständlich. Ohne zu zögern. Wie kommt Ihr darauf, dass Ihr mich darum bitten müsstet?« »Na ja, daran habe ich auch nicht gezweifelt. Aber leider ist das nicht alles«, sagte Kapitän Tenira ruhig. »Je länger ich über mögliche Veränderungen in Bingtown nachgedacht habe, desto weniger überzeugt bin ich, dass wir im Hafen willkommen geheißen werden. Um sicherzugehen, nur um absolut sicherzugehen, halte ich es für das Beste, wenn Ihr wieder Eure Verkleidung als Schiffsjunge anlegt. So könntet Ihr einfacher vom Schiff schleichen. Wenn es sein muss.« »Glaubst du wirklich, dass es dazu kommt?«, fragte Grag ungläubig. Kapitän Tenira seufzte. »Sohn, wir haben einen Ersatzmast unter Deck. Warum? Nicht, weil wir davon ausgehen, dass wir ihn brauchen, sondern weil es eines Tages nötig werden könnte. Und genauso möchte ich diese Angelegenheit auch betrachten.« »Ich hätte das Gefühl, als würde ich sie allein in die Gefahr schicken«, widersprach Grag plötzlich. Sein Vater musterte ihn unbewegt. »Wenn es dazu kommen sollte, werden wir ihr helfen können, vor der Gefahr zu entkommen, bevor die Falle sich auch hinter ihr schließt. Es wäre
weit vorteilhafter für sie, wenn sie Geiseln aus zwei Bingtowner Händlersippen in der Hand hätten.« »Sie? Wer sind ›sie‹?«, mischte sich Ophelia plötzlich ein. »Und warum sollte ein Bingtown-Händler irgendjemanden in Bingtown fürchten außer einen anderen Händler? Bingtown ist unsere Stadt. Der Satrap Esclepius hat sie uns vor vielen Jahren überschrieben.« »Und Satrap Cosgo hat diese Tat immer weiter reduziert, seit er den Mantel der Rechtschaffenheit geerbt hat.« Kapitän Tenira schloss den Mund, als wollte er weitere bittere Worte vermeiden. Sanfter fuhr er fort: »Andere sind in Bingtown an die Macht gekommen. Zuerst haben wir wenig auf die Steuereintreiber geachtet. Selbst als sie einen Zollhafen forderten, in dem jedes Schiff anlegen musste, haben wir dem noch zugestimmt. Und als sie das Recht verlangt haben, die Fracht selbst zu inspizieren, statt einfach nur dem Wort des Kapitäns zu glauben, haben wir gelacht und zugestimmt. Es war unsere Stadt. Ihre Forderungen waren zwar beleidigend, aber in derselben Weise, wie ungezogene Kinder beleidigend sind. Wir haben nicht mit der Welle dieser sogenannten Neuen Händler gerechnet, die sich mit den Steuereintreibern des Satrapen verbündeten, weil sie an Macht gewinnen wollten. Und keiner von uns hat damit gerechnet, dass der Satrap Chalceds schmutzige Hand in Freundschaft akzeptieren würde. Ganz zu schweigen davon, dass er chalcedanischen Galeonen unter dem Deckmantel, Recht und Ordnung zu vertreten, Zugang zu unseren Gewässern gewährt.« Er schüttelte den Kopf. »Das sind die Dinge, über die ich heute Nacht nachgedacht habe, und deshalb habe ich auch beschlossen, lieber übervorsichtig zu sein.« »Das kommt mir sehr klug vor«, meinte Althea, aber Ophelia unterbrach sie: »Du hast gesagt, sie würden mich beschlagnahmen? Das werde ich nicht erlauben. Ich habe diesen chalcedanischen Schweinen nicht erlaubt, mich zu besteigen, und ich werde
auch…« »Doch, das wirst du.« Kapitän Teniras ernste Stimme ließ sie verstummen. »Genauso wie Grag und ich es über uns ergehen lassen werden, dass sie uns verhaften, falls sie es versuchen. Ich habe es bis zur bitteren Neige durchdacht, meine Liebe. Es wird Zeit, dass Bingtown erwacht. Wir haben tief geschlummert und zugelassen, dass andere unseren Besitz stehlen. Vor ein paar Tagen haben chalcedanische Piraten uns angegriffen, die sich als Handlanger des Satrapen maskiert hatten. Und in etwa einem Tag könnten uns vielleicht Briganten und Kidnapper festhalten, die sich als rechtmäßige Steuerinspektoren maskieren. Wir lassen zu, dass sie uns verhaften. Nicht, weil wir akzeptierten, dass es ihr Recht wäre, und auch nicht, weil wir sie nicht zurückschlagen könnten, sondern nur, um dem Rest von Bingtown zu zeigen, welche Macht diese kleinen Emporkömmlinge bereits haben. Die Gefahr muss erkannt werden, solange man sie noch leicht zerschlagen kann. Deshalb bitte ich dich, es zuzulassen, wenn sie versuchen, dich zu beschlagnahmen, oder bewaffnete Wachen an Bord schicken. Sie können uns nicht lange festhalten, wenn Bingtown erst einmal erwacht ist. Ophelia soll ein Wahrzeichen für den Bingtowner Händlerstolz werden.« Ophelia genoss das Schweigen eine Weile. »Ich werde es wohl erlauben«, sagte sie schließlich. »Aber nur, weil du mich darum bittest.« »Gutes Mädchen«, lobte Tenira sie liebevoll. »Keine Angst. Grag und ich werden dafür sorgen, dass dir nichts geschieht.« »Und ich sorge dafür, dass dir nichts passiert«, erwiderte Ophelia. Der Kapitän lächelte schwach. »Das beruhigt mich wirklich sehr.« Er sah von Grag zu Althea und dann auf den Mond über ihnen. »Ich bin ziemlich müde«, verkündete er und musterte Althea. »Wollt Ihr meine Wache übernehmen? Ihr scheint ziemlich munter zu sein.«
»Mit Vergnügen, Sir. Ihr habt mir eine Menge zum Nachdenken gegeben.« »Danke. Macht weiter, Althea. Gute Nacht, Grag.« Kurz bevor der Kapitän außer Hörweite war, bemerkte Ophelia: »Wie süß. Wie geschickt er es eingefädelt hat, euch beide allein im Mondlicht zu lassen.« »Wie schade, dass du das nicht auch tun kannst«, erwiderte Grag gutmütig. »Euch unbeaufsichtigt lassen? Du solltest dich schämen, dass du es wagst, so etwas überhaupt vorzuschlagen.« Er antwortete nicht darauf, sondern ging zur Backbordseite und lehnte sich an die Reling. Ophelia zwinkerte Althea zu und forderte sie mit einem Nicken auf, ihm dorthin zu folgen. Althea seufzte bedauernd und gehorchte. »Ihr habt in den letzten Tagen wenig mit mir geredet«, meinte Grag, ohne sie anzusehen. »Ich hatte viel zu tun. Wenn Euer Vater mir das Schiffszeugnis gibt, will ich es mir auch verdient haben.« »Das habt Ihr doch längst. Niemand auf diesem Schiff würde Eure Fähigkeiten anzweifeln. Aber ich glaube nicht, dass Ihr wirklich so beschäftigt wart. Vielmehr glaube ich, dass unser letztes Gespräch Euch unangenehm war.« Sie stritt es nicht ab. »Ihr seid sehr direkt«, stellte sie stattdessen fest. »Das gefällt mir.« »Auf einfache Fragen gibt es gewöhnlich auch einfache Antworten. Ein Mann weiß gern, wo er steht.« »Das ist vernünftig. Eine Frau braucht manchmal etwas Zeit zum Nachdenken.« Althea versuchte locker, aber nicht schnippisch zu antworten. Er sah sie nicht an, als er weitersprach. »Die meisten Frauen brauchen keine Zeit, um herauszufinden ob sie jemanden lieben können oder nicht.« War er gekränkt? »Ich glaube nicht, dass Ihr mich das gefragt habt«, antwortete Althea. »Ich dachte, wir unterhalten uns über eine mögliche
Ehe. Wenn Ihr wissen wollt, ob mir etwas an Euch liegt, dann lautet die Antwort ja. Ihr seid rücksichtsvoll, höflich und freundlich.« Althea warf einen kurzen Seitenblick auf Ophelia. Die Galionsfigur war vollkommen regungslos und starrte aufs Meer hinaus. Althea sprach etwas lauter. »Ganz zu schweigen davon, dass Ihr gut ausseht und ein wunderschönes Schiff erbt.« Wie sie gehofft hatte, lachten beide, und die Atmosphäre wurde lockerer. Grag legte schnell seine Hand auf ihre. Althea zog sie nicht zurück, aber sie redete leiser weiter. »Eine Ehe besteht nicht allein aus Liebe. Vor allem nicht, wenn es dabei um eine Verbindung zwischen zwei Händlersippen aus Bingtown geht. Denn das wäre es und nicht einfach nur eine Heirat von uns beiden. Es wäre eine Allianz unserer beider Familien. Ich müsste vieles bedenken. Wenn ich Euch heiraten würde und mit Euch auf See ginge, was würde dann aus meinem eigenen Schiff? Alles, was ich im letzten Jahr getan habe, Grag, habe ich nur getan, um sie zurückzubekommen. Müsste ich die Viviace aufgeben, wenn ich Euch heirate?« Sie sah ihn an, und er erwiderte ihren Blick. Aber seine Augen lagen im Dunkeln. »Würdet Ihr die Ophelia aufgeben, um mich zu heiraten und mit mir an Bord der Viviace zu leben, unter meiner Führung?« Seine erschreckte Miene machte ihr klar, dass er sich diese Frage noch nie gestellt hatte. »Und das ist erst der Anfang meiner Überlegungen. Ich muss mich selbst fragen, was ich außer den Schulden meiner Familie in unsere Partnerschaft mit einbringen würde. Ich habe nichts von meinem Vater geerbt, Grag. Nichts außer den seemännischen Fähigkeiten, die er mich gelehrt hat. Ich bin sicher, dass mir meine Familie eine Mitgift geben würde, schon allein wegen ihres eigenen Ansehens. Aber es wäre nicht das, was normalerweise die Hand einer Händlertochter schmückt.« Althea schüttelte den Kopf. »Ihr würdet mehr bekommen, wenn Ihr ein Drei-Schiffe-Immigranten-Mädchen ehelichen würdet. Sie
bezahlen für diese Familienverbindung sicher sehr großzügig.« Er zog seine Hand zurück. »Glaubt Ihr, dass ich Euch deshalb meinen Antrag gemacht habe?« Seine Stimme klang beinahe kalt. »Um zu sehen, wie gut das Angebot Eurer Familie ist?« »Nein. Trotzdem muss ich es bedenken – und wenn auch nur wegen meines eigenen Stolzes. Ihr habt schließlich erklärt, dass Planung vor Leidenschaft geht. Also betrachte ich die Lage aus allen möglichen Blickwinkeln. Denkt doch einmal kühl darüber nach, Grag. Wenn ich Euch heirate, muss ich nicht nur mein Schiff aufgeben, sondern es auch in den Händen eines Mannes lassen, den ich verachte. Wenn Ihr mich heiratet, müsst Ihr andere Partnerinnen aufgeben, die vielleicht eine sehr lukrative Alternative für Eure Familie darstellen. Wenn Ihr diese beiden Gesichtspunkte in Betracht zieht, dann sieht es nicht gut für uns aus.« Grag holte langsam Luft. »Ich nehme an, Ihr habt Recht und…« »Küss sie doch einfach, du Blödmann!«, zischte Ophelia vernehmlich. Althea lachte schallend, verstummte jedoch schlagartig, als Grags Lippen ihr den Mund schlossen. Der Kuss kam überraschend, aber ihre Reaktion darauf bestürzte sie noch mehr. Ihr wurde siedend heiß am ganzen Körper, sie drehte sich zu ihm um und legte eine Hand auf seine Schulter. Sie erwartete, dass er sie umarmen und den Kuss vertiefen würde. Doch noch bevor sie sich überlegen konnte, wie weit sie ihn gehen lassen wollte, löste er sich von ihren Lippen und trat ein wenig zurück. Er würde es nicht tun. Das hier war Grag, nicht Brashen. Er wurde von seinem Kopf gesteuert, nicht von seiner Leidenschaft. Sie ignorierte die Enttäuschung über diesen Gegensatz. Als er seinen Mund von ihren Lippen löste, redete sie sich ein, dass sie den Kuss unterbrochen hätte, wenn er es nicht getan hätte. Grag Tenira musste man ernst nehmen. Er war keine unbedeutende Nummer in irgendeinem fernen Hafen. Wie sie
die Angelegenheit mit ihm handhabte, konnte den Rest ihres Lebens in Bingtown bestimmen. Vorsicht war der bessere Weg. Sie atmete einmal tief durch. »Na!«, sagte sie und versuchte, mit ihrem Tonfall Überraschung auszudrücken, ohne dabei beleidigend zu sein. »Tut mir Leid«, murmelte er und sah mit einem schiefen Grinsen zur Seite, das alles andere als verlegen wirkte. »Ophelia kommandiert mich herum, seit ich acht Jahre alt war.« »Es klang wirklich wie ein Befehl«, stimmte Althea liebenswürdig zu. Sie drehte sich um und blickte aufs Meer. Nach einem Moment legte er seine Hand erneut über ihre. »Es gibt sicher einige Schwierigkeiten, die zu bewältigen wären«, sagte er abwägend. »Das trifft aber auf jedes Unternehmen zu. Althea, ich bitte Euch nur, dass Ihr über meinen Antrag nachdenkt. Ich kann Euch kaum jetzt sofort um eine Antwort bitten. Ihr habt es ja nicht einmal mit Eurer Familie besprochen, und auch ich habe mit dem Thema nicht vor meinen Eltern herumgeprahlt. Wir wissen ja nicht einmal, welcher Sturm uns erwartet, wenn wir in Bingtown anlegen. Ich möchte einfach nur, dass Ihr meinen Antrag in Betracht zieht. Das ist alles.« »Das werde ich«, antwortete sie. Die Nacht war so schön, und seine schwielige Hand auf ihrer war so warm. Althea wusste nicht, was Kapitän Tenira oder Grag der Mannschaft erzählt hatte, aber niemand wirkte sonderlich überrascht, als sie in ihrer Jungenverkleidung an Deck erschien. Die Ophelia lief im Hafen von Bingtown ein. Wenn einer aus der Mannschaft Althea als Athel aus Candletown erkannte, war dennoch keiner so dumm, es zuzugeben. Stattdessen akzeptierten sie, dass sie sich neben ihnen abmühte, und zogen sie nur manchmal mit gutmütigem Spott auf. Die Ophelia segelte weiter. Das erfahrene Schiff wusste, worauf es ankam, arbeitete reibungslos mit der Mannschaft zusammen und rief sogar dem Mann
am Ruder Korrekturen zu. Die Boote der Ophelia wurden ausgesetzt, um sie an ihren Liegeplatz am Zollhafen zu rudern. Althea setzte sich auf eine Bank und packte ein Ruder. Kapitän Tenira fand, dies sei der beste Weg, sie von dem Schiff zu entfernen und ihr eine Gelegenheit zu geben zu entkommen, falls das erforderlich wurde. Nach all den Vorbereitungen war es beinahe eine Enttäuschung zu sehen, dass der Betrieb im Hafen ganz gewöhnlich zu laufen schien. Niemand schien von der Ophelia besondere Notiz zu nehmen. Während Althea den geschäftigen Handelshafen betrachtete, überkam sie plötzlich ein Gefühl, das weit intensiver war als Heimweh. Sie war schon auf langen Reisen mit ihrem Vater gewesen und viel weiter gesegelt als auf diesem Törn. Dennoch kam es ihr so vor, als sähe sie Bingtown zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder. Bingtown lag geschützt in einer funkelnden, blauen Bucht. Sanft geschwungene Hügel in dem leuchtenden Grün des Frühlings erstreckten sich hinter der lebhaften Kaufmannsstadt. Noch bevor sie anlegten, konnte sie den Rauch, die Küchendüfte und das Vieh riechen. Die schrillen Rufe der Hausierer auf dem Markt gellten über das Wasser. Auf den Straßen herrschte reger Verkehr, und die Wasserstraßen des Hafens waren nicht weniger belebt. Kleine Boote fuhren unaufhörlich zwischen dem Ufer und den verankerten Schiffen hin und her. Kleine Fischerboote schlängelten sich zwischen den Kauffahrtsschiffen mit ihren hohen Masten hindurch, um ihren Fang zum Markt zu bringen. Es war eine Symphonie für Augen, Ohren und Nase, und ihr Thema hieß Bingtown. Ein dissonanter Ton jedoch mischte sich in die Harmonie. Als ein Schiff ablegte, wurde dahinter langsam eine chalcedanische Galeone sichtbar, die am Zollkai vertäut war. Das Banner des Satrapen hing schlaff von ihrem Mast herunter. Althea erkannte auf den ersten Blick, dass es sich nicht um dieselbe Galeone handelte, die ihnen den Weg versperrt hatte. Diese hier hatte
eine fauchende Wildkatze als Galionsfigur, und außerdem waren keine Spuren von Feuer oder einer anderen Beschädigung zu sehen. Altheas Miene verfinsterte sich. Wie viele Galeonen gab es denn im Hoheitsgebiet von Bingtown? Und warum hatte man ihr überhaupt Zugang zum Hafen gewährt? Sie behielt diese Gedanken für sich und erledigte ihre Arbeit, als wäre sie nur ein einfacher Schiffsjunge. Als Kapitän Tenira sie anbrüllte, sie solle ihm seinen Seesack bringen und ihm folgen, zuckte sie bei dem ungewöhnlichen Befehl nicht einmal zusammen. Sie spürte, dass er sie bei seinem Treffen mit dem Zollinspektor des Satrapen dabeihaben wollte. Also schulterte sie den kleinen Segeltuchbeutel und folgte ihm. Grag blieb als Erster Maat an Bord zurück und beaufsichtigte das Schiff. Tenira schritt zum Büro des Zollinspektors. Ein Büroangestellter begrüßte sie und verlangte brüsk die Frachtpapiere des Schiffes. Althea sah nicht hin, nicht einmal, als Tenira mit der Faust auf den Tresen schlug und verlangte, mit dem Zollinspektor zu sprechen. Der Angestellte schrie erschrocken auf, riss sich jedoch sofort wieder zusammen. »Ich habe hier die Verantwortung, Sir. Eure Frachtpapiere bitte.« Tenira warf verächtlich ein Bündel Papiere auf den Tresen. »Hier sind meine Frachtpapiere. Steck nur deine Nase hinein, mein Junge, und rechne aus, was ich zahlen muss. Aber hol mir jemanden, der mehr zu sagen hat. Ich habe eine Beschwerde vorzubringen.« Die Tür zu einem angrenzenden Raum öffnete sich, und ein Mann in einer Robe trat heraus. Sein rasierter Kopf und der Haarknoten wiesen ihn als Inspektor des Satrapen aus. Er war ziemlich korpulent. Seine Robe war an den Ärmeln, der Brust und an den Säumen bestickt. Die blassen Hände hatte er vor sich gefaltet. »Warum misshandelt Ihr meinen Assistenten?«, wollte er wissen. »Warum liegt eine chalcedanische Kriegsgaleone an einem
Bingtowner Kai? Und warum hat eine ganz ähnliche Galeone mein Schiff angegriffen, und zwar angeblich im Namen des Satrapen? Seit wann wird den Feinden von Jamaillia sicherer Unterschlupf im Hafen von Bingtown gewährt?« Tenira betonte jede Frage mit einem Schlag seiner Faust auf den Tresen. Der Inspektor war unbeeindruckt. »Die chalcedanischen Söldner sind Vertreter des Satrapen. Man hat ihnen erlaubt, hier zu ankern, da der Satrap sie als Wachtposten in der Inneren Passage eingesetzt hat. Die Galeonen haben sich hier beide ordentlich gemeldet und ihre Bevollmächtigungspapiere vorgelegt. Ihr einziger Zweck ist es, die Piraterie einzudämmen. Sie greifen Piraten an, sowohl auf ihren Schiffen als auch in ihren Siedlungen. Sie werden außerdem den Schmuggel unterbinden, von dem die Piraten leben. Wenn diese Missgeburten keinen Markt für ihre gestohlenen Güter mehr haben, dann wird sich auch ihr Gewerbe bald verschlechtern.« Der Zollinspektor hielt inne und zupfte an einer Falte seines Ärmels. Gelangweilt fasste er zusammen. »Es ist wahr, dass einige Einwohner von Bingtown sich über die Anwesenheit der Chalcedaner beschwert haben, aber der Zollkai ist Eigentum des Satrapen. Niemand außer ihm kann es den Chalcedanern verbieten, hier festzumachen. Und er hat ihnen ausdrücklich die Erlaubnis dazu gegeben.« Der Zollinspektor schnaubte verächtlich. »Ich glaube kaum, dass der Kapitän eines Handelsschiffes den Willen des Satrapen überstimmen kann.« »Der Kai mag dem Satrapen gehören, aber die Gewässer darum herum gehören zum Hafen von Bingtown, die laut Vertrag den Händlern Bingtowns zugeteilt worden sind. Und sowohl aus Tradition als auch nach dem Gesetz erlauben wir keinen chalcedanischen Galeonen Zugang zu unseren Gewässern.« Der Inspektor blickte an Tenira vorbei. Überheblich erwiderte er: »Traditionen ändern sich, genauso wie Gesetze. Bingtown ist kein rückständiger Ort mehr, Kapitän Tenira. Es ist ein rasch wachsendes Handelszentrum. Und es geschieht aus-
schließlich zum Wohl von Bingtown, dass der Satrap diese Piraten bekämpft, die die Wasserstraßen unsicher machen. Bingtown sollte seinen Handel mit Chalced normalisieren. Jamaillia sieht keinen Grund, Chalced als Feind zu behandeln. Warum also sollte Bingtown es tun?« »Jamaillia hat auch keine umstrittene Grenze zu Chalced. Jamaillias Höfe und Siedlungen sind weder überfallen noch verbrannt worden. Bingtowns Feindseligkeit Chalced gegenüber beruht auf einer wohl begründeten Geschichte, nicht auf bloßen Verdächtigungen. Diese Schiffe haben nicht das Recht, in unserem Hafen zu liegen. Es wundert mich, warum das Bingtown-Händlerkonzil sich bisher nicht dagegen gewehrt hat.« »Hier ist weder der rechte Ort noch die richtige Zeit, Bingtowns Innenpolitik zu diskutieren«, erklärte der Zollinspektor. »Meine Aufgabe ist es, dem Satrapen zu dienen, indem ich die rechtmäßigen Zollabgaben einsammle. Und? Bist du immer noch nicht mit dieser Rechnerei fertig? Als ich deine Bewerbung hier akzeptierte, habe ich deinen Onkel so verstanden, dass du schnell mit Zahlen wärst. Warum dauert das so lange?« Althea tat der Angestellte beinahe Leid. Er war jedoch offensichtlich daran gewöhnt, das Ziel des Missvergnügens des Inspektors zu sein, denn er lächelte nur unterwürfig und klapperte ein bisschen schneller mit seinen Rechenstöcken. »Sieben und zwei«, murmelte er, offenbar für die Zuschauer. »Hafengebühren und Sicherheitsgebühren… Und Patrouillengebühren macht dann… Und der Zuschlag für Webwaren nichtjamaillianischer Herkunft.« Er kritzelte eine Zahl auf eine Tafel, doch bevor Althea sie entziffern konnte, riss der Inspektor sie weg. Er fuhr missbilligend mit seinem langen Fingernagel darüber. »Das ist nicht richtig!«, zischte er. »Das will ich hoffen!«, stimmte Kapitän Tenira vehement zu. Er war größer als der Inspektor und blickte ihm über die Schulter. »Das ist doppelt so viel wie das, was ich letztes Mal an Steuern bezahlt habe, und die Prozentzahl auf nichtjamailliani-
sche Webwaren ist…« »Die Tarife haben sich erhöht«, unterbrach ihn der Inspektor. »Außerdem gibt es eine neue Steuer auf nichtjamaillianische bearbeitete Metallgüter. Ich denke, Eure Zinnwaren fallen in diese Kategorie. Berechne das hier sofort neu, und zwar genau!« Er knallte dem Angestellten die Tafel vor die Nase. Der senkte nur den Kopf und nickte nervös. »Rinstin ist eine jamaillianische Stadt!«, erklärte Tomie Tenira empört. »Rinstin akzeptiert zwar wie Bingtown Jamaillias Herrschaft, aber sie liegt nicht in Jamaillia und ist infolgedessen keine jamaillianische Stadt. Ihr werdet diese Steuer zahlen.« »Das werde ich nicht tun!«, rief Tenira. Althea unterdrückte einen Ausruf des Erstaunens. Sie hatte erwartet, dass Tenira wegen der fälligen Steuertarife handeln würde. Handel war der Stoff, aus dem die Gesellschaft Bingtowns bestand. Niemand bezahlte das, was zuerst verlangt wurde. Er hätte dem Inspektor eine großzügige Bestechung in Form eines reichhaltigen Essens in einem nahe gelegenen Restaurant anbieten können – oder eine Auswahl der besseren Waren an Bord der Ophelia. Aber noch nie hatte Althea gehört, dass sich ein Bingtown-Händler einfach weigerte zu zahlen. Der Inspektor betrachtete Tenira mit zusammengekniffenen Augen. Dann zuckte er verächtlich mit den Schultern. »Wie Ihr wollt, Sir. Mir ist es gleich. Euer Schiff wird hier am Zollkai bleiben und die Ladung an Bord, bis die angemessenen Gebühren ordnungsgemäß entrichtet worden sind.« Plötzlich hob er die Stimme. »Wachen! Eintreten. Ich brauche vielleicht eure Unterstützung!« Tenira würdigte die beiden untersetzten Männer, die eintraten, keines Blickes. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Inspektor. »An diesen Steuern ist nichts angemessen.« Er klopfte auf die Tafel des Schreibers, der versuchte, seine Berechnungen zu vervollständigen. »Was ist das hier für eine
Summe für ›Patrouillen‹ und dies hier für ›Sicherheit‹?« Der Inspektor seufzte ergeben. »Wie soll der Satrap die entlohnen, die er angestellt hat, um Euch zu schützen?« Althea hatte erwartet, dass Teniras Wut eine Art Verhandlungstrick wäre. Doch er wurde so rot, dass sie nicht mehr an der Ernsthaftigkeit seiner Wut zweifelte. »Ihr meint diesen chalcedanischen Abschaum, hab ich Recht? Möge Sa meine Ohren verschließen, bevor ich mir solch eine Idiotie anhören muss! Ich werde nicht auch noch dafür zahlen, dass diese Piraten im Hafen von Bingtown ankern können.« Die Wachen rückten näher und standen direkt neben Teniras Ellbogen. Althea spielte ihre Rolle als Schiffsjunge, versuchte, hart auszusehen, und folgte dem Beispiel ihres Kapitäns. Wenn Tenira zuschlug, würde man von ihr erwarten, ebenfalls einzugreifen. Jeder Schiffsjunge würde das tun, aber die Aussicht war beängstigend. Sie hatte sich noch nie richtig geprügelt, außer damals bei dem kurzen Scharmützel mit Brashen. Entschlossen reckte sie das Kinn und konzentrierte sich auf den jüngeren der beiden Wachen. Doch es kam nicht dazu. Tenira senkte plötzlich die Stimme und knurrte: »Ich werde das beim Händlerkonzil vorbringen.« »Sicher, Sir, wie es Euch gefällt«, meinte der Inspektor ironisch. Althea hielt ihn für einen Narren. Ein klügerer Mann hätte es sich zweimal überlegt, Tomie Tenira zu reizen. Sie erwartete förmlich, dass der Kapitän ihn niederschlug. Stattdessen lächelte er gefährlich. »Wie es mir gefällt«, erwiderte er gelassen. Er forderte Althea mit einem kurzen Kopfnicken auf, ihm zu folgen, und sie verließen gemeinsam das Zollbüro. Er sagte kein Wort zu ihr, bis sie auf dem Schiff waren. »Hol den Maat, und zwar schnell«, meinte er dann. »Er soll in meine Kabine kommen.« Althea gehorchte unverzüglich. Als sie in die Kapitänskajüte gerufen wurden, hatte Tenira höchstpersönlich drei Gläser Rum für sie eingeschenkt. Er hielt
sich nicht lange mit Höflichkeiten auf, genauso wenig wie Althea, die ihr Glas ebenfalls in einem Zug leerte. Die Szene in dem Zollbüro war ihr kälter in die Glieder gefahren als eine eisige Nacht auf Deck. »Es sieht schlecht aus«, begrüßte Tenira seinen Sohn. »Schlimmer, als ich befürchtet hatte. Es liegen hier nicht nur Chalcedaner am Kai, sondern das Händlerkonzil hat sich nicht einmal dagegen gewehrt. Und mehr noch: Der verdammte Satrap hat noch mehr Steuern und Abgaben auf unseren Handel erhoben, damit wir die Chalcedaner auch noch bezahlen!« »Du hast sie nicht bezahlt?«, fragte Grag ungläubig. »Natürlich nicht!« Tenira schnaubte. »Irgendjemand hier muss sich endlich gegen diesen Unsinn zur Wehr setzen. Für den Ersten ist es vielleicht ein wenig steinig, aber ich wette, dass die anderen uns folgen, sobald wir ein Beispiel gegeben haben. Der Inspektor hat angekündigt, dass er uns hier festhalten will. Gut. Solange wir hier liegen, nehmen wir jedenfalls Platz weg. Noch ein paar wie wir, und der Inspektor kann keine weiteren Schiffe und Steuern abwickeln. Grag, unterhalte dich mit Ophelia. Sa hilf uns, aber ich will ihr vollkommen freie Hand lassen. Sie kann so unfreundlich und zickig sein, wie sie will. Sollen die Hafenarbeiter und Passanten doch damit klarkommen.« Althea musste unwillkürlich grinsen. Die Atmosphäre in dem kleinen Raum war aufgeladen, als stünde unmittelbar ein Gewitter bevor. Es ist ein Sturm, sagte sie sich, und zwar einer, den ihr Vater schon seit Jahren hatte heraufziehen sehen. Trotzdem beschämte es sie, mit ansehen zu müssen, wie ein alter Kapitän wie Tenira verkündete, er wolle den ersten Blitz auf sich ziehen. »Was soll ich tun?«, fragte sie. »Geht nach Hause. Berichtet Eurer Mutter alles, was Ihr gesehen und gehört habt. Ich sehe die Viviace nicht im Hafen, aber wenn sie einläuft, dann bitte ich Euch, Eure Differenzen mit Eurem Schwager zu beheben und ihn dazu zu bringen, einzu-
sehen, dass wir bei unserer Verteidigung alle zusammenstehen müssen. Ich gehe ebenfalls gleich nach Hause. Grag, ich vertraue dir das Schiff an. Beim ersten Anzeichen von Ärger schickst du Calco mit einer Botschaft zu mir. Althea?« Althea wog seine Worte ab und nickte dann langsam. Auch wenn sie es zutiefst verabscheute, mit Kyle Haven einen Waffenstillstand schließen zu müssen: Kapitän Tenira hatte Recht. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt für irgendwelche Querelen, die die Bingtown-Händler spalten würden. Das Lächeln Teniras belohnte sie. »Ich habe erwartet, dass ich mich auf Euch verlassen kann!«, sagte er stolz. Grag grinste sie an. »Und ich habe es gewusst.«
10
Heimkehr Das Anwesen der Vestrits lag wie die Häuser der anderen Bingtown-Händler in dem kühlen und bewaldeten Vorgebirge, das Bingtown umgab. Vom Hafen dorthin war es nur eine kurze Kutschfahrt oder ein angemessener Spaziergang an einem schönen Tag. Unterwegs konnte man Blicke auf andere Händlerhäuser werfen, die in reichlichem Abstand zur Straße lagen. Sie kam an blühenden Hecken und Auffahrten vorbei, die von Bäumen gesäumt waren. Über der Steinmauer der Oswells rankte ein dichter Mantel aus Efeu. Am Tor lugten bereits die ersten Blüten der gelben Osterglocken hervor. Der Frühlingstag war erfüllt vom Zwitschern der Vögel und von den Düften der ersten Blumen. Noch nie zuvor war Althea der Weg so lang vorgekommen. Sie fühlte sich, als ginge es zu ihrer Hinrichtung. Sie trug immer noch ihre Verkleidung als Schiffsjunge. Es war ihnen allen klüger vorgekommen, dass sie in ihrer Verkleidung blieb, als sie den Hafen verließ. Wie ihre Mutter und ihre Schwester wohl darauf reagieren würden? Kyle war jedenfalls nicht zu Hause. Die Erleichterung darüber glich beinahe ihre Enttäuschung aus, dass die Viviace nicht im Hafen gelegen hatte. Wenigstens musste sie sich nicht auch noch mit seiner Abneigung auseinander setzen. Es war beinahe ein Jahr her, seit sie sich mit ihrem Schwager zerstritten und dann ihr Geburtshaus verlassen hatte. Seitdem hatte sie so viel gelernt, dass es ihr beinahe wie eine Dekade vorkam. Sie wollte, dass ihre Familie begriff, wie sehr sie gewachsen war. Doch stattdessen, so fürchtete sie, würden sie wohl nur ihre Kleidung und ihren geölten Zopf sehen und es als eine kindische, trotzige Maskerade betrachten. Ihre Mutter hatte stets behauptet, dass sie
dickköpfig war. Und ihre Schwester Keffria hatte jahrelang geglaubt, dass sie ihren Familiennamen einfach nur für ihr eigenes Vergnügen entehren würde. Wie konnte sie nun zu ihnen zurückkehren, so gekleidet, und ihnen klarmachen, dass sie reif genug und auch würdig war, um das Lebensschiff der Familie zu führen? Wie würden sie ihre Rückkehr aufnehmen? Mit Ärger oder kalter Verachtung? Sie schüttelte wütend den Kopf, um solche Gedanken zu vertreiben, und bog in die lange Auffahrt zu ihrem Heim ein. Verärgert bemerkte sie, dass die Rhododendren am Tor nicht zurückgeschnitten worden waren. Die kahlen Äste des letzten Jahres vermischten sich jetzt mit den schwellenden Blüten des Frühlings. Plötzlich wurde sie unruhig. Col, der Gärtner, hatte sich immer besonders um diese Büsche gekümmert. War ihm etwas zugestoßen? Je weiter sie die Auffahrt hinaufging, desto deutlicher sah sie die Spuren der Vernachlässigung im Garten. Die Kräuterrabatten blühten und drohten ihre Einfassung zu sprengen. Helle grüne Blätter sprossen an Rosenbüschen, die immer noch die winterschwarzen Stiele des letztjährigen Wuchses trugen. Eine Glyzinie war aus ihrem Spalier gefallen und öffnete jetzt mutig ihre Blätter am Boden. Die Winterwinde hatten die Herbstblätter wie zufällig weggeweht, und abgebrochene Zweige bedeckten immer noch den Boden. Aufgrund des vernachlässigten Gartens erwartete sie beinahe, dass das Haus verlassen war. Doch stattdessen waren die Fenster weit geöffnet, um die Frühlingsluft hereinzulassen, und fröhliche Harfen- und Flötenmusik begrüßte sie. Einige Kutschen vor der Haustür sagten ihr, dass anscheinend eine Gesellschaft stattfand. Es musste eine fröhliche Gesellschaft sein, nach dem Lachen zu urteilen, das sich plötzlich mit der Musik vermischte. Althea ging zum Hintereingang. Ihr Staunen wurde bei jedem Schritt, den sie tat, größer. Ihre Familie hatte seit der Erkrankung ihres Vaters keine Gesellschaft mehr gegeben.
Bedeutete diese Feier etwa, dass ihre Mutter ihre Trauerzeit bereits beendet hatte? Das sähe ihr nicht ähnlich. Genauso wenig konnte Althea sich vorstellen, dass ihre Mutter freiwillig die Gärten vernachlässigte, während sie ihr Geld für Gesellschaften ausgab. Es passte einfach nicht zusammen. Eine Vorahnung beschlich sie. Die Küchentür stand offen, und der verlockende Duft von frisch gebackenem Brot und würzigem Fleisch drang heraus und vermischte sich mit dem Duft des Frühlingstages. Altheas Magen knurrte anerkennend: Hefebrot, frisches Fleisch und Gemüse. Irgendwie war sie froh, zu Hause zu sein, ganz gleich, welcher Empfang sie erwartete. Sie betrat die Küche und sah sich um. Sie kannte die Frau, die auf dem Küchentisch Teig ausrollte, genauso wenig wie den Jungen, der den Bratspieß über dem Kochfeuer drehte. Das war jedoch nicht ungewöhnlich. Im Haushalt der Vestrits kamen und gingen die Bediensteten. Händlerfamilien luchsten sich ständig gegenseitig die besten Köche, Kindermädchen und Verwalter ab und brachten sie mit der Aussicht auf bessere Gehälter und größere Quartiere dazu, ihre Anstellungen zu wechseln. Ein Dienstmädchen kam mit einem leeren Tablett in die Küche. Sie stellte es klappernd ab und drehte sich dann zu Althea um. »Was willst du hier?« Ihre Stimme klang kalt und gelangweilt. Dieses eine Mal war Altheas Verstand schneller als ihr Mundwerk. Sie verbeugte sich unbeholfen. »Ich habe eine Nachricht von Kapitän Tenira vom Lebensschiff Ophelia für Händlerin Ronica Vestrit. Es ist wichtig. Er hat mich beauftragt, ihr diese Nachricht unter vier Augen zu überbringen.« So. Dadurch verschaffte sie sich etwas Zeit allein mit ihrer Mutter. Wenn Gäste im Haus waren, wollte sie nicht von ihnen gesehen werden, solange sie noch als Junge verkleidet war. Das Dienstmädchen wirkte beunruhigt. »Sie ist jetzt bei den
Gästen, es sind sehr wichtige Gäste. Es ist eine Abschiedsfeier. Es wäre sehr peinlich, sie jetzt wegzurufen.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Kann die Nachricht vielleicht ein bisschen länger warten? Möglicherweise möchtest du in der Zwischenzeit etwas essen?« Das Mädchen lächelte, als es diesen kleinen Bestechungsversuch unternahm. Althea nickte. Beim Duft des frisch gekochten Essens lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Warum sollte sie nicht hier in der Küche essen und sich ihrer Mutter und ihrer Schwester mit vollem Bauch stellen? »Die Nachricht kann noch ein bisschen warten, denke ich. Darf ich mir zuerst die Hände waschen?« Althea deutete mit einem Nicken auf die Pumpe in der Küche. »Draußen im Garten ist auch eine Wasserpumpe«, erklärte die Köchin. Es war eine deutliche Zurechtweisung, was Altheas scheinbare Stellung betraf. Sie grinste verstohlen und ging hinaus, um sich zu waschen. Als sie zurückkam, stand ein Teller für sie da. Sie hatten ihr keine ausgewählten Stücke gegeben, sondern die knusprige Außenseite des Schweinebratens und den Knust des frisch gebackenen Brotes. Dazu gab es eine Scheibe gelben Käse, einen Klacks Butter und ein bisschen Kirschkonfitüre. Das Essen wurde ihr auf einem angeschlagenen Teller mit einer fleckigen Serviette gereicht. Den feinen Umgang mit Besteck schien man einem Schiffsjungen nicht zuzutrauen, also behalf sie sich mit den Fingern, während sie sich auf einen Stuhl in einer Ecke der Küche hockte. Zuerst aß sie gierig, ohne an etwas anderes zu denken als an das Essen vor ihr. Die Kruste des Bratens kam ihr weit schmackhafter vor als alles, was sie bisher genossen hatte. Das knusprige Fett knirschte zwischen ihren Zähnen. Die frische Butter schmolz auf dem immer noch warmen Brot, und sie tunkte die Kirschkonfitüre mit Brocken davon auf. Nachdem ihr Hunger gestillt war, nahm sie den Betrieb um sich herum wahr. Sie schaute sich mit ganz anderen Augen in dem einst so vertrauten Raum um. Als Kind war dieses Zim-
mer ihr gewaltig und faszinierend erschienen, ein Ort, den sie zudem niemals hatte ungehindert erforschen dürfen. Weil sie mit ihrem Vater zur See gefahren war, bevor sie diese Neugier überwunden hatte, war die Küche immer eine verbotene Zone für sie geblieben. Jetzt jedoch sah sie sie, wie sie war. Ein großer Raum, in dem rege Betriebsamkeit herrschte, in den die Diener kamen und wieder gingen und wo die Köchin die unangefochtene Herrscherin war. Wenn ein Diener hereinkam, gab er ihr umgehend einen kurzen Bericht von der Gesellschaft. Sie sprachen vertraulich und manchmal mit Verachtung über die Leute, denen sie dienten. »Ich brauche noch einen Teller Wurstbrötchen. Händler Hemdschrei scheint zu glauben, dass wir sie für ihn allein gebacken haben.« »Immer noch besser als das, was das Orpel-Mädchen tut. Schaut euch diesen Teller an. Voller Essen, das wir den ganzen Morgen zubereitet haben, und sie hat kaum etwas angerührt. Vermutlich hofft sie, dass ein Mann ihren spärlichen Appetit bemerkt und glaubt, sie wäre billig zu unterhalten.« »Wie hält sich die zweite Wahl der Kaiserin?«, fragte die Köchin neugierig. Ein Dienstbote ahmte nach, wie jemand den Inhalt eines Weinglases hinunterkippt. »Oh, er ersäuft seinen Ärger, wirft seinem Rivalen finstere Blicke zu und schmachtet die kleine Kaiserin an. Dann geht's wieder von vorn los. Natürlich alles sehr vornehm. Der Mann gehört auf die Bühne.« »Nein, nein, sie ist diejenige, die auf die Bühne gehört. Eben noch lächelt sie geziert in Reyns Schleier, aber wenn sie mit ihm tanzt, dann schaut sie über seine Schulter hinweg und klimpert dem jungen Trell zu.« Das Dienstmädchen, das dies berichtete, schnaubte verächtlich. »Sie tanzen beide nach ihrer Pfeife, aber ich wette, dass ihr im Grunde beide egal sind. Sie überlegt sicher nur, wie weit sie bei ihnen gehen kann.« Eine Weile hörte Althea amüsiert zu. Dann jedoch brannten
ihr die Wangen und die Ohren, als ihr klar wurde, dass die Dienstboten immer so über ihre Familie gesprochen hatten. Sie senkte den Kopf, blickte starr auf ihren Teller und setzte im Kopf langsam das Puzzle zu einem bizarren Bild des momentanen Standes des Familienvermögens der Vestrits zusammen. Ihre Mutter gab für Gäste aus der Regenwildnis eine Gesellschaft. Das war schon ungewöhnlich genug, wenn man bedachte, dass ihr Vater die Handelsbeziehungen dorthin vor Jahren gekappt hatte. Ein Regenwild-Händler machte einer jungen Händlerin den Hof. Und die Dienstboten hielten nicht viel von ihr. »Sie würde ihn noch mehr anlächeln, wenn er statt des Schleiers einen Spiegel vor dem Gesicht hätte«, bemerkte einer der Dienstboten kichernd. Und eine andere fügte hinzu: »Ich weiß nicht, wer in ihrer Hochzeitsnacht überraschter sein wird: sie, wenn er den Schleier lüftet und seine Warzen zeigt, oder er, wenn sie ihren schlangenhaften Charakter hinter ihrer hübschen Maske enthüllt.« Althea runzelte die Stirn, als sie überlegte, welche Frau eng genug mit der Vestrit-Familie befreundet sein könnte, dass ihre Mutter ihr zu Ehren eine Gesellschaft gab. Vielleicht hatte eine von Keffrias Freundinnen eine Tochter im heiratsfähigen Alter. Eine Küchenmagd nahm ihr den leeren Teller aus den Händen und reichte ihr eine Schüssel mit zwei Zuckerklößen. »Hier. Du kannst auch davon was haben. Wir haben sowieso viel zu viele davon gemacht. Es sind noch drei Tabletts übrig, und die ersten Gäste gehen schon. Es ist nicht nötig, dass ein junger Mann wie du hungrig von hier weggeht.« Sie lächelte ihr herzlich zu, und Althea wandte den Blick ab. Sie hoffte, dass ihre jungenhafte Schüchternheit überzeugend wirkte. »Darf ich Ronica Vestrit bald meine Botschaft überbringen?«, fragte sie. »Oh, sehr bald, denke ich. Sehr bald.« Das süße, klebrige Gebäck war schwer zu essen, schmeckte aber köstlich. Althea aß beide auf, gab die Schüssel zurück und
ging erneut hinaus zur Pumpe, um sich die Hände zu waschen. Eine Weinlaube trennte den Küchengarten vom Haupteingang, aber die neuen Blätter waren noch ganz klein. Althea konnte durch das Gewirr der Zweige beobachten, wie die Kutschen abfuhren. Sie erkannte Cerwin Trell und seine kleine Schwester. Die Shuyev-Familie war ebenfalls gekommen. Andere Händlerfamilien erkannte Althea eher an ihrem Wappen als an ihren Gesichtern. Das machte ihr klar, wie lange es her war, dass sie tatsächlich zu diesem gesellschaftlichen Kreis gehört hatte. Allmählich nahm die Zahl der Kutschen ab. Davad Restate war einer der Letzten, die abfuhren. Kurz danach kam ein Gespann mit weißen Pferden, das eine Regenwild-Kutsche zog. Vor den Fenstern hingen schwere Vorhänge, und das Wappen an der Tür war Althea unbekannt. Es sah aus wie ein Huhn mit einem Hut. Ein offener Wagen hielt dahinter, und zahlreiche Diener trugen Koffer und Truhen aus dem Haus. Aha. Die RegenwildHändler waren also die Hausgäste der Vestrits gewesen. Sehr geheimnisvoll. Sie verrenkte sich zwar fast den Hals, konnte aber nicht mehr als einen flüchtigen Blick auf die Familie werfen. Regenwild-Händler waren am Tag immer verschleiert, und diese Gruppe machte keine Ausnahme. Althea hatte keine Ahnung, wer sie waren oder warum sie im Heim der Vestrits wohnten. Ihr war unbehaglich zumute. Hatte Kyle beschlossen, ihre alten Verbindungen zu ihnen neu zu beleben? Unterstützten ihre Mutter und ihre Schwester etwa diese Idee? Hatte Kyle angefangen, mit der Viviace Handel auf dem Regenwild-Fluss zu treiben? Bei dieser Vorstellung ballte sie die Hände zu Fäusten. Als das Küchenmädchen sie am Ärmel zupfte, fuhr sie herum und erschreckte das arme Ding. »Entschuldigung«, sagte Althea sofort. Das Mädchen sah sie merkwürdig an. »Mistress Vestrit empfängt dich jetzt.« Althea erduldete es schweigend, dass man sie in ihr eigenes
Heim zurück und die vertrauten Korridore entlang in den Frühstückssalon führte. Überall waren noch die Reste der lebhaften Gesellschaft zu sehen. Vasen mit Blumen standen in jeder Nische, und der Duft von Parfüm hing in der Luft. Als Althea weggegangen war, war dies ein Haus voller Trauer und Familienstreit gewesen. Jetzt jedoch schienen diese schwierigen Tage vergessen – und sie mit ihnen. Es erschien ihr unfair, dass ihre Mutter und ihre Schwester gefeiert hatten, während sie all diese Entbehrungen durchlitten hatte. Als sie den Raum betraten, war Altheas Verwirrung so groß, dass sie aufpassen musste, damit sich ihr Ärger nicht entlud. Die junge Frau klopfte an die Tür der Kammer. Als sie Ronicas gemurmelte Aufforderung hörte, trat sie zur Seite und flüsterte Althea zu: »Geh nur hinein.« Althea verbeugte sich kurz und betrat den Raum. Leise schloss sie die Tür hinter sich. Ihre Mutter saß auf einem mit Kissen bestückten Diwan. Auf einem niedrigen Tisch stand ein Glas Wein. Sie trug ein einfaches Kleid aus cremefarbenem Leinen. Ihr Haar war zu einem Zopf gebunden und parfümiert, und eine silberne Kette betonte ihren schlanken Hals, aber das Gesicht, das sie Althea zuwandte, war gezeichnet von Erschöpfung. Althea zwang sich dazu, dem Blick ihrer Mutter nicht auszuweichen, als der sich vor Erstaunen weitete. »Ich bin nach Hause gekommen«, sagte sie ruhig. »Althea!«, stieß ihre Mutter hervor. Sie hob eine Hand an ihr Herz, legte dann beide Hände vor den Mund und atmete vernehmlich aus. Sie war so blass geworden, dass die Linien in ihrem Gesicht wie eingeätzt wirkten. Zitternd holte sie Luft. »Weißt du eigentlich, wie viele Nächte ich mich gefragt habe, ob du tot bist? Mich damit gequält habe, wo deine Leiche liegen mochte, ob in einem ordentlichen Grab oder in irgendeiner Grube?« Die Flut ärgerlicher Worte überrumpelte Althea. »Ich habe versucht, dich zu benachrichtigen.« Sie merkte, wie sie log –
wie ein Kind, das man bei einer Ungezogenheit ertappt hatte. Ihre Mutter hatte die Kraft gefunden aufzustehen und näherte sich jetzt Althea. Ihr Zeigefinger war vorgestreckt wie eine Hellebarde. »Nein, das hast du nicht!«, widersprach sie ihr verbittert. »Du hast nicht einmal daran gedacht, bis jetzt.« Sie blieb plötzlich wie angewurzelt stehen und schüttelte den Kopf. »Du bist deinem Vater so ähnlich, dass ich ihn fast mit deinem Mund lügen höre. Ach, Althea, ach mein kleines Mädchen!« Plötzlich umarmte ihre Mutter sie so fest, wie sie es seit Jahren nicht getan hatte. Althea blieb unbeweglich stehen, vollkommen verwirrt. Einen Augenblick später bemerkte sie jedoch entsetzt, wie der Körper ihrer Mutter vor Schluchzen bebte. Sie blieb an Althea geklammert stehen und weinte an ihrer Schulter. »Es tut mir Leid«, sagte Althea leise. Und fügte hinzu: »Es wird alles gut.« Einen Moment später fragte sie zögernd: »Was ist los?« Ihre Mutter ließ sich mit der Antwort eine Weile Zeit. Dann holte sie bebend Luft. Ronica trat von ihrer Tochter zurück und wischte sich wie ein Kind mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen. Dadurch verschmierte sie ihre sorgfältig aufgetragene Wimperntusche und beschmutzte den Ärmel ihres Kleides. Aber sie achtete nicht darauf. Unsicher ging sie zu dem Diwan zurück und setzte sich. Nachdem sie einen ordentlichen Schluck Wein getrunken hatte, lächelte sie gezwungen. Durch die verschmierte Schminke verzerrte sich ihr Gesicht zu einer Grimasse. »Alles«, sagte sie. »Alles, was misslingen konnte, ist misslungen. Bis auf eins: Du bist zu Hause und lebst!« Die aufrichtige Erleichterung auf dem Gesicht ihrer Mutter traf Althea mehr als ihr Zorn. Es fiel ihr schwer, das Zimmer zu durchqueren und sich auf den Diwan zu setzen. Und noch schwieriger war es, ruhig zu sitzen und vernünftig zu bleiben. »Erzähl es mir.« Seit so vielen Monaten hatte Althea sich darauf gefreut, nach Hause zu
kommen, ihre Geschichte zu erzählen und ihre Familie dazu zu zwingen, sich endlich ihrer Sichtweise anzuschließen. Jetzt war sie hier, und sie wusste mit absoluter Gewissheit, als habe Sa selbst es ihr enthüllt, dass sie sich zuerst all das anhören musste, was ihre Mutter ihr zu sagen hatte. Einen Moment sah Ronica sie nur an. Dann sprudelten die Worte nur so aus ihr hervor. Es war eine zusammenhanglose Geschichte von einem Desaster nach dem anderen. Die Viviace war immer noch nicht zu Hause. Sie hätte schon längst wieder da sein müssen. Kyle hatte sie vielleicht direkt nach Chalced geführt, um die Sklaven dort zu verkaufen, aber er hätte ihnen sicherlich von einem anderen Schiff eine Nachricht überbringen lassen, wenn er es vorgehabt hätte. Oder nicht? Er wusste, wie schwierig es um die Finanzen der Familie bestellt war; sicher hätte er sie benachrichtigt, damit Keffria ihren Gläubigern wenigstens etwas erzählen konnte. Malta heckte eine Bösartigkeit nach der anderen aus. Ronica wusste nicht einmal, womit sie beginnen sollte, aber das Ende vom Lied war, dass jetzt ein Regenwild-Händler um Maltas Hand warb. Und da seine Familie die Wechsel auf die Viviace besaß, geboten es Höflichkeit und Klugheit, zumindest seine Werbung zu akzeptieren. Dabei war Malta nicht wirklich eine Frau und noch längst nicht alt genug dafür. Schlimmer jedoch war, dass Davad Restate dabei gewesen war. Er hatte die ganze Woche einen Fauxpas nach dem anderen begangen, weil er aus dieser Brautwerbung unbedingt einen persönlichen Vorteil herausschlagen wollte. Doch nur weil der Mann vollkommen taktlos war, bedeutete das noch lange nicht, dass er kein Gespür für Taktik besaß. Es hatte ihres ganzen Erfindungsreichtums bedurft, um ihn abzulenken und zu verhindern, dass Reyns Familie sich beleidigt fühlte. Keffria wiederum beharrte darauf, die Familiengeschäfte zu führen. Sicher, das war ihr Recht. Aber sie schenkte ihnen leider nicht die Aufmerksamkeit, die sie brauchten. Stattdessen wurde sie
vollkommen von den Blumen und Bändern dieser Brautwerbung in Beschlag genommen. Sie achtete nicht darauf, dass die Getreidefelder nur halb gepflügt waren und der Saatmond nur noch eine Woche entfernt war. Ein später Frosteinfall hatte die Hälfte der Blüten von den Apfelbäumen vernichtet. Das Dach im zweiten Schlafzimmer im Ostflügel war undicht, und sie hatten kein Geld, um es zu reparieren. Doch wenn es nicht sofort repariert wurde, würde die ganze Decke nachgeben und… »Mutter«, sagte Althea zärtlich. »Mutter! Einen Moment!«, wiederholte sie. »Mir brummt der Schädel!« »Meiner auch, und das schon erheblich länger als dir«, erwiderte ihre Mutter müde und gereizt. »Ich verstehe das nicht.« Althea versuchte ruhig zu bleiben, obwohl sie am liebsten geschrien hätte. »Kyle setzt die Viviace als Sklavenschiff ein? Und Malta wird praktisch an die Regenwild-Händler verkauft, um unsere Familienschulden zu bezahlen? Wie kann Keffria das zulassen, ganz zu schweigen von dir? Wie kann es so schlecht um unsere Finanzen stehen, selbst wenn die Viviace nicht zurückgekommen ist? Hat sich der Landbesitz nicht immer selbst getragen?« Ihre Mutter streichelte sie beruhigend. »Ich kann mir denken, dass das ein Schock für dich ist. Ich habe den allmählichen Niedergang miterlebt, aber du kehrst zurück und siehst uns finanziell am Ende.« Ihre Mutter presste einen Moment die Hände gegen die Schläfen und sah Althea abwesend an. »Wie sollen wir dich aus dieser Kleidung bekommen und dich ordentlich ankleiden, ohne dass die Diener Fragen stellen?«, sinnierte sie leise. Dann nahm sie einen tiefen Atemzug. »Es erschöpft mich so, dir all das zu erklären. Als würde ich den langsamen Tod von jemandem, den man geliebt hat, in allen Einzelheiten schildern. Gestatte mir, die Details wegzulassen. Ich sage dir stattdessen nur das: Der Einsatz von Sklaven auf den Feldern und den Obstplantagen in Chalced und sogar hier in Bingtown hat die Preise gedrückt. Wir haben unsere Arbeiter
für die Felder immer angestellt. Seit Jahren haben dieselben Frauen und Männer für uns gepflügt, gesät und geerntet. Was sollen wir ihnen jetzt sagen? Es wäre gewinnbringender, die Felder brachliegen oder Ziegen darauf grasen zu lassen, aber wie können wir das unseren Bauern antun? Also machen wir verzweifelt weiter. Oder vielmehr Keffria tut es für mich. Sie hat meinen Rat angenommen. Kyle kontrolliert, wie du weißt, das Schiff. Das war mein Fehler. Deswegen bringe ich es kaum fertig, dir noch ins Gesicht zu blicken. Aber Sa stehe mir bei, Althea: Ich fürchte, er hat Recht! Wenn die Viviace als Sklavenschiff Gewinn bringt, kann sie uns alle retten. Sklaven, so scheint es, sind im Moment das einzige Mittel, um wirtschaftlich zu gedeihen. Sklaven als Fracht, Sklaven auf den Getreidefeldern, Sklaven…« Althea sah ihre Mutter ungläubig an. »Ich fasse es nicht, solche Worte von dir zu hören!« »Ich weiß, dass es falsch ist, Althea. Ich weiß. Aber was bleiben uns für Alternativen? Soll sich die kleine Malta unwissentlich in eine Ehe flirten, für die sie noch nicht reif ist, nur um unser Familienvermögen zu retten? Sollen wir die Viviace den Regenwild-Leuten zurückgeben, um die Schulden zu bezahlen, und dann in Armut weiterleben? Wir könnten natürlich auch einfach vor unseren Gläubigern fliehen, Bingtown verlassen und Sa weiß wohin gehen…« »Hast du ernsthaft über solche Dinge nachgedacht?«, fragte Althea leise. »Allerdings«, erwiderte ihre Mutter gereizt. »Althea, wenn wir nicht selbst handeln, entscheiden andere über unser Schicksal. Wenn unsere Gläubiger uns alles abgenommen haben, was wir besitzen, werden wir zurückblicken und sagen: ›Hätten wir Malta doch erlaubt, Reyn zu ehelichen, dann wäre es uns wenigstens erspart geblieben, in Armut zu leben.‹ Wenigstens das Schiff hätten wir behalten.« »Das Schiff wäre uns geblieben? Wie?«
»Ich habe es dir doch gesagt. Der Khuprus-Clan hat den Wechsel auf die Viviace gekauft. Sie haben indirekt zu verstehen gegeben, dass die Restschuld Reyns Hochzeitsgeschenk an die Familie wäre.« »Das ist doch verrückt!«, stieß Althea hervor. »Niemand macht solche Hochzeitsgeschenke. Nicht einmal die Regenwild-Händler.« Ronica Vestrit atmete tief durch und wechselte das Thema. »Wir müssen dich heimlich in dein Zimmer bringen und dir etwas Anständiges zum Anziehen besorgen. Du bist so dünn geworden. Ich frage mich, ob wir überhaupt noch etwas Passendes im Haus haben.« »Ich kann mich noch nicht in Althea Vestrit zurückverwandeln. Ich bringe dir eine Nachricht von Kapitän Tenira von dem Zauberschiff Ophelia.« »Das stimmt wirklich? Ich dachte, das wäre nur ein Trick, damit du zu mir kannst.« »Es ist wahr. Ich habe an Bord der Ophelia gedient. Wenn wir mehr Zeit haben, erzähle ich dir alles darüber. Aber jetzt will ich dir nur seine Nachricht überbringen und ihm dann deine Antwort ausrichten. Mutter, die Ophelia ist am Zollhafen beschlagnahmt worden. Kapitän Tenira hat sich geweigert, die überhöhten Steuern zu bezahlen, die sie verlangen. Schon gar nicht diejenigen, mit denen sie diese chalcedanischen Schweine unterstützen, die im Hafen vor Anker liegen.« »Chalcedanische Schweine?« Ihre Mutter schien verwirrt. »Du weißt doch bestimmt, wovon ich spreche. Der Satrap hat chalcedanischen Galeonen die Erlaubnis gegeben, in der Inneren Passage zu patrouillieren. Einer ihrer Kapitäne hat versucht, uns auf dem Weg hierher anzuhalten und an Bord zu kommen. Sie sind keinen Deut besser als Piraten und um einiges schlimmer als die, die sie kontrollieren sollen. Ich verstehe nicht, warum sie im Hafen von Bingtown geduldet werden, geschweige denn, warum anscheinend alle die zusätzlichen
Steuern hinnehmen, die sie von uns verlangen!« »Oh. Die Galeonen. Es hat kürzlich eine ziemliche Unruhe deswegen gegeben, aber ich glaube, dass Tenira der Erste ist, der sich weigert, die Gebühren zu bezahlen. Ob sie fair sind oder nicht, die Händler zahlen sie. Die Alternative heißt: Gar kein Handel, und das wird auch Tenira bald feststellen.« »Das ist lächerlich, Mutter! Bingtown ist unsere Stadt! Warum wehren wir uns nicht gegen den Satrapen und seine Handlanger? Der Satrap hält sein Wort uns gegenüber nicht mehr, warum sollten wir es dann weiter zulassen, dass er uns unsere rechtmäßigen Gewinne stiehlt?« »Althea… Ich habe nicht mehr die Kraft, solche Dinge zu besprechen. Du hast zweifellos Recht, aber was kann ich schon dagegen tun? Ich muss meine Familie versorgen. Bingtown muss sich um sich selbst kümmern.« »Mutter, so dürfen wir nicht denken! Grag und ich haben lange darüber diskutiert. Bingtown muss sich vereint gegen die Neuen Händler und den Satrapen von Jamaillia stellen, falls das nötig sein sollte. Je mehr wir ihnen zugestehen, desto mehr nehmen sie. Die Sklaven, die diese Neuen Händler eingeführt haben, sind der Grund für unsere finanziellen Probleme. Wir müssen sie zwingen, unser altes Gesetz gegen die Sklaverei zu achten. Wir müssen den Neuen Händlern erklären, dass wir ihre Verträge nicht anerkennen. Und wir müssen auch dem Satrapen klarmachen, dass wir keine neuen Steuern bezahlen, solange er sich nicht buchstabengetreu an die alte Charta hält. Nein, wir müssen sogar noch weiter gehen. Wir müssen ihm klarmachen, dass fünfzig Prozent Steuer auf unsere Waren und seine Beschränkungen, wo wir diese Waren verkaufen dürfen, der Vergangenheit angehören. Wir haben das schon viel zu lange hingenommen. Jetzt müssen wir uns gemeinsam erheben und dem ein Ende bereiten.« »Es gibt einige Händler, die genauso reden wie du«, sagte ihre Mutter langsam. »Und ich antworte ihnen genauso wie dir
jetzt: Zuerst kommt meine Familie. Außerdem, was kann ich schon tun?« »Sag einfach, dass du zu den Händlern stehen wirst, die diese Steuern nicht bezahlen wollen. Mehr verlange ich nicht.« »Dann musst du deine Schwester fragen. Sie hat jetzt das Stimmrecht, nicht ich. Sie hat es nach dem Tod deines Vaters geerbt. Sie ist jetzt die Bingtown-Händlerin, und sie hat das Recht, die Stimme der Familie im Konzil abzugeben.« »Wir wird sie sich entscheiden?«, fragte Althea nach einem langen Schweigen. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie die ganze Bedeutung dessen begriffen hatte, was ihre Mutter eben gesagt hatte. »Das weiß ich nicht. Sie geht nicht zu vielen Händlerversammlungen. Angeblich, weil sie zu viel zu tun hat, und außerdem will sie auch nicht über Dinge abstimmen, die sie nicht genau hat prüfen können.« »Hast du mit ihr gesprochen? Ihr gesagt, wie entscheidend diese Stimmen sein können?« »Es ist nur eine Stimme«, erwiderte ihre Mutter leise. Althea hatte das Gefühl, einen Unterton von Schuldbewusstsein in den Worten ihrer Mutter gehört zu haben. Sie hakte nach. »Dann lass mich zu Händler Tenira gehen und ihm Folgendes ausrichten: Dass du mit Keffria reden und ihr raten wirst, sowohl zum nächsten Händlertreffen zu gehen als auch für Teniras Sache zu stimmen. Er will selbst hingehen und fordern, dass das Konzil sich offiziell hinter ihn stellt.« »Das kann ich dir versprechen. Althea, du brauchst diese Nachricht nicht selbst zu überbringen. Wenn er öffentlich gegen diese Steuerabgaben rebelliert, dann könnte er eine… eine Art von Reaktion auslösen. Ich lasse von Rache einen Läufer holen, der deine Worte überbringt. Du musst nicht mitten in diese Geschichte hineingezogen werden.« »Mutter, ich will aber mitten drin sein. Außerdem möchte ich ihnen klarmachen, dass ich fest zu ihnen stehe. Ich weiß, dass
ich gehen muss.« »Aber doch nicht sofort! Althea, du bist gerade erst nach Hause gekommen. Du wirst doch noch so viel Zeit haben, zu essen, zu baden und dich umzuziehen.« Ihre Mutter schien entsetzt. »Das kann ich nicht. Im Hafen bin ich in dieser Kleidung sicherer. Die Wachen am Zollkai achten nicht auf einen Schiffsjungen, der irgendwelche Besorgungen ausführt. Lass mich jetzt zurückkehren und dann… Ich muss noch jemanden besuchen. Aber danach komme ich zurück. Ich verspreche dir, dass ich morgen früh wieder sicher unter deinem Dach sein werde und gekleidet bin, wie es einer Händlertochter gebührt.« »Du willst die ganze Nacht wegbleiben? Allein?« »Wäre es dir lieber, wenn ich mit jemandem zusammen wäre?«, fragte Althea schelmisch und grinste. »Mutter, ich bin seit fast einem Jahr die ganze Nacht unterwegs. Und mir ist nichts passiert. Jedenfalls nichts Dauerhaftes. Aber ich verspreche dir, dass ich dir alles erzähle, wenn ich zurückkehre.« »Ich scheine dich ja nicht aufhalten zu können«, meinte Ronica resigniert. »Na gut. Um des Andenkens deines Vaters willen sorg dafür, dass dich niemand erkennt! Unsere Familie ist auch so schon genügend vom Schicksal gebeutelt. Sei diskret in dem, was du tun musst. Und bitte Kapitän Tenira, ebenfalls diskret zu sein. Du hast an Bord seines Schiffes gedient, sagst du?« »Ja, das habe ich. Und ich habe auch gesagt, dass ich dir alles erzähle, wenn ich zurückkomme. Je eher ich gehe, desto früher komme ich zurück.« Althea drehte sich um. Vor der Tür blieb sie stehen. »Sagst du meiner Schwester, dass ich zurück bin? Und dass ich mit ihr über wichtige Dinge sprechen muss?« »Das mache ich. Heißt das, dass du dich, nun, nicht gerade entschuldigst, aber dass du versuchst, einen Waffenstillstand mit Kyle und deiner Schwester zu schließen?« Althea schloss die Augen und öffnete sie wieder. Sie antwor-
tete beherrscht. »Mutter, ich habe vor, mein Schiff wiederzubekommen. Ich werde versuchen, euch beiden klarzumachen, dass ich nicht nur ein Recht auf die Viviace habe, sondern dass ich auch das Beste für die Familie damit erreichen kann. Aber mehr will ich nicht sagen, weder zu dir noch zu Keffria. Bitte, sag ihr das nicht. Sag ihr einfach nur, dass ich mit ihr über ernste Dinge sprechen will.« »Über sehr ernste Dinge.« Ihre Mutter sprach mit sich selbst. Die Furchen auf ihrer Stirn und um ihren Mund schienen tiefer zu werden. Sie trank noch einen Schluck Wein, ohne ihn jedoch wirklich zu genießen. »Sei vorsichtig, Althea, und komm schnell zurück. Ich weiß nicht, ob deine Heimkehr uns Erlösung oder Katastrophen bringt. Ich weiß nur, dass ich froh bin, dass du noch lebst.« Althea nickte kurz und schlüpfte aus dem Zimmer. Sie nahm nicht denselben Weg zurück, den sie gekommen war, sondern verließ das Haus durch die Vordertür. Sie grüßte einen Diener, der Blütenblätter von den Stufen fegte. Die gewaltigen Hyazinthen an der Treppe verströmten einen betäubenden Duft. Als sie die Auffahrt zur Straße nach Bingtown hinunterlief, wünschte sie sich fast, einfach nur Athel zu sein, der Schiffsjunge. Es war ein wundervoller Frühlingstag, ihr erster Tag an Land in ihrem Heimathafen seit beinahe einem Jahr. Sie wünschte, sie könnte sich darüber freuen. Sie lief die gewundene Straße zum Stadtkern Bingtowns entlang und bemerkte, dass der Besitz der Vestrits nicht der einzige war, der Zeichen von Verfall zeigte. Einige andere große Villen, an denen sie vorbeiging, zeigten deutlich die Vernachlässigungen, die eine schmale Börse mit sich brachte. Bäume waren nicht beschnitten worden und die Schäden der Winterstürme nicht repariert. Als sie durch die geschäftigeren Straßen von Bingtowns Marktviertel ging, kam es ihr so vor, als sähe sie viele unbekannte Gesichter. Gut, sie war in den letzten Jahren so oft von Bingtown entfernt gewesen, dass sie nicht
erwartete, viele Freunde oder Nachbarn zu sehen. Aber diese Fremden sprachen, als kämen sie aus Jamaillia-Stadt, und kleideten sich wie Chalcedaner. Die Männer wirkten alle jung, Mitte zwanzig bis Anfang dreißig. Sie trugen breite Schwerter in ziselierten Scheiden und hatten ihre Börsen an ihren Gürteln hängen, als wollten sie mit ihrem Reichtum protzen. Die prächtigen Röcke der Frauen, die ihnen folgten, waren geschlitzt, um ihre dünnen Unterröcke zu enthüllen. Ihre bunte Schminke verhüllte ihre Gesichter eher, als dass sie sie betonte. Die Männer sprachen lauter, als es nötig war, als wollten sie so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen wie möglich. Und meistens war ihr Tonfall arrogant und überheblich. Ihre Frauen bewegten sich wie nervöse Stutfohlen, zuckten mit den Köpfen und gestikulierten, während sie sprachen. Sie trugen starke Parfüms, und ihre Ohrringe waren groß. Neben ihnen wirkten die Kurtisanen von Bingtown wie langweilige Hühner neben einem Pfau. Und es gab noch eine zweite Sorte unbekannter Menschen auf den Straßen. Sie trugen Sklaventätowierungen neben ihren Nasen. Ihr Verhalten zeigte deutlich, dass sie am liebsten unbeobachtet geblieben wären. Die Zahl der Sklaven in Bingtown hatte sich vervielfacht. Sie trugen Pakete und hielten die Pferde fest. Ein Junge folgte zwei kleinen Mädchen, die kaum älter waren als er selbst, und hielt einen Sonnenschirm über sie, damit sie von den Strahlen der milden Frühlingssonne verschont blieben. Als das jüngere der beiden Mädchen ihn schlug und ihn schalt, dass er den Sonnenschirm nicht richtig hielt, konnte Althea kaum den Drang unterdrücken, ihr eine Ohrfeige zu geben. Der Junge war viel zu jung, um so ehrfürchtig zu kuschen. Er ging barfuß auf den kalten Pflastersteinen. »Es bricht dir das Herz, wenn du dich darauf einlässt. Aber diese beiden hat man gelehrt, überhaupt kein Herz zu haben.« Althea zuckte zusammen, als die leise Stimme direkt neben ihr ertönte. Sie wirbelte herum. Amber stand direkt hinter ihr.
Sie sahen sich an, und Amber hob wissend eine Braue. Hochmütig sagte sie: »Ich gebe dir ein Kupferstück, Bursche, wenn du mir dieses Holz trägst.« »Zu Euren Diensten«, antwortete Althea und nickte, wie ein Seemann es tat. Sie nahm Amber das lange Stück Holz aus den Armen und stellte fest, dass es viel schwerer war, als sie erwartet hatte. Sie bemerkte den fröhlichen Blick in den topasfarbenen Augen ihrer Freundin. Sie folgte ehrerbietig zwei Schritte hinter Amber vom Markt zur Regenwild-Straße. Hier hatte sich auch einiges geändert. Einige Geschäfte hatten schon immer Nachtwächter beschäftigt, und einige stellten sogar bei Tage Wächter an. Jetzt schmückte sich beinahe jeder Laden mit einem säuerlich dreinblickenden Türsteher, der ein Kurzschwert oder einen Langdolch an der Hüfte trug. Die Türen standen nicht mehr einladend offen, und die Güter wurden auch nicht mehr in Regalen oder auf Tischen vor den Geschäften ausgestellt. Die faszinierenden und beinahe magischen Waren, die aus der Regenwildnis nach Bingtown importiert worden waren, konnte man jetzt nur noch durch vergitterte Fenster betrachten. Althea vermisste den Duft von Parfüms, das Klingen der Windspiele und den Geruch seltener Gewürze in der Luft. Die Geschäfte und die Straße waren so belebt wie immer, aber sowohl die Verkäufer als auch die Käufer strahlten eine misstrauische Vorsicht aus, die sehr unangenehm wirkte. Selbst vor Ambers Geschäft stand eine Wächterin und wartete vor der verschlossenen Tür. Die junge Frau trug einen Lederharnisch und jonglierte beiläufig mit zwei Schlagstöcken und einem Totschläger, während sie darauf wartete, dass ihre Herrin die Tür öffnete. Ihr langes blondes Haar war zu einem Zopf geflochten. Sie lächelte Althea strahlend an. Die drückte sich verlegen an ihr vorbei. Das Lächeln hatte etwas von einer großen Katze, die einen Nager betrachtet. »Warte draußen, Jek. Ich mache noch nicht auf«, befahl Amber nachdrücklich.
»Wie es Euch gefallen tut, Herrin«, antwortete Jek. Sie sprach merkwürdig und mit einem fremden Akzent. Als sie hinausging, warf sie Althea noch einen nachdenklichen Blick zu und schloss dann die Tür hinter sich. »Wo hast du die denn her?«, fragte Althea ungläubig. »Sie ist eine alte Freundin. Wenn sie herausfindet, dass du eine Frau bist, ist sie bestimmt enttäuscht. Und sie wird es merken. Jek entgeht nichts. Aber es besteht keine Gefahr, dass sie dein Geheimnis verrät. Sie ist absolut verschwiegen, sieht alles, sagt nichts. Die perfekte Dienerin.« »Das ist seltsam. Ich hätte mir nie vorgestellt, dass du irgendwelche Dienstboten haben könntest.« »Ich würde auch lieber darauf verzichten, aber ich fürchte, dass es nötig ist, mein Geschäft bewachen zu lassen. Ich bin umgezogen, und bei der steigenden Anzahl von Einbrüchen in Bingtown brauchte ich einen Nachtwächter für meinen Laden. Jek suchte einen Ort, wo sie wohnen kann. Unser Arrangement funktioniert großartig.« Sie nahm Althea den Holzklotz aus den Armen und legte ihn zur Seite. Zu Altheas Überraschung packte sie sie dann an den Schultern und hielt sie auf Armeslänge von sich. »Du bist ein entzückender Jüngling. Ich kann Jek nicht verübeln, dass sie dir schöne Augen macht.« Sie umarmte Althea herzlich. »Ich bin so froh, dass du unbeschadet zurückgekehrt bist«, sagte Amber, als sie Althea losließ. »Ich habe oft an dich gedacht und mich gefragt, wie es dir wohl gehen mag. Komm mit nach hinten. Ich mache uns einen Tee. Dabei können wir uns unterhalten.« Amber ging voraus, während sie das sagte. Das Hinterzimmer war noch genauso unordentlich, wie Althea es in Erinnerung hatte. Überall standen Werkbänke mit Werkzeug und halb fertigen Perlen. Kleider hingen an Haken oder lagen ordentlich zusammengefaltet in Truhen. In einer Ecke stand ein Bett und in der anderen ein ungemachter Strohsack. Im Herd brannte ein kleines Feuer.
»Ich hätte gern einen Tee, aber dafür habe ich keine Zeit. Jedenfalls im Moment nicht. Zuerst muss ich eine Nachricht überbringen. Aber sobald ich das erledigt habe, komme ich sofort hierher zurück. Ich hatte das sowieso vor, schon bevor du mich auf der Straße gesehen hast.« »Es ist auch sehr wichtig für mich, dass du das tust«, antwortete Amber so ernst, dass Althea sie unwillkürlich ansah. »Das ist nicht so schnell zu erklären«, erwiderte Amber auf diesen Blick. Altheas Neugier war geweckt. »Ich muss auch mit dir unter vier Augen sprechen. Es ist eine sehr… heikle Angelegenheit. Vielleicht habe ich ja nicht das Recht, mich da einzumischen, aber sie ist…« Sie zögerte. »Vielleicht ist jetzt sogar der beste Zeitpunkt, obwohl ich noch nicht einmal mit Kapitän Tenira darüber gesprochen habe.« Althea hielt kurz inne und sprach dann weiter. »Ich diene auf dem Zauberschiff Ophelia. Sie ist verletzt worden, und ich hoffe, dass du ihr helfen kannst. Eine chalcedanische Galeone hat uns auf unserem Rückweg nach Bingtown angegriffen. Ophelia hat sich die Hände verbrannt, als sie sie abgewehrt hat. Sie behauptet zwar, dass es nicht weh tut, aber sie faltet immer die Hände und versteckt sie, damit niemand sie sehen kann. Ich weiß nicht, wie groß der Schaden ist oder ob ein Holzschnitzer wie du versengtes Holz reparieren kann. Aber…« »Ihr seid von einer Galeone angehalten worden? Und sie hat euch angegriffen?« Amber war entsetzt. »In der Inneren Passage?« Sie stieß die Luft aus und starrte an Althea vorbei, als sähe sie in eine andere Zeit und auf einen anderen Ort. Ihre Stimme klang merkwürdig. »Das Schicksal kehrt sich gegen uns! Die Zeit treibt dahin, und die Tage verstreichen langsam und lullen uns ein. Wir glauben, dass der Untergang immer weiter aufgeschoben werden kann. Doch dann sind die finsteren Tage plötzlich da, die wir alle vorhergesagt haben, und die Zeit, in der wir das Schicksal noch hätten wenden können, ist
abgelaufen. Wie alt muss ich noch werden, bis ich das endlich begreife? Es ist nicht genug Zeit, es ist nie genug Zeit. Das Morgen kommt vielleicht nie, aber das Heute, das Jetzt, ist stets die einzige Zeit, in der wir die Katastrophe abwenden können.« Althea empfand plötzlich so etwas wie Genugtuung. Das war die Reaktion, die sie eigentlich von ihrer Mutter erwartet hatte. Eigenartigerweise war es keine Bingtown-Händlerin, die sofort die komplette Bedeutung ihrer Nachricht erfasst hatte. Amber hatte den Tee vollkommen vergessen. Stattdessen klappte sie eine Kiste im hinteren Teil des Raumes auf und fing an, wie verrückt Kleidung herauszuschleudern. »Lass mir einen Moment Zeit, dann begleite ich dich. Aber lass uns keine Zeit verschwenden. Fang mit dem Tag an, an dem du hier weggegangen bist, und erzähl mir alles von deinen Reisen, selbst die Dinge, die du als unwichtig erachtest.« Sie trat an einen kleinen Tisch und öffnete eine Schachtel. Nachdem sie kurz den Inhalt aus Töpfen und Bürsten inspiziert hatte, klemmte sie ihn sich unter den Arm. Althea musste lachen. »Amber, das würde Stunden, nein, Tage dauern.« »Deshalb müssen wir sofort anfangen. Komm. Leg los, während ich mich umziehe.« Amber nahm einige Kleidungsstücke über den Arm und verschwand hinter einem Holzparavent in einer Ecke. Althea berichtete von einigen ihrer Erlebnisse auf der Reaper. Sie hatte kaum ihre ersten elenden Tage und ihre Entdeckung durch Brashen hinter sich gebracht, als Amber hinter der Wand hervortrat. Aber es war nicht mehr Amber, die vor ihr stand. Es war ein schmutziges Sklavenmädchen. Auf ihrer vom Wind geröteten Wange prangte eine Tätowierung. Eine verkrustete Wunde verunstaltete ihre Oberlippe und ihr linkes Nasenloch. Ihr schmutziges Haar löste sich aus einem ungepflegten Zopf. Ihr Hemd bestand aus grober Baumwolle, und unter dem geflickten Rock lugten ihre nackten Füße her-
vor. Um einen Knöchel wand sich ein schmutziger Verband. Und statt der Spitzenhandschuhe, die Amber für gewöhnlich trug, hatte sie jetzt grobe Segeltuchhandschuhe angelegt. Sie legte einen schmutzigen Segeltuchbeutel auf den Tisch und stopfte Holzwerkzeug hinein. »Ich bin erstaunt. Wo hast du das gelernt?«, wollte Althea wissen. Sie lächelte. »Das habe ich dir doch gesagt. Ich habe schon viele Rollen in meinem Leben gespielt. Diese Verkleidung hat sich in letzter Zeit als sehr nützlich erwiesen. Sklaven sind so gut wie unsichtbar. Ich kann in dieser Verkleidung beinahe überall hingehen, ohne dass man mich beachtet. Selbst solche Männer, die nicht zögern, sogar eine Sklavin zu belästigen, können mit ein bisschen Dreck und einigen sichtbar platzierten Ekzemen abgeschreckt werden.« »Sind die Straßen von Bingtown für eine Frau ohne Begleitung so gefährlich geworden?« Amber warf ihr einen beinahe mitleidigen Blick zu. »Du siehst, was passiert, aber trotzdem begreifst du es nicht. Sklaven sind keine Frauen, Althea. Oder Männer. Sie sind Handelsware, Güter und Eigentum. Dinge. Warum sollte ein Sklavenhalter sich um eine seiner Waren kümmern, wenn sie vergewaltigt wird? Wenn sie ein Kind bekommt, hat er noch einen Sklaven mehr. Und wenn nicht… Wem schadet es? Der Junge, den du angestarrt hast… Es kostet seinen Besitzer nichts, wenn er sich jede Nacht in den Schlaf weint. Die blauen Flecken, die er davonträgt, kosten seinen Besitzer nichts. Wenn er aufgrund dieser schlechten Behandlung mürrisch und unerträglich wird, verkauft man ihn einfach an jemanden, der ihn noch schlechter behandelt. Die untersten Stufen der Leiter sind sehr rutschig geworden, seitdem die Sklaverei akzeptiert wird. Wenn man das Leben eines Menschen in Geld bemessen kann, dann kann man auch seinen Wert herunterhandeln, ein Kupferstück nach dem anderen, bis zum Schluss kein Wert mehr übrig ist. Wenn
eine alte Frau weniger wert ist, als sie isst… Nun.« Amber seufzte. Im nächsten Moment straffte sie sich. »Dafür haben wir keine Zeit.« Sie bückte sich und spähte in einen Spiegel auf dem Tisch. Dann griff sie nach einem zerlumpten Schal und band ihn sich um den Kopf und über die Ohren. Der Beutel mit dem Werkzeug verschwand in einem Einkaufskorb. Sie schob die Ohrringe unter den Schal. »So. Gehen wir. Wir nehmen den Hinterausgang. Auf der Straße nimmst du meinen Arm, beugst dich zu mir und betrachtest mich lüstern wie ein widerlicher Seemann. So können wir reden, während wir gehen.« Althea war verblüfft, wie gut die List funktionierte. Die Leute, die sie überhaupt wahrnahmen, wandten sich angewidert ab. Althea fuhr mit der Schilderung ihrer Erlebnisse fort. Ein oder zweimal machte Amber Anstalten, sie zu unterbrechen, doch als Althea innehielt, sagte sie nur: »Nein, mach weiter. Wenn du fertig bist, ist noch genug Zeit für Fragen.« Noch nie hatte jemand Althea so aufmerksam zugehört und ihre Worte wie ein Schwamm aufgesaugt. Als sie sich dem Zollkai näherten, zog Amber Althea beiseite. »Wie willst du mich dem Schiff vorstellen?«, fragte sie. »Du folgst mir an Bord. Ich habe das noch nicht mit Kapitän Tenira besprochen.« Althea runzelte die Stirn, als ihr klar wurde, wie peinlich das alles werden könnte. »Du musst erst Kapitän Tenira und Grag kennen lernen, bevor ich dir Ophelia vorstelle. Ich weiß wirklich nicht, wie sie reagieren werden, weder auf dich noch darauf, dass jemand an ihrem Schiff arbeitet, der nicht aus Bingtown kommt.« »Vertraue darauf, dass ich mit ihnen fertig werde. Ich kann sehr charmant sein, wenn es darauf ankommt. Und jetzt vorwärts.« Althea wurde am Laufsteg des Schiffes nicht angehalten. Sie sah sich verstohlen um und winkte Amber dann umständlich herauf. Die beiden Zollwachen auf dem Kai bemerkten sie so-
fort. Der eine schnitt eine angewiderte Grimasse, während der andere nur wissend lachte. Keiner der beiden mischte sich ein, als der Schiffsjunge sein Flittchen an Bord schmuggelte. Die Wache auf der Ophelia hob ungläubig die Brauen, doch auf ein Zeichen von Althea vermied er es, etwas zu sagen. Er führte sie zur Tür von Kapitän Teniras Kajüte und blieb dort stehen, während Althea anklopfte. »Herein!«, rief Tenira. Althea bedeutete Amber mit einem Nicken, ihr zu folgen. Der Kapitän war mit einem Pergament und einem Stift beschäftigt gewesen, während Grag aus dem Fenster schaute. »Was ist das denn?«, wollte Kapitän Tenira ungläubig wissen, während Grags Mund sich angeekelt verzog. »Ich bin nicht das, was ich zu sein scheine, Sir«, antwortete Amber, bevor Althea ein Wort herausbrachte. Ihre Stimme klang gebildet, und ihr Akzent war makellos, sodass niemand auf die Idee gekommen wäre, ihre Behauptung anzuzweifeln. »Bitte entschuldigt, dass ich in dieser Verkleidung gekommen bin. Es schien angebracht zu sein. Ich bin seit einer Weile mit Althea befreundet. Sie weiß, dass man mir vertrauen kann. Und sie hat mir von Eurer Begegnung mit der Galeone erzählt. Ich bin nicht nur hier, um Euch meiner Unterstützung bei der Verweigerung der Abgaben zu versichern, sondern auch, um herauszufinden, ob ich den Schaden reparieren kann, den Ophelias Hände genommen haben.« In einem Atemzug hatte Amber all das geäußert, was Althea nur viel umständlicher hätte erklären können. Dann stand sie ruhig da, die Hände bescheiden vor sich gefaltet, hielt sich gerade und erwiderte unerschrocken die Blicke der Männer. Vater und Sohn sahen sich kurz an. Die ersten Worte, die Kapitän Tenira sagte, überraschten Althea. »Glaubt Ihr wirklich, dass Ihr etwas für Ophelias Hände tun könnt? Es schmerzt mich, mit anzusehen, dass sie sich ihres Äußeren schämt.« Die Stimme des Mannes war so voller Gefühl, als er von sei-
nem Schiff sprach, dass es Althea rührte. »Das kann ich nicht versprechen«, erwiderte Amber aufrichtig. »Ich weiß nicht viel von Hexenholz. Meine wenige Erfahrung damit hat mich nur gelehrt, dass es außerordentlich fein gemasert ist. Allein seine Dichte könnte sie bereits vor größerem Schaden bewahrt haben. Aber das kann ich erst beurteilen, wenn ich ihre Hände sehe, und vielleicht nicht einmal dann.« »Also sollten wir hingehen und nachsehen«, erklärte Tenira sofort. Er sah Althea beinahe entschuldigend an. »Ich weiß, dass Ihr Nachricht von Eurer Mutter bringt. Glaubt nicht, dass ich das gering schätze. Aber die Ophelia ist mein Schiff.« »Sie kommt natürlich zuerst«, pflichtete Althea ihm bei. »Daran habe ich auch gedacht, als ich meine Freundin Amber bat, mich zu begleiten.« »Das sieht Euch so ähnlich«, meinte Grag herzlich. Er besaß die Kühnheit, Altheas Hand zu berühren, und verbeugte sich kurz vor Amber. »Es ehrt mich, jemanden kennen zu lernen, den Althea ihre Freundin nennt. Mehr muss ich über Euch nicht wissen.« »Mein Sohn erinnert mich an meine Manieren. Verzeiht, meine Dame. Ich bin der Kapitän und Bingtown-Händler Tomie Tenira. Eigner des Zauberschiffs Ophelia. Das ist mein Sohn, Grag Tenira.« Althea fiel auf, dass sie Ambers Familiennamen gar nicht kannte. Doch bevor sie unbeholfen die Vorstellung übernehmen konnte, sprach Amber bereits. »Ich bin Amber, die Perlenmacherin, eine Handwerkerin von der Regenwild-Straße. Ich freue mich darauf, Euer Schiff kennen zu lernen.« Ohne weitere Umstände ging Kapitän Tenira voraus. Ophelia konnte offenbar ihre Neugier kaum noch beherrschen. Sie musterte Amber mit einer erschrockenen Zurückhaltung, die Althea unfreiwillig grinsen ließ. Doch sobald Ambers Anwesenheit erklärt war, zögerte das Schiff keine Sekunde. Sie wandte sich zu ihr und zeigte ihr die versengten Hände. »Glaubt Ihr, dass Ihr
etwas für mich tun könnt?«, fragte sie ernst. Zum ersten Mal konnte Althea einen genaueren Blick auf den Schaden werfen. Der brennende Teer war an ihren Fingern hängen geblieben. Er bedeckte die Innenseite von Ophelias linkem Handgelenk. Ihre Patrizierhände sahen jetzt aus wie die einer Putzmagd. Amber ergriff mit beiden Händen die große Pranke des Schiffes. Sie fuhr mit ihren behandschuhten Händen vorsichtig über die versengte Oberfläche und rieb dann fester daran. »Sag mir, ob es weh tut«, erklärte sie etwas spät. Vor Konzentration runzelte sie die Stirn. »Ein höchst außerordentliches Holz«, murmelte sie. Sie öffnete ihre Tasche und nahm ein Werkzeug heraus. Vorsichtig kratzte sie an den geschwärzten Fingerspitzen. Ophelia schnappte nach Luft. »Tut das weh?«, fragte Amber sofort. »Nicht wie bei einem Menschen. Es fühlt sich… falsch an. Wie ein Schaden.« »Ich denke, unter dieser versengten Oberfläche ist viel unversehrtes Holz. Mit meinem Werkzeug könnte ich das entfernen, was geschwärzt ist. Ich muss dabei allerdings Eure Hände neu gestalten. Ihr hättet am Ende etwas schlankere Finger als jetzt. Ich glaube, dass ich die Proportionen beibehalten kann, es sei denn, der Schaden reicht tiefer, als ich dachte. Allerdings müsstet Ihr dieses Gefühl von Verletzung, ohne zu zucken, ertragen, während ich arbeite. Ich weiß nicht, wie lange es dauert.« »Was sagst du dazu, Tomie?«, fragte das Schiff den Kapitän. »Meiner Meinung nach haben wir wenig zu verlieren«, antwortete er liebevoll. »Wenn das Gefühl unerträglich werden sollte, wird Mistress Amber sicher aufhören.« Ophelia lächelte nervös. Dann wurde ihr Blick nachdenklich. »Wenn Ihr meine Hände erfolgreich repariert habt, könntet Ihr vielleicht auch etwas an meinem Haar ändern.« Sie hob die Hand und berührte die langen Locken ihrer Mähne. »Dieser
Stil ist so veraltet. Ich hab oft gedacht, dass Ringellöckchen um mein Gesicht besonders gut…« »Ach, Ophelia!« Tomie stöhnte, während die anderen lachten. Amber hatte Ophelias Hand festgehalten. Sie beugte sich immer noch darüber und begutachtete den Schaden. »Ich werde vielleicht große Schwierigkeiten damit haben, die Maserung zu erhalten. Ich habe noch nie eine Beize gesehen, die die Farbe von Haut so gut nachahmt, ohne dabei die Maserung des Holzes zu verbergen. Jemand hat mir einmal gesagt, dass ein Lebensschiff seine eigenen Farben erschafft, wenn es erwacht.« Unbefangen sah sie Ophelia in die Augen. »Wird es wieder passieren, wenn ich so tief hobeln muss, dass ungefärbtes Holz zum Vorschein kommt?« »Das weiß ich nicht«, erwiderte Ophelia gelassen. »Jedenfalls ist das keine Arbeit, die an einem Nachmittag erledigt werden kann«, stellte Amber nachdrücklich fest. »Kapitän, Ihr müsstet Euren Wachen den Befehl geben, mich an Bord zu lassen. Ich werde dieselbe Verkleidung beibehalten. Ist das annehmbar?« »Ich glaube schon«, stimmte der Kapitän zu. »Auch wenn es den anderen Händlern schwer zu erklären sein dürfte, warum eine so heikle Arbeit einer Sklavin anvertraut wird oder warum ich überhaupt eine Sklavin für diese Arbeit einsetze. Ich bin gegen jede Art von Sklaverei, müsst Ihr wissen.« »Ich auch«, erwiderte Amber ernst. »Und wie noch viele andere Menschen in der Stadt.« »Ach wirklich?«, erwiderte Tomie verbissen. »Wenn es einen gewaltigen öffentlichen Aufschrei gegeben hat, ist er mir jedenfalls entgangen.« Amber tippte leicht auf ihre Tätowierung. »Wenn Ihr Lumpen anziehen und so etwas auflegen und in Bingtown herumschlendern würdet, könntet Ihr die Stimmen von denen hören, die sich am bittersten gegen die Sklaverei wenden. Wenn Ihr Euch bemüht, Bingtown wieder zur Vernunft zu bringen, solltet Ihr
diese Helfer nicht ignorieren.« Sie nahm einen kleinen Hobel aus ihrer Werkzeugtasche und stellte die Klinge ein. »Wenn jemand an, sagen wir, der inneren Struktur des Haushalts des Zollinspektors interessiert ist, dann könnten unter diesen Menschen leicht Spione gefunden werden. Soweit ich weiß, ist der Schreiber, der seine Post an den Satrapen erledigt, ebenfalls ein Sklave.« Althea lief ein Schauer über den Rücken. Wie hatte Amber all diese Dinge in Erfahrung gebracht, und warum hatte sie sich überhaupt die Mühe gemacht, sie zu erkunden? »Ihr sprecht, als hättet Ihr genaue Kenntnisse von diesen Dingen«, meinte Kapitän Tenira nachdrücklich. »Oh, ich habe so meine Erfahrungen, was Intrigen und Listen angeht. Das alles ist sehr geschmacklos. Und notwendig. Genauso wie Schmerz manchmal notwendig ist.« Sie setzte den Hobel auf Ophelias Hand an. »Haltet ruhig«, sagte sie leise. »Ich versuche, den schlimmsten Schaden wegzunehmen.« Einen Moment herrschte Ruhe, bis ein schreckliches, kratzendes Geräusch ertönte. Verbranntes Holz wurde pulverisiert und wehte davon. Der Geruch erinnerte Althea an verbranntes Haar. Ophelia schrie leise auf, hob dann den Blick und starrte aufs Meer hinaus. Sie hatte die Lippen fest zusammengepresst. Kapitän Teniras Gesicht war beinahe ausdruckslos, während er Amber bei ihrer Arbeit beobachtete. So beiläufig, als rede er über das Wetter, fragte er Althea: »Habt Ihr Eurer Mutter meine Nachricht überbracht?« »Das habe ich.« Althea ignorierte das Gefühl von Scham. »Es tut mir Leid. Ich habe wenig Tröstliches für Euch. Meine Mutter sagte, sie wolle mit meiner Schwester Keffria reden. Sie ist jetzt rechtmäßig die Händlerin der Familie. Mutter wird sie drängen, am nächsten Konzil teilzunehmen und für eine Unterstützung Eurer Handlungen zu stimmen.« »Verstehe«, antwortete Tenira. Seine Stimme war gewollt ausdruckslos.
»Ich wünschte, mein Vater würde noch leben«, meinte Althea kläglich. »Ich wünschte, Ihr wärt die Händlerin der Vestrits. Eigentlich hättet Ihr Euer Familienschiff erben sollen.« Althea enthüllte ihre schmerzlichste Wunde. »Ich weiß nicht, ob sich Keffria überhaupt auf Eure Seite stellen kann.« Ihre Worte zogen bestürztes Schweigen nach sich. Als sie weitersprach, bemühte sie sich, ihre Stimme unbeteiligt klingen zu lassen. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie Euch unterstützen und gleichzeitig zu ihrem Ehemann stehen soll. Die erhöhten Steuern basieren darauf, dass der Satrap den Handelsweg vor den Piraten schützen will, aber wir alle wissen, dass ihn vor allem der Sklavenhandel interessiert. Er hat sich niemals um die Piraten gekümmert, bis sie angefangen haben, die Sklavenschiffe anzugreifen. Wenn man also auf die Sklaverei zu sprechen kommt und sie Stellung beziehen muss… Sie… Kyle handelt mit Sklaven. Er benutzt die Viviace als Sklavenschiff. Ich glaube nicht, dass Keffria sich in diesem Punkt gegen ihren Ehemann stellen wird, selbst wenn sie mit ihm nicht einer Meinung ist. Sie hat noch nie die Willenskraft besessen, gegen ihn aufzubegehren.« »Nein!«, stieß Ophelia hervor. »Oh, wie konnten sie so etwas tun? Viviace ist noch so jung. Wie soll sie das alles ertragen? Wie konnte deine Mutter nur so etwas zulassen? Wie konnte sie das ihrem eigenen Familienschiff antun?« Grag und Kapitän Tenira schwiegen. Das Gesicht des Kapitäns war eine Maske der Missbilligung, während Grag fassungslos wirkte. Die Frage hing wie eine Anklage in der Luft. »Ich weiß es nicht«, antwortete Althea kläglich. »Ich weiß es einfach nicht.«
11
Familiengericht »Wo könnte sie denn sein? Was könnte sie tun?«, fragte Keffria besorgt. »Ich weiß es nicht«, erwiderte ihre Mutter gereizt. Keffria sah in ihre Teetasse. Sie zwang sich zu schweigen. Beinahe hätte sie ihre Mutter gefragt, ob sie wirklich überzeugt war, Althea gesehen zu haben. Die letzte Woche war so anstrengend gewesen, dass sie ihrer Mutter hätte verzeihen können, wenn sie sich das nur eingebildet hätte. Es wäre leichter gewesen, ihr das zu vergeben als ihrer jüngeren Schwester, dass sie aufgetaucht und gleich wieder verschwunden war. Es half ihrer Laune auch nicht, dass ihre Mutter Altheas verrücktes Benehmen akzeptierte. Ihre Mutter ließ sich erweichen. »Sie hat mir gesagt, dass sie vor morgen früh zurück sein würde. Die Sonne ist ja gerade erst untergegangen.« »Kommt es dir nicht merkwürdig vor, dass eine junge, unverheiratete Frau aus einer guten Familie allein des Nachts umherstreift, und besonders in der ersten Nacht zu Hause, nachdem sie fast ein ganzes Jahr verschwunden war?« »Zweifellos. Aber das ist ganz typisch für Althea. Ich habe mittlerweile akzeptiert, dass ich sie nicht ändern kann.« »Solche Freiheiten sind mir nicht erlaubt«, erklärte Malta nachdrücklich. »Ich darf nicht einmal am Tag allein in Bingtown spazieren gehen.« »Das stimmt«, erwiderte Ronica seelenruhig. Ihre Nadeln klapperten rhythmisch, während sie weiterstrickte. Sie ignorierte Maltas empörten Seufzer. Sie hatten früh gegessen und saßen jetzt im Arbeitszimmer zusammen. Niemand sprach laut aus, dass sie gemeinsam auf
Altheas Rückkehr warteten. Das war auch unnötig. Ihre Mutter strickte, als wäre sie in einem Rausch. Keffria war nicht so konzentriert. Sie stieß hartnäckig ihre Nadel durch ihre Stickarbeit und zog sie durch. Sie würde sich von ihrer Schwester nicht aufregen und sich auch nicht das bisschen Ruhe stehlen lassen. Malta tat nicht einmal, als wäre sie konstruktiv beschäftigt. Sie hatte unzufrieden in ihrer schlichten Mahlzeit herumgestochert und gejammert, dass sie Davads Diener vermisste. Jetzt lief sie im Zimmer umher, strich über die Anrichte, nahm die kleineren Andenken der Reisen ihres Vaters in die Hand und stellte sie dann wieder hin. Ihre Ruhelosigkeit ging Keffria ziemlich auf ihre ohnehin gereizten Nerven. Sie war nur froh, dass Selden bereits im Bett lag. Er war von der betriebsamen Woche erschöpft. Malta hingegen war geradezu aufgeblüht. Erst seit die letzte Kutsche abgefahren war, hatte sich ihre Miene getrübt. Sie erinnerte Keffria an ein Seegeschöpf, das von der Ebbe überrascht und an den Strand gespült worden war. »Mir ist langweilig«, verkündete Malta und sprach damit die Gedanken ihrer Mutter laut aus. »Ich wünschte, die RegenwildHändler wären noch da. Sie sitzen abends wenigstens nicht herum und machen Nadelarbeiten.« »Ich bin sicher, dass sie das tun, wenn sie zu Hause sind«, konterte Keffria entschieden. »Niemand kann jeden Abend Feste veranstalten, Malta. Das darfst du nicht zur Grundlage deiner Beziehung mit Reyn machen.« »Nun, wenn er mich heiratet und wir ein eigenes Heim haben, wird es nicht jeden Abend so langweilig zugehen, das verspreche ich dir. Wir laden Freunde zu Besuch ein und lassen Musiker auftreten. Oder wir besuchen andere Freunde. Delo und ich haben entschieden, was wir tun werden, wenn wir erst einmal verheiratete Frauen sind. Wir werden oft…« »Wenn du Reyn heiratest, wirst du in der Regenwildnis leben,
nicht in Bingtown«, meinte Ronica gelassen. »Du wirst dort Freunde finden und lernen müssen, so zu leben wie sie.« »Warum klingst du immer so missbilligend?«, fragte Malta scharf. »Ganz gleich, was ich sage, du sagst immer etwas dagegen. Ich glaube, du willst, dass ich für immer unglücklich bin.« »Der Fehler liegt nicht in dem, was ich sage, sondern zunächst einmal in den albernen Phantasien, die du spinnst…« »Mutter, bitte. Ich werde verrückt, wenn Ihr beide heute Abend auch noch anfangt, euch zu streiten.« Ein aufgeladenes Schweigen folgte. »Es tut mir Leid«, sagte Ronica schließlich. »Ich wünsche Malta kein Unglück. Ich möchte, dass sie aufwacht und erkennt, dass sie im Rahmen ihres Lebens glücklich werden muss. Diese wilden Phantasien von endlosen Festivitäten sind nicht…« »Kein Wunder, dass Tante Althea weggelaufen ist!« Maltas Schrei unterbrach ihre Großmutter. »Ihr erwartet für alle nur Langeweile und Arbeit. Nun, mein Leben wird nicht so sein! Reyn hat mir viele aufregende Dinge über die Regenwildnis erzählt. Wenn wir seine Familie besuchen, wird er mir die uralte Stadt der Altvorderen zeigen, aus der die Flammenjuwelen stammen und Jidzin und andere wundersame Dinge. Er hat mir erzählt, dass es dort wunderbare Orte gibt, zu denen man gehen kann, und dass man mit einer einfachen Handbewegung Kammern erleuchten kann, als wären sie aus Gold. Er sagt, dass er sogar manchmal die Geister der Altvorderen gesehen hat, wie sie ihren Angelegenheiten nachgingen. Das können nicht alle, sondern nur die besonders Empfindsamen, aber er meint, dass ich vielleicht ebenfalls diese Gabe hätte. Besonders empfindsame Menschen tun das oft. Die Begabtesten unter ihnen können sogar noch ihre Musik hören. Er wird mich kleiden, wie es einer Frau aus dem Khuprus-Clan geziemt. Ich muss keine Möbel abstauben, Silber polieren oder Essen kochen. Dafür gibt es Diener. Reyn sagt… Mutter, warum lächelst du?
Machst du dich über mich lustig?«, fragte Malta beleidigt. »Nein. Ganz und gar nicht. Ich habe nur gerade gedacht, dass deine Worte klingen, als würdest du diesen jungen Mann sehr mögen.« Keffria schüttelte schwach den Kopf. »Ich erinnere mich an all die großen Pläne, die dein Vater und ich für unser gemeinsames Leben geschmiedet haben. Diese Träume werden nicht immer wahr, aber es ist trotzdem schön, sie zu spinnen.« »Für mich klingt es eher so, als gefalle ihr die Aussicht auf all das, was er ihr bieten kann«, erwiderte Ronica leise. Etwas freundlicher fuhr sie fort: »Aber daran ist auch nichts Schlechtes. Junge Menschen, die dieselben Träume haben, ergeben oft gute Partner.« Malta stocherte im Kaminfeuer herum. »Redet nicht so, als wäre schon alles abgemacht, denn so ist es nicht«, meinte sie mürrisch. »Er hat eine Menge schlechter Eigenschaften. Und damit meine ich nicht nur den Schleier und die Handschuhe. Man kann sich ja nicht einmal vorstellen, wie er aussieht. Er redet auch ständig über Politik. Eben noch spricht er über Feiern und Freunde, und im nächsten Augenblick redet er von Jamaillia und dass wir zusammenhalten müssen, ganz gleich, wie schwierig unser Leben wird. Er sagt das, als handelte es sich dabei um ein großes Abenteuer! Außerdem behauptet er, dass Sklaverei schlecht wäre, obwohl ich ihm gesagt habe, dass Papa versucht, unser Vermögen durch Sklavenhandel wiederzubeschaffen. Er hat doch tatsächlich gewagt zu fordern, dass Papa sein Verhalten ändern und einsehen müsste, dass Sklaverei falsch ist. Außerdem wäre sie schlecht für unsere Finanzen. Besser wäre es, auf dem Regenwild-Fluss zu handeln! Außerdem redet er über Kinder, als müsste ich sofort am Tag nach unserer Hochzeit ein Baby bekommen! Wenn ich sage, dass wir ein Haus in Bingtown und eins in der Regenwildnis brauchen, damit wir meine Freundinnen oft besuchen können, lacht er nur! Er meint, sobald ich die Wunder seiner Stadt gesehen hätte, würde ich Bingtown vergessen. Außerdem hätten
wir kein eigenes Haus, sondern nur einige Zimmer im großen Haus des Khuprus-Clans. Also. Ich bin keineswegs sicher, ob ich mich für Reyn entscheide.« »Das klingt, als hättet ihr beide viel über eure Zukunft gesprochen«, meinte Ronica. »Er spricht davon, als wäre alles klar! Wenn ich ihm sage, dass dem nicht so ist, dann lächelt er und fragt mich, warum ich ihn so gern quäle. Sind alle Männer so begriffsstutzig?« »Jeder Einzelne, den ich jemals kennen gelernt habe«, versicherte Ronica zufrieden. Dann fuhr sie ernsthafter fort: »Aber wenn du seinen Antrag ablehnst, dann musst du uns das sagen. Je eher diese Werbung abgebrochen wird, umso weniger peinlich ist das für unsere Familien.« »Oh… Ich habe mich noch nicht entschieden. Nicht wirklich. Es wird vielleicht eine Weile dauern.« Sie schwiegen, während Malta über ihre Aussichten nachdachte und die beiden älteren Frauen überlegten, was ihre Entscheidung für sie bedeutete. »Ich wünschte, ich wüsste, wo Althea ist«, sagte Keffria plötzlich. Ihre Mutter seufzte. Althea setzte ihren Krug ab. Von dem Braten auf dem Tisch vor ihnen war nur noch wenig übrig. Amber saß ihr gegenüber und legte Messer und Gabel sorgfältig auf den Teller. Jek lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und stocherte in den Zähnen. Sie bemerkte, wie Althea sie beobachtete, und grinste. »Du hast nicht noch zufällig einen älteren Bruder zu Hause?«, meinte sie neckend. »Augen, wie du sie hast, sind die reinste Verschwendung bei einer Frau.« »Jek«, tadelte Amber sie amüsiert. »Du bringst Althea in Verlegenheit. Warum siehst du dich nicht ein bisschen in Bingtown um? Wir müssen uns ernsthaft unterhalten.« Jek stand knurrend auf. Sie rollte die Schultern, und Althea hörte, wie ihre Muskeln knackten. »Hört auf mich. Trinkt lie-
ber ernsthaft. Ernsthaftes Gerede taugt nicht, um den ersten Abend in seiner Heimatstadt zu verbringen.« Sie grinste, und ihre Zähne waren so weiß wie die eines Raubtiers. »Wer weiß? Vielleicht kommt es ja auch noch dazu«, erklärte Amber liebenswürdig. Sie sah zu, wie Jek ihre Stiefel anzog und einen leichten Umhang überwarf. Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, stützte sich Amber auf die Ellbogen und beugte sich vor. Sie deutete mit einem langen Finger auf Althea. »Mach da weiter, wo du aufgehört hast. Und versuch diesmal nicht, die Teile zu beschönigen, wo du dich deiner Meinung nach daneben benommen hast. Ich will das nicht von dir hören, weil ich über dich urteilen will.« »Warum fragst du es mich dann?«, wollte Althea wissen. Und im Stillen überlegte sie, warum sie Amber das alles erzählte. Sie wusste eigentlich nur wenig über diese Frau. Warum versorgte sie sie mit einem ausführlichen Bericht über all ihre Reisen und Erlebnisse seit dem letzten Mal, als sie sich gesehen hatten? »Hm. Ich glaube, du hast Recht, wenn man bedenkt, was ich dich alles gefragt habe.« Amber holte tief Luft, als müsse sie ihre Worte erst sortieren. »Ich kann Bingtown nicht verlassen und muss alles hier erledigen. Aber der Zeitplan meiner Geschäfte ist von Ereignissen abhängig, die woanders passieren. In Jamaillia-Stadt und in der Inneren Passage, zum Beispiel. Also bitte ich dich, mir zu erzählen, welche Veränderungen dir dort aufgefallen sind.« »Das sagt mir gar nichts«, erwiderte Althea ruhig. »Dachte ich mir. Ich will deutlicher werden. Ich habe mir vorgenommen, bestimmte Veränderungen zu bewirken. Zum Beispiel möchte ich der Sklaverei ein Ende bereiten, und zwar nicht nur in Bingtown, sondern auch in Jamaillia und Chalced. Ich möchte, dass Bingtown die Herrschaft Jamaillias abschüttelt. Und am meisten möchte ich das Rätsel von Drache und Seeschlange lösen.« Sie lächelte Althea vielsagend an und tipp-
te erst gegen den Drachenohrring, den sie in ihrem linken Ohr trug, und dann gegen die Seeschlange in ihrem rechten. Sie sah Althea erwartungsvoll an und wartete gespannt auf deren Antwort. »Der Drache und die Seeschlange?« Althea war verblüfft. Ambers Miene veränderte sich. Sie schien sich zu fürchten, und im nächsten Augenblick wirkte sie ungeheuer müde. Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Als ich dir das sagte«, meinte sie leise, »hatte ich eigentlich erwartet, dass du aufspringen und bestürzt aussehen würdest. Oder wenigstens ›Aha!‹ rufen oder verwundert deinen Kopf schütteln und mir dann alles erklären würdest. Das Letzte, was ich erwartet habe, war, dass du hier sitzt und einfach nur höflich verwirrt aussiehst.« Althea zuckte mit den Schultern. »Tut mir Leid.« »Diese Worte haben überhaupt keine Bedeutung für dich? Der Drache und die Seeschlange?« Verzweiflung schwang in ihrer Stimme mit. Althea zuckte erneut mit den Schultern. »Denk nach!«, bat Amber. »Bitte. Ich war so sicher, dass du diejenige wärst. Bestimmte Träume haben zwar diese Überzeugung von Zeit zu Zeit erschüttert, aber als ich dich auf der Straße wiedergesehen habe, war ich erneut überzeugt. Du bist diejenige. Du musst es sein. Du musst es wissen. Denk nach. Der Drache und die Seeschlange.« Sie beugte sich vor und fixierte Altheas Blick mit ihren Augen. Althea holte tief Luft. »Drache und Seeschlange. Na gut. Auf einer der Öden-Inseln habe ich eine Felsformation gesehen, die man den Drachen nennt. Und unser Schiff wurde auf dem Heimweg von einer Seeschlange angegriffen.« »Du hast nichts von einem Drachen erwähnt, als du mir das erste Mal von deiner Zeit auf den Öden-Inseln erzählt hast.« »Das schien mir unwichtig zu sein.« »Dann erzähl es mir jetzt.« Ambers Augen glühten vor Intensität.
Althea schenkte Bier nach. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Wir haben auf der Leeseite gelagert, als wir die Tiere geschlachtet haben. Es ist einfach nur ein großer Felsen, der aus der Erde herausragt. Wenn das Licht richtig fällt, dann sieht der Felsen wie ein toter Drache aus. Einer der älteren Matrosen hat ein bisschen Seemannsgarn gesponnen und behauptet, es wäre wirklich ein toter Drache, und wenn ich hinaufklettern würde, fände ich noch einen Pfeil in seiner Brust.« »Und? Hast du?« Althea grinste verlegen. »Ich war neugierig. Also bin ich eines Nachts hochgeklettert. Reller hatte die Wahrheit gesagt. Die Vorderläufe des Felsendrachen umklammerten einen Pfeil, der aus seiner Brust ragte.« »Dann war es nicht nur eine zufällige Felsformation? Da waren wirklich Vorderläufe?« Althea spitzte die Lippen. »Vielleicht haben auch einige Seeleute mit etwas Zeit nachgeholfen. Das war jedenfalls meine Meinung. Reller behauptete, das Ding läge schon seit Äonen da. Aber der Pfeilschaft sah weder verwittert noch gesplittert aus. Es war ein richtig schönes Stück Hexenholz. Das einzig Überraschende war für mich, dass niemand es jemals mitgenommen hatte. Aber Seeleute sind ein abergläubisches Volk, und Hexenholz hat einen gefährlichen Ruf.« Amber schien vollkommen fasziniert. »Die Seeschlange…«, begann Althea, aber Amber hieß sie zu schweigen. »Shh, ich muss einen Moment nachdenken. Ein Pfeil aus Hexenholz? Ist das alles? Ein Pfeil aus Hexenholz? Wer hat ihn abgeschossen und wann? Und warum?« Althea wusste darauf keine Antwort. Sie hob den Humpen und trank ausgiebig. Als sie ihn absetzte, lächelte Amber sie an. »Mach mit deiner Geschichte weiter, und erzähl sie zu Ende. Bring die Schlange in die Geschichte, wo du ihr begegnet bist, und erzähl mir so viel von ihr, wie du kannst. Ich verspre-
che dir, dass ich eine gute Zuhörerin sein werde.« Amber schenkte sich eine kleine Menge bernsteinfarbenen Brandy in ihr Glas und lehnte sich erwartungsvoll zurück. Jek hatte Recht. Der Bierkrug war zweimal geleert worden, und Ambers Brandyflasche war erheblich leichter, als die Erzählung schließlich zu einem Ende kam. Amber ging Altheas Schilderung des Angriffs der Seeschlange mehrmals durch. Sie schien sich dafür zu interessieren, wie der Speichel sich durch Kleidung und Haut gefressen hatte, und nickte bei Brashens Erklärung, dass es kein Angriff gewesen war, um Beute zu machen, sondern der Versuch einer intelligenten Kreatur, Rache zu nehmen. Trotzdem spürte Althea, dass Amber nichts so sehr faszinierte wie der Pfeil aus Hexenholz. Wenigstens schienen Amber mittlerweile die Fragen auszugehen. Das Holz auf dem Kamingitter war niedergebrannt. Althea kehrte von einem Ausflug auf das Plumpsklo zurück und sah, wie Amber den Rest des Brandy in zwei kleine Gläser verteilte. Geschnitzte Halterungen, offenbar von ihr selbst gefertigt, wanden sich wie Efeuranken darum. »Trinken wir«, schlug Amber vor. »Auf alles in der Welt, was richtig ist. Auf Freundschaft und guten Brandy.« Althea hob das Glas, konnte aber diesem Trinkspruch nichts hinzufügen. »Auf die Viviace!«, schlug Amber vor. »Ich wünsche ihr alles Gute, aber bis ich wieder ihr Deck unter meinen Füßen spüre, ist sie mit allem verbunden, was in meiner Welt am schlimmsten ist.« »Auf Grag Tenira?«, meinte Amber scherzhaft. »Das ist auch viel zu kompliziert.« Amber grinste. »Auf Brashen Trell!« Althea stöhnte und schüttelte den Kopf, aber Amber hob trotzdem das Glas. »Auf alle verantwortungslosen Männer, die ihrer Leidenschaft frönen.« Sie leerte das Glas. »Damit die Frauen behaupten können, es wäre nicht ihre Schuld.«
Das Letzte sagte sie, als Althea schließlich einlenkte und ihr Glas leerte. Sie verschluckte sich. »Amber, das ist nicht fair. Er hat mich ausgenutzt.« »Ach wirklich?« »Ich habe es dir doch gesagt«, erwiderte Althea halsstarrig. Eigentlich hatte sie Amber nur sehr wenig erzählt, kaum mehr, als mit einem Schulterzucken zugegeben, dass ›es‹ passiert war. In dem Augenblick hatte Amber es mit einer hochgezogenen Braue auf sich beruhen lassen. Jetzt jedoch erwiderte sie Altheas Blick unbewegt und mit einem wissenden Lächeln. Althea holte tief Luft. »Ich habe getrunken, vergiftetes Bier und alles, und habe außerdem einen schweren Schlag auf den Kopf bekommen. Dann hat er mir auch noch Cindin gegeben. Und mir war kalt, ich war nass und erschöpft.« »Das galt alles auch für Brashen. Ich kann daran nichts Schlechtes finden, Althea. Ich glaube nicht, dass einer von euch Ausflüchte wegen dem machen muss, was passiert ist. Ich glaube, ihr habt euch das gegeben, was ihr am meisten brauchtet. Wärme, Freundschaft, Entspannung. Und Bestätigung.« »Bestätigung?« »Aha, also akzeptierst du die ersten drei ohne Frage?« Althea antwortete nicht darauf. »Mit dir zu reden ist ein richtiger Balanceakt«, beschwerte sie sich. »Bestätigung wovon?«, fragte sie dann. »Bestätigung dessen, wer du bist. Was du bist.« Ambers Stimme war leise, beinahe liebevoll. »Also denkst du auch, dass ich eine Schlampe bin?« Sie versuchte vergeblich, ihre Stimme amüsiert klingen zu lassen. Amber dachte einen Moment darüber nach. Sie wippte mit dem Stuhl auf zwei Beinen. »Ich glaube, du weißt, was du bist. Meine Meinung dazu brauchst du nicht. Du musst dir nur deine Tagträume ansehen. Hast du dir jemals ausgemalt, Ehefrau und Mutter zu sein? Dich jemals gefragt, wie es ist, ein Kind zu bekommen? Und träumst du davon, dich um deine Kleinen zu
kümmern, während du darauf wartest, dass dein Mann von seiner Seereise zurückkommt?« »Nur in meinen schlimmsten Alpträumen«, gab Althea lachend zu. »Also, wenn du dir niemals gewünscht hast, eine Ehefrau zu werden, erwartest du dann, dass du in deinem ganzen Leben keine Männer kennen lernst?« »Darüber habe ich nicht viel nachgedacht.« Sie zog den Humpen zu sich heran. Amber lachte. »Ein Teil von dir denkt an kaum etwas anderes, wenn du es nur zugeben würdest. Du willst einfach nur nicht die Verantwortung dafür übernehmen. Du tust lieber so, als wäre es etwas, das dir passiert ist, etwas, wozu ein Mann dich verführt hat.« Sie ließ den Stuhl mit einem Plumps auf alle vier Beine fallen. »Komm schon«, meinte sie einladend zu Althea. »Die Flut kommt, und ich habe eine Verabredung.« Sie rülpste leise. »Begleite mich.« Althea stand auf. Sie wusste nicht, ob Ambers Worte sie beleidigt oder amüsiert hatten. »Wohin gehen wir?«, wollte sie wissen, während sie den zerlumpten Mantel akzeptierte. »An den Strand. Ich möchte dir einen Freund vorstellen. Paragona.« »Paragon? Das Schiff? Ich kenne Paragon gut.« Amber lächelte. »Das weiß ich. Er hat eines Nachts von dir geredet. Er hat sich versprochen, und ich habe mir nicht anmerken lassen, dass ich deinen Namen kannte. Aber selbst wenn ihm das nicht passiert wäre, hätte ich es gewusst. Du hast Spuren von deiner Anwesenheit an Bord hinterlassen. Sie lagen bei Brashens Sachen.« »Was denn?«, fragte Althea misstrauisch. »Einen kleinen Kamm, den ich an dir gesehen habe, als du mir das erste Mal aufgefallen bist. Er lag auf einem Fenstersims, als hättest du da gestanden, dein Haar gemacht und ihn dann vergessen.«
»Aha. Aber was hast du mit dem Paragon zu tun?« Amber blieb ruhig, als sie antwortete. »Das habe ich dir gesagt. Er ist mein Freund.« Vorsichtiger fügte sie hinzu: »Ich bin dabei, ihn zu kaufen.« »Das kannst du nicht!«, erklärte Althea empört. »Die Ludlucks können ihr Lebensschiff nicht verkaufen, ganz gleich, wie sehr er in Ungnade gefallen ist.« »Gibt es ein Gesetz dagegen?« Ambers Stimme klang forschend. »Nein. Das war niemals nötig. Es ist Tradition in Bingtown.« »Viele von Bingtowns wertvollsten Traditionen sind schon vor dem Erscheinen der Neuen Händler gebrochen worden. Man macht wenig öffentlichen Lärm darum, aber jeder in Bingtown, dem daran liegt, weiß, dass der Paragon zum Verkauf steht. Und die Gebote der Neuen Händler werden ernsthaft in Betracht gezogen.« Althea schwieg eine Weile. Amber legte den Umhang an und zog die Kapuze tief in die Stirn. Als Althea schließlich antwortete, klang ihre Stimme tief. »Wenn die Ludluck-Familie gezwungen ist, den Paragon zu verkaufen, werden sie ihn an eine andere Alte-Händler-Familie verkaufen. Nicht an eine Außenstehende wie dich.« »Ich habe mich gefragt, ob du darauf anspielen würdest«, antwortete Amber im Plauderton. Sie entriegelte die Hintertür und wartete. »Kommst du?« »Ich weiß nicht.« Althea ging voraus und wartete in der dunklen Gasse, während Amber zusperrte. Die letzten Minuten des Gesprächs mit Amber hatten eine eindeutig unerfreuliche Wendung genommen. Am unangenehmsten war das Gefühl, dass Amber diese kleine Konfrontation absichtlich herbeigeführt hatte. Wollte sie ihre Freundschaft testen? Ober gab es einen Plan hinter ihren Sticheleien? Althea überlegte sich ihre Worte genau. »Ich glaube nicht, dass du weniger oder mehr wert bist als
ich, nur weil ich eine geborene Händlerin bin und du nicht. Aber einige Dinge sind ausschließlich Sache der BingtownHändler, und wir hüten sie eifersüchtig. Unsere Zauberschiffe sind etwas ganz Besonderes. Wir haben das Bedürfnis, sie zu beschützen. Es würde einem Außenstehenden schwer fallen, alles zu verstehen, was die Zauberschiffe uns bedeuten.« »Es ist immer schwer, etwas zu erklären, was man selber nicht verstanden hat«, konterte Amber gelassen. »Althea, diese Idee muss sich durchsetzen, und zwar nicht nur bei dir, sondern bei allen Bingtown-Händlern. Um zu überleben, musst du dich verändern. Du wirst entscheiden müssen, was dir das Wichtigste ist, und eben dies schützen. Du musst die Verbündeten akzeptieren, die deine Werte teilen, und darfst ihnen nicht derart misstrauen. Und vor allem musst du deinen Besitzanspruch auf Dinge überdenken, die dir nicht gehören. Dinge, die nicht einmal den Regenwild-Händlern gehören, sondern rechtmäßiges Erbe aller sind.« »Was weißt du von den Regenwild-Händlern?«, wollte Althea wissen und musterte Amber in der dämmrigen Gasse. »Sehr wenig. Eure verschwiegenen Bingtown-Traditionen haben dafür gesorgt. Ich vermute, dass sie die Städte der Altvorderen ihrer Schätze berauben und behaupten, die Magie gehöre ihnen. Bingtown und die Händler von Bingtown agieren als Schild, um Menschen zu verbergen, die dem Rest der Welt unbekannt sind. Diese Menschen tauchen tief in Geheimnisse ein, die sie nicht fassen können. Sie zerlegen das unter großen Schwierigkeiten erlangte Wissen eines anderen Volkes und einer anderen Zeit und verhökern es als amüsanten Tand. Ich vermute, dass sie genauso viel zerstören wie sie stehlen. Komm mit.« Althea wollte etwas erwidern, biss dann aber die Zähne zusammen und folgte Amber wortlos. Sie schwiegen kurz. Dann lachte Amber. »Siehst du. Du willst mir nicht einmal sagen, ob meine Schlussfolgerungen
korrekt sind.« »Das sind Angelegenheiten der Bingtown-Händler. Darüber redet man nicht mit Außenstehenden.« Althea hörte die Kälte in ihrer Stimme, konnte sie aber nicht zurückhalten. Eine Weile gingen sie distanziert nebeneinander her. Die Feierstimmung des Nachtmarktes drang zu ihnen wie die Erinnerung an bessere Zeiten. Der Wind, der vom Meer wehte, war kalt. In diesen Stunden vor der Morgendämmerung merkte man nichts vom Frühling. Die Welt versank wieder in die kalte Umarmung des Winters. Althea war vollkommen verzweifelt. Sie hatte nicht gemerkt, wie wichtig ihr die Freundschaft zu Amber war, bis sie bedroht schien. Amber nahm sie plötzlich am Arm. Diese Berührung machte die Intensität in ihrer Stimme noch verlockender. »Bingtown kann das nicht allein durchstehen«, sagte sie. »Jamaillia ist korrupt. Der Satrap wird euch an Chalced abtreten oder euch, ohne einen Augenblick nachzudenken, an die Neuen Händler verschachern. Es interessiert ihn nicht, Althea. Weder seine Ehre noch der Schwur seiner Vorgänger, noch die Leute von Bingtown. Er kümmert sich ja nicht einmal um die Menschen von Jamaillia. Er ist so sehr mit sich beschäftigt, dass er nichts weiter wahrnehmen kann als das, was mit ihm zu tun hat.« Amber schüttelte den Kopf, und Althea hatte das Gefühl, als wäre sie sehr traurig. »Er ist zu früh an die Macht gekommen und war viel zu unerfahren. Er war eigentlich vielversprechend und hatte Talent. Sein Vater freute sich über sein Potential, und er konnte seine Lehrer verzaubern. Niemand wollte diesem forschenden Geist Einhalt gebieten, und ihm wurde absolute Freiheit in seinen Forschungen gewährt. Keine Disziplin wurde ihm aufgezwungen. Eine Weile war es, als sehe man einer Blüte bei ihrer Entfaltung zu.« Amber hielt inne, als erinnere sie sich an bessere Zeiten. Sie seufzte und fuhr fort: »Aber nichts gedeiht ohne Grenzen. Zuerst war der Hof amüsiert, als er die Freuden des Fleisches ent-
deckte und sich ihnen hingab. Charakteristischerweise nahm er sich vor, sie alle zu erforschen. Alle vermuteten, es wäre nur eine Phase seines Wachstums. Aber das war es nicht. Es war das Ende seiner Entwicklung. Er versank in Lust und verlor sich vollkommen in der Befriedigung seiner Sinne. Jetzt wurde er noch ich-bezogener. Ehrgeizige Leute sahen darin einen Weg, sich die Gunst des zukünftigen Satrapen zu erschleichen. Sie begannen, sein Verlangen zu fördern. Die Skrupellosen unter ihnen sahen es als einen Weg zur Macht. Sie lehrten ihn neue, exotischere Freuden, solche, mit denen nur sie allein ihn versorgen konnten. Als sein Vater überraschend starb und er an die Macht katapultiert wurde, hatten sie bereits die Fäden an der Marionette befestigt. Seitdem sind sie nur noch fester geworden.« Amber lachte freudlos. »Es ist bitter. Der junge Mann, der niemals von den Mauern der Disziplin beschränkt wurde, erstickt jetzt in den Stricken seiner Süchte. Seine Feinde berauben sein Volk und versklaven seine Länder, und er lächelt, während die Traumkräuter in seiner Kammer qualmen.« »Du scheinst dich in seiner Geschichte gut auszukennen.« »Allerdings.« Aufgrund dieser brüsken Antwort verzichtete Althea auf die Frage, die ihr auf der Zunge lag, und stellte stattdessen eine andere. »Warum erzählst du mir das alles?« »Um dich wachzurütteln. Appelle an die Ehre des Satrapen und Erinnerungen an die alten Versprechungen werden keine Ergebnisse zeitigen. Die Krankheiten der Macht haben den Satrapen und die einflussreichen Familien in Jamaillia-Stadt zu sehr zerfressen. Sie sind zu sehr damit beschäftigt, sich selbst zu retten und so viel Macht wie möglich zusammenzukratzen, als dass ihnen die Forderungen der Bingtowner wirklich am Herzen liegen könnten. Wenn Bingtown so weitermachen will wie bisher, dann muss es neue Verbündete finden. Und zwar nicht nur unter den Neuankömmlingen, die Bingtowns Ideale
teilen, sondern auch unter den Sklaven, die gegen ihren Willen hierher gebracht worden sind, und… und unter allen anderen, die dieselben Feinde haben wie Bingtown. Die RegenwildHändler müssen ebenfalls aus dem Schatten treten, und zwar nicht nur, um ihre Rechte einzufordern, sondern auch, um die Verantwortung für das zu übernehmen, was sie tun.« Althea blieb plötzlich stehen. Amber ging noch einen Schritt weiter, drehte sich dann um und sah sie an. »Ich muss nach Hause gehen, zu meiner Familie«, sagte Althea ruhig. »Alles, was du erzählst, sagt mir nicht nur etwas über die Notlage Bingtowns, sondern auch über die meiner Familie.« Amber ließ sie los. »Wenn ich es geschafft habe, dass du den Zusammenhang zwischen diesen Dingen siehst, dann habe ich heute meine Zeit nicht verschwendet. Du kannst ein andermal mit zu Paragon kommen. Und du wirst mir helfen, ihn zu überzeugen, dass er meine Bemühungen, ihn zu kaufen, unterstützen muss.« »Davon muss ich mich erst selbst überzeugen«, dämmte Althea Ambers Enthusiasmus. Es befriedigte sie, dass Paragon so vernünftig war, Ambers Versuchen zu widerstehen. So sehr sie die Perlenmacherin auch mochte, es musste einen besseren Käufer für den Paragon geben als sie. Althea fügte diesen Punkt ihrer Sorgenliste hinzu. Sie würde es mit Grag und seinem Vater besprechen, wenn sie die beiden das nächste Mal sah. »Du wirst davon überzeugt sein, wenn du Augen und Ohren offen hältst. Geh vorsichtig durch die Stadt, Althea, und komm gut nach Hause. Besuch mich, wenn du kannst. Bis dahin sei achtsam. Denke über alles nach, was Bingtown Schwierigkeiten macht. Achte auf alles, was dir falsch vorkommt, selbst wenn es dich nicht zu betreffen scheint. Du wirst zu denselben Schlussfolgerungen gelangen wie ich.« Althea nickte ihr schweigend zu. So musste sie ihr nicht sa-
gen, dass sie ihre eigenen Schlussfolgerungen ziehen würde. Was das Beste für ihre Familie war, hatte Vorrang. »Wollen wir denn die ganze Nacht aufbleiben?«, quengelte Malta. Keffria antwortete überraschend sanft. »Ich werde aufbleiben, bis Althea nach Hause kommt. Du bist sicher müde, Liebes. Es war eine sehr anstrengende Woche für dich. Du kannst zu Bett gehen, wenn du willst.« »Hast du mir nicht gesagt, dass Großmutter mich mehr wie eine Erwachsene behandeln würde, wenn ich mich auch wie eine benehme?« Sie betrachtete ihre Großmutter und sah an dem kurzen Flackern in ihren Augen, dass der Hieb gesessen hatte. Es wurde Zeit, dass die alte Frau begriff, dass sie mit ihrer Mutter über solche Dinge redete. »Wenn ihr beide aufbleibt und mit Tante Althea reden wollt, wenn sie nach Hause kommt, dann sollte ich das auch tun.« »Wie du willst«, sagte ihre Mutter müde. Sie nahm die Stickarbeit auf, die sie zur Seite gelegt hatte, und betrachtete sie. Malta lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Sie hatte die Beine untergeschlagen und die Füße hochgezogen. Ihr Rücken schmerzte, und ihr Kopf tat weh. Trotzdem lächelte sie. Was für eine Woche! Sie griff hoch und begann, ihr Haar zu lösen; als sie die Nadeln herauszog und es über ihre Schultern fiel, fragte sie sich, was Reyn wohl sagen würde, wenn er sie so sah. Sie stellte sich vor, wie er vor ihr saß und zusah, wie ihr Haar langsam herunterfiel. Er würde den Kopf neigen, und sein Schleier würde sich bewegen, wenn er seufzte. Dann würde er mit den Fingerspitzen seiner Handschuhe spielen. Er hatte ihr verraten, dass er sie noch ärgerlicher fand als den Schleier. »Wenn man etwas berührt, Haut an Oberfläche, erfährt man so viel. Und eine Berührung Haut an Haut kann die Worte ersetzen, die der Mund nicht aussprechen darf.« Er hatte seine Hand ausgestreckt, als wollte er sie einladen, seine behandschuhten Finger zu berühren, aber sie hatte sich nicht bewegt. »Ihr könnt
Eure Handschuhe ausziehen«, hatte sie gesagt. »Ich habe keine Angst.« Er hatte gelacht, und sein Schleier hatte sich heftig bewegt. »Es gibt wohl auch nicht viel, was Ihr fürchten würdet, meine kleine Raubkatze. Aber das wäre trotzdem nicht schicklich. Und ich habe meiner Mutter versprochen, dass diese Werbung sittsam vonstatten geht.« »Wirklich?« Sie hatte sich vorgebeugt und ihre Stimme zu einem kehligen Flüstern gesenkt. »Sagt Ihr mir das, damit ich mich sicher fühle? Oder wollt Ihr mich entmutigen, etwas Unschickliches zu versuchen?« Sie hatte ein wenig gelächelt und eine Braue gehoben. Diese Geste hatte sie oft vor ihrem Spiegel geübt. Die kurze Bewegung der Spitze seines Schleiers sagte ihr, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Er hatte nach Luft geschnappt, was bedeutete, dass er über ihre Kühnheit sowohl schockiert als auch entzückt war. Doch noch besser war, dass sie Cerwin Trells finstere Miene bemerkte, als sie an Reyns Schulter vorbeisah. Sie lachte heiser und tat, als wäre sie nur auf Reyn konzentriert, während sie beobachtete, wie Cerwin reagierte. Der schnappte sich eine Weinflasche vom Tablett eines vorbeigehenden Dieners und schenkte sein Glas voll. Er war zwar zu gut erzogen, um die Flasche auf das Tablett neben sich zu knallen, aber er setzte sie mit einem hörbaren Geräusch ab. Delo beugte sich zu ihm und tadelte ihn, aber er ließ die Bemerkung seiner Schwester achtlos abprallen. Was dachte er da wohl? Dass er in seiner Werbung zu zahm gewesen war? Dass er die Gelegenheit verpasst hatte, von einem derart exquisiten Geschöpf wie Malta Haven so angelächelt zu werden? Malta hoffte es. Sie dachte an die Spannung zwischen den beiden Männern, und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie war so froh, dass sie ihre Mutter zu dieser Abschiedsfeier hatte überreden können, bevor Reyn sie verließ. Sie hatte darum gebettelt, ihm ihre Freunde vorstellen zu dürfen. Sie hatte vor-
gegeben, dass es wichtig für sie wäre, weil sie so herausfinden könnte, ob sie ihren Regenwild-Verehrer akzeptieren würden. Es war erfolgreicher verlaufen, als sie es sich hätte träumen lassen. Die Mädchen waren ohne Ausnahme vor Neid beinahe geplatzt, als sie mit ansehen mussten, wie sie umworben wurde. In einem ungestörten Augenblick hatte sie Delo beiseite genommen und ihr die »Kinkerlitzchen« gezeigt, die Reyn mit ihren zugelassenen Geschenken hatte hereinschmuggeln können. Die Libelle, die bewegungslos auf den Blumen hockte, die man in ihr Schlafzimmer geschickt hatte, war aus wertvollen Metallen und edlen Juwelen kunstfertig hergestellt worden. Ein winziges, tiefblaues und makelloses Flammenjuwel verbarg sich in einer Flasche mit Duftwasser. Ein kleiner Korb mit kandierten Veilchen war mit etwas ausgeschlagen gewesen, das auf den ersten Blick wie ein Taschentuch ausgesehen hatte. Doch als sie den feinen Stoff aufschlug, hatte er beinahe ihr ganzes Bett bedeckt. Ein nicht unterschriebener Brief in dem Stoff erklärte, dass die Regenwild-Frauen diesen Stoff benutzten, um Nachtgewänder für ihre Aussteuer zu machen. Ein Apfel in einem Fruchtkorb stellte sich als eine geschickte Fälschung heraus. Als sie ihn berührt hatte, war er aufgeklappt und hatte eine Kette aus Wasseropalen und ein winziges Päckchen mit silbergrauem Puder enthüllt. Die Nachricht, die dabei lag, wies sie an, den Puder zehn Tage nach seiner Abreise in die Traumdose zu legen. Als Delo sie gefragt hatte, was die Traumdose denn bewirkte, hatte Malta ihr verraten, dass sie ihr Träume schickte, die sie und Reyn teilen konnten. Doch auf die Frage, um was für Träume es sich handelte, hatte sich Malta abgewendet und war, nicht ganz ohne Mühe, errötet. »Es wäre nicht schicklich, davon zu sprechen«, hatte sie heiser geflüstert. Kaum waren sie wieder zu der Gesellschaft zurückgekehrt, hatte Delo sich entschuldigt. Kurze Zeit später sah Malta, wie sie sich aufgeregt mit Kitten unterhielt. Danach hatte sich der
Klatsch wie eine Flutwelle verbreitet. Malta hatte bemerkt, dass er auch Cerwin erreichte. Und heute war sie seinen Blicken ausgewichen, bis auf ein einziges Mal. Er hatte nicht gezögert, sich seinen Liebeskummer anmerken zu lassen. Sie hatte ihn mit einem fiebernden, auffordernden Blick bedacht. Danach hatte sie getan, als ignoriere sie ihn. Vollkommen von Reyns Erzählungen gefesselt, hatte sie es ihrer Mutter überlassen, die Gäste zu verabschieden. Es war so wundervoll, sich zu überlegen, was Cerwin als Nächstes tun würde. Ihre Träumereien wurden vom leisen Knarren der Küchentür unterbrochen. Ihre Mutter und ihre Großmutter tauschten einen Blick aus. »Ich habe sie für sie offen gelassen«, erklärte Großmutter Vestrit leise. Sie standen beide auf, doch bevor sie sich bewegen konnten, betrat ein Mann das Zimmer. Keffria stieß einen Schrei aus und trat entsetzt zurück. »Ich bin wieder zu Hause«, verkündete Althea. Sie nahm den zerlumpten Umhang ab, den sie trug, und lächelte sie alle an. Ihr Haar war ekelhaft. Es klebte fest an ihrem Kopf und lag hinten in einem Zopf auf ihrem Rücken, wie bei einem Jungen. Ihre Haut war vom Wind gerötet. Sie betrat das Zimmer und hielt ihre Hände über das Feuer, als fühle sie sich vollkommen heimisch. Sie roch nach Teer, Werg und Bier. »Gott der Fische!«, sagte Keffria und erschreckte sie alle mit diesem groben Fluch. Sie schüttelte den Kopf, als sie ihre Schwester entsetzt betrachtete. »Althea, wie kannst du uns das antun? Wie kannst du dir selbst das antun? Hast du denn gar keinen Stolz, kümmert dich der Ruf der Familie gar nicht?« Sie ließ sich schwer auf ihren Stuhl fallen. »Mach dir darüber keine Sorgen. Mich hat niemand erkannt«, erwiderte Althea. Sie ging durch das Zimmer wie ein streunender Hund, der herumschnüffelt. »Ihr habt Vaters Schreibtisch verrückt!« Sie beschuldigte niemanden im Besonderen. »Das Licht am Fenster ist besser«, antwortete Großmutter
sanft. »Je älter ich werde, desto schwerer fällt es mir, Buchstaben zu entziffern. Und ich brauche vier oder sogar fünf Versuche, um Garn in eine Nadel einzufädeln.« Althea wollte etwas sagen, überlegte es sich aber anders. Ihre Miene veränderte sich unmerklich. »Tut mir Leid, das zu hören«, sagte sie aufrichtig. Sie schüttelte den Kopf. »Es muss hart sein, etwas zu verlieren, das man immer als selbstverständlich angesehen hat.« Malta versuchte, sie alle gleichzeitig zu beobachten. Sie sah, dass ihre Mutter die Lippen zusammenpresste, und vermutete, dass sie verärgert war, weil ihre Beschwerde einfach übergangen wurde. Im Gegensatz dazu betrachtete Großmutter Althea ohne jeden Groll, nur mit einer gewissen Traurigkeit. Malta entschloss sich zu reagieren. »Du kannst nicht wissen, ob dich jemand erkannt hat. Du weißt nur, dass es niemand gezeigt hat. Vielleicht haben sie sich zu sehr für dich geschämt, um zu reagieren.« Einen Augenblick war Althea schockiert, dass Malta überhaupt gesprochen hatte. Sie kniff die Augen zusammen. »Ich glaube, du solltest dich an deine Manieren erinnern, wenn du mit Älteren redest, Malta. Als ich so alt war wie du, wurde ich nicht gerade ermutigt, einfach so dazwischenzureden, wenn Erwachsene sich unterhielten.« Es war wie der Funke an gut abgelagertem Kienspan. Maltas Mutter sprang auf die Füße und trat zwischen sie. »Als du in Maltas Alter warst, und daran erinnere ich mich noch sehr gut, warst du ein barfüßiger Wildfang, der in der Takelage eines Schiffes herumkletterte und mit allen möglichen Leuten redete. Und manchmal auch mehr tat als das.« Althea wurde so blass, dass der Schmutz auf ihrem Gesicht noch deutlicher hervortrat. Malta witterte ein Geheimnis. Ihre Mutter wusste etwas über Tante Althea, etwas Schmutziges. Geheimnisse waren Macht. »Hört auf!«, befahl Großmutter leise. »Ihr beide habt euch
seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen, und kaum seid ihr zum ersten Mal wieder in einem Zimmer zusammen, faucht ihr euch an wie Katzen. Ich bin nicht die ganze Nacht wach geblieben, um eurem Gezänk zuzuhören. Setzt euch und schweigt einen Moment. Ich möchte, dass ihr mir zuhört.« Ihre Mutter ging langsam zu ihrem Stuhl zurück, und ihre Großmutter setzte sich seufzend hin. Althea setzte sich auf die Herdsteine und kreuzte die Beine wie ein Seemann, als wollte sie ihre Schwester ärgern. Malta fand es obszön, dass eine Frau in einer Hose sich so hinsetzte. Althea bemerkte, dass ihre Nichte sie anstarrte, und lächelte. Malta sah den Blick ihrer Mutter und schüttelte leicht den Kopf. Keffria seufzte, und Großmutter achtete nicht darauf. »Statt uns gegenseitig zu kritisieren, müssen wir die Lage der Familie betrachten und tun, was wir können, um sie zu verbessern«, begann Großmutter. »Willst du sie nicht einmal fragen, wo sie die ganze Zeit gewesen ist und was sie getan hat? Wir haben uns solche Sorgen um sie gemacht! Und jetzt kommt sie einfach herein, schmutzig und angezogen wie ein Mann und…« »Meine Nichte ist wie eine Frau angezogen und wird offensichtlich als Köder benutzt, um Regenwild-Geld anzulocken. Wenn wir schon von Familienehre und Moral reden, warum sprechen wir dann nicht zuerst mal darüber?«, unterbrach Althea sie bissig. Großmutter stand auf und trat zwischen die beiden. »Ich sagte doch, dass ich reden wollte. Ich versuche darüber zu sprechen, was im Augenblick das Wichtigste ist, bevor wir uns wieder streiten. Wir alle haben Fragen. Diese Fragen werden warten müssen, bis wir entschlossen sind, als eine Familie zu handeln. Wenn wir das nicht können, brauchen wir diese Fragen nicht zu stellen.« »Wäre Althea hier gewesen, wie sie es hätte sein sollen, dann wüsste sie, was wir ertragen müssen«, meinte Keffria ruhig.
»Aber es tut mir Leid, dich zu unterbrechen. Ich werde dir jetzt zuhören, Mutter.« »Danke. Ich fasse mich kurz. Einiges habe ich dir bereits heute erzählt, Althea, aber nicht in allen Einzelheiten. Ich denke, wir müssen alle die Lage unserer Familie bedenken, statt uns nur um uns selbst zu kümmern. Wir müssen unsere Differenzen beiseite schieben. Oder sie wenigstens zurückstellen. Wir müssen entscheiden, wo diese Familie steht, und dann müssen wir Bingtown dieses Bild zeigen. Wir dürfen uns keine Spur von Streit anmerken lassen. Wir würden nämlich nicht einmal den Hauch eines Skandals überstehen.« Großmutter drehte sich ein wenig herum, sodass sich ihre Worte mehr an Althea richteten. »Althea, wir werden von unseren Gläubigern belagert. Unser Ruf ist das Einzige, was sie in Schach hält. Bis jetzt glauben sie noch, dass wir sie bezahlen, samt allen Zinsen. Keffria, Malta und ich haben viele Opfer gebracht, um ein Bild der Stabilität aufrechtzuerhalten. Wir leben sehr einfach. Ich habe bis auf Rache alle Diener entlassen. Wir machen alles allein. Wir sind nicht die einzigen Bingtown-Händler, die Einschnitte machen müssen, obwohl es nur wenigen genauso schlecht geht wie uns. In gewisser Weise macht das die ganze Lage noch schlimmer. Einige unserer Gläubiger sind ebenfalls in Schwierigkeiten. Einige von denen, die uns Verständnis entgegengebracht hätten, können sich das nicht leisten, und zwar wegen des Wohlergehens ihrer eigenen Familien.« Großmutter redete immer weiter. Die Litanei war Malta bis zum Überdruss bekannt. Sie hatte Schwierigkeiten, die Augen offen zu halten. Das einzig Interessante war, Tante Althea zu beobachten, während ihr das alles erklärt wurde. Schuldgefühl und Scham zeigten sich kurz auf ihrem Gesicht. Das war merkwürdig. Großmutter sagte ja nicht einmal, dass es zum Teil ihre Schuld war, dass sie ihrer Familie hätte helfen können, wenn sie zu Hause geblieben wäre, wie es sich gehörte.
Und doch benahm sich Althea so, als wären diese Anschuldigungen ausgesprochen worden. Als Großmutter erzählte, wie der Khuprus-Clan den Wechsel auf die Viviace gekauft hatte und dass es für die kleine Malta keine anständige Art und Weise gäbe, dieser Brautwerbung zu entgehen, warf ihr Althea sogar einen mitleidigen Blick zu. Malta setzte eine entsprechend märtyrerhafte Miene auf. Großmutter kam zum Ende ihrer Litanei. »Dir sind bestimmt die Veränderungen im Haus und auf dem Grundstück aufgefallen. Jetzt weißt du, dass es notwendige Opfer sind, keine Vernachlässigung. Althea, ich möchte dich um etwas bitten. Bleib zu Hause. Zieh dich ordentlich an, und benimm dich angemessen. Wenn Keffria zustimmt, könntest du vielleicht bei der Verwaltung einiger Güter helfen, die einer genaueren Aufsicht bedürfen. Oder wenn du mehr… Freiheit brauchen solltest, dann könntest du den kleinen Hof aus meiner Mitgift übernehmen. Ingelhof ist zwar ein entlegener Ort, aber sehr gemütlich. Es würde ihm nur gut tun, wenn sich jemand darum kümmert. Vielleicht befriedigt es dich ja, daraus ein Projekt zu machen und herauszufinden, was du…« »Mutter. Deswegen bin ich nicht nach Hause gekommen.« Althea klang beinahe traurig. »Ich will weder ein Spielzeug noch ein Projekt. Und ich will auch meine Familie nicht beschämen. Ich bin nach Hause gekommen, um zu helfen, aber das mache ich so, wie ich es am besten kann.« Sie sah an ihrer Mutter vorbei und richtete ihren Blick auf ihre Schwester. »Keffria, du weißt, dass die Viviace rechtmäßig mir gehören sollte. Das hast du immer gewusst. Ich bin nach Hause gekommen, um Anspruch auf sie zu erheben, um sie davor zu retten, als Sklavenschiff missbraucht zu werden.« Malta sprang auf. »Das Schiff gehört meinem Vater. Er wird dir nie erlauben, es ihm wegzunehmen.« Althea hielt den Atem an; ihre Augen glühten vor Ärger, und sie biss die Zähne zusammen. Dann drehte sie sich einfach von
Malta weg und sprach nur noch mit Keffria. Ihre Stimme klang ruhig. »Schwester, du ›besitzt‹ das Schiff. Was aus der Viviace wird, hängt ausschließlich von dir ab. Bingtown ist nicht Chalced, wo man einer Frau ihren Reichtum stehlen und ihn ihrem Ehemann geben kann. Außerdem habt ihr alle gehört, wie Kyle bei Sa geschworen hat, dass ich ihm nur ein Schiffszeugnis zeigen müsste, welches mich als würdigen Seemann ausweist. Dann würde er mir das Schiff übergeben. Ich habe dieses Zeugnis, und es ist mit dem Bildnis des Zauberschiffs Ophelia abgestempelt. Sowohl ihr Kapitän als auch ihr Maat werden bestätigen, dass ich fähig bin, ein Schiff zu befehligen. Ich war beinahe ein Jahr unterwegs. In dieser Zeit habe ich nur einen einzigen Gedanken gehabt: meiner Familie keine Schande zu machen, sondern mich dessen als würdig zu erweisen, was eigentlich ohne Frage hätte mir gehören sollen.« Altheas Stimme klang beinahe flehentlich. »Keffria, begreifst du das denn nicht? Ich habe es dir doch leicht gemacht. Gib mir das Schiff. Kyle muss seinen Eid halten. Du würdest nur das tun, was du selbst als richtig erachtest. Ich gebe dir mein Wort, aber ich kann es auch schriftlich niederlegen, wenn du möchtest: Die Gewinne aus jeder Reise gehen in unsere Besitztümer, bis auf die Summe, die ich brauche, um das Schiff neu auszurüsten und weiterzusegeln.« Die Miene ihrer Mutter machte Malta krank. Althea gelang es offensichtlich, sie für sich zu gewinnen. Doch bevor sie eingreifen konnte, vereitelte Althea ihre Pläne selbst. »Wie kann dir das schwer fallen?« Es war eine rhetorische Frage. »Kyle wird zwar widersprechen, aber du musst dich nur gegen ihn durchsetzen. Das hättest du schon vor langer Zeit tun sollen. Das hier ist Familiensache, eineVestrit-Angelegenheit, Bingtown-Händler-Geschäfte. Mit ihm hat das nichts zu tun.« »Er ist mein Ehemann!«, rief Keffria beleidigt. »Er hat seine Fehler, und ich bin manchmal auch wütend auf ihn. Aber er ist kein Haustier und auch kein Möbelstück. Er ist ein Teil meiner
Familie, ein Teil dieser Familie. Ob gut oder schlecht, dieses Band existiert, Althea. Ich bin es Leid, wie er von dir und Mutter herabgesetzt wird. Er ist mein Mann und der Vater meiner Kinder, und er glaubt wirklich, dass er sich richtig verhält. Wenn ihr schon vor ihm keinen Respekt haben könnt, könntet ihr dann nicht wenigstens meine Gefühle für ihn respektieren?« »Etwa so, wie er meine respektiert hat?«, fragte Althea sarkastisch. »Hört auf!«, mischte sich Großmutter ein. »Genau das fürchte ich mehr als alles andere. Dass wir unsere Meinungsverschiedenheiten nicht lange genug beiseite lassen können, um das Glück unserer Familie zu bewahren.« Die beiden Töchter funkelten sich noch einen Augenblick an. Malta biss sich auf die Zunge. Sie wäre am liebsten aufgesprungen und hätte Althea befohlen zu gehen. Wer war sie denn schon? Eine unverheiratete, kinderlose Frau, ein toter Zweig im Familienbaum. Das Glück der Familie interessierte sie nicht, sondern nur, was sie an Vorteil herausschlagen konnte. Malta und Selden litten am meisten unter den Folgen der Misswirtschaft ihrer Großeltern. Ihr kam das so logisch vor, warum konnten sie es nicht erkennen? Ihr Vater war der einzige starke Mann, der ihnen geblieben war. Seine Kinder würden am meisten davon profitieren oder darunter leiden, wie sich das Vermögen der Familie entwickelte. Er sollte hier sein und alle Entscheidungen treffen. Wenn er doch nur da wäre! Aber das war er nicht. Malta blieb nur übrig, für ihn Augen und Ohren offen zu halten. Wenn er zurückkam, würde er alles erfahren. Sie würde ihn nicht ahnungslos in die Intrigen laufen lassen, die diese machthungrigen Frauen gesponnen hatten. Ihre Großmutter hatte sich erhoben und trat zwischen ihre streitenden Töchter. Langsam und schweigend streckte sie jeder von ihnen eine Hand entgegen. Keine der beiden hatte es besonders eilig, sie zu ergreifen. »Ich möchte euch um Folgendes bitten«, sagte sie ruhig. »Zunächst einmal: Belasst euren
Streit innerhalb dieser Wände. Draußen sollten wir einmütig handeln. Althea, Keffria, wir können nichts unternehmen, was die Viviace betrifft, solange sie nicht im Hafen anlegt. Bis dahin sollten wir tun, was wir seit Jahren nicht getan haben: Lasst uns als eine Familie in einem Haus leben und all unsere Bemühungen darauf ausrichten, uns gegenseitig Gutes zu tun.« Sie sah zwischen ihren beiden Töchtern hin und her. »Ihr seid nicht so unterschiedlich, wie ihr glaubt. Wenn ihr erst einmal erkannt habt, was eine gemeinsame Kraft ausrichten kann, habt ihr gar nicht mehr den Wunsch, euch gegenseitig zu widersprechen. Ihr habt zwar gegensätzliche Ausgangspositionen, aber dazwischen gibt es viele mögliche Kompromisse. Sobald ihr euch wieder besser kennen gelernt habt, seid ihr vielleicht wieder offener dafür.« Die Macht, die Ronica über ihre Töchter hatte, war beinahe spürbar. Im Raum herrschte Schweigen. Malta fühlte, wie sich die beiden Frauen wehrten. Sie sahen weder sich noch ihre Mutter an. Doch als das Schweigen anhielt, schaute erst Althea und dann auch Keffria hoch. Malta ballte die Hände zu Fäusten, als sich ihre Blicke trafen und etwas zwischen ihnen vorging. Was war es? Eine Erinnerung an einen lange vergessenen Einklang? Die Erkenntnis, dass sie ihrer Familie gegenüber eine Pflicht zu erfüllen hatten? Was es auch war, es überbrückte die Kluft zwischen ihnen. Sie lächelten zwar nicht, aber ihre Gesichter verloren den halsstarrigen Ausdruck. Keffria reichte ihrer Schwester die Hand. Althea gab nach und ergriff sie. Großmutter seufzte erleichtert auf. Sie schlossen den Familienkreis. Niemand außer Malta bemerkte, dass sie daraus ausgeschlossen blieb. Kälte stieg in ihr hoch, während Ronica ihren Töchtern versprach: »Es wird euch nicht Leid tun, dass ihr es versucht habt. Das verspreche ich euch.« Malta zeigte ihr bitteres Lächeln nur dem Kaminfeuer, das
beinahe heruntergebrannt war. Sie hatte ebenfalls Versprechen zu halten.
12
Das Porträt der Viviace Brashen lehnte an der Wand der Kapitänskajüte und versuchte bedrohlich und gleichzeitig gelassen auszusehen. Es war keine leichte Aufgabe, sowohl ein liebenswertes Lächeln als auch einen schweren Knüppel zu zeigen. Andererseits hatte sich bisher auch nur sehr wenig an seinem Job als so einfach und leicht herausgestellt, wie er ursprünglich vermutet hatte. Ein Strom von Dienern mit Waren flutete durch die Kajüte. Sie verwandelten Finneys unordentliche Unterkunft in einen Schauraum für Handelswaren. Der Kartentisch war bereits mit einer Lage mitternachtsblauem Samt bedeckt. Auf diesem Untergrund und mit Nadeln gegen Diebstahl gesichert, lagen Ohrringe, Halsbänder, Armbänder und andere Schmuckstücke. Es waren so viele verschiedene, dass sie nur allzu deutlich von ihren vielen Quellen kündeten. Das Bunte kämpfte mit dem Vornehmen. Alle Arten von Edelsteinen und -metallen waren vorhanden. Finney saß bequem da und betrachtete diesen Schatz. Mit seinen dicken Fingern betastete er den wundervoll geschwungenen Stiel eines Weinglases. Der Händler, ein Durjaner namens Sincure Faldin, stand respektvoll neben ihm. Er lenkte Finneys Aufmerksamkeit auf jedes einzelne Schmuckstück. Soeben deutete er auf eine einfache, aber elegante Perlenkette mit dazu passenden Ohrringen. »Diese hier gehörten der Tochter eines Edelmanns. Beachtet die gewundenen Goldglieder zwischen jeder einzelnen Perle und auch ihr warmes Strahlen. Es ist allgemein bekannt, dass Perlen am besten an einem leidenschaftlichen Wesen erblühen, und diese Frau… ach, was soll ich von ihr sagen? Außer, dass sie keine Lust mehr hatte, gegen ein Lösegeld zu ihrer vermögenden Familie zurückzu-
kehren, nachdem sie einmal ihre Häscher erblickt hatte. Man sagt, dass solche Perlen einer kalten Frau ermöglichen, ihre verborgenen Leidenschaften ans Licht zu holen. Doch wenn man sie einer heißblütigen Frau gibt, nun, dann riskiert ein Mann seine völlige körperliche Erschöpfung.« Der Händler hob die Brauen und grinste anzüglich, und Finney lachte laut vor Vergnügen. Dieser Kaufmann hatte eine Vorliebe für Geschichten. Angeblich hatte jedes Stück auf dem Tisch eine eigene Geschichte, die sowohl romantisch als auch faszinierend war. Noch nie zuvor hatte Brashen gestohlene Waren so kunstvoll dargeboten gesehen. Der Maat ermahnte sich zur Wachsamkeit und löste seinen Blick von dem bunt gekleideten Sincure Faldin. Stattdessen behielt er seinen Sohn im Auge, der immer noch neue Waren an Bord brachte und aufbaute. Die ganze Familie schien die Effekthascherei des Vaters zu beherrschen. Die drei Jungen waren ebenso opulent gekleidet wie ihr Vater, und ihre Garderobe bestand aus eben den Stoffen, die ein Junge jetzt in einem Regenbogen aus Stoffbahnen ausbreitete, die er von großen Ballen wickelte. Ein älterer Sohn hatte die Türen eines prachtvoll geschnitzten Schranks geöffnet, den er an Bord getragen hatte. Darin befanden sich einige Reihen winziger verkorkter Flaschen. Brashen wusste nicht, ob es sich um Wein- und Schnapsproben oder um Parfüm- und Ölflakons handelte. Der dritte Sohn hatte eine weiße Decke über Kapitän Finneys Koje geworfen und breitete eine bunte Mischung aus Waffen, Geschirr, Büchern, Schriftrollen und anderen Gegenständen darauf aus. Aber selbst das geschah nicht willkürlich. Die Messer wurden in einem Fächer aus Schneiden und Griffen hingelegt, die Schriftrollen und Bücher wurden geöffnet, damit man sie ansehen konnte, und auch die anderen Gegenstände wurden so aufgebaut, dass sie das Auge des potentiellen Käufers faszinierten. Doch am schärfsten beobachtete Brashen den dritten Jungen.
Er bezweifelte zwar, dass sie etwas anderes waren als fleißige Kaufleute, aber er hatte beschlossen, seit dem unglücklichen Vorfall vor zehn Tagen misstrauischer zu sein. Es hatte den Schiffsjungen fast einen ganzen Tag gekostet, das Blut dieses Haudegens vom Deck zu schrubben. Brashen wusste immer noch nicht genau, wie er das fand, was er getan hatte. Der Mann hatte ihn zum Handeln gezwungen, und er konnte doch nicht einfach daneben stehen und zusehen, wie er das Schiff ausraubte. Trotzdem konnte Brashen die unbehagliche Ahnung nicht abschütteln, dass er diesen Posten nicht hätte annehmen sollen. Wenn er nicht da gewesen wäre, hätte er kein Blut vergießen müssen. Wo wäre er dann gewesen? Er hatte nicht wissen können, wohin ihn sein Beruf führte. Offiziell war er einfach als Erster Maat angestellt worden. Die Springeve war ein lebhaftes kleines Schiff, reagierte träge auf das Ruder und ging nervös vor starkem Wind. Aber sie war wundervoll für den Handel auf den Wasserstraßen zu den Lagunenstädten und FlussSiedlungen geeignet, die sie besuchten. Offiziell war die Springeve nur ein Handelsschiff. Die Realität jedoch war erheblich finsterer. Brashen war das, was Kapitän Finney ihm zu sein befahl, Maat, Leibwächter, Übersetzer oder Frachtarbeiter. Und was Finney selbst anging: Brashen wurde aus dem Mann einfach nicht schlau. Er war nicht sicher, ob Finney ihm vertraute oder ihn nur testete. Die entwaffnende Offenheit des Mannes war eine Tarnung, um die meist ehrlosen Händler einzulullen, die mit ihm handelten. Der beleibte Mann hätte all diese Jahre in seinem Geschäft niemals überlebt, wenn er tatsächlich so vertrauensselig und offen gewesen wäre, wie er vorgab. An Bord seines Schiffes war er kompetent und auch geschickt darin, Menschen für sich zu gewinnen. Aber Brashen vermutete, dass er zu beinahe allem fähig war, wenn es ums Überleben ging. Irgendwann hatte ein Messer eine lange Spur auf seinem Bauch hinterlassen. Diese
gezackte Narbe stand in seltsamem Kontrast zu dem scheinbar liebenswerten Charakter des Mannes. Seit Brashen sie gesehen hatte, beobachtete er seinen Kapitän genauso scharf wie die Leute, mit denen er Geschäfte machte. Jetzt sah er, wie Finney sich lässig vorbeugte und rasch hintereinander auf zwölf Schmuckstücke tippte. »Die hier will ich in unseren Handel einbeziehen. Die anderen könnt Ihr wegbringen. Ich habe kein Interesse an Tand.« Der Kapitän lächelte, aber sein Finger hatte unbeirrt auf die Juwelen getippt, die auch Brashen für die wertvolleren Stücke aus Faldins Sammlung hielt. Faldin erwiderte das Lächeln, aber Brashen bemerkte das leichte Unbehagen auf der Miene des Kaufmanns. Brashens Gesicht dagegen blieb unbewegt. Er hatte schon häufiger gesehen, dass Finney so etwas tat. Der Mann war so sanft und nett wie eine Katze, aber wenn es schließlich ums Geschäft ging, würde dieser Faldin froh sein können, wenn er noch sein Hemd am Leib hatte. Brashen konnte den Vorteil einer solchen Taktik nicht erkennen. Als er noch für Ephron Vestrit arbeitete, hatte der Kapitän ihm gesagt: »Lass immer genug Fleisch am Knochen, sodass auch der andere zufrieden ist. Ansonsten wird bald niemand mehr mit dir handeln wollen.« Allerdings hatte Kapitän Vestrit nicht mit Piraten Geschäfte gemacht und mit Hehlern, die gestohlene Güter für die Piraten verkauften. Hier herrschten zwangsläufig andere Regeln. Seit sie Candletown verlassen hatten, war die Springeve sehr gemächlich an der Küste der Verwunschenen Ufer entlanggesegelt. Das kleine Schiff hatte sich in schlammige Flüsse vorgetastet und in Lagunen Anker geworfen, die auf keiner bekannten Karte verzeichnet waren. Der ganze Abschnitt dieser »Küste«, die als Piraten-Inseln bekannt war, befand sich in ständiger Veränderung. Einige behaupteten, dass die vielen Flüsse und Ströme, die sich rund um diese Piraten-Inseln in die Innere Passage ergossen, eigentlich nur ein großer Fluss seien. Brashen kümmerte es wenig, ob die dampfenden Gewässer, die
in den Kanal strömten, von einem oder von vielen Flüssen stammten. Tatsache blieb, dass die warmen Fluten zwar für das milde Klima der Piraten-Inseln verantwortlich waren, aber gleichzeitig stanken sie auch, ließen Bootsrümpfe in einem erstaunlichen Tempo verfaulen, weichten Taue und Seile auf und bildeten zu jeder Jahreszeit wogende Nebelbänke. Andere Schiffe hielten sich hier nicht freiwillig auf. Die Luft war feucht, und das frische Wasser, das sie an Bord nahmen, wurde beinahe über Nacht faulig. Wenn die Springeve zu dicht am Ufer ankerte, stürzten sich Schwärme von Insekten auf die Mannschaft. Oft tanzten auch merkwürdige Lichter auf dem Wasser, und trügerische Geräusche drangen bis zu ihnen. Inseln und Fahrrinnen verschoben sich und verschwanden, wenn die wandernden Flüsse ihren Schlick und ihren Sand ablagerten. Und ein Sturm, eine Regenflut oder ein mächtiger Gezeitenwechsel wusch in einer Nacht alles weg, was in einem ganzen Monat angehäuft worden war. Brashen hatte nur noch verschwommene Erinnerungen an diese Gegend aus der Zeit, als er hier unfreiwillig als Pirat gesegelt war. Als Schiffsjunge hatte er kaum mehr gegolten als ein Sklave. Auf der Hope hatten sie ihm den Spitznamen Wiesel gegeben. Er hatte kaum auf etwas anderes geachtet als darauf, sich immer so schnell zu bewegen, dass er einen sicheren Abstand zu Tauenden behielt. Die Siedlungen hatte er als winzige Ansammlung von verfallenen Hütten in Erinnerung. Die einzigen Bewohner waren verzweifelte Männer gewesen, die nirgendwo anders hingehen konnten. Es waren keine prahlerischen Piraten gewesen, sondern Ausgestoßene, die von dem lebten, was die Piraten ihnen in ihre winzigen Siedlungen brachten. Brashen schüttelte den Kopf. Er konnte sich nur darüber wundern, wie aus einigen zusammengewürfelten Hütten von Ausgestoßenen anscheinend ein ganzes Netzwerk von Städten geworden war. Als Maat auf der Viviace hatte er eher skeptisch
den Erzählungen von Piratensiedlungen gelauscht, die angeblich auf Pfeilern weit über den brackigen Flüssen und Lagunen errichtet worden waren. Doch seit er auf der Springeve segelte, hatte er allmählich sein Bild von diesen Wanderinseln und den geschäftigen Siedlungen korrigiert, die sich an ihre trügerischen Küsten klammerten. Einige Städte waren immer noch kaum mehr als kleine Häfen, in denen zwei Schiffe anlegen und ihre Waren verkaufen konnten. Aber in anderen prangte sogar Farbe an den Brettern der Häuser, und kleine Geschäfte säumten die schlammigen Straßen. Der Sklavenhandel hatte die Bevölkerung anwachsen lassen und sorgte auch für eine größere Vielfalt. Handwerker und gebildete Sklaven, die ihren jamaillianischen Besitzern entkommen waren, drängten sich neben Kriminellen, die vor der Justiz des Satrapen geflohen waren. Einige Bewohner hatten sogar Familie. Frauen und Kinder bildeten allerdings noch eine Minderheit der Bevölkerung. Viele der entkommenen Sklaven versuchten offenbar, ihr Leben wieder aufzubauen, das man ihnen gestohlen hatte. Sie mischten den Piratenstädten eine Note verzagter Zivilisation unter. Kapitän Finney schien ausschließlich mit Hilfe seiner Erinnerung durch diese trügerischen Kanäle, Gezeiten und Strömungen zu navigieren, die sie zu jedem Weiler brachte. Unfehlbar dirigierte er die Springeve von Stadt zu Stadt. Brashen vermutete, dass er Karten versteckte, die er zu Rate zog, aber bis jetzt hatte er noch keine zu Gesicht bekommen. Dieser Vertrauensmangel forderte Verrat geradezu heraus, dachte Brashen, während er den Sohn des Händlers mit zusammengekniffenen Augen musterte. Zumindest glaubte er, dass Finney seine sorgfältig mit Tinte auf Segeltuchfetzen eingetragenen Küstenlinien und Sandbänke als Verrat ansehen würde. Brashen verwahrte sie unter seiner Koje. Ein großer Teil von Finneys Wert als Kapitän beruhte auf seiner genauen Kenntnis der PiratenInseln. Er würde Brashens sorgsam gehüteten Schatz als einen Diebstahl seines hart erarbeiteten Wissens ansehen. Für Bras-
hen hingegen war dies der einzig langfristige Nutzen, den er aus diesem Törn davontragen würde. Geld und Cindin waren ja ganz schön, aber sie waren auch schnell weg. Wenn ihn das Schicksal schon in einen solchen Handel verschlug, wollte er wenigstens nicht ewig als Maat herumsegeln. »Heh, Brash. Komm mal her. Was hältst du davon?« Brashen löste den Blick von den Jungen und richtete ihn auf die Waren, die Finney jetzt betrachtete. Der Kapitän hielt eine illustrierte Schriftrolle hoch. Brashen erkannte in ihr eine Kopie der Widersprüche des Sa. Die Qualität des Pergaments legte nahe, dass es eine gute Kopie war. Wenn er zugab, mit diesen Dingen vertraut zu sein, würde das Finney nur beweisen, dass er kein Analphabet war. Er zuckte mit den Schultern. »Viele hübsche Farben und nette Vögelchen.« »Was ist es deiner Meinung nach wert?« Brashen zuckte mit den Schultern. »Für wen?« Finney kniff die Augen zusammen. »Sagen wir in Bingtown?« »Ich hab dort so was gesehen. Hab mir selbst aber nie eins kaufen wollen.« Sincure Faldin verdrehte bei so viel Ignoranz nur verzweifelt die Augen. »Vielleicht nehme ich es.« Finney wühlte in den anderen Sachen. »Stellt es zunächst einmal beiseite. Was ist das?« Finneys Stimme klang eine Spur amüsiert. »Es ist zerbrochen. Ihr wisst doch, dass ich nur mit erstklassiger Ware handele. Weg damit.« »Nur der Rahmen ist beschädigt. Zweifellos ist das in der Hast passiert, es zu, ehm, retten. Die Leinwand ist unversehrt und ziemlich wertvoll, hat man mir gesagt. Es scheint die Arbeit eines Bingtowner Künstlers zu sein. Aber das ist nicht das Einzige, was es so außerordentlich wertvoll macht.« Seine Stimme deutete an, dass sich hier ein großes Geheimnis verbarg.
Finney tat, als interessiere es ihn nicht sonderlich. »Na gut, ich sehe es mir an. Ein Schiff. Wie originell. Ein Schiff unter vollen Segeln an einem schönen Tag. Stellt es weg, Sincure Faldin.« Der Kaufmann hielt das Gemälde weiter stolz hoch. »Ihr werdet es bereuen, wenn Ihr Euch diese Gelegenheit entgehen lasst, Kapitän Finney Es wurde von Pappas gemalt. Man hat mir gesagt, dass er nur sehr wenig Auftragsarbeiten angenommen hat und dass alle seine Gemälde sehr teuer sind. Aber wie ich schon sagte, dieses Bild hier ist noch aus einem anderen Grund einzigartig. Es ist das Porträt eines Zauberschiffs. Und es wurde von eben diesem Zauberschiff erbeutet.« Brashen fühlte ein merkwürdiges Ziehen in seinem Bauch. Althea hatte ein Porträt der Viviace bei Pappas in Auftrag gegeben. Er wollte nicht hinsehen. Aber er musste. Es war ohnehin närrisch, denn es konnte nicht das sein, was er befürchtete. Kein Piratenschiff konnte die Viviace einholen. Sie war es. Brashen starrte entsetzt auf das vertraute Gemälde. Es hatte in Altheas Kajüte auf der Viviace gehangen. Der wunderschöne Rahmen aus Rosenholz war gesplittert, als jemand es hastig von der Wand gerissen hatte, statt es sorgfältig davon zu lösen. Es war die Viviace, wie sie vor ihrem Erwachen gewesen war. Auf dem Gemälde waren die Gesichtszüge der Galionsfigur noch unbewegt, und ihr Haar war gelb. Sie glitt mit ihrem schlanken Rumpf durch die Wellen. Das Bild war so großartig, dass Brashen förmlich sehen konnte, wie die Wolken über den Himmel glitten. Als er das Gemälde das letzte Mal gesehen hatte, war es noch sicher an einem Schott befestigt gewesen. Hatte Althea es dagelassen, als sie von Bord gegangen war? War es von Piraten auf dem Schiff erbeutet worden, oder hatte man es aus dem Haus der Vestrits gestohlen? Die letzte Möglichkeit ergab wenig Sinn. Kein Dieb würde so etwas in Bingtown stehlen und es dann auf die Piraten-Inseln bringen, um es
dort zu verkaufen. Die besten Preise für solche Dinge wurden in Chalced und Jamaillia-Stadt erzielt. Die Logik sagte ihm, dass jemand das Gemälde von der Viviace geraubt hatte. Dennoch konnte er sich nicht vorstellen, wie die Piraten dieses lebhafte kleine Zauberschiff gekapert haben sollten. »Kennst du das Schiff, Brash?« Finneys Stimme klang freundlich. Der Kapitän hatte ihn dabei ertappt, wie er das Bildnis anstarrte. Er versuchte, seine Bestürzung in Verwirrung umzumünzen, und runzelte noch mehr die Stirn. »Pappas. Ich habe den Namen angesehen, weil ich dachte, ich kenne ihn. Pappas, Pappas… Nein. Pappay. So hieß der Kerl. Er war ein verdammter Falschspieler, aber ein sehr guter Mann in den Wanten.« Er zuckte mit den Schultern und grinste Finney an. Ob er den Mann hinters Licht geführt hatte? »Es ist ein Lebensschiff aus Bingtown. Du kennst sie doch sicher. Zauberschiffe sind nicht so verbreitet.« Finney ließ nicht locker. Brashen trat noch einen Schritt näher, betrachtete das Gemälde und zuckte mit den Schultern. »Sie sind nicht so verbreitet, wohl wahr, aber sie waren immer an einem anderen Kai vertäut als die gewöhnlichen Schiffe. Sie blieben unter sich, und Müßiggänger waren dort nicht sonderlich willkommen. Händler sind manchmal ein ziemlich hochnäsiges Pack.« »Ich dachte, du wärst ein gebürtiger Händler.« Jetzt sahen ihn beide an. Brashen lachte bellend. »Selbst Händler haben arme Verwandte. Mein Vetter dritten Grades ist der richtige Händler. Ich bin nur ein entfernter Verwandter und kein sehr willkommener Anblick auf ihrer Schwelle. Tut mir Leid. Wie heißt das Schiff noch mal?« »Viviace«, erwiderte Finney »Ich dachte, du hättest auf diesem Schiff gedient. Hast du das nicht dem Agenten in Candletown erzählt?«
Brashen verfluchte seine von Cindin getrübte Erinnerung an dieses Treffen. Nachdenklich schüttelte er den Kopf. »Nein. Ich habe ihm gesagt, dass ich Erster Maat auf der Flinken Füchsin gewesen bin. Sie stammt aus einem Hafen der Sechs Herzogtümer, nicht aus Bingtown. Ist kein schlechtes Schiff, wenn man gern mit einem Haufen von Barbaren zusammen ist, die glauben, ein Eintopf aus Fischköpfen wäre ein echtes Vergnügen. Ich jedenfalls fand das nicht.« Finney und Faldin kicherten beide gehorsam. Es war zwar kein sonderlich geistreicher Witz, aber es genügte, um das Thema zu wechseln. Faldin pries das Gemälde noch einmal an, doch Finney wies es mit einem kurzen Kopfschütteln ab. Faldin wickelte das Bild umständlich wieder ein, um Finney zu zeigen, dass er auf etwas sehr Wertvolles verzichtete. Finney musterte bereits den Rest der Schriftrollen. Brashen gab sich den Anschein, aufmerksam aufzupassen, aber ihm war elend zumute. Der gesplitterte Rahmen ließ vermuten, dass das Bild in großer Hast erbeutet worden war. War sie gesunken, als der Rahmen von der Wand gerissen wurde? Einer von Faldins Jungen ging an ihm vorbei und warf ihm einen furchtsamen Blick zu. Brashen bemerkte, dass er finster dreinblickte, und riss sich zusammen. Einige der Männer, mit denen er an Bord der Viviace gearbeitet hatte, kannte er seit Jahren. Ihre Gesichter stiegen in seiner Erinnerung empor. Grig, der Taue schneller spleißen konnte als alle anderen; Comfrey, der Witzbold, und ein halbes Dutzend anderer, mit denen er im Vorschiff gelegen hatte. Der Schiffsjunge, Mild, hatte das Zeug zu einem erstklassigen Seemann, falls sein Hang zum Übermut ihn nicht vorher umbrachte. Er hoffte, dass sie vernünftig genug gewesen waren, sich für das Piratendasein zu entscheiden, wenn man ihnen die Wahl gelassen hatte. Der Drang, den Händler zu fragen, was er über das Schicksal des Lebensschiffes wusste, ließ ihm keine Ruhe. Gab es eine Möglichkeit, seiner Neugier nachzugeben, ohne sich
selbst zu verraten? Doch plötzlich war es Brashen egal. »Woher habt Ihr eigentlich dieses Gemälde von dem Zauberschiff?«, fragte er. Die beiden Männer drehten sich um und sahen ihn an. »Warum interessiert dich das?«, wollte Kapitän Finney wissen. Es klang keineswegs beiläufig. Sincure Faldin mischte sich ein. Offenbar hoffte er immer noch, das Gemälde losschlagen zu können. »Das Bild stammt von dem Schiff selbst. Es ist schon selten genug, dass ein Lebensschiff gekapert wird; dieses Andenken daran gehört zu den seltensten Dingen überhaupt.« Während er wieder den Wert des Gemäldes lobte, packte er es erneut aus. Brashen verschob das kleine Stück Cindin hinter seiner Lippe. »Dann glaube ich es nicht«, sagte er mürrisch und blickte Finney an. »Das hat mich die ganze Zeit beschäftigt. Wenn jemand ein Bild von einem Schiff an Bord hat, dann ist es sehr wahrscheinlich ein Bild von seinem eigenen Schiff. Aber Lebensschiffe werden nicht gekapert. Das weiß jeder. Es ist eine Fälschung.« Er sah scheinbar beiläufig zu dem Händler. »Oh, ich halte Euch nicht für einen Lügner«, versicherte er schnell, als er den wütenden Ausdruck auf Faldins Gesicht bemerkte. »Ich behaupte nur, dass der, der es Euch verkauft hat, Euch betrogen hat.« Er lächelte den Mann an. Brashen war klar, dass man jemanden am besten zum Reden brachte, wenn man andeutete, dass er nicht wüsste, wovon er sprach. Es klappte. Die Miene des Händlers veränderte sich. Jetzt war sie nicht mehr wütend, sondern zeigte eine kalte Selbstgefälligkeit. »Das glaube ich kaum. Natürlich verstehe ich, warum Ihr das annehmt. Die Kaperung eines Zauberschiffes ist keine gewöhnliche Tat. Und sie wurde auch nicht von einem gewöhnlichen Mann vollbracht. Kapitän Kennit hat das bewerkstelligt. Falls Ihr seinen Namen kennt, dürfte Euch das kaum überraschen.« Kapitän Finney schnaubte verächtlich. »Dieser Pferdearsch?
Lebt er immer noch? Ich hätte darauf gewettet, dass ihm längst jemand die Gedärme aufgeschlitzt hat. Verbreitet er immer noch diesen Quatsch, König der Piraten zu werden? Zum ersten Mal schien Brashen die Empörung von Sincure Faldin nicht gekünstelt zu sein. Der korpulente Kaufmann reckte sich und holte tief Luft. Sein buntes Hemd blähte sich wie ein Segel vor dem Wind. »Ihr sprecht von einem Mann, der mit meiner Tochter so gut wie verlobt ist. Ich habe sehr viel Achtung vor Kapitän Kennit, und ich fühle mich geehrt, dass er ausschließlich mir das Privileg gewährt, seine Waren zu verkaufen. Ich werde keine herabsetzenden Bemerkungen über ihn dulden.« Finney sah Brashen an und verdrehte die Augen. »Dann sage ich lieber nichts mehr über ihn. Der Mann ist wahnsinnig, Sincure. Er ist ein exzellenter Kapitän und hat sein Schiff absolut im Griff. Dagegen ist nichts zu sagen. Letztes Jahr gab es jedoch diese wilden Gerüchte um ihn, dass ihm bestimmt sei, König der Piraten-Inseln zu werden. Angeblich ist er nach Anderland gesegelt, und das Orakel hat bestätigt, dass es so wäre. Nun, Ihr wisst ja, wie sehr wir uns alle einen König wünschen! Hah! Das Nächste, was ich von ihm hörte, war, dass er Sklavenschiffe jagt, nur um die Fracht zu befreien. Nicht, dass ich kein Mitleid mit den armen Schweinen hätte, die da in den Frachträumen der Chalcedaner angekettet sind! Das habe ich. Aber ich habe auch Mitleid mit mir, weil der verdammte Kennit so viel Staub aufgewirbelt hat, dass dieses Bürschchen von einem Satrapen den Piraten Patrouillen auf den Hals gehetzt hat. Und dieser Junge hat nicht mal genug Verstand, es ein jamaillianisches Problem bleiben zu lassen. Nein, er hat chalcedanische Söldner eingeladen, die uns hier ausräuchern sollen. Stattdessen fischen sie sich die beste Fracht selbst heraus und schieben es dann uns in die Schuhe.« Finney schüttelte den Kopf. »König der Piraten-Inseln. Klar. Und genau das erwarten wir auch von einem König: dass uns noch mehr Scheiße auf
den Kopf regnet.« Sincure Faldin verschränkte die Arme vor der Brust. »Nein, nein, teurer Freund. Es liegt mir zwar fern, mich mit einem Kunden zu streiten, aber Ihr seht einfach die größeren Zusammenhänge nicht. Kennit hat uns allen Gutes getan. Die befreiten Sklaven kommen zu uns, bevölkern unsere Städte mit Handwerkern und Künstlern, ganz zu schweigen von den vielen fruchtbaren Frauen. Wer ist sonst gewöhnlich zu uns geflohen? Mörder und Vergewaltiger, Diebe und Halsabschneider. Die wenigen ehrlichen Männer, die bei uns gelandet sind, mussten das tun, was Euch und mir ebenfalls nicht erspart blieb. Sich einen Weg suchen, wie sie ein ehrliches Leben mitten im Chaos führen können. Kennit hat das alles geändert. Er bevölkert unsere Städte mit Menschen, die nur die Chance wollen, wieder in Freiheit zu leben. Er wird aus uns eine Nation machen, nicht nur eine Ansammlung von sich, befehdenden Außenposten für Renegaten und Flüchtlinge. Sicher, er hat den Zorn des Satrapen geweckt. Diejenigen unter uns, die so verblendet waren und glaubten, dass wir diesem drogenumnebelten Jüngling immer noch Loyalität schuldeten, einem Jungen, der von seinen Frauen und Ratgebern beherrscht wird, sehen ihn jetzt, wie er wirklich ist. Seine Handlungen haben die sentimentale Lehnstreue zerschmettert. Wir alle werden erkennen, dass wir Jamaillia überhaupt keine Loyalität schulden, sondern dass unsere Sorge nur uns selbst gelten sollte.« Finneys Miene verriet mürrische Zustimmung. »Ich sage ja auch nicht, dass er vollkommen schlecht ist. Aber wir brauchen keinen König. Wir haben die Sachen ganz gut selbst hingekriegt.« Brashen erinnerte sich an etwas. »Kennit. Ist das nicht derjenige, der alle an Bord eines Schiffes tötet, wenn er es kapert?« »Nicht immer!«, widersprach Faldin. »Nur auf Sklavenschiffen tötet er die gesamte Mannschaft. Aber es hält sich das Gerücht, dass er einige von der Mannschaft des Zauberschiffs
gerettet hat, obwohl es ein Sklavenschiff war. Das Schiff selbst verehrt jetzt Kapitän Kennit.« »Ein Lebensschiff wurde als Sklavenschiff benutzt und hat die Loyalität zur eigenen Familie aufgegeben, als es gekapert wurde?« Brashen schüttelte den Kopf, gleichzeitig amüsiert und verächtlich. Er wandte sich an seinen Kapitän. »Ich mag ja dieses besondere Schiff nicht kennen, aber ich weiß genug über Zauberschiffe, um Euch versichern zu können, dass das nicht wahr ist.« »Aber es ist wahr!« Faldin schaute zwischen den beiden Männern hin und her. »Ihr müsst mir nicht glauben«, fuhr er überlegen fort. »Ihr seid ja nur einen Tag von Divvytown entfernt. Segelt dorthin, wenn Ihr mir nicht glaubt. Das Lebensschiff liegt schon fast einen Monat dort und wird repariert. Sprecht mit den ehemaligen Sklaven, die Kennit aus ihren Frachträumen an Land gesetzt hat. Ich habe zwar nicht selbst mit dem Schiff gesprochen, aber alle, die kühn genug waren, das zu tun, erklären, dass es nur gut von seinem Kapitän redet.« Brashens Herz hämmerte in seiner Brust. Er fühlte sich, als bekäme er nicht genügend Luft. Das konnte nicht wahr sein. Alles, was er über die Viviace und Lebensschiffe wusste, sagte ihm, dass das nicht stimmte. Aber alle Beweise, die Sincure Faldin ihm vorgelegt hatte, verkündeten das Gegenteil. Er zuckte mit den Schultern und hustete, um das würgende Gefühl in seinem Hals loszuwerden. »Das kommt auf den Kapitän an«, sagte er schließlich und schob das Cindin im Mund herum. »Solche Entscheidungen trifft nur er. Ich?« Er hob den Knüppel in seinen Händen. »Ich treffe andere Dinge.« Er grinste sie beide mit drohend gefletschten Zähnen an. »Wenn Ihr nach Divvytown kämt, könnte ich Euch viel mehr Waren zeigen.« Sincure Faldin war plötzlich wieder ganz und gar Kaufmann. Und er lächelte auch wieder, als er seine Geschichte zum Besten gab. »Dort ist mein Lager. Kennits neueste Reise hat es sehr gut gefüllt, obwohl sich nur wenig von sei-
nem Lebensschiff darunter befindet. Die Sklaven waren die Hauptfracht. Und die hat er freigelassen. Außerdem hat er sich entschieden, die Einrichtung der Offiziersunterkünfte so zu belassen, wie sie waren, und hat das Schiff ansonsten repariert. Leider fühlte er sich nicht gut genug, um Besucher zu empfangen, aber man hat mir berichtet, dass die Offiziersquartiere sehr vornehm eingerichtet sind und ganz aus poliertem Holz und Messing bestehen.« Kapitän Finney gab ein leises Knurren von sich. Brashen schwieg. Im Blick des Kapitäns glomm ein Funke des Interesses bei der Aussicht, ein gefangenes Lebensschiff zu sehen und vielleicht sogar mit ihm zu sprechen. Bei dieser Art von Beweis, und angesichts von Faldins Versicherung, das Gemälde sei die einzige Trophäe ihrer Kaperung, würde Finney das Bild vermutlich kaufen. Seltenes brachte immer Geld. Finney räusperte sich. »Nun gut. Stellt das Bild zur Seite. Ich habe noch ein bisschen Platz in meinen Laderäumen. Klingt, als wäre Divvytown der richtige Ort, um sie zu füllen. Wenn ich das Lebensschiff sehe und Eure Behauptungen sich als wahr herausstellen, dann kaufe ich das Bild. So. Und jetzt lasst uns wieder zum Geschäft kommen. Habt Ihr noch Gobelins von der Art, wie Ihr sie mir letztes Jahr verkauft habt?« Über einem Chor von Sägen ertönten helle Hammerschläge. Der Geruch nach Sägemehl und frischem Firnis erfüllte die Gänge des Schiffes. Die Sklaven, die vorher noch die Decks und Frachträume der Viviace bevölkert hatten, waren jetzt von Kolonnen von Zimmerleuten und Schiffsbauern ersetzt worden. Wintrow ging um einen Mann herum, der Firnis auf einen reparierten Türrahmen auftrug, und wich dann einem Lehrling aus, der Bienenwachsblöcke schleppte. Die Viviace wurde mit verblüffender Geschwindigkeit repariert. Die Schäden, die sie bei dem Sklavenaufstand davongetragen hatte, waren beinahe verschwunden. Ihre Frachträume waren gesäubert worden. Man hatte sie nicht einfach nur geschrubbt, sondern auch sorg-
fältig mit aromatischen Kräutern behandelt. Schon bald waren nur noch die Blutflecken auf ihren Decksplanken übrig. Trotz allen Schrubbens, Scheuerns und Einweichens weigerte sich das Hexenholz zu vergessen. Sorcor war überall und nirgends und marschierte energisch auf dem Schiff herum, während er alles überwachte. Seine Stimme war gut zu hören, und die Männer beeilten sich, seine Befehle auszuführen. Weniger gebieterisch, aber genauso effektiv ging Etta zu Werke. Sie verkündete ihre Anwesenheit nicht mit einem gebellten Befehl, aber ihre ruhigen Bemerkungen taten genauso gut ihre Wirkung. Matrosen strahlten, wenn sie sie lobte. Wintrow hatte sie verstohlen beobachtet. Eigentlich hatte er erwartet, dass sie sich scharf und sarkastisch geben würde. Er hatte ihre messerscharfe Zunge so häufig zu spüren bekommen, dass er es für ihr übliches Verhalten hielt. Stattdessen hatte er festgestellt, dass sie auch äußerst charmant sein konnte. Und er bemerkte die sorgfältige Linie, die sie niemals überschritt. Auch wenn sie die Arbeiten nach ihren Wünschen ausführen ließ, achtete sie strengstens darauf, Sorcors Autorität niemals zu untergraben. Wenn der Maat und die Frau des Kapitäns beide in der Nähe waren, zeigten sie stets sowohl Kameraderie als auch Rivalität. Es faszinierte und verwirrte Wintrow. Der Kern von beidem, ihrer Verbindung und ihrem Konflikt, war Kennit. Wie konnte ein Mann eine solche Loyalität in derart verschiedenen Menschen wecken? Im Kloster gab es den oft angewandten Spruch: »Sas Hand kann jedes Werkzeug formen.« Er wurde normalerweise benutzt, wenn ein Novize, von dem man es überhaupt nicht erwartete, plötzlich ein Talent entwickelte. Schließlich hatte Sa für jedes Ding seinen Zweck. Es waren die Grenzen des Menschlichen, die verhinderten, dass solche Gründe immer wahrgenommen wurden. Vielleicht war Kennit wahrlich ein Werkzeug von Sa, und vielleicht war er sich seiner Bestimmung sogar bewusst. Wintrow vermutete, dass
schon merkwürdigere Dinge geschehen waren. Er konnte sich nur einfach an keines erinnern. Er klopfte an eine frisch gestrichene Tür, schob den Riegel zurück und trat ein. Trotz des hellen Sonnenlichts, das durch das Bullauge in den Raum fiel, wirkte die Kammer dunkel und eng. »Ihr solltet das Fenster öffnen und frische Luft hereinlassen«, bemerkte er laut und stellte das Tablett ab, das er in der Hand hielt. »Schließ die Tür!«, erwiderte sein Vater mürrisch und stand auf. Das zerwühlte Bett zeigte noch den Abdruck seines Körpers. »Was bringst du mir diesmal? Sägemehlkuchen voller Holzwürmer?« Er starrte wütend auf die Tür, die immer noch offen stand, durchquerte den kleinen Raum mit einem Schritt und warf sie zu. »Rüben- und Zwiebelsuppe und Weizenbrot«, erwiderte Wintrow gelassen. »Es ist dasselbe Essen, das auch alle anderen heute bekommen haben.« Kyle Haven knurrte. Er hob die Schüssel mit Suppe hoch und steckte den Finger hinein. »Sie ist kalt«, beschwerte er sich und trank sie auf der Stelle aus. Seine behaarte Kehle zuckte, als er schluckte. Wintrow fragte sich, wann er sich das letzte Mal rasiert hatte. Als er die Schüssel senkte, wischte er sich den Mund mit dem Handrücken ab. Er bemerkte, dass sein Sohn ihn beobachtete, und erwiderte den Blick finster. »Was? Welche Manieren erwartest du von einem Mann, der wie ein Hund im Zwinger gehalten wird?« »Es stehen keine Wachen mehr vor Eurer Tür. Ich habe vor einigen Tagen erbeten, dass Ihr an Deck kommen könnt. Kennit hat es Euch erlaubt, solange ich bei Euch bleiben und Verantwortung für Euch übernehmen würde. Es ist Eure Entscheidung, in diesem Raum zu bleiben, als wäre es eine Zelle.« »Ich wünschte, es wäre ein Spiegel hier, damit ich sehen könnte, ob ich wirklich so dumm aussehe, wie du mich offenbar findest«, erwiderte sein Vater. Er nahm ein Stück Brot und
wischte die Schüssel damit aus, bevor er hineinbiss. »Das würde dir gefallen, was?«, murmelte er undeutlich mit vollem Mund. »Du könntest neben mir an Deck entlangschlendern und dann überrascht und entsetzt tun, wenn mir irgend so ein Mistkerl ein Messer in die Rippen rammt. Dann wärst du mich endlich für immer los. Glaub nicht, ich wüsste nicht, dass du genau das willst. Darum geht es doch die ganze Zeit. Nicht, dass du den Mut hättest, es selbst zu erledigen. O nein, nicht der berockte Jüngling. Er betet zu Sa und überlässt es anderen, die schmutzige Arbeit für ihn zu erledigen. Was ist das denn?« »Erlentee. Und wenn ich Euch so sehr loswerden wollte, hätte ich ihn vergiftet.« Wintrow erschrak, als er seinen herzlosen Sarkasmus bemerkte. Sein Vater hielt auf halbem Weg zu seinem Mund inne und lachte heiser auf. »Nein, das würdest du nicht tun. Du nicht. Du würdest jemand anderen dazu bringen, ihn zu vergiften, und dann würdest du ihn mir geben, damit du so tun könntest, als wärst du es gar nicht gewesen. Es war nicht meine Schuld, würdest du jammern. Und wenn du dann zu deiner Mutter zurückkriechst, dann würde sie dir glauben und dich wieder in dein Kloster zurücklassen.« Wintrow presste die Lippen zusammen. Ich bin mit einem Verrückten zusammen, ermahnte er sich. Wenn ich mit ihm rede, bringt ihn das auch nicht zur Vernunft. Sein Verstand hat sich verzerrt. Nur der allmächtige Sa kann ihn heilen, und das nur in seinem Tempo. Er fand einen Hauch von Geduld in sich selbst. Und er versuchte zu glauben, dass es keine Zurschaustellung von Schwäche war, als er durch den Raum ging und das Fenster öffnete. »Mach es wieder zu«, knurrte sein Vater. »Glaubst du, ich will diese dreckige Stadt da draußen riechen?« »Es riecht nicht schlimmer als der Gestank Eures eigenen Körpers hier im Raum«, konterte Wintrow. Er trat zwei Schritte von dem offenen Fenster weg. Zu seinen Füßen lagen sein
eigener Strohsack, auf dem er selten geschlafen hatte, und das kleine Bündel mit seinen eigenen Kleidern. Offiziell teilte er den winzigen Raum mit seinem Vater. Aber in Wirklichkeit schlief er meistens auf dem Vordeck bei Viviace. Diese Nähe machte ihm ihre Gedanken unangenehm bewusst und durch sie auch Kennits Träume. Trotzdem war das immer noch besser als die Gegenwart seines gereizten und kranken Vaters. »Wird er uns gegen Lösegeld freigeben?«, wollte Kyle Haven plötzlich wissen. »Er könnte einen guten Preis für uns erzielen. Deine Mutter könnte einiges zusammenkratzen, und die Bingtown-Händler würden sicher noch mehr aufbringen, um ein Lebensschiff zurückzubekommen. Weiß er das? Dass er einen guten Preis für uns bekommen würde? Das solltest du ihm sagen. Hat er schon eine Lösegeldforderung gestellt?« Wintrow seufzte. Nicht schon wieder dieses Thema. »Er will das Schiff nicht freikaufen lassen, Vater. Er hat vor, es zu behalten. Das bedeutet, dass ich ebenfalls hier bleiben muss. Ich habe keine Ahnung, was er mit dir vorhat. Ich habe ihn gefragt, aber er antwortet mir nicht darauf. Und ich will ihn nicht wütend machen.« »Warum nicht? Du hast keine Angst davor, mich wütend zu machen!« Wintrow seufzte erneut. »Weil er ein unberechenbarer Mann ist. Wenn ich ihn dränge, könnte er… spontan handeln. Um seine Macht zu demonstrieren. Ich halte es für klüger abzuwarten, bis er einsieht, dass er nichts gewinnt, wenn er Euch behält. Und je gesünder er wird, desto einsichtiger scheint er zu werden. Inzwischen…« »Inzwischen werde ich kaum noch mehr als eine lebende Leiche sein, die hier festgehalten wird, verspottet und verhöhnt und von allen auf dem Schiff verachtet. Er scheint mich mit Dunkelheit und schlechter Nahrung brechen zu wollen, und als einzige Gesellschaft gewährt er mir meinen schwachsinnigen Sohn!«
Sein Vater war mit dem Essen fertig. Ohne ein weiteres Wort nahm Wintrow das Tablett und drehte sich um. »Ganz recht, lauf nur weg! Versteck dich vor der Wahrheit!« Als Wintrow nicht antwortete, sondern die Tür öffnete, brüllte sein Vater ihm hinterher: »Nimm den Nachttopf mit, und mach ihn leer! Er stinkt.« »Macht es selbst.« Wintrows Stimme klang tonlos und hässlich. »Niemand wird Euch aufhalten.« Er schloss die Tür hinter sich und umklammerte das Tablett so fest, dass seine Knöchel weiß wurden. Seine Backenzähne schmerzten, so fest biss er die Kiefer zusammen. »Warum?«, fragte er. Und fuhr leiser fort: »Wie kann dieser Mann mein Vater sein? Ich fühle mich überhaupt nicht mit ihm verbunden.« Er spürte ein zartes, mitfühlendes Zittern des Schiffes. Kurz bevor er die Kombüse erreichte, holte Sa'Adar ihn ein. Wintrow hatte bemerkt, dass der Mann ihm gefolgt war, seit er die Kajüte seines Vaters verlassen hatte, aber er hatte gehofft, dass er ihm entkommen könnte. Der Priester wurde mit jedem Tag furchteinflößender. Er war eine Weile vollkommen verschwunden, nachdem Etta ihn mit ihrem Messer gezeichnet hatte. Wie ein Parasit hatte er sich tief in den Lagerräumen des Schiffes vergraben, um sein Gift lautlos den befreiten Frauen und Männern einzuträufeln. Es gab weniger Unzufriedene, während die Zeit verstrich. Kennit und seine Mannschaft behandelten sie gleichberechtigt. Sie bekamen dasselbe zu essen wie die Mannschaft, und man erwartete dieselbe Anstrengung von ihnen, was das Schiff anging. Als sie Divvytown erreichten, wurde den ehemaligen Sklaven verkündet, dass jeder, der von Bord gehen wollte, das jetzt tun konnte. Kapitän Kennit wünschte ihnen allen Glück und äußerte die Hoffnung, dass sie ihr neues Leben genießen würden. Diejenigen, die es wollten, durften als Mannschaftsmitglieder an Bord des Schiffes bleiben. Allerdings mussten sie sich be-
währen und sich vor Kennit als ordentliche und loyale Seeleute zeigen. Wintrow begriff, wie klug das war. Kennit hatte Sa'Adar sehr wirkungsvoll alle Zähne gezogen. Jeder Sklave, der sich wirklich nach einem Leben als Pirat sehnte und die entsprechenden Fähigkeiten besaß, konnte einer werden. Die anderen hatten ihre Freiheit gewonnen. Es hatten sich nicht viele für die Piraterie entschieden. Der größere, ältere Mann trat plötzlich um Wintrow herum. Sa'Adar stand vor ihm und versperrte ihm den Weg. Wintrow sah an ihm vorbei. Der Priester war allein. Ob die Kartenvisagen ihn verlassen hatten, um ihr eigenes Leben zu leben? Wintrow hob den Blick und sah Sa'Adar an. Das Gesicht des Mannes war verzerrt von Unzufriedenheit und Fanatismus. Sein Haar hing in seine Stirn, und seine Kleidung war schon seit Tagen nicht gewaschen worden. Seine Augen glühten. »Ich habe gesehen, wie du die Kajüte deines Vaters verlassen hast«, meinte er anklagend. Wintrow ignorierte den versteckten Vorwurf. »Es wundert mich, dass Ihr immer noch an Bord seid«, sagte er höflich. »Ich bin sicher, dass es an einem Ort wie Divvytown viel Arbeit für einen Priester von Sa gibt. Die freigelassenen Sklaven würden sicher Eure Hilfe zu schätzen wissen, wenn sie dort ein neues Leben beginnen.« Sa'Adar funkelte Wintrow mit seinen dunklen Augen an. »Du verhöhnst mich. Du verspottest meine Priesterschaft, und dadurch verspottest du dich selbst und Sa.« Seine Hand schoss schlangengleich vor und packte Wintrows Schulter. Der Junge hielt immer noch das Essenstablett seines Vaters fest. Er umklammerte es, damit das Geschirr nicht auf das Deck fiel, aber er wich nicht zurück. »Du gibst deine Priesterschaft und Sa auf, wenn du das tust. Dies hier ist ein Todesschiff, und es spricht auch mit der Zunge des Todes. Ein Anhänger des Lebenden Gottes sollte ihm nicht dienen. Aber es ist noch nicht zu spät für dich. Ruf dir ins Gedächtnis, wer du bist. Schließe dich
wieder dem Leben und dem Recht an. Du weißt, dass dieses Schiff gerechterweise denen gehört, die es sich erkämpft haben. Dieses Schiff der Grausamkeit und der Gefangenschaft könnte ein Schiff der Freiheit und Gerechtigkeit werden.« »Lasst mich los«, erwiderte Wintrow ruhig. Er versuchte, sich aus dem Griff des Wahnsinnigen zu befreien. »Das ist meine letzte Warnung an dich!« Sa'Adar rückte noch näher heran. Sein stinkender Atem schlug heiß in Wintrows Gesicht. »Es ist deine letzte Chance, dich von den Verfehlungen der Vergangenheit loszusagen und den wahren Pfad des Ruhms zu betreten. Dein Vater muss der Gerechtigkeit überantwortet werden. Wenn du dabei ein Instrument sein willst, kann dir deine eigene Rolle bei den Ausschreitungen vergeben werden. Ich werde es selbst so entscheiden. Dann muss das Schiff denen übergeben werden, die es rechtmäßig für sich beanspruchen. Bring Kennit dazu, das einzusehen. Er ist ein kranker Mann. Er kann uns nicht widerstehen. Wir haben uns erhoben und einen Despoten entthront. Glaubt er, dass wir das nicht noch einmal könnten?« »Ich glaube, dass es Euren Tod bedeuten würde, wenn ich ihm das sage. Und auch meinen Tod. Sa'Adar, seid mit dem zufrieden, was Euch geschenkt wurde: eine Chance auf ein neues Leben. Ergreift sie und lebt.« Wintrow versuchte sich zu befreien, aber der Mann verstärkte den Griff noch. Er fletschte knurrend die Zähne. Wintrow spürte, wie er die Beherrschung verlor. »Nehmt Eure Hände weg, und lasst mich gehen.« Plötzlich erinnerte er sich wieder an diesen Mann, als er noch im Frachtraum der Viviace gelegen hatte. Kaum war er seiner Ketten ledig, hatte er als Erstes Gantry umgebracht. Gantry war auf seine Weise ein guter Mann gewesen. Und auf jeden Fall besser als alles, was Sa'Adar Wintrow bisher von sich gezeigt hatte. »Ich warne dich…«, knurrte der ehemalige Priester, aber Wintrows lange unterdrückter Kummer und Ärger brachen
plötzlich hervor und überwältigten ihn. Er rammte dem Mann das hölzerne Tablett in den Unterleib. Überrascht schnappte Sa'Adar nach Luft und stolperte zurück. Wintrow wusste, dass er es damit hätte bewenden lassen sollen. Er hätte einfach weggehen können. Er war erschrocken über sich selbst, als er das Tablett fallen ließ und dem Mann zwei heftige Schläge auf die Brust versetzte. Beinahe unbeteiligt sah er, wie erst seine rechte und dann seine linke Faust traf. Die Schläge wurden von sehr befriedigenden Geräuschen begleitet. Trotzdem war Wintrow verblüfft, als der größere Mann gegen eine Wand prallte und halb an ihr herunterrutschte. Die Entdeckung seiner eigenen Körperkraft war ein Schock für Wintrow. Schlimmer noch war, dass es sich gut anfühlte, den Mann niederzuschlagen. Wintrow presste die Zähne zusammen, damit er dem Drang widerstehen konnte, ihn auch noch zu treten. »Lasst mich in Ruhe«, knurrte er Sa'Adar warnend an. »Sprecht mich nie wieder an, oder ich töte Euch.« Der erschütterte Priester hustete, während er sich langsam aufrappelte. Keuchend deutete er mit dem Finger auf Wintrow. »Sieh nur, was aus dir geworden ist! Es ist die Stimme dieses unnatürlichen Schiffes, das dich als sein Sprachrohr benutzt! Befreie dich, Junge, bevor du für immer verdammt bist!« Wintrow drehte sich auf dem Absatz um und ging davon. Er ließ das Tablett da liegen, wo es hingefallen war. Zum ersten Mal in seinem Leben war er vor der Wahrheit weggelaufen. Kennit wälzte sich auf seinem Bett herum. Er hatte es satt, an seine Koje gefesselt zu sein, aber sowohl Etta als auch Wintrow hatten ihn davon überzeugt, dass er es noch eine Zeit lang würde ertragen müssen. Er betrachtete sich stirnrunzelnd im Spiegel neben dem Bett und legte dann die Rasierklinge beiseite. Sein frisch getrimmter Vollbart verbesserte zwar sein Erscheinungsbild, aber seine braune Haut war gelblich geworden, und seine Wangen waren eingefallen. Er übte seinen scharfen Blick im Spiegel. »Ich sehe wie ein Kadaver aus«, erklärte er
laut der leeren Kajüte. Selbst seine Stimme klang hohl. Mit einem scharfen Knall legte er den Spiegel auf den Tisch. Dadurch fiel seine Aufmerksamkeit auf seine Hände. Auf den Handrücken traten Venen und Sehnen deutlich hervor. Er drehte die Hände herum. Seine Handflächen wirkten weich wie Talg. Er ballte die Faust und schnaubte verächtlich. Sie sah aus wie mit Knoten gesäumt, die man in eine alte Schnur geknüpft hatte. Das Amulett aus Hexenholz war einmal über seinem Puls festgebunden gewesen. Jetzt baumelte es an seinem Handgelenk. Das silberfarbene Holz war grau und scheckig geworden, als leide es ebenfalls unter seinem Mangel an Vitalität. Kennit verzog die Lippen zu einem bösen Lächeln. Gut. Es hätte ihm Glück bringen sollen, und stattdessen hatte es ihm so etwas beschert. Sollte das Amulett doch sein Schicksal teilen! Er tippte mit dem Fingernagel dagegen. »Nichts zu sagen?«, verhöhnte er es. Es blieb unbewegt. Kennit schnappte sich erneut den Spiegel und betrachtete sich darin. Sein Bein heilte. Alle sagten, dass er am Leben bleiben würde. Was nutzte ihm das, wenn er seiner Mannschaft nicht länger Respekt abnötigen konnte? Er war eine Art lebende Vogelscheuche geworden. Sein sehniges Spiegelbild erinnerte ihn an einen Straßenbettler in Divvytown. Er warf den Spiegel erneut auf den Nachttisch und nahm es in Kauf, dass er zerbrechen könnte. Doch der geschmückte Rahmen und das dicke Glas hielten stand. Kennit schlug die Laken zurück und betrachtete finster seinen Stumpen. Er lag wie eine schlecht gestopfte Wurst auf dem Leinenlaken. Wütend stieß er mit einem Finger dagegen. Der Schmerz war allmählich abgeebbt. Jetzt war nur noch ein widerliches Gefühl geblieben, etwas zwischen einem Kribbeln und einem Jucken. Er hob den Stumpen an. Er sah lächerlich aus, wie die Flosse eines Seehundes, nicht wie das Bein eines Mannes. Kennit war verzweifelt. Er stellte sich vor, wie kaltes Salzwasser in seinen Mund drang und ihn mit eisigem Tod erfüllte, ohne dass er husten
oder es herausprusten konnte. Es würde schnell gehen. Die Intensität seiner Verzweiflung ließ jedoch unvermittelt nach, und er blieb hilflos zurück. Er hatte nicht einmal die Macht, seinem Leben ein Ende zu setzen. Lange bevor er sich zur Reling des Schiffes geschleppt hätte, würde sich Etta an ihn klammern, jammern und ihn anflehen und ihn zu seinem Bett zurückbringen. Vielleicht hatte sie ja schon immer vorgehabt, ihn zu verstümmeln. Ja. Sie hatte ihm sein Bein abgehackt und es an die Seeschlange verfüttert, damit sie ihn endlich beherrschen konnte. Sie hatte vor, ihn hier als ihr Schmusetier gefangen zu halten, während sie heimlich seine Befehlsgewalt unterminierte und der wahre Kapitän dieses Schiffes wurde. Kennit biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. Die Wut, die ihn durchströmte, berauschte ihn beinahe. Er versuchte, Kraft daraus zu schöpfen, stellte sich vor, wie sie es vermutlich schon monatelang geplant hatte. Ihr Ziel war natürlich, das Zauberschiff für sich selbst zu behalten. Und Sorcor steckte vermutlich mit ihr unter einer Decke. Er musste sehr aufpassen, durfte sie nicht merken lassen, dass er sie verdächtigte. Wenn sie es wussten, dann… Lächerlich. Es war lächerlich und albern, ein Produkt seiner langsamen Genesung. Solche Gedanken waren seiner unwürdig. Wenn er schon so starke Gefühle in etwas hineinsteckte, sollte er damit lieber seine Heilung beschleunigen. Etta mangelte es vielleicht an vielen Dingen, einschließlich Bildung und Manieren, aber ganz gewiss schmiedete sie keine Ränke gegen ihn. Wenn er sein Bett satt hatte, sollte er es ihnen sagen. Es war ein schöner Frühlingstag. Man könnte ihm aufs Vorschiff helfen. Sie würde sich sicher freuen, sein Gesicht zu sehen. Es war schon lange her, dass sie miteinander geredet hatten. Kennit erinnerte sich noch dunkel und schwach an die liebevollen Hände seiner Mutter, die vorsichtig versuchten, seine kleinen Fäuste von einem verbotenen Gegenstand zu lösen, den er ergattert hatte. So hatte sie auch mit ihm gesprochen, leise
und vernünftig, während sie ihm das glänzende Messer wegnahm. Und er erinnerte sich auch noch, dass er ihrer Freundlichkeit nicht nachgegeben, sondern sein Missvergnügen laut herausgeschrien hatte. Denselben Trotz fühlte er jetzt. Er wollte nicht vernünftig sein, und er wollte auch nicht mit irgendetwas anderem getröstet werden. Er wollte, dass seine Wut berechtigt war. Aber Viviace war in ihm, wob sich durch sein innerstes Wesen. Er war zu schwach, als dass er ihr hätte widerstehen können, als sie sein ärgerliches Misstrauen einfach beiseite schob. Kennit blieb ein diffuses Missvergnügen, das ihm Kopfschmerzen bereitete. Er blinzelte, um die Tränen loszuwerden, die ihm in die Augen getreten waren. Du bist weinerlich wie ein altes Waschweib, verhöhnte er sich selbst. Jemand klopfte an die Tür. Er nahm die Hände vom Gesicht und schlug rasch die Decke über sein verunstaltetes Bein. Er versuchte, sich zu sammeln. Dann räusperte er sich. »Herein.« Er hatte Etta erwartet, doch statt ihrer trat der Junge ein. Wintrow blieb unsicher in der Tür stehen. Das dämmrige Licht aus dem Flur umrahmte ihn, und vom Heckfenster fiel Licht auf sein Gesicht. Seine Tätowierung lag im Schatten. Sein Gesicht war makellos und offen. »Kapitän Kennit?«, fragte er leise. »Habe ich Euch geweckt?« »Nein, überhaupt nicht. Komm herein.« Kennit wusste nicht, warum Wintrows Anblick wie Balsam für seine Seele war. Vielleicht hatte es etwas mit den Gefühlen des Schiffes zu tun. Das Äußere des Jungen hatte sich gebessert, seit er sich in Kennits Obhut befand. Er lächelte den Jungen an, als dieser sich dem Bett näherte, und sah mit Freude, dass er das Lächeln scheu erwiderte. Sein widerspenstiges schwarzes Haar war aus dem Gesicht gekämmt und zu dem traditionellen Seemannszopf zusammengebunden. Die Kleidung, die Etta ihm genäht hatte, stand ihm gut. Das lockere weiße Hemd war ihm ein bisschen zu groß und steckte in seiner dunkelblauen Hose. Für
sein Alter war er ziemlich schmal, ein schlanker und geschmeidiger Jüngling. Der Wind und die Sonne hatten ihre Spuren auf Wintrows Gesicht hinterlassen. Der warme Farbton seiner Haut, die weißen Zähne und die dunklen Augen, die dunkle Hose verschwanden in der Dämmerung des Korridors hinter ihm. Es war eine zufällige Komposition aus einem perfekten Zusammenspiel von Licht und Schatten. Selbst der zögernde, fragende Ausdruck auf seinem Gesicht war perfekt, als er jetzt aus dieser Finsternis in das gedämpfte Licht der Kajüte trat. Mit einem weiteren Schritt befand sich Wintrow mitten in dem Zimmer. Die Tätowierung auf seinem Gesicht war plötzlich nicht nur sichtbar, sie war auch ein unerträglicher Makel, ein Fleck auf der Unschuld des Jungen. Der Pirat sah die Qualen in dem Blick des Jungen und spürte sein Elend. Unvermittelt wurde Kennit wütend. »Warum?«, wollte er wissen. »Warum hat man dich so gezeichnet? Welche Entschuldigung könnte er dafür haben?« Der Junge hob ruckartig die Hand zu seiner Wange, und eine Vielzahl von Gefühlen huschte über sein Gesicht. Scham, Ärger, Verwirrung und schließlich Ungerührtheit. Er antwortete leise und gelassen. »Vermutlich wollte er mich damit etwas lehren. Oder es war Rache, weil ich nicht der Sohn war, den er gewollt hatte. Und dies war seine Art, es mir heimzuzahlen. Er hat mich zu einem Sklaven statt zu seinem Sohn gemacht. Oder… Es könnte auch etwas anderes gewesen sein. Er war wohl eifersüchtig auf das Band zwischen mir und dem Schiff. Als er mein Gesicht mit ihrem Bildnis gezeichnet hat, war das seine Art zu sagen, dass wir beide uns nahe waren, weil wir ihn zurückgewiesen hatten. Vielleicht.« Es war sehr aufschlussreich, Wintrows Gesicht zu beobachten, während er sprach. Die sorgfältig gewählten Worte konnten den Schmerz nicht ganz verbergen. Die ungeschickten Versuche des Jungen, eine Erklärung zu finden, enthüllten nur,
dass ihn diese Frage sehr oft gequält hatte. Kennit vermutete, dass ihn keine der möglichen Antworten wirklich zufrieden stellte. Und es war offensichtlich, dass sein Vater sich niemals die Mühe gemacht hatte, ihm sein Verhalten zu erklären. Der Junge trat neben sein Bett. »Ich muss mir jetzt Euren Stumpf ansehen«, sagte er. Der Junge war wirklich geradeheraus. Er nannte es weder Bein noch Verletzung. Es war ein Stumpf, und genauso nannte er es. Er wollte sich nicht bei Kennit einschmeicheln. Diese Integrität war merkwürdig tröstlich. Der Junge würde ihn nicht anlügen. »Du sagst, dass du deinen Vater abgewiesen hast. Empfindest du immer noch so?« Kennit konnte nicht sagen, warum ihm diese Frage so wichtig war. Ein Schatten glitt über Wintrows Gesicht. Einen Augenblick dachte Kennit, dass der Junge ihn jetzt belügen würde. Aber als er antwortete, klang die Hoffnungslosigkeit der Wahrheit in seiner Stimme mit. »Er ist mein Vater.« Die Worte waren beinahe ein Schrei des Protestes. »Ich schulde ihm die Pflichten eines Sohnes. Sa befiehlt uns, unsere Eltern zu respektieren und uns über jedes Gute zu freuen, das wir in ihnen finden. Aber in Wahrheit wünschte ich…« Seine Stimme wurde rauer, als beschämte es ihn, diese Wahrheit auszusprechen. »Ich wünschte, er wäre aus meinem Leben verschwunden. Nicht tot, nein, das wünsche ich ihm nicht«, fügte er hastig hinzu, als er Kennits scharfen Blick bemerkte. »Ich wünschte nur, er wäre einfach woanders. Irgendwo in Sicherheit, aber…« Das Schuldbewusstsein ließ ihn stocken, und er fuhr flüsternd fort: »An einem Ort, wo ich nichts mehr mit ihm zu tun haben müsste. Wo ich mich nicht herabgesetzt fühlen müsste, jedes Mal, wenn er mich ansieht.« »Dafür kann ich sorgen«, antwortete Kennit beiläufig. Der entsetzte Ausdruck auf dem Gesicht des Jungen verriet, dass er sich fragte, welcher Wunsch ihm da gerade gewährt wurde. »Stört dich die Tätowierung?«, fragte Kennit, als Wintrow die
Decke zurückschlug. Der Priesterjunge beugte sich über Kennits Bein und hielt die Hände über den Stumpen. Kennit hatte das Gefühl, als werde er von einer Geisterhand berührt. »Einen Augenblick«, bat Wintrow ruhig. »Ich möchte etwas versuchen.« Kennit wartete gespannt darauf, dass er etwas tat. Doch stattdessen erstarrte Wintrow. Er hielt die Hände unmittelbar über Kennits Stumpf, und zwar so dicht, dass er die Wärme der Handflächen fühlen konnte. Wintrow hielt seinen Blick direkt auf seine Handrücken gerichtet. Seine Zungenspitze zeigte sich zwischen den Lippen, und er biss vor Konzentration darauf. Er atmete so leise, dass man fast den Eindruck gewinnen konnte, als atmete er gar nicht. Die Pupillen seiner Augen wurden immer größer, bis sie schließlich die Iris fast vollkommen verdrängten. Seine Hände zitterten, als strenge er sich ungeheuer an. Nach kurzer Zeit holte der Junge tief Luft. Er hob den Blick, sah Kennit benommen an und zuckte enttäuscht mit den Schultern. »Vermutlich habe ich es falsch gemacht«, sagte er und seufzte. »Ihr hättet etwas fühlen sollen.« Er runzelte die Stirn, und dann fiel ihm Kennits Frage nach seiner Tätowierung wieder ein. Er beantwortete sie, als hätten sie über das Wetter geredet. »Nur wenn ich daran denke. Ich wünschte, sie wäre nicht da. Aber sie ist nun mal da, und das wird sie auch für den Rest meines Lebens sein. Je eher ich das als einen Teil meines Schicksals akzeptiere, desto klüger werde ich sein.« »Wieso klüger?«, meinte Kennit forschend. Wintrow lächelte, zuerst nur schwach, doch je länger er sprach, desto stärker wurde das Lächeln. »Es wurde oft in meinem Kloster gesagt. ›Der weise Mann nimmt den kürzesten Pfad zum Frieden mit sich selbst.‹ Akzeptanz dessen, was ist, ist der kürzeste Pfad.« Nachdem er das gesagt hatte, legte er seine Hände auf Kennits Stumpen. Es war eine leichte, aber trotzdem deutliche Berührung. »Schmerzt das?«
Die Hände des Jungen strahlten Wärme aus. Und Kennit lief es heiß über den Rücken. Der Pirat war wie vor den Kopf gestoßen. Wintrows Worte schienen durch seine Knochen zu hallen. Akzeptanz dessen, was ist. Das ist der kürzeste Pfad zum Frieden mit dir selbst. Das ist Weisheit. Schmerzt das? Tut Weisheit weh? Tut Frieden weh? Bereitet Akzeptanz Schmerzen? Seine Haut kribbelte am ganzen Körper. Kennit rang nach Luft. Er konnte nicht antworten. Er war von der einfachen Wahrheit des Jungen durchdrungen. Sie durchströmte ihn warm und beruhigend. Natürlich hatte er Recht. Akzeptanz! Er konnte es weder anzweifeln noch abstreiten. Was hatte er denn gedacht? Welche Schwäche hatte ihn verzagen lassen? Seine früheren Gedanken erschienen ihm plötzlich abstoßend, das selbstmitleidige Heulen eines Schwächlings. Er sollte weitermachen, es war ihm bestimmt weiterzumachen. Sein Glück hatte ihn nicht verlassen, als die Seeschlange sein Bein abgebissen hatte. Im Gegenteil, sein Glück hatte ihn am Leben erhalten; das Biest hatte nur sein Bein genommen. Wintrow nahm die Hände weg. »Geht es Euch gut?«, fragte er besorgt. Die Worte drangen unnatürlich laut an Kennits geschärfte Sinne. »Du hast mich geheilt«, flüsterte er heiser. »Ich bin geheilt.« Er setzte sich mühsam auf und betrachtete sein Bein. Fast erwartete er, dass es wieder nachgewachsen wäre. Doch das war es nicht. Es war ein Stumpf, und als er es ansah, durchzuckte ihn ein Gefühl von Verlust. Aber das war alles. Sein Körperumriss hatte sich verändert. Früher einmal war er jung und bartlos gewesen, und jetzt war das nicht mehr so. Früher einmal war er auf zwei Beinen gegangen, und jetzt tat er das nicht mehr. Er würde lernen, auf einem zu gehen. Das war alles. Eine Veränderung. Die akzeptiert werden musste. Blitzschnell packte er den Jungen an den Schultern und riss ihn zu sich. Wintrow schrie auf und stützte sich an der Koje ab,
damit er nicht fiel. Kennit nahm die Hände des Jungen zwischen die seinen. Einen Moment wehrte Wintrow sich. Dann hob er den Blick. Er starrte Kennit mit wachsendem Erstaunen an. Der Pirat lächelte ihn an und strich sanft mit dem Daumen über die Tätowierung. »Wisch sie weg«, befahl er ihm. »Sie verletzt auf deinem Gesicht nur deine Haut. Du musst sie nicht auch auf deiner Seele tragen.« Kennit hielt ihn noch einen Moment länger fest, bis er sah, wie sich Verblüffung auf der Miene des Jungen abzeichnete. Kennit küsste ihn auf die Stirn und ließ ihn los. Als Wintrow zurückwich, setzte sich Kennit ganz auf und schwang sein Bein vom Bett. »Ich habe es satt, hier zu liegen. Ich will aufstehen und herumgehen. Sieh mich an. Ich bin nur noch ein Schatten meiner selbst. Ich brauche den Wind in meinem Gesicht und genug Essen und Trinken. Ich will wieder das Kommando auf meinem Deck übernehmen. Und vor allem muss ich herausfinden, was ich tun kann und was nicht. Sorcor hat mir eine Krücke gemacht. Ist sie noch da?« Wintrow stolperte zurück. Die Veränderung in dem Mann schien ihn vollkommen zu überraschen. »Ich… ich glaube schon«, erwiderte er. »Gut. Such mir Kleidung heraus und hilf mir, mich anzuziehen. Nein. Leg mir nur die Kleidung heraus. Ich ziehe mich allein an, während du zur Kombüse gehst und mir eine ordentliche Mahlzeit besorgst. Falls Etta in der Nähe ist, schick sie zu mir. Sie kann mir Waschwasser bringen. Und beeil dich. Der Tag ist schon beinahe halb vorüber.« Mit großer Genugtuung bemerkte er, dass Wintrow eiligst seinen Befehlen gehorchte. Der Junge wusste, wie er einen Befehl ausführen musste. Das war sehr nützlich bei einem hübschen Kerl wie ihm und konnte auf keinen Fall schaden. Er kannte sich allerdings bei Kennits Dingen nicht gut aus. Etta konnte seine Kleidung besser zusammenstellen, aber was Wintrow herausgeholt hatte, genügte. Sie hatten noch genug Zeit, um
sein Auge für passende Kleidung zu schulen. Nachdem Wintrow mit einer tiefen Verbeugung den Raum verlassen hatte, widmete sich Kennit seiner Toilette. Das Hemd anzulegen war kein Problem, wenn es ihm auch missfiel, sehen zu müssen, wie dünn seine Arme und Brust geworden waren. Er weigerte sich jedoch, lange darüber nachzudenken. Die Hose war eine weit größere Herausforderung. Selbst wenn er auf seinem Bein stand und sich ans Bett lehnte, war es eine schwierige Angelegenheit. Der Stoff blieb an seinem Stumpf hängen und scheuerte unangenehm an der neuen Haut. Aber sicher bildete sich schon bald eine Hornhaut. Das leere Hosenbein flatterte unheimlich herum. Etta musste es anheften. Noch besser wäre es, wenn sie es einfach abschnitt. Das Bein war weg. Es war sinnlos, das zu ignorieren. Er grinste, während er sich mit einem einzelnen Socken und einem Schuh abmühte. Warum sollte eine halbe Arbeit doppelt so lange dauern? Er rang ständig mit dem Gleichgewicht und schwankte am Kojenrand. Gerade als er fertig war, trat Etta ein. Sie erschrak, als sie ihn auf seinem Bett sitzen sah, und warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Ich hätte Euch dabei helfen können.« Sie stellte ein Becken und einen Krug mit heißem Wasser auf den Ständer neben seinem Bett. Sie trug eine Bluse in demselben Rot wie ihre Lippen. Ihr Rock bestand aus schwarzer Seide, schwang um ihre Hüften und raschelte einladend, wenn sie ging. »Ich habe keine Hilfe benötigt«, erwiderte er. »Außer bei dem Hosenbein. Du hättest sie für mich umnähen können. Ich will aufstehen. Wo ist meine Rasierklinge? Weißt du, wo meine Krücke ist?« »Ich glaube, Ihr handelt überstürzt!«, beschwerte sie sich und sah ihn stirnrunzelnd an. »Noch vorgestern Nacht hattet Ihr leichtes Fieber. Ihr fühlt Euch jetzt wahrscheinlich besser, Kennit, aber Ihr seid noch lange nicht gesund. Ihr gehört ins Bett, jedenfalls noch eine Weile.« Sie trat an sein Bett und fing
an, die Kissen aufzuschütteln, als wollte sie, dass er sich wieder hinlegte. Wie konnte sie es wagen? Hatte sie vollkommen vergessen, wer er war und wer sie war? »Ich gehöre ins Bett?« Er packte sie am Handgelenk. Noch bevor sie reagieren konnte, riss er sie zu sich und umfasste ihr Kinn. Dann drehte er ihr Gesicht herum, damit sie ihn ansah. »Erzähl mir nie wieder, wofür ich gesund genug bin!«, ermahnte er sie streng. Ihre Nähe, ihr schneller Atem, der ihm ins Gesicht schlug, und ihre geweiteten Augen erregten ihn plötzlich. Sie schnappte nach Luft, hastig und verängstigt, und Triumph durchfuhr ihn. So war es richtig. Bevor er wieder das Kommando über sein Schiff antreten konnte, musste er erst einmal das Kommando in seiner eigenen Kajüte wiedererlangen. Diese Frau durfte nicht denken, dass sie hier den Befehl hatte. Er schlang einen Arm um ihre Taille und zog sie zu sich heran. Mit seiner freien Hand packte er ihren Rock am Bund und öffnete ihn. Sie stöhnte kurz auf, als er sie an sich zog. »Du gehörst in mein Bett, Dirne!« Seine Stimme war plötzlich heiser. »Wenn Ihr es sagt«, murmelte sie unterwürfig. Ihre Augen waren schwarz und weit geöffnet, und sie atmete sehr schnell. Er konnte ihren Herzschlag fühlen. Als er sie zum Bett führte und sie herunterdrückte, leistete sie nicht den geringsten Widerstand. Die Sonne versank gerade hinter dem Horizont, als die Springeve im Hafen von Divvytown ankam. Brashen betrachtete erstaunt die riesige Siedlung. Als er vor einigen Jahren zuletzt hier gewesen war, hatte Divvytown noch aus einigen Hütten, einer Kaianlage und ein paar Baracken, die als Tavernen dienten, bestanden. Jetzt leuchteten Kerzen hinter vielen Fenstern, und in dem brackigen Hafen bewegte sich sanft ein ganzer Wald aus Masten. Selbst der Gestank von Elend hatte sich verstärkt. Wenn all diese verstreuten Piratensiedlungen, die er gesehen hatte, an
einem Ort versammelt würden, würden sie genauso groß sein wie Bingtown, möglicherweise sogar größer. Und sie wuchsen. Wenn sie unter einem Anführer zusammenkommen würden, wären sie eine Kraft, mit der zu rechnen war. Brashen überlegte, ob genau dieses Potential von diesem Kennit, dem Möchtegern-König der Piraten-Inseln, ebenfalls erkannt worden war. Wenn er solche Macht erlangte, was würde er damit tun? Kapitän Finney hielt ihn offenbar nur für einen Aufschneider, und Brashen hoffte sehr, dass dem wirklich so war. Als sie langsam an der Reihe der vertäuten Schiffe entlangsegelten, erkannte Brashen plötzlich die Umrisse eines vertrauten Profils. Ihm blieb fast das Herz stehen. Die Viviace dümpelte sanft in der Dünung vor Anker. An ihrer Mastspitze flatterte die Rabenflagge im Wind. Brashen redete sich ein, dass es nur ein Schiff wäre, das eine ähnliche Galionsfigur hatte. Doch unvermittelt schüttelte Viviace ihren Kopf und glättete dann mit den Händen ihr Haar. Es war also ein Zauberschiff, und es war eindeutig die Viviace. Dieser Kennit hatte sie tatsächlich gekapert. Wenn die Gerüchte stimmten, bedeutete das, dass die gesamte Mannschaft abgeschlachtet worden war. Brashen betrachtete die Silhouette des Schiffs und versuchte, mehr Einzelheiten zu erkennen. Eine Rumpfmannschaft bewegte sich gelassen an Bord. Er erkannte niemanden von ihnen, aber wie hätte er das bei dieser Entfernung und diesem Licht auch tun können? Dann erblickte er eine kleine schlanke Gestalt, die auf das Vordeck trat. Die Galionsfigur drehte sich um und begrüßte sie. Brashen runzelte die Stirn. Die Art, wie der Seemann sich bewegte, kam ihm bekannt vor. Althea! Nein, sagte er sich, das konnte nicht sein. Er hatte Althea zuletzt in Candletown gesehen, und sie hatte erklärt, dass sie auf einem Schiff anheuern wollte, das nach Bingtown auslief. Die Viviace war nicht in diesem Hafen gewesen. Sie konnte nicht auf dem Schiff sein. Es war einfach unmöglich. Nur kannte er die merkwürdigen Wege der Winde, Strömungen, Gezeiten und Schiffe und wuss-
te, wie oft es geschah, dass sich unwahrscheinliche Wege auf die seltsamste Art kreuzten. Er sah zu, wie die schlanke Gestalt an die Bugreling trat und sich dagegen lehnte. Brashen wartete auf eine Geste, auf irgendein Zeichen, das ihm sagte, ob es Althea war oder nicht. Er bekam jedoch keins. Doch je länger er hinsah, desto überzeugter war er, dass es sich um Althea handelte. Genauso neigte Althea den Kopf, wenn sie dem Schiff zuhörte. So hob sie ihr Gesicht in den Wind. Wer sonst konnte so vertraut mit der Galionsfigur plaudern? Wie das möglich sein konnte, war ihm nicht klar, aber die Gestalt auf dem Vordeck war Althea. Brashens Emotionen kochten über. Was konnte er tun? Er war nur ein einzelner Mann. Seine Anwesenheit konnte er weder ihr noch dem Schiff verraten. Alles, was er versuchte, würde ihn vermutlich das Leben kosten, und dann wusste niemand in Bingtown, was aus ihnen geworden war. Seine Fingernägel gruben sich tief in seine schwieligen Hände. Er schloss die Augen und versuchte sich etwas auszudenken, was er unternehmen könnte. Kapitän Finney sprach ihn leise von hinten an. »Bist du sicher, dass du sie nicht kennst?« Brashen zuckte bemüht gleichgültig mit den Schultern. Seine Stimme klang viel zu gepresst. »Ich habe sie vielleicht schon mal gesehen… Ich weiß nicht. Ich habe gerade nachgedacht. Ein Zauberschiff, das von einem Piraten gekapert wurde. Es ist das erste Mal.« »Nein, ist es nicht.« Finney spuckte über die Reling. »Den Legenden zufolge hat Igrot der Schreckliche ein Lebensschiff gekapert und es jahrelang eingesetzt. Deshalb ist es ihm auch gelungen, das Schatzschiff des Satrapen zu kapern. So schnell es auch war, es konnte einem Zauberschiff nicht entkommen. Danach hat Igrot wie ein Gentleman gelebt. Alles nur vom Feinsten: Frauen, Weine, Diener, Kleidung. Er hatte einen Be-
sitz in Chalced und einen Palast auf den Jade-Inseln. Als Igrot sterben musste, hat er angeblich seinen Schatz versteckt und das Lebensschiff versenkt. Wenn er das verdammte Ding schon nicht mit ins Grab nehmen konnte, dann wollte er wenigstens sichergehen, dass kein anderer es in die Finger bekam.« »Davon habe ich noch nie gehört.« »Kann ich mir denken. Diese Geschichte wird nicht viel herumerzählt. Man munkelt, er hätte es übermalt und zum Schweigen gebracht, sodass niemand wusste, was er da hatte.« Brashen zuckte mit den Schultern. »Für mich klingt das so, als hätte er ein normales Schiff gehabt und einfach nur gelogen, damit die Leute glaubten, es wäre ein Zauberschiff. Möglicherweise jedenfalls«, fügte er etwas versöhnlicher hinzu und sah sich auf dem Deck um. Sie waren allein, und er wechselte abrupt das Thema. »Käpt'n. Erinnert Ihr Euch noch, worüber wir geredet haben, vor einigen Monaten? Dass Ihr vielleicht einen kleinen Abstecher nach Bingtown machen wolltet, wenn ich jemanden wüsste, der Euch einen guten Preis für einige auserlesene Stücke machen würde?« Finney nickte vorsichtig. »Nun, ich habe nachgedacht. Wenn Ihr das Gemälde von Faldin verkaufen wollt, ist Bingtown sicher der beste Platz. Dort wissen die Leute, worum es sich handelt und was es wert ist.« Er verschränkte die Arme, lehnte sich wieder an die Reling und versuchte, wie ein Mann auszusehen, der mit sich zufrieden ist. »Und dort könnte ein Mann auch in Teufels Küche geraten, wenn er versucht, so ein Bild zu verkaufen«, erwiderte Finney misstrauisch. Brashen täuschte eine Lässigkeit vor, die er nicht empfand. »Nicht, wenn man die richtigen Leute kennt und sie auf die richtige Art und Weise anspricht. Nun, wenn wir in diese Stadt kommen und ich Euch mit den richtigen Zwischenhändlern zusammenbringe, könntet Ihr es ja sogar so aussehen lassen, als würdet ihr eine gute Tat tun. Bringt das Porträt einfach nach
Hause, und erzählt ihnen eine traurige Geschichte dazu. Und überlasst es dem Zwischenhändler, darauf hinzuweisen, dass ein solcher wohlmeinender Händlerkapitän eine deftige Belohnung für solch einen Abstecher verdient hat.« Finney verschob das Cindin hinter seiner Lippe. »Vielleicht. Aber der Abstecher wäre es nicht wert, wenn wir nur ein Stück von der Ladung losschlagen könnten.« »Natürlich nicht! Ich wette, das Gemälde wäre nur das Sahnestück des Geschäfts. Es könnte Euch mehr einbringen, als Ihr Euch vorstellen könnt.« »Und vielleicht auch mehr Ärger, als ich mir vorstellen möchte.« Finney sah finster in den Sonnenuntergang. Nach einer Weile fragte er: »Und was könnte dort von uns noch alles gut verkauft werden?« Brashen zuckte mit den Schultern. »Alles, was Bingtown nicht selber herstellen oder sich aus dem Norden besorgen kann. Gewürze, Tees… jamaillianische Schnäpse und Weine. Exotische Stoffe aus den Südländern und gute jamaillianische Antiquitäten. Solche Sachen.« »Kennst du denn jemanden, der als Zwischenhändler fungieren könnte?« Brashen neigte den Kopf. »Ich habe an einen sehr geeigneten Kandidaten gedacht.« Er lachte kurz. »Und wenn alles andere scheitert, könnte ich es wohl selbst erledigen.« Finney streckte wortlos die Hand aus. Brashen ergriff sie, und damit war das Geschäft besiegelt. Er war erleichtert. So konnte er die Nachricht nach Bingtown bringen. Sicher wusste Ronica Vestrit Mittel und Wege, wie sie ihre Tochter und ihr Schiff aus der Hand dieses Piraten befreien konnte. Er sah beinahe entschuldigend zur Viviace und zu Althea zurück. Dieser fadenscheinige Plan war das Beste, was er zu ihrer Rettung beitragen konnte. Er hoffte nur, dass Althea und das Schiff bis dahin einigermaßen zurechtkamen. Plötzlich fluchte er wütend und ausgiebig.
»Was ist los?«, wollte Finney wissen. »Nichts. Gar nichts. Hab mir nur einen Splitter unter den Nagel gerammt. Ich lasse den Schiffsjungen morgen die Reling abschleifen.« Er drehte sich von dem Kapitän weg und tat, als untersuche er seine Hand. Weiter entfernt, an Bord der Viviace, pinkelte die schlanke Gestalt in aller Ruhe in einem Bogen über die Seite des Schiffes ins Wasser.
Sommer
13
Zwischenspiel Wir sind kein richtiges Knäuel, dachte Shreeva. Ein richtiges Knäuel sammelt sich um einen Führer, dem es folgt und den es respektiert. Dies hier waren nur streunende Seeschlangen, die sie vereinzelt oder zu zweit aufgelesen hatten, während der Versorger nach Norden gezogen war und das Knäuel ihm folgte. Die Schlangen, die jetzt mit ihnen schwammen, waren nicht kameradschaftlich mit Maulkins Knäuel verbunden. Sie folgten einfach nur zufällig derselben Nahrungsquelle. Trotzdem hatte die Anwesenheit von anderen Seeschlangen etwas Tröstliches. Einige von ihnen schienen sogar manchmal lichte Momente zu haben. Andere wirkten mit ihrem Schweigen und ihren leeren Blicken beinahe gespenstisch. Die Schlimmsten benahmen sich kaum besser als Tiere und waren bereit, ihr Gift auf alles zu verspritzen, was sich ihrer Beute näherte. Shreeva, Sessurea und Maulkin hatten gelernt, diejenigen zu ignorieren, die auf ein derartig viehisches Stadium herabgesunken waren. Und eigentlich waren sie auch nicht am schwersten zu ertragen. Die Schlangen, die ganz dicht davor waren zu erkennen, wer sie waren und was sie gewesen waren, gingen ihnen am nächsten. Die drei Schlangen aus Maulkins Knäuel waren beinahe so schweigsam geworden wie die Neuankömmlinge. Es war schwierig, Themen zu finden, die sie nicht alle in noch größere Verzweiflung stürzten. Shreeva konnte sich schwach an frühere Zeiten erinnern, in denen sie unter körperlichen Entbehrungen gelitten hatten. Zu langes Fasten konnte bei jedem dazu führen, dass die Gedanken sich verwirrten und unzusammenhängend wurden. Sie hatte ihre eigenen kleinen Rituale, um bei Verstand zu bleiben. Täglich erinnerte sie sich an ihren Zweck. Sie waren nach Norden gegangen, als Maulkin wusste, dass die
Zeit gekommen war. Die, die sich erinnert, hätte sie begrüßen müssen. Sie hätte bei ihnen allen die Erinnerung neu erwecken und sie durch die nächste Stufe führen sollen. »Aber was könnte das sein?«, sagte sie zu sich selbst. »Was?«, murmelte Sessurea schläfrig. Die drei schwebten miteinander verschlungen mitten in einem Hain aus schlummernden Seeschlangen. Es waren ungefähr noch ein Dutzend andere Schlangen. Nur in der Nacht schienen sie sich an eine Spur von zivilisiertem Verhalten zu erinnern und verbanden ihre Windungen miteinander, als wären sie ein richtiges Knäuel. Shreeva konzentrierte sich. »Nachdem wir Eine, die sich erinnert, gefunden und unsere Erinnerungen wiederhergestellt haben: Was geschieht dann?« Sessurea seufzte schläfrig. »Wenn ich die Antwort darauf wüsste, brauchte ich vielleicht keinen Hüter der Erinnerung zu suchen.« Maulkin, der zwischen ihnen schwebte, regte sich nicht einmal. Der Prophet schien jeden Tag schwächer zu werden. Sessurea und sie selbst kämpften immer aggressiver um die Nahrung, die ihnen der Versorger bot. Maulkin jedoch weigerte sich, die alten Sitten einfach aufzugeben. Selbst wenn er einen schlaffen Leichnam gepackt hatte, der durch die Fülle zu ihm schwebte, ließ er ihn sofort los, wenn einer der Seelenlosen ihn beanspruchte. Er gab lieber seinen berechtigten Anspruch auf Nahrung auf, als darum wie ein Vieh zu kämpfen. Die einstmals so strahlenden falschen Augen auf seinem Körper schienen jetzt kaum mehr als matte Flecken zu sein. Manchmal akzeptierte er, dass Shreeva ihm Nahrung brachte, aber ebenso oft wandte er sich einfach von ihr ab. Sie hatte nicht den Mut, ihn zu fragen, ob er sich auch von ihrer Suche abgewandt hatte. Plötzlich gab es Unruhe in dem Wald der schlafenden Seeschlangen. Mit nahezu traumwandlerischer Langsamkeit löste sich eine schlanke, gelbgrüne Schlange aus dem schlummernden Knäuel und stieg träge hinauf in die Leere. Shreeva und
Sessurea tauschten vielsagende Blicke. Sie waren zwar verwirrt, aber auch viel zu müde, um neugierig zu sein. Das Verhalten der Seelenlosen ergab keinen Sinn, und es hatte keinen Zweck, über ihr Verhalten zu spekulieren. Shreeva klappte wieder die Lider über die Augen. Doch dann erklangen hoch über ihnen die merkwürdig reinen Töne eines Gesanges. Eine Weile lauschte Shreeva ehrfürchtig. Jede Note stimmte, und jedes Wort war perfekt artikuliert. Es war nicht das willkürliche Pfeifen und Brüllen, dem sich eine unbeschwerte Seeschlange hingegeben hätte, sondern der glorreiche Jubel von einer, der es bestimmt war zu singen. Shreeva klappte die Lider von den Augen. »Das Lied der Einfachheit«, flüsterte Maulkin heiser. Sessurea rollte langsam zustimmend mit den Augen. Vorsichtig befreiten sich die drei, schwebten zum oberen Rand der Fülle und reckten ihre Köpfe in die Leere hinaus. Dort schwang der Grüne unter einem runden Vollmond seinen Kopf und sang. Seine schwere Mähne hing schlaff um seinen Hals. Sein Maul war weit aufgerissen, und seine Stimme war volltönend und laut. Die Worte drangen klar und süß aus dem Mund von einem, der vorher stumm gewesen war. Vers um Vers sang er die eleganten Worte des uralten Liedes des Anfangs. Früher einmal hätten die Zuhörer in den Refrain eingestimmt, um zusammen die Tage der wärmeren Fülle und der Fischschwärme zu feiern. Aber jetzt schwiegen sie und hörten diesem Glück zu, ohne einzustimmen, weil sie fürchteten, es zu unterbrechen. Der Sänger war wundervoll in seiner Intensität und Konzentration. Sein Kopf schwankte langsam, während er sang, und sein Hals pulsierte mächtig, als er die tiefen, vollen Töne ausstieß. Shreeva sah ihm nicht in die Augen. Sie waren weit geöffnet und vollkommen leer, selbst als er die heiligsten Lieder sang. Neben ihr senkte Maulkin den Kopf. Er wurde von Gefühlen durchflutet, die seine falschen Augen kurz aufglänzen
ließen. Langsam richtete sich die Mähne um seinen Hals auf. Sein Gift bedeckte kaum die Spitzen, wo es doch einmal so viel und so intensiv gewesen war. Ein einzelner Tropfen fiel herab und brannte ekstatisch auf Shreevas Haut. Einen Augenblick lang war die Nacht klar, hell und warm vor Verheißung. »Bewahr dir deine Stärke«, riet Sessurea ihm traurig. »Seine Musik ist wundervoll, aber er steht nicht mit dem Herz dahinter. Wir können ihn nicht wiederbeleben. Wenn du es versuchst, wird es dich nur schwächen!« »Ich darf meine Stärke nicht für mich behalten«, bemerkte Maulkin und fuhr gereizter fort: »Manchmal fürchte ich, dass es auch nichts gibt, wofür ich sie aufsparen sollte.« Trotz seiner Worte näherte er sich der grünen Seeschlange nicht. Stattdessen blieben die drei, wo sie waren. Gemeinsam genossen sie das verzückte Lied und waren doch eigenartig davon getrennt. Es war, als würden die Worte sie aus einer weit entfernten Vergangenheit erreichen, einer Zeit, die sie niemals wieder zum Leben erwecken konnten. Sein Blick war auf den Mond gerichtet, und sein Kopf schwang rhythmisch zu dem Lied. Der Grüne wiederholte den letzten Refrain die vorgeschriebenen drei Male. Während er den letzten reinen Ton hielt, bemerkte Shreeva, dass einige andere Seeschlangen sich zu ihnen gesellt hatten. Die meisten sahen sich ziellos um, als suchten sie eine Nahrungsquelle. Der Versorger war weitergezogen, wie üblich. Seine Hülle war schon am Horizont verschwunden. Morgen würden sie alle seiner Fährte durch die Fülle folgen. Ihn konnten sie mit Leichtigkeit einholen. Da sie sich nicht auf den Versorger konzentrieren konnten, blickten sie alle auf den Grünen. Er behielt seine Haltung bei, und sein Blick blieb auf den Mond gerichtet. Mit der letzten gehaltenen Note atmete er aus. Dann endete das Lied. Das Schweigen umhüllte sie wie eine logische Fortführung des Liedes. In diesem Moment bemerkte Shreeva eine kaum wahr-
nehmbare Veränderung in der Gruppe. Einige der anderen Schlangen wirkten verwirrt, als ob sie sich bemühten, sich an etwas zu erinnern. Alle blieben still. Alle außer Maulkin. Mit einer Schnelligkeit, die seine fahle Haut und seinen hageren Körper Lügen strafte, überbrückte er die Entfernung zwischen sich und der grünen Seeschlange. Seine blassen falschen Augen schimmerten kurz golden auf, und seine Augen strahlten kupferfarben, als er den Grünen umschlang. Maulkin schmierte den anderen mit dem letzten bisschen Gift ein, das er noch produzieren konnte, und zog ihn dann in seiner Umarmung in die Tiefe hinab. Shreeva hörte den verrückten Schrei der Kreatur. Kein bisschen Intelligenz war in diesem Schrei zu hören. Es war der Wutschrei eines in die Ecke getriebenen Wesens. Sie folgte dem miteinander kämpfenden Paar zusammen mit Sessurea bis zum schlammigen Boden. Als sie zusammen aufschlugen, stieg Schlick auf und verdunkelte die Fülle. »Er wird ersticken!«, schrie Shreeva entsetzt. »Es sei denn, dieser Grüne reißt ihn vorher in Stücke«, erwiderte Sessurea grimmig. Ihre Mähnen schwollen mit Gift an, als sie hinunterschossen. Shreeva merkte, dass die anderen Seeschlangen sich verwirrt entrollten und wieder verschlangen. Maulkins Verhalten hatte sie aufgeschreckt. Niemand konnte vorhersagen, wie sie reagieren würden. Es ist durchaus möglich, dass sie sich auf uns drei stürzen, dachte sie kalt. Wenn das passierte, hatte Maulkins Knäuel nur geringe Überlebenschancen. Sie deckte Sessureas Flanke, als sie in die schlammige Dunkelheit hinabtauchten. Fast im gleichen Augenblick musste sie würgen. Es war ein schreckliches Gefühl. All ihre Instinkte drängten sie, in sauberes Wasser zu fliehen. Aber sie war ja kein Tier, das durch seine Instinkte gesteuert wurde. Sie zwang sich dazu, tiefer zu tauchen, bis sie die Vibrationen des Kampfes spürte und die Gegner umschlingen konnte. Sie hatte so viel
Schlick im Maul, dass sie nicht einmal riechen konnte, wer wer war. Sie hatte ihre Augen doppelt gegen den salzigen Schlick geschützt und ließ das bisschen Gift ab, das sie aufbringen konnte. Hoffentlich betäubte oder schwächte es Sessurea nicht. Dann schlang sie sich um die beiden Kämpfenden und zerrte sie mit aller Kraft nach oben in saubereres Wasser, wo sie alle atmen konnten. Sie hatte das Gefühl, als schwimme sie durch eine Schule von winzigen Glühfischen. Bunte Punkte und Streifen trübten ihre Sicht. Jemand direkt neben ihr hatte Gift versprüht. Es brannte und versengte sie, ätzte ihr Visionen ins Gehirn. Sicher versuchte sie gerade, den Boden der Fülle selbst zu heben. Sie sehnte sich danach, ihre Last loszulassen und nach oben zu schwimmen. Mühsam kämpfte sie weiter. Plötzlich strömte frischeres Wasser durch ihre Kiemen. Vorsichtig klappte sie die Lider von ihren Augen, öffnete weit das Maul und spülte ihre Kiemen aus. Dadurch wurde sie noch empfänglicher für das Gift im Wasser. Sie schmeckte das schwache Echo der einst so wirksamen Gifte Maulkins und die weniger disziplinierten Säuren von Sessurea. Auch der Grüne hatte Gifte ausgestoßen. Sie waren dicht und stark, aber hauptsächlich dafür gemacht, Fische zu betäuben. Sie waren zwar unangenehm, aber sie behinderten sie nicht. Sie erwiderte Sessureas Blick. Er schüttelte noch einmal seine Mähne, und der Grüne erschlaffte plötzlich. Maulkin hob den Kopf. »Vorsichtig, vorsicht«, warnte er sie. »Als wir gekämpft haben, hat er zu mir gesprochen. Zunächst waren es nur Flüche, aber dann wollte er wissen, mit welchem Recht ich ihn angegriffen habe. Ich glaube, er kann noch erweckt werden.« Shreeva hatte nicht die Kraft zu antworten. Sie musste ihre ganze Willenskraft aufbieten, um ihren Griff um die anderen zu halten, während Sessurea und sie versuchten, den schlammigen Boden zu überqueren. Sessurea sah eine Gesteinserhebung. Es
war sehr schwierig, sie dorthin zu führen, und noch umständlicher, einen sicheren Griff zu finden, der sie alle hielt. Maulkin war kaum hilfreicher als ein Strang Seetang. Der Grüne war vollkommen regungslos. Nachdem sie sich festgesetzt hatten, wollte Shreeva einfach nur noch ausruhen. Sie wagte es jedoch nicht, sich zu entspannen. Immer noch hatten sie einen Fremden in ihrer Mitte, der vielleicht gewalttätig wurde, wenn er aufwachte. Und mehrere der anderen Seeschlangen hatten sie ebenfalls entdeckt. Sie hielten sich in einiger Entfernung von ihnen und beäugten sie aufmerksam. Oder vielleicht auch hungrig. Angewidert fragte sich Shreeva, was sie wohl wollten. Ob sie ihren Anteil wollten, wenn sie sähen, wie Maulkins Knäuel den Grünen fraß? Das fürchtete sie jedenfalls und beobachtete sie misstrauisch. Maulkin war erschöpft. Die schreckliche schwarzbraune Farbe seiner Haut verriet das. Aber er gab nicht auf. Er massierte die grüne Seeschlange mit seinen Umschlingungen und rieb ihn mit winzigen Tropfen seines Giftes ein. »Wer bist du?«, fragte er den schlaffen Grünen immer wieder. »Du warst einmal ein Sänger, und zwar ein sehr guter. Du hattest einmal ein Gedächtnis, das Tausende von Melodien und die Worte dieser Lieder behalten konnte. Greif danach. Sag mir deinen Namen. Einfach nur deinen Namen.« Shreeva wollte ihm sagen, dass er seine Kraft nicht weiter verschwenden sollte, aber ihr fehlte dafür die Energie. Es war ganz offensichtlich vergeblich. Sie glaubte nicht einmal, dass der Grüne bei Bewusstsein war. Wie lange würde Maulkin wohl weitermachen? Hatte einer von ihnen denn die Reserven, das jetzt zu tun und dann morgen dem Versorger zu folgen? Maulkins Aktionen hatten sie vielleicht ihre letzte Chance gekostet, überleben zu können. »Tellur«, murmelte der Grüne. Seine Kiemen pumpten. »Mein Name ist Tellur.« Ein Schauer lief über seinen ganzen Körper. Er wickelte sich um Maulkin und hielt sich fest, als
fürchte er, dass die Strömung ihn davontragen könnte. »Tellur!«, rief er laut. »Tellur! Ich bin Tellur!« Er klappte die Lider über die Augen und senkte den Kopf. »Tellur«, murmelte er leise. Er war erschöpft. Shreeva versuchte, so etwas wie Begeisterung zu empfinden. Maulkin hatte ihn wiedererweckt. Aber für wie lange? Würde er ihnen bei ihrer Aufgabe helfen oder einfach nur eine weitere Vergeudung ihrer Reserven sein? Der Ring aus Seeschlangen, die ihnen zusahen, rückte näher. Shreeva fühlte, wie Sessurea vorsichtig hin und her schwankte, und wusste, dass er sich auf einen Kampf vorbereitete. Sie hob den Kopf und versuchte, ihre Mähne zu schütteln. Nur kläglich wenig Gift strömte hervor. Sie blickte die anderen Seeschlangen drohend an, aber die wirkten nicht sonderlich beeindruckt. Ein gewaltiger Kobaltfarbener kam noch näher. Er war größer als die anderen Seeschlangen, mindestens ein Drittel länger als Sessurea und doppelt so kräftig. Mit weit aufgerissenem Maul kostete er die Gifte im Wasser. Plötzlich warf er den Kopf zurück und stellte seine eigene Mähne aufrecht. »Kelaro!«, bellte er. »Ich bin Kelaro!« Seine Kiefer arbeiteten, nahmen die Gifte auf und ließen sie über seine Kiemen strömen. »Ich erinnere mich!«, schrie er. »Ich bin Kelaro!« Bei seinem Gebrüll zuckten einige zurück wie Fische. Andere schienen völlig unberührt von seinem Ausbruch. Er drehte den Kopf und betrachtete eine vernarbte rote Schlange in der Gruppe. »Und du bist Sylic. Mein Freund Sylic. Wir gehörten einmal zu Xecres' Knäuel. Xecres. Was ist aus Xecres geworden? Wo ist der Rest von unserem Knäuel?« Er stürzte sich ärgerlich auf die rote Schlange, die ihn mit leeren Augen anstarrte. »Sylic. Wo ist Xecres?« Sylics leerer Blick stachelte die Wut des Blauen mächtig an. Plötzlich umschlang er seinen Gefährten und drückte ihn, als wäre er ein Wal, den er ertränken und verzehren wollte. Seine eigene Mähne war voll aufgerichtet und hochgiftig. Als sie kämpften, schwebten Gifte wie eine Wolke um sie herum. »Wo
ist Xecres, Sylic?«, wollte er wissen. Als sich der Rote heftiger wehrte, drückte er ihn noch fester. »Sylic! Sag deinen eigenen Namen. Sag: ›Ich bin Sylic!‹ Sag es sofort!« »Er wird ihn umbringen«, warnte Sessurea sie entsetzt. »Halt dich da raus!«, erwiderte Maulkin. »Lass es einfach geschehen, Sessurea. Wenn er Sylic nicht erwecken kann, dann sollte er besser sterben. Es wäre besser für uns alle.« Die Resignation in seiner Stimme ließ sie erstarren. Shreeva sah ihn an, aber Maulkin wich ihrem Blick aus. Er betrachtete stattdessen den schlummernden Grünen in ihrer Mitte. Da hörte sie eine neue Stimme hinter sich, schrill und atemlos. »Sylic!«, meinte sie. »Mein Name ist Sylic.« Der Rote wehrte sich schwach. Kelaro lockerte den Griff, ließ ihn aber nicht frei. »Was ist aus Xecres geworden?« »Das weiß ich nicht.« Sylics Worte klangen undeutlich, als hätte er Schwierigkeiten beim Sprechen. Er redete langsam, als könnte er nur mühsam Gedanken mit Worten verbinden. »Er hat sich vergessen. Wir sind eines Morgens aufgewacht, und er war fort. Er hat sein Knäuel verlassen. Und kurz danach haben die anderen sich ebenfalls vergessen.« Er schüttelte wütend den Kopf, und eine Giftwolke stieg von seiner eigenen zerfetzten Mähne auf. »Ich bin Sylic!«, wiederholte er verbittert. »Sylic der Freundlose. Sylic ohne Knäuel.« »Sylic von Maulkins Knäuel. Kelaro von Maulkins Knäuel. Wenn ihr wollt.« Maulkins Stimme hatte wieder etwas von ihrem Timbre wiedergewonnen. Seine falschen Augen schimmerten sogar kurz golden auf. Kelaro und Sylic warfen ihm schweigend einen kurzen Blick zu. Dann näherte sich Kelaro ihnen, Sylic immer noch in seinem Griff. Seine Augen waren groß, schwarz mit silbernen Funken und blickten traurig. Sie drehten sich langsam, während er das mitgenommene Knäuel betrachtete, das ihn gerade eingeladen hatte, ihm beizutreten. Dann senkte er
feierlich sein gewaltiges, bemähntes Haupt. »Maulkin«, grüßte er ihn. Er schlang seinen Schwanz um ihren Felsanker und zog seinen Freund dicht heran. Vorsichtig, damit er niemanden beleidigte, verband er sich mit Sessurea, Shreeva und Maulkin. »Kelaro von Maulkins Knäuel grüßt euch alle.« »Sylic von Maulkins Knäuel ebenfalls«, wiederholte der erschöpfte Rote. Als sie sich müde zum Schlafen niederlegten, bemerkte Sessurea: »Wir dürfen nicht zu lange schlafen, falls wir den Versorger noch einholen wollen.« »Wir können schlafen, solange wir wollen«, verbesserte ihn Maulkin. »Versorger sind für uns Vergangenheit. Von jetzt an jagen wir, wie es sich für Seeschlangen geziemt. Ein starkes Knäuel ist auf niemandes Großzügigkeit angewiesen. Und wenn wir nicht nach Nahrung suchen, dann suchen wir Eine, die sich erinnert. Wir haben eine letzte Chance bekommen. Wir dürfen sie nicht vergeuden.«
14
Serillas Entscheidung In der prächtig ausgestatteten Kajüte war es stickig und vollkommen verqualmt. Serilla dröhnte der Kopf, während ihr Magen heftig gegen das ständige Schwanken des Decks protestierte. Jedes Gelenk in ihrem Körper schmerzte unter dieser ständigen Bewegung. Die Seefahrt hatte ihr nie besonders gefallen, nicht einmal als Mädchen. Und die Jahre im Palast des Satrapen hatten ihren Magen nicht unbedingt abgehärtet, was Seereisen anging. Hätten sie doch ein kleineres, seetüchtigeres Schiff genommen. Aber der Satrap hatte auf dem gewaltigen, ausladenden Schiff für sich und seinen Hofstaat bestanden. Die Verspätung bezüglich ihrer Abreise lag zur Hälfte an der Renovierung des Schiffsinneren, damit für den Satrapen genug Platz vorhanden war. Serilla hatte einige Einwände von den Schiffszimmerern gehört, die den Bau ausführen mussten. Es hatte etwas mit Ballast und Stabilität zu tun. Serilla hatte zwar nicht verstanden, warum genau sie sich Sorgen machten, aber jetzt vermutete sie, dass das permanente Schwanken des Schiffes das Ergebnis von Cosgos sturem Beharren auf seinen Plänen war. Aber sie erinnerte sich daran, dass jedes zähe Schwanken sie ein Stück näher zu Bingtown brachte. Es fiel ihr schwer, sich daran zu erinnern, dass sie sich tagelang auf diese Reise gefreut hatte. Sie hatte immer wieder neu gepackt, andere Garderobe ausgewählt und wieder verworfen. Sie wollte nicht langweilig aussehen, aber auch nicht anzüglich. Weder alt noch jung wollte sie wirken. Sie hatte sich mit dem Problem gequält, welche Kleidung sie gelehrt und trotzdem attraktiv wirken ließ. Schließlich hatte sie sich für einfache Kleider entschieden, die dezent geschnitten waren, aber die sie selbst reich bestickt hatte. Über Schmuck verfügte sie nicht.
Der Tradition gehorchend, trug eine Gefährtin des Herzens nur die Juwelen, die der Satrap ihr schenkte. Der alte Satrap hatte ihr immer Bücher und Schriftrollen statt Juwelen geschenkt. Cosgo hatte ihr niemals etwas geschenkt, obwohl er die Gefährtinnen, die er für sich selbst auswählte, mit Juwelen geradezu überschüttete, als wären sie Kuchen, die er mit funkelndem Zucker bestreute. Serilla versuchte darüber hinwegzusehen, dass sie ungeschmückt vor die Bingtown-Händler treten musste. Sie hatte ohnehin nicht vor, Bingtown mit ihrem Schmuck zu beeindrucken. Sie wollte dorthin segeln, um endlich das Land und das Volk zu sehen, das sie mehr als ihr halbes Leben lang studiert hatte. Eine solche Vorfreude hatte sie nicht mehr erlebt, seit der alte Satrap sie das erste Mal bemerkt und sie eingeladen hatte, seine Gefährtin zu werden. Sie betete darum, dass dieser Besuch in Bingtown ein ähnlicher Anfang für sie sein würde. Im Augenblick allerdings fiel es ihr schwer, sich an solchen Träumen festzuhalten. Noch nie hatte sie sich so elend und ekelhaft gefühlt wie jetzt. In Jamaillia war es ihr immer gelungen, sich von den entwürdigenden Praktiken des Hofes des Satrapen fern zu halten. Als der junge Satrap anfing, die Feste in Orgien des Fressens und der Hurerei zu verwandeln, war sie ihnen einfach ferngeblieben. An Bord dieses Schiffes jedoch konnte sie nirgendwohin fliehen. Wenn sie essen wollte, musste sie mit dem Satrapen essen. Wenn sie seine Kammer verließ und in der frischen Luft an Deck spazieren ging, provozierte sie nur anzügliche Bemerkungen der chalcedanischen Besatzung. Hier fand sie keine Zuflucht, obwohl sie Cosgos Erlaubnis hatte, seinen Raum zu verlassen. Satrap Cosgo und seine Gefährtin Kekki lagen auf dem riesigen Diwan in der Kajüte. Sie waren beide beinahe betäubt von Lustkräutern und Rauch. Kekki hatte gejammert, dass sie nur so aufhören könnte, über ihre Übelkeit nachzudenken, und sie hatte sich lauthals beklagt, dass sie noch nie so seekrank gewe-
sen wäre. Serilla war zu taktvoll gewesen, sie zu fragen, ob sie vielleicht schwanger war. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Satrap eine seiner Gefährtinnen des Herzens schwängerte, aber es wurde nach wie vor als taktlos angesehen. Die Kinder aus solchen Vereinigungen wurden sofort nach ihrer Geburt an die Diener des Sa weitergegeben, damit sie von ihnen zu Priestern erzogen wurden. Sie erfuhren niemals etwas von ihren Eltern. Der Satrap durfte nur von seiner gesetzmäßigen Gattin einen Erben bekommen. Cosgo hatte sich aber noch keine Frau genommen. Und Serilla bezweifelte, dass er es tun würde, bis der Adel ihn dazu zwang. Falls er überhaupt so lange lebte. Sie betrachtete ihn, wie er halb über Kekki lag und geräuschvoll atmete. Eine andere Gefährtin lag, ebenfalls berauscht, auf den Kissen zu seinen Füßen. Sie hatte den Kopf zurückgeworfen, und ihr dunkles Haar breitete sich wie ein Fächer auf den Kissen aus. In ihren halb geschlossenen Augen sah man das Weiße, und ihre Finger krampften sich rhythmisch zusammen. Allein bei dem Anblick wurde Serilla übel. Die gesamte Reise hatte bis jetzt nur aus Festen bestanden. Ihnen folgten Cosgos lange Phasen der Übelkeit und der Betäubung, die von zu viel Wein und Rauschmitteln herrührten. Dann rief er nach seinen Heilern, die ihn mit anderen Drogen vollstopften, bis er sich wieder gut genug fühlte, um sich erneut seinen Vergnügungen hinzugeben. Die anderen Adligen an Bord waren genauso genusssüchtig. Bis auf einige wenige, die Seekrankheit als Entschuldigung dafür vorschoben, dass sie in ihren Quartieren blieben. Einige chalcedanische Adlige reisten ebenfalls mit nach Norden. Ihre Schiffe begleiteten das Flaggschiff des Satrapen. Und sie leisteten ihm häufig Gesellschaft beim Abendessen. Die Frauen, die sie mitbrachten, waren wie gefährliche Haustiere, wenn sie sich gegenseitig die Aufmerksamkeit derjenigen streitig machten, die sie für die Mächtigsten hielten. Sie entsetzten
Serilla. Noch schrecklicher waren nur die politischen Diskussionen, die nach dem Essen geführt wurden. Die chalcedanischen Adligen drängten Cosgo dazu, an Bingtown ein Exempel zu statuieren, das aufrührerische Gerede der Händler nicht zu tolerieren und sie mit eiserner Faust zu zerschmettern. Sie erzeugten in dem Satrapen ein Gefühl von Rechtschaffenheit und Wut, das Serilla vollkommen unberechtigt fand. Sie versuchte nicht länger, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen. Die Chalcedaner schrien sie ohnehin nieder, lachten sie aus und verhöhnten sie sogar. Letzte Nacht hatte Cosgo sie sogar angewiesen zu schweigen, wie es sich gezieme. Bei dem Gedanken an diese öffentliche Demütigung kochte ihr Blut. Der Chalcedaner, der das Schiff befehligte, akzeptierte zwar die seltenen Weine, die Cosgo ihm servierte, aber er verabscheute offensichtlich die Gesellschaft des jungen Herrschers. Er berief sich auf die Verantwortung seines Kommandos, aber Serilla sah deutlich die Verachtung in dem Blick des Älteren. Je mehr Cosgo versuchte, ihn zu beeindrucken, desto deutlicher ignorierte ihn der Kapitän. Cosgos Versuche, den schwankenden Gang und die aggressive Art des Chalcedaners nachzuahmen, waren beschämend für jeden Zuschauer. Es schmerzte Serilla, mit ansehen zu müssen, wie Kekki ihn darin noch ermunterte, als hätte seine jugendliche Aufdringlichkeit etwas mit Männlichkeit zu tun. Cosgo nahm an allem Anstoß, was nicht ganz genau seinen Befehlen entsprach. Sein Benehmen erinnerte Serilla an das eines verwöhnten Kindes. Nichts konnte ihn wirklich erfreuen. Cosgo hatte Gaukler und Musiker mitgenommen, aber ihre Kunststücke wurden schnell langweilig. Der Satrap wurde immer unberechenbarer. Die kleinste Missachtung seines Willens löste einen grässlichen Wutanfall aus. Serilla seufzte. Sie wanderte in dem Raum umher und blieb schließlich am Tisch stehen. Sie spielte mit dem bestickten und mit Quasten verzierten Tischtuch. Müde räumte sie etwas von
dem schmutzigen Geschirr weg. Dann setzte sie sich an den Tisch und wartete. Sie sehnte sich danach, in ihre winzige Kajüte zurückzukehren, aber da Cosgo sie unter dem Vorwand herbefohlen hatte, dass er ihren Rat brauchte, konnte sie nicht gehen, bis er sie entließ. Und wenn sie ihn weckte, um seine Erlaubnis einzuholen, würde er sie ihr sicher verweigern. Sie hatte versucht, ihn von dieser Reise abzubringen. Er hatte vermutet, dass sie allein verreisen wollte, was auch stimmte. Sie würde viel lieber allein nach Bingtown segeln, mit Vollmachten ausgestattet, die sie zu Entscheidungen über ein Land berechtigten, das sie viel besser kannte als er. Aber er war zu eifersüchtig auf seine Macht bedacht, um so etwas zu erlauben. Er, der regierende Satrap, würde sich höchstpersönlich nach Bingtown begeben, mit all seiner Macht und Herrlichkeit, und die Leute mit seiner Pracht einschüchtern. Die BingtownHändler würden zur Raison gebracht und daran erinnert werden, dass er sie durch die Gnade Sas regierte. Sie hatten nicht das Recht, das zu bestreiten. Sie war sicher gewesen, dass der Rat der Edlen ihm das ausreden würde. Doch ihr war beinahe übel vor Staunen geworden, als der Rat seine Reise auch noch unterstützte. Seine chalcedanischen Bundesgenossen hatten ihn ebenfalls ermutigt. Bevor die Reisevorbereitungen anfingen, hatten sie viele Nächte lang getrunken. Serilla hatte ihre Prahlereien und Versprechungen gehört. Sie wollten ihn unterstützen. Sollte er doch diesen Bingtown-Emporkömmlingen zeigen, wer Jamaillia regierte. Seine chalcedanischen Freunde würden ihn stützen. Er brauchte diese widerlichen Rebellen nicht zu fürchten. Wenn sie es wagten, eine Hand gegen ihren rechtmäßigen Herrscher zu erheben, würden Herzog Yadfin und seine Söldner ihnen einen richtigen Grund geben, ihr Land die Verwunschenen Ufer zu nennen. Selbst jetzt noch musste Serilla den Kopf schütteln, wenn sie daran dachte. Erkannte Cosgo denn nicht, dass er wahrscheinlich als Köder in einer Falle benutzt wurde?
Wenn die Chalcedaner die Alten Händler soweit provozieren konnten, ihn zu töten, dann hätten sie genau den Grund, den sie brauchten, um ganz Bingtown zu plündern und zu zerstören. Auf dem trägen Flaggschiff drängten sich außer den Höflingen des Satrapen auch noch mehrere seiner Gefährtinnen, ein ganzes Regiment Diener und sechs Adlige mit ihrem Anhang, denen der Satrap befohlen hatte, ihm zu folgen. Sie waren mit dem Versprechen in dieses Abenteuer gelockt worden, dass ihre Söhne Landschenkungen in Bingtown bekämen, wenn ihre Familien in diese Expedition investierten. Serilla hatte vergeblich dagegen protestiert. Wenn er mit diesen neuen Siedlern ankam, würde er damit die Händler beleidigen. Es wäre ein deutliches Zeichen, dass der Satrap ihre Beschwerden über die Neuen Händler nicht ernst genommen hatte. Cosgo ignorierte sie. Und was alles noch schlimmer machte: Vor den Segelschiffen und an ihren Flanken segelten sieben große Galeonen, voll mit gut ausgerüsteten und bewaffneten chalcedanischen Söldnern. Ihr offizieller Auftrag war es, das Schiff des Satrapen sicher durch die von Piraten verseuchten Gewässer der Inneren Passage zu bringen. Erst als sie unterwegs waren, entdeckte Serilla, dass sie einen weiteren Beweis für die Macht des Satrapen liefern sollten. Sie sollten alle Piratensiedlungen angreifen und plündern, die sie auf der Fahrt nach Norden entdeckten. Und alles, was sie an Wertsachen und Sklaven in diesen Siedlungen erbeuteten, würde in den Schiffen der jungen Adligen nach Chalced transportiert werden, damit sie so die Kosten dieser diplomatischen Mission wieder hereinholen konnten. Die jüngeren Söhne würden an den Überfällen teilnehmen, damit sie sich der Gunst des Satrapen als würdig erwiesen. Der Satrap hatte dies mit besonderem Stolz verkündet. Immer wieder hatte Serilla gehört, wie er die Vorteile auflistete. »Zum Ersten wird Bingtown gezwungen zuzugeben, dass meine Patrouillenschiffe die Piraten geschlagen haben. Die Sklaven
werden das bezeugen. Zweitens wird Bingtown von der Macht meiner Verbündeten beeindruckt sein und sich daher meinem Willen weniger stolz entgegenstellen. Drittens werden wir die Kosten für diese kleine Expedition wieder zurückbekommen. Viertens macht es mich zu einer lebenden Legende. Welcher andere Satrap ist jemals so weit gegangen und hat die Angelegenheiten in die eigene Hand genommen, um die Dinge zu bereinigen? Welcher andere Satrap war so kühn?« Serilla wusste nicht, welche Gefahr größer war: dass die Chalcedaner ihn nach Chalced entführten, ihn als Geisel nahmen und ihn zu einer Marionette machten oder dass der Adel in Jamaillia die Gelegenheit ergriff und so viel Macht an sich raffte, wie er nur konnte, solange der jugendliche Satrap unterwegs war. Vermutlich passiert beides, dachte sie verbittert. Es gab Zeiten, wie zum Beispiel heute Nacht, da fragte sie sich, ob sie Bingtown überhaupt zu Gesicht bekommen würde. Sie befanden sich in der Gewalt der chalcedanischen Söldner, die diese Schiffe führten. Sie hätten sie nicht daran hindern können, Cosgo direkt nach Chalced zu entführen. Serilla hoffte, dass sie es für vorteilhaft hielten, ihn vorher nach Bingtown zu bringen. Wenn sie das taten, so schwor sie sich, würde sie irgendwie entfliehen. Irgendwie. Nur zwei seiner Berater hatten versucht, Satrap Cosgo von dieser Reise abzubringen. Die anderen hatten leutselig genickt und zugegeben, dass es für einen regierenden Satrapen eine bisher nie da gewesene Reise sei, ihn aber ermutigt, das zu tun, was er für das Beste hielt. Aber keiner hatte angeboten, ihn zu begleiten. Sie hatten ihn mit Geschenken für die Reise überhäuft und ihn beinahe auf das Schiff geschoben. Diejenigen, denen er befohlen hatte, ihn zu begleiten, waren nur sehr widerstrebend gegangen. Trotzdem war Cosgo unfähig gewesen, die gefährlichen Anzeichen einer Verschwörung zu erkennen, ihn loszuwerden. Vor zwei Tagen hatte sie gewagt, ihre Befürchtungen diesbezüglich vorzutragen. Zunächst hatte er sie
verspottet, und dann war er ärgerlich geworden. »Du willst mir Angst machen! Du weißt genau, dass ich nervös bin. Du versuchst, mich aufzuregen und meine Gesundheit und meine Verdauung mit deinem wilden Gerede durcheinander zu bringen. Schweig! Geh in deine Kajüte, und bleib da, bis ich dich rufe!« Ihre Wangen brannten immer noch, als sie daran dachte, wie man sie gezwungen hatte, ihm zu gehorchen. Zwei grinsende chalcedanische Seeleute hatten sie weggeführt. Sie hatten sie zwar nicht angefasst, sich aber ungeniert über ihren Körper unterhalten. Sie hatte den schwachen Riegel vorgeschoben, sobald sie die Kabine betreten hatte, und dann ihre Kommode vor die Tür geschoben. Er hatte einen ganzen Tag gewartet, bis er sie zu sich bestellte. Als Cosgo sie wieder an seine Seite rief, fragte er sie zuerst, ob sie ihre Lektion gelernt hätte. Mit den Fäusten auf den Hüften hatte er lächelnd dagestanden und ihre Antwort erwartet. Er hätte niemals gewagt, so mit ihr zu sprechen, wenn sie noch in Jamaillia gewesen wären. Sie stand vor ihm, den Blick gesenkt, und bejahte leise murmelnd seine Frage. Es schien ihr der bessere Weg zu sein, aber innerlich kochte sie. Sie hatte ihre Lektion gelernt. Sie hatte gelernt, dass er sämtliche zivilisierten Manieren hinter sich gelassen hatte. Vorher war er noch jemand gewesen, der mit seinen Ausschweifungen nur spielte. Jetzt jedoch gab er sich völlig der Dekadenz hin. Sie beschloss, so bald wie möglich zu fliehen. Diesem Schwein schuldete sie nichts. Nur ihre Loyalität zur Satrapie machte ihrem Gewissen zu schaffen. Sie brachte es damit zum Schweigen, dass sie zu unbedeutsam war und ihren Verfall nicht aufhalten konnte. Seit diesem Vorfall beobachtete der Satrap sie wie eine Katze und wartete nur darauf, dass sie ihn provozierte. Sie hatte es sorgsam vermieden, aber sie wollte auch nicht zu unterwürfig erscheinen. Sie biss die Zähne zusammen und war sowohl ehr-
erbietig als auch höflich, während sie ihn gleichzeitig so gut wie möglich mied. Als er sie heute Abend zu sich rief, befürchtete sie eine heftige Auseinandersetzung. Deshalb war sie heilfroh über Kekkis rasende Eifersucht. Kaum hatte Serilla die Erlaubnis bekommen, die Kajüte des Satrapen zu betreten, hatte die andere Gefährtin sofort alles unternommen, was in ihrer Macht stand, und den Satrapen vollkommen in Beschlag genommen. Mit sehr viel Erfolg. Cosgo war quasi bewusstlos. Kekki kannte keine Scham. Sie war wegen ihrer Kenntnis der chalcedanischen Sprache und Sitten zu seiner Gefährtin berufen worden. Jetzt fiel Serilla auf, dass sie anscheinend auch ihre Kultur angenommen hatte. In Chalced genossen die Frauen Macht nur durch den Mann, den sie sich ergattern konnten. Heute hatte Kekki gezeigt, dass sie alles tun würde, um Cosgos Aufmerksamkeit zu behalten. Schade nur, dachte Serilla, dass Kekkis Weg die beste Methode war, Cosgos Zuwendung zu verlieren. Sie würde bald weggeschickt werden. Serilla hoffte nur, dass Kekkis Schmeicheleien ihn so lange unterhielten, bis sie Bingtown erreichten. Serilla starrte die beiden immer noch an, als der Satrap die geröteten Augen öffnete. Sie wandte den Blick nicht ab, weil sie bezweifelte, dass er ihre Anwesenheit überhaupt wahrnahm. Wie sich herausstellte, war das ein Irrtum. »Kommt her!«, befahl er. Sie überquerte rasch das mit einem dicken Teppich belegte Deck, wich den überall herumliegenden Kleidungsstücken und den schmutzigen Tellern aus. Sie blieb eine Armlänge vor dem Diwan stehen. »Ihr habt mich zu Eurer Beratung gerufen, Magnadon?«, fragte sie ihn förmlich. »Komm her!«, wiederholte er gereizt. Mit dem Zeigefinger deutete er auf eine Stelle auf dem Diwan. Diesen letzten Schritt konnte sie nicht tun. Ihr Stolz erlaubte es ihr einfach nicht. »Warum?«, wollte sie wissen. »Weil ich der Satrap bin und es befehle!«, fuhr er sie an. Er
wurde unvermittelt wütend. »Mehr Grund brauchst du nicht!« Er setzte sich abrupt auf und schob Kekki beiseite. Sie stöhnte mürrisch, rollte aber von ihm herunter. »Ich bin keine Dienerin!«, erwiderte Serilla nachdrücklich. »Ich bin eine Gefährtin des Herzens.« Sie richtete sich auf und zitierte: »›Außer wenn ihm schmeichelnde Frauen den Kopf verdrehen, außer wenn seine Eitelkeit von denen gefördert wird, die sich davon einen Vorteil versprechen, soll er sich Gefährtinnen aussuchen, die neben ihm sitzen. Sie sollen nicht über ihm stehen und auch nicht unter ihm, sondern sie sollen ihre Weisheit offen aussprechen. Sie sollen den Satrapen nur in ihrem jeweiligen Fachgebiet beraten. Er soll keine Favoritinnen unter ihnen auswählen. Er soll sie weder nach Gefälligkeit noch nach Liebenswürdigkeit aussuchen. Seine Gefährtin soll ihn nicht loben und auch nicht auf seine Meinung warten, sie soll keine Furcht haben, mit ihm verschiedener Meinung zu sein, denn jedes dieser Dinge könnte die Ehrlichkeit ihres Rates mindern. Sie soll…‹« »Die Klappe halten!«, kreischte Cosgo und lachte dann schallend über seinen eigenen Witz. Serilla verstummte, aber nicht wegen seines Befehls. Sie rührte sich nicht von der Stelle. Einen Moment lang beobachtete er sie schweigend. In seinem Blick zeigte sich ein merkwürdiges, belustigtes Funkeln. »Du närrisches Weib. Du bist so sehr von dir überzeugt, so sicher, dass ein paar Worte dich schützen können. ›Gefährtin meines Herzens.‹« Er stieß die Worte verächtlich hervor. »Das ist der Titel für eine Frau, die sich fürchtet, eine Frau zu sein.« Er lehnte sich gegen Kekkis Körper, als wäre sie ein Kissen. »Ich könnte dich kurieren. Ich könnte dich den Seeleuten überlassen. Hast du daran schon gedacht? Der Kapitän ist Chalcedaner. Er würde mich nicht deswegen verachten, wenn ich eine Frau verstieße, die mich verärgert hat.« Er hielt inne. »Vielleicht würde er dich ja sogar zuerst benutzen. Bevor er dich an
die Mannschaft weiterreicht.« Serillas Mund wurde trocken, und ihre Zunge klebte am Gaumen. Das kann er tun, dachte sie matt. Er wäre dazu fähig. Es würde Monate dauern, bis sie nach Jamaillia zurückkehrten. Wer würde wissen wollen, was aus ihr geworden war? Niemand. Keiner der Adligen an Bord würde sich gegen Cosgo erheben. Einige hegten vielleicht sogar das Gefühl, dass sie es sich selbst zuzuschreiben habe. Sie hatte keine Alternative. Sobald sie sich ihm ergeben hätte, würde ihr Niedergang unumkehrbar sein. Wenn sie vor seiner Drohung zurückschreckte, dann würde er sie immer wieder benutzen. Sie erkannte das vollkommen klar. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, ihm zu widerstehen. »Tut es«, sagte sie kühl. Sie richtete sich gerade auf und verschränkte die Arme. Sie fühlte, wie ihr Herz in ihrer Brust hämmerte. Er konnte es tun. Und er tat es vielleicht auch. Wenn er es tat, würde sie es nicht überleben. Die Mannschaft war groß und sehr roh. Einige der Dienerinnen liefen bereits mit blauen Flecken im Gesicht herum. Zwar hatte sie noch keine Gerüchte gehört, aber sie brauchte auch keine, um Verdacht zu schöpfen. Chalcedaner achteten Frauen nur wenig mehr als ihr Vieh. Sie hoffte, dass er davor zurückschreckte. »Das werde ich auch.« Er sprang auf die Füße und machte zwei unsichere Schritte zur Tür. Ihre Beine begannen zu zittern. Sie biss die Zähne zusammen, damit ihre Lippen nicht zitterten. Sie hatte ihren Zug gemacht und das Spiel verloren. Sa, hilf mir, betete sie. Am liebsten hätte sie vor Angst geheult, und sie fürchtete, dass sie ohnmächtig werden würde. Sie zwinkerte schnell und versuchte, die Schatten aus den Rändern ihres Blickfelds zu vertreiben. Es war nur ein Bluff. Er würde innehalten. Er würde es nicht wagen, damit weiterzumachen. Der Satrap blieb stehen. Er schwankte, aber sie wusste nicht, ob es an seiner Unentschiedenheit oder seiner Unsicherheit lag.
»Bist du sicher, dass du es so willst?« Seine Worte hatten einen lüsternen Unterton, und er sah sie mit geneigtem Kopf an. »Du würdest eher zu ihnen gehen, als mich zu erfreuen? Du darfst einen Moment darüber nachdenken.« Sie war benommen und fühlte sich elend. Es war das Grausamste, was er tun konnte, ihr diese letzte Chance zu bieten. Sie fühlte, wie die Kräfte sie verließen. Sie wollte sich auf die Knie werfen und ihn um Gnade bitten. Nur ihre Überzeugung, dass sie keine Gnade erfahren würde, ließ sie schweigen und hielt sie weiter aufrecht. Sie schluckte. Sie konnte nicht antworten. Sie schwieg weiter und hoffte, dass er es als Weigerung verstehen würde. »Gut. Vergiss nicht, Serilla, du hast dich selbst dazu entschieden. Du hättest mich haben können.« Er öffnete die Tür. Draußen stand ein Seemann. Es stand immer ein Seemann vor der Tür. Serilla vermutete, dass er genauso Gefängniswärter wie Wachtposten war. Cosgo lehnte sich an den Türrahmen und klopfte dem Mann liebenswürdig auf die Schulter. »Bring deinem Kapitän eine Nachricht, guter Mann. Sag ihm, dass ich ihm eine meiner Frauen anbiete. Die Grünäugige.« Er drehte sich schwankend um und warf ihr einen gierigen Blick zu. »Warne ihn. Sie ist launisch und unwillig. Sag ihm aber auch, dass ich sie trotzdem gern bestiegen habe.« Er musterte sie von Kopf bis Fuß und lächelte grausam. »Er soll jemanden schicken, der sie will.«
15
Neuigkeiten Althea seufzte. Sie schob sich vom Tisch weg, woraufhin Maltas Stift einen Schlenker auf dem Papier hinterließ. Sie stand auf und rieb sich die Augen. Malta sah zu, wie ihre Tante den Tisch, die Dokumente und die Rechenstäbe verließ. »Ich muss weg«, verkündete sie. Ronica Vestrit hatte soeben das Zimmer mit einem Korb voller Blumen und einem Krug mit Wasser betreten. »Ich weiß genau, was du meinst«, sagte sie, während sie die Sachen auf eine Anrichte stellte. Sie füllte eine Vase mit Wasser und fing an, die Blumen hineinzustellen. Sie hatte ein Bukett aus Margeriten, Schleierkraut, Rosen und Farnkräutern zusammengestellt. Stirnrunzelnd betrachtete sie das Blumenarrangement, als wäre alles nur die Schuld der Pflanzen. »Die Auflistung unserer Schulden ist keine sonderlich fröhliche Arbeit. Selbst ich brauche nach einigen Stunden eine Pause.« Sie hielt inne und fuhr dann hoffnungsvoll fort: »Die Blumenbeete am Eingang müssen gepflegt werden, falls du Lust auf Arbeit an der frischen Luft hast.« Althea schüttelte ungeduldig den Kopf. »Nein«, sagte sie. Sanfter fügte sie hinzu: »Ich gehe kurz in die Stadt, die Beine vertreten und ein paar Freunde besuchen. Zum Abendessen bin ich wieder da.« Aus den Augenwinkeln sah sie, wie ihre Mutter die Stirn runzelte. »Ich kümmere mich danach um den Aufgang zum Haus. Versprochen.« Ihre Mutter presste die Lippen zusammen, sagte aber nichts mehr. Malta wartete, bis Althea an der Tür war, bevor sie neugierig fragte: »Willst du dich wieder mit der Perlenmacherin treffen?« Sie rieb sich umständlich die Augen. »Vielleicht«, erwiderte Althea. Malta hörte den unterschwel-
ligen Ärger in ihrer Stimme. Ronica setzte zu einer Erwiderung an. Althea drehte sich gereizt zu ihr um. »Was?« Ronica zuckte mit den Schultern, während sie weiter Blumen schnitt und in die Vase stellte. »Nichts. Mir wäre es einfach nur lieb, wenn du nicht so viel Zeit mit ihr verbringen würdest. Und das in aller Öffentlichkeit. Sie ist keine Bingtownerin, weißt du. Und einige behaupten, dass sie nicht besser wäre als die Neuen Händler.« »Sie ist meine Freundin«, entgegnete Althea. »Man sagt, dass sie sich im Lebensschiff der Ludlucks breit gemacht hat. Das arme Schiff war sowieso nie ganz richtig im Kopf, und sie hat es so verrückt gemacht, dass es einen Wutanfall bekommen hat, als die Ludlucks sie hinauswerfen lassen wollten. Paragon sagte, er würde ihnen die Arme ausreißen, wenn sie versuchten, an Bord zu kommen. Du kannst dir vorstellen, wie entsetzlich das für Händler Ludluck gewesen ist. Amis hat jahrelang versucht, den Familiennamen von dem Skandal reinzuwaschen. Und jetzt ist er wieder aufgerührt worden und mit ihm alle Geschichten, wie Paragon verrückt geworden ist und alle Männer an Bord getötet hat. Es ist ausschließlich die Schuld dieser Frau. Sie sollte sich nicht in die Angelegenheiten der Händler einmischen.« »Mutter.« Altheas Geduld wurde ziemlich strapaziert. »Hinter dieser Geschichte steckt viel mehr, als du gehört hast. Ich bin gern bereit, dir alles zu erzählen, was ich weiß, wenn du das möchtest. Aber später. Wenn nur Erwachsene anwesend sind.« Malta wusste, dass diese Schlinge ihr galt, und sie stürzte sich darauf wie ein hungriger Hai auf Nahrung. »Die Perlenmacherin hat einen sehr merkwürdigen Ruf in der Stadt. Oh, alle sagen, dass sie eine wundervolle Künstlerin ist. Wie wir jedoch alle wissen, können Künstler seltsam sein. Sie lebt mit einer Frau zusammen, die sich wie ein Mann kleidet und benimmt. Wusstest du das?«
»Jek stammt aus den Sechs Herzogtümern oder aus einem anderen dieser barbarischen Länder. So benehmen sich Frauen dort. Werd erwachsen, Malta, und hör auf, auf solch schmutzige Geschichten zu hören«, schlug Althea barsch vor. Malta richtete sich stocksteif auf. »Normalerweise ignoriere ich solchen Klatsch auch. Bis ich gehört habe, wie der Name unserer Familie hineingezogen wurde. Ich weiß, dass es nicht gerade damenhaft ist, über solche Dinge zu reden, aber du solltest wissen, dass manche Leute sagen, dass du die Perlenmacherin aus demselben Grund besuchst. Um mit ihr zu schlafen.« Während des folgenden Schweigens gab Malta einen Löffel Honig in ihren Tee und rührte um. Das leise Klingeln des Löffels klang beinahe fröhlich. »Wenn du ficken meinst, dann sag doch ficken«, schlug Althea ungerührt vor. Sie sprach das grobe Wort absichtlich sehr deutlich aus. »Wenn du schon ungehobelt sein willst, solltest du nicht so schleimig drum herum reden.« »Althea!« Ronica hatte sich von ihrem Schreck erholt. »Du wirst solche Dinge in diesem Haus nicht sagen!« »Es wurde bereits gesagt. Ich habe das Thema nur geklärt.« Altheas Worte klangen eisig, während sie Malta verächtlich anblickte. »Du kannst die Leute kaum dafür verantwortlich machen, dass sie reden«, fuhr Malta in einem gekünstelten Plauderton fort, nachdem sie ihren süßen Tee getrunken hatte. »Immerhin warst du beinahe ein Jahr lang weg und bist dann als Junge verkleidet nach Hause gekommen. Du hast das heiratsfähige Alter längst überschritten und zeigst immer noch kein Interesse an Männern. Stattdessen stolzierst du durch die Stadt, als wärst du selbst einer. Deshalb müssen die Leute einfach vermuten, dass du… seltsam bist.« »Malta, das ist sowohl unverschämt als auch unwahr«, erklärte Ronica entschieden. Ihre Wangen waren gerötet. »Althea ist
längst nicht zu alt zum Heiraten. Du weißt sehr genau, dass Grag Tenira mehr als nur flüchtiges Interesse an Althea hat.« »Ach der. Wir wissen sehr genau, dass die Teniras ein noch größeres Interesse an der Fähigkeit der Vestrits haben, das Konzil von Bingtown auf ihre Seite zu ziehen. Seit sie ihr sinnloses Unterfangen im Zollhafen des Satrapen begonnen haben, versuchen sie, andere für ihre Sache zu…« »Es ist alles andere als ein sinnloses Unterfangen. Das Prinzip von Bingtowns Autorität steht hier auf dem Spiel, wenn ich auch nicht erwarte, dass du das verstehst. Die Teniras verweigern dem Satrapen die Steuern, weil diese Steuern sowohl illegal als auch ungerecht sind. Allerdings bezweifle ich, dass du genug Hirn hast, um das zu begreifen. Außerdem habe ich keine Lust, den ganzen Nachmittag zuzuhören, wie ein Kind von Sachen plappert, von denen es keine Ahnung hat. Mutter, guten Tag.« Mit hoch erhobenem Kopf und eisiger Miene ging Althea hinaus. Malta hörte zu, wie ihre Schritte auf dem Flur verhallten. Wütend schob sie das Buch vor sich weg. Das Geräusch unterbrach die Stille in dem Raum. »Warum hast du das gemacht?«, fragte ihre Großmutter sie ruhig. Ihre Stimme klang nicht ärgerlich, nur ein wenig neugierig. »Ich habe nichts gemacht«, protestierte Malta. Bevor Ronica etwas dagegen einwenden konnte, fragte sie: »Warum darf Althea einfach so verkünden, dass sie keine Lust mehr hat, und in die Stadt gehen? Wenn ich das versuchen würde…« »Althea ist älter als du. Sie ist reifer. Sie ist daran gewöhnt, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Und sie hat ihren Teil der Abmachung eingehalten, die wir getroffen haben. Sie lebt ruhig und anständig und hat keineswegs…« »Wenn sie das nicht hat, woher kommen dann diese Gerüchte?«
»Ich habe keine Gerüchte gehört.« Ihre Großmutter nahm den leeren Blumenkorb und den Krug vom Tisch. »Außerdem habe ich für heute genug von dir«, sagte sie. »Guten Tag, Malta.« Wie zuvor klang sie nicht ärgerlich, sondern eher überdrüssig und resigniert. Ihre Miene war angewidert, als sie ohne ein weiteres Wort wegging. Als sie um die Ecke gebogen, aber noch nicht außer Hörweite war, sprach Malta laut mit sich selbst. »Sie hasst mich. Die alte Frau hasst mich. Hoffentlich kommt Vater bald zurück. Er wird die Dinge hier schnell wieder richten.« Ronica Vestrits Schritte wurden nicht einmal langsamer. Malta sank auf ihrem Stuhl zurück und schob den viel zu süßen Tee beiseite. Alles war so trübsinnig, seit Reyn abgereist war. Sie konnte nicht einmal ihre Verwandten zu einem Streit provozieren. Diese Langeweile brachte sie noch um. In letzter Zeit ärgerte sie die anderen nur, um sie ein wenig aufzurütteln. Sie vermisste die Aufregung und die Bedeutung von Reyns Besuch. Die Blumen waren längst verblasst und die Süßigkeiten aufgegessen. Wären da nicht seine heimlich geschmuggelten Kinkerlitzchen, sie könnte daran zweifeln, ob er überhaupt gekommen war. Was nützte einem ein Galan, der so weit weg wohnte? Sie war wieder in der Grube des Gewöhnlichen gelandet. Jeder Tag war mit Arbeit und Pflichten nur so gespickt. Ihre Großmutter ermahnte sie ständig, den Erwartungen der Familie gerecht zu werden, während Tante Althea tun durfte, was sie wollte. Es lief alles auf dasselbe hinaus. Tu, was deine Mutter und Großmutter von dir verlangen. Sei eine kleine Marionette an ihren Fäden. Das wollte auch Reyn von ihr. Sie erkannte das vollkommen klar, selbst wenn er es nicht bemerkte. Er fühlte sich nicht nur zu ihr hingezogen, weil sie hübsch und charmant, sondern auch, weil sie jung war. Er glaubte, er könnte ihr Verhalten kontrollieren und sogar ihre Gedanken. Er würde feststellen, dass er sich da irrte. Sie würden alle feststellen, dass sie
sich in ihr irrten. Sie stand vom Tisch auf und ging ans Fenster. Von dort sah sie in den unordentlichen, wilden Garten. Althea und Ronica versuchten, ihn in Schuss zu halten, aber es bedurfte eines richtigen Gärtners und wenigstens eines Dutzends Helfer, um das Grundstück ordentlich zu pflegen. Am Ende des Sommers würde der Garten vollkommen ungepflegt aussehen, wenn es so weiterging. Natürlich würde es nicht dazu kommen. Bis dahin war ihr Vater wieder zu Hause, mit den Taschen voller Geld. Er würde alles wieder in Ordnung bringen. Sie würden wieder Diener haben und gutes Essen und Wein. Er würde bald nach Hause kommen, davon war sie überzeugt. Sie biss die Zähne zusammen, als sie an das gestrige Gespräch beim Abendessen dachte. Mutter hatte ihre Sorgen über die Verspätung des Schiffs laut geäußert. Althea hatte erklärt, dass man auch im Hafen nichts von der Viviace wusste. Keines der Schiffe, die in Bingtown einliefen, hatten sie gesehen. Mutter vermutete, Kyle habe vielleicht Bingtown umgangen und seine Fracht direkt nach Chalced geliefert. »Auch keines der Schiffe, die aus dieser Richtung kamen, sind ihrer ansichtig geworden«, meinte Althea finster. »Vielleicht wollte er ja gar nicht nach Bingtown zurückkommen. Vielleicht ist er von Jamaillia aus direkt nach Süden gesegelt.« Sie hatte es vorsichtig gesagt und getan, als wollte sie niemanden verletzen. Mutter hatte ruhig, aber hitzig erklärt: »Kyle würde so etwas nicht tun.« Danach hatte Tante Althea geschwiegen. Aber sie hatte mit ihren Worten jedes weitere Gespräch am Tisch erstickt. Malta suchte nach einer Ablenkung. Vielleicht konnte sie ja heute Abend die Traumdose benutzen. In ihrem letzten Traum hatten sie sich geküsst. Würde dieser Traum hier aufhören? Oder würde sie ihn weitergehen lassen? Ein Schauer lief Malta über den Rücken. Reyn hatte ihr gesagt, sie solle volle zehn Tage warten und die Dose dann benutzen. Bis dahin wäre er
wieder sicher zu Hause. Malta hatte es nicht getan. Er war einfach zu sicher gewesen, dass sie tun würde, worum er sie gebeten hatte. Sosehr sie sich auch danach sehnte, die Dose zu benutzen, sie würde es nicht tun. Sollte er doch warten und darüber grübeln, warum sie das Pulver nicht benutzte. Sollte er doch herausfinden, dass sie nicht seine Puppe war. Diese Lektion hatte Cerwin bereits sehr gut gelernt. Sie lächelte. In ihrem Ärmelumschlag steckte sein letzter Brief an sie. Darin flehte er sie an, sie zu treffen, jederzeit und wo sie wollte. Er versicherte ihr, dass seine Absichten absolut ehrenwert seien. Sogar seine Schwester Delo wollte er mitbringen, damit ihr Ruf nicht kompromittiert würde. Der Gedanke, dass sie an diesen Regenwild-Mann verschachert wurde, treibe ihn in den Wahnsinn. Er wüsste schon so lange, dass sie für ihn bestimmt sei. Bitte, bitte, bitte, wenn sie irgendwelche Gefühle für ihn hegte, dann musste sie sich mit ihm treffen, damit sie darüber reden konnten, wie sie diese Tragödie verhindern könnten. Sie hatte die Nachricht auswendig gelernt. Es war eine entzückende Komposition aus schwarzer Tinte auf schwerem, cremefarbenem Papier. Delo hatte sie gestern überbracht, als sie sie besucht hatte. Das Wachssiegel mit der Weide der Trells war noch intakt, aber Delos aufgeregter Blick und ihre Heimlichtuerei hatten verraten, dass sie den Inhalt sehr genau kannte. Als sie allein waren, beichtete Delo, dass sie ihren Bruder noch nie so bestürzt erlebt hatte. Seit er Malta in Reyns Armen hatte tanzen sehen, konnte er nicht mehr schlafen. Er stocherte nur in seinem Essen herum und spielte auch nicht mehr mit den anderen jungen Männern. Stattdessen verbrachte er die langen Abende bis zum frühen Morgen vor dem Kamin des Arbeitszimmers. Sein Vater war sehr verärgert über ihn. Er bezichtigte Cerwin der Faulheit und erklärte, dass er seinen Ältesten nicht enterbt habe, um jetzt mit ansehen zu müssen, wie sein jüngerer Sohn genauso nichtsnutzig wurde wie der erste. Delo wuss-
te nicht mehr weiter. Sicher konnte Malta Cerwin ein kleines Zeichen geben, damit er wieder Hoffnung schöpfen konnte. Malta rief sich die Szene ins Gedächtnis zurück. Sie hatte mit starrem Blick ins Nichts geschaut. Eine winzige Träne lief über ihre Wange. Sie erzählte Delo, dass sie leider so gut wie nichts tun konnte. Dafür hatte ihre Großmutter gesorgt. Sie war nur ein kleines, glänzendes Spielzeug, das an den Höchstbietenden verschachert wurde. Sie wollte ihr Möglichstes tun, um die Katastrophe zu verhindern, bis ihr Vater nach Hause kam. Er würde sie sicher lieber in den Armen eines Mannes sehen, an dem ihr etwas lag. Dann gab sie Delo eine Nachricht für Cerwin mit. Sie wagte es nicht, sie dem Papier anzuvertrauen, sondern musste sich auf die Loyalität ihrer Freundin verlassen. Malta würde ihn um Mitternacht in der Laube hinter der efeuberankten Eiche unten am Rosengarten erwarten. Das war heute Nacht. Malta wusste immer noch nicht, ob sie dieses Rendezvous einhalten würde oder nicht. Eine Sommernacht unter einer Eiche würde Cerwin nicht schaden. Und Delo auch nicht. Sie konnte später immer noch vorgeben, dass sie den scharfen Augen ihrer Bewacher nicht hatte entkommen können. Vielleicht erhöhte das Cerwins Gefühl dafür, wie dramatisch die Situation war. »Das Schlimmste daran ist, dass sie sowohl Mut als auch Intelligenz besitzt. Ich sehe sie an und denke: ›Das wäre ich, hätte mein Vater nicht eingegriffen.‹ Hätte er mich nicht mit zur See genommen, hätte ich zu Hause bleiben müssen und wäre an dem erstickt, was für ein Mädchen ›schicklich und richtig‹ gewesen wäre. Ich hätte sicherlich genauso rebelliert. Auch wenn ich es für falsch halte, dass meine Mutter und Schwester ihr erlauben, sich wie eine erwachsene Frau zu kleiden und zu benehmen, ist sie auch kein kleines Mädchen mehr. Sie steht in Opposition zu uns allen und weigert sich, die Augen dafür zu öffnen, dass wir eine Familie sind und gemeinsam handeln müssen. Sie ist so sehr damit beschäftigt, ihre Vorstellung von
ihrem perfekten Vater zu verteidigen, dass sie unsere anderen Probleme gar nicht wahrnimmt. Und Selden ist so gut wie von der Bildfläche verschwunden. Er schleicht wie ein Mäuschen im Haus herum und spricht nur noch flüsternd, außer wenn er weint. Dann stecken sie ihm Süßigkeiten zu und erzählen ihm, er soll spielen gehen, sie wären beschäftigt. Malta soll ihm eigentlich bei seinen Lektionen helfen, aber sie bringt ihn immer nur zum Weinen. Ich habe keine Zeit, etwas mit ihm zu unternehmen, selbst wenn ich wüsste, was Jungen in seinem Alter brauchen.« Althea schüttelte verärgert den Kopf und seufzte gereizt. Sie hob den Blick von dem Tee, in dem sie gerührt hatte, und sah Grag an. Er lächelte. Sie saßen an einem kleinen Tisch vor einer Bäckerei in Bingtown. Hier waren sie in der Öffentlichkeit und mussten nicht den Klatsch fürchten, der sonst sicher entstanden wäre. Schließlich trafen sie sich ohne Anstandsdame! Althea war auf dem Weg zu Ambers Geschäft zufällig Grag begegnet. Er hatte sie dazu überredet, wenigstens einen Tee mit ihm zu trinken. Als er sie fragte, was sie so aufgeregt hatte, dass sie ohne Hut das Haus verließ, hatte sie ihm die Geschichte vom Morgen erzählt. Jetzt fühlte sie sich ein bisschen schuldbewusst. »Tut mir Leid. Ihr habt mich zum Tee eingeladen, und ich beklage mich die ganze Zeit nur über meine Nichte. Es ist sicher nicht besonders erfreulich, sich solche Dinge anhören zu müssen. Und ich sollte auch nicht so über meine Familie reden. Aber diese Malta! Ich weiß, dass sie in mein Zimmer geht, wenn ich nicht zu Hause bin. Und sie durchwühlt meine Sachen. Aber…« Althea hielt einen Moment inne. »Ich sollte mir dieses kleine Biest nicht so zu Herzen nehmen. Jetzt verstehe ich auch, warum meine Mutter und meine Schwester dieser frühen Brautwerbung zugestimmt haben. Es ist vielleicht ihre einzige Chance, Malta endlich loszuwerden.« »Althea!«, tadelte Grag sie lächelnd. »Ich bin sicher, dass sie so etwas nicht tun würden.«
»Nein. Sie haben wirklich nur die besten Absichten. Meine Mutter hat mir erzählt, sie vermutet, dass Reyn von seiner Werbung ablässt, sobald er Malta erst einmal besser kennen lernt.« Althea seufzte. »Wenn es nach mir ginge, würde ich die Sache lieber beschleunigen, bevor er es bemerkt.« Grag strich ihr kühn mit der Hand über ihren Handrücken. »Nein, das stimmt nicht«, widersprach er ihr. »Zu einer solchen Gemeinheit seid Ihr gar nicht fähig.« »Seid Ihr Euch da so sicher?«, neckte sie ihn freundlich. Er sah sie mit gespieltem Entsetzen an. »Ach, reden wir von etwas anderem. Sagt mir, wie es um Euren Kampf steht. Hat das Konzil zugestimmt, Euch anzuhören?« »Das Bingtowner Konzil ist ein noch halsstarrigerer Gegner als die Beamten des Satrapen. Aber letztendlich haben sie eingewilligt, uns anzuhören. Und zwar morgen Abend.« »Ich komme«, versprach ihm Althea. »Ich werde Euch helfen, so gut ich kann. Und ich werde mein Bestes tun, dass meine Mutter und meine Schwester ebenfalls kommen.« »Ich bin zwar nicht sicher, ob uns das nützt, aber ich bin froh, dass wir eine Anhörung bekommen haben. Ich habe allerdings keine Ahnung, was Vater tun wird.« Grag schüttelte den Kopf. »Er hat sich bis jetzt allen Kompromissen verweigert. Er will nicht bezahlen, und er will nicht einmal zusagen, später zu bezahlen. Also sitzen wir auf einer vollen Ladung, auf die die Kaufleute schon warten, aber der Zoll lässt uns einfach nicht durch. Vater will nicht zahlen, und kein anderer BingtownHändler will uns helfen. Es tut uns weh, Althea, verdammt weh. Und wenn es noch viel länger dauert, bricht uns das vielleicht das Genick.« Er hielt unvermittelt inne und schüttelte den Kopf. »Ihr braucht keine weiteren Sorgen und schlechte Nachrichten. Ihr habt selbst genug davon. Aber es gibt auch gute Neuigkeiten! Eure Freundin Amber ist mit Ophelias Händen fertig, und das Ergebnis ist großartig. Es war schwierig für
Ophelia. Obwohl sie behauptet, dass sie nicht so wie wir Schmerzen empfindet, habe ich es als Unbehagen und Verlust empfunden, als…« Grag verstummte. Althea bedrängte ihn nicht. Sie verstand, dass es zu viel über ihn verriet, wenn er aussprach, was er mit seinem Zauberschiff teilte. Der dumpfe Schmerz, den sie wegen ihrer Trennung von Viviace empfand, verwandelte sich plötzlich in bittere Isolation. Sie ballte einen Moment die Fäuste in ihrem Schoß und vertrieb entschlossen ihre Unruhe. Sie konnte nichts tun, bis Kyle mit der Viviace in Bingtown anlegte. Falls er sie überhaupt heimbrachte. Keffria behauptete zwar, dass er sie und die Kinder niemals im Stich lassen würde, aber Althea war da nicht so sicher. Der Mann hatte ein unbezahlbares Schiff in seiner Gewalt, ein Schiff, das er niemals rechtmäßig besitzen konnte. Wenn er nach Süden segelte, konnte er ungehindert so tun, als gehöre ihm das Schiff. Er wäre ein wohlhabender Mann, der für niemanden Verantwortung tragen müsste außer für sich selbst. »Althea?« Sie zuckte schuldbewusst zusammen. »Entschuldigt.« Grag lächelte verständnisvoll. »In Eurer Lage wäre ich sicher auch abgelenkt. Ich erkundige mich auf jedem Schiff, das hier einläuft, nach Neuigkeiten von ihr. Leider kann ich im Moment nicht mehr tun. Wenn wir nächsten Monat nach Jamaillia segeln, werde ich jedes Schiff nach ihr fragen, dem wir begegnen.« »Danke«, erwiderte sie herzlich. Als sein Blick zu zärtlich wurde, lenkte sie ihn schnell ab. »Ich habe Ophelia vermisst. Wenn ich Mutter nicht versprochen hätte, züchtiger in meinem Verhalten zu werden, hätte ich sie besucht. Das einzige Mal, als ich hingegangen bin, haben mich die Zollbeamten des Satrapen aufgehalten. Um den Anstand zu wahren, habe ich ihnen keine Szene gemacht.« Sie seufzte und wechselte dann den Ton. »Also hat Amber Ophelias Hände reparieren können.«
Grag lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und kniff die Augen zusammen, weil ihn die Nachmittagssonne blendete. »Sie hat mehr getan als sie nur repariert. Sie musste sie vollkommen neu formen, um die Proportionen der schlankeren Finger zu bewahren. Als Ophelia ihre Sorge äußerte, was mit dem Hexenholz passieren sollte, das entfernt werden musste, sammelte Amber jedes Stück in einer besonderen Kiste. Der Verlust schien für Ophelia sehr bedrohlich zu sein. Ich wundere mich, dass jemand, der nicht aus Bingtown stammt, so empfänglich für die Sorgen des Schiffes sein kann. Jetzt ist sie sogar noch einen Schritt weiter gegangen. Nachdem sie sich mit Ophelia beraten hat, bekam sie die Erlaubnis meines Vaters, aus den größeren Stücken ein Armband für das Schiff zu fertigen. Sie schneidet die Stücke in feine Barren und Riegel und pflockt sie dann zusammen. ›Kein anderes Lebensschiff im Hafen hat jemals solchen Schmuck besessen, der nicht nur von einer bekannten Künstlerin gemacht wurde, sondern auch noch aus ihrem eigenen Hexenholz angefertigt worden ist.‹ Das waren ihre Worte. Ophelia ist entzückt.« Althea lächelte, aber so ganz konnte sie es immer noch nicht glauben. »Euer Vater hat Amber erlaubt, an Hexenholz zu arbeiten? Ich dachte, das wäre verboten.« »Das hier ist etwas anderes«, erwiderte Grag schnell. »Es ist eigentlich ein Teil der Reparatur. Amber gibt Ophelia einfach nur so viel von ihrem Hexenholz wieder, wie sie kann. Meine Familie hat das in aller Ausführlichkeit besprochen, bevor mein Vater es ihr erlaubt hat. Ambers Integrität hat bei unserer Entscheidung den Ausschlag gegeben. Sie hat nicht versucht, auch nur eins der Stücke zu behalten. Wir haben sie beobachtet, denn Hexenholz ist so selten, dass selbst ein winziges Stück wertvoll ist. Sie war sehr ehrlich. Darüber hinaus war sie auch noch außergewöhnlich flexibel, weil sie die ganze Arbeit an Bord des Schiffes getan hat. Selbst das Armband wird dort geschnitzt und nicht in Ambers Werkstatt. Sie musste ziemlich
viel Werkzeug hin- und herschleppen, und das alles in Verkleidung der Sklavenhure.« Grag biss von seinem Kuchen ab und kaute nachdenklich. Davon hatte Amber Althea nichts erzählt. Was sie nicht überraschte. Die Perlenmacherin hatte Geheimnisse, die sie gewiss niemals ergründen würde. »Sie ist eine bemerkenswerte Person«, sagte Althea, mehr zu sich als zu Grag. »Dasselbe hat meine Mutter auch gesagt«, meinte er zustimmend. »Das ist wohl die bemerkenswerteste Entwicklung. Meine Mutter und Ophelia haben sich immer sehr nahe gestanden, wisst Ihr. Sie waren schon Freundinnen, bevor sie meinen Vater geheiratet hat. Als sie erfuhr, dass Ophelia bei dem Angriff auf uns verletzt worden ist, war sie entsetzt. Sie hatte viele Einwände dagegen, eine Fremde an Ophelias Händen arbeiten zu lassen, und sie war ziemlich pikiert, dass mein Vater dem zugestimmt hatte, ohne es vorher mit ihr zu besprechen.« Althea grinste wissend, als Grag mit bewegtem Gesicht Naria Teniras legendären Wutausbruch nachmachte. Er erwiderte das Lächeln. Einen Augenblick sah Althea wieder den sorglosen Seemann hinter dem eher konservativen Bingtown-Händler. Hier an Land war sich Grag weit mehr sowohl des Rufes seiner Familie als auch der in Bingtown herrschenden Moral bewusst. Er trug jetzt einen dunklen Gehrock, eine dunkle Hose und ein weißes Hemd. Es erinnerte sie an die Kleidung ihres Vaters, wenn er in Bingtown war. Grag wirkte darin älter, seriöser und solider. Es gefiel ihr, dass er immer noch unbeschwert lächeln konnte. Der Händler in ihm war ein interessanter und ehrbarer Mann, attraktiver aber war der Seemann. »Mutter hat darauf bestanden, dabei zu sein, wenn an Ophelias Händen gearbeitet wurde. Amber hat dem nicht widersprochen, aber sie war wohl ein bisschen verstimmt. Niemand mag es, wenn man ihm misstraut. Wie sich herausstellte, haben sie und Mutter aber während der Arbeit stundenlang geplaudert. Ophelia hat sich natürlich daran beteiligt. Ihr wisst ja, dass man
auf dem Vorderdeck nichts sagen kann, ohne dass Ophelia ihre Meinung dazu äußert. Das Ergebnis war überraschend. Mutter ist jetzt eine entschiedene Gegnerin der Sklaverei. Neulich hat sie sogar einen Mann auf der Straße angesprochen. Er hat sich von einem kleinen Mädchen mit einem tätowierten Gesicht seine Pakete hinterhertragen lassen. Mutter hat dem Kind die Pakete aus der Hand geschlagen und dem Mann gesagt, er solle sich schämen, ein so junges Kind seiner Mutter wegzunehmen. Dann hat sie das Mädchen mit nach Hause gebracht.« Grag wirkte ein wenig besorgt. »Ich weiß nicht, was wir mit ihr tun sollen. Sie hat so viel Angst, dass sie kaum etwas sagt, aber meine Mutter meint, sie habe keine Verwandten in Bingtown. Sie wurde aus ihrer Familie gerissen und verkauft wie ein Kalb.« Während Grag sprach, war seine Empörung deutlich zu hören. Das war eine neue Seite an ihm. »Hat der Neue Händler einfach hingenommen, dass Eure Mutter ihm das Kind wegnahm?« Grag grinste bösartig. Seine Augen funkelten. »Nicht sonderlich gelassen jedenfalls. Aber Lennel, unser Koch, war bei Mutter. Er ist nicht der Mann, der es zulassen würde, dass jemand sich mit seiner Herrin anlegt. Der Sklavenhalter stand einfach auf der Straße und schrie wüste Verwünschungen hinter ihnen her, mehr nicht. Diejenigen Leute, die überhaupt darauf achteten, verspotteten ihn oder lachten. Was will er machen? Will er die Sache vor das Stadtkonzil bringen und sich darüber beschweren, dass jemand ihm ein Kind weggenommen hat, das er ungesetzlich versklavt hat?« »Nein. Viel wahrscheinlicher ist, dass er zum Stadtkonzil geht und diejenigen unterstützt, die Sklaverei hier nicht nur zu einer Tatsache, sondern auch zu einem Gesetz machen wollen.« »Meine Mutter hat bereits erklärt, dass sie bei der Sitzung des Bingtown-Konzils, bei dem wir unsere Beschwerde gegen die Beamten des Satrapen vorbringen, auch das Thema Sklaverei
ansprechen wird. Sie will fordern, dass unsere Gesetze gegen die Sklaverei endlich angewendet werden.« »Und wie?«, fragte Althea verbittert. »Das weiß ich nicht«, erwiderte Grag leise. »Aber wir sollten es wenigstens versuchen. Bis jetzt haben wir weggesehen. Amber meint, dass die Sklaven keine Angst hätten zuzugeben, dass sie wirklich Sklaven wären. Vorausgesetzt, sie könnten damit rechnen, dass wir sie darin unterstützen, ihre Freiheit wiederzuerlangen. Ihre Herren haben ihnen erzählt, dass sie zu Tode gequält würden, wenn sie trotzig wären und ihre Freiheit beanspruchten, und dass niemand etwas dagegen tun würde.« Althea wurde innerlich ganz kalt. Sie dachte an das Kind, das Naria mitgenommen hatte. Fürchtete sie immer noch Folter und Tod? Was konnte das bei einem Menschen bewirken, wenn er unter einem solchen Schatten aufwachsen musste? »Amber glaubt, dass sie aufstehen und sich von ihrer Sklaverei befreien würden, wenn man ihnen wirklich hilft. Sie sind weit zahlreicher als ihre Herren. Sie glaubt auch, dass es eine blutige Rebellion geben wird, die die ganze Stadt ruinieren könnte, wenn Bingtown nicht schnell reagiert und ihnen ihre rechtmäßige Freiheit wiedergibt.« »Also entweder helfen wir ihnen, bald ihre rechtmäßige Freiheit wiederzubekommen, oder es wird alles in Flammen aufgehen, wenn sie versuchen, sie sich selbst zu nehmen?« »So in etwa.« Grag trank nachdenklich einen Schluck Tee. Nach einer Weile seufzte Althea. Sie nippte ebenfalls an ihrem Tee und starrte vor sich hin. »Althea, schaut nicht so wehmütig drein. Wir tun alles, was möglich ist. Morgen Abend treten wir vor das Konzil. Vielleicht bringen wir sie zur Vernunft, was die Steuern des Satrapen und die Sklaverei in Bingtown angeht.« »Vielleicht habt ihr Recht«, stimmte Althea finster zu. Sie sagte ihm nicht, dass sie weder an die Sklaverei noch an die Steuern gedacht hatte. Sie hatte den gut aussehenden jungen
Mann ihr gegenüber am Tisch betrachtet und gewartet. Vergeblich gewartet. Sie empfand nichts weiter als Freundschaft und Zuneigung. Warum konnte ein anständiger und ehrbarer Mann wie Grag Tenira ihr Herz und ihre Sinne nicht so erregen, wie Brashen Trell es getan hatte? Er wäre beinahe zur Hintertür gegangen. Dann jedoch besann er sich auf seinen Stolz, ging zur Vordertür und klingelte. Er hütete sich, an sich herunterzublicken, während er wartete. Er war weder zerlumpt noch schmutzig. Das gelbe Hemd war von allerfeinster Qualität, genauso wie der Schal, den er um den Hals geschlungen hatte. Die blaue Hose und die kurze Jacke, die er trug, waren ein wenig geflickt, aber die Arbeit seiner eigenen Nadel konnte einen echten Seemann nicht verschüchtern. Und wenn der Schnitt und der Stoff seiner Kleidung mehr zu einem Piraten von den Inseln als zu einem Bingtowner Händlersohn passten, nun… Brashen Trell war vermutlich zur Zeit eher Ersteres denn Letzteres. Seinen Mundwinkel verunzierte eine kleine Brandwunde von Cindin, die er davongetragen hatte, als er damit eingeschlafen war. Aber sein Schnurrbart verdeckte das Meiste davon. Er lächelte. Falls Althea nah genug käme, dass sie es sehen könnte, würde sie wahrscheinlich nicht mehr daran denken. Er hörte das leichte Schlurfen eines Hausmädchens im Flur und nahm den Hut ab. Eine gut gekleidete junge Frau öffnete ihm die Tür. Sie musterte ihn von oben bis unten. Ganz offensichtlich missbilligte sie seine verwegene Kleidung. Sein freundliches Grinsen erwiderte sie mit einem hochmütigen Blick. »Wollt Ihr etwas?«, fragte sie hochnäsig. Er zwinkerte ihr zu. »Ich würde mir eine höflichere Begrüßung wünschen, aber ich bezweifle, dass ich deshalb eine bekommen würde. Ich möchte Althea Vestrit sprechen. Wenn sie nicht da ist, möchte ich Ronica Vestrit sehen. Ich habe dringende Nachrichten für sie.« »Tatsächlich? Nun, ich fürchte, die müssen warten, denn kei-
ne von beiden ist zur Zeit da. Guten Tag.« Ihr Tonfall sagte ihm eindeutig, dass sie ihm alles andere als einen guten Tag wünschte. Er trat so schnell vor, dass er die Ecke der Tür erwischte, bevor sie sie schließen konnte. »Aber Althea ist wieder da?«, fragte er drängend. Er musste es einfach hören. »Sie ist schon vor Wochen zurückgekommen. Lasst los!«, fuhr sie ihn an. Er war erleichtert. Sie war zu Hause, in Sicherheit. Das Mädchen zog immer noch an der Tür, die er festhielt. Es war keine Zeit mehr für Höflichkeiten. »Ich werde nicht gehen. Das kann ich nicht. Ich habe wichtige Neuigkeiten. Und ich lasse mich nicht von den Launen eines Dienstmädchens abschrecken. Lass mich herein, und zwar sofort, sonst wird deine Herrin ziemlich wütend auf dich sein!« Das Mädchen trat einen Schritt zurück und schnappte erschrocken nach Luft. Brashen nutzte die Gelegenheit und trat in die Eingangshalle. Er sah sich um und runzelte die Stirn. Die Halle war immer der Stolz des Kapitäns gewesen. Sie war immer noch sauber und strahlend, aber das Holz und das Messing glänzten nicht mehr. Er vermisste den warmen Geruch von Bienenwachs und Öl, und er sah sogar Spinnweben in einer Ecke. Aber mehr konnte er nicht betrachten. Das kleine Dienstmädchen trat wütend mit dem Fuß nach ihm. »Ich bin keine Dienerin, Ihr ungeratenes Stück Hafendreck. Ich bin Malta Haven, die Tochter des Hauses. Und ich wäre froh, wenn Ihr Euren stinkenden Körper aus meinem Haus schaffen würdet!« »Nicht, bis ich Althea gesehen habe. Ich werde so lange warten wie nötig. Bring mich irgendwohin. Ich bleibe da sitzen und bin auch ganz brav.« Er betrachtete das Mädchen genauer. »Du bist tatsächlich Malta! Entschuldige, ich habe dich nicht wiedererkannt. Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du noch ein kleines Mädchen.« Er versuchte, seinen Fehler
wieder gutzumachen und lächelte sie an. »Du siehst wirklich gut aus. Spielst du mit deinen Freunden Teeparty?« Sein Versuch, freundlich zu sein, endete verheerend. Das Mädchen starrte ihn fassungslos an und zog verächtlich die Oberlippe zurück. »Wer bist du, Seemann, dass du es wagst, im Haus meines Vaters so vertraulich mit mir zu sprechen?« »Brashen Trell«, erwiderte er. »Der ehemalige Erste Maat unter Kapitän Vestrit. Entschuldigt, dass ich mich nicht früher vorgestellt habe. Ich bringe Neuigkeiten von dem Zauberschiff Viviace. Ich muss sofort Eure Tante oder Eure Großmutter sprechen. Oder Eure Mutter. Ist sie zu Hause?« »Nein. Sie und Großmutter sind in der Stadt und besprechen irgendwelche Pflanzengeschichten für den Garten. Sie kommen erst später zurück. Althea ist unterwegs und macht das, worauf sie Lust hat. Sa weiß, wann sie zurückkommt. Aber Ihr könnt mir Eure Neuigkeiten ruhig verraten. Warum hat sich das Schiff so verspätet? Brauchen sie noch lange?« Brashen verwünschte seinen langsamen Verstand. Die Aussicht, Althea wiederzusehen, hatte ihm etwas von der Schwere seiner Nachrichten genommen. Er betrachtete das Mädchen. Seine Nachrichten lauteten, dass das Familienschiff von Piraten gekapert worden war. Er konnte ihr nicht einmal sagen, ob ihr Vater noch lebte. Das waren keine Neuigkeiten, die er einem Kind ausrichten konnte, das allein zu Hause war. Er wünschte sich von ganzem Herzen, dass sie einem ihrer Diener erlaubt hätte, die Tür zu öffnen. Und noch mehr wünschte er sich, dass er vernünftig genug gewesen wäre, den Mund zu halten, bis ein Erwachsener anwesend war. Er kaute auf seiner Unterlippe und zuckte zusammen, als er auf die Cindin-Wunde biss. »Ihr solltet jemanden in die Stadt schicken, der Eure Großmutter bittet, sofort nach Hause zu kommen. Es gibt Neuigkeiten, die sie erfahren muss.« »Warum? Stimmt etwas nicht?« Zum ersten Mal sprach das Mädchen ganz natürlich, ohne zu
versuchen, wie eine Erwachsene zu klingen. Eigenartigerweise wirkte sie so viel reifer. Ihre Angst, die in ihrer Stimme und in ihrem Blick zu sehen war, rührte Brashen. Er stand stumm da, weil er sie nicht anlügen wollte. Und gleichzeitig wollte er sie auch nicht mit der Bürde der Wahrheit belasten, ohne dass ihre Mutter oder ihre Tante dabei waren und den Schlag abmilderten. Er drehte den Hut in den Händen. »Wir sollten besser warten, bis ein Erwachsener hier ist«, sagte er entschieden. »Könntet Ihr jemanden schicken, der Eure Mutter, Eure Großmutter oder Eure Tante sucht?« Sie verzog die Lippen, und er konnte sehen, wie ihre Furcht sich in Wut verwandelte. Ihre Augen funkelten, als sie knapp erwiderte: »Ich schicke Rache. Wartet hier.« Nach diesem Befehl marschierte sie davon und ließ ihn in der Tür stehen. Warum sie wohl nicht einfach einen Diener gerufen hatte, damit er die Botschaft überbrachte? Sie hatte auch selbst die Tür aufgemacht. Er trat etwas weiter in den einst so vertrauten Raum und sah den Flur entlang. Rasch bemerkte er auch hier die ersten Anzeichen von Vernachlässigung. Dann erinnerte er sich an den Weg zum Haus. Die Auffahrt war mit Zweigen und Blättern übersät gewesen, und die Stufen waren nicht gefegt. Musste die Vestrit-Familie harte Zeiten ertragen, oder lag das einfach nur an Kyles Geiz? Er wartete unruhig. Die schlechten Nachrichten, die er zu überbringen hatte, waren vielleicht viel schwerwiegender, als er zunächst angenommen hatte. Der Verlust des Familienschiffs konnte vielleicht ihren Ruin bedeuten. Althea, dachte er, als könnte er sie allein durch seine Willenskraft herbeirufen. Die Springeve war im Hafen von Bingtown vertäut. Sie waren heute angekommen. Sobald das Schiff angelegt hatte, hatte Finney Brashen an Land geschickt. Der Kapitän vermutete, dass Brashen jetzt einen Käufer für die besten Stücke ihrer Beute suchte. Brashen war jedoch direkt zum Haus der Vestrits gegangen.
Das Porträt der Viviace befand sich auf der Springeve, ein stummer Zeuge dafür, dass er die Wahrheit sagte. Aber er bezweifelte, dass sie es sehen wollten, auch wenn Althea es sicherlich wiederhaben wollte. Brashen wusste nicht genau, was Althea jetzt für ihn empfinden würde, aber sie wusste jedenfalls, dass er kein Lügner war. Er versuchte, nicht an Althea zu denken, aber nachdem er dieses Thema einmal angeschnitten hatte, konnte er nicht mehr davon lassen. Was hielt sie von ihm? Und warum war ihm das so wichtig? Weil es wichtig war. Weil er wollte, dass sie gut von ihm dachte. Sie waren nicht gerade in Freundschaft voneinander geschieden, und das hatte er seitdem immer wieder bereut. Sicher würde sie ihm seinen rauen Scherz nicht mehr verübeln, wenn sie sich wiedersahen. So war sie nicht; sie war kein zickiges Weibsbild, das wegen eines unbeholfenen Witzes schwer beleidigt war. Einen Moment schloss er die Augen und schickte ein Stoßgebet zu Sa, dass er Recht hatte. Er dachte mehr als nur gut von ihr. Wütend schob er die Hände in die Taschen und ging unruhig in der Halle auf und ab. Althea stand in Ambers Geschäft und fuhr mit den Händen beiläufig durch einen Korb mit Perlen. Sie fischte willkürlich eine heraus und betrachtete sie. Es war ein Apfel. Die nächste war eine Birne. Und dann eine Katze, die ihren Schwanz um ihren Körper geschlungen hatte. Amber verabschiedete sich gerade an der Tür von einem Kunden und versprach ihm, dass er seine Auswahl von Perlen morgen Abend um dieselbe Zeit als Halskette abholen könnte. Als sich die Tür hinter ihm schloss, legte Amber die Perlen in einen kleinen Korb und begann dann, die Waren, die der Kunde nicht hatte haben wollen, in die Regale zurückzulegen. Als Althea ihr beisprang, nahm Amber ihr früheres Gespräch wieder auf. »Naria Tenira will also das Konzil von Bingtown wegen der Sklaverei zur Rede stellen? Bist du gekommen, um mir das zu sagen?«
»Ich dachte, du wüsstest gern, wie überzeugend sie dich fand.« Amber lächelte erfreut. »Das wusste ich schon. Naria hat es mir selbst gesagt. Ich habe sie schockiert, als ich meinte, dass ich auch gern da wäre.« »Die Versammlungen sind doch nur für Händler«, erwiderte Althea. »Dasselbe sagte sie«, antwortete Amber liebenswürdig. »Bist du deshalb so schnell hergekommen?« Althea zuckte mit den Schultern. »Ich habe dich eine Weile nicht gesehen. Und ich konnte es nicht ertragen, nach Hause zu gehen. Wegen Malta. Ich sage dir, Amber, irgendwann werde ich dieses Gör packen und schütteln, bis ihre Zähne klappern. Sie kann einen so wütend machen.« »Eigentlich klingt das, als wäre sie dir sehr ähnlich.« Als Althea sie wütend anblickte, fuhr Amber fort: »Ich meine, so wie du sein würdest, wenn dein Vater dich nicht mit auf See genommen hätte.« »Manchmal frage ich mich, ob es wirklich richtig von ihm war«, gab Althea zögernd zu. Diesmal war Amber überrascht. »Hättest du es lieber anders gehabt?«, fragte sie ruhig. »Ich weiß es nicht.« Althea fuhr sich nervös durch die Haare. Amber betrachtete sie amüsiert. »Du spielst nicht mehr den Jungen. Am besten glättest du die Bescherung wieder, die du gerade angerichtet hast.« Althea stöhnte und drückte ihr Haar nieder. »Nein. Jetzt spiele ich die Rolle einer Bingtown-Frau. Die ist auch falsch für mich. So. Sieht es jetzt wieder ordentlich aus?« Amber streckte die Hand aus und schob eine Locke von Altheas Haar wieder zurück. »So. Schon besser. Wie meinst du das, falsch?« Althea biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf. »Falsch in jeder Hinsicht. Ich fühle mich in diesen Kleidern
wie eine Gefangene. Ich muss auf eine bestimmte Art gehen und sitzen. Ich kann kaum die Hand über den Kopf heben, ohne dass mich die Ärmel daran hindern. Von den Nadeln in meinem Haar bekomme ich Kopfschmerzen. Ich muss mit Leuten auf eine Art reden, die dem Protokoll entspricht. Selbst hier zu sein und mit dir in deinem Geschäft über intime Dinge zu reden ist bereits potentiell skandalös. Und am schlimmsten ist, dass ich so tun muss, als wollte ich Dinge, die ich gar nicht wirklich will.« Sie hielt kurz inne. »Manchmal überzeuge ich mich fast selbst, dass ich sie will«, fügte sie verwirrt hinzu. »Wenn es mir gelänge, wäre das Leben einfacher.« Die Perlenmacherin antwortete nicht sofort, sondern nahm die kleine Schale mit den Perlen in die Hand. Althea folgte ihr, als sie zu einer Nische im hinteren Teil des Ladens ging. Dort ließ Amber rasselnd einen Perlenvorhang herunter, den sie selbst angefertigt hatte, um sie vor neugierigen Blicken zu schützen. Sie setzte sich auf einen hohen Hocker an eine Werkbank. Althea setzte sich auf den Stuhl. Seine Armlehnen trugen die Spuren von Ambers müßigem Spiel mit dem Schnitzmesser. »Was willst du nicht?«, fragte Amber freundlich, während sie die Perlen auf dem Tisch vor sich ausbreitete. »Ich will nichts von all den Dingen, die eine echte Frau will. Das hast du mir klargemacht. Ich träume weder von Kindern noch von einem hübschen Haus. Ich will kein ordentliches Heim und keine große Familie. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich einen Ehemann will. Heute hat Malta mich als seltsam beschimpft. Es hat mich mehr getroffen als alles andere, was sie mir entgegengeschleudert hat. Weil es stimmt. Ich bin wohl seltsam. Ich will nichts von den Dingen, die eine Frau eigentlich wollen sollte.« Sie rieb sich die Schläfen. »Ich sollte Grag wollen. Ich meine… ich mag Grag. Ich genieße seine Gesellschaft.« Sie starrte auf die Tür, während sie aufrichtig zugab: »Wenn er meine Hand berührt, wird mir warm. Aber wenn ich überlege, ob ich ihn heiraten soll, und bedenke, was alles da-
von abhängt…« Sie schüttelte den Kopf. »Das will ich nicht. Es würde mich zu viel kosten. Selbst wenn es möglicherweise klug wäre.« Amber sagte nichts. Sie legte einige Metallstücke und hölzerne Abstandhalter auf ihrem Tisch zurecht und maß einige Längen glänzenden Seidenfadens ab. Dann begann sie, daraus ein dünnes Seil zu flechten. »Du liebst ihn nicht«, meinte sie schließlich. »Ich könnte ihn lieben. Aber ich erlaube es mir nicht. Es ist so, als würdest du etwas wollen, das du dir unmöglich leisten kannst. Es gibt keinen Grund, ihn nicht zu lieben, außer dass so viel… an ihm dranhängt. Seine Familie, seine Erbschaft, sein Schiff und seine Position in der Gesellschaft.« Althea seufzte. Ihr war elend zumute. »Der Mann ist wundervoll. Aber ich bringe es einfach nicht über mich, alles aufzugeben, was ich habe, um ihn lieben zu können.« »Ach«, sagte Amber. Sie schob eine Kugel auf die geflochtene Schnur und knotete sie fest. Althea fuhr mit dem Finger eine Schnitzerei auf der Armlehne nach. »Er hat Erwartungen. Und sie schließen absolut nicht mit ein, dass ich mein eigenes Lebensschiff befehlige. Er möchte, dass ich an Land bleibe und dort alles für ihn regle. Ich würde ihm ein Heim bereiten, in das er zurückkommen kann, unsere Kinder großziehen und unseren Haushalt in Ordnung halten.« Sie runzelte die Stirn. »Ich müsste alles tun, was nötig wäre, damit er sich nur noch um das Schiff zu kümmern braucht.« Ihre Stimme bekam einen bitteren Unterton. »Ich müsste alles tun, damit er das Leben führen kann, das er führen will.« Ihre nächsten Worte klangen traurig. »Wenn ich mich entscheiden würde, Grag zu lieben und zu heiraten, würde mich das alles kosten, was ich jemals mit meinem Leben vorgehabt habe. Ich müsste auf alles verzichten, nur um ihn lieben zu können.« »Und so stellst du dir dein Leben also nicht vor?«, erkundigte
sich Amber. Althea lächelte gequält. »Nein. Ich möchte nicht der Wind in den Segeln von jemand anderem sein. Ich will, dass dies jemand für mich tut.« Sie setzte sich plötzlich gerade hin. »Das heißt… das ist nicht ganz richtig formuliert. Ich kann das nicht sehr gut erklären.« Amber blickte kurz von ihrer Arbeit hoch und grinste sie an. »Im Gegenteil. Ich glaube, es ist dir einfach nur unangenehm, weil du es so deutlich gesagt hast. Du willst einen Partner, der deinem Traum folgt. Du willst deine eigenen Pläne nicht aufgeben, um jemand anderem zu helfen, sein Leben zu leben.« »Das stimmt wahrscheinlich«, gab Althea zögernd zu. Einen Moment später fragte sie: »Warum ist das so falsch?« »Das ist es doch gar nicht«, versicherte ihr Amber. Und fügte einen Moment später schelmisch hinzu: »Sofern du ein Mann bist.« Althea lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und verschränkte eigensinnig die Arme. »Das kann ich nicht ändern. Genau das will ich.« Als Amber nichts sagte, fuhr Althea beinahe gereizt fort: »Versuch nicht, mir einzureden, dass Liebe genau das ist: Alles für jemand anderen aufzugeben!« »Aber für manche Menschen ist sie genau das«, erwiderte Amber unbeirrt. Sie knotete eine weitere Holzperle an die Schnur, hielt sie dann hoch und begutachtete sie kritisch. »Andere wiederum sind wie zwei Pferde im Geschirr, die ihre Last zu einem gemeinsamen Ziel ziehen.« »Das wäre wirklich nicht schlecht«, gab Althea zu. Aber ihre finstere Miene verriet, dass sie es nicht ganz glaubte. »Warum können Menschen sich nicht einfach lieben und trotzdem frei bleiben?«, wollte sie wissen. Amber rieb sich die Augen und zog dann nachdenklich an ihrem Ohrring. »Man kann sich so lieben«, erklärte sie schließlich wehmütig. »Aber der Preis dieser Art von Liebe ist vielleicht der höchste.« Sie äußerte diese Worte genauso sorgfältig,
wie sie ihre Perlen aufreihte. »Wenn man jemand anderen so liebt, muss man zugeben, dass dessen Leben genauso wichtig ist wie das eigene. Und was noch schwieriger ist: Du musst dir eingestehen, dass er vielleicht Bedürfnisse hat, die du nicht erfüllen kannst, und dass du Aufgaben hast, die dich weit von ihm entfernen. Der Preis heißt Einsamkeit und Sehnsucht und Zweifel und…« »Warum muss Liebe etwas kosten? Warum müssen Bedürfnisse mit Liebe zusammengeraten? Warum können die Menschen nicht einfach wie Schmetterlinge sein, die im hellen Sonnenschein zusammenkommen und sich trennen, solange die Sonne noch scheint?« »Weil wir Menschen sind und keine Schmetterlinge. Wenn du so tust, als könnten die Menschen zusammenkommen, sich lieben und sich trennen, ohne dass sie Leid empfänden oder das Konsequenzen hätte, ist das noch falscher, als so zu tun, als wärst du eine sittsame Händlertochter.« Sie legte die Perlen weg, erwiderte Altheas Blick und meinte unverblümt: »Bitte red dir nicht ein, dass du mit Grag Tenira ins Bett gehen und anschließend weggehen könntest, ohne euch beide herabzusetzen. Vor einem Augenblick hast du noch von Liebe ohne Bedürfnisse gesprochen. Wenn du dein Bedürfnis ohne Liebe befriedigst, dann ist das Diebstahl. Wenn du das brauchst, kauf dir einen. Aber stiehl es dir nicht unter dem Vorwand von Grag, dass es ja frei erhältlich wäre. Ich kenne Grag Tenira mittlerweile. Er kann dir das nicht geben, nicht auf diesem Weg.« Althea verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich hab ja gar nicht daran gedacht.« »Doch, hast du.« Amber betrachtete wieder ihre Perlen. »Wir alle denken daran. Das macht es aber längst noch nicht richtig.« Sie drehte ihre Arbeit in ihren Händen und fing ein neues Knotenmuster an. »Wenn du mit jemandem ins Bett gehst, ist das immer eine Verpflichtung. Manchmal besteht diese Ver-
pflichtung nur darin, dass ihr beide so tut, als würde es keine Rolle spielen.« Ihre merkwürdig gefärbten Augen blickten Althea einen Moment intensiv an. »Manchmal gehst du diese Verpflichtung auch nur für dich selbst ein. Dein Partner erfährt es niemals oder stimmt dem gar nicht zu.« Brashen. Althea rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. Warum dachte sie immer in solch unpassenden Augenblicken an ihn? Wenn sie gerade glaubte, dass sie ihn aus ihrem Gedächtnis gestrichen hatte, tauchte er prompt wieder auf. Es ärgerte sie, aber sie wusste nicht mehr genau, ob sie eigentlich auf Brashen wütend war. Sie schob den Gedanken beiseite. Es war aus und vorbei, nur ein Teil ihres Lebens, mit dem sie fertig war. Sie konnte es hinter sich lassen. Sie konnte sich mit anderen Dingen beschäftigen. »Liebe ist nicht nur das Gefühl, sich des anderen sicher zu sein und zu wissen, was er für dich aufgeben würde. Es ist das absolute Wissen darüber, was du seinetwegen aufzugeben bereit wärst. Denk daran, jeder Partner gibt etwas auf. Persönliche Träume werden zu Gunsten von einem gemeinsamen geopfert. In einigen Ehen verzichtet die Frau auf fast alles, was sie einmal haben wollte. Ein solches Opfer ist nicht beschämend. Das ist Liebe. Wenn du glaubst, dass der Mann es wert ist, funktioniert es auch.« Althea blieb eine Weile bewegungslos sitzen und beugte sich plötzlich vor. »Glaubst du, ich würde meine Meinung ändern, wenn ich Grag heiraten würde?« »Tja, einer von euch beiden müsste es wohl tun«, erwiderte Amber. Brashen riskierte erneut einen Blick in den Korridor. Wo blieb das Mädchen? Wollte sie ihn hier stehen lassen, bis der Läufer mit ihrer Mutter zurückkehrte? Warten fiel ihm immer schwer. Er lächelte. Die Aussicht, Althea wiederzusehen, freute ihn, trotz der ernsten Nachrichten, die er zu überbringen hatte. Wenn ich wenigstens ein kleines Stück Cindin hätte, dachte er.
Das würde helfen. Aber er hatte absichtlich alles auf der Springeve zurückgelassen. Er wusste, dass Althea sein kleines Laster missbilligte. Er wollte nicht, dass sie glaubte, er hätte ständig Drogen dabei. Sie hielt es auch so schon für eine ernsthafte Schwäche. Schließlich kannte er ja auch Altheas Schwächen. Die Nähe hatte sie jahrelang dazu gezwungen, sie beim anderen zu tolerieren. Und sie waren auch nicht wichtig. Er war hier, weil sie ihm wichtig war, und dahinter steckte mehr als nur eine einzige gemeinsame Liebesnacht. Diese Nacht hatte ihn nur dazu gebracht zuzugeben, was er immer schon empfunden hatte. Jahrelang hatte er Althea jeden Tag gesehen. Sie hatten in vielen Häfen gemeinsam gegessen oder getrunken, zusammen gespielt und Segel repariert. Sie behandelte ihn nicht wie den in Ungnade gefallenen Sohn eines BingtownHändlers. Sie behandelte ihn wie einen kompetenten Schiffsoffizier und respektierte ihn wegen seines Wissens und seiner Fähigkeit, Männer zu befehligen. Sie war eine Frau, aber er konnte mit ihr reden, ohne ihr Komplimente über ihr Kleid zu machen oder ihre Augen mit den Sternen zu vergleichen. Wie oft gab es das? Er trat wieder an ein Fenster und blickte auf die Zufahrt. Als er Schritte hörte, drehte er sich um. Es war Malta. Sie war ein ziemlich verzogenes Gör, wenn Altheas Schilderungen stimmten. Jetzt sah sie ihn an und lächelte ernst. Ihr Verhalten hatte sich schon wieder geändert. »Ich habe einen Läufer losgeschickt, wie Ihr vorgeschlagen habt. Wenn Ihr mir folgen mögt: Ich habe Kaffee und Frühstückskuchen für Euch vorbereitet.« Ihre vornehme Stimme klang wie die einer wohl erzogenen jungen Dame, die ihn in ihrem Heim willkommen heißt. Das erinnerte ihn an seine eigenen Manieren. »Danke. Sehr gern.« Sie deutete in den Korridor und überraschte Brashen, als sie seinen Arm nahm. Sie reichte ihm kaum bis zur Schulter. Jetzt bemerkte er auch ihren Duft, ein blumiges Öl, vielleicht Veil-
chen. Er stieg von ihrem Haar auf. Sie warf kurz einen schrägen Blick zu ihm hinauf, während er sie durch den Flur geleitete. Danach musste er seinen ersten Eindruck von ihr korrigieren. Bei Sa, wie schnell Kinder groß werden! War sie nicht die Spielkameradin der kleinen Delo gewesen? Als er seine kleine Schwester das letzte Mal gesehen hatte, war sie gerade gescholten worden, weil sie ihren Trägerrock schmutzig gemacht hatte. Er hatte sie seit Jahren nicht zu Gesicht bekommen. Plötzlich schmerzte ihn dieser Verlust sehr. Er hatte mehr als nur sein Heim und ein Vermögen verloren, als sein Vater ihn enterbt hatte. Malta führte ihn in den Frühstückssalon. Ein Kaffeeservice und ein Teller mit Frühstückskuchen standen bereits auf einem kleinen Tisch, der von zwei bequemen Stühlen flankiert war. Das geöffnete Fenster bot einen herrlichen Ausblick auf den Garten. »Ich hoffe, es ist Euch genehm, hier zu warten. Ich habe den Kaffee selbst zubereitet. Hoffentlich ist er nicht zu stark.« »Er ist bestimmt gut«, erwiderte er lahm. Sie beschämte ihn doppelt. Deshalb also hatte sie ihn warten lassen, und die Vestrit-Familie machte im Moment anscheinend tatsächlich harte Zeiten durch, wenn die Tochter des Hauses für ihre Besucher Kaffee kochen und Kuchen schneiden musste. »Ihr kennt meine kleine Schwester, stimmt's?«, fragte er. »Delo.« »Natürlich. Die entzückende kleine Delo. Sie ist meine beste Freundin.« Erneut lächelte sie ihn auf eine ganz bestimmte Art an. Sie bedeutete ihm, Platz zu nehmen, und setzte sich ihm an dem schmalen Tisch gegenüber. Sie schenkte den Kaffee ein und servierte ihm das süße, mit Körnern gespickte Früchtebrot. »Ich habe Delo seit Jahren nicht mehr gesehen«, gab er zu. »Nicht? Wie schade. Sie ist ziemlich gewachsen.« Ihr Lächeln veränderte sich ein bisschen, als sie hinzufügte: »Ich kenne auch Euren Bruder.« Brashen runzelte bei ihrem wissenden Tonfall die Stirn.
»Cerwin? Ich nehme an, es geht ihm gut?« »Ich denke schon. Jedenfalls war es so, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe.« Sie seufzte und wandte den Blick ab. »Ich sehe ihn leider nicht oft.« War sie in den jungen Cerwin vernarrt? Brashen überschlug schnell, wie alt sein Bruder sein musste. Nun, Cerwin war sicher alt genug, um jungen Damen den Hof zu machen. Aber wenn Delo und Malta im gleichen Alter waren, dann war Malta sicher noch zu jung, um Verehrer zu empfangen. Ihm wurde etwas unbehaglich. War dieses hübsche kleine Ding nun ein Mädchen oder eine Frau? Sie rührte ihren Kaffee um und zwang ihn fast dazu, ihre eleganten Hände zu bewundern. Dann beugte sie sich über den kleinen Tisch und bot ihm an, seinen Kaffee zu würzen. Sicher wollte sie dabei gar nicht so viel von ihrem Busen enthüllen. Er sah rasch zur Seite, aber ihr Duft hüllte ihn ein. Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück, trank einen Schluck Kaffee und schob eine Haarsträhne aus ihrer faltenlosen Stirn. »Ihr kennt meine Tante Althea?« »Natürlich. Wir sind zusammen… gefahren. Auf der Viviace. Viele Jahre.« »Natürlich.« »Ist sie wieder sicher nach Bingtown zurückgekehrt?« »Aber ja. Schon vor Wochen. Sie ist mit der Ophelia angekommen. Das ist das Familienschiff der Teniras, wisst Ihr.« Sie sah ihn direkt an, als sie weitersprach. »Grag Tenira ist ziemlich in sie verliebt. Ganz Bingtown spricht darüber. Und nicht wenige sind von der Vorstellung ziemlich erschreckt, dass meine eigensinnige Tante plötzlich ihr Herz an einen so soliden Mann verloren hat. Meine Großmutter ist natürlich entzückt. Das sind wir alle. Wir hatten beinahe schon alle Hoffnung aufgegeben, dass sie jemals eine gute Partie machen und sich niederlassen würde. Ihr wisst sicher, was ich meine.« Sie lachte vertraulich, als wäre das etwas, das sie nicht jedem sagen konn-
te. Dabei beobachtete sie ihn so genau, als könnte sie sehen, wie sie mit ihren Worten die Widerhaken in sein Herz bohrte. »Eine gute Partie«, wiederholte er wie betäubt und nickte mechanisch. »Tenira. Grag Tenira. Oh, das ist er. Eine gute Partie, meine ich. Und außerdem ein guter Seemann.« Das Letzte sagte er beinahe wie zu sich selbst. Das war für ihn der einzige Grund, aus dem sich Althea zu Grag Tenira hingezogen fühlen konnte. Na ja, er sah auch gut aus. Brashen hatte gehört, dass man ihm das nachsagte. Außerdem war er nicht enterbt worden und hatte keine Vorliebe für Cindin. Als Brashen an die Droge dachte, wünschte er sich ein Stück, damit sie ihn von diesem ekelhaften Gefühl befreite. Vielleicht klebte ja noch ein Stück in seiner Jackentasche, aber er konnte seiner Sucht wohl kaum ausgerechnet hier im Händlerviertel und vor diesem behüteten Kind nachgeben. »… noch mehr Kuchen, Brashen?« Er bekam nur ihre letzten Worte mit und blickte auf seinen unberührten Teller. »Nein, danke, vielen Dank. Er ist aber sehr gut.« Er biss hastig ein Stück Kuchen ab. In seinem trockenen Mund fühlte sich der körnige Teig wie Sägemehl an, und er spülte ihn rasch mit einem Schluck Kaffee hinunter. Dann bemerkte er, dass er wie ein Matrose in der Kombüse futterte. Malta beugte sich über den Tisch und berührte sacht seinen Handrücken mit ihren schlanken Fingern. »Ihr scheint weit herumgekommen zu sein. Ich war so aufgeregt, als ich Euch hereingelassen habe… Ich habe Euch noch gar nicht dafür gedankt, dass Ihr uns Neuigkeiten vom Schiff meines Vaters bringt. Ihr seid von weit her gekommen, hab ich Recht?« »Ziemlich weit«, gab er zu. Er zog seine Hand zurück und rieb sie im Schoß, als könnte er damit das Kribbeln von ihrer Berührung vertreiben. Sie lächelte wissend und drehte ihr Gesicht zur Seite. Ihre Wangen waren gerötet. Also merkte sie, dass sie flirtete, und es war nicht die beiläufige Berührung eines Kindes. Er fühlte sich unter Druck gesetzt und war ver-
wirrt. Er musste über zu viel nachdenken. Bei der Aussicht selbst auf ein nur winziges Stückchen Cindin lief ihm das Wasser im Munde zusammen. Damit könnte er seine Gedanken wieder klären. Er zwang sich dazu, noch einmal von dem Kuchen abzubeißen. »Wisst Ihr, wenn ich Euch ansehe, frage ich mich, wie Euer Bruder wohl mit einem Schnurrbart aussehen würde. Euch steht er sehr gut. Er betont Euer Kinn und Eure Lippen.« Brashen hob unbewusst die Hand und glättete seinen Schnurrbart. Ihre Worte waren nicht schicklich, genauso wenig wie der fast schon gierige Blick, mit dem sie seinen Fingern folgte. Brashen stand auf. »Vielleicht sollte ich später am Nachmittag vorbeikommen. Bitte benachrichtigt Eure Familie, damit sie mich erwartet. Ich hätte Euch benachrichtigen sollen, statt einfach so vorbeizukommen.« »Überhaupt nicht.« Das Mädchen blieb sitzen. Sie stand nicht auf, um ihn zur Tür zu bringen, noch schien sie zu bemerken, dass er gehen wollte. »Ich habe den Läufer bereits losgeschickt. Ich bin sicher, dass sie bald wiederkommen. Sie wollen die Neuigkeiten von meinem Vater und seinem Schiff gewiss schnellstens erfahren.« »Davon bin ich überzeugt«, erwiderte Brashen förmlich. Er wurde aus dieser jungen Frau nicht schlau. Sie sah ihn so arglos an. Vielleicht waren ihre Worte ja nur der Irrtum eines ungekünstelten Kindes. Und vielleicht war er zu lange auf See gewesen. Er setzte sich wieder hin, hielt sich kerzengerade und legte den Hut auf den Schoß. »Dann warte ich auf sie. Ich habe Euch gewiss gestört. Ihr müsst nicht bei mir bleiben. Ich kann sehr gut allein hier warten.« Sie lachte perlend über seine unbeholfenen Worte. »Du meine Güte. Ich habe euch in Verlegenheit gebracht. Es tut mir wahnsinnig Leid. Vermutlich war ich zu vertraulich zu Euch. Das liegt daran, dass Ihr so lange der Erste Maat meines Großvaters gewesen seid, sodass ich Euch beinahe als Verwandten ansehe.
Und da ich Cerwin und Delo so gut kenne, wollte ich natürlich dieselbe Herzlichkeit auch bei ihrem Bruder walten lassen.« Sie senkte dramatisch die Stimme. »Es ist so tragisch, dass Ihr im Haus Eurer Familie nicht mehr willkommen seid. Ich habe nie ganz verstanden, was zwischen Euch und Eurem Vater vorgefallen ist…« Sie verstummte und lud ihn ein, ihr sein Vertrauen zu schenken. Aber Brashen stand nicht der Sinn danach, alte Familiengeschichten auszugraben. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in einer solch peinlichen Situation gewesen zu sein. In einem Moment schien Malta ein unschuldiges Kind zu sein, das sein Bestes tat, um einen Gast in Abwesenheit der Erwachsenen willkommen zu heißen. Und im nächsten Augenblick spielte sie wie eine Verführerin mit ihm. Seine Neuigkeiten waren dringlich, und er wünschte sich sehnlichst, Althea wiederzusehen. Doch je länger er hier blieb, desto unbehaglicher fühlte er sich. Etwas spät fiel ihm ein, dass diese ganze Situation als höchst unschicklich angesehen werden könnte. Er war, so schien es jedenfalls, vollkommen allein mit einer jungen Frau aus guter Familie. Er kannte einige Väter und Brüder, die schon wegen geringerer Anlässe Duelle ausgefochten hatten. Er stand auf. »Ich muss leider gehen, weil ich noch einige andere Dinge zu erledigen habe. Ich komme heute Nachmittag wieder. Bitte bestellt Eurer Familie meine Grüße.« Malta erhob sich nicht, aber er wartete auch nicht darauf. »Es hat mich gefreut, Euch wiederzusehen.« Er verbeugte sich und drehte sich um. »Euer Bruder Cerwin hält mich nicht für ein Kind.« Ihre Worte klangen herausfordernd. Unwillig drehte er sich zu ihr um. Sie war nicht aufgestanden, aber sie hatte ihren Kopf gegen die Stuhllehne gelehnt und entblößte ihren weißen Hals. Eine Haarsträhne hatte sich gelöst, und sie ließ sie durch die Finger gleiten, während sie redete. »Er ist süß, wie eine kleine Hauskatze.« Sie lächelte träge. »Ihr
dagegen seid mehr wie ein Tiger, vermute ich.« Sie steckte eine Fingerspitze in den Mund und knabberte nachdenklich daran. »Haustiere können so langweilige Geschöpfe sein«, bemerkte sie. Brashen musste feststellen, dass unter der Piratenbluse das Herz eines ordentlich erzogenen Bingtowner Händlersohnes schlug. Er war bis ins Mark getroffen. Ihre Absichten waren unmissverständlich. Kapitän Vestrits Enkelin probierte im Haus ihrer Familie ihre Verführungsqualitäten an ihm aus. Es war verrückt. »Ihr solltet Euch schämen«, sagte er mit ehrlicher Empörung. Er drehte sich bei ihrem erschreckten Seufzer nicht um, sondern ging durch den Flur zur Tür. Er machte sie auf und sah sich Ronica Vestrit und Keffria Haven gegenüber. »Sa sei Dank, dass Ihr gekommen seid!«, rief er, obwohl Keffria ihn anfuhr: »Wer seid Ihr, und was tut Ihr in unserem Haus?« Sie sah sich um, als wollte sie ihn von Dienern hinauswerfen lassen. »Brashen Trell«, sagte er hastig und verbeugte sich. »Ich bringe Neuigkeiten von der Viviace. Dringende und beunruhigende Neuigkeiten.« »Was ist los? Ist Kyle etwas zugestoßen? Habt Ihr Nachricht von meinem Sohn Wintrow?«, fragte Keffria sofort. »Nein!«, befahl Ronica Vestrit. »Nicht hier. Kommt herein und setzt Euch. Komm, Keffria, wir gehen ins Arbeitszimmer.« Brashen trat zur Seite, damit sie vorausgehen konnten. Er sprach schon, als er hinter ihnen herging. »Eure Enkelin Malta hat mich hereingelassen. Ich hatte angenommen, dass der Läufer, den sie Euch hinterhergeschickt hat, Euch auf meine Nachrichten vorbereitet hätte.« Er wollte fragen, ob Althea auch kommen würde, aber diese Frage verkniff er sich. »Zu uns ist kein Läufer gekommen«, informierte ihn Ronica Vestrit gespannt. »Aber ich habe schon befürchtet, dass früher oder später jemand an unsere Tür klopfen würde und dass die
Nachrichten nicht besonders gut sein würden.« Sie führte sie ins Arbeitszimmer und schloss die Tür fest hinter sich. »Setzt Euch, Trell. Was wisst Ihr? Ihr segelt nicht auf der Viviace. Ich weiß, dass Kyle Euch durch einen eigenen Mann ersetzt hat. Also, wie kommt es, dass Ihr uns diese Nachricht überbringt?« Wie viel von der Wahrheit schuldete er ihr? Wäre sie Althea gewesen und hätten sie ruhig bei einem Glas Bier zusammengesessen, hätte er ihr alles erzählt und es ihr überlassen, über ihn zu urteilen. Wer mit Piraten gemeinsame Sache machte, konnte gehängt werden, und er konnte nicht leugnen, was er getan hatte. Er würde trotzdem nicht lügen, aber er würde einfach nicht die ganze Wahrheit erzählen. »Die Viviace ist von Piraten gekapert worden.« Seine Worte fielen in die Stille wie ein Anker, der ohne Kette ins Wasser stürzt. Bevor sie sich so weit erholt hatten, dass sie ihn mit Fragen überhäufen konnten, fügte er hinzu: »Viel mehr weiß ich auch nicht. Sie wurde in einem Außenposten der Piraten gesehen, wo sie in einem Hafen vor Anker lag. Ich weiß weder, was aus ihrem Kapitän, noch, was aus der Mannschaft geworden ist. Es tut mir sehr Leid, Euch das erzählen zu müssen, und noch mehr bedaure ich, Euch zu sagen, dass es sich bei dem Piraten, der sie gekapert hat, um Kapitän Kennit handelt. Ich weiß nicht, warum er hinter der Viviace hergejagt ist. Man redet offen davon, dass er auf einem sehr ehrgeizigen Kreuzzug ist. Anscheinend träumt er davon, die Piraten-Inseln zu einem Königreich zu vereinen. Deshalb jagt er Sklavenschiffe. Den Gerüchten zufolge tötet er die Mannschaft, lässt die Sklaven frei, um ihr Wohlwollen zu gewinnen und das der anderen Piraten, die ebenfalls die Sklaverei hassen.« Ihm gingen der Atem und die Worte aus. Während er sprach, war Keffria auf ihrem Stuhl zusammengesunken, als hätte sie keine Knochen mehr im Leib und als würden seine Worte ihr jeden Funken Leben nehmen. Sie hatte beide Hände vor den Mund gepresst, um einen lauten Klageschrei zu ersticken.
Ganz anders Ronica Vestrit. Sie stand da, als wäre sie zu Holz erstarrt. Ihr Gesicht war vor Verzweiflung verzerrt, und mit ihren alten Händen umklammerte sie die Lehne eines Stuhls. Nach einer langen Pause holte Ronica vernehmlich Luft. Sie flüsterte nur, was ihr dennoch ungeheure Mühe zu bereiten schien. »Überbringt Ihr die Lösegeldforderung?« Das beschämte ihn. Die alte Frau verstand schnell. Sie hatte seine Kleidung gesehen und vermutet, was er im Moment tat. Sie hielt ihn für Kennits Unterhändler. Die Scham brannte tief in ihm, aber er konnte es ihr nicht verübeln. »Nein«, erwiderte er. »Ich weiß kaum mehr, als ich Euch gesagt habe.« Er seufzte. »Ich glaube nicht, dass eine Lösegeldforderung erhoben wird. Dieser Kapitän Kennit scheint mit seiner Beute sehr zufrieden zu sein. Zumindest das Schiff wird er behalten. Von den Männern, die an Bord waren, weiß ich nichts. Tut mir Leid.« Das folgende Schweigen war eisig. Seine Neuigkeiten hatten ihr Leben verändert. Mit einigen wenigen Worten hatte er all ihre Hoffnungen zunichte gemacht. Das Schiff hatte sich nicht einfach nur verspätet. Sein Kapitän würde nicht mit Gold nach Hause kommen. Stattdessen mussten sie jetzt alles für das Lösegeld zusammenkratzen, wenn sie überhaupt das Glück hatten, eine Lösegeldforderung zu bekommen. Die Neuigkeiten, die er überbracht hatte, würden die Vestrits ruinieren. Und der Überbringer dieser Nachricht machte sich entsprechend verhasst: Er wartete darauf, dass der Sturm losbrach. Keine der beiden weinte. Und sie schrieen auch nicht oder beschuldigten ihn der Lüge. Keffria schlug die Hände vors Gesicht. »Wintrow«, sagte sie leise. »Mein kleiner Junge.« Ronica schien vor seinen Augen zu altern. Sie ließ die Schultern sinken, und die Furchen in ihrem Gesicht traten deutlicher hervor, als sie sich zu einem Sessel tastete und sich mit starrem Blick niederließ. Brashen fühlte sich von der gewaltigen Verantwortung beinahe erdrückt. Was hatte er erwartet? Er suchte ver-
zweifelt nach verschwundenen Bildern, in denen sich Althea mit wütend funkelnden Augen an ihn als ihren Freund wandte und ihn bat, ihr dabei zu helfen, ihr Schiff wiederzubekommen. Das hier war die Realität. Er hatte den letzten entscheidenden Schlag gegen eine Familie geführt, mit der er einst befreundet gewesen war. Plötzlich schrie jemand auf, ein Poltern ertönte vor der Tür, und dann wurde sie aufgerissen. Althea trat ein und stieß eine zerzauste und heftig kämpfende Malta ins Zimmer. »Keffria! Diese Göre hat schon wieder gelauscht. Ich habe ihr Herumspionieren und ihre hinterhältige Art satt. Das ist unserer Familie nicht würdig… Brashen? Was machst du denn hier? Was ist los, was ist passiert?« Althea ließ Malta so plötzlich los, dass das Mädchen geräuschvoll auf den Hintern fiel. Sie starrte ihn mit großen Augen an, und ihr Mund stand offen. Es schien, als würde ihr die Luft wegbleiben. Er stand auf und machte einen Schritt auf sie zu. Dann brach die Geschichte aus ihm heraus. »Die Viviace ist von Piraten gekapert worden. Ich habe sie in einem Piratennest gesehen, wo sie vor Anker lag. Die Rabenflagge wehte an ihrem Mast. Das bedeutet, Kennit hat sie. Du kennst sicher seinen Ruf. Man sagt, er tötet die gesamte Mannschaft von jedem Sklavenschiff, das er erbeutet. Über das Schicksal der Mannschaft weiß ich leider nichts.« Ein durchdringender Schrei von Malta übertönte alles andere. Sie holte noch einmal Luft und sprang auf die Füße. Dann stürzte sie sich auf Brashen und schwang wütend die Fäuste. »Nein! Das ist eine Lüge, alles gelogen! Vater hat gesagt, er würde nach Hause kommen, er würde alles in Ordnung bringen! Er wird kommen und uns reich machen und Althea hinauswerfen und alle dazu bringen, dass sie mich anständig behandeln! Du behauptest das nur, du Schwein! Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr! Mein Vater kann nicht tot sein, er kann einfach nicht tot sein!«
Brashen packte ihr Handgelenk und bekam dann auch das andere zu fassen, aber erst nachdem sie ihn zweimal getroffen hatte. Sie gab jedoch nicht auf, wie er erwartet hatte. Stattdessen trat sie ihm zweimal fest gegen das Schienbein. »Malta! Hör damit auf!«, befahl Ronica scharf. »Hör auf! Hör auf! Es wird nichts ändern!«, rief Keffria. Althea reagierte anders. Sie machte einen Schritt, packte Maltas Haar und riss sie heftig zurück. Das Mädchen kreischte auf vor Schmerz. Brashen ließ sofort ihre Handgelenke los. Dann schockierte Althea ihn, als sie Malta in den Schwitzkasten nahm. »Hör sofort damit auf!«, zischte sie dem zappelnden Mädchen zu. »Es nützt nichts. Spar dir deine Kraft und deinen Verstand auf. Wir dürfen uns nicht gegenseitig bekämpfen. Wir haben jetzt einen gemeinsamen Feind. Wir müssen alles, was wir haben, darauf konzentrieren, sie zu retten. Malta. Malta. Ich weiß, dass es schrecklich ist, aber wir müssen damit fertig werden und dürfen nicht hysterisch sein.« Malta verstummte abrupt. Dann stieß sie Althea heftig weg und trat einen Schritt zur Seite, bevor sie sich umdrehte und sie anklagend anstarrte. »Du bist doch froh, dass das passiert ist. Das bist du doch! Mein Vater interessiert dich doch gar nicht, das hat er nie getan! Du willst nur dieses Schiff. Du hoffst doch, dass er tot ist, ich weiß es! Du hasst mich! Tu nicht so, als wärst du meine Freundin.« Sie biss die Zähne zusammen und starrte Althea finster an. Ein eisiges Schweigen herrschte im Zimmer. Altheas Stimme war hart wie Stein, als sie antwortete. »Nein. Ich bin nicht deine Freundin.« Sie schob sich ihr zerzaustes Haar aus der Stirn. »Meistens kann ich dich nicht einmal leiden. Aber ich bin deine Tante. Das Schicksal hat uns zu einer Familie gemacht, und jetzt macht es uns auch zu Verbündeten. Malta, vergiss dein Geplapper und deine Launen und dein Geschmolle. Benutze deinen Verstand! Das müssen wir alle tun. Wir müssen unser Familienschiff zurückbekommen und so
viele von der Mannschaft retten, wie noch am Leben sind. Das ist das einzige Problem, auf das wir uns jetzt konzentrieren dürfen.« Malta musterte sie misstrauisch. »Du versuchst mich reinzulegen. Du willst das Schiff nur für dich selbst.« »Ich will das Familienschiff immer noch befehligen«, gab Althea ohne Umschweife zu. »Das stimmt. Aber dieser Streit muss warten, bis die Viviace wieder sicher in Bingtown gelandet ist. Das ist im Moment alles, was wir wollen. Es ist selten genug, dass die Frauen in dieser Familie sich auf etwas einigen. Solange wir das tun, musst du aufhören, dich wie ein hysterisches Mädchen mit dem Hirn eines Huhns zu benehmen.« Althea sah ihre Mutter und ihre Schwester an. »Keine von uns darf sich jetzt ihren Gefühlen hingeben. Soweit ich das sehe, haben wir nur eine einzige Möglichkeit. Wir müssen Mittel für die Lösegeldforderung auftreiben. Und zwar viel Geld. Das ist, offen gesagt, unsere beste Chance, Schiff und Mannschaft wieder unversehrt zurückzubekommen.« Sie schüttelte den Kopf. »Es geht mir gewaltig gegen den Strich, dass wir das zurückkaufen müssen, was uns gehört, aber das ist der praktikabelste Weg, es zurückzubekommen. Wenn wir Glück haben, wird er unser Geld nehmen und uns das Schiff zurückgeben. Allerdings hat Brashen Recht. Ich habe von diesem Kapitän Kennit gehört. Wenn er die Viviace gekapert hat, dann deshalb, weil er sie behalten will. Wenn dem so ist, können wir nur zu Sa beten, dass er klug genug war, Angehörige der Familie und die vertraute Mannschaft an Bord zu behalten, damit sie bei Verstand bleibt. Du siehst also, Malta, ich hoffe durchaus auch aus persönlichen Gründen, dass dein Vater und dein Bruder noch am Leben sind.« Althea warf ihrer Nichte diese Worte mit einem verkniffenen Lächeln zu. Leiser fuhr sie fort: »Das Bingtown-Händler-Konzil tritt heute Abend zusammen. Sie wollen der Tenira-Familie eine Anhörung wegen der Steuern des Satrapen gewähren und auch we-
gen der Anwesenheit der sogenannten ›Patrouillenschiffe‹ der Chalcedaner und der Sklaven in Bingtown. Ich habe Grag versprochen, dorthin zu gehen und die Meinung seines Vaters zu unterstützen. Mutter, Keffria, ihr solltet mitkommen. Mobilisiert auch andere, wenn ihr könnt. Es wird Zeit, dass die Bingtown-Händler erwachen und sehen, was hier vorgeht. Wenn der Zeitpunkt günstig ist, werden wir die Angelegenheit der Viviace vorbringen und um Hilfe der anderen Lebensschiff-Händler bitten, falls wir nicht alle Händler dazu bringen können, uns zu helfen. Das ist etwas, das uns alle angeht. Und trotz des Risikos, dass Malta sich wieder aufregt, werde ich sagen, dass es direkt mit dem Thema Sklaverei zu tun hat. Hätte Kyle die Viviace nicht als Sklavenschiff benutzt, wäre ihr das nicht passiert. Es ist sehr wohl bekannt, dass Kennit Sklavenschiffe jagt. Und es ist ebenso allgemein bekannt«, fuhr sie etwas lauter fort, als Malta sie unterbrechen wollte, »dass wir eben wegen dieser Piraterie die chalcedanischen Söldner hier im Hafen haben. Wenn Bingtown selbst Stellung gegen die Sklaverei bezieht, können wir dem Satrapen vielleicht klarmachen, dass wir seine Patrouillenboote nicht brauchen und auch nicht vorhaben, für sie zu zahlen.« Sie drehte sich um und blickte aus dem Fenster. »Sollten wir in all diesen Punkten Erfolg haben, können wir vielleicht ganz Bingtown davon überzeugen, dass wir Jamaillia und den Satrapen nicht brauchen. Weil wir uns sehr gut um uns selbst kümmern können.« Sie sprach diese Worte sehr leise, aber in der Stille des Raums waren sie gut zu hören. Althea seufzte plötzlich und ließ die Schultern hängen. »Ich bin hungrig. Ist das nicht albern? Brashen bringt die schlimmsten Nachrichten, die ich mir vorstellen kann, und irgendwie bin ich trotzdem hungrig.« »Was auch immer dir widerfährt, dein Körper will weiterleben.« Ronica sprach diese Worte mit der ganzen Erfahrung eines Menschen, der überlebt hat. Sie durchquerte steif den Raum und ging zu ihrer Enkelin. Sie hielt ihr die Hand hin.
»Malta, Althea hat Recht. Wir müssen jetzt wie eine Familie zusammenstehen und all unsere Streitigkeiten beiseite lassen.« Sie hob den Blick und bedachte die Umstehenden mit einem grimmigen Lächeln. »Bei Sa, was es uns gekostet hat, bis wir uns wieder wie eine Familie benehmen. Ich schäme mich.« Sie sah ihre Enkelin an und hielt die Hand immer noch ausgestreckt. Langsam streckte Malta die ihre aus. Ronica nahm sie und sah dem Mädchen tief in die Augen. Plötzlich umarmte sie sie spröde. Malta erwiderte die Umarmung vorsichtig. »Sind Malta und Papa nicht mehr böse?«, fragte eine junge Stimme. Alle drehten sich zu dem Jungen in der Tür um. »Ach, Selden!«, rief Keffria bestürzt. Sie raffte sich auf und ging zu ihrem jüngsten Sohn. Sie versuchte ihn zu umarmen, aber er befreite sich. »Mama, ich bin kein Baby mehr!«, rief er ärgerlich. Sein Blick glitt an seiner Mutter vorbei zu Brashen. Er betrachtete ihn ernst und neigte den Kopf. »Du siehst wie ein Pirat aus«, sagte er. »Das tue ich, ja?«, erwiderte Brashen. Er hockte sich vor den kleinen Jungen, damit er auf einer Ebene mit ihm war. Dann streckte er die Hand aus. »Aber ich bin keiner. Ich bin nur ein ehrlicher Seemann aus Bingtown, den ein bisschen das Glück verlassen hat.« Einen Moment glaubte er fast, dass es stimmte. Einen Augenblick konnte er fast das kleine Stück Cindin vergessen, auf das seine suchenden Finger in einer Ecke seiner Jackentasche gestoßen waren.
16
Verantwortung übernehmen Althea sah ihm hinterher, als er wegging. Sie hatte ihn nicht gemeinsam mit ihrer Mutter zur Tür begleitet. Stattdessen war sie in die alte Dienstmädchenkammer im obersten Stockwerk des Hauses gestürmt. Sie hatte in dem staubigen Raum kein Licht entzündet und war nicht einmal dicht ans Fenster getreten. Falls Brashen sich umdrehte und er sie womöglich sah! Das fahle Mondlicht wusch alle Farben aus seiner Kleidung. Er ging langsam, blickte nicht zurück und schwankte, als würde er über ein Deck schreiten statt über eine Auffahrt. Althea hatte Glück gehabt, dass sie gerade mit Malta rangelte, als sie an diesem Abend ins Arbeitszimmer gekommen war. Sie glaubte nicht, dass Brashen ihre Panik bei seinem Anblick bemerkt hatte. Ihr Schreck über die entsetzte Miene ihrer Mutter und Keffrias hätte beinahe ihr Herz zum Stillstand gebracht. Einen entsetzlichen Moment lang dachte sie, er wäre zu ihrer Mutter gegangen, hätte alles gebeichtet und angeboten, Altheas Ehre wiederherzustellen, indem er sie heiratete. Selbst als sie Brashens tatsächliche ernste Nachrichten hörte, war sie dennoch irgendwie erleichtert, dass sie nicht öffentlich zugeben musste, was sie getan hatte. Was sie selbst getan hatte. Sie konnte das jetzt akzeptieren. Ambers Worte hatten sie schon vor Wochen gezwungen, sich mit diesem Thema auseinander zu setzen. Mittlerweile schämte sie sich beinahe, dass sie sich hinter Ausflüchten versteckt hatte. Was sie getan hatten, hatten sie wirklich zusammen getan. Wenn sie sich selbst als Frau und Erwachsene respektieren wollte, konnte sie nichts anderes behaupten. Sie hatte nur anders geredet, weil sie nicht für eine solch verantwortungslose Handlung die Schuld übernehmen wollte. Das gestand sie sich
endlich ein. Hätte er sie wirklich hereingelegt oder sie ins Bett gezwungen, hätte sie den Schmerz rechtfertigen können, den sie seitdem empfand. Sie wäre eine Frau, der man Unrecht getan hatte, die unschuldig verführt wurde und von einem herzlosen Seemann einfach sitzen gelassen worden war. Aber das hätte sie beide beleidigt. Althea war an diesem Abend nicht in der Lage gewesen, ihm in die Augen zu blicken, und genauso wenig konnte sie verhindern, dass sie ihn immer wieder ansehen musste. Sie hatte ihn vermisst. Immer wieder hatte sie ihn verstohlen angeschaut und sein Bild in ihr Gedächtnis eingebrannt, als könnte sie damit eine Art Hunger stillen. Die verheerenden Nachrichten, die er überbrachte, waren zwar äußerst schmerzhaft, aber ihre verräterischen Augen hatten nur seine dunkel glänzenden Augen gemustert. Sie hatte seine Muskeln betrachtet, die sich unter seinem Seidenhemd abzeichneten. Ihr war natürlich auch die Cindin-Wunde an seinem Mundwinkel aufgefallen. Er nahm die Droge also immer noch. Seine Aufmachung als Freibeuter stieß sie ab. Es schmerzte und enttäuschte sie, dass er zum Piraten geworden war. Dennoch stand ihm diese Kleidung viel besser, als die nüchterne Kluft eines Bingtowner Händlersohnes jemals zu ihm gepasst hatte. Alles an ihm missbilligte sie, und trotzdem fing ihr Herz allein bei seinem Anblick an zu rasen. »Brashen«, flüsterte sie allein in der Dunkelheit. Sie schüttelte den Kopf, während er allmählich aus ihrem Blickfeld verschwand. Du empfindest nur Bedauern, sagte sie sich. Mehr nicht. Sie bedauerte, dass sie mit ihm ins Bett gegangen war und so ihre unbeschwerte Kameradschaft zerstört hatte. Sie bedauerte, dass sie sich so weit hatte gehen lassen, etwas derartig Unschickliches mit einer derart unangemessenen Person zu tun. Sie bedauerte auch, dass er aufgegeben hatte und nicht der Mann geworden war, für den ihr Vater ihn gehalten hatte. Sie bedauerte sein schlechtes Urteilsvermögen und seinen schwa-
chen Charakter. Mehr empfand sie nicht. Nur Bedauern. Sie fragte sich, was ihn wohl nach Bingtown zurückgebracht hatte. Er war sicher nicht den ganzen Weg zurückgekommen, um ihnen zu sagen, dass die Viviace gekapert worden war. Bei dem Gedanken an ihr Schiff verstärkte sich der Schmerz in ihrem Herzen. Es war schon schlimm genug gewesen, sie an Kyle zu verlieren, doch jetzt war sie in den Händen eines mordlüsternen Piraten. Es würde das Schiff zeichnen. Dem konnte sie nicht entkommen. Wenn sie die Viviace jemals wiederbekam, würde sie sich sehr von dem lebhaften und temperamentvollen Schiff unterscheiden, das Bingtown vor über einem Jahr verlassen hatte. »Sie wird so anders sein, wie ich mich von der unterscheide, die ich damals war«, sagte sie in die Nacht. »Und so anders, wie er jetzt ist.« Sie sah Brashen hinterher, bis die Nacht ihn verschluckte. Mitternacht war schon vorbei, als es Malta endlich gelang, unbemerkt aus dem Haus zu schleichen. Die Familie hatte in der Küche gegessen, wie die Diener. Von den Resten des Tages hatten sie sich ein einfaches Nachtmahl zubereitet. Und Brashen hatten sie auch eingeladen. Als Rache später von ihrem freien Tag in der Stadt zurückkehrte, waren die Familie und Brashen in das Arbeitszimmer ihres Vaters umgezogen und hatten ihr Gespräch fortgesetzt. Selbst Selden war dabei gewesen, sehr zu Maltas Missfallen. Er stellte nur dumme Fragen, was vielleicht nicht so schlimm gewesen wäre, wenn nicht jeder versucht hätte, sie so zu beantworten, dass er es verstand. Gleichzeitig versicherten sie ihm, dass er keine Angst haben müsste. Schließlich war er am Kamin eingeschlafen. Brashen hatte angeboten, ihn in sein Zimmer zu tragen, und Großmutter hatte das doch tatsächlich erlaubt, statt die kleine Wanze zu wecken. Malta zog ihren Umhang enger um sich. Es war ein schöner Sommerabend; der dunkle Umhang half sie zu verbergen und
hielt darüber hinaus den Tau ab. Ihre Schuhe und ihr Kleid waren schon nass. Es war viel dunkler hier draußen, als sie erwartet hatte. Der weiße Kieselweg, der zu der Eiche und der Laube führte, reflektierte das Mondlicht, sodass sie sah, wo sie hintreten konnte. An einigen Stellen überwucherte schon Gras den Weg. Nasse braune Blätter klebten an den Sohlen ihrer Schuhe. Hier war seit dem Herbst nicht mehr gerecht worden. Sie versuchte, nicht an die Schnecken und Würmer zu denken, die sie unter ihren Füßen zertrat. Als sie ein Rascheln in den Büschen neben sich hörte, blieb sie mit einem erstickten Schrei stehen. Etwas hastete durch das Unterholz davon, aber sie blieb stehen und lauschte. Einmal waren schon große weiße Bergluchse in der Nähe von Bingtown gesehen worden. Man behauptete, dass sie kleinere Tiere erbeuteten und sogar Kleinkinder rissen. Am liebsten wäre Malta umgekehrt und wieder ins Haus gegangen, aber sie nahm all ihren Mut zusammen. Das war kein Streich oder ein Test ihrer Willenskraft. Was sie jetzt tat, machte sie für ihren Vater. Er würde es sicher verstehen. Sie fand es sehr ironisch, dass Tante Althea sie aufgefordert hatte, mit der Familie an einem Strang zu ziehen, damit sie das Schiff und ihren Vater zurückbekamen. Selbst ihre Großmutter hatte sich gut verstellt, als sie sie flüchtig umarmt hatte. In Wahrheit glaubte keiner, dass Malta irgendwie helfen könnte, außer wenn sie sich aus allen Schwierigkeiten heraushielt. Malta wusste, dass das Gegenteil stimmte. Während Mutter in ihrer Bettkammer weinte und Wein als Opfer für Sa kochte und Tante Althea und ihre Großmutter wach in ihren Betten lagen und nachdachten, was verkauft werden könnte, um Geld zu beschaffen, würde nur Malta wirklich handeln. Malta erkannte, dass allein sie andere zur Hilfe mobilisieren konnte. Ihre Entschlossenheit verhärtete sich, als sie darüber nachdachte. Sie würde alles tun, was in ihrer Macht stand, um ihren Vater sicher nach Hause zu holen. Dann würde sie dafür sorgen, dass
er erfuhr, wer aus der Familie wirklich ein Opfer für ihn gebracht hatte. Wer sagte denn, dass Frauen nicht für die, die sie liebten, mutig und kühn sein konnten? Dieser Gedanke bestärkte sie, und sie tastete sich vorsichtig weiter. Ein unheimlicher Schein drang durch die Rosenspaliere. Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Ein fahlgelbes Licht schwankte und flackerte. Innerhalb von Sekunden fielen ihr all die Schauermärchen über das Regenwild-Volk ein. Hatte Reyn etwas zurückgelassen, was sie bewachte, und würde es jetzt denken, dass sie ihn betrog? Sie wäre beinahe umgekehrt, als ein leichter Windhauch den Duft einer brennenden Wachskerze und des Jasminparfüms zu ihr trug, das Delo in letzter Zeit bevorzugte. Sie schlich weiter zur Eiche. In ihrem Schatten erkannte sie die Lichtquelle. Das gelbe Licht drang aus den Rissen der alten Laube und betonte die Umrisse des Efeus, der das Gebäude bedeckte. Es wirkte wie ein magischer Ort, gleichzeitig romantisch und geheimnisvoll. Cerwin erwartete sie dort. Er hatte eine kleine Kerze angezündet, damit sie zu ihm fand. Ihr Herz klopfte heftig. Das war perfekt, wie aus einem romantischen Minnesängerlied. Sie war die Heldin, die junge Frau, der vom Schicksal und ihrer Familie übel mitgespielt wurde, die schön und jung und untröstlich über die Gefangenschaft ihres Vaters war. Trotz allem, was ihre lieblose Familie ihr antat, war sie diejenige, die das letzte Opfer brachte, das sie alle errettete. Cerwin war der junge Mann, der sie erlösen sollte, weil sein männliches, junges Herz vor Liebe glühte. Er konnte nicht anders. Sie blieb in dem fahlen Mondlicht stehen und genoss ausgiebig die dramatische Szenerie. Leise ging sie weiter, bis sie durch die mit Blättern bedeckte Tür spähen konnte. Zwei Gestalten warteten drinnen auf sie. Delo hockte in einer Ecke, eingemummelt in ihren Umhang, doch Cerwin ging unruhig auf und ab. Seine Bewegung ließ die
Kerzenflamme flackern. Seine Hände waren leer. Malta runzelte die Stirn. Das war nicht richtig. Reyn hätte ihr wenigstens Blumen mitgebracht. Nun, vielleicht hatte Cerwin ihr ja ein kleines Geschenk mitgebracht, eines, das er in der Tasche hatte. Sie wollte sich diesen Moment nicht verderben lassen. Malta schob die Kapuze vom Kopf, schüttelte ihr Haar aus und drapierte es sorgfältig über ihre Schultern. Dann fuhr sie sich mit den Zähnen über die Lippen, damit sie röter wurden, und trat in den Lichtkreis, der aus der Laube fiel. Sie ging in einem gemäßigten Tempo und hatte eine ernste Miene aufgesetzt. Cerwin bemerkte sie sofort. Sie blieb halb im Schatten stehen, drehte ihr Gesicht zum Kerzenschein und öffnete weit die Augen. »Malta!«, flüsterte er. Seine Stimme klang erstickt vor unterdrückten Emotionen, als er auf sie zuging. Er würde sie in die Arme nehmen. Sie bereitete sich innerlich darauf vor, doch stattdessen blieb er stehen und sank vor ihr auf ein Knie. Er hatte den Kopf gesenkt, und sie konnte nur seine dunklen Locken sehen. »Danke, dass Ihr gekommen seid«, sagte er gepresst. »Als Mitternacht verstrich und Ihr noch nicht hier wart, fürchtete ich schon…« Er rang nach Atem und schluchzte beinahe. »Ich hatte wohl schon gar keine Hoffnung mehr.« »Ach, Cerwin«, murmelte sie traurig. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass Delo an die Tür der Laube geschlichen war und sie beobachtete. Einen Moment ärgerte sich Malta. Es verdarb die Stimmung, wenn Cerwins kleine Schwester sie bespitzelte. Doch dann dachte sie nicht mehr daran. Es spielte keine Rolle. Delo konnte niemandem etwas erzählen, ohne sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen. Malta trat dichter an Cerwin heran. Sie legte ihre blassen Hände auf seinen Kopf und strich mit den Fingern durch sein Haar. Er hielt bei dieser Berührung die Luft an. Sie hob seinen Kopf, sodass er sie ansehen konnte. »Wie konntet Ihr denken, dass ich nicht kommen würde?«, fragte sie ihn freundlich. Sie seufzte leise. »Ganz gleich, wie
viel Sorgen mich plagen, und ganz gleich, wie groß die Gefahr für mich ist… Ihr hättet wissen müssen, dass ich kommen würde.« »Ich habe zu hoffen gewagt«, gab er zu. Als er zu ihr aufblickte, erschrak Malta. Er ähnelte Brashen sehr, nur verblasste er erheblich im Vergleich. Sie hatte Cerwin für männlich und reif gehalten. Nachdem sie jedoch jetzt Brashen einen Abend lang beobachtet hatte, wirkte Cerwin nur wie ein unreifes Jüngelchen. Der Vergleich ärgerte sie. Irgendwie schmälerte das ihre Eroberung. Er packte ihre Hände und wagte es, ihre Handflächen zu küssen, bevor er sie losließ. »Das dürft Ihr nicht«, murmelte sie. »Ihr wisst doch, dass ich einem anderen versprochen bin.« »Ich werde niemals zulassen, dass er Euch bekommt!«, schwor er. Sie schüttelte den Kopf. »Dafür ist es zu spät. Die Nachrichten, die Euer Bruder uns heute Abend brachte, haben mir das klargemacht.« Sie wandte den Kopf und starrte mit leerem Blick in den nächtlichen Wald. »Ich habe keine andere Wahl, als mein Schicksal zu erfüllen. Das Leben meines Vaters hängt davon ab.« Er sprang auf. »Was sagt Ihr da?« Es war ein leiser Schrei. »Welche Neuigkeiten…? Mein Bruder hat sie Euch überbracht? Das Leben Eures Vaters…? Ich verstehe nicht…« Ihre Stimme klang gepresst, und diesmal war sie wirklich den Tränen nahe. »Piraten haben unser Familienschiff gekapert. Brashen war so freundlich, uns zu benachrichtigen. Wir fürchten, dass mein Vater und mein Bruder schon tot sein könnten, aber falls sie es doch nicht sind, wenn es noch eine Chance gibt… Ach, Cerwin, wir müssen einfach einen Weg finden, um genug Lösegeld zusammenzubekommen. Aber wie könnten wir das? So demütigend das auch ist, Ihr kennt sicher unsere finanziellen Schwierigkeiten. Sobald bekannt wird, dass unser
Schiff gekapert worden ist, werden unsere Gläubiger wie Haie über uns herfallen.« Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Ich weiß kaum, wie wir uns ernähren sollen, ganz zu schweigen davon, wie wir genug Geld zusammenbringen können, um meinen Vater freizukaufen. Ich fürchte, ich werde sofort an den Regenwildnis-Händler verheiratet. So sehr mich das auch bestürzt, ich weiß, was ich zu tun habe. Reyn ist ein sehr großzügiger Mann. Er wird uns helfen, unseren Vater wiederzubekommen. Wenn ich ihn dafür heiraten muss… dann macht mir das nichts aus… nicht viel, jedenfalls.« Ihre Stimme brach bei diesen letzten Worten. Sie schwankte, weil ihr grausames Schicksal sie so mitnahm. Er nahm sie in die Arme. »Ihr armes, mutiges Kind. Könnt Ihr Euch vorstellen, dass ich es zulassen würde, dass Ihr eine Ehe ohne Liebe eingeht, selbst wenn Ihr es für Euren Vater tut?« »Das haben wir nicht zu entscheiden, Cerwin«, flüsterte sie an seiner Brust. »Ich selbst werde mich Reyn anbieten. Er verfügt sowohl über die Macht als auch über den Reichtum, mir zu helfen. Daran werde ich denken, wenn… wenn die Zeit kommt, in der… ich ihm gefällig sein muss.« Sie verbarg ihr Gesicht an seinem Hemd, als schäme sie sich, von solchen Dingen zu sprechen. Cerwin umfasste ihre Oberarme noch fester. »Niemals«, versprach er. »Diese Zeit wird niemals kommen.« Er holte tief Luft. »Ich kann nicht behaupten, so wohlhabend wie ein Regenwild-Händler zu sein. Aber alles, was ich habe und was ich jemals haben werde, stelle ich Euch zur Verfügung.« Er hielt sie ein Stück von sich weg, damit er ihr ins Gesicht blicken konnte. »Glaubt Ihr denn, dass ich weniger tun würde?« Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich dachte nicht, dass Ihr das könntet«, gab sie zu. »Noch ist Euer Vater der Händler in Eurer Familie. Das Beispiel des armen Brashen hat bewiesen, dass er sein Haus mit fester Hand führt. Ich weiß zwar,
wie Euer Herz Euch gebietet, aber in Wirklichkeit…« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Es gibt nur wenig, was Ihr wirklich ausrichten könnt.« »Der arme Brashen!« Er schnaubte verächtlich und vergaß einen Augenblick ihr eigentliches Problem. »Mein Bruder hat sich sein Unglück selbst zuzuschreiben. Bemitleidet ihn nicht. Eure anderen Worte freilich stimmen, und ich kann es nicht leugnen. Ich kann Euch nicht das ganze Trell-Vermögen zur Verfügung stellen, aber…« »Als wenn ich darum bitten würde! Ach, Cerwin, was müsst Ihr von mir halten? Dass ich des Nachts zu Euch komme und meinen Ruf riskiere, nur um Euch um Geld anzubetteln?« Sie wirbelte rasch herum, damit ihr Umhang flatterte und kurz das weiße Baumwollnachthemd sichtbar wurde, das sie darunter trug. Sie hörte, wie Delo nach Luft schnappte, aus der Laube stürmte und neben Malta trat. »Du bist ja praktisch nackt!«, schalt sie sie. »Malta, wie kannst du das tun!« Sehr gut. Falls Cerwin zu dumm gewesen sein sollte, das vorher zu bemerken, wusste er es jetzt. Malta straffte sich würdevoll. »Ich hatte keine Wahl. Ich hatte nur eine Chance, aus dem Haus zu entkommen und Euch zu treffen, und ich habe sie ergriffen. Ich bereue es nicht. Cerwin war Gentleman genug, um es zu ignorieren und mich nicht zu beschämen. Ich bin nicht freiwillig so zu ihm gekommen. Verstehst du nicht, dass es hier um das Leben meines Vaters geht, Delo? Es ist keine gewöhnliche Situation, und die gewöhnlichen Regeln greifen hier nicht.« Sie legte flehentlich die Hände über ihr Herz. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie Cerwins Reaktion. Er starrte sie entsetzt und bewundernd an. Sein Blick glitt über ihren Körper, als könnte er durch ihren Umhang schauen. »Delo«, sagte er brüsk. »Das ist nicht wichtig. Du bist ja so ein Kind, dass du so viel daraus machst. Gestatte mir, ungestört mit Malta zu sprechen.«
»Cerwin!«, protestierte Delo wütend. Er hatte sie verärgert, als er sie ein Kind nannte. Das wollte Malta nicht. Eine verärgerte Delo klatschte vielleicht zu viel. Malta streckte ihre bebende Hand nach ihr aus. »Ich weiß, dass du nur versuchst, mich zu beschützen. Dafür liebe ich dich. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass dein Bruder mir nichts tun wird.« Sie sah Delo an. »Weißt du, ich kenne dich sehr genau, und deshalb weiß ich auch viel über ihn. Ihr seid anständige Menschen, und deshalb habe ich auch keine Angst, allein mit ihm zu sein.« Delo trat mit glänzenden Augen zurück. »Ach, Malta. Du bist ja so klug.« Offensichtlich gerührt, trat sie in die Laube zurück. Malta sah wieder Cerwin an. Sie zog den Umhang um sich, wohl gewahr, dass sie dadurch ihre schmale Taille und ihre geschwungenen Hüften betonte. Dann warf sie ihm ein schüchternes Lächeln zu. »Cerwin.« Sie sprach seinen Namen aus und seufzte. »Es beschämt mich, so offen sprechen zu müssen, aber meine Not zwingt mich dazu. Ich bitte Euch nicht um alles, was Ihr habt und jemals besitzen werdet. Was Ihr mir anbietet, diskret und ohne Schwierigkeiten, nehme ich dankbar an. Aber es wäre für mich wichtiger, wenn Eure Familie sich mit der meinen zusammentäte. Morgen Abend soll es ein Händlerkonzil geben. Ich werde dort sein. Bitte kommt. Wenn Ihr euren Vater dazu bringen könntet, ebenfalls teilzunehmen und sich für uns einzusetzen, würde uns das weiterhelfen. Der Verlust unseres Schiffes und meines Vaters ist nicht nur ein Verlust für meine Familie. Es betrifft alle Bingtown-Händler. Wenn diese mörderischen Piraten keine Furcht haben, ein Zauberschiff zu kapern, wovor schrecken sie dann noch zurück? Wenn sie sich nicht davor fürchten, einen Bingtown-Händler und seinen Sohn gefangen zu halten, wer ist dann noch sicher?« Maltas Stimme wurde immer leidenschaftlicher. Sie packte Cerwins Hände. »Wenn Eure Familie sich mit meiner in dieser Sache verbünden könn-
te…« Sie senkte die Stimme. »Vielleicht würde dann meine Großmutter Reyns Werbung noch einmal überdenken. Vielleicht sieht sie ja ein, dass es… bessere Partien gibt.« Sie ließ seine Hände los, und ihr Herz schlug wie rasend. Eine merkwürdige Hitze durchströmte ihren Körper. Jetzt würde er sie in die Arme nehmen und küssen, und das war wie das Ende des Minneliedes. Sie wartete auf die Berührung seiner Lippen, die sie wie ein Blatt im Wind davontragen würde. Die Augen hatte sie bereits halb geschlossen. Doch statt sie zu küssen, fiel er wieder vor ihr auf die Knie. »Ich komme morgen Abend zum Konzil. Und ich werde mit meinem Vater sprechen und ihn davon überzeugen, dass die Trells Eure Familie unterstützen sollen.« Er sah sie bewundernd an. »Ihr werdet schon sehen. Ich werde Euch und Eurer Familie beweisen, dass ich Eurer würdig bin.« Malta brauchte einen Moment, bis ihr etwas Passendes einfiel. Sie hatte so fest damit gerechnet, dass er sie küsste. Was hatte sie falsch gemacht? »Ich habe Euren Wert auch niemals angezweifelt«, erwiderte sie lahm. Sie konnte ihre Enttäuschung beinahe schmecken. Langsam stand er wieder auf und sah mit glänzenden Augen auf sie herunter. »Ich werde Euer Vertrauen nicht enttäuschen«, versprach er. Sie wartete, weil sie glaubte, er würde sie vielleicht plötzlich in seine Arme reißen und heftig küssen. Es kribbelte an ihrem ganzen Körper, während sie seine Berührung erwartete. Kühn blickte sie ihn an, und ihre Augen brannten vor Leidenschaft. Sie befeuchtete ihre Lippen und öffnete sie einladend, als sie das Kinn hob. »Bis morgen, Malta Haven«, sagte er eindringlich. »Ihr werdet sehen, wie ich mein Wort halte.« Dann verbeugte er sich feierlich, als verabschiede er sich von einem Nachmittagstee, und wandte sich an seine Schwester. »Komm, Delo. Ich bringe dich jetzt besser nach Hause.« Er
schlang seinen dunklen Umhang um sich, drehte sich um und schritt in die Nacht hinaus. »Leb wohl, Malta«, sagte Delo seufzend. Dann winkte sie ihrer Freundin zu. »Ich frage meine Mutter, ob ich mit zum Händlerkonzil darf. Vielleicht können wir ja nebeneinander sitzen. Wir sehen uns da.« Sie drehte sich schnell um und lief hinter ihrem Bruder her. »Cerwin! Warte auf mich!« Eine Weile stand Malta ungläubig da. Was hatte sie falsch gemacht? Kein Geschenk als Liebesbeweis, kein leidenschaftlicher Kuss… Er hatte sie nicht einmal gebeten, sie zum Haus zurückbegleiten zu dürfen. Sie runzelte die Stirn. Dann wurde ihr schlagartig ihr Irrtum klar. Es war nicht ihr Fehler, sondern der von Cerwin. Sie schüttelte den Kopf. Er war einfach nicht Manns genug, um ihren Erwartungen standzuhalten. Sie drehte sich um und tastete sich vorsichtig durch die Finsternis zurück zum Haus. Nachdenklich runzelte sie die Stirn und glättete sie dann rasch wieder. Sie wollte auf keinen Fall irgendwann so viele Runzeln haben wie ihre Mutter. Brashen hatte sie schon dazu gebracht, die Stirn zu runzeln. Er war zuerst so grob zu ihr gewesen, aber nachdem sie ihm Kaffee angeboten und mit ihm geflirtet hatte, reagierte er eindeutig auf sie. Wenn er sie heute Abend in der Laube erwartet hätte, wäre sie gründlich geküsst worden. Sie erschauderte plötzlich bei diesem Gedanken. Nicht, dass sie ihn mochte. Er sah mit seinem Seidenhemd und dem langen Schnurrbart viel zu derb aus, wie ein Pirat. Und er hatte immer noch nach Schiff gestunken, als er sie besucht hatte. Seine Hände waren rau und schwielig. Nein. Sie fühlte sich zu dem Mann nicht hingezogen. Aber die Blicke, die er Tante Althea zuwarf, hatten ihr Interesse erregt. Der Seemann hatte sie beobachtet wie eine hungrige Katze, die einen Vogel verfolgt. Althea hatte seine Blicke nicht erwidert. Selbst wenn sie mit ihm sprach, brachte sie es fertig, derweil aus dem Fenster zu blicken, in einer Tasse zu rühren oder an ihren Fingernägeln zu zupfen. Dass sie seinen Blick nicht er-
widerte, hatte ihn getroffen. Immer wieder hatte er sie direkt angesprochen. Einmal war sie sogar zu Selden gegangen, hatte sich auf den Boden neben ihn gesetzt und seine Hand genommen, als könnte ihr Neffe sie vor Brashens gierigen Blicken schützen. Malta bezweifelte, dass ihre Mutter und ihre Großmutter das bemerkt hatten, aber sie hatte es gesehen. Und sie nahm sich ganz fest vor herauszufinden, was es mit den beiden auf sich hatte. Sie wollte herausfinden, wie Althea es bewerkstelligte, dass ein Mann sie so ansah. Was musste sie sagen, damit Cerwin sie so innig anblickte? Sie schüttelte den Kopf. Nein. Nicht Cerwin. Der Vergleich mit seinem älteren Bruder hatte ihr die Augen geöffnet. Er war immer noch ein Junge, der keine Hitze in seinem Blick hatte und auch keine Macht besaß. Er war ein kleiner Fisch, ein Fang, den sie wieder zurückwerfen sollte. Selbst Reyn hatte mehr Wärme in seiner Berührung. Reyn brachte ihr auch immer Geschenke. Sie packte die Klinke der Küchentür und schob sie leise auf. Vielleicht würde sie heute Abend doch die Traumdose benutzen. Brashen stand vom Tisch auf. Das Bier, das er bestellt hatte, war noch unberührt. Als er sich umdrehte und die Taverne verließ, sah er, wie sich jemand verstohlen über das Bier hermachte. Er grinste verbittert. Einen schönen Ort hatte er sich da ausgesucht. Genau das Richtige für einen Mann, der nichts festhalten konnte. Draußen wurde es wieder Nacht. Die Taverne, die er besucht hatte, lag im rauesten Teil von Bingtown und teilte sich die Straße mit Lager- und Hurenhäusern. Das Beste wäre, zur Springeve zurückzugehen. Finney erwartete ihn. Aber er hatte dem Mann nichts zu sagen, und plötzlich wurde ihm klar, dass er wahrscheinlich gar nicht zurückgehen würde. Niemals. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass Finney in Bingtown nach ihm suchen würde. Es wurde Zeit, sich von dieser Betätigung zu lösen. Allerdings hieß das auch, das Cindin, das er noch in
der Tasche hatte, war das Letzte. Er blieb stehen und fischte danach. Als er es fand, war es noch kleiner, als er es in Erinnerung gehabt hatte. Hatte er schon etwas davon genommen? Vielleicht. Ohne Reue schob er das letzte Stück unter seine Lippe und ging weiter. Vor etwas über einem Jahr waren er und Althea gemeinsam eine Straße in Bingtown entlanggegangen. Vergiss es. Es war unwahrscheinlich, dass dies jemals wieder geschehen würde. Sie flanierte jetzt mit Grag Tenira durch die Straßen. Gut. Wenn er also nicht zur Springeve zurückging, wohin dann? Seine Füße wussten die Antwort auf diese Frage schon längst. Sie trugen ihn aus der Stadt, weg von den Lichtern und den langen einsamen Strand entlang, wo der aufgegebene Paragon im Sand lag. Brashen lächelte. Einige Dinge änderten sich nie. Er war wieder in Bingtown, beinahe mittellos, und er konnte ein verlassenes Schiff seinen einzigen Freund nennen. Er und das Schiff hatten eine Menge gemein. Sie waren beide Ausgestoßene. Unter dem sternenübersäten Sommerhimmel herrschte Frieden. Die Wellen schlugen leise klatschend an den Strand. Der Wind war gerade stark genug, dass er nicht schwitzte, während er über den lockeren Sand ging. Es wäre ein wunderbarer Abend gewesen, wenn es etwas gegeben hätte, weswegen er sich gut fühlen konnte. So wie es jedoch aussah, fühlte er sich innerlich leer, und die Sterne funkelten kalt. Das Cindin verlieh ihm zwar Energie, aber er besaß kein Ziel. Stattdessen war er nur wach und verwirrt. Malta, zum Beispiel. Bei Sas Bart, was für ein Spiel hatte sie mit ihm gespielt? Er wusste nicht, ob er sich von ihrer Aufmerksamkeit bedrängt, verhöhnt oder geschmeichelt fühlen sollte. Er wusste immer noch nicht, wie er sie einschätzen sollte, als Kind oder als Frau. Kaum war ihre Mutter wiedergekommen, hatte sie sich in eine bescheidene junge Lady zurückverwandelt, bis auf gelegentliche scharfe Bemerkungen, die sie
so unschuldig anbrachte, dass niemand wusste, ob sie zufällig waren. Trotz Maltas scheinbarer Unterwürfigkeit nach dem Eintreffen ihrer Mutter und Großmutter hatte sie ihn mehr als einmal betrachtet. Und er hatte den nachdenklichen Blick bemerkt, mit dem sie ihn und Althea gemustert hatte. Es war kein besonders freundlicher Blick gewesen. Er versuchte sich einzureden, dass sie der Grund war, weswegen Althea ihn niemals ansah. Sie wollte nicht, dass ihre junge Nichte erriet, was zwischen ihnen vorgefallen war. Drei Schritte lang glaubte er das. Dann musste er zähneknirschend einräumen, dass sie ihm nicht das kleinste bisschen Wärme oder Herzlichkeit entgegengebracht hatte. Sie war höflich gewesen, so wie auch Keffria höflich zu ihm war. Nicht mehr und nicht weniger. Wie es sich für eine Tochter von Ephron Vestrit geziemte, war sie dem Gast gegenüber freundlich und zuvorkommend, auch wenn er der Familie schlechte Nachrichten brachte. Nur einmal war sie nicht höflich gewesen. Und zwar als Ronica ihm eine Bettkammer angeboten hatte. Auch Keffria hatte ihn gedrängt, das Angebot anzunehmen, und führte an, wie spät es schon war und wie müde er aussah. Althea jedoch hatte geschwiegen. Das hatte den Ausschlag gegeben. Er war gegangen. Althea war hinreißend gewesen. Nicht auf die selbe Weise attraktiv wie ihre Schwester oder wie die bezaubernde Malta. Die Schönheit von Keffria und Malta war sorgfältig zurechtgemacht. Hier ein Hauch Schminke, dort ein Pinselstrich Puder, die sorgsam frisierten Haare und die Auswahl der Kleidung, das alles kehrte ihre besten Seiten hervor. Althea war von der Straße gekommen, mit staubigen Sandalen und mit schweißnassen Haaren. Ihre Wangen waren gerötet von dem Sommerabend, und die Lebhaftigkeit des Bingtowner Nachtmarktes zeigte sich in ihren Augen. Ihre Bluse und ihr Rock waren so geschnitten, dass sie mehr der Bewegungsfreiheit dienten als der Mode. Selbst als sie in das Zimmer hereinkam, hatte ihr
Kampf mit Malta ihn durch ihre Vitalität beeindruckt. Sie war nicht mehr der jungenhafte Matrose, der sie noch auf der Reaper gewesen war, nicht einmal die Tochter des Kapitäns von der Viviace. Ihr Aufenthalt in Bingtown hatte ihrem Haar und ihrer Haut gut getan. Sie kleidete sich fraulicher und etwas weniger sachlich. Sie sah wirklich aus wie eine Händlertochter. Und entsprechend unerreichbar war sie auch. Hunderte »Wenn« schossen ihm durch den Kopf. Wenn er noch der Erbe des Trell-Vermögens und des Händler-Status wäre. Wenn er auf Kapitän Vestrit gehört und Geld gespart hätte. Wenn Althea das Schiff geerbt und ihn als Ersten Maat behalten hätte. So viele »Wenns«, aber er hegte nicht mehr Hoffnung, sie wiederzugewinnen, als er hoffen durfte, von seinem Vater wieder als Erbe eingesetzt zu werden. Also vergiss auch das, wie so viele andere abgelegte Zukunftspläne. Und marschiere in die leere Nacht hinaus. Er spie seine Verbitterung mit den fasrigen Resten des Cindins aus. Der dunkle Rumpf des Paragon tauchte vor dem Hintergrund des sternenübersäten Himmels auf. Der schwache Geruch eines Holzfeuers stieg ihm in die Nase. Als er sich näherte, pfiff er laut. Er wusste, dass Paragon nicht gern überrascht wurde. Und als er noch dichter herankam, sagte er laut: »Paragon! Hat man immer noch keinen Kienspan aus dir gemacht?« »Wer geht da?« Die kühle Stimme aus dem Schatten ließ ihn innehalten. »Paragon?«, fragte Brashen verwirrt. »Nein. Ich bin Paragon. Wenn ich mich nicht täusche, bist du Brashen«, antwortete das Schiff fröhlich. Und sagte zur Seite gewandt: »Er ist nicht gefährlich für mich, Amber. Leg deinen Stock ruhig weg.« Brashen spähte durch die Finsternis. Eine schlanke Silhouette stand zwischen ihm und dem Schiff. Ihre Haltung war angespannt. Sie bewegte sich, und dann hörte er das Klappern von
Holz gegen Stein, als sie ihren Stab weglegte. Amber? Die Perlenmacherin? Sie setzte sich hin, auf eine Bank oder aufeinander gestapelte Steine. Er trat näher. »Hallo?« »Hallo.« Ihre Stimme klang zurückhaltend, aber freundlich. »Brashen, ich möchte dir meine Freundin Amber vorstellen. Amber, das ist Brashen Trell. Du weißt schon etwas von ihm. Du hast hinter ihm sauber gemacht, als du eingezogen bist.« Paragons Stimme klang atemlos vor Aufregung. Er genoss diese Begegnung ganz offensichtlich. Und als er Brashen neckte, klang so etwas wie jugendliche Angeberei mit. »Eingezogen?«, hörte Brashen sich fragen. »Aber ja. Amber wohnt jetzt in mir.« Er zögerte. »Oh. Du bist wahrscheinlich gekommen, weil du in mir schlafen wolltest, richtig? Nun, es gibt genug Platz. Sie hat nur die Kapitänskajüte belegt und ein paar Dinge in meinen Frachträumen verstaut. Amber? Es macht dir doch nichts aus, nicht wahr? Brashen kommt zum Schlafen immer hierher, wenn er keinen anderen Platz hat, wo er bleiben kann, und mittellos ist.« Die Pause war eine Winzigkeit länger, als es höflich gewesen wäre. Brashen hörte das Unbehagen in Ambers Stimme. »Du gehörst dir selbst, Paragon. Ich kann nicht entscheiden, wen du an Bord willkommen heißt.« »Ach, wirklich? Nun, wenn ich mir selbst gehöre, warum bemühst du dich dann so, mich zu kaufen?« Jetzt verspottete er sie und lachte wie ein Junge über seinen eigenen Witz. Brashen fand das nicht komisch. Was hatte sie mit dem Zauberschiff zu schaffen? »Niemand kann ein Lebensschiff kaufen, Paragon«, verbesserte er ihn freundlich. »Ein Lebensschiff ist Teil einer Händlerfamilie. Du könntest nicht ohne Familienmitglieder an Bord segeln.« Ruhiger fuhr er fort: »Es ist nicht einmal gut für dich, dass du hier draußen so lange allein bist.« »Ich bin nicht allein, nicht mehr«, protestierte die Galionsfigur. »Amber schläft fast jede Nacht bei mir an Bord. Und etwa
jeden zehnten Tag nimmt sie sich frei und verbringt den Nachmittag mit mir. Wenn sie mich kauft, will sie auch nicht mit mir segeln. Sie will mich nur aufrichten und einen hängenden Garten auf mir anlegen und…« »Paragon!« Jetzt tadelte Brashen ihn streng. »Du gehörst den Ludlucks. Sie können dich nicht verkaufen, und Amber kann dich nicht kaufen. Und du bist auch kein großer Blumenkübel, der mit Efeu geschmückt werden kann. Nur ein grausamer Mensch würde dir so etwas erzählen.« Er warf der schlanken Gestalt am Feuer einen finsteren Blick zu. Amber erhob sich. Sie ging hoch aufgerichtet auf ihn zu, als wäre sie ein Mann und wollte ihn zum Kampf herausfordern. Ihre Stimme klang gepresst, aber trotzdem gleichmütig, als sie ihn ansprach. »Wenn das, was Ihr behauptet, stimmt, dann sind es die Ludlucks, die grausam sind. Sie haben ihn all die Jahre hier draußen im Stich gelassen, wo er vor sich hin brütet und verrottet. Da sich jetzt die Zeiten ändern und es scheint, dass alles in Bingtown gekauft werden kann, nehmen sie Gebote von den Neuen Händlern entgegen. Die wollen aus Paragon keinen großen ›Blumenkübel‹ machen. Nein. Sie wollen ihn in Stücke hacken und die Einzelteile als Spielzeug und Kuriositäten verkaufen.« Brashen war sprachlos vor Entsetzen. Instinktiv streckte er beruhigend die Hand nach dem Schiff aus. »Das wird nicht passieren«, flüsterte er heiser. »Alle Händler würden sich dagegen erheben, bevor sie so etwas zuließen.« Amber schüttelte den Kopf. »Ihr seid lange von Bingtown weggewesen, Brashen Trell.« Sie drehte sich um und trat gegen den Sand. Von den Resten des Lagerfeuers stoben Funken durch die Luft. Sie bückte sich, und Sekunden später züngelten Flammen hoch. Brashen sah schweigend zu, wie sie das Feuer zuerst mit Zweigen und dann mit größeren Ästen anfachte. »Setzt Euch«, sagte sie einladend. Sie schien müde zu sein. »Wir hatten einen schlechten Start«, meinte sie dann einlen-
kend. »Eigentlich habe ich mich auf Eure Rückkehr nach Bingtown gefreut. Ich hatte gehofft, dass Ihr und Althea mir gemeinsam dabei helfen könntet. Sie hat, wenn auch murrend, zugegeben, dass es vermutlich das Beste für Paragon wäre, wenn ich ihn erwerbe. Wenn Ihr dem nun auch noch Eure Stimme verleiht, dann könnten wir vielleicht alle zusammen zu den Ludlucks gehen und sie zur Vernunft bringen.« Sie sah ihn an und bemerkte seinen missbilligenden Blick. »Möchtet Ihr eine Tasse Tee?« Er setzte sich steif auf ein Stück Treibholz und versuchte, seine Stimme so neutral wie möglich zu halten, als er antwortete: »Ich kann kaum glauben, dass Althea dem Verkauf eines Zauberschiffes zustimmen würde.« »Ich habe ihr die Tatsachen unterbreitet, und sie hat zugestimmt.« Im Licht des Feuers sah Brashen, wie sie mit dem Kopf auf Paragon deutete. Ganz offensichtlich wollte sie vor dem Schiff keine Einzelheiten erörtern. Brashen brannte vor Neugier, aber er sah ein, dass dies klug war. Paragon hatte heute Abend gute Laune. Es war unnötig, seine streitsüchtige Seite zu provozieren. Im Moment war es das Beste, mitzuspielen und so viel Informationen wie möglich zu sammeln. »Ich weiß, dass Paragon sich freut, Euch zu sehen, und sicher alle Eure Abenteuer hören will. Wie lange seid Ihr schon wieder in Bingtown?« Ihre Stimme klang beiläufig. »Wir haben heute angelegt«, antwortete er und schwieg dann. Ihm wurde die Seltsamkeit der Situation bewusst. Amber führte dieses Gespräch, als säßen sie in einem Bingtowner Salon beim Tee. »Und werdet Ihr lange bleiben?«, drängte sie. »Ich weiß es nicht. Ich bin zurückgekommen, um Althea zu sagen, dass ich die Viviace gesehen habe. Sie ist von Piraten gekapert worden. Ich weiß nicht, ob Kyle und Wintrow noch am Leben sind. Ich weiß nicht einmal, ob noch irgendeiner von der Mannschaft lebt.« Die Worte sprudelten aus ihm heraus,
bevor er überlegen konnte, ob es klug war, dies zu erzählen. »Weiß Althea das?« Amber schien ehrlich besorgt. »Wie hat sie reagiert?« »Sie ist natürlich am Boden zerstört. Morgen geht sie zum Konzil von Bingtown, weil sie um dessen Hilfe bei der Wiederbeschaffung ihres Schiffes bitten will. Das Schlimme ist nur, dass Kennit wahrscheinlich gar kein Lösegeld haben will. Er will das Schiff behalten. Falls Wintrow und Kyle noch am Leben sind, wird er sie vermutlich ebenfalls behalten, damit das Schiff nicht verrückt…« »Piraten.« Paragons Stimme klang beinahe träumerisch, bis auf den entsetzten Unterton. »Ich kenne Piraten. Sie töten, töten und töten auf deinem Deck. Das Blut sickert ein, immer tiefer und tiefer, bis dein Holz so voll von Leben ist, dass du dein eigenes nicht wiederfindest. Dann hacken sie dir das Gesicht kaputt und öffnen deine Bodenventile, und du gehst unter. Das Schlimmste ist, dass du am Leben bleibst.« Seine Stimme brach, und dann verstummte er. Brashen sah Amber an. Ihr Blick verriet namenloses Entsetzen. Sie und Brashen standen gleichzeitig auf und streckten ihre Hände nach dem Schiff aus. Seine Worte hielten sie auf. »Fasst mich nicht an!« Seine Stimme klang heiser und tief, wie die eines Mannes, der einen wahnsinnigen Befehl gibt. »Verschwindet von mir, ihr verräterisches Gewürm! Räudige, dreckige Ratten! Ihr habt keine Seelen! Keine Kreatur mit einer Seele könnte ertragen, das zu tun, was ihr mir angetan habt!« Er drehte sein Gesicht zur Seite und schwang abwehrend die großen Fäuste. »Nehmt Eure Erinnerungen von mir! Ich will Eure Leben nicht! Ihr ertränkt mich darin! Ihr versucht, mich vergessen zu lassen, wer ich bin… und wer ich war. Das werde ich nicht!« Die letzten Worte stieß er trotzig hervor. Dann lachte er gellend und stieß obszöne Flüche aus. »Er redet nicht mit uns«, versicherte Amber leise, aber Brashen war sich dessen nicht so sicher. Und darum ging er nicht
weiter auf das Schiff zu. Genauso wenig wie Amber. Stattdessen nahm sie ihn am Arm, führte ihn vom Schiff weg und ging mit ihm über den Strand in die Dunkelheit. Paragons derbe Flüche wurden leiser. Als das Feuer ihre Gesichter nicht mehr erhellte, blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um. Sie redete immer noch mit gedämpfter Stimme. »Sein Gehör ist außergewöhnlich scharf. In solchen Momenten lässt man ihn am besten allein. Wenn man versucht, ihn zur Vernunft zu bringen, wird es nur noch schlimmer.« Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Er muss allein zu sich kommen.« »Ich weiß.« »Ich weiß, dass Ihr das wisst. Und Ihr wisst sicher auch, dass er nicht mehr länger so weitermachen kann. Er hat Angst, dass sie jeden Moment kommen und ihn holen. Er kann nicht einmal schlafen, um dieser Angst zu entfliehen. Mittlerweile bekommt er einmal am Tag einen Wahnsinnsanfall. Ich versuche, ihn nicht zu beunruhigen, aber er ist nicht dumm. Er weiß, dass sein Überleben bedroht ist und dass er sich nur sehr schlecht verteidigen kann.« Selbst in der Dunkelheit spürte er ihren strengen Blick. »Ihr müsst uns helfen.« »Ich kann nichts tun. Ich weiß nicht, was das Schiff oder Althea Vestrit Euch von mir erzählt hatten, dass Ihr glaubt, ich hätte noch Einfluss, aber das stimmt nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Die rechtschaffenen Bürger von Bingtown sind gegen mich. Ich bin genauso ein Ausgestoßener wie das Schiff. Eure Sache hat ohne mich weit bessere Chancen.« Er schüttelte den Kopf. »Was nicht heißt, dass ich ihr überhaupt Aussicht auf Erfolg einräume.« »Also soll ich einfach aufgeben?«, fragte sie sanft. »Und ihn dem Wahnsinn überlassen, bis die Neuen Händler kommen, ihn wegschleppen und zerhacken? Was werden wir uns anschließend sagen, Brashen? Dass wir nichts tun konnten, dass wir niemals geglaubt haben, es würde tatsächlich passieren? Sind wir dann unschuldig?«
»Unschuldig?« Es erzürnte ihn, dass sie andeutete, er wäre irgendwie für dieses Durcheinander verantwortlich. »Ich habe nichts Falsches getan. Ich habe auch nichts Falsches vor. Ich bin allerdings unschuldig.« »Die Hälfte von allem Bösen in der Welt passiert, weil anständige Leute daneben stehen und nichts Falsches tun. Es reicht nicht, sich vom Bösen fern zu halten, Trell. Die Menschen müssen versuchen, das Richtige zu tun, selbst wenn sie glauben, dass sie keinen Erfolg damit haben.« »Selbst wenn es dumm ist, das zu versuchen?«, fragte er sarkastisch. »Ganz besonders dann«, antwortete sie freundlich. »So wird es gemacht, Trell. Du brichst dir an dieser steinharten Welt das Herz. Du stürzt dich darauf, auf die Seite des Guten, und fragst nicht, was es dich kostet. So macht man das.« »Was macht man so?«, wollte er wissen. Jetzt war er wirklich wütend. »Sich umbringen? Um ein Held zu sein?« »Möglicherweise«, stimmte sie zu. »Vielleicht genau das. Aber es ist eindeutig der Weg, wieder Selbstachtung zu gewinnen. So wird man ein Held.« Sie neigte den Kopf und betrachtete ihn abschätzend. »Sagt mir nicht, dass Ihr nie ein Held sein wolltet.« »Ich wollte niemals ein Held sein«, antwortete er prompt. Paragon fluchte immer noch. Er klang betrunken. Brashen wandte den Kopf und betrachtete das Schiff. Das gelbliche Licht des Lagerfeuers tanzte über sein zerhacktes Gesicht. Was erwartete diese Frau von ihm? Er konnte dem Schiff nicht helfen, er konnte niemandem helfen. »Ich wollte immer nur mein eigenes Leben leben. Und selbst damit habe ich verdammt wenig Erfolg gehabt.« Sie lachte leise. »Nur, weil Ihr ständig davor zurückschreckt. Und Euch davon abwendet. Und es vermeidet.« Sie schüttelte den Kopf. »Trell, Trell. Öffnet Eure Augen. Dieses schreckliche Durcheinander ist Euer Leben. Es hat keinen Sinn, darauf
zu warten, dass es besser wird. Hört auf, es zu verdrängen, und lebt es.« Sie lachte erneut. Plötzlich schien sie weit entfernt zu sein. »Alle glauben, dass Mut bedeutet, dem Tod, ohne mit der Wimper zu zucken, ins Auge zu blicken. Aber das kann fast jeder. Fast jeder kann den Atem anhalten und so lange nicht schreien, wie es dauert, zu sterben. Wahrer Mut ist, sich unerschrocken dem Leben zu stellen. Ich meine nicht die Zeiten, wo der richtige Weg zwar steinig, aber am Ende ruhmreich ist. Ich rede davon, Langeweile zu ertragen und Unordnung und die Unannehmlichkeit, das zu tun, was richtig ist.« Sie neigte wieder den Kopf und betrachtete ihn. »Ich glaube, Ihr könnt es, Trell.« »Hört auf, mich so zu nennen!«, fuhr er sie an. Sein Familienname brannte wie Salz in einer Wunde. Plötzlich packte sie sein Handgelenk. »Nein, hört Ihr auf. Hört auf, der Sohn zu sein, den sein Vater enterbt hat. Ihr seid nicht, was er von Euch erwartete, aber das bedeutet nicht, dass Ihr niemand seid. Und Ihr seid auch nicht perfekt. Aber hört auf, jeden Fehler, den Ihr macht, als Entschuldigung dafür zu benutzen, vollkommen zu versagen.« Er befreite sich mit einem Ruck aus ihrem Griff. »Wer seid Ihr, dass Ihr so mit mir zu reden wagt? Woher wisst Ihr diese Dinge?« Dann begriff er es. Grimmig erkannte er die einzige mögliche Quelle für ihr Wissen. Althea hatte über ihn geredet. Wie viel hatte sie Amber gesagt? Er sah sie an und wusste es. Althea hatte ihr alles gesagt. Alles. Er drehte sich um und ging davon. Wenn die Dunkelheit ihn doch vollkommen verschlingen könnte! »Brashen? Brashen!« Sie zischte hinter ihm her. Er ging weiter. »Wohin wollt Ihr gehen, Trell?« Es war ein heiserer Schrei in der Dunkelheit. »Wohin wollt Ihr vor Euch selbst weglaufen?« Darauf konnte er ihr keine Antwort geben. Die Schuhe waren von der Feuchtigkeit ruiniert. Malta warf sie
in eine Ecke ihres Schranks und zog einen warmen Bademantel an. Bei ihrem nächtlichen Spaziergang war ihr trotz der milden Jahreszeit kalt geworden. Sie nahm die Traumdose vom Regal. Das graue Pulver hatte sie in einem größeren Beutel versteckt, in dem sich Kräuter gegen Kopfschmerzen befanden. Sie holte es heraus und klopfte die Krümel des anderen Krauts ab. Sie zitterte vor Aufregung, als sie das Schnürband öffnete. Dann steckte sie es in die Traumdose und schüttelte den Inhalt sorgfältig heraus. Ein bisschen Puder des Traumstaubs hing noch in der Luft. Sie nieste heftig und schloss hastig die Klappe der Dose. Ihr Rachen fühlte sich merkwürdig an, taub und dennoch warm. »Schüttel die Dose gut, dann warte und öffne sie neben dem Bett«, instruierte sie sich selbst. Als sie durchs Zimmer zu ihrem Bett ging, schüttelte sie die Dose. Dann schlug sie die Laken zurück, kletterte ins Bett und stellte die Dose offen neben sich. Sie blies die Kerze aus und legte sich dann auf das Kissen. Sie schloss die Augen und wartete. Und wartete. Ihre Vorfreude machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Sie konnte einfach nicht einschlafen. Entschlossen presste sie die Augen zu und versuchte, nur an Dinge zu denken, die müde machten. Als das scheiterte, konzentrierte sie sich auf Reyn. Nach Cerwins enttäuschender Vorstellung fand sie ihn viel attraktiver. Als Cerwin sie in die Arme genommen hatte, wirkte er im Vergleich zu Reyn eher schmächtig. Der RegenwildMann war wesentlich breitschultriger, was sie bei ihrer verstohlenen Umarmung festgestellt hatte. Sie dachte darüber nach. Reyn hätte sicher die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen, einen Kuss zu rauben. Bei diesem Gedanken schlug ihr Herz schneller. Reyn löste einen wahren Sturm von widerstreitenden Gefühlen in ihr aus. Durch seine Geschenke und seine Aufmerksamkeit fühlte sie sich bedeutend. Sein Wohlstand war attraktiv, vor allem für eine, die ein Jahr Armut hatte erdulden müssen.
Manchmal kümmerte es sie nicht einmal, dass sein Gesicht verschleiert war und er Handschuhe trug. Das machte ihn geheimnisvoll. Sie konnte ihn ansehen und sich einen gut aussehenden jungen Mann hinter dem Schleier vorstellen. Wenn er sie elegant durch komplizierte Tanzschritte führte, fühlte sie sowohl seine Stärke als auch seine Beweglichkeit. Nur manchmal fragte sie sich, ob der Schleier vielleicht doch ein warziges Gesicht mit missgestalteten Zügen verbarg. Waren sie jedoch getrennt, dann wurde sie von Zweifeln gepeinigt. Noch schlimmer war das Mitleid ihrer Freundinnen. Sie waren ausnahmslos sicher, dass er ein Monster sein musste. Malta vermutete, dass sie meistens jedoch einfach nur eifersüchtig auf die Geschenke waren, die er ihr mitbrachte, und die Aufmerksamkeit, die er ihr widmete. Vielleicht wollten sie einfach, dass er hässlich war, weil sie sie um ihr Glück beneideten. Ach, sie wusste nicht, was sie fühlte oder empfand. Sie hatte das Puder der Traumdose verschwendet. Nichts hatte richtig geklappt. Sie warf sich auf dem Bett hin und her, Körper und Geist getrieben von Sehnsüchten, die sie kaum verstand. Wenn doch ihr Vater nach Hause gekommen wäre und alles gerichtet hätte. »Ich will hier raus. Warum hilfst du mir nicht?« »Das kann ich nicht. Bitte. Versteh doch, dass ich es nicht kann, und hör auf, mich anzuflehen.« »Du willst es nicht!«, erwiderte der eingesperrte Drache verächtlich. »Du könntest schon, aber du willst nicht. Es bedarf nur des Sonnenlichts. Öffne die Fensterläden, und lass das Sonnenlicht herein. Den Rest besorge ich.« »Ich habe es dir doch gesagt. Die Kammer, in der du dich befindest, ist unter der Erde begraben. Früher einmal gab es hier sicher große Fenster und Fensterläden, die man öffnen und schließen konnte. Aber das ganze Gebäude liegt jetzt unter der Erde, und Bäume wachsen darauf. Du befindest dich unter ei-
nem vollkommen bewaldeten Hügel.« »Wenn du wirklich der Freund wärst, der du zu sein vorgibst, dann würdest du mich ausgraben und befreien. Bitte, ich muss frei sein. Nicht nur um meinetwillen, sondern auch für das Wohl meiner ganzen Rasse.« Reyn bewegte sich unruhig in seinem Bett und zerrte an den Laken. Er schlief nicht richtig und träumte auch nicht, aber er war auch nicht wach. Die Drachenvision war jetzt eine beinahe allnächtlich wiederkehrende Qual. Wenn er schlief, blickte der Drache in ihn, auf ihn und durch ihn mit seinen großen kupferfarbenen Augen, die die Größe von Wagenrädern hatten. Diese Augen drehten sich, und die Farben wirbelten um die großen, elliptischen Pupillen. Er konnte seinen Blick nicht davon abwenden, und er konnte sich auch nicht aus dem Traum befreien und aufwachen. Der Drache war in seinem Hexenholzkokon eingesperrt – und er in ihm. »Du verstehst das nicht«, stöhnte er im Schlaf. »Die Fensterläden sind begraben, die Kuppel ist begraben. Die Sonne wird nie wieder in diese Kammer scheinen.« »Dann öffne die großen Türen, und zieh mich heraus. Mach Rollen darunter, wenn das nötig sein sollte, und benutze Pferde. Zieh mich raus, es ist mir gleich, wie. Nur bring mich ans Sonnenlicht.« Das Drachenweibchen verstand einfach gar nichts. »Das geht nicht. Du bist zu groß, als dass ein Mann allein dich bewegen könnte, und niemand würde mir helfen. Selbst wenn ich viele Helfer und eine Menge Pferde hätte, würde das nichts nützen. Die Tür wird sich auch nie wieder öffnen. Es weiß ja nicht einmal jemand, wie sie ursprünglich überhaupt aufgegangen ist. Außerdem liegt sie ebenfalls unter der Erde. Bevor wir sie öffnen können, müssten wir mit einer ganzen Schicht Männer monatelang die Erde abtragen. Und selbst dann bekämen wir die Tür nicht auf. Das Gebäude hat Risse und ist baufällig. Wenn die Tür bewegt wird, würde wahrscheinlich das ganze
Bauwerk einstürzen. Du würdest noch tiefer begraben, als du es jetzt schon bist.« »Das ist mir egal! Geh das Risiko ein, öffne die Tür. Ich könnte dir dabei helfen herauszufinden, wie das geht.« Ihre Stimme wurde verführerisch. »Ich könnte dir alle Geheimnisse der Stadt verraten. Du müsstest mir nur versprechen, diese Türe zu öffnen.« Irgendwie schüttelte er den Kopf. Sein Kissen war schweißnass. »Nein. Du würdest mich mit Erinnerungen ertränken. Es würde niemandem von uns etwas nützen. Versuch nicht einmal, mich damit zu locken.« »Dann geh gewaltsam vor. Äxte und Hämmer müssten durchkommen. Selbst wenn sie zusammenbricht und ich sterbe, wäre das mehr Freiheit als meine Lage jetzt. Reyn, Reyn, warum befreist du mich nicht? Wenn du wirklich mein Freund wärst, würdest du mich befreien.« Er wand sich unter ihren herzzerreißenden Worten. »Ich bin dein Freund. Das bin ich wirklich. Ich möchte dich so gerne befreien, aber ich schaffe es nicht allein. Ich muss zuerst noch andere für meine Sache gewinnen. Dann werde ich einen Weg finden. Hab Geduld, ich bitte dich. Sei geduldig.« »Hunger weiß nichts von Geduld. Wahnsinn weiß nichts von Geduld. Sie sind unerbittlich. Reyn, Reyn, warum kann ich dir nicht klarmachen, was du mit deiner Grausamkeit anrichtest? Du tötest uns alle, und zwar für alle Zeiten. Lass mich raus! Lass mich endlich raus!« »Das kann ich nicht!«, schrie er und riss die Augen auf. Er war in seiner dunklen Schlafkammer. Er setzte sich in seinem Bett auf und atmete wie ein Ringer. Sein schweißnasses Bettzeug umhüllte ihn wie ein Leichentuch. Er befreite sich davon und trat nackt mitten ins Zimmer. Das Fenster war offen, und die Nachtluft kühlte seinen überhitzten Körper. Er fuhr sich mit den Händen durch sein lockiges Haar. Dann kratzte er sich an dem neuesten Geschwür an seiner Kopfhaut und ließ schließ-
lich die Hände sinken. Er ging zum Fenster und blickte hinaus. Die Regenwild-Siedlung Trehaug hing in den Bäumen entlang der Ufer des Regenwild-Flusses. Von einer Seite seines Heims konnte er den reißenden Fluss sehen. Von der anderen Seite konnte er durch die Bäume die Alte Stadt erkennen. Dort brannten immer noch einige Lichter. Die Arbeit an den Ausgrabungen ruhte nie. Wenn man in den tiefsten Kammern arbeitete, war es gleichgültig, ob draußen Tag oder Nacht war. Im Inneren des Hügels herrschte ewige Dunkelheit. Genauso wie in dem Hexenholzsarg in der Kammer des Gekrönten Hahns. Er erwog erneut, seiner Mutter von diesen Alpträumen zu erzählen, aber er wusste genau, wie sie reagieren würde. Sie würde anordnen, dass der letzte Hexenholzstamm gespalten wurde. Der ungeheuer weiche Körper würde auf den eisigen steinernen Boden fallen, und aus dem Hexenholzstamm würden Planken und Bohlen für ein Schiff. Es war nach dem Wissen der Regenwild-Händler die einzige Substanz, die dem säurehaltigen Wasser des Regenwild-Flusses standhielt. Selbst die Bäume und Büsche entlang des Ufers überlebten nur so lange, wie ihre Rinde intakt war. In dem Moment, in dem etwas sie verletzte, begann der Fluss sie aufzulösen. Und sogar an den langen, dünnen Beinen der Vögel, die an den seichten Stellen fraßen, hatte Reyn Geschwüre gesehen. Nur das Hexenholz schien einen wirksamen Schutz gegen das milchige Wasser des Regenwild-Flusses zu bieten. Und der Khuprus-Clan besaß den letzten und größten Stamm. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er ihn dem Sonnenlicht ausgesetzt und abgewartet, was passieren würde. Der Stamm wäre vermutlich dabei zerstört worden. Auf einem verrotteten Stück Wandteppich war eine solche Szene dargestellt. Eine schlaffe weiße Kreatur hob ihren Kopf aus dem weichen Rest eines Baumstamms. Sie hielt Brocken davon in den Klauen, als wollte sie die Reste ihres Gefängnisses verzehren. Ihre
Augen blickten wild, und die beinahe menschlichen Kreaturen, die es mit ansahen, schienen von Angst oder Ehrfurcht erfüllt zu sein. Manchmal, wenn Reyn den Teppich betrachtete, wusste er, dass es Wahnsinn wäre. Warum sollte man das Risiko eingehen, ein solch fürchterliches Wesen zu befreien? Aber sie war die Letzte ihrer Art. Der letzte echte Drache. Er ging wieder ins Bett, legte sich hin und versuchte, an etwas zu denken, was ihm Ruhe brachte, aber keinen Schlaf. Wenn er schlief, dann würde der Drache sich auf ihn stürzen und ihn wieder packen. Müde dachte er an Malta. Bei manchen Gelegenheiten erfüllten ihn Freude und Erwartung, wenn er an sie dachte. Sie war so entzückend, so temperamentvoll und so frisch. Ihre Launen waren für ihn Stärke, die sie noch nicht begriffen hatte. Er wusste, was ihre Familie von ihr hielt. Und das hatte seine Gründe. Sie war halsstarrig und egoistisch und nicht gerade wenig verwöhnt. Sie war die Art Frau, die sich mit aller Kraft verteidigen würde. Was sie auch begehrte, sie würde es zielstrebig verfolgen. Wenn er ihre Loyalität gewinnen könnte, wäre sie perfekt. Wie seine Mutter würde sie ihre Kinder beschützen und anleiten und Wohlstand und Macht für sie wahren, noch lange, nachdem Reyn im Grab lag. Andere würden sagen, dass seine Frau rücksichtslos und unmoralisch ihre Familie verteidigte. Aber sie würden es voller Neid sagen. Falls er sie für sich gewinnen konnte. Das war der Haken. Als er Bingtown verlassen hatte, war er sich seines Sieges sicher gewesen. Doch sie hatte die Traumdose seitdem nicht benutzt, um mit ihm in Kontakt zu treten. Er hatte seitdem nur ein förmliches Schreiben von ihr erhalten. Das war alles. Er rollte sich untröstlich auf die Seite und schloss die Augen. Langsam sank er in den Schlaf und in einen Traum. »Reyn, Reyn, Ihr müsst mir helfen.« »Ich kann nicht«, stöhnte er. Die Dunkelheit riss auf, und Malta kam auf ihn zu. Sie war ätherisch schön. Ihr weißes Nachthemd wehte in einem unwelt-
lichen Wind. Ihr dunkles Haar flatterte in der Nacht, und ihre Augen waren voller Geheimnisse. Sie ging allein durch die vollkommene Dunkelheit. Er wusste, was das hieß. Sie war gekommen, ihn zu suchen. Sie hatte keine Bühne aufgebaut, keine Fantasie komponiert. Sie hatte sich hingelegt und nur von ihm geträumt. »Reyn!«, rief sie erneut. »Reyn, wo seid Ihr? Ich brauche Euch.« Er sammelte sich und trat dann in den Traum. »Ich bin hier.« Er sprach leise, damit er sie nicht erschreckte. Sie drehte sich zu ihm um und musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Das letzte Mal wart Ihr nicht verschleiert«, protestierte sie. Er lächelte. Diesmal hatte er eine realistische Darstellung seiner selbst gewählt. Er trug nüchterne Kleidung, einen Schleier und Handschuhe. Vermutlich war das Nachthemd eben das, was sie in Wirklichkeit trug. Er erinnerte sich daran, wie jung sie noch war. Er würde sie nicht ausnutzen. Vielleicht verstand sie ja die Macht der Traumdose noch nicht ganz. »Letztes Mal habt Ihr viele eigene Ideen mit in den Traum gebracht. So wie ich. Wir haben sie vermischt und haben gelebt, was daraus entstanden ist. Heute bringen wir nur uns selbst mit. Und das, was wir wollen.« Er hob den Arm und machte eine ausholende Gebärde in der Finsternis. Eine Landschaft tauchte auf. Es war einer seiner antiken Lieblingsgobelins. An vollkommen schwarzen, blattlosen Bäumen hingen strahlend gelbe Früchte. Ein silberner Pfad schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch und führte zu einer Festung in der Ferne. Der Waldboden war mit dichtem Moos bewachsen. Ein Fuchs mit einem Kaninchen im Maul beobachtete sie von einem Brombeerstrauch aus. Und im Vordergrund umarmte sich ein Paar. Sie waren zu groß, um wirklich menschlich zu sein. Er hatte kupferfarbenes Haar, sie goldenes. Er presste ihren Körper gegen die schwarze Rinde eines Baums. Reyn hatte sich vorgestellt, wie sie von der Zeit einge-
froren waren, aber plötzlich holte die Frau seufzend Luft und drehte leicht den Kopf, damit sie den Kuss des Mannes besser erwidern konnte. Er lächelte. Sie lernte das Spiel schnell, diese Malta. Oder wusste sie gar nicht, dass sie es getan hatte? Sie wandte den Blick von dem leidenschaftlichen Paar ab, trat näher zu ihm und senkte die Stimme, als hätte sie Angst, die Phantome zu stören. »Reyn, ich brauche Eure Hilfe.« Er hatte gedacht, dass diese bestürzte Bitte noch aus dem vorigen Traum mit dem Drachen stammte. »Was ist los?« Sie schaute über die Schulter auf das Paar. Der Mann strich mit der Hand langsam über den Hals und den Umhang der Frau. Malta riss ihren Blick davon los, und Reyn fühlte, wie sie ihn musterte. »Alles was schief gehen kann, ist schief gegangen. Unser Familienschiff ist von Piraten gekapert worden. Der Pirat, der das Schiff gekapert hat, steht in dem Ruf, die gesamte Mannschaft auf den Schiffen zu töten, die er erbeutet. Falls mein Vater noch lebt, hoffen wir ihn freikaufen zu können. Aber wir haben kaum genug Geld dafür. Wenn die Gläubiger herausfinden, dass wir unser Lebensschiff verloren haben, werden sie uns kein Geld mehr geben. Sie werden sogar eher auf noch schnellerer Rückzahlung dessen bestehen, was sie uns bereits geliehen haben.« Beinahe unwillig wurde ihr Blick wieder von dem Mann und der Frau angezogen. Ihre Liebkosungen wurden intimer. Es schien sie abzulenken und gleichzeitig zu erregen. Reyn gratulierte sich zu seiner Selbstbeherrschung und nahm ihre Hand, die sie ihm willenlos überließ. Er erdachte einen anderen Pfad durch den Wald. Sie gingen langsam weiter, während er sie von dem verliebten Paar wegführte. »Was soll ich tun?« »Küsst mich.« Das war ein Befehl. Aber es war nicht Maltas Stimme. Sie kam von einem anderen Paar unter einem Baum. Der junge Mann hielt die Frau an
ihren Schultern und blickte in ihr stolzes Gesicht. Sie sah ihn mit eisiger Verachtung an, aber er presste seine Lippen auf die ihren. Gegen seinen Willen erregte das Reyn. Die Frau wehrte sich kurz, umfasste dann jedoch den Kopf des Mannes und presste seinen Mund gegen ihren. Reyn sah weg, weil ihn die Gewalt störte. Er zog an Maltas Hand, und sie gingen weiter. »Was könnt Ihr tun?«, fragte Malta. Er dachte nach. Normalerweise wurden solche Dinge nicht in Träumen erörtert. »Eure Mutter sollte meiner Mutter einen Brief schreiben. Sie müssen das besprechen, nicht wir.« Er fragte sich, wie seine Mutter wohl reagieren würde. Anscheinend hatte Malta vergessen, dass sie bei einem Mitglied des Khuprus-Clans Hilfe suchte, der jetzt den Wechsel auf das Lebensschiff hielt. Sie waren nicht nur die Hauptgläubiger, die Malta nun fürchtete, sondern das gekaperte Schiff hatte auch als Sicherheit gedient. Es war eine äußerst verzwickte Situation. Der Zauber des Lebensschiffs musste sorgfältig bewacht werden, und der Käufer musste garantieren, dass es niemals in die Hände von Außenstehenden geriet. Als er seine Mutter überredet hatte, den Schuldvertrag der Vestrits auf das Schiff zu kaufen, war es ihre Absicht gewesen, dieses Schiff der VestritFamilie als Hochzeitsgeschenk zu geben. Er hatte erwartet, dass seine eigenen Kinder es einmal erben würden. Der völlige Verlust dieses Schiffes war ein schwerer finanzieller Schlag für alle. Sicher würde seine Mutter reagieren, aber er wusste nicht, was sie tun würde. Er hatte sich niemals für die finanzielle Seite des Familienunternehmens interessiert. Seine Mutter, sein ältester Bruder und sein Stiefvater erledigten das. Er war der Forscher und Gelehrte. Er spürte die Geheimnisse auf, die sie zu barem Geld machten. Was sie mit dem Geld taten, interessierte ihn nicht. Und jetzt fragte er sich, ob er diesbezüglich überhaupt etwas zu sagen hatte. Malta wurde sofort wütend. »Reyn, wir reden über meinen Vater. Ich kann nicht warten, bis meine Mutter mit Eurer Mut-
ter geredet hat. Wenn er gerettet werden soll, dann muss das sofort geschehen.« Er fühlte sich in die Enge getrieben. »Malta, ich habe nicht die Macht, Euch direkt zu helfen. Ich bin der jüngste Sohn und habe drei ältere Geschwister.« Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf. »Ich glaube Euch nicht. Wenn Euch etwas an mir liegt, müsst Ihr mir helfen.« Sie klingt wie der Drache, dachte er bestürzt. Es war ein gefährlicher Gedanke in einer Szenerie der Traumdose. Die Erde bebte plötzlich unter ihren Füßen. Ein zweiter, stärkerer Schlag folgte. Malta hielt sich an einem Baum fest, damit sie nicht fiel. »Was war das?«, wollte sie wissen. »Ein Erdstoß«, erwiderte er ruhig. In Trehaug waren sie nichts Ungewöhnliches. Die schwebende Stadt schwankte auf den Bäumen und nahm wenig Schaden. Aber diese Erdstöße richteten häufig gewaltigen Schaden bei den Ausgrabungsarbeiten an. Er fragte sich, ob das ein echter Erdstoß war, der in den Traum eingegriffen hatte, oder nur ein eingebildeter. »Ich weiß, was ein Erdstoß ist.« Malta klang verärgert. »Die ganzen Verwunschenen Ufer werden von ihnen erschüttert. Ich meinte das Geräusch.« »Das Geräusch?«, fragte er unbehaglich. »Das Kratzen und Schaben. Hört Ihr das nicht?« Er hörte es die ganze Zeit. Im Wachen und im Schlafen verfolgte ihn das schwache Kratzen der Klauen des Drachen gegen sein hölzernes Gefängnis. »Ihr könnt es auch hören?« Er war erstaunt. Mittlerweile hatte er gelernt zu ignorieren, was man ihm immer als lebhafte Fantasie erklärt hatte. Bevor er ihr antworten konnte, veränderte sich alles. Die Farben des Waldes wurden plötzlich hell und frisch. Die warme Luft war vom Duft reifer Früchte erfüllt. Das Moos unter ihren Füßen wurde gröber, während der Pfad plötzlich im Sonnenlicht funkelte. Der Himmel wurde blauer. Es war nicht mehr Reyns Erinnerung an den Gobelin. Etwas veränderte die
Traumdosenvision, und Reyn glaubte nicht, dass es Malta war. Als Gewitterwolken am Horizont aufzogen, war er sich seiner Sache sicher. Er schaute furchtsam hoch, als der Wind reife Früchte von den Bäumen fegte. Eine zerplatzte direkt vor Maltas Füßen. Der starke Duft ihres Fruchtnektars war faulig. »Malta, wir sollten uns trennen! Sagt Eurer Mutter, dass…« Ein Blitz erhellte den finsteren Himmel, und sofort folgte ein Donnerschlag. Reyn fühlte, wie seine Nackenhaare sich sträubten, als der Wind einen besonderen Duft zu ihnen trug. Malta duckte sich und deutete wortlos zum Himmel. Die Winde wirbelten ihr Haar durcheinander und pressten ihr Nachthemd eng an ihren Körper. Ein weiblicher Drache schwebte über den Bäumen. Der mächtige Schlag ihrer Schwingen erzeugte den Wind. Selbst das von den Wolken gedämpfte Licht der Sonne konnte ihren Glanz nicht mindern. Sie schillerte aus sich heraus. Alle möglichen Farben liefen über ihren silbrigen Körper und die Schwingen. Ihre Augen waren kupferfarben. »Ich habe die Macht!«, erklärte sie. Ihre Stimme riss den Himmel auf. Ein Zweig von einem Baum neben Reyn und Malta brach ab und fiel zu Boden. »Befrei mich, und ich werde dir helfen. Das verspreche ich dir!« Ihre Schwingen hoben sie in den Himmel, ihr langer, gewundener Schwanz zuckte durch die Luft. Plötzlich regnete es in Strömen, ein wahrer Wolkenbruch, der die Menschen durchnässte. Malta floh zitternd in Reyns Arme und unter seinen Umhang. Er schlang die Arme um sie. Selbst unter dem Schatten des schwebenden Drachen nahm er die Wärme ihrer Haut durch das feuchte Nachthemd wahr. Malta spähte aus der Deckung seines Umhangs hinauf. »Wer bist du?«, schrie sie laut. »Was willst du?« Die Kreatur warf ihren Kopf zurück und lachte brüllend. Dann schoss sie an ihnen vorbei und stieg wieder auf. »Wer ich bin? Sehe ich so dumm aus, dass ich dich mit meinem Namen beschenke? Nein. Du wirst mich so nicht kontrollieren. Und
was ich will… Einen Handel. Meine Freiheit im Tausch gegen das Schiff, von dem du gesprochen hast, und das Leben deines Vaters, falls er noch an Bord ist. Was sagst du dazu? Es ist doch ein einfacher Handel, oder nicht? Ein Leben für ein Leben.« Malta sah Reyn an. »Ist sie echt? Kann sie uns helfen?« Reyn starrte die Kreatur über ihnen an. Sie schlug heftig mit den Flügeln, während sie in den sturmgepeitschten Himmel aufstieg. Immer höher und höher flog sie hinauf und wurde immer kleiner. Schließlich glänzte sie wie ein Stern vor den dunkelgrauen Wolken. »Sie ist real. Aber sie kann uns nicht helfen.« »Warum nicht? Sie ist gewaltig! Sie kann fliegen! Könnte sie nicht einfach zu dem Schiff fliegen und…« »Und was? Das Schiff zerstören, die Piraten töten? Vermutlich könnte sie das, wenn Ihr wirklich glaubt, dass es klug wäre. Möglicherweise, wenn sie wirklich frei wäre und fliegen könnte. Aber das kann sie nicht. Sie zeigt sich uns nur so in diesem Traum, wie sie sich vorstellt zu sein.« »Wie ist sie wirklich?« Reyn bemerkte plötzlich, wie nah sie diesem äußerst gefährlichen Thema gekommen waren. »Sie ist tief unter der Erde gefangen, wo niemand sie befreien kann.« Er nahm ihren Arm und führte sie rasch in eine kleine Hütte, die er erdacht hatte. Er öffnete die Tür, und Malta eilte dankbar hinein. Er folgte ihr und schloss die Tür hinter sich. Ein kleines Feuer beleuchtete den einfachen kleinen Raum. Malta fasste ihr Haar zu einem Bündel und wrang das Wasser heraus. Dann drehte sie sich zu ihm um. Auf ihrem Gesicht glitzerten Wassertropfen. Das Licht der Flammen tanzte in ihren Augen. »Wie ist sie gefangen?«, wollte Malta wissen. »Was müssten wir tun, um sie zu befreien?« Er wollte nicht unehrlich zu ihr sein, also musste er ihr noch mehr erzählen. »Vor langer Zeit ist etwas geschehen. Wir wis-
sen nicht, was. Irgendwie wurde eine ganze Stadt unter einer dicken Erdschicht begraben. Es ist so lange her, dass mittlerweile Bäume in der Erde darüber gewachsen sind. Der Drache befindet sich in einer Kammer tief unten in der verschütteten Stadt. Es besteht keine Möglichkeit, ihn zu befreien.« Er hoffte, dass seine Worte endgültig klangen. Malta wirkte jedoch wenig überzeugt. Er schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht erwartet, dass wir einen solchen Traum teilen würden.« »Kann man sie nicht ausgraben? Wie kann sie noch leben, wenn sie so tief begraben ist?« Malta legte den Kopf schief und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Woher wisst Ihr überhaupt, dass sie da ist? Reyn. Ihr erzählt mir nicht alles!«, beschuldigte sie ihn. Er ließ sich nicht erweichen. »Malta, es gibt viele Dinge, die ich Euch nicht erzählen kann. Ich würde Euch auch nicht auffordern, die Geheimnisse der Bingtown-Händler zu verraten. Ihr müsst mir glauben, dass ich Euch alles erzählt habe, was ich verantworten kann.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. Sie starrte ihn eine Weile an. Dann senkte sie den Blick. Nach einer Weile sagte sie leiser: »Bitte, denkt nicht schlecht von mir. Mir war nicht klar, worum ich Euch gebeten habe.« Ihre Stimme wurde heiser, als sie weitersprach. »Ich freue mich auf die Zeit, in der es keine Geheimnisse mehr zwischen uns gibt.« Ein Windstoß erschütterte die Wände der Hütte. Reyn vermutete, dass es der Drache war, der im Tiefflug darüber hinwegrauschte. »Befrei mich!« Sein langer, wilder Schrei gellte aus dem Himmel zu ihnen herunter. »Befrei mich!« Bei dem Klang der Drachenstimme riss Malta vor Entsetzen die Augen auf. Ein zweiter Windstoß traf die Hütte und rüttelte an den Fensterläden. Plötzlich lag Malta in Reyns Armen. Er drückte sie an sich und fühlte, wie sie zitterte. Ihr Scheitel reichte ihm nur bis zum Kinn. Er streichelte ihr feuchtes Haar. Als sie ihr Gesicht hob, schien er in ihren dunklen Augen zu
versinken. »Es ist nur ein Traum«, versicherte er ihr. »Nichts kann dir passieren. Nichts ist wirklich real.« »Aber es kommt mir sehr real vor«, flüsterte sie. Ihr warmer Atem strich über sein Gesicht. »Wirklich?« »Wirklich.« Vorsichtig senkte er den Kopf. Sie wich dem Kuss nicht aus. Der dünne Schleier zwischen ihren Lippen war beinahe angenehm rau. Sie schlang ihre Arme um ihn und hielt ihn ungeschickt fest. Der süße Kuss lag noch auf seinen Lippen, als die Macht der Traumdose schwächer wurde und er in den Schlaf zurücksank. »Komm zu mir.« Ihre Worte drangen nur noch schwach zu ihm. »Komm bei Vollmond zu mir.« »Das kann ich nicht!«, rief er und hoffte verzweifelt, dass seine Worte sie erreichten. »Malta, das kann ich nicht!« Er wachte auf, während er diese Worte in sein Kissen sprach. Hatte sie ihn gehört? Er schloss die Augen und versuchte, sich in den Schlaf und den gemeinsamen Traum zurückzuzwingen. »Malta? Ich kann nicht zu dir kommen. Das kann ich nicht.« »Sagst du das zu allen Weibchen?« Irgendwo lachte jemand boshaft. Und Klauen kratzten schwach gegen eisenhartes Hexenholz. »Gräme dich nicht, Reyn. Du kannst vielleicht nicht zu ihr gehen. Aber ich.«
17
Ausgesetzt Der Mond stand klar am Himmel, und es war Flut, als Kennit die Zeit für reif hielt, sein Versprechen zu halten. Er hatte einige sorgfältige Vorbereitungen treffen müssen, aber jetzt war alles bereit. Es war sinnlos, Zeit zu verschwenden. Er schwang sein Bein über den Bettrand und setzte sich auf. Als Etta schläfrig den Kopf hob, sah er sie finster an. Heute wollte er nicht, dass sich jemand einmischte. »Schlaf weiter!«, befahl er. »Wenn ich dich brauche, sage ich es dir.« Doch statt beleidigt zu sein, lächelte sie ihn zärtlich und etwas benommen an und schloss die Augen. Dass sie seine Unabhängigkeit so ruhig akzeptierte, machte ihn fast ärgerlich. Wenigstens akzeptierte sie endlich, dass er nicht bei allem ihre Hilfe brauchte. In den Wochen seiner Genesung war sie bis zum Überdruss hilfreich gewesen. Manchmal musste er sie sogar anschreien, bis sie sich zurückzog und ihn in Ruhe ließ. Er griff nach dem Holzbein, das neben dem Bett stand, und steckte den Stumpen in die Ledermulde am oberen Ende. Der Lederharnisch, mit dem das Bein an seinem Körper befestigt wurde, wirkte zwar immer noch etwas unhandlich, aber er gewöhnte sich allmählich daran. Seine Hose darüber zu ziehen war jedoch eine ganz andere Angelegenheit. Er runzelte die Stirn. Die Frau musste eine bessere Lösung finden. Das würde er ihr gleich morgen früh klarmachen. An seinem Gürtel hing jetzt nur noch ein langer Dolch. Ein Schwert war für einen Mann, der auf einem Bein balancieren musste, eine nutzlose Eitelkeit. Er zog seinen Stiefel an und nahm die Krücke vom Bettrand. Dann humpelte er geräuschvoll durch die Kajüte. Während er vorsichtig das Gleichgewicht hielt, knöpfte er sein Hemd zu, zog eine Weste an und warf einen Cordmantel dar-
über. In seine Hosentaschen steckte er ein sauberes Taschentuch und seine üblichen Utensilien. Er schlug den Kragen um und überzeugte sich, dass die Manschetten ordentlich saßen. Nachdem er die Krücke fest unter seine Schulter gepresst hatte, verließ er die Kabine und zog die Tür leise hinter sich zu. Auf dem ankernden Schiff war alles friedlich. Das Schiff war gewissenhafter und fuhr viel besser, nachdem er in Divvytown die Mannschaft reduziert hatte. Die meisten geretteten Sklaven waren froh gewesen, das überfüllte Schiff verlassen zu dürfen. Einige hatten bleiben wollen; er hatte sie sehr genau unter die Lupe genommen. Manche waren einfach keine guten Seeleute. Andere waren zu gereizt. Nicht alle mit mehreren Tätowierungen auf dem Gesicht waren Freigeister, die sich der Sklaverei nicht beugen wollten. Einige waren einfach zu dumm, um ihre Aufgaben ordentlich zu erledigen. Die wollte er genauso wenig, wie ihre früheren Eigentümer sie hatten behalten wollen. Ein Dutzend ehemaliger Sklaven hatte darauf bestanden, an Bord zu bleiben. Vermutlich Opfer von Sa'Adars Einfluss. Kennit hatte es ihnen gnädigerweise erlaubt. Es war seine einzige Konzession an ihre Forderung, das Schiff zu besitzen. Zweifellos hofften sie auf mehr. Und genauso zweifellos würden sie enttäuscht werden. Drei andere hatte er aus persönlichen Gründen an Bord behalten. Sie würden heute ihren Zweck erfüllen. Ankle lehnte an der vorderen Reling. Nicht weit von ihr schlief Wintrow tief und fest den Schlaf des Erschöpften. Kennit lächelte. Brig hatte seine Aufforderung, den Jungen ein paar Tage zu beschäftigen, sehr wörtlich genommen. Das Mädchen drehte sich um, als es das Pochen seines Holzbeins auf dem Deck hörte. Angsterfüllt sah sie zu, wie er näher kam. Sie war nicht mehr so furchtsam, wie sie noch am Anfang gewesen war. Ein paar Tage nach der Kaperung des Schiffes hatte Etta dem Treiben der befreiten Männer und der Mannschaft Einhalt geboten. Sie benutzten sie für ihre sexuellen Gelüste. Das
Mädchen hatte anscheinend nichts dagegen gehabt, also hatte Kennit kein Problem darin gesehen. Aber Etta hatte darauf bestanden, dass sie von dem Missbrauch zu sehr mitgenommen war, um zu wissen, wie sie sich dagegen wehren konnte. Später hatte Wintrow ihm gesagt, was er von dem Mädchen wusste. Ankle war in dem Frachtraum verrückt geworden und hatte sich verkrüppelt, weil sie sich ständig gegen ihre Fußfesseln gewehrt hatte. Wintrow glaubte, dass sie noch ganz normal gewesen war, bevor man sie unter Deck gesteckt hatte. Niemand an Bord schien etwas über sie zu wissen, nicht einmal ihren Namen oder ihr Alter. Es ist eine Schande, dass sie den Verstand verloren hat, dachte Kennit. Sie würde immer humpeln. Sie war noch schlimmer als nutzlos an Bord des Schiffes, denn sie verbrauchte Nahrung und nahm Raum ein, den man einem fähigen Matrosen hätte geben können. Er hätte sie in Divvytown an Land gesetzt, wenn sich Etta und Wintrow nicht für sie eingesetzt hätten. Als sich auch noch Viviace für sie verwandte, hatte Kennit zugelassen, dass sie ihn umstimmten. Trotzdem wurde es Zeit, sich von ihr zu trennen. Es war das Beste, was er tun konnte. Ein Piratenschiff war kein Heim für kaputte Seelen. Er bedeutete ihr, zu ihm zu kommen. Sie machte einen zögernden Schritt. »Was habt Ihr mit ihr vor?«, fragte Viviace leise aus dem Schatten. »Ich will ihr nichts Böses tun. Ihr kennt mich mittlerweile gut genug, um das zu wissen.« Er sah kurz zu Wintrow hinüber. »Wir wollen den Jungen nicht wecken.« Seine Stimme klang freundlich. Die Galionsfigur schwieg einen Moment. »Ich spüre, dass Ihr glaubt, das Richtige für sie zu tun. Aber ich begreife nicht, was es ist.« Nach einer Weile fuhr sie fort: »Ihr schließt mich aus. Es gibt Stellen in Eurem Herzen, die Ihr mir noch nie zugänglich gemacht habt. Ihr habt Geheimnisse vor mir.«
»Ja. So wie auch Ihr Geheimnisse vor mir habt. In dieser Angelegenheit müsst Ihr mir vertrauen. Könnt Ihr das?« Die Frage war ein kleiner Test. Sie schwieg. Er ging weiter, vorbei an Ankle, die sich leicht duckte, als er sie passierte. Dann nahm er ihren Platz an der Reling ein und beugte sich zu dem Schiff hinunter. »Guten Abend, schöne Seelady«, begrüßte er das Schiff, als wären es die ersten Worte, die er zu ihr gesagt hatte. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern im Wind. »Es ist wohl eher eine gute Nacht, Sir«, antwortete sie ebenso leise. Er streckte die Hand aus, und sie drehte sich um, damit sie ihre großen Finger in seine legen konnte. »Ich nehme an, Euch geht es gut. Sagt mir…« Er deutete auf das Panorama von verstreuten Inseln vor ihnen. »Was haltet Ihr von meinen Inseln, jetzt, da Ihr ein bisschen von ihnen gesehen habt?« Sie brummte herzlich. »Sie haben eine einzigartige Schönheit an sich. Die Wärme des Wassers, die Nebelschwaden, die sie verhüllen und enthüllen… Selbst die Seevögel, die sich hier zusammenscharen, sind anders. Sie sind bunter und singen vielfältiger als die meisten anderen Vögel. Ich habe solches Gefieder nicht mehr gesehen, seit Kapitän Vestrit mich auf eine Reise in die Südlande geführt hat…« Sie verstummte. »Ihr vermisst ihn noch, hab ich Recht? Er war sicher ein großartiger Kapitän und hat Euch viele wundersame Orte gezeigt. Aber wenn Ihr mir vertraut, Mylady, dann werden wir gemeinsam Orte sehen, die noch viel exotischer und aufregender sind.« Er klang fast eifersüchtig, als er weiterredete. »Erinnert Ihr Euch so gut an ihn? Ich dachte, Ihr wärt damals noch nicht erwachsen gewesen.« »Ich erinnere mich an ihn wie an einen guten Traum am Morgen. Es ist zwar nichts sehr deutlich, aber ein Duft, ein Horizont oder der Geschmack einer Strömung kommt mir vertraut vor, und damit kommt die Erinnerung. Wenn Wintrow mit mir
spricht, ist es deutlicher. Ich kann ihm weit mehr Erinnerungen übermitteln, als ich aussprechen kann.« »Verstehe.« Er wechselte das Thema. »Trotzdem seid Ihr noch nie hier gewesen, stimmt's?« »Nein. Kapitän Vestrit hat die Piraten-Inseln gemieden. Wir sind an ihnen vorbeigesegelt, und zwar so weit östlich, wie es nur ging. Er sagte immer, dass es besser wäre, Schwierigkeiten zu vermeiden, als mit ihnen fertig werden zu müssen.« »Aha.« Kennit sah an ihr vorbei auf die Marietta, die ebenfalls vor Anker lag. Manchmal vermisste er Sorcor. Es wäre ganz bequem gewesen, wenn er ihn bei seinem heutigen Vorhaben dabeigehabt hätte. Trotzdem war es besser, ein Geheimnis allein zu wahren. Er rief sich abrupt ins Gedächtnis, dass er deshalb an Deck gekommen war. »In dem Punkt würde ich mit ihm übereinstimmen. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigt, Mylady, ich muss heute Schwierigkeiten aus dem Weg gehen. Denkt an mich, bis ich wiederkomme.« »Das werde ich.« Sie war offensichtlich verwirrt. Er humpelte davon, und seine Krücke und sein Holzbein verursachten einen merkwürdigen Rhythmus auf Deck. Er bedeutete Ankle, ihm zu folgen. Sie kam, langsam und umständlich, aber sie kam. Als er die Gig des Kapitäns erreichte, sagte er ihr: »Warte hier. Ich fahre mit dir hinaus.« Er unterstrich seine Worte mit Gesten, um sicherzugehen, dass sie ihn verstand. Sie wirkte zwar beunruhigt, setzte sich aber gehorsam auf das Deck. Er ging an dem Seemann vorbei, der Ankerwache hatte, und grüßte ihn mit einem Nicken. Der Mann erwiderte das Nicken, sagte aber nichts. Kapitän Kennit hatte auf seinem Schiff immer das getan, was er wollte. Er spürte, dass die Mannschaft zuversichtlicher wurde, seitdem er wieder seine unberechenbaren Gänge über das Schiff machte. Es beruhigte sie, dass bei ihrem Kapitän alles wieder in Ordnung war. Er konnte sich beinahe schnell bewegen, wenn ihm danach war, mit einem Schritt und einem Schwung der Krücke. Aber
das war nicht ganz mühelos. Wintrow glaubte, dass er mit der Zeit Hornhaut entwickeln würde. Das konnte er nur hoffen. Manchmal rieb die Ledermulde, die seinen Stumpen hielt, schrecklich, und seine Achselhöhle schmerzte am Abend vom Druck der Krücke. Sich lautlos zu bewegen war noch anstrengender, als schnell zu gehen, aber er schaffte es. Er hatte sich Zeit genommen herauszufinden, wo Sa'Adar jede Nacht schlief, und ging zielstrebig dorthin. Selbst in dem dämmrigen Licht der in großen Abständen aufgehängten Laternen fand er den Weg. Als er zu dem ausgestreckt Daliegenden kam, blieb er stehen und blickte auf ihn herunter. Sa'Adar schlief nicht, also tat Kennit auch nicht so, als wollte er ihn wecken. »Wenn du sehen willst, wie Kyle Haven gerichtet wird, steh auf und komm mit. Leise.« Selbstbewusst drehte er dem Mann den Rücken zu und ging davon. Er gab sich nicht die Blöße zurückzusehen. Sein scharfes Gehör registrierte das leise Tappen der nackten Fußsohlen, als der Priester ihm folgte. Er hatte ihn richtig eingeschätzt. Kennits rätselhafte und geheimnisvolle Art bewog den Mann, ihm allein zu folgen, ohne seine Kameraden zu wecken. Kennit ging an den anderen Schläfern vorbei, bis er zu zweien kam, die er schon früher ausgewählt hatte. Dedge hatte selbst im Schlaf den Arm beschützend um Saylah gelegt. Er stieß Dedge zweimal mit seiner Krücke an, deutete dann auf seine Gefährtin und ging weiter. Der Mann weckte gehorsam die Frau, und beide folgten ihm schweigend. Sie gingen durch das schlafende Schiff. Diejenigen, die wach wurden und ein Auge öffneten, waren klug genug, ihre Gedanken bei sich zu behalten. Als sie auf Deck waren, führte Kennit sie zum Achterdeck. Er blieb vor der Kabine stehen, in der Kyle Haven eingesperrt war. Ein kurzes Nicken zu den Kartenvisagen machte ihnen klar, was er wollte. Dedge öffnete die Tür und betrat die Kabine. Kyle Haven schreckte von seiner unordentlichen Koje hoch. Sein Haar hing ihm wirr um die Schul-
tern. In dem Raum stank es nach altem Schweiß, Dreck und Pisse, was an die Frachträume mit den Sklaven erinnerte. Kennit rümpfte die Nase. »Ihr solltet mit uns kommen, Kapitän Haven«, sagte er sanft. Haven blickte auf Kennits Begleiter. Sa'Adar lächelte. »Ihr wollt mich töten, stimmt's?«, fragte er heiser. »Nein.« Es kümmerte Kennit nicht, ob der Mann ihm glaubte oder nicht. »Sorgt dafür, dass er schweigend mitkommt«, befahl er den Kartenvisagen und sah Haven hochmütig an, als er hinzufügte: »Es ist mir ziemlich egal, wie sie es bewerkstelligen, dass Ihr schweigt. Ihr müsst nicht gehorchen, aber es wäre einfacher für uns beide.« Er wandte sich ab. Sa'Adar ärgerte ihn, als er ihm hinterherlief. »Wollt Ihr die anderen nicht wecken? Damit sie das mit ansehen können?« Kennit blieb unvermittelt stehen. »Sagte ich nicht, ich wünsche absolute Ruhe?«, fragte er, ohne den anderen Mann anzusehen. »Aber…« Die Bewegung war vollkommen natürlich. Er dachte nicht einmal darüber nach. Er stützte sein Gewicht auf sein gutes Bein, lehnte die Schulter gegen die Wand und schlug kräftig mit der Krücke zu. Sa'Adar wurde von dem Schlag auf den Schenkel getroffen und stolperte zurück. Er rutschte an der Wand herunter und hatte den Mund vor Schmerz aufgerissen. Kennit wandte sich von ihm ab. Wäre der Gang breiter gewesen, wäre der Schlag sogar noch weit effektiver gewesen. Vielleicht sollte er das üben. Er blieb an der Gig des Kapitäns stehen und wartete darauf, dass die anderen ihn einholten. Es freute ihn, dass Haven schweigend wartete, ohne dass man ihn gefesselt oder geknebelt hatte. Offensichtlich glaubte der Mann an seine Macht. Vielleicht war ihm auch klar geworden, dass alle, die seine Schreie hörten, ihm kaum helfen würden. Was auch immer
seine Gründe waren, sein Gehorsam machte alles einfacher. Ankle stand auf, als die anderen näher kamen. Kennit sah die Kartenvisagen an. »Holt die Kiste. Ihr wisst, welche. Dann bereitet Euch vor, das Boot zu Wasser zu lassen.« Die Männer gehorchten ihm sofort. Die anderen warteten schweigend. Niemand war so dumm, Fragen zu stellen. Er setzte sich in den Bug des Bootes. Ankle ließ sich am Heck nieder, in der Nähe der Kiste, und die beiden Kartenvisagen nahmen ein Ruder, der Priester und Kapitän Haven das andere. Kennit zeigte den Weg an. Von Zeit zu Zeit befahl er leise Kursänderungen. Er führte sie zwischen zwei kleinen Inseln hindurch auf die windabgewandte Seite einer dritten. Erst als sie von beiden seiner Schiffe nicht mehr gesehen werden konnten, deutete er auf die vierte Insel, die sein eigentliches Ziel war. Selbst dann erlaubte er den Kartenvisagen nicht, auf dem Strand der Schlüsselloch-Insel zu landen. Stattdessen ließ er sie weiterrudern, bis sie an die Einmündung einer kleinen Bucht kamen. Kennit wusste sehr genau, dass es mehr als eine Bucht war. Was eine Insel zu sein schien, war kaum mehr als ein Wall aus bewaldeten Klippen, geformt wie ein fast geschlossener Pferdehuf, der diese Bucht umschloss. Eine größere und eine kleinere Insel lagen darin. Der Himmel wurde grau, als er seine Ruderer wortlos zum Strand der größeren Insel dirigierte. Vom Wasser aus wirkte es wie irgendeine kleine Insel. Sie hatte eine wenig bemerkenswerte Uferlinie und war mit verkümmerten Bäumen und groben Büschen bewachsen. Kennit wusste, dass auf der anderen Seite der Insel ein guter Ankerplatz mit tiefem Wasser lag, aber für seine Zwecke heute Nacht genügte der steinige Strand. Auf seinen Befehl hin ruderten die Kartenvisagen das Boot ans Ufer. Er saß darin wie ein König in einer Sänfte, während seine Leute hinauskletterten und es an den Dollen an den Strand zogen. Sie waren kaum aus dem Wasser, als Kyle Haven das Boot losließ und weglief, was
nicht anders zu erwarten gewesen war. »Schnappt ihn euch!«, befahl Kennit scharf. Ein gut gezielter Steinbrocken von einer der Kartenvisagen fällte den Mann. Wintrows Vater krabbelte auf dem steinigen Strand weiter, aber bevor er sich wieder aufrappeln konnte, hatte sich Sa'Adar auf ihn gestürzt, packte ihn an der Kehle und rammte seinen Kopf auf den Boden. Kennit war verärgert. »Bindet dem Kapitän die Hände hinter den Rücken, und bringt ihn her. Und sorgt dafür, dass der Priester ihn nicht verwundet«, befahl er seinen Kartenvisagen. »Hilf mir«, sagte er dann zu Ankle. »Aber nur, wenn ich es sage,« Das Mädchen runzelte die Stirn, schien seinen Befehl aber zu verstehen. Sie folgte ihm auf dem Fuß. Während die Kartenvisagen die zwei Kämpfenden trennten und festhielten, kletterte Kennit aus dem Boot. Die Felsen und der Sand machten das Gehen mit Holzbein und Krücke hier erheblich schwieriger als auf den glatten Decks der Viviace. Die Steine rutschten unter seinem Gewicht weg, und der Sand gab unerwartet nach. Den Strand zu überqueren war weit mühseliger, als er gedacht hatte. Er biss die Zähne zusammen und bemühte sich, dass sein Schneckentempo eher gemessen als angestrengt aussah. »Also? Folgt mir!«, fuhr er die Leute an, die dastanden und zusahen, wie er sich vorwärts bewegte. »Nehmt die Kiste mit.« Er fand den alten Pfad ohne allzu viele Schwierigkeiten. Er war überwuchert. Vermutlich waren die Schweine und die Ziegen die einzigen Lebewesen, die ihn jetzt noch freihielten. Nur wenig andere Menschen außer ihm hatten je diesen Strand betreten, und es war schon Jahre her, seit er ihn das letzte Mal entlanggegangen war. Ein Haufen frischen Schweinekots bestätigte seine Vermutung. Ankle ging direkt hinter ihm. Ihr folgten der Priester und Saylah, die die Kiste trugen. Das Schlusslicht bildete Dedge, der Haven hinter sich herzerrte. Haven war zwar nicht ruhig, aber Kennit interessierte das nicht mehr. Sie
konnten mit dem Kapitän machen, was sie wollten, solange er einigermaßen unversehrt eintraf. Das hatten sie bestimmt verstanden. Der Weg führte ein kurzes Stück bergauf. Dann senkte er sich wieder und schlängelte sich in das hügelige Innere der Insel. Kennit blieb einen Moment am Rand dieses kleinen Tals stehen. Der Weg öffnete sich auf ein grasiges Weideland. Eine äsende Ziege hob den Kopf und beäugte sie misstrauisch. Es hatte sich wenig geändert. Im Westen sah er eine kleine Rauchsäule in den Himmel steigen. Hm. Vielleicht hatte sich sogar gar nichts verändert. Der Pfad änderte die Richtung und führte jetzt durch den Wald auf die kleine Rauchsäule zu. Kennit folgte ihm. Diese verdammte Krücke bohrte noch ein Loch in seine Achselhöhle! Sie musste besser gepolstert werden. Dasselbe galt auch für den Stumpf. Er biss jedoch die Zähne zusammen und hütete sich, sein Unbehagen zu zeigen. Aber ihm lief der Schweiß über den Rücken, als sie endlich den Rand der Lichtung erreichten. Dedge stieß einen erstaunten Fluch aus. Die Frau murmelte ein Gebet. Kennit achtete nicht auf sie. Vor ihm erstreckte sich ein ordentlicher Garten, der in wohl gepflegten Reihen angelegt war. Hühner gackerten in einem kleinen Hühnerstall. Irgendwo muhte laut eine Kuh. Hinter dem Garten befanden sich sechs kleine Häuser, die sich glichen wie ein Ei dem anderen. Fünf der Reetdächer waren zusammengesackt. Aus dem Schornstein des letzten, das noch ein intaktes Dach hatte, drang der Rauch. Hinter den Häusern waren das Obergeschoss und das geschindelte Dach eines größeren Hauses zu sehen. Früher einmal war es ein kleiner, blühender Grundbesitz gewesen. Nur diese Hand voll Häuser waren noch davon übrig geblieben. Es hatte Jahre sorgfältiger Planung gekostet, und die ganze Siedlung war mit liebevoller Genauigkeit angelegt worden. Es war eine geordnete, ordentliche Welt gewesen, die speziell für ihn gemacht war. Doch das alles
war vor ihrer Entdeckung durch Igrot den Schrecklichen gewesen. Kennit nahm den Anblick in sich auf. Etwas rührte sich in ihm, aber er erstickte es, bevor das Gefühl deutlich werden konnte. Er holte tief Luft. »Mutter!«, rief er. »Mutter, ich bin zu Hause!« Zwei Atemzüge lang geschah nichts. Dann schwang langsam eine Tür auf. Eine grauhaarige Frau steckte den Kopf heraus. Sie kniff im Morgenlicht die Augen zusammen, als sie über den Hof blickte. Schließlich sah sie sie am anderen Ende des Gartens. Sie hob eine Hand zum Hals, riss die Augen auf und machte eine kurze Handbewegung, die wohl böse Geister vertreiben sollte. Kennit seufzte gereizt. Er tastete sich durch den Garten, und seine Krücke und sein Holzbein sanken tief in die weiche Erde ein. »Ich bin's, Mutter. Kennit. Dein Sohn.« Wie immer ärgerte ihn ihre Vorsicht. Er hatte den Garten schon fast zur Hälfte durchquert, als sie schließlich ganz aus der Tür trat. Sie war barfuß, bemerkte er angewidert, und trug ein Baumwollwams und eine Hose. Ihr hochgestecktes Haar hatte die Farbe von Holzasche. Sie war noch nie sonderlich schlank gewesen und hatte mit den Jahren immer mehr angesetzt. Ihre Augen verrieten ihr Erstaunen, als sie ihn endlich erkannte. Sie trottete nicht gerade graziös auf ihn zu. Und er musste die Demütigung ihrer weichen Umarmung über sich ergehen lassen. Sie weinte schon, bevor sie ihn erreichte. Immer wieder deutete sie auf sein fehlendes Bein und schnatterte fragend und voller Trauer auf ihn ein. »Ja, ja, Mutter, es ist schon gut. Lass es gut sein.« Sie klammerte sich weinend an ihn. Schließlich packte er ihre Hände und schob sie von sich weg. »Lass es gut sein.« Vor Jahren hatte man ihr die Zunge herausgeschnitten. Obwohl er nichts damit zu tun gehabt und es damals auch ernsthaft bedauert hatte, musste er mit der Zeit einsehen, dass dieser Vorfall nicht vollkommen unglücklich war. Sie redete immer
noch unablässig oder versuchte es zumindest, aber seit dem Vorfall konnte er die Unterhaltung dorthin lenken, wo er sie haben wollte. Er entschied, wann ein Thema beendet war. So wie jetzt. »Ich kann leider nicht lange bleiben, aber ich habe dir einige Dinge mitgebracht.« Er drehte sie entschlossen um und führte seine vor Ehrfurcht beinahe erstarrte Prozession zu dem heilen Häuschen. »In der Kiste sind einige Geschenke für dich. Ein paar Blumensamen, die du vielleicht magst, einige Gewürze zum Kochen, Stoffe und Gobelins. Ein bisschen hiervon und ein bisschen davon.« Sie kamen an die Tür des Hauses und traten ein. Es war makellos sauber. Und beinahe kahl. Auf dem Tisch lagen geglättete Kiefernbretter. Pinsel und Farben waren daneben angeordnet. Also malte sie immer noch. Die Arbeit vom Vortag trocknete auf dem Tisch. Es war eine Feldblume, die äußerst naturgetreu dargestellt war. Ein Wasserkessel blubberte auf dem Herd. Durch die Tür zum zweiten Raum sah er das ordentlich gemachte Bett. Wohin er auch blickte, alles kündete von einem einfachen und friedlichen Leben. Sie hatte es immer so gemocht. Sein Vater dagegen hatte Pracht und Abwechslung geliebt. Sie hatten sich sehr gut ergänzt. Jetzt war sie wie eine halbe Person. Der Gedanke regte ihn plötzlich unglaublich auf. Er drehte sich um, packte Ankle bei den Schultern und schob das Mädchen vorwärts. »Ich habe oft an dich gedacht, Mutter. Sieh, das ist Ankle. Sie ist jetzt deine Dienerin. Sie ist nicht sehr klug, aber sie scheint sauber und willig zu sein. Sollte sich herausstellen, dass sie es nicht ist, werde ich sie töten, wenn ich wiederkomme.« Seine Mutter sah ihn entsetzt an, und das verkrüppelte Mädchen kauerte sich zusammen und flehte stotternd um Gnade. »Also solltest du um ihretwillen versuchen, mit ihr auszukommen«, fügte er beinahe freundlich hinzu. Er wünschte sich bereits, dass er wieder auf dem Deck seines Schiffes wäre. Dort war alles so
viel einfacher. Er deutete auf seinen Gefangenen. »Und das ist Kapitän Haven. Sag hallo, und verabschiede dich auch gleich von ihm. Er wird bleiben, aber du brauchst dich nicht um ihn zu kümmern. Ich bringe ihn in den alten Weinkeller unter dem Haupthaus. Ankle, du denkst daran, ihm ab und zu Essen und Wasser zu bringen, ja? Etwa so oft, wie du selbst an Bord des Schiffes gefüttert und getränkt wurdest. Das kommt euch allen doch fair vor, hm?« Er wartete auf eine Antwort, aber sie starrten ihn alle an, als wäre er verrückt geworden. Alle bis auf seine Mutter, die die Vorderseite ihres Wamses umklammerte und bestürzt den Stoff zwischen den Händen wrang. Kennit glaubte, dass er das Problem kannte. »Denk daran, ich habe mein Wort gegeben, dass er in Sicherheit bleiben muss. Ich werde ihn gut anketten, aber du musst für Essen und Wasser Sorge tragen. Verstehst du das?« Seine Mutter plapperte wütend auf ihn ein. Er nickte zustimmend. »Ich wusste doch, dass du nichts dagegen haben würdest. So, habe ich etwas vergessen?« Er sah die anderen an. »Ach ja! Sieh Mutter, ich habe dir auch einen Priester mitgebracht! Ich weiß ja, wie gern du Priester hast.« Sein Blick schien Sa'Adar zu durchbohren. »Meine Mutter ist sehr fromm. Bete für sie. Oder sprich irgendeinen Segen.« Sa'Adar starrte ihn fassungslos an. »Ihr seid verrückt!« »Wohl kaum. Warum beschuldigen mich die Leute immer wieder des Wahnsinns, wenn ich die Dinge einfach nur nach meinen Vorlieben organisiere statt nach ihren?« Er wandte sich von dem Priester ab. »Nun, die beiden, Mutter, werden deine Nachbarn werden. Sie erwarten ein Baby, haben sie mir erzählt. Ich bin sicher, dass du gern ein Kind hier um dich haben magst, oder nicht? Sie sind beide sehr geschickt, selbst bei schwerer Arbeit. Vielleicht finde ich bei meinem nächsten Besuch die Gebäude ja in einem etwas besseren Zustand vor. Vielleicht lebst du dann ja sogar wieder in dem großen Haus?«
Die alte Frau schüttelte so heftig den Kopf, dass sich ihr graues Haar löste. Ihre Augen weiteten sich, als sie sich an vergangene Schmerzen erinnerte. Sie öffnete den Mund und stieß einen zittrigen Schrei aus. Der Stumpf ihrer Zunge wurde sichtbar. Kennit blickte angewidert zur Seite. »Dieses Haus wirkt ziemlich gemütlich«, lenkte er ein. »Vielleicht bist du hier wirklich besser aufgehoben. Aber das bedeutet nicht, dass wir das große Haus verfallen lassen sollten.« Er sah die beiden Kartenvisagen an. »Ihr beiden könnt euch eines der Häuser aussuchen. Ebenso wie der Priester. Und haltet ihn von dem Kapitän fern. Ich habe Wintrow versprochen, dass sein Vater irgendwo sicher verwahrt würde, und zwar unversehrt, damit der Junge sich keine Sorgen mehr um ihn machen oder sich mit ihm abgeben muss.« Zum ersten Mal sprach Kyle Haven. Er hustete erstickt, und dann brüllte er los. »Das hat Wintrow gemacht? Mein Sohn hat mir das angetan?« Seine blauen Augen funkelten vor Schmerz und Hass. »Ich wusste es! Ich wusste es die ganze Zeit! Diese hinterhältige kleine Viper! Dieser Schuft!« Kennits Mutter zuckte vor seiner Wut zurück. Kennit schlug Kyle Haven beiläufig mit dem Handrücken auf den Mund. Obwohl er sich auf seine Krücke stützen musste, war der Schlag so hart, dass der Kapitän zurückstolperte. »Ihr regt meine Mutter auf«, meinte er nachdrücklich und seufzte verärgert. »Ich glaube, es wird Zeit, Euch fortzuschaffen. Ihr beide nehmt ihn mit.« Das galt seinen Kartenvisagen. Dann wandte er sich dem Mädchen zu. »Mach Essen!«, befahl er ihr. »Mutter, zeig ihr, wo die Vorräte sind. Priester, du bleibst hier. Bete oder tu das, was meine Mutter von dir will.« Die Kartenvisagen zerrten Kyle Haven aus der Tür. Als Kennit ihnen folgte, verkündete Sa'Adar: »Ihr könnt mir nicht befehlen, was ich tun soll. Ihr könnt mich nicht zu Eurem Sklaven machen!« Kennit warf ihm einen Blick über die Schulter zu und lächelte
ihn böse an. »Vielleicht nicht. Aber ich kann dich zur Leiche machen. Eine wirklich interessante Alternative, findest du nicht?« Er drehte sich um und ging hinaus. Die Kartenvisagen warteten draußen auf ihn. Havens Gesicht zeigte Unglauben und Verzweiflung. »Das könnt Ihr nicht tun! Ihr könnt mich hier nicht aussetzen!« Kennit schüttelte den Kopf. Er hatte es satt, dass die Leute ihm sagten, dass er nicht tun konnte, was er offensichtlich doch zu tun in der Lage war. Er sah nicht einmal zu den anderen zurück, während er zu dem großen Haus voranging. Der mit Kieseln bestreute Weg war überwuchert, und die Blumenbeete waren schon lange dem Wildwuchs zum Opfer gefallen. Er sagte zu den Kartenvisagen: »Ich möchte, dass dies hier gesäubert wird. Wenn ihr nichts von Gärtnerei versteht, fragt meine Mutter um Rat. Sie weiß eine Menge darüber.« Als sie zur Vorderseite des Hauses kamen, sah er absichtlich nicht auf die Reste der anderen Gebäude. Es war sinnlos, an der Vergangenheit zu hängen. Gras und Efeu hatten die verbrannten Reste schon vor langer Zeit überwuchert und unter sich begraben. Sollte es so bleiben. Selbst das große Haus hatte bei dem Überfall, der vor langer Zeit stattgefunden hatte, einigen Schaden genommen. Es gab Brandflecken an den mit Holz verkleideten Wänden, wo die Flammen aus den Nebengebäuden gedroht hatten auch dieses Haus in Brand zu setzen. Es war eine schreckliche Nacht voller Flammen und Schreie gewesen, als die angeblichen Verbündeten ihre wahren Absichten kundtaten. Eine Orgie der Gewalt, in der Igrot der Schreckliche bis an seine Grenzen gegangen war. Der Geruch von Rauch und Blut dieser Nacht war für immer in seine Erinnerungen eingebrannt. Er stieg die Treppe hinauf. Die Vordertür war nicht verschlossen. Sie war noch nie verschlossen gewesen. Sein Vater hatte nicht an Schlösser geglaubt. Er öffnete die Tür und trat ein. Einen Moment täuschte ihn seine Erinnerung und zeigte
ihm das Innere so, wie es einmal gewesen war. Bildung und viele Reisen hatten seitdem seinen Geschmack verfeinert, aber als Kind hatte er das Durcheinander aus Gobelins, Teppichen und Statuen luxuriös und prächtig gefunden. Jetzt hätte er eine solche Mixtur aus Müll und Schätzen verspottet, aber damals hatte sein Vater es genossen – und sein Sohn Kennit ebenfalls. »Du wirst leben wie ein König, Junge«, hatte sein Vater gesagt. »Nein, noch besser. Du wirst ein König werden. König Kennit von der Schlüsselloch-Insel. Klingt das nicht schön? König Kennit, König Kennit, König Kennit!« Sein Vater sang den Refrain, hob ihn in die Arme und tanzte trunken mit ihm durch den Raum. König Kennit. Er blinzelte. Jetzt sah er die kahlen Wände und den blanken Fußboden des Gebäudes, das nicht mehr war als ein Plantagenhaus und keineswegs das vornehme Schloss, für das sein Vater es ausgegeben hatte. Kennit hatte oft mit dem Gedanken gespielt, das Haus neu zu möblieren. In den Räumen im Obergeschoss befanden sich mehr als genug Möbel und Kunstwerke, um die frühere geschmacklose Pracht des Gebäudes bei weitem in den Schatten zu stellen. Es war seine eigene sorgfältig ausgewählte Sammlung, das Beste aus seinen Schätzen, die er hier heimlich Stück für Stück zusammengetragen hatte. Aber das wollte er gar nicht. Nein. Er würde es mit dem ausstatten, was Igrot ihnen gestohlen hatte. Dieselben Gemälde, dieselben Gobelins und Teppiche, Stühle und Kerzenleuchter. Eines Tages, wenn der Zeitpunkt günstig war, würde er all das suchen, es zurückbringen und es wieder so aufbauen, wie es gewesen war. Er würde es richtig machen. Er hatte sich das öfter geschworen, als er sich erinnern konnte, und jetzt lag die Erfüllung dieses Versprechens in greifbarer Nähe. Alles, was Igrot jemals gestohlen hatte, gehörte jetzt rechtmäßig ihm. Er lächelte kalt. König Kennit, in der Tat! Seine Mutter wollte nichts davon. Als er noch jünger gewesen war, während seiner wilden Zeit, war er auf ihren Schoß ge-
klettert, hatte sie fest umschlungen und versucht, ihr seine Rachepläne ins Ohr zu flüstern. Sie versuchte verzweifelt, ihn zum Schweigen zu bringen. Sie hatte nicht einmal gewagt, von Rache zu träumen. Jetzt wollte sie auch weder Luxus noch Wohlstand. Nein. Sie vertraute auf das einfache Leben, das sie schützte. Kennit wusste, was es damit auf sich hatte. Niemand konnte so wenig besitzen, dass nicht jemand anders noch etwas fand, das er ihm neidete. Armut und Einfachheit waren kein wirksamer Schutz gegen die Gier der anderen. Wenn man nichts mehr hatte, was sie einem stehlen konnten, raubten sie den Körper und versklavten einen. Während er nachdachte, führte er die kleine Prozession durch den Flur in die Küche. Dort öffnete er die schwere Tür zum Keller und ließ sie angelehnt, während er die Stufen hinabstieg. Der Keller war mühsam in den felsigen Boden der Insel gehackt worden. Es gab keine Fenster, aber trotzdem hielt er sich nicht damit auf, eine Fackel zu entzünden. So lange wollte er nicht hier bleiben. Es war immer gleich kühl, im Sommer wie im Winter. Früher einmal war es ein sehr guter Weinkeller gewesen. Aber jetzt kündete nichts mehr von seinem ursprünglichen Zweck. Die rostigen Ketten auf dem Boden und einige merkwürdige Flecken erinnerten an seine spätere Nutzung als behelfsmäßiger Kerker für die, die Igrots Missfallen erregt hatten. Jetzt würde das Gewölbe wieder demselben Zweck dienen. »Kettet ihn an!«, befahl er seinen Kartenvisagen. »In die hintere Wand sind einige Ringe eingelassen. Macht ihn an einem von diesen Ringen fest. Ich möchte nicht, dass er die kleine Ankle belästigt, wenn sie ihm Essen und Wasser bringt. Falls sie überhaupt kommt.« »Ihr versucht, mir Angst zu machen«, meinte Kapitän Haven mit einem letzten Rest Selbstbewusstsein. »Man kann mich nicht so leicht einschüchtern. Das einzige Problem ist, dass ich nicht weiß, was ihr von mir wollt. Warum sagt Ihr es mir nicht einfach?« Er schaffte es sogar, seine Stimme ruhig klingen zu
lassen, als ihn die männliche Kartenvisage die steile Treppe hinunterführte. Die Frau war bereits vorausgegangen und kümmerte sich um die Ketten, während ihr fügsamer und unerbittlicher Gefährte den Kapitän festhielt. »Ganz gleich, was mein Sohn Euch erzählt hat, ich bin trotzdem kein unvernünftiger Mann. Man kann über alles reden. Selbst wenn Ihr das Schiff und den Jungen behaltet, könntet Ihr für mich ein beachtliches Lösegeld erzielen. Habt Ihr schon daran gedacht? Ich bin für Euch lebendig mehr wert als tot. Nun kommt schon. Ich bin nicht knauserig. Das bringt keinem Profit.« Kennit lächelte zynisch. »Mein teurer Kapitän, es dreht sich nicht alles im Leben um Profit. Manchmal geht es auch um Bequemlichkeit. Und das hier ist bequem für mich.« Kyle behielt die Fassung. Er wehrte sich heftig, aber lautlos, als die rostigen Handschellen um seine Hände gelegt wurden. Es nützte ihm nichts. Die lange Gefangenschaft in der Kabine hatte ihn geschwächt. Jede der beiden Kartenvisagen hätte ihn allein bezwingen können. Zusammen behandelten sie ihn, als wäre er ein aufsässiger Fünfjähriger. Das Schloss war zwar schwergängig, aber die alten Schlüssel, die an der Küchentür hingen, bewegten es dennoch. Kennit glaubte den genauen Moment zu kennen, als der Mann zusammenbrach. Es war das rostige Schnappen des Schlosses. In dem Moment begann er zu fluchen, schwor Rache und rief den Zorn von einem guten Dutzend Götter auf sie herab, als sie die Treppe hinaufgingen und ihn einfach dort zurückließen. Als sie die Tür schlossen, begann er zu schreien. Die Tür zum Weinkeller war schwer und passte sehr genau. Als sie zufiel, schnitt sie auch seine Schreie ab, genau wie es Kennit in Erinnerung hatte. Er hängte den Schlüssel wieder an den Haken. »Zeigt Ankle den Weg hierher. Ich will, dass er am Leben bleibt. Versteht Ihr das?« Die Frau nickte. Als Dedge das sah, nickte er ebenfalls. Kennit lächelte erfreut. Den beiden würde es hier sehr gut gehen.
Das Leben auf der Schlüsselloch-Insel würde ihnen mehr Luxus bieten, als sie sich in ihren wildesten Träumen ausgemalt hatten. Sie hatten ihr eigenes Haus, genug zu essen, Frieden und einen Ort, an dem sie ungestört ihr Kind großziehen konnten. Wie einfach es ist, ihnen ihr Leben abzukaufen, dachte er. Es ist schon merkwürdig, wie eisern manche Menschen der Sklaverei widerstehen und sich dann einfach für die Chance, leben zu dürfen, verkaufen. Als er wieder zu dem Haus seiner Mutter zurückging, folgten sie ihm auf den Fersen. »Meine Mutter wird euch alles zeigen, was ihr über die Insel wissen müsst«, erklärte er über die Schulter. »Es gibt viele Schweine. Und Ziegen. Die Insel kann euch mit fast allem versorgen, was ihr braucht. Alles, was sich außerhalb des großen Hauses befindet, könnt ihr euch nehmen. Ich bitte euch nur darum, meiner Mutter die schwereren Arbeiten abzunehmen. Das und die Gewähr, dass der Priester niemals versucht, die Insel zu verlassen. Wenn er es doch versucht, steckt ihn einfach zu dem Kapitän in den Keller. Und ermuntert ihn, meine Mutter zu unterhalten.« Er blieb vor der Haustür stehen und sah sie an. »Habe ich etwas vergessen? Habt ihr etwas nicht verstanden?« »Es ist alles klar«, erwiderte die Frau schnell. »Wir halten unseren Teil der Abmachung, Kapitän Kennit. Seid unbesorgt.« Sie legte die Hand auf ihren Bauch, als schwöre sie das eher dem Kind in ihrem Bauch als ihm. Dies überzeugte ihn fast mehr als alles andere davon, dass er eine gute Wahl getroffen hatte. Er nickte sehr zufrieden mit sich selbst. Er war Sa'Adar los, ohne das Unglück zu beschwören, das es bedeutete, wenn man einen Priester tötete. Kyle Haven war an einem Ort, über den sich weder er noch Wintrow grämen mussten, und trotzdem war er verfügbar, falls Kennit sich doch entschließen sollte, Lösegeld für ihn zu verlangen. Die anderen war er ebenfalls gut losgeworden. Sie hatten das Boot ans Ufer gerudert und dafür gesorgt, dass weder der Priester noch der Kapitän Ärger
machten. Ja, es war eine gute Entscheidung gewesen. Er trat ins Haus und sah sich um. Der Priester stand in einer Ecke, die Arme vor der Brust verschränkt. Es sah nicht so aus, als würde er beten. Seine Mutter beugte sich über den Inhalt der Kiste und stieß Freudenschreie aus. Die Türkisohrringe hatte sie bereits angelegt. Als er hereinkam, humpelte Ankle gerade das kurze Stück vom Herd zum Tisch. Sie trug eine Schale mit frischem Brot. Auf dem Tisch standen ein Schüsselchen mit Beerenmarmelade und ein Stück gelber Frühlingsbutter. Neben der Butter dampfte Kräutertee aus dem gesprungenen Deckel eines Topfes. Der Tisch war mit einer bunten Auswahl von Geschirr gedeckt. Keine Tasse passte zur anderen. Kennit ärgerte sich einen Moment. Obwohl die Leute, die hier versammelt waren, diese Insel niemals verlassen würden, gefiel es ihm nicht, dass jemand seine Mutter in solchen Umständen leben sah. Wenn er erst einmal König war, wäre es nicht gut, wenn sich solche Geschichten herumsprachen. »Wenn ich das nächste Mal zu Besuch komme, bringe ich dir ein ordentliches Teeservice mit, Mutter. Ich weiß zwar, wie gern du diese alten Stücke hast, aber wirklich…« Er beendete den Satz nicht und nahm sich ein Stück von dem warmen Brot. Seine Mutter plapperte auf ihn ein, als sie ihm eine Tasse Tee einschenkte und ihm den einzigen Stuhl am Tisch anbot. Er setzte sich dankbar hin. Die Krücke tat allmählich wirklich weh. Er bestrich das Brot mit Butter und häufte Marmelade darauf. Der erste Biss löste eine Unzahl von Erinnerungen aus, die ihn beinahe überwältigt hätten. Diese bescheidene Nahrung schmeckte ausgesprochen köstlich. Sie gehörte zu der Welt eines kleinen Jungen, der über alle Maßen verhätschelt und behütet worden war. All das hatte sich vor mehr als fünfunddreißig Jahren zugetragen. Eigenartig, dass ein einziger süßer Bissen so viel bittere Erinnerungen auslösen konnte. Er aß den Rest des Brotes und noch drei weitere Scheiben, ständig hin und her gerissen zwischen Genuss und
schmerzlicher Erinnerung. Die anderen leisteten ihm Gesellschaft und standen um den Tisch herum. Nur der Priester weigerte sich. Sein geringschätziger Blick schloss alle ein, auch Kennit. Aber es kümmerte den Piraten nicht. Schon bald würde der Hunger ihn eines Besseren belehren. Es war schon eine sehr merkwürdige Gesellschaft, die sich hier versammelt hatte. Seine Mutter plapperte in ihrem unverständlichen Singsang weiter. Die Kartenvisagen reagierten mit Nicken und Lächeln auf sie, sagten aber kaum etwas. Ihre Dummheit schien ansteckend zu sein. Ankle wirkte in dieser Umgebung beinahe kompetent. Sie nahm einen Besen und kehrte die Asche in den Ofen zurück, ohne dass es ihr jemand sagen musste. Ihre Augen hatten schon etwas von dem verwundeten Ausdruck verloren. Kennit dachte kurz über sie nach. Er hatte eine fügsame Dienerin für seine Mutter gewollt. Hoffentlich fand das Mädchen nicht zu viel von seinem alten Charakter wieder. Er trank den Tee aus und stand auf. »Ich muss jetzt gehen. Mutter, fang nicht damit an. Du weißt, dass ich nicht bleiben kann.« Trotz seiner Worte packte sie seinen Ärmel. Der flehentliche Ausdruck in ihren Augen war mehr als beredt, aber Kennit zog es vor, ihn misszuverstehen. »Ich vergesse die Teetassen nicht, das verspreche ich dir. Ich bringe sie das nächste Mal mit. Und alle mit hübschen kleinen Mustern. Ich weiß ja, was du magst.« Während er ihre Hände entschlossen von seinem Ärmel löste, sprach er über die Schulter zu den anderen. »Sieh zu, dass du dich gut um sie kümmerst, Ankle. Wenn ich das nächste Mal komme, möchte ich ein feines, fettes Baby sehen, Dedge. Zweifellos ist dann schon ein anderes unterwegs, hm?« Er fühlte sich wie ein Patriarch, als er das sagte. Ihm fiel ein, dass er auch noch andere auswählen und hierher verschiffen könnte. Es könnte sein eigenes geheimes Königreich in einem Königreich werden.
Als er von seiner Mutter wegtrat, gab sie auf, wie immer. Sie sank auf ihren Stuhl zurück, schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Sie weinte immer. Es war so sinnlos. Wie oft hatte sie schon feststellen müssen, dass Weinen nichts änderte? Aber sie weinte immer noch. Er tätschelte zärtlich ihre Schulter und ging zur Tür. »Ich bleibe nicht hier«, verkündete der Priester. Kennit blieb stehen und starte ihn an. »Ach nein?« Seine Stimme klang freundlich. »Nein. Ich gehe mit Euch zum Schiff zurück.« Kennit dachte darüber nach. »Wie schade. Ich war so sicher, dass meine Mutter es genossen hätte, dich hier zu haben. Bist du sicher, dass du es dir nicht anders überlegen willst?« Die Freundlichkeit des Piraten verunsicherte Sa'Adar. Er sah sich um. Kennits Mutter weinte. Ankle näherte sich ihr und tätschelte der alten Frau vorsichtig die Schulter. Dedge und Saylah schauten nur Kennit an. Ihre aufmerksame Haltung erinnerte Kennit an gut abgerichtete Jagdhunde. Er machte eine kleine Handbewegung, und die beiden Kartenvisagen entspannten sich etwas. Aber sie blieben achtsam. Der Priester sah wieder Kennit an. »Nein. Ich werde nicht bleiben. Hier gibt es nichts, was mich hält.« Kennit seufzte. »Ich war so sicher, dass du bleiben würdest. Ganz sicher. Nun ja, wenn du nicht bleiben willst, dann tu wenigstens etwas für meine Mutter, bevor du gehst. Segne das Haus oder die Kuh.« Sa'Adar sah ihn verächtlich an. Es war, als habe der Pirat ihm einen Befehl gegeben, der eher einem Pferd oder einem Hund angestanden hätte. Er warf der weinenden Frau einen Seitenblick zu. »Das kann ich wohl tun.« »Wusste ich es doch. Lass dir Zeit. Wie du wohl bemerkt hast, bewege ich mich im Moment nicht sonderlich schnell. Ich warte am Strand auf dich.« Kennit zuckte mit den Schultern.
»Du kannst das Boot für mich rudern.« Kennit sah, wie der Priester darüber nachdachte. Er wusste, dass der Pirat ihm nicht davonlaufen konnte. Und es war unwahrscheinlich, dass Kennit die Gig allein zu Wasser lassen konnte. Sa'Adar nickte mürrisch. »Ich komme sofort nach. Ich segne ihr Haus und ihren Garten.« »Wie nett von dir«, meinte Kennit schwärmerisch. »Ich warte am Strand auf dich. Leb wohl, Mutter. Ich werde deine Teetassen nicht vergessen.« »Kapitän?«, wagte Saylah leise zu fragen. »Soll ich Euch beim Boot helfen?« Sie warf dem Priester einen misstrauischen Blick zu. Ihr Angebot war deutlich. Kennit lächelte. »Nein, aber trotzdem danke. Ich bin sicher, dass der Priester und ich es schaffen. Ihr bleibt hier und richtet euch ein. Lebt wohl.« Er drückte die Krücke fest unter seine Achselhöhle und begann seinen schwankenden Gang zurück zum Boot. Der Gartenboden war weich. Danach führte der Pfad bergauf. Kennit war müder, als er gedacht hatte. Trotzdem ging er weiter, bis er vom Haus aus nicht mehr zu sehen war, bevor er stehen blieb und Luft schöpfte. Er wischte sich den Schweiß vom Gesicht und dachte nach. Er kam zu dem Schluss, dass er von dem Priester keinen Verrat zu fürchten hatte. Noch nicht jedenfalls. Sa'Adar brauchte ihn, um zum Schiff zurückkehren zu können. Ohne den Kapitän wäre er wohl kaum an Bord willkommen geheißen worden. Er ging langsamer. Einmal blieb er stehen und lauschte auf ein Rascheln im Gebüsch. Aber es bewegte sich nicht in seine Richtung, deshalb ging er weiter. Er erwartete eigentlich, dass der Priester ihn überholen würde, bevor er den Strand erreicht hatte, aber dem war nicht so. Vielleicht belegte er das Haus ja mit einem besonders aufwendigen Segen. Das würde seine Mutter freuen. Der Sand am Strand war locker und trocken. Sein Holzbein
schleifte hindurch. Er war so müde, dass er sein Bein kaum noch genug heben konnte, dass der Pflock aus dem Sand kam. Schließlich erreichte er die Gig und lehnte sich dagegen. Die Flut kam. Schon bald würde das Boot wieder schwimmen, aber es versprach ein langer Weg zurück zum Schiff zu werden. Hatte er seine Kraft überschätzt? Der warme Tag und der Schmerz in seinem Körper wandten sich gegen ihn. Er wollte dösen. Er wollte ruhig dasitzen und sich in dem warmen Nachmittag treiben lassen. Stattdessen massierte er seine schmerzende Achselhöhle. Er verachtete sich selbst und fragte sich, ob der Priester so lange brauchte, weil er Kapitän Haven einen Besuch abgestattet hatte. Nein. Das würde Dedge nicht erlauben. Es sei denn, sie hätten die ganze Zeit unter einer Decke gesteckt. Wenn dem so war, würden sie bald kommen und ihn töten. Seine Mutter hatten sie natürlich schon umgebracht. Sie hatten seine Schätze gefunden, die er so sorgfältig in dem großen Haus versteckt hatte. Sie würden kommen und ihn töten, weil er so dumm gewesen war. Was würden sie dann tun? Zum Schiff konnten sie nicht zurückkehren. Was blieb ihnen dann? Gab es in dem Haus genug Schätze, um Sorcor, Etta, Wintrow und Brig zu kaufen? Vielleicht. Sein Inneres wurde kalt vor Zorn über seine eigene Dummheit. Dann jedoch lächelte er böse. Vielleicht gab es dort genug Schätze, um ein menschliches Herz zu kaufen. Nicht aber das von Viviace. Das Schiff liebte ihn bereits. Das wusste er. Man konnte das Herz eines Zauberschiffes nicht kaufen oder stehlen. Das Herz eines Zauberschiffes war treu. Igrot hatte das vor vielen, vielen Jahren bewiesen. Kennit lächelte, als er sich vorbereitete und wartete. Als der Priester schließlich kam, trampelte er wie ein Mann, der wütend war. Also hast du tatsächlich versucht, Dedge auf deine Seite zu ziehen, dachte Kennit. Und bist gescheitert. Er betrachtete Sa'Adar und wurde in seiner Vermutung bestätigt. Der Priester sah aus wie jemand, der einer drohenden Tracht
Prügel gerade noch entkommen war. Sein Gesicht war vor Zorn gerötet. Als er sich näherte, kletterte Kennit in die Gig und setzte sich auf den Rudersitz. Er hielt sich nicht erst mit einer Begrüßung auf. »Schieb es ins Wasser.« Sa'Adar sah ihn finster an. »Es wäre leichter, wenn die Gig leer wäre.« »Wahrscheinlich«, stimmte Kennit ihm liebenswürdig zu, ohne sich zu bewegen. Der Mann war nicht schwach, aber er war auch kein erfahrener Seemann. Er legte die Hände gegen das Boot und schob. Nichts passierte. »Warte auf eine Welle«, schlug Kennit vor. Sa'Adar knirschte mit den Zähnen, gehorchte aber. Der Boden der Gig rutschte schleifend über den Sand. »Schieb weiter, sonst sitzt sie wieder fest«, warnte Kennit, während er die Ruder nahm. Schon bald watete Sa'Adar neben ihm und versuchte sich ins Boot zu ziehen. Kennit ruderte stetig weiter. Es war schon lange her, dass er das letzte Mal ein Boot gerudert hatte, aber sein Körper erinnerte sich noch gut daran. Er drückte sein Holzbein gegen den Boden des Bootes, damit er nicht wegrutschte. Selbst so war es schwierig, gleichmäßig an den Rudern zu ziehen. Verzweiflung überkam ihn, als ihm klar wurde, dass nichts mehr so sein würde wie früher. Er hatte einen Teil seines Körpers verloren, und für den Rest seines Lebens musste er das mit seinen Taten kompensieren. »Wartet!«, beschwerte sich Sa'Adar, als er versuchte, an Bord zu klettern. Kennit ignorierte ihn und ruderte weiter. Sa'Adar war noch halb im Wasser, als die nächste Welle die Gig anhob. Der Priester kletterte wie eine Landratte an Bord, schnappte nach Luft und zitterte, als der Seewind über seine nasse Kleidung wehte. Sobald er an Bord war, hob Kennit die Ruder hinein. Es freute ihn, dass er sich trotz Holzbein und Krücke immer noch eleganter bewegte als Sa'Adar, als er sich von seinem Platz erhob. Der Priester hatte die Arme um sich geschlungen und sah ihn verächtlich an. »Ihr erwartet, dass ich rudere?«
»Es wird dich aufwärmen«, meinte Kennit. Er saß im Bug und hielt seine Krücke fest, während er zusah, wie Sa'Adar ruderte. Selbst an einem warmen Tag konnte es schnell eine ziemlich schwere Arbeit sein, ein Boot zu rudern. Und hier herrschten Wind und eine leichte Strömung, die es ihm schwerer machten. Er ruderte sehr ungleichmäßig. Manchmal hüpften sie aus dem Wasser und schlugen auf die Oberfläche. Sie kamen nur langsam vorwärts. Kennit machte sich keine Sorgen. Er spürte Sa'Adars Ungeduld, wieder zum Schiff zurückzukommen. Kennit beschloss, sich mit ihm zu unterhalten. »Bist du mit der Gerechtigkeit zufrieden, die Kapitän Haven widerfahren ist?« Sa'Adar rang heftig nach Atem, aber er konnte nicht widerstehen, eine kleine Rede zu halten. »Ich wollte ihn sehen, bevor ich ging. Um ihn anzuspucken und ihm viel Spaß mit seinen Ketten und der Dunkelheit zu wünschen.« Er holte mehrmals Luft. »Aber Dedge wollte das nicht zulassen. Er und Saylah haben sich auf mich gestürzt.« Erneut ein keuchender Atemzug. »Wenn ich nicht wäre, wären sie jetzt Sklaven in Chalced. Sie wären nicht mehr zusammen, und Saylahs Kind könnte seinen Geburtstag mit einer Tätowierung auf dem Gesicht feiern.« Jetzt keuchte er nur noch. »Richte ihren Bug in die Wellen. Siehst du den Punkt dort an der Insel? Wo die beiden Bäume etwas abseits vom Wald stehen? Behalte sie im Blick, und rudere darauf zu.« Sa'Adar runzelte wütend die Stirn. »Ein Mann allein kann das hier nicht rudern! Ihr solltet Euch neben mich setzen und mir helfen. Wir brauchten vier Ruderer, um an Land zu gelangen!« »Da war das Boot aber auch schwerer beladen. Außerdem bin ich von unserem Ausflug erschöpft. Aber vielleicht übernehme ich bald die Ruder und lasse dich ausruhen.« Kennit wandte den Kopf in den Wind und schloss halb die Augen. Die helle Sonne tanzte auf dem Wasser. Plötzlich fühlte sich sogar seine
Müdigkeit gut an. Das war etwas, das er gebraucht hatte. Er hatte eigenständige, körperliche Betätigung gebraucht. Und er hatte sich bewiesen, dass er nur durch seine Worte andere seinem Willen unterwerfen konnte. Sein Körper war zwar verkrüppelt, aber er genügte seinem Ehrgeiz noch. Er würde triumphieren. König Kennit. König Kennit von den PiratenInseln. Würde er irgendwann einen Palast auf der Schlüsselloch-Insel haben? Vielleicht konnte er sich nach dem Tod seiner Mutter dort niederlassen. Wie sein Vater es vorhergesehen hatte, konnte die Öffnung in der Bucht der Schlüsselloch-Insel leicht verteidigt werden. Sie würde einen wunderbaren Stützpunkt abgeben. Er baute schon seine Türme, als Sa'Adar sprach. »Sollten wir nicht bald die Schiffe sehen können?« Kennit nickte. »Wenn du die Ruder wie ein Mann betätigen würdest, statt damit nur auf das Wasser zu schlagen, hätten wir die Insel bereits umrundet. Dann könnten wir die Schiffe sehen, obwohl wir immer noch eine weite Strecke rudern müssten. Rudere weiter.« »Gestern Nacht schien die Reise nicht so lange gedauert zu haben.« »Die Dinge wirken nie so lange und so hart, wenn jemand anders die Arbeit tut. Es ähnelt sehr der Aufgabe, ein Schiff zu führen. Es sieht leicht aus, wenn jemand anders es tut.« »Verspottet Ihr mich?« Es war schwer, verächtlich zu klingen, wenn man atemlos war, aber Sa'Adar schaffte es. Kennit schüttelte traurig den Kopf. »Ihr tut mir Unrecht. Ist es Spott, wenn man einem Mann erklärt, was er schon längst hätte lernen sollen?« »Das Schiff… gehört von Rechts wegen… mir. Wir hatten… es bereits genommen… als Ihr kamt.« Sa'Adar atmete schneller. »Da, siehst du. Wenn ich nicht längsseits gekommen wäre und eine Entermannschaft an Bord geführt hätte, läge die Vivi-
ace jetzt auf dem Meeresgrund. Nicht einmal ein Zauberschiff kann sich ganz allein segeln.« »Wir hätten es… geschafft!« Sa'Adar ließ unvermittelt die Ruder los. Eines rutschte allmählich durch die Ruderrolle ins Wasser. Er packte es und zog es halb ins Boot. »Verdammt, jetzt seid Ihr dran!«, schnaubte er. »Ich bin so gut wie Ihr. Ich lasse mich nicht länger wie Euren Sklaven behandeln.« »Sklave? Ich verlange von dir nicht mehr als von jedem anderen Seemann.« »Ihr habt mir aber nichts zu befehlen! Niemals! Und ich werde auch meinen Anspruch auf das Schiff nicht aufgeben! Wohin wir auch gehen, ich werde dafür sorgen, dass alle von Eurer Gier und Eurer Ungerechtigkeit erfahren! Ich verstehe nicht, wie so viele Menschen Euch loben können! Da ist Eure arme Mutter, einem schweren Leben überlassen seit Sa weiß wie lange! Ihr habt sie kaum einen halben Tag besucht und einen Haufen Tand zurückgelassen und eine halb debile Dienerin, die sich um sie kümmern soll. Wie könnt Ihr Eure Mutter nur so behandeln? Soll nicht die Mutter eines Menschen als der weibliche Aspekt von Sa verehrt werden? Ihr behandelt sie aber so, wie Ihr auch alle anderen behandelt. Wie Diener! Sie hat versucht, mit mir zu reden, das arme Ding. Ich konnte nicht verstehen, was sie wollte, aber es waren sicher keine Teetassen!« Kennit musste unwillkürlich laut lachen. Das ärgerte den anderen Mann so sehr, dass sein Gesicht noch röter wurde. »Ihr Mistkerl!«, spie er hervor. »Ihr herzloser Mistkerl!« Kennit sah sich um. Es war jetzt nicht mehr weit bis zur Spitze der Insel. Er konnte es schaffen. Sobald er da war und falls er zu müde wurde, konnte er seinen Mantel an ein Ruder binden und winken. Jemand auf der Marietta oder der Viviace würde ihn sehen. Sie suchten sicher schon nach ihm. »Solche Schimpfworte von einem Priester! Du vergisst dich. Na gut. Ich rudere ein wenig, während du dich erholst.« Das beruhigte ihn. Sa'Adar stand von der Ruderbank auf.
Halb gebückt wartete er darauf, dass Kennit mit ihm den Platz tauschte, während er sich den schmerzenden Rücken rieb. Kennit versuchte, von seiner Bank aufzustehen, fiel aber wieder zurück. Das Boot schwankte gefährlich, und Sa'Adar schrie auf und hielt sich am Dollbord fest. »Steif«, sagte Kennit verlegen. »Der heutige Tag hat mich mehr erschöpft, als ich dachte.« Er seufzte schwer und kniff die Augen zusammen, als der Priester ihn verächtlich ansah. »Trotzdem, ich habe gesagt, dass ich rudere, und ich rudere.« Er nahm die Krücke fest in die Hand und richtete sie mit der Spitze auf Sa'Adar. »Wenn ich es sage, dann ziehst du mich hoch. Sobald ich aufgestanden bin, kann ich mich allein bewegen.« Sa'Adar packte das Ende der Krücke. »Jetzt«, sagte Kennit und versuchte aufzustehen. Erneut ließ er sich fallen. Entschlossen biss er die Zähne zusammen. »Noch mal!«, befahl er dem Priester. »Und du musst dein ganzes Gewicht mit hineinlegen.« Der erschöpfte Mann packte die Krücke mit beiden Händen. Kennit umfasste sie noch fester. »Jetzt!«, befahl er. Als der Priester zog, stürzte sich der Pirat plötzlich vor und drückte mit aller Kraft gegen die Krücke. Sie traf den Priester an der Brust, und er segelte hintenüber. Kennit hatte gehofft, dass er gleich über Bord gehen würde. Stattdessen fiel der Mann über das Dollbord. Er hing zwar fast außen, klammerte sich aber noch fest. Schnell wie ein Tiger warf sich Kennit nach vorn, packte Sa'Adars Füße und hob sie hoch. Der Mann fiel über Bord, trat dabei aber mit den Füßen aus und traf Kennit mit seinem nackten Fußballen im Gesicht. Kennits Kopf ruckte nach hinten, und er spürte Blut auf seinem Gesicht. Hastig wischte er es mit dem Ärmel ab, kletterte auf die Bank und packte die Ruder. Er schob sie in die Ruderdollen und fing an, mächtig zu ziehen. Einen Moment später tauchte der Kopf des Priesters aus dem Wasser auf. »Verdammt sollst du sein!«, brüllte er. »Sa verdamme dich!«
Kennit erwartete, dass der Mann erneut untergehen würde. Doch stattdessen schwamm er mit kräftigen Zügen dem Boot hinterher. Er konnte also schwimmen. Damit hatte Kennit nicht gerechnet. Schade nur, dass das Meer hier in den Inselgewässern wärmer war. Er konnte nicht darauf zählen, dass es den Mann schnell töten würde. Also musste er es wohl doch selbst erledigen. Kennit beeilte sich nicht. Stattdessen legte er ein gleichmäßiges Tempo vor und zog ruhig an den Rudern. Er hatte Sa'Adar nicht angelogen. Er war wirklich steif, aber diese Arbeit lockerte ihn auf. Der Priester schwamm mit den schnellen, heftigen Schwimmzügen eines verzweifelten Menschen. Er verkürzte den Abstand zu dem kleinen Boot, weil sein Körper den Wellen weniger Widerstand bot als das leichte Boot. Als er bis auf zwei Züge herangekommen war, legte Kennit die Ruder sorgfältig ins Boot und zog den Dolch heraus. Er kroch ans Heck und wartete. Er versuchte erst gar nicht, einen tödlichen Stich zu landen. Dafür müsste er sich zu weit hinauslehnen und lief Gefahr, von dem Priester ins Wasser gezogen zu werden. Jedes Mal, wenn der Ertrinkende das Boot packte, schnitt Kennit ihm in die Hände. Er zerschnitt ihm die Handflächen und die Finger, wenn er das Heck umfasste. Kennit war der schweigende Tod selbst, während der Priester ihn zunächst verfluchte, dann schrie und schließlich um sein Leben bettelte. Als er stur die Seite des Bootes festhielt, riskierte Kennit einen Hieb ins Gesicht des Mannes. Trotzdem hielt er die Seite des Bootes umklammert und bettelte um sein Leben. Das machte Kennit wütend. »Ich habe versucht, dich am Leben zu lassen!«, brüllte er ihn an. »Du hättest nur tun müssen, was ich wollte. Du hast dich geweigert! Also!« Er riskierte einen Stich, und der Dolch drang dem Priester in die Seite des Halses. Sofort wurden Kennits Hände glatt und warm von Blut, das dicker und salziger war als das Meerwasser. Der Priester sank plötzlich vom Rand weg. Eine oder zwei
Wellen lang schwamm er mit dem Kopf nach unten im Wasser. Dann verschlang ihn das Meer. Kennit blieb eine Weile sitzen und beobachtete das leere Wasser hinter dem Boot. Dann wischte er sich die Hände am Mantel ab. Langsam stakste er wieder zur Ruderbank zurück. Er nahm die Ruder in die Hand. Er hatte bereits Blasen an den Fingern, aber das machte nichts. Es würde wehtun, aber auch das machte nichts. Es war vorbei, und er würde leben. Er wusste es genau, so genau, wie er wusste, dass sein Glück ihn nicht verlassen hatte. Dann hob er den Blick und musterte prüfend den Horizont. Nicht mehr weit, und er war an der Stelle, wo die Männer auf den Schiffen ihn sehen konnten. Er lächelte. »Vermutlich sieht Viviace mich noch früher. Ich wette, dass sie schon jetzt weiß, dass ich zu ihr zurückkomme. Achte auf mich, Mylady! Öffne deine schönen Augen!« »Vielleicht sollte ich ihr ja stattdessen die Augen öffnen«, schlug eine leise Stimme vor. Kennit hätte beinahe die Ruder losgelassen. Er sah zu dem Amulett an seinem Handgelenk, das so lange geschwiegen hatte. Seine eigenen Gesichtszüge in Holz sahen zu ihm hinauf. Der kleine Mund öffnete sich, und eine winzige Zunge schoss heraus und leckte die Lippen, als wären sie trocken. »Was würde sie wohl von ihrem kühnen Kapitän halten, wenn sie dich so gut kennen würde, wie ich dich kenne?« Kennit grinste. »Ich denke, sie würde dich für einen Lügner halten. Sie war bei mir und kennt mein tiefstes Innerstes. Sie und der Junge, beide. Und sie lieben mich immer noch.« »Sie glauben, sie haben dein Innerstes gesehen«, stimmte das Amulett bitter zu. »Aber nur ein Wesen hat jemals den Boden deines dunklen, schmutzigen Herzens ergründet und ist immer noch loyal zu dir.« »Du redest wohl von dir selbst«, meinte Kennit. »In der Sache hast du wenig Alternativen, Amulett. Du bist an mich ge-
bunden.« »So fest, wie du an mich gebunden bist«, antwortete das Amulett. Kennit zuckte mit den Schultern. »Also sind wir aneinander gebunden. So soll es sein. Ich schlage vor, dass du das Beste daraus machst und die Pflicht erfüllst, für die du geschaffen wurdest. Vielleicht leben wir beide so länger.« »Ich wurde niemals dafür geschaffen, irgendwelche Pflichten für dich zu erfüllen«, informierte ihn das Amulett. »Und mein Leben hängt auch nicht von dir ab. Aber für das Wohl von jemand anderem werde ich alles tun, was ich kann, um dich zu schützen. Jedenfalls für eine Weile.« Der Pirat schwieg. Die Blasen an seiner rechten Handfläche waren aufgeplatzt, und ein Ausdruck, der halb Grimasse, halb Grinsen war, hellte Kennits finstere Miene auf. Ein bisschen Schmerz war nichts. Sein Glück hielt an. Mit Glück konnte ein Mann viel erreichen.
18
Erfüllte Wünsche »Was habt Ihr mit meinem Vater gemacht?« Kennit sah von dem Essenstablett auf, das Wintrow gerade vor ihm abgestellt hatte. Der Pirat hatte sich umgezogen, gewaschen und frisiert. Diese letzte Anstrengung hatte ihn ziemlich erschöpft. Jetzt wollte er nur noch essen. Ettas Gejammer, wie viel Sorgen sie sich die ganze Zeit gemacht hatte, war schon anstrengend genug gewesen. Nachdem sie ihm frische Kleidung herausgelegt hatte, hatte er sie aus seiner Kajüte verbannt. Nichts ging ihm mehr auf die Nerven als Gejammer. Er wollte nicht in dieser Atmosphäre essen. Er ignorierte den Jungen einfach, nahm den Löffel in die Hand und rührte in der Suppe vor ihm. Karotten und Fischstücke kamen an die Oberfläche. »Ich bitte Euch, ich muss es wissen! Was habt Ihr mit meinem Vater gemacht?« Kennit sah den Jungen an, eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, hielt sie aber zurück. Wintrows Gesicht war so blass, wie ein gebräuntes, wettergegerbtes Gesicht nur werden konnte. Er stand sehr gerade und ruhig da. Doch sein schneller Atem und die Zähne, die sich in die Unterlippe gruben, verrieten ihn. Seine Augen blickten gehetzt. Vermutlich fühlte der Junge sich schlecht, aber man musste für seine Entscheidungen die Verantwortung übernehmen. »Ich habe nur das getan, worum du mich gebeten hast. Dein Vater ist jetzt woanders. Du musst dir keine Sorgen mehr um ihn machen; du brauchst ihn nicht zu sehen und dich auch nicht um ihn zu kümmern.« Bevor Wintrow weitere Fragen stellen konnte, fuhr Kennit fort: »Er ist in Sicherheit. Wenn ich ein Versprechen halte, dann nicht nur zur Hälfte.« Wintrow zuckte leicht nach vorn. Er sah aus, als habe man
ihn in den Bauch geschlagen. »Ich wollte es nicht«, sagte er heiser. »Nicht so, dass er einfach verschwindet, während ich schlafe. Bitte, Sir, bringt ihn zurück. Ich kümmere mich um ihn und beschwere mich nie wieder.« »Leider geht das nicht«, erklärte Kennit freundlich. Er lächelte Wintrow an, um ihn zu beruhigen, tadelte ihn aber gleichzeitig. »Nächstes Mal solltest du dir gut überlegen, dass du das auch willst, worum du bittest. Ich habe eine Menge Schwierigkeiten überwinden müssen, um das für dich zu arrangieren.« Er aß einen Löffel Suppe. Kennit wollte in Frieden essen. Es wurde Zeit, Wintrows Unverschämtheit ein Ende zu setzen. »Ich hatte erwartet, dass du dankbar sein würdest. Du hast darum gebeten. Ich habe dir den Wunsch erfüllt. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Schenk mir noch Wein ein.« Wintrow gehorchte ihm steif. Dann trat er vom Tisch zurück und blieb wie festgefroren stehen, während er auf die Wand blickte. Fein. Kennit widmete sich seiner Mahlzeit. Die Bewegung hatte seinen Appetit angestachelt. Seine Muskeln schmerzten, und er hatte vor, nach dem Essen zu ruhen, aber ansonsten fühlte er sich wohl. Es hatte ihm gut getan. Er würde sich mehr bewegen müssen, sobald Etta seine Krücke und seinen Stumpfhalter gepolstert hatte. Ob sein Holzbein ihm wohl erlaubte, in die Takelage zu klettern? Selbst bei schlechtem Wetter liebte er es, in die Wanten zu steigen. Der Wind dort oben war irgendwie stets frischer, und die Möglichkeiten des Lebens waren so breit wie der Horizont. »Ihr hattet überall Blut auf Eurem Mantel. Und die Seite der Gig war ebenfalls blutig.« Wintrows eigensinnige Worte störten seine Träumerei. Kennit seufzte und ließ den Löffel sinken. Wintrow starrte immer noch die Wand an. »Es war nicht das Blut deines Vaters. Wenn du es schon wissen musst, es stammt von Sa'Adar.« Seine Stimme klang sarkastisch. »Und sag mir jetzt nicht, dass du dir deine Gefühle ihm gegenüber auch überlegt hast.«
»Ihr habt ihn getötet, weil ich ihn nicht mochte?« Wintrows Stimme klang panisch. »Nein. Ich habe ihn getötet, weil er nicht das tun wollte, was ich von ihm verlangt habe. Er hat mir keine Wahl gelassen. Sein Tod ist kein Verlust für dich. Der Mann hatte für dich und deinen Vater nur Verachtung übrig.« Kennit trank seinen Wein und hielt Wintrow das leere Glas hin. Der Junge bewegte sich so ruckartig wie eine Puppe, als er es wieder füllte. »Und Ankle?«, fragte er kläglich. Kennit knallte sein Glas auf den Tisch. Der Wein schwappte über und beschmutzte das weiße Damasttuch. »Ankle geht es gut. Es geht allen gut. Ich habe lediglich Sa'Adar getötet, und den auch nur, weil ich es musste. Damit habe ich dir den Ärger erspart, es später selbst tun zu müssen. Sehe ich so dumm aus, dass ich meine Zeit mit nutzlosen Handlungen vergeude? Ich werde nicht hier sitzen und mich von einem Schiffsjungen belästigen lassen! Mach den Dreck weg, schenk mir frischen Wein ein und geh!« Der Blick, den Kennit ihm zuwarf, hatte schon größere Männer eingeschüchtert. Doch zur Überraschung des Piraten entzündete er nur einen ganz ähnlichen Blick in den Augen des Jungen. Wintrow richtete sich auf. Kennit spürte, dass er den Jungen über eine Grenze gedrängt hatte. Interessant. Wintrow trat an den Tisch und entfernte das Essen und das schmutzige Tuch mit einer ruhigen, wütenden Geschicklichkeit. Dann deckte er den Tisch neu, schenkte sorgfältig Wein ein und sprach. Er wagte es sogar, den Ärger in seiner Stimme deutlich zu zeigen. »Erzählt mir niemals mehr etwas von Euren Heldentaten. Ich töte keine Menschen, die mir Ungemach bereiten. Sa gibt Leben, und jedes Leben, das er formt, hat eine Bedeutung und einen Zweck. Kein Mensch hat die Fähigkeit, Sas Zwecke ganz zu verstehen. Ich muss eher lernen, die anderen zu tolerieren, bis sie Sas Zweck erfüllt haben. Ich bin ein Teil seines Vorhabens mit dieser Welt, aber mein Teil ist nicht wichtiger als der von
jemand anderem.« Kennit hatte sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt, während Wintrow den Tisch sauber gemacht und gepredigt hatte. Jetzt seufzte er durch die Nase. »Das liegt daran, dass es dir nicht bestimmt ist, König zu sein.« Ihm kam ein Gedanke, und er konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Denk über Folgendes nach, Priester: Vielleicht bin ich ja derjenige, den du tolerieren musst, bis ich Sas Zweck erfüllen kann.« Als Wintrows Miene sich noch mehr verfinsterte, lachte Kennit laut und schüttelte den Kopf. »Du nimmst dich zu ernst. Geh jetzt. Plaudere mit dem Schiff. Ich glaube, dass ihr Kurs im Moment eher mit meinem parallel verläuft als mit deinem. Ich meine das ernst. Geh nur. Und schick mir Etta herein.« Kennit deutete mit der Hand auf die Tür und widmete sich dann wieder seinem unterbrochenen Mahl. Der Junge ließ sich Zeit und schloss die Tür lauter als nötig. Kennit schüttelte den Kopf. Er gewann den Jungen zu lieb und gewährte ihm zu viele Freiheiten. Hätte sich Opal diesen Ton bei ihm herausgenommen, hätten noch vor Sonnenuntergang Streifen seinen Rücken geziert. Kennit zuckte mit den Schultern, als er über seine Milde nachdachte. Das war schon immer einer seiner Fehler gewesen. Er war einfach zu gutmütig. Er schüttelte erneut den Kopf und dachte wieder an die Schlüsselloch-Insel. »Warum hast du mich nicht geweckt?«, wollte Wintrow wissen. Sein Ärger auf Kennit kochte noch immer in ihm. »Ich habe dir das doch schon gesagt.« Viviace reagierte mit Sturheit auf seinen Ton. »Du warst müde und hast fest geschlafen. Ich konnte nichts Schlimmes in dem sehen, was er vorhatte. Außerdem hättest du ihn nicht aufhalten können. Also war es sinnlos, dich zu wecken.« »Er muss hierher gekommen sein, um Ankle zu holen. Sie war hier, als ich eingeschlafen bin.« Plötzlich überkam ihn ein Verdacht. »Hat er dir befohlen, mich nicht zu wecken?« »Und wenn?«, fragte Viviace beleidigt. »Was hätte das aus-
gemacht? Es war trotzdem meine Entscheidung.« Wintrow sah auf seine Füße. Die Stärke des Schmerzes überraschte ihn. »Früher wärst du loyaler zu mir gewesen. Du hättest mich geweckt, ganz gleich, ob du es für richtig oder falsch gehalten hättest. Du musst gewusst haben, dass ich es wollte.« Viviace wandte den Kopf ab und blickte aufs Meer hinaus. »Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.« »Du klingst sogar schon so wie er«, meinte Wintrow kläglich. Sein Unglück machte sie wütender, als sein Zorn es vermocht hatte. »Was soll ich deiner Meinung nach sagen? Dass es mir Leid tut, dass Kyle Haven weg ist? Tut es aber nicht. Ich habe keinen Augenblick Frieden gehabt, seit er das Kommando übernommen hat. Und ich bin froh, dass er weg ist, Wintrow. Froh. Und du solltest ebenfalls froh sein.« Das war er ja. Und genau das war das Problem. Früher hätte sie das begriffen, aber jetzt war sie so von dem Piraten eingenommen, dass sie nur noch Kennits Sichtweise bedachte. »Brauchst du mich eigentlich noch?«, fragte er sie unvermittelt »Was?« Jetzt war sie erschrocken. »Warum fragst du das? Natürlich brauche ich…« »Ich dachte, wenn du so glücklich mit Kennit bist, würde er mich vielleicht gehen lassen. Ihr könntet mich auf dem Festland absetzen. Ich finde allein zum Kloster und in mein Leben zurück. Ich könnte all das hinter mir lassen als etwas, das ich nicht ändern konnte.« Er hielt inne. »Und du wärst mich los, so wie du meinen Vater losgeworden bist.« »Du klingst wie ein eifersüchtiges Kind«, erwiderte sie. »Du hast meine Frage nicht beantwortet.« Im selben Moment tat sie es. Sie öffnete sich ihm, und er fühlte ihren Schmerz über seine harten Worte. »Oh«, sagte Wintrow leise. Mehr nicht. Er folgte ihr mit seinem Blick. Die Marietta dümpelte sanft an ihrem Anker. Sie war so nah, dass Wintrow das Gesicht des Mannes erkennen konnte, der Wache hatte. Sorcor war nicht sonderlich erfreut
gewesen, als der besorgte Brig ihn hatte fragen lassen, ob er Nachricht vom Kapitän hätte. Die neue, nähere Position des Schiffes signalisierte seine erneute Wachsamkeit. Sie kam zum Kern des Streits. »Warum bist du eifersüchtig darauf, dass mir etwas an Kennit liegt? Du würdest das Band lösen, das dich und mich verbindet, wenn du könntest. Kennit ist ganz anders. Er bemüht sich ernsthaft, eine Beziehung zwischen uns herzustellen. Er spricht mit mir, wie es noch kein anderer getan hat. Er kommt her, während du anderen Aufgaben nachgehst, und erzählt mir Geschichten. Und zwar nicht nur Geschichten aus seinem Leben, sondern Märchen und Geschichten, die er von anderen gehört hat. Und er hört mir zu, wenn ich rede. Er fragt mich, was ich denke und was ich gern tun würde. Er erzählt mir von seinen Plänen für das Königreich und von den Menschen, die er regieren will. Wenn ich einen Vorschlag mache, freut er sich. Kannst du dir vorstellen, wie angenehm das ist, wenn dir jemand Dinge erzählt und zuhört, was du sagst?« »Das kann ich.« Es erinnerte ihn an das Kloster, aber er sagte diese Worte nicht laut. Das war nicht nötig. »Ich verstehe nicht, warum du ihm keine Chance geben willst«, sagte sie plötzlich. »Ich kann nicht behaupten, dass ich ihn so gut kenne wie dich. Aber eines ist deutlich: Er hegt mehr guten Willen und Zuneigung zu dir als dein Vater. Er denkt an andere. Bitte ihn doch einmal, dir die Pläne zu zeigen, die er für Divvytown gezeichnet hat. Er hat sehr genau darüber nachgedacht. Wie er einen Turm bauen will, der sie vor Gefahren warnt. Und wo er Brunnen graben würde, damit sie frischeres Wasser bekämen. Und Askew. Er hat auch eine Karte von Askew gezeichnet, mit Buhnen, die den Hafen verbessern würden, und mit Kaianlagen. Wenn sie ihm nur zuhören und so leben würden, wie er es vorschlägt, dann würde für sie alles so viel besser werden. Er möchte alles ordentlicher und besser machen. Und er möchte gern dein Freund sein, Wintrow. Viel-
leicht war das, was er mit Kyle getan hat, anmaßend, aber du hast es wirklich gewollt. Er hätte sich das Wohlwollen der Sklaven erkaufen können, indem er ihnen Kyle ausgeliefert hätte. Seine Folterung und sein Tod wären ein Spektakel in Divvytown geworden, das Kennit viel Ruhm eingebracht hätte. Das weißt du sicher. Oder er hätte ihn gegen ein Lösegeld an deine Mutter verkaufen können. Damit hätte er sich bereichert und die Vestrits ruiniert. Aber er hat nichts dergleichen getan. Stattdessen hat er diesen widerlichen, engstirnigen Mann weggebracht, an einen Ort, wo er anderen nicht mehr schaden kann.« Sie holte tief Luft. Ihr schienen die Worte ausgegangen zu sein. Wintrow war von dem überwältigt, was sie gesagt hatte. Er hatte nicht gewusst, dass Kennit solche Träume hegte. Ihre Ausführungen schienen vernünftig zu sein, aber es traf ihn trotzdem, dass sie den Piraten verteidigte. »Deshalb ist er also ein Pirat? Um Gutes zu tun?« Das Schiff war beleidigt. »Ich gebe nicht vor, dass er selbstlos ist. Und seine Methoden sind auch keineswegs über jeden Zweifel erhaben. Ja, er genießt Macht und will mehr davon haben. Wenn er sie bekommt, tut er damit Gutes. Er befreit Sklaven. Wäre es dir lieber, wenn er herumstehen und Gemeinplätze über die Gleichheit aller Menschen verbreiten würde? Was ist deine Sehnsucht, in dein Kloster zurückzukehren, anderes als der Wunsch, vor dem zu fliehen, was in dieser Welt falsch ist?« Wintrow starrte sie erstaunt an. Ihm fehlten die Worte. Einen Moment später gestand sie mutig: »Er hat mich gebeten, mit ihm auf Kaperfahrt zu gehen. Wusstest du das?« Wintrow versuchte, ruhig zu bleiben. »Nein. Aber ich habe es erwartet.« Seine Stimme hatte einen bitteren Unterton. »Und? Was wäre daran so falsch?«, fragte sie verteidigend. »Du siehst doch das Gute, das er tut. Ich weiß, dass seine Methoden ziemlich grob sind. Das hat er mir gegenüber selbst
zugegeben. Er hat mich gefragt, ob ich mit dem fertig werden würde, was ich mit ansehen müsste. Ich habe ihm ehrlich von dieser entsetzlichen Nacht erzählt, als die Sklaven sich erhoben haben. Weißt du, was er gesagt hat?« »Nein, was denn?« Wintrow versuchte, seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Sie war so gutgläubig und so naiv. Sah sie denn nicht, wie der Pirat mit ihr spielte? »Dass dies Ähnlichkeit damit hatte, wie man ihm sein Bein abgehackt hat. Er hatte eine lange Krankheit zu durchleiden und dachte, dass es von allein besser würde. Du hast ihm klargemacht, dass er noch viel mehr Schmerzen erdulden musste, bevor diese Qualen aufhören konnten. Er hat dir geglaubt, und du hattest Recht. Er hat mich aufgefordert, mich an alle Qualen zu erinnern, die die Sklaven erlitten haben, und dann zu überlegen, dass in anderen Schiffen diese Qualen weitergingen. Er betriebe keine Sklaverei, sondern Chirurgie.« Wintrow hatte die Lippen zusammengepresst. »Also hat Kennit nur noch vor, Sklavenschiffe anzugreifen?«, fragte er jetzt. »Und die, die an der Sklaverei verdienen. Wir können nicht alle Sklavenschiffe zwischen Jamaillia und Chalced kapern. Aber wenn diejenigen Kennits gerechten Zorn zu spüren bekommen, die mit Sklaven handeln, und nicht nur die, die Sklavenschiffe führen, dann werden bald alle darüber nachdenken müssen, was sie tun. Die Händler, die ehrlich und gut sind, werden sich gegen die Sklaverei wenden, wenn sie sehen, was sie ihnen eingebrockt hat.« »Glaubst du nicht, dass der Satrap seine Patrouillen in diesem Gebiet verstärken wird? Seine Patrouillenschiffe werden alle Piratenkolonien aufspüren und vernichten, nur um Kennit loszuwerden.« »Vielleicht versucht er es, aber ich glaube nicht, dass er Erfolg damit haben wird. Kennit führt eine heilige Sache an, Wintrow. Gerade du müsstest das begreifen. Wir können uns nicht einfach abwenden, nur weil es weh tut oder riskant ist.
Wenn wir diese Mühe nicht auf uns nehmen, wer wird es dann tun?« »Also hast du ihm gesagt, dass du für ihn Piraterie betreiben wirst?«, fragte Wintrow ungläubig. »Noch nicht«, erwiderte Viviace gelassen. »Aber ich habe vor, es ihm morgen mitzuteilen.« Altheas Händlerrobe roch nach Kampfer und Zeder. Ihre Mutter hatte die Kräuter hineingepackt, um die Motten abzuhalten. Althea teilte die Meinung der Motten, was den Geruch anging. Der Zedernduft wäre ja noch erträglich gewesen, in einer etwas dezenteren Dosis, aber der Kampfergestank ließ sie schwindeln. Es überraschte sie, dass ihre Robe ihr noch passte. Immerhin war es einige Jahre her, seit sie sie das letzte Mal getragen hatte. Sie ging durch das Zimmer und setzte sich vor ihren Spiegel. Eine feminine junge Frau blickte ihr entgegen. Manchmal kamen ihr die Tage als Schiffsjunge auf der Reaper wie ein Traum vor. Sie hatte zugenommen, seit sie nach Hause gekommen war. Grag hatte ihr bereits Komplimente gemacht, wie schön sich ihre Figur gerundet hätte. Als sie ihr glänzendes Haar zurückbürstete und es hochsteckte, musste sie zugeben, dass die Veränderung sie durchaus freute. Die einfach geschnittene Händlerrobe allerdings schmeichelte ihr nicht gerade. Macht nichts, sagte sie sich, während sie sich vor dem Spiegel drehte. Sie wollte heute Abend ja auch nicht als schmückendes weibliches Beiwerk gesehen werden, sondern als nüchterne und fleißige Händlertochter. Man sollte ihre Worte ernst nehmen. Trotzdem legte sie ein bisschen Duft auf und schminkte ihre Lippen. An ihren Ohren baumelten Granatohrringe, ein Geschenk von Grag. Sie passten sehr gut zu der magentafarbenen Robe. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Sie war persönlich mit ihrem Gesuch zum Bingtown-Konzil gegangen. Dort hatte man ihr nur mitgeteilt, dass man ihren Antrag erwägen würde.
Sie mussten sie nicht anhören. Keffria war die Händlerin in der Familie, nicht Althea. Und sie hatte ihrer Schwester bereits steif versichert, dass sie heute Abend ebenfalls sprechen würde, falls sich die Gelegenheit bot. Althea hatte einen Brief geschrieben, in dem sie Grag über den Verlust der Viviace unterrichtete, und hatte Rache losgeschickt, damit sie ihn zustellte. Danach war sie zu Händler Restate gegangen, sowohl um Davad die Neuigkeiten über die Piraten zu übermitteln, als auch um den Händler zu bitten, sie in seiner Kutsche mit zum Konzil zu nehmen. Davad war zwar angemessen entsetzt gewesen, zögerte jedoch gleichzeitig, das zu glauben, was das »Raubein Trell« sagte. Er versicherte ihr, dass er ihrer Familie beistehen würde, falls sich die Geschichte als wahr erwies. Althea bemerkte sehr wohl, dass dieses Angebot keineswegs auch seine Brieftasche beinhaltete. Sie kannte Davad gut genug, um keine finanzielle Hilfe von ihm zu erwarten. Seine Zuneigung und seine Geldbörse hielt er scharf voneinander getrennt. Danach war Althea nach Hause zurückgekehrt und hatte Rache geholfen, das Brot für die Woche zu backen. Im Anschluss hatte sie ein wenig im Garten gearbeitet. Trotzdem hatten diese Aktivitäten nicht genügt, Brashen Trell aus ihren Gedanken zu verbannen. War ihr Leben nicht schon kompliziert genug, auch ohne dass er nach Bingtown zurückkam? Dabei hatte er ja eigentlich gar nichts mit ihrem Leben zu tun. Im Moment sollte sie sich eigentlich nur Gedanken über die Viviace oder die Händlerversammlung machen. Oder um Grag. Stattdessen lauerte Brashen hinter jedem Gedanken und eröffnete ihr ein ganzes Reich anderer Möglichkeiten. Auch nur eine von ihnen zu bedenken, bereitete ihr Unbehagen. Sie schob ihn zur Seite, aber immer wieder tauchten diese Bilder auf. Brashen, wie er am Küchentisch saß, Kaffee trank und zu den Worten ihrer Mutter nickte; Brashen, wie er den Kopf über den kleinen Selden beugte, als er den Jungen hochhob und ins Bett trug; Brashen, wie er dastand, mit gespreizten Beinen, als
wäre er an Deck eines Schiffes, und aus dem Fenster des Arbeitszimmers ihres Vaters in die Nacht hinausstarrte. Oder Brashen, ermahnte sie sich gereizt, wie er wiederholt in der Ecke seiner Jackentasche nach dem Stück Cindin tastete, das sich dort unzweifelhaft befand. Der Mann war das Opfer seiner eigenen, falschen Entscheidungen. Lass ihn ziehen. Althea eilte in die Halle. Sie wollte nicht zu spät zu dem Treffen kommen. Es standen zu viele entscheidende Dinge auf der Tagesordnung. Zu ihrer Überraschung wartete Malta bereits dort. Sie betrachtete ihre Nichte kritisch, hatte aber nichts an ihr auszusetzen. Eigentlich hatte sie erwartet, dass Malta es mit der Schminke, dem Parfüm und dem Schmuck übertreiben würde, aber sie wirkte beinahe so gesetzt wie Althea. Die Blumen in ihrem Haar waren ihr einziger Schmuck. Und trotzdem war das junge Mädchen selbst in dieser schlichten Händlerrobe atemberaubend. Althea betrachtete sie und konnte die jungen Männer verstehen, die sie bewunderten. Sie war erwachsen geworden. Während der letzten anderthalb Tage hatte sie mehr Reife an den Tag gelegt, als Althea bei ihr für möglich gehalten hätte. Es war eine Schande, dass sie erst durch eine Familienkrise dazu gekommen war. Sie versuchte, ihre Nervosität zu bekämpfen, und beruhigte ihre Nichte. »Du siehst sehr gut aus, Malta.« »Danke«, erwiderte das Mädchen zerstreut. Sie drehte sich zu Althea um. Ihre Miene war finster. »Ich wünschte, dass wir nicht mit Davad Restate zu der Versammlung fahren müssten. Das sieht nicht besonders gut aus.« »Da hast du Recht.« Althea war überrascht, dass Malta überhaupt darüber nachgedacht hatte. Althea selbst mochte Davad, so wie man einen exzentrischen und gelegentlich peinlichen Onkel mochte. Deshalb versuchte sie, seine augenblickliche katastrophale politische Ausrichtung zu ignorieren. Sie war sich mit ihrer Mutter einig: Davad Restate war schon zu lange ein Freund der Familie, als dass eine politische Meinungsver-
schiedenheit sie hätte entzweien können. Sie hoffte, dass ihre Verbindung zu ihm ihre Präsentation vor dem Konzil nicht schwächte. Sie musste die Tenira-Familie aus vollem Herzen und rechtschaffen unterstützen. Es wäre unvorstellbar demütigend, wenn sie als eine dumme Frau betrachtet würde, die Partei für den Mann ergriff, der ihr am nächsten stand. Sie wollte als Althea Vestrit gehört werden, nicht als ein Mädchen, das in Grag Tenira vernarrt war. »Kosten eine Kutsche und zwei Pferde wirklich so viel? Die ganze Sommersaison liegt vor uns, es gibt Bälle, Teegesellschaften und Feste. Wir können uns nicht immer von Davad abhängig machen. Was sollen die Nachbarn denken?«, fuhr Malta klagend fort. Althea runzelte die Stirn. »Wir haben noch die alte Kutsche. Wenn du mir hilfst, könnten wir sie putzen und ölen. Sie ist sehr verstaubt, aber solide. Dann könnten wir ein Gespann und einen Kutscher mieten.« Sie trat ans Fenster, drehte sich um und lächelte Malta schelmisch an. »Oder ich könnte selbst kutschieren. Als ich so alt war wie du, hat mich Hakes, unser Kutscher, ab und zu fahren lassen. Vater hatte nichts dagegen, aber Mutter mochte es nie.« Ihre Nichte warf ihr einen kühlen Blick zu. »Das wäre noch demütigender, als mit Restates Klapperkiste zu fahren.« Althea zuckte mit den Schultern und sah wieder aus dem Fenster. Jedes Mal, wenn sie glaubte, eine Verbindung mit Malta geknüpft zu haben, stieß das Mädchen sie wieder zurück. Ihre Mutter und Keffria betraten den Raum in dem Moment, als Davads Kutsche die Auffahrt heraufkam. »Lasst uns nicht warten«, meinte Althea und öffnete die Eingangstür, bevor Davad die Kutsche verlassen konnte. »Wenn Davad erst einmal im Haus ist, will er Wein und Kekse, bevor wir wieder fahren. Ich glaube nicht, dass wir so viel Zeit haben«, fügte sie hinzu, als sie Keffrias missbilligenden Blick bemerkte. »Ich möchte ebenfalls nicht zu spät kommen«, stimmte ihre
Mutter zu. Sie marschierten gemeinsam zur Kutsche. Noch bevor der verblüffte Kutscher seinen Bock verlassen hatte, zog Althea den Kutschenschlag auf. Sie scheuchte die anderen vor sich hinein. Davad rückte gehorsam zur Seite, um Platz zu machen. Althea saß neben ihm. Sein Moschusparfüm war beinahe ebenso betäubend wie der Kampferduft ihres Kleides. Wenigstens war es keine lange Fahrt. Keffria, Mutter und Malta setzten sich ihr gegenüber. Davad gab dem Kutscher ein Zeichen, und das Gefährt setzte sich in Bewegung. Das rhythmische Quietschen der Kutsche verriet die mangelnde Pflege, wie auch der Sand in den Säumen der gepolsterten Sitze. Althea runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Davad war niemals sehr geschickt darin gewesen, das Beste aus seinen Dienern herauszuholen. »Seht, was ich Euch mitgebracht habe«, verkündete er. Er holte eine kleine Schachtel hervor, die mit Bändern verschlossen war. Er machte sie selbst auf und bot ihnen klebrige Süßigkeiten an. Es war die Art Süßigkeiten, die Althea mit sechs hatte begeistern können. »Ich erinnere mich, dass es Eure Lieblingssüßigkeiten sind«, meinte er, während er sich ein Stück nahm und den Rest weitergab. Althea nahm eins und schob es sich in den Mund. Keffria sah ihre Schwester kurz an, als die Reihe an ihr war. Dann nahm sie lächelnd ein rotes Bonbon. Davad strahlte sie zufrieden an. »Also wirklich! Ihr seht alle wunderschön aus! Ich werde von allen Männern auf der Versammlung beneidet werden, weil ich mit einer Kutsche voller Schönheiten ankomme. Ich muss bestimmt mit einem Stock herumfuchteln, um die ganzen jungen Männer von der Tür zu vertreiben!« Althea und Keffria lächelten pflichtschuldig über das übertriebene Kompliment, wie sie es getan hatten, seit sie Kinder gewesen waren. Malta wirkte beleidigt. »Davad, Ihr seid immer so verschwenderisch mit Euren Schmeicheleien!«, bemerkte ihre Mutter. »Denkt Ihr denn wirklich, dass wir Euch das nach all den Jahren noch glauben?« Sie runzelte die Stirn.
»Althea, würdest du Davads Schal für ihn richten? Der Knoten hat sich bis unter sein Ohr verschoben.« Althea sah, dass ihre Mutter sich wirklich Sorgen machte. Auf dem feinen gelben Seidenschal prangte ein brauner Fettfleck. Zwar passte ein solcher Schal nicht zur Händlerrobe, aber sie hütete sich, Davad dazu überreden zu wollen, ihn abzunehmen. Stattdessen band sie ihn auf und verknotete ihn so, dass der Fettfleck beinahe unsichtbar war. »Danke, meine Liebe«, sagte er freundlich, während er ihre Hand tätschelte. Althea lächelte ihn gequält an und sah, dass Malta sie angewidert betrachtete. Sie hob fragend eine Braue und bat ihre junge Nichte um Verständnis. Ihr war klar, warum Malta Davad nicht mochte. Wenn Althea selbst innehielt und über Davads letzte Handlungen nachdachte, empfand sie denselben Widerwillen. Er war mittlerweile so weit herabgesunken, dass er sich der gemeinen Methoden der Neuen Händler bediente. Ja, er übertraf sie noch, weil er ihnen gegen seine eigene Schicht half. Er ignorierte die Missbilligung der anderen Händler und setzte sich jetzt auf den Händlerversammlungen immer für sie ein. Außerdem betätigte er sich als Unterhändler zwischen den verzweifelten Händlerfamilien und den Neuen Händlern, die unbedingt ihr Kernland kaufen wollten. Und die Gerüchte besagten, dass er hart verhandelte, um die besten Bedingungen herauszuholen. Allerdings nicht für die betreffenden Händler, sondern für die Neuankömmlinge. Althea mochte kaum die Hälfte des Klatsches glauben, den man sich über Davad erzählte. Aber sie musste einräumen, dass er jetzt nicht nur Sklaven auf seinem Besitz arbeiten ließ, sondern dass er sogar mit ihnen handelte. Das alles war schon schlimm genug, doch das schlimmste Gerücht, das sie gehört hatte, besagte, dass er irgendwie in die Bemühungen der Neuen Händler verwickelt war, den Paragon zu kaufen. Sie betrachtete den onkelhaften Mann neben sich und dachte nach. Wann würde ihre Loyalität zu ihm enden? Würden sie
schon heute Abend an diesen Punkt gelangen? Um sich abzulenken, fing sie ein Gespräch an. »Davad, Ihr kennt doch immer den amüsantesten Klatsch in Bingtown. Was ist die beste Geschichte, die Ihr heute Abend gehört habt?« Sie erwartete nichts sonderlich Skandalöses. Davad war ziemlich prüde. Er lächelte über ihr Kompliment und tätschelte zufrieden seinen Bauch. »Das saftigste Gerücht, das ich heute gehört habe, betrifft nicht Bingtown, meine Teure, obwohl es sicherlich eine gewaltige Wirkung auf uns alle haben dürfte, falls es sich bewahrheiten sollte.« Er sah alle in der Kutsche an und versicherte sich ihrer Aufmerksamkeit. »Ich habe es von einem Neuen Händler. Eine seiner Botentauben hat ihm die Nachricht aus Jamaillia-Stadt gebracht.« Er hielt inne, lächelte und tippte mit dem Zeigefinger gegen den Mund, als überlege er, ob es klug war, diese Nachricht wirklich weiterzugeben. Er wollte ermuntert werden. Althea tat ihm den Gefallen. »Redet doch weiter. Wir sind immer sehr gespannt, was in Jamaillia-Stadt passiert.« »Na gut.« Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Ihr erinnert Euch ja wohl alle an dieses unselige Theater vom letzten Winter. Der Khuprus-Clan hat – gestattet mir diese offenen Worte, Malta… ich weiß, dass der Junge sehr von Euch angetan ist – aber ich rede hier von Politik, nicht von Romantik… Also, die Khuprus-Familie ist als Repräsentant der Regenwild-Händler nach Bingtown gekommen und hat uns gegen den Satrapen aufgehetzt. Ich habe versucht, an ihre Vernunft zu appellieren, aber Ihr erinnert Euch ja sicher daran, wie pöbelhaft diese Versammlung verlaufen ist, Ronica. Wie dem auch sei, das Ergebnis war, dass eine Delegation von Bingtown-Händlern mit unserer Original-Charta nach Jamaillia-Stadt geschickt worden ist. Sie sollten von dem Satrapen fordern, die Bedingungen dieses uralten Dokuments zu erfüllen. Wie konnten sie annehmen, dass man solche antiquierten Vereinbarungen unserer
modernen Zeit aufzwingen könnte? Sie sind trotzdem gegangen. Sie wurden sehr höflich empfangen, und man hat ihnen versichert, dass der Satrap ihre Position berücksichtigen würde. Danach haben wir nichts mehr gehört.« Mit einem kurzen Blick vergewisserte er sich, dass sie alle zuhörten. Es waren nicht gerade taufrische Neuigkeiten, aber Althea hörte pflichtbewusst zu. Malta dagegen starrte aus dem verstaubten Fenster. Davad beugte sich vor und senkte die Stimme, als fürchte er, dass der Kutscher sie belauschen könnte. »Ihr habt alle die Gerüchte gehört, dass der Satrap versprochen hat, einen Gesandten nach Bingtown zu schicken. Wir erwarteten seine Ankunft jeden Tag. Nun, den Gerüchten zufolge, die ich gehört habe, gibt es keinen Gesandten. Nein! Stattdessen hat der Satrap, ein mutiger junger Mann, entschieden, höchstpersönlich zu kommen. Man behauptet, dass er verkleidet reist und nur einige ausgewählte Gefährtinnen des Herzens bei sich hat, aber von seiner chalcedanischen Ehrenwache begleitet wird. Er will Bingtown damit zeigen, so munkelt man, dass unsere Siedlung immer noch genauso fest an Jamaillia und die Satrapie gebunden ist wie jede andere Stadt in Jamaillia. Wenn den Menschen klar wird, was er mit dieser Reise für Strapazen auf sich genommen hat und wie viel Sorge er trägt, dass Bingtown loyal zu ihm steht, dann kann sich Bingtown sicher nicht weigern, Vernunft anzunehmen. Wie viele Jahre ist es her, dass ein regierender Satrap Bingtown besucht hat? Zu unseren Lebzeiten ist das nicht passiert, was Ronica? Einige der Händlerfamilien, die diese Gerüchte gehört haben, planen bereits Bälle und Feste, wie Bingtown sie noch nie zuvor erlebt hat. Es ist genau die richtige Zeit, eine entzückende und unverheiratete junge Frau zu sein, nicht wahr, Malta? Akzeptiert den Heiratsantrag des Regenwild-Händlers lieber nicht zu voreilig. Vielleicht kann ich Euch durch meine Beziehungen sogar eine Einladung zu einem Ball besorgen, wo Ihr dem Satrapen selbst auffallt!« Seine Worte hatten genau die überwältigende Wirkung er-
zeugt, auf die er spekuliert hatte. Selbst Malta starrte ihn erstaunt an. »Der Satrap? Hier?«, fragte ihre Mutter ihn ungläubig. »Er muss verrückt geworden sein!« Althea war nicht klar, dass sie diese Worte laut ausgesprochen hatte, bis sie merkte, wie Davad sie anstarrte. »Ich meine, wie kann er so impulsiv eine so lange und anstrengende Reise unternehmen?« »Trotzdem ist er unterwegs. Jedenfalls hat das die Brieftaube gezwitschert. Aber kein Wort zu niemandem, versteht Ihr?« Er erwartete nicht wirklich, dass seine Mahnung beachtet wurde, denn er fügte diesen Satz an jedes Stück Klatsch an, das er weitergab. Althea dachte immer noch über diese Geschichte nach, als der Kutscher die Pferde zügelte. »Ihr erlaubt«, sagte Davad und beugte sich über Althea, um den Türgriff zu drücken. Während der Fahrer von außen zog, drückte Davad mit der Schulter von innen gegen die Tür. Sie flog auf, und Althea packte den korpulenten Mann gerade noch an seiner Robe, bevor er hinausfiel. Der Fahrer reichte Davad zögernd seine Hand. Der Händler stieg aus und reichte dann stolz den Vestrit-Frauen nacheinander die Hand. Grag drückte sich vor dem Portal der Händlerhalle herum. Er hatte seine dunkelblaue Händlerrobe in der Art der alten Seefahrer hochgebunden und entblößte so ein gutes Stück seiner kräftigen, braun gebrannten Beine und die Füße, die in Sandalen steckten. Irgendwie schaffte er es, sowohl wie ein verwegener Seemann als auch wie ein seriöser Händler auszusehen. Er ist wirklich ein gut aussehender Mann, gestand Althea sich ein. Seine suchenden Blicke sagten ihr, dass er auf ihre Ankunft wartete. Sie hatte ihm am Abend die Nachricht geschickt, dass die Viviace gekapert worden war. Er hatte sofort geantwortet, und seine Antwort war so herzlich und tröstlich gewesen, wie sie es sich nur wünschen konnte. Er wollte ihr zur Seite stehen und alles dafür tun, dass sie auf der Versammlung
reden konnte. Er hatte geschrieben, dass seine Familie und Ophelia ihre Sorge um die Viviace teilten. Sie lächelte, als er sie ansah, und er antwortete ihr mit einem Strahlen, das seine Zähne blitzen ließ. Althea entschuldigte sich kurz und ging schnell die Stufen zur Halle hinauf. Er beugte sich förmlich über ihre ausgestreckte Hand. Als er sich aufrichtete, murmelte er: »Ich hätte daran denken sollen, Euch eine Kutsche zu schicken. Nächstes Mal werde ich das tun.« »Ach, Grag, es ist nur Davad. Er ist schon seit langer Zeit ein Freund der Familie. Es hätte ihn verletzt, wenn wir sein Angebot, mit ihm zu fahren, abgelehnt hätten.« »Wenn Ihr solche Freunde habt, ist es kein Wunder, dass das Vermögen der Vestrits schmilzt«, bemerkte er bissig. Ihr Herz schien einen Moment lang zu vereisen. Wie konnte er so etwas andeuten? Aber seine nächsten Worte erinnerten sie daran, wie schwierig seine eigene Lage war, und ihre Gefühle für ihn wurden sanfter. »Ophelia hat nach Euch gefragt. Sie hat befohlen, Wein zu kochen, damit man Sa ein Opfer für die Viviace bringt. Sie wollte, dass Ihr das erfahrt.« Er hielt inne und lächelte dann zärtlich. »Es langweilt sie entsetzlich, am Zollpier vertäut zu sein. Die Arbeit an ihren Händen ist fertig, und sie möchte wieder segeln. Und immer, wenn ich ihr verspreche, dass wir wieder auslaufen, sobald wir können, bittet sie mich, einen Weg zu suchen, damit Ihr mitkommen könnt. Ich habe ihr geantwortet, dass ich nur einen Weg wüsste.« »Und der wäre?«, fragte Althea neugierig. Wollte er ihr eine Arbeit auf der Ophelia anbieten? Ihr Herzschlag beschleunigte sich bei dieser Vorstellung. Sie liebte das mütterliche alte Schiff. Er errötete und wandte den Blick ab, lächelte jedoch unverändert. »Eine hastige Hochzeit und eine Hochzeitsreise. Ich habe es natürlich nur zum Spaß vorgeschlagen. Was das für einen Skandal auslösen würde! Eigentlich hatte ich erwartet, dass
Ophelia mich schelten würde. Stattdessen fand sie die Idee wundervoll.« Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Und mein Vater auch. Sie hat es ihm vorgetragen, nicht ich.« Er hielt inne und sah sie erwartungsvoll an, als hätte er ihr eine Frage gestellt. Aber das hatte er nicht, jedenfalls nicht direkt. Selbst wenn Althea leidenschaftlich in ihn verliebt gewesen wäre, hätte sie ein solches Angebot kaum annehmen können, solange ihr eigenes Familienschiff in ernsthafter Gefahr schwebte. War ihm das denn nicht klar? Sie konnte die Verwirrung nicht unterdrücken, die sich auf ihrem Gesicht abzeichnete. Ihre Bestürzung vertiefte sich noch, als sie Brashen Trell am Fuß der Treppe stehen sah. Ihre Blicke kreuzten sich, und sie konnte einen Moment lang die Augen einfach nicht abwenden. Grag machte für ihre Verwirrung allerdings etwas anderes verantwortlich. »Ich habe nicht wirklich erwartet, dass Ihr es in Betracht ziehen würdet«, sagte er hastig und versuchte, sich seine Kränkung nicht anmerken zu lassen. »Nicht hier und nicht jetzt. Wir beide haben im Moment zu viele andere Sorgen. Vielleicht werden heute Nacht aber einige davon gelöst. Ich hoffe es jedenfalls.« »Ich auch«, erwiderte sie. Es gelang ihr nicht, ihre Stimme herzlich klingen zu lassen. Dafür ging hinter seinem Rücken einfach zu viel vor sich. Brashen sah sie an, als habe sie ihm einen Dolch ins Herz gerammt. Er hatte seine Kleidung nicht gewechselt, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Das weite gelbe Hemd und die dunkle Hose machten ihn unter all den Händlern in ihren Roben zu einem Fremden. Grag folgte ihrem Blick. »Was will der denn hier?«, fragte er, als müsste sie es wissen. Dabei nahm er ihren Arm. »Er hat uns die Nachricht von der Viviace überbracht.« Althea sah Grag scheinbar gelassen an. Sie wollte nicht, dass Brashen glaubte, sie und Grag redeten über ihn. Er erwiderte den Blick und runzelte die Stirn. »Habt Ihr ihn denn hierher bestellt?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, warum er hier ist.« »Ist das da Amber neben ihm? Warum ist sie denn hier? Warum sind sie zusammen?« Althea musste hinsehen. »Ich weiß es nicht«, murmelte sie. Amber trug ein schlichtes goldbraunes Kleid, das beinahe dieselbe Farbe aufwies wie ihr Haar, das sie in viele Zöpfe geflochten hatte und das ihr bis über die Schultern reichte. Sie war aus dem Nichts aufgetaucht und stand jetzt dicht neben Brashen. Sie sagte leise etwas zu ihm. Ihre Miene war nicht sehr freundlich, aber sie blickte weder Althea noch Grag an. Sie starrte mit gelblichen Augen, die Althea an die einer Katze erinnerten, auf Davad Restate. Irgendein lästiges Schicksal hatte anscheinend dafür gesorgt, dass alle Facetten von Altheas Leben heute Abend zusammentrafen. Davad Restate seinerseits ließ Grag nicht aus den Augen, während er schnaufend die Treppe hinaufeilte. Doch ihre Mutter erreichte Althea vor ihm. Keffria und Malta waren nur einen Schritt hinter ihr. Ronica und Grag begrüßten sich, und Ronica sah dem jungen Mann direkt in die Augen. »Meine Tochter Althea kann bei Euch sitzen, wenn Ihr das wünscht, Grag. Ich weiß, dass ihr wichtige Dinge zu besprechen habt.« Grag verbeugte sich förmlich. »Ronica Vestrit, Ihr ehrt die Teniras mit Eurem Vertrauen. Ich schwöre, dass wir uns dessen würdig erweisen werden.« »Ich danke dir auch für deine Erlaubnis«, antwortete Althea formell. Sie musste die Voraussicht ihrer Mutter bewundern. Jetzt konnte sie Grag beim Arm nehmen und ihn in die Halle ziehen, bevor der schnaufende Davad sie erreichte. Wenigstens diese Konfrontation wurde so vermieden. Althea scheuchte Grag förmlich durch die Türen. Dabei verkniff sie es sich, darüber nachzudenken, wie das auf Brashen wirken musste. In der großen Halle folgte sie Grag. Sie bemerkte, wie andere
Leute ihnen nachsahen. Wenn sie bei einer solchen Versammlung bei seiner Familie saß, bedeutete das, dass seine Werbung öffentlich zur Kenntnis genommen wurde. Einen Moment hätte sie sich am liebsten von ihm abgewendet und wäre wieder zu ihrer Familie gegangen. Aber wenn sie ihn jetzt stehen ließ, sah das so aus, als hätten sie sich gestritten. Stattdessen lächelte sie gnädig und ließ sich von Grag zwischen seine Mutter und seine Schwester platzieren. Seine Mutter war eine grauhaarige, seriöse Frau und wirkte beeindruckend. Seine jüngere Schwester lächelte Althea verschwörerisch an. Sie begrüßten sich leise, während die Halle sich allmählich füllte und das Murmeln der Gespräche lauter wurde. Grags Mutter und Schwester plauderten leise mit ihr und sprachen Althea ihr Mitgefühl wegen des Verlustes der Viviace aus. Althea steuerte jedoch nur ein gelegentliches Kopfnicken zu dem Gespräch bei. Sie wurde plötzlich nervös. Hoffentlich erlaubte ihr das Konzil zu sprechen. Wiederholt ordnete sie ihre Gedanken. Irgendwie musste sie den Händlern klarmachen, dass die Rettung der Viviace etwas war, das ganz Bingtown anging und nicht nur die VestritFamilie. Das Stimmengemurmel, das jeder Händlerversammlung vorausging, schien endlos zu dauern. Mehrere Leute traten an die Bank der Teniras und begrüßten sie. Sie schienen zu erwarten, dass Grag und sie eher wegen ihrer Werbung aufgeregt waren denn wegen der Angelegenheiten, die hier auf der Tagesordnung standen. Altheas Verärgerung legte sich jedoch ein wenig, als Grags Mutter sie heranwinkte und sich vorbeugte. »Es ist gut, dass Ihr hier seid«, murmelte sie leise. »Sie werden uns alle ernster nehmen, wenn klar ist, dass wir zusammenhalten.« Grags Schwester drückte Althea kurz die Hand. Althea freute sich über ihre Herzlichkeit, aber gleichzeitig war ihr unbehaglich zumute. Sie wusste nicht genau, ob sie so schnell vereinnahmt werden wollte. Die Gespräche erstarben, als die Konzilmitglieder der Händ-
ler das Podium betraten. Sie trugen die weißen Roben, die signalisierten, dass sie ihre Familienbindungen einstweilen aufgaben, um sich loyal dem übergeordneten Wohl von Bingtown widmen zu können. Einige Ordner in ihren schwarzen Roben setzten sich auf ihre Plätze an der Wand. Händlerversammlungen wurden manchmal etwas zu lebhaft. Ihre Funktion war es, die Zuhörer im Zaum zu halten. Althea musterte die Mitglieder des Konzils, als sie sich begrüßten und ihre Plätze an dem langen Tisch des Konzils einnahmen. Sie schämte sich plötzlich, dass sie nur so wenige mit Namen kannte. Ihr Vater hätte sogar gewusst, wer seine Verbündeten waren und wer seine Gegner. Diese Sachkenntnis fehlte ihr. Glockenklänge kündigten den Beginn der Versammlung an. Die Stimmen erstarben. Althea schickte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel, dass Sa ihre Worte führen möge. Sie hätte ruhig länger beten können. In einer wortreichen Eröffnungsrede erklärte der Vorsitzende des Konzils, dass einige Themen auf der Tagesordnung standen und dass er es für das Beste hielt, wenn sie mit den einfacheren Streitigkeiten begännen. Althea sah Grag fragend an. Sie hatte gedacht, dass diese Versammlung extra anberaumt worden war, um die Besorgnisse der Tenira-Familie anzuhören. Er runzelte die Stirn und zuckte kurz mit den Schultern. Sie hörten sich den heißblütig geführten Streit zwischen zwei Händlern an, in dem es um einen Bach ging, der ihren Besitz trennte. Einer hatte dort seine Herde getränkt, und der andere wollte ihn umleiten, um seine Felder damit zu wässern. Es war ein langwieriger Streit, der schließlich vom Konzil so entschieden wurde, dass sie das Wasser teilen mussten. Ein Schiedsgericht aus drei Personen wurde gebildet. Es sollte den beiden bei der Entscheidung helfen, wie diese Teilung vonstatten gehen könnte. Sobald die Streitenden sich voreinander verbeugt und wieder ihre Plätze eingenommen hatten, richtete Althea sich erwartungsvoll auf.
Sie wurde erneut enttäuscht. Der nächste Streit war nicht so einfach beizulegen. Der preisgekrönte Bulle eines Händlers hatte die Kuhherde seines Nachbarn geschwängert. Beide behaupteten, sie wären die benachteiligte Partei. Der eine wollte erhebliche Deckgebühren, der andere konterte, dass er dieses Jahr einen anderen Zuchtbullen hatte benutzen wollen, weil die diesjährige Ausbeute an Kälbern ihm zu gering war. Der eine behauptete, ein Diener des anderen habe die Zäune demoliert, der andere protestierte und sagte, der Besitzer des Bullen habe sein Tier nicht richtig eingesperrt. Das Konzil sah sich in diesem Fall großen Schwierigkeiten gegenüber. Sie zogen sich in das Hinterzimmer zurück, wo sie ungestört miteinander reden konnten. Währenddessen bewegten sich die Zuhörer rastlos oder plauderten mit ihren Nachbarn. Als das Konzil wieder zurückkam, wurde verkündet, dass die Kälber sofort nach der Geburt verkauft und die Profite zwischen den beiden Händlern aufgeteilt werden sollten. Außerdem musste der Bullenbesitzer den Zaun reparieren. Das passte keinem der beiden Händler, aber das Urteil des Konzils war bindend. Beide Händlerfamilien standen auf und verließen wütend die Halle. Mit Missfallen musste Althea zusehen, wie auch einige andere Familien hinausgingen. Sie hatte gehofft, dass sie sowohl die Händler als auch das Konzil ansprechen konnte. Der Vorsitzende des Händlerkonzils warf einen kurzen Blick auf die Tafel vor ihm. »Die Tenira-Familie erbittet Zeit, um vor das Konzil zu treten. Sie wollen die Steuern des Satrapen anfechten, die er gegen das Lebensschiff Ophelia verhängt hat, und dagegen protestieren, dass sie am Zollhafen festgehalten wird, bis ihre Familie zahlt.« Kaum hatte der Vorsitzende des Konzils das verkündet, als ein Händler aufstand und das Konzil ansprach. Es war Händler Daw, der seine offenbar eingeübten Worte hastig ausstieß. »Das ist keine Angelegenheit, die vor das Händlerkonzil gehört. Händler Tenira hat Schwierigkeiten mit dem Zollbüro des
Satrapen, nicht mit einem anderen Händler. Er sollte sie mit dem Büro ausfechten, damit das Konzil seine kostbare Zeit auf die Probleme konzentrieren kann, die uns alle angehen.« Althea bemerkte entmutigt, dass Davad Restate neben Daw saß und ernst blickte. Tomie Tenira stand auf. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt und presste sie an seine Seite. Er bemühte sich, nicht allzu wütend zu klingen. »Seit wann ist das Händlerkonzil nur noch ein Kindermädchen, das den Streit zwischen Geschwistern schlichten muss? Was ist das Händlerkonzil anderes als die Stimme Bingtowns? Die Beschwerde, die ich vorzutragen habe, ist nicht nur eine Angelegenheit zwischen der Zollbehörde und meiner Familie. Es geht um ungerechte Steuern, die für alle Schiffseigner gelten. Laut unserer ursprünglichen Charta müssen wir fünfzig Prozent unseres Gewinns an die Kasse des Satrapen abführen. Ich halte das zwar für Wahnsinn, aber unsere Vorfahren haben diesen Vertrag geschlossen. Also bin ich bereit, mich daran zu halten. Aber nirgendwo in dieser Charta sind diese Zollgebühren erwähnt. Und kein Dokument zwingt uns, mörderische, diebische Chalcedaner in unserem Hafen zu dulden.« Tomie Teniras Stimme zitterte vor Wut. Er verstummte und versuchte, sich wieder zu beherrschen. Davad Restate stand auf. Althea war übel. »Mitglieder des Konzils, alle jamaillianischen Händler zahlen Zölle an den Satrapen. Warum sollten wir eine Ausnahme machen? Ist er nicht unser guter und gerechter Herrscher? Schulden wir ihm keine Unterstützung, die Herrschaft aufrechtzuerhalten, die uns allen wohl tut? Diese Zölle dienen dazu, die Hafenanlagen und Einrichtungen in Jamaillia-Stadt zu erhalten, und außerdem werden davon auch die Patrouillenboote bezahlt, die uns in der Inneren Passage vor den Piraten schützen. Eben diese Eigenschaften, die Händler Tenira an den Chalcedanern verachtet, sind es, die sie zu so ausgezeichneten Verteidigern gegen die Piraten machen. Wenn er ihre Dienste nicht braucht,
dann sollte er vielleicht…« »Diese so genannten chalcedanischen Patrouillenboote sind selbst nichts anderes als Piraten! Sie halten rechtmäßige Händlerschiffe auf, nur um sie zu erpressen. Ihr alle wisst, dass mein Lebensschiff Ophelia sogar verletzt wurde, als sie sich gegen einen solchen unerwünschten Zugriff verteidigt hat. Bingtowns Schiffe haben noch nie freiwillig akzeptiert, dass Fremde sie betreten. Wollt Ihr etwa vorschlagen, dass wir es jetzt zulassen sollen? Die Zölle haben einfach angefangen, als nachvollziehbare Gebühren. Jetzt sind sie so kompliziert auszurechnen, dass wir dem Wort eines angestellten Schreibers vertrauen müssen, was wir zu zahlen haben. Und diese Zölle haben mittlerweile nur einen Zweck: Es unrentabel zu machen, mit jemand anderem als mit den Leuten aus Jamaillia-Stadt Handel zu treiben. Sie stehlen uns unsere Profite, um uns damit noch enger an ihre Geldbeutel zu binden. Jeder, der in letzter Zeit in JamailliaStadt angelegt hat, weiß, dass diese Zölle nicht für die Instandhaltung des Hafens ausgegeben werden. Ich bezweifle, dass diese Docks in den letzten drei Jahren überhaupt instand gehalten worden sind.« Seine letzte Bemerkung erntete allgemeine Zustimmung und sogar einige Lacher. »Mein Schiffsjunge ist fast hindurchgefallen, als wir das letzte Mal an einem festgemacht haben«, rief jemand von den hinteren Bänken. Daw stand erneut schnell auf und sagte hastig: »Mitglieder des Konzils, ich schlage vor, dass Ihr Euch vertagt und entscheidet, ob Ihr diese Angelegenheit überhaupt akzeptiert, bevor Ihr Euch weitere Aussagen anhört.« Er sah sich um. »Es wird dunkel. Vielleicht sollten wir diese Sache auf eine spätere Versammlung verschieben.« »Es gehört sehr wohl zu unseren Aufgaben, das anzuhören, denke ich«, antwortete der Vorsitzende des Konzils. Aber zwei untergeordnete Mitglieder schüttelten sofort ablehnend die Köpfe. Das zwang das Konzil dazu, sich ein weiteres Mal ins
Hinterzimmer zurückzuziehen. Diesmal ging es in der Halle weniger geduldig und freundlich zu. Die Leute standen auf und schlenderten umher. Händler Larfa vom Lebensschiff Winsor trat zu Tomie Tenira. »Zählt auf mich, Tomie!«, dröhnte er vernehmlich. »Ganz gleich, wie das hier ausgeht. Wenn Ihr wollt, sagt sofort Bescheid. Meine Söhne und ich werden Euch zur Seite stehen, und wir gehen sofort hinunter zu dem verdammten Zollkai und tauen Euer Schiff los!« Zwei große junge Männer hinter ihm nickten ernst zu den Worten ihres Vaters. »Und Ihr wärt nicht allein«, bot ein anderer Mann an, den Althea nicht erkannte. Wie Händler Larfa wurde auch er von seinen Söhnen begleitet. »Hoffen wir, dass es nicht dazu kommt«, erwiderte Händler Tenira. »Mir wäre es lieber, wenn ganz Bingtown darauf reagiert, nicht nur die Tenira-Familie.« In diesem Moment flammte irgendwo im Raum ein Rededuell auf. Althea stand halb auf und verrenkte sich beinahe den Hals. Sie konnte allerdings wenig sehen, weil zu viele andere zwischen ihr und den Kontrahenten standen. Der Streit schien an der Stelle stattzufinden, an der Händler Daw und Davad Restate gesessen hatten. »Ihr Lügner!«, schrie jemand. »Ihr habt es getan, und Ihr wusstet, was Ihr getan habt! Ohne Euch hätten die verdammten Neuen Händler hier niemals so viel Einfluss gewinnen können!« Eine andere Stimme stritt das lautstark ab. Die Konzilordner waren bereits unterwegs, um den Streit zu schlichten. Althea fühlte, wie sich ihre Fingernägel in die Handflächen gruben. Es fehlte nicht mehr viel, und die Händler wären handgreiflich geworden. »Das nützt doch niemandem!«, schrie sie. Zufällig hatte sie gerade einen Moment abgepasst, in dem nicht so viel Lärm herrschte. Die Leute sahen zu ihr hin. Selbst Grag und Tomie Tenira wurden von ihrem Ausbruch überrascht. Sie holte tief Luft. Wenn sie wartete, würde das Konzil sich vielleicht verta-
gen. Wertvolle Zeit wäre verloren. Das war vielleicht ihre einzige Chance zu sprechen. »Seht uns an! Wir zanken uns wie Kinder, Händler gegen Händler. Fragt Euch doch, wer diesen Kampf gewinnen wird! Wir müssen uns hier einigen! Wir müssen über die größeren Dinge reden, die uns bevorstehen. Was soll aus Bingtown werden? Werden wir unsere Köpfe vor den Gesetzen des Satrapen beugen, seine Zölle und Beschränkungen akzeptieren, ganz gleich, wie schwer sie auf uns lasten? Werden wir es dulden, dass seine Söldner in unserem Hafen anlegen? Werden wir für sie zahlen und sie ausrüsten, damit sie unsere Schiffe anhalten und sie ausplündern können, bevor sie unseren Hafen erreichen? Warum sollten wir das tun?« Jetzt hatte sie die Aufmerksamkeit der ganzen Versammlung. Einige Leute setzten sich wieder, anscheinend bereit, sich anzuhören, was sie zu sagen hatte. Sie warf Grag einen kurzen Blick zu. Er nickte aufmunternd. Sie fühlte, wie seine Mutter ihre Hand umfasste und sie kurz drückte, bevor sie sie wieder losließ. Althea war beinahe benommen von ihrer Macht. »Mein Vater hat mir schon vor zwei Jahren gesagt, dass es dazu kommen würde. Ich bin kein Händler, wie er es war, aber ich zögere nicht, seine Weisheit wiederzugeben. Die Zeit wird kommen, wenn Bingtown unabhängig werden und seine Zukunft selbst gestalten muss. Das hat er mir gesagt. Und ich glaube, die Zeit ist jetzt gekommen.« Sie sah sich in dem Saal um. Keffria hatte die Hand vor den Mund geschlagen und sah ihre Schwester entsetzt an. Davads Gesicht war so rot angelaufen wie der Kamm eines Truthahns. Einige Frauen wirkten schockiert, dass eine von ihrem Geschlecht so unerschrocken in der Öffentlichkeit sprach. Aber andere Händler nickten oder schienen von ihren Worten gepackt zu sein. Sie holte bebend Luft. »Es gibt so viel, was wir nicht länger tolerieren dürfen. Diese so genannten Neuen Händler usurpieren unser Land. Sie wissen weder etwas von den Opfern, die wir in der Vergangenheit gebracht haben, noch
von den Blutbanden, die uns mit den Regenwild-Händlern verbinden. Sie verspotten mit ihren tätowierten Sklaven unsere Gesetze. Der Satrap gibt sich nicht mehr mit der Hälfte unseres Gewinnes zufrieden. Er wird uns alles, was wir mit unserem Blut erkauft haben, wegnehmen und seinen neuen Freunden schenken, den Neuen Händlern oder seinen chalcedanischen Söldnern.« »Ihr redet der Rebellion das Wort!«, schrie einer anklagend von hinten. Etwas in ihr schien zu zerspringen. Tritt vor und gib es zu, ermahnte sie sich selbst. »Ja, genau das tue ich«, sagte sie ruhig und deutlich. Der Tumult, der bei ihren Worten losbrach, überrumpelte sie völlig. Aus den Augenwinkeln sah sie wie die Ordner sich ihr näherten. Sie bemerkte auch, dass sie erhebliche Schwierigkeiten hatten, durch die aufgewühlte Menge zu gelangen. Die Leute traten nicht zur Seite. Im Gegenteil, Beine wurden ausgestreckt, und man schob ihnen Bänke in den Weg. Trotzdem würden die Ordner sie bald ereichen und hinauswerfen. Sie hatte nur noch wenige Augenblicke. »Das Schiff meines Vaters!« Ihre Stimme durchdrang den Lärm. Es wurde etwas leiser. »Die Viviace, ein Lebensschiff aus der Regenwildnis, ist von Piraten gekapert worden. Ich weiß, dass einige von Euch Gerüchte gehört haben. Ich stehe hier und sage Euch, dass es die Wahrheit ist. Das Undenkbare ist passiert. Piraten haben ein Zauberschiff aus Bingtown gekapert. Glaubt Ihr, dass die chalcedanischen Söldner uns helfen, es zurückzubekommen? Wenn es zufällig in ihre Hände fiele, würden sie dann wohl Bingtowns Anspruch auf das Schiff respektieren? Nein, es würde als Beute nach Jamaillia-Stadt gebracht werden und dort bleiben. Denkt einen Moment an den Regenwild-Fluss, dann wisst Ihr, was das bedeutet. Ich brauche Eure Hilfe. Bingtowner, ich bitte Euch, steht mir zur Seite. Ich brauche Geld und ein Schiff, um mein Geburtsrecht antreten zu
können!« Sie hatte diese Worte nicht sagen wollen. Ihre Mutter sah sie bestürzt an. Was sie dachte, war offensichtlich. Althea hatte hiermit öffentlich den Anspruch verkündet, dass dieses Schiff ihr Eigentum war. Sie hatte eigentlich für ihre Familie sprechen wollen, aber ihr Herz hatte die Worte gewählt. »Die Vestrit-Familie hat sich das selbst zuzuschreiben!«, schrie jemand. »Sie hat zugelassen, dass ihr Familienschiff von einem Fremden befehligt wurde. Schämt Euch! Sie macht eine Menge Wirbel, das stimmt, aber mit wem ist sie vorgefahren? Mit Davad Restate. Und wir alle wissen, wo der steht, Ihr Herren. Ihr wildes Gerede ist nur eine Falle der Neuen Händler. Wenn wir uns dem Satrapen entgegenstellen, können wir nicht erwarten, dass er sich uns gegenüber fair verhält. Wir müssen mit dem Satrapen verhandeln und dürfen uns nicht gegen ihn stellen.« Einige nickten und murmelten zustimmend. »Und warum laufen diese verdammten chalcedanischen Patrouillenboote nicht aus und retten die Viviace? Sind die neuen Zölle nicht dazu da, dass sie damit bezahlt werden, um die verdammten Piraten zu jagen? Warum setzen sie keine Segel und zeigen uns, was unser Geld wert ist?« »Sie redet gegen die Chalcedaner, dabei hat ihre eigene Schwester einen geheiratet!«, meinte ein anderer verächtlich. »Kyle Haven kann nichts für sein Blut. Er ist trotzdem ein guter Kapitän!«, verteidigte ihn ein anderer. »Ephron Vestrit hat sein Schiff diesem Fremden überlassen«, meinte ein weiterer. »Der hat es verloren. Es ist das Problem der Vestrit-Familie, keine Krise für Bingtown. Wenn sie das Schiff wiederhaben will, soll sie doch das Lösegeld bezahlen!« Althea stellte sich auf die Zehenspitzen, um den Sprecher identifizieren zu können. »Händler Froe«, erklärte Grag leise. »Er hat sich noch nie für irgendwas eingesetzt. Und er hält sein Geld so fest, dass es mit einem Fingerabdruck in Umlauf kommt.«
Es schien, als habe Froe diese Worte gehört. »Ich jedenfalls gebe ihr keinen einzigen Heller. Sie haben ihr Schiff beschämt, und Sa hat es ihnen genommen. Ich habe gehört, dass es sogar als Sklavenschiff eingesetzt wurde… Jedes Lebensschiff, das etwas wert ist, würde eher zu den Piraten überlaufen, als das mitzumachen!« »Das könnt Ihr nicht ernst meinen!«, schrie Althea aufgebracht. »Ihr könnt sie nicht so einfach abschreiben. Auf dem Schiff befindet sich mein Neffe. Ganz gleich, wie Ihr seinen Vater anseht, Ihr könnt nicht leugnen, dass er Händlerblut in sich hat. Und das Schiff selbst ist Bingtown…« Neben ihr trat Grag einem Ordner in den Weg, aber der andere ging an ihm vorbei und packte Altheas Arm. »Hinaus!«, befahl er entschlossen. »Das Konzil hat sich zur Beratung zurückgezogen. Niemand darf jetzt sprechen. Und Ihr habt vom Konzil nicht einmal das Wort erteilt bekommen. Sie ist nicht die Händlerin der Vestrits!«, erklärte er laut, als die anderen gegen Altheas Behandlung protestierten. »Im Interesse der Ordnung muss sie gehen!« Das war der sprichwörtliche Funke am Pulverfass. Eine Bank fiel mit einem lauten Poltern um. »Nein!«, schrie Althea entsetzt auf, und wunderbarerweise hörten sie auf sie. »Nein«, wiederholte sie etwas leiser. Sie legte Grag die Hand auf den Arm. Er ließ den Ordner los, den er gepackt hatte. »Ich bin nicht hierher gekommen, um Ärger zu machen. Ich bin hierher gekommen, weil ich Euch um Hilfe bitten wollte. Ich habe diese Bitte vorgetragen. Und ich bin auch hier, um für die TeniraFamilie zu sprechen. Es ist nicht richtig, dass die Ophelia am Zollkai festgehalten wird. Sie haben keinerlei rechtliche Handhabe gegen sie.« Leiser fuhr sie fort: »Wenn jemand von Euch den Vestrit-Händlern helfen will, wisst Ihr alle, wo Ihr uns finden könnt. Ihr werdet willkommen geheißen und könnt Euch unsere ganze Geschichte anhören. Aber ich möchte nicht für einen Aufruhr in der Halle der Händler verantwortlich gemacht
werden. Ich gehe. Friedlich.« Sie wandte sich an Grag. »Folgt mir nicht. Bleibt hier, falls das Konzil noch einmal zusammentritt. Ich warte draußen.« Mit erhobenem Kopf und ohne von den Ordnern hinausgeführt zu werden, ging sie durch die Menge. Sie wusste, dass sie hier heute nichts mehr würde ausrichten können. Andere schienen ihre Meinung zu teilen. Die Händlerfamilien, die kleine Kinder dabei hatten, strömten hinaus, vermutlich, weil sie um ihre Sicherheit fürchteten. Im ganzen Saal herrschten Aufruhr und Chaos. Händler standen in kleinen Gruppen zusammen. Einige diskutierten ruhig miteinander, andere dagegen gestikulierten heftig und schrien. Althea ging an ihnen vorbei. Mit einem kurzen Blick versicherte sie sich, dass ihre Familie blieb. Gut. Vielleicht hatten sie noch einmal die Chance, sich für die Rettung der Viviace einzusetzen. Draußen erwartete sie eine trügerisch friedliche Sommernacht. Die Grillen zirpten. Die hellsten Sterne waren in dem dämmrigen Zwielicht bereits zu sehen. Hinter ihr brummte es in der Halle der Händler wie in einem aufgeschreckten Bienenstock. Einige Familien verließen den Ort zu Fuß, andere bestiegen ihre Kutschen. Unwillkürlich sah sie sich nach Brashen um, konnte jedoch keine Spur von ihm oder Amber entdecken. Zögernd ging Althea zu Davads Kutsche. Sie würde sich hineinsetzen und auf die allgemeine Vertagung der Versammlung warten. Die Kutsche stand fast am Ende der Wagenreihe. Als Althea sie erreichte, blieb sie vor Schreck wie angewurzelt stehen. Der Fahrer war verschwunden. Die Pferde schnaubten unruhig und scharrten mit den Füßen auf dem Boden. Von der Tür der Kutsche rann Blut zu Boden. Es leuchtete schwarz und dickflüssig in der Dunkelheit. Ein Schwein mit durchgeschnittener Kehle hing halb aus dem Kutschfenster. Das Wort »SPION« war mit Blut über das Wappen der Restates geschrieben. Althea schwindelte vor Ekel.
Hinter ihr schien die Versammlung zu Ende zu gehen. Händler strömten aus der Halle. Einige stritten immer noch lauthals miteinander. Andere zischten und sahen sich verstohlen nach Lauschern um. Ihre Mutter war als Erste an der Kutsche. »Das Konzil hat sich vertagt. Sie werden eine private Zusammenkunft ansetzen, um zu beraten, ob sie unser Begehren…« Sie unterbrach sich, als sie das Schwein sah. »Bei Sa!«, entfuhr es ihr. »Der arme Davad. Wie konnte man ihm das antun?« Sie sah sich um, als lauerten die Schuldigen noch in der Nähe. Von irgendwoher tauchte Grag auf. Nach einem entsetzten Blick packte er Altheas Arm. »Kommt weg hier!«, sagte er leise. »Ich sorge dafür, dass Ihr und Eure Familie sicher nach Hause kommt. Ihr wollt damit bestimmt nichts zu tun haben.« »Nein«, stimmte sie grimmig zu. »Will ich nicht. Genauso wenig wie Händler Restate, möchte ich wetten. Ich werde ihn nicht hier allein lassen, Grag. Das kann ich nicht.« »Denkt nach, Althea! Das war keine impulsive Boshaftigkeit. Jemand hat das sorgfältig geplant. Das Schwein wurde hergebracht, bevor jemand zum Konzil gesprochen hat. Es ist eine sehr ernste Drohung.« Er zog an ihrem Arm. Sie drehte sich zu ihm um. »Genau deshalb kann ich Davad nicht allein lassen! Grag, er ist ein alter Mann und hat keine Familie mehr. Wenn seine Freunde ihn auch noch verlassen, ist er allein.« »Vielleicht verdient er es ja, allein zu sein!« Grag antwortete leise. Er betrachtete die Traube von Zuschauern, die sich um die Kutsche bildete. Offenbar wollte er nur fort von der Kutsche. »Wie könnt Ihr akzeptieren, wie er denkt, Althea? Wie könnt Ihr zulassen, dass er Eure Familie mit hineinzieht?« »Ich akzeptiere nicht, wie er denkt. Ich akzeptiere, wer er ist. Er ist ein verblendeter alter Narr, aber er war wie ein Onkel für mich, solange ich mich erinnern kann. Was er auch immer getan hat, das hat er nicht verdient.« Sie blickte an Grag vorbei und sah, wie Davad sich der Kut-
sche näherte. Händler Daw ging neben ihm und hatte sich untergehakt. Sie schienen sich gegenseitig zu gratulieren. Daw sah das Schwein zuerst. Sein Mund klappte auf, und einen Moment später ließ er Davads Arm los. Er ließ ihn ohne ein weiteres Wort stehen. Althea hoffte klammheimlich, dass in seiner Kutsche ebenfalls ein geschlachtetes Schwein wartete. »Was soll das? Ich verstehe das nicht! Warum? Wer hat das getan? Wo ist mein Fahrer? Ist der Feigling einfach weggelaufen? Seht Euch das Leder an, es ist vollkommen ruiniert!« Davad wedelte mit den Armen wie ein erschrecktes Küken. Er trat näher an die Kutsche heran, warf einen Blick auf das Schwein und trat dann wieder zurück. Verwirrt musterte er die Menschenmenge, die sich versammelt hatte. In der letzten Reihe lachte jemand schallend. Die anderen starrten einfach nur. Niemand verlieh seinem Entsetzen oder Ekel Ausdruck. Sie beobachteten ihn und warteten darauf, was er unternehmen würde. Altheas Blick glitt über die Gesichter. Sie kamen ihr wie Fremde vor, noch fremder als die Neuen Händler aus Jamaillia. Sie kannte Bingtown nicht mehr. »Bitte, Grag!«, flüsterte sie. »Ich bleibe bei ihm und bringe ihn nach Hause. Würdet Ihr meine Mutter, meine Schwester und meine Nichte nach Hause bringen? Ich glaube, wir sollten Malta dem hier nicht aussetzen!« »Ich glaube, Ihr solltet Euch dem ebenfalls nicht aussetzen!«, erwiderte Grag schneidend, aber er war zu gut erzogen, um sich zu weigern. Althea hatte keine Ahnung, was er zu ihrer Mutter und Keffria sagte, aber sie gingen schweigend mit. Malta schien erleichtert, dass sie in einer vornehmeren Kutsche wegfahren konnten. Nachdem sie gegangen waren, packte Althea Davads Arm. »Beruhigt Euch«, sagte sie leise zu ihm. »Lasst Euch nicht anmerken, dass Ihr erschüttert seid.« Ungeachtet des Blutes riss sie die Tür der Kutsche auf. Der Kadaver des Schweins hing
immer noch im Fenster. Es war ein räudiges Schwein. Ganz offensichtlich hatte niemand wertvolles Vieh für diese Aktion opfern wollen. Als es starb, hatte sein Schließmuskel nachgegeben. Der Gestank von Schweinekot drang aus der Kutsche. Althea rief sich ins Gedächtnis, dass Blut ihr nicht so fremd war. Sie hatte zu viel Gemetzel auf den Öden-Inseln erlebt, um sich von einem bisschen Schweineblut erschrecken zu lassen. Sie packte die Hinterläufe des Tieres, zog es mit einem kurzen Ruck aus dem Fenster und ließ es auf die Straße fallen. Dann blickte sie Davad an, der sie mit weit aufgerissenen Augen anglotzte. Blut und Kot hatten die Vorderseite ihrer Robe beschmutzt. Sie achtete nicht darauf. »Könnt Ihr auf den Kutschbock klettern?«, fragte sie. Er schüttelte benommen den Kopf. »Dann müsst Ihr drinnen fahren. Der andere Sitz ist beinahe sauber. Nehmt mein Taschentuch. Es ist parfümiert.« Davad sagte kein Wort. Er nahm das Taschentuch und kletterte schwerfällig in die Kutsche, wobei er die ganze Zeit Entsetzenslaute ausstieß. Er war kaum drinnen, als Althea auch schon die Tür hinter ihm zuschlug. Sie achtete nicht auf die Gaffer. Stattdessen ging sie nach vorn zu den Pferden, redete beruhigend mit ihnen und kletterte dann auf den Kutschbock. Sie hatte seit Jahren nicht mehr kutschiert und schon gar nicht mit einem Gespann, das sie nicht kannte. Sie löste die Bremse und schüttelte hoffnungsvoll die Zügel. Die Pferde fielen in einen unsicheren Schritt. »Vom Seemann zum Kutscher. Das ist das richtige Mädchen für Grag! Denkt nur an das viele Geld, das er sparen kann!«, schrie jemand in der Menge. Jemand anders lachte anerkennend. Althea sah geradeaus und hob das Kinn. Sie ermunterte die Pferde mit einem Schlag der Zügel, und sie fielen gehorsam in einen Trott. Hoffentlich kannten sie ihren Heimweg auch, wenn es dunkel war. Ob sie selbst ihn noch kannte, wusste sie nicht mehr zu sagen.
19
Nachspiel »Ihr seid zu Hause, Davad. Kommt heraus.« Die Tür der Kutsche klemmte, aber Davad versuchte gar nicht, sie zu öffnen. In der Dunkelheit konnte Althea sein blasses Gesicht erkennen. Er kauerte in der Ecke der Sitzbank und hatte die Augen fest geschlossen. Sie stützte einen Fuß gegen die Karosse und riss die Tür auf. Dabei wäre sie beinahe hintenübergestürzt. Ihrer Robe jedenfalls hätte das nicht mehr geschadet. Sie stank nach Schweineblut, Kot und ihrem Schweiß. Die Heimfahrt war nervenzermürbend gewesen. Den ganzen Weg über hatte sie befürchtet, entweder die Kutsche in den Graben zu steuern oder von Davads Feinden ergriffen zu werden. Jetzt hatten sie zwar endlich seine Haustür erreicht, aber weder Verwalter noch Stallbursche kamen heraus, um ihren Herrn zu begrüßen. Einige Lichter brannten in den Fenstern seines Hauses, aber nach der »Begrüßung«, die man dem Hausherrn bereitete, hätte das Haus auch verlassen sein können. Eine einzelne Laterne brannte am Torpfosten. »Wie heißt Euer Stallbursche?«, wollte Althea wütend wissen. Davad starrte sie an. »Ich… ich weiß es nicht. Ich spreche niemals mit ihm.« »Sehr schön.« Sie warf den Kopf zurück und benutzte ihre Erster-Maat-Stimme: »Junge! Komm raus, und kümmere dich um die Pferde. Hausverwalter! Dein Herr ist zu Hause!« Jemand hob einen Vorhang und spähte hinaus. Sie hörte Schritte im Haus, und dann sah sie eine Bewegung in dem schattigen Hof. Sie drehte sich um. »Komm her und versorge die Pferde.« Die schlanke Gestalt zögerte. »Sofort!«, bellte sie ihn an.
Der Junge, der ins Licht trat, zählte kaum mehr als elf Jahre. Er trat bis zu den Pferdeköpfen und blieb dann unsicher stehen. Althea stöhnte wütend. »Ach, Davad, wenn Ihr es nicht lernt, mit Euren Dienstboten fertig zu werden, solltet Ihr Euch einen Verwalter suchen, der es kann.« Ihr Vorrat an Taktgefühl war erschöpft. »Vermutlich habt Ihr Recht«, stimmte ihr Davad demütig zu. Er kletterte aus der Kutsche. Althea starrte ihn an. Auf der Fahrt von der Halle zu seinem Heim war Davad Restate zu einem alten Mann geworden. Sein Gesicht war eingefallen, und von der Anmaßung, die ihn immer ausgezeichnet hatte, war nichts mehr übrig geblieben. Es war ihm nicht ganz gelungen, dem Blut und dem Kot zu entgehen. Seine Kleidung war verschmiert. Angewidert und bestürzt hielt er die Hände vor sich hin. Sie sah in seinen Augen, wie verletzt er war und dass er sie um Verzeihung bat. Langsam schüttelte er den Kopf. »Ich verstehe das nicht. Wer würde mir so etwas antun? Und warum?« Althea war zu müde, um diese Frage so ausführlich zu beantworten, wie es nötig gewesen wäre. »Geht hinein, Davad, nehmt ein Bad und geht ins Bett. Morgen früh könnt Ihr immer noch darüber nachdenken.« Absurderweise hatte sie plötzlich das Gefühl, als müsste sie ihn wie ein Kind behandeln. Er wirkte so verletzlich. »Ich danke Euch«, sagte er ruhig. »Ihr habt eine Menge von Eurem Vater in Euch, Althea. Wir haben nicht immer dieselbe Meinung gehabt, aber ich habe ihn immer bewundert. Er hat niemals seine Zeit damit verschwendet, Schuldzuweisungen zu verteilen. Wie Ihr ist er einfach aufgestanden und hat das Problem gelöst.« Er hielt inne. »Ich sollte Euch von einem Dienstboten nach Hause begleiten lassen. Wartet, ich lasse Euch ein Pferd herrichten und einen Mann kommen, der Euch begleitet.« Er klang, als wüsste er nicht, ob er dazu in der Lage wäre. Eine Frau öffnete die Tür. Sie spähte hinaus, sagte aber nichts. Althea riss der Geduldsfaden. »Schickt einen Lakaien
hinaus, der Eurem Herrn ins Haus hilft. Bereitet ihm ein heißes Bad, und legt saubere Kleidung heraus. Sorgt dafür, dass heißer Tee und eine einfache Mahlzeit auf ihn warten. Nichts Würziges oder Fettiges. Und zwar sofort!« Die Frau schoss ins Haus zurück und ließ die Tür einen Spalt offen. Althea hörte, wie sie mit schriller Stimme die Befehle weitergab. »Und jetzt klingt Ihr auch noch so wie Eure Mutter. Ihr habt so viel für mich getan. Nicht nur heute, sondern schon seit Jahren. Ihr und Eure Familie. Wie kann ich Euch das jemals vergelten?« Es war entschieden der falsche Moment, eine solche Frage zu stellen. Der Stallbursche war gekommen. Die Lampe enthüllte die spinnenartige Tätowierung neben seiner Nase. Die zerlumpte Tunika war kaum länger als ein Hemd. Er duckte sich unter Altheas strengem Blick. »Sagt ihm, dass er kein Sklave mehr ist.« Ihre Stimme klang tonlos. »Ich soll… Wie bitte?« Davad schüttelte den Kopf, als glaubte er, er habe sie nicht ganz richtig verstanden. Althea räusperte sich. Es fiel ihr plötzlich sehr schwer, weiter Mitleid mit dem kleinen, alten, dicken Mann zu haben. »Dieser Junge ist kein Sklave mehr. Gebt ihm seine Freiheit wieder. So könntet Ihr es mir zurückzahlen.« »Aber ich… Das ist doch nicht Euer Ernst. Wisst Ihr, wie viel ein gesunder Junge wie der hier wert ist? Blaue Augen und helles Haar sind in Chalced bei Hausdienern besonders beliebt. Wenn ich ihn ein Jahr behalte und ihn ein bisschen als Kammerdiener ausbilde… Wisst Ihr, wie viel er dann wert ist?« Sie sah ihn an. »Sicher viel mehr, als Ihr für ihn bezahlt habt, Davad. Und viel mehr, als Ihr für ihn bekommen würdet.« Grausam fügte sie hinzu: »Wie viel war Euch eigentlich Euer Sohn wert? War er nicht auch blond?« Er erbleichte und wich stolpernd zurück. Er hielt sich an der
Kutsche fest und riss im nächsten Augenblick seine blutverschmierte Hand weg. »Warum sagt Ihr so etwas zu mir?«, jammerte er. »Warum wenden sich alle gegen mich?« »Davad…« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ihr habt Euch gegen uns gewendet, Davad Restate. Öffnet Eure Augen. Denkt an das, was Ihr da tut. Recht und Unrecht kann man nicht in Profit und Verlust aufrechnen. Einige Dinge sind einfach zu schlecht, um damit Geschäfte zu machen. Im Augenblick verdient Ihr vielleicht gut an dem Konflikt zwischen Alten und Neuen Händlern. Aber dieser Konflikt wird nicht endlos weitergehen. Und wenn er endet, ist es auch für Euch aus. Die eine Seite wird Euch als einen Mitläufer ansehen, die andere als Verräter. Und wer wird dann noch Euer Freund sein?« Davad rührte sich nicht und starrte sie an. Sie fragte sich, warum sie ihre Worte vergeudet hatte. Er würde sie nicht beachten. Er war ein alter Mann, dem es schwer fiel dazuzulernen. Ein Lakai kam heraus. Er kaute noch, und von seinem Kinn tropfte Fett. Er wollte den Arm seines Herrn ergreifen, zuckte dann jedoch mit einem Schrei zurück. »Ihr seid schmutzig!«, schrie er angewidert. »Du bist faul«, fauchte Althea ihn an. »Hilf deinem Herrn ins Haus, und kümmere dich um ihn, statt dir in seiner Abwesenheit den Wanst vollzuschlagen! Und zwar ein bisschen plötzlich!« Der Lakai reagierte instinktiv auf ihren Befehlston. Vorsichtig reichte er seinem Herrn den Arm, und ebenso langsam nahm Davad ihn. Er ging ein paar Schritte und blieb dann stehen. »Nehmt ein Pferd aus meinem Stall, und reitet heim«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Soll ich Euch einen Mann mitgeben?« »Nein, danke. Ich brauche keinen.« Sie wollte nichts mehr von ihm. Er nickte. Dann sagte er noch etwas, aber es war zu leise, als dass sie es hätte verstehen können.
»Wie bitte?« Er räusperte sich. »Und nehmt den Jungen mit. Stallbursche: Geh mit der Dame.« Er holte tief Luft und stieß die nächsten Worte feierlich hervor: »Du bist frei.« Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging Davad ins Haus. Sie hatte eine Miniatur von ihm. Sie hatte ihn kurz nach ihrer Hochzeit gebeten, dafür zu sitzen. Er hatte gesagt, dass es eine närrische Idee wäre, aber sie war nun mal seine Frau, und also gab er nach. Er war nicht besonders erfreut darüber gewesen, sitzen zu müssen. Und Pappas war ein zu ehrlicher Künstler, um Kyle Haven mit geduldigen Augen zu malen oder die steile Falte des Unmuts zwischen seinen Brauen zu kaschieren. Als Keffria jetzt also Kyles Porträt ansah, blickte er ihr so entgegen, wie er immer dreingeschaut hatte. Gereizt und ungeduldig. Sie versuchte, die Schichten der Kränkungen in ihrem Herzen zu durchstoßen, um noch so etwas wie Liebe für ihn zu entdecken. Er war ihr Ehemann, der Vater ihrer Kinder. Er war der einzige Mann, den sie jemals gehabt hatte. Trotzdem konnte sie nicht aufrichtig behaupten, dass sie ihn liebte. Eigenartig. Sie vermisste ihn und sehnte sich nach seiner Rückkehr. Und zwar nicht nur deshalb, weil seine Rückkehr auch die Rückkehr ihres Sohnes und des Familienschiffes verhieß. Sie wollte Kyle um seinetwillen. Manchmal war es wichtiger, jemand Starken zu haben, auf den man sich verlassen konnte, als jemanden, den man liebte. Trotzdem musste sie die Angelegenheiten zwischen sich und ihm klären. In den Monaten, die er jetzt schon unterwegs war, hatte sie entdeckt, dass sie ihm einige Worte zu sagen hatte. Sie würde ihn zwingen, sie zu respektieren, so wie sie auch gelernt hatte, Respekt von ihrer Mutter und ihrer Schwester zu fordern. Sie wollte nicht, dass er aus ihrem Leben verschwand, bevor sie ihm diesen Respekt abgerungen hatte. Wenn sie ihn nicht bekam, dann würde sie sich immer fragen, ob sie diesen Respekt überhaupt verdient hatte. Sie schloss die kleine Dose mit der Miniatur und stellte sie in
das Regal zurück. Sie sehnte sich danach, schlafen zu gehen, würde es aber erst tun, wenn Althea sicher zu Hause war. Keffria hatte festgestellt, dass ihre Gefühle für ihre Schwester denen ähnelten, die sie für Kyle empfand. Jedes Mal, wenn sie glaubte, Althea und sie hätten so etwas wie schwesterliche Nähe aufgebaut, zeigte Althea, dass es ihr nur um sich selbst ging. Heute bei der Versammlung hatte sie deutlich klargemacht, dass es ihr um das Schiff ging, nicht um Kyle oder um Wintrow. Sie wollte das Schiff wieder in Bingtown haben, damit sie Keffria das Besitzrecht streitig machen konnte. Das war alles. Sie verließ ihr Schlafzimmer und wanderte wie ein Gespenst im Haus umher. Selden schlief fest, als sie in sein Zimmer spähte, ungeachtet all der Probleme, die seine Familie hatte. An Maltas Tür klopfte sie zunächst leise. Aber niemand antwortete. Malta schlief ebenfalls tief und fest, wie ein Kind. Sie hatte sich bei der Versammlung so gut benommen. Auf der Heimfahrt hatte sie keine Bemerkungen über den Aufruhr gemacht, sondern beiläufig mit Grag Tenira geplaudert. Das Mädchen wurde erwachsen. Keffria ging die Treppe hinunter. Sie wusste, dass ihre Mutter im Arbeitszimmer ihres Vaters sein würde. Ronica Vestrit würde ebenfalls erst schlafen, nachdem Althea zurückgekommen war. Und wenn sie schon aufbleiben mussten, dann konnten sie das auch zusammen tun. Als sie durch den Flur ging, hörte sie leise Schritte auf der Veranda. Das musste Althea sein. Keffria runzelte verärgert die Stirn, als sie klopfte. Warum ging sie nicht einfach zu der unverschlossenen Küchentür? »Ich mache schon auf«, rief sie ihrer Mutter zu und öffnete die große Haustür. Brashen Trell und diese Perlenmacherin standen auf der Veranda. Er trug dieselbe Kleidung wie letztes Mal. Und seine Augen waren blutunterlaufen. Die Perlenmacherin wirkte sehr gefasst. Ihre Miene war freundlich, aber sie schien sich nicht
für die späte Stunde entschuldigen zu wollen. Keffria starrte sie beide an. Das verletzte alle Grenzen der Höflichkeit. Es war schon rüde genug von Brashen, dass er so spät kam, und das ohne Vorankündigung, aber er hatte auch noch diese Fremde mitgebracht. »Ja?«, fragte sie kurz angebunden. Ihre Zurückhaltung schien ihn nicht sonderlich zu beeindrucken. »Ich muss mit Euch allen sprechen«, verkündete er ohne Einleitung. »Über was?« Er sprach schnell. »Darüber, wie wir Euer Schiff und Euren Ehemann wiederbekommen können. Amber und ich haben einen Plan.« Als er mit einem Nicken auf seine Gefährtin deutete, bemerkte Keffria den Schweiß auf seinem Gesicht. Die Luft war mild und angenehm. Sein fieberndes Gesicht und sein Benehmen waren beunruhigend. »Keffria? Ist Althea nach Hause gekommen?«, rief ihre Mutter aus dem Flur. »Nein, Mutter. Es sind Brashen Trell und, ehm, Amber, die Perlenmacherin.« Ihre Mutter trat sofort aus der Tür des Arbeitszimmers. Wie Keffria trug sie ihr Nachthemd und einen Morgenmantel. Sie hatte ihr Haar gelöst. Die langen grauen Strähnen umrahmten ihr Gesicht und ließen sie alt und ausgemergelt aussehen. Selbst Brashen wirkte verlegen. »Ich weiß, dass es spät ist«, entschuldigte er sich hastig. »Aber… Amber und ich haben einen Plan entworfen, der uns allen helfen könnte. Und zwar gewaltig.« Der Blick seiner dunklen Augen erwiderte ungerührt den von Keffria. »Ich glaube, dass wir so die einzige Chance haben, Euren Ehemann, Euren Sohn und Euer Schiff sicher nach Hause zu bringen.« »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Ihr jemals besonders viel Herzlichkeit oder Respekt für meinen Ehemann aufgebracht hättet«, erwiderte Keffria steif. Wäre Brashen Trell allein gewesen, wäre sie vielleicht freundlicher zu ihm gewe-
sen. Aber seine merkwürdige Gefährtin ging Keffria gegen den Strich. Sie hatte zu viele seltsame Geschichten über sie gehört. Sie wusste nicht, was die beiden vorhatten, aber sie bezweifelte, dass es jemandem außer ihnen nutzen würde. »Herzlichkeit nein, Respekt schon. Auf seine Art war Kyle Haven ein fähiger Kapitän. Er war nur einfach nicht Ephron Vestrit.« Er betrachtete ihre abweisende Haltung und ihren kalten Blick. »Heute hat Althea bei der Versammlung um Hilfe gebeten. Deshalb bin ich hier. Ich will ihr Hilfe anbieten. Ist sie zu Hause?« Seine Unverfrorenheit war entsetzlich. »Vielleicht könnt Ihr zu einer passenderen Zeit…«, begann Keffria, aber ihre Mutter schnitt ihr das Wort ab. »Lass sie herein, und führe sie ins Arbeitszimmer. Keffria, wir können uns den Luxus nicht mehr leisten, bei der Auswahl unserer Verbündeten heikel zu sein. Heute Abend bin ich bereit, mir jedermanns Pläne anzuhören, mit denen er unsere Familie wieder vereinen will. Ganz gleich, wie spät es ist.« »Wie du willst, Mutter«, sagte Keffria steif. Sie trat zur Seite und ließ die beiden eintreten. Die Fremde wagte tatsächlich, ihr einen mitfühlenden Blick zuzuwerfen. Die Frau roch sogar merkwürdig, als sie an Keffria vorbeiging, ganz zu schweigen von ihren merkwürdigen Farben. Keffria hatte keine Probleme mit den meisten Fremden. Viele von ihnen waren charmant und faszinierend. Aber diese Perlenmacherin bereitete ihr Unbehagen. Vielleicht lag es daran, wie diese Frau sich Gleichberechtigung anmaßte, ganz gleich, in welcher Gesellschaft sie sich befand. Als Keffria ihnen zögernd ins Arbeitszimmer folgte, versuchte sie, nicht an die widerlichen Gerüchte über diese Frau und Althea zu denken. Ihre Mutter jedoch schien ihre Bedenken nicht zu teilen. Obwohl sie und Keffria beide bereits im Nachthemd waren, hieß sie die beiden willkommen. Sie klingelte sogar nach Rache und bat sie, den Besuchern Tee zu bringen. »Althea ist noch nicht zu Hause«, erklärte Ronica, bevor Brashen fragen konnte. »Ich
habe auf sie gewartet.« Er wirkte besorgt. »Das war ein übler Streich, den man Händler Restate gespielt hat. Ich habe mich gefragt, ob ihn zu Hause wohl noch Schlimmeres erwartet.« Er stand abrupt auf. »Vermutlich habt Ihr es noch nicht gehört. In Bingtown war es heute Nacht ziemlich unruhig. Ich werde Althea am besten suchen gehen. Könnt Ihr mir ein Pferd besorgen?« »Nur mein altes…«, begann Ronica, aber im gleichen Moment ertönte Lärm an der Tür. Brashen trat in den Flur und schaute so hastig zum Eingang, dass seine Sorge deutlich wurde. »Es sind Althea und ein Junge«, erklärte er und ging ihnen entgegen, als wäre das hier sein eigenes Heim. Keffria sah kurz ihre Mutter an. Obwohl Ronica nur milde verwirrt schien, empfand Keffria immer mehr Ärger über sein Verhalten. Irgendetwas stimmte bei diesem Mann ganz und gar nicht. Sie wollte die Hand des Jungen nehmen und ihn zur Tür führen, aber er wich vor ihrer Berührung zurück. Der arme Kerl. Wie schlecht musste er behandelt worden sein, wenn er schon die bloße Berührung einer Hand fürchtete? Sie schloss die Tür auf und winkte ihn hinein. »Es ist schon gut. Niemand wird dir etwas tun. Komm herein.« Sie redete langsam und beruhigend. Ob er sie überhaupt verstand? Er hatte kein Wort gesagt, seit sie Davad Restates Heim verlassen hatten. Es war ein langer Spaziergang im Dunkeln gewesen, und sie hatte nur finstere Gedanken gehabt, die sie ablenkten. Heute Abend war sie fürchterlich gescheitert. Sie hatte einfach so vor der Konzilversammlung gesprochen und vermutlich die überstürzte Vertagung noch beschleunigt. Das Konzil hatte nicht einmal formell zugestimmt, ihre Sorgen anzuhören. Sie war dazu gezwungen gewesen, sich mit dem auseinander zu setzen, was aus Davad Restate geworden war. Sie fürchtete, dass noch mehr Händler so tief gesunken waren. Und ihr vorlautes Mundwerk hatte sie mit einem Jungen geschlagen, für den sie nicht sorgen konnte.
Das alles hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Sie wollte nichts lieber als ein Bad und dann schlafen gehen, aber vermutlich musste sie erst den Jungen versorgen. Wenigstens konnte jetzt nicht mehr viel schief gehen. Dann dachte sie daran, dass sie Keffria und ihrer Mutter gegenübertreten und für all das geradestehen musste, was sie beim Konzil gesagt hatte. Ihre Stimmung sank unter den Gefrierpunkt. Der Junge war zwar die Treppe heraufgekommen, machte aber keine Anstalten, das Haus zu betreten. Althea öffnete die Tür und trat ein. »Komm ruhig herein«, forderte sie ihn auf. »Sa sei Dank, es geht Euch gut!« Bei dem Klang der tiefen männlichen Stimme zuckte sie zusammen und wirbelte herum. Brashen stürzte sich auf sie. Seine Miene verriet seine Erleichterung, doch im nächsten Moment runzelte er die Stirn. Und noch einen Augenblick später schalt er sie, als wäre sie ein unfähiger Matrose. »Ihr habt verdammt viel Glück gehabt, dass man Euch nicht überfallen hat. Als ich gehört habe, dass Ihr Restates Kutsche weggefahren habt, konnte ich es kaum fassen. Warum gebt Ihr Euch mit solch einem Arsch ab, wenn die Stimmung derartig aufgeheizt ist, dass… Oh. Wer ist das denn?« Er blieb einen halben Schritt vor ihr stehen, und seine Miene veränderte sich ein drittes Mal. Er hielt sich die Nase zu. »Bin ich nich!«, meldete sich der Junge neben ihr beleidigt. Ein starker Dialekt der Sechs Herzogtümer machte seine Worte beinahe unverständlich. »Sie isses. Sie is voll Scheiße, issie.« Als Althea ihm einen wütenden Blick zuwarf, zuckte er entschuldigend mit den Schultern. »Stimmt doch. Ihr brauchtn Bad!«, fügte er leise hinzu. Das war der entscheidende Schlag. Mehr konnte sie nicht ertragen. Sie übertrug ihre Wut auf Brashen. »Warum seid Ihr hier?«, wollte sie wissen. Die Worte kamen weit barscher aus ihrem Mund, als sie vorgehabt hatte. Brashen musterte von Kopf bis Fuß ihre schmutzige Robe,
bevor er ihr wieder ins Gesicht blickte. »Ich habe mir Sorgen um Euch gemacht. Wie üblich scheint Ihr Eure Eskapaden einigermaßen unbeschadet überstanden zu haben. Aber lassen wir das. Ich bin hier, weil ich etwas sehr Wichtiges mit Euch zu besprechen habe. Es betrifft die Suche nach der Viviace. Amber und ich haben einen Plan. Ihr haltet ihn wahrscheinlich für albern und mögt ihn sicher nicht, aber ich glaube, dass er funktionieren kann.« Er redete schnell, als wollte er sie zu einem Widerspruch provozieren. »Wenn Ihr zuhört und ein bisschen darüber nachdenkt, werdet Ihr sehen, dass es wirklich der einzige Weg ist, sie zu retten.« Er sah sie wieder an. »Aber das kann warten. Der Junge hat Recht. Der Geruch ist ziemlich schlimm.« Er lächelte ein bisschen. Seine Worte waren einfach denen zu ähnlich, die er ihr beim Abschied in Candletown hinterhergeworfen hatte. Verspottete er sie, weil er sie ausgerechnet hier und jetzt daran erinnern wollte? Wie konnte er es wagen, so vertraulich mit ihr zu reden, und das auch noch in ihren eigenen vier Wänden? Sie sah ihn finster an. Er wollte etwas sagen, aber der Junge kam ihm zuvor. »Nix stinkt schlimmer als Schweinescheiße«, meinte er fröhlich. »Passt auf, dass sie Euch damit nich vollschmiert!«, warnte er Brashen. »Das ist mehr als unwahrscheinlich«, erklärte sie kalt. Sie sah Brashen an. »Ihr findet sicher selbst hinaus.« Sie ging an ihm vorbei, und er starrte ihr hinterher. Dem Jungen konnte sie vergeben; er war nur ein Kind an einem fremden Ort. Trell jedoch hatte für sein schlechtes Benehmen keine Entschuldigung. Ihr Tag war zu anstrengend gewesen, als dass sie sich jetzt auch noch Frechheiten von ihm angehört hätte. Sie war erschöpft, müde und, Sa steh ihr bei, hungrig. Aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters drangen Licht und Stimmen. Sie musste sich auch noch ihrer Mutter und Keffria stellen. Als sie die Tür des Arbeitszimmers erreichte, hatte sie sich wieder einigermaßen beruhigt. Sie trat in den angenehmen
Raum, wohl wissend, dass der Gestank von Schweinekot ihr vorauseilte. »Ich bin zu Hause und in Sicherheit. Ich habe einen kleinen Jungen mitgebracht. Davad hat ihn als Stallburschen benutzt… Mutter, ich weiß, dass wir keine weitere Belastung ertragen können, aber er hat eine Sklaventätowierung, und ich konnte ihn einfach nicht dalassen.« Keffrias erstarrte Miene verriet ihr Entsetzen über diese eklatante Verletzung der Etikette. Althea unterbrach ihre Erklärung, als sie Ambers ansichtig wurde. Sie war auch hier? Der Sklavenjunge stand in der Tür und starrte fassungslos in den Raum. Sein Blick schoss von einer Person zur anderen. Er sagte kein Wort. Als Althea versuchte, ihn am Arm in das Zimmer zu zerren, riss er sich los. Sie lachte gekünstelt. »Ich glaube, es liegt an dem Blut und dem Kot. Er wollte nicht mit mir auf einem Pferd reiten, deshalb habe ich so lange gebraucht. Als ich ihn nicht dazu bringen konnte, hinter mir aufzusteigen, habe ich das Pferd stehen lassen und bin zu Fuß gekommen.« Althea sah sich Hilfe suchend um. Keffria schaute an ihr vorbei. Althea blickte über die Schulter zurück. Brashen Trell stand hinter ihr, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wirkte halsstarrig. Er erwiderte ihren Blick ausdruckslos und verzog keine Miene. »Komm herein, Junge. Niemand wird dir etwas tun. Wie heißt du?« Ronica klang müde, aber freundlich. Der Junge blieb, wo er war. Althea beschloss zu fliehen, wenigstens fürs Erste. »Ich gehe hoch, bade und ziehe mich um. Es wird nicht lange dauern.« »Es dauert auch nicht lange, Euch unsere Idee vorzutragen«, konterte Brashen drängend. Ihre Blicke kreuzten sich. Sie weigerte sich wegzusehen. Er stank nach Rauch und Cindin. Was bildete er sich eigentlich ein? Sie würde sich von ihm in ihrem Elternhaus nicht herumkommandieren lassen. »Leider bin ich zu müde, um mir noch Geschichten von Euch anzuhören, Brashen Trell.« Ihre Stimme
überschritt die dünne Linie zwischen korrekt und kalt, als sie hinzufügte: »Ich glaube, für ein Gespräch ist es viel zu spät.« Sie presste die Lippen zusammen. Einen Augenblick wirkte er von ihrem Angriff beinahe verletzt. Rache kam ins Zimmer. Sie trug ein Tablett mit einem großen Teetopf und Tassen. Auf einem Teller lagen Gewürzkuchen, gerade genug, um der Höflichkeit zu genügen. Der Junge rührte sich nicht von der Stelle, aber er hob den Kopf und schnüffelte wie ein Hund. »Althea.« Der Tonfall ihrer Mutter war eher erinnernd als tadelnd. »Ich zumindest bin an dem interessiert, was Brashen uns vorzuschlagen hat. Ich glaube, wir müssen in unserer Lage jede mögliche Lösung in Betracht ziehen. Wenn du so müde bist, werden wir dich natürlich entschuldigen. Aber mir wäre es lieber, wenn du zurückkommen würdest.« Der Blick ihrer Mutter glitt zu dem Dienstmädchen. »Rache, wenn es dir nichts ausmacht, bring bitte noch ein paar Tassen. Und etwas Kräftigeres als Gewürzkuchen für den Jungen, bitte.« Ronicas Stimme klang so gemessen und beherrscht, als wäre das eine alltägliche Situation. Die Höflichkeit ihrer Mutter rührte an Altheas Gewissen. Immerhin war es das Haus ihres Vaters. Sie gab nach. »Wenn du willst, Mutter. Entschuldige mich kurz, es dauert nicht lange.« Keffria bediente ihre merkwürdigen Gäste. Sie versuchte, höfliche Konversation zu betreiben, aber ihre Mutter starrte nur in den kalten Kamin, während Brashen unruhig auf und ab ging. Amber saß mit gekreuzten Beinen auf dem Boden, nicht weit von dem Jungen entfernt. Sie ignorierte Keffrias Versuche einer unverbindlichen Plauderei. Stattdessen lockte sie den Sklavenjungen mit Kuchenstücken, als wäre er ein scheues Kätzchen. Schließlich riss er ihr eins aus der Hand. Amber schien ihr eigenes Verhalten kein bisschen merkwürdig oder verrückt zu finden. Sie lächelte stolz, als der Junge das Kuchenstück in den Mund stopfte. »Siehst du«, sagte sie leise. »Die Leute hier
sind nett. Du bist jetzt in Sicherheit.« Althea hielt Wort. Rache war kaum mit einigen zusätzlichen Tassen zurückgekommen, mit mehr Tee und einem Teller warmem Essen für den Jungen, als sie schon wieder herunterkam. Sie muss sich mit kaltem Wasser gewaschen haben, wenn sie so schnell ist, dachte Keffria. Althea trug ein einfaches Hauskleid. Sie hatte ihr nasses Haar hochgesteckt. Das kalte Wasser hatte ihre Wangen gerötet, und sie sah gleichzeitig müde und frisch aus. Ohne weitere Umstände nahm sie sich Tee und ein Stück Kuchen. Sie warf Amber einen Seitenblick zu und setzte sich dann neben sie auf den Boden. Der Junge saß an ihrer anderen Seite. Er war vollkommen in sein Essen vertieft. Sie richtete die ersten Worte an Amber: »Brashen sagt, ihr hättet einen Plan, wie wir die Viviace retten könnten. Er hat auch gesagt, dass es mir nicht gefallen, ich aber bald einsehen würde, dass es die einzige Chance wäre. Wie lautet er?« Amber sah kurz zu Brashen hinüber. »Danke, dass Ihr sie so gut vorbereitet habt«, meinte sie sarkastisch. Sie zuckte langsam mit den Schultern und seufzte. »Es ist spät. Also werde ich mich kurz fassen, damit Ihr anschließend in Ruhe darüber nachdenken könnt.« Die Frau stand auf. Es sah aus, als würde sie an einem Faden hochgezogen. Sie trat mitten ins Zimmer und sah alle an, ob sie auch ihre ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. Sie lächelte den Jungen an, der sein Essen herunterschlang. Er nahm nichts anderes wahr als den nächsten Bissen. Amber verbeugte sich kurz. Sie erinnerte Keffria unwillkürlich an eine Schauspielerin auf der Bühne. »Ich schlage Folgendes vor: Um ein Lebensschiff wiederzubeschaffen, benutzen wir ein anderes Lebensschiff.« Sie sah einen nach dem anderen an. »Den Paragon, um präzise zu sein. Wir kaufen, mieten oder stehlen ihn, setzen eine Mannschaft unter Brashens Kommando an Bord und segeln hinter der Viviace her.« Sie wartete einen Moment und sagte dann in das schockierte Schweigen hinein: »Solltet Ihr ein bestimmtes Mo-
tiv dahinter vermuten, dann versichere ich Euch, dass es zur Hälfte der Versuch ist, den Paragon davor zu bewahren, zu Bauholz verarbeitet zu werden. Ich glaube, Euer guter Freund Davad Restate wird als Werkzeug benutzt, um die Ludlucks dazu zu bringen, sich gegen einen guten Preis von ihrem Schiff zu trennen. Anscheinend hat er ihnen für die wahnsinnigen Angebote der Neuen Händler die Ohren geöffnet. Vielleicht ist er ja auch bereit, diese Gelegenheit zu nutzen, um seine Würde bei den Alten Händlern wiederherzustellen. Und möglicherweise ist das nach den heutigen Vorfällen noch wahrscheinlicher. Ich bin bereit, alles, was ich besitze, als Teilzahlung für dieses Schiff aufzubringen. Also? Was sagt Ihr?« »Nein.« Altheas Ton war sachlich. »Warum nicht?«, wollte Malta wissen. Sie trat vom Flur in den Raum. Sie trug einen Morgenmantel aus dicker blauer Wolle über ihrem weißen Nachthemd. Ihre Wangen waren noch gerötet vom Schlaf. Sie sah sich um. »Ich hatte einen Alptraum. Als ich aufwachte, habe ich Eure Stimmen gehört. Ich bin heruntergekommen, um nachzusehen, was los ist«, erklärte sie beiläufig. »Ich habe gehört, wie Ihr sagtet, dass wir ein Schiff losschicken könnten, um Papa zu suchen. Mama, Großmutter, warum sollte Althea uns das verbieten können? Mir scheint der Plan durchaus vernünftig. Warum sollten wir Papa nicht selbst retten?« Althea zählte die Gründe an den Fingern ab. »Paragon ist verrückt. Er hat schon vorher ganze Mannschaften getötet und könnte das wieder tun. Der Paragon ist ein Lebensschiff, das nicht von jemandem gesegelt werden sollte, der nicht aus seiner Familie stammt. Ich glaube kaum, dass wir das nötige Geld besitzen, um den Paragon zu kaufen und zu reparieren. Außerdem, warum sollte Brashen Kapitän sein? Warum nicht ich?« Brashen lachte verächtlich. Seine Stimme klang merkwürdig. »Da habt Ihr ihren eigentlichen Einwand«, stellte er fest, zog ein Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß von der
Stirn. Niemand sonst lachte. Sein Verhalten hatte etwas Fieberhaftes, was auch Althea auffiel. Sie sah Amber stirnrunzelnd an, aber die Frau würdigte sie keines Blickes. Keffria fand, dass jetzt sie an der Reihe war. »Entschuldigt, wenn ich skeptisch klinge. Ich verstehe nicht, warum einer von Euch sich an dieser Sache beteiligen sollte. Warum sollte ein Fremder sein ganzes Geld in ein verrücktes Lebensschiff investieren? Und was nutzt es Brashen Trell, sein Leben für einen Mann zu riskieren, der seine Kompetenz unbefriedigend fand? Wir könnten alles, was von dem Vestrit-Vermögen noch übrig ist, einsetzen, nur um alles zu verlieren, wenn Ihr niemals wiederkehren würdet.« Brashens Augen funkelten. »Ich bin vielleicht enterbt, aber ich bin nicht ehrlos.« Er hielt inne und schüttelte den Kopf. »Ein offenes Wort wird uns heute Abend sicherlich am meisten nutzen. Keffria Vestrit, Ihr fürchtet, ich könnte den Paragon nehmen und einfach zum Piraten werden. Das könnte ich. Ich will es nicht abstreiten. Aber ich werde es nicht tun. Auch wenn Althea und ich uns anscheinend nicht einig sind, sie wird wohl immer noch für meine Integrität bürgen. Euer Vater jedenfalls würde es tun.« »Und was mich angeht«, fuhr Amber schnell fort, »ich habe Euch bereits gesagt, dass ich verhindern möchte, dass der Paragon auseinander genommen wird. Wir sind Freunde. Außerdem bin ich eine Freundin Eurer Schwester Althea. Zudem habe ich das Gefühl, dass ich es tun muss. Ich kann es Euch nicht besser erklären. Leider müsst Ihr mein Angebot für bare Münze nehmen. Ich kann Euch keine Sicherheiten bieten.« Schweigen folgte ihren Worten. Brashen verschränkte langsam die Arme vor der Brust und runzelte die Stirn. Er starrte Althea herausfordernd an und versuchte erst gar nicht, höflich zu sein. Althea weigerte sich, den Blick zu erwidern. Sie sah stattdessen auf ihre Mutter. Malta dagegen blickte von einem Erwachsenen zum anderen.
»Ich komme morgen Abend wieder«, sagte Brashen plötzlich. Er wartete, bis Althea ihn anschaute. »Denkt darüber nach, Althea. Ich habe die Stimmung der Händler mitbekommen, als sie heute Abend den Saal verlassen haben. Ihr dürftet wohl kaum andere Hilfsangebote bekommen, ganz zu schweigen von besseren.« Er machte eine kleine Pause und milderte seinen Ton eine Nuance, als er nur für sie weitersprach. »Falls Ihr mich vorher sprechen wollt, hinterlasst in Ambers Geschäft eine Nachricht. Sie weiß, wo sie mich findet.« »Lebt Ihr auf dem Paragon?« Altheas Stimme klang heiser. »Des Nachts. Manchmal.« Brashens Stimme klang unverbindlich. »Und wie viel Cindin habt Ihr heute benutzt?«, wollte sie plötzlich wissen. Ihre Frage hatte einen grausamen Unterton. »Gar keins«, erwiderte Brashen gelassen und lächelte bitter. »Das ist das Problem.« Dann sah er Amber an. »Ich sollte wohl besser gehen.« »Ich muss noch ein bisschen bleiben.« Amber klang beinahe entschuldigend. »Wie es Euch gefällt. Dann guten Abend.« Brashen verbeugte sich. »Wartet!«, rief Malta schrill. »Bitte, meine ich. Bitte, wartet!« Keffria hatte ihre Tochter noch nie so ängstlich erlebt. »Darf ich ein paar Fragen stellen? Über den Paragon?« Brashen konzentrierte sich auf sie. »Wenn Ihr mich um Erlaubnis fragt, sicherlich.« Malta sah sich einmal flehentlich im Raum um. »Wenn er geht, damit wir darüber nachdenken sollen, dann… Es ist, wie du es mir immer gesagt hast, Großmutter. Mit Zahlen kann man nicht rechten. Und wir können auch keine Entscheidungen ohne sie treffen. Also brauchen wir erst einmal Zahlen, wenn wir darüber nachdenken wollen.« Ronica Vestrit schien zwischen Schreck und Zustimmung hin und her gerissen zu sein. »Das ist richtig.«
Malta holte tief Luft. »Also. Tante Althea scheint zu glauben, dass der Paragon viele Reparaturen benötigt, bevor er wieder in See stechen kann. Aber ich habe immer gehört, dass Hexenholz nicht verrottet. Glaubt Ihr, dass er überholt werden muss?« Brashen nickte. »Sicherlich nicht so gründlich wie ein Schiff aus normalem Holz, aber es ist einiges zu machen. Der Paragon ist ein altes Schiff. Bei seinem Bau hat man weit mehr Hexenholz benutzt als bei den späteren Zauberschiffen. Die Teile an ihm, die aus Hexenholz bestehen, sind noch in Ordnung. Vieles von dem anderen Holz ist noch in einem verblüffend guten Zustand. Das liegt wahrscheinlich daran, dass Hexenholz die Holzwürmer und andere Schädlinge so abschreckt wie Zedernholz die Motten. Aber trotzdem muss eine ganze Menge Ausrüstung beschafft werden. Neue Masten, neue Segel, neue Taue. Anker, Ankerketten, ein Schiffsboot, eine Ausrüstung für die Küche, Zimmererwerkzeug, eine Medizinkiste… All diese Dinge, die ein Schiff an Bord haben muss, damit es seine eigene kleine Welt wird. Einige seiner Ritzen sollten neu kalfatert werden. Und viel von seinem Messing muss erneuert werden. Amber hat vieles von der Innenausstattung erneuert, aber es ist noch einiges zu tun. Außerdem werden noch weitere Kosten entstehen, wenn das Schiff mit Nahrungsmitteln für die Reise ausgestattet wird. Wir brauchen einen geheimen Vorrat an Geld oder Gütern, falls wir ein Lösegeld für das Schiff und die Männer zahlen müssen. Außerdem brauchen wir auch Waffen, falls Kapitän Kennit sich weigert zu verhandeln. Und wenn wir uns irgendwelche Maschinen auf Deck leisten können, müssen sie installiert werden. Und wir brauchen auch vorweg Geld, um die Matrosen für diese Reise anzuwerben.« Althea fand endlich ihre Sprache wieder. »Glaubt Ihr wirklich, dass Ihr irgendwelche anständigen Seeleute findet, die an Bord des Paragon anheuern würden? Ich glaube, Ihr vergesst
seinen Ruf als Mörder. Und wenn Ihr nicht mehr als die Höchstlöhne zahlt, warum sollte dann ein guter Matrose auf einem solchen Schiff auslaufen?« Keffria spürte, dass Althea versuchte, ihre Stimme unbeteiligt klingen zu lassen. Aber sie vermutete, dass ihr Interesse geweckt war, obwohl sie die Idee abgelehnt hatte. »Das ist ein Problem«, räumte Brashen gelassen ein. Er zog das Taschentuch heraus und wischte sich erneut das Gesicht ab. Seine Hände zitterten leicht, als er es umständlich wieder zusammenfaltete. »Es wird vielleicht einige Leute geben, die einfach nur deshalb anheuern, weil es tollkühn ist. Es gibt immer Seeleute mit mehr Mut als Hirn. Ich werde bei den alten Matrosen der Viviace anfangen und die Leute Eures Vaters fragen, die Kyle entlassen hat. Einige von ihnen kommen vielleicht wegen des Schiffes mit, andere wegen des Andenkens an Euren Vater. Der Rest…« Er zuckte mit den Schultern. »Wir würden mit schwierigen Typen zu tun haben. Viel hängt davon ab, wen wir als Ersten Maat bekommen. Ein guter Maat kann eine funktionierende Mannschaft aus dem Nichts zaubern, wenn er freie Hand bekommt.« »Was hält sie davon ab, sich gegen Euch zu wenden, wenn…« »Zahlen!«, unterbrach Malta sie gereizt. »Es hat keinen Sinn, sich über ›Wenns‹ den Kopf zu zerbrechen, bis wir wissen, ob es überhaupt möglich ist.« Sie trat an den Schreibtisch ihres Großvaters. »Wenn ich Euch Papier und Tinte gebe, könnt Ihr dann aufschreiben, was es kosten würde?« »Ich bin kein Experte«, meinte Brashen. »Einige Dinge müssten von Fachleuten gemacht werden, und…« »Vorausgesetzt, Ihr fändet einen Schiffsbauer, der bereit wäre, am Paragon zu arbeiten«, warf Althea sarkastisch ein. »Er hat einen üblen Ruf. Und angenommen, die Ludlucks gäben ihre Einwilligung…« Malta umkrampfte das Papier, das sie vom Schreibtisch ge-
holt hatte. Keffria glaubte schon, sie würde es zusammenballen und zu Boden werfen. Stattdessen schloss das Mädchen einen Moment die Augen und atmete ein. »Gut, das alles vorausgesetzt. Wie viel kostet es? Und können wir das Geld irgendwoher besorgen? Bis wir diese Fragen geklärt haben, brauchen wir keine anderen zu stellen.« »Wir können genauso gut von einem dieser Faktoren aus dem Rennen geworfen werden wie von dem, zu wenig Geld zu haben.« »Ich sage nur«, erwiderte Malta mühsam kontrolliert, »dass wir alle Faktoren in der Reihenfolge bedenken sollten, in der sie unseren Plan zunichte machen könnten. Wenn wir kein Geld haben, um Matrosen anzuheuern, dann brauchen wir uns auch keine Gedanken darüber zu machen, wer für uns segelt.« Althea starrte das Mädchen an. Keffria fühlte, wie sich ihre Muskeln anspannten. Althea konnte sehr bissig sein. Wenn sie Malta jetzt verhöhnte, wo das Mädchen so sehr versuchte, sachlich zu bleiben, dann würde Keffria ihren Zorn nicht mehr beherrschen können. »Du hast Recht«, sagte Althea plötzlich. Sie sah ihre Mutter an. »Haben wir noch Reserven? Irgendetwas, das keine Ausgaben verursacht, etwas, das wir verkaufen können?« »Es gibt noch einige Dinge«, erwiderte Ronica ruhig. Sie drehte gedankenverloren den Ring an ihrem Finger. »Was wir nicht vergessen dürfen, ist, dass bald eine Abzahlung auf das Lebensschiff fällig ist, ob wir es nun besitzen oder nicht. Die Khuprus-Familie wird erwarten, dass…« »Darüber brauchen wir nicht nachzudenken«, meinte Malta ruhig. »Ich werde Reyns Antrag annehmen. Ich werde einen Termin für unsere Hochzeit festsetzen, unter der Bedingung, dass mein Vater zu Hause ist und daran teilnehmen kann. Ich glaube, dass wir damit einen Aufschub von der Tilgung erlangen und vielleicht sogar finanzielle Hilfe, um den Paragon zu überholen.«
Ihren Worten folgte tiefes Schweigen. Auf Keffria wirkte dieses Schweigen fast körperlich. Es war nicht einfach nur ruhig. Es war ein Moment des Erkennens. Sie betrachtete ihre Tochter und sah plötzlich jemand anderen. Das verwöhnte und eigensinnige Mädchen, das vor nichts zurückschreckte, um ihren Willen durchzusetzen, war plötzlich eine junge Frau geworden, die alles opferte, sogar sich selbst, um ihren Vater zu retten. Dieser unerschütterliche Wille war beeindruckend. Keffria musste sich zusammenreißen, um ihr nicht zu sagen, dass Kyle das alles nicht wert war. Er würde niemals verstehen, dass seine Tochter nicht nur ein mutiges Wort gesagt, sondern ihr ganzes Leben für ihn geopfert hatte. Niemand ist es wert, dass jemand für ihn sein ganzes Leben in Unterwürfigkeit verbringt. Sie blickte auf den Sklavenjungen, der sie schweigend beobachtete, dachte jedoch über ihre eigene Ehe nach. Sie lächelte bitter. Eine Frau hatte sich bereits für Kyle Haven geopfert. »Malta, triff bitte eine solche Entscheidung nicht unter diesen Umständen.« Die Kraft in ihrer Stimme überraschte sie. »Ich will nicht abstreiten, dass du diese Entscheidung zu treffen hast. Und dass du sie treffen willst, beweist zur Genüge, dass du eine Frau bist. Ich bitte dich nur, diese Entscheidung aufzuschieben, bis alle anderen Möglichkeiten ausgelotet sind.« »Welche anderen Möglichkeiten?«, fragte Malta hoffnungslos. »Während all unserer Schwierigkeiten hat uns keiner jemals geholfen. Wer sollte uns denn ausgerechnet jetzt helfen?« »Vielleicht die Tenira-Familie«, meinte Althea ruhig. »Ein paar andere Lebensschiff-Eigner könnten vielleicht ebenfalls vortreten und…« »Sie werden eine Weile mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sein«, mischte sich Brashen ein. »Es tut mir Leid. Ich habe heute Abend Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren. Ich habe vergessen, dass Ihr wahrscheinlich gar nicht wisst, was passiert ist. Heute Abend gab es einen Aufstand am Zollkai. Tenira und einige andere sind gewaltsam dort eingedrungen.
Sie haben die Ophelia mitten in den Hafen gebracht. Eine ganze Flotte von kleinen Booten ist hinausgefahren und hat sie entladen. Die Fracht ist über ganz Bingtown verstreut. Tenira hat sie lieber verschenkt, als Zölle dafür zu bezahlen. Aber das konnte die Chalcedaner nicht davon abhalten, sich einzumischen.« »Meine Güte, ist jemand verletzt worden?«, wollte Ronica wissen. Brashen grinste bösartig. »Der Hafenmeister von Bingtown hat sich mächtig wegen zweier gesunkener Galeeren aufgeregt. Unglücklicherweise sind sie in der Nähe des Zollkais untergegangen. Dort wird eine Weile kein großes Schiff mehr anlegen können. Sa allein weiß, wann sie eine Möglichkeit finden, sie zu heben…« »Sie sind verbrannt«, fügte Amber hinzu. Sie klang traurig und gleichzeitig zufrieden. »Ein Teil des Zollkais hat ebenfalls Feuer gefangen«, fügte sie beiläufig hinzu. »Als wir gingen, brannten noch einige Lagerhäuser des Satrapen.« »Ihr werdet zugeben, dass es gute Gründe gab, sich heute Nacht um Eure Sicherheit Sorgen zu machen.« Brashens Tonfall provozierte Althea. »Ihr wart da?« Althea sah von Brashen zu Amber. »All diese Feuer… Das sind zu viele, als dass es sich um einen Zufall handeln könnte. Das habt ihr vorher geplant, stimmt's? Warum habt ihr mir nichts davon gesagt?« »Ophelia und ich sind sehr gute Freundinnen geworden«, erwiderte Amber ausweichend. »Warum hat man mir nichts gesagt?« »Vielleicht war es nicht der richtige Ort für eine Händlertochter.« Brashen zuckte mit den Schultern und fuhr bissiger fort: »Vielleicht seid Ihr Grag ja auch so wichtig, dass er nicht wollte, dass Ihr ebenfalls verhaftet werdet.« »Grag ist verhaftet worden?« »Nur kurz. Sie haben die chalcedanischen Wachen gefunden,
die ihn festhalten sollten, aber Grag selbst war verschwunden.« Er lächelte kurz. »Aber es geht ihm gut, habe ich gehört. Ich bin sicher, dass Ihr bald von ihm hört. Er wird seine Liebste nicht so lange im Unklaren lassen.« »Woher weißt du so viel? Wieso warst du da?« Althea achtete nicht mehr auf ihre Anrede. Sie war rot angelaufen vor Zorn. Keffria wusste nicht, warum sie sich darüber derart aufregte. Wäre sie lieber mitten in einer Rebellion gewesen, statt Davad nach Hause zu fahren? »Als ich sah, wie sich eine Gruppe von ungehaltenen Händlern bildete, die die Versammlung früher verließen, bin ich ihnen gefolgt. Als ich ihre Absichten erkannte, habe ich mich zu ihnen gesellt. Wie viele andere unterwegs auch.« Er hielt inne. »Später habe ich gehört, was man mit Davad Restates Kutsche gemacht hatte. Und was ihm viele wünschten. Wenn ich da gewesen wäre, hätte ich nicht zugelassen, dass Ihr diese Kutsche allein fahrt. Was Tenira sich dabei gedacht hat, werde ich nicht…« »Ich habe dir schon früher gesagt, dass du nicht auf mich aufpassen musst!« Althea war plötzlich unglaublich wütend. »Ich brauche überhaupt keine Hilfe.« Brashen verschränkte die Arme vor der Brust. Jetzt wurde er ebenfalls wütend. »Oh, sicher, das ist ganz offensichtlich. Ich bin nur ein bisschen verwirrt, weil du bei der Händlerversammlung aufgestanden bist und um Hilfe gebeten hast, die du jetzt zurückweist.« »Von dir nehme ich jedenfalls bestimmt keine Hilfe an!«, fuhr Althea ihn giftig an. »Aber ich.« Keffria empfand beinahe Genugtuung, als sie das erschreckte Gesicht ihrer Schwester sah. Sie erwiderte gelassen Altheas finsteren Blick. »Du scheinst vergessen zu haben, dass ich die Händlerin in unserer Familie bin, nicht du. Ich bin nicht so stolz, die einzige Hilfe abzuschlagen, die man uns vielleicht anbietet.« Keffria sah Brashen an. »Was brauchen wir, um da-
mit anzufangen, Brashen Trell? Wo fangen wir überhaupt an?« Brashen deutete mit dem Kopf auf Malta. »Die Kleine hat Recht. Wir brauchen zunächst einmal Geld.« Er nickte Ronica zu. »Und die Frau des Kapitäns muss Davad Restate unter Druck setzen, damit er den Ludlucks dieses Angebot schmackhaft macht. Andere Zauberschiff-Eigner, die ihre Zustimmung dazu geben, wären ebenfalls hilfreich. Vielleicht könnte Althea ihren Liebsten dazu bringen, ebenfalls sein Wort in die Waagschale zu werfen. Ich kenne einige Zauberschiffe und werde mit ihnen persönlich reden. Ihr wärt überrascht zu erfahren, wie viel Druck Lebensschiffe auf ihre Eigner ausüben können.« Er holte tief Luft und rieb sich die Schläfen. Dann steckte er das Taschentuch weg. »Althea hat Recht. Es wird ein Problem sein, eine Mannschaft zusammenzubekommen. Ich fange sofort damit an und mache in den Tavernen bekannt, dass ich eine Mannschaft aus mutigen Männern zusammenstellen will. Diejenigen, die kommen, werden erwarten, dass es um Piraterie geht. Vielleicht machen sie wieder kehrt, wenn wir den Namen Paragon erwähnen, aber…« »Ich komm mit! Ich segle mit Euch!« Der Junge errötete ein bisschen, als alle ihn ansahen, aber er senkte vor Brashen nicht den Blick. Sein Teller sah so sauber aus, als hätte er ihn gewaschen. Nach dem Essen schien der Junge seine Kraft und seine Lebensgeister wiedergefunden zu haben. »Das ist ein mutiges Angebot, mein Junge, aber du bist noch ein bisschen klein.« Brashens Stimme klang gegen seinen Willen ein wenig belustigt. Der Junge wirkte beleidigt. »Ich hab mit meinem Vater gefischt, bevor die Sklavenhändler gekommen sin. Ich find mich aufm Deck zurecht.« Er zuckte mit den Schultern. »Mach ich lieber als Pferdemist schaufeln. Pferde tun stinken.« »Du bist jetzt frei. Du kannst überall hingehen. Möchtest du nicht lieber zu deiner Familie zurückkehren?«, fragte ihn Kef-
fria sanft. Plötzlich wurde er ganz ruhig. Einen Moment schien es, als hätte sie ihn wieder zum Schweigen gebracht. Dann zuckte er mit den Schultern. Seine Stimme klang härter und weniger jungenhaft, als er sagte: »Da gibt's nur noch Asche und Knochen. Würd lieber wieder zur See fahrn. Is doch mein Leben, nich? Bin doch frei, oder?« Er sah sich trotzig um, als erwarte er, dass jemand es widerrufe. »Du bist frei«, versicherte ihm Althea. »Dann geh ich mit ihm.« Er deutete mit dem Kopf auf Brashen, der langsam den Kopf schüttelte. »Das ist eine gute Idee«, meinte Malta plötzlich. »Wir können uns eine Mannschaft kaufen. Ich habe schon einige tätowierte Seeleute in Bingtown gesehen. Warum können wir uns nicht einfach einige Seeleute kaufen?« »Weil Sklaverei falsch ist«, antwortete Amber trocken. »Andererseits kenne ich einige Sklaven, die vielleicht die Strafe riskieren würden, die auf Flucht steht, und der Mannschaft beiträten. Sie sind auf den Piraten-Inseln entführt worden und wären vielleicht bereit, bei einem riskanten Abenteuer mitzumachen, wenn man ihnen anschließend die Möglichkeit gibt, nach Hause zurückzukehren. Einige kennen vielleicht sogar die Gewässer.« »Können wir denn Sklavenseeleuten trauen?«, wollte Keffria wissen. »Auf dem Schiff sind es ja keine Sklaven mehr«, meinte Brashen nachdrücklich. »Wenn ich die Wahl hätte zwischen einem fähigen Flüchtling und einem heruntergekommenen Trunkenbold, würde ich den Flüchtling anheuern. Ein bisschen Dankbarkeit von einem Mann, der eine zweite Chance im Leben bekommt, kann lange andauern.« Er wirkte nachdenklich, als er das sagte. »Wer soll die Mannschaft anheuern?«, fragte Althea. »Wenn wir das riskieren, will ich die endgültige Entscheidung über
meine Mannschaft haben.« »Althea, du willst doch wohl nicht mit ihnen segeln?«, protestierte Keffria. »Natürlich will ich das. Wenn wir die Viviace suchen, muss ich selbstverständlich an Bord sein!« Althea starrte ihre Schwester an, als hätte diese den Verstand verloren. »Aber das ist vollkommen ungehörig!« Keffria war entsetzt. »Der Paragon ist ein unberechenbares Schiff mit einer bunt gemischten Mannschaft, das in gefährliche Gewässer segelt, vielleicht sogar in einen Kampf. Du kannst nicht mitsegeln! Was sollen die Leute von den Vestrits denken, wenn wir dir erlauben, auf einem solchen Schiff mitzusegeln?« Altheas Augen wurden hart. »Ich mache mir mehr Sorgen darüber, was die Leute denken, wenn wir zulassen, dass andere hohe Risiken eingehen, um unser Familienschiff zurückzuholen. Wie können wir behaupten, dass es ein lebenswichtiges Unternehmen ist, und unsere Freunde um Hilfe bitten, aber dann sagen, dass es nicht so viel wert ist, dass einer aus der Familie ein Risiko eingeht?« »Ich glaube, sie sollte mitsegeln.« Nach dieser erstaunlichen Bemerkung starrten einige Brashen verdutzt an. Er redete mit Keffria und stellte damit klar, dass es letztlich ihre Entscheidung war. »Wenn Ihr nicht deutlich macht, dass es ein VestritUnternehmen ist, werdet Ihr keine Hilfe von einem anderen Händler bekommen. Dann sehen sie es so, dass man ein Zauberschiff einem Nichtsnutz anvertraut, einem enterbten Händlersohn und einer Fremden. Und falls wir die Viviace finden, wird sie Althea brauchen. Und zwar dringend.« Er sah sie zurückhaltend an, als er weitersprach. »Aber sie sollte nicht als Kapitän segeln, nicht einmal als Erster Maat oder auch nur als Mannschaftsmitglied. Es wird eine raue Mannschaft sein, eine, die am Anfang vor allem durch die Faust und durch Muskeln im Zaum gehalten wird. Die Männer, auf die wir zurückgreifen müssen, akzeptieren niemanden, der sie nicht auf das Deck
werfen kann, wenn es nötig ist. Dafür seid Ihr nicht geeignet. Und wenn Ihr mit ihnen zusammenarbeitet, dann werden sie Euch auch nicht respektieren. Sie werden Eure Fähigkeiten bei jeder Gelegenheit auf die Probe stellen. Und früher oder später würdet Ihr verletzt werden.« Althea sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Ich brauche Euch nicht als Aufpasser, Brashen Trell. Schon vergessen? Ich habe meine Fähigkeiten unter Beweis gestellt, und sie beruhen nicht auf körperlicher Kraft. Mein Vater hat immer gesagt, dass nur ein armseliger Kapitän seine Mannschaft mit Schlägen im Zaum halten muss.« »Vielleicht hatte er ja das Gefühl, das wäre eher die Aufgabe des Ersten Maats!«, konterte Brashen scharf. Er beherrschte sich, als er weitersprach. »Euer Vater war ein vorzüglicher Kapitän auf einem wundervollen Schiff, Althea. Er hätte Niedrigstlöhne zahlen können und trotzdem gute Männer gehabt, die gern gearbeitet hätten. Wir haben diese Möglichkeit leider nicht.« Brashen gähnte plötzlich und wirkte verlegen. »Ich bin müde«, erklärte er. »Ich muss etwas schlafen, bevor wir weitermachen. Ich glaube, jetzt wissen wir wenigstens, was für Schwierigkeiten uns erwarten.« »Es gibt noch ein Problem, das wir bisher noch gar nicht erwähnt haben«, meinte Amber. Alle sahen sie an. »Wir können nicht davon ausgehen, dass Paragon gutwillig mitmacht. Er hat selbst viele Ängste. In gewisser Weise ist er ein verängstigter Junge. Gefährlich ist leider, dass er sich genauso oft wie ein aufgebrachter Mann benimmt. Wenn wir das machen, dann halte ich es für unabdingbar, dass er freiwillig mitmacht. Wenn wir versuchen, ihn zu zwingen, dann haben wir keine Aussicht auf Erfolg.« »Glaubt Ihr, dass es schwer wird, ihn zu überreden?«, wollte Ronica wissen. Amber zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Paragon ist vollkommen unberechenbar. Selbst wenn er zunächst
zustimmt, ändert er seine Meinung vielleicht einen Tag oder eine Woche später. Wir müssen das bei diesem Unternehmen in Rechnung stellen.« »Dieses Problem lösen wir, wenn es sich uns stellt. Zunächst müssen wir Davad Restate dazu bringen, die Ludlucks zu überreden, unserem Plan zuzustimmen.« »Dafür kann ich sorgen«, sagte Ronica. Ihre Stimme klang wie blanker, kalter Stahl. Einen Moment empfand Keffria Mitleid für Davad. »Ich glaube, ich werde die Antwort darauf noch vor morgen Nachmittag haben.« Brashen seufzte. »Dann sind wir uns einig. Ich komme morgen Nachmittag wieder. Gute Nacht, Ronica und Keffria, Malta. Gute Nacht… Althea.« Seine Stimme veränderte sich unmerklich, als er sich von ihr verabschiedete. »Gute Nacht, Brashen.« Altheas Tonfall klang ganz ähnlich. Amber verabschiedete sich ebenfalls. Als Althea sie zur Tür brachte, stand der Sklavenjunge gerade so wie sie auf. Keffria war einen Moment über das impulsive Verhalten ihrer Schwester verärgert. »Vergiss nicht, dass du einen Schlafplatz für den Jungen finden musst«, sagte sie. Der Junge schüttelte den Kopf. »Nich hier. Ich geh mit ihm.« Er deutete auf Brashen. »Nein.« Brashen gab dem Wort einen endgültigen Klang. »Ich bin doch frei, oder?«, erwiderte der Junge hartnäckig. Er legte den Kopf schief und starrte Brashen an. »Könnt mich nich aufhalten!« »Darauf würde ich nicht wetten«, drohte ihm Brashen. Freundlicher fuhr er fort: »Junge, ich kann nicht für dich sorgen. Ich habe kein Zuhause, und bin ganz allein.« »Ich auch«, meinte der Junge ruhig. »Ich glaube, Ihr solltet ihn mit Euch gehen lassen, Brashen«, schlug Amber vor. Ihre Miene war nachdenklich. Sie verzog den Mund, als sie fortfuhr: »Es ist vielleicht kein gutes Omen, wenn Ihr den ersten Freiwilligen für Eure Mannschaft ab-
weist.« »Recht hat se«, versicherte ihm der Junge keck. »Ihr respektiert ja auch keinen, der sich nix traut. Traut Euch, mich zu nehmen. Werdet's nich bereuen tun.« Brashen kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Aber als er den Raum verließ und der Junge ihm folgte, machte er keine Anstalten, ihn zu verscheuchen. Amber ging lächelnd hinter ihnen her. »Glaubt ihr, dass sie Papa zurückbringen können?«, fragte Malta leise, als die anderen das Zimmer verlassen hatten. Während Keffria noch überlegte, wie sie darauf antworten sollte, meinte Ronica: »Unser Geld schmilzt wie Schnee in der Sonne, Liebes. Es ist sinnlos, dieses Risiko nicht einzugehen. Wenn sie Erfolg haben, retten sie vielleicht die Familie. Wenn sie scheitern, gehen wir ein bisschen schneller unter. Das ist alles.« Keffria fand es grausam, das einem Kind zu sagen, aber zu ihrer Überraschung nickte Malta langsam. »Dasselbe habe ich auch gedacht«, bemerkte sie. Es war das erste Mal seit einem Jahr, dass sie vollkommen höflich mit ihrer Großmutter geredet hatte.
20
Piraterie Als die Beute in Sicht kam, verschwanden all ihre Bedenken wie der Frühnebel unter den Strahlen der Morgensonne. Wintrows Seelenforschung, alle seine Bedenken und seine konstruierte Moral fielen von ihr ab wie die künstliche Farbe von einer erweckten Galionsfigur aus Hexenholz. Sie hörte den Schrei des Ausgucks, als die Segel in Sicht kamen, und etwas Uraltes regte sich in ihr: Jagdzeit. Als die Piraten auf ihren Decks in den wilden Ruf des Ausgucks einstimmten, stieß auch sie einen Schrei aus. Er klang wie das wilde Kreischen eines jagenden Falken. Erst sah sie nur das Segel und dann auch das Schiff, das vor der Marietta floh. Sorcors kleineres Boot hetzte die Beute, als die Viviace, die sich hinter einem Kap verborgen hatte, herauspreschte und sich an der Jagd beteiligte. Ihre Mannschaft segelte sie, wie sie noch nie gesegelt worden war, setzte Leinwand, bis ihre Masten und Sparren sich im Wind bogen. Das Segeltuch blähte sich weit, und das Wehen des Windes um ihre Wangen rührte Erinnerungen in ihr auf, die nicht von menschlichem Leben stammten. Sie hob die Hände und machte sich mit gekrümmten Fingern auf die Jagd nach dem fliehenden Schiff. Ein wildes Pochen erfüllte ihren herzlosen, blutlosen Körper und beschleunigte sie bis zum Wahnsinn. Sie beugte sich vor und schoss mit einer Geschwindigkeit durch die Wellen, die ihrer Mannschaft Jubelschreie entlockte. Die Gischt schäumte nur so, als sie die Wellen durchschnitt. »Seht Ihr?«, schrie Kennit triumphierend auf, während er sich an ihrer Bugreling festklammerte. »Es liegt Euch im Blut, Mylady! Ich wusste es! Dafür seid Ihr geschaffen, nicht dafür, in aller Gemütsruhe Fracht hin und her zu schaukeln, wie eine
Marktfrau einen Eimer Wasser trägt. Hinterher! Ah, sie sehen Euch! Sie sehen Euch! Schaut nur, wie sie sich bemühen! Aber es wird ihnen nichts nützen!« Wintrow grub seine Finger in die Reling neben Kennit. Der scharfe Wind trieb ihm die Tränen in die Augen. Er gab keinen Laut von sich. Er hatte die Kiefer fest zusammengepresst und behielt seine Gefühle für sich. Aber sein heftig hämmerndes Herz verriet ihn. Sein Blut sang bei dieser wilden Verfolgung. Sein ganzer Körper zitterte vor Erwartung auf die Kaperung. Vielleicht konnte er seine Begeisterung vor sich selbst leugnen, aber er konnte sie nicht vor ihr verbergen. Kennit und Sorcor hatten ihre Beute nicht willkürlich ausgewählt. Gerüchte über die Brummbär waren Sorcor schon vor Wochen zu Ohren gekommen. Und da sein Kapitän sich schnell erholte, hatte er Kennit die Neuigkeiten mitgeteilt. Kapitän Avery von der Brummbär hatte damit geprahlt, dass kein Pirat, ganz gleich wie wagemutig er auch wäre, ihn vom Sklavenhandel abbringen könnte. Und das hatte er nicht nur in Jamaillia-Stadt, sondern auch in vielen kleineren Häfen verkündet. Es ist eine dumme Prahlerei, sagte Kennit der Viviace. Averys Ruf war allgemein bekannt. Er transportierte immer nur die feinste Ladung, gebildete Sklaven, die als Lehrer, Hausdiener und Verwalter taugten. Er transportierte auch nur das Beste von Jamaillias kultivierten Waren: feine Brandys und Weihrauch, Parfüms und aufwendige Silberarbeiten. Seine Kunden in Chalced erwarteten diese Extravaganz von ihm und zahlten entsprechend gut für seine Güter. Auch wenn dieses Schiff eine gute Beute war, hätte Kennit es normalerweise nicht als Ziel ausgewählt. Warum sollte man ein Schiff angreifen, das sehr schnell, gut bewaffnet und mit äußerst disziplinierten Leuten bemannt war, wenn es doch weit einfachere Beute gab? Aber Avery hatte einmal zu oft den Mund aufgerissen. Solche Unverschämtheiten konnten nicht geduldet werden. Kennit hatte ebenfalls einen Ruf zu verlieren.
Es war dumm von Avery gewesen, ihn herauszufordern. Kennit war mehr als einmal zur Marietta gerudert, um die Kaperung mit Sorcor zu planen. Viviace wusste, dass sie über die besten Stellen für einen derartigen Hinterhalt sprachen, aber viel mehr wusste sie nicht darüber. Auf ihre neugierigen Fragen hatte es stets nur ausweichende Antworten gegeben. Als die beiden Schiffe ihre Beute in die Zange nahmen, dachte Viviace über Wintrows Worte vom letzen Abend nach. Er hatte Kennit unverhohlen verdammt. »Er jagt dieses Schiff wegen des Ruhms, nicht aus Rechtschaffenheit«, hatte er anklagend gesagt. »Andere Sklavenschiffe haben viel mehr Sklaven an Bord, die in großem Elend und Entbehrung leben. Avery, so habe ich jedenfalls gehört, kettet seine Fracht nicht an, sondern lässt sie frei auf Deck herumlaufen. Er verteilt großzügig Brot und Wasser, damit seine Handelsware in guter Verfassung ankommt und beste Preise erzielt. Kennit hat sich Averys Schiff nicht wegen seines Hasses auf die Sklaverei ausgesucht, sondern wegen des Reichtums und des Ruhms.« Sie hatte lange über seine Worte nachgedacht. »So fühlt er aber nicht, wenn er darüber nachdenkt«, antwortete sie dann. Sie hatte das Thema nicht weiterverfolgt, denn sie war sich selbst nicht ganz sicher, was Kennit eigentlich empfand. Sie wusste, dass er einige Abgründe seiner Seele vor ihr verbarg. Also ging sie es anders an. »Ich glaube nicht, dass die Sklaven auf Deck weniger glücklich über ihre Freiheit sind als die, die man in Elend und Not hält. Hältst du denn Sklaverei für akzeptabler, wenn der Sklave wie ein wertvolles Pferd oder ein Hund gehalten wird?« »Natürlich nicht!«, hatte er erwidert, und von da an hatte sie das Gespräch in Bahnen gelenkt, in denen sie sich geschickter bewegen konnte. Erst heute hatte sie endlich für diese emotionale Unterströmung in Kennits Worten, wenn er von der Brummbär sprach, einen Namen gefunden. Es war die Lust an der Jagd. Das klei-
ne Schiff, das so schnell vor ihnen floh, war etwas besonders Schönes und wirkte auf Kennit genauso unwiderstehlich wie ein Schmetterling auf eine Katze. Rein aus pragmatischer Sicht hätte er diese herausfordernde Beute niemals ausgewählt. Aber er konnte auch dem Wettstreit nicht widerstehen, sobald er hineingelockt worden war. Als sich die Entfernung zwischen der Viviace und dem kleinen Zweimaster Brummbär verringerte, verstärkte sich die unruhige Spannung in Wintrow. Er hatte Kennit wiederholt gewarnt, dass kein weiteres Blut auf den Decks der Viviace vergossen werden durfte. Eindringlich hatte er dem Kapitän erklärt, dass dieses Schiff für immer die Erinnerungen an das Gemetzel in sich trug, aber er hatte ihm nicht klarmachen können, wie erschöpfend diese Last war. Wenn Kennit seine Warnungen nicht beachtete und erlaubte, dass man auf ihrem Deck kämpfte oder sogar Gefangene auf ihren Bohlen exekutierte, wusste Wintrow nicht, ob das Schiff damit fertig wurde. Als Wintrow ihn angefleht hatte, mit der Viviace keine Piraterie zu betreiben, hatte Kennit ihm gelangweilt zugehört. Dann hatte er sich nüchtern erkundigt, warum wohl, glaube er, habe Kennit ein Lebensschiff gekapert? Wintrow hatte mit den Schultern gezuckt und geschwiegen. Weiteres Drängen hätte nur dazu geführt, dass Kennit seine Herrschaft über das Schiff und den Jungen bewiesen hätte. Die Mannschaft der Brummbär hing in den Wanten und arbeitete verzweifelt an den Segeln. Wenn die Marietta allein sie verfolgt hätte, wäre die Brummbär vermutlich entkommen. Das Lebensschiff jedoch war nicht nur schneller als der Zweimaster, sondern auch in der Position, sie in der engen Fahrrinne abzudrängen. Einen Moment glaubte Wintrow schon, dass die Brummbär ihnen entwischen und die offene See erreichen könnte. Doch dann hörte Wintrow ein wütendes Kommando und sah, wie das Sklavenschiff Wind aus den Segeln nahm, damit es nicht auf Grund lief. Minuten später hatten die Viviace
und die Marietta sie in der Zange. Fangleinen flogen von der Marietta hinüber und gruben sich in die Decks der Brummbär. Ihre Mannschaft gab den Gedanken an Flucht auf und kümmerte sich um die Verteidigung. Sie waren gut vorbereitet. Feuertöpfe wurden abgeschossen und landeten auf dem Deck und am Rumpf der Marietta. Die Männer legten gelassen und geschickt ihre leichten Rüstungen an und zogen ihre langen Schwerter. Andere Matrosen hatten Bögen über ihre Schultern gehängt und kletterten in die Wanten. Auf der Marietta kümmerten sich einige Piraten um die Verteidigung ihres eigenen Schiffes und erstickten die Flammen mit feuchtem Segeltuch, während andere die Katapulte bedienten. Ein ständiger Regen von Steinen ergoss sich über die Brummbär. In der Zwischenzeit zogen Matrosen das Schiff mit den Leinen immer näher an die Marietta heran. Dort wartete bereits eine blutrünstige Entermannschaft an der Reling. Die Kämpfer an Bord der Marietta waren bei weitem zahlreicher als die an Bord der Brummbär. Auf der Viviace standen die Männer neiderfüllt an der Reling. Sie buhten ihre Piratenbrüder aus oder ermunterten sie mit Ratschlägen. Bogenschützen kletterten in die Takelage der Viviace, und ein Schauer von Pfeilen ergoss sich über die Mannschaft und auf das Deck der Brummbär. Das war zwar alles, was sie zu diesem Kampf beitrugen, aber es war ein höchst tödlicher Beitrag. Die Kämpfer auf der Brummbär wurden so daran erinnert, dass sich noch ein zweiter Feind in ihrem Rücken befand. Und zischende Pfeile durchlöcherten diejenigen, die das vergaßen. Kennit hielt die Viviace am Rand des Geschehens und hatte ihren Bug dem Kampf zugewandt. Er selbst stand auf dem Vordeck und umklammerte mit den Händen die Reling. Er unterhielt sich leise mit ihr, als würde er sie ausbilden. Ab und zu drangen mit einem Windstoß einige Wortfetzen an Wintrows Ohr, aber sie waren eindeutig für Viviace bestimmt. »Da, da siehst du ihn, er ist immer der Erste, der über die Reling auf das feindliche Deck springt, der da, mit dem
roten Halstuch. Das ist Sudge, ein feiner Kerl. Er muss immer der Erste sein. Hinter ihm ist Rog. Der Junge verehrt Sudge, was ihn eines Tages vielleicht das Leben kostet…« Die Galionsfigur nickte bei seinen Worten, während sie die Szene in sich aufsog. Sie hatte die Hände vor ihren Brüsten zu Fäusten geballt und ihre Lippen vor Aufregung geöffnet. Als Wintrow nach ihr tastete, fühlte er ihre verwirrte Begeisterung. Die Gefühle der Männer an Bord, diese Mischung aus Lust, Neid und Aufregung schlug wie eine Flutwelle gegen sie. Ein anderer Gefühlsstrang war Kennits Stolz auf seine Leute. Wie eine Horde Ameisen fielen die bunt gekleideten Piraten über die Decks der Brummbär her und trugen den Kampf auf das ganze Schiff. Der Wind und das offene Wasser zwischen den beiden Schiffen dämpften die Geräusche etwas. Falls Viviace sich bewusst war, dass die Pfeile, die aus ihrer Takelung zischten, menschliches Leben auslöschten, ließ sie es sich nicht anmerken. Aus dieser Entfernung war das Gemetzel ein buntes, bewegtes Spektakel. Ein Mann fiel aus den Wanten der Brummbär. Er schlug gegen ein Rundholz, baumelte kurz daran und stürzte dann auf das Deck hinunter. Wintrow zuckte bei dem Aufprall zusammen, aber Viviace rührte keinen Muskel. Ihre Aufmerksamkeit war auf das Vordeck gerichtet, wo der Kapitän des Schiffes gegen Sorcor kämpfte. Kapitän Averys feines Schwert glitzerte wie eine Silbernadel, als er es gegen den schwerfälligeren Piraten schwang. Sorcor schlug die Waffe mit einem Kurzschwert in seiner Linken beiseite und führte mit dem langen Schwert in seiner Rechten einen eigenen Angriff. Zwischen den beiden tanzte der Tod. Viviaces Augen glänzten hell. Wintrow warf Kennit einen Seitenblick zu. Hier konnte sie aus der Entfernung die ganze Aufregung des Kampfes verfolgen, aber sie war vor dem Entsetzen geschützt. Kein Blut ergoss sich auf ihre Decks, und der Wind verwehte den Rauch und die Schreie der Sterbenden und Verwundeten. Wie ein
Fleck, der sich allmählich ausbreitete, verteilten sich die Piraten langsam über das Deck des gekaperten Schiffes. Viviace sah es alles, blieb aber davon unberührt. Wollte Kennit sie allmählich an die Gewalt gewöhnen? Wintrow räusperte sich. »Da drüben sterben Menschen«, sagte er nachdrücklich. »Leben enden in Schmerz und Furcht.« Viviace sah ihn kurz an und richtete ihren Blick dann wieder auf den Kampf. Es war Kennit, der ihm antwortete. »Sie haben es sich selbst zuzuschreiben«, meinte er. »Sie haben sich freiwillig dafür entschieden und wussten sehr wohl, dass die Möglichkeit bestand, dass sie sterben. Ich spreche nicht nur von meinen eigenen tapferen Männern, die bereit sind, sich in den Kampf zu stürzen. Die Leute an Bord der Brummbär haben damit gerechnet, angegriffen zu werden. Sie haben es geradezu herausgefordert. Sie haben ihre Bereitschaft dazu schon mit ihrer Prahlerei kundgetan. Vergiss nicht, dass sie alle mit Rüstungen, Schwertern und Bogen ausgerüstet waren. Hätten sie solche Dinge an Bord, wenn sie keinen Kampf erwarten würden?« Kennit lachte. »Nein«, beantwortete er die Frage selbst. »Das ist kein Gemetzel, was du da drüben siehst. Es ist ein Kampf um die Vorherrschaft. Man könnte sogar behaupten, dass es die physische Manifestation des ewigen Konflikts zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ist.« »Dort sterben Menschen«, wiederholte Wintrow eigensinnig. Er versuchte, seinen Worten mehr Überzeugungskraft zu verleihen, aber er musste feststellen, dass seine Selbstsicherheit bei den plausiblen Worten des Piraten schwand. »Menschen sterben immer«, stimmte ihm Kennit schnell zu. »Während wir beide hier an Deck stehen, verblassen wir schon, verwelken wie die kurzlebigen Sommerblumen. Viviace wird uns alle überleben, Wintrow. Der Tod ist nicht so schlimm. Sie hat viele Tode in sich aufgenommen, damit sie erwachen konnte, stimmt das nicht? Sieh es doch so, Wintrow: Ist sie mit jedem Tag, der verstreicht, Zeuge unseres Lebens, das vergeht,
oder unseres Todes? Man kann sowohl das eine als auch das andere sagen. Sicher, da drüben herrschen Schmerz und Gewalt. Sie gehören zum Leben aller Kreaturen, und an sich ist das nichts Schlechtes. Die Gewalt einer Flut entwurzelt Bäume am Ufer, aber der nahrhafte Boden und das Wasser, das diese Flut mit sich bringt, entschädigen dafür. Wir sind Kämpfer für das Recht, meine Lady und ich. Wenn wir das Böse hinwegfegen müssen, dann sollten wir es schnell tun, selbst wenn das Schmerz bedeutet.« Seine Stimme war tief und klang wie ferner Donner. Und sie war mitreißend. Irgendwo in dieser lückenlosen Logik steckte der Wurm, das wusste Wintrow. Wenn er ihn bloß finden könnte. Dann könnte er die ganzen Argumente des Mannes entkräften. Er zog sich auf einen Satz zurück, den er einmal in einem Buch gelesen hatte. »Einer der Unterschiede zwischen Gut und Böse ist der, dass das Gute die Existenz des Bösen ertragen kann und trotzdem überlebt. Das Böse jedoch wird vom Guten stets ein für allemal ausgelöscht.« Kennit lächelte herzlich und schüttelte den Kopf. »Wintrow, Wintrow, denk über das nach, was du gerade gesagt hast. Was für ein finsteres Gutes soll das sein, das dem Bösen erlauben kann weiterzumachen? Das Gute, das zum Beispiel von der Sorge um die eigene Bequemlichkeit und Sicherheit hervorgebracht wird und sich schnell vom wahren Guten zu eitler Selbstzufriedenheit wandelt. Sollen wir uns von dem Elend in diesen Frachträumen abwenden und sagen: »Nun, wir sind alle freie Männer hier. Das ist das Beste, was wir machen können, und sie müssen eben selbst sehen, wie sie zurechtkommen? Das hat man dich in deinem Kloster doch sicher nicht gelehrt.« »Das habe ich auch nicht gemeint!«, erwiderte Wintrow gereizt. »Das Gute erträgt das Böse wie ein Stein den Regen. Es toleriert das Böse nicht, sondern…« »Ich glaube, es ist vorbei«, unterbrach ihn Kennit. Leichen wurden über die Seite der Brummbär geworfen. Und keine
Seeschlangen tauchten auf, um sie zu fressen. Das Schiff war schnell und sauber und hatte diese Biester niemals angezogen. Die Flagge der Brummbär wurde eingeholt, und eine rotschwarze Rabenflagge flatterte alsbald im Wind. Die Luken wurden geöffnet, und die Sklaven strömten langsam an Deck. Kennit warf einen Blick über seine Schulter. »Etta, mach die Gig bereit. Ich möchte unseren Fang selbst inspizieren.« Er drehte sich zu Wintrow um. »Hast du Lust mitzukommen, Junge? Es wäre vielleicht interessant für dich, die Dankbarkeit der Leute zu erleben, die wir gerettet haben. Vielleicht ändert das ja deine Einstellung zu dem, was wir tun.« Wintrow schüttelte langsam den Kopf. Kennit lachte. Dann änderte sich sein Tonfall. »Du kommst trotzdem mit, und zwar schnell. Trödel nicht. Ich werde dich auch gegen deinen Willen bilden.« Wintrow vermutete insgeheim, dass die wahre Absicht des Piraten war, ihn nicht mit Viviace allein zu lassen, damit sie nicht über das reden konnten, was sie gerade eben erlebt hatten. Kennit wollte, dass sie über seinen Kommentar zur Kaperung der Brummbär nachdachte. Wintrow biss die Zähne zusammen, aber er gehorchte der Aufforderung des Piraten. Er konnte es ertragen. Doch als Kennit seinen Arm um die Schultern des Jungen schlang, erschrak er. Die Stimme des Kapitäns klang liebenswürdig. »Lerne, vornehm zu verlieren, Wintrow Denn du verlierst nicht wirklich. Du gewinnst, was ich dir beibringen kann.« Kennit grinste, als er ihm versicherte: »Ich habe dir eine Menge beizubringen.« Als sie in dem Boot saßen, das sie zur Brummbär brachte, beugte sich Kennit vor. »Selbst ein Stein wird schließlich vom Regen ausgewaschen, mein Junge«, flüsterte er. »Daran kann man dem Stein keine Schuld geben.« Er klopfte ihm liebenswürdig auf die Schulter und setzte sich dann gerade hin. Er strahlte zufrieden, als er seine Beute über das gleißende Wasser hinweg betrachtete.
Der böige Wind trug Althea die zerrissene Melodie einer Flöte zu, als sie durch die Wälder hinter ihrem Haus eilte und dann die Klippen hinunterkletterte. Sie hatte versprochen, Brashen und Amber gegen Mittag an dem Schiff zu treffen. Sie wollten ihm die Nachrichten gemeinsam überbringen. Ihr Magen kribbelte vor Unruhe, als sie darüber nachdachte, wie Paragon wohl reagieren würde. Die Töne, die an ihr Ohr drangen, waren wohl gar keine richtige Melodie. Es klang eher wie ein Versuch, Musik zu machen. Vermutlich spielte ein Kind am Strand. Doch die tiefen Töne hätten sie eigentlich auf den Anblick vorbereiten müssen, der sie erwartete. Die blinde Galionsfigur spielte auf einer überdimensionalen Schäferflöte. Der selbstvergessene Ausdruck auf Paragons Gesicht verwandelte ihn. Seine Stirn war glatt, und seine Schultern waren nicht mehr so abwehrend zusammengezogen. Er wirkte wie ein völlig anderes Geschöpf, gar nicht wie das unheimliche und misstrauische Schiff, mit dem sie schon so lange befreundet war. Einen Augenblick war sie eifersüchtig, dass es Amber gelungen war, eine solche Veränderung bei ihm zu bewirken. Die übergroße Flöte war offensichtlich Ambers Werk. Althea schüttelte den Kopf, als sie plötzlich diesen Mangel in sich selbst feststellte. In all den Jahren, die sie Paragon jetzt schon kannte, hatte sie niemals daran gedacht, ihm die Art Geschenke zu geben, die Amber ihm machte. Die Perlenmacherin gab ihm Spielzeug und Tand, Dinge, mit denen er seine Hände und seinen Verstand beschäftigen konnte. Althea war schon seit Jahren seine Freundin, aber sie hatte in ihm niemals etwas anderes als ein gescheitertes Lebensschiff gesehen. Sie mochte ihn und betrachtete ihn als eine Person, nicht als ein Ding. Trotzdem hatte sich ihr Bild von ihm niemals verändert. Er war ein Schiff, das das Vertrauen enttäuscht hatte, welches man in es gesetzt hatte, ein unberechenbares Schiff, das nie mehr segeln würde. Amber hatte den Teil in Paragon hervorgekitzelt, der
ein lebhaftes, wenn auch verkümmertes Kind war, und war darauf eingegangen. Und das hatte die Veränderung in Paragon bewirkt. Althea zögerte, bevor sie weiterging. Das Schiff bemerkte sie nicht, während es spielte. Die Galionsfigur war ursprünglich ein bärtiger, rauer Krieger gewesen. Vor Jahren hatte man mit einem Beil oder einer Axt seine Augen herausgeschlagen. Was von seinem Gesicht übrig war, sah trotz des wilden Bartes und des verwegenen Äußeren merkwürdig jungenhaft aus. Althea wollte Paragon gemeinsam mit Brashen und Amber überzeugen, sich erneut der Aufgabe zu stellen, bei der er einst so spektakulär gescheitert war. Sie wollte ihm den sonnigen Tag und das jungenhafte Spielen mit den Pfeifen wegnehmen. Sie würde ihn bitten zu tun, was er am meisten fürchtete. Was würde das bei ihm bewirken? Zum ersten Mal, seit Brashen diesen Plan vorgestellt hatte, fragte sie sich, wie das auf Paragon wirken würde. Dann dachte sie an die Viviace, und ihre Entschlossenheit kehrte zurück. Er war ein Lebensschiff. Er war dafür geschaffen worden zu segeln, und sollte es ihr gelingen, ihn wieder dazu zu bringen, war das besser als jedes Spielzeug, das Amber ihm jemals gegeben hatte. Sie weigerte sich, darüber nachzudenken, was aus ihnen allen werden würde, wenn er erneut scheiterte. Sie roch ein Kochfeuer. Seit es wärmer geworden war, kochte Amber fast nur noch am Strand. Im Paragon hatte sie eine allmähliche Veränderung bewirkt. Das Meiste schätzte Althea, aber einiges entsetzte sie auch. Die Kapitänskajüte glänzte jetzt mit poliertem und geöltem Holz und Messing. Die zerstörten Schränke und herausgerissenen Angeln waren alle sorgfältig repariert worden. Der Raum duftete nach Leinsam-Öl, Terpentin und Bienenwachs. Wenn Amber abends eine Laterne anzündete, schimmerte der ganze Raum honigfarben und golden. Aber die Falltür, die Amber in den Boden zum Frachtraum geschnitten hatte, war entsetzlich. Brashen und Althea waren
beide wütend gewesen, als sie sie das erste Mal gesehen hatten. Sie hatte versucht, ihnen zu erklären, dass sie einen schnelleren Zugang zu ihren Vorräten haben wollte, aber keiner der beiden mochte das akzeptieren. Kein Schiff hätte eine Falltür in der Kapitänskajüte, meinten sie übereinstimmend. Selbst sicher verriegelt und unter einem Teppich versteckt, störte sie Althea. Amber hatte auch andere Teile des Schiffes erneuert. Der Ofen in der Kombüse war gesäubert und poliert worden. Obwohl Amber meistens am Strand kochte, bewahrte sie ihre Pfannen, Töpfe und Vorräte hier auf. Althea konnte sich nicht vorstellen, wie sie mit der Neigung des Decks zurechtkam. Amber sagte nur, dass sich Paragon besser fühlte, wenn sie diese Orte überholte, also machte sie es. Das ganze Schiff war vom Sand befreit worden. Das bisschen Moos und Seetang, das der Wind hereingeweht und das sich am Schiff festgesetzt hatte, war entfernt worden. Sie hatte Reinigungskräuter in Räuchertöpfen durch das ganze Schiff getragen und die Feuchtigkeit sowie die Insekten vertrieben. Türen, Fenster und Luken konnten jetzt wieder fest geschlossen werden. Das alles hatte sie gemacht, bevor die Wiederaufrüstung des Paragon überhaupt besprochen worden war. Einen Augenblick dache Althea darüber nach, schob ihre Spekulationen dann aber beiseite. »Paragon!« rief sie. Er setzte die Pfeifen ab und grinste in ihre Richtung. »Althea! Du kommst mich besuchen!« »Ja. Sind Brashen und Amber auch hier?« »Wo sonst?« fragte er jovial. »Sie sind drinnen. Aus irgendeinem Grund möchte Brashen sich das Gestänge meines Ruders ansehen. Amber ist bei ihm. Sie kommen gleich wieder heraus.« »Deine Pfeifen sind entzückend. Sind sie neu?« Er wirkte etwas verlegen. »Nicht ganz. Ich habe sie seit einem Tag, aber ich kann immer noch nicht spielen. Amber sagt, es macht nichts, wenn ich keine Melodie spiele. Solange das
Geräusch mir Spaß macht, gehört die Musik mir, sagt sie. Aber ich möchte richtig spielen können.« »Ich glaube, Amber hat Recht! Du wirst schon bald Melodien spielen können, wenn du dich erst an die Pfeifen gewöhnt hast.« Als die Möwen schrieen, drehte sich Althea um. Weiter unten am Strand kamen zwei Frauen langsam näher. Ein korpulenter Mann trottete hinterher. Althea runzelte die Stirn. Sie kamen zu früh. Bis jetzt hatten sie Paragon das Thema nicht einmal unterbreitet, und er würde schnell herausfinden, dass es ohne ihn entschieden worden war. Sie musste Brashen und Amber herauslocken, und zwar schnell. »Was hat die Möwen aufgeschreckt?« wollte Paragon wissen. »Irgendwelche Spaziergänger am Strand. Ich hätte gern einen… Tee. Darf ich an Bord kommen und Amber fragen, ob ich ihren Kessel benutzen kann?« »Sicher, mach nur. Ich bin sicher, dass sie nichts dagegen hat. Willkommen an Bord.« Sie fühlte sich wie eine Verräterin, als er wieder unbesorgt die Pfeifen an die Lippen hob. Sehr bald würde sich sein ganzes Leben ändern. Sie kletterte die Leiter hinauf, die Brashens neuester Beitrag zu Ambers Domizil war, und ging über das geneigte Deck zur Heckluke. Sie kletterte eine Leiter hinunter, als sie Stimmen in dem Schiff hörte. »Es scheint noch in gutem Zustand zu sein«, sagte Brashen. »Allerdings steckt das Ruder im Sand. Sobald das Schiff aufgerichtet ist, müssen wir kontrollieren, wie es sich bewegt. Ein bisschen Fett kann aber auf keinen Fall schaden. Clef kann sich darum kümmern.« Trotz ihrer Unruhe musste Althea lächeln. Der Sklavenjunge war Brashen entsetzlich lästig, doch trotzdem schien er irgendwie in die Rolle des Schiffsjungen geschlüpft zu sein. Brashen betraute ihn mit all den kleinen, einfachen Aufgaben, für die alle anderen keine Zeit hatten. Der Junge hatte die Wahrheit
gesagt, als er behauptete, er käme auf einem Schiff zurecht. Er schien sich vollkommen wohl auf dem aufgegebenen Schiff zu fühlen. Paragon schien ihn schneller akzeptiert zu haben, als sich der Junge an die lebende Galionsfigur gewöhnt hatte. Clef sprach immer noch sehr schüchtern mit Paragon. Das ist ein Segen, dachte Althea, wenn man bedenkt, was wir die ganze Woche vor dem Schiff verheimlicht haben. Davad Restate war nicht leicht zu überreden gewesen. Ronica gegenüber hatte er anfänglich abgestritten, etwas von einem Handel zu wissen, der den Paragon betraf. Doch Ronica war unerbittlich gewesen. Sie behauptete, er wüsste von Geboten und Forderungen. Außerdem bestand sie darauf, dass nur er diesen heiklen Vertrag zustande bringen konnte. Als er schließlich zugab, dass er von dem Handel wusste, hatte Althea das Zimmer verlassen. Sie war angewidert. Er war ein BingtownHändler, lebte in den gleichen Traditionen wie sie. Wie konnte er auch nur mit dem Gedanken gespielt haben, das einem Lebensschiff anzutun? Wie konnte er so weit herabsinken, die Ludluck-Familie mit Geld dazu zu verlocken, etwas so Ruchloses zu tun? Was er getan hatte, war verräterisch, grausam und falsch. Er hatte für Geld und Einfluss bei den Neuen Händlern seine Abstammung entehrt. Unter dem Ekel brannte ihr Schmerz. Davad Restate, in ihrer Kindheit unerschöpfliche Quelle von Süßigkeiten, dieser Davad, der mit angesehen hatte, wie sie aufgewachsen war, der ihr zu ihrem sechzehnten Geburtstag Blumen geschickt hatte… Davad, der Verräter. Ronica und Keffria hatten sich dann um das gekümmert, was Althea mittlerweile als Loskaufen betrachtete. Althea brachte es nicht über sich, dabei mitzumachen. Sie wich Davad aus, weil sie fürchtete, nicht höflich mit ihm reden zu können. Gleichzeitig wagte sie es aber auch nicht, ihn zu beleidigen. Sie sprang das letzte Stück bis zum Boden von der Leiter. Als ihre Stiefel vernehmlich auf dem Deck landeten, verkündete sie: »Die anderen kommen. Mutter ist unten am Strand. Ich
fürchte, Händler Restate ist ebenfalls mitgekommen. Hoffentlich ist er so vernünftig und hält den Mund, aber ich wage es zu bezweifeln. Habt Ihr schon mit Paragon gesprochen?« Sie sah Amber an. Das war einfacher. Zwischen Brashen und ihr herrschte zwar keine Feindschaft, aber sie konnten auch nicht locker miteinander umgehen. »Noch nicht!« Amber wirkte bestürzt. »Ich wollte warten, bis du hier bist. Ich habe die anderen nicht so früh erwartet.« »Sie sind viel zu früh dran. Wir können ihnen Clef entgegenschicken, um sie zu bitten zu warten, bis wir ihnen ein Zeichen geben.« Amber dachte kurz nach. »Nein. Ich glaube, je schneller wir es hinter uns bringen, desto besser. Er wird toben und schmollen, fürchte ich, aber ich nehme an, dass er sich insgeheim freut.« Sie seufzte. »Gehen wir.« Althea stieg hinter Amber die Leiter hoch, Brashen dicht hinter ihr. Am Strand saß Clef auf einem Stein vor Paragon. Sein Gesicht war knallrot, und er schnappte krampfhaft nach Luft. Paragon blies auf seiner Flöte und erzeugte einen furzenden Ton, woraufhin der Junge wieder einen Lachkrampf bekam. Das Schiff hob die freie Hand, um sein Kichern zu unterdrücken, aber der Junge lachte laut und herzlich. Althea blieb stehen und schaute ihn ungläubig an. Hinter ihr lachte Brashen ebenfalls. Paragon drehte sich um und grinste. »Ach, da seid ihr ja.« »Da sind wir«, bestätigte Amber. »Alle.« Sie näherte sich der Galionsfigur, streckte die Hand aus und berührte seinen Unterarm. »Paragon. Wir sind hier, weil wir mit dir über etwas reden wollen. Etwas sehr Wichtiges.« Das Gelächter verstummte abrupt. »Über etwas Schlimmes?« fragte er unsicher. »Etwas Gutes«, meinte Amber beruhigend. »Jedenfalls glauben wir das alle.« Sie sah sich um und ließ ihren Blick dann über den Strand gleiten. Althea folgte ihrem Beispiel. Ihre
Mutter und Amis Ludluck würden bald hier sein. »Es geht um die Möglichkeit, etwas Gutes zu tun, und zwar mit deiner Hilfe. Ohne dich geht es nicht.« »Ich bin kein Kind mehr«, sagte das Schiff. »Sprich deutlicher.« Seine Unruhe wuchs. »Wie könnten wir zusammen etwas tun? Und was?« Amber rieb sich nervös über das Gesicht. Sie sah Althea und Brashen an und konzentrierte sich dann auf das Schiff. »Ich weiß, dass du kein Kind bist. Ich habe damit Schwierigkeiten, weil ich so viel Angst habe, dass du nicht mitmachst. Also, Paragon, es geht um Folgendes: Du kennst doch das Lebensschiff der Vestrits, die Viviace. Sie ist von Piraten gekapert worden. Du weißt davon. Du hast gehört, wie wir darüber geredet und überlegt haben, was wir tun können. Nun, Althea möchte hingehen und sie retten. Brashen und ich auch.« Sie holte tief Luft. »Wir möchten, dass du das Schiff bist, das uns dorthin bringt. Wie fändest du das?« »Piraten«, sagte er atemlos. Er kratzte sich mit der freien Hand am Bart. »Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Ich mag euch alle. Ich bin gern mit euch zusammen. Kein Schiff sollte den Piraten überlassen werden. Es sind schreckliche Gestalten.« Althea atmete wieder. Es würde klappen. »Haben die Ludlucks gesagt, dass sie mich dorthin bringen würden?« Brashen hustete nervös. Amber sah sich um und forderte sie auf, etwas zu sagen, aber keiner traute sich. »Die Ludlucks erlauben uns, dich dorthin zu bringen.« »Aber wer… Du meinst doch wohl nicht, dass kein Mitglied der Familie an Bord wäre?« Er klang ungläubig. »Kein Zauberschiff segelt ohne ein Familienmitglied an Bord.« Brashen räusperte sich. »Ich bin da, Paragon. Nach all den Jahren, die wir uns kennen, bist du für mich die einzige Familie, die ich habe. Würde das genügen?« »Nein. Nein, Brashen.« Das Schiff hob nervös die Stimme.
»Ich mag dich, wirklich, aber du bist kein Ludluck. Ich schon. Ich kann nicht ohne ein Familienmitglied an Bord in See stechen.« Er schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Sie würden das nicht zulassen. Das wäre so, als würden sie mich für immer aufgeben, als glaubten sie, dass ich niemals etwas taugen werde. Nein.« Er umfasste die Schäferflöte mit beiden Händen, aber seine Finger zitterten immer noch. »Nein.« Altheas Mutter und Amis Ludluck waren stehen geblieben. Amis starrte den Paragon an. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und presste die Lippen zusammen. Althea sah die Ablehnung in ihrer Haltung. Sie war froh, dass das Schiff blind war. Davad kam keuchend heran. »Paragon«, sagte sie ruhig. »Bitte, hör mir zu. Es ist schon Jahre her, dass ein Ludluck bei dir an Bord war. Du warst allein, bis auf uns. Trotzdem hast du überlebt. Ich glaube, du bist anders als die meisten anderen Lebensschiffe. Ich glaube, dass du auch ein Gespür für dich selbst hast, abgesehen von deiner Familie. Ich glaube, du hast gelernt… unabhängig zu sein.« »Ich habe nur überlebt, weil ich nicht sterben kann!«, schrie er. Er hob die Flöte, als wollte er damit nach ihnen schlagen. Stattdessen riss er sich zusammen und legte das kostbare Instrument auf sein schiefes Deck. Er atmete schwer durch die Nase, als er sich zu ihnen umdrehte. »Ich lebe in Schmerzen, Althea. Ich lebe am Rand des Wahnsinns! Glaubst du, ich wüsste das nicht? Ich habe gelernt… Was habe ich gelernt? Nichts. Nur, dass ich weitermachen muss, also mache ich weiter. Eine Leere verzehrt mich von innen, ohne dass sie jemals befriedigt wird. Sie frisst meine Tage auf, einen nach dem anderen, verzehrt Sekunde um Sekunde, und jeden Tag wachse ich weniger, aber ich kann einfach nicht erlöschen.« Er lachte wild auf. »Du sagst, ich hätte ein Ich auch ohne meine Familie? O ja, das stimmt. Ja, ich habe ein Ich, mit Klauen und Zähnen, das so voller Elend und Wut ist, dass ich die Welt in Fetzen reißen würde, wenn dann alles aufhören würde!« Paragon brei-
tete die Arme aus und warf den Kopf zurück. Er stieß einen Schrei aus, unmenschlich laut und unerträglich traurig. Althea hielt sich die Ohren zu. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Amis Ludluck sich umdrehte und weglief. Ihre Mutter eilte hinter ihr her. Althea sah, wie Ronica sie einholte und ihren Arm packte. Sie hielt sie fest und drehte sie herum. Althea wusste, dass sie ihr Vorhaltungen machte, aber sie hatte keine Ahnung, was sie sagte. Davad stand neben ihnen, beschwichtigte sie und trocknete sich das Gesicht mit einem seidenen Taschentuch ab. Althea wusste, was passiert war. Amis Ludluck hatte ihre Meinung geändert. Davon war Althea überzeugt. Sie hatte ihre einzige Chance vertan, die Viviace zu retten. Die Ludlucks würden den Paragon nicht verkaufen, und sie würden ihn auch nicht segeln. Er würde hier am Strand von Bingtown liegen bleiben, älter und mit jedem Jahr ein bisschen verrückter werden. Althea fragte sich, ob sie dasselbe Schicksal erwartete. Amber stand gefährlich nah bei Paragon. Eine Hand hatte sie gegen seinen Rumpf gelegt, und sie sprach leise mit ihm. Er achtete jedoch nicht auf sie. Er hatte seinen struppigen Kopf in die Hände gesenkt und weinte. Seine Schultern zuckten wie bei einem untröstlichen Kind. Clef war näher gekommen und starrte das fassungslose Schiff erstaunt an. Er biss sich auf die Unterlippe. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. »Paragon!«, schrie Amis Ludluck plötzlich. Er hob abrupt sein vernarbtes Gesicht und starrte blindlings um sich. »Wer ruft da?«, stieß er hektisch hervor. Er rieb sich die Wangen, als wollte er die Tränen abwischen, die er nicht geweint hatte. Offensichtlich war es ihm unangenehm, dass ein Fremder seine Trauer mit angesehen hatte. »Ich bin Amis Ludluck.« Die Frau klang abweisend. Graue Haarsträhnen hatten sich aus ihrer leichten Sommerhaube gelöst, und ihr Schal flatterte im Wind. Mehr sagte sie nicht. Sie wartete auf seine Reaktion.
Paragon schien sprachlos. Er öffnete zweimal den Mund und schloss ihn wieder, bevor er seine Sprache wiederfand. »Warum seid Ihr hier?« Seine Stimme klang anders, sehr reserviert und viel männlicher als zuvor. Und er wirkte gequält. Dann holte er bebend Luft und riss sich noch mehr zusammen. »Warum seid Ihr nach all den Jahren hierher gekommen, um mit mir zu sprechen?« Das schien Amis Ludluck mehr zu erschüttern, als wenn er sie angeschrieen hätte. Althea beobachtete, wie die Frau nach Worten suchte. »Sie haben es dir doch gesagt, oder nicht?«, fragte sie ihn schließlich lahm. »Was sollen sie mir gesagt haben?«, fragte er sie erbarmungslos. Sie straffte die Schultern. »Dass ich dich verkauft habe.« »Ihr könnt mich nicht verkaufen. Ich gehöre zu Eurer Familie. Könntet Ihr Eure Tochter oder Euren Sohn verkaufen?« Amis Ludluck schüttelte den Kopf. »Nein«, flüsterte sie. »Nein, das könnte ich nicht. Weil ich sie liebe und sie mich lieben.« Sie starrte das verunstaltete Schiff an. »Aber das gilt nicht für dich.« Ihre Stimme wurde plötzlich schrill. »So lange ich zurückdenken kann, warst du der Fluch meiner Familie. Ich war noch nicht einmal auf der Welt, als du das letzte Mal ausgelaufen bist. Aber ich bin mit dem Schmerz meiner Mutter und meiner Großmutter über ihre Verluste groß geworden. Du bist verschwunden – und mit dir unwiederbringlich auch alle Männer aus unserer Familie. Warum? Wofür wolltest du uns bestrafen, außer dass wir deine Familie waren? Es wäre schon schlimm genug für uns gewesen, wenn du niemals wiedergekehrt wärst. Wenigstens hätten wir uns dann Fragen stellen können. Wir hätten uns vorstellen können, dass ihr alle gemeinsam untergegangen wärt oder dass sie noch irgendwo lebten, am Leben zwar, aber nicht in der Lage, zu uns zurückzukehren. Stattdessen musstest du wiederkommen und uns beweisen, dass du erneut getötet hast. Wieder hattest du die Män-
ner der Familie umgebracht, die dich hat bauen lassen, und hast ihre Frauen in Trauer gestürzt. Und jetzt liegst du seit dreißig Jahren hier! Ein ständiger Vorwurf an meine Familie, ein Symbol für unsere Schande und Schuld. Jedes Schiff, das hier vorbeikommt oder in den Hafen einläuft, sieht dich hier liegen. Es gibt niemanden in Bingtown, der nicht eine Meinung darüber hätte, warum du gescheitert bist. Die Meisten geben uns die Schuld. Wir wurden gierig, rücksichtslos, egoistisch und herzlos geschimpft. Einige sagen sogar, wir hätten verdient, was uns widerfahren ist. Solange du hier bist, können wir weder vergessen, noch uns verzeihen. Es wäre viel besser, wenn du weg wärst. Sie wollen dich nehmen, und wir sind mehr als bereit, dich endlich loszuwerden.« Der Schwall ihrer giftigen Worte ergoss sich über alle Anwesenden. Der Schmerz, den Althea für Paragon empfand, raubte ihr die Sprache. Die Augen der Frau traten vor Wahnsinn beinahe aus ihren Höhlen. Vielleicht war Paragon ja aus demselben Holz geschnitzt wie die Ludlucks. »Wir waren eine mächtige Familie, bevor du kamst! Du solltest unser Ruhm werden, der Paragon, der Inbegriff unseres Erfolges. Stattdessen hat es uns unser gesamtes Vermögen gekostet, dich zu bezahlen, und alles, was du uns jemals gebracht hast, war Elend und Verzweiflung. Also? Willst du es nicht wenigstens abstreiten? Sprich mit mir, du wundersames Schiff! Sag mir nach all den Jahren wenigstens, warum! Warum hast du dich gegen sie gewandt, warum hast du unsere Träume ertränkt, unsere Hoffnungen und unsere Männer?« Schließlich verstummte sie und atmete schwer. Ronica Vestrit stand neben ihr. Sie wirkte angeekelt. Aber der Ausdruck auf Davads Gesicht war am faszinierendsten. Er wirkte aufgewühlt, und dennoch schimmerte so etwas wie Rechtschaffenheit in seinem Blick. »Der Regenwild-Fluss«, sagte Davad ruhig. »Aus der Regenwildnis ist noch nie etwas Gutes gekommen. Vergiftete Magie,
heimtückische Krankheiten. Das ist alles, was jemals…« »Hört auf damit!«, fauchte Amber ihn an. »Haltet den Mund und geht! Geht, und zwar sofort! Er weiß es. Hier. Hier ist es, es gehört Euch, es gehört alles Euch. Alles, was ich habe, im Tausch gegen ihn. Wie ich es versprochen habe. Sie nahm einen Schlüssel an einem Lederband von ihrem Hals und warf ihn Davad vor die Füße. Er prallte von einem Felsen ab und machte ein hell klingendes Geräusch, bevor er sich in den Sand grub. Der Händler bückte sich mühsam und hob ihn auf. Althea erkannte den massiven Schlüssel ihres Geschäftes in der Regenwild-Straße. Er steckte ihn in die Tasche. Amis Ludluck stand nur da und blickte zum Schiff empor. Ein paar Tränen waren ihr über die von tiefen Falten gezeichneten Wangen gelaufen, aber jetzt weinte sie nicht mehr. Sie starrte einfach nur Paragon an und schwieg. Über ihr verschränkte Paragon die Arme vor der Brust. Er hatte den Kopf gehoben. Hätte er Augen gehabt, hätte er aufs Meer hinausgeblickt. Seine Kiefermuskeln traten hervor, so fest presste er die Zähne aufeinander. Er war so schweigsam wie ein normales Stück Holz. Davad umfasste Amis Ludlucks Arm und zog sie weg. »Kommt mit, Amis. Ich bringe Euch jetzt nach Hause. Dann gehe ich in die Stadt und sichere Euch Euer neues Geschäft. Ich glaube, Ihr habt das Beste aus einem schlechten Geschäft herausgeholt. Ich glaube, das haben wir alle. Guten Tag, Ronica. Vergesst nicht, dieser Handel ist nicht von mir ausgegangen.« »Das werden wir nicht vergessen«, erwiderte Althea tonlos. Sie sah ihnen nicht nach, sondern starrte nur das regungslose und schweigsame Schiff an. Schuldgefühle nagten an ihr. Warum hatte sie geglaubt, dass Amis Ludluck Paragon dazu bringen würde, freiwillig zu gehen, wenn sie hierher kam? Die Bosheit der Ludlucks war doch legendär. Warum hatte sie angenommen, dass sich die Frau nicht gegen ihr aufgegebenes
Schiff wenden würde? Plötzlich kam ihr das alles verrückt vor. Ein wahnsinnig gewordenes Lebensschiff aufzutakeln, nur auf die schwache Hoffnung hin, das Zauberschiff ihrer eigenen Familie zu finden und retten zu können, war ein vollkommen närrisches Unterfangen. Wer glaubte sonst an den Erfolg eines solchen Unternehmens? »Paragon?«, fragte Althea ruhig. »Paragon, sie ist jetzt weg. Alles wird gut, du wirst schon sehen. Es ist das Beste so. Du bist jetzt bei den Menschen, denen du wirklich etwas bedeutest. Du wirst wieder in See stechen, dorthin, wo ein Schiff hingehört. Wenn du das nächste Mal nach Bingtown zurückkehrst, dann als Held. Alle werden dann deinen Wert erkennen, selbst die Ludlucks. Paragon?« Clef kroch hinter Brashens Rücken hervor. Er trat an das Schiff und legte scheu eine Hand auf die Planken. Dann blickte er zu der stummen Galionsfigur hinauf. »Manchmal musst du eben deine eigene Familie sein«, sagte er ernst. »Wenn du allein übrig bist.« Paragon antwortete nicht. Die Brummbär war einer der besten Fänge, die sie jemals gemacht hatten. Kennit wurde von einer seltenen Begeisterung erfüllt, als man ihn auf ihr Deck hob. Etta wartete auf ihn und reichte ihm die Krücke. Und dieser Sieg schmeckte doppelt gut. Nicht nur war das sein erster bedeutender Fang, seit er wieder gesund war, sondern Wintrow war auch noch Zeuge des Vorfalls. Er konnte das Staunen des Jungen förmlich spüren, der ihm auf dem Fuß folgte. Nun, sollte er doch Augen machen über diese gewienerte kleine Schaluppe und seine Einschätzung von Kapitän Kennit überdenken. Glaubte der junge Wintrow denn wirklich, dass er ein einbeiniger Halunke wäre, der nur stinkende Sklavenschiffe abfangen konnte? Sollte er sich doch diesen Fang ansehen und Kennit als einen der besten Freibeuter erkennen, der jemals die Innere Passage unsicher gemacht hatte.
Seine Zufriedenheit äußerte sich vor allem als Großmut der Mannschaft und besonders Sorcor gegenüber. Als der Erste Maat mit blutigen Händen zu ihm hastete und ihm Bericht erstattete, erschreckte Kennit ihn mit einem herzhaften Schlag auf die Schulter. »Gut gemacht!«, rief er. »Ein tadelloses Stück Piraterie. Irgendwelche Geiseln?« Sorcor grinste, begeistert über dieses Lob. »Nur die Schiffsoffiziere, Kapitän. Es ist genauso gelaufen, wie Ihr vorhergesagt habt. Die anderen waren genauso gute Kämpfer wie Seeleute. Keiner von ihnen wollte aufgeben. Ich habe ihnen zweimal die Möglichkeit gegeben, einen Vertrag bei uns zu unterschreiben. Aber das wollten sie nicht. Was sehr schade ist. Es gab eine Menge guter Kämpfer an Bord, aber jetzt sind nur noch die übrig, die mit mir gekommen sind.« Sorcor grinste über seinen Witz. »Und die Schiffsoffiziere, Sorcor?« »Sind unter Deck eingesperrt. Ihr Maat hat einige schwere Schläge auf den Kopf gebraucht, bis er zu Boden ging, aber er lebt noch. Und es gibt eine Menge guter Beute außer den Sklaven. Denen geht es gut. Einige sind von der plötzlichen Veränderung etwas mitgenommen, aber sie erholen sich bestimmt noch.« »Verluste?« Kennit humpelte eifrig weiter. Sorcors Grinsen erlosch. »Schwerer, als wir erwartet haben, Sir. Das hier waren Kämpfer. Sie sind mit dem Schwert in der Hand gestorben. Wir haben Clifto, Mari und Burry verloren. Kemper hat ein Auge weniger. Ein paar andere haben leichtere Verletzungen davongetragen. Opals Gesicht ist bis zu den Zähnen aufgeschlitzt. Ich habe ihn schon zur Marietta zurückgeschickt. Er hat irgendwas Schreckliches gebrüllt.« »Opal.« Kennit dachte einen Moment nach. »Lass ihn auf die Viviace bringen. Wintrow kann sich gleich um ihn kümmern. Der Junge hat ein Talent fürs Heilen. Wie ich höre, erwähnst du dich selbst nicht, Sorcor.«
Der große Pirat grinste und deutete geringschätzig auf seinen blutigen linken Arm. »Zwei Schwerter gegen eines, und er hat mich trotzdem erwischt. Ich muss mich schämen.« »Dennoch muss sich jemand darum kümmern. Wo ist Etta? Etta! Versorge Sorcors Arm, sei so nett. Wintrow, komm bitte mit. Wir wollen kurz einen Blick auf unsere heutige Beute werfen.« Es war kein kurzer Blick. Kennit führte den Jungen absichtlich durch alle Laderäume. Er zeigte ihm Gobelins und Teppiche, die für die Reise zusammengerollt und in Segeltuch eingepackt worden waren, Kisten mit Kaffeebohnen und Tee, dicke Stränge mit Traumkräutern, die in verschlossenen Tontöpfen lagen, und glänzende Garnspulen in Gold, Rot und Purpur. Das alles, erklärte Kennit, waren die Früchte der Sklaverei. So hübsch es auch aussah, es war mit Blut erkauft. Fand Wintrow es wirklich richtig dass Leute wie Avery und seine Hintermänner diese Dinge behielten? »Solange Sklaverei profitabel ist, werden die Menschen auch damit Geschäfte machen. Gier hat deinen eigenen Vater dazu gebracht mitzuspielen. Es war sein Untergang. Und ich werde dafür sorgen, dass es der Untergang aller ist, die mit Menschen handeln.« Wintrow nickte langsam. Kennit war nicht sicher, ob der Junge von der Ehrlichkeit des Kapitäns tatsächlich vollkommen überzeugt war. Aber vielleicht spielte das auch keine Rolle. Solange er rechtschaffene Gründe für Piraterie und Kampf anführen konnte, musste der Junge ihm zustimmen. Das machte es einfacher, das Schiff seinem Willen gefügig zu machen. Er legte Wintrow den Arm auf die Schulter und schlug vor: »Rudern wir zurück zur Viviace. Ich wollte, dass du das hier siehst und von Sorcor hörst, dass wir diesen Unglückseligen eine Chance auf ein neues Leben bieten. Was hätten wir mehr tun können, hm?« Es war die perfekte Schlussbemerkung. Er hätte wissen müssen, dass so viel Gutes nie lange anhält. Als Wintrow und er
wieder an Deck kamen, stürmten drei Frauen auf sie zu. Doch bevor sie Kennit erreichten, trat Etta ihnen mit der Hand am Griff ihres Schwertes entgegen. Sie drängten sich furchtsam aneinander und starrten die Piratin an. Etta wandte sich an Kennit. »Es gibt ein kleines Problem. Die drei hier wollen nicht befreit werden. Sie wollen zusammen mit dem Kapitän und dem Ersten Maat freigekauft werden.« »Und warum?«, erkundigte Kennit sich. Er war kühl, aber höflich und betrachtete die drei. Es waren alles hübsche junge Frauen, deren Sklaventätowierungen nur winzig und in der Sonne kaum zu sehen waren. »Die dummen Weiber wollen lieber Sklavinnen bleiben, als in Divvytown ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie sind es gewohnt, die Schoßtierchen von irgendwelchen reichen Kerlen zu spielen.« »Ich bin eine Dichterin, keine Hure«, unterbrach eine Frau sie wütend. »Kapitän Avery ist nach Jamaillia-Stadt gekommen, um speziell mich für Sep Kordor zu kaufen. Er ist ein wohlhabender Adliger und als sehr gerechter Herr bekannt. Wenn ich zu ihm gehe, wird er mich versorgen und mich meine Kunst ausüben lassen. Wenn ich mit Euch gehe, wie soll ich mich dann ernähren? Selbst wenn ich weiter komponiere, wer wird mir zuhören außer Dieben und Halsabschneidern in einer Drecksstadt im Nirgendwo.« »Vielleicht möchtest du ja lieber für die Seeschlangen singen?«, schlug Etta liebenswürdig vor. Sie zog ihr Schwert und richtete die Spitze auf den Bauch oberhalb des Nabels. Die Dichterin weigerte sich zurückzuweichen. Sie schüttelte nur den Kopf und starrte Kennit an. »Und ihr beiden… seid ihr auch Dichterinnen?«, fragte Kennit gelassen. Sie schüttelten den Kopf. »Ich webe Gobelins«, erwiderte eine heiser. »Und ich bin eine Kammerdienerin, ausgebildet in Massage und der niederen Heilkunst«, sagte die Dritte, als Kennit sie an-
blickte. »Und… lasst mich raten… Ihr seid alle für den Sep Sowieso bestimmt, diesen sehr reichen Mann mit den vielen Dienern?« Bei Kennits freundlichem Ton funkelten Ettas Augen. Sie übte etwas mehr Druck auf das Schwert aus und drängte damit die eine wieder in eine Reihe mit den anderen. Die beiden anderen nickten. »Siehst du.« Kennit wandte sich von ihnen ab und scheuchte sie mit einer Handbewegung fort. »Das bewirkt Sklaverei, Wintrow. Ein reicher Mann kauft ihre Talente für seinen eigenen Ruhm. Er kauft sie gegen Geld, und sie wissen nicht einmal, dass sie Huren sind. Keine hat genug Stolz, um ihren eigenen Namen zu sagen. Sie sind bereits ein Teil ihres Herrn geworden.« »Was soll ich mit ihnen machen?«, rief Etta ihm hinterher, als er weiterhumpelte. Er seufzte. »Sie möchten gern Sklaven sein. Steck sie zu den anderen, damit sie freigekauft werden können. Sep Kordor hat sie einmal gekauft, er kann sie auch gern noch einmal kaufen.« Plötzlich hatte Kennit eine Idee. »Was sie an Lösegeld bringen, teilen wir zwischen denen auf, die die Freiheit wollen. Das erleichtert ihnen den Anfang.« Etta nickte verwirrt, bevor sie die Sklavinnen wegführte. Kennit sah Wintrow an. »Hast du dir jemals vorgestellt, wie es ist, Kapitän auf deinem eigenen Schiff zu sein? Vielleicht ein kleines, nettes Schiff wie dies hier?« Wintrow sah sich um, bevor er antwortete. »Es ist ein schönes Schiff. Aber nein, mein Herz zieht mich in eine andere Richtung. Wäre ich frei, würde ich wieder in mein Kloster zurückkehren.« »Deine Freiheit? Wintrow! Diese Tätowierung bedeutet nichts für mich. Hältst du dich etwa immer noch für einen Sklaven?« Kennit täuschte Erstaunen vor. »Nein. Eine Tätowierung macht mich nicht zum Sklaven.« Er schloss kurz die Augen. »Es ist mein Blut, das mich an Viviace
bindet, und zwar beinahe so fest, als wäre ich angekettet. Das Band zwischen uns wird jeden Tag fester. Ich könnte sie vielleicht immer noch verlassen und wäre zufrieden, mein Leben Sa zu widmen. Aber das wäre sehr egoistisch von mir, und ich würde ihr mit meiner Abwesenheit eine immer währende Lücke reißen. Ich glaube nicht, dass ich mit diesem Wissen Gelassenheit finden könnte.« Kennit neigte den Kopf. »Und du glaubst nicht, dass sie mich jemals statt deiner akzeptieren könnte? Ich möchte euch beide nur glücklich machen. Ich würde dir das Kloster ermöglichen, vorausgesetzt, das gelingt, ohne den Lebensmut des Schiffes zu zerstören.« Wintrow schüttelte langsam den Kopf. »Es muss jemand von ihrem Blut sein. Das Familienband ist entscheidend. Nur das könnte sie vor dem Wahnsinn bewahren, in den sie versinken würde, wenn ich sie verließe.« »Verstehe«, erwiderte Kennit nachdenklich. »Nun, dann stecken wir wohl in einem Patt, hm?« Er klopfte dem Jungen tröstend auf die Schulter. »Vielleicht kann ich mir ja doch etwas ausdenken, was uns alle glücklich macht.« Das Wasser, das sich unter ihrem Rumpf bewegte, machte ein angenehmes Geräusch. Die Viviace war wieder unterwegs und flankierte zusammen mit der Marietta die Brummbär. Kennit wollte, dass alle drei Schiffe so schnell wie möglich vom Ort des Überfalls verschwanden. Er hatte Etta erklärt, dass ein Lösegeld schneller bezahlt werden würde, wenn ihm Ungewissheit vorausging. Die Brummbär würde einfach eine Weile verschwinden. Zuerst wollte er das Schiff nach Divvytown bringen, um seine Beute und seine Gefangenen vorzuführen. In ein oder zwei Monaten würde er eine Nachricht nach Chalced schicken, dass das Schiff und die Überlebenden freigekauft werden konnten. Um die Ladung würde er sich selbst kümmern. Etta hatte sich bereits bedient. Sie glättete den Stoff, der auf ihrem Schoß lag, und betrachtete ihn bewundernd, während
sie Garn in ihre Nadel einfädelte. Die Schiffe lagen im Dunkeln. Kennit selbst stand am Ruder. Etta versuchte, sich nicht darüber zu ärgern. Nach all der Zeit, die er heute mit dem Schiff verbracht hatte, müsste er jetzt eigentlich ruhen. Es war ein langer Tag für sie alle gewesen. Sie hatte Sorcors Arm genäht. Der massige Mann hatte still dagesessen und die Zähne zusammengebissen, während sie die lange Schnittwunde an seinem Arm geschlossen hatte. Diese Arbeit gefiel ihr nicht sonderlich, aber wenigstens hatte er nicht so geschrieen wie der arme Opal. Sie hatten den Jungen auf die Viviace gebracht, um ihn zu heilen. Er wehrte sich verzweifelt, als sie ihn auf das Vordeck brachten, als fürchtete er, ausgepeitscht zu werden. Ein Schwerthieb hatte seine Wange und die Nase bis auf den Knochen aufgeschlitzt. Die Wunde musste vernäht werden, wenn er überhaupt eine Chance haben sollte, jemals wieder normal essen zu können. Es wurde Nacht. Sie hängten eine Laterne auf das Vordeck, und er lag in ihrem Lichtkreis. Unter den Sklaven auf der Brummbär befand sich auch ein Arzt. Auf Wintrows ernste Bitte hin hatte Kennit ihn ebenfalls holen lassen. Opal wollte nicht zulassen, dass jemand die Wunde berührte. Als Wintrow versucht hatte, das Fleisch und die Haut zusammenzupressen, damit der Arzt nähen konnte, hatte Opal geschrien und den Kopf so wild hin und her geworfen, dass sie schließlich aufgeben mussten. Der Arzt war der Meinung gewesen, dass sie ihn erst ausbluten lassen mussten, bis der Schmerz nachließ, und das hatten sie so lange getan, bis Opal ohnmächtig wurde. Etta hatte eine Weile zugesehen, während Kennit diesen Vorgang dem Schiff erklärte. Der Schmerz, den der Junge erduldete, war notwendig. Ohne ihn gab es keine Heilung. Kennit verglich es mit dem notwendigen Töten, um diese Gewässer von Sklavenschiffen zu befreien. Wintrow hatte bei seinen Worten zwar die Stirn gerunzelt, aber seine Aufgabe, Opals Blut aufzufangen, hatte ihn vollauf beschäftigt. Schließ-
lich wurden Opals heisere Schmerzensschreie zu erstickten Seufzern. Sie bereiteten die Nadel vor, um dem Jungen das Gesicht zusammenzunähen. Er würde niemals wieder so hübsch aussehen wie vorher, aber er konnte wenigstens essen. Es war das erste Mal, dass Opal bei der Entermannschaft gewesen war. Der Junge hatte Pech gehabt, das war alles. Etta machte die letzten Stiche am Saum. Sie biss den Faden ab, stand auf und öffnete ihren Rock. Er fiel in einem roten Haufen um ihre Füße. Dann stieg sie in ihre neueste Kreation, zog sie hoch und band sie um ihre Hüfte. Sie kannte den richtigen Namen für diesen Stoff nicht. Er hatte eine gekräuselte Oberfläche, die wunderschön unter ihren Händen knisterte, wenn sie darüber strich. Die Farbe war zederngrün, aber wenn sie sich bewegte, fing sich das Lampenlicht in dem Stoff und ließ alle möglichen Töne schillern. Aber am meisten genoss sie es, wie sich der Stoff anfühlte. Sie strich erneut mit den Händen darüber und glättete ihn an den Hüften. Es knisterte leise. Das würde Kennit gefallen. Er wusste solche sinnlichen Dinge zu schätzen, wenn er sich die Zeit nahm, sich darauf zu konzentrieren. Allerdings war das in letzter Zeit so selten vorgekommen, dass sie kaum darauf hoffen konnte. Sie blickte in den Spiegel in seiner Kajüte und schüttelte den Kopf. Undankbare Frau, schalt sie sich. Es war noch gar nicht so lange her, dass er ausgestreckt auf seinem Lager gelegen und vor Fieber geglüht hatte. Sie sollte froh sein, dass er überhaupt seinen männlichen Appetit wiedergefunden hatte. Sie hatte gehört, dass einige nie wieder konnten, nachdem sie verstümmelt worden waren. Langsam fuhr sie sich mit einer Bürste durch ihr dickes Haar. Schon bald würde es ihr bis zu den Schultern reichen. Sie dachte an seine Hände in ihrem Haar und an sein Gewicht auf ihr und fühlte, wie ihr heiß wurde. Als sie noch eine Hure gewesen war, hätte sie niemals erwartet, dass ihr das jemals passieren könnte. Sich nach der Berührung eines Mannes zu sehnen, statt
nur zu wünschen, dass er endlich fertig wurde. Allerdings hatte sie auch nie erwartet, dass sie jemals auf ein Schiff eifersüchtig sein würde. Das war verrückt. Sie hob das Kinn, weil sie etwas Parfüm auflegen wollte. Zuerst schnüffelte sie kritisch an dem Flakon. Es war ein neuer Duft, den sie ebenfalls auf der Brummbär erbeutet hatten. Würzig und süßlich. Er würde genügen. Du musst mehr Vertrauen in Kennit haben, dachte sie. Ging ihm nicht schon genug im Kopf herum, auch ohne dass sie eifersüchtig war? Und dann auch noch albernerweise. Es war schließlich ein Schiff, keine Frau. Sie ging in der Kajüte umher und räumte auf. Er schrieb oder zeichnete immer irgendetwas. Manchmal sah sie ihm zu, wenn er es erlaubte. Seine Fertigkeit faszinierte ihn. Sein Stift bewegte sich so schnell und machte so präzise Zeichen. Sie betrachtete einige Schriftstücke, bevor sie sie zusammenrollte und dann zu seinem Kartentisch brachte. Wie schaffte er es, sich daran zu erinnern, was all diese Zeichen bedeuteten? Vermutlich ist das eine männliche Fähigkeit, dachte sie. Sie hörte, wie Brig draußen Befehle rief. Kurz danach rasselten die Anker herunter. Sie würden also in der Nacht Rast machen. Gut. Sie verließ die Kajüte und suchte Kennit. Langsam ging sie zum Vordeck. Wintrow saß mit gekreuzten Beinen auf dem Deck neben Opal und hielt Nachtwache. Sie betrachtete den verletzten Schiffsjungen. Die Stiche hielten die Ränder der Wunde zusammen. Mehr konnte man über ihre Arbeit nicht sagen. Sie hockte sich hin und berührte seine Stirn. Dabei raschelte der Rock angenehm um ihre Beine. »Er ist kalt«, bemerkte sie. Wintrow sah sie an. Er war noch blasser als Opal. »Ich weiß.« Er hüllte seinen Patienten noch fester in die Decke ein. »Er kommt mir so schwach vor. Ich glaube ja, dass der Arzt das Bestmögliche getan hat. Ich wünschte nur, die Nacht wäre wärmer.«
»Warum bringst du ihn nicht nach unten, weg aus der Kälte?« »Ich glaube, er bekommt mehr Gutes, wenn er hier liegt, als wenn er unter Deck ist.« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Glaubst du, dass dein Schiff heilende Kräfte hat?« »Nicht, was den Körper angeht. Aber sie kann seinem Geist Kraft verleihen, und das hilft, den Körper zu heilen.« Sie richtete sich langsam auf, sah ihn dabei aber weiter an. »Ich dachte, das bewirke dein Sa.« »Das stimmt.« Jetzt hätte sie ihn verspotten und ihn fragen können, ob er denn noch einen Gott brauchte, wo er doch das Schiff hatte. Stattdessen zuckte sie mit den Schultern. »Geh schlafen. Du siehst erschöpft aus.« »Das bin ich auch. Aber ich will bei ihm sitzen bleiben. Es kommt mir falsch vor, ihn allein zu lassen.« »Wo ist der Arzt?« »Wieder auf der Marietta. Dort sind noch andere Verletzte. Er hat hier alles getan, was er konnte. Der Rest hängt von Opal ab.« »Und von deinem Schiff.« Sie konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen. Dann blickte sie zum Vordeck. »Hast du Kennit gesehen?« Wintrow schaute zur Galionsfigur hinüber. Etta brauchte einen Moment, um seine Silhouette auszumachen, denn er stand im Schatten von Viviace. »Oh«, sagte sie leise. Normalerweise störte sie ihn nicht, wenn er sich mit dem Schiff unterhielt. Aber da sie jetzt schon nach ihm gefragt hatte, konnte sie nicht einfach weggehen. Sie trat zu ihm an die Bugreling und bemühte sich, lässig zu wirken. Eine Weile sagte sie nichts. Er hatte eine kleine Bucht einer der kleineren Inseln für ihr Nachtquartier ausgesucht. Die Brummbär lag neben ihnen und die Marietta direkt dahinter. Der scharfe Wind war zu einer Brise abgeklungen, die ein schwaches Summen in der Takelage
erzeugte. Sie waren so nah an Land, dass der Duft der Bäume und Pflanzen so stark war wie das Salzwasser. »Der Angriff ist gut gelaufen«, sagte sie nach einem Moment. »Sagst du mir das, weil du glaubst, ich wüsste das nicht?« Seine Stimme klang eine Spur sarkastisch. »Werdet Ihr es wieder tun? Den Kanal für diesen Zweck benutzen?« »Vielleicht.« Seine kühle Antwort beendete ihr Bemühen um ein Gespräch. Das Schiff schwieg zum Glück, aber Etta empfand ihre Gegenwart trotzdem als Störung. Wären sie doch an Bord der Marietta. Dort hätte sie ihm näher kommen und ihn dazu bringen können, sie wahrzunehmen. Hier jedoch wirkte das Schiff wie eine Gouvernante. Selbst wenn sie allein in seiner Kajüte waren, spürte Etta die Anwesenheit der Viviace. Sie glättete mit einer Hand ihren Rock und genoss das Knistern und das Rascheln des Stoffes. »Bevor wir unterbrochen wurden«, sagte Viviace unvermittelt, »besprachen wir gerade die Pläne für morgen.« »Ja, richtig«, stimmte Kennit ihr zu. »Bei Morgengrauen lichten wir die Anker und segeln nach Divvytown. Ich muss die Brummbär gut unterbringen, bis das Lösegeld bezahlt wird. Und ich möchte die Sklaven so bald wie möglich an Land bringen.« Sie ignorierten sie. Etta war eifersüchtig, aber sie weigerte sich, einfach wegzugehen. »Und wenn wir anderen Schiffen begegnen?«, fuhr das Schiff fort. »Dann seid Ihr an der Reihe«, erwiderte Kennit ruhig. »Ich weiß nicht, ob ich dazu schon bereit bin. Ich weiß es nicht… Das viele Blut. Das Leiden. Menschen empfinden so viel Schmerzen.« Kennit seufzte. »Ich hätte Opal wohl besser nicht an Bord gebracht. Ich habe mir Sorgen um den Jungen gemacht und woll-
te ihn in meiner Nähe haben. Ich dachte nicht, dass es Euch stören würde.« »Das tut es nicht, wirklich nicht«, erwiderte Viviace hastig. Kennit sprach weiter, als hätte er sie nicht gehört. »Ich sehe mir auch nicht gern Schmerzen an«, fuhr er fort. »Aber welcher Mann könnte einfach davor weglaufen? Soll ich mich von jemandem abwenden, der sich um meinetwillen hat verletzen lassen? Seit vier Jahren ist mein Schiff die einzige Heimat, die er kennt. Er wollte heute unbedingt mit zur Entermannschaft gehören. Ach, ich wünschte, Sorcor hätte ihn aufgehalten! Er hat es nur getan, um mich zu beeindrucken.« Kennits Stimme zitterte. »Der arme Junge. Trotz seiner Jugend war er bereit, alles für das zu riskieren, an was er glaubte.« Seine Stimme klang gepresst, als er weitersprach. »Ich fürchte, ich habe seinen Tod herbeigeführt. Wenn ich diesen Kreuzzug nicht angefangen hätte….« Etta trat unwillkürlich näher. Sie hatte Kennit noch nie so reden hören und hätte nicht gedacht, dass er einen solch tiefen Schmerz in sich trug. Sie nahm seine Hand. »Ach, Kennit«, sagte sie leise. »Mein Lieber, Ihr dürft das nicht alles auf Euch nehmen. Das geht nicht.« Einen Moment versteifte er sich, als hätte sie ihn beleidigt. Die Galionsfigur sah sie böse an. Dann drehte sich Kennit zu ihr um und legte ihr zu ihrem Schreck seinen Kopf auf die Schulter. »Und wenn nicht?«, fragte er müde. »Ach, Etta, wenn ich das nicht mache, wer dann?« Ihr Herz quoll über vor Zärtlichkeit für diesen starken Mann, der sich jetzt auf sie stützte. Sie hob die Hand und streichelte sein Haar, das sich seidig unter ihren Fingern anfühlte. »Es wird alles gut. Ihr werdet schon sehen. Viele lieben Euch und werden Eurem Beispiel folgen. Ihr dürft das nicht alles auf Eure Schultern nehmen.« »Was sollte ich ohne sie tun? Ich könnte nicht weitermachen.« Seine Schultern zuckten, als müsste er ein Schluchzen
unterdrücken. Stattdessen hustete er. »Kapitän Kennit«, sagte Viviace bestürzt. »Ich meinte nicht, dass ich Eure Ideale nicht teile. Ich habe nur gesagt, dass ich nicht genau weiß, ob ich schon vollkommen…« »Es ist schon gut, wirklich, es ist schon gut.« Seine Antwort schnitt dem Schiff die Worte ab, auch wenn sein Tonfall signalisierte, dass er ihre Bemerkung als bloße Floskel abtat. »Wir kennen uns erst seit kurzer Zeit. Es ist noch viel zu früh, Euch zu bitten, Euer Schicksal mit dem meinen zu verbinden. Gute Nacht, Viviace.« Er holte tief Luft und stieß dann einen Seufzer aus. »Etta, Liebes, ich fürchte, mein Bein schmerzt. Würdest du mir ins Bett helfen?« »Aber natürlich.« Das rührte sie. »Das ist das Klügste. Auf der Brummbär gab es Duftöl. Ich habe mir welches genommen. Ich weiß, wie diese Krücke Euren Rücken und Eure Schulter strapaziert. Ich erwärme das Öl und reibe Euch ein.« Er beugte sich vor, als sie ihn von der Reling wegführte. »Dein Vertrauen verleiht mir so viel Kraft, Etta«, gestand er. Er blieb stehen, und sie wartete verwirrt neben ihm. Merkwürdig langsam nahm er ihr Kinn in seine Hand und hob ihr Gesicht an. Dann bückte er sich und küsste sie. Hitze durchströmte sie, nicht nur wegen seiner warmen Lippen auf ihrem Mund und seines starken Arms um ihre Hüfte, sondern auch wegen der öffentlichen Zurschaustellung seiner Zuneigung. Er streichelte sie, und ihr Kleid knisterte, als er sie an sich presste. Durch diesen Kuss zeigte er in aller Öffentlichkeit seine Gefühle für sie. Sie fühlte sich wie im siebten Himmel. Schließlich löste er seine Lippen von ihren, hielt seinen Arm aber weiter um sie geschlungen. Sie zitterte wie eine Jungfrau. »Wintrow«, sagte Kennit ruhig. Etta drehte sich um und sah, wie der junge Mann sie mit großen Augen betrachtete. »Wenn heute Nacht etwas mit Opal geschieht, kommst du sofort zu mir.« »Jawohl, Sir«, flüsterte Wintrow. Sein Blick glitt über sie bei-
de. Es lag sowohl Bewunderung als auch Hunger darin. »Komm, Etta, in unser Bett. Ich brauche den Trost deiner Nähe. Und ich muss fühlen, dass du an mich glaubst.« Dass er das laut aussprach, ließ sie beinahe schwindeln. »Ich bin immer bei Euch«, versicherte sie ihm. Sie hielt ihm die Krücke, damit er zum Hauptdeck hinuntergehen konnte. »Kennit!«, rief ihm Viviace nach. »Ich glaube an Euch. Bald bin ich so weit.« »Natürlich«, antwortete er höflich. »Gute Nacht, Schiff.« Sie brauchten eine Ewigkeit, um das Deck zu überqueren. Schließlich hatten sie die Kajüte erreicht. »Lasst mich das Öl erwärmen«, sagte sie. Aber als sie es über die Lampe hielt, humpelte er zu ihr. Er nahm ihr das halb warme Öl aus der Hand und stellte es zur Seite. Einen Moment betrachtete er sie stirnrunzelnd, als wäre sie ein Problem. Sie sah ihn fragend an. Dann nahm er die Krücke fest unter die Achsel und hob die Hände an den Hals. Er kaute unwillkürlich auf der Lippe, als er mit seinen großen Fingern an dem feinen Band fummelte, das ihre Bluse zusammenhielt. Sie wollte es für ihn öffnen, aber er schob ihre Hand mit verblüffender Zartheit beiseite. »Wenn du erlaubst«, sagte er leise. Es schüttelte sie, als er sorgfältig die Bänder und Knöpfe an ihrer Kleidung löste. Er zog ihr jedes Stück einzeln aus und legte es zur Seite. Das hatte er noch nie getan. Als sie schließlich nackt vor ihm stand, tauchte er seinen Finger in das Öl. »So?«, fragte er unsicher. Seine Finger hinterließen glänzende Spuren auf ihren Brüsten und ihrem Bauch. Sie hielt den Atem an, als er sie zart berührte und einölte. Dann neigte er den Kopf und küsste ihren Hals. Sanft führte er sie zum Bett. Sie ging willig mit, aber sein merkwürdiges Verhalten verwirrte sie. Er legte sich neben sie und berührte sie. Dabei beobachtete er ihr Gesicht und nahm jede Reaktion in sich auf. Schließlich beugte er sich vor. »Sag mir, was dir gefällt«, flüsterte er. Seine Worte erschreckten sie. Noch nie zuvor hatte er das getan.
Sie war die erste Frau, der er Vergnügen bereiten wollte. Sie hielt erneut die Luft an. Plötzlich war seine jungenhafte Unerfahrenheit atemberaubend erotisch. Er weigerte sich nicht, als sie seine Hände nahm und sie führte. Noch nie hatte er ihr diese Dominanz erlaubt. Es war berauschend. Er war kein besonders erfahrener Schüler. Seine Berührungen waren zögernd und so süß wie Nektar. Sie konnte seine eindringliche Miene nicht lange betrachten, weil sie Angst hatte, in Tränen auszubrechen. Und das würde er nicht verstehen. Stattdessen gab sie sich ihm hin. Sie sah zu, wie er lernte, von ihrem hastigen Atmen und den leisen Schreien geführt, die sie nicht unterdrücken konnte. Er lächelte erfreut, und seine Augen funkelten befriedigt, als er begriff, dass es sich um eine Art von Meisterschaft handelte, ihr dieses Vergnügen bereiten zu können. Je stärker diese Erkenntnis in ihm wuchs, desto sicherer wurde seine Berührung. Aber er war niemals grob. Als er schließlich in sie eindrang, kam sie sofort. Dann konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Er küsste sie weg und begann von neuem. Sie verlor jedes Zeitgefühl. Schließlich war ihr ganzer Körper so befriedigt und empfindsam, dass seine Berührungen ihr beinahe wehtaten. »Bitte, Kennit«, sagte sie leise. »Genug.« Er lächelte. Dann rückte er von ihr ab und ließ ihre Körper abkühlen. Plötzlich beugte er sich vor und tippte gegen das Amulett in ihrem Nabel. Sie zuckte zusammen. Der kleine Ring aus Hexenholz, der ihren Bauchnabel durchbohrte, schützte sie vor Krankheiten und vor Schwangerschaft. »Könnte das abgehen?«, wollte er wissen. »Es könnte abgehen«, gab sie zu. »Aber ich bin sehr vorsichtig. Es ist noch nie…« »Und dann könntest du schwanger werden?« Sie bekam keine Luft mehr. »Ja«, erwiderte sie schließlich vorsichtig. »Gut.« Er legte sich mit einem zufriedenen Seufzer neben sie.
»Vielleicht möchte ich ja, dass du ein Kind bekommst. Wenn ich ein Baby von dir wollte, würdest du das doch sicher für mich tun, hab ich Recht?« Ihr Brustkorb zog sich so fest zusammen, dass sie kaum sprechen konnte. »O ja«, flüsterte sie heiser. »Ja.« Mitten in der Nacht wachte Kennit von einem Kratzen an der Tür auf. »Was denn?«, rief er heiser. Die Frau neben ihm schlief tief und fest. »Wintrow, Kapitän Kennit… Sir, Opal ist tot. Er ist einfach… gestorben.« Das war nicht gut. Er hatte es so geplant, dass Opal Schmerzen ertragen und es überleben sollte. Es sollte eine Lektion für Viviace sein. Kennit schüttelte in der Dunkelheit den Kopf. Und jetzt? Konnte er noch etwas retten? »Kapitän Kennit?« Wintrow klang verzweifelt. Kennit antwortete leise. »Stell es nicht in Frage, Wintrow. Akzeptiere es. Mehr können wir nicht tun. Wir sind eben nur Menschen.« Er seufzte laut und ließ seine Stimme dann besorgt klingen. »Geh schlafen, Junge. Morgen früh können wir uns immer noch mit der Trauer auseinander setzen.« Er hielt inne. »Ich weiß, dass du es versucht hast, Wintrow. Denk nicht, dass du mich enttäuscht hast.« »Sir.« Nach einem Moment hörte er die leisen Schritte des Jungen, als er sich entfernte. Was sollte er dem Schiff sagen? Irgendetwas über ein Opfer, etwas, das Opal edel und inspirierend machte statt einfach nur tot. Die Worte würden ihm schon einfallen, wenn er sich entspannte und auf sein Glück vertraute. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und legte sich wieder auf das Kissen. Sein Rücken schmerzte furchtbar. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass Frauen eine solche Ausdauer hatten. »Viviace kocht vor Eifersucht. Aber genau das hast du beabsichtigt, hm?« Er drehte den Kopf und betrachtete das Amulett an seinem
Handgelenk. »Wenn du so viel weißt, warum stellst du dann noch so viele Fragen?« »Weil ich gern möchte, dass du zugibst, was für ein Schuft du bist. Empfindest du überhaupt etwas für Etta? Schämst du dich nicht für das, was du ihr antust?« Kennit war gekränkt. »Schämen? Sie hat unter meinen Händen doch nicht gelitten. Im Gegenteil, ich habe ihr heute eine Nacht bereitet, die sie niemals vergessen wird.« Er streckte sich und versuchte, seine schmerzenden Muskeln zu entspannen. »Und das hat mich nicht wenig gekostet«, fügte er gereizt hinzu. »Was für eine Schau«, murmelte das kleine Hexenholzamulett sarkastisch. »Hattest du befürchtet, das Schiff würde es nicht merken, wenn sie nicht vor Lust aufschrie? Ich kann dir versichern, dass Viviace sich deiner jederzeit bewusst ist. Es waren deine Bemühungen um Etta, die sie verärgert haben, nicht Ettas Lust.« Kennit drehte sich von der schlafenden Frau an seiner Seite weg. »Also, wie viel erkennst du von dem Schiff?« »Sie schützt sich gegen mich«, gab das Amulett zögernd zu. »Aber ich kann trotzdem eine Menge erkennen. Sie ist viel zu groß und überall um mich herum. Sie kann ihre Gedanken nicht vollständig von mir abschirmen.« »Und Wintrow? Kannst du ihn auch durch sie spüren? Was fühlt er heute Nacht?« »Was? Musst du wirklich noch mehr über ihn wissen? Opals Tod hat ihn sehr getroffen.« »Es geht nicht um Opals Tod«, widersprach Kennit gereizt. »Ich habe gesehen, wie er uns beobachtete, als ich Etta vor Viviace küsste. Das hat mich überrascht. Hat er Gefühle für diese Hure?« »Nenn sie nicht so!«, knurrte ihn das Amulett drohend an. »Wenn du noch einmal so von ihr sprichst, dann werde ich dir gar nichts mehr sagen.«
»Findet er Etta attraktiv?«, wiederholte Kennit hartnäckig. Das Amulett ließ sich erweichen. »Er ist naiv. Er bewundert sie. Ich bezweifle, dass er sich erlauben würde, sie attraktiv zu finden.« Es zögerte. »Deine kleine Vorstellung heute Abend hat ihm einiges zum Nachdenken gegeben. Er wird das Opals Tod gegenüberstellen.« »Ein sehr unglücklicher Zufall«, murmelte Kennit und verstummte. Wie konnte er Etta Wintrow schmackhafter machen? Vielleicht mit mehr Schmuck? Jungen fühlten sich immer von funkelnden Dingen angezogen. Er würde sie als einen erstrebenswerten Besitz darstellen. »Warum hast du sie heute nach einem Baby gefragt?«, wollte das Amulett kurz darauf wissen. »Ein flüchtiger Gedanke. Ein Kind wäre vielleicht nützlich. Das hängt davon ab, wie Wintrow sich entwickelt.« Das Amulett war perplex. »Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst. Und wenn ich es wüsste, fände ich es vermutlich absolut widerlich.« »Ich wüsste nicht, warum«, antwortete Kennit. Er schloss die Augen. »Wie könnte ein Kind nützlich für dich sein?«, wollte das Amulett kurz darauf wissen. »Ich werde keine Ruhe geben, bis du es mir sagst«, meinte es, als Kennit schwieg. Kennit seufzte. »Ein Kind könnte das Schiff zufrieden stellen. Sollte Wintrow unerträglich werden, dann könnte er ersetzt werden.« »Mit deinem und Ettas Kind?«, fragte das Amulett ungläubig. Kennit lachte leise. »Nein, natürlich nicht. Jetzt bist du albern.« Er streckte sich und drehte sich wieder zu Etta um. Er schmiegte sich an sie und schloss die Augen. »Wintrow müsste das Kind zeugen. Dann gehörte es zur Familie des Schiffes.« Er seufzte befriedigt und runzelte dann die Stirn. »Allerdings vermute ich, dass ein Kind an Bord eine ziemliche Plage ist. Es
wäre einfacher, wenn Wintrow lernen würde, sein Schicksal zu akzeptieren. Der Junge verfügt über ein großes Potential. Er kann denken. Ich muss ihn einfach nur so ausbilden, dass er denkt wie ich. Vielleicht nehme ich ihn zum Orakel der Anderen mit. Vielleicht könnten sie ihn zu seiner Bestimmung bekehren.« »Lass mich stattdessen mit ihm sprechen«, schlug das Amulett vor. »Vielleicht könnte ich ihn dazu bringen, dich umzubringen.« Kennit kicherte anerkennend und schlief ein.
21
Rettung Das laue Lüftchen vom Meer war das Einzige, was die Arbeit erträglich machte. Die Sommersonne brannte aus dem wolkenlosen Himmel herunter. Als Brashen aufs Meer hinausblickte, war es unangenehm hell. Das grelle Licht bohrte sich wie Dornen in sein Gehirn. Doch er runzelte aus einem anderen Grund die Stirn. Die Arbeiter bewegten sich äußerst träge und führten ihre Aufgaben ohne Energie und ohne großen Eifer aus. Breitbeinig stand er auf dem geneigten Deck des Paragon. Er schloss kurz die Augen, öffnete sie dann wieder und versuchte, die Angelegenheit von einer neuen Perspektive anzugehen. Das Schiff war vor gut dreißig Jahren an Land gezogen worden. Es war aufgegeben und vernachlässigt worden, und die Elemente hatten ihr Spiel mit ihm getrieben. Wäre es nicht aus Hexenholz gebaut worden, dann wäre es jetzt kaum mehr als ein Gerippe. Die Stürme und Gezeiten hatten den Paragon an den obersten Rand der Hochwasserlinie geschoben. Die Jahre hatten Sandhaufen gegen seinen Rumpf geblasen. Er lag jetzt mit dem Kiel zum Wasser schräg auf dem sandigen Strand. Nun konnten ihn nur noch die höchsten Flutwellen erreichen. Die Lösung war trügerisch einfach. Der Sand musste weggeschaufelt werden. Dann würden Hölzer unter den Rumpf geschoben werden, die als Rutschen dienten. Danach befestigte man ein schweres Gegengewicht an der Spitze des zersplitterten Hauptmastes und legte ihn so noch weiter auf die Seite. Bei der höchsten Flut am Ende des Monats konnte man einen Schleppkahn vor der Küste verankern und ein Tau vom Paragon zur Winde am Heck des Kahns spannen. Wenn ihn dann Männer an Land mit Hebeln die Rutschen hinunterschoben und die Männer auf dem Kahn die Winde bedienten, würde das
Schiff auf der Seite ins Wasser gleiten. Das Gegengewicht würde ihn geneigt halten und es ermöglichen, ihn in flacheres Wasser zu ziehen. Sobald sie ihn im tiefen Wasser hatten, konnten sie ihn aufrichten. Dann würden sie sehen, was als Nächstes passierte. Brashen seufzte. Man konnte die ganze Operation in einigen Sätzen beschreiben und dann eine ganze Woche arbeiten, ohne der Lösung auch nur einen Schritt näher gekommen zu sein. Die Männer plagten sich rund um das Schiff mit Schaufeln und Schubkarren. Während der gestrigen Flut hatte man schwere Balken herbeigebracht. Sie lagen sicher vertäut auf dem Strand und warteten auf ihre Nutzung. Daneben lag ein weiteres Floß mit Rollbalken. Wenn alles gut ging, würde der Paragon schließlich auf ihnen den Strand hinunterrollen und wieder in See stechen. Wenn alles gut ging. An manchen Tagen kam ihm das wie eine vergebliche Hoffnung vor. Die neuen Handwerker bewegten sich langsam in der heißen Sonne, Hammerschläge hallten durch die warme Luft. Unter dem Sand lagen Felsen. An einigen Stellen konnte man sie wegschlagen, um die Rutschen unter das Schiff zu legen. An anderen Stellen wiederum versuchten Männer, Hebel unter das Schiff zu bringen. Es würde ungeheure Mühe kosten, es anzuheben, damit man weitere Hebel noch tiefer hineinschieben konnte. Jede Bewegung verursachte neue Schäden an dem alten Kahn. Nach all den Jahren auf der Seite mussten die Balken und Planken einfach nachgegeben haben. Soweit Brashen das sehen konnte, war der Rumpf nicht allzu sehr in Mitleidenschaft gezogen worden, aber das Schiff musste erst aufgerichtet werden, bevor er sich endgültig davon überzeugen konnte. Doch sobald er aufrecht stand und schwamm, und Brashen betete, dass der Paragon schwamm, würde die eigentliche Arbeit beginnen. Der ganze Rumpf musste ausgerichtet werden, bevor man ihn wieder kalfatern konnte. Dann musste ein neuer Mast aufge-
richtet werden… Brashen unterbrach diesen Gedankengang. Er durfte nicht soweit vorausdenken, sonst würde er sich selbst entmutigen. Ein Tag und eine Aufgabe, mehr konnte sein schmerzender Kopf nicht bewältigen. Er fuhr unbewusst mit der Zunge über die Innenseite seiner Unterlippe und tastete nach dem Stück Cindin. Es war keines da. Selbst die tiefen Wunden von der Suchtdroge heilten allmählich ab. Sein Körper schien die Droge leichter vergessen zu können als sein Geist. Er sehnte sich nach Cindin wie ein Verdurstender nach Wasser. Er hatte vor zwei Tagen sogar seinen Ohrring gegen ein Stück eingetauscht und es dann bereut. Nicht nur hatte er dadurch einen Rückfall erlitten, sondern das Cindin war auch ausgesprochen schlecht gewesen, ein Witz. Trotzdem, hätte er noch ein einziges Silberstück gehabt, er hätte der Versuchung nicht widerstehen können. Doch die einzigen Münzen, die er besaß, waren die in dem Beutel, den ihm Ronica Vestrit anvertraut hatte. Gestern Nacht war er schweißgebadet und mit rasenden Kopfschmerzen aufgewacht. Er hatte bis zum Morgengrauen wach gelegen und versucht, die Krämpfe in Händen und Füßen zu bekämpfen, während er gleichzeitig die dünne Börse anstarrte. Wie falsch konnte es wohl sein, einige Münzen davon für sich zu nehmen, um wieder in Ordnung zu kommen? Das Cindin würde ihn befähigen, länger wach zu bleiben und mehr Energie für seine Aufgaben aufzubringen. Am Morgen hatte er den Beutel geöffnet und die Münzen gezählt. Dann hatte er sie wieder in den Beutel zurückgelegt und war in die Kombüse gegangen, wo er sich einen weiteren Topf Kamillentee aufbrühte. Amber hatte dort gesessen und geschnitzt und wohlweislich nichts gesagt. Er wunderte sich immer noch, wie leicht sie sich an seine Anwesenheit gewöhnt hatte. Sie akzeptierte sein Kommen und Gehen ohne jeden Kommentar. Und sie bewohnte immer noch die Kapitänskajüte. Um sie zu seiner Unterkunft zu machen, war immer noch genug Zeit, wenn der Paragon
wieder schwamm. Bis dahin schlief er in seiner Hängematte im Zwischendeck. Es wurde immer schwieriger, auf dem geneigten Schiff zu leben, je stärker der Neigungswinkel wurde. »Paragon, nein!« Ambers laute, ungläubige Stimme ertönte zusammen mit dem ungeheuren Krachen eines Balkens. Andere Stimmen schrien Warnungen. Brashen kletterte hastig vor und kam in dem Moment auf dem Vordeck an, als ein Balken mit einem sirrenden Geräusch gegen einen Felsbrocken auf dem Strand prallte. Überall zogen sich Arbeiter von dem Schiff zurück. Sie riefen einander Warnungen zu und deuteten nicht nur auf den Holzbalken, sondern auch auf das Loch, das er in den Sand gegraben hatte. Mit ausdrucksloser Miene und ohne ein Wort zu sagen, verschränkte Paragon seine muskulösen Arme wieder vor der Brust und starrte mit seinen leeren Augenhöhlen auf das Meer hinaus. »Verdammt noch mal!«, schrie Brashen wutentbrannt. Er sah die Arbeiter an. »Wer hat ihm diesen Balken gegeben?« Ein bleicher Vorarbeiter antwortete ihm. »Wir wollten ihn gerade einbauen. Er hat heruntergegriffen und ihn uns einfach weggenommen… Woher bei Sa wusste er überhaupt, dass er da war?« Die Stimme des Mannes bebte vor abergläubischer Furcht. Brashen ballte die Hände zu Fäusten. Wenn es der erste Tag gewesen wäre, an dem Paragon schlechte Laune gehabt hätte, wäre er überrascht gewesen. Aber das Schiff hatte vom ersten Tag an die Arbeiten verzögert. Seine Wutanfälle erschwerten es Brashen erheblich, die Arbeiter zu behalten. Und Paragon hatte bisher noch kein einziges freundliches Wort zu Brashen gesagt. Brashen beugte sich über die Reling. Im Augenwinkel sah er Althea, die gerade ankam, um ihre Arbeit zu beginnen. Die Szene schien sie zu verwirren. »Geht wieder an die Arbeit!«, schrie er den Arbeitern zu, die nur gaffend dastanden und sich
gegenseitig anstießen. »Nehmt diesen Balken wieder hoch, und baut ihn ein!« »Ich nicht!«, erklärte einer der Männer. Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und warf seinen Hammer in den Sand. »Er hätte mich eben umbringen können. Er kann nicht sehen, wo er das Zeug hinwirft, selbst wenn ihn das kümmern würde. Was ich nicht glaube. Er hat schon Leute umgebracht, das weiß jeder. Mein Leben ist mir mehr wert, als was Ihr für mein Tagwerk bezahlt. Ich gehe. Ich will mein Geld.« »Ich auch.« »Und ich auch.« Brashen kletterte über die Reling und sprang dann auf den Strand herunter. Er ließ sich die Schmerzen nicht anmerken, die in seinem Kopf hämmerten. Entschlossen näherte er sich den Männern und hoffte inständig, dass es nicht wirklich zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung kam. Dann knöpfte er sich den Mann vor, der zuerst gesprochen hatte. »Wenn du bezahlt werden willst, dann bleibst du hier und beendest dein Tagwerk. Wenn du jetzt gehst, kriegst du keinen Heller.« Er sah die anderen finster an und betete, dass sein Bluff wirkte. Er wusste nicht, wo er neue Leute herbekommen sollte, wenn diese Arbeiter einfach gingen. Sie waren der Abschaum aus den Tavernen, die nur so lange arbeiteten, bis sie genügend Geld zum Versaufen hatten. Er hatte ihnen bessere Löhne bieten müssen, als sie woanders bekommen konnten, um sie zu diesem verwünschten Schiff herauszulocken. Als die Männer jetzt unzufrieden murrten, schrie er sie an: »Nehmt an oder lasst es bleiben! Ich habe euch nicht für einen halben Tag Arbeit angestellt, und ich werde auch nicht für einen halben Tag bezahlen. Nehmt den Balken hoch!« »Ich arbeite«, sagte einer der Männer schließlich. »Aber nicht hier vorn, wo er mich packen oder mit einem Balken zerschmettern kann. Das mache ich nicht.«
Brashen spie angewidert aus. »Dann arbeite eben hinten am Heck. Amber und ich übernehmen den Bug, wenn euch dazu der Mumm fehlt.« Paragon lächelte böswillig. »Einige ziehen einen schnellen Tod vor, einige einen langsamen. Andere kümmert es nicht, ob ihre Söhne ohne Beine geboren werden oder blind, wie dieses verfluchte Schiff. Nehmt nur eure Hämmer in die Hand und arbeitet weiter. Was kümmert es euch schon, was morgen passiert.« Mit tieferer Stimme fuhr er fort: »Warum solltet ihr auch erwarten, lange zu leben?« Brashen wirbelte herum. »Sprichst du mit mir?«, wollte er wissen. »Die ganze Zeit kein Wort und dann so was?« Einen Augenblick veränderte sich die Miene von Paragon. Brashen wusste nicht, wie er den Ausdruck benennen sollte, aber er ging ihm zu Herzen. Einen Moment später starrte das Schiff ihn hochmütig an. Die Galionsfigur holte tief Luft und verstummte. Brashen riss der Geduldsfaden. Die Helligkeit der Sonne brannte ihm ins Gehirn und steigerte die Schmerzen ins Unerträgliche. Er schnappte sich einen der Eimer mit Trinkwasser, die die Arbeiter am Bug stehen gelassen hatten. Mit aller Kraft schleuderte er dem Paragon das Wasser ins Gesicht. Das ganze Schiff erbebte, und die Galionsfigur stieß ein wütendes Knurren aus. Wasser tropfte von seinem Bart und rann über seine nackte Brust. Brashen ließ den leeren Eimer fallen und schrie das Schiff an: »Tu nicht so, als könntest du mich nicht hören! Ich bin dein Kapitän, verdammt noch mal, und ich werde keinen Ungehorsam dulden, weder von dir noch von jemand anderem! Hämmer dir das in deine sture Birne, Paragon! Du wirst segeln. So oder so werde ich dich ins Wasser schleppen und die Segel an deine Knochen hängen! Du hast jedoch eine Wahl, und du solltest dich schnell entscheiden, weil mir die Geduld ausgeht. Du kannst hier in See stechen und jammern, schmollen wie ein ungeratenes Gör, und die ganze
Flotte wird das mit ansehen. Oder du kannst den Kopf stolz heben und hier wegsegeln, als kümmerte es dich einen Dreck, was irgendjemand jemals über dich gesagt hat. Du hast die Chance, allen zu beweisen, dass sie dir Unrecht getan haben. Du kannst ihnen ihre ganzen Gemeinheiten in den Rachen stopfen. Du kannst wie ein Bingtowner Zauberschiff hier ablegen, und wir können den Piraten die Hölle heiß machen. Oder aber du kannst beweisen, dass sie alle Recht hatten und ich der Narr bin. Ich sage dir das, weil das die einzige Angelegenheit ist, in der du ein Mitspracherecht hast. Du wirst nicht entscheiden, ob wir in See stechen oder nicht, weil ich der Kapitän bin und das bereits entschieden habe. Du bist ein Schiff, kein Blumenkübel! Du bist geschaffen worden, um zu segeln, und du wirst segeln. Ist das klar?« Das Schiff biss die Kiefer zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust. Brashen wirbelte herum und schnappte sich den zweiten Eimer. Mit einem angestrengten Knurren schleuderte er den Inhalt der Galionsfigur ins Gesicht. Paragon zuckte zurück und spuckte erschreckt. »Ist das klar?«, schnauzte Brashen ihn an. »Antworte gefälligst!« Die Arbeiter beobachteten ihn ehrfürchtig. Sie warteten darauf, dass er starb. Althea hatte Ambers Arm gepackt. Die Augen der Perlenmacherin glühten vor Wut. Nur Altheas Griff konnte sie davon abhalten, sich zwischen Brashen und das Schiff zu stellen. Mit einem Zeichen bedeutete ihr Althea zu schweigen. Amber ballte die Hände zu Fäusten, gehorchte aber. »Es ist klar«, erwiderte Paragon schließlich. Er stieß die Worte barsch aus, aber er hatte geantwortet. Brashen klammerte sich an diesen winzigen Sieg. »Gut«, meinte er. Seine Stimme klang überraschend ruhig. »Ich lasse dich jetzt in Ruhe über diese Alternative nachdenken. Ich glaube, du kannst mich stolz auf dich machen. Ich
muss wieder an die Arbeit. Wenn du lossegelst, will ich, dass du genauso prächtig aussiehst wie damals, als du vom Stapel gelaufen bist.« Er hielt kurz inne. »Vielleicht schaffen wir es ja auch, dass ihnen der ganze Mist im Hals stecken bleibt, den sie über mich erzählt haben.« Er drehte sich mit einem Grinsen zu Althea und Amber um. Aber keine der beiden Frauen erwiderte es. Nach einem Moment verschwand es auch von Brashens Gesicht. Er holte tief Luft und schüttelte den Kopf. Dann senkte er die Stimme und sprach nur zu ihnen. »Ich gebe mein Bestes bei ihm, und das auf die einzige Art, die ich kenne. Ich werde segeln. Ich werde alles tun oder sagen, was nötig ist, um dieses verdammte Schiff wieder zu Wasser zu lassen.« Er erwiderte finster ihre missbilligenden Blicke. »Vielleicht solltet ihr beide euch ja noch einmal überlegen, wie wichtig euch das hier eigentlich wirklich ist. Aber während ihr nachdenkt, sind wir die Bugmannschaft. Vielleicht kann ich heute Abend ja einige neue Leute anheuern, die keine Angst vor ihm haben. Aber ich kann deswegen jetzt nicht das Tageslicht verschwenden.« Er deutete auf den Holzbalken, der im Sand lag. »Wir werden ihn wieder einbauen.« So ruhig er konnte, fuhr er fort: »Wenn er glaubt, dass ihr Angst vor ihm habt… Und wenn er zu der Überzeugung kommt, dass er mit seinem Verhalten durchkommt… dann sind wir alle verloren. Einschließlich Paragon selbst.« Es war der Beginn eines langen, schweißtreibenden Tages. Die Gleitkufen waren sehr schwer. Brashen arbeitete in der Sonne, bis sein Gehirn im Schädel zu kochen schien. Sie schaufelten den trockenen Sand aus und trugen ihn weg. Die Felsbrocken, auf die sie stießen, waren entweder zu Schichten verkeilt oder immer etwas zu schwer für eine einzelne Person. Er trieb seinen Körper unbarmherzig weiter an und bestrafte ihn für sein ständiges Verlangen nach Cindin. Hätten Althea oder Amber nach einer Pause verlangt, hätte er sie ihnen ge-
währt. Aber Althea war genauso stur wie er, und Amber war bemerkenswert zäh. Sie hielten das Tempo mit, das er angeschlagen hatte. Mehr noch, als sie unter der Galionsfigur arbeiteten, schlossen sie Paragon in das Gespräch mit ein, ignorierten sein störrisches Schweigen. Die Bemühungen der beiden Frauen und ihre Furchtlosigkeit schienen die Arbeiter zu beschämen. Zuerst half ihnen einer und dann noch einer beim Bug. Als Ambers Freundin Jek vorbeischlenderte, um nachzusehen, wie sie weiterkamen, packte sie einige Stunden lang mit an und bewies ihre beträchtliche Muskelkraft. Clef kam und ging. Er war mindestens genauso oft im Weg, wie er hilfreich war. Brashen knurrte den Jungen genauso häufig an, wie er ihn lobte. Aber während seiner Zeit als Sklave hatte sich der Junge ein dickes Fell zugelegt. Er arbeitete geduldig und war weniger wegen seines Mangels an Geschicklichkeit, sondern eher wegen seiner geringen Körpergröße benachteiligt. Er hatte alle Voraussetzungen für einen guten Matrosen. Gegen den Rat seines Gewissens würde Brashen ihn mit auf die Reise nehmen. Es war sicher nicht richtig, aber er konnte ihn brauchen. Die anderen Arbeiter beobachteten sie verstohlen. Vielleicht beschämte es sie, dass die Frauen dort arbeiteten, wo sie sich nicht getraut hatten. Jedenfalls legten sie einen Zahn zu. Brashen hätte nicht erwartet, dass eine derartig heruntergekommene Bande noch einen Funken Stolz im Leib haben könnte. Er nutzte die Gelegenheit und trieb sie noch schärfer an. Am Nachmittag war es drückend heiß im Frühstückssalon. Es half auch nichts, wenn man die Fenster öffnete, weil kein einziges Lüftchen wehte. Malta fuhr mit dem Finger in den Kragen ihres Kleides und zog den feuchten Stoff von ihrer Haut weg. »Ich kann mich noch daran erinnern, dass wir hier gesessen und Eistee getrunken haben. Und deine Köchin hat kleine Zitronenkuchen gemacht.« Delo schien Maltas eingeschränkte Lebensumstände stärker zu bedauern als Malta selbst. Und es
ärgerte Malta sogar, dass ihre Freundin so pingelig auf alle kleinen Mängel in ihrem Heim hinwies. »Die Zeiten haben sich geändert«, erwiderte Malta gereizt. Sie ging an das offene Fenster, lehnte sich hinaus und betrachtete den vernachlässigten Rosengarten. Die Büsche waren voller Blüten und schienen ihr unkontrolliertes Wachstum zu genießen. »Eis ist teuer«, bemerkte sie nachdrücklich. »Mein Papa hat gestern zwei Blöcke gekauft«, bemerkte Delo beiläufig und fächerte sich Luft zu. »Und die Köchin macht uns heute Abend Eis zum Nachtisch.« »Oh, wie schön.« Maltas Stimme klang ausdruckslos. Wie viel von diesem Geschwätz, glaubte Delo, würde sie sich noch anhören? Zuerst war sie in ihrem neuen Kleid mit einem Fächer und einem Hut aufgetaucht. Der Fächer war aus Gewürzpapier gemacht und verbreitete einen angenehmen Duft, wenn sie ihn benutzte. Es war die neueste Mode in Bingtown. Dann hatte Delo sie nicht einmal gefragt, wie es um das Schiff stand und ob sie schon eine Lösegeldforderung erhalten hatten. »Gehen wir hinaus in den Schatten«, schlug Malta vor. »Nein, noch nicht.« Delo sah sich um, als erwarte sie, dass die Dienstboten an den Türen herumlungerten. Malta hätte beinahe geseufzt. Sie hatten keine Diener, die lauschen konnten. Heimlichtuerisch kramte Delo eine kleine Geldbörse aus dem Bund ihres Rocks. Mit gesenkter Stimme sagte sie: »Cerwin schickt dir das, um dir in diesen schwierigen Zeiten zu helfen.« Einen Moment konnte Malta beinahe Delos Begeisterung über diesen dramatischen Augenblick teilen. Doch dann verflüchtigte sich das Gefühl. Als sie von der Entführung ihres Vaters erfahren hatte, schien dieser Vorfall mit Erregung und Tragik beladen zu sein. Sie hatte die Lage bis an die Grenzen ihrer theatralischen Möglichkeiten ausgekostet. Jetzt verstrichen die Tage einer nach dem anderen, und sie waren voller Unruhe und Stress. Es waren keine guten Nachrichten eingetroffen. Bingtown war ihnen nicht zu Hilfe gekommen. Einige
Leute hatten ihr Mitgefühl ausgedrückt, aber das war nur eine höfliche Geste gewesen. Ein paar hatten Blumen mit einigen Worten des Beileids geschickt, als wäre ihr Vater bereits tot. Trotz ihrer Bitte war Reyn nicht zu ihr gekommen. Niemand stand ihr zur Seite. Tag um Tag war in derselben zähen, tödlichen Verzweiflung vergangen. Allmählich war Malta klar geworden, dass dies Realität war und vielleicht das Todesurteil für ihr Familienvermögen bedeutete. Sie konnte nicht einschlafen, weil es ihr keine Ruhe ließ. Wenn sie dann schließlich doch wegdämmerte, wurde sie von beunruhigenden Träumen geplagt. Jemand verfolgte sie und war entschlossen, sie seinem Willen zu unterwerfen. Die Träume, an die sie sich erinnern konnte, waren allesamt böse Botschaften, die jemand ihr schickte, um ihr jede Hoffnung zu nehmen. Gestern Morgen war sie mit einem Schrei aus einem Alptraum aufgeschreckt. Der verweste Leichnam ihres Vaters war an einen Strand gespült worden. Schlagartig war ihr klar geworden, dass er wirklich tot sein könnte. Er könnte tot sein, und sie machten sich all diese Mühe umsonst. An diesem Tag war sie niedergeschlagen gewesen, und seitdem war ihre Stimmung düster und hoffnungslos. Jetzt nahm sie Delo die kleine Börse aus der Hand und setzte sich, um den Inhalt zu untersuchen. Die unzufriedene Miene ihrer Freundin machte ihr klar, dass Delo etwas mehr Begeisterung erwartet hatte. Malta spielte sie ihr vor. Es war eine kleine Leinenbörse, die reich bestickt und mit vergoldeten Schnüren verschlossen war. Vermutlich hatte Cerwin sie extra für diesen Zweck gekauft. Malta versuchte vergeblich, sich darüber zu freuen. Aber die Gedanken an Cerwin waren nicht mehr so aufregend wie noch vor kurzer Zeit. Er hatte sie nicht geküsst. Von dieser Enttäuschung hatte sie sich immer noch nicht erholt. Aber was dann folgte, war noch viel schlimmer gewesen. Sie hatte geglaubt, dass Männer Macht besaßen. Und als sie das erste Mal jemanden bat, diese Macht für sie einzusetzen,
hatte er sie enttäuscht. Cerwin Trell hatte versprochen, ihr zu helfen, und was hatte er getan? Bei der Händlerversammlung hatte er sie die ganze Zeit nur höchst unschicklich angestarrt. Der halbe Saal musste das bemerkt haben. Und war er aufgestanden und hatte das Wort ergriffen, als Althea die Händler um Hilfe gebeten hatte? Hatte er wenigstens seinen Vater gedrängt, sich für sie einzusetzen? Nein. Er hatte sie nur angeglotzt. Niemand hatte ihr geholfen. Niemand würde ihr helfen. »Befreie mich, und ich werde dir helfen, das verspreche ich dir!« Die Worte des Drachen aus dem Traum, den sie mit Reyn geteilt hatte, hallten plötzlich in ihrem Kopf wider. Sie fühlte einen schmerzhaften Stich in der Schläfe. Wenn sie doch nur eine Weile ruhen könnte. Delo räusperte sich und erinnerte Malta daran, dass sie einfach nur mit Cerwins Börse in der Hand dasaß. Malta zog die Schleife auf und schüttete den Inhalt des Beutels in ihren Schoß. Ein paar Münzen und einige Ringe kamen zum Vorschein. »Cerwin wird eine Menge Ärger bekommen, falls Papa herausfindet, dass er dir diese Ringe gegeben hat«, erklärte Delo vorwurfsvoll. »Den kleinen Silberring hat Mama ihm geschenkt, weil er so gut bei seinem Unterricht aufgepasst hat.« Sie verschränkte die Arme und sah Malta missbilligend an. »Er wird es nicht herausfinden«, erwiderte Malta trostlos. Delo war wirklich noch ein Kind. Die Ringe waren kaum die Mühe wert, sie zu verkaufen. Zweifellos hielt Delo diesen kleinen Beutel für ein großartiges Geschenk, aber Malta wusste es besser. Sie hatte den ganzen Vormittag mit den Haushaltsbüchern verbracht und wusste, dass man mit dem Inhalt dieser Börse zwei gute Handwerker kaum eine Woche lang entlohnen konnte. Ob Cerwin genauso wenig Ahnung von Finanzen hatte wie Delo? Malta hasste es zwar, die Kontobücher zu führen, aber jetzt kannte sie sich in Gelddingen weit besser aus. Und sie erinnerte sich noch an den Grimm, den sie empfunden hatte, als
ihr klar geworden war, wie leichtsinnig sie die Goldstücke ausgegeben hatte, die ihr Vater ihr damals geschenkt hatte. Sie hätten für ein Dutzend Kleider reichen können. Diese kleinen Goldstücke waren weit mehr wert als der gesamte Inhalt dieses Beutels. Jetzt wünschte sich Malta, dass sie sie noch hätte. Sie kämen damit ihrem Ziel, das Schiff wieder flottzumachen, einen großen Schritt näher. Cerwin verstand einfach nicht, wie groß ihre Schwierigkeiten waren. Das war genauso enttäuschend wie der verpasste Kuss. »Warum hat er bei der Versammlung nichts gesagt?«, fragte Malta. »Er wusste doch, was auf dem Spiel stand. Er weiß, was es für mich bedeutet. Aber er hat nichts gemacht.« Delo reagierte gereizt. »Das hat er doch. Er hat alles getan, was er konnte. Er hat mit Papa zu Hause gesprochen. Papa meinte, es wäre eine sehr komplizierte Situation, in die wir uns nicht einmischen dürften.« »Was soll daran kompliziert sein?«, wollte Malta wissen. »Mein Vater ist entführt worden, und wir müssen ihn retten. Dafür brauchen wir Hilfe!« Delo verschränkte die Arme vor der Brust und reckte trotzig das Kinn. »Das ist eine Angelegenheit der Vestrits. Die TrellFamilie kann sie nicht für euch lösen. Wir müssen auf unsere eigenen Geschäftsbeziehungen achten. Und was bringt es uns, wenn wir Geld in die Suche nach deinem Vater investieren?« »Delo!« Malta war entsetzt, und der Schmerz, den sie empfand, war echt. »Wir sprechen hier über das Leben meines Vaters… Er ist der Einzige, der sich wirklich für das interessiert, was aus mir wird! Hierbei geht es nicht um Geld oder Profit!« »Irgendwann geht es bei allen Dingen um den Profit«, erklärte Delo barsch. Dann wurde ihre Miene plötzlich weicher. »Das hat jedenfalls mein Vater zu Cerwin gesagt. Sie haben sich gestritten, Malta. Ich hatte richtig Angst. Als ich das letzte Mal erlebt habe, wie sich zwei Menschen angeschrien haben, war Brashen noch zu Hause. Er hat immer mit meinem Vater
gestritten… Jedenfalls stand er stocksteif da, während mein Vater ihn anbrüllte. Viel weiß ich nicht mehr davon, weil ich noch klein war. Sie haben mich immer aus dem Zimmer geschickt. Und dann hat mir mein Vater eines Tages erzählt, dass Cerwin jetzt mein einziger Bruder wäre. Brashen würde nie mehr nach Hause kommen.« Ihre Stimme klang brüchig. »Die Streitereien haben aufgehört.« Sie schluckte. »Es ist nicht so wie in deiner Familie, Malta. Ihr streitet euch und schreit euch an und sagt schreckliche Dinge, aber ihr haltet zusammen. Niemand wird für immer hinausgeworfen, nicht mal deine Tante Althea. Meine Familie ist nicht so. Dafür ist in meiner Familie kein Platz.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn Cerwin weiter gestritten hätte, hätte ich vermutlich gar keinen Bruder mehr.« Sie sah Malta auffordernd an. »Bitte. Bringe meinen Bruder nicht dazu, dir hierbei zu helfen. Bitte.« Ihr Flehen erschütterte Malta. »Ich… Es tut mir Leid«, sagte sie verlegen. Sie hätte nicht gedacht, dass ihre Experimente mit Cerwin noch jemand anderen betrafen als ihn. In letzter Zeit schien alles größer und weitreichender zu sein als früher. Als sie das erste Mal hörte, dass ihr Vater gefangen genommen worden war, kam ihr das nicht real vor. Sie hatte es als eine Gelegenheit benutzt, die Rolle der erschütterten Tochter zu spielen, aber sie hatte wirklich geglaubt, dass ihr Vater bald nach Hause kommen würde. Ihr Papa war nicht wirklich von Piraten gefangen genommen worden. Nicht der mutige, gut aussehende Kyle Haven. Dennoch war das allmählich immer realer geworden. Mittlerweile begriff sie, dass er vielleicht überhaupt nicht mehr nach Hause kommen würde. Sie sammelte die Münzen und die Ringe ein, legte sie wieder in die Börse zurück und reichte sie Delo. »Du solltest Cerwin das wiedergeben. Ich möchte ihn nicht in Schwierigkeiten bringen.« Außerdem war es nicht genug, um ihr wirklich zu helfen, aber das sagte sie lieber nicht. Delo sah sie entsetzt an. »Das kann ich nicht. Er würde sofort
ahnen, dass ich dir etwas gesagt habe. Und er wäre wütend auf mich. Bitte, Malta, du musst sie behalten, damit ich ihm sagen kann, dass ich sie dir gegeben habe. Außerdem hat er mich gebeten, dich zu fragen, ob du ihm etwas schreiben oder ihm ein Geschenk machen kannst.« Malta sah sie nur an. In letzter Zeit überkam sie manchmal das Gefühl, als wären ihr die Pläne und Ideen ausgegangen. Sie wusste, dass sie aufstehen und im Raum umhergehen sollte. Sie müsste etwas sagen wie: »Es gibt nur noch so wenig, was mir gehört… Das Meiste habe ich verkauft, um Geld zur Rettung meines Vaters zu beschaffen.« Früher wäre ihr das vornehm und romantisch vorgekommen. Sie war sich wie eine Heldin in einer Geschichte vorgekommen, als sie an diesem ersten Tag den Inhalt ihrer Schmuckkassette auf den Tisch schüttete. Wie Althea und Großmutter und ihre Mutter hatte sie Armbänder, Ketten und Ringe aussortiert und zu kleinen Haufen aufgeschichtet. Damals war ihr das wie ein Ritual für Frauen vorgekommen. Die kleinen gemurmelten Kommentare waren ihr wie Gebete erschienen. Das ist Gold, das Silber, das ist zwar altmodisch, aber die Steine sind wertvoll. Und dann die kleinen Geschichten, die sie sich dabei erzählt hatten, Geschichten, die sie längst kannten. »Diesen Ring hat mir mein Vater geschenkt. Es war der erste Ring, den ich je bekommen habe. Sieh mal, jetzt passt er nicht mal mehr auf meinen kleinen Finger.« Oder Großmutter hatte gesagt: »Sie riechen so gut.« Und Althea hatte hinzugefügt: »Ich erinnere mich noch daran, wie Papa sie für dich ausgesucht hat. Ich weiß noch, dass ich ihn fragte, warum er parfümierte Edelsteine kauft, wo er doch keine RegenwildWaren mochte. Er sagte, es würde ihm nichts ausmachen, weil du sie so gern haben möchtest.« Während sie ihren Schmuck sortierten, erzählten sie sich Geschichten, die plötzlich die besseren Zeiten heraufbeschworen. Malta hatte sogar die Dinge hergeben wollen, die sie von Reyn geschenkt bekommen hatte, aber die anderen hatten das nicht zugelassen. Falls sie Reyns
Antrag ablehnte, so sagten sie, müssten diese Geschenke alle zurückgegeben werden. Sie erinnerte sich an diesen Morgen sowohl mit Trübsinn als auch mit Stolz. Eigenartig. An diesem Morgen hatte sie sich mehr als je zuvor als eine erwachsene Frau gefühlt. Doch in der Wirklichkeit war ihr seit damals nur die gähnende leere Schmuckkassette auf ihrer Kommode geblieben. Sie besaß noch einige Dinge, die sie hätte tragen können: Kinderschmuck, emaillierte Haarnadeln und Muschelperlen, sowie den Schmuck, den Reyn ihr geschenkt hatte. Aber irgendwie brachte sie es nicht über sich, diese Juwelen anzulegen, während die anderen Frauen aus ihrer Familie ohne Ringe und ohne jeden Schmuck herumliefen. Sie stand auf und ging zu ihrem Schreibtisch, nahm einen Federhalter, Tinte und ein Blatt Papier und schrieb schnell eine Notiz. »Teurer Freund, ich danke Euch sehr für den Beweis Eurer Anteilnahme an unserer schwierigen Lage. Allerherzlichst.« Die Worte erinnerten sie an eines der korrekten Dankschreiben, die sie mitverfasst und an die Leute verschickt hatte, die ihnen Blumen gesandt hatten. Sie unterschrieb mit ihren Initialen, faltete das Papier zusammen und versiegelte es mit einem Tropfen Wachs. Als sie Delo den Brief gab, musste sie sich unwillkürlich über sich selbst wundern. Noch vor einer Woche hätte sie eine Botschaft an Cerwin sehr sorgfältig komponiert. Sie hätte Anspielungen und Worte einfließen lassen, die viel mehr zu sagen schienen, als an der Oberfläche deutlich war. Jetzt lächelte sie traurig. »Die Worte sind sehr schwach. Ich empfinde viel mehr, als ich wage, dem Papier anzuvertrauen.« So. Damit blieb ihm wenigstens noch Hoffnung. Mehr Energie konnte sie an diesem Tag nicht aufbringen. Delo nahm den Brief und schob ihn in ihren Ärmel. Sie sah sich im Zimmer um. »Na gut«, sagte sie dann enttäuscht. »Ich gehe wohl besser nach Hause.« »Ich bin heute keine besonders gute Gesellschaft«, gab Malta
zu. »Ich bringe dich zur Tür.« Draußen wurde Delo von einem Kutscher mit einem Einspänner erwartet. Das war auch neu. Die Trell-Familie bereitete sich offensichtlich darauf vor, Delo beim Mittsommernachtsball in die Gesellschaft einzuführen. Malta würde bei demselben Ball präsentiert werden. Sie und ihre Mutter verarbeiteten den Stoff aus einigen alten Kleidern zu einem neuen Ballkleid für Malta. Ihre Slipper würden neu sein, genauso wie ihr Kopfschmuck und ihr Fächer. Jedenfalls hoffte sie das. Im Augenblick war nichts sicher. Sie stellte sich vor, wie sie in Händler Restates alter Kutsche zum Ball fuhren. Das war noch eine Demütigung, die sie im Moment nicht ertragen konnte. Delo umarmte sie und küsste sie auf beide Wangen. Es wirkte wie eine Masche, die sie gerade gelernt hatte. Vermutlich ist das auch so, dachte Malta verbittert. Viele der jungen Damen aus der besseren Gesellschaft erhielten Unterweisungen in den vornehmeren Regeln der Etikette, bevor sie präsentiert wurden. Noch etwas, worauf Malta verzichten musste. Sie schloss die Tür, während Delo ihr noch mit ihrem neuen Fächer zuwinkte. Es war zwar eine armselige Rache, aber sie fühlte sich danach etwas besser. Den kleinen Beutel mit Münzen und Ringen brachte sie auf ihr Zimmer und schüttete den Inhalt auf ihr Bett. Es war unterwegs nicht mehr geworden. Sie überlegte, wie sie die Sachen zu dem kleinen Fundus für ihr Schiff hinzugeben konnte, ohne erklären zu müssen, woher sie kamen. Sie runzelte die Stirn. Konnte sie denn nichts richtig machen? Sie schob den Inhalt wieder in den Beutel zurück und legte ihn in ihre Truhe. Dann warf sie sich aufs Bett und dachte nach. Es war zu heiß, und es war zu viel zu tun. Im Küchengarten musste gejätet werden. Außerdem mussten sie Kräuter sammeln, zusammenbinden und trocknen. Ihr Kleid für den Sommerball war erst halb fertig. Malta hatte keine Lust, daran zu arbeiten – nicht, nachdem sie Delos Putz gesehen hatte. Be-
stimmt würde jeder sofort erkennen, dass es aus alten Kleidern gemacht war. Sie erinnerte sich noch, wie sie von ihrem ersten Sommerball geträumt hatte. Damals hatte sie sich vorgestellt, wie sie den Saal in einem extravaganten Kleid am Arm ihres Vaters betrat. Sie lächelte bitter und schloss die Augen. Es war fast, als stünde sie unter einem Fluch. Alles, was sie sich als süß, wundervoll und romantisch vorgestellt hatte, würde sie niemals bekommen. Schläfrig zählte sie ihre Enttäuschungen auf. Kein schönes Kleid und keine eigene Kutsche für den Ball. Kein hinreißender Seekapitän-Vater, der sie eskortierte. Cerwin hatte sie im Stich gelassen, und er wusste nicht einmal, wann man ein Mädchen küsste. Reyn war ihr nicht zu Hilfe gekommen. Sie hasste ihr Leben. Die Probleme waren viel zu groß. Sie war in einem Leben gefangen, das sie nicht ändern konnte. Und es war zu heiß. Sie erstickte beinahe. Es war so schwül. Sie versuchte, zur Seite zu rollen, aber es war nicht genug Platz da. Verblüfft wollte sie sich aufsetzen. Ihr Kopf schlug an ein Hindernis. Als sie die Hände hob, berührten sie nur feuchtes, raues Holz. Sie öffnete die Augen: Alles war schwarz. Sie war gefangen, eingesperrt, und niemand merkte es. Sie schlug mit den Händen gegen dieses Gefängnis. »Hilfe! Lasst mich raus! Hilf mir doch jemand!« Sie trat und schlug, drückte mit Händen, Ellbogen, Knien und Füßen. Nichts gab nach. Ihr Gefängnis wirkte dadurch nur noch kleiner. Die Luft, die sie zum Atmen hatte, schien schon warm und feucht von ihrem Atem zu sein. Sie versuchte zu schreien, aber selbst dafür hatte sie nicht genug Luft. »Es ist ein Traum«, sagte sie sich. Sie zwang sich, vollkommen ruhig liegen zu bleiben. »Das ist ein Traum. Ich bin sicher in meinem eigenen Bett. Ich muss einfach nur aufwachen. Wach auf.« Sie dehnte ihre Muskeln, spannte sie an und versuchte, die Augen zu öffnen. Es ging nicht. Sie hatte nicht einmal genug Platz, ihre Hände vor die Augen zu schlagen. Sie
keuchte krampfhaft vor Furcht. Ein klagender Schrei drang aus ihrem Mund. »Verstehst du jetzt, warum er mich befreien muss? Hilf mir. Bring ihn dazu, mich zu befreien. Ich verspreche dir, dass ich dir helfen werde. Ich bringe dir deinen Vater und das Schiff zurück. Du musst nichts weiter tun, als ihn dazu zu bringen, mich zu befreien.« Diese Stimme kannte sie. Sie hatte sie in ihrem Traum gehört, den sie mit Reyn geteilt hatte. »Lass mich raus«, flehte sie den Drachen an. »Lass mich aufwachen.« »Bringst du ihn dann dazu, mir zu helfen?« »Er sagt, dass er es nicht kann.« Malta fand kaum noch die Luft für diese Worte. »Er würde es sicher tun, wenn er es könnte.« »Sorg dafür, dass er einen Weg findet.« »Das kann ich nicht.« Eine Sekunde später rückte die Dunkelheit noch näher. Sie würde ohnmächtig werden. Sie würde in diesem Traum ersticken. Konnte man in einem Traum überhaupt ohnmächtig werden? »Bitte. Ich habe keine Kontrolle über Reyn! Ich kann ihn zu nichts zwingen.« Das Drachenweibchen lachte. Es war ein dunkles, grollendes Lachen. »Sei nicht albern. Er ist nur ein Männchen. Du und ich, wir sind Königinnen. Wir sind dazu bestimmt, unsere Männchen zu beherrschen. Das ist das angemessene Gleichgewicht der Welt. Denk darüber nach. Du weißt, wie du das bekommst, was du willst. Nimm es. Und befreie mich.« Malta hatte das Gefühl, plötzlich in die Schwärze hinausgeschleudert zu werden. Die Barrieren um sie herum waren verschwunden. Sie suchte krampfhaft nach einem Halt, aber ihre ausgestreckten Hände fanden nichts. Sie torkelte durch die Finsternis, während der Wind um sie herum heulte. Dann landete sie schwer auf einer weichen Unterlage. Sie schlug die Augen auf und fand sich in ihrem Schlafzimmer wieder. Es war ein heißer Sommertag, und die Sonne er-
goss sich durch das offene Fenster in den Raum. »Vergiss es nicht.« Jemand sagte diese Worte direkt neben ihrem Ohr. Sie hörte sie. Aber da war niemand. Am Abend stellten sie fest, dass sie heute mehr geschafft hatten als an den zwei Tagen zuvor. Trotzdem fragte sich Brashen, wie viele der Arbeiter wohl morgen wiederkommen würden. Er konnte es ihnen nicht verdenken. Schließlich wusste er ja nicht einmal mehr, warum er selbst blieb. Es war weder sein Schiff, um das es hier ging, noch sein Neffe. Als er sich fragte, warum er weitermachte, mündete das in der Erkenntnis, dass er nichts Besseres zu tun hatte. Die Springeve war in der zweiten Nacht, nachdem er an Land gegangen war, aus dem Hafen verschwunden. Offenbar hatte Finney den Braten gerochen, seine Verluste abgeschrieben und war geflohen. Zu diesem Leben konnte er nicht mehr zurück. Und nur sehr selten gestand er sich ein, dass er nur auf diese Art und Weise in Altheas Nähe sein konnte. Das ließ sein Stolz nicht zu. Sie widmete ihm weniger Aufmerksamkeit als Clef. Wenigstens lächelte sie den Jungen an. Verstohlen warf er ihr einen Blick zu. Ihr Haar klebte verschwitzt an ihrem Kopf. Sie trug eine weiße Hose und eine weite Bluse aus demselben Material. Sand klebte an dem Stoff und auch an ihrer schweißnassen Haut. Brashen sah ihr zu, wie sie zu den Wassereimern ging. Sie trank in tiefen Zügen und spritzte sich dann Wasser über Gesicht und Hals. Sein Verlangen nach ihr erstickte ihn beinahe. Dann rief er sich ins Gedächtnis, dass sie Grag Tenira so gut wie versprochen war. Tenira war kein schlechter Seemann. Und eines Tages würde er ein vermögender Mann sein. Brashen versuchte, Zufriedenheit über ihr Schicksal zu empfinden. Es hätte sie schlimmer treffen können. Vielleicht hätte sie sich mit einem enterbten Händlersohn zufrieden geben können. Er schüttelte den Kopf und warf den Hammer in den Sand. »Was für ein Tag!«, rief er. Das Licht wurde allmählich schwächer.
Althea und Amber verkrochen sich in der Kombüse, während Brashen die Männer bezahlte. Nachdem der Letzte gegangen war, widmete sich Brashen noch eine Weile seinem Kontobuch, addierte die Zahlen und schüttelte den Kopf. Ronica Vestrit hatte ihm freie Hand bei den Mitteln gelassen, mit denen sie den Paragon überholen wollten. Und Althea hatte überrascht festgestellt, dass sein Wissen über den Schiffsbau weit mehr umfasste als das, was sie bei einem Maat erwartet hätte. Ihre Überraschung hatte ihn befriedigt, aber das machte seine Aufgabe auch nicht leichter. Er quälte sich mit der Frage, ob er das beste Material oder die besten Handwerker für die Arbeit besorgen sollte. Und oft genug bekam er die besten Leute gar nicht. Der Ruf des Paragon war allgemein bekannt, und sein Verhalten in letzter Zeit erhärtete das nur. Die meisten Schiffbauer behaupteten zwar, dass sie nicht abergläubisch seien, aber angeblich würden ihnen die Kunden weglaufen, wenn sie an einem solchen Schiff arbeiteten. Es interessierte Brashen nicht, welche Entschuldigungen sie anführten. Ihn interessierte die Zeit, die das kostete. Zeit war ihr größter Feind. Mit jedem Tag, der verstrich, wurde es schwieriger, die Spur der Viviace von dem Ort, an dem man sie zuletzt gesehen hatte, weiterzuverfolgen. Und außerdem musste ihre Arbeit auch auf die Gezeiten abgestimmt werden. Am Ende des Monats wurde eine besonders hohe Flut erwartet. Brashen hoffte, dass sie damit den Paragon wieder flottmachen konnten. Doch das Frustrierendste war, dass die Arbeiten, die sie selbst machen konnten, erst nach den grundlegenderen, schwierigeren Arbeiten begonnen werden konnten. Jede Arbeit hing von der ab, die vor ihr erledigt wurde. Als er schließlich den Frauen Gesellschaft leisten wollte, waren sie nicht mehr in der Kombüse. Er folgte dem Klang ihrer Stimmen und fand sie auf dem geneigten Heck. Sie saßen Seite an Seite, ließen die Beine baumeln und hätten als Schiffsjungen durchgehen können, die heimlich ihre Zeit vertrödelten. Amber
hatte ihr honigblondes Haar zu einem Zopf zusammengebunden. Diese Veränderung schmeichelte ihr nicht unbedingt. Ihre Wangenknochen traten zu scharf hervor, und ihre Nasenlinie war zu prägnant für eine Frau. Bei Altheas Profil hingegen ging ihm das Herz auf, obwohl ihre Wange schmutzig war. Sie war nicht weich und weiblich. Stattdessen war sie feminin auf eine katzenhafte Art, die ebenso bedrohlich wie anregend wirkte. Und sie wusste es nicht einmal. Als er sie ansah, wünschte er sich innig, dass er sie niemals berührt hätte. Nicht, weil er etwas verdorben hatte und sie ihn deswegen nicht einmal mehr ansah. Das Schlimmste war, dass er sie nicht ansehen konnte, ohne sich an den Geschmack ihrer Haut zu erinnern und an die unverstellte Reaktion ihres Körpers. Er schloss die Augen und ging dann weiter. Amber und Althea hielten dampfende Teetassen in der Hand. Ein dicker Keramiktopf stand zwischen ihnen und daneben noch ein extra Becher. Brashen goss sich ein und überlegte, ob er sich zwischen sie setzen sollte. Doch er blieb lieber stehen. Amber starrte aufs Meer hinaus. Althea fuhr mit ihren Fingerspitzen über den Becherrand und blickte in die Wellen. Ihr Gespräch war abgebrochen, als er näher gekommen war. Amber spürte die Verlegenheit der Situation und sah ihn an. »Fangen wir morgen wieder früh an?« »Nein«, erwiderte Brashen nachdrücklich. Er trank einen Schluck Tee. »Ich glaube nicht. Vermutlich muss ich morgen früh neue Arbeiter suchen.« »Nicht schon wieder!«, meinte Althea und stöhnte. »Was habe ich verpasst?« Brashen wollte etwas sagen, biss dann jedoch die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf. Althea rieb sich die Schläfen. »Hat er wenigstens wieder mit dir geredet?« Sie sah Amber hoffnungsvoll an. »Nicht mit uns«, meinte Amber. »Aber er hat den Arbeitern eine Menge zu sagen. Meistens bösartige Dinge, die er ihnen
zuflüsterte, bevor er erzählte, dass ihre Kinder ohne Beine und blind geboren würden, weil sie in der Nähe eines verfluchten Schiffs arbeiteten. Er war sehr anschaulich«, fügte sie verbittert hinzu. »Nun. Das ist kreativ. Wenigstens hat er nicht mehr mit Balken geworfen.« »Vielleicht hebt er sich ja noch etwas für morgen auf«, meinte Brashen. Sie schwiegen entmutigt. »Haben wir denn schon aufgegeben?«, fragte Amber traurig. »Noch nicht. Ich trinke aus, während ich darüber nachdenke, wie hoffnungslos das alles ist«, antwortete Brashen. Dann runzelte er die Stirn und drehte sich zu Althea um. »Wo wart Ihr denn überhaupt heute Morgen?« Sie sah ihn nicht an, als sie antwortete. »Nicht, dass Euch das etwas angeht«, erwiderte sie kühl. »Ich habe mich mit Grag getroffen.« »Ich dachte, Tenira würde sich noch verstecken. Schließlich ist ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt!« Brashens Stimme klang unbeteiligt. Er nippte an seinem Tee und blickte aufs Wasser. »Das tut er auch. Es ist ihm gelungen, mich zu benachrichtigen, und ich habe mich mit ihm getroffen.« Brashen zuckte mit den Schultern. »Wenigstens löst das ein Problem. Wenn wir kein Geld mehr haben, könnt Ihr ihn den Zollbeamten des Satrapen ausliefern. Wir könnten das Lösegeld benutzen, um neue Arbeiter anzuheuern.« Er grinste. Althea ignorierte seine Bemerkung und redete mit Amber weiter. »Grag sagte, er wünschte, er könnte mir helfen, aber er ist selbst in einer sehr schwierigen Lage. Seine Familie hat nur einen Bruchteil von dem bekommen, was die Ladung der Ophelia wert war. Und sie haben beschlossen, weder mit Bingtown noch mit Jamaillia zu handeln, solange der Satrap diese unfairen Zölle erhebt.« »Ist die Ophelia nicht vor ein paar Tagen ausgelaufen?«, frag-
te Brashen unerschütterlich. Althea nickte. »Tomie wollte sie lieber aus dem Hafen von Bingtown bringen, bevor noch mehr Galeonen ankommen. Die Zollbeamten des Satrapen haben gedroht, das Schiff zu beschlagnahmen. Jetzt behaupten sie, dass der Satrap entscheiden könne, wo Zauberschiffe Handel treiben müssten, und dass Regenwild-Güter nur in Bingtown oder Jamaillia-Stadt verkauft werden dürften. Ich bezweifle zwar, dass er das erzwingen kann, aber Tomie meint, es wäre sinnlos, auf weiteren Ärger zu warten. Die Tenira-Familie wird weiter dagegen kämpfen, aber er will die Ophelia nicht mitten in der Kampflinie haben.« »Wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich mit ihr den Regenwild-Fluss hinaufsegeln«, meinte Brashen nachdenklich. »Nur ein anderes Lebensschiff könnte ihnen dorthin folgen.« Er neigte den Kopf. »Das ist doch auch der Plan, stimmt's? Grag wird auf einem anderen Lebensschiff den Fluss hinaufgeschmuggelt, um sie dort zu treffen. Habe ich Recht?« Althea sah ihn nur an und zuckte mit den Schultern. Brashen wirkte beleidigt. »Ihr traut mir nicht?« »Ich habe versprochen, es niemandem zu erzählen.« Sie starrte auf das Wasser. »Ihr glaubt, dass ich das herumerzähle?« Er war wütend. Für was hielt sie ihn eigentlich? Glaubte sie wirklich, dass er seine Rivalität mit Grag so weit treiben würde? »Brashen.« Sie schien mit ihrer Geduld am Ende zu sein. »Es ist nicht so, dass ich Euch nicht vertraue. Ich habe ihm mein Wort gegeben zu schweigen. Und ich habe vor, es zu halten.« »Verstehe.« Wenigstens sprach sie jetzt direkt mit ihm. Eine Frage bedrängte ihn. Er verwünschte sich, stellte sie aber trotzdem. »Hat er Euch gefragt, ob Ihr mit ihm geht?« Althea zögerte. »Er weiß, dass ich hier bleiben muss. Er versteht sogar, dass ich mitsegeln muss, wenn der Paragon in See sticht.« Althea kratzte sich am Kinn und wischte sich den
Schmutz von der Wange. »Ich wünschte, Keffria würde das verstehen«, sagte sie dann wütend. »Sie jammert Mutter immer noch die Ohren voll, dass es sich nicht gehört. Sie will auch nicht, dass ich hier bin und helfe. Sie hasst es, wie ich mich anziehe, wenn ich hier arbeite. Ich weiß nicht, was sie billigen würde. Vielleicht sollte ich zu Hause sitzen und meine Hände vor Bestürzung ringen.« Brashen wusste, dass sie das Thema wechseln wollte. Aber er konnte es nicht ruhen lassen. »Sicher, Grag weiß, dass Ihr die Viviace suchen müsst. Aber er hat Euch trotzdem gefragt, ob Ihr mit ihm geht, hab ich Recht? Er will, dass Ihr geht. Und das solltet Ihr auch besser tun. Schreibt Eure Verluste ab, und setzt auf den Gewinner. Keiner der Händler glaubt wirklich, dass wir Erfolg haben. Deshalb hat auch keiner Hilfe angeboten. Sie glauben, dass wir nur Zeit und Geld verschwenden. Ich wette, dass Grag viele Gründe anführen konnte, warum Ihr uns verlassen solltet, einschließlich dem, dass wir dieses aufgegebene Wrack niemals vom Strand herunterbekommen.« Brashen trat mit dem Absatz gegen die Schiffshülle. Heiße Wut stieg plötzlich in ihm hoch. »Nennt ihn nicht Wrack!«, fuhr Amber ihn an. »Und hört auf zu jammern!«, fügte Althea boshaft hinzu. Brashen starrte sie aufgebracht an. Dann schrie er: »Du Wrack! Du Stück Strandgut! Hörst du mich, Paragon? Ich rede von dir!« Seine Worte hallten von den Klippen hinter ihnen zurück. Paragon antwortete nicht. Amber starrte ihn an und stieß den Atem scharf durch die Nase aus. »Geht doch und nehmt Cindin, statt Euch mit allen anzulegen«, forderte Althea ihn sarkastisch auf. »Wir alle wissen, dass das Euer eigentliches Problem ist.« »Ja?« Brashen stellte seinen Becher weg. »Und ich weiß, was Euer eigentliches Problem ist.« Altheas Stimme wurde weich und tödlich. »Ach, wirklich?
Warum sagt Ihr es uns dann nicht einfach?« Er beugte sich zu ihr. »Euer Problem ist, dass Ihr letzten Winter herausgefunden habt, wer Ihr wirklich seid, und seitdem jeden Tag damit verbringt, es zu verleugnen. Es jagt Euch so viel Angst ein, dass Ihr sogar nach Hause gelaufen seid und versucht, es zu vergessen.« Seine Worte waren so anders als das, was sie erwartet hatte, dass Althea wie betäubt dasaß. Brashen hätte beinahe gegrinst, als er ihr Erstaunen bemerkte. Sie starrte ihn an, während er auf dem schiefen Deck vor ihr stand. »Und um das klarzumachen«, fuhr er fort. »Das hat nichts mit dem zu tun, was zwischen Euch und mir vorgefallen ist. Ich rede von dem, was in Euch selbst passiert ist.« »Ich weiß nicht, wovon Ihr redet, Brashen Trell!«, fuhr Althea ihn an. »Ach nein?« Jetzt grinste er. »Nun, Amber weiß es jedenfalls, so sicher, wie Sa Nüsse und Titten hat. Seit ich nach Bingtown zurückgekommen bin, weiß ich es. Es stand ihr ins Gesicht geschrieben, seit sie mich das erste Mal angesehen hat. Merkwürdig ist nur, dass Ihr mit ihr darüber redet und nicht mit mir. Aber wie gesagt: Das ist nicht das Thema. Ihr seid zur See gefahren und habt festgestellt, dass Ihr keine Händlertochter seid. Sicher, Ihr seid Ephron Vestrits Tochter, na klar, und daran gibt es auch nichts zu deuteln. Aber Ihr seid nicht mehr an diese verdammte Stadt und ihre Traditionen gebunden, als er es war. Er wollte nicht länger auf dem Regenwild-Fluss Handel treiben, und, bei Sa, der Mann hat aufgehört, dort zu handeln. Er ist hinausgefahren, hat seine eigenen Geschäftsverbindungen geknüpft und seine eigenen Waren gesucht. Ihr seid wie er, bis auf die Knochen. Und es ist viel zu spät, Euch das jetzt noch auszutreiben. Ihr könnt Euch nicht ändern. Und Ihr solltet aufhören, so zu tun. Ihr könnt Euch nicht wirklich niederlassen und Grag Teniras weibliche Hälfte werden. Es würde Euch beiden das Herz brechen, wenn Ihr es versucht. Ihr würdet
niemals zu Hause bleiben und ihm Kinder schenken, während er zur See fährt. Ihr schwingt große Reden über Familie, Pflicht und Tradition, aber der Grund, warum Ihr der Viviace folgt, ist, dass Ihr Euer eigenes verdammtes Schiff wollt. Und Ihr habt vor, dort hinauszufahren und es Euch wiederzuholen. Falls Ihr den Mumm habt, Bingtown wieder zu verlassen, heißt das.« Die Worte waren aus ihm hervorgesprudelt. Jetzt ging ihm der Atem aus und er keuchte beinahe. Althea starrte ihn an. Er sehnte sich so danach, sie in die Arme zu nehmen. Dann würde er sie küssen. Und sie würde ihm wahrscheinlich den Kiefer brechen. Schließlich fand sie ihre Sprache wieder. »Ihr könnt Euch nicht mehr irren«, behauptete sie, aber ihre Worte klangen schwach. Amber versteckte ihr Lächeln hinter der Teetasse. Als Althea sie vorwurfsvoll ansah, zuckte sie nur mit den Schultern. Plötzlich war Brashen verlegen. Er verschmähte die Strickleiter, kletterte über die Reling und landete leichtfüßig im Sand. Ohne ein weiteres Wort und ohne zurückzublicken, ging er zum Bug des Schiffes. Clef hatte ein kleines Feuer entzündet; das Abendessen zu kochen war seine Aufgabe. Die Arbeit auf dem Schiff hielt ihn auf Trab. Er hatte Trinkwasser für die Männer geholt, nachdem Brashen ihre Vorräte Paragon ins Gesicht geschleudert hatte. Er schärfte das Werkzeug, machte Besorgungen, und abends holte er Vorräte vom Haus der Vestrits und kochte ihnen das Essen. Ronica Vestrit hatte ihnen ausrichten lassen, dass sie an ihrem Tisch willkommen wären, aber Amber hatte höflich abgelehnt. Sie meinte, ihr wäre nicht wohl bei der Vorstellung, Paragon allein zu lassen. Brashen kam diese Entschuldigung gerade recht. Er hätte seine Unruhe nicht verbergen können, und an einem Tisch zu sitzen und höflich zu plaudern hätte seine Beherrschung überstrapaziert. Bei Sa, wie wünschte er sich, dass er noch ein Stück Cindin in der Tasche hätte! Nur genug, dass seine Haut nicht mehr vor
Sehnsucht kribbelte. »Was gibt's zum Abendessen?«, fragte er den Jungen. Clef sah ihn glupschäugig an, gab aber keine Antwort. »Fang du nicht auch noch Streit mit mir an, Junge!«, warnte Brashen ihn empört. »Fischsuppe, Sir.« Clef runzelte die Stirn. Er starrte in die Suppe, während er trotzig sagte: »Er is kein Abfall nich.« Das beschäftigte ihn also. Brashen schlug einen sanfteren Ton an. »Nein. Paragon ist kein Abfall. Deshalb sollte er sich auch nicht wie Abfall benehmen.« Er drehte sich um und blickte auf die Galionsfigur, die schweigsam im Dunkeln über ihnen schwebte. Als er weitersprach, waren seine Worte eher an das Schiff als an den Jungen gerichtet. »Er ist ein verdammt gutes Segelschiff. Bevor das alles vorbei ist, wird er sich daran erinnern. Und auch alle anderen in Bingtown.« Clef kratzte sich an der Nase und rührte in der Suppe. »Bringter Unglück?« »Bringt er Unglück?«, korrigierte Brashen ihn müde. »Nein. Er hatte einfach nur Pech, und zwar von Anfang an. Wenn man Pech hat und dann noch eigene Fehler dazukommen, dann hat man manchmal das Gefühl, als würde man niemals mehr nach oben kommen.« Er lachte humorlos. »Ich spreche aus Erfahrung.« »Ihr hat Pech?« Brashen runzelte die Stirn. »Sprich deutlicher, Junge. Wenn du mit mir segeln willst, dann musst du dich verständlich machen können.« Clef schnaubte verächtlich. »Ich sag, habt Ihr Pech gehabt?« Brashen zuckte mit den Schultern. »Mir ist es besser als anderen ergangen, aber viel schlechter als den meisten.« »Wechselt Euer Hemd. Mein Dad hat mir das gesagt. Wenn man sein Glück ändern will, muss man sein Hemd wechseln tun.« Brashen lächelte unwillkürlich. «Es ist das einzige Hemd, das
ich habe, Junge. Was das wohl für mein Glück bedeutet?« Althea stand plötzlich auf und goss den Inhalt ihrer Tasse in den Sand. »Ich gehe nach Hause«, verkündete sie. »Kommt gut heim«, antwortete Amber sachlich. Althea schlug gegen die Heckreling. »Ich habe immer gewusst, dass er mir das irgendwann an den Kopf werfen würde. Ich wusste es immer schon. Und das habe ich die ganze Zeit befürchtet.« Amber sah sie verwirrt an. »Was wirft er Euch an den Kopf?« Obwohl sie auf dem einsamen Schiff allein waren, senkte Althea die Stimme. »Dass ich mit ihm ins Bett gegangen bin. Er weiß, dass er mich damit ruinieren kann. Er muss nur vor der richtigen Person damit herumprahlen. Oder vielmehr vor der falschen.« Ambers Augen funkelten. »Ich habe schon viele Leute dumme Dinge sagen hören, wenn sie Angst hatten oder verletzt waren. Aber das hier gehört mit zu den dümmsten. Althea, ich glaube nicht, dass dieser Mann das überhaupt im Entferntesten als Waffe in Betracht zieht. Er ist kein Aufschneider. Und er würde dir niemals absichtlich weh tun.« Es folgte ein unbehagliches Schweigen. »Du hast Recht«, gab Althea schließlich zu. »Manchmal suche ich einfach nur einen Grund, warum ich wütend auf ihn sein kann.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber warum muss er auch so dumme Sachen sagen? Warum muss er mir solche Fragen stellen?« Amber ließ die Frage eine Weile in der Luft hängen. Dann stellte sie selbst eine. »Warum regt dich das so auf, wenn er es tut?« Althea schüttelte den Kopf. »Jedes Mal, wenn ich anfange, mich wohl bei dem zu fühlen, was wir hier tun, dann muss er… Wir hatten heute einen guten Tag, Amber. Verdammt noch mal! Wir haben schwer gearbeitet, und wir haben gut zusammengearbeitet. Es war wie in alten Zeiten. Ich weiß, wie er arbeitet und denkt. Es ist fast so, als ob man mit einem guten
Partner zusammen tanzt. Doch wenn ich anfange zu glauben, dass es zwischen uns wieder entspannt werden könnte, dann muss er einfach…« Althea verstummte. »Muss er was?«, drängte Amber. »Dann muss er mir eine Frage stellen. Oder irgendwas sagen.« »Etwas wie: ›Los, unter den Balken!‹ Oder eher wie: ›Reich mir mal den Hammer!‹?«, fragte Amber scheinheilig. Althea lächelte kläglich. »Genau. Irgendwas, das mich daran erinnert, wie wir geredet haben, als wir noch Freunde waren. Ich vermisse es. Ich wünschte, wir könnten wieder so sein.« »Warum kannst du das nicht?« »Das wäre nicht richtig.« Sie runzelte unwillkürlich die Stirn. »Es gibt jetzt Grag, und…« »Und was?« »Und ich fürchte, es könnte zu mehr führen. Selbst wenn nicht, würde Grag das nicht gefallen.« »Grag würde es nicht gefallen, wenn du Freunde hättest?« Altheas Miene verfinsterte sich. »Du weißt genau, was ich meine. Grag würde es nicht gern sehen, wenn ich mit Brashen Trell befreundet wäre. Ich meine, wie wir einmal befreundet waren. Unkompliziert, Füße hoch und ein Bier auf den Tisch.« Amber lachte leise. »Althea, sehr bald werden wir alle auf diesem Schiff segeln. Glaubst du, dass du vornehm mit jemandem umgehen wirst, mit dem du jeden Tag zusammen arbeitest?« »Sobald wir segeln, wird er nicht mehr Brashen sein. Dann ist er der Kapitän. Das hat er mir schon deutlich zu verstehen gegeben. Niemand ist der Kumpel vom Käpt'n.« Amber neigte den Kopf und sah zu Althea hoch. »Warum machst du dir dann Sorgen darüber? Ich habe den Eindruck, als würde die Zeit alles heilen.« Althea antwortete sehr leise. »Vielleicht will ich ja nicht, dass es geheilt wird. Jedenfalls nicht so.« Sie betrachtete ihre Hän-
de. »Vielleicht brauche ich Brashens Freundschaft ja dringender als Grags Billigung.« Amber zuckte mit den Schultern. »Dann solltest du vielleicht wieder anfangen, mit ihm zu reden. Und mehr sagen als: ›Hier ist der Hammer.‹«
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Herzenswendungen Viviace schäumte vor Wut. Wintrow fühlte sich, als wäre er mitten in einem Topf, der überzukochen drohte und alle verbrühte. Das Schlimmste war, dass er sie einfach nicht beruhigen konnte. Sie würde es nicht zulassen, dass man sie beruhigte. Mittlerweile ging das schon fast einen Monat so. Wintrow spürte in ihr die rachsüchtige Zielstrebigkeit eines Kindes, dem man gesagt hatte, es wäre zu klein, um etwas zu schaffen. Viviace war entschlossen, sich selbst zu beweisen – und nicht nur gegenüber Kennit. Ihre trotzige Begeisterung schloss auch Wintrow mit ein. Seit Opal auf ihrem Deck gestorben war, war ihre Entschlossenheit nur stärker geworden. Sie würde Piratin werden. Und je mehr Wintrow versuchte, ihr das auszureden, desto starrsinniger wurde sie. Noch mehr Sorgen machte ihm, dass sie sich immer weiter von ihm zurückzog. Sie griff so stark nach Kennit, dass sie Wintrow allein ließ. Kennit spürte ihren inneren Aufruhr. Er war sich sehr wohl der Gefühle bewusst, die er in ihr aufgerührt hatte. Der Pirat ignorierte sie keineswegs. Er sprach freundlich mit ihr und behandelte sie höflich. Aber er machte ihr nicht mehr den Hof. Stattdessen schenkte er jetzt Etta seine ganze Zuneigung, und sie blühte zusehends auf. Er hatte sie entzündet wie ein Funke den Kienspan. Sie ging über das Deck wie eine herumstreunende Tigerin auf der Jagd, und alle sahen ihr unwillkürlich nach. Es gab nur wenige andere Frauen an Bord. Kennit hatte einigen der befreiten Frauen gestattet, an Bord der Viviace zu bleiben. Aber im Gegensatz zu Etta wirkten sie eher bescheiden. Was Wintrow am meisten verwirrte, war, dass er die Veränderung in ihr gar nicht genau beschreiben konnte. Sie kleide-
te sich wie immer. Obwohl Kennit ihr Schmuck gegeben hatte, trug sie nur selten mehr als den winzigen, kleinen Ohrring. Stattdessen war es, als wäre die Asche von der Kohle geweht und das Feuer sichtbar geworden, das darin glühte. Sie arbeitete immer noch auf Deck, und sie hetzte immer noch wie ein Panter in die Takelung. Sie redete und lachte immer noch mit den Männern, während ihre Nadel in der Sonne aufblitzte. Sie war so scharfzüngig wie immer, und ihr Humor war genauso bissig. Aber wenn sie Kennit anblickte, selbst quer über das ganze Deck, schien sich ihr Leben zu vervielfachen. Kapitän Kennit seinerseits schien sich in ihrer Verherrlichung zu sonnen. Er konnte nicht an ihr vorbeigehen, ohne sie zu berühren. Selbst der abgebrühte Sorcor errötete, wenn er die beiden an Deck sah. Wintrow betrachtete sie neiderfüllt und staunend. Und zu seinem Ingrimm sah Kennit ihn immer fragend an oder zwinkerte ihm sogar zu, wenn er Wintrows Blick bemerkte. Die ganze Mannschaft reagierte auf diese neue Situation. Wintrow hätte Eifersucht erwartet oder Unzufriedenheit darüber, wie der Kapitän seine Lady umschmeichelte. Stattdessen waren sie stolz auf ihn, als wenn seine Männlichkeit und der Besitz dieser begehrenswerten Frau ihnen allen Ehre machten. Die Moral auf dem Schiff stieg in einem Maß, das Wintrow noch nie erlebt hatte. Die neuen Mannschaftsmitglieder fügten sich nahtlos in die alte Crew ein. Alle Unzufriedenheit, die die befreiten Sklaven noch empfunden haben mochten, löste sich in Luft auf. Warum sollte man ein Schiff haben wollen, wenn man zu Kennits Mannschaft auf seinem Schiff gehören konnte? Viviace hatte seit dem Tod von Opal drei weitere Kaperungen miterlebt. Es waren kleinere Frachtschiffe gewesen, keine Sklavenschiffe. Wintrow kannte das Muster. Die Fahrrinne, die Sorcor und Kennit ausgesucht hatten, war für diese Art Hinterhalt hervorragend geeignet. Sorcor lauerte im Süden auf sie. Er suchte die Schiffe aus und startete die Jagd. Die Viviace wartete am anderen Ende des Kanals. Ihre Aufgabe war es, die flie-
henden Schiffe gegen die Felsen zu drängen. Sobald die Schiffe gestrandet waren, stürzten sich die Piraten von der Marietta auf das Schiff und raubten das Opfer aus. Die kleinen Schiffe waren weder gut bemannt noch gut bewaffnet. Was man Kennit zugestehen musste: Er metzelte die Mannschaften nicht nieder. Es gab nur wenig Blutvergießen, denn wenn die Schiffe gestrandet waren, brach der Widerstand meist zusammen. Kennit nahm sie nicht mal als Geiseln, um sie gegen Lösegeld freizulassen. Er raubte einfach nur das Beste von der Ladung und ließ sie mit der strengen Warnung weiterziehen, dass Kennit von den Piraten-Inseln keinen Sklavenschiffen die Durchfahrt durch diese Passage erlauben würde. Er nannte sich nicht König. Noch nicht. Alle drei Schiffe konnten nach dem Zusammenstoß mit ihm ramponiert weitersegeln. So verbreiteten sich die Neuigkeiten schnell. Viviace schmollte und ärgerte sich, dass sie an der Planung nicht teilhaben durfte. Sie wurde von Kennit nicht mehr eingeladen, Piraterie oder Politik mit ihm zu besprechen, als wäre sie ein Kind, das man von den Erwachsenengesprächen ausschloss. Er verbrachte die meisten Abende mit Sorcor und Etta an Bord der Marietta. Dort planten sie ihre Fischzüge und feierten ihre Siege. Wenn der Pirat und seine Lady in der Nacht zurückkehrten, war Etta stets mit Kennits neuesten Geschenken geschmückt. Sie waren ausgelassen und angetrunken und zogen sich sofort in die Kapitänskajüte zurück. Obwohl Wintrow das Gefühl hatte, es wäre ein absichtlicher Plan, um Viviace eifersüchtig zu machen, redete er nicht mit ihr darüber. Sie hätte es nicht ertragen, das von ihm zu hören. Zwischen den einzelnen Kaperungen führten die Piraten ein beinahe faules Leben. Kennit beschäftigte seine Mannschaft zwar, aber er ernährte sie gut von der Beute der gekaperten Schiffe und gewährte ihnen Zeit für Spiele und Musik. Er schloss Wintrow in diese Vergnügungen mit ein und rief ihn oft in seine Kabine. Allerdings nicht für ein einfaches Karten-
spiel. Kennit forderte Wintrow zu strategischen Spielen heraus, nicht zu Glücksspielen. Wintrow hatte das ungute Gefühl, dass der Pirat ihn abschätzte. Und oft, bevor der lange Nachmittag vorbei war, lag das Spiel vergessen zwischen ihnen, während Kennit ihn über die Philosophie von Sa ausfragte. Das zweite Schiff, das sie erbeutet hatten, hatte eine Menge Bücher an Bord gehabt. Kennit war ein unersättlicher Leser und teilte seinen Fang mit Wintrow. Der konnte nicht leugnen, dass diese Zwischenspiele sehr angenehm waren. Manchmal war Etta beim Spiel und bei den Gesprächen anwesend. Wintrow respektierte ihre lebendige Intelligenz, die der von Kennit in nichts nachstand, wenn sie auch weniger gebildet war. Sie hielt mit beiden mit, solange sie allgemein blieben. Nur wenn sie über die Meinung unterschiedlicher philosophischer Schulen redeten, wurde sie rasch schweigsamer und zog sich bald zurück. Als Wintrow an einem Nachmittag absichtlich versuchte, sie in das Gespräch einzubeziehen, stolperte er über ihr Unvermögen. Er wollte ihr das Buch geben, über das sie gerade sprachen. Etta wollte es ihm nicht aus der Hand nehmen. »Ich kann nicht lesen, also spar dir die Mühe!«, erklärte sie wütend. Sie hatte auf einer Bank hinter Kennit gesessen und ihm die Schultern massiert, während sie redeten. Jetzt stand sie hastig auf und ging zur Tür. Sie hatte schon den Riegel in der Hand, als Kennits Stimme sie aufhielt. »Etta, komm zurück.« Sie drehte sich zu ihm um. Zum ersten Mal, seit er sie kannte, sah Wintrow so etwas wie Trotz in ihren Augen, als sie Kennit anblickte. »Warum?«, fragte sie ihn. »Damit ich noch deutlicher sehe, wie unwissend ich bin?« Kennits Miene verzog sich vor Ärger. Aber er riss sich zusammen und streckte der Frau die Hand hin. »Weil ich es möchte«, sagte er beinahe freundlich. Sie gehorchte, aber sie sah das Buch, das er in der Hand hielt, an, als wäre es eine Rivalin. Er schob es ihr hin. »Du solltest das lesen.«
»Das kann ich nicht.« »Ich möchte es aber.« Sie biss die Zähne zusammen. »Ich weiß nicht, wie!«, fuhr sie hoch. »Ich hatte niemals Lehrer oder Unterricht. Außer Ihr zählt die Männer mit, die mich mein Geschäft lehrten, noch bevor ich zur Frau geworden war! Ich bin nicht wie Ihr, Kennit, ich…« »Ruhe!«, schrie er sie an. Erneut hielt er ihr das Buch hin. »Nimm es!« Das war ein Befehl. Sie riss es ihm aus der Hand und stand da, als hielte sie einen Beutel mit Innereien. Kennit konzentrierte sich auf Wintrow. Er lächelte unmerklich. »Wintrow wird dich lehren, es zu lesen. Das heißt, er wird es dir vorlesen.« Er sah wieder Etta an. »Er wird keine weiteren Aufgaben auf dem Schiff übernehmen, bis er diese erfüllt hat. Es ist mir egal, wie lange es dauert.« »Die Mannschaft wird mich auslachen«, protestierte Etta. Kennit kniff die Augen zusammen. »Nicht lange. Man kann nur schwer lachen, wenn man keine Zunge mehr hat.« Er holte Luft und lächelte. »Und wenn du diese Stunden ungestört verbringen willst, dann kannst du meine Kajüte dafür nehmen. Ich werde dafür sorgen, dass du genug Freizeit hast, um diese Aufgabe zu erfüllen.« Er deutete auf die Bücher, die in der Kammer herumlagen. »Hier ist noch viel mehr, was du lernen kannst, Etta. Neben Philosophie auch noch Poesie und Geschichte.« Kennit beugte sich vor. Er ergriff Ettas Hand und zog sie näher zu sich. Mit seiner freien Hand strich er ihr das Haar aus der Stirn. »Sei nicht eigensinnig. Ich möchte, dass du es genießt.« Er warf Wintrow einen kurzen Blick zu. Es war fast, als wollte er sich davon überzeugen, dass der Junge sie beobachtete. »Ich hoffe, dass es euch beiden viel Vergnügen macht und Erfahrungen bringt.« Er fuhr mit den Lippen über Ettas Gesicht. Sie schloss die Augen, aber Kennit sah Wintrow dabei die ganze Zeit an.
Wintrow war äußerst unbehaglich zumute. Auf eine höchst unnatürliche Weise fühlte er sich in ihre Umarmung einbezogen. »Ihr entschuldigt mich«, murmelte er und stand hastig auf. Kennit ließ ihn bis zur Tür kommen. »Es macht dir doch nichts aus, Etta zu unterrichten, Wintrow, oder?« Es war kaum eine Frage. Er hielt die Frau eng an sich gedrückt und sah Wintrow über ihren Kopf hinweg an. Wintrow räusperte sich. »Ganz und gar nicht.« »Gut. Fang bald damit an. Am besten heute.« Während Wintrow noch nach einer Antwort suchte, hörte er den mittlerweile vertrauten Ruf: »Segel voraus!« Erleichterung stieg in ihm auf. Füße trampelten über die Decks. »An Deck!«, bellte Kennit, und Wintrow gehorchte nur zu gern. Er stürmte zur Tür, während der Pirat nach seiner Krücke griff. »Da, da ist sie!«, rief Viviace aufgeregt, als Wintrow auf das Vordeck kam. Sie hätte nicht hinzeigen müssen. Selbst über diese Entfernung trug der Wind den Gestank des Sklavenschiffes herüber. Das Schiff, das in Sicht kam, war das schmutzigste und verwahrlosteste Schiff, das Wintrow jemals gesehen hatte. Sein Rumpf glänzte vor Schleim, wo der Abfall über seine Seite gekippt worden war. Es lag tief im Wasser und war offensichtlich überladen. Seine unregelmäßig geflickte Fock flatterte im Wind. Ein sporadischer Wasserstrahl aus seinem Inneren deutete an, dass seine Pumpen bemannt waren, vermutlich von Sklaven. Wahrscheinlich bereitet es große Mühe, diesen Kahn über Wasser zu halten, dachte Wintrow. Im Kielwasser des Schiffes sah man die Wellen der Seeschlangen, die ihm folgten. Die Kreaturen schienen die Panik an Bord des Schiffes zu spüren, denn sie hoben ihre gewaltigen Häupter aus den Fluten und sahen zur Marietta zurück. Es waren mindestens ein Dutzend dieser Viecher, und ihre schuppigen Körper glänzten in der Sonne. Wintrow wurde übel. Viviace beugte sich aufgeregt vor. Der Eifer der Galionsfigur war so groß, dass sie ihren Rumpf förmlich hinter sich herzu-
ziehen schien. »Seht doch! Seht nur, wie sie fliehen!« Sie krümmte die Finger und streckte die Arme nach dem Schiff aus. Als ihre Mannschaft Segel für die Verfolgung setzte, blies der Wind mit Macht in ihren Rücken. »Es ist ein Sklavenschiff. Kennit wird sie alle töten!«, warnte Wintrow sie leise. »Wenn du ihm hilfst, das Schiff zu kapern, wird die ganze Mannschaft sterben.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Und wenn ich ihm nicht helfe? Wie viele Sklaven werden dann an jedem Tag der Reise sterben?« Sie richtete ihren Blick wieder auf ihre Beute, und ihre Stimme wurde härter. »Nicht alle Menschen haben das Leben verdient, Wintrow. Jedenfalls rettet unser Verhalten mehr Leben. Wenn sie weitersegeln, wäre es ein Wunder, wenn überhaupt jemand diese Reise übersteht.« Wintrow achtete kaum auf sie. Ungläubig sah er zu, wie das Sklavenschiff seinen Abstand zur Marietta immer mehr vergrößerte. Das Sklavenschiff sah natürlich seine Chance und erkannte auch die neue Bedrohung durch die Viviace. Das überladene Schiff wendete und nahm Kurs auf die Mitte des Kanals. Die Marietta war zu weit hinter ihm zurückgefallen. Ohne das andere Piratenschiff jedoch war die Zangentechnik zum Scheitern verurteilt. Es war zwar unglaublich, aber das Sklavenschiff würde entkommen. Kennit legte seine Krücke auf das Vordeck und zog sich zum Hauptdeck hinauf. Sobald er oben war, rappelte er sich hoch und klemmte sich die Krücke wieder unter den Arm. Etta war nirgendwo zu sehen. Mühsam arbeitete er sich an der Reling entlang bis zu ihnen. Kaum war er dort, schüttelte er enttäuscht den Kopf. »Die armen Seelen. Das Sklavenschiff entkommt. Ich fürchte, wir müssen sie ihrem elenden Schicksal überlassen.« Heute würde es kein Gemetzel geben. Wintrow war einen Moment erleichtert. Da schrie Viviace auf. Es war ein Schrei der puren Jagdlust. Im gleichen Moment nahm sie Fahrt auf.
Alle Planken und jedes Segel funktionierte plötzlich perfekt. Die Jubelrufe der Mannschaft wurden lauter, als die Viviace dem Sklavenschiff immer näher kam. Ihre Intensität erregte Wintrows Aufmerksamkeit, wie das Flattern eines Schmetterlings im Spinnennetz die Spinne anzieht. »Mylady!«, rief Kennit anerkennend. Es war wie eine Segnung, und die Viviace glühte vor Zufriedenheit. Wintrow fühlte, wie ihm selbst heiß wurde. Kennit bellte Befehle. Hinter sich hörte der Junge das Rasseln der Schwerter und die Witze der Männer, die sich auf das Morden vorbereiteten und andere Männer töten würden. Die Entermannschaft schloss Wetten ab, und die Männer forderten sich gegenseitig heraus, während sie sich auf die Kaperung vorbereiteten. Enterhaken und Fangleinen wurden an Deck gebracht, während sich die Bogenschützen hastig auf ihre Positionen in der Takelage der Viviace begaben. Viviace ignorierte sie alle. Das hier war ihre Jagd, ihre Beute. Sie achtete überhaupt nicht auf die Männer an Bord. Wintrow spürte seinen eigenen Körper kaum. Er umklammerte wie ein Raubvogel die Bugreling, und der Wind strich ihm durch das Haar. Viviace erstickte sein kleines Selbst mit ihrer Energie. Wie in einem Traum sah er, dass das Sklavenschiff vor ihnen immer größer wurde. Der Gestank wurde schlimmer, und die Männer, die auf den Decks herumliefen, hatten furchterfüllte Gesichter. Er hörte, wie die Piraten aufgeregt schrieen, als die Enterhaken geworfen wurden und die erste Salve Pfeile davonzischte. Die Schreie derjenigen, die getroffen wurden, und die erstickten Laute der Sklaven unter Deck waren wie die Schreie der entfernten Seevögel. Er registrierte sehr genau, dass die Marietta plötzlich zu ihnen aufschloss. Sie drohte der Viviace ihre Beute wegzuschnappen. Doch das Zauberschiff würde es nicht zulassen. Viviace beugte sich vor und griff nach dem anderen Schiff, als die Fangleinen straffgezogen wurden. Ihre Klauen erreichten das Sklavenschiff zwar nicht, aber ihr wilder Gesichtsaus-
druck schien die Mannschaft zu lähmen. »Auf sie! Auf sie!«, schrie sie wie von Sinnen und achtete nicht auf die Befehle, die Kennit zu geben versuchte. Ihre Blutgier war ansteckend. Als der Abstand zwischen den beiden Schiffen klein genug war, begann die Entermannschaft ihre Arbeit. »Sie hat es getan! Unsere Schöne hat es vollbracht! Ach, Viviace, ich hätte nicht gedacht, dass Ihr so schnell seid und so geschickt!« Kennit betete sie mit seinem Lob förmlich an. Eine Welle reiner Bewunderung für Kennit erfüllte Wintrow. Die Emotionen des Schiffes überdeckten vollkommen seine Angst vor dem, was jetzt folgen würde, nachdem das Sklavenschiff geentert worden war. Die Galionsfigur drehte sich um und sah Kennit an. Die gegenseitige Bewunderung der beiden war das Erkennen des Jägers im jeweils anderen. »Wir werden gut zusammen jagen, wir zwei«, bemerkte Viviace. »Das werden wir«, versprach ihr Kennit. Wintrow trieb davon. Er war zwar mit ihnen verbunden, aber sie ignorierten ihn. Für das, was sie soeben im jeweils anderen entdeckt hatten, war er unwichtig. Er spürte, dass die Verbindung zwischen ihnen auf einem tieferen, grundsätzlicheren Niveau existierte als dem, das er erlangt hatte. Was genau erkannten sie im anderen? Was es auch war, er fühlte kein noch so schwaches Echo davon in sich selbst. Kaum eine Körperlänge von ihnen getrennt war ein anderes Deck, auf dem Männer um ihr Leben kämpften. Dort floss das Blut, aber was hier strömte, zwischen dem Zauberschiff und dem Piraten, war etwas noch viel Dickeres. »Wintrow! Wintrow!« Wie durch einen Nebel hörte der Junge seinen Namen und drehte sich um. Kennit grinste ihn an und deutete auf das gekaperte Schiff. »Komm mit, Junge!« Wintrow folgte Kennit wie betäubt über die Reling und auf ein fremdes Deck, auf dem Männer kämpften, fluchten und schrien. Etta war plötzlich neben ihnen und hatte ein Schwert
in der Hand. Sie schritt mit einer panterhaften Wachsamkeit über die Planken. Ihr schwarzes Haar glänzte im Sonnenlicht. Kennit selbst hielt ein langes Messer in der Hand, aber Wintrow schwebte unbewaffnet und mit großen Augen durch diese fremde Welt. Sein Verstand klärte sich etwas, als er die Hexenholzplanken der Viviace verließ, aber das Chaos, in das er eintauchte, war beinahe genauso betäubend. Kennit schritt furchtlos vorwärts. Etta hielt sich an seiner rechten Seite. Sie suchten sich ihren Weg über das schmutzige, stinkende Deck. Sie gingen an Männern vorbei, die sich gegenseitig töten wollten, und umgingen einen Mann, der in einer Blutlache am Boden lag. Ein Pfeil hatte ihn durchbohrt, aber der Sturz aus der Takelage hatte noch größeren Schaden angerichtet. Sein Gesicht wirkte unheimlich, als er vor Schmerz grinste und seine Augen zusammenkniff, als wäre er fröhlich, während ihm das Blut aus den Ohren lief und in seinen Bart sickerte. Sorcor eilte über das Deck zu ihnen. Die Marietta hatte anscheinend schnell aufgeholt, als sie sich Mühe gegeben hatte. Ihre Mannschaft hatte das Sklavenschiff von der anderen Seite geentert. Von dem Schwert in Sorcors Faust tropfte Blut, während sein tätowiertes Gesicht zufrieden strahlte. »Hier sind wir fertig, Sir!«, begrüßte er Kennit leutselig. »Es leben nur noch ein paar Seelen auf dem Kahn. Unter ihnen war kein einziger echter Kämpfer.« Ein wilder Schrei untermalte seine Bemerkung, und ihm folgte ein lautes Platschen. »Noch einer weniger«, meinte Sorcor fröhlich. »Ich habe einigen Leuten befohlen, die Luken zu öffnen. Das ganze Unterdeck stinkt. Ich glaube, dort hängen genauso viele Leichen in den Ketten wie Lebende. Wir müssen die Leute schnell herausholen. Das Schiff zieht Wasser, wie ein Seemann Bier in sich hineinschüttet.« »Haben wir Platz für alle, Sorcor?« Der massige Pirat zuckte mit den Schultern. »Sehr wahrscheinlich. Sie werden unsere Schiffe füllen, aber wenn wir
wieder mit der Brummbär zusammenkommen, dann können wir viele übersetzen.« »Ausgezeichnet.« Kennit nickte beinahe abweisend. »Wir segeln nach Divvytown, wenn wir die Brummbär eingeholt haben. Es wird Zeit, dass sich herumspricht, wie wir uns geschlagen haben.« »Das würde ich auch sagen«, meinte Sorcor grinsend. Ein blutverschmierter Pirat trat hastig zu ihnen. »Entschuldigt, Sirs, aber der Koch will verhandeln. Er hat sich in der Kombüse verbarrikadiert.« »Bring ihn um«, befahl Kennit verärgert. »Entschuldigt, Sir, aber er sagt, er wüsste etwas, weswegen es sich lohnen würde, ihn am Leben zu lassen. Sagt, er wüsste, wo ein Schatz ist.« Kennit schüttelte angewidert den Kopf. »Wenn er weiß, wo ein Schatz ist, weshalb holt er ihn sich dann nicht, statt Sklaven auf diesem Müllhaufen zu bekochen?«, fragte Etta spöttisch. »Das weiß ich nicht, Madam«, antwortete der Pirat. »Er ist ein alter Seebär. Hat ein Auge und eine Hand verloren. Behauptet, er wäre mit Igrot dem Schrecklichen gesegelt. Das hat uns zu denken gegeben. Alle wissen, dass Igrot die Barkasse des Satrapen gekapert hat und dass die Beute nie wieder gesehen wurde. Vielleicht weiß er ja…« »Ich kümmere mich darum, Kapitän«, schlug Sorcor gereizt vor. »Wo ist er?«, fragte er den Matrosen. »Einen Moment, Sorcor. Vielleicht sollte ich doch mit dem Koch plaudern.« Kennit klang fasziniert und misstrauisch zugleich. Der junge Pirat wirkte ziemlich befangen. »Er hat sich in der Kombüse verschanzt, Sir. Wir haben zwar die Tür eingetreten, aber er hat eine Menge Messer und Hackbeile da drin. Für einen alten Mann mit einem Auge kann er sehr gut damit werfen.«
Wintrow sah, wie sich Kennits Miene veränderte. »Ich rede mit ihm. Allein. Ihr seht zu, dass die Sklaven aus den Laderäumen kommen. Der Kahn bekommt Schlagseite.« Sorcor war es gewohnt, Befehle entgegenzunehmen. Er zögerte keine Sekunde, sondern nickte nur und drehte sich um. Während er wegging, bellte er bereits Befehle. Wintrow sah die Sklaven. Sie standen in kleinen Gruppen an Deck und blinzelten im Sonnenlicht. Sie waren vollkommen mit Schmutz bedeckt und zitterten in der frischen Luft. Ihre Mienen verrieten ihre Verwirrung über diese plötzliche Veränderung. Der Geruch und die Gesichter erinnerten Wintrow an die Nacht, als die Sklaven aus den Laderäumen der Viviace ins Freie geklettert waren. Eine Welle des Mitgefühls schwappte über ihn hinweg. Einige waren so schwach, dass sie kaum stehen konnten. Sklave um Sklave tauchte aus den Frachträumen auf. Er sah sie an, und ihm wurde klar, wie richtig es war, was Kennit getan hatte. Es war richtig, diesem Elend ein Ende zu machen. Aber seine Methode, es zu bewerkstelligen… »Wintrow!« Ettas Stimme klang leicht gereizt. Wintrow stand regungslos da, während Kennit sich schnell und zielstrebig über das Deck bewegte. Die Schlagseite des Schiffes wurde immer deutlicher, und sie durften keine Zeit verlieren. Er eilte rasch hinter ihnen her. Als er über das Deck lief, hörte er das Brüllen der Seeschlangen, dem ein Platschen folgte. Sie warfen die Leichen den Kreaturen zum Fraß vor. Die Piraten murmelten anerkennend und lachten, als die Seeschlangen sich um die Beute stritten. »Lasst das!«, schrie Sorcor. »Sie bekommen die Toten noch schnell genug. Holt die Sklaven aus den Laderäumen, und bringt sie auf die anderen Schiffe. Und zwar schnell. Ich will dieses Wrack so schnell wie möglich loswerden.« Die Kombüse befand sich in einem niedrigen Deckhaus. Eine Gruppe von Piraten stand mit gezogenen Schwertern um den
Eingang herum und merkte nicht, dass Kennit sich näherte. Während Wintrow zusah, trat einer gegen die verbarrikadierte Tür. Der Mann, der darin gefangen war, fluchte laut, und ein Messer erschien in der Öffnung. »Ich schneide den ersten Mann in Stücke, der versucht, hier durchzukommen. Holt Euren Kapitän. Ich verhandle mit ihm und nur mit ihm.« Die Piraten verspotteten ihn und rückten noch näher. Sie erinnerten Wintrow an eine Hundemeute, die unter einem Baum wartet, auf dem eine Katze sitzt. »Er ist hier«, verkündete Kennit. Die lachenden, grinsenden Männer wurden schlagartig ruhig und machten ihrem Kapitän den Weg frei. »Geht an eure Arbeit!«, befahl Kennit brüsk. »Ich erledige das.« Sie verschwanden schnell, wenn auch nicht freiwillig. Und viele sahen zurück. Die Erwähnung eines Schatzes genügte, um das Interesse jedes Mannes zu wecken, und Igrots Schatz war legendär. Sie wären offensichtlich gern geblieben und hätten gehört, was der alte Mann für sein Leben bot. Kennit ignorierte sie. Er hob die Krücke und schlug damit gegen die Tür. »Kommt da raus!«, befahl er. »Seid Ihr der Kapitän?« »Das bin ich. Zeig dich.« Der Mann steckte den Kopf durch die Tür und zog ihn sofort wieder zurück. »Ich habe Euch einen Handel anzubieten. Ihr lasst mich leben, und ich sage Euch, wo Igrot der Schreckliche seine Beute versteckt hat. Die ganze Beute. Nicht nur das, was er von der Staatsbarke erbeutet hat, sondern auch alles, was er schon vorher hatte.« »Niemand weiß, wo Igrot seinen Schatz versteckt hat«, erklärte Kennit. »Er und seine ganze Mannschaft sind zusammen untergegangen. Keiner hat überlebt. Wenn doch, hätte er sich den Schatz schon längst geholt.« Kennit schlich erstaunlich lautlos vor und stand direkt neben dem Türknauf. »Nun, ich weiß es. Ich warte schon seit Jahren darauf, dass
ich endlich dorthin zurückkehren und ihn holen kann. Aber ich war nie in der richtigen Position. Wenn ich es erzählt hätte, hätte mir das nur ein Messer in den Rücken eingebracht. Und es kann auch nicht jedermann dorthin. Dazu braucht man ein besonderes Schiff. Ein Schiff, wie Ihr eins habt, eines, wie es Igrot früher auch hatte… Ich bin sicher, Ihr wisst jetzt, worauf ich hinauswill. Es gibt Orte, an die nur ein Lebensschiff gelangen kann. Aber jetzt habe ich Euch genug erzählt. Lasst mich am Leben, und ich führe Euch dorthin. Aber Ihr müsst mich am Leben lassen.« Kennit antwortete nicht. Er schwieg und stand regungslos neben der Tür. Wintrow sah Etta an. Sie war genauso still wie Kennit. Und wartete. »He! Heh, Ihr da, Kapitän! Was sagt Ihr dazu? Ist das ein Handel? Es ist ein größerer Schatz, als Ihr Euch vorstellen könnt. Haufen von Gold, und die Hälfte davon ist Bingtowner Händlerzeug. Ihr könnt einfach hineingehen und es Euch holen. Ihr wärt der reichste Mann, der jemals gelebt hat. Ihr müsst nur befehlen, dass ich am Leben bleibe.« Der Koch klang euphorisch. »Ist das nicht ein faires Geschäft?« Die Schlagseite des Schiffes war nun deutlich zu spüren. Wintrow hörte, wie Sorcor und seine Leute die Sklaven antrieben. Plötzlich erhob einer die Stimme. »Er ist tot, Frau! Wir können nichts für ihn tun. Lass ihn hier!« Eine Frau heulte abrupt auf, aber an der Tür war alles ruhig. Kennit gab keinen Laut von sich. »Heh! Heh, Kapitän, seid Ihr noch da?« Kennit kniff die Augen zusammen, als würde er nachdenken. Er schien beinahe zu lächeln. Wintrow lief ein Schauer über den Rücken. Er war nervös. Es wurde Zeit, dieses Schiff zu verlassen. Es drang immer mehr Wasser ein, und je schwerer es wurde, desto mehr Macht bekam das Meer über das Schiff. Er wollte etwas sagen, aber Etta stieß ihm den Ellbogen in die Seite. Gleichzeitig passierte etwas anderes. Wintrow sah zu
und versuchte zu verstehen. Hatte sich Kennits Messerhand zuerst bewegt, oder hatte er die Bewegung des Mannes hinter der Tür gesehen? Die beiden kamen so schnell und so synchron zusammen, wie wenn man in die Hände klatscht. Kennits Messer drang tief in das gesunde Auge des Kochs ein und glitt sofort wieder heraus. Der Leichnam des Mannes sackte zurück in die Kombüse. »Es gibt keine Überlebenden von Igrots Mannschaft«, sagte er und holte zitternd Luft. Als er sich umsah, blinzelte er, als erwache er aus einem Traum. »Steht hier nicht herum. Das Schiff geht unter!«, rief er wütend. Mit dem blutigen Messer in der Hand ging er zur Viviace zurück. Etta wich nicht von seiner Seite. Die Frau schien von dem, was da eben passiert war, nicht beunruhigt zu werden. Wintrow folgte ihnen benommen. Wie konnte der Tod so schnell zuschlagen? Was Kennit getan hatte, war für den Jungen ein ungeheurer Schock. Ein kurzes Zucken der Hand des Piraten, und schon holte sich der Tod sein Opfer. Und doch empfand der Mann, der das Messer geführt hatte, nichts. Wintrow fühlte sich durch seine Verbindung zu dem Mann beschmutzt. Er sehnte sich plötzlich nach Viviace. Sie würde ihm helfen, darüber nachzudenken. Sie würde sagen, dass es keinen Grund für die Schuld gab, die er empfand. Kennit hatte kaum seinen Fuß auf das Deck der Viviace gesetzt, als sie auch schon nach ihm rief. »Kennit! Kapitän Kennit!« Ihre Stimme hatte einen gebieterischen Unterton, den Wintrow noch nie darin wahrgenommen hatte. Kennit grinste zufrieden. »Bringt die Sklaven unter, und löst die Haken von dem Kahn!«, befahl er barsch. Er sah Wintrow und Etta an. »Sorgt dafür, dass sie so sauber wie möglich gemacht werden. Und haltet sie achtern!« Er drehte sich um und eilte zu der Galionsfigur. »Er will mit ihr allein sein.« Etta äußerte diese Bemerkung vollkommen sachlich. Aber in ihrem Blick glühte Eifersucht.
Wintrow sah zu Boden, damit sie nicht denselben Ausdruck in seinen Augen bemerkte. »Für einen Mann, der sich versteckt hält, lebt Ihr aber sehr stilvoll«, bemerkte Althea und lächelte. Grag grinste, zufrieden mit sich selbst. Er lehnte sich auf dem schmalen Stuhl zurück, auf dem er hockte. Dann streckte er die Hand aus und schlug lässig gegen die Zinnlaterne an dem Ast über seinem Kopf. »Was ist das Leben ohne Stil?«, fragte er rhetorisch. Sie lachten beide unbeschwert auf. Die schwingende Laterne ließ das Licht um sie herum tanzen. Und die Kerzenflamme spiegelte sich in seinen dunklen Augen. Er trug ein dunkles Hemd, das am Hals offen stand, und eine weite, weiße Hose. Wenn er den Kopf drehte, schimmerte das Licht sanft auf seinem goldenen Ohrring. Die Sommersonne hatte ihn gebräunt, und seine Gesichtsfarbe schien ihn zu einem Teil des abendlichen Waldes zu machen. Als seine Zähne weiß aufleuchteten, erinnerte er wieder an den unbesorgten Matrosen aus Rinstin. Er sah sich auf der Lichtung vor der Hütte um und seufzte zufrieden. »Ich bin seit Jahren nicht mehr hier oben gewesen. Als kleiner Junge, noch bevor ich mit Vater gesegelt bin, ist Mutter mit uns vor der schlimmsten Sommerhitze hierher geflüchtet.« Althea sah sich in dem kleinen Garten um. Das Haus war kaum mehr als eine Hütte, und der Wald ging fast bis vor die Tür. »Ist es hier im Sommer kühler?« »Nur ein bisschen. Aber Ihr wisst ja, wie Bingtown im Sommer stinken kann. Wir waren hier, als die Blutpest das erste Mal zugeschlagen hat. Keiner von uns hat sie bekommen. Mutter glaubte, dass es daran lag, dass wir den bösen Launen der Stadt in diesem Sommer entgangen sind. Danach hat sie uns jedes Jahr hierher gebracht.« Sie verstummten beide und lauschten eine Weile. Althea stellte sich vor, wie eine Frau und ihre Kinder in dieser Hütte wohnten. Und sie fragte sich nicht zum ersten Mal, wie ihr
Leben verlaufen wäre, wenn ihre Brüder die Blutpest überlebt hätten. Hätte ihr Vater sie dann mit auf das Schiff genommen? Wäre sie jetzt schon verheiratet und hätte eigene Kinder? »Was denkt Ihr?«, fragte Grag sie freundlich. Er ließ den Stuhl nach vorn fallen, stützte den Ellbogen auf den Tisch und legte sein Kinn in die Hand. Eine Flasche Wein, zwei Gläser und die Reste eines kalten Essens standen noch auf dem Tisch. Althea hatte das Essen mitgebracht. Die Nachricht, die man ins Haus gesandt hatte, stammte von Grags Mutter und war an ihre gerichtet. Darin bat sie Ronica um Verzeihung, wenn sie fragte, ob Althea eine diskrete Besorgung für die Tenira-Familie erledigen könnte. Keffria hatte fragend die Brauen gehoben, aber vielleicht war ihre Mutter ja der Meinung, dass Althea keinen Ruf mehr hatte, den sie noch verlieren konnte. Sie hatte eine Nachricht geschickt, dass sie gehen könnte. In einem Stall in Bingtown wartete ein Pferd auf sie. Althea war losgeritten, ohne genau zu wissen, wohin. Als sie an einer kleinen Taverne in den Außenbezirken von Bingtown vorbeigeritten war, hatte ein Mann, der davor herumlungerte, ihr eine Nachricht in die Hand gedrückt. Die führte sie zu einer Herberge, wo sie Grag zu finden erwartete. Stattdessen bekam sie dort ein frisches Pferd und einen Männermantel mit Kapuze. Das Pferd hatte voll beladene Satteltaschen, und eine neue Nachricht wartete auf Althea. Es war sowohl geheimnisvoll als auch abenteuerlich gewesen, Grag aufzuspüren, aber Althea vergaß nie, dass es eine ernste Angelegenheit war. Seit die Ophelia den Zollbeamten den Gehorsam verweigert hatte, hatte sich Bingtown immer mehr entzweit. Es war eine weise Entscheidung gewesen, das Lebensschiff schnell aus dem Hafen zu bringen, denn kurz darauf waren drei neue chalcedanische Patrouillenschiffe eingelaufen. Dieses »rechtzeitige« Erscheinen legte den Verdacht nahe, dass der Zollbeamte engere Kontakte nach Chalced hatte, als selbst Jamaillia wusste. Jemand war in das Quartier des Zollbeamten
eingebrochen und hatte ein Blutbad unter den Brieftauben angerichtet. Die Lagerhäuser des Zolls, die den Angriff des ersten Abends überstanden hatten, waren seitdem zweimal niedergebrannt worden. Dies hatte dazu geführt, dass die chalcedanischen Söldner das Quartier des Zollbeamten des Nachts ebenso bewachten, wie sie offensichtlich den Hafen und die angrenzenden Gewässer kontrollierten. Selbst einige der Alten Händler, die am Anfang zurückhaltender gewesen waren, schienen jetzt mehr Verständnis für die zu äußern, die hinter vorgehaltener Hand mehr Unabhängigkeit von Jamaillia forderten. In der Person von Grag Tenira hatte sich der Zorn des Zollbeamten auf Bingtown manifestiert. Auf seinen Kopf war eine hohe Summe ausgesetzt worden. Brashens Vorschlag, Althea könnte Grag für so viel Geld verraten, dass man den Paragon reparieren könnte, war zwar ein Scherz gewesen, aber keine Übertreibung. Wenn Grag sich nicht bald in Sicherheit brachte, könnten selbst die, die ihm gegenüber loyal waren, von dem ungeheuren Kopfgeld in Versuchung geführt werden. Als sie jetzt in der milden abendlichen Sommerbrise dasaß und ihn anschaute, überkam sie eine böse Vorahnung. Grag musste handeln, und zwar schnell. Sie hatte schon vorher mit ihm gesprochen, und jetzt unternahm sie einen weiteren Vorstoß. »Ich verstehe nicht, warum Ihr Euch immer noch in der Nähe von Bingtown aufhaltet. Ihr könntet doch sicher auf einem der Lebensschiffe aus Bingtown verschwinden. Es verblüfft mich, dass die Agenten des Satrapen Euch hier noch nicht aufgespürt haben. Es ist bekannt, dass Eure Familie eine Hütte im Sanger-Wald hat.« »Es ist so bekannt, dass sie schon zweimal hier waren und sie durchsucht haben. Sie kommen vielleicht auch wieder. Und wenn, dann finden sie die Hütte genauso verlassen vor wie bei den beiden letzten Malen.« »Wie?«, fragte Althea fasziniert. Grag lachte, aber es klang nicht amüsiert. »Mein Großonkel
war nicht gerade ein sehr moralischer Mann. Angeblich hatte er hier oben seine Geliebten versteckt. Deshalb befindet sich nicht nur ein Weinkeller hinter einer falschen Wand im Keller, sondern auch eine Kammer dahinter. Und es gibt eine sehr teure Glocke in der Brücke, über die Ihr gekommen seid, deren Gegenstück hier oben installiert ist.« »Ich habe nichts gehört«, erwiderte Althea. »Natürlich nicht. Sie ist winzig, aber sehr empfindlich. Wenn sie unten klingelt, dann läutet auch ihr Gegenstück hier oben. Dank Sa für die Magie der Regenwildnis.« Er hob sein Glas zum Toast auf ihre Regenwild-Brüder, und Althea trank mit ihm. Dann setzte sie das Glas ab und kam wieder auf ihr Thema zu sprechen. »Also wollt Ihr hier bleiben?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bevor sie mich erwischen. Ich brauche Vorräte, und die Leute hier in der Gegend wissen, dass ich hier bin. Viele von ihnen sind Drei-Schiffe-Einwanderer. Es sind gute Menschen, aber nicht sehr reich. Irgendwann wird einer der Versuchung erliegen. Nein, ich werde sehr bald aufbrechen. Deshalb habe ich meine Mutter gebeten, dieses Treffen zu arrangieren. Ich hatte schon befürchtet, dass Eure Familie es verbieten würde. Schließlich ist es nicht schicklich, Euch unter diesen Umständen allein zu treffen. Aber schwere Zeiten erfordern drastische Maßnahmen.« Er sah sie entschuldigend an. Althea lachte amüsiert. »Ich glaube nicht, dass Mutter viel darüber nachgedacht hat. Mein Ruf als rebellisches Kind ist mir leider bis ins Erwachsenenalter gefolgt. Was für meine Schwester ein skandalöses Verhalten wäre, ist bei mir ganz normal.« Er beugte sich über den Tisch und legte seine Hände auf ihre, drückte sie kurz und hielt sie dann fest. »Wäre es falsch, wenn ich sagte, dass ich froh darüber bin? Ansonsten hätte ich Euch nicht gut genug kennen gelernt, um Euch zu lieben.« Dieses unverblümte Eingeständnis verschlug ihr die Sprache.
Sie wollte ihm gern sagen, dass sie ihn ebenfalls liebte, aber diese Lüge kam ihr nicht über die Lippen. Eigenartig. Sie hatte nicht gewusst, dass es eine Lüge war, bis sie versuchte, die Worte auszusprechen. Sie holte tief Luft und wollte etwas Wahres sagen: Dass er ihr ebenfalls wichtig war oder dass seine Worte sie ehrten, aber er schnitt ihr mit einem Kopfschütteln das Wort ab. »Sagt nichts. Ihr müsst nichts sagen, Althea. Ich weiß, dass Ihr mich nicht liebt, noch nicht. Euer Herz ist in vielerlei Hinsicht vorsichtiger als meins. Das wusste ich von Anfang an. Und selbst wenn es mir entgangen wäre: Ophelia hat sich sehr viel Mühe gegeben, es mir zu erklären, als sie mich instruiert hat, wie ich Euch den Hof zu machen habe.« Er lachte selbstironisch. »Nicht, dass ich ihren Rat gesucht hätte. Sie ist in vielen Dingen wie eine zweite Mutter für mich. Aber sie wartet nicht erst, bis ich ihren Rat erbitte.« Althea lächelte. »Ich kann keinen Makel an Euch entdecken, Grag Tenira. Ihr habt nichts getan, um meine Gefühle zu verletzen. Aber mein Leben lässt mir im Moment wenig Zeit, um solche Hoffnungen oder Träume für mich zu hegen. Meine Familienprobleme lasten schwer auf mir. Wir haben keine erwachsenen Männer in unserem Geschlecht, und deshalb fallen mir die meisten Pflichten zu. Niemand sonst kann sich auf die Suche nach der Viviace machen.« »Das habt Ihr mir schon gesagt«, pflichtete Grag ihr bei. Aber seine Stimme klang nicht wirklich überzeugt. »Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass Ihr jetzt mit mir geht. Ich vermute, dass in solchen Zeiten eine Hochzeit zu überstürzt aussähe, um angemessen zu sein.« Er drehte ihre Hand um und fuhr ihr mit dem Daumen über die Handfläche. »Aber was ist mit später? Es werden auch wieder bessere Zeiten kommen…« Er dachte über seine Worte nach und lachte dann. »Oder vielleicht auch schlechtere. Ich würde mir gern vorstellen können, dass Ihr bald neben mir steht und zu meiner Familie gehört. Althea,
wollt Ihr mich heiraten?« Sie schloss die Augen. Es schmerzte sie. Hier saß ein guter Mann, ein ehrlicher, aufrichtiger Mann, der gut aussah, begehrenswert war und sogar wohlhabend. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie ruhig. »Ich versuche, in die Zukunft zu schauen, und stelle mir eine Zeit vor, in der mein Leben allein mir gehört und so arrangiert ist, wie ich es will, aber ich kann nicht so weit blicken. Wenn alles gut geht und wir die Viviace zurückerobern, werde ich sie Kyle streitig machen. Wenn ich gewinne, werde ich sie segeln.« Sie sah ihm offen in die Augen. »Wir haben das schon einmal besprochen. Ich weiß, dass Ihr die Ophelia nicht verlassen könnt. Wenn ich die Viviace wieder besitze, werde ich sie nie mehr allein lassen. Was bleibt uns da noch?« Er verzog die Lippen. »Ihr macht es mir schwer, Euch Erfolg zu wünschen, denn wenn Ihr gewinnt, was Ihr wollt, verliere ich Euch.« Als sie die Stirn runzelte, lachte er. »Aber ich kenne Euch… Dennoch, wenn Ihr keinen Erfolg habt, warte ich auf Euch. Mit Ophelia.« Sie senkte den Blick und nickte, aber in ihrem Herzen war ihr kalt. Was bedeutete es, wenn sie scheiterte? Sie hatte ein ganzes Leben ohne ein eigenes Schiff vor sich. Die Viviace wäre für immer aus ihrer Welt verschwunden. Sie würde Grags Frau sein, ein Passagier an Bord seines Schiffes, die auf ihre Kleinen aufpasste, damit sie nicht über Bord fielen. Sie würde mit den Söhnen zu Hause bleiben und einen Haushalt führen und ihre Töchter unter die Haube bringen, während ihr Mann zur See fuhr. Diese Zukunft beengte sie, hüllte sie ein wie in ein Netz. Sie versuchte zu atmen, versuchte sich einzureden, dass ihr Leben nicht so verlaufen müsste. Grag kannte sie. Er wusste, dass sie auf dem Meer zu Hause war, nicht an Land. Aber genauso wie er akzeptierte, dass sie die Verpflichtungen ihrer Familie gegenüber erfüllte, so würde er auch erwarten, dass sie ihren Pflichten ihm gegenüber nachkam. Warum sonst nahmen
sich Seeleute Frauen, wenn nicht, damit jemand zu Hause war, sich um alles kümmerte und die Kinder erzog? »Ich kann nicht Eure Frau werden.« Althea mochte kaum glauben, dass sie diese Worte laut aussprach. Sie zwang sich, ihn anzublicken. »Das hält mich in Wahrheit davon ab, Euch zu lieben, Grag. Ich weiß, dass dies der Preis wäre, den ich zahlen müsste. Ich könnte Euch lieben, ganz leicht, aber ich kann nicht in Eurem Schatten leben.« »In meinem Schatten?« Er war verwirrt. »Althea, ich verstehe Euch nicht. Ihr wärt meine Frau, verehrt von meiner Familie, die Mutter der Tenira-Erben.« Er klang wirklich gekränkt und suchte nach Worten. »Mehr als das kann ich Euch nicht bieten. Es ist alles, was ich der Frau anbieten kann, die ich heiraten werde. Das und mich selbst.« Seine Stimme wurde zu einem Flüstern. »Ich hatte gehofft, es würde genügen, um Euch zu gewinnen.« Langsam öffnete er die Hand. Es war, als ließe er einen Vogel los. Zögernd zog sie die Hand zurück. »Grag, kein Mann könnte mir das bieten, oder gar etwas Besseres.« »Nicht einmal Brashen Trell?«, fragte er grob. Seine Stimme klang belegt. Althea wurde eiskalt in ihrem Inneren. Er wusste es. Er wusste, dass sie mit Trell geschlafen hatte. Sie war froh, dass sie saß. Verzweifelt versuchte sie, ihre Miene zu kontrollieren, während das Blut in ihren Ohren rauschte. Sa, sie wurde ohnmächtig! Das war einfach lächerlich. Sie konnte die ganze Bedeutung seiner Worte nicht erfassen. Er stand plötzlich auf, entfernte sich einige Schritte vom Tisch und starrte in den finsteren Wald. »Also liebt Ihr ihn?« Seine Worte klangen beinahe anklagend. Scham und Schuld trockneten ihren Mund aus. »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie heiser. Sie versuchte, sich zu räuspern. »Es war einfach etwas, das zwischen uns passiert ist. Wir haben getrunken, das Bier war vergiftet und…« »Das weiß ich alles«, schnitt er ihr brüsk das Wort ab. Er sah
sie immer noch nicht an. »Ophelia hat es mir erzählt, als sie mich warnte. Ich wollte ihr nicht glauben.« Althea senkte den Kopf und presste die Hände vors Gesicht. Sie hatte ihn gewarnt? Plötzlich bezweifelte sie, dass Ophelia sie überhaupt jemals wirklich gemocht hatte. »Wie lange wisst Ihr das schon?«, brachte sie schließlich heraus. Er seufzte. »Seit der Nacht, in der sie mich gedrängt hat, Euch zu küssen, und ich es getan habe… Später hat sie es mir erzählt. Vermutlich hatte sie ein… schlechtes Gewissen. Ich weiß es nicht. Vielleicht fürchtete sie auch, dass ich verletzt würde, wenn ich mich zu sehr in Euch verliebte und dann herausfand, dass Ihr nicht… wart, was ich erwartete.« »Warum habt Ihr mir das nicht schon vorher erzählt?« Sie hob den Kopf und sah, wie er mit den Schultern zuckte. »Ich dachte, es würde keine Rolle spielen. Natürlich hat es mich beschäftigt. Ich wollte diesen Mistkerl am liebsten umbringen. Von allen miesen Dingen, die man tun kann… Aber dann sagte mir Ophelia, dass Ihr vielleicht etwas für ihn empfändet. Und ihn vielleicht sogar liebtet?« Das Letzte war eine halbherzige Frage. »Ich glaube nicht, dass ich das tue«, sagte sie leise. Die Unsicherheit in ihrer Stimme überraschte sie selbst. »Das ist das zweite Mal«, bemerkte Grag verbittert. »Ihr wisst, dass Ihr mich nicht liebt. Aber bei ihm seid Ihr Euch nicht sicher.« »Ich kenne ihn schon lange«, erwiderte sie lahm. Sie wollte sagen, dass sie Brashen nicht liebte. Aber wie konnte man jemanden lange kennen, so lange mit jemandem befreundet sein und ihn nicht auch ein bisschen lieben? Es ist so ähnlich wie meine Beziehung zu Davad Restate, dachte sie. Sie konnte das Verhalten des Händlers verachten und ihn trotzdem als freundlichen, onkelhaften Brummbär sehen. »Trell war jahrelang ein Freund und ein Schiffskamerad. Und was zwischen uns passiert ist, verändert diese Jahre nicht. Ich…«
»Ich verstehe das alles nicht«, sagte Grag leise. Sie nahm den unterdrückten Ärger in seiner Stimme wahr. »Er hat Euch entehrt, Althea. Er hat Euch kompromittiert. Als ich das herausgefunden habe, war ich ungeheuer wütend. Ich wollte ihn herausfordern. Ich war sicher, dass Ihr ihn hassen müsstet. Mir war klar, dass er den Tod verdient hatte. Ich glaubte, dass er nach dem, was er da getan hatte, nie wieder nach Bingtown zurückkehren würde. Als er es doch tat, hätte ich ihn am liebsten umgebracht. Nur zwei Dinge haben mich zurückgehalten. Ich konnte es nicht tun, ohne den wahren Grund zu verraten, warum ich ihn herausforderte. Und ich wollte Euch nicht beschämen. Außerdem hatte ich gehört, dass er Euch besucht hat. Ich dachte, dass er Euch vielleicht das einzig Ehrenhafte anbot, was ihm noch blieb. Und wenn er es getan hat und Ihr es ihm verweigert habt… Hat er Euch das angeboten? Geht es darum? Fühlt Ihr Euch ihm verpflichtet?« Seine Stimme klang verzweifelt. Er bemühte sich so sehr, das zu verstehen. Althea stand auf und trat zu ihm. Sie blickte nun ebenfalls in den dunklen Wald hinaus. Die Schatten der Zweige, Bäume und Stämme verwoben sich zu einer schwarzen Wand. »Er hat mich nicht vergewaltigt«, sagte sie. »Das muss ich Euch klarmachen. Was zwischen uns passiert ist, war nicht klug, aber es war auch nicht gewaltsam, und ich trage genauso viel Verantwortung dafür wie Brashen.« »Er ist ein Mann.« Grags Worte duldeten keinen Widerspruch. Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Er hat Schuld. Er hätte Euch schützen müssen und Eure Schwäche nicht ausnutzen dürfen. Ein Mann sollte seine Lust kontrollieren. Er hätte stärker sein müssen.« Althea war wie betäubt. Sah Grag sie wirklich so? Als eine schwache, hilflose Kreatur, die von dem Mann geführt und beschützt werden musste, der zufällig in der Nähe war? Glaubte er wirklich, dass sie Brashen nicht hätte Einhalt gebieten kön-
nen, wenn sie gewollt hätte? Sie spürte zuerst eine Kluft zwischen sich und Grag, und dann stieg Wut in ihr hoch. Sie wollte ihn mit ihren Worten aufrütteln, ihn zwingen zu erkennen, dass sie ihr Leben selbst kontrollierte. Doch dann verpuffte der Ärger genauso schnell, wie er gekommen war. Es war hoffnungslos. Sie betrachtete ihre Liaison mit Brashen als etwas sehr Persönliches, was nur sie beide anging. Grag hingegen sah das als etwas, das man ihr angetan hatte, etwas, das sie für immer veränderte. Ihre eigene Scham und ihr Schuldgefühl kamen nicht daher, dass sie etwas Falsches getan hatte, sondern rührten von der Angst her, was eine Entdeckung ihrer Familie antun würde. Diese beiden Sichtweisen waren vollkommen verschieden. Althea wurde mit einer absoluten Gewissheit klar, dass sie niemals etwas Gemeinsames aufbauen konnten. Selbst wenn sie ihre Träume von einem eigenen Schiff aufgegeben hätte, selbst wenn sie plötzlich das Bedürfnis nach eigenen Kindern und einem Heim entwickelt hätte, würde seine Vorstellung von ihr als eine schwache und hilflose Frau sie immer demütigen. »Ich sollte jetzt gehen«, sagte sie abrupt. »Es ist dunkel«, protestierte er. »Ihr könnt jetzt nicht gehen.« »Die Herberge ist nicht weit entfernt, wenn ich die Brücke überquert habe. Ich werde langsam reiten. Und das Pferd scheint sehr zuverlässig zu sein.« Grag drehte sich zu ihr um und sah sie an. Seine Augen waren groß und blickten sie flehentlich an. »Bleibt«, meinte er. »Bitte. Bleibt und redet mit mir. Wir können das lösen.« »Nein, Grag, das glaube ich nicht.« Noch vor einer Stunde hätte sie seine Hand berührt, hätte ihn zumindest zum Abschied küssen wollen. Jetzt aber war ihr klar, dass sie die Barrieren zwischen ihnen niemals überwinden konnten. »Ihr seid ein guter Mann. Ihr werdet eine Frau finden, die zu Euch passt. Ich wünsche Euch alles Gute. Und wenn Ihr Ophelia wiederseht, bestellt Ihr meine besten Wünsche.«
Er folgte ihr in den Lichtkreis der Laterne. Sie nahm ihr Weinglas vom Tisch und trank den letzten Schluck. Als sie sich umsah, wurde ihr klar, dass es hier nichts mehr für sie zu tun gab. Sie war bereit. »Althea.« Beim Ton seiner Stimme drehte sie sich um. Grag sah plötzlich sehr jung aus. Mutig blickte er ihr ins Gesicht und versuchte nicht, seinen Schmerz zu verbergen. »Das Angebot bleibt bestehen. Ich warte, bis Ihr wiederkommt. Werdet meine Frau. Es ist mir egal, was Ihr getan habt. Ich liebe Euch.« Sie suchte nach aufrichtigen Worten, die sie ihm sagen konnte. »Ihr habt ein gutes Herz, Grag Tenira«, sagte sie schließlich. »Lebt wohl.«
23
Konsequenzen Serilla hatte die Kajüte des Kapitäns nicht mehr verlassen, seit man sie hierher geschleppt hatte. Sie fuhr mit den Händen durch ihr wirres Haar und versuchte sich daran zu erinnern, wie lange das her war. Sie zwang sich, Ereignisse heraufzubeschwören, aber ihre Erinnerungen kamen nicht in der richtigen Reihenfolge. Sie sprangen hin und her, vermischten sich, und die Momente des Entsetzens und des Schmerzes drängten sich vor, selbst wenn sie sich weigerte, daran zu denken. Sie hatte sich gegen den Matrosen gewehrt, der sie hierher brachte. Serilla hatte würdevoll gehen wollen, aber selbst das hatte man ihr nicht gegönnt. Sie hielt sich zurück, bis er sie zerrte. Doch als sie ihn schlug, packte er nur ihre Fäuste und warf sie über seine Schulter. Er stank. Ihre Anstrengungen, ihn zu schlagen und zu treten, amüsierten nicht nur ihn, sondern auch die anderen Mannschaftsmitglieder, die herumstanden und zusahen. Ihre Hilfeschreie wurden ignoriert. Die Reisegefährten des Satrapen, die ihre Entführung mit ansahen, standen tatenlos daneben. Die meisten wandten sich einfach ab und bemühten sich um ausdruckslose Mienen, und andere schlugen einfach die Türen wieder zu, aus denen sie herausgelugt hatten. Aber Serilla konnte vor allem die Mienen von Cosgo und Kekki nicht aus ihrem Gedächtnis verbannen. Als sie weggeschleppt wurde, hatte Cosgo triumphierend gelächelt, während Kekki sich aus ihrem berauschten Zustand hochgerappelt und erregt zugesehen hatte. Ihre Hand lag dabei auf Cosgos Schenkel. Ihr Häscher hatte sie in einen unbekannten Teil des Schiffes getragen. Er schob sie in die dunkle Kabine des Kapitäns und verriegelte die Tür hinter ihr. Serilla wusste nicht, wie lange sie
dort gewartet hatte. Es kam ihr wie Stunden vor, aber konnte man in einer solchen Lage die Zeit wirklich erfassen? Wut, Verzweiflung und Entsetzen wechselten sich in ihr ab. Angst hatte sie immer. Als der Mann schließlich erschien, war Serilla bereits erschöpft vom Schreien, vom Weinen und vom unablässigen Hämmern gegen die Tür. Bei seiner ersten Berührung war sie zusammengebrochen und beinahe ohnmächtig geworden. Nichts in ihrer Ausbildung oder in den Tagen bei Hofe hatte sie auf so etwas vorbereitet. Er überwand mühelos ihre Versuche, ihn wegzuschieben. In seinen Händen ähnelte sie einem fauchenden Kätzchen. Er vergewaltigte sie. Nicht grob, sondern ganz nüchtern und sachlich. Als er entdeckte, dass sie noch unberührt gewesen war, stieß er einen überraschten Schrei aus und fluchte in seiner eigenen Sprache. Dann vergnügte er sich weiter mit ihr. Wie viele Tage waren seitdem vergangen? Sie wusste es nicht. Die Kajüte hatte sie seit diesem Ereignis nicht mehr verlassen. Die Zeit bemaß sich danach, ob der Mann da war oder nicht. Manchmal benutzte er sie. Dann wieder ignorierte er sie einfach. Seine Grausamkeit war vollkommen unpersönlich. Er versuchte nicht einmal, ihre Zuneigung zu gewinnen. Er sprach nie mit ihr. Sie war zu seiner Nutzung da, wenn er das Bedürfnis nach ihr hatte. Wenn sie Schwierigkeiten machte, durch Widerstand oder Flehen, schlug er sie. Es waren beiläufige Hiebe mit der offenen Hand. Sie wirkten mühelos, was ihr klarmachte, dass er wesentlich härter zuschlagen konnte, wenn er ihr weh tun wollte. Ein Schlag lockerte zwei ihrer Zähne, und ihr Ohr dröhnte noch Stunden danach. Aber der Mangel an Bösartigkeit, mit der er sie züchtigte, war noch furchteinflößender als die Schläge selbst. Ob er ihr weh tat, interessierte ihn nicht. Irgendwann am Anfang ihrer Gefangenschaft hatte sie noch Rachepläne geschmiedet. Sie hatte den Raum durchstöbert und nach irgendetwas gesucht, das als Waffe dienen könnte. Der
Mann war nicht gerade vertrauensselig: Seine Truhen und Schränke waren verschlossen. Aber sie fand auf seinem Tisch Karten, die ihren Verdacht bestätigten. Sie erkannte ein Karte des Hafens von Bingtown und eine andere, die die Mündung des Regenwild-Flusses zeigte. Wie bei allen Landkarten, die sie davon gesehen hatte, klafften auch auf dieser große weiße Flecken. Es standen auch Buchstaben dort, aber sie konnte die chalcedanische Sprache nicht lesen. In den Dokumenten wurden Geldsummen erwähnt und die Namen zweier hochrangiger jamaillianischer Adliger. Es waren vielleicht Informationen über Bestechungsgelder, aber es konnten auch genauso gut Frachtbriefe sein. Sie legte alles genauso wieder hin, wie sie es vorgefunden hatte. Entweder hatte sie es nicht richtig gemacht, oder er schlug sie in dieser Nacht aus einem anderen Grund. Jedenfalls trieb ihr das jeden Gedanken an Widerstand oder Rache aus. Sie dachte nicht einmal mehr daran zu überleben. Ihr Verstand zog sich zurück und überließ es ihrem Körper, allein zu funktionieren. Nach einer Weile lernte sie, die Reste seiner Mahlzeiten zu essen. Er aß nicht oft in seiner Kabine, aber andere Nahrungsmittel oder Getränke gab er ihr auch nicht. Sie hatte keine heile Kleidung mehr, also verbrachte sie die meiste Zeit in einer Ecke seines Bettes. Sie dachte auch nicht mehr länger nach. Wenn sie versuchte, ihrer Verwirrung zu entkommen, stieß sie nur auf hässliche Alternativen. Und alle versetzten sie in Furcht. Vielleicht tötete er sie heute. Oder er warf sie seiner Mannschaft vor. Er könnte sie auch für immer in dieser Kajüte behalten. Das Schlimmste wäre, wenn er sie dem Satrapen zurückgab: Ein zerbrochenes Spielzeug, das ihn nicht mehr amüsierte. Vielleicht würde er sie schwängern. Und dann? Die Gegenwart, die sie erdulden musste, zerstörte unwiederbringlich all ihre Zukunftspläne, die sie geschmiedet hatte. Sie würde nicht nachdenken. Manchmal starrte sie aus dem Fenster. Dort gab es nicht viel
zu sehen. Wasser. Inseln. Vögel, die vorbeiflogen. Die kleineren Schiffe, die sie begleiteten. Manchmal verschwanden diese Schiffe eine Weile und stießen dann einen Tag später wieder zu ihnen. Dann wiesen sie oft Spuren von Kämpfen auf, verbranntes Holz oder zerfetzte Segel oder angekettete Männer an Deck. Sie überfielen die kleinen Siedlungen der Freibeuter in der Inneren Passage, wenn sie sie entdeckten. Sie plünderten und machten die Gefangenen zu Sklaven. Irgendwann würden sie nach Bingtown kommen. Dieser Gedanke war für Serilla wie ein Lichtstreif am Horizont. Wenn sie in Bingtown irgendwie entkommen konnte, wenn sie an Land kam, würde sie verbergen können, wer sie war und was ihr widerfahren war. Das war ihr sehr wichtig. Ihr Verstand schreckte davor zurück, so weiterleben zu müssen. Sie konnte nicht mehr länger Serilla sein. Serilla war eine weiche und verwöhnte Akademikerin, eine liebevoll erzogene Gelehrte, ein Höfling, eine Frau der Worte und Gedanken. Sie verachtete Serilla. Serilla war zu schwach, um gegen diesen Mann anzukämpfen. Serilla war zu närrisch gewesen, um das Angebot des Satrapen anzunehmen und mit ihm zu schlafen – statt mit dem Chalcedaner. Serilla war zu feige, sich zu überlegen, wie sie den Kapitän töten oder wenigstens sich selbst umbringen konnte. Obwohl sie wusste, dass Bingtown ihre letzte Hoffnung war, konnte sie sich nicht genug konzentrieren, um einen Fluchtplan zu schmieden. Einige lebenswichtige Bereiche in ihr waren wenn schon nicht zerstört, so doch lahm gelegt worden. Sie löste sich von Serilla und verachtete sie wie der Rest der Welt. Das Ende ihrer Probe kam genauso unvermittelt, wie sie begonnen hatte. Ein Matrose schloss die Kajüte auf und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Sie hielt sich die Decke vor den Körper, als sie sich auf das Bett des Kapitäns duckte. »Wohin bringt Ihr mich?«, fragte sie, während sie sich gegen den erwarteten Schlag wappnete.
»Satrap.« Mehr tat und sagte er nicht. Entweder sprach er ihre Sprache nicht, oder er hielt eine genauere Erwiderung für überflüssig. Mit dem Kopf deutete er auf die Tür. Sie musste gehorchen. Als sie aufstand, wickelte sie die Decke um sich. Der Seemann versuchte nicht, sie ihr wegzunehmen. Vor Dankbarkeit darüber traten ihr Tränen in die Augen. Als er sich davon überzeugt hatte, dass sie ihm freiwillig hinterherkam, ging er einfach voraus. Sie folgte ihm zögernd, als trete sie in eine neue Welt hinaus. Fest in die Decke gehüllt, verließ sie die Kajüte. Sie hielt den Blick auf den Boden gerichtet und eilte hinter dem Mann her. Als sie ihre alte Kajüte betreten wollte, ließ ein barscher Ruf des Mannes sie zusammenzucken. Erneut lief sie hinter ihm her. Er führte sie zum Quartier des Satrapen. Sie erwartete, dass er anklopfen würde. Aber das tat er nicht. Er stieß die Tür einfach auf und bedeutete ihr ungeduldig einzutreten. Aus der Tür schlug ihr eine widerlich stickige Luft entgegen. In dieser Hitze waren die Gerüche des Schiffs noch mit denen von Schweiß und Krankheit angereichert worden. Serilla wich davor zurück, aber der Matrose war unerbittlich. Er packte sie an der Schulter und schob sie in das Zimmer. »Satrap!«, wiederholte er und schloss die Tür. Sie tastete sich vorsichtig in den stickigen Raum vor. Es war ruhig und dämmrig. Es war aufgeräumt worden, wenn auch irgendwie achtlos. Kleidungsstücke hingen auf Stuhllehnen, statt auf dem Boden zu liegen. Die Behälter für die Lustkräuter des Satrapen waren zwar geleert, aber nicht gesäubert worden. Der Gestank von kaltem Rauch waberte durch den Raum. Teller und Gläser waren vom Tisch geräumt worden, aber die klebrigen Ringe vom Boden der Flaschen waren noch da. Hinter den schweren Vorhängen vor dem großen Fenster summte eine Fliege, die anscheinend unbedingt an die frische Luft wollte und immer wieder gegen das Glas stieß.
Die Kabine kam ihr sehr bekannt vor. Sie blinzelte langsam, als wäre sie aus einem schlimmen Traum erwacht. Wie konnte dieser Raum mit seiner gewohnten Unordnung noch so unverändert existieren, nach allem, was sie durchgemacht hatte? Sie sah sich langsam um, und ihre Benommenheit klärte sich allmählich. Während ihrer Gefangenschaft und der ständigen Vergewaltigungen war das Leben für den Satrapen und seinen Hofstaat wie gewohnt weitergegangen. Ihre Abwesenheit hatte für sie nichts bedeutet. Sie hatten weiter getrunken und gegessen, der Musik gelauscht und Glücksspiele gespielt. Die Abfälle und das Durcheinander ihres sicheren Lebens machten sie plötzlich wütend, eine schreckliche Kraft durchströmte sie. Sie hätte die Stühle auf die Tische schmettern, hätte das Glasfenster zertrümmern und seine Gemälde und die Vasen und Statuen ins Meer werfen können. Aber das tat sie nicht. Sie stand regungslos da, genoss ihre Wut und beherrschte sie, bis sie sie verinnerlicht hatte. Es war zwar keine Stärke, aber es würde genügen. Sie hatte gedacht, die Kajüte wäre verlassen. Dann hörte sie ein Stöhnen von dem zerwühlten Bett. Sie raffte die Decke enger um sich und trat näher. Der Satrap lag in seinem weichen Bettzeug. Sein Gesicht war blass, und seine Haare klebten ihm am Kopf. Er stank nach Krankheit. Eine Decke auf dem Boden vor dem Bett roch nach Erbrochenem und Galle. Als sie ihn anstarrte, öffnete er die Augen. Er blinzelte mühsam und konzentrierte sich dann auf sie. »Serilla!«, flüsterte er. »Du bist zurückgekommen. Sa sei Dank! Ich fürchte, ich sterbe.« »Ich hoffe, dass Ihr sterbt.« Sie sprach die Worte klar und deutlich aus, während sie ihn anstarrte. Er wich vor ihrem Blick zurück. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und waren blutunterlaufen. Seine Hände, mit denen er den Rand seiner Decke umklammerte, zitterten. Es war eine ungeheure Ironie, so lange in Furcht zu leben und dann feststellen zu müssen,
dass der Mann, der ihr das alles angetan hatte, krank und am Ende war. Sein durch die Krankheit gezeichnetes Gesicht ähnelte dem seines Vaters. Diese leichte Ähnlichkeit peinigte und stärkte sie gleichzeitig. Sie würde nicht zu dem werden, was Cosgo aus ihr hatte machen wollen. Dafür war sie zu stark. Unvermittelt ließ sie die Decke fallen. Nackt ging sie zu einem Schrank und riss die Türen weit auf. Sie fühlte seinen Blick auf sich und genoss es, dass es sie nicht mehr kümmerte. Sie zog seine Kleidungsstücke eins nach dem anderen heraus, musterte sie kurz und ließ sie dann achtlos fallen. Sie suchte etwas Sauberes, das sie anziehen konnte. Die meisten Kleidungsstücke stanken nach dem Qualm seiner Lustkräuter oder seinem Parfüm, aber schließlich fand sie eine weite weiße Hose und ein rotes Seidenhemd. Die Hose war ihr zu groß, aber sie band sie mit einem feinen schwarzen Schal zusammen. Eine bestickte Weste bedeckte ihre Brüste noch angemessener. Sie nahm eine Haarbürste, säuberte sie von seinen Strähnen und brachte ihre eigenen schmutzigen Locken in Ordnung. Sie riss die Bürste durch ihr Haar, als könnte sie so die Berührung des Chalcedaners loswerden. Cosgo beobachtete sie verblüfft. »Ich habe nach dir geschickt«, meinte er schwach. »Nachdem Kekki krank geworden ist. Seitdem kümmert sich keiner mehr um mich. Wir hatten so viel Spaß, bevor die Krankheit grassierte. Alle wurden krank, und es ging so schnell. Lord Durden ist in der Nacht nach unserem Kartenspiel gestorben. Dann wurden die anderen krank.« Er senkte die Stimme. »Vermutlich ist es Gift. Keiner von der Mannschaft ist krank geworden. Nur ich und diejenigen, die mir gegenüber loyal waren. Und darüber hinaus scheint es den Kapitän nicht zu kümmern. Sie schicken mir zwar Diener, aber viele von ihnen sind ebenfalls krank, und die übrigen sind Narren. Ich habe jede Medizin versucht, aber keine lindert den Schmerz. Bitte, Serilla, lass mich nicht sterben. Ich will nicht wie Lord Durden über Bord geworfen werden.«
Sie flocht sich das Haar zu einem Zopf, musterte sich im Spiegel und drehte den Kopf hin und her. Ihre Haut war gelblich geworden. Auf der einen Seite ihres Gesichts gingen die Schwellungen allmählich zurück. In einem ihrer Nasenlöcher war noch getrocknetes Blut. Sie hob eines seiner Hemden vom Boden auf und putzte sich die Nase. Dann sah sie den Blick ihres Spiegelbildes. Sie erkannte sich selbst nicht mehr. Es schien ein verängstigtes, wütendes Tier hinter diesen Augen zu lauern. Du bist gefährlich geworden, dachte sie. Das ist der Unterschied. Sie warf dem Satrapen einen Blick zu. »Warum sollte mich das kümmern? Ihr habt mich ihm vorgeworfen, wie man einem Köter einen abgenagten Knochen vorwirft. Und jetzt erwartet Ihr allen Ernstes, dass ich mich um Euch kümmere?« Sie drehte sich um und sah ihn an. »Ich hoffe, Ihr verreckt!« Sie sprach die Worte deutlich aus, damit er verstand, dass sie es ernst meinte. »Das kannst du nicht wollen!«, jammerte er. »Ich bin der Satrap. Wenn ich sterbe, ohne Erben, dann wird Jamaillia im Chaos versinken. Der Perlenthron ist seit siebzehn Generationen nicht mehr unbesetzt gewesen!« »Jetzt ist er es«, erwiderte sie liebenswürdig. »Und so wie die Adligen jetzt zurechtkommen, werden sie es auch tun, wenn Ihr tot seid. Vielleicht merken sie es nicht einmal.« Sie ging zu seinen Schmuckkästen. Die besten Stücke befanden sich sicher in denen, die am festesten verschlossen waren. Beiläufig hob sie eine prächtig verzierte Dose über den Kopf und schmetterte sie auf den Boden. Der dicke Teppich machte ihren Plan jedoch zunichte. Sie würde sich nicht demütigen, indem sie es noch einmal versuchte. Stattdessen gab sie sich mit Gold und Silber zufrieden. Sie öffnete die Fächer einer anderen Kiste und suchte sich Ohrringe und ein Halsband aus. Er hatte sie weggeschickt, als wäre sie eine Hure, die er besaß. Für das, was er ihr angetan hatte, würde er bezahlen, und zwar auf vielfache Weise. Was sie jetzt nahm, war vielleicht ihr ein-
ziger Besitz, wenn sie ihn in Bingtown verließ. Sie steckte sich Ringe an alle Finger, und schlang sich eine schwere Goldkette um die Knöchel. Noch nie hatte sie solchen Schmuck getragen. Es ist fast wie eine Rüstung, dachte sie. Jetzt trug sie ihren Wert am Körper statt darin. »Was willst du von mir?«, fragte er gebieterisch. Er versuchte sich aufzusetzen und sank mit einem Stöhnen zurück. Seine Stimme klang überhaupt nicht mehr befehlend, als er jammerte: »Warum behandelst du mich so hässlich?« Sein Unglauben schien so aufrichtig, dass sie unwillkürlich antwortete: »Ihr habt mich einem Mann ausgeliefert, der mich immer wieder vergewaltigt und geschlagen hat. Ihr habt das absichtlich getan. Ihr wusstet, was ich erdulden musste. Ihr habt nichts dagegen unternommen. Bis Ihr mich brauchtet, hat es Euch auch nicht interessiert, was aus mir geworden ist. Im Gegenteil, es hat Euch amüsiert!« »Ich sehe nicht, dass du großen Schaden genommen hast«, erklärte er abwehrend. »Du sprichst mit mir wie immer und bist auch genauso grausam. Ihr Frauen macht darum immer so ein Gewese! Immerhin ist es doch das, was Männer für gewöhnlich mit Frauen machen. Es ist das, wofür ihr gemacht seid und was du mir vorenthalten hast!« Er zupfte an der Decke und fuhr anklagend fort: »Vergewaltigung ist etwas, das Frauen sich ausgedacht haben, um so zu tun, als ob Männer ihnen etwas stehlen, wovon sie doch eigentlich einen unendlichen Vorrat haben. Du hast keine dauernden Schäden davongetragen. Ich gebe zu, dass es ein grober Scherz war und auch schlecht überlegt… Aber ich verdiene dafür nicht den Tod.« Er drehte den Kopf und starrte das Schott an. »Wenn ich tot bin, wirst du zweifellos erheblich mehr erdulden müssen«, meinte er mit beinahe kindischer Genugtuung. Nur die unbestreitbare Wahrheit seiner letzten Bemerkung hielt sie davon ab, ihn auf der Stelle umzubringen. Ihre Verachtung für ihn war plötzlich grenzenlos. Er hatte keine Ahnung,
was er ihr angetan hatte, und schlimmer noch, er schien darüber hinaus unfähig, das auch nur annähernd zu begreifen. Dass dies der Sohn des gütigen und weisen Satrapen war, der sie zu seiner Gefährtin gemacht hatte, war unbegreiflich. Sie überlegte, welche Schritte sie unternehmen musste, um ihr Überleben zu sichern. Unbeabsichtigt gab er ihr die Antwort. »Vermutlich muss ich dir Geschenke, Ehrungen und Bestechungsgeld geben, bevor du dich um mich kümmern willst?« Er schnüffelte. »Genau«, antwortete sie eisig. Sie würde die teuerste Hure werden, die er jemals erschaffen hatte. Serilla ging zu einem Schreibtisch, der an dem Schott befestigt war, und schob die Kleidung und einen vergessenen Teller mit schimmligen Leckereien fort. Dann suchte sie Pergament, eine Schreibfeder und Tinte. Sie legte die Dinge auf die Schreibplatte und zog sich einen Stuhl heran. Ihre veränderte Haltung rief ihr schmerzhaft ins Gedächtnis, wie verwundet ihr ganzer Körper war. Sie hielt inne und runzelte die Stirn. Dann ging sie zur Tür und riss sie auf. Der Matrose, der davor stand, sah sie fragend an. »Der Satrap braucht ein Bad!«, befahl sie gebieterisch. »Bringt seine Wanne mit sauberen Handtüchern und Eimer mit heißem Wasser. Und zwar schnell!« Sie schloss die Tür, bevor er reagieren konnte. Dann kehrte sie zum Schreibtisch zurück und nahm die Feder zur Hand. »Ich will kein heißes Bad. Dafür bin ich viel zu erschöpft. Kannst du mich nicht hier im Liegen waschen?« Vielleicht erlaubte sie ihm, das Badewasser zu benutzen, wenn sie fertig war. »Seid ruhig. Ich muss nachdenken«, befahl sie ihm. Sie schloss kurz die Augen und sammelte ihre Gedanken. »Was machst du?«, wollte der Satrap wissen. »Ich setze ein Dokument auf, das Ihr unterschreiben werdet.
Und jetzt seid ruhig!« Sie wog die Bedingungen ab. Sie würde eine neue Position für sich selbst schaffen, als ständige Gesandte des Satrapen in Bingtown. Sie brauchte ein Gehalt, ein angemessenes Quartier und Bedienstete. Sie trug die großzügige, aber keineswegs übertriebene Summe ein. Wie viel Macht sollte sie sich zugestehen? Darüber dachte sie nach, während ihre Feder Zahlen und Buchstaben auf das Papier zauberte. »Ich bin durstig«, flüsterte er heiser. »Wenn ich fertig bin und Ihr das unterschrieben habt, hole ich Euch Wasser«, erklärte sie ihm. Eigentlich kam er ihr nicht sonderlich krank vor. Vermutlich war es eine Kombination aus Übelkeit, Seekrankheit, Wein und Lustkräutern. Das zusammen mit einem Mangel an Dienern und Gefährtinnen, die ihn umschmeichelten, und schon glaubte er, er müsste sterben. Fein. Es kam ihren Plänen sehr zugute, dass er sich im Sterben wähnte. Sie hob einen Augenblick den Federkiel vom Papier und neigte den Kopf, während sie nachdachte. Es gab Brechmittel und Abführmittel in der Medizintruhe, die er mitgenommen hatte. Vielleicht konnte sie ja dafür sorgen, dass er sich nicht zu rasch erholte, während sie ihn »heilte«. Sie brauchte ihn lebendig, aber nur bis Bingtown. Serilla legte den Federkiel zur Seite. »Vielleicht sollte ich mir doch erst etwas Zeit nehmen, Euch eine Medizin zuzubereiten«, lenkte sie gnädig ein.