Bart Somers
Welten am Abgrund
SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
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Bart Somers
Welten am Abgrund
SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Ullstein Buch Nr. 2893 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Beyond the Black Enigma«
Übersetzung von Heinz F. Kliem Erstmals in deutscher Sprache Umschlagillustration: Morrow/Ace Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1965 Paperback Library, Inc. Übersetzung © 1972 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1972 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 02893 4
Ein dunkler Fleck im Weltall, der sich immer mehr ausdehnt, der eine Gefahr für die besiedelte Galaxis wird. Expeditionen, die ausgeschickt werden, verschwinden wie durch ein Loch im Nichts. Ein Auftrag für Commander Craig! Mit einem Spezialschiff stößt er ins Unbekannte vor und findet ein Planetensystem, das innerhalb der es umgebenden Hülle nach eigenen Gesetzen existiert, Gesetze, die von einem Gott aufgestellt wurden, der das Volk verstoßen hat, das ihn einst zu seinem Gott machte, der sich willfährige Werkzeuge schuf, um seine Existenz zu schützen. Ein Gott, der ein Computer war…
1
Enigma war fünf Lichtjahre entfernt. Es hing dunkel und drohend im Weltraum und füllte den Bildschirm völlig aus. Kein Mensch wußte, was Enigma war – nur daß es existierte und zwei Weltraumflotten verschlungen hatte, die versucht hatten, das Rätsel zu lösen. Ein einzelner Mann sollte jetzt das Wunder vollbringen, wo zehntausend Männer gescheitert waren. Diese Aufgabe behagte Commander John Craig ganz und gar nicht. Allerdings ließ er sich davon nichts anmerken. Ein Mann gegen das Unbekannte. Ein Mann in einem Raumschiff von fünftausend Tonnen Gewicht, ausgestattet nach den modernsten Erkenntnissen der Menschheit und mit Waffen von unvorstellbarer Zerstörungskraft. Diese Waffen waren jederzeit einsatzbereit und warteten nur auf einen Fingerdruck. Commander John Craig hatte das unbestimmte Gefühl, daß diese Waffen ihm bei seinem augenblicklichen Auftrag nur wenig helfen würden. Wenn das dunkle Enigma zwanzig schwere Kreuzer der Weltraumflotte verschluckt hatte, dann konnte kaum ein Zweifel daran aufkommen, daß es auch mit ihm fertig werden würde. Noch vor zwei Wochen hatte er auf dem Planeten Revere geweilt, dem Planeten, der die Erfüllung der geheimsten Träume bedeutete… Die Musik kam aus einer Höhe von über dreißig Metern über der Tanzfläche herab, und die Frau in seinen Armen schmiegte sich bei den aufreizenden Klängen eng an ihn.
Elva Marlowe trug ein enges weißes Kleid mit Goldlamebesätzen, einem gewagten Ausschnitt und Schlitzen an der Seite. In diesem fünfundsiebzigsten Jahrhundert war die Musik zur technischen Perfektion entwickelt worden. Jeder elektronische Impuls jagte dem Zuhörer einen Schauer über den Rücken. Sie schwebten auf einer kleinen Fläche, die sich etwa fünfzehn Meter über dem Boden befand und auf der auch ihr Tisch stand. Sie bewegten sich im Rhythmus der Sphärenklänge. Zwischen ihnen herrschte eine Harmonie, die kaum noch zu übertreffen war. Commander John Craig war erst vor sechs Stunden nach einem erfolgreich durchgeführten Auftrag in der Dschungelwelt von Lyrosia im interstellaren Raumhafen gelandet. Krieg war eine verteufelt unangenehme Sache auf einem Planeten wie Lyrosia, mit seinen unberechenbaren Ungeheuern. Diese Ungeheuer kämpften mit einer Verschlagenheit, die fast einem Vergleich mit menschlicher Intelligenz standhielt. Erst nach vier Monaten harten Einsatzes in jener Welt hatten die Tests im Labor ergeben, daß Euxenit-Kristalle die telepathischen Wellen unwirksam machten. Als die Musik verklang, kehrten sie an ihren Tisch zurück. Eine Kellnerin tauchte auf einer runden Plattform auf, die magnetisch an ihrem Tisch einklinkte. Sie brachte die bestellten Speisen und schwebte auf der Plattform davon. Die verschiedenen Ebenen des hohen Raumes boten ausreichend Platz für über zehntausend Gäste. Ein einziger Knopfdruck genügte, um eine undurchsichtige Glaswand zu errichten, sofern man Wert auf ein ungestörtes Beisammensein legte. Elva Marlowe trug ein blütenweißes Kleid, und ihr blondes Haar paßte genau zu den Besätzen aus Goldlame. Das Kleid
brachte ihre attraktive Figur voll zur Geltung. Da sie sich nur selten dem Sonnenlicht aussetzte, hatte sie einen hellen, cremefarbenen Teint. Sie hatte klare, blaue Augen und einen vollen Mund. »Ein schöner weißer Strand und das blaue Meer«, sagte sie, »das ist genau das, was du brauchst, John. Ich bin zur Zeit sehr stark mit neuen Modeentwürfen beschäftigt, so daß du dich den ganzen Tag über amüsieren kannst, ehe wir uns abends treffen. Du kannst ja mit dem Boot hinausfahren, das du mit der Villa gemietet hast.« »Einen Monat am Strand«, sagte er lächelnd. »Hört sich sehr verlockend an.« Sie nickte ihm lächelnd zu. In diesem Augenblick sah sie den Helm des Kuriers der Raumflotte. Die Kellnerin kam mit ihm auf ihrer Plattform an den Tisch geschwebt. Elvas Blick veranlaßte John Craig, sich umzudrehen. Sie sah, wie er leicht zusammenzuckte. »So schlimm kann es doch nicht sein«, sagte sie. »Das Hauptquartier schickt einen Kurier, wenn es wirklich ernst ist.« Er runzelte die Stirn, als er den roten Briefumschlag in der Hand des Kuriers sah. Er schlitzte ihn mit dem Messer auf und zog einen weißen Bogen hervor. John! Steig sofort in einen Flugwagen, mein Junge. Ein neuer Auftrag erwartet dich. Übermittle meine besten Grüße und auch mein Bedauern an Elva. Dan Commander Dan Ingalls war ein guter Freund von John Craig. Noch vor einer knappen Stunde hatte Craig ihn gesprochen, ehe er Elva zum Abendessen abholte. Warum, um alles in der
Welt, hatte Ingalls zu diesem Zeitpunkt nichts von dem neuen Auftrag erwähnt? »Soll ich auf Antwort warten?« fragte der Kurier. Er sonnte sich im Bewußtsein, daß alle Blicke im Raum auf ihn gerichtet waren. Es kam nur selten vor, daß die Raumflotte einen Kurier in die Öffentlichkeit schickte. »Wie lauten Ihre Anweisungen?« fragte Craig. »Commander Ingalls sagte, ich solle Sie zu ihm bringen, Sir.« »Zu ihm bringen? Na, hören Sie mal, so eilig kann das doch wirklich nicht sein.« »Mir macht es nichts aus, John«, warf Elva ein. »Aber mir! Ich bin kaum von einem Einsatz zurück und habe mir weiß Gott eine Ruhepause verdient.« Craig stand auf. Die weiße Uniform spannte sich über seinen ausladenden Schultern. Er war ein großer, kräftig gebauter Mann mit blondem Haar und einem harten Kinn. Gelegentlich verglich Elva ihn mit den Gladiatoren antiker Zeiten. Die Kellnerin brachte sie auf der runden Plattform nach unten. Elva versicherte Craig noch einmal, daß es ihr nichts ausmachte und daß er sich auch keine Gedanken machen sollte. Craig zuckte die Achseln. Wenn es Elva nichts ausmachte… Auf der Straße winkte er einen Flugwagen herunter. Die kurzen Tragflächenstummel warfen einen Schatten über ihre Gesichter, als der Wagen unmittelbar vor ihnen aufsetzte. Commander Craig küßte Elva Marlowe flüchtig auf die Wange, ehe er ihr auf die Sitzpolster half. Dann blieb er einen Augenblick stehen und blickte dem Flugwagen nach, der sich in den Verkehr einreihte. Das zweisitzige Flugzeug des Kuriers, das schwach an ein Motorrad erinnerte, stand am Straßenrand geparkt. Craig
schwang sich auf den Sozius und schob die Füße in die Halteklammern. Der Kurier ließ den Atommotor an. Das kleine Gefährt stieg so schnell auf, daß es Craig den Atem verschlug. Es war schon lange her, seit er mit einem solchen Fahrzeug geflogen war, und der steile Anstieg drehte ihm förmlich den Magen um. Das Hauptquartier der Raumflotte war ein riesiges Gebäude am Platz der Planeten. Selbst zu dieser verhältnismäßig späten Stunde waren fast alle Fenster hell erleuchtet. Einer alten Redensart zufolge kamen die Männer der Raumflotte erst mit dem Tod zur Ruhe – und Commander Craig glaubte langsam auch daran. Der Kurier gab die erforderlichen Lichtsignale und schwebte auf die Landebahn zu. Das Luftfahrzeug wurde von magnetischen Greifern gepackt und festgehalten. Die Korridore waren in gleißendes Licht getaucht. Craigs Schritte hallten von den Wänden wider. Commander Ingalls’ Büro lag im zehnten Stock. Als Craig den Lift verließ, erblickte er eine Reihe von Männern und Frauen in den weißen Uniformen der Raumflotte. Alle schienen es eilig zu haben. Craig trat ein ohne anzuklopfen. Ein Mädchen mit Goldstreifen an den Ärmeln blickte auf und setzte zu einem Protest an. Als sie den Commander erkannte, wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Commander Ingalls war zehn Jahre älter als John Craig. Sein Haar war an den Schläfen ergraut, und es zeigte sich auch der erste Ansatz eines Bauches bei ihm – aber sein Blick war klar und durchdringend. Ohne sich bei Craigs Eintritt umzublicken, drückte er auf einen Knopf. Das Licht im Raum wurde angenehm dunkel. In der dunkelblauen Plastikwand flammten Lichter auf, die Sternkonstellationen darstellten. Es sah aus, als befände sich
das gesamte Weltall auf dieser Fläche zwischen Fußboden und Decke. »Das Enigma, John.« Commander Craig betrachtete den dunklen Punkt auf halber Höhe der Wand. Das Ding hatte keinerlei Form und sah wie ein Tintenfleck aus. Irgendwie erinnerte es ihn an eine in ihrem Netz auf Beute lauernde Spinne. Craig wußte kaum etwas über das Enigma. Es war vor Tausenden von Jahren entdeckt worden und wartete seitdem auf die Besitzergreifung durch die Menschen. Es hatte jedoch Jahrhunderte gedauert, bis die Menschheit sich mit der erforderlichen Geschwindigkeit über die weiten Strecken des Universums bewegen konnten. Und nun standen die Menschen an der Schwelle zum Enigma und versuchten das Rätsel zu ergründen. Doch das Enigma setzte sich gegen ihr Eindringen zur Wehr. Es bewahrte sein Geheimnis auf jede erdenkliche Weise. »Wir haben zwei Flotten zum Enigma geschickt«, sagte Ingalls. »Sobald sie in die Schwärze eintauchten, brach die Verständigung ab – ganz unvermittelt.« Er drehte sich mit seinem Sessel herum und schob eine Tombarette in die Spitze. Er zündete sie mit einem protonischen Feuerzeug an und atmete den aromatisch duftenden Rauch ein. Es war ihm anzusehen, wie schwer die Verantwortung auf seinen Schultern lastete. »Zwanzig Raumschiffe, zehntausend Mann – ganz einfach spurlos verschwunden!« Er schnippte mit den Fingern. »Keinerlei Anhaltspunkte?« »Nicht einen einzigen. Sobald sie eingetaucht waren, blieben sie verschwunden.« Craig runzelte die Stirn. »Hast du dir schon eine Theorie darüber gebildet?«
»Theorien? O ja, eine ganze Menge. Carrington von der technischen Abteilung meint, es wäre eine Extrusion aus 4 dem negativen Universum. Sobald Materie unseres Universums damit in Berührung kommt, löst sie sich vollständig auf, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Mayer vom Labor glaubt, es wäre ein Loch im Weltall, das zu einer anderen Dimension führt. Schwartz hält es für eine unbekannte Vibration, ein rhythmisches Pulsieren, das zur völligen Auflösung aller uns bekannten Materie führt.« »Vibrationen sind also mit Sicherheit festgestellt worden?« »Unsere Raumschiffe mit Labors an Bord konnten dicht genug herankommen, um sich davon zu überzeugen. Die Vibrationen sind von hoher Frequenz. Allerdings sind sie nicht gefährlich – zumindest nicht am äußeren Umkreis.« Ingalls nahm einen dünnen Aktenband vom Schreibtisch und schlug ihn auf. »Dies sind die Berichte der Techniker. Du kannst sie haben und durchlesen.« »Das heißt also, daß ich mich auf den Weg zum Enigma mache?« brummte Craig. Die durchdringenden Augen unter den buschigen Brauen sahen ihn an. »Du wirst dich freiwillig für diese Aufgabe melden, Commander. Von diesem Augenblick an stehst du ausschließlich unter meinem Kommando. Natürlich mit allen damit verbundenen Privilegien.« Ein kalter Schauer strich über Craigs Rücken. Er hatte bereits eine ganze Reihe derartiger Aufgaben hinter sich. Bis zu diesem Augenblick hatte er jedoch stets gewußt, wogegen er anzukämpfen hatte. Diesmal handelte es sich um ein Unternehmen ins Unbekannte. Das Enigma konnte alles Erdenkliche sein, von einer Vibration bis zu einem Ungeheuer im Weltall. Er nagte nachdenklich an seiner Unterlippe.
Ingalls ließ ihn nicht aus den Augen. »Du kannst natürlich ablehnen«, sagte er leise. Als Craig zu einem Protest ansetzte, brachte er ihn mit einer kurzen Handbewegung zum Schweigen. »Ich weiß, ich weiß. Du bist gerade von einem Einsatz zurückgekehrt. Es ist viel zu früh, dir eine neue Aufgabe zuzuweisen. Du hast dir eine Ruhepause verdient. Ich will dir sagen, warum ich es für richtig halte, dir diesen Auftrag jetzt zu erteilen, John. Nach deinem Einsatz auf Lyrosia bist du noch immer topfit, und deine Reflexe sind besser, als sie je sein könnten. Das weiß ich von dem Arzt, der dich unmittelbar nach deiner Rückkehr untersucht hat. Ich wollte, als du vor ein paar Stunden hier warst, nichts davon erwähnen, weil ich den Bericht des Arztes abwarten mußte. Ich habe mir seine Analyse inzwischen angesehen. Daraus geht einwandfrei hervor, daß du dich zur Zeit in Hochform befindest.« Craig brummte vor sich hin. Es war sehr nett, zu erfahren, daß bei ihm alles in Ordnung war. Er hätte die in ihm aufgestauten Energien lieber anders verwendet als zu einem neuen, harten Einsatz – etwa am Strand oder in irgendeinem Luxushotel mit einer Frau wie Elva Marlowe. »Na schön, du hast mir deinen Standpunkt erklärt. Nun sag mir noch, warum die Eile notwendig ist.« »Das Enigma wächst«, erwiderte Ingalls mit tonloser Stimme. Craig beugte sich auf seinem Sessel vor. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen. Es bedurfte keiner gelehrten Abhandlung, um zu begreifen, was es bedeutete, wenn diese geheimnisvolle Dunkelheit sich weiter ausbreitete. Zunächst würde sie die nächsten Sterne der Umgebung verschlingen. Dann würde sie sich weiter und weiter ausbreiten, bis schließlich das gesamte Universum in ihr
verschwand. Das würde zweifellos das Ende der Menschheit bedeuten. »Ich melde mich freiwillig zu der Aufgabe«, erklärte er. Ingalls’ Züge hellten sich auf. »Ausgezeichnet! Dann also los, denn wir sind inzwischen nicht untätig gewesen. Die Konstruktionsabteilung hat ein Raumschiff ausgerüstet, das alle bisherigen weit in den Schatten stellt. Die Außenwandung ist aus Densatron – ja, du kannst ruhig pfeifen. Eine Vierteltonne von dem Metall kostet tausend Credits, und das Gewicht des Raumschiffes beträgt fünftausend Tonnen. Die leitenden Männer der technischen Abteilung haben mir versichert, daß es allen Anforderungen gewachsen ist. Sie haben es mit einem völlig neuen Generator ausgestattet. Die von ihm erzeugten Schwingungen haben bei einem Versuch die Vibrationen des Enigma neutralisiert. Die Techniker haben mir weiterhin versichert, daß das Enigma diesem Raumschiff nichts anhaben kann.« Dan Ingalls zerdrückte seine Tobarette im Aschbecher und setzte die Spülanlage in Betrieb. »Da diese Vibrationen die Außenwandung des Raumschiffes nicht durchdringen können, werden sie auch keinen Schaden anrichten. Im Inneren des Enigma könnten allerdings andere Strahlen und Schwingungen existieren. Wir haben keine Möglichkeit, das festzustellen.« Ingalls redete weiter. Craig lehnte sich in seinem Sessel zurück und prägte sich alles genau ein. Bezüglich der Nachrichtenübermittlung konnte das Raumschiff auf einer Spezialfrequenz senden. Ferner war ein Dauerton eingerichtet worden, der automatisch eingeschaltet blieb und keiner besonderen Bedienung bedurfte. Schließlich waren noch eine Reihe von Densatron-Transporttorpedos eingebaut worden, so daß all seine Entdeckungen im Enigma aufgezeichnet und zur
Erde übermittelt werden konnten. Diese Torpedos sollten erst im Inneren des Enigmas eingesetzt werden. »Auch die Waffentechniker haben sich etwas einfallen lassen.« Ingalls drückte auf einen Knopf an seinem Schreibtisch. Die Tür wurde geöffnet, und ein großer, hagerer Mann trat mit einem Behälter in der Hand ein. Nach seiner Haltung zu schließen, war der Behälter ziemlich schwer. Als er ihn absetzte, klirrte es metallisch. »Commander, dies ist Edmunds, der Chef unserer Waffenentwicklungstruppe. Edmunds hat sich wirklich etwas Neues einfallen lassen. Na, denn mal los, Eddy. Führen Sie ihm die Sachen mal vor.« Ingalls lehnte sich zurück und sah zu, wie der Mann in den Behälter griff. Er zog einen Metallstab hervor, der im Licht glitzerte. »Wir nennen dieses Ding den dienstbaren Geist«, sagte Edmunds. Er zog eine flache Metallscheibe aus dem Sack und ließ sie am Ende des Stabes magnetisch in die Fugen einrasten. Dann richtete er den Blick auf Craig. »Dieses Ding führt zu einer Implosion, Commander.« Er hob den Stab und berührte die Metallscheibe. Die Spitze des Stabs war in rötliches Licht getaucht. »Wenn diese Waffe auf einen Menschen gerichtet wird, schrumpft er auf der Stelle in sich zusammen und verschwindet ohne die geringste Spur. Die Wirkungsweise beruht auf der Auflösung der Atome.« Ingalls beugte sich vor und warf ein Buch auf den Teppich. »Probieren Sie es mal aus, Eddy.« Als der rötliche Lichtstrahl von der Spitze des Metallstabs das Buch traf, löste es sich auf. Commander John Craig begann zu schwitzen.
Edmunds lächelte. Er legte den Metallstab mit der Scheibe weg und zog eine kleine schwarze Schatulle aus dem Behälter. Auf dem Deckel befand sich ein roter Knopf. »Nehmen Sie mal an, Sie wären von fremdartigen Wesen umzingelt, Commander Craig. Sie haben keine Waffe – außer dieser schwarzen Schatulle. In diesem Fall drücken Sie einfach auf den roten Knopf.« Edmund drückte auf den roten Knopf. Die Luft um ihn herum begann zu flimmern, als würde er mitten in einer großen Glasröhre stecken. Seine Lippen bewegten sich, aber Craig konnte keinen Ton hören. Commander Ingalls trat hinter dem Schreibtisch hervor und hob den Metallstab mit der Scheibe auf. »Paß auf, John.« Er berührte die Scheibe. Der rötliche Lichtstrahl fiel gegen die schimmernde Luftschicht, die Edmunds einhüllte, und hörte dort auf. Der Lichtstrahl war wie mit einem scharfen Messer abgeschnitten. »Ein Kraftfeld?« fragte Craig. »Einerseits ja, andererseits nein. Unseres Wissens wird die Zeit damit blockiert. Der Lichtstrahl verschwindet irgendwo in der Zukunft – wir wissen allerdings noch nicht, wie weit. Möglicherweise existiert der Lichtstrahl nicht länger.« Craig schnitt eine Grimasse. »Wenn vielleicht in zehn Jahren jemand diese Stelle berührt, wo Edmunds jetzt steht, könnte es zu einer unvorstellbaren Implosion kommen. Eine verteufelte Sache – « »Theoretisch hört die Existenz des Lichtstrahls auf, sobald er diese Blockierung der Zeit trifft. Die angestellten Tests haben kein anderes Resultat ergeben.« Edmunds drückte auf den Boden der schwarzen Schatulle. Dann drehte er sie um und deutete auf einen blauen Knopf am Boden der Schatulle.
»Dadurch wird das Gerät ausgeschaltet, Commander. Also Rot zum Ein- und Blau zum Ausschalten.« Er legte die schwarze Schatulle neben den Metallstab auf den Schreibtisch. »Käme noch die letzte Erfindung, und dann hätten wir’s geschafft.« Er zog ein schmales Metallband aus dem Sack und legte es wie einen Stirnreif um den Kopf. »Wir haben dieses Ding Heiligenschein getauft. Es ermöglicht dem Träger eine ungeahnte Konzentration der Gedanken. Selbst ein Genie schöpft nur etwa zehn Prozent seiner geistigen Kräfte aus, Commander. Dieser Heiligenschein ermöglicht es ihm, auch die anderen neunzig Prozent auszunutzen. Das Resultat ist mitunter überraschend – und in seiner Intensität geradezu furchterregend. Richten Sie jetzt den Blick auf Commander Ingalls’ Schreibtisch.« Craig kam der Aufforderung nach und sah einen kleinen, gelben Ball über der Schreibtischplatte schweben. Im Handumdrehen bildete sich eine harte, weiße Schale darum. Er streckte die Hand aus und hielt ein anscheinend völlig normales Hühnerei auf der Handfläche. Edmunds lachte in sich hinein. »Wir haben diese Dinger im Labor ausprobiert. Es sind wirklich Eier – aber sie haben einen absolut faden Geschmack. Es gelingt uns einfach nicht, die entsprechende Würze zu produzieren. Dabei sind jedoch sämtliche Kalorien und Vitamine enthalten.« »Wie machen Sie das?« fragte Craig verblüfft. »Sie legen sich ganz einfach das Band um die Stirn und konzentrieren sich. Natürlich muß das gewünschte Objekt stufenweise aufgebaut werden. Bei unseren ersten Versuchen hatten wir lauter leere Eierschalen.« »Können Sie damit auch Waffen herstellen – sagen wir mal, einen Strahler?«
»Wenn Sie Stufe um Stufe vorgehen, würde ich diese Frage bejahen.« »Woher stammen die Atome, aus denen sich all diese Dinge zusammensetzen?« »Das weiß niemand. Im Augenblick wird die Existenz des Heiligenscheins noch streng geheim gehalten. Commander Ingalls hat es bei der Sicherheitsbehörde durchgesetzt, daß Sie dieses Gerät bekommen, weil es zur Durchführung Ihrer Aufgabe unerläßlich ist.« Sein Tonfall verriet, daß er allerdings nicht die geringste Ahnung von der Natur dieses Auftrags hatte. »Mit diesem Reifen komme ich mir wie ein Zaubermeister vor«, versetzte er lächelnd. »Gewissermaßen ist es ja auch Zauberei.« »Es ist eine Zusammenfassung und eine Adaption sämtlicher wissenschaftlicher Erkenntnisse in bezug auf die biochemischen und atomaren Komponenten.« »Finger weg, John!« rief Ingalls, als Craig die Hand nach dem Heiligenschein ausstreckte. »Alle diese Geräte werden erst unmittelbar vor dem Countdown an Bord deines Raumschiffes gebracht werden. Das erfordern die Sicherheitsvorkehrungen – na ja, du verstehst schon. Vielleicht wird sich später mal jeder einen solchen Heiligenschein leisten können, aber zur Zeit darf noch niemand etwas davon erfahren. Du selbst darfst ihn auch erst anwenden, wenn du in das Enigma eingedrungen bist. Bis zu diesem Zeitpunkt bleibt es durch ein eingebautes Zeitschloß unwirksam, damit du gar nicht erst in Versuchung kommst, damit zu spielen.« »Lauter Vorsichtsmaßnahmen«, sagte Craig und grinste. »Wir müssen wirklich vorsichtig sein, Commander«, sagte Edmunds ernst. »Diese drei Geräte sind die Ergebnisse von Erfindungen und Experimenten, die sich über sieben Jahrhunderte erstreckt haben.«
Edmunds nahm den Behälter und legte die drei Geräte wieder vorsichtig hinein. Craig fragte sich unwillkürlich, ob er einem dieser Geräte vielleicht eines Tages sein Leben verdanken würde. Nachdem Edmunds alles wieder eingepackt hatte, nickte er Ingalls und Craig zu und ging. »Alle Teufel!« brummte Craig. »Mittlerweile wirst du wohl gemerkt haben, wieviel unseren Vorgesetzten an der Durchführung dieses Auftrags liegt. Das Enigma ist verdammt gefährlich, John. Dir stehen alle Mittel zur Verfügung, um dieses Rätsel zu lösen – falls es überhaupt zu lösen ist. Schon das herauszufinden, wäre eine große Sache. Zur Zeit tappen wir alle noch im dunkeln.« »Mir wird es auch nicht anders ergehen, wenn ich in das Enigma eingedrungen bin.« Dan Ingalls nahm ein paar Plastikkarten zur Hand und schob sie Craig über den Schreibtisch zu. »Die Papiere für deinen Einsatz und die Karten zur Bedienung des Bordcomputers. Damit scheidet jede Verzögerung von vornherein aus. Dann sind da noch die Formulare zur Durchgabe deiner entsprechenden Berichte und Meldungen. Das wäre alles.« Commander Ingalls legte die Hände flach auf die Schreibtischplatte. Damit gab er Craig zu verstehen, daß er die Unterredung als beendet betrachtete. Commander John Craig spürte instinktiv, daß es bei diesem bevorstehenden Einsatz um Leben und Tod ging. Es war ein kritischer Punkt in seiner Karriere.
2
Commander John Craig stand am Teleskop. Er betrachtete den Sektor XC-27458 – TK des Weltraums. Strahlend standen die Sterne im weiten Raum. Der Flug zum Enigma hatte nicht länger als drei Tage gedauert. Craig merkte, daß sein Herzschlag ein wenig beschleunigt war. Na ja, sagte er sich, das war wohl kaum anders zu erwarten. Gewöhnlich ging er völlig ruhig an einen neuen Auftrag heran – doch dann wußte er ja auch, worum es ging. Er war schon auf der Erde mit den besonderen Gefahren vertraut gemacht worden, die ihn bei seinen Einsätzen auf Lyrosia und Pamakian erwarteten. Doch diesmal verhielt es sich ganz anders. Niemand wußte etwas über das Enigma. Nicht die geringste Einzelheit. Wenn die aus Densatron bestehende Außenwandung seines Raumschiffes in die Dunkelheit eintauchte, war es leicht möglich, daß es auf der Stelle zerstört wurde. Vielleicht würde er dabei in einen starren, todähnlichen Zustand versetzt werden und durch den Raum des Enigma schweben. Alles mögliche konnte ihn dort erwarten, so daß es wohl besser war, gar nicht weiter daran zu denken und sich mit den Gefahren zu befassen, wenn sie auftauchten. Das leise Summen des nukleatronischen Antriebs erfüllte die Kabine der Staraine. Craig schaltete den Antrieb auf volle Leistung. Er wollte mit Höchstgeschwindigkeit auf die Dunkelheit zuschießen. Sollte es dort irgendeine Barriere geben, konnte er sie nur auf diese Weise durchdringen.
Der Kurs lag fest. Dafür sorgte allein schon die Plastikkarte, die er in den Bordcomputer gefüttert hatte. Er selbst konnte jetzt nicht mehr eingreifen. Der helle, in kurzen Abständen kommende Ton an der rechten Außenwandung zeigte ihm, daß der Flug vom Hauptquartier aus genau verfolgt wurde. Bei jedem Ton flammte eine kleine, rote Lampe auf. Wieder einmal machte er die uralte Erfahrung, daß ein Mensch dann am meisten am Leben hing, wenn es bedroht war. Selbst ein Mann wie er, der es doch gewohnt war, sich Gefahren zu stellen, bildete da keine Ausnahme. Das Schlimmste war, daß er nicht eingreifen konnte und tatenlos zusehen mußte, wie der Computer das Raumschiff steuerte. Die Dunkelheit voraus füllte jetzt bereits den ganzen Bildschirm aus. Schon in wenigen Minuten mußte er in diese Dunkelheit eintauchen – sofern das Raumschiff nicht gegen irgendeinen Widerstand prallte und in tausend Stücke zerfetzt wurde. Er durchquerte die Kabine und schaltete ein Signal ein, das direkt mit Ingalls verbunden war. Sobald dieses Signal abbrach, würde Ingalls wissen, daß Craig etwas zugestoßen war. Er wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Entfernungen waren im Weltraum nur schwer abzuschätzen. Das große Raumschiff schoß mit unvorstellbarer Geschwindigkeit auf die dunkle Wand zu – doch diese schien sich kaum zu bewegen. Er hielt den Atem an. Im Bruchteil einer Sekunde legte das Raumschiff die letzten tausend Kilometer zurück, und das Enigma schien zu explodieren. Es wuchs und blähte sich zu gigantischer Größe auf. Craig spannte die Muskeln an. Der Anprall stand unmittelbar bevor – Jetzt!
Dunkelheit hüllte ihn ein. Diese Dunkelheit schien aus allen Richtungen in das Raumschiff einzudringen. Er hörte nur das Hämmern seines Herzens. Kein Summton mehr – auch kein Brummen der Motoren. Er hob die Hand und tastete sein Gesicht ab. Jedenfalls lebte er noch. Ingalls konnte das nicht wissen, denn sämtliche Signale waren ausgefallen. Wenn der nukleatronische Antrieb in der Dunkelheit ausgefallen war, konnte er keine weiteren Nachrichten zum Hauptquartier übermitteln. Er wollte es jedoch versuchen, denn schließlich mußte er irgend etwas unternehmen. Er tastete sich über den schmalen Gang in die Nebenkabine. Er streckte die Hand nach den Schaltsystemen aus, um den Antrieb in Gang zu bringen. Nein, der Antrieb der Staraine arbeitete nicht mehr. Verzweiflung breitete sich in Craig aus. Noch nie war er sich so einsam vorgekommen, so völlig abgeschnitten von seiner vertrauten Welt. Unter seinen Fingerspitzen lagen die Schaltknöpfe zur Bedienung des Antriebs von unvorstellbarer Kraft – doch nichts rührte sich. Damit war auch die Bewaffnung des Raumschiffes ausgefallen. Ein eisiger Schauer huschte ihm über den Rücken. Er kam sich wie ein Höhlenbewohner der grauen Vorzeit vor, der nur seine Hände und Zähne zum Kampf einsetzen konnte. Aber solange er nichts sehen konnte, konnten auch seine Feinde nichts sehen. Oder vielleicht doch? Vielleicht lauerten sie bereits auf ihn? Craig straffte sich in den Schultern. Solche Gedanken konnten zum Wahnsinn führen. Er mußte sich zusammenreißen. Da fiel ihm etwas ein. In seiner Schlafkabine hing das Schwert, das er vor langer Zeit als Souvenir von
seinem Einsatz in Marsopolis mitgebracht hatte. Ein Schwert bedurfte keiner Antriebskraft. Er tastete sich in die Schlafkabine und fand das in der Scheide steckende Schwert. Er hob es von der Wand über seinem Bett und ließ die Hand über den verzierten Griff gleiten. Dann schnallte er es um und kehrte in die Kontrollkabine zurück. Jetzt konnte er sich beim Auftauchen einer Gefahr wenigstens zur Wehr setzen. Er fühlte sich nicht mehr ganz so hilflos. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis sich weit vor ihm ein erster heller Schimmer zeigte. Die Staraine hatte die äußere Hülle der Dunkelheit durchdrungen. Seine noch immer angespannten Muskeln schmerzten. Er versuchte sich zu entspannen. Der helle Schimmer lag weit vor ihm. Bald würde die Dunkelheit hinter ihm sein. Dann würde sich auch endlich das Geheimnis offenbaren, dem zwei irdische Raumflotten zum Opfer gefallen waren. Seine Hand umspannte den Schwertgriff. Nach der langen Dunkelheit wurde das Licht immer heller und strahlender. Das Raumschiff flog wesentlich schneller, als er eigentlich vermutet hatte. Noch bewegte es sich mit dem Schwung, den ihm der Antrieb vor dem Ausfall verliehen hatte. Unglaublich schnell wurde das Licht heller und heller. Das konnte doch nur – ja! Als die Staraine die dunkle Hülle völlig durchdrungen hatte, erblickte Craig einen großen weißen Stern. Er hing wie ein weißglühender Ball vor seinen Augen. Er sah die Korona und die Protuberanzen dieser fremdartigen Sonne. Mein Gott, hatte diese Sonne etwa das Schicksal der beiden Raumflotten besiegelt?
Waren die beiden Raumschiffe mit unvorstellbarer Geschwindigkeit in den Bannkreis dieser Sonne geraten? Einen Augenblick lang stand Craig wie versteinert. Da sah er, wie in der Kabine die Lichter aufleuchteten, und warf sich mit einem heiseren Aufschrei auf die Schaltsysteme. Automatisch machten seine Hände die richtigen Bewegungen. Der nukleatronische Antrieb sprang summend an. Die Geschwindigkeit der Staraine verringerte sich merklich. Das Raumschiff wandte sich von dem hellen Stern ab und schlug einen neuen Kurs ein. Der Antrieb lief jetzt mit voller Kraft, um aus dem magnetischen Anziehungsfeld des großen Stern herauszukommen. Craig stand über die Schaltanlage gebeugt. Es war möglich, daß die beiden Flotten dieses Schicksal erlitten hatten, aber er bezweifelte es. Er war an einer anderen Stelle in die dunkle Hülle des Enigma eingetaucht als die beiden Raumflotten. Folglich waren sie auch an einer anderen Stelle herausgekommen. Außerdem wäre es den Navigatoren bestimmt gelungen, der Anziehungskraft der weißen Sonne ebenso zu entgehen, wie er es geschafft hatte. Zumindest einige Schiffe der beiden Flotten mußten diesem Inferno entronnen sein. Die Staraine entfernte sich mehr und mehr von der Sonne und raste durch den Raum innerhalb der dunklen Hülle. Craig richtete sich langsam auf. Seine Hände zitterten, und sein Körper war in Schweiß gebadet. Er atmete ein paarmal tief durch. Zumindest war er jetzt in Sicherheit. Stirnrunzelnd wandte er sich dem Bildschirm zu. Der Raum innerhalb der dunklen Hülle unterschied sich nicht vom Weltraum außerhalb der Hülle. Die Temperaturanzeiger, die bei der Annäherung an die
weiße Sonne in die rote Gefahrenzone ausgeschlagen hatten, gaben jetzt wieder die normale Weltraumtemperatur an. Er drehte ein paar Schalter. Betroffen starrte er die Instrumente an. Es gab hier keinerlei Radioaktivität oder sonstige Strahlung. Das System der weißen Sonne bestand aus sechs Planeten. Einer kreiste etwa in der gleichen Entfernung um die Sonne… wie Merkur um Sol. Drei Planeten standen noch weiter von der Sonne entfernt als Neptun, Pluto und Uranus im solaren System. Blieben zwei weitere Planeten, die etwa den Verhältnissen auf Terra entsprachen und wo die beiden Raumflotten vielleicht gelandet sein konnten. Das würde er später untersuchen, denn zunächst wartete eine andere Aufgabe auf ihn. Er zog die Schublade mit dem Tonbandgerät auf. Über eine Stunde zeichnete er die Daten der einzelnen Instrumente sowie seine persönlichen Beobachtungen und Eindrücke auf. Die Funksignale wollte er nicht einschalten, weil er nicht wußte, ob sie die dunkle Hülle durchdringen konnten. Auf das Transporttorpedo konnte er sich schon eher verlassen. Es konnte sich ebenso einen Weg durch die Dunkelheit bahnen, wie es die Staraine getan hatte. Er nahm das besprochene Tonband, schob es in einen Behälter und ging damit in die Nebenkabine. Er steckte den Behälter in das bereitstehende Torpedo, klappte den Verschluß des Abschußrohres zu und feuerte das Torpedo ab. Der kleine nukleatronische Antrieb des Torpedos trieb es auf die Schwärze zu, die dieses ganze System wie ein Schutzschild umfing. Das Torpedo blitzte noch einmal hell im Licht der weißen Sonne auf – dann tauchte es in die Hülle ein. Craig wandte sich um. Jetzt mußte er den Planeten suchen, auf dem die beiden Raumflotten gelandet sein konnten.
Gleichzeitig mußte er versuchen, etwas über ihr Schicksal zu erfahren. Der innere Planet dieses Systems war so heiß, daß seine Oberfläche zu brodeln schien. Er wirkte wie eine gigantische Kugel aus geschmolzenem Metall. Wenn die Raumflotten in diese Hölle eingetaucht waren, war bestimmt keine Spur mehr von ihnen zu entdecken. Er wandte sich dem zweiten Planeten zu, der jetzt unter der Staraine auftauchte. Er konnte lediglich eine Anzahl von Gasund Dampfwolken ausmachen. Er schaltete die Frequenzsonden ein. Eine Stunde später runzelte er die Stirn. Nach den Meßergebnissen zu schließen, bestand der Planet aus einem Metallkern, in dessen magnetischem Anziehungsbereich sich die Gaswolken befanden. Hier hatten die beiden Raumflotten auf keinen Fall verschwinden können, denn die geringe Schwerkraft reichte gerade aus, um die Gaswolken in ihrem Bereich festzuhalten. Zwanzig mit nukleatronischem Antrieb ausgestattete Raumschiffe hätten hier jederzeit wieder starten können. Er nahm sich den dritten Planeten vor. Dieser war etwa hundertfünfzig Millionen Kilometer von dem weißen Stern entfernt. Nach den bestehenden Gesetzen über planetarische Formationen dürfte er bewohnbar sein. Jeder Planet, der sich innerhalb von sechzig Millionen Kilometern von seiner Sonne entfernt befand, stand noch im Schmelzungsprozeß. Normalerweise waren alle jene Planeten bewohnbar, die sich zwischen einhundertzehn und zweihundert Millionen Kilometer von ihrer Sonne entfernt befanden. Dahinter gab es dann nur noch erkaltete Planeten, die meist auch keine Atmosphäre mehr hatten, so daß hier kein Leben gedeihen konnte. Die Sonden übermittelten die einzelnen Meßdaten.
Ja, hier konnte es Leben geben, obwohl im Augenblick noch nichts davon zu sehen war. Craig schaltete die Suchstrahlen ein, die ihm das Vorhandensein nukleatronischer Antriebe melden würden. Die Skalen zeigten nichts an. Anscheinend befanden sich die verschwundenen Raumschiffe also nicht auf diesem Planeten. Damit blieb ihm nur die Möglichkeit, sich die weiter von der weißen Sonne entfernt liegenden Planeten anzusehen. Vielleicht waren die beiden Raumflotten durch irgendeine kosmische Katastrophe auf einen dieser äußeren Planeten verschlagen worden. Craig hielt es nicht für wahrscheinlich, daß zwei Raumflotten das gleiche Schicksal erlitten hatten – aber die Möglichkeit war natürlich nicht auszuschließen. Die Welten hinter dem dritten Planeten bestanden aus gigantischen Eismassen. Hier gab es nicht die geringste Andeutung von Leben, geschweige denn vom Vorhandensein, nukleatronischer Antriebe. Craig überprüfte seine Instrumente wieder und wieder, ehe er zu der verblüffenden Erkenntnis kam, daß die beiden verschwundenen Raumflotten sich nicht in diesem System des Enigma befanden! »Lächerlich!« brummte er vor sich hin. »Es muß irgendein Irrtum vorliegen, daß ich sie nicht finden kann. Ich bin zwar kein Techniker, aber die beiden Raumflotten müssen, hier sein!« Immerhin bestand noch eine winzige Chance. Wenn die beiden Raumflotten auf dem dritten Planeten gelandet waren, den er irgendwie mit Terra verglich, konnten die Mannschaften noch dort sein. Möglicherweise war es ihnen nicht gelungen, den Planeten wieder zu verlassen. Warum aber hatten die Sonden die Raumschiffe dann nicht entdeckt? Wenn schon nicht die Menschen, dann doch zumindest die Antriebe?
Er lenkte die Staraine in eine Umlaufbahn um den bewohnbaren Planeten. Erst in diesem Augenblick merkte er, wie müde er war. In einem Raumschiff gibt es weder Tag und Nacht, und es kommt häufig vor, daß man zu lange Zeitspannen hindurch arbeitet. Mit der Langeweile kommt die Müdigkeit – aber in diesem Fall hatte die Erregung des Eintritts in das Enigma eine Menge Adrenalin in seinen Blutkreislauf gepumpt. Craig gähnte. Seine Augenlider waren schwer wie Blei. Morgen wollte er ein weiteres Torpedo mit einem Tonband zum Hauptquartier schicken, aber jetzt brauchte er vor allen Dingen Schlaf. Er wankte in seine Schlafkabine und warf sich aufs Bett. Innerhalb weniger Sekunden lag er in tiefem Schlaf. Die automatische Steuerung der Staraine würde sie in der Umlaufbahn um den dritten Planeten halten. Sobald etwas Unvorhergesehenes eintrat, würde ihn die Alarmanlage wecken. Später träumte er, wie sich das Enigma immer weiter im Weltraum ausbreitete und schließlich Ballyrane und Marialla verschluckte, wo sich die exklusiven Modeateliers von Elva Marlowe befanden. Er rannte in der Dunkelheit mit dem Schwert in der Hand hinter ihr her, und als er sie endlich einholte, war ihr Gesicht von Säure zerfressen, und sie schrie im Rhythmus eines hellen Summertons… Sein Körper war in Schweiß gebadet, als er im Bett hochfuhr. Außer dem leisen Summen des nukleatronischen Antriebs war an Bord nichts zu hören. Er ließ die Beine über die Bettkante baumeln. Zunächst konnte er sich kaum bewegen, als würden die Muskeln ihm den Dienst versagen. Es dauerte eine Weile, bis sein Körper endlich wieder zum Leben erwachte.
Er zog sich aus und steckte seine Uniform in die automatische Reinigungsanlage. Das Wasser an Bord war zu kostbar, um es mit einer Dusche zu vergeuden. Er stellte sich in das Strahlenbad, um sich gründlich zu reinigen. Die Staraine kreiste in einer Entfernung von zweihunderttausend Meilen um den Planeten. Er entschloß sich, die automatische Steuerung abzuschalten und das Raumschiff manuell zu lenken. Er schaltete die Sonden aus und wartete auf die Meßdaten. Die Projektion auf dem Bildschirm zeigte ihm einen Planeten mit Kontinenten, Ozeanen und weißen Wolkenbänken. Er sah sich alles genau an, während die Staraine allmählich in den Anziehungsbereich des Planeten geriet. Die Sonden übermittelten ihm, daß es sich tatsächlich um eine Welt handelte, die der Erde ähnlich war. Nur die Zusammensetzung der Lufthülle schien ein wenig anders zu sein. Die Luft ließ sich jedoch leicht atmen. Beide Polkappen waren mit Eis bedeckt, und auf den Kontinenten zeichneten sich Flußläufe ab. Er blieb eine Weile in der Ionosphäre und überquerte einen Ozean und ein Teil eines Kontinents. Die Sonden tickten unaufhörlich. Augenscheinlich gab es hier nicht das geringste Anzeichen von Leben. Die Mannschaften der verschwundenen Raumflotten konnten sich allerdings auch auf der entgegengesetzten Seite des Planeten aufhalten. So schnell wollte er die Suche nach ihnen nicht aufgeben. Im Augenblick wollte er zunächst den Fuß auf die Planetenoberfläche setzen. Er sehnte sich nach frischer, würziger Luft. Als er die Karte mit den Anweisungen zur Landung in den Computer schob, hörte er das Signal. Tick-ticketi-tick-tick… Die Sonden hatten etwas entdeckt!
Craig drückte auf einen Knopf des Computers, und die Karte mit den Anweisungen zur Landung kam wieder heraus. Er mußte jetzt erst feststellen, was die Sonden auf dem Planeten entdeckt hatten. Nach etwa einer Stunde stand fest, daß die Sonden in einer Entfernung von etwa fünfzehntausend Kilometer die vermißten Raumschiffe aufgespürt hatten. Er änderte die Anweisungen zur Landung dahingehend, daß die Staraine in unmittelbarer Nähe dieser Stelle aufsetzen würde. Das Raumschiff schlug sofort den entsprechenden Kurs ein. Craig verließ den Kommandostand und wandte sich dem Bildschirm zu, wo er mit ein paar Knopfdrehungen das Bild scharf einstellte. Ja – da! Er sah die Raumschiffe im hellen Licht der weißen Sonne glitzern. Zwanzig Raumschiffe! Sie standen stumm und wie verloren auf einer weiten Ebene. Er betätigte einen Schalter. »Commander John Craig ruft Commander Herzog. Commander John Craig ruft Commander Herzog vom Imperial Warlord. Bitte melden Sie sich. Ich schalte auf Empfang.« Der Lautsprecher blieb stumm. Zwanzig Minuten lang versuchte er verzweifelt, eine Verbindung zu den Raumschiffen herzustellen. Dann gab er es auf. Die Sonden hatten immer noch kein Leben da unten entdeckt. Vielleicht waren die Männer in den Raumschiffen tot. Er mußte landen und selbst nachsehen. Auf dem Bildschirm sah alles friedlich aus. Die Raumschiffe standen im Sonnenschein. Keine einzige Waffenluke war geöffnet, was zumindest auf einen Kampf hätte schließen lassen. Craig straffte sich in den Schultern und brummte: »Immer mit der Ruhe! Zwanzigtausend Menschen können sich schließlich nicht in Luft auflösen. Ich brauche nur festzustellen, was dahintersteckt.«
Er spielte einen Augenblick mit dem Gedanken, umzukehren, das Enigma wieder zu verlassen und alle weiteren Nachforschungen Ingalls zu überlassen. Zum Teufel! Es war seine Aufgabe, diese Nachforschungen durchzuführen! Deshalb war er letzten Endes hergekommen.
Er zog seinen Nylobber-Anzug an, der sich wie eine zweite Haut um seinen Körper legte und ihn sogar vor einem Strahler schützte. Es bedurfte schon einer großkalibrigen Waffe, um dieses zähe Material zu durchschlagen. Er hängte sich den Behälter mit den Geräten über die Schulter, die ihm die Techniker des Hauptquartiers zur Verfügung gestellt hatten. Dann schnallte er sich das Schwert wieder um. Grinsend betrachtete er sich im Spiegel. Mit dem Behälter über der Schulter sah er wie ein Pirat nach einem erfolgreichen Beutezug aus. Die Staraine setzte etwa einen Kilometer von den Raumschiffen entfernt auf. Er spürte einen leichten Stoß, dann war alles ruhig. Der nukleatronische Antrieb war ausgeschaltet. Die Luftschleuse öffnete sich. Craig ging hindurch und kletterte die Metalleiter hinunter. Er trug keinen Helm. Die Luft war frisch und würzig. Sein Fuß berührte die Grasfläche. Er blieb einen Augenblick stehen und ließ sich den Wind um die Nase wehen. Er wollte kein Risiko eingehen, zog den Metallstab aus dem Sack und befestigte die runde Scheibe. Damit war die Waffe einsatzbereit. Craig setzte sich in Bewegung. Er ging am ersten Raumschiff vorüber und schlug den Weg zu einem weiter in der Mitte stehenden ein. Er hängte sich den Metallstab über die Schulter und kletterte die Leiter hinauf.
Nachdem er auf einen Knopf gedrückt hatte, öffnete sich die Luftschleuse. Er blickte in die leere Schleuse. Die Nylobber-Anzüge der Besatzung hingen in einer Reihe an den Haken. Die Strahler standen in den Gestellen. Er sah sich alles zehn Minuten lang genau an und kam zu der Überzeugung, daß hier nichts zu finden war. Dann betrat er das Innere des Raumschiffes. Durch den Gang kam er ins Kontrollzentrum und erklomm die Kommandobrücke. Weit und breit war niemand zu entdecken. Er schaltete die Sprechanlage ein. »Ist jemand an Bord? Hier spricht Commander Craig.« Er wartete. Alles blieb still. Er verließ die Kommandobrücke und ging durch die einzelnen Räume an Bord. Alles war leer. Die Waffen waren nicht gefechtsklar gemacht worden. Was immer der Mannschaft zugestoßen sein mochte – es mußte völlig unerwartet gekommen sein. Niemand war auf einen Angriff vorbereitet gewesen. Falls es überhaupt zu einem Angriff gekommen war. Möglicherweise handelte es sich um eine Gefahr, von der das menschliche Gehirn nichts ahnte. Was diesen Männern zugestoßen war, konnte auch ihm zustoßen. Unwillkürlich spannte er die Hand fester um den Metallstab. Er kletterte noch einmal auf die Kommandobrücke und schaltete die Sprechverbindung zu den anderen Raumschiffen ein. »Hier spricht Commander Craig vom Hauptquartier. Ich bin hergeschickt worden, um Nachforschungen über die beiden Raumflotten durchzuführen. Ich habe die Raumschiffe gefunden – wo aber sind die Besatzungen?« Seine Kehle war wie zugeschnürt. »Falls auch nur einer von euch noch am Leben ist, so soll er sich um Himmels willen melden!«
Er ging noch einmal durch das Raumschiff und suchte nach Anhaltspunkten. In der Küche standen die Speisen für die Mannschaft bereit. In den Unterkünften hing die Kleidung der Männer, als wartete sie nur darauf, von Händen ergriffen zu werden. Sämtliche Uhren gaben die genaue Zeit. Es war kein Alarm ausgelöst worden. Die Männer waren urplötzlich überrascht worden. Sie waren verschwunden. Spurlos. Gegen Sonnenuntergang verließ er das Raumschiff. Mit gebeugtem Kopf trat er den Rückweg zur Staraine an und zermarterte sich das Gehirn nach einer Erklärung. Sein Blick war auf die Grasbüschel gerichtet, und er spürte den Wind auf seinem Gesicht. Nur das leise Rascheln des Grases unter seinen Füßen und das Säuseln des Windes waren zu hören. Als die Dunkelheit einsetzte, hörten auch diese Geräusche auf. Absolute Stille herrschte. Craig hob den Kopf. Er sah die Grasfläche und die Silhouetten der fernen Bäume, die sich gegen den noch hellen Horizont abzeichneten. Er blieb stehen und sah sich nach allen Seiten um. Seine Hände umspannten den Metallstab so fest, daß die Knöchel weiß durch die Haut schimmerten. Die Raumschiffe! Wo, um alles in der Welt, waren die Raumschiffe? Die zwanzig großen Raumkreuzer waren verschwunden! Und die Staraine ebenfalls! Er war allein auf einem fremden Planeten.
3
Der Schreck fuhr ihm so stark in die Glieder, daß sein Gehirn momentan wie gelähmt war. Er stand wie eine Statue auf der Grasfläche und war keiner Bewegung fähig. Er konnte nur hören und sehen. Mit äußerster Willenskraft vermochte er sich aus dieser Erstarrung zu lösen. Er hielt den Metallstab abwehrbereit in der Hand. Wenn es sich um irgendeinen Angriff handeln sollte, würde er ihm zu begegnen wissen. Leise strich der Wind durch sein Haar. Die Nacht auf diesem Planeten war recht kühl. Craig schüttelte sich. Die Sonne war längst untergegangen, und am dunklen Himmel glitzerten Sterne. Nein, es waren keine Sterne, sondern Planeten. Innerhalb des Enigma gab es nur einen einzigen Stern, nämlich die weiße Sonne, in die er nach dem Verlassen der dunklen Hülle fast gestürzt wäre. Er sah drei dieser fernen Planeten, die ihre Bahn um die weiße Sonne zogen. Er trat auf die Stelle zu, wo eigentlich die Staraine stehen müßte. Er legte den Metallstab vorsichtig auf den Boden und streckte tastend die Hände aus, weil er glaubte, einer optischen Täuschung zum Opfer gefallen zu sein. Das Raumschiff war nicht da. Er ging ein Stück hin und her und überzeugte sich, daß es tatsächlich nicht da war. Oder – die Staraine stand noch immer an der gleichen Stelle, und er selbst war von irgendeiner unerklärlichen Kraft entfernt worden, wie eine Hand eine Schachfigur vom Brett hebt. Er erschauerte bei diesem Vergleich. Er spürte keine Müdigkeit. Dazu war seine Neugier zu groß – vielleicht auch seine Angst. Er rieb sich die Stirn.
Wenn es den Besatzungen der zwanzig Raumkreuzer ebenso ergangen war wie ihm, könnten sie sich irgendwo ganz in der Nähe aufhalten. Nichts ließ darauf schließen, daß sie etwa unversehens überfallen worden wären und ein gewaltsames Ende genommen hatten. Sie konnten durchaus noch am Leben sein, und unter Umständen würde es ihm gelingen, sie aufzuspüren. Seine Finger berührten den Druckknopf des Metallstabes, und er stellte die Entfernung auf unendlich ein. Er hob den Stab und richtete die Scheibe auf den dunklen Nachthimmel. Der rötliche Strahl stieg auf und stand ein paar Sekunden kerzengerade über der Grasfläche. Craig senkte den Metallstab. Falls sich im Umkreis von dreißig Kilometer jemand aufhielt, würde er unweigerlich von dem rötlichen Strahl getroffen werden. Falls. Doch diese Chance genügte ihm nicht. Er mußte selbst etwas unternehmen. Er wollte das Land überqueren und den Metallstab dabei von Zeit zu Zeit abfeuern. Das war eine Tatsache, an die er sich klammern konnte. So etwas brauchte er als psychische Stimulanz. Auf keinen Fall wollte er sich um den Verstand bringen lassen. Im matten Lichtschein der fernen Planeten ging er über die Grasfläche. Dieser Planet hatte keinen Mond, und die weiße Sonne strahlte jetzt die entgegengesetzte Seite an. Er marschierte die ganze Nacht hindurch und sah beim Morgengrauen die dunklen Umrisse einiger Gebäude. Er blieb stehen. Der Wind hatte inzwischen aufgefrischt, und am Himmel standen dunkle Regenwolken. Der Metallstab lag einsatzbereit in seiner Hand. Wo Gebäude standen, mußte es auch Bewohner geben. Langsam setzte er den Weg fort und erblickte weitere Häuser. Zweifellos befand er sich hier in einer Art Stadt.
Aber es war eine tote Stadt. Keinerlei Anzeichen von Aktivität. Craig sehnte sich verzweifelt danach, einem Menschen zu begegnen, und wenn es auch ein Feind wäre, gegen den er kämpfen mußte. Die dunklen Wolken hingen bis auf die Dächer der Gebäude herunter und machten alles feucht. Nirgends regte sich etwas in der Stadt. Craig ging eine Straße entlang und erreichte einen freien Platz zwischen den Häusern. Die weiße Sonne spiegelte sich in einem Wasserbecken, und Craig merkte, wie durstig er war. Er hatte auch Hunger, aber der Durst überwog. Am Rand des Marmorbeckens stand ein fremdartiges, aus Bronze gefertigtes Tier, aus dessen Maul sich ein Wasserstrahl in das Becken ergoß. Craig bückte sich über das Becken und kostete das Wasser. Es war süß und sehr kalt. Er lehnte den Metallstab ans Becken und trank. Nachdem er sich erfrischt hatte, hob er unvermittelt den Kopf. Irgend etwas hatte sich in dem dunklen Eingang eines Gebäudes bewegt. Er ließ sich auf die Knie fallen und brachte den Metallstab in Anschlag. Dann robbte er auf den Ellbogen hinter das Marmorbecken. Er wartete. Alles blieb ruhig um ihn herum. »Ist da jemand?« rief er laut. Die Männer deiner Welt sind nicht mehr hier, du Wesen von der anderen Seite! Es war ein telepathischer Gedanke, der in sein Gehirn drang. Es waren keine artikulierten Worte, sondern lediglich die Nachricht, daß die Besatzungen der zwanzig Raumschiffe nicht mehr da waren. »Tot?« fragte er. Nicht tot, nein. Sie leben – aber sie sind weg. »Weg? Wohin?«
Das spielt keine Rolle. Steh auf, damit wir uns von Angesicht zu Angesicht sehen können. Ich weiß, daß du einer von ihnen bist. Sag mir, warum du sie suchst. Er richtete sich hinter dem Marmorbecken auf. Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf eine gelbliche Gestalt im dunklen Hauseingang – aber war es ein Mann? Da drang ein schriller Aufschrei an sein Ohr. »Nein, geh schnell wieder in Deckung – um Rhythanes willen!« Er warf sich wieder hin und stützte sich auf die Ellbogen. Dieses gelbliche Wesen da drüben im Hauseingang hatte eine menschenähnliche Form. Es zog etwas aus dem Gurt und schleuderte es wie eine Handgranate auf ein Haus an der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Das Haus stürzte ein. Aus den Trümmern tauchte ein Mädchen auf, das über den Platz gehetzt kam. Craig sah ihr langes, dunkles Haar im Wind flattern. Die schlanken Beine waren unter einem zerfetzten Wollkleid bis zu den Oberschenkeln nackt. Das Mädchen kam keuchend auf den Brunnen zu. Sie wußte, daß sie genau in der Ziellinie des gelblichen Wesens stand. Wahrscheinlich bereute sie bereits bitter, daß sie Craig die Warnung zugerufen hatte. »Feuer einstellen!« rief er laut. Das gelbliche Wesen wandte sich der Stelle zu, wo Craig in Deckung lag. Seine Waffe blieb auf das Mädchen gerichtet. Du kommst auch noch an die Reihe, Mann von der anderen Seite. Erst wird diese Rhydd-Frau sterben, weil sie dich retten wollte. Das wird ihrem Volk eine Lehre sein. Craig hielt den Metallstab ruhig in der Hand. Er drückte ab. Der rötliche Lichtstrahl traf das gelbliche Wesen. Im Bruchteil einer Sekunde löste es sich in nichts auf.
Dazu ertönte ein Geräusch, das sich wie Donnergrollen über den fernen Bergen anhörte. Das Mädchen blieb stehen, wandte den Kopf und starrte mit offenem Mund auf die Stelle, wo eben noch das gelbliche Wesen gestanden hatte. Mit einer flüchtigen Handbewegung streifte sie sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. Langsam drehte sie sich wieder um und blickte auf Craig, der hinter dem Marmorbecken aufstand. Er sah, daß sie vor Überraschung am ganzen Körper zitterte. Noch immer war ihr hübsches Gesicht in panischem Entsetzen verzerrt. »Du bist… einer von ihnen«, flüsterte sie atemlos und wirbelte herum, um zu fliehen. »Warte!« rief er. »Ich komme wegen der Männer, die du gefunden haben mußt.« Sie blieb in der hellen Morgensonne stehen, wandte den Kopf und starrte ihn erneut an. Ihre Augen waren braun und leicht geschlitzt. Ihre Arme und Schultern waren nackt. Sie trug ein weißes Gürtelband um das zerfetzte Wollkleid. »Woher weißt du etwas von den anderen?« »Ich bin gekommen, sie zu suchen.« Sie runzelte die Stirn. »Sie sagten… jemand würde kommen. Niemand hat ihnen geglaubt.« Ihr Blick schweifte über die Häuser der alten Stadt. »Sind viele von euch gekommen? Habt ihr alle solche Waffen, wie du eine in der Hand hältst? So eine Waffe habe ich noch nie gesehen. Selbst die Toparrs haben so etwas nicht.« Die Worte sprudelten nur so über ihre Lippen. Craig lächelte. Sie war scheu, wirkte aber ungemein schön. Er spürte, wie sein Herz pochte. Er hob die Hand und drehte die Handfläche nach vorn. »Wenn du etwas von den anderen weißt, die vor mir herkamen«, sagte er, »dann wirst du vielleicht auch wissen, daß dies unser Zeichen für Frieden ist.«
Sie nickte und kam wieder auf ihn zu. »Ja, ich weiß. Der Pilot hat es mir beigebracht. Dieses Zeichen bedeutet, daß zwischen uns Frieden herrschen soll.« Sie hob ebenfalls die Hand und drehte ihm die Handfläche zu. Craig hängte sich den Metallstab am Riemen über die Schulter. »Ich wäre dir dankbar, wenn du mich jetzt zu ihnen brächtest.« »Das kann ich nicht. Sie sind alle weg – bis auf den Piloten. Die Toparrs haben ihn zurückgelassen, weil er im Sterben lag. Alle anderen haben die Toparrs weggeschafft.« »Wer sind die Toparrs?« Sie machte eine flüchtige Handbewegung. »Der, den du da drüben getötet hast, war ein Toparr. Es gibt viele von ihnen. Sie kommen von Zeit zu Zeit her, um Jagd auf uns zu machen. Wir wissen nicht, wo sie wohnen.« »Ihr wißt nicht… aber das ist doch lächerlich! Sie müssen in Häusern, vielleicht in Städten leben. Jedenfalls doch an irgendeinem Ort!« »O ja, sie leben im Drüben.« Craig glaubte zu träumen. Das Mädchen war keineswegs schwachsinnig. Ihre Augen waren klar – und außerdem wundervoll anzusehen. In ihrem Gesicht spiegelte sich eine unverkennbare Intelligenz. Sie bemerkte seinen Gesichtsausdruck und lachte perlend. »Eure Raumschiffe sind drüben. Wir dagegen sind in der Gegenwart. Die anderen wurden von den Toparrs in eine andere Welt versetzt.« Craig konnte das Mädchen nur anstarren. Sie blickte nach unten und zeichnete mit der Sandale kleine Kreise in den Stein. Sie war bei weitem die attraktivste Frau, der er je begegnet war. Irgendwie kam er sich wie ein Verräter an Elva Marlowe
vor, als er sie in Gedanken mit dieser schönen, dunkelhaarigen jungen Frau verglich. Es war ihr anzusehen, daß seine offensichtliche Bewunderung ihr schmeichelte. Tausend kleine Teufel tanzten in ihren braunen Augen. »Bin ich hübsch?« fragte sie leise. Craig fragte sich, wer von den Schiffsbesatzungen ihr dieses Wort beigebracht haben mochte. »Ja, du bist hübsch«, sagte er, »und das weißt du nur zu gut.« Sie klatschte lachend in die Hände. »Der Pilot sagte mir, ich wäre hübsch. Die anderen sagten es mir auch, aber – « Sie runzelte die Stirn – »bei weitem nicht so nett wie er – oder auch wie du.« Bei allen Göttern des Universums! Commander John Craig war mit sich selbst unzufrieden. Da stand er und flirtete mit dem Mädchen, statt etwas über dis vermißten Besatzungen in Erfahrung zu bringen. Sie schien seine Gedanken zu erraten, denn sie streckte ihm impulsiv die Hand entgegen. »Komm mit. Ich werde dich zu dem Piloten bringen. Er sehnt sich schon lange danach, endlich wieder einen Menschen aus seiner Welt zu sehen.« Während sie den Platz überquerten, nannte das Mädchen ihm ihren Namen: Fiona. Sie gehörte zum Stamm der Rhyddoan, der auf diesem Planeten Rhyllan lebte. »Vor langer Zeit lebten unsere Vorfahren in dieser Stadt Uphor. Als die Toparrs auftauchten, kam es zum Krieg. Es war ein schrecklicher Krieg. Die Toparrs hatten Waffen, gegen die unser Volk nichts ausrichten konnte. Dennoch setzten sie sich mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zur Wehr, bis die Toparrs sie schließlich aus der Stadt vertrieben und wie wilde Tiere in die Wälder jagten.«
Haß loderte in ihren Augen. »Die Toparrs verfügen nach wie vor über diese Waffen, während wir jetzt überhaupt keine mehr haben.« Sie hielt inne. »Oh, aber jetzt haben wir wieder eine!« »Und was für eine ist das?« Sie sah ihn überrascht an. »Du trägst sie da über der Schulter.« Sie deutete lächelnd auf den Metallstab. »Noch nie hat jemand hier auf Rhyllan einen Toparr so schnell sterben sehen.« Sie führte ihn an der Hand durch den Eingang eines großen Gebäudes. Die Wände bestanden aus Marmor, Metall und Glas. Ein solches Gebäude konnte nur von einer großen Rasse gebaut worden sein, sagte sich Craig. Das Mädchen drückte auf einen Knopf. Eine breite Glastür öffnete sich, und sie gelangten in eine Vorhalle, die seit langem nicht mehr benutzt worden war. Fiona führte ihn eine breite Treppe hinunter zu einer grauen Metallplattform. Neben der Plattform stand ein Fahrzeug auf einer einzelnen Schiene, die in einen Tunnel führte. Das Fahrzeug war leer. Es war etwa zwanzig Meter lang und konnte zwanzig Fahrgäste aufnehmen. Die Sitze waren ursprünglich mit Leder überzogen gewesen, doch die Polster waren jetzt zerrissen. Unter der Haube am Bug des Fahrzeugs lag der Motor. Sie stellten sich in den Wagen, und das Mädchen drückte auf einen Knopf. Langsam setzte sich die Bahn in Bewegung. »Die Bahnen sind früher sehr schnell gefahren, wie mir versichert wurde«, sagte sie. »Aber jetzt sind die altersschwach.« »Aber du sagtest doch, dein Volk würde in den Bergen und Wäldern leben. Es ist kaum anzunehmen, daß diese Bahnstrecke dorthin führt.« »Die Bahn hält an, sobald ich auf den Knopf drücke. Wir kennen uns in diesen Tunnels aus, während die Toparrs keine
Ahnung davon haben.« Ein bitterer Klang schwang in ihrer Stimme mit. »Die Toparrs nehmen sich kaum noch die Mühe, gegen uns zu kämpfen. Wir sind ein schwaches, sterbendes Volk. Sie spielen nur noch mit uns. Es ist gut, ein Versteck zu haben, wenn sie Jagd auf uns machen.« »Hat der Toparr, den ich tötete, auch Jagd gemacht?« Fiona erschauerte. »Das weiß ich nicht. Um diese Zeit jagen sie nur selten. Vielleicht hatte er es auf dich abgesehen… wie zuvor auf deine Freunde.« Die Bahn durchlief einzelne Stationen, die nur noch schwach beleuchtet waren. Craig konnte sich vorstellen, daß sie früher in gleißendes Licht getaucht gewesen waren. Er hatte keine Ahnung, wie alt diese Bahn sein mochte. Nach einer Weile beugte Fiona sich vor und drückte auf einen Knopf. Der Wagen hielt unter einer Deckenöffnung im Tunnelschacht. Eine kleine Steintreppe führte nach oben. Fiona sprang aus dem Wagen, eilte leichtfüßig die Treppe hinauf und überzeugte sich durch einen Blick über die Schulter, daß Craig ihr folgte. Der Ausgang war durch ein Gebüsch getarnt. Das Mädchen drückte ein paar Zweige zur Seite. »Wenn die Toparrs kommen, verbirgt sich mein Volk hier im Tunnel. Der Eingang ist so gut getarnt, daß man ihn kennen muß, um ihn zu finden.« »Falls ihr vor ihrem Kommen gewarnt werdet.« Fiona lachte leise. »Wir haben Posten aufgestellt. Sie haben uns längst entdeckt.« Sie machte eine Handbewegung. »Wenn ich ihnen dieses Zeichen gebe, wissen sie, daß ich dich aus freien Stücken hergebracht habe. Andernfalls wärst du bereits tot.« Craig bekam eine Gänsehaut. Er spähte scharf nach allen Seiten, konnte jedoch nichts entdecken. Sie waren etwa fünfzehn Meter von einem Wald entfernt. Die Baumstämme
standen so dicht beieinander, daß sich dort eine ganze Armee hätte verstecken können. Ein Mann trat zwischen den Bäumen hervor. Schußbereit hielt er Pfeil und Bogen in der Hand. Es war ein großer Mann mit einem muskulösen Körper. Irgendwie erinnerte er Craig an das Bild alter Wikinger: er trug gekreuzte Lederriemen an den nackten Beinen und hatte langes, blondes Haar. Pfeil und Bogen waren seine einzige Waffe, und er trug keinen Helm. Im Köcher, den er auf dem Rücken trug, steckten viele Pfeile. Das Mädchen redete in einer fremdartigen Sprache auf ihn ein. Der Mann nickte und kam Craig mit dem Zeichen des Friedens entgegen. »Ich habe Beric erklärt, daß du gekommen bist, um mit dem Piloten zu sprechen«, sagte Fiona. »Und daß du einen Toparr getötet hast.« »Ist es denn eine so großartige Sache, einen Toparr zu töten?« Die unverhohlene Bewunderung in den hellen Augen des Mannes machte Craig verlegen. »Sie sind nicht so leicht zur Strecke zu bringen«, antwortete Fiona lächelnd. »Ein Pfeil muß sie schon genau in den Hals treffen. An allen anderen Stellen erzielt er keine Wirkung. Ihre Haut ist so dick, daß der Pfeil einfach abprallt.« Craig erinnerte sich, daß die Besatzungen der Raumschiffe überrascht worden waren, als sie in diese »Gegenwart« versetzt wurden, von dem das Mädchen sprach. Andernfalls hätten sie sich beim Auftauchen der Toparrs bestimmt zur Wehr gesetzt. Nur dem glücklichen Umstand, daß er den Metallstab gefechtsbereit in der Hand hielt, hatte er es zu verdanken, daß ihm dieses Schicksal erspart geblieben war. Fiona redete weiter in der fremdartigen Sprache, und Craig sah die neidischen Blicke, die der Mann auf den Metallstab
warf. Hundert solche Waffen, sagten die klaren, blauen Augen, und die Toparrs werden uns nicht länger in die Wälder vertreiben. Der Mann brummte dem Mädchen ein paar Worte zu. Sie wandte sich an Craig. »Beric meint, daß die Toparrs bestimmt herkommen werden, wenn der Mann, den du getötet hast, nicht zurückkehrt. Dann wird es zu einer großen Jagd kommen.« »Gibt es irgendeine Möglichkeit, in das Drüben einzudringen?« fragte Craig. »Wir haben viele Waffen in den Raumschiffen und könnten kurzen Prozeß mit den Toparrs machen.« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Das ist uns noch nie gelungen. Nur die Toparrs verstehen es, von drüben in unsere Welt zu kommen. Wir haben nicht die geringste Ahnung, wie sie das anstellen.« Sie ergriff seine Hand und führte ihn zu einem schmalen Weg, der sich zwischen den Baumstämmen hindurch schlängelte. Craig winkte dem Mann mit Pfeil und Bogen noch einmal zu, und dieser blickte ihnen nachdenklich nach. Der Weg führte über kleine Lichtungen. Fiona wich diesen Lichtungen stets aus und machte einen Umweg zwischen den Bäumen hindurch. Das war eine Vorsichtsmaßnahme, erklärte sie Craig, damit die Toparrs ihr verstecktes Dorf nicht finden konnten. »Sie haben schon oftmals Ausschau nach diesem Dorf gehalten. Bislang haben wir Glück gehabt. Sollten sie uns eines Tages in unserem Dorf überraschen, ist es um uns geschehen.« Sie beschleunigte den Schritt. Der Wald lichtete sich, und durch die Äste eines Baumes hindurch sah Craig im Hintergrund eine Rauchspirale aufsteigen. Er hörte, wie irgendwo in der Nähe ein Baum gefällt wurde, und aus der
Ferne drang Kindergeschrei an sein Ohr. Das Dorf war wirklich gut getarnt, sagte er sich. Abgesehen von der Rauchspirale und dem Kindergeschrei wäre er nie auf den Gedanken gekommen, daß sich hier ein Dorf befinden könnte. Er sah ein paar Holzhäuser vor sich aufragen. Fiona führte ihn über die Lichtung. Alle Leute hielten in der Arbeit inne und starrten den Mann mit dem Metallstab über der Schulter an. Fiona ging in stolzer Haltung über die Lichtung, als würde sie einen seltenen Schatz ins Dorf bringen. Na, in gewisser Weise hatte sie damit sogar recht, sagte sich Craig. Das Mädchen strebte auf die Veranda vor einer großen Halle zu, und als sich dort ein Mann aus dem Schatten löste und ihnen entgegentrat, blieb sie stehen. »Ich bringe einen Mann, der den Piloten und seine Freunde sucht. Er heißt John Craig.« Der Mann machte eine kurze Bewegung mit dem Speer in seiner Hand und nickte. »Geh hinein, Fiona. Der Pilot und Häuptling Rhyddoan sind drinnen.« Es kam Craig vor, als wäre er auf einer Wanderung in die ferne Vergangenheit, als er Fiona die Treppe hinauf in die Halle folgte. Die Holzwände waren mit Waffen bedeckt: Schwerter, Kampfschilde in leuchtenden Farben, Speere, Bogen und Pfeile. In der dunklen Ecke saß ein alter Mann in einem ausgefransten Pelzmantel. Seine Finger strichen über die Saiten einer Harfe aus Bronze. Die Klänge erfüllten den ganzen Raum. Der Alte nickte Craig lächelnd zu und stellte das Harfenspiel ein. Craig blieb vor dem kleinen Podest stehen, auf dem ein großer Mann leicht vorgebeugt saß und ihn aus hellen Augen unter den buschigen Brauen hervor betrachtete. Seine Kleidung unterschied sich kaum von der der anderen Männer; der Stoff
schien lediglich aus besserem Material zu sein, und um die Hüften trug er einen goldverzierten Gürtel. Er trug drei massive Goldringe mit roten Edelsteinen an den Fingern. Seine muskulöse Hand ruhte auf einem Schwertgriff. Das Schwert steckte in einer roten Lederscheide. Während Häuptling Rhyddoan sitzenblieb, sprang der neben ihm hockende Mann auf. Er trug die zerfetzten Reste einer Offiziersuniform. Craig sah das goldene Abzeichen des Navigators an seinem Kragen. Er war noch nicht alt, hatte aber bereits graues Haar. Er stellte sich als Waldon Grenvil vor. Craig trat mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, um der militärischen Ehrenerweisung zuvorzukommen, die seinem Rang zustand. »Freut mich, Sie zu sehen, Navigator«, sagte er und tauschte einen festen Händedruck mit ihm. Der Mann spähte hoffnungsvoll über Craigs Schulter. »Sie kommen allein? Es gibt keine… anderen?« »Ja, ich bin allein gekommen. Wir haben zwei Flotten in das Enigma geschickt. Niemand – « »Zwei?« rief der Navigator aus. Dann ließ er seufzend die Schultern hängen. »Dann waren wir also die erste dieser beiden Flotten. Es liegt schon so lange zurück.« »Drei Jahre«, sagte Craig und wandte sich Häuptling Rhyddoan zu. Fiona hatte ihm inzwischen berichtet, wie sie den Commander getroffen und daß er einen Toparr getötet hatte. Das schien großen Eindruck auf Rhyddoan zu machen, denn er bot Craig einen Platz an seiner rechten Seite an. Fiona blieb vor ihnen stehen. Der Häuptling sprach mit einer leisen, wohlklingenden Stimme, und Fiona übersetzte.
»Als Häuptling der Rhydd bin ich keiner Fremdsprachen mächtig, denn meine Aufgaben liegen auf einem anderen Gebiet. Um so etwas zu lernen, muß man einen jungen Kopf haben… wie Fiona. Ich, Rhyddoan, habe die Männer von der anderen Seite hier willkommen geheißen. Da unsere Unterkünfte nicht ausreichten, sie darin aufzunehmen, haben sie sich hier ganz in der Nähe eine kleine Siedlung aufgebaut. Als die Toparrs kamen, setzten sie sich tapfer zur Wehr, ohne zu verraten, daß wir ihnen geholfen hatten. Dafür waren wir Rhydd ihnen besonders dankbar.« Der Häuptling atmete tief ein und nickte dem Navigator zu. Grenvil setzte den Bericht fort. »Ich gehörte auch zu jenen, die von den Toparrs geschnappt wurden, aber da ich schwer verwundet war, ließen sie mich zurück. Ein Jäger spürte mich unter einem Gebüsch auf und brachte mich hierher in die Halle von Häuptling Rhyddoan. Seine Frau pflegte mich gesund. Wenn ich richtig mitgezählt habe, bin ich nun schon über drei Jahre hier.« Craig wartete, bis Fiona dem Häuptling Grenvils Worte übersetzt hatte. »Wer sind die Toparrs?« fragte er dann. »Wissen Sie mehr über sie als Fiona? Und über welche Waffen verfügen sie? Ich sah, wie einer von ihnen ein aus Energie bestehendes Lichtbündel warf. Haben sie viele von diesen Dingern?« »Sehr viele«, antwortete Grenvil, »aber meines Wissens ist es ihre einzige Waffe. Seit ich hier unter den Rhydd lebe, habe ich eine seltsame Tatsache erfahren. Nach den Legenden zu schließen, haben auch die Rhydd vor langer Zeit solche Waffen besessen. Sie nannten sie Das-Ding-das-eine-helleFlamme-ausstrahlt-die-alles-verzehrt.« »Wie sind die Toparrs in den Besitz dieser Waffe gekommen?«
Grenvil schüttelte den Kopf. »Das weiß niemand. Es weiß auch niemand, wie die Vorfahren der Rhydd, die seinerzeit in der Stadt Uphor lebten, wo Fiona Sie fand, diese Waffen und die Kenntnis zu ihrer Anfertigung verloren haben.« Er hielt inne und fuhr dann langsam fort: »Und ferner weiß niemand, wer oder was die Toparrs sind und woher sie kommen. Es ist lediglich bekannt, daß sie von Drüben in das Jetzt kommen.« »Zeitfelder?« fragte Craig nachdenklich. Der Navigator nickte. »Das wäre durchaus möglich. Ich habe auch schon daran gedacht – aber eine derartige Entdeckung ist bislang noch nicht einmal unseren Wissenschaftlern gelungen. Könnte das den Rhydd oder ihren Vorfahren bekannt gewesen sein?« »Das werden wir wahrscheinlich nie erfahren.« Craig dachte eine Weile nach. »Was hat es mit diesen von Ihnen erwähnten Legenden auf sich?« Fiona bewegte sich, und Grenvil lachte. »Das kann Ihnen das Mädchen erzählen. Sie hat diese Legenden studiert… zunächst weil ich etwas darüber erfahren wollte, aber dann aus eigenem Interesse.« »Die Erinnerungen einer Rasse leben oftmals in Form von Legenden fort«, murmelte Craig. »Der Trojanische Krieg wurde für ein Märchen gehalten, bis Heinrich Schliemann die Stadt Troja tatsächlich entdeckte. So verhielt es sich auch mit Molloral auf dem Mars und Phthisthon auf Centauri-5. Vielleicht können wir aus diesen Geschichten etwas über die Vergangenheit der Rhydd erfahren.« Fiona nickte aufgeregt; das dichte schwarze Haar flatterte um ihre Schultern. »Das sagt unser alter Harfenspieler Fiachra auch.«
Craig spürte eine Hand auf seiner Schulter. Er wandte sich um und sah den alten Harfenspieler hinter sich stehen. Der Mann hielt das Instrument unter den Arm geklemmt. Er nickte mit dem schlohweißen Kopf. »So ist es. Unsere ältesten Legenden besagen, daß wir vom Himmel herabgestiegen sind. Wir folgten einem Lichtstrahl vom Himmel bis herunter zu diesem Planeten, um hier zu leben. Ein Teil dieser Legende besagt, daß wir im Herzen von Rhythane geboren wurden und dort aufwuchsen.« Craig hob die Hand, und Fiona, die die Worte des Harfenspielers übersetzt hatte, hielt inne und atmete tief ein. »Im Herzen von Rhythane?« fragte Craig. »Rhythane ist der Name unseres Gottes. Wir wurden in ihm geboren und wuchsen dort auch auf. Als wir das entsprechende Alter und die erforderliche Klugheit erreicht hatten, schickte er uns auf einem Lichtstrahl zu dieser Welt, um hier unsere Städte zu bauen, fruchtbar zu werden und uns zu vermehren.« Die Rhydd waren also von einem anderen Planeten gekommen, das mußte gewesen sein, ehe das Enigma dieses kleine Sternensystem mit seiner dunklen Hülle umgab. Er fragte Fiona nach dem Enigma und ob aus den Legenden etwas, über am Himmel leuchtende Sterne hervorging. Sie starrte ihn verdutzt an. Grenvil lachte. »Die Rhydd haben kein Wort für Sterne. Das ist vielleicht die Antwort auf Ihre Frage, Commander. Natürlich haben sie keinen Namen für etwas, das sie noch nie gesehen haben.« Craig sah ein paar Frauen, die sich in der Halle zu schaffen machten. Sie zündeten die Fackeln in den Wandringen an. Draußen war es bereits dunkel. Männer trugen Tische und Bänke herein und bereiteten alles zum Abendessen vor. Craig merkte, wie hungrig er war.
Häuptling Rhyddoan sagte ein paar Worte zu dem Mädchen. Sie sah Craig an und deutete auf den Metallstab. »Der Häuptling möchte gerne die Wirkung deiner Waffe sehen, John. Kannst du sie auf etwas richten, das nicht lebt?« Als Craig nickte, klatschte Fiona in die Hände und rief einen Befehl. Zwei Männer brachten eine Holzbank herbei. Sie setzten sie etwa einen Dutzend Schritte vor Craig ab. Der Commander sah, daß alle in der Halle anwesenden Personen die Arbeit unterbrachen. Männer und Frauen drängten sich am Eingang, um einen Blick in die Halle zu erhaschen. »Was bewirkt dieses Ding?« fragte Grenvil, während Craig die Hand an die Metallscheibe legte. »Es implodiert die Atome.« Der Navigator stieß einen leisen Pfiff aus. »Also eine neue Erfindung.« »Speziell für das Enigma angefertigt. Ich habe noch zwei weitere neue Waffen in diesem Behälter. Jetzt passen Sie mal auf.« Der Metallstab begann zu leuchten. Craig richtete den rötlichen Strahl auf die Holzbank und betätigte den Abzug. Der Lichtstrahl erstreckte sich vom Metallstab bis zur Holzbank. Ein implosiver Knall breitete sich in der Halle aus. Frauen schrien auf. Der hinter Craig stehende Navigator stieß einen leisen Fluch aus. Fiona starrte ihn an, als wäre er der in diese Welt herabgestiegene Gott Rhythane. Der Häuptling lehnte sich auf seinem Platz weit zurück und hielt den Blick seiner weit aufgerissenen Augen auf die Stelle gerichtet, wo eben noch die Holzbank gestanden hatte. Dann starrte er Craig an. In seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Ehrfurcht, Angst und einer grimmigen Entschlossenheit. Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und machte eine Handbewegung.
»Kannst du weitere dieser Waffen anfertigen?« übersetzte Fiona die Frage des Häuptlings. »Wenn ich meine Krieger mit solchen Waffen ausrüsten könnte, hätten wir leichtes Spiel gegen die Toparrs.« Craig schüttelte den Kopf. »Dieses Gerät ist speziell für mich angefertigt worden, um mir beim Eindringen in das Enigma zu helfen und mir eine Verteidigung gegen etwaige Gefahren zu ermöglichen.« Er versuchte, dem Häuptling das Enigma zu erklären. Fiona berichtete ihm, daß es das Enigma schon immer gegeben hätte. Selbst aus den ältesten Legenden ging nichts anderes hervor, als daß es immer dagewesen wäre. Craig führte ihnen vor Augen, daß aus ihren eigenen Legenden hervorging, wie sie vom Himmel auf diese Welt herabgestiegen wären. Folglich mußten sie ursprünglich von einem Planeten außerhalb des Enigma gekommen sein, denn innerhalb des Enigma gab es keine Weiteren bewohnbaren Planeten. Der Häuptling und Fiona starrten ihn an. Die dunkle Hülle hatte schon immer existiert. Sie kannten weder andere Sterne noch andere Planeten. Sie befanden sich hier auf einer Welt, die von allem abgeschlossen war. Der alte Fiachra stützte das schlohweiße Haupt in die Hand und brütete vor sich hin, während junge Mädchen in der Halle die Suppe, ein Fleischgericht und frischgebackenes Brot auftrugen. Von Zeit zu Zeit richtete er sich auf, stimmte einer Bemerkung seines Häuptlings zu oder widersprach einer Aussage von Craig oder vom Navigator. »Wir haben keine Erinnerung an eine solche Reise durch die Dunkelheit«, sagte er und hielt den Blick in eine weite Ferne gerichtet, die den anderen verschlossen blieb.
»Sollte es sich wirklich so verhalten, wie ihr es beschreibt, dann würde in den alten Legenden bestimmt etwas erwähnt werden.« »Vielleicht sind diese sogenannten alten Legenden nichts als Ammenmärchen«, sagte Grenvil. Fiachra drehte sich langsam um. Ein stolzer Ausdruck lag auf seinem alten Gesicht. Ein leiser Luftzug huschte durch das schlohweiße Haar. So mochte Moses ausgesehen haben, dachte Craig. Der Alte machte eine majestätische Handbewegung. »Hinter diesen Wäldern stehen die Monumente unseres Volkes: die Städte von Rhydd, die jetzt zu Ruinen verfallen sind, und die Bahn, die unter der Erde verläuft. All das sind gigantische Werke eines Volkes, das seinen Gott im Herzen trug. Wir, die Nachkommen der Rhydd, erleben schlechte Zeiten. Wir haben viel vergessen. Das ist zum Großteil die Schuld der Toparrs, die uns vor langer Zeit aus den Städten vertrieben und viele von uns gefangen genommen haben. Wir können nicht an ein friedliches Leben denken, weil wir ausschließlich danach trachten müssen, zu überleben.« Er bückte sich und kratzte mit dem Fingernagel im Staub auf dem Boden. »Auch die Kunst und den Zauber des geschriebenen Wortes haben wir vergessen.« Craig folgte den Bewegungen des alten Fingers, der seltsame Zeichen in den Staub zu schreiben schien. Eine merkwürdige Erregung stieg in ihm auf. Wenn es ihm gelang, diese Sprache zu erlernen und in den Ruinen von Uphor alte Schriften zu entdecken, würde er die Lösung dieses Rätsels vielleicht finden. »Rhythane«, flüsterte der alte Harfenspieler. »Der Name eures Gottes«, nickte Craig.
»Als ich noch ein Junge war, hat mein Vater mich diesen Namen schreiben gelehrt. Ich habe das alles in alten Blättern aufbewahrt. Eigentlich wollte ich es meinem Sohn vererben, aber meine Frau starb bei der Geburt, und ich hatte nicht das Herz, noch einmal zu heiraten. Ich habe keinen Sohn, dem ich die alten Schriften vererben und erklären könnte, so daß er dieses Wissen mit in die Zukunft nimmt.« Craig kniete sich auf den Boden. Sein Finger folgte den seltsamen Schriftzeichen. »Zeig mir diese Blätter und erklär mir ihre Bedeutung, Fiachra. Sag mir alles so, wie du es deinem eigenen Sohn gesagt hättest.« »Gut, ich werde dich alles lehren.« Craig ging zu seinem Platz am Tisch. Er war zwar in seinen Nachforschungen über den Verbleib der verschwundenen Raumflotten noch keinen Schritt weitergekommen, aber er spürte, daß er zumindest einen Anfang gemacht hatte. Wenn es ihm gelang, das Rätsel der Rhydd zu lösen, würde sich alles andere vielleicht ganz von selbst ergeben. Im Augenblick schlug er sich alle Probleme aus dem Kopf und dachte nur an seinen Hunger. Die aufgetragenen Gerichte waren sehr schmackhaft. Er wußte nicht, inwieweit das auf seinen Hunger zurückzuführen war, und griff tüchtig zu, bis Schüsseln und Teller leer waren. Dann spürte er seine Müdigkeit. Sie erstreckte sich durch seinen ganzen Körper und hängte sich wie Bleigewichte an seine Arme und Beine. Er döste eine Weile vor sich hin. Zwei große, strahlende Augen betrachteten ihn. Er hielt sie für die Augen des Gottes Rhythane. Es gab keinen Körper, keine Stimme – nur diese leuchtenden Augen, die ihn forschend betrachteten, als wollten sie ergründen, welche Fähigkeiten in ihm steckten.
Eine Hand legte sich auf sein Handgelenk und riß ihn in die Wirklichkeit zurück. Fiona lächelte ihn zärtlich an. »Komm, John Craig. Im Quartier des Häuptlings steht ein Lager für dich bereit. Dort schläft auch dein Freund.« Dankbar richtete er sich auf und folgte dem Mädchen aus der Halle. Er sah die Blicke der Rhydd auf sich gerichtet und vergaß nicht, den Metallstab und den Behälter mit den anderen Geräten mitzunehmen. Unwillkürlich fragte er sich, ob die leuchtenden Augen des Gottes ihn noch immer forschend betrachteten.
4
Die Stadt Uphor war vor langer, langer Zeit erbaut worden. Craig wanderte zwischen den Ruinen umher und betrachtete die Blöcke der ehemaligen Häuser. Das Gestein war von Regen und Wind verwittert, so daß nur noch die Überreste der Fresken und Arabesken zu erkennen waren. Unter Fionas jugendlich unbekümmertem Gelächter wirkte die Stadt noch älter. Sie lief voraus, drang hier und dort in einen dunklen Hausgang ein und blieb minutenlang verschwunden. »Ich habe mich noch nie in diese Bauten hineingewagt«, erklärte sie ihm lachend. »Das haben nicht mal die Krieger des Häuptlings Rhyddoan gewagt. Aber solange du bei mir bist, bin ich zu allem bereit.« »Na schön, geh aber nicht zu weit weg, denn du könntest einem Toparr in die Hände fallen.« Er wollte in Uphor vom Zentrum aus zu den Rändern vordringen. Irgendwo mußte er auf einen Anhaltspunkt stoßen, der erkennen ließ, wie der Gott Rhythane sein Volk der Rhydd auf diesen Planeten Rhyllan geschafft hatte. In der Theorie hörte sich das recht gut an, aber in der Praxis sah es wie immer ganz anders aus. Die meisten Räume der Häuser waren seit Jahrhunderten nicht mehr benutzt worden, wie schon aus der dicken Staubschicht hervorging, die alles bedeckte. Bei jedem schnellen Schritt drang Fiona der Staub in die Kehle, und sie begann zu husten und zu keuchen. Es war eine ermüdende Aufgabe, doch so leicht war Commander John Craig nicht bereit, die Flinte ins Korn zu werfen.
»Jemand muß das alles vor langer Zeit sorgfältig durchsucht haben«, sagte er während des Abendessens zu Waldon Grenvil. »Vielleicht die Toparrs?« murmelte der Navigator. »Schon möglich. Fiona, haben eure Männer je etwas aus den alten Ruinen herausgeholt?« Fiona saß so dicht neben ihm, daß sich ihre Schultern und Schenkel gelegentlich berührten. Craig stellte amüsiert fest, daß sie schamlos mit ihm flirtete. Offensichtlich hatte sie ihren Anspruch auf diesen Mann deutlich zu erkennen gegeben, denn die anderen Frauen und Mädchen hielten sich im Hintergrund. Sie nickte eifrig. »O ja! Metallstücke und Kleider, die unser Leben hier erleichtern. Aber das war schon vor langer Zeit! Die Kleider sind längst aufgebraucht, und das Metall wurde zu Pfeilspitzen oder Dolchen verarbeitet.« »Und wer hat den Rest aus den Ruinen geholt?« »Die Toparrs natürlich. Sie kommen noch immer von Zeit zu Zeit in die Stadt, als würden sie etwas suchen. Wir haben sie aus unseren Verstecken beobachtet.« »Worauf könnten sie es wohl abgesehen haben?« fragte Grenvil nachdenklich. »Wahrscheinlich haben sie den Auftrag, sich immer wieder davon zu überzeugen, daß die Rhydd nicht in die Stadt zurückgekehrt sind.« Da kam Craig ein Gedanke, und er wandte, sich an das Mädchen. »Warum kehrt ihr eigentlich nicht in die Stadt zurück, um dort zu leben? Es wäre doch wesentlich besser als hier in den Wäldern.« »Zunächst haben es einige von uns versucht, aber das hat zu ihrem Tod geführt. Es war, als würde ein Fluch über der Stadt liegen, der jeden umbrachte, der dort auftauchte. Nach einiger
Zeit gab unser Volk jeden Gedanken an eine Rückkehr in die Stadt endgültig auf.« Grenvil sah Craig an. »Ein Fluch? Vielleicht eher ein Atomreaktor, der nicht länger unter Kontrolle stand? Sie mußten doch während der kalten Wintermonate eine Art Heizung in der Stadt haben, und in den heißen Sommermonaten Kühlung oder eine Klimaanlage.« »Ja, es könnte sich um radioaktive Strahlungen handeln. An welchen Symptomen sind die Leute jener Zeit gestorben, Fiona?« »Zunächst ein starkes Schwindelgefühl, verbunden mit einer unerklärlichen Müdigkeit. Dann bildeten sich schwarze Blasen am Körper, und die Hände begannen unförmig anzuschwellen. Das Blut gerann in den Adern, und das Fleisch begann zu faulen. Soweit mir bekannt ist, war es mit großen Schmerzen verbunden.« Grenvil schnitt eine Grimasse und nickte. »Ja, und im Laufe der langen Zeit haben die Strahlen mehr und mehr an Wirkung verloren, so daß es in dieser Beziehung jetzt in der Stadt völlig sicher ist«, sagte Craig. »Damit ergibt sich jedoch eine weitere Frage: wo befinden sich diese nunmehr ausgebrannten Reaktoren?«
Er entdeckte sie am nächsten Tag hinter einer schweren Metalltür im Untergeschoß eines Gebäudes. Es kostete ihn drei Stunden Arbeit, die schwere Tür zu öffnen. Er sah sich alles genau an und verließ kopfschüttelnd den Raum. An diesem Tage machten sie keine weiteren Entdeckungen. Bei der Rückkehr ins Dorf sahen sie eine Gruppe von Männern und Frauen um einen am Boden liegenden toten Jungen stehen. Der Junge hatte sich zu weit vom Dorf entfernt und war von einem Alikan angefallen worden. Nach Fionas
Beschreibung handelte es sich um ein Raubtier von der ungefähren Größe eines Panthers. Ein Jäger hatte das Raubtier mit seinem Speer verjagt, doch der Junge war nicht mehr zu retten gewesen. Schweigend sah Craig zu, wie der kleine Tote zur Bestattung in eine Decke gehüllt wurde. Sein Teller, ein kleines Holzschwert, ein Bogen mit einem Köcher voller Pfeile und ein Tierfell wurden dazugelegt. Als Craig das sah, hielt er unwillkürlich den Atem an. Grenvil betrachtete ihn mit einem Seitenblick. »Ist etwas?« »Ja! Ich habe heute in der Stadt einen alten Reaktor entdeckt, der in seiner Kammer wie in einem Grabgewölbe stand. Es ist eine alte Gewohnheit, den Verstorbenen Gegenstände mitzugeben.« Er war so erregt, daß er am liebsten auf der Stelle nach Uphor zurückgefahren wäre – doch der alte Harfenspieler Fiachra redete ihm diesen Plan aus. »Selbst die erfahrensten Krieger und Jäger unseres Stammes fahren bei Nacht nicht in die Stadt, denn zu dieser Zeit wimmelt es dort von Alikans und Thudans. Vielleicht könntest du mit deiner Waffe, dem Metallstab, durchkommen, aber wozu willst du ein solches Risiko eingehen?« Craig mußte ihm beipflichten. Er ging zu Fiona, die an einer Spindel saß und emsig an einem Kleid arbeitete. Er setzte sich auf einen Stuhl und sah ihr zu. »Wo haben die Leute von Uphor eigentlich ihre Toten begraben, Fiona? Wir haben noch keinen Friedhof oder etwas dergleichen gesehen. Haben sie die Toten etwa verbrannt und die Asche vergraben?« Sie hielt in der Arbeit inne und starrte ihn stirnrunzelnd an. »Die Toten? Das weiß ich nicht. Ich glaube kaum, daß es jemand weiß. Ich habe noch nie ein Grab gesehen.«
»Da sie gestorben sind, müssen sie doch irgendwo begraben sein.« Sie nickte; ein nachdenklicher Ausdruck trat in ihre braunen Augen. Sie war zweifellos ein Mädchen von großer Intelligenz, und sie konzentrierte sich jetzt auf eine Antwort zu der Frage. »Du hast, den kleinen Jungen und die Sachen gesehen, die sie ihm mitgegeben haben. Und du glaubst, daß den Toten in der Stadt ebenfalls Gegenstände mitgegeben wurden. O ja… das wäre durchaus möglich. Morgen bei Sonnenaufgang werden wir die Gräber suchen.« Sie sprang auf und umklammerte seine Hand. »Komm, wir gehen jetzt zu Fiachra. Er ist der einzige, der uns vielleicht etwas darüber sagen kann. Er hat die Vergangenheit unseres Volkes in seinem Gehirn gespeichert.« Craig wußte, daß vor den schriftlichen Überlieferungen die mündlichen gelegen hatten. So hatte es sich in allen Kulturen der Welt verhalten. Irgendwie mußte er diesem Rätsel auf die Spur kommen, das das Enigma und damit auch diesen Planeten Rhyllan umgab. Fiachra schlug einen Akkord auf seiner Harfe an. Die Saiten vibrierten wie Donnergrollen über den fernen Bergketten. Als Fiona vor ihm kniete und ihm Craigs Anliegen vortrug, spielte ein Lächeln um seine Lippen. Er schlug ein paar weitere Akkorde an, als könnte er bei diesen Klängen besser nachdenken. »Vor langer Zeit lernte ich die Legende über den Tod von Gakan Nor. Er war damals, als die Leute noch in Uphor lebten, ein großer Häuptling. Ich will versuchen, mich an die einzelnen Verse zu erinnern, die ich vor vielen Jahren als junger Mann gelernt habe. Wollen mal sehen… es ging etwa so – « Er zupfte erneut an den Saiten seines Instruments und besang den Heldentod des großen Häuptlings Gakan Nor.
Als das Lied beendet war, legte Fiachra die Hände auf die Harfensaiten, saß einen Augenblick mit gesenktem Kopf und blickte dann auf. »Ich habe dieses Lied schon sehr lange nicht mehr gesungen und hatte die Legende über den großen Gakan Nor fast vergessen.« Er hielt inne, brütete eine Weile vor sich hin und fuhr dann seufzend fort: »Es heißt, die damaligen Helden wären zu jener Zeit tief unter der Stadt begraben worden, damit niemand ihren letzten Schlaf stören könnte. Da unten liegen sie nun und erwarten den Tag, an dem ihr Gott Rhythane sie erwecken und ihnen das ewige Leben verleihen wird.« Craig nickte. Eine menschenähnliche Rasse denkt auch in der Art der Menschen. Einem Toten wird sein kostbarster Besitz mitgegeben. Wenn es ihm gelang, die Gruft eines Geschichtsforschers zu entdecken, könnte er dort vielleicht längst vergilbte Geschichtsbücher finden, um sie als Anhaltspunkt zu verwenden. Er bedankte sich bei Fiachra und ging mit Fiona vor die Halle. Es war ein warmer, ruhiger Abend. Die fernen Planeten zeichneten sich zu dieser Jahreszeit wie Stecknadelköpfe gegen den dunklen Hintergrund ab. Er wurde sich bewußt, wie weit er von seiner Heimat entfernt war. Elva Marlowe und Commander Dan Ingalls waren weit, weit weg. Wenn er wollte, konnte er in dieser Welt bleiben und an der Seite der hübschen Fiona glücklich werden. Er spürte den Druck ihrer warmen Hand. Sie blickte zu ihm auf, als könnte sie seine Gedanken erraten. Ein unergründlicher Ausdruck stand in ihren braunen Augen. Von ihrem vollen, dunklen Haar ging ein leiser Duft aus. Commander John Craig zog sie unvermittelt an sich und küßte sie. Sie schmiegte sich eng an ihn und verharrte eine Weile reglos in seinen Armen.
»Geh nicht mehr in die Stadt Uphor, John«, flüsterte sie dann. »Bleib hier mit mir im Dorf. In den Gräbern könnten schreckliche Dinge auf dich warten.« Es war eine starke Versuchung. Es wäre ja so einfach, die Pflicht zu vergessen, mit diesem Mädchen an der Seite ein neues Heim zu gründen und in diesem Paradies zu leben und glücklich zu werden. Er konnte sich nicht erinnern, je in eine so große Versuchung geraten zu sein. »Ich muß darüber nachdenken«, erwiderte er lächelnd. Fiona klammerte sich an ihn, und Craig fragte sie, ob sie wohl instinktiv spürte, wie schwach er in diesem Augenblick war. Ihre Fraulichkeit hüllte ihn ein und suchte ihn zu verführen. Er küßte sie noch einmal. Dann wandte er sich um und kehrte mit ihr in die Halle zurück. Am nächsten Morgen war sie wieder die übermütige, strahlende Kameradin und lief lachend vor ihm her. Das dunkle Haar flatterte um ihre Schultern, und sie stellte ununterbrochen Fragen und ließ sich alles genau erklären. Er schüttelte wiederholt den Kopf. »Nein, ich weiß nicht, wo wir anfangen können. Ja, ich glaube, es wird mir weiterhelfen, wenn wir die Grabstätten finden. Vielleicht werden wir heute einem Toparr begegnen. Nein, ja. Ein Mädchen in meiner Heimat? Nun ja, ich kenne ein paar. Eine ganz besonders. Sie heißt Elva. Wie du? O nein, nein.« Nein, kleine Fiona mit dem dunklen Haar und der sonnengebräunten Haut und der strahlenden Jugend – nein, sie ist nicht wie du. Gegen dein Feuer ist sie Eis, und wenn du unbekümmert lachst, schweigt sie. Es war, als würde sich ein Ring um Craigs Herz spannen. Er dachte an diese beiden Frauen, die er liebte – jede auf eine andere Art.
Ein stiller Morgen lag über Uphor. Craig richtete sein Augenmerk vornehmlich auf solche Stellen, wo die Grabstätten liegen könnten. Der alte Fiachra hatte ihm die Symbolzeichen des Todes erklärt, und er hielt an den Häuserfronten Ausschau nach diesen Zeichen. Endlich fand er diese verwitterten Zeichen an der Wand eines kleinen Gebäudes, das wie ein Tempel wirkte. Hier entdeckte er hinter einem verwitterten Marmoraltar einen dunklen, in die Tiefe führenden Schacht. Er zündete eine Fackel an und ging die schmale Steintreppe hinunter. Fiona hielt sich dicht hinter ihm und sah sich immer wieder ängstlich um, als fürchtete sie, hier irgendwelchen Geistern zu begegnen. Die einzelnen Grüfte waren mit Namen und Daten versehen, die in die Grabsteine eingemeißelt waren. Craig schrieb sich einige dieser Zeichen auf. Vielleicht konnte ihm der alte Fiachra etwas mehr darüber sagen. Die Grabstätten lagen tatsächlich tief unter der Stadt. Er entdeckte ein altes vergilbtes Buch. Dann fand er ein Stück ausgeblichenen Stoff, auf dem zwei Planeten durch einen Lichtstrahl verbunden dargestellt waren. In einer dritten Gruft entdeckte er etwas, das wie eine Waffe aussah. Es war lang und dünn, aus Metall und mit einem Bügel versehen, der vielleicht als Abzug gedient hatte. Da er hier unten nicht zu experimentieren wagte, legte er die Sachen zusammen. Dann stieß er auf eine Streitaxt, die trotz ihres offensichtlichen Alters nicht einen einzigen Rostfleck aufwies. Der Griff war aus Horn geformt. Craig nahm die Axt und spähte im zuckenden Lichtschein der Fackel in die Gruft. Sarg und Körper waren natürlich längst zu Staub verfallen, aber nach den Umrissen der Staubschicht zu schließen, mußte es sich bei diesem Toten um einen wahren Hünen gehandelt haben.
Gakan Nor? Konnte dies seine letzte Ruhestätte sein? Er wollte sich bei Fiachra danach erkundigen. In diesen unterirdischen Gewölben verlor er jedes Gefühl für die Zeit. Diese Grüfte faszinierten ihn. Es waren so viele Anhaltspunkte über die Vergangenheit, die er nur noch richtig zu interpretieren brauchte. Eine tote Welt, eine vergessene Vergangenheit ruhte in diesen Gewölben. Es war seine Aufgabe, diese Vergangenheit zu neuem Leben zu erwecken. Es war schon dunkel, als sie sich auf den Rückweg zum Dorf machten. Vorsichtig trug Craig das Buch und die Streitaxt in der Hand, während der Stoffrest im Behälter verstaut war. Jetzt wünschte er sich sein Raumschiff herbei, denn mit den Instrumenten an Bord hätte er diese Gegenstände auf Film festhalten können, ehe sie endgültig zu Staub zerfielen. Aber er mußte sich mit dem zufrieden geben, was ihm zur Verfügung stand. Die Dorfbewohner hatten sich schon Sorgen wegen ihres langen Ausbleibens gemacht. Ein paar Jäger kamen ihnen entgegen. Craig sah den Schein ihrer Fackeln schon von weitem und eilte mit Fiona an der Hand auf sie zu. Da schrie Fiona plötzlich schrill auf. »John – da drüben! Ein Toparr beobachtet uns!« Er sah die gelbliche, am Boden kauernde Gestalt mit den übergroßen Augen. Im Bruchteil einer Sekunde hielt Craig den Metallstab gefechtsklar und drückte ab. Der Toparr wurde von dem rötlichen Lichtstrahl erfaßt. Die beiden Bäume, zwischen denen er stand, lösten sich auf, und im nächsten Augenblick war auch der Toparr verschwunden. Die Jäger hatten Fionas Aufschrei gehört und den rötlichen Lichtstrahl gesehen. Sie warfen sich der Länge nach zwischen den Bäumen ins Gras und spannten ihre Bogen. Fiona schmiegte sich ängstlich an Craig.
»Wer weiß, wie oft sie uns schon auf diese Weise unbemerkt beobachtet haben!« schluchzte sie. »Na, na«, beruhigte er sie und strich ihr behutsam über das Haar. »Es war doch nur einer.« Doch ein Toparr genügte vollkommen, um die Lage des Dorfes an seine Kollegen zu verraten, dachte Craig. Es war durchaus möglich, daß hier schon öfter Toparrs gelauert und sie beobachtet hatten. Sobald sie ihrer Sache ganz sicher waren, würden sie zweifellos über das Dorf herfallen. Die Krieger und Jäger durchforschten mit ihren Fackeln den ganzen Wald, ohne jedoch die Spur eines weiteren Toparrs zu finden. Augenscheinlich war der getötete Toparr allein gewesen. Craig hoffte es jedenfalls. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen, wenn er daran dachte, was aus seinen Freunden werden könnte, wenn eine ganze Horde von Toparrs über das Dorf herfiel. In dieser Nacht schlief kaum jemand im Dorf. Rhyddoan inspizierte seine Krieger und stellte Posten auf. Sie wurden in zwei Schichten eingeteilt. Die Posten in den Wäldern sollten bei der Annäherung der Toparrs das verabredete Warnzeichen geben, damit die Männer im Dorf sich auf den Kampf vorbereiten konnten. »Wir werden bereit sein«, versprach der Häuptling. Während des späten Nachtmahls, das Craig und Fiona gemeinsam einnahmen, breitete er den alten Stoffetzen auf dem Tisch aus, damit Fiachra ihn genau betrachten konnte. Das vergilbte Buch legte er daneben. Beim Anblick des Stoffes krächzte der alte Fiachra aufgeregt vor sich hin. Liebevoll strich er mit dem Finger darüber. Seine Lippen bewegten sich, als würde er lautlos vor sich hin beten. »Dieser Stoff hier erbringt den endgültigen Beweis«, sagte er nach einer Weile zu Craig, der neben ihm kauerte. »Das ist der Planet unserer Geburt… das ist Rhythane.«
»Der Name eures Gottes? Der Name eures Planeten? Sie sind also ein und dasselbe?« fragte er und sah, wie der alte Mann mit dem schlohweißen Kopf nickte. »Ja. Vor langer Zeit wurden unsere Vorfahren auf diesem Planeten geboren. Lange lebten sie dort herrlich und in Freuden. Aus den alten Überlieferungen geht hervor, daß niemand zu arbeiten brauchte, denn der Gott sorgte für alles.« Er strich ehrfürchtig mit dem Finger über den Stoffetzen. »Das ist der Beweis, du Mann, der du aus einer anderen Welt kommst. Hier liegt es ganz klar vor deinen Augen. Auf diesem Lichtstrahl sind unsere Vorfahren durch den Weltraum zum Planeten Rhyllan gekommen. Der Grund dafür ist mir allerdings nicht bekannt.« Craig brütete vor sich hin. Was der Alte da sagte, war unmöglich. Außer Rhyllan gab es keinen bewohnbaren Planeten im System der weißen Sonne. Er beugte sich über den Fetzen und betrachtete den Planeten Rhythane, um sich ein Bild davon zu machen. Dabei erinnerte er sich an seine eigenen Feststellungen. Der erste Planet dieses Systems war eine brodelnde Masse aus geschmolzenem Metall gewesen. Dort konnte keinerlei Leben existieren! Der zweite Planet bestand aus einem Metallkern, der von Gaswolken umgeben war. Auch dort konnte kein Leben existieren. Er befand sich hier auf dem dritten Planeten, der den Namen Rhyllan trug. Der vierte, fünfte und sechste Planet waren kalt und tot gewesen. Die beiden letzteren waren über und über mit dicken Eisschichten bedeckt. Wie hätte eine menschliche Rasse dort geboren worden sein können? Oder auch auf dem Nachbarplaneten von Rhyllan? Craig runzelte die Stirn. Auch das war eine kalte, tote Welt. Die gesamte Oberfläche war mit Schnee bedeckt. Wenn es dort
je Wasser gegeben haben sollte, so war es längst zu Eis erstarrt. Menschen hätten dort nur existieren können, wenn diese Welt früher mal wesentlich wärmer gewesen wäre. Er wünschte, er könnte die Meßdaten der Sonden der Staraine noch einmal überprüfen. Sie könnten ihn vielleicht auf die richtige Spur führen. Fiachra lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Das Buch. Laß mich mal das Buch sehen. Fiona, ihr müßt sehr behutsam mit diesem Stoffrest umgehen. Ich werde ihn mir morgen im hellen Sonnenschein noch einmal ansehen. Doch jetzt zeigt mir das Buch.« Seine Hände zitterten vor Erregung. Als Craig ihm den alten, vergilbten Band vorlegte, kam er sich wie ein Schuljunge vor. Die Hände des Alten glitten noch behutsamer über das alte Buch als über die Saiten seiner geliebten Harfe. Ganz langsam öffnete er es. Fiachra senkte den Kopf. Seine Worte waren so leise, daß Craig sich näherdrängen mußte, um die einzelnen Worte zu hören. »Und in ihrer Verzweiflung bauten die Männer von Rhythane Boote aus Metall und baten den Gott Rhythane, diese Boote mit einer Antriebskraft zu versehen. In diese Boote kamen alle. Männer, Frauen und Kinder der Rasse sowie auch vielerlei Getier. Nachdem der Gott die Boote mit der erbetenen Kraft ausgestattet hatte, erhoben sie sich in den Weltraum und nahmen Kurs auf den Schwesterplaneten von Rhythane, wohin die Männer der Rhydd schon oftmals geflogen, aber stets zurückgekehrt waren. Doch diesmal würden die Menschen nicht mehr vom Planeten Rhyllan zurückkehren, sondern für alle Zeiten dort bleiben, weil…« Fiachra beugte sich stirnrunzelnd tiefer über das Buch.
»Ich kann dieses Wort nicht deuten. Es liest sich wie Gefahr, aber ich bin meiner Sache nicht sicher.« Er las weiter. Craig hörte aufmerksam zu. Anscheinend war der Planet ihrer Geburt von irgendeiner schrecklichen Gefahr bedroht gewesen, so daß die Rasse Zuflucht auf dem dritten Planeten des Systems suchen mußte. Hier hatten sie fortan ihr Dasein gefristet, Kinder gezeugt und die Toten begraben. Aber warum? Was hatte sie auf dem Planeten Rhythane bedroht? Und was für ein Gott war das, der sein Volk von einer Welt in die andere schicken konnte? Craig erkannte, daß das Buch als Allegorie geschrieben war. In Wirklichkeit hatte der Gott die Raumschiffe nicht mit der erforderlichen Antriebskraft ausgestattet… das war lediglich eine Redewendung. Vielleicht hatte Fiachra die Begriffe falsch ausgelegt. Schließlich bot sich ihm kaum noch Gelegenheit, etwas zu lesen. Möglicherweise maß er den geschriebenen Worten eine falsche Bedeutung bei. Es standen noch weitere Berichte in dem alten Buch, und sie hörten zu, bis die Fackeln niedergebrannt waren. Craig wußte nunmehr, daß er nicht ein Geschichtsbuch entdeckt hatte, sondern einen Band mit Geschichten und Erzählungen. Vielleicht war der Mann, in dessen Gruft er es gefunden hatte, Dichter gewesen. Häuptling Rhyddoan interessierte sich mehr für die Streitaxt als für das Buch oder den Stoffrest. Er saß auf seinem Podest, hielt die Axt im Schoß und ließ von Zeit zu Zeit die Hände darüber gleiten. Der Horngriff und die beiden scharfen Schneiden schienen ihn zu faszinieren. Ja, es könnte tatsächlich die Streitaxt des großen Gakan Nor sein, der des Wolla Kon, in dessen Lebenszeit als erste Auftauchen der Toparrs fiel. Eine Legende besagte, daß Wolla Kon viele der gelblichen Wesen erschlagen hatte. Als er in
hohem Alter starb, waren die Toparrs keine Gefahr mehr, und Wolla Kon wurde mit seiner Streitaxt begraben. »Keine Gefahr mehr? Aber…« Rhyddoan nickte. »Die Toparrs kamen später zurück, und diesmal hatten sie weitaus bessere Waffen als zuvor. Sie hatten die Taraths, die weißen Lichtkugeln aus Energie, und das Volk der Rhydd konnte wie heute nur mit Schwertern, Lanzen, Pfeil und Bogen kämpfen.« Craig schüttelte den Kopf. »Das kann ich einfach nicht verstehen. Ein Volk, das durch den Weltraum fliegen kann – vorausgesetzt, daß das stimmt – muß doch über bessere Waffen verfügen als Schwerter, Lanzen, Pfeil und Bogen.« Er nahm die lange Metallwaffe zur Hand, die er in einer Gruft gefunden hatte. »So etwas, zum Beispiel. Vielleicht ist es aber auch gar keine Waffe, ich weiß es nicht. Mein Instinkt sagt mir jedoch, daß es eine ist.« Fiachra ergriff den langen Gegenstand aus Metall, unterzog ihn einer gründlichen Prüfung und schüttelte den Kopf. »Ich kenne die Worte, nicht aber diesen Gegenstand.« Die anderen Männer, die den Tisch umdrängten, um sich die Gegenstände anzusehen, wußten es ebenfalls nicht. »Gibt es denn keine Legende über eine solche Waffe?« Fiachra sah ihn forschend an. »Es gab mal eine Zeit, da die Rhydd den Blitz und das Sonnenlicht einfangen konnten. Vielleicht stammt der Gegenstand aus dieser Epoche.« Craig drehte das Ding in den Händen. »Ich werde es testen, dann sehen wir weiter. Vielleicht funktioniert es nach der langen Zeit gar nicht mehr.«
»Es könnten noch weitere solcher Waffen in den Grüften liegen«, brummte Häuptling Rhyddoan. »Du kannst sie suchen, wenn du willst, Craig. Wenn mein Volk es lernt, solche Waffen anzufertigen, braucht es die Toparrs nicht länger zu fürchten.« John Craig nickte. »Ich werde morgen weitersuchen.«
5
Am folgenden Tag suchte Commander John Craig systematisch die Grabgewölbe ab. Er kroch mit Fiona von einem Mausoleum zum anderen. Sie fanden den Staub längst zerfallener Leiber, zerbrochenes Geschirr, Schmuckgegenstände – aber keine Waffen. An diesem Tage blieben sie nicht so lange in Uphor. Die absolute Stille des Todes in den Grabgewölben zerrte an Craigs Nerven. Im Verlauf seiner Abenteuer auf fernen Welten hatte sich in ihm eine Art sechster Sinn gebildet, der ihn stets vor bevorstehenden Gefahren warnte. Es war fast so, als könnte er eine Gefahr wittern. Dieser sechste Sinn meldete sich, als sie durch den Wald gingen. Rings um sie herum war alles still. Zu still. Eigentlich hätten sie etwas von der Arbeit der Holzfäller im Wald hören müssen. Fiona sah ihn besorgt an. Sie wäre am liebsten zur Lichtung vorausgeeilt, aber er hielt sie an der Hand zurück. »Vorsicht!« sagte er und brachte den Metallstab in Anschlag. Neben dem schmalen Weg lag ein Toter. Es war ein Jäger, der offensichtlich von einer weißen Energiekugel getötet worden war. Fiona schrie auf und hielt sich rasch die Hand vor den Mund. »Es ist Beric«, flüsterte sie atemlos. »Die Toparrs waren hier.« Craig nickte vor sich hin, schlug sich seitlich zwischen die Bäume und bedeutete Fiona, ihm zu folgen. Lautlos huschten sie zwischen den Baumstämmen hindurch.
Bald stießen sie auf zwei weitere Tote. Craig erinnerte sich an die Männer, die Häuptling Rhyddoan hier als Posten aufgestellt hatte. Augenscheinlich hatten sie ihre Haut teuer verkauft, denn Craig sah eine ganze Anzahl von Toparrs am Boden liegen. Im Hals eines jeden steckte ein Pfeil. Endlich erreichten sie die Lichtung, wo früher das Dorf gestanden hatte. Jetzt waren dort nur noch glühende und verkohlte Balken und Bretter zu sehen. Überall lagen tote Rhydd und Toparrs. Fiona schluchzte vor sich hin und hielt den Knöchel des rechten Zeigefingers zwischen die Zähne geklemmt. »Sie sind tot… alle tot«, jammerte sie. »Vielleicht nicht. Die Toparrs könnten auch Gefangene mitgenommen haben. Wollen mal nachsehen, ob hier noch jemand am Leben ist.« Es war eine grauenhafte Aufgabe. Fiachra lag über seiner zerbrochenen Harfe. Unmittelbar neben ihm lag ein Toparr, dem der Kopf buchstäblich vom Rumpf getrennt war. Häuptling Rhyddoan saß mit dem Rücken an einen verkohlten Balken gelehnt, und seine Hände hielten auch im Tod noch die Streitaxt umklammert. Fünf tote Toparrs lagen zu seinen Füßen und seine starren Augen waren in eine weite Ferne gerichtet, die den Lebenden verschlossen blieb. Sie fanden Weldon Grenvil, tote Männer, Frauen und Kinder. Die Toparrs mußten die meisten Kinder allerdings mitgenommen haben, denn es waren nur wenige zu entdecken. »Wenn wir hier geblieben wären, wäre es vielleicht nicht zu diesem Blutbad gekommen«, sagte Fiona. Craig sah, daß sie unmittelbar vor einem hysterischen Ausbruch stand. Er mußte sie irgendwie ablenken. »Sieh mal nach, ob hier irgendwo noch jemand lebt, Fiona – aber mach schnell!« Als sie ihn stumpfsinnig ansah, fügte er
hinzu: »Wenn wir einen Toparr finden, könnten wir vielleicht erfahren, wohin sie verschwunden sind.« »Sie haben sich ins Jenseits zurückgezogen«, murmelte sie, kam aber seiner Aufforderung gehorsam nach. Auf dem Boden der ehemaligen Halle fand sie einen Sterbenden. Craig eilte auf ihren Ruf herbei und sah, daß es ein Unterhäuptling des Stammes war, der eine Gruppe von Kriegern angeführt hatte. »Die Toparrs kamen kurz vor Mittag«, flüsterte er mit letzter Kraft. »Wir haben ihnen einen großen Kampf geliefert – Rhythane ist mein Zeuge! Aber es waren zu viele, und gegen ihre Waffen kamen wir nicht an. Trotz unserer Gegenwehr haben sie uns förmlich hingeschlachtet. Sie haben nur wenige von uns mitgenommen.« »Die Kleinen? Die Kinder?« fragte Fiona. »Die Kleinen haben sie alle mitgenommen – bis auf die größeren, die sich zur Wehr setzten und getötet wurden. Die Toparrs nehmen die Kinder stets lebendig mit. Wir wissen nicht, warum.« Seine Stimme wurde immer schwächer. Fiona stützte seinen Kopf. Große Tränen liefen über ihre Wangen. Craig ging zwischen den Toten umher und spähte in das Gesicht jedes toten Toparrs. Er brauchte nur einen von ihnen am Leben zu finden – nur einen einzigen. Dann würde er endlich erfahren, was ihm so sehr am Herzen lag. Er hatte diese Hoffnung bereits aufgegeben, als er plötzlich hinter sich einen knackenden Zweig hörte. Er wirbelte herum, sah eine weiße Kugel auf sich zukommen und warf sich zur Seite. Die weiße Kugel hätte ihn zweifellos genau im Rücken getroffen. Craig lag der Länge nach auf dem weichen Waldboden ausgestreckt. Vorsichtig stützte er sich auf die Ellbogen. Dann kroch er langsam vor. Die Flugbahn der weißen Kugel hatte
ihm das Versteck des Toparrs gezeigt. Er wollte ihn nicht umbringen, sondern lebendig in die Hand bekommen. Das war gar nicht so einfach. Er fürchtete jeden Augenblick, daß Fiona ihn rufen und dem Toparr ihre Anwesenheit verraten würde. In diesem Fall würde ihm kaum eine andere Wahl bleiben, als den Toparr zu töten, denn dieser würde zweifellos danach trachten, das Mädchen zu töten. Craigs Gesicht war in Schweiß gebadet. Er kroch ein Stück vor und hielt inne. Seine Hände umspannten den Metallstab. Er spähte durch die Grasbüschel und robbte langsam weiter vor. Ah, da! Er hätte den Toparr fast mit der Hand berühren können. Er zog die Knie an, spannte sich und sprang mit einem Satz vor. Seine Hände umklammerten den Hals des Toparrs und drückten seinen Kopf zu Boden. Das gelbliche Wesen schrie auf, als Craig ihm das Knie in den Rücken stieß. Er bemerkte, daß seine Hände warm und rot waren. Der Toparr war offensichtlich schwer verwundet. Craig wartete geduldig, bis er wieder zu Bewußtsein kam. Schon nach wenigen Minuten spürte er, wie der Toparr sich zu bewegen begann. Er legte die Hände erneut um seinen Hals und drückte ein wenig zu, um den Aufschrei des Toparrs zu unterdrücken. Er beugte sich über ihn. »Die Gefangenen, die ihr mitgenommen habt: wie kann ich ihnen folgen?« Der Toparr schüttelte mühsam den Kopf. »Das kannst du nicht. Nur die Toparrs kennen den Weg zum Jenseits«, antwortete er telepathisch. Ein kaltes Lächeln huschte um Craigs Mundwinkel. Der Toparr krümmte sich vor Schmerzen unter ihm. Craig lockerte den Griff ein wenig.
»Sag die Wahrheit, sonst werde ich dir weitere Schmerzen zufügen. Wie finde ich den Weg zum Jenseits?« Es bereitete Craig kein Vergnügen, den Toparr zu foltern – aber es ging um einen hohen Einsatz. Das Schicksal aller Planeten außerhalb des Enigma stand auf dem Spiel, wenn es ihm nicht gelang, den Weg in das Jenseits zu finden. Er sah, daß Fiona inzwischen herbeigekommen war und ihm mit vor Entsetzen großen Augen zusah. Der Toparr stöhnte, und Craig beugte sich tiefer über ihn. »Sprich!« befahl er. Der Toparr schwieg eine Weile. Dann bewegte er ein wenig die Lippen und erwiderte telepathisch: »Mein Gurt. Der Drehknopf. Dreh ihn ins rote Feld, um das Jenseits zu erreichen. Ich…« Craig ließ den Toparr los und nahm ihm den Gurt ab. Er stand auf und sah Fiona an. Zu seiner Überraschung lächelte sie grimmig. »Meinst du etwa, es würde mir etwas ausmachen, was du mit diesem… mit diesem Ding anstellst?« fragte sie. »Sie haben mein Volk umgebracht. Meinen Vater, meine Mutter, meinen Bruder – ich habe sie gefunden.« Ihre Lippen zuckten, aber sie richtete sich entschlossen auf und sah ihn an. »Es ist vorbei, und ich kann sie nicht mehr zum Leben erwecken – aber ich werde nie etwas dagegen einwenden, daß du einem Toparr weh tust.« »Na, wollen mal sehen.« Er hob den Gurt, damit sie ihn sehen konnte. »Mit diesem und einem weiteren Gurt können wir beide den Weg ins Jenseits antreten.« Ihr Blick wanderte zwischen dem Gürtel und seinem Gesicht hin und her. Kalte Wut spiegelte sich in ihrem Gesicht; sie wollte sich an den Toparrs rächen. Sie nickte langsam.
»Gut, wenn ich einen solchen Gurt brauche, werde ich mir einen suchen.« Sie kehrte wenige Minuten später mit einem Gurt um die Hüften zurück. Vorn war der Drehknopf mit den roten, schwarzen und weißen Feldern zu sehen. Der Knopf stand auf dem weißen Sektor. Wenn das rote Feld das Jenseits bedeutete, dann konnte es sich bei dem schwarzen also nur noch um eine Reise in die Vergangenheit handeln. Craig lächelte grimmig vor sich hin. Dieser Gurt ermöglichte ihm also die Rückkehr zu den Raumschiffen. Aber nicht jetzt – noch nicht. Erst mußte er sich in die Zukunft begeben, in das Jenseits. Er mußte die Besatzungen der Raumschiffe aufspüren, und die Gefangenen vom Stamme der Rhydd. Danach würde ihm genügend Zeit bleiben, die Raumschiffe zu suchen. Er erklärte Fiona den Mechanismus des Drehknopfs. Sie hörte aufmerksam zu. »Irgendwie bedeutet es eine Reise durch die Zeit. Ich bin kein Wissenschaftler, das überlasse ich den Männern in den Labors. Aber es dürfte etwa so sein, als würden wir von einer gigantischen Hand gepackt werden, die uns im Bruchteil einer Sekunde aus der Gegenwart in die Zukunft, ins Jenseits versetzt.« Sie lächelte ihn an, als wollte sie sich für ihre Begriffsstutzigkeit entschuldigen. »In Ordnung, genug von diesen Vorträgen. Bist du bereit?« »Ja, so bereit wie noch nie in meinem Leben.« »Gut. Dann zähl jetzt rückwärts bis Null. Los!« Fiona atmete tief ein. »Drei… zwei… eins… null… drehen!« Craig erinnerte sich, daß er nichts gespürt hatte, als er aus der Vergangenheit, wo die Raumschiffe standen, in die Gegenwart
transportiert worden war. Diesmal verschwammen die Bäume um ihn herum, und alles schien irgendwie zu verschmelzen. Er blickte auf die Bäume. Sie sahen ganz anders aus als noch vor wenigen Sekunden. Sie waren viel höher und standen in anderer Anordnung. Es war der gleiche Wald, in dem der Stamm des Häuptlings Rhyddoan gelebt hatte – aber weit in die Zukunft versetzt. Anscheinend war dieser Wald seit langer Zeit von keiner Menschenhand mehr berührt worden. Hier gab es keine toten Toparrs. Er konnte nicht schätzen, wie viele Jahre sie sich in die Zukunft versetzt hatten. Hundert Jahre? Tausend? Er sah sich nach allen Seiten um und wußte nur, daß es mehr als zehn oder zwanzig Jahre sein mußten. Es gab jetzt keine Wege mehr zwischen den Bäumen, und wo die Toten gelegen hatten, war kein einziges Skelett zu sehen. Er streckte den Arm aus und zog Fiona an sich. »Alles in Ordnung? Wenn ich mich nicht sehr täusche, befinden wir uns hier in der Welt, wo die Toparrs leben. Und wo meine Männer und die Leute von deinem Stamm gefangen gehalten werden.« Sie nickte tapfer und lächelte ihm zu. »Ich verstehe. Wir sind hier, um sie zu befreien und die Toparrs zu überwältigen, falls uns das gelingt.« Es hätte seine Aufgabe erleichtert, allein herzukommen – aber er hätte es nie übers Herz gebracht, das Mädchen in ihrer Welt zurückzulassen. Er betrachtete ihr ernstes Gesicht mit den Tränenspuren. Unvermittelt drückte er ihr den Metallstab in die Hand. »Ich glaube«, sagte er, als er ihren überraschten Blick sah, »ich brauche in dieser Welt der Zukunft etwas anderes.« Er öffnete den Behälter und zog den schmalen Metallreifen hervor, den Edmonds als Heiligenschein bezeichnet hatte.
Allein konnte er hier in der Zukunft nicht gegen die Toparrs ankämpfen – aber vielleicht konnte er sie in Panik versetzen. Sie gingen durch den Wald. Das dichte Unterholz machte ihnen schwer zu schaffen. Gelegentlich hörten sie den Schrei der großen, weißen Vögel, die über ihren Köpfen in der Luft schwebten. Sie marschierten, bis Fiona sich erschöpft auf einen flachen Stein setzte. Craig lehnte sich mit dem Rücken an einen Baumstamm. Irgendwo vor ihnen lauerten Gefahren. Vielleicht würden die Toparrs sie zu Gefangenen machen, falls sie sie nicht auf der Stelle umbrachten. Doch das gehörte zu dem Risiko, das er eingegangen war. Zur Zeit dachte er mehr an die augenblicklichen Entbehrungen, denn im Laufe der Zeit hatte sich sein Gaumen an gutes Essen und vorzügliche Getränke gewöhnt. Er dachte an jene Abende, als er mit Elva Marlowe in den besten Restaurants gespeist hatte. Craig seufzte. Im Augenblick mußte er sich mit den Brotscheiben und dem gedörrten Fleisch bescheiden, das Fiona in einem kleinen Sack mitgenommen hatte. Etwas anderes stand ihnen nicht zur Verfügung. Eine Hand berührte sein Knie. Fiona kauerte neben ihm und deutete zwischen den Baumstämmen hindurch auf einen Toparr. Craig zuckte zusammen. Vergessen waren die Erinnerungen an schöne Stunden der Vergangenheit, denn jetzt ging es um einen hohen Einsatz. Das gelbliche Wesen hatte sie nicht bemerkt. Er griff nach der Waffe und hielt inne. Nein, nicht den Metallstab, sondern das Stirnband. Er drückte ihn auf die Stirn und konzentrierte sich. Fünf Minuten verstrichen, zehn, fünfzehn. Aus dem Baumstamm, an dem der Toparr gerade vorübergehen wollte, wuchs unvermittelt ein starker Ast. Die einzelnen Zweige griffen aus
und umschlangen den Toparr. Der Toparr stieß einen schrillen Schrei aus. Er ließ seine Waffe fallen und versuchte sich aus der Umklammerung zu lösen. Der Toparr schien von panischem Entsetzen ergriffen. Nach einigen Minuten konnte der Toparr sich aus der Umschlingung der Zweige lösen. Er starrte den Baum an, streckte die Hand nach dem Stamm aus, zog sie aber ängstlich wieder zurück. Dann wirbelte er herum und rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her. Fiona zitterte am ganzen Körper; ihre Hand war in Craigs Bein verkrallt. Er hob sie auf und klopfte ihr auf die Schulter. Er versuchte ihr die Wirkungsweise des Stirnreifs zu erklären… wie die kinetischen Energien des Gehirns freigemacht wurden. Er blickte in ihr verständnisloses Gesicht und zuckte die Achseln. »Na schön, dann nennen wir es eben Zauberei.« Sie nickte lachend und klatschte in die Hände. »Du bist ein Gott. Ich weiß es. Ich habe von Fiachra gehört, was der Gott Rhythane für uns Rhydd getan hat. Er hat sie ernährt, er hat sie warm gehalten, und er hat sie vor allen Gefahren beschützt.« Vielleicht hat dieser Gott Rhythane auch mit Zauberei gearbeitet – einer Zauberei, die ein Wissenschaftler in bezug auf Energie und Zellenaufbau durchaus erklären könnte. Diese Möglichkeit durfte er nicht vergessen. Sie setzten den Weg fort, und er verließ sich auf den Instinkt des Mädchens, das, wenn auch in weiter Vergangenheit, in diesen Wäldern geboren worden war. Gegen Einbruch der Abenddämmerung erreichten sie einen kleinen Bach, und Fiona gestand, daß sie sich verirrt hatte.
»Es ist alles so anders, so völlig anders«, entschuldigte sie sich mit einer umfassenden Handbewegung. »Nichts ist mehr so wie früher… gar nichts.« Natürlich hatte sich hier seit der Zerstörung von Rhyddoans Dorf fast alles verändert. Vielleicht würden sie morgen mehr Glück haben. Craig setzte sich ans Bachufer, stützte den Kopf in die Hände und entspannte sich. Fiona reichte ihm eine Scheibe Brot mit einem Stück Dörrfleisch. »Das ist alles, was wir haben. Ich hätte mehr mitnehmen sollen.« Die Strapazen des anstrengenden Tages hatten ihre Spuren in dem hübschen Mädchengesicht hinterlassen. Sie aßen schweigend. Craig blickte zum Himmel auf. Es waren keine Sterne zu sehen, an deren Konstellation er den Ablauf der Zeit hätte errechnen können. Er konnte nicht mal schätzen, ob sie sich hundert, tausend oder fünfzigtausend Jahre von der Gegenwart entfernt hatten. Hier befanden sie sich jedenfalls im Jenseits, wo die Toparrs lebten. Das war die einzige Tatsache, die er mit Sicherheit wußte. Fiona streckte sich neben ihm aus und schob den Arm unter ihren Kopf. Tapfer versuchte sie, sein Lächeln zu erwidern. »Diese Toparrs… was weißt du von ihnen?« »Nichts. Sie überfallen uns, sie töten uns und nehmen Gefangene mit. Weiter weiß ich nichts. Was sollte ich denn noch von ihnen wissen?« Craig runzelte die Stirn. Es mußte irgendeinen Punkt geben, wo er ansetzen konnte. »Der Name Toparr… was bedeutet er?« »Die Gemachten«, antwortete sie. »Was?« »In unserer Sprache bedeutet To etwas, das existiert. Und Parr bedeutet, daß es gemacht, angefertigt ist. Wenn ich mir zum Beispiel einen Holzlöffel anfertige, dann ist es ein Parr.
Ich bin kein Parr, und du auch nicht. Wir beide sind nicht gemacht, nicht angefertigt.« Craig brummte. Die Gemachten. Das half ihm auch nicht weiter. Er legte den Metallstab neben sich und streckte sich ebenfalls aus. Er schloß die Augen, und das Murmeln des Baches schläferte ihn ein. Beim ersten Sonnenstrahl wachte er auf. Fiona war schon auf den Beinen. Sie kauerte in einiger Entfernung vom Bachufer und machte sich am Boden zu schaffen. Sie kehrte mit dem Sack voller Beeren, Nüsse und einer Art Pilze zurück. »Es ist zwar nicht viel, und es ist kalt – aber wir müssen damit auskommen.« Craig erinnerte sich an das Ei, das Edmonds in Dan Ingalls’ Büro hergestellt hatte. Er richtete sich auf, beugte sich ein wenig vor und konzentrierte sich. Erst die Schale, dann das Eigelb und schließlich den gelben Dotter. Fiona schrie betroffen auf, als sie das erste Ei erblickte. Beim Anblick des zweiten warf sie sich auf die Knie, und beim dritten, vierten und fünften begann sie perlend zu lachen. Craig zauberte eine Bratpfanne dazu. Dann mußte er erschöpft innehalten. Er wußte nicht, ob die Pfanne halten würde, wenn sie aufs Feuer gestellt wurde. Das würde sich bald herausstellen. Er zauberte einen Topf, füllte ihn zur Hälfte mit Wasser, legte die Eier hinein, sammelte ein paar trockene Zweige und entzündete ein kleines Feuer. Als die Eier gar waren, fügte er die Sachen hinzu, die Fiona im Wald gesammelt hatte, legte alles zusammen auf ein flaches Stück Borke und reichte es Fiona. Er selbst aß aus dem kleinen Topf. Zu seiner Überraschung war das Essen recht schmackhaft. Die Zutaten sorgten dafür, daß der von Edmonds erwähnte fade Geschmack gar nicht erst aufkam.
Sie folgten dem Bach, weil sie damit rechneten, auf diese Weise schließlich zu einem Fluß zu kommen. Sie marschierten fast den ganzen Tag hindurch. Die weiße Sonne neigte sich bereits dem Horizont zu, als sie eine Wiese erreichten, wo das Gras ihnen bis an die Knie stand. Nirgends war eine Spur von Leben zu entdecken. Sie mußten weitergehen, immer weiter. Der bloße Gedanke daran ermüdete Craig. Aber ihnen blieb gar keine andere Wahl. An diesem Abend zauberte er zwei Steaks und briet sie über dem Feuer – aber sie hatten einen faden Geschmack. Sie würgten das Zeug hinunter, um wenigstens etwas im Magen zu haben. Am späten Nachmittag des fünften Tages ihres Aufenthalts in dieser Welt sahen sie die Stadt. Sie war nicht besonders groß, und die flachen Häuser schienen aus Granit gebaut zu sein. Vorsichtig krochen sie, um nicht entdeckt zu werden, durch das hohe Gras und gingen erst nach Einbruch der Dunkelheit in aufrechter Haltung weiter. Posten waren nirgends zu entdecken. Damit hatte Craig auch nicht gerechnet, denn die Toparrs waren seit vielen Jahren die einzigen Lebewesen in dieser Welt. Sie rechneten bestimmt nicht damit, daß hier plötzlich fremde Besucher auftauchen könnten. Immer dichter schoben sie sich an die Stadt heran, bis sie eine Straße sahen, auf der sich Toparrs bewegten. Sie gingen stets in kleinen Gruppen. Alle waren Männer. »Gibt es hier denn gar keine Frauen?« fragte Craig leise. »Ich habe noch nie einen weiblichen Toparr gesehen«, flüsterte Fiona. Als sich auf der Straße nichts mehr bewegte, setzten sie den Weg fort. Fiona gab Craig den Metallstab, denn wenn sie plötzlich entdeckt werden sollten, blieb ihm keine Zeit, sich mit dem Stirnreif zu konzentrieren. Er konnte in einem solchen
Fall nur den Metallstab anwenden und hoffen, daß sie nicht beobachtet wurden. Das Glück blieb ihnen treu. Unbemerkt erreichten sie einen freien Platz zwischen den Häusern. Schmale leuchtende Metallstreifen waren in etwa drei Meter Höhe an den Häusern angebracht und sorgten für die Beleuchtung der Straßen. Eine merkwürdige Ruhe lag über den Straßen, als wären sie in einer toten Stadt. Keinerlei Verkehr war zu sehen, weder Wagen in den Straßen noch Flugzeuge über der Stadt. Fiona erklärte ihm, daß sie Fahrzeuge noch nie bei den Toparrs gesehen hätte. Die Straßen waren sauber, aber es fiel Craig auf, daß weder Bänke noch sonstige Sitzgelegenheiten zu sehen waren. Je weiter sie in die Stadt vordrangen, desto mehr kam es ihnen vor, als wären sie hier die einzigen Lebewesen. Da hörte Fiona unvermittelt eine singende Stimme und blieb wie angewurzelt stehen. »Ich habe noch nie einen Toparr singen hören!« sagte sie aufgeregt. »Ja, ich habe noch nicht mal einen sprechen hören.« Craig erinnerte sich an das gelbliche Wesen, das Fiona in Uphor hatte töten wollen. Das Mädchen hatte recht. Der Toparr hatte sich telepathisch mit ihm verständigt. Er geriet ebenfalls in Erregung. Er kannte dieses Lied, das die Männerstimme da sang. Es stammte noch aus der sogenannten guten alten Zeit, als der Planet Mars vor einigen Jahrhunderten von Menschen kolonisiert worden war. Ein grimmiges Lächeln spielte um seine Lippen, als er Fiona vor sich herschob. Inzwischen waren weitere Männerstimmen eingefallen. Sie huschten an den fensterlosen Häusern entlang, um die Stelle zu entdecken, von der der Gesang ausging.
Sie blieben vor einer Tür stehen, die von außen mit zwei dicken Balken gesichert war, so daß sie von innen nicht geöffnet werden konnte. Craig und Fiona nahmen die beiden Balken aus der Verankerung und stellten sie gegen die Wand. Innen sah es aus wie in der Taverne irgendeines Weltraumhafens. Das Deckengebälk war braun von Rauch, und es roch intensiv nach Wein. Das grobe Mobiliar war aus Holz gefertigt, und an den Wänden hingen alte, abgewetzte Uniformstücke der beiden verschwundenen Raumflotten. Und die Männer, ja, die Männer unterschieden sich in nichts von den vielen Tausenden, die er in diesen Tavernen der Weltraumhäfen angetroffen hatte. Craig lächelte und atmete den Geruch nach Wein und gebratenem Steak tief ein. An einer Wand war eine Theke aufgebaut, hinter der drei Mädchen standen. Zwei von ihnen gehörten zum Stamm der Rhydd. Sie schenkten ein Gebräu, das wie Bier aussah, in große Lederhumpen. In der Ecke daneben standen zwei ganz in weiß gekleidete Männer und machten sich an einem breiten Herd zu schaffen. Die Männer an der Tür drehten sich bei ihrem unverhofften Eintritt um. Unmittelbar vor der Tür stand ein kleiner Tisch mit einem Schachbrett, auf dem selbstgeschnitzte Holzfiguren standen. Einer der beiden Spieler hatte offensichtlich gerade einen Zug machen wollen, denn er hielt eine Figur in der Hand und starrte ihnen entgegen. Andere sprangen von ihren Plätzen auf und blickten ihnen überrascht entgegen. »Bei den Göttern von Sirian!« bellte eine tiefe Männerstimme. »Johnny Craig!« Ein untersetzter Mann mit weit ausladenden Schultern bahnte sich einen Weg auf Craig zu. »Rolf Olsen!« rief Craig lachend. »Du großer alter Affe – was treibst du denn hier?« Eine haarige Hand umspannte die seine.
»Die gleiche Frage könnte ich dir stellen. Woher kommst du? Als ich das letzte Mal etwas von dir hörte, hattest du gerade einen Aufstand der Roboter auf dem Planeten Clumbian niederzuschlagen.« Commander John Craig zuckte lächelnd die Achseln. Ein Arm legte sich auf seine Schulter, ein anderer um Fionas Hüften, und sie wurden durch die Tischreihen geführt. Das Mädchen spürte die Blicke der Männer über ihre attraktive Figur gleiten und kicherte vor sich hin. Vermutlich hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie so viele Männer auf einem Haufen gesehen. »Es müssen annähernd tausend Männer von der Raumflotte hier sein«, sagte Craig. »Tausend weitere stecken im nächsten, und nochmals tausend im übernächsten Block«, erwiderte Olsen grinsend und schob je einen Stuhl für Craig und das Mädchen zurecht. Er setzte sich zwischen sie und stützte die muskulösen Arme auf die Tischplatte. »Nun erzähl mal, Johnny, wie du hergekommen bist.« Es dauerte über eine Stunde, bis Craig ihm einen Überblick gegeben hatte. Die anderen Männer im Raum hörten schweigend zu, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen. »Na, nun bist du jedenfalls hier«, sagte Olsen nach einer kurzen Pause. »Und unsere lieben Freunde werden dafür sorgen, daß du diese Welt nie wieder verläßt.« Craig legte den Metallstab auf den Holztisch und fuhr liebevoll mit der Hand darüber. »Dazu wird dieses Ding hier noch ein Wörtchen mitreden. Die Toparrs haben dieser Waffe nämlich nichts entgegenzusetzen.« »Dafür haben sie etwas besseres: einen Gott.« »Rhythane?« fragte Craig überrascht.
Der untersetzte Schwede nickte. »Ich weiß, ich weiß. Du hast auf anderen Planeten schon oft etwas von Göttern gehört. Ich auch. Sie waren alle keinen Pfifferling wert. Bei diesem hier sieht das jedoch ganz anders aus, denn der tut was für sein Volk.« »Das darf doch nicht wahr sein. Er tut etwas?« Die anderen Männer stimmten Olsen brummend zu. »Wenn wir am Morgen zur Arbeit gehen«, sagte einer von ihnen, »sind alle unsere Geräte außer Betrieb. Dann betet ein Priester – die Toparrs nennen ihn Lanth – zu diesem Gott Rhythane, und erst dann sind die Geräte einsatzbereit.« »Du sagst, die Toparrs nennen diesen Priester Lanth? Ich habe noch nie einen Toparr sprechen hören.« »Einige von ihnen können es. Einige von ihnen sind fast menschlich.« »Jene, die sie in die Vergangenheit zurückschicken, können nicht reden«, sagte ein anderer. »Sie können sich nur telepathisch verständigen.« »Ja, aber diejenigen, die uns die Anweisungen geben, können sprechen.« Vielleicht wollte dieser Gott verhindern, daß seine Sklaven zu viel über ihn in Erfahrung brachten, dachte Craig. In diesem Fall kannte der Gott Rhythane auch das Gefühl der Furcht. Oder zumindest der Vorsicht. »Sie haben uns zwar nicht schlecht behandelt, aber wir sind Sklaven«, führte Olsen aus. »Anders kann man es nicht bezeichnen. Sie zwingen uns, einen Tempel zu bauen. Wir sind fast fertig damit.« »Einen Tempel? Damit die Toparrs diesen Gott Rhythane anbeten können?« »Das wissen wir nicht. Wir wissen überhaupt nur, was die Toparrs uns sagen. Oh«, er machte eine Handbewegung, »wenn sich gelegentlich mal ein Posten in unserer Nähe
aufhält, können wir einen oder zwei seiner Gedanken aufschnappen. Auf diese Weise haben wir etwas von den Zeitsektoren dieser Welt erfahren.« »Das Jenseits, in dem wir uns hier befinden, die Gegenwart, in der die Rhydd leben, und die Vergangenheit, in der die Raumschiffe stehen?« Olsen nickte, nahm einem Mann die drei dargereichten Lederhumpen aus der Hand und stellte sie auf den Tisch. Einen schob er Craig zu, den zweiten Fiona, und den dritten setzte er selbst an den Mund. »Ein Toast auf Johnny Craig, Jungs! Wenn uns jemand aus dieser Klemme befreien kann, dann er. Allerdings hat er noch nie vor der Aufgabe gestanden, gegen einen Gott zu kämpfen.« Das Bier war ziemlich bitter gebraut, aber durchaus zu trinken. Fiona nahm einen langen Schluck und lief rot an. Sie beugte sich vor und keuchte. Die Rhydd hatten ihr Bier vom Weizen ihrer Felder gebraut, und es war wesentlich milder. Craig lächelte ihr aufmunternd zu. »Was ist eigentlich aus den Menschen ihres Stammes geworden?« fragte er. »Sie bringen ihre Gefangenen niemals hierher – zumindest nicht gleich. Außerdem sagtest du doch, daß fast der ganze Stamm ausgerottet wurde. Die Kinder werden in einer anderen Stadt der Toparrs eingesperrt. Die Frauen werden auf die einzelnen Städte verteilt.« Olsen blickte auf Fiona, die einen weiteren Schluck trank. Craig brauchte keine weiteren Fragen zu stellen: die Frauen vom Stamme Rhydd standen den Männern der Raumflotten zur Verfügung. Es waren die üblichen Sicherheitsventile: Frauen und Bier. Olsen schien seine Gedanken zu erraten. »Natürlich haben wir versucht, zu rebellieren. Die Toparrs verfügen über weiße Energiebälle, deren Wirkung im
Gegensatz zu den anderen nicht tödlich ist. Sie nennen sie Tarath. Diese Dinger brennen – aber nicht wie Feuer. Sie hinterlassen keinerlei Spuren und erfassen das gesamte Nervensystem, so daß man sich eine Woche lang kaum bewegen kann. Um dieser Tortur zu entgehen, führen wir die Anweisungen der Toparrs aus.« »Ich muß mir unbedingt Zutritt zu diesem Tempel verschaffen«, sagte Craig. »Das läßt sich machen, denn du bist ja einer von uns. Wir sind so viele, daß es den Toparrs bestimmt nicht auffällt, wenn wir einer mehr sind.« Olsen lachte in sich hinein. »Allerdings wirst du deine Uniform ausziehen müssen. Wir können dir ein paar Sachen beschaffen, in denen du nicht auffällst. Hm, und was das Mädchen betrifft, so kann sie ruhig ihre Kleidung anbehalten. Sie unterscheidet sich ohnehin kaum von den anderen Rhydd-Madchen. Wenn sie ihre Kleider abgetragen haben, geben die Toparrs ihnen ein Stück Stoff, damit sie sich neue anfertigen können.« Dabei blieb es. Craig schlief neben Fiona in einer Halle des ersten Stockwerks, die fünfhundert Männern Raum bot. Seine Gedanken waren in einem Chaos, so daß er lange nicht einschlafen konnte. Dieser Gott, dieser Rhythane: was war das – er, sie oder es? Wie konnte dieser Gott die Geräte der Männer betriebsfertig machen? Welches Geheimnis steckte hinter seiner Gottheit? Seltsamerweise war dieser Rhythane nicht nur der Gott der Toparrs, sondern auch der ihrer Opfer, der Rhydd. Das alles ergab einfach keinen Sinn. Am frühen Morgen marschierte er mit den anderen Männern zum Tor hinaus und die Straße entlang. Er trug eine braune Hose, ein braunes Wollhemd und selbstgefertigte Sandalen.
Die Toparrs nahmen nicht die geringste Notiz von ihm. Für sie war er ein Gefangener wie alle anderen. Als sie sich dem Tempel näherten, sah er, daß der Bau fast beendet war. Er überragte die anderen Häuser und Gebäude der Stadt. Neben dem breiten Eingang ragten zwei hohe Säulen auf. In dieser Welt des Jenseits gab es keinerlei Dekorationen oder Verzierungen. Von ästhetischen Werten schienen die Toparrs nichts zu halten. Er erinnerte sich, daß Fiona sie als die »Gemachten« bezeichnet hatte. Wenn sie wirklich Androiden waren, hatten sie natürlich keinen Sinn für Schnörkel und sonstigen Zierat. In zwei Reihen erklommen sie die Stufen zum Eingang des Tempels. Das dauerte eine ganze Weile, denn die Männer kamen aus verschiedenen Richtungen. Es war klar, daß es bei dieser Masse nicht auffallen konnte, ob es ein Mann mehr oder weniger war. An der Seite von Rolf Olsen betrat er den im Halbdunkel liegenden Tempelraum. Nur durch die hohen Wandfenster fiel Licht ein. Der Fußboden bestand aus gelben und schwarzen Fliesen, in einem diagonalen Muster angelegt. An der hinteren Wand stand eine hohe Struktur aus Metallstäben, Drähten und Kabeln. Das Ding sah aus wie ein surrealistisches Mobile. Es ruhte auf einem Steinsockel, der gleichzeitig als Altar diente. Es schimmerte in einem abstrakten Licht, als würden sich die einzelnen Drahtgeflechte bewegen. »Ihr Gott Rhythane«, flüsterte Olsen.
6
Das Ding auf dem Altarsockel machte einen leblosen Eindruck. Craig wußte nicht recht, was er davon halten sollte. Seine Intuition, die ihm bei der Durchführung seiner Aufgaben schon manches Mal aus der Klemme geholfen hatte, regte sich diesmal nicht. Er schüttelte den Kopf. »Nichts zu machen. Das Ding ist kein Gott!« »Die Toparrs glauben es aber. Sie sehen es niemals direkt an. Sie bewegen sich in seiner Nähe nur auf Zehenspitzen und fürchten sich offensichtlich vor ihm.« »Es ist doch nichts weiter als ein Gebilde aus Metall.« »Achte mal darauf, wenn der Priester betet.« Olsen hielt sich in unmittelbarer Nähe des Altars auf, wo die Fliesen noch verlegt werden mußten. Craig und zwei weitere Männer gesellten sich zu ihm. Als alle Arbeiter ihre Plätze eingenommen hatten, kam ein großer Toparr in einem wallenden Gewand hereingerauscht, blieb vor dem Altar stehen und machte eine tiefe Verbeugung. Der Lanth begann zu reden. »Gott der Macht, verleihe uns ein wenig von dieser Macht. Gott der Energie, leihe uns etwas von deiner Kraft. Meister der Materie, forme diese Materie für uns. Laß deinen Willen auf uns fallen, damit wir bauen können. Schöpfe für uns, damit wir dir dienen können.« Craig spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Vor seinen Augen erstand unvermittelt ein Stapel gelber und schwarzer Fliesen. Sie schienen aus dem Nichts zu kommen und plötzlich zu existieren.
Dieser Gott schien nach der gleichen Methode zu arbeiten wie sein eigener Stirnreif – nur mußte er weitaus wirksamer sein. Doch es mußte noch etwas anderes dahinterstecken. Die Metallstruktur begann in einem bläulichen Feuer zu glühen und auf geheimnisvolle Weise zum Leben zu erwachen. Craig spürte, welche Macht von diesem Ding ausging. Die Existenz der Fliesen bewies es ihm. Rhythane? Schon möglich. Ein solches Ding mußte einem einfachen Volksstamm wie den Rhydd und auch diesen gelblichen Wesen wie ein Gott vorkommen. Anders konnten sie es sich nicht erklären, daß plötzlich Materie aus dem Nichts entstand. Wenn Craig nicht die Wirkungsweise des Stirnreifes gekannt hätte, wäre er vermutlich zu der gleichen Überzeugung gekommen. Edmonds hatte ihm genug von der kinetischen Kraft erklärt, um ihn die Wirkungsweise begreifen zu lassen. Diese Metallstruktur war tatsächlich ein Materieerzeuger. Wer aber bediente die ungeheure Macht dieses Gerätes? Nachdem genügend Baumaterial erzeugt und die Geräte der Arbeiter betriebsfertig gemacht worden waren, erlosch das Licht der Metallstruktur allmählich. Craig bückte sich und nahm mit den anderen die Arbeit auf. Die Fliesen fühlten sich durchaus solide an und erinnerten ihn irgendwie an die Eier, die er unterwegs gezaubert und mit Fiona gegessen hatte. Er arbeitete ungezählte Stunden, und sein Gesicht war in Schweiß gebadet, als die Toparrs ihnen das Mittagessen und ein leichtes Getränk brachten, das aus Gerste gebraut zu sein schien. Dann wurde die Arbeit fortgesetzt, bis irgendwo ein schriller Pfiff ertönte. »Sehen sie nach, ob jemand nach Feierabend hiergeblieben ist?« fragte Craig.
»Früher ja, aber das machen sie jetzt nicht mehr, denn alle, die sie dabei ertappt haben, wurden in Gegenwart ihrer Kameraden bestraft. Danach wagte es niemand mehr, sich den Anordnungen zu widersetzen. Selbst wenn einem die Flucht aus der Stadt gelingen sollte, wohin sollte man sich schon wenden?« »Ich will nicht fliehen.« Er wollte das Gebilde auf dem Altarsockel untersuchen und analysieren, um etwas über seine Funktion zu erfahren. Wenn ihm das gelang, konnte er vielleicht den Metallstab in den Tempel schmuggeln und das ganze Ding vernichten. Doch ehe er es vernichtete, mußte er unbedingt in Erfahrung bringen, wie es funktionierte. Die anderen Männer stellten sich zum Abmarsch wieder in zwei Reihen auf. Die Toparrs hielten sich am Eingang auf. Sie brauchten nichts zu befürchten, denn die Sklaven tanzten nicht mehr aus der Reihe. Craig huschte hinter den Altarsockel und blieb dort liegen. Im Halbdunkel konnte er nur entdeckt werden, wenn einer der Toparrs um den Altar herumkam und einen Blick dahinter warf. Er hörte, wie sich die Schritte der Männer entfernten und das Portal geschlossen wurde. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne fielen durch die hohen Fenster ein. Dann wurde es allmählich dunkler. Er stand auf, huschte um den Altar herum und besah sich die abstrakte Struktur von allen Seiten. Er berührte einen der Metallstäbe mit der Hand. Er fühlte sich kalt an. Aus diesem Winkel schräg unterhalb des Gebildes konnte er einen Blick durch das Drahtgewirr werfen. Hinten schimmerte ein seltsam bläuliches Licht. Dieses Licht faszinierte ihn. Er kletterte auf den Altarsockel, hielt sich, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, an zwei Metallstäben fest, und spähte tiefer in die Struktur hinein. Aus
der Tiefe schien das Summen einer Maschine an sein Ohr zu dringen. Irgendwo da hinten mußte eine Art Öffnung liegen, durch die der bläuliche Lichtschimmer fiel. Wenn er diese Metallstruktur zerstörte, würde er damit nur den Bau des Tempels verzögern. Das Mobile war nur ein Teil des Rätsels, das den Gott Rhythane umgab. Es hatte wenig Sinn, dieses Ding zu vernichten. Es wäre weitaus besser, wenn er den Versuch unternahm, sich mit der Struktur zu verständigen. Wenn dabei eine Gefahr auftauchen sollte, war es immer noch Zeit, die Struktur zu zerschmettern. Craig verbrachte eine weitere halbe Stunde im Tempel und prägte sich die Anordnung der Metallstäbe, Drähte und Kabel so genau wie möglich ein. Wenn zwischen dieser Struktur und den Toparrs eine Möglichkeit der Verständigkeit bestand, könnte es ihm unter Umständen gelingen, die Struktur nachzubauen. Es war zwar eine verschwindend kleine Hoffnung, aber immer noch besser als gar keine. Als er dem verschlossenen Portal zustrebte, drang eine Stimme durch seinen Kopf – eine kalte, arrogante Stimme. Gefangener! Hör mich an! Er wirbelte überrascht herum. Die Struktur stand unverändert auf dem Altarsockel – aber sie hatte ihn angesprochen. Es gibt keine Flucht von Rhythane. Es ist sinnlos, das Unmögliche zu versuchen. Bleib auf der Stelle stehen! Ja, John Craig. Bleib stehen und laß dich von den Toparrs fangen. Benimm dich wie ein Dummkopf, denn dafür halten sie ja wohl alle Menschen. Trag dazu bei, den Glorienschein dieses Gottes Rhythane noch heller leuchten zu lassen. Er lachte grimmig. »Nein, bestimmt nicht«, sagte er leise.
Ohne kostbare Zeit zu verlieren, eilte er auf das Portal zu. Wahrscheinlich würden die Toparrs jeden Augenblick auftauchen, denn er zweifelte nicht daran, daß diese abstrakte Metallstruktur sich telepathisch mit ihnen in Verbindung setzen konnte. Unvermittelt schlug er einen Haken und wandte sich dem hohen Fenster zu. An der Wand lagen Werkzeuge und Baumaterial. Neben einem Stapel Fliesen entdeckte er ein starkes Seil. Am Ende war eine Metallschlaufe angebracht. Er formte eine Art Lasso und ließ es langsam um seinen Kopf kreisen. Dabei schätzte er die Höhe des Fensters in der Wand an. Ein Wurf mußte genügen. Irgend etwas rumpelte von außen gegen die Portaltüren. Dann wurde ein Schlüssel im Schloß gedreht, und die Tür ächzte in den Angeln. Ein halbes Dutzend gelblicher Gestalten kam in den Tempel gestürmt. Er warf die Schlinge nach oben, und sie legte sich um einen Wandhaken, an dem später mal eine Lampe befestigt werden sollte. Er hörte die Schritte der Toparrs hinter sich. Schnell! Schnell! Er überprüfte den festen Sitz der Schlinge und kletterte am Seil hinauf. Er stemmte die Füße gegen die Wand und zog sich an den Händen hoch. Dabei warf er einen Blick auf die Toparrs, die zu ihm heraufschauten. Ihre Gesichter waren ausdruckslos – doch er spürte ihre Wut, die ihm telepathisch übermittelt wurde. »Das wirst du büßen!« »Komm sofort herunter!« »Du befindest dich hier in der Gegenwart des Gottes Rhythane!« Er zog sich hinauf und stemmte die Füße gegen den Fenstersims. Im nächsten Augenblick stand er hoch aufgerichtet auf dem Sims.
Der kühle Nachtwind blies ihm ins Gesicht. Nur undeutlich zeichnete sich die Stadt unter ihm in der Dunkelheit ab. Er blickte ein letztes Mal in den Tempel. Die Toparrs standen noch immer an der gleichen Stelle und blickten zu ihm auf. Bald würde einer von ihnen auf den Gedanken kommen, ebenfalls ein Seil zu nehmen und ihm nachzuklettern. Darauf wollte er auf keinen Fall warten. Zwar konnte er die unter ihm liegende Straße nicht ausmachen, aber irgendwie mußte er sie erreichen. Er zog das Seil an, ließ die Schlinge um den Wandhaken befestigt und warf es an der Außenwand nach unten. In der Dunkelheit hier draußen war er nicht zu sehen. Er kletterte zügig nach unten. Als er das Gefühl hatte, unmittelbar über dem Boden zu sein, sprang er. Er landete mit katzenhafter Geschmeidigkeit und wunderte sich, daß keine Toparrs zur Stelle waren, um ihn zu ergreifen. Die kühle Nachtluft erfrischte ihn. Er spähte in alle Richtungen. Die Straße war leer. Er wagte kaum, an sein Glück zu glauben. Es klappte alles besser, als er zu hoffen gewagt hatte. Diese gelblichen Wesen waren bestimmt keine Dummköpfe, sondern recht intelligent. Warum also ließen sie ihn ungehindert fliehen? Er grinste in der Dunkelheit. Sie wußten, daß er in jenes Haus zurückkehren mußte, wo er Fiona in der Obhut der Männer von den Raumflotten und auch seine Waffen zurückgelassen hatte. Er huschte die Straße entlang. Seine Füße berührten kaum den Boden. Da…! Sie erwarteten ihn an der nächsten Straßenkreuzung. Etwa fünf, sechs Toparrs kamen ihm langsam entgegen. In der Nebenstraße erblickte er ein weiteres halbes Dutzend dieser gelblichen Gestalten. Rings um ihn herum schien es nur so von ihnen zu wimmeln.
Große Schweißperlen standen auf Craigs Stirn. Diese Toparrs waren verdammt gerissen. Sie hatten ein paar von ihnen in den Tempel geschickt, um ihn aufzuscheuchen, und bildeten hier draußen eine Kette. Sie hatten ihm eine Falle gestellt, aus der es kein Entrinnen gab. Hätte er jetzt den Stirnreif bei sich gehabt, dann hätte er sich eine Waffe zur Verteidigung zaubern können. Aber Stirnreif und Metallstab lagen mit der schwarzen Schatulle in dem Behälter in der Unterkunft. Nicht einmal das Schwert hatte er mitzunehmen gewagt. Er hatte schon oft in ähnlichen Klemmen gesteckt. Er begann wieder zu laufen und beugte sich weit vor, um die Schultern wie einen Rammbock zu benutzen. Immer schneller griffen seine Füße aus. Die Toparrs sahen ihn kommen und zogen die Kette weiter auseinander, um die ganze Straßenbreite zu sperren. Das war ein verhängnisvoller Fehler. Er sauste wie eine Ramme zwischen ihnen hindurch. Zwei Toparrs gingen zu Boden – und er war durch. Da griffen die anderen ihn an. Aus allen Richtungen drangen sie auf ihn ein und hängten sich wie Kletten an ihn. Verzweifelt versuchte er, sie abzuschütteln. Seine Beine wurden umklammert. Craig stolperte und stürzte zu Boden. Er rollte sich auf die Seite und wehrte sich mit allen Kräften. Er schlug zu, bis seine Knöchel blutig waren. Obwohl er in guter Kondition war, begann er schon nach wenigen Minuten zu keuchen. Die Toparrs schlugen nicht zu, sondern umklammerten ihn wie Riesenschlangen. Nach einer Weile konnte er kaum noch atmen, und seine Arme waren schwer wie Blei. Er kämpfte jetzt mehr gegen seine Mattigkeit als gegen die Toparrs. Es dauerte nicht lange, bis er in einer uferlosen Dunkelheit versank.
Nur unbewußt nahm er wahr, daß er aufgehoben und getragen wurde. Er hatte ein Gefühl von Schwerelosigkeit. Sein Kopf rollte von einer Seite auf die andere. Irgendwie fragte er sich, was sie wohl mit ihm vorhaben mochten. Nach einer Weile tauchte er aus der Dunkelheit auf und sah, daß er sich in einem hellen Raum befand. Ein paar in die Wand eingelassene Lampen verbreiteten einen gelblichen Lichtschein. Das Licht fiel auf die Stahlringe an seinen Handgelenken. Seine Arme waren über seinem Kopf ausgestreckt, und er spürte Schmerzen am ganzen Körper. Langsam schlug er die Augen auf, obwohl seine Lider bleischwer waren. Er hing an einem Holzbalken, und seine Füße schwebten einige Zentimeter über dem Fußboden. Die Kleidung war ihm heruntergerissen und in eine Ecke des Raumes geworfen worden. Daneben lehnte eine lange Lederpeitsche an der Wand, Schweiß lief in Bächen von seinem Gesicht über die Brust hinunter. Nun, er hatte es wohl kaum anders erwarten können, als daß er gefoltert wurde. Die Toparrs hatten offensichtlich gemerkt, daß er anders war als seine Kameraden. Die abstrakte Metallstruktur im Tempel dürfte es ihnen verraten haben. Totenstille lastete über dem Raum. Er blickte nach oben auf die Kette, die zwischen seinen gefesselten Handgelenken durchgezogen und an einem Haken befestigt war. Er schätzte die Länge dieser Kette auf etwa drei Meter. Sie ließen ihn erst eine Weile schmoren. Auf diese Weise wollten sie seinen Widerstandswillen brechen. Er redete sich ein, daß er nicht klein beigeben würde, aber da war wohl eher der Wunsch der Vater des Gedankens. Er hatte wirklich nicht viel Hoffnung. Endlich kamen sie. Ein Toparr überragte die anderen um einen ganzen Kopf. Er trug die goldbesetzte Uniformjacke
eines Commanders der Raumflotte. Die Ordenschnallen und goldenen Schulterstücke schienen die Toparrs zu faszinieren. Sie blieben unmittelbar vor ihm stehen. Du wirst mir alles sagen, Mann von der Erde! Der Gedanke dröhnte in seinem Kopf. Craig gab sich den Anschein, ihn gar nicht zu vernehmen. Er blickte über das goldene Schulterstück hinweg auf zwei hinter dem ersten stehenden Toparrs. »Da du vorgibst, meine telepathischen Gedanken nicht zu vernehmen, werde ich eben reden«, sagte der Toparr laut. Es gibt vier Klassen von Toparrs, sagte sich Craig. Da sind zunächst jene, die die Gefangenen bewachen und die reden können. Dann die Krieger, die diese Sphäre verlassen, um Gefangene zu holen; die verwenden Telepathie. Ferner die Lanth genannten Priester, die zu Rhythane beten, und schließlich dieser Anführer, der sich sowohl durch Telepathie als auch durch Sprechen verständlich machen kann. Eine interessante Feststellung, die ihm allerdings zur Zeit nicht viel helfen konnte. »Woher kommst du?« »Von der anderen Seite des dunklen Enigma«, antwortete Craig. »Was ist das dunkle Enigma?« fragte er Toparr. Craig erklärte es ihm so gut er konnte, und der Toparr wurde immer wütender. Seine von Natur aus gelblichen Wangen liefen rot an! »Dummkopf! Derartige Unverschämtheiten dulde ich nicht!« Er schlug Craig die Hand ins Gesicht. Es war wie der Schlag einer Löwentatze. Craig baumelte hilflos an den gefesselten Handgelenken und schloß vor Schmerz die Augen. »Sag die Wahrheit!« »Ich habe… die Wahrheit gesagt. Dieser ganze Sektor des Weltraums ist von einer Hülle umgeben, die wir das Enigma
nennen. Außerhalb des Enigma gibt es eine Vielzahl von Sonnen und Welten wie dieser hier. Dort leben Männer und Frauen.« Die Hand ballte sich zur Faust und landete wuchtig in seinem Gesicht. Craig pendelte an den schmerzenden, aufgescheuerten Handgelenken. Seine Lage war völlig aussichtslos. »Rede weiter!« »Was soll ich reden?« Er bekam zwei weitere Faustschläge. »Die Wahrheit! Du mußt mir die Wahrheit sagen!« Craigs Augen wurden glasig. Er wußte nicht, wie viele dieser Faustschläge er noch einzustecken vermochte. Vielleicht würde es ihm gelingen, bei dem stetigen Pendeln die Hände aus den Handschellen zu ziehen. Der Anführer der Toparrs sah den Schmerz in Craigs Augen. Er nickte lächelnd vor sich hin. Er ging in die Ecke, nahm die Lederpeitsche und warf sie einem Toparr zu. Dann zog er einen Schemel heran, setzte sich und blickte erwartungsvoll in Craigs schmerzverzerrtes Gesicht. »Los, peitsch ihn aus!« befahl er. Die Peitsche bestand aus einem dicken Holzgriff, an dem lange Lederschnüre befestigt waren. Diese Lederstreifen waren an verschiedenen Stellen zu Knoten verschlungen. Es war eine Art Siebensträhner und ähnelte der antiken römischen ferula. Die Lederstreifen schwirrten durch die Luft und landeten auf seinem Rücken. Sie schienen die Haut auf Anhieb zu zerfetzen. Craig stöhnte vor sich hin und verbiß sich einen Aufschrei. Der Toparr schlug wie ein Roboter mit gleichmäßigen Schlägen zu, und jeder einzelne Schlag landete wuchtig auf Craigs blutendem Rücken. Der erste Schmerz war der schlimmste, denn danach war sein Körper wie betäubt. Er spürte die Schmerzen nur noch wie aus weiter Ferne.
Das Klatschen dröhnte in seinen Ohren, und er hing wie leblos an den blutenden Handgelenken. Sein Kopf fiel von einer Seite auf die andere. Nach einer Weile machte der Anführer eine kurze Handbewegung, und der Toparr ließ die Peitsche sinken. »Er ist bewußtlos. Gießt Wasser über ihn und laßt ihn eine Weile hängen. Ich komme nach dem Essen zurück.« Sie verließen den Raum, und es war wieder still um ihn herum. Es war, als würde Craig in einer toten Welt hängen, in der nur noch sein gepeinigter Körper lebte. Viele Minuten verstrichen. Ohne den Kopf zu bewegen, blickte er durch den Raum. Die Schmerzen wurden immer unerträglicher. Ein Schauer durchlief ihn. Die Muskeln drohten ihm den Dienst zu versagen. Er hatte ein würgendes Gefühl, als müßte er sich übergeben, aber sein Magen war leer. Er richtete den Blick nach oben. Eine in den Haken eingehängte Kette. Der Haken war fest in den Balken eingehämmert. Nur diese Kette stand zwischen ihm und der Freiheit. Er ließ den Kopf hängen und blickte wieder nach unten. Sein Blick fiel auf den Schemel. Irgend etwas hatte sich da unten verändert. Ah, ja… die Peitsche stand jetzt neben seiner Kleidung an die Wand gelehnt, und die einzelnen Lederstriemen sahen aus, als wären sie mit roter Farbe beschmiert. Craig blickte auf den Schemel und seufzte. Irgend etwas war mit diesem Schemel… Natürlich! Der Schemel war wesentlich näher herangerückt! Wenn er einen Fuß weit ausstreckte, konnte er ihn vielleicht erreichen. Er spielte einen Augenblick mit diesem Gedanken, ehe er neue Hoffnung zu schöpfen wagte.
Vorsichtig streckte er den nackten Fuß aus und schob die Zehen unter die Sitzkante des Schemels. Dann zog er den Schemel Millimeter um Millimeter heran. Er streckte auch den anderen Fuß aus und brachte den Schemel langsam in die gewünschte Stellung. Es ging einfacher, als er erwartet hatte. Der Schemel stand jetzt unmittelbar unter ihm, so daß er beide Füße fest darauf stellen konnte. Was für ein wundervolles Gefühl, daß sein Körpergewicht endlich nicht mehr an den schmerzenden Handgelenken hing. Vorsichtig verlagerte er das Gewicht auf die Fußsohlen. Seine Knie knickten ein, als wollten sie ihm den Dienst versagen. Doch er durfte sich keine lange Erholungspause gönnen, denn die Toparrs befanden sich im Nebenraum und konnten jeden Augenblick zurückkehren, um ihn weiter auszupeitschen. Er biß die Zähne zusammen, verlagerte das Gewicht auf die Füße und spürte, wie die Kette über seinem Kopf ^nachgab. Vorsichtig versuchte er, sie über den Haken zu streifen. Nur noch ein paar Zentimeter… Die Kette glitt vom Haken, und er fing sie rasch mit den Händen auf, damit sie nicht klirrend am Boden aufschlug. Er richtete sich auf und hielt die Kette in der Hand. Seine Handgelenke bluteten, doch er trachtete nur nach Rache und achtete nicht weiter darauf. Mit der Kette in den Händen kletterte er vom Schemel. Geduckt huschte er an die Verbindungstür und drückte das Ohr gegen die Füllung. Nichts zu hören. Er sah sich noch einmal genau im Raum um. Es gab keine weitere Tür und auch keine Fenster. Seine Hände klammerten sich fester um die Kette. Er öffnete die Tür. Auf dem Gang war niemand zu sehen. Splitternackt huschte er den Gang entlang und erreichte einen kleineren Raum. Ein
Toparr döste auf einem Stuhl und hielt den Kopf an die Wand gelehnt. Er trug wie alle Toparrs einen breiten schwarzen Gurt um den Leib. Offensichtlich war er kein Krieger, denn er hatte keine Waffen bei sich. Craig holte mit der Kette aus und schlug sie dem Toparr an den Kopf. Das gelbliche Wesen rutschte lautlos vom Stuhl und fiel auf den Boden. Sein Kopf blutete. »Entweder du – oder ich«, flüsterte Craig. Er verließ den kleinen Raum, huschte erneut den Gang entlang und erreichte eine Art Waffenkammer. Vielerlei Waffen hingen an den Wänden. Craig nahm grinsend zwei jener weißen Energiekugeln an sich, die die Toparrs Taraths nannten. Er betrachtete sie und erinnerte sich, wie der Toparr in Uphor versucht hatte, ihn mit einer solchen Waffe zu erledigen. Wenn er auf einen kleinen Knopf drückte, würde er damit die in dieser kleinen Kugel geballte Energie auslösen. Er brannte darauf, ein solches Ding einzusetzen. Die Chance dazu bot sich ihm früher, als er vermutet hatte. Er hörte Schritte über den Gang kommen. Als erster tauchte der Anführer der Toparrs in der Uniformjacke im Gang auf. Als er die Waffe in Craigs erhobener Hand erblickte, schrie er auf und versuchte zurückzuweichen. Craig drückte auf den Knopf. Nichts passierte. Der Tarath funktionierte nicht. Kein zuckender Energiestrahl huschte auf den Toparr zu, um ihn zu vernichten. Der Mann blieb stehen und zog seinen eigenen Tarath. Craig ließ das nutzlose Ding fallen und griff erneut zur Kette. Als der Toparr feuern wollte, wurde er von der Kette getroffen. Es ging um Bruchteile von Sekunden.
Die Kette war schneller als der Tarath. Der getroffene Anführer der Toparrs sank zu Boden. Die drei hinter ihm stehenden Toparrs griffen zu ihren Waffen. Craig warf sich auf die Knie. Mit der Kette konnte er nichts gegen die Taraths ausrichten. Er tastete nach dem Tarath des Anführers, fand ihn und hob ihn auf. Seine Fingerkuppe berührte den Knopf. Der weiße Energiestrahl begann zu zucken und traf den ersten, dann den zweiten und schließlich den dritten Toparr. Die drei gelblichen Wesen lösten sich unter der Wucht der Implosion auf. Sie verschwanden, als hätten sie sich buchstäblich in Luft aufgelöst. Craig erschauerte. Er mußte sich eingestehen, daß diese Toparrs verdammt gute Waffen besaßen. Er blieb einen Augenblick stehen und atmete tief durch. Die Schmerzen machten ihm zu schaffen, und er spürte, wie schwach und erschöpft er war. Als er die Kette wieder aufnahm, schien sie noch einmal so schwer zu sein. Der Tarath des Anführers hatte einwandfrei funktioniert. Warum nicht der andere? Nun, vielleicht war er nicht geladen. Er wollte sich bei Rolf danach erkundigen, wenn er wieder in der Unterkunft war. Er erreichte den Ausgang und drückte die Tür auf. Es war noch dunkel draußen, aber am fernen Horizont zeigte sich bereits der erste, helle Streifen. Er mußte sechs oder gar sieben Stunden an der Kette gehangen haben. Mit gesenktem Kopf und den beiden Taraths in den Händen machte er sich auf den Weg zur Unterkunft. Als er endlich die Tür erreichte, hämmerte er mit der Faust dagegen. Die Tür wurde von innen geöffnet, und er brach auf der Schwelle zusammen.
7
Etwas Feuchtes bewegte sich auf seinem Gesicht. Craig träumte, ein gigantischer Wurm kroch über seine Wangen und die Stirn entlang – ein Wurm mit den wutverzerrten Gesichtszügen eines Toparrs. Er hob die Hände an, um den Wurm zu schnappen und zu zerquetschen. Ein leichter Griff legte sich um seine Handgelenke. »John! Johnny! Wach auf! Wach auf!« Fiona blickte auf ihn hinunter. Ein besorgter Ausdruck stand in ihrem bleichen Gesicht. Sie drückte ihm einen feuchten Lappen auf die Stirn. Hinter ihr stand Olsen mit einigen Männern, mit denen er im Tempel gearbeitet hatte. Craig richtete sich ein wenig auf und stützte sich auf die Ellbogen. »Sie werden herkommen!« keuchte er. »Wer, Commander?« fragte Rolf Olsen leise. Sie betrachteten seine Handgelenke, die jetzt nicht mehr bluteten, aber immer noch schmerzten. Ein kleiner Mann mit einer schwarzen Tasche bahnte sich einen Weg durch die Umstehenden an Craigs Lager. »Der Doktor wird dich wieder herrichten«, sagte Olsen. »Wir haben keine Zeit!« rief Craig. »Habt ihr die Taraths? Gut! Ich kann euch hinführen, wo ihr noch mehr von diesen Dingern findet.« Der Doktor war der Stabsarzt einer der beiden Luftflotten. Er kniete neben Craigs Bett. Er holte eine Injektionsspritze aus seiner schwarzen Instrumententasche, zog sie auf und sah Craig an.
»Ein schmerzstillendes Mittel«, sagte er. Als er Craigs überraschten Gesichtsausdrude sah, brummte er: »Die Toparrs haben mir alle Medikamente gelassen, damit ich die Männer gegebenenfalls behandeln kann. Je gesünder sie sind, desto besser können sie arbeiten. Eine uralte Weisheit. Sie verschaffen mir alle Medikamente, die ich brauche.« Die Nadel stach zu. Craig zuckte zusammen; dann entspannte er sich. Der Schmerz würde in wenigen Minuten abklingen. Jemand brachte eine Feile, um die Handschellen an Craigs Handgelenken zu öffnen – aber er schob ihn ungeduldig zurück. »Dafür haben wir jetzt keine Zeit! Wir müssen uns die Waffen noch vor Tagesanbruch holen. Verstehst du, Rolf?« Der große Schwede nickte und winkte zwei kräftige Männer heran. Sie schoben die Schulter unter Craigs Achselhöhlen und hoben ihn vom Lager. Einer von ihnen hob die Kette an. »Barney und Rick werden dich tragen, Commander. Du brauchst uns nur die Richtung anzugeben.« »Vielleicht lauert dort der Anführer der Toparrs«, gab Craig zu bedenken. »Der mit dem Schweinsgesicht? Ah, hoffentlich begegne ich ihm!« Olsen ergriff einen Tarath. Die beiden anderen Taraths lagen in den Händen von zwei jungen Mitgliedern der Besatzung. »Unsere besten Schützen«, sagte Olsen. »Sie werden das Ziel mit diesen Dingern nicht verfehlen.« »Na, dann los!« Es war eine seltsame Prozession, die sich in der frühen Stunde des Morgengrauens durch die Straßen der namenlosen Stadt bewegte. Im Hintergrund hob sich der dunkle Tempelneubau gegen die Helligkeit ab. Weit und breit war nichts von den Toparrs zu sehen.
Schon nach kurzer Zeit spürte Craig, wie die Kraft in seinen Körper zurückströmte. Die Schmerzen waren verklungen, und er bat die beiden Männer, ihn auf die Füße zu stellen. Ein Mechaniker kam herbei, ging neben ihm her und feilte dabei die Handschellen durch. Die Tür zu dem Haus mit der Waffenkammer stand weit offen. Olsen überschritt mit dem feuerbereiten Tarath in der Hand die Schwelle. »Ich weiß nicht, ob das Ding funktioniert«, sagte Craig, der sich an seiner Seite hielt. »Bei mir hat es jedenfalls versagt.« Rolf Olsen grinste. »Du brauchst nur den Lauf zu drehen.« »Den Lauf? Was hat der denn damit zu tun?« Olsen zeigte es ihm. »Es ist eine Art Sicherung. Wenn du den Lauf in diese Richtung drehst, kannst du dich auf den Kopf stellen, und das Ding wird nicht losgehen. Doch halt den Lauf mal in diese Richtung… und schon klappt’s!« Im Augenblick war jedoch niemand zu sehen, an dem er es hätte demonstrieren können. Der Anführer der Toparrs – jemand sagte, er hieße Kofarpan – hatte sein Heil in der Flucht gesucht. »Wahrscheinlich trommelt er seine Männer zusammen, um Jagd auf mich zu machen«, brummte Craig. Ruhig und besonnen räumten die Männer die Waffenkammer aus. Über fünfhundert Taraths fielen ihnen in die Hände und wurden unter ihre Gürtel geschoben. Mit den Waffen in den Händen schöpften die Männer neuen Mut. Jetzt waren sie keine Sklaven mehr, sondern Kämpfer. »Verteilt euch und bildet eine Kette!« befahl Olsen. In geschlossener Formation marschierten sie zu ihren Unterkünften, die bislang als Gefangenenlager gedient hatten. Bald mußten die Posten der Toparrs auftauchen, um sie zur Arbeit zu holen. Sie hatten keine Ahnung, daß dieser Morgen völlig anders verlaufen würde als alle bisherigen.
Jene Männer, für die die Waffen nicht ausgereicht hatten, gingen in die Unterkünfte zu den Frauen. Die anderen bezogen mit den feuerbereiten Taraths in den Händen Stellung hinter Türen und Fenstern. Hier kauerten sie und warteten auf das Auftauchen der Toparrs. Die Toparrs kamen wie an jedem Morgen, um die Besatzungen der Raumschiffe abzuholen und an die Arbeitsstellen zu führen. Schweigend näherten sie sich den Unterkünften, denn sie redeten nur, wenn sie den Gefangenen Anweisungen geben mußten. Die Wucht der Feuersalven traf sie völlig überraschend. Die weißen Kugeln mit der geballten Energie verrichteten ganze Arbeit. Es war kaum etwas zu hören. Die Toparrs schrumpften unversehens in sich zusammen und lösten sich auf. Als keines der gelblichen Wesen mehr zu sehen war, verließen die Männer ihre Posten und zogen sich in die Unterkünfte zu ihren Kameraden zurück. »Es muß noch weitere Waffenkammern in der Stadt geben«, sagte Craig zu Rolf Olseti. »Leite mit den Männern eine großangelegte Suchaktion ein!« »Die Soldaten der Toparrs werden bestimmt Wind von dieser Sache bekommen und sich uns in den Weg stellen.« »Wie sollten sie Wind davon bekommen? Die Toparrs da draußen sind alle tot… außerdem konnten sie nur sprechen, aber nicht telepathische Mitteilungen machen.« Olsen zuckte die Achseln. »Vielleicht wird ihr Gott es ihnen mitteilen.« »Ihr Gott, ja… Rhythane.« Craig dachte an die Metallstruktur auf dem Altarsockel des Tempels. Auf telepathische Weise setzte sich Rhythane mit den Toparrs in Verbindung, verlieh ihnen seine Kräfte und
teilte ihnen seine Wünsche mit. Wenn sie diese Metallstruktur vernichten wollten, dann mußten sie rasch handeln. »Wenn wir nun den Tempel überfallen?« fragte Craig. »Wenn wir ihren Gott vernichten?« Rolf Olsen lachte in sich hinein. »Das dürfte uns wohl kaum gelingen. Nach Aussagen der Toparrs lebt ihr Gott nämlich im Himmel.« »Aber er verständigt sich mit ihnen durch dieses Ding im Tempel.« Der große Schwede rieb sich nachdenklich das Kinn. »Das stimmt. Er muß tatsächlich irgendwo in dem Metallgewirr über dem Tempelaltar stecken, wenn er seine Kraft ausströmt und Baumaterial erzeugt. Gut, wir wagen es!« Sie marschierten die Straße hinunter. Die bewaffneten Männer bildeten jeweils die Vor- und Nachhut. Auf halbem Weg zum Tempel kamen ihnen die ersten Toparrs entgegen. Sie kamen in vollem Lauf auf sie zu. »Diese Dummköpfe!« stieß Olsen aus. »Sie werden niedergemäht, ehe sie…« Die Männer der Vorhut eröffneten das Feuer. Weiße Kugeln mit geballter Energie trafen die gelblichen Wesen und lösten sie auf. Sie verschwanden… einer nach dem anderen. »Warum ziehen sie sich denn nicht zurück, um sich neu zu formieren?« rätselte der große Schwede. »Sie wurden gemacht – oder ausgebildet – um zu kämpfen. Sie ziehen in Überzahl in die Schlacht, um den Gegner förmlich zu überrennen. Sie verstehen es nicht, sich zurückzuziehen oder sich zu ergeben.« »Die Toparrs haben noch andere Städte«, brummte Olsen. »Sie werden weitere herschicken… vielleicht Tausende oder gar Millionen.« Er atmete tief ein. »Einer alten Legende zufolge haben die Toparrs das Volk der Rhydd – also Fionas Vorfahren – vor Tausenden von Jahren vernichtend
geschlagen. Nach der damaligen Entscheidungsschlacht sind angeblich Tausende von Toparrs in großen Hallen hermetisch versiegelt worden, um im Notfall zur Verfügung zu stehen. Nun, dieser Notfall ist jetzt eingetreten. Wir werden uns wohl nur wenige Tage unserer gewonnenen Freiheit erfreuen können, denn dann kommt es bestimmt zu einer großen Schlacht.« »Und dabei werden sie uns in Scharen niederwalzen«, murmelte Craig. Olsen betrachtete ihn von der Seite. »Es sei denn, du kannst ihren Gott vernichten.« Schweigend setzten sie den Weg zu dem großen Platz vor dem Tempel fort. Nur ihre Schritte durchbrachen die Stille der Stadt. Das Tempelportal stand weit offen. Offensichtlich hatten die Toparrs gestern abend in der Hitze der Verfolgung vergessen, die Türen zu schließen. Vielleicht aber war es auch eine Falle, um die ehemaligen Sklaven wieder einzufangen. »Wir wollen Lagebesprechung halten«, schlug Craig vor. Er trug den Behälter mit dem Metallstab, dem Stirnreif und der schwarzen Schatulle. »Stell Wachen auf, damit uns die Toparrs nicht überraschen können«, sagte er. »Ich gehe hinein und versuche, die Metallstruktur zu zerstören. Du führst unterdessen hier draußen das Kommando, Rolf.« Plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Was ist eigentlich mit den Unterkünften der anderen Besatzungsmitglieder?« »Sie warten eingesperrt in ihren Lagern auf das Kommen der Toparrs.« »Dann schick ein paar mit Taraths bewaffnete Stoßtrupps aus, um sie aus den Lagern zu befreien. Sie sollen die Stadt nach weiteren Waffenkammern durchsuchen. Wenn es
Millionen von Toparrs gibt, dann müssen auch irgendwo Millionen von Taraths versteckt sein.« »Ich würde dich lieber in den Tempel begleiten, aber ich sehe ein, daß meine Aufgabe hier draußen liegt. Geh nur zu. Ich werde die Stoßtrupps ausschicken und hier eine Barrikade errichten, um den Tempel zu verteidigen.« Craig griff in den Behälter und zog den Metallstab heraus. Dann winkte er Fiona heran und drückte ihr den Behälter in die Hand. »Bleib hier in der Nähe«, sagte er. Sie nickte. Unverhohlene Erregung stand in ihren braunen Augen. Sie haßte die Toparrs mit der ganzen Glut ihres Herzens. Es brachte ihr Blut in Wallung, zu sehen, wie die Toparrs jetzt mit ihren eigenen Waffen geschlagen wurden. Sie begleitete Craig die breite Treppe hinauf bis zum Tempelportal. Er überschritt die Schwelle mit dem Metallstab in der Hand. Drinnen schien alles ruhig und friedlich zu sein. Sein Blick umfing den Raum und richtete sich dann auf die Metallstruktur über dem Altarsockel. Langsam trat er darauf zu. Als er unmittelbar vor der abstrakten Struktur stand, richtete er den Metallstab auf das Drahtgewirr und betätigte den Abzug. Nichts passierte. Er drückte härter auf den Abzug. Der Metallstab war ohne Wirkung. Staunend hob er den Blick zu der Struktur, die den Gott Rhythane beherbergte. Er sah den bläulichen Lichtschimmer hinter den Metallstäben und Drähten. Ah ja, der Gott Rhythane war augenscheinlich anwesend. Erdenmensch – hör mich an! Bis zu deinem Auftauchen herrschte Frieden in meiner Welt. Die Toparrs vertraten meine Interessen, und die Männer
deines Volkes waren meine Sklaven. Nun versuchst du, all das niederzureißen, was ich über Jahrhunderte hinweg aufgebaut habe. Das werde ich nicht zulassen! Der bläuliche Lichtschimmer wurde stärker und stärker. Bald waren es gleißende Strahlen von ungeheurer Intensität. John Craigs Intuition regte sich. Nicht umsonst hatte er auf vielen fernen Planeten und Welten schon die härtesten Proben bestanden und die gefährlichsten Situationen gemeistert. Er wich zurück, legte den Arm um Fionas Hüften und schob die andere Hand in den Behälter. Er zog die Schatulle heraus. Das Licht hinter den Metallstäben war jetzt blendend weiß. Grelle Lichtblitze zuckten zwischen den Metallstäben und Drähten; sie tauchten den ganzen Tempel in ein seltsam unwirkliches Licht. Jetzt, Johnny! sagte er sich, während er auf den roten Knopf im Deckel der Schatulle drückte. Irgend etwas griff nach ihm und dem Mädchen… es sah aus wie ein schimmernder Wasserstrahl. Sie befanden sich jetzt irgendwo in der Zukunft oder in der Vergangenheit. Craig vermochte es nicht zu sagen. Aus dem geometrischen Zentrum der Metallstäbe, Drähte und Kabel kam ein Blitzstrahl auf sie zu. Es sah aus wie eine dünne bläuliche Nadel, und Craigs Intuition sagte ihm, daß sie von dieser Nadel ebenso vernichtet worden wären wie vom Tarath eines Toparrs. Hier wurden die gleichen Energien freigesetzt. Die blaue Nadel tastete an dem Zeitfeld entlang, und für ein paar Sekunden blieb ihr Blick verschwommen. Craig und Fiona kam es vor, als wären sie aus dem Universum in irgendeine Unendlichkeit versetzt. »Ruhig… ruhig«, flüsterte er Fiona zu.
Sie umspannte seine Hand und schmiegte sich noch enger an ihn. Beide warteten. Craig hatte keine Ahnung, wie lange die bläuliche Lichtnadel gegen das Zeitfeld ankämpfte. Er schätzte die Zeitspanne auf etwa eine halbe Stunde, aber er konnte sich natürlich täuschen, denn er hatte noch keine Erfahrungen mit den Zeitfeldern. Möglicherweise wurden alle Zeitintervalle verändert. Langsam erlosch die bläuliche Lichtnadel. Durch das Zeitfeld hindurch versuchte Craig einen Blick zwischen die Metallstäbe zu werfen. Es war kein Lichtschimmer mehr zu entdecken. Vorsichtig drückte er auf den blauen Knopf. Die Wände des Zeitfeldes verschwanden. Sie standen wieder vor dem Altarsockel des Tempels. Die abstrakte Metallstruktur war allem Anschein nach tot. Craig fragte sich, ob das Ding seine Kräfte überschätzt hatte oder ob es ihnen eine neue Falle stellen wollte. Er schob die schwarze Schatulle in den Behälter zurück und zog den Metallstab heraus. Er richtete ihn auf die Metallstruktur und schaltete ein. Der rötliche Lichtstrahl zuckte über die Stäbe der Struktur und löste sie auf. Nur ein paar am Boden liegende Drähte blieben übrig. »Das Ding im Innern… das bläuliche Feuer«, sagte er zu Fiona, »konnte zuerst die Kraft meines Metallstabes brechen. Doch jetzt existiert das Ding nicht mehr, und nun funktioniert mein Metallstab wieder.« Rolf Olsen tauchte im Tempelportal auf. »Die Toparrs haben ihre Armee mobilisiert und rücken rasch an!« rief er Craig zu. Craig hörte die Schritte der gegen die Barrikade vordringenden Marschkolonnen. Er eilte mit Fiona hinaus und überprüfte die in aller Eile errichteten Barrikaden. »Bringt die Frauen in den Tempel!« ordnete er an. »Da drinnen werden sie zunächst sicher sein. Die unbewaffneten
Männer warten im Hintergrund. Falls jemand in den vorderen Reihen fällt, übernehmen die anderen die Taraths. Mitunter verschwinden die Taraths, wenn die Toparrs implodieren.« »Und du?« »Ich gehe zu dem alten Tempel. Du sagtest doch, daß Rhythane sich dort aufhält.« »Ja, aber es heißt allgemein, daß er dort nicht so mächtig war wie hier im neuen Tempel. Deshalb sollten wir ihn ja bauen. Rhythane brauchte mehr Platz, um sich ausdehnen zu können.« »Wenn ich Rhythane im alten Tempel vernichten kann, findet er auf diesem Planeten keinen Halt mehr.« Olsen nickte grinsend. »Du bleibst hier, Fiona«, ordnete Craig an. Sie schüttelte so heftig den Kopf, daß das lange, schwarze Haar um sie herumflatterte. Panische Angst spiegelte sich in ihren braunen Augen. Zuviel war in den letzten Tagen auf sie eingestürmt, und sie war offensichtlich einem Zusammenbruch nahe. Sie war nicht bereit, sich von Craig zu trennen, denn in ihren Augen war er ein Gott. Craig zog sie lächelnd an sich. »Na schön, dann komm mit, wenn du willst, Fiona. Vermutlich bist du bei mir ebenso sicher wie bei den anderen.« Sie entfernten sich in entgegengesetzter Richtung zu den heranrückenden Marschkolonnen der Toparrs. Craig wußte, daß auch hier in der Stadt noch eine ganze Reihe von Toparrs stecken mußte. Rhythane brauchte viele Diener, und er verteilte sie so über diese Welt, daß er sie jederzeit erreichen konnte. Unwillkürlich fragte sich Craig, ob die Toparrs je einen Sklavenaufstand hatten niederschlagen müssen. Er blieb vor einem Haus stehen, das im Schein der einzigen Sonne innerhalb des Enigma einen dunklen Schatten warf. Langsam wandte er sich um und blickte zum Platz vor dem Tempel zurück. Er sah das helle Blitzen der energiegeladenen
Kugeln, aber von einem Schlachtlärm war nichts zu hören. Er konnte nur hoffen, daß seine Vermutung richtig war und daß es gleichzeitig das Ende der Toparrs bedeutete, wenn er Rhythane ausschalten konnte. Der alte Tempel lag etwa tausend Meter von dieser Straßenkreuzung entfernt. Im Vergleich zu dem neuen Tempel wirkte dieser Bau schäbig und unscheinbar. Es war ihm von außen nicht anzusehen, daß hier ein Gott wohnen sollte. Craig hielt den Metallstab in der Hand und betrachtete den Bau. Er biß die Zähne zusammen, denn jetzt kam der kritische Punkt seines ganzen Unternehmens. Geh in den Tempel und kämpfe gegen einen Gott! Vernichte den Gott und befreie sein Volk! Und beseitige das mystische Geheimnis dieses schwarzen Enigma! Es wäre nicht das erste Mal, daß ein Mensch sich gegen einen Gott auflehnte, aber bestimmt das erste Mal, daß er einen Gott zu vernichten trachtete! Vielleicht war es ein taktischer Fehler, Rhythane zu vernichten – immer vorausgesetzt, daß er das überhaupt schaffte. Nun, er wollte es jedenfalls versuchen. »Komm, gehen wir!« flüsterte er Fiona zu. Sie lehnte sich mit dem Rücken an der Wand und verfolgte fasziniert den Verlauf der Schlacht zwischen den Männern und den Toparrs. Überall waren die weißen Blitze der energiegeladenen Kugeln zu sehen. Mit einem tiefen Atemzug löste sie sich von der Wand. Grimmige Entschlossenheit stand in ihren braunen Augen. Sie nickte Craig zu und ging voraus. Er folgte ihr und spähte verstohlen nach allen Seiten. Er wußte, daß sie aufschreien würde, wenn plötzlich vor ihr ein Toparr auftauchte. Doch die Toparrs schienen alle zum
Kampfplatz befohlen worden zu sein, um die Rebellion der Sklaven niederzuschlagen. Sie kamen gar nicht auf den Gedanken, ihren Gott Rhythane zu bewachen. Sie erreichten einen kleinen Platz, etwa halb so groß wie der vor dem neuen Tempel. Anscheinend war dies das älteste Stadtviertel, denn die Pflastersteine waren brüchig und uneben. Der alte Tempel sah verlassen aus. Die Holztüren waren geschlossen, und auf den Fensterbrettern lag eine dichte Staubschicht. Die kleine Steintreppe war offensichtlich seit längerer Zeit nicht mehr benutzt worden. Craig ging die Stufen hinauf und legte die Hand auf die Türklinke. Die Tür öffnete sich auf rostig kreischenden Angeln nach innen. Alles war leer bis auf den Altar im Hintergrund. Hier waren keine Marmorsäulen oder gelb-schwarze Fliesen zu sehen. Über dem Altar stand auch keine Metallstruktur. Craig blieb in der Mitte des Tempels stehen und überlegte. Rhythane war nicht hier! Dabei war er seiner Sache so sicher gewesen. Alle seine hoffnungsvollen Berechnungen beruhten auf der Annahme, daß er Rhythane vernichten könnte. Wenn Rhythane eine unsichtbare Macht war, die keiner Metallstruktur bedurfte, um sich bemerkbar zu machen, dann waren die tapferen Männer draußen so gut wie verloren. Er überlegte: Rhythane verlieh den Toparrs die Fähigkeit, sich zu bewegen, zu handeln und zu denken, wie er ja auch ihre Werkzeuge betriebsklar machte und ihnen das erforderliche Baumaterial zur Verfügung stellte. Mit der Vernichtung des Gottes würde er die Macht der Toparrs brechen. Dann wäre es vorbei mit der Bedrohung durch die Toparrs, und er konnte in die Vergangenheit zurückkehren, wo die Raumschiffe der beiden Flotten standen. Von dort aus
konnte er Dan Ingalls verständigen, daß er das Rätsel des schwarzen Enigma gelöst hatte. Craig trat mit dem einsatzbereiten Metallstab in den Händen weiter vor. Er wußte nicht, was ihn hier erwarten mochte – aber er wollte sich auf keinen Fall überraschen lassen. Fiona folgte ihm lautlos auf Zehenspitzen. Er ging um den Altar herum, fand jedoch nur eine schwarze Wand und einen blanken Fußboden. Er zermarterte sich den Kopf nach einer Lösung. Das ist alles falsch. Der Gott – oder was immer es sein mag – muß hier sein, und ich muß ihn oder es finden! Mit der gleichen systematischen Methode, die ihn bei der Durchführung aller bisherigen Aufgaben ausgezeichnet hatte, machte er sich an die Arbeit. Er wollte nicht die geringste Kleinigkeit übersehen. Jeden Anblick, jedes Geräusch kann ein Anhaltspunkt sein. Seine Hände tasteten jeden Vorsprung in der rauhen Wand ab. Fiona kauerte mit angezogenen Knien auf dem Altar und ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Sie wußte, wie wichtig das alles für ihn war und wagte kaum zu atmen. Er ging einmal um den ganzen Raum herum und kehrte köpf schüttelnd zu Fiona zurück. »Ich kann das nicht verstehen. Dieser Gott Rhythane muß in seinem Tempel sein.« Er sah sich um. Irgendwie kam ihm das Innere des Tempels kleiner vor als das Äußere. Er blickte wieder auf die schwarze Wand hinter dem Altar. Die Steine waren dort unregelmäßig. Wahrscheinlich hatten die Sklaven hier mit Widerwillen gearbeitet. Es konnte jedoch auch etwas anderes dahinterstecken. Er tastete die Wand noch einmal gründlich mit den Händen ab. Irgendwie lag eine gewisse Regelmäßigkeit in der
Anordnung der einzelnen Mauersteine. Die hervorstehenden Steine bildeten den groben Umriß einer Tür. Er preßte die Handflächen dagegen und drückte zu. Unvermittelt gab die Tür in der Mauer nach und öffnete sich nach innen. Er erblickte einen kleinen fensterlosen Raum mit einer kleinen Maschine. Nein, es war eigentlich keine Maschine sondern eher eine kleinere Ausgabe jener abstrakten Metallstruktur, die er auf dem Altarsockel des neuen Tempels gesehen hatte. Du bist gefährlich, Erdenmensch! Craigs Knie wurden butterweich. Rhythane! Hier steckte er also in der kleinen Metallstruktur, wo er von seinen Anbetern nicht gesehen werden konnte. Wenn er sich ihnen bemerkbar machte, mußten sie ihn ja für einen Gott halten. Wahrscheinlich kannte nur der Priester der Toparrs dieses Geheimnis. Craig richtete den Metallstab auf die Struktur. Warte! Deine Waffe ist hier wirkungslos. Sie wird ebenso wenig funktionieren wie im neuen Tempel! Craig ließ sich nicht beirren und hielt den Finger am Abzug. »Weiter!« sagte er leise. Ich mache dir einen Vorschlag. Gib den Versuch auf, mein Heim hier auf dem Planeten Rhyllan zu vernichten, und ich gebe dein Volk frei. Weder sie noch die Leute vom Stamm der Rhydd sollen mir weiterhin als Sklaven dienen. Wir wollen alle in Frieden leben, dein Volk, der Stamm der Rhydd und meine Toparrs. »Das Enigma? Wirst du es vernichten?« Es steht mir nicht zu, es zu vernichten. »Ich glaube, du lügst.«
Tiefes Schweigen trat ein, das nicht einmal von der Telepathie des Gottes durchdrungen wurde. Craig umspannte den Metallstab, denn er rechnete mit dem offenen Ausbruch von Feindseligkeiten. Dann… Du kennst die Geschichte des Enigma nicht, sonst würdest du keine solche Forderung stellen. Wenn ich die Hülle beseitigte, würde es das Schicksal dieser Welt besiegeln. Vor langer, langer Zeit gab es kein Enigma. Das war noch bevor der Stamm Rhydd auf den Planeten Rhyllan kam. Sie lebten damals in einer anderen Welt – in einer Welt… Zu spät merkte Craig, daß er sich hatte täuschen lassen. Er hatte so interessiert zugehört, daß er dabei die Verteidigungsbereitschaft vernachlässigt hatte. Der bläuliche Lichtschimmer in der Struktur wurde tausendfach heller und strahlte wie ein glühender Sonnenball. Es spielte sich im Bruchteil einer Sekunde ab. Ehe Craig sich zum Widerstand aufraffen konnte, wurde er von dem bläulichen Licht umhüllt. Er blieb reglos stehen und hörte irgendwo weit hinter sich wie aus der Unendlichkeit Fionas schrillen Aufschrei. Er erwartete jeden Augenblick den Tod, aber der Tod kam nicht. Mit dem bläulichen Licht rings um sich herum vermittelte sich ihm das Gefühl einer wohltuenden Wärme und eines unglaublichen Alters. Ein Gefühl des Verstehens und… ja… auch des Triumphes. Dummkopf! Dich gegen einen Gott zu stellen! Er schwebte in der Leere. Seine Füße standen nicht mehr auf dem Boden des alten Tempels. Es war, als hätte der Gott Rhythane alles Empfinden in ihm ausgelöscht. Komm mit mir zurück zum Anfang aller Dinge, Erdenmensch!
8
Endlich spürte Craig wieder festen Boden unter den Füßen. Ihm war schwindlig, und er streckte die Hände aus, aber da war nichts, gegen das er sich hätte stützen können, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Er brauchte sich gar nicht erst zu überzeugen, um zu wissen, daß der Metallstab genauso verschwunden war wie der Behälter mit dem Stirnreif und der schwarzen Schatulle. Diese Sachen waren bei Fiona zurückgeblieben – wo immer sie sich jetzt auch befinden mochte. Das Schwert war seine einzige Waffe. Als die gleißenden Lichtstrahlen allmählich dunkler wurden, mußte Craig seine Augen erst an das neue Licht gewöhnen, ehe er sich die Umgebung ansehen konnte. Er stand in einem Garten, wie er ihn nie zuvor gesehen hatte. Die Blumen waren aus Metall, die Blüten und Blätter von bizarrer Form. Es sah aus, als wäre dieser Garten von Robotern angelegt worden, die damit einen Auftrag ihres Herrn und Meisters ausführten. In dem fahlen Licht des gelben Himmels zeichneten sich die Metallpflanzen mit überraschender Deutlichkeit ab. Craig atmete tief ein. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand… vielleicht in irgendeiner abgelegenen Ecke des Planeten Rhyllan. Nein, nicht Rhyllan, sondern Rhythane! Rhythane? Also der andere Planet. Craig erinnerte sich an die Legenden des Stammes Rhydd, die der alte Harfenspieler Fiachra ihm in der Halle des Häuptlings Rhyddoan erzählt hatte. Diese Legenden besagten,
daß der Stamm von einem anderen Planeten gekommen war. Sie hatten für diesen anderen Planeten keinen anderen Namen als den ihres Gottes. Der Name war im Laufe der Jahrhunderte verlorengegangen. »Rhythane?« fragte er laut, denn er wußte, daß Rhythane ihn hören konnte. »Ist dies der Planet, von dem der Stamm der Rhydd ursprünglich kam?« Ja, aber das liegt schon so weit zurück, daß sich außer mir niemand mehr daran erinnern kann. Alle anderen haben es vergessen. »Wie hast du mich über eine Entfernung von hundert Millionen Meilen unversehrt hertransportieren können?« fragte Craig. Ich bin der Gott Rhythane und meiner Macht sind keine Grenzen gesetzt. Diese Macht ist unerreicht! »Und warum hast du mich hergebracht?« Um dich für meine Ziele zu gewinnen. Du hast Intelligenz und Mut bewiesen. Du bist meinem Priester Kofarpan entkommen, nachdem er dich gefoltert hat. Du hast dich der Taraths bemächtigt und deine Männer damit bewaffnet. Du hast den Kampf gegen meine Toparrs aufgenommen. Craig grinste. »Wie ist denn die Schlacht auf dem Planeten Rhyllan ausgegangen? Haben meine Männer die Toparrs besiegt?« Das spielt keine Rolle. Es kommt ausschließlich darauf an, daß du dir den von mir aufgezeigten Weg ansiehst. Geh weiter! Er folgte dem Weg zwischen den symmetrisch angelegten Beeten und Büschen aus Metallblumen. Er hörte ihr verhaltenes, musikalisches Geläute, als der Wind darüber hinwegstrich. Er blieb wie verzaubert stehen und betrachtete diese seltsame Schönheit.
Dann setzte er den Weg fort und spürte, wie das Schwert an seiner Seite baumelte. Mit einer automatischen Handbewegung schob er es zurecht. Er wußte, daß er sich nicht verirren konnte, denn Rhythane lenkte seine Schritte. Lieblich klang das Geläute der Metallblumen in seinen Ohren. Es kam ihm vor, als wollten sie ihm einen Willkommensgruß entbieten. Doch er wollte sich nicht ablenken lassen. Es war eine friedliche und auf ihre Art schöne Welt. In der Ferne sah er Bäume aufragen, die genau wie die Blumen und Büsche aus Metall waren, als hätte jemand die Natur nachahmen wollen. Der Weg führte um einen Bogen und endete vor einem niederen Gebäude. Es ähnelte einer aufsteigenden Wolke und ruhte auf schlanken Pfeilern. Es war, wie alles in dieser Welt, aus Metall. Die Tür stand offen. Craig ging darauf zu, denn das entsprach offensichtlich dem Willen des Gottes. Er betrat das kleine Gebäude. Die Innenwände waren aus bunt schillerndem Metall. Das Mobiliar bestand aus einer Couch und zwei Sesseln, die funkelnagelneu aussahen, als wären sie erst vor wenigen Sekunden angefertigt worden. Doch er durfte sich hier nicht aufhalten, sondern mußte weitergehen durch die einladend offenstehende Verbindungstür. Zu Rhythane, dem Gott. Craig vermochte nicht zu sagen, ob er sich in einer Art Hypnose befand oder ob der Gott seinen Willen lenkte. Um das herauszufinden, setzte er sich in einen neben der Verbindungstür stehenden Sessel. Er wartete. Im Grunde genommen wußte er, daß er das gleiche Ziel erreichen wollte wie Rhythane. Der Gott wollte ihn bekehren, so daß er sein Anhänger wurde. Er dagegen wollte den Gott vernichten.
Nach einer Weile stand er wieder auf und setzte den Weg fort. Über eine lange, nach unten führende Rampe kam er in einen großen, mit rötlichem Licht erfüllten Raum. Am Ende der Rampe blieb er überrascht stehen. Der Raum war mit Männern und Frauen angefüllt! Sie trugen strahlend bunte Kleidung, die mit Gold durchwirkt war. Unter ihnen standen Männer in Rüstungen und mit Schwertern bewaffnet. Andere waren in blitzende Uniformen gekleidet. Die Frauen waren von atemberaubender Schönheit, und die leichten Gewänder betonten die rassigen Linien ihrer attraktiven Figuren. Craig stieß einen leisen Pfiff aus und richtete den Blick auf eine Höhlenfrau der Steinzeit, die nur mit einem Lendenschurz bekleidet war und die Hände um ihr langes, schwarzes Haar gespannt hielt, als wollte sie es zurückwerfen. Unmittelbar hinter ihr stand ein Mädchen in einer hautengen, durchsichtigen Bluse und einem wallenden schwarzen Rock. Im ersten Augenblick hatte er geglaubt, sie lebten. Doch dann erkannte er, daß es leblose Puppen waren. Und dennoch… Sie wirkten so echt! Als wäre ihr Leben jäh im Bruchteil einer Sekunde erloschen… mitten in der Bewegung. Ihre Hautfarbe war ebenso verschieden wie ihre Kleidung. Ein gelbes Mädchen stand neben einem Mann mit einem rötlichen Gesicht, während eine Frau mit weißer Haut und langem roten Haar unmittelbar neben einem Mann mit ebenholzfarbener Haut stand. Es war, als hätte eine gigantische Hand diese Personen als Musterbeispiel ihrer jeweiligen Welt und des jeweiligen Zeitalters in diesen Raum versetzt. Craig streckte die Hand nach dem Rücken einer Tänzerin aus. Ihre Haut war seidenweich, aber kalt. Das warme, pulsierende Leben fehlte. Die Augen waren leicht geschlitzt, und auf ihren
vollen, roten Lippen stand die Andeutung eines reizenden Lächelns. Gefällt sie dir? Sie gehört dir. »Sie ist doch nur eine Puppe«, erwiderte Craig geringschätzig. »Auf dem Planeten Treefik, wo Schönheit fast zu einer Religion erhoben worden ist, könnte ich Tausende solcher Mädchen und Frauen finden.« Athalla ist keine Puppe, sondern entspricht in allem den Mädchen der Erde – nur daß sie kein Leben in sich hat. Wenn du Wert darauf legst, kann ich ihr dieses Leben geben. Als wollte es seine Worte bestätigen, begann das Mädchen sich zu bewegen. Sie warf den Kopf in den Nacken, lachte perlend und blickte Craig tief in die Augen. Ein Schauer durchlief ihren fast nackten Körper. Sie schlang die Arme um Craigs Nacken und schmiegte sich an ihn. »Gib mir Leben«, flüsterte sie. Craig erschauerte. »Ich kenne die Tänze aller Zeiten«, fuhr sie fort, indem sie sich noch enger an ihn schmiegte. »Und ich kenne die Liebeskünste aller Zeiten. Das gehört zu mir. Ich kann dir soviel Liebe schenken, daß dir die Sinne schwinden.« Sie wich einen Schritt zurück und streckte die Hände über den Kopf. Ihr Körper federte in schlangenartigen Bewegungen. Wieder kam das perlende Lachen über ihre Lippen, während sie nach einer lautlosen Musik zu tanzen schien. Ihre Beine und Schenkel waren wohlgeformt, und ihre festen Brüste federten elastisch bei jeder Bewegung. »Du bist ja nur ein Android«, sagte Craig. Ein schmerzlicher Ausdruck sprang in ihre Augen. Sie hörte auf zu tanzen und schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin ein Mensch – ein menschliches Wesen wie du. Ich kann bluten. Ich kann sterben.« Sie deutete auf das Schwert an seiner Seite.
»Verletze mich. Wenn du willst, kannst du mich auch töten.« Er sah die Furcht in ihrem Gesicht. Sie stand dort so deutlich geschrieben wie in einem menschlichen Antlitz. Sie sagt die Wahrheit, John Craig. Athalla ist eine lebendige Frau, Sie liebt, sie haßt, und in ihr steckt eine unendliche Zärtlichkeit, die nur darauf wartet, geweckt zu werden. Ist das denn so unmöglich? Was ist dein Körper schon anderes als eine Menge Wasser mit einem Zusatz von Chemikalien? Das trifft auch auf ihren Körper zu. Eure Wissenschaftler können den menschlichen Körper nachbauen. Allerdings können sie ihm kein Leben verleihen. Das kann nur ich, weil ich ein Gott bin. Und ich werde es tun, wenn du mir Gehorsam gelobst. Die Tänzerin erschauerte und warf einen Blick auf die anderen Gestalten im Raum. Dann wandte sie sich wieder an John Craig. »Ich habe hier schon sehr lange gestanden«, flüsterte sie. »Sehr, sehr lange. Ich habe nicht gewußt, was es heißt, zu leben. Jetzt aber lebe ich und möchte am Leben bleiben.« »Ich kann nichts machen«, erwiderte Craig. Sie schmiegte sich erneut an ihn und schlang die Arme um seinen Nacken. Sie preßte ihm die weichen, roten Lippen auf den Hals. »Doch, du kannst… du kannst! Rhythane verleiht dir die Macht. Geh auf seine Bedingungen ein, damit ich leben und dich lieben kann!« »Das ist Wahnsinn«, murmelte er. Er ergriff ihren Arm, um sie wegzuschieben, und sie setzte sich zur Wehr, als wäre sie tatsächlich grenzenlos in ihn verliebt. Ihre seidenweiche Haut war jetzt erfüllt von pulsierendem Leben. Ein paar feine Schweißperlen glitzerten auf ihrer glatten Stirn. Der unverkennbare Duft von Weiblichkeit drang ihm in die Nase.
Überleg1s dir gut, John Craig! Athalla ist nur eine von vielen Frauen, die dir gehören könnten. Geh durch die Halle und sieh sie dir alle genau an. Ich werde sie alle zum Leben erwecken, um den Planeten Rhyllan zu gegebener Zeit zu bevölkern. Athalla sah ihn schmollend an. Craig sah die Eifersucht in ihren geschlitzten Augen. Selbst Fiona hätte ihn nicht flehender ansehen können. Sein Verstand sagte ihm, daß sie nichts anderes als ein perfekt geformter Android war – doch seine Sinnesorgane sagten, daß sie eine warme, lebendige Frau war. »Wahnsinn!« flüsterte John Craig vor sich hin, aber er war seiner Sache nicht so sicher. Davon hatte schließlich jeder Mann in jeder Nation und auf jedem Planeten schon mal heimlich geträumt. Einen Planeten für sich ganz allein zu besitzen. Tapfere Männer, die sich für ihn einsetzten und herrliche Frauen, die sich in ihn verliebten. Und Reichtum, John Craig… geh nur weiter! Athalla tänzelte neben ihm her durch die Reihen der Männer und Frauen, die es in ihrer Schönheit selbst mit einer Aphrodite aufnehmen konnten. Es war eine starke Versuchung für John Craig. Welcher Mann wäre bei einem solchen Anblick nicht in Versuchung geraten? Die Halle endete vor einem hohen, in tausend Farben schillernden Vorhang. Die einzelnen roten, blauen, grünen und weißen Farbtöne gingen wie bei einem Kaleidoskop ineinander über. Er hielt diesen Vorhang für eine Art Energieschirm. Dahinter lag eine ebenso große Halle. In dieser Halle standen jedoch keine Männer und Frauen. Statt dessen erblickte er hier die Schätze von Millionen von Jahren. Goldbarren und Goldmünzen waren neben kostbaren Juwelen angehäuft. Schwere, massive Goldketten lagen am Boden. Er bückte sich und versuchte, eine dieser Goldketten anzuheben, aber sie war zu schwer. Auf kostbaren Holz- und
Elfenbeintischen standen Kästen, die bis zum Rand mit Juwelen angefüllt waren. Craig schob beide Hände in die Juwelen und hob sie an. Sein Herz hämmerte. Hier hielt er die Schätze von Dutzenden von Planeten in den Händen… grüne, weiße, rubinrote Edelsteine in der Größe von Hühnereiern. Im Lichtschein glitzerten sie in allen Regenbogenfarben. Wie hoch kann ein Mann den Preis seiner Pflichterfüllung veranschlagen? Seiner Treue? John Craig wußte es nicht. Kein Mensch würde es je erfahren, wenn er seine Pflicht aufgab, um fortan als Herrscher auf diesem Planeten zu leben. Das Enigma würde sich weiter ausbreiten, um nach und nach die Planeten zu verschlingen. Lebwohl, liebe Elva! Lebwohl, alter Freund Dan! Nur die Männer und Frauen, die John dem Ersten treu ergeben waren, wären die einzigen Lebewesen im Universum! Commander John Craig seufzte. Dieser Reichtum gehört dir, John Craig! Ja, all diese Schätze würden in seiner Schatzkammer ruhen, wenn er der Herrscher von Rhyllan wurde. Er wollte große, feste Schatzkammern errichten, um all diese seltenen Kostbarkeiten darin zu verwahren. Ein Gefühl des Triumphes breitete sich in ihm aus. Dieser Planet Rhyllan war eine Märchenwelt. Hier bot sich ihm alles, was sein Herz nur begehrte. Diese schöne Tänzerin, die so dicht neben ihm stand, daß er ihre seidenweiche Haut streicheln konnte, würde ihm viele herrliche Stunden schenken. Wenn er wollte, konnte er auch Fiona und Elva Marlowe herkommen lassen. Rhythane würde ihm jeden Wunsch erfüllen. Er sah sich in der weiten Halle um.
Ah, da drüben! Da standen goldverzierte Rüstungen und Helme mit nachgebildeten Vogelschwingen. Sie glitzerten im indirekten Licht des Raumes. Und Schwerter! Es waren Meisterwerke der Schmiedekunst. Die mit Ornamenten verzierten Klingen steckten in einem langen Holzblock. Die Griffe waren ziseliert und mit kostbaren Juwelen besetzt. Craig hatte seit jeher eine besondere Vorliebe für Waffen – vielleicht weil er in ständigem Umgang mit ihnen lebte. Ehrfürchtig schob er die Hände in die Körbe, als wollte er die Klingen aus dem Holzblock ziehen. Im Vergleich zu diesen Waffen war das Schwert an seiner Seite die Arbeit eines Stümpers. Alles gehört dir, dir allein! Craig zog die Finger von den Schwertern zurück. »Was muß ich dafür tun? Wo soll ich dir den geforderten Gehorsam geloben?« fragte er. Eine Weile blieb es still in der Halle. Diesmal kam die telepathische Übermittlung nur langsam und zögernd. Ich hätte nicht gedacht, daß du so schnell nachgeben würdest. Ich war bereit, dir noch viel mehr zu bieten. Aber wenn du damit zufrieden bist, dann geh weiter! Craig durchquerte die große Halle. Als die Waffen hinter ihm lagen, drehte er sich um und sah Athalla wie erstarrt im Hintergrund stehen, als wäre das Leben mitten in der Bewegung aus ihr gewichen. Achselzuckend setzte er den Weg fort. Am Ende der Halle kam er an eine breite, nach unten führende Steintreppe. Langsam ging er die Stufen hinunter, die in die Tiefen dieses Planeten zu führen schienen. Verhaltenes Summen drang an sein Ohr. Es hörte sich an wie der Herzschlag einer gigantischen Maschine. Der Boden bebte unter seinen Füßen. Seine Nackenhaare sträubten sich, und
eine Frage drängte sich ihm auf: könnte es sein, daß dieser Planet lebte? Ist dieser Gott Rhythane mit seiner unerklärlichen Macht in Wirklichkeit nur eine den Menschen bislang verborgen gebliebene Welt? Der Gott gab keine Antwort auf diese Fragen. Nach einem Korridor aus Metall führte eine Treppe weiter hinunter. Eine Schiebetür glitt vor ihm auf, und die Stimme forderte ihn telepathisch auf, einzutreten. Es war ein verhältnismäßig kleiner Raum aus rötlichem und grauem Metall. Die Tür schloß sich hinter ihm, und jetzt wurde ihm bewußt, daß er sich in einem Aufzug befand. Es ging immer weiter nach unten. Das Summen wurde lauter. Nach einer Weile blieb die Kabine stehen, und die Tür öffnete sich. Craig gelangte auf eine Plattform. Was da unter ihm lag, sah wie der geschmolzene Kern des Planeten aus. Hinter einer dicken Glaswand schimmerte etwas Weißes, das mit der Regelmäßigkeit eines pulsierenden, gigantischen Herzen pochte. Er stemmte die Hände auf die Brüstung der Plattform und blickte hinunter auf das strahlende, pulsierende Herz. Ich bin Rhythane, Erdenmensch. Dies ist meine Energiequelle, die sich laufend erneuert – wie die weiße Sonne, die den Planeten Rhyllan bescheint. Ich bin ewig, allmächtig und allwissend, denn ich kann in die Herzen und Seelen der Menschen sehen. Craig grinste. »Dann mußt du uns für rechte Stümper halten.« Gemessen an wahrer Perfektion ist alles Stümperei. Das Volk der Rhydd, das mich ursprünglich erschaffen hat, ihre Nachkommen und die Besatzungen der Raumschiffe, die mir in ihrem Zeitfeld in die Hand gefallen sind, sie alle haben gegen mich kämpfen wollen… und verloren.
»Die Rhydd haben dich erschaffen?« fragte Craig überrascht. Ja, um zu überleben. Die gigantische weiße Energiekugel spürte sein Interesse und erklärte ihm, daß vor der Existenz des Enigma das Volk der Rhydd auf diesem Planeten Rhythane gelebt hatte. Nach den überall im Kosmos gültigen Gesetzen der Evolution lebten sie zunächst als Höhlenbewohner und kämpften mit steinernen Waffen. Über das Kupfer- und Eisenzeitalter entwickelten sie sich wie alle menschlichen Rassen im Universum. Im Laufe der Zeit entdeckten sie die Atomenergie, lösten das Problem der Schwerkraft, nützten die Sonnenkraft aus und wagten sich’ hinaus in den Weltraum. Zu jener Zeit funkelten viele Sterne über Rhythane, und die Rhydd träumten von langen Raumfahrten zu den Planeten dieser Sterne. Sie suchten ihren Nachbarplaneten Rhyllan auf, blieben jedoch nicht lange dort, denn sie hatten Heimweh nach ihrer eigenen Welt. Stets kamen sie nach Rhythane zurück. Und dann… Sie erkannten die aus dem Weltraum auftauchende Gefahr. Es war ein kosmischer Sturm, verursacht von einer Kollision eines großen Kometen mit einem aus Magnetteilchen bestehenden Sonnenwind. Diese Sturmwolken waren mit tödlicher Radioaktivität angefüllt. Sie kamen genau auf den Planeten Rhythane zu. Es war damit zu rechnen, daß diese Sturmwolken alles Leben auf dem Planeten vernichten würde. Dieses über ihren Köpfen schwebende Verhängnis spornte die Rhydd zu nie geahnten Höchstleistungen an. Die Wissenschaftler konstruierten einen gigantischen elektronischen Computer, der in der Tiefe des Planeten verankert wurde. Sie statteten den Computer mit atomaren Kräften aus und versprachen sich von ihm einen Ausweg aus ihrer prekären Lage.
Der Computer riet ihnen, eine Hülle um das ganze System zu errichten, und er zeigte ihnen auch, wie sich das bewerkstelligen ließ. Eine gewaltige Hülle von einer den Rhydd bislang unbekannten Stärke würde die Radioaktivität der Sturmwolken abfangen und in sich aufsaugen. Hundert Raumschiffe wurden gebaut, um dieses System mit der Hülle zu versehen. Alles wurde genauso durchgeführt, wie es der Computer geplant hatte. Jetzt lebten die Rhydd innerhalb einer Hülle, die sie von den anderen Sternensystemen trennte – aber sie waren in Sicherheit. Und das Leben ging weiter wie gewohnt. Der Computer, dem sie ihre Rettung zu verdanken hatten, wurde laufend verbessert und erweitert, bis er sich viele Kilometer tief in das Innere des Planeten erstreckte. Abzweigungen verbanden ihn unterirdisch mit den einzelnen Städten und Ortschaften. Die alten Kraftwerke wurden abgerissen, denn der Computer – den sie scherzhaft »Herz von Rhythane« nannten – versorgte sie mit der erforderlichen Energie: im Sommer kühlte er ihre Städte, und im Winter heizte er sie. Selbst die Raumschiffe, die innerhalb der dunklen Hülle umherflogen, verdankten ihre Antriebskraft dem Computer. Jetzt war das Herz von Rhythane längst kein Computer mehr. Es war ein gigantisches Gehirn und eine ebenso gigantische Energiequelle. Unter seinen Strahlen wurden die Männer kräftig und die Frauen schön. Er kultivierte die gesamte Vegetation des Planeten und sorgte laufend dafür, daß das Volk im Überfluß leben konnte. Die Zeit verging, und nach drei Jahrhunderten hatte es das Volk der Rhydd verlernt, auf eigenen Füßen zu stehen. Sie waren völlig abhängig vom »Herzen von Rhythane.« Noch immer verbesserten die Wissenschaftler die Anlagen.
Das Herz von Rhythane erschuf einen gigantischen strahlenden Energieball, der wie eine kleine Sonne glühte und mit den Computern verbunden wurde. Damit hatten sich die Rhydd ihren eigenen Gott erschaffen. In diesem Herzen von Rhythane war das Wissen der gesamten Rasse gespeichert. Die Menschen hatten längst vergessen, was sie all die Jahrhunderte hindurch an Wissen in diesen gigantischen Computer eingegeben hatten – aber das Herz von Rhythane vergaß nichts. Es hatte längst gelernt, selbständig zu denken und den Zusammenhang von Ursache und Wirkung zu erkennen. So wurde aus der ursprünglichen Maschine ein selbständig denkendes Wesen. Das Herz von Rhythane wartete geduldig ein weiteres Jahrhundert und erprobte seine Möglichkeiten. Es sorgte dafür, daß die Wissenschaftler das in diesem Computer keimende Leben zu voller Blüte erweckte. Eine Reihe von Batterien wurden aufgestellt und der ursprüngliche Schöpfungsvorgang der Natur wiederholt. So war ursprünglich im Meer dieses Planeten das Leben erwacht. Nunmehr wurde sich das Herz von Rhythane seiner Macht bewußt, und damit erwachte in ihm die Arroganz. Es brauchte das Volk der Rhydd nicht mehr. Doch es vernichtete die Rhydd nicht, die es erschaffen hatten. Nein, es fand einen besseren Ausweg. Es wollte es zum Nachbarplaneten Rhyllan schicken und dort seinem Schicksal überlassen. Wie geplant, so getan. Der Computer erschuf eine Wolke tödlicher Gase und verhinderte, daß die Wissenschaftler diesem Rätsel auf die Spur kamen. Als der Computer wie üblich befragt wurde, erklärte er, daß dem Volk der Rhydd nur der Ausweg blieb, Zuflucht auf dem Nachbarplaneten Rhyllan zu suchen, der nicht von tödlichen Gaswolken bedroht war.
Der Computer half bei der Konstruktion der großen Raumschiffe, um die hundert Millionen Kilometer zwischen Rhythane und Rhyllan zu überqueren. Männer, Frauen und Kinder begaben sich in die Raumschiffe und traten die Reise zu der neuen Heimat an. Jetzt war das Herz von Rhythane allein auf dem Planeten. Doch zunächst spürte es keine Einsamkeit. Es strahlte seine Energien aus, um es den Rhydd auf Rhyllan zu ermöglichen, Städte wie Uphor zu bauen und darin zu leben. Es versorgte die Rhydd mit allem, was sie zum Leben brauchten. Auf diese Weise blieben sie weiterhin abhängig von ihm. Sie waren ein Volk von Parasiten gewesen, und sie blieben es auch. Aus diesem Grunde war der Gott Rhythane nicht glücklich über jene Wesen, die ihn ursprünglich erschaffen hatten. Sie wußten, daß er kein Gott, sondern lediglich ein von ihrer Hand geschaffener Computer war. Rhythane dachte lang über dieses Problem nach und faßte schließlich den Entschluß, sich ein eigenes Volk zu erschaffen, die Toparrs. Aus dem in ihm gespeicherten Wissen verschaffte er sich die erforderlichen Informationen und formte die gelblichen Wesen aus dem Wasser und den vorhandenen Chemikalien des Planeten. Zunächst wurden die Toparr-Arbeiter erschaffen, die sprechen konnten; dann kamen die Toparr-Krieger an die Reihe, die sich nur telepathisch verständigen konnten, und nach vielen Jahren kamen die Priester, die sowohl sprechen als sich auch telepathisch verständigen konnten. Während dieser Jahre kümmerte sich der Gott Rhythane nicht weiter um die Rhydd auf dem Nachbarplaneten. Da sie keine Möglichkeit zur Rückkehr auf ihren Heimatplaneten hatten, setzte die gegenläufige Entwicklung ein, und sie kehrten in das Zeitalter des primitiven Ursprungs zurück. Ohne die
Energiequellen des Gottes Rhythane, von dem sie Jahrhunderte hindurch abhängig gewesen waren, konnten sie nur noch vegetieren. Das erstreckte sich über einen Zeitraum von zwei Jahrhunderten. Ohne die Energiequellen Rhythanes wurde es in ihren Städten wie Uphor im Winter empfindlich kalt und im Sommer unerträglich heiß. Bis auf wenige Ausnahmen zogen sich die Rhydd aus den Städten zurück in die Wälder. Zu diesem Zeitpunkt schlugen die Toparrs zu. In einer letzten Aufwallung von Mitleid mit den Rhydd stattete der Gott Rhythane seine Toparrs lediglich mit Lanzen, Pfeil und Bogen und Schwertern aus. Solche Waffen konnten die Rhydd sich ebenfalls aus den Erzvorkommen ihres Planeten herstellen, und so währte der Kampf viele Jahre lang. Da kam irgendein genialer Rhydd auf den Gedanken, eine Art Gewehr zu erfinden. Um die Toparrs vor einer entscheidenden Niederlage zu bewahren, erschuf der Gott Rhythane den Tarath und gab sie den Kriegern der Toparrs. Von diesem Augenblick an war das Schicksal der Rhydd besiegelt. Der Computer fühlte sich längst als Gott, und an seinen Taten gemessen war er das auch. Nur er wußte, was sich in diesem Sektor des Weltraums abspielte. Er vermochte den ursprünglichen Schöpfungsvorgang nachzuahmen und Wesen mit eigener Intelligenz zu erschaffen. Zunächst sprachen die Rhydd noch von ihrer alten Heimat auf dem Planeten Rhythane, wo das sogenannte Herz von Rhythane ihnen ein Leben im Überfluß geschenkt hatte. Im Laufe der Zeit wurde aus diesem Herzen von Rhythane dann der Gott Rhythane. Er war das Symbol eines legendären Paradieses, das sie vor langer, langer Zeit hatten verlassen müssen.
Der Gott Rhythane wollte sich verehren und anbeten lassen. Die Toparrs und die gefangenen Rhydd mußten ihm einen Tempel errichten und Städte bauen. Bis dahin hatten sie wie Nomaden gelebt und in Zelten gehaust. Rhythane schuf drei verschiedene Zeitfelder: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Vergangenheit zeigte den Ursprung des Enigma. Die Gegenwart war der normale Zeitablauf, in dem die Rhydd lebten. Die Zukunft war seine eigene Welt, in der außer ihm nur die Toparrs lebten. Rhythane erschuf den Gürtel der Toparrs mit der Kontrolleinrichtung über die einzelnen Zeitfelder. Dieser Gürtel war mit den erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen ausgestattet, so daß bei einem Transport zwischen den einzelnen Zeitfeldern nichts passieren konnte. Weitere Jahrhunderte verstrichen und dehnten sich zu Jahrtausenden. Das Volk der Rhydd war annähernd ausgerottet. Die Toparrs bauten Städte, in denen sie lebten, während die gefangenen Rhydd den alten Tempel für Rhythane errichteten. Nach einiger Zeit genügte dieser alte Tempel den Anforderungen nicht mehr. Ich konnte mich in ihm nicht ausdehnen, denn er bot nicht genügend Raum. Da ließ ich den Lanth, meinen Oberpriester wissen, daß er mir einen neuen, größeren und schöneren Tempel bauen sollte. Rhythanes Anordnung wurde ausgeführt. Kurz vor Vollendung des Tempelbaus landeten die Raumflotten von der Erde in der Vergangenheit, und die Besatzungen glaubten, einen unbewohnten Planeten vorzufinden. Es bereitete keinerlei Schwierigkeiten, sie in die Gegenwart zu bringen und von den Toparrs überwältigen zu lassen. Alles weitere ist dir ja bekannt.
»Zeig mir dieses elektronische Meisterwerk, das der Gott Rhythane ist«, sagte Craig. Diese Reise könntest du nicht mal in hundert Tagen bewältigen, denn ich bin tief, unendlich tief in diesem Planeten verankert. Die unterirdischen Anlagen strotzen nur so von Computern. Du mußt bedenken, daß die Rhydd viele Jahrhunderte hier auf Rhythane lebten, ehe sie zu dem Planeten Rhyllan auswanderten. Sie hegten und pflegten mich, denn ich war ja die Hand, die sie nährte. »Trotzdem«, sagte Craig. Dann komm mit! Craig verließ die Rampe und gelangte in einen weiteren Korridor. Hinter den erleuchteten Glasscheiben pulsierten Gase in großen Röhren. Er kam sich wie im Innern einer gigantischen Maschine vor. Na ja, dachte er, Rhythane ist ja im Grunde genommen nichts weiter als eine gigantische Maschine. Und somit konnte Rhythane auch vernichtet werden. Nur die Energiezufuhr brauchte abgeschaltet zu werden. Irgendwie bedauerte er es, Athalla, die anderen schönen Frauen und all die kostbaren Schätze zurückgelassen zu haben. Das alles könnte ihm gehören, wenn er sich von Rhythane zum Herrscher dieses Planeten krönen ließe. Der Mensch ist schon ein seltsames Wesen: loyal, ehrlich, aufrichtig. Craig dachte an Dan Ingalls, Rolf Olsen, Fiona und Elva Marlowe. Er erkannte, daß ihn keine Macht der Welt davon abhalten konnte, seine Pflicht zu erfüllen. Er streckte die Hand aus und berührte einen Schalter. Er drehte ihn herum. Sofort wurde es in diesem Gang dunkel, und die Röhren hinter den Glasscheiben erloschen. Mann der Erde – dreh den Schalter wieder herum! Offensichtlich ging seine Handlungsweise dem Gott gegen den Strich. Craig fragte sich unwillkürlich, ob auch dieses
Ding eine Achillesferse hatte. In diesen engen Korridoren würde es der Gott jedenfalls nicht wagen, einen Energiestrahl auf ihn zu richten. Damit würde er sich selbst vernichten. Bei diesem Gedanken beschleunigte Craig seine Schritte durch die Gänge. Jedesmal, wenn er einem Schalter begegnete, drehte er ihn herum. Rhythane schwieg. Er übermittelte ihm keine weiteren Gedanken. Craig dachte daran, daß er hier in diesen unterirdischen Gängen tagelang, ja vielleicht jahrelang umherwandern und an Schaltern drehen könnte, ohne damit weiterzukommen. Rhythane brauchte nur einen Toparr herzubeordern, um den von Craig angerichteten Schaden zu beheben. Es mußte eine andere Möglichkeit geben. Wenn er den Metallstab oder den Stirnreif bei sich gehabt hätte, wäre das alles kein Problem gewesen. Damit könnte er das unterirdische Computersystem in die Luft jagen. Aber das Schwert an seiner Seite war seine einzige Waffe. Und mit einem Schwert konnte er diesen Gott Rhythane niemals besiegen. Er trat den Rückweg zu der Rampe an und drehte unterwegs alle Schalter herum. Da hörte er schnelle Schritte, und sein Herz begann zu hämmern. Ah! Die Toparrs kamen, um ihn aufzuspüren und zu töten. Entschlossen riß er das Schwert aus der Scheide, obwohl er genau wußte, daß er damit nichts gegen einen Tarath ausrichten konnte. Zu seiner Überraschung tauchte jedoch kein Toparr auf, sondern einer jener Männer, die er oben in der Halle gesehen hatte. Er trug eine schillernde Rüstung und hielt einen Degen in der Hand.
Der Mann mochte aus ferner Vergangenheit stammen – jetzt war er jedenfalls hergekommen, um ihn zur Strecke zu bringen. Mit dem vorgestreckten Degen in der Hand kam er auf Craig zu. Craig wich zur Seite und stach mit dem Schwert zu. Die Klinge prallte wirkungslos von der gepanzerten Brustplatte ab, aber der Degen hatte ebenfalls sein Ziel verfehlt. Craig sprang behende zurück, und dabei fiel ihm auf, daß sein Gegner wesentlich langsamer reagierte als er. Entweder war Rhythane bei der Führung seiner Geschöpfe aus der Übung gekommen, oder dieser Mann war von Natur aus so langsam. Das spielte jetzt keine wesentliche Rolle. Craig mußte ihn auf alle Fälle kampfunfähig machen, solange sich ihm die Gelegenheit dazu bot. Während der Mann sich noch immer drehte, sprang Craig ihn an. Er entdeckte eine ungeschützte Stelle zwischen den Brustplatten der Rüstung und stieß das Schwert wuchtig hinein. Der Mann schrie auf und sackte zu Boden. Eine große Blutlache bildete sich unter ihm. Der Mann starb genau wie ein Mensch. Damit hatte Craig ein Rätsel gelöst: die Männer und Frauen da oben in der großen Halle waren keine von Rhythane kontrollierten Androiden, sondern lebendige Menschen. Das half ihm auch nicht weiter. Oder… vielleicht doch?
9
Craig hatte eine Idee. Er eilte den Korridor entlang, denn er ahnte, daß Rhythane ihm jetzt die anderen Männer aus der Halle auf den Hals hetzen würde, um ihm jede Fluchtmöglichkeit abzuschneiden. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihn aufspürten und umbrachten. Zeit! Welch große Rolle die Zeit bei der Durchführung seiner Aufgabe spielte. Die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Zeit hatte die Rhydd den ursprünglich von ihnen erschaffenen Computer vergessen lassen, so daß er sich zu einem annähernd allmächtigen Gott entwickeln konnte. Durch die Zeitverschiebung hatte er bei seinem ersten Erkundungsflug durch das System des Enigma diesen Planeten Rhythane so gesehen, wie er vielleicht in Millionen Jahren einmal aussehen würde. Eine tote Welt, auf der kein Leben existieren konnte. Zeit! Das Enigma breitete sich aus, und die dunkle Hülle entfernte sich mehr und mehr von dem Planetensystem dieser weißen Sonne. In zehn oder vielleicht auch erst in hundert Jahren würde das Enigma die ersten Planeten verschlingen, wenn es John Craig nicht gelang, diesem Gott Rhythane Einhalt zu gebieten. Zeit! Wenn er genügend Zeit hätte, könnte er vielleicht das RelaisSystem dieses gigantischen Computers nach und nach ausschalten. Vielleicht könnte er dann auch einen Weg finden,
um die dunkle Hülle des Enigma zu beseitigen, so daß die Raumschiffe ihm zu Hilfe kommen konnten. Aber er hatte keine Zeit! Aus der Ferne hörte er die Schritte von etwa fünfzig bis hundert Männern. Wie sollte er sich vor ihnen in diesen unterirdischen Gängen verbergen? Immer tiefer drang er in das Labyrinth der Korridore ein. Keuchend lehnte er den Rücken gegen eine Glaswand. Ein einzelner Mann hatte keine Chance gegen so viele Feinde, zumal sie der Unterstützung eines Gottes sicher waren. Es war sinnlos, gegen sie ankämpfen zu wollen. Nachdem er sich ein wenig ausgeruht hatte, eilte er weiter. In einem der vielen Nebengänge erspähte er einen Höhlenmenschen, der einen Lendenschurz trug und eine Keule in der Hand schwang. In einem anderen Gang hörte er das Klappern einer Rüstung. Als er um eine Ecke biegen wollte, prallte er gegen einen mit Pfeil und Bogen ausgerüsteten Mann. Er streckte ihn mit einem gezielten Haken nieder und hetzte weiter. »Da ist er!« Das Echo brach sich an den Wänden. Im Hintergrund stand ein Mann, der seiner Kleidung nach aus dem frühen Atomzeitalter stammte. Er hob ein Gewehr an und zielte auf Craig. Das ist das Ende, dachte Craig. Im Bruchteil einer Sekunde wird er mich mit einer Kugel niederstrecken… Dummkopf! Was für ein ausgemachter Dummkopf ich doch bin! Ich brauche nur die Hand auszustrecken, um die Flucht zu ermöglichen! Seine Hand fand den Drehknopf am Gürtel. Er sah das Mündungsfeuer des Gewehres aufblitzen und duckte sich unwillkürlich, ehe er sah, daß der Mann nicht mehr da war.
Jetzt befand er sich wieder in der Gegenwart, während seine Feinde in der Zukunft blieben. Ruhig setzte er seinen Weg durch die unterirdischen Korridore fort. Es würde eine ganze Weile dauern, bis Rhythane ihn hier unten aufspürte. Er schnallte den Gürtel ab. Das war seine Waffe. Sobald er am Knopf drehte, veränderte sich das Zeitfeld. Solange sich ein Mann innerhalb des Gürtels befand, war er gegen alles geschützt – aber außerhalb des Gürtels entfaltete sich die volle kosmische Wucht eines veränderten Zeitfeldes. Selbst ein Gott mußte von der Wucht einer solchen Energiewelle vernichtet werden. Mit dem Gürtel in der Hand erreichte er die Rampe mit der Brüstung, auf der er zuvor gestanden hatte. Es dauerte einen Augenblick, bis der Computer seine Gegenwart wahrnahm. In diesem Augenblick handelte John Craig. Er stellte den Knopf ein und schleuderte den Gürtel auf den Computer zu. Der Rückschlag des Zeitfeldes war so gewaltig, daß er gegen eine Glaswand geschleudert wurde, die unter der Wucht des Aufpralls zersplitterte. Er kniete am Boden und sah atemlos zu, wie sich das Zeitfeld des Gürtels um den Computer legte. Momentan schien alles reglos zu verharren. Dann landete der Gürtel auf dem Ding, das sich als Gott bezeichnete. Rhythane schrie auf. Nein! Das darfst du nicht! Du vernichtest einen Gott! Grelle Blitze zuckten auf, und es war, als hätte die Zeit keinen Anfang und kein Ende. Craig schirmte das Gesicht mit dem Unterarm ab, um nicht auf der Stelle zu erblinden. Sein Rücken lehnte an den heißen Röhren, die jetzt nicht mehr summten. Er erkannte, daß Rhythane sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gegen das Zeitfeld des Gürtels zur Wehr
setzte. Aber der Kampf gegen die kosmischen Kräfte des Zeitfeldes war für ihn bereits verloren. Die Kräfte des Zeitfeldes wuchsen aus sich heraus, weil keine Hand den Drehknopf bediente. Seine ungeheure Energie riß Rhythane aus seiner Verankerung in der Tiefe des Planeten. Der Computer schrumpfte mehr und mehr in sich zusammen, um sich endgültig aufzulösen. Der Gürtel mit den Zeitfeldern trug Rhythane zu den Grenzen von Raum und Zeit. Irgendwann in ferner Zukunft, wenn das Leben im Universum erloschen war, würde Rhythane zu neuem Leben erwachen, um als letzter Stern am verlorenen Himmel zu leuchten. Sein Licht würde dann das einzige Licht im All sein, und seine Intelligenz die einzige Intelligenz. Doch das in ihm aufgespeicherte Wissen würde in dieser Welt zurückbleiben, in der Craig sich jetzt befand. Sobald die Energiequellen erschöpft waren, würde auch Rhythane aufhören zu existieren. Craig trat seufzend von dem tiefen Krater zurück, der einmal den Gott Rhythane beherbergt hatte. Um ihn herum war alles still. Sämtliche Röhren waren ausgeglüht, und das RelaisSystem funktionierte nicht mehr. Die Wesen, die der Gott Rhythane erschaffen hatte, lagen leblos am Boden. Craig ging an Urnen vorüber auf den Liftschacht zu. Da fiel ihm ein, daß auch der Lift nicht mehr funktionieren konnte, und er erklomm die endlosen Treppen, bis er endlich wieder den Garten mit den Metallblumen und Bäumen erreichte. Inzwischen war es Nacht geworden. Craig blickte zum Himmel hinauf. Das Enigma war mit dem Gott verschwunden, der es erschaffen hatte. Glitzernde Sterne reichten von einem Horizont bis zum anderen.
Craig spürte das Pochen seines Herzens. Es waren die Sterne, die Sonnen. Von dort würden die Raumschiffe kommen, die ihn und die anderen Männer hier abholten. Dan Ingalls. Elva Marlowe. Über die hundert Millionen Kilometer hinweg, die zwischen ihm und dem Planeten Rhyllan lagen, rief sein Herz nach Fiona. Kleines Mädchen, du hast deinen Namen in mein Herz geschrieben. Ich werde dich immer lieben – auf meine Art. Fiona war nicht für John Craig bestimmt. Sie sehnte sich danach, auf dem Planeten Rhyllan zu bleiben, seine Frau zu werden und seine Kinder aufzuziehen. Craig wußte, daß das kein Leben für ihn war. Sein Platz lag irgendwo zwischen den fernen Sternen, wo immer es eine drohende Gefahr zu bekämpfen galt. Die Raumschiffe wußten jetzt, daß das Enigma nicht mehr existierte. Sie würden Commander John Craig und die Besatzungen der beiden Raumflotten suchen kommen. Sie würden John Craig auf einem Planeten antreffen, auf dem er das einzige Lebewesen war. Sie würden ihn nicht zum Planeten Rhyllan zurückbringen, sondern zum Planeten Revere, wo Dan Ingalls seinen Bericht erwartete. Fiona vom Stamm der Rhydd würde auf dem Planeten Rhyllan verständigt werden, daß der John Craig, den sie kannte, tot war. In gewisser Weise stimmte das sogar. Nie wieder würde er jene idyllischen Stunden mit Fiona erleben. Es war schon besser so, wenn sie ihn für tot hielt. Im Laufe der Zeit würde sie ihr Herz an irgendeinen jungen Krieger der Rhydd verlieren… Craig streifte durch den Garten mit den Metallblumen, bis er eine Bank entdeckte und sich setzte. Hier wollte er das Eintreffen der Raumschiffe des Empire abwarten.
Über ihm glitzerten die Sterne, die seit über zwanzigtausend Jahren von diesem Planeten Rhythane aus nicht mehr zu sehen gewesen waren.