Die Blutbibel Version: v1.0
Die Göttliche verließ die Sänfte, die von ihren Inkarnatio nen ins Tempelinnere getragen ...
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Die Blutbibel Version: v1.0
Die Göttliche verließ die Sänfte, die von ihren Inkarnatio nen ins Tempelinnere getragen worden war. Hoch über ihr schwebte das Opfer, das die Bewohner des Dorfes Yakshamalla als Ersatz gewählt hatten, um die Fortschrei bung der EWIGEN CHRONIK zu sichern. Während On ans Blicke sich an der makellosen, nackten Gestalt weide ten, studierte ihr drittes – das unsichtbare – Auge anders wo die blutbeschriebenen Seiten eines monströsen Bu ches. Der Befehl, das Opfer zu häuten, war bereits ergangen, als Onan den Betrug erkannte, der ihren Inkarnationen verborgen geblieben war. Sie bebte vor Zorn. Und mit ihr bebten Luft und Raum, Tempel und Berg …
Was bisher geschah Landru spürt Lilith mittels des konservierten Schrumpfkopfs ihres Vaters auf. Und als sie zu Esben Storm aufbricht, heftet er sich an ihre Fersen. Storm nimmt Lilith mit auf die Traumzeitreise. Sie be treten den Garten und entdecken eine große Anzahl Menschen, die sich die Früchte eines Apfelbaumes, der im Zentrum wächst, voll ständig in den Hals pressen und danach verschwinden. Das Grab von Liliths Mutter ist leer, das Haus hat seine Struktur völlig verändert. Es will Liliths Astralkörper nicht mehr hergeben – und holt auch ihren Körper heran! Das geschieht genau in dem Mo ment, als Landru Lilith in seine Gewalt bringen will. Sie löst sich vor seinen Augen auf. Aus Rache zündet er den Laden des Aboriginals an. Storm kann im letzten Moment die »Nabelschnur« kappen, und Lilith erwacht benommen in einer Gasse Sydneys. Storm bleibt ver schwunden. Ist der Aboriginal in seinem Haus verbrannt? Der Vampir Habakuk, der Landru beeindrucken will, greift Lilith in einem Park an – und wird von ihr besiegt. Sie preßt mit Hilfe des Symbionten-Kleides wichtige Informationen aus ihm heraus. Landru indes erhält Besuch von einer alten Freundin: Nona, eine Werwölfin. Während die beiden auf die Jagd gehen, dringt Lilith in den Sitz der Vampire ein, eine entweihte Kirche. Sie findet Landrus Kammer – und den Schrumpfkopf ihres Vaters, den sie nicht zu be rühren vermag. Gerade als sie Landrus Karte aus Menschenhaut entdeckt, auf der sein Ziel in Indien vermerkt ist, kehren er und Nona zurück. Lilith kann entkommen, doch Hekade, eine Vampirin, heftet sich unbemerkt an ihre Fersen … Lilith ruft Luther an. Sie treffen sich im Park, nicht ahnend, daß Beth Luther heimlich gefolgt ist. Sie wird von Hekade gekidnappt und gegen Lilith als Faustpfand benutzt. Doch Beth kann die Gegne
rin mit ihrem Blitzlicht blenden; Lilith erledigt den Rest. Nun kom men Luther und sie nicht mehr darum herum, Beth reinen Wein ein zuschenken. Inzwischen entdeckt Landru, daß Lilith sein Ziel an der indischnepalesischen Grenze kennt. Damit sie ihm nicht zuvorkommt, reist er sofort dorthin. Als er an einem jungen Mädchen seinen Durst löscht, ahnt er nicht, daß er eine Auserwählte tötet … In Sydney taucht ein veränderter Jeff Warner in Codds Büro auf – und gibt dessen Sekretärin, die wie Codd eine Dienerkreatur der Vampire ist, auf mysteriöse Weise ihre Menschlichkeit zurück … Lilith und Duncan werden in New Delhi vom indischen Korre spondenten Himachal Pradesh in Empfang genommen. In der Nacht überfallen Vampire ihr Hotel – und töten Duncan Luther! In Nepal versucht Landru vergeblich, zum Tempel vorzudringen, wo er den Lilienkelch vermutet. Die Mönche besitzen unirdische Kräfte. Und sie fordern ein neues Opfer für das, welches Landru tö tete. Liiith, die in Fledermausgestalt zu dem Dorf gelangt ist, nimmt die Stelle des neugewählten Opfers – einer Frau namens Usha – ein und wird in den Tempel gebracht …
Die Hauptpersonen des Romans
Lilith Eden – Tochter eines Menschen und einer Vampirin, dazu ge zeugt, eine geheimnisvolle Bestimmung zu erfüllen. 98 Jahre lag sie in einem Haus in Sydney, doch sie ist zu früh erwacht – die Zeit ist noch nicht reif. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Bastard sehen, bis sie sich ihrer Bestimmung bewußt wird. Da bei hilft ihr ein Kleid, das seine Form beliebig ändern kann – ein Symbiont. Duncan Luther – ein Priester-Aspirant, der Lilith auf ihrer Flucht beistand. Wurde in Indien von Vampiren getötet. Jeff Warner – der Detective war einer jahrhundertealten Serie von Genickbruch-Morden auf der Spur, wurde dann aber von Polizei chef Virgil Codd in den Garten des versunkenen Hauses geschickt, wo Lilith erwachte und in dem schon etliche Menschen verschwun den sind. Doch Warner tauchte wieder auf … Beth MacKinsey – Journalistin. Bei ihr fanden Duncan und Lilith Unterschlupf. Von Warner bekam Beth die »Genickbruch-Liste« zu geschickt. Esben Storm – ein geheimnisvoller Aboriginal-Schamane. Er beob achtet Lilith seit Jahrzehnten. Ist er Freund oder Feind? Landru – Mächtigster der alten Vampire. Seit 267 Jahren jagt er dem verlorenen Lilienkelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, ohne den es keinen Nachwuchs geben kann.
New Delhi Nachtschicht. Venkatarama Sastri liebte diese Zeit. Sie war eine kleine, beleibte, komplex-beladene Frau, die ihren Frieden am ehesten dann fand, wenn sie allein – oder hier – war. Nur von Toten umgeben war sie allein, ohne sich einsam fühlen zu müssen. Für zehn Stunden war sie das einzig Lebendige in diesem Gebäudetrakt! Der schlichte Flachbau war der Polizei-Pathologie wie ein übervol les Warenlager angegliedert. Hier wurden jene Leichen aufbewahrt, an denen am nächsten Tag weitergearbeitet werden sollte. Oder die es schon hinter sich hatten. Sastri fand keinen Schrecken an den kühlen Leibern. Jede Metzge rei in Delhi und Umgebung stellte widerlichere Details zur Schau. Daß hier Menschen auf das reduziert wurden, was sie nach Verlust ihrer Seele waren, empfand sie als durchaus faszinierend. Sonst hät te sie sich auch nicht um den Job beworben. Die einzigen Opfer, mit denen sie überhaupt Mitleid verspürte, gingen auf die Konten gieriger Ehemänner und böser Schwieger mütter. In Indien war es an der Tagesordnung, daß wehrlose Ehe frauen kurzerhand mit Benzin übergossen und bei lebendigem Leib angezündet wurden, wenn horrende Mitgiftsnachforderungen von den Brauteltern nicht aufgebracht werden konnten. Ein kleiner Wohnungsbrand – und der Weg zur nächsten, rentableren Hochzeit war frei. Kein Hahn krähte danach. Ermittlungen bei Mitgiftsmorden verliefen immer im Sand. Schon weil es so gut wie keine weiblichen oder auch nur neutralen Richter
gab, die sich mit diesem Schandmal der indischen Gesellschaft aus einanderzusetzen wagten. Wann immer eine dieser verkohlten Frauenleichen angeliefert wurde, empfand Sastri die eigene Häßlichkeit nicht mehr gar so schlimm. Als Vollwaise hatte sich nie ein Mann für sie interessiert – nicht einmal aus profanen Geldgründen. Sie war in einem der vielen Elendsheime der Stadt groß geworden. Nur ihrer eisernen Disziplin und einem absoluten Überlebenswillen hatte sie es zu verdanken, daß sie nicht schon im zarten Kindesalter von den Mühlen der Büro kratie zerrieben worden war. Heute, mit Ende Zwanzig und knapp drei Zentnern Gewicht, hatte sie es immerhin zu diesem Hilfsarbeiterposten gebracht, bei dem sie nicht mehr zu tun hatte, als etwas zu hüten, was perverserweise im mer noch Anreiz zum Stehlen bot. Seit eine spezielle Mafia guterhaltene Leichen klaute, um sie an medizinische Institute für illegale Studienzwecke weiterzuverhö kern, war ein Wächter nötig geworden. Sastri war mit einem eher lä cherlichen Knüppel und einem Alarmgeber ausgerüstet. Beides lag unweit des Eingangs auf einem Tisch neben der Flasche Bier, die sie sich zu jeder Schicht mitbrachte und welche sie nach ihrem ersten Rundgang leerte. Sastri hatte ein Faible für ausländisches Bier (eine ihrer Bekannt schaften arbeitete in einer kleinen Import-Export-Firma) und für gutgebaute, tote Männer. Sie sah sofort, wenn sich etwas an dem Arrangement des Vortags verändert hatte. Ein flüchtiger Blick über die unter kaltem Neonlicht liegenden »gedeckten« Tische reichte ihr schon, um zu wissen, wer neu war. Zielstrebig ging sie auf den ersten Kandidaten zu. Einmal, ziemlich zu Beginn ihrer »Laufbahn«, erinnerte sie sich,
hatte sie einen Toten aufgedeckt, dessen Glied pfeilgerade erstarrt in die Luft ragte. Entweder hatte sich einer der Ärzte einen derben Scherz erlaubt – was aber immer noch nicht die Größe der Erektion erklärt hätte –, oder das arme Schwein war tatsächlich mit diesem phantastischen Ständer hingerafft worden. Das Opfer hatte ein fein säuberlich in die Brust gestanztes Loch aufgewiesen. Eine einzige Kugel, vielleicht von einem gehörnten, aber zielsicheren Ehemann abgefeuert, hatte für einen Ultimaten Coitus interruptus genügt. In der folgenden Nacht hatte Sastri eine billige Kamera mitge bracht, um das »Wunder« für private Zwecke zu verewigen. Leider war der Tote aber schon weitergewandert und nicht mehr auffind bar gewesen. Seit dieser Zeit hatte Sastri immer einen Fotoapparat dabei. Aber nie wieder war ihr ein solcher Glücksfall für ihr heimisches Archiv der großen und kleineren Unappetitlichkeiten untergekommen … Venkatarama Sastri grinste flüchtig. Dann hob sie das Leinentuch hoch. Das erste, was ihr auffiel, war, daß der Tote kein Inder oder Asiate war. Er sah irgendwie … englisch aus. Und verdammt gut, wenn man davon absah, daß er eben tot war. Wer ihm (Sastris Blick fing den hingeschmierten Zettel an der großen Zehe ein) nicht nur sprichwörtlich das Genick gebrochen hatte, ging aus dem knappen Protokoll nicht hervor. Aber der Name des Unglücksraben: Luther Keaton. Sie zog das Tuch vollständig von dem blassen Körper und muster te ihn sachkundig. »Genau meine Kragenweite«, witzelte sie, legte das Tuch zusam mengeknüllt auf den Nachbartisch und lenkte ihre Fettmassen er staunlich behende zur Tür zurück, wo sie ihre Kamera neben den anderen Utensilien hinterlegt hatte.
Sie wollte gerade danach greifen, als es von draußen gegen die Tür klopfte. Sastris Hand krallte sich unbewußt in ihre riesige Brust. Ihr Herz stotterte einige Sekunden unentschlossen vor sich hin, und in ihrem Mund sammelte sich Speichel, weil sie nicht einmal zu schlucken wagte. Es kam höchst selten vor, daß sich um diese Zeit jemand hierher verirrte. Nur ganz selten gab es einige dringliche Fälle, die nicht warten konnten. Aber diese wurden meist gar nicht erst hierher ge bracht, sondern gleich in den Sezierräumen (zu denen Sastri keinen Zutritt hatte, was sie sehr bedauerte) belassen. »Wer … ist da?« Statt der Kamera fanden ihre Finger den schweren Knüppel. »Öffne!« Sastri spreizte die Finger, ließ die Schlagwaffe fallen und schloß die Tür auf. Sie wunderte sich. Über sich selbst, daß sie dem Befehl ohne Zögern nachkam. Drei Männer in teuren Anzügen – Ärzte? – drangen in den hallen großen Raum. Einer blieb bei Sastri zurück, während die beiden an deren denselben Weg nahmen, den die Wächterin gerade gekom men war: Sie eilten schnurstracks auf den bereits aufgedeckten To ten zu. Sastri wollte protestieren. Sie kannte keinen der drei und zweifel te, daß sie zum Institut gehörten. Aber der Mann neben ihr gab ihr mit einem einzigen Wort zu ver stehen, daß ihr Engagement derzeit nicht gefragt war. »Still!« Sastri hatte ein Gefühl, als würde ihr die Zunge im Munde faulen.
Angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der die Eindringlinge vorgingen, klopfte die Angst mit Verspätung – doch nun um so ge waltiger – im Bewußtsein der fetten Frau an. Sie sah sich nach einem Stuhl um. Als sie ihn fand, nickte die Gestalt neben ihr. »Setz dich!« Der Stuhl stand vor einem Tisch mit ein paar offenen Karteikästen und Schreibutensilien. Sastri hockte sich davor. Sie wollte den Kopf wenden, um zu se hen, was die beiden anderen Kerle bei der Leiche des Ausländers ta ten, aber es ging nicht. Sie brachte nicht genügend Kraft auf, ihren Willen durchzusetzen. Der Mund des Fremden näherte sich ihrem Nacken. Kühle Lippen strichen über ihre Haut und lösten eine Gänsehaut aus. »Nimm einen Schein und fülle ihn aus«, sagte der Mann. »Mit deinen Personalien! Mutmaßliche Todesursache … Vergiftung.« Er lachte. »Da mit sie auch schön tief wühlen.« Obwohl Sastri längst dämmerte, daß sie sich damit ihr eigenes Grab grub, gehorchte sie. Mit zitternder Hand nahm sie eines der Kärtchen und füllte die leeren Linien. Als sie bei »Vergiftung« an langte, spürte sie einen Krampf in der Kehle. »Was – wollt ihr – denn von mir?« krächzte sie weinerlich. »Bebe dient euch! Nehmt, was immer ihr wollt … Ich habe nichts gesehen! Ihr – könnt mich bewußtlos schlagen …« Ihr flehender Blick traf den Knüppel, nach dem die Hand auszu strecken ihr unmöglich geworden war. »Bedienen«, echote der Fremde. »Ein hübsches Angebot … wenn du etwas hübscher wärst. Aber du bist grottenhäßlich! Dein Leben war bestimmt nicht schön. Sei froh, wenn du es hinter dir hast.«
Sastri hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Gerade die Bei läufigkeit, mit der der Fremde über das sprach, was ihr blühte, machte sie verrückt vor Angst. »Ihr wollt mich – töten …?« »Aber nein!« Ein absurdes Gefühl von Hoffnung zuckte durch ihren Verstand. »N-nein?« Ein Luftzug streifte sie, als die beiden anderen Männer mit dem Toten an ihr vorbeizogen und die Halle verließen. Als sie nach einiger Zeit zurückkehrten, besprachen sie sich flüs ternd mit demjenigen, der schweigend bei Sastri ausgehalten hatte. Als er etwas sagte, schien es sie zu amüsieren, und sie wandten sich gleichzeitig der beleibten Frau zu, die immer noch vor dem Tisch saß, als sei sie festgeklebt. »Steh auf!« sagte einer. »Ich … will nicht … sterben …« Ihr Körper war anderer Meinung. Er erhob sich und lenkte die Schritte mit abgehackten Bewegungen dorthin, wohin ihn das Trio haben wollte. »Zieh dich aus!« Sastri zog sich aus. »Habt ihr schon mal ein solches Fettgebirge gesehen?« Sastri versuchte, wegzuhören. Sie mußte sich auf den frei gewor denen Leichentisch legen und erhielt den Befehl, die Augen zu schließen und sich nicht mehr zu rühren. Dann spürte sie, wie sich jemand an ihrem großen Zeh zu schaffen machte. Sastri wußte, was geschah, obwohl sie nicht mehr in der Lage war, die Lider, in denen sich plötzlich ihre vollen drei Zentner zu stauen schienen, zu heben. Als nächstes werden sie mich vergiften, dachte sie froststarr. Aber –
warum …? Warum tun sie mir das an …? »Du hattest schon immer skurrile Einfälle«, hörte sie einen der Männer sagen. »Aber das hier schlägt dem Faß den Boden aus …!« »Ein kurzer Besuch bei einem der Pathologen genügt«, sagte ein anderer. »Er wird sich danach mit Wonne ans Werk machen!« Sie lachten, obwohl Sastri geschworen hätte, daß diese Leute keine Spur von Humor besaßen. Als nächstes hörte sie den Befehl: »Du atmest jetzt so flach wie noch nie, meine Süße, und zuckst mit keiner Wimper mehr! Dein Puls wird GANZ LANGSAM, aber du selbst bleibst HELLWACH. Hellwach, hast du verstanden? Auch Schmerz wird dich nicht dazu verleiten, mit einem einzigen Muskel zu zucken! Wie tot wirst du daliegen und ALLES über dich ergehen lassen …!« Spätestens in diesem Moment begriff Sastri, welches Schicksal ihr wirklich zugedacht war. Sie spürte, wie sich ein Tuch über sie wölbte. Sie hörte Schritte, die sich ohne Hast entfernten … Eine Tür schlug zu … Ihr Herz schlug wie in einen nassen Schwamm gewickelt und mit einem Minimum an Aufwand. Das Leben in ihr hielt einer flüchti gen Überprüfung nicht mehr stand. Sie wollte schreien. Ihre Lippen blieben stumm. Sie wollte fliehen. Ihre Beine und der Rest des Körpers waren wie mit Blei ausgegos sen. Tonnenschwer. Irgendwann ging eine Tür auf. Irgendwann setzte sich die Rollbahre, auf der sie starr und stumm und dem Tode geweiht lag, in Bewegung.
* Dolpo, West-Nepal Kumar Dass Thoker drehte sich nicht um, als eine der Türen zum Scriptorium aufging. Sorgfältig tauchte er den Federkiel ins Tinten faß und vollendete das begonnene Kalligramm. Es zeigte einen stili sierten Drachen, dessen Körper mit einem Keilschrift-Vers gefüllt war, den Kumar zuvor in schweißtreibender Trance niedergeschrie ben hatte. Die künstlerische Verquickung aus Text und Bild schmückte die letzte Zeile. Mit ihr war das Blatt vollendet. Jedes Pergament wurde nur auf einer Seite beschrieben und später vom Binder mit der vor herigen oder nachfolgenden vernäht, so daß das BUCH stets zu bei den Seiten gelesen werden konnte. Als Kumar schließlich doch aufsah, stand Baghdi hinter ihm. Er war einen Kopf kleiner als Kumar, wog kaum die Hälfte und war von redseligem, fast geschwätzigem Temperament. Als er nun das Wort ergriff, wirkte er allerdings ungewohnt in sich gekehrt. »Ich bin nur gekommen«, sagte er leise, »um dich zu fragen, ob du es auch spürst?« Kumar hatte noch keine Zeit gefunden, sich mit seiner Umgebung auseinanderzusetzen. Wenn er arbeitete, vergaß er die Welt um sich herum. »Ob ich was spüre?« »Die Uhr in dir«, sagte Baghdi. »Das Ticken. Etwas daran hat sich – verändert …« Kumar Dass Thoker lauschte in die Untiefen seines ihm fremd und gespenstisch gewordenen Körpers, der die alten Bedürfnisse abge
streift und neue angenommen hatte, über die nachzudenken nichts weiter als Verzweiflung erzeugte. Kumar fand mühelos das bestätigt, was Baghdi ihm umständlich beschrieben hatte. Etwas hatte sich verändert. Es war ihm über der konzentrierten, von Mal zu Mal anstrengender werdenden Arbeit nicht aufgefallen. Seine Lebensuhr, über die er aufgehört hatte sich Gedanken zu ma chen, schien plötzlich einem anderen, intensiveren Takt zu folgen. Es war, als hätte sich ihr »Ticken« beschleunigt. »Ich spüre nichts!« log er nichtsdestotrotz und hoffte, Baghdi da mit aus der Schreibstube scheuchen zu können. Kumar Dass Thoker hatte sich so sehr an seine Einsamkeit und die damit verbundene Hoffnungslosigkeit gewöhnt, daß er nicht mehr fähig war, sich ei nem anderen Menschen – und sei es ein Leidensgenosse – mitzutei len. Es war grotesk: Er durchlebte in Trance all die Tragödien der Weltgeschichte, aber was seine kleine, private Welt anging, aus der er einst gerissen worden war, blieb alles in undurchdringlichem Dunkel verborgen. Es gab Tage, an denen er sich noch genau zu entsinnen meinte, wie er damals entführt und hierher verbracht worden war. In diese Mauern, die seither sein Gefängnis waren. Nur in Traum und Tran ce konnte er ihnen auf begrenzte Weise entfliehen. Es war nicht genug, um das Herz, das in seiner Brust schlug, warm zu halten. Manchmal kam es ihm vor wie ein künstlicher Muskel, der anstatt des echten Herzens eingepflanzt worden war, um ihn all das vergessen zu lassen, was sein früheres Leben ausge macht hatte: Freude, Trauer, Angst, Neugier, Ehrgeiz, Liebe (Lie be...!?), Freundschaft, Haß … Die kleinen, unglaublich wichtigen Details.
Es gab Tage, an denen er sich fragte, ob nicht auch das scheinbare Wissen um diese Gefühle nur in ihn gepflanzt worden war, um ihn zu quälen. Es gab keine einzige zweifelsfreie Erinnerung an sein frü heres Dasein. An das Leben vor der SCHRIFT. Er seufzte. Baghdi war kein Freund. Sie beide verband nichts außer einem identischen Schicksal. Es war herzlos, aber ehrlich, Baghdi einfach als lästiges Übel abzutun, das Kumar Dass Thoker immer wieder wie ein unbestechlicher Spiegel daran erinnerte, was aus ihm selbst geworden war. »Du spürst nichts?« echote Baghdi. »Nichts!« bekräftigte Kumar noch einmal. »Aber –«, das runzlige Gesicht des anderen Schreibers schien ein Dutzend neue Furchen zu gebären, »– ich habe mit Roloff, Jarge und Jaime, sogar mit Terentius und Tiro gesprochen … Sie bestätigen es alle! Es hat angefangen, als du mitten in deiner Vers-Arbeit stecktest. Ich konnte dich nicht früher stören.« Er machte eine theatralische Geste, wie nur er sie nach all der Zeit noch zustande brachte, und fügte regelrecht atemlos hinzu: »Wir alle sind beunruhigt...!« Obwohl Kumar unsicher war, ob es nicht doch ratsam gewesen wäre, sich mit Baghdi und den anderen Schreibern über die Verän derung in ihnen allen zu unterhalten, wehrte er erneut ab: »Laß mich jetzt allein. Gleich wird die Seite abgeholt!« Baghdi warf ihm einen letzten zweifelnden Blick zu. Dann zog er den Kopf tiefer zwischen die knochigen Schultern und respektierte widerstrebend Kumars Wunsch. Viel mehr als eine löchrige Privatsphäre war ihnen nicht geblieben. Die Roten – wie Kumar sie nannte – konnten jederzeit uneingeladen in diese Sphäre einbrechen. Baghdi war der einzige Ebenbürtige, der gleichfalls dieser Unsitte fröhnte. Aber bei ihm konnte man wenigs
tens ein Machtwort sprechen … Kumar wartete, bis sich Baghdis Tür geschlossen hatte. Dann stand er auf und streckte sich. Seine Gelenke knackten, als sich die Verspannungen des langen, gebeugten Sitzens lösten. Wie immer war nicht zu bestimmen, wie viel Zeit vergangen war, seit Kumar sich vor dem Pult niedergelas sen hatte. Es gab keine Uhr, außer der inneren, trügerisch gewordenen. Der Kalender hingegen ließ sich nach den Trance-Sitzungen in etwa re konstruieren. Kumar wußte, wann er geboren worden war und wel ches Jahr man inzwischen draußen schrieb. Allein daran war ersicht lich, daß ihre inneren Uhren falsch tickten. Daß sie selbst nicht viel mehr als Gespenster waren, deren Angehörige längst als Asche in alle Winde verstreut waren oder unter kühler Erde zerfielen. Er durchmaß das Scriptorium mit langsamen Schritten. Der Raum war entgegen seiner Bedeutung winzig und – bis auf die Sitzbank und das Pult – völlig karg. An den Wänden fand sich nur das zwei undzwanzigteilige Keilschriftalphabet, dessen Kumar und die ande ren Schreiber sich bedienten. Warum lebe ich noch – nach all den Jahrhunderten? fragte er sich, ohne sich auf diese Zahl verlassen zu können. Er antwortete sich auf dieselbe Weise wie immer: Weil du die GABE hast. Er verzog das Gesicht zum kläglichen Abziehbild eines Lächelns. Nicht nur das Ticken hatte sich verändert, er spürte auch immer deutlicher, daß sich die Gabe, die ihn zu einem der sieben Schreiber stempelte, immer mehr verflüchtigte. Er ließ nach. Sein seherisches Vermögen kostete immer mehr Kraft. Die Angst, irgendwann ganz zu versagen, nagte wie ein bö ses, kleines Tier in ihm. Er wußte, daß es Schlimmeres als den Tod
gab. Deshalb fürchtete er den Tag, da er für SIE wertlos werden würde. Als sich die Decke öffnete, zuckte er unmerklich zusammen. Ein Roter kam, nein, schwebte herein. Mehr als die Kutte war nicht von ihm wahrzunehmen, und Kumar hatte es aufgegeben, daran zu glauben, je zu erfahren, was sich tatsächlich unter den Roben ver barg. Im Grunde hoffte er sogar, es nie zu erfahren. Der Stumme brachte ein frischgegerbtes, unbeschriebenes Perga ment ins Scriptorium und spannte es über das Pult, nachdem er die fertige Seite abgenommen, zusammengerollt und unter seiner Kutte hatte verschwinden lassen. An dem ganzen Vorgang war nichts Ungewöhnliches. Dennoch wartete Kumar förmlich darauf, daß die Routine heute durchbrochen würde. Und ehe der Rote sich wieder zur Decke ver abschiedete, geschah tatsächlich etwas, was sich noch nie vorher zu getragen hatte. »Folge Mir!« wandte sich der »Stumme« an ihn. Kumar hatte ein Gefühl, als schieße Eiswasser aus einem geborste nen Damm durch seine Adern. Normalerweise holte ein Roter die fertige Arbeit ab, und man konnte in seine Klause zurückkehren. Der nächste Schreiber nahm den Platz ein, um eine weitere Seite zu vollenden. Für die Dauer von sechs solcher Seiten hatte man die Möglichkeit zu ruhen und sich bis zum nächsten Einsatz zu erholen. »Folge Mir!« »Wo-hin …?« rann es über Kumars Lippen. Der Rote schien nicht gewillt, Erklärungen abzugeben. Kumars Gedanken rotierten. Konnte er sich überhaupt widerset zen? Nein!
So einfach die Antwort war, die Konsequenz warf einen drohen den Schatten über den Trance-Schreiber. Er zitterte. Und zitternd trat er auf den Kuttenträger zu. Außer ihren Unterkünften und dem Scriptorium gab es nichts, wo hin sie sich wenden konnten. Kein gangbarer Weg führte aus dieser engen Welt heraus. Sie waren lebendig begraben seit Generationen. Als Kumar sich von dem Roten umschlungen und wider die Schwerkraft nach oben getragen fühlte, sah er das Urteil endgültig über sich gesprochen. Sie haben es gemerkt, dachte er düster. Natürlich ist es ihnen nicht ver borgen geblieben, daß meine Kräfte schwinden. Damit war er wertlos für SIE geworden – wer immer SIE auch wa ren. Kumar hatte nie die Initiatoren des grausamen Frondienstes, den er und die anderen leisteten, kennengelernt. Immer nur die stum men Kuttenträger, die mit derselben Regelmäßigkeit kamen und gingen, wie sich der Mond um die Erde drehte. Kumar wußte bis heute nicht einmal, wo er sich befand. Wo dieser felsige Kerker lag, in dem er gefangen gehalten wurde, um … Ja, wozu eigentlich? Sie arbeiteten an einer Schrift, in die geheimstes Wissen und all jene Ereignisse aus der Welt da draußen einflossen, die bedeutend für den Fortgang der Geschichte waren. Es war ein monumentales Werk; begonnen, lange bevor eine andere SCHRIFT für Furore sorg te. Es beinhaltete alle Geheimnisse, seit Anbeginn der Schöpfung. Wer es zu lesen verstand, hätte sich mühelos zur Weltherrschaft auf schwingen können. Kumar fragte sich, ob die, die ihn hier festhielten, dies nicht auch längst getan hatten, ohne daß irgend jemand es bemerkt hatte. In den Köpfen der Schreiber verblaßte die Erinnerung an das Nie
dergeschriebene gleich nach Vollendung einer Seite wieder. Schon kurze Zeit später konnten sie sich nur noch an nichtige Fragmente erinnern. Was, dachte Kumar, vermutlich ein Segen war. Mitunter hatten ihn die Trance-Erlebnisse so heftig mitgenommen, daß er die Ruhe phasen als völliges Nervenbündel verbrachte. Erst die nächste Tran ce-Sitzung hatte die Schatten der vorhergehenden vertreiben kön nen. Das Leben als Schreiber war eine Qual. Und dennoch fürchtete er sich vor dem, was danach kam. Gab es ein Leben nach dem Dienen für unbekannte Herren? Auf dem Weg nach oben und später durch die grauen, schmucklo sen Gänge begegnete er niemandem. Kumar kapselte sich aus Furcht immer stärker von seiner Umwelt ab, bis er den Kuttenträger nur noch wie einen roten Schatten wahr nahm, ihm mechanisch folgte und auf diese Weise tiefer in Bereiche vordrang, die er noch nie betreten hatte, die sich aber auch nicht spektakulär von dem Bereich unterschieden, wo die Schreiber fest gehalten wurden. Der Rote lenkte ihn schließlich in eine leere Kammer. Von irgend woher strömte Helligkeit. Tageslicht? Kumar seufzte vor Glück. Das verging. Der Kuttenträger stellte sich in die Mitte und bedeutete Kumar un mißverständlich, näherzukommen. Zuerst hatte er das Gefühl, am Boden festzufrieren. Er begriff plötzlich, daß er den redseligen Baghdi und die anderen nie mehr wiedersehen würde. Der Abschied hatte alles missen lassen, was ihn erleichtert hätte. SIE scherten sich nicht um Sentimentalitäten. »Was habt ihr mit mir vor?« fragte Kumar rauh. Seine Stimme
hallte von den nackten, glatten Steinwänden wider. Aber im nächs ten Moment überkam ihn eine seltsame Gleichgültigkeit. Das Zittern seiner Glieder hörte auf. Er straffte sich. Vor ihm öffnete der Rote seine Kutte und schlug die Kapuze nach hinten. Das Antlitz, das Kumar offenbart wurde, hätte ihn ebenso entset zen müssen wie alles andere, was zum Vorschein kam. Eine Mumie, war sein erster Gedanke. Aber die Gestalt war nicht in Tuchstreifen gehüllt, sondern in le drige Haut, ähnlich jener, die Kumar und die anderen Schreiber zur Erstellung der EWIGEN CHRONIK verwendeten. »Komm her und hilf mir!« »Wobei?« Es klang wie ein Seufzen, als sich die Frage aus seinem Mund quälte. »Befreie Mich!« Kumar begriff sofort, was von ihm erwartet wurde. Es machte ihm nichts aus. Hätte ihm in diesem Moment jemand eine Klinge mit der Auffor derung »Stoße sie in dein Herz!« in die Hand gedrückt, er hätte ge horcht. Es war grotesk, aber er fühlte sich zum erstenmal seit einer Ewigkeit von unsichtbarer Last befreit. Er trat auf die schaurige Gestalt zu, als ginge er in den Orbit um einen Planeten. Auch von diesem Wesen ging Anziehungskraft aus. Kumar fand mühelos den Anfang des Lederstreifens und begann ihn, während er die Gestalt umrundete, aufzuwickeln. Nichts Menschliches kam darunter zum Vorschein. Dennoch er trug Kumar es und hörte nicht auf, bis das letzte Stück zu Boden fiel, sich kräuselte und zu Staub zerfiel. Anders als die Robe, aber beina he ebenso spurlos.
Pure Energie, in menschliche Kontur gepreßt, blieb zurück. Aber diese »Form«, ahnte Kumar, war nur ein letztes Zugeständnis an ihn. Er hörte keine Stimme und stellte keine Fragen mehr. Er wußte jetzt, was von ihm erwartet wurde. Er sollte sterben, um auf besondere Weise wiederaufzuerstehen. Mit einer neuen Aufgabe. Er gehorchte, indem er zuließ, daß das Fremde in ihm aufging.
* Das Gebirge aus Dunkelheit zerbarst. Lilith meinte zu fallen. Es war eine Täuschung. Immer noch hing sie in den unsichtbaren Fäden eines Gespinstes, aus dem sie sich – das fühlte sie – aus eige ner Kraft nicht mehr würde befreien können. HÄUTET SIE! Der grausame Befehl klang in ihr nach, obwohl die Stimme längst schwieg. Auch die Vision, die Lilith – ummantelt von Schwärze – heimge sucht hatte, war erloschen. Die Halbvampirin hatte ein aufgeschla genes Buch »gesehen«, dessen Seiten aus Menschenhaut und dessen Schrift aus Menschenblut bestanden hatten. Sie hatte gewußt, daß es so war. Und sie hatte die Schriftzeichen zu lesen vermocht, obwohl sie ihnen nie zuvor bewußt begegnet war! Im nachhinein fiel ihr auf, daß sie auch mit dem jungen Nepali Rani, der als Todesbote des Dorfes Yakshamalla fungierte, keine Ver
ständigungsprobleme gehabt hatte. Obwohl bezweifelt werden durfte, daß Rani des Englischen mächtig war … Lilith sah sich erneut an die Grenzen dessen geführt, was sie über sich selbst wußte. Dieses »Wer-bin-ich?«-Trauma, das sie verfolgte, seit sie die Mauern ihres Geburtshauses in Sydney, Australien, zwei Jahre vor der Zeit verlassen hatte. Hinzu kam, daß sie den Symbionten, der sie seither begleitete und bekleidete, nicht mehr an sich wahrnahm. War er – wie schon einmal – vor der Gefahr geflohen, als Lilith von etwas Unbeschreiblichem im Dorf Yakshamalla überwältigt und hierher entführt worden war? Es würde ihm ähnlich sehen, dachte sie. Obwohl er geschworen hatte, sie »nie wieder zu verlassen«, schien ihm in extremen Situationen die eigene Haut immer noch näher als die seines »Wirtes« zu sein … Noch immer fiel das Licht golden von der domartigen Tempelde cke herab – aber es hatte seine aggressive Note verloren. Lilith vermochte den Kopf wie an den Fäden einer Marionette zu drehen. Wobei ihr klar war, daß derjenige, der die Fäden hielt, dies jederzeit unterbinden konnte. Sie blickte nach unten, wo die glosende Räucherschale farbigen, aber geruchlosen Dunst nach oben schickte. Und wo die »Sänfte« stand. Vorhin (wann war das gewesen, vor Stunden, Minuten oder erst Sekunden?) hatten vier Gestalten in roten Kapuzenkutten dieses Ve hikel hereingetragen. Lilith hatte nicht mehr sehen können, wer ent stieg. Zuvor waren Finsternis und Visionen von grauenhafter Inten sität auf sie eingestürzt. Jetzt war dies anders. Die Gestalt, die mit erhobenen Armen zu ihr hoch zeigte, trug kei
ne Kutte, war aber dennoch verhüllt. Ihr schlanker Körper wurde, einschließlich des Hauptes, von fremder, toter Haut ummantelt. Es gab Schlitze für Mund und Augen. Mehr nicht. Hinter diesen Öff nungen lauerte etwas, was keinem Menschen gehören konnte. Lilith mußte den Blick abwenden, um nicht den Verstand zu verlieren. Die Szene unter ihr wirkte erstarrt. Nichts bewegte sich. Dann kam der Befehl: NEHMT SIE HERAB! Die Sänftenträger umstellten die Räucherschale. Lilith fühlte sich von unsichtbarer Hand nach unten gedrückt. Sie sank jedoch nicht in die rauchende Glut, sondern wurde darüber »hinweggehoben« und zwischen den vier Kuttenträgern auf die Beine gestellt. Sie war nackt und spürte jetzt die Kälte und die Vibrationen des Bodens in ihren Körper kriechen. Der Tempel bebte. Die Luft auch. ICH BIN ONAN! wisperte die Stimme in Liliths Hirn. WER BIST DU? Usha. Ich bin – Lilith hielt inne. Die Zeit der Lügen war vorbei. Sie erkannte, daß der Betrug, den sie veranstaltet hatte, um hierher zu gelangen, durchschaut war. Ich heiße Lilith. Die Beben hörten auf. Die Gestalt in fremder Haut nickte. SO STEHT ES GESCHRIEBEN … Lilith begriff nicht, was Onan meinte. Aber sie merkte, daß sie sich in Bewegung setzte und auf die Unheimliche zuging. Schritt um Schritt, geführt von unsichtbaren Fäden. DU SUCHST DEN LILIENKELCH. DU KAMST NICHT ALLEIN. Lilith spürte einen Schauder, als Onan ihr auf den Kopf zusagte,
welcher Grund sie ins Himalaya-Massiv geführt hatte. Das Mysteri um wurde immer größer. Aber sie war allein gekommen – oder meinte Onan etwa Himachal Pradesh, den Inder, der sie zum Fuß des Siebentausenders begleitet hatte, nachdem ihr australischer Ge fährte Duncan Luther den Tod gefunden hatte?* »Hütest du den Kelch?« NEIN. DER KELCH IST HIER NICHT. ABER ICH WEISS ALLES ÜBER IHN. SO WIE ICH ALLES ÜBER DICH WEISS. ICH KANN DEINE GESCHICHTE LESEN. SIE IST … STAUNENSWERT. Seltsamerweise stellte Lilith keine der Aussagen in Frage. DU TRÄGST BEIDE LEBEN IN DIR. Lilith war die Tochter eines Menschen und einer Vampirin. Aber das war äußerlich nicht erkennbar, dennoch blieb auch dies Onan nicht verborgen. Wer war sie? Wer waren die Kuttenträger, unter deren Kapuzen keine Gesichter, sondern nur geronnene Schwärze erkennbar war? MEINE INKARNATIONEN. Onan antwortete. Aber die Antwort blieb, wie viele ihrer Andeu tungen, unverständlich. Lilith wollte Näheres über den Kelch, der hier nicht sein sollte, ob wohl Landru wohl davon ausgegangen war, erfahren. Aber in die sem Moment begannen ihre Gedanken wieder zu verschwimmen. Sie war nicht in der Lage, weitere Fragen zu formulieren. Wieder wurde sie in die Rolle des reinen Beobachters gepreßt … … und wurde Zeugin eines Schicksals, das ihr erspart geblieben war, weil Onan den Betrug offenbar noch rechtzeitig durchschaut hatte. Eine weitere von Onans »Inkarnationen« betrat den Tempelraum. *siehe VAMPIRA 7: »Der Kult«
Lilith stockte der Atem, als sie die Frau erkannte, die hereingetra gen wurde. Es war Usha, die Frau Pradoms, in deren Identität Lilith ge schlüpft war, um hinter das Geheimnis des Kults zu dringen, der sieben Dörfer unterhalb des Tempels seit etlichen Generationen ty rannisierte und knechtete. Einmal im Monat wählten die Bewohner dieser Dörfer jemanden aus ihrer Mitte, der anschließend von den »Templern« entführt wur de. Der Name des Opfers wurde über ein »Scherbengericht« be stimmt, an dem sich jeder Bewohner beteiligen mußte. Nur der Bote, der die Scherben zu einem Ort der Übergabe trug, blieb davon ver schont. In Yakshamalla, woher Lilith kam, war dies Rani, ein zehnjähriger Junge, gewesen. Da bei der letzten Wahl etwas schiefgegangen war, hatte ein neues Opfer bestimmt werden müssen. Lilith hatte herausgefunden, wen es getroffen hatte, und war in die Identität jener Frau geschlüpft. Sie hatte ins Herz des Kultes vorstoßen wollen, von dem Liliths Erz feind Landru annahm, daß er hinter dem Verschwinden des Lilien kelchs steckte. Aber all das zählte alles in diesem Moment, da Usha hereinge schleppt wurde, nichts mehr! In Lilith krampfte sich etwas zusammen. Sie hatte der jungen Ne pali und ihrem Mann den hypnotischen Befehl gegeben, noch vor Morgengrauen aus dem Gebirgsdorf zu fliehen und unten in der Ebene ein neues Leben zu beginnen. Ein anderer Rettungsanker für das Paar war ihr nicht eingefallen. Um so entsetzter war sie jetzt, als sie erkennen mußte, daß alle Mühen nichts gefruchtet hatten. Die »Templer« hatten doch noch – wenn auch spät – das echte,
durch die Scherben gewählte Opfer aufgespürt und hierher entführt. Wenn es auf demselben Weg wie bei Lilith geschehen war, hatte Usha nicht den Hauch einer Chance gehabt, sich zu widersetzen. Die Macht, die den Kuttenträgern innewohnte, war so ungeheuer lich, daß sich Lilith unwillkürlich fragte, ob es neben Mensch und Vampir etwa noch eine dritte Rasse gab, die beide kontrollierte … Ehe sie darauf aber auch nur andeutungsweise eine Antwort fand, wurde ihre Aufmerksamkeit auf den Mord an Usha gelenkt. Die Zeremonie war schlicht und wurde, wenn man den Aufwand bedachte, mit dem sie in den sieben Dörfern in Gang gehalten wur de, geradezu rasend schnell vollzogen. Usha, gelähmt bis auf die Augen, in denen ein Meer aus Angst wogte, wurde nach oben geho ben. Dorthin, wo Lilith zuvor im Netz starker Magie gehangen hat te. Dann füllte sich der Tempel mit einem Strom weiterer Gestalten in roten Kutten. Sie quollen durch das offene Portal herein und verteil ten sich in einer gespenstischen Choreographie über den gewaltigen Raum. Niemand sprach ein Wort. Und Onans Befehl, mit dem sie Ushas Untergang einläutete, bedurfte keines Schallmediums wie der menschlichen Stimme. HÄUTET SIE! schmetterte es lautlos durch das Gefüge des monu mentalen Bauwerks. Die vier unter Usha stehenden Inkarnationen verfielen in einen zeitlupenhaften Tanz, in den nach und nach auch alle anderen Kut tenträger eingebunden wurden. Nur Onan und Lilith bildeten Aus nahmen. Auf dem Höhepunkt der Darbietung bogen sich alle Ver sammelten wie ein Kornfeld, durch das Böen aus ständig wechseln den Windrichtungen fuhren. Ushas brüllender Schrei ließ Liliths Blick nach oben zucken, wo sich Unvorstellbares abspielte.
Unsichtbare, skalpellscharfe Klingen fuhren ihre ewig gleichen Bahnen. Ushas Haut wurde bei lebendigem Leib abgezogen. Das darunter zum Vorschein kommende rohe Fleisch hielt das Blut zu nächst auf unerklärliche Weise weiter in sich. Doch noch während Ushas Haut wie ein abgelegtes Kleid zu Boden flatterte und ihr Schrei zu einem erstickten Röcheln absank, änderte sich dies. Lilith, die naturgemäß keinerlei Ekel vor Blut hatte, ertappte sich dabei, daß sie sich von der zuckenden Masse abwandte, die immer noch atmete und deren Herz noch viele qualvolle Sekunden weiter pumpte. Das Blut schoß aus tausend Wunden hervor. Der ganze Körper war eine Wunde. Es regnete Blut … Bis Onan ein Ende machte.
* Er hatte den »Zauber der Herzen« durchgeführt. Indem Landru die Herzen seiner Opfer aus den noch warmen Lei bern genommen und sie in vorgeschriebener Weise übereinanderge schichtet hatte, war ihre Kraft auf ihn übergesprungen. Als zusätzli che Nährquelle für seine Magie. Dies war unten im Dorf Yakshamalla geschehen – bevor er zu den Tempelbauten aufbrach. Inzwischen wußte Landru, daß er die Hürden auf dem Weg zum Kelch unterschätzt hatte. Es wäre ihm beinahe zum Verhängnis ge worden, daß er sich dem erstbesten Mönch hoch oben auf dem Ge birgsplateau ohne besondere Vorkehrungen genähert hatte. Inzwischen wußte er, daß er es nicht mit normalen Gegnern zu tun hatte, sondern mit solchen, die über respektable Macht verfügten. Er
hatte in einen Abgrund von Kälte geschaut, als der Kuttenträger sich ihm zuwandte. Nur die schnelle Flucht hatte Landru vor einem Schicksal bewahrt, das selbst ein Wanderer durch die Zeitalter sich nur schwerlich ausmalen konnte. Zugleich hatte diese Beinahe-Katastrophe ihn aber in seiner Über zeugung bestärkt, daß er sich diesmal – nach zweieinhalb Jahrhun derten vergeblicher Suche – endlich auf der richtigen Fährte befand. Die Gegend um die Tempelanlage jedenfalls war gefährliches Ter rain, soviel stand fest. Und der Tempel selbst überbot diese Gefahr noch um ein Beträchtliches. Landru hatte in den Stunden nach seinem ersten vergeblichen Ver such noch einmal die Dörfer durchstreift, die dem sonderbaren »Kult des Scherbengerichts« huldigten. Alle Versuche, mehr über die geheimen Riten und ihre Initiatoren herauszufinden, waren ge scheitert. Nur einer derjenigen, die im Auftrag der »Templer« han delten und Todesboten genannt wurden, schien mehr über die Vor gänge gewußt zu haben. Swani, so der Name des Alten, hatte sich leider auch als einziger erfolgreich gegen Landrus Suggestivfragen zur Wehr gesetzt – und war mit seinem Wissen gestorben. Ein leiser Knurrlaut löste sich aus Landrus Wolfskehle. Einen Mo ment lang dachte er an Nona, die Werwölfin. Sie war eine der weni gen Vertrauten, die er im Laufe seines unglaublich langen Daseins gewonnen hatte. Was nicht ausschloß, daß er sie jederzeit für ein Ziel wie den Lilienkelch geopfert hätte. Sie hätte ihm wertvolle Diens te leisten können, indem sie die wachsamen Mönche eine Zeitlang von ihm ablenkte. Landru war sicher, daß es leichter für ihn werden würde, wenn er sich erst einmal im Tempel befand. Wenn er ehrlich war, fehlten ihm Nonas morbide Sinnlichkeit und ihr ungestümer Schoß mehr als ihr zweifellos ausgeprägter Intellekt. Vor ihm tauchten die goldenen Kuppeln der Tempelanlage auf. Der architektonische Stil war schwer zuzuordnen. Auf jeden Fall –
soweit war sich Landru, der Weitgereiste, sicher – entsprach die Bauweise nicht dem sonst landesüblichen Stil. Er glaubte ähnliche Formen auf seinen Reisen durch das Abendland gesichtet zu haben. Die einzelnen Türme waren untereinander durch ein Geflecht über dachter Gänge verbunden und ragten in die glasklare Nacht. Landru gab der Dunkelheit für seine Unternehmungen immer noch den Vorzug. Solange nicht gute Gründe dagegensprachen. Hier nähme es sich gleich, dachte er. Die Nacht hilft mir nicht, wo nicht einmal Nebel mich schützte. Tatsächlich hatte der unbekannte Mönch auf dem Berg sein Nebel feld unwirksam gemacht, indem er es scheinbar mühelos in fallen den Schnee verwandelte. Ein zweites Mal wollte Landru dies nicht geschehen lassen. Er war entschlossen, seine Macht auszuspielen. Frisch gestärkt hatte er sich eines uralten Laurinzaubers besonnen. Dieselbe Laune der Natur, die einem Vampir das Spiegelbild oder das Werfen eines Schattens versagte, ließ sich unter immensem Aufwand auch so umkehren, daß er völlig unsichtbar wurde. Landru ging das Risiko, auf einen Gegner zu treffen, der ihm trotzdem in den wichtigen Belangen überlegen war, bewußt ein. Im Grunde blieb ihm gar nichts anderes übrig. Er rechnete immer noch damit, daß Felidae eines Tages aus dem Dunst der Vergangenheit heraussteigen und ihn seiner Verfehlungen bezichtigen würde. Landru war nicht sicher, ob die Falle, in die er Felidae damals hatte locken können, ihren Zweck auch auf Dauer erfüllen würde. Soviel Zeit war seither verstrichen. Und mit jedem Jahr war die Schicht trü gerischer Sicherheit, in die Landru sich hüllte, dünnhäutiger gewor den … Als der Boden unter seinen Läufen von natürlich gewachsenem Fels in künstlich bearbeitete Steinplatten überging und sich noch im
mer kein Templer sehen ließ, verwandelte der Vampir sich zurück. Äußerlich von einem hochgewachsenen, schlanken, knapp fünfzig jährigen Menschen nicht zu unterscheiden, setzte er seinen Weg fort. Magie hatte nicht nur die erneute Transformation vollbracht, son dern ihn auch zugleich mit einem Gewand umhüllt, dem seine per sönliche Vorliebe galt. Es bestand aus einem lichtschluckenden Um hang, dessen Revers als einziger Farbtupfer in feuchter Röte glänzte. Das Gebinde um seinen Kragen wirkte ebenso altertümlich wie der Wams, die Hose und die Gamaschen unter der dunklen Robe. Landrus Mimik in dieser Nacht wurde von asketischer Kargheit bestimmt. Während das an den Schläfen ergraute, streng nach hin ten gekämmte Haar merkwürdig stumpf wirkte, loderte in seinen Augen jener Glanz, der bewies, daß er bis zum Bersten mit Energie gefüllt war. Lebensenergie. Der Vampir strotzte vor neuerwachtem Ehrgeiz. So nah schien das Ziel … Seine Füße verursachten kein Geräusch und sein Atem stand still, als er den Platz zwischen den pagodenartigen Bauten überquerte. Er bemühte seine Lungen erst wieder, als ihm der höchste Turm im Zentrum der Anlage den Weg verstellte. Nirgends um ihn herum war Bewegung. Der ganze Ort erweckte den Anschein, als wäre er seit Äonen nicht mehr besucht worden. Landru wußte es besser. Sie sind da drin! dachte er und fixierte das Portal des goldenen Turms aus schmalen Augen. Alle. Er schlich näher und öffnete das Tor, das keinen Widerstand bot, einen Spalt weit. Landru traute dem, was seine Augen erblickten, in den ersten Se kunden nicht. Er besaß Instinkte wie kaum ein zweiter. Und diese Instinkte warnten ihn davor, bedingungslos zu glauben, was er sah.
Ein riesiger, hoher, domartiger Raum. Ein geschätztes Hundert roter Kutten. Und zwei Gestalten, die inmitten der Menge fast einsam dastan den und dem blutigen Schauspiel über ihren Köpfen ihre Referenz erwiesen. Mit der einen hatte Landru nicht so bald – und mit der anderen überhaupt nicht gerechnet … Das, was er unter allen Umständen hatte verhindern wollen, war eingetreten: Das Kind aus der Prophezeiung, Lilith, hatte die Spur des Lilienkelchs aufgenommen! Landru verdaute den mit dieser Erkenntnis verbundenen Schock schnell. Er beobachtete, wie Creannas Tochter im Zentrum des Tem pelgebäudes zusammenbrach. Die Gestalt neben Lilith ließ Landrus untotes Fleisch frieren. Mehr noch als die roten Kutten, unter deren Kapuzen gefrorene Schwärze nistete. Er hatte immer noch keine Vermutung, mit wem er es eigentlich zu tun hatte. Normale Mönche waren das nicht! Der Dämon, von dem er den Hinweis auf diesen Ort teuer erwor ben hatte, hatte ihn nicht gewarnt. Er hätte mich blind in mein Verderben tappen lassen, dachte Landru. Für Rachegedanken war dennoch kein Raum. Er konnte nur hoffen, daß nicht dieser ganze Ort nur eine Falle war, die der Dämon ihm zugedacht hatte. Höllenwesen und Alte Rasse … das war wie Feuer und Wasser. Beide Seiten führten einen Kalten Krieg gegeneinander, in dem es jedoch höchst selten zu offenen Auseinandersetzungen kam. Die eine Seite gönnte der anderen nicht die Vorherrschaft über die Menschen. Auch der Diebstahl des Lilienkelchs war den Dämo nen zuzutrauen, obwohl Landru dafür in all den Jahren kein einzi ges zählbares Indiz gefunden hatte.
Manchmal, wie in diesem Fall, ließ er sich aus Eigeninteresse sogar auf einen wackligen Pakt mit der Hölle ein. Die Karte hätte er an ders nicht erhalten. Doch es wurde immer wahrscheinlicher, daß der Dämon sie ihm nicht ohne Hinterlist überlassen hatte. Dies war ein Ort ohne Wiederkehr! Nicht nur für die Bewohner der sieben Dörfer, die vom Femege richt der Scherben erwählt wurden. Auch für jeden Neugierigen, der sich in den Tempelbezirk wagte. Ein Mensch wäre hier verloren ge wesen. Oder? Landru spürte, wie die Zweifel immer tiefer in ihm fraßen. All mählich wußte er überhaupt nicht mehr, was er glauben sollte. Und das ihm! Er hatte stets auf seine Erfahrung und Stärke gebaut. Wenige Vam pire kamen ihm darin gleich. Außer FELIDAE, spukte es menetekel haft durch sein Hirn. Er stieß das Gespenst zurück. Er wußte auch so, daß ihm die Zeit unter den Nägeln brannte. Wenn er das gestohlene Unheiligtum nicht bald fand … Er unterbrach seine Gedanken, als die Szene wieder in Bewegung geriet. Die mumienhaft verhüllte Frauengestalt, von der so viel Macht ausstrahlte, stieg in eine Art Sänfte, welche sofort von vier Kutten trägern angehoben und fortgetragen wurde. Direkt auf den Aus gang zu, von wo aus Landru durch einen Torspalt spähte! Ehe er sich zurückzog, sah er gerade noch, daß auch Lilith aufge hoben und davongetragen wurde. Aber in entgegengesetzte Rich tung. Es war nicht zu erkennen, ob sie nur bewußtlos war oder ob man
sie bereits getötet hatte. Beinahe hoffte Landru, sie möge noch leben. Damit er sie töten konnte …!
* Onan gab Befehl, die Betrügerin in sicheren Gewahrsam zu nehmen und das Ritualopfer (das, was von ihm geblieben war) zu ihrem Schrein zu bringen. Anschließend sandte sie ihren Geist aus, jene Seiten der CHRONIK zu lesen, welche die Ereignisse der letzten 250 Jahre abhandelten. Onan hatte fast das Zehnfache dieser Spanne im Stasis-Schlaf ver bracht. Andere Priesterinnen, deren Namen sie fast vergessen hatte, waren in dieser Zeit erweckt und mit Problemen konfrontiert wor den. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, seit sie dem Land der zwei Ströme den Rücken gekehrt, sich hier niedergelassen und gemein sam den KULT initiiert hatten, ehe sie zu siebt in die Schreine gestie gen waren. Das Gesicht der Welt hatte sich derweil gewandelt. Hier oben aber, nah am Himmel, war das WERK fortgesetzt worden, Onan kannte keinen Stolz mehr, seit sie Teile ihres Menschseins abgestreift hatte. Aber sie empfand große Genugtuung, während ihr Geist in vergangenen Epochen blätterte und fein säuberlich aufgelistet fand, was sich alles an Bewegendem ereignet hatte. Sie sah Weltreiche zer fallen und neue entstehen. Sie erfuhr von Individuen, die als Kataly satoren für die erforderlichen Veränderungen dienten. Freiwillig oder von Zwängen getrieben. Sie las und las, bis sie Details über die »Betrügerin« fand. LILITH!
Ihre Herkunft. Was sie suchte. Wer sie einmal sein würde. Kurzum: ihre Bestimmung. Die SCHRIFT berücksichtigte beide Historien, die von Mensch und Vampir. In ihr konzentrierte sich die Essenz aus Vergangenheit und Gegenwart. Nur die Zukunft ließ sich nicht in die Karten schauen. Jedenfalls nicht von Onan und dem Rest der Siebenheit. Sie hatte in dieser Hinsicht auch keinerlei Ambitionen. Es war so schon schwer genug. Es gab Regeln, die auch sie, bei aller Macht, über die sie geboten, nicht ignorieren konnten. Gesetze, die sie nicht erfunden hatten, sondern lediglich verwalteten. Wie das Scherbengericht. Onan stockte kurz, als sie die nochmalige Bestätigung fand, daß Lilith nicht alleine gekommen war. Daß noch jemand – wenn auch aus gänzlich anderem Motiv – auf der Jagd nach demselben »Objekt der Begierde« war, das Lilienkelch genannt wurde. Sie informierte sich über alle Einzelheiten. Während sie anschließend die Kammer aufsuchte, wo der Schrein stand, reifte in ihr ein Plan heran. Was von Usha an Fleisch und Knochen geblieben war, hob sie auf, teilte es in zwei gleiche Hälften, formte diese und hauchte ihnen Pseudoleben ein. Echt war nur, was Onan ganz zum Ende hineinpackte. Einen Teil ihrer selbst. Etwas, was sich während der langen Zeit der Stasis an gestaut hatte und nun dringend nach einem Ventil verlangte …
* Landru begriff immer noch nicht, was geschehen war. Das Tor des Tempels war aufgeschwungen, und die Sänfte mit den vier Trägern war flüchtig darin erschienen. Der Vampir hatte sich hinter einer Mauer verborgen gehalten und nicht allein auf sein Tarnfeld verlassen wollen. Doch in dem Moment, als die Prozession über die Schwelle des Tempels ins Freie trat – war sie wie eine Fata Morgana verblaßt! Obwohl Landru eine Weile gewartet hatte, blieben die Sänfte und die Gestalten in den roten Kutten spurlos verschwunden! Eine Halluzination? Als er seine Neugier nicht mehr bezähmen konnte, schlich er zum immer noch offenen Portal zurück und fand das Tempelinnere öde, verlassen und leer. Weder Lilith noch eine der Mönchsgestalten oder die »lebende Mumie« füllten die Fläche. Selbst die Räucher schale war verschwunden. Landru zweifelte mehr und mehr an sei nen Sinneswahrnehmungen. Dennoch entschloß er sich, das Wagnis einzugehen und den Tempel zu betreten. Er machte einen Schritt – und hatte das Gefühl, eine unsichtbare Membrane zu durchstoßen. Zwei Schritte weiter – was ist los, was geschieht mit mir? – hatte das Innere des turmhohen Bauwerks ein völlig anderes Gesicht als vom Portal aus betrachtet! Schwindende Kräfte … Landru kämpfte gegen ein Gefühl jäher Schwäche an. Er wankte. Sein Körper fühlte sich plötzlich mürbe und hohl an wie ein Stun denglas, durch dessen engste Stelle Jahre wie Sandkörner rieselten. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Blut! dachte er verwirrt. Wie
geht das zu? Ich brauche schon wieder Blut! Etwas, das erfrischt. Das den Tod aus den Gliedern treibt... Es war absurd. Er hatte unten in den Dörfern gewütet und seinen Durst gestillt wie selten zuvor. Und doch fühlte er sich von einem Moment zum anderen … ausgelaugt, verhärmt. Fast wie damals, als … Es ist die Schwelle! Es passierte, als ich die Schwelle übertrat! Was war das Geheimnis dieses Ortes? Wieso war die Sänfte vor seinen Augen verblaßt, als versinke sie hinter einem Schild ähnlich dem seinen? Hatte seine Tarnung überhaupt noch Bestand? Reichten die Kräfte dafür noch? Landru gab dem Verlangen nach, das ihn drängte, den Tempel zu verlassen. Draußen, suggerierte schale Hoffnung, würde er wieder der »Alte« sein. Er strebte dem Tor zu. Durchschritt abermals die unsichtbare Membrane – und mißtraute seinen Sinnen mehr denn je! Landrus Kraft kehrte auch hier nicht zurück, aber der Platz vor dem Turm strotzte vor prallem, absolut real wirkendem Leben! Pil ger strömten den Gebirgspfad herauf und bevölkerten das Plateau mit den weit verstreuten Tempelbauten. Die Luft summte vom Ge murmel aus tausend Kehlen. Niemand schien Landru zu beachten. Beiläufig fing er einige Fetzen Hindi auf … Lug und Trug! Er wich in den Schatten des Portals zurück. Vor seinen Augen zer flossen die Gestalten. Die Plätze zwischen den pagodenartigen Türmen waren wieder leer und verlassen. Nicht einmal der Wind bewegte hier ein einziges welkes Blatt. Es gab keine Blätter. Es gab keinen Wind. Der ganze
Komplex vor der Kulisse des Himalayamassivs wirkte auf düsterste Weise von der Zeit vergessen. Als Vampir hatte Landru ein gespaltenes Verhältnis zur Zeit, und obwohl er mehr als jeder Mensch gesehen hatte, durchschaute er ihr Wesen nicht annähernd. Er wollte auch nicht darüber nachdenken, sondern flüchtete in die Überzeugung, der Spuk würde absichtlich inszeniert, um zufällige Entdecker des Tempels, die den »Landweg« kamen, in Panik zu stürzen und zu vertreiben. Vor Entdeckung aus der Luft war die Anlage auf andere Weise gesichert. Landru fuhr sich über das Gesicht. Es fühlte sich an wie mit Spinn weben überzogen. Alt und verbraucht. Was wird aus mir? Landru hatte fast vergessen, was kreatürliche Angst bedeutete. Nun kroch sie aus ihrem Versteck und flüsterte ihm zu: Du wirst zu Staub zerfallen, wenn du nicht bald etwas aus Fleisch und Blut auftreibst! Fliehe von hier, es ist kein guter Platz für Nachtzehrer und Wiedergänger! Und der Lilienkelch? Das geraubte Unheiligtum …? Wie alle echten Vampire verdankte er ihm seine Existenz. Als schwacher Mensch war er einst gestorben, um aus dem Kelch die dunkle Kraft zu trinken, die ihn seither beseelte. Schwach … Schwäche … Wie Funken stoben seine Gedanken davon. Er kehrte in den Tempel zurück. In die domhohe Weite. In die Lee re, die sich schon wieder verändert hatte. Ein riesiges, kreisrundes Loch klaffte im Boden und zog ihn an. Landru schlurfte matt darauf zu. Müde, so müde … Nur noch der Gedanke an den Lilienkelch hielt ihn aufrecht. Aber die Hoffnung, ihn wirklich bald zurückzugewinnen, wurde mit jedem Schritt ge
ringer. Die Mühsal war grenzenlos. Das Loch rückte näher. Und als er an seinem Rand ankam, hatte er nicht einmal mehr die Kraft, dem Sog der Tiefe zu widerstehen. Kopfüber kippte er in den Abgrund.
* Das Bett neben ihm war leer. »Lilith?« Himachal Pradesh sah sich um. Durch das offene Fenster fiel die Morgensonne in den schlichten Raum der namenlosen Herberge. Die ungewöhnliche Frau, die der indische Korrespondent des Syd ney Morning Herald in New Delhi kennengelernt hatte, war ver schwunden. Warum sie ohne ihn aufgestanden war und das Zimmer verlassen hatte, wußte er nicht. Pradesh schlüpfte unter die primitive Duschvorrichtung, die nicht direkt vom Zimmer erreicht, sondern nur über den Flur betreten werden konnte, und vertrieb die ungewohnten Nachwehen seines Schlafes mit einer eiskalten Dusche. Anders als eiskalt ließ sich die knatternde und spuckende Sanitär einrichtung auch gar nicht einstellen. Eine halbe Stunde nach diesem endgültig ernüchternden Erlebnis betrat der Inder den Frühstücksraum der Herberge. Erst hier kamen ihm ernsthafte Befürchtungen. Die Betreiber der Herberge, ein älteres Ehepaar, bestritten heftig, Pradeshs Begleiterin an diesem Morgen gesehen zu haben. Obwohl
sie bei ihrer Ankunft nicht gerade mit Herzlichkeit aufgenommen worden waren, glaubte Pradesh ihnen. Sie hatten auch keinen Grund zu lügen. Nachdem er den ganzen Ort erfolglos nach Lilith abgesucht hatte, kam er zu der einzig denkbaren Erklärung, daß sie ihren Weg noch während der Nacht oder in aller Frühe ohne ihn fortgesetzt hatte. Bei jedem anderen wäre diese Vorstellung absurd gewesen. Selbst erfahrene Bergwanderer starteten ihre Touren nicht bei Dunkelheit, und noch seltener allein. Ein verknackster Fuß oder eine andere, an sich harmlose Verletzung konnte in der Bergwelt Nepals den siche ren Tod bedeuten, wenn niemand bei einem war, der Hilfe leisten oder verständigen konnte. Bei Lilith waren andere Maßstäbe anzusetzen. Pradesh wußte es, obwohl er ihr bei ihrer Ankunft in Delhi zum erstenmal gegenübergestanden hatte. Aber in Delhi war etwas passiert, wovon sich der Kali-Anhänger Pradesh – bei aller Grausamkeit des Geschehens – persönliches Wei terkommen erhoffte. Als Hindu beschäftigte sich Pradesh seit vielen Jahren neben der Zeitungsarbeit mit dem indischen Pandämonium. Er hatte die Wurzeln der Dreiheit zurückverfolgt, die sich aus Vish nu, Shiva und Brahma zusammensetzte – und war bei Kali, der shak ti Shivas, hängengeblieben. Kali, die man der blutigen Menschenopfer wegen, die ihr in der Vergangenheit dargebracht worden sein sollten, »die Furchtbare« nannte. Damit war Pradesh nie einverstanden gewesen. Er pflegte eine ei gene Theorie über die Schöpfung, deren Erhalt und Zerstörung. Pra desh hatte alte Schriften gesichtet und war zu der Überzeugung ge langt, daß Kali von ihrer ursprünglichen Bedeutung her eine Dämo nenbekämpferin war. Was ihr im späteren Verlauf der Geschichte an
Grausamkeiten und obszönen Orgien untergeschoben worden war, konnte nur auf literarischen Verfälschungen fußen! Trotz fester Überzeugung hätte sich Pradesh nie gewagt, damit ans Licht der Öffentlichkeit zu gehen. Im Zuge religiösen Wahns waren Menschen schon wegen geringerer »Vergehen« verfolgt und umgebracht worden. Und trotz der multikulturellen Fassade wurde in seiner Heimat nichts geringer geachtet als Toleranz gegenüber ra dikal Andersdenkenden. Die Begegnung mit Lilith hatte alles geändert. Pradesh hatte am eigenen Leib erfahren, daß es auch heute noch »Dämonen« gab, die sich unter die Menschen gemischt hatten und Verderben mit ihnen trieben. Lilith hatte die Gestalten, die sie in einem Hotel in New Delhi überfallen hatten, als »Vampire« bezeichnet. Für Pradesh, der den Überfall überlebt hatte, bedeutete das Erlebte viel mehr als die bloße Konfrontation mit etwas, das offenkundig »untot« war. Er sah darin eine Fährte, die ihn – wenn er sich geschickt anstellte – näher an seine persönliche Erleuchtung heranführen konnte! Nur deshalb, nicht aus Liebe oder einem anderen sentimentalen Gefühl heraus, hatte er Lilith angeboten, sie zu begleiten. Nur deshalb hatte er sogar persönliche Ersparnisse geopfert und riskiert, alle beruflichen Brücken hinter sich abzubrechen. Er hatte gelogen, als er Lilith versicherte, Urlaub zu haben. Er hatte gelogen, als er Mitgefühl über den Tod ihres Freundes vortäuschte! Den Liebesakt mit ihr hatte er genossen. Und er sah sich selbst auch nicht als bösen Menschen, nur weil er eigene Interessen ver folgte. Solange sie ihm nützlich war, würde er Lilith auch künftig bei Gefahren beistehen. Dasselbe erwartete er als Gegenleistung von ihr.
Falls er sie wiederfand … Die Chancen sanken immer mehr, je länger er Surkhet absuchte. Das sagenhafte Dolpo im »fernen Westen« Nepals verschloß sich erfolgreich dem Tourismus, der andere Bereiche des Himalayas längst erobert hatte. Trekking als Sport war hier verboten. Niemand sollte die Salzkarawanen auf ihren jahrtausendealten Zügen durch die Bergwelt stören, niemand die Traditionen verwässern, die hier noch Bestand hatten wie zu Zeiten, als noch kein Fremder über haupt bis hierher vorzudringen vermochte! Dies war mit ein Grund gewesen, weshalb sie am Vortag bei ihrem Versuch gescheitert waren, einen Sirda zu finden, der sie auf ihrem beschwerlichen Weiterweg in die Gipfelregion begleiten sollte. Sher pas für einheimische Handelszwecke gab es buchstäblich an jeder Straßenecke. Aber wem immer Pradesh Lohn und Brot für eine Füh rung versprach, der wandte sich brüsk von ihm ab. Auch heute. Nicht einmal offene Bestechungsversuche führten zum erhofften Er folg. Anfangs bezog er dieses Verhalten auf seine Person. Nach und nach schwante ihm jedoch, daß es um das von ihm genannte Ziel ging. Niemand wollte zu den gipfelnahen Dörfern aufsteigen. Weder mit noch ohne Pradesh! Leider war auch niemand willens, ihn über die Gründe aufzuklä ren. Frustriert kehrte der Inder am Abend in die Herberge zurück. Lilith war immer noch verschwunden, und damit erlosch Pradeshs letzte Hoffnung, sie so bald wiederzusehen. Ihm war unklar, warum sie auf eigene Faust aufgebrochen war. Noch vor dem gemeinsamen Schlafengehen hatten sie Pläne geschmiedet, wie sie die zu erwar tenden Schwierigkeiten bewältigen konnten. Lilith hatte angeboten, ihre hypnotischen Fähigkeiten einzusetzen, um notfalls einen fähi
gen Sirda auch gegen seinen Willen zu rekrutieren. Pradesh hatte ihr nicht widersprochen. Auch er wollte weiterkommen. Wollte heraus finden, was sich dort oben unter dem Gipfel des Siebentausenders verbarg, von dem die Welt nichts wissen durfte. Liliths Erläuterungen über den Kelch, dem sie nachjagte, waren ihm zu abstrakt. Obwohl er persönlich nach etwas vielleicht noch Abstrakterem suchte. Erleuchtung … Als es nach Einbruch der Dunkelheit an Pradeshs Zimmertür klopfte, glaubte er unterschwellig keinen Moment an Liliths späte Rückkehr. Entsprechend zögerlich öffnete er. Zwei bildhübsche junge Frauen, gekleidet in fast elegant wirkende schwarze Wollmäntel und dem Augenschein nach Zwillinge, hielten Pradeshs Musterung ohne Wimpernzucken stand. »Wir hörten, du suchst einen Führer …«, sagte die eine mit dunk ler Stimme. Pradesh nickte perplex. »Was bist du bereit zu zahlen?« fragte die andere.
* Sie besaßen beinahe lyrische Namen, aber für Nepali nicht gerade typische Gesichtszüge. Exotik pur schlug Himachal Pradesh, der selbst auf seine Weise ein Exot war, entgegen, als er ihnen die Tür seines Herbergszimmers öffnete. Suchete und Minati behaupteten, berufsmäßige Trägerinnen mit immenser Erfahrung zu sein. Sie beherrschten neben ihrer Mutter sprache Sherpa fließendes Englisch und Hindi, was dem Inder ent gegenkam und mit ein Grund war, warum er seine anfängliche
Skepsis – und offene Verwunderung – rasch wieder ablegte. Hinzu kam, daß er bei seinen gescheiterten Versuchen, einen zu verlässigen Sirdar aufzutreiben, viele schwerbeladene, oft sogar noch wesentlich jüngere Frauen beobachtet hatte. Lasten gab es ge nug hier oben, wo kein benzingetriebenes Gefährt wegen der Enge und sonstigen Beschaffenheit der Pfade Aussichten auf Vorankom men hatte. Das Alter von Suchete und Minati zu schätzen, tat sich Pradesh schwer. Sie ähnelten mehr reifen, selbstbewußten Frauen denn nai ven Mädchen, und doch hatten sie von beidem etwas. Ihr Liebreiz schien den Behauptungen, sie seien Entbehrungen, Kälte und harte Aufstiege gewöhnt, zu widersprechen. Zudem zeichneten sich unter ihren Mänteln unübersehbare Verlo ckungen ab, die weitere Zweifel an der Robustheit ihrer Besitzerin nen förmlich aufdrängten. Dennoch entschied sich Pradesh, ihnen eine Chance zu geben. Nicht zuletzt, weil er ahnte, kein zweites Angebot in Surkhet zu er halten. Weder von ihnen noch von anderen ihrer Zunft. »Wann können wir aufbrechen?« fragte er, nachdem sie sich ohne Feilschen über den Preis einig geworden waren. Die verlangten 1200 Rupien pro Nase kamen ihm spottbillig vor. »Sofort«, antwortete Minati. Ihre großen Augen schienen belustigt aufzublitzen. »In zwei Stunden«, relativierte Suchete, die Pradesh von Kopf bis Fuß taxierte, was für eine Sherpa ebenfalls nicht alltäglich war. Pradesh kannte sich durch die Nähe seiner Heimat ein wenig aus. Träger im Himalaya war nicht einfach ein Beruf, dahinter steckte eine Philosophie. Zur vereinbarten Zeit jedenfalls standen die beiden Frauen vor der Tür. Die Waren, die sie für den Aufstieg zusammengestellt hatten,
wurden separat und gleich an Ort und Stelle mit Pradesh abgerech net. Danach balancierten sie ohne sichtbare Mühe die beiden vollge packten Bambuskörbe auf ihre Rücken, gehalten nur von einem Gurt, der wie ein Stirnband über ihren Augenbrauen entlanglief. Pradesh staunte nicht schlecht über die Leichtigkeit, mit der sie sich trotz des Gewichts voranbewegten. Die Route war von ihnen vorbesprochen. Während sie Surkhet durch waldreiches Gebiet ver ließen, fragte der Inder sich erstmals, ob er richtig handelte. Noch war Zeit zur Umkehr. Irgendein Clipper wartete immer startbereit auf der gestampften Flugpiste hinter der Häuseransammlung. Er hätte ihn zurück nach Delhi oder wohin immer sonst gebracht. Aber dann dachte er an Lilith Eden, die wie ein Blitz in sein Leben getreten und ebenso über Nacht wieder verschwunden war. Sie war keine normale Frau, was schon daran erkennbar war, daß sie keine normalen Feinde besaß. Vampire …! Pradesh sog den Atem ein. Er haßte Normalität. Er verehrte Kali. Egal, was dort oben unter dem Schatten der Gipfel wartete, es konnte ihn seinem persönlichen Ziel einen gewaltigen Schritt näher bringen. Oder dem Verderben. Er wäre ein Narr gewesen, hätte er nicht auch das ins Kalkül gezogen. Aber wer Risiken scheute, würde nie zur Erleuchtung gelangen. Nie das wahre Antlitz Kalis schauen. Nie einen Nimbus erreichen, der über dem anderer Sterblicher stand … Noch ahnte er nicht, was wirklich am Ende seines Wegs wartete. Es hätte ihn zerbrochen.
* Baghdi erschrak, als er Kumars Kammer ein zweites Mal an diesem
Tag öffnete. Er hatte geklopft, aber keine Antwort erhalten, und nun sah er, warum. Ein Fremder stand im Zimmer. Von Kumar war nichts zu sehen. Das Ticken in Baghdi klang immer noch verändert, aber allmäh lich gewöhnten er und die anderen Schreiber sich daran, ohne den Grund zu kennen. Der Fremde sah jung und unverbraucht aus. Er blickte Baghdi re gungslos entgegen, den Kopf leicht geneigt, als lausche er einer Stimme, die nur er zu hören vermochte. Er hatte schwarze Haut und negroide Züge. Aber Baghdi ahnte bereits, daß ihm viel mehr als sein Name nicht geblieben war. »Wie heißt du?« fragte er. »Gordon.« Natürlich verstand er seine Sprache. »Ich bin Baghdi, Gordon. Wann bist du – angekommen?« Die Frage stieß in das übliche Vakuum. Baghdi nickte und wies zu Kumars Bett, das nun Gordon gehörte. »Lege dich hin. Ruhe aus. Du bist noch nicht bereit. Aber keine Sorge; was du wissen mußt, fliegt dir wie von selbst zu. Auch dein ›Gesicht‹ wird sich melden, wenn es soweit ist. Ich weiß, wovon ich rede …« Er mußte sich zusammenreißen, um Gordon nicht mit Erklärun gen zu bestürmen, die er von anderer Stelle erhalten würde. Ohne eine Antwort oder Gordons Reaktion abzuwarten, drehte Baghdi sich um und zog die Tür hinter sich zu. Er blieb kurz stehen und wischte sich eine Träne aus dem Auge. Sie galt Kumar, und es erschütterte ihn, daß er dazu noch fähig war. Dann ging er von Stube zu Stube und sagte: »Kumar ist fort. Ku mar ist gegangen …« Es passierte immer wieder, daß einer ging und einer kam.
Aber man gewöhnte sich nie daran.
* Pradesh träumte, Minati schlüpfe zu ihm ins Zelt. Sie hatten zwei Zelte. Eines für die beiden Trägerinnen und eines für ihn. Nach gefälligem Marsch durch Nußbaumhaine, über Wiesen und vielerorts nur knietiefe, malerische Bäche hatten sie ihr erstes Etap penziel in gut 3000 Metern Höhe erreicht. In der Nähe gab es einen kleineren Ort. Aber die beiden Trägerinnen hatten darauf bestan den, außerhalb in der Wildnis zu übernachten. Da sie sofort mit viel Geschick Feuer, Essen und Schlafplätze bereitet hatten, fand Pra desh keinen Grund, zu widersprechen. Er konnte nicht sagen, daß ihm das Alleinsein mit zwei charismati schen Frauen unangenehm gewesen wäre. Auch Lilith hatte eine wenn auch völlig andersgeartete, nicht vergleichbare Ausstrahlung besessen. Trotz der ungewohnten Strapazen, die hinter ihm lagen, hatte er lange hellwach gelegen, ehe der Schlaf seine Fühler nach ihm aus streckte. Und jetzt kam Minati zu ihm. Im Traum … Sie ließ ihren schwarzen chuba, den traditionellen Wollmantel der Sherpani, und ihre Fellmütze fallen. Darunter trug sie nur noch ihre seltsam glatte Haut, die etwas Androgynes hatte. Das Zelt in Pradeshs Traum war von Ungewissem Licht erhellt. Genügend, um ihm keine Einzelkeit entgehen zu lassen. Als Verfechter des Tantrismus war Pradesh ein sexueller »Gour
met«. In der Vereinigung von Mann und Frau sah er die symboli sche ewige Wiederholung des Schöpfungsaktes der Götter. Zu die ser Einstellung gehörte, daß im Idealfall alle Sinne beim Liebesspiel beteiligt sein sollten. Minati schien nichts dagegen zu haben, als er – außerstande, dieser Verlockung zu widerstehen – die Initiative ergriff. Trotz empfindlicher Kälte, die von der dünnen Zelthaut kaum ferngehalten werden konnte, warf Pradesh auch noch die wollenen Decken von sich, in die er sich gewickelt hatte. Nur die Isoliermatte, die ihn gegen den nächtlichen Bodenfrost schützte, ließ er an Ort und Stelle. In Windeseile hatte er sich aus seiner Wäsche geschält und sich zwischen Minatis einladend geöffnete Beine gelegt. Ohne zunächst in sie einzudringen – obwohl sein Penis bereit gewesen wäre. Er hat te eine fast schmerzhafte Härte angenommen. Minatis Finger verwöhnten ihn mit kundigen Berührungen, leicht und zart wie Schmetterlingsflügel. Pradesh seinerseits ging daran, ihren Körper mit Blicken und Händen zu ertasten, sie zu riechen, zu schmecken und sich von ihren wollüstigen Geräuschen stimulieren zu lassen. Er genoß den Traum. Jede Sekunde. Minatis Busen war üppig und lud zu besonderen Spielen ein. Pra desh knetete und saugte daran, bis er meinte, sich nicht länger zu rückhalten zu können. Aber Minati verwehrte ihm noch eine Weile spielerisch den Zu gang zu ihrer Pforte, so daß er vor Begierde halb von Sinnen war, bis er endlich Einlaß erhielt. Das Feuer in seinen Lenden schien auf die Sherpa überzuspringen und sie in gleichem Maße zu entfachen und zu verzehren wie ihn selbst. Sie zitterte unter seinen ungestü men Stößen. Ihr sinnlicher Mund war halb geöffnet. Speichelfäden
glitzerten auf Kinn und Hals. Die großen, dunklen Seen ihrer Augen schienen ihn hinab in lavaschwarze Tiefen ziehen zu wollen. Sie um fing ihn mit ihren Armen und Beinen und forcierte ihrerseits Tempo und Leidenschaft, bis Pradesh sich in einem Strom, der nie aufhören wollte, in sie ergoß. Bis das Ziehen in seinem Unterleib nachließ und wohliger Erlösung wich und er wieder in eine tiefere, traumlose Schlafphase glitt … Pradesh hoffte inständig, auch dies sei noch ein Traum. Zunächst glaubte er sogar an eine Fortsetzung des ersten, weil Minati immer noch neben ihm zu liegen schien. Er glaubte sie zu fühlen, eng an sie gepreßt, sie beide von Decken überhäuft. Offenbar hatte sie ihm den Rücken zugekehrt, und statt des Ungewissen Scheins füllte völlige Dunkelheit das Zelt. Als er gezielter nach ihr tastete, fühlte sich ihr Körper fischkalt und fremd und alles andere als angenehm an. Aber das war nichts gegen die Emotionen, die ihn überrollten, als das, was neben ihm lag, sich umdrehte, nach ihm tastete, über ihn kam …! Etwas Schleimiges, Nesselartiges glitt und brannte sich über seine Haut, umgarnte in höllischer Manier seinen Hals, küßte seinen Mund, stieß durch die Lippen … Pradesh erwachte schreiend. Morgenlicht schimmerte durch die dünne Zeltwand. Er atmete wie ein Blasebalg. Die Matte neben ihm war leer. Kali sei Dank – leer …
* Auch der zweite Tag des Aufstiegs verlief ohne besondere Vor kommnisse. Auf steilem Pfad hatten sie einen See erreicht, kurze
Rast eingelegt, etwas gegessen und – zumindest was Himachal Pra desh anging – vor der Kulisse grandioser Natur nichts anderes tun können als schweigen. Über Grashalden und Mischwald hatten sie den Weg fortgesetzt und waren bis auf etwa 2500 Meter vorgedrungen. Es war spürbar kälter geworden, auch bei ungetrübtem Sonnenschein. Pradeshs Verwunderung über die eigene Leichtigkeit der Fortbewegung suchte vergeblich nach logischer Erklärung. Er war Märsche diesen Ausmaßes nicht gewöhnt. Sein Metier war die Kopfarbeit, und »Schreibtischtäter« verfügten normalerweise nicht über solche Kon dition. Aber er hörte schon bald auf, sich darüber den Kopf zu zermar tern. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit hatten sie im Schutz einer großen Zeder ihr Camp aufgeschlagen. Wieder fand Pradesh nur schleppend Schlaf, weil er – je näher sie dem unbestimmten Ziel rückten, das hoffentlich auch Lilith aufgesucht hatte – immer nervö ser wurde. Auch war die Nacht unruhig. Von irgendwoher drang beharrlich Hundegekläff, vermutlich von einer der Weiden, auf denen die Hüt ten einiger Hirten standen und an denen sie vorbeigekommen wa ren. In der Stille der Nacht reichte das Gebell meilenweit. Pradesh zählte Maultiere statt Schafe. Bis es endlich Wirkung zeig te und seine Gedanken in Schlaftiefen abdrifteten, war eine riesige »Herde« zusammengekommen. Wieder träumte er. Diesmal schlüpfte Suchete zu ihm ins Zelt. Er wußte nicht, woran er sie erkannte, denn eigentlich glichen die Schwestern einander wie ein Ei dem anderen. Dennoch war er überzeugt, es nicht erneut mit Minati zu tun zu haben. Vielleicht lag es an ihrer speziellen Art der
Liebkosung. An der genießerischen Langsamkeit, mit der sie eine Lust zelebrierte, die ihn auch diesmal mit Haut und Haar ver schlang. Sie legte sich bäuchlings neben ihn und streckte Arme und Beine von sich. Wortlos wie Minati lieferte sie sich seiner Phantasie aus. Pradesh wurde heiß und kalt. Seine verzückten Blicke streichelten ihren Rücken, ihren schmalen und dennoch anregend gerundeten Po und ihre langen Beine, denen man in dieser Haltung die Ausdau er nicht ansah. Auch das Muskelspiel, zu dem dieser Körper, wie beim täglichen Aufstieg bewiesen, fähig war, trat hinter der reinen Weiblichkeit zurück. Pradesh ergab sich seinem Traum. Obwohl tief in seinem Bewußt sein bereits die Furcht nistete, nach dem Fest der Sinne könne wie der Ernüchterung einkehren wie in der Nacht zuvor. Er fürchtete den alphaften Mahr, der nicht greifbar war und der seine Flügel über ihn breitete, um ihn unter seinen angsteinflößenden Fittichen zu ersticken. Und genauso geschah es. Nach Suchetes Verführung, die in einem süßen, zärtlichen Höhe punkt geendet hatte, verfiel er in eine traumlose Übergangsphase, bevor erneut ein Alp über ihn kam. Etwas schien sich schwer über ihn zu schieben. Kalt und schwam mig, wie eine Ertrunkene, die aus den lichtlosen Tiefen eines Berg sees in sein Zelt gekrochen war, um ihn mit sich in ihr nasses, dunkles Grab zu ziehen und dort barbarische Hochzeit zu feiern. Aber zuerst … Pradesh glaubte, sich übergeben zu müssen, als tote Hände nach seinem Geschlecht tasteten, es mit ekelerregender Wollust um schlangen und zu erwecken trachteten, um – NEEEIIINN!
Er fuhr hoch. Kauerte in Erbrochenem. Sog Luft und Licht ein wie ein Ertrinkender. Sein Talisman mit Kalis »Reittier«, dem Tiger, schien zu glühen. Pradesh versuchte, sich daran zu wärmen. Aber seine leidende Seele blieb auch den Rest des Tages leichenkalt. Ihr wurde erst wie der warm, als die dritte Nacht anbrach …
* Ihm träumte, Minati und Suchete schlüpften zu ihm ins Zelt. Himachal Pradesh hatte sich schlafen gelegt, nachdem sie dem Ziel so nahe gerückt waren, daß sie es bis Mittag des nächsten Tages erreicht haben würden. So zumindest hatten es seine beiden Sherpa ni versprochen. Die jetzt im Traum zu ihm kamen. Beide. Brünstig wie Tiere in rein zufälliger Menschengestalt, denen jede Moral fremd war. Zwei Liebhaberinnen auf einmal! Pradesh war nicht prüde. Aber es gab Wünsche, die selbst er sich – mangels Gelegenheit – noch nie erfüllt hatte. Zwei fiebrige, zu allem bereite Körper, die – wenigstens im Traum – kein Tabu kannten …! Tagsüber hatte er sich vorgenommen, sich diese Nacht selbst zu kasteien. Keine Wollust im Schlaf aufkommen zu lassen. Es schien ihm all mählich widernatürlich, daß er die beiden Frauen bei Tag nicht im geringsten begehrte (ohne daß er sich dies hätte erklären können),
nach Einbruch der Dunkelheit, wenn er allein im Zelt lag, aber um so stärker! Doch als es soweit war, sträubte er sich keine Sekunde. Sein Widerstand schmolz unter kundigen Fingern und feuchten Lippen, die ihre Spuren überall an ihm hinterließen. Während Suchetes Zunge in seinem Mund spielte, durchbohrte sich Minati mit seinem »Pfahl«. Sie bewies auch diesmal, daß sie den scharfen Ritt bevorzugte, ihre Schwester hingegen seine Sinne mehr durch passive Hingabe berauschte. Beides hatte seine Vorzüge. Und beides ließ sich in dieser Nacht beliebig kombinieren. Pradesh hatte seine eigenen Grenzen noch nie in solchem Maße ausgelotet. Es war eine Gratwanderung zwischen Paradies und Höl le. Er nahm die beiden Schwestern in allen ihm bekannten Stellun gen des Kamasutra. Selbst als er genug zu haben glaubte, ließen sie noch nicht von ihm ab. Der traumlose Schlaf, in den er schließlich glitt, kam ihm vor wie eine Bewußtlosigkeit – oder wie ein kleiner Bruder des Todes. Er war nicht einmal mehr zu Ängsten fähig. Bis SIE kam! Sie? Diesmal suchte ihn kein schleimiges Ungeheuer oder sonst ein Monster heim. Die Dunkelheit teilte sich vor seinen geschlossenen Augen. Die Pforte des Himmels öffnete sich und entließ eine strahlend-schauri ge Gestalt. Eine Göttin, die einen Tiger ritt und geradewegs auf ihn zukam! Kali. Kali …?
Er erwachte. Allein. Ohne Schweiß und ohne Erbrochenes. Und zum letzten Mal.
* Onan lag ausgestreckt auf ihrem Lager aus Samt und Brokat und bebte unter dem Nachhall der Gefühle, die sie begierig wie ein Schwamm in sich aufgesogen hatte. Nach vier Tagen und drei Nächten erhob sie sich erstmals wieder, um vor die verspiegelten Wände des Raumes zu treten, wo sie sich von allen Seiten betrachten konnte. Sie sah eine schöne Frau. Aber obwohl die Jahre ihrem Körpers scheinbar nichts hatten an haben können, war ihr Schoß nicht mehr in der Lage, eigene Lust zu entfachen. Sie benötigte »Umwege«. Auch meine Schönheit, dachte Onan düster, ist nur Maske. Wie die Häute, die ich trage. Wann hatte das alles angefangen? Wer hatte sie zu »Verfluchten der Zeit« gestempelt – sie und sechs andere Priesterinnen, deren Wiege dereinst im Land mit den zwei Strömen stand? Onan rieb sich über die schwellenden Brüste und über die Hüften. Im Schrein war alles viel einfacher. Dort konnte sie körperlos die Vergangenheiten durchstreifen. All das erleben, was in der CHRO NIK niedergeschrieben stand. Nach Jahrtausenden mußte sie sich erst wieder an die Gegenwart
und aktives Handeln gewöhnen. Die Lust half dabei. Seufzend zog sie die letzten Fühler zurück und suchte statt dessen Kontakt mit den anderen sechs Schreinen. Es gelang, ohne die Priesterinnen aus ihren Schlaftiefen herauszu reißen. Onan schilderte die Situation, die sie vorgefunden hatte, und wie sie sie zu lösen beabsichtigte. Das Echo war einstimmig. DU HAST WEISE ENTSCHIEDEN. ZEIGE IHNEN DIE SCHRIFT. NUR SO KANN SCHLIMMERES VERMIEDEN WERDEN. ABER HÜTE DICH, ZUVIEL ZU OFFENBAREN. ES WÄRE DER UNTER GANG … DIE APOKALYPSE … DER JÜNGSTE ALLER TAGE …! Onan stieg zurück in die Haut, mit der sie ihre Inkarnationen be fehligte, und gab den Opfern ihres Plans das Bewußtsein zurück.
* Es war, als wäre ein Schleier zerrissen. Landru rappelte sich vom harten Boden auf und wunderte sich nur, daß ihm nicht alle Knochen im Leib zerschmettert worden wa ren und er dies erst in Ordnung bringen mußte. Sein Blick ging zur Decke, wo das Loch gähnen mußte, durch das er vor seinem umfas senden Blackout gestürzt war. Er fand es nicht. Wo bin ich? Die bleierne Schwäche war aus den Gliedern verschwunden – die Gier nach Blut nicht! Verblüffenderweise fühlte er sich ausgeruht und stark. Das, was er wirklich war, ein uralter, unbarmherziger, hochintelligenter Räuber mit überragendem Killerinstinkt, kam mit Brachialgewalt zum Vor
schein. Wo bin ich? Eine Art fensterloser Korridor verlief dort, wo er stand, in sanfter Biegung nach zwei Richtungen. An den Steinwänden brannten Fa ckeln. Ihr Licht und ihre Flammen waren unnatürlich gleichmäßig. Sie verursachten auch keinen Rauch. Landru hätte geschworen, daß die Fackeln ebensolche Illusion wa ren wie vieles, was er hier erlebte. Womit begann die Realität? Mit dem Boden unter seinen Füßen – oder schon damit, daß er glaubte, noch einmal davongekommen zu sein? Er setzte sich in Bewegung, weil er immer noch an sein Ziel glaub te. Hier irgendwo wurde das verschollene Unheiligtum der Vampire aufbewahrt! Von Mächten, deren Existenz ihm, dem Wanderer durch die Epochen, absolut neu war! Hatte er es mit … Höllenwesen zu tun? Geschöpfen wie jenem Dä mon, der ihm nach hartem Ringen die Karte aus Menschenhaut überlassen hatte …? Vor ihm, im Boden des Korridors, tauchte eine Falltür auf, deren Holz auffällig gefärbt war. Als Landru sich bückte und es berührte, durchzuckte ihn eine mystische Idee, die unmöglich in seinem eige nen Gehirn geboren sein konnte: Es Ist Eine Planke Der Dunklen Arche! Er zog die Hand nicht zurück. Er war sicher, echtes, uraltes Men schenblut zu spüren, mit dem das Holz sich vor unglaublich langer Zeit vollgesogen hatte und deshalb karminrot glänzte. Die Vision ei nes vierzigtägigen Blutvergießens grellte vor ihm auf – und erlosch so schnell wieder, daß kaum mehr zurückblieb als die Ahnung eines notwendigen Gemetzels, aus dem SEIN VOLK einst wie Phönix aus der Asche gestiegen war …
Wann? Er hatte nie von einer solchen Schlacht gehört! Wann sollte sie stattgefunden haben? Und gegen wen? Er umfaßte einen eisernen Ring und versuchte die Falltür anzuhe ben. Sie gab sofort nach. Als Landru durch die Öffnung spähte, entdeckte er etwas, das die Gier in seinem Innern zur spontanen Explosion brachte. Er wußte kaum, was er tat, als er in die Tiefe sprang und federnd neben einem Pult und einem Schemel aufsetzte, wo jemand saß, der sein immenses Verlangen nach warmem, lebendigem Blut stillen konnte. Endlich! Ein Laut, der ihn – wäre er ihm bewußt geworden – erschreckt hätte, rann über seine trockenen Lippen. Er verweigerte sich der Fra ge, was mit ihm geschehen war, daß er so die Kontrolle über sich verlor. Berauscht von der Witterung, die er aufgenommen hatte, stürzte er auf die sitzende Gestalt, die noch nicht auf sein Erscheinen rea giert hatte. Fast hätte Landru sein Gelübde vergessen. Im letzten Moment konnte er sich davon zurückhalten, seine Zäh ne in den Nacken des Mannes zu graben, der nicht in seinem Tun einhielt. Keine Furcht zeigte … Einen Schritt von ihm entfernt blieb Landru mit ausgestreckten Armen stehen. Der Mann vor ihm schabte mit einem Federkiel über dünnes, aber widerstandsfähiges Pergament, das zweifellos aus demselben Mate
rial gewonnen worden war wie jene Karte, welche Landru an diesen hohen Punkt des Globus geführt hatte: aus gegerbter Menschen haut! Und die Tinte, in die die Feder von Zeit zu Zeit tauchte, war nichts anderes als … Blut! Als nach erster Verblüffung die wahre Gier wieder über die Neu gier siegte, wollte er, wie er es immer tat, das Replikat des Lilien kelchs erschaffen und magische Wunden in den Körper seines auser korenen Opfers schlagen. Beides mißlang! Die Gestalt saß weiter vor ihm und fuhr in ihrer Arbeit fort, als sei nichts geschehen. Als Landru das Pult ein Stück umrundete, sah er, daß der Mann mit geschlossenen Augen schrieb. So plötzlich, wie er ihn übermannt hatte, schwand der Durst aus Landru. Da begriff er, daß etwas – jemand – mit ihm spielte. »Zeige dich!« schrie er, ohne etwas zu erreichen. Nur, um doch noch eine Reaktion zu provozieren, beschloß er, den blind Schreibenden mit bloßen Händen zu töten. Auch das mißlang. Er kam dem Mann sehr nahe – aber nicht nahe genug. Landrus rasiermesserscharfe, gebogene Nägel kratzten beinahe schon die Haut dieses Menschen, als es nicht mehr weiterging. Da war wieder jene eisige Kluft, die er schon gefühlt hatte, als er den Mönch auf dem Berg angegriffen hatte – und er sich nur noch flie hend hatte retten können. Aber wohin hätte er hier weichen sollen? Nirgendwohin! ICH WILL DEN KELCH! Niemand spielte ungestraft mit Landru! Er rief sich zur Räson, zwang sich zu kaltem Kalkül. Es gelang, ob
wohl letzte Zweifel blieben, daß sich dies von einer Sekunde zur an deren wieder ändern konnte. Wie es der unbekannten Macht, die mit ihm spielte, beliebte! Landru ignorierte den blinden Schreiber und wandte sich statt dessen der Schrift selbst zu. Er hatte geglaubt, jede bedeutende Sprache zu beherrschen. Nicht erst seit er nach dem Kelch suchte, bereiste er die fernsten Länder. Aber hier versagte sein Können. Die Zeichen, die der Mann auf das Pergament kratzte, waren frem der als Hieroglyphen. Auch älter? Die Schrift der Götter, wie die an den Ufern des Nils entstandenen Hieroglyphen genannt wurden, war rund 3000 Jahre alt. Dies hier – soviel erkannte Landru immerhin – war eine Keil schrift, die sich auch einiger bildhafter Verzierungen bediente, ohne dadurch allerdings verständlicher zu werden. »Woran schreibst du, Mensch?« knirschte er. Das Gefühl wachsen der Ohnmacht gefiel Landru nicht. Erst jetzt sah er sich den Raum, den er durch die Falltür erreicht hatte, genauer an. Die Öffnung klaffte immer noch knapp fünf Me ter über ihm und gab ihm wenigstens das Gefühl eines jederzeit möglichen Auswegs. Diese Höhe war für jemanden wie ihn norma lerweise kein Problem. Wobei er wieder bei seiner Crux war. Normalerweise … Sieben Türen – keine aus den Planken der Dunklen Arche gezim mert (Was denke ich da?) – reihten sich gleichmäßig verteilt entlang des runden Raumes. Eine dieser Türen stand offen, und als Landru die Distanz dorthin überwunden hatte, fand er den Raum dahinter
spartanisch eingerichtet. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank – umrahmt von massivem, nacktem Stein. Landru hatte kein Verlangen, mehr über diese Kammer, deren Be wohner er zu kennen glaubte, zu erfahren. Er wandte sich der nächsten Tür zu, blieb aber stehen, bevor er sie erreichte. Etwas, was die ganze Zeit gegenwärtig gewesen war, hatte aufge hört. Das Schaben des Federkiels … Eine erschöpfte Stimme fragte: »Bist du der Neue?«
* Lilith streifte die Taubheit der Gefühle ab. Sie schlug die Augen auf und fragte sich, warum sie noch lebte. Warum sie lebte und Usha hingemetzelt worden war …! Es hing mit diesem menschenverachtenden Kult zusammen – und damit, daß nicht Lilith, sondern Pradoms Frau von den Leuten in Yakshamalla als »mißliebige Person« auf den Tonscherben denun ziert worden war … Soviel schien festzustehen. Was noch? Was hatte es mit jenem aus Menschenhaut gebundenen Buch auf sich, das Lilith in ihrer Vision erschienen war? Konnte es tatsächlich sein, daß all die Menschen, die seit Genera tionen aus den Dörfern verschwanden, nur als »Rohstoff« für ein … Buch dienten? Welche Schrift war solche Grausamkeit wert? Eisiger Luftzug zwang sie zum Umdenken. Sie war nicht, wie die
ganze Zeit angenommen, allein. Aus schattigen Nischen traten meh rere Gestalten und verteilten sich – als hätten sie nur ihr Erwachen abgewartet – um Lilith. Dem Aussehen zufolge handelte es sich um dieselben Geschöpfe, die Onan als ihre »Inkarnationen« bezeichnet hatte – was immer da mit gemeint war. Onan … Das letzte, an das Lilith sich erinnern konnte, war, daß die Mächti ge ihre Arme erhoben und Usha von ihren Qualen erlöst hatte. Von da ab fehlte Lilith jede Erinnerung. Offenbar hatte man sie be wußtlos aus der Tempelhalle getragen und hierher verfrachtet. Zum Sterben? Das hätte man bedeutend einfacher während ihrer Bewußtlosig keit erledigen können. Oder fühlte sich die Macht, die diese Tempel beseelte, so hoch überlegen, daß sie darauf keine Rücksicht zu neh men brauchte? Ein Gedanke gab den anderen. Die Kuttenträger standen wie zu Salzsäulen erstarrt. Wie – obwohl eine solche Assoziation absurd an mutete – stumme Diener… Lilith blickte an sich herab und suchte vergeblich nach einer Spur des Symbionten, den sie seit ihrem ersten Wachwerden unter der Tempeldecke nicht mehr an sich gespürt hatte. Sie war noch immer nackt. Aber ihr war nicht kalt. Der glatte Steinboden unter ihr hatte eine angenehme Temperatur. Erst als ihre Hände gewohnheitsmäßig durch das lange, volle Haar fahren wollten, stutzte sie. Sie hatte völlig vergessen, daß sie von Bahadur, dem Mörder, nach Landessitte frisiert worden war. Seither lag ihr Haar mittig geschei telt und von kunstvoll geflochtenen Lederspangen gehalten auf ih
rem Schädel. Ein Sprichwort behauptete, wirklich schöne Menschen könne nichts entstellen. Lilith hoffte, daß sich dies auch auf Zwitter aus weiten ließ, die zur Hälfte menschliches und zur anderen Hälfte vampirisches Blut in sich trugen. Wohl fühlte sie sich jedenfalls nicht mit der neuen Frisur. Da der Schwindel ohnehin aufgeflogen war, sah Lilith keinen Grund, die nutzlos gewordene Maskerade aufrecht zu erhalten. Problemlos ließen sich die schmalen Schmuckspangen aus dem Haar pflücken. Bis auf die letzte und zugleich größte, welche die hinten zusammengefaßten Strähnen bändigte. Der gemeine und zugleich typische Schmerz kam, als sie Hand daran legte. Tausend winzige, scharfe, mit Widerborsten versehene Zähne bohrten sich in ihre Kopfhaut, begleitet von einem irren, unwirklichen, lautlos dröhnenden Gelächter. Liliths Hand fuhr zurück. Der Schmerz ebbte ab, das lautlose Gelächter auch, und sie wußte Bescheid. Die letzte Spange, die ihr Haar bändigte, war der Symbiont, den sie zuvor vergeblich an sich gesucht hatte! Lilith versuchte sich zu entspannen. Sie kauerte immer noch am Boden. Die Gestalten in den roten Kapuzenkutten hatten sich nicht wieder gerührt, nachdem sie einen Ring um die Halbvampirin ge schlossen hatten. Der Symbiont ignorierte Liliths Wunsch, ihre Blöße zu bedecken. Er reagierte auch nicht auf gezielte Bemühungen, telepathischen Kontakt herzustellen. Was fürchtete er?
Daß jemand seine Gedanken auffing, sein Wesen durchschaute und ihn von Liliths Körper nahm? Ein Frösteln kroch über ihre Haut, als sie sich weiter fragte, was geschähe, wenn nicht sie selbst, sondern ein Fremder einmal ver suchte, das Ungeheuer, das Lilith als seinen »Wirt« betrachtete, von ihrem Körper zu lösen. Jemand, der nicht innehalten würde, sondern seine Absicht notfalls gewaltsam in die Tat umsetzte … Sie erinnerte sich nur noch vage an die Todesahnungen, von de nen sie beschlichen worden war, als sie und der Symbiont einige Zeit voneinander getrennt gewesen waren.* Die Depression war von Tag zu Tag schlimmer geworden, bis Li lith beinahe von Todessehnsucht erfüllt gewesen war. Da der Symbiont in diesem Stadium zu ihr zurückgefunden hatte, wußte sie nicht, wie weit das Gefühl der Bodenlosigkeit noch gedie hen wäre. Sie wollte es auch gar nicht wissen. Nicht hier. Nicht jetzt. Sie erhob sich. Die Bewegung fiel ihr leicht wie nach einem langen, erholsamen Schlaf. Vorsichtig drehte sie sich um ihre eigene Achse und versuchte, hinter die Schatten unter den Kapuzen zu dringen. Als es mißlang, sagte sie: »Ich will mit Onan sprechen! Verständigt sie oder führt mich zu ihr!« Sie reagierten nicht. Sie standen herum, als hätten sie gar nichts mit der Realität, in die Lilith und der Rest der Welt gebettet waren, zu tun. Als besäßen sie ihre eigene Wirklichkeit … Lilith konnte sich nicht länger beherrschen. Innerlich schäumte sie *siehe VAMPIRA 4: »Landrus Ankunft«
immer noch vor Wut über den grausam-feigen Mord an Usha, von der sie wußte, daß sie einen verzweifelten Ehemann in Yakshamalla zurückgelassen hatte. Andere vor ihr hatte dasselbe Schicksal getroffen. Wie viele über wie viele Jahre? Lilith ballte die Fäuste, machte einen Schritt nach vorn und boxte gegen die nächststehende Gestalt. Sie wollte eine Reaktion provozieren. Aber es war, als schlage sie in einen roten Vorhang. Der merkwürdig kühle Stoff gab nach. Nicht der geringste Wider stand erfolgte. Es gab keinen Widerstand. Die Kutten waren leer! Leer? Lilith streifte alle Scheu und Vorsicht ab. Ihre Hand tauchte in das Dunkel unter der Kapuze – und stieß auch dort auf keinen Wider stand. Luft. Mehr füllte diese Kutten nicht! Aber was hielt sie aufrecht? Was hatte sie Minuten vorher bewegt? Magie, natürlich! Onans Magie? Wer war die in fremde Haut gehüllte Mächtige? Eine Frau, wie es ihre Konturen glauben machen wollten? Lilith ließ die Arme sinken. Nicht, weil sie kapitulierte, sondern weil es von der einen Erkenntnis zur anderen nicht weit war: Wenn sie in Wirklichkeit nur von ein paar Stoffhüllen umgeben war, warum versuchte sie dann nicht, einen Ausweg aus diesem Gefäng
nis zu finden? Gedacht, getan. Lilith öffnete die Tür – sie war nicht einmal verschlossen – und trat überraschend ins Freie unter ein sternfunkelndes, nächtliches Firma ment – nicht erst in einen Zwischenkorridor. Augenblicklich fühlte sie sich von einem wärmenden Pelzmantel umschmeichelt. Sie achtete kaum darauf, weil sie gerade noch die Rückansicht ei ner vertraut wirkenden Gestalt um die Ecke des nächstgelegenen Gebäudes verschwinden sah. Es ist unmöglich, dachte sie mit hämmerndem Herzen. Wie könnte er mich hier so schnell gefunden haben …? Dennoch setzte sie mechanisch nach, holte ihn ein und fand ihren Verdacht bestätigt. »Du …?« Himachal Pradesh drehte sich schleppend um. Er mußte sie an ih rer Stimme erkannt haben, denn sehen konnte er Lilith im kalten Licht der Sterne kaum. Er bot ein … wüstes Bild. Lilith huschte auf ihn zu. In seinem Gesicht spiegelte sich das Grauen. Seine Kleidung war zerschunden. Nach dem silbernen Ta lisman suchte Lilith vergebens. »Lilith …!« Viel mehr als ein Krächzen brachte er nicht zustande. Er streckte die Arme nach ihr aus – und ging in die Knie. Lilith griff blitzschnell zu und richtete ihn wieder auf. Er stützte sich auf ihre Schultern. Sein rasselnder Atem malte flüchtige weiße Fahnen in die Luft. »Schnell!« keuchte er. »Wir müssen uns verstecken! Sie waren mir dicht auf den Fersen, diese … Ungeheuer!« Er schüttelte sich, als
könnte er damit die Erinnerung an ein schreckliches Erlebnis ab streifen. »Wer ist hinter dir her?« fragte Lilith. Als er nicht antwortete, lenk te sie ihn zu einem der kleineren Bauten, die sich auf der entgegen gesetzten Seite des Plateaus an den Berg schmiegten. Da Lilith noch keine Möglichkeit gehabt hatte, sich zu orientieren, war es eine fa denscheinige Zuflucht, der sie sich schließlich anvertrauten. Es gab keine Tür in dem Steinbau, die sie hinter sich hätten schließen kön nen, nur einen offenen Torbogen. Drinnen riß Pradesh sich von ihr los und verkroch sich in der Dun kelheit, die es für Liliths Augen nicht gab. Immer fassungsloser blickte sie auf den Inder hinab. Als sie ihn die Nacht zuvor auf magische Weise verlassen hatte (ihr Körper hatte im Schlaf seine Metamorphosefähigkeit erkannt und sich in eine Fledermaus verwandelt), war er ein Mann von un erschütterlichem Selbstbewußtsein und Charisma gewesen. Jemand, den so leicht nichts aus der Ruhe bringen konnte. Kein Nervenbündel wie jetzt! Was war in den letzten Stunden geschehen? »Rede!« forderte sie ihn auf. »So rede endlich! Wer verfolgt dich? Wie hast du mich in der kurzen Zeit gefunden? Dir sind doch nicht auch Flügel gewachsen …?« Die letzte Bemerkung sollte die Situation entspannen. Sie bewirkte das Gegenteil. »Mir nicht!« preßte Pradesh hervor. Sein Gesicht leuchtete irre. Es war, als würde Lilith ihm zum ersten Mal gegenüberstehen, und sie konnte sich einfach nicht dazu überwinden, sich zu ihm zu setzen und ihn zu trösten. »Aber – ihnen!« »Wem, bei Cane?«
Cane? Sie fuhr sich durch das verstruwwelte Haar, das wieder of fen fiel, seit der Symbiont sich spontan die Form eines wärmenden Pelzes gegeben hatte. »Sag mir, was passiert ist!« »Komm zu mir, bitte! Halte mich, wärme mich!« Er wirkte wie ein verstörtes Kind. Die angezogenen Knie waren von seinen Armen umschlungen. Die Ärmel seiner gefütterten Jacke hingen in Fetzen. Er zitterte wie Espenlaub. »Wo ist dein Talisman?« »Ich – habe – ihn – verloren.« Seine Zähne klapperten bei jedem Wort aufeinander. Lilith verlor die Geduld. »Beruhige dich!« suggerierte sie. »Was ge nau widerfuhr dir, seit ich dich letzte Nacht verließ?« »Letzte Nacht?« Es irrlichterte noch stärker in seinen Augen. »Ich – sah dich zuletzt vor vier – Tagen, als du in meinen Armen einsch liefst. Du –« Jetzt starrte sie entgeistert. »Wiederhole das! Wie lange warst du unterwegs?« »Vier Tage und drei Nächte.« Sie schluckte. Er hatte keinen Grund, sie zu belügen. So lange war ich ohne Bewußtsein? »Weiter! Wie hast du mich finden können? Doch nicht zufällig?« Er schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war wie in einem Krampf er starrt. Es hätte Lilith nicht überrascht, wenn er auch noch angefan gen hätte zu weinen. »Sie haben mich geführt! – Bitte, komm! Setz dich neben mich! Ich brauche – Nähe. Ich …« Lilith wußte nicht, warum es ihr so schwerfiel, ihm den Gefallen zu tun. Vielleicht lag es an seiner geistigen Verwirrung, die sie irgendwie
… abstieß. Widerstrebend setzte sie sich neben ihn. Er grub sich förmlich un ter ihren Mantel. Sein stoppelbärtiges Gesicht rieb über ihre Haut. Eine seiner Hände grub sich in ihre Brust, aber es hatte nichts mit se xuellem Verlangen zu tun. Pradesh suchte einfach nur Halt. Nähe, wie er es ausgedrückt hatte. Wärme. Er war völlig fertig. »In Ordnung«, hörte sich Lilith wie eine Fremde sagen. Ihre eige nen Erlebnisse rückten so weit von ihr weg, daß sich das Unbehagen in ihr noch mehr vertiefte. »Erzähle, was passiert ist. Zusammen hängend. Ich will dir nicht jede Information einzeln aus der Nase ziehen!« Die Befürchtung war unbegründet. Endlich dort, wohin es ihn ge zogen hatte, plapperte Pradesh los wie ein Wasserfall. Es wurde ein Rapport des Grauens. »Sie nannten sich Minati und Suchete. Zwei weibliche Sherpani, die mir in Surkhet ihre Dienste antrugen. Du warst über Nacht ver schwunden, und meine Suche und mein Abwarten am Tag danach brachten keine Spur von dir. So kam ich zu der Überzeugung, du wärst allein zum Ziel deiner Suche aufgebrochen. Natürlich schien es mir zuerst absurd. Aber ich wußte ja, daß du eine besondere Frau mit besonderen Gaben bist. Und nichts lag mir ferner, als unverrich teter Dinge nach Delhi zurückzukehren. Außerdem –«, er lachte rauh, »– dachte ich, ich stünde unter Kalis Schutz!« Er schilderte wenig von den Beschwernissen des Aufstiegs, der ihm, wie er eingangs erwähnte, so beschwerlich zunächst gar nicht erschienen war. Sein Augenmerk galt eher den besonderen Umstän den, unter denen er seine beiden Sherpani im Laufe des Trecks nä her kennenlernte, ohne ihnen – tagsüber – menschlich auch nur einen Schritt näherzukommen. Pradesh hatte keine Scheu, seine in drei Nächten hintereinander
folgenden Träume vor ihr auszubreiten. Zunächst schilderte er die erotische Komponente – und dann die schrecklichen Heimsuchun gen. Er tat dies so plastisch, daß sie sein Entsetzen und seinen Ekel förmlich nacherlebte. »Inzwischen«, sagte er, »bin ich im Zweifel, ob ich all dies wirklich nur träumte – oder ob nicht alles einer Realität entsprang, die mich des Nachts mit ihren kalten, unmenschlichen Leibern umgarnte und mißbrauchte. Denn heute, als wir diese verlassenen Tempel fast er reicht hatten, entpuppten sich Minati und Suchete und offenbarten mir ihr wahres Wesen. Sie verwandelten sich – ich vermag es kaum zu beschreiben – in geflügelte Ungeheuer, die mich angriffen und mir mit ihren spitzen Schnäbeln den Schädel spalten wollten, um mir mein Leben auszusaugen … Sie jagten mich den ganzen Pfad herauf. Kurz bevor ich dich traf, konnte ich sie endlich abschütteln – frage nicht, wie! Ich weiß es nicht! Ich glaube auch nicht, daß ich ih nen wirklich entkam! Sie –« Er stockte, und auch Lilith hörte es. Dumpf-peitschender Flügelschlag. Unheimliches Brausen, das von einem Moment zum anderen die Luft vor dem niedrigen Tempelbau erfüllte. »Das sind sie!« keuchte Pradesh und kroch noch tiefer unter Liliths Mantel. »Ich wußte es! Sie finden einen überall …!« Seine Stimme überschlug sich. Als die flatternde Bestie im Torbogen auftauchte, legte Lilith letzte Zweifel an seiner Geschichte ab. »Bei allen Göttern …!« Sie verstummte, als sie begriff, daß die Augen dieses Ungeheuers sie trotz völliger Finsternis gefunden hatten.
* Landru fuhr herum. Sein Gesicht hatte jede Zivilisiertheit abgelegt. Auf seiner linken Wange pulsierte die Kreuznarbe wie ein Blutegel, der sich daran festgesaugt hatte. »Wer ich bin?« Er starrte zu dem Mann am Pult, der den Federkiel unschlüssig in der Hand wog und jetzt die Augen offen hielt. Be ängstigende Augen, deren Blick durch und durch ging. »Wer bist du, bei allen Kreaturen des Lichts?« »Ich bin Terentius. Zumindest glaube ich es.« Dann wiederholte er: »Bist du der Neue? Ich hatte noch keine Gelegenheit, dich zu be suchen. Aber Baghdi sprach von dir. Du wirkst – seltsam auf mich.« Landru schluckte die Beleidigung – falls es eine war. Lauernd nä herte er sich dem Mann in der togaähnlichen Kluft. »Was tust du hier? Was ist dies für ein Ort?« Mißtrauen flammte in Terentius’ Augen. Aber bevor er etwas er widern konnte, wurde der Ausdruck seines edel geschnittenen Ge sichts leer. Er wandte sich ruckartig wieder dem Pult und der aufge spannten Pergamentseite zu. Der Federkiel tauchte in das Blut, das aus irgendeinem Grund nicht gerann, und Terentius begann mit ge schlossenen Augen eine neue Zeile. Der Zorn in Landru wuchs. Noch einmal versuchte er, den Schreiber anzugreifen, aber die Grenze, die ihn aufhielt, war unverändert vorhanden. Auch der Ver such, das Replikat des Kelchs erstehen zu lassen und magische Wun den in den Körper des Mannes zu schlagen, scheiterte. Eine Zeitlang verzehrte sich Landru vor Sehnsucht, endlich wieder einmal seine Zähne in ein Opfer schlagen zu dürfen. Dann erinnerte er sich, warum er gekommen war.
Er steuerte die nächstbeste Tür an und riß sie auf. Der Raum dahinter sah genauso aus wie die leere Kammer, die Landru zuerst besichtigt hatte. Aber diese war bewohnt. Eine schwächlich aussehende Gestalt zuckte wie vom Blitz getroffen zu sammen. Der Mann hatte am Tisch gesessen und das Kinn in beide Hände gestützt. Nun ließ er die Arme sinken, und erstaunlicherwei se trug sein Hals das Haupt auch allein. »Frage nicht, wer ich bin!« grollte Landru, dem Geduld noch nie – und am allerwenigsten jetzt – eine Tugend gewesen war. »Was geht hier vor?« Der Mann sprang von seinem Stuhl und wich vor Landru zurück. Der Stuhl krachte zu Boden. »Schicken sie dich?« »Wer sonst?« log Landru. Furcht schimmerte in den Augen des Mannes. »Ich bin Baghdi …« »Ich weiß!« Landru log abermals. Er wollte sein Gegenüber gar nicht erst zum Denken kommen lassen. Der Schwächling nahm Demutshaltung ein. »Wie geht es Kumar – wenn die Frage erlaubt ist?« »Gut!« Bei Cane, wer war Kumar? »Wirklich?« Ein Anflug zaghafter, noch ungläubiger Erleichterung huschte über das Gesicht, das mit seiner porigen Haut einer Zitrus frucht ähnelte. Landru hatte unbemerkt versucht, seine hypnotische Kraft einzu setzen. Aber Baghdi sprach nicht darauf an. So wenig wie Terentius. Was waren das für Menschen? Es waren Menschen, aber etwas Widernatürliches ging von ihnen aus – selbst für Landru, der Wider natürliches gewohnt war. »Keine Fragen mehr! Ich bin gekommen, dich zu prüfen!« Landru
stellte sich intuitiv auf die Situation ein, wie er sie empfand. Es schien zu funktionieren. Die Furcht in Baghdis Augen wuchs. »Prüfen, mich?« Er bückte sich nach dem umgefallenen Stuhl, richtete ihn auf und setzte sich haltsuchend darauf. »Hat es mit – Kumars Verschwinden zu tun? Er fühlte sich seit langem schwach, der Aufgabe nicht mehr gewach sen. Aber bei mir ist es nicht so, das versichere ich –« »Du brauchst dich nicht zu sorgen. Sie sind sehr zufrieden mit dir. Sie denken sogar über eine höhere Aufgabe für dich nach.« »Eine höhere …?« Er verstummte. Es klang nicht, als könnte er sich darunter etwas vorstellen. »Was treibt Terentius draußen?« Landru wies mit dem Arm hinter sich. »Im Scriptorium?« Baghdi blickte verständnislos. »Es ist seine Sei te. Er … schreibt, was sonst …? Die CHRONIK …« Landru spürte, daß er noch behutsamer vorgehen mußte. »Hast du je von einem Kelch gehört, der hier aufbewahrt wird und die Form einer Lilie hat?« »Nein, was ist eine – Lilie?« »Eine Blume. Er sieht aus wie ihr Blütenkelch!« Landru verfluchte, daß er nicht auf sein volles magisches Potential zurückgreifen konn te. Noch immer war es ihm unmöglich, in dieser Umgebung ein Re plikat des Lilienkelchs zu erschaffen. Er machte einen Schritt auf Baghdi zu. Auch er hatte die Grenze. Auch ihn schützte eine Barriere, die Landru nicht überwinden konnte. Blut … Warmes, beseeltes Blut …! Wie sehr er sich sehnte. Wie sehr … »Ist er kostbar?«
»Sehr kostbar!« »Vielleicht steht in der CHRONIK etwas darüber. Man müßte die Seiten durchforsten …« »Welche Chronik?« Baghdi lachte wie jemand, dem eine Fangfrage gestellt wurde. »Die EWIGE CHRONIK, an der wir täglich arbeiten«, antwortete er unbehaglich. »Alles von Bedeutung findet sich darin. Aber Ihr müß tet wissen, daß wir alles darin Enthaltene vergessen, sobald eine Sei te der Schrift beendet ist, wir aus der Trance erwachen und der Kiel an den nächsten Schreiber weitergeht …« Obwohl Baghdis Mißtrauen erwacht schien, hörte Landru nicht auf, weitere Erkundigungen einzuholen. Das merkwürdige Verhör endete jedoch abrupt, als er fragte: »Du kennst natürlich den Aufbe wahrungsort dieser … Chronik?« Das war selbst für einen Einfaltspinsel wie Baghdi zuviel.
* Onan ordnete das Chaos im Scriptorium und den dazugehörigen Stuben. Alles lief nach Plan. In fremder Haut befehligte sie ihre In karnationen und wob das Netz, in denen sich die Figuren bewegten, enger. Allmählich fand sie beinahe Gefallen an diesem Zeitvertreib, der noch dazu einem wichtigen Zwecke diente: Das Ungleichgewicht der Kräfte zu wahren! Das Chaos zu erhalten! Ein Menschenleben als Preis dafür bedeutete soviel wie die Leben von Tausenden.
Nichts …
* Das geflügelte Monster besaß den Kopf einer herb-schönen Frau – aber den Körper eines riesenhaften Raubvogels, dessen Gefieder schwärzer als die umgebende Nacht glänzte! »Suchete …«, rann es aus Pradeshs Mund. Er krallte die Hand so fest in Liliths Fleisch, daß es schmerzte. Sie streifte ihn ab. Er versuchte sich in ihren Mantel zu krallen und ihn ihr vom Leib zu ziehen, aber er bekam ihn glücklicherweise nicht richtig zu fas sen. Auf diese zusätzliche Prüfung durch den Symbionten legte Li lith keinen Wert. Ohne weiter auf den Inder zu achten, näherte sie sich dem Aus gang. Sie starrte in Augen, die ausnahmsweise einmal sie hypnoti sierten, obwohl sie sich verzweifelt dagegen wehrte. Der Bann war nicht zu brechen. Lilith trat ins Freie. Wenn das eine Monster Suchete war, mußte das andere die von Pradesh erwähnte Minati sein. Beide Kreaturen hingen wie an un sichtbaren Fäden ein paar Schritte von Lilith entfernt in der klaren Nachtluft, obwohl die Flügel aufgehört hatten zu schlagen. Absurd. Sternenglut und Weltraumkälte verfingen sich im Gefieder. Von den Geflügelten strömte eine Bosheit aus, wie Lilith sie nicht einmal bei Vampiren reinen Geblüts angetroffen hatte. »Sieht sie nicht zum Küssen aus?« spottete der sinnliche Mund der einen Kreatur. Lilith erkannte keinen Unterschied zwischen ihnen.
»Ich meine«, fuhr die Hybride fort, »überall zum Küssen. Meine Zunge ist kaum im Zaum zu halten. Sie wittert ihren Schoß …« »Wir sollten es versuchen«, pflichtete die andere Kreatur bei. »Aber laß uns erst ihr Blut in Wallung bringen. Ich liebe dieses Pri ckeln auf der Zunge. Und sie ist etwas ganz Besonderes …« »Das ist sie.« Während des Zuhörens versuchte Lilith verzweifelt, sich von den aufgezwungenen, unsichtbaren Fesseln zu befreien. Es gelang erst, als die Geflügelten sie aus vollster Berechnung frei gaben. »Es macht keinen Spaß«, höhnte die eine, »wenn du dich nicht wehren kannst«, vollendete die andere. »Um ihn«, sie nickten beide zu einem Punkt hinter Lilith, wo sich Pradesh immer noch verkro chen hielt, »kümmern wir uns anschließend. Ihn haben wir bereits geschmeckt …« Lilith fröstelte, als sie sich Pradeshs Bericht in Erinnerung rief. Zu gleich fragte sie sich, ob das, was sie sah, nun die endgültige, wirkli che Gestalt der beiden war, die Pradesh auf seinem langen Weg hierher begleitet hatten. Warum? Warum dieser ganze Aufwand? Sie hätten ihn doch gleich töten können! Und DICH auch. Aber sie lieben offenbar Winkelzüge. Schlichtes Töten hat nichts mit Jagdfieber und den damit verbundenen möglichen Reizen zu tun – das solltest du eigentlich wissen! Ein gleichzeitiger Schrei aus zwei verschiedenen Kehlen leitete den Angriff ein.
*
Zur selben Zeit in Sydney, Australien Das Laboratorium lag im südlichen Stadtteil Kensington. Zivilisten erhielten nur in Ausnahmefällen Zutritt. Nach außen hin galt das Militär als Hauptauftraggeber und Finanzier. Seit Jahren wurden hier Studien über die praktische Anwendbarkeit biologischer Kampfmittel betrieben. In der Vergangenheit hatte dies des öfteren zu Demonstrationen örtlicher Bürgerinitiativen geführt. Da aber nie Genaues über das Treiben hinter den gutgesicherten Zäunen und Mauern an die Öffentlichkeit gedrungen und es auch nie zu einem nachweisbaren Störfall gekommen war, hatten sich solch sporadi sche Aktionen bislang immer wieder von selbst verlaufen. Als Virgil Codd im Schutz der Dunkelheit ankam, war von einem »Belagerungszustand« weit und breit nichts zu sehen. Es wäre auch das letzte gewesen, was er hätte gebrauchen können. Lediglich der Leiter des Labors war noch anwesend. Der Polizei chef wurde höflich – von Kreatur zu Kreatur –, aber auch mit spür barer Nervosität begrüßt. Geoff Molyneux war bereits kurz nach dem zweiten Weltkrieg von den Herren rekrutiert worden. Entsprechend tageslichtempfindlich war auch er. »Sie haben es sehr eilig gemacht«, sagte Codd. Hinter seinen Au gen irrlichterte für ihn ungewöhnliche Besorgnis. Aber die sich überschlagenden Ereignisse der letzten Tage und Wochen hatten ihre Spuren hinterlassen. Hinzu kam, daß die Herren mit ihrem eige nen »Waterloo« zu kämpfen hatten. Hora war tot. Der Gründer der Sydneyer Vampirsippe war von dem verführeri schen Wesen, das dem Haus 333, Paddington Street entschlüpft war,
besiegt worden. »Mit links«, wie man hörte. Andere Vampire und Dienerkreaturen teilten dieses Schicksal inzwischen, und all dies war nicht dazu angetan, in ihren Kreisen Zuversicht zu schüren. »Stehen Sie in Kontakt?« Molyneux schien nicht zugehört zu ha ben. Er kaute an seiner Unterlippe. Seine Zähne sahen nicht aus, als hätte er sich in letzter Zeit eine kleine Blutauffrischung gegönnt. Alles geht vor die Hunde, dachte Codd fatalistisch. »Nein«, sagte er. »So wenig wie Sie, vermutlich.« »Warum melden sie sich nicht bei uns? Wir brauchen neue Befehle …« »Ich weiß es nicht.« Codd zuckte die Schultern. Er liebte Gesten, mit denen er sich selbst darüber hinwegtäuschen konnte, daß er nicht mehr zu denen zählte, denen diese Gewohnheiten anhafteten. Genaugenommen saßen Kreaturen wie er und Molyneux zwischen allen Stühlen. Ihr Entscheidungsfreiraum war begrenzt. Bei allem, was sie taten, waren sie ihren Herren hörig. Ihre Rolle war vergleich bar mit der von Negersklaven vergangener Jahrhunderte. Nur daß bei ihnen nie das Samenkorn der Rebellion sprießen konnte, weil ein anderer Keim dies unmöglich machte. Codd wunderte sich manchmal, daß er überhaupt zu solchen Über legungen fähig war. Aber er witterte auch dahinter keinen Aus druck begrenzter Freiheit, sondern einfach eine Absicht, die zu durchschauen er nicht in der Lage war. »Ich war in ihrem Unterschlupf«, fuhr er fort, während Molyneux ihn ins Innere des verschachtelten Gebäudes führte. »Er ist verlas sen. Auch Landru, so hört man, hat die Stadt wieder verlassen.« »Das ist Wahnsinn«, keuchte Molyneux. »Gerade jetzt!« Codd ließ es so stehen. »Worum geht es? Haben Ihre Leute die Pflanzen aus dem Garten und ihre Bedeutung endlich analysieren können?«
Da sie fast am Ziel waren, sparte sich Molyneux eine Antwort, bis sie den Raum betraten, wo die Hybriden untergebracht waren. Als Codd die Schwelle übertrat, gab er einem Impuls nach und blieb kurz stehen. Das, was sich vor seinen Augen ausbreitete, hatte er gar nicht so gewaltig in Erinnerung. »Was ist?« fragte Molyneux. »Ich wußte schon nicht mehr, daß es so … viele waren.« Der Wissenschaftler nickte. »Sie sahen sie im Freien, auf einem großflächigen Grundstück. In einem geschlossenen Raum wirkt alles wesentlich größer. Dabei haben wir von jeder Art nur zwei behalten. Die anderen wurden verbrannt. Wir hätten sie nicht unterbringen können.« »Das sagten Sie schon am Telefon …« Codd setzte sich wieder in Bewegung. Der langgestreckte Raum ähnelte nur entfernt den üblichen Treib häusern. Die allgemeine Luftfeuchtigkeit, dort, wo Codd langschritt, war völlig normal. Aber jede Pflanze, jeder Baum, der vom Grund stück in der Paddington Street hierher verfrachtet worden war, steckte in einer eigenen Biosphäre! Die »Schläuche« besaßen groteske Ähnlichkeit mit überdimensio nalen Kondomen. »Um auf Ihre Frage zurückzukommen«, setzte Molyneux an, wäh rend er Codd durch das Gewirr von spezifisch versorgten Behältern folgte. »Über die Bedeutung dieser Anhäufung atypischer Vegetation können wir nicht einmal Spekulationen beisteuern. Es gibt immer wieder Freaks, die exotische Kreuzungen versuchen, die dann in un serem Klima eine Überlebenschance hätten. Aber hier ist der Fall an ders gelagert. Es sind keine Kreuzungen. Es handelt sich einfach um eine Flora, die hier nichts zu suchen hat!« »Wo dann?« fragte Codd spröde. »Frühere Untersuchungen vor
Ort sprachen vom persischen Raum …« Molyneux nickte. »Das kann ich nur bestätigen. Allerdings …« »Allerdings?« »Allerdings gibt es zwei, drei uns völlig unbekannte Arten, und et liche, die heute nicht einmal mehr in Persien vorkommen!« »Wo dann?« »Nirgends«, antwortete Molyneux. »Nach meinem Wissensstand nirgends mehr auf der Welt. Sie sind, beziehungsweise waren, aus gestorben …!« Die geringe Euphorie, die diese Feststellung begleitete, war ty pisch für einen Diener… Codd schüttelte das klamme Gefühl ab. »Haben Sie Vorkehrungen getroffen, daß diese … Sensation nicht an die Öffentlichkeit dringt?« »Natürlich«, wehrte sich Molyneux. »Haben Sie eine Idee, was da hintersteckt?« »Nein«, sagte Codd schroff. Er berührte eine der Kunststoffolien und wollte sie nach innen beulen, um den Stamm eines Mandelbau mes zu berühren. Doch dann zuckte eine Erinnerung durch sein Be wußtsein, und er wich zurück. »Es kam zu keinerlei – Zwischenfällen?« fragte er. Molyneux’ Blick bekam etwas Lauerndes. »Wie bei Weinberg?« Codd fuhr sich über die Augen und massierte die Tränensäcke. »Zum Beispiel.« »Keine Zwischenfälle. Sind Sie sicher, daß er nicht übertrieben hat? Eine Wurzel, die sich wie eine Schlinge in sein Bein fraß …« »Ich war dabei!« blaffte Codd. Molyneux schwieg. »Führen Sie mich jetzt zu Maud«, verlangte der Chief.
Molyneux warf einen letzten Blick in die Weite des Raumes, dann dirigierte er Codd in einen abseits gelegenen Trakt, den er mit sei nem Fingerabdruck öffnen mußte. Der transparente Cryogentank, an den sie traten, stand allein in der kleinen, fensterlosen Kammer. »Halten Sie diesen Aufwand nicht für etwas übertrieben?« Moly neux’ Stimme verriet jetzt offen Mißbilligung. »Sie sollten sie untersuchen!« schlug Codd denselben Tonfall an. »Das habe ich getan – bevor wir sie frosteten.« »Und?« »Sie war völlig normal. Bis auf gebrochene Kiefer und eine stark in Mitleidenschaft gezogene Speiseröhre.« »Normal?« Codd wiegte den Kopf. »Vielleicht, wenn man die Vor geschichte unberücksichtigt läßt!« »Diese Frau war niemals eine … von uns!« Codd lachte heiser. »Sie glauben also, ich hätte Ihnen einen norma len Menschen untergejubelt?« »Was sonst?« Codd winkte ab. »Darüber unterhalten wir uns, wenn es wieder möglich ist, mit den Herren zu kommunizieren!« »Sie wollen mir nichts verraten?« »Nein.« Codd warf der verschwommen sichtbaren, toten Gestalt im Tank einen letzten, unsentimentalen Blick zu, dann wandte er sich mit einem Ruck ab. »Danke für Ihre Mühe, Geoff«, sagte er zum Abschied.
*
Nepal Beide Hybriden erhoben sich in die Luft und stießen dann aus zwei verschiedenen Richtungen herab. Sie waren unheimlich schnell und beweglich. Lilith konnte nicht verhindern, daß das eine Mischwesen auf ih rem Rücken landete und sich mit spitzen Krallen in sie bohrte. Der Schmerz war unerhört. Ihr Blick verschwamm. Der »Pelzmantel« des Symbionten schützte sie nicht. Das verfluchte Erbstück ihrer Mutter reagierte nicht ein mal, um sich selbst zu schützen! Aber Lilith hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Sie warf sich zu Boden, wälzte sich vehement mit ihrem »Anhäng sel« und versuchte alles, es abzuschütteln. Zugleich stürzte von oben jedoch schon die zweite Hybride auf sie nieder. Lilith sah gespreizte Klauen auf ihre Augen zuzucken. In einem konzentrierten Aufbäumen gelang es ihr im letzten Moment, sich samt ihrer mordlustigen Rückenlast umzudrehen, so daß die Krallen der anderen Hybride in das Fleisch des Zwillings stießen. Diese Aktion verschaffte Lilith etwas Luft, denn beide Ungeheuer lösten sich von ihr und landeten mit schaurigem Gekreische in eini gen Metern Abstand auf dem Steinpflaster des Tempelhofes. Lilith schnellte hoch. Das Echo des Schmerzes in ihrem Rücken hielt ihr vor Augen, wie wenig Gelegenheiten, den Spieß umzudre hen, ihr gegen diese Gegner blieben. Sie durfte keine noch so kleine Atempause ungenutzt verstreichen lassen. Flucht zurück zu Pradesh kam ihr nicht in den Sinn. Es wäre nicht mehr als ein Aufschub gewesen. Die beiden Hybriden hätten sich
wieder sammeln und zu gemeinsamer Attacke blasen können. Nein! Es waren die ersten nichtvampirischen und nichtmenschlichen Gegner, mit denen es Lilith zu tun bekam. Das Holz, aus dem solche Kreaturen geschnitzt waren, verzieh nicht den kleinsten Fehler. Und Rückzug wäre ein Fehler gewesen! Der Pelzmantel behinderte sie in ihren Bewegungen. Weg damit! Sie konnte ihn nicht abwerfen. Aber sie konnte hoffen, daß der Symbiont einmal rechtzeitig kapierte, was sein »Wirt« brauchte, und auch demgemäß handelte! Die Metamorphose zur Fledermaus anzustrengen, unterließ Lilith, weil sie sich damit gegen diese Gegner noch geringere Chancen aus rechnete. Mit heiserem Schrei warf sie sich den wild flatternden Mischwesen entgegen, die noch immer ineinander verkeilt über das Pflaster tanz ten. Vereinzelt lösten sich Federn und Flaum aus dem rabenschwar zen Gefieder. Mitten im Sprung wurde der Pelz zu einer hautengen Montur, die zugleich »hart« und geschmeidig war – ein Widerspruch in sich und dennoch möglich. Lilith hatte beide Arme ausgebreitet und grub die Hände beim Zu sammenstoß in die Genickpartien der Hybriden. Dort, wo die glatte Haut des Halses in gefiederten Rumpf überging, bekam sie beide zu fassen und trieb ihnen gedankenschnell ihre gebogenen Fingernägel ins Fleisch. Suchete/Minati kreischten noch furchtbarer auf und vermittelten dabei noch stärker den Eindruck, im Grunde ein Geschöpf zu sein, das identisch dachte und auch in der Lage war, gegebenenfalls wie
ein Körper zu handeln. »Garstig Weib!« keifte eine Stimme aus dem Wust der Leiber. »Garstig, garstig Frauenzimmer! Wir werden dir die Augen auskrat zen, das Fleisch von den Wangen schälen, die Knochen aus-!« Lilith schlug zu. Beide Frauenköpfe schlugen wie hohle Kokosschalen gegeneinan der. Das Gekreische verstummte. Für eine Sekunde. Einen Atemzug. Dann brach die Hölle los. Das Fleisch unter Liliths Händen verwandelte sich in einen ver schlingenden Schlund, der nach der Halbvampirin schnappte und die Arme bis zu den Ellenbogen in sich zog! Es war, als würde Lilith in die dampfenden Eingeweide der Krea turen tauchen. Der Ekel überstrahlte alles. Bis sie – aus einem Reflex heraus – etwas tat, was sie bei klaren Sinnen niemals getan hätte. Ihr Gesicht stieß nach unten. In den Hals von Suchete oder Minati oder …? Blut spritzte. Gelbe, eitrige Flüssigkeit quoll aus der aufgerissenen Kehle, und Lilith zuckte sofort wieder zurück, denn sie wollte nichts davon trin ken. Tod oder Wahnsinn lauerten in diesem Saft, das spürte sie in stinktiv. Es gelang ihr, den Arm aus der verendenden Kreatur zu ziehen. Er war mit einem blasenschlagenden Film überzogen und brannte höl lisch, als er wieder Luftkontakt bekam.
Lilith schlug damit in das Gesicht der anderen Hybride, wischte über die weit aufgerissenen Dämonenaugen. Flügel peitschten. Lilith wurde mehrfach getroffen. Die wuchtigen Schläge und die eiterähnliche Flüssigkeit, die in die Augen der noch unverletzten Kreatur geraten waren, bewirkten, daß Lilith sich auch aus deren Körper befreien konnte. Beide Arme zuckten wie im Säurebad durch die kühle Nachtluft. Lilith hatte Respekt vor der Flüssigkeit, deren Wirkung – außer dem brennenden Schmerz – sie nicht abschätzen konnte. Der Symbiont kam ihr zu Hilfe. Er formte Handschuhe, die sich über die gesamte Länge ihrer Arme stülpten. Er ekelte sich nicht. Aber Liliths Ekel vor ihm wuchs im selben Maße, wie sie die un sichtbaren Zungen fühlte, die über ihre Haut leckten und sie unter den »Handschuhen« von dem schwärenden Saft befreiten, als han dele es sich um die größte Delikatesse …! Der Schmerz in den Händen verging. Liliths Blick klärte sich. Vor ihr am Boden zuckte die eine Geflügelte, während die andere von Sinnen daneben kauerte. Sie hatte ihre Krallen aus dem Gefie der des Zwillings befreit und hüpfte flügelschlagend vor der immer müder und planloser werdenden Schwester auf und ab. Das Gesicht der verendenden Kreatur war mit süßer Qual maskiert und unir disch schön. Nur das Rinnsal, das gelb aus einem Winkel des ver führerischen Mundes lief, verriet, wie es um dieses Wesen, halb Mensch, halb Vogel, stand. Einen Moment fühlte Lilith sich bei diesem Anblick unsagbar
schlecht. WAS HABE ICH GETAN? Doch dann riß sie sich zusammen. Weil sie wußte, daß die beiden Hybriden Schlimmeres mit ihr vorgehabt hatten – und von diesem Ziel noch nicht abgerückt waren. Die eine zumindest nicht, deren Haß jetzt wie eine Eruption aus Erdtiefen hervorbrach! »Du zänkisches, widerwärtiges Weib!« schrie sie. »Waren wir nicht fair zu dir? Dankst du es uns so, daß wir dich nicht gleich in Stücke rissen …?« Lilith hörte gar nicht hin. Vor ihr verwandelte sich Suchetes (oder Minatis) Körper, und die se Verwandlung lenkte sie so sehr ab, daß sie erneut in Todesgefahr geriet. Der überlebende Teil dieser Zwillingskreatur fackelte nicht lange. Etwas kam über Lilith. Dunkel und warm und mit schwindelerre gendem Atem! Auch Lilith fühlte etwas in sich ausbrechen. Eine Kraft, die norma lerweise unter dem menschlichen Mantel verborgen blieb, in diesem Moment höchster Gefahr aber hemmungslos zur Oberfläche drängte und – Als Lilith wieder zu sich kam, winselte die Hybride im Würgegriff unter ihr. Lilith begriff nicht, wie lange der Verlust ihrer Wahrnehmung an gedauert hatte und was in dieser Zeitspanne im einzelnen gesche hen war. Kein Detail des Kampfes, der – das bewies der gebrochene Widerstand der Hybride – stattgefunden haben mußte, war ihr ge genwärtig. Ihr fehlte jegliche Erinnerung an die Art, wie sie auch die se zweite Kreatur besiegt hatte. Die noch lebte.
Die auf den endgültigen Todesstoß wartete und Lilith aus ergebe nen Augen anstarrte. Lilith kauerte mit den Knien auf den Flügeln; ihre Hände um schlossen den Hals, der sie diesmal nicht verschlang. »Töte mich!« bettelte die Geflügelte, daß Lilith ihren Ohren nicht traute. »Vereine uns wieder, Minati und mich, ich bitte dich!« »Dann bist du … Suchete?« »Ich bin, was ich bin! Ein Teil nur, die Hälfte! Bitte töte mich!« »Ich werde den Teufel tun!« Lilith lachte böse. Sie war entschlossen, die neue Situation scham los auszunutzen. »Oh, Grausame …!« Es war grotesk, wie Suchete die Wahrheiten verkehrte. »Erspare mir deine Falschheit!« zischte Lilith. »Falschheit? Ich vergöttere dich! Dein Köper ist Liebreiz. Ich schmachte, ihn zu kosten … warum hast du uns das angetan? Mina ti war zärtlich wie du. Wir liebten einander wie zwei Schwestern, die einst eins waren und es wieder sein müssen. Bitte!« Die wirren Reden beeindruckten Lilith nicht länger. Hinter ihr ertönten Schritte, und als sie kurz den Kopf wandte, stand Himachal Pradesh im Torbogen des Tempelgebäudes. Er wirkte immer noch verängstigt und kam nicht näher. »Du willst wirklich, daß ich dich töte?« wandte sich die Halbvam pirin an die Hybride. Eine schmale feuchte Zunge benetzte die Lippen in dem selbst in der Niederlage noch herbschönen Gesicht Suchetes. »Ich will, ich will …!« stöhnte sie. Ihre Augen flohen nach rechts, um einen Blick auf Minatis Über reste zu erhaschen.
Lilith folgte dem Blick und fröstelte bei dem Anblick, der sich ihr bot. Minatis Kadaver hatte alle Federn seines Gefieders abgeworfen und veränderte sich weiter. Auch das Gesicht hatte nichts Verführe risches mehr. Es löste sich auf. Sie hörte, wie Pradesh sich lautstark hinter ihr übergab. »Einverstanden«, hörte Lilith sich sagen. »Ich schicke dich deiner Schwester hinterher. Aber ich verlange eine Gegenleistung. Ansons ten werde ich hier über dir kauern, bis die Sonne aufgeht und wie der versinkt.« »Nein!« Der Aufschrei unterstrich, wie eilig Suchete es hatte, ihrem Zwilling nachzufolgen. »Was verlangst du? Schnell! Sag es! Ich – verzehre mich so …« »Du gehörst hierher, in diese Tempelanlage, nicht wahr?« nickte Lilith. »Wie seid ihr auf ihn –«, sie nickte zu Pradesh, »– gekommen?« Die Hybride krümmte sich wie in einem letzten Befreiungsver such, der ihre Todessehnsucht sowohl Lügen strafen als auch be kräftigen konnte. »Onan schickte mich … uns …« Onan! Ich bin Onan! erinnerte sich Lilith der Gestalt in fremder Haut, die den Befehl zu Ushas grausamem Tod gegeben hatte. »Wer ist Onan?« »Von Ninmah einst aus Lehm geformt …«, setzte Suchete theatra lisch an. Lilith unterbrach sie. Sie hatte plötzlich selbst das Gefühl, unter Zeitdruck zu stehen. Irgendein Instinkt sagte ihr, daß außer Pradesh noch ein Zeuge des Kampfes in der Nähe war. Landru?
Er und sie hatten dasselbe Ziel. Je länger sie hier gebunden war, desto größer wurde sein Vorsprung! »Etwas anderes: Ich suche einen Kelch, der – so sagte Onan – an geblich nicht hier aufbewahrt wird!« Aber irgendeinen Hinweis dar auf mußte es geben – sonst wäre Landru nicht so erpicht gewesen, hierher zu reisen! »Weißt du etwas darüber? Überlege dir die Ant wort gut, wenn du immer noch schnell sterben willst!« Das Gesicht der Hybride verzog sich zu einem Lächeln, wie man che Menschen es nach einem erfüllten Leben an der Schwelle zum Tod zustande brachten. Hier wirkte es seltsam deplaziert und befremdlich. »Du mußt zur CHRONIK«, erklärte Suchete. »In ihr findest du al les von Bedeutung. Sie verfolgt den Lauf der Welt!« Noch während sie sprach, stieg vor Liliths geistigem Auge ein Fragment ihrer Vision auf, von der sie unter der Tempeldecke heim gesucht worden war. »Redest du von einem monströsen Buch aus Blut und Menschen haut?« Suchetes Gesicht blieb seltsam starr. »Die EWIGE CHRONIK. Sie wird hier geschrieben.« »Wer schreibt sie, und welchem Zweck dient sie?« »Darüber weiß ich nichts«, seufzte Suchete. »Aber ich weiß, wo sie verschlossen gehalten wird – wo du sie findest. Ich führe dich. Aber du mußt mir versprechen, mich dort sofort zu erlösen. Ich bitte dich! Ich kann nicht länger warten! Waren wir nicht fair zu dir …? Waren wir nicht –« »Schweig!« unterbrach Lilith die Litanei. Die Hybride verstummte. Hinter ihnen fragte Pradesh: »Was faselt sie da? Du wirst ihr doch
nicht glauben wollen! Diesem entsetzlichen … Ding!« Lilith betrachtete noch einmal das geflügelte Wesen, halb Mensch, halb Vogel, und noch einmal irrte ihr Blick zu dem sich verformen den Kadaver, der jetzt aussah wie rohes Fleisch, ohne sein letztes Geheimnis preiszugeben. »Was hätten wir zu verlieren, wenn ich ihr glaubte?« Pradesh schien stumm zu erschaudern. Die Entscheidung war gefallen.
* Landru hatte das Scriptorium und die »Schreiber« ungehindert ver lassen, nachdem Baghdi ihm nicht länger glaubte, daß SIE ihn ge schickt hatten, um ihn einer »Prüfung« zu unterziehen. SIE … Wer? Wer war imstande, ein System wie dieses – ein funktionierendes System! – aufzubauen? Landru war weitgereist und reich an Erfahrungen vielfältiger Na tur. Etwas Vergleichbares war ihm dennoch nirgends auf dieser Welt begegnet. Und er fragte sich klamm, ob nicht auch dies mit dem Erwachen von Creannas Balg zusammenhängen konnte – und der damit verbundenen Prophezeiung. Tief in Gedanken gelangte er zurück ins Freie. Das Ziel seiner Suche hatte sich notwendigerweise leicht geändert. Der Vampir konnte nicht länger als sicher annehmen, hier den Lüienkelch zu finden. Aber etwas wurde hier verborgen, was ihm weiterhelfen konnte.
Er mußte nur finden, was Baghdi als EWIGE CHRONIK und ein mal als DIE BLUTBIBEL betitelt hatte. Beide Begriffe erinnerten an Phantasmagorien. Aber wenn sich auch nur ein Bruchteil davon bewahrheitete, was der Trance-Schreiber angedeutet hatte, konnte man mit dieser Schrift nicht allein das Unheiligtum der Vampire aufspüren, son dern – die Welt aus den Angeln heben! Eine wahnsinnige Vorstellung. Wahnsinnig verführerisch! Landru wollte sich gerade neu orientieren, als er Zeuge eines Kampfes wurde, der ihm geradezu aufzwang, wie er sich verhalten mußte, um die mysteriöse CHRONIK zu finden. Zugleich fand er den Beweis, daß er mit seiner Erzfeindin immer noch zu rechnen hatte. Beides kam ihm gelegen.
* Es war ein Raum im Raum, ein Tempel im Tempel, den sie unter Su chetes Führung erreichten. Das Erstaunlichste aber war: Als Lilith das turmhohe Bauwerk, das größte im Umkreis, in Begleitung Pradeshs und der Hybride be trat, war sie überzeugt, hier schon einmal gewesen zu sein – als vor gesehenes Opfer des hiesigen Kults! Hier hatte sie Ushas Leiden verfolgen müssen, und hier war sie der geheimnisvoll-grausamen Onan begegnet! Die Fremde in fremder Haut … Damals, vor drei Nächten, hatte die rund vier Meter hohe Minia
tur des Tempelturms nicht existiert, nur eine Räucherschale, die nun verschwunden war. Der flüchtige Gedanke, ob sie nicht einer gigantischen Täuschung aufsaß, verflog, ehe Lilith ihn zu greifen vermochte. Golden schimmerte der Hort, in dem laut Suchete das BUCH aus Liliths Vision zu finden sein sollte. Die Hybride wurde von Lilith im Klammergriff geführt. Beide Flü gel waren nach hinten gezwungen und wurden am oberen Scheitel punkt zusammengepreßt festgehalten. Damit nicht genug, hatte der Symbiont ein Band geformt, das eng wie eine Schlinge um den Hals des Mischwesens lag. Lilith, die keinen solchen Befehl oder Wunsch geäußert hatte, hegte den Verdacht, daß der Symbiont die Hybride heimlich auf seine Weise drangsalierte. Vielleicht war er am gelben Blutsekret Minatis »auf den Geschmack gekommen«… Suchete ließ sich zwar nichts anmerken, was darauf hingedeutet hätte. Aber sie benahm sich geradezu unnatürlich passiv. Bisher hat te sie auf Tricks verzichtet, um sich doch noch für den Tod ihres Zwillings zu rächen. Lilith traute der Ruhe nicht. »Wie öffnet man es?« fragte sie, als sie vor dem geschlossenen Ob jekt zum Stehen kamen. »Es – ist offen«, behauptete Suchete in weinerlichem Ton. Sie dreh te den Kopf fast um hundertachzig Grad nach hinten, ließ den Blick dann aber kurz zu Pradesh schweifen, und Lilith hätte geschworen, in den Augen der Hybride den Anflug allerhöchster Furcht zu lesen. »Töte mich jetzt – du hast es versprochen!« begehrte Suchete im nächsten Atemzug. »Rasch! Bitte! Es ruft nach mir …!« Lilith unterdrückte die entstehende Gänsehaut. Sie nickte Pradesh zu, es an dem sichtbaren Portal zu versuchen. Er gehorchte ohne Zögern.
Lilith nahm seine Rückbesinnung auf alte Tugenden wohlwollend zur Kenntnis. Der Schock, den ihm Minati und ihre Schwester berei tet hatten, schien allmählich abzuklingen. Er legte Hand an die beiden sichtbaren Torflügel. Als er daran zog, öffnete sich das Kunstwerk überraschend in voller Höhe. Es teilte sich, wie mit einer Klinge zerschnitten. Unter seiner Schale kam et was zum Vorschein, was Lilith den Atem raubte, weil es ihre Vision noch weit übertraf. Das BUCH, das ihren Augen preisgegeben wurde, war viel mehr als eine Schrift: Es barg die Tode unzähliger Opfer, die ihre Haut da für zu Markte getragen hatten, und die Aura, die es oben auf seinem Podest umgab, schien immer noch die gepeinigten Seelen der Gestor benen an sich zu binden! Dieses BUCH, obwohl zugeschlagen, strahlte mehr Böses aus, als ein Menschenhirn zu fassen vermochte! Als sich abzeichnete, daß Pradesh es nicht ertragen würde, krümmte der Inder sich bereits zusammen und ging zuckend in die Knie. Als Lilith, der der Einfluß weniger ausmachte, zu ihm eilen wollte, stieß er sie weg. »Laß! Kümmere dich – um das – Buch! Finde, was du – suchst. Und dann laß uns – verschwinden …!« Lilith betrachtete ihn zweifelnd. Ein Blick in seine Augen bestätig te, daß er gegen die fortschreitende geistige Zerrüttung ankämpfte. »Mach schon!« Sie brannte selbst darauf, sich das BUCH anzusehen. Aber erst als Pradesh sie erneut aufforderte, gestand sie es sich ein. Wenn es tatsächlich alles beinhaltete, was auf der Welt geschah (nur das Böse, nur das Gute – oder wahrhaftig alles?), mußte darin auch etwas über Liliths Bestimmung zu finden sein! Mehr, als Lilith am Grab ihrer Mutter erfahren hatte: der Kern, der
Sinn, das Ziel der Prophezeiung, deren Erfüllung vor 98 Jahren ihren Gang genommen hatte …! Und natürlich alles über den Lilienkelch: seinen Dieb, seinen Aufbe wahrungsort und die Mysterien, die ihn befähigten, eine Geißel wie die Vampire zu vermehren, damit sie die Erde überschwemmen konnten! Darüber hinaus: Landrus Herkunft, seine Geschichte und wie ihm beizukommen war … Lilith verkrampfte sich, als sie begriff, worüber sie da nachsann. Wenn all dies wirklich in diesen Seiten zu finden war, dann war es kein BUCH mehr, sondern … WAS? »Töte mich endlich!« Suchete zappelte in Liliths Fanggriff. Die Gedanken der Halbvampirin stürzten ab. Es kann nicht wahr sein! dachte sie. Es ist eine List, eine Falle. Ein sol ches BUCH gibt es nicht … »Töte mich!« wimmerte die Hybride. »Halte dein Versprechen! Sonst …« Liliths Gedanken überschlugen sich. Wenn sie das Buch berühren und darin blättern wollte, brauchte sie zumindest eine freie Hand, besser zwei. Aber wenn sie Suchete losließ, würde die Geflügelte sich nicht scheuen, es ihr schlecht zu lohnen …! Pradesh robbte auf Armen und Beinen Richtung Tempelausgang. Suchete winselte unentwegt: »Töte mich! Erlöse mich! Du hast es versprochen …!« Als alles um Lilith in einem Strudel zu versinken drohte, streifte sie zum zweiten Mal alle Hemmnisse ihres Menschseins ab. Viel
leicht wirkte die Aura des BUCHES mit, als die reißende Bestie aus Lilith gelockt wurde und kurzen Prozeß mit der Hybride machte. Lilith zeigte ihr anderes Gesicht – und erfüllte ihr Versprechen. Als sich die Nebel vor ihren Blicken lichteten, lag das Mischwesen, halb Mensch, halb Vogel, zunächst regungslos ein paar Schritte ent fernt. Ich habe es umgebracht, dachte Lilith und starrte auf ihre Hände, an denen eitriges Blut klebte. Zugleich setzte Suchetes Verwandlung zu dem ein, was zuvor schon aus ihrem Zwilling geworden war: ein Bündel rohes Fleisch, tot und doch von unheiligem Leben durchströmt … Pradeshs Schrei lenkte Liliths Aufmerksamkeit Richtung Tempel ausgang. Während der Inder dort mit letzter Anstrengung nach draußen zu fliehen versuchte – fort von der unseligen Ausstrahlung des BU CHES –, kam gleichzeitig von draußen etwas herein. Rohes, blutiges Fleisch auch dort. Minatis Reste! Sie krochen zeitrafferschnell auf Suchete zu … … und vereinigten sich dort vor Liliths Augen zu dem, woraus sie einmal hervorgegangen waren. Die Erkenntnis, worum es sich dabei handelte, ließ Lilith taumeln. Sie erkannte das enthäutete Bündel Fleisch in dem Moment wie der, als es aus zwei gleichen Hälften wieder zu einer Einheit ver schmolz und ein abgrundtiefer Seufzer durch die Tempelhalle weh te. Liliths Lippen öffneten sich zu einem verzerrten Ruf. Einer Mi schung aus spätem Mitleid und Fassungslosigkeit. »Usha …?«
* Ein weiterer Zwischenfall hielt Lilith davon ab, sich endlich dem BUCH zuzuwenden. Unmittelbar neben ihr zitterte die Luft. Landru wurde sichtbar. Er mußte sich schon eine Zeitlang unbemerkt unter ihnen befunden ha ben. »Hallo, Hurenkind! Zeit, sich persönlich kennenzulernen!« Lilith starrte auf den Mann, der Inbegriff eines Traumas war, das sie nicht mehr losließ, seit sie den Schrumpfkopf ihres Vaters gese hen hatte.* Landru hatte Sean Lancaster, Liliths Vater, vor 66 Jahren enthaup tet und seinen magisch konservierten Schädel seit jener Zeit aufbe wahrt! Es war nur eines von zahllosen seiner widerlichen Verbrechen. Li lith verabscheute und haßte ihn dafür mehr als jedes andere Vam pirwesen und konnte sich nicht erklären, warum sie ihm insgeheim dennoch etwas zuerkannte, das die erotische Saite in ihr zum Klin gen brachte. Sie hatte schon von ihm geträumt! Im Traum hatte sie sich von ihm nehmen lassen. Auf dieselbe Wei se, wie sie es als heimliche Zeugin seines Liebesaktes mit einer Wer wölfin unter dem entweihten Friedhof von Sydney beobachtet hatte! Lilith bewies eiserne Beherrschung, als Landru sie angrinste. Le diglich ihre Augen funkelten ihn an, als sie nickte. »Kämpfen wir es aus!« *siehe VAMPIRA 6: »Blutspur«
Er mimte Verwunderung. Dabei war nicht zu übersehen, daß auch ihm die Nähe des BUCHES zusetzte. »Aber, aber, Schönheit. Auf diesem Pflaster sollten wir, so schwer es fällt, Waffenstillstand wah ren!« Lilith traute ihren Ohren nicht. Ihr Lachen klang bitter. »Aus welchem Grund sollte ich einen Mörder schonen?« Landrus Grinsen verflachte. »Wie nachtragend …« Er folgte Liliths Blick in die geöffnete Tempelminiatur. »Sieht aus, als hätten wir bei de die falsche Fährte verfolgt. Aber noch ist nichts verloren. Die CHRONIK kann uns weiterhelfen. Nehmen wir sie uns und bringen sie fort von hier. Auf neutralem Geläuf mischen wir die Karten neu. Dort können wir immer noch auskämpfen, wem die Beute nützt …« »Du bist verrückt, Mörder, wenn du glaubst, ich würde mich auf diese Farce einlassen!« »Es wäre nur vernünftig«, wehrte Landru ab. Lilith hatte in Sydney Zeit genug gehabt, ihn ausführlich zu mus tern. Sie wußte, wie er unter der altmodischen, dunklen Kleidung aussah. Als sie ihre Ablehnung erneut bekräftigen wollte, fiel ihr ein, woran ihr Herz hing, seit sie damit konfrontiert worden war, »Ich könnte mich darauf einlassen«, hörte sie sich sagen. »Unter einer Be dingung.« In Landrus Augen flammte unverhohlener Triumph, »Welche?« »Du sagst mir, wo ich meines Vaters Kopf finde! Du sagst es mir, bevor ich dich dorthin schicke, wo alle deines Geblüts enden werden!« »Einverstanden.« Lilith musterte ihn zweifelnd. Daß er in der Lage gewesen war, sich unsichtbar zu machen, be
deutete ihr nicht viel. Sie wußte, daß er über Macht verfügte – auch ohne Taschenspielertricks. Und sie wußte immer noch nicht, ob sie das Richtige tat. Schon ihre Mutter hatte sie vor Landru als einem der gefährlichsten unter den Vampiren gewarnt. Jetzt allerdings sah er … mitgenommen aus. Verbraucht … »Du gleichst Creanna sehr«, sagte Landru fast beiläufig. Sie zuckte zusammen. Noch ein Finger in eine offene Wunde … »Verlieren wir keine unnötige Zeit«, sagte sie und hoffte, Pradesh, der nicht mehr zu sehen war, möge sich in Sicherheit bringen. Falls sie Landru unterlag, war auch er gefährdet. »Irgend etwas braut sich zusammen. Ich fühle es. Nimm das Buch vom Podest.« Er lächelte fadenscheinig, aber dann war Schluß mit lustig. »Wir nehmen es gemeinsam herunter«, schlug er vor. Lilith hob die Brauen. »Fürchtest du dich davor?« »Ich bin vorsichtig. Wahrscheinlich liegt es am Alter …« »Des Buches?« Landrus Lachen hatte dämonische Qualität. Er machte eine Geste und den ersten Schritt. Lilith folgte, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Landru war schlimmer als Suchete und Minati (Usha! Es war Usha, die Arme …!) zusammen. Sie rief sich seine Untaten in Yakshamalla und den an deren Dörfern ins Gedächtnis. Bestie! Nonas verzückte Miene drängte in ihr Bewußtsein – und damit die Erinnerung an ihren Traum. An sein gewaltiges Glied, das in sie ge drungen war. Hitze durchströmte Liliths Lustzentrum. Sie stöhnte unbewußt auf – und wäre am liebsten im Boden versunken, als sie Landrus forschende Blicke bemerkte.
Über ihnen, zum Greifen nahe, türmte sich das BUCH auf, das Su chete als EWIGE CHRONIK bezeichnet hatte. Was wußte Landru darüber? Mehr als sie selbst? Hätte er dann mit ihr kooperiert? Er und sie streckten gleichzeitig die Hände danach aus. Wir werden sterben, dachte Lilith. Wenn wir es zu berühren wagen, sterben wir – falls etwas wie Landru sterben KANN. Oder etwas wie ich! Wer bin ich? Die Frage war so alt wie ihr Erwachen. Duncan ist tot! Ein Gedanke von vielen, die wie Blitze an ihr vorbeistoben. Sie berührte das BUCH. Wie Landru. Es fühlte sich … schön an. Weich und geschmeidig, und der Duft des Leders liebkoste den Geruchssinn. (Menschenhaut) Es war leicht wie eine Feder, als sie es von seinem Podest hoben und nebeneinander – Erzfeinde – aus der Miniatur nachbildung des Tempels zurück in das gewaltige Original schrit ten. (Ushas Haut) »Nicht stehenbleiben!« fauchte Landru, als sie langsa mer wurde. »Wir müssen hier raus! Nicht einmal ich kann abschät zen, was von dem, was wir hier erleben, Wirklichkeit ist und was Il lusion. Ich hoffe nur, dieser Foliant ist echt!« (Die Haut Hunderter Unschuldiger) Lilith kniff die Lippen zusam men. Sie ahnte mehr intuitiv, was die Bestie an ihrer Seite meinte. Auch ihr war das Spiel mit den Realitäten aufgefallen, das hier be trieben wurde. Diese Manipulationen erstreckten sich unter Um ständen sogar auf das, was allgemein als »Zeit« verstanden wurde!
Vier Tage und drei Nächte war sie ohne Bewußtsein gewesen. Sie konnte es immer noch nicht glauben. Steckte Onan dahinter? Wer war Onan? Es ging längst nicht mehr um den Kelch, dem Landru seit zweiein halb Jahrhunderten nachjagte. Verschwommen formulierte sich in Liliths Hirn die Frage, was geschehen würde, wenn sie dieses BUCH von hier wegbrachten. Sie waren gerade dabei. Aber was würde geschehen? Wenn es wirklich die Niederschrift dessen war, was sich seit den frühesten Tagen der Menschheit (und der Alten Rasse!) auf diesem Planeten an Historie zutrug – welche Katastrophen konnte man im unsachgemäßen Umgang damit verschulden? Es war kein normales Buch. Es war … beseelt. Nicht mit einer Seele, sondern mit Milliarden! All die Milliarden Menschen (und Vampire!), die seit Anbeginn der Geschichte kamen und gingen – etwas von ihnen war in dieses BUCH eingegangen! Lilith spürte es. Landru spürte es. Sie war fest überzeugt, daß auch er dafür empfänglich war. WIR DÜRFEN ES NICHT STEHLEN! Plötzlich wußte sie es. Der Kult war schrecklich. Der Kult achtete menschliches Leben ge ring. Aber vielleicht … Sie erreichten das Portal und traten ins Freie. Hinaus in die Kühle eines jungen Morgens.
Und nichts mehr war, wie Lilith es kannte …
* Die Plätze und Bauten wimmelten von Pilgern und Mönchen, deren Kapuzen ihre Träger hier nicht vermummten. Mancherorts wurden Stimmen zum gemeinsamen Gebet erhoben. Aber diese Worte schmerzten nicht in Liliths Ohren, und auch Landru schien davon unberührt. Er war mit ihr stehengeblieben. Unter dem Torbogen des Tempel portals gingen sie beide in die Knie, weil das gestohlene BUCH plötzlich wußte, was Gewicht war, und sie – ihre Überraschung aus nutzend – niederzwang. Niemand draußen schien sie wahrzunehmen. Dennoch schien Landru dem Braten nicht zu trauen. »So war es schon einmal«, hörte sie ihn sagen. Als sie sich ihm zuwandte, erschrak sie. Er schien um Jahrzehnte gealtert. Ein wankender Greis stand ne ben Lilith. Und ich? Sie starrte auf ihre von Runzeln übersäten Hände herab. Eine stein alte Frau … Ich sehe aus wie ein Mensch, der tatsächlich achtundneunzig Jahre zählt …! »Was geschieht?« Ihre Stimme war ein Krächzen. Wie damals, als Marsha mit ihr gesprochen hatte … »Wir – müssen – zurück –!« Landru starrte an ihr und dem BUCH vorbei ins Innere des Tempels. Von hier draußen gesehen gab es keine Miniatur für die entwen
dete CHRONIK. Der Tempel schien wieder leer und verlassen von allem. Nicht einmal Ushas Überreste waren noch sichtbar. »Zurück?« Er nickte mühsam. Zugleich streifte sein Blick sie begehrlich. Lilith entlarvte seine Gedanken problemlos. Mein Blut. Ihn giert danach. Er erhofft sich neue Lebenskraft. Neue Ju gend … »Zurück«, bestätigte er. »Ich habe – es schon einmal – erlebt. Drin nen sind – wir wieder – okay …« Lilith glaubte ihm nicht. Sie wartete schon die ganze Zeit auf einen Bruch ihres Abkommens, von ihm ausgeführt. Nun schien der Moment gekommen. »Vertraue – mir!« Als ahnte er ihr Mißtrauen. Lilith verzog den Greisenmund. »Und die Beute?« »Nehmen wir mit! Drinnen ist – Zeit, sich etwas – Neues zu – überlegen …« Sie ließ sich darauf ein, weil allmählich der Altersschmerz einsetz te. Etwas schleichend Zermürbendes. Sie überwanden die Schwelle und zogen das BUCH hinter sich her. Zum Tragen reichte die Kraft nicht mehr. Bis … Er hat nicht gelogen! Ihre Haut war von einem Schritt zum anderen wieder glatt und makellos. Ebenso übergangslos kehrten die Kräfte zurück. Landru seufzte. Der Landru, den sie kannte. In seinen Augen lo derte ein Feuer, »Versuch es lieber nicht!« empfahl Lilith. »Falls du darauf spekulierst, mich auszusaugen, um genügend Kräfte zu spei chern, damit du mit dem Buch fliehen kannst, warne ich dich!« Das Zucken um seine Mundwinkel verriet, daß der Schuß ins
Blaue im Schwarzen geendet hatte. Dennoch wehrte er ab: »Ich halte mich an Vereinbarungen! Schon deine Mutter wußte dies!« Lilith spürte gute Lust, selbst wortbrüchig zu werden. »Wo ist der Kopf meines Vaters?« fragte sie. »Nicht hier. Ich ließ ihn in Australien zurück.« »Das soll ich glauben?« »Es steht dir frei.« Liliths Gedanken schweiften zu Himachal Pradesh, und sie fragte sich, wie es dem Inder ergangen sein mochte. Wenn man sich hier, unter dem Dach der Welt, überhaupt auf irgend etwas verlassen konnte, mußte auch er der Vergreisung anheimgefallen sein. Landrus Hände fuhren begierig über das BUCH. Entweder hatte es von seiner Bedrohlichkeit eingebüßt, oder sie hatten sich an seine Ausströmung gewöhnt. »Öffnen wir es!« Die gewohnte Beherrschtheit war aus Landrus Stimme verschwunden. Sie zögerte, zuckte dann die Achseln. »Es ist gefährlich – auch für jemanden wie dich.« Zu ihrem Erstaunen scheute er sich diesmal nicht, die damit ver bundenen Unwägbarkeiten auf sich zu nehmen. »Und wenn! Viel leicht sind wir hier gefangen, bis …« Er schlug den Deckel zurück. Lilith sog scharf den Atem ein. Blutige Schatten geisterten sekun denlang vor ihren Augen. Dann stabilisierte sich der Blick auf die erste Seite. Landru schien weniger Glück zu haben. Seine Pupillen quollen aus den Augenhöhlen. Die Stimme wurde zum Wimmern eines Idioten. Mit letzter Kraft schloß er den Deckel wieder und wich to tenbleich zurück.
»Du hattest … recht …!« Zumindest was dich betrifft, dachte Lilith, von tiefer Befriedigung er füllt. Es war das erste Mal, daß sie sich ihrem Feind überlegen fühl te. Sie genoß es. »Konntest du etwas erkennen?« keuchte er, immer noch benom men. »Nein«, log sie. »Versuch du es!« »Niemals!« »Dein Leben steht darin – vielleicht dein Schicksal!« »Ich will es nicht wissen.« »Du lügst!« Und wenn schon. Lilith fühlte sich von einer Kraft durchflossen, die sie noch nicht gekannt hatte. Eine Kraft, die nichts mit diesem BUCH zu tun hatte und deren Quell in ihr steckte! »Wir bringen die Schrift zurück«, entschied sie, ohne auf Landrus Vorwurf einzugehen. »Vielleicht kommen wir dann davon. Viel leicht läßt man uns dann davonkommen!« Er blickte sie an, als hätte sie ins Auge des Wahnsinns gestarrt – nicht er. Das Lachen, das sich aus seiner tausendjährigen Kehle lös te, war erst verhalten, schwoll aber rasch zu bedrohlicher Stärke an. Als er abrupt wieder verstummte, öffnete sich sein fischkalter Mund, und er fauchte: »Dazu sage ich: Niemals!« Er stellte sich mit verschränkten Armen vor den Folianten, als müßte er ihn gegen Lilith verteidigen. »Niemals!« wiederholte er klirrend. Sein Selbstvertrauen schien zurückzukehren, und mit ihm die Un versöhnlichkeit, die ihn immer gekennzeichnet hatte. Immer?
Er kannte meine Mutter. WIE GUT kannte er sie? In diesem Augenblick geschah etwas, das sie beide überraschte. Eine Gestalt stürzte zur Tempeltür herein. Kein Greis, sondern ein kraftstrotzender Mann. Himachal Pradesh! In seiner Faust wirbelte eine brennende Fackel, und ehe jemand begriff, was er damit vorhatte, stieß er Landru zur Seite und hielt die Flamme gegen das unheilige Buch aus toter Haut und kaltem Blut! Es fing sofort Feuer. Chaos brach aus. Gefangene Seelen schrien im Angesicht der Befreiung – oder der endgültigen Vernichtung. Das BUCH loderte auf wie trockener Zunder. In den Flammen er schienen Szenen blutiger Kriege, grausamer Kämpfe und unbarm herziger Eroberungszüge. Streiflichtartig blitzte auf und verpuffte das Wissen der Welt! Vorbei! Etwas Unersetzliches verging … Wie betäubt starrte Lilith auf das Feuer, während Landru sein Wams auszog und einen letzten verzweifelten Versuch unternahm, die aus dem BUCH züngelnden Flammen zu ersticken. Vergebens. Sonnenhitze schleuderte ihn zurück, so daß auch er nur noch da stehen konnte und Zeuge wurde, wie sich die einzelnen Seiten wie Knospen aufbäumten und wölbten, um ein letztes Mal vor dem Un tergang zu erblühen, weitere Geschichtsszenen zu gebären … Zugleich formte sich aus dem Nichts ein Sturm solcher Stärke, daß
die Miniatur, der Aufbewahrungsort der CHRONIK, zermalmt wur de, die Buchasche in alle Winde zerstreute – und die Gestalten, die all dies bewirkt oder verschuldet hatten, mit dem Tosen hinaus aus den Tempelhallen gewirbelt wurden! Als Spielbälle unbezwingbarer Gewalten …
* Abseits der eingestürzten Tempelbauten kam Lilith zu sich. Sie lag auf dem Pflaster. Alle Knochen schmerzten ihr im Leib. Die Höfe zwischen den Ruinen waren menschenleer. Kein Mönch oder Pilger hielt sich dort auf. Alles wirkte wie seit einer Ewigkeit zerstört. Lilith richtete sich auf. Nur der Symbiont war ihr geblieben. Er umschmeichelte ihre Haut. Landru und Pradesh waren nirgends zu sehen. Lilith suchte das Gelände ab, obwohl sie dadurch Gefahr lief, ih rem Erzfeind zu begegnen und zu allem sonstigen Übel auch noch gegen ihn antreten zu müssen. Eine zweite Waffenruhe zwischen ih nen, das wußte Lilith, würde es nicht geben. Betroffen lief sie zwischen den einstigen Prachtbauten hindurch, die nun dem Boden gleichgemacht waren. Kaum ein Stein lag noch auf dem anderen. Von Pradesh und Landru fand sie keine Spur. Wenn sie unter den Trümmern begraben lagen, gab es zumindest für den Inder kaum eine Chance, die Katastrophe, die er durch seine Fackel ausgelöst hatte, überlebt zu haben. Nachdem sieh diese Erkenntnis in ihr durchgesetzt hatte, gab Li lith die Suche auf. Sie verließ das Gebiet des Tempels und stieg zu
Fuß hinab zu den Dörfern, die sie dort unten wußte. Sie verzichtete bewußt auf magische Kniffe und nutzte die Stunden des Abstiegs, um mit sich selbst ins reine zu kommen. Es war schwer. Nach Duncan hatte sie nun auch Himachal Pradesh verloren. Sie hatte weder eine Spur des Lilienkelchs gefunden, um ihn – falls er dies nicht längst war – für immer vernichten zu können, noch glaubte sie an eine »Endlösung«, was Landru anging. Unkraut wie er verging nicht so leicht. Oder wie ich, dachte sie. Sie begriff immer noch nicht, daß sie in der Lage gewesen war, die Schrift der CHRONIK, die in den Tempeln seit unfaßbarer Zeit ge pflegt worden war, zu lesen, auch wenn sie keine Gelegenheit mehr gefunden hatte, sich darin zu vertiefen … Aber Landru hatte es nicht vermocht. Für ihn hatte es keinen Zu gang gegeben. Zufall? Lilith hatte aufgehört, an Zufälle zu glauben. Als sie Yakshamalla erreichte, war sie dennoch mehr erleichtert denn frustriert. Sie hatte überlebt, immerhin. Und auch wenn Landru noch irgend wo sein untotes Leben pflegen sollte, herrschte zwischen ihnen – zu mindest bis zur nächsten Begegnung – eine Patt-Situation. Das war akzeptabel. Vorläufig. Lilith suchte Bahadurs Haus auf, wo auch Rani und seine Familie jetzt lebten. Der Ort wirkte unverändert, als sie ihn betrat. In der Mitte des Dorfes war ein neuer, sehr schlichter Scheiterhaufen auf getürmt. Wieder schien jemand gestorben zu sein.
Die Menschen, denen Lilith begegnete, wichen ihr aus. Sie hatten Furcht vor allem, was sie nicht kannten. Lilith hätte ihnen am liebs ten zugerufen, daß sie sich vor einem jedenfalls nicht mehr zu fürch ten brauchten: vor dem Kult. Aber dies zu verbreiten, wollte sie dem Boten des Dorfes überlas sen. Rani. Der Junge war allein zu Hause. Seiner Reaktion zufolge hatte er nicht erwartet, sie wiederzusehen. Lilith wollte sich einen Tag in Yakshamalla ausruhen. Sie mußte sich regenerieren, um die Rückkehr nach Surkhet auf dieselbe Weise bewältigen zu können, wie sie hergekommen war: als Fledermaus. »Wer ist gestorben?« fragte Lilith. »Ein Fremder«, sagte Rani. »Manche glauben, es sei der Mörder, der in den Dörfern sein Unwesen trieb.« »Wann habt ihr ihn gefunden?« fragte sie. »Am selben Tag, als du weggingst.« Lilith verlangte, daß er sie zu dem Toten führte. Ihre Neugier war geweckt. Die Leiche, die auf ihre Einäscherung wartete, war mit einem alten Tuch bedeckt, das für sonst nichts mehr nütze gewesen war. Da man den Toten für einen Mörder hielt, konnte man auch nichts anderes erwarten. Als Lilith – von der Dorfbevölkerung mißtrauisch beäugt – das Tuch hob, erwartete sie ein Schock. Sie kannte den Toten. Es war Himachal Pradesh! Er war nackt bis auf seinen Kali-Anhänger, von dem er oben im Tempel behauptet hatte, ihn verloren zu haben.
»Bist du sicher«, wandte sie sich tonlos an Rani, »daß ihr ihn am selben Tag fandet, als ich weiterreiste?« Der Junge nickte. Sie hatte keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Lilith stieg betroffen von dem Scheiterhaufen herab. Die ganze Zeit, die sie sich noch in Yakshamalla aufhielt, nagte die Frage in ihr, wer, wenn nicht Pradesh, oben im Tempel das BUCH vernichtet hatte – und wen sie dort vor den Hybriden beschützt hat te … Wen, wenn der Inder zu diesem Zeitpunkt längst tot gewesen und hier auf seine Verbrennung gewartet hatte …?
* Onan wartete ab, bis Landru sich aus den Trümmern des eingestürz ten Tempels befreit hatte, einen Tag, nachdem Lilith diesen Ort ver lassen hatte. Sie würden sich nicht mehr begegnen. Nicht hier. Als Landru eingesehen hatte, daß hier nichts mehr zu gewinnen war, kehrte auch er den Ruinen den Rücken. Onan war zufrieden. Sie kehrte zu ihrem Schrein zurück und löste die Trugbilder auf. Die Tempel entstanden in alter Pracht. Die Schreiber, die nie aufgehört hatten zu schreiben, fügten sich in ihr Los. Die wahre CHRONIK lagerte sicher an sicherem Ort. Niemand von denen, die hiergewesen waren und hier nicht ster
ben durften, würde sie hier noch vermuten. Alles war gut. Onan richtete noch die Uhren in den Herzen der Schreiber, dann stieg sie zurück in die Tiefe ihres Schreins. Eine von Ninmahs sieben Töchtern, einst aus Lehm geformt … SCHLAFEN, seufzte Onan. ENDLICH WIEDER SCHLAFEN. Und die Vergangenheit verschlang sie.
* Einige Tage später … Rani näherte sich dem Nachbardorf mit zwiespältigen Gefühlen. Als er Birethanti zuletzt besucht hatte, war dies unter einem bösen Stern geschehen. Der dortige Todesbote, Swani, war – wie andere vor ihm – einem unbekannten Mörder zum Opfer gefallen. Und jetzt hatte sich wie ein Lauffeuer das Gerücht verbreitet, ein neuer Bote, der nicht aus Birethanti stamme, sei in Swanis Hütte eingezogen … Dies widersprach dem, was Lilith ihm berichtet hatte: Es gäbe keinen Kult mehr … Rani war sofort herbeigeeilt, um sich zu überzeugen, was wahr sei. Yakshamalla und den Nachbarort trennten etwa zwei Meilen un wegsamer Bergpfade. Der Junge schaffte die Strecke schneller als je zuvor. Er hatte sich nie wirklich vorstellen können, daß das Scher bengericht aufhörte. Es würde ewig bestehen. Was wußte schon eine Fremde darüber? Swani hatte keine Nachkommen hinterlassen. Also hatten SIE ihre
Wahl getroffen. Daß keiner aus ihrer eigenen Mitte genommen wor den war, mußte die Bewohner von Birethanti vor den Kopf stoßen. Swani war zeitlebens ein Außenseiter unter ihnen gewesen. Kam nun der nächste Sonderling? Obwohl Rani es sich nicht eingestand, wünschte er es fast. Er war selbst ein Eigenbrötler. Die Freunde seiner Kindheit hatten ihn ver lassen. Seit Bahadur ihn und seine Familie aufgenommen hatte, war es etwas besser geworden. Der Nepali gab sich Mühe, Rani und sei nen Geschwistern den Vater und seiner Mutter den Ehemann zu er setzen. Aber man konnte sich nie ganz des Eindrucks erwehren, daß Bahadur dies nicht ganz freiwillig tat … Rani kannte den Weg zur Hütte, die Swani gehört hatte. Schon von weitem sah er eine neugierige Menge, die sich – aller dings in respektvollem Abstand – davor eingefunden hatte. Gerade als Rani eintraf, trat eine hohe, weißhaarige Gestalt unbe stimmbaren Alters aus der Tür unter die vorgezogene Überdachung. Der Fremde blinzelte in die Sonne. Er sah ein bißchen schläfrig aus. Seine Haut war bleich, wie bei je mandem, der die Sonne selten zu Gesicht bekam. Das war ungewöhnlich für hiesige Verhältnisse. Der Mann schien schon eine Weile gesprochen zu haben. Als seine Stimme nun abermals ertönte, zuckten alle, auch Rani, zusammen. »Habt ihr Fragen an mich?« Blicke senkten sich. »Wie ist dein Name?« rief Rani ihm über die Köpfe der anderen hinweg zu. Augen, in denen mehr Erfahrung steckte als in allen, die Rani je geschaut hatte, suchten nach ihm. Eine Weile ruhte der Blick des Fremden auf dem Jungen, als könnte auch er sich vorstellen, daß sie
einander noch mehr zu sagen hätten. Schließlich öffnete der neue Todesbote von Birethanti den Mund und rief: »Kunaar Dass Thoker! Aber nennt mich einfach Kumar!« Danach drehte er sich um und kehrte in seine Hütte zurück. Rani wartete kurz. Dann folgte er ihm. ENDE
Diener des Bösen von Adrian Doyle Lilith kehrt nach Sydney zurück – und hier schließt sich der erste Kreis. Sie wird erwartet, nicht nur von Beth. Die Reporterin beherr bergt einen Gast, dem die geheimnisvollste Rolle im Spiel um Leben, Tod und Erlösung zukommt: Jeff Warner. Was ist im Garten der Dämmerung mit dem ehemaligen Police Detective geschehen? In wessen Auftrag handelt er? Und noch je mand geht in Sydney um. Ein Mann, an dem Lilith kurz nach ihrem Erwachen ihren Durst stillte. Leroy Harps ist – auch durch Liliths Schuld – zur reißenden Bestie geworden, zu einer Dienerkreatur ohne Herrn. Und zu einer tödli chen Gefahr …